LLOYD BIGGLE Für Menschen verboten
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LLOYD BIGGLE Für Menschen verboten
Von diesem Roman ist auch eine Ausgabe auf dickerem Papier und in Leinen gebunden erschienen, die sich besonders zum Einstellen in Leihbüchereien, Werkbüchereien und Volksbibliotheken eignet. Das Einstellen der vorliegenden Ausgabe in Büchereien ist vom Verlag ausdrücklich untersagt.
LLOYD BIGGLE
FÜR MENSCHEN VERBOTEN Ein utopisch-technischer Kriminalroman
MÜNCHEN WILHELM GOLDMANN VERLAG
1964 • Made in Germany • C48/2 59 · vB Titel des amerikanischen Originals: All the Colors of Darkness. Ins Deutsche übertragen von Tony Westermayr. Herausgegeben von Dr. Herbert W. Franke. Alle Rechte, auch die der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten. Jeder Nachdruck bedarf der Genehmigung des Verlages. Umschlagentwurf: Eyke Volkmer. Gesetzt aus der Linotype-GaramondAntiqua. Druck: Presse-Druck- und Verlags-GmbH. Augsburg.
1 Ted Arnold blieb mit dem Fuß an einem Dielenbrett hängen. Er stolperte und ließ die Tür los, die mit lautem Knall zufiel. Jack Marrow, fünfzehn Meter entfernt, im blassen Licht einer baumelnden Lampe, sprang auf und warf die Arme in die Höhe. Als Arnold hinüberkam, kauerte er hinter der niedrigen Sperrholzwand, die als Schutz für die Instrumententafel diente. Kurz vor dem Nervenzusammenbruch, dachte Arnold. Unangenehm. Marrow richtete sich auf und streckte eine zitternde Hand aus, um sich im Gleichgewicht zu halten. »Alles bereit?« fragte Arnold. Marrow befeuchtete sich die Lippen und warf nervös einen Blick hinter sich. »Zehn Minuten«, sagte Arnold. Er besah sich die Anlage, stellte fest, daß eine Skala falsch eingestellt war, und ging hinüber, um sie neu einzurichten. »Newark«, sagte er. Marrow schluckte und sagte: »Oh, ich hab’ nicht –« »Schon gut«, sagte Arnold. »Sie werden nicht gebraucht. Wenn Sie lieber im Büro warten wollen, bitte.« Marrow schluckte wieder. »Ich glaube –« Er verstummte und machte sich auf den Weg zum Büro. Arnold sah ihm nach. Die Tür klappte wieder zu, dann war es still, abgesehen von den Schritten, die hinter der Büro wand ruhelos hin- und herwanderten. Trapp, knarr, trapp, trapp, knarr. Pause. Trapp, trapp, knarr, knarr, Pause. Arnold lauschte und zählte. Im Büro gab es siebzehn knarrende Dielen. Er kannte sie alle, wußte die 7
verschiedenen Geräusche genau voneinander zu unterscheiden. Am anderen Ende des alten Lagerhauses hob sich noch eine Lichtoase heraus. Dazwischen war zugige Leere, umgeben von durchhängenden Böden und schmutzigen Wänden, nackten Deckenbalken, und an einer Stelle sah man den Sternenhimmel, wo das Dach durchlöchert war. Arnold machte sich auf den Weg. Walt Perrin sah ihn kommen und erwartete ihn grinsend. Arnold lachte ihn an, erfreut bei dem Gedanken, daß Perrin ganz sicher nicht die Nerven verlieren würde. Auch dort sah er sich die Instrumente an. Alles war in Ordnung. Perrin stieß mit der Schuhspitze gegen ein Dielenbrett. Es bog sich durch, gab den Blick auf unterirdische Schwärze frei. »Solang ich hier auch schon herumlaufe«, meinte Perrin, »an diese Diele bin ich bisher nicht gekommen. Vor einer Minute trat ich drauf und hätte mir beinahe den Hals gebrochen. Man müßte den Bau für unbewohnbar erklären.« »Längst geschehen«, erwiderte Arnold. »So? War’ ja ein Witz, wenn die Polizei mit dem Ausweisbefehl käme, während wir gerade anfangen.« »Keine Gefahr«, sagte Arnold. »Der Besitzer hat Einspruch erhoben. Ab heute abend ist das sowieso egal. Entweder können wir in einen anständigen Bau ziehen, oder wir sind erledigt. Würde es Ihnen etwas ausmachen, die X-7-R zu übernehmen? Sie haben Zeit genug, wieder ‘rüberzukommen.« »Was ist denn mit Marrow los?« »Die Nerven.« »Pech. Kann man ihm nicht übelnehmen. Sich Glassplitter aus den Haaren zu kämmen, macht auf die Dauer kein Vergnügen. Natürlich übernehm’ ich das.« 8
Arnold schaute auf die Uhr. »Vier Minuten«, sagte er. »Es wird langsam Zeit.« Er ging mit Perrin zurück, überließ ihm die X-7-R und verfügte sich wieder ins Büro. Das technische Büro der Universal-Teleport-AG war in einer Ecke des heruntergekommenen Lagerhauses untergebracht. Das ungestrichene Sperrholz der Wände stand in merkwürdigem Gegensatz zu den geschwärzten Wänden gegenüber, und das Sperrholz war schon verstaubt und von Handabdrücken verschmiert. Hoch oben an der Wand gab es ein schmutziges, unvergittertes Fenster. Von einem Deckenbalken hing eine nackte Glühbirne. Das Mobiliar bestand aus einem verkratzten Tisch, einem Karteischrank und ein paar Klappstühlen. Auf dem Tisch standen drei Telefonapparate und eine Leuchtstofflampe. Der kleine elektrische Ventilator auf dem Karteischrank ratterte. Marrow hatte einen Stuhl in den schützenden Schatten des Karteischranks gestellt. Der andere Mann im Raum schritt ruhelos hin und her. Arnold ging zum Tisch, setzte sich vorsichtig auf einen Klappstuhl – sie brachen häufig beim leisesten Anlaß in sich zusammen – und griff nach einem Telefonhörer. Der andere blieb stehen. »Ted?« Arnold drehte sich um. »Tut sich schon etwas?« »Noch eine gute Minute«, sagte Arnold und sah auf die Uhr. Der andere nahm die Wanderung wieder auf. Arnold kramte nach einem Taschentuch, und während er sich den Schweiß vom kahlen Kopf wischte, blieb der andere wieder stehen. »Eine Minute sagst du?« Arnold nickte und nahm den Hörer ab. Er wählte eine Nummer und wartete, ungeduldig auf die Uhr starrend. 9
Endlich meldete sich jemand. Arnold hörte schwere Atemzüge, dann ein gereiztes Knurren. »Macht ihr etwa einen Ausflug?« fauchte er. »Ich wünsche, daß jemand am Telefon ist. Die ganze Zeit. Alles fertig?« »Sicher. Meyers wird gleich durchkommen, wenn es nicht schon so weit ist.« »Noch zwanzig Sekunden«, sagte Arnold. »Sorgen Sie dafür, daß jemand am Telefon bleibt.« Er legte auf. »Newark ist jedenfalls bereit«, sagte er, ohne den Blick vom Zifferblatt zu nehmen. »Meyers wird – jetzt gleich – durchkommen.« Das weiße Telefon summte. Arnold riß den Hörer an sich. »Meyers ist durch«, sagte Perrin. »Gut, Perrin. Wenn –« Das Gebäude erzitterte unter Explosionen. Schutt polterte gegen die Trennwand. Staub zog in einer dicken Wolke herüber und schwebte langsam zu Boden. Der Ventilator kippte vom Karteischrank, verfehlte Marrow nur knapp, knallte auf den Boden und ratterte weiter. Marrow hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und reagierte nicht. Arnold erwischte seine Tischlampe im letzten Augenblick, bevor sie kippte. Er atmete tief ein, erwischte zuviel Staub und nieste kräftig. »Jemand verletzt?« fragte er in die Muschel. Er bekam keine Antwort. »Hallo, ist jemand verletzt?« schrie er. »Alles in Ordnung, Chef«, sagte Perrin. »Sie brauchen nur eine X-7-R abzuschreiben.« Ein anderes Telefon läutete. »Weitermachen«, sagte Arnold und griff nach dem Hörer. »Hallo? Arnold.« »Station Baltimore. Unsere X-7-R ist explodiert.« »Verletzte?« 10
»Ein paar kleinere Platzwunden.« »Gut. Versuchen Sie, auf dem laufenden zu bleiben.« Arnold legte auf und lehnte sich vorsichtig zurück. Der unruhige Wanderer war auf einen Sessel in der anderen Ecke des Raumes gesunken. Er starrte den Boden an. »Jetzt werden wir bald Bescheid wissen«, meinte Arnold. Der andere zuckte hoch und starrte ihn an, mit eingesunkenen Wangen, beinahe ein Geist. Arnold wurde von Mitgefühl für Thomas J. Watkins übermannt. Als Chefingenieur der Universal-Teleport-AG hatte Arnold nicht mehr zu verlieren als seinen Stolz und seine Stellung. Sein Stolz war so oft gekränkt worden, daß er gegen derlei Dinge immun war, und um eine neue Stellung zu bekommen, bedurfte es eines einzigen Anrufs. Aber Watkins hatte jeden Cent seines eigenen Geldes in der Gesellschaft angelegt, ganz zu schweigen von beträchtlichen Summen, die nicht ihm gehörten. Er war am Rande des Ruins und wußte es auch. Er sah Jahrzehnte älter aus als vierundsechzig. Ein jüngerer Mann hätte wieder auf die Beine kommen können, dachte Arnold, aber wenn ein älterer Finanzier sein Geld verlor, war er für alle Zeiten erledigt. »Es ist aus, nicht wahr?« fragte Watkins. »Wir fangen gerade erst an«, erwiderte Arnold. »Was da explodiert ist, war eine X-7-R, das alte Modell. Der Apparat in Baltimore ging in die Luft und Philadelphia – das müßte Philadelphia sein.« Er nahm den Hörer vom summenden Telefon, lauschte kurz und stellte mit dem Ingenieur in Philadelphia einen Uhrenvergleich an. »Das wär’s«, sagte er, als er auflegte. »Alle drei X-7-R sind demoliert. Jetzt versuchen wir es mit der X-8-R.« 11
»Dann haben wir immer noch eine Chance?« Arnold sagte ernsthaft: »Für mich steht es fünfzig zu fünfzig.« Watkins lächelte. »Ich habe mich schon auf schlechtere Chancen eingelassen und gewonnen«, meinte er nachdenklich. »Aber jetzt – diese Sache –« Arnold brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Er hatte den Hörer des weißen Telefons abgenommen und bekam keine Antwort. Mit einem Satz war er an der Tür und riß sie auf. Perrin rief ihm zu: »Tut mir leid. Meyers und ich sind gerade dabei, uns zu verbinden.« »Ich dachte, Sie hätten gesagt –« »Nur ein paar Platzwunden. Meyers hat eine tiefe Schnittwunde im Gesicht, aber es geht schon noch. Vielleicht muß das später genäht werden. Wir schaffen’s.« Arnold ging hinüber, um sich Meyers anzusehen. Der kleine, unverwüstliche Ingenieur grinste, während Perrin Heftpflaster über die Wunden klebte. »Wenn es so schlimm ist«, sagte Arnold, »nehmen wir einen andern.« »Quatsch«, knurrte Meyers. »Ich tu seit Wochen nichts anderes, als Glassplittern auszuweichen. Glauben Sie, daß ich jetzt aufhöre? Ein Übergang, ohne bei der Ankunft in die Luft gesprengt zu werden – mehr verlange ich nicht.« »Hoffentlich klappt es jetzt«, sagte Arnold. Er sah auf die Uhr. »Bei mir ist es jetzt genau zwei Uhr siebenundvierzig.« »Stimmt«, sagte Perrin. »Drei Minuten. Wir sind soweit.« Arnold kehrte ins Büro zurück. Marrow schien sich wieder in der Gewalt zu haben. Er war mit dem Stuhl an 12
den Tisch herangerückt, und Arnold überlegte sich, was er ihm zu tun geben könnte, aber es fiel ihm nichts ein. Watkins ging wieder auf und ab. Arnold setzte sich, stellte eine Verbindung mit der Station Newark auf dem einen Telefon und mit Perrin auf dem anderen her und wartete, während er sich fragte, ob er nicht zu optimistisch gewesen sei, als er die Chance mit fünfzig zu fünfzig angegeben hatte. »Meyers ist fertig«, erklärte Perrin. »Also gut, Newark«, sagte Arnold. »Macht euch bereit.« Newark informierte ihn, daß man schon seit fünf Minuten warte. Wo, zum Teufel, bleibe Meyers? »Schaut doch auf die Uhr«, fauchte Arnold. »Los, Perrin.« »Er ist durch«, sagte Perrin. »Er ist durch«, wiederholte Newark. Arnold preßte den Hörer ans Ohr und wartete. Er legte den weißen Hörer weg und bemerkte erst nach ein paar Sekunden, daß Perrin lärmend wissen wollte, was passiert sei. »Nichts ist passiert«, sagte Arnold. »Nichts?« »Nichts«, sagte Newark. »Sollen wir ihn zurückschicken?« »Ja. Umstellen, Perrin. Er kommt zurück.« Es blieb eine Weile still, dann sagte Perrin: »Er ist wieder da. Alles in Ordnung.« »Gut. Weitermachen. Umstellen, Newark.« »Schon erledigt«, sagte Newark. »Er ist wieder durch.« »Noch ein paarmal.« Arnold legte beide Hörer auf. Philadelphia rief an, dann Baltimore. Arnold lauschte und gab Anweisung, weiterzumachen. Er lehnte sich zu13
rück und starrte zu Watkins hinüber. Plötzlich fühlte er sich total erschöpft. Es hatte drei Jahre gedauert, und er hatte gewonnen – vielleicht – Jetzt setzte die Reaktion ein. »Das wär’s«, sagte er. »X-8-R. Wir sind im Geschäft.« »Es funktioniert?« fragte Watkins. Arnold nickte. »Dann können wir anfangen. Dann –« Watkins sprang auf. »Dann können wir weitermachen«, sagte er erregt. »Wir bekommen Geld und haben’s geschafft.« »In letzter Minute«, murmelte Arnold. »Möchten Sie kurz mal nach Newark?« »Jetzt?« fragte Watkins begeistert. »Im Ernst?« Arnold führte ihn hinüber zum anderen Ende des Lagerhauses, wo Perrin grinsend an der Instrumententafel saß. Meyers, der gerade die zehnte Rundreise zwischen Newark und Manhattan vollendet hatte, sprang auf Arnold zu und ergriff seine Hand. »Wir haben’s geschafft, Chef!« schrie er. Arnold deutete auf einen Metallrahmen. »Gehen Sie einfach da durch«, sagte er zu Watkins. Ohne zu zögern trat Watkins vor und verschwand. Meyers sprang ihm nach. Perrin schnitt eine Grimasse. »Meyers wird sich den Hals brechen, wenn er so weitermacht. Wissen Sie, was der Trottel vorhat? Er möchte über einem Betonboden von einem Sprungbrett durch einen Sender flitzen und über einem Swimmingpool in Miami herauskommen.« »Klingt ganz gut«, meinte Arnold. »Kann sein, daß wir so etwas brauchen, für die Publicity.« Perrin warf einen Blick auf die Instrumente und betätigte einen Hebel. Lange Zeit rührte sich nichts, bis Arnold unruhig wurde, dann tauchte Meyers wieder auf. »Der Alte wollte nicht glauben, daß er in Newark 14
war«, sagte Meyers. »Er mußte unbedingt zu einem Fenster hinausschauen.« Arnold schnüffelte argwöhnisch. »Sie sind ja beschwipst!« »Na ja – die Jungs in Newark feiern. Jedesmal, wenn ich dort lande, muß ich ein paar Gläser kippen. Wie lange machen wir denn das?« Watkins tauchte vor ihnen auf. Sein Gesicht war gerötet, sein weißes Haar flatterte. Er schwenkte eine Flasche Champagner. »Ist es nicht verboten, Alkohol über die Grenze zu bringen?« fragte Perrin verschmitzt. Watkins brüllte vor Lachen. »Ich hab’ keine Grenze gesehen. Ich hole die Direktoren her. Alle miteinander. Wir geben eine richtige Party.« »Sie sind vielleicht nicht in der Stimmung«, meinte Arnold. »Es ist drei Uhr früh.« »Dafür sind sie schon in Stimmung. Sie müssen mitmachen. Ihre Leute auch. Sie können ja ‘rüberkommen.« Er breitete die Arme aus. »Hier ist Platz genug für eine große Party.« »Tut mir leid«, sagte Arnold. »Auf uns können Sie nicht zählen. Und es wäre mir lieber, wenn Sie Ihre Party nicht hier feiern würden.« Watkins sah ihn mit großen Augen an. »Was ist denn los?« »Nichts ist los. Wir sind mit der Arbeit noch nicht fertig. Ich muß den Test weiterlaufen lassen und überlegen, wie ich möglichst schnell ein paar hundert Sender nachbauen lassen kann. Meyers? Wo ist – oh. Das wird der letzte Versuch. Newark kann sich auf Miami einstellen, und wir nehmen San Franzisko.« »Gemacht!« sagte Meyers und sprang in den Sender. 15
2 Jan Darzek lehnte sich bequem zurück und sah Ted Arnold zu, der gerade über seine ›Hamburger‹ herfiel. Wie schon oft zuvor dachte er, daß Arnold eher wie ein Hausmeister als wie ein hervorragender Ingenieur aussah. Er war klein, dick und glatzköpfig. Er wirkte älter als fünfundvierzig. Er sah auch ein bißchen vertrottet aus. Und das alles bewies nichts außer der Tatsache, daß Äußerlichkeiten höchst irreführend sein konnten, was niemand besser wußte als Privatdetektiv Jan Darzek. »Gestern nacht hatte ich einen seltsamen Traum«, sagte Darzek. »Ich war auf dem Mond und schaute auf die Erde hinunter.« »Geht nicht«, sagte Arnold. »Was geht nicht?« »Auf die Erde hinunterschauen, wenn man auf dem Mond ist. Die Erde wäre ein großer Mond am Himmel. Man müßte zu ihr hinaufsehen.« »Oh. Daran habe ich nicht gedacht. Das beweist nur, daß mein Unterbewußtsein nicht wissenschaftlich orientiert ist. Ich habe jedenfalls nach unten geschaut.« »Und?« »Und was?« »Was hast du getan?« fragte Arnold. »Einfach geschaut?« »Das war alles.« Arnold seufzte kauend. »Eine lange Reise, nur wegen der Aussicht.« Er seufzte wieder und betupfte sich den kahlen Schädel mit einem Taschentuch. »Ein Hoch auf alle Klimaanlagen.« »Es ist verdammt heiß«, sagte Darzek. »Bist du end16
lich mit dem Essen fertig, damit du mir sagen kannst, warum du aus der Geschichte einen Gruselroman machen mußt? Es tut mir weh, wenn meine Freunde sich so anstrengen, mein täglich Maß an Geheimnistuerei noch zu vermehren.« Er sprach in wütendem Ton, aber seine blauen Augen funkelten fröhlich und der strenge Zug um seine Lippen verbarg das Lächeln dahinter nicht ganz. »Was für ein Geheimnis?« fragte Arnold. »Warum bestand Walker darauf, daß wir uns in dieser« – er sah sich hastig um, ob nicht irgendwo eine Kellnerin lauerte – »in dieser schäbigen Kneipe treffen? Warum kommst du wie ein Gesetzesbrecher mitten in der Nacht hereingeschlichen?« Arnold sah traurig auf seinen Bauch hinunter und richtete seine Krawatte gerade. »Männer mit meiner Figur schleichen nie.« »Du bist geschlichen. Ich habe schon zu viele Leute beschattet, um die klassischen Symptome nicht zu erkennen, wenn sich jemand verfolgt fühlte. Ein Wunder, daß du dir nicht den Hals verrenkt hast, so wie du dich andauernd umgesehen hast. Du bist an die Tür geschlichen und hast die Passanten auf beiden Straßenseiten eine ganze Minute lang beobachtet. Dann hast du mich aus einem relativ bequemen Sessel hier in die Nische gezerrt, damit wir unter uns sind. Und das trotz der Tatsache, daß wir hier die einzigen Gäste sind. Selbst die Kellnerin treibt sich nicht herum. Sie ist in den Koch verliebt.« »Tatsächlich?« sagte Arnold und sah interessiert zur Küchentür hinüber. »Sich hier zu treffen, war nicht Walkers Einfall, sondern meiner. Mir ist aufgefallen, daß der Laden hier um diese Nachtzeit gewöhnlich leer ist.« Darzek beugte sich vor und sagte leise: »Wann geht es bei der Universal Teleport los?« 17
Arnold zuckte zusammen und sah sich um. Er flüsterte heiser: »Woher weißt du das?« »Ganz einfach«, sagte Darzek. »Zu der Zeit, als unser Börsenclub alle Aktien abstieß und – auf deine Empfehlung hin, wie du vielleicht noch weißt – jeden Cent in Aktien der Universal Teleport investierte, kramte ich meine Ersparnisse zusammen und kaufte mir hundert Anteile. Auch auf deine Empfehlung hin. Davon war schon mal die Rede.« »Du hast damals davon gesprochen«, sagte Arnold, »und inzwischen mindestens dreimal wöchentlich, seit die Aktien gefallen sind.« Darzek lachte. »Wirklich? Hatte ich ganz vergessen. Jedenfalls war vor einem Monat der Marktwert der Universal-Teleport-Aktien nicht höher als ein Cent pro Anteil, ohne Käufer, versteht sich, und ein geheimnisvoller Mensch rief mich an und bot mir Fünfhundert für meine hundert Aktien. Er sagte, er vertrete ein Syndikat von Maklern, die Universal Teleport unter Kontrolle bringen wollten, um aus den Grundstücken, die die Gesellschaft im ganzen Land gekauft oder gepachtet hatte, etwas zu machen. Ich hielt ihn hin, und er hat seither dreimal angerufen. Das letzte Angebot belief sich auf Zweitausend – genau das, was mich die Aktien gekostet haben. Dazu die Tatsache, daß Walker dieses Treffen vereinbart hat. Wahrscheinlich wollte er ein Angebot über die Aktien unseres Clubs machen. Außerdem bin ich heute zufällig durch die Eighth Avenue gekommen und habe dort Leute arbeiten sehen. Sie rissen das Gebäude nicht ab, also gab es nur eine Antwort. Universal Teleport kommt ins Geschäft.« Arnold nickte. »Wann hat der Kerl zum erstenmal bei dir angerufen?« 18
»Vor einem Monat.« Arnold nickte wieder. »Universal Teleport eröffnet nächsten Montag. Aber vor einem Monat wußte das noch niemand. Ich selbst wußte es noch nicht, und da konnte es auch kein anderer wissen. Vor einem Monat hätte ich dir für deine hundert Aktien keine fünfhundert Pfund gegeben.« »Jemand wußte Bescheid«, sagte Darzek. »Warum sonst das Angebot?« »Keine Ahnung. Es hat erst vor fünf Tagen geklappt, und bis zu diesem Augenblick sah es aus, als sei Universal Teleport erledigt.« Darzek zündete sich eine Zigarette an und stieß einen Rauchring aus. »Merkwürdig«, sagte er. »Wir haben schon schlimmere Sachen erlebt. Angesichts der Klagen unserer Aktionäre – ich glaube, es sind jetzt einunddreißig Verfahren –, der Patentstreitigkeiten, der Untersuchungskommission im Kongreß, der Ermittlungen des Handelsministeriums, der Drohungen der Armee, das Ganze zu übernehmen, ist es ein Wunder, daß wir überhaupt noch eine Firma haben. Dann kommen noch die Beschränkungen von Seiten der Regierung hinzu. Und Sabotage. Ich habe nichts beweisen können, bin aber davon überzeugt, daß es sich um Sabotage handelt. Das Schlimmste von allem waren aber die technischen Versager. Jedesmal, wenn wir glaubten, anfangen zu können, gab es irgendeinen Defekt. Ich wage nicht, daran zu denken, wie oft das passiert ist; und die ganze Zeit hatte ich den Eindruck, daß irgendwelche Außenseiter genauso gut informiert waren wie ich. Vielleicht noch besser. Ich bin die letzten beiden Jahre immer wieder beschattet worden, und das macht mich langsam nervös.« 19
»Ich möchte nur wissen, wo Walker bleibt«, sagte Darzek. »Er hat einen Auftrag. Er wird schon kommen.« Darzek lehnte sich zurück, streckte die langen Beine unter dem Tisch aus und betrachtete die blinkende Neonreklame im Fenster des Restaurants. Er versuchte gerade aus den Worten ›EGALNA-AMILK‹ schlau zu werden, als die Tür aufgerissen wurde und Ron Walker hereinstürmte. Er hastete zu ihrer Nische, warf seinen Hut auf den Tisch nebenan und setzte sich neben Darzek. »Was gibt es Neues?« fragte Darzek. »Nicht viel«, meinte Walker achselzuckend. »Es heißt, daß der Bürgermeister das Wasser rationiert, wenn es nicht regnet. Laut Wetteramt wird dieser Sommer 1986 der heißeste seit 48 Jahren. Oder vielleicht seit 84 Jahren. Drei Kongreßausschüsse werden nächste Woche in der Stadt erwartet – einer davon soll sich übrigens mit der Universal Teleport befassen. In Detroit oder vielleicht in Chikago entschied ein Richter, daß das Versäumnis eines Ehemannes, sein Haus mit einer Klimaanlage auszustatten, keinen Scheidungsgrund darstellt. Der Sommer wird also recht langweilig werden.« »Das war offensichtlich die falsche Frage für einen Reporter«, meinte Arnold. »Er riecht nach Rauch.« »Feuer in einem Lagerhaus«, sagte Walker. »Leeres Lagerhaus. Langweilig. Sogar die Feuerwehrmänner haben sich geärgert. Wo ist die Kellnerin? Ich habe Hunger.« Arnold nahm die leere Kaffeetasse und warf sie an die Küchentür. Die Tasse zersplitterte, und einen Augenblick später tauchte die Kellnerin mit erschrockenem Gesicht auf. »Setzen Sie’s auf die Rechnung«, sagte Arnold. Sie warteten stumm, bis sie Kaffee und einen Teller mit Wurstbroten für Walker gebracht hatte. 20
»Das mit dem Koch stimmte übrigens«, sagte Arnold zu Darzek, als sie wieder in der Küche verschwunden war. »Ihr Haar war ganz zerwühlt.« Walker wedelte mit einem Wurstbrot herum. »Darzek hat immer recht. Wahrscheinlich hat sie zuviel Zeit. Hört mal, wir haben uns offiziell nicht mehr getroffen, seit – wann war das? Ein paar Jahre bestimmt. Die Aktien der Universal Teleport standen so niedrig, daß wir praktisch bankrott waren. Was würdet ihr zu einem anständigen Gewinn sagen?« »Wieviel?« fragte Darzek. »Ich kann dreizehntausend für unsere sechshundert Aktien bekommen. Das sind tausend mehr, als wir bezahlt haben. Ich weiß nicht, was dieser Idiot mit den Aktien tun will, wollte euch aber Bescheid sagen.« »Ein Maklersyndikat?« fragte Darzek. »Ja. Er sagte –« Walker drehte sich langsam um und starrte Darzek an. »Woher weißt du das?« »Ich habe selber hundert Aktien der Universal Teleport. Vor einem Monat hat man mir ein Angebot gemacht.« »Offenbar hat da einer soviel Geld, daß er es zum Fenster hinauswerfen kann.« »Keineswegs«, sagte Arnold. »Wenn die Universal Teleport am Montag eröffnet, werden unsere Aktien zehn Minuten später das Doppelte dessen wert sein, was wir dafür bezahlt haben.« Walker sprang auf, dabei seine Tasse umwerfend. »Ist das amtlich?« wollte er wissen. »Amtlich und vertraulich«, erwiderte Arnold. »Setz dich und wisch das auf.« Walker wischte den verschütteten Kaffee mit einer Handvoll Papierservietten auf. »Da hab’ ich mir schöne Freunde ausgesucht«, murrte 21
er. »Letzte Woche hielt Darzek eine Woche lang einen Juwelenraub geheim, und ich erfuhr überhaupt nichts.« »Ich hab’ dir drei Stunden vorher Bescheid gesagt, als ich den Fall löste«, sagte Darzek. »Und ich wette, daß dein Redakteur mit der Sache nichts zu tun haben will. Wie viele großangekündigte Eröffnungen sind das jetzt für die Universal Teleport? Sechs?« »Sieben«, sagte Arnold. »In den Zeitungen werden sie nicht einmal mehr lästern über uns. Die Presse wird morgen mittag amtlich verständigt, aber wir rechnen damit, daß viele Zeitungen die Nachricht gar nicht bringen.« »Oder sie verstecken«, sagte Walker. »Seite 32 unter der Beerdigungsliste. ›Die Universal-Teleport-AG gab heute bekannt, daß sie kommenden Montag ihren Betrieb eröffnen wird.‹ Punkt. Kommt ihr diesmal mit ganzseitigen Anzeigen heraus?« »Nein. Wir haben uns überlegt, daß die Leute ja doch nicht darauf achten, und wir sparen uns das Geld. Jedenfalls hat der Alte es so begründet, aber ich persönlich glaube, daß er das Geld gar nicht hat. Jedenfalls werden wir Reklame genug haben, sobald wir Passagiere befördern, und zwar umsonst.« Walker nickte. »Ich sorge dafür, daß ich zur Eröffnung kommen kann. Sonst wird sowieso keiner den Auftrag übernehmen wollen. Alle dafür, daß wir die Aktien behalten? Angenommen. Die Sitzung ist vertagt. Hoffentlich hast du recht, Ted.« »Bestimmt – abgesehen von Unfällen. Am Montag wirst du froh sein, daß wir die Fluggesellschaft-Aktien abgestoßen haben.« »Ich möchte noch Kaffee«, sagte Walker. Arnold rief der Kellnerin, und sie saßen stumm da, während sie die Tassen füllte. 22
»Mich stört nur eines«, sagt Darzek, als sie wieder in der Küche verschwunden war. »Warum hat jemand versucht, meine Aktien zu kaufen, bevor in der Universal Teleport etwas von der Eröffnung bekannt war?« »Spekulanten«, sagte Walker. »Oder vielleicht gibt es wirklich ein Maklersyndikat. Ich habe schon merkwürdigere Dinge gehört.« Arnold schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich möchte jemand die Firma übernehmen und sie kaputtmachen. Für dauernd. Die Fluggesellschaften, oder die Vertreter der Eisenbahn- und Transportinteressen, oder natürlich Grundstücksmakler. Warum nicht? Könnt ihr euch vorstellen, was die Universal Teleport für Auswirkungen auf den Wert von Grundstücken haben wird? Wenn wir voll im Geschäft sind, wird man in Kalifornien wohnen und durch den Sender leichter täglich nach Wall Street kommen können als bisher vom Central Park West aus. Die Kosten werden vergleichbar sein mit dem, was der durchschnittliche Berufstätige für ein Zugbillett ausgibt. Ihr müßt den Alten über dieses Thema reden hören. Er behauptet, daß die Universal Teleport unsere Lebensweise stärker revolutionieren wird als das Automobil, und –« Er unterbrach sich und starrte Walker an. »Hast du vorhin gesagt, ein Lagerhausbrand?« »Drüben in der West Side«, sagte Walker. Arnold stand langsam auf. Er ging langsam zum Münzfernsprecher, und als er zurückkam, setzte er sich auf den Stuhl und starrte die Wand an. »Das gefällt mir nicht«, erklärte er schließlich. »Das war mein Lagerhaus. Wir haben es für Tests benützt.« »Wird sich das auf die Eröffnung auswirken?« erkundigte sich Darzek. 23
Arnold schüttelte den Kopf. »Wir haben dort nicht viel untergebracht und es heute nachmittag abgeholt.« »Dann brauchst du dir ja keine Sorgen zu machen. Schreib es an. Es war ja versichert, nicht wahr?« »Ich nehme an. Wir haben es nur gemietet.« »Um so besser.« »Es gefällt mir nicht. Wir haben soviel erlebt –« »Wahrscheinlich ein Zufall«, sagte Darzek. »Da täuschst du dich«, sagte Walker. »Nach dem Brandinspektor handelt es sich eindeutig um Brandstiftung.« 3 Nur eine New Yorker Zeitung berichtete auf der ersten Seite über die Eröffnung der Universal-Teleport-AG. Die anderen Blätter im Land behandelten die Ankündigung als Füllsel, gewöhnlich unter der kurzen Zeile: ›Schon wieder?‹ Es gab kaum Kommentare. Sogar die Redakteure waren es müde, mit schneidendem Sarkasmus darauf hinzuweisen, daß die Universal Teleport nur Propaganda mache, um sich wieder einmal über die Zeit zu retten. Der Mann von der Straße wollte von der Universal Teleport nichts wissen. Er war nicht nur nicht begeistert, sondern völlig gleichgültig. Aus diesem Grunde waren zur Stunde der Eröffnung die Stationen der Universal Teleport, abgesehen von den Angestellten, völlig leer. Die elegante, halbfertige Station in New York an der Eighth Avenue südlich des Pennsylvania-Bahnhofs machte keine Ausnahme. Ron Walker betrat sie an jenem Montagmorgen eine Minute nach acht Uhr und kam zu dem bedrückenden Schluß, daß man ihn zum Besten gehabt hatte. Es war ein Problem gewesen, den Auftrag 24
überhaupt zu erhalten, nicht, weil ihn jemand anderer wollte, sondern weil sein Redakteur nicht daran dachte, an die Universal Teleport Zeit zu verschwenden. Das einzige, was Walker daran hinderte, sich umzudrehen und das Gebäude zu verlassen, war die Erkenntnis, daß er seinem Redakteur zwanzig Minuten lang in den Ohren gelegen hatte, um ihn von der Bedeutung der Eröffnung zu überzeugen; es blieb ihm also nichts anderes übrig, als einen Artikel zu produzieren. Walker blieb am Informationsschalter stehen und wurde in den Souterrain dirigiert, wo er eine Reihe von Fahrkartenschaltern fand. Er verlangte ein Billett nach Philadelphia. Man verkaufte ihm eine Fahrkarte nach Philadelphia, gab ihm dazu eine Broschüre über die Freuden der direkten Übermittlung und eine kostenlose Versicherungspolice über fünfzigtausend Dollar und wies ihn zu einem Passagiersteig. Dort gab er seine Fahrkarte ab, marschierte durch ein Drehkreuz und einen kurzen Korridor, der von dort aus abbog, um Sekunden später von einer Telefonzelle in Philadelphia aus in unzusammenhängenden Worten die Meldung durchzuschreien. Beinahe bevor sein verblüffter Redakteur aufgelegt hatte, war Walker wieder in New York und wenige Minuten, nachdem ein Bote ihm einen beträchtlichen Betrag für Reisespesen gebracht hatte, telefonierte er aus London an. Nach dieser Leistung konnte nicht einmal der abgehärtetste Skeptiker leugnen, daß die Universal Teleport im Geschäft war. Aber an diesem schwülen Julitag ließ sich die Lethargie des Mannes von der Straße nicht so leicht überwinden. Um zehn Uhr standen nur vereinzelte Fußgänger vor der Station in Manhattan und preßten die Nasen an die großen Fenster. Ein elegant gekleideter junger Mann winkte ihnen von einer Plattform aus zu, trat durch eine Sende25
anlage und erschien, immer noch winkend, auf einer anderen Plattform in dreißig Metern Entfernung. Er machte ein paar Schritte, trat durch eine zweite Anlage und kehrte zu seinem Startplatz zurück. Der durchschnittliche New Yorker sah drei Minuten lang zu, ohne hinter den Gag zu kommen, und setzte murrend seinen Weg fort. Um zehn Uhr zehn kam ein Angestellter der Universal Teleport auf die rettende Idee, holte eine gutgebaute Blondine von einem Fahrkartenschalter weg, ließ einen Badeanzug holen und befahl dem jungen Mann, das Mädchen von Plattform zu Plattform zu jagen. Binnen Minuten entwickelte sich die gewaltigste Verkehrsstockung in der Geschichte Manhattans. Es bedurfte nur noch eines genialen Funkens, um die Eighth Avenue in ein Chaos zu stürzen. Um halb zwölf ließ der Geschäftsführer der Station ein riesiges Schild an den Fenstern aufhängen. ›Kommen Sie herein und versuchen Sie es selbst – kostenlos!‹ Die Menge stürmte in die Station. Die ersten mochten mehr Interesse daran gehabt haben, die Blondine zu verfolgen, als sich von den Sendeanlagen versetzen zu lassen, aber es ging los, und die Blondine wurde als Verkehrshindernis schnellstens weggeschafft. Die Polizei versuchte, in der Vorhalle mühsam Ordnung zu halten, und schrie heftig nach Verstärkung. Autos wurden auf der Straße stehengelassen, als die Fahrer sich in die Station vorkämpften, um zu sehen, was hier überhaupt los war. Endlose Schlangen wanden sich durch den riesigen Raum, als ein New Yorker nach dem anderen vorsichtig auf die Plattform stieg, durch den Sender trat, auf der anderen Plattform herauskam, zurückkehrte und zum Ausgang geschoben wurde. Die Anzahl der Menschen, die an diesem Tag durch 26
die Sendeanlagen gingen, ließ sich nie genau feststellen. Die Universal Teleport sprach von hunderttausend, was absurd war, aber ein Reporter verfolgte das Schauspiel eine Stunde lang mit der Stoppuhr und erklärte, daß in jeder Minute ein Minimum von zwanzig und ein Maximum von vierzig Menschen durch die Sendeanlagen geschleust worden sei. Am Nachmittag beschränkte man den Durchgang auf einen Weg quer durch die Vorhalle, so daß von nun an die doppelte Anzahl von Menschen durchgeschleust werden konnte. Noch um Mitternacht standen die Leute in Schlangen an, und an den Schaltern wurden zahllose Billetts verkauft. Reisende, die vom Pennsylvania-Bahnhof kamen, um zuzusehen, stellten sich vor den Schaltern an und erreichten ihr Ziel Stunden oder Tage, bevor man sie erwartete. Eine Flut von Abbestellungen ergoß sich über die Büros der Fluggesellschaften. Wall Street erholte sich von einer Panik später Verkäufe, bei denen die Aktien der Verkehrsgesellschaften unerhörte Tiefstwerte erreichten. Die Aktien der Universal Teleport waren vermutlich emporgeschossen, aber niemand wußte etwas Genaues, weil nichts zum Verkauf angeboten wurde. Die Aktionäre der Universal Teleport klammerten sich triumphierend an ihre Anteile. Zu jedem Punkt der Welt, wo die Universal Teleport eine Station erstellte, betrug die Reisezeit durch den Sender null Minuten, oder, um genau zu sein, soviel Zeit, wie ein Passagier brauchte, um durch den Eingang zu schlendern, einen kurzen Korridor entlangzugehen und zu einem Ausgang herauszukommen. Die Aufsichtsräte vieler Gesellschaften tagten an diesem Montagabend, mürrisch die Tatsache besprechend und ihre Bedeutung würdigend. Die Weitsichtigeren machten sich daran, In27
ventare auszugleichen, Fabriken zu schließen, neue Produktionen in die Wege zu leiten. Das Zeitalter des Autos, das Zeitalter des Flugzeugs war erledigt. Für alle Zeiten. Und zum erstenmal in drei Jahren gingen die Direktoren der Universal-Teleport-AG früh zu Bett, um gut zu schlafen. 4 Jan Darzeks einzige Angestellte war ein ehemaliges Mannequin namens Jean Morris. Sie stellte eine großartige Verzierung seines Büros dar, das sie mit unbarmherziger Tüchtigkeit leitete, und bei gewissen Aufträgen im Außendienst leistete sie Unübertreffliches. Sie hatte bei Darzek angefangen, weil sie sich in ihn verliebte. Sie entdeckte schnell, daß Jan Darzek kein gewöhnlicher Sterblicher war, sondern eine Institution merkwürdiger Talente, ausschließlich darauf gerichtet, Informationen zu beschaffen und sie in Berichten an Klienten niederzulegen. Nach einer Weile übertrug sie ihre Liebe auf den Detektivberuf und entwickelte ihre eigenen Talente. Sie waren ein ungeheuer erfolgreiches Team. Am Tag der Eröffnung der Universal Teleport kam Darzek vom Mittagessen zurück und ertappte sie dabei, daß sie sich stirnrunzelnd mit einem Telefonanruf befaßte. »Aus Berlin«, sagte sie. »Angeblich von Ron Walker.« »Was du nicht sagst.« »Ein R-Gespräch.« »Hab’ ich mir gedacht«, sagte Darzek lächelnd. »Wenn er noch einmal anruft, nimmst du das Gespräch nicht an.« 28
»Ich hab’ mir schon gedacht, daß es ein Witz ist. Oder war das Rons Zwillingsbruder, den ich heute hier gesehen hab’?« »Ron hat keinen Zwillingsbruder, und das Ganze ist kein Witz. Heute früh war er in New York. Jetzt ist er in Berlin. In der Zwischenzeit war er in London, Paris und Rom. Er ist für seine Zeitung unterwegs. Ich habe beim Essen einen seiner Kollegen getroffen und alles erfahren.« »Oh«, sagte sie. »Die Sache mit den Sendern.« »Richtig. Ron unternimmt eine Weltreise über die Sendeanlagen und schickt Artikel über die Reaktion der Bevölkerung. Natürlich möchte er mir persönlich alles schildern, damit ich die Telefonrechnung bezahlen kann. Wenn er wieder anruft, sagst du der Vermittlung, daß ich eben per Sender nach Sibirien abgereist bin.« Zwanzig Minuten später hatte Darzek einen Besucher, einen Geschäftsmann, der sich auf einer Reise nach Paris im vergangenen Frühling nicht hatte beherrschen können. Es gab Komplikationen. »Paris?« sagte Darzek lächelnd. »Vergangene Woche hätte ich Ihnen sagen müssen, daß ich keine Zeit habe. Aber jetzt – ich erledige das morgen.« Der Geschäftsmann seufzte erleichtert auf. »Gut. Ich überlasse alles Ihnen. Wenn Sie zurück sind – am Freitag?« »Ich mache das morgen nachmittag«, sagte Darzek. »Ich spreche mit der jungen Dame und komme sofort zurück. Es wird nur ein paar Stunden dauern.« Der Geschäftsmann hob verblüfft die Brauen, dann lächelte er plötzlich. »Ah – die Universal Teleport! Das hatte ich vergessen.« »Sie werden es nie mehr vergessen«, meinte Darzek. 29
Am Dienstag morgen entschloß sich die Polizei zur Kapitulation. Man sperrte drei Blocks der Eighth Avenue ab. Die schwitzenden Menschen stauten sich von Bürgersteig zu Bürgersteig. Die Universal Teleport befürchtete plötzlich mit Recht, daß die Menschenmassen dem Geschäft schädlich sein könnten, und öffnete einen Seiteneingang für zahlende Passagiere. Als Jan Darzek Dienstagnachmittag auf der Szene erschien, brauchte er fünfundvierzig Minuten, um sich vom PennsylvaniaBahnhof zur Station der Universal Teleport durchzukämpfen, und er wurde nur dadurch an der Aufgabe gehindert, daß die Menschenmassen hinter ihm undurchdringlicher erschienen, als jene vor ihm. Endlich erreichte er die Station, glitt erleichtert durch den Seiteneingang und fuhr mit dem Lift nach oben. Er blieb ein paar Minuten stehen, um die Leute unten in der Halle zu beobachten. An einem der Vorführsender drohte ein Chaos. Eine ältere Dame hatte ihren Schirm hindurchgesteckt und dann gezögert, ihm zu folgen. Sie zerrte verzweifelt an dem Schirm, von dem die Hälfte an der jenseitigen Plattform herausragte. Der Schirm bewegte sich nicht. Der kombinierten Überredungsgabe von sechs Angestellten gelang es schließlich, die Dame dazu zu bewegen, daß sie den Schirm ganz hindurchschob und ihm folgte. Darzek sah ihr nach, als sie davonwackelte, und runzelte die Stirn. Die Temperatur betrug dreißig Grad, am Himmel stand keine Wolke, und warum ein Schirm? Schutz gegen die Sonne? Hör schon auf, mahnte er sich. Wofür hältst du dich eigentlich? Etwa für einen Detektiv? Einen Augenblick später überlegte es sich eine Oberschülerin anders, nachdem sie neugierig einen Arm in den Sender gesteckt hatte. Sie hing hilflos da, während 30
ihr Unterarm aus der am anderen Ende des Saales befindlichen Empfangsanlage ragte. Ihre Schreie übertönten das Stimmengewirr in der Station. Einer der Aufseher schob sie schließlich hindurch, sie hastete die Treppe hinunter und lief davon. In der allgemeinen Aufregung steckte ein anderer Aufseher seinen Arm ebenfalls hindurch und mußte sich auf die Empfangsplattform versetzen lassen. Die Zuschauer lachten. Strikter Einbahnverkehr, dachte Darzek. Aber für die meisten genügt das ja wohl. Die Menge schien durch die beiden Pannen eher belustigt als erschrocken. Die Schlangen bewegten sich vorwärts, aber Darzek bemerkte, daß die Leute sich dem Sender argwöhnisch näherten, tief einatmeten, als träten sie unter die kalte Dusche, und dann mit geschlossenen Augen und vorgestreckten Armen hindurchtaumelten. Darzek klemmte sich die Mappe unter den Arm und ging hinüber zu einer der Schlangen an den Schaltern. Vor ihm drehte sich eine gutgebaute Blondine um, besichtigte Darzek mit seinen muskulösen Einsachtzig und dem welligen blonden Haar mit kühler Überlegenheit und wandte sich um. Darzek beschloß, sie zu ignorieren. In der Schlange nebenan sprach ein jovialer, dicker Geschäftsmann aufgeregt auf seinen mageren, düsterblickenden Begleiter ein. »Ich hab’s unten versucht. Gar nichts dabei, man spürt überhaupt nichts. Wie es in den Anzeigen steht, es ist genauso, als ginge man von einem Zimmer ins andere. Wirklich das Tollste, was ich je gesehen habe. Ein Schritt, und da stehst du, auf der anderen Seite des Saales.« Der andere kaute nervös an einer Zigarre. »Quer durch den Saal ist nicht dasselbe wie von hier nach Chikago.« »Genau dasselbe. Du kannst bis nach Singapore gehen 31
– wenn es dort eine Station gibt –, und das dauert nicht länger, als den Saal zu durchqueren. Für mich ist Schluß mit der Fliegerei. Das ist zwar ungefährlich, aber ab und zu stürzt doch ein Flugzeug ab, und hier riskiert man überhaupt nichts. Deswegen bekommt man auch die Versicherungspolice. Kein Mensch gibt einem fünfzigtausend Dollar Versicherungssumme umsonst, wenn man nicht ganz sicher ist, daß nichts passieren kann.« »Hm!« sagte der Zigarrenkauende. »Das tun sie nicht wegen der Sicherheit, sondern weil es sich um etwas ganz Neues handelt und manche Leute natürlich davor Angst haben. Man soll eben glauben, daß nichts passieren kann. Vielleicht erklärst du mir mal, was geschieht, wenn so ein Apparat defekt wird, während du zur Hälfte hier und zur Hälfte in Chikago bist.« »Mensch – daran hab’ ich noch gar nicht gedacht! Wir fragen mal am Schalter.« Alle Leute schienen beruhigender Zusicherungen zu bedürfen, und es ging nur langsam vorwärts. Die beiden Geschäftsleute kamen an den Schalter, unterhielten sich längere Zeit mit einem geduldig grinsenden Angestellten und kauften schließlich ihre Karten. Die Blondine vor Darzek trat gerade an das Schalterfenster. Sie nahm ein Ungetüm von Handtasche von der Schulter, öffnete sie und betrachtete sich im Spiegel, während der Fahrkartenverkäufer ungeduldig mit einem Bleistift auf die Theke klopfte. Schließlich klappte sie die Tasche zu und betrachtete den Angestellten mit derselben kühlen Überlegenheit wie vorher Darzek. »Ich möchte nach Honolulu«, sagte sie. »Gern. Haben Sie einen Ausweis bei sich?« »Einen Ausweis.« Es war schwer zu sagen, ob sie eine Frage stellte oder die des Angestellten beantwortete. 32
»Ich brauche irgendeinen Ausweis, damit ich Ihre Versicherungsurkunde ausstellen kann. Zusammen mit Ihrem Billett erhalten Sie eine Police über fünfzigtausend Dollar, gültig in der Zeit zwischen dem Betreten des Reisesteigs hier in New York und dem Verlassen des Empfangssteigs in Honolulu. Haben Sie einen Ausweis – Führerschein, Steuerkarte?« »Tragen die Passagiere Schwimmwesten?« fragte die Frau. Der Fahrkartenverkäufer zuckte zusammen. »Nein. Keine Schwimmwesten.« »Wissen Sie ganz genau, daß das ungefährlich ist? Zwischen hier und Honolulu ist sehr viel Wasser, und ich möchte nicht gern hineinfallen. Ich kann nicht mal schwimmen.« Der Angestellte rollte die Augen zum Himmel. »Es ist vollkommen ungefährlich. Sie haben nichts zu befürchten. Sind Sie schon durch den Sender im Foyer gegangen?« »Du lieber Himmel, nein! Ich kam gar nicht heran.« »Sie können von hier aus zusehen. Es ist genauso, als gingen Sie von einem Zimmer ins andere. Sie gehen hier durch eine Tür, und in Honolulu, oder wo Sie sonst hinwollen, durch eine andere. Mehr ist nicht dran.« »Ich will aber nach Honolulu«, sagte sie. »Schicken Sie mich ja nicht nach China oder sonst wohin.« »Sie möchten eine Fahrkarte nach Honolulu kaufen?« »Das sag’ ich Ihnen ja schon die ganze Zeit!« »Ihren Ausweis bitte.« »Wissen Sie ganz genau, daß es ungefährlich ist?« »Wenn Sie wirklich Zweifel haben, warum sind Sie dann nicht eine Weile in den Saal gegangen und haben zugesehen?« 33
Zögernd gab sie ihren Führerschein ab. »Ich hoffe nur, daß ich nicht in den Ozean falle. Mein Haar verträgt kein Salzwasser.« »Ist das Ihre jetzige Anschrift?« »Ja. Ich kann mich einfach nicht damit abfinden, daß ich so viel Wasser ohne Flugzeug, Boot oder sonst etwas überqueren soll.« Der Angestellte schrieb emsig. Darzek sah zu den anderen Schaltern hinüber. Alle Angestellten wirkten nervös, und ein paar begannen zu fauchen. Die Blondine kramte in ihrer Handtasche nach Geld. Da sich das Ganze unmittelbar vor Darzek abspielte, sah er sich die Handtasche gründlich an. Es handelte sich um ein kofferähnliches Ungetüm aus schimmerndem schwarzem Leder, kunstvoll mit Verzierungen überzogen, die an die alte Kultur der Majas erinnerten. Er hatte so etwas in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen und fragte sich, ob die Tasche vielleicht aus Mexiko stammte. Sie schob das Geld durchs Fenster und bekam dafür Wechselgeld, eine Karte, eine Versicherungsurkunde und die Broschüre der Universal Teleport. »In dem Buch steht alles, was Sie über Teleportation wissen müssen«, sagte der Angestellte. »Bitte auf Steig 10 melden.« Die Frau stopfte alles in ihre Handtasche. »Sind Sie sicher – ich meine, so viel Wasser –« »Lady«, platzte der Angestellte heraus, »Sie werden nicht einmal Gelegenheit haben, sich die Füße zu waschen.« Die Blondine drehte sich verärgert um, während die Leute hinter Darzek auflachten. Darzek trat vor. »Ja?« sagte der Fahrkartenverkäufer erschöpft. 34
Darzek schob seinen Führerschein durchs Fenster. »Das ist meine jetzige Adresse. Paris, bitte.« Der Angestellte schrieb, nahm das Geld, gab heraus. »Hier, bitte. In dieser Broschüre –« »Ich weiß schon«, sagte Darzek. »Das les’ ich, wenn ich dort bin.« Der Angestellte schob mit ernsthafter Miene das Gitter hoch, beugte sich hinaus und ergriff Darzeks Hand. »Melden Sie sich bitte auf Steig 9«, sagte er. Es gab Platz für etwa fünfzig Reisesteige, aber nur ein Dutzend war in Betrieb. An den nächsten Anlagen wurde bereits gearbeitet. Darzek sah Ted Arnold mit fuchtelnden Armen herumeilen und Anweisungen erteilen. Darzek mischte sich unter die wartenden Passagiere, von einer Begeisterung erfüllt, die nur ein langgepeinigter Aktionär der Universal Teleport zu begreifen vermochte. Er fand Steig 9 und stellte sich an. Hübsche junge Hostessen in eleganten Kostümen eilten hin und her, beantworteten Fragen und sprachen den Ängstlichen Mut zu. Darzek sah die Blondine von vorhin die Geduld einer der Hostessen strapazieren. Aber das junge Mädchen wurde bald von männlichen Passagieren beiseite gedrängt, die sich um die Blondine versammelten und ihr aus der Broschüre ganze Absätze vorlasen. Darzek wandte sich angewidert ab. Man konnte es auch übertreiben, fand er, und die Blondine war ihm von Anfang an auf die Nerven gegangen. Die Hosteß lächelte ihn an: »Alles in Ordnung?« Darzek nickte. »Es geht aber recht langsam.« »Wir haben erst wenige Sender in Betrieb. Es kommt selten vor, daß zwei Passagiere hintereinander dasselbe Ziel haben, so daß jedesmal umgestellt werden muß. Das 35
hier ist der Europasteig mit den Passagieren nach London, Paris, Berlin, Oslo, Madrid, Rom und Athen. Sobald jeder dieser Orte einen eigenen Steig hat, geht es wesentlich schneller.« Sie hastete davon, um eine dicke Frau moralisch aufzurichten, die an der Sperre angekommen war und den Mut zu verlieren schien. Darzek sah ihr nachdenklich nach. Ohne längeres Studium fielen ihm wenigstens zwei Möglichkeiten ein, das Problem zu lösen: Sie konnten alle Passagiere für ein Ziel zusammennehmen und sie durchlaufen lassen oder für jeden Ort eine bestimmte Zeit ansetzen. Er erinnerte sich daran, daß die Gesellschaft erst auf die Erfahrungen eines einzigen Tages zurückblicken konnte, und daß man zweifellos experimentieren würde, um eine befriedigende Lösung zu finden. Im übrigen würden natürlich mehr Sender die Sache vereinfachen. Eine andere Hosteß ging an der Reihe der Passagiere entlang und erklärte die Sicherheitsvorkehrungen der Universal Teleport. Sie wies darauf hin, daß man sich beim Gang durch die Anlage vorsehen solle. Erst heute morgen hatte sich ein Mann den Knöchel verstaucht, als er durch den Sender gerannt sei. Nach ihr kam eine dritte Hosteß, die das langsame Tempo darauf zurückführte, daß die Passagiere zu vorsichtig seien. Man möge doch möglichst schnell durch den Sender gehen. Die Schlange quälte sich vorwärts. Die Passagiersperren schienen gut zu funktionieren. Jede Sperre wurde von einem Angestellten beaufsichtigt, der in einem erhöhten Kontrollhäuschen saß. Auf das Signal des Angestellten hin gab der Passagier seine Fahrkarte ab, durchschritt ein Drehkreuz und betrat einen im spitzen Winkel abbiegenden schmalen Korridor. Er verschwand schnell aus dem Blickfeld 36
der ängstlich Wartenden, aber Darzek fiel auf, daß der Kontrolleur den Korridor überblicken und den Passagier beobachten konnte, bis er in den Sender trat. Die Korridore waren durch hohe Wände voneinander getrennt, um die Passagiere daran zu hindern, die falsche Sendeanlage zu betreten. Darzek hatte seine Sperre fast erreicht, als nebenan Unruhe entstand. Die Blondine war durch Sperre 10 getreten und hatte sich plötzlich überlegt, daß sie noch ein paar Auskünfte benötigte. Der Kontrolleur und drei Hostessen sprachen auf sie ein, aber sie blieb stehen und wippte ungeduldig mit einem Fuß. Aus langer Übung heraus hatte Darzek sich ihr Gesicht bereits eingeprägt. Jetzt begann er sie kritisch zu betrachten. Die Warze an der linken Wange – die müßte sie entfernen lassen. Ihre langen Wimpern waren wahrscheinlich falsch. Sie trug mehr Makeup als nötig, und ihre nervösen Gesten – das Wippen mit dem Fuß, die Art, wie sie das lange Haar mit der linken Hand zurückstrich und mit der rechten den Verschluß ihrer Handtasche befingerte – verleiteten Darzek zu der Annahme, daß ein Psychiater bei ihr nicht fehl am Platze gewesen wäre. Sie spielte zu offensichtlich die hilflose, gehirnlose Blondine. Das war Schauspielerei, die sie nicht nötig hatte. Ihr Gesicht war sehr hübsch, ihre Figur wohlproportioniert, und ihr weißes Sommerkostüm verriet die Herkunft aus einem der ersten Modehäuser. Ihre Erscheinung war auffallend genug, um überall Aufmerksamkeit zu erregen. Eine Frau, die so aussah, schadete sich selbst, wenn sie sich so aufführte. Ihre hohe, spröde Stimme übertönte die Gespräche der anderen Passagiere. »Sind Sie sicher? Ich meine, so viel Wasser –« Schließlich drehte sie sich um und verschwand im 37
