Atlan Im Auftrag der Kosmokraten Nr. 715
Fremde in Karmenfunkel Das Psi-Festival bringt die Entscheidung
von Hubert H...
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Atlan Im Auftrag der Kosmokraten Nr. 715
Fremde in Karmenfunkel Das Psi-Festival bringt die Entscheidung
von Hubert Haensel
Auf Terra schreibt man die Jahreswende 3818/19, als der Arkonide sich nach einer plötzlichen Ortsversetzung in einer unbekannten Umgebung wiederfindet, wo unseren Helden alsbald ebenso gefährliche Abenteuer erwarten wie in Alkordoom. Atlans neue Umgebung, das ist die Galaxis Manam-Turu. Und das Fahrzeug, das dem Arkoniden die Möglichkeit bietet, die Spur des Erleuchteten, seines alten Gegners, wieder aufzunehmen, ist ein hochwertiges Raumschiff, das Atlan auf den Namen STERNSCHNUPPE tauft. Das Schiff sorgt für manche Überraschung – ebenso wie Chipol, der junge Daila, der zum treuen Gefährten des Arkoniden wird. In den rund fünf Monaten, die inzwischen verstrichen sind, haben Atlan und der Daila schon manche Gefahr bestanden – immer auf der Spur jener Kräfte, die schon an anderen Orten des Universums für Leid und Unfrieden verantwortlich waren. Nach ihrem Aufenthalt auf Aklard, der Heimatwelt aller Daila, haben Atlan und Chipol Nolien erreicht. Sie inspizieren den Planeten, auf dem Daila-Mutanten im Asyl leben. Als Eingeborene maskiert, besuchen sie sogar Karmenfunkel, die Hauptstadt – und dennoch gelten sie als FREMDE IN KARMENFUNKEL…
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan und Chipol – Zwei Fremde in Karmenfunkel. Saylimandar – Ein Psi-Star. Kollup – Stadtrat von Karmenfunkel. Jukparz – Kollups Stellvertreter. Jonath und Merillio – Ein Hypno und ein Lähmer.
1. Den ganzen Nachmittag über hatte es geregnet, bis mit dem Beginn der Dämmerung der Wind die tief hängenden Wolkenbänke aufriß. Nun spiegelten sich die grellen Leuchtreklamen im nassen Asphalt. Ihr Schein ließ die wenigen über dem Häusermeer sichtbaren Sterne fast völlig verblassen. Hin und wieder hallten grölende Stimmen durch die engen Straßenschluchten, waren abgehackte, schrille Musikfetzen zu vernehmen. Irgendwo schlug eine Tür in stetem Rhythmus. Das rostige Quietschen ihrer Angeln erinnerte daran, daß das eigentliche Karmenfunkel, die bedeutendste Stadt des Kontinents, erst etliche Straßenzüge entfernt begann. Die Häuser, keines von ihnen höher als drei Stockwerke, die sich eng aneinanderlehnten, gehörten zum Armenviertel der Stadt. Niemand sah die beiden Männer, die im Schatten einer Garageneinfahrt verharrten. Fast die Hälfte aller Straßenlampen war ausgefallen. Licht und Düsternis bildeten unstete Inseln, deren Ränder sich zuckend vereinten. Die Männer trugen dunkle, bis zu den Knien reichende Umhänge. Sie bewegten sich vorsichtig, ihre Haltung verriet Unsicherheit. »Dort vorne. An der Kreuzung«, murmelte der größere von beiden. »Bist du sicher, Herres?« »Natürlich. Du wirst sehen.« Sie huschten weiter. Das Haus, vor dem sie schließlich verharrten, machte einen baufälligen Eindruck. Jemand hatte versucht, die zerschlagenen Fensterscheiben mit herabgelassenen Werberollos abzudichten. Aber Sonne und Regen hatten den Stoff ausgebleicht und zerschlissen. »Superstar Cronos… in diesem Monat sein großes Gastspiel« entzifferte Herres mühsam die Aufschrift auf den Rollos. Darüber prangten die matten Buchstaben einer erloschenen Leuchtreklame: DIE 77 PSI-KÜNSTE. Ein hochtrabender Name für ein heruntergekommenes Etablissement. »Ich erinnere mich«, sagte der Kleinere. »Es muß mindestens fünfzehn Jahre her sein, daß hier Galavorstellungen abgehalten wurden.« Die Tür war verschlossen. Herres wandte sich dem nächstbesten Fenster zu und zog vorsichtig die Glassplitter aus dem Rahmen. Sich gegenseitig Hilfestellung gebend, schwangen die beiden sich ins Innere des Gebäudes. Es stank entsetzlich. Das Rascheln winziger Füße war sekundenlang das einzige Geräusch, bevor zwei starke Handscheinwerfer aufflammten. Die Lichtkegel wanderten über rauhe Wände, an denen nur noch vereinzelt Fliesenscherben klebten. Quietschend flohen faustgroße Nager vor der Helligkeit. »Wir sind in den Sanitärräumen«, stellte Herres fest. Unrat und Bauschutt häuften sich. Unsachgemäß war versucht worden, alles zu entfernen, was sich irgendwie verwenden oder zu Geld machen ließ. »Weiter«, drängte Trombull. Sie stiegen die Stufen zum Foyer hinauf. Vergilbte Fotos und Plakate ließen einen Hauch vergangener Schönheit erahnen. Der Abstieg der 77 PSI-KÜNSTE in die Vergessenheit war durch die Eröffnung der monumentalen Vergnügungspaläste in den anderen Stadtteilen eingeleitet worden. Von der umlaufenden Galerie führten Wendeltreppen in den Saal hinab. Die Bühne im Mittelpunkt war riesig – viel zu groß im Vergleich mit den Podesten der neuen Häuser, von denen zumeist vier oder fünf in einem Saal angeordnet waren und dadurch den Zuschauern einen fast hautnahen Kontakt zu ihren Stars ermöglichten.
Über lückenhaftes Parkett stolperten Herres und Trombull auf die Bühne zu. Am Rand der Bühne gab es eine Vertiefung. Eine Luke, gerade so hoch, daß man gebückt hindurchgelangen konnte, führte offenbar zu einer Requisitenkammer. Sie war verschlossen. Herres heftete ein handflächengroßes elektronisches Gerät neben das Schloß. »Und?« machte Trombull ungeduldig. Herres zuckte mit den Schultern, wandte sich flüchtig zu ihm um. »Die Luke ist besser gesichert als erwartet.« »Das ist ungewöhnlich.« »Dann sind wir auf der richtigen Spur.« Herres’ Finger huschten erneut über die enge Tastatur. »Eine Haftladung…«, schlug Trombull vor. Sein Begleiter winkte ab. »Das wäre verfrüht.« Im Sichtfeld des Geräts leuchteten sich rasch verändernde Zahlenkolonnen auf. Etliche Ziffern stabilisierten sich. Minuten später war es nur noch eine, die sich als besonders hartnäckig erwies. Herres begann zu schwitzen. »Es wäre das erste Mal, daß ich ein solches Schloß nicht aufbekomme.« »Irgendwann muß jeder unangenehme Erfahrungen machen«, bemerkte Trombull in philosophischer Anwandlung. Herres entblößte seine gelben Zähne zu einem spöttischen Grinsen. »Dich haben die Reinheitswächter schon mehrmals überrascht«, erinnerte er. »Mich bisher noch nie.« »Du hattest eben Glück.« »Glück kann man sich erarbeiten.« Die Anzeige stabilisierte sich. Herres nickte. »Eine aufwendige Kombination. Als gelte es, ein Vermögen abzusichern.« Die Luke glitt auf. Zitternd wanderte das Licht der Scheinwerfer über alle nur denkbaren Utensilien. Gut ein Dutzend verschiedenartige Käfige standen herum. Meßgeräte, Sensorhelme, Bühnenbilder, lebensgroße Puppen und Skelette, geschlossene Kästen, rostige Schwerter, Projektoren, farbige Scheinwerfer… Einige Kreditscheine mochte das alte Gerümpel noch wert sein. Heute liefen die Psi-Shows nicht mehr in so plumpem Rahmen ab wie vor zehn oder fünfzehn Jahren. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß sie jederzeit von innen wieder zu öffnen war, ließ Herres die Luke zufallen. Hinter Bühnenbildern verborgen, entdeckte er eine weitere Tür. Der dahinterliegende Gang war mit Kunststoffplatten ausgekleidet. Staub gab es hier nicht mehr. Herres nickte auffordernd. Sie drangen in den Gang ein, der gleichmäßig in die Tiefe führte. Die Luft wurde schal und stickig. Als das Gefälle endlich abflachte, befanden sie sich gut vierzig Meter unter dem Straßenniveau. »Hier ist nichts mehr«, sagte Trombull. Übergangslos, von einem Schritt zum anderen, standen sie dann jedoch am Anfang eines ausgedehnten Höhlensystems. Eine raffinierte optische Sperre hatte ihnen das jähe Ende des Stollens vorenthalten. Herres und Trombull zogen kurzläufige, plump wirkende Waffen unter ihren Umhängen hervor. Waffen wie diese waren den Reinheitswächtern vorbehalten. Sie verschleuderten zentimetergroße metallene Plättchen, deren Ladungen schockartig auf das Nervensystem der Getroffenen wirkten und minutenlang Lähmungserscheinungen oder krampfartige Anfälle hervorriefen. »Wo sind wir?« fragte Herres verwundert.
Trombull blieb ihm die Antwort schuldig. Abraumgestein bedeckte den Boden oder wie zu großen Halden aufgeschüttet. Wasser sickerte aus Rissen in den Wänden und bildete kleinere Tümpel, an deren Ufern Algen und Moose wucherten. »Die Scheinwerfer aus!« zischte Herres. Hinter einem der Gesteinswälle schimmerte Helligkeit hervor. Geschmeidig schoben die Nolier sich hinauf. Licht aus verborgen bleibenden Quellen erhellte diesen Teil der Höhlen. Auf fruchtbarem Erdreich gediehen üppige Pflanzen. Und zwischen den bis zu einem Meter hohen Halmen bewegten sich Geschöpfe, deren Heimat nie und nimmer auf Nolien liegen konnte. »Fremde!« stieß Trombull verächtlich hervor. Es waren keine der ausgestoßenen Kreaturen, die sich selbst Daila nannten. Diese Wesen kamen von fernen Welten. Eine Ungeheuerlichkeit, die zu bedeutenden Umwälzungen führen würde, sobald sie publik wurde. »Gibt es ein besseres Versteck als ein uraltes Bergwerk, von dem niemand mehr weiß?« stellte Herres fest. »Fast niemand«, berichtigte Trombull. »Wir haben genug gesehen…« Der urplötzlich losbrechende Lärm ließ seine Worte untergehen. Die Höhlen schienen einzustürzen. Minutenlang wurde der Schall zwischen den Felswänden hin und her geworfen, bis das Dröhnen endlich wieder abebbte. »Was war das? Es kam aus der Höhe.« Herres hatte Mühe, seine Erregung zu verbergen. »Wahrscheinlich die unterirdische Schnellbahn, die alle Stadtteile miteinander verbindet«, überlegte Trombull. »Möglich, daß die Trasse über uns verläuft.« Herres starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an. Seine Lippen bewegten sich, aber er brachte nur unverständliche Laute hervor. Die Waffe entglitt den sich öffnenden Fingern und klirrte zu Boden. Zeitlupenhaft langsam brach er in die Knie, seine Hände verkrampften sich um die Schläfen. Er stöhnte. Im nächsten Moment warf er sich herum. »Was ist geschehen?« Er packte Trombull an der Hüfte und begann, ihn heftig zu schütteln. »Wie… wie kommen wir hierher?« Eine unheimliche, bedrückende Last ruhte auf seinen Schultern. Auch Trombull war davon betroffen. »Sie… kommen näher«, keuchte Herres. Einige der Fremden waren nur halb so groß wie er, aber fast ebenso dick. Das Entsetzliche an ihnen waren weder ihre runzlige, borkige Haut noch die drei doppelgelenkigen Beine, auf denen sie sich geschmeidig bewegten, sondern ihre bleiche, fast weiße Farbe, die jeglichen ästhetischen Blauton vermissen ließ. Andere wirkten durchaus wie Nolier, doch wurden ihre Schädel von einem breiten Wulst umrundet, der offenbar sämtliche Sinnesorgane ersetzte. »Wilde!« stieß Trombull verächtlich hervor. Mit äußerster Kraftanstrengung hob er die Waffe und löste sie aus, als die Fremden fast schon heran waren. Bevor er ein zweitesmal feuern konnte, wurde ihm die Waffe von unsichtbaren Kräften entwunden. Wütend schrie er auf. Er vermochte die Finger nicht mehr zu bewegen, eine seltsame Taubheit zog sich seinen Arm entlang. Die fremden Kreaturen besaßen Psi-Kräfte.
Diese Erkenntnis traf Trombull wie ein Schock. Niemand hatte ihn oder andere Nolier je darauf vorbereitet. Ein Prickeln breitete sich unter seiner Kopfhaut aus. Er kannte das Gefühl. Es verriet ihm, daß jemand in seine Gedanken eindrang. Verschwinde! dachte er. Der Versuch war lächerlich und wirkungslos zugleich. Trombull wälzte sich herum. Siedendheiß durchfuhr es ihn, als er eines der gelben Organbänder unmittelbar vor sich sah. Der Fremde sagte etwas in einer rauhen, unverständlichen Sprache. In einem Anflug jäher Verzweiflung warf Trombull sich nach vorne, wollte sich auf ihn stürzen, doch seine Finger griffen ins Leere. Aufwallend toste das Blut durch seine Adern, das dröhnende Pochen in seinen Schläfen überlagerte jedes andere Geräusch. Alles um ihn herum begann sich in einem rasenden Wirbel zu drehen. Ein Sog entstand, der ihn mitriß – irgendwohin, in die vollkommene Finsternis des Vergessens. *** Ich weiß nicht, weshalb ich Karmenfunkel immer mehr mit einem Krebsgeschwür verglich, je näher wir der Stadt kamen. In der Tat wirkte sie inmitten der sanft gewellten Hügellandschaft fehl am Platz. Unwillkürlich zog ich Vergleiche zu den terranischen Metropolen des 20. und 21. Jahrhunderts. Auch hier gab es Betonsilos von unübertrefflich scheußlichem Aussehen. Mit grell bunten Farben war versucht worden, ihren Fassaden Leben einzuhauchen. Das Ganze wirkte dadurch nur noch unerträglicher. Allerdings gab es auch ein modernes Karmenfunkel – . eine Trabantenstadt, die sich von überholten Zwängen gelöst hatte und zu eigener Bedeutung strebte. Sie bot eine Architektur der Superlative. Kühn geschwungene Wohntürme, die allen Gesetzen der Schwerkraft widersprachen; Trichterhäuser mit hängenden Gärten, deren Anblick Heimweh in mir auslöste; dazwischen, in mehreren Etagen, Verkehrswege, gläserne Tunnels für Fußgänger und die Leitschienen der Schwebebahnen. Es fiel schwer, zu schätzen, wie weit wir noch von den ersten Gebäuden entfernt waren. Fünf oder sechs Kilometer mindestens. Chipol musterte mich eindringlich. Als ich mich ihm zuwandte, huschte ein Grinsen über sein blau gefärbtes Gesicht. »Woran denkst du, Atlan?« fragte er erwartungsvoll. Falls er etwas Bestimmtes hören wollte, mußte ich ihn enttäuschen. »An alles und nichts«, erwiderte ich zögernd. »Kann man das?« Ich nickte schwer und setzte mich wieder in Bewegung. Am fernen Horizont verloren sich die Gipfel schneebedeckter Bergzüge im flirrenden Dunst des Tages. Eine schmutziggraue Dunstglocke lag über der Stadt. Selbst der leichte Südwind vermochte sie nicht zu zerstreuen. »Warte!« rief Chipol. »Willst du mich allein lassen?« »Ich will nur rechtzeitig zum Mittagessen in der Stadt sein«, seufzte ich. »Komm, Fumsel«, rief er der Wildkatze zu, die das Aussehen eines kleinen Tigers besaß. Sie unterschied sich nicht von dem Tier, das er auf Cairon aufgelesen hatte, und das bei unserer Flucht aus dem Tal der Götter verschwunden war. Aber den Planeten der Nomaden und Nolien trennten Lichtjahre – eine unüberwindliche Entfernung für ein kleines, instinktgeleitetes Geschöpf. Wirklich? Die Bemerkung meines Extrasinns blieb unwidersprochen, denn ein rasch anschwellendes Rumoren ließ mich aufsehen. Hoch über uns zog ein silberner Stern seine Bahn am nahezu wolkenlosen
Firmament. Ein Raumschiff. Es sank tiefer, war schon kurz darauf als Kugel auszumachen, verharrte dann aber. »Sobald die Freigabe erteilt wird, landet es auf dem Raumhafen von Karmenfunkel«, behauptete Chipol. Wir waren zuletzt querfeldein gelaufen. Vor uns durchschnitt nun das schmale Band einer Straße die Hügel. Für einen Moment zögerte ich, obwohl es egal sein durfte, auf welchem Weg wir uns der Stadt näherten. Die Daila hatten uns vor den sogenannten Reinheitswächtern gewarnt. Wenn die Ausfallstraßen kontrolliert wurden, dann auch das Gelände zwischen ihnen. Fumsel nahm mir die Entscheidung ab. Behaglich schnurrend rollte er sich auf dem warmen Asphalt zusammen und wartete darauf, daß wir ihm folgten. Ein bodengebundenes Fahrzeug brauste vorbei und verschwand in der Ferne zwischen den Hochhäusern. »Vielleicht sind die Warnungen der Daila übertrieben.« Seine Jugend ließ Chipol hoffen, daß alles nur halb so schlimm sein würde. »Es sieht nicht so aus, als wolle uns jemand aufhalten.« Fumsel schlug vor Freude Purzelbäume, als wir zu ihm aufschlossen. Ich fragte mich, wie Chipol so selbstverständlich annehmen konnte, daß es sich um einen Kater handelte. »Er will spielen«, stellte der Junge fest. »Schade, daß ich keine Nüsse bei mir habe.« Ich hörte nur noch halb hin. Schließlich dachte ich daran, daß Saylimandar, ein Psi-Star in der Maske eines Noliers, in Karmenfunkel auf uns wartete. Auf mich zumindest, denn er konnte nicht wissen, daß Chipol sich den Rest des Blauwurzextrakts besorgt und diesen an sich ausprobiert hatte – mit dem Erfolg, daß seine Haut nun von derselben tiefblauen Farbe war wie die der Nolier. Der Junge wußte genau, worauf er sich eingelassen hatte. Dennoch wollte er mich begleiten. Etliche der wegen ihrer Psi-Fähigkeiten von ihrer Heimatwelt verbannten Daila lebten unerkannt in den Städten Noliens. Ihre besonderen Kräfte hatten sie zu Stars gemacht, die ein angenehmes Dasein führten. Aber sie lebten auch gefährlich, denn die Nolier gingen mit Fremden nicht eben sanft um. Die Angst, eines Tages entlarvt zu werden, war ihr ständiger Begleiter. Saylimandar hatte mir zu verstehen gegeben, daß die Nolier in der Hinsicht nicht mit sich spaßen ließen. Ich blickte Chipol hinterher, der mit Fumsel über die Straße tollte. Der Junge war zwar ein Nachfahre ausgestoßener Daila, besaß aber dennoch keine Psi-Kräfte. Er ist ein Sicherheitsrisiko für dich, schimpfte der Extrasinn. Sieh das endlich ein. Das war mir von Anfang an klar, gab ich in Gedanken zurück. Dann handle danach. Schicke ihn zurück zu den anderen, wohin er gehört. Er freut sich darauf, mich zu begleiten. Ich kann ihn nicht vor den Kopfstoßen. Der Kugelraumer setzte zur Landung an. Der Raumhafen lag am jenseitigen Ende der Stadt. Ich ließ das Schiff nicht aus den Augen, bis es von den Silhouetten einiger Hochhäuser verdeckt wurde. Triebwerksgeräusche durchbrachen vorübergehend die Stille. Fumsel stieß ein aggressives Fauchen aus. Als Chipol zupacken wollte, entblößte er die Zähne und schlug mit den Krallen nach ihm. »He«, machte der Junge erschreckt. »Was ist mit dir los?« Fumsel stand da wie ein kleiner, sprungbereiter Tiger. Er knurrte jetzt. Und er starrte auf einen Punkt, der irgendwo hinter uns lag. Ahnungsvoll wirbelte ich herum. Ein Gleiter näherte sich mit beträchtlicher Geschwindigkeit. Ich bedeutete Chipol, zur Seite hin auszuweichen, denn nichts lag mir ferner, als unnötig Aufmerksamkeit zu erregen.
Doch das Fahrzeug hielt genau auf uns zu und stoppte keine fünf Meter entfernt. Uniformierte Nolier sprangen aus der sich öffnenden Luke. Reinheitswächter, warnte der Logiksektor. »Laß mich reden«, raunte ich Chipol zu. Die Uniformierten taxierten uns mit abwürfigen Blicken; einer von ihnen trat sogar nach Fumsel, als die Katze ihm zu nahe kam. Ich hörte Chipol neben mir aufschnaufen und hielt ihn am Arm zurück. »Wohin wollt ihr?« »In die Stadt.« Lässig deutete ich auf die nur noch wenige Kilometer entfernten Gebäude. »Das wollen alle«, wehrte der Nolier ab. Er war mindestens einen Meter achtzig groß und kräftig gebaut. Sein kantiges Gesicht wirkte durch den kurzen Stoppelhaarschnitt noch härter. Die hellblaue, enganliegende Uniform tat ein übriges dazu, meinen ersten negativen Eindruck zu verstärken. Nicht, daß ich voreingenommen gewesen wäre, aber mitunter entscheidet tatsächlich schon die erste Begegnung zweier Intelligenzen über Zuneigung oder Ablehnung. Der Nolier war mir jedenfalls vom ersten Augenblick an unsympathisch. »Wir sehen es nicht gern, wenn Minderbemittelte aus den Dörfern in die Stadt kommen«, fuhr er fort. »Das ist euer Problem, nicht unseres«, erwiderte ich. Seine Haltung versteifte sich. Fordernd streckte er mir die Rechte entgegen: »Deinen Ausweis!« Ich weiß selbst nicht, was mich dazu veranlaßte, umständlich in den Taschen meines Umhangs herumzuwühlen. Nachdem ich endlich die runde Plakette mit den eingeätzten Symbolen gefunden hatte, warf ich sie ihm zu. Achte mehr auf deine Emotionen, tadelte der Logiksektor, als der Nolier mit meiner Plakette im Gleiter verschwand. Es ist unnötig, daß du dir irrationaler Gefühle wegen Ärger einhandelst. »Warum laßt ihr uns nicht weitergehen?« fragte ich die anderen. »Wir sind vor allem wegen der berühmten Psi-Shows gekommen.« »Habt ihr Geld?« »Einige Münzen und Kreditscheine. Wieso?« Die Männer begannen zu lachen. »Einige…«, wiederholten sie spöttisch. »Du wärst besser in deinem armseligen Dorf geblieben.« »Ich verstehe nicht. Soll das heißen, daß mein Geld nicht ausreicht?« »Genau das.« Der unsympathische Nolier erschien wieder im Ausstieg des Gleiters. »Alles in Ordnung«, brummte er. »In der Zentrale konnten sie keine Unregelmäßigkeiten feststellen.« Also hatte er die Daten der Plakette einer genauen Kontrolle unterzogen. Der Ausweis war echt, nur die Eintragungen nicht. Soviel ich wußte, hatten mehrere der in Karmenfunkel lebenden Daila, deren Psi-Kräfte besonders ausgeprägt waren, dabei die Hände im Spiel gehabt. »Woher kommt ihr?« fragte der Reinheitswächter und warf mir die Plakette vor die Füße. Bevor ich antwortete, hob ich sie auf, säuberte sie umständlich von imaginärem Staub und ließ sie wieder in meiner Kleidung verschwinden. Ich nannte den Namen der erstbesten Ansiedlung, die mir einfiel. Soviel ich wußte, lag das Dorf Mornentau gut achtzig Kilometer entfernt. »Viehzüchter?« Der Nolier rümpfte die Nase. »Das riecht man«, fügte er hinzu, als ich zögernd nickte. Unsere Kleidung roch in der Tat wenig angenehm. Aber in dieser Hinsicht vertraute ich auf die Erfahrung der Daila.
