Fünf Tage Tod Version: v1.0
Ein Junge von höchstens sechzehn Jahren stand im Morgengrauen an einer verlassenen polnisc...
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Fünf Tage Tod Version: v1.0
Ein Junge von höchstens sechzehn Jahren stand im Morgengrauen an einer verlassenen polnischen Landstraße – ein einsames, dem Untergang geweihtes Geschöpf. Etwas, das unsichtbar an dem Knaben haftete, schien die Luft im weiten Umkreis zu verpesten, Insekten und Getier zu vertreiben und das Gras am Wegrand zum Dorren zu bringen. Als könnte auch andere Nahrung als Blut den kranken, nie endenden Hunger stillen, der in ihm wütete. Doch das war ein Trugschluß …
Was bisher geschah Duncan Luther, Dr. Romano und Paul Kravetz haben eines gemeinsam: Sie sind tot und wurden von Lilith gebissen. Nun gehorchen sie einem magischen Programm, das sie nach Uruk in den Irak zieht. Als sie dort mit Grabungen beginnen und ein Symbol in einer Felsenhöhle aktivieren, erwacht in Schottland die Kelchdiebin Felidae aus langem Schlaf. Die Vampirin, die einst Liliths Mutter Creanna zeugte, erkennt, daß sich Lilith ihrer Bestimmung nicht bewußt ist. Sie bietet ihr die fehlenden Erinnerungen – Lilith muß nur aus dem Lilienkelch trinken. Daß sie damit ihre menschliche Seite aufgeben würde, verschweigt ihr Felidae. Die drei Toten in Uruk haben mittlerweile eine unterirdische Höhle freigelegt, in der ein Wächterwesen lauert, das Kravetz tötet, bis es von den anderen überlistet und vernichtet werden kann. Die Höhle mündet in einen schier endlosen Gang. Luther und Romano machen sich auf den Weg … Auch Landru spürt, daß der Kelch wieder da ist. Er hat die Spur schon aufgenommen – und platzt, dank Beth’ Verrat, mitten in die Zeremonie. Er und Felidae stehen sich nach 268 Jahren wieder gegenüber. Denn damals stahl Felidae das Unheiligtum vom Kelchhüter Landru. Beim Kampf werden beide Vampire schwer verletzt. Landru flieht und nimmt das Gefäß mit sich. Als Lilith ihm folgt, spaltet er sie mit Kelchmagie in einen menschlichen und einen vampirischen Körper. Die böse Lilith erhält von Landru den Auftrag, ihr gutes Ich einzufangen und bei Salem Enterprises abzuliefern. Doch sie will sich Landru nicht mit ihrem guten Selbst teilen und beschließt, es umzubringen. Ein »Fehler« – denn dabei verschmelzen beide Körper wieder. Landru hat sich unterdessen nach Polen zurückgezogen. Hier erschafft er Lazarus, den ersten neuen Vampir, mit seinem eigenen Blut. Doch sein Sohn mißrät – dank einer »Diebstahlsicherung«, mit der Felidae den Kelch versehen hat. Lazarus folgt einem Zwang: den Lilienkelch zurückzubringen zu Felidae! Nichts und niemand kann ihn stoppen, denn sein Körper verbrennt die Energien unglaublich schnell und entwickelt dabei riesige Kräfte. Ihm bleiben nur fünf Tage Zeit …
Die Hauptpersonen des Romans Lilith Eden – Tochter eines Menschen und der Vampirin Creanna. Für 98 Jahre lag sie schlafend in einem lebenden Haus in Sydney, doch sie ist vor der Zeit erwacht. Sie muß gegen die Vampire kämpfen, die in ihr einen Bastard sehen, bis sie sich ihrer wahren Bestimmung bewußt wird. Der Symbiont – ein geheimnisvolles Wesen, das Lilith als Kleid dient, obwohl es fast jede Form annehmen kann. Der Symbiont ernährt sich von Vampirblut und verläßt seine Wirtin bis zu deren Tod nie mehr. Landru – Mächtigster der alten Vampire und der Mörder von Liliths Vater. Seit 268 Jahren jagt er dem verlorenen Lilienkelch nach, dem Unheiligtum der Vampire, der ihm damals von Felidae gestohlen wurde. Felidae – Vampirin im Auftrag einer geheimnisvollen Macht, die Liliths Geburt in die Wege leitete und damit einen Plan verfolgt, der die Welt der Menschen und Vampire verändern wird. Beth MacKinsey – Journalistin bei einer Sydneyer Zeitung. Gleichgeschlechtlich veranlagt, hat sie sich in Lilith verliebt. Dies wurde jedoch durch eine magische Pest ins Gegenteil verkehrt: Unter deren Einfluß hat sie sich mit Landru gegen Lilith verbündet. Die Vampire – Noch kennt niemand ihre wahre Herkunft, doch sie leben seit Urzeiten neben den Menschen in Sippen zusammen. Der einzige Weg, einen neuen Vampir zu schaffen, besteht darin, ein Menschenkind schwarzes Blut aus dem Lilienkelch trinken zu lassen. Der Kodex verbietet Vampiren, sich gegenseitig umzubringen. Lilith verstößt dagegen und wird gnadenlos gejagt. Die Dienerkreaturen – Tötet ein Vampir einen Menschen mit seinem Biß, wird dieser kein vollwertiger Blutsauger, sondern eine Kreatur, die dem Vampir bedingungslos gehorcht. Ihrerseits kann eine Dienerkreatur den Vampirkeim nicht weitergeben, benötigt aber Blut zum (ewigen) Leben und wird – anders als die Ur-Vampire – mit zunehmendem Alter immer lichtempfindlicher.
Eva betete, und Adam Czerniakow biß so heftig die Zähne zusammen, daß es knirschte. Niemand hörte es. Nicht einmal das jeden Morgen ewig gleiche Gemurmel seiner Frau schien den Insassen in der Enge des Kleinbusses noch aufzufallen. Jeder hing eigenen Gedanken nach. Jakub Plotnicka, der Fahrer, machte, was das anging, keine Ausnahme. Seine blassen Augen waren auf die Straße gerichtet, aber der Ausdruck auf seinem zerfurchten, schlecht rasierten Gesicht verriet, daß er sich nach seinem Bett sehnte, zugedeckt bis zum operierten Hals, wo ihm letztes Jahr ein nach innen wachsender Kropf entfernt worden war. Die Narbe verlief für jeden sichtbar von einem Ohr zum anderen unterhalb des Kiefers und ließ Plotnicka aussehen wie eines jener Filmmonster aus der Frühzeit der Kinematographie. Aspis Singer strickte an einem Paar neuer Handschuhe, und er war der einzige, der um diese Stunde zu lächeln imstande schien. Adam Czerniakow mochte ihn trotzdem nicht. Strickende Männer – zumal im selben Alter wie er – waren ihm suspekt. Das Wissen um Singers Alleinsein milderte diese Abneigung keineswegs. Die Jellineks, die auf der hinteren Sitzbank des Busses saßen, unterhielten sich flüsternd miteinander, als wollten sie niemanden stören. Reb Jellinek war ein grauhaariger, viel zu mager wirkender Mann von vierzig Jahren; seine Frau Gesa war zehn Jahre jünger und ein Biest, das es faustdick hinter den Ohren hatte. Und nicht nur hinter den Ohren. Adam Czerniakow wußte ein Lied davon zu singen – aber Eva wußte es nicht und sollte es nach Möglichkeit auch nie erfahren. Fast über Nacht hatte sich Kälte über das Land gesenkt. Der erste Schnee schien noch fern, aber die herbstlichen Nebeltage neigten sich unübersehbar ihrem Ende entgegen. Bald würde Glätte den Weg zur Arbeit erschweren, und manchmal würden sie wieder län-
ger unterwegs sein als in der Fabrik … »Verdammt!« Jakub Plotnickas Fluch ließ nicht nur die fromme Eva zusammenzucken. Automatisch richteten sich aller Augen durch die schmutzige Scheibe nach draußen auf die Straße. Sie folgten damit dem entgeisterten Blick des Fahrers, der gerade ergänzend hervorstieß: »Scheiße … Gibt’s das?« Aspis Singer fühlte sich ertappt und vertiefte sich wieder in seine Strickarbeit. Tatsächlich ließ aber auch er die merkwürdige Gestalt nicht aus den Augen, die auf der Landstraße stand. »Fahr weiter!« riet Adam Czerniakow dem Fahrer. »Laß dir bloß nicht einfallen, anzuhalten!« »Er steht mitten auf der Straße«, keuchte Plotnicka. »Ich kann doch nicht …« Er bremste. Auch diejenigen, die sich nicht weit vorgebeugt hatten, wurden in den gurtlosen Sitzen nach vorn getrieben. Eva schrie auf. Sie umklammerte den Rosenkranz, als müßte sie ihn zwischen den Fingern zerreiben. Aspis Singer verletzte sich mit den eigenen Stricknadeln. Eines der stumpfen Enden fand den Weg durch den offenen Mantel und bohrte sich tief in das weiche Gewebe seiner feminin ausgebildeten Brust, die er unter weiten Hemden und Pullovern zu kaschieren versuchte. Es schmerzte, aber die Nadel drang nicht wirklich in den Körper ein. Mehr als ein Bluterguß war nicht zu erwarten. Singer litt unter einer hormonellen Fehlfunktion, und sie war es auch, die ein gutes Stück dazu beitrug, daß er sich in die Isolation flüchtete. Er hatte deswegen einen Arzt in Elblag konsultiert. Elblag war die Kreisstadt, gegen die Frombork wie ein Dorf wirkte. Aber
dieses Arschloch in Weiß hatte ihn nur ausgelacht. Seither arrangierte sich Singer notgedrungen damit, anders zu sein. Als der Bus zum Stehen kam, kurbelte Plotnicka das Seitenfenster herunter und beugte sich nach draußen. »Heh!« rief er die absurde Gestalt an. »Bist du vollkommen übergeschnappt? Ich hätte dich umfahren können …! Geh aus dem Weg!« Hinten stieß Gesa Jellinek einen gepreßten Schrei aus und sagte dann mit glasharter Stimme: »Das ist Josephas Wagen! Und es sind Josephas Kleider …!« Nicht jeder begriff sofort, was sie meinte. Da stand dieser Junge in der Morgenkälte. Barfuß. Sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Aufreizend gelassen blockierte er die Straße, und aufreizend war alles an ihm. Er trug Klamotten, wie sie zu einer Frau gepaßt hätten. Ein billiges, altmodisches, zerschlissenes Kleid … Auf Plotnickas Zuruf reagierte er überhaupt nicht. Er stand nur da. Beobachtend. »Josephas Wagen?« echote Reb Jellinek und fügte hinzu: »Das ist wahr! Aber ihre – Kleider …?« »Da ist Blut dran!« Es war Adam Czerniakow, der mit dieser Feststellung seine Frau zu einem neuen, leiernden Gebet veranlaßte. Es klang wie aus einem schlecht aufgezogenen Grammophon. Evas Teint war käsig. Sie sah aus, als würde sie sich gleich übergeben. Dabei war noch gar nichts passiert! Zumindest nichts, was sie direkt anging – und sie konnten auch nicht sicher sein, daß überhaupt etwas vorgefallen war. »Aus dem Weg! Ich sag’s zum letzten Mal!« schrie Plotnicka so unbeherrscht, daß ihm ein Speichelfaden aus dem Mund rann.
Adam Czerniakow stand von seinem Sitz auf und kletterte entschlossen nach vorn auf den freien Beifahrersitz, auf dem Plotnicka normalerweise sein Frühstück verstaute. Heute auch. Aber Czerniakow wischte es einfach zu Boden. »Laß mich das regeln«, wandte er sich an den Fahrer. »Ich steige aus und seh’ mir die Sache an. Du kannst nicht weiterfahren, solange wir nicht wissen, was hier Beschissenes vorgefallen ist. Wenn dieser Arsch der Alten was angetan hat …« Er sparte sich Details. »Nein!« schrie Eva. »Du bleibst! Du gehst nicht …!« »Ich komme mit«, sagte Aspis Singer. Er hatte ein schmerzverzerrtes Gesicht und hob den Arm wie bei einer Wortmeldung in der Schule. Czerniakow starrte ihn mit einer Mischung aus Erstaunen und Ekel an. Er bemühte sich nicht um Verstellung. (Er mochte dieses dämliche Waschweib nicht!) »In Ordnung«, sagte er dann zu seiner eigenen Überraschung. Sie stiegen aus; Singer durch die hintere Schiebetür, Czerniakow auf der Beifahrerseite. »Soll ich auch mitkommen?« fragte Plotnicka. Czerniakow verzog den Mund. Jeder wußte, daß Plotnicka ein Feigling war, der sich nur hinter dem Steuer mutig gab. »Mit dem Knäblein werd’ ich schon allein fertig!« Obwohl Czerniakow Aspis Singer als Begleitung akzeptiert hatte, ging aus dieser Bemerkung hervor, daß das Milchgesicht für ihn nicht zählte. Er hatte nur sich auf der Rechnung. Und den fremden Jungen. Singer gab sich Mühe, neben und nicht hinter ihm zu laufen. Sie marschierten auf den Halbwüchsigen zu, der keinerlei Regung zeig-
te. Auch nicht, als sie ihn erreichten und Czerniakow ihn grob gegen die Brust stieß. Er bemerkte nicht, daß Singer zusammenzuckte, als hätte der Stoß ihn getroffen. Der Junge wankte nicht einmal, und Czerniakow hatte das Gefühl, gegen die Attrappe eines Menschen geschlagen zu haben. Sein Blick flackerte. Dann rettete er sich in den Befehl an Singer: »Sieh im Auto nach! Sieh nach, ob du etwas von Josepha findest!« Aspis Singer stand steif neben ihm. »Was ist das an seinem – Mund …?« Czerniakow glaubte zu wissen, daß es dasselbe war, was sich als dunkle Flecken vom Kleid des fremden Jungen abhob. »Der muß irgendwo entsprungen sein«, sagte er – und lauter: »Heh, Freundchen, rede, oder du beziehst eine Tracht Prügel! Das ist doch nicht dein Auto. Wehe, es ist geklaut und –« »Ich hoffe, du schmeckst besser als die Alte«, sagte der Junge. Es war das erste Mal, daß er überhaupt den Mund aufmachte. Er hätte es besser nicht getan. Aspis Singer stöhnte auf. Wankend setzte er sich in Richtung des halb in der Wiese abgestellten Wagens in Bewegung. »Du wirst die Alte nicht finden«, rief der Junge ihm hinterher. Aspis Singer strauchelte, als sei er über etwas gestolpert. Aber da war nichts. Er wankte weiter. »Wiederhol das!« forderte Adam Czerniakow mit geballten Fäusten. »Du wirst die Alte nicht finden«, sagte der Halbwüchsige ohne spezielle Betonung. Er hatte ein verschlagenes Gesicht, boshaft funkelnde Augen, und erst jetzt bemerkte Czerniakow, daß er etwas unter dem Kleidersaum versteckt hielt. Seine rechte Hand war dar-
unter verschwunden, und es sah aus wie in einem Mantel-und-Degen-Film, wo eine Dame ihr Kleid geziert mit spitzen Fingern raffte. Es wirkte unmöglich, und es schürte ähnliche Aggressionen in Czerniakow, wie er sie gegenüber Singer empfand. »Nein«, sagte er rauh. »Ich meine das davor.« »Ich hoffe, du schmeckst besser als die Alte«, gehorchte der Junge ungeniert. »Was ist daran verwunderlich? Es war wirklich eklig, aber jetzt habe ich ja euch.« »Uns«, wiederholte Czerniakow. Das Gefühl, etwas tun zu müssen wurde drängender. Er erkannte sich ohnehin kaum wieder. Normalerweise hätte er dem unverschämten Burschen längst eine gescheuert. Statt dessen stand er da und ließ sich seine makabre Verhöhnung gefallen. Aspis Singer erreichte den klapprigen Wagen, von dem auch er glaubte, daß er Josepha gehörte. Die alte Frau war eines der wenigen verbliebenen Originale der Gegend. Fast jeder kannte sie oder hatte auf dem Wochenmarkt schon einmal bei ihr gekauft. Singer spähte nicht erst durch die Fenster, sondern öffnete gleich die Fahrertür. In dem Wagen herrschte ein unbeschreibliches Durcheinander. Josepha lag fast nackt und mit zerfetzter Kehle auf der Rückbank, zwischen Kisten und Kartons gestopft. Sie starrte Singer entgegen, als trüge er die Schuld daran. Er starrte sie eine Weile an, richtete sich dann ruckartig auf und wankte zu Czerniakow zurück. »Nichts«, sagte er. »Ich konnte die Alte nicht finden.« Irgendwie klang es in Czerniakows Ohren, als wiederholte Singer nur, was der Junge ihm zugerufen hatte. »Paß auf ihn auf!« fauchte er und lief, von einer dumpfen Ahnung getrieben, selbst zum Wagen. Dort traf es ihn wie ein Stoß in die Magengrube. Er hatte noch
nichts gegessen, aber irgend etwas, vielleicht vom Vortag, drängte nach oben. Josepha war schrecklicher zugerichtet als jeder andere Tote, den Czerniakow jemals wirklich oder in einem Film gesehen hatte. Sie … Er merkte nicht, wie er sich vorbeugte. Aber kurz darauf bedauerte er, es getan zu haben. Die Hand der Toten schoß unter einem Haufen Gemüse hervor und krallte sich in seine Haare. Czerniakow schrie auf. Das Grauen verwandelte sein Denken in einen trüben Tümpel, in dem jemand mit einem Stock herumrührte. Er war außerstande zu begreifen, was um ihn herum vorging. Der Anblick der Toten hatte ihn schon geschockt, aber ihre Attacke war von solcher Unmöglichkeit, daß etwas in seinem Hirn kurzschloß. Sein Schrei erstarb. Er japste nach Luft und griff mit beiden Händen nach dem kalten Arm der Toten, die ihn wie eine stählerne Klaue unbarmherzig festhielt. Eine zweite Hand schälte sich aus dem Durcheinander. Sie fackelte nicht lange, sondern kratzte mit den Fingernägeln Czerniakows Hals blutig. Der Schmerz war brennend, aber schlimmer war, daß Czerniakow begriff, daß das der Alten noch nicht genügte. Sie wollte mehr als ein paar Tropfen Blut! Neben ihm tauchte eine Bewegung auf. Ein Schemen – aber real. Czerniakow fühlte sich weggestoßen. Da sich sein Skalp immer noch am Kopf und die Hand der Toten unverändert darin befand, zog er Josepha ein Stück aus dem Wagen heraus. Dem Jungen an seiner Seite war es egal. Czerniakow hörte ihn sagen: »Vergiß es! Er gehört mir!« Was dann geschah, wirkte wie ein Versäumnis, das nun nachgeholt wurde.
Der Junge packte den Kopf der Alten, in deren Augen eine Gier waberte, wie sie Czerniakow noch nie gesehen hatte. Sekunden vorher waren diese Augen noch völlig stumpf und leer gewesen … Es knirschte häßlich, als der Junge das Genick der Toten brach. Im nächsten Moment ließen die Klauen von Czerniakow ab. Er taumelte zurück. Der Junge richtete sich lächelnd auf, stopfte Josepha ins Auto zurück und kickte die Tür ins Schloß. »Du bist der erste«, sagte er zu Adam Czerniakow. »Komm!« Czerniakow setzte sich in Bewegung. Er folgte dem Jungen im Kleid dorthin, wo Aspis Singer wartete. Singer lächelte verklärt, während er einen seltsamen Kelch vor die Brust preßte, als müßte er ihn behüten. »Danke«, sagte der Junge und nahm das Gefäß wieder entgegen. Sie gingen zum Bus. Jakub Plotnicka glotzte schweigend. Eva hatte die Schnur ihres Rosenkranzes zerrissen, pflückte eine Perle nach der anderen und steckte sie sich in den Mund. Czerniakow sah sie krampfhaft schlucken. Die Kette und das Kruzifix um ihren Hals glühten und schienen sich langsam durch den Mantel hindurch in den darunterliegenden Körper zu fressen. Reb und Gesa Jellinek hatten auf dem Rücksitz begonnen, sich zu schlagen, einander Haare auszureißen und die Finger zu brechen … lautlos. »Wir werden etwas zusammenrücken müssen«, sagte der seltsame Junge beim Einstieg und quetschte sich zwischen Adam und Eva. »Aber keine Angst, nicht lange …«
*
Zur gleichen Zeit Felidae war noch einmal erwacht. Zwischen den Kreuzbahnen ihrer den ganzen Körper umschlingenden Riemen starrten raubtiergelbe Augen zu Lilith empor – unterzogen sie einer Musterung, der nichts verborgen blieb. Tatsächlich nicht? Liliths Zweifel an Felidaes »Allmacht« stiegen. Die Kelchdiebin hatte durch die Art, wie sie mit Menschen umsprang, viel Sympathie verspielt. Zu unleugbar war sie selbst Vampirin. Wenn es darum ging, die eigenen Interessen zu verfechten, tat sie es ohne die geringsten Skrupel. Und offenbar erwartete sie dasselbe von Lilith. »Nein!« »Nein?« Felidae war schwach, schien jedoch nicht mehr dem Sterben geweiht. Schweigend betrachtete Lilith das in die Innenfläche ihrer linken Hand gebrannte Mal. Es handelte sich um eine Art Tätowierung – und doch war es vollkommen anders. Es ähnelte Feyns Stigma, war aber absolut unfühlbar, wenn man mit den Fingerkuppen darüberstrich. Diese Ähnlichkeit zu dem Mal, das Felidae einst Feyn vermacht hatte, war das wahrhaft Erschreckende an dem »Geschenk«, wie die Vampirin es ausgedrückt hatte. Felidae hatte sich als Verwalterin dieses Tattoos bezeichnet und war offenbar nicht gewillt, mehr darüber zu verraten. Sie waren allein.
