Claudia Kern
Fu Long Professor Zamorra Hardcover Band 3
ZAUBERMOND VERLAG
»Ein Jahr ist es her, seit wir aus Peking aufbrachen, ein Jahr, in dem ich nicht gesehen habe außer Leid, Hunger und Gewalt. Vor drei Ta gen schließlich fanden wii Kai-Xuan, oder soll ich sagen, wir fanden das Ende der einen Spur und den Anfang der nächsten … So wird es nur dieser Brief sein, der seinen Weg nach Peking findet, während ich auf eine neue Reise gehe, in ein Land voller Barbaren. Amerika. Dorthin ist Kai-Xuan geflohen, und dorthin werden Meister Li und ich ihm folgen …« Im 19. Jahrhundert verlässt der junge Fu Long das Reich der Mitte, das zu diesem Zeitpunkt von Aufständen und Hungersnöten er schüttert wird. Doch Fu Long flüchtet nicht. Er tritt die Reise in Be gleitung seines Meisters an, um eine Aufgabe zu erfüllen. Noch ahnt er nicht, welche Gefahren ihn auf seinem Weg erwar ten. Im tiefen, unerforschten Westen Amerikas lauert ein Feind auf ihn, dem er nicht entgegen zu setzen hat und der sein Leben für im mer verändert hat. Bis in die Gegenwart …
Vorwort Aller guten Dinge sind drei. Und deshalb gibt es bereits das dritte Buch zur Romanserie »Professor Zamorra«, die seit 1974 alle zwei Wochen im preiswerten Heftformat beim BASTEI-Verlag erscheint und mit inzwischen rund 750 Ausgaben die zweitgrößte MysterySerie der Welt ist. In den Büchern wollen wir uns der Randthemen annehmen, die in der Heftserie zwangsläufig zu kurz kommen, oder auch Themen weiter vertiefen. So wie in diesem Fall. Vor ein paar Jahren tauchte der rätselhafte Vampir Fu Long auf, zeitgleich mit dem gefährlichen Kuang-shi. Fu Long ist eine Figur, die der dämonenjagende Para psychologe Professor Zamorra nicht so recht einzuschätzen vermag. Eigentlich müsste Fu Long sein erbitterter Feind sein. Offenbar ist dem aber nicht so, und darüber hinaus behauptet Fu Long, schon seit sehr langer Zeit kein Menschenblut mehr getrunken zu haben. Ob der Vampir die Wahrheit sagt, hat Zamorra bislang nicht heraus finden können. Claudia Kern, die Autorin dieses Buches und Schöpferin der Figu ren Fu Long und Kuang-shi, weiß natürlich mehr. Einen Teil dieses Wissens gibt sie heute an die Leser weiter, indem sie in ihrem sorg fältig und aufwändig recherchierten Roman die Entwicklung Fu Longs vom Menschen zum Vampir schildert, in einer Zeit und einer Kultur, die uns westlich orientierten modernen Menschen recht fremd erscheinen muss. Genießen Sie diesen Roman, und schreiben Sie uns Ihre Meinung! Entweder an die Adresse des ZAUBERMOND-Verlags, an die Le serseite der PZ-Hefte im BASTEI-Verlag, oder per E-mail unter Ro
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d.de präsentiert Ihnen noch viel mehr fantastische Romane. Den nächsten fantastischen Zamorra-Roman gibt's in drei Mona ten. Er wurde vom Chefautor der Serie, Robert Lamont, geschrieben und trägt den Titel »Blutfeinde«. Lassen Sie sich überraschen … Viel Lesevergnügen wünscht Ihr und euer Werner K. Giesa Altenstadt, im September 2002
Ich hatte einen Traum, der nicht ganz Traum war, Die helle Sonne war verloschen und die Sterne Wanderten dunkel im ewigen Raum, Strahllos und weglos, und die eisige Erde Schwang blind und schwarz in der mondlosen Luft; Morgen kam und ging – und kam und brachte keinen Tag, Und Männer vergaßen ihre Leidenschaft in den Schrecken Dieser ihrer Verzweiflung; und alle Herzen Erkalteten in einem selbstsüchtigen Gebet nach Licht … Lord Byron, ›Dunkelheit‹
Prolog
Nicht angeschlossene Territorien (Colorado), 1834 Was bringt einen Mann dazu, an einen Ort zu gehen, an dem selbst das Land keinen Namen mehr hat und an dem es nichts gibt außer entsetzli cher Kälte im Winter und unmenschlicher Hitze im Sommer? Diese Frage hatte sich Francis Carlton, Redakteur der Wochenzeit schrift Staunton Spectatar aus Chambersburg, Pennsylvania, auf sei nem langen Weg in den Westen gestellt. Wochen hatte er mit der Su che nach den Mountain Men, den Trappern und Fallenstellern der Rocky Mountains, verbracht und jetzt, nachdem er fast drei Monate mit ihnen durch die Berge gezogen war, glaubte er, seine Antwort gefunden zu haben. Francis zog seine Hose aus und faltete sie sorgfältig zusammen, bevor er sie neben seine Stiefel auf einen Felsen legte, ein Stück Seife in die Hand nahm und nackt in den Gebirgsbach watete. Scharf sog er die Luft ein, als eiskaltes Wasser die Haare auf seinen Beinen auf richtete und eine Gänsehaut über seinen ganzen Körper jagte. Die Strömung zog an ihm und die Steine waren glatt unter seinen Fuß sohlen. Mit den Armen balancierend ging er tiefer in den Bach hin ein, bis das Wasser seine Hüften umspülte und die Strömung schwächer wurde. Er drehte sich um, genoss die wärmenden Strah len der Morgensonne auf seinem Gesicht. Um ihn herum erwachte der Wald langsam zum Leben. Vögel er hoben sich aus den Bäumen und schossen auf der Suche nach Insek ten wie Akrobaten über den Bach. Francis sah Wasserspritzer, wenn ihre Flügel für einen Augenblick die Oberfläche berührten, dann waren sie bereits wieder zwischen den Bäumen verschwunden. Äste
knackten im Unterholz, verrieten die Anwesenheit größerer Tiere, die sich nicht ans Ufer wagten, weil sie den Geruch von Menschen fürchteten. Zu recht, dachte Francis mit einem Blick auf die mit Fellen belade nen Maultiere, die auf der Lichtung neben dem Lagerfeuer grasten. Obwohl die Mountain Men, bei denen er lebte, hauptsächlich Biber jagten, schossen sie jedes Stück Wild, das dumm genug war, vor ihre Flinten zu laufen. Sie schienen von einem unstillbaren Drang besessen zu sein, so als wollten sie nicht eher ruhen, bis sie das letzte Tier geschossen und das letzte Fell abgezogen hatten. Francis hatte auch andere Mountain Men getroffen, weise Männer wie den alten Longbeard Dave, der ihm Landschaften gezeigt hatte, deren Schönheit ihn bis in seine Träume verfolgte. Er hatte im Mor gengrauen Bären gejagt mit Bearclaw Steve und an den Lagerfeuern über Buffalo Joes erlogene Geschichten gelacht, aber geblieben war er schließlich bei den beiden Franco-Kanadiern Jules und Paul Mo relle. Sorgfältig rieb er sich Seife in die Haare, während sein Blick zu den Brüdern glitt, die noch halb verkatert auf einem umgestürzten Baumstamm saßen und abwechselnd rülpsten, furzten und in die Glut des Lagerfeuers spuckten. Jules, der stets behauptete, der Älte re von beiden zu sein, war ein großer, kräftiger Mann mit dunklen verfilzten Haaren und einem langen, ebenso verfilzten Bart. Irgend wann im Verlauf seines vielleicht fünfundzwanzigjährigen Lebens hatte ihm jemand Nase und Ohren abgeschnitten, aber Francis wag te nicht, ihn nach den genauen Umständen zu fragen. Selbst sein Bruder behauptete, nichts darüber zu wissen. Paul, schätzte Francis, war möglicherweise zwei oder drei Jahre jünger als Jules, etwas kleiner und ebenso kräftig. Er trug seine dün nen braunen Haare nach Indianerart zu Zöpfen geflochten. Trotz seiner Jugend waren ihm nicht mehr als eine Handvoll schwarz ver faulter Zahnstummel geblieben, ein Zustand, den Francis auf die weißen Zuckerstangen schob, die Paul gleich dutzendweise in den
Ortschaften kaufte und die er mit der gleichen Besessenheit lutschte, mit der manche Männer Tabak kauten. Er litt unter ständigen Zahn schmerzen, war jedoch weitaus umgänglicher als sein großer Bru der. Francis mochte sie beide nicht, weder den übellaunigen, zur Hin terlist neigenden Jules, noch den dummen, nach Fäulnis stinkenden Paul. Er hätte sie schon längst verlassen, um nach anderen Mountain Men zu suchen, wenn da nicht ein dritter Trapper gewesen wäre, den er jetzt mit einigen trockenen Ästen auf den Armen am Wald rand auftauchen sah. Sein Name war Jack Freeman – auch wenn man ihn allgemein Black Jack nannte – und er war der schwärzeste Mann, den Francis je gesehen hatte. Seine Haut war so dunkel, dass sie im hellen Son nenlicht bläulich zu schimmern schien. Er war groß, größer noch als Jules und hager wie jemand, der sich noch nie satt essen durfte. Sein Kopf war kahlrasiert und er trug keinen Bart. Seit zwölf Jahren, so sagte Jack Freeman, lebte er bereits in diesen Bergen, ohne ein einzi ges Mal das Tal betreten zu haben. Francis hatte vergeblich auf den Stolz gewartet, den man in der Stimme mancher Mountain Men hör te, wenn sie von ihren Entbehrungen sprachen. Stattdessen war da nur eine tiefe Traurigkeit gewesen, als sehne er sich nach einem Le ben, das längst vergangen war. In diesem Gesicht hatte Francis die Antwort auf seine Frage gefun den. Er verstand jetzt, warum die Männer in das namenlose Land kamen, warum sie sich selbst mit ihrer Farmer- und Städterkleidung in den Tälern ablegten und zu Longbeard Dave, Bearclaw Steve, Ca nada Jules, Blacktooth Paul – und vielleicht sogar zu Jack Freeman wurden. Sie kamen, um zu vergessen und um vergessen zu werden. Francis hielt die Luft an und tauchte mit dem Kopf unter Wasser. Er spürte, dass hinter der neu erschaffenen Fassade des Jack Free man eine Geschichte wartete, die sich gegen das Vergessen sträubte. Sein Name zeichnete ihn als frei geborenen Schwarzen aus, aber
trotzdem trug er ein Sklavenbrandzeichen auf der Brust und sprach mit dem schleppenden Dialekt der Südstaatensklaven. Da waren noch andere Aspekte, die merkwürdig wirkten. Wenn Freeman tatsächlich bereits seit zwölf Jahren in dieser Einöde lebte, konnte er kaum älter als sechzehn gewesen sein, als er in die Berge ging. Es erschien Francis ungewöhnlich, dass ein Junge eine solche Entscheidung traf. Und worüber sprachen Jules und Freeman so ein dringlich, wenn die beiden Brüder aus der Stadt zurückkehrten, wo sie ihre Felle verkauft hatten? Das waren Fragen, die nach Antwor ten verlangten, doch die konnte nur Jack Freeman geben. Francis tauchte prustend auf und schüttelte Wasser aus seinen Haaren. Jules stand einige Meter stromaufwärts am Ufer. Er sah Francis ungerührt an, während er in den Bach pinkelte. Sein Bruder, der immer noch auf dem Baumstamm saß und gerade eine Zucker stange auspackte, grinste sein fauliges Grinsen. »Bade da'in«, rief er mit seinem schauderhaften Akzent. »Das maht dih zum Mann.« Er lachte, verzog dann jedoch das Gesicht und strich über seine ge schwollene Wange. »Merde …« Die beiden Hunde, die neben ihm im Gras lagen, hoben die Köpfe und winselten, als könnten sie die Schmerzen ihres Herrn spüren. Francis wagte es nicht zu lachen. Jules starrte ihn immer noch an. Die beiden Pistolen in seinem Gürtel schienen daran erinnern zu wollen, dass es hier oben einfacher war, einen Mann zu verscharren, als sich mit ihm zu streiten. »Hilf mir mit dem Frühstück, Francis«, sagte Jack. »Sofort.« Er spürte Jules' Blick in seinem Rücken, als er aus dem Bach stieg und seine Kleidung überstreifte. Normalerweise wartete er damit, bis die Sonne ihn getrocknet hatte, aber an diesem Morgen fühlte er sich verletzlich in seiner Nacktheit. Jack Freeman hockte neben dem erkalteten Feuer und pustete in die Glut. Rote Funken stoben auf, dann leckten die ersten kleinen Flammen gierig an den Holzspänen, die er auf die Asche gestreut
hatte. »Du gehst heute neben mir«, sagte er leise, als Francis nach dem alten verbeulten Topf griff, in dem sie alles vom Morgentee bis zum Eintopf kochten. »In dieser Stimmung ist Jules unberechenbar.« Er schichtete etwas Holz auf. »Sieh ihn nicht an, rede nicht mit ihm, steh ihm nicht im Weg. Verstanden?« »Ja.« Francis nickte und ging mit gesenktem Kopf zum Bach, um den Topf auszuspülen. Jules hatte das Ufer verlassen und stand jetzt zwischen den Maultieren. Mit einer Hand kratzte er über den ver narbten Krater in seinem Gesicht, die andere lag auf dem Griff einer Pistole. Sein Mund bewegte sich unter dem dichten Bart. Der Wind trug das Geräusch seiner Stimme über die Lichtung, doch die Worte waren nicht zu verstehen. Er ist wahnsinnig, dachte Francis. Wieso habe ich das vorher nicht be merkt? Die Angst quetschte seinen Magen mit eisigem Griff zusammen und raubte ihm für einen Moment den Atem. Er wandte sich ab, ging am Ufer in die Knie und ließ eiskaltes Wasser in den Topf lau fen. Seine Hände entfernten die Essensreste mechanisch, aber seine Augen sahen nur Jules' Hand und die Pistolen in seinem Gürtel. Zwei Waffen, zwei Schuss, zwei Tote. Vielleicht würde er seinen Bruder verschonen, vielleicht erschoss er ihn auch als erstes, weil er der beste und schnellste Schütze des Trios war. Francis glaubte die Schüsse zu hören, sah in Gedanken Paul und Jack fallen und sich selbst aufspringen und zum Lagerfeuer laufen, wo die Satteltasche mit seiner Pistole lag. Erst dann fiel ihm das Messer ein, das in Jules' Stiefelschaft steckte und er wusste, dass er tot sein würde, bevor er die Satteltasche erreicht hatte. »Wir brechen auf!« Jules' Stimme klang so laut und scharf, dass Francis vor Schreck den Topf fallen ließ. Er schlug mit einem hohlen Knall auf die Steine. »Lass mih noh was Tee im Rum trinken gegen die Schmersen. Dann kön …«
Francis sah die Bewegung aus den Augenwinkeln und fuhr her um. Jules hatte nur zwei Schritte benötigt, um seinen Bruder zu er reichen. Paul hob schützend die Arme, aber der erste Tritt durch brach seine Deckung und der zweite traf ihn mitten ins Gesicht. Der Schwung warf ihn hinter den Baumstamm. Jules sprang darüber hinweg, verschwand aus Francis' Blickwinkel, als er sich neben sei nen Bruder hockte. Nur seine Fäuste, die sich hoben und senkten, waren zu sehen. Das Geräusch der Schläge war nass und widerlich. Paul schrie ein paar Mal, dann stöhnte er nur noch. Francis stand auf und warf einen hilflosen Blick auf Jack, der am Lagerfeuer saß und Frühstücksspeck schnitt. Ein Teil von ihm wollte Paul zu Hilfe kommen, ein anderer wollte weglaufen, weit weg, bis nach Chambersburg, Pennsylvania. Aber er tat nichts, sondern stand einfach nur da, lauschte auf das Geräusch der Schläge und betrachtete Jack Freemans ungerührtes Gesicht. Auch das geht vorbei, schien sein Blick sagen zu wollen. Und er hatte Recht.
Paul hörte nicht auf zu bluten. Vier Stunden war es her, seit sie das Lager verlassen und in den dichten Wald eingetaucht waren, aber Paul blutete immer weiter. Sein Atem rasselte wie der eines Lungenkranken, und bei jedem Schritt stützte er sich schwer auf sein Gewehr. Blut glänzte nass auf seinem Lederhemd, lief in einem ständigen Rinnsal aus seiner Nase, den Mundwinkeln und sogar aus den Ohren. Sein Gesicht war so zerschlagen, dass er kaum noch zu erkennen war. Francis dachte an seinen Großonkel, den ein Pferd niedergetram pelt hatte. Er hatte ebenfalls aus den Ohren geblutet, einen Tag, be vor er gestorben war. Sein Blick fiel auf Jules, der mit den Hunden die Führung über
nommen hatte. Der Wahnsinn war aus seinen Augen verschwun den, und er bewegte sich mit den langen festen Schritten eines gut gelaunten Mannes. Ab und zu drehte er sich um und sagte etwas auf Französisch zu Paul, doch der antwortete nicht, ließ noch nicht einmal erkennen, ob er die Sätze überhaupt gehört hatte. Francis spürte eine Hand auf seiner Schulter und drehte den Kopf. Jacks schwarzes Gesicht war direkt neben ihm. »Wir werden fliehen in dieser Nacht«, hörte er ihn flüstern. »Paul wird den Morgen nicht erleben.« Ein Nicken war alles, was er zustandebringen konnte. Er betrach tete den Mann, der sich vor ihm über den schmalen Pfad schleppte, nicht ahnend, dass er keinen weiteren Tag mehr sehen würde. Oder vielleicht ahnte er es doch und schwieg deshalb so beharrlich. War es möglich, dass er die Rache an seinem Bruder plante? Francis verdrängte die Gedanken, die in ihm aufstiegen. Es gehör te zu seinen Schwächen, sich in Spekulationen zu verlieren, doch das konnte in den nächsten Stunden tödliche Konsequenzen haben. Niemand konnte sagen, wie Jules reagieren würde, wenn sein Bru der starb und er erkannte, dass es zwei Zeugen für seine Ermordung gab. Jack stellte keine Gefahr für Jules dar, da er die Berge nie ver ließ, aber Francis war in keiner so vorteilhaften Lage. Selbst wenn er schwor, niemandem etwas davon zu erzählen, würde Jules ihm nicht glauben. Er kannte keine Ehre und solche Männer schlossen stets von ihren eigenen Charakterschwächen auf die anderer. Ich tue es schon wieder, dachte Francis, als er begriff, dass er sich Spekulationen hingab. Er zwang seine Aufmerksamkeit zurück in die Gegenwart. Der Wald hatte sich in der letzten Stunde gelichtet, und der weiche Boden unter seinen Stiefeln war felsiger geworden. Ab und zu sah er Kratzspuren von Bären, die sich so tief in die Baumstämme eingegraben hatten, dass sie sogar ein Laie erkannte. Sie schienen jedoch alt zu sein, denn die Hunde liefen achtlos daran vorbei, ohne eine Witterung aufzunehmen. »Komm her, Francis«, sagte Jules plötzlich und winkte mit seiner
Pistole. Er sprach wesentlich besser englisch als sein Bruder. Francis spürte seinen Herzschlag bis in die Schläfen. Er sah zu Jack herüber, doch der starrte nur vor sich auf den Boden. So wie er es bei Paul gemacht hat, dachte er. Jules drehte sich bereits ungeduldig um, also machte er einige ra sche Schritte, um zu ihm aufzuholen. »Was ist?«, fragte er mit einer Stimme, die dünn und viel zu ängst lich klang. »Siehst du das?« Jules legte seinen Arm um Francis' Schulter und zog ihn zu sich heran. Er stank entsetzlich, so wie ein Mann nun ein mal roch, der drei Monate lang seine Kleidung nicht gewechselt hat te. Francis unterdrückte seinen Ekel und folgte mit dem Blick statt dessen der Richtung, die Jules' ausgestreckte Hand wies. »Da sind Bäume und Felsen«, sagte er schließlich. »Sieh genau hin.« Er kämpfte gegen die aufsteigende Panik und zwang sich zur Ru he. Sein Blick glitt über Baumstämme und Äste hinweg, über Geröll und moosbewachsene Felsen. An einigen Bäumen hatten Rehe die Rinde der Bäume abgefressen, aber das war sicherlich nicht, was Ju les meinte. »Bäume und Felsen«, wiederholte er nervös. »Mehr sehe ich nicht.« Er zuckte zusammen, als Jules ihm freundschaftlich, wenn auch et was zu hart auf die Schulter schlug. »Drei Monate bist du hier und siehst nichts. Dabei ist es so deut lich zu erkennen wie die Nase in deinem Gesicht.« Sein Satz wirkte wie eine Drohung, und Francis dachte an das Messer im Stiefelschaft. »Ich sehe«, begann er, aber bevor er fortfahren konnte, kam Jack ihm zuvor. »Eine Höhle. Jemand hat sie mit ein wenig Geröll und Ästen ge tarnt, aber wenn man den Blick dafür hat, ist sie leicht zu finden.«
Jules' Hand rutschte von Francis' Schulter. »Ich hatte dich nicht ge fragt.« »Das ist richtig.« Jack hielt seinen Blick, starrte ihn an, ohne zu blinzeln. »Willst du nicht nachsehen, was in der Höhle ist?«, fragte er schließlich. Jules trat einen Schritt vor. »Wir sehen nach, was in der Höhle ist, und zwar alle zusammen.« Gleichzeitig setzten sie sich in Bewegung, belauerten sich gegen seitig wie die Raubtiere, die sie sonst gemeinsam jagten. Das Ver trauen, das sie einmal miteinander verbunden hatte, war ver schwunden, ausgelöscht durch Faustschläge und das rasselnde At men des halbtoten Bruders hinter ihnen. Einen Augenblick lang dachte Francis an eine Flucht, doch Jules drehte sich immer wieder zu ihm um, während Paul willenlos und schwankend neben ihm stand. Sie benötigten nur wenige Handgriffe, um die Barrikaden zur Seite zu räumen. Wer auch immer sie aufgebaut hatte, war bemüht gewe sen, sie mit möglichst wenig Aufwand bewegen zu können. Dahin ter lag ein schmaler Spalt im Fels, so eng und dunkel, dass Francis sich fragte, wie Jack ihn hatte erkennen können. Jules nickte ihm zu. »Du zuerst.« Francis schluckte, ging jedoch wortlos an ihm vorbei und auf den Spalt zu. Ein eisiger Wind wehte ihm entgegen. Die Höhle musste tief sein, wenn die Luft sich so weit abkühlen konnte. Hinter ihm be gannen die Hunde zu jaulen. Jules trat nach ihnen, und sie hörten auf. Vorsichtig schob Francis sich an der felsigen Wand vorbei ins In nere der Höhle. Der Lichtstrahl, der von außen hineinfiel und zu mindest die ersten Meter erhellte, verschwand, als sein Körper ihn blockierte. In völliger Dunkelheit betrat er die Höhle. Das erste, was er bemerkte, war der Geruch. Es roch alt, nicht ver
west oder vermodert, einfach nur alt. Es war ein merkwürdiger Ge ruch, der sich wie ein Film auf die Zunge legte. Das Licht kehrte zurück, als er sich vom Eingang entfernte. Er sah einen Lehmboden und felsige Wände. Vor ihm führte ein gewunde ner Gang tiefer in die Höhle hinein. Ein Felsen links des Gangs war aus der Wand herausgemeißelt worden und sah wie ein Tisch aus. »Ich glaube, hier lebt jemand«, sagte Francis zögernd. Ein zweiter Körper schob sich zwischen ihn und das Licht. »Was sagst du?«, hörte er Jacks Stimme. »Jemand lebt hier … oder hat hier gelebt.« Er streckte die Arme aus und tastete sich vor. »Da ist ein Tisch und daneben ein Gang. Vielleicht waren hier Indianer.« »Glaube ich nicht.« Jacks Stimme klang nah. Trotzdem blieb es dunkel. Francis drehte sich um und sah Jules, dessen Silhouette vom Licht des Spalts eingerahmt wurde. »Habt ihr was gefunden?« »Nein.« Wieder Jacks Stimme, jetzt direkt neben ihm. Jules beweg te sich, aber soweit hinten in der Höhle war das Licht kaum noch zu sehen. Francis fühlte sich eingeengt, als wolle die Dunkelheit ihn niederpressen. »Wir sollten wiederkommen, wenn wir Fackeln haben«, sagte er. »So ist es zu gefährlich.« »Sei ruhig.« Jack klang plötzlich nervös. Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. »Hört ihr das?« Was?, wollte Francis fragen, doch dann hörte auch er es: ein schlei fendes Geräusch, ein Knistern wie von altem Papier und ein leises Säuseln. Das ist nur der Wind, dachte er. »Du bist feige wie eine alte Squaw«, sagte jetzt auch Jules. »Es ist nur der …«
Etwas knurrte tief. Francis taumelte zurück, stieß gegen Jack und stürzte zu Boden. »Ein Bär!« Jules' Ruf ging im Donnern des Gewehrs unter. Die Mündungsflamme stieß in den Korridor hinein, wischte heiß über Francis' Gesicht. Eine Kontur wurde aus der Dunkelheit gerissen, vielleicht einen Lidschlag lang, bevor die Schwärze wie ein Umhang zurückfiel. Das ist kein Bär. Francis schrie und hörte Jack schreien. Auf allen vieren kroch er auf den Spalt zu, aber jemand, etwas, hielt ihn fest. Er wurde in den Gang gerissen, grub voller Verzweiflung seine Finger in den Lehmboden. Ein zweiter Schuss raubte ihm das Ge hör, aber immer noch schrien seine Gedanken, lauter und verzwei felter als je zuvor. Krallen, die so dünn und scharf wie Nadeln waren, gruben sich in seine Oberschenkel. Der Stoff seiner Hose riss, und er wurde mit ei nem letzten Ruck aus dem Licht gezerrt, hinein in die Dunkelheit. Als die Zähne seine Kehle fanden, etwas kalt und trocken über sei ne Wange strich und der alte Geruch ihn einhüllte, endete Francis' Verzweiflung. Er schloss die Augen und ließ sich fallen, tief und immer tiefer hin ein in den Abgrund am Ende seines Lebens. Schließlich, nach einer langen Zeit, schwiegen seine Gedanken, ebenso wie sein Herz schlag. Bis das Ungeheuer erwachte …
1.
Nanking 1864 Die Stadt brannte. Seit Wochen loderten die Feuer an der Westseite Nankings und trugen beißenden, schwarzen Rauch bis zu den Mauern der Paläste, die östlich in den Hügeln lagen. Ein ständiger Flüchtlingsstrom be wegte sich durch die Straßen, Tag und Nacht. Zhao Zhifu hätte nicht gedacht, dass so viele Menschen in der Stadt lebten. »Wir hätten die Hauptstraßen blockieren sollen«, sagte er, wäh rend er weiter durch das glaslose Fenster auf die Flammen blickte. »Da unten marschiert ein Vermögen durch die Stadt, und wir sitzen tatenlos hier oben und sehen zu.« Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung hinter sich wahr und legte instinktiv eine Hand auf die Pistole in seinem Gürtel. »Ich bin sicher, die graue Bruderschaft hat daran gedacht.« Ou yang Jinsong trat neben ihn, wie immer eingehüllt in den Gestank von Reisschnaps. »Wir sollten die ausrauben.« »Und uns mit Kai-Xuan anlegen? Du musst den Verstand verloren haben. Weißt du nicht mehr, was er mit Yong Hong gemacht hat?« Zhao wandte sich von der Stadt ab und verschränkte die Arme vor der Brust. Er spürte eine merkwürdige Kälte in sich aufsteigen, wenn er an den Tag dachte, an dem Yong Hong auf den Marktplatz gezerrt worden war. Niemand wusste genau, was er getan haben sollte; einer behauptete, er habe einen Mann aus der grauen Bruder schaft geschlagen, ein anderer sagte, er habe beim Kartenspiel betro gen.
