Das Buch Mit zwanzig hat man noch Tr¨aume – besonders wenn man, wie die College-Absolventin Nicki McBain aus Chicago, j...
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Das Buch Mit zwanzig hat man noch Tr¨aume – besonders wenn man, wie die College-Absolventin Nicki McBain aus Chicago, jung, h¨ ubsch und ambitioniert ist. Ihr gr¨oßter Wunsch ist es, irgendwann eine erfolgreiche Juristin zu werden. Doch dann bricht u ur sie ¨ber Nacht die Welt f¨ zusammen: Ihre Tage sind gez¨ahlt, ihre Zukunftspl¨ane auf ein paar Monate beschr¨ankt. Nach dem ersten Schock beschließt Nicki, in der ihr verbleibenden Zeit das Leben richtig zu genießen. Mit ihren besten Freunden plant sie eine Kreuzfahrt durch die ¨ ais, um dort noch einmal aus dem vollen zu sch¨opfen. Ag¨ Aber unter der griechischen Sonne passiert ihr schließlich das, womit sie am wenigsten gerechnet hat. Sie begegnet dem Bordfotografen Michael und erf¨ahrt zum ersten Mal im Leben, was wirkliche Liebe ist. Eine aufregende Zeit beginnt, in der sich Momente h¨ochsten Gl¨ ucks mit solchen großer Hoffnungslosigkeit abwechseln. Weil Nicki weiß, daß es keine gemeinsame Zukunft f¨ ur sie geben kann, bricht sie die Reise verzweifelt ab. Doch wahre Liebe kennt keine Grenzen. . .
Die Autorin Liz Nickles lebt in Los Angeles, wo sie sehr erfolgreich in der Werbebranche und als Beraterin großer Unterhaltungsfirmen t¨atig ist. Von einer großen Frauenzeitschrift wurde sie zu einer der zehn Topfrauen des Jahres gew¨ahlt. Sie hat bereits mehrere Drehb¨ ucher und Romane geschrieben. Die Filmrechte an dem Roman F¨ ur jetzt und alle Ewigkeit sind bereits verkauft.
Liz Nickles
Fu ¨r jetzt und alle Ewigkeit Roman
Aus dem Amerikanischen von Angela Nescerry
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel All the time in the World bei Avon Books, Inc., New York
Scan, Korrektur und Layout: Shaya Version: 1.0
Ungek¨ urzte Lizenzausgabe der RM Buch und Medien Vertrieb GmbH und der angeschlossenen Buchgemeinschaften c Copyright 1999 by Liz Nickles c Copyright 2000 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag GmbH und Co. KG, M¨ unchen Umschlag- und Einbandgestaltung: Hep & Ko, Berlin Umschlagfoto: Tony Stone Satz: Gramma GmbH, M¨ unchen Druck und Bindung: GGP Media GmbH Printed in Germany 2000 Buch-Nr. 06161 4
F¨ ur die wirkliche Nicole
Prolog
Jetzt muß ich die Augen schließen, damit ich diesen Augenblick, wie mit einer Kamera, f¨ ur immer festhalte. Ich sp¨ ure, wie der Wind durch mein langes Haar streicht; die Str¨ahnen wehen mir ins Gesicht und verfangen sich in meinem weit ge¨offneten, lachenden, schreienden Mund. ¨ aische Meer warm und Tief unter mir kr¨auselt sich das Ag¨ einladend an den Felsen. Und er steht neben mir, h¨alt meine Hand. Ich kann es nicht. Wie k¨ onnte ich springen? Ich mag keine Klippen. Ich mag es nicht, in die Tiefe zu ¨ schauen. Ich mag keine Uberraschungen – und vor allem mag ich keine schroff abfallenden Felsen, keine spitzen Steinbrocken und keine Schw¨arme von Haien, die vermutlich genau an der Stelle kreisen, an der ich ins Wasser eintauchen werde. Nat¨ urlich kannst du. Er ist von der beharrlichen Sorte. Kann ich nicht. Ich trete zur¨ uck. Ich bin noch nicht soweit. In deinem Gesicht sehe ich Mut, behauptet er. Mutig? Ich? Ich schaffe es nicht. Du schaffst es. Wir haben es schon oft gemacht. Du schaffst es. Er greift nach meiner Hand und streichelt sie. 7
Ich habe Angst, fl¨ ustere ich. Nimm meine Hand. Ich umklammere sie, so fest ich kann. Eins, zwei. . . Du springst mit, in Ordnung, Nick? In Ordnung. Der Wind erstickt meine Stimme. Kann er mich u ¨berhaupt h¨oren? Wir springen zusammen, sagt er. Seine beruhigende Stimme macht es irgendwie leichter. Ich atme ganz tief ein. An diesen Augenblick will ich mich erinnern, ich will ihn nie verlieren. Ich halte seine Hand, und wir springen. Und dann falle ich ins Sonnenlicht. Es ist ein tiefer Sprung, aber ich bin nicht allein. Er ist da, h¨alt immer noch meine Hand. Kann ich u ¨berhaupt wirklich fallen, solange mich noch jemand festh¨alt? Wir springen zusammen, in Ordnung? In Ordnung. Jetzt fliege ich, irgendwo zwischen Erde, Himmel und Meer. Ich halte seine Hand und fliege. Manche Menschen glauben, daß der Tod das endg¨ ultige Alleinsein ist. Wir werden allein geboren, und wir sterben allein. So denken sie. Aber da t¨auschen sie sich. Denn wenn man liebt und geliebt wird, ist man nie allein. Niemals. Da kenne ich mich aus. Und ich werde Ihnen erz¨ahlen, wieso.
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Erstes Kapitel
Wenn man einundzwanzig Jahre alt ist und gerade seinen College-Abschluß macht, gehen einem viele Dinge durch den Kopf, aber der Tod geh¨ort bestimmt nicht dazu. Es ist einfach so: Ich habe gar keine Zeit zu sterben. Wann sollte ich das einschieben? Zwischen meinen Vorstellungsgespr¨achen f¨ ur eine Praktikumsstelle in einer Anwaltskanzlei? Bevor ich meine Rede bei der Abschlußfeier halte? Um zwei Uhr morgens, nach meiner Schicht als Kellnerin? Vielleicht sollte ich meine Verabredung mit Tim heute abend absagen, das einzige in meinem Leben, das entfernt an ein Privatleben erinnert. Das werde ich wohl nicht tun. H¨atte ich nur einen Augenblick lang ernsthaft daran gedacht, daß ich sterben k¨onnte, h¨atte ich diese vielen Termine gar nicht vereinbart. Ich h¨atte andere Pl¨ane gemacht, oder besser gesagt, gar keine Pl¨ane. Vielleicht habe ich mich deshalb so lange geweigert, die Kopfschmerzen zur Kenntnis zu nehmen. Ich hatte zuviel zu tun, als daß ich sie h¨atte ernst nehmen k¨onnen. Man sagt sich: Okay, es sind Kopfschmerzen, daran werde ich schon nicht sterben. Und dann wirft man ein extrastarkes Kopfschmerzmittel ein und vergißt sie, oder versucht es zumindest. Gegen Ende des letzten College-Jahres muß man sich mit einigem herumschlagen. Da sind die Abschlußpr¨ ufun9
gen, und dann muß man die alte Wohnung aufgeben, eine neue suchen, einen Praktikumsplatz finden, sich u ¨berall verabschieden – alles, was ein neuer Anfang so mit sich bringt. Ich kann nicht behaupten, daß mir die Wohnung fehlen wird. Ich glaube, im Geiste hatte ich meine Sachen l¨angst wieder eingepackt, bevor ich mich u ¨berhaupt vor zwei Jahren hier niederließ. H¨atte Emily nicht schon den Mietvertrag unterschrieben gehabt, w¨are ich wohl nie eingezogen. Zwar liegt sie g¨ unstig, nicht weit vom Campus, aber sie hat keine Atmosph¨are: niedrige Decken, Erdgeschoß (im Maklerjargon: Gartenwohnung), Holzfußb¨oden, die seit Jahrzehnten keine Schleifmaschine mehr gesehen haben. Die M¨obel stammen aus der Remise von Emilys Großmutter; wir haben sie mit Bettlaken abgedeckt, damit wir sie nicht anschauen m¨ ussen. Aber seit Emily, Eric, Tim und ich hier wohnen, ist es mein Zuhause. Es f¨allt mir schwer zu glauben, daß wir nun getrennte Wege gehen, aber Eric studiert Medizin, Tim hat einen Job in einem Architekturb¨ uro in der City, Em zieht nach New York und er¨offnet dort eine Boutique, und ich hoffe, daß ich mein Praktikum bekomme, bevor im Herbst das Jurastudium beginnt. Tim und ich sind nun seit vier Jahren zusammen – ¨ wir sind wie ein altes Ehepaar. Keine Uberraschungen in diesem Bereich. Em und Eric sind ebenfalls ein Paar, wenn auch auf eine etwas andere Art. Sie haben viel gemeinsam: Em ist auf der Suche nach dem idealen Mann, und Eric auch. Bisher hat keiner von beiden ihn gefunden. Tim und ich ziehen zusammen in eine Wohnung in Printer’s Row, eine Gegend, die als das Soho von Chicago gilt, oder wenigstens beinahe. Ich werde Em und Eric vermissen. Wer wird mir in Zukunft sagen, was ich anziehen soll? Zusammen bildeten sie meinen Berater10
stab in Sachen Kleidung und bereiteten mich f¨ ur das richtige professionelle Auftreten bei Avery, Gardener und Brown vor. Eric entdeckte in einem Secondhand-Laden das dunkelblaue Kost¨ um, Em k¨ ummerte sich um mein Make-up. Zufrieden habe ich mich heute morgen im Spiegel betrachtet: eins achtundsechzig groß, zweiundf¨ unfzig Kilo, das braune Haar ungewohnt glatt und ordentlich zur¨ uckgek¨ammt und von einer Schildpattspange gehalten, die haselnußbraunen Augen nur leicht betont, und zur Abrundung Ems echte Perlenohrstecker. Kurz gesagt, ich sah aus wie eine Anw¨altin, und das war genau der gew¨ unschte Effekt. Die Frage ist nur, ob ich mich in dem Vorstellungsgespr¨ach auch wie eine Anw¨altin benommen habe. Ist es mir gelungen, sie von meinen F¨ahigkeiten zu u ¨berzeugen? W¨ahrend des Gespr¨achs plagten mich Kopfschmerzen, aber in letzter Zeit scheine ich st¨andig Kopfschmerzen zu haben. Ich sp¨ urte sie, als ich heute morgen aufwachte, gestern beim Packen, und gestern abend, als ich meiner Abschiedsrede den letzten Schliff gab. Das kommt von dem vielen Streß: Nehmen Sie zwei Aspirin und rufen Sie mich morgen fr¨ uh wieder an. Und jetzt steuere ich wieder auf unser Appartement zu. Schon unten auf der Straße h¨ore ich laute Musik. Wenn die alte Dame im ersten Stock nicht so schwerh¨orig w¨are, h¨atten wir schon l¨angst die K¨ undigung bekommen. F¨ ur die Lautst¨arke ist Emily verantwortlich: Sie ist fest davon u ¨berzeugt, daß jedes Ereignis eine Feier verdient. Gleichzeitig pl¨arrt das Cubs-Spiel aus dem Fernseher – schließlich soll es die Musik u ¨bert¨onen. Als ich die Wohnungst¨ ur o¨ffne, ist es wie ein Frontalangriff auf den H¨ornerv. Erz¨ ahl schon, Nick, wie ist es gelaufen? Eric ist mit einer Stimme gesegnet, die Lautsprecher und Fernseher 11
u utzlich erweisen, wenn er ¨bert¨ont. Das wird sich als n¨ sp¨ater Notfall! schreien muß. Er sieht nicht aus wie ein Arzt – noch nicht. Zumindest habe ich noch nie einen schwarzen Arzt mit rasiertem Sch¨adel, Tattoo und Ohrring gesehen. Kann ich laut genug schreien? Ich glaube, es ist gut gelaufen, aber wer weiß? Es war, als ob man mit den steinernen Gesichtern von Mount Rushmore spricht. Ich schaue zu Tim, seine Augen sind fest auf den Bildschirm geheftet. Siebtes Inning, zwei Outs, die Cubs f¨ uhren. Soweit seine Reaktion. Wir haben eine Beziehung, aber man darf seine Erwartungen nicht zu hoch schrauben. Eric zuckt mit den Schultern. Was hast du dir vorgestellt? Immerhin sind sie Anw¨alte. Berichtigung. Sie sind Avery, Gardener und Brown, die besten Umweltanw¨alte im ganzen Land. Sie haben es nicht n¨otig, zu sprechen. Ich w¨ unschte, sie w¨ urden die Musik leiser stellen. Mein Kopf dr¨ohnt im Einklang mit dem Baß. Ich lasse mich auf Tims Schoß fallen und streiche durch sein blondes Haar. Es ist also gut gelaufen? Endlich zwingt er sich, seine blauen Augen von der Flimmerkiste zu l¨osen. Ich dr¨ ucke seinen Arm: Er hat einen beeindruckenden Bizeps. Ich habe sie mit meinem Artikel umgehauen. Sie konnten nicht glauben, daß er tats¨achlich in der Tribune erschienen ist. Wieviel hast du verlangt? H¨ or mal, Tim, da bringst du etwas durcheinander. Es geht hier um ein Praktikum in den Ferien. Das große Geld winkt nach dem Jurastudium. Eric reicht mir ein Bier. Ach, das ist noch gar nichts. Bei mir wird es noch fast zehn Jahre dauern, bis ich genug Geld zum Leben verdiene. 12
Emily rauscht herein, ein Traum in Schwarz, das blonde Haar mit den orangefarbenen Str¨ahnen ist gnadenlos toupiert, ihre Zigarette hinterl¨aßt eine Rauchspur in der Luft. Asche schwebt zu Boden, als sie mit den H¨anden herumfuchtelt. Niemand hat dich dazu gezwungen, Humanmedizin zu studieren. Du h¨attest Tierarzt werden k¨onnen. Das dauert genauso lange, meint Eric achselzuckend. Hunde sind auch Menschen! Ems Lieblingsspruch. Gut. Dann kannst du ja Tierarzt werden. Diese Unterhaltung kennen wir schon. Tim ignoriert die beiden. Er sieht mich mit gerunzelter Stirn an. Du h¨attest sie trotzdem auf die Bezahlung ansprechen sollen. Bei einem Vorstellungsgespr¨ach geht es nicht nur um den Arbeitgeber. So etwas muß man schließlich wissen. Immerhin hast du ein riesiges Darlehen zur¨ uckzuzahlen. Erinnere mich nicht daran. Emilys Zigarettenrauch zieht in meine Richtung. Warum gibst du nicht auf und bittest deine Eltern um Hilfe? Bevor ich Emily erw¨ urgen kann, schaltet Eric sich ein. Das wollen wir doch nicht schon wieder durchkauen. Gl¨ ucklicherweise klingelt in diesem Augenblick das Telefon. Das Verh¨altnis zu meinen Eltern geh¨ort nicht zu meinen Lieblingsthemen, zumindest nicht seit ihrer Scheidung, und der Zeitrahmen umfaßt inzwischen rund ein Viertel meines Lebens. Von dem Augenblick an, als meine Mutter und mein Vater sich trennten, fiel es mir schwer, uns als Familie zu betrachten, wohl haupts¨achlich deshalb, weil wir keine Familie sind. Emily greift nach dem H¨orer. Emily ergreift jede sich bietende Gelegenheit, um nach dem H¨orer zu greifen. Sekunden sp¨ater gestikuliert sie mit den blauschwarz angepinselten Fingern¨ageln 13
einer Hand in meine Richtung, w¨ahrend sie Tim mit der anderen bedeutet, Fernsehen und Musik leiser zu drehen. F¨ ur dich! Ich bin ersch¨opft. Im Augenblick m¨ochte ich eigentlich mit niemandem sprechen. Ich bin nicht zu Hause. Emily zieht die Augenbrauen hoch. Glaub mir, du bist zu Hause. Sie dr¨ uckt mir den H¨orer in die Hand. Bei den ersten Worten erkenne ich den Bostoner Tonfall von Arnold Gardener, dem ich vor etwa einer Stunde gegen¨ ubergesessen habe. Ja, Mr. Gardener. Hier spricht Nicole. W¨ahrend unserer Unterhaltung vergesse ich beinahe meine Kopfschmerzen. Mr. Gardener benutzt Worte wie Chance, Vision und Humanressourcen. Das muß es sein – das Angebot. Ich erz¨ahle ihm, wie sehr ich bewundere, welche Richtung seine Kanzlei eingeschlagen hat, wie gern ich Mitglied seines Teams w¨are. Auf einmal ist alles, wof¨ ur ich seit vier Jahren arbeite, zum Greifen nah. Ich sehe meinen Namen auf dem Briefkopf, auf der B¨ urot¨ ur, auf der Firmenkarte. Ich sehe meine Zukunft. Danke, Mr. Gardener. Danke f¨ ur Ihren Anruf. Eric, Emily und Tim erwachen zum Leben. Also? fragt Tim. Also? Also? Sie sprechen im Chor. Also. . . Ich grinse und genieße den Augenblick. Dann werfe ich mich in Tims Arme. Also, sie wollen mich!
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Zweites Kapitel
Das Pink Cadillac geh¨ort zu den Lokalen, die eine Vergangenheit wiederaufleben lassen wollen, die es so wahrscheinlich nie gegeben hat. Ich habe die Fifties nicht erlebt, aber wenn damals ein Ort wie dieser existiert haben sollte, mit gl¨anzendem Chrom, Resopaltischen und Nischen mit roten, vinylgepolsterten B¨anken, dann vermutlich allenfalls bei den Dreharbeiten zu einem Elvis-Film. Aber die Leute kommen gern, und das Trinkgeld ist meistens ziemlich großz¨ ugig, also ist es mir nie sehr schwergefallen, hier zu arbeiten, ungeachtet der Tatsache, daß ich einen Rock mit einer Pudelapplikation und zweifarbige Sportschuhe tragen muß. Nat¨ urlich ist der Pudelrock mikrokurz, sozusagen als Zugest¨andnis an die Gegenwart. Aber vor allem habe ich Emily und Eric vor vier Jahren im Pink Cadillac kennengelernt. Emily war nat¨ urlich Gast. Sie mußte noch nie arbeiten. Eric war eine Attraktion als Gesch¨aftsf¨ uhrer-Bindestrich-Performer. Ich sage ihm immer, daß er die besten Trinkgelder kassiert hat, weil er der gr¨oßte Schmierenkom¨odiant ist. Jedenfalls war ich noch ganz neu als Kellnerin und ließ an einem meiner ersten Abende ein Tablett mit Schoko- und Erdbeershakes in Emilys Schoß fallen. Und weil Emily nun einmal Emily ist, drohte sie mir mit einer Schadenersatzklage, weil ich ihre neue Prada-Tasche ruiniert h¨atte. Eric schaltete sich ein. Zun¨achst entschuldigte er sich f¨ ur meine Un15
geschicklichkeit, und dann griff er nach der Tasche und leckte sie sauber. Schließlich brachen wir alle drei in hysterisches Gel¨achter aus. Emily vergaß ihre Klage, und wir wurden die allerbesten Freunde. Ich glaube, daß wir deshalb so gut miteinander auskommen, weil wir vollkommen verschieden sind. Keiner versucht auch nur ansatzweise, den anderen zu verstehen. Ich bin in J. Crew Wilmette aufgewachsen, und dort ist mir niemand u ¨ber den Weg gelaufen, der auch nur ann¨ahernd wie Emily war, mit ihrer t¨aglich wechselnden Haarfarbe, ihren extravaganten Kleidern und ihrer bedingungslosen Begeisterung f¨ ur Tiere, ausgenommen solche, die man plattgefahren von der Straße kratzen muß. Sechs Wochen lang beherbergten wir im Studentenwohnheim einen Waschb¨aren, den sie am Rand des Naturschutzgebietes aufgegabelt hatte, bis er durch das Fenster entwischte. Und Eric, dem zu jeder Gelegenheit ein passender Spruch einf¨allt, wurde unsere inoffizielle Herbergsmutter. Es war also nur logisch, daß wir uns zusammen eine Wohnung suchten, und inzwischen wohnen wir seit zwei Jahren hier. Heute abend ist meine letzte Schicht im Pink Cadillac, daher genehmige ich mir nostalgische Erinnerungen, w¨ahrend ich meine Haare zum vorgeschriebenen Pferdeschwanz hochbinde. Es wird seltsam, wenn die beiden nicht mehr da sind, sage ich zu Tim. Ja, aber dann sind wir endlich f¨ ur uns. Er k¨ ußt mich fl¨ uchtig auf den Nacken. Tim u ¨bernimmt als Untermieter die Wohnung eines Cousins, der nach Washington zieht. Außerdem werden sie sowieso st¨andig vor der T¨ ur stehen. Ohne uns sind sie doch gar nicht lebensf¨ahig. Wo ist dein Terminplaner? Ich w¨ uhle in meinem Rucksack nach meinem elektronischen Timer, einem Geschenk meines Vaters zum 16
College-Abschluß. Dummerweise habe ich nie Zeit, alle Informationen einzutippen, die ich ben¨otige. Aber ich muß zugeben, daß es ein n¨ utzliches Spielzeug ist. Bei Tim und mir dreht sich in letzter Zeit alles um Terminplaner. Du zuerst. Der Mietvertrag beginnt in zwei Wochen. K¨ onnen wir bis dahin hier raus und in der neuen Wohnung sein? Ich habe schon gepackt. Toll. Ich habe das erste Wochenende f¨ ur Putzen und Anstreichen eingeplant. Mein Cousin l¨aßt uns seine M¨obel da. Sie sind zwar h¨aßlich, aber wir sparen Geld. ¨ Ich habe eine Ubersicht angelegt mit den Kosten, die auf jeden von uns zukommen. Tim ist noch besser organisiert als ich. Er hat unsere ganze Zukunft geplant, bis hin zur Einkommensteuererkl¨arung. Wir wollen beide alles unter Kontrolle haben: Das verbindet uns. Ich sage immer, daß Tim mich vom Rande des Abgrunds gerettet hat, weil ich ihn kennenlernte, als mein Laptop abgest¨ urzt war und beinahe meine gesamte Existenz mit sich gerissen h¨atte. Ich saß in der Bibliothek und h¨ammerte hilflos auf die Tastatur ein, als Tim dazukam und es ihm gelang, sich einen Weg in meine Festplatte und mein Leben zu bahnen. Wenn zwei Wochen lang niemand Zeit hat, sich um die W¨asche zu k¨ ummern, und wir anderen alle aus dem Waschkorb leben, gelingt es Tim, aus den Tiefen seines Kleiderschranks noch ein frisch geb¨ ugeltes rosa Hemd zu zaubern. Und genau das tut er auch in diesem Moment. M¨ ussen wir ausgerechnet jetzt die Kosten verteilen? Ich komme zu sp¨at zur Arbeit. Ich schnappe meinen Angorapulli und steuere auf die T¨ ur zu. Heute ist die große Abschlußfeier. Im Pink Cadillac wird es drunter und dr¨ uber gehen. 17
Tim zuckt mit den Achseln. Na gut, vertagt. Dann l¨achelt er. Heute abend feiern wir. Du meinst, du feierst. Ich muß arbeiten. Das Pink Cadillac ist gerammelt voll, dabei ist es noch nicht einmal sieben. Die Nischen quellen u ¨ber, vor der T¨ ur hat sich eine Schlange gebildet. Jennifer, deren Schicht zu Ende ist, wirft mir einen Ich mache mich aus dem Staub-Blick zu, ich atme tief durch und beziehe mit dem Bestellblock in der Hand Position. Mitten im Raum, umgeben von roten Vinylnischen, steht ein 1956er Eldorado-Cabrio ohne Sitze, das auch als B¨ uhne dient. Eric tanzt mit Gigi, dem weiblichen Diskjockey. Gigi wiegt um die hundertzwanzig Kilo, tr¨agt ein phosphoreszierendes Hawaii-Kleid und bildet mit Eric ein sch¨ones Paar, w¨ahrend die beiden zu My Boyfriend’s Back abrocken. Nicki! Emily winkt mir aus einer Nische hektisch zu. Sie tr¨agt einen schwarzen Gucci-Overall und eine Secondhand-Jacke aus Kunstleopard. Sie springt von ihrem Sitz, st¨ urzt auf Gigi zu, entreißt ihr das Mikrophon und st¨ urmt auf die K¨ uhlerhaube des Eldorado. H¨ort mal alle her, ich m¨ochte eine Durchsage machen! Unsere Lieblingskellnerin, Nicki McBain aus dem Pink Cadillac, hat eine Anstellung bei Avery, Gardener und Brown bekommen! Sie bricht in ein Freudengeheul aus, und die Meute gr¨olt begeistert mit. Nicki, schreit Gigi, komm her! H¨ ort alle her, wir wollen unsere kleine Nicki geb¨ uhrend in die kalte, harte Welt der Jurisprudenz verabschieden! Ich ducke mich und halte nach einem geeigneten Versteck Ausschau, aber Eric zerrt mich schon auf den Caddy. F¨ ur so etwas werde ich nicht bezahlt! protestiere ich. 18
Komm schon, Nicki, sei zur Abwechslung mal locker! Er hebt mich auf die K¨ uhlerhaube. Daf¨ ur werde ich mich revanchieren! Wer ist eure Mama? kreischt Gigi ins Mikro. Du bist unsere Mama! schreit die Menge einvernehmlich. Die Musik geht in Twist and Shout u ¨ber, und Tim springt zu uns auf die K¨ uhlerhaube, gefolgt von Emily. Wir legen einander die Arme um die Schultern und tanzen im Kreis.
Am n¨achsten Morgen wache ich mit Kopfschmerzen auf. Kein Wunder, es war eine lange Nacht. Aber wenn du zum letzten Mal im Leben eine Arbeit verrichtest, von der du hoffst, daß du sie nie wieder machen mußt, und kurz davorstehst, das zu tun, was du dein Leben lang tun wolltest, hast du schließlich eine kleine Feier verdient. Ich versuche, die Kopfschmerzen zu vergessen, und gehe meinen Vortrag f¨ ur die Abschlußfeier durch. Es hat mich drei Wochen gekostet, eine Rede zu formulieren, die etwa zehn Minuten dauern wird. Ich muß an Lincoln und die Ansprache von Gettysburg denken – kurz und perfekt, und niemand hat sie je vergessen. So soll meine Rede sein. W¨ahrend ich vor dem Badezimmerspiegel stehe und mich schminke, u ¨be ich noch einmal. Und dann noch einmal. Ich weiß, daß ich noch packen muß, aber an die neue Wohnung in Old Town und Tims Kosten¨ ubersicht kann ich erst sp¨ater denken, wenn die Abschlußfeier vorbei ist. Eric steckt den Kopf herein. Ausstrahlung! Er betont das Wort wie ein Operns¨anger. Zwerchfell! Ich gehe davon aus, daß sie ein Mikrophon haben. Brauchst du Hilfe beim Packen? Ich sch¨ uttle den Kopf und forme mit den Lippen weiter die Worte meiner Ansprache. 19
Mein Vater kommt und hilft mir mit den Kisten. Bleiben deine Eltern u ¨ber Nacht? ¨ Eltern. Uber Nacht. Ich kann mir einen Seufzer nicht verkneifen. Ja, sie bleiben. Glaube ich. Mein letzter Informationsstand ist, daß meine Mutter mitten im Gespr¨ach mit Dads Frau einfach aufgelegt hat. Wonder Woman gegen Batgirl. Bleiben Sie dran! Die Wiederholung wird langsam langweilig. Es ist jedesmal dasselbe: Dad kommt mich besuchen. Diesmal ganz bestimmt. Wirklich. Um wieviel Uhr paßt es mir? Er kann es gar nicht erwarten, mich wiederzusehen, genau wie Kate und Justin. Wie war das, wann will er hiersein? Vorspulen zum fraglichen Termin. Dad taucht nicht auf. Es tut ihm leid, es tut ihm ja so leid, aber es ist etwas dazwischengekommen. Daf¨ ur habe ich doch sicher Verst¨andnis? Ende der Folge. Bis zum n¨achsten Mal. Und dann meine Mutter. Sie hat sich nie damit abgefunden, daß Dad sie f¨ ur eine j¨ ungere Frau verlassen hat, und daraus mache ich ihr nat¨ urlich keinen Vorwurf. Aber wie lange soll ich mir ihre Schwierigkeiten mit meinem Vater noch anh¨oren? Der Eheberater konnte das Problem nicht l¨osen, wie sollte ich dazu in der Lage sein? Und wo bleibe ich? Genau zwischen den St¨ uhlen. Das kannst du deiner Mutter ausrichten. Sag das deinem Vater. Und dann ist da noch Kate. Abgesehen von der Tatsache, daß sie das Leben meiner Mutter und mein Leben zerst¨ort hat, ist sie im Grunde harmlos. Ich vermute, sie hat irgendein Psychogeschwafel u utter gelesen, ¨ber Stiefm¨ denn sie redet st¨andig davon, daß sie etwas mit mir teilen will, außerdem unternimmt sie sehr offensichtliche Ann¨aherungsversuche und bringt mir bei jeder Begegnung ein Geschenk mit. Fr¨ uher f¨ uhrte ich regelrecht Krieg gegen sie. Ich tat mein M¨oglichstes, damit sie wieder von der Bildfl¨ache verschwindet, aber jeder Schuß ging nach
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hinten los. Und nachdem sie meinem Vater einen Sohn und Erben geschenkt hat, sieht es ganz danach aus, daß sie bleibt. Bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen mein Vater tats¨achlich auftaucht, sitzt er immer neben Kate, und ich f¨ uhle mich wie das f¨ unfte Rad am Wagen. Vergessen wir es. Ich habe meine College-Ausbildung selbst finanziert. Ich habe es geschafft, daß ich im n¨achsten Herbst mit dem Jurastudium beginnen kann. Ich weiß, daß ich es in den n¨achsten zwanzig Jahren irgendwie abbezahlen muß. Sie haben ihr Leben, ich habe meines. Im Spiegel sehe ich einen schwarzen Schatten hinter mir im Schlafzimmer. Emily l¨aßt sich aufs Bett fallen, immer noch im selben Aufzug wie gestern abend. Oh mein Gott. Em legt einen Arm u ¨ber ihr Gesicht, als ob die Sonne ihre Wimperntusche zum Schmelzen bringen k¨onnte, oder zumindest den Rest, den sie noch nicht auf den Wangen verschmiert hat. Wie sp¨at ist es? Ich werde niemals rechtzeitig zur Abschlußfeier fertig. Eric feixt. Du bist eben eine Schlampe. Halt den Mund! Was weißt du von den Bed¨ urfnissen einer Frau? Vielleicht sehe ich Brian nie wieder. Nick, wann h¨altst du deine Rede? In vierundf¨ unfzig Minuten. Tim bereitet mit dem Festkomitee alles vor. Kannst du daraus nicht anderthalb Stunden machen? Tut mir leid. Nat¨ urlich wird sie trotzdem dasein. Em ist immer f¨ ur mich dagewesen, seit dem Tag, als ich ihre Handtasche in Milkshake gebadet habe. Ihr Leben ist so ganz anders als meines: eine reiche Familie und Internate, Reisen nach Europa und Pferde, aber wir waren beide viel allein, da21
von verstehen wir eine Menge. Deshalb f¨ uhlen wir uns wie Schwestern, obwohl wir uns u ¨berhaupt nicht ¨ahnlich sind. Jetzt kann ich genausogut meinen Talar anziehen und das Barett aufsetzen. Ich glaube, ich habe das bis zuletzt hinausgez¨ogert, weil die Abschlußfeier so endg¨ ultig ist. Nach vier Jahren totaler Gemeinsamkeit l¨osen Emily, Eric, Tim und ich unsere kleine Familie auf. F¨ ur mich sind Em und Eric die Geschwister, die ich nie hatte. Eigentlich habe ich ja einen Bruder, einen Stiefbruder, um genau zu sein. Justin. Er ist vier Jahre alt, aber ich kann nicht behaupten, daß wir uns nahestehen. Im Grunde kenne ich ihn kaum. Und – klingt das sehr schlimm? – ich bin mir auch gar nicht sicher, ob ich ihn kennenlernen will. Wenn der eigene Vater dich durch ein Baby ersetzt, ist das nicht einfach, auch wenn du schon fast erwachsen bist. Em sagt, es sei absurd, daß ich mit einem Kindergartenkind konkurrieren will, aber ich kann nun einmal nichts daf¨ ur. Ich muß immer wieder an die Zeit denken, als ich noch klein war und mein Vater nicht f¨ ur mich da war. Dad arbeitete bis sp¨at abends, am Wochenende, eigentlich immer. Er war st¨andig unterwegs und nahm uns nie mit. Jetzt ist er wieder verheiratet – mit Kate, seiner fr¨ uheren Verwaltungsassistentin, die ihren Job in der Sekunde an den Nagel geh¨angt hat, als sie Mrs. McBain wurde. Und Dad hatte eine Erleuchtung und ist Justin ein vorbildlicher Vater. Nie vers¨aumt er eine Verabredung am Sandkasten oder eine Besprechung im Kindergarten. Er hat sogar samstags mit seinem Spr¨oßling an einem Daddy und ich-Kurs teilgenommen. Kein Wunder, daß ich Kopfschmerzen habe. Ein großer Blumenstrauß taucht vor mir auf: gelbe Osterglocken, meine Lieblingsblumen. Tim nimmt mich in die Arme. F¨ ur meine liebste Abschlußrednerin. Er 22
beugt sich um den Strauß herum und gibt mir einen Kuß, sein weiches blondes Haar ist so hell wie die Osterglocken. Tim und ich bewegen uns auf einer gemeinsamen Linie durchs Leben. Wir machen einfach immer weiter. Seit meiner Laptop-Krise im ersten College-Jahr mußte sich keiner von uns beiden mehr u ¨ber Verabredungen oder Beziehungen Gedanken machen, und das ist sehr praktisch, wenn man sowieso kaum Zeit zum Ausgehen hat. Tim, Emily und Eric – die drei sind meine Familie. Ich mag nicht daran denken, was passiert, wenn nun bald jeder seine eigenen Wege geht. Das ist das schlimmste am College-Abschluß, aber wenigstens weiß ich, daß Tim und ich zusammenbleiben werden. Im Spiegel sehe ich, wie Emily hinter mir im herumhantiert. Sie versucht, den klassischen Talar mit Hilfe von G¨ urtel und Schmuck umzugestalten. Tim bringt sein Barett und die Troddel in Position. Barett und Talar, die großen Gleichmacher, verk¨ undet er. Damit sieht jeder wie ein Vollidiot aus. Du vielleicht, schnaubt Emily. Sie hat ihr Barett mit einem Schleier umh¨ ullt. Ihr ganz pers¨onlicher Stil. Diese Frau wird frischen Wind in die Modebranche bringen. Mein Kopf f¨ uhlt sich an, als ob er jeden Moment platzen m¨ ußte, wie ein hartgekochtes Ei, das zu lange im Wasser war. Ich greife nach den Aspirintabletten und lasse Wasser in ein Glas laufen. Auf einmal scheint alles zu beben; das Glas rutscht mir aus der Hand und zerbricht auf den Kacheln. Tausende von kleinen Splittern knirschen unter meinen F¨ ußen, w¨ahrend ich versuche, mich am Waschbecken festzuklammern. Ich hole den Staubsauger, erkl¨ art Tim. Konzen triere dich auf deine Rede. Unm¨oglich, aber ich tue mein Bestes. 23
Nick, ruft Eric u ¨ber das Geheul des Staubsaugers hinweg, deine Mutter ist da. Nicht zu fassen. Sie hat es tats¨achlich geschafft, ohne sich unterwegs durch eine Straßensperre aufhalten zu lassen. Ich fahre noch einmal durch mein Haar, streiche es u ¨ber den Schultern glatt. Sehe ich heute, an meinem letzten Tag als College-Studentin, anders aus? Dieselben braunen Augen, dieselbe helle Haut, derselbe Mund, dem Lippenstift einfach nicht steht, aber heute versuche ich es trotzdem. Vorsichtig zeichne ich die Konturen nach und lege Dunkelrot auf. Meine Hand zittert, und die Farbe verschmiert. Ich tupfe sie wieder ab. Vergessen wir es. Hallo, Liebes! Meine Mutter ist kleiner als ich und sehr elegant. Sie tr¨agt maßgeschneiderte Hosenanz¨ uge, dazu immer ein farblich abgestimmtes Tuch um den Hals. Heute ist der Anzug weiß und das Tuch pastellfarben. Eigentlich habe ich immer gedacht, daß meine Mutter viel h¨ ubscher ist als ich. Ich sehe aus wie eine dunkelhaarige Aquarellversion von ihr – weiche Konturen, sanftere Gesichtsz¨ uge, weniger dramatisch. Hallo, Mom. Wie viele Leute passen eigentlich in ein Badezimmer? Du hast es geschafft. Keine Straßensperre? Nicole, glaubst du, ich w¨ urde es mir entgehen lassen, mit meiner brillanten Tochter zu feiern? Sie gibt mir ein kleines Paket. Das ist f¨ ur dich. Mom, ich bin in Eile. Komm her, ich helfe dir. Sie reißt die Verpackung auf. Schau, Liebes. Sie ¨offnet die Schachtel und fischt ein goldenes Armband mit Anh¨angern heraus. Danke, Mom. Es ist nicht mein Stil, aber sie gibt sich soviel M¨ uhe, wie meistens, wenn sie mir etwas schenkt, was ihr gef¨allt. Ich bin ihre Tochter, aber ich glaube nicht, daß sie mich wirklich kennt. Sie war immer
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viel zu sehr damit besch¨aftigt, sich mit meinem Vater zu streiten, und hatte gar keine Zeit, mich wirklich kennenzulernen. Fr¨ uher habe ich es getragen. Sieh mal – diesen Anh¨anger habe ich zu meinem College-Abschluß bekommen. Sie greift nach meinem Handgelenk und legt mir das Armband um. Es klingelt, wenn ich meinen Arm bewege. Emily st¨ urzt herein und nimmt meine Hand. Das ist phantastisch, Lori, findest du nicht, Nick? Ja, irgendwie – retro. Mehr f¨ allt mir dazu beim besten Willen nicht ein. Nachdem Emily als Modep¨apstin ihr Urteil verk¨ undet hat, l¨aßt sie meinen Arm los und verschwindet. Mom lacht, aber ihr ist klar, daß mir das Armband nicht gef¨allt. Wahrscheinlich ist es nicht mehr modern, aber es bedeutet mir viel. Ich m¨ochte, daß du es bekommst. Danke, Mom. Es paßt zu meinem Pudelrock. Sobald sie mir den R¨ ucken zudreht, ¨offne ich den Verschluß und lasse das Armband unter dem Talar in meine Tasche gleiten. Es ist nun mal nicht mein Stil, und außerdem will ich nicht, daß es vor dem Mikrophon herumbaumelt, w¨ahrend ich meine Rede halte. Wir gehen ins Wohnzimmer, und in dem Augenblick treffen Dad, Kate und Justin ein. Dad sieht aus wie immer – Anzug, klassische Krawatte, keine Spur von Grau im zur¨ uckgek¨ammten Haar, stets darauf bedacht, m¨oglichst schnell wieder zu verschwinden, obwohl er gerade erst angekommen ist. Kate ist gr¨oßer als mein Vater, d¨ unn, tr¨agt ein Armani-Kost¨ um. Sie hat ihr platinblondes Haar modisch kurz schneiden lassen, eine Spange h¨alt den Pony aus dem Gesicht. Justin ist eine Naturgewalt. Er st¨ urmt in den Raum, springt auf die Couch, h¨ upft auf und nie25
der, ein Tornado mit einem B¨ urstenschnitt, immer auf der Suche nach etwas zum Kaputtmachen. Nicki! ruft Dad. Meine Abschiedsrednerin! Schatz, wir sind ja so stolz auf dich! Er umarmt mich ¨ ungest¨ um. Uber meine Schulter sieht er Mom und nickt ihr h¨oflich zu. Lori. Mom senkt ihr Kinn zwei Zentimeter. Dan. Es erstaunt und erschreckt mich, wie man eine Ehe nach f¨ unfzehn Jahren, etwa f¨ unftausend zusammen verbrachten N¨achten und der gemeinschaftlichen Produktion eines Kindes auf ein Nicken reduzieren kann. Ich hoffe, wir sind nicht zu sp¨ at dran, sagt Kate atemlos. Wir sind gestern abend aus Barcelona zur¨ uckgekommen. Justin leidet ein wenig unter dem Zeitunterschied. Justin! Mein Schatz! Runter vom Sofa! Komm her – hier hast du etwas zu essen. Sie l¨achelt und gibt ihm Pl¨atzchen und eine Saftt¨ ute. In Barcelona ist es jetzt Zeit f¨ ur einen Snack. Snack-Attacke! Justin kichert, als er nach der T¨ ute grabscht und sie kr¨aftig zusammenquetscht. Traubensaft spritzt durch den Raum, direkt auf die weiße Jacke meiner Mutter: Volltreffer! Oh mein Gott! Es tut mir so leid, und Justin auch, nicht wahr, Justin? Er ist so aufgeregt, weil er seine große Schwester wiedersieht. Habt ihr Soda im Haus? Damit bekommen wir den Fleck sofort heraus. Tut mir leid. Ist alles schon verpackt, sagt Eric, der einen hoffnungslosen Fleck auf den ersten Blick erkennt. Wir u ¨bernehmen die Reinigungskosten, bietet Kate an und greift vergebens nach der Saftt¨ ute. Justin saust an ihr vorbei, wedelt mit der T¨ ute herum und garniert alles mit lila Spuren. Meine Mutter tupft mit einem Kleenex an ihrer Jacke herum und kocht innerlich, aber sie winkt 26
ab. Mein Vater, ein Experte darin, schwierigen Themen aus dem Weg zu gehen, tut so, als ob nichts passiert w¨are. Wir sehen uns bei der Feier, Nicki, sagt Mom und macht sich auf den Weg. Dad, kannst du dieses Kind nicht unter Kontrolle halten? >Dieses Kind< ist zuf¨ allig dein Bruder, Nicki. Du h¨attest dich in dem Alter sehen sollen. Du warst immer außer Rand und Band. Als w¨ arst du jemals dagewesen und h¨attest es mitbekommen, zische ich. Irgendwie passiert das immer. Eins f¨ uhrt zum anderen, und dann bricht die Lawine los. Ich liebe meine Eltern wirklich, aber es gibt einfach so viele Probleme, so viele Fußangeln, so viele Wunden aus der Vergangenheit, daß es manchmal nicht einfach ist, dar¨ uber hinwegzugehen. Deshalb habe ich die beiden nie um finanzielle Unterst¨ utzung f¨ ur mein College-Studium gebeten. Es war nicht einfach, das Stipendium zu bekommen, und abends arbeiten zu m¨ ussen war alles andere als lustig, aber insgesamt immer noch besser, als ihren st¨andigen Streitereien, wer wem was schuldet, neue Nahrung zu liefern. Kate stellt sich zwischen uns und l¨achelt ein wenig zu breit. Und wo essen wir heute zu Abend? Eigentlich habe ich keinen Hunger. Nicki, bis dahin sind es noch sechs Stunden. Ich habe Kopfschmerzen. In sechs Stunden? Immer diese Kopfschmerzen. St¨andig, das ist nicht gelogen. Und diese Situation macht es nicht besser. Ich reibe mir die Schl¨afe. Dad klopft mir auf die Schulter. Du hast dir zuviel zugemutet. Ich sehe nicht, warum. . . 27
Ich vermute, genau das ist der Punkt. Seit Kate und er ein Paar sind, sieht er nicht viel außer ihr. Und Justin. K¨onnen wir bitte das Thema wechseln? frage ich. Wenn wir so weitermachen, vergesse ich noch, worum es bei meiner Rede eigentlich geht. Ich muß los. Was gibt es noch zu sagen? Vielleicht noch eines. Ich habe das Praktikum bei AG&B. Ein perfekter Abgang. Ich stehe auf dem Podium, bin mitten in meiner Rede und spreche gerade u ¨ber unser aller Verpflichtung der Umwelt gegen¨ uber, als eine riesige Faust nach meinem Sch¨adel greift und ihn wie ein Schraubstock umklammert. So schlimm war es noch nie. Als B¨ urger dieser Welt sind wir eine ganz besondere Partnerschaft eingegangen, haben wir uns verpflichtet, die Erde zu respektieren, jeder auf seine Weise. . . Ich habe keine Ahnung, wie die Ansprache auf meine H¨orer wirkt. All meinen sorgf¨altigen Recherchen, ¨ Entw¨ urfen, Anderungen zum Trotz lese ich jetzt die Worte von meinen Stichwortkarten ab, um es nur irgendwie hinter mich zu bringen. Mein Kopf f¨ uhlt sich an, als ob er gleich explodieren w¨ urde, die Schrift auf den Karten verschwimmt. Mein Gott, was f¨ ur eine Migr¨ane! Einfach unglaublich. Irgendwie bekomme ich die Silben heraus, wie ein Kind, das eine Sprech¨ ubung herunterleiert. Ich schaffe es bis zum Schluß. Ich h¨ore, wie der Applaus durch den Saal hallt. Die Gesichter verschmelzen vor meinen Augen zu einer unkenntlichen Masse. Danke, Nicole McBain. Der Dekan steht neben mir und sch¨ uttelt mir die Hand. Danke, Dekan Crawford. Ich ringe mir ein L¨ acheln ab und steuere auf meinen Sitz auf der B¨ uhne zu. 28
Und nun die Abschlußklasse des Jahres Zweitausend. . . Die Kapelle stimmt die Schulhymne an. Gelobt sei Lila, gelobt sei Weiß, wir gr¨ ußen dich, Northwestern. . . Die Klasse bricht in Geschrei aus. Barette fliegen durch die Luft. Ich werfe mein Barett nicht. Ich f¨ uhle mich sonderbar. Ein metallischer Geschmack erf¨ ullt meinen Mund, und ich sehe alles doppelt. Ich bin noch nie in Ohnmacht gefallen, aber jetzt habe ich das Gef¨ uhl, es k¨onnte jeden Augenblick passieren. Meine Knie geben nach. Was geschieht mit mir? Als ich die Augen wieder ¨offne, starre ich in einen Halbkreis aus besorgten Gesichtern. Emily wedelt mit einem Programm, f¨achelt mir Luft zu. Dekan Crawford spricht nerv¨os in ein Handy. Wo bleiben die Sanit¨ ater? fragt er. Sanit¨ater? Mir geht es gut, bringe ich heraus. Oh Gott, das ist alles so peinlich – bei der eigenen Abschlußfeier auf der B¨ uhne umzukippen. Ich muß aufstehen. Eric h¨alt mich zur¨ uck. Setz dich nicht zu schnell auf. Er f¨ uhlt meinen Puls. Meine Mutter ist auch da. Nicki, was ist passiert? Bist du gest¨ urzt? Es ist der Streß, verk¨ undet Emily entschlossen. Das habe ich schon ¨ ofter erlebt. Eins der M¨adchen im Studentenwohnheim im zweiten Studienjahr. Einfach umgefallen. Ich f¨ uhle mich selbst, als ob ich in Ohnmacht fallen m¨ ußte. M¨ochtest du einen Schluck Wasser, Nick? Oder ein Pfefferminz? Es geht ihr besser, erkl¨ art Tim. Ich merke, daß mein Kopf in seinem Schoß liegt. Sanit¨ater in weißen Kitteln kommen mit einer Trage herauf. Eine Trage! Das muß ein Witz sein. Ich setze mich sofort auf.
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Machen Sie bitte den Weg frei, ruft jemand. Das ist l¨acherlich, behaupte ich. Ich habe nur Kopfschmerzen. Sie haben das Bewußtsein verloren, Nicki, schaltet sich Dekan Crawford ein. Es geh¨ort zu den Vorschriften unseres Colleges, daß Sie untersucht werden. Wirklich, es geht mir gut, flehe ich. Nat¨ urlich geht es Ihnen gut, beschwichtigt der Dekan. Eine reine Routineuntersuchung. Ich sehe ihm an, daß er an einen Schadenersatzprozeß denkt. Die Sanit¨ater bestehen darauf, daß ich mich auf die Bahre lege. Ich komme mir albern vor, aber ich gehorche. Eric f¨ uhlt immer noch meinen Puls. Sind Sie Arzt? fragt einer der Sanit¨ ater. Nun, antwortet Eric, es kann sich nur noch um Minuten handeln. Die Menschenmenge macht den Weg frei, um mich und mein Gefolge durchzulassen. Ein paar Leute, die mich kennen, kommen herbei und rufen mir ermutigende Worte zu. Ich setze mich auf, der Gedanke, wie eine Kranke dazuliegen, behagt mir nicht. Schließlich bin ich nicht krank. Was immer mit mir los ist – das hier ist absolut peinlich. Die Sanit¨ater bahnen uns den Weg zu einem Notausgang und auf die Straße, wo der Krankenwagen am Bordstein wartet. Ich kann laufen. Sie bleiben liegen. Vorschrift. Ich f¨ uhle mich wie in einer Szene von Emergency Room. Am liebsten w¨ urde ich im Erdboden versinken. Statt dessen versuche ich, mich mit der Situation abzufinden, als sie mich in den Krankenwagen bef¨ordern. Eric folgt mir, die T¨ uren werden geschlossen.