Korridor. Es blieb eine Weile still, während der Kontrolleur abwechselnd auf seine Instrumententafel und zum Sender blickte, dann kam die Blondine zurück. »Was muß ich machen?« fragte sie. »Einfach weitergehen? Am anderen Ende ist ja nur eine Wand.« Der Kontrolleur warf die Arme hoch. »Hören Sie zu. Sie gehen einfach weiter, kommen durch den Sender und sind in Honolulu. Wollen Sie die Reise machen oder nicht?« »Ich will nicht den ganzen Weg gehen.« Darzek starrte die Blondine an. »Nicht zu fassen!« murmelte er. Eine Hand berührte seinen Arm. »Paris, Sir?« sagte die Hosteß. Darzek gab seine Fahrkarte ab. »Geradeaus, Sir.« Darzek drehte sich noch einmal nach der Blondine um. »Wir warten auf Sie, Sir.« Er zuckte die Achseln. Das Ganze ging ihn schließlich nichts an. Er ging durch das Drehkreuz und marschierte den Korridor entlang auf die Wand zu. Plötzlich sah er an Stelle der Wand einen Ausgang, wo ein lächelnder Kontrolleur wartete. Er wurde zur Zollabfertigung geleitet, und zwei Minuten später trat er aus der Station der Universal Teleport in Paris auf die Champs Elysees. In der Station New York brachte die Blondine immer neue Einwände vor. Die wartenden Passagiere wurden ungeduldig. Der Kontrolleur rief seinen Vorgesetzten, und dieser übersah die Situation mit einem Blick und bat die Blondine an einen Schalter, um ihr das Geld zurückzuzahlen. Sie drehte sich plötzlich um, lief durch den Korridor und verschwand. Der Kontrolleur seufzte er38
leichtert und starrte auf seine Instrumententafel. Fünf Minuten später rief er seinen Vorgesetzten wieder. »Ich bekomme keine Empfangsbestätigung aus Honolulu«, sagte er. »Verdammt! Wie lange ist es schon her?« »Über fünf Minuten.« Der Vorgesetzte kratzte sich am Kinn. »Vielleicht ist die Lampe ausgefallen. Ich hole einen Techniker.« »Ja. Und was ist mit –« Er deutete auf die wartenden Passagiere. »Wir müssen sie auf die anderen Steige verteilen. Holen Sie ein paar Hostessen her.« Sie verteilten die Passagiere von Steig 10 auf die anderen Sperren, was Zeit kostete und unter den Leuten Unwillen hervorrief. Ein Techniker kam, überprüfte die Anlage und fand sie in Ordnung. Der Aufsichtführende fluchte und hastete zum Personalsender, um sich schnellstens nach Honolulu zu verfügen. Drei Minuten später kam er mit blassem Gesicht zurück. »Die Frau ist in Honolulu nicht aufgetaucht«, sagte er. »Ihre Handtasche kam an, aber ohne sie, Sie warten immer noch. Sie muß davongelaufen sein.« »Nein«, sagte der Kontrolleur entschieden. »Sie ist durch die Anlage gegangen. Ich habe sie beobachtet.« »Wo ist sie denn dann?« »Woher soll ich das wissen?« Der Aufseher begann zu schwitzen.: »Ich muß sofort Arnold Bescheid geben.« Ted Arnold sprach mit dem Kontrolleur, begab sich nach Honolulu, kam zurück und setzte sich mit seinem Personal zu einer Besprechung zusammen. Er schickte seine Leute in alle Richtungen, nach Honolulu, nach al39
len Stationen der Universal Teleport, die in Betrieb waren, und stellte die Ergebnisse zusammen. Drei Stunden später mußte der Chefingenieur kapitulieren. Am zweiten Tag nach der Eröffnung hatte die Universal Teleport einen Passagier verloren. 5 Es war nicht die beste Rede in der langen Laufbahn Thomas J. Watkins’, aber seine wichtigste. »Die Aufgabe der Universal-Teleport-AG«, erklärte er, »ist weitgehend mißverstanden worden. Ich habe Dutzende von Berichten gelesen, Vorträge, Debatten, Diskussionen und Interviews gehört. Alles läuft auf die fälschliche Annahme hinaus, die Universal Teleport sei daran, den linearen Raum endgültig zu besiegen. Diese sogenannten Fachleute befinden sich in einem grundlegenden Irrtum. Der Mensch hat seit langem auf diesem Planeten den Raum besiegt. Mit dem entsprechenden Aufwand an Zeit und Geld war es dem Menschen seit vielen Jahren möglich, jeden beliebigen Punkt der Erde zu erreichen und dort so lange zu bleiben, wie es ihm beliebte. Die Universal Teleport hat nur die zeitliche Komponente verändert. Die Beziehung zwischen Zeit und Entfernung quält den Menschen seit der Eiszeit, und die bedeutendsten Entwicklungen des vergangenen Jahrhunderts im Transportwesen haben diese Beziehung nicht verändert, sondern nur gemildert. Der Materiesender dagegen hat sie vollkommen beseitigt. Lassen Sie mich wiederholen: der Materiesender stellt den endgültigen Sieg des Menschen über die Zeit dar. Wo immer Sie jetzt auch sein mögen, Sie sind – in der Zeit – nicht weiter von mir entfernt als 40
die Herren bei mir am Tisch. Das Zimmer nebenan ist – in der Zeit – nicht weiter entfernt als die andere Halbkugel der Erde. Da diese Tatsache nicht einmal annähernd begriffen wurde, hat niemand ihre Bedeutung erkannt, nicht einmal das Direktorium der Universal Teleport. Wir waren zu sehr beschäftigt damit, unsere Sendeanlagen in Betrieb zu setzen. Aber wir wissen, daß wir heute den zweiten Tag einer neuen Ära erleben. Der Materiesender wird auf die Zivilisation eine größere Wirkung haben, als jede andere Erfindung der Geschichte. Im Vergleich dazu wird die bemerkenswerte Entwicklung des Automobils nicht mehr als ein kleiner Absatz im Buch der Geschichte sein. Und weiter –« Watkins beugte sich vor und drückte auf einen Knopf. Der Fernsehschirm wurde dunkel. »Genug davon«, sagte er. »Aber sehr gut ausgedrückt«, sagte der Mann neben ihm, Charles Grossman, dessen Stellung als Schatzmeister der Universal Teleport bis zu diesem Tag rein nomineller Natur gewesen war. Er hatte eben einen Bericht über den Umsatz am ersten Tag gelesen und war guter Stimmung. »Was mir besonders gefiel«, fuhr er fort, »war die Art, wie Sie angedeutet haben, daß man immer noch Geld braucht, um zu reisen, auch wenn die Universal Teleport das Erfordernis der Zeit abgeschafft hat. Wie lange glauben Sie, daß wir Flugpreise verlangen können?« »Zu lange«, erwiderte Watkins. »Im Augenblick brauchen wir möglichst viel Geld, um unsere Schulden zahlen und unser Unternehmen ausbauen zu können. Aber die Zeit wird kommen, wo wir durch niedrigere Preise soviel zusätzlichen Umsatz erzielen können, daß Gewinne möglich bleiben. Und dann werden die Eisenbahnen und 41
Omnibusgesellschaften zu schreien anfangen. Im Augenblick stehen wir nur mit den Fluggesellschaften im Wettbewerb. Wo waren wir, als die Fernsehsendung anfing – oh, beim Polizeipräsidenten. Er verlangte, daß wir die Vorführung im Foyer einstellen, damit wieder Ordnung einkehrt. Wir haben uns gerne gefügt. Wir brauchten die Sendeanlagen, und die Menge verscheuchte zahlende Passagiere.« Grossman lachte. »Das wollen wir natürlich nicht.« »Der nächste Punkt«, sagte Watkins. »Wir haben von überallher Telegramme bekommen. Will sie jemand lesen?« Er ließ den Blick um den Tisch gleiten. Außer ihm waren nur fünf Männer anwesend. Man hatte eine Vollsitzung einberufen, aber einige Direktoren standen nicht sofort zur Verfügung, und andere hatten sich nicht durch die Menge in der Eighth Avenue gewagt. »Ich lasse sie von drei Sekretärinnen sortieren«, fuhr Watkins fort. »Ein paar müssen beantwortet werden – die Telegramme vom Präsidenten, den Mitgliedern des Kongresses, den fremden Regierungschefs und so weiter. Ich werde das veranlassen. So, meine Herren, damit wären wir fertig, wenn Sie nicht noch irgendwelche Vorschläge haben. Ja, Miller?« Carl Miller, ein kleiner Mann mit dunklem Teint, fragte sachlich: »Was wird bezüglich des Frachttransports unternommen?« Watkins verbarg seine Belustigung. Miller war erst spät zum Direktorium gestoßen, durch den Besitz eines großen Aktienpakets, das er während der dunkelsten Zeit der Gesellschaft gekauft hatte, außerdem vertrat er eine Reihe anderer Aktionäre. Er hatte Zutrauen zur Firma gehabt und sich nützlich gemacht, aber wenn es um die Fracht ging, war er fast ein Fanatiker. Watkins war dafür, 42
zunächst den Passagierdienst auszubauen. Die Firma konnte dabei mehr verdienen und hatte sich außerdem mit weniger komplizierten Problemen herumzuschlagen. Die Passagiere übernahmen die Verantwortung für den Transport von und zu den Stationen, und sie brauchten nicht gelagert zu werden, bis man sie abrief. »Im Augenblick haben wir noch nicht einmal das Problem des Passagiergepäcks endgültig gelöst«, sagte Watkins. »Aber wir vergessen natürlich die Bedeutung der Fracht nicht. Arnold ist eben dabei, einen Spezialsender zu konstruieren, mit dem sich Fracht transportieren läßt. Ich habe das Gefühl, daß man das Frachtgeschäft völlig vom Passagierdienst trennen sollte. Meiner Meinung nach können wir, auf die Dauer gesehen, Frachtstationen leichter einrichten als unsere Passagierstationen auf den Transport von Fracht umzustellen. Wir haben auch Anfragen von der Post und von mehreren großen Konzernen, die Sendeanlagen von uns mieten wollen. Das Ganze muß eingehend geprüft werden. Möchten Sie einem Ausschuß vorsitzen, der sich damit befaßt, Miller?« Miller nickte. »Ich bin auch der Ansicht, daß es nicht klug wäre, ohne präzise Planung anzufangen. Andererseits –« Die Tür öffnete sich. Watkins drehte sich lächelnd um und winkte. »Kommen Sie ‘rein, Ted. Wir sind gerade – was ist denn los?« Grossman blickte Arnold an und warf verzweifelt die Arme hoch. »Na bitte. Ich hab’ mir doch schon gedacht, daß alles zu glatt gelaufen ist.« Arnold zog sich müde einen Stuhl heran und berichtete von dem verschwundenen Passagier. 43
»Wie ist das möglich?« fragte Watkins. »Es ist eben nicht möglich«, sagte Arnold. »Aber es ist geschehen.« »Es scheint passiert zu sein.« »Wohin könnte denn ein Passagier verschwinden?« wollte Miller wissen. »In die neunte Dimension oder was?« »Drücken wir es anders aus«, sagte Vaughan, einer der Direktoren. »Wie viele Dimensionen gibt es zwischen den Sendestationen? Wenn ihr Techniker wirklich verstehen würdet, wie das Ding funktioniert –« Arnold unterbrach ihn zornig. »Wir wissen, wie der Sender arbeitet. Machen wir uns nichts vor. Wir wissen nicht, warum er funktioniert, aber den Ablauf haben wir vollkommen unter Kontrolle. Wir würden sonst keine Passagiere teleportieren. Es gibt kein ›dazwischen‹, wenn man sich von einem Ort zum anderen versetzen läßt. Man befindet sich entweder am Punkt der Abreise oder am Ziel. Wenn etwas geschieht, bevor man teleportiert wird, kommt man gar nicht vom Fleck. Wenn etwas geschieht, nachdem man angekommen ist, befindet man sich schon dort. Schauen Sie her.« Er ließ sich von Grossman ein Blatt Papier geben und zeichnete in die einander diagonal gegenüberliegenden Ecken große Quadrate. »Das sind die beiden Sendestationen.« Er legte die Ecken aufeinander, so daß die Quadrate sich deckten. »Genau das leistet der Sender. Solange er richtig funktioniert, sind die beiden Stationen miteinander verbunden. Wenn er nicht funktioniert« – er glättete das Blatt Papier –, »bleibt der Passagier, wo er ist.« »Aber ein Passagier ist – irgendwohin gekommen«, sagte Watkins. »Er scheint irgendwohin gekommen zu sein. Wir haben 44
keinen Passagier verloren, wir haben scheinbar einen Passagier verloren.« »Der Passagier findet das sicherlich recht tröstlich«, meinte Vaughan trocken. »Du meine Güte!« rief Grossman. »Wieder ein Prozeß.« Watkins wandte sich einem anderen Mann zu. »Harlow, was bedeutet das juristisch?« »Gar nichts«, erwiderte Harlow sofort. »Die juristischen Fragen sind geklärt. Die Haftung der Firma ist auf jeder Fahrkarte eindeutig festgelegt und durch die Versicherungspolicen gedeckt. Mit der Haftung muß sich die Versicherungsgesellschaft befassen. Dafür brauchen Sie keinen Anwalt, sondern einen Wissenschaftler – oder die Polizei.« »Wenn wir mit dem Frachtgeschäft angefangen hätten«, sagte Miller, »hätten wir jetzt nicht solche Probleme.« »Welche Polizei?« fragte Grossman. »Die in New York oder die in Honolulu? Oder eine von dreitausend Orten dazwischen?« »Das FBI?« meinte Harlow. Watkins schüttelte den Kopf. »Nein, keine Polizei. Solange wir es vermeiden können. Wir können uns keine schlechte Reklame leisten, jetzt am Anfang.« »Die Reklame wird uns noch viel mehr schaden, wenn wir es nicht richtig anpacken«, meinte Miller. Grossman schlug mit der Faust auf den Tisch. »Moment mal! Was ist, wenn die Versicherungsgesellschaft unseren Vertrag kündigt? Wir haben die Leute davon überzeugt, daß es keine Ansprüche geben wird, und heute ist erst der zweite Tag! Wenn wir keine kostenlosen Versicherungspolicen abgeben könnten, weil niemand sie decken will, wären wir erledigt.« 45
»Wir hätten mit der Fracht anfangen sollen«, sagte Miller. »Wie wär’s mit einem Privatdetektiv?« fragte Arnold. »Ich kenne einen ausgezeichneten Mann.« Watkins sah sich im Kreis um. »Was meinen Sie? Wenn es keine wissenschaftliche Erklärung dafür gibt, könnte ein Detektiv sicherlich nichts schaden.« Vier Köpfe nickten. Miller sagte: »Ich bin immer noch der Meinung, daß wir die Polizei verständigen sollten.« »Jetzt noch nicht«, sagte Watkins. »Besorgen Sie den Detektiv, Ted.« Arnold rief in Darzeks Büro an, verständigte die Station Paris und wartete auf Darzek, als er in New York aus dem Teleportationskorridor trat. »Komm mit«, sagte er. »Ich habe einen Job für dich.« »Laß mich los!« protestierte Darzek. »Ich will keinen Job. Ich habe mich den ganzen Abend mit einer hartnäckigen jungen Dame streiten müssen, ich bin müde und komme sowieso schon zu einer Verabredung zu spät.« »Abend?« »In Paris ist Abend. Jetzt Nacht.« »Oh«, sagte Arnold. »Du kannst in meinem Büro deine Verabredung absagen, dann bring’ ich dich nach oben.« Für den Raum wäre Schwarz die passende Farbe gewesen, dachte Darzek. Alle machten bedrückte Gesichter, nur Arnold schien wütend zu sein. Watkins wirkte gelassen, aber sein Gesicht war leichenblaß. Arnold meldete sich zu Wort, dann sprach Watkins. Darzek hörte zu und beobachtete die Gesichter. Grossman, der dicke Schatzmeister, mühte sich ab, angesichts der Katastrophe heroisch zu sein. Miller sinnierte mürrisch vor sich hin, nachdem er noch einmal die Vorzüge des Frachtgeschäftes dargelegt hatte. Harlow, der juristi46
sche Berater des Unternehmens, hatte das Interesse verloren und studierte die Börsenberichte. Die beiden anderen Direktoren, Vaughan und Cohen, hörten kaum zu, sie warteten darauf, selbst zu Wort zu kommen. »In beiden Stationen war alles in Ordnung«, sagte Arnold. »Sie ging hier in New York durch den Sender. In Honolulu kam nur die Handtasche an. Wir haben keine Spur von ihr gefunden.« »Und was war in der Handtasche?« fragte Darzek. »Eine Brieftasche mit Ausweisen und vierzehn Dollar, abgesehen von dem üblichen Zeug.« »Ich möchte sie gerne sehen.« »Gleich«, sagte Arnold. Die Handtasche wurde gebracht und auf den Tisch gestellt. Darzek sah sie an und begann zu lachen. Die anderen starrten ihn an, schockiert und zornig. »Ich will Ihnen sagen, was passiert ist«, sagte Darzek. »Man hat Sie hereingelegt. Die Frau machte zuerst Theater, um möglichst vielen Leuten aufzufallen. Sie sollten nachher keine Möglichkeit haben, zu behaupten, sie sei gar nicht dagewesen. Dann ging sie zum Sender, warf ihre Tasche durch und kehrte zur Sperre zurück, um die Angestellten wieder zu belästigen. Anschließend lief sie davon. Sie versteckte sich in einer anderen Schlange und präsentierte Ihnen damit ein unlösbares Geheimnis.« Es war still geworden. Harlow hatte seine Zeitung weggelegt. Miller beugte sich vor und starrte Darzek mit offenem Mund an. »Es kann sein, daß wir die Angelegenheit zu sehr komplizieren«, meinte Watkins schließlich, »aber Sie vereinfachen zu stark. Sie nehmen an –« »Ich nehme gar nichts an. Ich war dabei. Ich stand hin47
ter der Frau, als ich mein Billett kaufte, und hatte Gelegenheit, mir die Tasche genau anzusehen. Sie ist recht ungewöhnlich und interessierte mich. Ich wartete in der Reihe auf dem Steig 9, während sie auf Steig 10 stand, und ich sah ihr zu, als sie an der Reihe war. Ich sah sie den Korridor zum Sender hinuntergehen. Sie hatte die Tasche nicht über der Schulter, sondern in der Hand. Ich sah sie ohne die Tasche zurückkommen. Offenbar hat sie sie vor ihren Körper gehalten, damit der Kontrolleur nicht sehen konnte, was sie damit trieb, dann warf sie sie durch den Sender. Ich wollte ja warten, um zu sehen, was sich da abspielte, aber da ich an der Reihe war, gab ich es auf. Ich weiß nicht, wie sie sich verdrückt hat, aber das Ganze war nur ein Trick.« Die anderen murmelten Zustimmung. »Was sagen Sie dazu?« »Ein Glück für uns.« »Der Mann ist auf Draht.« Watkins trommelte auf den Tisch. »Sie sind ein sehr aufmerksamer junger Mann, Mr. Darzek.« »Davon lebe ich.« »Das klingt alles nicht schlecht«, sagte Arnold. »Smith aber – Smith war der Kontrolleur auf Steig 10 –, Smith sagt, und ich zitiere –« Er nahm ein Blatt Papier aus der Tasche, entfaltete es und las vor: »›Ich habe sie keine Sekunde aus den Augen gelassen. Sie ging den Korridor entlang, als wolle sie durch den Sender, dann drehte sie sich um, kam zurück und sagte: ‚Sind Sie sicher, daß alles in Ordnung ist? Ich meine, der Weg nach Honolulu ist doch sehr weit, und ich möchte nicht in den Ozean fallen. Salzwasser ist für mein Haar nicht gut.’ Und noch allerhand Unsinn. Ich sagte: ‚Lady, wenn Sie die Reise nicht machen wollen, dann gehen Sie zur Seite. Die Leute war48
ten.’ Schließlich rief ich Mr. Douglas, und er fragte sie, ob sie ihr Geld zurückhaben wolle. Ganz plötzlich drehte sie sich um und ging durch den Korridor, als sei nichts passiert, aber ich bekam von Honolulu kein Empfangssignal. Ich wartete, dann rief ich wieder Mr. Douglas.‹ Wir sind also jetzt genau bei dem Punkt, als Darzek nach Paris abreiste. Sie ging zum Sender und warf die Handtasche hindurch. Warum eigentlich?« »Um die Sache noch mehr zu komplizieren«, sagte Darzek. »Selbstverständlich. Wenn sie spurlos verschwunden wäre, hätten wir vielleicht nie entdeckt, daß es ein Geheimnis gab. Eine Handtasche ohne Frau läßt Schlimmes ahnen. Sie wurde die Tasche los, dann drehte sie sich um und kam zurück. Darzek ging in diesem Augenblick, aber es hätte uns auch nicht viel genützt, wenn er dageblieben wäre, um zuzusehen. Nur der Kontrolleur konnte den Sender sehen, und Smith schwört, daß er sie hindurchgehen sah. Sie konnte auch nirgends anders hin als in die Sendeanlage. Sie konnte den Korridor nicht verlassen, ohne durch die Sperre zurückzukommen.« »Und was ist mit Honolulu?« fragte Darzek. »Haben Sie nachgeforscht, ob sie dort durchgekommen sein kann, ohne gesehen zu werden?« Arnold schüttelte den Kopf. »Ich hab’s überprüft. Glaub mir, ich hab’s überprüft. Ich habe mit allen Leuten gesprochen, die dort in der Nähe waren. Die einzige Möglichkeit, wie sie dort durchkommen konnte, ohne gesehen zu werden, war, sich unsichtbar zu machen. Im Augenblick schließe ich diese Möglichkeit aus.« »Was soll ich tun?« fragte Darzek Watkins. »Sie finden.« Darzek schüttelte den Kopf. »Jetzt vereinfachen Sie. 49
Sie kann inzwischen überall sein. Ich habe ein kleines Detektivbüro, und die Welt ist recht groß.« »Beauftragen Sie so viele Leute, wie Sie brauchen.« »Sie war wahrscheinlich verkleidet«, sagte Darzek. »Ich vermute, daß ihr langes blondes Haar eine Perücke war und daß sie auch nicht an hohe Stöckel gewöhnt gewesen sein kann. Ich bin sicher, daß ich sie erkennen würde, wenn ich sie wiedersehe, verkleidet oder nicht, aber ich habe Übung darin. Es würde mir schwerfallen, sie so zu beschreiben, daß jemand sie ohne Verkleidung oder in einer anderen Verkleidung erkennen kann. Was ist, wenn sie eine rote Perücke trägt, sich flach schnürt, niedrige Absätze trägt, die Warze an ihrer Wange in ein Muttermal verwandelt und irgendwo anders verschwindet, sagen wir, in Ihrer Station Los Angeles? Dann haben Sie zwei vermißte Passagiere, und nichts kann sie daran hindern, diesen Trick ständig zu wiederholen. Ich würde vorschlagen, daß wir die Blondine vergessen und uns darauf konzentrieren, wie sie es gemacht hat.« »Du guter Gott!« stöhnte Grossman. »Das ist ja schlimmer als ich vermutet habe.« »Man kann die Sache auch anders sehen«, meinte Darzek. »Wenn Sie Interesse haben –« »Selbstverständlich«, sagte Watkins. »Was meinen Sie?« »Ich finde, daß das Problem zwei Seiten hat. Die eine ist der technische Ablauf, wie die Frau es zuwege gebracht hat und wohin sie verschwand. Wenn sie tatsächlich in den Sender trat und dort nicht herauskam, wo man sie erwartete, ist das Arnolds Problem. Ich habe keine Ahnung, wie es zu lösen ist.« »Ich auch nicht«, sagte Arnold. »Aber du hast recht. Das ist mein Problem.« 50
»Die andere Seite ist, daß jemand offensichtlich bemüht ist, der Universal Teleport Schwierigkeiten zu machen. Ich wette, daß die Frau nicht von alleine auf diese Idee gekommen ist. Die Frage, wer dahintersteckt und aus welchem Grund man gegen Ihre Firma vorgeht, fällt in mein Gebiet, und wenn Sie wünschen, daß man Ermittlungen anstellt, bin ich gerne bereit dazu.« »Das finde ich logisch«, sagte Watkins. »Ich bin der Meinung, daß wir annehmen sollten.« Die anderen runzelten die Stirn, erhoben aber keine Einwände. »Also gut, Mr. Darzek«, sagte Watkins. »Wir geben Ihnen jede Unterstützung und wünschen Ihnen natürlich großen Erfolg.« »Haben Sie schon gewisse Maßnahmen im Auge?« erkundigte sich Miller. »Eine ganze Reihe.« »Welche?« »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, bin ich dafür, daß möglichst wenig Leute davon wissen.« Miller wurde rot. »Das ist lächerlich.« »Du lieber Himmel«, sagte Grossman. »Wenn man den Direktoren nicht vertrauen kann …« Die Tür sprang auf. Perrin vom Ingenieurstab stolperte keuchend in den Raum. Er sagte nichts. Er brauchte auch nichts zu sagen. »Noch einer?« fragte Arnold. Perrin nickte. »Eine alte Dame war unterwegs nach Chikago. Alles, was dort ankam, war ihr Schirm.« »Schirm?« fragte Darzek schnell.
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6 Die Direktoren begannen einander anzuschreien, und Darzek lehnte sich zurück, um sie zu studieren. Er hatte zu oft schon größere Schwierigkeiten mit seinen Klienten als mit ihren Problemen gehabt, und je länger er zuhörte, desto weniger erfreulich fand er es, für die Universal Teleport zu arbeiten. Watkins war der Philosoph, der Mann mit Weitblick, zur gleichen Zeit geschickt und praktisch. Watkins war einmalig. Der rundliche Schatzmeister, Grossman, schwankte von fröhlichem Optimismus zu trübem Pessimismus und setzte beides augenblicklich in geldliche Begriffe um. Harlow, der Rechtsanwalt, hatte die juristische Seite der Situation zu seiner eigenen Zufriedenheit geklärt und konnte nicht verstehen, worum der Streit ging. Miller harkte mit solcher Sturheit auf dem Frachtthema herum, daß Darzek unergründliche Tiefen in seinem Charakter vermutete – oder gar keine Tiefe. Cohen und Vaughan versuchten beide voll Bitterkeit, den anderen als Trottel zu entlarven, und beide hatten Erfolg. Darzek benützte eine Pause, um eine Frage zu stellen. »Wie viele Direktoren gibt es?« »Zwölf«, erwiderte Watkins. Darzek stand auf. »Ich bedanke mich für Ihre Freundlichkeit, meine Herren, aber ich habe es mir anders überlegt. Ich will den Auftrag nicht.« Er schob seinen Stuhl zurück und ging zur Tür. Arnold fuhr hoch. »Was ist los, Jan?« Darzek drehte sich um. »Meine Herren, ich bin Aktionär der Universal Teleport. Nachdem ich Ihnen eine 52
Viertelstunde lang zugehört habe, verstehe ich nur allzu gut, warum die Firma Probleme hatte. Es heißt, daß Nero Zither spielte, während Rom verbrannte. Dieses Direktorium wird noch diskutieren, während man das Verwaltungsgebäude abreißt. Sie brauchen hier nur zu sitzen und zu reden, bis eine Polizeibehörde von der Sache Wind bekommt, dann wird Ihnen sowohl die Verantwortung für die Untersuchung des Falles wie für Ihre Firma abgenommen.« Watkins hämmerte auf den Tisch und brachte die aufgeregt durcheinanderschreienden Direktoren zur Ruhe. »Mr. Darzek hat recht. Mit diesem Gerede kommen wir nicht weiter. Ich befasse mich selbst mit der Angelegenheit und sorge dafür, daß Sie informiert werden.« »Einen Augenblick mal«, sagte Cohen. »Wir wissen ja noch nicht mal, was der Mann verlangt.« »Die Sitzung ist vertagt«, sagte Watkins eisig. »Ich brauche Sie wohl nicht daran zu erinnern, daß Sie weder privat noch öffentlich über die Angelegenheit sprechen sollen.« Er eilte Darzek nach und zog ihn beiseite. »Was ist denn los?« »Ich kann nicht gut arbeiten, wenn mir ganze Kompanien über die Schultern schauen«, meinte Darzek. »Sie brauchen nichts zu befürchten. Sie arbeiten mit Ted zusammen und sind nur mir verantwortlich. Einverstanden?« »Einverstanden – vorausgesetzt, daß ich keinen Direktoriumssitzungen mehr beiwohnen muß.« Arnold fing seinen Blick auf, winkte ihm und Perrin und ging hinaus. Er hastete einen Korridor entlang, die Treppe hinunter und blieb keuchend vor der Tür zu seinem Büro stehen. »Wenn ich ein paar Sender übrig hätte«, sagte er, 53
»würde ich einen da ‘reinstellen und die anderen im Haus verteilen. Für meinen persönlichen Gebrauch. Ich habe die Entwicklung eines revolutionären Transportsystems überwacht und verbringe immer noch Stunden damit, Treppen hinauf- oder hinunterzulaufen oder auf Lifte zu warten.« »Das ist gut für die schlanke Linie«, sagte Darzek und betrat mit ihm das Zimmer. »Die Treppen, meine ich, nicht die Lifte. Du lieber Himmel – kein Swimmingpool?« Das Büro war riesengroß und praktisch leer. In einer Ecke stand ein Schreibtisch, flankiert von leeren Regalen. Hinter dem Schreibtisch stand ein Drehstuhl, und mitten im Raum hatte man ein uraltes Sofa abgestellt. Elektronische Geräte und Ersatzteile waren an den Wänden aufgetürmt. »Swimmingpool?« sagte Arnold. »Ach so, du meinst das Zimmer. Daran ist die Firmenhierarchie schuld. Mein Büro muß größer sein als das aller anderen Ingenieure, aber nicht ganz so groß wie das Büro eines Direktors. Ich mache hier nicht viel mehr, als daß ich manchmal versuche, nachzudenken.« »Watkins muß ja dann ein ganzes Stockwerk für sich haben.« »Nur eine kleine Kammer. Er ist außerhalb der Hierarchie. Also, Perrin, die Frage im Augenblick ist, wie wir verhindern, daß es noch mal passiert.« Perrin machte eine müde Geste. »Wir könnten jeder Sperre eine Hosteß zuteilen und sie die Passagiere an der Hand hindurchführen lassen.« »Das gibt gewisse Schwierigkeiten. Wir müßten mindestens zehnmal soviel Hostessen haben wie bisher, und die Passagiere wären vielleicht nicht einverstanden.« 54
»Vielleicht auch die Hostessen nicht«, warf Darzek ein. »Das mag zwar wahr sein, ist aber unwichtig. Wir müßten außerdem Aufseher einstellen, die die Hostessen dorthin dirigieren, wo sie gebraucht werden. Sie nach jeder Reise zurückzuholen, würde die Aufsichtsführenden verrückt machen. Aber ich werde darüber nachdenken. Sie können ruhig wieder an die Arbeit gehen. Wenn wieder jemand verschwindet –« »Was ist dann?« sagte Perrin. »Nichts. Dann brauchen Sie mir nur ein Fenster zu zeigen, durch das ich springen kann.« Perrin ging, Arnold setzte sich an seinen Schreibtisch und zog die Schuhe aus. »Ich weiß gar nicht mehr, wann ich das letztemal so lange auf den Beinen war«, sagte er. Er kippte den Stuhl nach hinten, legte die Füße auf den Tisch und starrte hypnotisiert eine Zehe an, die durch ein Loch im Socken herausstand. Darzek zog sein Jackett aus und legte sich aufs Sofa. Er hatte Arnold in vielen Krisen unerschüttert gesehen, aber die Ereignisse hatten ihn offensichtlich doch mitgenommen. Geistesabwesend ließ er sein Feuerzeug aufschnappen und versengte sich die Nase, bevor er sah, daß er keine Zigarette im Mund hatte. Als er ein Päckchen aufgerissen und eine Zigarette zwischen die Lippen gesteckt hatte, vergaß er, sie anzuzünden. Er starrte seine Zehe an. »Dafür muß es eine einfache Erklärung geben«, verkündete er schließlich. »Aber wenn es nun nicht so ist? Angenommen, wir haben diese Leute nun wirklich in die soundsovielte Dimension geschickt? Es ist unmöglich, aber daß sie nicht an ihrem Ziel angekommen sind, ist auch unmöglich. Mit unseren Sendern sind die tollsten 55
Dinge passiert, aber bisher konnte ich immer irgendeine Erklärung finden. Diesmal –« »Ich bin kein Wissenschaftler«, sagte Darzek. »Ich glaube nicht an eine soundsovielte Dimension, bis ich sie gesehen habe.« »Wenn auch nur ein Hauch davon bekannt wird, sind wir ruiniert. Und ich sehe keine Möglichkeit, das zu verhindern.« »Kann man den Direktoren trauen, daß sie den Mund halten?« »Vielleicht. Aber diese Frauen müssen ja Verwandte oder Bekannte, haben, die ihre Ankunft oder wenigstens eine Nachricht von ihnen erwarten. Bis morgen wird die Presse davon erfahren, die Polizei, es wird Riesenschlagzeilen geben, vielleicht auf der ganzen Welt, und dann sind wir erledigt.« »Das wäre unangenehm«, meinte Darzek. »Ich habe das Gefühl, die Sache ließe sich am schnellsten aufklären, wenn man sie beim nächsten Versuch ertappen könnte. Ganz klar, wenn ihr zumachen müßt, erwischen wir sie nie.« Arnold nahm die Beine vom Tisch und starrte Darzek an. »War es unbedingt nötig, die Direktoren so zu beleidigen?« »Ich wollte sie zur Vernunft bringen. Ich glaube durchaus, daß Watkins der Mann ist, für den du ihn hältst, aber wie ist er nur zu einem solchen Haufen von Trotteln gekommen? Grossman würde ich nicht einmal mein Kleingeld anvertrauen. Harlow lebt in einem juristischen Vakuum. Die beiden anderen Direktoren sind nichts als Nullen mit Stimmbändern. Bei Miller kenne ich mich nicht recht aus.« 56
»Er betreibt ein kleines Transportunternehmen«, sagte Arnold. »Hält sich für einen Frachtexperten. Vielleicht ist er das auch. Wenn wir einmal so weit sind, daß wir uns mit diesem Problem abgeben können, wird es uns vielleicht von Nutzen sein, wenn wir überhaupt so lange im Geschäft bleiben können. Wir haben mit einem erstklassigen Direktorium angefangen, aber je größer die Schwierigkeiten wurden, desto mehr gute Leute verloren wir. Nicht nur Ratten, auch kluge Leute verlassen das sinkende Schiff.« »Ich habe jedenfalls aus bitterer Erfahrung gelernt, niemandem zu trauen, dem ich nicht unbedingt trauen muß. Soweit es mich angeht, halte ich es für das Beste, daß die Direktoren möglichst wenig von meinen Aktionen erfahren.« »Was steckt denn hinter dem Schirm für ein Geheimnis?« fragte Arnold. »Nichts Besonderes. Ich habe heute am frühen Nachmittag bei den Vorführanlagen eine alte Dame mit einem Schirm gesehen. Es gab einen Zwischenfall, und ich fragte mich, warum sie an einem solchen Tag einen Schirm mit sich herumschleppt.« »Was für einen Zwischenfall?« Darzek berichtete. »Obwohl uns das auch nicht weiterhilft«, fügte er hinzu. »Vielleicht doch. Sie könnte eine ganz primitive Form von Sabotage im Auge gehabt haben, um die zahlenden Kunden abzuschrecken. Aber vergiß nicht, daß das mit dem Verschwinden der Passagiere auf einer ganz anderen Ebene liegt. Dahinter steckt raffinierte Planung, vielleicht sogar eine Organisation, und unter Umständen ein wesentlich besserer technischer Stab als der meinige.« »Oder vielleicht Geld genug, um die am richtigen 57
Platz sitzenden Angestellten der Universal Teleport zu bestechen.« Arnold riß die Augen auf. »Menschenskind! Da mußt du dich dahinterklemmen. Ich wüßte nicht, wo man da anfangen muß.« »Du könntest den Anfang machen, indem du ein paar Kameras kaufst.« Arnold griff nach dem Telefon. »Was für Kameras?« »Du bist doch der Ingenieur. Ein Apparat, der jeden Passagier fotografiert, sobald er sich dem Sender nähert – ohne daß der Passagier es merkt.« »Filmkameras?« »Nicht unbedingt.« »Warum nicht? Sie würden alle verdächtigen Bewegungen aufzeichnen, die sich vor dem Kontrolleur verbergen lassen. Zum Beispiel, wenn jemand Handtaschen oder Schirme durch den Sender wirft.« »Wie du meinst«, sagte Darzek. »Ich möchte nur eine scharfe Aufnahme vom Gesicht des Passagiers. Wenn einer verschwindet, wissen wir, wie er ausgesehen hat. Wenn du dir wirklich Sorgen über verdächtige Aktionen machst, warum installierst du am Ende des Korridors dann nicht einen Spiegel?« »Ah! Einen Spiegel mit einer Kamera dahinter. Gute Idee. Der Kontrolleur könnte den Passagier von vorne und hinten sehen, und der Passagier hätte etwas Interessanteres als eine nackte Wand vor sich. Während er sich bewundert, kann eine Fotozelle den Verschluß auslösen. Aber das kostet ein Vermögen allein für die Apparate.« »Für den Anfang würde ich nur die Station New York damit ausrüsten.« »Warum nur New York?« 58
»Bis jetzt ist sie die einzige Station, in der Passagiere verloren gehen.« Arnold schüttelte bewundernd den Kopf. »Entweder bist du ein Genie, oder mein Gehirn funktioniert nicht mehr richtig. Ich werde einen meiner Leute darauf ansetzen. Noch etwas?« »Ich bin plötzlich sehr neugierig auf deine früheren Schwierigkeiten. Du hast neulich erwähnt, du seist häufig beschattet worden, und es seien Dinge passiert, die nach Sabotage ausgesehen hätten. Jedermann weiß natürlich, daß es eine lange Reihe technischer Pannen bei euch gegeben hat. Ich möchte wissen, was Sabotage war, und ob einige dieser technischen Defekte nicht von außen hervorgerufen worden sind. Die Hälfte werde ich natürlich nicht verstehen, aber schieß schon los.« Arnold legte wieder die Beine auf den Tisch und redete eine halbe Stunde lang, während Darzek nachdenklich lauschte. »Du hast es ja so gewollt«, sagte Arnold schließlich. »Willst du noch mehr hören?« »Nein. Ich verstehe nicht ein Zehntel davon. Die Sache läuft jedenfalls darauf hinaus, daß ein Problem auftauchte und ihr alles mögliche probiert habt, bis sich eine Lösung fand. Aber ebenso oft stand nicht einmal genau fest, wodurch das Problem hervorgerufen wurde, und ihr habt nicht ganz begriffen, wie es euch gelungen ist, es zu lösen.« »So ungefähr. Wir befanden uns auf unerforschtem wissenschaftlichem Gebiet, und es wird Jahre dauern, bevor unser Wissen einigermaßen präzise ist. So geht es eben, wenn man mit dem Unbekannten beschäftigt ist.« »Na, viel Vergnügen. Ich muß über die Sache nachdenken. Es fällt mir schwer, in den Pannen Sabotage zu 59
erblicken, und selbst die auffälligeren Dinge – die Brände, die Apparaturen, die herunterfielen und zerbrachen, wenn keiner hinsah –, auch diese Dinge können auf Unfälle zurückzuführen sein.« »Sabotage mit Raffinesse. Im anderen Fall sind wir die Firma mit dem größten Pech, die es je –« Das Telefon läutete. Arnold nahm den Hörer ab, lauschte eine Weile, dann sagte er: »Jetzt gleich? Ich komme sofort hinaus.« »Wieder einer?« fragte Darzek. »Nein. Es war Watkins. Er ist im Pressebüro, und sie wollen eine Erklärung parat haben, sobald das Theater wegen der vermißten Passagiere losgeht. Fällt dir dazu etwas ein?« »Nein, aber ich empfehle, daß du die Kontrolleure und alle anderen Angestellten, die davon wissen, einfängst und ihnen den Mund zuklebst.« »Hab’ ich schon gemacht«, erwiderte Arnold grimmig. Darzek wartete, bis Arnold die Schuhe angezogen hatte, dann verließen sie gemeinsam das Büro. An der Treppe trennten sie sich. »Wo bist du zu erreichen?« fragte Arnold. »Ich treibe mich jetzt eine Weile in der Station herum, dann gehe ich in mein Büro und engagiere ein paar Leute. Wenn ich Stoff zum Nachdenken finde, werde ich sogar mein Gehirn ein bißchen anstrengen.« »Ich schicke dir einen Passierschein, damit du dir alles ansehen kannst.« »Hoffentlich hat die Universal Teleport heute genug Geld eingenommen, um mir einen Spesenvorschuß geben zu können.« »Wenn ich dir sagen würde, wieviel die Station in New York eingenommen hat, würdest du mir nicht glauben.« 60
Darzek benützte den Lift zum Zwischenstock. Die Halle darunter war leer, seit die kostenlosen Vorführungen aufgehört hatten, aber im Zwischenstock war es voller als am Nachmittag. Darzek zwängte sich zum Informationsschalter durch. »Die ganze Nacht geöffnet?« fragte er. Das junge Mädchen lächelte freundlich. »Die mit normalen Verkehrsmitteln reisenden Personen kommen zu jeder Tages- und Nachtzeit in New York an. Wir müssen bereit sein, falls sie von hier aus weiter wollen. Wir sind die einzige Verbindung von den Vereinigten Staaten nach Europa, wissen Sie.« »Das wußte ich nicht«, sagte Darzek. »Sie meinen, daß jeder, der über einen Sender nach Europa will, zuerst nach New York muß?« Sie nickte. »Na ja, es ist ja wohl nicht besonders anstrengend, von einem Sender in eine Empfangsanlage hier in der New Yorker Station zu treten.« »Dadurch brauchen wir weniger Sender. Der Mangel an Sendeanlagen ist im Augenblick unser größtes Problem.« Darzek lächelte sie an und dachte sich, daß sie froh sein konnte, nicht vom wirklich größten Problem der Firma zu wissen. »Sehr interessant«, sagte er. »Vielen Dank.« Perrin erschien einen Augenblick später und gab ihm einen Passierschein, der von Thomas J. Watkins unterschrieben war. »Haben Sie Zeit, mich herumzuführen?« fragte Darzek. »Sicher. Was wollen Sie sehen?« »Ich möchte mir die Passagiersteige in Ruhe ansehen.« 61
»Sie sind alle gleich. Kommen Sie mit herüber, dann können Sie sich ein paar anschauen, die nicht in Betrieb sind.« Perrin führte ihn zu einem abgesperrten Teil des Zwischenstocks und öffnete eine Sperre. Darzek ging langsam bis zum Ende des Korridors und kehrte zurück. Die Trennwände waren ein Meter achtzig hoch und schlossen sich fugenlos an die Rückwand an. Ein Metallrahmen mit einem Querbalken an der Decke war der einzige Hinweis auf den Standort des Senders. »Nur ein Stabhochspringer hätte hier verschwinden können, ohne durch den Sender zu gehen«, meinte Perrin. »Sehen die Empfangssteige genauso aus?« »Genauso. Sogar die Instrumententafeln sind die gleichen. Man braucht nur einen Hebel umzulegen, dann wird aus dem Sender ein Empfänger.« »Interessant. Ich begreife langsam, warum Arnold so entsetzt ist.« »Entsetzt? Hören Sie – es ist ein Wunder, daß er nicht übergeschnappt ist. Das ist kein Job für einen Detektiv. Wir brauchen entweder einen Zauberer oder einen Pfarrer, und wenn ich etwas zu sagen hätte, würde ich alle beide engagieren. Wollen Sie noch etwas sehen?« »Im Augenblick nicht, danke.« Darzek verbrachte weitere zwanzig Minuten damit, in der Station herumzuschlendern und sich alles genau einzuprägen. Dann setzte er sich in die Nähe der Fahrkartenschalter und beobachtete die endlosen Reihen der Passagiere. Ted Arnold fand ihn dort und setzte sich neben ihn. »Irgend etwas Neues?« fragte Darzek. Arnold schüttelte den Kopf. »Nichts. Überhaupt nichts. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie wir weitermachen sollen.« 62
»Das gilt für mich genauso. Ich geh’ wohl am besten in mein Büro.« »Ich rufe dich an, wenn sich etwas tut. Bis Mitternacht bin ich hier zu erreichen, falls du mich brauchst.« »Gut. Wenn ich nicht im Büro bin, dann bin ich zu Hause oder gerade auf dem Heimweg.« »Die Spiegel und Kameras sind bis morgen früh zur Stelle. Soviel hab’ ich jedenfalls erledigt. Wir verlegen auch den gesamten Verkehr in Nordamerika morgen nach unten, was dein Problem nicht vereinfacht.« »Aber auch nicht erschwert«, sagte Darzek. »Bis später.« Draußen fand er eine lange Schlange am Taxistand. »Dann eben nicht«, sagte er und marschierte los. Sobald er von der Eighth Avenue abgebogen war, wurde ihm klar, daß er beschattet wurde – doppelt beschattet, denn er entdeckte einen Wagen und mindestens einen Fußgänger. Er verlangsamte seine Schritte, um nachzudenken. Jemand verdiente eine Eins für Tüchtigkeit. Wenn er oder sie in anderer Beziehung nur halb so tüchtig waren, schien Arnold von mehr Sabotage geplagt worden zu sein, als er glaubte. Dieser Jemand verfügte auch über Kontaktleute. Darzek zählte an den Fingern jene Personen ab, die wußten, daß die Universal Teleport Jan Darzek beauftragt hatte: die sechs Direktoren, Ted Arnold und Ingenieur Perrin. Jemand hatte aber auch einen schweren Fehler gemacht. Darzek schlenderte lässig dahin und war außerordentlich zufrieden mit sich selbst, während er überlegte, wie sich die Situation zu seinem Vorteil ausnützen ließ. Sein zu Fuß gehender Schatten paßte sich seinem Tempo an und blieb einen halben Häuserblock hinter ihm – zu weit, als daß Darzek sein Gesicht hätte erkennen können. 63
Der Wagen überholte ihn von Zeit zu Zeit, wobei der Fahrer sorgfältig auf die andere Seite sah. Einen Häuserblock vor seinem Büro traf Darzek auf einen Polizeibeamten, den er gut kannte. Er blieb stehen und unterhielt sich mit ihm. Sein Schatten blieb ebenfalls stehen und bückte sich, um an seinen Schnürsenkeln herumzufingern. »Ich werde beschattet, Mike«, sagte Darzek. »Sehen Sie mal nach, ob Sie ihn kennen.« »Gemacht«, sagte der Streifenbeamte fröhlich. »Ich bin in meinem Büro.« Er bog um die Ecke und beschleunigte seine Schritte. Nirgends waren Fußgänger zu sehen, und das einzige in Bewegung befindliche Fahrzeug war der Wagen, der ihn verfolgte. Er kam langsam näher. Darzek sah sich noch einmal um, als er den Einzug des Gebäudes erreichte, gerade rechtzeitig, um den Späher um die Ecke eilen zu sehen. Diese Kopfdrehung erwies sich als taktischer Fehler. Er sah nicht einmal, was ihn umwarf. Als er wieder zu sich kam, sah er das Gesicht des Polizeibeamten über sich. Mit großer Willensanstrengung zwang er sich trotz der Kopfschmerzen ein Lächeln ab. Mike grinste ihn besorgt an. »Ich glaube nicht, daß etwas demoliert ist«, meinte er. »Sie haben eins über den Schädel bekommen, aber eine Beule hab’ ich nicht finden können. Wie fühlen Sie sich?« »Recht eigenartig. Wacklig.« Darzek versuchte aufzustehen. Die Beine knickten unter ihm ein, und Hände und Füße prickelten. Er blieb auf den Knien und schüttelte den Kopf, bis Mike einen Arm um ihn legte und ihn hochhob. 64
»Gehen Sie lieber zum Arzt«, sagte der Streifenbeamte. »Vielleicht haben Sie eine Gehirnerschütterung.« »Sie haben mich davor gerettet, verschleppt zu werden, nicht wahr?«. Mike nickte. »Sie zerrten Sie zum Wagen, als ich um die Ecke kam. Ich blies in meine Trillerpfeife, sie ließen Sie fallen und verschwanden. Ich hab’ nicht einmal das Kennzeichen ablesen können.« »Das weiß ich«, sagte Darzek. »Das heißt, ich wußte es. Mein Gedächtnis hat auch ein bißchen gelitten. Aber – doch, ich weiß es noch.« »Gut. Die wollten Sie lebend haben. Zeit, Ihnen den Schädel einzuschlagen, hätten sie nämlich genug gehabt. Haben Sie sich in letzter Zeit Feinde gemacht?« »Mehrere, aber ich werde nicht daraus schlau. Haben Sie sich meinen Schatten angesehen?« »Der Kerl ist mir noch nie über den Weg gelaufen. In Wirklichkeit bin ich schuld. Hier am Eingang stand ein Mann, als ich vorbeikam. Ich kannte ihn auch nicht. Er sah recht solide aus, und wir sprachen miteinander. Ich dachte, daß er auf ein Taxi wartet. Ich habe ihn nicht mit Ihren Verfolgern in Zusammenhang gebracht, bis ich einen Häuserblock weiter war. Ich hätte Ihnen den Hieb auf den Schädel ersparen können.« »Machen Sie sich keine Gedanken. Dadurch, daß wir sie abgeschreckt haben, ist mir sicher etwas viel Schlimmeres erspart geblieben.« Darzek schüttelte den Arm des Polizeibeamten ab und lehnte sich an die Hauswand. Das Prickeln hörte nicht auf, aber im Kopf schien er wieder klar zu werden. Er machte einen vorsichtigen Schritt. »Gehen Sie lieber zum Arzt«, wiederholte Mike. 65
»Es geht schon. Ich muß telefonieren, dann fahr’ ich nach Hause. Mein Nachbar ist Arzt. Er hat mich so oft behandelt, daß ich monatlich eine bestimmte Summe an ihn abführe. Besorgen Sie mir ein Taxi?« »Natürlich. Wie war das Kennzeichen?« »Mir wäre es lieber, wenn Sie keine Meldung erstatten würden, Mike. Ich sorge dafür, daß überprüft wird, wem das Kennzeichen gehört.« »Wenn Sie meinen. Inzwischen haben die Kerle den Wagen längst stehenlassen oder die Nummernschilder ausgewechselt. Telefonieren Sie inzwischen, während ich ein Taxi besorge.« Darzek stieg schwankend die Treppe zu seinem Büro hinauf und rief die Station der Universal Teleport an. Die Vermittlung brauchte fünf Minuten, um Arnold zu finden. »Ich bin’s«, sagte Darzek. »Ich hab’ es mir überlegt. Ich arbeite lieber zu Hause. Wie zuverlässig ist dieser Perrin?« »Absolut zuverlässig.« »Dann habe ich eure Direktoren nicht genug beleidigt. Einer von ihnen verkauft euch.« Arnold sagte langsam: »Wie sicher bist du dir?« »So sicher, daß ich es dir schriftlich geben kann.« 7 Die Universal Teleport wies Darzek ein kleines Büro im Zwischenstock zu, und am späten Mittwochnachmittag studierte er dort die sechs vergrößerten Fotos auf seinem Schreibtisch. Jean Morris hatte sich verärgert in einen Sessel in der gegenüberliegenden Ecke zurückgezogen. 66
»Hoffnungslos«, sagte sie. »Ich habe so etwas noch nie gesehen. Sie sind Künstler.« »Oder Schauspieler?« meinte Darzek. »Künstler. Kein Schauspieler bringt eine derartige Verwandlung zustande. Was meinen Sie, Ed?« Ed Rucks, ein älterer pensionierter Taxichauffeur mit jugendlicher Begeisterung für Detektivarbeit und guten Augen für Verkleidungen sagte bekümmert: »Kein Wunder, daß man sie vorher nicht ausmachen kann. Es ist einfach unglaublich. Wenn man sie nebeneinander legt, beginnt man Ähnlichkeiten zu erkennen, aber sonst müßte man schwören, daß sie einander völlig fremd sind.« »Eines steht also fest – wir haben es nicht mit einem Haufen von Amateuren zu tun. Nehmt euch beide einen Satz Bilder, verschwindet und studiert sie. Wenn das mit den Zeitabständen so bleibt, habt ihr vor dem nächsten Verschwinden mindestens eine Stunde Zeit.« »Eines stört mich«, sagte Rucks. »Von allem anderen abgesehen, meine ich. Wenn wir das Glück haben, eines von diesen Frauenzimmern zu erkennen, was tun wir dann? Schreien wir um Hilfe?« »Ich warte selbst noch auf Anweisungen. Ihr braucht nur nach mir zu rufen. Ich bin in der Nähe.« »In Ordnung.« Darzek lehnte sich zurück, um die Fotos eingehend zu betrachten. Er hatte schon versucht, Gesichter zu zeichnen, die den verschiedenen Masken entsprachen, aber das war nur ein Akt der Verzweiflung, um sich die Zeit zwischen dem Verschwinden der einzelnen Personen zu vertreiben. Er konnte sich an keinen Auftrag erinnern, der ihn so früh zur Verzweiflung getrieben hätte. Die Perücken waren natürlich vollkommen, aber damit hatte man rechnen müssen. Wie erreichten sie jedoch die raffinierten 67
Veränderungen an Nase und Kinn? Und die verblüffenden Verwandlungen der Gesichtskonturen? Konnte dieses Gesicht mit den eingefallenen Wangen wirklich derselben Frau gehören, deren Gesicht in der anderen Maske angenehm rundlich war? Und doch – es mußte dieselbe Person sein. Ted Arnold stürmte keuchend zur Tür herein. Er zog die Schuhe aus, warf sie an die Wand und sank in den Sessel vor dem Schreibtisch. Er lockerte seine Krawatte und wischte sich den kahlen Kopf mit einem Taschentuch; bis er zu Atem gekommen war, konnte er nur immer wieder jammern, wie sehr seine Füße schmerzten. »Nur Mut«, sagte Darzek. »Lieber die Füße als den Kopf.« »Oh«, sagte Arnold mitfühlend. »Wie geht’s deinem Kopf?« »Großartig – ich hab’s dir doch schon gesagt – der Arzt hat nichts gefunden.« »Ich dachte, du hättest vielleicht einen Rückfall erlitten. Also, der Chef stimmt dir zu. Wir sollen zusammenarbeiten, und du erstattest mir Bericht. Was für ihn wichtig ist, soll ich ihm mündlich weitergeben.« »Gut. Ich sagte schon, daß ich nichts anderes tun werde, als Berichte schreiben.« »Diese Idioten im Direktorium. – aber man kann es ihnen nicht übelnehmen, daß sie sich Sorgen machen. Jedenfalls sagst du mir Bescheid, ich erzähle alles Watkins – wobei ich für mich behalte, was wir vorher ausgemacht haben –, und dann gibt er soviel an die Direktoren weiter, wie er für günstig hält. Es sieht nicht so aus, als würden die Direktoren viel erfahren, und so willst du es doch haben.« »Hast du Watkins gesagt, daß er eine Schlange an seinem Busen nährt?« fragte Darzek. 68
»Nein. Er würde versuchen, ihn selbst zu finden, und damit wahrscheinlich deine Pläne durchkreuzen. Das wäre also erledigt, wie steht’s mit deinem Bericht?« »Jawohl, mein Herr. Gestern wurden zwei Frauen vermißt; heute sind es sechs. Die sechs von heute entpuppen sich durch ausgezeichnete Fotos als zwei Frauen, jede in drei Masken. Eine von den beiden – nennen wir sie Miss X – ist meine geheimnisvolle Blondine von gestern in drei neuen Masken. Die andere, die ich Madame Z nenne, ist zweifellos die rundliche alte Dame mit dem Schirm von gestern. Wir haben, wahrscheinlich mit Hilfe der Spiegel, wenigstens eines erreicht. Mit Handtaschen und Schirmen wird kein Unfug mehr getrieben.« »Sehr schön. Ihre Motive wirst du noch nicht analysiert haben.« »Nein. Ich habe die acht Ausweise geprüft, die sie beim Kauf der Fahrkarten vorlegten. Alle acht sind gefälscht. Wir dürfen ohne Bedenken davon ausgehen, daß sie es nicht zum Spaß machen, und sogar, daß sie vorhaben, der Universal Teleport Schwierigkeiten zu machen, obwohl ich es merkwürdig finde, daß sie noch nichts unternommen haben. Inzwischen müßten doch längst die Verwandten auf der Suche nach ihren Lieben unsere Türen niedertreten, oder eine hysterische Frau müßte vor Reportern schluchzend erzählen, wie sie versucht habe, nach Minneapolis zu kommen, um in der Kanalisation von Brooklyn zu landen. Statt dessen rührt sich überhaupt nichts. Da kann die blühendste Phantasie nicht mit.« »Du hast mit den Fotos allerhand erreicht«, meinte Arnold. »Wir werden grundsätzlich, so schnell sich das machen läßt, alle Passagiere sowohl bei der Abreise wie bei der Ankunft fotografieren. Wenn dann jemand be69