Was auch immer Yong getan hatte, es war sicherlich nicht nötig gewesen, ihn bei lebendigem Leibe zu häuten. Und doch hatte KaiXuan genau das getan. Zhao hatte noch nie einen Mann so schreien gehört wie Yong an diesem Tag, und er hatte weder die Bestrafung noch den Ausdruck auf Kai-Xuans Gesicht vergessen. In seinen Augen hatte ein kaltes Vergnügen gelegen und sein Mund hatte gelächelt. Ouyang rülpste so laut, dass Zhao zusammenzuckte. »Jemand sollte diesen Kai-Xuan zu seinen Ahnen schicken«, sagte er in der schleppenden Sprache Betrunkener, »bevor er uns allen die Haut abzieht. Er ist so verrückt wie ein tollwütiger Hund.« Der Reisschnaps mochte nicht viel von Ouyangs Verstand übrig gelassen haben, aber damit hatte er Recht. Seit die Aufständischen vor fast zehn Jahren Nanking eingenommen hatten(Von 1851 bis 1864 hielt der Taiping-Aufstand Süd- und Zentralchina in Atem. Anführer Hung Xiuquan glaubte, der jüngere Bruder Jesus' zu sein und den Auftrag zu haben, ein Reich des himmlischen Friedens zu errichten. Angetrieben von schrecklicher Armut und ständigen Hungersnöten nahmen die Rebellen große Gebiete ein und machten Nanking zu ihrer Hauptstadt. Opium, Tabak und Alkohol waren verboten, ebenso das Fußbinden von Frauen und der Privatbesitz von Land. Die Rebellion degenerierte schließlich zu einer noch grau sameren und unmenschlicheren Regierung als die kaiserliche in Pe king und wurde 1864 zerschlagen.), saß Kai-Xuans graue Bruder schaft wie ein Geschwür in der Stadt. Niemand hatte ihr etwas ent gegenzusetzen, weder Hung Xiuquans gottesfürchtige Regierung, noch die Soldaten und Verbrecherbanden, die sich dem Krieg in den ersten Jahren angeschlossen hatten und jetzt, wo die kaiserlichen Truppen vor der Stadt standen, ihre Gesinnung ablegten und zu rück unter die Steine krochen, unter denen sie einst hervorgekom men waren. Kai-Xuan war ihnen in jeder Hinsicht überlegen. Er war verschlagener, grausamer und barbarischer als all die anderen Ver brecherfürsten, die der Regierung die Macht streitig machten.
»Und wenn man ihn gar nicht töten kann?«, sagte Zhao mehr zu sich selbst als zu Ouyang. »Vielleicht ist er ein Dämon.« Die Flammen der Stadt warfen zuckende Schatten über die Wän de. Bevor die Gemeinschaft des Goldes den Palast gestürmt hatte, war dies wohl der Wohnflügel eines Großgrundbesitzers gewesen, aber von den Reichtümern und Kunstschätzen waren nur Trümmer geblieben. In ihrem Hass hatten die Rebellen alles zerstört. Die ganze Stadt ist ein Trümmerfeld, dachte Zhao. Wir haben nichts geschaffen, nur vernichtet. Haben wir es nicht verdient, von Männern wie Kai-Xuan gequält zu werden? Er hatte noch nie mit jemandem darüber gesprochen, aber er hatte tatsächlich an Hung Xiuquan geglaubt, zumindest am Anfang, als er zwölf Jahre alt war und die Rebellion in sein Dorf kam. Zhao hatte ihn gesehen, den Messias, wie ihn manche nannten, den Erlöser. Ein Feuer hatte in seinen Augen gebrannt, als er von Frieden und Ge rechtigkeit sprach. Am nächsten Morgen war Zhao Teil seiner Ar mee geworden, nachdem Wu von der Gemeinschaft des Goldes ihn seinem Vater abgekauft hatte. Zhao war stets dankbar dafür gewe sen, denn er hatte vier seiner Schwestern verhungern sehen. Heute, wo er selbst die Gemeinschaft des Goldes leitete und acht Jahre älter geworden war, dachte er nur noch mit Schaudern an das kleine Dorf am Fluss. Er sah seinen Vater im Staub vor den Steuer eintreibern knien, sah die knochigen Arme seiner neugeborenen Schwester und hörte das schmerzerfüllte Stöhnen seiner Mutter, die keine Milch für sie hatte. Und er sah seinen Onkel, der alle Söhne verloren hatte. Drei hatte er nach Peking verkauft, wo sie als Eunu chen im Kaiserpalast dienen sollten, der vierte verhungerte in einem Winter, der fast das halbe Dorf das Leben kostete. Aber auch Hung Xiuquan hatte keine Lösung für den Hunger und die Armut gefunden, obwohl er es versucht hatte. Seine Reformen griffen nicht, und die ständigen Kriege schwächten das Volk immer weiter. Er war gescheitert, der Traum – längst Albtraum – war vor bei.
»Du grübelst zuviel«, sagte Ouyang. Seine blutunterlaufenen Au gen tränten ununterbrochen und verliehen ihm das Aussehen einer traurigen, alten Bulldogge. »Denk lieber daran, wo du uns als nächs tes hinführen willst. Die Männer werden ungeduldig.« »Finden sie nichts mehr zu plündern?«, fragte er zurück. Es sollte sarkastisch klingen, aber Ouyang hob nur die Schultern. »Schon lange nicht mehr. Langsam gehen auch die Vorräte zur Neige. Und dann die Soldaten vor der Stadt. Das macht die Männer nervös.« »Es macht dich nervös und du steckst sie an.« In Gedanken fragte sich Zhao zum wiederholten Mal, warum er Ouyang nicht schon längst getötet hatte. Vor vier Jahren noch hatten die Informationen des alten Trinkers ihm den entscheidenden Vorteil im Machtvaku um nach Wus Tod gegeben, aber jetzt war er nur noch Ballast, den man mitschleppte, weil man sich daran gewöhnt hatte. Ouyang war unter seinen Worten zusammengezuckt. Er begriff nicht, dass er schon längst nicht mehr der vertraute Ratgeber war und dass seine Meinung weniger zählte als die der anderen Männer. »Wir werden die Stadt verlassen«, sagte Zhao nach einem Mo ment, »und in den Norden gehen. Hier gibt es nur noch verbrannte Erde, aber dort oben ziehen noch Karawanen durch die Gebirge. Wir haben genügend Kämpfer, um sie ausrauben zu können.« »Ein guter Plan.« Ouyang hätte wohl auch zugestimmt, wenn Zhao behauptete, er wolle die Gemeinschaft auf den Grund des Ozeans schicken, aber das war nicht von Bedeutung. Es war tatsäch lich ein guter Plan, doch leider auch ein so offensichtlicher, dass die anderen Gemeinschaften und Bünde wohl ebenfalls daraufkommen würden. »Niemand …«, begann Zhao, brach dann jedoch ab, als er Stim men vor der geschlossenen Papiertür hörte. Silhouetten tauchten auf, wie Schatten in der Vorführung eines Puppenspielers. Er wusste nicht, wie viele es waren, denn sie wi chen vor und zurück in einem musiklosen Tanz.
Ouyang zog eine Pistole aus seinem Gürtel. Seine Hände zitterten so stark, dass sie zu Boden fiel. Er fluchte und bückte sich schwerfäl lig. Im gleichen Moment wurde die Tür aufgezogen. W'ang, einer der vier Wachmänner, die im Gang postiert waren, stand im Eingang. Seine Augen starrten zur Decke. Er öffnete den Mund, aber keine Worte kamen hervor, nur ein Blutschwall lief über sein Kinn und tropfte zu Boden. Zhao zog seine eigene Pistole, während der sterbende Mann zu sammensackte. Erst jetzt sah er den tiefen Schnitt in dessen Kehle. Der Gang, der hinter ihm lag, war voller Schatten. Ouyang kam wieder hoch. Ein Schuss fiel, die Mündungsflamme stach aus der Dunkelheit, und Ouyang wurde zurückgeschleudert, hinein in die Trümmer eines alten Holzbildes. Er stieß einen kurzen Schrei aus. Seine Brust färbte sich rot. Zhao duckte sich, suchte nach einer Deckung, die es in dem leeren Raum nicht gab. In seiner Verzweiflung griff er nach Ouyang und zog ihn am Kragen hoch. Der Tote war schwer, aber es gelang Zhao ihn so weit aufzurichten, dass er kniend hinter ihm Deckung fand. Er richtete den Lauf der Pistole in den Gang. »Der erste, der versucht hereinzukommen, stirbt!«, rief er. »Und der zweite tötet dich«, rief eine dunkle Stimme zurück. Kai-Xuan. Zhao spürte Schweißtropfen auf seiner Stirn. Was hatte er Kai-Xuan getan? »Die Bruderschaft hat deine Männer überwältigt«, fuhr die Stim me fort. »Sie werden dir nicht helfen. Du bist allein.« Er sah eine Gestalt aus den Schatten ins Licht treten und näher kommen. Sie trug eine lange graue Robe und war anscheinend un bewaffnet. Zhao krümmte den Finger um den Abzug, dachte an die kleine Bewegung, mit der er Kai-Xuans Terror ein Ende bereiten konnte. »Wenn du mich tötest, wird dein Tod tausendfach sein. Niemand
aus der Gemeinschaft des Goldes wird überleben. Meine Männer werden euch vom Angesicht der Erde tilgen und zertreten wie Kä fer.« Er klang beinahe so, als hoffe er darauf. Zhao zögerte einen Moment, dann ließ er die Waffe und die Leiche zu Boden sinken. »Wir haben keinen Streit«, sagte er. »Wieso greifst du mich an?« Kai-Xuan machte eine Handbewegung, und einer seiner grauen Begleiter schloss die Tür hinter ihm. »Es geht nicht um Streit, es geht um Geschäfte.« Er setzte sich in einer geschmeidigen Bewegung auf ein Kissen und sah Zhao an. Nur die Kälte in seinen Augen verriet den Mörder. Ohne diese Au gen wäre Kai-Xuan ein unauffälliger älterer Mann gewesen mit an gegrautem Zopf und feinen Gesichtszügen. Auf der Straße hätte man ihn vielleicht für einen Buchhalter gehalten oder einen Arzt, nicht aber für einen Mann, der andere häutete und Kinder vor den Augen ihrer Eltern ertränkte. Zhao bemerkte, dass er Kai-Xuan anstarrte und blickte zur Seite. »Du musst niemanden töten, um mir ein Geschäft vorzuschlagen«, sagte er nervös. »Das ist richtig, aber ich wollte jemanden töten. Auf diese Weise brauche ich nicht lange zu erklären, was geschehen wird, wenn du meinen Vorschlag ablehnst.« Kai-Xuan griff nach der Korbflasche mit Reisschnaps, die Ouyang stets mit sich getragen hatte, roch daran und warf sie mit einem an gewiderten Gesichtsausdruck zur Seite. »Nur Narren und Bauern trinken das.« Er drehte den Kopf und rief durch die geschlossene Tür: »Bringt mir Tee!« Einer der Schatten erhob sich und verschwand in den Gängen. Kai-Xuan wandte sich wieder Zhao zu. »Nanking ist verloren und das Paradies, das wir uns hier geschaf fen haben, auch. Der Kaiser, mögen die Götter ihm die Pest schi
cken, hat den längeren Atem bewiesen. Es wird Zeit, dass wir ver schwinden.« Zhao nickte. Seine Gedanke rasten, versuchten zu ergründen, wor auf Kai-Xuan hinauswollte und was er beabsichtigte. »Jeder Dieb, Halsabschneider und Räuber will jetzt natürlich nach Norden gehen, um die Karawanen in den Steppen abzufangen. Sie werden sich da oben gegenseitig auf die Füße treten, so viele sind es.« Kai-Xuan lachte, sah wohl in Zhaos Gesicht, dass er die gleiche Entscheidung getroffen hatte. »Du bist ebenso ein Narr wie sie«, sagte er dann. »Sei froh, dass ich hier bin, um dir zu helfen. Also, während die anderen nach Nor den gehen, schnappen wir uns die fetteste Beute im ganzen Land.« Er machte eine Pause, bevor er das Wort beinahe ehrfurchtsvoll aussprach. »Peking.« »Du bist wahnsinnig!« Zhao antwortete, ohne nachzudenken und biss sich auf die Zunge, doch Kai-Xuan grinste nur. »Ich habe Männern schon die Zunge genommen für eine solche Beleidigung, aber du bist noch jung und weißt nicht, wann du zu schweigen hast. Wie viele Männer kommandierst du?« »Vielleicht sechzig.« »Gut, mit meinen zweihundert reicht das aus, um die Geheimbün de der Stadt in die Knie zu zwingen und die Opiumhöhlen, Spiel höllen und Konkubinendienste zu übernehmen. Wir werden leben wie die Könige!« Er stand auf. Die Tür wurde geöffnet und ein graugekleideter Mann trug vorsichtig ein Tablett mit Teekanne und Tassen hinein. Wie alle Mitglieder der grauen Bruderschaft hatte er das Zeichen seiner Zugehörigkeit auf die Stirn tätowiert. Kai-Xuan schlug ihm ansatzlos in den Magen. Der Mann brach zu sammen. Heißer Tee ergoss sich über seine Beine. Tassen und Kanne zerplatzten am Boden.
»Das nächste Mal beeilst du dich.« »Ja, Herr.« Die Worte presste er durch zusammengebissene Zähne hervor. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. Kai-Xuan beachtete ihn nicht weiter, sondern drehte sich zu Zhao um. »Morgen früh bei Sonnenaufgang brechen wir auf. Komm mit dei nen Männern zu meinem Quartier.« »Ja.« Kai-Xuan sah ihn an. Zhao dachte an Hongs Schreie. »Herr«, fügte er dann hinzu und verneigte sich tief. Kai-Xuan lachte.
2. Sein offizieller Titel lautete Erster kaiserlicher Sekretär des rechten Geldes, aber in den Straßen und Palästen der Tartarenstadt nannte man ihn nur den Mann mit den drei Schatten. Li Si-Wen kannte sei nen Spitznamen natürlich, auch wenn seine Diener glaubten, dies sei nicht so, aber er hatte sich längst daran gewöhnt. Manchmal ge noss er es sogar, wenn die Straßenhändler weiter draußen in der Chinesenstadt hinter seinem Rücken den Namen flüsterten und ihn mit dieser seltsamen Mischung aus Ehrfurcht und Mitleid ansahen, die man seit dem Antritt seines Amtes für ihn reserviert zu haben schien. Er war bekannt, der Erste und, wenn es nach dem Willen manches Mandarins ging, wohl auch letzte kaiserliche Sekretär des rechten Geldes. Siebzehn Attentatsversuche hatte er in nur acht Jahren Amtszeit überlebt, sechs Leibwächter waren in seinem Dienst ver storben. Und das alles nur wegen der unstillbaren Gier nach Geld. Li Si-Wen öffnete die Augen und brach damit seine Meditation ab. Der Morgengesang der Vögel und das träge Summen der Insekten kehrten langsam in seine Aufmerksamkeit zurück. Es erschien ihm fast so, als hätte der Garten den Atem angehalten, während sein Herr meditierte. Selbst die lärmende Stadt, die hinter den Mauern seines Anwesens begann und unter der Schwüle und der Hitze des neuen Sommertags stöhnte, war verstummt, als er die Augen ge schlossen hatte. Erst jetzt hörte er das Rufen der Straßenhändler. Sie versammelten sich an den Hintereingängen der Beamtenhäuser und buhlten laut stark um Kunden. In früheren Zeiten hatten Mandarine, die sich von dem Lärm belästigt fühlten, ihnen die Köpfe abschlagen lassen, aber das war längst Vergangenheit. Heute standen die Beamten des Kai
sers vor wichtigeren Problemen als ein paar schreienden Wasser händlern. Und ich bin eines davon, dachte Li nicht ohne Stolz und erhob sich von dem Stein, der ihm als Sitzgelegenheit gedient hatte. Seine bei den Leibwächter, zwei seiner drei Schatten, traten lautlos neben ihn. Es roch nach schweren Blüten und Regen. »Ein Gewitter kommt auf«, sagte er, ohne eine Antwort von den kahlgeschorenen Mönchen in ihren schwarzen Roben zu erwarten. Sie enttäuschten ihn nicht, denn sie ignorierten seine Worte und betrachteten weiterhin die Umgebung. Verstanden hatten sie ihn sehr wohl, nur antworten konnten sie nicht, denn ihnen fehlten die Zungen. Li dachte zurück an den Tag nach dem vierzehnten Attentat und dem Tod des sechsten Leibwächters. Der Erste kaiserliche Minister für die Wahrung des Friedens – ein enorm mächtiger Mandarin, der in der Gunst des Kaisers weit oben stand – war an sein Krankenbett getreten und hatte ihm die Mönche vorgestellt. »Sie tragen keine Namen«, hatte er gesagt, »kennen keine Angst und keine Hinterlist. Ihr Orden glaubt, dass sie die Erlösung nur er langen können, wenn sie ihr Leben und ihren Tod vollkommen in den Dienst eines anderen stellen. Du kannst frei vor ihnen sprechen, denn selbst unter der Folter könnten sie nichts von dem preisgeben, was sie gehört haben. Ihnen fehlen die Zungen, und die Kunst des Lesens und Schreibens bleibt ihnen verwehrt.« Müde und schwach hatte Li versucht, die Leibwächter abzuleh nen, hatte erklärt, er könne es nicht mit seinem Gewissen vereinba ren, dass Menschen verstümmelt wurden, um ihm dienen zu kön nen, aber der Minister hatte nur lächelnd zugehört und mit einem einzigen Satz alle Einwände aufgehoben. »Der Kaiser hat sie persönlich ausgesucht.« »Dann danke dem Kaiser in meinen Namen untertänigst«, hatte Li resigniert geantwortet, »und teile ihm mit, dass seine Großmut und sein Interesse an meiner Tätigkeit und meiner Person mich mit
großem Stolz und großer Dankbarkeit erfüllt.« Seit diesem Tag ging er außerhalb seines Hauses keinen Schritt mehr ohne die Mönche. Drei Attentate hatten sie verhindert, und obwohl es ihr größter Wunsch sein musste, in seinem Dienst zu ster ben, hatten sie doch jedes Mal überlebt. Inzwischen hatte Li sich so an sie gewöhnt, dass er ihre Anwesenheit manchmal vergaß. »Vater?« Die entfernte Stimme seiner Tochter riss ihn aus seinen Gedanken. »Ich bin am Goldfischteich«, rief er zurück und strich seine leichte blaue Seidenrobe glatt. Xia-Ji achtete sehr auf sein Äußeres und mochte es nicht, wenn er sich »gehen ließ«, wie sie es nannte. »Cui-Lu sucht dich«, sagte Xia-Ji, als sie einen Moment später zwi schen den Bäumen hervortrat. »Sie ist verärgert, weil Chao KaiXuan mit einigen Soldaten eingetroffen ist und ihr niemand Be scheid gesagt hat, dass Gäste zum Frühstück kommen würden.« »Hatte ich ihr nicht …« Li unterbrach sich. »Nein, das habe ich wohl vergessen. Wir haben doch noch genügend Reis, oder?« Xia-Ji lächelte. »Ja, Cui-Lu war erst gestern auf dem Markt. Lob sie einfach für ihre gute Arbeit, wenn du ihr begegnest, dann wird die ser Sturm schneller vorbei sein als das Gewitter, das über unseren Köpfen aufzieht.« Li nickte. Obwohl seine Tochter erst fünfzehn Jahre alt war, leitete sie seinen Haushalt problemlos und hielt die Dienerschaft unter Kontrolle, ohne sich auf Strafen oder Prügel stützen zu müssen. Sie war be liebt, aber nicht zu weich – so, wie auch seine Frau gewesen war. Er warf einen verstohlenen Blick auf Xia-Ji, während sie zum Haus zurück gingen. Sie wurde ihrer Mutter mit jedem Tag ähnlicher, strahlte eine natürliche Schönheit aus, der sie sich nicht bewusst war, die ihre Umgebung jedoch umso deutlicher wahrnahm. Li hat te ihr beigebracht, sich eine Meinung zu bilden und sie zu vertreten, und so mancher Mandarin, der eine widerspruchslose Hofdame er
wartete, war überrascht worden, nicht immer positiv. Er wusste, dass einige glaubten, er habe sie zu sehr wie einen Jungen erzogen und dass andere Angst vor ihrer scharfen Zunge und ihrem schnel len Verstand hatten, aber Li sah diese Eigenschaften als Vorteil, nicht etwa als Nachteil. Seit dem Tod ihrer Mutter, die in einem Sommer vor zehn Jahren dem Fieber zum Opfer gefallen war, hatte sie sich von einem scheuen, verängstigten Kind zu einer selbstbe wussten jungen Frau entwickelt, und Li liebte sie mehr als alles an dere in seinem Leben. »Wieso lässt du die Soldaten nicht allein zu Pu-Yangs Haus gehen?«, fragte seine Tochter plötzlich. »Musst du sie unbedingt be gleiten?« »Woher weißt du, dass wir zu seinem Haus wollen?« »Fu Long hat es versehentlich verraten.« Li seufzte leise. »Der Junge sollte lernen, seinen Mund nur im rich tigen Moment zu öffnen.« Er blieb vor den hölzernen Stufen stehen, die zu seinem Haus führten. Ein Diener sah ihn und fiel auf die Knie, bereit, ihm jeder zeit die Tür zu öffnen. »Also?« Xia-Ji stemmte die Hände in die Hüften. »Warum gehst du mit ihnen?« »Weil es richtig ist.« Li setzte einen Fuß auf die Stufe, drehte sich dann jedoch noch ein mal zu Xia-Ji um. »Pu-Yang wird durch mein Handeln sein Leben verlieren. Ich sollte ihm in die Augen sehen, wenn er das erfährt.« »Er verliert nicht durch dein, sondern durch sein Handeln das Le ben. Es ist seine eigene Schuld.« »Nein, er hat nur getan, was die meisten anderen auch tun. Er hat sich nur dümmer angestellt …« Dieses Mal wandte Li sich und beendete das Gespräch. Xia-Ji hielt ihn nicht auf, als er die Treppe empor ging, seine Schuhe gegen die Haussandalen eintauschte und dem Diener kurz zunickte. Der alte
Mann – er war der Vater von Cui-Lu und weit über neunzig Jahre alt – zog die Papiertür auf und ließ seinen Herrn ins Innere des Hau ses treten. »Guten Morgen«, sagte Li und überschritt die Schwelle. »Ich hoffe, das bescheidene Mahl sagt euch zu.« Die zwanzig Soldaten, die in disziplinierten Reihen auf dem Bo den hockten, stellten Reisschalen und Teetassen zur Seite und neig ten die Köpfe, bis ihre Stirn die Reismatten berührten. »Danke, Herr«, sagte ihr Kommandant, dessen vernarbtes Gesicht die Zeichen so mancher Schlacht trug. »Wir sind Eure Gastfreund schaft nicht wert.« Das war zwar kein sehr elegantes Kompliment, aber es reichte, um dem rituellen Höflichkeitsaustausch zu genügen. »Kommandant Wang Po.« Li war froh, dass ihm der Name des Soldaten eingefallen war. »Es ist gut, Euch zu sehen.« »Ihr seid sehr freundlich, Herr.« Der Kommandant sah mit deutli chem Stolz in den Augen auf. »Wir sind bereit, wenn Ihr es seid.« Li nickte und wandte sich Fu Long zu, der mit gesenktem Kopf an einer Wand stand. Er war ein junger Mann, noch unter zwanzig, hatte jedoch die ersten Beamtenprüfungen bereits bestanden. Li hat te ihn in seine Dienste genommen, um Fu Longs Vater einen Gefal len zu erweisen. Bis jetzt hatte er seine Entscheidung nicht bereut, denn obwohl Fu Long zur Ungeschicklichkeit und zum Übereifer neigte, war er doch sehr intelligent und würde mit genügend Zeit und der richtigen Unterstützung zu einem guten kaiserlichen Beam ten werden. »Guten Morgen, Meister Li.« »Guten Morgen, Fu Long. Wie ich höre, hast du bereits mit meiner Tochter gesprochen.« »Das habe ich …« Sein Gesicht wurde rot und bot einen inter essanten Kontrast zu der grünen, schlecht sitzenden Robe, die er trug. »Sie ist sehr gerissen.«
Li unterdrückte ein Lächeln. Er wusste, dass Fu Long sich ein we nig in seine Tochter verliebt hatte und ihn die Niederlage deshalb doppelt schmerzen musste. Nicht nur hatte Xia-Ji ihn dazu gebracht, die bevorstehende Verhaftung zu verraten, sie hielt ihn jetzt viel leicht sogar für einen Narren. Er schob den Gedanken beiseite. »Ihr alle wisst, weshalb ihr hier seid«, sagte er stattdessen zu den versammelten Männern. »Wir werden gemeinsam zu Sekretär PuYangs Haus gehen und ihm die Anklage des Kaisers übermitteln. Sekretär Pu-Yang ist ein ehrenwerter Mann aus einer ehrenwerten Familie, deshalb werdet ihr ihn mit Rücksicht und Höflichkeit be handeln. Sollten seine Wachen uns angreifen, werden wir uns ver teidigen, aber nur gegen sie. Nicht gegen die Dienerschaft, nicht ge gen die Familie.« Li machte eine Pause, um den Soldaten Zeit zu geben, seine Worte zu verstehen. Dann zog er die Papiertür auf, die in den Innenhof und hinaus in die Tartarenstadt führte. »Kommt.« Der Kommandant stand auf, und seine Männer folgten ihm aus dem Zimmer. Ihre Lederrüstungen knarrten, die Schwerter an ihren Seiten reflektierten das Sonnenlicht. Wie die meisten Einheiten tru gen sie keine Schusswaffen, obwohl Pistolen und Gewehre seit dem Eindringen der Barbaren immer häufiger auftauchten. Li hoffte, dass sie noch nicht zu Pu-Yangs Wachen durchgedrungen waren. »Meister?« Fu Long schloss zu ihm auf. Sein Blick zuckte zwischen den bei den Leibwächtern hin und her. Obwohl er sie bereits seit drei Mona ten kannte, hatte er sich noch nicht an sie gewöhnt. »Meister«, wiederholte er, »wieso habt Ihr den Soldaten so ein dringliche Anweisungen gegeben? Wissen sie nicht auch so, was sie zu tun haben?« Bilder schossen durch Lis Gedächtnis. Soldaten, die auf Kinder einschlagen, Dienerinnen, die durch Gänge voller Rauchschwaden laufen, schreiend und mit brennenden Haaren. Irgendwo brüllt ein
Mann in Wut oder Panik. Es riecht nach gebratenem Fleisch und verbranntem Holz. »Nein«, sagte Li. »Manchmal wissen sie das nicht.« Seine eigenen Wachen öffneten das Tor, das sein Anwesen von den Straßen trennte. Hier in der Tartarenstadt lebten fast ausschließ lich Beamte und andere Würdenträger. Ihre Häuser schlossen einen Ring um die verbotene Stadt, als könnten sie allein durch die Nähe zu ihrem Kaiser teil an seinem Leben haben. Betreten durften sie dieses magische Zentrum des Reiches nicht. Niemand außer der kai serlichen Familie, den Dienerinnen und den Eunuchen hatte das Recht, hinter den Toren zu residieren. Straßenhändler, die jeden Morgen aus der Chinesenstadt, dem äu ßersten Ring Pekings, in die Tartarenstadt kamen, blickten Li neu gierig entgegen, als er inmitten der Soldaten über das Kopfstein pflaster schritt. Einige Passanten – er vermutete, es waren die Diener anderer Mandarine – folgten ihm sogar und hofften vermutlich, ih ren Herren Neuigkeiten berichten zu können. Li würde sie nicht enttäuschen. Die Verhaftung Pu-Yangs war ein Ereignis, über das bis zum Abend die ganze Stadt sprechen würde. Korruption, das war der Name des Verbrechens, dessen er und alle, die jemals von Li verhaftet worden waren, sich schuldig ge macht hatten. Li schätzte, dass Pu-Yang fast das Zwanzigfache sei nes Gehalts aus Zuwendungen von Geschäftsleuten und anderen Mandarinen erhielt. Sein Anwesen war wesentlich größer als Lis, dabei hatte er nie einen gleichwertigen Rang erzielt, sondern trug seit Jahren den Titel eines Vierten Sekretärs des Tintenfasses für die nördlichen Provinzen, was auch immer das bedeutete. Reich werden konnte man auf einem solchen Posten sicherlich nicht und Mätres sen finanzierte man mit dem Gehalt eines Vierten Sekretärs ebenfalls nicht. Und doch hatte Pu-Yang beides erreicht. Ein Diener hatte Li schließlich aufgesucht, ein unterwürfiger Mann mit langem Gesicht und einem Stapel Schriftrollen unter dem Arm. Darin hatte er jede Geldübergabe vermerkt, jeden Namen und jede
Summe. Es war Pu-Yangs Todesurteil, und auf die Frage, weshalb er seinen Herrn so hasse, sagte der Diener nur: »Ich habe einen zehn jährigen Sohn.« Mehr musste er auch nicht sagen, denn Pu-Yangs Vorlieben waren unter den Mandarinen bekannt. Li brachte seinen kleinen Trupp mit einer Handbewegung zum Stehen. Vor ihm lag die Vorderfront des Hauses. Das große hölzerne Tor war geschlossen. Ein Wachmann in Lederrüstung, der eine Lan ze in der Hand hielt, stand daneben und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Mein Herr grüßt Euch«, sagte er so laut, dass man seine Stimme auch im Inneren des Hauses gut verstehen musste. »Was ist Euer Begehr?« Li trat einen Schritt vor. Seine Leibwächter flankierten ihn. Ihre Augen waren in ständiger Bewegung, ihre Blicke glitten über die fensterlose Mauer und über die Straße, wo sich eine Menschenmen ge zu versammeln begann. »Nicht mein Begehr«, sagte Li nach einer angemessenen Pause, »bringt mich hierher, sondern das unseres Herrn, des Kaisers.« Er entrollte die Anklageschrift, die das Siegel Kaiser Tong Zhis trug, und hielt es hoch. »Also gib das Tor frei und lasse uns vor zu deinem Herrn, so wie der Kaiser, unser aller Herr, es wünscht.« Der Wachmann biss sich auf die Lippe. Seine Finger umkrampften die Lanze, als wäre sie der einzige Halt, der ihm noch blieb. Li be neidete ihn nicht um seine Lage. Zweifellos hatte Pu-Yang ihm den klaren Befehl gegeben, niemanden auf das Anwesen zu lassen, aber einer Anordnung des Kaisers widersprach niemand, wieder ein ein facher Soldat, noch der höchste Beamte. »Es … hm …« Der Wachmann blinzelte nervös und senkte den Blick. »Nein …« Wang Po reagierte mit einer Geschwindigkeit, die Li überraschte und seine Leibwächter zusammenzucken ließ. Einen Atemzug spä
ter rutschte der Wachmann röchelnd und mit brechendem Blick am Tor zu Boden. In seinem Hals, unmittelbar über dem Kragen seiner Rüstung, steckte ein Messer. Aus den Augenwinkeln sah Li Fu Longs entsetzten Gesichtsaus druck. Er vermutete, dass sein Assistent noch nie zuvor den Tod ei nes Mannes gesehen hatte. Sein eigenes Gesicht blieb reglos, so wie man es von einem Mann in seiner Stellung erwartete. Wang Po kniete neben dem sterbenden Soldaten nieder und zog sein Messer aus der Wunde. Sorgfältig wischte er es ab, bevor er zu Li empor sah. »Eure Befehle, Herr?« »Öffne das Tor und halte deine Männer zum Angriff bereit. Dieser Wachmann hat sein Leben verloren, um Pu-Yang Zeit zu verschaf fen. Er wird sie sicherlich genutzt haben.« »Ja, Herr.« Er nickte vier Soldaten zu, die ihre Schwerter einsteckten und zum Tor gingen. Auf ein Kommando warfen sie sich dagegen. Die dunklen Holzbalken bebten, Metallscharniere knirschten. Irgendwo in der Menschenmenge wurde lautstark gewettet; Li war nicht si cher, worüber. »Meister Li?« Fu Longs Stimme klang gequält und sein Gesicht war schweißbedeckt. Er starrte auf den immer noch zuckenden Kör per des Soldaten. »Ich glaube, mir wird übel.« »Du wirst weder dich noch mich entehren. Reiß dich zusammen. Das ist nicht der einzige Tote, den du heute sehen wirst.« Vor Li warfen sich die Soldaten mit erneutem Schwung gegen das Tor. Die linke Hälfte hatten sie bereits nach hinten gedrückt, die rechte hing schräg in den Scharnieren. »Was meint Ihr damit, Meister?« »Jemand muss Pu-Yang gesagt haben, dass wir auf dem Weg sind. Er hätte die Torwache nicht grundlos in den Tod geschickt, wenn er die Zeit nicht brauchte. Ich bin sicher, er bereitet sich auf uns vor.«
Fu Long wandte seinen Blick von der Leiche ab und sah nach oben, als erwarte er einen Pfeilhagel. »Wenn …«, begann er, aber das Krachen des nachgebenden Tors unterbrach ihn. Beide Hälften kippten nach hinten und schlugen splitternd auf dem Pflaster auf. Die vier Soldaten wurden vom eige nen Schwung in den Innenhof getragen. Einer stürzte mit einem Fluch, die drei anderen fingen sich und zogen ihre Schwerter. Dreißig, vielleicht auch fünfunddreißig Gesichter blickten ihnen entgegen. Die Leibwache Pu-Yangs trug rote, reich verzierte Brust schilde über ihren Lederrüstungen und ebenfalls lederne Helme. Sie richteten langläufige Gewehre auf die Soldaten. Lis Mund wurde trocken. Seine Leibwächter stellten sich ohne zu zögern vor ihn, deckten ihn mit ihren Körpern. Um ihn herum wur den Schwerter gezogen. Wang Po hielt seine Soldaten mit einer Handbewegung zurück. Li sah ihm an, dass er mit einer solch deut lichen Übermacht nicht gerechnet hatte. »Tritt zur Seite, Fu Long«, sagte er leise. »Ich bleibe dort, wo Ihr seid, Meister.« Li sah Angst und Entschlossenheit in seinem Blick. »Wie du wünschst …« Er trat vor, an seinen Leibwächtern vorbei und hob die kaiserliche Anklageschrift ein weiteres Mal hoch. »Erkennst du das Siegel, Kommandant der Leibgarde?«, fragte er laut. Ein alter Soldat löste sich aus der Reihe der Verteidiger. Sein Zopf war weiß und Falten durchzogen sein Gesicht wie ein dichtes Netz. »Ich erkenne es, ehrenwerter Li«, sagte er. Seine Stimme war rau, zeigte jedoch keine Schwäche. »Aber ich muss Euch dennoch bitten, das Anwesen meines Herrn zu verlassen oder die Konsequenzen zu tragen.« Was hat Pu-Yang ihnen versprochen, dass sie eine solche Loyalität zei gen?, dachte Li. »Verstehst du, dass du dich gegen den Befehl des Kaisers stellst?«
»Das verstehe ich, ehrenwerter Li.« Der alte Kommandant trat zurück in die Reihe, als wäre damit al les gesagt und Li begriff, dass er und seine Männer bereits mit dem Leben abgeschlossen hatten. Er sah es in ihren leeren Blicken und verkrampften Gesichtern. Jeder von ihnen wusste, dass sie in diesem Innenhof den Tod finden würden. Vielleicht gelang es ihnen, das Anwesen für ein paar Stunden zu verteidigen, vielleicht schafften sie es sogar, fünfzig oder hundert Soldaten zu töten, aber die kaiser lichen Truppen würden nicht nachgeben, nicht hier, weniger als einen Speerwurf entfernt von der verbotenen Stadt und nicht nach den Jahrzehnten der Aufstände und Kriege, die wie eine Seuche über das Reich hinwegzogen. Li dachte an Nanking und schüttelte sich innerlich. »Kommandant«, sagte er, obwohl er ahnte, dass es zwecklos war, »du und deine Männer werden sterben, wenn ihr die Waffen nicht niederlegt und dem Befehl des Kaisers folgt.« »Aber unsere Familien werden leben.« Das war es also, kein Versprechen, sondern die Drohung die Fami lien zu töten, wenn die Leibwache nicht tat, was Pu-Yang verlangte. »Dein Herr verfügt nicht über eine solche Macht.« »Und ob ich darüber verfüge, Li.« Pu-Yang trat über die Schwelle einer geöffneten Papiertür ins Freie. Er trug eine lange weiße Robe voller dunkler Flecken und war barfuß. In einer Hand hielt er einen Seidenschal, in der anderen einen Dolch. Sein Gesicht mit den eng zusammenstehenden Augen und dem fliehenden Kinn erinnerte an einen Vogel. »Ich habe mehr Macht, als du jemals besitzen wirst«, fuhr er fort. »Die Geheimbünde verneigen sich vor mir, ihre Chike(Assassinen, gedungene Mörder, Attentäter) gehen ein und aus in meinem Haus, und die fremden Barbaren schicken mir ihre Waffen und ihr Gold. Sie wissen, was sie mir schulden.« Li rollte langsam die Anklageschrift zusammen.