Die hatten uns so ausgestattet, wie es nötig war. »Habt ihr schon ein Quartier?« wollte mein Gegenüber wissen. »Oder seid ihr Obdachlose?« stellte er zynisch fest. »Herumtreiber, Vagabunden… Solches Gesindel schätzt man in Karmenfunkel nicht.« »Aber…« Er unterbrach mich mit einer schroffen Handbewegung. »Das einfachste wäre, euch einzusperren.« »Das kannst du nicht tun«, begehrte Chipol auf. »Wir haben uns nichts zuschulden kommen lassen.« »Natürlich nicht«, meinte der Nolier. »Nur, wer wird euch das glauben? Ihr seid fremd in der Stadt.« »Sobald wir die Möglichkeit dazu haben, werden wir uns in einer Pension einmieten«, erklärte ich. »Es gibt nicht viele freie Zimmer in Karmenfunkel. Das heißt, wir könnten euch natürlich bei der Suche behilflich sein.« Ich verstand. Die Reinheitswächter wollten Geld. Um ungeschoren davonzukommen, mußten wir zahlen. »Wieviel?« fragte Chipol ein wenig vorschnell. »Für jeden von uns zwei Kreditscheine.« Das war mehr als wir besaßen. Chipol warf mir einen resignierenden Blick zu. Vielleicht sah er sich schon in einer Gefängniszelle sitzen. »Nichts werden wir bezahlen«, sagte ich. »Weil wir eurer Hilfe nicht bedürfen. Wir werden in Karmenfunkel gut untergebracht. Mein Vetter erwartet uns bereits.« »Dein Vetter… Ein von 400.000 Einwohnern.« Das klang verächtlich. »Du verkennst die Tatsachen«, fuhr ich fort. »Dem Star eines Psi-Ensembles sollte nichts unmöglich sein.« Der Nolier starrte mich entgeistert an. »Vermutlich kennst du nicht einmal den Namen auch nur eines unserer Stars.« »Dann frage Saylimandar.« Hoffentlich war es kein Fehler, ihn zu erwähnen. »Er ist unser Vetter«, nickte Chipol eifrig. Er hatte Fumsel auf den Arm genommen und streichelte ihn hingebungsvoll. »Ihr seht nicht aus wie Brüder.« »Sind wir auch nicht.« Zum erstenmal seit Stunden huschte wieder ein Grinsen über Chipols Züge. Er zeigte auf mich: »Der Bruder von Atlans Vater hatte eine jüngere Schwester, deren zweiter Mann in erster Ehe mit der Tochter meiner Stiefmutter verheiratet war. Diese Tochter wiederum, meine Stiefschwester, war die Nichte von Saylimandars…« »Hast du keine einfachere Erklärung?« fuhr der Nolier auf. Chipol kratzte sich die Stirn. »Wenn ich bedenke, daß mein Vater, bevor er meine Stiefmutter geheiratet hat, Atlans Schwägerin…« »Willst du uns zum Narren halten?« »Nein. Gewiß nicht«, versicherte Chipol treuherzig. »Ich versuche nur zu erklären, weshalb die PsiFähigkeit in unserer Familie mehrfach vererbt wurde. Ich bin übrigens der einzige, der sie nicht besitzt. Das mag daher rühren, daß Atlans Schwägerin als Einzelkind einfacher Arbeiter…« »Ihr müßt verrückt sein«, ächzte der Nolier. »Wie alle, die von draußen kommen. Verschwindet,
bevor ich es mir anders überlege. Aber ich warne euch. Laßt euch nicht einfallen, Unruhe zu stiften.« Ein durchdringender Summton erklang. Er kam aus seinem Armbandgerät. Während er sich über Funk recht angeregt mit jemandem unterhielt, sahen wir zu, daß wir uns aus dem Staub machten. Ich wurde das Gefühl nicht los, daß uns ein halbes Dutzend Blicke folgte. Erst als ein anschwellendes Brummen verriet, daß der Gleiter startete, entspannte ich mich. »Ich dachte schon, die werden wir nicht mehr los«, flüsterte Chipol. Er hatte es verschrien. Der Gleiter zog in einer engen Kurve herum und ging erneut unmittelbar vor uns nieder. Ehe wir es uns versahen, blickten wir in die Mündungen entsicherter Waffen. »Mitkommen!« wurden wir angeherrscht. Uns blieb keine andere Wahl, als dem Befehl Folge zu leisten und einzusteigen. Einer der Männer tastete uns nach verborgenen Waffen ab. Er machte sich vergebliche Mühe. Niemand beantwortete unsere Fragen. Aus einem Seitenfenster erhaschte ich einen Blick auf die Stadt, deren Vororte wir bereits überflogen. Wir näherten uns einem schlanken Turm, dem eine Vielzahl seitlich angeflanschter Plattformen ein bizarres Aussehen verlieh.
2. Die »Telepathie« galt als Prachtstraße von Karmenfunkel. Gut vierzig Meter breit, wurde sie nicht nur von purpurnen Laubbäumen gesäumt, man hatte sich sogar die Mühe gemacht, exotische Einpflanzungen aufzustellen. So ziemlich alle Gewächse waren hier vertreten, die dem Klima in diesen Breitengraden sowie den städtischen Verhältnissen wenigstens für einige Monate standhielten. Der Verkehr auf beiden Fahrbahnen war keineswegs so dicht, daß er einer Regelung bedurft hätte; außerdem verfügten die tropfenförmigen Fahrzeuge über elektronisch gesteuerte Prallfelder, die Unfälle vermeiden halfen. Die Häuser entlang der »Telepathie« waren alt, ihre renovierten Fassaden strahlten jedoch jenes Flair vergangener Jahrzehnte aus, das Unbefangenheit und Lebenslust vermittelte. Auch heute noch lagen die schönsten und vornehmsten Psi-Theater in dieser Umgebung. Dazwischen hatten sich die Paläste der Geldvermittler und großen Kaufhäuser breitgemacht. Die Plätze in den Straßenstuben waren zu jeder Tageszeit besetzt. Es gab Stammgäste, die es sich leisten konnten, den lieben langen Tag die vorüberhastenden Passanten zu beobachten. Zumeist handelte es sich um die Besitzer der bekannten Etablissements, die, so unglaublich es klingen mochte, auf diese Weise schon manches verborgene Psi-Talent ausfindig gemacht hatten. Stadtbekannt waren Fälle wie die des heutigen Stars Saylimandar, der vor noch nicht allzu langer Zeit zielstrebig auf Jam Maulunk zugekommen war und gesagt hatte: »Du suchst jemanden, der aus dem Unterbewußtsein lesen kann und noch einiges mehr. Hier bin ich.« Oder der Fall des hochbegabten Jorres Kühmel, der ein außer Kontrolle geratenes Fahrzeug allein durch seine psychokinetischen Kräfte zum Halten gebracht und dadurch einen folgenschweren Unfall verhindert hatte. Einen besseren Start hätte der aus einem kleinen, nahezu unbekannten Dorf stammende Kühmel nicht haben können; die Medien waren seither des Lobes voll, und niemand dachte noch daran, daß er eigentlich ein Fremder in Karmenfunkel gewesen war. Kaum jemand beachtete den Gleiter, der in eine der Parkbuchten einfuhr. Die uniformierten Reinheitswächter gehörten zum Stadtbild wie die Leuchtreklamen der Psi-Theater. Ein Passant näherte sich dem Gleiter. »Ich habe euch gerufen«, murmelte er und zeigte auf die gegenüberliegende Straßenseite. Zwei Männer standen in der Nähe eines Kaufhausportals. Sie machten einen verwahrlosten Eindruck. Ihre knielangen, dunklen Umhänge wirkten zerschlissen und dreckig. »Sie stehen schon gut eine Stunde dort. Keine Ahnung, was mit denen los ist.« Überzeugt davon, es mit Süchtigen zu tun zu haben, überquerten die Polizisten die Straße. Stadtrat Kollup, dem sie unterstanden, war das Verdienst zuzuschreiben, das leidige Drogenproblem endlich in den Griff bekommen zu haben. Immerhin hatte er es erstmals gewagt, die erschreckende Wahrheit über das Schicksal all jener bekanntzumachen, die zu den bewußtseinserweiternden Mitteln griffen und über kurz oder lang davon abhängig wurden. Die Öffentlichkeit war schockiert gewesen. Überwiegend jugendliche Nolier hatten diese Drogen eingenommen, um durch die Erweiterung des Bewußtseins eigene Psi-Kräfte zu wecken. Aber anstatt zu Ansehen und Reichtum zu gelangen, waren sie zu physischen und psychischen Wracks geworden, die heute in geschlossenen, robotgesteuerten Anstalten dahinvegetierten. Die zerlumpten Nolier starrten blicklos vor sich hin. Viele Passanten machten einen weiten Bogen um sie, sofern sie es nicht vorzogen, auf die andere Straßenseite hinüberzuwechseln. »Was ist mit euch los?« herrschte der eine Polizist die beiden an. »Hier könnt ihr nicht bleiben.« Lethargie schlug ihm entgegen. In den Augen der Nolier glomm ein verzehrendes Feuer. »Das sind keine Süchtigen«, stellte der zweite Reinheitswächter fest. Er packte einen der Zerlumpten an der Schulter, zog ihn zu sich herum. Dann ging alles sehr schnell. Vorzuckende Fäuste trieben den Polizisten die Luft aus den Lungen und ließen sie taumeln. Ehe sie überhaupt begriffen, was geschehen war, hetzten die beiden Angreifer davon, bahnten sich rücksichtslos ihren Weg durch die Menge.
Die »Telepathie« zog sich in sanfter Steigung einen der vielen Hügel hinauf, auf denen die Stadt errichtet war. Es gab etliche Brücken, die sich über Seitenarme des Flusses Karmen spannten. An manchen Stellen war das Wasser mehr als zehn Meter tief. Tückische Strudel erlaubten keine ausgedehnte Schiffahrt. Dennoch rannten die Flüchtenden auf das erste Geländer zu. Die Rufe, die ihnen befahlen, stehenzubleiben, schienen sie nicht zu hören. Schon schickten sie sich an, zwischen den eisernen Verstrebungen hindurchzuklettern. Ein schmaler Sims trennte sie dann noch von den rasch dahinfließenden, kalten Fluten. Endlich wichen die Passanten zur Seite und bildeten eine Gasse. Aus nicht einmal mehr dreißig Meter Abstand schossen die Reinheitswächter. Einer der Verfolgten warf schreiend die Arme in die Luft und stürzte rücklings auf das Pflaster, wo er unkontrolliert um sich zu schlagen begann. Der andere wurde bereits von den breiten Stahlträgern verdeckt. Mit ausgebreiteten Armen stieß er sich ab und sprang. Bis die Polizisten das Geländer erreichten, war er in der schmutzigbraunen Flut verschwunden. Nur sein Umhang trieb noch auf den Wellen. *** Minuten später brachte ein Krankenwagen den inzwischen bewußtlosen Nolier zum nächsten Medizentrum, während Helikopter mit der Suche nach dem Verschwundenen begannen. Sie kreisten lange über dem Fluß, dehnten ihre Suche schließlich gar bis zu der etliche Kilometer weiter abwärts gelegenen Sandbank aus. Rasch stand die Identität des Gefangenen fest. Trombull Kinnas war ein kleiner Gauner, dessen Betrügereien ihn mehrfach ins Gefängnis gebracht hatten. Vermutlich war sein verschwundener Begleiter ebenfalls im kriminellen Umfeld zu suchen. Kinnas selbst konnte darüber noch keine Auskunft geben. Obwohl Medikamente die Schußwirkung rasch abklingen ließen, brachte er nur ein unverständliches Stammeln hervor. Die Mediziner standen vor einem Rätsel. Um so mehr, als klar wurde, daß Kinnas keine Drogen genommen hatte. Seine Blutwerte waren bis auf einen überhöhten Adrenalinspiegel normal. »Wenn wir mehr erfahren wollen, müssen wir in sein Unterbewußtsein eindringen«, lautete der Befund, der Stadtrat Kollup übermittelt wurde. Die Obrigkeit setzte des öfteren Psi-Stars für ihre Zwecke ein. Kollup verfiel sofort auf den sozusagen im »Privatbesitz« des Noliers Jam Maulunk befindlichen Saylimandar, dessen Fähigkeit, Dinge aus dem Unterbewußtsein zu lesen, also Vergangenes, Unvollständiges und Kindheitserlebnisse wieder lebendig werden zu lassen, schon für manche Sensation gesorgt hatte. Maulunk, ebenso fett wie geldgierig, verstand es ausgezeichnet, »seine« Psi-Stars in ein Abhängigkeitsverhältnis zu bringen, das sie fast schon zu Leibeigenen werden ließ. Nur von den Behörden nahm er kein Geld für seine gelegentlichen Gefälligkeiten. Dafür beachteten die Reinheitswächter die Sperrstunde in seinen Lokalen nicht so genau, und Unfälle bei den Proben neuer Psi-Nummern wurden zumeist totgeschwiegen. Längst nicht alles war so ungefährlich, wie es den Zuschauern später vorgegaukelt wurde. Leider sah es so aus, als würden Saylimandars Fähigkeiten diesmal versagen. Trombull Kinnas war kein brauchbares Medium. »Seine Gedanken sind leer«, stellte der Psi-Star verwundert fest. »Er denkt überhaupt nicht. Offenbar steht er unter einem posthypnotischen Block.« »Das hätten wir bei der Untersuchung festgestellt«, widersprach ein Mediziner. »Nicht unbedingt. Jemand, der über starke hypnotische Kräfte verfügt, wäre durchaus in der Lage, einzelne Gehirnsektoren im wahrsten Sinne des Wortes abzuschalten.« »Das ist bloße Theorie. Oder kennst du jemanden?«
Saylimandar zuckte mit den Schultern. »Keiner von uns besitzt entsprechende Fähigkeiten.« Ein Reinheitswächter war zur Untersuchung anwesend. Mit leisem Pfeifton meldete sich sein Armbandfunkgerät. Er wechselte einige hastige Worte mit dem Anrufer, dann wandte er sich wieder den anderen zu: »Der zweite Mann wurde gefunden. Ertrunken. Er hieß Herres Tornt. Beide haben öfter zusammengearbeitet. Es sieht so aus, als wären sie diesmal hinter einer größeren Sache hergewesen.« Jäh winkte Saylimandar ab. Er konzentrierte sich. Offenbar setzten Trombull Kinnas’ Überlegungen wieder ein. Abgehackt und schwer verständlich brachte Saylimandar Worte und Satzfetzen hervor. »… sie kommen… schieß, Herres… nein, nicht…« Die Stimme wurde zum Stammeln. »Wer… bin ich? Ich will fliehen… die Wächter… aufmerksam machen…« Noch vom Krankenzimmer aus erstattete der Reinheitswächter dem Stadtrat Bericht. Kollup reagierte schnell und kompromißlos, wie es seine Art war. Was immer Herres Tornt und Trombull Kinnas geplant hatten, sie besaßen möglicherweise Komplizen, sehr wahrscheinlich aber Gegner, deren Gefährlichkeit nicht unterschätzt werden durfte. Kollup ordnete eine umfassendere Überwachung der Stadt an. Niemand durfte Karmenfunkel verlassen oder betreten, ohne genauestens überprüft zu werden. *** Karmenfunkel war nur zum Teil großzügig angelegt. Soweit ich vom Gleiter aus erkennen konnte, gab es viele enge Gassen und Winkel, in denen Ortsunkundige sich hoffnungslos verirren mußten. Zusammen mit dem, was ich von den Daila erfahren hatte, war ich allmählich in der Lage, mir ein halbwegs umfassendes Bild der Metropole zu machen. Auf die Stadt und ihre Bewohner mochten viele Attribute zutreffen – Altbewährtes, auch Überholtes, und moderner Stil bildeten jedenfalls starke Kontraste. Der Gleiter landete auf einer der oberen Plattformen des Turmes. Ich schätzte, daß wir uns mindestens hundert Meter über dem Boden befanden. Ein scharfer, schneidender Wind blies uns entgegen, als wir unter strenger Bewachung ins Gebäudeinnere gebracht wurden. Fumsel ließ ein klägliches Maunzen vernehmen, obwohl er in Chipols Armen kaum etwas von der Kälte zu spüren bekam. »Es gefällt ihm hier nicht«, stellte der Junge unumwunden fest. »Glaubst du, mir?« erwiderte ich. Der Gang endete schon nach wenigen Metern. Der Fahrstuhl, auf den unsere Bewacher warteten, befand sich mindestens zehn Stockwerke tiefer. Minuten vergingen, bis die Tür endlich aufglitt. Wir verspürten nicht die geringste Bewegung. »Hier entlang.« Ein kahler, steril wirkender Gang… Zwei Schotte öffneten sich. Ich erkannte, daß dahinter winzige Kabinen lagen, gerade groß genug, daß man sich darin umdrehen konnte. »Legt eure Kleider ab und folgt den Anweisungen, die ihr über Lautsprecher erhaltet.« »Und wenn wir uns weigern?« »Werdet ihr zwangsweise gereinigt.« Ich nickte Chipol aufmunternd zu. Uns blieb keine Wahl. Zum Glück mußten wir wohl kaum um unsere blaue Hautfarbe fürchten. Jemand stieß mich vorwärts. Ich unterdrückte die Regung, mich für den schmerzhaften Hieb zu revanchieren, und taumelte in die Kabine, die sich sofort schloß. Seufzend schlüpfte ich aus meinen Sachen. Nur den Zellaktivator, den ich an einer Kette um den Hals hängen hatte, behielt ich bei mir.
»Begib dich in den Nebenraum«, krächzte eine Lautsprecherstimme. Erneut schob sich ein Stück Wand beiseite. Der darunterliegende Raum war mit quadratmetergroßen blauen Fliesen ausgekleidet. Vier vom Boden bis zur Decke reichende gläserne Röhren bildeten das einzige Inventar. Bei drei davon hatte sich ein Einstieg geöffnet. »Die folgende Reinigung ist weder schmerzhaft, noch können sich körperliche Schädigungen einstellen. Sämtliche auf der Haut befindlichen bakteriellen Erreger und Viren werden entfernt und abgetötet, sofern es sich nicht um körpereigene Mikroorganismen handelt. Begebt euch nun in die dafür vorgesehenen Pulsatorduschen.« »Die können uns viel erzählen«, protestierte Chipol hinter mir. »Wer behauptet, daß uns Viehgestank anhaftet, hat keine Ahnung, was Landluft ist.« Er spielte seine Rolle mit Überzeugung; ich brauchte wirklich nicht zu befürchten, daß er mir hinderlich sein würde. »Sauberkeit hat noch niemandem geschadet«, bemerkte ich spöttisch. Um Chipols Mundwinkel zuckte es verhalten, als er mit Fumsel auf dem Arm auf die nächstbeste Röhre zuging. »Ich weiß, du kannst nichts dafür«, murmelte er. »Es muß wohl so sein.« »Die Pulsatorduschen sind ausschließlich für die Benutzung durch eine Person bestimmt«, ertönte die bereits bekannte Stimme. »Das gilt auch für niedere Kreaturen.« »Fumsel ist keine Kreatur«, begehrte Chipol auf. »Die Definition ist nebensächlich. Du bist aufgefordert, das Tier sich selbst zu überlassen.« »Und wenn nicht?« Stille. »He«, rief Chipol. »Ich habe gefragt, was geschieht, wenn ich es nicht tue.« Als er erneut keine Antwort erhielt, setzte er Fumsel widerwillig auf dem Boden einer Röhre ab. Die Krallen der Katze schabten über das glatte Material. Dann nahmen auch wir unsere Plätze ein. Ein warmer, pulsierender Luftstrom umspülte mich, zugleich trübte sich die Luft. Mir wurde die Sicht genommen. Ein angenehmes Prickeln breitete sich auf der Haut aus. Es roch nach Ozon. »Der Reinigungsvorgang ist beendet. Eure Kleidung wurde in der Zwischenzeit ebenfalls behandelt. Begebt euch zu den wartenden Wächtern zurück.« Schlagartig verschwand der Dunst um mich herum. Noch während ich die Röhre verließ, vernahm ich Chipols entsetzten Aufschrei: »Was haben sie mit Fumsel gemacht?« Von dem Tier war nicht viel zu sehen. Es glich einer hüpfenden Schaumkugel, die vergeblich gegen die Wände anrannte, ohne die entstandene Öffnung zu finden. Sekundenlang starrte der Junge mich entgeistert an, bevor er kurz entschlossen zupackte. »Sage jetzt bloß nicht, daß sie zuviel Waschpulver genommen haben«, schimpfte er. »Ich hatte nicht die Absicht…« »Das ist alles deine Schuld.« Chipol hatte hinreichend damit zu tun, den kleinen Tiger aus dem immer noch aufquellenden Schaum zu befreien. Von der schönen Zeichnung des Fells war kaum etwas zu sehen. Fumsel begann, sich die Pfoten abzulecken. Die nächste Überraschung erwartete mich, als ich in die Taschen meiner Kombination langte. Ausweisplakette, Geld und Kreditscheine waren spurlos verschwunden. Ich hätte es mir denken können. Nachträglich durfte ich froh darüber sein, daß wir weder Waffen noch andere verfängliche Gegenstände bei uns trugen. »Warum bestiehlt man uns?« herrschte ich die Reinheitswächter an, als ich die Umkleidekabine verließ. »Niemand hat euch etwas weggenommen«, wurde mir geantwortet.