hauptet, wir hätten ihn in die Kanalisation von Brooklyn verfrachtet, können wir ihm ein Foto vorlegen, auf dem er mit lächelndem Gesicht in Los Angeles oder sonstwo auftaucht.« »Mit Ausnahme von Miss X und Madame Z.« Arnold hob müde die Hände. »Irgendwelche Fortschritte bezüglich der Art, wie es gemacht wird?« fragte Darzek. »Nichts. Wir merken, daß es immer unerklärlicher wird, je mehr wir uns damit befassen. Wenn du uns einen Hinweis darauf geben kannst, wer das macht und aus welchen Gründen, wird, das Wie nicht allzu wichtig sein – hoffe ich. Wenn wir sie in die Hände bekommen, erklären uns die Damen X und Z vielleicht, was wir wissen wollen.« »Und das bringt uns auf etwas anderes«, meinte Darzek. »Was soll ich tun, wenn ich sie erwische? Soll ich sie bitten, nach Hause zu gehen und schön brav zu sein?« »Ich weiß nicht. Von den Direktoren will sich niemand festlegen.« »Was sagt euer Rechtsberater?« »Er drückt sich um die Entscheidung. Das Direktorium macht sich nicht so sehr Sorgen um die juristische Position wie um die ungünstige Publicity.« »Die falschen Namen und Adressen, die sie für ihre Versicherungspolice angegeben haben, lassen eine Anzeige wegen Versicherungsbetrugs möglich erscheinen. Jede von den beiden hat auch vier verschiedene Führerscheine vorgelegt, was die Polizei sicher interessieren wird. Genügt das nicht als Grundlage für ihre Verhaftung?« »Ich werde mich erkundigen. Du müßtest aber absolut sicher sein, daß es wirklich Miss X oder Madame Z ist, 70
die du verhaftest, sonst bekommen wir einen Riesenschadenersatzprozeß an den Hals.« »Stimmt. Aber man muß ein gewisses Risiko eingehen, wenn man sie unschädlich machen will, ehe ihnen gelingt, was sie vorhaben.« »Stimmt. Aber zuerst müssen wir sie natürlich erwischen.« Arnold wedelte mit den Armen. »Mir wäre es fast lieber, wenn sie endlich zuschlagen würden, damit es vorbei ist. Die Erklärung für die Presse ist ein dutzendmal umgeschrieben worden, ohne auch nur einen Menschen zufriedenzustellen, und das Pressebüro gerät jedesmal in Aufruhr, sobald auch nur das Telefon klingelt. Es wäre eine Erleichterung, zu erfahren, was sie vorhaben.« »Oder auch, warum sie es für nötig gehalten haben, mich niederzuschlagen.« »Wenn ich nur dahinterkäme, wie sie es machen«, murmelte Arnold. »Na, wollen wir ihnen beim nächstenmal zusehen?« Arnold nickte und holte seine Schuhe. »Noch etwas«, sagte er keuchend, als er sich bückte, um sie anzuziehen. »Du hast gesagt, du hättest gestern abend ein Kennzeichen abgelesen.« »Allerdings. Ich habe es überprüfen lassen.« »Ich nehme an, daß der Wagen zwei Stunden, bevor du niedergeschlagen worden bist, als gestohlen gemeldet wurde.« »Keineswegs. Der Wagen ist nicht gestohlen worden.« »Wem gehört er?« »Ich weiß nicht, ob ich dir das sagen soll.« Arnold richtete sich zornig auf. »Verdächtigst du mich?« »Keine Idee.« »Wem gehört der Wagen?« 71
»Im Vertrauen, er ist auf Thomas J. Watkins zugelassen. Gehen wir hinunter?« Unter den Passagierbahnhöfen der ganzen Welt stellten jene der Universal Teleport etwas Einmaliges dar. Beim ersten Blick in das Innere der New Yorker Station hatte Darzek gleich gespürt, daß irgend etwas nicht stimmte, oder zumindest ganz anders war. Es herrschte eine elektrisierende Atmosphäre, denn es war ein abenteuerliches Gefühl, Bekannte sich von einem Reisenden verabschieden zu sehen, der Sekunden später ein Ziel, hundert oder Tausende von Kilometern entfernt, erreichen würde. Das Jahr 1986 verfolgte seinen hektischen, lärmenden Weg entlang der Eighth Avenue, aber hinter den Drehtüren der Universal Teleport begegnete man der fernen Zukunft. Es war nicht überraschend, daß das ein merkwürdiges Gefühl hervorrief. Aber nicht das hatte Darzek gestört. Erst am Mittwoch, als auch das untere Stockwerk für Passagiere freigegeben wurde und der Betrieb eine gewisse Regelmäßigkeit erlangte, begriff Darzek, daß es die Anlage der Station war, die Vergleiche mit anderen Bahnhöfen nicht zuließ. Es gab keinen Wartesaal! Zwar standen überall gemütliche Sitzbänke herum, sowohl unten wie auch im Zwischenstock, aber es gab keine Reihen harter Sitze für müde Reisende, die es sich hier gemütlich zu machen versuchten, während sie auf den Zug um 10.14 Uhr nach Chikago oder auf den Zug um 11.27 Uhr nach Miami warteten. Es gab keinen Wartesaal, weil jetzt, seit die Universal Teleport die Abfertigung beschleunigt hatte, praktisch nicht gewartet zu werden brauchte. Im unteren Stockwerk gab es eine riesige, 72
weitgeschwungene Reihe von Passagiersteigen für den Verkehr in Nordamerika. Die Reisenden nach Europa wurden an der kürzeren Reihe von Passagiersteigen im Zwischenstock abgefertigt. Man kaufte sein Billett, ging durch die betreffende Sperre und befand sich am Ziel. Nach Darzeks Meinung hatte Thomas J. Watkins die Bedeutung der durch die Universal Teleport eingeleiteten Revolution stark untertrieben. Die reine Reisezeit war nur zu oft der geringste Teil der tatsächlich aufzuwendenden Gesamtheit. ›Nur fünf Tage nach London‹ pflegte eine Reklame für Schiffsreisen zu prahlen, aber man mußte zwei Wochen auf die Abfahrt des Dampfers warten, oder vielleicht sogar vier Monate vorher eine Kabine bestellen. Bei der Universal Teleport gab es keine Vorbestellungen. Man brauchte keine Zeit für irgendwelche Anschlüsse zu verschwenden, es gab keine Wartezeiten, keine durch die Natur oder menschliches Versagen hervorgerufenen Verzögerungen, keine Anpassung an die Tyrannei eines Fahrplans. Wenn man auf Reisen gehen wollte, kaufte man sein Billett und befand sich schon am Ziel. Ein Wartesaal war also nicht nötig. Nur wenige Menschen, die sich in der Station drängten, nahmen Platz. Jean Morris hatte eine ganze Gruppe von Sitzbänken für sich, und sie ruhte sich dort gemütlich aus, während sie die Gesichter der Ankommenden beobachtete. Im letzten Fahrkartenschalter saß Ed Rucks hinter einem Schild mit der Aufschrift ›Benützen Sie bitte den nächsten Schalter‹, blätterte eifrig in Dokumenten und behielt den Seiteneingang im Auge. »Sieht so aus, als hätten sie alles unter Kontrolle«, meinte Arnold. 73
»Mit zwei Leuten ist das unmöglich, sogar mit zwei Dutzend. Die Station ist zu groß, sie schleust eine Unzahl von Menschen durch, und diese Frauen maskieren sich so geschickt, daß die Chancen nicht einmal fünfzig zu fünfzig stehen, sie erkennen zu können, wenn wir sie sehen.« »Und ich habe dich immer für einen Optimisten gehalten«, murrte Arnold. »Geh los und zähl deine Transistoren oder tu sonst etwas. Ich muß mir überlegen, was ich mit einer dieser Frauen anfange, wenn ich sie erwische.« Während der nächsten Stunde ging er ruhelos zwischen den Passagieren hin und her. Er fing einen Taschendieb für die Stationspolizei, ertappte einen Kofferdieb und ärgerte sich beide Male wegen der Ablenkung. Schließlich fuhr er zum Zwischenstock hinauf, fand einen Sitzplatz mit gutem Überblick über den großen Saal und bemühte sich, im Heer der Gesichter vertraute Züge zu entdecken. Überdies behielt er die Kontrolleure im Auge, weil er jeden Augenblick damit rechnete, das bekannte Signal zu sehen, das an diesem Tag schon sechsmal gegeben worden war – »schon wieder einer, Mr. Darzek!« –, aber kein Signal kam. Die ständige Bewegung, das unaufhörliche Plappern Hunderter von Stimmen behinderten ihn beim Denken. Er ging in sein Büro zurück, konnte sich dort aber auch nicht konzentrieren. Die sechs Gesichter auf den Fotos starrten ihn höhnisch an. Das Telefon auf dem Schreibtisch jagte ihm Angst ein. Wenn es läutete – »wieder einer, Mr. Darzek!« –, konnte er nur in die Halle hinunterlaufen, obwohl er wußte, daß er schon ein paar Minuten zu spät kam. Er rief sein Büro an und lauschte geduldig, während Jean Morris’ Vertreterin ihm die eingegangenen Berichte vorlas. 74
»Wenn sonst jemand anruft«, sagte er, »soll er mich zu Hause antelefonieren, wenn es wichtig ist. Alles andere hat Zeit bis morgen.« Er kehrte in die Halle zurück. Ed Rucks imitierte immer noch einen gequälten Lohnsklaven. Jean Morris hob eine Braue, als sie ihn sah, ließ aber den Blick nicht vom Haupteingang. Darzek winkte beide zu sich. »Macht Schluß«, sagte er. »Vielleicht haben wir morgen mehr Glück.« »Warum morgen?« fragte Jean. »Geht das hier nicht die ganze Nacht?« »Doch, aber wir machen Schluß. Die beiden Frauen haben einen anstrengenden Tag hinter sich. Hoffen wir, daß sie so müde sind wie wir. Macht eure Hausarbeit und meldet euch morgen früh hier.« »Um sechs?« fragte Jean. »Um sechs.« »Sklaventreiber!« Darzek rief Arnold an, bevor er ging. »Ich fahr nach Hause, um nachzudenken«, erklärte er. »Ich gebe dir ein paar Leute mit.« »Nein, danke. Wenn ich dumm genug bin, zweimal hintereinander in einen Hinterhalt zu laufen, geschieht es mir recht.« »Meinetwegen, ist ja dein Kopf. Glaubst du wirklich, daß Watkins –« »Natürlich nicht. Ich habe nachweisen können, daß Watkins’ Wagen gestern abend nicht in Manhattan war.« »Wie –« »Aber seine Nummernschilder. Oder es hat sich jemand die Mühe gemacht, sie zu kopieren. Das einzige, was für mich feststeht, ist, daß die Männer, die bei der Direktoriumssitzung waren, beobachtet werden müssen. Zwei von 75
ihnen haben nach der Sitzung die Stadt sofort verlassen. Die anderen werden seit gestern abend beschattet.« Arnold pfiff durch die Zähne. »Und das wird mit unserem Geld bezahlt! Die Unschuldigen trifft der Schlag, wenn sie das erfahren.« »Den Schuldigen auch.« »Soll ich dich anrufen, wenn wieder ein Passagier verschwindet?« »Wenn du das tust, kündige ich.« Darzek nahm ein Taxi und ließ sich sofort in seine Wohnung fahren. Niemand folgte ihm. Er trat vorsichtig ein, die Pistole in der Hand, fand aber die Wohnung leer. »Na also«, sagte er. Er ließ sich sein Essen heraufbringen und machte sich daran, ernsthaft nachzudenken. Am Donnerstag morgen um sechs Uhr war Darzek wieder in der Station und frühstückte im Imbißraum. Jean Morris, die ihm gegenübersaß, wirkte erstaunlich frisch, knurrte aber böse, als er sie ansprach. Ed Rucks sah schläfrig aus. »Ich habe nachgedacht«, sagte er. »Wir müssen sie zum Handeln zwingen.« »Wie denn?« »Warum lassen wir nicht ein paar Anzeigen in die Zeitungen setzen, wo wir uns brüsten, wie sicher die Universal Teleport ist und wie viele Tausende von Passagierkilometern ohne Verletzungen und Unfälle zusammengekommen sind? Wenn jemand tatsächlich darauf bedacht ist, den Ruf der Firma zu zerstören, wird er dagegen etwas unternehmen.« »Keine schlechte Idee. Ich werde sie weitergeben, obwohl es mich nicht überraschen würde, wenn die Firma so etwas schon geplant hätte. Ist während der Nacht etwas passiert?« fragte Jean. 76
Darzek schüttelte den Kopf. »Vielleicht haben wir sie verschreckt«, sagte Ed Rucks. »Ich möchte lieber glauben, daß sie die gewünschten Ergebnisse nicht erzielt haben und sich jetzt etwas Neues ausdenken. Ich habe mich gefragt, welche Manipulation die Universal Teleport ein für allemal erledigen würde.« »Gibt es so etwas?« fragte Rucks. »Allerdings. Wenn sie es fertigbrächten, ein paar Passagiere auf die übliche Weise abreisen und scheinbar als Leichen ihr Ziel erreichen zu lassen, wäre es geschafft. Ich habe Arnold gegenüber diese Möglichkeit erwähnt, jetzt sitzt er in seinem Büro und nimmt Kopfwehtabletten.« »Nein, das stimmt nicht«, sagte Rucks. »Hier kommt er, und Frühstück will er sicherlich nicht.« Arnold stürmte auf ihren Tisch zu und setzte sich auf einen Stuhl. »Sie fangen früh an, was?« fragte Darzek. Arnold nickte. »Hoffentlich keine Toten.« »Nein. Aber es sind wieder zwei verschwunden. Diesmal aus Brüssel.« »So?« sagte Darzek und schob seinen Stuhl zurück. »Dann arbeiten wir also heute in Brüssel.« »Die Station Brüssel hat heute morgen eröffnet. Die Kameras sind noch nicht installiert, so daß wir keine Fotos haben. Auch die Spiegel sind noch nicht angebracht.« »Wir nehmen eben die Fotos, die wir haben. Los, Kinder. Du solltest mehr schlafen, Jean.« »Detektiv ist auch kein Beruf für eine Frau«, sagte Jean Morris. Im Gare de Teleport Universal in Brüssel stellten sie 77
fest, daß der unglückliche Chef de gare von der Katastrophe überwältigt worden war. Bis Darzek dort ankam, hatte man ihn ins Krankenhaus geschafft. Zum Glück war der stellvertretende Geschäftsführer, ein Monsieur Vert, aus anderem Holz geschnitzt. Er hatte heroisch das Kommando übernommen, eine Untersuchung angestellt und entschieden, daß – wie er es Darzek gegenüber später ausdrückte – jemand ›Mist machen‹ mußte, damit so etwas passieren konnte. Monsieur Vert stellte fest, daß nur zwei Angestellte der Universal Teleport mit den verschwundenen Passagieren in Kontakt gewesen waren, und sogar er erkannte, daß er die Fahrkartenverkäufer dafür nicht verantwortlich machen durfte. Als Darzek eintraf, fand er zwei entsetzte Kontrolleure unter Hausarrest, während Monsieur Vert eifrig auf die Erlaubnis wartete, die Polizei rufen zu dürfen. Darzek beschwichtigte Monsieur Vert, las eine Anweisung Watkins’ über strikte Geheimhaltung vor und versicherte dem stellvertretenden Geschäftsführer, daß es sich bei dem Verschwinden der Passagiere nur um optische Illusionen handeln konnte. Er bat darum, mit den Kontrolleuren sprechen zu dürfen. »Aber gewiß«, sagte Monsieur Vert. »Ich werde persönlich für Sie dolmetschen.« »Das mache ich schon«, sagte Darzek. Die Kontrolleure gewannen ihre Fassung sofort wieder, als Darzek ihnen mitteilte, daß derartige Vorkommnisse in New York an der Tagesordnung seien. »Ich stehe gerne für meine Fehler ein, Monsieur«, sagte einer von ihnen, »aber wenn die Maschine einen Passagier in den falschen Hals bekommt, geht mich das nichts an.« »Die Universal Teleport ist mit diesem Ausdruck si78
cher nicht einverstanden«, meinte Darzek. »Erzählen Sie mir, was geschehen ist.« Die Geschichte war kurz und vertraut. Eine ältere Dame hatte eine Reise nach Berlin angetreten, aber dort war nur ihr Schirm angekommen. »Sehr interessant«, sagte Darzek. »Haben Sie mit ihr gesprochen?« »Nein, Monsieur.« »Aber kurz, bevor sie in den Sender trat, zögerte sie, nicht wahr?« »Sie blieb stehen, sah sich um, dann kam sie zu mir zurück, aber ich sagte ihr, sie solle weitergehen. So etwas kommt oft vor. Teleportation ist etwas Neues, und viele Passagiere sind très confus – sehr verwirrt.« »Gut«, sagte Darzek und wandte sich dem anderen Kontrolleur zu. »Und Ihre Passagierin – haben Sie mit ihr gesprochen?« »Beaucoup, Monsieur. Selbst für eine Frau hat sie sehr viel geredet.« »Französisch?« »Oui, Monsieur.« »Gutes Französisch?« »Ausgezeichnetes, Monsieur.« »So gut wie meines?« »Genauso gut, aber anders. Sie sprechen mit einem geringen Provinzakzent, den ich nicht kenne. Sie sprach pariserisch.« »Interessant. Sie sind sicher, daß sie keinen ausländischen Akzent hatte?« »Monsieur, ich habe mein ganzes Leben lang mit Reisenden zu tun gehabt und spreche selbst fünf Sprachen. Ich kann mich nicht entsinnen, jemals die Nationalität einer Person falsch eingeschätzt zu haben.« 79
»Bei mir haben Sie sich gerade geirrt«, sagte Darzek. »Aber lassen wir das. Erzählen Sie!« »Die Passagierin ist eine junge Frau von auffallendem Äußeren gewesen.« Darzek stieß einen Pfiff aus, und der Kontrolleur grinste und nickte. »Und blond«, fuhr er fort. »Sehr blond. Alle Leute in der Station haben sie angestarrt, weshalb mir ihre Fragen auch peinlich waren. Sie wollte wissen, wie der Sender sie über die Berge bringt – darüber hinweg oder hindurch – und ähnliche Dinge. Sie ging den Korridor entlang, kam zurück und stellte wieder Fragen. Schließlich trat sie hindurch, aber in Rom kam nur ihre Handtasche an.« »Vielen Dank, meine Herren. Sie haben mir sehr geholfen. Ich schlage vor, daß Sie wieder an die Arbeit gehen und mit keinem Menschen über die Sache sprechen.« Die beiden Kontrolleure bedankten sich eifrig und gingen. Darzek wandte sich seinen ungeduldig wartenden Begleitern zu. »Wir könnten Glück haben. Das waren meine Miss X und Madame Z vom Dienstag. Wenn sie dieselbe Maske benützen, haben wir sie.« »Ich habe deutlich etwas von einem parapluie gehört«, sagte Jean. »Die alte Dame schob einen Schirm hindurch, wie am Dienstag in New York. Fangen wir an.« Sie wanderten durch die Station und suchten sich geeignete Beobachtungsposten aus. Darzek betrachtete prüfend einen unbesetzten Fahrkartenschalter und den Informationskiosk, als Jean ihn am Arm packte. »Ich glaube, ich sehe deine Miss X in Maske B vor dem Zollschalter.« »Und ob«, sagte Darzek fröhlich. »Ed, wir übernehmen 80
Miss X. Madame Z wird bald hier sein, und sie gehört dir, wenn du sie findest.« Rucks nickte und entfernte sich. Miss X, diesmal brünett, kam durch den Zoll, sah sich in der Station um und ging dann auf die Fahrkartenschalter zu. Jean schlenderte ihr nach. Darzek holte Monsieur Vert aus seinem Büro und erklärte ihm die Lage. »Sie wollen sie verhaften lassen?« »Keinesfalls.« »Unsere Hauspolizei könnte sie zum Verhör festnehmen.« »Später vielleicht. Ich bin überzeugt davon, daß sie in einer anderen Maske zurückkommen wird, und jetzt möchte ich sie genau beobachten, um zu sehen, wie sie arbeitet.« »Dann – tun wir überhaupt nichts?« »Machen Sie sich nur auf ihr Verschwinden gefaßt.« Miss X verließ den Fahrkartenschalter, sah sich noch einmal prüfend um und ging auf die Passagiersteige zu. Jean Morris stand am Schalter und hatte Schwierigkeiten wegen des amerikanischen Geldes. Auf ein Wort von Darzek hin griff Monsieur Vert ein. Sie bekam ihre Fahrkarte. »Paris«, flüsterte sie Darzek zu und hastete Miss X nach. Miss X durchschritt bereits das Drehkreuz an der Sperre für Paris. Als sie den Korridor betrat, gingen Darzek und Monsieur Vert an den wartenden Passagieren vorbei zur Sperre. Der Kontrolleur starrte in den Korridor. »Nur zu«, rief er. Dann warf er einen Blick auf die Instrumententafel, nickte und sagte: »Der Nächste.« »Haben Sie die Bestätigung?« wollte Monsieur Vert wissen. 81
»Selbstverständlich.« Monsieur Vert sah Darzek verblüfft an. »Sie müssen sich irren. Sie ist wirklich in Paris!« Jean Morris drückte dem Kontrolleur ihr Billett in die Hand, schob das Drehkreuz an und rannte in den Korridor. Darzek wollte ihr nach, aber das Drehkreuz hielt ihn auf. Der Kontrolleur nickte wieder und sagte: »Das Billett, bitte.« »Sie können nicht ohne Fahrkarte durch das Drehkreuz«, erklärte Monsieur Vert. »Wenn Sie wollen, lasse ich kurz umschalten.« »Verdammt! Lassen Sie nur. Jean schafft es auch ohne mich.« Er setzte sich in die Nähe des Eingangs, und nach einer Weile kam Ed Rucks herüber und nahm neben ihm Platz. »Was war los?« fragte Ed. »Sie hat ein Billett nach Paris gekauft. Sie ist tatsächlich in Paris angekommen.« »Vielleicht verschwindet sie das nächstemal in Paris.« »Warum ist sie dann hierhergekommen? Warum nicht gleich direkt nach Paris?« »Vielleicht befürchtet sie, verfolgt zu werden. Nur weil sie achtmal aus New York verschwunden ist, heißt das noch nicht, daß sie jetzt achtmal aus Brüssel verschwindet.« »Ja«, sagte Darzek nachdenklich. »Ja und nein. Diese Station ist durch die ersten beiden verschwundenen Passagiere aufmerksam geworden. Wenn sie befürchtete, verfolgt zu werden, warum dann nicht über Madrid nach Paris gehen? Warum zum Schauplatz des Verbrechens zurückkehren, nur um hier durchzukommen?« »Na schön. Warum?« »Das könnte wichtig sein. Ich habe noch nicht darüber 82
nachgedacht, aber vielleicht ist ihre Methode nicht hundertprozentig wirksam.« »Sie meinen, sie versuchte zu verschwinden, aber es klappte nicht?« »Ich weiß nicht, was ich meine. Wir können jetzt nichts tun als warten.« »Und uns nach Madame Z umsehen«, meinte Rucks und entfernte sich. Zwanzig Minuten später tauchte Miss X wieder in Brüssel auf, gefolgt von Jean Morris. Darzek, darauf bedacht, Miss X nicht argwöhnisch werden zu lassen, winkte Jean heraus und signalisierte Ed Rucks, an ihre Stelle zu treten. »Geh zum Essen«, sagte er zu Jean. »Ich habe keinen Hunger. Ich war doch erst beim Frühstück.« »Dann laß dich nicht sehen.« Miss X ging zweimal durch die Halle. Sie sammelte eine Handvoll Broschüren ein, setzte sich in die Nähe der Billettschalter und las das Material durch. Sie verließ die Halle und ging durch einen angrenzenden Geschenkwarenladen, ohne etwas zu kaufen. Schließlich trat sie an einen Fahrkartenschalter und kaufte ein zweites Billett nach Paris. Sie machte ein paar Schritte auf den Passagiersteig zu, entschied sich anders und nahm in der Nähe Platz, um wieder die Broschüre zu studieren. Rucks machte sich auf der anderen Seite der Halle so unsichtbar wie möglich. Darzek und Monsieur Vert nahmen hinter dem Informationsschalter Deckung und beobachteten sie. Als sie schließlich aufstand, wurden sie alle überrascht. Sie hatte genau abgewartet, bis an der Sperre keine Passagiere mehr standen, und schritt durch das Drehkreuz, bevor Rucks die Halle auch nur halb durchquert hatte. 83
Ohne zu zögern, rannte Darzek los. Er ignorierte den Kontrolleur, der ihm mit offenem Mund nachstarrte, sprang über das Drehkreuz und taumelte in den Korridor. Miss X sah sich betroffen um. Ihr Zögern für den Bruchteil einer Sekunde erlaubte es Darzek, das Gleichgewicht wiederzugewinnen, und als sie durch den Sender trat, hechtete er ihr nach. Monsieur Vert unterhielt sich angeregt mit dem Kontrolleur, als Rucks herankam. »Wir bekommen keine Empfangsbestätigung«, sagte er auf Englisch. »Dann ist sie nicht in Paris angekommen«, erwiderte Rucks verwirrt. »Sie ist verschwunden.« »Oui, Monsieur. Und Ihr Monsieur Darzek auch.« 8 Ted Arnold fühlte sich in Gegenwart von Frauen gar nicht wohl. Wenn die Frau schön war und jeden Augenblick entweder einen Wutanfall zu bekommen oder in Tränen auszubrechen schien, dachte er nur noch an Flucht. »Ich bin jetzt sehr beschäftigt«, sagte er. »Vielleicht später.« »Aber wo kann er denn sein?« wiederholte Jean Morris. »Darzek kann schon für sich selber sorgen«, sagte Arnold; er wäre gern so zuversichtlich gewesen, wie seine Worte klangen. Jean und Ed Rucks, die ihm auf dem Sofa gegenüber saßen, sahen ihn bedrückt an. »Er ist ein außergewöhnlicher Mensch«, fuhr Arnold fort. »Ein Mann der Aktion und ein Intellektueller, ganz abgesehen davon, daß er sich nicht so leicht überrumpeln 84
läßt. Er reagiert blitzschnell. Hatte er denn so etwas geplant?« »Erwähnt hat er jedenfalls nichts davon«, sagte Ed. »Wo er auch sein mag, es ist ihm nichts passiert. Diesen Frauen, scheint das Verschwinden ja auch nichts geschadet zu haben. Sie tauchen immer wieder auf, der Teufel soll sie holen! Darzek meinte also, diese Reise nach Paris sei wichtig gewesen?« »Er nahm es an. Er vermutete, daß die beiden nicht immer Erfolg hatten. Nach dem Erlebnis mit Madame Z gebe ich ihm recht.« »Ah! Erzählen Sie.« »Sie kam zwanzig Minuten, nachdem Darzek und Miss X verschwunden waren. Sie traf aus New York ein, wie ich später herausbekam, und sie trug ebenfalls Maske B.« »Haben Sie festgestellt, woher Miss X gekommen war?« Rucks schüttelte den Kopf. »Bis es uns einfiel, danach zu fragen, war es zu spät. Jedenfalls kaufte Madame Z ein Billett nach London und begab sich auch nach London. Jean folgte ihr, kehrte mit ihr nach Brüssel zurück, und dann machte ich weiter. Sie verließ die Station und ging spazieren. Sie betrat ein paar Läden, ohne etwas zu kaufen, setzte sich in einen Park und ließ sich eine Weile von der Sonne bescheinen, dann kehrte sie in die Station zurück. Sie kaufte wieder ein Billett nach London. Ich war unmittelbar hinter ihr, wenn auch nicht so nah wie Darzek bei Miss X. Ich kam in London an, aber Madame Z nicht. Seither warten wir darauf, daß sie wieder in Brüssel auftauchen und es noch einmal versuchen. Was sollen wir jetzt tun?« »Schlaft euch einmal richtig aus«, erwiderte Arnold sofort. »Das habt ihr euch verdient. Morgen könnt ihr alleine weitermachen, bis wir von Darzek etwas hören.« 85
»Aber wie denn?« wollte Jean Morris wissen. »Jan hatte nicht auf lange Sicht geplant. Jedenfalls wissen wir nichts davon.« »Ich glaube, daß er einfach auf die jeweilige Situation reagiert hat«, meinte Rucks. »Dann macht ihr es genauso. Überlegt euch, was Darzek getan hätte, und das tut ihr auch.« Beide machten ein finsteres Gesicht. Arnold, der sie beobachtete, hatte eine Entdeckung zu verzeichnen, die ihn erschütterte. Eine schöne Frau war – eine schöne Frau. Sie war schön, wenn sie ein finsteres Gesicht machte, wenn sie wütend war, wenn sie in Tränen auszubrechen drohte. Die Schönheit veränderte sich. Sie besaß Dimensionen und Facetten in unendlicher Anzahl. Aber sie verringerte sich nicht. Wie die Häßlichkeit eines häßlichen Mannes, die sich nicht veränderte, selbst in seinen heroischsten Augenblicken. Arnold schlug sich mit der Hand auf seinen beträchtlichen Bauch, fuhr über den kahlen Kopf und seufzte. Er hatte vielleicht etwas mehr Sex-Appeal als das Feuerlöschgerät vor der Tür, aber nicht viel. Das war der Preis, den man dafür bezahlte, wenn man nur im Sitzen nachdachte. Darzek dagegen … Jean Morris sagte nachdenklich: »Ich bin sicher, daß von Brüssel aus keine Passagiere mehr verschwinden.« »Dann müßt ihr warten, bis wir dahinterkommen, wo sie weitermachen.« »Inzwischen könnten wir uns Bilder ansehen«, sagte Rucks. Arnold hob fragend die Brauen. »Ihr habt doch Fotos von allen Passagieren gemacht, die New York verlassen haben. Das müssen sehr viele Aufnahmen sein. Habt ihr schon viel davon entwickelt?« 86
Arnold schüttelte den Kopf. »Nur soviel, um Abzüge von den Frauen zu bekommen, die verschwunden sind.« »Besorgen Sie uns von allen Bildern Abzüge«, sagte Rucks. »Es wäre interessant zu wissen, ob die Damen hier gestern geprobt haben.« »Das müssen Sie mir erklären.« »Wenn eine Dame auf dem Weg nach Chikago verschwand, könnten wir feststellen, ob sie kurz vorher tatsächlich nach Chikago gekommen ist, wie Miss X tatsächlich nach Paris ging, bevor sie auf dem Weg dorthin verschwand und Madame Z nach London kam. Ich möchte wissen, ob sie vorher immer proben.« »Ich auch«, sagte Arnold, »wenn ich auch nicht einsehe, was das ändert.« »Da Madame Z von New York aus nach Brüssel gekommen ist, könnten wir auch feststellen, ob Miss X dasselbe getan hat. Es mag ja nicht viel bedeuten, aber das sind Darzeks Arbeitsmethoden. Wenn man Informationen sammelt, kommt man früher oder später seiner Ansicht nach zu Ergebnissen.« »Gute Idee. Morgen früh hab’ ich ein Zimmer voll Fotos für euch parat, und ihr könnt’s euch ansehen, bis hier das Verschwinden eines Passagiers gemeldet wird.« »Wenn Jan in der Zwischenzeit nicht auftaucht«, meinte Jean Morris. »Richtig. Vielleicht hat er bis morgen alles aufgeklärt. Wißt ihr, wie viele Leute für ihn arbeiten?« »Nein. Jan könnte es im Büro notiert haben, es mag aber auch sein, daß er sich nicht die Mühe gemacht hat.« »Wenn jemand neue Instruktionen einholen will, sagt ihr den Leuten, daß sie wie bisher weitermachen sollen. Falls sie mit ihrer Arbeit fertig sind, müßt ihr euch eben 87
etwas einfallen lassen. Ihr beiden kommt morgen früh um acht, und ich lasse die Bilder in das Büro bringen, das Darzek benützt hat.« Nachdem sie gegangen waren, telefonierte er, um die Aktion mit den Bildern in die Wege zu leiten, dann saß er lange Zeit da, in Zigarettenrauch gehüllt, und plagte sich mit Gedanken herum, die nie ein Ziel fanden. Kurz nach Mitternacht wurde seine Tür aufgerissen, und Thomas J. Watkins steckte den Kopf herein. »Schlafen Sie eigentlich überhaupt nie?« »Nur bei den Sitzungen«, sagte Arnold. »Und Sie?« »Ich habe ein paar Buchprüfer überwacht.« »Erzählen Sie mir bloß nicht, daß die Universal Teleport finanzielle Probleme hat!« Watkins kam herein, machte die Tür zu und setzte sich müde aufs Sofa. »Nennen wir sie Buchhalterprobleme. Dabei fällt mir etwas ein. Ich wollte Ihr Gehalt erhöhen. Das erledige ich gleich morgen früh. Haben Sie etwas von Darzek gehört?« »Nein«, sagte Arnold. »Und fragen Sie mich bloß nicht, wo er hingekommen ist. Diese Frage ist mir seit seinem Verschwinden mindestens einhundertneunundneunzigmal gestellt worden, hauptsächlich von denselben zwei Leuten, sie macht mich schon krank.« »Die Universal Teleport ist Mr. Darzek sehr zu Dank verpflichtet«, bemerkte Watkins. »Wie wahr!« »Um es klar auszudrücken, er hat uns gerettet. Ohne ihn wäre am ersten Tag eine Panik ausgebrochen, und das mit den Fotografien war ein genialer Einfall. Eine einmalige Idee von Ihnen, Mr. Darzek zu beauftragen.« »Jeder, der ihn kennt, wäre auf diese Idee gekommen.« 88
»Aber wo kann er denn nur sein?« Arnold schlug mit beiden Fäusten auf den Schreibtisch. »Ich würde mich persönlich verantwortlich fühlen, wenn ihm etwas geschehen wäre«, fügte Watkins hastig hinzu. »Ich will Ihnen etwas sagen«, erwiderte Arnold. »Darzek trägt eine Waffe, in einem Schulterhalfter, das er selbst entworfen hat. Es ist eine lächerlich kleine Pistole, und ich glaube, daß nicht einmal ein Fachmann sie finden könnte, ohne ihn von Kopf bis Fuß zu durchsuchen. Und er trifft auf drei Meter einen Stecknadelkopf, auf sechs Meter ein Fünfcentstück. Wo immer er auch sein mag, mir tun die Leute leid, die er dort angetroffen hat. Ich habe Darzek in meinem Leben nur einmal richtig wütend gesehen, und das genügte, um aus einem ganzen Raum von Atheisten gute Christen zu machen. Ist Ihnen aufgefallen, daß heute nachmittag keine Passagiere mehr verschwunden sind?« »Ja, richtig.« »Ich wette, daß morgen auch niemand verschwindet.« »Dann können wir nichts tun – oder?« Arnold schüttelte den Kopf. »Wir haben ein Problem. Darzek hat eine Reihe von Leuten engagiert, und wenn er längere Zeit wegbleibt, müssen wir eine größere Summe an sein Büro zahlen, um die Gehälter zu decken, vielleicht sollten wir auch dafür sorgen, daß einer seiner Leute vorübergehend das Kommando übernimmt.« »Selbstverständlich. Machen Sie das, wie Sie es für richtig halten, und sagen Sie mir, wieviel Geld Sie brauchen. Noch etwas?« »Im Augenblick nicht. Wenn ich nur dahinterkäme, wie sie verschwinden.« 89
Am Freitag morgen kam Ron Walker zu Arnold. Er beugte sich über den Schreibtisch und flüsterte: »Darf ich eine Frage stellen?« Arnold grunzte nur. Worauf Walker schrie: »Was, zum Teufel, ist mit der Universal Teleport los?« »Eine ganze Menge«, erklärte Arnold friedlich. »Neue Stationen werden eröffnet, der Umsatz nimmt zu, beinahe jede Stunde wird ein neuer Rekord aufgestellt. Es besteht sogar die Chance, daß die Russen nachgeben und uns eine Station in Moskau zugestehen. Gehen Sie hinunter ins Pressebüro, da bekommen Sie Bescheid.« »Zum Teufel mit dem Pressebüro! Wo ist Darzek?« »Ich habe nicht die leiseste Ahnung.« »Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?« »Gestern vormittag.« Walker deutete mit dem Finger auf ihn. »Ich weiß zufällig, daß er für die Universal Teleport arbeitet.« »Ich wußte nicht einmal, daß das ein Geheimnis ist.« »Aber Sie wissen nicht, wo er sich befindet.« »Sie kennen Darzek doch besser. Wie lange würde er bei einem Job bleiben, wenn sein Auftraggeber verlangt, daß er sich alle zehn Minuten meldet?« Walker drehte sich verärgert um, ging durchs Zimmer und setzte sich aufs Sofa. »Wir haben heute früh einen anonymen Brief bekommen.« »Über die Universal?« Walker nickte. »Lassen Sie mich raten. Irgendeine Frau hat behauptet, sie habe sich nach Los Angeles befördern lassen wollen und sei in der Kanalisation von Brooklyn gelandet.« »Beinahe«, sagte Walker. 90
»Geben Sie den Brief her.« »Der Chef hat ihn in seinem Safe eingesperrt. Wenn es stimmt, ist er sein Gewicht in Platin wert. Wenn nicht – in jedem Fall ist er Dynamit. Wußten Sie, daß eine ganze Reihe von Passagieren vertrauensvoll in ihre Sendeanlagen getreten und spurlos verschwunden ist?« Arnold lehnte sich zurück und lachte hohl. »Das kann ich übertrumpfen. Gehen Sie ins Pressebüro und lassen Sie sich die Verrücktenakte zeigen. Ein Mann behauptet, wir verwandelten unsere Passagiere in Tauben. Seit die Universal Teleport eröffnet hat, ist ihm eine erhebliche Zunahme der Taubenbevölkerung in New York aufgefallen.« »Das ist kein Brief eines Verrückten. Jedenfalls gehört er nicht zur üblichen Sorte. Er nennt Namen, zitiert Direktoriumssitzungen, ja sogar, was dort gesprochen wurde. Er stellt die Behauptung auf, daß Darzek von der Universal Teleport beauftragt wurde, die verschwundenen Passagiere zu finden.« »Benennt er die vermißten Passagiere?« »Nein. Er benennt die Direktoren und zitiert ihre Äußerungen?« »Und was wird Ihr Chef damit anfangen?« »Offenbar gar nichts, bis er genügend Beweismaterial beisammen hat, um gegen einen Verleumdungsprozeß gesichert zu sein. Wollen Sie eine Erklärung abgeben?« »Sehr gern. Von den Millionen Menschen, die seit Montag die Dienste der Universal Teleport in Anspruch genommen haben – das Pressebüro kann Ihnen die genaue Zahl geben –, ist nicht einer unauffindbar. Sie können mich zitieren, bei Ihrem Chef.« »Sehr schön, aber warum haben Sie Darzek engagiert?« 91
»Ihr seid nicht die einzigen, die anonyme Briefe bekommen haben. Wir möchten gerne wissen, wer sie schreibt.« »Aha. Das klingt so plausibel, daß es höchst verdächtig ist. Wenn Sie Darzek sehen –« »Was?« »Schon gut. Er würde mir ja doch kein Material geben.« »Das hoffe ich auch«, meinte Arnold. Watkins hatte für elf Uhr vormittags eine Sondersitzung des Direktoriums anberaumt. Carl Miller hatte darauf bestanden, um den Bericht seines Frachtkomitees zu diskutieren. Um elf Uhr fünfzehn quälte sich Arnold mit einem Arm voll technischer Zeichnungen die Treppen hinauf, nur um festzustellen, daß die Sitzung abgesagt worden war. »Mr. Miller konnte nicht kommen«, sagte Miss Shue, Watkins’ Privatsekretärin seit vielen Jahren. »Die anderen Mitglieder des Frachtkomitees haben überhaupt keine Ahnung. Der Alte hat für heute nachmittag eine neue Sitzung anberaumt. Um vier Uhr.« Die zähe, selbstsichere und brutal tüchtige Miss Shue war mindestens so alt wie Watkins, aber zum Entsetzen der anderen Sekretärinnen bezeichnete sie ihn immer als den Alten. »Braucht er mich heute nachmittag?« fragte Arnold. »Das hat er nicht gesagt. Er ist seit neun Uhr bei einer Besprechung. Irgendein Kerl von der Staatsanwaltschaft hält ihn auf.« »Au! Was haben wir denn angestellt?« »Keine Ahnung.« Miss Shue betrachtete ihn interessiert. »Ich wußte gar nicht, daß es für Sie ein Schreckgespenst gibt, obwohl Sie natürlich ebenso darauf Anspruch haben wie jeder andere Mensch. Mr. Armbruster wird auf dieselbe Weise blaß, wenn man das Bundesaufsichtsamt 92
erwähnt. Mr. Riley fürchtet sich vor dem Finanzamt, aber das zählt nicht, weil das bei allen Leuten so ist. Mr. Horner –« »Bin ich blaß geworden? Das hatte ich eigentlich gar nicht vor.« »Natürlich nicht. Das will keiner. Warum fürchten Sie sich vor dem Staatsanwalt?« »Ich kann mir nicht helfen, seit ich meinen Onkel umgebracht habe«, sagte Arnold und verließ das Zimmer, während sie ihm sprachlos nachstarrte. Er marschierte zwischen den Reihen von Schreibmaschinentischen hindurch, ohne daß ihn eine der Stenotypistinnen auch nur angesehen hätte. Wenn Darzek hier wäre, würden sie keine Taste anrühren, dachte er bedrückt. Darzek. Wo, zum Teufel, ist Darzek? In seinem Büro telefonierte er, bevor er sich zurücklehnte und die Beine auf den Tisch legte. Es war beinahe Mittag in New York und später Nachmittag in Europa, und den ganzen Tag war bisher noch kein Passagier verschwunden. Arnold warf einen Blick in Darzeks Büro, bevor er um vier Uhr nach oben ging. Jean Morris und Ed Rucks betrachteten erschöpft Fotos. Fotos stapelten sich auf dem Schreibtisch. Fotos lagen auf dem Boden. Kisten voll Fotos standen im Zimmer herum – geöffnet und ungeöffnet. Sie hörten Arnold nicht hereinkommen, und er verschwand, ohne sie zu stören. Wieder stieg er mit einem Arm voll Entwürfen die Treppe hinauf, und Miss Shue dirigierte ihn zu einem Konferenzzimmer. »Der Alte hat immer noch mit dem Kerl von der Staatsanwaltschaft zu tun«, sagte sie. »Wir haben ohne ihn angefangen. Sie haben Ihren Onkel doch nicht wirklich umgebracht, oder?« 93
»Natürlich nicht«, sagte Arnold. »Meine kleine Schwester war’s, aber mir gab man die Schuld.« Im Konferenzzimmer saßen nur drei Männer. Armbruster, ein unbedeutender Direktor, der nicht zugegen gewesen war, als man Darzek beauftragt hatte; Cohen und Grossman, der Schatzmeister. »Man sollte Sitzungen nicht auf so kurze Frist festsetzen«, murrte Armbruster, als Arnold das Zimmer betrat. »Das entspricht nicht den Vorschriften. Außerdem kommt keiner.« »Sie sollten nicht ohne wirkliche Begründung einberufen werden«, meinte Cohen. »Deswegen ist niemand gekommen. Millers Geschwätz über das Frachtgeschäft will sich keiner mehr anhören. Ich frage mich nur, warum Watkins ihn nicht zum Schweigen bringt.« »Mit dem Frachtgeschäft läßt sich Geld verdienen«, meinte Grossman fröhlich. »Überlassen wir das den Eisenbahnen. Sagen Sie mal, Arnold, könnten wir einen Zug durch einen Sender laufen lassen?« »Gewiß«, erwiderte Arnold, »wenn wir einen Sender bauen, der groß genug ist.« »Das ist vielleicht die Antwort. An den wichtigsten Stellen im Land Sendeanlagen für Eisenbahnzüge bauen und von den Eisenbahngesellschaften Pacht verlangen. Die Züge könnten die Fracht transportieren, und wir würden die Züge transportieren. Wir könnten anständig verdienen, ohne Lagerhäuser bauen und die Frachtgüter zustellen zu müssen. Was meinen Sie, Arnold?« Arnold zuckte zusammen. »Entschuldigen Sie. Ich habe nur halb hingehört. Meine andere Hälfte hat sich überlegt, ob ein Zug durch einen 94
Sender laufen und auf dem Gleis bleiben kann. Andernfalls gäbe das ein schönes Unglück.« »Bauen Sie einen solchen Sender und stellen Sie das fest«, schlug Cohen vor. »Warum besprechen Sie das nicht mit dem Chef? Ich treffe hier keine Entscheidungen, ich befolge nur Anweisungen.« »Ich wende mich an Miller. Wo ist er denn überhaupt? Ich dachte, die Sitzung wird seinetwegen …« »Er ist auswärts«, sagte Grossman. »Ich habe eben mit seiner Sekretärin gesprochen. Sie weiß nicht, wann er zurückkommt.« »Sehr schön. Er verlangt eine Sondersitzung, dann kann er nicht kommen. Wozu sitzen wir noch herum?« »Die verschobene Sitzung von heute früh war für Miller gedacht«, sagte Grossman. »Die jetzige hat Watkins anberaumt.« »Dann könnte er ja wenigstens kommen. Es geht sicher um die verschwundenen Passagiere. Wissen Sie etwas Neues, Arnold?« »Was hat Ihnen der Chef davon erzählt?« »Daß wir alles unter Kontrolle haben.« »Das stimmt.« Cohen starrte ihn grimmig an. »Wo ist dieser Detektiv?« »Ich weiß es nicht.« »Ich dachte, er hat Ihnen Bericht zu erstatten?« »Allerdings.« »Warum tut er es dann nicht? Ich weiß, daß die Firma endlich Geld verdient, aber das heißt noch nicht, daß man es zum Fenster hinauswerfen muß. Außerdem wurde es mich nicht überraschen, wenn jemand aus Ihrem technischen Stab hinter der ganzen Geschichte steckte. Sonst versteht niemand etwas von den Sendeanlagen, und ich 95
finde es schon sehr komisch, daß das Verschwinden der Passagiere für Sie so geheimnisvoll ist! Wir hätten selbst einen Detektiv beauftragen sollen, statt einen Ihrer Freunde, dann hätten wir vielleicht etwas herausgebracht – zum Beispiel, welcher Ingenieur eine feine Methode gefunden hat, die Firma zu erpressen.« »Damit Sie es wissen«, sagte Arnold aufgebracht, »wenn es einen Gauner in der Universal Teleport gibt, dann ist es einer von den Direktoren. Soviel wissen wir schon.« »Unsinn«, sagte Grossman, verzweifelt bemüht, Öl auf die Wogen zu gießen. »Warum sollte ein Direktor –« Er verstummte, als Watkins das Zimmer betrat und sich an den Tisch setzte. Er sah hager und so erschöpft aus, daß Arnold sich fragte, ob er in der vergangenen Nacht auch nur eine Minute Schlaf gefunden hatte. Bevor er zu sprechen begann, schloß er kurz die Augen und preßte eine Hand an die Schläfe. »Ich habe auf Harlow gewartet«, sagte er, »aber er kann sich nicht losmachen. Was gibt es denn hier?« »Nichts Besonders«, sagte Grossman. »Moment mal – zur Nervenberuhigung werde ich schnell mal verlesen, wieviel wir schon verdient haben.« »Arnold behauptet, hinter dem Verschwinden der Passagiere steckt einer der Direktoren«, sagte Cohen. »Ich behaupte, daß nur die Ingenieure über das nötige Wissen verfügen.« Watkins wandte sich Arnold zu. »Ein Direktor, Ted?« »Das ist Darzeks Meinung«, erwiderte Arnold. »Er sagte, daß er das garantieren kann. Ich hätte den Mund halten sollen, aber Cohen hat mich provoziert. Ich erzähle Ihnen später Genaueres.« 96
»Darauf bin ich sehr neugierig. Wie viele sind heute verschwunden?« »Keiner.« Watkins sah ihn verblüfft an. »Keiner? Glauben Sie, daß Darzek dafür verantwortlich ist?« »Wo immer er auch sein mag, ich bin sicher, daß er tüchtig ist wie eh und je.« »Und Darzek hat einen der Direktoren verdächtigt. Ich habe den jungen Mann von Anfang an hoch eingeschätzt, aber offenbar nicht hoch genug, denn er hat recht.« Die drei Direktoren starrten Watkins an. Er würdigte sie keines Blickes. »Hat er gesagt, wer es ist, Ted?« »Ich glaube nicht, daß er das weiß.« »Merkwürdig, daß er überhaupt auf diese Idee gekommen ist.« »Er kam vor ein paar Tagen plötzlich dahinter«, sagte Arnold trocken. »Seitdem bemüht er sich, ihn ausfindig zu machen.« »Wenn Sie ihn das nächstemal sehen –« Watkins machte eine Pause. »Er braucht sich nicht mehr damit zu befassen. Ich kenne den Mann. Es tut mir leid, daß das Direktorium nicht vollständig ist, aber die Zeit drängt. Charlie, ich habe seit gestern Ihre Bücher überprüfen lassen.« Grossman, der sich gerade eine Zigarette anzünden wollte, erstarrte. Er blies das Zündholz aus, warf die unangezündete Zigarette in einen Aschenbecher und lächelte bläßlich. »Das war es also.« »Sie glauben, daß es Wochen dauern wird, alles in Ordnung zu bringen, aber der Fehlbetrag beläuft sich auf 97
mindestens hunderttausend, wenn nicht viel mehr. Wir haben einen Fachmann von der Staatsanwaltschaft kommen lassen, und die Polizei wartet schon auf Sie. Der Beamte der Staatsanwaltschaft möchte mit Ihnen sprechen. Das können Sie natürlich ablehnen.« »Nein.« »In gewisser Hinsicht ist das meine Schuld. Wenn ich mich mehr um Probleme der Geschäftsführung gekümmert hatte, wo ich Fachmann bin, und weniger um technische Dinge, wovon ich nichts verstehe, wäre das nicht passiert. Aber ich kenne Sie jetzt dreißig Jahre, Charlie, und Sie sind eigentlich der letzte –« Seine Stimme verklang. Grossman hatte seine Beherrschung wiedergewonnen, aber er wich Watkins’ Blick aus. Seine Stimme klang höher als sonst. »Ich dachte, daß die Universal Teleport sowieso pleite geht, und ich konnte nicht zusehen, wie das Geld zum Fenster hinausgeworfen wurde. Die Polizei wartet schon?« Watkins nickte. Grossman erhob sich langsam und ging zur Tür. »Einen Augenblick noch«, rief Arnold, »wo ist Darzek?« »Darzek? Woher soll ich das wissen. Ich habe ihn seit der letzten Sitzung nicht mehr gesehen.« »Wie haben Sie die Passagiere verschwinden lassen?« Grossman starrte Arnold verwundert an. »Glauben Sie wirklich, daß ich damit etwas zu tun habe?« Er lachte. »Ich dachte immer, daß Sie auf Draht sind, Ted, aber vielleicht sind Sie ein schlechterer Ingenieur, als ich ein Schatzmeister war. Entweder das – oder einer von uns beiden ist verrückt.« Er öffnete die Tür, trat hinaus und machte sie zu. 98
Die beiden anderen Direktoren schienen kein Wort herauszubringen. Watkins sagte nachdenklich: »Vielleicht hat er es auf ein Geschäft abgesehen. Er wird uns sagen, was er weiß, wenn wir die Anzeige zurückziehen. Er hält etwas geheim, um mit uns verhandeln zu können.« »Verhandeln Sie mit ihm«, sagte Arnold. »Ich muß wieder an die Arbeit.« Als er an Miss Shues Schreibtisch vorbeieilte, wedelte sie aufgeregt mit einer Zeitung. »Ich wollte Sie schon fragen. Was halten Sie davon?« Arnold starrte die Schlagzeilen an, ohne sie zu sehen. »Wovon?« »Was, Sie haben noch nichts gehört? Die Leute sprechen den ganzen Tag von nichts anderem. Die Explosion auf dem Mond, die meine ich. Die Regierung behauptet, wir hätten nichts damit zu tun, und die Russen behaupten dasselbe, jeder beschuldigt den anderen. Ein Riesendurcheinander.« »Sowohl wir als auch die Russen haben Leute dort oben. Ist jemand auf die Idee gekommen, sie zu fragen?« »Oh, es war gar nicht in der Nähe einer der Mondstationen. Schauen Sie – auf der letzten Seite ist eine Karte, auf der man sehen kann, wo es passiert ist. Ein Wissenschaftler wie Sie sollte sich für so etwas interessieren.« Arnold winkte ab. »Ich bin nur ein bescheidener Ingenieur mit diversen Problemen. Lassen Sie mich mit Ihren Mondexplosionen in Ruhe. Meinetwegen kann das ganze Ding in die Luft gehen.«
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9 Darzek schwebte. Er war völlig entspannt und bereit, nach seinem Hechtsprung auf den Beinen zu landen, für alle Fälle die Pistole in der Hand. Er hatte sich auch darauf vorbereitet, in der Station Paris eine plausible Erklärung anzubieten, falls er und Miss X dort landen sollten. Aber er wußte sofort, daß er sich nicht in der Station von Paris befand. Und er schwebte. Er schwebte über Miss X, die zu ihm hinaufstarrte, die Arme halb erhoben, einen Ausdruck auf dem Gesicht, der Darzek in seinem ganzen Leben noch nie begegnet war. Ein paar Augenblicke lang hatte er das herrliche Gefühl des Fliegens, aber seine Gedanken waren zu sehr in Anspruch genommen, als daß er das hätte genießen können. Er stieß sanft gegen die Rückwand, wurde ein Stück zurückgeworfen und drehte sich um, weil er sich den Raum einprägen wollte, während er leicht auf den Beinen landete. Seine Aufmerksamkeit wurde sofort von einer unwahrscheinlich großen, grotesk dünnen Erscheinung in Anspruch genommen, die an einer immensen Instrumententafel in der Nähe der Sendeanlage saß. Sie hatte sich von einem hohen Hocker erhoben, stand jetzt halb geduckt da, eine Hand an der Tastatur, während die andere hin und her flatterte, als wolle sie Darzek verscheuchen. Darzek hatte nur ein paar Sekunden Zeit, um den gewaltigen kahlen Kopf, das unheimlich breite Gesicht und die merkwürdige Kleidung zu betrachten, bevor eine plötzliche Bewegung von Miss X seine Hand zur Pistole zucken ließ. 100
Aber die Gestalt an der Instrumententafel hatte seine Aufmerksamkeit zu lange beansprucht. Bevor er die Waffe ziehen konnte, stürzte Dunkelheit über ihm zusammen. Er kam langsam zu sich und stellte fest, daß er völlig gelähmt war. Ein schmerzendes Prickeln durchzog seinen ganzen Körper. Es war zugleich erschreckend seltsam und vertraut, wie die unerklärliche Wiederkehr eines halb vergessenen Alptraums. Er wehrte sich verzweifelt, er schrie wieder und wieder um Hilfe, und als er schließlich aufgab und schweißdurchtränkt dalag, hatte er weder einen Muskel bewegt noch einen Laut von sich gegeben. Er vermochte seine Augen nicht zu öffnen, und sein Kopf schien zu rotieren. Er fragte sich, ob sein Gehör gelitten habe. Die Stimmen im Raum schienen aus weiter Ferne zu kommen, und sie plapperten unmögliche, unaufhörliche Reihen zischender und summender Konsonanten. Sein Verstand begann eine Reihe kindischer Fragen aufzustellen, und er entdeckte zu seiner Verärgerung, daß er nicht wußte, wo er sich befand oder was geschehen war. Schließlich fragte er sich: »Wer bin ich?« gab sich sofort die Antwort »Jan Darzek«, und fühlte sich besser. Schritte tappten leise auf ihn zu, eine Hand berührte seine Stirn, eine knochenkalte, beinahe reibeisenscharfe Hand, die seine Haut kratzte, dann hob sie seinen Kopf hoch und ließ ihn wieder fallen. Das merkwürdige Prickeln war nur mehr in den Gliedern zu spüren, und zu seiner Freude stellte er fest, daß er seine Zehen ein wenig bewegen konnte. Die Hand berührte noch einmal seine Stirn, bevor sich die Schritte entfernten. Das Gespräch in der Ferne wurde wieder aufgenommen. 101
Sie hat mich niedergeschossen, dachte Darzek plötzlich. Miss X hat mich niedergeschossen, mit – sie hat etwas in der Hand gehabt, aber er hatte den Gegenstand nicht als Waffe erkannt. Eine Woge der Erinnerung warf ihn abrupt in die Vergangenheit zurück. Er lag auf dem Gehsteig neben seinem Bürohaus und starrte in das Gesicht des Streifenbeamten. Hände und Füße prickelten. So war das also, dachte er. Wie an diesem Abend, nur stärker. Kein Wunder, daß ich keine Beule am Kopf hatte. Die Nachwirkungen verschwanden bald. Der Schmerz verblaßte zu einem dumpfen, betäubenden Pulsieren, und er hatte wieder volle Gewalt über seine Zehen. Er hätte die Augen öffnen und sich umsehen können, aber er war entschlossen, keine Bewegung zu riskieren, durch die er die Aufmerksamkeit der Leute im Raum auf sich ziehen konnte. Er erinnerte sich nur an die entsetzliche Schwäche, die er schon einmal kennengelernt hatte, seine Unfähigkeit, ohne Schutz zu stehen. Er gedachte, Bewußtlosigkeit vorzutäuschen, bis diese Schwäche vergangen war, damit er dann gegebenenfalls in der Lage war, sich zur Wehr zu setzen. Er ließ vor seinem inneren Auge das Bild des Raumes vorbeiziehen, in den er auf so unerwartete Weise eingedrungen war. Er hatte die Form eines riesigen liegenden Zylinders, unten abgeflacht. Die gewölbte Oberfläche war milchigweiß und ließ Licht durch. Zuerst lehnte Darzek diese Schlußfolgerung ab, aber er hatte nirgends Lampen gesehen, obwohl der Raum hell erleuchtet war. Das sanfte weiße Schimmern der gewölbten Wände und der Decke erhellten den Raum. Der Rahmen der Sendeanlage stand an einem Ende, daneben die Instrumententafel. Ein breiter Sims lief ent102