»Und doch stehst du allein hier«, sagte er, »nur umgeben von Männern, die dir aus Furcht gehorchen und nicht aus Loyalität. Wo sind denn deine Barbaren und Chike? Und wo deine Söhne und dei ne Frauen, die dir beistehen und dir Kraft geben sollten? Sie …« »… sind tot.« Pu-Yang sprach die beiden Worte so ruhig und ge lassen aus, als spräche er über den Regen, dessen erste Tropfen auf das Kopfsteinpflaster fielen. »Ich habe sie getötet.« »Du hast …« Li unterbrach sich, betrachtete die Blutflecken auf Pu-Yangs Robe, den Seidenschal und den Dolch. Er hatte die Frauen erdrosselt und die Söhne erstochen. »Warum?«, fragte er schließlich nur. Über ihm in den dunklen, fast schwarzen Wolken rollte ein Donnerschlag heran. Der Regen wurde heftiger und lief in warmen Bahnen über sein Gesicht. »Sie hätten in Armut gelebt«, sagte Pu-Yang. »Ich habe schon lan ge geahnt, dass du eines Tages kommen würdest und als die Ah nung zur Gewissheit wurde, war ich bereit. Es ist nichts mehr da, Li, keine Reichtümer, kein Gold, keine Ländereien. Ich habe alles ver kauft und das Geld …« Er lächelte. Li fragte sich, ob er vielleicht wahnsinnig war. »Das Geld … es würde ausreichen, um diese Familie für Jahrhun derte zu versorgen, aber es wird nur einem einzigen Zweck dienen: dich zu töten. Schon jetzt spricht es sich herum in den Opiumhöhlen und Kerkern, in den Armenvierteln und Tavernen. Sie werden aus dem ganzen Reich kommen und um die Chance betteln, dich zu er morden. Du bist tot, Li, so tot wie ich.« Der Seidenschal rutschte zwischen seinen Fingern hindurch und fiel zu Boden, als Pu-Yang mit beiden Händen ausholte und sich den Dolch in die Brust stieß. Einen Moment blieb er schwankend stehen. Blut breitete sich auf seiner Robe aus und wurde eins mit den dunklen Flecken. Dann kippte er stumm und langsam nach vor ne und blieb liegen. Fu Longs gehauchtes »Bei den Göttern …« war über das Prasseln des Regens kaum zu verstehen. Li hob den Kopf und ließ das Was
ser über sein Gesicht rinnen, als könne er sich damit säubern, als könne der Regen das Geschehene davon spülen und seinen Geist reinigen. »Wir werden dafür sorgen, dass Pu-Yang nicht siegt«, sagte Fu Long neben ihm. »Ich verspreche es Euch, Meister. Er wird nicht sie gen.« Li blickte in sein naives junges Gesicht und sah die fast schon ver zweifelte Hoffnung in seinen Augen. »Oh doch, Fu Long, das wird er.«
3. Mao Wen-Yuan, Aufseher über die kaiserliche Uhrensammlung, eil te aus seiner Schreibstube in die gleißende Mittagshitze hinaus. Gerade hatte er an einem weiteren kaiserlichen Edikt geschrieben, als er die schlechte Nachricht erhielt. Er war fassungslos: Pu-Yang hatte es vorgezogen, sich selbst zu richten, statt die weiße Seiden schnur abzuwarten, die der Kaiser ihm als Strafe für seine Unter schlagungen hätte zukommen lassen. Hohe Beamte – und auch PuYang war so einer – richtete man nicht hin. Jetzt hatte der kaiserliche Minister zur Rechten, Kong Chan, eine Versammlung der Geheimen Gesellschaft des Weißen Lotus einberufen, um die Lage zu bespre chen. Während der Aufseher die Pfade und Bogengänge des inneren Pa lastes entlang schritt, dachte er nach. Der Erste kaiserliche Sekretär des rechten Geldes Li Si-Wen räumte in der Pekinger Beamtenschaft offensichtlich gründlicher auf, als man ursprünglich hätte anneh men können. Beim Aufseher über die kaiserliche Uhrensammlung verursachte das einige Bauchschmerzen, dem Minister zur Rechten ging es wohl ähnlich. Aber jeder Mensch hatte einen schwachen Punkt. Wo der bei Li lag, war sicher leicht herauszufinden, und dann hatte man ihn in der Hand. Dieser Ansicht war jedenfalls Mao. Jeder Mensch war erziehbar. Möglicherweise ging es bei diesem has tig anberaumten Treffen genau darum. Mao dachte wieder an Pu-Yang. Um den Mann war es in der Tat schade. Mit ihm hatte man arbeiten und vor allen Dingen reich wer den können. Es würde eine Weile dauern, bis die Geheime Gesell schaft des Weißen Lotus einen Nachfolger für Pu-Yang fand. Der Aufseher erreichte schließlich sein Ziel: den alten Wohnhof des ehrwürdigen, ehemaligen Kaisers Qian Long. Seit dem Tod des
Kaisers vor einigen Jahrzehnten stand er leer und diente als Lager raum für Kunstwerke, die weder dem jetzigen Kaiser noch seiner ehrenwerten Phoenix-Gattin gefielen, die sie aber aus Nostalgie oder Anstand nicht wegzuwerfen wagten. Wie Mao wusste, liebte der Minister zur Rechten diesen Ort, der nicht weit vom kunstvoll er bauten Garten zu finden war. Und nicht nur, dass es eines der größ ten und schönsten Gebäude im Kaiserpalast war, es lag auch so ru hig, dass die Versammlung der Geheimgesellschaft ihrem Namen entsprechend wirklich geheim blieb. Mao betrat den großen hallenartigen Raum, der in der Hitze des Sommertags kühl und angenehm war. In seiner Mitte stand das Lieblingskunstwerk des Ministers zur Rechten: ein über 2 Meter ho her Jadefelsen, in den eine Landschaft eingeschnitzt war. Bauern, Träger, Wasserfälle, Brücken über Schluchten, sogar ein ganzes Kloster und einen Einsiedler in seiner Höhle konnte man auf dem durchscheinend grünen Monolithen erkennen. Über allem, auf dem Berggipfel, um den jadegrüne Wolken aus Stein zu schweben schie nen, thronte der himmlische Jadekaiser. Eine Figur, die auf Mao beruhigend wirkte, auch wenn er die kon fuzianische Sagenwelt für albernen Aberglauben hielt. Diese Ansicht behielt er jedoch für sich; aus gutem Grund, denn viele seiner Kolle gen glaubten an den Jadekaiser, das Symbol dafür, dass alles vorher bestimmt war in den Büchern des Lebens. Maos Gedanken wurden von einer hellen Eunuchenstimme unter brochen, der man die Nervosität anhören konnte. »Ehrenwerter Minister Kong, Euer letzter Gast ist soeben einge troffen!« Mao bemerkte Kong erst, als der hinter dem Jademonolithen her vortrat und nachlässig mit einer Hand wedelte. »Vielen Dank, Sun Tian. Bringe uns Tee in die Bibliothek. Den guten, wohlgemerkt.« Die leichten Schritte seines Dieners verhallten. Mao fiel auf die Knie und vollzog den feierlichen Kotau. Drei Mal, nicht neun Mal, wie es einem Diener des Kaisers zustand. »Ehrenwerter Minister zur
Rechten, ich grüße Euch!« Aus den Augenwinkeln sah er, dass Kong sich ein leichtes Lächeln erlaubte. Eine Spur zu lange antwortete er nicht, geradeso, dass Mao die demütige Stellung, in der er verharren musste, bewusst wurde. Er konnte nicht aufstehen, bevor der Minister es ihm nicht erlaubte. Sohn eines vollgesogenen Blutegels, dachte er zähneknirschend. Wenn da nicht das Geld wäre, das ich mit dir und den anderen der Lotus-Gesell schaft verdiene, würde ich dafür sorgen, dass der Himmelssohn dir eine weiße Schnur zusendet. »Der ebenso ehrenwerte Mao Wen-Yuan! Es ist mir eine große Eh re. Wie immer singen die Vögel bei Eurem Anblick doppelt so süß.« Mao murmelte eine gerade noch höfliche Antwort in seinen schüt teren Kinnbart. »Nun, die übrigen Mitglieder der Gesellschaft sind bereits anwe send. Wenn Ihr mir folgen wollt …« Schwerfällig erhob sich Mao und folgte Kong. Im nebenan liegen den Raum waren die übrigen sechs Mitglieder der Lotusgesellschaft bereits versammelt. Darunter waren so hohe Beamte wie Deng LiuShi, der Oberste kaiserliche Geheimrat für die Steuereinnahmen, und der Ehrenwerte Sekretär Wang Sheng, Aufseher über die kai serliche Schatzkammer. Wie die anderen auch galten diese beiden nicht gerade als besonders vertrauenswürdig. Kong nahm auf einem Stuhl am schmalen Ende des Raumes Platz und sah auf die übrigen Mitglieder hinab. Er war der Vorsitzende der Lotus-Gruppe, die sich nicht nur dem Zweck verschrieben hatte, reich zu werden, sondern insgeheim die Macht im Staat an sich zu reißen, ohne den Kaiser zu stürzen. Wozu auch?, dachte Mao, denn solange er an der Macht blieb, wurde man leicht reich und das auch noch unter dem Schutz des Gesetzes, wenn man sich nicht so dumm wie Pu-Yang anstellte. Al lerdings mischte sich in letzter Zeit immer öfter die Kaiserinmutter des westlichen Palastes(die spätere Kaiserinwitwe Ci Xi, die 1908 ih ren Großneffen Pu Yi als letzten Kaiser inthronisierte.) sehr unfrau
lich in die Staatsangelegenheiten ein, was die Aktivitäten der Ge heimgesellschaft des weißen Lotus manchmal behinderte. Ein Är gernis, aber nicht das heutige Problem. Kong räusperte sich. »Es ist mir eine Freude, Euch, werte Amtskol legen, willkommen zu heißen.« In diesem Moment betrat der kleine Diener wieder das Zimmer. Trotz seiner beachtlichen Leibesfülle bewegte er sich lautlos und ge schmeidig. »Doch ich vergesse alle Regeln der gebotenen Höflichkeit. Ich darf Euch zunächst eine kleine Erfrischung anbieten.« Der Diener stellte sein Tablett auf einem Tisch in der Mitte ab und bereitete den Tee in den einzelnen Schalen zu. Mao erstarrte fast, als er das kunstvoll gearbeitete Service näher betrachtete. Es war mit ei ner gelben Farbe lasiert, die eine gewagte Ähnlichkeit mit dem Gelb besaß, aus dem das gesamte kaiserliche Geschirr bestand. Eigentlich durfte nur der Himmelssohn die Farbe Gelb benutzen; dass Kong sie verwendete – hier in dieser Gesellschaft –, verriet, für wie mächtig er sich bereits hielt. Mao versuchte zu ergründen, wie die anderen darüber dachten, konnte aber in den steinernen Mienen nichts er kennen. Als der Diener den Raum wieder verlassen hatte, ungebührlich hastig, wie Mao fand, ergriff Kong erneut das Wort. »Ehrenwerte Mitglieder unserer Gesellschaft, sicher haben Eure Ohren bereits die grausame Nachricht erhalten, dass sich Pu-Yang auf äußerst verachtenswerte Weise selbst das Leben genommen hat, ohne dass unser oberster Herr auf dem Drachenthron ihm die Er laubnis dafür gab.« Kong musterte seine Genossen mit halbgeschlossenen Augen, als stünde er kurz davor einzuschlafen. Mao folgte seinem Blick ver stohlen. Sie verzogen keine Miene – natürlich hatten sie wie er schon davon gehört. »Nun, wir sind heute zusammengekommen, um zu erörtern, was mit dem Vermögen unseres Kollegen Pu-Yang geschehen ist.«
Mao sah überrascht auf. Li hatte darüber keinen Bericht an den Kaiser gesandt? Das erklärte das eilig anberaumte Treffen zumin dest, denn als Erster Sekretär des rechten Geldes war es seine Pflicht, die Vermögen verurteilter Beamter für den Kaiser zu konfis zieren und weiterzuleiten. »Ehrenwerter Kong«, sagte Mao dann auch, »ich muss Euch dies bezüglich um Aufklärung bitten. Wie wir alle wissen, war Pu-Yang ein verworfenes Subjekt, das den Pfad der rechten Sitten schon lan ge verlassen hat und dessen Vermögen niemand anderem als dem Kaiser zusteht. Wie kann es sein, dass unser Herr es noch nicht er hielt?« »Weil niemand weiß, wo es ist«, sagte Deng Liu-Shi sichtlich ver ärgert, »und die Beamten sich lieber vor Angst in die Hosen ma chen, anstatt Pu-Yangs Diener zu foltern, bis sie das Geheimnis ver raten.« Er war ein obszön fetter Mann, der seinen Tee wie ein Verdursten der herunterstürzte und den Schweiß auf seiner Stirn mit einem kunstvoll bestickten Seidentuch abtupfen musste. Er konnte längst nicht mehr ohne fremde Hilfe gehen, und sein Atem pfiff wie der ei nes Sterbenden. Mao beging jedoch nicht den Fehler, den Geheimrat für Steuern für so bemitleidenswert zu halten, wie er hier erschien. Deng war bekannt für seine Verschlagenheit und dafür, dass er die Hand bei jeder sich bietenden Gelegenheit nicht nur offen hielt, son dern auch durchaus damit zuzugreifen verstand. Kong ignorierte Dengs Ausbruch. »Wie Ihr wisst, sind die Sitten in unseren heutigen Zeiten wirklich verdorben. Der von uns allen ge schätzte Li konnte das Vermögen unseres Kollegen nicht in seine und des Kaisers Obhut nehmen, weil es nicht mehr da war.« Kong verzog trotz dieser Heuchelei nicht einen Muskel im Gesicht und widerwillig erwischte Mao sich dabei, dass er dem schlanken, klei nen Eunuchen Bewunderung zollte. »Die Sitten heutzutage sind wirklich nicht mehr mit denen zu Zei ten des jadegleichen Qian Long zu vergleichen«, bestätigte Mao.
»Allerdings muss man sagen, dass Li in keiner Weise darauf bedacht ist, sich selbst zu bereichern. Er ist ein Beamter, der Konfuzius noch als Meister schätzt.« Deng stieß die Luft aus. Die Fettwülste seines Gesichts, das man che hinter seinem Rücken mit dem Hintern eines Schweins vergli chen, erbebten. »Li … jemand sollte sich endlich um dieses Problem kümmern.« Das kindliche Eunuchengesicht Kongs wirkte gegenüber Deng bei nahe asketisch. Er antwortete nicht auf die ungeheuer direkte und unangebrachte Aussage, aber wie Mao auch musste er sich fragen, ob diese Entgleisungen beabsichtigt oder wirklich Ausdruck von Dengs Unbeherrschtheit waren. Mao seufzte innerlich. Es war eine wohlbekannte Tatsache, dass man in so stürmischen Zeiten nur sich selbst trauen konnte. »Wir sollten unsere Aufmerksamkeit den kaiserlichen Geldern zuwen den«, sagte er. »Wer könnte die Besitztümer Pu-Yangs wohl haben, wenn nicht der Ehrenwerte Li?« »Da gibt es sicher eine Menge Möglichkeiten, Aufseher Mao!« Der ehrenwerte Wang, ein älterer, mausartiger Mann, schien sich in eine Ecke gedrängt zu fühlen, obwohl ihn niemand beschuldigt hatte. Kong stellte seine Teetasse auf dem Lacktisch neben sich ab. »Also gut, lasst uns ehrlich sein. Pu-Yang war ein korrupter Beam ter. Korrupt sind die meisten Beamten der Administration unseres ehrenwerten Kaisers, möge er zehntausend Jahre leben. Aber Ihr werdet mir sicher beipflichten, dass in jedem Fall dafür Sorge getra gen werden muss, dass der Kaiser erhält, was ihm zusteht.« Obwohl der letzte Satz einen eindeutig ironischen Unterton hatte, nickten alle zustimmend. Niemand von ihnen hätte es gewagt, hier in der Verbotenen Stadt zu bestreiten, dass dem Kaiser das jetzt her renlose Vermögen Pu-Yangs zustand. Selbst Deng tut das nicht, dach te Mao spöttisch. Jedenfalls sprach er es nicht aus. »Ehrenwerter Kong, darüber sind wir uns wohl einig«, warf Wang ein. »Es heißt doch nicht umsonst, gebt dem Kaiser, was des Kaisers
ist. Ich habe gehört, dass dies sogar ein Spruch des Weisen vom Aprikosenhügel sein soll.«(Der Weise vom Aprikosenhügel – dessen Lehren waren denen von Jesus von Nazareth so ähnlich, dass man Jesus häufig mit ihm verwechselte.) In Kongs Augen lag bitterer Sar kasmus. »Ihr glaubt an diese alberne Irrlehre? Ich habe gehört, dass dies nur die westlichen Barbaren tun, die ihre Missionare immer wieder in unser Land schicken. Gerade erst musste sich der Ehren werte Zeng Guo-Fan mit dem Aufstand der Tai-Ping-Rebellen befas sen, jetzt hören wir dieses dumme Gerede sogar hier in den Räumen des ehemaligen gottgleichen Qian Long!« Mao genoss es, die Angst in Wangs Gesicht zu sehen. »Natürlich glaube ich nicht an eine derartig kindische Lehre«, ver sicherte er hektisch. »Aber Ihr wisst, mein Amt als Geheimrat für Steuern macht es manchmal notwendig, dass ich mich mit den west lichen Barbaren befasse. Schließlich müssen auch sie Tribut bezah len. Man schnappt bei derartigen Geschäften das eine oder andere auf, Ihr wisst schon …« Kong neigte den Kopf, hakte das Thema damit ab. »Nun gut. Wir sollten also beratschlagen, was nun zu tun ist. Verzeiht mir, dass ich das so deutlich ausspreche, aber mir wurde zugetragen, dass PuYang seine Freude daran hatte, Li kurz vor seinem Selbstmord klarzumachen, dass er seine Reichtümer in Sicherheit gebracht ha be.« Deng sah ihn an. Schweiß lief über seine Glatze und sammelte sich am Kragen seiner Robe. »Woher wollt Ihr das wissen? Wart Ihr viel leicht bei diesem Treffen zugegen? Dann könnte man ja in der Tat vermuten, dass Ihr Euch an den Besitztümern Pus bereichert habt!« Kong stand auf, aber es war Wang, der die Gelegenheit, seinen Patzer wieder gutzumachen, wahrnahm und sich entrüstete: »So et was nehmt Ihr von einem ehrenwerten Minister an? Das ist eine bo denlose Frechheit!« »Ich zeig dir gleich, was …« Jetzt fuhr Mao mit scharfer Stimme dazwischen. »Meine Herren!