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Drittes Kapitel
Mir war immer klar, daß ich eine Abschlußparty geben wollte, allerdings h¨atte ich nicht im Traum daran gedacht, daß sie in einem Krankenhaus stattfinden w¨ urde. Nach¨ dem die Arzte mich einen ganzen Tag lang als Geisel dabehalten haben, weigern sie sich, mir wenigstens ein bißchen Freiraum zuzugestehen. Fast k¨onnte man meinen, sie haben ihren eigenen Abschluß vergessen. Nichts scheint wichtig außer Blutproben, Blutproben, Blutproben und noch einmal Blutproben, bis so gut wie gar kein roter Saft mehr herauszuholen ist. Ach ja, und nicht zu vergessen das Computertomogramm. Das haben sie nat¨ urlich auch gemacht. Tim, Eric und Emily waren großartig. Eric ist meine ¨ medizinische Schnittstelle – er u ¨bersetzt mir den Arztejargon und hat sich bereits mit den Assistenz¨arzten angefreundet. Dank Eric war innerhalb von drei Minuten das Kabelfernsehen in meinem Zimmer angeschlossen. F¨ ur so etwas ist er geboren. Emily tr¨agt mein Krankenhaushemd. Sie ist begeistert von dem Teil, das hinten offen bleibt. Ich weigere mich, es zu tragen. Das ist etwas f¨ ur Kranke. Ich bevorzuge das Abendkleid aus dem Secondhandshop, das ich mir extra angeschafft habe, weil ich gestern abend mit Tim tanzen gehen wollte. Jetzt trage ich es eben hier. Wenn sie mir Blut abzapfen wollen, m¨ ussen sie 31
sehen, wie sie mit gut zwanzig Meter schwarzem T¨ ull und einem Diadem zurechtkommen. Eric hat die Musikanlage mitgebracht, und eine Horde von Freunden ist vorbeigekommen. Gigi hat mir eine Torte geschickt. Tim hat eine Bettpfanne konfisziert und sie in einen Eisk¨ ubel f¨ ur den Champagner umfunktioniert, das Abschlußgeschenk von Ems Onkel. In Anbetracht der Umgebung geht es uns also gar nicht u ¨bel. Emily f¨ uhrt das Krankenhemd vor und l¨aßt es auf und zu flattern. Vielleicht sollte ich etwas in dieser Art tragen, wenn ich meine Boutique er¨offne. Ich werde jede Minute entlassen, gew¨ ohne dich besser nicht an die Tracht, bemerke ich und schl¨ urfe Champagner aus einem Pappbecher. Emily runzelt die Stirn. Ich hoffe nur, daß sie die Sache in den Griff bekommen. In ihrem Ton schwingt etwas mit, wor¨ uber ich lieber nicht nachdenke. Alles wird gut. Oder etwa nicht? Eigentlich waren die ersten beiden Tage nicht schlecht. Der dritte Tag und der vierte Tag, also heute, treiben mich in den Wahnsinn. Inzwischen habe ich kaum noch Blut und noch weniger Geduld. Ich kann mir nicht vorstellen, was so lange dauert, aber Eric hat mir erkl¨art, daß Krankenh¨auser am Wochenende im Schneckentempo arbeiten und an Feiertagen praktisch zum Stillstand kommen, und so mußten wir uns vor dem Labor in die Warteschlange zum Volkstrauertag einreihen. Nur mit kritischen F¨allen befassen sie sich u ¨ber die Feiertage, behauptet Eric, demnach ist, was immer ich habe, wohl nicht kritisch. Wenigstens hoffe ich das, aber wer weiß? Wenn man einmal im Krankenhaus ist, wird man krank, selbst wenn man es vorher nicht war. Man beginnt, sich Dinge einzubilden, zum Beispiel seltene tropische Krankheiten, die 32
man sich von verseuchtem Obst holen kann, oder einen Geburtsfehler, der seit Jahren im K¨orper schlummert und sich nun langsam den Weg an die Oberfl¨ache bahnt. Zumindest gehen mir solche Sachen sp¨at nachts durch den Kopf, wenn ich allein bin und nicht schlafen kann. Ich gr¨ uble: Wenn ich noch hier bin, kann etwas nicht stimmen. Dann kommt der Morgen, und man sch¨ uttelt diese Gedanken ab. Aber ich muß leider zugeben, daß es mir immer schwerer f¨allt, sie abzusch¨ utteln. Meinen Freunden wird die Umgebung langsam langweilig, und daraus mache ich ihnen keinen Vorwurf. Sie m¨ ussen ihr Leben weiterleben. Ende n¨achster Woche l¨auft unser Mietvertrag aus, die Wohnung muß ger¨aumt werden. Em und Eric m¨ ussen praktisch allein saubermachen, aber sie beklagen sich nicht. Tim ist mit unserem Umzug nach Old Town besch¨aftigt, aber ich muß immer noch einiges organisieren und packen. Außerdem beginnt mein Praktikum. Was soll nur werden, wenn sich dieses Wasimmer-es-ist noch l¨anger hinzieht und mein Eintrittstermin n¨aherr¨ uckt? Vielleicht warten AG&B nicht auf mich, vielleicht vergeben sie meinen Praktikumsplatz an einen anderen Kandidaten, w¨ahrend ich hier wie ein menschliches Nadelkissen in meinem Gitterbett hocke. Auf dem Flur h¨ore ich meine Eltern – die beiden sind gemeinsam eingetroffen. Das ist neu. Normalerweise versuchen sie, einander bei ihren Besuchen aus dem Weg zu gehen. Sie kommen zusammen herein: Das ist noch ungew¨ohnlicher. Keine Kate. Sofort bin ich in Alarmbereitschaft. Dr. Graham, der f¨ ur mich zust¨andige Arzt, folgt ihnen. Jetzt ist mir alles klar – sie lassen mich nach Hause. Endlich. Mom marschiert sofort zum Kopfende des Bettes und setzt sich neben mich. Dad blickt zu Boden. Wen will er nicht ansehen – mich oder Mom? 33
Ich darf also nach Hause? sage ich zu dem Arzt, mehr eine Feststellung als eine Frage. Nicht direkt, Nicki. Bitte h¨ oren Sie genau zu, was ich Ihnen zu sagen habe. Ich h¨ ore. Die Ergebnisse Ihres Tomogramms und Ihrer Blutproben liegen vor. Und? Ich w¨ unschte, es g¨abe einen leichteren Weg, Ihnen das zu sagen. Am besten fange ich mit den Tatsachen an. Tatsachen? Mom greift nach meiner Schulter, ihre N¨agel graben sich durch den Stoff meines T-Shirts. Ich weiß sofort, daß ich diese Tatsachen nicht h¨oren will. Was ist los? Nicki, Ihre neurologischen Symptome r¨ uhren daher, daß Sie unter einer Krankheit namens Neurofibromatose leiden, kurz NF2. Sie sp¨ uren bereits seit einiger Zeit leichte Symptome, aber alle Befunde deuten auf ein fortgeschrittenes Stadium hin. Wollen Sie damit sagen, daß ich einen Gehirntumor habe? Er hat es nicht ausgesprochen, aber ich weiß es. Ich weiß es so sicher, wie ich in diesem Bett sitze, wie man eben gewisse Dinge u ¨ber sich selbst und die Fasern seines K¨orpers weiß. Selbst wenn man es nicht wahrhaben will, weiß man es. Es ist nicht so einfach, nicht schwarz und weiß, aber grunds¨atzlich ja. Ich habe mit Ihren Eltern gesprochen, und sie waren der Meinung, daß Sie die Wahrheit wissen m¨ochten. Ich betrachte Dad. Mit zusammengeballten H¨anden starrt er den Arzt an. Mom weint. Ihr Tumor ist b¨ osartig, f¨ahrt Dr. Graham fort, aber bis zu einem gewissen Grad kann man ihn behan
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deln. Bis zu welchem Grad? frage ich, w¨ ahrend ich versuche, diese Informationen zu verarbeiten. Es gibt Therapien. . . Er h¨ alt R¨ontgenaufnahmen ¨ hoch, damit ich den Ubelt¨ater in meinem Kopf genauer betrachten kann. Aber ich f¨ uhle mich bestens. Sind Sie ganz sicher? Das ist doch nicht m¨oglich. Nicki, ich w¨ unschte, es w¨are so, aber in Ihrem Zustand ist die Prognose leider – Dann ist es Krebs? Er nickt. Ich springe im Bett auf die Knie. Ich kann nichts daf¨ ur, es ist ein Reflex. Ich will nichts mehr h¨oren! Gott, was rede ich da? Es w¨ are zu gef¨ahrlich, den Tumor zu operieren, und es haben sich bereits Metastasen gebildet. Wir k¨onnen aber versuchen, den Prozeß durch eine Chemotherapie zu verlangsamen. Wovon redet er? Moment mal. Wollen Sie mir sagen, daß mich dieses Ding t¨oten wird? Der Doktor verlagert sein Gewicht. Eine gute Anw¨altin erkennt ein Ausweichman¨over sofort. Nun, es hat F¨alle gegeben. . . Neben mir schluchzt meine Mutter auf. Um Gottes willen, Lori, sagt Dad. Halt den Mund! kreischt sie. Halt einfach den Mund! Jetzt werde ich hysterisch. Hier geht es nicht um euch! Es geht um mich. K¨onnt ihr beiden nicht dreißig Sekunden aufh¨oren, euch zu streiten, w¨ahrend ich mir erkl¨aren lasse, ob ich leben oder sterben werde? Ich zittere, aber ich will mich nicht von ihnen einsch¨ uchtern las35
sen. Schließlich geht es hier um mein Leben. Ich versuche, mich zu konzentrieren. Nicki, f¨ ahrt Dr. Graham fort, wir m¨ ussen sehen, was Ihnen hilft. Und wie ich schon gesagt habe, es gibt Behandlungsm¨oglichkeiten. . . Dad unterbricht. M¨ ussen wir das jetzt besprechen, Dr. Graham? Sie hat einen schweren Schock erlitten. . . Ich schneide ihm das Wort ab. Wieviel Zeit bleibt mir noch, Doktor? Ich muß das wissen. Er sieht mir ins Gesicht; wir starren einander an. Sagen Sie es mir, verdammt noch mal! Einmal in meinem Leben soll mir jemand die Wahrheit sagen. Eine Art rauchiger, grauer Nebel erf¨ ullt den Raum. Pl¨otzlich verliert meine Umgebung alle Farbe. Aber was immer sie mir zu sagen haben, ich muß es h¨oren. Jetzt. Auf Besch¨onigungen kann ich verzichten. Der Doktor wendet sich Dad und Mom zu, und nacheinander nicken sie langsam. Warum braucht er ihre Genehmigung, um mit mir zu sprechen? Schließlich bin ich die Patientin. Ich. Eine Patientin. Wie ist das u ¨berhaupt m¨oglich? Vor einer Minute war ich noch CollegeAbg¨angerin. Und jetzt bin ich todkrank. Zwei bis drei Monate, sagt Dr. Graham. Ich falle zur¨ uck auf das Bett, als ob mich jemand gestoßen h¨atte. Zwei bis drei Monate. Zweibisdreimonate. Die Worte fahren durch mich hindurch wie ein elektrischer Schlag. Es ist unm¨oglich, sie aufzunehmen, sie zu glauben. Ich w¨ unsche mir nichts sehnlicher als eine Reise zur¨ uck in die Zeit, als das alles noch nicht wahr war. Diese vier Tage ausl¨oschen. Sie aus meinem Leben herausschneiden. So ist das, wenn man zum Tode verurteilt wird. Nicht, daß ich mich je daf¨ ur interessiert h¨atte. Ich habe mich oft gefragt, wie sich bestimmte Dinge anf¨ uhlen w¨ urden – ein 36
Genie zu sein zum Beispiel, oder ein Baby zu bekommen. Ich habe mich immer gefragt, wie es ist, an einem Bungee-Seil in die Tiefe zu springen. Ein Hochzeitskleid mit Schleppe zu tragen. Echten Schmuck zu besitzen. Das Nordlicht zu sehen. Bei Sonnenaufgang zu tanzen. Es gibt viele Dinge, an die ich in diesem Zusammenhang gedacht habe. Irgendwie stand Sterben nicht auf der Liste. Nun, sie haben einen Fehler gemacht. Soviel steht fest. Ich sterbe nicht, Wiederholung, nicht. Ich habe soeben das College abgeschlossen. Arbeiten. Leben. Diese Dinge tut man nicht, wenn man stirbt. Man stirbt nicht vor seinem einundzwanzigsten Geburtstag. Das kann einfach nicht stimmen. Vielleicht haben Sie sich geirrt, stelle ich in den Raum. Keine Reaktion. Na und? Diese Leute sind nicht Gott. ¨ Arzte irren sich st¨andig, das weiß man doch. Was sagt ¨ Eric immer – f¨ unfzig Prozent aller Arzte lagen unter ihrem Klassendurchschnitt. Vielleicht geh¨ort Dr. Graham in diese Kategorie. Vielleicht t¨auscht er sich. Ich akzeptiere diese Diagnose nicht, erkl¨ are ich der Gruppe, die sich um mein Bett versammelt hat. Ich bin nicht krank. Ich habe nur Kopfschmerzen. Ich nehme wahr, wie Dad von experimentellen Therapien spricht. Dr. Graham verwendet Begriffe wie Onkologe, Lobus und endg¨ ultig. Der Fernseher an der Wand dr¨ohnt weiter, eine Seifenoper. Ich h¨ore sie durch den Kopfh¨orer auf meinem Kopfkissen. Wer braucht Seifenopern? Ich lebe selbst in einer. Oder vielmehr sterbe ich in einer. Gef¨ uhle rasen durch meinen K¨orper, diesen Kelch des Verrats, wie eine Horde Flederm¨ause, die in einem viel zu kleinen Schrank eingesperrt sind. Ich schließe die Augen und versuche mich zu sammeln. Versetzen Sie sich bitte in meine Lage. Jetzt versuchen Sie zu weinen 37
oder auch nur zu sp¨ uren oder gar zu glauben, daß dies Ihnen widerf¨ahrt. Einmal habe ich eine Wassermelone von vorn nach hinten durchgeschnitten, das Messer bewegte sich schneller, als ich erwartet hatte, und glitt tief in meinen Finger. Die Wunde ging bis auf den Knochen, aber im ersten Augenblick f¨ uhlte ich gar nichts. Ich starrte nur auf meinen Finger, aufgeschnitten wie ein Filet, und fragte mich, was als n¨achstes passieren w¨ urde. Aber f¨ ur diese Situation gibt es kein Drehbuch, zumindest keines, das ich gelten lassen k¨onnte. Betrachten wir einmal die M¨oglichkeiten. Sollte ich ein Gebet sprechen, versuchen, einen Handel mit Gott abzuschließen? Oder einfach mit bloßer Willenskraft meine Genesung erzwingen? Meine Großmutter ist an Krebs gestorben. Sie haben ein St¨ uck nach dem anderen von ihr abgeschnitten. Sie hat das Krankenhaus nie mehr verlassen. Die Vorausschau auf mein Leben oder vielmehr auf das, was noch davon u ¨brigbleibt, flackert vor meinen Augen. Szene 1: Krankenhausbett. Szene 2: Chemotherapie. Szene 3: Krankenhausbett. Szene 4: Behandlungsraum. Szene 5: Transfusion. Szene 6: Krankenzimmer. Weiter wage ich mich nicht an das Ende heran. Das ist der Stoff f¨ ur einen sehr, sehr schlechten Film. Einen Film, den ich nicht sehen will. Meine Meinung dazu: Die ganze Sache ist l¨acherlich. Ich bin nicht krank. Die ¨ Arzte irren sich, und wenn ich noch eine Minute l¨anger hier drin sein muß, glaube ich ihnen am Ende wom¨oglich. Ich muß hier weg, bevor es zu sp¨at ist. W¨ahrend der Arzt mit meinen Eltern diskutiert, setzt sich mein K¨orper in Bewegung. Er richtet sich auf, schwingt beide Beine aus dem Bett und steht auf. Ich gehe, verk¨ unde ich. Es ist alles in Ordnung. Sie h¨oren auf zu reden und starren mich eine Sekunde lang an. Dann st¨ urzen sie alle hinter mir her. 38
Liebes! Meine Mutter greift panisch nach meinem Arm. Bitte. Wir m¨ ussen Spezialisten konsultieren. Ich kenne jemanden an der Universit¨at von Chicago. Wir lassen Tests durchf¨ uhren. . . Um was zu beweisen? Ich habe genug. Ich verschwinde von hier. Ich nehme meine Handtasche und gehe zur T¨ ur. Ich bin weder in Panik noch verr¨ uckt. Vielleicht wird alles wieder normal, sobald ich hier herauskomme. Bitte. Bitte. Bitte. Mom und Dad sind direkt hinter mir. Nicki, fleht Dad. H¨or dir an, was der Doktor zu sagen hat. Gut. Ich drehe mich um und gehe zu Dr. Graham. Okay, Doktor, ich h¨ ore. K¨onnen Sie mich heilen? Wir m¨ ussen uns zusammensetzen und die M¨oglichkeiten besprechen, Nicki. Gibt es M¨ oglichkeiten? Es gibt verschiedene Vorgehensweisen. Chemotherapie. Bestrahlung. . . Schatz, unterbricht Mom ihn. Es gibt neue Methoden. Wir k¨onnen in die Mayo-Klinik. . . Dad wirkt pl¨otzlich irgendwie außer sich. Ob ersch¨ uttert oder w¨ utend, ist schwer zu sagen. Leg dich wieder ins Bett, Nicki, befiehlt er. Wieder ins Bett? Entschuldige mal, wem passiert das ¨ hier? Ich kann es nicht glauben. Wenn diese Arzte rein zuf¨allig recht haben sollten, erwarten meine Eltern von mir, daß ich ins Grab gehe und mich dabei wie ein Kind behandeln lasse. Und das schlimmste ist, daß sie vielleicht recht haben. Ich bin ein Kind. Ich habe nie die Chance gehabt, in der wirklichen Welt zu leben, habe nie etwas außer dem College gesehen und meinem langweiligen Kellnerjob. Und jetzt soll ich mich darauf einstellen, daß ich nichts anderes mehr erleben werde.
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Mom dreht sich w¨ utend zu ihm um. Das ist nicht deine Entscheidung, Dan. Das betrifft die ganze Familie. H¨or auf, alles zu bestimmen, wenigstens dieses eine Mal. Sogar jetzt gehen sie einander an die Gurgel. Alle Mann raus, h¨ore ich mich. Verlaßt das Zimmer. Sofort. Ich muß nachdenken! Ich bin sauer – w¨ utend, genauer gesagt. Schatz. . . Mom streckt die Hand nach mir aus. Raus! Es ist ein langer, gedehnter Schrei. Erschrocken gehen sie tats¨achlich hinaus. T¨ ur zu! rufe ich hinter ihnen her. Allein im Zimmer, f¨ uhre ich eine Unterredung mit mir selbst, die ungef¨ahr so abl¨auft: Du hast dich gerade noch unter Kontrolle. Du mußt davon ausgehen, daß alles ein schrecklicher, dummer Irrtum ist. Ein Computerfehler bei einem Test. Zwei Blutproben wurden vertauscht. Das Computertomogramm von jemand anders. Eine Fehldia¨ gnose. Arztliches Versagen. Andererseits: Was ist, wenn ich wirklich krank bin? Ich weiß, daß dieses Krankenhaus der letzte Ort ist, an dem ich sein m¨ochte, auf dem R¨ ucken liegend, auf Deckenplatten und Neonleuchten starrend, ohne je die Sonne zu sehen. Ich sp¨ ure, wie mir alles entgleitet, was ann¨ahernd an Selbstbeherrschung erinnert, und schreie so laut, daß jeder vor der T¨ ur es h¨ort: Ich bleibe nicht hier, und wenn es das Letzte ist, was ich tue! Genauso stellen sie es sich ja vor. Wer will die Peperoni? Die T¨ ur geht auf. Eric tritt herein und balanciert drei große Pizzakartons. Emily bringt mir Blumen, Tim ein eingepacktes, mit einer h¨ ubschen rosa Schleife verziertes Geschenk. Sie werfen einen Blick auf mich und erstarren. Oje, sagt Eric. Sollen wir lieber sp¨ ater wieder kommen? Nick? fragt Tim. 40
Sie k¨onnen es auch sofort erfahren. Angeblich gibt es kein Sp¨ater. Das hier kotzt mich an. Ich werde nicht hierbleiben und mich zum Opfer des Systems machen lassen. Hauen wir ab! Ich springe aus dem Bett, laufe an mei¨ nen Eltern und den Arzten vorbei den Korridor entlang. Tim rennt hinter mir her und legt den Arm um mich, aber er schaut mich an, als w¨are ich verr¨ uckt. Und das bin ich ja tats¨achlich. Nicki, was ist los? Was geht hier vor? fragt Tim und st¨ utzt mich, w¨ahrend ich durch den Korridor haste. Inzwischen kann ich mich kaum noch auf den Beinen halten. Meine Knie sind butterweich, vor meinen Augen verschwimmt alles. Mom kommt hinter uns her, und ein paar Schritte weiter h¨ore ich, wie Dr. Graham Dad informiert: Sie befindet sich in der Verweigerungsphase. Das ist normal. Normal f¨ ur die Abgr¨ unde des Hades vielleicht. Was geht hier vor? fragt Emily. Diese Idioten glauben, daß ich sterbe. Der ultimative Konversationskiller. Gefolgt von einem panischen Chor: Was? Was! Mach keine Witze, sagt Em. Das ist nicht komisch. Lori? Tim wendet sich an Mom. Sie kann ihn nicht ansehen. Wir schaffen es bis zum Warteraum. Dr. Graham muß mich als hoffnungslosen Fall abgeschrieben haben, denn er ist verschwunden. Meine Mutter und mein Vater streiten sich heiser fl¨ usternd, w¨ahrend sie mir folgen. Mom meint, ich solle zu ihr kommen. Dad verlangt, daß ich bei ihm einziehe. Beide wollen, daß ich wieder ins Krankenhaus gehe. Emily raucht, obwohl es verboten ist. Tim hat einen Arm um mich gelegt, und Eric hat sich auf die Seite meiner Eltern geschlagen. Er versucht mich zur 41
R¨ uckkehr in dieses verdammte Krankenzimmer zu u ¨berreden und scheint nicht zu begreifen, daß ich genau das niemals tun werde. Kannst du das glauben? Ich gestikuliere in Richtung meiner Eltern, die in ihre u ¨bliche Streiterei versunken sind. Tim zuckt mit den Schultern. Sie lieben dich. Vergiß es. Mein Gott, das passiert doch nicht wirklich. Nick, meldet sich Eric, in der Medizin lautet die erste Regel immer, daß man eine zweite Diagnose ein¨ holen sollte. Selbst Arzte geben das zu. Nat¨ urlich kann ihnen ein Fehler unterlaufen, oder es gibt eine andere Meinung. Das bist du uns allen schuldig, und ganz besonders dir selbst. Aber du kannst diese Sache nicht einfach verdr¨angen. Emily nickt. Ihr Gesicht ist tr¨anenverschmiert, die Wimperntusche l¨auft in zwei schwarzen Spuren ihre Wangen hinunter. Sie sieht aus wie eine Kerze, die gerade zerfließt. Ich lege meinen Arm um sie. Es ist ein Irrtum, sage ich. Ihr werdet sehen. Eine Schwester taucht bedrohlich am Eingang zum Warteraum auf. Wenn Sie rauchen wollen, m¨ ussen Sie das Geb¨aude verlassen. Gehorsam dr¨ uckt Emily ihre Zigarette aus. Sobald die weiße Uniform um die Ecke verschwunden ist, z¨ undet sie sich die n¨achste an. Einen Plan, murmelt sie. Wir brauchen einen Plan. Sie reibt sich die Wangen und verschmiert das Make-up noch mehr. Ich lehne mich an Tim. Als ich an der Northwestern anfing, hatte sich meine Familie aufgel¨ost, aber dann habe ich Tim gefunden, und jetzt kann ich mir ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen. Tim wußte schon immer, daß ich Jura studieren w¨ urde, und Tim hat mich zu dem Praktikum u ¨berredet. Zusammen sind wir unschlagbar. 42
Wir haben uns Priorit¨aten gesetzt: Der Beruf steht an erster Stelle. Tim will als Architekt Karriere machen, und ich, nun, Sie wissen ja, welche Richtung ich einschlagen wollte. Das Praktikum war nur der erste Schritt. Gemeinsam w¨ urden wir die Welt erobern. Und jetzt diese Bescherung. Tim, flehe ich stumm, sei mein Fels in der Brandung! Ich h¨ore meine Eltern. Mom: Ich nehme mir sofort frei, und Nicki zieht bei mir ein. Dad: Laß uns doch erst einmal abwarten, was der Onkologe zu sagen hat, Lori. Wir brauchen mehr Informationen, bevor wir Entscheidungen f¨allen. Mom: Hast du den Doktor nicht geh¨ort, Dan? Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, daß du auf Distanz gehst. Diesmal nicht, das lasse ich nicht zu. Dad: Wer will denn auf Distanz gehen? Ich habe nur gesagt. . . Alles ist besser, als diese Streitereien weiter anzuh¨oren. Ich kann es nicht fassen – sie schieben mich hin und her wie eine Schachfigur, behandeln mich, als w¨are ich hilflos. H¨ ort auf! schreie ich. Dad h¨alt inne, mitten im Satz. Mom l¨aßt ihre Tasche fallen, Schl¨ ussel und Kosmetika rollen u ¨ber den Boden. Wahrscheinlich glauben sie, daß ich jetzt endg¨ ultig durchdrehe. Sollen sie doch. H¨ort zu, verk¨ unde ich, die ganze Geschichte ist ein schrecklicher Irrtum. Glaubt mir. Wenn euch das gl¨ ucklich macht und euch beruhigt, lasse ich mich von einem anderen Arzt untersuchen, damit wir zumindest eine zweite Meinung h¨oren. Aber wenn die erste und die zweite Diagnose u ¨bereinstimmen, wird die dritte meine eigene sein. Mein Liebling, sagt Tim und zieht mich noch enger an sich. Alles wird gut, Nick. Du wirst schon sehen. Er 43
streckt den Daumen hoch. Ich bete zu Gott, daß er recht hat.
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Viertes Kapitel
Meine Mutter hat eine Verl¨angerung unseres Mietvertrages ausgehandelt, und Eric, Tim und Emily haben mit Volldampf gearbeitet, um Informationen zu sammeln und daf¨ ur zu sorgen, daß ich in den Genuß der besten ¨ Arzte, Behandlungsmethoden und Forschungserkenntnisse gelange. Ich habe meinen Teil dazu beigetragen und bin noch einmal eine Woche ins Northwestern Memorial gegangen, bin zur Universit¨at von Chicago gepilgert und habe Spezialisten aufgesucht. Obwohl ich keine Ahnung habe, warum man diese Leute Spezialisten nennt, denn auch sie haben keine neuen Erkenntnisse f¨ ur mich. Im Grunde haben alle nur eine Antwort, und die lautet immer gleich: Die Diagnose ist kein Irrtum. Ich habe NF2. Oh Gott. Meine Mutter hat versucht, mich dort zu halten, im Krankenhaus, angekettet an einen Infusionstropf, aber ich habe mich angezogen und bin geflohen. In dem Augenblick, als mir klar wurde, daß ich tats¨achlich sterben werde, wußte ich auch, daß ich keine weitere wertvolle Sekunde meines verbleibenden Lebens im Krankenhaus verbringen w¨ urde. In einem alten Schwarzweißfilm, der um drei Uhr morgens im Fernsehen lief, habe ich einmal eine Nachbildung der Kommandozentrale gesehen, in der die Alliierten die Invasion in der Normandie planten. Abgesehen davon, 45
daß Eisenhower und Winston Churchill fehlen, bietet sich ¨ mir beim Offnen der Wohnungst¨ ur so ziemlich das gleiche Bild in unserem Wohnzimmer. Tim fahndet im Internet nach Informationen. Eric telefoniert u ¨ber einen Kopfh¨orer. Ich bestehe darauf, mit Dr. Auermann pers¨onlich verbunden zu werden, und zwar sofort, verk¨ undet er. Sie verstehen nicht. . . ¨ Emily spricht in ihr Handy. Uberall Stapel von Papier, Computerausdrucke und medizinische Fachb¨ ucher. An der Wand h¨angt eine Weltkarte, auf der die St¨adte mit den wichtigsten Kliniken rot eingekreist sind. Leere Gl¨aser, Pizzakartons und zusammengekn¨ ulltes Papier bedecken alles. Die stummen Zeugen einer Belagerung. Die drei erstarren, als ich hereinkomme. Vielleicht hatten sie sich damit abgefunden, daß ich das Krankenhaus nicht verlassen w¨ urde. Nie mehr. Ich m¨ochte nicht mit ihnen sprechen. Sie wissen nicht, was ich durchmache. Davon hat niemand die geringste Ahnung. Ich gehe direkt in mein Zimmer und laufe gleich weiter ins Bad. Mir ist, als ob ich mich u ußte. Hinter mir f¨allt ¨bergeben m¨ die T¨ ur ins Schloß. Ich setze mich auf den Badezimmerfußboden, er f¨ uhlt sich k¨ uhl und tr¨ostlich an. Ich lege die Arme um meine Beine und ziehe die Knie ganz eng an den K¨orper. Das hier ist dasselbe Bad, in dem ich jeden Tag gestanden habe, als ich noch normal war, bevor dieser Alptraum begann. Dort vor dem Spiegel habe ich mit verschiedenen Lippenstiftfarben experimentiert, mein Haar hoch zu einem Pferdeschwanz geb¨ urstet oder ausprobiert, welche Bluse am besten zu meinem Vorstellungskost¨ um paßt. Das ist jetzt gerade zwei Wochen her. Das Badezimmer ist dasselbe, aber ich bin es nicht. F¨ ur mich hat sich alles ge¨andert. Der Tod ist auf der Bildfl¨ache erschienen, auf mei46
ner Bildfl¨ache, und zwar un¨ ubersehbar. Alles andere ist von einer Sekunde auf die andere bedeutungslos geworden. Die Tatsache, daß ich das College mit einem EinsKomma-Null-Durchschnitt abgeschlossen habe und dazu auserkoren wurde, f¨ ur meinen Jahrgang die Abschiedsrede zu halten, ist belanglos. Was n¨ utzt mir das? Soll ich es mir auf meinen Grabstein meißeln lassen? Nicole McBain 1,0. ¨ Ich frage mich, ob ich nicht einfach eine Uberdosis von irgendwas nehmen soll, t¨odliche Pillen bunkern oder eine Infusionsflasche vergiften. Es schnell zu Ende bringen, so wie man einen Lichtschalter ausknipst. Wenigstens h¨atte ich dann die Kontrolle. Ist der Tod besser, wenn man ihn sich aussucht, als wenn man von ihm ausgesucht wird? Vermutlich nicht. Der Tod ist nie die bessere L¨osung. Das Leben ist besser. Das ist es, was ich will. Leben. Tatsache ist, daß ich sterbe, definitiv. Null Aussichten auf Genesung. Aber was niemand weiß: Ich bin l¨angst tot. Die Nicole, die sie kennen, ist im Krankenhaus gestorben. Ich habe sie selbst get¨otet. Sie war schwach, schwach genug, um sich auf das hier einzulassen. Ich weiß, daß ich ein anderer Mensch werden muß, wenn ich u ¨berleben will, ein Mensch, der mit dieser Situation umgehen kann. Es klopft an der T¨ ur. Nicki? Das ist meine Mutter. Sie war unmittelbar hinter mir, als ich das Krankenhaus verließ. Ich habe deinen Vater angerufen. Er kommt direkt her. Geh weg! Laß mich allein. Die Kopfschmerzen sind wieder da, und der Raum verschwimmt. In meiner Tasche sind Tabletten, die sie mir im Krankenhaus gegeben haben. Ich stehe auf, gieße mir ein Glas Wasser ein und nehme zwei. Was passiert, wenn ich drei nehme? Vier? Oder gleich die ganze Flasche? Den gesamten Inhalt des Medizinschranks? Das ist die alte Nicki, die so spricht. Mein 47
neues, starkes Selbst schaltet sich ein und u ¨bernimmt die Kontrolle. Es klopft wieder. Nicki? Diesmal ist es Tim. Ich bin besch¨ aftigt. Geht einfach alle weg. Ich schließe die T¨ ur ab und stopfe ein Handtuch in den Spalt darunter. Wieder weine ich. Kontrolle? Wer hat hier die Kontrolle u ¨bernommen? Ich jedenfalls nicht. Und warum auch? Ich muß sterben, und ich kann absolut nichts dagegen tun. Man sagt, wenn jemand stirbt, l¨auft sein ganzes Leben vor seinen Augen ab. Zumindest habe ich das irgendwo gelesen. Bei mir ist das Gegenteil der Fall. Nicht mein Leben l¨auft vor meinen Augen ab, es sind die Vers¨aumnisse meines Lebens. Die vielen Dinge, die ich noch nicht erlebt habe. So vieles habe ich auf sp¨ater verschoben. So viele Pl¨ane, so wenig Taten. Ich werde so vieles niemals erfahren: wie es ist zu lieben, zu heiraten, ein Kind zur Welt zu bringen, alt zu werden, Spaß zu haben, frei zu sein, einfach nur zu sein. Die Wissenschaft sollte ein Paket entwickeln, in dem all diese Dinge enthalten sind, damit man sie alle auf einmal kaufen kann: Das Leben, das ich leben wollte. Eine weitere Tatsache wird mir bewußt: Der Badezimmerboden ist sehr unbequem, ganz besonders, wenn man sich in Embryohaltung zusammengerollt hat und mit dem Kopf an die Toilette st¨oßt. Wer sich nicht umbringen will, hat hier nichts zu suchen, so lautet mein Entschluß, nachdem ich gut eine Stunde lang auf dem Boden gelegen und mir die Augen ausgeheult habe. Was ich hier tue, ist auf seine Art mindestens so abstoßend wie der Tod. Eine Verschwendung wertvoller Zeit. Es gelingt mir, mich wieder in den Griff zu bekommen. In diesem Augenblick sterbe ich noch nicht, also sollte ich mir lieber eine Alternative u ¨berlegen, mit der ich leben kann. Diese Runde 48
geht an mein neues Selbst. Das muß sie auch, denn das neue Selbst ist alles, was ich habe. Steh auf. Erhebe dich vom Boden. Setz deinen K¨orper in Bewegung. Ich verlasse Badezimmer und Schlafzimmer und betrete das Wohnzimmer. Alle sehen mich ¨angstlich an. Ich f¨ uhle mich m¨achtig, mein erster Vorgeschmack auf die Macht, die mein bevorstehender Tod auf meine Umgebung aus¨ ubt. Alle wissen, daß du nichts zu verlieren hast, also kannst du tun und lassen, was du willst. Der Himmel weiß, was. Ich greife mir eine Handvoll Computerausdrucke. Was ist das? Wir haben uns u ¨ber NF2 informiert, antwortet Em. Ich gebe euch allen eine Eins. Stapel f¨ ur Stapel werfe ich die Seiten in den Papierkorb. Tim steht direkt hinter mir. Was machst du da? Er versucht, die Bl¨atter wieder herauszufischen. Ich greife sie mir wieder und zerreiße so viele wie m¨oglich. Ich stelle die dritte Diagnose, schon vergessen? Auf dem Computerbildschirm lese ich: Patienten mit NF2 entwickeln h¨aufig auf der Außenseite des Gehirns andere Arten von Tumoren. Diese Tumore k¨onnen, je nach Lage, unterschiedliche neurologische Symptome verursachen. Ich dr¨ ucke auf die L¨oschtaste. Hey! protestiert Tim. Dieser Abschnitt meines Lebens ist abgeschlossen. Jetzt widme ich mich dem Rest. Ich habe in Seattle angerufen, Nicki, verk¨ undet Dad. Sch¨ on f¨ ur dich. An neuen Behandlungsmethoden bin ich nicht interessiert. Auch nicht an Therapieversuchen. An u ¨berhaupt nichts in dieser Richtung. Tim, was gibt es zu essen? Ich habe Hunger auf einen Hamburger, Pommes frites und einen Erdbeershake. Mit extra viel Sahne. Das 49
ist eindeutig ein Vorteil – u ¨ber Kalorien brauche ich mir keine Gedanken mehr zu machen. Tim sieht mich unsicher an. Was immer du willst, Schatz, aber. . . Kein aber. Ich weiß, daß ihr euch um mich sorgt, Mom, Dad, ich liebe euch. Aber ich muß den Rest meines Lebens leben, und der Begriff >Leben< trifft den Nagel auf den Kopf. Ich habe dar¨ uber nachgedacht, was ich als n¨achstes tun will, und es hat absolut nichts mit Medizin zu tun. Es gibt so vieles, was ich noch nicht erlebt habe. Und ich habe beschlossen, daß ich soviel wie m¨oglich ausprobieren werde – solange ich es noch kann. Nicki, das alles ist zuviel f¨ ur dich, schaltet Dad sich ein. Dad! H¨ or mir zu, nur dieses eine Mal. Ich werde ja wohl kaum noch eine weitere Chance bekommen, oder? Was soll er darauf erwidern? Wie ihr wißt, habe ich viele Jahre hart gearbeitet. Doppelschichten im Restaurant, zwei Hauptf¨acher auf dem College. Ich weiß, daß du und Mom mich unterst¨ utzt h¨attet, aber ich wollte es so. Damals. Jetzt w¨ unsche ich mir eine Zeit ohne Verantwortung, ohne Untersuchungen, ohne Druck. Nur ein bißchen Zeit, um herauszufinden, wie es ist, sein eigenes Leben zu f¨ uhren. Schließlich sieht es nicht danach aus, als ob ich eine zweite Chance bekommen w¨ urde. Mom, Dad, wenn ihr mich wirklich liebt, helft mir bitte. Bitte! Ich weiß, daß sie sich dar¨ uber streiten werden, wie sie sich u ¨ber alles streiten. Ich weiß, daß es h¨aßlich zugehen wird. Sie werden nie aufh¨oren, nach einer Behandlung zu suchen, die mich heilen kann oder mich zumindest am Leben erh¨alt. Sie werden weitere Spezialisten konsultieren, recherchieren, sich u ¨ber Medikamente, Therapien und Statistiken informieren. Aber ich sehe ihren Gesich50
tern an, daß sie außerdem alles tun werden, damit mein Wunsch Wirklichkeit wird. Weil sie mich lieben. Am selben Abend gehen Eric, Emily, Tim und ich zu Barnes & Noble und pl¨ undern die Reiseabteilung. Atlanten, Landkarten, B¨ ucher u unfzig Dollar ¨ber Reisen zu f¨ am Tag und Reisen zu f¨ unfhundert Dollar am Tag – wir sammeln alles ein. Unser Plan sieht so aus: Wir gehen auf eine Reise. Keine Ahnung, wohin. Das ist der Beginn meines Abenteuers. Ab heute ist mein Stil r¨ ucksichtslose Hemmungslosigkeit. Immerhin f¨ uhle ich mich endlich wieder lebendig. Zur¨ uck in der Wohnung, legen wir Musik auf und verwandeln die Kommandozentrale in eine weltweite Reiseagentur. Wie w¨ are es mit der Karibik? schl¨agt Emily vor. Zu zahm, finde ich. Alaska? meint Tim. Zu wild. Paris, l¨ aßt Eric verlauten. Zu zivilisiert. Wir werden uns nie einig, bef¨ urchtet Emily. Sie hat recht. Und f¨ ur Unentschlossenheit habe ich weder die Zeit noch die Geduld. Wir werden uns in dieser Minute entscheiden, bestimme ich. Eine Topmanagement-Entscheidung, getroffen durch. . . , ich pfl¨ ucke einen Dartpfeil von einer der T¨ uren, . . . diesen Pfeil. Alle einverstanden? Ich lasse ihnen keine Zeit zu antworten, halte mir eine Hand vor die Augen und werfe mit der anderen den Pfeil auf die große Weltkarte an der Wand. Er landet mitten in einem Meer. Wo ist das? Ich kneife die Augen zusammen. ¨ ais. Tim zieht den Pfeil heraus. Die Ag¨ Das ist es! Eine Kreuzfahrt zu den griechischen Inseln. Perfekt. Das Schicksal hat entschieden. Ich h¨atte 51
meine Entscheidungen viel ¨ofter auf diese Weise treffen sollen. Vor meinem geistigen Auge sehe ich Tim und mich, wie wir im Mondlicht auf Deck tanzen, im warmen Meer schwimmen und antike Tempelruinen besichtigen. Es muß ein Segelschiff sein. Nick, deine Eltern haben zwar versprochen, daß sie f¨ ur alles aufkommen, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß sie das gemeint haben. Eine Kreuzfahrt f¨ ur uns alle? Nach Griechenland? Eric blickt skeptisch drein. Betrachten wir es einmal so, erkl¨ are ich ihm. Sie haben nicht einen Cent f¨ ur das College bezahlt. Das wird meine Ausbildung. Unsere Ausbildung. In welchem Fach? erkundigt sich Tim. In allen F¨ achern, die wir auf dem College vers¨aumt haben. Guter Wein, k¨ostliches Essen, romantische Abende und endlose Partys. Eric rennt in die K¨ uche und erscheint mit einer Flasche Champagner, die von der Abschlußfeier u ¨briggeblieben ist. Er l¨aßt den Korken knallen. Auf die Kreuzfahrer! Warte, sage ich und greife nach der Flasche, bevor du uns einschenkst. Ich weiß, daß ihr alle Pl¨ane habt. Wegen mir braucht ihr sie nicht aufzuschieben. Ich wollte mir sowieso einen Monat frei nehmen, behauptet Emily. Meine Kurse fangen erst im September an, meint Eric. Außerdem stecken wir alle zusammen in dieser Sache, habe ich recht? Stimmt, erkl¨ art Tim. Emily h¨alt eine goldene Karte hoch. Und ich habe Daddys Kreditkarte! Seid ihr sicher? Was sind das f¨ ur Freunde, die ihr eigenes Leben aufgeben, um mir zu helfen, weil ich in 52
Schwierigkeiten stecke? Wir sind f¨ ur dich da, wo auch immer, wann auch immer, wie auch immer, verk¨ undet Eric. Ich nehme sie alle in den Arm, dann schenke ich den Champagner ein. Da ist nur noch ein Problem, gibt Emily zu bedenken. Was? frage ich. Ich bin ein schlechter Mundschenk. Champagner sprudelt u ¨ber den Rand ihres Glases. Bikinis. Stichwort Tanga. Sobald am n¨achsten Morgen die Gesch¨afte ¨offnen, stehen wir in den Startl¨ochern und probieren die ersten Tangas an. Tim muß sich in seinem Architekturb¨ uro blicken lassen, aber Emily und Eric sind dabei. Die Reservierungen haben wir per Internet gemacht – zehn Tage auf einem wundersch¨onen zweihundertf¨ unfzig Meter langen Windjammer mit Namen Circe, zwei Suiten mit allen Extras. Die Suite, die ich mir mit Emily teilen werde, hat eine eigene Terrasse und einen Whirlpool. Nicht u ¨bel. Als ich ein paar der Stoffstreifen hochhalte, die heute als Badeanz¨ uge durchgehen, kann ich mir kaum noch vorstellen, daß ich gerade zwei Tage zuvor in einem sarg¨ahnlichen Computertomographen gelegen und mich gefragt habe, ob ich das Krankenhaus lebend verlassen w¨ urde. Und jetzt bin ich hier. Ich weiß, daß ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Ich f¨ uhle mich gut. Zumindest im Augenblick, und das ist alles, was in diesem Spiel z¨ahlt. Glaubst du, daß ich damit durchkomme? Ich schwenke einen Bikini in Emilys Richtung. Tim werden die Augen aus dem Kopf fallen. Ich finde immer noch, er h¨ atte sich den Tag frei nehmen sollen, erkl¨art Em und f¨ uhrt mir einen Sonnenhut 53
vor. Schließlich ist das hier wichtig. Eric zuckt mit den Schultern. Nun, wir kennen Tim. Er hat eben seine Priorit¨aten. Emily wirft ihm einen Blick zu. Wenn wir einmal ganz ehrlich sind, hat Eric Tim nie wirklich gemocht. Wohl haupts¨achlich deshalb, weil Eric sich mir gegen¨ uber wie ein großer Bruder f¨ uhlt. F¨ ur seine kleine Schwester ist ihm niemand gut genug. Ich ignoriere die Bemerkung u ¨ber Tim und nehme Emily den Hut ab. Ich werde beides zusammen anprobieren. In der Kabine unterziehe ich mich einer kritischen Musterung. Einsachtundsechzig, gl¨anzendes Haar, sch¨one Haut, einwandfreie Figur, w¨ urde ich sagen. Der Inbegriff von Gesundheit. Wie ein perfekter Pfirsich, der von außen appetitlich aussieht, aber wenn man hineinbeißt, ist das Fruchtfleisch unter der Schale verfault. Ich ziehe den Bikini aus, steige in Jeans und T-Shirt und steuere wieder auf die Kleiderst¨ander zu. Nimm dich zusammen, sonst sieht sie dich noch so! h¨ore ich Eric u ¨ber sechs Reihen Bikinis. Er hat mich noch nicht entdeckt. Emily ist an einen Spiegel gesunken und weint. Er zieht sie am Arm hoch. Emily, um Gottes willen, hier geht es nicht um dich! Nicki ist unsere beste Freundin, und sie braucht uns. Ems Stimme dringt ged¨ampft durch das Kleenex, das sie an ihre Nase gepreßt h¨alt. Wie kann sie einfach so weitermachen, als ob gar nichts passiert w¨are? Das verstehe ich nicht. H¨ or zu, zischt Eric. Sie weiß, was Sache ist. Sie hat ihre Entscheidung getroffen. Und wir geh¨oren dazu. Was immer das bedeutet, weißt du noch? Du bist ihre beste Freundin, also benimm dich auch so! Hast du Augentropfen dabei? Schnell! Er greift einen Badeanzug und schiebt Em in Richtung Umkleidekabinen. Da sieht 54
er mich. Em probiert nur eben etwas an. Wie paßt deiner? Er zieht den Vorhang vor der Kabine zu. Was habe ich erwartet? Habe ich mir eingebildet, sie w¨ urden nicht registrieren, daß ich sterbe, oder sie w¨ urden es vergessen? Die Tatsache, daß ich sterben muß, ist auch f¨ ur meine Freunde nicht einfach. Vielleicht ist es f¨ ur sie sogar noch schwieriger als f¨ ur mich. Ich ziehe den Vorhang vor der Kabine zur¨ uck. Okay, Leute, wir m¨ ussen reden. Em l¨aßt den Kopf h¨angen. Sie will sich nicht anmerken lassen, wie traurig sie ist. Ich weiß, wie schwer das alles f¨ ur euch beide ist. Aber ich weiß nicht, was ich ohne euch anfangen w¨ urde. Wir brauchen einander jetzt wirklich, aber ich mache euch keinen Vorwurf, wenn ihr damit nicht zurechtkommt. Endlich sieht Em mich an. Der Zustand ihrer Augen l¨aßt vermuten, daß sie ihre Augentropfen vergessen hat. Nick, wie machst du das nur? Du tust so, als ob alles noch wie fr¨ uher w¨are. Aber das ist es nicht. Ich lege meinen Arm um sie. Wenn man zwei Wochen lang von allen m¨oglichen Leuten bemitleidet wurde, ist es ein unglaublich gutes Gef¨ uhl, jemand anders tr¨osten zu k¨onnen. Ich weiß, daß es anders ist, Em. Aber f¨ ur eine kurze Zeit m¨ochte ich denken k¨onnen, daß alles unver¨andert ist. Jemand kommt auf uns zu. M¨anner haben keinen Zutritt zu den Kabinen! sagt eine Verk¨auferin vorwurfsvoll. Ich bin kein Mann, kontert Eric. Ich bin ihr Stilberater. Wir brechen in hysterisches Gel¨achter aus. Alles wird gut.
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Am Abend geht Tim mit mir zum Navy Pier, einem meiner Lieblingsorte, weil es hier zwei meiner Lieblingsdinge gibt – den See und das Riesenrad. Abends, wenn die vielen Lichter die Skyline beleuchten, wirkt das Seeufer wie eine glitzernde Tanzfl¨ache, die von einer riesigen Hand direkt aus dem Himmel auf die Wasseroberfl¨ache gesetzt wurde. Tim und ich schlendern Hand in Hand an dem Riesenrad vorbei, das wie ein drei Stockwerk hoher, strahlender Weihnachtsbaum in den Himmel ragt, betrachten Caf´es und Menschen. Musik weht durch die Nacht, und ich atme k¨ostliche D¨ ufte ein: den See und das Essen, den leichten Nebel, der vom Wasser heraufzieht und alles in ein sanftes Licht taucht. Ich genieße, daß alles so normal wirkt: Wenn man uns ansieht, sieht man zwei verliebte junge Leute, die am Pier entlangspazieren. Im Augenblick ist Normalit¨at etwas ganz Besonderes f¨ ur mich. Es wird einfach klasse, sage ich zu Tim. Dieses Schiff ist ein Traum – es hat ein Dutzend Segel, und wir legen an sechs verschiedenen Inseln an. Und vergiß nicht, dir eine Taucherbrille und einen Schnorchel zu besorgen. Sie m¨ ussen unbedingt gut sitzen. Du hast doch sicher einen Paß? Auf gar keinen Fall darfst du deinen Paß vergessen. Tim schweigt. Sein Mund wirkt schmal, so als ob er ihn krampfhaft zusammenpreßt. Diesen Mund kenne ich an ihm. Nun komm schon. Was ist los? Nick, ich muß mit dir reden. Mir f¨ allt das alles nicht leicht. Er starrt zu Boden. Genau wie Em und Eric. Wir haben dar¨ uber gesprochen, und jetzt ist alles in Ordnung. Aber f¨ ur mich ist es nicht in Ordnung. Ich kann nicht dabeisitzen und zusehen, wie du dir etwas vormachst. Wir bleiben stehen. Tim starrt mit geballter Faust an mir vorbei. 56
Wer macht sich hier etwas vor, Tim? Realer kann es gar nicht werden. Schließlich sieht er mich an. Was passiert, wenn sich dein Zustand unterwegs verschlechtert? Dann fahre ich nach Hause. Oder ich sterbe und werde auf See bestattet, wie ein Wikinger. H¨ or auf! Was willst du mir sagen? Ich m¨ ochte dir sagen – daß ich nicht mitkommen kann. Was? Wir haben doch alles geplant. In drei Tagen geht es los! Wir haben gebucht und dein Ticket gekauft. F¨ urchtest du dich wirklich so sehr davor, mit mir zusammenzusein? Ich strecke die Hand nach ihm aus, aber sein K¨orper f¨ uhlt sich hart an, wie Zement. Es hat nichts mit dir zu tun, Nick. Meine Firma hat ein großes Projekt u ¨bernommen. Mein Chef will es mir anvertrauen – das hat er mir heute mitgeteilt. Das ist der Durchbruch, auf den ich gewartet habe. Aber es sind doch nur zehn Tage. Flehe ich ihn tats¨achlich an? Nick, ich versuche, Architekt zu werden. Das Projekt l¨auft f¨ unf Jahre. Seine Stimme klingt sachlich, als ob er versucht, das Thema mit Vernunft anzugehen. Darauf falle ich nicht herein. Verstehe. Tut mir leid, aber ich glaube nicht, daß ich das noch erleben werde. Dabei kann ich mir nicht vorstellen, die griechischen Inseln ohne Tim zu sehen. Eigentlich f¨allt es mir schwer, mir u ¨berhaupt etwas ohne Tim vorzustellen, aber ich weiß, daß er seine Entscheidung getroffen hat und daß ich in seinen Pl¨anen nicht vorkomme. Tim schließt mich in die Arme. Ich habe ein schlechtes Gewissen, Nick. Ich wollte wirklich mitfahren. Das
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glaubst du mir doch, nicht wahr? Ich versteife mich. Ja, ich glaube dir. Und jetzt will ich die Wahrheit wissen. Im Augenblick habe ich nichts f¨ ur Spielchen u ¨brig. Ich verdiene die Wahrheit. Er seufzt. Es ist so verdammt schwer. Ich kann nicht damit umgehen. Ich kann nicht glauben, daß mir das passiert. Daß es ihm passiert. Ihm. Ich trete einen Schritt zur¨ uck. Ich verstehe. Ich drehe mich um und gehe weg. Nat¨ urlich folgt Tim mir. Ich sch¨ uttele ihn ab. Nicht. Laß mich. Ich bin nicht wirklich w¨ utend, denn das Schlimmste an der Sache ist, daß ich ihm keinen Vorwurf machen kann.