lang der Seitenwände – vielleicht für Schlafzwecke gedacht, denn er hatte dort lange Objekte liegen sehen, die Schlafsäcken glichen. Eine gewölbte, glitzernde Metalloberfläche, so groß wie der Raum, trat von der flachen Wand neben der Instrumententafel bauchig hervor. Abgesehen von dem einen Hocker hatte er keine Möbel gesehen. Und er hatte geschwebt. Er dachte lange darüber nach, zögerte, sich den Schlußfolgerungen zu stellen. Er hatte geschwebt, also gab es keine Schwerkraft. Am Ende des Raumes angekommen, war er auf den Beinen gelandet, also gab es Schwerkraft. Oder regelten komplizierte Faktoren wie sein Schwung und der Winkel, in dem er auf die Wand auf traf, seine Bewegungen? Er wünschte sich Ted Arnolds physikalische Kenntnisse. Wenn er Fachmann für Menschen war, was sollte er dann von jener Person – jenem Ding – an der Instrumententafel halten? Der Ort widersprach aller Logik, und mit ihm seine Insassen. Er lauschte den Stimmen und glaubte, einen Streit herauszuhören. Eine Weile beschäftigte er sich damit, die Stimmen auseinanderzuhalten und sie den einzelnen Personen zuzuordnen, dann versuchte er, die Anzahl der Leute im Raum zu schätzen. Er hatte vier verschiedenen Stimmen gelauscht, als jemand in der Nähe etwas sagte und wieder eine kalte Hand über seine Stirn strich. Er brauchte seine ganze Beherrschung, um nicht zurückzuschrecken. »Sie können jetzt aufstehen«, sagte eine Stimme auf Englisch, »wir wissen, daß Sie wach sind.« Er tat weiterhin so, als sei er bewußtlos. Man begann wieder zu diskutieren, die Stimmen wurden lauter. Eine fünfte Stimme gesellte sich hinzu. Hände ergriffen Dar103
zek, zogen ihn in sitzende Lage und stützten ihn. Er ließ die Arme schlaff hängen, aber bei der Aufwärtsbewegung gelang es ihm, sein Schulterhalfter zu berühren. Sie hatten ihm die Waffe nicht abgenommen. Oder hatten sie sie entladen und zurückgesteckt? Er wog seine Chancen sorgfältig ab und verzichtete darauf, mit der Waffe in der Hand aufzuspringen. Ein oder zwei Sekunden lang war er von hinten angreifbar, und er konnte nicht fünf Leuten Herr werden, wenn er nicht in der Lage war, vorher seine Position zu bestimmen. Er entwarf einen Plan, öffnete die Augen und raffte sich mühsam auf. Die Stimmen verstummten. Fünf Personen waren um ihn versammelt, und während sie ihn beobachteten, täuschte er ein Schwindelgefühl vor, gewann mühsam das Gleichgewicht wieder und sah sie der Reihe nach gelassen an. Zu seiner Verwunderung wichen sie seinem Blick aus. Miss X trug immer noch die Maske, der er in den Sender gefolgt war. Auch Madame Z war da, in einer ihrer Masken. Außerdem ein merkwürdiger, gut aussehender junger Mann, Anfang Zwanzig. Und außerdem zwei Wesen. Zuerst fiel es Darzek schwer, die Wesen mit der Erscheinung in Einklang zu bringen, die er an der Instrumententafel gesehen hatte. Diese Figur war groß und erschreckend dünn gewesen; die beiden waren groß und von absurder Breite. Erst nachdem er sich aufgerafft hatte, begriff er, daß sie breit waren, wenn man sie von vorne sah, und dünn, wenn man sie von der Seite betrachtete. In beiden Fällen hatte man das Gefühl, in einen Zerrspiegel zu starren. 104
Er sah sie unverwandt an. Sie schienen nicht so sehr lebende Wesen als patentierte Zeugnisse für die Bevölkerung von Alpträumen zu sein. Ihre Gesichtszüge waren konkav angeordnet, die riesigen, weit voneinander abstehenden Augen, das einzelne, klaffende Nasenloch, der runzlige Mund, alles war nach innen umgestülpt, als öffne sich ihm die mißgeformte Phantasie eines betrunkenen Künstlers. Sie hatten keine Ohren, kein Haar, keine Brauen oder Wimpern, nicht einmal die Andeutung von Lidern. Die Hälse waren schmale Rohre. Das Fleisch, soweit man es sehen konnte, hatte eine geisterhafte, blaßblaue Färbung. Sie schienen von den Füßen bis zum Hals und von den Schultern bis zu den Händen in Bandagen eingehüllt zu sein. Die Hände … Ihre Häßlichkeit hatte eine hypnotische Anziehungskraft. Er riß den Blick los davon, machte einen Schritt, sah wieder hin. Die Hände hatten vier nagellose Finger mit dünnen, beinahe durchsichtigen Schwimmhäuten. Er machte wieder einen Schritt und tat so, als taumelte er. Miss X trat zu ihm, um ihn zu stützen, aber er schüttelte sie ab und ging langsam zum anderen Ende des Raumes, stampfte mit den Füßen, als wolle er den Blutkreislauf anregen, rieb sich die Hände, blieb einmal stehen, um sich die Beine zu reiben. Sie belästigten ihn nicht. Als er den Rahmen der Sendeanlage erreichte, drehte er sich um und hatte die Waffe in der Hand. »Heben Sie die Arme hoch!« fauchte er. Einen langen Augenblick starrten sie die Pistole verständnislos an. Dann hob der junge Mann langsam die Hände, und Madame Z folgte seinem Beispiel. Die anderen rührten sich nicht. Eines der Wesen sagte etwas, und Miss X gab Antwort. »Sprechen Sie englisch!« befahl Darzek. 105
»Sie hat nur gefragt, ob das eine Waffe ist«, sagte Miss X. »Sie?« wiederholte Darzek verblüfft. »Sie würden sie als –« Miss X’ rechte Hand zuckte hoch, suchte etwas in ihrer Kleidung. Darzek schoß sie in den Arm. Der Knall wurde von den Wänden zurückgeworfen. »Heben Sie jetzt endlich die Hände hoch?« fragte er. Miss X sagte ein einziges Wort: »Barbar.« Sie hob die Hände, und die beiden Wesen folgten ihrem Beispiel. Miss X war nicht anzumerken, ob sie Schmerzen im Arm hatte. Darzek forschte in den fünf Gesichtern nach den Spuren eines Gefühls – Angst, Zorn, vielleicht Ekel. Er fand nichts. Sie sahen ungerührt in seine Richtung, aber selbst auf diese Entfernung hin wichen sie seinem Blick aus. »Ich halte auch nicht so besonders viel von euch«, sagte Darzek zu Miss X. »Man wird Sie wohl verbinden müssen. Habt ihr Verbandsmaterial?« Eines der Wesen bemerkte jetzt erst Miss X’ Verletzung. Es – sie – drehte sich abrupt um und untersuchte sorgfältig den Arm. Dann war sie mit einem einzigen Sprung am anderen Ende des Raums, und unter ihrer Berührung kräuselte sich eine Tür in dem gewölbten Metall. Kräuselte. Darzek dachte an Rolläden und Reißverschlüsse, aber kein Vergleich paßte. Das massive Metall kräuselte und öffnete sich, das Wesen rannte durch die Öffnung und kam einen Augenblick später zurück und schloß die Tür. Darzek beobachtete ihre Bewegungen genau und paßte scharf auf, als sie den Arm von Miss X behandelte. Sie hielt ihn mit einer Hand fest und tupfte mit der anderen eine Flüssigkeit auf. Dann drehte sie sich gelassen um, sah Darzek an und hob die Hände. 106
Darzek ging ein paar Schritte rückwärts und stieg auf den Hocker vor der Instrumententafel. Von dort aus konnte er die fünf beobachten und auch den Sender überwachen. Er mußte nachdenken und hatte sehr wenig Zeit dazu. Was er eben gesehen hatte, hätte ausgereicht, jeden normalen Menschen in Wahnsinn zu treiben. Er hatte Miss X nur eine kleine Streifwunde zufügen wollen, war aber zu hastig gewesen, der Arm hatte sich bewegt, und die winzige Patrone hatte ihn voll getroffen. Sie war abgeplattet worden, was unverständlich war, und hatte ein schreckliches Loch durch den ganzen Arm gerissen. Aber es traf keinen Knochen, und die Wunde blutete nicht. Nach der kurzen Behandlung, die er eben beobachtet hatte, war die Wunde bereits geschlossen, abgesehen von einem klaffenden Riß in einer außergewöhnlich dicken und ledrigen Haut. Darzek kam mit der Situation nicht zurecht. »Also gut«, sagte er schließlich. »Einer von euch macht den Mund auf.« Er bekam keine Antwort. »Sie.« Er deutete auf Miss X. »Wo sind wir?« Keine Antwort. »Wer seid ihr?« Keine Antwort. Es war ihm klar, daß er die fünf Wesen nicht beherrschte, solange er sie nicht auch psychologisch verstand. Er warf einen kurzen Blick auf die Instrumententafel. »Wo wird ein Schuß wohl den größten Schaden anrichten«, murmelte er. Ted Arnold hätte sein letztes Hemd für einen Blick auf diese Tafel gegeben. Die Steuertasten waren kegelförmig, aus verschiedenfarbigen, 107
durchlöcherten Scheiben zusammengesetzt. Eine Art von Schlüssel, in die Löcher eingeschoben, würde die Scheiben einzeln oder in ihrer Gesamtheit drehen – nahm er an. Mehr verstand er nicht davon. Miss X trat einen Schritt vor. »Wir sind auf eurem Mond. Wenn Sie unsere Instrumente beschädigen, werden Sie nie zur Erde zurückkehren können.« »Und was würde das für Sie bedeuten?« fragte Darzek lächelnd. »Daß der Lebertrannachschub ausbleibt?« »Ich verstehe Sie nicht.« »Nehmen Sie nichts gegen Ihre Anämie? Das sollten Sie tun. Sie sind die erste Person, die ich je getroffen habe, die nicht blutet.« Er sah der Reihe nach in jedes Gesicht und ärgerte sich über die Ausdrucksleere. Gefahr für die Instrumententafel führte zu mündlichen Protesten, aber von einem gefühlsmäßigen Einsatz war nichts zu spüren. Sie schienen nicht einmal gleichgültig zu sein. Einfach – ohne innere Reaktion. Er sprach weiter, tastete sich langsam an sie heran, suchte nach einer Bresche. »Glauben Sie, daß Träume die Zukunft voraussagen?« fragte er. »Vor einiger Zeit träumte ich, ich sei auf dem Mond und schaue auf die Erde hinunter. Damals fand ich es lächerlich, aber jetzt sind wir hier. Wie muß ich es anstellen, daß ich auf die Erde hinuntersehen kann?« Er erwartete keine Antwort. Unmenschlich, dachte er, als er die Gesichter wieder betrachtete. Oder nicht menschlich. »Woher stammt ihr?« fragte er. »Vom Mars? Von der Venus? Oder von irgendwo« – er zeichnete eine Linie in die Luft – »jenseits des Sonnensystems? Sie haben mich 108
einen Barbaren genannt. Es mag sein, daß ich nach Ihrer Einschätzung außergewöhnlich dumm bin, aber ich habe große Erfahrung in der Aneinanderreihung einfacher Tatsachen. Zwei von Ihnen besitzen Stammbäume, die nicht auf der Erde gewachsen sind. Nach Augenschein und logischer Überlegung gilt dasselbe für die anderen drei. Trotz Ihrer enormen Begabung für die Maskerade. Wollen Sie darüber sprechen? Nein?« Er sah Miss X gleichmütig an, die den Kopf abwandte. »Dann werde ich davon reden. Wenn das, was ich aus Selbstverteidigung gemacht habe, barbarisch ist, möchte ich gerne wissen, wie Sie Ihre eigenen Handlungen einstufen. Sie haben Eigentum der Universal-TeleportGesellschaft im Wert von vielen tausend Dollar beschädigt, Sie haben sich der technologischen Entwicklung einer Zivilisation in den Weg gestellt, von der Sie nichts zu befürchten brauchen, Sie haben Techniker der Universal Teleport schwer verletzt, Sie haben –« Es gab die Reaktion, mit der er gerechnet hatte, aber sie machte ihm kein Vergnügen. Obwohl die fünf Wesen aufgeregt durcheinander redeten, konnte er nicht entscheiden, ob sie zornig, reumütig oder amüsiert waren. Ihre Gesichter blieben ausdruckslos wie vorher. Der junge Mann sagte auf Englisch: »Keiner von diesen Leuten ist ernsthaft verletzt worden.« »Zwei Techniker haben Glassplitterverletzungen an den Augen«, erwiderte Darzek. »Einer von den beiden verliert unter Umständen das Augenlicht. Vielleicht ist das Ihrer Ansicht nach keine schwere Verletzung.« »Wir bedauern sehr, das zu erfahren. Wir werden scharf gerügt werden.« »Was bedauern Sie? Die Verletzungen oder die Rüge?« Er bekam keine Antwort. 109
»Angesichts des Schadens, den Sie bei Personen und Sachen angerichtet haben, hätte ich das Wort ›barbarisch‹ gerne definiert.« »Das war kein sehr glücklicher Ausdruck«, meinte der junge Mann. »Sie scheinen Ihre Worte sonst sehr gut zu wählen. Im übrigen sind Aussprache und Grammatik fehlerlos. Wo haben Sie Englisch gelernt?« Der andere antwortete nicht. Darzek war auf sich selber wütend. Er hatte bisher nichts erreicht und konnte sie nicht auf die Dauer mit seiner Waffe in Schach halten. Selbst wenn er sie fesselte, wußte er nicht, wann Verstärkungen durch den Sender eintreffen würden, und früher oder später mußte er einmal schlafen. Wieder wandte er seine Aufmerksamkeit der Instrumententafel zu und versuchte, an den Scheiben zu drehen. Alle waren unverrückbar festgeklemmt. »Schade, daß ich kein Werkzeug mitgebracht habe«, sagte er. »Hammer und Meißel zum Beispiel.« Er rutschte von dem Hocker und sah sich die andere Seite der Konsole an. Der Apparat war mindestens dreißig Zentimeter dick, aus irgendeinem nichtmetallischen Stoff, mit abgerundeten Ecken und ohne sichtbare Schweißnähte. Darzek fuhr mit der Hand über die Rückseite, schlug ein paarmal dagegen, ließ die Hand daran entlanggleiten. Plötzlich öffnete sich kräuselnd die gesamte Rückwand, und er stand vor dem Traumgebilde eines Elektronikingenieurs. Schimmernde, durchsichtige, vielfarbige Fäden bildeten ein Gespinst von unglaublicher Kompliziertheit. »Das ist toll«, meinte Darzek. »Eine intelligente Spinne würde sich vor Neid umbringen.« 110
Er bezwang einen Impuls, mit der Pistole darin herumzustochern, statt dessen hob er einen Fuß, zog den Schuh aus und stieß den Absatz mit einer blitzschnellen Bewegung durch das zarte Elektronikgewebe. Die dünnen Fäden zerrissen, Splitter flogen in alle Richtungen, Funken zuckten auf, und Rauchfäden schlängelten sich in die Höhe. Eines der Wesen setzte sich in Bewegung. Darzek hob die Waffe und trieb es zurück, schlug ein zweitesmal mit dem Schuh zu. Das Wesen plapperte Unverständliches. »Sprechen Sie englisch!« befahl Darzek. »Sie kann nicht englisch sprechen«, sagte Miss X. »Sie sagt, es wird – es wird Stunden dauern, um den Schaden zu beheben.« »Das würde mich gar nicht überraschen«, meinte Darzek und starrte befriedigt in das verwüstete Innere. »Ich habe das Gefühl, daß man da fast von vorne anfangen muß. Merkwürdig, daß es keine Anschlußdrähte gibt. Die Steuerorgane arbeiten wohl über Funk? Woher kommt die Energie? Aus Solarbatterien?« »Könnten wir nicht unsere Hände herunternehmen?« fragte der junge Mann. »Das ist sehr ermüdend.« »Tut mir leid. Bis ich hier fertig bin, müßt ihr euch damit abfinden. Inzwischen denken Sie vielleicht daran, daß ich gegen plötzliche Bewegungen allergisch bin und mit beiden Händen gleich gut treffe. Könnten die Knöpfe unten an der Konsole etwas mit der Stromzufuhr zu tun haben?« An der Wand hinter der Sendeanlage fand er acht dazu passende Kristalle. Er drückte gegen die Wand, klopfte sie ab, stieß mit dem Fuß dagegen, lehnte sich an sie. »Hier muß doch irgendwo eine Tür sein«, sagte er. Sie ging mit kräuselnder Bewegung so schnell auf, daß 111
er beinahe hindurchfiel. Er sprang zurück, um sein Gleichgewicht wiederzugewinnen, und starrte in den Raum dahinter. Er enthielt phantastische Dinge – ein Labyrinth aus dickem, kreuz und quer verlaufendem Kristall, um einen dunkel emporragenden Zylinder gewoben, der einer Zauberspinne glich. »Ah!« sagte er triumphierend. »Der Energieerzeuger?« Er brach ein langes Stück Kristall von der Dicke seines Armes heraus und warf es neben sich. Noch ein Stück. Ein drittes. Das letzte warf er schwungvoller als die beiden anderen, es drehte sich, prallte auf, fiel wieder zu Boden, plötzlich gab es einen Blitz, ein Donnern, und sengende Hitze breitete sich aus. Darzek, der von der Explosion durch den Raum geschleudert wurde, lag zwischen den fremdartigen Wesen, durch seine Verbrennungen in Agonie verkrampft, ohne etwas von den pulverisierten Bruchstücken der Wand zu spüren, die auf ihn herunterrieselten. 10 Am Samstag vormittag kamen Jean Morris und Ed Rucks triumphierend in Arnolds Büro. Perrin, der bedrückt den Mißerfolg seiner Nachforschungen meldete, zog sich aufs Sofa zurück, und Rucks zählte eifrig eine lange Reihe von Fotografien auf Arnolds Schreibtisch. »Das ist Miss X, wie sie am frühen Donnerstagvormittag New York auf dem Weg nach Brüssel verläßt«, sagte er. »Siebenundvierzig Minuten später verschwand sie, als sie angeblich von Brüssel nach Rom unterwegs war. Hier eine Stunde danach, beim Antritt der Reise von New York nach Brüssel, in anderer Maskerade. Bei dieser 112
Reise entdeckten wir sie in Brüssel. Hier ist Madame Z in zwei Masken, wie sie New York verläßt, um Brüssel zu erreichen. Am Mittwoch, den –« »Einen Augenblick«, sagte Arnold. »Miss X verschwand aus Brüssel und eine Stunde später verließ sie schon wieder New York?« »Richtig. Dasselbe gilt für Madame Z. Eine Stunde und zwanzig Minuten später.« »Und warum kam sie nach New York zurück?« »Um ihre Maskerade zu wechseln«, sagte Rucks. »Madame Z kann sich nicht so schnell umstellen wie Miss X. Die Fotos vom Mittwoch sind genauso interessant. An den beiden Tagen haben wir es mit achtmaligem Verschwinden zu tun, das entweder beobachtet oder fotografiert wurde, und fünfmal klappte es nicht beim ersten Versuch. Einmal sogar erst beim dritten.« »Und das heißt?« fragte Arnold, Jean Morris anstarrend. »Das heißt, daß Darzek recht hatte. Sie sind nicht hundertprozentig erfolgreich. Nicht einmal zu fünfzig Prozent.« »Mal sehen, ob ich es kapiert habe. Fünfmal ließen sich diese Frauen normal teleportieren, sie kamen nach New York zurück –« »Nach New York oder Brüssel.« »– kamen zum Startort zurück, kauften Billetts für dasselbe Ziel und verschwanden beim zweiten Versuch?« »Einmal gab es zwei Proben. Sie kam zweimal zurück und verschwand erst beim dritten Versuch. Das sind sechs Mißerfolge, gegenüber acht Erfolgen.« »In Wirklichkeit sind es acht Erfolge aus vierzehn Versuchen, also eine Erfolgsquote von über fünfzig Prozent. Aber das gilt nur, wenn wir annehmen, daß die 113
normalen Teleportationen Versuche waren, ebenfalls zu verschwinden. Das können wir aber nicht –« »Wer behauptet das?« brauste Rucks auf. »– außer als Arbeitshypothese, und ob uns das etwas nützt, steht noch nicht fest.« »Haben Sie eine bessere Erklärung?« Arnold schüttelte den Kopf. »Darzek sagte, das könne wichtig sein. Im Augenblick begreife ich das nicht, aber ich werde darüber nachdenken. Sie haben ausgezeichnete Arbeit geleistet, und ich hoffe, daß wir damit etwas anfangen können. Wissen Sie sonst noch etwas?« »Nicht sehr viel«, meinte Rucks. »Ich habe die Ermittlungen über die Direktoren eingestellt. Sie können die Unterlagen haben, wenn Sie sie wollen, aber es lohnt sich nicht, sie durchzulesen. Direktoren führen ein langweiliges Leben. Nicht einmal bei Grossman hat sich ein Hinweis darauf gefunden, daß er gegen euch gearbeitet hat. Brauchen Sie die Fotos?« »Behalten Sie sie. Ich hätte gern einen schriftlichen Bericht, zusammen mit den Fotos und allen wichtigen Informationen. Wenn Sie alles fertig haben, bringen Sie es Watkins persönlich, damit er es in sein Safe einschließt. Bitte keine Durchschläge, und bewahren Sie auch keine Notizen auf. Haben Sie unten eine Schreibmaschine? Nehmen Sie die meine. Ich brauche sie sowieso nicht.« »In Ordnung. Was sollen wir tun, wenn wir fertig sind? Herumsitzen und warten, bis wieder jemand verschwindet?« »Nein«, erwiderte Arnold. »Wenn Sie fertig sind, machen Sie sich auf die Suche nach Darzek.« »Soll das ein Witz sein? Wenn ich eine Ahnung ge114
habt hätte, wo ich anfangen soll, wäre ich längst hinter ihm her.« »Ich habe das Ganze schon mit Watkins besprochen. Er ist mit mir der Meinung, daß wir das Problem nie lösen werden, bis wir wissen, was mit Darzek geworden ist. Er wird dafür sorgen, daß Sie Geld bekommen und alles, was Sie sonst noch brauchen. Sprechen Sie mit ihm, wenn Sie ihm den Bericht bänden, dann machen Sie sich an die Arbeit.« »Sehr großzügig von euch beiden«, sagte Jean Morris bitter. »Ihr macht euch keine besonderen Sorgen um Jan, aber ihr wollt ihn suchen, weil ihr nicht wißt, was die Universal Teleport behindert, bis er gefunden ist.« »Wie kommen Sie auf die Idee, daß wir uns keine Sorgen machen?« »Ihr seid ja recht fröhlich.« »Ich weine nur, wenn ich allein bin. Bitte sehen Sie mich nicht so an, als sei ich eine unappetitliche Kröte. Ich habe Darzek ja schließlich nicht beiseitegeschafft.« Sie lächelte. »Nein. Wenn jemand die Schuld daran trägt, dann er selbst. Am besten wäre es wohl, in Brüssel mit der Suche anzufangen, nicht wahr? Wo könnten wir eine Stadtkarte von Brüssel bekommen?« »Ich denke da an etwas Nützlicheres«, sagte Ed Rucks und klemmte sich Arnolds Schreibmaschine unter den Arm. »Was denn?« »Einen Globus. Schreiben wir unseren Bericht.« Jean eilte zur Tür, drehte sich lächelnd noch einmal um und verschwand. Vom Sofa her sagte Perrin: »Eine entzückende junge Frau.« »Wo waren wir?« fragte Arnold. 115
»Woher soll ich das wissen? Sie können mir nicht einfach eine schöne Frau hinstellen und erwarten, daß ich weiterarbeite. Ich habe mir gerade gedacht, daß ich ein paar tausendmal durch die Sendeanlagen gegangen bin, bevor wir die Stationen in Betrieb nahmen, und nachher, und ich bin nicht ein einzigesmal verschwunden. Versuchen Sie mal, das logisch durchzudenken, und sagen Sie mir, was sich daraus ergibt.« »Das ist eine Idee«, sagte Arnold. »Was ist eine Idee?« »Alles logisch durchzudenken. Vergessen wir die wissenschaftlichen Theorien, die technischen Kenntnisse, und betrachten wir alles logisch. Wir haben von Leuten gesprochen, die verschwunden sind, aber wir wissen sehr gut, daß sie eben nicht verschwinden. Sie sind nur nicht dorthin gekommen, wo wir sie erwartet haben. Erste Frage: Wo sind sie wirklich gelandet?« »Das verstehen Sie unter Logik?« »Wenn wir auch nur einen Funken Verstand hätten, wären wir gleich so an die Sache herangegangen. Ich formuliere die Frage anders: Sie sind in einen Sender getreten. Wo kamen sie heraus?« Perrin starrte ihn an. »Wo mußten sie herauskommen?« sagte Arnold drängend. »Aus einem Empfänger. Aber hören Sie mal –« »Eins nach dem anderen. Wir wissen, daß sie nicht in einer von unseren Empfangsanlagen gelandet sind. Und was ergibt sich daraus?« »Genau das, was ich am Anfang schon gewußt habe: Sie mußten irgendwo herauskommen, aber sie blieben verschwunden.« Arnold schlug auf den Tisch. »In diesem Schlamassel 116
stecken wir von Anfang an. Wir wollten nur den zweiten Schritt nicht durchdenken. Passen Sie auf. Sie sind in einen Sender getreten. Sie mußten in einer Empfangsanlage herauskommen. Sie sind nicht in einem von unseren Empfängern gelandet. Weiter – was ist der nächste Schritt?« »Sie meinen – daß sie in einer fremden Empfangsanlage herausgekommen sind?« »Genau. Das klingt zwar unglaublich, aber jede andere Erklärung ist ausgeschlossen.« »Aber sonst hat doch niemand Sendeanlagen!« »Weiter.« »Ich versteh’ Sie nicht.« »Weiter«, sagte Arnold, »stellen Sie fest, was sich logisch daraus ergibt. Niemand sonst hat Sendeanlagen. Die verschwundenen Passagiere sind also nirgends herausgekommen. Deshalb – da wir wissen, daß sie nicht in unseren Anlagen herauskamen – gab es keine verschwundenen Passagiere. Da bleibe ich lieber bei meiner Überlegung. Die verschwundenen Passagiere mußten in den Empfangsanlagen anderer Leute auftauchen. Also muß irgend jemand solche Anlagen haben.« »Wer?« fragte Perrin. »Im Augenblick interessiere ich mich weniger dafür, als für die Frage, wo sie sie herhaben. Es bedürfte eines weit besseren Ingenieurs, als ich einer bin, als nach unseren Patentschriften eine Sendeanlage zu bauen. Die einzige andere Erklärung –« »Einer von unseren Leuten hat uns übers Ohr gehauen«, sagte Perrin. »Aber das glaube ich nicht.« »Ich auch nicht. Sie haben doch von Grossman gehört?« »Sicher. Es steht heute in allen Zeitungen. Er hat eine Viertelmillion Dollar geklaut, heißt es.« 117
»Ich frage mich, ob er noch etwas anderes gestohlen oder sich vielleicht die Pläne eine Weile ausgeliehen hat, um sie zu fotografieren. Es gibt viele reiche Unternehmen, die uns gerne bankrott gehen sehen würden. Die technischen Pläne könnten ihm noch eine Viertelmillion eingebracht haben.« »Dann nehmen Sie also an, daß jemand die Pläne gekauft, einen Sender gebaut und alle diese Versteckspiele inszeniert hat, in der Hoffnung, uns zur Aufgabe unseres Betriebs zu nötigen. Darzek kam ihnen auf die Schliche und demolierte ihre Anlage.« »Vermutlich.« »Und wie sieht der nächste logische Schritt aus? Warum hätte das Theater sonst so plötzlich aufgehört? Darzek zerstörte den Sender, und dafür hat man ihn umgelegt.« Arnold schnitt eine Grimasse. »Ich habe Darzek immer für unverwüstlich gehalten.« »Hoffentlich haben Sie recht. Hoffentlich wartet er nur darauf, ihren nächsten Sender zerstören zu können, weil im anderen Fall sofort wieder Passagiere verschwinden werden, sobald sie eine neue Anlage gebaut haben.« »Ich möchte gern ein Experiment riskieren«, sagte Arnold. »Ich möchte einen Sender auf zwei Empfangsanlagen einstellen und sehen, was dann geschieht.« Perrin starrte ihn an. »Zwei Empfangsanlagen?« »Das ist der nächste logische Schritt«, sagte Arnold prompt. »So müssen sie es gemacht haben. Sie stellten ihren geheimen Empfänger auf einen unserer Sender ein. Die Chancen standen genau fünfzig zu fünfzig, daß der Passagier statt in unserer Empfangsanlage in der ihrigen landete. Damit wären auch die erfolglosen Versuche er118
klärt, die Rucks festgestellt hat. Suchen Sie sich ein paar Leute aus und unternehmen Sie tausend Versuche. Ich werde den Chef bitten, daß Grossman unter Druck gesetzt wird. Vielleicht finden wir heraus, wem er die Pläne verkauft hat.« Die Büroräume waren am Samstagvormittag leer, nur Miss Shue machte Dienst und bewachte Watkins’ Tür. »Ein Mann hat Sie gesucht«, sagte sie zu Arnold. »Hat er Sie gefunden?« »Ich glaube nicht. Was für ein Mann?« »Ein Reporter. Ein Mr. Walker. Ich glaube, er wollte auf diesem Umweg zum Alten. Ich habe ihn hinuntergeschickt.« »Ausgezeichnet. Perrin wird ihn wieder heraufschicken, und mit ein bißchen Glück findet er mich überhaupt nicht. Ist der Chef zu sprechen?« »Für Sie ja. Gehen Sie nur ‘rein.« Drei Minuten später war Arnold einziger Zuschauer eines seltenen und völlig unerwarteten Ereignisses: Thomas J. Watkins verlor die Beherrschung. Er packte das Diktaphon auf seinem Schreibtisch und warf es auf den Boden. Dann trat er zweimal darauf und versetzte ihm einen Fußtritt. Dann setzte er sich reumütig hin und verbarg das Gesicht in den Händen. »Tut mir leid«, sagte er. »Das hätte ich nicht tun sollen. Den Gelddiebstahl kann ich noch verstehen. Theoretisch gibt es bei jedem Menschen eine Situation, wo er unter gewissen Umständen versucht ist, zu stehlen, aber die geheimen Unterlagen seiner eigenen Firma an einen Konkurrenten zu verkaufen, das ist wieder etwas ganz anderes. Sind Sie sicher, daß es Grossman war?« 119
»Ich weiß nur, daß es so gewesen sein muß. Als Täter kommen ein paar hundert Leute in Frage. Ich verdächtige Grossman, weil ein Direktor mehr Gelegenheit hatte als die meisten anderen, und weil er, soviel ich weiß, der einzige Gauner unter ihnen ist.« »Er bestreitet immer noch, etwas von Darzek zu wissen. Er hat uns angeboten, sich einem Lügendetektortest zu unterziehen. Wie wär’s, wenn ich den Staatsanwalt bitte, den Test durchzuführen und ein paar Fragen über diese andere –« »Ich bin dafür«, sagte Arnold. »Schaden kann es auf keinen Fall.« »Und der Test, den Sie vorhaben? Wird er uns weiterbringen?« »Er kann nur bestätigen, was wir schon wissen. Aber ich glaube, daß mir vielleicht etwas einfallen wird, womit sich die Einmischung von außen unterbinden läßt.« »Hoffentlich, Ted, aber das Problem ist damit nicht gelöst. Die verantwortlichen Leute werden sich eben etwas anderes ausdenken. Das Problem ist nicht gelöst, bis wir wissen, wer dahintersteckt, und gehörig dazwischenfunken.« »Vielleicht weiß Grossman Bescheid«, sagte Arnold. »Ich werde dafür sorgen, daß man ihn ausquetscht«, meinte Watkins grimmig. Ron Walker wartete im Vorzimmer, auf einer Ecke von Miss Shues Schreibtisch sitzend. »Hier ist mein Lieblingswissenschaftler«, sagte er und streckte die Hand aus. »Wie geht’s denn?« Arnold zog seine Hand weg. »Wenn Sie mich anpumpen wollen, empfehle ich Ihnen das Leihhaus an der Ecke bei Darzeks Büro.« 120
»Weil wir gerade von Darzek sprechen –« »Das tun wir nicht. Was wollen Sie?« »Informationen. Ein Interview.« »Ich kann Ihnen nichts sagen.« »Doch.« »Worüber denn?« Walker schlug sich an die Stirn und sah Miss Shue flehend an. »Ich bemühe mich jahrelang, meinen Lieblingswissenschaftler hochzupäppeln, jetzt kann ich ihn das erstemal brauchen, und er nimmt mich nicht ernst! ›Worüber?‹ Die ganze Welt will etwas über die Explosion auf dem Mond hören, und alle Wissenschaftler verkriechen sich in ihre Löcher.« »Ich weiß nichts vom Mond. Sprechen Sie mit einem Astronomen.« »Die Astronomen haben sich darauf geeinigt, den Mond nicht zu erwähnen.« »Gute Idee«, erwiderte Arnold. »Wenn ihr Reporter euch auch dazu entschließen könntet –« »Aber wir haben doch die Pflicht, die Öffentlichkeit zu informieren. Beantworten Sie mir nur ein paar Fragen – mehr verlange ich ja nicht.« »Wenn ich Sie damit loswerde – fragen Sie.« »Was hat die Explosion verursacht?« »Verstehen Sie das unter einer einfachen Frage? Woher, zum Teufel, soll ich das wissen? Ich habe nicht einmal die Zeitungen gelesen, geschweige denn einen wissenschaftlichen Bericht.« Arnold drehte sich verärgert um und ging zur Tür. Walker holte ihn ein und packte ihn am Arm. »Ach, seien Sie doch nicht so hartnäckig. Sagen Sie mir nur das eine – gibt es auf dem Mond Vulkane?« 121
»Ich weiß es nicht. Wenn der Mond Vulkane haben will, soll es mir recht sein. Wieso ist die Explosion darauf zurückzuführen?« »Na ja, zuerst nahmen alle Leute an, es handle sich um eine Atomexplosion. Die russische Regierung bestritt das, die unsere auch, und die Astronomen gaben ihnen schließlich recht. Bevor sie dazukamen, zu erklären, wofür sie es hielten, behauptete irgendein Kerl in Ägypten, der zufällig sein Amateurteleskop in die passende Richtung gedreht hatte, die Explosion habe einem Vulkanausbruch geglichen. Die Astronomen wurden sofort mucksmäuschenstill. Im Augenblick ist nur zu erfahren, daß – wie hieß es gleich – ›eine anscheinend bisher unbekannte Substanz‹ explodierte.« »Ich kann Ihnen nicht helfen«, sagte Arnold. »Ich kenne keine anscheinend bisher unbekannte Substanz. Warum schicken die Mondstationen niemand hinüber, um sich das anzusehen?« »Es ist zu weit. Unsere New Frontier City liegt noch am nächsten, aber in Luftlinie sind es immer noch fast tausend Kilometer, und dazwischen liegt recht schwieriges Gelände. Man ist für solche Reisen nicht ausgerüstet und selbst, wenn man es wäre, nähme die Fahrt Monate in Anspruch.« »Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, meinte Arnold, »warum interviewen Sie nicht Miss Shue? Ein entzückendes junges Ding wie sie weiß alles über den Mond.« Er kam gerade noch durch die Tür, um Miss Shues genau gezieltem Briefbeschwerer zu entgehen. Perrin hatte die Testserie bereits eingeleitet, als er sein Büro erreichte. »Es läuft grobgesprochen auf fifty-fifty hinaus«, sagte er. »Um genau zu sein: siebenundachtzig zu hundertund122
vier. Hundertundfünf«, korrigierte er, als ein gelangweilter Ingenieur aus einer Empfangsanlage trat und das Ergebnis auf einer Tafel notierte. »Die Doppelgängerstation hatte zuerst einen Vorsprung, aber jetzt ist sie schon zurückgefallen. Wir schalten sie bei jedem Versuch eigens ein, was die anderen auch getan haben müssen, sonst hätten sie statt ihrer eigenen Leute arglose Passagiere erwischt.« »Gute Idee«, sagte Arnold. »Das bringt uns auf eine interessante Frage. Sie müssen über ein wirksames Verständigungsmittel verfügt haben, wenn es ihnen gelungen ist, sich immer gerade dann einzuschalten, sobald ihre eigenen Leute durch einen Sender traten. Anschließend müssen sie immer gleich abgeschaltet haben. Eine Absprache allein hätte nicht genügt, weil niemand genau voraussagen konnte, wann eigentlich ein bestimmter Passagier das Drehkreuz erreichte. Könnte man von einer Station aus ein kleines Kofferradio durchbringen?« »Ich wüßte nicht, warum nicht. Sagen wir, ein sehr kleines Radio, weil es niemand aufgefallen ist.« »Das bedeutet, daß es keine sehr große Reichweite gehabt haben kann. Wenn wir Darzek suchen, müßten wir in der Station Brüssel anfangen.« »Ich sage Ed Rucks Bescheid, obwohl ich glaube, daß er so etwas Ähnliches schon vorhat.« »Wir hätten uns schon am Donnerstag bemühen müssen«, meinte Perrin. »Jetzt –« »Ich weiß. Jetzt kann er sein, wo der Pfeffer wächst.« 11 Das nächste, was Darzek wieder bewußt wahrnahm, war, daß ihm ein weicher Schlauch sanft in den Mund ge123
schoben wurde. Eine Weile war er es zufrieden, die Anwesenheit des Gegenstandes mißbilligend zu registrieren, die merkwürdige rauhe Oberfläche mit der Zunge zu betasten und ein paarmal zu versuchen, sich loszureißen. Dann fiel ihm ein, daß ein Schlauch Nahrung oder Getränk bedeuten konnte. Er sog vorsichtig daran und spuckte die klebrige Flüssigkeit, die in seinen Mund tropfte, sofort aus. Sie war lauwarm, ihre Schärfe trieb ihm Tränen in die Augen, und der Geschmack erinnerte eher an Benzin als an eine für die menschliche Ernährung gedachte Substanz. Der Schlauch wurde ihm wieder angeboten und er wies ihn mit zusammengebissenen Zähnen ab. Er spürte, daß ihm Kraft zuwuchs, und versuchte sich aufzusetzen und die Augen zu öffnen. In einem Anflug von Panik kratzte er an seinem Gesicht. Seine Augen waren verbunden, sein Kopf, seine Hände, und soviel er feststellen konnte, war sein ganzer Körper in weiche, elastische Gaze verpackt. Er sank hilflos zurück. Als ihm der Schlauch wieder angeboten wurde, nahm er ihn an und schluckte, soviel hinunterging. Er murmelte durch die Bandagen: »Orangensaft ist besser. Wo sind wir?« »In der Versorgungskapsel«, sagte eine Stimme. »Moment mal«, murmelte Darzek. »Da waren ein paar Wesen, Miss X, Madame Z und ein junger Mann – das waren Sie. Seid ihr alle unverletzt durchgekommen?« »O ja. Uns ist nichts passiert.« »Versorgungskapsel.« Er dachte eine Weile nach. »Das metallene Ding in der Ecke, wo es – sie – das Material für die Erste Hilfe holte, nachdem ich Miss X angeschossen hatte?« »Miss X? Ich verstehe Ihre Ausdrücke nicht ganz. Ja, das ist die Versorgungskapsel.« 124
»Bei der Explosion hat es meine Augen erwischt, nehme ich an?« »Ich glaube nicht. Ihre Lider sind stark angesengt, also dürften Sie Ihre Augen gerade rechtzeitig geschlossen haben. Sie haben Brandwunden am Kopf, an den Armen und Händen und am Rumpf. Wir mußten den Rest Ihrer Haare abschneiden, aber Sie werden sich bald erholt haben, abgesehen vielleicht von Ihrem Haar. Wir wissen nicht, wie lange es dauert, bis das Haar nachgewachsen sein wird. Die Frage hat sich bisher nie gestellt, und wir haben auch nichts in unseren Unterlagen gefunden.« »Es wird lange dauern, fürchte ich«, sagte Darzek. »Für mich hat sich die Frage bisher auch nicht gestellt.« »Ich habe mich oft gefragt, ob dieser unglückliche tierische Überrest auch Unannehmlichkeiten mit sich bringt.« »Ihr Englisch ist wirklich zu loben«, sagte Darzek. »Es ist makellos, abgesehen von ein paar raffinierten Untertönen, die mir vielleicht nicht auffallen würden, wenn mich die Binde vor den Augen nicht zwänge, mich aufs Hören zu konzentrieren. Wo haben Sie es gelernt?« Er bekam keine Antwort. »Sind Sie sicher, daß meinen Augen nichts passiert ist?« fragte Darzek. »Wir haben sie auf alle Fälle behandelt, aber ich glaube nicht, daß sie beschädigt sind.« »Warum habe ich das Bewußtsein verloren?« »Irgend etwas hat Sie am Kopf getroffen, glaube ich.« »Sehr freundlich von Ihnen, sich um mich zu kümmern, unter den gegebenen Umständen.« »Sie hätten es nicht tun sollen«, sagte die Stimme. Bedeutete der ansteigende Tonfall Zorn? »*** wird Ihnen nie verzeihen.« 125
»Wer?« Er wiederholte das Wort, einen völlig unverständlichen Laut. »Unsere Gruppenleiterin und erste Technikerin«, fügte er hinzu. »Ist das die Person, die Miss X’ Arm behandelt hat?« Nach einer langen Pause: »Ja.« »Wie war der Name?« Darzek versuchte ihn zu wiederholen, aber es gelang ihm nicht. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht«, sagte er, »werde ich sie Alice nennen.« »Mir macht’s nichts aus, aber ihr vielleicht.« »Alice ist ein sehr respektabler Name. Ich hatte eine Tante namens Alice. Übrigens, was ist eigentlich passiert?« »Unsere Energieanlage explodierte. Sie hätten das nicht tun sollen.« Wieder der ansteigende Ton. »Ich muß zugeben, daß ich das eigentlich nicht vorhatte«, meinte Darzek. »Was hab’ ich gemacht?« »Ich versteh’ es selbst nicht ganz. Es hätte eigentlich nicht passieren dürfen. Wir haben viele Sicherheitsvorkehrungen, aber das, was Sie getan haben, war ja nicht vorherzusehen.« »Weil ich etwas in die Anlage geworfen habe, gab es einen Kurzschluß?« sagte Darzek. »Vielleicht. In Ihrer Terminologie war es etwas Ähnliches, als hätte man den Kurzschluß durch einen Transformator laufen lassen. Die Wirkung verstärkte sich immens.« »Kann man wohl sagen. Sie haben recht, ich hätte das nicht tun sollen.« »Völlig unzivilisiertes Benehmen«, sagte die Stimme. »Das Eigentum anderer zerstören –« Darzek setzte sich auf. 126
»Moment mal! Wer hat denn die Geräte der Universal Teleport zerstört? War das vielleicht zivilisiertes Benehmen?« »Das läßt sich nicht miteinander vergleichen«, erklärte die Stimme. »Sie verstehen das natürlich nicht.« »Ich glaube nicht, daß ich dazu in der Lage wäre. Vandalismus ist Vandalismus, gleichgültig, wem die Sachen gehören und wer sie zerstört. Lassen wir das. Ich scheine mich zu erinnern, daß das Dach abgehoben wurde, und wenn wir uns auf dem Mond befinden, wie jemand behauptet hat, müssen Sie mein Leben gerettet haben, als Sie mich hier hereinzerrten – abgesehen davon, daß Sie meine Verbrennungen behandelt haben. Dafür bedanke ich mich. Ich werde mich auch bei den anderen bedanken, sobald ich Gelegenheit dazu habe.« Die Stimme bewies unübertreffliche Bescheidenheit, indem sie stumm blieb. Darzek reckte sich, prüfte die wunderbare Weichheit des Bettes, auf dem er lag, und streckte sich zufrieden aus. Dabei entdeckte er, daß die Versorgungskapsel nicht als Schlafgelegenheit gedacht war. Seine Füße stießen gegen etwas Festes, und als er es nach oben schob, um mehr Platz zu finden, passierte ihm mit dem Kopf dasselbe. Aber trotzdem war die Bequemlichkeit seines Bettes ideal. »So eine Matratze möchte ich mir kaufen«, sagte er. »Das ist nur eine Schlafunterlage.« »Ich möchte trotzdem eine kaufen. Ich habe so etwas Angenehmes noch nie gesehen.« »Auf der Erde wäre es nicht so komfortabel. Sie wiegen ja dort viel mehr.« »Spielverderber! Eines Tages werden die Leute vielleicht zum Mond fahren, um sich einmal richtig auszuschlafen. Woher kommt ihr?« 127
»Ich bin nicht ermächtigt, Ihnen das zu sagen, obwohl ich nicht glaube, daß Sie etwas damit anfangen könnten.« »Wahrscheinlich nicht. Ich würde Ihren Namen für Ihr Zuhause nicht erkennen, und wenn unsere Astronomen eine Bezeichnung dafür haben, bedeutet das immer noch nichts für mich. Wenn es außerhalb des Solarsystems ist, heißt das. Nun?« Es blieb lange Zeit still. »Es kann nicht schaden, Ihnen das zu sagen«, erklärte die Stimme. »Ja. Mein Zuhause ist außerhalb Ihres Sonnensystems. Wollen Sie noch etwas zu essen?« »Nein, vielen Dank. Mein Magen hat sich noch nicht ganz entschieden, was er mit dem Zeug anfangen soll, das ich schon geschluckt habe.« »Dann schlage ich vor, daß Sie sich ausruhen.« Darzek wollte protestieren, daß er ja eben erst erwacht sei, aber er bekam keine Antwort. Als er sich davon überzeugt hatte, daß er alleine war, untersuchte er seine Wunden so gründlich, wie es die bandagierten Hände zuließen. Er hatte keine Schmerzen – Gesicht und Kopf fühlten sich lediglich etwas empfindlich an. Nach einer Weile schlief er ein, weil ihm nichts anderes zu tun übrig blieb. Dann folgte eine langweilige Zeit, in der er ausruhte, Nahrung zu sich nahm, schlief. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren, so daß er nicht einmal zu schätzen vermochte, welcher Tag jetzt war. Das Ganze hatte an einem Donnerstag – einem Donnerstagvormittag – angefangen, erinnerte er sich unablässig. Donnerstagvormittag in New York, und beinahe Mittag in Brüssel. Er überlegte, welche Zeit das auf dem Mond gewesen sein mochte, und konnte sich so eine Stunde lang beschäftigen – oder vielleicht auch nur ein paar Minuten. 128
Der junge Mann kümmerte sich gewissenhaft um ihn, aber Darzek konnte ihn in kein Gespräch mehr ziehen. Seine Erklärungen waren so unverbindlich, und er wich Darzeks Fragen so verlegen aus, daß Darzek das Gefühl hatte, er werde von Gewissensbissen wegen der bescheidenen Vertraulichkeit ihres ersten Gesprächs verfolgt. Schließlich kam der Augenblick zur Entfernung seiner Verbände. Alle fünf Wesen versammelten sich um ihn. Die Gazestreifen wurden fachmännisch der Reihe nach abgenommen, und der junge Mann erklärte nebenbei die Ergebnisse. Er konnte eine ausgezeichnete Wundheilung verzeichnen. Nein, Narben gab es nicht. So schwer sei er nicht verbrannt gewesen. Im Hintergrund hörte er das gedämpfte Zischen und Summen der fremden Sprache. Der Verband vor seinen Augen blieb bis zuletzt. Er wurde endlich abgenommen, und sein Blick fiel auf strahlendes Weiß, das ihn zwang, die Augen abzuschirmen. Sie gewöhnten sich bald an das Licht, und die Helligkeit verblaßte zu dem sanftschimmernden Material, das die gewölbten Wände des Raumes bedeckt hatte, der durch die Explosion zerstört worden war. Er blinzelte ein paarmal, und als er in die Gesichter der Fremden sah, wandten sie sich alle fünf ab und wichen seinem Blick aus. An seinem Gesicht mußte sein Erstaunen abzulesen gewesen sein. Einer von ihnen sagte: »Wir hielten es nicht für zweckmäßig, die Illusion aufrechtzuerhalten. Und so fühlen wir uns wohler.« »Durchaus verständlich«, sagte Darzek, und dachte, daß es ihm schwerfallen würde, sie auseinanderzuhalten. Drei hatten sich verwandelt; jetzt waren sie alle fremde 129
Wesen, die aus unheimlichen, ausdruckslosen Gesichtern auf ihn herniederstarrten. Die ersten beiden Wesen waren nicht zu verwechseln. Sie waren über einen halben Meter größer und viel breiter. Die drei, die in menschlicher Maske aufgetreten waren, waren jetzt Wesen von geringerer Größe. »Welcher von Ihnen ist – war – der junge Mann?« »Wir sind alle drei Männer«, war die Antwort. »Sie meinen Miss X und Madame Z –« Er starrte sie ungläubig an. »Ihr seid alle drei Männer«, wiederholte er langsam. »Na ja, ihr müßt es ja wissen. Auf der Erde wären viele Männer entsetzt. Ihr habt euch ganz schön maskiert.« »Es scheint zur Zufriedenheit ausgefallen zu sein.« »Und die andern beiden sind Frauen. Es wird eine Weile dauern, bis ich mich daran gewöhnt habe, aber es mag ja viel praktischer sein als das, was wir Menschen erreicht haben. Übrigens möchte ich Ihnen danken, daß Sie mir das Leben gerettet haben.« »Wir haben Ihnen nicht das Leben gerettet«, sagte einer der Männer. Darzek fragte sich, ob der Tonfall seiner Stimme eine Drohung andeutete oder ob nur wieder ihre angeborene Bescheidenheit durchdrang. »Auf jeden Fall habt ihr mich hierhergebracht und meine Verletzungen behandelt«, meinte Darzek. »Das hat Ihnen leider das Leben nicht gerettet. Als Sie unsere Energieanlage zerstörten, wurden auch unsere Luftreserven verbraucht. Wir haben keine Möglichkeit, sie zu erneuern. Wir haben auch keine Möglichkeit, Ihren Planeten zu erreichen, um sicher zu sein. Wir können uns nicht einmal mit unseren Leuten in Verbindung setzen.« 130
»Mit anderen Worten«, sagte Darzek, »durch meine Schuld sitzen wir jetzt in der Patsche.« »Allerdings. Sie werden also einsehen, daß wir Ihnen nicht das Leben gerettet haben. Wir haben es nur verlängert und Ihnen Schmerzen erspart. Wir würden es gerne retten, wenn wir könnten, aber es geht nicht. In der Kapsel haben wir nur sehr wenig Luft. Sie wird bald verbraucht sein, dann müssen wir alle sterben.« »Sehr bald«, sagte der zweite Mann, und der dritte wiederholte: »Sehr bald.« Die fünf Gesichter sahen an Darzek vorbei. Er hätte viel gegeben, um zu erfahren, ob diese rätselhaft ausdruckslosen Gesichter Wut, Verachtung oder Mordlust verbargen, oder ob – ein weitaus schrecklicherer Gedanke – ihre Gefühle ebenso leer waren wie ihre Gesichter. 12 Sobald Darzek sich wieder bewegen und sehen konnte, fand er sich zwei Problemen gegenübergestellt. Das erste hatte er sich selbst zu verdanken. Es gelang ihm bald, geringe Unterschiede in der Größe und in den Gesichtsabmessungen der fremden Wesen zu entdecken, aber er konnte ihre Namen nicht aussprechen. Nachdem er längere Zeit versucht hatte, die seltsamen Laute hervorzustoßen, entschloß er sich, sie mit selbstgewählten Namen zu belegen. Das eine weibliche Wesen hatte er bereits Alice getauft. Er gab dem anderen den Namen Gwendolyn. Miss X wurde zu Mr. X, und dann, weil die darin enthaltene Förmlichkeit ihm lächerlich erschien, Xerxes. Madame Z wurde auf diese Weise schnell zu Zachary. Es schien nur logisch zu sein, dem dritten männlichen Wesen den Na131
men Ypsilon zu geben, was Darzek auch tat, bis ihm ein männlicher Name mit Ypsilon einfiel, worauf er das Ypsilon durch Ysaye ersetzte. Alice, Gwendolyn, Xerxes, Ysaye und Zachary. Die fremden Wesen selbst hätten es nicht besser machen können, dachte Darzek, wenn man davon absah, daß ›Alice‹ ein bißchen zu einfach, zu erdenhaft für diese nichtmenschliche Physiognomie erschien. Er besprach sich mit Zachary. »Glauben Sie, daß es Alice etwas ausmacht, wenn ich sie Alithia nenne?« »Ich werde sie fragen«, sagte Zachary. Er stieg die Leiter hinauf, und Darzek folgte ihm. Die Versorgungskapsel war ein großer Zylinder, dessen Wandung auf geschickte Weise für die Lagerung von Ausrüstungsgegenständen genützt wurde. Es gab tiefe, drehbare Behälter, Schubladen, die sich aufklappen ließen, Schränke mit Türen, die sich mit der Präzision und Geschwindigkeit eines Reißverschlusses kräuselnd seitwärts oder nach unten öffneten. Die Kapsel war in vier Sektoren aufgeteilt, jeder durchschnittlich drei Meter hoch, von oben bis unten lief eine Leiter durch, in kreisrunde Öffnungen der Wände eingeschnitten. Alice und Xerxes hatten sich im obersten Sektor niedergelassen. Zachary stellte die Frage für Darzek und sprach die Namen Alice und Alithia fehlerlos aus. Alice, die weder Englisch noch eine andere Erdensprache beherrschte, wiederholte sie mit gleicher Präzision. Es gab eine Diskussion, die Darzek interessiert verfolgte. Er hatte nicht begreifen können, ob seine Entschlossenheit, die fremden Wesen mit Namen zu belegen, sie erstaunte oder gleichgültig ließ. Sie reagierten sofort, 132
wenn er sie beim Namen rief, verwendeten sie aber nicht untereinander. »Sie möchte wissen, warum?« sagte Zachary schließlich. »Der Name scheint besser für sie zu passen«, meinte Darzek. »Wie ist das möglich? Ist ein Name nicht nur ein Etikett?« »Keineswegs«, erwiderte Darzek. »Namen haben Sinn, und auch der Wohlklang ist von Bedeutung.« »Was bedeuten diese Namen?« Darzek dachte angestrengt nach. »Ich kann mich nicht erinnern«, gab er zu. »Aber warum haben Sie sie zuerst Alice genannt, wenn der Name nicht paßte?« »Er fiel mir eben gerade so ein.« Man diskutierte wieder eine Weile, dann verkündete Zachary: »Sie sagt, daß Sie sie nennen können, wie Sie wollen.« »Danke«, sagte Darzek. »Aber wenn ich’s mir recht überlege, bleibe ich doch lieber bei Alice. Ich hab’ gehört, daß es Pech bringt, einen Namen zu wechseln.« Er stieg lachend die Leiter hinunter, während über ihm der Sinn seiner letzten Bemerkung debattiert wurde. Er hatte den fremden Wesen Stoff zum Nachdenken gegeben. Es schien ihm, als brauchten sie das. Das zweite Problem bestand darin, daß er sich nicht anziehen konnte. Sein erster Eindruck mit der Binde vor den Augen, daß sein ganzer Körper in Bandagen eingehüllt war, erwies sich als zutreffend – weil die Kleidung der Wesen nur aus Bandagen bestand. Breite Streifen elastischen Stoffes wurden der Reihe nach um die Beine, den Rumpf und die Arme gewunden. Wenn das richtig 133
gemacht wurde, fühlte man sich warm und bequem, außerdem verfügte man über eine erstaunliche Bewegungsfreiheit. Darzek erinnerte sich an die elastischen Strümpfe und Bandagen, wie man sie für medizinische Zwecke zu verordnen pflegte, und fragte sich, ob diese seltsame Bekleidung auch therapeutische Qualitäten besaß. Seine verbrannte Kleidung war beseitigt worden, aber man hatte seine ganze Habe säuberlich in einem kleinen Behälter seines Quartiers untergebracht, im untersten Sektor der Kapsel. Dort fand er alles, was in seinen Taschen gewesen war, Paß, Taschenmesser, Zigarettenetui, Feuerzeug, Füllfederhalter, Bleistift, Notizbuch, Fotos von Miss X und Madame Z in verschiedenen Verkleidungen und sein Schulterhalfter mit der Pistole. »Das geben Sie mir zurück?« rief er. »Warum nicht?« sagte Zachary. »Es gehört doch Ihnen.« »Jetzt kann ich wohl nicht mehr viel damit anfangen.« »Das glaub’ ich auch«, sagte Zachary, aber Darzek vermochte nicht zu entscheiden, ob er das aus Ironie oder aus Höflichkeit sagte. Nachdem er für die fremden Wesen Namen gefunden und gelernt hatte, sich zu kleiden, sah sich Darzek der schlimmsten Prüfung seines ganzen Lebens gegenüber. Er hatte nichts zu tun, und trotzdem lehnte er es ab, sich von der Tatsache seines bevorstehenden Todes schrecken zu lassen. Die fremden Wesen waren verängstigt. Sie bemühten sich auf höfliche Weise, Darzek zu ignorieren, als er fröhlich in ihr Quartier eindrang. Sie zogen sich immer mehr zurück. Zuerst nahm er an, sie seien schlecht auf ihn zu sprechen, weil er das Unglück verschuldet hatte. Er brauchte einige Zeit, bis er dahinterkam, daß sie schlicht und einfach Angst hatten. 134
Alice und Xerxes saßen einander im beengten Raum des oberen Sektors gegenüber, den Blick auf irgendeinen Gegenstand oder Gedanken jenseits vieler Lichtjahre gerichtet, und Alice sang. Die Melodie stieg und fiel, unterbrochen von zischenden Geräuschen, und Darzek empfand sie in Augenblicken kritischer Toleranz nur ein bißchen weniger musikalisch als eine Sirene. Gwendolyn, Ysaye und Zachary zwängten sich in den Sektor darunter und vertieften sich in ein Spiel – ein Spiel, das Darzek nach längerer Beobachtung von der Leiter aus für eine besonders langweilige Art von Schach, begleitet von Halluzinationen, hielt. Es war ein vierdimensionales Spiel ohne Brett. Die groteskgeformten Figuren bewegten sich mit Hilfe verschieden großer Blöcke auf verschiedenen Ebenen. Die Züge hingen nicht nur von der jeweiligen Stellung, sondern auch von der Gesamtzahl der bisher angefallenen Züge ab. Darzeks erster Versuch, das Spiel zu begreifen, war zugleich sein letzter. Es fiel ihm schwer, seine Überzeugung bestätigt zu finden, daß die fremden Wesen in lähmende Hysterie verfallen waren. Ihre ausdruckslosen Gesichter gaben keinen Hinweis. Er kam bald dahinter, daß man um so mehr ihren Stimmen entnehmen konnte, was sie fühlten, denn als sich sein Gehör darauf eingestellt hatte, wurde ihm klar, daß ihre Sprechweise sogar im Englischen mit erstaunlichen Nuancen durchsetzt war. Er hatte, unglücklicherweise, keine Möglichkeit, zu entscheiden, was die Nuancen und Betonungen bedeuteten –, obwohl er sich ins Gedächtnis rief, daß es ihm bei Veränderungen in den Gesichtszügen nicht anders ergangen wäre. Ein Lächeln im Gesicht eines nichtmenschlichen Wesens konnte ja ebenso gut grimmigen Zorn wie tödliche Beleidigung bedeuten. 135