Wir sollten uns ein wenig zusammenreißen und überlegen, wem ei gentlich unser Zorn gelten sollte.« Betretenes Schweigen machte sich in der Runde breit. Pu-Yang war ein Mitglied der Geheimgesellschaft des weißen Lotus gewesen, und bei allem Gerede von Respekt vor den Riten und der Autorität des Kaisers hatte es zu den Regeln der Gesellschaft gehört, dass im Todesfall die Besitztümer des Verstorbenen der Gruppe zufielen. Jetzt allerdings schien es, als sei Pu-Yang selbst ihnen zuvor gekom men. Die Wahrscheinlichkeit, dass er seine Reichtümer aus der Stadt gebracht hatte, war gering, denn dafür hatte er nicht genügend Zeit gehabt. Also musste er jemanden aufgesucht haben, dem er vertraut hatte. Aber wem konnte ein Mann wie Pu-Yang schon vertrauen? Mao überlegte fieberhaft. Eigentlich kam nur ein Mitglied der Ge heimgesellschaft in Frage. Sein Blick glitt über die Gesichter der Anwesenden, suchte nach ei nem verräterischen Zeichen. Hatte möglicherweise Deng das Geld? Immerhin war er der obers te Kaiserliche Geheimrat für Steuern. Auch Wang hätte es sein kön nen, als ein hoher Beamter der kaiserlichen Schatzkammer. Möglich war allerdings auch, das der Oberste Minister Kong Chan sich PuYangs Vermögen unter den Nagel gerissen hatte. Eigentlich hätte es jeder hier in diesem Raum sein können. Seufzend erkannte Mao, dass das gegenseitige, wenn auch durch aus berechtigte Misstrauen bei der Klärung dieser Frage nicht wei terhalf. »Ehrenwerte Anwesende«, sagte er dann auch. »Dieses Misstrauen bringt uns nicht weiter. Wichtig ist doch, dass die Widersprüche, über die wir hier reden, nicht antagonistisch sind, also sind sie lös bar. Tatsache ist offenbar, dass das Vermögen Pu-Yangs nicht in des Kaisers und damit in unseren Besitz gelangt ist. Wenn man die Sa che mit dem uns gegebenen Verstand betrachtet, scheint es am si chersten, dass Li Si-Wen trotz all seiner Ehrungen die Besitztümer an sich genommen hat.«
Deng schnaubte verächtlich und stürzte in widerlicher Hast eine weitere Schale Tee hinunter. »Da gibt sich dieser hinterhältige Li SiWen immer so edel und dann stellt sich heraus, dass er ganze Ver mögen unterschlägt. Es ist widerwärtig. Möge er in der Hölle der Buddhisten schmoren. Der Kaiser sollte ihm anstatt immer weiterer Leibwachen lieber eine Seidenschnur zukommen lassen.« »In der Tat.« Kong Chan griff die Theorie nach Maos Ansicht ein wenig zu bereitwillig auf. »Wir sollten überlegen, wie wir an das Vermögen herankommen. Wenn Li es in seinem Besitz hat, sollten wir weiterhin darüber nachdenken, wie wir ihn davon überzeugen können, es uns zu überlassen.« Mao sah über die Gruppe von Männern hinweg und überlegte, ob er seine Gedanken den anderen mitteilen sollte. Eigentlich konnte er sich ja auch allein auf die Suche nach Pu-Yangs Geld machen. Viel gehörte ja nicht dazu. Eine Schwachstelle gab es bei jedem, Kong hatte es gerade angesprochen. Es galt nur herauszufinden, wo die lag. Allerdings brauchte man dazu wieder die Lotusgesellschaft. Be sonders Wang war es offenbar gelungen, ein brauchbares Spitzel netz aufzubauen. Als Sekretär über die kaiserliche Schatzkammer hatte er auch zu Li selbst gute Verbindungen. »Ehrenwerter Sekretär Wang, Ihr sitzt an der Quelle aller legalen Abgaben in dieser Provinz und des Reiches der Mitte. Bislang habt Ihr immer berichtet, dass Li die unterschlagenen Gelder der verhaf teten Staatsverräter ordentlich abgeliefert hat. Wir alle haben davon profitiert, auch wenn es in diesem Fall anders ist.« Wang nickte. »Das ist richtig, Aufseher Mao. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass Li ein Mann ist, der sich an den Geldern an derer bereichert. Vielleicht hat er Pus Vermögen jemandem zukom men lassen, um es vor uns zu schützen. Oder Pu hat es tatsächlich in Sicherheit gebracht, so wie die Gerüchte besagen.« Er hob die Schultern, sprach jedoch nicht aus, was er über diese Gerüchte dachte. Deng mischte sich schnaufend wieder ein. »Wie, das dürfte nun
wirklich nicht allzu schwer herauszufinden sein. Man besticht Li, damit er die Wahrheit sagt. Wenn er kein Geld will, gibt man ihm etwas anderes.« Er kratzte sich mit deutlicher Irritation an seinem Vierfachkinn. »Aber was könnte jemand außer Geld wollen?« »Nun«, warf Mao ein. »Man muss das Problem von allen Seiten betrachten, nicht nur von einer einzigen. Es gibt Mitglieder unseres Volkes, die legen Wert auf immaterielle Werte. So auch Li.« »Hat er denn keine Familie?«, warf Hu Feng ein. Er war der Dis kussion bislang nur gefolgt, ohne selbst etwas dazu beizutragen. »Die hat er.« Auf dem kindlichen Gesicht des Kaiserlichen Minis ters zur Rechten breitete sich ein Lächeln aus. »Die hat er wirklich …«
4. Es gehörte sich nicht, an Türen zu lauschen. Diener taten so etwas, um abends beim Essen über die Belange ihrer Herren tratschen zu können, aber es war beinahe undenkbar, dass die Tochter eines Ers ten Sekretärs an der Wand lehnte und den Stimmen auf der anderen Seite zuhörte. Trotzdem stand Xia-Ji vor dem Arbeitszimmer ihres Vaters. Sie hatte einen Balken als Deckung gewählt und lauschte mit klopfen dem Herzen auf das, was die Männer besprachen. Vor kurzem erst war ihr Vater zurückgekehrt, unversehrt, wie sie erleichtert festge stellt hatte, aber derart geistesabwesend, dass er sie noch nicht ein mal bemerkt hatte. Flankiert von seinen stummen und irgendwie unheimlichen Leibwächtern und begleitet von Fu Long und Kom mandant Wang war er in sein Arbeitszimmer gegangen. Die Tür hatte sich hinter ihnen geschlossen und das ernste Gemurmel ihrer Stimmen hatte über dem Prasseln des Regens begonnen. »Ihr müsst Peking verlassen, Meister«, waren die ersten Worte Fu Longs. Sie versetzten Xia-Ji einen solchen Stich, dass sie stehen blieb, unfähig sich zurückzuziehen. Inzwischen wusste sie, was vor PuYangs Haus geschehen war, und die Erkenntnis, dass ein Mensch zu einer so schrecklichen Tat fähig war, erschütterte und verwirrte sie. »Ehrenwerter Li«, sagte die Stimme des Kommandanten in diesem Moment. »Lasst uns bitte noch einmal über den Vorschlag Eures jungen Assistenten sprechen. Wenn Ihr Peking verlassen …« »Ich werde niemandem die Genugtuung einer Flucht geben.« Ihr Vater klang hart und entschlossen. Xia-Ji verstand zum ersten Mal, warum die anderen Mandarine Angst vor ihm hatten. »Sie werden mich töten, ob es nun hier geschieht oder irgendwo in der Provinz. Eine solche Summe bringt auch den Faulsten dazu, sich anzustren
gen.« Schweigen lag nach seinen Worten über dem Raum. Xia-Ji sah eine Silhouette auf und ab gehen. Sie glaubte ihren Vater zu erkennen, war sich jedoch nicht ganz sicher. »Wir müssen etwas tun, Meister«, sagte Fu Long nach einer Weile. »Lasst mich die Wachen verdoppeln oder verdreifachen. Eure Fi nanzlage lässt eine ganze Armee zu. Ihr müsst Euch schützen.« »Aber nicht so.« Wang schnaufte beim Reden und hatte den Dia lekt eines Bauern. »Ihr müsstet neue Wachen und Soldaten anwer ben. Wer sagt Euch, dass niemand von ihnen gierig auf Reichtum ist?« »Niemand sagt mir das, Kommandant. Selbst meine eigenen Die ner sind nicht über diesen Zweifel erhaben. Dein Einwand ist be rechtigt.« Xia-Ji hörte seine Schritte und ein Rascheln, als Papier aus einem Regal gezogen wurde. »Fu Long.« Wieder die Stimme ihres Vaters. »Ja, Meister Li?« »Ich werde mehrere Schreiben aufsetzen, eines an meinen Großon kel Li An-Ning, eines an den Gouverneur seiner Provinz und eines an den kaiserlichen Palast. Letzteres wirst du dort abgeben, die an deren beiden wirst du auf deine Reise mitnehmen.« »Welche Reise?«, hörte Xia-Li Fu Long ihre eigene Frage ausspre chen. »Die Reise, zu der du im Morgengrauen mit meiner Tochter auf brechen wirst.« »Was? Aber mein Platz ist hier, Meister, bei …« Wangs Schnaufen unterbrach ihn. »Dein Meister weiß, was richtig ist. Widersprich ihm nicht, sondern sieh zu, dass du seine Wünsche erfüllst. Er hat eine weise Entscheidung getroffen.« »Dann hoffe ich, dass meine zweite Entscheidung ebenso weise ist, Kommandant. In meinem Schreiben an den kaiserlichen Palast bitte
ich den Zweiten Minister zur Verteidigung der Mauern, deine Dienste vorübergehend mir zu unterstellen. Wenn er zustimmt, wirst du meine Soldaten kommandieren.« »Euer Vertrauen ist eine Ehre, Herr.« Trotz der einfachen Formu lierung klang Wang beinahe gerührt. Die Leibwache eines so hohen Beamten leiten zu dürfen, musste ihn mit großem Stolz erfüllen. XiaJi wusste, dass ihr Vater die Gabe besaß, den Menschen ins Herz zu blicken, und sie hoffte, dass er auch dieses Mal Recht behielt. Der Gedanke an die eigene Reise schreckte sie nicht. Sie hatte eine ganz eigene Gabe, die sie bisher noch nie im Stich gelassen hatte: die Gabe, dass ihr Vater ihr nichts abschlagen konnte, was sie wirklich wollte. Und sie wollte in Peking bleiben, hier, einen Steinwurf von der verbotenen Stadt entfernt, wo prächtig gekleidete Hofdamen in Sänften vorbei getragen wurden und Eunuchen mit klaren hohen Stimmen von der unendlichen Gunst des Kaisers sangen. Was war dagegen schon ein Anwesen irgendwo in der Steppe und ein Ur großonkel, den sie nie gesehen hatte? Das musste ihr Vater doch ein fach verstehen. Xia-Ji zuckte zusammen, als eine Silhouette direkt hinter der Tür auftauchte und sie zur Seite zog. Der Balken erschien ihr plötzlich als eine lächerliche Deckung. Hastig trat sie einen Schritt zurück, versuchte mit den Schatten zu verschmelzen und hörte ihren Vater »Dann ist es so beschlossen« sagen. Die Leibwächter verließen den Raum und sahen sich kurz um. »Bitte überlegt es Euch noch einmal.« Xia-Ji hörte Fu Longs Stim me, bevor er aus der Tür trat. »Lasst mich in Euren Diensten blei ben.« Er bettelte fast schon und Xia-Ji fragte sich, warum sie das be leidigte. »Nein, es ist entschieden.« Ihr Vater war der Letzte, der im Gang erschien. Xia-Ji wagte es kaum zu atmen. Sie presste sich an die Wand und lauschte ihrem donnernden Herzschlag. Fu Long ging mit gesenktem Kopf an ihr vorbei, so nahe, dass sie ihn hätte berüh ren können. Sie roch das herbe Öl, mit dem er seinen Zopf einrieb.
»Ja, Meister Li«, sagte er und schloss zu den anderen auf, ohne Xia-Ji zu bemerken. Sie atmete auf und löste sich von der Wand, als die Rücken der Männer endlich hinter einer Ecke des Gangs verschwanden. Ihr Rücken war verschwitzt, die Seidenrobe klamm und zerknittert. Nie wieder, dachte sie, während ihr Herzschlag sich langsam beruhigte, bringe ich mich in eine. Nie, nie wieder … Er stand so plötzlich vor ihr, dass Xia-Ji beinahe geschrien hätte. Kein Tropfen Schweiß war auf seinem kahlen Kopf zu sehen. Seine dunklen Augen starrten sie ruhig und kalt an. »Ich bin gerade gekommen«, sagte Xia-Ji, »um … um … nachzuse hen, ob die Diener alles weggeräumt haben … Sie sind … unzuver lässig … manchmal, wenn man nicht auf sie achtet … Deshalb achte ich auf sie … und …« Der Blick aus dunklen Augen raubte ihr das letzte bisschen Selbst bewusstsein. Sie ließ den Satz unvollendet und wollte an dem Leib wächter vorbeigehen, aber dessen Körper blockierte den Gang. Ner vös strich sie sich über die Haare. Es ärgerte sie, dass ihre Finger zit terten. »Ich werde einen Diener anweisen, Tee zuzubereiten«, sagte sie. »Lass mich bitte vorbei.« Sie machte einen kleinen Schritt auf ihn zu, aber der Leibwächter beugte sich plötzlich vor, bis sein Gesicht auf ihrer Höhe war. Dann öffnete er seinen zungenlosen Mund und zischte. Es war das Ge räusch einer Schlange, vielleicht das einzige, zu dem er in der Lage war. Es jagte ein solches Entsetzen durch Xia-Jis Körper, dass ihre Knie nachgaben und sie mit einem schmerzhaften Aufprall zu Bo den fiel. Sie biss die Zähne zusammen und kämpfte gegen die Trä nen in ihren Augen. Der Leibwächter schloss den Mund. Ohne ihr einen weiteren Blick zu widmen, drehte er sich um und ließ sie zurück. Xia-Ji blieb sitzen, bis sie seine Schritte nicht mehr hören konnte. Erst dann stand sie auf und ordnete ihre Kleidung. Die Reaktion des
Leibwächters war eine Warnung gewesen, das wurde ihr langsam klar. Er hatte bemerkt, dass sie das Gespräch belauscht hatte, und ihr auf seine Weise zu verstehen gegeben, dass er das kein zweites Mal tolerieren würde. Sie schwor sich, ihm dazu auch keine Gele genheit zu geben.
Im Nachhinein war es wie ein Traum. Xia-Ji hörte ihr eigenes Schluchzen und Betteln und die ruhige Stimme ihres Vaters. Er er klärte, warum sie nicht bleiben konnte, warum die Feste und Zere monien in diesem Sommer und vielleicht auch bis in den nächsten hinein ohne sie stattfinden mussten und warum sie in den Westen gehen würde, auch wenn es ihr das Herz brach. Sie hörte seine Worte, sah jedoch nur den kalten Blick des Leib wächters neben ihm. Irgendwie, da war sie sicher, hatte er ihren Va ter dazu gebracht, so zu handeln. Allein wäre er nie auf die Idee ge kommen, sie fortzuschicken, zu einem Urgroßonkel, den sie nicht kannte und nicht kennen lernen wollte. Selbst Fu Long war gegen diese Reise, auch wenn er zu feige war, sich zu äußern, und nur mit betretenem Gesicht neben der Tür stand, als wolle er bei der ersten Gelegenheit fliehen. Nur ab und zu nickte er, wenn ihr Vater zu ihm herüberblickte. Xia-Ji hasste ihn plötzlich. Aber das alles half nichts, denn als sie aus dem Traum erwachte, lag sie in einer Sänfte, die mit zugezogenen Vorhängen im ersten Licht des Morgens aus der Stadt getragen wurde. Sie hatte sich nicht von ihrem Vater verabschiedet, hatte ihm nur stumm den Rücken zugedreht, als er sie umarmen wollte. Den Ausdruck auf seinem Ge sicht hatte sie nicht gesehen, aber vielleicht verstand er ja jetzt, wie tief er sie verletzt hatte. Xia-Ji hörte das Klappern der Pferdehufe auf der gepflasterten Straße. Nur zwanzig Soldaten in einfachen Uniformen hatte man zu ihrer Begleitung abgestellt, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.
Ohne die Banner und Fahnen, die sie sonst trugen, wirkten sie wie armselige Söldner. Von den Dienern war kein einziger mit auf die Reise gegangen. Angeblich war das zu gefährlich. »Xia-Ji?« Ein Schatten tauchte vor den Vorhängen ihrer Sänfte auf. Sie wandte sich ab und vergrub ihr Gesicht in den weichen Kissen. Kühle Morgenluft strich über ihre Arme, als die Vorhänge geöffnet wurden. »Schlaft Ihr, Xia-Ji?« Sie erkannte Fu Longs Stimme und schwieg. »Nein, ich glaube, Ihr wollt nur nicht mit mir reden, also werde ich einfach vortragen, was ich zu sagen habe. Das Anwesen Eures Ur großonkels liegt elf Tagesreisen westlich von hier. Wir werden uns bemühen, die Reise schneller hinter uns zu bringen, um Euch so we nig Unbequemlichkeit wie möglich zu verursachen. Gegen Abend des heutigen Tages sollten wir ein kleines Gasthaus erreichen, wo wir übernachten können. Wir reisen unter falschem Namen, also bit te merkt Euch, dass Ihr die Tochter des Dritten Sekretärs der frucht baren Scholle Ran Baokuai seid. Euer Name ist Ran Ni. Die Bauern werden nicht bemerken, dass die Namen erfunden sind.« Er hörte auf zu reden, ließ die Vorhänge jedoch geöffnet. Xia-Ji spürte seine Anwesenheit ebenso deutlich wie den Wind. »Und dann«, sagte er nach einer Weile mit vor Wut zitternder Stimme, »wollte ich Euch noch mitteilen, dass Euer Vater Euch mehr liebt als sein Leben und dass Euer kindisches Verhalten Schande über ihn und seine ganze Familie bringt. Das hätte ich nicht von Euch erwartet.« Der Wind verschwand von ihren Armen, der Vorhang wurde ge schlossen. Xia-Ji umarmte das Kissen, auf dem sie lag, und weinte sich in den Schlaf.
5. »Verschwinde! Hau ab!« Tong Tomao krümmte sich unter den Tritten und kroch aus den Körben und Töpfen hervor, die ihm in der Nacht Schutz vor Gewit tern gegeben hatten. Der erboste Besitzer trat noch einmal nach, be vor er fluchend mit dem Beladen seines Karrens begann. Sicherheits halber kroch Tomao ein paar Gassen weiter, bevor er sich an eine Wand lehnte und den Schlaf aus seinen Augen rieb. Um ihn herum erwachte die Chinesenstadt. Stimmen wurden laut, das erste Lachen, ein lautes Kinderweinen. Es roch nach Tee und vergorenem Kohl. Tomao spürte, wie sein Magen zu knurren be gann. Aber er würde noch eine Weile knurren müssen, denn der frü he Morgen war eine schlechte Zeit zum Betteln. Vor allem hier drau ßen, in den äußersten Bezirken der Stadt, wo nur die Armen, die Verrückten und die Bettler lebten, sorgte man erst für das eigene Wohl, bevor man an andere dachte. Tomao nahm das niemandem übel. Schließlich konnten die Men schen hier nichts dafür, dass er ein Krüppel war und ihre Hilfe zum Überleben benötigte. Wenn sie etwas übrig hatten, gaben sie es ihm, und wenn nicht, verbrachte er nun mal einen hungrigen Tag. Sein Körper war zwar ausgemergelt wie der eines Lungenkranken, aber verhungert war er noch nicht – im Gegensatz zu manch anderem Bettler. Tomao kannte auch den Grund dafür, dass man ihm eine Schüssel Reissuppe reichte oder ab und zu sogar eine Münze fallen ließ, da mit er sich sein Essen selbst aussuchen konnte. Man mochte ihn. Er wusste nicht, weshalb das so war, weshalb Männer mit ihm
scherzten und Frauen ihn bemuttern wollten. Vielleicht lag es an sei nem offenen Gesicht oder der stoischen Art, mit der er sein Leben ertrug. Er hatte oft darüber nachgedacht, ohne eine Antwort zu fin den. Tomao zog seinen Lendenschurz, das einzige Kleidungsstück, das er besaß, zurecht und kroch aus dem Schatten in die wärmende Morgensonne. Seine kurzen Beinstümpfe hinterließen tiefe Linien im Staub, als wären zwei Schlangen dort entlang gekrochen. Er träumte oft von dem Tag, an dem er seine Beine verloren hatte. Manchmal wachte er nachts schreiend auf und spürte den Schmerz, den entsetzlichen, tosenden Schmerz, mit dem die Explosion seine Beine wegriss. Dann lag er wieder im Stollen der Mine, umgeben von sterbenden, stöhnenden Männern und bedeckt von Blut. Die meisten hatten die Gasexplosion nicht überlebt. Nur er und Bei Rongshen waren nach Tagen des Fiebers als Krüppel erwacht. Rongshen hatte einen Arm und ein Bein verloren und in mancher Stunde sogar den Verstand. Tomao wusste nicht, was aus ihm ge worden war, denn er selbst war mit Beginn des Winters, als der Hunger nach den Dörfern griff, von seiner Familie auf einen Karren geladen und einen halben Tagesmarsch entfernt ausgesetzt worden. Sie hatten geweint, als sie ihn zurückließen. Mit Hilfe einiger Bauern und Händler war er bis nach Peking ge langt, wo er seit über zehn Jahren überlebte. Er hatte Glück gehabt, wenn man es so betrachten wollte. Tomao ließ die Gassen hinter sich und erreichte einen kleinen Platz. Seine Handflächen und Ellenbogen, mit denen er sich größ tenteils abstützte, waren voller Hornhaut, sodass er weder kleine Steine noch Splitter bemerkte. Sein Nacken war breit, muskulös und so steif, dass er sein Kinn nicht mehr auf die Brust legen konnte. Manchmal fiel es ihm schwer, den Kopf zu drehen; dann dachte er, dass er einer Schlange immer ähnlicher wurde. Vielleicht verwan delte er sich ja tatsächlich und würde eines Tages die Arme abwer fen und sich vollständig in seiner neuen Gestalt in den Wald schlän
geln, um nie wieder gesehen zu werden. Er schüttelte den Gedanken ab, als er bemerkte, wie verstörend er war. »Guten Morgen, Tomao«, sagte Hong Me, ein alter gelähmter Bett ler, der sich mühsam auf Krücken stützte. »Ist der Fußabdruck auf deinem Hintern ein Anzeichen für die Art, mit der du heute ge weckt wurdest?« Die anderen Bettler neben ihm lachten, selbst Shi Bo, der blind und halb taub war und den Witz nicht verstanden haben konnte. Tomao grinste. »Ich hoffe, es ist kein Omen für den Rest des Ta ges.« Sie nannten sich die Gilde des schmutzigen Frosches, die Bettler, die sich hier jeden Morgen trafen, um Neuigkeiten auszutauschen und zu sehen, ob alle die Nacht überlebt hatten. Nicht immer ließ sich die letzte Frage mit ja beantworten. An diesem Morgen waren sie jedoch alle versammelt, und so stan den, lagen und saßen mehr als fünfzig Bettler auf dem kleinen Platz. Die Gilde nahm jeden auf, ob armlos oder beinlos, ob blind oder bucklig. Nur Trinker und Opiumraucher suchte man vergeblich in der Runde. Man konnte ihnen nicht vertrauen, deshalb blieben sie ausgeschlossen. Tomao lehnte sich an eine Wand und entspannte seinen Rücken. Das Holz war noch kühl von der Nacht. Er seufzte leise, als die Krämpfe aus seinen Muskeln verschwanden. »Geht es dir gut?« Er sah überrascht zur Seite, bemerkte jetzt erst die Gestalt, die halb in den Schatten verborgen neben ihm hockte. Es war Ma Kun, eine der wenigen weiblichen Bettler in der Gilde. Ihr Körper war ver wachsen wie ein alter Baum. »Ja«, sagte er. »Es geht mir gut. Und dir?« Sie rutschte näher an ihn heran. Er roch ihren Schweiß und den sauren Atem. Ein Stück entfernt verkündete Hong Me die Neuigkei
ten des Tages. Ein reicher Händler feierte die Vermählung seines Sohnes, und eine Abordnung der Gilde hatte ihn aufgesucht, um zu verhandeln. Er hatte zugesagt, ihnen die Essensreste zu schenken. Im Gegenzug würde die Gilde dafür sorgen, dass kein anderer Bett ler die Harmonie des Festes störte. »Ich habe etwas gesehen«, sagte Ma Kun leise. »Es könnte wichtig sein.« »Dann solltest du es sagen, wenn Hong Me fertig ist.« Er wollte zur Seite rutschen, weg von ihr, aber ihre knorrigen Fin ger legten sich um seinen Arm. »Nein, ich glaube, es ist zu wichtig für die Gilde.« »Was soll das heißen?« Gegen seinen eigenen Willen wurde er neugierig. Ma Kun wirkte so aufgeregt, als habe ein Dämon ihr einen neuen Körper verspro chen. Sie sah sich nach allen Seiten um, bevor sie ihren Kopf dicht an sein Ohr brachte. Ihre Stimme strich warm über seine Haut. »Die Tochter des Sekretärs Li hat beim ersten Sonnenstrahl die Stadt auf der westlichen Straße verlassen. Ihre Sänfte war geschlos sen und die Soldaten an ihrer Seite trugen keine Banner, aber ich habe sie trotzdem erkannt.« Tomao dachte an Pu-Yangs Selbstmord und die Reichtümer, die dem Mörder Lis winkten. »Bist du sicher?«, fragte er ebenso leise zurück. »Ich habe einen der Soldaten erkannt. Er …« Sie zögerte. »Er … be sucht mich manchmal, wenn er einsam und betrunken ist. Dann stört es ihn nicht, dass ich …« Tomao nickte hastig. »Schon gut, du bist dir also sicher.« »Ja. Es war Lis Tochter.« Seine Gedanken überschlugen sich. Eigentlich war es seine Pflicht, der Gilde mitzuteilen, was Ma Kun gesehen hatte. Die Gilde gab diese Informationen an interessierte Geheimbünde und verteilte die
Einnahmen daraus an ihre Mitglieder. Meistens kam nicht mehr als eine Tasse Tee oder eine Schale Reis dabei heraus, aber dieses Mal konnte der Überbringer der Nachricht als reicher Mann nach Hause gehen – oder kriechen. Hong Me hatte seinen Vortrag beendet. Bai Aifei, ein ehemaliger Soldat, der seine Hände in einer Schlacht verloren hatte, trat vor und berichtete von einer Opiumhöhle, die ohne Genehmigung der Ge heimbünde betrieben wurde. Ein Gelähmter, dessen Namen Tomao vergessen hatte, bestätigte das Gerücht und nannte sogar die Adres se. »Wieso ich?«, stellte Tomao die offensichtliche Frage. Ma Kun lachte lautlos. »Weil man dich mag. Selbst die Geheim bünde mögen dich. Sie werden dich anständig für diese Information bezahlen, auch wenn du kein Abgesandter der Gilde bist.« »Darauf würde ich mich nicht verlassen.« Insgeheim wusste Tomao jedoch, dass sie Recht hatte. Von allen Bettlern auf diesem Platz benötigte er den Schutz der Gilde am we nigsten. Niemand hatte ihn je ernsthaft angegriffen oder geschlagen, und selbst an schlechten Tagen schlief er selten hungrig. Sogar Frau en hatten sich schon zu ihm verirrt, selten zwar, aber es geschah. »Wirst du für mich zu ihnen gehen?« Ma Kuns Stimme war ein Hauch. Tomao widerstand dem Impuls, sie darauf aufmerksam zu ma chen, dass er nie wieder irgendwohin gehen würde, und nickte nur. Ihre Finger glitten über seinen Arm in einer Geste, die er als Dank barkeit interpretierte. »Die Hälfte von dem, was die Information wert ist, gehört dir«, sagte sie. »Einverstanden.« Tomao sah zu den anderen Bettlern auf dem Platz. Der offizielle Teil des Treffens war vorbei. Die ersten machten sich bereits zu den Orten auf, an denen sie die meisten Passanten er warteten. Andere blieben noch zurück und unterhielten sich. Zwei
Bettler, die Tomao noch nie gesehen hatte und die sich ähnlich sa hen wie Brüder, humpelten auf Krücken zu Hong Me. Anscheinend wollten sie sich um Aufnahme in die Gilde bemühen. »Komm«, sagte Tomao und stieß sich von der Wand ab. Sein schwerer Oberkörper landete im Staub, nahm beinahe automatisch die richtige Position ein. Ma Kun kam gekrümmt auf die Beine, wat schelte wie eine Ente neben ihm her, als er den Platz verließ und zu der Opiumhöhle kroch, die der Geheimbund der zwölf vollen Mon de zu seinem Hauptquartier gemacht hatte. Er kannte mehrere Brü der des Bundes und wusste, wie er mit ihnen zu reden hatte. Die Straßen füllten sich rasch mit Menschen. Tomao glitt zwischen ihnen hindurch, schneller und geschickter als Ma Kun, die immer wieder anstieß und sich Schläge und Flüche gefallen lassen musste. Schließlich musste er am Eingang der Opiumhöhle sogar auf sie warten. »Bleib hier«, sagte er mit einem Blick auf die Torwachen und den dunklen Eingang. »Es wird nicht lange dauern.« Sie nickte, aber in ihren Augen stand flackernde Angst. Tomao kroch auf die Torwachen zu und sah auf, als sie sich ihm in den Weg stellten. »Ich möchte zum Ehrenwerten Hu Zhenbai. Es gibt wichtige Neu igkeiten, die ich zu überbringen die Ehre habe.« Den ganzen Weg über hatte er über seinen Begrüßungssatz nach gedacht, doch laut ausgesprochen wirkten die Worte auf einmal peinlich und lahm. Trotzdem verschwand ein Wachmann im Inne ren, während der andere ihn anstarrte. Tomao konzentrierte sich auf einen Punkt am Boden, versuchte weder an den Speer des Wach manns noch an das Messer in dessen Gürtel zu denken. Nach einem Moment tauchte der zweite Wachmann wieder auf. »Geh rein«, sagte er und grinste. »Danke, Herr. Euer Sinn für Humor ist eine Inspiration.« Die beiden Männer lachten, als er an ihnen vorbei in den Gang
kroch. Nach dem hellen Morgenlicht wirkte die Umgebung dunkel und bedrohlich. Einzelne Öllampen hingen an den Decken wie Ster ne in einer wolkenverhangenen Nacht. Tomao sah Nischen, in de nen Gestalten auf Kissen lagen. Sie hielten Pfeifen, die so lang wie ein Unterarm waren. Ihre Gesichter waren eingefallen und ihre Au gen lagen so tief in den Höhlen, dass sie wie schwarze Löcher wirk ten. Sie lächelten in einer Weise, die Tomao verstörte. Der Gang endete in einem Raum, dessen Wände von schweren ro ten Vorhängen bedeckt waren. Schatten zuckten darüber hinweg, riesenhaft und unheimlich im Halbdunkel der wenigen Lampen. Ir gendwo weinte eine Frau; ob in diesem Raum oder einem anderen, konnte Tomao nicht sagen. Aus seinem Blickwinkel sah er nur Kis sen, Decken und die schmalen Gänge, die wie Trampelpfade zwi schen den Opiumlagern verliefen. »Er ist hier.« Die Stimme klang gedämpft. Tomao stützte sich auf Hände und Beinstümpfe, um seinen Oberkörper aufzurichten. Seine Bauchmus keln zitterten unter der Anstrengung, aber die Haltung gab ihm zu mindest etwas Würde und den Überblick, den er benötigte. Vier Männer saßen ihm auf Kissen gegenüber. Zwei von ihnen tru gen lange Schwerter in den Händen, einer trank Tee aus einer wei ßen Tasse und der vierte, der, den Tomao als Hu Zhenbai erkannte, war tot. Ein Schwerthieb hatte seinen Körper von der Schulter bis zum Bauch aufgerissen. »Ich fürchte, Hu Zhenbai wird sich für deine Informationen nicht mehr interessieren«, sagte der dritte Mann und stellte die Teetasse neben sich auf den Boden. »Aber vielleicht kannst du mir und der grauen Bruderschaft nützlich sein.« Tomaos Mund wurde trocken, als er begriff, wer vor ihm saß. Die Gräueltaten der grauen Bruderschaft waren selbst bei den Geheim bünden Pekings berüchtigt und jeder, ob Mörder, Spieler oder Zu hälter dankte den Göttern, dass sie seit Beginn des Taiping-Auf stands ihr Herrschaftsgebiet auf Nanking beschränkt hatten – bis
jetzt zumindest. »Ehrenwerter Kai«, begann er, wohl wissend, dass sein Leben auf seiner Zunge lag. »Es ist eine unerwartete Ehre, Euch, dem Meister des Schreckens und dem Herrn des Blutes zu begegnen. Ich habe Männer gesehen, die bei der Erwähnung Eures edlen Namens so sehr zitterten, dass sie kein Glas halten konnten. Ihr tragt das Grau en in die Herzen der Menschen und die Furcht in ihren Geist. Ihr …« »Hüte deine Zunge«, unterbrach ihn Kai-Xuan lächelnd, »oder du kannst sie in deiner Hand nach Hause tragen.« Er klang amüsiert, nicht verärgert. Tomao neigte den Kopf. »Es bringt keine Ehre einen Krüppel zu verkrüppeln«, sagte er, »seine Dienste zu benutzen hingegen, bringt Wohlstand und Zufriedenheit.« Einer der Männer lachte. »Wir sollten ihm doch die Zunge neh men. Sie scheint aus Silber zu sein.« Tomao hörte ihn kaum, hatte nur Augen für Kai-Xuan, der etwas Tee aus einer Kanne in eine Tasse goss und das dünne Porzellan langsam in den Händen drehte. Ein Wort von ihm entschied über Leben und Tod. »Und welcher Dienst«, hörte er Kai-Xuan schließlich zu seiner grenzenlosen Erleichterung sagen, »würde dir und mir Wohlstand und Zufriedenheit bringen?« »Kein Dienst, Herr, sondern eine Information, die Tochter des Ers ten Sekretärs Li betreffend. Sie wurde gesehen, als sie im Morgen grauen mit nur wenigen Soldaten die Stadt verließ.« Kai-Xuan sah auf. Einer der Männer neben ihm öffnete den Mund, aber er brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. To mao spürte, wie sich die Atmosphäre im Raum änderte, kühler wur de, aber er konnte nicht sagen, weshalb. »Bist du nicht Mitglied der Gilde des schmutzigen Frosches?«, fragte Kai-Xuan nach einer Pause.