Beth war auf Liliths Drängen hin gegangen, um sich nach einer anderen Bleibe für die nächsten Tage, vielleicht für Wochen, umzusehen. Es war unzumutbar, eine Behausung mit einem blutrünstigen Geschöpf wie Felidae zu teilen. Die Kelchdiebin blieb ein unkalkulierbares Risiko, obwohl Lilith ihr deutlich zu verstehen gegeben hatte, daß sie Ausschreitungen wie auf dem Gelände des Sydneyer Museumsdorfes nicht hinnehmen würde. Offen hatte sie ihr angedroht, sie zu töten, wenn sie sich noch einmal über unschuldige Menschen hermachte, um ihren mörderischen Durst zu befriedigen. Anders als Lilith schien Felidae diese Begierde nicht kontrollieren zu können – oder zu wollen. Ein Opfer war für sie ein Opfer in voller Konsequenz. Sie machte »keine Gefangenen«. Um den Keim nicht zu übertragen, brach sie ihren Spendern anschließend das Genick. Damit unterband sie eine Auferstehung der Toten als Kreaturen, denen der Sinn nach nichts anderem als Blut und Gehorsam stand. Felidae hatte, was Liliths Drohung anging, Verständnis gemimt. Verlassen wollte Lilith sich nicht darauf. Es war absehbar, wann der Hunger die Vampirin wieder zur reißenden Bestie machen würde. Spätestens, wenn sie sich wieder besser zu helfen vermochte … Sie auf humanere Weise mit dem Stoff zu »versorgen«, dem sie ewige Schönheit und Jugend verdankte, war zum Scheitern verurteilt. Wer sollte dies tun, wenn Lilith wirklich nach Polen aufbrach? Sie stand kurz vor der Abreise. Die Jagd nach dem Lilienkelch hatte einen unerwarteten Impuls erhalten. Es gab eine neue Spur zu Landru, dem es nach zweieinhalb Jahrhunderten gelungen war, den von Felidae gestohlenen Lilienkelch zurückzuerkämpfen. Seither lag Felidae im Fieber. Alte, nie verheilte Wunden – not-
dürftig von ihrem Symbionten kaschiert – waren aufgebrochen. Sie war damals im Dunklen Dom des Großen Ararat zerschmettert worden und hätte sterben müssen, wenn nicht jene ominöse Macht, der auch Lilith ihre Existenz verdankte, eingeschritten wäre und ihr einen ähnlichen Symbionten wie später Creanna vermacht hätte. Dieses merkwürdige Mimikrywesen hatte bei ihr die Gestalt des Riemenkleids angenommen, und seine »Fäden« wurzelten bis tief in die zersplitterten Knochen – hielten zusammen, was normalerweise nicht mehr hätte existieren können. Lilith hatte dies und mehr in der Halle erfahren, in der Felidaes Kampf gegen Landru stattfand. Das im Lilienkelch befindliche Blut der Vampirin hatte Lilith auf unerklärliche Weise Einblicke in das Leben und Wirken der Kelchdiebin gewährt – auch ohne es zu trinken, wie Felidae es beabsichtigt hatte. Landrus Eingreifen hatte das Ritual, bei dem Lilith »Erleuchtung« erfahren sollte, verhindert. Bis heute war unklar, wie er Felidae zur ungünstigsten Zeit hatte aufspüren können – und Lilith hatte noch keine Zeit gehabt, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Die Ereignisse hatten sich überschlagen – und taten es immer noch. Neuester Höhepunkt war Felidaes Behauptung, sie hätte den Lilienkelch mit einer Art »Diebstahlsicherung« versehen. Der erste vom Kelchhüter gezeugte Vampir sollte zum »Bumerang« werden und alles daran setzen, den Kelch zurück in Felidaes Hand zu bringen! Lilith war davon ebenso überrascht worden wie von den fremden Eindrücken, die ihr Hinweise über den Verbleib Landrus geliefert hatten – ohne daß sie wirklich wußte, woher diese plötzliche Erkenntnis kam. Es schien mit dem Mal in ihrer Hand zu tun zu haben. Etwas war – von Felidae ausgesandt – zurückgekehrt und hatte sich als Fledermausmal auf ihre Handfläche geprägt.
Aber was? Felidae verweigerte jede Auskunft darüber. »Du mußt reisen!« drängte sie jetzt. »Auch ich habe empfangen, wo Landru sich verbirgt. Ich wußte mir nicht anders zu helfen, als mir dein künftiges Auge gefügig zu machen. Es war im Sinne des Plans …« »Mein künftiges Auge?« Lilith wußte nicht, ob das, was Felidae gerade preisgab, Ausgeburten ihres immer noch schwelenden Fiebers oder die Wahrheit war. Felidaes Stimme klang klar, aber schon einmal hatte Lilith erlebt, wie rapide der Kräfteverfall bei der Vampirin voranschreiten konnte. Vor Stunden war sie von einem Moment zum anderen in tiefe Ohnmacht gefallen. Mit ihrem neuerlichen Erwachen hatte Lilith nicht unbedingt gerechnet. Die Halbvampirin zögerte. Sie war sich nicht schlüssig, ob sie überhaupt dorthin reisen wollte, wohin Felidae sie drängte. »Warum sollte ich dir helfen und deinem ›Boten‹, wie du ihn nanntest, entgegengehen?« »Mir helfen?« Felidaes Stimme schnitt förmlich in Liliths Gehör. »Du hilfst nicht mir, sondern dir und dem Plan! Wann begreifst du endlich, daß du keine Wahl hast? Landru darf den Lilienkelch nicht wieder seinem alten Zwecke zuführen. Nie wieder darf er dafür benutzt werden, die Macht der Vampire zu festigen und ihre Art zu mehren … Nie wieder!« Lilith hörte Felidae nicht zum ersten Mal von Vampiren sprechen, als handelte es sich um ihre ärgsten Feinde. Dabei gehörte sie dieser Rasse viel eindeutiger an als Lilith, in deren Genen sich Menschsein und Vampirismus die Waage hielten. »Du verlangst zuviel«, erwiderte Lilith sehr bestimmt. »Du hast mir Antworten versprochen – erinnere dich! Statt dessen gibst du ständig neue Rätsel auf!« Sie hielt die Hand mit dem Mal vor Feli-
daes schwefelgelbe, animalische Augen. »Was ist das? Was hast du mir damit angetan?« »Es ist nicht das, was du vermutest. Keine Heimtücke. Ich weiß, daß du es mit Feyns Tattoo vergleichst, aber Feyn war entartet. Es ist etwas anderes. Es wird dir helfen – sobald du seinen Sinn selbst erkennst. Wärst du vollendet, wüßtest du um seinen Nutzen. Aber ich wiederhole mich, wenn ich von deinen Makeln spreche …« »Dann wiederhole dich! Ich werde keinen Finger rühren, solange ich nicht weiß –« »Du mußt. Oder willst du Landru zurück zur höchsten Macht verhelfen? Ihn wieder zum Reisenden in Sachen Tod und Leben werden lassen? Einen, der über die Welt reist, von Sippe zu Sippe, und vampirisches Leben verbreitet …? Ich habe damals die Voraussetzung geschaffen, damit du überhaupt eine Chance im Kampf gegen einen übermächtigen Gegner hast. Der Diebstahl des Kelchs schrieb die Zahl der Feinde fest – aber sobald Landru wieder beliebigen Nachwuchs zu zeugen vermag, war alles umsonst. Du kannst tausend Vampire töten, und er wird zehntausend nachwachsen lassen! Das ist es, was du verhindern mußt. Der Lilienkelch darf nie wieder Quell vampirischen Lebens werden – jedenfalls nicht in der Hand eines Idealisten wie Landru!« »Was hätte ich ihm entgegenzusetzen, wenn selbst du an ihm gescheitert bist?« »Woher nimmst du den Glauben, schwächer als ich zu sein?« In Felidaes Miene trat ein neuer Ausdruck. »Außerdem bist du nicht allein. Sobald Landru den Ritus ausführt, hat er noch einen ganz anderen Gegner, mit dem er nie rechnen kann!« »Das erste Kind?« »Das erste Kind.« »Über dessen Bewandtnis du mir aber nicht mehr sagen willst, als
daß ihm nicht mehr als fünf Tage bleiben, den Kelch zu dir zurückzubringen!« »Es genügt. Was solltest du mehr wissen müssen? Ich kenne dieses erste Geschöpf, an dem Landru den Kelch erprobt, so wenig wie du. Ich kenne nur seine Lebensdauer und seinen unbedingten Willen, das gestohlene Gut zu mir zurückzubringen! Vielleicht ist es schon unterwegs – vielleicht gibt es dieses Kind des Kelchs noch gar nicht. Aber seine Spur, glaube mir, wird unübersehbar sein. Geh dorthin, wohin dein Innerstes dich befielt. Nach Polen. Zu einem Haus nahe Frombork … Vielleicht sind Landru und der Kelch noch dort – wesentlich wahrscheinlicher aber ist eine Situation, die dich und Landru zu einem Wettlauf zwingt.« Lilith schüttelte den Kopf. »Was macht dich eigentlich so sicher, daß Landru diesen neugeborenen Vampir überhaupt mit dem Kelch entkommen lassen könnte? Er wird ihn zermalmen, sollte er es wagen, ihn zu betrügen!« Blässe lag wie der Schatten alten Blutes auf Felidaes Lippen, als sie widersprach. »Ich versuchte es dir schon einmal zu erklären: Der Bote trägt immer noch – auch nach dem Ritual – die biologische Uhr eines Menschen in sich. Obgleich er zum Vampir verwandelt wird, hat er nie die Chance auf Unsterblichkeit. Er hat fünf Tage Zeit. In diesen fünf Tagen wird er alle Energie verbrennen, die ihm zur Verfügung steht. Er kann sie mit Menschenblut nähren – aber er ist wie ein Strohfeuer, dessen Flammen kurz, aber sehr intensiv brennen. Auch du wirst dich vor ihm hüten müssen!« »Ich?« »Er kann nicht zwischen Freund und Feind unterscheiden. Sein Dasein ist auf einen einzigen Zweck reduziert, und den wird er ver-
suchen zu erfüllen …«
* Wie jeder andere im Bus verfolgte Eva Czerniakow den Untergang ihres Mannes vom Anfang bis zum Ende. Sie tat es unter eigenen schrecklichen Schmerzen, denn ihr silbernes Kruzifix hatte sich zwischenzeitlich wie glühendes Eisen durch Kleidung und Fleisch bis auf einen Rippenknochen gefressen. Sie kauerte zur Salzsäule erstarrt neben dem Jungen, der kein Junge war. Seit einer halben Stunde versuchte sie, ein gültiges Urteil über dieses unmögliche Wesen zu fällen, das seine Zähne in Adams Hals gegraben hatte, ihn dabei mit beiden Händen an den Ohren festhielt und beugte und nicht zuließ, daß sein Opfer starb, solange es aus ihm trank. Eva hatte von Vampiren gehört. Sie kamen in jeder Sagenwelt vor. Aber das war überbordende Phantasie, die keine Auswirkungen auf das Leben haben durfte. Trotzdem wich das Leben sichtbar und mit jedem gierigen Saugen mehr aus Adam. Bleich wie ein Laken hockte er da und wehrte sich nicht. Seine Augen waren zu Eva gewandt, weder flehend noch verzweifelt. Einfach duldsam, unterwürfig, neugierig … Neugierig? Darauf, wie es war, in den Händen einer menschlichen Bestie zu enden? Niemand kam ihm zu Hilfe. Der Bus war voll, aber keiner kam auch nur auf die Idee, den seltsamen Jungen anzugehen und von seinem entsetzlichen Tun abzubringen. Auch Eva nicht.
Sie saß da wie festgefroren. Der Rosenkranz war aufgegessen. Sie wußte, daß sich der Mantel anbot, um weiterzumachen. Noch zögerte sie. Jakub Plotnicka fuhr mit wahnsinniger Geschwindigkeit durch den dämmernden Morgen. Aber er fuhr längst nicht mehr auf der Straße, die zur Fabrik führte. Der Junge hatte bei aller Grausamkeit einen unerklärlichen Charme. Eva versuchte sich gegen die obszönen Wünsche, die seine bloße körperliche Nähe in ihr weckte, zu wehren. Sie war erschüttert von den eigenen Abgründen, die sich in ihr öffneten. Mit Adam war Sexualität auf pure Mechanik beschränkt. Eva hatte sie nie als schön oder auch nur befriedigend erlebt. Meist war ihr Mann auch betrunken und hatte geraucht, wenn er zu ihr unter die Decke kroch, so daß die in ihr wühlende Zunge nach kalter Asche schmeckte und der Atem an süßlich gärende Verwesung erinnerte … Wie mochte dieser Junge schmecken? Einer, der nicht rauchte und anstelle von Alkohol Blut trank? Ich bin verrückt, dachte sie. Ich verliere den Verstand! Das bin nicht ich, die das denkt! Nicht ich – Da hielt sie den Schmerz nicht mehr aus. Sie riß den Mantel auf und faßte nach der Stelle, wo sich das Kruzifix über der linken Brust ins Gewebe ihres Körpers gebrannt hatte. Es war schon nicht mehr zu sehen. Der Geruch verschmorten Fleisches drängte in ihre Nase. Ihr wurde schlecht. Dennoch setzte sie Daumen und Zeigefinger in die verkohlte Wunde und fand das sich gerade mit kalter Glut in ihre Knochen fressende Kreuz. Aber sie zerrte vergeblich daran.
Als sie die Hand zurückzog, lachten ihr die blanken Knochen entgegen. Sie blutete. Der Geruch erreichte den Jungen. Noch während er sein Mahl nebenan beendete, schien er Witterung wie ein Hai aufzunehmen, dem das Meer eine Blutspur entgegentrug. Er drehte sich um. Er war verändert. In der halben Stunde sah er gealtert aus. Nicht alt. Reifer. Noch charmanter. Das Blut in seinem Gesicht störte nicht. Es sah aus wie die rituelle Zeichnung eines unbekannten Indianerstammes. Und auch der Junge selbst wirkte in diesem absurden Altfrauenkleid wild, barbarisch, ungezähmt – seinen Gesetzen folgend. Eva war hingerissen von ihm. Sie wußte, daß die anderen eifersüchtig waren, als er sich ihr als nächstes zuwandte. Aber zuerst riß er, ohne die Fahrt zu unterbrechen, die Schiebetür des Busses auf, brach, obwohl Adam zweifellos tot war, dessen Genick und stieß ihn aus dem Wagen. Er verschwand aus Evas Blickfeld und aus ihren Gedanken. Der Fahrtwind zerrte an den Jellineks, die in der hinteren Reihe einen seltsamen Kampf ausfochten. Auch sie bluteten aus allerlei Wunden, und Eva, die kurz nach hinten schaute, wurde den Verdacht nicht los, daß sie damit nur die Aufmerksamkeit des Jungen auf sich zu lenken versuchten. Es gab ihr große Genugtuung, daß er sich dennoch zuerst ihr zuwandte. Wortlos. Keineswegs zimperlich. Der Blick seiner schrecklichen Augen haftete kurz auf der Wunde in ihrer Brust. Er schien dem Echo der Zerstörung zu lauschen, die
das Kruzifix in Eva anrichtete. Aber nicht lange, dann interessierte ihn nur noch eins. Er packte ihre blutende Hand und schob sich Daumen und Zeigefinger in den Mund. Es genügte ihm nicht. Er packte Eva an den Schultern und postierte sie nach seinen Wünschen. Wie eine Schaufensterpuppe legte er ihre Arme so, daß sie seinem Begehren nicht im Wege standen, bog ihren Kopf in den Nacken, streichelte kurz den schlanken Hals – ohne Zärtlichkeit, nur auf der Suche nach geeignetster Stelle. Eva verdrehte die Augen. Sie sah zu, wie sich sein Mund zu ihrer pochenden Ader orientierte, wie der Schmerz wellenförmig durch ihr Gehirn schlug. Sie seufzte. Sie hatte das Gefühl, ihr Bewußtsein würde mit dem entweichenden Blut gerissen – fort in ihn. Sie schmolz vor Lust. Nicht aufhören, dachte sie. Nicht aufhören, bitte … Das Kruzifix brach durch die Rippen und wanderte weiter. Viel zu schnell. Es tötete Eva, bevor der unglaubliche Junge es vermochte. Als ihr Herz von dem kalt glühenden Symbol ihres Glaubens angehalten wurde, ließ er von ihr ab und wandte sich den Jellineks zu. Sie quittierten es mit Verzücken.
* »Welche Garantie gibst du mir, daß du dich während meiner Abwesenheit hier nicht wie eine Wahnsinnige gebärdest?« fragte Lilith.