Das unerklärliche Bewußtsein eines allgemeinen und umfassenden Angstgefühls ließ sich nicht vertreiben. Auch er wurde nervös, nicht vor dem herannahenden Tod, sondern angesichts der Reaktion der fremden Wesen. Seine Armbanduhr war stehengeblieben, während er die Binde vor den Augen gehabt hatte. Als er sich bemühte, sie wieder richtig einzustellen, wurden alle seine Fragen nach der Zeit höflich abgewehrt. Schließlich legte er die Uhr zu seinen anderen Sachen in den Behälter. Warum sich über die Stunde Gedanken machen, fragte er sich, wenn man nicht einmal weiß, welcher Tag heute ist? Aber die Stunden, um die man sich zu sorgen hatte, waren endlos. Eine Weile befaßte er sich angestrengt mit Nebensächlichkeiten. Er hüpfte auf seinem Bett auf und ab und machte sich Gedanken über die Zusammensetzung des glatten Stoffes und des weichen, federnden Materials, das er umspannte. Er rührte bis auf den Behälter, in dem sich seine Sachen befanden, nichts an, weil er das Gefühl hatte, daß die fremden Wesen ihn sonst für einen gänzlich hoffnungslosen Barbaren halten würden, aber es gab gefensterte Schränke, deren Öffnungen mit einem unsichtbaren, unglaublich widerstandsfähigen Film bedeckt waren, und wenn er alleine war, starrte er hinein und wunderte sich über den Inhalt. Er rätselte lange an der Leiter herum, die aus Metall oder einem metallähnlichen Material bestand und bis auf die ungewöhnliche Breite und den Abstand der Stufen recht unauffällig war. Sie wirkte in der mit äußerster Raffinesse zusammengestellten Kapsel ziemlich primitiv. Er entschied, daß es keine bessere Methode gab, alle Teile der Kapsel auf bequemere Weise zugänglich zu machen. 136
Gwendolyn und Zachary waren offenbar Meister des Spiels, mit dem sie sich die Zeit vertrieben, während Ysaye es erst zu lernen schien. Er wurde schon nach wenigen Zügen jeweils eliminiert, und ab und zu kam er hinunter und unterhielt sich mit Darzek, während Gwendolyn und Zachary sich in die komplizierten Dimensionen ihres Spiels zurückzogen. Im Hintergrund ertönte unaufhörlich Alices Gesang. »Ich habe mich über die Luft gewundert«, sagte Darzek zu Ysaye. »Stammt die von Ihrem Heimatplaneten?« »Ja.« »Das heißt also, daß ich wahrscheinlich der erste Mensch bin, der die Luft einer anderen Welt atmet. Ich weiß nicht, ob das ein Vorzug ist oder nicht, aber ich finde sie angenehm.« »Es tut ihr nur nicht gut, wenn sie so lange gespeichert wird.« »Wirklich? Ich finde sie erfrischend.« »Sie enthält viel mehr Sauerstoff als eure Luft.« Darzek fühlte sich körperlich so wohl, daß ihm die Untätigkeit unerträglich wurde. Zuerst beschäftigte er sich mit bescheidenen Freiübungen, die der knappe Raum an der Leiter zuließ. Dann begann er, weil ihm nichts anderes einfiel, zu springen. Er benützte die Leiter nur als Richtungsweiser und vermochte mit einem Sprung durch die Öffnung zum nächsthöheren Sektor vorzudringen. Begeistert ließ er sich zurückfallen und sprang wieder hoch. Er überlegte sich, ob er mit einiger Übung die beiden unteren Sektoren durchspringen und das Spiel im dritten Abteil stören konnte. Dann kam Ysaye heruntergeklettert. »*** sagt –« . »Wer?« »***.« 137
»Alice?« »Ja. Sie sagt, daß Sie durch diese Anstrengung zuviel Luft verbrauchen.« »Gute Idee«, sagte Darzek. »Warum machen wir das nicht alle, damit es schneller geht?« Es war ihm zum erstenmal gelungen, eines der fremden Wesen aus der Ruhe zu bringen. Zweimal öffnete Ysaye den Mund, aber er klappte ihn wieder zu, ohne etwas gesagt zu haben. Darzek gab seine Gymnastik resigniert auf. Ysaye war unter den fremden Wesen der Einsame, der Außenseiter. Darzek hatte sehr viel Mitgefühl für ihn und fühlte sich sehr bald zu ihm hingezogen. Ihre Gespräche wurden häufiger und länger. »Mich wundert nur eines«, sagte Ysaye. »Was denn?« fragte Darzek. »Warum hat die Universal Teleport ihre Sender nicht außer Betrieb gesetzt, als so viele Passagiere nicht ans Ziel gelangten?« »Eine interessante Frage«, meinte Darzek. Er genoß die letzten zwei Zentimeter einer seiner strikt rationierten Zigaretten und ließ sich Zeit für die Antwort. »Tatsache war ja«, fuhr er fort, »daß es keine Passagiere gab, die ihr Ziel nicht erreichten.« »Das verstehe ich nicht«, sagte Ysaye. »Ich könnte das sehr leicht erklären, aber ich weiß nicht recht, ob ich es tun soll.« »Warum nicht?« »Ihr lehnt es ab, meine Fragen zu beantworten. Warum soll ich euch Rede und Antwort stehen?« »Was habe ich zu beantworten abgelehnt?« »Warum ihr versucht habt, die Universal Teleport zu sabotieren.« 138
Bevor Ysaye etwas erwidern konnte, holte ihn Gwendolyn zu einem neuen Spiel. Als er wieder erschien, setzte er das Gespräch dort fort, wo sie es unterbrochen hatten. Offenbar hatte er sich Gedanken über Darzeks Bemerkung gemacht. »Meinen Sie, daß Sie uns sagen würden, was wir von Ihnen wissen wollen, wenn wir Ihnen erzählen, was Sie interessiert?« »So genau hab’ ich mir das nicht überlegt, aber das halte ich für einen gerechten Austausch.« »Zuerst muß ich *** fragen.« »Wen?« »*** «, sagte er und stieg die Leiter hinauf. »Sie meinen wieder Alice?« »Ja.« Der Gesang im obersten Abteil brach ab und wurde nach kurzer Pause wieder aufgenommen. Ysaye kam langsam wieder heruntergeklettert. »Sie sagt nein«, erklärte er. »Schade. Wir hätten uns angenehm unterhalten können.« »Ich verstehe nicht, warum Sie uns nichts sagen wollen, wenn wir sowieso sterben müssen.« »Dasselbe habe ich mir auch gedacht. Wieviel Zeit bleibt uns noch?« »Das weiß ich nicht«, sagte Ysaye. »Ich nehme an, daß *** es weiß, aber sie will es uns nicht sagen. Sie hält es für das Beste, wenn wir es nicht wissen.« »Ganz abgesehen davon, finde ich, daß ich ein viel größeres Risiko eingehen würde. Früher oder später wird man euch suchen. Was hindert euch daran, schriftlich zu hinterlassen, was ich gesagt habe? Eure Nachfolger würden zweifellos einen Weg finden, diese Informationen zu 139
ihrem Nutzen anzuwenden. Es gibt aber für mich keine Möglichkeit, meine Leute zu verständigen – oder doch?« »Ich glaube nicht«, meinte Ysaye. »Selbst wenn wir uns in der Nähe einer der Mondstationen befänden, bezweifle ich, daß diese Kapsel wie ein weher Daumen hervorsteht.« »Wie ein weher Daumen«, wiederholte Ysaye. Er sprach das letzte Wort aus, als sei er erstaunt. »Sie ist im Fels eingelassen, und wir sind sehr weit von Ihren Mondstationen entfernt.« »Genau das meine ich. Meine Leute könnten sie nicht einmal finden, wenn sie danach suchten. Was kann es also schaden, wenn wir uns einiges anvertrauen?« »Das verstehen Sie nicht. Wir müssen uns an unseren Kodex halten. Wir haben geschworen, ihn zu befolgen. Ich dürfte nicht einmal so viel mit Ihnen sprechen. *** meint, daß wir Ihnen schon zuviel gesagt haben.« »Oder daß ich zuviel herausgefunden habe?« meinte Darzek. »Wirklich schade. Die Zeit vergeht sehr langsam. Ich habe schon ein- oder zweimal dem Tod gegenübergestanden, aber da ging alles so schnell, daß ich keine Zeit hatte, darüber nachzudenken. Wie ist es denn, wenn man erstickt?« Er beobachtete Ysaye genau. Die merkwürdig konkaven Gesichtszüge erweckten nur den Eindruck einer ungeheuren, kalten Gleichgültigkeit. Sie warteten, Stunde um Stunde, auf eine Zeit, in der sie nur noch mühsam atmen würden, in der sie sich oben in der Kapsel zusammendrängen würden, wo die Luft am frischesten war, vielleicht auch unten – Darzek überlegte ein paar Stunden lang, wo sich die Luft wohl sammelte –, um dann keuchend die letzten Spuren von Sauerstoff in sich aufzunehmen und zu sterben. Würden sie am Ende 140
wenigstens bewußtlos werden? Auch das war ein Thema für nachdenkliche Stunden. »Es ist ein bißchen so, als liefe eine Uhr ab«, sagte Darzek zu Ysaye. »Jeder Atemzug, jedes Ticken bringt uns dem Ende näher.« Und von Zeit zu Zeit ertappte er sich dabei, daß er vor sich hinmurmelte: »Tick … tack … tick … tack.« Ysaye war nicht amüsiert. Alice sang, solange sie wach war, und Xerxes lauschte stumm, wenn Darzek auch nicht entscheiden konnte, ob er sie bewunderte oder nur seiner Verzweiflung nachgab. Gwendolyn und Zachary spielten unablässig und kultivierten ihren Appetit. Ihre Aufnahmefähigkeit für Nahrung war staunenswert. »Wir werden nichts mehr zu essen haben, bevor uns die Luft ausgeht«, sagte Darzek zu Ysaye, der pflichteifrig als Koch und Kellner fungierte. »Wir haben genug Nahrung – für Monate«, erwiderte Ysaye. »Wenn wir nichts mehr zu essen haben, ist das jedenfalls nicht meine Schuld«, sagte Darzek. Er aß nicht mehr, als unbedingt nötig war, um sich aufrecht zu halten, und schon das war ein Triumph der Willenskraft und Selbstbeherrschung. Die Nahrung gab es in einer Vielfalt von Farben und Geschmacksrichtungen, wie Darzek vermutet, obwohl es ihm schwerfiel, sie voneinander zu unterscheiden. Sie konnte auf jede gewünschte Temperatur gebracht werden, und man servierte sie in tiefen, dreieckigen Schalen, manchmal als dicke Suppe, mit einem Röhrchen eingesogen, aber die meiste Zeit in kleine, feuchte Kuchen gepreßt, die man mit den Fingern aß. Wie auch immer Farbe, Temperatur oder Zusammensetzung sein mochten, Darzek fand das Essen scheußlich. 141
Aber die Nährkraft war großartig. Der Körper verbrannte sie beinahe vollständig, und das große Abteil im unteren Sektor für die Beseitigung von Abfallstoffen wurde nur wenig benützt. Die Kücheneinrichtung erstaunte Darzek am meisten. Die Nahrung wurde in einen dünnen, völlig umschlossenen Behälter gegeben, der aus Metall zu bestehen schien, aber überraschend leicht war. Ein paar Sekunden im Kochschlitz – und schon war das Essen nach Wunsch angewärmt, heiß für Darzek, warm für Gwendolyns Sektor oder lau für Alice. Der Behälter blieb auf Zimmertemperatur. »Warum Hitze vergeuden, um den Behälter zu erwärmen?« fragte Ysaye, als Darzek darauf zu sprechen kam. »Welche Wärmequelle habt ihr?« erkundigte sich Darzek. »Die Sonne. Die Kapsel speichert die Wärme und gibt sie nach unten ab.« »Guter Einfall. Könnte man die Wärme nicht dazu benützen, um Notsignale zu geben?« »Nein – nein –« »Hitze ist doch Energie, nicht wahr?« stieß Darzek nach. »Ihr habt hier doch alle möglichen Apparaturen, auch elektronische Geräte – oder Anlagen, die denselben Zweck erfüllen. Eure Techniker müßten in der Lage sein, ein Funkgerät zu bauen, das einfache SOS-Signale aussendet.« »Selbst wenn das möglich wäre, könnten wir es nicht tun.« Darzek sah ihn forschend an. Der Verstand hinter diesen Gesichtszügen war trotz seiner Bemühungen nach wie vor ein unentschlüsselbares Geheimnis für ihn. »Bedauerlich, daß ich kein Psychiater bin«, meinte er. 142
»Ich habe das Gefühl, daß ihr alle fünf vom Todestrieb besessen seid. Ich kann nicht verstehen, warum jemand sterben will.« »Wir wollen nicht sterben.« »Dann sollen sich doch Alice und Gwendolyn mit dem Bau eines Funkgeräts befassen. Vielleicht kann eine der Mondstationen Hilfe schicken, und wenn nicht, bekommen wir vielleicht direkt von der Erde Hilfe. Meine Regierung hat Millionen für die Rettung von Opfern einer Flutkatastrophe oder eines Schiffszusammenstoßes investiert. Sie müßte bereit sein, Milliarden auszugeben, um jemanden auf dem Mond zu retten.« »Nein, das können wir nicht tun.« »Ich dachte, ihr wollt nicht sterben.« »Wir wollen auch nicht, aber *** hat alle Möglichkeiten überprüft, und es gibt nichts, was wir tun könnten. Wir dürfen nicht zulassen, daß Ihre Leute uns retten.« Darzek starrte ihn verblüfft an. »Sie meinen, ihr würdet euch nicht einmal von meinen Leuten retten lassen, wenn sie es versuchten?« »Wir können nicht. Wir haben einen Kodex. Wir haben geschworen, uns an ihn zu halten.« »Tick … tack«, sagte Darzek verächtlich. Ysaye flüchtete über die Leiter davon. 13 Ted Arnold lud Jean Morris und Ed Rucks zum Essen ein. Offiziell sollten sie dabei Gelegenheit finden, ihm von ihren Fortschritten zu berichten. Arnold wußte, daß es keine Fortschritte gab, aber er stellte sich vor, daß sie dringend eine Schulter brauchten, um sich auszuweinen, und er verfügte über zwei, die entsprechend gepolstert 143
waren und Tränenfluten von verzweifelten Ingenieuren der Universal Teleport standgehalten hatten. Er führte sie in das kleine Nebenzimmer des Stationsrestaurants. Sie hatten den Raum für sich, zwei Kellner zur Bedienung, sanfte Musik im Hintergrund und einen Ecktisch mit Kerzenlicht, das Jeans Haar schmeichelte. Die beiden lasen beinahe angeekelt die Speisekarte. »Ich habe keinen Hunger«, erklärte Jean schließlich. »Unsinn«, sagte Arnold. »Es hat keinen Sinn, mit leerem Magen zu trauern.« Er bestellte für alle, dann lehnte er sich zurück, wedelte tröstend mit den Armen und sagte: »Jetzt erzählt Papa Arnold alles.« »Es gibt nichts zu erzählen«, erwiderte Ed Rucks. »Es ist hoffnungslos.« »Keine Idee. Wo Leben ist, ist auch Hoffnung.« Jean wäre beinahe an einem Mund voll Wasser erstickt. »Die Polizei ist sehr hilfsbereit«, sagte Rucks. »Man begriff sofort – eine geheime Sendeanlage eröffnet allerlei Möglichkeiten für Diebstahl, Kidnapping und was weiß ich. Man hat sich mächtig ins Zeug gelegt.« »Aber vertraulich, hoffe ich«, sagte Arnold. »O ja. Auch das hat man eingesehen. Wir haben natürlich nicht erzählt, daß etwas passiert ist. Nur, daß wir Angst haben, es könnte etwas passieren. Die Polizei hat die Station durchgekämmt, aber nichts gefunden. Mehr durften wir nicht erwarten. Brüssel ist kein Dorf, und es würde Jahre in Anspruch nehmen, alles zu durchsuchen.« »Ich werde dafür sorgen, daß sich die Firma offiziell bedankt.« »Ja. Wir wissen ja nicht, ob sich der geheime Sender in Brüssel befunden hat, oder ob er, wenn er doch dort 144
war, in der Nähe der Station stand. Selbst wenn er in der Nähe der Station war, wird er demontiert worden sein, bevor die Nachforschungen einsetzten. Wenn man das nicht hoffnungslos nennen soll, ist Jean ein häßlicher alter Drachen, und ich bin ein tollkühner junger Optimist.« Er fuhr sich verärgert durch das graue Haar. »Habt ihr euch den nächsten Schritt schon überlegt?« erkundigte sich Arnold. »Nach Brüssel die ganze Welt«, erwiderte Rucks. »Ich nehme an, daß wir dasselbe in New York versuchen könnten.« »Wenn es in Brüssel schon schwierig war, in New York ist es unmöglich. Es gibt einfach zu viele Stellen, wo man einen Sender verstecken könnte.« »Ein feiner Trost«, fauchte Jean. »Was sollen wir denn tun?« »Darzek suchen.« »Ganz einfach«, sagte Jean. »Das ist genauso, als müßte man eine Nadel in einem Heuhaufen suchen, ohne zu wissen, wo der Heuhaufen ist.« »Hat dieser Grossman etwas ausgeplaudert?« fragte Rucks. »Wenig. Sein Wissen beschränkt sich auf die Buchhaltung – behauptet er. Die beiden Lügendetektortests, denen er sich unterzogen hat, verliefen negativ.« »Am liebsten würde ich ihn mit Daumenschrauben verhören«, meinte Jean. »Lieber nicht« sagte Arnold. »Das paßt nicht zu Ihnen. Trotzdem, Kinder, in diesen Tagen großer Tragik sehe ich einen winzigen Hoffnungsstrahl. In mein Zusatzgerät, das dafür sorgt, daß so etwas nicht wieder vorkommt, ist ein Signallicht eingebaut, das rot aufblitzt, wenn auch nur jemand versucht, sich in eine von unseren Sendeanlagen 145
einzuschalten. Bis jetzt ist nicht eine dieser Lampen aufgeflammt. Das halte ich für sehr bedeutungsvoll. Die Leute hinter der ganzen Affäre haben sehr viel Geld, Zeit und Erfindungen investiert, um die Universal Teleport zu ruinieren, und sie würden nicht aufgeben, wenn sie nicht müßten. Ihr Sender ist immer noch defekt, und es ist ihnen nicht gelungen, einen zweiten zu bauen.« Jean Morris’ Mundwinkel zuckten spöttisch. »Und die ganze Zeit sitzt Jan wohl irgendwo in einem Keller und hält sie mit der Pistole in Schach, wie?« »Wahrscheinlich hat er sie an den Zehen aufgehängt und kitzelt sie an den Fußsohlen, um ihnen ein Geständnis zu entlocken.« Jean lächelte – zum erstenmal an diesem Abend. »Na denn«, sagte Arnold, als die Getränke kamen. »Auf Darzek, wo er auch sein mag.« Sie tranken. 14 Darzek war schockiert, als er begriff. Er hatte sich an seine Umgebung gewöhnt, und die fremden Wesen kamen ihm nicht mehr grotesk vor. Schlimmer noch, Alices unheimliches, endloses Lärmen kam ihm bereits musikalisch vor. Er lauschte geistesabwesend und verfolgte die Melodien. Er fragte sich, was die Musik ausdrücken sollte – was die Worte bedeuten mochten. Er war maßlos verblüfft, als er endlich begriff: Es waren Liebeslieder. Alice und Xerxes waren verliebt. Ihre Beziehung beschränkte sich, soweit Darzek das beurteilen konnte, auf das rein Geistige. Abgesehen von der Behandlung, die 146
Alice Xerxes’ verwundetem Arm hatte angedeihen lassen, berührten sie einander nie. Sie sahen einander nicht einmal an, und doch war Darzek davon überzeugt, daß das Wort ›Liebe‹ noch am ehesten beschreiben konnte, was zwischen den beiden vorging. Er fragte Ysaye danach, der eine Weile brauchte, bis er begriff, um dann strikt zu leugnen. »Wie würden Sie es denn sonst nennen?« wollte Darzek wissen, und Ysaye konnte nichts erwidern. »Ich muß nachdenken«, sagte Darzek“. »Gewiß«, erwiderte Ysaye und zog sich höflich zurück. Darzek setzte sich auf sein Bett, zündete sich eine Zigarette an und befahl seinem Gehirn, nachzudenken. Die Erkenntnis, daß Alices Gesang von der Liebe diktiert war, brachte ihm zum erstenmal zum Bewußtsein, was er getan hatte. Blind und impulsiv, ohne einen Gedanken für die Konsequenzen, hatte er fünf Lebewesen zum Tod verdammt. Seither rannte er wie ein Irrsinniger in der Kapsel herum, behandelte die fremden Wesen nicht viel rücksichtsvoller als Zooinsassen, mit denen er zufällig zusammengesperrt war, und bemühte sich, sie durch Schocks zu einer Reaktion zu zwingen, die er analysieren und einstufen konnte. Er hatte sie sich nicht als hochintelligente Wesen mit persönlichen Wünschen, mit Leid, Trauer und tiefem Gefühl vorgestellt. Er hatte sie nicht als – als menschliche Wesen gesehen, Aber das waren sie. Sie waren durch und durch menschlich. Sie zeigten ihre Menschlichkeit nur auf eine Art und Weise, die ihm nicht vertraut war. Sie scheinen nicht den Mut zu haben, einer Krise gegenüberzutreten, dachte er. Das spricht nicht gegen sie, weil ich Geschäftsleute, Universitätsprofessoren und 147
Busfahrer gesehen habe, die schon bei geringerem Anlaß den Kopf verloren haben. Jedenfalls steht fest, daß ich für alles verantwortlich bin, auch dafür, daß wir aus dieser Patsche herauskommen. Aber wie stelle ich das an? Er überlegte sich, ob es hier irgend etwas gab, das als Notsignal dienen konnte. Eine Leuchtrakete vielleicht, oder etwas Ähnliches. Aber er schob diesen Gedanken schnell beiseite. Er hatte für ein beachtliches Notsignal gesorgt, als die Energieanlage explodierte, und wenn das keine Reaktion hervorrief, würde alles bis auf die Atombombendetonation unbemerkt bleiben. Außerdem wollten die fremden Wesen auf diese Weise nicht gerettet werden. So, wie er ihren rätselhaften Kodex verstand, bedeutete die Rettung durch eine Expedition von der Erde einen Mißerfolg, der schlimmer war als der Tod. Er konnte sein Versagen nicht dadurch wettmachen, daß er sie in eine Situation versetzte, die ihnen entsetzlicher schien als ihr jetziges Schicksal. Und er konnte ihnen das nicht übelnehmen. Kodex hin, Kodex her, es ließ sich voraussehen, was geschehen würde, wenn die Raumfahrtbehörde der Vereinigten Staaten oder das entsprechende Amt der Russen die fremden Wesen in die Hände bekam. Sie würden ihre Tage in einem für sie erbauten Zoo zubringen, Vorführungen für Wissenschaftler und Politiker halten müssen. Wenn ich sie rette, sagte er sich, dann so, wie sie es wünschen. Und zu diesem Zweck muß ich erst einmal wissen, was sie sich eigentlich vorstellen. Er suchte Ysaye und fand ihn im Stockwerk über sich. »Erzählen Sie mir etwas von Ihrem Kodex«, sagte Darzek. »Das kann ich nicht tun«, erwiderte Ysaye. »Warum nicht?« 148
»Der Kodex läßt es nicht zu.« Darzek wandte sich ab, um seinen Ärger zu verbergen. .»Wenn wir schon zusammen sterben müssen, ist es recht unglücklich, daß wir einander nicht vertrauen können«, sagte er. Ysaye stimmte zu. »Wie wär’s mit einem Spiel?« fragte Darzek. Sie stiegen in den untersten Sektor, und Darzek holte Notizbuch und Bleistift aus dem Behälter. Als ihn die Langeweile einmal besonders bedrückte, hatte er Ysaye das Spiel ›Schiffe versenken‹ beigebracht, Ysaye war fasziniert. Er zeigte sich so naiv, daß er ohne Darzeks Mithilfe nichts gewinnen konnte, aber er ließ sich nicht entmutigen. Ysaye war der Einsame, der Außenseiter. Darzek sagte sich, daß er der Schwächste von den fünf Wesen sein mußte und daß er noch am ehesten von ihm erfahren konnte, was er wissen wollte. Gab es eine Methode, diese Schwäche auszunutzen? Das ist der falsche Weg, sagte sich Darzek. Das Problem ist, herauszufinden, ob er eine Schwäche hat, die sich ausnützen läßt. »Ich muß zugeben, daß ihr über eine hervorragende Technologie und eine großartige Medizin verfügt«, sagte er. »Ich habe Beweise für beides gesehen. Nur eure Ethik macht mir Sorgen. Ihr seid euch doch darüber im klaren, daß sie zweitklassig ist?« Ysaye hob den Kopf und sah an Darzek vorbei. So vertraut Darzek auch mit den fremden Wesen geworden war, sie wichen seinem Blick immer noch aus. »Ethik?« fragte Ysaye. »Zweitklassig?« »Zweitklassig«, erklärte Darzek entschieden. »Das verstehe ich nicht.« 149
»Nehmen Sie nur mal Ihren Kodex. Sie sagen, Sie sind verpflichtet, sich an ihn zu halten. Sie wollen sogar dafür sterben, wenn es nötig ist, weil Sie geschworen haben. Und ihr scheint zu glauben, daß ihr Wesen mit hoher Ethik seid.« Ysaye wartete. »Vielleicht habt ihr recht«, fuhr Darzek fort. »Aber sehen Sie die Sache einmal so: Bin ich verpflichtet, mich an euren Kodex zu halten?« »Natürlich nicht«, erwiderte Ysaye. »Sie kennen ihn ja nicht einmal.« »Stimmt. Aber Sie zwingen mich, zu sterben, um diesen Kodex durchzusetzen, von dem ich nichts weiß. Wie vereinbaren Sie das mit Ihrer Ethik?« »Das verstehen Sie nicht«, sagte Ysaye. »Sicher nicht, aber ich möchte es gerne verstehen. Wenn ich sterben muß, für Ihren Kodex, dann habe ich wohl ein Recht darauf, ihn verstehen zu dürfen, nicht wahr?« Ysaye erwiderte nichts. »Ist es richtig für Ihren Kodex, mich zum Tode zu verurteilen, obwohl ich nichts davon weiß? Gibt es Ethik ohne Gerechtigkeit?« »Ich werde *** fragen«, sagte Ysaye. Darzek lachte. »Wissen Sie nicht, was sie sagen wird?« »Doch – doch –« »Warum fragen Sie sie dann? Ethik –« Darzek hob die Hand. »Ethik ist nicht etwas, das man in einem Buch findet oder von anderen Leuten erfährt. Ethik ist etwas, das man in sich selber fühlt. Verlangt Ihr Kodex, daß Sie nichts tun dürfen, was Sie als gerecht empfinden?« »Das begreifen Sie nicht.« 150
»Verlangt Ihr eigener Gerechtigkeitssinn, daß ich sterben soll, ohne zu begreifen?« drängte Darzek. »Sie können das nicht verstehen. In Ihnen ist Dunkelheit.« »Ah!« Darzek hatte das Gefühl, daß er nahe daran war, etwas Wichtiges zu entdecken, und er wählte seine Worte mit Bedacht. »Dunkelheit – nun ja – in jedem Wesen ist Dunkelheit.« »Ja. In allen Menschen.« »Auch in Ihnen und Ihren Leuten.« »Aber die Dunkelheit in euch« – Ysaye sprach mühsam, als quäle er sich die Worte ab –, »die Dunkelheit in euch ist von der falschen Farbe.« »Die ›falsche Farbe‹«, wiederholte Darzek. »Aber die Dunkelheit hat keine Farbe.« »Sie hat viele Farben.« »Viele Farben –«, wiederholte Darzek lächelnd. Aber er hatte plötzlich begriffen, was Ysayes Worte bedeuteten, und er war erschüttert. Es schien, als habe eine letzte, unbesiegbare Macht dieses groteske, fremdartige Wesen dazu benützt, ein Urteil über die Menschheit zu fällen – ein negatives Urteil, gegen das es keine Berufung gab. »Sie sind an der Reihe«, sagte Ysaye. Darzek nannte aufs Geratewohl ein Planquadrat. »Steht mir Gerechtigkeit nicht zu, weil meine Dunkelheit von der falschen Farbe ist?« »Sie verstehen das nicht«, sagte Ysaye. Ysaye war ein Einzelgänger unter den fremden Wesen. Darzek hielt ihn für den jüngsten, aber das schien kein ausreichender Grund dafür zu sein, daß er von den anderen abstach. 151
Darzeks Mitgefühl und Zuneigung für ihn wuchsen in demselben Maße, wie seine Bemerkungen Ysaye gegenüber immer bitterer und bösartiger wurden. Er spürte, daß seine Worte den jungen Fremden tief trafen, und er verachtete sich für das, was er tun mußte. Aber jetzt war er entschlossen, alles zu erfahren. Sein »Tick … tack«-Gesang fiel Zachary auf, der Ysaye um eine Erklärung bat und dann Gwendolyn Bescheid sagte. Gwendolyn hastete zu Alice und Xerxes, um es weiterzuerzählen, und von da an störte ein einziges ›Tick‹ Darzeks das Spiel über ihm und brachte Alices singende Stimme zum Verstummen. Bei dem grimmigen psychologischen Kampf, den Darzek austrug, konnte er nur auf eine mächtige Waffe zählen. Die fremden Wesen fürchteten den Tod. Für ihn galt das nicht, und er fand es empörend, still darauf zu warten. Die Angst lähmte die anderen. Sie waren nicht mehr in der Lage, sich selbst zu retten. Und Darzek wurde von der Unwissenheit gelähmt. Er versuchte es auf andere Weise. »Ihr habt das ganz falsch gemacht«, sagte er zu Ysaye. »Ich verstehe nicht«, sagte Ysaye. »Ich spreche von den Versuchen, die Universal Teleport zu ruinieren. Es ist erstaunlich, daß ihr so versagt habt, obwohl ihr doch von der richtigen Farbe seid.« »Wir müssen uns an unseren Kodex halten«, erklärte Ysaye. »Ich halte nicht besonders viel von einem Kodex, der zuläßt, daß man Eigentum zerstört, das einem nicht gehört. Aber lassen wir das. Im Augenblick wundere ich mich nur, daß es euch gelungen ist, so danebenzutappen.« »Was hätten wir denn tun sollen?« »Da sind wir wieder beim alten Thema. Ich bin bereit, 152
Informationen auszutauschen, aber ich verschenke sie nicht.« »Wir zerstören nur, wenn es unumgänglich ist«, sagte Ysaye. »Es gab keinen anderen Ausweg.« »Keinen anderen Ausweg, um was zu erreichen?« Ysaye antwortete nicht. »Keinen anderen Ausweg, diese Dinge zu zerstören?« Wieder keine Antwort. »Hören Sie«, sagte Darzek. »Ihr behauptet, hochzivilisierte Wesen mit hoher Ethik zu sein. Solche Wesen zerstören doch nicht einfach aus Spaß. Ihr müßt irgendein Ziel im Auge gehabt haben.« Ysaye erhob sich langsam. »Ich fühle mich sehr müde. Ich muß schlafen.« Er stieg die Leiter hinauf. Die anderen schienen auch zu schlafen. Alice war ungewöhnlich lange still geblieben, und auch das Gemurmel der Spieler war verstummt. Darzek ging zu seinem Behälter, überlegte eine Weile, nahm dann eine seiner zwei letzten Zigaretten und zündete sie an. Er streckte sich auf dem Bett aus. Auch er brauchte Schlaf. Alices Gesang hatte ihn stets wachgehalten, und sie schlief selten. Sie tat ihm furchtbar leid. Als Führerin der Gruppe mußte sie von argen Gewissensbissen geplagt sein. Ihr breites Gesicht war schmaler als das Gwendolyns, vollkommener proportioniert. Ihre Stimme war bei weitem nicht so rauh wie die der anderen, zumindest hatte er diesen Eindruck. Er fragte sich, ob sie bei ihren eigenen Leuten als schön galt. Er konnte sie sich beinahe als Schönheit vorstellen, so, wie ein abstraktes Gemälde gleichzeitig eine lächerliche Verzerrung und ein Kunststück sein konnte. Er rauchte seine Zigarette zu Ende und bemühte sich, zu schlafen. Eine Weile hielten ihn seine Gedanken 153
wach, aber schließlich döste er ein. Erst als er erwachte, bemerkte er, daß Zachary bei ihm saß. Zachary sagte leise: »Tut mir leid, daß ich Sie geweckt habe, Jan Darzek. Aber Ysaye –« Er machte eine Pause. Die fremden Wesen hatten sich mit ihren Namen immer noch nicht ganz abgefunden, als befürchteten sie, er wolle sie beleidigen. »Ysaye ist so viel bei Ihnen, wenn ihr beide wach seid, daß wir wenig Gelegenheit haben, im Vertrauen mit Ihnen zu reden.« »Schon gut«, flüsterte Darzek. Er setzte sich auf, dehnte sich und rieb seine Augen. »Wir haben gelauscht«, sagte Zachary, »und die Sache besprochen. Wir stimmen Ihnen zu, daß es ungerecht ist, Ihren Tod für Prinzipien zu verlangen, die Sie nicht begreifen. Es stimmt, daß wir in der Lage gewesen wären, Hilfe von Ihren Leuten herbeizuholen. Wir hätten erreichen können, daß unser Leben und das Ihre gerettet wird, aber das haben wir nicht getan. Unser Kodex verbietet es streng.« »Das bestätigt nur, was ich schon wußte«, murmelte Darzek. »Da Ihr Kodex streng verbietet, mir etwas über Ihren – Kodex zu erzählen, begreife ich nicht, wie das die Situation verändert.« »Der Kodex verlangt, daß wir alles tun, um Außenseiter, wie die Menschen, daran zu hindern, unsere Gegenwart oder unsere Ziele zu entdecken. Wir haben den Kodex durchstudiert und besprochen und sind der Meinung, daß er sich auf Außenseiter als Gruppe bezieht, nicht auf einzelne Wesen. In unserer ganzen Erfahrung gibt es kein Beispiel für einen derartigen Unterschied. Wir wissen, daß Sie nicht in der Lage sind, Ihre Gruppe zu verständigen. Wir haben beschlossen, daß der Kodex erlaubt, eine Ausnahme zu machen.« 154
»Das wäre sicher etwas für einen Juristen«, meinte Darzek. »Was meinen Sie mit Ausnahme?« »Wir haben uns entschlossen, Ihnen zu sagen, was Sie wissen wollen.« »Aha. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, rauche ich jetzt meine letzte Zigarette.« »Bitte. Ich bedauere, daß wir nicht in der Lage sind, Sie mit Zigaretten zu versorgen, aber wir haben nicht damit gerechnet, daß man sie hier brauchen könnte.« Er fügte beinahe entschuldigend hinzu: »Wir selbst können nichts damit anfangen.« Darzek zündete sich die Zigarette an und sog den Rauch tief ein. »Sie haben wohl die alten medizinischen Gutachten gelesen. Aber ich dachte, die Hersteller hätten die Krebsgefahr gebannt.« »Oh, wir verzichten nicht aus medizinischen Gründen darauf. Sie machen uns krank.« »Begreiflich. Ich wurde auch krank, als ich zum erstenmal rauchte – obwohl ich damals erst zehn Jahre alt war. Ich bin übrigens sehr erstaunt. Ich dachte, wenn einer von euch mir etwas erklärt, dann wird es Ysaye sein. Er scheint – ich halte ihn für einen Idealisten.« »Das ist er auch«, erwiderte Zachary. »Aber ich habe bei ihm nichts erreicht.« »Natürlich nicht. Genau deshalb würde er Ihnen nie etwas sagen. Und ich muß Sie auch bitten, ihm keine Fragen mehr zu stellen. Sie haben ihn sehr aufgewühlt.« »Das wollte ich, aber ich kam nicht zum Ziel.« »Die Jungen halten sich immer sehr streng an den Kodex«, sagte Zachary, »und Ysaye ist nicht nur jung, sondern auch – ist es nicht bei Ihren Leuten genauso?« »Eigentlich nicht, nein.« 155
»Das überrascht mich nicht. Ich muß Sie auch bitten, von unserem Gespräch Ysaye nichts zu erzählen. Vielleicht finde ich später eine Möglichkeit, ihm das begreiflich zu machen. Was möchten Sie wissen?« Darzek ließ einen Rauchring durch die Öffnung zum nächsten Sektor aufsteigen. »Alles«, sagte er. Zachary lehnte sich an die Leiter und schlug die Beine übereinander. »Nein«, sagte er schließlich. »Ich kann Ihnen nicht alles sagen. Sie brauchen nicht alles zu wissen, und wir haben verhältnismäßig wenig Zeit. Ysaye wird bald wach sein.« »Dann erzählen Sie mir, was ich wissen muß«, meinte Darzek grinsend. »Vielleicht wollen Sie lieber Fragen stellen.« »Na schön. Warum der Feldzug gegen die Universal Teleport?« »Unsere Aktion gegen die Universal Teleport – sie wird im übrigen fortgesetzt werden, sobald eine neue Gruppe an unsere Stelle tritt – hat zwei wichtige Ziele: Die Bewohner des Planeten zu schützen, den ihr Erde nennt, und die Bewohner anderer Planeten zu schützen, von denen Sie keine Vorstellungen haben können.« »Interessant«, sagte Darzek. Er sog langsam an seiner Zigarette, als könne er dadurch den Genuß verlängern. Auch das war ein wissenschaftliches Problem, das er gerne mit Ted Arnold besprochen hätte. »Ihr schützt sie und uns wovor?« »Voreinander.« »Klingt ja recht edel«, meinte Darzek. »Aber selbst wenn wir im Augenblick nicht danach fragen wollen, ob die verschiedenen Bewohner oder Planeten einen solchen Schutz brauchen oder wünschen, was hat die Universal Teleport damit zu tun?« 156
»Die Universal Teleport hat einen funktionierenden Materiesender konstruiert. Damit fehlen euch nur noch zwei Schritte zur absoluten Beherrschung der Raumfahrt.« »Ah! Die Menschheit greift nach den Sternen, wie die Dichter das ausdrücken. Aber ich glaube nicht, daß die Universal Teleport oder irgend jemand sonst sich dessen bewußt ist.« »Sie dürfen nicht dahinterkommen. Aus diesem Grund muß und wird die Universal Teleport scheitern. Eure Sendeanlagen müssen geplagt sein von –« Er machte eine Pause. »Von Pannen?« meinte Darzek. »Von Pannen. Von Defekten, die ihre praktische Anwendung auf viele Jahre hinaus verhindern. Ihre Leute sind jetzt für die Raumfahrt noch nicht geeignet und werden es auf Generationen hinaus nicht sein.« »Weil unsere Dunkelheit die falsche Farbe hat?« »Die Farbe ist durch und durch falsch«, sagte Zachary bestimmt. »Haben Sie sonst noch Fragen?« »Nur noch ein paar hundert. Ich schlage mich immer noch mit dem Zusammenhang zwischen dem Materiesender und der Raumfahrt herum.« »Es ist schwierig, selbst über einen so primitiven Sender wie den Ihren in einfachen Ausdrücken zu sprechen, aber trotzdem stellt das Gerät einen Durchbruch dar, einen entscheidenden ersten Schritt. Sobald die Prinzipien gemeistert sind – und die Universal Teleport hat sie gemeistert, obwohl ihre Ingenieure noch weit davon entfernt sind, sie zu begreifen –, wird es verhältnismäßig einfach, den zweiten Schritt zu tun, nämlich einen Sender zu bauen, der ohne Empfänger arbeitet. Der dritte Schritt ist der Sender, der sich selbst sendet, ebenfalls ohne 157
Empfänger. Das ist die einzig praktische Art von Raumschiff. Die Raketen, die ihr seit vielen Jahren entwickelt, sind, im Vergleich dazu, primitives Spielzeug.« .»Ich verstehe. Sehr hübsch. All die herrlichen Vorzüge des Reisens mit der Universal Teleport, auf den Verkehr im ganzen Sonnensystem angewendet. Einmal Mars und zurück vor dem Frühstück und dergleichen.« »Nicht nur im Sonnensystem. In der ganzen Milchstraße und bis zu anderen Galaxien.« »Ich will nicht so tun, als verstünde ich das, aber ich akzeptiere Ihr Wort dafür. Unbegrenzte Entfernungen in einem einzigen Augenblick, kein Wunder, daß Ihnen unsere Raketen primitiv vorkommen. Ich begreife nur nicht, was unsere Farbe damit zu tun hat – die Farbe der Dunkelheit oder was weiß ich.« Zachary bewies die Geduld eines Erwachsenen, der mit einem Kind spricht. »Überlegen Sie! Eure Dunkelheit ist so tief eingebrannt, daß Ihre Leute noch Generationen davon entfernt sind, auch nur ihre Beziehungen untereinander zu meistern. Ihr beutet die Schwachen aus. Ihr bedroht die Starken mit Atomwaffen. Ihr pervertiert und verzerrt euer eigenes Recht, selbst dort, wo es vorhanden ist. Eure Ehre steht auf jedem Marktplatz zum Verkauf. Ihr verfolgt eure eigene Art, wegen einer anderen Schattierung der Haut – und wie minimal sind diese Unterschiede, verglichen mit der Buntscheckigkeit der Bewohner anderer Welten! Ihr tragt sogar Kriege untereinander aus, wegen lächerlicher Widersprüche von Worten, bei Ideen, die ihr Religion nennt – und wie unbedeutend sind diese Widersprüche, wenn man sie mit denen der großen Religionen allein dieser Galaxis vergleicht! Ihr habt noch nicht einmal die Beziehungen zwischen euren Geschlechtern ge158
ordnet, obwohl ihr das Glück habt, nur zwei davon zu besitzen. Wir können und dürfen nicht zulassen, daß ihr die Grenzen eures Sonnensystems überschreitet. Die Galaxis enthält Myriaden von Welten, deren Macht und Technologie eure kühnsten Vorstellungen übersteigt. Ihr seid kampflustig, ideenreich, aber auch eurer eigenen Dunkelheit ausgeliefert. Ihr würdet nicht wiedergutzumachenden Schaden anrichten und schließlich völlig vernichtet werden. Haben Sie jetzt noch Fragen?« »Nur noch eine – im Augenblick. Wer sind Sie?« »Sie könnten mich als Polizisten bezeichnen«, erwiderte Zachary. »Ich befürchte, daß meine Vorgesetzten mich – alle fünf von uns – für recht unfähige Polizisten ansehen. Wir hätten erkennen müssen, daß die Situation auf der Erde von uns nicht mehr zu kontrollieren war, und wir wären gehalten gewesen, Unterstützung anzufordern. Aber das fällt gar nicht ins Gewicht. Wir müßten in sieben von Ihren Monaten Nachschub holen, dann werden unsere Vorgesetzten erfahren, was geschehen ist. Man wird eine verstärkte Gruppe besonders ausgebildeter Beamter einsetzen und den Betrieb Ihrer UniversalTeleport-AG endgültig lahmlegen.« »Danke«, sagte Darzek. »Sie haben mir viel Stoff zum Nachdenken gegeben.« »Wann immer Sie noch Fragen haben, dürfen Sie sie mir stellen. Die meisten werde ich beantworten können.« Er zog sich zurück, und Darzek hielt den kalten Zigarettenstummel zwischen den Fingern und sah ihm ausdruckslos nach. Er fühlte sich zwischen zwei miteinander in Widerspruch stehenden Pflichten hin- und hergerissen. Seine Loyalität gegenüber den Mitmenschen verlangte, daß er alle Hebel in Bewegung setzte, um diesen eingebildeten 159
fremden Wesen das Handwerk zu legen. Andererseits fühlte er sich moralisch verpflichtet, den fünf Wesen, die durch seine Dummheit in diese Lage geraten waren, das Leben zu retten. Aber dieser Konflikt war schlimmstenfalls akademischer Natur. Er konnte weder das eine noch das andere tun. 15 Darzek umrundete langsam die Leiter und prüfte wieder einmal die Luft in der Kapsel. Er atmete stark und gleichmäßig ein, schmeckte die Luft mit der Zunge ab, versuchte, ihre Frische aus der Vielfalt fremdartiger Gerüche herauszuorten. Sie roch und schmeckte immer gleich. Ysaye kam die Leiter herunter, wich Darzek aus und präparierte sechs Portionen Nahrung. Er ließ Darzeks Mahl neben dem Bett zurück und stieg die Leiter hinauf, fünf Schalen auf dem Arm. Er sah Darzek weder an, noch sagte er etwas. Darzek stocherte lustlos in seinem Essen herum, und machte sich Gedanken über Ysaye. Unmittelbar nach dem Gespräch mit Zachary begann Ysaye, Darzek auszuweichen. Er blieb in den oberen Sektoren der Kapsel, immer noch einsam, jetzt sogar seinem menschlichen Freund entfremdet. Darzek vermochte nicht zu entscheiden, ob der junge Mann entsetzt war, daß Zachary sich ihm anvertraut hatte, oder ob es ihn nur störte, daß er sich nicht selbst dazu aufgeschwungen hatte. Oder vielleicht … Zacharys Hinweis auf das Glück der Menschheit, nur über zwei Geschlechter zu verfügen, hatte Darzeks Den160
ken gelähmt. War es möglich, daß die fremden Wesen drei Geschlechter hatten, daß es zwei männliche Geschlechter gab und Ysaye zum zweiten gehörte? Nützlich, vielleicht sogar lebenswichtig, aber scheel angesehen? Er zögerte, danach zu fragen. Zachary hatte mit Recht behauptet, daß es für ihn nicht nötig sei, alles zu wissen, und überall dort, wo er auf die fremdartige Psychologie und Physiologie stieß, stand er vor unlösbaren Rätseln. Er befaßte sich wieder mit den Luftreserven in der Kapsel. Das Luftzirkulationssystem war von wunderbarer Wirksamkeit. Es filterte die Luft, entfernte das Kohlendioxyd und die Unreinheiten, brachte den Sauerstoffgehalt auf das vorgeschriebene Maß und gab die Luft wieder für den Gebrauch frei. Seit man ihm das System erklärt hatte, vermutete Darzek, daß die Luft nie unbrauchbar werden würde. Die Kapsel mußte auch in Zukunft das Kohlendioxyd entziehen und Sauerstoff zuführen, solange der Vorrat reichte. Dann würde Luft zirkulieren, die keinen Sauerstoff mehr enthielt. Darzek rechnete nicht mit einem plötzlichen Aufhören der Sauerstoffzufuhr, aber er war überzeugt davon, daß das Ende verhältnismäßig schnell eintreten würde. All das diente nur dem Versuch, sich auszurechnen, wieviel Zeit ihm blieb, ein Wunder zu tun. Zwischen der Außen- und Innenwand der Kapsel war ungeheuer viel Raum für Luft und Wasser, aber wieviel Luft dort vorhanden gewesen war, und wie schnell sie sie verbrauchten, ließ sich nicht beurteilen. Der entscheidende Faktor jedoch in diesem Wunder, das Darzek zu bewerkstelligen hatte, war nicht die Zeit, sondern die Entfernung. Er konnte die fremden Wesen 161
nur retten, wenn er sie in Sicherheit brachte. Sein Gegner war die unbarmherzige, kompromißlose Realität jenseits der Kapselwandung: der Mond. Weder der Mensch noch ein fremdes Lebewesen konnte sich dort ohne die Hilfsmittel einer anderen Welt halten. Zachary kam die Leiter herunter. »Haben Sie heute schon Ihre Zigarette geraucht?« fragte er. »Noch nicht«, sagte Darzek. »Aber jetzt wäre vielleicht gerade die richtige Zeit dafür.« Zachary hatte vorgeschlagen, den Versuch zur Herstellung von Zigaretten zu unternehmen. Er brachte dünnes, stoffähnliches Material, mit dem sie Substanzen umhüllten, wie sie in der Kapsel zu finden waren. Manches brannte langsam und unter starker Rauchentwicklung. Anderes mit der zischenden Schnelligkeit einer Zündschnur. Schließlich fanden sie eine dunkle, körnige Substanz, die sich ganz gut rauchen ließ – obwohl sie einen gräßlich riechenden, rötlichen Rauch entwickelte und Darzeks Mund ausdörrte – aber Darzek rollte sich eine Reserve von einem Dutzend Zigaretten. Bei einem der weniger erfolgreichen Experimente kamen Alice und Xerxes herunter, um den Ursprung der Rauchentwicklung festzustellen. Alice, die Zachary als Dolmetscher benützte, teilte Darzek mit, daß eine brennende Zigarette unnötigerweise Sauerstoff vergeudete. »Das Atmen auch«, erwiderte Darzek fröhlich. Alice ließ sich seine Worte übersetzen und zog sich kommentarlos zurück. Darzek sehnte sich wieder nach Ted Arnold. Arnold hätte errechnet, wieviel Sauerstoff bei jedem Zug an der Zigarette verbraucht wurde, und er hätte auch schätzen können, wieviel Sekunden Leben dadurch verlorengin162
gen. Arnold wäre ein Mann nach Alices Herzen gewesen. Darzek zündete sich eine synthetische Zigarette an und bemühte sich, beim ersten Zug eine Grimasse zu unterdrücken. »Wenn Sie mir das Spiel jetzt beibringen wollen, ich habe Papier mitgebracht«, sagte Zachary. »Aber gern«, erwiderte Darzek. Das Spiel, das Ysaye so begeistert hatte, interessierte Zachary maßlos, also zeichneten sie die Vierecke auf das gleiche Material, das als Zigarettenpapier verwendet wurde. Zachary stellte sich genauso ungeschickt an wie Ysaye, aber Darzek vermutete, daß er seine Gedanken nicht beisammen hatte. »Sie haben davon gesprochen, daß Sie Informationen austauschen wollten«, meinte Zachary schließlich. »Alles, was Sie hören wollen«, sagte Darzek, »wenn ich Ihre Zusicherung habe, daß Sie Ihren Nachfolgern keine Aufzeichnungen hinterlassen.« »Angenommen. Sie würden sowieso darauf verzichten. Weil wir versagt haben, wäre jede Botschaft von uns verdächtig.« »Aber sie werden doch versuchen, herauszufinden, was passiert ist, wo ihr versagt habt und dergleichen mehr.« »Sie werden sofort erkennen, daß unsere Energieanlage explodiert ist«, erwiderte Zachary. »Das werden sie genauestens untersuchen. Eine solche Katastrophe ist in unserer ganzen Geschichte noch nicht vorgekommen, so daß man sich eingehend damit befassen wird. Aus Ihrer Gegenwart kann man schließen, daß wir einen Fehler gemacht oder gegen den Kodex verstoßen haben, aber man wird keine Zeit mit Spekulationen darüber vergeu163
den, warum wir versagt oder gegen den Kodex verstoßen haben.« »Meine Leute würden Spekulationen anstellen«, sagte Darzek. »Sie würden versuchen, den Grund zu finden, um eine Wiederholung zu vermeiden.« »Tatsächlich? Aber vielleicht sind Ihre Leute im Handeln und Denken zu sehr voneinander abhängig. Was ich wissen möchte – eigentlich nur aus Neugierde –, ist, warum die Universal Teleport weiterhin Passagiere befördert hat, obwohl einige Leute ihr Ziel nicht erreichten.« »Dafür gibt es eine ganz einfache Erklärung. Solche Passagiere gab es gar nicht.« Zachary legte den Bleistift weg. »Wir wissen, daß die Firma informiert wurde. Die Direktoren haben sich mit der Angelegenheit befaßt. Sie wurden engagiert, um die Sache aufzuklären. Wir selbst haben Briefe, an die Zeitungen geschrieben, um die Öffentlichkeit aufmerksam zu machen. Trotzdem arbeitete das Unternehmen weiter, als sei nichts geschehen.« »Es ist ja auch nichts geschehen«, sagte Darzek. »Wenn ein echter Passagier sein Ziel nicht erreicht hätte, wären Beschwerden von seinen Freunden und Verwandten gekommen, die Polizei hätte Ermittlungen angestellt – auch nur ein solcher Vorfall hätte den Betrieb lahmlegen können. Sobald unsere Nachforschungen ergaben, daß die verschwundenen Passagiere falsche Papiere besaßen, erkannte man ihr Verschwinden als Betrug. Von dem Augenblick an wollten wir nur noch wissen, wie dieser Betrug zustande kam.« »Aber unsere Masken waren doch undurchschaubar!« »Gleichgültig, wie vollkommen ein Führerschein gefälscht ist, er entpuppt sich sofort als Fälschung, wenn 164
kein Mensch dieses Namens je unter dieser Anschrift zu finden war, oder wenn es diese Anschrift gar nicht gab. Selbstverständlich ignorierten die Zeitungen Ihre Briefe, solange sie keine Möglichkeit hatten, die Behauptungen zu beweisen.« »Ich verstehe. Unser Plan war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Er hätte nie gelingen können.« »Nicht nur das, früher oder später hätten Ihre gefälschten Ausweise Sie sogar in Schwierigkeiten gebracht. Sie hätten nicht das Kennzeichen eines Direktors der Universal Teleport verwenden sollen, als Sie die Nummernschilder fälschten.« »Alle Nummern waren bereits vergeben, und die eine schien so gut wie die andere«, meinte Zachary. »Trotzdem glaube ich, daß wir Erfolg gehabt hätten, wenn Sie nicht gewesen wären. Meine Befürchtungen hinsichtlich Ihrer Person waren mehr als begründet.« »Der Überfall vor meinem Büro!« rief Darzek. »Was hatten Sie vor? Wollten Sie mich irgendwo festhalten, bis Sie die Universal Teleport ruiniert hatten?« »Keineswegs«, erwiderte Zachary. »Ein paar Veränderungen in Ihrem Denken, ein bißchen Radieren in Ihrem Gedächtnis, und Sie wären keine Gefahr mehr für uns gewesen. Zwei Stunden nach dem Überfall hätte man Sie wieder nach Hause gebracht.« »Radieren im Gedächtnis?« »So etwas gibt es sehr häufig bei uns. Zweifellos erscheint Ihnen das merkwürdig.« »Durchaus nicht«, sagte Darzek. »Ich kam damals nur nicht darauf, weil ich nicht wußte, daß Sie nicht von der Erde sind. Fremde Wesen löschen immer das Gedächtnis der Menschen aus. Über dieses Thema gibt es eine reichhaltige Literatur.« 165
»Ich komme nicht mit. Wir haben noch nie Gelegenheit gehabt, einen von Ihren Leuten dieser Prozedur zu unterziehen.« »Vielleicht war es Pech für beide Seiten, daß Sie damals keinen Erfolg hatten.« »Ich bin Ihrer Meinung, aber der Polizist trillerte mit seiner Pfeife, und wir befürchteten eine Komplizierung der Situation. Wir beschlossen, eine bessere Gelegenheit abzuwarten, aber sie ergab sich nicht.« »Zumindest einer der Direktoren hat Ihnen Informationen vermittelt«, sagte Darzek. »Gegen Bezahlung?« »Keineswegs. Einer der Direktoren ist nichts als ein guter Freund. Wir besitzen Aktien der Universal Teleport und haben diesem Freund Vollmachten erteilt. Nur natürlich, daß wir dafür Informationen über die Absichten des Unternehmens erwartet haben.« »Welcher der Direktoren war es?« »Mr. Miller. Mr. Carl Miller. Wir haben ihn unterstützt, weil er wegen seines eigenen Unternehmens am Frachtgeschäft interessiert ist. Unser Problem wäre viel einfacher gewesen, wenn sich die Firma statt auf die Passagiere auf Fracht konzentriert hätte. Dann hätten wir die Anlagen zerstören können, ohne befürchten zu müssen, Menschen zu verletzen.« »Auf dieselbe Weise, wie Sie Arnolds Sender in die Luft gejagt haben, nehme ich an.« »Wir haben eine kleine Menge Sprengstoff hindurchgehen lassen, sobald sie in Betrieb genommen wurden. Dann veränderte Ihr Freund Arnold die Konstruktion, und wir konnten das nicht mehr machen. Es war sehr schlau von ihm, weil er nicht einmal wußte, was für die Defekte verantwortlich war.« »Arnold ist ein kluger Mann. Ich nehme an, daß Sie 166
auch hinter dem vermeintlichen Maklersyndikat standen, das die Aktien der Universal Teleport aufkaufte. Sie müssen eine gut fundierte Zentrale in New York gehabt haben, um so viele wertvolle Kontakte aufzubauen.« »Das stimmt. Gwendolyn leitete unsere – Zentrale, wie Sie das nennen, in New York. Wenn sie dort gewesen wäre, als Sie die Explosion hervorriefen, wären wir längst gerettet. Zu unserem Pech hatten wir uns alle hier versammelt, um die Situation zu diskutieren und Alice zu unterstützen, die sich mit Ihnen befassen mußte.« »Und die mein Gedächtnis auslöschen sollte?« »Das ist eine sehr komplizierte Operation. Haben Sie jetzt alles begriffen?« »Ich glaube nicht, daß ich jemals alles verstehen werde. Warum haben Sie solche Anstrengungen gemacht, Ihre Aktionen auf der Erde geheimzuhalten?« »Unser System hat auf weit mehr Welten funktioniert, als Sie zählen könnten.« »Stellen Sie es immer darauf ab, die technologische Entwicklung einer Welt zu blockieren?« »Natürlich nicht. Das tun wir nur, wenn diese Entwicklung andere bedrohen könnte, genauso wie Sie sich für berechtigt halten würden, einem Kind die Waffe eines Erwachsenen wegzunehmen und es zum kindlichen Spiel zurückzuführen.« »Das heißt, daß die Menschheit erwachsen werden oder reifen muß, bevor sie den Materiesender haben darf?« »Vielleicht habe ich zu sehr vereinfacht«, sagte Zachary. »Dann wird man uns also den Sender nie zugestehen, weil unsere Dunkelheit von der falschen Farbe ist.« »Meine Leute leben viel länger als Ihre, Jan Darzek, aber selbst wir zögern, das Wort ›nie‹ zu verwenden.« 167