Tomaos Schläfen begannen zu pochen. Der Schmerz seiner Bauch muskeln stach bis in die Brust. »Das bin ich, Herr.« »Sollte dann nicht die Gilde diese Information überbringen und dafür bezahlt werden?« Natürlich hatte er Recht, und die Entschuldigungen und Ausflüch te, die Tomao durch den Kopf schossen, änderten nichts an dieser Tatsache. Also räusperte er sich nur und sagte die Wahrheit. »Die Gilde sind viele, aber ich bin nur einer, Herr.« Mas Namen erwähnte er nicht. Wenn es zum Schlimmsten kam, konnte sie viel leicht wenigstens ihr Leben retten. »Die Gilde sind viele …«, wiederholte Kai-Xuan. Sein Gesicht zeig te keinen Ausdruck, war leer wie das eines Toten. Er hob die Hände und klatschte zwei Mal laut. Tomao zuckte bei den Geräuschen zusammen. Etwas in ihm verkrampfte sich, als er das charakteristische Pochen von Krücken hörte. Dann humpelten Hong Me und die beiden Männer, die auf dem Platz zu ihm gegan gen waren, hinter den Vorhängen hervor. Hong Mes Mundwinkel zitterten, als müsse er weinen. »Du verlo gener, dreckiger Sohn einer räudigen …« »Das reicht.« Kai-Xuan erhob sich in einer fließenden, beinahe anmutigen Bewe gung. Das Schwert an seiner Hüfte reflektierte für einen Moment das Licht einer Lampe. Tomao ignorierte die Schmerzen in seinem Körper. Wenn er schon sterben musste, dann wenigstens so auf recht, wie es ihm noch möglich war. »Du siehst mein Dilemma«, sagte Kai-Xuan. »Die Gilde der Bettler überbringt mir diese wertvolle Information, und der Mann, der die se Gilde hintergehen will, tut das gleiche. Ich kann nur einen beloh nen. Der andere …« »Macht Euch um den anderen keine Gedanken, Herr.« Hong Me richtete seine Krücke wie ein Gewehr auf Tomao. »Er wird Euch nie wieder belästigen.«
»Das ist richtig, Herr«, beeilte sich einer seiner Begleiter zu sagen. »Ich und mein Bruder haben die Tochter des Ehrenwerten Li gese hen, nicht er. Es ist unsere Information, und für diesen Diebstahl werden wir ihn bestrafen.« »Das glaube ich nicht.« Kai-Xuans Stimme schnitt durch das Ge stammel des Bettlers. »Tote bestrafen niemanden.« Er nickte seinen Männern zu. »Bringt sie um.« Die beiden reagierten sofort. Hong Me wurde von einem Schwert durchbohrt, als er gerade den Mund öffnete; die Brüder stießen zu mindest noch einen hohen, quiekenden Schrei aus, bevor auch sie zu Boden sanken. Tomao erwartete die Klinge, hob den Kopf, um ihr entgegen zu blicken, aber die beiden Männer steckten die Schwerter wortlos ein und begannen damit, die Leichen zu einem Hintereingang zu schleppen. »Es sagt viel über einen Mann aus, wie er stirbt«, sagte Kai-Xuan und goss zwei Tassen Tee ein. Eine reichte er Tomao, der mit beiden Händen danach griff. Trotzdem zitterte er so stark, dass die heiße Flüssigkeit über seine Finger rann. »Manche Männer sterben stumm, manche schreien wie Schweine auf dem Weg zum Schlachter. Die meisten versuchen sich zu ver kriechen oder zu flüchten. Sie bedecken ihre Gesichter mit ihren Händen, als könnten sie sich vor dem Tod verstecken. Nur wenige sehen dir in die Augen, wenn es passiert.« Kai-Xuans leblos kalter Blick traf Tomaos. »Ich frage mich, wie du sterben würdest.« »Es erfüllt mich mit Stolz, Herr, dass Ihr mehr als nur einen Ge danken an das Leben oder den Tod eines Krüppels verschwendet. Das ist mehr, als ich wert bin.« »Du weißt mit Worten umzugehen.« Kai-Xuan lächelte und stellte die Teetasse ab. »Diese Gabe wird dir helfen, wenn du der Gilde von Hong Mes Tod berichtest und von meinem Wunsch, dich an seiner
Stelle zu sehen.« »Herr?« Tomao war sich nicht sicher, ob er den Satz richtig ver standen hatte. »Ich soll der Gilde vorstehen?« »Fehlen dir nicht nur die Beine, sondern auch die Ohren?« »Nein, Herr, verzeiht meine Dummheit …« Kai-Xuan stand auf. »Die Gilde wird ab jetzt ausschließlich für die graue Bruderschaft arbeiten. Du bist dafür verantwortlich, dass das Pack, das dir von heute an untersteht, sich daran hält. Wenn sie das tut, kannst du unter meiner Herrschaft zu einem wohlhabenden Mann werden. Wenn nicht …« Tomao war ihm dankbar, dass die Drohung unausgesprochen blieb. Er kannte die Geschichten über die Bruderschaft und über die Dinge, die sie tun konnten, wenn man sie verärgerte. Mindestens drei Männer, die heute der Gilde des schmutzigen Frosches ange hörten, waren dort wegen der Bruderschaft gelandet. Es würde nicht einfach sein, sie von der Arbeit für Kai-Xuan zu überzeugen. Tomao neigte den Oberkörper, bis er beinahe das Gleichgewicht verlor. »Im Namen der Gilde danke ich Euch und der ehrenwerten Bruderschaft für Euer Vertrauen. Wir werden es nie enttäuschen.« »Gut. Und jetzt zu der Information, die ich von dir ge …« »Geschenkt bekam, Herr.« Tomao verharrte in seiner unbequemen Position. »Betrachtet die Information als ein persönliches Geschenk von einem unwürdigen Krüppel an den größten Meister der Ge heimbünde. Es soll den Beginn unserer fruchtbaren Zusammenar beit dokumentieren.« Kai-Xuan lachte leise. »Deine Worte sind weich wie Seide, aber dein Geist ist hart wie die Klinge eines Schwertes. Vielleicht wäre es doch sicherer gewesen, dich zu töten. Verschwinde, bevor ich Zeit habe, darüber nachzudenken, König der Bettler.« »Herr.« Tomao kroch aus dem Raum, ohne Kai-Xuan noch einmal anzusehen. Die ausgemergelten Opiumraucher in den Gängen be merkten ihn kaum, nur manche folgten ihm mit einem trüben Blick.
Sie ahnten nichts von den Vorgängen, die sich nur eine Wand ent fernt von ihnen abgespielt hatten und interessierten sich wohl auch nicht dafür. Ihre Welt war eine andere. Tomao dachte an seine eigene Welt, die sich in nur wenigen Atem zügen völlig verändert hatte. In der Hoffnung auf ein paar Silber stücke war er in den Raum gekommen, als König der Bettler hatte er ihn verlassen. König der Bettler. Kai-Xuans Worte waren voller Ironie gewesen, aber auch seine Welt war eine andere. Er wusste nichts von dem Re spekt, den Hong Me unter den Bettlern der Stadt genossen hatte. Er war tatsächlich ein König gewesen, wenn auch einer, der Lumpen trug. Tomao erreichte das Ende des Gangs und blinzelte in helles Son nenlicht. Ma Kun saß im Schatten einer Häuserwand und richtete sich mühsam auf, als sie ihn erblickte. Einer der beiden Wachmän ner trat zur Seite. »Du?« Er klang überrascht. »Ich hätte nicht gedacht, dich noch ein mal zu sehen. Unser Herr muss dich mögen, sonst wärst du längst tot.« Eines Tages wird er mich nicht mehr mögen, dachte Tomao, als er ohne zu antworten auf die staubige Straße kroch. Er wusste nicht, woher er diese Gewissheit nahm. »Was haben sie gesagt?« Ma Kuns Worte waren voller Ungeduld, Hoffnung, Angst. »War es eine gute Information?« Tomao sah zu ihr auf, blickte in ihr schräges Gesicht und fand ihre von Knochenwülsten verdeckten Augen. »Ja, es war eine sehr gute Information, Ma Kun.« »Hat Hu Zhenbai dafür bezahlt?« Aus Hoffnung wurde Gier. »Das kann man so nicht sagen.« Er wandte den Blick ab und be gann, die Straße entlang zu kriechen. Es fiel ihm schwer, über das Geschehene zu reden und über das, was noch geschehen würde. Ma Kun holte ihn ein, hinkte verständnislos neben ihm her.
»Was hast du dann dafür bekommen?« Er lächelte bitter. »Drei Leben, ein Versprechen und eine Drohung …«
6. Li hasste Sänften. Er hasste ihr Übelkeit erregendes Schaukeln, die stickige Enge und die zugezogenen Vorhänge, die ihm keinen Blick auf die Stadt erlaubten. Seine Leibwächter hingegen liebten Sänften – aus exakt den gleichen Gründen. Das Schaukeln erschwerte einem Schützen das Zielen, die Enge sorgte dafür, dass sich niemand im Inneren verstecken konnte, und die geschlossenen Vorhänge schütz ten ihren Herrn vor Attentätern. Jedes Mal, wenn die Konventionen ihn zwangen, eine Sänfte zu benutzen, nahmen ihre Gesichter den Ausdruck großer Erleichterung an und sie verneigten sich stets et was tiefer vor Li, als wollten sie ihn bitten, von nun an ganz auf das Gehen zu verzichten. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und zog ein besticktes Kissen unter seinem Rücken hervor, das vierte, wenn er richtig ge zählt hatte. Es zeigte eine Lichtung mit einer Elefantenherde, aber Li war nicht in der richtigen Stimmung, um die künstlerische Darstel lung angemessen zu würdigen. Ihm war heiß, ihm war übel, und er vermisste Xia-Ji. Ehrlich gestand er sich ein, dass letzteres der wahre Grund für seine schlechte Laune war. Li hatte den Blick nicht vergessen, mit dem sie sich am Tag ihrer Abreise von ihm wandte und die Sänfte betrat. Sie hatte so ent täuscht gewirkt, nicht nur über die verpassten Feste, sondern vor al lem über ihren Vater, als habe Li etwas getan, dass sie ihm nie ver zeihen würde. Sie ist noch ein Kind, dachte er. Eines Tages wird sie verstehen, dass ich nur so handeln konnte. Vielleicht gelang es Fu Long, sie zu dieser Einsicht zu bringen. Er hatte die Stadt zwar ebenso wenig verlassen wollen wie sie, aber im Gegensatz zu Xia-Ji war er bei Pu-Yangs Selbstmord anwe
send gewesen und verstand, welche Gefahren in Peking drohten. Die Sänfte wurde gesenkt und setzte mit einem so heftigen Knall auf, dass Lis Zähne aufeinander schlugen. »Verzeiht, Herr«, sagte ein schweißüberströmter Diener, als er den Vorhang öffnete, nur um dann überflüssigerweise hinzuzufügen: »Wir sind da.« Li verbiss sich einen Kommentar und stieg aus der Sänfte. Seine Leibwächter tauchten sofort rechts und links von ihm auf, während die Soldaten sich verneigten und eine ordentliche Zweierreihe bilde ten. Seit Wang das Kommando übernommen hatte, war ihre Diszi plin deutlich besser geworden. Der Innenhof, in dem sie standen, gehörte zu Dengs Anwesen und verriet deutlich, welches Vermögen der Geheimrat für Steuern ange häuft hatte. Die Holztreppen waren ebenso wie die Dachbalken und Türen mit Schnitzereien und goldenen Verzierungen versehen, die sich mit denen in der verbotenen Stadt messen konnten. Überall lie fen Diener umher und sorgten dafür, dass alles in Perfektion er strahlte, angefangen von den goldenen Zügelhaltern bis hin zu den Dutzenden von Vogelkäfigen, die von den Dächern hingen. Es grenzte an Unverschämtheit, einen solchen Reichtum darzustellen. Ein Diener, der eine lächerlich bunte Uniform trug, eilte eine der Holztreppen hinab und fiel vor Li auf die Knie. »Mein Herr, der eh renwerte Deng, erwartet Euch, ehrenhafter Erster Sekretär Li. Bitte folgt mir, wenn es Euch beliebt.« »Danke.« Die Soldaten blieben zurück. Nur Li und die Leibwächter betraten das Innere des Anwesens. Sie folgten dem Diener durch einige Gän ge bis in einen großen Raum, der voller Kissen lag. An den Wänden hingen Holzmalereien und bunte Seidentücher. »Ich habe mich schon gefragt, wann Ihr mich beehren würdet, Eh renwerter Li.« Beim Jadekaiser, dachte Li. Er ist tatsächlich noch fetter geworden.
Deng lehnte halb sitzend, halb liegend auf einem Stapel Kissen, die von drei Dienern mit vor Anstrengung geröteten Gesichtern fest gehalten wurden. Ein vierter Diener bewegte einen ungewöhnlich breiten Fächer auf und ab. »Ehrenwerter Deng.« Li verneigte sich nicht, reagierte damit auf die Unhöflichkeit, mit der Deng ihm begegnete. »Die Märkte der Stadt singen Euer Loblied.« Ein lautes Lachen, gefolgt von einem schmerzhaftem Schnaufen war die Antwort. »Ja, das tun sie wohl.« Deng griff nach einigen gebratenen Enten füßen, die neben ihm in einer Schale lagen, und biss hinein. Er spuckte etwas Knorpel auf den Boden und sah Li aus kaum sichtba ren Augen an. Sein Gesicht war unnatürlich weiß. »Ich bin ein sterbender Mann«, sagte er nach einem Moment. »Seit fünf Tagen liege ich in diesem Raum, und ich werde ihn wohl auch nie wieder verlassen.« »Das tut mir Leid.« »Nein, das tut es nicht.« Deng hustete. Ein dünner Blutfaden lief über sein Kinn. Sofort rutschte ein Diener, der neben der Tür gewar tet hatte, heran und tupfte es mit einem Seidentuch ab. »Sie sagen, dass mein eigenes Gewicht meinen Körper zerquetscht, kannst du dir das vorstellen?« Sein Wechsel zu einer so vertrauten Anrede ließ Li stutzen. Das klang fast schon ein wenig künstlich. Er traute es Deng ohne weite res zu, seinen bevorstehenden Tod vorzutäuschen, um unangeneh men Fragen zu entgehen. Schweigend ließ er sich auf einem Kissen nieder. »Ich konnte mir das auch nicht vorstellen«, beantwortete Deng die eigene Frage, »aber doch ist es so.« Er schlug die Hand des Dieners müde zur Seite. »Lass uns über et was anderes reden, Si-Wen, über Geld und die Orte, an denen Geld aufbewahrt werden könnte.«
»Deshalb bin ich hier.« Li achtete sorgsam darauf, nichts von seinen Gedanken preiszuge ben. Wenn Deng tatsächlich im Sterben lag, war er vielleicht zu ei ner ehrlichen Antwort bereit. Wenn er nur vorgab zu sterben, konn te es gut sein, ihn im Unklaren darüber zu lassen, ob sein Plan funk tionierte. Ein unsicherer Mann ließ sich leicht zu Fehlern hinreißen. Dengs weiche, riesenhafte Hand griff nach einem weiteren Enten fuß, drehte ihn jedoch nur, ohne ihn zum Mund zu führen. »Ich dachte anfangs, du hättest Pu-Yangs Geld, Li. Wir alle dach ten das, aber mittlerweile ist die Geschichte von dem Kopfgeld, das auf dich ausgesetzt wurde, so oft bestätigt worden, dass sie wahr sein muss.« Er hielt inne und holte in kurzen Atemstößen Luft. Li fragte sich, wen er mit wer meinte, schwieg jedoch. »Also«, fuhr Deng fort, »kann sich das Geld nur bei einem von uns befinden, bei jemandem, dem Pu-Yang vertraut hat und der bereit ist, zumindest einen Teil davon in deine Ermordung zu stecken. Letzteres trifft auf uns alle zu, ersteres …« Er ließ den Satz auslau fen. Li lehnte sich vor. »Wen meinst du mit uns?« »Die Geheime Gesellschaft des Weißen Lotus, der Bund, dem PuYang, ich und die anderen Treue geschworen haben und den ir gendein verlogener Sohn einer fäulniskranken Schlange jetzt um sein rechtmäßig zustehendes Geld betrügt!« Hektische rote Flecke erschienen auf Dengs Gesicht. Der Entenfuß entfiel seiner Hand, und er lehnte sich so schwer in die Kissen, dass einer der Diener aufstöhnte. Li gab seine Maske des Desinteresses endgültig auf. Wenn er den Beweis für einen Geheimbund im Inneren der verbotenen Stadt er hielt, konnte er jedes Mitglied verhaften und sein Vermögen konfis zieren lassen. Und ohne Geld gab es keine Chike. »Wie lauten ihre Namen?«, fragte er eindringlich. »Wer außer dir ist Mitglied in die
sem Bund?« Deng lachte mit schmerzverzerrtem Gesicht. Blut tropfte aus sei nem Mund, aber er stoppte seinen Diener durch eine knappe Geste. »Wenn es mir noch etwas brächte, würde ich von dir ein paar Zu wendungen verlangen, ein Dutzend Diener oder eine neue Konkubi ne …« Er lächelte. Seine Zähne waren rot verschmiert. Li glaubte nicht mehr, dass er ihm etwas vorspielte. »Mao Wen-Yuan«, sagte er. »Deng Liu-Shi, Kong Chan, Wang Sheng und Hu Feng. Sie alle haben die weiße Seidenschnur ver dient, vor allem dieser schwanzlose Kong. Wenn ich du wäre, und glaube mir, im Moment wünschte ich mir nichts sehnlicher, würde ich mit meiner Suche in der verbotenen Stadt beginnen.« Li stand auf und verneigte sich tief vor dem sterbenden Beamten. »Ich danke Euch für Eure Ehrlichkeit und für die Treue zum Kaiser, die Ihr auf dem Totenbett wiedererlangt habt. Das wird nicht ver gessen werden.« Deng schloss die Augen. Sein Kopf sank nach hinten auf die Kis sen. Er sprach so undeutlich, dass man ihn kaum verstehen konnte. »Was interessiert mich das Reich, das ich so bald verlassen muss? Der Weise vom Aprikosenhügel, er ist es, an den ich denke. Es ist vielleicht doch besser, mit einem reinen Gewissen in den Tod zu ge hen.« Er sagte noch mehr, aber es war nur das Gemurmel eines Schlafen den. Li zog sich aus dem Raum zurück, den Kopf voller Namen und Strategien. Dass Deng Kong Chan erwähnt hatte, überraschte ihn, denn Kong galt als kaisertreu und beinahe hündisch loyal. Den an deren traute Li jedes Verbrechen von der Korruption bis zum Mord zu, aber Kong hatte sich nie an den so gängigen Hofintrigen betei ligt. War es möglich, dass Deng mehr wollte als nur ein reines Gewis sen vor dem Gang ins nächste Leben? Wollte er vielleicht mit einer letzten Intrige Li vernichten und damit seiner Bruderschaft einen
großen Dienst erweisen? Er musste wissen, wie riskant es war, Kong anzugreifen. Wenn Li das ohne ausreichende Beweise tat, würde der Kaiser, der Kong beinahe als Freund betrachtete, selbst ihm die wei ße Seidenschnur zukommen lassen. Es wäre eine ungeheuer elegan te Methode, um sich selbst vom Leben in den Tod zu befördern, ohne dass sich jemand die Finger schmutzig machen musste. Li trat in den Innenhof und winkte Wang zu, der im Laufschritt zu ihm kam und sich verneigte. »War Euer Gespräch erfolgreich, Herr?« »Beinahe zu erfolgreich, Kommandant. Deng scheint zu glauben, dass der Minister zur Rechten Kong das Vermögen besitzt. Die An schuldigung ist natürlich ungeheuerlich und muss genau geprüft werden. Wir brauchen Informationen über seinen Lebenswandel, wie viel seine Diener auf den Märkten ausgeben, ob er teure Vorlie ben oder Obsessionen hat, all diese Dinge. Im Inneren der verbote nen Stadt habe ich ein paar Spitzel, aber draußen werdet ihr wohl die besseren Möglichkeiten haben.« Der Kommandant richtete sich auf. »Die habe ich tatsächlich, Herr. Sie sind vertrauensvoll und haben mich nie enttäuscht.« »Achte trotzdem darauf, dass mein Name nicht fällt. Das meiste Vertrauen endet dort, wo der Geldbeutel beginnt.« Er stieg in seine Sänfte, hielt den Vorhang jedoch offen. »Was sind das für Spitzel, Kommandant?« »Ein Bettlerbund, Herr, die Gilde des schmutzigen Frosches.«
7. Xia-Ji seufzte leise. Die stillen, leeren Höfe des alten Anwesens schienen noch trostloser zu sein, als sie gedacht hatte, auch wenn ihr Urgroßonkel wie ein netter Mann wirkte. Ein netter Greis, korrigierte sie säuerlich, denn Li An-Ning hatte die neunzig wohl schon lange hinter sich gelassen. Yinchuan, der Ort ihres Exils, war zwar noch nicht die wilde west liche Wüste, in der sich ein halbwegs menschenwürdiges Leben nur in einer Oase leben ließ, aber der nördlich des gelben Flusses allge genwärtige Staub hatte sich auch hier nach nur wenigen Stunden auf ihre Kleidung gelegt. Ihr rosafarbenes Kleid sah bereits blass und staubig aus. Auch auf der Reise war ihr die karge Landschaft Nordchinas auf gefallen. Kaum ein grünes Blatt, kein Strauch, kein Baum, nur die endlosen gelben Hirsefelder auf dem gelben Lößboden, der schlam miggelbe Huanghe, den sie zwei Mal hatten überqueren müssen, und überall der feine gelbe Staub, der sich nach einiger Zeit sogar in den Hautritzen festsetzte und unter ihren Augenlidern juckte. Xia-Ji bekam nach einiger Zeit den Eindruck, der Himmel selbst sei in sei ner blassblauen Farbe von einem gelben Staubschleier verhangen. Und in diesem staubigen, einsamen Land sollte sie auf unbestimmte Zeit wohnen … Mühsam riss sie sich zusammen. Der Gedanke an die Ungerechtig keit und die Fehlerhaftigkeit, mit der ihr Vater entschieden hatte, rieb über ihren Geist wie der Staub über ihre Haut. Gerade jetzt, wo ihr Vater in Peking mit allen Mitteln versuchte, seiner Ermordung zu entgehen, hätte sie bei ihm sein müssen. Wen hatte er denn jetzt noch außer ihr, wo er selbst Fu Long fortgeschickt hatte? Seine Leib wächter würden ihn wohl kaum durch anregende Konversation auf
andere Gedanken bringen. Xia-Ji stampfte wütend mit dem Fuß auf, eine kindische Geste, die sie jedoch erleichterte. Vor ein paar Tagen, während der Reise, war sie nur traurig und deprimiert gewesen, aber jetzt, mit sicherem Bo den unter den Füßen, verwandelte sich die Trauer in Wut. Fu Long hatte das seine dazu beigetragen, indem er sie auch noch maßregel te, weil sie sich angeblich nicht so weiblich benahm, wie er das viel leicht in seinen vier Klassikern (die, so nahm sie an, sein einziger Kontakt zum weiblichen Geschlecht gewesen waren) gelesen hatte. Das war nicht nur lächerlich, sondern völlig unangebracht. Sie hatte die vier Klassiker auch gelesen, sie kannte das Buch der Wandlungen und hatte auch die vier volkstümlichen Romane mit Begeisterung verschlungen. Hatte sie es denn wirklich nötig, sich Vorhaltungen über angebliche Unweiblichkeit anzuhören? Noch dazu war sie die ganze lange Reise eingesperrt gewesen in dieser fürchterlichen Sänfte, die unbequem und stickig war und deren Schwanken das Lesen unmöglich machte. Völlig umsonst hatte sie vor der Reise den »Traum der roten Kammer« aus der Bibliothek ih res Vaters entwendet. Und als wäre all das nicht genug, war sie am zweiten Tag der Reise seekrank geworden und hatte sich, als Fu Long wieder einmal eine ihrer Verfehlungen bemängelte, mitten auf seine Sandalen übergeben. Die Übelkeit hatte sich erst gelegt, als sie die Sänfte in den Stallungen ihres Onkels hatte verschwinden sehen. Jetzt, am nächsten Morgen, ging es ihr, den Ahnen sei Dank, bes ser. Xia-Ji überquerte den Innenhof und nickte knapp, als sich einer der Gärtner tief vor ihr verbeugte, ein, wie sie zugeben musste, gut aussehender, junger Mann. Im Hause ihres Vaters hatte sie für jeden Diener stets ein Lächeln übrig gehabt, doch hier fand sie nicht die Energie dafür. Sie blieb vor dem Eingang zur Bibliothek stehen und holte tief Luft. Li An-Ning war sicher ein freundlicher Mann, doch das Alter hatte auch bei ihm Spuren hinterlassen. Dennoch, eine Einladung
zum Frühstück schlug man einem älteren Verwandten einfach nicht aus. Sie trat ein und blinzelte. Es war dunkel. Ihre Augen benötigten einen Moment, um sich nach der hellen Morgensonne daran zu ge wöhnen. Die Bibliothek war ein vornehm eingerichtetes Zimmer mit dunklen Ebenholzregalen voller Bücherrollen und einigen kostbaren Porzellanvasen. Die wenigen Fenster bestanden aus Papier und fili gran geschnitztem Gitterwerk. Wenigstens würde ihr der Staub nicht beim Frühstück in den Zähnen knirschen. Die Wände waren mit blassen, aber ungewöhnlich schönen Male reien von Gebirgslandschaften mit Seen und Bächen verziert. Kein Wunder, dachte Xia-Ji. Wenn man schon in einem derartig ver wüsteten Landstrich lebt, dann muss man sich die Schönheit des Wassers ja an die Wand hängen. »Komm näher, mein Kind. Wie ich sehe, gefallen dir meine alten Wandbilder.« Die Stimme zitterte und klang brüchig. Xia-Ji erschrak und fiel auf die Knie, wie sich das ja auch eigentlich beim Betreten eines fremden Zimmers gehörte. Sie schämte sich plötzlich und dachte an Fu Long, der ihr die Ma nieren eines ungezogenes Bauernmädchens vorgeworfen hatte. Ihr Onkel ehrte sie in besonderer Weise, nicht nur durch seine Einla dung zum Frühstück, sondern auch durch das Treffen im Herren zimmer, das eigentlich wichtigeren Besuchern vorbehalten war. Sie legte ehrerbietig die Stirn auf den Boden. »Verzeiht, werter Onkel.« Das war eigentlich ein unverschämt knapper Satz, aber Xia-Ji konnte den Widerwillen gegen ihre Anwesenheit hier nicht unter drücken. Doch ihr Onkel schien ihr das nicht übel zu nehmen, be merkte es vielleicht nicht einmal. »Tritt näher, mein liebes Kind!« Xia-Ji gehorchte mit gesenktem Kopf, stand auf und ging auf den Ursprung der Stimme zu. Ihr Urgroßonkel saß in einer Ecke auf ei
nem kunstvoll geschnitzten Stuhl, der an einem Tisch stand, der sich förmlich unter Nahrungsmitteln bog. Sie sah Suppe, Reis, gedünste ten Fisch und verschiedene Gemüsesorten, deren Geruch ihren aus gehungerten Magen zum Knurren brachte. Die Gerichte waren sorg fältig wie Kunstwerke auf den Tellern arrangiert. Sie blieb vor dem Tisch stehen und musterte Li An-Ning verstoh len. Er war ein verhutzelter, uralter Mann mit einem Hals, der so fal tig wie der eines Truthahns war. Seine silbergraue Robe war aus Sei de, und auf seinem kahlen Kopf thronte zu ihrem Erstaunen eine kleine schwarze Flügelkappe, wie sie zu den glorreichen Zeiten der Mingdynastie üblich gewesen war. Der schüttere weiße Bart schien ihr endlos lang. Er wirkte so alt, wie die Gelehrten und Philosophen auf den Bil dern, die sie als Kind immer betrachtet hatte. Ein zittriges Kichern riss Xia-Ji aus ihren Gedanken. Sie ertappte sich dabei, erneut ein schlechtes Gewissen zu bekommen. Es war dreist, in Anwesenheit eines so ehrwürdigen alten Mannes wie Li An-Ning einfach nur herumzustehen und zu schweigen. Aber warum auch nicht?, dachte sie provokant. Wieso soll er nicht er fahren, dass ich nicht hier sein will? Vielleicht schickt er mich ja zurück nach Peking, wenn mein Benehmen sein Haus entehrt. Li An-Ning räusperte sich. »Dein ehrenwerter Vater hat mir ja schon in einem ausführlichen Brief geschrieben, wie frei er dich er zogen hat. In der Tat ein seltener Anblick, aber nimm doch Platz, mein liebes Kind.« Wieder war da das brüchige, heisere Kichern, das Xia-Ji beinahe unheimlich erschien. Gereizt ließ sie sich am Tisch nieder und sah über die sorgfältig zubereiteten Speisen in dem hübschen blauweiß gemusterten Ge schirr hinweg. »Nur Fisch? Kein Lamm? Ich dachte, hier im wilden Westen gibt es kein Wasser für Fischzucht!«, bemerkte sie spitz.