»Was wir an Wertsachen bei uns trugen, ist verschwunden.« »Alles, auch das Geld, wird euch wieder ausgehändigt werden.« »Wann?« »Ihr erfahrt es rechtzeitig.« Wir betraten ein Büro, in dem sich mindestens die Hälfte der Nolier langweilte. Ungeniert taxierten sie uns mit ihren Blicken. Dann wurden wir ausgefragt – nach den Daten, ohne die angeblich keine Zivilisation existieren kann: Name, Geburtstag, ausgeübte Tätigkeit. Schließlich fotografierte man Chipol und mich. »Und was ist mit Fumsel?« fragte der Junge lauernd. »Die Kreatur ist uninteressant.« »Ich bestehe darauf, daß von meiner Katze ebenfalls Bilder gemacht werden.« »Du hast überhaupt nichts zu bestimmen.« Das klang endgültig und ungeduldig zugleich. Chipol schlug mit der Faust auf den Tisch, vor dem wir standen. »In diese komische Dusche mußte Fumsel, dabei habt ihr euch nicht so angestellt.« »Tiere sind Überträger einer Vielzahl von Krankheiten.« »Nicht mein Fumsel…« Wütend setzte Chipol die Katze auf den Tisch. Unser Gegenüber vollführte eine erschrockene Bewegung, die Fumsel wohl gründlich mißverstand, denn er stürzte sich fauchend auf den Nolier und verkrallte sich in dessen Uniform. Der Mann schrie auf. Bevor er jedoch zupacken konnte, sprang der Kater geschmeidig zu Boden und huschte davon. Jemand warf mit einem schweren Gegenstand nach ihm, traf aber nicht. »Fangt das Biest ein!« rief der Nolier, der unsere Personalien aufgenommen hatte. »Wehe, ihr krümmt ihm ein Haar«, versuchte Chipol, den ausbrechenden Tumult zu übertönen. Niemand hörte auf ihn. Fumsel war flink; im einen Moment sprang er auf eine Datentastatur, im nächsten huschte er hakenschlagend zwischen Tischen und Stühlen hinurch. »Hierher, Fumsel«, lockte der Junge. Leider vergeblich. Der Miniaturtiger war offenbar der Meinung, genügend Verwirrung angerichtet zu haben, denn als die Tür aufglitt und zwei Nolier hereinkamen, nutzte er die Gelegenheit zur Flucht. »Haltet ihn auf«, stöhnte jetzt auch Chipol. »Ich glaube, mit euch haben wir einen besonderen Fang gemacht«, seufzte unser Gegenüber. »Ihr seid noch schlimmer als die meisten, die von außerhalb der Stadt kommen. – Fremde.« Voll Verachtung sprach er das Wort aus. »Können wir dann gehen?« fragte ich. »Gehen…?« Er blickte mich ungläubig an. Ein Schatten huschte über sein Gesicht, als müsse er sich erst besinnen. »Natürlich«, nickte er und winkte zwei Untergebenen. »Bringt sie hinaus!« Chipol rief nach Fumsel, als wir auf den Gang hinaustraten. Aber der Kater blieb verschwunden. Der Aufzug brachte uns in die Tiefe und kam erst im fünften Untergeschoß zum Stillstand. Endstation, stellte ich konsterniert fest. Zumindest fürs erste. Natürlich, meldete sich der Extrasinn. Hast du etwas anderes erwartet? Eine Zellentür wurde aufgestoßen. »Warum sperrt man uns ein?« wollte ich wissen. »Es gibt viele Gründe«, erhielt ich zur Antwort. »Such dir einen aus.« »Ich gehe keinen Schritt weiter.« Wo er gerade stand, ließ Chipol sich zu Boden sinken. Die Nolier packten ihn kurzerhand und zerrten ihn in die Zelle. Dann wandten sie sich zu mir um. Sie waren nicht sonderlich aufmerksam – es wäre mir leichtgefallen, sie mit einigen raschen Dagorgriffen ins Reich der Träume zu schicken. Aber unsere Situation hätte sich dadurch nicht gebessert. Also begab
ich mich freiwillig in Gefangenschaft. Dröhnend schlug die Tür hinter mir ins Schloß. *** Chipol zog sich in die nächstbeste Ecke zurück und schmollte. Der Raum war spartanisch eingerichtet. Zwei einfache Betten standen an den Längsseiten, der Schrank zwischen ihnen wirkte zugleich als Trennwand. Hinter einem steifen Plastikvorhang lag die Naßzelle, der ein unangenehmer Geruch nach chemischen Mitteln entströmte. Gedämpfte Helligkeit fiel aus den in die Decke eingelassenen Beleuchtungskörpern. »Bist du einverstanden, wenn ich das rechte Bett nehme?« fragte ich. »Hm«, war alles, was der Junge von sich gab. Ich testete die Matratze. Ebensogut hätte ich mich auf dem Boden ausstrecken können. Sie war hart wie Stein. »Du hast Nerven«, sagte Chipol unvermittelt. »Wieso? Willst du nicht schlafen?« »Ich rede nicht davon«, wehrte er zornig ab. »Wieso hast du dich gefangennehmen lassen.« »Was hätte ich sonst tun sollen?« »Dich zur Wehr setzen. Schließlich haben wir eine Aufgabe zu erfüllen.« »Ach. Und du hättest mir dabei geholfen?« »Natürlich. Nach allem, was wir bisher zusammen erlebt haben, hätte ich mehr von dir erwartet.« »Du bist also enttäuscht.« Ich sah mich ausgiebig um. Mikrophone schienen nirgends verborgen zu sein. Die Nolier hätten auch viel zu tun gehabt, uns zu belauschen. »In deinem Alter ist man noch hitzköpfig – ich kann das verstehen. Aber schreibe dir eines hinter die Ohren: Gewaltanwendung ist in den seltensten Fällen der Weg zum Ziel. Vergiß nicht, daß wir vorerst auf uns allein angewiesen sind.« Verlegen fuhr Chipol sich durch sein dichtes Haar. »So kommen wir nicht an die acht Kilogramm Iridium, die wir brauchen, um unser Schiff wieder flottzumachen«, schränkte er ein. Ich ließ mich auf dem Bett zurücksinken und starrte zur Decke hinauf. Die Geschehnisse der letzten Tage und Wochen wirbelten als buntes Kaleidoskop durch meine Gedanken. Immer wieder sah ich die Hyptons vor mir. Ihre Anwesenheit in Manam-Turu bedeutete Gefahr für die heimatliche Milchstraße. »Was glaubst du, Atlan, wann wir hier herauskommen?« Chipol begann, die Tür zu untersuchen. »Morgen«, erwiderte ich. »Möglicherweise auch erst übermorgen. Die Nolier können uns kaum länger festhalten. Mag sein, daß dies zu ihrem Repertoire gehört, Fremde von außerhalb der Stadt einzuschüchtern.« Irgendwann stellte Chipol seine sinnlosen Bemühungen ein, weil Schritte sich näherten. Ein Roboter brachte das Essen, ein Tablett mit einer Vielzahl von Tuben und kleinen Behältern. Angewidert rümpfte Chipol die Nase. »Sieht nicht sehr appetitlich aus.« »Die Lösungen enthalten alle Spurenelemente, Mineralien und Ballaststoffe, die eure Körper benötigen«, erklärte der Roboter. »Eßt jetzt. In Kürze werden die Untersuchungen beginnen.« »Welche Untersuchungen?« »Die üblichen. Nur daß Stadtrat Kollup zuvor mit euch reden will, ist ungewöhnlich.« Ich horchte auf. »Wer ist dieser Stadtrat Kollup?«
»Ihm obliegt der Befehl über die Reinheitswächter.« »Was kann er von uns wollen?« fuhr ich mehr beiläufig fort. »Wir sind nur gekommen, um uns die berühmten Psi-Shows anzusehen.« Der Roboter schwieg. »Das Dumme ist, daß ich Hunger habe.« Chipol drehte eine der giftgrünen Dosen unschlüssig zwischen den Fingern, bevor er sie öffnete. Der Inhalt, ein undefinierbarer Brei, quoll gut zum dreifachen seines bisherigen Volumens auf, bevor er sich verfestigte. Zögernd biß der Junge hin. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich von Ablehnung über Skepsis bis hin zu offensichtlicher Überraschung. »Gar nicht so übel«, stellte er kauend fest. »Fast wie bei uns auf dem Land. Fang, Atlan!« Er warf mir eine der anderen Dosen zu. Dir Inhalt schmeckte nach Honig. »Wo mag Fumsel wohl sein?« sagte Chipol mehr zu sich selbst. Wir langten kräftig zu, bis alles verzehrt war. »Folgt mir nun«, schnarrte der Roboter. Der Weg führte durch eine Vielzahl von Korridoren. Niemand begegnete uns. Dann betraten wir eine Art Büro. Schwere Teppichböden, auch an den Wänden und der Decke, dämpften jedes Geräusch. Bis auf einen wuchtigen, mit Bildschirmen und Tastaturen vollgestopften Schreibtisch gab es keine Einrichtungsgegenstände. Hinter dem Tisch saß ein älterer, korpulenter Nolier, der uns aus stechenden Augen musterte. Nach außen hin teilnahmslos, ließ ich seine Begutachtung über mich ergehen und nahm zugleich selbst jede Einzelheit auf. »Ich bin Kollup.« Die Stimme klang rauh und krächzend. Seine Größe war schwer zu schätzen. Vermutlich reichte er mir, wenn er aufstand, nur bis unters Kinn. Ein lockerer, grauer Haarkranz zog sich um seinen Hinterkopf bis zu den Schläfen und stach kraß von der tief violetten Hautfarbe ab. Der Leibesumfang des Mannes war beachtlich. Im krassen Gegensatz dazu standen allerdings die schmalen Hände mit den langen, knochigen Fingern, die er über dem Bauch verschränkt hatte. Seine Fülle mochte krankhaft bedingt sein. Ich bemerkte, daß er schwitzte. Offenbar neigte er zeitweise zu cholerischen Ausbrüchen. Halte dich zurück, warnte der Extrasinn. Männer wie er können gefährlich werden, wenn sie die richtigen Positionen innehaben. Und dieser Mann hatte sie. Das war mir vom ersten Moment an klar. »Ich hasse es, wenn man mir sinnlos die Zeit stiehlt«, sagte er anstelle einer Begrüßung. »Richtet euch danach.« »Natürlich«, bestätigte ich. »Gut.« Der versöhnliche Klang in seiner Stimme wirkte deplaziert. »Ihr kommt aus Mornentau?« Er fixierte Chipol durchdringend. »Ein schönes Dorf«, erwiderte der Junge. Stadtrat Kollup vollführte eine unwillige Handbewegung. »Eine Ansammlung armseliger, baufälliger Hütten«, dröhnte er. »Du kennst Mornentau nicht«, sagte Chipol. »Es ist…« »Armselig«, wiederholte Kollup. »Ich bin froh, daß ich solche Kaffs nie sehen muß. Ist es nicht so?« Das klang drohend. Die Adern an seinen Schläfen schwollen pulsierend an. »Natürlich gibt es keinen Vergleich zu Karmenfunkel«, plusterte er sich auf und stellte übergangslos die nächste Frage: »Ihr kennt Saylimandar, den Psi-Star von Jam Maulunk?«
»Natürlich«, nickte Chipol. »Nein«, sagte ich gleichzeitig, einer inneren Eingebung folgend. Kollup blickte uns lauernd an. »Was nun?« wollte er wissen. »Wir kennen ihn nicht«, sagte ich schnell, um Chipol zuvorzukommen. Endlich wirst du wieder vernünftig, bemerkte mein Extrasinn. Ich achtete kaum darauf, um mich nicht ablenken zu lassen. »Den Reinheitswächtern sagtet ihr, Saylimandar sei euer Vetter.« »Das war eine Lüge«, gestand ich ein. »Wir fürchteten, Karmenfunkel sonst nicht betreten zu dürfen.« »Selbstverständlich wurde Saylimandar befragt«, stellte Kollup fest. »Der Psi-Star hat keine Verwandten. Ihr könnt von Glück reden, daß ihr die Lüge zugegeben habt.« Innerlich durfte ich lächeln. Saylimandar wußte nun, daß wir bereits eingetroffen waren. Das erleichterte unser Zusammentreffen. »Besitzt ihr eine Vorstellung vom Leben in einer Stadt wie dieser?« »Vom Hörensagen«, meinte Chipol. Stadtrat Kollup lehnte sich zurück und begann, seine Finger zu massieren. Uns beachtete er nicht mehr. Nach einigen Minuten wurde Chipol das Warten zu lang. »Dürfen wir nun gehen?« fragte er leise. »Mich interessiert, was ihr vor habt«, sagte Kollup lauernd. »Mit dem Geld und den Kreditscheinen könnt ihr euch höchstens einen oder zwei Tage lang notdürftig über Wasser halten. Und dann?« »Natürlich werden wir Arbeit annehmen«, beteuerte ich. »Wir sind bereit, alles zu tun.« Kollups stechender Blick taxierte mich ein zweitesmal. »Du wirkst kräftig. Trotzdem geht lieber dorthin zurück, von wo ihr gekommen seid. Kein Fremder wird bei uns Arbeit erhalten, sofern er nicht etwas Besonderes ist.« Ich hatte schon herausgefunden, daß die Nolier mit dem Begriff »Fremde« gleichwohl ihresgleichen bezeichneten, sofern diese von außerhalb der jeweiligen Stadt oder Ansiedlung stammten, als auch Wesen von anderen Welten. Die einen betrachteten sie in ihrem Stolz herablassend und voll Hochmut, den anderen gegenüber entwickelten sie eher Furcht. Unter diesem Aspekt war es nur zu verständlich, daß sie sich abkapselten, um unter sich zu bleiben. »Ich danke für den gutgemeinten Ratschlag«, sagte ich. »Wir wollen es dennoch versuchen.« »Ratschlag, pah«, machte Kollup. »Sobald ihr unangenehm auffallt, werden die Reinheitswächter eingreifen. Die meisten vom Land glauben, sich hemmungslos dem Nachtleben hingeben zu können.« »Keine Sorge«, beteuerte Chipol. »Das trifft auf uns bestimmt nicht zu.« »Ich sorge mich nicht«, brauste der Stadtrat auf. Zwei Männer in blauen Kitteln betraten das Büro und forderten uns auf, den Oberarm frei zu machen. »Eine Standarduntersuchung«, grinste Kollup. »Wir wollen verhindern, daß Intelligenzen von anderen Planeten in der Maske von Noliern versuchen, Unheil zu stiften.« »Das ist doch Unsinn«, wehrte Chipol ab. Kollup kniff die Brauen zusammen. »Hast du Angst?« fragte er lauernd. »Natürlich nicht«, sagte ich schnell und begann, meinen Ärmel hochzukrempeln. Die Nolier setzten erst Chipol, dann mir ein geschlossenes, röhrenförmiges Gerät auf den Bizeps. Ich verspürte zwei flüchtige Einstiche. Winzige Tropfen Blut quollen daraus hervor, verkrusteten aber sofort.
»War das alles?« fragte der Junge überrascht. »Die Gewebeproben geben uns Aufschluß über Hautpigmentierung, Chromosomenaufbau und anderes, was für Nolier charakteristisch ist«, erklärte einer der Mediziner. Mit einem solchen Aufwand hatte ich nicht gerechnet. Du tätest gut daran, dir einen Fluchtplan zurechtzulegen, raunte der Extrasinn. »Ihr werdet in eure Zelle zurückgebracht«, hieß es. »Die Ergebnisse der Untersuchung liegen erst morgen vor.« »Aber… es gibt sicher raschere Methoden, festzustellen, daß wir Nolier sind«, seufzte Chipol. »Ich fühle mich hier nicht sonderlich wohl.« »Das ist nicht meine Sorge«, wehrte Stadtrat Kollup zynisch ab. »Natürlich wurden von euren Körpern bereits während der Reinigung Tomografien gemacht. Doch solche Aufnahmen besagen nicht sehr viel.« Ich zuckte jäh zusammen. Spielte Kollup mit uns, weil es ihm Vergnügen bereitete, seine Opfer zu quälen? Mein Knochenbau war anders; anstelle von Rippen besaß ich eine durchgehende Knochenplatte, die meinen Brustkorb schützte. Allerdings konnte ich keinen Hinweis darauf entdecken, daß der Stadtrat Bescheid wußte. *** Kollup starrte den beiden Fremden hinterher, bis sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. Dann nahm er eine Bildfolie von seinem Schreibtisch hoch und hielt sie gegen das Licht. Sinnend betrachtete er die zum Teil ineinander verlaufenden farbigen Flächen. »Die Anomalität ist überdeutlich«, wandte er sich an die Mediziner. »Ich zweifle daran, daß es sich um einen Nolier handelt. Oder?« »Gewißheit werden wir in der Tat erst durch die Auswertung der Zellproben erhalten«, wurde ihm geantwortet. »Immerhin sind auch bei einigen unserer Psi-Stars mehr oder weniger auffällige Veränderungen am Skelettaufbau festzustellen.« »Willst du damit sagen, dieser Fremde könnte Psi-Fähigkeiten besitzen?« »Es liegt im Bereich des Möglichen.« »Und was ist, wenn wir es mit einem der ausgestoßenen Tiere zu tun haben?« brauste Kollup auf. »Ich vermute schon lange, daß sich verkleidete Daila in der Stadt aufhalten.« »Das sind Gerüchte…« »Die stets einen Kern Wahrheit in sich bergen.« Aufgebracht knüllte der Stadtrat die Folie zusammen und warf sie in den Abfallvernichter. »Laßt mich allein«, befahl er. »Ich muß darüber nachdenken.«
3. Das lediglich acht Quadratkilometer umfassende Areal des Raumhafens von Karmenfunkel lag inmitten gepflegter Parkanlagen, die ihn zu den unweit gelegenen Wohnsiedlungen hin abgrenzten. Seine geringe Größe entsprach seiner Bedeutung, und es gab Tage, an denen weder Starts noch Landungen erfolgten. Von den zwanzig Landefeldern waren nur drei belegt. Zwei altertümlich anmutende Frachter, deren Ladungen längst gelöscht waren, wurden seit Tagen überholt. Der vielen Versorgungsfahrzeuge wegen, die zu ihnen hinausfuhren, war anzunehmen, daß sie noch für längere Zeit festlagen. Das dritte Schiff, ein kleiner Kugelraumer mit angeflanschten Korrekturtriebwerken, war erst vor wenig mehr als zehn Stunden gelandet. Es hieß PERSTIK, so benannt nach dem großen Kontinent auf der Südhalbkugel des Planeten Nolien. Karmenfunkel als bedeutendste und größte Stadt auf eben diesem Kontinent war zugleich sein Heimathafen. Während ringsum ungezählte Lichtreklamen die hereinbrechende Nacht zum Tag verwandelten, versank das Hafengelände weitestgehend in Finsternis. Das irrlichternde Flackern der Reflexionen aus den Straßenschluchten überzog das Firmament und ließ nur wenige im Zenit stehende Sterne erscheinen. Alles lag verlassen – lediglich bei den Kontrollgebäuden herrschte noch eingeschränkte Betriebsamkeit. Von dort näherte sich ein Gleiter der PERSTIK. Deutlich sichtbar trug die schwere Maschine die Embleme der Reinheitswächter. Sie landete unmittelbar vor der ausgefahrenen Rampe, die zur unteren Polschleuse hinaufführte. Ein Mann stieg aus und begab sich rasch an Bord des Raumschiffs. Die Nolier hielten nicht viel von ihrer Raumfahrt, betrachteten diesen Zweig der Technik lediglich als unvermeidbares Übel. Kontakte zu anderen Völkern wurden nur gepflegt, soweit es die spärlichen Handelsbeziehungen erforderten. Dabei hatte das kosmische Zeitalter vor etlichen Jahrhunderten unter gänzlich anderen Vorzeichen begonnen. Enthusiasmus hatte die Entwicklung der ersten flüssigkeitsgetriebenen Raketen und schon wenig später eines brauchbaren Ionenantriebs getragen. Innerhalb weniger Jahre erforschten die Nolier die restlichen vier Planeten ihres Sonnensystems, die noch heute unbewohnt und ohne Bedeutung waren. Auf einigen existierten zwar in* zwischen kleine Stationen, die abgebauten Erze wurden von den Frachtern aber nur in unregelmäßigem Turnus abgeholt. Die leblosen, kahlen Schwesterwelten hatten die Nolier in ihrem Glauben bestärkt, ihr Planet sei in der Schöpfung einzigartig. Nie zuvor waren sie auf die Idee gekommen, mit möglicherweise existierenden anderen Intelligenzen Kontakt zu suchen. Sie besaßen keine Radioteleskope, die in den Weltraum lauschten, es gab keine goldbeschichteten Bild-Ton-Platten, die sie mit Raumsonden zu fernen Sonnen geschickt hätten, um sich und ihre Zivilisation anderen nahezubringen. Um so größer war der Schock gewesen, als sie Lichtjahre von ihrer Heimat entfernt erstmals auf fremde, andersgeartete Intelligenzen stießen: eine Symbioseform pflanzlichen Lebens, das nahezu eine ganze Welt umfaßte. Das tödliche Mißverständnis war durch die Ignoranz der Nolier vorprogrammiert gewesen und hätte beinahe zur Einstellung des gesamten Raumfahrtprogramms geführt. Heute gab es nur noch wenige Sternenschiffe. Niemand interessierte sich mehr für die Probleme der Raumfahrt, und die Besatzungen der Schiffe waren allgemein als Sonderlinge und Neurotiker verschrien. Man hielt die Männer und Frauen, die sich den Sinn für das Abenteuer bewahrt hatten, oder die ganz einfach Gefallen an den endlosen Weiten des Alls fanden, für krank. Überwiegend handelte es sich um Wissenschaftler und Forscher, die sich mit einem planetengebundenen Horizont nicht abfinden wollten. Sie nahmen es leicht, daß sie von der Mehrheit der Bevölkerung verachtet oder gar verspottet wurden und bezeichneten sich selbst liebend gern als mißverstandene Opfer des Fortschritts. »Willkommen an Bord der PERSTIK, dem Schiff kühner und mutiger Forscher«, ertönte eine wohlklingende Stimme.