»Na gut, zerstören Sie nur immer, und legen Sie den Leuten Steine in den Weg, wie auf der Erde, oder helfen Sie manchmal einem Planeten – sagen wir, bei wissenschaftlichen Entdeckungen oder bei der Gewinnung von Nahrung?« »Wir greifen häufig ein, um die Entwicklung eines Planeten zu fördern, das hängt von der Klassifizierung ab.« »Mit anderen Worten, von der Farbe der Dunkelheit seiner Bevölkerung.« »Indirekt trifft das wohl zu.« »Sie tun das genauso heimlich wie bei einem negativen Eingreifen?« »Selbstverständlich. Das ist unser Kodex.« »Was würden Sie sagen, wenn ich fände, daß Ihr Kodex den irren Dünkel einer selbstzufriedenen und ekelhaften Rasse irregeleiteter Zeloten darstellt?« »Ich würde es außerordentlich bedauern, wenn Ihre Ansichten Sie dazu brächten, eine derartige Sprache zu reden.« Darzek wandte sich resigniert ab. »Was ist denn das für ein Lärm oben?« fragte er. »Wir schaffen lebenswichtige Vorräte aus den oberen beiden Sektoren nach unten«, erklärte Zachary. »Wir verlassen diese Teile der Kapsel. Alice ist der Ansicht, daß der Rest an Sauerstoff länger vorhält, wenn wir ihn auf ein kleineres Gebiet konzentrieren.« »Sie wird wohl keinem erzählt haben, wieviel Zeit uns bleibt.« »Nein. Ich vermute, daß es nicht mehr als ein paar Tage nach Ihrer Zeitrechnung sind, aber ich habe natürlich keine Ahnung. Allerdings kann es nicht sehr viel länger dauern.« 168
16 Jean Morris setzte das Wasserglas ab und beugte sich vor. »Nicht hinsehen, wir werden beobachtet.« »Was ist los?« fragte Arnold und starrte zur Bar hinüber. »Ach, der. Das ist nur ein Reporter, der mich von Zeit zu Zeit belästigt.« »Er heißt Walker.« »Richtig. Verfolgt er Sie auch?« »Er ist mit Jan befreundet. Kurz nachdem Jan verschwand, tauchte er im Büro auf und wollte ihn sprechen.« »Wenn er nicht im Dienst ist, wirkt er recht sympathisch. Nur schade, daß er immer Dienst hat. Sie sagten, Ed sei nach Brüssel zurückgekehrt?« »Ed kehrte zurück, aber er will nicht aufgeben. Er meint, daß eine Spur allenfalls in Brüssel aufgenommen werden kann.« »Vielleicht hat er recht«, sagte Arnold. »Aber es ist wieder etwas anderes, sie zu finden.« »Hat Ihr Chef schon wegen der Gehälter Schwierigkeiten gemacht?« »Keine Spur. Solange ich die Suche fortsetzen will, wird die Universal Teleport bezahlen.« »Trotzdem, halten Sie das nicht für hoffnungslose Geldverschwendung?« »Morgen ist es erst eine Woche. Nein, ich halte die Lage nicht für hoffnungslos, aber ich meine, daß Darzek auftauchen wird, bevor wir ihn finden. Um es klipp und klar zu sagen: Entweder ist Darzek tot oder er kommt zurück. Was haben Sie?« »Der Reporter kommt herüber.« 169
Ron Walker nahm sich vom Nebentisch einen Stuhl und setzte sich zu ihnen. »Das ist jetzt der dritte Abend hintereinander, daß ich euch zusammen beim Essen ertappe«, sagte er. »Ein schöner Freund, dieser Ted Arnold. Er schickt Darzek fort und macht ihm sein Mädchen abspenstig.« »Seine Bürohilfe«, sagte Jean eisig. »Ach ja, das vergesse ich dauernd«, meinte Walker. »Jan ist gegen die Monogamie.« »Quatsch. Er ist eine Maschine.« »Jan, der Roboter. Wirklich schade, ich habe mir oft Gedanken darüber gemacht.« »Tun Sie immer noch so, als würden Sie Artikel über den Mond schreiben, damit Sie die Spesen für Ihr Nachtleben verrechnen können?« erkundigte sich Arnold. »Wenn Sie auf ein Interview aus sind, kommen Sie um Tage zu spät.« »Da bin ich aber froh. Ich weiß jetzt auch noch nicht mehr als vorher.« »Worum geht es hier eigentlich?« fragte Jean. »Um die Explosion auf dem Mond«, sagte Walker. »Ted gibt sich als Wissenschaftler aus, aber sobald ein wissenschaftliches Problem auftaucht, rennt er davon und versteckt sich.« »Sie sehen, wie er übertreibt«, sagte Arnold. »Haben Sie schon einmal gesehen, daß ich renne? Was gibt es Neues auf dem Mond?« »Niemand will mit der Sprache heraus, aber es dürfte wohl feststehen, daß es ein neues Rennen um den Mond gibt. Die maßgebenden Leute warten mit angehaltenem Atem, weil sie sehen wollen, ob wir vor den Russen da sind.« »Wir sind doch beide schon oben.« 170
»Nicht dort, wo die Explosion stattgefunden hat. Es heißt, daß wir alles daransetzen, eine neue Station auf dem Vulkan zu errichten, oder was das immer gewesen ist, und man vermutet, daß die Russen auf dieselbe Idee gekommen sind. Die US-Weltraumbehörde arbeitet Tag und Nacht, und man befürchtet nur, daß die zweite Station der Russen schon dort sein könnte, bevor man eintrifft.« »Ich dachte, die zweite russische Station befindet sich auf der Rückseite des Mondes.« »Dafür gibt es keine Bestätigung. Sie wissen ja, daß die Russen anders denken als wir. Wir brüsten uns gerne die ganze Zeit ein bißchen. Sie lassen ein paar Triumphe zusammenkommen, damit sie von Zeit zu Zeit großtun können. Die Explosion, wenn es sich um eine solche gehandelt hat, fand so weit entfernt von den vorhandenen Mondstationen statt, daß man die Quelle am schnellsten von der Erde aus erreicht. Daher das Rennen zum Mond. Sehr schade, daß wir nicht ein paar Sender der Universal Teleport auf dem Mond installiert haben, damit ein ehrlicher und tüchtiger Reporter Informationen sammeln könnte, ohne auf die Erklärungen eines Haufens tölpelhafter Wissenschaftler zu warten.« »Ich glaube nicht, daß es sich rentieren würde«, meinte Arnold grinsend. »Täuschen Sie sich ja nicht. Das wäre die größte Attraktion der ganzen Geschichte, ganz zu schweigen von zusätzlichen Vorteilen, die Ihnen jeder halbwegs erfolgreiche Manager klarmachen könnte. Ein Hotel für Flitterwöchner zum Beispiel. Stellen Sie sich vor, was man damit anfangen könnte – Flitterwochen auf dem Mond!‹ Bis heute hat die Universal Teleport Reklame nicht nötig gehabt, aber ihr werdet für solche Ideen noch einmal viel Geld bezahlen.« 171
»Zweifellos«, sagte Arnold. »Aber das geht mich nichts an. Trotzdem – die Probleme wären recht interessant.« »Und ob. Die Flitterwöchner wären entsetzt, wenn sie zur normalen Schwerkraft der Erde zurückkehren müßten.« »Ich habe die wissenschaftlichen Probleme gemeint, und vergessen Sie bitte nicht, daß eine Dame anwesend ist!« »Ist die Schwerkraft nicht ein wissenschaftliches Problem?« »Nicht so, wie Sie meinen. Übrigens wäre ein solches Projekt durchaus einer Überlegung wert. Die Reklame allein könnte man nur in Millionen Dollar ausdrücken.« »Sie meinen, Flitterwochen auf dem Mond?« fragte Walker. »Ich gratuliere schon jetzt. Wollen Sie das schaffen?« »Nicht die Flitterwochen, Trottel. Einen Sender.« Walker richtete sich auf. »Das wäre eine Sensation. Darf ich Sie zitieren?« »Nein. Ich habe noch nichts gesagt. Die mittlere Entfernung zwischen Erde und Mond beträgt 384 000 Kilometer und die Aktenberge, die sich stapeln würden, bevor man zum Ziel käme, würden mindestens ebenso hoch werden. Zum Glück ist Watkins in dieser Beziehung Experte, und er hat sehr gute Beziehungen in Washington. Wenn man vorhat, eine neue Mondstation zu errichten, wird man tonnenweise Vorräte hinaufschaffen müssen, und da wäre sicher auch noch Platz für einen Sender. Sobald er oben installiert wäre, könnte er hundertmal soviel hinauftransportieren, wie er in einer Stunde Platz gebraucht hat. Haben Sie eine Ahnung, wann der Start erfolgen soll?« 172
Walker schüttelte den Kopf. »Das wird geheimgehalten.« »Ich muß mich an die Arbeit machen. Gibt es hier ein Telefon? Entschuldigen Sie mich.« Er hastete davon, wich in letzter Sekunde einem Kellner aus, prallte mit einem Betrunkenen zusammen und entkam schließlich in eine Telefonzelle. »Ein toller Bursche«, sagte Walker. »Kann man wohl sagen.« »Freut mich, daß Sie so denken. Ich dachte, daß keine Frau je dahinterkommt. Aber Vorsicht – die Frau, die Ted Arnold heiratet, muß auch seinen Rechenschieber mit in Kauf nehmen. Er wird das Haushaltsgeld damit errechnen und alles, was in einer Ehe noch anfällt. Vielleicht nimmt er ihn sogar mit ins Bett. Habt ihr beide euch schon auf ein Datum geeinigt?« »Ist das Ihr Ernst, oder sind Sie nebenbei auch Klatschkolumnist? Wir haben nur ein paarmal zusammen gegessen und –« Arnold kam keuchend an den Tisch zurück und starrte sie an. »Ich muß die ganze Nacht arbeiten. Bringen Sie Jean nach Hause, Ron?« »Liebend gerne.« »Es tut mir furchtbar leid, Jean, aber eine solche Gelegenheit ergibt sich nicht jeden Tag. Wir können nicht verlangen, daß die Raumfahrtbehörde auf uns wartet. Wir müssen bereit sein.« »Sie haben Ihre Nachspeise noch nicht gegessen«, sagte Jean. »Das übernimmt Ron für mich. Ich zahle inzwischen. Gute Nacht. Ich rufe Sie morgen an.« »Einen schönen Gruß an Ihren Rechenschieber«, rief ihm Walker nach. 173
Arnold drehte sich um. »Kein Wort davon in die Zeitung, Ron.« »Na ja, schon recht. Unglaublich, was meine Freunde von mir verlangen.« Arnold sprach kurz mit der Kassiererin, deutete auf den Tisch und warf einen Geldschein auf die Theke. Er stürmte durch die Drehtür und war verschwunden. Walker hob verzweifelt die Hände. »Eine Sensation für die erste Seite, und er sagt kein Wort. Er will mir nicht einmal guten Tag sagen, wenn ich ihm nicht verspreche, ihn nicht zu zitieren. Seit Darzek – übrigens, wo ist Darzek?« »Ich habe nicht die leiseste Ahnung.« »Ehrlich?« »Ehrlich.« »Wo er auch ist, eine Sensation steckt bestimmt dahinter. Ich habe Arnold tagelang in den Ohren gelegen und bin überall dorthin gegangen, wo man Jan ab und zu trifft, habe mit allen Leuten gesprochen, die ihn kennen. Wissen Sie was? Darzeks Aufenthalt ist so geheim, daß nicht einmal Darzek weiß, wo er ist.« Perrin unterbrach das Gespräch, entfaltete eine Karte und legte sie auf den Tisch. »Nur damit wir wissen, wovon wir überhaupt reden«, sagte er. »Wo haben Sie sie her?« fragte Arnold. »Von der Staatsdruckerei. Hat achtzig Cent gekostet.« »Das finde ich billig.« »Ist es auch. Hier hat die angebliche Explosion stattgefunden, in dem Krater Abenezra. Und hier ist New Frontier City, am Krater Plinius, wo das Mare Serenitatis an das Mare Tranquillitatis anstößt. Um den Krater Abenezra 174
zu erreichen, müßte man südlich am Mare Tranquillitatis vorbei, und hätte dann immer noch ein paar hundert Kilometer vor sich. Lunaville, im Meer der Stürme, befindet sich in noch ungünstigerer Position, und die russische Station am Archimedes hat überhaupt keine Chance.« »Ich verstehe schon. Das Straßennetz auf dem Mond ist noch recht unterentwickelt.« »Abgesehen von den Maria, kann man kaum in gerader Richtung vorankommen – alle Stationen befinden sich an den sogenannten Meeren, damit man überhaupt Forschungsfahrten unternehmen konnte. Jedenfalls nehme ich an, daß das unsere Absicht war. Was die Russen vorhaben, weiß niemand. Was sagen Sie dazu, Major?« »Ich möchte bezweifeln, ob sich die Russen selbst eingestehen, was sie beabsichtigen«, erklärte Major Gorelick. »Ich darf also davon ausgehen, daß in der Raumfahrtbehörde niemand weiß, ob auf der Rückseite des Mondes eine zweite russische Station existiert. Trifft es zu, daß wir dort eine Station errichten wollen?« »Wir hatten es vor, bis die Explosion stattfand. Sie ist jetzt für den Krater Abenezra vorgesehen, sobald wir ihn erreichen können. Meiner Ansicht nach ist es eine ungünstige Stelle für eine Station, weil es schwerfallen könnte, den Krater wieder zu verlassen, und selbst, wenn wir uns dort etabliert haben, können wir von dort aus wenig unternehmen, aber sie wird dort errichtet. Ich muß Ihnen jetzt sagen, daß Ihr Vorschlag rundweg abgelehnt worden ist und ich nur hier bin, um zu beobachten und Sie, wenn möglich, zu beruhigen.« »Sie werden bald andere Anweisungen erhalten«, sagte Watkins. »Ich habe eben mit dem Präsidenten gesprochen. Die einzige Bedingung ist, daß wir bereit sind, wenn ihr soweit seid.« 175
»Wieviel Zeit bleibt uns?« »Ich bin nur der Bote. Ich würde sagen, vierundzwanzig Stunden.« »Au!« »Und da haben Sie schon Glück. Wenn die Stationen nicht eben erst beliefert worden wären, hätte sich das Unternehmen schneller abwickeln lassen.« »Ihr von der Raumfahrtbehörde reagiert so schnell, daß ihr Generationen hinter der Zeit zurückhinkt«, sagte Arnold gereizt. »Der Rest der Welt bewegt sich seit eineinhalb Wochen durch die Sender vorwärts. Wenn die maßgebenden Leute der Raumfahrtbehörde von Zeit zu Zeit in die Zeitung sehen würden, hätte man nicht gewartet, bis wir uns melden. Mir ist es ganz egal, wohin der Sender gebracht wird – nach New Frontier City, Lunaville oder zu diesem blöden Krater. Sobald wir die Anlage in Betrieb nehmen, wird die Versorgung von der Erde aus schneller gehen, als ich mir unten aus der Kantine ein Sandwich besorgen kann. Vierundzwanzig Stunden lang am Tag können Vorräte hinaufgebracht werden. Wir werden sogar tragbare Empfänger für Ihre Forschungsgruppen konstruieren. Sie sind Monate unterwegs und bekommen den Nachschub direkt von der Erde aus. Um genau zu sein, sie können sich einen normalen Arbeitstag von sechs Stunden gestatten und den Abend und das Wochenende bei ihren Familien auf der Erde verbringen. Wir werden die Reise zum Mond ebenso revolutionieren, wie wir die Reisen auf der Erde revolutioniert haben.« »Ein dreifach Hoch«, sagte Major Gorelick grinsend. »Wenn die Sache nicht so dringend wäre, würden wir vor Freude aus der Haut fahren. Im Augenblick spielt es aber keine Rolle, ob Sie ganz New York in den Krater Abenezra versetzen können – wenn die Russen dort auch nur 176
mit einer Wellblechhütte zuerst ankommen. Warum arbeitet ihr eure Idee nicht in aller Ruhe aus, dann können wir mit einer Nachschubrakete den Sender hinaufschicken. Der Mond ist noch lange da, wir auch, und es kann für euch dort nicht von Bedeutung sein, ob ihr den Mondverkehr jetzt revolutioniert oder erst in einem halben Jahr.« »Was meinen Sie, Ted?« fragte Watkins. »Besteht die Chance, daß wir in vierundzwanzig Stunden fertig sind?« »Die Chance besteht, ja.« »Dann würde ich sagen, strengen wir uns an. Wenn diese Expedition nur aus Prestigegründen ausgerüstet wird –« »Was immer auch im Krater Abenezra passiert sein mag, es kann von großer wissenschaftlicher Bedeutung sein«, murmelte der Major. »Oder auch nicht. Ich habe gelesen, daß viele Wissenschaftler die Explosion für eine Halluzination halten.« »Dann war sie jedenfalls sehr weit verbreitet und hat sich wunderbar fotografieren lassen.« »Fotografieren?« sagte Watkins. »Ich habe nicht gewußt –« »Das hoffe ich auch. Hören Sie – seit Jahrhunderten werden seltsame Phänomene auf dem Mond erwähnt. Beobachter haben geheimnisvolle Lichter, Gaswolken und Farbveränderungen gesehen. Erst 1958 entdeckten russische Wissenschaftler den Ausbruch von Gas im Krater Alfonsus. Der Bericht über den Krater Abenezra enthält zwei bedeutsame Einzelheiten. Erstens passierte die Explosion in einem äußerst günstigen Augenblick, wenn Sie den Ausdruck entschuldigen. Die Sonnenaufgangslinie lag genau über diesem Gebiet, und aus bestimmten Gründen, die die Astronomen am besten verstehen, wird 177
die Bewegung des Sonnenaufgangs über dem Mond häufig verfolgt. Sieben verläßliche Amateure in Europa und Afrika beobachteten das betreffende Gebiet und sahen den ganzen Vorgang. Um den Zufall noch weiter zu strapazieren, stellte ein anderer Amateur eine Reihe von Fotos her, um die Maße des Kraters zu studieren. Erst als er die Negative entwickelte, entdeckte er, daß er zwei gute Aufnahmen der Explosion besaß. Die Beobachter konnten den Blitz deutlich sehen, weil er im Schatten des Kraters entstand und ein paar Sekunden dauerte; sie sahen auch den Ausstoß von ionisiertem Gas, das hoch emporgeblasen wurde. Die Halluzination ist also sehr gut dokumentiert. Der zweite Unterschied ist, daß wir jetzt die Möglichkeit haben, an Ort und Stelle Untersuchungen durchzuführen. Wir haben nicht die Absicht, uns von den Russen überholen zu lassen. Zum Glück konnten wir die Fotos geheimhalten, und wenn die Russen das Ganze für eine Halluzination halten, bis wir im Krater Abenezra gelandet sind, soll es uns recht sein.« »Wissenschaftliche Bedeutung hin, wissenschaftliche Bedeutung her«, sagte Watkins, »in eurem Amt wäre man nicht so von Panik erfaßt, wenn es nicht um das Prestige ginge, und solange die Universal Teleport einen wertvollen Beitrag leisten kann, möchten wir uns auch am Prestigegewinn beteiligen. Für beide Teile wird genug abfallen, wenn wir es schaffen. Wohin wollen Sie, Ted?« »Zum Psychiater, weil ich diesen Vorschlag gemacht habe. Vierundzwanzig Stunden! Wie verpacken wir einen Sender für den Transport zum Mond? Es hat keinen Sinn, ihn hinaufzuschicken, wenn er demoliert ankommt. Man kann ihn auch nicht einfach anschließen und in Be178
trieb nehmen. Er muß umkonstruiert werden für die Energiezufuhr, die auf dem Mond am günstigsten ist, und davon verstehe ich nun überhaupt nichts.« »Dazu haben wir ja nun Major Gorelick hier. Er weiß Bescheid, zumindest weiß er, wo man es erfahren kann.« »Wir müssen auch ein paar Leute für die Bedienung des Geräts ausbilden, da die Raumfahrtbehörde sicher keinen von unseren Ingenieuren mit hinaufschießen wird.« »Wenn es den Leuten gelingt, das Gerät auch nur für kurze Zeit in Betrieb zu nehmen«, meinte Watkins, »schicken wir ihnen einen Ingenieur hinauf. Und in der Zwischenzeit – na ja, ist schon gut. Morgen früh schicke ich Perrin sofort zum Cap Kennedy. Wenn wir Glück haben, könnten wir es schaffen. Aber nur knapp.« Fünf Stunden später, nachdem der letzte Fehler beseitigt, der letzte Einwand zurückgewiesen und die Kaffeekanne leer war, erhob sich Arnold vom Zeichenbrett. »Baut sie«, sagte er. Und man baute sie. Alle Ingenieure des großen Technikerstabs schwitzten auf langen Bänken, die man in einem leeren Raum der New Yorker Station aufgestellt hatte. Arnold ließ die Türen bewachen und erteilte strenge Befehle: Keine Anrufe, keine Boten, keinerlei Störungen. Man baute zwei Doppelfunktionssender, einen für das Cap Kennedy, den anderen für den Mond. Sie wurden auf Batteriebetrieb umgestellt und verfügten über Raffinessen, die bei den anderen Modellen nicht für nötig erachtet worden waren. Die Öffnungen waren kurz und breit, um in erster Linie Behälter von verschiedener Größe aufzunehmen, und obwohl das Personal sich bücken mußte, um hindurchzukommen, erwartete Arnold keine Beschwerden. Ein paar Schritte in gebückter Haltung 179
waren im Vergleich zu dem langen, anstrengenden Raketenflug geradezu angenehm. Am Abend um fünf Uhr siebzehn führten sie die ersten Versuche durch. Um sechs Uhr war einer der Spezialsender und eine der normalen Anlagen zum Cap Kennedy gebracht worden, und man führte Versuche zwischen Cap Kennedy und New York durch. Gleichzeitig wurde eine Mannschaft von Mondfahrern in der Bedienung der Sendeanlagen ausgebildet. Um acht Uhr übergab Arnold einen Spezialsender der Raumfahrtbehörde. Und um drei Uhr nachts stand er mit einer Gruppe prominenter Gäste in einem Bunker und sah die Rakete auf einer Flammensäule in den Himmel steigen. In New York dämmerte es bereits, als Arnold trunken vor Erschöpfung in seine Wohnung stolperte. Eine Gestalt lag in seinem Bett. Ron Walker setzte sich auf und sagte: »Heraus mit der Neuigkeit!« »Sie!« stöhnte Arnold auf. »Wer denn sonst? Ihre Hauswirtin hatte Mitleid mit mir, oder sie dachte, daß das Haus in schlechten Ruf kommt, wenn ich vor der Tür schlafe.« »Sie haben Jean nach Hause gebracht –« »Ich habe sie bescheiden und brav an die Haustür begleitet, obwohl ich nicht der Meinung war, daß sie das nötig hatte. Was sie mir so über ihre Jiu-Jitsu-Kenntnisse erzählte –« »Ich sollte sie heute anrufen – das heißt, gestern.« »Ich habe ihr schon gesagt, daß Sie keine Zeit haben. Was ist los?« »Eine Rakete ist gestartet«, sagte Arnold. »Mit einem Sender.« Er ließ sich auf das Bett fallen, hob noch einmal 180
müde den Kopf und sagte: »Aber Sie dürfen mich nicht zitieren.« 17 Im Sektor über Darzek ertönte ein lauter Schrei, der sofort im Stimmengewirr unterging. Darzek drehte sich verärgert auf die Seite und beschloß, den Vorfall zu ignorieren. Tage oder vielleicht noch Stunden zuvor hätte ihn ein solcher Ausbruch die Leiter hinaufgetrieben. Aber er versuchte hartnäckig, seinem Gehirn Ideen zu entlocken, und aus diesem Grund war er nicht nur unzufrieden mit sich selbst, er fühlte sich auch erschöpft. Nur eines stand für ihn fest: Die fremden Wesen waren vom falschen Mann aufgespürt worden. Ted Arnold hätte sich vielleicht etwas einfallen lassen – aber Arnold hätte auch nicht die Instrumententafel zerstört und die Energieanlage zur Explosion gebracht. Er hätte alles begeistert analysiert und studiert und wäre von den fremden Wesen schließlich überwältigt worden. Niemals wäre Arnold auf den Fersen von Miss X über das Drehkreuz gesprungen. Wenn man davon ausging, daß nur die Begabung Ted Arnolds genützt hätte, sie aus dieser Situation zu befreien, konnte sich Darzek wenigstens mit dem Gedanken trösten, daß nur die Begabung Jari Darzeks sie in diese Lage hatte bringen können. Zachary kam die Leiter heruntergerutscht, mit einer Geschwindigkeit, die Darzek nie bei ihm vermutet hätte. Er öffnete ein Fach in Augenhöhe, und Darzek, der neben ihm stand, sah plötzlich auf die hellerleuchtete Mondlandschaft hinaus. »Was sagt man dazu?« flüsterte er, mit einem Blick die stumpfgraue, flache Ebene und die weit entfernten 181
gezackten Zinnen überfliegend. Es war nicht die Szenerie, die ihn beeindruckte. Sowohl die amerikanische als auch die russische Mondstation hatten weitaus interessantere Bilder geliefert. »Ich hab’ nicht einmal gewußt, daß man hier hinausgucken kann«, sagte er. »Ist das ein Fenster?« »Nein«, erwiderte Zachary. Und fügte hinzu: »Bis jetzt gab es nichts zu sehen.« »Zu sehen ist immer noch nicht viel«, meinte Darzek. Der Blick glitt langsam am runden, steil abfallenden Kraterrand entlang, hob sich wieder hinauf zum schwarzen Himmel. Selbst Darzeks bescheidenes Wissen über den Mond genügte, um ihn erkennen zu lassen, daß sie sich in einem der vielen Krater befanden. Dann sog er den Atem heftig ein und packte Zachary beim Arm. Er hatte die Rakete gesehen. Ihr flammender Abstieg war im Mittelpunkt der runden Scheiben zu verfolgen, als sei eine Fernsehkamera darauf gerichtet. Sie sank unter den Kraterrand, und die Umschaltung auf ein vergrößerndes Objektiv riß sie darauf zu, als sie am Boden aufsetzte und in einer hochquellenden Dampfwolke verschwand. Darzek stöhnte vor Überraschung auf. Die glanzlose, tote Ebene war bei der Landung des Schiffes lebendig geworden, schwoll hoch und schimmerte in kräuselnden Wellenbewegungen darauf zu. »Wasser?« rief er ungläubig. »Staub«, sagte Zachary. Die Dampfwolke verzog sich sofort und gab den Blick auf das Raumschiff frei, das auf spindeldürren Beinen stand und gerade durch seine Symmetrie vor dem Hintergrund der gezackten Unregelmäßigkeit des kleinen Kraterrandes mißgestaltet wirkte. 182
»Das ist eine von unseren Raketen, glaube ich«, sagte Darzek. »Ich meine – sie gehört doch nicht den Russen?« »Die Konstruktion ist amerikanischen Ursprungs. Ihre Leute untersuchen jetzt doch die Explosion unserer Energieanlage. Wir haben uns schon gefragt, ob sie beobachtet worden ist.« »Sie haben sicher recht. Wenn man an die vielen tausend Mondkrater denkt, kann es wohl kein Zufall sein, daß sie gerade hierhergekommen sind. Glauben Sie, daß man uns finden wird?« »Nein. Man wird uns nicht finden.« »Die Explosion muß doch ein ganz schönes Loch gerissen haben.« »Überhaupt nicht. Sie sprengte den Deckel vom Sicherheitsschacht, aber Alice hat ihn ersetzt, während Sie bewußtlos waren.« »Aha. Es liegt wohl an dem Sicherheitsschacht, daß wir die Explosion überlebt haben. Und was ist mit dem da?« Er schlug an die Wand der Kapsel. »Jemand hat doch behauptet, sie sei in ein tiefes Loch eingelassen. Und das ist kein Fenster?« »Nein, ein Teleskop. In jedem Sektor befindet sich eines, angeschlossen an – ich weiß nicht genau, wie ich das erklären soll.« Darzek schlug wieder an die Kapselwand. »Aber sie haben vielleicht Instrumente zum Aufspüren von Metall.« »Auf dieses Metall sprechen sie nicht an«, sagte Zachary. Darzek warf ihm einen Blick zu. Hatte er eine Spur von Gelächter in Zacharys Stimme entdeckt? Bisher war ihm wenig Gelegenheit gegeben worden, diese Gefühlsäußerung zu klassifizieren. Kein Wunder, denn seit Dar183
zeks unwillkommenem Eindringen hatten die fremden Wesen kaum Anlaß zum Lachen gehabt. »Sie werden uns also nicht finden«, sagte Darzek resigniert. »Und ihr werdet selbstverständlich nicht um Hilfe rufen, genauso wenig wie vorher, als man noch die Erde hätte aufmerksam machen müssen.« »Wir haben uns an den Kodex gehalten. Ich sehe durchaus ein, daß es ein schwerer Schlag für Sie ist, Jan Darzek, sterben zu müssen, obwohl Hilfe so nahe ist. Vielleicht war es ein Fehler, Ihnen die Ankunft dieses Schiffes zu zeigen. Wenn unsere Instrumente intakt wären und wir Ihr Gedächtnis auslöschen könnten – aber selbst das würde nicht genügen. Wir müßten eine Erklärung für Ihre Gegenwart auf dem Mond produzieren, und es gibt keine. Wir können also nicht zulassen, daß Sie sich retten.« »Trotzdem sehe ich das Schiff als eine Gelegenheit an.« »Was meinen Sie?« »Vielleicht könnten wir uns mit frischer Luft versorgen.« »Das wird wohl kaum gehen, Jan Darzek. Wenn die Rakete unbemannt ist, wird sie nicht über Luftreserven verfügen. Ist sie bemannt, dann können wir die Vorräte nicht entwenden, ohne zu riskieren, daß man uns entdeckt, außerdem ist die Mannschaft selbst auf die Luftvorräte angewiesen. Wir dürfen nicht andere Wesen zum Tod verurteilen, um unser eigenes Leben zu verlängern. Ich nehme an, daß die Rakete bemannt ist, weil die Navigation sehr präzise war. Ich möchte bezweifeln, daß Ihre Leute so etwas allein mit Instrumenten zuwege bringen. Unglücklicherweise ändert das für uns gar nichts.« »Doch«, sagte Darzek grinsend. »Man wird einen 184
Stützpunkt errichten und den Krater auskundschaften. Wenigstens wird uns etwas geboten, während wir sterben!« Lange Zeit ruhte das stämmige Raumschiff bewegungslos, die Ausläufer seiner schlanken Beine in die rötlichen Schatten des Kraterbodens versenkend. Darzek sah neugierig hinaus. Zum erstenmal begann er sich zu fragen, wo auf dem Mond er sich eigentlich befand. Er fragte Zachary. »Wir befinden uns auf dem südlichen Teil Ihres Mondes, auf der Seite, die der Erde zugewandt ist«, erwiderte der andere. »Ich habe mich über den Schatten gewundert«, sagte Darzek. »Jetzt ist Nachmittag. Eine Woche später wird der Krater im Dunkeln liegen.« »Dann ist also das Teleskop nach – Norden gerichtet?« »Nach Süden. Auf Ihrem Mond geht die Sonne im Osten unter. Wenn wir lange genug zusehen, werden Sie den Schatten des westlichen Walls über den Krater wandern sehen. Warum fragen Sie?« »Nennen wir es Neugierde«, meinte Darzek. »Und ist es jetzt nicht an der Zeit … ?« Ganz plötzlich öffnete sich eine Luke, eine biegsame Leiter entrollte sich, und eine unförmige, schimmernde Gestalt stieg daran hinunter, ungeschickt nach den Sprossen tastend. Eine zweite Gestalt folgte, eine dritte, und die drei umkreisten das Raumschiff mit schweren, steifen Schritten, die den Staub aufwühlten. Plötzlich sprang eine der Gestalten hoch, noch einmal, immer wieder, wie ein kleines Kind, das plötzlich von Begeisterung gepackt wird. Eine zweite Gestalt machte lange, weite Schritte, 185
voll Leichtigkeit und Grazie. Die dritte Gestalt blieb stehen und sah zu. Darzek lachte. »Ich will mal raten«, sagte er zu Zachary. »Das sind zwei Neulinge auf dem Mond, und ein Veteran, der nur darauf wartet, daß sie sich endlich beruhigen, damit sie an die Arbeit gehen können.« »Ich habe mich schon gewundert«, gestand Zachary. »Vieles, was Ihre Leute tun, überrascht mich.« »Das beruht ganz auf Gegenseitigkeit«, versicherte ihm Darzek. Nach einer Weile wurde die Frachtluke geöffnet, und ein Bündel aus silbrigem Stoff wurde zur Kraterwand getragen, entrollt und zu einer langen, niedrigen Hütte mit gewölbten Wänden aufgeblasen. Man leerte die Luke, sortierte den Inhalt, verteilte ihn rund um die Hütte oder trug ihn nach innen. Dann verschwanden die Männer in ihrem Gehäuse – um ihre erste Mahlzeit im neuen Mondstützpunkt einzunehmen, dachte Darzek, den es plötzlich nach einer Tasse Kaffee gelüstete. »Das klappt alles gut«, bemerkte Zachary. »Wahrscheinlich ist es auf der Erde lange genug geübt worden. Aber wozu brauchen sie soviel Platz? Man könnte doch zwei- oder dreimal soviel Leute in der Hütte unterbringen.« »Das dachte ich auch, als ich hierherkam«, meinte Darzek. »Vielleicht ist noch ein Schiff unterwegs.« »Das wäre eine Erklärung. Unsere Stützpunkte sind auf alles vorbereitet, und dieser hier war schon seit vielen von Ihren Jahren eingerichtet.« »Dann waren also früher mehr von Ihrer Sorte hier – als Polizei für die Erde?« »Richtig.« Die Männer tauchten nicht wieder auf, und Darzek 186
wurde es bald zu langweilig, ihre Behausung anzustarren. Er zog sich auf sein Bett zurück, um sich auszuruhen und vom Essen zu träumen. Erst jetzt war ihm zum Bewußtsein gekommen, wie sehr er sich nach normalem Essen sehnte. Nach einer Tasse Kaffee, nach einem Ei – Spiegelei, Rührei, weiches Ei oder roh – nach einem Steak, nach Kuchen. Er schwamm in dem herbeigezauberten Aroma, aber sein Verstand führte ihn immer wieder zu der Hütte zurück, zu ihren Vorräten. Endlich hatte er etwas, womit er sich befassen konnte, und wenn es ihm gelang, etwas Schlaf zu finden und diese Erschöpfung loszuwerden … »Gegrillte Lammkeule«, murmelte er und schlief ein. Abrupt verwandelte sich das Aroma frisch in die Pfanne geschlagener Eier in den scharfen, anhaltenden Geruch der letzten synthetischen Zigarette, die er geraucht hatte, und Zachary rüttelte ihn wach. Er konnte sich vor Aufregung kaum verständlich machen und wies mit zitternder Hand auf das Teleskop. Darzek starrte auf die Scheibe. Dort waren vier Gestalten in silbrigen Anzügen, die ein merkwürdig aussehendes Bodenfahrzeug zusammenbauten. Zwei weitere Männer traten aus der Luftschleuse der Hütte und verfolgten die Arbeit. Andere gingen hin und her und stapelten Vorratskisten rund um die Hütte auf. »Das zweite Schiff muß gekommen sein«, meinte Darzek. Zachary sagte etwas in seiner Sprache, und das Teleskop wurde auf eine geringere Vergrößerung eingeschaltet, gab den Blick auf ein größeres Stück des Kraters frei. Das Schiff stand dort, wo er es zuletzt gesehen hatte. Ein Schiff. »Alle diese Männer waren im Schiff«, fragte Darzek ungläubig. 187
»Nur die drei, die Sie gesehen haben«, erwiderte Zachary. »Dieses – Ding – das sie gebaut haben, kam nicht auf dem Schiff, und sie haben weit mehr Material aus der Hütte gebracht, als hineingetragen wurde.« »Sie können aber doch nicht Männer, Fahrzeuge und Vorräte aus dem Zylinder ziehen.« »Aus einem Sender«, sagte Zachary. »Es kann nur so sein, daß sie einen ihrer Sender mit heraufgebracht haben.« »Einen Sender?« Darzek begriff nicht sofort, aber als ihm klar wurde, was das bedeutete, wuchs seine Erregung. »Dann kommen diese Sachen direkt von der Erde herauf?« »Und die Männer«, ergänzte Zachary. »Donnerwetter! Ted Arnold wird inzwischen Purzelbäume schlagen, und die Aktien der Universal Teleport sind mindestens um weitere hundert Punkte gestiegen. Wenn ich je zur Erde zurückkomme, kann ich mit dem Arbeiten aufhören.« »Das wird Ihrer Mondforschung natürlich starke Impulse geben. Wir haben uns schon gefragt, wie lange es dauern wird, bevor Ihre Leute auf diese Idee kommen!« »Ich habe nie daran gedacht«, sagte Darzek. »Warum auch? Der Mond war für mich nichts Besonderes, bevor ich hierherkam, und selbst von diesem Augenblick an habe ich mich mit ihm nicht allzu sehr abgegeben.« Zachary schwieg. Er lauschte den Stimmen im Sektor über ihnen. Zum erstenmal seit Darzeks Eindringen unterhielten sich die fremden Wesen lautstark miteinander. Im neuen Stützpunkt arbeitete die verstärkte Gruppe mit einer an Wunder grenzenden Geschwindigkeit und Präzision. Das Mondfahrzeug rollte auf den aufgepump188
ten Reifen davon, um den Krater zu umrunden. Einzelne Gruppen machten sich zu Fuß auf den Weg, um die Kraterwände zu untersuchen. Laufend trafen Vorräte ein. Ein zweites Gebäude wurde aufgeblasen, größer als das erste. Man stellte eine Funkantenne auf. »Man richtet sich auf einen langen Aufenthalt ein«, bemerkte Darzek. »Ich halte es für wahrscheinlicher, daß man Ihrem Sender nicht ganz traut.« »Wie kommen Sie darauf?« »Wenn der Sender versagt, wäre es schwierig, so viele Leute zu versorgen. Man will offenbar Reserven anlegen.« Eine Gruppe der zu Fuß gehenden Mondfahrer näherte sich der Kapsel – kam so nahe heran, daß man hören konnte, wie sie mit Hämmern an den Fels schlugen. Zachary schien unbesorgt zu sein. »Wollen Sie nicht Ihr Periskop einziehen?« fragte Darzek. »Periskop?« wiederholte Zachary verständnislos. »Wir haben kein Periskop.« »Wie funktioniert denn dann dieses Ding?« fragte Darzek und wies auf die Bildscheibe. »Nicht wie ein Periskop.« Mehr erfuhr Darzek darüber nicht. Aber sonst blieb ihm eine Veränderung im Gebaren der fremden Wesen nicht verborgen, als habe ihre Angst einen neuen Anstrich erhalten. Zuerst führte er das auf die verständliche Besorgnis zurück, daß eine der Suchgruppen sie finden würde, denn er konnte nicht glauben, daß die Explosion keine Spuren hinterlassen hatte. Nachdem mehrere Gruppen um sie herumgegangen, über sie hinweggeschritten und sogar den Kraterwall über ihnen erstiegen 189
hatten, war er zu der Schlußfolgerung gezwungen, daß die fremden Wesen in der Kunst der Tarnung wahre Genies waren. Es stand außer Zweifel, daß die Beobachter auf der Erde den Ort der Explosion ausgemacht hatten, denn die Forschungsteams konzentrierten sich auf ein schmales Stück des Kraterwalls. Ebenso stand aber auch fest, daß sie nichts finden würden. Darzek schrieb dem Mond ein neues Rätsel gut, ein paar aufmerksamen und tüchtigen Astronomen einige Bestürzung, und wandte seine Aufmerksamkeit einem neuen Rätsel der fremdartigen Psychologie zu. Warum diese zunehmende Spannung, diese Unsicherheit, die einfach nicht mehr zu übersehen war? Sie fürchteten Jan Darzek. Die legere Freundschaft zwischen ihm und Zachary nahm ein schnelles Ende. Jede seiner Bemerkungen rief unter den fremden Wesen heftige Diskussionen hervor, als analysiere und prüfe man sie gründlich. Jede seiner Bewegungen erregte Aufmerksamkeit. Er wurde nie alleingelassen. Nicht nur blieb stets eines der fremden Wesen in seinem Abteil, ein zweites beobachtete ihn heimlich von oben. Einmal, als er sich eine seiner synthetischen Zigaretten holte, sah er die Waffe der fremden Wesen glitzern. Er fragte sich, warum sie ihm seine Pistole nicht abnahmen. Anscheinend hinderte sie eine merkwürdige Klausel in ihrem Kodex daran, ihm sein Eigentum abzunehmen oder seine Bewegungsfreiheit einzuschränken, bis sein Eigentum oder seine Freiheit zu einer Bedrohung werden konnte. Aber sie waren wachsam, und sie warteten. Sie schätzten ihren Kodex höher ein als ihr Leben, und sie befürchteten, sie erwarteten, daß er versuchen würde, sie zu verraten. 190
Irgendwie empfand er Mitgefühl für sie. Sie kamen gar nicht auf die Idee, daß seine Pläne nur darauf gerichtet sein mochten, ihnen das Leben zu retten. Aber das führte zu einer interessanten Frage, sagte sich Darzek. Wie stellen sie sich vor, daß ich das mache? Soll ich vielleicht niesen, wenn jemand in der Nähe vorbeikommt? Zum Fenster laufen und um Hilfe rufen? Die Tür öffnen – Er ließ sich auf sein Bett fallen und murmelte vor sich hin: »Mr. Darzek, es wird langsam Zeit, daß du wieder mal Detektiv spielst.« »Wie meinen Sie?« sagte Zachary. »Nichts, gar nichts«, sagte Darzek und winkte ab. Die Tür. Alle Logik sprach dafür, daß es irgendwo einen Ausgang geben mußte, und wenn es auch gefährlich sein mochte, Logik auf das Verhalten fremder Wesen anzuwenden, so gab es doch auch gewisse Hinweise. Alice hatte den durch die Explosion hervorgerufenen Schaden behoben. Sie hatte einen Deckel, eine Kappe, einen Stöpsel ersetzt und alle äußerlichen Spuren beseitigt. Wie war sie hinaufgekommen? Oder hatte sie das von innen aus bewerkstelligen können? Darzek genehmigte sich als Hypothese eine Tür. Die nächste Frage war schwieriger. Wie erwarteten sie, daß er sie benutzen würde? Sollte er sie einfach aufreißen und in die Arme der Mondfahrer springen? Er würde tot sein, bevor sie auf ihn aufmerksam würden. Glaubten sie, daß er sie anrufen, dann die Tür zuknallen und warten würde, bis sie einen Mondanzug brachten? Schall wurde auf der Oberfläche des Mondes nicht weitergeleitet – das schien er gelesen zu haben –, und außerdem hätten sie ihn in ihren Anzügen auch gar nicht hören 191
können. Konnte er die Tür offenstehen lassen – sie mußte eine Luftschleuse besitzen, wie die Hütten –, um dadurch die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen? Vielleicht. Die Tarnung war zweifellos vollkommen, aber wenn es ihm gelang, sie zu öffnen, mußte er doch wohl Erfolg haben. Darzek empfand das als naiv – aber man konnte nie wissen. »Warte!« murmelte er vor sich hin. Wenn Alice nach draußen gegangen war, um die Explosionsschäden zu beheben, mußte sie einen Raumanzug besitzen. Vielleicht verfügen alle fremden Wesen über solche Anzüge. Wenn er sich mit Hilfe seiner Pistole in den Besitz eines dieser Anzüge setzte, was konnte ihn daran hindern, hinüberzuschlendern, um sich den Stützpunkt von der Nähe aus anzusehen? »Das ist es!« sagte er. Das war die einzige Erklärung, die vernünftig klang. Aber wo bewahrten sie die Anzüge auf, und wo, zum Teufel, befand sich die Tür? Vielleicht waren beide nur auf Armlänge von ihm entfernt, aber er hatte keine Möglichkeit, das in Erfahrung zu bringen. Er war bestrebt gewesen, in der Kapsel nicht herumzuschnüffeln, als er Gelegenheit dazu gehabt hatte, und das bedauerte er jetzt. Aber wenigstens hatte er einen Einfall. Er ging zu seinem Schrank, ohne auch nur für einen Augenblick zu vergessen, daß er von oben beobachtet wurde, und holte seine Uhr heraus. »Wie spät ist es in New York City?« fragte er Zachary. »Ich weiß es nicht«, erwiderte Zachary. »Aber warum fragen Sie?« »Schon gut. Es geht auch so.« Er hatte die schwierigste Aufgabe seiner ganzen Detektivlaufbahn vor sich. 192
18 Darzek beobachtete unablässig den neuen Mondstützpunkt, schlief kurze Zeit, wenn er Schlaf nötig hatte, dann sprang er wieder an das Teleskop, voll Angst, etwas versäumt zu haben. Der heranflutende Schatten des östlichen Kraterrandes kam näher, kroch unbarmherzig auf die silbrigen Gebäude zu. Darzek mußte immer wieder hinsehen – voll Unsicherheit, weil der Schatten dahinzurinnen schien wie die unwiederbringlich ablaufende Zeit. Und er wußte nicht, wieviel Zeit ihm noch blieb. In den ersten vierundzwanzig Stunden wurde rings um den Stützpunkt wütend gearbeitet. Am zweiten Tag ließ das Tempo etwas nach, aber erst in der Mitte des dritten konnte Darzek Spuren einer gewissen Routine entdecken. Ein paar beiläufige Fragen an Zachary, die unschuldige Bitte, vom Krater soviel zu zeigen wie möglich, und alles war plötzlich kristallklar. Darzek zog sich befriedigt auf sein Bett zurück, um zu überdenken, was er in Erfahrung gebracht hatte. Es gab auf dem Mond zweifellos ungünstigere Orte für die Errichtung eines Stützpunktes als diesen Krater, aber man mußte sie sicher mit der Lupe suchen. So kam es Darzek jedenfalls vor. Die Wälle waren sehr hoch, und selbst wenn es ausgebildeten Leuten gelungen wäre, daran hochzuklettern oder sich den Weg freizusprengen, hätte sich die Mühe kaum gelohnt. Wohin sollte man sich wenden? Der Krater befand sich, wie ihm Zachary versicherte, unmittelbar am Rande einer der größten Wüsteneien des Mondes. Von außen konnte man ihn praktisch nicht erreichen, und die Umgebung war vom Inneren aus nahezu unzugänglich. Aus diesem Grund hatten die 193
fremden Wesen sich liier niedergelassen. Der Krater bot nichts, was nicht in Hunderten anderer, günstiger placierter Krater zu finden gewesen wäre, und die fremden Wesen hatten zuversichtlich damit gerechnet, daß sie hier unbelästigt bleiben würden. Plötzlich war dieser obskure Krater wichtig geworden. Man hatte am nördlichen Wall Feuer aufleuchten sehen. Die Wissenschaftler der Erde hielten das Ereignis für bedeutend genug, um eine eigene Expedition zu rechtfertigen. Die anderen Nachteile blieben jedoch, und im normalen Ablauf hätte die Expedition, sobald man zur Überzeugung gelangt wäre, daß die Explosion oder Eruption ohne Spuren verlaufen war, ihren Zweck erfüllt. Das Schiff hätte den Rückzug zur Erde angetreten oder die Mannschaft in eine andere, interessantere Gegend des Mondes verfrachtet. Aber es gab etwas, das den normalen Ablauf der Dinge hinderte. Zur Ausrüstung der Expedition gehörte ein Sender, und er funktionierte. Jeder konnte den Mond mit nicht mehr Mühe besuchen, als es ihn kostete, durch eine Tür zu treten, und der Umfang der Vorräte, der jeden Tag der Expedition zugeführt werden konnte, war nur durch die Menge der Waren begrenzt, die sich in vierundzwanzig Stunden durch dieselbe Tür schieben ließen. Es war vielleicht bedauerlich, daß dieser unerwartete Reichtum sich nicht nach New Frontier City oder Lunaville dirigieren ließ, aber das spielte keine Rolle. In Kürze würde man neue Sendeanlagen hinaufschicken. In der Zwischenzeit hatte man es hier mit diesem abgelegenen Krater zu tun, der unwichtig und wenig aufregend war, weil offenbar keine Explosion stattgefunden hatte, aber alles, was sich durch einen Sender hinaufschicken ließ, kam dort an. 194
Gab es eine bessere Möglichkeit, Neulinge auf dem Mond auszubilden? Sie konnten sich an die Schwerkraft, an die Raumanzüge, an die Fahrzeuge, an die Umwelt gewöhnen, konnten Expeditionen auf der anderen Seite des Kraters unternehmen und an sorgfältig ausgewählten Hängen des Kraterwalls Kletterübungen machen. Der Krater umschloß sie wirksamer, als ein Zaun das je vermocht hätte. Sie konnten Verstecke finden, aber es würde ihnen schwerfallen, sich zu verirren. Außerdem konnten sie sich dieser Ausbildung unterziehen, ohne teure, mit Raketen herauftransportierte Vorräte zu verbrauchen. Sie konnten am Ende des Tages zu ihrem Stützpunkt auf der Erde zurückkehren, ja sogar zum Essen, wenn das der Übungsplan gestattete. Zum erstenmal in der Geschichte der Monderforschung war der Vierundzwanzigstundentag der Erde mehr als ein abstrakter Rahmen. Darzek fragte sich, wie die schrulligen Bewohner von New Frontier City und Lunaville auf die Sendeanlage reagieren würden. Vor ihren ungläubigen Augen verwandelte sich die feindselige Umwelt in einen ungefährlichen, ja bequemen Spielplatz. Als Darzek diesen Gedankengang bis zu seinem logischen Ende verfolgt hatte, fiel es ihm nicht schwer, die Routinearbeiten im neuen Stützpunkt auseinanderzuhalten. Die Neulinge trafen jeden Tag zweimal ein und marschierten hinaus, um sich zwei Stunden auf der Mondoberfläche zu tummeln. Jeden Morgen nach Erdzeit erschienen drei Männer, offenbar Wissenschaftler, untersuchten den Kraterwall mit Instrumenten und kehrten am Abend nach Hause – zur Erde – zurück. Es gab zahllose Touristen, deren Prominenz sich unter den Raumanzügen verbarg. Sie benützten den Sender, um erstmals den 195
Mond von der Nähe aus zu sehen, sie gafften, gingen vorsichtig umher und kehrten wieder zur Erde zurück. Und da waren drei Männer, die als Verwalter fungierten. Sie blieben im Stützpunkt und behielten den regelmäßigen Wechsel von Erdentag zu Erdennacht bei. Diese Männer interessierten Darzek ungemein. Offenbar hatten sie sich in der kleineren Hütte niedergelassen, wo der Sender stand, aber bald wurde es ihnen zu ungemütlich, und am zweiten Tag zogen sie in das größere Lagergebäude um. Darzek bedankte sich im stillen bei ihnen. Die Wissenschaftler besaßen eine eigene kleine Hütte, die sie in der Nähe ihres Arbeitsgebietes errichteten. Sie war vermutlich für irgendeinen technischen Zweck gedacht, aber Darzek nahm an, daß man sie vorwiegend für das gemeinsame Mittagessen und die Kaffeepausen verwendete. Die Wissenschaftler verfügten auch über ihr eigenes Fahrzeug – es gab inzwischen vier Stück im Krater – und sie konnten alle Neulinge zur Arbeit heranziehen. Der dritte Tag schien friedlich zu Ende zu gehen. Die Neulinge verschwanden am späten Nachmittag, die Wissenschaftler am Abend. Die drei ständigen Bewohner gingen gemütlich umher, stapelten Vorräte auf und schafften Ordnung. Schließlich zogen sie sich in ihre Hütte zurück. Darzek sah in regelmäßigen Abständen hinaus, bis Mitternacht, nach seiner Berechnung. Sein Plan war fertig. Er mußte nur noch eines in Erfahrung bringen: Wieviel Zeit hatte er? Er sagte zu Zachary: »Ich finde, daß wir eine Konferenz abhalten sollten.« »Gerne. Worüber möchten Sie sich unterhalten?« »Daran sollten alle teilnehmen.« »Wie Sie meinen.« 196
Sie stiegen die Leiter hinunter und stellten sich rings um ihn auf. Ihre Gesichter waren ausdruckslos wie immer, und trotzdem glaubte er ihre Gefühle genau zu kennen. Die fremden Wesen waren argwöhnisch, entsetzlich argwöhnisch. Sie rechneten mit faulen Tricks, und sie hatten Angst. Darzek stand mit dem Rücken zu einem Schrank. »Ich hab’ einen Plan«, verkündete er, »aber ich muß etwas in Erfahrung bringen. Wieviel Zeit bleibt mir, um ihn in die Tat umzusetzen?« »Alice meinte, daß wir lieber nicht fragen sollen«, erwiderte Zachary. »Fragen Sie sie – lassen Sie es. Zuerst muß ich begründen, warum sie sich irrt. Ihr habt einen Kodex. Ihr habt geschworen, euch an ihn zu halten. Ich möchte auch diesen Schwur leisten. Welche Zeremonie würden Sie mir empfehlen?« Es wurde totenstill. Nach einer Weile stellte Alice eine Frage, bekam Antwort und die fünf fremden Wesen starrten über Darzek hinweg. »Wir kommen nicht mit«, sagte Zachary. »Warum möchten Sie auf unseren Kodex schwören?« »Warum nicht?« fragte Darzek. »Ist er nicht gut?« Er bekam keine Antwort. »Ich habe einen Plan, der uns alle retten kann – retten, so, wie Sie sich es vorstellen. Um ihn auszuführen, müssen wir zusammenarbeiten. Ich muß daher Ihren Kodex ohne Vorbehalte akzeptieren, und Sie müssen mich als einen der Ihren ansehen. Ich habe lange darüber nachgedacht. Es gibt keinen anderen Weg.« »Wir haben es uns auch lange überlegt – ob wir uns retten können«, meinte Zachary. »Es gibt keine Methode, die nicht zu riskant wäre.« 197
»Wir kommen nicht weiter, wenn wir streiten«, sagte Darzek ungeduldig. Er hob die rechte Hand. »Ich schwöre bei allem, was euch und den Menschen heilig ist, daß ich Ihren Kodex ehren und befolgen werde, soweit ich ihn kenne. Genügt das?« »Durchaus«, sagte Zachary. »Ich wüßte nicht, wieso das unsere Lage verändert, aber vielleicht ziehen Sie es vor, für eine gerechte Sache zu sterben.« »Ich möchte lieber für eine gerechte Sache leben. Sie haben gesagt, daß Sie einen Stützpunkt in New York City haben. Gibt es dort einen Sender?« »Gewiß.« »Funktioniert er noch?« »Er tritt automatisch in Betrieb, sobald –« »Schon gut. Würde er jetzt funktionieren, wenn Sie Zugang zu dem Sender draußen im Stützpunkt hätten und ihn auf diese Anlage einstellen könnten?« »Selbstverständlich. Glauben Sie mir, Jan Darzek, wir haben auch das überlegt. Es bedürfte vielleicht drastischer Veränderungen, um diesen Sender auf den unseren einzustellen. Das dauert zu lange. Wir sind überzeugt davon, daß niemand von uns den Stützpunkt erreichen und an dem Sender arbeiten kann, ohne entdeckt zu werden. Wir dürfen dieses Risiko nicht eingehen.« »Jetzt sehen Sie die Sache mal von meinem Standpunkt aus«, meinte Darzek. »Ich verstehe diese Leute, wie es Ihnen nie gelingen wird. Und ich weiß, was dort vorgeht. Ich würde nicht dasselbe Risiko eingehen wie Sie, einfach, weil ich ein Mensch bin und mich aus jeder Schwierigkeit herausreden könnte. Wer von Ihnen auch an dem Sender arbeitet, ich könnte ihn unterstützen, aber ich muß wissen, wieviel Zeit uns bleibt. Nur um sicherzugehen, hätte ich gern noch einen Tag gehabt, um meine Beobachtungen zu 198
überprüfen. Wollen Sie Alice fragen, ob unsere Luft noch – sagen wir, sechsundzwanzig Stunden – reicht?« Die fremden Wesen starrten ihn an, oder vielmehr an ihm vorbei. Zachary übersetzte seine Frage, und lange Zeit schwieg Alice. Plötzlich sah sie Darzek an. Noch nie zuvor hatte einer von ihnen seinen Blick erwidert, und er bemerkte erstaunt, daß ihre farblosen, tiefliegenden Augen ein wenig leuchteten. Dann sagte sie ein Wort – ein einziges Wort. »Nein«, dolmetschte Zachary. »Nein? Dann muß heute gehandelt werden. Sofort. Sie schlafen jetzt, und bis zum Morgen bleibt uns genug Zeit. In zwei oder drei Stunden müßte alles erledigt sein. Haben wir noch drei Stunden?« Zachary dolmetschte. Alice schwieg. »Sagen Sie mir das eine«, forderte Darzek. »Ihr habt doch Raumanzüge, nicht wahr?« »Wir haben nur einen Vakuumanzug«, sagte Zachary. »Für Notfälle. Wir sind nicht hierhergekommen, um Ihren Mond zu erforschen.« »Das tut mir leid. Ich habe mindestens auf zwei Anzüge gehofft. Das heißt, daß wir einen aus dem Stützpunkt stehlen müssen.« »Das kann nicht Ihr Ernst sein«, sagte Zachary. »Erwarten Sie, daß das Zeug herumliegt?« »Natürlich. Wenn so viele Besucher kommen, müssen Ersatzanzüge vorhanden sein. Ich habe einen Anzug auf dem Fahrzeug der Wissenschaftler liegen sehen, und es gibt sicher eine ganze Reihe davon im Stützpunkt. Bleiben uns drei Stunden?« Zachary übersetzte wieder. Alice sah Darzek lange an, dann öffnete sie den Mund. Sie sagte nein. 199