Li An-Ning ging auf die Provokation nicht ein, aber Xia-Ji sah in seinem Blick, dass er sie bemerkt hatte. »Nein, nein, mein Kind, das verwechselst du. Die Hui im Westen(Sammelname für die moslemi schen Minderheiten in Xinjiang) essen nur Lamm. Das gehört zu ih rem Glauben. Sie glauben ja auch an nur einen Gott, und der verbie tet ihnen, Alkohol zu trinken und Schweinefleisch zu essen. – Manchmal frage ich mich, ob ein solch einfacher Glaube nicht weise ist.« Er wollte weitersprechen, doch Xia-Ji nutzte die Gelegenheit zum Konter, so wie sie es in Diskussionen mit ihrem Vater gelernt hatte. »Nun, ich habe von Vater gehört, dass auch die Barbaren unterein ander über die verschiedenen Ansichten streiten, die man über Gott haben kann. Sicher wollt Ihr nicht behaupten, sie seien weiser als wir.« Li An-Ning lächelte nur und strich über seinen endlos langen Bart. »Du solltest zugreifen, mein liebes Kind. Die Speisen werden kalt. Ich habe gehört, deine Reise ist länger gewesen als erwartet?« Am liebsten hätte Xia-Ji dem alten Mann ein deftiges »Was geht's dich an, alter Greis?« an den Kopf geworfen, doch dann siegte der Hunger. Schließlich war sie gestern erst angekommen, und da hatte sie nichts anderes im Sinn gehabt, als das Schwanken der schreckli chen Sänfte und Fu Longs nervendes tollpatschiges Verhalten zu vergessen. Erst als sie aufwachte, hatte sie ihren leeren Magen be merkt. »Ja, die Reise war nicht einfach«, antwortete sie ohne großen En thusiasmus. »Wir mussten zwei Mal den Gelben Fluss überqueren. Ich bin am Staub fast erstickt. Außerdem hat Fu Long den gerings ten Hausverstand vermissen lassen.« »Fu Long? Das ist doch dieser freundliche junge Gelehrte, der mir den Brief überbracht hat? Was hast du an ihm auszusetzen? Er macht einen äußerst höflichen und gebildeten Eindruck!« Xia-Ji hatte sich gerade Reis nehmen wollen, aber jetzt blieb ihre Hand mit dem Löffel über der Schüssel schweben. »Fu Long ist ein
angeberischer Besserwisser!« Der alte Mann kicherte wieder so auffällig und lang, dass Xia-Ji sich fragte, ob er vielleicht schon senil war. »Nun, nun, nicht so heftig, mein liebes Kind. Ich sehe schon, dein Vater hat dich in der Tat frei erzogen. Eine Seltenheit heutzutage. Es ist äußerst erfrischend, mit dir zu sprechen. Was deinen Vater wohl dazu bewogen haben mag, diesen Weg für dich einzuschlagen?« Xia-Ji schluckte den Reis zusammen mit ihrem Ärger über Li AnNings Andeutung herunter. »Mein Vater liebt mich eben! Und ich ihn auch!« Sie stellte die Schüssel auf dem Tisch ab und versuchte, ihre Trä nen der Wut zu unterdrücken. »Ich frage mich wirklich, was ich hier in der Wildnis tue – ich sollte bei ihm sein und nicht hier meine Zeit verschwenden mit …« Sie stockte. Li An-Ning sah sie aufmerksam an. »Mit deinem alten Großonkel, der gar nicht verstehen kann, was du eigentlich durchmachst.« Das klang ernsthaft und nicht mehr albern. Xia-Ji sah verlegen zu ihm hinüber. »Xia-Ji, ich verstehe dich sehr gut. Aber du musst auch die Situati on deines Vaters bedenken. Er weiß, dass er in Gefahr ist, und er fühlt sich besser, wenn du hier in Sicherheit bist. Du könntest das Beste daraus machen. Ich sehe, du bist eine sehr gebildete und wis senshungrige junge Frau. Dein Vater hat vieles, was er weiß, von mir gelernt – ich könnte es dir auch beibringen. Dir und Fu Long.« Xia-Ji hörte mit wachsendem Erstaunen zu. »Ihr wollt mir etwas beibringen? Aber ich bin eine Frau.« »Nun, und?«, erwiderte Li An-Ning freundlich. »Ich kann dir ger ne von den alten Geschichten erzählen, die von der Schönheit des Wissens und der Bildung bei einer Frau erzählen. Eine Tugend, die unter den Mandschu-Kaisern nicht sehr geschätzt wird. Merkwür dig eigentlich, denn bei den nördlichen Barbaren, von denen sie ab stammen, hat die Frau eigentlich eine andere Stellung. Kennst du denn nicht die alte Geschichte von Eisheiz und Edeljaspis?«
»Nein.« Jetzt musste Li An-Ning wieder kichern. »Ich sehe schon, mein lie bes Kind, wir werden uns gut vertragen. Aber jetzt lass uns essen. Nicht nur der Geist braucht Nahrung, auch der Körper. Und du musst dich von der langen Reise erholen.«
Die nächste Zeit verlief für Xia-Ji angenehmer als gedacht, obwohl ihr Verhältnis zu Fu Long nach wie vor gestört war. Nach drei Tagen hatte sie sich von der im Nachhinein doch sehr anstrengenden Reise erholt und sich wenigstens ein bisschen einge lebt. Doch immer noch schien ihr Yinchuan weit weg von allem, was das Leben bislang für sie erfreulich gemacht hatte. Es lag ihr, einen großen Haushalt zu führen und zu organisieren, und die Dienstbo ten hatten sich nie wirklich über ihren Führungsstil beschwert. Hier in diesem Haus war sie Gast und konnte sich nicht der Haus arbeit widmen, wie sie das in Peking schon immer getan hatte. Auch wenn sie sich dort fast nur innerhalb der Höfe ihres Vaters aufgehal ten hatte, es gab immer genug zu tun. Ihr Vater war zwar frei in der Erziehung gewesen, aber Xia-Ji war doch auf das Familienanwesen beschränkt gewesen, wie es der Anstand nun einmal verlangte. Und so waren die meisten der Diener mit der Zeit von Angestellten zu persönlichen Freunden aufgestiegen und hatten ihr die Familie er setzt. Hier jedoch vermisste sie die vertrauten Gesichter, so sehr ihr On kel ihr nach der relativ kurzen Zeit auch ans Herz gewachsen sein mochte. Zu gerne hätte sie zumindest die Stadt und das Umland be reist, aber eine Anweisung ihres Vaters legte fest, dass sie das An wesen des Großonkels nicht verlassen durfte. Xia-Ji hätte sich sogar in Dienstbotenkleidung gehüllt, um so das Haus zu verlassen, doch bei aller Liberalität, das gestattete ihr Li An-Ning dann doch nicht. Li An-Ning blieb die Unruhe seiner Urgroßnichte nicht verborgen. Ein wenig schob er das auf ihre mangelnde Geduld, die zweifellos
das Produkt der Erziehung ihres Vaters war, einer Erziehung, der er zwiespältig gegenüberstand, auch wenn er das Xia-Ji nicht verriet. Auf der einen Seite war es verständlich, dass Li Si-Wen als gebil deter Mensch seine einzige Tochter so aufgeklärt erzog, dass sie sich eine eigene Meinung bilden konnte. Warum die Gaben nicht nutzen, mit denen der Himmel schließlich nicht nur Männer, sondern manchmal auch Frauen so reich bedachte? Es hieße die Ahnen belei digen, würde man darauf keine Rücksicht nehmen. Auf der anderen Seite brachte so etwas auch unweigerlich Schwie rigkeiten mit sich. Xia-Ji würde es schwer haben, einen Mann zu fin den, der nicht nur ihre Bildung zu schätzen wusste, sondern auch ihre nichtgebundenen Füße tolerierte. Li An-Ning dachte nach, erinnerte sich an den jungen, beeindru ckend höflichen Mann, der mit ihr angekommen war. Auch er bum melte ziellos durch seine Höfe, als könne er es nicht erwarten, nach Peking zurückzukehren. Li waren auch die Blicke aufgefallen, die Fu Long und Xia-Ji einander zuwarfen – wenn auch mit durchaus unterschiedlichem Inhalt. Während sie bei Xia-Ji zwischen beleidig tem Ärger und Trotz schwankten, waren sie bei Fu Long eindeuti ger. Ihm lag etwas an der Tochter seines Meisters. Li An-Ning ahnte, dass er eingreifen musste. Der Verstand der bei den jungen Leute war beträchtlich, er musste beschäftigt werden, sonst entstand aus diesem Müßiggang noch ein Unglück. Ein Teil seines Geistes fragte sich, ob eine Verbindung zwischen ihnen nicht vorteilhaft wäre. Fu Long, das war ein guter Name, denn das erste Zeichen fu stand für Glück, während das zweite, long, die Stärke des Drachen dokumentierte. Und die würde er bei meiner Großnichte auch brauchen, dachte er tro cken. Doch Gedanken an eine solche Verbindung lagen weit in der Zukunft und waren kaum mehr als Wünsche. Seine oberste Pflicht war es jetzt, die Harmonie in seinem Haus wiederherzustellen und dafür zu sorgen, dass sich Gäste und Bewohner miteinander vertru gen. Er dachte daran, dass er seiner Nichte versprochen hatte, mit
ihr die alten Geschichten über gebildete, weise und mutige Frauen zu lesen. Nun, ein alter Lehrer brauchte Schüler. Er klatschte in die Hände und sein persönlicher Diener erschien mit einer Verbeugung. »Rufe meine Großnichte und den jungen Sekretär her. Ich habe für beide eine erfreuliche Entscheidung getroffen.«
8. Der Eunuch stand vor der kleinen, überschaubaren Welt auf dem Ja defelsen und fragte sich, wie es wäre, als Gott über die Menschen dort zu regieren. Wie viel konnte man mit nur einer Handbewegung verändern … Ein Bauer, der nicht etwa am Rand der Straße, sondern in ihrer Mitte geht. Eine Armee auf Pferden, die um eine Kurve ga loppiert und ihn nieder reitet. Eine Familie, die verhungern muss. Ihn faszinierten diese Gedankenspiele. Vielleicht, so glaubte er zu mindest, hatte er deshalb einen solch steilen Aufstieg hinter sich und war aus allen Intrigen und Hinterhalten als Sieger hervorgegan gen. Er wusste einfach, wie Menschen reagierten. Acht Jahre alt war er gewesen, als sein Vater ihm zum Meister der Eunuchen brachte und mit einer Tasche voller Münzen den Raum verließ. Auf dem ganzen Weg von der armseligen Hütte bis in die Beamtenstadt hatte Kong seinen Vater gefragt, was denn ein Eunuch sei und wie er zu einem werden solle. Beides erfuhr er noch am gleichen Tag. Rückblickend war er nicht undankbar über die Entscheidung sei nes Vaters. Es hatte Vorteile, Eunuch zu sein, denn das Mitleid der Menschen und die Tatsache, dass er nicht als vollständiger Mann galt, ließen ihm größere Freiheiten. In den ersten Jahren hatten ihn alle unterschätzt, und er hatte die Gelegenheit genutzt. Jetzt zitterten sie bei seinem Anblick, zitterten, wenn er die Gemä cher des Kaisers betrat und aus ihnen zurückkehrte. Seine Männlich keit hatte er vielleicht verloren, doch die Macht im Reich der Mitte gehörte ihm. Kong wandte sich von der Welt im Felsen ab. Er musste diese ihm heiligen Hallen verlassen, um in der Tartarenstadt seine Verabre
dung mit Mao Wen-Yuan einzuhalten. Beinahe unwillig klatschte er in die Hände. Sein Diener Sun Tian erschien dienstbeflissen und wie immer so respektvoll, dass es fast ängstlich wirkte. »Lass die Sänfte herbeitragen, Sun Tian. Es geht zum Palast des Aufsehers über die kaiserliche Uhrensammlung.« »Wünscht Ihr ein großes Gefolge, Meister? Ich kann die Palastwa chen informieren, Euch zu begleiten.« Kong Chan dachte kurz nach. Mao war ihm beim letzten Treffen des Geheimbunds des weißen Lotus ein wenig zu vorlaut gewesen. Es würde früher oder später nötig werden, ihn in seine Schranken zu verweisen. Mit einem großen Gefolge vor seinem Stadtpalais auf zutauchen, hätte gezeigt, wer das Oberhaupt der Lotusgesellschaft war. »Eine gute Idee. Veranlasse alles Nötige.« Sein Blick fand doch noch einmal den Jadefelsen. Hinter einer fili granen Sänfte waren zahlreiche Soldaten und Diener als Gefolge in den klaren grünen Stein geschnitzt. Mit einem Schlag hätte er sie hinwegfegen können. Für einen Moment spürte er Macht wie ein Fieber in sich aufsteigen. So mussten sich die Götter in den oberen Sphären fühlen. Kong wandte sich endgültig von der kleinen grünen Welt ab. Der Tross von Leuten, der ihn zu Mao Wen-Yuan begleiten würde, stand schon vor der Tür. Sun Tian hatte ihn offenbar in Bereitschaft gehal ten. Sehr gut, Sun Tian lernte dazu. »Sun Tian, du wirst mich begleiten.« Damit nahm Kong in der Sänfte Platz und ließ die Vorhänge her ab. Der Tross, der aus einigen Dienern mit dem allernotwendigsten Reisegepäck, Sun Tian und einem Trupp von ungefähr 20 Soldaten der kaiserlichen Wache bestand, setzte sich langsam in Bewegung. Der Weg zu Maos Stadtpalais würde in etwa eine halbe Stunde be tragen. Und vom schmutzigen Peking außerhalb der roten Mauern
des Kaiserpalastes, der im Volksmund die »Verbotene Stadt« hieß, brauchte er nichts zu sehen. Er spürte auch kein Verlangen danach, seinen Blick über die Tausende von Bettlern, Tagelöhnern und klei nen Straßenhändler zu werfen, die auf den staubigen Straßen von Peking ein elendes Dasein fristeten. Er spürte nur Zufriedenheit, diesem Leben entronnen zu sein. Kong döste vor sich hin und dachte träge über die Strategie nach, mit der er Mao ein für alle mal klarmachen konnte, dass seine Positi on nicht die des großen Vorsitzenden der Lotusgesellschaft war, als sein Tross plötzlich stoppte. Unwillig streckte er die schmale Hand am Vorhang vorbei ins Freie und rief nach seinem Diener. »Sun Tian! … Sun Tian, warum halten wir hier auf offener Straße an?« Hinter den geschlossenen Vorhängen hörte er Stimmen. »Seht her!« »Dort! Die Bettlerin!« Kong Chan zog einen langen Dolch aus dem Ärmel und hielt ihn bereit. Ihm war klar, dass er eine Zielscheibe für alle möglichen At tentäter war – und bei der allgemein grassierenden Armut in Peking hätte wahrscheinlich keiner der Passanten eingegriffen, sondern hin terher eher die Hand aufgehalten und sich das Schweigen bezahlen lassen. Er blinzelte nervös, als es plötzlich still wurde. Ein einzelner Schweißtropfen lief an seiner Schläfe entlang. Seine Hand, die den Dolch hielt, zitterte. Eine Silhouette tauchte dunkel vor ihm auf. »Meister Kong, habt keine Angst, ich bin es nur, Sun Tian. Euch droht keine Gefahr!« Kongs straffte sich, erleichtert und verärgert zugleich. »Rede nicht solchen Unsinn, Sun Tian. Was könnte mir der Pöbel schon anha ben?« Er zog den Vorhang auf und warf sicherheitshalber einen kurzen
Blick in die Umgebung. Bettler streckten ihm ihre schmutzigen Hän de entgegen, wirkten jedoch nicht bedrohlich. Sun Tian zeigte hinter die Sänfte. »Da ist eine Bettlerin, die glaubt, sie habe Euch etwas mitzuteilen!« »Was könnte eine Bettlerin mir schon mitzuteilen haben, Junge?« »Sie meint, es sind Neuigkeiten, die ganz bestimmt von großem Interesse für Euch sein werden, Meister …« Kong wedelte mit der Hand. In den letzten Jahren hatte er eine tie fe Verachtung für all die entwickelt, die wie Tiere im Schmutz der Stadt lebten. Aber manchmal, auch diese Erfahrung hatte er ge macht, sahen sie Dinge, die dem Kaiserpalast verborgen blieben. »Dann lass sie vor.« Der Oberste der Wachsoldaten verneigte sich, lehnte seine Lanze gegen die Sänfte und zog eine verkrüppelte und knorrige Bettlerin an den Lumpen heran. Mit einem Stoß warf er sie neben die Sänfte zu Boden. Die Frau, deren Alter unter den Verwachsungen nicht zu erkennen war, duckte sich und sah blinzelnd zu Kong Chan auf. Ihre Augen flackerten vor Angst. Kong nahm ein parfümiertes Tuch aus dem Ärmel seiner Robe und hielt es sich unter die Nase. Der Dreck und Gestank der Bettle rin widerte ihn an. »Was hast du mir so Wichtiges zu sagen, Weib?« »Großmächtiger Meister Kong, Oberster aller Minister und Ver trauter Lehrer des jadegleichen Himmelssohnes, die nichtswürdige Dienerin Ma Kun hat eine Nachricht für Euch!« Kong Chan verzog keine Miene. »Sprich.« Die Bettlerin zögerte. »Herr, Ihr seht, wie schlecht es mir hier auf der Straße geht. Seht meine Kleider! Ehrenwerter Herr, habt Erbar men mit einer alten Bettlerin wie mir!« Mit einer kurzen, aber herrischen Geste winkte Kong seinen Sekre tär heran. »Wenn ich mit diesem Bettelweib fertig bin, gib ihr eine Silberunze.«
Ma Kun fiel auf die Knie und schlug mit dem Kopf so heftig auf den Boden, dass es schmerzen musste. »Ich danke Euch, Herr, Eure Güte ist so unendlich wie der weite Himmel! Wie könnte ich Euch jemals danken?« Kong faltete die Hände auf dem Schoß. »Ich schlage vor, deinen Dank in Form der Information abzutragen, die du mir schon seit ge raumer Zeit mitteilen willst.« »Ehrwürdiger Herr, ich hörte, Ihr könntet Euch möglicherweise dafür interessieren, wo sich die Tochter des ehrwürdigen Ersten Se kretärs des rechten Geldes aufhalten könnte.« Kong nickte Sun Tian knapp zu. Der reagierte sofort und ließ die Soldaten einen Kreis um die Sänfte bilden, bevor er selbst zur Seite trat, um seinem Meister die gewünschte Privatsphäre zu verschaf fen. Kong lehnte sich vor. Er lebte bereits zu lange im Kaiserpalast, um dieses Geschenk bedingungslos zu akzeptieren. Dass eine alte Bett lerin von seinem Interesse an Lis Privatangelegenheiten wusste, er schien ihm unwahrscheinlich und roch förmlich nach einer Falle. »Wo soll sie schon sein, die Tochter des ehrwürdigen Ersten Sekre tärs des rechten Geldes? Bei ihm zu Hause natürlich!«, sagte er ent sprechend unwirsch. Die Bettlerin hob vorsichtig den Blick. »Das glaube ich nicht, Herr. Ich habe vor etwa zehn Tagen gesehen, großmächtiger Minister, wie sie unerkannt und unter einem falschen Namen die Stadt verließ. Das wollte ich Euch mitteilen.« Kong wusste nicht, ob er ihr trauen konnte. Dass Li seine Tochter aus der Stadt brachte, war unter den Umständen logisch. Er war an greifbar, so lange sie hier war, und das war ihm klar. »Und wo sie und ihr Gefolge sich hinbegeben hat, das weißt du nicht?« Kong nahm den Köder vorsichtig auf, so wie ein Fisch, der nach dem Wurm schnappt, ohne den Haken mitschlucken zu wol len.
Die Bettlerin überschlug sich in ihrem Eifer fast. »Oh doch, die Gil de des schmutzigen Frosches vor den Stadttoren des Westens hat gesehen, wie ein Passierschein für die Stadt Yinchuan vorgezeigt wurde, ehrenwerter Minister zur Rechten!« »Hat sie das? Und warum glaubst du, dass diese Information gera de für mich von so großem Interesse sein könnte?« Das entstellte Gesicht der Bettlerin verzog sich und Kong bemerk te erst nach einem Moment, dass sie lächelte. »Ich habe da so meine Quellen, Minister!« Kong machte keine Anstalten, seinen Zorn zu verbergen. »Ant worte mir, Weib, oder ich lasse dich aus der Stadt prügeln! Ich will wissen, woher du mein Interesse an Li kennst.« Das Lächeln verschwand von ihrem Gesicht. »Herr, diese Informa tion würde Euch ein wenig mehr kosten als die Silberunze, die Ihr mir ja versprochen habt.« »Du sollst eine gerechte Belohnung für deinen Verrat bekommen.« Die Geldgier in Ma Kuns Gesicht war fast noch widerlicher als ihr Lächeln. »Der Ehrenwerte Sekretär des rechten Geldes Li«, sagte sie leise, »hegt die Vermutung, dass Ihr etwas mit dem Verräter an der Krone Pu-Yang zu tun hattet. Das habe ich von Kommandant Wang ge hört. Er nannte den Ehrenwerten Li zwar nicht beim Namen, als er um Informationen bat, doch jeder weiß, dass er seit neuestem in des sen Diensten steht.« »Du bist klüger, als du aussiehst, Weib«, murmelte Kong. »Sun Tian!«, rief er dann. »Ich bin fertig.« Der dicke Eunuch antwortete mit einer Handbewegung. Kong hörte das Schaben von Metall und sah, wie sich Ma Kuns Augen weiteten. Vielleicht sah sie das Schwert, das ihren Hals traf und den Kopf vom Rumpf trennte, vielleicht sah sie auch nur die Sonne, als ihre stumpf werdenden Augen in den Himmel starrten. Kong ließ den Vorhang der Sänfte zurückgleiten und steckte das
Taschentuch zurück in seine Roben. Nur wenige Meter später hatte er Ma Kun bereits vergessen.