Sie mißtraute Felidae. Und der Zweifel, sich selbst der richtigen Seite verschrieben zu haben, wuchs stetig. Die Vampirin in Beth’ Apartment gebracht zu haben, erwies sich mehr und mehr als Fehler mit unabsehbaren Folgen. Zugleich fiel Lilith aber kein Ort ein, wohin sie Felidae sonst hätte verfrachten können, um in Ruhe zu genesen. Inzwischen zweifelte Lilith kaum noch, daß die Vampirin sich von den Folgen des Kampfes erholen würde. Sie hatte eine unverwüstliche Natur, und ihr Symbiont steuerte das seine dazu bei, daß ihm seine »Wirtin« erhalten blieb. Es war bezeichnend, daß Lilith noch nicht einmal die Zeit gefunden hatte, sich mit der Tatsache auseinanderzusetzen, daß es zwei Symbionten gab. Drei, korrigierte eine innere Stimme mit Hinweis auf das von ihrem Symbionten abgespaltene Fragment, das wahrscheinlich immer noch in dem geheimen militärischen Versuchslabor außerhalb Sydneys aufbewahrt wurde. Erst Felidae hatte sie darauf hingewiesen, daß dem Mimikrykleid etwas fehlte. Etwas, das es urplötzlich anfechtbar gegen das Element Feuer machte. Lilith würde sich darum kümmern müssen, aber später. Der Kelch war vorrangig. Sie konnte nicht verhehlen, daß ihr Felidaes Darstellung einer »Diebstahlsicherung« reichlich ominös erschien. Wann hatte die Vampirin diesen Mechanismus installiert? Vor fast hundert Jahren, als sie sich in Beinn Dearg zur Ruhe bettete? Oder erst kürzlich, nach ihrem Erwachen dort? Auch dazu schwieg Felidae eisern. »Du willst eine Garantie?« fragte ihr sündig-sinnlicher Mund jetzt. »Bist du gänzlich mißraten, daß du meinem Wort, das ich dir gab, mißtraust?«
»Was nützt mir dein Wort, wenn deine Natur vorbricht? Wenn du vor Hunger den Verstand verlierst?« Felidaes Augen glommen sonderbar. »Das könnte geschehen …« Das unerwartete Eingeständnis ließ Lilith schlucken. »Unter diesen Bedingungen werde ich nicht gehen«, entschied sie. »Wir warten beide auf das Eintreffen deines Boten.« Felidae schüttelte den Kopf. »Du mußt ihm entgegengehen. Halte ihm Landru vom Halse! Der Einsatz ist zu hoch, um etwas zu riskieren! Du mußt blind sein, wenn du es nicht selbst erkennst!« »Ich weiß, daß ich nicht alles weiß.« Lilith lächelte bizarr. »Deiner Ansicht nach fehlt mir das Wesentliche – aber allmählich frage ich mich ernsthaft, ob ich nicht froh darüber sein soll …« Das Gelb in den Augen der Vampirin schien zu gerinnen. »Darüber diskutieren wir, wenn es soweit ist. Du brauchst keine Erkenntnis zu fürchten, solange der Kelch außer Reichweite ist!« »Wäre dies kein Grund, sein Verschwinden zu begrüßen?« »Nur wenn die Unreife in dir durch puren Egoismus ersetzt würde«, erwiderte Felidae. »Begreife endlich, daß du und ich nicht gefragt werden, ob wir unseren Beitrag leisten wollen. Wir müssen es. Es steckt in uns. Dein Problem ist, daß du Einzelschicksale betrachtest. Daß es dir schon Schwierigkeiten bereitet, ein paar armselige Figuren auf dem Schachbrett zu opfern, um am Ende alles zu verändern. Der Fall der Vampire ist hehres Ziel auch für dich – aber du bist nicht bereit, eigensüchtiges Denken zurückzustellen! Das muß sich ändern, sonst …« »Sonst?« Felidae lag unbeweglich da, als konzentrierte sich alle Kraft nur auf das Sprechen. Dennoch spürte Lilith die wiedererwachende Energie einer unfaßbaren Persönlichkeit. Eines Wesens, dessen Wir-
ken die letzten zweieinhalb Jahrhunderte der Welt geprägt hatte. Sie hatte waghalsige Experimente mit dem Lilienkelch angestellt und viele absurde Vampirgeschöpfe erschaffen. Mit zweien von ihnen hatte Lilith in der Gegenwart Kontakt – aber wie viele andere mochten noch im Verborgenen ihr Unwesen treiben? »Hör auf, dir einzureden, daß ich dir Böses will«, sagte Felidae. »Hör auf, dich zu bemitleiden. Dazu bestünde Grund, wenn Landru den Kelch behielte. Verhindere es!« »Die Garantie«, beharrte Lilith. »Gib mir eine Garantie, daß ich dich in dieser Wohnung lassen kann, ohne nach meiner Rückkehr ein Blutbad vorzufinden!« Felidae seufzte theatralisch. »Vielleicht sollte ich dich beißen, um dich zur Vernunft zu bringen!« »Es würde dich deine besten Zähne kosten«, versprach Lilith. »Das bliebe abzuwarten.« Lilith beugte sich über den Körper der Vampirin und zog im Bereich ihres Bauches an dem symbiontischen Geflecht. In Felidaes Augen explodierte Schmerz, auch wenn kein Laut ihre Lippen verließ. Ungerührt sagte Lilith: »Wenn du mir keine Garantie gibst, werde ich mir selbst eine verschaffen. Du hast mich überzeugt: Ich werde nach Polen reisen und überprüfen, was von deiner Geschichte wahr ist. Aber ich werde mit der Überzeugung reisen, daß du keinem Menschen etwas zuleide tun kannst.« Noch einmal zerrte sie an einem beliebigen Teil des Riemenkleids. »Hör auf!« sagte Felidae mit rauchiger, schmerzbelegter Stimme. »Wenn du nicht willst, daß etwas Furchtbares passiert, hör auf!« »Ich bin Furchtbares gewohnt.« »Das nicht …«
Lilith griff nach dem nächsten Geflecht. »Ich garantiere dir, mich ruhig zu verhalten und nur auf meine Wiederherstellung zu konzentrieren!« rann es über die Lippen der Vampirin. Lilith strich sanft über das Geflecht. Ihr eigener Symbiont regte sich so wenig wie der von Felidae, aber es war ihr durchaus bewußt, daß sie eine Gratwanderung betrieb und sich dieses Bild scheinbaren Friedens jeden Moment ändern konnte. Aber sie war es einfach leid, wie eine Figur hin und her geschoben zu werden. Felidae sollte spüren, daß dies nicht funktionierte. »Wie?« fragte sie. »Glaube ja nicht, daß ich mich mit deinem bloßen Wort zufrieden gebe!« »Das habe ich mir fast gedacht.« »Also?« »Ich werde mich bis zu deiner Rückkehr in den genügsamsten Zustand versetzen, den ich kenne. Ich habe 98 Jahre ohne einen Tropfen Blut darin zugebracht, da wird es für diese viel kürzere Frist erst recht genügen! Außerdem ist es meiner Genesung zuträglich … Geh jetzt! Zögere nicht länger! Laß mich allein!« Lilith sah, wie sich Felidaes Augen schlossen. Die Häute, die sich darüber senkten, verwandelten das Gesicht der Vampirin in eine Maske der Unschuld. Ohne Raubtierblick wirkte sie wie ein schlafender, wenn auch mit Vorsicht zu genießender Engel. Lilith richtete sich auf. Sie trat vom Bett weg, sagte kein Wort, sondern wartete, ob sich ihr Verdacht bestätigte. Ob sie Felidaes Absicht richtig verstanden hatte. Sekunden später wußte sie es. Die Luft um den Körper der Vampirin begann zu wabern und sich
zu verfinstern. Erste Fäden – nicht identisch mit den Ablegern des Symbionten – begannen sich wie aus dem Nichts zu bilden, als würde eine unsichtbare Spinndrüse sie hervorpressen. Von überall her entlang der Konturen des Körpers wucherte kompakte, sich verflechtende Schwärze. Felidae verpuppte sich. Ein Kokon, wie er ihr im schottischen Hochland fast ein Jahrhundert als Zuflucht gedient hatte, entstand …
* Es war eine völlig trostlose Ansammlung von Menschen, die sich mit dem Grauen konfrontieren ließen. Manche von Berufs wegen, andere – der weitaus größere Teil – aus purer Bestürzung und Anteilnahme. Fast jeder hatte Josepha gekannt. Fast jeder hatte sie gemocht. Aber anders, als sie jetzt zwischen ihrem Gemüse lag, das sie nicht auf dem Markt hatte verkaufen können. Sie würde nie wieder etwas verkaufen. Ein Wahnsinniger hatte ihr Leben ausgelöscht – ein Mörder im Blutrausch! Die Angst sprang wie ein Funke von Gehirn zu Gehirn. Die Polizisten machten da keine Ausnahme. Es gab keine richtige Absperrung um den Tatort. Jeder konnte sich mit eigenen Augen von dem überzeugen, was der alten Frau angetan wurden war. »Zerfleischt … Genick gebrochen …«, ging es karg von Mund zu Mund. »Gibt es eine Spur?« wandte sich einer der besonders betroffen
wirkenden Menschen an den Leiter der Ermittlungen. Der Polizist verneinte steinern. »Wirklich nicht?« »Nein.« Damit schien sich der narbige Mann, den niemand kannte, zufrieden zu geben. Oder abzufinden. Gezwungenermaßen.
* 2. Tag Oleg Karpinsky, Knecht Gottes, sortierte seine Loseblattsammlung einer uralten Familienbibel und verinnerlichte die Ruhe, die ihn in seiner Klause umgab. Die Wände der Hütte waren bis auf die letzte freie Stelle mit Mutter-Gottes- und Unser-Herr-Jesu-Bildern behängt. Auf einer kleinen Kommode stand ein reich geschmückter Christbaum, und über zahllose Vasen verteilt spendeten künstliche Blumen künstliche Düfte. Dieser Teil der Hütte war Karpinskys Synagoge. In der Gegend hier galt er nicht nur als gottesfürchtig, sondern sogar als Prophet. Im nächsten Weiler lebten fromme Leute, ausnahmslos Altkatholiken, für die es keine Rolle spielte, daß Karpinsky kein wirklicher Priester war. Sie hatten sonst niemanden, der ihnen die Gnade des Schöpfers näherbrachte. Die größeren Orte mit Kirchen lagen viel zu weit entfernt für die alten Leute, von denen die wenigsten ein Auto besaßen. Die Jugend hatte die Gegend, die ihr – wie sie meinte – keine Zu-
kunft bot, längst verlassen. Nur noch die Alten und Gebrechlichen und Sonya waren geblieben. Sonya erinnerte Karpinsky daran, selbst einmal jung gewesen zu sein. Eigentlich war er erst nach dem Tod seiner Frau geläutert worden. Vor zwölf Jahren. Jetzt war er fünfzig, aber der graue, bis zur Brust reichende Vollbart und die früh begonnenen Falten ließen ihn um mindestens zehn Jahre älter erscheinen. Gegen Mittag klopfte es gegen die Tür seiner Stube. Er sah von den Psalmen auf und blickte zur Uhr, deren Ticken das sonst einzige Geräusch im Haus war. Er erwartete niemanden. Aber das besagte nichts. Er legte die abgegriffenen Seiten auf den Tisch vor seinem hohen Sessel und stand auf. Im eisernen Ofen brannte noch kein Feuer, obwohl es empfindlich kalt geworden war. Als Oleg Karpinsky die Tür öffnete, blinzelte er überrascht. Er hatte jemanden aus dem Weiler erwartet, und indirekt stimmte dies auch – aber eben nur indirekt. »Jakub!« rief er verblüfft. Seine Stimme klang fest und unerschütterlich. »Du bist doch Jakub, oder? Leons Sohn …« Ein stoppelbärtiges, blasses Gesicht starrte ihm entgegen. »Ja«, sagte Jakub Plotnicka. »Helfen Sie mir!« Karpinsky sah an ihm vorbei. »Du bist allein?« fragte er. Plotnicka strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Er schien nachzudenken. Schließlich sagte er: »Allein, ja. Mein Wagen steht ein gutes Stück von hier. Mir ist der Sprit ausgegangen. Ich erinnerte mich …« »Wen wolltest du besuchen?« unterbrach ihn Karpinsky. »Deine Eltern sind tot. Ihre Körper ruhen in Ketrzyn. Du selbst hast es da-
mals veranlaßt. Ich wollte sie hier begraben.« »Ich weiß«, sagte Plotnicka. Seine Augen waren stumpf. »Ich brauche Sprit, und da erinnerte ich mich …« Diesmal wurde er nicht unterbrochen, und trotzdem beendete er den Satz nicht. Offenbar ging er davon aus, daß das Gesagte genügte, und so war es auch. In einem der Schuppen, die sich hinter der Hütte zwischen Wiese und Waldrand erhoben, hortete Oleg Karpinsky Treibstoff, und jeder in der Gegend wußte es. Dagegen wußte niemand, warum er das feuergefährliche Zeug hortete, denn Karpinsky besaß nicht einmal einen Führerschein, geschweige denn ein Auto. Er sprach mit niemandem über seinen Traum, eines Tages in einem reinigenden Feuer zum Himmel aufzusteigen. »Wie bist du hierher gekommen? Hattest du Heimweh?« »Ich bin auf der Durchreise.« Jakub schien ungeduldig, nervös. Ab und zu leckte er sich mit einer krank aussehenden Zunge über die rissigen Lippen. »Wieviel brauchst du? Hast du einen Kanister dabei?« »Nein.« Karpinsky nickte. »In der Not erinnert man sich der Orte, die man einmal verschmähte, nicht wahr, Jakub?« Plotnicka schwieg verkniffen. »Ich glaube, ich habe keinen Sprit für dich, mein Sohn«, sagte Karpinsky bedauernd. »Es tut mir leid. Versuche es im Weiler. Du kennst den Weg …« In diesem Moment schien die Blässe in Plotnickas Gesicht und Augen zu etwas Entsetzlichem zu gerinnen. Seine Hände schossen hoch und legten sich um Karpinskys Hals. »Ich – brauche – Benzin!«
Die Augen des Propheten quollen hervor. Er versuchte die Arme des Jüngeren wegzuschlagen, aber Plotnickas einzige Reaktion war, daß er noch fester zudrückte. Karpinsky wurde es schwindelig. Er japste nach Luft. Beschwichtigend krächzte er: »Schon … gut … Ich gebe dir ja … was du … willst …« »Danke.« Plotnickas Hände fielen von ihm ab. Karpinsky stand schwankend da. Der Schmerz hatte sich förmlich in seinen Kehlkopf verbissen. Er bekam immer noch schlecht Luft, als wäre ihm ein Propfen mit einem winzigen Atemkanal in den Hals geschoben worden. Er stützte sich gegen das Türgewände und starrte Plotnicka an, der teilnahmslos dastand. Karpinsky zitterte plötzlich vor Angst, vielleicht so sterben zu müssen. Bemüht suchte er nach einer menschlichen Regung in Jakub Plotnickas Blick. Aber er fand überhaupt keine Regung darin. »Komm«, sagte Karpinsky und stieß sich von der Tür ab. Es war kalt und sonnig. Auf dem Weg zum Schuppen brach plötzlich wüster Lärm im Stall los. Die Kühe und Ochsen schrien, wie an manchen Tagen, wenn Karpinsky vor ihren Augen schlachtete. Das Blut stockte ein wenig mehr in seinen Adern. »Du bist nicht – allein gekommen?« fragte er zögernd. Sein Blick war auf den Stall gerichtet, aber die fensterlose Bretterwand, auf die er von hier aus blickte, verriet nichts von dem, was drinnen vorging. »Nein«, sagte Plotnicka. »Nehmt euch, was ihr braucht, und verschwindet!« versuchte es Karpinsky vorübergehend kämpferisch. »Ich hätte nicht gedacht,
daß einmal ein Tagedieb und Nichtsnutz aus dir werden würde. Wenn deine Eltern …« Karpinsky verstummte, als hätte sich eine fremde Faust um seine Zunge geschlossen. Aber es war wieder nur die Angst, an die er schon nicht mehr geglaubt hatte. Je näher sie dem Schuppen kamen, in dem der Tank stand, desto lauter und markerschütternder schwollen die Schreie aus dem Stall an. Ab und zu verstummten einige abrupt – dafür wurden andere um so greller. Karpinsky besaß ein Dutzend Tiere. Zwei Drittel waren Milchkühe. Neben dem Getreide, das er anbaute, und den Naturalien, die ihm die Bewohner des Weilers spendeten, genügten sie, um ein Leben in bescheidenem Wohlstand zu führen. Er war kein Asket. Und noch mehr Verzicht als ohnehin hätte er auch Sonya nicht zumuten können, ohne befürchten zu müssen, daß sie ihm weglief. »Was stellt dein – Freund da drin an?« fragte er angeekelt. »Macht es ihm Spaß – zu quälen?« Dann starrte er Jakub Plotnicka noch fassungsloser an, denn dieser hatte laut und deutlich »ja« gesagt. Karpinsky öffnete mit steifen Fingern das Tor des Schuppens. Plotnicka und sein Komplize hätten es auch alleine aufbekommen. Sie hätten sich sogar vermutlich bedienen können, ohne daß Karpinsky es überhaupt bemerkt hätte. Aber das war offensichtlich nicht, was sie wollten. Nicht alles. »Ich habe kein Geld«, sagte er lahm. »Wenn ihr Geld sucht …« Plotnicka stieß ihn brutal zur Seite und trat ins Halbdunkel des Schuppens. Zielstrebig ging er auf den riesigen Plastiktank zu, in
dem eine zähe, dunkle Flüssigkeit schwamm. Überall darum herum standen leere Kanister. Zu den Naturalien, die Karpinsky gern für seine Dienste entgegennahm, gehörte Treibstoff. Bei Gewitter schlief Sonya im Stall, weil dieser weiter von diesem Schuppen entfernt lag als die Hütte. Sie hatte Angst, ein Blitz könnte einschlagen. Davor hatte Oleg Karpinsky sich nie gefürchtet. Er war sicher, daß man »oben« mit seinem Vorhaben einverstanden sein und das mühsam Gehortete nicht sinnlos abfackeln würde. Mit geballten Fäusten sah er zu, wie dieser Elende, der schon vor vielen Jahren von hier weggezogen war, zuerst den Zapfhahn des Tanks öffnete und dann in aller Seelenruhe nach einem ihm passenden Füllbehälter suchte, während das Dieselöl leise plätschernd zu Boden floß und dort gar nicht so schnell versickern konnte, wie es Nachschub erhielt. Im Nu hatte sich eine penetrant riechende Lache gebildet. Karpinsky wußte selbst nicht, warum er bei ihrem Anblick an Blut denken mußte. Vielleicht, weil vom Stall her immer noch schreckliche Tierschreie herüberklangen. Es hörte sich nicht an, als wäre jemand nur an einem guten Stück Fleisch für die Pfanne interessiert. Was tut er dort? dachte Oleg Karpinsky. Lieber Gott im Himmel – was TUT dieses Ungeheuer …? Sein nächster Gedanke galt Sonya, die weggegangen war, um Pilze und Wildkräuter zu sammeln. Er hoffte, daß sie nicht früher als sonst zurückkehrte. Sie war noch nicht lange weg … Der Gedanke, sie könnte Plotnicka und seinem Kumpan bereits in die Hände gefallen sein, entfachte ein seltsames Grauen in dem gottesfürchtigen Mann. »Geht!« krächzte er in Richtung des Mannes, der endlich einen Behälter unter den Spritfluß hielt. »Nehmt, was ihr braucht – und geht!
Ich wiederhole noch einmal: Geld werdet ihr nicht finden – überhaupt nichts, was von Wert für euch wäre!« Jakub Plotnicka machte nicht den Eindruck, als hörte er zu. Der Kanister in seiner Hand lief seit Sekunden über, als er endlich den Hahn des Tanks zudrehte – und danach, mühsam überlegend, auch den Kanister selbst zuschraubte. Das Gewicht zwang ihn zu schiefem Gang, als er an Oleg Karpinsky vorbeimarschierte, ihn überhaupt nicht mehr beachtete, sondern einfach über den Hof zu dem Waldpfad weiterging, der zur Landstraße führte. Karpinsky sah ihm ungläubig nach. Er hielt sich am Flügel des Tores fest und erwartete förmlich, daß Plotnicka noch einmal Halt machen und sich des Bestohlenen erinnern würde. Das geschah nicht. Dafür verstummte in diesem Moment das Gebrüll aus dem Stall. Erst jetzt erinnerte sich Karpinsky wieder, daß Plotnicka nicht allein gekommen war. Er wich in den Schatten des Schuppens zurück. Kälte schien seine Knochen knistern zu lassen. Er konnte den Stall genau sehen. Seine Augen wanderten nur einmal kurz ab, um etwas im Schuppen zu finden, was sich notfalls zur Verteidigung nutzen ließ. Er wußte nicht, was noch geschehen konnte. Er wußte nicht einmal, was bereits geschehen war. Vor Jahren hatte einmal ein Verrückter sein Unwesen in der Gegend getrieben, war in Koppeln und in Ställe eingebrochen und hatte sinnlose Blutbäder hinterlassen, Gäulen und Rindern und Schafen die Kehlen und Bäuche aufgeschlitzt … Er war nie gefaßt worden. Vielleicht hatte ihn einfach der Herrgott eines Tages zu sich gerufen – um ihn in die Hölle hinunterzustoßen. Hinweise, wer es gewesen sein könnte, wurden nie gefunden.
Karpinsky glaubte auch keinen Moment, daß der Täter von damals in Plotnickas Begleitung zurückgekehrt sei. Es gab genug andere Verrückte. Und sie waren gefährlich … Er fand eine Sense, holte sie sich und fühlte sich danach etwas besser. Allmählich wich ohnehin wieder die vordergründige Angst um das eigene Leben. Viel mehr Sorgen bereitete ihm Sonya. Bleib, wo du bist, Kind, dachte er. Tu nicht, was du auch sonst nie tatest – früh heimkommen …! Er wartete darauf, jemanden aus der Stallung heraustreten zu sehen. Zwar lag das Tor nicht in Blickrichtung, aber wer auch immer darin gewütet hatte, er mußte irgendwann hinter einer der Ecken hervorkommen! Er kam nicht. War es möglich, daß Plotnicka und sein Komplize verschwunden waren? In irgendeinem kurzen, unwachsamen Moment? Die Kälte kroch immer zwingender in Oleg Karpinskys Körper. Er trug keinen Mantel, nur eine Kutte, an der Bilder der Apostel Petrus, Johannes und Paulus sowie des Erzengels Gabriel an silbernen Kettchen baumelten und bei der kleinsten Bewegung leise klirrend gegeneinander schlugen. Als eine halbe Stunde ereignislos vergangen war, faßte er den Stiel der Sense fester und trat mit vorsichtigen Schritten hinaus auf den Hof. Keine Fensteröffnung der Stallung befand sich in Blickrichtung, deshalb ging Karpinsky davon aus, daß sein Näherkommen unbemerkt blieb. Die überall vorhandenen Ritzen in der Verbretterung verhinderten jedoch, daß er sich dessen uneingeschränkt sicher sein durfte. Kurz bevor er den Stall erreichte, streifte Karpinsky seine Heiligenbildchen über den Kopf und steckte sie in die einzige Tasche sei-
ner talarähnlichen Kutte. Das Klimpern erstarb. Die Stille wurde absolut, so daß der weißbärtige, gottesfürchtige Mann sich sekundenlang überhaupt nicht mehr zu regen wagte. Er hatte Stille noch nie so bedrohlich empfunden wie in diesem Moment. Die Sense wog immer schwerer in seiner Hand. Es war, als wollte sie ihn dazu verführen, sie in den Staub des Hofes zu legen. Du brauchst mich doch nicht, schien sie ihm zuzuraunen. Du hast deinen Glauben – er ist deine wirksamste Waffe! Es stimmte. Allerdings mit der Einschränkung, daß sein Glaube einmal stark gewesen war. Momentan fühlte Karpinsky sich, als wären all die Jahre, in denen er sich seine Bibelfestigkeit angeeignet hatte, umsonst gewesen. Er zitterte nicht vor Kälte. Das war Angst. Und nur Zweifel konnten solche Furcht hervorbringen. Endlich ging er weiter. Er spähte um die Ecke der Stallung und fand den Hof dort ebenso verlassen wie überall. Das Tor jedoch stand exakt so weit offen, daß sich ein Erwachsener mühelos hindurchdrängen konnte. Auch das besagte nicht, ob Plotnickas Komplize wieder gegangen war. Oleg Karpinsky wußte, daß er zwei Möglichkeiten hatte: Er konnte sich irgendwo verkriechen – oder er mußte den Mut aufbringen, sich gegebenenfalls einem Jüngeren und Stärkeren zu stellen. Er hatte die Sense. Was der andere hatte, wußte er nicht. Der Gedanke an Sonyas mögliche Rückkehr gab den Ausschlag. Karpinsky ging weiter. Zum erstenmal bedauerte er die Abgeschie-
denheit seines Hofes. Als er am Tor ankam, zog er es vollständig auf. Die Faust, die die Sense hielt, wirkte wie aus bleichem Holz geschnitzt. Kein Schatten fand bis hierher auf die Lichtung. Die schräg am Himmel stehende Sonne fiel genau in die Toröffnung und teilte das Innere in eine schmale Fläche gleißender Helle und in einen überwiegenden Bereich düsteren Halbdunkels. Oleg Karpinskys Augen und Lippen klafften auf, als er sah, was mit seinem Vieh geschehen war. Doch der Anblick der entlang der Tröge liegenden, noch dampfenden Kadaver rückte durch den Täter sofort in den Hintergrund. Karpinsky hatte ein Gefühl, als durchtrennte ihm jemand mit einem scharfen Skalpell die Verbindung zwischen seinen beiden Hirnhälften. Irgendein Schmerz ungeahnten Ausmaßes sprengte ihm fast die Schädeldecke, als er den Schwachsinnigen mit angezogenen Beinen wie einen Satyr auf einem der hingemetzelten Tiere sitzen sah. Der Mann war zwischen zwanzig und dreißig Jahren alt. Und nackt. Er hatte einen perfekt modellierten, schlanken und doch sehr kräftig Wirkenden Körper. Sein schwarzes Haar war kurzgeschnitten und sah aus, als hätte sein Träger es sich selbst gestutzt. Im linken Ohr prangte ein zu klein wirkender, halb in den Knorpel gewachsener Ring … Aber all das war Nebensache. Hauptsache war, daß der perverse Schlächter Oleg Karpinsky völlig gelassen und entspannt entgegenblickte. Als hätte er schlimme Entbehrungen gelitten und sie gerade blutig gestillt, dachte der Mann mit der Sense. Er schwankte wie eine Ähre im Wind. Im selben Moment, als er den Augen dieses Fremden begegnete, fragte er sich, was er mit dem Werkzeug in der Hand wollte.