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Fu ¨nftes Kapitel
Wir stehen am O’Hare International Airport bereit zum Einchecken, Tickets und P¨asse in der Hand, als mein Vater seinen letzten Trumpf ausspielt. Er, Kate und Justin sind zur Unterst¨ utzung meiner Mutter als offizielles Verabschiedungskomitee angetreten. Justin ist s¨ uß – er hat mit buntem Papier und Wachsmalkreide eine Gute-ReiseKarte gebastelt. Meine Mutter bleibt erstaunlich gefaßt, allerdings haben wir bereits eine Serie von n¨achtlichen Diskussionen und Heulorgien hinter uns. Inzwischen hat sie resigniert. Und ich kann es kaum erwarten, endlich im Flugzeug zu sitzen. Allerdings will ich weniger meine Eltern loswerden, als endlich zu mir selbst finden. Sollte man nicht vor seinem Tod unbedingt noch herausbekommen, wer man eigentlich ist? Die meisten Menschen haben ein paar Jahrzehnte Zeit, um das zu ergr¨ unden. Ich muß den Prozeß wohl ein wenig beschleunigen. Wenn das Flugzeug abhebt, lasse ich alles hinter mir und behaupte, daß ich mit meinen besten Freunden auf einer aufregenden Abschlußreise bin. Na ja, irgendwie trifft das ja auch zu. Dad ist immer noch nicht ganz u ¨berzeugt. Er beißt die Z¨ahne zusammen: Das ist das erste Anzeichen. Ich sehe den Muskel an seinem Unterkiefer, der ein Eigenleben entwickelt, sobald er nerv¨os wird. Er nimmt mich beiseite und legt seine H¨ande an meine Wangen. Ich habe mit 59
Dr. Robert Carmichael telefoniert. Er ist der f¨ uhrende Spezialist f¨ ur NF2 und w¨ urde dich aufnehmen. Mom kann sich nicht mehr beherrschen. Dan, hast du es vergessen? Sie hat sich entschieden. Wir haben versprochen, das zu respektieren. Er wirft ihr einen Blick zu, der besagt: Sie begeht Selbstmord. K¨ ummert dich das gar nicht? Ihre herausfordernde Antwort heißt: Mehr als alles auf der Welt. Deshalb lasse ich sie gehen. Schachmatt. Das ist das Sch¨one an Paaren, bei denen jeder seit vielen Jahren zum Leben des anderen geh¨ort – auch wenn das Leben nicht unbedingt unter demselben Dach stattfindet. Sie k¨onnen sich ohne Worte verst¨andigen. Mom strafft ihre Schultern und wendet sich mir zu. Okay, Liebes. Genieße die Reise! Deine Tabletten sind ¨ eingepackt. Eric ist von den Arzten bestens instruiert, und du weißt, was du zu tun hast. Außerdem hast du dein Satellitentelefon. Du kannst mich jederzeit anrufen. Eigentlich d¨ urfte nichts schiefgehen. Pl¨otzlich f¨ urchte ich, daß ich gleich weinen muß. Ich rufe dich ganz bestimmt vom Schiff aus an, Mom. Ich liebe dich. Dad und ich sehen uns an. Ich bin f¨ ur dich da, wenn du mich brauchst, Kleines , sagt er leise. Bevor wir richtig sentimental werden k¨onnen, rettet eine laute Stimme die Situation: Eric stimmt den Titelsong aus Titanic an: My heart will go o-o-on! Er zwinkert mir zu und reicht mir galant seinen Arm. Gehen wir an Bord, Rose. Wohl eher die unversenkbare Molly Brown, erwidere ich und lege meinen Arm auf seinen. Emily nimmt meinen anderen Arm, und dann geht es tats¨achlich los. 60
Unser Schiff hat einen wunderbaren Namen: Circe. In der griechischen Mythologie war Circe eine Magierin, und an diesem Punkt meines Lebens kann ich von Magie gar nicht genug bekommen. Das Schiff ist herrlich, weiß, schlank und romantisch, mit einem Wort: perfekt. Zweihundertf¨ unfzig Meter lang, mit vier turmhohen Masten, erwartet es uns am Kai von Pir¨aus, dem großen Hafen Athens. Pir¨aus selbst ist eine h¨ ugelige, betriebsame Halbinsel, verrußt und laut, mit gitterartig angeordneten Straßenz¨ ugen voller gesichtsloser Wohnbl¨ocke – nicht unbedingt das vertr¨aumte, malerische Bild, das wir erwartet haben. Hochh¨auser, Reedereib¨ uros, Banken und Autoschlangen wetteifern mit dem tiefen Blau des Himmels und der See. Hier gibt es keine romantischen, gepflasterten Gassen. Auf dem Weg zur Anlegestelle kann sich Eric nur durch einen beherzten Sprung zur Seite vor einem Motorrad retten, das auf dem Bordstein einen Stau umf¨ahrt. Ah, das Paradies, witzelt er. In den letzten dreitausend Jahren hat es sich offenbar ein wenig ver¨andert. Emily winkt uns, w¨ahrend wir uns hinter ihr durch die Menschenmenge einen Weg zum Dock bahnen. Von Banalit¨aten l¨aßt sie sich nicht aufhalten. Sie hat Großes vor und z¨ahlt uns schon mal ein paar Punkte ihres Programms auf: Als erstes lassen wir uns massieren. Manik¨ ure, Pedik¨ ure. Und heute abend essen wir am Kapit¨anstisch. Dabei k¨onnen wir die anderen Passagiere unter die Lupe nehmen. An Bord erleidet Emily eine Schuhkrise und schwankt auf ihren zehn Zentimeter hohen Manolos hin und her. Willkommen an Bord der Circe! Ein Mann in einer weißen, maßgeschneiderten Uniform l¨achelt uns an, offensichtlich der Kapit¨an. Er ist in den Vierzigern, nicht sehr groß und spricht mit griechischem Akzent. Neben 61
ihm steht ein baumlanger, kr¨aftig gebauter Mann, den ¨ er als seinen Ersten Offizier vorstellt. Uberall auf Deck huschen Mitglieder der Crew umher, die vornehmlich aus attraktiven M¨annern in weißen Hemden und schwarzen Jeans zu bestehen scheint. Emily deutet auf einen jungen Mann, der sich direkt vor uns an den Tauen zu schaffen macht. Meinst du, das ist der Masseur? Ich schiebe meine Sonnenbrille herunter und betrachte ihn eingehender. Tolle Muskeln, etwa einsf¨ unfundachtzig, dunkelblonde Haare. Nicht u ¨bel, aber nicht mein Typ. Vielleicht bin ich auch schon so lange mit Tim zusammen, daß ich gar keinen Typ mehr habe. Und u ¨berhaupt, warum soll ich mir u ¨ber Aff¨aren Gedanken machen? Die Aussichten auf diesem Gebiet sind sozusagen t¨odlich eingeschr¨ankt. Ich halte mich an den Whirlpool. Wenn er dir nicht gef¨ allt – wo der herkommt, gibt es noch mehr , kl¨art Emily mich auf und inspiziert ein paar weitere Mannschaftsmitglieder, ganz besonders den Ersten Offizier. In diesem Augenblick verfange ich mich doch tats¨achlich mit dem Fuß in einem der Taue am oberen Ende des Landungsstegs. Entschuldigen Sie, Miss. Britischer Akzent. Der große Blonde kniet nieder und befreit meinen Fuß. Normalerweise binden wir unsere Passagiere nicht gleich zu Beginn der Reise fest. Seine Finger streifen meinen Kn¨ochel, und ich sp¨ ure, wie ich rot werde – das passiert mir sonst nie. Aber etwas an der Kombination aus leicht s¨ uffisantem L¨acheln und seinem Akzent bringt mich aus der Fassung. Ich springe aus dem Tau und versuche weltgewandt und blasiert dreinzublicken, so als ob ich st¨andig an Bord gr¨oßerer Kreuzfahrtschiffe gehe. Danke, bringe ich heraus. Al62
les in bester Ordnung. Ich schiebe meine Schultertasche wieder in Position und haste hinter Emily her, die zu unserer Kabine gef¨ uhrt wird. Der Whirlpool ist, wie erwartet, sensationell. Kaum haben wir die T¨ ur unserer Suite hinter uns geschlossen, ziehe ich alles aus und tauche bis zum Kinn in den Schaum. Das Auspacken kann warten. Wir haben einen kleinen Wohnraum mit Sofa, Fernseher, Video und CDPlayer. Außerdem hat die Suite eine Bar mit Eismaschine, und im holzverkleideten Schlafzimmer stehen unter einem Oberlicht zwei Doppelbetten mit frischen blauweißen Laken. Glast¨ uren vom Boden bis zur Decke geben den Blick auf unsere Terrasse und ein unglaubliches Panorama frei. Em setzt sich auf den Wannenrand und gießt eine halbe Flasche Champagner hinein. Du liegst schon eine Ewigkeit im Wasser. Ich dachte, du k¨onntest Nachschub vertragen. Ich gew¨ ohne mich nur an den Seegang. Weißt du, an diesem Leben k¨onnte ich wirklich Gefallen finden. Ich habe mir die Route angesehen. N¨ achster Hafen Mykonos. Sie faltet die bunte Brosch¨ ure auseinander. H¨ or dir das an! Hier geht es um die Clubszene. Dann von Mykonos der Abstecher in die Vergangenheit. In eine Zeit vor ungef¨ahr einer Million Jahre. Das ist Delos. Sagenhafte Ruinen. Danach geht es nach Ios, Santorin, Kreta, Rhodos, Symi. . . Ich greife mit meiner feuchten Hand nach der Brosch¨ ure. Laß mich mal sehen! Lauter Bilder von Ruinen, zwischendurch Zeichnungen der verschiedenen G¨otter und G¨ottinnen. Hmm . . . hier steht, daß die G¨otter und G¨ottinnen gern ihrem Vergn¨ ugen fr¨onten, insbesondere bei Feierlichkeiten zu ihren Ehren. Also widme ich diese Reise Venus, der G¨ottin der Liebe, und all denen, die geliebt haben und jemals lieben werden. Es klopft 63
an der T¨ ur. Ich bin’s, Eric. Er steckt seinen Kopf durch den Durchgang und pr¨asentiert einen riesigen Blumenstrauß. Fleurop. Seht ihr? Es funktioniert. Ich wette, die sind von Tim. Eric reicht mir die Karte. N¨o. Von Dad, Kate und Justin. Soviel zum Thema Liebesg¨ottin. Ich kn¨ ulle die Karte zusammen und werfe sie quer durch den Raum in den Papierkorb. Zwei Punkte. Beeil dich, sagt Emily. Genug gebadet. Wir wollen die Ausfahrt aus dem Hafen doch nicht verpassen. Laut Brosch¨ ure ist es ein unvergeßliches Schauspiel. Als das Schiff ablegt, rufen und winken die Passagiere durcheinander, und die Kapelle spielt griechische Volksweisen. Konfetti fliegt durch die Luft, von allen Seiten h¨ort man Geschrei und Gel¨achter. Emily und Eric tanzen wie Alexis Sorbas und schwenken ihre Taschent¨ ucher. Ich k¨ampfe mich an den Rand der Menge durch, wo es ein wenig ruhiger ist, und werfe eine Rose aus meinem Blumenstrauß ins Kielwasser. Irgendwie stimmt die Abfahrt mich traurig, denn sie bedeutet, daß die Reise sich ein St¨ uck weiter ihrem Ende gen¨ahert hat. Den Rest des Tages verbringen wir damit, das Schiff zu erkunden, dann ziehen wir uns langsam f¨ ur das Dinner am Kapit¨anstisch um. Es soll leger zugehen, meint Emily, aber der erste Eindruck ist immer der wichtigste. Ihr Rock ist so kurz, daß er kaum noch in die Kategorie Oberbekleidung f¨allt. Dazu tr¨agt sie ein enges lila Top, das ihr Schultertattoo zeigt, und bis zu den Oberarmen ist sie mit Armb¨andern beh¨angt. Eric erscheint in T-Shirt, Weste und Scheitelkappe. Im Speisesaal schlendern die Passagiere umher und sehen sich um. Der Kapit¨an steht neben dem Animateur am Eingang und sch¨ uttelt H¨ande. Das Vorspeisenbuffet w¨ urde f¨ ur mehrere hungernde Nationen reichen. Wir er64
kunden das Territorium rund um die Bar, und Emily und Eric geben Kommentare u ¨ber unsere Mitreisenden ab. Es dauert nicht lange, bis ich meinen dritten BelvedereMartini intus habe, inklusive Oliven. Prost. Eric lehnt sich zu mir her¨ uber. Nick, laß es langsam angehen. Darfst du zu deinen Tabletten u ¨berhaupt Alkohol trinken? Ich zucke mit den Schultern. Wen interessiert schon das Kleingedruckte? Ich bin im Urlaub, erinnere ich ihn. Urlaub von all dem. Weißt du, Sch¨ atzchen, unterbricht mich eine rauhe, schleppende S¨ udstaatenstimme, ich habe Martinis an der Copa getrunken, ich habe Martinis in Harry’s Bar in Venedig getrunken und im Ritz in Paris. Eine Frau in einer rosa Chiffonstola schiebt sich auf den Barhocker neben mir. Sie nickt mir zu und senkt dabei die Lider wie eine Eidechse. Selbst wenn sie mich nicht angesprochen h¨atte, w¨are sie mir mit ihrem mandarinenfarbenen Haar, der juwelenbesetzten Zigarettenspitze und den langen, baumelnden Ohrringen sofort aufgefallen. Man k¨onnte sie als extravagant bezeichnen. Auf mein Wort, fl¨ ustert sie verschw¨orerisch, hier gibt es die besten. Sie steigen einem direkt zu Kopf. Sie prostet mir zu, leert ihr Glas und zieht gen¨ ußlich an ihrer Zigarette. Die ersten Abende an Bord sind die besten, man hat noch alles vor sich. Ein bißchen so, als ob man jung ist – so wie Sie. Ich muß lachen, und die Pink Lady grinst. Emily taucht auf. Wir sollten an unseren Tisch gehen. Noch nicht, ich unterhalte mich gerade mit meiner Freundin – Shirley. Mit meiner Freundin Shirley. 65
Shirley schwenkt ihre Zigarette und verteilt den Rauch. Auf einer Kreuzfahrt findet man so viele neue Freunde. Ich habe drei meiner Exm¨anner auf Kreuzfahrten kennengelernt. Zwei waren Witwer und einer Zahlmeister auf dem Schiff. Die drei Exm¨anner lassen Em aufhorchen. Was ist ein Zahlmeister? erkundigt sie sich. Shirley schnaubt: Jemand, der darauf achtet, daß du zahlst. Aber seither bin ich ein guter Menschenkenner, das k¨onnen Sie mir glauben. Sehen Sie sich den zum Beispiel an. Sie deutet auf einen Mann, der sich mit der Kamera im Anschlag n¨ahert. Ich wette, der hat einen umwerfenden Charakter. Shirley l¨achelt anz¨ uglich. Der Mann mit der Kamera hat sie nicht geh¨ort und macht Anstalten, sich vorzustellen. Verzeihung, meine Damen. Ich bin Michael Schuster, der Bordfotograf. Britischer Akzent – der Typ mit den Tauen. In seinen engen schwarzen Jeans und dem Hemd mit offenem Kragen sieht er nicht u ¨bel aus. Er ist ein wenig ¨alter als ich und strahlt eine f¨ ur mich ungewohnte Weltgewandtheit aus – ganz bestimmt nicht die Sorte Mann, die man zum Beispiel mit einer Baseballkappe auf dem Kopf antreffen w¨ urde. Was mir besonders auff¨allt, sind seine H¨ande. Er hat starke, wundersch¨one, langgliedrige H¨ande und h¨alt damit seine Kamera wie ein Baby. Emily kneift die Augen zusammen. Haben wir Sie nicht an den Tauen gesehen? Oder war es beim Deckschrubben? Ihre Ironie entgeht ihm. Oder er ist daran gew¨ohnt. Hier herrscht ein strenges Regiment. Jeder muß alles machen. Erst heute nachmittag hat der Kapit¨an mir die Haare geschnitten. Er l¨achelt und hebt die Kamera. Miss, h¨ atten Sie etwas dagegen, wenn ich eine Aufnahme von Ihnen mache f¨ ur unsere neue Brosch¨ ure? 66
Sie wollen mich doch nicht fotografieren? sage ich. Genau das! Er fummelt mit dem Belichtungsmesser herum. Schon wieder diese H¨ande. Und jetzt bemerke ich auch seine Wimpern; sie sind so lang, daß sie Schatten auf seine Wangen werfen. Ich zwinge mich, derartige Details nicht zu beachten, aber ich frage mich doch: Wenn die Dinge nicht so w¨aren, wie sie sind, w¨ urde ich es mir dann erlauben, mit diesem Mann zu flirten? Aber weil die Dinge nun einmal so sind, weiß ich, daß ich es nicht darf. Er h¨alt mich vermutlich f¨ ur eine eingebildete Zicke, aber damit kann ich leben – immer noch besser, als ihm die Wahrheit zu sagen. Shirley stellt sich neben uns und drapiert ihre Stola. Mich k¨ onnen Sie jederzeit fotografieren. Ich habe schon einmal f¨ ur Herb Ritts Modell gestanden. Der Ausl¨oser klickt. Meine G¨ ute, fl¨ ustere ich Emily zu. Hier geht es zu wie auf dem Traumschiff. Jetzt wendet er sich wieder an mich. Sind Sie sicher? Ich – ich bin wirklich nicht in der Stimmung, h¨ ore ¨ ich mich zu meiner Uberraschung stottern. Warum wollen Sie u ¨berhaupt ein Foto von mir? Er gibt auf und tritt einen Schritt zur¨ uck. Nun, es tut mir leid. Ich hatte es als eine Art Kompliment gemeint. Nat¨ urlich ist es ein Kompliment, schaltet Emily sich ein. Meine Freundin leidet noch unter dem Jetlag. Es war eine lange Reise von Chicago. Woher kommen Sie? New York, sagt er in seinem etwas abgehackten Tonfall. Emily wirft sich in Positur, und er macht ein paar Bilder. Dieses M¨adchen ist f¨ ur die Kamera geboren. Sie klingen gar nicht wie ein New Yorker, sagt sie ihm.
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Eigentlich bin ich in Leeds aufgewachsen, aber jetzt arbeite ich außerhalb der Saison in New York. Super. Das ist ja nur zwei Stunden von Chicago entfernt! Langsam muß ich mich einschalten. Em ist wirklich zu schamlos. Chicago ist keineswegs zwei Stunden von New York entfernt, Emily. Mit dem Flugzeug schon. Eric taucht mit meinem n¨achsten Glas auf. Ich greife danach, kippe es herunter wie Shirley und benutze Eric als Ausrede, um mich loszueisen. Wir kommen zu sp¨at zum Essen, verk¨ unde ich. Im Weggehen h¨ore ich Michael zu Emily sagen: Was f¨ ur ein Problem hat Ihre Freundin denn? Vielleicht habe ich einfach ein Problem damit, daß jemand ein Foto von mir macht, das aller Voraussicht nach l¨anger existieren wird als ich. Aber Em erwidert: Nichts. Sie hat kein einziges Problem auf der großen weiten Welt. Auf der Circe gibt es vier Speises¨ale. Das Kapit¨ansdinner heute abend findet im Clubrestaurant statt, das mit Brokatst¨ uhlen, pfirsichfarbenen Tischdecken, dicken Teppichen und kleinen Lampen mit Schirmchen auf jedem der runden Tische ausgestattet ist, wie ein Cabaret. An einem Ende steht ein langer Tisch f¨ ur zehn Personen, an dem der Kapit¨an hofh¨alt, neben ihm Shirley, die zielstrebig darangeht, ihn zu erobern. Eric, Emily und ich finden unsere Pl¨atze zu Emilys großer Freude neben dem Ersten Offizier George. Am anderen Ende des Speisesaals entdecke ich Michael, den Fotografen, er geht von Tisch zu Tisch und macht Aufnahmen. Der Raum ist sanft beleuchtet, doch ich bemerke, daß er zu mir her¨ ubersieht. Aber vielleicht t¨ausche ich mich auch – in diesem Licht ist das schwer zu sa
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gen. Jedenfalls h¨alt er mich sowieso f¨ ur wunderlich, denn außer mir weigert sich niemand, sich knipsen zu lassen. Vielleicht bin ich eine Herausforderung f¨ ur ihn geworden, das einzige Objekt, das sich nicht von ihm einfangen l¨aßt. Ich konzentriere mich auf meine Langustenvorspeise, als er pl¨otzlich hinter meinem Stuhl auftaucht. Sehen kann ich ihn zwar nicht, aber irgendwie sp¨ ure ich seine Anwesenheit. Michael, machen Sie ein Bild von George und mir! ruft Emily, als sie ihn ersp¨aht. Er ber¨ uhrt leicht meinen R¨ ucken. Keine Sorge, Sie kommen nicht aufs Foto, ich nehme die beiden u ¨ber Ihre Schulter auf. Ich nippe an meinem Champagner und drehe mich nicht um, versuche, ihn zu ignorieren. Er ist eindeutig l¨astig. Emily gelingt es, George auf die Tanzfl¨ache zu lotsen, und Michael st¨ utzt sich auf die Lehne ihres Stuhls. Gewisse primitive V¨ olker wollen nicht, daß man sie fotografiert, weil sie f¨ urchten, das Bild k¨onnte ihre Seele auf das Papier bannen. Geh¨oren Sie zu einem dieser V¨olker? Ich halte mich nicht f¨ ur primitiv. Ich besitze einen Mikrowellenherd. Fotografie kommt mir einfach narzißtisch vor. Wer ist narzißtisch, der Fotograf oder sein Objekt? Das Objekt nat¨ urlich. Wer will schon sein eigenes Bild ansehen? Er lacht. Nun, das ist eine Erleichterung. Ich dachte schon, ich m¨ ußte Ihre Ablehnung pers¨onlich nehmen. Und dann ist er weg. Am n¨achsten Morgen unternehmen wir unseren ersten Abstecher an Land, einen Badeausflug an den Paradies¨ Strand auf Mykonos. Bei der Uberfahrt zum Hafen sauge ich den Anblick f¨ormlich auf. Die blendendweiß ge69
strichenen H¨auser mit den roten Ziegeln sehen aus wie Zuckerw¨ urfel, an den H¨ ugel geklebt und mit strahlendblauem Holz verziert, davor schaukelt ein Durcheinander von bunt gestrichenen Booten auf den Wellen. Auf einem Berg u uhlen in einer Reihe. ¨ber dem Hafen stehen Windm¨ Das Panorama ist wundersch¨on, wirkt aber ganz und gar nicht idyllisch oder malerisch – vor uns liegt eindeutig ein betriebsamer Hafen, auch wenn die Stahl-und-BetonBauwerke fehlen, die ich von zu Hause gew¨ohnt bin. Als wir das Ufer erreichen, klettern wir u ¨ber eine Leiter vom Wassertaxi ins flache, warme Wasser, Michael steht schon bereit und macht Fotos von uns allen. Nur von mir nicht. Vermutlich hat er gestern abend den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden. Emily posiert im Sand, und er steuert schon wieder in unsere Richtung. Vielleicht h¨ attest du Model werden sollen, meint Eric. Emily winkt Michael zu. Aber er geht an Emily vorbei auf mich zu. Das mit gestern abend tut mir wirklich leid, sagt er. Ich wollte Sie nicht ver¨argern und Ihnen wegen der Bilder auf die Nerven gehen. Er tr¨agt nur eine Badehose und ist gebr¨aunt und muskul¨os. Einen solchen K¨orper verdient man sich mit harter Arbeit und nicht vor dem Spiegel im Fitneßclub. Emily, m¨ utterlich wie stets, antwortet f¨ ur mich. Manchmal ist sie eben nicht in geselliger Stimmung, in Ordnung? Offensichtlich gibt es vor ihm kein Entrinnen. Du brauchst keine Entschuldigungen f¨ ur mich zu erfinden, Em. Manchmal bin ich eben nicht in geselliger Stimmung, wiederhole ich, das ist alles. Ich weiß, was Sie meinen. Mir geht es zeitweise ¨ ahn70
lich. Deshalb verstecke ich mich hinter der hier. Er h¨alt seine Kamera hoch. Emily starrt Michael an, dann mich, dann Eric. ¨ Ahm – ich sehe einen Eisverk¨aufer. Komm, wir ge hen , sagt Eric und zerrt Emily hinter sich her. Wir treffen uns dann am Strand wieder, Nick. Ihr Verhalten ist so gar nicht auff¨allig. Sind alle Fotos f¨ ur die Brosch¨ ure? frage ich Michael. Wir stehen nur Zentimeter voneinander entfernt, praktisch nackt. Pl¨otzlich frage ich mich, ob mein Bikini nicht vielleicht zu knapp ist. Ich zupfe am Oberteil. Eigentlich habe ich gerade Pause, sagt er. Ich sammle Fotos f¨ ur eine Ausstellungsmappe. In Soho gibt es eine Galerie, die gelegentlich neue Fotografen ausstellt. Werden dort Ihre Arbeiten gezeigt? Wir wandern in Richtung Strand und sehen schon von weitem ein buntes Treiben. Aus den umliegenden Bars dr¨ohnen die neuesten Hits. Wir schlendern an einem Querschnitt der gesamten Menschheit vorbei, jeder erdenkliche Typ ist vertreten: schwul, heterosexuell, gepierct, t¨atowiert, rasiert, was man sich nur vorstellen kann. Michael zielt mit seiner Kamera auf die ausgeflippteren Gestalten. Ich weiß noch nicht, ob ich wirklich gut bin, erkl¨ art er, w¨ahrend er die Blende einstellt. Wenn Sie es nicht versuchen, werden Sie es nie herausfinden. Er l¨achelt u ¨ber seine Kamera hinweg. Wenn ich jemals eine Ausstellung habe, m¨ ussen Sie unbedingt kommen. Seltsam, mir war gar nicht aufgefallen, daß er auf einer Seite ein Gr¨ ubchen hat – nur auf der einen Seite. Tut mir leid, murmele ich. Ich f¨ urchte, das wird sich nicht einrichten lassen. 71
Michael senkt die Kamera. Moment mal. Woher wollen Sie das wissen? Manche Dinge weiß man einfach. Zum Beispiel? Ich versuche, das Thema zu wechseln. Menschen, die sich hinter ihrer Kamera verstecken, haben etwas zu verbergen. Er greift in seine Kameratasche und reicht mir eine Flasche Sonnenmilch. Ich denke, Sie sollten sich eincremen. Die Sonne ist hier sehr stark. Er ist gut – er lenkt so elegant von meiner Bemerkung ab, daß es mir gar nicht aufgefallen w¨are, wenn ich nicht kurz zuvor das gleiche Man¨over versucht h¨atte. Ich nagle ihn fest. Sie schweifen ab. Wir haben gerade u ¨ber Sie gesprochen. Was sollte ich zu verbergen haben? Ich bin nur der Typ mit der Kamera. Jeder hat etwas zu verbergen. Manchmal sogar vor sich selbst. Zwei M¨adchen schlendern oben ohne vorbei. Michael zieht hinter seiner Sonnenbrille die Augenbrauen hoch. Die haben jedenfalls nicht viel zu verbergen. Ich kann nicht anders, ich fange an zu lachen – das erste richtige Lachen seit Wochen. Okay, lenke ich ein. Sie brauchen mir Ihre Geheimnisse nicht zu verraten, weil ich Ihnen meine nicht verraten werde. Ein fairer Handel. Es klingt wie eine Herausforderung. Aber ich werde ihm nie erz¨ahlen, was mit mir los ist. Vielleicht h¨atte ich gar nichts dagegen, fotografiert zu werden oder mich mit ihm zu unterhalten. Andererseits w¨are es mir absolut nicht recht, wenn er Mitleid f¨ ur mich empfinden w¨ urde. Er nimmt mir die Sonnenmilch aus der Hand. Wie ich sehe, sind Sie sehr dickk¨opfig. Er gießt einen Spritzer 72
Lotion in seine Hand und verreibt sie auf meinem Arm. Sie holen sich einen Sonnenbrand. Emily und Eric gehen direkt vor uns her. Ich trotte hinterher und versuche, sie einzuholen. Es ist ein gutes Gef¨ uhl, hier zu sein, u ¨ber den heißen, weißen Sand zu laufen. Die letzten Wochen haben nie stattgefunden. Ich verbanne sie f¨ ur alle Zeiten aus meinem Leben. Haben wir etwas verpaßt? erkundigt Eric sich. Ich wende mich an Michael. Michael verabreicht Sonnenmilchanwendungen. Emily l¨aßt ihren Tr¨ager heruntergleiten. Ich f¨ urchte, ich bekomme einen Sonnenbrand, genau hier, Michael, ruft sie u ¨ber ihre Schulter und streicht sich u ¨ber den Brustkorb. Michael holt uns ein und schaut auf ihr Dekollete. Da haben Sie wohl recht. H¨ uten Sie sich vor Bl¨aschen! Bitte sch¨on. Er wirft ihr die Flasche zu. Em lehnt sich zu mir her¨ uber und fl¨ ustert: Das war’s. Er hat den S¨auretest bestanden. Wenn ein Mann neben dir und mir steht und meine Brust ignoriert, kann das nur eins bedeuten: Er ist hundertprozentig hinter dir her. Meine Wangen brennen. Werde ich rot, oder ist das ein Sonnenbrand? Gl¨ ucklicherweise dr¨ohnt die Musik so laut, daß Michael wohl nichts bemerkt hat. Ich g¨onne mir den Luxus, mich v¨ollig normal zu f¨ uhlen, so zu tun, als ob ich so bin wie jede andere junge Frau, f¨ ur die sich ein Mann vielleicht, vielleicht aber auch nicht interessiert. Doch dieses Gef¨ uhl h¨alt nicht lange an. Ich muß an Tim und seine Reaktion denken. Wie w¨ urde ein Fremder reagieren, wenn er es w¨ ußte? Ob Michael oder irgend jemand sonst auf der Welt mich nun mag oder nicht, spielt im Grunde keine Rolle. F¨ ur mich wird das Ende immer gleich aussehen: Sackgasse. Vielleicht eine wenig geistreiche Wortwahl, aber es ist nun einmal die Wahrheit. 73
Pl¨otzlich f¨ uhlt sich der Sand sehr kalt an, und ich laufe durch die Menschenmenge zum Wasser hinunter. Eine Minute lang stehe ich einfach da und atme tief durch. Die See spielt um meine Kn¨ochel, ein Meer wie ein K¨atzchen, sanft und warm. Ich gehe in die Knie, dann springe ich kopf¨ uber in die Fluten und schwimme los. Es ist einige Zeit her, daß ich zum letzten Mal weite Strecken geschwommen bin, ich bewege einfach Arme und Beine, immer weiter, ruhig und gleichm¨aßig. Mein Gesicht ist unter Wasser, Salz brennt in meinen Augen. Ich habe keine Ahnung, wohin ich schwimme. Ich ziehe an anderen Schwimmern und ein paar kleinen Booten vorbei. Der Horizont sieht einladend aus. Ich steuere geradewegs darauf zu. Auf die offene See. Im Salzwasser bin ich schwerelos, wie in einer riesigen Geb¨armutter. Irgendwann schl¨agt eine Welle u ¨ber mir zusammen, ich schlucke Wasser. Hustend drehe ich mich um und erkenne nur noch schemenhaft das Ufer. Bin ich wirklich so weit geschwommen? Inzwischen bin ich m¨ ude und schnappe nach Luft. Was passiert, wenn ich es nicht zur¨ uck an Land schaffe? Ich schließe die Augen und lasse meinen K¨orner schlaff werden, ich hoffe, daß ich untergehe. Vielleicht ist es am besten, hier und auf diese Art zu sterben. Ich schlucke noch mehr Wasser und w¨ urge. Ein Teil von mir will einfach nachgeben, aufgeben. Aber ein anderer Teil k¨ampft trotz allem. Ich hebe den Kopf und sch¨atze die Entfernung. Ich bin mir ziemlich sicher, daß ich es nicht bis ans Ufer schaffe. Mittlerweile bin ich sogar so weit von den kleinen Booten entfernt, daß sie mich nicht mehr sehen k¨onnen. Emily und Eric glauben wahrscheinlich, daß ich am Strand spazierengehe. Ich trete Wasser und muß gegen mich selbst und gegen das Meer ank¨ampfen. 74
Pl¨otzlich greift aus dem Nichts eine Hand nach meinem Bikinioberteil und h¨alt mich an der Wasseroberfl¨ache. Ich werde in ein Boot gezogen und auf eine Schwimmweste gelegt. Dabei zerreißt mein Bikinioberteil, ich ringe nach Atem und spucke Salzwasser, aber ich bin in Sicherheit. Es ist Michael. Er beugt sich u ¨ber mich und klopft mir auf den R¨ ucken. Sind Sie verr¨ uckt geworden? schreit er. Hier draußen gibt es gef¨ahrliche Str¨omungen. Sie h¨atten direkt auf die offene See hinausgetrieben werden k¨onnen! Wem sagt er das. Ich setze mich zitternd auf, hole r¨ochelnd Luft, dann f¨allt mir auf, daß ich kein Oberteil anhabe. Ich kreuze meine Arme vor der Brust. Keine Sorge, das hier ist ein Oben-ohneStrand. Michael holt das Segel ein, dreht das Ruder, wir wenden und steuern auf den Strand zu. Das kleine Boot h¨ upft u ¨ber die Wellen. Geht es Ihnen gut? ruft Michael gegen den Wind an. Ich nicke. Ja, verehrte Damen und Herren, es geht mir gut, die Seifenoper ist vor¨ uber. Ich hatte die Chance, eine Abk¨ urzung zu nehmen, und habe mich f¨ ur den langen Weg entschieden. Ich hab aufgeschaut und gesehen, daß Sie aufs offene Meer zusteuern. Durch mein Teleobjektiv konnte ich erkennen, daß Sie in Schwierigkeiten waren, also habe ich mir dieses Boot ausgeliehen. Sie d¨ urfen niemals allein so weit schwimmen! Das ist viel zu gef¨ahrlich. In Zukunft werde ich vorsichtiger sein. Im flachen Wasser l¨aßt Michael das Segel los, das Boot verlangsamt seine Fahrt und stoppt. Er hilft mir beim Aufstehen; meine Beine sind wie aus Gummi. Ich wate unsicher an den Strand, w¨ahrend er das Boot an Land zieht. 75
Emily kommt herbeigelaufen. Wart ihr segeln? Ich bin neidisch. Verwundert starrt sie auf meine nackte Brust. Bist du zu den Eingeborenen u ¨bergelaufen? Ich habe mein Oberteil im Wasser verloren. Ich beginne zu zittern. Em kramt in ihrer großen Strandtasche und reicht mir ein T-Shirt, das ich u ¨ber meinen Tanga ziehe. Ich gehe jetzt Eric suchen. Ist bei dir alles in Ordnung? Ich nicke, und Emily marschiert von dannen. Michael reicht mir eine Cola. Hier, sp¨ ulen Sie das Salzwasser herunter. Er schaut mich pr¨ ufend an. Mir geht es gut, behaupte ich. Danke, daß Sie mich gerettet haben! Mir ging langsam die Puste aus. Als Michael sich abtrocknet, holt Emily die Kamera aus ihrer Tasche und reicht sie ihm. Alles wirkt so normal. Niemand ahnt, was beinahe passiert w¨are. Eine alte Frau in einem altmodischen schwarzen Kleid geht mit einem ausgefransten Strohkorb vorbei. Sehen Sie, was f¨ ur einen Kontrast sie zu den anderen Menschen hier bildet? fragt Michael und z¨ uckt die Kamera. Sie ist so klassisch und zeitlos, die anderen so modern und verr¨ uckt. Der Kontrast macht das Bild interessant. Der Ausl¨oser klickt, und sein Film spult weiter. Sie sind Fotograf – warum arbeiten Sie auf diesem Schiff? frage ich. Michael zieht die Schultern hoch. Ich mußte einfach weg, sagt er. Zu Hause hab ich es nicht mehr ausgehalten. Mein Vater hat mich unter Druck gesetzt, daß ich in unser Familienunternehmen einsteige. Was ist das f¨ ur ein Unternehmen? W¨ urste. Oh. Irgendwie kann ich Sie mir nicht f¨ ur den Rest Ihres Lebens mit W¨ ursten vorstellen. 76
Ich auch nicht. Aber mein Vater hat mir nicht zugetraut, daß ich es als Fotograf schaffe. Seine Stimme wird scharf. Zwischen uns sind harte Worte gefallen. Also habe ich mich auf eine Anzeige beworben und diesen Job angenommen. Ich habe eine Abmachung mit dem Kapit¨an: Wenn ich die Bilder mache, die sich die Reederei vorstellt, l¨aßt er mich die Bilder machen, die ich mir vorstelle. Ich bin von zu Hause weggekommen, kann reisen und dar¨ uber nachdenken, was ich wirklich tun will. Das deckt sich ungef¨ ahr mit dem Grund, warum ich hier bin. Sie laufen auch vor etwas davon? Das kann man so sagen. Was mag das sein? Ein Geheimnis. Eine geheimnisvolle Frau. Vielleicht verraten Sie mir Ihr Geheimnis. Ich weiß, daß etwas in Ihnen vorgeht. Ich bin Ihnen zum Wasser gefolgt, weil Sie am Strand so ungl¨ ucklich wirkten, als ob die Welt zu Ende ginge. Das habe ich Ihrem Gesicht angesehen. Warum sind Sie so weit hinausgeschwommen? Sie machen sonst gar keinen leichtsinnigen Eindruck. Sie sagen mir nicht die Wahrheit, habe ich recht, Nicole? Die Ereignisse sind nur ein wenig u ¨ber meinem Kopf zusammengeschlagen. Michael schaut auf die Uhr. Das kann man wohl sagen. Und das ist alles? Das ist alles. Er sch¨ uttelt den Kopf. Jedenfalls muß ich jetzt zur¨ uck zum Schiff. Meine Schicht beginnt. Wenn Sie wieder trocken sind, sollten Sie dar¨ uber nachdenken, ob Sie heute abend die Discos in der Stadt unsicher machen m¨ochten. Das w¨ urde Sie auf andere Gedanken brin
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gen. Wieder dieser forschende Blick; er sieht in mich hinein. Die Discos? Ich sp¨ ure, daß ein ausgelassener Abend mit Michael nur der Anfang von etwas anderem w¨are, mit dem ich nicht zurechtk¨ame. Der beste Laden ist das Pierro. Ich werde nach dem Abendessen dort sein und Aufnahmen machen. Vielleicht sehen wir uns? Vielleicht. Wir stehen da und schauen einander an. Er wartet auf meine Antwort, darauf, daß ich mitspiele. Noch einmal vielen Dank f¨ ur die Bootsfahrt. Also, falls Sie sich entschließen sollten, vorbeizukommen, ich bin der Typ mit der Kamera. Er grinst, ist aber offensichtlich verwirrt. Kein Wunder. Mein Verhalten ist schließlich nicht gerade logisch, h¨ochstens f¨ ur jemanden in einem Laborkittel, der sich in letzter Zeit meine Tomogramme angesehen hat. W¨ahrend Michael u ¨ber den Strand zum Wassertaxi l¨auft, betrachte ich seine Fußspuren im Sand. Nach einer Minute haben die Wellen sie fortgesp¨ ult, und als ich aufblicke, ist er verschwunden.
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Sechstes Kapitel
Die Stimme der Vernunft fl¨ ustert mir zu, das Pierro zu meiden. Es muß doch noch andere Lokale geben, in denen man sich vergn¨ ugen kann, Lokale, in denen ich mich nicht unbehaglich f¨ uhle, weil ich Michael u ¨ber den Weg laufen k¨onnte. Inzwischen ist mir eines ziemlich klar: Wenn ich ihn noch ¨ofter sehe, werde ich meine Situation erkl¨aren m¨ ussen, und das wird katastrophale Folgen haben. Aber das Gespann Emily, Eric und Shirley reißt mich mit wie eine Naturgewalt. Wenn ich nicht mit ihnen gehe, muß ich den Abend allein an Bord verbringen, und ich bin bestimmt nicht den weiten Weg nach Griechenland gereist, um einsam in meiner Kabine zu hocken, Whirlpool hin oder her. Shirley ist schon ¨ofter im Pierro gewesen und behauptet, daß sich dort die Szene trifft, eine dem Pantheon mindestens ebenb¨ urtige Attraktion, die man auf keinen Fall vers¨aumen darf. Nat¨ urlich gibt es noch mehr heiße L¨aden, meint sie. Die Windmill Disco und noch ein paar andere, das wechselt von Jahr zu Jahr, aber ich mag das Pierro. Es liegt an der Hauptstraße und wird von den Reichen und Sch¨onen frequentiert. Shirley muß es wissen. Emily hat sich f¨ ur diesen Anlaß gruftim¨aßig ausstaffiert: langer schwarzer Rock, Schlitz bis zur H¨ ufte, kombiniert mit einem winzigen T-Shirt, das ihren gepiercten Nabel freigibt, und ein Sammelsurium von Kreuzen, die 79
an Ketten um ihren Hals klimpern. Ihr Haar ist, Eric sei Dank, zu Z¨opfen geflochten. Ich trage ein kurzes weißes Kleid, die Haare habe ich mit Gel nach hinten gek¨ammt. Dank meiner frischen Sonnenbr¨aune sehe ich ziemlich gut aus – zumindest von außen. Wenn ich mich im Spiegel betrachte, erscheint es mir unm¨oglich, daß im Inneren meines Kopfes ein Selbstmordkommando am Werk sein soll. Eine positive Entwicklung kann ich allerdings vermelden: Die Kopfschmerzen sind dank der Steroide und der Tablettencocktails unter Kontrolle, und ich w¨ urde gern glauben, daß ich diese Sache vielleicht – sehr vielleicht – besiegen kann. Na gut, gehen wir also ins Pierro. Die Stadt ist ein Labyrinth aus belebten Gassen. Autos sind hier verboten, und nach Einbruch der Dunkelheit verwandelt sich der ganze Ort in eine riesige Party – Musik dr¨ohnt aus Dutzenden von Clubs den Hafen entlang und den H¨ ugel hinauf, Menschen schw¨armen weithin h¨orbar durch die Straßen. Das Pierro ist das u ullteste ¨berf¨ Lokal von allen. Ich schaffe es noch nicht einmal, mich hineinzuzw¨angen, also lasse ich mich zusammen mit Emily in einem kleinen Caf´e auf der anderen Straßenseite nieder, wo ich durch die großen Fenster die Lage peilen kann. Irgendwie ist es Shirley und Eric nicht nur gelungen, sich einen Weg auf die Tanzfl¨ache zu bahnen, die beiden haben sich gleich bis ganz nach vorn durchgek¨ampft, wo sie auf einem riesigen Lautsprecher herumwirbeln. Auf einem anderen Lautsprecher tanzt ein wie Marie Antoinette ausstaffierter Transvestit in einem Kost¨ um, bestehend aus Brokatkleid und riesiger gepuderter Per¨ ucke mit einem Vogelk¨afig obenauf. Emily st¨oßt mich an. Schau mal, wer da ist! Michael verl¨aßt mit seiner Kamera den Club, entdeckt uns und arbeitet sich durch die Meute zu unserem Tisch 80
vor. Er tr¨agt ein blaues Baumwollhemd mit aufgerollten ¨ Armeln, dazu Jeansshorts, die seine wohlgeformten Beine zur Geltung bringen. Sobald ich ihn sehe, vergesse ich umgehend, daß ich ihm heute nacht eigentlich aus dem Weg gehen wollte. Ich habe eine tolle Aufnahme von Marie Antoinet te , erz¨ahlt er aufgeregt. F¨ ur die Brosch¨ ure? frage ich. Nein, daf¨ ur habe ich Shirley geknipst, erwidert er lachend. Sie ist meiner Bitte nur zu gern nachgekommen. Marie Antoinette ist f¨ ur meine Privatsammlung. Eric taucht v¨ollig durchgeschwitzt an unserem Tisch auf. Shirley ist von einem Grafen aufgefordert worden. Jetzt bist du dran, Emily. Er nimmt ihre Hand und f¨ uhrt sie durch die Menge, Michael und ich bleiben zur¨ uck. Also, setze ich an, ist Ihre Schicht schon vorbei? Er sieht auf die Uhr. In drei Minuten habe ich es hinter mir, aber ich u uher ¨berlege gerade, ausnahmsweise fr¨ Feierabend zu machen. Was halten Sie von einem kleinen Abstecher? Wohin? An einen besonders exklusiven Ort. Wenn ich ganz ehrlich bin, ist mir pl¨otzlich v¨ollig egal, wohin wir gehen, denn in diesem Augenblick ist es f¨ ur mich einfach selbstverst¨andlich, daß ich mit Michael gehe, ganz gleich wohin. Handle ich egoistisch? In Anbetracht der Umst¨ande vielleicht. Aber, so u ¨berzeuge ich mich selbst, was kann falsch daran sein, die Gesellschaft eines Mannes zu genießen, mit dem man sich offensichtlich gut versteht? Und war das nicht u ¨berhaupt der Grund, warum ich nach Griechenland gekommen bin – um einmal egoistisch zu sein? W¨ahrend wir uns einen Weg durch das Get¨ ummel bahnen, muß Michael meine Hand festhalten, damit wir 81
uns nicht verlieren. Wir gehen an einem Dutzend Bars vorbei, vor denen sich jeweils Menschenmengen dr¨angen. Ich bin froh, daß Michael die F¨ uhrung u ¨bernommen hat, denn in dieser Stadt k¨onnte man sich leicht verlaufen. Die Straßen scheinen wie ein Irrgarten, gewunden und voller Menschen. Es gibt keine Autos, nur Menschen, und gelegentlich streift eine Katze meine Beine, die vorsichtig durch den Pulk schleicht. Wie finden Sie sich hier nur zurecht? frage ich, w¨ahrend wir eine weitere verwirrende Kurve umrunden. Ich habe inzwischen vollkommen die Orientierung verloren. Michael lacht. Die Stadt wurde fr¨ uher aus einem ganz bestimmten Grund so angelegt. Zum Schutz vor Piraten. Die Kykladen waren ein beliebter Anlaufpunkt f¨ ur Pl¨ underer. Vermutlich glaubten die Bewohner, wenn sie die Angreifer gen¨ ugend verwirrten, w¨ urden sie von allein das Weite suchen. Die Geb¨aude waren damals dunkel angestrichen, damit sie den vorbeisegelnden Freibeutern nicht ins Auge fielen. Wir n¨ahern uns dem Hafen. Dutzende unterschiedlich großer Schiffe liegen mit Festbeleuchtung vor Anker. Die Menschenmenge verl¨auft sich. Wir wandern u ¨ber einen kleinen H¨ ugel und erreichen schließlich eine breite Hafenmauer, vor der sich an Felsbrocken die Wellen brechen. Wohin gehen wir? frage ich. Michael bleibt stehen. Genau hierher. Hier ist die Tanzfl¨ache nicht so u ullt. Er klettert auf die Mauer, ¨berf¨ reicht mir seine Hand und zieht mich nach oben. Die Musik in der Ferne wird durch die Ger¨ausche des Meeres ged¨ampft, aber die Lieder kreisen um uns herum, als ob die Noten von den Sternen herabschweben und auf dem Wasser treiben w¨ urden. Michael streckt die Arme aus und l¨adt mich zum Tanzen ein. 82
Ich glaube nicht, daß Sie die noch brauchen. Ich nehme ihm die Kamera ab und deponiere sie auf einem Vorsprung. Was machen Sie jetzt ohne Ihr Schutzschild? Vermutlich bin ich Ihnen hilflos ausgeliefert, sagt er und lacht. Ich trete n¨aher, und wir beginnen zu tanzen. Gut, sage ich. Dann sind wir ja quitt. Ich schmiege mich in seine Arme, wir bewegen uns ganz langsam. Mein Kopf sinkt an seine Schulter, ich f¨ uhle sein Herz schlagen. Seine Hand liegt auf meinem R¨ ucken, und ich bin auf einmal sehr froh, daß Tim mich auf dieser Reise nicht begleitet. Es ist seltsam, daß es sich trotz der Jahre mit Tim so nat¨ urlich anf¨ uhlt, mit Michael zusammenzusein, seine N¨ahe zu sp¨ uren. Aber dann sage ¨ ich mir, daß er vermutlich Ubung hat. Bringen Sie alle M¨adchen hierher? Nein, sagt er in mein Haar. Nicht alle M¨ adchen. Nur eine Frau. Frau. Er sieht mich als Frau – was jedes M¨adchen f¨ ur die Zukunft als selbstverst¨andlich voraussetzt und ich nicht mehr zu hoffen gewagt hatte. Unsere Gesichter sind so eng beieinander, daß ich seinen Atem f¨ uhle, und er muß meinen sp¨ uren. Ich schließe die Augen und versuche, mich zu entspannen, was mir tats¨achlich irgendwie gelingt. Ich kann mir nicht helfen, ich empfinde etwas Neues. Vielleicht bin ich ja verr¨ uckt. Da bin ich nun in einem Land und einer Stadt, in der ich noch nie zuvor war, in den Armen eines Mannes, den ich kaum kenne, und habe auf einmal das Gef¨ uhl, zu Hause angekommen zu sein, als ob ich hierher geh¨orte, in diesem Augenblick. Mit ihm. Die Nacht umf¨angt uns, und ohne Zweifel befinden wir uns in einer sehr romantischen Umgebung. Ich w¨ urde am liebsten das Atmen einstellen aus Angst, die perfek
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te Balance dieses Augenblicks zu zerst¨oren. Wir sind wie zwei Magneten. Es gibt Seiten an uns, die sich anziehen, aber wir bieten einander zuerst die entgegengesetzten Pole, die sich abstoßen – obwohl uns beiden bewußt ist, daß sich alles mit der leichtesten Verschiebung der Balance ¨andern wird. Michael schmiegt sich an mich und gibt mir einen sanften Kuß, leicht wie ein Bl¨ utenblatt. Auf gewisse Art ist er sehr zur¨ uckhaltend – respektvoll, fast altmodisch, als ob er um Erlaubnis bittet f¨ ur etwas, von dem wir beide wissen, daß es unausweichlich ist. Dabei u ¨berschreiten wir keine Grenzen. Und dennoch tun wir beide in diesem Augenblick genau dies. Wir erwischen das letzte Wassertaxi zum Schiff, und ich schl¨ upfe so leise wie m¨oglich in unsere Suite. Ohne Erfolg. Beim ersten Ger¨ausch des Schl¨ ussels im Schloß wird Emily wach und setzt sich im Bett auf. Mein Gott, murmelt sie verkatert, beinahe h¨ atte ich mir Sorgen gemacht. Du warst pl¨otzlich verschwunden. Schhhh – leg dich wieder hin! Ich will mir nur meine Turnschuhe holen. Ich klettere in das Kr¨ahennest. Was zum Teufel ist ein Kr¨ ahennest? Das weiß ich nicht so genau – jedenfalls bin ich dort mit Michael verabredet. Mit einem Schlag ist sie hellwach. Was!! Mit den Turnschuhen in der Hand mache ich mich aus dem Staub. Wie viele Herzschl¨age dauert es, bis man einen Mastkorb (denn darum handelt es sich bei einem Kr¨ahennest) erklommen hat? Ich glaube, es ist mein Herz, das diese Frage stellt, denn es schl¨agt viel schneller 84
als sonst, w¨ahrend ich mit Michael den Mast hinaufklettere. Seine Hand liegt auf meinem R¨ ucken, der Wind f¨ahrt durch mein Haar und l¨aßt die weißen Schaumkronen tief unter uns auf und ab tanzen. Wie hoch sind wir? erkundige ich mich mutig. Einen bis anderthalb Meter. Immer einen Schritt nach dem anderen. Wir schieben uns millimeterweise nach oben. Einhundert bis einhundertf¨ unfzig Meter, meinst du wohl. Nun, ich wollte dich ja nicht mit nach oben nehmen. Das verst¨oßt gegen s¨amtliche Vorschriften. Aber wir haben es fast geschafft. Schau jetzt nur nicht nach unten! Und was immer du tust, st¨ urz mir nicht in die Tiefe. Wenn du f¨allst und sie erfahren, daß ich dich mitgenom¨ men habe, k¨onnte ich eine Menge Arger bekommen. Wir schaffen es in den Mastkorb, und ich klammere mich an den Seitenw¨anden fest, Michael hat seine Arme um mich gelegt. Noch nie habe ich mich so sicher gef¨ uhlt. Hier oben ist der friedlichste Ort auf der ganzen Welt, verk¨ undet er. Es ist wundervoll. Ich sehe die Lichter des Hafens und der Stadt vor mir, ausgebreitet wie der Inhalt einer Schmuckschatulle, der sich den H¨ ugel hinab ergießt. Mich u uhl, daß es mir vorbestimmt war, in ¨berkommt das Gef¨ diesem Augenblick mit Michael genau hier zu sein, auf diesem Schiff einen Platz zu buchen, nach Griechenland zu fliegen, den Dartpfeil genau an diese Stelle auf der Landkarte zu werfen. Du hast doch nicht etwa Angst? fragt Michael. Ich denke zur¨ uck ans Krankenhaus, an die Infusionen, den Computertomographen, die Krankenbl¨atter und die ¨ Hoffnungslosigkeit in den Gesichtern der Arzte. Wovor sollte ich mich da noch f¨ urchten? Absolut nicht. 85
Nun, sagt er, aber ich. Wovor? Vor uns. Dir und mir. Die Sache geht mir ein bißchen zu schnell. Das verstehst du nicht, berichtige ich ihn. Eigentlich geht sie nicht schnell genug. Nicki, wir haben alle Zeit der Welt. Ich sollte es ihm sagen. Aber was passiert, wenn er es erf¨ahrt? Wozu sollte es gut sein? Ich sehe noch den Ausdruck auf Tims Gesicht. Nein, ich werde Michael nichts sagen. Niemals. Ich sp¨ ure seine Lippen in meinem Haar und wende mich ihm zu. Diesmal ist sein Kuß gar nicht sanft und s¨ uß. Nicht wie auf einer kitschigen Geburtstagskarte. Mehr wie ein Zusammenprall, dem man nicht ausweichen kann. Wir k¨ ussen uns und halten einander lange in den Armen. Es gibt nur Michael, die Sterne und mich. Ist das okay? fragt Michael mit sanfter Stimme. Ich kann nur nicken, weil es einerseits in Ordnung ist und andererseits nicht. Ich spiele mir und diesem Mann etwas vor, und er weiß es nicht. Mir ist klar, daß das weder ihm noch mir gegen¨ uber fair ist, aber ich kann mich nicht zwingen, nicht bei ihm sein zu wollen, ihn nicht zu halten, mich nicht in ihn zu verlieben. Es ist irrational und doch perfekt. Aufregend und schrecklich zugleich. Wunderbar und f¨ urchterlich. Aber ich will es mehr als alles, was ich mir je gew¨ unscht habe. Ich habe keine andere Wahl, als es zuzulassen. Als ich die Augen wieder ¨offne, ist die Nacht fast vor¨ uber, der Himmel beginnt zu leuchten, die ersten Sonnenstrahlen k¨ undigen sich an. Ich w¨ unschte, ich k¨onnte die Sonne u unschte, die ¨berreden, nicht aufzugehen. Ich w¨ Zeit w¨ urde stehenbleiben, es w¨ urde nie ein neuer Tag anbrechen.