19 Darzek sah die stummen Wesen entgeistert an. Er hatte drei Tage lang fast keinen Schlaf gehabt und war völlig erschöpft. »Wieviel Zeit haben wir denn noch?« fauchte er. Alice sprach einige Sätze, und Zachary dolmetschte. »Wir sind beim letzten Reservetank angelangt, und die Anzeige steht auf ›leer‹. Sie ist vielleicht nicht ganz genau geeicht, aber es kann keinen Zweifel daran geben, daß uns nur noch wenig Zeit bleibt. Sobald der Tank leer ist, haben wir nur noch die Luft in diesen beiden Abteilen, und wir verbrauchen die Luft viel schneller als ihr Menschen, Jan Darzek. Wir bedauern es sehr, Ihren Plan nicht verwenden zu können, aber Sie sehen selbst, daß es einfach zu spät ist.« »Wenn wir uns sofort an die Arbeit machen, können wir es vielleicht in einer Stunde schaffen. Was haben wir schon zu verlieren?« »Alles«, sagte Zachary. »Ja. Sie haben natürlich recht, aber wenn wir es richtig anpacken, haben wir gar nichts zu verlieren. Versuchen wir es wenigstens mit dem ersten Schritt, sehen wir, ob wir einen zweiten Raumanzug in die Hände bekommen können. Wo ist der Ihrige?« Die Stille hielt lange an. Darzek sah von einem leeren Gesicht zum anderen und hoffte verzweifelt, nicht die Pistole ziehen zu müssen. Er starrte Zachary erwartungsvoll an, aber zu seiner Überraschung war es Ysaye, der sich bewegte. »Ich hole den Vakuum-Anzug«, sagte der junge Mann und öffnete einen hohen Schrank. Er zog den Anzug heraus und überreichte ihn Darzek. 200
»Er wird Ihnen nicht passen«, meinte er. »Er wird«, sagte Darzek grimmig, aber als er das riesige Ding ansah, wurde ihm mulmig zumute. Es war aus weichem, schwärzlichem Stoff, und der Lufttank ragte wie eine dicke Wurst hinten heraus. Der Anzug war für die Statur der zweieinhalb Meter großen Alice oder Gwendolyn gedacht. »Ich sehe schon, was Sie meinen«, sagte Darzek. »Aber es wird gehen. Es muß gehen. Ist der Tank gefüllt?« »Ja, der Anzug ist ja für Notfälle vorgesehen«, sagte Ysaye. »Wenn das keiner ist, dann weiß ich es wirklich nicht … Wo finde ich den Ausgang?« Ysaye wandte sich wieder dem Schrank zu, kräuselnd öffnete sich dahinter eine Tür und gab den Blick auf einen langen Tunnel frei, der schräg abwärts führte und an einer Wand endete. Er war hell erleuchtet. »Gut«, sagte Darzek. »Na los, helfen Sie mir in den Anzug. Die anderen können zusehen, und wenn ihr zu beten versteht, kann das auch nichts schaden. Ich komme bald zurück – hoffentlich.« Die anderen hatten sich weder gerührt noch den Mund aufgetan, aber als Darzek auf den Tunnel zutrat, sprang ihm Zachary in den Weg, und Xerxes riß die glitzernde Waffe aus seiner Kleidung. Darzek sprang zur Seite, und als die volle Wirkung der Waffe Zachary traf, ließ er die Handkante brutal auf Xerxes’ Arm niedersausen. Der Arm schien zu brechen und sank schlaff herab. Die Waffe fiel zu Boden. Zachary blieb regungslos am Tunneleingang liegen, und Xerxes betrachtete gelassen seinen verletzten Arm. »Sie sind mir ein Schütze!« sagte Darzek. »Nur mit 201
dem Zielen hapert es noch ein bißchen. Sie müssen üben. Wenn ich mal Zeit habe, bringe ich es Ihnen bei.« Er nickte Ysaye zu, der Zachary wegzog. Sie traten gemeinsam in den Tunnel. »Kümmert euch um Zachary«, sagte Darzek und ließ die Tür hinter sich zukräuseln. Sie gingen schnell den abfallenden Weg hinunter. »Ist das die Innentür einer Luftschleuse?« erkundigte sich Darzek. »Ja. Ja, so könnte man es nennen.« »Die Außentür wird wie ein Stück Felswand aussehen. Wie bringe ich sie auf, wenn ich zurückkomme? Wie finde ich sie überhaupt?« »Zurückkommen?« wiederholte Ysaye. »Sie kommen zurück?« »Klar.« »Ich verstehe. Sie bringen Ihre Leute her.« »Durchaus nicht! Haben Sie nicht gehört, was ich über meinen Plan erzählt habe?« »Ich dachte, Sie meinen das nicht ernst«, sagte Ysaye nur. Darzek starrte ihn verblüfft an. »Warum helfen Sie mir denn dann eigentlich?« »Weil ich nicht will, daß Sie sterben müssen.« Ihre Blicke trafen sich, und Darzek ergriff die kalte, trockene Hand des fremden Wesens. Er hatte noch nie soviel für ein anderes Lebewesen empfunden. Ysayes Einsamkeit, seine völlige Isolierung ließen ihn den Kodex verletzen, um der bescheidenen Gesten der Freundschaft willen, die Darzek ihm bezeigt hatte. Was ihn diese Entscheidung kostete, konnte Darzek niemals ahnen. »Ich glaube«, sagte Darzek langsam, »daß man als Ihr Freund mehr empfängt, als man begreifen kann.« 202
Er wandte sich abrupt ab. »Den Anzug«, sagte er. Er fiel in weitem Faltenwurf über ihn, und es war ihm, als schwimme er darin. Der Helm war so groß, daß er den Kopf weit vorstrecken mußte, um durch die Scheibe sehen zu können. Die Gelenke waren verstellbar, ebenso ein gürtelartiger Zug um den Leib, aber dazwischen blähte sich der übergroße Anzug auf gefährliche Weise. Die aufgeblasenen Beine rieben aneinander, die Anzughände glitten selbst bei geringem Innendruck davon und baumelten leer an den langen Armen. Darzek nahm den Helm ab und sah den aufgeblähten Bauch in schlaffen Falten zusammensinken. »Irgendwie geht es schon«, sagte er. »Wie funktioniert die Außentür?« »Sie wird nach außen aufgeschoben. Sie öffnet sich auf – auf Scharnieren.« »Und wie bekomme ich sie von außen auf?« »Überhaupt nicht«, erwiderte Ysaye. »Sie ist nur für Notfälle gedacht. Man muß sie abstützen.« »Das gefällt mir gar nicht«, meinte Darzek düster. »Aber wenn man sie offenhalten muß, bleibt eben nichts anderes übrig. Mit einem Felsbrocken klappt es schon. Sie warten hier, falls sie mir zufällt. Wenn ich nicht wieder hereinkann, bleibt mir nichts anderes übrig, als zum Stützpunkt zu gehen und mich dort bekannt zu machen. Das verstehen Sie doch?« »Ich – ja, ich verstehe.« Darzek klappte den Helm wieder herunter und schob die runde Tür auf. Sie öffnete sich leicht und fiel hinter ihm zu. Ob sie zufiel, einschnappte oder sich lautlos hinter ihm schloß, vermochte er nicht zu sagen, weil er sich in lautloser Leere bewegte. Es sah keine Tür vor sich und stemmte sich einfach gegen die Wand. Ein gezacktes 203
Stück davon öffnete sich nach außen und drehte sich. Er trat hinaus, in den trüben Schatten, der den östlichen Kraterteil einhüllte, und hielt die Tür fest, bis er Gesteinsbrocken davor aufhäufen konnte, damit sie nicht zufiel. Dann wich er zurück und studierte ein paar Minuten lang den steilen Kraterwall. Die Tür war so gut eingepaßt, daß man sie trotz des klaffenden Spalts nur von nächster Nähe aus erkennen konnte. Er brauchte ein paar Beziehungspunkte, um nachher nicht lange suchen zu müssen. Als er endlich zufrieden war, drehte er sich um und besichtigte die, Umgebung. Er sah nach oben, und die Sterne erstrahlten, zu Tausenden und Abertausenden, von greller Leuchtkraft, ohne Funkeln. Auf dem Kraterrand balancierte eine schimmernde Sichel – die Erde im Zuoder Abnehmen begriffen, aber darum scherte Darzek sich nicht. Er machte sich auf den Weg, dem Kraterwall hundert Meter weit folgend, stolperte über lockeres Gestein, wich riesigen Felsblöcken aus, die aus dem Kraterrand erodiert waren. Darzek machte sich keine Gedanken über die Art des Verfalls auf dem Mond, er verfluchte nur die Hindernisse. Auf ebenem Boden schien der Staub keine Fußabdrücke aufzunehmen – sie wurden sofort wieder aufgefüllt –, aber überall sonst ließ er sich wegkratzen, und das Abrutschen des Gerölls zeigte ebenfalls seine Route an. Darzek bezweifelte, daß irgend jemand in der Lage gewesen wäre, seine Spuren von denen der Suchteams zu unterscheiden, aber er machte vorsichtshalber einen weiten Umweg, um nicht eine direkte Spur zur Kapsel der fremden Wesen zu legen. Schließlich lief er den langen Abhang zum Stützpunkt hinunter. Erst als seine Schritte länger wurden und er versuchte, 204
sich die geringe Schwerkraft des Mondes zunutze zu machen, wurde ihm klar, daß er in einem tödlichen Kampf mit dem Vakuumanzug der fremden Wesen verwickelt war. Das Ungetüm schien hartnäckig bestrebt zu sein, in seine natürliche Form zurückzukehren. Seine Füße rutschten nur allzuleicht aus den großen Latschen des Anzugs, und sobald er einen langen Schritt machte, schnellte ein Bein, vom Knie bis zum Fuß, in voller Länge heraus und geriet ihm zwischen die Füße. Er hielt den Ärmel verzweifelt fest und spürte bald, daß seine Hände sich verkrampften. Die aneinander reibenden Beine begannen ihm Sorgen zu machen. Er fragte sich, ob der aufgeblähte Rumpf es ihm erlauben würde, sich vorzubeugen. Es war ihm ungemütlich warm; die Glieder dagegen erstarrten vor Kälte. Er taumelte schwitzend weiter. Das Periskop der Fremdlinge hatte ihn dazu verleitet, die Entfernungen falsch zu schätzen. Er hatte den Stützpunkt nicht weiter als einen guten Kilometer entfernt vermutet, mußte aber bald einsehen, daß er mindestens fünf Kilometer zurückzulegen hatte. Was sind schon ein paar Kilometer auf dem Mond? dachte er unverzagt. Dann überquerte er die Schattengrenze, und die Sonnenhitze überfiel ihn schlagartig. Einen entsetzlichen Augenblick lang überwältigte ihn die Hitze. Der Raumanzug reagierte jedoch sofort, und Darzek begann sich beinahe wohlzufühlen. Er verlangsamte den Schritt, als er sich dem Stützpunkt näherte, aber nur, um nicht durch seinen Schwung weitergetragen zu werden. Er hatte sich schon entschieden, daß es reine Zeitverschwendung war, sich vorzusehen. Der Stützpunkt bot keine Möglichkeit, sich zu verstecken – nicht 205
für jemand, der hier oben gar nichts zu suchen hatte und außerdem noch einen mißgestalteten, auffälligen Vakuum-Anzug trug. An beiden Gebäuden gab es keine Fenster, wofür Darzek dankbar war. In beide Türen der Luftschleusen hatte man jedoch kleine Fenster eingesetzt, um Zusammenstöße zu vermeiden oder, was wahrscheinlicher war, zu verhindern, daß beide Türen gleichzeitig geöffnet wurden. Darzek ging sofort zu der Hütte mit dem Sender, warf einen kurzen Blick durchs Fenster und trat ein. Die Hütte wurde vom eindringenden Sonnenlicht sanft erhellt. Der Sender stand am anderen Ende und war durch einen schmalen Gang zwischen aufgestapelten Kisten zu erreichen. Darzek interessierte sich vor allem für zwei Dinge, einen zusätzlichen Raumanzug und ein oder zwei Sauerstoffzylinder, aber er fand keines von beiden. Er besichtigte die Kisten, starrte die Etiketten an und gestand sich ein, daß er hier nicht weiterkam. Er ging um den Sender herum, betrachtete ihn eingehend, dann verließ er die Hütte. Die unheimliche Stille hatte ihn so nervös gemacht, daß er auf Zehenspitzen ging, obwohl er wußte, daß ihn die schlafenden Männer im anderen Gebäude nicht hören konnten. Er wandte sich dem Fahrzeug der Wissenschaftler zu, das in der Nähe stand. Ein großer Sauerstoffzylinder wurde dort von metallenen Klemmen festgehalten, aber selbst wenn Darzek sie hätte abschrauben können, wäre es ihm zu riskant gewesen. Er hätte ebensogut das ganze Fahrzeug stehlen können. Das Fehlen eines der überzähligen Raumanzüge mochte dagegen nicht sofort auffallen, man würde annehmen, daß er verlorengegangen, verlegt oder ausgeliehen worden sei. Er öffnete der Reihe nach die Laderäume des Fahrzeugs. Einen Anzug fand er nicht. Die Hütte der 206
Wissenschaftler schimmerte drüben am Kraterwall. Vielleicht hatten sie dort ihren überzähligen Anzug hingebracht, aber er durfte keinen fruchtlosen Marsch riskieren, denn es blieb ihm ja nur wenig Zeit. Nach wie vor stand die Anzeige für den letzten Reservetank der Versorgungskapsel auf Null. Wenn Alice oder Gwendolyn statt Darzek sich auf den Weg gemacht hätten, wäre die Arbeit am Sender vielleicht schon beendet. Aber keine von beiden hätte sich dazu bereitgefunden. Nicht allein. Er brauchte einen Raumanzug. Er ging langsam zum zweiten Gebäude und starrte durch die Luftschleuse. Er sah hohe Kistenstapel, die vielleicht als Trennwand dienten. Er betrat die Luftschleuse und öffnete langsam, zögernd die Innentür. Wenn sie wach waren und er nur einen Laut von sich gab, war er erledigt. Die Anzüge hingen rechts von der Tür. Eine ganze Reihe. Darzek nahm einen vom Haken und kehrte um. Sein Selbstvertrauen machte sich wieder geltend. Er schloß vorsichtig die Türen und blieb draußen stehen, um sich den Anzug anzusehen, aber er konnte ihn nicht untersuchen, hier nicht, während er sich mit dem Ungetüm von Vakuumanzug herumschlug. Er konnte nur hoffen, daß der Anzug nicht defekt war und über einen vollen Lufttank verfügte. Als er sich umdrehte, sah er auf der anderen Seite des Sendergebäudes einen großen Sauerstoffzylinder. Er hüpfte hinüber, um ihn zu holen. Den Zylinder unter einem Arm, den Anzug unter dem anderen, trat er den Rückweg zur Versorgungskapsel an, so schnell es ging. Der fremde Anzug begann immer mehr Schwierigkeiten zu machen. Darzeks Stoffwechsel rief in den empfindlichen Mechanismen heftige Reaktionen hervor. Zuerst 207
schien die Apparatur nur vorsichtig Informationen zu sammeln, dann lieferte sie den Beweis für ihre Daseinsberechtigung. Sie überflutete ihn mit Hitze. In schnellem Wechsel kroch Kälte in seinem Körper hoch. Ein dumpfes Summen erfüllte den Helm. Als er zu schaudern begann, nahm ihm eine zweite Hitzewelle den Atem. Er begann entsetzlich zu schwitzen, was den Anzug zu ärgern schien. Das Summen schwoll zu einem Crescendo an. Er taumelte die letzten Meter dahin, abwechselnd von Hitze und Kälte heimgesucht. Er zerrte den getarnten Eingang auf, stieß die Felsbrocken beiseite und warf den gestohlenen Zylinder samt dem Anzug auf den Boden der Luftschleuse. Ysaye wartete vor der Innentür. Darzek klappte den Helm hoch und keuchte: »Holen Sie mich heraus!« Ysaye zog ihm den Anzug aus. Darzek sank an die Wand und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Zuerst hat er mich verbrannt, dann eisgekühlt«, beschwerte er sich. »Ich habe gehofft, daß Sie ihn nicht so lange tragen müssen«, meinte Ysaye. »Wir schwitzen nämlich nicht, wissen Sie, und unsere Körpertemperatur ist niedriger als die eure.« »Der Anzug hat also versucht, mein Schwitzen einzudämmen und meine Körpertemperatur zu senken. Ich bin froh, daß ihm das nicht gelungen ist, sonst wäre ich nämlich tot.« Er hob Anzug und Zylinder auf und stieg den Tunnel zur Kapsel hoch. Zachary lag auf Darzeks Bett, immer noch ohne Bewußtsein. Die anderen waren um das Periskop versammelt. »Rührt sich etwas?« fragte Darzek. »Wir haben nichts bemerkt«, erwiderte Xerxes. 208
»Gut. Wer kommt mit, Alice oder Gwendolyn?« »Was wollen Sie eigentlich von uns?« fragte Xerxes. »Ich möchte, daß eine Ihrer Technikerinnen den Sender dazu benützt, Ihre Zentrale in New York zu erreichen. Von dort aus kann sie sich mit uns hier in Verbindung setzen und uns alle retten. Ich will nicht so tun, als verstünde ich, wie sie das machen wird, aber einer von Ihnen hat mir gesagt, daß es geht.« »Ja. Es läßt sich machen. Das nimmt natürlich Zeit in Anspruch, weil sie etwas bauen müßte –« »Darauf kommt es nicht an. Wenn es sich machen läßt, dann los. In der Senderhütte gibt es genügend Werkzeug.« Nachdem Xerxes übersetzt hatte, gab es eine längere Diskussion. Darzek kümmerte sich um die gestohlene Sauerstoffflasche. Er drehte am Ventil, aber nichts rührte sich. Ysaye kam herüber, um ihm zu helfen, dann Alice. »Ich fürchte, daß sie leer ist«, sagte Ysaye schließlich. Darzek sank erschöpft zurück und fuhr sich über den wuchernden Bart. »Natürlich«, murmelte er. »Vor die Hütte geworfen, bis man sie zur Neufüllung zurückschicken kann. Gestern wohl erst geleert – ich hab’ heute eben nicht viel Glück.« Er raffte sich wieder hoch und griff nach dem gestohlenen Raumanzug. »Jetzt fällt mir übrigens ein, daß eine ganze Reihe von Sauerstoffbehältern in der anderen Hütte stand. Ich war aber nur darauf bedacht, mit dem Anzug wegzukommen. Diesmal bringe ich ein paar mit.« »Wir verstehen nicht, was Sie eigentlich vorhaben« meinte Xerxes. »Ich werde Wache stehen, während Ihre Technikerin am Sender arbeitet. Sobald sich jemand der Hütte nähert, 209
werde ich ihn aufhalten oder niederschlagen, wenn es nötig ist, damit Ihre Technikerin nicht gestört wird, bis sie mit der Arbeit fertig ist und verschwinden kann. Dann komme ich zurück. Mit ein bißchen Glück bringe ich ein paar volle Sauerstoffflaschen mit.« »Vielleicht erwischt man Sie.« »Das ist möglich«, sagte Darzek. »Ich werde mein Möglichstes tun, es zu vermeiden, aber es ist möglich. Und wenn ich erwischt werde, erfinde ich eine Geschichte, daß ich mich von der Erde aus hinaufgeschmuggelt habe, weil ich unbedingt einmal den Mond kennenlernen wollte.« »So etwas geht doch gar nicht.« »Wahrscheinlich nicht«, gab Darzek zu. »Es gäbe ein Mordsgeschrei, und man würde mich pausenlos verhören, aber die Wahrheit erfährt von mir niemand. Und vergessen Sie nicht – obwohl die maßgebenden Leute auf der Erde nie begreifen könnten, wie ich es geschafft habe, klänge es nicht einmal allzu unglaubwürdig – anders wäre es, wenn man mich mit Ihrem Vakuum-Anzug ertappte. Ich werde mich ausziehen, bevor wir uns auf den Weg machen, und wenn man mich ertappt, wird man bei mir nichts finden, was nicht in den USA hergestellt worden ist.« »Wir können nicht tun, was Sie verlangen«, sagte Xerxes. »Das Risiko wäre zu groß, und die Zeit ist zu kurz.« »Hören Sie zu. Im Augenblick bestreite ich nicht, daß Ihre Dunkelheit von der richtigen Farbe ist, und auch Ihr Mut ist aller Ehren wert. Es muß allerhand Mut gekostet haben, auf der Erde das zu erreichen, was Ihnen gelungen ist. Aber euch fehlt der Mumm in den Knochen. Entweder strengt ihr euch jetzt an, oder ihr geht hier wie die Ratten drauf.« 210
Xerxes schwieg. Darzek schob ihn beiseite, nahm Ysaye den Anzug ab und hielt ihn Alice hin. Sie sahen einander an. Dann sagte sie ein einziges Wort, und während die anderen stumm zusahen, nahm sie den Anzug und sah ihn an. Darzek wickelte die Bandagen von seinem Körper und zwängte sich in den gestohlenen Anzug, während Ysaye sich besorgt um ihn bemühte. Seine Nervosität verschwand, als er den Regler für den Sauerstofftank fand und den Helm heruntergeklappt hatte. Ysaye begleitete sie bis zur Luftschleuse. Darzek winkte zum Abschied, die Innentür klappte zu, und sie traten hinaus. Er schob die Felsbrocken wieder an ihren Platz, dann nahmen sie denselben Weg, den Darzek vorher gegangen war. Sie kamen mit unglaublicher Schnelligkeit voran. Darzeks Anzug war im Vergleich zu dem der fremden Wesen unförmig und primitiv, aber wenigstens paßte er ihm beinahe. Er machte gewaltige, schwebende Schritte und mußte sich anstrengen, um auf gleicher Höhe mit Alice zu bleiben. Als sie die Senderhütte erreichten, deutete er auf die Luftschleusen, und sie bückte sich tief, um einzutreten. Er wollte ihr folgen, um ihr zu zeigen, wo das Licht für die Instrumententafel einzuschalten war, aber sie fand sich sofort zurecht. Er schaute durch das Fenster zu, als sie den Anzug auszog und sich am Sender zu schaffen machte. Er wandte sich der anderen Hütte zu und fragte sich, ob er sofort die Zylinder holen oder warten sollte, bis Alice fertig war. Er beschloß zu warten. Wenn er dann einen Fehler machte, konnte er nur noch sich selbst in Gefahr bringen. Er ging um die Hütte herum und versteckte sich hinter den Kisten. Die Wärme nahm immer mehr zu, und er 211
verfluchte innerlich alle Vakuum-Anzüge, ihre Hersteller und Konstrukteure. Er war so hastig in den Anzug geschlüpft, daß er nicht einmal nach einem Thermostaten gesehen hatte. Er drehte ergebnislos in verschiedenen Knöpfen und entdeckte, daß er am Funkgerät herumgefummelt hatte. Schließlich kam er auf die Idee, in den Schatten neben den Kisten zu treten, und bald war ihm wohler. Jetzt brauchte nur noch Alice … Er hoffte nur, daß das Funkgerät abgeschaltet war. Er konnte nicht wissen, wann Alice fertig war. Schon jetzt mochte er. eine leere Hütte bewachen. Wenn er den Fortgang ihrer Arbeit beurteilen wollte, mußte er durch das Fenster der Luftschleusentüren schauen, war aber dann von der anderen Hütte her zu sehen. Wenn er auch nur einen Funken Verstand besessen hätte, wäre ein Signal vereinbart worden – sie brauchte nur an die Wand der Hütte zu klopfen –, aber jetzt war es dazu viel zu spät. Er konnte es nicht riskieren, die Hütte zu betreten und ihr das durch Zeichensprache verständlich zu machen. Das kostete wertvolle Zeit, und außerdem würde er sich sowieso nicht verständlich machen können. Er hastete zur Luftschleuse, um wieder einen Blick zu riskieren. Alice war immer noch über den Sender gebeugt. Sie schien sich, seit er sie zuletzt gesehen hatte, nicht bewegt zu haben. Er kehrte zu seinem Versteck zurück und versuchte wieder, den Thermostaten zu finden. Er hielt Ausschau und wartete. Eine Stunde? Zwei Stunden? Drei? Er fragte sich, was Alice mit dem Sender anstellte. Wenn das ständige Personal des Stützpunkts von diesen Dingen nichts verstand, würde man von der Erde einen 212
Ingenieur per Rakete heraufschicken müssen. Darzek hielt das für einen guten Witz. Seine Müdigkeit und die nervliche Belastung durch das Warten hatten seine Nerven zum Zerreißen gespannt. Und in der Versorgungskapsel ging die Luft zu Ende. Er raffte sich auf, um wieder nach Alice zu sehen, ließ sich aber sofort zurücksinken, als eine Gestalt im silberigen Anzug die andere Hütte verließ. Hastig drehte er an den Knöpfen für die Funkverbindung. »Endlich fertig?« knarrte eine Stimme. »Wir kommen.« Eine zweite Gestalt trat heraus, eine dritte. Darzek konnte nur noch beten, daß sie sich, wie gestern auch, nach rechts wenden würden. Das taten sie. Sie entfernten sich mit weiten Sprüngen in Richtung des Kraterwalls. Das war ihre Gymnastik nach dem Frühstück, und wenn alles so lief wie gestern, würden sie in etwa dreißig Minuten zurück sein, um den Stützpunkt – und den Sender in Betrieb zu nehmen. Ein paar wertvolle Sekunden lang lag die andere Hütte zwischen ihnen und der Schleuse, und Darzek konnte wieder einen Blick zu Alice hineinwerfen. Sie war immer noch bei der Arbeit. Er ging wieder hinter die Hütte und wartete. Nach einer Weile überlegte er sich, wie das Funkgerät arbeitete. Mußte er eine Taste drücken, wenn er sprechen wollte? Er schnalzte laut mit der Zunge. »Was hast du gesagt?« fragte jemand. »Ich dachte, du warst das.« »Deine Zähne klappern.« Die drei Gestalten trennten sich bald, eine davon machte sich auf den Weg zum östlichen Schatten. Darzek 213
befürchtete einen Augenblick lang, sie könnten den Eingang zur Versorgungskapsel finden, aber der Mann trat nur ein paar Schritte in den Schatten und setzte sich hin, vielleicht um das Schauspiel der Sterne zu genießen. Ein anderer schlug die entgegengesetzte Richtung ein und war bald zu einem schnell dahinschießenden, glitzernden Pünktchen zusammengeschrumpft. Der dritte, eine kleine Gestalt mit wiegendem Gang, von Darzek schon als der Mann identifiziert, der den Sender betreute, ging geradeaus weiter. Darzek atmete auf und begann wieder nach dem Thermostaten zu suchen. Seit er wieder in der Sonne stand, wurde es im Anzug unerträglich heiß. Er mußte das verfluchte Ding finden, aber die Handschuhe erschwerten seine Arbeit, und durch die Sichtscheibe konnte er wenig sehen. Er hob den Kopf, um festzustellen, wo sich die drei Männer befanden, und er vergaß, an die Hitze zu denken. Der für den Sender Verantwortliche kam zurück. Entweder sind sie zu spät aufgestanden, sagte sich Darzek, oder vielleicht will der Bursche früher anfangen. Es blieb keine Zeit mehr, noch einmal nach Alice zu sehen. Er ging hundert Meter weit ins Freie und wartete. Der andere kam herangehüpft, geradewegs auf die Senderhütte zu. Schließlich sah er Darzek und winkte. »Bist du’s, Sam?« Darzek winkte ebenfalls und bemühte sich, eine der Stimmen zu imitieren, die er gehört hatte. »Komm mit. Will dir was zeigen.« »Ich kann nicht«, sagte der andere. »Ich muß saubermachen, weil dieser Bonze bald kommt.« »Ach, los. Es dauert ja nicht lange.« »Wo ist es denn?« »Nicht weit.« 214
Darzek drehte sich um, ging davon, und der andere folgte ihm. Er sah sich noch einmal nach den beiden Männern um. Der eine saß im Schatten und starrte zu den Sternen hinauf, den dritten konnte er nicht sehen. Er beschleunigte seine Schritte. Der Techniker beeilte sich, ihn einzuholen. »Ich hab’ nicht den ganzen Tag Zeit. Was gibt’s denn?« »Hier herauf«, sagte Darzek, schlug die Richtung zum Kraterwall ein und fing an zu laufen. Sie rannten eine Weile dahin, ohne zu sprechen. Die Hitze in Darzeks Anzug war unerträglich geworden, und die ganze Landschaft begann sich um ihn zu drehen. Er lief am Fuß der Felswand dahin, im Zickzack zwischen den Felsblöcken. Sie hatten eine weite Strecke zurückgelegt, und die beiden Hütten waren in der weiten Ebene zu kleinen Hügeln zusammengeschrumpft. »Wie weit willst du denn noch?« fragte der andere. Darzek sah sich um. Der Techniker war stehengeblieben und sah zu den Hütten hinüber. »Nicht mehr weit« sagte Darzek. Er wußte, daß er kurz vor einem Hitzschlag stand, daß sein nächster Schritt sein letzter sein mochte, und daß er nichts dagegen tun konnte. Er taumelte in den Schatten eines riesigen Felsblocks und sank in die Knie. Der Techniker kehrte um. »Ich muß zurück, Sam.« Darzek erwiderte nichts. Erhörte ein gemurmeltes: »Wo, zum Teufel, ist er denn hingekommen?« aber der Techniker ging trotzdem weiter. Darzek fiel um. Damit hatte er nicht gerechnet, aber er konnte nicht einmal mehr den Kopf heben. Er hatte das Menschenmöglichste getan und damit zusätzlich eine 215
halbe Stunde für Alice herausgeholt. Alles andere hing von ihr ab. 20 Lange Zeit lag Darzek bewegungslos da, zu schwach und von Übelkeit geschüttelt, um auch nur einen Blick in Richtung der Hütten werfen zu können. Vielleicht hatte er auch vorübergehend das Bewußtsein verloren. Er wußte es nicht, es war ihm auch gleichgültig. Plötzlich hörte er eine wütende Stimme in den Kopfhörern: »Welcher von euch Idioten hat denn am Sender herumgefummelt?« Eine zweite Stimme antwortete sofort. »Was sagen Sie, Perrin?« »Ich sagte – kommt sofort zurück.« »Schon unterwegs. Was ist denn los?« Darzek murmelte begeistert: »Sie ist durch! Sie ist durch!« »Was sagten Sie, Petrin?« »Ich habe gesagt, ihr sollt zurückkommen. Sam? Sam!« »Vielleicht ist er außer Reichweite. Schalten Sie das Relais ein.« »Unsinn. Ich habe ihn doch eben da drüben noch –« »Er ist auf den Krater hinaufgegangen. Ich kann ihn von hier aus nicht mal sehen.« »Wenn ich Ihnen sage, er ist zurückgekommen. Ich war vorhin noch mit ihm zusammen, Sam!« »Ich sehe ihn nicht.« »Er hat drüben etwas gefunden. Vielleicht sitzt er in einer Höhle.« »Hier gibt es keine Höhlen.« »Jedenfalls hat er behauptet, er hätte etwas gefunden, Sam!« 216
Darzek verlor das Interesse. Der Anzug hatte sich wie durch ein Wunder abgekühlt, und sein schweißüberströmter Körper wurde bald von Kälte geschüttelt. Diesmal fand er den Thermostaten und konnte die Temperatur einstellen. Sam kam zurück und erklärte zornig, er sei nie in der Nähe des Stützpunktes gewesen, habe nichts gefunden, sei auch nicht auf Perrin gestoßen. Die drei Männer verschwanden in der Senderhütte. Darzek überdachte seine Lage und fand sie nicht gerade rosig. Sobald Perrin davon überzeugt war, daß er nicht Sam begleitet hatte, mußte man annehmen, daß er sich fragen würde, mit wem er nun eigentlich zusammen gewesen war. Selbst bei einer oberflächlichen Suchaktion würden sie Darzek sofort finden. Er wog seine Chancen sorgfältig ab und entschloß sich, zu verschwinden. Inzwischen würden die drei Männer ihre Anzüge ausgezogen haben, um den Schaden am Sender zu besichtigen. Vielleicht standen die anderen sogar dabei und sahen zu, während Perrin sich an die Arbeit machte. Darzek lief am Kraterwall entlang, so schnell es seine nachlassenden Kräfte erlaubten. Er hatte eine Stelle unmittelbar gegenüber dem Stützpunkt erreicht, als die drei Männer wieder auftauchten. Darzek versteckte sich hinter einem Felsblock, aber die Männer sahen gar nicht zu ihm hinüber. Perrin wies mit aufgeregten Gesten auf die Stelle, wo er zuletzt den geheimnisvollen Begleiter gesehen hatte. Darzek setzte sich hinter dem Felsblock auf den Boden. Die anderen beiden liefen ziellos herum, murrten und diskutierten, durchaus nicht davon überzeugt, daß Perrin etwas gesehen hatte. Die Zeit verging. Einer von beiden 217
gab die Suche auf. Die Zeit verging. Minuten? Eine Stunde? Eine Gruppe von Neulingen verließ die Senderhütte. Perrin hatte das Gerät repariert. Ich sitze also hier fest, dachte Darzek. Aber es könnte schlimmer sein. Er war völlig in Sicherheit. Selbst wenn man diese Richtung einschlug, konnte man ihn nicht finden, wenn man nicht ausgerechnet hinter diesen Felsblock trat, um nachzusehen. Sollte eine große Suchaktion eingeleitet werden, dann konnte er sich vielleicht für einen der Suchenden ausgeben. Er durfte sich nicht vom Fleck rühren, bis sie Mittag machten, aber solange seine Luft reichte, brauchte er sich keine Sorgen zu machen. Nur um die Nullstellung auf der Skala des letzten Reservetanks in der Versorgungskapsel, um den gestohlenen leeren Sauerstoffzylinder, den er hätte zurückbringen sollen, um die vollen Zylinder, die er versprochen hatte, aber nun nicht mitbringen konnte. War Alice rechtzeitig durchgekommen? Würden ihn die fremden Wesen auf dem Mond zurücklassen und ihn zwingen, sich irgendwie herauszureden? Auf dem Stützpunkt schien alles normal zu verlaufen. Eine Gruppe von Neulingen suchte das Gebiet ab, in dem das Phantom verschwunden war, aber die anderen waren schon bei den Kletterübungen angelangt und stiegen an einer der Felswände des Kraterwalls hoch. Die Wissenschaftler hatten ihre Hütte eingepackt und waren weggefahren, um anderswo weiterzuarbeiten. Darzek schaltete auf die verschiedenen Funkfrequenzen und lauschte der scharfen Stimme eines Ausbilders, wissenschaftlichem Geschwätz, den albernen Bemerkungen einer Gruppe von Prominenten. Die Mittagspause kam. Die Neulinge marschierten zurück, um sich auf die Erde teleportieren 218
zu lassen, und der Stützpunkt schien verlassen dazuliegen. Darzek verließ sein Versteck. Er hatte noch keine zehn Schritte gemacht, als ein Mann aus der Senderhütte trat und zu ihm herüberschaute. Natürlich sein! befahl sich Darzek. Du bist einer von ihnen. Gib dich natürlich! Der Mann drehte sich um und marschierte zur anderen Hütte. Darzek tauchte wieder hinter seinen Felsblock und fragte sich, wer der Mann gewesen sein konnte. Er rechnete damit, daß er in Kürze mit Verstärkung wieder auftauchen würde, aber als sich nichts rührte, setzte er seinen Weg fort. Diesmal verließ er den Schutz des Kraterwalls und schlug geradewegs die Richtung zur Versorgungskapsel ein. In seiner Eile schoß er an der getarnten Tür vorbei, und er brauchte ein paar Minuten, bis er sie fand. Er warf einen letzten Blick zum Stützpunkt hinüber, glitt hinein, stieß die Felsbrocken weg und ließ die Tür hinter sich zufallen. Er öffnete die Innentür und stolperte über die leblose Gestalt eines der fremden Wesen. Er zwängte sich mit fieberhafter Hast aus dem Anzug und kniete nieder. Es war Ysaye, und er schien tot zu sein. Darzek tastete mit zitternden Fingern nach dem Puls, lauschte auf einen Herzschlag, fand nichts. Ysaye schien nicht mehr zu atmen, und seine Haut hatte eine bräunliche Färbung angenommen, als befinde sich der Körper bereits im Verfall. Darzek fuhr sich verzweifelt durchs Haar. Er rief – die Tür am Ende des Tunnels stand offen –, aber nichts rührte sich. Die Luft schien frisch zu sein, aber er bemerkte, daß ihm das Atmen schwerfiel. Er suchte wieder nach dem Puls, nach dem Herz219
schlag, obwohl er nicht wußte, ob es bei den fremden Wesen so etwas gab. Und wie sollte er ein Wesen künstlich beatmen, dessen Lungen ebensogut in den Knöcheln wie im Brustkorb zu finden sein mochten? Er schraubte den Helm vom Raumanzug und schob ihn über Ysayes Kopf. Sekunden vergingen, ohne daß eine Wirkung bemerkbar gewesen wäre. Darzek preßte mit aller Macht Bauch und Brustkasten Ysayes zusammen. Ysaye bewegte sich und begann tief zu atmen. Die bräunliche Färbung verschwand. Bald konnte er sich aufrichten. »Sie sind also zurückgekommen, Jan Darzek«, sagte er mit einer durch den Helm gedämpften Stimme. »Nur mit der Ruhe«, sagte Darzek. »Tief atmen.« »Alice –« »Ich glaube, sie ist durchgekommen. Ich konnte nicht mehr zurück.« »Wir haben euch beobachtet. Ihr Plan war gut. Gwendolyn glaubte, Sie wollten uns verraten, aber ich konnte ihr nicht rechtgeben. Ich rechnete allerdings auch nicht damit, daß Sie wiederkommen würden.« »Ich habe einen Eid geschworen«, sagte Darzek. »Erinnern Sie sich?« »Die andern – sind sie –« »Ich habe noch nicht nach ihnen gesehen. Ich bin über Sie gestolpert, als ich aus der Luftschleuse hereinkam.« Er lief den Tunnel zur Kapsel hinauf und schaute hinein. Die Luft dort schien schlechter zu sein, und die drei fremden Wesen lagen leblos herum. Darzek hastete zu Ysaye, riß ihm den Helm vom Kopf und zerrte Helm und Anzug zur Kapsel. Er beugte sich zuerst über Gwendolyn. Der Helm war 220
für ihren riesigen Schädel zu klein. Er bemühte sich erfolglos, dann sprang er zu seinem Schrank, halte sein Taschenmesser heraus und durchschnitt den Sauerstoff schlauch. Er preßte ihn mit den Händen an ihr Gesicht, drückte auf ihren Bauch, ihren Brustkorb, immer wieder. »Es hat keinen Zweck, Jan Darzek.« Ysaye war den Tunnel heraufgekrochen, lag an der Tür und schaute herein. »Es hat keinen Zweck. Gehen Sie zu Ihren Leuten. Sie brauchen nicht mit uns zu sterben. Sie haben Alice gerettet – das ist genug.« »Unsinn. Ihr braucht nicht zu sterben.« Gwendolyn kam zu sich. Als sie sich aufrichtete und ihn verständnislos anstarrte, nahm ihr Darzek den Schlauch ab und bemühte sich um Xerxes. Bevor er ihn hochgepäppelt hatte, war Gwendolyn wieder zusammengebrochen, und Ysaye lag bewußtlos an der Tunnelöffnung. »Merkwürdiger Metabolismus«, murmelte Darzek, verzweifelt um Xerxes bemüht. »Ich muß sie nebeneinanderlegen und der Reihe nach Sauerstoff atmen lassen.« Die Anstrengung wäre ihm beinahe zuviel geworden, aber es gelang ihm schließlich, sie alle ins Bewußtsein zurückzurufen und aufzusetzen, damit sie einander den Sauerstoffschlauch reichen konnten. Gwendolyn, Zachary und Xerxes schienen wie betäubt zu sein. Sie reagierten beinahe automatisch, ergriffen den Schlauch, atmeten ein, gaben ihn weiter, den Blick stets auf Darzek gerichtet. Ysaye war in besserer Verfassung, vielleicht weil die Luft im Tunnel nicht so schnell zu Ende gegangen war wie in der Kapsel. Er verzichtete ein paarmal, als er an der Reihe war, um mit Darzek zu diskutieren. »Seien Sie nicht albern«, sagte Darzek. »Ich kann nicht weglaufen und euch hier sterben lassen. Jetzt ist es 221
sowieso unmöglich. Ich habe den Luftschlauch des Raumanzugs durchschnitten.« »Wir können ihn reparieren. Wenn Ihr Sauerstoff verbraucht ist, sterben wir sowieso. Und Sie mit uns. Er wird nicht lange reichen, und wir verbrauchen sehr viel davon.« »Meinetwegen. Schade, daß es keine Möglichkeit gibt, ihn auf wirksamere Weise zu verwenden. Immerhin verbessert er die Luft vielleicht so weit, daß ihr sie wieder atmen könnt. Sparen Sie sich das Gerede und atmen Sie so viel Sauerstoff wie möglich, bevor er verbraucht ist.« »Brauchen Sie nicht auch welchen?« »Bis jetzt nicht.« »Ich habe vergessen, daß ihr auf der Erde an schlechte Luft gewöhnt seid.« »An so schlechte nicht, aber es geht schon. Wo bleibt nur Alice?« Er ging zum Periskop, um sich den Stützpunkt anzusehen. Die Neulinge waren zurückgekehrt, und einige von ihnen suchten das Gebiet, wo Darzek gesehen worden war, ab. Wäre er nicht zu müde, so völlig erschöpft gewesen, hätte es ihm Spaß gemacht, zuzusehen. Er fand seine Bandagen wieder, zog sich erschöpft an und setzte sich an den Eingang zum Tunnel. Er lehnte sich zurück und schloß die Augen. Er erwachte, als jemand an seinem Bein zerrte. »Wir möchten Ihnen Lebwohl sagen, Jan Darzek«, sagte Ysaye. »Solange es noch geht.« Sie hatten den Luftschlauch beiseite gelegt, und die anderen drei starrten Darzek an. Schon atmeten sie schwer. »Ist der Tank leer?« fragte Darzek. »Aber ihr könnt doch auch ohne ihn atmen.« 222
»Ja, ein bißchen«, erwiderte Ysaye. »Gut. Wo bleibt Alice?« »Wir haben nicht genug Zeit. Das wußten wir schon, als Sie hinausgingen.« »Zeit wofür? Alice hat Stunden zur Verfügung gehabt.« »In unserer Erdstation verfügen wir nicht über die erforderlichen Geräte. Bis jetzt haben wir sie nämlich nicht gebraucht. Alice muß sie erst bauen und dann – einstellen, was sehr schwierig ist.« »Kann ich mir vorstellen«, meinte Darzek. »Es kann nicht einfach sein, diese Stelle von der Erde aus genau zu treffen. Wie lange kann das dauern?« »Wir wissen es nicht. Alice wußte es nicht. Sie hat diese Geräte noch nie gebaut. Deswegen wollten die anderen auch Ihren Plan nicht akzeptieren.« »Na ja, jetzt können wir nur warten. Ich bin sicher, daß sie so schnell arbeitet, wie es geht.« »Wir wünschen uns nur, daß sie rechtzeitig fertig wird, um Sie zu retten. Sie können diese schlechte Luft atmen, und wir –« »Ihr könnt sie auch atmen«, sagte Darzek. »Strengt euch lieber nicht an.« Die fremden Wesen begannen bald danach zu keuchen. Darzek konnte nichts tun als zusehen, wie sie der Reihe nach umfielen. Ohne Sauerstoff war ihnen nicht zu helfen. Ysaye hielt sich am längsten, aber schließlich kippte auch er um und ließ Darzeks Frage unbeantwortet, ob es am besten sei, sie alle in den Tunnel zu schaffen. Darzek stellte selbst Nachforschungen an und entschied, daß die Luft dort auch nicht viel besser war. Er kehrte in die Kapsel zurück und starrte die schlaffen, bräunlich ver223
färbten Leiber der fremden Wesen an. Vielleicht wäre immer noch Zeit genug, Hilfe vom Stützpunkt zu holen. Er konnte den Anzug provisorisch reparieren, ein paar Sekunden hinaustreten und ein Signal geben. Aber die fremden Wesen zogen den Tod vor, und in einem ruhigeren Augenblick, als er nicht damit gerechnet hatte, sie sterben sehen zu müssen, hatte er sich ihrer Meinung angeschlossen. Und er hatte einen Eid geleistet. Aber bis zu diesem Augenblick war ihm nicht klar gewesen, wieviel er darum gegeben hätte, sie retten zu können. Aufschluchzend sank er neben Ysaye auf die Knie und ergriff seine Hand. Frische, kühle Luft fauchte herein, und Alice trat aus dem Nichts neben ihn. 21 Alice hob Ysaye hoch und war verschwunden, bevor sich Darzek von seiner Verblüffung erholt hatte. Sie kehrte zurück, trat aus schimmerndem Nichts in der Nähe der Leiter, holte Xerxes, dann Zachary, ohne etwas zu sagen und ohne Darzek auch nur anzusehen. Erst als sie sich bemühte, Gwendolyn hochzuheben, schwankte sie. Darzek kam ihr zu Hilfe und ergriff die Beine. Gwendolyn schien für ihn erstaunlich leicht zu sein, aber Alice keuchte vor Erschöpfung, als sie, die Arme unter Gwendolyns Schultern, langsam rückwärts ging. Darzek bekam nie genau zu sehen, wie alles vor sich ging. Im Augenblick vorher hatte er noch die verbrauchte Luft der Kapsel geatmet, im nächsten wurde die Luft frisch, kühl und wohlschmeckend und Gwendolyns Gewicht nahm um ein Mehrfaches zu. Alice war auf die Knie gesunken, aber trotzdem ließ 224
sie Gwendolyn die letzten Zentimeter auf den Boden fallen. Darzek richtete sich auf und sah sich um. Er brachte kein Wort hervor. Der Raum schien ein genaues Abbild des zerstörten Mondstützpunktes der fremden Wesen zu sein. Er hatte dieselben gewölbten, schimmernden Wände, die gleichen Simse mit den Betten, die Instrumententafel, den Senderrahmen, aus dem er eben herausgetreten war. Die plötzliche Umstellung auf die größere Schwerkraft der Erde ließ ihn vor Erschöpfung beinahe zusammensinken, und er brauchte sonst keinen Beweis, daß er wirklich auf die Erde zurückgekehrt war. Er setzte sich auf einen Sims und sah Alice zu, wie sie sich um die Bewußtlosen kümmerte. Bis auf Gwendolyn lagen sie auf den Betten des gegenüberliegenden Simses, und Alice ging unermüdlich von einem zum anderen und führte ihnen durch eine merkwürdig flache Gesichtsmaske Sauerstoff zu. Sie kamen zu sich, setzten sich auf, atmeten aber gierig den Sauerstoff ein, sobald ihnen die Maske dargeboten wurde. Lange Zeit unterhielten sie sich gedämpft untereinander und vermieden es, in Darzeks Richtung zu sehen. Es war Ysaye, der sich schließlich erhob und unsicher durch den Raum ging. »So, Jan Darzek –« Seine Hand umschloß Darzeks Arm. Die andere wischte den Speichel vom Mund, immer wieder, und Darzek fühlte sich plötzlich von Zuneigung für dieses Wesen übermannt, das auf solche merkwürdige Weise seine Dankbarkeit zu bekunden suchte. Als die anderen, auch Alice und Gwendolyn, Ysayes Beispiel folgten, wurde Darzek so verlegen, daß er sich bemüßigt fühlte, ihre Aufmerksamkeit auf andere Dinge zu richten. 225
»Ich habe Hunger«, erklärte er. Die fünf Wesen starrten ihn an. »Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zum letztenmal gegessen habe«, sagte er. »Heute ganz bestimmt nicht – seit wir wieder auf der Erde sind, kann ich ja wohl wieder mit der normalen Zeitrechnung gehen. Ich behaupte nicht, daß ihr mich absichtlich schlecht behandelt, weil ihr ja nicht wußtet, daß ihr einen Gast von meiner Sorte bekommt, und ich bezweifle, daß das Sägemehl, das ihr mir eingeflößt habt, auch nur eine Maus am Leben erhalten kann, aber wenn ihr etwas besorgen könntet, das die Bewohner dieses Planeten als Nahrung bezeichnen, werde ich mal feststellen, ob ich noch einen Magen habe.« Zu seiner Verblüffung stieg ihre Erregung noch. Ysaye stieß pausenlos Entschuldigungen hervor. Die anderen unterhielten sich aufgeregt, bis Zachary hastig den Raum durch eine der Kräuseltüren verließ. Er blieb eine Weile fort, und als er zurückkam, brachte er keine Nahrung, wie Darzek erwartet hatte, sondern er erschien als die bezaubernde blonde Miss X. »Was soll ich Ihnen bringen?« fragte er. »Ich möchte ein Steak mit Pommes frites und Salat, viel Kaffee und Apfelkuchen. Aber mein Magen ist wahrscheinlich so zusammengeschrumpft, daß ich diese Sachen gar nicht essen könnte. Fangen wir lieber mit Kaffee und mit belegten Broten an.« Zachary verschwand, und die anderen entdeckten plötzlich, daß sie ebenfalls Appetit hatten. Sie holten ihre dreieckigen Schüsseln heraus. Darzek lehnte kopfschüttelnd das angebotene Essen ab und fragte sich, ob ihnen diese Speisen ebenso mißfielen wie ihm. Zachary kam nach erstaunlich kurzer Zeit mit einem riesigen Tablett 226
zurück, auf dem ein Dutzend Sandwiches und sechs Kartons Kaffee lagen. Darzek aß langsam, genoß jeden Bissen, probierte von allen Sandwiches, aß aber keines auf. Während er aß, hörte er den fremden Wesen zu. Sie lachten. Die unangenehmen Summ- und Zischlaute ihrer Sprache hatten auf unerklärliche Weise musikalische Obertöne bekommen. Jedes Wort war von Lachen durchtränkt. Sie lachten über sich, sie lachten über Darzek, über das geschmacklose Essen, das er so begeistert kaute, über seine erstaunte Reaktion auf ihr Gelächter. Darzek schob die Sandwiches widerstrebend weg. »Ich hab’ sie alle angepickt, aber ich kann keines aufessen«, sagte er traurig. »Na ja, morgen ist auch noch ein Tag. Wenn ihr einen Kühlschrank habt, hebt sie mir bis morgen auf, dann versuch’ ich’s beim Frühstück.« »Ist mit den Sandwiches etwas nicht in Ordnung?« fragte Xerxes lachend. »Wollen Sie etwas anderes?« »Es liegt an meinem Magen, und das braucht Zeit. Was ich jetzt brauche, ist Schlaf. In einem richtigen Bett. Ich kann mich gar nicht daran erinnern, wann ich das letztemal ruhig geschlafen habe.« Das Lachen erstarb so schnell, wie es aufgeflackert war. »Wir sollten uns unterhalten«, sagte Zachary. »Aber ich wüßte nicht, warum Sie nicht zuerst schlafen können. Es gibt noch vieles zu tun.« »Ich zeige Ihnen den Weg«, sagte Ysaye. »Kommen Sie.« Auf seine Handbewegung hin öffnete sich die Tür zu einem, Tunnel, der schräg nach oben verlief. Dort durchschritten sie wieder eine Tür, und Darzek folgte ihm hinaus in einen ganz gewöhnlichen Keller. Der gedrungene 227
Heizofen, die Rohre und die nackte Glühlampe waren tröstende Beweise für eine Wirklichkeit, die Darzek beinahe vergessen hatte. Die Kellerfenster waren verhängt, aber selbst im schwachen Licht der einen Glühlampe konnte Darzek sehen, daß der Raum peinlich sauber war. Ysaye führte ihn die Treppe hinauf zum Erdgeschoß, dann einen beleuchteten Keller entlang. Die Fenster, an denen sie vorbeikamen, waren mit dicken Vorhängen verhängt, die Türen geschlossen – aber im übrigen schien es sich um ein ganz gewöhnliches Haus zu handeln. Sie stiegen in den ersten Stock. Am Ende des Korridors öffnete Ysaye eine Tür und knipste das Licht an. »Hier ist es am ruhigsten«, sagte er. »Das Badezimmer ist gegenüber. Finden Sie uns, wenn Sie etwas brauchen?« Darzek sog die Luft ein. Im Schlafzimmer wie im ganzen Haus war es heiß und muffig, als sei es lange unbewohnt gewesen. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Sie brauchen nur in den Keller zu gehen und zu rufen. Ich wünsche Ihnen angenehme Ruhe, Jan Darzek.« »Danke«, erwiderte Darzek. Die Tür fiel zu, und Ysayes Schritte verklangen. Darzek ging sofort zum Fenster, rollte den Laden hoch und öffnete es. Von draußen drang Verkehrslärm herein, das Geschrei spielender Kinder, der besorgte Ruf einer Mutter. Es war Abenddämmerung, und er sah auf einen gut gepflegten Innenhof hinaus. Hinter den Bäumen erkannte er die Spitze des Chrysler-Gebäudes. Nach kurzer Überlegung wußte er beinahe genau, wo er sich befand. Vorsichtig öffnete er die Schlafzimmertür. Es war totenstill im Haus. Er ging auf Zehenspitzen durch den Korridor, hastete die Treppe hinunter, drückte auf die Klinke der Haustür. Sie war offen. 228
Leise schloß er sie wieder. Er kehrte in den ersten Stock zurück und besichtigte die anderen Zimmer. Alle Schlafräume waren geschmackvoll eingerichtet, die Betten gemacht. Nirgends war Staub zu sehen. Er wagte die Vermutung, daß das ganze Mobiliar noch nie benützt worden war, und fragte sich, ob die fremden Wesen ein Dienstmädchen hatten, das zweimal in der Woche kam und sich über die Sauberkeit ihrer Arbeitgeber freute. Er kehrte in sein Zimmer zurück, knipste das Licht aus und entledigte sich der Bandagen. Das Bett war bequem, und er war in seinem ganzen Leben noch nie so erschöpft gewesen. Trotzdem konnte er lange Zeit nicht einschlafen. Seit er in Brüssel durch den Sender gehechtet war, hatte er viele Wunder gesehen, aber im Vergleich zu diesem letzten Erlebnis erschienen sie alle als bedeutungslos. Die fremden Wesen vertrauten ihm. 22 Eine leise zuklappende Tür weckte Darzek. Er starrte an die Decke und lauschte auf den Straßenlärm. Zwei Frauen stritten sich irgendwo in der Nähe. Im Haus war es noch genauso still wie in der Nacht zuvor. Er drehte sich genüßlich auf die Seite und starrte fassungslos auf die Kleidung über den beiden Stühlen. Seine Kleidung. Der Anzug gehörte ihm, die Socken und die Krawatte, und es schien nur logisch, daß Hemd, Unterwäsche, Schuhe und Taschentuch auch aus seinen Schränken stammten. Er fragte sich, auf welche Weise sie in seine Wohnung gelangt waren, und konnte die Frage selbst beantworten, als er sich aufsetzte und auf der Kommode seine Habe fand, die er auf dem Mond zurückgelassen hatte, einschließlich seiner Schlüssel. 229
Auf dem Tisch stand ein Tablett mit Sandwiches und Kaffee. Der Kaffee war heiß, belegte Brote gab es in reicher Auswahl. Er aß drei davon, zog sich langsam an und betrachtete im Spiegel das seltsam blasse, bärtige Gesicht. Seine Verbrennungen waren narbenlos abgeheilt, aber es würde lange dauern, bis er sich wieder zu kämmen brauchte. Die nächsten Monate kannst du dich mit der Bürste kämmen, dachte er. Aber dazu muß das Haar erst noch wachsen. Den Bart gedachte er loszuwerden, sobald er einen Rasierapparat in die Hände bekam. Im übrigen war er, abgesehen von seinem Haar, in recht guter Verfassung aus der ganzen Affäre hervorgegangen. Er knotete seinen Schlips und ging hinunter zu den fremden Wesen. Zuerst suchte er nach der Tür in der Kellerwand, ohne sie zu finden. Er trat ein paar Schritte zurück und rief. Einen Augenblick später kräuselte sich die Tür, und Darzek trat hindurch. »Guten Morgen«, sagte er. »Wie lang habe ich eigentlich geschlafen? Ich komme mir vor wie –« Er verstummte plötzlich. Vor ihm stand ein männliches Wesen von kleiner Statur, aber es war weder Xerxes noch Ysaye noch Zachary. Darzek riß die Augen auf. »Wer sind denn Sie?« fragte er. Der Fremde schwieg. Er führte Darzek durch den Tunnel zu dem unterirdischen Raum. Auf einen Wink hin öffnete sich eine Tür. Darzek trat hindurch, und sie schloß sich hinter ihm. In diesem Raum, einem winzigen Abbild des anderen, saß ein weibliches Exemplar der fremden Wesen auf dem Boden. Vor ihr stand ein schreibtischähnlicher Gegen230
stand, auf dem Lichter hin- und herzuckten. Neben ihr stand ein normaler Stuhl, der in dieser Umgebung wie das Überbleibsel einer längst vergessenen, primitiven Zivilisation wirkte. Über dem Stuhl lag ein silbriger Raumanzug. Die Lichter verblaßten, und das fremde Wesen erhob sich, um ihn zu begrüßen. »Mr. Darzek«, sagte sie. »Mr. Jan Darzek.« Es war keine Frage. Darzek machte eine Verbeugung und gab ihr die Hand. »Ich glaube nicht, daß wir uns kennen«, sagte er. Sie war riesig wie Alice und Gwendolyn, schien aber um vieles älter zu sein. Ihr Gesicht bestand fast nur aus Runzeln. Die Schwimmhäute zwischen den Fingern, bei den Jüngeren von zarter Durchsichtigkeit, wirkten hier dunkel und faltig. Als er sie ansah, sagte sie lächelnd – das Lächeln war in ihrer Stimme: »Ich glaube nicht, daß Sie uns für schön halten, Mr. Jan Darzek.« »Ich finde Sie merkwürdig«, sagte Darzek langsam. »Ich glaube, daß nur ein sehr unvorsichtiger Mensch versuchen würde, die ästhetischen Attribute von Wesen zu beurteilen, die außerhalb seiner Erfahrung liegen. Kein Zweifel, Ihre Leute könnten unsere Schönheitsköniginnen als Vogelscheuchen verwenden, wenn es so etwas bei euch gibt.« Sie sah ihn gleichmütig an, ohne etwas zu erwidern. Ihre Augen waren wie die von Alice farblos und leuchtend. Dann drehte sie sich um und nahm den Raumanzug vom Stuhl. »Bitte nehmen Sie hier Platz«, sagte sie. »Ich habe mir gedacht, daß es für Sie bequemer ist, wenn wir einen Ihrer Stühle haben. Unser Gespräch kann lange dauern.« 231