Es war nutzlos. Karpinsky wußte nicht einmal, was er angesichts dieses Zeugnisses purer Tötungslust noch sagen sollte. Jedes Wort schmeckte schal, bevor es ausgesprochen war. Es war zu spät. Keines seiner Tiere hatte die Greueltat überlebt. Karpinskys schweifender Blick fand nicht einmal heraus, womit sie umgebracht worden waren. Die Hände des Nackten waren leer. Irgendwo nahe des Tores lag ein hingeworfenes Bündel, das wie ein Frauenkleid aussah. Kleidung, die man dem Mann hätte zuordnen können, war nirgends zu entdecken. Bleich und schwach stand Karpinsky da. Das Blut auf der Haut von Plotnickas Komplizen rief ihm die Qualen in Erinnerung, die das Vieh hatte ausstehen müssen, ehe der Tod es erlöste. Endlich fand er seine Stimme zurück. »Warum hast du das getan?« Fremde Augen schienen ihn zu verschlingen. »Weil nichts anderes da war, Blödmann!« fauchte der Unmensch. Karpinsky taumelte im Sturm ihm entgegenschlagender Verachtung, und er dachte mit einem Gefühl, als bade er in flüssigem Eis: Ich bin da. Jetzt bin ICH ja da … Er wankte in den Stall. Er warf die Sense in den Dreck, weit von sich fort. Was sollte er damit? Diesem wundervollen Scheusal etwas antun? Von draußen klang Motorengeräusch herein. Ein schweres Fahrzeug bahnte sich den Weg in den Hof. »Endlich«, seufzte der Fremde. Das Blut wirkte wie die rituelle Zeichnung eines Kriegers. Sonya, dachte Karpinsky. Sonya müßte ihn kennenlernen, unbedingt.
Wo bleibt sie nur? Sie wird ihn noch verpassen. Wie hübsch er ist … Der Motorenlärm erstarb. Eine Tür schlug. Karpinsky wollte weiter auf den Nackten zugehen, aber dessen Geste gebot ihm, stehenzubleiben. Jakub Plotnicka überholte ihn in Demutshaltung. »Soll ich anfangen?« fragte er, als er einen Schritt vor dem Mann innehielt. »Was meinst du? Könnte es wohl Sinn machen?« Der Nackte bleckte die Zähne. Etwas Unbegreifliches geschah. Oleg Karpinsky sah, was nicht sein konnte. Er sah die Veränderung, die Besitz von der statuesken Schönheit des Fremden ergriff. Das Gesicht schien auseinanderzuplatzen und völlig neue Züge zu gebären. Hände krümmten sich wie arthritische Knochen. Ein fürchterliches Gebiß lachte Plotnicka entgegen. Der ging vor dem wundervollen Scheusal in die Knie und bog den Kopf in den Nacken. Sein Hals spannte. Der Adamsapfel sprang provozierend hervor. Karpinsky verstand gut, daß der Fremde sich nicht beherrschen konnte. Die weit aus dem verzerrten Mund herausragenden oberen Eckzähne bohrten sich in die hervortretende Ader Plotnickas. Ein paar Tropfen Blut quollen an den Rändern der entstehenden Male hervor. Dann stülpten sich Lippen über die Wunde. Wangen blähten und spannten sich wie ein Blasebalg. In den Augen der männlichen Ikone blitzte etwas nie Zähmbares. Selbst während er trank, leuchtete die Gier wie ein ewig loderndes Fanal. Plotnicka fing plötzlich an zu zappeln. Er schrie röchelnd und qualvoll. Dann wurde sein Körper übergangslos schlaff. Der Mund löste sich wie ein Blutegel von ihm. Plotnicka stürzte tot zu Boden. Sein Mörder beugte sich vor und zog ihn am Kopf zu sich hoch. Dann hielt er inne. Mahlende Worte erreichten Karpinsky, der im-
mer noch wie angewurzelt dastand und hoffte, von der Gunst, die Plotnicka erfahren hatte, nicht ausgeschlossen zu werden. »Kannst du Auto fahren?« Karpinsky schüttelte den Kopf. Der Fremde stieß Plotnicka zurück auf den Boden, und Karpinsky fragte sich unwillkürlich, was geschehen wäre, wenn er die eben gehörte Frage bejaht hätte. »Dort liegt die Sense. Hol sie dir!« Er gehorchte, ohne nachzudenken. »Ich habe einmal traniges Blut von deinesgleichen gekostet – ich bin nicht scharf auf eine Wiederholung. – Töte dich!« Nein, dachte Karpinsky, von der Benachteiligung erschüttert. Ich will auch … Der Wunsch zerfaserte. Er richtete die gebogene Schneide der Sense gegen seinen Bauch … »Neeiiinnn!« Er stoppte. »Sonya«, rann es über seine Lippen. »Ich dachte schon, du kämst nie …«
* Sydney Als Beth allein vom Flughafen Kingsford Smith zurückkehrte, erinnerte sie sich genau der Warnung, die Lilith ihr zum Abschied eingetrichtert hatte: »Meide dein Apartment bis zu meiner Rückkehr wie die Pest! Ich traue Felidae nicht – nicht einmal in diesem Zu-
stand!« Beth sog scharf die Luft ein. Sie bemühte sich nicht länger um Verstellung. So wie sie jetzt hinter dem Steuer ihres Winzlingswagens saß und zur Redaktion des Sydney Morning Herald fuhr, so war sie. Geworden. Na und? dachte sie kühl. Schließlich habe ich ein Anrecht auf mein Leben. Sie hoffte, daß Lilith nie mehr zurückkehren würde. Landru, wieder im Besitz des Kelchs, sollte seine Widersacherin endlich beseitigen. Sie war nun zu nichts mehr nütze! Beth glaubte nicht an die »Diebstahlsicherung«, von der Felidae gesprochen hatte. Und selbst wenn sie die Wahrheit gesagt hätte, würde Landru sich gewiß nicht noch einmal den Lilienkelch entwenden lassen! Ein zweites Mal konnte er von niemandem bestohlen werden! Als sie das Redaktionsgebäude betrat, wußte die attraktive Reporterin genau, was sie wollte. Nach richtiger Arbeit war ihr heute nicht. Ihre Persönlichkeit war einmal von den Nachwirkungen der magischen Seuche und ein zweites Mal von der Begegnung mit Landru durcheinandergewirbelt worden. Sie wartete jeden Tag darauf, daß er sich bei ihr melden und sie zu sich holen würde. Sie wußte, daß er keinen Willen neben seinem eigenen duldete, und hatte sich ihm längst unterworfen. Das, was sie immer noch an Selbstbewußtsein vorspiegelte, war ebensolche Maskerade wie die ungetrübte Freundschaft, die sie Lilith gegenüber mimte. Was das anging, hoffte sie wirklich inbrünstig, daß dieses Kapitel abgeschlossen war. Wenn Lilith Landru wirklich aufspürte, würde dies ihr Ende bedeuten … Niemand begrüßte sie, als sie das Großraumbüro betrat. Aber Leute mit einem ganzen Geschwader von »Freunden« waren ihr immer
suspekt gewesen. Sie legte keinen Wert auf Prestige. Ihr Blick wanderte kurz zur Glasloge des Chefredakteurs. Der spindeldürre Moe Marxx saß mit gezücktem Rotstift tief über einen Text gebeugt. Vermutlich ergötzte er sich einmal mehr daran, die Arbeit eines ihm Unterstellten zu vernichten. Beth lächelte. An Moe fand sie allmählich Gefallen. Man mußte ihn nur zu nehmen wissen, dann war er eine aufrichtige Haut … Mit entschlossenen Schritten ging sie zu Allister Harris, dem Volontär, den sie mit einem vertraulichen Auftrag betraut hatte. Als der Junge sie nahen sah, bekam er knallrote Ohren und vertiefte sich ins Sortieren der Eingangsfaxe. Beth ging gnadenlos weiter. Als er das nächste Mal aufsah, stand sie bereits direkt vor ihm, und er konnte nur noch verkrampft in Richtung Marxx zeigen. »Bitte«, hauchte er. »Verschwinden Sie! Der Alte hat mich auf dem Kieker!« »Noch mehr als sonst?« lag Beth die Frage auf der Zunge. Aber sie beherrschte sich, wühlte kurz in gespielter Teilnahmslosigkeit in den Faxen und schwenkte dann umgehend zu ihrem Schreibtisch ab. Marxx hatte von ihrer Stippvisite nichts mitbekommen. Sie ließ sich auf ihren Stuhl nieder und griff nach dem Telefonhörer. Harris hob ab. Sie konnte sein verkniffenes Gesicht sehen, als sie fragte: »Behandelt man so eine Verehrerin?« »Marxx macht mir die Hölle heiß, wenn er erfährt, daß ich Ihnen einen Gefallen tue«, erwiderte Harris beschwörend. »Tust du das denn?« fragte sie gedehnt. »Es war nichts dabei …«, versicherte er. »Du hältst doch weiter die Augen offen? Von besonderem Interesse ist Osteuropa. Polen …«
Er schwieg. »Vielleicht sollten wir einmal zusammen ins Kino gehen?« sagte sie. »Wie wäre es mit heute abend? Sag mir aber lieber gleich, wenn ich zu alt für dich bin …« »Zu alt?« Er errötete noch stärker. Daraufhin nannte sie ihm, in der Hoffnung, den Abend zu erleben, ihr Hotel und die Zimmernummer. »Sie wohnen im Hotel?« »Vorübergehend. Wir können uns auch bei dir treffen.« »Nein. Das geht nicht. Ich wohne bei meinen Eltern.« »Wie praktisch. Bis heute abend also?« »Vielleicht …« »Noch eine solche Beleidigung, und ich verabrede mich mit Moe.«
* Sonya … Lazarus lockerte die Zügel. Etwas Unerhörtes geschah mit ihm, als das Mädchen hinter dem Alten auftauchte und einen hohen Schrei ausstieß. Geschmeidig glitt er vom Aas, das ihm als Unterlage gedient hatte. Mit kaum wahrnehmbarer Schnelligkeit erreichte er das Tor und fühlte, daß bereits dies einen Teil von der wiedergewonnenen Energie stahl. Das Blut der Tiere war von geringem Gehalt gewesen und Jakubs alt und zäh. Aus den Augenwinkeln sah er ihn sich bewegen. Der Vampirkeim infizierte den Toten mit der Illusion, fortzuleben.
Ein unnützer Esser mehr, dachte Lazarus. »Kannst du Auto fahren?« fragte er das Mädchen, das ihn anstarrte wie ein Monster. Vielleicht störte sie aber auch nur seine Blöße. Ihn störte nichts an ihr. Er hätte nicht erwartet, daß er je Gefallen an einem Menschen finden könnte. »Vater …«, rann es über ihre prallroten Lippen. Sie hatte glattes blondes Haar und ein feingeschnittenes Gesicht. Der Mantel, den sie trug, war unverzeihlich. Er verbarg eine Figur, die Lazarus zum Beben brachte. Er wußte nicht, wie ihm geschah. Die grausige Umgebung – das Grauen, das er angezettelt hatte – verschwand völlig aus seiner Wahrnehmung. »Ich habe keinen Führerschein«, sagte sie. »Aber ich weiß, wie man fährt.« Ihr Schrei war verstummt. Sie starrte ihn an. Lazarus wußte, daß auch sie nur noch Augen für ihn hatte. Dafür sorgte er. »Warte«, sagte er. An seinem Körper spielten Muskeln in vollendeter Harmonie, als er zu Jakub zurückeilte und der gerade erwachten Dienerkreatur, die vertrauensvoll zu einem »Herr …?« ansetzte, das Genick brach. »Ist das dein Vater?« fragte er Sonya, als er zu ihr zurückkehrte. »Ja.« »Kannst du dir vorstellen, ihn zu verlassen?« »Nein.« »Dann komm.« Er reichte ihr die Hand und führte sie hinaus in den Hof. »Kannst du mir etwas zum Anziehen besorgen?« »Im Haus …« Lazarus genoß das Gefühl, das ihn in Sonyas Nähe durchströmte.
Obwohl ihn nach ihrem lebendigen, beseelten Blut verlangte, beherrschte er sich. »Du bist schmutzig«, sagte sie. »Blut«, sagte er. »Es ist Blut, kein Schmutz.« »Willst du dich waschen?« Keine Zeit. Mir bleibt keine Zeit … »Das will ich«, überraschte er sich und tastete mit seinen Gedanken nach dem Kelch, der ganz nahe war, aber keinen Trost spendete und in keiner Sekunde, die sie unterwegs waren, die Einsamkeit auch nur linderte. Als Sonya ihn ins Haus führte, empfing ihn eine abstoßende Atmosphäre. Und als sie mit ihm gar einen ganz bestimmten Raum durchschreiten wollte, prallte Lazarus regelrecht zurück. Vereinzelte Kruzifixe oder andere Reliquien machten ihm nichts aus. Aber dieser geballten Ladung hatte auch er keine wirksamen Schilde entgegenzusetzen … »Gibt es einen anderen Weg?« Sie nickte, schloß sorgfältig die Tür und umging die Stube durch einen engen Korridor. »Hier kannst du dich waschen«, sagte sie, als sie einen kargen Raum erreichten, der nur Reinigungszwecken und einem Bedürfnis, das Lazarus unbekannt war, diente. »Hilf mir«, verlangte er. Sie ließ Wasser in eine Wanne ein. »Wie heiß willst du es?« »Kalt«, erwiderte er. Als er sich später hineingleiten ließ, überkam ihn dennoch wohliges Behagen. Sie wusch ihm die Haut mit einem wassergetränkten Lappen und Seife. Überall. Die Ahnung eines ihm fremden Begehrens erwachte, als sie sich länger als nötig seinem Glied widmete,
aber er wußte nichts damit anzufangen. Minuten später schlüpfte er in Kleider und Schuhe, die sie ihm brachte. »Gefalle ich dir?« fragte er ohne Koketterie. »Ich … weiß nicht …« »Hilfst du mir?« »Wenn du es willst …« »Ja«, sagte er. »Ja!«
* Sydney Beth sperrte die Tür ihres Apartments auf. Selbst das leise Knacken, das die Drehung des Schlüssels verursachte, erschien ihr viel zu laut und verräterisch – und das bei ihrer eigenen Wohnung! Ihre Nerven vibrierten noch, als sie die Schwelle überschritt. Dann bekam sie sich wieder in den Griff und redete sich ein, es gäbe überhaupt keinen Grund zur Sorge. Eine sehr naive und blauäugige Einschätzung. Die wahre Dimension der Gefahr verdrängte sie. Felidae hatte sich zwar von ihrer Umwelt abgeschottet – wieviel sie dennoch weiterhin von ihrer Umgebung wahrnahm, blieb ungewiß. Trotzdem muß ich es tun! suggerierte Beth sich. Zumindest versuchen … Ein Geräusch radierte den Fortgang des Gedankens aus. Beth bildete sich ein, jedes natürliche Geräusch dieser Wohnung
zu kennen. Das eben zählte nicht zu dieser Kategorie. Es kam aus dem Schlafzimmer, dessen Verbindungstür offenstand. Sie spürte eine untypische Schwere in den Beinen. Die Zweifel, ob sie sich nicht zuviel vorgenommen hatte, wuchsen. Nebenan wartete eine Bestie, eine Mega-Killerin, über deren Fähigkeiten immer noch wenig bekannt war. Sicher schien nur, daß Felidae auch nach Verlust des Kelchs noch über ein hohes Maß an Magie gebot. Magie! Früher hatte Beth nicht mehr als ein Lächeln für diese Form der Gaukelei – wie sie es empfand – übrig gehabt. Auch das hatte sich geändert. Sie gab sich einen Ruck und durchquerte das fast leere Wohnzimmer. Noch immer war sie nicht dazu gekommen, sich neu einzurichten. Sie bedauerte, die skurrilen Designermöbel auf Landrus Rat hin wieder verkauft zu haben. Auch das gehörte zu jener Farce, mit der Lilith überzeugt worden war, daß sich Beth’ Gefühlswelt wieder normalisiert habe. Auf das ursprüngliche Level, bevor eine kleine Ratte die Reporterin gebissen und mit dem magischen Keim eines entarteten Schöpferwesens infiziert hatte.* Es schien Beth eine Ewigkeit her. Das Leben vor ihrer jetzigen Weltanschauung war etwas Vages, Verschwommenes, das ebensogut einer völlig fremden Person hätte gehören können. Beth wollte um nichts in der Welt zurück. Sie wollte nie mehr die kleine, versteckspielende Lesbierin sein. Sie hatte Gefallen am anderen Geschlecht gefunden und verspürte, was das anging, einen ungeheuren Nachholbedarf …
*siehe VAMPIRA 16: »Die Pest in Sydney«
Durch die offene Schlafzimmertür war der Blick frei zum Bett. Dieses Möbel hatte Beth nicht veräußert. Aber es gehörte auch nicht mehr ihr. Es gehörte einem Ding von düsterer, beklemmender Ausstrahlung. Ein Sarkophag, dachte sie. Es sieht aus wie die Bestattungsmaske eines Pharaonen. Details fehlten jedoch völlig an dem »Kokon«, der da auf ihrem Bett lag. Es gab keine kunstvollen Verzierungen, es gab nur die in ihrer Grundform einem menschlichen Körper nachempfundene Hülle aus lackschwarzem Material. Lilith hatte berichtet, der Kokon wäre aus unzähligen »Fäden« gewoben worden. Davon sah man nichts mehr. Die Oberfläche wirkte rauh, aber dennoch ineinander verschmolzen. Beth stand in der Tür und starrte auf die Schale, unter der sich Felidae befinden sollte. So recht glauben konnte sie es nicht. Was, wenn sie betrogen worden waren? Wenn Felidae längst irgendwo ihr Unwesen trieb, während sie hier nur eine leere, undurchsichtige Hülle hinterlassen hatte …? In diesem Moment wiederholte sich das undefinierbare Geräusch von vorhin – und sein Ursprung lag eindeutig in dem Gehäuse. Es hörte sich an, als würde ein straff gespanntes Seil zerreißen. Lag Felidae gar nicht so passiv darin, wie sie angekündigt hatte? Es war müßig, darüber nachzudenken. Beth widerstand dem Verlangen, näherzugehen und die Oberfläche des Kokons zu berühren. Irgendwo in ihr nistete die Angst, etwas könnte nach ihr und ihrem Blut greifen. Beides aber gehörte nur noch einem. Landru. Sie wandte sich ab und wechselte in die Küche, wo noch eine der
mit Acryl besprayten und im Tod zu bizarrer Schönheit konservierten Zimmerpflanzen stand. Sie hatte sie aus zweierlei Gründen aufgehoben. Einmal, weil sie das schrille Seifmade-Kunstwerk schön fand. Und zum anderen, weil es ein Versteck war. Sie bückte sich und grub ihre Finger in das bröselige, knochentrockene Erdreich. Problemlos fand sie den gesuchten Widerstand und zog den Dolch hervor. Seine Klinge war etwa fünfzehn Zentimeter lang und fast so schmal wie bei einem Stilett. Der Griff wies keinerlei Schnörkel oder Besonderheit auf. Alles, was ihn außergewöhnlich machte, steckte in ihm. Landru hatte ihn ihr geschenkt – bei ihrer ersten Begegnung. Die Waffe war auf Vampire »geeicht«, und einmal hatte Beth bereits damit getötet. In der Wohnung von Paul Kravetz, als die Blutsauger über Lilith und sie hergefallen waren. Kravetz war bei diesem Überfall umgekommen.* Beth hielt sich nicht lange mit der Betrachtung der Waffe auf. Sie kehrte ins Schlafzimmer zurück. Auch Felidae war eine Vampirin. Die Frage war, ob dem Kokon beizukommen war … Wieder ließ ein Geräusch aus dem Innern der schwarzen Schale Beth innehalten. Unentschlossen versuchte sie sich über ihren Mut klarzuwerden – und näherte sich dann vorsichtig weiter dem Ding, das sie zu Felidaes Grab machen wollte. Jemand würde sterben, sobald sie es wirklich wagte, die Ruhe der Vampirin zu stören. Entweder Felidae oder sie. Beth umfaßte den Dolchgriff mit aller Macht, als wollte sie damit
*siehe VAMPIRA 17: »Der Schattenbote«
zustoßen. Die Klinge ragte unten aus ihrer Faust. Ihr Herz schlug bis in die Fingerspitzen. Die Reporterin hatte das Gefühl, der Rhythmus ginge auf das kühle Metall über und brächte es zum Schwingen. Sie konzentrierte sich, bezähmte ihren Atem. Der Puls blieb in schwindelnder Höhe, als sie die Spitze des Stahls entschlossen dort auf die Schale setzte, wo sie Brust und Herz der Eingeschlossenen vermutete. Beth wußte nicht, woraus diese Schale wirklich bestand. Stoffliche Magie? Es war gleichgültig. Wichtig war nur, daß diese besondere Klinge aus Landrus Hand die lackschwarze Hülle wie Fleisch durchdrang, hineintauchte und nur geringen Widerstand zu überwinden hatte! Beth hielt überrascht inne. Sie hatte es sich nicht so leicht vorgestellt. Weiter! dachte sie. Es gab kein Zurück mehr. Sie war schon so weit, daß sie es zu Ende bringen mußte. Die Schale war vom Volumen her viel größer als Felidae, was bedeutete, daß sie den Körper der Vampirin nicht hauteng ummantelte, sondern ein gehöriger Zwischenraum bestand, der von der Klingenlänge nicht zu überbrücken war. Beth blieb nur die Hoffnung, den dunklen Panzer zumindest bruchstückhaft beseitigen zu können. Die Klinge fraß sich weiter. Als sie ein quadratisches Stück nachgezeichnet hatte, löste sich das Viereck vor Beth’ Blicken auf. Es war, als würde es verpuffen. Licht löschte die Finsternis, die hinter dem schwarzen Nebel lauerte, und – Beth verkrampfte. Sie sah kein Riemengeflecht, nur kühlen Glanz, der aus der Öffnung schimmerte. Etwas Bleiches, Schuppiges … Das sollte Felidae sein?