Der Mann, der soeben die untere Schleusenkammer betreten hatte, suchte längst nicht mehr nach verborgenen Lautsprechern; er wußte um die verblüffenden technischen Spielereien, die überall im Schiff installiert waren. »Ich will zu Gobarik«, sagte er laut. Der Mann wirkte unauffällig. Er war von normaler Statur, erschien aber eher hager. Das einzig Einprägsame an ihm war die breite Silberspange, die sein lockiges Haar im Nacken zusammenhielt. Die Luft unmittelbar vor ihm begann zu flimmern, verdichtete sich innerhalb von Sekunden. Das holografische Abbild des Expeditionskommandanten, der zugleich als Befehlshaber über die PERSTIK fungierte, entstand. »Folge mir, Jukparz«, sagte die Projektion. »Ich bin in meiner Kabine.« Der Nolier nickte zufrieden. Im zentralen Antigravschacht ließ er sich zum Hauptwohndeck tragen, das den höheren Rängen vorbehalten war. Besatzungsmitglieder, die ihm begegneten, grüßten zurückhaltend. In ihren Gesichtern stand Scheu geschrieben. Die Überprüfung eines jeden gelandeten Raumschiffs war zwingend vorgeschrieben. Und niemand ergriff für die Schiffsbesatzungen Partei, wenn es zu Übergriffen der Reinheitswächter kam. In den vergangenen Jahren war dies mehrfach geschehen, als mitgebrachte Forschungsobjekte zum Zankapfel geworden waren. Der Kommandant bewohnte einen großzügigen Kabinentrakt, der neben der üblichen Sanitärzelle sowie dem Schlafraum einen individuellen Wohnbereich und ein gut ausgestattetes Labor umfaßte. Als das Schott sich öffnete, begann die holografische Projektion zu verblassen. Demonstrativ legte Jukparz seine Rechte auf den Griff der Waffe, die an seiner Hüfte baumelte. Er betrat den Wohnbereich. Mehrere 3-D-Bildwände waren aufgestellt. Sie zeigten naturgetreue Aufnahmen kosmischer Besonderheiten. Der Nolier schnaubte verärgert. Ihn interessierte weder der zu einem trichterförmigen Sog ausgebildete interstellare Nebel noch die drei sich offenbar gegenseitig umkreisenden Sonnen, die leuchtende Gaswolken wie gekrümmte Kometenschweife hinter sich her zogen. »Gefallen sie dir?« erklang es aus dem Nebenraum. »Unsinn!« stieß Jukparz verärgert hervor. Die Aufnahmen waren neu. Bei seinem letzten Besuch an Bord der PERSTIK hatten farbverfälschte Bilder von Planetenoberflächen, auf denen Rohstofflager zu erkennen gewesen waren, in den Rahmen gehangen. »Ich habe dich erst später erwartet. Hektik legt sich aufs Gemüt.« Der Nolier vollführte eine entschieden ablehnende Bewegung. »Hast du Ware, oder nicht?« wollte er wissen. »Was bleibt mir anderes übrig?« Gobarik erschien endlich im Durchgang zum Nebenraum, stemmte herausfordernd die Hände in die Hüfte. Jukparz ging geflissentlich darüber hinweg. »Du bist blasser geworden«, stellte er ohne besondere Betonung fest. »Auch der Bart, den du dir zugelegt hast, kann das nicht verbergen.« »Du wirst kaum über meinen Gesundheitszustand diskutieren wollen.« »Nein, natürlich nicht…« »Dann komm zur Sache.« Jukparz zog eines der Bilder aus dem Rahmen und zerriß es langsam in kleine Stücke. »Ihr Raumfahrer seid ein komisches Gesindel. Hoffentlich vergißt du nie, daß dein freies Leben nicht mehr wert ist als dieses Bild…« Gobarik spie aus. »Was willst du noch? Du hast alles von mir bekommen.« »Vielleicht will ich mehr. Du solltest froh darüber sein, daß du benötigt wirst, Kommandant, denn
wenn nicht…« Jukparz schnippte mit den Fingern. Gobariks Haltung versteifte sich. »Du gehst zu weit«, zischte er. »Selbst ein zahmes Hajikii greift an, sobald es sich in die Enge getrieben sieht.« »Wenn du dich danach wohler fühlst, bitte«, grinste sein Gegenüber. »Geh zu Stadtrat Kollup und erzähle ihm, wie oft du gegen die Gesetze verstoßen und fremdes Leben nach Karmenfunkel eingeschmuggelt hast. Du kennst die Strafe, die auf solche Verbrechen steht.« »Dann erkläre ich in aller Öffentlichkeit, wer mein Auftraggeber war.« »Niemand wird dir glauben, Gobarik. Und jetzt zeige mir die Ware – ich habe keine Lust, länger als unbedingt nötig auf diesem verdammten Kahn zu verweilen.« »Komm!« sagte der Kommandant nur. Er führte den Nolier ins Labor, zu einem engmaschigen, knapp einen Meter Kantenlänge messenden Käfig. »Intelligent?« Jukparz deutete auf das gefangene, bleichhäutige, raupenähnliche Geschöpf. Obwohl es zusammengerollt lag, war zu erkennen, daß es über mindestens fünfzig kleine Beinpaare verfügte. Der gut dreißig Zentimeter durchmessende Schädel mit den leicht vibrierenden Hautlappen besaß andeutungsweise menschliche Gesichtszüge. »Die Wesen seiner Art haben eine einfache, wenige Dutzend Wörter umfassende Sprache entwickelt«, antwortete Gobarik. »Was kann es?« »Es ist ein hervorragender Psychokinet.« Der Kommandant der PERSTIK zeigte auf einige verborgene Gitterstäbe. »Ich mußte es unter ständiger Betäubung halten.« »Gut. Hilf mir, den Käfig zu verladen.« Eine Antigravtrage erleichterte den Transport durch das Schiff zum Gleiter. Gobarik hatte dafür gesorgt, daß ihnen keines der Besatzungsmitglieder zufällig begegnete. »Mag sein, daß ich bald auf deine Dienste verzichten kann«, sagte der Nolier in der Uniform eines Reinheitswächters, als er die Ladeklappe schloß. »Jemand, den ich nicht kenne, steckt seine Nase in Dinge, die ihn nichts angehen. Ich frage mich, wie lange unser kleines Geheimnis noch sicher ist. Vermutlich werde ich schon bald zum Handeln gezwungen sein.« Gobarik wurde blaß. »Heißt das, daß ich… daß herauskommt, was…?« »Verschwinde von Nolien, dann geschieht dir nichts.« »Das täte ich lieber heute als morgen«, seufzte der Kommandant. »Leider wird meine Starterlaubnis frühestens in vier Wochen erneuert werden. Die Vorschriften sind verdammt eng ausgelegt.« »Kümmere dich nicht darum«, wehrte Jukparz ab. »Spätestens in zwei Tagen kannst du Nolien verlassen. Dafür sorge ich.« *** Unschlüssig wartete Gobarik, bis der Gleiter startete. Aber noch während die schwere Maschine an Höhe gewann, näherte sich ein zweites, bodengebundenes Fahrzeug der PERSTIK. Auf dem Absatz machte Gobarik kehrt und stieg die Rampe hinauf. Er verspürte kein Bedürfnis danach, in den nächsten Stunden mit irgendeinem Nolier zu reden. Ihre anmaßende Art stieß ihn ab. Wann würden sie endlich erkennen, daß alles Leben der Schöpfung gleichberechtigt nebeneinander stand? Der Kommandant vergaß völlig, daß auch er diesem Volk angehörte. Er hatte die offenstehende Schleuse noch nicht erreicht, als das Fahrzeug neben der Rampe zu stehen kam. Das Verdeck wurde transparent und glitt zur Seite. Der späte Besucher war etwa 30 Jahre alt, groß und überaus schlank. In einer offenbar gewohnheitsmäßigen Geste fuhr er sich mit der Hand über das schwarze Haar.
»He«, rief er mit gedämpfter Stimme, als Gobarik sich gerade anschickte, die Schleuse zu betreten. »Ich will mit dem Kommandanten der PERSTIK reden.« Der Tonfall weckte Gobariks Aufmerksamkeit. Immerhin wurden die Raumfahrer von den meisten Noliern mit wenig Achtung behandelt. Er drehte sich so, daß der Fremde sein Gesicht zwar nicht erkennen, er diesen aber aus den Augenwinkeln heraus beobachten konnte. »Was willst du?« »Es geht um ein Geschäft, das ich vorzuschlagen habe.« »Die PERSTIK ist kein Frachter – tut mir leid. Wende dich an die Besatzungen der beiden Kähne auf den Nachbarfeldern.« »Vielleicht habe ich mich falsch ausgedrückt«, wehrte der Fremde ab. »Ich möchte euch etwas abkaufen.« Gobarik zuckte zusammen. Im Grunde hatte er stets befürchtet, für sein illegales Tun eines Tages zur Rechenschaft gezogen zu werden, er hatte diesen Gedanken nur sehr weit von sich geschoben. Es gab keine Rechtfertigung für ihn. Auch nicht, daß Jukparz ihn erpreßt hatte. Er wußte nicht, was der Reinheitswächter mit den fremden Intelligenzen vorhatte, die er nach Nolien einschmuggelte. Anfangs hatte er in den Medien nach einer Mitteilung gesucht. Vergeblich. Später war ihm der Gedanke gekommen, Kollups Stellvertreter benutze die Psi-Kräfte der Fremden für irgendwelche eigenen Vorhaben. Aber wofür? Wollte er den Psi-Stars Konkurrenz machen? Weshalb hielt er dann seit über drei Jahren damit hinter dem Berg und verstärkte seine kleine Streitmacht immer noch? Gobarik zuckte wie elektrisiert zusammen. Streitmacht! – Wieso war er nicht früher auf diesen Gedanken verfallen? Plante Jukparz einen Umsturz? »Verschwinde!« zischte Gobarik. »Wir haben nichts zu verkaufen. Nichts und für niemanden.« Entschlossen schritt er aus und schlug auf die Verriegelung. Er atmete auf, als das Schott hinter ihm zufiel. »Wir sollten unsere Unterhaltung nicht so abrupt beenden, findest du nicht.« Der Kommandant wirbelte herum. Obwohl dies unmöglich war, stand der hagere Fremde vor ihm. Ein Lächeln umspielte seine Züge. »Wie… wie bist du hereingekommen?« Der Hagere schnippte mit den Fingern. »Einfach so. – Kennst du mich nicht mehr?« Tatsächlich. Dieses Gesicht wirkte vertraut, auch wenn Gobarik sich im Moment nur verschwommen erinnerte. Lediglich jemand mit Psi-Kräften konnte das geschlossene Schott durchdringen. »Saylimandar«, fiel es dem Kommandanten wie Schuppen von den Augen. »Du hast dich verändert. Wie lange haben wir uns nicht gesehen?« »Es dürfte etliche Jahre her sein. Ich stand erst am Anfang meiner Laufbahn, als der Zufall uns zusammenführte. Seither habe ich nie wieder davon gehört, daß jemand zwei Tage und zwei Nächte lang durch alle Lokale der Stadt zog…« »Du hast eine steile Karriere hinter dir«, seufzte Gobarik. »Ich bewundere dich dafür.« »Das klingt, als wärst du mit deinem Leben unzufrieden. Du strahlst eine Unruhe aus, die nicht…« »Bitte«, unterbrach der Kommandant. »Versuche nicht, in mein Unterbewußtsein einzudringen.« Verlegen winkte Saylimandar ab. »Ich respektiere die Intimsphäre meiner Freunde. Trotzdem sehe ich, daß dich etwas bedrückt.« »Am liebsten würde ich Nolien für immer verlassen. Obwohl der Planet meine Heimat ist, hält mich hier nichts. Nur im freien Weltraum fühle ich mich wirklich wohl.«
»Wenn ich könnte, würde ich dich begleiten«, gestand Saylimandar. Das unterschwellige Mißtrauen flammte wieder auf. Gobarik hatte den Psi-Star eben noch in seine Kabine bitten wollen, unterließ es aber, die Sprache darauf zu bringen. »Was willst du von mir?« fragte er statt dessen. »Acht Kilogramm reines Iridium«, sagte Saylimandar. »Acht…« Gobarik stutzte. »Erstens habe ich keine solche Menge, und zweitens wüßte ich nicht, was ausgerechnet du damit anfangen solltest.« »Ich brauche es für ein Psi-Experiment…« »Dann wende dich an die Behörden. Ich bin sicher…« »… ein Experiment, das vorerst geheim bleiben soll«, vollendete Saylimandar. »Soweit mir bekannt ist, führen Raumschiffe wie die PERSTIK genügend große Vorräte mit sich.« »Das war einmal«, wehrte der Kommandant ab. »Heute bin ich schon froh, wenn ich durch Rohstoffgewinnung auf manchen Planeten unseren normalen Verbrauch auffangen kann. Aber wieso versuchst du es nicht bei den beiden Frachtern?« »Ehrlich gesagt war ich erleichtert, als ich von der Landung der PERSTIK hörte. Dir kann ich vertrauen.« »Leider«, machte Gobarik und öffnete das Schott. »Du wirst verstehen, daß ich müde bin. Ich habe einen anstrengenden Tag hinter mir.« Der Abschied fiel kühl aus. Jeder ahnte, daß der andere ihm nicht die volle Wahrheit gesagt hatte. *** »Atlan, glaubst du, daß dein ursprünglicher Plan noch Erfolg verspricht?« Besorgnis schwang in Chipols Stimme mit. Offenbar war der Junge viel zu aufgeregt, um schlafen zu können. Er lag seit mehr als einer Stunde wach und wälzte sich unruhig von einer Seite auf die andere. »Wir müssen die Dinge auf uns zukommen lassen«, erwiderte ich ausweichend. Saylimandar hatte mir angeboten, in eine Rolle als Psi-Star zu schlüpfen und mit ihm zusammen im »Doppel« aufzutreten, wobei er alles, was das Parapsychische betraf, selbst in die Hand nehmen wollte. Nun, nachdem man meinen Namen bereits kannte, versprach ein solches Vorgehen sicher wenig Erfolg. Es wäre sogar gefährlich, bemerkte der Logiksektor. Stadtrat Kollup könnte sich veranlaßt sehen, Saylimandar näher unter die Lupe zu nehmen. Egal, wozu ich mich entschloß, daß wir Zeit verloren hatten, war gewiß. Insgeheim hoffte ich, daß Saylimandar noch einmal zu den Daila zurückgekehrt war und von Ganno erfahren hatte, daß wir für die Reparatur unseres Schiffes Iridium benötigten. Dann konnte er bereits Vorbereitungen treffen. Da ist etwas, warnte der Extrasinn. Ich hatte das leise, kratzende Geräusch ebenfalls vernommen, ohne jedoch dessen Ursprung auf Anhieb lokalisieren zu können. Chipol sprang mit einem Satz von seiner Liege. »Das ist Fumsel«, rief er aus. »Er kratzt an der Tür.« Ein klägliches Miauen antwortete ihm. »Fumsel, sie haben dich noch nicht gefangen.« Das war mehr Feststellung als Frage. Der Junge ließ sich vor der Tür in die Hocke sinken. »Wenn du einen Weg kennst, hilf uns hier heraus.« Ich wollte sagen, daß Fumsel nur eine ihrem Instinkt folgende Wildkatze war, die zwar manches von dem verstand, was wir ihr sagten, die aber keineswegs in der Lage sein durfte, uns aus einer Gefängniszelle zu befreien. Bist du wirklich davon überzeugt! wandte der Extrasinn ein. Also schluckte ich meine Bemerkung hinunter und schwieg.
»Was soll ich machen, Atlan?« fragte Chipol zögernd. »Dich hinlegen und schlafen«, riet ich ihm. »Es ist besser, wenn du morgen ausgeruht bist.« Zu meiner Überraschung erhob er sich ohne Widerspruch. Schlagartig verstummte das Kratzen an der Tür. Fumsel stieß ein drohendes Fauchen aus, dann trat Stille ein. Chipol blickte mich forschend an. »Ich glaube, da kommt jemand«, sagte er. Tatsächlich wurde wenig später die Tür geöffnet. Ein neuer Gefangener taumelte, von zwei Robotern geschoben, zu uns herein. »Ihr bekommt Gesellschaft«, war alles, was die Maschinen von sich gaben. »Wenn das so weitergeht, treten wir uns bald gegenseitig auf die Füße. Die Zelle ist nur für zwei Personen ausgestattet«, rief Chipol ihnen hinterher, doch sie konnten ihn bereits nicht mehr hören, weil die Tür sich ebenso schnell schloß, wie sie sich geöffnet hatte. »Tut mir leid, wenn ich euch Ungelegenheiten bereite«, sagte der neue Gefangene zögernd. »Die Reinheitswächter fragen eben nicht danach.« »Schon gut«, winkte Chipol jovial ab. »Du wirst dir das kaum selbst eingebrockt haben.« Ich versuchte, den Mann einzuschätzen. Seine Haut schimmerte in einem ungewöhnlich gleichmäßigen Blauton. Langes, lockiges Haar umfloß sein hart wirkendes Gesicht in sanften Wellen; eigentlich wurde es im Nacken von einer silbernen Spange gehalten, doch einzelne widerspenstige Strähnen hatten sich gelöst und widerstanden dem flüchtigen Versuch, sie zu bändigen. Er schien meinen forschenden Blick bemerkt zu haben, denn er wandte sich mir zu: »Ich bin Parzuk. Die Reinheitswächter haben mich wenige Kilometer vor der Stadt verhaftet. Möchte wissen, was in die gefahren ist. Zuletzt war ich vor einigen Monaten in Karmenfunkel, aber so behandelt wurde ich noch nie.« »Uns erging es ähnlich«, sagte ich und nannte unsere Namen. »Wenn du willst, kannst du meine Liege haben«, bot Chipol an. »Mir macht es nichts aus, auf dem harten Boden zu schlafen – falls ich überhaupt schlafen kann.« »Was führt euch nach Karmenfunkel?« »Die Psi-Shows«, erwiderte ich. »Wir haben so viel darüber gehört, daß wir neugierig geworden sind.« Parzuk lachte. »Ich nehme an, man hat euch ebenfalls Gewebeproben entnommen. Macht euch nichts daraus, niemand kann dabei Unterschiede feststellen. Ich muß diese Prozedur jedesmal über mich ergehen lassen.« »Welche Unterschiede…?« erkundigte ich mich scheinbar verblüfft. »Ich verstehe nicht.« Auch ohne die Warnung meines Extrasinns wäre ich hellhörig geworden. Parzuk verfiel unwillkürlich in einen Flüsterton. Er sagte uns nichts Neues, als er erklärte, daß die Nolier allem Fremden gegenüber voreingenommen und abweisend waren. Zudem behauptete er, daß längst viele der ausgestoßenen Daila unerkannt unter den Noliern lebten. »Nein…«, machte ich entrüstet, »das ist ausgeschlossen. Ihre schrecklich bleiche Hautfarbe würde sofort auffallen.« »Vergiß die Standardausrede«, wehrte Parzuk ab. »Schließlich sind wir unter uns. Die Maskerade mag noch so perfekt sein, ich erkenne jeden Daila, sobald ich ihm gegenüberstehe.« Chipol schnalzte mit der Zunge. Hatte er eben noch zurückgelehnt auf seiner Liege gekauert, so richtete er sich jäh auf. »Du mußt einer der Psi-Stars sein«, vermutete er. »Das nicht«, wehrte Parzuk ab. »Ich bin ganz einfach ein Daila – wie ihr auch.«
Chipol blickte skeptisch drein und schürzte die Lippen. »Drei Tage nach dem Beginn der Schöpfung fanden Aklard und Illard, daß es zu dunkel sei am Firmament der Welt«, sagte er. »Sie machten sich auf den Weg…« »… zusammen mit Ris und Rim, den anderen Gottheiten«, fuhr Parzuk lächelnd fort. »Und sie fanden Suuma, das rötlich-gelbe Auge, das noch heute unserer Heimat Licht und Wärme schenkt.« Chipol nickte anerkennend. Seine Augen begannen zu leuchten. »Du mußt in der Tat ein Daila sein«, rief er aus. »Wer sonst könnte den Vers vollenden.« »Ja«, nickte ich, »wer sonst?« Wenn mich mein Gefühl nicht täuschte, war der Junge im Begriff, eine große Dummheit zu begehen. Ich glaubte, die Falle deutlich zu spüren. Chipol hatte voreilig nach dem Köder gegriffen, und mir blieb nur noch der Versuch, das Zuschnappen zu verhindern. »Wir sollten dich sofort den Reinheitswächtern melden«, sagte ich zu Parzuk. »Egal, wie schlecht sie uns behandelt haben.« Chipol starrte mich mit offenem Mund an. Zum Glück schien er zu begreifen, welchen Fehler er beinahe begangen hätte. »Verrate mir, wie«, erwiderte er. »Wir sitzen selbst fest.« Parzuk begann eine unruhige Wanderung. Vor dem Vorhang zur Naßzelle blieb er abrupt stehen und wandte sich zu uns um. »Ich kann eure Vorsicht verstehen. Es führt aber zu nichts, wenn wir uns gegenseitig mißtrauen. Glaubt mir, ich würde liebend gern die blaue Farbe von meiner Haut abkratzen, doch ihr wißt, daß dies unmöglich ist.« Er versucht, den Anschein des Wissens zu erwecken, durchzuckte es mich. Ein echter Daila hätte sicher den Blauwurzextrakt erwähnt. Ich beschloß, zum Gegenangriffüberzugehen. »Welche besonderen Fähigkeiten besitzt du?« wandte ich mich an Parzuk. Er stutzte, bewies aber sofort, daß er in der Lage war, sich veränderten Situationen anzupassen. »Manchmal glaube ich zu spüren, daß sich Fähigkeiten entwickeln«, sagte er. »Allerdings kann ich sie noch nicht einordnen.« Er sprach von Fähigkeiten, anstatt das Wort Psi zu benutzen, das jeder Daila gebraucht hätte. Denn gerade ihrer Psi-Kräfte wegen waren die jetzt auf Nolien und anderen Welten der Galaxis ManamTuru lebenden Daila von ihrem Heimatplaneten verstoßen worden. Wenn Parzuk also ein Vertrauter von Stadtrat Kollup ist, bedeutet dies, daß der Untersuchung der Gewebeproben keine große Bedeutung zugemessen wird, folgerte mein Extrasinn. Dann kannst du dem Morgen beruhigt entgegensehen.
4. Das Bild war mit einer Infrarotkamera aufgenommen. Es zeigte Teile einer Rampe, Landestützen eines Raumschiffs und einen schweren Gleiter, dessen Heck in den hellen Farben restlicher Triebwerkswärme erstrahlte. Zwei Männer standen neben dem Fahrzeug. Zufällig blickten sie in Richtung des Fotografen. Mit Hilfe einer Lupe waren ihre Gesichter auf dem Bild deutlich zu erkennen. Jonath tippte mit dem Stiel der Lupe auf den größeren der beiden Männer. »Wie lange war Jukparz an Bord der PERSTIK?« wollte er wissen. »Knapp zwanzig Minuten«, sagte Merillio und reichte ihm einen Stapel weiterer Aufnahmen. Sie dokumentierten, daß Jukparz und der Kommandant des Schiffes einen größeren Behälter von Bord geschafft und in den Gleiter verladen hatten. Jonath blätterte die Fotografien hastig durch. »Als Beweis genügen sie nicht«, stellte er fest. »Wir wissen, was in dem Behälter war, aber Kollup und die anderen Stadträte würden uns auslachen, wenn wir damit kommen.« Merillio blinzelte verwirrt. »Jukparz will die uneingeschränkte Macht. Daß er gefährlich ist, haben wir erlebt: Herres Tornt ist tot, Trombull Kinnas hat das Gedächtnis verloren. Zum Glück für uns. Wenn Jukparz uns frühzeitig auf die Schliche käme, dürfte es unangenehm werden.« »Er ist jedenfalls gegen parapsychische Beeinflussung immun.« Ausgiebig kratzte Jonath sich seinen kahlen, eiförmigen Schädel. Merillio und er waren Partner. Gemeinsam traten sie jeden Abend in einem der größten Etablissements von Karmenfunkel auf. ERLEBT DEN ZAUBER EINES ANDEREN ICHS, DIE. ERFÜLLUNG EURER TRÄUME, lautete die Ankündigung ihres Programms. EINMAL FÜR KURZE ZEIT DEM GEWOHNTEN DASEIN ENTFLIEHEN. JONATH UND MERILLIO FÜHREN EUCH ÜBER DEN SCHMALEN STEG ZWISCHEN SCHEIN UND WIRKLICHKEIT, LASSEN VERGESSEN, WAS ALLTAG IST… Daß sie Brüder waren, sah man ihnen nicht an. Selbst jene, die es wußten, äußerten immer wieder ihre Zweifel. Jonath war gut 1,90 Meter groß und schlaksig. Stets trug er weit fallende, aufbauschende Kleidung, die ihm wenigstens optisch Fülle verlieh. Sein kurzgeschnittenes, graues Haar hatte sich an den Schläfen bereits gelichtet’ und bildete einen schmalen Kamm, der sich erst im Nacken ausbreitete. Halb verborgen unter breiten, buschigen Brauenwülsten und einer hochgewölbten Stirn glommen die Augen in düsteren Höhlen. Manchmal schimmerten sie wie tiefgrüne Smaragde, dann wieder schien in ihnen ein Regenbogen aufzuflammen, leuchtender als jener, der oft über den Wasserfällen westlich der Stadt zu sehen war. Schon während der Schulzeit hatte Jonath gelernt, Menschen in seinen Bann zu zwingen, sie Dinge tun zu lassen, die sie eigentlich gar nicht wollten. Diese Fähigkeit hatte er später vervollkommnet und verfeinert. Er wurde »Hypno« genannt, was aber eigentlich nicht ganz zutreffend war. Jonath ließ Wünsche wahr werden, er erfüllte Träume und stillte die Sehnsüchte der Nolier. Er gaukelte Dinge vor, die nicht real waren, verankerte Täuschungen unlöschbar im Bewußtsein. Dabei gab es niemanden, der nicht zu schwören bereitgewesen wäre, daß er diese Täuschungen wirklich und wahrhaftig erlebt hatte. Aber ohne Merillio war Jonath nur die Hälfte wert. Sein jüngerer Bruder, gut zwanzig Zentimeter kleiner, dafür jedoch athletisch gebaut und mit strähnigem, üppigem Haarwuchs, besaß die Kraft, Mensch und Tier während einer flüchtigen Berührung geistig zu lähmen. Nur dann nämlich, wenn Jonath kein Widerstand entgegengesetzt wurde, war er ein guter »Hypno«. Außerdem entwickelte er in solchen Situationen ein geradezu verblüffendes Gespür für seine Umwelt.