Darzek setzte sich. Sie legte den Anzug weg und setzte sich ihm gegenüber auf den Boden. »Sie sprechen ausgezeichnet englisch«, meinte Darzek. »Die anderen auch – Xerxes, Ysaye und Zachary meine ich –, und Sie sprechen auch andere Sprachen wie Ihre Muttersprache. Ist das eine angeborene Fähigkeit?« »Angeboren und erlernt. Wir werden nach dieser Begabung ausgesucht und lange Zeit ausgebildet. Früher, als Stützpunkte auf dem Mond und Materiesender bestenfalls in den Gehirnen einiger Ihrer Leute existierten, habe ich auf diesem Planeten meine Lehre absolviert. Die sinnlosen Kriege und die allgemeine Schlechtigkeit Ihrer Leute lieferten interessante Erfahrungen. Später kehrte ich zurück und nahm die Einstufung Ihres Planeten vor.« »Dann sind Sie also dafür verantwortlich, daß wir nicht über das Sonnensystem hinausdürfen.« »Hören Sie zu.« Sie beugte sich vor. »Ihr Planet wird seit langer Zeit von uns zu Ausbildungszwecken benützt. Die wissenschaftliche Entwicklung hat sich im vergangenen Jahrhundert beschleunigt, aber das entsprach unseren Erwartungen. Der Materiesender sollte eigentlich erst ein paar hundert Jahre später kommen. Durch einen Zufall kam man plötzlich hinter die Grundidee. Das hätte zu keiner schlimmeren Zeit passieren können. Unsere Gruppe hier bestand aus einer neu angekommenen Leiterin, einem Hilfstechniker, einem Hilfsbeobachter und zwei Beobachtern, die dauernd hier eingesetzt werden, weil sie für andere Aufgaben nicht geeignet sind. Ihre Gruppe hätte Rücksprache nehmen müssen, glaubte aber, mit der Situation selbst fertig zu werden. Sie wird scharf gerügt werden.« »Nach meiner Meinung sollte man Sie rügen«, sagte Darzek. 232
»Mich? Wieso?« »Sie unterschätzen die Bewohner dieses Planeten und haben eine ungeeignete Gruppe hierhergeschickt.« »Sie verteidigen die Gruppe also«, sagte sie. »Sie verteidigen sie wirklich. Ich habe es nicht für möglich gehalten, aber sie hatten recht. Sie betrachten sie als Freunde. So etwas ist noch nie vorgekommen.« »Sind Sie der Freundschaft so unfähig, daß es Sie überrascht, sie bei anderen zu finden?« Sie schwieg eine Weile, aber er konnte nicht entscheiden, ob sie beleidigt oder nur verblüfft war. »Die Gruppe wird gerügt werden«, fuhr sie schließlich fort, »nicht, weil es ihr mißlungen ist, die Lage hier zu beherrschen, sondern weil sie überhaupt versucht hat, damit fertig zu werden. Sie hätte berücksichtigen sollen, wie primitiv Ihre Sendeanlagen sind, und gar nichts unternehmen sollen.« »Die Sender funktionieren aber«, sagte Darzek. »Mit Mühe. Sie werden weitere Entdeckungen verhindern. Sie sind so ungeschickt konstruiert, daß Alice« – wieder war ihrer Stimme anzumerken, daß sie lächelte –, »ich möchte sehr gerne wissen, woher die Namen kommen, aber wir haben nicht genug Zeit. Alice konnte die Sender kaum verwenden. Das hätte man gleich zu Anfang in Erfahrung bringen sollen.« »Ah! Die drei Schritte zur Raumfahrt. Dann glauben Sie also, unser Sender ist so primitiv, daß wir nach dem ersten Schritt nicht mehr weiterkönnen.« »Ihr Sender ist so primitiv, daß der erste Schritt noch gar nicht getan ist.« »Dann – werden Sie also die Universal Teleport nicht ruinieren?« »Nach allem, was vorgefallen ist, muß die Klassifizie233
rung Ihres Planeten überprüft werden. Deswegen bin ich hier. Ich bin vor allem gekommen, um Ihre Vorschläge zu diesem Thema zu hören.« Darzek starrte sie an. »Sie wollen meine Vorschläge hören?« »Sie haben einen Eid geschworen, Jan Darzek. Die Konsequenzen mögen Sie wahrscheinlich nicht richtig bedacht haben. Der Schwur hat Sie zu einem von uns gemacht – und alle von uns, die mit einem Problem zu tun hatten, sind berechtigt, ihre Meinung kundzugeben und Vorschläge zu machen. Man wird Ihre Vorschläge genauso gründlich prüfen wie meine. Sie wissen, was der Sender für die Raumfahrt bedeutet. Es ist natürlich so, daß Ihre jetzt vorhandenen Anlagen dafür noch nicht ausreichen, aber wenn Ihre Wissenschaftler nur einmal auf die Idee kämen, könnten sie sich auf das Problem konzentrieren und es lösen. Darf ich dazu Ihre Ansichten hören?« »Sie würden es lösen«, gestand Darzek zu, »früher oder später. Ich glaube auch, daß Sie unsere Wissenschaftler unterschätzen. Die Erfindung des Senders mag nicht so zufällig gewesen sein, wie Sie annehmen.« »Haben Sie einen Vorschlag?« »Gewiß. Sie geben selbst zu, daß unser Sender in seiner jetzigen Form keine Gefahr ist. Er stellt aber gewaltige menschliche Leistungen dar, und ich halte es durchaus nicht für gerechtfertigt, daß Sie ihn uns nehmen wollen, weil er in der Zukunft vielleicht einmal gefährlich werden könnte. Lassen Sie ihn in Ruhe. Lassen Sie uns in Ruhe. Und wenn Sie schon darauf bestehen, uns zu behindern, haben wir wenigstens ein Anrecht auf einen entsprechenden Ausgleich, auf Unterstützung.« »Ihr Vorschlag wird geprüft werden. Haben Sie sonst noch etwas zu sagen?« 234
»Ja«, erwiderte Darzek. »Ich glaube, daß Sie sich täuschen, was die Dunkelheit – unsere Dunkelheit angeht. Bei uns gab es Heilige und Sünder, moralische und unmoralische Menschen, Männer mit bewundernswerter Ethik und solche ohne Ethik, und dazwischen alle Abstufungen. Ich habe das Gefühl, daß Sie uns nach Wertmaßstäben beurteilen, für die es nur schwarz oder weiß gibt – gut oder böse. Ich weiß nicht, ob der Mensch schon für freundschaftliche Beziehungen zu fremden Lebewesen reif ist, aber ich habe auch die Überzeugung, daß man nicht jede Hoffnung aufzugeben braucht. Wenn der Mensch wirklich so gemein ist, wie Sie behaupten, dann sind Ihre Leute noch viel schlimmer. Mit eurer Technologie könntet ihr Hunger und Armut von der Erde verbannen. Ihr könntet Wüsten und Steppen fruchtbar machen, die Schwachen stärken und die Unterdrücker im Zaum halten. Anstatt aufzubauen, zerstört ihr. Anstatt dem Menschen zu helfen, legt ihr ihm Steine in den Weg. Ein moralischer Mensch, der seinen Bruder in der Gosse findet, begnügt sich nicht damit, ihn dort liegen zu lassen, er hilft ihm heraus. Mein Vorschlag ist, daß ihr einmal eure Färbung der Dunkelheit genau anseht.« »Wir werden den Vorschlag prüfen. Jetzt bleibt nur noch ein Problem. Was sollen wir mit Jan Darzek anfangen?« Darzek hob die Hand. »Das ist doch nebensächlich.« »Wir sind anderer Meinung.« »Ich nehme an, daß Sie damit auf die Auslöschung meines Gedächtnisses anspielen wollen. Manches von dem, was ich erlebt habe, wäre im Alter vielleicht eine angenehme Erinnerung gewesen, aber es wird dann sicher andere Erinnerungen geben, die denselben Zweck erfüllen. Es wäre schön, wenn ich nachher noch wüßte, wie die 235
Erde vom Mond her gesehen aussah. Ich hatte damals andere Dinge im Kopf und schaute nur ein paarmal kurz hin, aber ich würde mich gerne daran erinnern. Am schlimmsten wäre es für mich, wenn ich auf die Erinnerung an Ysaye, Alice und die anderen verzichten müßte. Sie haben mir zu einer Erkenntnis meines Ichs verholfen, die ich wahrscheinlich nie wieder erlangen werde.« »Noch etwas?« »Warum fragen Sie? Sie können mir nicht Bruchstücke der Erinnerung überlassen. Ich würde überschnappen, wenn ich versuchte, hinter das Ganze zu kommen.« »Was die Klassifizierung Ihres Planeten und Ihrer Leute angeht, so ist noch keine Entscheidung getroffen worden, aber wir haben entschieden, daß Jan Darzek die freie Wahl hat, was sein Gedächtnis angeht.« »Sie meinen – ich könnte auch alles behalten?« »Wenn Sie das wünschen. Alles oder irgendeinen Teil davon.« »Dann sage ich lieber nichts mehr. Fangen Sie an mit dem Löschen – ich möchte nicht wählen. Dann hätte ich die Verantwortung für das zu übernehmen, was kommt, und es mag oft Dinge geben, die ich überhaupt nicht begreife.« »Sie sind ein erstaunliches Wesen, Jan Darzek.« Sie erhob sich und zeigte ihm den Raumanzug. »Kennen Sie das?« »Es ist ein Raumanzug, wie ihn meine Leute auf dem Mond verwenden. Es ist« – sein Blick fiel auf den baumelnden Luftschlauch –, »ja, es ist der, den ich gestohlen habe.« »Den Sie gestohlen und auf so erstaunliche Weise benützt haben. Hören Sie zu, Jan Darzek. Es gibt einen fernen Planeten – er ist weiter entfernt, als ich Ihnen im 236
Augenblick begreiflich machen könnte. Auf diesem Planeten befindet sich ein Gebäude, dessen Zweck schwer verständlich zu machen ist, obwohl Sie es wahrscheinlich ein Museum nennen würden. Es ist nicht einfach ein Heim für Kuriositäten, wie die Museen bei Ihnen. Es wird mit seinem Inhalt weit mehr verehrt, als in Ihrer Sprache auszudrücken möglich ist. Dieser Raumanzug wird dort aufgestellt werden, solange Ihre Zivilisation dauert – und das wird lange sein, denn sie ist lebenskräftig und jung, und nicht einmal die ärgsten Pessimisten unter uns vermögen ihr Ende abzusehen –, werden die Völker der Galaxis diesen Anzug betrachten und das Epos von Jan Darzek bestaunen. In fernen Jahrhunderten gehören vielleicht sogar Ihre eigenen Leute dazu. Macht es Sie glücklich, solches Maß von Unsterblichkeit erreicht zu haben? Es gibt viele von uns, die weit mehr ertragen würden, um weniger zu erreichen.« »Das ist wohl ein bißchen übertrieben. Mit leerem Magen bringt man kein Epos zustande.« »Sie haben Ihr eigenes Leben eingesetzt, um fünf Wesen zu retten, die man nur als Ihre Feinde bezeichnen kann.« »Ich habe mein Leben nicht geopfert, ich habe den fünf nicht das Leben gerettet, und ich betrachte sie nicht als Feinde. Was wir geleistet haben, war Gemeinschaftsarbeit. Ich habe meinen Teil dazu beigetragen. Auch Ysaye. Alice steuerte den Löwenanteil bei. Selbst diejenigen, die nichts dazu beitrugen, halfen uns, weil sie nicht dazwischentraten, obwohl sie ihre Ausbildung dazu gezwungen hätte.« »Sie haben euch beobachtet«, sagte die andere langsam. »Sie haben gesehen, welche Schwierigkeiten Sie hatten, zu ihnen zurückzukehren, als es Ihnen mehr als leicht gefallen wäre, bei Ihren eigenen Leuten zu bleiben. 237
Dann haben Sie Ihren Sauerstoff geopfert. Alice wäre sonst zu spät gekommen. Sie haben Ihr Leben eingesetzt, obwohl damals alles hoffnungslos erschien.« »Ich bin eben von Natur aus Optimist.« »Sie sind ein schwach zivilisierter Bewohner von einem fernen und unbedeutenden Planeten mit nicht mehr als schwach entwickelter Moral und – Ihr Verhalten hat überall Aufsehen erregt.« »Sie haben etwas vergessen«, sagte Darzek trocken. »Meine Dunkelheit ist von der falschen Farbe.« »Soll das eine Stellungnahme sein?« »Ein Widerspruch gegen denjenigen, der die Farben beurteilt. Kann ich sie wiedersehen – Alice, Ysaye und die anderen?« »Sie sind schon fort. Sie haben eine Nachricht hinterlassen, die ich an Sie weitergeben soll.« ›Wenn der kühle Wind sich aufmacht, wenn der zerbrochene Kreis sich schließt, wenn der hellste Tag sich lichtlos erhebt und die spröde Nacht das Dunkel nicht mehr braucht, denk’ ich zurück …‹ »Das ist aus einem auf vielen Welten hochgeschätzten Gedicht. Ysaye hat es für Sie übersetzt, aber es läßt sich nur ungenau übertragen.« »Bitte sagen Sie ihnen, daß ich verstanden habe und genauso denke wie sie.« »Gerne.« »Bevor mein Gedächtnis gelöscht wird, möchte ich noch eines wissen.« »Ich stehe zu Ihren Diensten, Jan Darzek.« »Wie lautet das Urteil?« »Das Urteil?« »Über die Universal Teleport. Und über die Erde. Was werdet ihr tun?« 238
»Das Urteil ist noch nicht gefällt. Aber selbst wenn es schon bekannt wäre, dürfte ich es Ihnen nicht mitteilen. Sie kennen unseren Kodex zum Teil. Das werden Sie begreifen.« »Sie wollen es mir nicht einmal sagen, obwohl mein Gedächtnis gelöscht wird?« »Selbst wenn es der Kodex zuließe, wäre das eine sinnlose Komplizierung. Die Löschung des Gedächtnisses nimmt viel Zeit in Anspruch, und wir müssen zuerst mit Ihrer Hilfe Ersatzerinnerungen für die Zeit Ihrer Abwesenheit einfügen. Wir brauchen auch einen Techniker, der eine Perücke für Sie herstellt. Nach Ihrem Foto zu schließen, ist der Schaden an Ihrem Haar sehr auffällig.« »Das sind Kleinigkeiten.« »Unsere Techniker sind da sehr tüchtig.« »Ich weiß. Ich verstehe aber trotzdem nicht, was es schaden könnte, mich zu unterrichten, wenn die Erinnerung daran sofort wieder gelöscht wird.« »Das wäre ein Verstoß gegen meinen Eid – und gegen den Ihren. Wie sich die Beziehungen zwischen unseren Völkern in Zukunft auch gestalten mögen, niemand von den Menschen darf es je erfahren. Ganz bestimmt nicht, solange Sie – oder ich – leben. Sind Sie jetzt bereit?« Darzek erhob sich resigniert. Wieder konnte er die Tür nicht finden, und er mußte warten, bis sie für ihn geöffnet wurde. 23 Jan Darzek bezahlte den Taxichauffeur, gab ein enormes Trinkgeld und blieb am Randstein stehen, um das Fahrzeug die Chaussee de Louvain hinunterrasen zu sehen. Der Tag war herrlich, Brüssel war eine wunderbare Stadt, 239
und er wäre wenigstens gerne so lange geblieben, um in einem kleinen Restaurant, an das er sich erinnerte, zu speisen. Aber der Fall konnte nicht als endgültig abgeschlossen betrachtet werden, bis er seinen Bericht erstattet und die Rechnung vorgelegt hatte. Es schauderte ihn, wenn er daran dachte, wieviel Arbeit sich während seiner Abwesenheit in seinem Büro gestapelt haben mußte. Er drehte sich widerstrebend um, machte sich aber mit den zuversichtlichen Schritten eines Mannes auf den Weg, der einen schwierigen Auftrag zu seiner Zufriedenheit erledigt hat, und betrat den ›Gare de transteleport‹. Als er durch die Halle schritt, trat ihm ein kleiner, dicker Mann in den Weg. »Monsieur Darzek!« Darzek nickte ernsthaft. »Monsieur Vert. Es freut mich, Sie wiederzusehen.« Der stellvertretende Geschäftsführer verbeugte sich und ergriff Darzeks Hand. »Aber Monsieur Darzek! Wo sind Sie gewesen? Die Polizei ist da, Detektive aus Amerika, Ingenieure, alle stören sie uns bei der Arbeit und stellen Fragen – ich bin ganz durcheinander. ›Wo ist Monsieur Darzek?« fragten sie mich, ›wo ist er hingekommen?‹ – »Woher soll ich das wissen?« erwiderte ich. »Ich habe ihn damals nicht einmal in den Sender springen sehen. Der Kontrolleur behauptet, er sei hineingesprungen und verschwunden –‹« Monsieur Vert schnippte mit den Fingern. »Aber alle, die den Sender benützten, sind verschwunden, und es ist doch nicht meine Sache, wenn man nicht am richtigen Ort ankommt. Ich weiß nicht genau, ob man mir geglaubt hat.« »Ich werde mich für Sie einsetzen«, erwiderte Darzek. »Sie haben mir sehr viel geholfen, und ich hatte noch 240
keine Gelegenheit, mich bei Ihnen zu bedanken. Ich hatte es sehr eilig. Ich werde Sie Mr. Watkins empfehlen.« »Très bien. Das ist sehr großzügig von Ihnen. Man fühlt sich doch nicht gerne verantwortlich für etwas, wovon man keine Ahnung hat. Aber Monsieur Darzek« – der kleine Monsieur Vert verstummte und schaute sich argwöhnisch um –, »ich habe etwas Wichtiges mit Ihnen zu besprechen. Wenn Sie so freundlich wären.« »Gewiß«, sagte Darzek. »Vielleicht in meinem Büro, wo wir uns in aller Ruhe unterhalten können –« »Gern.« Darzek folgte ihm ein wenig betroffen in sein Büro. »Ich hoffe, daß niemand mehr verschwunden ist«, sagte er, als sie das Büro erreicht hatten und Monsieur Vert die Tür hinter sich schloß. Monsieur Vert sah ihn entsetzt an. »Non! Non! Fangen Sie bloß nicht davon an. Nehmen Sie Platz.« Darzek setzte sich. Monsieur Vert ließ sich auf seinem Stuhl nieder und rückte verlegen an der Schreibunterlage. »Ich weiß nicht genau, wie ich das sagen soll, Monsieur Darzek«, meinte er. »Als Sie das letztemal hier waren, betraten Sie die Sperre nach Paris, indem Sie über das Drehkreuz sprangen, und folgten einem Passagier nach Paris in den Sender. Ich erfuhr erst später, daß Sie nicht nach Paris gegangen sind. Jedenfalls hat man mir das so oft erzählt, daß ich es für wahr halten muß.« »Es stimmt auch«, sagte Darzek. »Ich bin nicht in Paris angekommen.« »Bien«, sagte Monsieur Vert. »Würden Sie sagen, daß es die Schuld der Universal Teleport ist, daß Sie nicht nach Paris gekommen sind?« »Keinesfalls. Die Universal kann überhaupt nichts dafür.« 241
»Wunderbar! Das freut mich sehr. Dann kann ich mit Ihnen über die Sache sprechen, die mir Sorgen macht. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, daß Sie nicht durch das Drehkreuz gegangen sind. Sie sprangen darüber hinweg. Das bestreiten Sie nicht?« »Warum sollte ich es bestreiten?« fragte Darzek. »Es war von wesentlicher Bedeutung, den Passagier nicht aus den Augen zu lassen, und ich hatte keine Zeit, mich mit dem Kontrolleur zu besprechen.« »Genau. Trotzdem, obwohl Sie nicht durch das Drehkreuz gingen, kamen Sie durch den auf Paris eingestellten Sender, und Sie hätten dort eintreffen sollen. Können Sie mir folgen?« »Leider nicht.« »Aber Monsieur Darzek! Sie sehen doch sicher ein, daß man sich an die Vorschriften halten muß. Obwohl Sie über das Drehkreuz gesprungen sind, haben Sie sich Ihrer Verpflichtung entzogen, ein Billett vorzuzeigen. Sind Sie der Universal Teleport nicht noch eine Reise nach Paris schuldig?« In der Station New York blieb Darzek nur kurz stehen, um sein leeres Zigarettenetui aufzufüllen, bevor er sich auf den Weg zu Ted Arnolds Büro machte. Er zündete sich eine Zigarette an und wunderte sich darüber, daß Ausländer überhaupt rauchten, wenn er daran dachte, was ihm in der letzten Woche angeboten worden war. Arnold war nicht da, aber die Tür zu seinem Büro stand offen, und Darzek benützte sein Telefon. »Ist Ted Arnold im Hause?« fragte er die Vermittlung. »Ich weiß es nicht«, sagte die Stimme. »Soll ich ihn suchen?« »Bitte. Sagen Sie ihm, daß er in seinem Büro dringend 242
erwartet wird. Sagen Sie ihm, es sei sehr wichtig, und wenn er nicht sofort kommt, wird die Sonne heute abend nicht untergehen.« »Würden Sie das wiederholen?« fragte die Stimme zweifelnd. »Es handelt sich um einen Notfall.« »Ich sage ihm Bescheid.« Darzek legte auf und machte es sich auf dem Sofa bequem. Zehn Minuten später stürmte Arnold herein. Er starrte Darzek lange an, stieß einen Schrei aus und umarmte ihn stürmisch. »Hör schon auf!« fauchte Darzek. »Nachdem ich Feuer, Wasser und diverse Folterungen überstanden habe, möchte ich mich hier nicht zu Tode quetschen lassen.« Arnold ließ ihn los. »Wo, zum Teufel, bist du gewesen?« »Das ist eine schöne Begrüßung! Ich war in Brüssel, bin in Brüssel gewesen und komme eben von dort zurück – wo eure Station übrigens von Piraten geleitet wird. Wo warst du?« »Hast du in deinem Büro angerufen? Weiß Jean Bescheid?« »Nein. Ich bin direkt hierhergekommen.« »Ich sag’ ihr Bescheid. Sie fällt uns in Ohnmacht, wenn du sie unvorbereitet überfällst.« Er riß den Hörer vom Telefon und wählte eine Nummer. »Jean, er ist wieder da! Jawohl. Er sitzt auf meinem Sofa und macht ein selbstzufriedenes Gesicht. Ich hab’ ihn noch nicht gefragt. Er hat abgenommen und muß zum Friseur, aber sonst scheint ihm nichts zu fehlen. Lieber nicht. Die Direktoren haben gleich eine Sitzung, und man wird ihn hören wollen. Das kann Stunden dauern. Warum 243
treffen wir uns nicht heute abend zum Essen? Natürlich geben wir ein Fest. Ich ruf dich an. Lebwohl, Liebling.« »Liebling!« rief Darzek. »Du nennst Jean Liebling?« »Ich sag dir lieber gleich Bescheid. Jean und ich sind –« »Unglaublich! Ich bin ein paar Wochen nicht in der Stadt und mein bester Freund – Ted, von dir hätte ich das nicht erwartet!« »Na hör mal, ich wußte doch nicht, daß du sie liebst. Sie arbeitet seit vier Jahren für dich, und du hättest Zeit genug gehabt, dich zu erklären.« »Ich bin nicht in sie verliebt. Sie ist die beste Sekretärin, die ich je gehabt habe, und für Sonderaufträge geradezu ideal. Außer mir ist sie der einzige Mensch, der schon in der Wiege als Detektiv geboren wurde.« »Wenn du eine Sekretärin auf Lebenszeit anstellen willst, mußt du sie schon heiraten. Warst du die ganze Zeit in Brüssel?« »Hab’ ich das nicht gerade gesagt?« »Ed Rucks hatte recht. Die Stadt ist einfach zu groß. Einen Augenblick.« Er wählte eine andere Nummer. »Miss Shue? Ich bin’s, Süße. Jan Darzek ist eben von den Toten auferstanden. Er sitzt in meinem Büro. Bringen Sie dem Chef einen Zettel, und sagen Sie ihm, daß wir um elf hinaufkommen. Keine Minute früher. Ich möchte zuerst alles hören, bevor ich die Direktoren auf ihn loslasse.« Er legte auf. »Schieß los«, sagte er. »Was soll ich dir denn erzählen?« fragte Darzek. »Ist das dein Ernst? Rucks hat dich in ganz Europa gesucht, die Universal hat ein Vermögen ausgegeben, und wir haben vor Sorge kein Auge zutun können. Wir haben uns ausgerechnet, wie das Ganze bewerkstelligt worden ist, und wir wußten, daß du ihnen das Handwerk gelegt 244
hast, aber deswegen wußten wir noch lange nicht, wo du warst oder was dir passiert ist.« »Ich war in einem feuchten Keller in Belgien und langweilte mich. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich mich je so gelangweilt hätte. Das kommt auf die Rechnung.« »Was ist mit dem Sender geschehen?« »Ich habe ihn zerstört. Ihr habt nichts mehr zu befürchten. Sie könnten das Gerät nicht mehr zusammenbauen, selbst wenn sie wüßten, wie man das macht.« »Ich habe mir so etwas schon gedacht, als plötzlich niemand mehr verschwand. Übrigens wären wir auch sicher, wenn sie den Sender wieder aufbauen könnten. Ich habe mir ein paar Veränderungen und Tricks einfallen lassen.« »Fein. Warum hast du das nicht gemacht, bevor ich eingesperrt worden bin?« »Ich wußte nicht, was sie trieben, bis du erwähnt hast, daß es manchmal nicht gleich funktionierte.« »Freut mich. Ich leide nicht gerne umsonst. Ted, ich habe dich nie ganz gewürdigt, bevor ich diesen Sender auseinandernahm. Ich habe einmal die Innereien eines Fernsehgerätes gesehen und bin da schon erschrocken. Der Sender war ein Alptraum für mich. Wie kann man aus einem solchen Durcheinander schlau werden?« Arnold grinste. »Da muß man schon ein paar Schrauben locker haben. Bis jetzt bist du der wichtigsten Frage immer noch ausgewichen. Wer sind ›sie‹?« »Du hast die Frage gar nicht gestellt, und wenn es dir nichts ausmacht, spare ich mir das für die Direktoren auf.« »Wie du meinst. Möchtest du eine Tasse Kaffee, bevor wir hinaufgehen?« 245
»Zwei Tassen und ein Stück Apfelkuchen. Ich bin nicht besonders gut gefüttert worden, und wenn es in Belgien anständigen Kaffee gibt, will ich Arnold heißen.« »Ich lasse ihn gleich bringen. Willst du noch etwas?« »Nur Kaffee und Kuchen.« »Gut«, sagte Arnold und gab den Auftrag telefonisch durch. »Weißt du«, fuhr er fort und legte die Beine auf den Schreibtisch, »es ist das erstemal, daß ich mich wohlfühle, seit du verschwunden bist.« »Tut mir leid, daß ich nicht jede Stunde anrufen konnte.« »Oh, ich gebe dir keine Schuld, ich wette, daß du allerhand erlebt hast. Es wundert mich nur, daß sie dich freigelassen haben. Oder bist du entflohen?« »Sie haben mich freigelassen. Es dauerte lange, bis sie sich entschieden hatten, und dann verhandelten wir noch eine Weile, aber sie ließen mich schließlich gehen.« »Was gab es da zu verhandeln?« »Das erzähle ich alles den Direktoren. Ich kann das nicht zweimal von mir geben.« »Du wirst doch verstehen, daß ich neugierig bin«, meinte Arnold. »Ich konnte nichts anderes tun, als dich suchen zu lassen und zu warten, bis man etwas fand. Aber dazu kam es natürlich nicht.« »Kein Wunder. Auf technische Probleme setzt man keine Detektive an. Warum läßt du auch einen Vermißten durch Ingenieure suchen? Dein Perrin mag ja ein guter Techniker sein, aber er wird nie –« »Oh, Perrin hab’ ich nicht fortgeschickt«, unterbrach ihn Arnold. »Das war überhaupt nicht mein Gebiet. Ich habe Rucks die Leute aussuchen lassen.« »Irgendwie hatte ich den Eindruck, daß Perrin mich suchte.« 246
»Perrin ist auf dem Mond. Was machst du für ein Gesicht? Hast du keine Zeitung gelesen? Wußtest du nicht, daß wir auf dem Mond sind?« »Ich habe seit dem Sprung in den Sender keine Zeitung mehr gesehen, und auf dem Mond sind wir doch schon seit Jahren. Aber – Perrin?« »Ich meine, die Universal Teleport ist auf dem Mond. Mit einem Sender. Perrin kümmert sich darum. Leider hat die Raumfahrtbehörde allerhand zu sagen, und alle Leute, die über Beziehungen verfügen, lassen sich kostenlos auf den Mond transportieren. Der Präsident war vorgestern oben – der erste Regierungschef, der diesen Planeten verlassen hat. Das gab natürlich riesige Schlagzeilen, und die Reklame ist Gold wert, aber von diesen Trotteln im Direktorium sind ein paar nie zufrieden. Wir hätten dem Präsidenten ein Billett verkaufen sollen.« »Vielleicht könnt ihr bald Fahrkarten nach dem Mond verkaufen.« »Das ist schon in der Planung. Hier tut sich wirklich was. Wir mußten Spezialsender für den Mond bauen und einen mit einer Rakete hinaufschicken. Jetzt bauen wir Sender für New Frontier City, für Lunaville und –« »Donnerwetter! Und nebenbei hast du dir noch eine Braut gesucht. Dabei behauptest du, du hättest nur darauf gewartet, daß mich jemand findet. Es mag sein, daß du ein guter Ingenieur bist, aber als Freund kann man dich nicht brauchen. Mir meine Sekretärin zu stehlen –« Er verstummte. »Was ist denn los?« fragte Arnold. »Ich möchte nur wissen, wie ich auf die Idee komme, daß Perrin mich gesucht hat.« Man brachte eine Kanne Kaffee und einen ganzen Ap247
felkuchen, den sie gemeinsam verspeisten. Dann gingen sie nach oben, wo Miss Shue sie herzlich begrüßte. Thomas J. Watkins führte Darzek unter donnerndem Beifall der übrigen Direktoren zu einem Sessel. Arnold nahm ebenfalls Platz, Miss Shue blieb an der Tür stehen. »Wir möchten Ihnen gratulieren und uns bedanken, Mr. Darzek«, sagte Watkins. »Wir wissen, daß Sie Erfolg hatten, aber wir können uns nicht vorstellen, wie Sie das geschafft haben. Bitte erzählen Sie.« »Ich hatte gehofft, daß das gesamte Direktorium anwesend ist«, meinte Darzek. »Alle Herren sind da«, versicherte ihm Watkins. »An dem Tag, als ich engagiert wurde, lernte ich ein paar Direktoren kennen. Wo ist Mr. Grossman?« »Ich möchte darauf hinweisen«, warf Arnold ein, »daß Mr. Darzek, seit er verschwunden ist, keine Zeitung gesehen hat. Grossman ist nicht mehr Direktor, Jan. Er konnte nicht mehr unterscheiden, welches Geld der Gesellschaft gehört und welches ihm, und er hat sich die Taschen ein bißchen gefüllt. Wir vermuten, daß er für den Verrat verantwortlich ist, aber bisher hat er es bestritten.« »Es gab keinen Verräter«, sagte Darzek. »Nur ein paar Direktoren, die zuviel geredet haben. Wissen alle von Ihnen, was geschehen war, bis ich verschwand?« »Ich habe die Herren inzwischen unterrichtet«, sagte Watkins. »Schön. Sie wissen also, daß wir eine der verkleideten Frauen in der Station Brüssel identifiziert haben. Meine Assistentin verfolgte sie nach Paris und zurück nach Brüssel, und als sie das zweitemal nach Paris unterwegs war, gelang es mir, unmittelbar hinter ihr durch den Sender zu kommen. Wir landeten in einem Keller. Dort waren drei 248
Männer anwesend, die sehr schnell reagierten. Ich lag ein paar Minuten später gefesselt auf einem Kohlenhaufen. Es dauerte drei Stunden, bis ich mich befreit hatte. Als es mir schließlich gelungen war, befand sich nur ein Mann am Sender. Ich schlug ihn k. o. und zerstörte den Sender. Leider ging das nicht ohne Lärm ab, man kam nachsehen, und gegen sechs Männer konnte ich nun nichts mehr ausrichten. Ich landete wieder auf dem Kohlenhaufen, diesmal besser gefesselt und bewacht. So ging es ein paar Tage, obwohl ich nach einer Weile in ein Zimmer verlegt wurde. Am sechsten Tag brachte man mich in ein Schlafzimmer, und wir gingen daran, miteinander zu verhandeln.« »Zu verhandeln?« fragte Watkins zweifelnd. »Ich hatte keine Möglichkeit, Instruktionen anzufordern, meine Herren. Ich mußte annehmen, daß ich für Sie sprechen durfte, und Sie sind an meine Abmachungen gebunden, ob es Ihnen gefällt oder nicht. Die Situation war doch so: Ich hatte ihren Sender zerstört, so daß keine Passagiere mehr verschwinden konnten. Sie wußten nicht, was sie mit mir anfangen sollten. Selbst wenn sie sich entschlossen, mich umzubringen, was ich nicht für möglich hielt – konnten sie ja nicht ahnen, wieviel meine Kollegen wußten, oder wie nahe wir daran waren, sie zu überführen. Sie mußten um jeden Preis verhüten, entdeckt zu werden, aber die Universal Teleport hatte auch ein Interesse daran, die ganze Sache geheimzuhalten. So sah ich die Situation, nach geraumer Zeit gab man mir recht, und ich konnte einen Vergleich schließen – wonach sie in Zukunft darauf verzichten, die Universal Teleport zu stören, und die Universal Teleport sich nicht mehr bemüht, sie zu verfolgen. An der Tatsache, daß die Universal große Schwierigkeiten und erhebliche Unkosten 249
gehabt hatte, ließ sich jedoch nicht vorübergehen, und ich bestand auf Schadenersatz. Das einzige Problem war die Höhe des Betrages. Ich verlangte eine halbe Million –« »Du meine Güte!« rief Watkins. »Sie haben Nerven!« »Sie haben noch nie Poker mit ihm gespielt«, meinte Arnold. »Ich verlangte eine halbe Million, und sie meinten, das sei lächerlich. Man bot mir fünftausend an, und nun meinte ich, das sei lächerlich. Wir warfen uns tagelang Zahlen an den Kopf. Ich wußte ja nicht, daß Sie sich so bemüht haben, mich zu finden – sonst hätte ich mehr erreicht. Hier haben Sie einen Scheck, der auf die Universal Teleport ausgestellt ist. Fünfundzwanzigtausend.« Er gab ihn an Watkins weiter. »Der Fall ist abgeschlossen. Haben Sie Fragen?« »Ja«, sagte Watkins. »Wer sind ›sie‹?« »Das wissen wir nicht, und wir bemühen uns auch nicht, es herauszufinden. Das ist die Grundlage für den Vergleich. Sagen wir, es handelt sich um Leute, deren Interessen denen der Universal Teleport zuwiderlaufen, und behalten wir unseren Verdacht für uns.« »Wie haben sie den Sender von New York nach Brüssel gebracht?« fragte Arnold. »Ich bin nicht auf die Idee gekommen, sie das zu fragen. Wahrscheinlich per Luftfracht. Sie hatten Zeit genug zwischen dem Verschwinden der Passagiere zwischen New York und Brüssel – beinahe zwanzig Stunden. Spielt das eine Rolle?« »Nicht unbedingt. Ich möchte nur wissen, woher sie den Sender haben.« »Auch das habe ich nicht gefragt. Aber wenn Sie genau nachsehen, werden Sie feststellen, daß einer fehlt.« »Möglich. Durch die zahlreichen Pannen gehen viele 250
zu Bruch. Manche konnten repariert werden, andere nicht, und bei dem allgemeinen Durcheinander könnte schon einer verschwunden sein, ohne daß es uns aufgefallen ist.« »Dann steht nur noch ein Punkt zur Debatte«, sagte Darzek. »Ich habe viel mit vertraulichen Angelegenheiten zu tun und liefere schriftliche Berichte nur dann, wenn sie ausdrücklich angefordert werden. In diesem Fall würde ich vorschlagen, darauf zu verzichten.« »Da bin ich Ihrer Meinung«, sagte Watkins. »Wenn Sie mir einen schriftlichen Bericht vorlegen würden, würde ich ihn nach der Lektüre sofort vernichten. Warum sich also die Mühe machen?« »Danke. Mehr habe ich nicht zu sagen, meine Herren.« Darzek lehnte sich zurück und zündete sich eine Zigarette an. Watkins stand auf und gratulierte Darzek noch einmal. »Ich schlage vor, die Situation zu akzeptieren, wie sie Mr. Darzek dargestellt und bereinigt hat. Einstimmig angenommen? Großartig: Dann haben wir nur noch Mr. Darzeks Honorar festzulegen, und ich möchte vorschlagen, daß wir, nachdem er den Vergleich zustande gebracht hat, den Scheck an ihn überschreiben.« »Fünfundzwanzigtausend sind für zwei Wochen Arbeit reichlich viel«, meinte Darzek. »Kommen Sie morgen zu mir«, meinte Watkins. »Wir sprechen dann noch einmal über das Honorar. Die Sitzung ist vertagt.« Ed Rucks und Jean Morris warteten im Vorzimmer. Jean stieß einen Schrei aus und fiel in Darzeks Arme. »Er ist es«, sagte sie. »Aber was hat er mit seinen Haaren gemacht?« Darzek schob sie weg. 251
»Du mußt sie im Zaum halten«, sagte er zu Arnold. »Ich fahr’ jetzt nach Hause. Ich möchte sehen, ob noch alles da ist.« »Du bist noch nicht zu Hause gewesen?« fragte Jean. »Nein. Mein Pflichtgefühl hat mich daran gehindert.« Sie wich ein paar Schritte zurück und maß ihn vom Scheitel bis zur Sohle. »Du hast wirklich abgenommen. Natürlich bist du zu Hause gewesen.« »Nein.« »Und was ist mit dem Abendessen? Wird gefeiert?« »Meinetwegen.« »Ich ruf dich an.« »Ich bin den ganzen Nachmittag zu Hause«, sagte Darzek. »Vielleicht sogar den ganzen Monat.« 24 Ron Walker holte Darzek mit einer Limousine ab. »Haben Sie den Verstand verloren?« fragte Darzek, als der Chauffeur die Tür zuschlug. »So hoch können Ihre Spesen doch gar nicht sein.« »Ich weiß nicht, was ihr immer mit meinen Spesen habt«, sagte Walker. »Sie wissen, daß ich einen vierseitigen Antrag schreiben muß, bevor ich auf Kosten der Zeitung mit der Untergrundbahn fahren kann. Den Wagen hat Thomas J. Watkins gestellt.« »Was hat er damit zu tun?« »Er hat gehört, daß Sie feiern wollen, und wollte es sich nicht nehmen lassen, für alles aufzukommen. Sie müssen zugeben, daß er nicht kleinlich ist. Er hat sich übrigens auch eingeladen, und wir wollten es ihm nicht abschlagen, weil er alles bezahlt.« 252
»Wer kommt noch?« »Watkins bringt Ed Rucks mit, Arnold kommt mit Jean, ich bringe Sie mit. Drei glückliche Paare.« »Wußten Sie das von Ted und Jean?« »Schon vor den beiden. Ihre Abwesenheit hat sie zueinander getrieben. Ich glaube, daß es gut für alle beide ist.« »Sie haben wahrscheinlich recht, aber sagen Sie es nicht laut. Wohin fahren wir?« »In einen Klub, von dem ich nie gehört habe.« Der Chauffeur lieferte sie vor einer imposanten Villa am Riverside Drive ab. Ein uniformierter Portier verbeugte sich tief und gab sie an einen Butler weiter, der sie in einen Speisesaal im ersten Stock führte. »An der Tür stand ›Viktorianischer Klub‹!« sagte Darzek verblüfft. Watkins begrüßte sie lächelnd, ein Ober kam mit einem Tablett heran und brachte Drinks, und sie setzten sich an einen Kamin, der eine Klimaanlage barg. Ed Rucks drückte Darzek minutenlang die Hand und stieß die Gläser vom Tisch, der Ober machte sauber und brachte neue Gläser. »Viktorianischer Klub?« sagte Darzek und sah sich um. »Nach den Gründern benannt«, meinte Watkins und blinzelte ihm zu. »Sechs Männer namens Viktor. Ursprünglich durften nur Leute Mitglieder werden, die Viktor hießen, aber das waren dann doch zu wenige. Ted und Jean – da seid ihr ja. Fangen wir an?« »Sie setzen sich oben an den Tisch, Jan«, sagte Walker. »Und vergessen Sie nicht, daß ein Ehrengast Verpflichtungen hat, nicht nur Vorrechte. Er singt die erste Stimme und muß Trinkgelder geben. Jean –« »Ich sitze neben Jan«, sagte Jean. »Ich lasse ihn nicht aus dem Zimmer, bis ich erfahre, was mit seinen Haaren passiert ist und warum er überall Lügen erzählt.« 253
Die anderen starrten Darzek interessiert an. »Was ist denn mit seinem Haar?« fragte Arnold. »Das möchte ich ja wissen«, sagte Jean. »Ich meine – ich finde es ganz normal.« »Ich nicht. Du hast heute vormittag übrigens neben mir gestanden, als er gelogen hat.« »Wenn ihr mich schön verhören wollt«, sagte Darzek, »könnt ihr wenigstens so höflich sein, mich zuerst hinsetzen zu lassen.« Sie nahmen Platz, Arnold und Jean Morris auf der einen, Walker und Rucks auf der anderen Seite. Arnold schob Jean den Stuhl zurecht, aber sie ignorierte ihn. Als Darzek sich an die Schmalseite des Tisches setzte, beugte sie sich vor und riß ihm mit einem Ruck die Perücke vom Kopf. »Na bitte!« rief sie aus. Während die anderen starr vor Staunen dasaßen, holte sich Darzek die Perücke zurück und setzte sie wieder auf. »Ich bin froh, daß du das gesehen hast, Ted«, sagte er. »Ich wollte dir verheimlichen, was du dir für eine Frau eingehandelt hast, aber jetzt weißt du wohl Bescheid.« »Was ist mit deinem Haar passiert?« fragte Jean. Die anderen starrten ihn an. »Sie bringt es nicht nur fertig, meine Gefühle zu verletzen, sie hat auch noch den Nerv, von mir zu erwarten –« »Was ist mit deinem Haar passiert?« »Wenn du es genau wissen willst, ich hab’ im Bett geraucht und bin eingeschlafen. Zum Glück roch der Wärter den Rauch und kam mir zu Hilfe, aber erst, als mein schönes Haar schon verbrannt war. Meine Gegner wollten nicht den Eindruck erwecken, sie hätten mich gefoltert, und ließen nach meinem Paßfoto eine Perücke anfertigen. Sie ist übrigens recht gut gelungen.« 254
»Sie sieht besser aus, wenn du sie gerade aufhast«, sagte Jean. »Danke«, erwiderte Darzek und rückte sie zurecht. »So etwas paßt gar nicht zu ihm«, meinte Jean resigniert, »aber es kann so gewesen sein, und eine andere Erklärung wird man ihm wohl nicht entlocken können. Und was ist mit der Lüge?« »Welche Lüge meinst du?« fragte Darzek. »Du hast mir heute früh vor Zeugen erklärt, du wärest noch nicht zu Hause gewesen.« »Das wiederhole ich auch vor Zeugen. Ich bin zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu Hause gewesen.« »Wie erklärst du dann, daß du bei deinem Verschwinden ein Sportsakko, eine dunkle Gabardinehose, ein grünliches Hemd und eine Fliege anhattest – ganz zu schweigen von den schrecklichen Socken und den braunen Schuhen; du bist die ganze Zeit in Brüssel festgehalten worden und kommst mit dem alten blauen Anzug zurück, mit weißem Hemd, schwarzen Schuhen, einer Krawatte, die du von meinem Bruder ausgeliehen und nie zurückgegeben hast, und mit ein Paar Socken, die ich dir zu Weihnachten geschenkt habe. Versuch nur, das zu erklären.« »Das wird nie und nimmer eine Ehefrau, Ted. Im besten Fall eine verheiratete Detektivin.« »Trotzdem finde ich die Frage recht interessant«, sagte Arnold. »Et tu, Brûte! Meinetwegen. Das Sportsakko und die Gabardinehose sahen nach der Rauferei im Keller schrecklich aus, außerdem mußte ich längere Zeit auf einem Kohlenhaufen zubringen. Als ich mit meinen Gegnern ins Gespräch gekommen war, konnte ich mich in dem Anzug nicht mehr sehen lassen. Im Laufe der 255
Verhandlungen mußte ein Bote mehrmals nach New York fahren, um Anweisungen zu holen, und auf meine Bitte hin holte er frische Sachen aus meiner Wohnung. Er hatte einen miserablen Geschmack, aber dafür kann ich die Verantwortung nicht übernehmen. Noch irgendwelche Fragen?« »Jean«, sagte Arnold, »du mußt dich entschuldigen.« »Das bezweifle ich«, meinte Jean, »aber es hat keinen Sinn, unsere Feier zu vermiesen. Ich entschuldige mich und werde ihm erst sagen, was ich von ihm halte, wenn ich meine Kündigung schicke.« »Fangen wir an?« fragte Watkins und nickte dem Ober zu, der einen Wagen in den Raum schob und zu servieren begann. Das Essen ging fröhlich vonstatten, bis sie mit dem Ober über das Dessert sprachen. Darzek verlangte die größte Eisbombe, die man beschaffen könne, und Jean erklärte dem Ober, nachdem sie gewählt hatte, daß Mr. Arnold Diät halten müsse und keine Nachspeisen vertrage. »Wenn ich das heute früh gewußt hätte«, meinte Darzek, »hätte ich meinen Apfelkuchen nicht mit ihm geteilt.« »Ted!« jammerte Jean. »Du hast doch hoffentlich nicht ein ganzes Stück Kuchen gegessen?« »Nein«, sagte Darzek. »Einen halben Kuchen.« »Mr. Arnold möchte keine Nachspeise«, sagte Jean fest, und der Ober ging weiter. »Verräter!« murmelte Arnold. Watkins lachte und meinte, es sei jetzt wirklich an der Zeit, Arnold zu gratulieren. »Sie wird einen neuen Menschen aus Ihnen machen«, sagte er. »Wann ist die Hochzeit?« »Wir haben uns noch nicht festgelegt«, erwiderte Arnold. »Ich möchte kein neuer Mensch werden. Übrigens, 256
Jan, während du fort warst, haben wir etwas Geheimnisvolles erlebt. Ich hätte dich auf die Sache angesetzt, wenn du hier gewesen wärst.« »Ich nehme an, daß du es auch ohne mich geschafft hast«, sagte Darzek. »Es kann also nicht so kompliziert gewesen sein.« »Es tut mir leid, wir haben das Rätsel nicht gelöst. Wir werden es auch nie lösen. Es ist erst vorgestern im neuen Mondstützpunkt passiert. Perrin ging zum Sender und stellte fest, daß jemand Sabotage verübt hatte. Der Präsident und ein ganzer Haufen von Bonzen warteten auf Cape Kennedy, um die Reise nach dem Mond anzutreten, und wir konnten keinen Kontakt bekommen. Du kannst dir vorstellen, wie uns zumute war.« »Was heißt Sabotage?« fragte Darzek. »Das ist eben das Geheimnisvolle. Die ganze Schaltung war durcheinander. Perrin wußte, daß man den Präsidenten erwartete, und es kam ihm nur darauf an, den Sender wieder in Betrieb nehmen zu können. Mir wäre es lieber gewesen, wenn er aufgezeichnet hätte, was mit dem Sender passiert war. Soweit er sich erinnern konnte, schien das Ganze nämlich den Eindruck zu machen, als habe jemand versucht, den Sender zu verbessern.« »Das ist aber doch ein merkwürdiges Motiv für Sabotage.« »Wer kann dafür verantwortlich sein? Außer Perrin waren noch zwei Leute im Stützpunkt, und beide schworen, sie hätten den Sender nicht angerührt. Ich glaube ihnen, weil der Verantwortliche sehr viel von Elektronik verstehen mußte, was bei den beiden nicht zutrifft. Ein paar Leute sind der Ansicht, daß die Russen dahinterstecken, aber das ist lächerlich. Außerdem – wenn jemand einen Sender zerstören will, braucht er nur einen 257
Hammer zu nehmen. Perrin schwört, daß ein geheimnisvoller Fremder in der Nähe gewesen sei, was recht interessant wäre, wenn man sich erklären könnte, wie er dort hingekommen ist und wohin er verschwand. Geheimnisvolle Fremde auf dem Mond werden schnell zu toten Fremden, wenn sie nicht über einen Stützpunkt verfügen. Nein, das ist ein Geheimnis, das nicht einmal Darzek aufklären könnte.« »Recht vielen Dank, aber mir ist das gleichgültig«, sagte Darzek. »Ich habe auf der Erde genug zu tun.« »Das darf wohl nicht veröffentlicht werden?« erkundigte sich Walker bei Arnold. »Natürlich nicht.« »Der Teufel soll Sie holen!« »Die Raumfahrtbehörde wird unter Umständen in ein paar Tagen eine Erklärung abgeben. Ich habe vorgeschlagen, den Krater umzutaufen. Er sollte der Krater der Geheimnisse heißen. Zuerst gibt es eine Explosion, die keine Spuren hinterläßt, dann wird unser Sender von einem geheimnisvollen Fremdling beschädigt, und jetzt erzählt man mir, daß oben allerhand verschwindet. Auch kann jetzt übrigens niemand mehr an den Sender heran. Wir haben eine Metallhütte aufgestellt, die man absperren kann.« »Was für eine Explosion meinst du?« erkundigte sich Darzek. »Das ist schon überholt. Es hat keine Explosion gegeben, obwohl ein paar Leute sie gesehen haben – Ron, besorgen Sie ein paar alte Zeitungen, damit Jan sich informieren kann.« »Wir haben eine Akte im Büro«, sagte Jean. »Aber er hätte die Artikel nicht einmal gelesen, wenn er hier gewesen wäre. Die Ereignisse auf dem Mond interessieren ihn nicht.« 258
Der Ober brachte die Nachspeisen, und Darzek, der seine Eisbombe begeistert ansah, meinte: »Merkwürdigerweise habe ich neulich vom Mond geträumt. Ich war oben und starrte zur Erde hinauf. Das war alles sehr realistisch. Die Erde war eine herrliche, schimmernde Sichel. Ich wußte gar nicht, daß die Erde Phasen durchläuft wie der Mond.« »Von diesen Phasen sind kaum mehr als zwei Millionen Fotos veröffentlich worden«, meinte Arnold. »Tatsächlich? Ich habe mich nie darum gekümmert. Jedenfalls war es für mich ein bemerkenswertes Ereignis.« »Wenigstens haben sich deine Kenntnisse verbessert, seitdem du zum letztenmal geträumt hast, auf dem Mond gewesen zu sein.« »Was meinst du?« »Du hast mir erzählt, du hättest geträumt, auf die Erde hinuntergeschaut zu haben. Diesmal hast du nach oben gesehen. Das ist ein beachtlicher Fortschritt.« »Wenn du meinst. Ich kann mich an den anderen Traum nicht erinnern.« »Nur schade, daß du von Teds Mondrätsel nichts gewußt hast«, meinte Jean. »Während du geträumt hast, auf dem Mond zu sein, hättest du es für ihn aufklären können. Hast du dort oben sonst noch etwas Interessantes gesehen?« »Ja. Ich bin Mondbewohnern begegnet. Männern und Frauen.« »Vielleicht ist er doch normal«, meinte Jean. »Wie sahen die Frauen aus?« »Sie waren riesig. Zweieinhalb Meter groß und breit wie ein Scheunentor. Sie waren eingewickelt wie ägyptische Mumien, und ihr Fleisch sah bläulich aus.« 259
»Das ist eigentlich ganz vernünftig. Es wird oben nachts recht kalt.« »Diese Frauen waren nicht kalt. Sie waren sehr warm und menschlicher als jede Frau, der ich je begegnet bin. Sie hatten vier Finger an jeder Hand, und ihre Gesichter sahen ganz flach aus, aber ich fand sie schön. Frag mich nicht warum!« »Mein Gott!« rief Jean aus. »Kein Wunder, daß er Junggeselle ist. Wer kann gegen solche Visionen schon ankommen?« »Haben Sie Ihrem Psychoanalytiker von diesen Frauen erzählt?« fragte Ron Walker. »Ich habe keinen Psychoanalytiker.« »Dann würde ich mir aber einen besorgen. Ted – was ist mit Ted los?« Arnold starrte Darzek entsetzt an. Er bewegte die Lippen, brachte aber kein Wort heraus. Nach einer Weile sagte er: »Vier Finger?« »Stimmt«, sagte Darzek. »Mit Schwimmhäuten?« »Genau.« »Mit Bandagen umwickelt, das ganze Gesicht konkav, dick von vorne und mager von der Seite, und farblose Augen und –« »Du kennst sie also auch?« sagte Darzek. »Dieselbe Person?« »Dieselbe Person.« »Das habt ihr erfunden«, sagte Jean. »Nein, Liebling. Bestimmt nicht. Wir müssen denselben Traum gehabt haben, obwohl ich nur eine solche Person sah. Hat sie zu dir etwas gesagt?« »Ich glaube nicht«, sagte Darzek. »Zu mir auch nicht, aber sie zeigte mir zwei Formeln 260
und einen Senderschaltplan, ich wurde kurz darauf wach und schrieb sie auf und heute früh –« »Sie hat natürlich gewußt, daß es keinen Zweck hat, mir diese Formeln zu zeigen«, meinte Darzek. »Heute früh hab’ ich sie mir angesehen, und sie scheinen Hand und Fuß zu haben.« Er wandte sich an Watkins. »Ich habe mir die ganze Zeit überlegt, wie schwierig es war, einen Sender auf dem Mond zu bekommen. Außerdem haben wir dauernd Ärger mit der Raumfahrtbehörde. Ich finde, daß wir unsere eigenen Projekte auf dem Mond starten sollten.« »Das gebe ich zu. Aber wie bekommen wir unsere Sender auf den Mond, ohne die Raketen der Raumfahrtbehörde?« »Wir brauchen nur einen Sender zu bauen, der ohne Empfänger arbeitet. Der, von dem ich geträumt habe, müßte das schaffen. Davon bin ich überzeugt. Wir können auf dem Mond landen, wo wir wollen. Wir können zum Mars, zum Saturn, zu Pluto – das ganze Sonnensystem steht uns offen, auch jedes andere Sternsystem. Wir können unsere Kapazität hier auf der Erde verdoppeln, indem wir alle unsere Sender nur zum Senden benützen, statt die Hälfte von ihnen für den Empfang. Wer deine Frau vom Mond auch sein mag, ich bin ihr sehr dankbar. Diese Idee –« »Er träumt immer noch«, sagte Darzek zu Jean. »Gib ihm einen Tritt.« Sie tat es, Arnold zuckte zusammen und rieb sich das Schienbein. »Trotzdem werde ich einen solchen Sender bauen. Ich weiß, daß er funktioniert.« »Da kannst du dich freuen, Jean«, meinte Darzek. »Die Frau vom Mond ist offenbar eine Wissenschaftlerin. 261
Da hast du es mit einer gefährlichen Nebenbuhlerin zu tun. Ich sehe nur eine Hoffnung für dich.« »Welche?« »Laß ihn wieder Nachspeisen essen. Dann hat er keine solchen Träume.« »Du ißt aber doch Nachspeisen. Wie kommst du zu demselben Traum?« »Im Innenleben jedes Mannes gibt es eine Stelle –« »Ich schleppe euch beide zu einem Psychoanalytiker«, meinte Jean, »damit wir erfahren, woher diese Träume stammen.« Darzek stach den Löffel in die Eisbombe. »Wieso bist du dir so sicher, daß du das wirklich erfahren möchtest?« fragte er. ENDE
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Ein Buch, das jeder lesen sollte! Mordecai Roshwald
Das Ultimatum Aus dem Tagebuch des Knopfdruck-Offiziers X 127 190 Seiten Großoktav. Kartoniert DM 6.-; Leinen DM 9.50 Dieser Roman ist auf dem besten Wege, ein literarisches Ereignis zu werden. Nicht nur in den USA und England, sondern auch bei uns erregt er durch seine bestürzende Aktualität immer größere Aufmerksamkeit. Namhafte Persönlichkeiten haben bereits von dem starken Eindruck geschrieben, den sie von ihm empfangen haben. Hier drei der bedeutsamsten Stellungnahmen: Bertrand Russell: »Ich wünschte, daß dieses Buch von jedem Erwachsenen sowohl im Osten wie im Westen gelesen würde.« Otto Köhler im RIAS: »Man sollte diesen Band all den raketenprotzenden Staatsmännern in Ost und West als Pflichtlektüre in die Hand drücken.« J. B. Priestley: »Dies ist wohl der mächtigste Angriff auf den ganzen Atombombenwahnsinn, den bis heute ein schöpferischer Schriftsteller gemacht hat.«
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In Form eines Tagebuches schildert der Autor die letzten Wochen eines Knopfdruck-Offiziers, der mit einer Gruppe anderer Ausgesuchter in einen 1100 Meter unter der Erde gelegenen Befehlsstand beordert wird. Bald macht man den Eingeschlossenen klar, daß sie nie wieder das Licht der Sonne erblicken werden. Sie sind der Befehlsstab eines künftigen Atomkrieges. Ihre einzige Aufgabe bleibt es, auf den Krieg zu warten, an dessen Beginn sie endlich jenen Knopf drücken müssen, der die Vernichtung der Erde auslöst. Als schließlich die Automatik des Todes in Gang gesetzt ist, erlischt auch in den unterirdischen Bunkern nach und nach alles Leben. Der Autor will die Sinnlosigkeit eines Atomkrieges zeigen und im Rahmen der Möglichkeiten dazu beitragen, die Menschheit wachzurütteln, damit diese schreckliche Vision niemals Wirklichkeit wird. WILHELM GOLDMANN VERLAG MÜNCHEN
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