Überwunden geglaubte Angst schnürte Beth die Kehle zu. Dennoch wollte sie es zu Ende bringen. Schnell. Sie holte mit dem Dolch aus, um ihn durch die Schlangenhaut zu stoßen. Bevor es gelang, stieß etwas ihr entgegen. Aus dem Kokon. Zwei haarfeine »Drähte« bohrten sich an ihren Augäpfeln vorbei in den Bereich hinter den Höhlen. Es brannte wie Säure, als sie sich in Beth’ Gehirn verankerten. Der Schmerz war so groß, daß sich ihre Finger im Reflex spreizten und den Dolch fallen ließen. Sie hörte es schon nicht mehr. Auch nicht das gedämpfte böse Lachen, das aus dem Panzer zu ihr herauf drang. Die einzige Erkenntnis, die sie noch gewann, war, daß sie sich mit dieser Aktion keinen Gefallen getan hatte. Ganz im Gegensatz zu Felidae …
* Als das Flugzeug in Warschau landete, war Lilith auf Kälte vorbereitet. Aber nicht darauf, daß der Frost die Herzen der Menschen umklammert hielt. Das Gewimmel in der Abfertigungshalle des Flughafens war schlimm. Überall begegnete man verschlossenen Mienen, kaum einem Lächeln. Vielleicht lag es daran, daß der Flug aus Sydney mehr als drei
Stunden nur in einer Warteschleife über der polnischen Hauptstadt gekreist hatte; offenbar keine Ausnahme, sondern die Regel. Entsprechend wenig belastbar wirkte das Luft- und Bodenpersonal. Von den Passagieren ganz zu schweigen. Lilith war noch nie froher gewesen, wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren. Sie brachte die leidige Paßkontrolle hinter sich, obwohl das, was sie vorzeigte, eindeutig nicht ihr Ausweis war. Ticket und Paß lauteten auf Elisabeth MacKinsay. Beth hatte ihr nun schon zum zweitenmal einen älteren Reisepaß überlassen. Das Konterfei darin zeigte die blonde Reporterin. Aber Lilith verließ sich ganz auf ihre »Überzeugungskraft« und hatte Erfolg. Es gab keine Beanstandungen. Aber sie haßte es, mit diesen hypnotischen Tricks zu arbeiten. Irgendwann mußte es schiefgehen. Vor dem Flughafengebäude wurde sie von einer ganzen Taxi-Flotte empfangen. Die Fahrzeuge wiesen unterschiedlichste »Schrottreife« auf. Lilith entschied sich für einen mißmutig winkenden Chauffeur, der ihr gleich beim Näherkommen lustlos zu verstehen gab: »Ihren Koffer müssen Sie aber selbst holen. Ich bin Fahrer, kein Kuli!« Ein stolzer Mann. Lilith faßte ihn kurz ins Auge. »Ich habe kein Gepäck«, sagte sie, während sie bereits in den Fond des Wagens stieg. Der Fahrer brummte etwas Unverständliches. Nachdem er sich hinter das Steuer geklemmt hatte, wurde er verständlich: »Haben Sie ein bestimmtes Hotel gebucht?« »Kein Hotel. Ich will nach Frombork.« »Mit dem Taxi?« Er lachte ohne einen Funken Humor. »Was spricht dagegen?« Lilith amüsierte sich, ohne zu lachen. »Daß Sie das nie bezahlen könnten.«
»Wir werden sehen.«
* Endlos war die Gier. Endlos der Zorn. Lazarus wußte, daß er ausbrannte. Bei lebendigem Leib. Ein unlöschbares Feuer verzehrte ihn. Schuld daran war nicht das zu erfüllende Programm, sondern derjenige, der ihn mit seinem Blute erschaffen und in diese Rolle gezwungen hatte. Der ihn als Menschenkind gestohlen und zum Monstrum vergewaltigt hatte. Hätte er darauf verzichtet, den Lilienkelch wieder seinem Zweck zuzuführen, wäre Lazarus nie erweckt worden – dann wäre ihm alles erspart geblieben. Dieses endlose Sterben vom Moment der »zweiten Geburt« an. »Vater …«, rann es qualvoll über seine Lippen. »Ich hasse dich, Vater!« Wenn er sich anstrengte, meinte er ein Echo der erstickten Kinderseele in sich finden. Er selbst hatte keine Seele. Kein Vampir besaß eine solche – oder doch? Sein Blick glitt zu Sonya und tastete in platonischer Sehnsucht über ihre Formen, ihre zarten Rundungen. Dann schaute er zurück auf die fette Rauchsäule über dem Wald, ungefähr dort, von wo sie vor einer guten halben Stunde aufgebrochen waren. Lazarus knetete seine Hände. Sie waren rauher als noch am Morgen. Vielleicht lag es am Baden. Immer wieder, während die waldreiche Landschaft vorüberzog,
kehrte sein Blick zu der schönen jungen Frau mit den weißblonden, seidig glänzenden, glatt fallenden Haaren zurück. Sie war ihm in den Wagen gefolgt und hatte geholfen, die Leichen herauszuholen. Seitdem sagte Lazarus ihr, wohin es ihn zog. Er wußte die Richtung. Er spürte sie, als wäre er ein hochempfindlicher Kompaß. Er wußte nicht, wem er das Unheiligtum bringen sollte, das düster zwischen seinen Schenkeln ruhte und dort gegen etwas anderes drückte, für das Lazarus keine Verwendung hatte. Zumindest kannte er sie nicht. Der strenge Geruch im Innern des Wagens stammte von den Kanistern, mit denen der ganze hintere Bereich gefüllt war. Einige waren nachlässig zugeschraubt oder leckten. Lazarus hoffte, weit damit zu kommen. Aber er wußte nicht, wie weit nötig werden würde. Sonya saß still am Steuer. Ihr Anblick hatte etwas, das ihn befremdete und gleichzeitig süchtig machte nach mehr: Trost. Was war der Zauber, der sie umgab? Wieso fiel er trotz bohrenden Hungers (ja, ihn hungerte SCHON WIEDER) nicht hier, auf der Stelle, über sie her? Er mußte sie ja nicht gleich töten. Er konnte ja nur ein wenig von ihr kosten, um das Brennen und Stechen in seinen Eingeweiden zum Schweigen zu bringen … NEIN! Sie war so schön. So makellos. Er durfte nichts daran ändern. War das die Wahrheit? Sollte er sich eine Gefährtin suchen, um den Kelch zu seinem legitimen Besitzer zurückzubringen?
Lazarus brütete angestrengt über dieser Frage. Er fühlte, wie er sich veränderte. Minuten genügten seinem Körper, um die Haare sprießen zu lassen. Er band sie hinter dem Kopf zusammen, aber manchmal half nichts anderes, als sie abzuschneiden. Er tat es selbst, obwohl ihn danach sehnte, daß Sonya es übernahm. Aber er wollte deshalb auch nicht anhalten. Bewegung war wichtig. Fortkommen … »Schneller«, seufzte er. Seine Stimme klang belegt, wie eingerostet. »Fahr schneller!« Sie streckte das Bein. Der Transporter machte einen regelrechten Satz. Die Bäume rechts und links der Straße wischten nur noch vorbei. Mit Mühe vermochte Sonya den Wagen in der nächsten Kurve auf der Spur zu halten. »Etwas langsamer«, sagte Lazarus. Bis er zufrieden war, dauerte es Minuten. Sonya gab kein einziges Widerwort, und mit Fortdauer ihrer Gesellschaft empfand Lazarus dieses Schweigen als unangenehm. Er lockerte die unsichtbaren Zügel, ›probierte‹ auch hier, bis ihm Sonyas Verhalten gefiel. Aber je mehr er die Blockade zurücknahm, desto mehr provozierte er Fragen. »Was hast du mit meinem Vater gemacht?« fragte sie spröde. »Nichts«, log er. Die plötzliche Scham, ihr die Wahrheit zu sagen, verblüffte ihn mehr als alles übrige. Stumm lenkte sie den Wagen weiter durch die einsame Landschaft. Sie fuhren keine Hauptverkehrsadern entlang. Die Gegend blieb ländlich. Aber die Richtung war in Ordnung. »Du kennst dich hier aus?« fragte Lazarus.
»Nein.« Lazarus war verblüfft. »Bist du nicht hier aufgewachsen?« »Mein Vater ist ein strenger Mann …« War, dachte Lazarus. Hör auf, ständig von ihm zu reden! Er hörte sich an, was sie ihm von ihrem Leben in der Abgeschiedenheit zu berichten hatte. Es lenkte ihn angenehm von der Folter in seinem Körper ab. Von dem Martyrium, das neue Opfer verlangte. Neues, warmes, frisches … »Blut!« sagte Sonya plötzlich und beugte sich zu ihm herüber. Sie ließ mit einer Hand das Lenkrad los und wischte ihm über die Mundwinkel. »Woher – kommt es? Hast du dich verletzt? Soll ich anhalten?« Er hütete sich, ihr zu erzählen, daß er kurz vor der Abfahrt noch einmal in den Stall geschlüpft war und aus Jakubs erkaltetem Körper getrunken hatte. Die Gier hatte sich des nicht vollständig geleerten Leibs erinnert … »Nein. Unter gar keinen Umständen anhalten – außer zum Betanken. Die Zeit drängt!« »Wohin müssen wir eigentlich? Weit weg von zu Hause?« Er hatte alle Erinnerung an die Greuel, die sie gesehen hatte, in ihr getilgt. Aber wie es aussah, mußte er noch mehr Kosmetik betreiben, um die Sprache nicht immer wieder auf ihren Vater und den Ort ihres Aufwachsens zurückzubringen. Wie lang sich die Schilderung ihrer Kindheit und Jugend, wie langsam ihr Leben sich anhörte! Es war eine erlebnisreiche Spanne, und das, obwohl ihr Vater sie eifersüchtig vom Weltlichen ferngehalten hatte. »Ja«, sagte er flach. »Weit.« Dann krümmte er sich, weil die Begierde sich nicht mehr täuschen
ließ. Weil die Falten, die seine Haut zerfurchen wollten, bereits darauf warteten, über ihn herzufallen, wenn er nicht … »Halt an!« befahl er dunkel. »Ich dachte, ich soll nicht …« Er griff an ihr vorbei und zog den Schlüssel während der Fahrt aus dem Zündschloß. Der Motor erstarb, aber der Wagen rollte mit hohem Tempo weiter, weil Sonya offenbar die Kupplung trat. »An-hal-ten!« befahl er. Diesmal blieb ihr keine Wahl. Stotternd kam der Kleinbus am Straßenrand zum Stehen. Sonya wandte ihm das Gesicht zu. Ihre Augen wirkten, als wäre alles, was diese Frau ausmachte, darin gefangen. Aber Lazarus las keinen Vorwurf. Was sollte er tun? Es gab niemanden mehr außer ihr! »Komm herüber!« sagte er rauh. Sie blieb sitzen, als wüßte sie nicht, was er meinte. Er klammerte die Hände um den Kelch in seinem Schoß. Das Knirschen seiner Knochen und Gelenke war schon seit Stunden verstummt. Außer dem Seelenecho des Kindes, das er einmal gewesen war, geisterte nichts mehr durch diese Hülle. Zäh wälzte sich Blut, von einem träge schuftenden Herzen angetrieben. Unhörbar. In diesem Augenblick sagte Sonya: »Polizei.« Er sah, daß ihr Blick in den Außenspiegel auf der Fahrerseite gerichtet war. (Spiegel … Kein Spiegel zeigt das wahre Leben …) »Polizei?« wiederholte Lazarus und empfand eine Erleichterung,
die ihn selbst befremdete. Dann beugte er sich zu Sonya und wunderte sich, daß seine Augen Spiegelungen erkennen konnten, obwohl die Augen, das Gesicht und alles andere des Vampirs davon verleugnet wurden. Ein Wagen näherte sich mit eingeschalteten Scheinwerfern, obwohl es erst Nachmittag und weder regnerisch noch dämmrig war. Er kam mit hohem Tempo auf sie zu, fuhr an ihnen vorbei – und bremste ab. »Guuut«, flüsterte Lazarus, der durch die Heckscheibe des Polizeiautos sah, daß es mit zwei Personen besetzt war. Zwei drahtige Männer unter Dreißig. Sonya wirkte irritiert über seine Freude. Er befahl ihr, sich im Sitz zurückzulehnen, die Augen zu schließen und zu schlafen, bis er sie wieder weckte. Sie gehorchte. Nicht weit vom Bus entfernt stiegen die Polizisten aus. Sie waren bewaffnet. Die Revolver steckten in Gürteltaschen. Dort würden sie bleiben. Egal, was geschah. Kurz vor dem Wagen teilte sich das Duo. Einer näherte sich der Fahrertür, der andere der Seite, auf der Lazarus saß. Mißtrauen prägte die Mienen, vermutlich schon von Berufs wegen. Klackend wurden beide Türen von außen geöffnet. Die Beamten tippten sich in gestelztem Gruß an die Schirmmützen. »Was ist mit ihr?« fragte der Polizist bei Sonya und warf gleichzeitig einen Blick an ihr vorbei nach hinten auf die leeren Sitze. Auf einigen Polstern prangten kopfgroße rote Flecken. »Sie, schläft«, sagte Lazarus, während er sich selbst zurücklehnte und seufzend auf den Ausbruch wartete, dem er sich nun nicht mehr widersetzte.
»Steigen Sie bitte aus!« befahl der Beamte auf Lazarus’ Seite. Das war die letzte Äußerung seiner Laufbahn. Der Schrei der Mannes erstarb gurgelnd. Blut spritzte aus seiner zerfetzten Kehle. Lazarus bereute sofort die Vergeudung und zerrte das Opfer zu sich herein. In blinder Gier und dem Bewußtsein, niemanden fürchten zu müssen, vergaß er den anderen Polizisten, der geschockt mit ansah, was seinem Kollegen widerfuhr. Das Entsetzen lähmte ihn sekundenlang. Aber dann diktierte genau dies sein Handeln. Er zerrte die Waffe aus dem Halfter und schoß ohne Warnung. Er war kein Narr. Er sah den bestialischen Mord. An dem wie schlafend dasitzenden, vielleicht sogar toten Mädchen vorbei feuerte er sein ganzes Magazin leer. Dem anderen Polizisten konnte er, selbst wenn er auch ihn versehentlich traf, nicht mehr schaden. Er war in der ersten Sekunde gestorben. Lazarus trank noch ein paar gierige Züge, dann ließ er sich zurücksinken. Die in seinen Körper eingeschlagenen Projektile wurden von Gewebe ummantelt und bewirkten nichts anderes, als daß sein Körper um die wenigen Unzen Blei schwerer wurde. Die Einschußkanäle schlossen sich, noch während der Polizist auf wackligen Beinen die Fahrzeugseite wechselte – in gutem Glauben, den Mord an seinem Kollegen gerächt zu haben. Doch dann überlegte er es sich anders, machte auf dem Absatz kehrt und stelzte zum Dienstwagen zurück. Vermutlich wollte er Meldung über Funk machen. Geschmeidig schob Lazarus sich unter dem Toten hervor und kam federnd im Gras neben der asphaltierten Straße auf.
Auf allen vieren. Wie ein stummes, tückisches Tier heftete er sich an die Fersen des Ahnungslosen, der sich immer noch im Trauma des Schocks bewegte – und sprang ihn an. Mit einem häßlichen Fauchen bohrte Lazarus Zähne und Klauen durch den nachgiebigen Uniformstoff und zerrte den brüllenden Polizisten zwischen die nahen Bäume des schattigen Waldes. Dort durchtrennte er dessen Rückgrat, so daß er bis zuletzt am Leben blieb und atmete und sein Blut vital hielt. Am Ende nahm Lazarus den Polizeirevolver und setzte ihn an die Schläfe des Mannes. Er kehrte zu Sonya zurück, weckte sie und bat sie, weiterzufahren. Für den Moment war seine Qual nur noch Fegefeuer, nicht mehr Hölle …
* Sydney Allister Harris wußte nicht genau, ob er ein schlechtes Gewissen haben sollte oder nicht. Zu seiner Freundin hatte er gesagt, er müsse ein paar Überstunden in der Redaktion anhängen. Sie hatte ihn bedauert und getröstet und das miese Gefühl in ihm dadurch nicht gemildert. Im Gegenteil. Er war trotzdem zum Hotel gefahren. Betty war so alt wie er und ein liebes Mädchen. Sie war hübsch, aber sie wirkte ganz anders auf Harris als die verruchte Attraktivität von Macbeth. Macbeth …
Beth MacKinsays Spitzname. Eine Zeitlang war das Gerücht kursiert, die Reporterin mit der frechen Kurzhaarfrisur sei von der anderen Fakultät. Vielleicht übte dies sogar den ausschlaggebenden Reiz bei Allister Harris aus, das Spiel mit dem Feuer zu wagen … Er wußte es nicht. Er wußte nur, daß er die blonde Macbeth mit der knabenhaft schlanken Figur nicht mehr aus seinem Kopf bekam. Betty war viel üppiger ausgestattet. Aber vielleicht lag es in der Natur der Dinge, daß man immer nach dem schielte, was man nicht hatte. Es war kurz nach zehn Uhr abends, als Harris sein Auto, das er immer noch abstotterte, auf dem Gästeparkplatz des Hotels parkte und mit heißem Gesicht, feuchten Händen und klopfendem Herzen das Foyer betrat. Es herrschte nur wenig Betrieb, aber der Portier empfing ihn mit einer Steifheit und Distanz, daß ihm das Herz fast in die Hose rutschte. »Sie wünschen?« »Miß MacKinsay. Wir sind verabredet …« Seine Stimme schwankte, und er biß sich auf die Unterlippe. Der Blick des Portiers sprach Bände: Verabredet? Mit dir? Endlich drehte er sich zu der Wand um, an der die Schüssel zu den dazugehörigen Zimmernummern sortiert hingen. »Der Schlüssel ist nicht da. Sie müßte oben sein. Ich werde ihr Eintreffen melden, Mister …?« Harris räusperte. »Harris … Allister Harris …« Der Portier griff zum Hörer und wählte. Mit starrem Gesicht musterte er Harris weiter. Die Zeit schlich. Dann legte er wieder auf. »Sie nimmt nicht ab. Entweder ist sie
nicht da, oder sie schläft. Vielleicht versuchen Sie es morgen noch einmal …« Der Tonfall ließ keinen Zweifel, daß dies mehr als ein wohlgemeinter Ratschlag war. Harris hatte einen Kloß in der Kehle. Sein Gesicht brannte wie Feuer. Er schwitzte. »Danke. Danke für die Mühe …« Als er draußen in der Nacht stand, kam er sich vor wie der letzte Idiot. Er freute sich richtig auf Betty. Und war zugleich fast sicher, daß er wiederkehren würde. Morgen.