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Junge Dame, sagt Michael, wir m¨ ussen Sie wie der sicher auf Deck bringen. Ich liege immer noch in seinen Armen, und keiner von uns beiden bewegt sich. Die Crew steht jeden Moment auf – eigentlich d¨ urftest du gar nicht hier oben sein. W¨ahrend er spricht, taucht eine Gestalt in weißer Uniform auf. Das ist George, der die morgendliche Checkliste durchgeht. George verschwindet wieder unter Deck, und wir klettern vorsichtig den Mast hinunter. Auf dem langen Abstieg f¨ urchte ich mich u ¨berhaupt nicht vor der Tiefe. Oder vor sonst etwas.
Sp¨ater am Tag muß Emily mich aus dem Bett zerren, damit ich den Ausflug nach Delos nicht verpasse. Wir nutzen den Shuttleservice in den Hafen von Mykonos, von dort bringt uns die F¨ahre in vierzig Minuten nach Delos. Ich kann nicht glauben, daß du das alles beinahe verschlafen h¨attest, sagt Emily, als wir auf der F¨ahre stehen. Delos! Die Insel galt als einer der heiligsten Orte des antiken Griechenland. Stell dir vor, das ganze Eiland ist ein einziges arch¨aologisches Museum! Es soll unglaublich sein. Sie h¨alt mir ihren Reisef¨ uhrer hin. Lies. Ich muß zugeben, daß ich immer noch benommen von der letzten Nacht bin. Der Abend war wie ein Traum. Ist mir das wirklich passiert? Emily sieht mich an. Also, was war los? Sie kneift Eric in die Seite. Ich habe vor lauter Sorge kein Auge zubekommen. Sie kam erst in die Kabine, als es draußen schon hell wurde. Tats¨ achlich? Eric zieht die Augenbrauen hoch. Hast du mit ihm geschlafen? Nein! Er war ein perfekter Gentleman. 87
Mit anderen Worten, er ist schwul, vermutet Eric. Ganz bestimmt nicht, protestiere ich und ziehe Eric eins mit dem Reisef¨ uhrer u ¨ber. Dein Pech! Muß ich wirklich mein Sexualleben auf einem Schiff voller Menschen diskutieren? M¨ ussen sich eure Gedanken denn immer auf Gossenniveau bewegen? Ein wacher Verstand will nun einmal immer alles ganz genau wissen, gibt Eric zu bedenken. Wenn ihr unbedingt darauf besteht: Wir sind in das Kr¨ahennest geklettert. Was zum Teufel ist ein Kr¨ ahennest? Emily ist inzwischen der Verzweiflung nahe. Ich glaube, das ist der Ort, an dem ich mich verliebt habe. Was! Liebe! Einzelheiten, ich will Einzelheiten! Es gibt keine. Ruhig beginne ich, den Reisef¨ uhrer zu studieren. Em will ihn mir aus der Hand reißen. In einem Moment wie diesem kannst du nicht lesen! Ich drehe mich in meinen Sitz und weiche ihr aus. Selbstverst¨ andlich kann ich das. Hmm. Hier steht, daß die Athener im Jahr 426 vor Christus alle Geburten und Todesf¨alle auf der Insel Delos durch ein Edikt verboten haben. Ich klappe das Buch zu und gebe es Emily zur¨ uck. Perfekt. Ich brauche einfach nur auf Delos zu bleiben, und schon sind meine Probleme gel¨ost. Gute Idee, stimmt Em mir zu. Die F¨ahre legt an, s¨amtliche Passagiere springen auf. Emily nimmt meinen Arm. Du mußt uns alles erz¨ahlen. Was meinst du mit verlieben? will Eric wissen. Ich w¨ unschte, ich k¨onnte es euch erkl¨aren, aber das kann ich nicht.
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Du k¨onntest es doch wenigstens versuchen, bohrt Emily weiter. Zuerst muß ich es selbst verstehen. Zwar habe ich in den letzten Jahren meine Gedanken immer mit Eric und Emily geteilt, doch meine Gef¨ uhle f¨ ur Michael w¨ urde ich gern f¨ ur mich behalten, zumindest im Augenblick. Alles ist so neu und so anders verglichen mit meinen Empfindungen f¨ ur Tim, als ich ihn kennenlernte und sogar auf dem H¨ohepunkt unserer Beziehung. Tim war einer von uns, jemand, der in mein Leben hineinpaßte, ein Freund eben. Auf Michael trifft nichts davon zu. Das wirft die Frage auf: Was genau ist er eigentlich? Und was, wenn u ¨berhaupt, bedeute ich ihm? Wir verlassen die F¨ahre, schieben uns am Fahrkartenschalter vorbei und verbringen die n¨achsten drei Stunden damit, die Sehensw¨ urdigkeiten zu besichtigen. Als erstes suchen wir einen Markt auf, wo jahrtausendealte ¨ Uberreste von Bauwerken stehen. Emily verliebt sich auf der Stelle in die L¨owenterrasse. F¨ unf antike, verwitterte Steinl¨owen von urspr¨ unglich sechzehn halten Wache. Die alten Griechen wußten, wie man mit Tieren umgeht, verk¨ undet sie respektvoll, als wir uns gegenseitig vor den L¨owen fotografieren. Sie haben sie verehrt. Von hier geht es weiter zum Heiligen See und dann zu Ausgrabungen von Villen. Eric erkl¨art das Haus der Kom¨odianten zu seinem Lieblingsgeb¨aude. Schließlich be¨ sichtigen wir die Uberreste eines Theaters, in dem fr¨ uher u unftausend Menschen Platz fanden. Es ist unglaub¨ber f¨ lich, soviel Geschichte auf einer kleinen Insel konzentriert zu finden und sich vorzustellen, daß diese Ruinen vor langer Zeit mit Leben erf¨ ullt waren und nun nur noch ein Teil der Vergangenheit sind. Wenn ich dar¨ uber nachdenke, ist mir nicht nach Reden zumute. Ich nehme einfach alles in mir auf. Zum ersten Mal seit der Zeit im Kran
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kenhaus habe ich das Gef¨ uhl, daß mein Leben wieder eine Perspektive bekommt. Ich f¨ uhle mich nicht mehr wie ausgestoßen. Inzwischen ist mir klargeworden, daß es ein Muster gibt – alles hat seine Zeit, und irgendwann ist sie abgelaufen. Niemand, ganz egal wer, kann diesen endlosen Kreislauf aufhalten. Ich kann es nicht, genausowenig wie es die f¨ unftausend Menschen konnten, die einst hier in diesem Theater zusammenkamen. Die alten Griechen gingen mit dem Unausweichlichen um, indem sie sich Rituale und G¨otter schufen. In gewisser Weise hatten sie es gut. Wir m¨ ussen all das ganz allein f¨ ur uns herausfinden. Die n¨achste Gelegenheit, Michael zu sehen, ist beim Mittagessen, einem Buffet auf dem Promenadendeck der Circe. Griechische Volksmusik erklingt, die meisten Passagiere tragen Badeanz¨ uge oder Shorts. Shirley belegt Eric mit Beschlag und zeigt ihm, wie man mit einer Serviette tanzt. Der Kapit¨an, George und die Offiziere gehen zwischen den Gruppen umher, der Kapit¨an steuert auf Emily und mich zu. Genießen die Damen die Reise? fragt er und l¨aßt sein strahlendweißes L¨acheln aufblitzen, das nach Erics Diagnose komplett aus Jacketkronen besteht. Der Mann sieht so aus, als ob er unter Tausenden von Bewerbern f¨ ur diese Rolle ausgew¨ahlt worden w¨are. Er betrachtet Emily durch seine Sonnenbrille. Sehr, antworte ich. Haben Sie schon unsere griechischen Spezialit¨ aten gekostet? Auf diesem Schiff servieren wir die beste Mous¨ ais. saka der ganzen Ag¨ Oh ja, schw¨ armt Emily, die nur Salate ißt. Ich liebe Moussaka. Vielleicht glaubt sie, daß er von einer griechische Salatsorte redet. 90
Heute findet nach dem Lunch ein Unterhaltungsprogramm statt, bei dem sich alles um die Odyssee dreht. Einige Orte aus den alten Geschichten laufen wir bei dieser Kreuzfahrt an. Vielleicht gef¨allt es Ihnen. Ich bin auf jeden Fall dabei, versichert Emily. Und wenn Sie sich die Sehensw¨ urdigkeiten ansehen, Ladys, rate ich Ihnen zur Vorsicht. Junge Damen wie Sie sollten sich in acht nehmen, insbesondere im Umgang mit M¨annern. Dabei schaut er mich an. Mir ist klar, daß er u ¨ber meinen Ausflug in den Mastkorb informiert ist. Der Kapit¨an wendet sich anderen G¨asten zu, und ich erwische Michael. Hallo. Er blickt stur geradeaus. Ich arbeite, sagt er, w¨ahrend er das Objektiv wechselt. Wann k¨ onnen wir miteinander reden? Ich weiß nicht. Er l¨ aßt mich stehen und fotografiert eine Obstschale. Stimmt etwas nicht? Dabei ist es offensichtlich, daß etwas nicht stimmt. Ich weiß, daß ich interessanter bin als eine aufgeschnittene Mango. Nein. Ich muß nur arbeiten. Er versteckt sein Gesicht hinter der Kamera und dr¨ uckt auf den Ausl¨oser. Der Schutzschild steht wieder zwischen uns. Verdammt noch mal, Michael, soll das ein Spiel sein? In dem Fall habe ich n¨amlich keine Lust mitzuspielen. Ich kann im Augenblick nicht reden, erkl¨ art er. Michael! bellt der Kapit¨ an, und Michael wendet sich abrupt ab. Was hat er denn? erkundigt sich Emily. Wer weiß? Irgendwas. Sieht ganz danach aus.
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Ich folge ihm aus der Lounge in einen Gang. Es ist eng, und unsere K¨orper ber¨ uhren sich beinahe. Also? will ich von ihm wissen. Widerstrebend wendet er sich mir zu. H¨or zu, Nicki, wenn ich mit dir spreche, gehe ich ein großes Risiko ein. Genau wie ich. Mir ist es n¨ amlich gar nicht recht, daß ich das Bed¨ urfnis habe, mit dir zu sprechen. Ich bin auf diese Reise gegangen, um Spaß zu haben, alles in meinem Leben zu vergessen, jeglichen Streß hinter mir zu lassen. Michael reibt sich die Stirn. Nicki, es geht um meinen Job. Der Kapit¨an h¨atte mich fast kielholen lassen. Ich weiß, daß er uns gesehen hat. Das ist nicht gut, oder? ¨ Nein. Uberhaupt nicht gut. Mitgliedern der Crew ist es verboten, mit den Passagieren zu – wie hat er es genannt? – >fraternisieren<. >Fraternisieren Das sollen wir getan haben? Wir lachen beide. Dann verstummen wir. Wir k¨ onnen also nicht mehr zusammensein? Ich habe mich noch nie so leer gef¨ uhlt. Aber ich kann von Michael nicht verlangen, daß er seinen Job aufs Spiel setzt. Es geht darum, sich zwischen ein paar N¨achten mit einer Frau, die er niemals wiedersehen wird, und seinem Beruf zu entscheiden. Ich verstehe, fl¨ ustere ich. Am n¨achsten Tag bringt uns das Boot nach los. Diese Insel wird dir gefallen, behauptet Emily in ihrer Rolle als Reisef¨ uhrerin. Ios ist die Partyinsel. Ich beschließe, Michael zu vergessen und mich trotz allem zu am¨ usieren. Wir gehen am Hafen von Gialos mit der typischen Kombination aus pittoresken weißen H¨ausern und Kirchen und lauten Bars und Diskotheken an Land – langsam u ¨bernehme ich schon das Seemanns92
vokabular – und fahren mit dem Bus der Schiffahrtsgesellschaft ins Dorf. Jetzt erz¨ ahl endlich, dr¨angt Eric, als der Bus sich den H¨ ugel hinaufschl¨angelt. Es gibt nichts zu erz¨ ahlen. Komm schon, sagt Emily. Es gibt wirklich nichts. Der Kapit¨ an erlaubt nicht, daß Mitglieder der Crew sich mit Passagieren einlassen. Michael k¨onnte seinen Job verlieren. Aber das ist okay. Die Sache hatte sowieso keine Zukunft. Das sah mir aber ganz anders aus, murmelt Emily. Weiß Kapit¨ an Bligh denn alles, was an Bord vorgeht? erkundigt sich Eric. Und du hast ja immer noch Tim, stichelt Em. H¨ ort zu, auf gar keinen Fall lasse ich mich auf eine Romanze ein. Ich will mich nur am¨ usieren, schon vergessen? Emily scheint das nicht zu gefallen. Ich lege meinen Arm um sie. Das geht in Ordnung, Em. Man darf solche Dinge nicht zu ernst nehmen. Ich hatte eine sch¨one Zeit mit Michael, nur das z¨ahlt. Nichts ist f¨ ur immer. Es war keine große Sache. Bist du sicher? Ich nicke entschlossen. Ganz sicher. Keine große Sache. Auf Ios erfahren wir, daß ein Tagesausflug zu Homers Grab geplant ist. In unserem F¨ uhrer lese ich: Angeblich ist Ios der Ort, den sich Homer zum Sterben ausgesucht hat. Das paßt doch gut. Ich klappe das Buch zu. Ist es verwunderlich, daß ich nicht den Wunsch versp¨ ure, ein Grab zu besichtigen? Das habe ich schon zehn Mal gesehen, behauptet Shirley und schwenkt ihre juwelenbesetzte Zigarettenspitze. Dabei steht noch nicht einmal fest, ob er wirk93
lich da drin liegt. Gehen wir uns lieber am¨ usieren! Also erkunden Emily, Eric und ich zusammen mit Shirley deren Lieblingstavernen auf Ios. Wir beginnen mit gegrillten Sardinen und Wein. Danach geht es weiter zur n¨achsten Taverne, wo wir Ouzo trinken, und dann zur u uhl, daß ich viel trin¨bern¨achsten. Ich habe nicht das Gef¨ ke, aber in Taverne Nummer drei erwischt es mich. Oh, oh, junge Freundin, du hast genug, mahnt Shirley und greift nach meinem Glas. H¨ or sofort auf! Ich schlage nach ihrer Hand. Kein Fraterniseren! Kein Fraternisieren mit den Passagieren! Ich glaube, ich schreie laut. Habt ihr mich geh¨ort. . . Komm, wir gehen, h¨ ore ich Emily sagen. Sie und Eric greifen ein und ziehen mich auf die Beine, was gut ist, denn meine F¨ uße gehorchen mir nicht mehr. Schließlich muß Eric mich praktisch auf das Boot tragen. W¨ahrend der Fahrt zur¨ uck zur Circe lehne ich v¨ollig apathisch an der Reling. Nat¨ urlich muß Michael just in dem Moment auftauchen, als Eric und Emily mich aus dem Boot hieven und versuchen, mich auf meine eigenen F¨ uße zu stellen. Na los! Mach ein Foto von mir! rufe ich ihm w¨ utend zu, w¨ahrend meine Knie nachgeben. Nicole kommt an Bord gekrochen. Gibt ein sch¨ones Bild! Emily nimmt meinen Arm und zerrt mich an Michael vorbei, aber ich drehe mich um und schreie u ¨ber die Schulter: Vielleicht kannst du das ja f¨ ur deine Brosch¨ ure gebrauchen! Dann muß ich mich u ¨bergeben.
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Siebtes Kapitel
Oh mein Gott, st¨ohne ich. Habe ich mich jetzt vor allen Leuten zum Narren gemacht? Ich kann mich kaum an das letzte Mal erinnern, als ich richtig betrunken war. Die Kontrolle so vollst¨andig zu verlieren ist definitiv nicht mein Stil. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob ich mein derzeitiges Elend dem verschleppten Jetlag, dem Ouzo, meiner Medizin oder meiner Verfassung zuzuschreiben habe. Wenigstens weiß ich diesmal, daß mein h¨ammernder Kopfschmerz auf etwas anderes als meinen gesundheitlichen Zustand zur¨ uckzuf¨ uhren ist. Definiere >alle Leute<, sagt Eric. Wenn du mit allen Leuten alle Leute meinst, nein. Wenn du mit allen Leuten jemand ganz Bestimmten meinst, dann ja. Ich w¨ unschte, ich k¨onnte einfach hier sitzen und mein Mittagessen genießen, aber ich f¨ uhle mich miserabel. Das ist Shirleys Schuld, behaupte ich. Ganz genau – schieb nur alles Shirley in die Schuhe, best¨arkt mich Eric. Nick, mach dir keine Gedanken, Michael hat u ¨berhaupt nichts bemerkt, meint Emily tr¨ostend und wirft Eric einen vernichtenden Blick zu. Es ist mir v¨ ollig egal, was Michael denkt, damit ihr es nur wißt. Dann ist es ja gut. Eric zuckt mit den Schultern.
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Gestern abend ist die Circe nach Santorin gesegelt. Von der Terrasse des Hotels Atlantis, wo wir unser Mittagsmahl einnehmen, blicken wir auf den scharfen Kontrast zwischen dem Kobaltblau des Ozeans und den weißen H¨ausern am Berghang mit ihren flachen oder kuppelf¨ormigen D¨achern, die f¨ormlich herunterzurollen drohen und abrupt am Ufer enden. Die Geb¨aude hier sind so weiß, daß sie wie gebleicht wirken, die ganze Stadt scheint in dreihundert Meter hohe vulkanische Klippen gemeißelt zu sein, die rauh, trocken, baumlos und terrakottabraun in die H¨ohe ragen. Am meisten beeindruckt diese scheinbar unendliche, spektakul¨are Aussicht, wenn man von der Insel auf die See hinaus blickt. Sobald ich den Kopf drehe, bietet sich mir ein anderes, perfekt f¨ ur eine Postkarte ¨ geeignetes Motiv: die Ag¨ais, Kaskaden von Bougainvillea und Geranien, W¨ande aus Lavagestein, Kirchenkuppeln so blau wie der Himmel und das Meer. Ich weiß, daß ich diese Bilder in mich aufnehmen sollte, aber im Augenblick sehe ich vor meinem geistigen Auge nur Michaels Gesicht. Eric st¨oßt mich an, als wir das Hotel verlassen, um die Insel zu erkunden. Na, Nick, brauchst du etwa deine Pillen? Was? Irgend etwas stimmt nicht mit dir. Ich stelle fest, daß ich tats¨achlich wie abwesend u ¨ber die schwarzen Pflasterwege wandere. Sonst bin ich ganz anders, verfolge immer einen Plan, von Zeitvorgaben getrieben, auf ein Ziel fixiert. Andererseits bin ich ja auch nicht mehr ich. Pl¨otzlich bahnt sich ein Motorrad seinen Weg durch die belebten Straßen und stoppt vor uns. Es ist Michael. Emily und Eric tauschen einen vielsagenden Blick aus und verschwinden in eine Seitengasse. 96
Du solltest hier nicht anhalten, sage ich. Der Kapit¨an k¨onnte uns sehen. Er ist an Bord. Ich muß mit dir reden, Nicki. Bevor du anf¨ angst, sage ich ihm, sollst du wissen, daß ich dich verstehe. Wir m¨ ussen nicht zusammensein. Weißt du, f¨ ur mich ist das hier ist nur ein Urlaub. F¨ ur dich ist es dein Job, dein Leben. Geht es dir wieder besser? Ich habe mir Sorgen gemacht. Gestern sahst du gar nicht gut aus. Ich glaube, ich habe es nur mit dem Ouzo u ¨bertrieben. Das kann auf los leicht passieren – wie ich aus eigener Erfahrung weiß. Ich seufze. H¨or zu, Michael. Danke der besorgten Nachfrage, aber es geht mir gut. Es ist im Grunde ganz einfach. Ich will dir nichts verderben. Er schwingt sich vom Motorrad und kommt auf mich zu. Ich habe es mir bereits verdorben. Seit gestern bin ich auf Bew¨ahrung. Und weißt du, was mir klargeworden ist? Es kann nur schlimmer werden. Schlimmer? Was willst du damit sagen? Er streckt den Arm nach mir aus, ber¨ uhrt meinen Nacken und beugt sich zu mir. Wir k¨ ussen uns. Und k¨ ussen uns. Ja, fl¨ ustere ich. Ich weiß, was du meinst. Aber. . . Seine Stimme mit den perfekten, einzeln betonten Silben klingt sanft in meinem Ohr: Ich habe eine Grundregel. Ich lasse mich nie mit Passagieren ein. Ich bin hier, um mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Punkt. Recht so. Und ich habe nicht die Absicht, mich u ¨berhaupt mit jemandem einzulassen. Ich habe diese Reise nur gebucht, weil ich einen Tapetenwechsel brauchte und mich am¨ usieren will. Michael nickt. In Ordnung. Also auf Wiedersehen.
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Auf Wiedersehen. Keiner von uns bewegt sich. Ciao. Ciao. Das war nur ein Abschiedskuß, behauptet Michael. Stimmt’s? Stimmt. Wir k¨ ussen uns schon wieder.
Unglaublich, aber wahr, ich bin noch nie Motorrad gefahren. Es ist ein phantastisches Gef¨ uhl, hinter Michael zu sitzen, mich an ihm festzuklammern, als ob wir vor irgend etwas fliehen. Wir lassen die Stadt hinter uns, fahren am schwarzen Strand von Kamari vorbei mit seinem dunklen Muschelufer und den aufgereihten blauen und weißen Sonnenschirmen, dann geht es den H¨ ugel hinauf, durch Weinberge, und schließlich nehmen wir eine Reihe von Haarnadelkurven. Das Motorrad legt sich gef¨ahrlich weit auf die eine Seite und dann auf die andere. Oh Gott, Michael, vielleicht sollten wir etwas langsamer fahren. Wir k¨ onnten den Berg auch auf einem Esel erklimmen, weißt du, ruft er mir u ¨ber die Schulter durch den Fahrtwind zu. Der arme Esel! Ich schließe die Augen und vergrabe meinen Kopf an Michaels Schulter. Mein Haar flattert und schl¨agt mir ins Gesicht. An einem von Olivenb¨aumen u ¨berschatteten Flecken Wiese halten wir an. Michael stellt das Motorrad unter einen großen, knorrigen Baum, der mindestens hundert Jahre alt sein muß. Wir sind da, verk¨ undet er. Aus einem B¨ undel auf dem Motorrad zaubert er Wein und in Papier eingewickelte Spezialit¨aten. Lunch. Wir legen uns unter den Baum und packen K¨ase und Brot aus. Es ist still. Ein paar Au98
tos fahren vorbei, tief unter uns liegt das Wasser ruhig und klar wie eine Lagune. Als ich durch die gr¨ unen Bl¨atter nach oben schaue, wird mir ein bisher unbekanntes Gef¨ uhl bewußt – Frieden. Wie lange habe ich mich in einem Hamsterrad abgestrampelt und bin von der Schule zum Job oder sonstwohin gehastet, ohne an etwas anderes zu denken, haupts¨achlich weil ich mich sonst mit meinen Gef¨ uhlen meiner Familie gegen¨ uber h¨atte auseinandersetzen m¨ ussen? Diese Ruhe, dieser Einklang mit mir selbst ist eine ganz neue Empfindung f¨ ur mich. Sie gef¨allt mir. Ich breche ein St¨ uck Brot ab, w¨ahrend Michael Wein in Plastikbecher gießt. Weißt du, es kommt mir so vor, als ob ich mich immer auf etwas vorbereitet habe, ge¨ ubt, mich geplagt. Nie hatte ich Zeit, wirklich etwas zu tun. Ich habe mich immer nur vorbereitet. Worauf? Das weiß ich auch nicht. Aber was immer es war, es ist nie dazu gekommen. Nun, sagt Michael, auf diese Weise kann man die Dinge vor sich herschieben. Was meinst du damit? Ich merke, daß ich mich verteidigen will. Zwanzig Stunden in der Woche kellnern und den Vorbereitungskurs auf das Jurastudium w¨ urde ich nicht unbedingt aufschieben nennen. Er gibt mir ein Glas Wein. Aber wie das hier war es auch nicht, oder? Nichts ist wie das hier. Er hat es gewußt. W¨ ahrend er eifrig damit besch¨aftigt war zu leben, bin ich dem Leben aus dem Weg gegangen. Oder zumindest dieser Art von Leben. Du scheinst mich gut zu kennen, aber du erz¨ahlst mir u ¨berhaupt nichts von dir. Das ist unfair. Ich weiß noch nicht einmal, ob du auf dem College warst. 99
Er nimmt seine Kamera. Das hier war meine Universit¨at. Wenn ich durch den Sucher schaue, bin ich Student – ich studiere die Natur, Menschen, Orte. Aber die Fotografie ist f¨ ur mich mehr als das. Sie hat mir alles gebracht, was ich mir gew¨ unscht habe, hat mich aus Leeds herausgef¨ uhrt. Und jetzt bin ich hier dank der Fotografie. Als K¨ unstler bist du frei. Ich vermute, du bist frei von Beziehungen. Das ist eine rhetorische Frage, und zugleich – ich merke es, sobald ich sie ausspreche – eine dumme. Wie kann ein so attraktiver Mann wie Michael Schuster keine Beziehung haben? Ich ersticke fast an den Worten. Oder gibt es eine Frau in deinem Leben? Eine Freundin zu Hause? Schlimmer, sagt er. Eine Ehefrau. Eine Ehefrau. Oh Gott. Du bist verheiratet. Halt, halt. War verheiratet. Vergangenheitsform. Eine Exfrau? Er nickt. Ich war einundzwanzig, sie ein achtzehnj¨ahriges aufstrebendes Model. Leider strebte sie ziemlich bald an mir vorbei. Na ja, es war nicht ihr Fehler. Ich kam zu dem Schluß, daß keiner von uns beiden verheiratet sein sollte. Eigentlich haben wir einander nur benutzt. Ich konnte mir durch die Heirat vorgaukeln, daß ich ein eigenes Leben h¨atte, unabh¨angig w¨are. Und sie konnte sich einbilden, eine Karriere zu haben. Ich nippe am Wein. Und jetzt? Ein Achselzucken. Es ist vorbei. Vielleicht werde ich eines Tages verstehen, was schiefgelaufen ist, aber im Augenblick versuche ich, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Man kann nur eines tun. Aber ich werde es schaffen. Schließlich haben wir es nicht eilig, oder? Was soll ich darauf antworten? Ist dies der richtige Zeitpunkt, um es ihm zu sagen? Vergiß es. Ich versuche, 100
die Vorstellung beiseite zu schieben, aber irgendwie zerreißt mich der Gedanke, ich bringe kein Wort heraus. Was ist los? Michael legt seinen Arm um mich. Nichts. Ich hatte nur nicht damit gerechnet. Womit? Gl¨ ucklich zu sein. Warum nicht? Du studierst bald Jura, du wirst eine tolle Juristin. Woher weißt du, daß ich u ¨berhaupt etwas werde? Das habe ich sofort gesehen, durch meine Kamera. Einer Kamera kann man nichts vormachen. Niemand kann das. Sie blickt direkt durch dich hindurch. Du kannst dich nicht verstecken. Er richtet den Sucher auf mich. Ich sehe deine Ungeduld, deine Leidenschaft, deine Ehrlichkeit – nicht nur deine Sch¨onheit. Oje. Er glaubt, daß ich ehrlich bin. Jetzt f¨ uhle ich mich wirklich elend. Vielleicht siehst du nicht alles. Was siehst du noch? Ich sehe nicht, warum du so weit hinausgeschwommen bist und dich in Gefahr gebracht hast. Es war ein Versehen. Du wirkst nicht wie ein Mensch, dem viele Versehen unterlaufen. Aus irgendeinem Grund warst du sehr aufgebracht. Ich bin dar¨ uber hinweggekommen. Wirklich. Hin und wieder muß man ein Risiko eingehen. Daß wir hier jetzt so sitzen – das ist ein Risiko, oder nicht? Ich glaube, es ist h¨ochste Zeit, daß ich ein paar Dinge tue, die ich nicht eingeplant hatte. Bist du dir sicher? Nat¨ urlich bin ich mir sicher. Michael legt die Kamera hin, springt auf und greift nach meiner Hand. Dann laß uns schwimmen gehen. Jetzt gleich. Er zieht mich auf die F¨ uße. 101
Du machst wohl Witze! Zwischen uns und dem Ozean liegen steile Klippen. Risiko, weißt du noch? Er zieht mich n¨ aher an den Rand der Felsen. Sie fallen gut zwei Stockwerk tief ab. Nein, ich m¨ ochte nicht. Sag mir einen guten Grund. Hmmm – was ist mit Haien? Ein großer Schwarm, der direkt um diese Klippen kreist, genau an der Stelle, an der ich ins Wasser eintauche. Ich kann das nicht. Doch, du kannst. Ich bin schon einmal gesprungen. Ich habe gesehen, wie kleine Kinder von genau dieser Stelle ins Wasser geh¨ upft sind. Stell dir einen besonders hohen Sprungturm vor. Wir st¨ urzen uns einfach ins Wasser und schwimmen an Land. Siehst du, da sind die Stufen; wir k¨onnen direkt wieder heraufklettern und es noch einmal versuchen. Komm schon, du kannst es! Er zieht sein T-Shirt u ¨ber den Kopf und streift die Schuhe ab. Ich habe H¨ ohenangst, wehre ich mich. Das war gestern. Ich nehme die Treppe nach unten und treffe dich am Ufer. Komm schon, halte einfach meine Hand. Ich ziehe meine Shorts und Sandalen aus. Eins, zwei. . . wir springen zusammen. Du springst mit mir, in Ordnung? Ich schaffe es. Tief durchatmen. In Ordnung. Drei! Er h¨ alt meine Hand, wir rennen zur Kante der Klippe und springen zusammen. Pl¨otzlich fliege ¨ aische Meer zu und ich schreiend und lachend auf das Ag¨ f¨ urchte mich u ¨berhaupt nicht. Als wir auftauchen, halten wir uns immer noch an den H¨anden, und Michael zieht mich an sich heran. Siehst du, was habe ich dir gesagt? Du hast keine H¨ohenangst. Ich reibe das Wasser aus meinen Augen. Nicht mehr.
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Haben Sie schon einmal jemanden im Wasser gek¨ ußt? ¨ Oder noch besser, in der Ag¨ais? Das ist ungef¨ahr so, als ob man sich in einem Seidenkokon k¨ ußt. Eine Zeitlang schweben wir auf dem R¨ ucken, Arme zur Seite gestreckt, unsere Finger ber¨ uhren sich kaum, und sprechen nicht – schauen nur in den Himmel. Dann schwimmen wir an das felsige Ufer, klettern aus dem Wasser und sitzen in der Sonne. Michael findet ein paar Steine und l¨aßt sie u ¨ber die glatte Oberfl¨ache des Wassers h¨ upfen. Er gibt mir einen. Vulkangestein , sagt er. Vollkommen glatt und flach. Ein sch¨ oner Stein, zu h¨ ubsch, um wieder ins Wasser geworfen zu werden. Ich halte den Stein fest und streichle ihn. Vielleicht bringt er mir Gl¨ uck. Der Geschmack von salzigen K¨ ussen bleibt noch lange im Mund – viel l¨anger als bei K¨ ussen an Land. Deshalb, so sage ich mir, sp¨ ure ich Michaels K¨ usse noch am Tag nach unserem k¨ uhnen Felsensprung auf meinen Lippen. Zugegeben, ich habe gesehen, wie ein Zw¨olfj¨ahriger Minuten nach uns denselben Sprung wagte, aber f¨ ur mich war das, was wir getan haben, wirklich eine mutige Tat. Genau wie die K¨ usse. Wie soll ich das Risiko erkl¨aren, sich der Liebe zu ¨offnen, wenn man weiß, daß sie keine Zukunft hat? Ich schmecke die K¨ usse immer noch, als ich mich durch das Labyrinth des Schiffes auf die Suche nach Michaels Kabine begebe. Mir ist klar, daß dies der Mannschaftsbereich ist und ich hier nichts zu suchen habe, aber die meisten Crewmitglieder sind f¨ ur das heutige Kapit¨ansdinner in Bereitschaft. In der Cocktaillounge habe ich festgestellt, daß Michael noch fehlte, daher habe ich beschlossen, ihn zu suchen. Außerdem m¨ochte ich seine Kabine sehen. 103
An der T¨ ur mit seinem Namensschild klopfe ich an. Herein, ruft er durch die T¨ ur. Ich ¨offne sie und laufe direkt in ein schwarzes Bettlaken. Ich schließe die T¨ ur hinter mir, ziehe das Laken beiseite und werde von einer Welle roten Lichts umh¨ ullt. Blinzelnd erkenne ich, daß Michael in dem winzigen, vollgestopften Raum mit dem einzelnen, engen Bett unter einer schr¨agen Wand voller Fotos u ¨ber ein kleines Waschbecken gebeugt steht. Er entwickelt Bilder. Hi. Ich lege meinen Arm um seine Taille. Nick, was machst du hier? Das ist keine gute Idee. Er dreht sich zu mir um und k¨ ußt mich trotzdem, diesmal auf die Wange. ¨ Ist das deine Arbeit? Uber dem Waschbecken h¨angt eine lange Reihe von Abz¨ ugen. Ich entdecke einen von mir, wie ich die Rose ins Wasser werfe, als das Schiff aus dem Hafen ausl¨auft. Wie hat er das nur geschafft, ohne daß ich etwas gemerkt habe? Oder, andersherum, wie tief war ich in meine Gedanken versunken? Manche sind ziemlich interessant geworden, sagt er und h¨alt eine große Schwarzweißaufnahme von Marie Antoinette hoch. Sie sind unglaublich. Bis auf diese. Ich zeige auf die Fotos von mir. Nachdem sich meine Augen an das Rotlicht gew¨ohnt haben, entdecke ich u ¨berall an der Wand Bilder von mir. Wann hat er sie nur aufgenommen? Eigentlich sind mir die Fotos von dir am liebsten. Was den Rest angeht, ist die Jury gerade ausgeflogen. Ich betrachte die Bilder an der Wand. Selbst in dem roten Licht kann ich erkennen, daß sie wunderbar sind. Aber vor allem sehe ich, wie sehr Michael seine Arbeit liebt. Michael, du bist sehr begabt. Selbst ich kann das erkennen, also mußt du unglaublich viel Talent haben. 104
Du nimmst so viel wahr. Was halten andere Leute von deiner Arbeit? Die kommerziellen Sachen – nun, ich werde immer wieder engagiert. Und mit den anderen habe ich noch nicht viel versucht. Worauf wartest du? Ich will eine Mappe zusammenstellen, das habe ich dir doch schon erz¨ahlt. Hm. Und wie lange hast du das schon vor? Worauf willst du hinaus, Nicki? Das dauert seine Zeit. Ungeduldig r¨aumt er das Waschbecken auf und schaltet die rote Lampe aus. Ich muß erst soweit sein. Einen solchen Schritt kann man nicht erzwingen. Hast du mir nicht erz¨ ahlt, daß man einfach drauflosgehen soll und sein Leben leben? Es hat keinen Sinn, etwas f¨ ur sich zu behalten. Es z¨ahlt nicht, wenn es niemand sieht. Seine Kiefermuskeln arbeiten. Du hast Angst? Wovor sollte ich Angst haben? Das ist l¨ acherlich. Komm schon. Ich muß in die Lounge. Der Kapit¨an sucht mich bestimmt schon. Einen Augenblick noch. Ich lege meine Hand auf seine. Weißt du, wir alle f¨ urchten uns vor Ablehnung. Aber selbst wenn das passieren sollte, hast du etwas gelernt. Betrachte es einmal so – es ist nicht schlimmer, als von einer Klippe zu springen. Du meinst also, ich sollte springen? Springen? Du solltest dich mit diesen Bildern ganz einfach hinunterst¨ urzen! Du solltest dich ins Zentrum der Fotowelt werfen, die wichtigen Leute kennenlernen, einen Agenten suchen, dir einen Namen machen. 105
Michael l¨achelt, dann beginnt er zu lachen. Also spricht mein furchtloser H¨auptling. Spring, Michael! Ich verspreche dir, du wirst es u ¨berleben. Nun, im Augenblick muß ich erst einmal ein paar Partybilder machen – Paare auf der Tanzfl¨ache, eine Gruppe Passagiere, die u ¨ber ihren Drinks strahlt, ein paar Aufnahmen von der Band, ein Limbo-Wettbewerb, eventuell ein Stilleben vom Buffet. Sehr k¨ unstlerisch. H¨ or auf, dich selbst abzuwerten. Er kommt her¨ uber und schließt mich in die Arme. Du glaubst wirklich an mich, nicht wahr? Vielleicht deshalb, weil du absolut keine Ahnung von der Welt der Fotografie hast. Aber es ist trotzdem sch¨on, dir zuzuh¨oren. Das sind keine leeren Worte, ich bin davon u ¨berzeugt. Ich ziehe ihn enger an mich. Es ist die Wahrheit. Und tief im Herzen weißt du es auch. Wenn ich es nicht besser w¨ ußte, w¨ urde ich dir fast glauben. Du solltest mir lieber glauben. Was h¨ alt dich davon ab? Nun, sagen wir einmal, daß bisher die Reaktionen auf meine Arbeit nicht gerade u ¨berw¨altigend waren – wie meine Exfrau betonte, als sie mich verließ, nachdem ich ihr keine Titelfotos verschaffen konnte. Titelfotos? Na und? Jedes Bild an diesen W¨ anden – mit Ausnahme von ein paar mit einem etwas dubiosen Motiv – ist hundertmal besser als alle Titelfotos, die ich kenne. Und, entschuldige, hat sie mal dar¨ uber nachgedacht, daß es vielleicht an ihr gelegen haben k¨onnte? Er l¨achelt reuevoll. Das bezweifle ich. Tu nichts f¨ ur sie oder gar f¨ ur mich. Tu es nur f¨ ur einen einzigen Menschen – f¨ ur dich! Die Art, wie ich ihn bedr¨ange, u ¨berrascht mich selbst. Ich weiß, daß ich die106
sen Mann nicht dazu zwingen kann, etwas in einer Sache zu unternehmen, von der ich u ¨berhaupt keine Ahnung habe – seiner Karriere. Aber vielleicht kann ich ihm wenigstens einen Denkanstoß geben. W¨are das nicht schon viel? Etwas zu bewirken? Bitte. Wenn du mich so nett bittest. . . Wir k¨ ussen uns, und da ist er wieder – der salzige Geschmack. Aber diesmal sind es meine Tr¨anen, weil ich weiß, egal was mit Michael passiert, es wird nie ausreichen, um die Dinge zwischen uns vollkommen zu machen. Schnell, bevor er sehen kann, daß ich weine, vergrabe ich meinen Kopf an seiner Schulter. Michael schaltet das Licht in der Kabine aus, und wir treten auf den Gang hinaus. Wir wissen, daß man uns nicht zusammen sehen darf. Er muß jetzt arbeiten, also werde ich zu Eric und Em stoßen, aber ich glaube, uns ist beiden klar, daß wir mehr u ¨berschritten haben als nur seine T¨ urschwelle.
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Achtes Kapitel
Auf unserer Reise lerne ich viel mehr u ¨ber die griechischen Inseln, als ich erwartet hatte. So widmen wir bei unserem zweit¨agigen Aufenthalt auf Kreta zum Beispiel einen Tag dem Strand und den anderen Tag den Ruinen des Palastes von K¨onig Minos – der Legende nach Heimat des ber¨ uchtigten Minotaurus, eines Wesens, das halb Mensch, halb Stier gewesen sein soll. Emily f¨ uhlt sich durch den Minotaurus an einige M¨anner erinnert, die wir kennen – dickk¨opfig, gef¨ uhllos und nur zur H¨alfte menschlich. Wie Tim zum Beispiel, f¨ ugt sie erkl¨arend hinzu. Ich weise darauf hin, daß Michael ganz anders ist. Nat¨ urlich, antwortet sie. Er ist ein Gott. Endg¨ ultig werde ich es nie herausfinden. F¨ ur mich ist Michael eine Urlaubs-Fata-Morgana, wie das Bild eines Menschen, das f¨ ur die Dauer eines unterhaltsamen Films auf die Leinwand projiziert wird, und das war’s. Diese Beziehung hat keine Zukunft, ich weiß, daß ich sie einfach genießen sollte, solange sie dauert. Mehr wird es nicht geben. Akzeptiere es, M¨adchen! Wenn ich ihn nicht auf ¨ ais im wirklichen dem Schiff, sondern außerhalb der Ag¨ Leben getroffen h¨atte, w¨ urde sich Michael vielleicht auch als Minotaurus entpuppen. Kreta ist eine große Insel, und Michael kennt einen versteckten Strand, wo uns niemand vom Schiff begeg109
nen d¨ urfte. Mittags liegen wir nebeneinander auf gestreiften Strandlaken, Michaels Kamera ruht ausnahmsweise in ihrem Futteral. Rings um uns herum sehe ich Familien, Eltern und Kinder. Kinder und Kinder. Großeltern. Zwischendrin Michael und ich. Weißt du, sage ich, als ich noch klein war, sind meine Eltern mit mir an den Strand gefahren, das war, bevor sie sich getrennt haben. Nach der Trennung war nichts mehr wie fr¨ uher. Manchmal w¨ unschte ich mir, ich k¨onnte zu ihnen zur¨ uckkehren. Ich w¨ unsche mir, auf eine Zeitreise in die Vergangenheit zu gehen und meine Familie wiederzubekommen. Michael st¨ utzt sich auf einen Ellenbogen. Aber du hast sie doch, oder nicht? Nat¨ urlich habe ich sie. Ich meine, sie sind da. Ich weiß, daß sie mich lieben. Aber es gibt so viel Ballast. Es ist schwer, damit zu leben. Meine Eltern streiten st¨andig, und mein Vater ist Spezialist daf¨ ur, sich rar zu machen. Wie das? Er verschanzt sich hinter seiner Arbeit. Das k¨ onnte dir nat¨ urlich niemals passieren, hab ich recht? Und wie recht er hat! Ich habe genau das getan, was ich an Dad so verabscheue. Vielleicht solltest du ihnen noch eine Chance geben und abwarten, was passiert. Oh, es gab Dutzende von Chancen. Mein dreizehnter Geburtstag – Dad schaffte es nicht, rechtzeitig aus London zur¨ uckzukommen. Weihnachten, das Jahr spielt keine Rolle – nach unserer Familientradition wird unter dem Weihnachtsbaum gestritten. Mein High-School-Abschluß – Mom mußte sich wegen eines Vertragsabschlusses vorzeitig verabschieden. 110
Nun, einer alleinerziehenden Mutter darfst du daraus keinen Vorwurf machen. Immerhin war sie auf sich gestellt. Ein kleiner Junge in Justins Alter rennt hinter seinem Ball her ins Wasser. Weißt du, Michael, mein Stiefbruder Justin ist im gleichen Alter, und ich war noch nie mit ihm am Strand. Im Grunde kenne ich ihn kaum. Er ist ja noch klein. Dir bleibt noch viel Zeit, um eine Beziehung zu ihm aufzubauen. Das verschl¨agt mir die Sprache. Es ist komisch, sagt Michael. Wir sind beide vor unseren Familien davongelaufen, wenn auch aus unterschiedlichen Gr¨ unden. Nicki, letzten Endes sind unsere Familien alles, was wir haben. Das ist mir jetzt klargeworden. Ich mußte Leeds erst verlassen, um das zu begreifen. Du solltest Justin besser kennenlernen. Ich hatte einen Bruder – wir haben uns st¨andig gestritten, aber ich w¨ urde alles darum geben, wenn er noch bei uns sein k¨onnte. Wie meinst du das? Ich war neun, er sechs. Unsere Mutter bat mich, auf ihn aufzupassen. Wir haben im Garten vor dem Haus gespielt, und ich habe nicht gemerkt, daß er weglief. Pl¨otzlich tauchte aus dem Nichts ein Auto auf. Ein Schauer l¨auft mir den R¨ ucken hinunter, und ich ber¨ uhre seinen Arm. Das war nicht dein Fehler. Ich werde es mir nie verzeihen. Es tut mir so leid. Vielleicht ist das der wahre Grund, warum du von zu Hause weg wolltest. Er seufzt. Vielleicht. Aber wir wissen nie, was auf uns zukommt. Wir sollten lernen, die Menschen in unserer Umgebung zu sch¨atzen, solange sie noch da sind. Nimm deinen kleinen Bruder mit an den Strand, wenn du wieder zu Hause bist. Und umarme ihn ganz fest von mir.