So war er Jukparz’ Geheimnis auf die Spur gekommen, hatte den Stellvertreter von Stadtrat Kollup wochenlang beobachten lassen und daraus seine Schlüsse gezogen. Eindeutige Schlüsse, die ihn veranlaßten, während einer seiner Shows zwei Nolier weitergehend zu beeinflussen. Kriminelle natürlich, bei denen er die Gewähr besaß, daß im Fall eines Mißerfolgs kaum Nachforschungen angestellt wurden. Die beiden hatten sich nach der Vorstellung wieder eingefunden und sich willig seinen Forderungen gebeugt. »Das hier solltest du dir besonders genau ansehen.« Merillio reichte seinem Bruder eine letzte Fotografie. Jonath stieß einen Laut der Überraschung aus. »Was hat Saylimandar bei der PERSTIK zu suchen?« »Was wohl?« grinste Merillio. »Es ist bestimmt kein Zufall, daß er unmittelbar nach Jukparz dort aufkreuzte. Womöglich machen beide gemeinsame Sache. Ich sage dir, dieser Saylimandar erschien mir schon immer irgendwie undurchsichtig.« »Genau mein Gefühl«, pflichtete Jonath bei. »Er verbirgt etwas. Suchen wir ihn auf?« »Bist du verrückt?« wehrte Merillio erschrocken ab. »Du weißt genau, daß Jam Maulunk seine Leibwächter operieren läßt, um sie psychisch zu stabilisieren. Vermutlich käme ich nicht einmal nahe genug an Saylimandar heran, um ihm die Hand zu schütteln. Wir müssen auf eine andere Gelegenheit warten.« *** Der Roboter erschien nicht, um uns das Frühstück zu servieren, sondern um Parzuk abzuholen. »Wo bringst du ihn hin?« wollte Chipol wissen. »Das braucht dich nicht zu interessieren«, antwortete die Maschine monoton. »Und ob es mich interessiert«, brauste der Junge auf. »Ich verlange, daß man uns augenblicklich freiläßt. Schließlich sitzen wir schon lange genug in diesem Loch.« Krachend schlug die Tür zu. Chipol stieß eine Reihe dailanischer Schimpfwörter aus, die ich ihm eigentlich nicht zugetraut hätte. »Weshalb regst du dich auf?« fragte ich. »Dieser Parzuk war ein Spitzel, davon bin ich überzeugt. Man wird ihn aushorchen und sich dann erst um uns kümmern.« Ich behielt recht. Nicht einmal eine halbe Stunde war vergangen, als wir abgeholt wurden. Ungeduldig trommelte Kollup mit seinen knochigen Fingern auf die Tischplatte. Er sagte nichts, sondern starrte uns nur durchdringend an. Sein Blick war voller Mißtrauen. »Was treibt euch wirklich nach Karmenfunkel?« stieß er endlich hervor. »Ich sagte es bereits«, erwiderte ich. »Wir wollen uns einige Vorstellungen ansehen.« Stadtrat Kollup schob uns unsere paar Habseligkeiten zu. »Warum fragst du nicht, was die Untersuchungen erbracht haben?« Ich zuckte mit den Schultern. »Nichts Ungewöhnliches, denke ich.« »Fast nichts«, sagte Kollup leise. »Ihr seid Nolier, das Gegenteil läßt sich zumindest nicht beweisen. Aber du, Atlan, scheinst etwas Besonderes zu sein.« Sein Lächeln verstärkte die drohende Wirkung seiner Stimme. Du wirst dich doch nicht einschüchtern lassen, alter Arkonide, wisperte der Extrasinn. Unsinn, erwiderte ich, unschlüssig, ob mein Zellaktivator oder mein Knochenbau seine Neugierde geweckt hatte. »Du besitzt Psi-Kräfte?«
»Nein.« Kollups Lächeln verfinsterte sich schlagartig. »Dein Skelett weist Veränderungen auf, die sich nur so erklären lassen. Also heraus mit der Sprache.« »Ich habe keine Ahnung«, versicherte ich. »Wirklich nicht.« »Es gibt Möglichkeiten, deine Psi-Fähigkeiten anzumessen – unangenehme Möglichkeiten. Leider überstehen nur die wenigsten eine solche Prozedur unbeschadet.« Ein flüchtiger Wink veranlaßte die Roboter dazu, ihre stählernen Greifklauen um meine Oberarme zu schließen. »Warte!« rief ich. »Vielleicht meinst du mein Gedächtnis. Ich vergesse so gut wie nie etwas.« Ein nachdenklicher Zug huschte über Kollups Miene. »Ach, was soll’s«, murmelte er mehr zu sich selbst. »Ich wüßte nicht, was ich mit dir anfangen sollte. Es gibt genug Zahlenjongleure in Karmenfunkel – und ein Viehhirte wie du wird kaum einen Computer übertrumpfen können. Nehmt euer Zeug und verschwindet endlich. Aber hütet euch davor, Ärger anzufangen.« Blitzschnell raffte Chipol seine spärliche Habe zusammen. Komm schon, Atlan, bedeutete mir sein Blick. Laß uns abhauen, bevor er es sich anders überlegt. *** Lärmende Betriebsamkeit nahm uns gefangen, als wir das Gebäude verließen. Die Straße mußte eine der Hauptverkehrsadern Karmenfunkels sein. Kaum jemand beachtete uns. »Dieser Kollup hätte uns ruhig noch zu essen geben dürfen«, schimpfte Chipol. »Ich habe einen wahren Heißhunger.« »Irgendwo werden wir etwas bekommen.« Da eine Richtung so gut oder so schlecht sein mochte wie die andere, wandte ich mich nach links. Wir besaßen kein festes Ziel, schlenderten einfach an den Auslagen der Geschäfte vorbei. Karmenfunkel unterschied sich in nichts von anderer! Städten dieser Größenordnung. Es gab fast alles zu kaufen, was das Herz begehrte, angefangen von Bekleidung über Haushaltsartikel bis hin zu kitschigen Luxusgegenständen. »He«, stieß Chipol mich plötzlich an. Seine Stimme klang erregt. »Da ist Saylimandar.« Nur kurz hatte ich mich von der Vielfalt der Waren ablenken lassen. Abrupt fuhr ich herum, mein Blick schweifte suchend über die Passanten. Doch Chipol deutete auf das Schaufenster neben uns. Puppen gab es da. In etlichen Ausführungen und Größen. Alle besaßen durchaus lebensechte Gesichter. Und fünf von ihnen waren in der Tat täuschend echte Nachbildungen unseres Freundes. »Der Kult mit den Psi-Stars treibt sonderbare Blüten.« Chipol begann zu lachen, denn eine der Puppen hatte sich erhoben, tappte mit steifen Schritten durch die Auslage und blieb erst unmittelbar vor der Scheibe stehen. Sie verbeugte sich in unsere Richtung und streckte die Arme aus. »Sie will, daß wir sie kaufen«, sagte der Junge. »Atlan, sie gefällt mir.« Die Puppe, knapp dreißig Zentimeter groß, besaß in der Tat etwas Anziehendes, um nicht zu sagen Faszinierendes. Stumm deutete ich auf das Preisschild, bevor ich Chipol einfach weiterschob. Ich hatte keineswegs die Absicht, schon nach zehn Minuten auf freiem Fuß Pleite zu sein. Allerdings wandte ich mich noch einmal um. Ein Nolier ging soeben auf das Schaufenster zu. Uns beachtete er nicht, wohl aber die Puppe, aus deren Augenwinkeln Tränen kullerten. Das kleine Geschöpf warf mir eine Kußhand zu, daß ich selbst fast auf die Idee verfallen wäre, es zu erwerben. Du wirst sentimental, spottete der Extrasinn prompt. Das Ding ist lediglich mikroprozessorgesteuert. Jäh anschwellendes Sirenengeheul brach sich zwischen den Häusern. Sekunden später raste eine Fahrzeugkolonne mit blinkenden Warnlichtern vorbei und bog in eine der hinter uns liegenden Seitenstraßen ein. Amüsiert verfolgte ich, wie viele Nolier den Fahrzeugen folgten. Neugierde war
demnach auch in dieser Galaxis eine der hervorstechenden Eigenschaften menschlichen Lebens. Dem aufsteigenden dunklen Qualm nach zu schließen, brannte es in einem der Häuserblocks. Mit Saylimandar hatte ich mich auf mehrere Möglichkeiten eines Treffens geeinigt. Wahrscheinlich würde es sogar so sein, daß er uns aufspürte. Auf jeden Fall war es noch zu früh, um gezielt nach ihm zu suchen. Am Rand einer Grünanlage stießen wir endlich auf einen Imbißstand. Was da in heißem Fett herausgebacken wurde, besaß ein überaus bizarres Aussehen und erinnerte am ehesten an die Blütenstände von Pflanzen. Der Duft war verlockend und, das muß ich zugeben, der Geschmack nicht minder erlesen. Satt wurden wir zwar nicht davon, wohl aber wechselte ein Kreditschein den Besitzer. Ich begann zu befürchten, daß wir mit unseren spärlichen Mitteln wirklich nicht sehr weit kommen würden. »Zu dumm, daß wir sparen müssen«, murmelte Chipol. Mir fiel ein Nolier auf, den ich erst vor kurzem gesehen hatte – vor der Auslage des Puppengeschäfts. Er beachtete uns nicht, aber etwas an seiner Haltung weckte meine Aufmerksamkeit. Er wirkte angespannt. Im Gegensatz zu den anderen, die mehr oder minder gleichgültig darauf warteten, daß sie an die Reihe kamen. »Komm!« Ich zog Chipol mit mir, einen mit weißen Kieseln bedeckten Weg entlang, bis eine Reihe mannshoher Büsche uns die Sicht nahm. »Was ist?« wollte der Junge endlich wissen. »Warum läufst du, als wären die Reinheitswächter wieder hinter uns her?« »Weil ich glaube, daß wir verfolgt werden.« Er kniff die Brauen zusammen, schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts bemerkt.« »Natürlich nicht«, sagte ich. »Möglicherweise ist es auch nur Zufall, daß ich ein und dasselbe Gesicht zweimal hinter uns sah.« »Das wird es sein«, tat Chipol meine Feststellung mit einem Schulterzucken ab. Doch als wenig später eilige Schritte auf dem Kies knirschten, bedurfte es keiner Worte mehr. Der Junge huschte noch vor mir in die Deckung, die uns die Büsche boten und spähte zwischen den dornigen Ästen und lederartigen Blättern hindurch. Der Mann, der mir aufgefallen war, kam den Weg entlang. Irgend etwas an seinem Äußeren erschien mir bekannt, ohne daß ich im Moment zu sagen vermocht hätte, woher. Selbst mein fotografisches Gedächtnis ließ mich diesmal im Stich. Der Nolier war hager und besaß fast meine Größe. Obwohl eine Vielzahl von Falten und Pigmentflecken sein Gesicht zeichnete, erschienen seine Bewegungen keineswegs wie die eines alten Mannes. Vielmehr drückten sie verhaltene Kraft und eine geradezu katzenhafte Geschmeidigkeit aus. Sein Haar, lang und lockig, fiel lose bis auf die Schultern. Weder nach rechts noch links blickend, hastete er den Weg entlang. Wir warteten, bis er hinter den einige hundert Meter entfernt aufragenden Bäumen verschwand, und liefen dann zum Imbißstand zurück. Ich suchte die Anonymität der Menge auf der Straße. »Möglicherweise hast du dich doch getäuscht«, bemerkte Chipol erleichtert. »Wer sollte an uns Interesse haben?« »Kollup«, gab ich zur Antwort. »Der Stadtrat mißtraut uns.« Plärrende Lautsprecherstimmen, flackernde Leuchtreklamen, deren Licht selbst am hellen Tag die Straße überflutete, und überdimensionale’ Plakatwände verrieten, daß wir uns einer Reihe von Attraktionen näherten. Dabei zählten die Theater und Lokale, die mit scheinbar unerschöpflichem Ideenreichtum um Gäste warben, keinesfalls zu den renommiertesten der Stadt. Ganze
Häuserfronten waren mit grellen Leuchtfarben übermalt worden und forderten mit prägnanten Schlagworten zum Besuch der Vorstellungen auf. Ein zerlumpter Bettler, das Gesicht unter wirrem Bartwuchs verborgen, lag auf dem grobporigen Asphalt und malte mit bunter Kreide abstrakte Bilder. Kaum jemand beachtete ihn. In der Schachtel, die er neben sich stehen hatte, lagen erst zwei kleine, geringwertige Münzen. Flehend sah er zu mir auf, doch sein Blick schien durch mich hindurchzugehen und sich in endloser Ferne zu verlieren. Ich vermochte nicht einmal zu sagen, ob er mich wirklich wahrnahm. »Erkennst du, was er malt?« stieß Chipol mich an. Blitzschnell huschten die Finger mit der Kreide über den Teer. Die Kreise, die sie zogen, waren nicht exakt, dennoch formten sie sich zu einem überraschenden Bild, einer stilisierten Landkarte. Zwei große Kontinente und ein dritter, ziemlich kleiner, weit im Norden. Dazwischen zahlreiche Inseln – und zwei kleine, sehr helle Monde. »Das ist Aklard«, flüsterte Chipol ergriffen. »Der Mann muß ein Daila sein.« Spontan griff er in seine Tasche, zog mehrere Münzen hervor und warf sie in die Schachtel. Ein überraschter, ungläubiger Laut dankte es ihm. Als der Bettler sah, wieviel es war, begann er mit sich überschlagender Stimme zu rufen: »Seht her, ihr hartherzigen Nolier, seht sie euch an, das sind gute Menschen. Sie lassen mich nicht verhungern…« »Sei still!« zischte Chipol, der ebenfalls bemerkte, daß die Umstehenden sich uns zuwandten und näherkamen. »Laß mich«, kreischte der Bettler. »Warum sollen sie nicht erfahren, daß andere besser sind als sie? In Karmenfunkel herrscht ein hochmütiges, arrogantes Gesin…« Ich hörte nicht mehr hin, sondern bahnte mir einen Weg durch die Menge, ehe es für uns zu spät war. Noch wußte kaum jemand, was gespielt wurde. Chipol folgte mir. »Bleibt!« schrie der Bettler uns hinterher. »Bleibt, meine Freunde, laßt euch nicht einschüchtern…« Wir verfielen in einen Laufschritt. Kräftige Fäuste, die nach mir packten, stieß ich wütend beiseite. »Haltet sie! Es müssen Fremde sein.« Der Mob reagierte schwerfällig, doch einmal in Bewegung geraten, würde er sich nicht mehr aufhalten lassen. An der nächsten Kreuzung bogen wir in die engere Seitenstraße ab. Die Schritte der Verfolger kamen näher. Ich zog Chipol in den bunt erleuchteten Eingang des nächstbesten Lokals. Wir fanden uns in einem mit 3-D-Fotos ausgekleideten Vorraum wieder. Hinter der nächsten Tür erklang gedämpfte Musik. »Warum hast du so viel gegeben?« wollte ich von Chipol wissen. Erstaunt sah er mich aus großen Augen an. »Der Mann muß ein Daila gewesen sein. Ist dir das nicht aufgefallen?« Das war es allerdings. Entschlossen öffnete ich die Tür und trat hindurch. Hier drinnen, das hoffte ich, würden wir sicher sein, bis die Gemüter sich wieder beruhigt hatten. *** Die Dekoration wirkte nicht nur erdrückend, sie war überaus kitschig und ließ keine besondere Atmosphäre aufkommen. Ein schwerer Geruch lag in der Luft – die Ausdünstungen alkoholischer Getränke und schwitzender Körper. Zwei Bühnen, kaum mehr als einfache Podeste, erhoben sich am anderen Ende des Raumes. Davor war ziemlich eng eingetischt. Die Zahl der Besucher überraschte mich – schließlich ging es erst auf den Mittag zu. Die Bar entlang der linken Längsseite war sogar bis auf den letzten Platz besetzt.
Das laufende Programm schien soeben beendet zu sein*. Von Beifall angespornt, verbeugten sich nacheinander mehrere Nolier auf den Bühnen. Flitterglanz und billiger Tand, bemerkte der Extrasinn. Wir scheinen in ein drittklassiges Etablissement geraten zu sein. Zwischen den Tischreihen hindurch steuerten wir einen freien Platz möglichst nahe an einer der Bühnen an. Die Bedienung erschien prompt. Ich bestellte zwei in schmalen, hohen Gläsern servierte Getränke, wie ich sie auf einem der Nebentische sah. »Die nächste Vorstellung beginnt in wenigen Minuten«, lächelte die junge Frau, als sie das Gedeck brachte. »Wir wechseln außerdem jede Woche das Programm.« Ich nickte flüchtig. Chipol hatte ohnehin nicht zugehört; er starrte zur Tür hinüber. Aber niemand erschien. Vermutlich wußten die Verfolger nicht, wohin wir uns gewandt hatten. Dumpfer Trommelwirbel kündigte den Beginn der Vorstellung an. Das allgegenwärtige Raunen verstummte, während gleichzeitig gut ein Dutzend farbige Scheinwerfer über die Wände -> tanzten und sich in einem Punkt vereinten. Wie aus dem Nichts heraus erschienen, stand dort eine junge Frau. Das Lichterspiel sorgte dafür, daß jedem flüchtigen Beobachter, der sich ausschließlich auf die Person konzentrierte, das leichte Wackeln des Vorhangs hinter ihr entging. Zwei Assistenten liefen ins Publikum. Sie suchten Kandidaten, Mitspieler oder ganz einfach Opfer. Wahllos griffen sie sich Zuschauer heraus. Zwei Männer waren schon gefunden, als einer der Assistenten auf mich zukam. Seine Geste war eindeutig. Ich sollte mit auf die Bühne. Ich zögerte. Es behagte mir nicht, im Rampenlicht zu stehen. Je weniger Aufmerksamkeit Chipol und mir entgegengebracht wurde, desto besser für uns. »Keine Angst«, forderte der Nolier mich auf. »Dir geschieht nichts.« »Danke«, wehrte ich ab. »Ich bin bestimmt nicht der Richtige für euch.« Jemand begann zu pfeifen. »Geh schon, du Feigling«, schallte es mir von den nächsten Tischen entgegen. Du solltest es tun, warnte der Extrasinn. Womöglich verstößt du sonst gegen ein ungeschriebenes Gesetz der Nolier. Zögernd erhob ich mich. Jemand klatschte verhalten. Chipol drückte mir ermutigend die Daumen. Als letzter trat ich neben den weiblichen Psi-Star. Wenn der Schein nicht trog, stand mir eine stinknormale Vorstellung bevor, wie es sie auch auf der Erde des 20. Jahrhunderts gegeben hatte. Die Frau bat den ersten Kandidaten, seine Arme auszustrecken. Sanft berührte sie seine Handrücken. »Bestätige den Zuschauern, daß wir uns nie zuvor gesehen haben«, bat sie. »Das kann ich nicht«, lautete die fahrige Antwort. Gelächter – irgendwo im Halbdunkel des Saales. »Ich kenne dich jedenfalls nicht«, stellte die Frau fest. »Das kann sein.« Ein verstehendes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. »Du meinst, du hast mich schon öfter gesehen, ich dich aber nicht.« »So ist es.« »Du warst in vielen meiner Vorstellungen?« »Ja.« »Weil du mich begehrenswert findest.« Nun waren die Lacher auf ihrer Seite, während der Nolier erste Anzeichen von Nervosität zeigte.
»Ich will keineswegs deine geheimsten Wünsche bloßlegen, schließlich bist du verheiratet, hast drei Kinder und… eine Freundin. – Du verkrampfst dich innerlich, das ist nicht nötig. Keine Angst, ich werde deiner Gattin nichts davon erzählen.« »Bitte…« Seine eben noch gesunde blaue Gesichtsfarbe wurde fahl. »Beifall für unseren Freund Jork Barrab«, rief die Frau und schob ihn sanft auf den Abgang zu. »Ich finde, er hat sich wacker geschlagen.« Meine Enttäuschung wuchs. Wenn das bißchen Gedankenlesen alles war, was sie konnte. Würde sie versuchen, jedem solche Geheimnisse zu entlocken? Chipol saß angespannt da und starrte mich an. Das schlechte Gewissen stand ihm ins Gesicht geschrieben. Hypnose war die nächste Nummer. Die Zuschauer tobten, als ein erwachsener Mann auf allen vieren über die Bühne kroch und die unmöglichsten Verrenkungen anstellte. Er fror und schwitzte auf Kommando, schlug sich mit seinem Schatten und was der Banalitäten mehr waren. Eigentlich durfte ich gespannt sein, was mich erwartete. »Dich werde ich in die Vergangenheit zurückversetzen«, wandte die Frau sich mir zu, nachdem der Beifall verklungen war. »Du sollst uns allen erzählen, wie deine Kindheit verlief. Längst vergessene Geschehnisse werden dabei wieder ans Tageslicht kommen.« Als Mentalstabilisierter konnte ich ruhig abwarten. Der Reinfall war vorprogrammiert. Um so mehr überraschte mich die ungläubige Reaktion der Frau. »Du warst kein normales Kind«, stammelte sie. »Ich begreife das überhaupt nicht. In deiner Erinnerung sehe ich einen Jungen von fünf Jahren. Er wurde im Reagenzglas großgezogen…« Ihr abruptes Schweigen löste Unruhe aus. »Bitte«, sagte sie und breitete die Arme aus. »Es kommt mitunter vor, daß sich ein Medium sträubt. Dann verwirren sich seine Gedanken. Ich werde ihn jetzt in Hypnose versetzen, damit er selbst berichten kann.« Was soll der Unfug? fragte ich mein zweites Ich. Ich habe nur versucht, diesen Psi-Star vor sich selbst zu schützen, antwortete der Extrasinn. Die Tatsache, daß deine Gedanken für sie leer sind, hätte einen Schock auslösen können. Deshalb hast du ihr den Bären mit dem Retortenkind aufgebunden? Ich glaube, der Schock ist kaum geringer. Worüber regst du dich auf? So kannte ich meinen Extrasinn nicht. Der in der ARK SUMMIA aktivierte zusätzliche Gehirnsektor dachte ansonsten logisch und war auch noch stolz darauf. Beinahe händeringend stand die Frau vor mir, sie sprach monoton auf mich ein. »Geh jetzt zwei Schritte.« Ich dachte nicht daran. Tu ihr den Gefallen. Ich bereitete dem Spiel ein Ende. Das ist alles, was ich tun werde. Du machst einen Fehler, Barbarenhäuptling. Der Extrasinn verlegte sich aufs Schimpfen, aber ich blieb stur. »Es hat keinen Sinn«, gestand die Frau ein. »Ich kann diesen Mann nicht beeinflussen.« Da die Unmutsäußerungen lauter wurden, dirigierte sie mich zu den Stufen, die zum Saal hinunter führten. Dramatische Musik ertönte, steigerte sich innerhalb von Augenblicken zu einem theatralischen Stakkato. Ich hatte meinen Platz noch nicht erreicht, als für Sekundenbruchteile das Licht erlosch. Die Frau war verschwunden.