* Der Rauch hatte ihn angelockt. Fetter, wie eine schwarze Seele zum Himmel emporsteigender Qualm. Der Mann mit der Kreuznarbe unter dem linken Auge mischte sich ungeniert unter Feuerwehr und Polizei. Er war der geborene Unsichtbare. Er kam und ging, wie es ihm beliebte. Niemand hinderte ihn. Niemand stellte Fragen. Und doch sah es in ihm ganz anders aus, als es die selbstsichere Fassade vorgaukelte. Er war erschüttert. Völlig aus der Bahn geworfen. Lazarus, mein Sohn, warum hast du mir das angetan? Mußtest du mich so enttäuschen …? Landru schwebte wie ein ruheloses Gespenst zwischen den glosenden Ruinen des Gehöfts hin und her. Was er sah, genügte ihm. Auch den Polizisten genügte es.
Insgesamt hatte man sieben verkohlte Leichen aus den Trümmern von Haus, Stall und Schuppen geborgen. Nur eine einzige konnte in der Kürze der Zeit identifiziert werden. »Oleg Karpinsky«, murmelte eine ortskundiger Polizist. »Eines Tages hatte es mit diesem Philister ja soweit kommen müssen … Aber wer sind die anderen? Und was hat sie so zugerichtet …?« Selbst den verbrannten Körpern war noch anzusehen, was ihren Kehlen angetan worden war – und noch wüster sahen die entdeckten Tierkadaver aus. Lazarus, wiederholte Landru in Gedanken und auch laut. Mein Blut … Ich könnte stolz auf dich sein, hättest du nicht … Seine Miene gerann. Er wandte sich an den Einsatzleiter der Feuerwehr. »Wie lange kann es her sein, Hauptmann? Ich meine den Ausbruch des Brandes.« »Zwei oder drei Stunden – keinesfalls länger. Aber der Bau brannte wie Zunder. Da war nichts mehr zu machen!« Landru nickte. Plötzlich entstand in Polizistenkreisen spürbare Aufregung. Landru nahm sich einen von ihnen zur Brust. »Was ist?« »Auch zwei Kollegen von uns wurden bestialisch zugerichtet aufgefunden.« »Wann?« »Gerade eben …« »Wo?« Der altmodisch gekleidete Herr erhielt präzise Auskunft. Kurz darauf verschwand er zwischen den Bäumen. Nicht lange, dann stieg von dort etwas anderes, nicht minder Düsteres als der Rauch in die Lüfte und entfernte sich flügelschlagend.
* »Schneller! Fahr doch – schneller …!« Manchmal klammerte er sich an das irreale Gefühl, seinem Schicksal durch Geschwindigkeit enteilen zu können. Niemand maßregelte ihn wegen dieses Selbstbetrugs. Es waren Atempausen für Lazarus, aber sie vergingen wie im Flug. Im Flug. Ich könnte fliegen. Aber was würde aus dem Kelch? Nein … »Schneller! Fahr schneller …!« Er zog die Zügel an. Ihm war, als schaufelte jemand glühende Kohlen in sein Gedärm. In seinen Augen lag ein Abglanz dieses Feuers. Sonya gehorchte. Ihr blieb gar keine Wahl, als schneller zu fahren. Die Straße war schmal. Zwei Autos paßten mit Not aneinander vorbei. Lazarus sah es nicht. Es interessierte ihn nicht. »Wo sind wir?« keuchte er. Rauch. Jeden Moment mußte RAUCH aus seinem Mund schlagen. Flammen. Er brannte … brannte … Bevor sie antworten konnte, geschah es. In einer langgezogenen Kurve kam ihnen ein Wagen entgegen. Das eigene Fahrzeug wurde durch die überhöhte Geschwindigkeit auf die Gegenfahrbahn getragen. Sonya schrie nicht, warnte nicht, wich nicht aus. Es war nicht möglich. Der Fahrer des anderen Autos hupte und blendete die Scheinwerfer auf. Alles innerhalb weniger, wie rasend verrinnender Sekunden.
Lazarus war nicht mehr imstande, den Fehler zu korrigieren.
* 3. Tag Sie waren die ganze Nacht gefahren. Je länger das Taxi sich mit geringem, den schlechten Straßenverhältnissen angepaßten Tempo Richtung Nordosten bewegte, desto fragwürdiger erschien Lilith das ganze Unternehmen. Und das, obwohl sie nicht einfach nur Felidaes Drängen folgte – sondern auch den Bildern in ihrem Kopf. Frombork … Krutyn … Masuren … Wie diese Namen und Orte in ihr Bewußtsein gelangt waren, wußte sie nicht. Aber es schien etwas mit dem Mal in ihrer Hand zu tun zu haben. Eine winzige, die Schwingen ausbreitende Fledermaus war darauf abgebildet. Lilith erinnerte sich genau an den Moment in Beth’ Wohnung, als etwas angekommen und wie der Blitz in Felidae eingeschlagen war. Worum genau es sich gehandelt hatte, war Lilith immer noch nicht klar geworden. Versonnen strich sie über das Tattoo und verdrängte die schlechten Assoziationen, die Tätowierungen hervorriefen. Das Mal war unfühlbar, weder erhaben noch rauher als die umgebende Haut. Hätte nicht Felidae ihre Hände dabei im Spiel gehabt, hätte sich Lilith weniger Gedanken darüber gemacht … Die Stimme des Fahrers riß sie aus ihren Gedanken. »Da vorne ist eine Sperre!«
Sie hatte ihm angewöhnt, nur in dringenden Fällen zu reden. Dies war hier zweifellos der Fall. »Polizei«, sagte Lilith. Graues Licht hüllte den Morgen in kalte Tristheit. »Sie werden uns sagen, was los ist. Verhalte dich ganz normal.« Er blickte nicht einmal in seinen Rückspiegel, wo ein verschwommener Schemen reflektiert wurde: sein Fahrgast. Schweigend lenkte er das Taxi bis dicht vor die Sperre. Lilith hatte selten soviel verlorenes Selbstvertrauen in Gesichtern gesehen. Die schwerbewaffneten Uniformträger standen trotz ihrer in Anschlag gebrachten MPis wie ein mutloser, verängstigter Haufen an der Landstraße. Einer von ihnen trat vor und verlangte die Papiere. Nicht nur vom Fahrer. Lilith nahm ihn sich sofort vor. Als er einen Blick in Beth’ Paß warf, verzog er keine Miene. Sein Reaktionsvermögen schien jedoch urplötzlich verlangsamt. »In Ordnung«, sagte er lahm und wollte zurückweichen. »Was ist passiert?« fragte Lilith eindringlich. Die Furcht im Blick des Beamten verdichtete sich. Er nickte hinter sich, wo zwei Abschleppwagen und Arbeiter mühevoll versuchten, einen Personenwagen aus einem Kleinbus zu ziehen. Beide Fahrzeuge waren völlig ineinander verkeilt. »Frontalzusammenstoß …« »Tote?« Er nickte. »Zwei. In dem Pkw. Der Bus war leer, als wir eintrafen. Aber …« »Aber?« »Die Fahrerflucht ist nicht das Problem.«
»Sondern?« »Das Ehepaar starb nicht an den Unfallfolgen. Es …« Selbst in Hypnose schien es ihm schwerzufallen, sich dazu zu äußern. Das war ungewöhnlich. »Es … wurde förmlich hingerichtet …« »Umgebracht?« »Bestialisch«, nickte der Polizist. »Kehlen zerfetzt. Es könnten auch Wölfe gewesen sein, die durch die zerstörten Fenster einfielen, nachdem der Unfallverursacher floh. Aber hier gibt es keine Wölfe.« Lilith schürzte die Lippen. »Sonst noch etwas Wichtiges?« »Wir kennen den Kleinbus. Er steht in Zusammenhang mit anderen Mordopfern, die erst vor einer Stunde identifiziert wurden.« »Wo?« »Achtzig Kilometer von hier.« Lilith bemerkte, daß die Kollegen des Polizisten langsam aufmerksam wurden. Sie wollte nicht riskieren, daß sich unter ihnen eine jener Ausnahmen befand, die immun gegen magische Hypnose war. »Wie lange liegt der Unfall zurück?« fragte sie rasch. »Gibt es eine Spur zu den Tätern?« »Wir haben Militär angefordert, um die Gegend abzusuchen. Auch Hubschrauber. Wer immer es war, er kommt nicht weit zu Fuß …« »Gibt es einen Ort in der Nähe?« Er verneinte. »Nur vereinzelte Höfe.« Lilith bedauerte, nicht mehr Informationen herausholen zu können. »Folgen Sie der Umleitung!« sagte der Polizist.
*
Sie folgte purem Instinkt. Einer Witterung, die ihr erweitertes Wahrnehmungsspektrum aus tausend anderen herausfilterte. Eine Blutspur. Lilith hatte den Taxifahrer etwa zwei Kilometer abseits der Polizeisperre in ein dunkles Forststück fahren und dort anhalten lassen. Sie hatte sich in eine Fledermaus verwandelt; die einzige Tarngestalt, die ihr bislang möglich war. Während der Transformation war etwas Seltsames geschehen: Sie hatte das flüchtige Gefühl gehabt, sich nicht nur in diese eine Gestalt zu verwandeln, sondern aufzuspalten in zwei Teile. Es blieb ihr keine Zeit herauszufinden, worum es sich bei dem anderen Teil handelte. Ganz sicher jedoch nicht um die »böse Lilith«, die Landru bei seiner Flucht aus Sydney aus ihrem vampirischen Erbe geformt hatte. Zwischen den Wipfeln eines ewig dämmrigen Waldes hatte sie sich zum Himmel erhoben, ohne Rücksicht auf die Tageshelle. Sie folgte der Spur von der Unfallstelle aus. Die Handschrift war eindeutig: die eines herausragend grausamen Vampirs. Die Äußerungen aus Polizistenmund untermauerten diesen Verdacht. Aber noch war es zu früh, weitere Schlußfolgerungen daraus abzuleiten … Liliths Sinne waren auf Blut geprägt. Obwohl die Spur gering war, bereitete es ihr keine Mühe, ihr zu folgen. Die Farbe des Blutes war rot – nicht schwarz. War es möglich, daß sich der Vampir »Proviant« mitgenommen hatte, von dem noch niemand ahnte? Insassen des in den Unfall verwickelten Kleinbusses? Oder war er einfach vom Ort des Grauens geflohen? Alles schien möglich.
Lilith folgte dem »roten Faden« durch Wiesen und Felder jenseits des Waldes. Das Hinterland verriet die Jahreszeit. Überall lagen abgeerntete oder bereits für das Frühjahr vorbereitete Äcker. Manche waren abgeflammt, so daß kaum ein Insekt an der Oberfläche hatte überleben können. Aus der Luft sah es aus, als wäre das Land von Brandnarben übersät. Ein Bauerngehöft kam in Sicht. Eine dumpfe Ahnung, auch hier könnte Unheil geschehen sein, beschleunigte Liliths Flug. Sie landete in Sichtweite des von hartem Broterwerb zeugenden Anwesens und hob die magische Transformation auf. Geduckt schlich sie näher an das Wohnhaus heran, dessen Dach durch eine unterschiedliche Färbung der Ziegel auffiel. Unübersehbar waren über viele Jahre verteilte, unfachmännisch durchgeführte Reparaturen. Es war früher Morgen. Totenstille herrschte. Ein kalter, ferner Planet hätte nicht mehr Verlassenheit ausströmen können. Die Blutspur aber endete vor diesem Haus. Lilith bewegte sich geschmeidig an den verschlossenen Fensterläden vorbei. Die Eingangstür stand halb offen. Ohne Rücksicht auf die mögliche Gefahr glitt Lilith ins Innere. Ihre Augen stellten sich um. Fahle Röte verhüllte unmerklich die Sicht – und fand tieferes Rot. Auch hier setzte sich die Blutspur fort. Bis zu einer geschlossenen Tür am Ende des Gangs. Lilith zögerte. Jetzt glaubte sie ein Geräusch zu hören. Atem. Sie riß die Tür auf und wappnete sich gegen die drohende Auseinandersetzung.
Hinter der Tür nistete Finsternis, die Liliths Blick mühelos durchdrang. Ein Schlafzimmer. Vor dem Bett lagen zwei tote Einheimische. Mann und Frau. Ihre Genicke waren gebrochen, nachdem … Lilith vergaß die Toten. Sie erhielt die Bestätigung eines Verdachts, den sie nur ganz vage in Betracht gezogen hatte. Auf dem Bett lag eine junge Frau, die etwas Unverwechselbares in Händen hielt und gegen ihre verletzte Schulter gepreßt hielt. Lilith erkannte mit einem Blick, daß die Schönheit dieses Mädchens von keinerlei Makel getrübt wurde. Es war keine Vampirin, und es besaß keine Male am Hals. Dafür signalisierte das, was das blonde Mädchen fest umklammert hielt, Gefahr. Der Lilienkelch … Lilith erstarrte in ihren Bewegungen. Der Kelch versprühte eine Orgie abgründigen Glanzes. Purpur entlud sich in die verborgensten Winkel. Das Mädchen starrte verklärt auf Lilith. Zu sehen schien es sie nicht. Noch bevor Lilith die Erstarrung abstreifen konnte, hörte sie nahende Schritte. Sie brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, was auf sie zukam. Die Ausdünstung des Vampirs war unverkennbar. Erstickend. »Landru?« fragte sie hinter sich. Meckerndes Gelächter antwortete. Als sie sich umdrehte, starrte sie in das Gesicht eines Vampirs, der älter als Landru wirkte, anders aussah – und ihm doch unglaublich ähnelte. Lilith erfaßte intuitiv, mit wem sie es zu tun hatte.
Der »Fünf-Tage-Vampir«! Felidaes Schöpfung, ihr Bote und Werkzeug … ES WAR GESCHEHEN! Landru hatte den manipulierten Kelch benutzt! Langsam kam der Vampir näher. Lilith wußte nicht, wie er noch vor einem Tag ausgesehen hatte. Oder wie er in einem weiteren Tag aussehen würde. Im Moment jedenfalls verströmte er unendlichen, kaum erträglichen Leidensdruck. Eisige Melancholie. Und HUNGER. Plötzlich blieb er stehen. Purpurn leuchteten seine Augen, als wäre der Schmerz der ganzen Welt darin eingesperrt. Er war ein Monster, aber im Grunde schuldlos. Die Verantwortung trugen Felidae und Landru. Zwei, die sich nicht um menschliche Moral scherten … Lilith drehte kurz den Kopf. Das Mädchen lag immer noch auf dem Bett und hielt den Lilienkelch umklammert. Er hat es geschafft, dachte sie. Er hat es tatsächlich geschafft, Landru zu bestehlen – zum zweiten Mal … Oder hatte er ihn sogar – getötet? Sie faßte einen Entschluß. Das Mädchen auf dem Bett war offenbar nur hypnotisiert. An ihm hatte der Unersättliche sich noch nicht vergangen. Aber das konnte nur eine Frage der Zeit sein. Der Blick zu Kelch und Mädchen hatte nur eine Sekunde gedauert. Dann stand für Lilith fest, daß sie diese unverhofft entstandene Chance nicht ungenutzt verstreichen lassen würde. Sie wandte den Blick wieder dem biologisch knapp Sechzigjährigen zu, war fasziniert und abgestoßen zugleich von dem fühlbaren Alterungsprozeß dieses Geschöpfes. Das Blut, das wie eine verkrus-
tete Patina um seinen Mund hing, verursachte ihr keinen Ekel. »Gut, daß ich dich gefunden habe«, sagte sie schmeichelnd. »Du weißt, wer mich schickt?« Er starrte sie an. Sein Gesicht blieb unbewegt, nur die Augen taxierten sie mit einer Schärfe, die Beklommenheit weckte. »Was wurde aus Landru? Hast du ihn besiegt? Mußtest du ihn töten, um an den Kelch zu gelangen?« Zwei Schritte von ihm blieb sie stehen. Er starrte immer noch schweigend. Ohne daß sich die Stellung seiner Pupillen veränderte, hatte Lilith das Gefühl, daß er mit seinen Blicken ständig zwischen ihr und – durch sie hindurch – dem Kelch wechselte. Dem Gral der Vampire. Dem Objekt, das zweieinhalb Jahrhunderte verschollen schien und verschollen bleiben mußte. Was würde Felidae damit tun, wenn sie den Lilienkelch zurückerhielt? Würde sie ihr Versprechen wahrmachen und Lilith die fehlende Erkenntnis daraus trinken lassen? Wollte Lilith dies überhaupt noch? Wäre es nicht besser gewesen, den Kelch gleich an Ort und Stelle zu vernichten? Aber wie? Sie verzog das Gesicht zu einem bitteren Lächeln. Sie wußte, was mit Owain Glyndwr und Llandrinwyth geschehen war, als der Pfarrer versucht hatte, das Gefäß auf dem steinernen Boden seiner Kirche zerschellen zu lassen …* In diesem Moment sagte der Vampir vor ihr etwas, was ihre Haut in Gänsehaut tauchte und sogar den Symbionten zu erfassen schien. »Ich lese deine kranken Gedanken. Ich lese sie in deinen kranken Augen. Ich werde dich töten. Niemand darf den Kelch gefährden
*siehe VAMPIRA 10 und 11
…!«
* Die vermeintliche Schwäche des bereits betagten Körpers war Bluff und besagte nichts über die wahre Stärke, die ihm innewohnte. Lilith war fest entschlossen gewesen, den Vampir zu töten und sich den Lilienkelch jetzt, auf der Stelle, anzueignen. Die Bestie mußte gestoppt werden. Jedes weitere Blutvergießen wäre unverantwortlich gewesen. Felidaes »Bote« hatte keine Aussicht, Sydney zu erreichen. Wenn er tatsächlich so rapide alterte, wie Felidae es vorausgesagt hatte, konnte er niemals bis nach Australien gelangen. Und Lilith wollte auch gar nicht, daß er es schaffte. Sie war erleichtert, ihn gefunden zu haben. Nein, nicht ihn. Den Kelch. Aber auch die Erleichterung darüber konnte sie nicht auskosten. Der im Zeitraffertempo alternde Vampir warf sich Lilith entgegen. Alles an ihm funktionierte beschleunigt. Von einem Gedanken zum nächsten war er bereits verändert und wirkte keineswegs mehr wie ein gebrechlicher Mann. Die Metamorphose verwandelte ihn in ein Ungeheuer. Nur vage blieb seine menschliche Gestalt erhalten. Der Rest wandelte sich zu einem Konglomerat aus Zähnen und Klauen und fauchender Aggression. Lilith reagierte zu langsam. Spitze, messerscharfe Nägel gruben sich bereits durch den Stoff des Mimikrykleides ins Fleisch. Der Vampir schleuderte sie unter seinem Gewicht zu Boden und streifte sie mit fauligem Atem. Dort, wo er zupackte, wich der Symbiont zurück und entblößte zu Liliths Entsetzen sogar ihre Haut.