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Ich denke an die Umarmungen, die ich vers¨aumt habe. Und obwohl Griechenland wundersch¨on ist und Michael ein wunderbarer Mann, w¨ unsche ich mir in diesem Augenblick nichts sehnlicher, als am Strand von Evanston zu sein und Justin ein Frisbee zuzuwerfen. Auf der Circe quetschen mich Emily und Eric nach Einzelheiten aus. Ich darf mich nicht wundern – in letzter Zeit bin ich nicht sehr mitteilsam gewesen. Ich k¨onnte ihnen erz¨ahlen, daß ich mich noch nie in meinem Leben mit einem Mann so wohl gef¨ uhlt habe, daß mich Michael dazu bringt, meine Gedanken und Gef¨ uhle in einem ganz neuen Licht zu sehen. Daß er etwas tief in meiner Seele ber¨ uhrt hat, dessen Existenz mir noch nicht einmal bewußt war. Oder wie unfair es ist, daß ich diesen Mann erst jetzt getroffen habe, wo es schon zu sp¨at ist. Aber ich weigere mich, all das zu sagen. Wenn ich mir derartige Gedanken erlaube, verliere ich den Verstand, und angesichts meiner derzeitigen Lage ist mein Verstand ein Besitz, auf den ich lieber nicht verzichten m¨ochte. Also verrate ich ihnen nur das N¨otigste. Ich will mich hier am¨ usieren, setze ich Emily auseinander, w¨ahrend ich unsere Kabine betrete. Mehr nicht. Also kein Grund zur Aufregung. Emily z¨ undet sich eine Zigarette an. Heute hat sie etwas wirklich Radikales mit ihrem Haar veranstaltet, n¨amlich gar nichts. Sie tr¨agt es schlicht hinter die Ohren gek¨ammt. Wir fragen uns nur manchmal, wo du bist, das ist alles. Machst du die bitte wieder aus? Ich werde nicht mit ansehen, wie du deine Gesundheit ruinierst. Das kannst du dir nicht mehr erlauben. Sie dr¨ uckt die Zigarette aus. Wirst du mir endlich erz¨ahlen, was da eigentlich l¨auft? 112
Gar nichts l¨auft. Bis zu einem gewissen Punkt entspricht das der Wahrheit, denn wenn ich nachts einschlafe, liegt Emily neben mir im Bett. Vielleicht solltest du es einfach ein bißchen langsa¨ mer angehen lassen, Nick. Ubernimm dich nicht. Warum sollte ich mich schonen? Laß uns gehen. Michael unterrichtet Windsurfen.
Die Frage lautet: Wie kommt eine durch und durch unsportliche Person wie ich dazu, sich an ein Segel zu klammern und einen Kilometer vom Ufer entfernt u ¨ber die Wellen zu schweben? Antwort: Wenn ich jemals surfen will, dann heißt es jetzt oder nie. Irgendwo in der Entfernung erkenne ich verschwommen Land, aber ich konzentriere mich darauf, mich einfach festzuhalten. Meine Arme umfassen das Segel, und mein K¨orper beugt sich im erforderlichen Winkel, damit das Brett nicht gegen die Wellen klatscht. Hoffentlich schauen Em und Eric in diesem Augenblick zu, denn es sieht ausnahmsweise so aus, als ob ich w¨ ußte, was ich hier tue. Ich lasse mit einer Hand los und winke, w¨ahrend ich an der Badeplattform am Heck des Schiffes vorbeiziehe, wo Emily an der Reling steht. Michael ist in einem kleinen Boot unterwegs und macht Bilder. Pl¨otzlich sp¨ ure ich, wie das Brett unter meinen F¨ ußen wegsaust, das Segel aus meiner Hand gezerrt wird und ich ins Wasser falle, dabei schlage ich mit dem Kopf auf dem Brett auf. Eine lange Sekunde bin ich benommen, unter Wasser verloren, desorientiert, dann sp¨ ure ich einen Ruck am R¨ ucken. Michael hat mich am T-Shirt gepackt wie eine Mutterkatze ihr Kleines am Nacken und zerrt mich in sein Boot. Prustend komme ich hoch. Was ist passiert? 113
Der Wind hat sich gedreht. Nicki! Alles in Ordnung? Eric schwimmt uns von seinem Surfboard aus entgegen. Oh Gott, sie blutet! Sie hat sich den Kopf am Brett gestoßen, erkl¨ art Michael. Mein Brett treibt seitlich im Wasser, das Segel erinnert an einen aufgeplatzten Ballon. Als ich meine schmerzende Stirn abtaste, ist meine Hand blutbeschmiert. Wir m¨ ussen sie aufs Schiff bringen, bestimmt Eric knapp und klettert in Michaels Boot. Es war doch nur ein kleiner Schlag auf den Kopf, protestiere ich. Laß mich mal sehen. Eric schiebt mein Haar zur¨ uck und starrt auf meine Stirn. Sieht wie eine oberfl¨achliche Wunde aus. So etwas darf man nicht untersch¨atzen. Deine Pupillen sind nicht erweitert. Am besten gehst du an Bord und schonst dich f¨ ur den Rest des Tages. Vielleicht sollten wir den Schiffsarzt holen? Meine Stirn brennt, aber ansonsten ist alles in Ordnung. Warum denn das? Ich glaube, es ist wirklich nichts Schlimmes, eilt Michael mir zu Hilfe. Ach ja, und du bist wohl der Experte. H¨ or zu, Mi chael, du verlangst ihr zuviel ab. Es war nur ein kleiner Unfall. So etwas kommt immer wieder vor. Ich glaube, du u ¨bertreibst ein bißchen. Ich mache weiter, verk¨ unde ich und versuche, das Surfboard aufzurichten. Surfen ist wie Fahrradfahren – wenn man runterf¨allt, muß man sofort wieder aufsteigen. Wenn die Herren mich jetzt bitte entschuldigen w¨ urden. Nick. . . , fleht Eric und streckt den Arm nach mir aus.
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Laß sie gehen, f¨allt Michael ihm ins Wort. Sie ist nicht verletzt, sie will surfen, sie ist erwachsen. Warum willst du sie aufhalten? Ich lasse die beiden im Boot zur¨ uck und schwinge meine Beine m¨ uhsam wieder aufs Brett. Achte auf deine F¨ uße, ruft Michael. Stell das Brett in den Wind, w¨ahrend du das Segel anhebst. Ich folge seinen Anweisungen, das Segel f¨angt Wind, und schon bin ich wieder unterwegs. Vielleicht falle ich in einer Minute wieder ins Wasser, aber im Augenblick geh¨oren die See und der Himmel mir. Unfaßbar. Wenn ich es nicht besser w¨ ußte, w¨ urde ich glauben, es g¨abe ein Problem. Nach dem Windsurfen dusche ich, klebe ein Pflaster auf meine Stirn, schiebe ein Nickerchen ein und begebe mich dann auf die Suche nach Michael. Ich muß praktisch auf dem ganzen Schiff nach ihm fahnden und entdecke ihn schließlich im Fitneßraum, wo er Aufnahmen von einer Yogagruppe macht. Ich habe doch tats¨ achlich das Mittagessen verschla fen , sage ich. Aber es ist noch nicht zu sp¨at, um das Shuttle zu den Ruinen zu erwischen. Du f¨ahrst doch auch mit, oder? Die Kamera klickt. Ich glaube nicht. Ich muß noch ein paar Layouts fertigmachen. Ich bin im Verzug. Da f¨allt mir die Ver¨argerung in seiner Stimme auf. Moment mal. Du sagst das so, als ob es meine Schuld w¨are. Michael streicht sich das Haar aus dem Gesicht und starrt mich an. Der Ausdruck in seinen Augen ist k¨ uhl und sehr distanziert. Warum nur? Das hat nichts mit Schuld zu tun. Ich muß nur ein paar Sachen erledigen. Er greift in seine Weste und zieht einen neuen Film heraus. Du sagst mir nicht alles. Ich dachte, wir wollten ehrlich zueinander sein.
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Das k¨onnen wir hier jetzt nicht diskutieren. Michael nimmt meinen Arm und schaut mir direkt in die Augen. Ich dachte auch, daß wir ehrlich zueinander sein wollten, Nicole, aber ganz offensichtlich war das nicht der Fall. Er sieht so furchtbar verletzt aus. Ich f¨ uhle, wie sich mein Magen zusammenzieht. Was willst du damit sagen? Emily hat mir alles erz¨ ahlt. Ich danke dir, Emily, daß du mein Leben ruiniert hast, oder das, was davon u uhle ich ¨brig ist. In diesem Moment f¨ mich tausendmal schlimmer als im Krankenhaus. Mein Gott, er weiß es! Ich sehe es seinem Gesicht an. Was muß er von mir denken? Krank, todgeweiht und – noch schlimmer – eine L¨ ugnerin, wenn auch nicht direkt, so ¨ doch durch Unterlassung. Andert sich dadurch etwas f¨ ur dich? fl¨ ustere ich. Nat¨ urlich tut es das. Hast du wirklich etwas anderes erwartet? Mein Gott, Nicki, warum hast mir nichts gesagt? Ich dachte wohl, wir k¨ onnten einfach so weitermachen wie bisher. Nun, in Anbetracht der Umst¨ ande werden wir wohl nicht sehr weit kommen. In meinem Kopf habe ich eine Ansprache vorbereitet, dieselbe Ansprache, die seit Beginn unserer Beziehung wartet, sogar noch l¨anger. Im Grunde ist es ein Drehbuch, das ich im Krankenhaus f¨ ur Gelegenheiten wie diese entworfen habe, f¨ ur den Fall, daß ich entlarvt w¨ urde – als eine Betr¨ ugerin, die vorgibt, ein gesunder Mensch zu sein, eine menschliche Sackgasse, die sich als Frau mit einer Zukunft ausgibt. Allerdings war mir im Krankenhaus nicht bewußt, daß derartige Drehb¨ ucher in der wirklichen Welt nicht funktionieren. Hier funktioniert gar nichts.
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Und wenn Michael damit nicht zurechtkommt, will ich genausowenig mit ihm zu tun haben wie er mit mir. Na gut, in Ordnung, h¨ ore ich mich sagen. Ich danke dir, Michael Schuster. Du hast mir gezeigt, was f¨ ur ein Mensch du wirklich bist. Und damit ist es mir ernst. Ich gehe. Nachdem ich Michael den R¨ ucken gekehrt habe, ist Emily mein erstes Ziel. Ich entdecke sie in einem Liegestuhl auf Deck, wo sie mit Shirley Backgammon spielt. Emily, ich muß mit dir reden. Sie blickt nicht auf. Nicht jetzt. Ich verdopple gera de. Du meinst wohl, du treibst ein doppeltes Spiel. Ich kann mich nicht beherrschen. Ich betrachte die Frau, die behauptet, meine beste Freundin zu sein. Eine Verr¨aterin mit t¨atowiertem Fußgelenk. Emily sieht mich aus dem Augenwinkel an, bleibt jedoch stumm. Antworte mir! Ich weiß, daß du mit ihm gesprochen hast. Emily windet sich. Druck konnte sie noch nie vertragen. Ich kann nicht glauben, daß du es ihm gesagt hast. Du hattest es mir versprochen. Shirley sch¨ uttelt den Becher und l¨aßt die W¨ urfel rollen. Doppel! verk¨ undet sie. Pause, sagt Emily zu Shirley. Dann steht sie auf und blickt mir ins Gesicht. Ich habe nichts gesagt. L¨ ug mich nicht an! Shirley sch¨ uttelt den Kopf. M¨adels, M¨anner sind es nicht wert, daß man sich um sie streitet. Trinkt lieber eine Margarita, das ist viel ges¨ under. Genau, ich bin auf einem Gesundheitstrip. Der Gedanke l¨aßt mich laut auflachen, und ich kann mich nicht 117
bremsen – ich beginne, hysterisch zu kichern, Tr¨anen laufen mir die Wangen hinunter. Eric, der die Sonne nicht mag und unter Deck ferngesehen hat, bemerkt uns durchs Fenster. Jetzt kommt er auch herauf. Toll, das Patentrezept f¨ ur eine Szene. Eric ber¨ uhrt meine Schulter und fragt mit besorgter Stimme: Nick, ist alles in Ordnung? Sie hat es ihm gesagt, Eric. Was? Alles. Ich kann nicht glauben, daß sie ihrer besten Freundin so etwas antun konnte. Emily f¨ahrt sich mit den Fingern durch die Haare: ein untr¨ ugliches Zeichen f¨ ur ein schlechtes Gewissen. So reagiert sie immer, wenn sie in Bedr¨angnis ist. H¨or zu, Nicki, es ist nicht so, wie du glaubst. Was soll ich sonst glauben? Er weiß, daß ich sterbe. Er kann nicht damit umgehen. Genau wie Tim. Was hatte ich denn erwartet? Emily beginnt zu weinen. Ich schw¨ore dir, das habe ich ihm nicht gesagt. Ich habe Tim nur erw¨ahnt, weil ich dir helfen wollte. Jetzt bin ich v¨ollig verwirrt. Tim? Helfen? Em nickt sorgenvoll. Ich wollte nicht, daß etwas Schlimmes passiert. Moment mal. Tim? Eric h¨alt eine Hand hoch. Nicki, Emily hat Michael nichts u ¨ber deinen Gesundheitszustand verraten. Sie wollte nur, daß du dich ein wenig erholst – das war vielleicht unangebracht, aber mit deinem Verdacht bist du auf dem Holzweg. Ich habe einfach gedacht, du brauchst ein bißchen Ruhe, Nick, fleht Emily. Seit du Michael kennengelernt hast, hast du dir keine Pause mehr geg¨onnt. Ich wußte, daß du von dir aus nicht zur¨ uckschrauben w¨ urdest, 118
schließlich kenne ich dich, also dachte ich, vielleicht k¨onnte dir Michael ja eine kleine Verschnaufpause g¨onnen. Verstehe. Und was hat Tim damit zu tun? Ich – ich wußte nicht, was ich Michael sagen sollte. Schließlich habe ich etwas u ¨ber Tim und dich erfunden. Das war so nicht geplant, es ist mir einfach herausgerutscht. Es hatte auch eigentlich nichts mit Tim zu tun, ich suchte nur nach einem Grund, damit Michael dir etwas mehr Freiraum l¨aßt und du dich erholen und gesund werden kannst. Em schnieft und wischt sich die Tr¨anen ab. Vermutlich ist der Schuß nach hinten losgegangen. Sie greift nach meiner Hand. Kannst du mir verzeihen, Nick? Jetzt weinen wir beide, und es sieht so aus, als w¨ urde auch Eric gleich in Tr¨anen ausbrechen. Ich kann es nicht fassen. Wir sind die besten Freunde und gehen gemeinsam auf diese Reise, um die sch¨onste Zeit unseres Lebens zu genießen und zusammenzusein, und jetzt stehen wir hier in Tr¨anen aufgel¨ost und haben Gewissensbisse. Anstatt enger zusammenzuwachsen, verlieren wir den Kontakt zueinander. Genauer gesagt, ich habe den Kontakt zu meinen Freunden verloren. Darf ich Ihnen etwas verraten? Ich glaube, das ist einer der gr¨oßten Nachteile einer t¨odlichen Krankheit. Man wird unheilbar selbsts¨ uchtig, weil man weiß, daß man in absehbarer Zukunft nicht mehr existieren wird. Okay, Nicki, sage ich mir, du hast deine besten Freunde wie zwei menschliche Hutst¨ander benutzt – kommst rein, wirfst ihnen ein paar Worte zu und verschwindest wieder. Irre ich mich, oder klingt das irgendwie vertraut? Vielleicht ist es mir so gut gelungen, weil ich lange ge¨ ubt habe. An meiner Familie. Em, Eric – es tut mir so leid. Ich habe wohl nicht daran gedacht, wie schwer es f¨ ur euch sein muß. Als ich 119
euch hierher geschleppt habe, habe ich nur an mich gedacht. Ich habe keinen Gedanken an andere verschwendet. Die Situation kann f¨ ur euch auch nicht einfach sein. Ich glaube, ihr m¨ ußt mir verzeihen. Wir legen die Arme umeinander. Das war doch keine große Sache, Nick, sagt Emily und dr¨ uckt mich fest. Aber ich weiß es besser. Also, wirst du es Michael erz¨ ahlen? fragt Eric. Ich – ich weiß nicht. Mein Gott, es ist so schwierig. Manchmal glaube ich, daß leben schwieriger ist als sterben. Na also, ich habe es getan – ich habe das Wort mit s in den Mund genommen. Nachdem ich es einmal ausgesprochen habe, wirkt es weniger be¨angstigend. Shirley klopft Eric mit einem lackierten Fingernagel auf die Schulter. Habe ich etwas verpaßt? Wer stirbt? Ich blicke ihr direkt in die Augen. Sie versteht mich sofort. Eigentlich bin ich nicht der Typ f¨ ur ein gem¨ utliches Mittagsschl¨afchen, aber nach der ganzen Aufregung sinke ich ersch¨opft auf mein Bett. Eric gibt mir ein paar Tabletten, die mich sofort umhauen. Als ich wieder aufwache, ist bereits der n¨achste Tag angebrochen. Wir liegen im Hafen von Symi, einer kleinen, zerkl¨ ufteten Insel, ein weiteres Ziel auf unserer Kreuzfahrt. Aus dem Kabinenfenster sehe ich die weißget¨ unchte Hafenstadt mit ihren rechteckigen Geb¨auden und ein buntes Gewimmel von Freizeitund Fischerbooten. Aber eigentlich m¨ochte ich nur einen Menschen sehen. Michael ist an Deck und hilft der Besatzung des Wassertaxis. Michael. . . Ich w¨ urde ihn lieber allein sprechen, aber er ist offensichtlich besch¨aftigt. Er hat seine Kamera 120
und die große Tasche dabei und hilft den Passagieren in das kleine Boot. Michael, wir m¨ ussen reden. Weißt du was, sagt er kurz angebunden, es ist mir egal. Unsere Augen begegnen sich, dann schaut er weg. Er reicht Leinentaschen und Rucks¨acke ins Taxi. Sehr professionell. Trotzdem m¨ ussen wir reden. Ja, das m¨ ussen wir wohl. Ich habe nachgedacht. Das Shuttle f¨ahrt nach Agios Nikolaos. Dort k¨onnen wir reden. Heute abend habe ich frei. Er nennt mir den Namen eines Restaurants am Hafen, wo ich ihn treffen soll. Das Shuttle legt ab, und w¨ahrend ich noch dastehe und es auf seiner Fahrt ans Ufer beobachte, dreht Michael sich um und sieht mich an. Ich sp¨ ure ganz deutlich, daß es da noch etwas gibt, etwas, das nicht zerst¨ort werden kann. Jetzt weiß ich, daß wir es schaffen k¨onnen. Ich werde es ihm sagen. Ich werde es wirklich tun. Sicher, wenn man neben dem Mann, den man liebt, bei Kerzenschein in einer romantischen Taverne sitzt, in der Ferne die Circe vor Anker, von Heck bis Mast mit Tausenden von Lichtern beleuchtet, verlangt die Atmosph¨are eher nach Romantik als nach einem Gest¨andnis, aber das muß ich wohl ignorieren. Der Kellner schenkt uns Wein ein. Du mußt unbedingt den getrockneten Tintenfisch probieren, schl¨agt Michael vor. Wenn Michael es mir empfiehlt, w¨ urde ich sogar Moby Dick essen. Der Kellner zieht sich zur¨ uck, und wir sind allein. Ich atme tief durch. Ich wollte wirklich mit dir reden, Nicki, beginnt Michael und nimmt meine Hand. Ich habe mich ziemlich 121
schlecht gef¨ uhlt. Aber zuerst solltest du etwas wissen. Entschuldige, Michael, darf ich etwas sagen? Ich will keine Entschuldigungen von dir. Keine. Weil du recht hast. Was? Ich war ein bißchen gereizt wegen einer Sache, die du zu mir gesagt hattest. Du hast einen Nerv getroffen wie noch niemand zuvor. Ich durchforste mein Gehirn – was meint er nur? Du hast recht, Nicki. Ich kann es schaffen. Und ich habe einen neuen Plan – dank dir. Ich werde Studios in New York und London er¨offnen, f¨ ur einen internationalen Kundenstamm arbeiten. Schließlich bin ich in beiden Welten zu Hause. Nat¨ urlich werde ich in den n¨achsten paar Jahren st¨andig auf Reisen sein, um mir eine Basis zu schaffen, aber am Ende wird es sich bezahlt machen, glaubst du nicht auch? Was soll ich sagen – nur zu, Michael, gr¨ unde deine Firma, werde ein erfolgreicher Fotograf, aber k¨ ummere dich nicht um mich, ich werde leider nicht mehr dasein, um es zu erleben? Statt dessen antworte ich: Ganz bestimmt. Und l¨achle. K¨ onntest du nicht bei einer großen Kanzlei in New York anfangen, wenn alles gut l¨auft? Theoretisch schon. Ich nippe am Wein. Wenigstens l¨ uge ich nicht. Ich w¨ urde Michael nie anl¨ ugen. Sag die Wahrheit, aber nicht die ganze Wahrheit. Also, Nick, vielleicht haben wir das gleiche Programm? Eigentlich halte ich mich nicht mehr an Programme. Genau! Es gibt ja immer noch morgen, nicht wahr? Eben. Ich m¨ ochte einfach das genießen, was ich tue, w¨ahrend ich es tue. So wie ich jetzt bei dir bin. Das reicht 122
mir. Er dr¨ uckt meine Hand, aber ich bin ein bißchen benommen. Es macht Spaß, u ¨ber die Zukunft zu phantasieren. Wo siehst du dich in f¨ unf Jahren? M¨ochtest du Kinder, oder ist dir deine Karriere wichtiger? Kinder. Der Gedanke verschl¨agt mir den Atem. Ich sehe ein kleines M¨adchen mit Michaels Haaren und Augen. Einen Jungen mit der Nase meiner Mutter. Ruby und Alex. Ich kann das Bild nicht festhalten, die beiden verblassen wieder. Ich kann nicht an Kinder denken, fl¨ ustere ich. Er nickt. Ich weiß, was du meinst. Fr¨ uher bin ich davon ausgegangen, daß ich jetzt schon eine Familie haben w¨ urde. Inzwischen scheint sie in weiter Ferne zu liegen. Der Kellner setzt unsere Teller ab, aber Michael denkt noch nicht ans Essen. Lange Zeit habe ich gedacht, daß ich eines Tages Mutter sein w¨ urde, sage ich. Kannst du das glauben? Ich hatte sogar Namen f¨ ur die Kinder – Ruby und Alex. Klar, du w¨ arst eine tolle Mutter. Er grinst. Ich sch¨ uttle den Kopf. Nicht mehr. Meine Pl¨ane haben sich ge¨andert. Es ist nicht wichtig. Karrierefrau bis zuletzt. Das – k¨ onnte man so sagen. Ich greife nach dem Wein, aber auf einmal wird es dunkel, alles um mich herum verschwimmt. Mein Glas kippt um und zerbricht. Michael springt auf und zieht meinen Stuhl zur¨ uck. Ist alles in Ordnung mit dir? Ich rapple mich hoch und sammle die Glassplitter ein. Ja, ja, ich bin nur ein bißchen m¨ ude. Da hat wohl jemand daf¨ ur gesorgt, daß du zu lange aufgeblieben bist. Der Kellner taucht auf und zieht die Tischdecke ab. 123
Weißt du, Nick, ich habe nachgedacht, sagt Michael, als wir uns an dem frisch gedeckten Tisch niederlassen. Wie w¨are es, wenn du mit mir nach England kommst und meine Familie kennenlernst, wenn die Kreuzfahrt vorbei ist? Was nun? H¨ochste Zeit f¨ ur meine Beichte. Statt des sen antworte ich: Das w¨ urde ich gern, aber ich muß wirklich nach Hause. Michael streift mir sanft u ¨ber die Wange. Vielleicht kann ich dich umstimmen. Er hebt sein Glas und gibt mir meines. Auf morgen. Was soll ich sagen? Wir stoßen an. Auf morgen.
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Neuntes Kapitel
¨ , behauptet Michael. Es ist eine Uberraschung Wir sitzen zu viert in einem der Jeeps der Circe auf Symi, wo heute ein geheimnisvolles Fest stattfindet. Michael will fotografieren und hat uns eingeladen. Wir kommen an wundersch¨onen neoklassizistischen H¨ausern mit roten Ziegeld¨achern vorbei, die auf die Postkartenansicht des Hafens hinabblicken. Auf kreuz und quer zwischen den Geb¨auden gespannten Leinen flattert W¨asche, blendendweiße Treppen winden sich den H¨ ugel hinauf und verbinden die H¨auser mit dem Hafen. Zypressen ragen gerade in den Himmel, als h¨atte sie jemand wie Dartpfeile in den Boden gesteckt. Ha! R¨ atsel gel¨ost! ruft Emily triumphierend. Sie winkt mit dem Reisef¨ uhrer und schl¨agt ihn demonstrativ auf. Ich zitiere: >Jahr f¨ ur Jahr legt jedes M¨adchen der Insel einen Ring auf einen großen Teller, und eine alte Frau liest davon den Namen ihres zuk¨ unftigen Mannes ab. Sie l¨achelt – ihr berechnendes L¨acheln. Ich stelle mich an. Hat jemand einen Ring dabei? Glaubt ihr, wir haben noch Zeit, um Shirley zu holen? Sie w¨ urde sich diese Information eine Menge kosten lassen. Wird Shirley denn als alleinstehendes M¨ adchen durchgehen? erkundigt sich Emily.
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Was meinst du? Alleinstehend oder M¨adchen? Eric bem¨achtigt sich des Reisef¨ uhrers. Dieser Teil wird dir gefallen! Nach der Zeremonie essen die Frauen Kuchen und kippen so lange Wein, bis sie umfallen. Klingt ganz nach meinem Geschmack. Em klopft mir auf die Schulter. Da residiere ich auf dem Traumschiff, und bis jetzt hat sich noch niemand an mich herangemacht. Das verlangt nach drastischen Maßnahmen, und wenn ich Kuchen essen und mich betrinken muß, dann soll es eben so sein. Wer geht als erstes, du oder ich? Als wir uns der Kirche Agios Athanassios n¨ahern, sehe ich eine mindestens f¨ unfhundert Meter lange Schlange von M¨adchen und jungen Frauen mit allen m¨oglichen Trachten und Kopfbedeckungen vor der Kirchentreppe. Ich passe, erkl¨ are ich. Ich glaube, ich bleibe lieber im Auto. Klar, Nick, ich bleibe bei dir, sagt Em schnell. Willst du denn nicht den Namen deines sp¨ ateren Ehemannes wissen? Kommt nicht in Frage. Das bist du deinen Fans schuldig. Nun geh schon, fordere ich sie auf. Michael h¨alt an, aber Em bewegt sich nicht. Ich bleibe bei Nicki, erkl¨art sie. Komm schon, dr¨ angt Michael mich, steht im Jeep auf und macht ein paar Schnappsch¨ usse. Interessierst du dich denn nicht f¨ ur den Namen deines Zuk¨ unftigen? Mit der Zukunft habe ich nicht viel am Hut, erkl¨ are ich. Vielleicht funktioniert es auch bei M¨ annern, u ¨berlegt Eric laut und springt aus dem Wagen. Komm schon, Em, brechen wir mit einer jahrhundertealten Tradition! Ich w¨ urde gern h¨oren, was die alte Hexe sagt, wenn ich sie nach dem Namen meines Gatten in spe frage.
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Emily zieht eine Augenbraue in die H¨ohe. Ich entt¨ausche dich ungern, Eric, aber ich glaube, diese Tradition hat irgendwo hier ihren Ursprung. Ihr beiden k¨ onnt doch schon einmal vorausgehen, schl¨agt Michael vor. Ich fahre mit Nicki in die n¨achste Stadt, sp¨ater kommen wir wieder her und treffen euch nach dem Essen. Michael, was ist mit deinen Fotos? frage ich. Geh ruhig mit ihnen. Der Ort, an den ich denke, ist sogar noch besser f¨ ur Fotos, behauptet er. Er hat recht. Wir fahren etwa zehn Minuten den H¨ ugel hinauf und halten an den Ruinen eines alten Dorfes. Ich sehe mich sprachlos um. Das ist unglaublich, Michael! Stell dir nur vor, dieser Ort war schon Tausende von Jahren vor uns da und wird Tausende von Jahren nach uns immer noch existieren. Und jeder Mensch in all den vielen Jahren hat seine Fußspuren hinterlassen. Das sp¨ urst du auch, nicht wahr? Fußspuren hinterlassen – genau das m¨ochte ich. Wir halten an einem Aussichtspunkt und steigen zwei steile Treppen hinauf zu einem großen Hof. Der Platz ist von br¨ockelnden S¨aulen umgeben. Das war ein Tempel der Aphrodite, informiert mich Michael. Die G¨ ottin der Liebe. Wir sind allein, Michael legt seinen Arm um mich, und wir stehen ganz still da. Michael, ich muß dir etwas sagen, und zwar genau jetzt. Nein, Nicki, ich muß dir etwas sagen. Ich habe sehr viel dar¨ uber nachgedacht. Seit wir von der Klippe gesprungen sind, habe ich das Gef¨ uhl, immer noch zu fallen, und zwar direkt in deine Arme. 127
Ich schmiege mein Gesicht an seinen Hals. Michael, ich kann einfach nicht. Warum nicht? Er streichelt mein Haar. Hat es mit diesem anderen Typen zu tun? Denkst du immer noch an ihn? Oh Gott, nein, sage ich und schlucke. Ich habe nicht ein einziges Mal an ihn gedacht. Nun, ich will dich nicht unter Druck setzen. Wir haben schließlich alle Zeit der Welt. Er k¨ ußt meine Stirn. Aber eins muß ich wissen – was empfindest du f¨ ur mich? Glaubst du, du k¨onntest den Rest deines Lebens mit mir zusammensein? F¨ ur jetzt und alle Ewigkeit, Michael. Ganz gewiß. Wir k¨ ussen uns, bevor ich noch mehr sagen kann. Es passiert, nachdem wir uns geliebt haben. Michael und ich liegen im Bett in meinem Zimmer, nackt, umgeben von Pf¨ utzen aus Mondlicht. Das Kleid, das ich zum Dinner tragen wollte, ist ein dunkler Fleck auf dem Boden. Michael war so leidenschaftlich, daß es mir vorkommt, als h¨atte ich einen Teil seiner Lebendigkeit in mich aufgenommen. Ich weiß, daß ich egoistisch handle. Ich nehme und nehme. Aber es scheint ihm nichts auszumachen. Er hat seinen Arm u ¨ber mich gelegt und schl¨aft, als mein Kopf von einer Glasscherbe durchbohrt wird, zumindest f¨ uhlt es sich so an. Abrupt werde ich von einem stechenden, vertrauten Schmerz geweckt. Noch nicht. Bitte. Haben Sie jemals versucht, einen Handel mit dem Schmerz abzuschließen? Dann lassen Sie es sich gesagt sein: Der Schmerz ist ein harter Verhandlungspartner. Verzweifelt biete ich an, allen Lastern zu entsagen, mich weniger gl¨ ucklichen Menschen zu widmen, egal was. Den 128
Schmerz interessiert das wenig. Er fordert meinen Kopf auf einem Silbertablett. Ich muß hier raus. Vorsichtig ziehe ich die Laken zur¨ uck und klettere auf meiner Seite aus dem Bett. Wie ich gehofft hatte, bewegt Michael sich nicht. Er soll mich nicht sehen. Er darf mich nicht so sehen. Und das wird er auch nicht. Das Badezimmer. Das ist mein Ziel. Wenn ich es bis ins Badezimmer schaffe, kann ich meine Tabletten nehmen. Und die T¨ ur hinter mir schließen. Ich schaffe es nicht. Der Mond leuchtet pl¨otzlich grell auf und verfinstert sich, wie eine ausgebrannte Gl¨ uhbirne. Aber es ist nicht der Mond: Ich bin blind. Ich bin von Finsternis umgeben, und mein Kopf steht lichterloh in Flammen. In der Hoffnung, den Schmerz auszuschalten, ihn zu vertreiben, presse ich die H¨ande gegen die Stirn. Dabei k¨onnte ich noch nicht einmal die einzelnen Tablettenpackungen auseinanderhalten. Ich taste mich zur Badezimmert¨ ur, streife den langen Morgenrock u ¨ber, der, wie ich weiß, dort an einem Haken h¨angt, und tappe an der Wand entlang zur Flurt¨ ur. Dort angekommen, stolpere ich, st¨ urze und schramme mir die Knie auf. Aber ich weiß, daß Eric und Em in Erics Zimmer sind, also krieche ich nach nebenan. Miss, kann ich Ihnen behilflich sein? Ich kann nicht erkennen, wer da mit mir spricht, aber er l¨ost das Problem, indem er sich vorstellt. Ich bin der Erste Offizier Pevin. Er schiebt seine H¨ande unter meine Arme und hebt mich auf die F¨ uße. Mir geht es gut. Ich h¨ ammere an Erics T¨ ur. Drinnen h¨ore ich Emily. Wer ist. . . Sie reißt die T¨ ur auf. Oh mein Gott! kreischt sie, als sie mich sieht. Als n¨achstes h¨ore ich Michaels Stimme, als er die T¨ ur meiner Suite zum Flur ¨offnet. Nicki? 129
Ich st¨ urze buchst¨ablich in Erics Kabine, und Emily l¨aßt die T¨ ur hinter mir ins Schloß fallen. Ich h¨ore, daß hinter mir auf dem Gang etwas los ist, aber ich kann nur an meine Schmerzen denken. Eric, Em, es f¨angt wieder an! Ich beginne zu schluchzen. Sagt Michael nichts! Nicki! h¨ ore ich Michael auf dem Flur rufen. Was ist los, Nick? Brauchst du einen Arzt? Eric h¨alt meinen Arm fest, als ob sein Griff ein Rettungsanker w¨are. Ich kann nichts sehen, fl¨ ustere ich und rolle mich zu einer Kugel zusammen. Eric hebt mich hoch, tr¨agt mich durch den Raum und legt mich vorsichtig auf sein Bett. Emily, hol meine Tasche! Ich habe einen Satz von Nickis Medikamenten hier. Im Badezimmer h¨ore ich es klappern und krachen, und ich brauche nichts zu sehen, um zu wissen, daß Emily Dinge ins Waschbecken und auf den Boden wirft, w¨ahrend sie nach den Wunderpillen sucht. Dabei jammert sie: Oh verdammt, verdammt, verdammt! Endlich fließt Wasser, und ich h¨ore ihre Schritte, als sie wieder ins Zimmer gerannt kommt. Nicki, sagt Eric, so ruhig, als ob er mir erkl¨ aren w¨ urde, welchen Kanal er auf dem Fernseher einstellt, ich helfe dir, dich aufzusetzen. Hier habe ich drei Pillen f¨ ur dich. Er dr¨ uckt sie mir eine nach der anderen in die Hand, und ich sp¨ ure ein Glas an den Lippen. Meine Hand zittert, das Wasser l¨auft mir u ¨ber das Gesicht und tropft den Nacken hinunter, aber es gelingt mir, die Tabletten einzunehmen. Wie lange dauert es, bis sie wirken? Ich weiß, daß sie keinen Einfluß auf die Blindheit haben, dagegen gibt es kein Mittel, aber, bitte, wenigstens gegen den Kopfschmerz. Das d¨ urfte die Schmerzen ausschalten. Das Kortison hilft gegen die Schwellung im Gehirn, unter der du offen130
¨ bar leidest. Aber du mußt deine Arzte aufsuchen. Sein Ton ist n¨ uchtern. Wir alle wissen, was das bedeutet. Ich finde mich damit ab. Womit ich mich nicht abfinden kann, ist der Zeitpunkt. Eric, wir m¨ ussen sie ins Krankenhaus bringen, fl¨ ustert Emily, als ob ich nicht im Zimmer w¨are. Es gibt ein Krankenhaus in Athen. Ich werde den Schiffsarzt informieren. Nein, wartet! Ich will nicht nach Athen. Ich m¨ochte nach Hause. Wir h¨oren ein Klopfen an der T¨ ur – eigentlich mehr ein H¨ammern. Nicki, bist du da drin? Michael. Emily legt ihre Hand auf meine. Soll ich ihn hereinlassen? fragt sie. Ich will den Kopf sch¨ utteln, aber es tut zu weh. Nein, laß ihn nicht rein! Er darf mich nicht so sehen. Bist du dir sicher? fragt sie. Er mag dich sehr. Vielleicht m¨ochtest du ihn bei dir haben. Nein! Emily dr¨ uckt meine Hand. Sie ist nicht hier. Durch die T¨ ur h¨ore ich Michaels Stimme. Ich kann Nicole nirgendwo finden. Darf ich hereinkommen? Ich bin nicht angezogen, ruft Emily zur¨ uck. Ich – bin nicht allein. Wir halten gemeinsam den Atem an, bis er wieder weg ist. Nicki, wann wirst du es ihm sagen? fragt Eric. Nie. Ich weiß, daß es keine Rolle spielt. Ja, ich bin egoistisch, aber in diesem Augenblick ist die Liebe dieses Mannes alles, was ich noch habe, und genau so will ich sie in Erinnerung behalten. 131
Irgendwie u ¨berstehe ich die l¨angste Nacht meines Lebens, eine Nacht ohne Augenlicht, Schlaf und Vernunft. Eric und Emily reden mit mir, erz¨ahlen mir lustige Geschichten, nehmen mich in den Arm, und erhalten mich am Leben, obwohl es Augenblicke gibt, in denen ich viel lieber sterben w¨ urde, als das zu erleben, was mich erwartet. Am schlimmsten ist der Morgen, der endlich, endlich anbricht und bedeutet, daß ich das Schiff verlasse und damit den Mann, ohne den ich nicht leben will. Niemals. Angeblich steht die Sonne am Himmel, aber ich sehe nur tausend Abstufungen von Schwarz, als wir vom Schiff gehen. Wußten Sie, daß Blindheit nicht einfach eine einheitliche Dunkelheit ist? Sie besteht aus jeder Nuance Schwarz, die man je gesehen hat oder sich nie vorzustellen wagte – das be¨angstigende Schwarz, wenn man in einen Kofferraum eingeschlossen ist; das bedrohliche Schwarz eines Stromausfalls; das sinnlose Schwarz der Trunkenheit; das knochenmarkgefrierende Schwarz unserer schlimmsten Alptr¨aume. Sie alle haben sich zusammengetan und sich in meinem Kopf versammelt. Gl¨ ucklicherweise sind die Schmerzen soweit ged¨ampft, daß ich laufen kann, wenn jemand meinen Arm festh¨alt und wir uns sehr langsam bewegen. Ich verdr¨ange die Tatsache aus meinen Gedanken, daß ich mich von Emily wie ein hilfloses Kind anziehen lassen mußte. Ich weiß noch nicht einmal, ob sie ihre und meine Sachen eingepackt hat. Eric hat alles organisiert. Nach einer u ussigen Untersu¨berfl¨ chung durch den Schiffsarzt setze ich eine Sonnenbrille auf, verstecke meine blinden Augen, und wir gehen von Bord. Auf dem Weg zum Wassertaxi erwarte ich bei jedem Schritt, Michaels Stimme zu h¨oren oder seine Ber¨ uhrung zu sp¨ uren. Nichts dergleichen passiert. Einerseits will ich nicht, daß er kommt, andererseits w¨ unsche ich es mir. Der 132
Gedanke, daß ich nie wieder mit Michael zusammensein werde, ist viel schwerer zu ertragen als meine Krankheit. Ohne Michael f¨ uhle ich mich wieder furchtsam und verletzlich. Gleichzeitig weiß ich, daß es sehr egoistisch w¨are, ihn in mein Leben hineinzuziehen. Und ich muß den Tatsachen ins Auge sehen: Das hier ist mein Leben, oder zumindest das, was davon u ¨brig ist. Es ist gut, daß Michael nicht gekommen ist. Was hast du den Leuten gesagt? frage ich Eric, als er mir Schritt f¨ ur Schritt dabei hilft, auf das Shuttle umzusteigen. Daß wir uns entschieden haben, das Schiff zu verlassen und nach Hause zu fahren. Wir sind hier nicht in der Schule, Nick, wir brauchen unsere Abreise nicht zu rechtfertigen. Das Boot schwankt, und ich k¨ampfe um mein Gleichgewicht. Wer w¨ urde das nicht in meiner Situation? Jedes Mal, wenn ich dieses Wassertaxi von der Circe an Land genommen habe, hat mich etwas Wundervolles erwartet. Dieses letzte Mal f¨ urchte ich mich vor der Fahrt. Sie verl¨auft schweigsam bis auf das Dr¨ohnen des Motors. Am Dock von Symi brauche ich das Treiben um uns herum nicht zu sehen, ich h¨ore und sp¨ ure es. Pl¨otzlich umgeben mich nicht mehr Frieden und Ruhe, sondern vielf¨altige Ger¨ausche, ein Durcheinander von Stimmen und ansteckende Gesch¨aftigkeit. Im Hafen steigen wir auf eine F¨ahre um, die uns nach Kreta bringt, von dort fliegen wir mit einem kleinen Flugzeug nach Athen und von Athen weiter nach Hause. Emily streichelt meine Hand, w¨ahrend die F¨ahre vor sich hin tuckert. Alles wird gut, Nick. Wenn wir erst zu Hause sind, bringen sie dich wieder in Ordnung. Habt ihr Michael irgendwo gesehen? Nein, Liebes, haben wir nicht. 133
Ich lehne meinen Kopf an Ems Schulter. Ich f¨ uhle mich ersch¨opfter als je zuvor und schlafe zum Dr¨ohnen des Schiffsmotors ein. Als wir endlich Kreta erreicht haben, helfen mir Eric und Em von der F¨ahre herunter. Ihr beiden wartet hier am Dock mit dem Gep¨ ack, sagt Eric. Ich besorge uns ein Taxi. Er kommt mit dem Taxi zur¨ uck und geleitet mich zum R¨ ucksitz, dann laden er und Emily die Taschen ein. Auf einmal h¨ore ich meinen Namen – Nicki! Nicki! Er ist hier, sagt Eric. Nick, du wirst es nicht glauben, er sitzt hinten auf einem Laster, zusammen mit einer Herde Ziegen. Er sieht beschissen aus. Allem Anschein nach riecht er auch so. Gott, wo kommt er nur her? Okay, sagt Emily, u ¨berleg dir, was du tun willst, Nick! Er kommt immer n¨aher, winkt wie verr¨ uckt. Auf jeden Fall hat er uns gesehen. Wir m¨ ussen unser Flugzeug erreichen, erkl¨are ich mit fester Stimme und biete meine ganze Entschlossenheit auf. Nick, wo bist du gewesen? Michaels Hand liegt auf meiner Schulter. Oh mein Gott. Warum f¨ahrst du nach Hause? Auf dem Schiff haben sie mir gesagt . . . jedenfalls ist etwas passiert, und ich muß mit dir reden. Ich verstecke mich hinter meiner Sonnenbrille. Hallo, Mike. Ist Ziegenh¨ uten dein neues Hobby? begr¨ ußt ihn Eric. Mit dir redet niemand, knurrt Michael. Nicki, was um Gottes willen ist los? Habe ich etwas falsch gemacht? Sag es mir! Nichts ist los. Warum siehst du mich dann nicht an? Weil ich es nicht kann. Das ist immerhin die Wahrheit. Schau, ich brauche etwas Zeit, um nachzudenken, 134
okay? Nicki, der Kapit¨ an hat mich gefeuert. Dieses Arschloch George hat gesehen, wie ich aus deiner Kabine ge¨ kommen bin. Das brachte das Faß zum Uberlaufen. Sie haben mich gestern nacht an Land geschickt. Heute morgen habe ich auf dem Schiff angerufen, und man hat mir gesagt, daß du nach Kreta unterwegs w¨arst. Ich bin auf einem Fischkutter mitgefahren, aber der hatte einen Motorschaden, deshalb mußten wir am n¨achsten Hafen an Land gehen. Dort war gerade ein großes Kreuzfahrtschiff angekommen, alle Taxis waren weg, also habe ich mei¨ ne ganzen Uberredungsk¨ unste aufgeboten, um auf diesem Ziegenlaster mitfahren zu d¨ urfen. Wenn du es wirklich willst, k¨onnen wir zusammensein. Ich komme mit dir. Oder du mit mir. Ich atme tief durch. Michael, das mit deinem Job ist furchtbar, aber es tut mir leid, alles ist so kompliziert. Es gibt keine gemeinsame Zukunft f¨ ur uns, das mußt du mir einfach glauben. Ich muß nach Hause fliegen. Ich dachte, wir brauchen einander! Ich dachte, wir w¨aren ein Paar. Ganz ruhig, M¨adchen. Verlier jetzt nicht die Beherrschung. Ich muß fahren. Ich kann nicht mit dir reden. Er entreißt Emily meinen Arm. Das verstehe ich nicht. Warum benimmst du dich so? Beruhige dich, Mann. Hast du nicht geh¨ ort? Sie braucht Luft zum Atmen. Eric zieht Michaels Hand von meinem Arm. Das geht dich u ¨berhaupt nichts an, zischt Michael w¨ utend. Nicki? Es ist aus, Michael. Das ist eine L¨ uge, und du weißt es. Ich f¨ uhle seinen heißen Atem auf meinem Gesicht. Anscheinend sieht er mich an, ausgesperrt durch meine Son135
nenbrille. Das ist keine L¨ uge, fl¨ ustere ich. Frag mich, ob ich dich liebe, und ich antworte: Ja. Ich w¨ unschte, ich k¨onnte mich in Michaels Arme werfen. Es ist unvorstellbar, daß ich sein Gesicht jetzt nicht sehen kann, ein letztes Mal. Ihn ber¨ uhren, ihn k¨ ussen, seinen K¨orper neben meinem f¨ uhlen, wo er hingeh¨ort. Ich muß mich damit abfinden, daß das niemals mehr sein kann. Aber ich werde keinen einzigen Zentimeter seines Gesichts und seines K¨orpers vergessen. Solange ich lebe, seien es nun f¨ unf Minuten oder hundertf¨ unfzig Jahre. Selbst durch meinen Schmerz, mein Entsetzen und meine Angst hindurch ist mir eins bewußt: So f¨ uhlt man sich, wenn man den Mann verlassen muß, mit dem man f¨ ur immer zusammensein m¨ochte. Ich werfe die T¨ ur des Taxis ins Schloß und bitte den Fahrer, sich zu beeilen. Es ist eigenartig, wie eine Behinderte durch den Flughafen gef¨ uhrt zu werden. Halt, habe ich gerade gesagt, wie eine Behinderte? Eric gibt sich optimistisch. H¨or zu, Nick, vergiß nicht – dieser Zustand ist nur vor¨ ubergehend. Dein Arzt hat gesagt, daß die Schwellung, die auf den Sehnerv dr¨ uckt, zur¨ uckgeht, sobald die Steroide anschlagen. Dann kannst du wieder sehen. Wenn du erst einmal wieder zu Hause bist und am Tropf h¨angst, kommt alles wieder ins Lot. Emily sagt: Ich sehe den Flieger draußen vor dem Fenster – eine Propellermaschine. Unser Flug wird aufgerufen. Das sind wir, sagt Emily und ber¨ uhrt meinen Ellenbogen. Wir stehen zusammen auf. Jetzt gehen wir nach draußen, erkl¨art sie mir, und dann kommt eine Treppe. 136