Sie ist durch den Vorhang, stellte der Extrasinn fest. Allerdings soll es so aussehen, als hätte sie PsiKräfte benutzt. *** Die Blicke, die uns trafen, waren nicht gerade freundschaftlich. Chipol und ich übersahen sie geflissentlich. Es erschien ratsam, das Lokal nicht sofort, sondern erst nach dem nächsten Auftritt zu verlassen, sobald die Gemüter sich beruhigt hatten. Der Große Loredo wurde angekündigt, ein exzellenter Psychokinet, dessen Kräfte selbst über größere Entfernungen hinweg wirkten. »Wenn er wirklich so gut ist«, raunte Chipol mir zu, »weshalb tritt er nicht in den renommierten Häusern auf?« Die Übungen, die der Große Loredo absolvierte, waren solche der einfachsten Natur und hätten von jedem Telekineten des früheren terranischen Mutantenkorps mit Leichtigkeit nachvollzogen werden können. Leere Gläser stiegen von den Tischen auf und kehrten nach eigenwilligen Flugbahnen an ihre Plätze zurück, von der Decke herabhängende Lampen gerieten in Schwingungen, Stühle stürzten um. Je mehr ich sah, desto unverständlicher wurde mir der Rummel, den die Nolier um ihre Psi-Stars veranstalteten. Die Menge will getäuscht sein – diese alte Weisheit schien sich wieder einmal zu bestätigen. Endlich wurde das Programm anspruchsvoller. Die Jongleurkunststücke erforderten zumindest Konzentration. »He«, machte Chipol entgeistert, »was ist das?« Er deutete auf die gut einen halben Meter durchmessende Eisenkugel, die reglos zwei Meter über dem Boden hing. Der Große Loredo hatte ihre Unterseite eben wie zufällig mit den Fingern berührt, doch seine Bewegungen waren so eigenartig gewesen, daß es nur eine Folgerung gab: er hatte einen verborgenen Antigrav aktiviert. Paß auf den Jungen auf! warnte der Extrasinn. Chipol war schneller. Er sprang derart hastig hoch, daß sein Stuhl umkippte und mich behinderte. Im Nu war er auf der Bühne, um seinem aufgestauten Ärger Luft zu machen. Er hatte sich viel zu lange ruhig verhalten und geschwiegen. »Ihr sitzt nur da und glotzt«, rief er aufgebracht. »Und ihr merkt nicht einmal, daß man euch für dumm verkauft.« Der Große Loredo wollte ihm den Weg verstellen, aber Chipol schlug Haken wie ein Hase und sprang auf einen Stuhl, von dem aus er die Eisenkugel erreichen konnte. Ich sah seine Fingerspitzen in einer Vertiefung verschwinden. Im nächsten Moment sprang Chipol zurück; die Kugel stürzte dröhnend auf die Bühne und hinterließ eine deutliche Vertiefung. Überraschte, unwillige Ausrufe wurden laut. Der Psi-Star stand wie erstarrt, unfähig, sich zur Wehr zu setzen. Offenbar reichten seine Kräfte nicht aus, um Chipol zurückzuhalten. Der allgemeine Unmut richtete sich aber weniger gegen ihn als vielmehr gegen den Jungen, der die Illusion der Nolier so abrupt zerstört hatte. Und noch jemand mußte sich geprellt fühlen. Das war der Inhaber des Lokals. Der Vorhang, der die Bühne von den dahinter befindlichen privaten Räumen abtrennte, wurde zur Seite gezerrt. Drei muskulöse, bullige Typen stürmten heran. »Chipol, Vorsicht!« rief ich. Er warf sich blitzschnell zur Seite und schwang sich von der Bühne. Trotzdem verstellten ihm zwei der Rausschmeißer den Weg. Nicht eben sanft packten sie zu und zerrten ihn hoch. Chipol begann um sich zu treten. Als das nichts half, verlegte er sich aufs Schreien. Ich konnte nicht tatenlos zusehen, sondern zwängte mich nach vorne. Einige Nolier, die mich daran hindern wollten, stieß ich kurzerhand zur Seite. »Laßt den Jungen los! Er hat euch nichts getan«, verlangte ich. »Halte dich da raus.« Die Rausschmeißer oder Leibwächter oder was immer grinsten mich
herausfordernd an. »Das werde ich nicht«, bekräftigte ich. »Der Junge steht unter meiner Obhut.« Zwei Fäuste zuckten auf mich zu. Der Hieb hätte mich sicherlich von den Beinen gerissen. Aber ich wich aus und griff gleichzeitig an. Den Schwung des Gegners nutzend, hebelte ich ihn aus, daß er, ehe er überhaupt begriff, rücklings auf dem nächsten Tisch landete, der unter der jähen Last krachend zusammenbrach. »Zeig’s ihnen, Atlan«, rief Chipol. Im Nu war die schönste Keilerei im Gange. Mir lag wenig daran, mitzumischen, Chipol hingegen schien sie als willkommene Abwechslung zu betrachten. Er biß und kratzte und schlug um sich wie eine Wildkatze. Immerhin hatten wir es nicht mehr nur mit den drei Noliern zu tun, sondern die Mehrzahl der Gäste prügelte sich ebenfalls. Einige wenige flogen ins Freie. Jemand sprang mich von hinten an, umklammerte meinen Hals mit den Armen. Dem anderen, der mit einem Stuhlbein auf mich losging, versetzte ich einen Dagorhieb, daß er lautlos zusammenbrach und wahrscheinlich den Rest der Schlägerei verschlief. Dann bückte ich mich, griff nach hinten und schleuderte den Angreifer über mich hinweg zwischen die anderen. Eine Traube ineinander verkrallter Leiber, sich gegenseitig behindernd, stürzten sie zu Boden. Ich bekam Chipol zu fassen, der mit dem Rücken zur Wand stand und sich wacker schlug. Ohne lange zu fackeln, zerrte ich ihn mit mir. Wir mußten das Lokal verlassen haben, ehe die vermutlich alarmierten Reinheitswächter eintrafen. Fast wie in alten Zeiten, spottete der Extrasinn. Das halbe Mobiliar liegt in Trümmern. Der Lärm mußte weithin zu vernehmen sein. Klirrend stürzte ein Regal voller Flaschen um. Die Tür zur Straße stand offen. Ich ließ sie hinter uns ins Schloß fallen, als unvermittelt ein befehlsgewohntes »Halt, stehenbleiben! Die Hände im Nacken verschränken!« ertönte. Die Stimme kam mir seltsam bekannt vor, sie klang nur eine Nuance zu dumpf. »Jetzt langsam umdrehen! Alle beide.« Der alte Mann, der uns verfolgt hatte, hielt eine plump wirkende Waffe auf uns gerichtet. Mit einem Mal wußte ich trotz seiner Maskerade, woher ich ihn kannte. »Du solltest die Waffe wegstecken, Parzuk«, sagte ich. »Jeden Moment können Reinheitswächter hier sein.« Ein spöttischer Zug erschien um seine Mundwinkel. Mit der linken Hand faßte er sich unters Kinn und zog ruckartig die Biomaske ab, die er trug. »Die meisten, die von draußen kommen, bringen Unruhe und Ärger mit«, sagte er. »Ich habe dich beobachtet. Du bist immun gegen Psi-Kräfte?« »Was weiß ich«, entgegnete ich schroff, um Zeit zu gewinnen. Sobald ich versuchte, ihm die Waffe zu entreißen, würde er schießen. Zumindest im Moment hatte ich keine Chance. »Du bist kein normaler Nolier«, stellte mein Gegenüber fest. »Und du kein Daila, wie du uns glauben machen wolltest.« »Natürlich nicht. Kennst du Jukparz, Stadtrat Kollups Stellvertreter und zugleich Oberkommissar der Reinheitswächter?« Seine eigenartige Betonung verriet die Hoffnung, daß er nicht mehr lange Stellvertreter sein würde. Was hatte er mit uns vor? Offenbar nichts, was innerhalb der Legalität lag. Er will uns für seine Zwecke einspannen. Ein wütendes Fauchen drängte sich in meine Überlegungen, zusammen mit Chipols erleichtertem Ausruf. Ein getigerter Schatten flog durch die Luft. Die kleine Wildkatze – ich hatte ihre Annäherung nicht bemerkt – schlug ihre Zähne in Jukparz’ Waffenhand. Vergeblich versuchte der Nolier, sie abzuschütteln.
Ein Schuß löste sich. Ich verspürte einen überaus schmerzhaften Schlag gegen meinen linken Handrücken. Wie Feuer floß es durch meine Adern. Vorübergehend wurde mir schwarz vor Augen. Ich taumelte, mußte mühsam um mein Gleichgewicht kämpfen. Verschwommen sah ich Chipols besorgte Miene, hörte Jukparz keuchen und das aggressive Fauchen Fumsels. Vom Zellaktivator auf meiner Brust strahlten verstärkte Impulse aus. Nur mit seiner Hilfe überwand ich die Übelkeit. Doch ein stechender Schmerz auf meiner Hand blieb. Sirenengeheul näherte sich. Für einen flüchtigen Augenblick spielte ich mit dem Gedanken, Jukparz’ Waffe an mich zu bringen, dann warf ich mich herum und rannte wie Chipol, so schnell mich die Beine trugen. Keiner der Schaulustigen, die sich inzwischen eingefunden hatten, brachte den Mut auf, uns aufzuhalten. Um Fumsel machte ich mir keine Sorgen. Er hatte uns einmal gefunden, er würde uns auch ein zweites Mal aufspüren.
5. Es hatte lange gedauert, den Text des zufällig aufgefangenen Funkspruchs zu dechiffrieren. Mehrmals überflog Stadtrat Kollup die ausgedruckte Folie, ehe er sie wortlos an seinen Stellvertreter weiterreichte. Auch Jukparz konnte mit der Nachricht nicht sehr viel anfangen. Jemand, der sich Raegul nannte, rief seine »Hängenden Herren«. Er sprach von Nolien als einer Welt von großer Bedeutung. Die »Fliegenden Herren« sollten schnell kommen, um sich ihre Rechte zu sichern. »Hoffentlich stammt der Text nur von irgendeinem Witzbold, der sich wichtig machen will«, schimpfte Kollup. »Klingt es so?« wehrte Jukparz ab. Der Stadtrat seufzte ergeben und wuchtete sich aus seinem Sessel hoch. Er begann eine ruhelose Wanderung durch sein Büro und blieb endlich vor dem Boten stehen, der die Mitteilung überbracht hatte. »Nicht genug mit diesem Atlan, den wir vergeblich überall in der Stadt suchen… Wurde eine Peilung vorgenommen?« »Die ungefähren Koordinaten sind bekannt«, nickte der Mann. »Worauf wartest du dann?« begann Kollup zu schreien. »Zeige mir die Stelle. Du wirst nicht für dummes Herumstehen bezahlt.« Eine Vielzahl von Entschuldigungen murmelnd, beeilte der Bote sich, an der großen Wandkarte die Stelle zu markieren. Er zeichnete einen Kreis, der maßstabgerecht mehrere Kilometer umfaßte und weit außerhalb der Stadt lag. »Weißt du, was du da tust?« wurde er von Kollup angebrüllt. »Das ist unwegsames Gebiet.« Sein Gesicht hatte vor Erregung einen violetten Schimmer angenommen. Er schwitzte heftig. »Ich glaube, wir kennen diesen Raegul. Sieh her…« Jukparz deutete auf einen Punkt im Straßengewirr von Karmenfunkel. »Hier haben wir Atlan zuletzt gesehen…« »Du meinst, dort ist er dir entkommen«, unterbrach Kollup heftig. »Wäre dieses bissige Vieh nicht gewesen…« Demonstrativ hob Jukparz die von einem Sprühverband bedeckte rechte Hand. »Ich habe auf Atlan geschossen und bin sicher, ihn getroffen zu haben. Daß die Schockladung ihn nicht aufhalten konnte, beweist seine besonderen Kräfte.« »Weiter!« »Er floh in diese Richtung.« Jukparz zog eine gerade Linie, die den außerhalb des Stadtgebiets markierten Kreis tangierte. »Brauchen wir einen besseren Beweis?« Kollups Miene drückte Skepsis aus. »Ich lasse einen Teil der Suchmannschaften aus Karmenfunkel abrücken. Sollten wir diesen Atlan jedoch nicht aufspüren«, er funkelte seinen Stellvertreter wütend an, »werde ich dich zu Rechenschaft ziehen.« Als Jukparz das Büro eilenden Schrittes verließ, wirkte sein Gesicht unbewegt. Niemand ahnte, welch aufrührerische Gedanken sich hinter seiner Stirn zusammenballten. Er haßte Kollup, haßte das ganze anmaßende Pack von Stadträten, denen Beziehungen mehr wert waren als Können und Leistung. Aber er hatte vorgebaut. Alle würden sich noch wundern. *** Unsere Flucht führte kilometerweit durch die Stadt, bis wir irgendwann in eine ruhigere, ärmlich wirkende Gegend gelangten. Die Abenddämmerung wich bereits der Schwärze der Nacht. Im spärlichen Schein altertümlicher Straßenlampen durften wir uns endlich sicherer fühlen. Immerhin waren wir mehrmals nur knapp einer Entdeckung entgangen.
Aus einem weit geöffneten Fenster im dritten Stock eines schäbigen Hauses drangen schrille, abgehackte Musikfetzen in Überlautstärke. Immer dann, wenn der Lärm für ein paar Takte leiser wurde oder gänzlich verstummte, konnte man streitende Stimmen hören. Jemand beugte sich aus dem Fenster, als ich zufällig nach oben blickte. »He, ihr da, ihr Gesindel, macht, daß ihr weiterkommt«, erklang es wütend. Ich konnte gerade noch zur Seite springen, bevor ein Schwall Wasser auf den Gehsteig klatschte. Über uns wurde das Fenster geschlossen. Chipol blickte erst mich an, dann in die Höhe und schließlich auf die sich ausbreitende Wasserlache, bevor er sich schulterzuckend umwandte und die Fahrbahn überquerte. Verbeulte, rostige Fahrzeugwracks säumten den Straßenrand. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, ob sie wohl noch fahrtüchtig waren. Allerdings würden wir erst recht Aufmerksamkeit erwecken, wenn wir in einem solchen Ding daherkamen. Die Gebäude wurden schäbiger, die Straße dreckiger, die Nacht dunkler, je weiter wir kamen. Das einzige, was neu und sauber wirkte, waren die riesigen Plakate der Psi-Stars, die uns von jeder Straßenecke her anlachten. Dieses Viertel war eine Stadt für sich, in der mich manches an das Chikago der 30er Jahre erinnerte. Ein bodengebundenes Fahrzeug ratterte langsam an uns vorbei. Wir drängten uns in den Schatten einer Hausecke. Aus einer Kellerkneipe drangen Qualm und rauhe Stimmen zu uns herauf. Ein Betrunkener torkelte die ausgetretenen Stufen empor. Sekundenlang ruhte sein glasiger Blick auf uns, dann zwängte er sich zwischen Chipol und mir hindurch. Zumindest für diese Nacht brauchten wir ein Versteck. »Komm«, sagte ich zu Chipol, als der Betrunkene einen Schlüssel aus seiner Tasche zog. »Der Mann hat zwei Untermieter gefunden, er weiß es nur noch nicht.« Zehn Minuten später hätte ich wetten können, daß der Mann entweder so betrunken war, daß er sein Zuhause nicht mehr fand oder aber, daß es ihn instinktiv zu seinen Zechkumpanen zog. Dreimal war er schon rechts abgebogen, beim viertenmal mußte er unweigerlich wieder zur Kneipe gelangen. Endlich, unter einer flackernden Lampe, begann er mit seinen Schlüsseln an einer Tür herumzustochern. Das Haus, grau und schmutzig wie alle anderen, besaß nur zwei Stockwerke. Die Fenster im Erdgeschoß waren mit Läden verrammelt und zusätzlich durch Querriegel gesichert. Stöhnend gab der Betrunkene seine sinnlosen Versuche auf und ließ sich an der Mauer zu Boden sinken. Als er Chipol und mich bemerkte, raffte er sich noch einmal halb auf. »Darf ich?« fragte ich und griff nach dem Schlüsselbund. »Wer… wer bist du?« stammelte er und versuchte vergeblich, mich zu fixieren. »Atlan«, sagte ich. »At… Atlan? Ach so.« Er nickte eifrig und begann, sich an mir hochzuziehen. Bereits der erste Schlüssel paßte. Knarrend schwang die Tür auf. Ich faßte den Mann unter den Schultern und zog ihn in den dunklen Flur. Chipol knipste das Licht an. Die nur an einem Draht von der Decke baumelnde Glühbirne verbreitete einen tranigen Schimmer. Modergeruch wehte uns entgegen. Fingerdick lag Dreck auf den Bodenfliesen; von den Wänden, deren Farben längst verblichen waren, blätterte der Putz ab. Der Betrunkene machte sich von mir los und torkelte auf eine nur mit Stoffetzen verhängte Tür zu. Im selben Moment vernahm ich das Poltern über uns. Chipol und ich erreichten fast gleichzeitig den Treppenaufgang. Unvermittelt begann der Junge zu lachen. Ein behagliches Miauen erklang. Dann flog ein getigerter Schatten durch die Luft und landete auf Chipols Schulter.
Fumsel. »Wo kommst du her?« machte der Junge überrascht. Die Wildkatze schien ihn verstanden zu haben, denn sie sprang auf die Treppe und hetzte vor uns die Stufen hinauf. Dem Staub nach zu schließen, waren die Räume im Obergeschoß seit Jahren nicht benutzt worden. Fumsel führte uns zu einem kleinen, halb geöffneten Fenster. Keine zwei Meter tiefer begann das Dach eines Nachbarhauses. Ein Leichtes, dort hinüber zu klettern und von da aus in den engen Hinterhof, der sich zu einer Seitenstraße hin öffnete. »Nicht schlecht«, stellte ich fest, während ich Fumsels Nacken kraulte. »Sollte es darauf ankommen, können wir diesen Weg benutzen.« Um den Betrunkenen machte ich mir keine Sorgen. Tatsächlich fanden wir ihn in einem Sessel schlafend vor, als wir wieder ins Erdgeschoß hinabstiegen. Chipol begann einige Schränke zu durchwühlen, bis er endlich etwas Eßbares fand. Es war nicht viel: Brot, Kuchen, zwei Scheiben ranzig riechende Wurst, die selbst Fumsel verschmähte, und einige Flaschen Mineralwasser. Chipol baute das Ganze wie ein Festmahl vor uns auf. Keiner aß viel. Ich holte eine Münze aus meiner Kombination und legte sie auf den Tisch. Andernfalls wäre ich mir wie ein Dieb vorgekommen. Die Nacht verlief ruhig. Nachdem Chipol am Tisch eingeschlafen war, gönnte ich mir ebenfalls einige Stunden Ruhe. Ich war sicher, daß Fumsel uns wecken würde, sobald Unvorhergesehenes geschah. Der Morgen bescherte uns einen wieder halbwegs nüchternen Gastgeber, dessen schwerer Zungenschlag jedoch nicht zu überhören war. »Wer seid ihr?« wollte er wissen. »Freunde«, sagte Chipol. »Obwohl wir deinen Namen nicht kennen.« »Boa«, murmelte er, seine zerzauste Haarpracht mühsam mit den Fingern bändigend. »Ich kann mich nicht erinnern…« Sein Blick fiel auf die Münze. »Ist die von euch?« Ich nickte. »Ich denke, das genügt dafür, daß wir uns zu essen genommen haben.« Boas Rechte zuckte vor und ließ das Geldstück in seiner abgewetzten Hose verschwinden. »Wenn ihr mehr davon habt, fühlt euch bei mir wie daheim. Ich gehe jetzt.« »Wohin?« Chipol vertrat ihm den Weg. Boa grinste breit. »Das Geld reicht für zwei Flaschen. Wir werden es uns hier gemütlich machen.« »Nimmst du mich mit?« fragte ich spontan. Es konnte nicht schaden, wenn ich mich mit der Umgebung vertraut machte. Er starrte mich an. »Natürlich, Freund. Wir haben nicht weit zu gehen.« Ich bedeutete Chipol, im Haus zu bleiben. Boa führte mich zu dem Kellerlokal. Es war höchstens dreihundert Meter entfernt und lag nur um die Ecke. »Von den Toten auferstanden?« empfing der Wirt, klein und dick, mit geschwollenen Augenringen, meinen Begleiter. »Du warst ganz schön voll.« Triumphierend warf Boa ihm die Münze zu. »Gib mir noch zwei Flaschen.« Der Wirt biß prüfend auf das Geldstück, bevor er es einsteckte. Zwei bauchige Flaschen wanderten über den Tresen. »Laß dich von Boa nicht ausnehmen«, wurde mir geraten. »Er kann verdammt hartnäckig sein.« Hinter der Tür, halb von der Garderobe verdeckt, hing ein Plakat – im Gegensatz zu all dem bunten Geschmier, das ich bislang gesehen hatte, von erfrischender Einfachheit. FESTIVAL DER PSISTARS, verkündeten fette Lettern. Darunter waren die Namen der Mitwirkenden aufgeführt. Den von Saylimandar fand ich ziemlich am Anfang. »Wann ist das?« wollte ich wissen.
»Morgen«, antwortete Boa teilnahmslos. »Keiner aus unserem Viertel kann sich den Eintritt leisten. Die verlangen Wucherpreise.« Mein Entschluß stand fest. »Hast du trotzdem Lust hinzugehen?« fragte ich. Mir war klar, daß Chipol und ich inzwischen von den Reinheitswächtern gesucht wurden. Zu zweit mußten wir unweigerlich auffallen, aber wenn Boa uns begleitete, standen unsere Chancen besser. Boa zerrte mich auf die Straße hinaus. »Sage in unserem Viertel niemals laut, daß du Geld besitzt«, tadelte er. »Dann hast du alle am Hals. Du kannst von Glück reden, daß du an mich geraten bist. Und du nimmst mich wirklich zum Festival mit?« Das klang ungläubig. Er konnte sich nicht beruhigen. Wahrscheinlich hätte er noch mehrmals davon angefangen, wäre nicht überraschend ein Gleiter der Reinheitswächter keine zwanzig Meter entfernt gelandet. Ihre Waffen im Anschlag, sprangen die Polizisten heraus. *** Gemächlich schlenderte der Mann über die »Telepathie«, betrachtete die Auslagen in den Schaufenstern und musterte die Menschen in den Straßenstuben, die ihrerseits das Geschehen auf der Straße verfolgten. Er mochte an die dreißig Jahre alt sein, war sehr schlank, 1,86 Meter groß und besaß schwarzes Haar. Vor allen Dingen ahnte er nichts davon, daß er seit wenigen Minuten die Aufmerksamkeit zweier Nolier auf sich zog. Sie folgten ihm im Abstand von wenigen Metern. »Er geht anders«, bemerkte Jonath leise. »Sieh ihn dir genau an. Er zieht den Kopf zwischen die Schultern.« »Und?« machte Merillio beinahe ärgerlich. »Wem fällt das schon auf?« »Mir.« »Unsinn. Die Haltung läßt sich korrigieren. Ich muß ihn ohnehin weitgehend beeinflussen. Wichtiger ist das Gesicht. Er ist ihm zum Verwechseln ähnlich.« »Wir beeinflussen ihn also, lassen ihn die Stelle von Saylimandar einnehmen und bringen den wirklichen Saylimandar in unser Versteck, um ihn auszuhorchen? Jam Maulunk wird innerhalb kürzester Zeit merken, daß sein Psi-Star ein Doppelgänger ist.« »Und wenn schon«, zuckte Merillio mit den Schultern. »Jam Maulunk und Parzuk sind gute Freunde, Saylimandar steckt offenbar mit beiden unter einer Decke. Damit zwingen wir Jukparz zu unüberlegtem Handeln. Er wird die fremden Kreaturen einsetzen, die er vom Kommandanten der PERSTIK übernimmt.« »Das sind Vermutungen, die wir nicht beweisen können.« »Eben«, nickte Jonath. »Wir haben bereits zu lange gezögert, Gobarik auszuhorchen. Wer hätte ahnen können, daß sein Schiff so schnell wieder starten würde?« »Fremde.« Merillio seufzte schwer und schüttelte sich demonstrativ. »Ich möchte nur wissen, wie Jukparz so tief sinken konnte, sich mit niederen Geschöpfen einzulassen. Stell dir vor, was geschehen würde, käme er an die Macht.« Der Mann, dem sie folgten, hatte ein Geschäft betreten. Sie mußten lange warten, bis er es wieder verließ. Er war zu verblüfft, als Merillio ihn anrempelte und sich gestenreich entschuldigte. Keinem der Passanten fiel auf, daß er sekundenlang erstarrte und sich erst zaghaft in Bewegung setzte, als Jonath leise auf ihn einzureden begann. Stunden später trafen Jonath und Merillio mit den anderen großen Psi-Stars im halbkreisförmigen Amphitheater im Zentrum der Stadt zusammen. Die letzten Absprachen hinsichtlich des Festivals wurden getroffen. Nicht zuletzt ging es dabei um die Reihenfolge der Auftritte, um Dekorationsprobleme und all den Kleinkram, der die optische Wirkung des Dargebotenen verstärken sollte.