Kampflos. Feige. Dabei hätte es ihm ein Leichtes sein müssen, auf gewohnte Weise gegen den vampirischen Gegner vorzugehen, sich an seinem schwarzen Blut zu nähren. Aber wie in anderen Fällen, wenn Felidae die Hände im Spiel hatte, versagte er. Lilith besann sich ihrer eigenen Möglichkeiten. Spätestens, als das ins Monströse mutierte Gebiß nach ihrer Kehle schnappte und die Klauen ganze Fleischstücke aus ihrem Körper zu reißen versuchten, hielt sie dagegen. Ihre Hände gruben sich ins Haar der Bestie. Mitleid empfand sie nicht mit diesem Gegner. Er hatte auch keines mit ihr. Heftig riß sie seinen Kopf zurück. Seine Zähne verfehlten ihr Ziel. Aber es hielt ihn nicht auf. Lilith versuchte sich mit der sie niederdrückenden Last auf dem Boden zu drehen und ihn auf den Rücken zu zwingen. Aber er kauerte wie eine Kröte auf ihr. Seine Haut gebar unter den Anstrengungen des Kampfes geschwürähnliche Auswürfe, die unbekannte Sekrete absonderten und von Fäulnisgerüchen begleitet wurden. Schlimmer als das, was seinem Rachen entstieg. Lilith selbst fühlte einen rapiden Kräfteverfall, als würde allein der direkte Kontakt dieses Wesens ausreichen, von ihr zu zehren. »Hör – auf!« versuchte sie, was ihr noch bei keinem Vampir gelungen war: Suggestion. »Ich bin nicht dein Feind! Wir sind Verbündete! Ich will dir helfen, den Kelch nach Australien zu schaffen – nach Sydney, wo Felidae wartet …!« »Ich kann niemandem vertrauen!« gab er heiser zurück. »Du lügst! Ich lese es in deinen kranken Augen! Alle sind krank … alle … Alles stirbt. Nicht nur ich. Es geht so leicht …«
»Hör auf!« Das Gelächter stieß wie asthmatischer Atem aus seiner Brust. Lilith sah ein, daß es sinnlos war. Kraftvergeudung. Sie wartete auf die Explosion ihrer Kräfte. Auf das, was sie befähigte, wie eine Maschine zu kämpfen. Doch das von purem Instinkt gelenkte Handeln setzte nicht ein. Als würde die letzte Konsequenz von ihrem Gegner unterdrückt … Er lachte und lachte. Es gelang ihm, sein Gesicht langsam wieder ihrer Kehle zuzuneigen – trotz Liliths heftiger Gegenwehr. Haarbüschel rissen samt Wurzeln aus seiner Kopfhaut. Der Schmerz schien ihn zu beflügeln. »Niemand darf – den Kelch – gefährden …!« hallte seine Stimme in ihren Ohren. Seine Klauen lösten sich auf ihrem Rücken und schoben sich hoch zum Hals. Lilith mußte sein Haar loslassen, um gegen diese mörderischen Waffen vorzugehen. Sofort schnellte sein Gebiß auf sie zu, und sie stieß selbst mit dem Kopf vor. Sie traf sein Kinn mit solcher Wucht, daß sie betäubt zurückfiel. Der Treffer hätte jeden Menschen in den Knockout getrieben. Dieses Wesen nicht. Benommen blickte Lilith in das kaum beeindruckte Gesicht. Sie spürte, wie sich Hände um ihre Kehle schlossen, und wartete auf den ersten zornigen Streich, der ihre Arterien öffnen würde. Statt dessen drückte der Vampir zu. Erbarmungslos. Mit blitzenden Zähnen lachte er ihr entgegen. Lilith wehrte sich nur noch mit halber Kraft. Und dann gar nicht mehr. Ihre Sinne schwanden …
* … und kehrten zurück. Sie war allein. Sie lag am Boden des Schlafzimmers, in einem Dunkel, das von keinerlei Purpur mehr durchdrungen wurde. Was war passiert? Warum hatte Felidaes Geschöpf sie nicht getötet? Hatte der Symbiont doch noch eingegriffen? Dann hätten Spuren da sein müssen. Spuren eines zu Asche zerfallenen Blutsaugers. Auch der Kelch hätte noch da sein müssen, in den Händen eines hypnotisierten Mädchens … Nichts war mehr da! Nur ich, dachte Lilith und richtete sich auf. Sie fühlte sich wie gerädert und blickte sich immer wieder um. Plötzlich drangen von draußen Geräusche zu ihr vor. Fernes Hundegebell, das rasch anschwoll. Als sie sich konzentrierte, glaubte sie auch einen Hubschrauber zu hören. Hatte der Vampir deshalb von ihr abgelassen? Sie verließ das leere Zimmer und huschte zur Haustür. Sie stand weiter offen als bei Liliths Ankunft. Als sie den Kopf hinausreckte, sah sie einen ganzen Trupp Menschen aufgereiht wie eine Kette über die Felder kommen. An der Spitze gingen mehrere Hundeführer, deren Tiere dieselbe Witterung aufgenommen hatten wie lange vorher Lilith. Hoch über ihnen und ein Stück voraus flog der Helikopter. Lilith glitt aus der Tür und schlich geduckt um das Haus herum,
bis sie aus dem Blickfeld des Suchtrupps verschwand. An der Hauswand richtete sie sich auf. Wieviel Vorsprung hatten der Vampir und der Kelch? Hatte er das Mädchen umgebracht und irgendwo zurückgelassen? All diese Fragen verblaßten, als Lilith den Punkt am Himmel sah, der sich vom Gehöft entfernte und kein Hubschrauber war. Es war eine Fledermaus. Lilith wartete nicht bis zum Eintreffen der Hunde und Soldaten, sondern sammelte ihre verbliebenen Kräfte und flehte ihren Körper um eine Verwandlung an. Dann folgte sie dem immer kleiner werdenden Punkt am Horizont.
* 4. Tag Ihr Prinz trennte die Naht ihres Kleides mit dem Fingernagel auf und weidete mit glühenden Blicken auf der freigelegten Haut. Sonya Karpinsky stöhnte. Sie wußte nicht, was in sie gefahren war. Aber es war schön. Sie genoß jede Sekunde, seine Bewunderung, die Wärme, die jeder Blick, jede zärtliche Berührung in ihr entfachte. Er beugte sich zu ihr und küßte sie. Er war nackt, und als ihre Zunge die seine umspielte, spürte sie, wie sich etwas hart und verlangend gegen ihren Bauch preßte. Sie wußte, was es war. Das, was in ihrer Familie nie Erwähnung gefunden hatte, weil ihr Vater ein zu frommer Mensch und ihre
Mutter zu früh verstorben war. Sie hatte erst von ihrem dunklen Prinzen entführt werden müssen, um es zu erfahren … »Ja«, seufzte sie in seinen geöffneten Mund. An seiner Zunge vorbei in den süßen, feurigen Rachen hinein. »Ja …« Er streichelte ihren üppigen Busen, der nie zuvor von einem Mann berührt worden war und schon gar nicht so. Während die Küsse immer atemloser, die Hitze unter der Haut immer größer und die Feuchte in ihrem Schoß prickelnder wurden, glitten seine Hände tiefer und liebkosten auch ihre Scham. Bereitwillig spreizte sie die Beine. Er drängte dazwischen und legte sich auf sie. Ihre Körper schlangen sich ineinander. Sie glaubte zu sterben. Sie wollte sterben. Was sollte danach noch kommen? Letzte Tabus fielen. Ihr Prinz löste seine Lippen von ihrem Mund und zeichnete mit der Zunge eine feuchte Spur zwischen ihren Brüsten hindurch, über ihren Bauch, bohrte sich kurz in ihren Nabel und wanderte dann weiter bis zum Schoß. Sonya verwünschte ihren Vater, der körperliche Liebe immer wie etwas Schmutziges behandelt hatte. Und dann auch nur in Nebensätzen, nie als Thema an sich. Sie versuchte zu vergessen. Sie erwiderte die Zärtlichkeiten immer freier, immer bewußter. Sie genoß das Zungenspiel, aber sie wollte mehr. Sie umschloß sein hartes Glied mit beiden Händen und wies ihm den Weg zu ihrer Pforte. Ungestüm drang er ein. Zerstörte das Jungfernhäutchen. Blut floß. Ein winziges Rinnsal. Es schien seine Leidenschaft noch mehr zu schüren. Alles war
plötzlich in blutiges Rot getaucht – in kalten Purpur … Er hörte nicht auf. Jeder seiner Stöße zertrümmerte ein Stück mehr von ihrem zurückliegenden Leben. Sie bäumte sich ihm entgegen. Sie umklammerte seine Schultern, seinen Rücken. Ihre Nägel zogen tiefe Spuren. Es gefiel ihm. Er umfaßte ihr Kinn mit der rechten Hand. Es tat weh. Durch die Lust hindurch wie durch einen Schleier, der sich nun abrupt lüftete. Sonya schrak hoch – und erwachte. Die Gier nach Sex war wie fortgewischt, aber der Druck der Hand war noch immer da. »Hallo«, sagte das Gesicht über ihr. »Schöne Träume gehabt?« Ihr Prinz war es nicht.
* Jerzy Wojtyla sang dasselbe Lied, das schon sein Vater und Großvater bei der Arbeit gesungen hatten. Funken stoben aus der Esse, als er das Hämmern unterbrach und ein paarmal kräftig am Blasebalg zog. Ehe er fortfuhr, das heiße Blech zu bearbeiten, wischte er sich mit dem Unterarm über das verrußte, schweißtriefende Gesicht. Im Morgengrauen hatte er begonnen. Zwei Stunden waren seither vergangen, und er bedauerte, nicht die Zeit zu haben, ein Kunstwerk zu erschaffen. Sein Auftraggeber wartete im Schatten der Schmiede, wohin das phantastische, für die Arbeit ideale Purpurlicht nicht reichte. Woj-
tyla wußte, daß er da war, auch wenn er ihn nicht sah oder hörte. Ein Gespräch kam nicht auf. Wojtyla war voll konzentriert. Unter den schwieligen Händen nahm die Rüstung Gestalt an. Eigentlich war es keine richtige Rüstung, eher ein stählernes Korsett. Es würde seinen Zweck erfüllen. Jerzy Wojtyla schuftete eine weitere Stunde. In dieser Zeit paßte er das Gerüst dreimal an seinen künftigen Träger an, der jedesmal kurz aus den Schatten zu ihm trat und sich dann wieder zurückzog. Ein stolzer Ritter. Ein Ritter mit einem goldenen Ring im Ohr und edlen Zügen von klassischer Schönheit … Wojtyla verspürte Neid. Dann ließ er ein letztes Mal den Hammer auf das Blech fallen, hielt inne, schmeckte den salzig zwischen die Lippen drängenden Schweiß und rief: »Fertig!« »Endlich«, seufzte der Ritter. »Wenn du jetzt noch etwas gegen meinen Durst hättest …«
* Lazarus richtete sich, abermals seufzend, von seinem Opfer auf. Mit dem Kelch in der einen und der Rüstung in der anderen Hand kehrte er ins Haus des Schmieds zurück. Dort schlief Sonya, die ihm helfen würde, das Korsett anzulegen. Kurz dachte er an die zurückliegende Flucht. An den Kampf mit jener Frau, die weder eindeutig Mensch noch Vampir gewesen war. Ihre Worte hatten sich unvergeßlich in sein Gedächtnis geprägt.
Wir sind Verbündete! Ich will dir helfen, den Kelch nach Australien zu schaffen – nach Sydney, wo Felidae wartet …! Der Name Felidae hatte ihn elektrisiert, und er war ins Wanken geraten, ob es richtig war, sie zu töten. Mit dem geländegängigen Wagen des Bauern waren sie geflohen. Sonya hatte chauffiert. Und wieder hatte ihn der Zwiespalt zwischen der Nähe ihres warmen Blutes und dem Zauber ihres Antlitzes fast zerrissen. Im Morgengrauen hatten sie dieses Dorf erreicht … Lazarus bewegte sich schleppend. Das Gewicht der Rüstung drückte, aber das gerade genossene Blut befähigte ihn dennoch, es zu bewältigen. Er war entschlossen, seinen Auftrag zu erfüllen. Niemand außer ihr (Felidae?) durfte den Kelch von ihm fordern! Aber die eigene Schwäche war nicht mehr zu leugnen. Sein Körper zerfiel noch schneller als erwartet. Bei der Ankunft im Dorf hatte er Sonya zur Rede gestellt. »Was siehst du mich so an?« Schweigend hatte sie die Lippen zusammengekniffen. Erst auf sein tieferes Verlangen hin hatte sie ihm eingestanden, was aus ihm geworden war: Ein Greis, dessen zum Zerreißen gespannte, mumifizierte Haut den Eindruck erweckte, als wollte sich das Fleisch von den Knochen lösen! Sofort hatte er Sonyas Hypnose erweitert. Nun sah sie ihn – egal, was noch mit ihm geschah – als stolzen Dreißigjährigen. Als er dies in ihr verankert hatte, hatte er aber zugleich ein ihm unerklärliches Sehnen in ihren Augen bemerkt. Die in ihr geschürte Phantasie hatte noch etwas anderes erweckt. Er wußte, daß er diese Wünsche nicht erfüllen konnte.
Nicht real. Aber er hatte sie mit einem Traum verlassen, der ihre geheimste Begierde stillen sollte. Sie sollte ihn nicht mehr so ansehen! Nie mehr! Ein Traum, aus dem er sie nun erwecken würde, um den Weg fortzusetzen und das Ziel zu erreichen, das seit seiner Begegnung mit dem Zwitterwesen einen Namen erhalten hatte: Sydney, Australien … Doch als er die Tür des Zimmers öffnete, in dem er Sonya zurückgelassen hatte, erwartete ihn eine böse Überraschung. Sonya war nicht da. »Du hast mir sehr viel Kummer bereitet«, sagte der, der den Platz auf dem Bett für sie einnahm und nun geschmeidig aufsprang, während sich sein Blick an dem Kelch in Lazarus’ Hand festsaugte. Die Rüstung fiel polternd zu Boden. Lazarus krümmte sich. Vater …!
* Sie konnte das Bild nicht vergessen: Lilith war der anderen Fledermaus gefolgt und hatte sich dabei dicht über dem Boden gehalten. Plötzlich war hinter ihr ein fürchterliches Getöse laut geworden. Als sie eine kleine Schleife flog, erkannte sie mit ihrer veränderten Sehweise eine zum Himmel steigende Flammensäule. Der Helikopter, der die ganze Zeit in großer Distanz gefolgt war, war verschwunden! Er mußte abgestürzt sein. Die Frage war nur: aus natürlicher Ursa-
che oder durch äußere Einflüsse? Die ganze Nacht hatte der Flug gedauert, dann war er bei einem kleinen Dorf zu Ende gewesen, und Lilith hatte erfahren, wer der geflügelte Vampir war, auf dessen Fersen sie sich geheftet hatte. Landru! Natürlich … Natürlich war er nicht von seiner Schöpfung getötet worden – nur bestohlen. Und nun trachtete er – ebenso natürlich – danach, den zweiten Dieb des Kelchs zu strafen und das Unheiligtum wiederzugewinnen! Er konzentrierte sich auf ein einzelnes Haus am Dorfrand, vor dessen Tür ein Geländewagen stand. Lilith beobachtete aus sicherer Deckung heraus, wie Landru dieses Haus umschlich, abwartete und schließlich eindrang. Kurz darauf kehrte er mit der jungen blonden Frau auf den Armen zurück, die Lilith bereits auf dem Gehöft gesehen hatte. Dort hatte sie den Lilienkelch an sich gepreßt. Dies war hier nicht der Fall. Sie schien ohnmächtig zu sein oder zu schlafen. Daß sie tot war, glaubte Lilith keine Sekunde. Landru hätte sie nicht fortgetragen, wenn dem so gewesen wäre. Er brachte sie ins Nachbarhaus, hielt sich eine Weile dort auf und kehrte dann ohne das Mädchen zurück. Von dem Fünf-Tage-Vampir war die ganze Zeit nichts zu sehen. Nur aus einem Anbau des letzten Hauses am Dorfrand drang Licht und dröhnten ab und zu dumpfe Schläge. Aus dem Schornstein quoll Rauch. Lilith überlegte, wohin sie sich zuerst wenden sollte, und entschied sich für das Nachbarhaus, in das Landru das Mädchen verschleppt hatte. Mühelos drang sie ein. Sie gab sich nicht einmal Mühe, besonders
leise zu sein. Es war unwahrscheinlich, daß Landru die Hausbewohner ungeschoren gelassen hatte. Dennoch hoffte sie, daß ihn seine Eile vielleicht doch Gnade hatte walten lassen … Der Angriff kam überraschend, als sie auf der Suche nach dem Mädchen eine der Türen des Ganges aufstieß. Eine Hand mit einer gebogenen Sichel fuhr Lilith in Halshöhe entgegen. Sie konnte sich gerade noch ducken. Die Klinge wischte über sie hinweg und blieb zitternd mit der Spitze im Holz des Türrahmens stecken. Eine Gestalt taumelte, vom eigenen Schwung getragen, aus dem Hinterhalt hervor. Ein Mann in gestreiftem Pyjama. Sein Haar war wirr wie sein Blick. Lilith wußte sofort, daß er hypnotisiert war. Landru mußte ihn aus dem Bett geworfen und beauftragt haben, sich anderen »Besuchern« als ihm entgegenzustellen … Lilith schlug ihn nieder, zerriß das Oberteil seines Schlafanzugs und fesselte ihn mit den Stoffstreifen. Dann setzte sie ihre Suche fort. Sie fand das Mädchen in einem der hinteren Zimmer. Es lag am Boden auf einem zerschlissenen Teppich im Hypnoseschlaf. Lilith wagte nicht, sie zu wecken. Die Gefahr, dabei etwas in ihrem Geist kaputt zu machen, bestand immer. Derjenige, der sie hypnotisiert hatte, mußte sich darum kümmern. Falls es Landru gewesen war, standen die Chancen schlecht … Lilith hob das Mädchen auf und trug es aus dem Haus. Sie wußte nichts Besseres, als es auf den Rücksitz des Geländewagens zu verfrachten. Dann wandte sie sich dem Haus zu, in dem Landru sich vermutlich um den Verbleib des Kelchs kümmerte. Lilith nahm denselben Weg wie er.
Schon von weitem hörte sie harsche Stimmen, die ihr den Weg wiesen.
* Sydney Diesmal stellte Allister Harris sich schlauer an. Er wartete draußen vor dem verglasten Eingangsbereich des Hotels, bis sein Freund, der Portier, kurz in einen Raum hinter der Rezeption verschwand. Dann huschte er ins Foyer und weiter die Treppe neben dem Lift hinauf. Bei seinem gestrigen Besuch hatte er sich gemerkt, mit welcher Nummer am Schlüsselbrett sich der Portier befaßt hatte. Dort hing auch jetzt kein Schlüssel. Macbeth war nicht zur Arbeit erschienen. Unentschuldigt. Moe Marxx hatte getobt. Sie mußte da sein. Harris wünschte sich, er hätte der Verlockung widerstehen können. Aber er konnte es nicht. Er kam sich wie das größte Schwein unter der Sonne vor, weil er in Bettys Gegenwart immer noch auf »große Liebe« machte. Er mochte sie wirklich, aber das »andere« war stärker. Beth MacKinsay war eine reife Frau, und er … Er hetzte die Stufen empor. Dritter Stock, Zimmer 33. Es war kurz vor Mitternacht. Bis vor einer halben Stunde war er mit Betty zusammengewesen, hatte sogar mit ihr geschlafen. Und dabei ständig an Beth gedacht. Der Gang lag leer und war schummrig erhellt.
Allister Harris versuchte gar nicht erst, über die Konsequenzen seines Tuns nachzudenken. Er ließ sich treiben. Er beobachtete sich wie einen Fremden bei jedem Schritt. Vor der 33 blieb er stehen. Ein dicker Teppich dämpfte die Geräusche unter seinen Sohlen. Das Hotel hatte Klasse, die Frau, zu der es ihn drängte, auch … Er klopfte mit dem Fingerknöchel gegen das mahagonifarbene Türholz. Im nächsten Moment hielt er inne, weil es ihm vorkam, als müßte man es überall hören. Mit nervös baumelnden Armen stand er da und wartete. Die Tür blieb zu. Sie ist nicht da, dachte er, sehr enttäuscht – und sehr erleichtert. Konnte ihr etwas zugestoßen sein? Ein Unfall? Eine plötzliche Erkrankung? Er klopfte noch einmal. Zaghaft. Der ganze Mut, den er zusammengenommen hatte, fiel in sich zusammen. Er drehte auf dem Absatz um, halb erleichtert, halb enttäuscht. In diesem Augenblick ging die Zimmertür auf. Beth MacKinsay stand fast unbekleidet vor ihm. Ihr Blick wirkte nicht schläfrig, nur verklärt, und machte ihn völlig verrückt. »Ich –«, setzte er an und ging auf sie zu. Er merkte gar nicht, wie schnell alles geschah. Er mißdeutete den Ausdruck in ihrem Gesicht gründlich, drängte sich an sie und –
*
»Wo ist – sie …?« »Ich dachte mir, daß du sie suchst, mein ungehorsamer Sohn! Gib mir den Kelch. Er gehört dir nicht. Vielleicht kann ich dir helfen, wenn du mich nicht länger erzürnst.« »Helfen?« »Sieh dich an! Ich weiß, das kannst du nicht. Aber ich versichere dir, es ist hoffnungslos. Du siehst aus wie –« »Still! Ich werde dich …« »Du bist stark, Sohn, aber überschätze dich nicht. Du wütest wie wahnsinnig – du glaubst, Blut könnte dich retten. In einem hast du recht: Du wärest vermutlich längst zu Staub zerfallen, hättest du keines gefunden. Aber dein Leben verlängern kann es nicht. Du siehst aus wie eine knöcherne Mumie. Ein dem Grab Entstiegener …« »Schweig!« »Ich wiederhole mein Angebot: Ich bin schuldlos an dem, was dir widerfuhr. Gib mir den Lilienkelch, Lazarus, und ich versuche, etwas für dich zu tun. Felidae, dieses Biest, muß den Kelch manipuliert haben. Aber sobald ich Gelegenheit habe, mich damit zu befassen …« Haltloses Wimmern drang aus Lazarus’ Brust. Am liebsten hätte er den Kelch in seiner Hand erhoben und die anmaßende Gestalt damit erschlagen. Aber er wußte, daß es nicht möglich war. »Verschwinde!« krächzte er. »Du lügst, wenn du – den Mund aufmachst. Du würdest mir nicht – helfen. Du hast mich – zu dem gemacht, was ich bin! Ich hasse dich!« Landru verzog abfällig den Mund. »Du bist ein Narr, Sohn, sagte ich es schon? Wenn du mir nicht freiwillig gibst, was mir gehört, hole ich es mir. Du hältst mich nicht auf. Ich brauche nur zu warten. Mich auf deine Fährte zu setzen und dir zu folgen. Ich gebe dir noch
einen Tag, vielleicht zwei. Dann gibt dein morsches Gerippe im leisesten Luftzug nach …« Lazarus gab sich keine Mühe, den Haß zu unterdrücken. Er wünschte sich, Landru möge an seiner Arroganz ersticken. »Wo ist Sonya?« fragte er – und wußte sofort, daß er damit noch mehr Spott provozierte. »Ich habe sie mir … geliehen«, kam es verächtlich aus Landrus Mund. »Ich weiß nicht, was du an ihr findest; mir mundete ihr Blut überhaupt nicht. Es war schal wie ihre Schönheit. Sie paßt zu dir, Sohn. Was soll ich mehr sagen?« Lazarus hatte das Gefühl, als würde ein Skalpell sein Herz zerteilen. In viele kleine Portionen, den Geiern zum Fraß. Die Haut über seinen Fingerknöcheln platzte auseinander, so fest umklammerte er den Kelch. Er konzentrierte sich und schickte Landru eine ähnliche Welle entgegen wie dem Hubschrauber, der sie verfolgt hatte. Landrus Gesicht verzerrte sich. Er ballte die Fäuste und ging kurz in die Knie. Mehr geschah nicht. Lazarus’ Magie perlte an ihm ab wie Regen an einer Wachsschicht. »Du machst mich böse, Sohn. Ich werde jetzt den Kelch rufen, wie du ihn nie zu dir rufen könntest. Er und ich sind eins. Ich bin der Hüter, du ein Nichts. Ich werde dich –« »Du wirst gar nichts«, sagte in diesem Moment eine kühle, Lazarus vertraute Stimme. Sein und Landrus Kopf ruckten herum. In der Tür stand jene, die sich Lazarus als Verbündete angetragen hatte. Er traute ihr nicht, aber er war froh über ihr Erscheinen. Zumal er sah, was es bei Landru bewirkte. (Stirb, Vater! Geh und stirb! Laß auch mich sterben. Mit dem Kelch im Arm …) Seine Gedanken an Sonya verblaßten. Er weinte vor Qual. Tränen,
die mehr enthielten als Wasser und Salz. Das letzte Leben schien aus ihm zu rinnen. Sein Leib dorrte und schrumpfte in Sekunden um Jahre. »Ich – hasse – dich …« Lazarus ging in die Knie.