Miss McBain? fragt eine weibliche Stimme auf englisch mit griechischem Akzent. Ja. Ich bin von der Fluggesellschaft. Erlauben Sie mir, Ihnen behilflich zu sein. Wir gehen vor den anderen Passagieren an Bord. Langsam betreten wir das Rollfeld. Leichter Nieselregen hat eingesetzt. Die hohen Abs¨atze der Stewardeß klappern auf dem Pflaster, aus ihrem Walkie-talkie erklingen wirr ged¨ampfte Laute, aber vielleicht klingen sie auch nur wirr, weil ich kein Griechisch kann. Wißt ihr, verk¨ undet Eric, der Meister der Ablenkungsman¨over, wenn wir nach Hause kommen, will ich als allererstes einen Hamburger mit allen Beilagen. Und ich will eine Massage, erkl¨ art Emily. Und einen Hund. Mit M¨annern bin ich fertig. Sie wissen mich nicht zu sch¨atzen. Ich verlege mich auf Tiere. Ich werde als erstes Justin einen Kuß geben. Ich kann nicht glauben, wie sehr der Kleine mir pl¨otzlich fehlt. Er weiß es noch nicht, aber er ist der neue Mann in meinem Leben. Als wir die Flugzeugtreppe hinaufgehen, langsam, eine Stufe nach der anderen, h¨ore ich Schritte auf die Maschine zueilen – Schritte und dann eine Stimme. Nicki! Michael. Sir! schreit ein Mann hinter ihm her. Dieser Bereich ist nur f¨ ur Passagiere. Haben Sie ein Ticket? Oh Gott, st¨ ohnt Emily. Nicki? Eric wartet auf weitere Anweisungen, aber ich habe keine Ahnung, was ich sagen oder tun soll. Die Gangway schaukelt, als Michael die Stufen hinaufrennt. Ich u ¨berlege immer noch, was ich sagen soll, als er seine Arme um mich legt. Nicki, sag mir nur, was ich getan
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habe! Was ist los? Ich weiß, daß etwas nicht stimmt. Was habe ich getan? Du hast dich in eine Frau mit einem inoperablen Gehirntumor verliebt, die bald sterben muß, Mr. Schuster, denke ich. Und sie hat sich in dich verliebt. Und jetzt, nachdem du ihr soviel gegeben hast, wird sie dir das Beste geben, was sie zu bieten hat: deine Freiheit. Du hast mich dazu gebracht, dich zu lieben. Das hast du getan. Und das darf ich nicht. Das ist alles. Laß mich jetzt bitte in Ruhe. Du mußt mich in Ruhe lassen. Ich sp¨ ure die Tr¨anen hinter meiner Sonnenbrille. Nein, Nicole. Du hast mich dazu gebracht, dich zu lieben. K¨onnen wir dieses Problem nicht l¨osen? Es tut mir leid. Das hier, soviel ist mir bewußt, ist schlimmer als der Tod. Oder vielleicht ist es auch der Tod. Ich t¨ote uns beide. Was zum Teufel heißt >tut mir leid Eric mischt sich ein. Sie hat es dir einmal gesagt, und sie hat es dir ein zweites Mal gesagt. Halt die Klappe, bellt Michael. Sir, schaltet sich die Stewardeß ein, Sie m¨ ussen die Gangway verlassen. Die Passagiere m¨ ussen an Bord, und es ist gegen die Vorschriften. . . Fassen Sie mich nicht an! Sir, Sie sind unerlaubt hier und gef¨ ahrden die Sicherheit. Ich muß den Sicherheitsdienst rufen. Michaels Arme werden schlaff und lassen mich los. Das ist nicht n¨ otig, sagt er mit erschreckend ruhiger Stimme. Leb wohl, Nicole. W¨ahrend ich die restlichen Stufen der Gangway erklimme, h¨ore ich, wie Michaels Schritte sich entfernen. Dann bin ich im Flieger, festgeschnallt an einen Sitz in einer Metallfestung. Ich lehne den Kopf ans Fenster und schluchze in die Finsternis. 138
Zehntes Kapitel
Eine Woche sp¨ater habe ich den Lake Michigan vor mir ¨ ais, den Lincoln Park statt der Str¨ande von statt der Ag¨ Santorin, und erstaunlicherweise kann ich wieder sehen. ¨ Die Arzte haben mit ihren Steroiden noch einmal Wunder gewirkt. Aber sie haben mich auch gewarnt, daß die Wirkung nur vor¨ ubergehend sein wird. Nat¨ urlich wollten sie mich wieder einsperren, und nat¨ urlich habe ich mich wieder geweigert. Als Kompromiß habe ich vorgeschlagen, mich auszuruhen, wenn ich im Sarg liege. Bis dahin bleibt noch viel zu tun. Dad und ich waren mit Justin im Zoo und am Ententeich, und inzwischen sind wir auf dem Spielplatz bei den Schaukeln gelandet. Justin und ich teilen uns eine Schaukel – er sitzt auf meinem Schoß –, und Dad schaukelt neben uns. Wir liefern uns einen Wettkampf. Wer ber¨ uhrt als erster den Himmel? Zwei gegen einen ist unfair, sagt Dad lachend und schaukelt eifrig weiter. Keine faulen Ausreden, stimmt’s, Justin? schreie ich. Die Schaukel schwingt h¨oher und h¨oher, und er lacht. Wir haben so viel Spaß zusammen. Was ist mir alles entgangen, weil ich so etwas fr¨ uher nie gemacht habe? Wie dumm und egoistisch habe ich gelebt? Wenigstens daf¨ ur kann ich mich bei Michael bedanken. 139
Wir gewinnen, Justin springt von meinem Schoß auf und rennt quer u ¨ber den Spielplatz. Lauf nicht zu weit! rufe ich hinter ihm her. Nur bis zum Sandkasten! quietscht er zur¨ uck. Dad l¨achelt. In letzter Zeit hat er nicht viel gel¨achelt. Das L¨acheln steht ihm gut. Justin ist so gern mit dir zusammen, Nicki. Er hat dich schon immer bewundert, weißt du. Nat¨ urlich kann er manchmal ein bißchen wild sein, und wenn man Kinder nicht gew¨ohnt ist, aber er ist noch klein und. . . Dad, laß gut sein! Ich habe mich kindisch benommen, nicht er. Jedenfalls bin ich froh, daß ihr beiden euch endlich n¨ahergekommen seid. Es war dumm von mir, daß ich nicht schon fr¨ uher mehr Zeit mit ihm verbracht habe. Er ist ein prima Junge. Jetzt kannst du soviel Zeit mit ihm verbringen, wie du willst, sagt Dad und beh¨alt Justin im Auge, der im Sandkasten w¨ uhlt. Ich m¨ ochte nur nicht, daß er traurig ist. Er kann noch nicht damit umgehen, was mir passiert. Mach dir dar¨ uber keine Gedanken. Kinder kommen mit diesen Dingen manchmal besser zurecht als wir Erwachsenen. Dad steht auf, tritt hinter meine Schaukel und schubst mich an. Erinnerst du dich – das habe ich gemacht, als du noch ein kleines M¨adchen warst. Ich l¨achle und denke zur¨ uck. Vor wenigen Wochen h¨atte ich eine scharfz¨ ungige Antwort parat gehabt, aber heute bin ich froh zu wissen, daß wir diese Zeit gemeinsam erlebt haben und daß sie sch¨on war. Jetzt erz¨ ahle mir aber mal von diesem Michael, beginnt Dad. Du hast ihn sowohl bei mir auf dem An140
rufbeantworter wie bei deiner Mutter erw¨ahnt. Was hat es mit diesem Mann auf sich? Dad, wenn ich ihn nur zu einem anderen Zeitpunkt kennengelernt h¨atte, egal wann. Oder wenn die Situation anders w¨are. Er ist ein toller Mann. Wir haben auf dieser Reise mehr zusammen erlebt als ich bis dahin in meinem ganzen Leben. Ich verstehe, sagt Dad. Es war, als w¨ urden wir uns schon ewig kennen. Weißt du, wir h¨atten den Rest unseres Lebens zusammen verbringen k¨onnen – wenn das Leben anders w¨are. Dad massiert meine Schultern. Tut mir leid, mein Schatz. Das ist hart. F¨ ur ihn war es sicher auch nicht leicht. Auf eine andere Art. Er glaubt, daß ich ihn fallengelassen habe. Er weiß es nicht, ich habe ihm nichts erz¨ahlt. Die Sache ist die, er hat mich so geliebt, wie ich bin. Justin springt wie ein u utiger Welpe auf uns zu. ¨berm¨ Nicki! Nicki! Komm schnell! Ich muß dir etwas zeigen! Eine kleine Hand greift nach meiner und zerrt mich mit. Ich stehe von der Schaukel auf, und wir laufen gemeinsam zu einer Bank am Sandkasten, auf der Justins Rucksack inmitten von Papier und Wachsmalstiften liegt. Schau, ich habe Bilder gemalt! Er h¨ alt eines mit einem Strichm¨annchen in die H¨ohe. Wer ist das? Das bist du auf der Schaukel. Ich habe es f¨ ur dich gemalt. Ich nehme die Zeichnung und bewundere sie geb¨ uhrend. Ein wundersch¨ones Bild, Justin. Danke. Ich beuge mich zu ihm hinunter und k¨ usse ihn, als mein Blick auf ein anderes Bild f¨allt. Ein schwarzes Herz. Das ist auch h¨ ubsch, Jussie, aber warum ist das Herz schwarz? 141
Er starrt zu Boden. Justin? Seine Stimme klingt d¨ unn. Weil ich traurig bin. Aha. Weißt du, Justin, setze ich vorsichtig an, wenn dich jemand liebhat, verl¨aßt er dich nie richtig, egal was passiert. Er sieht mich mißtrauisch an. Wirklich? ¨ Wirklich, erkl¨ are ich mit Uberzeugung und lehne mich zu ihm hin¨ uber, um in sein Ohr zu fl¨ ustern. Das ist ein Zaubergeheimnis. Jetzt habe ich sein Interesse geweckt. Zauber? Geheimnis? Du mußt nur an den Menschen denken, den du liebhast, dann ist er immer in deinem Herzen und dr¨ uckt dich heimlich ganz fest, damit du wieder gl¨ ucklich wirst. So ist das mit dem Liebhaben. Der andere Mensch braucht gar nicht dazusein, du sp¨ urst ihn trotzdem. Ich zeige dir, wie das geht – schließ die Augen, genau, und so wird sich das anf¨ uhlen. Justin kneift die Augen zusammen, und ich dr¨ ucke ihn ganz fest. Am liebsten w¨ urde ich ihn gar nicht mehr loslassen, aber ich tue es dann doch. Jetzt kannst du die Augen wieder aufmachen. Er gehorcht. Okay, und genau so wird es von nun an immer sein. Hast du das verstanden? Justin nickt. Ich hab’ dich lieb, Jussie. Ich dr¨ ucke ihn noch einmal. Ich dich auch, antwortet seine d¨ unne Stimme. Also, ich halte ihn auf Armesl¨ ange von mir. Ich glaube, ich sehe da dr¨ uben einen Eiswagen. Hier hast du 142
Geld. Ich gebe ihm einen F¨ unfdollarschein. Willst du dir nicht ein Eis holen? Darf ich ein Calippo haben? Was du willst. Weg ist er. W¨ahrend ich ihm nachschaue, frage ich mich, ob er verstanden hat, was ich gesagt habe. Ich glaube, es ist egal, ob er meine Worte versteht, solange er die Gef¨ uhle dahinter begreift. Aber wer weiß das bei Kindern schon so genau? Wor¨ uber habt ihr beiden gesprochen? erkundigt sich Dad. ¨ Uber Bilder. Ich w¨ unschte, ich h¨atte fr¨ uher ¨ofter mit Justin gespielt, Dad. Es tut mir leid. Justin liebt dich, Schatz. Er ist dein Bruder. Egal, wie viel oder wenig du mit ihm spielst, das ¨andert nichts an seinen Gef¨ uhlen f¨ ur dich. So ¨ ahnlich wie bei V¨atern und T¨ochtern, meinst du? K¨ onnte man sagen. Wir schaukeln eine Weile weiter, und zur Abwechslung empfinde ich unser Schweigen als angenehm. Nicki! Nicki! Justin rennt u ¨ber den Rasen, schwenkt sein Calippo in einer Hand, ein St¨ uck Papier in der anderen und wirft sich in meine Arme. Es hat funktioniert! Was hat funktioniert, Jussie? Stolz reicht er mir das Blatt, auf dem ich ein Herz in Rot, Gelb, Rosa und Orange erkenne. Siehst du? sage ich und, wir l¨ acheln einander an, teilen unser ganz besonderes Geheimnis. Dad betrachtet die Zeichnung und zuckt mit den Schultern. H¨ ubsches Bild. Habe ich etwas verpaßt? Nein, Dad. Ich hatte etwas verpaßt. 143
Am n¨achsten Tag verabreden Emily und ich uns zu einem Spaziergang am Hafen. Allerdings erscheint sie in Begleitung – mit ihrem neuen Basset-Welpen namens Samson. Mit dem Hund an der Leine und ihrem CashmereTwinset sieht Emily aus wie eine Kopie von Grace Kelly. Also, Em, was ist aus deiner Boutique geworden? Der Wind ist heute frisch, auf dem See tanzen graue Schaumkronen, die Vorboten des Herbstes. Es gibt einen neuen Plan, verk¨ undet sie und weicht einem Radfahrer aus. Ich habe mich entschlossen, mit Tieren zu arbeiten. Die sind viel liebevoller als Sportbekleidung, stimmt’s, Samson? Es ist erstaunlich, wie Emily ganz selbstverst¨andlich menschliche Intelligenz bei ihrem Hund voraussetzt. Ihm scheint sie mehr zuzutrauen als den meisten M¨annern in ihrer Umgebung. Emily, beginne ich, du mußt wissen, wie wichtig es im Augenblick f¨ ur mich ist, Freunde zu haben. Allein w¨ urde ich es nicht schaffen. Du hast u ¨bermenschliche Kr¨afte, Nick, und du gehst ganz wunderbar mit deiner Krankheit um. Es ist mir schleierhaft, wie du das machst. Mir auch, Emily. Aber ich fahre fort: Auf eine seltsame Art habe ich gelernt, damit zu leben, was ich habe oder auch nicht habe. Es ist eigenartig, wenn man davon ausgeht, daß man bis in alle Ewigkeit lebt, erscheint nichts wirklich wichtig. Und jetzt erkenne ich, daß ich alles, was wichtig ist, schon immer hatte. Bis auf eins vielleicht. Was ist es? Wir werden uns darum k¨ ummern. Es ist ein Mensch. Oh. Warum rufst du ihn nicht an? Ich drehe mich dem Wind zu und habe das Gef¨ uhl, als w¨ urde mein Gesicht mit einem Sandstrahler bearbeitet. 144
Der Wind in Chicago hat den schlechtesten Ruf auf der ganzen Welt – verdientermaßen. Ich denke mindestens zwanzig Mal am Tag daran, Michael anzurufen, aber ich halte mich immer zur¨ uck, gestehe ich. Wenn ich ihn anrufen w¨ urde, m¨ ußte ich zugeben, daß ich ihn angelogen habe. Vielleicht hat er mich als herzlos in Erinnerung, aber das ist immer noch eine Stufe besser, als wenn er mich f¨ ur eine L¨ ugnerin h¨alt. Nicki, bist du dir da sicher? fragt Emily. Er schien dich wirklich zu m¨ogen. Lieber soll er mich f¨ ur eine normale Person mit ein paar Problemen halten als f¨ ur einen Sozialfall, den er bemitleiden muß. Denk nur an Tim! Mitleid ist etwas anderes als Liebe. Wenigstens weiß ich, daß Michael mich geliebt hat. Das ist immerhin etwas. Wo wir gerade von Tim sprechen. . . , sagt Emily. Zw¨ olf Uhr in n¨ordlicher Richtung. Eine Gestalt auf Rollerblades kommt uns auf dem Weg entgegen. Tim. Er hat uns schon entdeckt, bremst ab, als er uns erreicht, wendet und f¨ahrt neben mir her. Samson h¨ upft u utig um ihn herum. ¨berm¨ Hi, Nick, ich habe geh¨ ort, daß du zur¨ uck bist. Hi, Tim, bringe ich hervor. Tim, was f¨ ur ein Zufall, sagt Emily mit vor Sarkasmus triefender Stimme. Er grinst ein wenig unbeholfen. Verbl¨ ufft betrachtet er Emilys neues klassisches Outfit. Emily, du siehst so . . . anders aus. So . . . normal. Ehrlich gesagt, ich habe mit Lori telefoniert. Sie hat mir erz¨ahlt, daß ihr spazierengeht. Sch¨on, dich zu sehen, Nick. Ich bin keineswegs beeindruckt. Ich lebe noch, falls du das meinst. 145
Du hast eine tolle Kreuzfahrt verpaßt, Tim, informiert Emily ihn mit einem G¨ahnen. Du h¨attest mitkommen sollen. Andererseits war es vielleicht besser, daß er nicht dabei war – oder, Nick? Ich weiche aus. Nun, wir hatten viel Spaß. Du siehst toll aus, sagt Tim. Wie tiefgr¨ undig, stichelt Emily. Ich frage mich, ob uns hier eine h¨aßliche Szene bevorsteht. Mir ist zwar bewußt, daß Eric und Emily Tim seinen Verrat nicht verziehen haben, aber ich habe jetzt andere Sorgen. Ist schon gut, Em, fl¨ ustere ich und lege meine Hand auf ihren Arm. W¨ urdest du mich kurz mit Tim allein lassen? Sie wirft Tim einen vernichtenden Blick zu. Samson, wir sind nicht erw¨ unscht. Fuß! Sie entschwindet mit dem Hund an ihrer Seite. Tim f¨ahrt langsam neben mir her, die Augen zu Boden gerichtet. Griechenland war also sch¨on? Ja, sehr sch¨ on. Peinliches Schweigen. Dann r¨auspert er sich. Nick, ich mache mir Vorw¨ urfe wegen allem, was passiert ist. Ich m¨ochte, daß du das weißt. Ich seufze. Tim, u ¨ber eines m¨ochte ich nicht reden, das ist die Vergangenheit. Was macht die Arbeit? Verr¨ uckt, aber es gef¨allt mir. Sie haben sogar ein paar meiner Ideen aufgegriffen. Nick, w¨ urdest du mit mir zu Mittag essen? Ich m¨ochte die Situation nicht so belassen, wie sie ist. Wie ist sie denn? Ich f¨ uhle mich miserabel. Vielleicht liegt das daran, daß du dich miserabel verhalten hast. Ich konnte nicht damit umgehen. Aber ich habe nachgedacht. Du wirst sehen.
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Nat¨ urlich sehe ich, daß wieder einmal nur deine Gef¨ uhle z¨ahlen, Tim. Aber was soll’s. Ich gebe nach. Es freut mich, daß du dich besser f¨ uhlst, Tim. Gehen wir essen. Wohin m¨ ochtest du? Mein Blick f¨allt auf einen Hot-dog-Stand. Dorthin. Wir holen uns Hot-dogs mit allem Drum und Dran, außerdem Pommes frites, und lassen uns auf einer Parkbank nieder. Wie ich geh¨ ort habe, hast du auf der Reise jemanden kennengelernt, bemerkt Tim beil¨aufig und greift in seine Pommes-frites-T¨ ute. Es stimmt also, er hat wirklich mit meiner Mutter telefoniert. Es war nicht einfach irgend jemand. Also eine richtig ernste Sache? Tim sagt es scherzhaft und erwartet, daß ich verneine. Vielleicht erwartet er auch noch etwas anderes. Weißt du, als kleines M¨ adchen habe ich immer davon getr¨aumt, eines Tages eine Braut zu sein. Ich wußte genau, wie mein Kleid aussehen w¨ urde – schulterfrei, funkelnde kleine Perlen, mit Schleppe. Jetzt rede ich mehr mit mir selbst als mit Tim. Dazu ein Schleier und ein Strauß Maigl¨ockchen. Die Brautjungfern tragen Rosa und haben Blumen im Haar. Ein Blumenm¨adchen streut Rosenbl¨atter aus einem kleinen weißen Weidenkorb. Zu essen gibt es Hummer. Und eine Hochzeitstorte aus Schokolade. Ich hatte mir alles ganz genau vorgestellt. Bis auf die Person, die ich heiraten w¨ urde. Eine unbedeutende Kleinigkeit. Tim sieht mich ernst an. Nicki, vergißt du nicht etwas? Ich lege meinen Hot-dog neben mir auf die Bank und nehme Tim in den Arm. Du weißt, daß wir diese Richtung nicht eingeschlagen hatten, Tim. Ich habe dich f¨ ur 147
einen wunderbaren Mann gehalten, ich glaube, eine Zeitlang haben wir einander sogar geliebt, aber ich denke nicht, daß ich damit gerechnet habe, den Rest meines Lebens mit dir zu verbringen, und ich vermute, daß es bei dir nicht anders war. Oder? Ich weiß es nicht, antwortet er leise. Ist schon in Ordnung, versichere ich ihm. Denn als ich Michael kennengelernt habe, z¨ahlte auf einmal nichts und niemand. Es war unwichtig, wie mein Kleid aussehen w¨ urde oder der Blumenstrauß. Nur er z¨ahlte. Pl¨otzlich sah ich mich f¨ ur den Rest meines Lebens zusammen mit diesem Mann. Was immer das bedeutet. Wir essen weiter. Das Eis ist gebrochen. Und wo ist dieser Mr. Wonderful? erkundigt sich Tim zwischen zwei Bissen. Wahrscheinlich wieder in England. Ich habe ihm nie die Wahrheit u ¨ber mich erz¨ahlt. Er hat mich wirklich geliebt, Tim. Ich habe ihm nicht leid getan. Nick, hast du wirklich geglaubt, ich. . . Das hier ist kein Wettbewerb, Tim. Die Dinge sind so, wie sie sind. Ich habe es nicht u ¨bers Herz gebracht, Michael weh zu tun, also habe ich ihn verlassen. Und was ist mit ihm? Er glaubt, daß ich ihn sitzengelassen habe, und ich finde, das ist besser als die Wahrheit, aber. . . Aber? Ohne ihn ist nichts mehr wie zuvor. Aber es ist vorbei. Jedes Mal, wenn ich von Michael spreche, habe ich das Gef¨ uhl, als sei ich schon tot. Ich habe ihn nicht lange gekannt, aber in der Zeit, die wir zusammen verbracht haben, habe ich gemerkt, wie sehr ich ihn brauche. Du? Jemanden brauchen? Ja, so unglaublich das klingen mag. Ich hatte das Gef¨ uhl, daß er schon immer ein Teil meines Lebens gewe148
sen ist, oder zumindest, daß er in mein Leben geh¨ort. Es paßte einfach. Wir haben perfekt zueinander gepaßt. Gab es denn keine andere L¨ osung? fragt Tim. Wie steht er denn zu dieser Angelegenheit? Jetzt ist es sowieso zu sp¨ at. Es ist vorbei. Gib mir den Senf. Obwohl ich weiß, daß Tim ein feiger Dr¨ uckeberger ist, f¨ uhle ich mich in seiner Gegenwart nach wie vor wohl. Er bringt mich zur Wohnung zur¨ uck, bleibt aber draußen. Vermutlich weiß er, wie Emily und Eric u ¨ber ihn denken. Ein Gl¨ uck, daß er so einf¨ uhlsam ist, denn als ich hereinkomme, fallen die beiden sofort u ¨ber mich her. Ich kann nicht glauben, daß Tim dich u ¨berredet hat, mit ihm essen zu gehen! faucht Emily. Wir sind nicht essen gegangen. Wir sind etwa einen Meter weit gelaufen und haben uns ein paar Hot-dogs gekauft. F¨allt das unter >essen gehen Denk an die Alternative, meldet Eric sich zu Wort. Du h¨ attest deine Zeit mit echten Menschen verbringen k¨onnen – mit uns zum Beispiel. Jeder verdient eine zweite Chance. Sogar Tim. Immerhin waren wir vier Jahre zusammen. Zwei Tage sp¨ater ruft Tim wieder an, und wir verabreden uns zum Fr¨ uhst¨ uck. Ich habe dar¨ uber nachgedacht, was du gesagt hast , er¨offnet er das Gespr¨ach. Bist du sicher, daß es aus ist mit diesem Michael? Ja, ich bin sicher. Ich betrachte meine Spiegeleier. Sie starren wie zwei Augen zur¨ uck und nennen mich eine L¨ ugnerin. Also, ich finde, du verdienst Liebe und Romantik in deinem Leben. Ich glaube, das war unser Fehler. Wir waren so praktisch, haben immer alles geplant und berechnet. Da blieb gar keine Zeit f¨ ur Romantik. Vermutlich nicht. 149
Glaubst du, wenn wir mehr Zeit gehabt h¨atten, w¨are alles anders gekommen? Tim, oh Tim. Wir waren vier Jahre zusammen. Das ist Zeit genug, um ein College-Studium abzuschließen. In vier Jahren kann man sich zum Gehirnchirurgen ausbilden lassen. Bei Michael hat es ungef¨ahr vier Sekunden gedauert. Aber ich antworte: Vielleicht. Wer weiß. Tim sieht mich gespannt an und versucht, meine Gedanken zu lesen. Gl¨ ucklicherweise war er darin noch nie besonders gut. Also, f¨ ahrt er fort, bist du heute abend zu Hau se? Eric kocht. Sind Besucher erlaubt? Warum nicht?
Hoffentlich bringt er einen Vorkoster mit, murmelt Eric und hackt gen¨ ußlich eine Knoblauchzehe klein. Man kann nie wissen. In meiner K¨ uche geht es immer ein wenig chaotisch zu. Zuf¨allig k¨onnte eine Prise Rattengift in seinem Essen landen. Eric, h¨ or endlich auf, beschw¨ore ich ihn. Emily legt die Platzdeckchen hin. Sie tr¨agt sogar eine Sch¨ urze. Nick, wenn du m¨ochtest, daß Tim zum Essen kommt, m¨ochten wir das auch. Stimmt’s, Eric? Eric seufzt. Du hast recht. Nicki, dein Wunsch ist uns Befehl. Die Wahrheit ist, daß ich zwar nicht unbedingt den Abend mit Tim verbringen m¨ochte, aber ich weiß, daß er das Bed¨ urfnis hat, ihn mit mir zu verbringen. Er hat sich immer noch nicht verziehen, daß er nicht mitgekommen ist. Das habe ich ihm vom Gesicht abgelesen. Jetzt bem¨ uht er sich, alles wiedergutzumachen, das braucht er
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wohl f¨ ur seine eigene Seelenruhe. Und ich muß ihm die Gelegenheit dazu geben. Es l¨autet an der T¨ ur. Okay, er ist da. Bitte seid halbwegs nett zu ihm. Ich werfe den Salat in die Salatschleuder. Emily hebt kapitulierend die H¨ande und geht zur T¨ ur. Wie du meinst. Eric und ich sind mit dem Knoblauchbrot besch¨aftigt, und es dauert ein paar Minuten, bis mir auff¨allt, daß ich aus dem Wohnzimmer noch keinen Ton geh¨ort habe und daß auch niemand in die K¨ uche kommt. Vielleicht hat sie ihn umgebracht? mutmaßt Eric. Just in diesem Augenblick schwebt Emily in die K¨ uche und gibt ihre Scarlett-O’Hara-Imitation. Nicole, du hast Besuch von einem Gentleman. Bitte ihn herein. Oh nein, s¨ ußes Kind! Du wirst ihn im Salon begr¨ ußen wollen. Hat Tim auf einmal den Weg in die K¨ uche vergessen? Irgend etwas stimmt hier nicht. Ich marschiere direkt ins Wohnzimmer. Vor mir steht Michael. Er hat seine Kameratasche dabei, eine abgenutzte Reisetasche aus Leder, und nach einem Blick in sein Gesicht frage ich mich, wie ich es auch nur zwei Minuten ohne ihn ausgehalten habe. Ich bin unf¨ahig, mich zu bewegen. Und zu sprechen. Michael ergeht es gl¨ ucklicherweise anders. Zwei Schritte, und ich finde mich in seinen Armen wieder. Wie ich dahin gekommen bin, ist mir vollkommen egal. Bis zu dieser Sekunde hatte ich keine Ahnung, wie sehr ich ihn vermißt habe. Ihn zu sp¨ uren, den Geruch seiner Haut, den Geschmack seines Mundes – alles schl¨agt wie eine Welle u ¨ber mir zusammen. Wir k¨onnen gar nicht mehr aufh¨oren, uns zu k¨ ussen. Daß Eric und Emily ins Zimmer 151
gekommen sind, ist uns nicht bewußt. Wir wissen noch nicht einmal, auf welchem Planeten wir uns befinden. Emily, hast du nicht auch das Gef¨ uhl, daß wir in Melrose Place gelandet sind und jeden Augenblick Heather Locklear hereinspaziert? Es klingelt schon wieder. Das d¨ urfte Heather sein, vermutet Emily und ¨offnet die T¨ ur. Es ist Tim. Tim erfaßt die Situation mit einem Blick. Michael, nehme ich an, sagt er. Mir ist gerade etwas einfallen: Ich muß noch eine Operation am offenen Herzen u ¨ben. Eric packt Tims Arm. Du kannst mir assistieren. Bevor Eric Tim aus dem Zimmer zerren kann, nimmt Michael meine Hand und geht zu den beiden. Tim? Die beiden sch¨ utteln einander die Hand. Und dann umarmt ¨ Michael Tim zu meiner maßlosen Uberraschung. Ich glaube, da habe ich etwas nicht mitgekriegt, stottert Emily. Aber ich. Ich greife mir Tim. Du hast es ihm gesagt! Irgendwie hat er Michaels Nummer herausgefunden und ihm verraten, wie es um mich steht. Aus welchem anderen Grund sollte Michael hier sein? Tim nimmt mich beim Ellenbogen und f¨ uhrt mich in den Flur. Ich habe ihm nur eins gesagt , raunt er so leise, daß ihn niemand h¨oren kann. Daß du ihn liebst. Das Ganze lief so ab: Emily hat seine Nummer von dieser Shirley, die ihr auf dem Schiff kennengelernt habt – anscheinend ist sie ein wandelndes Telefonbuch –, und nachdem Em mir seine Nummer gegeben hatte, habe ich ihn angerufen. Ich habe ihn nur eines wissen lassen, n¨amlich daß du ihn liebst. Mehr brauchte er gar nicht zu h¨oren. Deshalb ist er hier. Nick, sehen wir den Tatsachen ins Auge – es steht dir ins Gesicht geschrieben. So hast du 152
mich nie angesehen, und so hast du auch nie u ¨ber mich gesprochen. Glaubst du, ich kenne dich nicht? Deshalb war mir auch klar, daß du Michael nie anrufen w¨ urdest. Also habe ich es f¨ ur dich getan. Und es tut mir nicht leid. Jetzt falle ich Tim um den Hals. Mir auch nicht. Er streichelt mir den R¨ ucken. Jetzt h¨angt alles von dir ab. Sag es ihm, oder sag es ihm nicht. Wenigstens weißt du jetzt, woran du bist. Auf einmal habe ich Angst. Oh Gott, Tim, fl¨ ustere ich, ich weiß nicht, ob ich das kann. Ich will ihn nicht schon wieder verlieren. Du wirst es schon hinbekommen. Immerhin hast du die Abschiedsrede gehalten, weißt du nicht mehr? Michael kommt zu mir und legt seinen Arm um mich. Tim, danke f¨ ur den Anruf! Aber eins muß ich dir sagen. Ich k¨onnte nicht so großz¨ ugig sein, wenn es um diese Frau geht. Na ja, Tim ist ernst geworden, behandle sie gut. Ich muß jetzt gehen. Eric braucht mich f¨ ur seine Haus aufgaben. Irgendwas mit meiner Aorta. Ich bin die OP-Schwester, behauptet Emily und t¨atschelt beim Hinausgehen Michaels Hintern. Bis sp¨ater. Wir sind allein. Wo soll ich anfangen? Ich presse mein Gesicht an Michaels Brust. Warum bist du einfach vor mir davongelaufen, Nicki? fragt er sanft. Was war los? Wir haben soviel Zeit vergeudet. Ich weiß. Und es tut mir leid, aber ich muß dir etwas sagen. Ich zwinge mich, einen Schritt zur¨ uckzutreten und ihm in die Augen zu sehen. Du mußt mir zuh¨oren. Jetzt. 153
Wie? Was ist los? Nicki, zwischen uns hat immer etwas gestanden, wor¨ uber du nicht sprechen wolltest. Was immer es ist, es hat dich dazu getrieben, an jenem Tag aufs offene Meer hinauszuschwimmen. Dich sonderbar zu verhalten. Ich dachte, es w¨are ein anderer Mann, Tim, und h¨atte es fast verstanden, aber jetzt. . . Ich lege einen Finger auf seine Lippen. Michael, ich bin in der Nacht auf dem Schiff nicht gefl¨ uchtet, weil ich dich verlassen wollte. Ich habe dich verlassen, weil ich es mußte. Weil etwas mit mir nicht in Ordnung ist. Er erstarrt. Nicht in Ordnung? Warum f¨allt es mir so schwer, es auszusprechen? Was ist es? Was ist los, verdammt noch mal? Michael erhebt die Stimme aus Wut und Besorgnis. Ich f¨ uhle mich, als ob er mich geschlagen h¨atte. Was in Gottes Namen geht hier vor? Sag es mir sofort! Es ist vorbei. Ich kann nicht mehr. Hemmungslos beginne ich zu schluchzen. Ich greife nach meiner Tasche, ziehe die Tabletten in der Plastikt¨ ute heraus und werfe sie auf den Boden vor Michaels F¨ uße. Du willst es wissen? schreie ich ihn an. Du willst es wirklich wissen? Bevor er antworten kann, renne ich ins Bad, greife mir noch ein Dutzend Tablettenr¨ohrchen, st¨ urze wieder ins Wohnzimmer und werfe sie zu den anderen. Ein paar der Fl¨aschchen sind aus Glas und zerbrechen. Andere rollen weiter oder liegen einfach da wie Treibholz am Strand. Bitte sehr, Mr. Schuster. Was Sie schon immer u ¨ber Nicki wissen wollten, aber nie zu fragen wagten! Ich bin eine Verr¨ uckte, ein Monster. Michael sagt nichts, b¨ uckt sich langsam, nimmt eins der R¨ohrchen und betrachtet es. Ich ziehe die Schubladen auf und greife wahllos nach Computerausdrucken, Akten und Krankenbl¨attern. Als ich nicht mehr tragen kann, werfe ich den Stapel zu den
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Tabletten. Schließlich reiße ich eine R¨ontgenaufnahme meines Kopfes aus einem braunen Umschlag und reiche sie Michael. Du bist Fotograf. Was stimmt nicht mit diesem Bild? Mein Lachen klingt zuerst bitter, dann hysterisch. Er sagt nur ein Wort: Nicki. Seine Stimme ist wie ein Hauch. Ich bin krank. Ich sterbe, Michael. Wortlos sch¨ uttelt er den Kopf. Es ist wahr. Jetzt, wo ich es ihm gesagt habe, u ¨berkommt mich pl¨otzlich eine unheimliche Ruhe, als ob mir jemand eine Spritze gegeben h¨atte. Ein Wahrheitsserum. Auf dem Schiff habe ich einen Krankheitsschub bekommen. Deshalb mußte ich fort. Jetzt geht es mir wieder besser, aber das ist nur vor¨ ubergehend. Ich weiß nicht, wie lange ich noch leben werde. Krank? Was heißt krank? Was ist los mit dir? Du siehst gesund aus. Michael stolpert u ¨ber seine eigenen Worte. Ein Gehirntumor. Inoperabel. Ist das wirklich wahr? Das kann doch nicht sein! Michael sieht aus wie jemand, der selbst zum Tode verurteilt wurde. Jetzt schauen wir uns an, zum ersten Mal, seitdem ich meine Karten auf den Tisch gelegt habe. Oh Michael, ich w¨ unschte bei Gott, es w¨are anders, ich w¨ unschte, wir k¨onnten ein ganzes Leben zusammen verbringen! Ich w¨ unschte, ich h¨atte es dir gesagt, bevor du dich in mich verliebt hast. Ich w¨ unsche so vieles, aber keiner dieser W¨ unsche wird Wirklichkeit, und ich kann dir keinen Vorwurf daraus machen, wenn du dich auf der Stelle umdrehst und gehst. Sein Blick ist fest, entschlossen. Wir halten einander in den Armen, suchen St¨arke beim anderen. Ich muß 155
alles wissen, erkl¨art Michael. Weil ich dir helfen werde, die Krankheit zu besiegen. Wir werden zusammen zum Arzt gehen. Er wird das h¨oren, was ich l¨angst weiß. Und er wird einsehen, daß es nicht darum geht, die mir noch verbleibende Zeit mit K¨ampfen zu verbringen, sondern mit Leben. Michael wird es verstehen. So wie ich es verstanden habe. Aber das wichtigste ist: Wenn die Zeit kommt, werden wir zusammensein.
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Elftes Kapitel
Gemeinsam mit Michael verlasse ich das Sprechzimmer des Arztes. Ich kann nur daran denken, daß jetzt wenigstens alles gesagt ist. Michael mußte alles von dem Arzt selbst h¨oren, und ich bin jetzt unendlich erleichtert. Nichts ist schwerer – oder herzzerreißender –, als etwas vor dem Menschen, den man liebt, zu verheimlichen. Besonders wenn man sich so verzweifelt w¨ unscht, ihn daran teilhaben zu lassen. Aber selbst nach allem, was passiert ist, h¨atte ich Michael keinen Vorwurf gemacht, wenn er aus seinem Stuhl aufgestanden, aus dem Sprechzimmer gerannt und immer weiter davongelaufen w¨are. Schließlich waren wir bisher nur unter romantischen Umst¨anden in einem idyllischen Urlaub zusammen. Was wir jetzt hier erleben, ist weniger die wirkliche Welt als vielmehr die Unterwelt. Michael hat sich alles angeh¨ort – die Fachausdr¨ ucke, die hoffnungslose Prognose. Er hat sich jedes R¨ontgenbild angesehen, jedes Tomogramm, das Ergebnis jedes einzelnen Bluttests. In der Praxis spricht er nicht viel, und ich frage mich, was ihm wohl durch den Kopf geht. Aber er geh¨ort sowieso nicht zu den Menschen, die alles sagen, was sie denken. Vielmehr handelt er so, wie er f¨ uhlt. Er reagiert, packt die Dinge an. Ich dagegen rede. Das Zusammensein mit Michael macht mir bewußt, daß Reden meistens nicht viel bewirkt, es sind Taten, die Ver¨anderungen herbeif¨ uhren. 157
So wie er den Teil unserer Beziehung u ¨bersprungen hat, in dem wir unser Verh¨altnis am Telefon ausdiskutiert und zerredet h¨atten, und statt dessen einfach in London in ein Flugzeug gestiegen und vor meiner Haust¨ ur aufgetaucht ist. Wie schon gesagt – Taten. Nat¨ urlich weiß ich besser als jeder andere, daß letztendlich niemand etwas an meiner Situation zu ¨andern vermag – er kann nur bei mir sein. Aber das ist schon eine ganze Menge. Vielleicht ist es sogar das Schwierigste. Obwohl sich meine Lage nicht wirklich gebessert hat, ist irgendwie doch alles anders. Mom und Dad, Emily, Eric und sogar Kate und Tim haben sich großartig verhalten, aber das ist nicht dasselbe wie das Zusammensein mit Michael. Jetzt kann ich Michaels Hand halten. Ich bin nicht allein, und das ist noch nicht alles: Er ist auch nicht allein. Mich beschleicht das Gef¨ uhl, daß es hier tats¨achlich mehr um ihn geht als um mich. Ich brauche mich nur mit der Gegenwart auseinanderzusetzen: Michael muß der Zukunft ins Auge sehen. Allein. F¨ ur ihn ist es schwieriger, ich muß ihm helfen. In gewisser Weise, sage ich, als wir zum Auto gehen und er seinen Arm um mich legt, ist alles perfekt. Perfekt? Nicht so, wie ich mir >perfekt< fr¨ uher vorgestellt habe, wie ich fr¨ uher gedacht habe. Weißt du was? Was? Perfekt ist die Zeit, die uns verg¨ onnt ist. Er antwortet nicht. Vermutlich denkt er, daß >perfekt< in diesem Fall ziemlich armselig aussieht, und ich verstehe ihn. Aber schließlich und endlich ist alles relativ. Weißt du, wenn man es anders betrachtet, haben wir Gl¨ uck, beginne ich. Wir brauchen uns niemals Gedanken u ¨ber die H¨ohen und Tiefen zu machen, die andere Paare erleben. Nie werden wir uns wegen der Hypo158
thek streiten. Nachts werden uns keine Kinder wachhalten, und wir werden niemals alt und dick. Wie Figuren in einem Film. Allerdings werden wir auch nie erfahren, wie es ausgegangen w¨are. Michael beugt sich zu mir her¨ uber und k¨ ußt mich. Ich weiß, wie es ausgeht. Wie? Sie lebten gl¨ ucklich bis ans Ende ihrer Tage. Am Straßenrand steht Michaels Mietwagen, ein rotes Mustang-Cabrio, das unglaublich fr¨ohlich wirkt. Es ist nat¨ urlich ein wundersch¨oner Tag, wie man ihn eigentlich nur im Sommer in Chicago erlebt, wenn Petrus beschließt, daß er die Menschen in diesem Teil des Landes genug gepiesackt hat, und ihnen nun eine kleine Auszeit g¨onnt, um zu zeigen, wie es immer sein k¨onnte. Michael begleitet mich um den Wagen herum und o¨ffnet die T¨ ur. Darf ich an dieser Stelle anmerken, daß der Mann obendrein Manieren hat? Ich entdecke eine altmodische, fast galante Seite an ihm, und genieße sie. Er geht wieder vorn um den Wagen herum zu seiner Seite, h¨alt kurz inne, um etwas an der K¨ uhlerhaube zu untersuchen, steigt ein, holt den Schl¨ ussel heraus und starrt dann durch die Windschutzscheibe. Ich strecke eine Hand nach ihm aus. Michael? Was ist das da an der Antenne? fragt er mich. Was? Da ist etwas an der Antenne. Haben wir einen Strafzettel? Nein, etwas anderes. Ich sehe nichts. Da ist etwas an der Antenne, Nick. Ich kann nicht fahren, wenn mich etwas dermaßen ablenkt. Tu mir bitte einen Gefallen, steig aus und hol es herein. 159
Ich glaube, er hat den Verstand verloren, aber ich steige brav aus und untersuche die Antenne. Dabei frage ich mich, wonach ich eigentlich suche. Und – verdammt – da ist wirklich etwas. Ein metallisches Blitzen. Silber. Platin, genauer gesagt. Platin, und ein Diamant. Ich kann es nicht fassen – es ist ein Ring. Ich ziehe ihn vorsichtig u ¨ber die Antenne und nehme ihn mit ins Auto. Meintest du den hier? Ich halte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger hoch. Es ist ein wundersch¨oner Solit¨ar. Der Stein ist nicht groß, schlicht, rund und funkelnd. Pl¨otzlich kann ich kaum atmen. Michael nimmt mir den Ring ab. Ja, aber er ist noch nicht am richtigen Platz. Er schiebt ihn u ¨ber den Ringfinger meiner linken Hand. Nicole, ich liebe dich mehr als alles auf der Welt, und ich m¨ochte, daß wir unser Leben gemeinsam verbringen. Willst du mich heiraten? Er l¨aßt meine Hand los, springt auf den Autositz und l¨aßt sich auf ein Knie nieder. Ich werfe mich in seine Arme, und wir landen zwischen Fahrersitz und Lenkrad halb auf dem Boden. In diesem Moment kommt ein Polizist vorbei und klopft an die Windschutzscheibe. Alles in Ordnung, Miss? fragt er. Ja, bringe ich zwischen zwei K¨ ussen hervor. Ja, ja, ja! Auf der Fahrt u ¨ber den Outer Drive am Ufer des Lake Michigan entlang winke ich allen Autos zu, die uns u ¨berholen – mit meiner linken Hand, damit ich den Ring einweihen kann. Michael hat zuf¨allig genau die richtige Musik dabei – eine CD mit Goin’ To The Chapel, die er in voller Lautst¨arke abspielt. Und warum auch nicht? Schließlich ist genau das unser Ziel – die Kapelle. Wir heiraten. Heute. In der Kapelle der Liebe. 160
Michael spricht u ¨ber sein Handy mit meinem Vater. Daher, Mr. McBain, bitte ich Sie um die Hand Ihrer Tochter. Pause. Ich m¨ochte sie heiraten. Ich u ¨bernehme die Rolle meines Vaters, da ich ohne mitzuh¨oren genau weiß, was er sagt: Das kommt ein wenig u ¨berraschend, Michael. Vielleicht sollten wir uns zusammensetzen und dar¨ uber reden. Mr. McBain . . . Dan. . . , setzt Michael an. Ich beschließe, ihm den Rest zu ersparen, und nehme ihm das Telefon aus der Hand. Dad, Michael weiß alles. Wir kommen gerade aus der Praxis. Es ist in Ordnung. Ist das nicht wunderbar? Ich m¨ochte, daß du dich f¨ ur uns freust. Wirst du mich zum Altar f¨ uhren? Und wann genau wollt ihr heiraten, Schatz? fragt er. In etwa einer Stunde. Wir sind unterwegs zum Rathaus. Wir haben uns schon erkundigt. Dort bekommen wir die notwendige Bescheinigung und k¨onnen auf der Stelle heiraten. Jetzt sofort? Oh, Dad! Hattest du vielleicht gedacht, in sechs Monaten? Bis gleich dann. Mit meiner Mutter f¨ uhre ich ein a¨hnliches Gespr¨ach, nur ist sie weniger u ¨berrascht. Es stellt sich n¨amlich heraus, daß sie Michael bereits heute morgen bei der Auswahl des Rings beraten hat. Dann rufe ich noch schnell Emily an, die sich in der Tierarztpraxis frei nimmt, und Eric findet jemanden, der f¨ ur ihn in der Notaufnahme einspringt. Die Hochzeitsgesellschaft ist vollst¨andig. Wir fahren die Michigan Avenue entlang. Kurz hinter der Kreuzung Oak Street entdecke ich es aus dem Augenwinkel im Schaufenster von Saks: ein schimmern
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des weißes Brautkleid aus Spitze – schulterfrei, mit einer weißen Schleppe. Michael, halt an! Hier? Genau hier! Er bremst, und ich springe aus dem Wagen. Warte auf mich, befehle ich. Beweg dich nicht vom Fleck! Ich bin gleich wieder da. Ich renne an einem Straßenmusiker mit Akkordeon vorbei in den Laden und muß erst nach der Hochzeitsmodenabteilung fragen, da ich bisher nie Anlaß hatte, den betreffenden Bereich aufzusuchen. Dort kapere ich sofort eine Verk¨auferin. Das Kleid mit der Schleppe, unten im Fenster. Ja, Miss? Haben Sie es in Gr¨ oße 38 vorr¨atig? Sie schl¨agt ein Notizbuch auf. Lassen Sie mich sehen. Das ist ein Vera-Wang-Modell. Ein ganz besonderes Kleid. Wann ist die Hochzeit? Jetzt. Ich genieße den Ausdruck auf ihrem Gesicht. F¨ unfzehn Minuten sp¨ater trete ich in der Vera-WangKreation wieder aus dem Gesch¨aft, die Verk¨auferin h¨alt Schleppe und Schleier hinter mir hoch, damit sie nicht u ¨ber den Gehsteig schleifen. Meine Schultern sind bloß, aber lange Handschuhe bedecken meine Arme. Das Kleid sitzt dank einer langen Reihe aus dreißig winzigen Satinkn¨opfen auf dem R¨ ucken eng in der Taille. Der Rock ist eine Kumuluswolke aus T¨ ull, dar¨ uber Spitze, die hinten gerafft ist und in einer sechzig Zentimeter langen Schleppe ausl¨auft. Mein Haar habe ich zu einem lockeren Knoten im Nacken gewunden, ein Schleier aus T¨ ull und Spitze umschmeichelt mein Gesicht und ergießt sich u ¨ber meine Schultern. Nur ein neues Kleid, und schon bin ich eine Braut. Michael wartet im Auto am Straßenrand, sein Kinn f¨allt fast auf das Lenkrad, als er mich erblickt. 162
Nicht hinschauen! instruiere ich ihn. Schau lieber auf die Straße. Es bringt Ungl¨ uck, wenn der Br¨autigam die Braut vor der Trauung sieht! Ich glaube nicht, daß diese Sitte u ¨berall auf der Welt G¨ ultigkeit hat , grummelt Michael, wendet aber gehorsam den Blick ab. Die Verk¨auferin verstaut mein Kleid im Auto, da bemerke ich jemanden auf dem R¨ ucksitz – es ist der Mann mit dem Akkordeon. Verzeihung? frage ich. Michael starrt weiter, wie befohlen, stur geradeaus. Unser Orchester, erkl¨ art er grinsend. Der Akkordeonspieler stimmt den Hochzeitsmarsch an, und wir fahren los, mein langer Schleier flattert u ¨ber den R¨ ucksitz und den Kofferraum.