Jonath und Merillio konnten sich der unfreiwilligen Hilfe einiger Kulissenarbeiten sicher sein. Es fiel nicht schwer, Saylimandar mit Gas zu betäuben, als er die semitransparente Kugel betrat, von der aus er seine Show abziehen wollte. Das Material der Kugel besaß die Eigenschaft, die Intensität von Psi-Strömungen farblich wiederzugeben. Das Publikum sollte so zum erstenmal an etwas teilhaben, was bisher nur in medizinischen Labors sichtbar gemacht werden konnte. Schwieriger als Saylimandar zu überwältigen fiel es, ihn unbemerkt aus dem Amphitheater zu schaffen und den Doppelgänger seine Stelle einnehmen zu lassen. Mittels eines Transportkarrens und sperriger Kulissen wurde auch dieses Problem rasch bewältigt. Der falsche Psi-Star hatte sein Debüt. Niemand bemerkte, was geschehen war. *** »Alles verläuft reibungslos«, versicherte Jam Maulunk. »Wir werden ein Festival haben, wie es ganz Nolien noch nicht erlebt hat.« »Darauf sollten wir anstoßen«, pflichtete Jukparz lachend bei. Er hob das Glas mit der schweren, goldgelben Flüssigkeit und nahm einen tiefen Schluck. Sie waren im Theater gewesen, um sich vom Fortgang der Arbeiten zu überzeugen, und nun saßen sie in Maulunks Appartement und feierten. Hier waren sie ungestört wie nirgendwo sonst in Karmenfunkel. »Du hast alles vorbereitet?« »Natürlich«, nickte Maulunk. »Zwei meiner Psi-Stars, die ich seit ihrer Kindheit kenne, werden morgen den Versuch machen, gemeinsam in das Bewußtsein anderer Stars einzudringen. Wenn unter ihnen Fremde sind, finden wir es heraus. Damit keiner widerstehen kann, erhalten meine Männer aufputschende Mittel. Was allerdings danach geschieht…« Er wußte es selbst nicht. Die Drogen – dieses Wort nahm er bewußt nicht in den Mund – würden vermutlich einen totalen Zusammenbruch der betreffenden Nolier herbeiführen. »Kollup ahnt nicht einmal, daß die Stunden seiner Regierung gezählt sind«, grinste Jukparz. »Er glaubt zwar inzwischen, daß Fremde unerkannt unter uns leben, aber er weigert sich einzusehen, daß sie auch unter den Psi-Stars zu suchen sind. Diese Ignoranz wird ihm das Genick brechen.« »Ich fürchte, daß es trotzdem zu größeren Auseinandersetzungen kommen kann«, gab Maulunk zu bedenken. »Immerhin hat Kollup viele Freunde in den Reihen der Reinheitswächter. Einige Stadträte sind ihm ebenfalls besonders verbunden.« Jukparz wischte die Bedenken mit einer herrischen Handbewegung beiseite. »Du vergißt die Fremden, die sich im alten Bergwerk unter der Stadt verbergen – durchwegs dumme Kreaturen, die nur für die Hoffnung leben, eines nicht mehr fernen Tages zu ihren Heimatwelten zurückkehren zu können. Im geeigneten Moment werden sie sich scheinbar auf Kollups Seite schlagen und ihn so der allgemeinen Verachtung preisgeben. Das ist dann die Stunde unserer Psi-Stars und der Wachen, die mir gehorchen. Weder die Fremden noch die Stadträte dürfen Gelegenheit erhalten, die Wahrheit zu erkennen.« Jam Maulunk leerte sein Glas in hastigen Zügen und schenkte noch einmal randvoll nach. »Soweit ich mich entsinne, war dein Plan ursprünglich anders aufgebaut.« »Du weißt von Herres Tornt und Trombull Kinnas«, erwiderte Jukparz heftig. »Sie waren im Bergwerk. Solange Kinnas ohne Erinnerung ist, werden wir nicht erfahren, wer hinter ihnen steht. Also muß ich dem Unbekannten zuvorkommen.« »Vielleicht sollten wir Saylimandar einweihen. Mit seinen Fähigkeiten wäre er uns eine große Hilfe.« Jam Maulunk zeigte sich über Jukparz’ schroffe Ablehnung überrascht. »Warum nicht?« fragte er verwundert. »Je mehr davon wissen, desto größer wird die Gefahr eines zufälligen oder gar bewußten Verrats.«
»Nicht bei Saylimandar«, widersprach Maulunk. »Ihm kann ich ebenfalls bedingungslos vertrauen.« »Gut für dich, wenn dem so ist. Aber solange das Gegenteil nicht bewiesen ist, muß ich in jedem einen potentiellen Gegner sehen. Wer sagt dir, daß nicht gerade Saylimandar mir nachspioniert?« *** »Die haben gerade noch gefehlt«, entfuhr es Boa, und er sprach mir damit aus der Seele. So gut es ging, verbarg er die Flaschen unter seiner Kleidung. »Wohin wollt ihr?« Es war wohl besser, stehenzubleiben. Die Reinheitswächter erweckten keineswegs den Eindruck, als würden sie mit sich spaßen lassen. Ich versuchte, möglichst unbeteiligt dreinzublicken. Zögernd streckte ich die Rechte aus und zeigte auf Boas Haus. »Heim«, sagte ich mit absichtlich schwerem Zungenschlag. Sollten die Nolier ruhig glauben, daß ich getrunken hatte. Ich nahm an, daß sie nach mir suchten – aber sicher nur in Begleitung des Jungen. »Wohnst du da?« Ich nickte eifrig und zeigte auf Boa und auf mich. »Wir beide«, bestätigte ich. Der Reinheitswächter bedachte erst mich und dann meinen Begleiter mit einem prüfenden Blick. »Nimm die Hände vor«, herrschte er Boa an. Als dieser der Aufforderung nicht sofort nachkam, stieß er ihn mit der Waffe an. Vor Schreck entglitt Boa eine Flasche und zerschellte klirrend auf dem Asphalt. Selten sah ich einen größeren Ausdruck des Bedauerns als in dem Moment. Der Reinheitswächter grinste breit, als er die Scherben mit dem Fuß verstreute. »Habt ihr zwei Fremde gesehen?« wollte er wissen. »Diese schrecklichen Gestalten mit der bleichen Haut?« Boa besann sich einen Moment. »Das muß gestern gewesen sein. Ja, ich glaube, gestern.« »Wo?« drängte der Mann, als Boa zögerte. »Laß mich überlegen. – Es muß auf einem dieser freien Sender gewesen sein; der Film…« »Unsinn. Und du?« wandte der Bewaffnete sich zu mir. Ich zuckte mit den Schultern. »Wir haben das Haus seit Tagen nicht verlassen«, seufzte ich. »Das heißt, bis vor wenigen Minuten.« Anklagend blickte ich auf die goldgelbe Lache zu meinen Füßen. »Wer ersetzt uns den Schaden?« Mein Gegenüber vollführte eine unwillige Bewegung. »Seht zu, daß ihr verschwindet, bevor wir euch in die Ausnüchterungszelle sperren.« Krampfhaft hielt Boa die ihm verbliebene Flasche umklammert, während wir uns im Laufschritt davonmachten. Wieder stocherte er mit dem Schlüssel am Türschloß herum, er war viel zu nervös. Endlich schwang die Tür auf. Weder Chipol noch Fumsel kamen uns entgegen. Während Boa sich ins Wohnzimmer begab und ein paar fleckige Gläser aus dem Schrank nahm, blickte ich flüchtig in alle Räume im Erdgeschoß und stieg dann nach oben. Das Fenster zum Dach war von innen her verriegelt, Chipol konnte also nicht in den Hinterhof hinabgeklettert sein. Trotzdem blieb er verschwunden. Das Geräusch eines splitternden Glases durchbrach die im Haus herrschende Stille doppelt laut. Mit weit ausgreifenden Sätzen sprang ich die Treppe hinab – nur um zu sehen, wie Boa abwehrend die Hände von sich streckte und Schritt um Schritt vor einem haarigen Monster zurückwich. Fumsel kauerte auf einem Sessel und fauchte angriffslustig.
»Chipol«, rief ich verärgert. »Was soll der Unsinn?« Das haarige Monster, ein Mittelding zwischen einem blauen Affen und einem Werwolf, wandte sich mir zu. »Schade«, erklang es enttäuscht. »Boa hätte mich nicht erkannt.« Umständlich schälte der Junge sich aus dem Kostüm heraus, während der Nolier erst Stielaugen bekam und dann zur Flasche griff. »Willst du so auf die Straße gehen?« erkundigte ich mich. »Woher hast du das Ding überhaupt?« »Aus dem Keller«, grinste Chipol. »Da drunten steht ein großer Koffer voll!« Eine hervorragend getarnte Falltür führte hinab. Daß der Junge sie durch Zufall gefunden hatte, war eigentlich Fumsel zu verdanken. Stickige, abgestandene Luft schlug mir entgegen. Mehrere Lampen verbreiteten ein flackerndes Zwielicht. Der Koffer stammte offenbar aus dem Fundus eines Theaters, wie die vielen Aufkleber unschwer vermuten ließen. Neben einigen Kostümen beförderte ich Perücken, Masken und Waffennachbildungen aus Pappmache ans Licht. »Gut, nicht wahr«, meinte Chipol. »Damit können wir uns beruhigt auf die Straße wagen.« Ich verpaßte ihm eine Perücke mit Stoppelhaaren und zwei halbkugelförmige Einsätze, die seine Wangen wie Hamsterbacken erscheinen ließen. Mir selbst klebte ich einen Kinnbart an und raffte mein Haar im Nacken mit zwei Spangen, ähnlich wie ich es bei Jukparz gesehen hatte. Boa hatte übrigens keine Ahnung von den Gegenständen im Keller, die von einem der früheren Bewohner stammen mußten. Er selbst bewohnte das Haus erst seit wenigen Monaten und kümmerte sich offenbar um herzlich wenig. »Seid ihr die Fremden, die von den Reinheitswächtern gesucht werden?« wollte er plötzlich wissen. Der Inhalt der inzwischen halb geleerten Flasche verlieh ihm wohl einen gewissen Scharfblick, ohne daß er deswegen betrunken wirkte. In gewisser Hinsicht tat er mir leid; Alkohol hatte noch nie geholfen, Probleme wirklich zu lösen. »Na, ja«, sagte er, bevor ich antwortete. »Eigentlich kann es mir egal sein, was die da oben von dir wollen. Du bist ein Nolier, das ist die Hauptsache. Und du hast Geld – wieviel, weiß ich nicht –, du nimmst mich zum Festival mit, also bist du ein Freund.« *** Weit außerhalb der Stadt, in einem nur schwer zugänglichen Gebiet, fanden die Suchmannschaften ein flugunfähiges Gleiterwrack. Tief hatte es sich in den morastigen Boden hineingewühlt. Da es zudem in dichtem Gebüsch verborgen lag, war es erst nach dem Einsatz entsprechender Ortungsgeräte entdeckt worden. Von dem Piloten und möglichen Passagieren fand sich keine Spur. Auf Befehl des gesamten Stadtrats wurde die Suche forciert – die Suche nach Fremden, denn bei dem Gleiter handelte es sich um einen auf Nolien unbekannten Typ.
6. Das Spiel ist aus, war der erste Gedanke, der ihn durchzuckte. Obwohl er die Augen noch geschlossen hielt, spürte er mit seinen Sinnen, daß die Umgebung sich verändert hatte. Er versuchte, sich zu erinnern. Das Amphitheater, die Kugel aus transparentem Material… Von dem Augenblick an, da er hineingestiegen war, ließ ihn sein Gedächtnis im Stich. Niemand hielt sich in seiner Nähe auf. Saylimandar öffnete die Augen. Maschinen umgaben ihn. Er befand sich in einem engen, kleinen Raum. Erst als er sich aufrichten wollte, bemerkte er, daß Arme und Beine mit Magnetfesseln fixiert waren. Für ihn zweifellos kein Hindernis, deshalb beruhigte er sich rasch. Die wohl erste Frage, die sich jeder Entführte zwangsläufig stellt, ist die nach dem Motiv seiner Gegner. Saylimandar fand keine Antwort darauf. Er war weder vermögend, noch gehörte er irgendwelchen Interessengruppen an. Und daß er ein Daila war, wußte niemand. In dem Fall wäre man anders mit ihm umgesprungen. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Vermutlich noch innerhalb von Karmenfunkel – aber das besagte nicht viel. »Ist ja jemand?« fragte er. Niemand antwortete ihm. »Ich will wissen, was man mit mir vorhat. Jam Maulunk wird alles aufbieten, um mich zurückzuholen.« Leises, amüsiertes Lachen ertönte. Es kam aus verborgenen Lautsprechern. »Maulunk weiß noch nicht einmal, daß du verschwunden bist. Er wird es frühestens morgen erfahren, wenn dein Doppelgänger in der Vorstellung kläglich versagt.« Saylimandar lauschte dem Klang der verhallenden Stimme. Sie wurde künstlich verzerrt. Bedeutete dies, daß er seinen unsichtbaren Gesprächspartner kannte? »Was willst du von mir?« »Antworten auf viele Fragen.« »Die könntest du einfacher haben.« »Mag sein, vielleicht auch nicht. Wir wollen mit dir über Jukparz reden.« Wir, hatte die Stimme gesagt. Also hatte er es mit mehreren Gegnern zu tun. »Über Kollups Stellvertreter?« machte er verwirrt. »Was habe ich mit ihm zu tun?« »Das sollst du uns sagen, Saylimandar. Wir wissen, daß er einen Umsturz plant.« »Dann wißt ihr mehr als ich. Was soll dieses lächerliche Verhör überhaupt?« Saylimandar reagierte zunehmend verärgert. »Wenn ihr wollt, können wir miteinander reden, aber auf vernünftige Weise, indem ihr mich losbindet und euer blödsinniges Versteckspiel aufgebt.« »Du wirst dich wohl oder übel daran gewöhnen müssen«, erklang es schroff. »Noch stellen wir die Bedingungen. Was wolltest du auf der PERSTIK?« Saylimandar schüttelte den Kopf. Ein mechanischer, an seiner Spitze mit einer Kanüle versehener Hydraulikarm löste sich aus einem Aggregatblock. Der Arm streifte über sein Gesicht und näherte sich seinem Hals. »Wartet!« rief er. »Es stimmt, ich war an Bord der PERSTIK.« Er hätte fliehen können, aber er tat es nicht. Er wollte wissen, wer seine Entführer waren. »Gobarik und ich sind alte Freunde. Ich finde nichts Schlimmes daran, wenn wir uns gelegentlich sehen.«
»Und Jukparz?« »Was weiß ich.« »Er war unmittelbar vor dir auf der PERSTIK. Vielleicht hilft das deinem Gedächtnis auf die Sprünge.« »Ich fürchte nein.« Der Hydraulikarm setzte sich wieder in Bewegung. In dem Moment, in dem die Kanüle Saylimandars Haut berührte, setzte er seine Psi-Kräfte ein. Polternd fielen die Magnetfesseln zu Boden. Für jeden Beobachter mußte es den Anschein haben, als habe er sich in Luft aufgelöst. Saylimandar war blindlings teleportiert. Er materialisierte in dem zu dieser Zeit bereits leeren Amphitheater, in dem alle Vorbereitungen abgeschlossen waren. Da lag seine Kugel, durchsichtig, geöffnet, als warte sie auf ihn. Saylimandar widerstand der Versuchung, sie zu betreten, er kehrte auch nicht in sein Quartier zurück, in dem sich jetzt vermutlich sein Doppelgänger für die Nacht vorbereitete. Wenn er herausfinden wollte, mit wem er es zu tun hatte, mußte er abwarten. Nur flüchtig dachte er daran, daß Atlan inzwischen in der Stadt weilte. Bestand ein Zusammenhang? Seine sicherlich unerwartete Flucht mußte die Gegner verunsichern. Für ihn war es ein leichtes, eine leerstehende Wohnung aufzusuchen, in der er die Nacht verbrachte. Morgen würde er sich unter die Zuschauer des Festivals mischen. *** Ich hatte gut geschlafen, Chipol ebenfalls. Der Junge sprühte förmlich vor Eifer. Trotzdem nahmen wir uns die Zeit, in aller Ruhe zu frühstücken. Zumindest kauten wir so lange auf dem altbackenen Brot herum, bis unsere Geschmacksnerven uns vorgaukelten, daß es zu schmecken begann. Der Himmel mochte wissen, wo Boa den zähflüssigen Aufstrich aufgetrieben hatte. Er selbst zog es trotz mahnender Einwände vor, Kalorien in flüssiger Form zu sich zu nehmen. Mindestens noch einmal so viel Zeit verbrachten wir damit, unsere Masken anzulegen. Als Chipol in den gesprungenen, halbblinden Spiegel blickte, begann er abrupt zu lachen. Er sprach davon, daß er sich selbst nicht wiedererkennen würde. Neugierige Blicke folgten uns, während wir die Straße stadteinwärts gingen. Einige Passanten sprachen Boa an, und als er dummerweise damit prahlte, uns zum Festival der Psi-Stars zu begleiten, wäre es um ein Haar zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung gekommen. Man merkte überdeutlich, daß die Bewohner des Armenviertels verbittert waren. Obwohl wir rasch ausschritten, benötigten wir mehr als eine Stunde, um unser Ziel im Zentrum von Karmenfunkel zu erreichen. Die ganze Stadt schien auf den Beinen zu sein. Die Geschäfte hatten geschlossen; die Gaststätten – bis auf jene in unmittelbarer Nähe des halbkreisförmigen Theaters – waren leer. Vereinzelt wurden in Marktschreiermanier Karten angeboten; ihre Besitzer erhofften sich einen raschen Gewinn. Vor den Eingängen und Verkaufsständen drängten sich die Schlangen der Wartenden. »Du solltest mir endlich meine Karte geben, Atlan«, sagte Boa. »Falls wir uns im Gedränge verlieren, stehe ich sonst dumm da.« »So einfach wird es nicht sein«, gestand Chipol. »Wir haben weder Karten noch genügend Geld, um welche zu kaufen.« »Hm«, machte Boa verärgert. »Wie ihr das anstellt, ist eure Sache. Hier gibt es genügend Reinheitswächter, die sich freuen würden, zwei…« »Wartet.« Chipol lief davon, zu einem der ungezählten Marktstände, an denen überwiegend Erfrischungen, Genußmittel und die uns schon bekannten Puppen verkauft wurden.
Boa und ich folgten dem Jungen langsamer. »Wahrscheinlich ist auf eure Köpfe eine Belohnung ausgesetzt«, murmelte Boa. »Mit dem Geld könnte ich…« »Du wirst das Festival sehen«, unterbrach ich ihn. »Was ich verspreche, pflege ich auch zu halten.« Er war mir ein feiner Freund. Nur solange er sich einen Vorteil davon erhoffte, hielt er zu uns. Als wir Chipol erreichten, machte er gerade sein letztes Spiel. Er war sichtlich nervös, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und trat unruhig auf der Stelle. Ich hielt mich einige Schritte hinter ihm und beschränkte mich aufs Beobachten. Zehn Nolier standen auf markierten Plätzen, hatten ihre Einsätze vor sich liegen. Dazu gab es fünf kleine, halbkugelförmige Gefäße, die mit der Öffnung nach unten lagen. »Zumindest eine der Kugeln ist in Feld fünf«, hörte ich Chipol sagen. »Noch jemand derselben Ansicht?« fragte der Mann hinter dem Tresen. Zwei weitere Mitspieler meldeten sich. Der Mann hob das Gefäß an. Es war leer, und mehrere Einsätze, darunter Chipols, wechselten den Besitzer. Zögernd wandte der Junge sich um. Er wirkte deprimiert und niedergeschlagen, zugleich spiegelte sich Unglaube in seinen Augen. Als er mich sah, zuckte er entschuldigend mit den Schultern. »Tut mir leid«, brachte er leise hervor. »Ich habe es zumindest versucht.« »Das Glück läßt sich nicht erzwingen«, stellte Boa fest. »Das Teufelsspiel hat schon viele in Armut gestürzt.« Ich weiß selbst nicht, wieso ich Chipols leeren Platz einnahm. Vielleicht um etwas zu beweisen, was ich gar nicht nötig hatte. Zwei Münzen warf ich auf den Tisch und sah zu, wie der Spieler zwei Kugeln unter beliebigen Gefäßen verschwinden ließ und diese mit geübten, blitzschnellen Bewegungen untereinander verschob. Ich glaubte zu wissen, wo die Kugeln sich befanden, aber ich durfte lediglich ein Gefäß nennen. Es war leer. Nun besaß ich nur noch einen Kreditschein. Chipol bemühte sich, möglichst unbeteiligt zu wirken, doch konnte ich seine innere Anspannung förmlich spüren. Er glaubte, daß ich beim zweitenmal genauso versagte. Und du? fragte mein Extrasinn spöttisch. Glaubst du es auch? Wieder begann der Spieler zu mischen. Ich konzentrierte mich ausschließlich auf seine Hände. Feld 2 und 3 kamen in Frage. Warte! Ich ignorierte den auffordernden Blick, vollzog in Gedanken alle Bewegungen nach. Beide Kugeln sind auf 1. Ich blieb skeptisch. »Also?« drängte der Nolier. »Beide auf eins«, sagte ich entgegen meiner Überzeugung. Seine Bestürzung gab mir recht. Zögernd hob er das Gefäß an. Überraschte Ausrufe meiner Mitspieler quittierten meinen Gewinn. Nun hatte ich drei Kreditscheine vor mir, und ich ließ sie als Einsatz liegen. Der nächste Rat des Extrasinns verdoppelte mein Kapital. »Jawohl, zeig’s ihm«, jubelte Chipol. Wenig später besaß ich 24 Kreditscheine. »Genug für heute«, bestimmte der Inhaber der Spielbude, dessen Gesicht zunehmend länger geworden war. »Ich mache Schluß.« Mir war es egal. Mit genügend Geld für drei Eintrittskarten konnten wir uns beruhigt ins Getümmel stürzen. ***
Auch Saylimandar ließ sich von der Menge zu den Tribünen schieben. Niemand erkannte ihn in der herrschenden Hektik. Sein Platz lag in der Nähe des Haupteingangs. Von hier aus bot sich ihm ein halbwegs günstiger Überblick, während ringsum das Gewühl hektischer wurde. Eine Hundertschaft Reinheitswächter sperrte die Kulissen im Halbrund des Theaters ab. Plötzlich schreckte Saylimandar hoch, blickte sich suchend um. Er hatte etwas »gespürt«. Wenn er sich nicht täuschte, mußte Atlan gekommen sein. Es war fast unmöglich, seinen Platz zu verlassen und sich gegen den Strom der Hereindrängenden durchzukämpfen. Aber er schaffte es, und dann mußte der Arkonide auf dem Rundgang unmittelbar unter ihm sein. Doch Saylimandar sah ihn nicht, er machte nur einen bärtigen Nolier in Begleitung eines pausbäckigen Jugendlichen und eines ärmlich gekleideten älteren Mannes ausfindig. Die drei entschwanden schnell seinen Blicken. In der Überzeugung, sich getäuscht zu haben, kehrte Saylimandar zu seinem Platz zurück. Gespannt wartete er darauf, daß das Festival begann. *** Die Show eröffnete mit den üblichen Kabinettstückchen. Es ging Schlag auf Schlag; den Zuschauern wurde keine Atempause gegönnt. Ich bemerkte, daß Boa an meiner Seite sich mehr und mehr mit dem Geschehen identifizierte. Euphorie erfaßte die Menge, der Beifall wurde lauter und hielt länger an. Eine Stunde verging fast wie im Flug. Dabei wechselte die Qualität des Dargebotenen häufig – manches wirkte varietéhaft einstudiert, andere Darbietungen verlangten den Psi-Stars tatsächlich beachtenswerte Leistungen ab. Jorres Kühmel hatte soeben seine letzten telekinetischen Darbietungen absolviert, als Jam Maulunk auf die Bühne trat und um Ruhe heischte. »Freunde«, rief er. »Mitbürger von Karmenfunkel. Hört mir zu. Der erste wirkliche Höhepunkt unseres Festivals steht unmittelbar bevor. Was bisher als Tabu galt, soll heute endlich angetastet werden. Einige unserer Psi-Stars werden gegeneinander antreten, werden ihre geheimsten Wünsche, Gedanken und Erinnerungen bloßlegen. Ihr sollt erkennen, daß es nur die besondere Kraft ihres Geistes ist, die sie von uns allen unterscheidet. Und vielleicht schlummern in manchem von uns ähnliche Kräfte, wir müssen es nur verstehen, sie zu wecken.« Chipol stieß mich an. Er sagte nichts, aber ich wußte auch so, was in ihm vorging. Etliche der gefeierten Stars waren Daila, die ihre Anonymität dem Blauwurzextrakt und ihren besonderen Fähigkeiten verdankten. Sobald ihre echte Identität aufgedeckt wurde, würde der Zorn der hintergangenen Nolier sich in einer erbarmungslosen Jagd auf die rund 1200 auf dieser Welt lebenden Daila entladen. »Jetzt wird es interessant«, lachte Boa. »Hinter der Ankündigung steckt mehr. Jam Maulunk ist mit Stadtrat Kollups Stellvertreter Jukparz befreundet, und dieser wiederum ist ein Verfechter der harten Linie. Mit seinen Äußerungen, daß verkleidete Fremde unter uns leben, ist er schon mehrfach auf den Widerstand des gesamten Stadtrats gestoßen. Immerhin ist auch Kollup als Patriot bekannt – aber seine regelmäßigen Stichproben und die Überwachung der Stadtgrenzen haben nie zu Ergebnissen geführt.« Wenn Jukparz sich nun in gewisser Weise offen gegen seinen Vorgesetzten stellte, konnte das nur bedeuten, daß er Beweise besaß. Zwei Stars, von denen einer bereits kurz als Hypnotiseur aufgetreten war, kamen auf den Telekineten Kühmel zu. Im ersten Augenblick hatte es den Anschein, er wolle sich dem widersetzen, dann versteifte er sich schlagartig. Ein ersticktes Ächzen drang aus seiner Kehle.