* Landru wankte. Sein Blick galt sekundenlang nur Lilith, deren plötzliches Auftauchen ihn mehr irritierte und aus dem Takt brachte als alles andere. Ihr negatives Ebenbild hatte also versagt. Die böse Lilith hatte es nicht geschafft, ihr menschliches Pendant an Salem Enterprises auszuliefern. Was hier in der Tür stand, war auch nicht nur die gute Lilith. Die Magie des Kelchs war aufgehoben worden, beide Charaktere wieder miteinander verschmolzen … Über das Wie zerbrach Landru sich nicht den Kopf. Nicht jetzt und nicht hier. Sein ganzer Körper wurde zur Drohgebärde. »So muß ich nun zwei Übel aus der Welt schaffen«, seufzte er. »Zwei Bälger. Das einer Hure und das …« Noch während er redete, versuchte er nach dem Kelch zu greifen. Mental. Die letzten Tage hatte er dies nicht gewagt, weil er nicht wußte, wo er sich befand. In welcher Umgebung. Zudem hatte er den Fehler begangen, ihn nach seinem Sieg über Felidae magisch abzuschirmen. Ein unsichtbares Tarnfeld umgab das Gefäß. Eine Barriere selbst für den, der es geschaffen hatte. Aber nun, da er ihn vor sich sah, würde es keine Mühe machen,
die Tarnkappe aufzuheben und die im Kelch schlummernde Kraft nutzbar zumachen … Landru sandte seinen Ruf. Er war der Hüter. Felidae war eine Betrügerin gewesen. Niemand hatte sie zu dem legitimiert, was sie ihm und der Alten Rasse einst antat … Aus den Augenwinkeln sah er, wie Lazarus in die Knie ging. Wie sich der Kelch in seiner Hand verfärbte. »Du wirst enden wie deine Mutter«, höhnte er in Liliths Richtung. »Sie wußte nicht, was sie tat, als sie eine Kreatur wie dich gebar. Wenn es noch keine Hölle für Vampire gibt, werde ich eine erschaffen. Mit Kelchmagie. Nur für dich, mein Kind …!« »Ich bin froh, daß ich nicht dein Kind bin«, erwiderte Lilith unerschüttert. »Deine Kinder haben Mitleid verdient. Sieh ihn dir an! Sieh, was du getan hast!« Vielleicht wollte sie noch mehr unnützes Zeug sagen. Aber diese Zeit hatte sie nicht. Diese Zeit hatte niemand. Auch Landru wurde von dem Effekt überrascht, den sein Ruf erzeugte. Wieder zog er die Tragweite von Felidaes Manipulation nicht in Betracht. Offenbar hatte sie weit mehr angerichtet als das, was an Lazarus’ Schicksal ersichtlich war. Purpur ergoß sich über den Raum. Magie von unwiderstehlicher Kraft, die nur den aussparte, der den Kelch in Händen hielt! Während Landrus Bewußtsein fortgerissen wurde, sah er nur noch, wie auch Lilith schwankte. Dann war es aus.
* Ein Alptraum war von ihr gewichen. Sie starrte in das Gesicht des Jungen, der sich die Wange hielt. Die Ohrfeige hatte ihn ernüchtert. »Entschuldige«, sagte Beth. Sie erinnerte sich, wie es dazu kommen konnte. Sie erinnerte sich an alles. Nur nicht an das, was in ihrem Apartment passiert war, als sie sich mit Landrus Dolch an Felidaes Kokon zu schaffen gemacht hatte. Es war nicht wichtig. Nur daß der Alptraum zu Ende war, zählte. Felidae mußte irgend etwas mit ihr gemacht haben, das die Nachwirkungen des magischen Pestkeims aufgehoben hatte. Lilith, dachte sie. Was habe ich getan? Wie konnte ich … »Ich –«, stammelte Allister Harris. »Ich wollte nicht –« Sie schloß die Tür und führte ihn ins Schlafzimmer. Aber nicht, um ihn zu verführen, bestimmt nicht. Die verschwommene Erinnerung, daß sie sich mit Männern eingelassen hatte, war nur ein weiterer Bestandteil des Alptraums, den sie über Monate für ihr Leben gehalten hatte … »Hör zu«, sagte sie und bot ihm Platz auf dem Bett an, in dem sie einen ganzen Tag lang nur geschlafen hatte. Sie fühlte sich besser. Nur das Gewissen plagte sie. Er blickte auf die zerwühlten Decken. »Warst du – krank?« Sie überlegte, setzte sich neben ihn, nickte. »Und wie!« Verlegen suchte er nach Worten. Die Ohrfeige machte ihm zu schaffen. »Moe ist stinksauer, weil du …«
»Ich werde ihn morgen wieder beehren«, sagte sie. »Er wird allerdings damit leben müssen, daß ich ihn nicht mehr ganz so charmant finde wie in den letzten Wochen.« Allisters Miene verriet, daß er nicht verstand. Beth ließ es dabei. »Hör zu«, sagte sie und legte den Arm um seine Schulter. »Ich war etwas durcheinander in letzter Zeit. Wenn ich falsche Hoffnungen in dir geweckt haben sollte, tut es mir –« »Ich habe mir nur Sorgen gemacht!« Er wand sich aus ihrer Umarmung und stand auf. »Wenn wieder alles in Ordnung ist, ist es ja gut.« Er nickte ihr zu und stelzte vom Bett weg. »Wir sehen uns dann morgen …« Ehe Beth reagieren konnte, schlug bereits die Tür. Sie lächelte. Dann dachte sie an Lilith, und das Lächeln verschwand. Sie begriff, wie gering die Chance war, sie je wiederzusehen.
* 5. Tag Dr. Josip Krakow liebte es, Menschen zu beobachten. Deshalb kam auch keine Sekunde Langeweile auf, als der LOT-Airbus von der Startbahn abhob und im Steilflug auf Reisehöhe ging. Krakow freute sich auf den Kongreß in Sydney, auf den Austausch mit Psychiatern aus aller Welt, aber er erfreute sich auch schon an der Reise selbst. Sein Blick wanderte über die vor ihm liegenden Sitzreihen. Er hatte sich absichtlich einen Platz ganz hinten reservieren lassen.
Die Stewardessen waren adrett gekleidet und gaben sich Mühe, auch ausgefallenere Wünsche der Fluggäste zu erfüllen. Sie machten ihre Sache gut. Nur eine von ihnen wirkte etwas nervös, was sich auf die Menschen, die sie betreute, zwangsläufig übertrug. Es war jedoch nichts, was die Harmonie an Bord nachdrücklich gestört hätte. Krakow hatte Verständnis dafür, daß ein Mensch sich nicht täglich frohgelaunt präsentieren konnte. Wäre es anders gewesen, hätte er Probleme gehabt, seine Warschauer Miete zu begleichen … Die erste halbe Stunde genügte Krakow, um sich ein Bild über die meisten Passagiere in unmittelbarer Nähe zu machen. Ein flüchtiger Blick, aufgeschnappte Gesprächsfetzen und der Umgang mit dem Bordpersonal genügten. Dann geschah etwas, was seine Aufmerksamkeit weckte, weil es ungewöhnlich war. Eine Stewardeß kam aus dem hinteren Bereich des Flugzeugs, wo sich die Bordküche, alle Verpflegungseinrichtungen, aber auch die Toiletten befanden. Das an sich war noch nicht absonderlich. Aufmerksam wurde Krakow erst dadurch, daß die Stewardeß flüsternd auf den Gast einsprach, der sich daraufhin erhob und ihr mit verdutzter Miene nach hinten folgte – an den Toiletten vorbei. Offenbar handelte es sich um einen Einzelreisenden, denn die Person auf dem Platz neben ihm blieb völlig desinteressiert. Was Krakow erstaunte, war lediglich, daß der Gast nicht nach vorn geführt wurde. Es kam immer wieder vor, daß jemand darum bat, das Cockpit besichtigen zu dürfen. Aber die Bordküche …? Krakow wartete. Der Mann kehrte nicht zurück. Dafür wiederholte sich nach einigen Minuten der Vorgang als sol-
cher. Diesmal sprach die Stewardeß auf eine junge Frau ein, die wie eine Rucksack-Reisende aussah. Vielleicht eine Studentin. Sie hatte ein nicht sonderlich hübsches, aber klares und dadurch anziehendes Gesicht. Sie machte dieselbe verdutzte Miene wie der Mann vor ihr. Als sie beide an Krakow vorbeigingen, konnte er sich die Frage an die Stewardeß nicht verkneifen: »Gibt es Probleme? Kann ich helfen?« Die LOT-Angestellte blieb kurz stehen. Ihr Blick rief eine kleine Gänsehaut bei Krakow hervor, denn er hätte geschworen, in die Augen einer Süchtigen zu blicken. Doch dieser Verdacht erschien ihm zu absurd, um daran festzuhalten. »Danke, wir kommen zurecht. Wenn nicht, wende ich mich gern an Sie.« Damit ging sie nach hinten. Die junge Frau folgte lächelnd und schulterzuckend. Krakow wartete. Das Fluggeräusch übertönte eventuelle Gespräche, die hinten stattfanden. Nach wenigen Minuten kehrte die Stewardeß zurück, das Mädchen nicht. Sie blieb vor Krakow stehen. »Also doch Probleme«, nickte er, stand auf und scherzte: »Klemmt die Espresso-Maschine?« »Nein. Einem von uns geht es schlecht. Ich weiß, daß Sie einen Doktortitel tragen. Sind Sie Arzt?« Krakow schüttelte bedauernd den Kopf. »Nein, ich bin Doktor der Psychologie. Soll ich mir den Patienten trotzdem ansehen?« Sie nickte. »Ja, bitte.« Sie ging voraus. Am Vorgang, der den hinteren Bereich nach den Toiletten abtrennte, ließ sie ihn vorbei. Sie hob ihm sogar den Vorhang auf.
Der, dem es schlecht ging, erwartete ihn. Krakow prallte vor Ekel und Entsetzen zurück. Das Grauen, das über ihn hereinstürzte, war so gewaltig, daß sich die Grenzen der Realität auflösten. Er glaubte zu schreien, aber in Wahrheit löste sich nur ein röchelnder Ton aus seiner Kehle. Das Gerippe in der Rüstung winkte ihm huldvoll zu wie ein aus seiner Gruft geholter, toter König. Statt seines Zepters hielt er einen düster glühenden Kelch in der Hand. Krakow konnte nicht anders, als sich vor ihm zu verbeugen. »Hilf – mir –«, röchelte der Tod. Krakows Psychologie versagte. Er war nicht in der Lage, die Bitte auszuschlagen.
* Lilith fühlte sich wie in purpurfarbenem Bernstein eingeschlossen. Sie sah Landru, dem es ebenso erging. Der wie sie zu entkommen versuchte. Und dem es gelang. Nach Stunden und noch vor ihr. Er sprengte den Purpur und kam mit rachelüsternen Augen auf sie zu. Er hätte sie getötet – wenn er es vermocht hätte. Aber der Purpur zementierte nicht nur ein, er schützte auch. Und Landru blieb einfach keine Zeit, auch diesen Panzer zu knacken, um seine Rache zu vollenden. So zog er unverrichteter Dinge ab und nahm die Verfolgung des Kelchdiebs auf. Lazarus hatte Landru ihn genannt. Dieser Lazarus würde nicht mehr weit kommen. Landru brauchte
ihm wirklich nur zu folgen und abzuwarten, bis er völlig zerfallen war … Dieses Wissen ließ Lilith auch ihre Bemühungen verstärken. An Landrus Beispiel wußte sie jetzt, daß die lähmende Magie des Kelchs zu überwinden war. Sie konzentrierte sich auf ihren Körper. Langsam, fast unmerklich gelang es ihr, ihn zu bewegen. Und mit jeder Bewegung schien ein Beben durch den »Block« zu laufen, entstanden erst haarfeine Risse, dann Sprünge … Stunden nach Landru war auch sie frei. Und wandte sich in die einzige Richtung, die ihr logisch erschien. Warschau. Dorthin, woher sie gekommen war. Als sie den Flughafen erreichte, wußte sie, daß sie sich nicht geirrt hatte. Verstärktes Polizeiaufkommen lenkte sie zu einem abgeriegelten Parkplatz, wo ein Geländewagen stand. Lilith gelangte mühelos durch die Sperren. Sie hätte sich auch von niemandem aufhalten lassen. Dann stand sie vor der Toten, die gerade in einen Metallsarg gelegt wurde. Es versetzte ihr einen Stich, als sie erkannte, um wen es sich handelte. Ich bin schuld, dachte sie. Ich habe sie nicht gerettet, sondern dem Unersättlichen ausgeliefert! Die Rede von einem Monster ging von Mund zu Mund. Aber Lilith wußte, daß das eigentliche Monster nicht Lazarus hieß. »Felidae, das ist deine Schuld«, murmelte sie. Es klang nicht freundlich. Sie beeilte sich, das Flughafengebäude zu erreichen, und informierte sich über die letzten Flüge nach Sydney. »Ein Direktflug«, erhielt sie zur Antwort und ließ sich die Num-
mer geben. Der Start der Maschine lag sechs Stunden zurück – in weiteren sechs Stunden würde sie landen. Lilith buchte bargeldlos den nächsten Direktflug und suchte dann ein Telefon. Sie erreichte Beth in der Redaktion. Es war reines Glück. Wäre sie anderswo gewesen … Lilith informierte ihre Freundin in knappen Worten über das Geschehene und gab ihr die Nummer des Fluges, von dem sie fürchtete, daß er einen schrecklichen Passagier beförderte. Es fiel ihr auf, wie besorgt Beth klang. Und auch ein wenig gedrückt. Lilith hatte keine Gedanken frei, sich damit zu befassen. »Wecke Felidae«, sagte sie eindringlich. »Ich weiß, daß es gefährlich ist – aber es gibt keinen anderen Weg. Du kannst dieses Geschöpf nicht in Empfang nehmen! Tu, was du –« »Stopp!« unterbrach Beth. »Was ist?« »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Felidae ist bereits wach. Ich fürchte, ich habe sie schon etwas früher geweckt …« Und sie berichtete, was vorgefallen war.
* Dreizehn Stunden später landete Lilith down- under. Sie hatte Beth auch ihre Flugnummer genannt und wurde bereits hinter der Abfertigung erwartet. Lilith begrüßte die Freundin und umarmte sie fest. »Was ist pas-
siert? Du siehst aus, als hättest du Nächte ohne Schlaf verbracht. Wo ist Felidae?« Polizisten hetzten durch das Terminal, gefolgt vom Kamera-Team eines örtlichen Networks. Beth zog Lilith beiseite. »Der Flug, den du mir nanntest, sorgt für einigen Schrecken. Die Maschine wurde nach der Landung von Bodenpersonal betreten, nachdem kein Passagier über die Gangway gekommen war …« Beth schwieg, aber Lilith ahnte bereits, wie es weiterging. »Man fand etliche tote Passagiere. Der Rest, einschließlich Besatzung, klebte wie versteinert an ihren Sitzen. Niemand weiß –« »Und Lazarus?« unterbrach Lilith ungeduldig. »Der Kelch …?« »Man fand nur eine seltsame Rüstung. Und der Kelch … Felidae hat sich darum gekümmert. Ich nahm sie mit hierher, und sie mischte sich unter das Ärzteteam, das in die Maschine geschickt wurde. Vor vier Stunden sah ich sie zuletzt. Sie hatte den Kelch nicht sichtbar bei sich, wirkte aber zufrieden.« »Wo ist sie jetzt?« »Weg.« »Weg?« »Sie hat sich verabschiedet. Sie sagte, sie müsse sich um die Reinigung des Kelchs kümmern, nachdem Landru ihn mißbrauchte …« »Sagte sie wirklich mißbrauchte?« Lilith lachte bitter. »Und wie nennt sie das, was sie getan hat?« Beth zuckte die Achseln. »Hat sie gar keine Nachricht hinterlassen? Für mich?« »Nur, daß sie sich bei dir meldet, sobald der Kelch wieder einsatzbereit ist …« »Wenn das keine Drohung ist!«
Beth fuhr sich mit dem Handrücken über die erhitzte Stirn. »Ich stehe mir hier seit sechs Stunden die Beine in den Bauch«, stöhnte sie. »Wenn ich mich nicht kurz frischmache, fallen mir noch die Augen zu. Warte kurz, ich lasse mir nur etwas Wasser übers Gesicht laufen, dann fahren wir nach Hause. Nach Hause, Lilith. Ich habe einiges zu berichten.« Lilith sah ihr nach, wie sie sich in Richtung der Toiletten entfernte, und wandte sich dann dem Treiben an der Gangway zu, wo bewaffnete Polizisten auf Posten standen und lästige Reporter fernhielten. So fiel Lilith nicht auf, daß ein Mann Beth folgte. Ein Mann ohne Schatten! Zwei Minuten später durchschnitt ein Schrei die Geräuschkulisse der Halle.
* Er berührte sie, als sie sich vor dem Spiegel wusch. Der Spiegel leugnete ihn. Beth fuhr herum. Ihr Gesicht wurde zu einer Maske. Dann besann sie sich. Und reagierte kaltblütiger, als sie es je von sich gedacht hätte. »Landru …!« Sie verlieh ihrem Blick etwas Sehnsuchtsvolles. »Endlich bist du da!« Er fiel darauf herein, wähnte Beth noch immer als seine Verbündete. »Was ist geschehen?« fragte er. »Ich sah dich mit der Verfluchten reden. Sie kam nach mir hier an, obwohl ich keinen Direktflug buchen konnte. Weißt du, wo der Kelch geblieben ist?« Sie nutzte die Chance. Die einzige, die sie hatte.
»Komm«, sagte sie und zupfte ihn wie einen x-beliebigen Menschen am Ärmel, obwohl ihr dabei fast das Blut zu Eis gefror. »Komm schnell …!« Sie zog ihn nach draußen. Dort änderte sich ihr Verhalten. So abrupt, daß selbst Landru sekundenlang nur perplex zusah. »Hilfe!« schrie Beth gellend und taumelte von Landru weg. Ihre Hand wies anklagend auf ihn. »Hilfe! Er wollte mich vergewaltigen! Er hat ein Messer!« Sie sah Lilith herumwirbeln und rannte auf sie zu. Der Vampir setzte ihr nach. Überstürzt. Mit häßlich verzerrter Grimasse, die nicht dazu angetan war, ihn wie einen Unschuldigen erscheinen zu lassen. Alle Augen in der Halle richteten sich auf ihn. Die Menschen in seiner Nähe wichen ängstlich vor Landru zurück. Polizisten hetzten heran und umringten sekundenschnell den Mann, auf den alle Arme deuteten. Und Landru beging einen weiteren Fehler, als er den ersten Beamten, der sich ihm in den Weg stellte, mit einem gewaltigen Hieb zu Boden streckte. »Komm«, keuchte Beth und hakte sich bei Lilith unter. »Komm schnell!« Lilith stellte keine Fragen. Sie war immer noch wie betäubt von Landrus Blick. Wäre er nicht schon zuvor ihr Todfeind gewesen – spätestens jetzt hätte er sie im wahrsten Sinne des Wortes in der Luft zerrissen, hätte er sie zu fassen bekommen. Sie und Beth. Und Lilith zweifelte keine Sekunde, daß er das nachholen würde. Sehr, sehr bald …
ENDE
Das Dunkle Tor von Robert deVries Sie sind schon lange unterwegs. Aber Tote haben keine Eile. Sie folgen einem Gang, der Meile um Meile in die Unendlichkeit zu führen scheint. Aber Tote spüren keine Müdigkeit. Einer der beiden war einmal Priesteranwärter, der andere Arzt. Beide verbindet ein Schicksal: Sie wurden von Lilith gebissen und mit deren magischem Keim infiziert. Von Zeit zu Zeit durchbricht ein Tor die Eintönigkeit des Ganges. An vielen sind die beiden Toten schon vorbeigegangen. Jetzt endlich entschließen sie sich, eine der Pforten zu öffnen. Sie führt nicht in eine Kammer. Sie führt in eine Welt! Und in eine längst vergangene Epoche …