Die Hochzeit meiner Tr¨aume ist ganz und gar nicht so, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Sie ist noch viel sch¨oner. Folgende Stationen sind uns entgangen: das Porzellan aussuchen; mit meinen Eltern u ¨ber die G¨asteliste streiten; Streichholzbriefchen mit unseren Namen drucken lassen. Daf¨ ur sind alle Menschen, die uns etwas bedeuten, versammelt, mit Ausnahme von Michaels Eltern, die es nicht geschafft haben, rechtzeitig aus England einzufliegen. Ich habe ein wundersch¨ones Kleid. Und anders als die f¨ unfzig Prozent der Ehen, die heutzutage laut Statistik geschieden werden, wird sich dieses Brautpaar tats¨achlich lieben, bis daß der Tod es scheidet. Mag sein, daß es zum Heiraten romantischere Schaupl¨atze gibt als das Rathaus von Chicago – zum Beispiel Positano oder Paris, vielleicht ist sogar die eine oder andere Zahnarztpraxis einladender –, aber f¨ ur mich ist das Rathaus in diesem Augenblick der romantischste Ort auf Erden. Unsere Eheschließung vollzieht sich in drei Phasen. 163
Zun¨achst treffen sich alle Beteiligten am Eingang des Geb¨audes. Dann holen Michael und ich uns die Bescheinigung ab. Schließlich marschieren wir gemeinsam zu einem Raum, in dem die Trauung stattfinden soll. Ich werfe schon einmal einen Blick hinein, w¨ahrend wir vor der T¨ ur darauf warten, daß das Hochzeitspaar vor uns herauskommt. Der Raum selbst ist funktionell eingerichtet – und das ist in etwa alles, was ich dazu sagen kann. Mir erscheint er allerdings wie die Sixtinische Kapelle. Die Hochzeit selbst dagegen ist, nun, denkw¨ urdig. Meine Mutter weint nat¨ urlich, aber zum ersten Mal seit Wochen – vielleicht sogar Jahren – nicht, weil sie ungl¨ ucklich ist. Dad, Kate und Justin sind ausnahmsweise p¨ unktlich. Kate hat ein duftendes Satinkissen f¨ ur Justin organisiert, auf dem er den Ring tragen soll, und Michael zeigt ihm, wie er mit dem Kissen in der Hand so gerade steht, daß der Ring nicht herunterrollt. Eric, unser Trauzeuge, erscheint in seinem gr¨ unen OP-Kittel. Emily, meine jeansgekleidete Brautjungfer, hat einen unerwarteten Gast zur Hochzeit mitgebracht – unser Hochzeitsgeschenk, einen s¨ ußen schwarzen Labradorwelpen, den sie an ihrer Arbeitsstelle adoptiert und einfach Hund getauft hat. Ich beschließe, daß er Dusty heißen soll, weil er wie eine Staubwolke um uns herumwirbelt. Mom reicht mir einen Strauß Rosen, die sie, wie sie mich stolz informiert, auf dem Weg zum Rathaus im Park stibitzt hat. W¨ahrend unser Musikant ein kaum erkennbares Beatles-Medley zum besten gibt, gehe ich im Geiste meine Liste durch: etwas Neues – das Kleid; etwas Geborgtes – der Akkordeonspieler; etwas Blaues – z¨ahlen Michaels Augen? Fehlt noch etwas Altes. Emily, du bist die Brautjungfer. Schnell! Hast du etwas Altes, das ich tragen kann? Rein zuf¨allig bin ich zur Wohnung gefahren, 164
verk¨ undet sie und gibt mir ein T¨aschchen, in dem sich das Armband meiner Mutter befindet. Perfekt. Danke, Em. Wir umarmen uns. Ich wende mich an meine Mutter. Mom, k¨onntest du mir bitte behilflich sein? Als ich ihr das Armband reiche, l¨achelt sie unter Tr¨anen. Ich wußte, daß du eines Tages Verwendung daf¨ ur haben w¨ urdest, erkl¨art sie und schließt es um mein Handgelenk. Dann legt sie ihre H¨ande auf meine Schultern und betrachtet mich. Meine wundersch¨one Tochter. Sie zieht mich eng an sich, und wir halten einander einen Augenblick in den Armen. Dann gehe ich zu meinem Vater und lege meine Hand auf seinen Arm. Daddy. Mit diesen einfachen Wort ist unsere Beziehung wiederhergestellt. Er hat seine Tochter wieder und ich meinen Vater. Michael fotografiert uns. Ich denke, wir sind soweit, verk¨ unde ich. Halt! ruft Eric. Ich bin noch nicht umgezogen. Er zieht seinen gr¨ unen Kittel aus und steht in einem schwarzen Smoking da. Mein Gott, seht euch das an! Emily bleibt der Mund offen. Ich operiere immer im Smoking, behauptet er schulterzuckend. Alles klar, Justin? frage ich meinen Bruder. Du bist die wichtigste Person hier. Ohne den Ring k¨onnen wir nicht heiraten. Justin nickt ernsthaft. Alles klar, sagt er. Er hat ein T-Shirt mit dem Aufdruck Camp Lake Michi-Michi an und balanciert das Kissen, auf dem der Ring w¨ahrend der Trauung ruhen soll. Kate, das Kissen ist wirklich s¨ uß. Danke. 165
Ich habe es f¨ ur dich gestickt. Es sollte ein Geburtstagsgeschenk werden, aber ich dachte mir, die Hochzeit geht vor. Kate tritt vorsichtig auf mich zu. Selbst jetzt ist es ein Reflex – sie hat sich immer meine Zuneigung gew¨ unscht und hat doch nur meine Wut zu sp¨ uren bekommen. Nicki, ich weiß, daß du sehr gl¨ ucklich wirst. Und du sollst wissen, wie leid es mir tut, daß ich dir durch die Heirat mit deinem Vater so viel Kummer bereitet habe. Das sollst du nicht sagen. Als ich in ihr Gesicht sehe, jetzt, wo ich selbst gleich heiraten werde, erkenne ich endlich, wie Kate wirklich ist – keine b¨ose Stiefmutter, die mir meinen Vater gestohlen hat, sondern eine verliebte junge Frau, die ihren eigenen Traum verwirklichen wollte. Es ist in Ordnung, Kate. Wir liegen einander in den Armen, und sie weiß, daß es endlich wirklich gut ist. Das frisch verm¨ahlte Paar vor uns verl¨aßt den Raum. Unser Einsatz. Michael telefoniert u ¨ber sein Handy. Mit wem? Und warum gerade jetzt? Er zieht mich zur Seite. Meine Eltern m¨ ochten ihre neue Schwiegertochter gr¨ ußen. Aber warum sagen sie dir das nicht selbst? Er reicht mir das Handy, und ich spreche mit meinen Schwiegereltern. Nicki, Liebes, h¨ ore ich eine reizende englische Stimme, Edward und ich w¨ unschen euch alles Gute. Michael hat uns so viel von dir erz¨ahlt, wir haben das Gef¨ uhl, dich pers¨onlich zu kennen. Ich verspreche Ihnen, daß ich gut auf Ihren Sohn aufpasse, versichere ich. Michael nimmt mir das Telefon ab. Wir m¨ ussen auflegen, Mum. Wir haben einen wichtigen Termin. Unser Stichwort, Dad. Ich strecke meine Hand aus. Er stellt sich neben mich, bietet mir seinen Arm, und zu
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den Kl¨angen von Freude, sch¨oner G¨otterfunken marschieren wir alle gemeinsam hinein. Bedeutet ein Ehegel¨ ubde mehr, wenn man es in einer jahrhundertealten Kathedrale ausspricht, in einem Garten unter einem Blumenbogen oder vor einem Altar anstatt in einem Rathaus? Ich glaube, das, worauf es wirklich ankommt, sind die Gef¨ uhle f¨ ur die Person, vor der man das Gel¨ ubde ablegt, und nicht der Ort, an dem es ausgesprochen wird. Als mein Vater Michael meine Hand reicht, ist es, als ob sich das unsichtbare Band, das uns verbunden hat, als wir getrennt waren, zusammenzieht und uns noch enger aneinander bindet. Und als wir Ja sagen, ist das wie ein Siegel, das niemals zerbrochen werden kann, weder vom Leben noch durch den Tod. Wir stehen vor dem Friedensrichter im Rathaus, und ich sp¨ ure, daß mich alles in meinem Leben, das Schreckliche und das Sch¨one, zu diesem Augenblick und zu diesem Mann gef¨ uhrt hat. In seinem Blick ist so viel Liebe und, mehr als das, F¨ ursorge und Respekt. Der Ring und das Versprechen, das wir einander nun geben, sind reine ¨ Außerlichkeiten – jeder von uns hat einen Platz in der Seele des anderen, und zwar seit der Stunde, als wir uns begegnet sind. Michael sieht unglaublich gut aus. Sein Gesicht ist ernst und sanft zugleich. Seine dunklen, geheimnisvollen Augen verbergen keine Geheimnisse mehr vor mir. Er tr¨agt Jeans, ein Hemd mit offenem Kragen, eine Weste, und ausnahmsweise keine Kamera um den Hals. Als es an der Zeit ist, die Ringe zu tauschen, meistert Justin seine Aufgabe großartig und h¨alt uns stolz das Satinkissen hin. Ich beuge mich zu ihm hinunter und gebe ihm einen Kuß. Ich will, daß er sich immer an diesen Augenblick erinnert und an die wichtige Rolle, die er 167
bei der Trauung und besonders f¨ ur mich gespielt hat. Jeder einzelne der Anwesenden ist wichtig. Sie sind meine Familie. Und am wichtigsten ist nat¨ urlich mein Ehemann. Michael. Als der Friedensrichter uns zu Mann und Frau erkl¨art, h¨ore ich die Worte, aber es geht dabei mehr um die Liebe, die von diesem Tag und f¨ ur immer offiziell uns geh¨ort, als um die Formalit¨aten einer Trauung. Wir umarmen uns, und unser Kuß ist ein Versprechen, das niemals gebrochen werden kann, ganz egal was morgen oder u ¨bermorgen passiert. In diesem Augenblick gibt es kein Morgen. Meine Wange ruht einen Moment lang an seiner, und als ich die Augen schließe, versinkt die Welt um mich herum. Wir verlassen das Rathaus unter einem Regen von Reis und Rosenbl¨attern. Der Akkordeonspieler begleitet uns immer noch. Inzwischen hat er gemerkt, daß Michael Engl¨ander ist, und spielt Rule Britannia. Da erblicke ich Michaels Mustang, v¨ollig verkehrswidrig am Bordstein geparkt – und in eine Hochzeitskutsche verwandelt. Weiße Kreppgirlanden ergießen sich nach allen Seiten, ein paar kitschige weiße Hochzeitsglocken aus Papier bau¨ meln am R¨ uckspiegel. Uberall auf dem Auto prangen weiße Pompons aus Seidenpapier, und an der hinteren Stoßstange scheppern Blechdosen an langen B¨andern. Vorn auf dem K¨ uhler ist ein Just Married-Schild montiert. Neben diesem eigenwilligen Kunstwerk steht Tim wie ein Palastw¨achter und h¨alt die T¨ ur auf. Er sch¨ uttelt Michael die Hand, und ich k¨ usse ihn auf die Wange. Werde gl¨ ucklich, Nick, fl¨ ustert er. Was soll ich zu meinem Exfreund sagen, der so viel f¨ ur mich empfindet, daß er diese Hochzeit m¨oglich gemacht hat? Danke, Tim. Dad u ¨berl¨aßt Michael und mir die Auswahl des Re168
staurants f¨ ur das Hochzeitsmahl. Was wollen wir essen? Wir sehen uns an und sagen wie aus einem Munde: Griechisch. Im Auto muß ich mir immer wieder bewußtmachen, daß ich neben meinem Ehemann sitze. Ich bin verheiratet. Vor einer Woche war ich noch davon u ¨berzeugt, daß mein Leben zu Ende sei, dabei ist das hier nur der Anfang. Irgendwo tief im Inneren sp¨ ure ich eine schreckliche Angst, daß die Kopfschmerzen zur¨ uckkehren werden, daß ich mein Augenlicht verliere, daß das Ende unausweichlich ist. Ich weiß, daß eines Tages, eher als es irgend jemand verdient, das Unausweichliche auf mich wartet, wie ein Tier in seiner H¨ohle, sprungbereit, mit ausgestreckter Pranke, die nach mir greifen und mich in die Finsternis zerren wird. Aber nicht heute. Heute bin ich die Braut. Ich ziehe den Ring vom Ringfinger der linken Hand. Zum ersten Mal lese ich die Gravur: F¨ ur jetzt und alle Ewigkeit. Wir halten an einer Ampel und k¨ ussen uns. Um uns herum wird das frisch verm¨ahlte Gl¨ uck mit einem Hupkonzert gefeiert. Wundersch¨one Musik. Ich lotse Michael zum Restaurant Theodora im griechischen Viertel, einem einfachen, aber guten griechischen Lokal mit den u ¨blichen Mittagsg¨asten, meist M¨annern in Anz¨ ugen, weißen Hemden und Krawatten, die ihre Jacken u ¨ber die Stuhllehnen geh¨angt haben. Als wir das Restaurant betreten, halten die G¨aste einen Augenblick lang inne, ihre Gabeln verharren in der Luft. Es passiert vermutlich nicht allzu h¨aufig, daß eine Frau in voller Brautausstattung durch diese Nischen schwebt. Wir lassen uns nieder, und mir wird klar, daß meine Mutter, mein Vater, Kate, Justin und ich zum ersten Mal am selben Tisch essen oder u ¨berhaupt etwas gemeinsam unternehmen. Bemerkenswert. Das muß wohl die Macht der Liebe sein. Justin sitzt neben Michael und mir und 169
hat seinen neuen besten Freund, Dusty, auf dem Schoß. Es ist schwer zu sagen, wer von uns gl¨ ucklicher ist, Braut und Br¨autigam oder der kleine Bruder der Braut. Wir bestellen s¨amtliche Vorspeisen auf der Karte und nat¨ urlich Champagner. Michael und ich halten uns an den H¨anden, ich sp¨ ure das Gewicht meines neuen Rings, meines neuen Lebens. Alle anderen Gedanken schiebe ich beiseite und schlage eine bleiverst¨arkte T¨ ur zu, aber es gelingt mir nicht, die Tatsache zu verdr¨angen, daß ich so anders bin als die anderen Br¨aute. F¨ ur sie endet der Bogen des Lebens eines Tages – in dieser Stunde vollkommen unvorstellbar – mit dem Tod. F¨ ur sie besteht der Satz bis daß der Tod uns scheidet nur aus leeren Worten, unwirklich, bedeutungslos, eine Floskel. F¨ ur mich hingegen hat er nur allzuviel Bedeutung; aber der unwirkliche Teil daran ist, daß mir der Weg zum Tod das Leben geschenkt hat. Und damit gebe ich mich gern zufrieden. Dad erhebt sein Glas. Auf mein wundersch¨ones kleines M¨adchen und meinen Schwiegersohn. Ich kann euch nicht mehr w¨ unschen als die Liebe, die jeder von euch in das Leben des anderen zu bringen scheint. Ich trinke auf euch beide. . . Alle stimmen in seinen Trinkspruch ein, einschließlich Justin mit seinem Sprite. Dad hebt das Glas noch einmal. Und nun m¨ ochte ich auf die Frau anstoßen, die diesen wunderbaren Tag m¨oglich gemacht hat, weil sie Nickis Mutter ist. Auf Lori, sagt Kate und st¨ oßt mit uns an. Mom l¨achelt meinen Vater sanft an mit einem Blick, den sie ihm seit Jahren nicht geg¨onnt hat. Sie verzeiht ihm. Wir sind wieder eine Familie.
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Als wir das Theodora verlassen, f¨allt uns im Auto mit den l¨armenden Blechdosen auf, daß wir gar keine Pl¨ane haben. Wen interessiert das schon? Das war die sch¨onste Hochzeit, sage ich. Und Sie sind die sch¨ onste Braut, Mrs. Schuster. F¨ ur Sie immer noch Mrs. Michael Schuster, Sir. Ich muß ihn k¨ ussen. Meinen Ehemann. Und wo w¨ urden Sie gern Ihre Flitterwochen verbringen? Wie w¨ are es mit etwas Sentimentalem, zum Beispiel einer Kreuzfahrt? Dreißig Minuten sp¨ater befinden wir uns an Bord eines Ausflugsdampfers auf dem Lake Michigan. Normalerweise sind keine Hunde an Bord erlaubt, aber bei einer Frau in einem Brautkleid machen sie eine Ausnahme. Ich beschließe, heute abend in meinem Kleid zu schlafen. Ich will es u ¨berhaupt nicht mehr ausziehen. Nie mehr. Nat¨ urlich ziehe ich es doch aus, im Hotel Four Seasons, wo Michael uns eine Suite spendiert. Sobald wir im Zimmer sind und die T¨ ur hinter uns ins Schloß gefallen ist, dauert es exakt dreißig Sekunden, bis wir aus unserer Kleidung gestiegen sind. Michael nimmt eine rosa Rose und zeichnet die Konturen meines K¨orpers Zentimeter f¨ ur Zentimeter nach. Das ist so, als ob man ein Negativ belichtet, fl¨ ustert er, ein Bild einf¨angt. Dein Bild. Die Bl¨atter der Rose wandern meine nackte H¨ ufte entlang und ziehen auf meinem Bauch sanfte Kreise. Dann streift Michael langsam die Bl¨atter von der Bl¨ ute und legt sie eins nach dem anderen auf meine Br¨ uste. Als unsere K¨orper zusammenfinden, zerreiben sie die Bl¨atter zwischen uns und verbreiten den s¨ ußen Duft der Rosen. 171
Ich liege in einem Whirlpool f¨ ur zwei Personen in einem Meer aus Seifenblasen, duftendem Bade¨ol, Champagner und Gl¨ uckseligkeit, als Michael mit einem Handtuch um die H¨ ufte hereinkommt und einen Servierwagen in das Marmorbadezimmer schiebt. Auf dem Wagen steht ein Tablett voller Erdbeeren mit Schokolade¨ uberzug, Kaviar, ger¨auchertem Lachs und einer großen Silberhaube in der Mitte. Unser Hochzeitsessen, verk¨ undet er grinsend. Er hebt das Tablett hoch, plaziert es quer u ¨ber der Wanne und schaltet seine Kamera auf Selbstausl¨oser. Dann l¨aßt er das Handtuch fallen, klettert in den Whirlpool und setzt sich auf die andere Seite des Tabletts. Und kein Hochzeitsessen ist komplett ohne Hochzeitsfoto. Die Kamera surrt und klickt. Er gießt mir Champagner nach und f¨ ullt sein eigenes Glas. Auf die Braut! Auf den Br¨ autigam! Wir m¨ ussen beide lachen. Was verbirgt sich darunter? Ich hebe die silberne Haube hoch und entdecke eine dreist¨ockige Miniaturhochzeitstorte aus Schokolade. Obenauf gr¨ ußt sogar ein kleines Hochzeitspaar. Das ist unglaublich, sage ich. Ich bin begeistert, von allem. Neben der kleinen Torte liegt ein mit weißen B¨andern verziertes Silbermesser. Ich hebe es hoch und versuche, durch die Glasur zu schneiden, aber das Messer ist von den Seifenblasen und dem Bade¨ol glitschig, und die Torte landet im Wasser. Sie versinkt wie die Titanic, mit Mann und Maus. Braut u ¨ber Bord, Michael lacht. Soviel zum Thema Nachtisch. Ich fische den wassergetr¨ankten Kuchen heraus und sehe Michael an. Wovon redest du? Ich atme tief ein, 172
tauche unter die Blasen und das Tablett und komme auf seiner Seite wieder hoch. Wir sind beide naß und glitschig, und ich gleite wie ein Wesen aus dem Meer auf meinen Ehemann. Als ich die Seifenblasen von seinem Ohr lecke, fl¨ ustere ich: Der Nachtisch ist serviert.
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Zw¨ olftes Kapitel
Meine Mutter, die Immobilienmaklerin, u ¨berrascht uns mit einem sensationellen Hochzeitsgeschenk – sie spendiert uns die erste Monatsmiete f¨ ur ein Loft in Lincoln Park. Die Wohnung hat Ziegelw¨ande, hohe Decken mit Dachbalken und einen Ausblick auf den Park. Sie ist vollkommen. Eigentlich wollte ich mit Michael nach New York fahren und ihm helfen, die Bilder f¨ ur seine erste Ausstellung auszuw¨ahlen, aber er findet, ich sollte mich nicht ¨ zu weit von meinen Arzten und meiner Familie entfernen. Also tue ich ihm den Gefallen, obwohl das vermutlich bedeutet, daß ich niemals Gelegenheit haben werde, Michaels Arbeiten ausgestellt zu sehen. Aber ich weiß, daß die Entscheidung richtig ist. Ich muß Michael dazu bringen, sich ein Rettungssystem aufzubauen, damit er nicht allein dasteht, wenn es soweit ist. Denn ich habe ein Geheimnis, das ich vor Michael und allen anderen verberge: Die Kopfschmerzen sind zur¨ uckgekehrt. Sie sind nicht – ¨ noch nicht – unertr¨aglich, und die Arzte haben sie im Griff. Aber sie sind da, werfen ihren Schatten u ¨ber unser Leben, eine st¨andige Mahnung, an die Zukunft zu denken. Und ich k¨onnte Michael nie allein lassen, solange er niemanden hat, an den er sich wenden kann. So sind wir nun Loftbewohner in Lincoln Park. Die erste Anschaffung in unserem jungen Eheleben ist ein Bett. Das Loft ist zwar m¨obliert und verf¨ ugt u ¨ber ein eingebau175
tes Klappbett, doch angesichts der Tatsache, daß wir viel Zeit im Bett zu verbringen gedenken, gen¨ ugt uns das beiden nicht. Darf ich Ihnen etwas verraten? Zu den ersten Dingen, die mir klar wurden, seit Michael und ich verheiratet sind, geh¨orte die Tatsache, daß ganz allt¨agliche Dinge wie der Kauf einer Matratze auf einmal wunderbar und aufregend sind, wenn man sie mit jemandem erledigt, den man liebt. Ein Spaziergang mit dem Hund wird zu einem Abenteuer. Ein banaler Einkauf wird zu einer willkommenen Gelegenheit, vor den Regalen H¨andchen zu halten. Die W¨asche abzuholen ist eine Ausrede f¨ ur einen Abstecher ins Caf´e, wo wir uns eine Stunde lang unterhalten. Unser gemeinsames Leben ist eine Serie von wundervollen Augenblicken, durch unsere Liebe zu einer faszinierenden Kette verbunden. Uns ist bewußt, daß wir jede Sekunde, die uns verg¨onnt ist, genießen m¨ ussen, und genau das tun wir. Ich kann zwar verstehen, daß manche Leute den Kauf einer Matratze als l¨astige Pflicht betrachten, die man auf einer Liste abhakt, aber wir sehen das ganz anders. Auf der Rolltreppe zur Matratzenabteilung im Kaufhaus versp¨ ure ich pl¨otzlich den Wunsch, in jeder Etage haltzumachen und Dinge f¨ ur unsere Wohnung zu kaufen: Bettlaken, K¨ uchenutensilien, eine Cappuccinomaschine mit allem Drum und Dran. Ja, ich weiß, daß unser Loft m¨obliert ist, aber es sind nicht unsere M¨obel, und ich w¨ urde viel darum geben, wenn ich ihn nach unserem Geschmack einrichten k¨onnte. An die Wohnung, die ich mit Emily, Eric und Tim teilte, habe ich damals kaum einen Gedanken verschwendet. Sie war einfach eine Zwischenstation auf dem Weg zu anderen Stationen. Auf einmal erscheint es mir so wichtig, ein Heim zu haben, einen Bereich zu schaffen, der uns geh¨ort. Bisher war mir noch 176
nicht einmal bewußt, daß u uhle ¨berhaupt h¨ausliche Gef¨ in mir schlummern, aber jetzt will ich sie Michael zeigen. Okay, sagt Michael, als wir auf die Matratzenabteilung zusteuern. Wir gehen also hinein und entscheiden uns auf der Stelle? Richtig. Etwa f¨ unf Minuten lang schlendern wir durch ein Meer aus Matratzen. Wie w¨ahlt man eine aus? erkundigt sich Michael. Keine Ahnung, ich vermute, man nimmt einfach die bequemste. Und woran erkennt man das? F¨ ur mich ist eine wie die andere. Ein Verk¨aufer im Anzug kommt auf uns zu. Man sieht ihm sofort an, daß f¨ ur ihn keinesfalls eine Matratze wie die andere ist. Wir suchen eine Matratze, erkl¨ art Michael. Selbstverst¨ andlich. Federkern oder Latex? Gesteppte Oberfl¨ache? Ein Jahr Garantie oder f¨ unf Jahre? Wie groß ist das kleinste Bett f¨ ur zwei Perso nen? m¨ochte Michael wissen. Der Verk¨aufer l¨achelt. In dem Fall suchen Sie eine Doppelmatratze oder eine extragroße Matratze. Doppel, entscheide ich. Der Verk¨aufer zieht eine Augenbraue hoch. In einem extragroßen Bett haben Sie mehr Raum. Wir brauchen keinen Raum, l¨ aßt Michael ihn wissen. Flitterwochen, informiere ich ihn und kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Der Verk¨aufer wendet sich erfolgversprechenderen Kunden zu. Und was machen wir jetzt? fragt Michael. F¨ ur mich sehen immer noch alle Matratzen gleich aus. 177
Es gibt nur einen Weg, mit Sicherheit die richtige zu finden: Wir m¨ ussen probeliegen. Ich ziehe meine Schuhe aus, klettere vorsichtig auf die n¨achste Matratze und klopfe auf den Bezug. Ich habe dir einen Platz frei gehalten. Mich beschleicht das Gef¨ uhl, daß Michael bef¨ urchtet, wir k¨onnten verhaftet werden, aber er legt sich mutig neben mich. Da liegen wir nun und starren an die Decke. Etwa zwei Minuten lang. Dann sticht mich pl¨otzlich der Hafer. Ich kann es mir nicht verkneifen, ich stehe auf und h¨ upfe auf der Matratze herum. Nicki, ermahnt mich Michael mißbilligend, aber ich ziehe ihn hoch, und schon springen wir wie kleine Kinder in der Schulpause auf der Matratze auf und nieder. Der Verk¨aufer eilt zu uns her¨ uber. Verzeihung, aber das ist nicht gestattet, sagt er. Wir nehmen sie, verk¨ undet Michael und h¨ upft weiter. Er unterbricht sein H¨ upfen lange genug, um sich ein Kissen zu greifen und es mir um die Ohren zu hauen. Ich entreiße es ihm und schlage zur¨ uck: unser erster Kampf. Auf dem Heimweg f¨allt mir auf, daß wir genau eine Woche verheiratet sind, also kaufen wir unterwegs die Zutaten f¨ ur ein ganz besonderes Essen ein. Kochen ist meine neue Leidenschaft, und ich scheine eine besondere Begabung daf¨ ur zu haben, speziell f¨ ur Pasta. Heute gibt es Rigatoni. Wir halten am Schlemmerland in der Wells Street und kaufen Knoblauch, frische Tomaten, Salat und Pilze und ein St¨ uck Parmesank¨ase. Und Wein. Wein ist ganz wichtig. Michael geht mit Dusty spazieren, und ich r¨ uhre die Sauce, als das Telefon klingelt – Michaels Handy, es liegt auf dem Couchtisch. Ich lege den L¨offel weg und greife nach dem Telefon, aber als ich mich melde, verstummt
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das L¨auten. Wenn man einen bestimmten Knopf dr¨ uckt, kann man hinterlassene Nachrichten abh¨oren, also widme ich mich wieder meiner Sauce, warte eine Minute und dr¨ ucke darauf. Michael? Eine weibliche Stimme. Ich erstarre. Bitte laß es keine Exfreundin sein. Oder gar die Exfrau. Hier spricht Sally aus New York. Sally Mortensen. Deine Agentin, falls du es vergessen haben solltest. Was offenbar der Fall ist, denn ich warte seit u ¨ber einer Wo che auf deinen R¨ uckruf. Ihre Stimme klingt eilig und gereizt. Ich habe ein paar potentielle Auftr¨age f¨ ur dich. Dem Creative Director von Thompson hat dein Buch gefallen; er m¨ochte dich kennenlernen, erw¨ahnte eine großen Parf¨ umkampagne mit Aufnahmen an einem exotischen Ort. Und die Galerie Griffon ruft st¨andig an. Bitte melde dich bei mir! Es ist dringend. Ich schalte das Telefon ab und drehe den Herd herunter. Wie egoistisch bin ich nur gewesen! Ich sitze hier in Lincoln Park und mache mir Gedanken u ¨ber Matratzen und Cappuccinomaschinen, w¨ahrend Michael seine Karriere auf Eis gelegt hat. Offensichtlich hat er seiner Agentin nichts gesagt, sondern einfach die Stadt verlassen. Inzwischen sind wir verheiratet, und er lebt nicht einmal mehr in New York. Ich habe keinen Gedanken daran verschwendet, was unsere Heirat f¨ ur seine Karriere bedeuten w¨ urde, aber jetzt sind die Konsequenzen nicht mehr zu u ¨bersehen. Ich h¨ore den Schl¨ ussel im Schloß und Dustys Krallen auf dem Parkett, als Michael hereinkommt. Das riecht phantastisch, schw¨ armt er, w¨ahrend er die Leine losmacht. Er legt einen Strauß rosa Rosen auf 179
die Arbeitsplatte, nimmt seine Kamera und fotografiert mich. Michael! St¨ andig macht er Bilder von mir. Ich koche doch nur. Das wird ein langweiliges Bild. Nicht f¨ ur mich. Er legt die Kamera hin, tunkt einen Finger in die Sauce und leckt ihn ab. Michael, dein Handy hat gel¨ autet. Er wickelt die Rosen aus. Tats¨achlich? Er macht keinerlei Anstalten, sich um das Telefon zu k¨ ummern. Du solltest die Nachricht abh¨ oren. Es k¨onnte wichtig sein. Ich bin in den Flitterwochen. Trotzdem. Ich gieße mehr Wein in die Sauce. In eine Sauce kann man nie zuviel Wein gießen. Gut. Wenn es deiner Seelenruhe dient, werde ich die Nachricht abh¨oren. Er nimmt das Telefon, und ich beobachte ihn, w¨ahrend er seiner Agentin lauscht. Sein Gesichtsausdruck bleibt unver¨andert. Dann legt er das Telefon wieder hin. Wer war das? Niemand. Das war kein Niemand. Also gut. Es war meine Agentin Sally. Sie hat Arbeit f¨ ur dich. Das ist unwichtig. Er sieht mich nicht an. Ich weiß, daß er l¨ ugt, denn mir ist klar, wieviel seine Arbeit ihm bedeutet. Ich lege den Kochl¨offel hin und gehe zu ihm. Michael, du bist ein erstklassiger Fotograf. Nat¨ urlich wollen sie, daß du f¨ ur sie arbeitest. Bilde dir nur nicht ein, ich h¨atte keine Ahnung, was du tust. Aber wegen mir darfst du keine Auftr¨age ablehnen. 180
Seine Stimme klingt gepreßt. Es sind unsere Flitterwochen, verdammt noch mal! Warum darf ich meine Flitterwochen nicht genießen? Es geht um unser Leben. Wir haben einander versprochen, daß wir unser Leben leben w¨ urden. Du mußt deinen Teil des Versprechens halten und kannst Gelegenheiten wie diese nicht ausschlagen. Warum u ¨berl¨aßt du es nicht einfach mir, meine beruflichen Chancen einzusch¨atzen? Er st¨ urmt aus dem Zimmer, und ich folge ihm. Hier geht es nicht um deinen Beruf, das ist pers¨onlich. Pers¨onlicher k¨onnte es gar nicht sein. Es gibt nichts zu diskutieren. Er marschiert zum Fenster und starrt nach draußen. Vielleicht w¨ unscht er sich, er k¨onnte weglaufen, ein normales Leben f¨ uhren, mit einer normalen Frau. Daraus k¨onnte ich ihm keinen Vorwurf machen. Er kann ja nicht einmal w¨ utend auf mich sein, ohne sich gleich daf¨ ur schuldig zu f¨ uhlen, daß er seine Launen an einer Sterbenden ausl¨aßt. Diese Situation ist eine Gemeinheit. Das verstehst du nicht, Nicki. Ich m¨ ußte verreisen. Dann verreist du eben. Du tust, was du tun mußt. Ich brauche keine Krankenschwester, sondern einen Ehemann. Michael, es wird mir nicht gefallen, wenn du fort bist, aber eines Tages werde ich fort sein, und ich weiß nicht, was du tun wirst, wenn du dann deine Arbeit nicht mehr hast. Solange Michael arbeitet, ist er nie wirklich allein. Mir ist bewußt, daß ihm seine Arbeit helfen wird, wenn es soweit ist. Oder f¨ urchtest du dich vor etwas anderem, Michael? Davor, das zu tun, was du wirklich tun willst, der Welt deine Bilder zu zeigen? Weißt du noch, was ich dir auf dem Schiff gesagt habe? Wie lange kann man sich vorbereiten? Es ist h¨ochste Zeit. Ich weigere mich, dir als Ausrede zu dienen. Ich lege mei181
ne Arme um ihn, und wir halten einander fest. Diesmal bin ich die St¨arkere, ich weise ihm den Weg. Ich habe einen Fotografen geheiratet, erkl¨are ich ihm. Also sei ein Fotograf! Bitte. F¨ ur mich. Wir halten einander noch fester. Wie w¨ are es, wenn ich mich um Arbeit in Chicago bem¨ uhe? lenkt Michael schließlich ein. Hier gibt es jede Menge Auftr¨age. Ich werde Sally mitteilen, daß ich mich daf¨ ur entschieden habe. Ich k¨ usse ihn auf die Wange. Weißt du was? Mein begehbarer Wandschrank ist ab sofort deine Dunkelkammer. Eins m¨ochte ich an dieser Stelle klarstellen. Entsagung ist ganz gewiß nicht meine Sache. Es zerreißt mir das Herz, wenn ich Michael sage, daß er wegen seiner Auftr¨age verreisen soll, wenn ich ihn an seine Arbeit verliere, und sei es nur f¨ ur eine Sekunde, weil jeder Augenblick so kostbar ist. Aber dann ist da noch die Wirklichkeit, das Untier, das st¨andig lauert und verhindert, daß die Dinge so sind, wie sie sein sollten. Die Wirklichkeit lebt in meinem Kopf und macht sich mit jedem Kopfschmerz bemerkbar, mit jedem Ticken der Uhr. Am Ende wird die Wirklichkeit siegen, aber ich werde nicht zulassen, daß Michael ihr unvorbereitet gegen¨ ubertritt. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um ihn f¨ ur die Wirklichkeit zu wappnen, ungeachtet meiner eigenen Gef¨ uhle. Wir beenden das Gespr¨ach, indem wir uns vor dem Fenster lieben. Die Matratze ist noch nicht angekommen, wir liegen auf dem Fußboden, aber was soll’s. Wer braucht schon eine Matratze?
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Dreizehntes Kapitel
Der Tod hat die Eigenschaft, daß er Dinge verk¨ urzt, schon bevor er eintritt. Wenn die Uhr tickt, will man sich nicht mit Nebens¨achlichkeiten abgeben, deshalb habe ich bestimmte W¨orter aus meinem Vokabular gestrichen. Zum Beispiel W¨aschewaschen. Ich habe noch keinen Menschen getroffen, der eine bedeutungsvolle Beziehung zu einer Waschmaschine oder einem Trockner hatte, und ich weigere mich, auch nur einen einzigen Gedanken an Waschg¨ange und Fleckenmittel zu verschwenden. Also bringe ich unsere W¨asche in die W¨ascherei. Michael ist ganz und gar meiner Meinung. Wie sich herausstellt, hat er das schon immer so gehandhabt. Ein weiterer Gegenstand, den ich von meiner Liste gestrichen habe, ist das Telefon. Fast h¨atte es mich bei lebendigem Leibe aufgefressen, bis ich u ¨ber meine Anrufe Buch f¨ uhrte und feststellte, daß ich etwa dreißig Prozent meiner Zeit am Telefon verbrachte. Folglich beschloß ich, lieber zu leben, zu f¨ uhlen, zu riechen und zu ber¨ uhren, als in einen seelenlosen Plastikh¨orer zu sprechen. Wer mir etwas mitteilen m¨ochte, muß das von Angesicht zu Angesicht erledigen. Das ist f¨ ur alle Beteiligten besser. Und nach einem von Kalorientabellen bestimmten Leben habe ich endlich aufgeh¨ort, Di¨at zu halten. Heute esse ich jedes Dessert auf der Speisekarte. Schokoladentorte, panna cotta, Bananensplit, Erdbeeren in Schokolade, 183
Kekse, ein Zuckerfest nach jeder Mahlzeit. Und als Mitternachtssnack das absolute Tabu: Pl¨atzchen gefolgt von einem Schokoriegel. Ob ich um Mitternacht noch auf bin? Fast immer. Das Einschlafen f¨allt mir schwer, selbst wenn ich in Michaels Armen liege, denn Schlaf ist f¨ ur mich Zeit, die f¨ ur immer verloren ist. Ich sehe das so: Jede Sekunde, die ich schlafe, ist eine Sekunde weniger, die ich in unsere Beziehung investieren kann, und ich verbringe meine N¨achte lieber damit, Stammkapital aufzubauen. Michael geht es da nicht anders. Ich mache mir Gedanken dar¨ uber, daß er m¨ ude sein muß. Ich sage ihm, daß er schlafen soll, daß es in Ordnung ist, aber er weigert sich, die Augen zu schließen, solange ich wach bin. Deshalb streichen wir morgens um zwei Uhr unser ¨ Loft. Uberhaupt haben wir festgestellt, daß Anstreichen die perfekte Besch¨aftigung f¨ ur zwei Uhr morgens ist, denn um diese Zeit gibt es ohnehin nichts anderes zu tun. Im Grunde ist zwei Uhr morgens die perfekte Zeit f¨ ur alles, was einem in den Sinn kommt, denn diese Uhrzeit kennt keine Konkurrenz mit der u ¨brigen Welt. Genau wie drei Uhr, vier Uhr, und sogar f¨ unf Uhr. Um sechs beginnt die Wirklichkeit schon wieder, sich einzumischen. Man ist nicht l¨anger allein und etwas Besonderes: Die Reporter des Morgenmagazins sind schon unterwegs und berichten u ¨ber die Schlechtwetterfront in Wichita. Ein anderer Vorteil, wenn man die ganze Nacht auf ist, oder zumindest einen Großteil der Nacht – wenn man besch¨aftigt ist, kommt man nicht zum Nachdenken. Im Augenblick halte ich nicht viel von Reflexion. Die Bedeutung von Menschen wie Sokrates, die einen Schierlingsbecher leeren, dann ihre letzten Minuten damit vergeuden, in die Tiefe ihrer Seele einzutauchen, und eine Reihe philosophischer Weisheiten von sich geben, die u ¨berdauern 184
und die Menschen Jahrhunderte sp¨ater noch in Erstaunen versetzen, will sich mir nicht erschließen. Ich meine, hier geht es um Leben und Tod, verdammt noch mal! Man denke nur an die Titanic. Das ist nicht der Augenblick, um die Liegest¨ uhle auf dem Sonnendeck in Reih und Glied aufzustellen. Jede Frau und jeder Mann f¨ ur sich allein. Konzentriere dich auf dich selbst. Egoistisch, sagen Sie? Zugegeben. Aber es verh¨alt sich nun einmal so: Es ist eine magische Zeit. Zeit, das Unm¨ogliche zu tun, ein ganzes Leben in einem Byte unterzubringen. Oder bei dem Versuch draufzugehen – sozusagen. Im Anstreichen war ich nie besonders gut, aber ich kann hervorragend Anweisungen erteilen. Michael schwingt den Roller, und er ist bereits mit den beiden Wohnzimmerw¨anden fertig, die nicht aus Ziegelsteinen bestehen. Wir haben unsere Lieblingsfarbe gew¨ahlt – Blau, wie der Himmel und der Ozean. Das Ergebnis ist ziemlich gut. Ich sitze im Schneidersitz auf dem Boden mit einem Traubeneis in der Hand, als ich eine Dose Spr¨ uhfarbe entdecke. Rote Spr¨ uhfarbe. Und mich u ¨berkommt eine Inspiration. Michael, das machst du ganz toll! Du bist ein Naturtalent. Aber g¨onn dir doch mal eine Pause und wasche den Pinsel aus, sage ich. Die Farbe l¨auft dir schon die Arme herunter. Gute Idee. Was h¨ altst du von einer Pina Colada, w¨ahrend ich mich ausruhe? Hervorragender Einfall! Der Mixer darf nicht aus der ¨ Ubung kommen. Er verschwindet im Badezimmer. Sobald ich das Wasser laufen h¨ore, springe ich auf, greife mir die Spraydose und spr¨ uhe ein großes Herz auf die Ziegelwand. Mitten in das Herz schreibe ich in Sch¨onschrift Ich liebe dich. Als ich gerade einen Pfeil durch die Mitte spraye, kommt Mi185
chael aus dem Bad zur¨ uck und ertappt mich auf frischer Tat. Nicki! Was. . . Ich trete zur¨ uck und begutachte mein Werk. Meisterlich, verk¨ unde ich. Er runzelt die Stirn. So? Vielleicht denkt Michael an die Kaution, die wir jetzt dank meines ungez¨ ugelten k¨ unstlerischen Tatendrangs auf jeden Fall abschreiben k¨onnen. Oh Gott, Michael, es tut mir leid. . . Mit ernstem Gesichtsausdruck nimmt er mir die Spr¨ uhdose aus der Hand. Dann zielt er auf die Wand und spr¨ uht ebenfalls ein Herz – noch gr¨oßer als meins. In die Mitte schreibt er M.S. + N.M.S. Ich nehme die Herausforderung an. Innerhalb einer halben Stunde ist die ganze Wand mit Herzen und Kußm¨ undern verziert, und Michael und ich lachen hysterisch. Ich liebe dich, erkl¨ art Michael, und wir k¨ ussen uns und beschmieren uns dabei gegenseitig mit Farbe. Es ist nicht etwa so, daß wir die Wand ruiniert h¨atten, setze ich ihm auseinander. Du muß es als Kunstwerk betrachten, ein Denkmal f¨ ur die Unsterblichkeit der Liebe – wie die Hieroglyphen und Wandgem¨alde in den Pyramiden. Er k¨ ußt meine Haare. In ein paar hundert Jahren werden Arch¨ aologen diese Wand ausgraben und sagen: >Hier lebten zwei Menschen, die sich sehr geliebt haben.< Es wird eine ganz ber¨ uhmte Wand. Eine Touristenattraktion. Der Elvis unter den W¨anden. Er zieht mein farbverschmiertes T-Shirt hoch und k¨ ußt meinen Bauch. Erz¨ahl das mal der Hausverwaltung! Zumindest glaube ich, daß er das murmelt, denn 186
er k¨ ußt mich wieder und arbeitet sich dabei weiter nach unten. Genau das habe ich vor. Aber erst, wenn ich meinen Mann ein paar hundert Mal zur¨ uckgek¨ ußt und die neue Matratze ausprobiert habe, die heute, oder vielmehr gestern, geliefert wurde. Wann wir jemals schlafen? Ich muß zugeben, daß wir nach der Sache mit der Wand und einer Stunde Leidenschaft ziemlich ersch¨opft waren, als endlich die Sonne aufging. Und irgendwie ist es bereits hellichter Nachmittag, als Dusty meine Hand anstubst, weil er Gassi gehen m¨ochte. Mir f¨allt ein, daß wir versprochen haben, in gerade mal zwei Stunden Eric, Emily und ein paar ihrer Freunde zu treffen. Beim Chinesen. Bist du sicher, daß du gehen willst? fragt Michael und fl¨ uchtet sich tiefer unter die Decke, als Dusty aufs Bett geklettert kommt. Ja, die beiden fehlen mir wirklich. Er tut so, als w¨are er verletzt. Oh, ich bin also kein angemessener Ersatz? Warum bitten wir sie nicht gleich, bei uns einzuziehen? Na ja, ganz so sehr vermisse ich sie vielleicht doch nicht. Es macht irgendwie Spaß, nackt durch die Wohnung zu laufen. Ich liege reglos da und schließe die Augen. In meinem Kopf passiert etwas, ganz weit weg, und ich m¨ochte, daß es dort in der Ferne bleibt. Ich werde es ignorieren, aufstehen, mein rotes Chinakleid anziehen, das hautenge mit dem Schlitz bis zu den Schenkeln, das Emily mir aufgeschwatzt hat und das ich noch nicht getragen habe. Es ist komisch. Seitdem Emily sich entschlossen hat, Tier¨arztin zu werden, tr¨agt sie Baumwollhosen, weiße Hemdblusen, Pferdeschwanz und Stirnband: Ralph Lauren kombiniert mit Fußballmutter. Und ich liebe auf einmal Verkleidungen: Es gef¨allt mir, etwas 187
auszusagen. Wie mit dem Graffito an der Wand – ich m¨ochte, daß man sich an mich erinnert. Eigentlich bestehe ich sogar darauf. Deshalb trage ich lange Ohrringe, Kleider, die meine Figur betonen, hohe Plateausohlen. Ich habe mir das zugelegt, was Zeitschriften als pers¨onliche Duftnote bezeichnen, ein Jasminbade¨ol, das ich in Armbeugen, Kniekehlen und an den Hals tupfe. Beim leisesten Hauch kann Michael sich nicht mehr beherrschen. Der Duft von Jasmin str¨omt aus unserer Bettw¨asche und liegt in der Luft, nachdem ich einen Raum verlassen habe. Selbst wenn ich fort bin, bin ich noch da. Mit einem Pinsel lege ich blutroten Lippenstift auf. Sieh dich im Spiegel an, Nicole! Gef¨allt dir, was du da siehst? Eine Frau, Geliebte, Ehefrau. Michael beißt in den sauren Apfel, erhebt sich und geht mit Dusty spazieren. Ich liege da, warte, bis die T¨ ur ins Schloß f¨allt. Dann stehe ich auf und tappe ins Badezimmer. Meine Pinsel, Fl¨aschchen und Sch¨onheitselixiere befinden sich in K¨orben auf der Ablage, aber ich steuere auf den Medizinschrank zu. Meine Tabletten. Meine Medikamente. Ich f¨ uhle mich wie eine Frau auf dem Weg zum Roulettetisch in Las Vegas. Wo wird die kleine Kugel heute abend landen? Rot oder Schwarz? Freiheit oder Tod? Ich schlucke meine Ration, sinke wieder aufs Bett und halte den Atem an, beschw¨ore die Wirkung herauf. Der Schl¨ ussel dreht sich im Schloß; Michael ist zur¨ uck. Nick? Er betritt den Raum. Du hast gemogelt! Du bist gar nicht aufgestanden. Aber warte, dieses Spiel kann ich auch spielen. Er setzt sich neben mich. Hast du deine Meinung ge¨andert? Willst du zu Hause bleiben? Ich greife nach seinem Arm. Einigen wir uns in der Mitte. Lassen wir die Vorspeise aus. Eine Stunde sp¨ater kommen wir endlich bei meinem Lieblingschinesen an. Das war nicht sehr h¨oflich, 188
fl¨ ustere ich, als wir uns zum Tisch schieben. Was werden sie von uns denken? Absolut nichts, behauptet Michael leichthin. Wir haben uns ein wenig versp¨atet, mehr nicht. Sind aufgehalten worden. Emily, Eric und zwei M¨anner, die ich nicht kenne, halten die Stellung. Emily wirft uns einen Blick zu und zieht eine Augenbraue hoch, was besagt: Ich weiß, was ihr zwei gemacht habt! Sie weiß es immer. Wenn es um Sex geht, hat sie hellseherische F¨ahigkeiten. Das hier sind Dr. Jim Anders und Dr. Jay Steinberg, verk¨ undet Em und weist auf die beiden M¨anner, die links und rechts von ihr sitzen. Einer sieht aus wie ungef¨ahr achtzehn. Den w¨ urde ich nur ungern an mir herumoperieren lassen. Wir sch¨ utteln uns die H¨ande, und ich lasse mich in der Nische Michael gegen¨ uber nieder. Wir trinken Champagner, informiert mich Emily und deutet auf die Flasche. Ich weiß, daß sie Champagner bestellt haben, weil es mein Lieblingsgetr¨ank ist, aber diesmal muß ich passen. Ich habe zu viele Tabletten geschluckt. Heute nicht, danke, sage ich, beuge mich zu Emily und k¨ usse sie, w¨ahrend Michael ein Foto von uns macht. Jimmy hat uns gerade von einer Patientin erz¨ ahlt, deren Leben er gerettet hat , s¨auselt Em, offensichtlich bis u ¨ber beide Ohren verknallt. Sie kann die Augen nicht von dem Mann abwenden, der Menschen das Leben rettet. Er hat rotes Haar, ein Babygesicht, Sommersprossen, eine Brille und w¨ urde in gewissen Kreisen als minderj¨ahriger Streber gelten. Nicht Emilys u ¨blicher Typ, aber augenscheinlich findet sie etwas an ihm. Ich frage mich nur, was. Nun, die Patientin war eine Dobermannh¨ undin und hatte gerade zehn Welpen geworfen, beginnt Jim, 189
w¨ahrend Emily sich ihm zuwendet, um ja kein Wort zu verpassen. Oh. Das ist es also. H¨ or dir das an, unterbricht Emily. Er hat sie alle gerettet, es war unglaublich! Nein, du warst unglaublich, versichert er und sch¨ uttelt den Kopf. Du wußtest genau, was zu tun war, und du hast keinen Augenblick die Nerven verloren. Du bist ein Naturtalent, ist dir das klar? H¨ or auf, sagt Emily und strahlt. Es hat sich gelohnt herzukommen, nur um das hier mitzuerleben. Irgendwie glaube ich, daß wir uns um Emily keine Sorgen mehr machen m¨ ussen. Die beiden sind f¨ ureinander geschaffen. Eric hat ebenfalls verstanden. Entschuldigt, wenn ich euch unterbreche, aber Jay hier hat heute auch operiert, und seine Patientin war eine scharfe Dobermannh¨ undin von der zweibeinigen Sorte bei ihrem dritten Lifting. Ich habe sie zehn Jahre j¨ unger gemacht, behauptet Dr. Jay. Sie ist begeistert von mir. Ich habe assistiert, l¨ aßt Eric uns wissen. Mein erstes Lifting. Du warst wunderbar, lobt ihn Jay, obwohl du vielleicht eine Spur zu dick aufgetragen hast, als du ihr gesagt hast, daß sie genau wie Melanie Griffith aussieht. Ich bitte dich, Jay, die Frau wohnt in Beverly Hills. Das ist das ultimative Kompliment. Eric, sie ist siebzig. Sie geht bestenfalls als Tippi Hedren durch. Du bist unverbesserlich. Seelenverwandte, fl¨ ustert Michael. Wir h¨atten zu Hause bleiben sollen. Diese vier brauchen uns nicht. Bitte noch eine Portion ged¨ ampfte Gem¨ usekn¨odel, bestellt Emily. 190
Wonach ist dir, Nicki? Ich bin nicht hungrig, aber ich sage: Eiersuppe. Nick, das ist kein Gericht, man kann es noch nicht einmal mit St¨abchen essen. Was noch? Das ist alles. Wirklich. Jetzt erz¨ ahlt endlich weiter von dieser Dobermannh¨ undin. Die verschiedenen G¨ange werden nacheinander serviert, und Michael gibt die Geschichte unserer Motorradfahrt in Griechenland zum besten. Ihr h¨ attet die beiden auf dem Motorrad sehen sollen, sagt Emily lachend. Es war urkomisch. Was willst du damit sagen? Michael ist emp¨ ort. Ich war Evel Knievel. Ist das dein Ernst? unterbreche ich ihn. Du warst unm¨oglich. Ich dagegen war brillant. Ich dachte, ich war der Fahrer. Du willst uns wohl zu verstehen geben, daß du ein brillanter Sozius warst. Reich mir bitte den Reis. Als das dritte Gericht auf dem Tisch auftaucht, scheint die Unterhaltung wie Sturmwolken um mich herumzuwirbeln. Es ist mir zu anstrengend, noch l¨anger mitzuhalten, also lehne ich mich zur¨ uck und h¨ore zu. Michael bemerkt es sofort. Nick? Er beugt sich u ¨ber den Tisch. Ich will nicht gehen, aber ich kann sie nicht mehr leugnen. Die Kopfschmerzen. Wie ein Vorschlaghammer, der eine Wand von innen nach außen durchbricht, haben sie sich durch meinen Sch¨adel gebohrt und h¨ammern erbarmungslos. Entweder verlieren die Pillen ihre Wirkung, oder sie haben nie richtig gewirkt. Es ist schwer zu sagen, anderseits spielt es auch keine Rolle. Ich m¨ochte heim, telegraphiere ich Michael. Wir brauchen keine Worte. Entschuldigt, aber ich habe ganz vergessen, Nicki zu sagen, daß ich morgen bei Sonnenaufgang zu einem Shoo
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ting muß. Ich hoffe, es macht euch nichts aus, wenn wir uns jetzt schon verabschieden, improvisiert Michael und steht auf. Er weiß, wenn er jetzt sagt, daß ich mich nicht wohl f¨ uhle, werden sie wie die Geier u ¨ber mich herfallen, der Doktor und die Tier¨arztin – unter einer Nasenkorrektur und einer Staupeimpfung werde ich wohl kaum davonkommen. Es hagelt zwar Proteste, aber die Wahrheit ist, daß die kleine Gruppe auch ohne uns ganz vergn¨ ugt ist. Wir fliehen. Was ist los, Nick? fragt Michael, sobald wir außer H¨orweite sind. Soll ich den Arzt anrufen? Bei dem Wort Arzt schwingt ein Hauch von Panik in Michaels Stimme mit, und das macht mich traurig. ¨ Keine Arzte. Ich bin nur m¨ ude. Ein bißchen Ruhe, und es geht mir wieder gut. Wenn das nur die Wahrheit w¨are! Aber ich dr¨ ucke Michaels Hand.