Minuten vergingen, bis Kühmel in der geistigen Auseinandersetzung unterlag. Chipol zitterte leicht. Er hielt meinen Arm fest umklammert. Einerseits entwickelte er eine gewisse Abneigung gegenüber Psi-Begabten, zum anderen konnte ihm das Schicksal eines ausgestoßenen Daila keineswegs gleichgültig sein. Monoton beantwortete Jorres Kühmel die ihm gestellten Fragen, die anfangs nur unwichtige Dinge betrafen und zur Einstimmung des Publikums gedacht waren. Je verfänglicher die Fragen jedoch wurden, desto stockender kamen trotz der Beeinflussung die Antworten. »Du bist auf Nolien geboren? Aber du bist kein Nolier?« Atemlose Spannung breitete sich über das Halbrund des Amphitheaters aus. Man hätte eine Nadel fallen hören können. Jorres Kühmel murmelte etwas, was niemand verstand. »Welchem Volk gehörst du an?« »Ich… ich bin… ein Daila.« Nach der vorangegangenen Stille wirkte der losbrechende Tumult wie ein Orkan. Reinheitswächter legten dem wie erstarrt stehenden Telekineten Handschellen an. Ein zweiter Gefesselter wurde auf die Bühne geführt. »Das ist Saylimandar«, stieß Chipol entsetzt hervor. Mehrmals rief Jam Maulunk vergeblich zur Ordnung. Erst als Jukparz vor das Mikrophon hintrat, verstummten allmählich die erregten Rufe, das Trampeln und die gellenden Pfiffe. »Nolier«, sagte er pathetisch. »Dieser Tag wird in unsere Geschichte eingehen, weil wir endlich dem Schmarotzertum begegnen können. Seht euch den Mann neben mir an. Es ist nicht Saylimandar, sondern dessen Doppelgänger. Ein paramentaler Block macht ihn zum Sklaven des Daila, der vermutlich geahnt hat, was ihn erwartet, und deshalb geflohen ist.« Er legte eine längere Pause ein, um die Wirkung seiner Worte abzuwarten, und fuhr dann noch eindringlicher fort: »Wie oft habe ich Stadtrat Kollup gewarnt, habe ihm meine Bedenken geschildert, aber er wollte nicht auf mich hören, hat meine Mahnungen in den Wind geschlagen. Heute muß ich fragen, warum er dies tat. Ist Kollup nur ein unwürdiger Versager, oder wußte er, daß Fremde unter uns leben? Hat er aus ihrer Anwesenheit Kapital geschlagen? Ich sage…«, von mehreren Seiten des Theaters brandeten Sprechchöre auf, »… ich sage euch, egal was davon zutrifft, solche Politiker dürfen uns nicht eine Stunde länger regieren. Sie würden uns in den Ruin führen.« Mit meinen zwölftausend Jahren hatte ich viele ähnliche Situationen erlebt, die meisten davon auf der Erde. Ich hätte meinen Kopf dafür gewettet, daß die lauter werdenden Sprechchöre gesteuert waren. »Kollup raus, Kollup raus!« ertönte es von einer der oberen Tribünen. »Nieder mit den Fremden!« »Jagt den Stadtrat aus der Stadt!« Die Menge begann erneut zu grölen und zu pfeifen, als Kollup seine Loge verließ und auf die Bühne trat. Minutenlang konnte er trotz ausgebreiteter Arme keine Aufmerksamkeit erzielen. Mit unbewegtem Gesicht stand Jukparz nur wenige Meter hinter ihm, umgeben von Reinheitswächtern, die ihre Waffen im Anschlag hielten. Endlich konnte sich die Lautsprecherstimme gegen den Lärm durchsetzen. »Ich verstehe eure Erregung; wir werden die Fremden von Nolien vertreiben«,rief Kollup. »Aber Jukparz geht zu weit. Er hat nicht das Recht…« Zwei der Wächter zerrten ihn vom Mikrophon weg. Sein Stellvertreter lächelte. »Nolier, wir müssen aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Kollup ist ein Versager, er ist unfähig, durchzugreifen. Wir brauchen einen neuen Stadtrat, brauchen Männer, die sich nicht scheuen, zuzupacken, wo es erforderlich ist. Ich verspreche euch, ein für allemal aufzuräumen.« Kollup wurde abgeführt. Wie aus dem Nichts heraus materialisierten am Bühnenrand drei
Geschöpfe, deren Anblick die so überaus von sich eingenommenen Nolier schockieren mußte. Eines hätte durchaus ein Nolier sein können, wäre der breite Wulst nicht gewesen, der sich rund um seinen Schädel zog und sämtliche Sinnesorgane ersetzte. An beiden Händen hielt er kaum einen Meter große, aber fast ebenso breite Wesen. Sie waren nackt, bewegten sich auf drei Beinen, und ihre bleiche, weiße Haut schien zu fluoreszieren. Der Nolierähnliche besaß die Gabe der Teleportation, die beiden anderen waren Telekineten, wie sich gleich darauf herausstellte. »Laßt Kollup frei«, erklang es grollend. Ich konnte nicht erkennen, welcher der Fremden die Worte ausgestoßen hatte. Jedenfalls taumelten die beiden Reinheitswächter zurück; als sie ihre Waffen ziehen wollten, machten diese sich selbständig und fielen etliche Meter entfernt zu Boden. Stadtrat Kollup wirkte ziemlich hilflos. Für die Nolier war klar, daß die Fremden, von denen nun weitere an verschiedenen Orten auftauchten, mit Kollup zusammenarbeiteten. Im Nu verwandelte das Theater sich in einen brodelnden Hexenkessel. Die Mehrzahl der Zuschauer strömte zu den Ausgängen, die den unerwarteten Ansturm nicht bewältigen konnten. Innerhalb von Augenblicken waren die Treppen und Gänge hoffnungslos verstopft. Vergeblich versuchte Jukparz, sich über die Lautsprecheranlage Gehör zu verschaffen. Es kam zu vereinzelten Schußwechseln zwischen Reinheitswächtern, die das Chaos nur noch weiter anheizten. Die wenigsten wußten in dieser Situation, wie sie sich zu verhalten hatten. Annähernd zwei Dutzend Psi-Stars nahmen den Kampf gegen die Fremden auf, die, von allen Seiten eingekreist, nur mit Hilfe ihrer Teleporter bestehen konnten. Ich hatte keine Ahnung, woher diese Wesen gekommen waren, aber ich glaubte vom ersten Moment an nicht daran, daß sie Kollup gehorchten. Das Ganze ist ein geschickt inszenierter Bluff, stellte der Extrasinn fest. Jukparz versucht, die Macht an sich zu reißen, indem er die Stimmung der Bevölkerung bis zum Siedepunkt aufheizt. Sobald die Gefahr scheinbar beseitigt ist und die Massen sich beruhigt haben, werden sie ihn als Helden feiern. Wahrscheinlich hat Jukparz seit langem auf diesen Zeitpunkt hingearbeitet. Er wird einen Weg gefunden haben, die Fremden in seinem Sinn zu beeinflussen.
7. Die aufheulenden Sirenen brachten vorübergehend Beruhigung; fast jeder hielt inne und lauschte ihrem Klang. Doch dann schien die Meinung um sich zu greifen, daß sie wegen des Geschehens im Amphitheaters eingeschaltet worden waren, und alles drängte, schob und schrie wieder wie zuvor. Ich ahnte den flüchtigen Lufthauch mehr, als ich ihn spürte, aber ich wandte mich spontan um. Saylimandar stand hinter mir – der richtige Saylimandar, wie ich sofort vermutete. »Du hast Chipol bei dir, das wußte ich nicht«, sagte er. Sein Blick streifte Boa. »Wer ist das?« »Ein Nolier, der uns bei sich aufgenommen hat«, erwiderte ich. Saylimandar nickte flüchtig. »Eure Verkleidung ist gut, ich war euch schon vor der Vorstellung nahe, ohne euch zu erkennen.« Sein Tonfall wurde übergangslos ernst. »Wir müssen etwas unternehmen. Egal was, nur rasch muß es gehen. Wie ich Jukparz einschätze, befinden sich inzwischen die meisten Daila unter den Psi-Stars in seiner Gewalt. Er wird nicht lange fackeln und an ihnen ein Exempel statuieren.« Die Sirenen heulten noch immer durch den Nachmittag. Urplötzlich fiel ein Schatten auf uns. Groß und drohend schwebten zwei silberne Scheiben nur wenige hundert Meter über dem Theater. Raumschiffe, aus deren geöffneten Luken metallene Körper herabregneten. »Stahlmänner!« stieß Chipol tonlos hervor. Bei den meisten Noliern mußte das Geschehen einen Schock hervorrufen. Viele starrten in den Himmel, ohne offenbar zu begreifen, was geschah. Mir war klar, daß die Hyptons kamen, um den Planeten Nolien für sich in Besitz zu nehmen. Also hatte Raegul es geschafft, sie auf das System der Sonne Horfax aufmerksam zu machen. Die Hyptons konnten sich keinen besseren Ort wünschen als das Amphitheater, um ihre Macht zu demonstrieren. Wer keinen Platz gefunden hatte, verfolgte die Landung vermutlich über die Medien mit. Etliche Fernsehkameras waren auf die Raumschiffe und die Roboter gerichtet. Später, sobald sie erst Fuß gefaßt hatten, würden die Hyptons die aufgebrachten Nolier auf ihre Weise beruhigen. Jukparz’ Reinheitswächter begannen auf die Stahlmänner zu feuern. Abgesehen davon, daß hin und wieder eine der getroffenen Maschinen sekundenlang innehielt, war die Wirkung gleich Null. An den Ausgängen trampelten sich die Nolier inzwischen gegenseitig nieder. Aber für die, die durchkamen, erwies sich das Glück als trügerisch. Roboter drängten von draußen herein und ließen keinen passieren. »Wenn jemand das Blatt noch wenden kann, sind es die Psi-Stars«, rief Saylimandar mir zu. Stahlmänner verloren jäh den Boden unter den Füßen, stiegen wieder in die Höhe und stießen mit anderen zusammen, die gerade herabsanken. Von Explosionen geschüttelt, brachen ihre stählernen Körper auseinander. Aber trotz der Menschenmenge richteten die Trümmer nur Sachschaden an. Irgendwo brach Jubel aus, pflanzte sich rasend schnell fort. Die Ränge hallten wider von den Anfeuerungsrufen, mit denen die Menge ihre Stars bedachte. Doch ich sah auch Nolier zusammenbrechen. Ohne jeden ersichtlichen Grund. Nach ihren Anfangserfolgen versagten die Telekineten. Zumindest ein Großteil von ihnen. Immer weniger Roboter stürzten kopfüber zu Boden oder rammten ihresgleichen mit großer Geschwindigkeit. Mir war klar, daß die Raumschiffe eingegriffen hatten – vermutlich mit Waffen, die die Psi-Kräfte der Nolier neutralisierten. Der ungleiche Kampf würde rasch entschieden sein. »Bring uns fort!« wollte ich Saylimandar bitten, als ein eigenartiges Prickeln meinen Körper erfaßte, ein Gefühl, als würde ein Schwarm Ameisen über mich herfallen. Es hielt nur einen kurzen
Moment an, doch Boa brach neben mir zusammen. Instinktiv fing ich ihn auf und ließ ihn zu Boden sinken. Er hatte die Besinnung verloren. »Atlan…« Chipol starrte mich an wie einen Geist. Zugleich veränderte er sich. Das Blau seines Gesichts begann zu verblassen, wich seiner normalen Hautfarbe. Du bist davon ebenfalls betroffen, stellte der Extrasinn fest. Ich vermute, daß die Strahlung auf die Bewußtseine der Nolier ausgerichtet ist. Aber sie wirkt auf Nolier, Daila und Arkoniden unterschiedlich. Es war egal, daß uns nun jeder als Fremde erkennen konnte. Die Stars, die unten im Halbrund des Theaters noch auf den Beinen standen, besaßen plötzlich ebenfalls eine helle Hautfarbe. Überrascht stellte ich fest, daß es vergleichsweise viele waren. Niemand beachtete sie, denn die Reinheitswächter standen gegen die Roboter auf verlorenem Posten. Auch hinter uns landeten jetzt Stahlmänner. »Wir dürfen nicht länger bleiben«, drängte ich Saylimandar. Aber anstatt mit uns zu teleportieren, schüttelte er nur den Kopf. »Die Strahlung hat etwas ausgelöst, was ich noch nicht erklären kann. Es ist, als hätten sich unsere Psi-Fähigkeiten schlagartig potenziert. Ich fühle mich verdammt stark, und ich weiß, daß die anderen Daila ähnlich reagieren. Ich kann ihre Gedanken ebenso empfangen, wie sie mich verstehen. Wir können uns sogar mit den Fremden verständigen. Nur die Nolier, soweit sie zumindest einen Ansatz für Psi-Kräfte besitzen, haben das Bewußtsein verloren.« »Ich glaube nicht, daß eure Stärke lange währt«, gab ich zu bedenken. Saylimandar zuckte mit den Schultern. »Minuten vielleicht. Wir schlagen zu, solange wir die Kraft verspüren.« Sollte es in der Tat möglich sein, den Hyptons und ihren Stahlmännern eine Schlappe beizubringen? Ich hoffte es, wenngleich meine Zuversicht nicht sonderlich groß war. Strahlschüsse röhrten auf. Aber sie galten weder uns noch den Noliern. Die Roboter nahmen sich gegenseitig unter Feuer. Mausbiber Gucky wäre mit den Telekineten zufrieden gewesen – abgesehen davon, daß er dem Spiel mit den Robotern sicherlich einige humorvolle Nuancen abgewonnen hätte. Es ist eine dumme Angewohnheit, in den unpassendsten Momenten an deine Freunde aus der heimatlichen Milchstraße zu denken, schimpfte der Extrasinn. »Komm!« rief ich Chipol zu und sprang von Stuhlreihe zu Stuhlreihe nach unten. Ich konnte nicht tatenlos zusehen, wie um mich herum eine Auseinandersetzung ausgetragen wurde, die womöglich über Wohl und Wehe eines ganzen Volkes entschied. In die Enge getrieben, begannen die Stahlmänner sich massiv zu wehren. Es gab die ersten Verletzten, vermutlich sogar Tote. Einige unentwegte Fernsehleute filmten noch immer. Brennende Roboterwracks krachten in die Ränge – die Telekineten achteten jedoch darauf, daß niemand verletzt wurde. Natürlich gab es einen verborgenen Ausgang hinter den Kulissen. Ich sah Kollup und einige ältere Nolier, vermutlich ebenfalls Stadträte, fliehen und zögerte nicht, ihnen zu folgen. Von Jukparz war keine Spur. Ein enger, lichtloser Tunnel. Vor mir verloren sich eilige Schritte in der Finsternis. Das anfängliche Gefälle verriet, daß wir uns unter der Oberfläche befanden. Nach gut einem Kilometer mündete der Gang in einen U-Bahnschacht. Die Nolier sprangen vor mir auf die Gleise. Die Verkleidung der Wände mit bunten Platten ließ vermuten, daß nur wenige Meter entfernt eine Station lag.
»Bleibt stehen!« erklang es unvermittelt. Ich kannte die Stimme. Sie gehörte Jukparz. »Was willst du?« schnaufte Kollup. »Das fragst du noch? Du und deinesgleichen habt versagt. Niemand wird mich zur Rechenschaft ziehen, wenn ich schieße.« Aus der Tiefe des Schachtes erklang ein dumpfes Rumoren. Ein Zug raste heran. »Du wirst uns alle umbringen«, sagte Kollup. »Willst du das wirklich? Ausgerechnet jetzt?« Ich befand mich noch im Seitengang. Die Stadträte hatten sich nach rechts gewandt. Wenn ich das verzerrte Echo der Stimmen richtig einschätzte, stand Jukparz zu meiner Linken unmittelbar hinter der Einmündung. Dort mußte er auf seine Chance gewartet haben. Ohne zu überlegen, schnellte ich vor. Da war ein schmaler, höchstens vierzig Zentimeter breiter Sims, einen Meter über den Gleisen. Und da war Jukparz, den mein Auftauchen völlig überraschte. Bevor er abdrücken konnte, bekam ich seine Waffenhand zu fassen und stieß sie nach oben. Jaulend prallte der Querschläger von der Decke ab. Verzweifelt versuchte Jukparz, mich zwischen die Schienen zu stoßen. Der Sims bot nicht gerade guten Halt. Sekunden nur, dann war der Zug heran. Die Druckwelle drohte uns mitzureißen. Mit aller Kraft stemmte ich mich dagegen, krallte die Finger meiner linken Hand in die Plattenfugen. Jukparz, der den besseren Stand hatte, trat nach mir. Wie gerne hätte ich ihm zugerufen, er solle aufhören. Im nächsten Moment wirbelte ihn der Sog des letzten Wagens mit sich; er schlug mit dem Kopf zuerst auf und blieb verkrümmt liegen. »Danke«, sagte Kollup, der sich zusammen mit den anderen auf den Sims gerettet hatte, und streckte mir die Hand entgegen. Flüchtig zuckte er zusammen, als er meine Hautfarbe bemerkte, aber dann zeugte sein Händedruck doch von Herzlichkeit. »Ich sehe ein, daß wir falsch gehandelt haben.« Das Geständnis mochte ihm schwerfallen, indes bewies er damit die Größe, sich selbst zu überwinden. In diesem Moment hatte er nichts von einem Choleriker an sich. »Ich weiß nicht, ob wir den Kampf gegen die Angreifer gewinnen können. Aber ohne Fremde wie dich wären wir von Anfang an die Unterlegenen gewesen.« Nachdem wir Jukparz’ Leichnam geborgen hatten, ließen wir uns von der Rolltreppe der Station nach oben tragen. Gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie eines der Raumschiffe trotz aufflammender Triebwerke an den Gipfeln des fernen Gebirges zerschellte. Minutenlang schien in der schneebedeckten, menschenleeren Wildnis eine neue Sonne aufzuflammen. Die Daila und ihre kleinen Helfer wuchsen förmlich über sich selbst hinaus. Der zweite Diskus suchte sein Heil in der Flucht. Auch er kam vom Kurs ab, trieb den Bergen entgegen, aber dann schoß er plötzlich ruckartig in den Himmel und verschwand als winziger Stern hinter den Wolken.
Epilog Hyptons und Stahlmänner spukten in meinem Kopf herum, als Chipol und ich zehn Tage nach diesen sich überstürzenden Geschehnissen Nolien an Bord der wieder flugfähigen GHYLTIROON verließen. Das für die Reparatur benötigte Iridium war mir von Stadtrat Kollup höchstpersönlich ausgehändigt worden. Überhaupt hatte ich Zeit gefunden, mich eingehender mit ihm zu befassen, und ich muß gestehen, daß der erste Eindruck getäuscht hatte. Im Grunde war Kollup nicht der Choleriker, für den ihn jeder hielt – er hatte sich auf diese Weise nur eine Art zweite Haut zugelegt, an der alles Unwichtige abprallte. Der Schock, den das Auftauchen der beiden Diskusschiffe bei der Bevölkerung von Karmenfunkel und darüber hinaus ausgelöst hatte, saß tief. Die führenden Nolier wußten, daß sie ohne die »verhaßten Fremden« verloren gewesen wären. Natürlich hatte ich nicht versäumt, ihnen mein Wissen über die Hyptons in nahezu sämtlichen Einzelheiten zu vermitteln. All das trug dazu bei, daß die Daila schnell akzeptiert wurden. Was aus den psi-begabten Wesen werden sollte, die Jukparz in seine Abhängigkeit gebracht hatte, bedurfte noch einer endgültigen Klärung. Einige wollten zu ihren Heimatwelten zurück, andere äußerten den Wunsch, die Sterne zu sehen. Nolien erinnerte an die Erde, als er langsam unter uns zur strahlend blauen Kugel schrumpfte. Ich konnte gewiß sein, hier wirkliche Freunde gefunden zu haben. »Niemand weiß, was die Zukunft bringt«, murmelte ich leise. »Vielleicht werden wir eines Tages auf die Psi-Kräfte der Daila angewiesen sein.« Chipol reagierte nicht. Er hoffte immer noch, daß Fumsel überraschend an Bord der GHYLTIROON auftauchte. Wir hatten ihn, als wir zum Festival gingen, in Boas Wohnung eingesperrt. Als wir zurückkehrten, war er verschwunden gewesen. Und noch jemand war nicht wieder aufgetaucht: Raegul. Ich nahm an, daß die Hyptons ihn aufgelesen hatten. Würden sie wieder über Nolien erscheinen? Dann hoffentlich erst in einigen Jahren, wenn es weder Nolier noch Daila oder Fremde mehr gab, sondern lediglich eine Gemeinschaft intelligenter Wesen, die sich gegenseitig achteten. Einer allein vermochte wenig – gemeinsam waren sie stark. Ich glaube, viele hatten das bereits begriffen. ENDE
Während Atlan und Chipol mit der GHYLTIROON von Nolien starten, um ihre selbstgewählte Hilfsmission für Aklard fortzusetzen, blenden wir um zu einem anderen Gebiet von Manam-Turu und beschäftigen uns mit einem mysteriösen Wesen, das Alkordoom erst vor kurzem überhastet verlassen hat. Wir meinen den Erleuchteten, Atlans alten Gegenspieler. Sein Raumfahrzeug ist die Goldene Kugel… DIE GOLDENE KUGEL – so lautet auch der Titel des nächsten Atlan-Bandes. Der Roman wurde von Marianne Sydow geschrieben.