Sein Besuch bei Mao Wen-Yuan, dem Aufseher über die kaiserliche Uhrensammlung, dauerte gerade lange genug, um Mao zum Servie ren des teuersten Tees und zur Zubereitung eines Mittagessens für das gesamte Gefolge zu zwingen. Da er sein Gesicht nicht verlieren wollte, fiel es reichlich aus. Und damit auch teuer. Jetzt war Kong wieder in seinem Reich, dem alten Wohnpalast des Kaisers Qian Long, saß in der Bibliothek und sah auf die roten Mau ern des Kaiserpalastes, die im späten Tageslicht korallenfarben leuchteten. Die letzten Sonnenstrahlen fielen auf den grünen Jadefel sen und ließen die zarte Farbe des Steines fast durchsichtig wirken. Kong nippte an seiner gelben Teeschale und genoss die friedliche Stimmung und die harmonische Ruhe. Hier war die Stadt ausge sperrt. Man musste sich nicht mit einem Leben auseinandersetzen, das nichts als Hunger und Elend kannte. Doch auch die friedlichsten Momente mussten einmal zu Ende ge hen. Nach dem letzten Tropfen Tee klatschte Kong in die Hände. Sun Tian erschien fast augenblicklich neben der Tür. »Wie kann ich Euch dienen, Meister?« »Hole mir den Obersten meiner Leibgarde her.« Jetzt würde sich auszahlen, dass er seine Untergebenen wenn auch nicht mit Würde, so doch zumindest wie Lebewesen behandelt und sie weder ge schlagen noch gefoltert hatte. Kong hatte aus den Fehlern seiner Vorgänger gelernt. Er kannte die Geschichte über einen Eunuchen des Kaisers Kang Xi, der seine Untergebenen schlimmer als Vieh behandelt und sie bei geringsten Vergehen grausamsten Folterungen ausgesetzt hatte. Schließlich hatten sich die Diener gegen ihn erhoben und ihn bestialisch ermor
det – ein Ende, das Kong wenn möglich vermeiden wollte. Es dauerte nicht lange, bevor der Oberste, ein älterer, erfahrener Soldat mit einem breiten und fröhlich wirkenden Gesicht, im Tür rahmen auftauchte und auf die Knie fiel. »Wie kann ich Euch dienen, Eure Exzellenz?« »Song Yi, ich weiß, ich kann dir vertrauen. Gehe auf der Stelle nach Lanzhou. Dort wirst du nach einer kürzlich eingetroffenen Dame aus Peking Ausschau halten – Li Xia-Ji, sie ist die Tochter Lis. Er stammt aus jener Gegend, also ist wahrscheinlich, dass er sie dort bei irgendwelchen Verwandten untergebracht hat.« Song Yi schlug ehrerbietig mit der Stirn auf die Steinfliesen des Fußbodens. »Wie Ihr befehlt, werter Meister. Doch sagt mir, was ge tan werden soll, wenn ich Li Xia-Ji aufgespürt habe?« »Dann bringst du sie zu mir hierher in den Palast. Sorge dafür, dass sie schweigt und dass niemand außer dir davon erfährt.« Der Oberste der Wachen verneigte sich, ohne den Befehl zu hinter fragen, und verließ den Raum. Kong setzte sich wieder und betrachtete die abendlichen Sonnen strahlen. Auf seinem unschuldigen Kindergesicht lag ein zufriede nes Lächeln.
9.
Yinchuan, am 7. Tag des 8. Monats im Jahre 3 des Kaisers Tong Zhi Der niedere Wicht Fu Long entbietet dem Ehrenwerten Sekretär des rech ten Geldes Li Si-Wen seinen unterwürfigen Gruß. Der jadegleiche Gebieter hat mich gebeten, Euch regelmäßig über meinen Aufenthalt hier im westlichen Yinchuan zu berichten. Der unwürdige Spä tergeborene hat lange mit dieser Pflicht gesäumt, sind wir doch schon vor vier Tagen hier in diesem rosengleichen Palast Eures werten Großonkels angekommen. Ich komme diesem Wunsche nur zu gern nach, der ja nur dem verständlichen väterlichen Wunsch entspringt, Genaueres über seine chrysanthemengleiche Tochter Xia-Ji und den niederen Diener zu erfahren. Ich möchte mit meinem Bericht zunächst bei Eurer Tochter beginnen, da Ihr sicher in Ungeduld auf Nachricht insbesondere von ihr wartet. Sie sag te mir gestern auf meine unterwürfige Frage, wann sie Euch von ihrer An kunft hier in der Residenz des ehrenwerten Li An-Ning in Kenntnis zu set zen gedenke, dass dies in der Tat bald sein werde. Ich verhehle nicht, dass der Ton ihrer Antwort meiner Stellung bei Euch nicht angemessen war, wie ich finde. Wie Ihr wisst, hat sie die Trennung von ihrem so innig ge liebten Vater nicht leicht verwunden und während der langen Reise hatte sie mit meiner unwürdigen Wenigkeit auch ihre Schwierigkeiten. Meiner Meinung nach ließ sie es am unbedingt für eine Tochter dem Vater gegen über notwendigen Respekt mangeln, da sie sich voll und ganz ihrer Trauer hingab. Sie zeigt sich bis zum heutigen Tag nicht bereit, die Weisheit im Ent schluss Eurer Exzellenz zu erkennen. Geschah doch sowohl Reise als auch der Aufenthalt hier in diesem fürstlichen Palais des weisen und geehrten
Großonkels Eurer Gnaden nur zu ihrem Besten. Dies erzürnte mich sehr, doch ich bin mittlerweile zu dem Schluss gekommen, dass ich in dieser Be ziehung meinem Zorn zu sehr nachgab. Es steht mir als subalternem Die ner Eurer Exzellenz nicht zu, über seine juwelengleiche Tochter oder über die Erziehung zu urteilen, die Ihr ihr habt angedeihen lassen. Zu ihrer Rechtfertigung ist allerdings auch zu sagen, dass die Reise wi der Erwarten lang und voller Fährnisse gewesen ist, die selbst der weise Lao-tse in seinem Dao Dejing nicht hätte vorhersehen können. Des weite ren erwies sich die Landschaft auch nicht als so gestaltet, dass sie ein weib liches Wesen von der geistigen Lebhaftigkeit Eurer hochedlen Tochter hätte fesseln können. Die meiste Zeit reisten wir auf der Straße durch das Hirse anbaugebiet des Westens, das Eurer Exzellenz wohl bekannt sein dürfte. Die Landschaft ertrinkt im blassen Gelb der ockerfarbenen Lößerde und man kann erkennen, warum unsere Ahnen, der ewige Friede gehöre ihnen, das Reich der Mitte mit der Farbe Gelb gleichzusetzen geruhten. Dennoch war diese für mich so tiefgreifende Erkenntnis für Eure anmu tige Tochter keine Quelle der Freude. Der Staub, der hier in der Wiege der Zivilisation allgegenwärtig ist, verschmutzte uns alle schneller, als uns lieb war. Ich habe immer noch das Gefühl, ein Sack voll gelber Erde zu sein, wie ich zugeben muss, aber ich will nicht klagen. Auch den Huanghe zu überqueren trug nicht zum Wohlbefinden der lili engleichen Xia-Ji bei, hier erwies sie sich als echte Vertreterin ihres Ge schlechts. Man muss zu ihrer Verteidigung zugeben, dass der Huanghe auch einigen Soldaten Eurer Exzellenz mit seiner reißenden Strömung Angst einzuflößen imstande war. Selbst ich bin bei ihrem erschreckenden Anblick kurzfristig in purer Furcht erstarrt, konnte diese jedoch schon bald heldengleich unterdrücken. Schließlich hing der gesamte Tross von meinem Organisationstalent ab, wie ich in aller Bescheidenheit behaupten darf. Beinahe wären der Strömung auch zwei unserer Pferde zum Opfer gefal len, glücklicherweise konnte dies verhindert werden, indem sich der Obers te der Reiterei auf mein Geheiß todesmutig in die wilden Fluten warf. Be klagenswerterweise konnte der aufrechte Mann das Gepäck nicht retten, es wäre uns noch von großem Nutzen gewesen, doch dazu später.
Zu unser aller Beruhigung erfuhren wir jedoch hier in Yinchuan, dass uns für den Rückweg, der Jadekaiser über den Wolken möge ihn uns er möglichen, ein anderer Weg zu benutzen offen steht. Allerdings löste diese Information, die uns von Li An-Ning während unseres gestrigen Treffens in äußerst wohlmeinendem Tonfall vorgetragen wurde, bei Eurer mond gleichen Tochter einen Wutanfall auf meine Kosten aus. Selbstverständlich möchte ich in keiner Weise den Eindruck erwecken, dass ich verzweifle, was Eure weidengleiche Tochter angeht, doch manch mal bin ich der Ansicht des ehremverten Meisters Konfuzius, dass Weiber den Männern gegenüber zu schweigen und zu gehorchen haben. Doch ein Großteil der Anziehungskraft Eurer jadegleichen Tochter liegt natürlich darin, dass sie diesem so hehren Ideal nicht entspricht. Ich vermag in die sem Zusammenhang nur ein Gedicht des ehrenwerten Dichters Du Fu zu zitieren: Die Mädchen, wissen wir, sind schwach und weich Doch eine stark und klug es gab. Zwei Worte nur, und lauernd Leid hat sie verscheucht sogleich. Aber ich schweife ab. Ich sollte Euch von der Ankunft hier berichten, die in tiefster Nacht vonstatten ging und die – ich gebe es zu – für geistig min derbemittelte Personen, die sich in andere nicht hineinversetzen können, sicher nicht einer komischen Note entbehrte. Der weise und sehr alte(Alt ist im Chinesischen ein sehr positiv be setzter Begriff.) Li An-Ning hatte mit unserer Ankunft schon etliche Tage früher gerechnet und hatte die Vorbereitungen auf unser Eintreffen wieder abgeblasen, da er von meiner Seite eine Nachricht erwartet hatte, die ihn vom Zeitpunkt unserer Ankunft in Kenntnis setzte. Wie er dies annehmen konnte, ist mir nicht verständlich. Die letzten Tage hatte es in Strömen ge regnet, ganz davon abgesehen, dass die Herbergen, in denen wir zu nächti gen gezwungen waren, unter aller Kritik rangierten. Die Laken feucht, die Wände angeschimmelt und von den äußerst vielfältigen Arten Getier in den Schlafgemächern könnte ich Euer Gnaden noch seitenweise berichten.
Ich will mich jedoch auf die Kakerlaken beschränken, die hier in diesen Ge filden offensichtlich eine monströse Größe anzunehmen pflegen. Woran dies liegt – vielleicht an der doch recht fruchtbaren Erde hierzulande? –, vermochte ich nicht auszumachen, und da der Dialekt der hiesigen Einge borenen von unserer Hochsprache in Peking so weit abweicht, war auch die Begründung, die sie mir anboten, keine Hilfe. Wie Eure Exzellenz sich vorstellen können, hatten die – ich muss es lei der so direkt ausdrücken – Bruchbuden gleichenden Gasthäuser keinerlei Schreibgerät. Mein eigener Pinsel war in dem Abenteuer auf dem drachen gleich tobenden Fluss mit dem Gepäck der beiden untergegangenen Pferde verloren gegangen, vom durchweichten Papier, das noch übrig war, gar nicht zu reden. Des weiteren war Eure phönixgleiche Tochter ihren, ich möchte sagen, Nervenkrämpfen erlegen. Ich bin versucht zu sagen, hätte sie eines der Kurzschwerter der wackeren Brigade in die Hand bekommen, der umvürdige Spätergeborene wäre sicher um einen Kopf ärmer zum Pa last Eures werten Großonkels gelangt. Aber schweigen wir von dieser Sze ne. Wir kamen also in nicht sehr guter Stimmung in Yinchuan an. Es war bereits dunkel und es kostete mich einige Überredungskraft und das furchterregende Schwertfuchteln des Obersten unserer Leibwache, den Nachtwächter zu überreden, die Tore zu öffnen und einen Blick auf unse ren Passierschein zu werfen. Der gute, aber leider etwas beschränkte Mann ließ sich dann nach geraumer Zeit sogar überreden, uns gegen ein paar zu sätzliche Kupfermünzen den Weg zum Anwesen Li An-Nings zu weisen. Allerdings dauerte dieser Weg wirklich verdächtig lang, so dass erstens mein Misstrauen geweckt war und Eure juwelengleiche Tochter beinahe wieder in eine ihrer ausfälligen Stimmungen geraten wäre. Doch ich konn te dies im letzten Moment verhindern, indem ich ihr zu unser aller Erleich terung die Ankunft vor dem Hause ihres werten Urgroßonkels mitteilen konnte. Doch hier gingen die Schwierigkeiten weiter. Nachdem der lästige Tor wächter mir mit einem immensen Gezeter mehr als eine Schnur Kupfer münzen abgenommen hatte, was Eure pflaumenblütengleiche Tochter als viel zu viel bezeichnete, verschwand er im Dunkel der Stadt und ließ uns
vor dem stillen Palast des Li An-Ning allein. Mir als einzigem gebildeten Mann in unserem Gefolge kam sogleich der Gedanke, der Torwächter hätte uns vielleicht betrogen, aber schließlich machte doch ein seniler Diener sei ner Exzellenz Li An-Nings das Tor auf, um es uns sofort wieder vor der Nase zuzuschlagen. Er ließ sich zunächst nicht dazu bewegen, es wieder zu öffnen, indem er uns erklärte, die blütengleiche Urgroßnichte des Meisters sei bereits vor etlichen Tagen erwartet worden; wahrscheinlich seien sie und ihr Gefolge wilden Räuberbanden in die Hände gefallen, die alle aufs Grausamste umgebracht hätten. Meiner Wenigkeit gelang es nach einigem Hin und Her, den Greis davon zu überzeugen, dass unser Tross mitnichten einer brutalen Straßenbande zum Opfer gefallen war. Wahrscheinlich konnte ihn meine gute und ge lehrte Ausdrucksweise schließlich dazu bringen, uns das Tor wieder zu öff nen. Ich glaube jedoch nicht, dass die Drohung Eurer goldgleichen Tochter, den obersten Dämonen und alle Horden der Hölle anzurufen, damit sie das Tor öffnen, wenn nicht sogleich aufgemacht würde, etwas damit zu tun hatte. Aber nun sind wir ja auch schon einige Tage hier und haben uns von der doch recht aufregenden Reise erholt. Dennoch ist Eure liebreizende Tochter immer noch nicht gut auf mich zu sprechen, was ich mir nicht so recht er klären kann. Glücklicherweise hat uns der Ehrenwerte Li An-Ning angeboten, eurer weidenschlanken Tochter und mir Unterricht in einigen alten Klassikern und berühmten Volksromanen zu geben. Ich genieße bei diesem Unterricht alle Poeme der alten Dichter sehr, während Eure sonnengleiche Tochter die alten Geschichten über mutige und kluge Frauen bevorzugt. Sie schilt mich einen Narren, da ich den gesetzten Worten der Dichter, deren Hin tersinn ich immer wieder aufs Neue nur bewundern kann, mehr abgewinne als den Legenden um Frauen, die es wahrscheinlich nur in den Phantasien der Schriftsteller gegeben hat. Doch wie ich bereits vorhin erklärte, ich will nicht klagen und bin sehr angetan von der Weisheit und der Klugheit Eu res Großonkels, der in der Tat die größte Büchersammlung besitzt, die sich ein Mensch nur vorstellen kann. Ich verbringe, sehr zum Ärger Eurer zimtblütengleichen Tochter, eine
Menge Zeit außerhalb des Unterrichts bei Li An-Ning in dieser Bibliothek, um meine Studien zu vervollkommnen. Ich habe immerhin vor, auch die Prüfung 5. Ordnung in Peking zu bestehen und es nicht bei der lächerlich kleinen Prüfung auf Provinzebene zu belassen. Eure wolkengleiche Tochter möchte indes lieber die Zeit mit Schachspielen und Diskussionen mit mei ner Wenigkeit verbringen. Wahrscheinlich denkt sie, wenn sie als Frau kei ne Prüfung machen kann, so soll auch ich keine bestehen. Dies ist natürlich eine völlig indiskutable Ansicht und ich halte den doch sehr unsachlichen Vorwürfen Eurer chrysanthemengleichen Tochter mit äußerster Würde stand. Ich gestatte ihr nur ein paar Mal am Tage, mich so lange zu plagen, bis ich ihr ein oder zwei Spiele dieses strategischen Spiels zusage. Ich lasse sie selbstverständlich gewinnen. Auch das Wetter ist derzeit wieder besser geworden, die Landschaft geht nicht mehr in reißenden Regenfluten unter, die einen glauben lassen, der Drachengott, Herr allen Wassers, sei von dem unfraulichen Verhalten Eu rer lieblichen Tochter so erzürnt, dass er die Welt in Wasser zu ertränken beabsichtigt. Die Sonne scheint und der Himmel ist so blau, dass seine Far be sogar Eurer jadegleichen Tochter zusagt. Insgesamt ist zu sagen, dass der weise Li An-Ning uns hier wirklich ein behagliches Interimsheim zu bereiten versteht. Selbst Eure eher praktisch veranlagte Tochter weiß sich mittlerweile so gut zu benehmen, dass das Hauspersonal bei ihrem Erscheinen in Hof und Garten nicht mehr hinter vorgehaltener Hand zu tuscheln beginnt. Ich wage nicht zu sagen, wie groß der Anteil ihrer Drohungen, den gesamten Haushalt ihres Urgroßon kels »auf Vordermann zu bringen«, wie sie sich auszudrücken beliebt, an diesem Umstand ist, aber allzu groß dürfte er nicht sein. Unser Leben hier gleicht also eher den spiegelnden Wassern des QinghaiSees und nicht den reißenden Fluten des Huanghe, die zu überqueren wir das Unglück auf unserer Reise hatten. Mir bleibt zum Schluss meiner doch recht lang gewordenen Zeilen die herzlichsten Grüße des gelehrten und weisen Li An-Ning auszurichten und Euch in die Hoffnung zu versetzen, dass Eure rosengleiche Tochter Euch schon in Kürze ihre Version der aufreibenden Ereignisse unserer Rei
se mitteilen wird. Ich kann nur hoffen, dass sie bei ihren Schilderungen auch wirklieh bei der von mir erzählten Wahrheit bleibt und nicht abschweift, wie es so oft auf unserer Fahrt der Fall xuar, wo mich ihre Ansichten über die Gescheh nisse doch recht häufig in Erstaunen versetzten. Doch wieder schweife ich ab. Es bleibt mir zum Schluss nur wieder, ein Gedicht zu zitieren, das auf unser Leben hier im luestlichen Yinchuan, wie es sicher die alten Gelehrten führten, zutrifft: Getrost die Tür beim Studium schließe du! Natur zu fassen, vor den Fernen nicht erschrick: Gebirg und Ströme überschweift dein Blick, Dein innres Aug gewinnt dir tiefre Einsicht zu. Letzteres ist natürlich insbesondere Eurer liliengleichen Tochter zu wün schen. Ich möchte schließen, ehrenwerter Gebieter Li und verbleibe mit zehntau sendfachen Wünschen untertänigst Euer sehr ergebener Fu Long
10. Der Schlaf fand Li nicht oft in den letzten Tagen, aber wenn sie ein ander dann doch begegneten, kam der Schlaf nicht allein, sondern brachte einen unwillkommenen Begleiter mit. Und so erwachte Li auch in dieser Nacht aus einem Albtraum, dessen Inhalt beim Ent zünden der Öllampe bereits so weit entfernt war, dass er sich nicht mehr daran erinnern konnte. Nur ein unbestimmbares Gefühl der Furcht blieb zurück und haftete an seinem Geist. Li setzte sich auf. Fu Longs Brief, der am Nachmittag eingetroffen war, lag noch auf seinem niedrigen Arbeitstisch. Er musste unwill kürlich lächeln, als sein Blick darauf fiel. Die ausgesuchte Höflich keit und tiefe Ehrerbietung, mit der er den Brief geschrieben hatte, täuschten nicht darüber hinweg, dass er völlig überfordert war und in Xia-Ji eine Gegnerin gefunden hatte, die ihm mehr als nur eben bürtig war – wenn Gegnerin denn das Wort war, das Li in diesem Zusammenhang benutzen wollte. Er mag sie, dachte Li, auch wenn er sie meistens wohl gerne einsperren würde. Vorsichtig stand er auf, bemüht, so leise wie möglich zu sein, um seine Leibwächter nicht unnötig aufzuschrecken. Wie immer schlie fen sie vor seiner Tür auf dem Fußboden. Er hatte ihren Blicken ent nommen, dass sie am liebsten im gleichen Zimmer übernachtet hät ten, aber Li benötigte den kleinen Privatbereich, der ihm geblieben war. Er streckte sich und gähnte. Hinter den Papiertüren lag schwärzes te Nacht. Die Lampen, die den Innenhof hätten erhellen sollen, brannten nicht. Li runzelte die Stirn, lauschte auf Sturm oder Regen, hörte jedoch nur das Zirpen der Grillen und die Rufe der Nachtvö gel. Es gab keinen natürlichen Grund für das fehlende Licht. Eine
Schlamperei der Diener war ausgeschlossen. Sie wussten, dass eine Gefahr für ihren Herrn auch eine Gefahr für sie bedeutete. Lis Hand tastete nach dem Schwert, das stets griffbereit neben der Öllampe lag. Der kühle Griff gab ihm Ruhe und Kraft. Er öffnete den Mund, um nach seinen Leibwächtern zu rufen, doch ein reißen des Geräusch unterbrach ihn. Etwas schoss an ihm vorbei und bohr te sich in den Holzboden. Es war ein Pfeil, nicht länger als sein Zei gefinger. Gift! Li fuhr herum. Seine Fußspitze fand die Öllampe und warf sie um. Der eingebaute Mechanismus sorgte dafür, dass die Flamme sofort verlöschte. Die Schwärze der Nacht schlug über Li zusammen. Er tänzelte zur Seite, so wie er es von seinem Meister gelernt hatte und blieb in Bewegung, während er sprach. »Wir werden angegriffen.« Papier riss. Ein Pfeil schlug mit metallischem Scheppern gegen sei ne Schwertklinge. »Sie benutzen Giftpfeile«, sagte Li aus der Drehung heraus. »Sie sind im Hof, aber ich weiß nicht, wie viele es sind.« Wieder das reißende Geräusch und zwei Einschläge, zu kurz hin tereinander, um von der gleichen Person zu stammen. »Es sind mindestens zwei.« Li hörte, wie die Tür im Inneren geöffnet wurde und das kurze Handklatschen, das er mit seinen Leibwächtern als Zeichen verein bart hatte. Seine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit. Die Silhouette seines Leibwächters winkte ihm zu, bat ihn in den Gang zu treten, wo er vor den Pfeilen sicher sein würde. Der zweite Leibwächter war nicht zu sehen. Vermutlich suchte er bereits im In nenhof nach den Attentätern. Li bewegte sich auf die Tür zu, fühlte sich nackt und hilflos in sei nem Lendenschurz. Der Leibwächter deckte ihn mit seinem Körper und brachte ihn in den Gang. Er ließ die Papiertür offen. Sie bot oh
nehin keinen Schutz vor Pfeilen und ließ zumindest etwas Sternen licht ins Haus. »Ist dein Bruder draußen?« Der Leibwächter nickte und zeigte auf einen Balken. Li folgte der Aufforderung und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Solange die Pfeile nur von einer Seite kamen, war er sicher. Mit einer Lautlosig keit, die Li überraschte, schlich sein Leibwächter an ihm vorbei nach draußen. Er trug ein Schwert in der linken Hand, ein Wurfbeil in der rechten. Es erschien Li falsch, ihn allein in den Hof gehen zu lassen, aber sein eigenes Eingreifen wäre reine Dummheit. Sollte er an die sem Abend sterben, würde er mehr als nur sein Leben verlieren. Dann stand der Kampf des Drachenthrons gegen die Korruption er neut am Anfang, und dieses Mal würde es noch schwieriger wer den, jemanden zu finden, der gewillt war, ihn aufzunehmen. Ein gurgelnder Schrei riss ihn aus seinen Gedanken. Er hielt beina he unmöglich lange an, bevor er zum Röcheln wurde und erstarb. Li fluchte, als aufgeregte Stimmen darauf antworteten und die ersten Lampen entzündet wurden. Je mehr Menschen von ihren Schlafstät ten krochen, desto schwieriger wurde es, die Attentäter zu finden. »Wang!«, rief Li, als er die Stimme des Kommandanten in einem der Gänge hörte. Der dumpfe Laut, mit dem ein Pfeil in den Balken hinter ihm einschlug, war die Antwort. Dann tauchte Wangs kräfti ge Gestalt auf. Er trug seine Uniformjacke über dem Lendenschurz und hielt zwei Schwerter in den Händen. Wäre die Situation nicht so ernst gewesen, hätte Li gelacht. »Wang«, sagte er stattdessen nur. »Es sind Chike auf dem Anwe sen. Sie benutzen Giftpfeile. Die Leibwächter …« »Vorsicht!« Li warf sich instinktiv zur Seite. Aus den Augenwinkeln nahm er einen dunklen Schatten wahr und spürte den Luftzug, mit dem eine Klinge über ihn hinweg raste und sich in den Balken bohrte. Er riss sein eigenes Schwert empor. Kleidung riss, dann war da der Wider stand eines Körpers und ein Stöhnen, so leise, dass es kaum zu hö
ren war. Wang tauchte neben ihm auf und schlug mit beiden Schwertern zu. Blut spritzte heiß und klebrig in Lis Gesicht, lief über seine Hän de und seine Brust. Er stieß den Sterbenden über sich zurück. Der blieb einen Moment stehen, drei Schwerter wie lange Spieße in der Brust, bevor er in die Knie sackte und zur Seite kippte. »Danke«, sagte Li, als Wang die Schwerter aus der dunkel geklei deten, maskierten Leiche zog und sich bückte. »Ihr lebt, Herr. Das ist mein Dank.« Er zog die Maske vom Gesicht der Leiche. Li hob ohne große Überraschung die Augenbrauen, als er in ein pockennarbiges, tätowiertes Verbrechergesicht blickte. »Die graue Bruderschaft«, sagte Wang. »Ich hatte gehört, dass sie in Peking aufgetaucht ist. Das ist sehr schlecht für uns, Herr.« »Ein Geheimbund ist nicht schlimmer als der andere.« Li glaubte selbst nicht so recht an seine Worte, aber die fast schon abergläubi sche Furcht vor der grauen Bruderschaft mochte im falschen Mo ment lähmend wirken. Es war besser, wenn seine Soldaten sahen, dass die Geschichten keine Macht über ihren Herrn hatten. Der Innenhof war mittlerweile hell erleuchtet. Soldaten bewachten die Türen, nervöse Diener entzündeten Lampen. Li sah seine Leib wächter zwischen ihnen und bemerkte selbst auf die Entfernung ihre Frustration. »Die sind längst weg.« Wang schien seine Gedanken erraten zu haben. Er trat verärgert nach der Leiche. »Ich würde wetten, dass der hier ohne Befehl gehandelt hat. Wollte mal den Helden spielen und ist jetzt tot. Dreimal verfluchter Bastard einer …« Er unterbrach sich, als würde er erst jetzt bemerken, dass auch ein Erster Sekretär im Lendenschurz immer noch ein Erster Sekretär war. »Verzeiht meine dummen Worte, edler Li«, sagte er mit gesenktem Kopf. »Die Aufregung muss mir den Verstand geraubt haben.«
»Ein verständlicher Fehler.« Li blickte über den Innenhof nach Os ten, dorthin, wo die Mauern des Kaiserpalasts begannen und die aufgehende Sonne den Himmel rosa färbte. Ein weiterer heißer Tag stand bevor, vielleicht noch heißer als der gestrige. An Schlaf war nicht mehr zu denken und an Frieden … Li ließ den Gedanken im Nichts enden, plötzlich verstehend, dass er den Frieden niemals kennen lernen würde. »Wir sind verflucht, im Krieg zu leben«, sagte er. »Mögen die Göt ter uns beistehen.« Im gleichen Morgengrauen, im Osten, zu dem Li blickte, wendete ein Mann namens Song Yi sein Pferd und ließ es über die staubigen Straßen traben. Er trug die einfache Kleidung Reisender über seiner Uniform und hatte sein Schwert unter einer Robe verborgen. Die Sonne im Rücken, ritt er durch das westliche Tor, der Stadt Yinchuan entgegen.