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Vierzehntes Kapitel
Mein Rezept f¨ ur H¨ahnchensalat lautet folgendermaßen: Man nehme ein fertiges Brath¨ahnchen und ziehe die Haut ab. Man verf¨ uttere die Haut an den Hund, aber niemals die Knochen, weil sie splittern und der Hund sich verletzen k¨onnte (dieser Tip stammt von Emily). Dann l¨ose man das Fleisch von den Knochen und schneide es in zwei Zentimeter große W¨ urfel. Dazu kommen eine reife Mango und ein Becher fettarmer Naturjoghurt, eine gehackte Fr¨ uhlingszwiebel und ein halber Teel¨offel Currypulver. Das Ganze mit einer Gabel verr¨ uhren. Die Kreation wird auf einem Blatt Kopfsalat serviert, auf keinen Fall Eisbergsalat. Dieses Rezept gef¨allt mir so gut, weil man nur etwas fertig zu kaufen, kleinzuschneiden, abzul¨osen und zu verr¨ uhren braucht. Dazu bin selbst ich in der Lage. Moment mal. Hatte ich nicht erst k¨ urzlich dem Kochen f¨ ur alle Zeiten abgeschworen? Schon richtig, aber dann kam ich zu dem Schluß, daß Michael heute etwas Besonderes verdient hat, und diesen Salat kann ich tats¨achlich zubereiten. Glauben Sie mir, auch wenn einem der Kopf auf den Schultern dr¨ohnt, kann man noch r¨ uhren. Außerdem habe ich nach einem Leben voller hochgesteckter Ziele erkannt, daß die kleinen Dinge viel wichtiger sind, als ich je f¨ ur m¨oglich gehalten h¨atte. Irgend jemand, ich habe vergessen, wer, hat einmal gesagt: 193
Das Leben passiert, w¨ahrend du andere Pl¨ane schmiedest. Das trifft den Nagel auf den Kopf. W¨ahrend ich das H¨ahnchen zubereite, klingelt das Telefon. Hallo? Hallo, ich versuche, Nicole McBain zu erreichen. Die Stimme kann ich nicht zuordnen, aber offensichtlich weiß der Mann am anderen Ende der Leitung nicht, daß ich jetzt Nicole Schuster heiße. Am Apparat. Ich putze meine fettigen H¨ande an einem Handtuch ab. Wer spricht? Arnold Gardener. Von Avery, Gardener und Brown? Genau. Ich bin Nicole. Ich erinnere mich noch gut an mein Vorstellungsgespr¨ach bei Mr. Gardener und kann die Unterhaltung, in der er mir die Praktikantenstelle angeboten hat, wortw¨ortlich wiedergeben. Nach meinem Aufenthalt im Krankenhaus habe ich ihm geschrieben und bedauernd abgelehnt. Nicole, wir haben versucht, Sie zu erreichen, aber Ihr Anschluß ist abgemeldet. Das ist richtig, Mr. Gardener. Ich habe geheiratet und bin umgezogen. Herzlichen Gl¨ uckwunsch! Schließlich habe ich beim College angerufen und dort Ihre neue Telefonnummer erfahren. Ich hoffe, Sie sind mir nicht b¨ose. Nat¨ urlich nicht. Nun, der Grund f¨ ur meinen Anruf ist Ihr Brief, und offen gesagt, ich m¨ochte Sie umstimmen. Haben Sie inzwischen eine Stelle in einer anderen Kanzlei angenommen? Nein, das ist es nicht, Mr. Gardener. Ich verstehe. Sie waren mit Ihrer Hochzeit besch¨aftigt. Meine Tochter hat im letzten Jahr geheiratet.
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Die ganze Familie stand sechs Monate lang kopf. Meine Frau hat sich bis heute nicht davon erholt. Jedenfalls hat sich die Praktikantin, die wir schließlich eingestellt haben, nicht bew¨ahrt, deshalb ist der Job wieder frei, und wir haben uns gefragt, ob Sie ihn nicht doch noch m¨ochten. Janet Avery will Sie unbedingt in unserem Team haben. Sie hat einen ganz besonderen Auftrag vom Innenministerium, wir glauben, daß Sie ihn als Herausforderung empfinden w¨ urden. Ich m¨ochte durch das Telefon springen und ja sagen. Ich m¨ochte Mr. Gardener um den Hals fallen und ihn mitten auf die sorgf¨altig u ¨ber seine Glatze gek¨ammten Haarstr¨ahnen k¨ ussen. Ich m¨ochte ein Kost¨ um anziehen, mit dem Bus der Linie 157 zur Ecke Michigan und Congress fahren und meinen mir zustehenden Platz im Team einnehmen. Verdammt, ich habe so hart daf¨ ur gearbeitet; ich verdiene es. Tr¨anen tropfen auf das Brath¨ahnchen. Stand in dem Rezept etwas von Tr¨anen? Statt dessen antworte ich: Vielen Dank, Mr. Gardener. Sie wissen nicht, was Ihr Angebot f¨ ur mich bedeutet. Und es tut mir leid, daß ich nicht pers¨onlich abgesagt habe. Ein Brief erschien mir einfach angemessener. Bitte verstehen Sie, ich kann im Augenblick keine Stelle antreten. Nun, Nicole, ich kann nur sagen, daß das nicht ungew¨ohnlich ist. Meiner Tochter ging es direkt nach ihrer Heirat ganz ¨ahnlich, aber wissen Sie, ein paar Monate sp¨ater wollte sie schon wieder arbeiten, und jetzt unterrichtet sie. Selbstverst¨andlich respektieren wir Ihre W¨ unsche, aber wenn ich etwas anmerken darf, Nicole: Von den vielen Praktikanten, die ich im Laufe der Jahre kennengelernt habe, schienen Sie mir am besten in unsere Kanzlei zu passen. Ich hatte den Eindruck, daß Sie auf der gleichen Linie mit uns waren. Nun, vielleicht ¨andern 195
Sie Ihre Meinung bis zum Herbst. Die T¨ ur steht Ihnen jederzeit offen. Nein, Mr. Gardener, die T¨ ur ist mir verschlossen. Oder, um es pr¨azise auszudr¨ ucken, sie ist mir vor der Nase zugeschlagen worden. Weil ich nie ein ganzes Leben haben werde. Mein Leben ist wie diese H¨ahnchenknochen: so gut wie abgenagt. Ich lebe von den Brocken, die u ¨brig sind, und hoffe, daß sie noch eine Weile reichen. Vielen Dank, Sir, fl¨ ustere ich und schaffe es aufzulegen, ohne aufzuschluchzen. Ich stehe lange da, starre auf die Arbeitsplatte und beschw¨ore H¨ahnchen und Mango, sich von selbst in einen Salat zu verwandeln. Ich denke noch dar¨ uber nach, wie deprimierend Mr. Gardeners Anruf war, als mich ein Bild wie ein Blitz aus heiterem Himmel trifft. Ein Spaziergang im Park, an einem heißen Sommertag. Michael ist wegen eines Auftrags unterwegs, und ich schlendere mit Dusty durch den Teil des Lincoln Parks, in dem sich der Bauernhof und der Zoo befinden. Pl¨otzlich entdeckt Dusty einen Kinderwagen und springt hinterher. Er will sich mit dem Baby in dem Wagen anfreunden, das er vermutlich als Artgenossen betrachtet. Eine kleine Hand greift nach unten, Dustys Zunge schnellt nach oben, und das Band ist gekn¨ upft. Ein s¨ ußer Hund, sagt die Mutter des Babys. Und Ihre Kleine ist wirklich niedlich, antworte ich h¨oflich und l¨achle in Richtung des Kindes. Das M¨adchen lehnt sich vorn¨ uber und verliert seine M¨ utze, die auf das Pflaster f¨allt. Ich beuge mich nach unten und hebe sie auf. In dem Augenblick, als die M¨ utze meine Hand ber¨ uhrt, werden meine Knie weich. Es ist die s¨ ußeste, winzigste M¨ utze, die ich je gesehen habe, blaßrosa mit schwarzen und weißen Sch¨afchen. Das Garn f¨ uhlt 196
sich weich an, wie Angora. Vorsichtig setzte ich die kleine M¨ utze wieder auf den Kopf des Babys. Meine Finger streifen sein seidiges blondes Haar. Ich rieche zarten Babyduft. Komm, Dusty, wir gehen weiter, sage ich und zerre an der Leine. Unser Abgang ist ziemlich abrupt. Das war es also. Das Baby, das ich nie haben werde. Das wir nie haben werden. Ich werde niemals wissen, ob unser kleines M¨adchen Michaels Augen und meine Nase haben w¨ urde oder umgekehrt. Ob sie musikalisch w¨are oder eine gute Fußballspielerin. Ob es u ¨berhaupt ein M¨adchen w¨are. Das ist das Schlimmste von allem, zumal ich den Gedanken an Kinder l¨angst aufgegeben hatte, so trifft mich diese nackte, schmerzhafte Sehnsucht nach einem Baby v¨ollig unvorbereitet. Auf einmal wird mir alles klar. Ich wollte keine Kinder, weil ich nicht mit Michael verheiratet war. Seit ich mit ihm verheiratet bin, ist es die nat¨ urlichste Sache der Welt, sich eine Familie zu w¨ unschen. Zu wissen, daß es irgendwann passieren kann, wenn nicht jetzt, dann doch eines Tages, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Wie oberfl¨achlich war ich doch zu behaupten, daß wir Gl¨ uck h¨atten, nicht um zwei Uhr morgens von einem schreienden Kind geweckt zu werden. Wie leichtfertig habe ich mich u ¨ber das Windelwechseln mokiert. Ich werde niemals ein Kind haben. Das ist eine Tatsache. Michael dagegen wird vielleicht eines Tages ein Kind haben, mit einer anderen Frau. Das ist ebenfalls eine Tatsache, und vielleicht die schmerzlichste. Wie kann ich es zulassen, daß eine andere Frau Michaels Kind zur Welt bringt? Ich u ¨berlege, wie mir der Gedanke an Michael mit einer anderen Frau gef¨allt. Keine sch¨one Vorstellung. Aber wie kann ich mir w¨ unschen, daß Michael eines Ta197
ges ein Kind ansieht und erkennt, daß es nie Teil seines Lebens sein wird? Soll er den Schmerz f¨ uhlen, den ich jetzt empfinde? Nein. Niemals. Also werde ich von ganzem Herzen darum beten, daß Michael eine neue Liebe findet und das Kind bekommt, das er verdient. Wenn er sich str¨aubt, werde ich ihm notfalls aus dem Himmel einen gewaltigen Tritt in den Hintern versetzen. Und wenn es das letzte ist, das ich tue.
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Fu ¨nfzehntes Kapitel
Als ich heute morgen die Augen aufschlage, bringt Michael mir ein Fr¨ uhst¨ uckstablett, allerdings ohne Fr¨ uhst¨ uck. Herzlichen Gl¨ uckwunsch zum vierten Hochzeitstag, sagt er und stellt das Tablett neben mich aufs Bett. Dusty kommt herbei und sucht nach dem nicht vorhandenen Fr¨ uhst¨ ucksspeck, und ich hole ihn zu mir unter das Oberbett. Michael greift zur Kamera und knipst mich zusammen mit dem Hund unter der Decke. Ich finde, ihr zwei nebeneinander im Bett gebt ein wunderbares Paar ab! Seit vier Wochen sind wir jetzt verheiratet. Einen ganzen Monat. Wir sind ein altes Ehepaar. Auf dem Tablett liegt eine große rechteckige, in wundersch¨ones lavendelfarbenes Leinen eingeschlagene Schachtel. Vorsichtig hebe ich den Deckel an. Ich entdecke eine Schicht Pergamentpapier und darunter einen Stapel geschmackvoll aufgezogener Fotos. Das erste ist von mir. Genau wie das zweite. Und das dritte. Sie sind alle von mir. Die Bilder sind großartig, Michael. Bis auf das Mo tiv. Was willst du damit sagen? Du bist hinreißend! Siehst du das nicht selbst? Er nimmt den Stapel Fotos und stellt sie einzeln im Zimmer auf. Dort bin ich auf dem Deck der Circe, in der Ferne fallen Sonnenstrahlen auf das Wasser. Im Tempel der Aphrodite werfe ich der Kamera eine Kußhand zu. Am Rand einer Klippe 199
zerzaust der Wind mein Haar, ich habe die Arme zum Himmel gestreckt, bin zum Sprung bereit. Jede Aufnahme von mir wirkt leicht verschwommen, so als ob ich mich bewege, sehr schnell irgendwohin unterwegs bin. Ich habe mit der Belichtungszeit und den Filtern experimentiert, erkl¨art mir Michael. Mir gef¨allt, was auf diesen Bildern passiert. Auf gewisse Weise erinnern sie an Man Ray. Und das Motiv? Das Motiv liebe ich. Ich habe auch ein Hochzeitsgeschenk f¨ ur dich. Was? Dusty ist stubenrein. Wir haben es endlich geschafft. Ein Monat, sagt Michael, beugt sich u ¨ber das Bett und k¨ ußt mich sanft. Die Worte liegen in der Luft. F¨ ur uns ist jeder Tag eine Errungenschaft, aber auch zugleich ein Verlust. Ein Kalenderblatt, abgerissen und f¨ ur immer verloren, ein Schritt weiter auf dem Weg zum Ende. Je l¨anger wir zusammen sind, desto weniger Grund haben wir zu feiern. Aber wir feiern gern, daher finden wir auch mehr Gr¨ unde als andere Leute: vor vier Wochen haben wir geheiratet; vor zwei Monaten haben wir uns kennengelernt; vor dreißig Tagen haben wir einander unsere Liebe gestanden; vor zwei Wochen wurde Dusty gegen Tollwut geimpft; egal was, wir feiern alles. Michael und ich sind beide im Winter geboren, also haben wir zwei Nicht-Geburtstage gefeiert, ganz einfach, damit wir Torte essen, die Kerzen ausblasen und einander Happy Birthday vorsingen konnten. Zu unserem einw¨ochigen Hochzeitstag hat Michael mir ein antikes herzf¨ormiges Medaillon mit einem Amethyst, meinem Geburtsstein, geschenkt, das ich seither nicht mehr abgelegt habe. Er hat von mir ein Buch u ¨ber 200
Alfred Stieglitz bekommen, einen Fofografen, den er sehr bewundert. Anl¨aßlich unseres zweiw¨ochigen Hochzeitstages habe ich Michael mit Karten f¨ ur ein Konzert unter freiem Himmel in einem Vorort u ¨berrascht, wo wir mit Kerzen und einer Flasche Wein auf einer Decke auf dem Rasen saßen und unter den Sternen Beethoven h¨orten. Michael hat mir eine große Gardenie mit Dutzenden von Bl¨ uten u ¨berreicht, die unseren Loft wie einen Garten duften lassen. Zu unserem dreiw¨ochigen Hochzeitstag habe ich eine riesige Schachtel mit einer rosa Schleife bekommen, in der sich eine weitere Schachtel mit einer gelben Schleife verbarg und darin eine Schachtel mit einer pfirsichfarbenen Schleife – und so weiter, bis ich in der letzten Schachtel, die kleiner war als mein Handteller, einen Kamm entdeckte, verziert mit winzigen, wundersch¨onen Muscheln in den Farben des Sonnenuntergangs. Mein Geschenk f¨ ur ihn war ein Aquarell von einem Strand, der mich an Griechenland erinnerte. Aber in erster Linie schenken wir einander Liebe. Ich habe einmal ein Fernsehinterview mit einem ber¨ uhmten Rennfahrer gesehen. Der Reporter fragte ihn nach seinem Erfolgsgeheimnis. Der Fahrer antwortete, daß es f¨ ur den Durchschnittsmenschen so aussehe, als ob die Wagen in einem Rennen mit atemberaubender Geschwindigkeit u uhren. Aber f¨ ur ihn ver¨ber die Piste f¨ langsame sich die Zeit, sobald das Rennen begonnen habe. Eine normale Sekunde werde f¨ ur ihn zur Stunde, eine Minute zur Ewigkeit. Er sei sich jedes Bruchteils einer jeden Sekunde bewußt, jede Sekunde sei f¨ ur ihn eine bewußte Erfahrung, die es ihm erlaube, den Augenblick zu meistern und die ihm zur Verf¨ ugung stehende Zeit zu dehnen. Egal wieviel Zeit uns verg¨onnt ist, es ist ein Leben lang. Michael sitzt auf der Bettkante. Sollen wir ausgehen 201
zum Fr¨ uhst¨ uck? Nein. Wie w¨ are es mit einem meiner grandiosen Omelettes? Vielleicht. Aber im Moment bin ich nicht hungrig. Er verlagert sein Gewicht gerade so weit, daß ich merke, er ist auf der Hut. Warum? Kein besonderer Grund. Kopfschmerzen? Hmmm. . . Ich kann Michael in dieser Beziehung nie wieder anl¨ ugen. Schau mich an. Ich f¨ uhle, wie eine Welle der Erleichterung u ¨ber mir zusammenschl¨agt, weil ich meine Gef¨ uhle endlich mit jemandem teilen kann. Ich h¨atte es Michael niemals erz¨ahlt; aber er hat es nat¨ urlich gesp¨ urt. Wahrscheinlich hat er es von Anfang an gewußt. Haben wir beide Illusionen gehegt? Andererseits kann mir niemand weismachen, daß Selbstt¨auschung nicht gelegentlich die angenehmere L¨osung ist. Michael preßt die Lippen so unmerklich zusammen, daß es niemandem außer mir aufgefallen w¨are. Er schiebt Schachtel und Tablett beiseite, legt sich neben mich und h¨alt meine Hand. Unsere Oberk¨orper heben und senken sich, w¨ahrend wir im gleichen Rhythmus atmen. Was willst du tun? fragt er. Ich bin kein Narr. Ich weiß, er erwartet, daß ich einen Bluttest machen oder meinen Kopf einmal mehr durchleuchten lasse. Ich m¨ochte nach Six Flags fahren, sage ich. Was ist Six Flags? Ein Vergn¨ ugungspark. Du weißt schon – mit Karussells, Achterbahn, Zuckerwatte. Achterbahn? 202
Feige? Ich bohre ihm meinen Ellenbogen in die Sei-
te. Autsch! Nat¨ urlich nicht! H¨ ohenangst? Ich? Also los! Das w¨ unsche ich mir zu unserem Hochzeitstag. Er dr¨ uckt meine Hand. Nick, bist du dir sicher? Meinst du, daß es richtig ist, wenn du Achterbahn f¨ahrst? Eine Achterbahnfahrt wird sich weder positiv noch negativ auf meinen Gesundheitszustand auswirken. Ich f¨ uhle mich h¨ochstens besser. Besonders mit dir. In Amerika muß man mit seinem Angetrauten in einen Vergn¨ ugungspark gehen, das ist eine alte Sitte. Er sieht mich an. Na gut, dann ist es eben bei uns Sitte. Ab jetzt. Wir nehmen Justin mit. Wenn wir Kate gleich anrufen, l¨aßt sie ihn sicher mitkommen. Pl¨otzlich versp¨ ure ich den verzweifelten Wunsch nach einer Achterbahnfahrt. Ich will normal sein, nicht krank. Als wir uns dem Vergn¨ ugungspark n¨ahern, sehen wir wie eine ganz normale amerikanische Familie aus – eine Frau, ein Mann und ein kleiner Junge mit Baseballm¨ utze, unterwegs zu einem Ausflug. Justin ist kaum zu bremsen, er will alles mitnehmen: Batman, den Joker, Superman, Karussells, die jedem vern¨ unftigen Erwachsenen das Blut in den Adern gefrieren lassen. Das ist toll, Nicki! kreischt er und zerrt an meiner Hand. Doch nicht etwa besser als unsere Hochzeit! Ich versuche, entsetzt dreinzublicken.
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Nur ein bißchen, sagt er gl¨ ucklich. Offensichtlich wird er von keinerlei Schuldgef¨ uhlen geplagt. Wir stellen uns an f¨ ur Eist¨ uten, Popcorn, Hot-dogs, jede erdenkliche Art von Junk food. Wow! Justin ist begeistert. Meine Mom kauft mir so etwas nie. Dann bleibt es unser Geheimnis, Kumpel, sagt Michael und zwinkert ihm zu. Aus dem Augenwinkel sieht er mich an, und ich weiß, daß er mich beobachtet und u uhle. ¨berlegt, wie ich mich wohl f¨ Ich bem¨ uhe mich, ihn nichts merken zu lassen. Mit den Kopfschmerzen verh¨alt es sich so: Wenn man Achterbahn f¨ahrt, denkt man an etwas anderes. Justin und ich fahren zusammen auf dem Bat Challenge, Michael ist direkt hinter uns. Auf die gr¨oßte Achterbahn d¨ urfen wir nicht, weil Justin noch zu klein ist. Aber das ist egal, denn viel spannender als die Achterbahn ist der Ausdruck auf Justins Gesicht. Unser Wagen klettert hoch, saust in die Tiefe, fegt um eine Kurve, und wir kreischen und klammern uns fest aneinander. Als die Geschwindigkeit sich endlich verlangsamt, f¨ uhle ich mich an mein Leben erinnert. Ich frage mich, was wohl dabei herauskommen w¨ urde, wenn sie eine Geisterbahn nach meinem Leben gestalten w¨ urden. Nickis Nemesis. Allerdings bef¨ urchte ich, wenn mein Leben eine Geisterbahn w¨are, w¨ urde man die wohl aus dem Park entfernen m¨ ussen. Es w¨ urde zu viele Beschwerden hageln. Zu gruselig. Zu schockierend. Und am allerschlimmsten: zu kurz. Die Kunden w¨ urden ihr Geld zur¨ uckverlangen. Nun, ich habe keine Wahl, aber ich habe Michael und Justin, deshalb w¨ urde ich mit niemandem auf der Welt tauschen.
Wieder zu Hause, geht Michael mit Dusty spazieren, und ich schlucke noch ein paar Pillen. Auf dem Weg in die 204
K¨ uche ist es pl¨otzlich so, als ob jemand das Licht ausgeknipst h¨atte. Ich weiß, was da mit mir passiert, und ich w¨ unschte, ich w¨ ußte es nicht. Jetzt heißt es Nerven bewahren. Die Nerven zu verlieren hat mich schon beim letzten Mal nicht weitergebracht, also besteht keinerlei Veranlassung, es noch einmal zu versuchen. Ich taste mich mit den H¨anden voran, suche den Weg ins Wohnzimmer, finde das Sofa und setze mich hin. Und warte. Ich h¨ore, wie sich die Wohnungst¨ ur ¨offnet, Michael Dustys Leine l¨ost und sie auf die Arbeitsplatte legt. Seine Schritte auf dem Holzboden. Die K¨ uhlschrankt¨ ur geht auf. Kannst du es ertragen, dir u ¨ber das Abendessen Ge danken zu machen, Nick? erkundigt er sich. Du wolltest Pasta kochen. Heute abend lieber nicht, wenn es dir recht ist. Was h¨altst du davon, wenn wir uns etwas kommen lassen? Meine Stimme klingt normal. Angeblich klingen die Stimmen von Verr¨ uckten oft ganz normal. Warum sitzt du hier im Dunkeln? Ich h¨ore, wie er das Licht einschaltet. War es dunkel? Das war mir gar nicht bewußt. Jetzt ist es also soweit. Mein ganz pers¨onliches Monster ist zur¨ uckgekehrt, hat nach mir gegriffen und mich an diesen furchtbaren Ort gezerrt, von dem es kein Zur¨ uck gibt. Vielleicht bekomme ich noch einmal einen Aufschub. Schließlich w¨are es nicht das erste Mal. So, sagt Michael. Das d¨ urfte ein wenig Licht auf die Sache werfen. Also. Wie w¨are es mit Thail¨andisch? Ich sehe ein, daß ich nicht ewig auf dem Sofa sitzen bleiben kann. Ich stehe auf und bewege mich auf den Klang von Michaels Stimme zu. Mein Fuß ber¨ uhrt etwas Weiches, Festes. Dusty jault auf, als ich stolpere. 205
Nick! Michael f¨angt mich auf, nimmt meinen Arm und zieht mich an sich. Tut mir leid, Dusty, sage ich. Guter Hund. Ich greife nach ihm, strecke die Finger aus. Dusty ist nichts passiert, Nicki, sagt Michael leise, nimmt meine Hand und h¨alt sie. Aber was ist mit uns? Wir k¨onnen nicht so tun, als ob nichts w¨are. Seine Brust f¨ uhlt sich so beruhigend an. Uns geht es nicht gut. Ich w¨ unschte nur, es w¨are anders, das ist alles. Aber wenn es schon sein muß, sind wir wenigstens zusammen. Und was jetzt? fragt er und streichelt mein Haar. Weißt du noch, daß wir uns in unserem Eheversprechen >in guten wie in schlechten Zeiten< gelobt haben? Nat¨ urlich. Nun, ich vermute, das hier war mit den schlechten Zeiten< gemeint.
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Sechzehntes Kapitel
Nur aus einem einzigen Grund sitze ich heute wieder im Sprechzimmer des Gehirnspezialisten, und dieser Grund heißt Michael. Es w¨are nicht fair, wenn er alles ganz allein mit mir als seinem einzigen Berater durchstehen muß. Außerdem lebt er immer noch in der Hoffnung, es k¨onnte mir irgendwann doch wieder bessergehen, trotz allem. Vermutlich muß er das glauben – aber ich muß mich mit dem auseinandersetzen, was sich in meinem Kopf abspielt. Genau wie Dr. Graham. Ich h¨ore, wie er seinen Stuhl n¨aher an den Schreibtisch r¨ uckt und mit seinen Papieren raschelt. Michael dr¨ uckt meine Hand, sein Daumen streicht u ¨ber mein Handgelenk. Meine Eltern sind auch mitgekommen und sitzen neben uns. Ich rieche Moms Parf¨ um. Coco. Die Tatsache, daß sie ihr Augenlicht wieder verloren hat, sagt uns, daß ihre Krankheit fortschreitet, erkl¨art uns Dr. Graham. Aber wir k¨onnen nicht sicher sein. Im Krankenhaus k¨onnten wir ein paar Tests durchf¨ uhren. . . Kein Krankenhaus, unterbreche ich ihn. Und ich sitze direkt vor Ihnen. Sie brauchen also nicht so zu reden, als ob ich nicht im Raum w¨are. Sagen Sie mir eins: W¨ urde sich mein Zustand verbessern, wenn ich ins Krankenhaus ginge? Ich f¨ urchte, nein, Nicole. Wir k¨onnen Ihre Krankheit behandeln, aber nicht heilen. 207
Ich schlucke. Schon gut, ich erinnere mich. Das ist nichts Neues. Ich kann damit umgehen. Und wie k¨onnen Sie mir helfen, wenn ich nicht ins Krankenhaus gehe? Nun, wir k¨ onnen Ihre Schmerzen soweit wie m¨oglich lindern. Das ist alles? Mein Magen zieht sich zusammen. Bitte sag, daß das nicht alles ist! Das kann doch nicht alles sein. Ich werde also nicht wieder sehen k¨onnen? Und wenn Sie die Dosis erh¨ohen? Falls Sie wieder sehen k¨ onnen, Nicki, wird das nur vor¨ ubergehend sein. Ich w¨ unschte, ich h¨atte erfreulichere Nachrichten f¨ ur Sie, aber ich weiß, daß Sie die Fakten h¨oren wollen. Will ich das wirklich? Vielleicht w¨ urde ich mir lieber etwas vormachen, nur w¨ urde das Michael nicht helfen. Jeder Patient reagiert unterschiedlich. Es gibt Ausnahmen – in einigen F¨allen leben Patienten jahrelang mit NF2, bis die ersten neurologischen Symptome auftreten. Wie Sie wissen, haben sich bei Ihnen bereits Symptome eingestellt, die sich kontinuierlich verschlimmern. Dennoch besteht eine Chance, daß das Wachstum des Tumors stagniert, obwohl das sehr selten vorkommt. Wir k¨onnten operieren. . . Best¨ unde in dem Fall Aussicht auf Heilung? Nicht auf Heilung, nein. Außerdem w¨ are eine Operation mit einem sehr hohen Risiko verbunden. Was h¨ atte sie dann f¨ ur einen Sinn? Keine Operati on. Ich k¨ ampfe tagt¨aglich mit mir selbst, Doktor, h¨ore ich Dad. Wenn es nach mir ginge, w¨ urde ich sie in dieser Sekunde ins Krankenhaus bringen. Ich drehe den Kopf in Richtung seiner Stimme. Oh, Dad. Ich weiß, wie schwer es f¨ ur dich ist. Aber ich mußte mich damit auseinandersetzen, Michael mußte sich da208
mit auseinandersetzen, und jetzt mußt du es. Ich bin mir sicher, daß meine Mutter weint. Mom, du mußt es akzeptieren. Die Tatsachen lauten folgendermaßen: Ich bin blind. Mein Zustand wird sich nicht bessern. Liebes. . . Bitte, Mom. So ist es nun einmal. Ich bin blind, aber weißt du was? Ich lebe noch! Ich habe einen Ehemann und eine Familie, und das alles m¨ochte ich so lange genießen, ¨ wie es mir m¨oglich ist. Uber Krankenh¨auser kann man denken, wie man will, zu genießen gibt es dort jedenfalls nicht viel. Und, Dr. Graham, wo wir schon einmal von Tatsachen sprechen: Ich halte nichts von Schmerzen. Wir sollten uns also darauf einstellen, die Schmerzen so gut wie m¨oglich zu Hause in den Griff zu bekommen. Das erscheint mir der n¨achste logische Schritt. K¨onnen Sie uns dabei behilflich sein? Und k¨onnen Sie daf¨ ur sorgen, daß Michael Unterst¨ utzung bekommt? Michael, sagt Dad, wirst du das zulassen? Es geht nicht darum, daß ich etwas zulasse oder nicht, Dan. Nicki trifft ihre Entscheidungen selbst, und ich unterst¨ utze sie dabei. Wenn Nicki sich w¨ unscht, alles zu Hause durchzustehen, dann akzeptiere ich ihren Entschluß. Michaels Stimme klingt ruhig und fest. Ich bin hergekommen, um ihr in jeder Hinsicht beizustehen. Das weiß sie. Und was ist mit Ihnen, Michael? fragt der Arzt. Mit mir? Hier geht es wohl nicht um mich. Zum Teil geht es auch um Sie. Die Verantwortung lastet auf Ihnen. Nicki ist keine Last f¨ ur mich. Im Gegenteil. Sie ist so viel st¨arker als ich, als wir alle. Vielleicht k¨ onnen Sie Michael helfen. Erkl¨aren Sie ihm, was er zu erwarten hat, schlage ich vor. 209
Du bist nicht allein, Michael, versichert ihm Mom. Wir sind eine Familie. Und Nicki braucht dich. Michaels Stimme bebt. Damit komme ich zurecht. Aber ich komme nicht damit zurecht, daß ich sie so sehr brauche. Ich habe mich immer f¨ ur unabh¨angig gehalten, war auf nichts und niemanden angewiesen. Ich springe auf und nehme ihn in die Arme. Das hier ist schmerzhafter als alles, was meine Krankheit noch f¨ ur mich bereith¨alt. Michael, es tut mir so leid, fl¨ ustere ich. Wie kann ich dir helfen, wenn ich selbst nicht damit zurechtkomme? fragt er, und ich ber¨ uhre ihn am Arm. Wir werden einander helfen, verspreche ich ihm. In vielerlei Hinsicht ist es f¨ ur den Menschen, der stirbt, einfacher, als f¨ ur die Menschen, die zur¨ uckbleiben. Ich habe keine Wahl, mein Weg ist vorbestimmt und endg¨ ultig, w¨ahrend sich die Menschen in meiner Umgebung st¨andig fragen, ob sie das Richtige tun. Mir kommt ein Gedanke – vielleicht war es egoistisch von mir, Michael zu heiraten. Die Tatsache, daß es ihn jetzt so hart trifft, ist schwer zu ertragen. Ja, wir sind in ein neues Stadium unserer Beziehung eingetreten. Bis jetzt ist Michael f¨ ur mich dagewesen. Von nun an muß ich f¨ ur ihn dasein. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich mich f¨ uhlen w¨ urde, wenn die Situation umgekehrt w¨are. Michael zu verlieren w¨ urde mich umbringen. Lieber w¨ urde ich mich selbst verlieren als den Mann, den ich liebe. Ist das nicht komisch? Jetzt geht mein Wunsch in Erf¨ ullung. Da ich nicht mehr sehen kann, muß ich mich damit abfinden, daß wir Hilfe ben¨otigen. Die Lage ist nun einmal so: Vielleicht bekomme ich mein Augenlicht zur¨ uck, vielleicht auch nicht. Immerhin kenne ich viele Leute, die blind sind und trotzdem v¨ollig unabh¨angig leben. Aber
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ich bin mir nicht sicher, ob ich so mutig sein kann wie sie. Was vor mir liegt, ist alles andere als einfach. Wir fahren nach Hause, und der Rest der Gruppe begleitet uns. Wir haben eine Familienkonferenz einberufen. Dad bietet an, daß er immer nach der Arbeit vorbeikommt. Mom nimmt sich frei und sorgt f¨ ur die Mahlzeiten. Kate geht einkaufen. Das wichtigste ist, daß wir die uns verbleibende Zeit zusammen genießen k¨onnen, ohne Michael in die Rolle des Krankenpflegers zu dr¨angen, was schrecklich f¨ ur mich w¨are. Er ist mein Ehemann, das ist seine Rolle in diesem St¨ uck. Unser Ziel ist es, inmitten des Chaos wenigstens den Anschein eines Ehelebens aufrechtzuerhalten. Schließlich gibt es eine Menge Dinge, die ich noch tun kann, erinnere ich die anderen. Ich kann zusammen mit Michael den Hund spazierenf¨ uhren. Reden. Ausgehen. Musik h¨oren. Mit Justin spielen. Ein Picknick genießen. Ein Konzert besuchen. Zugegeben, Sticken und Miniaturmalerei werde ich wohl aufgeben m¨ ussen. Wirklich schade. Ich h¨ore unsicheres Gel¨achter, also zwinge ich mich zu einem L¨acheln. Man darf seinen Sinn f¨ ur Humor nicht verlieren, auch wenn die Lage kein bißchen komisch ist. Dr. Graham organisiert eine Krankenpflegerin, die dir deine Medikamente verabreicht, sagt Michael. Aber bis es soweit ist, werden wir schon zurechtkommen. Ich m¨ochte ihnen allen danken, daß sie f¨ ur mich da sind, f¨ ur ihre Liebe und ihre Unterst¨ utzung – aber finden Sie nicht auch, daß das zu sehr nach Abschiedsrede klingen w¨ urde, u ¨bertrieben melodramatisch? Außerdem wissen sie, wie ich empfinde. Also werden wir sie wohl einfach durchziehen, diese Sache mit dem Leben und dem Sterben. Genau wie alle anderen, nur daß mein Timing 211
ein bißchen eigenwillig ist. K¨ usse, Umarmungen, noch mehr Tr¨anen. Schließlich gehen sie, und ich merke, wie ersch¨opft ich bin. Willst du ins Bett, Nick? fragt Michael. Nein, laß uns hier im Wohnzimmer bleiben. Aber ich m¨ochte mich hinlegen. Ich f¨ uhle, wie Michael mir die Schuhe auszieht, sanft meine F¨ uße massiert, erst die Zehen, dann den Spann und die Fußgelenke. Geht es dir gut? Was w¨ urde ich darum geben, sein Gesicht sehen zu k¨onnen, obwohl ich nat¨ urlich jeden seiner Gesichtsz¨ uge deutlich vor Augen habe. Ich weiß, daß sein Kinn fest und entschlossen ist, allem trotzt, was unsere Beziehung bedrohen k¨onnte; seine Oberlippe ist geschwungen, weich und sanft wie immer; seine Augen gleiten forschend u ¨ber mein Gesicht, ihnen entgeht nichts. Diese Gewißheit macht es irgendwie leichter, daß ich ihn nicht sehen kann. Gut kann man wohl nicht sagen. Ich denke, wir m¨ ussen einfach jeden Tag nehmen, wie er kommt. Jeder Tag ist wie ein Hochzeitsgeschenk. Er zieht mir das Kleid u ¨ber den Kopf, dann holt er die Steppdecke und deckt mich damit zu. Ich habe es schon einmal geschafft, erinnere ich Michael. Ich kann es wieder. Er steckt die Decke fest und hilft mir dabei, es mir auf der Couch bequem zu machen. Du kannst es, Nicki. Ich m¨ ochte heute nacht hier schlafen. Im Bett f¨ uhle ich mich wie ein Invalide. In Ordnung, stimmt er mir zu. Wir bleiben beide hier. Solange du nicht die ganze Couch f¨ ur dich bean spruchst und mir ins Ohr schnarchst. Er schiebt sich neben mich. 212
Viel besser als das Bett, sage ich. Und es ist mir egal, ob du schnarchst. Wir schlafen in den Armen des anderen ein.
Irgendwann wache ich auf, und ich habe keine Ahnung, wie sp¨at es ist. Nichts sehen zu k¨onnen ist verwirrend, besonders wenn man keine Zeit dazu hatte, zu lernen, wie man sich zurechtfindet. Im Schlaf war mir, als k¨onnte ich sehen, und es ist ein Schock, als ich die Augen ¨offne und feststelle, daß alles finster bleibt. Im ersten Moment nach dem Aufwachen bin ich davon u ¨berzeugt, daß ich meine Blindheit nur getr¨aumt habe. Als mir die Wirklichkeit bewußt wird, sch¨ uttele ich Michael. Bist du wach? erkundige ich mich in der Hoffnung, daß er es ist. Hmhm, murmelt er. Offensichtlich hat er tief geschlummert. Wie sp¨ at ist es? Vier Uhr morgens. Er reckt sich. Was kann man um vier Uhr morgens machen? Weiterschlafen. Was noch? Rate mal. Und in diesem Augenblick mache ich eine erstaunliche Erfahrung. Michael auch nur zu sp¨ uren ist mindestens so aufregend, wie ihn zu sehen. Unter der Bettdecke auf unserer Couch f¨ uhle ich mich sicher und geborgen. Hier kann mir nichts passieren. Ich bin nicht krank, ich bin stark. Ich sterbe nicht, ich lebe. Solange wir hier zusammen sind, ziehe ich Kraft aus Michaels K¨orper, und den habe ich ganz f¨ ur mich. Und niemand kann mir etwas anderes erz¨ahlen.
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Siebzehntes Kapitel
Da ich mich weigere, ins Krankenhaus zu gehen, kommt das Krankenhaus zu mir: Sauerstoffmaske und -flaschen, Bettpfannen, Bluttests, durchgef¨ uhrt von Krankenpflegerinnen, Infusionen gegen die Schmerzen. Wenn es einmal begonnen hat, geht das Sterben sehr schnell. Es ist wie eine Flut. Erst rinnt das Wasser nur d¨ unn und sammelt sich an einem Damm, der es f¨ ur eine bestimmte Zeit aufhalten kann. Dann sieht man winzige, haard¨ unne Risse und undichte Stellen, und irgendwann bricht die ganze Staumauer. Wo oder wer du bist, wird bedeutungslos. Auf ein paar Dingen bestehe ich – Kerzen mit Zitronenduft, leise Musik, und Dusty am Fußende meines Bettes. Auf das Krankenhausnachthemd verzichte ich. Emily ist meine Modeberaterin, sie hat mir ein paar Morgenr¨ocke aus chinesischer Seide mitgebracht, die ich rund um die Uhr trage. Es gef¨allt mir, wie sie sich auf meiner nackten Haut anf¨ uhlen, wie eine k¨ uhle Fl¨ ussigkeit. Der Besucherstrom reißt nicht ab. Meine Familie nat¨ urlich, und Eric, Emily und Tim. Emily kommt meistens mit Jim Anders; er ist das Beste, was ihr passieren konnte. Allein der Klang ihrer Stimmen sagt mir, daß Emily und Jim verliebt sind. Ich w¨ unschte, ich k¨onnte bei ihr sein und ihr Gl¨ uck mit ihr teilen. Das Schlimmste am Sterben ist das Bewußtsein, daß man die Dinge nicht mehr 215
tun kann, die man f¨ ur selbstverst¨andlich hielt, als man noch gesund war. Ich denke, daß Emily und Jim eines Tages heiraten werden, und ich w¨are so gern dabei. Als sie mir einmal ein neues Samtkissen mitbringt, wird mir klar, daß ich tats¨achlich dabeisein kann. Em, darf ich dich etwas fragen? Klar, Nick. Sie legt das Kissen an meine Wange, wo es sich so sanft anf¨ uhlt wie ein reifer Pfirsich. Ist es ernst mit Jim und dir? Ich weiß nicht. Vielleicht. Ich bin ganz verr¨ uckt nach ihm. Dar¨ uber muß ich l¨acheln. Wirklich? Ja, stell dir das nur vor! Ich und eine ernsthafte Beziehung. W¨ urdest du mir einen riesigen Gefallen tun? Schieß los, Freundin. Ganz hinten in meinem Schrank findest du etwas, was ich dir gerne geben m¨ochte. Sie ¨offnet die Schrankt¨ ur, und ich h¨ore, wie die B¨ ugel klappern, als sie die Kleider auf der Kleiderstange beiseite schiebt. Schau in die Tasche mit dem Reißverschluß. Ich h¨ore den Reißverschluß, dann schnappt Emily nach Luft. Oh mein Gott, das ist dein Brautkleid, Nick! Stimmt. Wenn es soweit ist, w¨ urdest du es dann tragen, Em? F¨ ur mich? Nat¨ urlich darfst du es so ver¨andern, wie du m¨ochtest. Du kannst es nach deinem Geschmack umgestalten, aber w¨ urdest du es bitte tragen? Emily rutscht neben mich auf das Bett. Nicki, ich m¨ochte dein Hochzeitskleid sehr gern tragen. Vorausgesetzt, daß er mich jemals fragt. Ich wette, wenn ich ein Sch¨aferhund w¨are, h¨atte er l¨angst um meine Hand angehalten. 216
Wir lachen beide, und das ist ein sch¨ones Gef¨ uhl. Du wirst bei meiner Hochzeit sein, Nick, sagt Emily.
Das werde ich, Ehrenwort. Auf die eine oder andere
Art. Die Tage vergehen, und ich werde zusehends schw¨acher. Es f¨allt mir immer schwerer, Besucher um mich zu haben, aber ich habe das Gef¨ uhl, daß ich mir um meiner Familie willen M¨ uhe geben muß. Einfach nur zu existieren erfordert unglaublich viel Energie. Es w¨are soviel einfacher, die Augen zu schließen, den Schmerzen oder den Medikamenten nachzugeben und mich davontreiben zu lassen. Doch das w¨ urde bedeuten, die Menschen, die mich lieben, zu betr¨ ugen, also widerstehe ich der Versuchung, so gut ich kann. Ich f¨ uhle eine Hand auf meiner Stirn. Meine Mutter. Hallo, Liebes! Ich bin da. Mit deinem Vater. Ihre Stimmen klingen so ruhig, daß ich l¨acheln muß. Soweit mußte es erst kommen, damit ihr beiden wieder zusammenfinden konntet. Mit ihnen rechts und links an meinem Bett f¨ uhle ich mich wie damals als kleines M¨adchen unter meiner Bettdecke kurz vor dem Einschlafen, wenn alle Lichter gel¨oscht waren. Mir scheint, daß es Mom und Dad auf gewisse Art auch bessergeht. Sie k¨onnen etwas tun – sich um mich k¨ ummern –, sie haben das Gef¨ uhl, mir zu helfen. Wißt ihr. . . , beginne ich, als Mom mir ein Glas Wasser einschenkt und Dad mir aus dem Wirtschaftsteil der Chicago Tribune vorliest. Die Wirtschaft ist mir zwar inzwischen egal, aber es macht Dad Freude, mir vorzulesen. Was ist los, Schatz? fragt Dad und h¨ alt mit dem Lesen inne. 217
Ich will ihnen sagen, daß ich sie immer geliebt habe, selbst als unsere Beziehung auf dem Tiefpunkt angekommen war. Ich m¨ochte es – aber ich bringe es nicht u ¨ber mich. Diese Worte zu sagen w¨are so endg¨ ultig. Meine Situation mag endg¨ ultig sein, aber ich m¨ochte mich nicht so verhalten. Außerdem ist mir klar, daß sie wissen, wie sehr ich sie liebe. Schließlich sind sie meine Eltern. Bei Michael brauche ich keine Worte. Ich sp¨ ure seine Gegenwart im Raum, h¨ore einen Satz, bevor er ihn ausspricht. Eine Ber¨ uhrung zwischen uns ist wie ein Gespr¨ach. Michael ist wie ein Trainer. Er gibt mir die Motivation, noch einen Tag durchzustehen, obwohl ich weiß, daß es ihn innerlich verzehrt. Aber er l¨aßt sich nichts anmerken. Seit dem Besuch in Dr. Grahams Praxis hat er sich mit den Tatsachen abgefunden. Wir versuchen nicht, f¨ ureinander stark zu sein; wir sind es. Sollte ich meiner Familie und meinen Freunden sagen, daß ich sp¨ ure, wie sich meine Kraft langsam ersch¨opft? Daß ich mein Herz fast schon beschw¨oren muß zu schlagen? Vielleicht haben sie es l¨angst bemerkt. Aber letztendlich geht es doch um Qualit¨at, nicht um Quantit¨at. Und Qualit¨at habe ich mehr als andere Menschen in ihrem ganzen Leben. Die einzige Ausnahme ist Justin. Mein Verhalten ihm gegen¨ uber bedaure ich am meisten. Viel zu lange habe ich ihm seine Schwester vorenthalten, und mir selbst meinen Bruder. Justin ist s¨ uß, sagt Mom, als sie die Bettw¨asche glattstreicht. Er bringt dem Hund Kunstst¨ ucke bei. Der Hund. Michael? Ja, Nick? Was meinst du, sollten wir Dusty an Justin ausleihen? Dann ist er vielleicht nicht ganz so traurig. 218
Ja, ich finde, das ist eine gute Idee. Ich hole Justin, dann kannst du es ihm sagen. Eine Minute sp¨ater h¨ore ich Justins kleine F¨ uße an der Seite meines Bettes scharren. Jus, k¨ onntest du mir einen großen Gefallen tun? Was denn? K¨ ummere dich eine Weile um Dusty. Er braucht jemanden, mit dem er spielen und um die Wette laufen kann, jemanden, der vom Alter her besser zu ihm paßt. Wie dich. Ich dr¨ ucke seine Hand. Stimmt’s, Michael? Stimmt. Schließlich seid ihr beide gute Freunde. W¨ urdest du ihn bitte mit nach Hause nehmen, Ju stin? Darf ich? Wenn du mir versprichst, ihn liebzuhaben. Versprochen. Danke! Er schmatzt einen feuchten Kuß auf meine Wange. Pl¨otzlich f¨allt mir das Atmen schwer. Ich ringe nach Luft. Wie w¨ are es, wenn ihr gleich mit Dusty spazierengeht, du und deine Mom? schl¨agt Michael vor. Alles in Ordnung, Liebes? erkundigt sich Mom. Ich versuche zu nicken. Denk daran, Dad, sage ich, jetzt hast du zwei S¨ ohne, in Ordnung? In Ordnung, sagt er. Ruh dich ein bißchen aus. Er und Mom gehen hinaus. Etwas ist anders, aber ich will nicht, daß sie es merken. Zum ersten Mal habe ich das Gef¨ uhl, den Kampf zu verlieren. Ich sp¨ ure den Atem des Todes auf meinem Gesicht. Michael. Ich liebe dich. Ich will dich nicht verlassen. Das wirst du nicht, Nick. Wir werden immer zusammensein.
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Ich liebe dich, Michael, fl¨ ustere ich. Alles scheint sich weiter und weiter zu entfernen, als ob ich mein Leben am Ende eines langen Tunnels beobachte und mich mit jeder Sekunde immer weiter entferne. Und ich werde nie aufh¨ oren, dich zu lieben, Nick, sagt Michael. Er liegt jetzt neben mir und streichelt mein Haar. Er weiß es. Was siehst du? Schau, wir liegen zusammen im Sand. F¨ uhlst du die Sonne auf der Haut – sp¨ urst du ihre W¨arme? Ich bem¨ uhe mich. Der Himmel ist so blau wie ein Saphir, spricht Michael weiter. Wir stehen auf den Klippen, erinnerst du dich noch? Wir stehen hoch u ¨ber dem Ozean. Und jetzt komm, nimm meine Hand. Er legt seine Hand auf meine, ignoriert den Infusionsschlauch. Wir werden jetzt zusammen springen. Das haben wir schon einmal getan. Du kannst es. Du brauchst dich nicht zu f¨ urchten. Du springst mit mir, in Ordnung? Ich habe kaum noch die Kraft, seine Hand zu dr¨ ucken. Zusammen, sagt er. Ich lasse dich nicht allein. Jetzt sehe ich es, das klare Blau des Wassers und des Himmels. Die Ewigkeit. Noch einmal halte ich Michaels Hand fest. Ich schaffe es. Ich springe, bin schwerelos. Ich fliege.
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Danksagung
Dieses Buch w¨are ohne den professionellen Rat meines wunderbaren Freundes Todd Harris nicht zustande gekommen. Er hat das Projekt von der ersten Idee an unterst¨ utzt und mich ermutigt. Ich danke Dir, Todd! Außerdem bedanke ich mich bei Tia Maggini von Avon Books und bei dem unersch¨ utterlichen Nick Ellison. F¨ ur ihre Unterst¨ utzung danke ich weiterhin Todd Black, Jason Blumenthal und Columbia Pictures. Und mein ganz besonderer Dank gilt der so vielseitig begabten Jennifer Love Hewitt, die mit mir die Inspiration teilte, die den Geist der echten Nicki ausmachte.
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