11. »Ha! Ich habe Euch schon wieder im Schach geschlagen!« Li Xia-Ji klatschte in die Hände und schnitt Fu Long, der stirnrun zelnd auf das gewürfelte Spielfeld starrte, eine Grimasse. »Ich schwöre Euch, Fräulein Xia-Ji, ich weiß nicht, wie Ihr das im mer wieder macht. Es ist mir ein Rätsel.« Er versuchte es zu lösen, indem er seine Züge und die seiner Part nerin analysierte. Vergebens. Er kam nicht dahinter, woran es liegen mochte, dass die Tochter seines Meisters ihn immer wieder beim Schachspielen besiegte. Selbstverständlich konnte es nicht daran lie gen, dass sie besser spielte und strategischer dachte als er. Schließ lich war er ein Mann und sie eine Frau. Trotzdem ließ sich ein gewisses Talent bei ihr wohl nicht abstrei ten. Vielleicht lag in den Worten Li An-Nings doch eine gewisse Wahrheit. Immerhin unterrichtete der ehrenwerte Großonkel seiner Exzellenz des Ersten Sekretärs des rechten Geldes auch dessen Toch ter, und das ganz selbstverständlich. Auf Fu Longs verwirrte Frage am ersten Tag des Unterrichts, warum Xia-Ji den Lektionen beiwohnen sollte, hatte der alte Gelehr te mit einem Spruch des Meng Zi geantwortet: Einen Ertrinkenden aus sittlichen Gründen nicht aus den reißenden Fluten zu retten, sei wölfische Grausamkeit. So sei er moralisch und nach allen ethischen Grundwerten verpflichtet, Li Xia-Ji mit ihren lebhaften Geistesgaben genauso zu unterrichten wie Fu Long, den Doktor der vierten Ord nung. Fu Long hatte aus Respekt gegenüber Lis Alter nicht gewagt, weiterhin zu widersprechen, auch wenn dessen Aussage allem ent gegen stand, was er bisher gelernt hatte. Man unterrichtete Frauen nicht, weil das nun einmal reine Zeitverschwendung war.
Im großen und ganzen, das musste er allerdings zugeben, erwies sich Xia-Ji als ebenso begabt wie belesen, und in den häufigen Streit gesprächen mit ihrem Urgroßonkel wählte sie ihre Argumente um sichtig und weise. Manchmal vergaß Fu Long sogar, dass sie eine Frau war – obwohl das wirklich nicht häufig geschah – und sprach mit der Tochter seines Meisters wie mit einem anderen Schüler. In diesem Moment allerdings hätte er sie gerne mit einer wohlver dienten Züchtigung bestraft, denn sie tanzte heiter um den Tisch herum, an dem er noch saß, und freute sich in höchst ungebührli cher Weise über ihren Sieg. Ihre lange Seidenrobe schwang im Wind hin und her und das Funkeln in ihren Augen war so hell wie ein Stern in der Nacht. Fu Long musste sich zusammennehmen, um sie nicht allzu auffällig anzustarren. Es war erstaunlich, wie gut schlechtes Benehmen einer Frau stehen konnte … »Nun«, sagte eine zittrige Stimme hinter ihm. »Ihr beiden jungen Leute vertragt Euch also nach beinahe vierzehn Tagen hier in Yin chuan.« Da kann man geteilter Meinung sein, dachte Fu Long, ohne zu ant worten. Er verneigte sich nur tief, ebenso wie Xia-Ji, die ihre über schwängliche Freude bremste und sich anmutig in seine Richtung verbeugte. Nur ein paar Haarsträhnen ragten unordentlich aus ih rem Knoten hervor. Fu Long war nicht entgangen, wie sehr sich ihr Verhältnis zu dem alten Herrn in den vergangenen Wochen gebessert hatte. Ihr machte der Unterricht sichtlich Spaß, und die Bücher, die ihr Li An-Ning zum Lesen gab, gefielen ihr so sehr, dass sie den ganzen Tag mit ih rem Studium verbrachte. Ihr Vater, so sagte sie, hatte ihr die alten Geschichten über heldenhafte Frauen immer vorenthalten, wohl um ihrem wilden Benehmen nicht auch noch Vorbilder zu liefern. In Ge danken wertete Fu Long seinen Meister weiter auf. Er war ein wirk lich weiser Mann. Li An-Ning, eine zarte, gebrechliche Gestalt auf einen Stock ge
stützt, blieb vor dem Schachtisch stehen. Xia-Ji richtete sich lächelnd auf. »Werter Urgroßonkel, ich habe Fu Long ein weiteres Mal beim Schach geschlagen! Was sagt Ihr dazu? Ist es nicht ein Zeichen, dass der logische Geist sich in unserer Fami lie fortpflanzt?« Li An-Ning kicherte wieder auf seine senil wirkende Art. »Mein liebes Kind, ich sage immer wieder, dass du sehr begabt bist. Es ist dein junger Begleiter, der davon überzeugt werden muss.« Xia-Ji winkte ab. »Fu Long? Was weiß der schon?« Fu Long zuckte zusammen und schluckte eine Erwiderung hinun ter. Sie sprachen über ihn, als sei er nicht im Raum. »Nun, mein Kind«, sagte Li An-Ning. Seine knochigen alten Finger berührten eine der Schachfiguren und strichen über das Elfenbein. »Er weiß als Doktor des vierten Grades schon eine Menge, und er will noch mehr lernen, was löblich ist.« Sein Blick streifte Fu Long, aber er sprach weiter mit Xia-Ji. »Er hat mir vor zwei Tagen erzählt, dass er sich auf die Prüfung in der Hauptstadt vorbereiten will. Dazu benötigt er aber zusätzlichen Un terricht. Ich habe da einige klassische Aufsätze, die ihm helfen wer den, dieses hohe Ziel zu erreichen.« Jetzt endlich nickte er Fu Long zu, der sofort neben ihn trat, erleichtert, den Ort seiner Niederlage ohne weitere Schmach verlassen zu dürfen. Er versuchte es zu lösen, indem er seine Züge und die seiner Part nerin analysierte. Vergebens. Er kam nicht dahinter, woran es liegen mochte, dass die Tochter seines Meisters ihn immer wieder beim Schachspielen besiegte. Selbstverständlich konnte es nicht daran lie gen, dass sie besser spielte und strategischer dachte als er. Schließ lich war er ein Mann und sie eine Frau. Trotzdem ließ sich ein gewisses Talent bei ihr wohl nicht abstrei ten. Vielleicht lag in den Worten Li An-Nings doch eine gewisse Wahrheit. Immerhin unterrichtete der ehrenwerte Großonkel seiner Exzellenz des Ersten Sekretärs des rechten Geldes auch dessen Toch ter, und das ganz selbstverständlich.
Auf Fu Longs verwirrte Frage am ersten Tag des Unterrichts, warum Xia-Ji den Lektionen beiwohnen sollte, hatte der alte Gelehr te mit einem Spruch des Meng Zi geantwortet: Einen Ertrinkenden aus sittlichen Gründen nicht aus den reißenden Fluten zu retten, sei wölfische Grausamkeit. So sei er moralisch und nach allen ethischen Grundwerten verpflichtet, Li Xia-Ji mit ihren lebhaften Geistesgaben genauso zu unterrichten wie Fu Long, den Doktor der vierten Ord nung. Fu Long hatte aus Respekt gegenüber Lis Alter nicht gewagt, weiterhin zu widersprechen, auch wenn dessen Aussage allem ent gegen stand, was er bisher gelernt hatte. Man unterrichtete Frauen nicht, weil das nun einmal reine Zeitverschwendung war. Im großen und ganzen, das musste er allerdings zugeben, erwies sich Xia-Ji als ebenso begabt wie belesen, und in den häufigen Streit gesprächen mit ihrem Urgroßonkel wählte sie ihre Argumente um sichtig und weise. Manchmal vergaß Fu Long sogar, dass sie eine Frau war – obwohl das wirklich nicht häufig geschah – und sprach mit der Tochter seines Meisters wie mit einem anderen Schüler. In diesem Moment allerdings hätte er sie gerne mit einer wohlver dienten Züchtigung bestraft, denn sie tanzte heiter um den Tisch herum, an dem er noch saß, und freute sich in höchst ungebührli cher Weise über ihren Sieg. Ihre lange Seidenrobe schwang im Wind hin und her und das Funkeln in ihren Augen war so hell wie ein Stern in der Nacht. Fu Long musste sich zusammennehmen, um sie nicht allzu auffällig anzustarren. Es war erstaunlich, wie gut schlechtes Benehmen einer Frau stehen konnte … »Nun«, sagte eine zittrige Stimme hinter ihm. »Ihr beiden jungen Leute vertragt Euch also nach beinahe vierzehn Tagen hier in Yin chuan.« Da kann man geteilter Meinung sein, dachte Fu Long, ohne zu ant worten. Er verneigte sich nur tief, ebenso wie Xia-Ji, die ihre über schwängliche Freude bremste und sich anmutig in seine Richtung verbeugte. Nur ein paar Haarsträhnen ragten unordentlich aus ih
rem Knoten hervor. Fu Long war nicht entgangen, wie sehr sich ihr Verhältnis zu dem alten Herrn in den vergangenen Wochen gebessert hatte. Ihr machte der Unterricht sichtlich Spaß, und die Bücher, die ihr Li An-Ning zum Lesen gab, gefielen ihr so sehr, dass sie den ganzen Tag mit ih rem Studium verbrachte. Ihr Vater, so sagte sie, hatte ihr die alten Geschichten über heldenhafte Frauen immer vorenthalten, wohl um ihrem wilden Benehmen nicht auch noch Vorbilder zu liefern. In Ge danken wertete Fu Long seinen Meister weiter auf. Er war ein wirk lich weiser Mann. Li An-Ning, eine zarte, gebrechliche Gestalt auf einen Stock ge stützt, blieb vor dem Schachtisch stehen. Xia-Ji richtete sich lächelnd auf. »Werter Urgroßonkel, ich habe Fu Long ein weiteres Mal beim Schach geschlagen! Was sagt Ihr dazu? Ist es nicht ein Zeichen, dass der logische Geist sich in unserer Fami lie fortpflanzt?« Li An-Ning kicherte wieder auf seine senil wirkende Art. »Mein liebes Kind, ich sage immer wieder, dass du sehr begabt bist. Es ist dein junger Begleiter, der davon überzeugt werden muss.« Xia-Ji winkte ab. »Fu Long? Was weiß der schon?« Fu Long zuckte zusammen und schluckte eine Erwiderung hinun ter. Sie sprachen über ihn, als sei er nicht im Raum. »Nun, mein Kind«, sagte Li An-Ning. Seine knochigen alten Finger berührten eine der Schachfiguren und strichen über das Elfenbein. »Er weiß als Doktor des vierten Grades schon eine Menge, und er will noch mehr lernen, was löblich ist.« Sein Blick streifte Fu Long, aber er sprach weiter mit Xia-Ji. »Er hat mir vor zwei Tagen erzählt, dass er sich auf die Prüfung in der Hauptstadt vorbereiten will. Dazu benötigt er aber zusätzlichen Un terricht. Ich habe da einige klassische Aufsätze, die ihm helfen wer den, dieses hohe Ziel zu erreichen.« Jetzt endlich nickte er Fu Long zu, der sofort neben ihn trat, erleichtert, den Ort seiner Niederlage ohne weitere Schmach verlassen zu dürfen.
Li An-Ning griff nach seinem Arm, um sich darauf zu stützen. »Gehen wir in die Bibliothek.« »Und was ist mit mir?« Xia-Ji verschränkte die Arme vor der Brust. »Du wirst deine Studien morgen fortsetzen. Ich werde dir gleich meinen Sekretär schicken. Er ist im Schachspiel sehr bewandert und kann möglicherweise sogar dir noch etwas beibringen. Warum ge nießt du in der Zwischenzeit nicht die Morgensonne im Garten?« Fu Long sah das Schmollen in ihren Mundwinkeln und wandte sich ab, damit sie nicht das Grinsen in den seinen sah. Vorsichtig half er Li An-Ning durch den Gang, der zur Bibliothek führte. Der alte Mann zitterte bei jedem Schritt. »Mein Großneffe«, sagte er nach einem Moment, »hat einen schwierigen Weg beschritten. Viele werden sich von der offenen Art seiner Tochter verschrecken lassen.« Er blieb stehen und sah Fu Long aus trüben Augen an. »Aber nicht du. Dich verschreckt es nicht.« »Was meint Ihr damit?« »Dass sich Weisheit und Klugheit manchmal hinter einer Mauer aus Erziehung verbergen, die sich zu durchbrechen lohnt.« Er musste Fu Longs verständnislosen Gesichtsausdruck bemerkt haben, denn er seufzte lang anhaltend und fuhr fort: »Lass es mich dir mit einem Gleichnis verdeutlichen. Der …« »Hilfe!« Der Schrei schnitt wie ein Messer in Fu Longs Kopf. Stimmenge wirr wurde im Garten laut, unverständlich und dumpf. Er ließ Li An-Nings Arm los, hörte den alten Mann etwas sagen und lief ohne eine Antwort durch das Mondtor hinein in den nächsten Hof, dort hin, wo sich der Goldfischteich befand. Er war sicher, dass die Rufe von hier gekommen waren, aber als er den Teich erreichte, war nie mand zu sehen. Der Garten lag ruhig vor ihm. Fu Long dachte an Xia-Ji, die nicht nur einmal die Dienstboten be
nutzt hatte, um ihm einen Streich zu spielen. Sie wagten es natürlich nicht, ihr zu widersprechen, und es war Xia-Ji durchaus zuzutrauen, dass sie sich für die Zurücksetzung rächen wollte. Nur die Schnel ligkeit, mit der sie reagiert hatte, verwirrte Fu Long. Er wollte sich gerade umdrehen, um zu Li An-Ning zurückzukeh ren, als er die Hausdiener dann doch entdeckte. Sie standen neben dem Mondtor, hinter dem künstlichen Gartenfelsen, deshalb hatte er sie nicht sofort gesehen. Zwei von ihnen sahen zu ihm herüber, die anderen bildeten mit gesenkten Köpfen einen Halbkreis. Es war nicht zu erkennen, worauf sie blickten. Ihre Körper blockierten die Sicht. Die beiden Diener bemerkten seinen Blick und berührten einige andere an der Schulter. Ihre Gesichter glänzten nass, dabei hatte es seit Wochen nicht geregnet. Fu Long hörte einen von ihnen schluch zen. Und dann wichen die anderen endlich zurück, gaben den Blick frei auf etwas, das am Boden lag, inmitten des weichen, grünen Grases. »Xia-Ji?« Er wusste nicht, ob er ihren Namen gerufen oder geflüs tert hatte, sah sich nur selbst wie aus weiter Ferne neben ihr in die Knie gehen. Ihre Augen flatterten, blickten in die seinen, ohne ihn wahrzunehmen. Vorsichtig hob er sie an den schmalen Schultern hoch und legte ihren Kopf auf seinen Schoß. »Was steht ihr hier so herum?« Er wollte die Diener anschreien, aber seine Stimme war zu heiser. »Holt auf der Stelle einen Arzt!« Einer der Diener löste sich aus der Gruppe und trat vor. »Herr, wir können nichts dafür, es war bereits passiert.« »Das habe ich euch nicht gefragt! Holt jetzt endlich den Arzt.« Der Hofmeister schluckte und öffnete den Mund. Die Köchin nick te ihm auffordernd zu. »Ehrenwerter Gebieter«, sagte der Mann, »der niedere Wicht fürchtet, es ist zu spät …« Fu Long strich Xia-Ji leicht über die Haare. Der kompliziert ausse
hende Knoten hatte sich gelöst. Ihr schwarzes Haar breitete sich über seinem Schoß aus wie eine Decke. Es glänzte im Sonnenlicht, und er konzentrierte sich darauf, nur darauf und nicht auf das apri kosenfarbene Kleid mit all dem Blut. »Was ist passiert? Warum stehen alle hier herum?« Die brüchige Stimme Li An-Nings riss Fu Long in die Gegenwart. Der alte Mann starrte ihn und Xia-Ji an. »Wer ist diese reizende junge Dame? Und warum hat ihr noch nie mand ein anderes Kleid gegeben. Das ist doch ganz schmutzig.« Fu Long sah entgeistert zu dem alten Mann auf, bevor er sich XiaJi zuwandte, um sie in ihren letzten Minuten begleiten zu können. Doch ihre Augen starrten bereits gebrochen in den Himmel. Xia-Ji war tot. Um Fu Long herum wurde es still. Wenn man ihn gefragt hätte, warum es auf einmal kein einziges Geräusch mehr auf der Welt zu geben schien, hätte er nicht antworten können. Die Welt schwieg.
Die nächsten Stunden waren ein Albtraum, aus dem er nicht erwa chen konnte. Immer wieder kreisten seine Gedanken um Xia-Ji, um das Blut auf ihrem Kleid und um ihr Haar, in dem sich Sonnenstrahlen brachen. Ein paar Stunden, nachdem sie in seinen Armen gestorben war, saß er wie betäubt in der Bibliothek und überließ es dem Sekretär, sich um den verwirrten Li zu kümmern. Fast beneidete er ihn um seine Unfähigkeit, das Geschehene zu begreifen. Die Gedanken in seinem Kopf waren offene Wunden, in die er hin einstach, ohne es zu wollen. Was sollte er tun? Was konnte er tun? Er wusste es nicht. Xia-Ji, die er insgeheim bewundert hatte für ih
ren Mut, immer das zu sagen, was sie für richtig hielt, war gestor ben, und er, Fu Long, Doktor des vierten Grades, hatte nichts getan, um das zu verhindern. Wozu hatte er sein Leben lang gelernt, wozu hatte er zweimal den Huanghe durchquert, wozu hatte er seinen Meister allein gelassen? Nichts davon hatte etwas genützt. Xia-Ji war tot und er hatte ver sagt. Fu Long starrte in den stillen Raum. Es war schon dunkel, als er sich seiner Umgebung wieder bewusst wurde und endlich von seinem Platz in der Bibliothek aufstand. Es musste noch so viel geregelt werden, so viele Dinge, zu denen ihm eigentlich die Kraft fehlte. Er klatschte in die Hände und zuckte zusammen, als Lis Sekretär schnell wie ein Geist im Türrahmen erschien. Er musste die ganze Zeit im Gang gestanden haben. »Ihr wünscht, ehrenwerter Fu Long?« »Hol die Diener her, die im Garten waren, als …« Er schluckte, brachte es nicht über sich, die Worte zu sagen. »… als es geschah. Ich will sie befragen.« Fu Long unterbrach sich ein zweites Mal. »Nein, warte, sag mir zuerst, wie es dem ehrwürdigen Meister Li geht.« »Der Alte Meister hat sich bereits schlafen gelegt. Den Göttern hat es gefallen, ihm beim Anblick des toten Körpers seiner würdigen Urgroßnichte seinen wunderbaren Verstand zu nehmen. Er weiß also nicht, was geschehen ist. Ich muss gestehen, ich bin sehr dank bar dafür.« »Das können wir in der Tat sein.« Fu Long schloss kurz die Augen. »Jetzt hol die Diener her. Wir haben viel zu tun.« Der Sekretär schien seinen Wunsch vorhergesehen zu haben, denn nur Minuten später drängelten sich sämtliche Diener in die Biblio thek, sichtlich darauf bedacht, Fu Long zu erklären, dass sie nicht das Geringste mit dem Geschehenen zu tun hatten.
Fu Long klatschte wieder in die Hände und sorgte damit für schlagartige Ruhe. Keiner der Diener wusste so recht, was er tun sollte, und dass er jetzt alles in die Hand zu nehmen schien, kam dem Hauspersonal gerade recht. »Ihr alle wisst mittlerweile, was der ehrenwerten Urgroßnichte des Meisters heute zugestoßen ist. Ich möchte von Euch wissen, wer et was gesehen hat.« Fu Long ließ seinen Blick über die nicht unbeträchtliche Diener schar schweifen. Die meisten starrten betreten vor sich hin. Der Koch neigte schließlich seinen kahlen Kopf und verbeugte sich tief. »Der erbärmliche Wicht hat es gesehen, werter Doktor.« Er sprach vorsichtig, wie jemand, der sicherstellen will, dass er keinen Fehler begeht. »Was genau hast du gesehen? Und warum hast du nichts unter nommen, wenn du es gesehen hast?« Fu Long musste sich zusammenreißen, um nicht die Nerven zu verlieren. Er holte tief Luft und erinnerte sich an seine Erziehung. In Anwesenheit von Tod im Haus erhob man seine Stimme nicht. »Also«, sagte er ruhiger. »Was hast du gesehen, Koch?« »Ich habe nur gesehen, wie das Fräulein zusammengebrochen ist und ein Mann über die Gartenmauer sprang. Ich konnte nicht sehen, wer es war, aber er trug eine Rüstung, wie sie die kaiserlichen Solda ten in Peking tragen.« Seine Frau, die Haushälterin, unterbrach ihn ärgerlich. »Woher willst du das wissen, du nichtsnutziger Dummkopf? Du bist doch so kurzsichtig, dass du deine eigenen Kinder nicht grüßt, wenn du sie auf der Straße triffst! Der junge Herr sollte dich verprügeln lassen für deine Dreistigkeit!« Sie schnauzte heftig in ihren schmutzigen Kittel. Fu Long wandte seinen Blick ab.
»Aber Shang Yu«, sagte einer der Gärtner, »dein Mann hat Recht. Ich habe ebenfalls einen Mann über die Mauer springen sehen. Er trug eine Uniform, aber welche es war, konnte ich nicht erkennen.« Fu Long schwieg überrascht. Ein kaiserlicher Soldat oder jemand, der eine kaiserliche Uniform gestohlen hatte, sollte für den Mord verantwortlich sein? Letzteres erschien ihm wahrscheinlicher, denn welches Interesse sollte die kaiserliche Wache daran haben, die Tochter des Ersten Sekretärs des rechten Geldes umzubringen? Der Kaiser selbst hielt seine Hand schützend über Li Si-Wen und seine Familie. Das alles passte nicht zusammen. Er ließ seinen Blick über die Diener schweifen, die leise unterein ander zu tuscheln begonnen hatten. Die meisten von ihnen hatten ihr Leben lang in diesem Haushalt gearbeitet und würden ihre Stel lung an ihre Kinder weitergeben. Es war kaum denkbar, dass einer von ihnen bestochen worden war. Außer … »Wo ist der zweite Gärtner?«, fragte er plötzlich. »Der junge Mann mit der Tätowierung?« Die Diener sahen sich untereinander an, schienen erst jetzt zu be merken, dass einer von ihnen fehlte. »Er ist nicht hier, ehrenwerter Herr«, sprach Shang Yu schließlich das Offensichtliche aus. »Ist er schon lange in dieser Stellung?« Der Sekretär trat vor. »Nein, wir haben ihn vor ein paar Wochen eingestellt, kurz bevor Ihr eintraft. Der alte Gärtner erschien eines Tages nicht zum Dienst, dafür tauchte Zhao Zhifu, sein Neffe auf. Er sagte, sein Onkel sei schwer erkrankt und er würde die Arbeit für ihn erledigen. Seine Referenzen waren gut, also habe ich ihn einge stellt.« »Hat der alte Gärtner je zuvor von seinem Neffen gesprochen?« Er sah die Diener an, die nacheinander den Kopf schüttelten.
»Nein, ehrenwerter Doktor«, sagte dann auch der Sekretär. Fu Long schloss die Augen. Ein kaiserlicher Soldat, der vielleicht keiner war. Ein Gärtner, der ganz bestimmt keiner war und nur Stunden nach der Tragödie nicht aufzufinden war … Es musste einen Zusammenhang geben, auch wenn er im Moment nicht wuss te, wo er ihn suchen sollte. Er kämpfte gegen das Gefühl, versagt zu haben. »Nun«, sagte er und öffnete die Augen, »wir müssen für Fräulein Li Xia-Ji die letzten Riten durchführen. Lasst das Haus weiß verhän gen. Jeder von euch, auch ich, muss ein weißes, ungesäumtes Ge wand aus grobem Leinen erhalten. Lasst die Priester kommen, da mit die Totenmessen gelesen werden, und Klageweiber, damit ange messen um Li Xia-Ji geweint wird. Außerdem müssen in drei Tagen die Gäste bewirtet und ein Festmahl zubereitet werden. Ist dies ge schehen, werde ich mit der sterblichen Hülle von Fräulein Li in die Hauptstadt zurückkehren. Bereitet meine Reise angemessen vor und ruft die Soldaten zusammen.« Er wandte sich von ihnen ab, hörte nur, wie die Diener den Raum verließen. Sie sollten nicht bemerken, dass er die Beherrschung ver lor. Die Tränen in seinen Augen ließen die Umgebung verschwim men. Er nahm den weiten Ärmel seiner Robe vor das Gesicht, um sie abzuwischen, aber immer mehr flossen über seine Wangen. Das war der Moment, in dem Fu Long bewusst wurde, dass er Li Xia-Ji geliebt hatte.
12. Zhao Zhifu kam keuchend zum Stehen. Die verwinkelten und engen Gassen Yinchuans schienen voller Augen zu sein, die ihn anstarrten. Gehetzt sah er sich um, suchte die Verfolger, von denen er nicht wusste, ob sie überhaupt existierten. Er konnte nicht sagen, wie viele Straßenhändler, Passanten und spielende Kinder er in seiner endlosen Flucht umgerannt hatte, aber es war ihm auch egal. Sie waren unbedeutend, nur sein eigenes Überleben zählte. Zhao Zhifu drückte sich in einen dunklen Hauseingang und lauschte auf das Hämmern seines Herzens. Seine Knie waren weich, und obwohl er das Blut längst von den Händen gewaschen hatte, spürte er die klebrige Wärme immer noch. Er hatte sie nicht verletzen wollen. Und doch war genau das geschehen. Vielleicht hätte er kein Mes ser mitnehmen sollen, aber wie hätte er ihr sonst drohen sollen? Nur eine Bewegung war notwendig gewesen, nur eine Drehung … Er verdrängte den Gedanken. Es war wichtiger, sich auf seine Flucht aus der Stadt zu konzentrieren – wohin auch immer er da nach gehen würde. Vorsichtig schob Zhao Zhifu den Kopf aus dem Hauseingang und sah sich um. Alles wirkte normal, die Marktfrauen boten lautstark Kohl und Knoblauch auf der einen Straßenseite an, auf der anderen Seite saß ein Geldwechsler und feilschte mit einem Nachtwächter um den Tauschwert zweier Schnüre Kupfermünzen, während eine dicht verhangene Sänfte schaukelnd vorbeigetragen wurde. Die Trä ger schwitzten. Ihre staubbedeckten Körper gaben ihnen das Ausse hen von Tonfiguren. Trotzdem blieb Zhao Zhifu im Häusereingang
stehen. Die Sicherheit des beengten Raumes war zwar trügerisch, aber dennoch besser als der ungeschützte Gang über die Straße. Er musste versuchen, unauffällig in Richtung des östlichen Stadttores zu entkommen, doch der Mut fehlte ihm. Seine Gedanken kehrten zurück zu Xia-Ji. Er hatte sie in den letz ten Wochen schätzen gelernt, auch wenn sie für eine Frau nicht sehr zurückhaltend war und das Personal des alten Li An-Ning auf Trab gehalten hatte. Der Gelehrte Li war viel zu alt, um sein Personal un ter Kontrolle zu halten. Das hatte er – und Zhao Zhifu war die Ironie völlig klar – bewiesen, als er die Entscheidung seines Sekretärs, einen neuen Gärtner einzustellen, noch nicht einmal überprüft hatte. Selbst die Tätowierung auf seiner Stirn, zu der Kai-Xuan ihn einen Tag nach dem Verlassen Nankings gezwungen hatte, war von nie mandem kommentiert worden. Die Menschen hatten auf ihrer klei nen Insel der Ahnungslosigkeit gelebt, und für ein paar Wochen hat te Zhao Zhifu das einfache Leben mit ihnen geteilt. Wenn er ehrlich war, hatte es ihm sogar gefallen. Ihm waren Dinge aufgefallen, auf die er noch nie zuvor geachtet hatte. So hatte der Koch das Gemüse nachlässig geputzt, bis Xia-Ji ihn ermahnte, und die Haushälterin hatte lieber über den Verfall der Sitten bei den Zofen gejammert, als darauf zu achten, dass ordent lich Staub gewischt wurde. Und er selbst hatte die Bäume im Garten nicht immer so ordentlich geschnitten, wie das vielleicht für die Pflanzen gut gewesen wäre. Aber dieses Leben war vorbei, war durch eine einzige Bewegung beendet worden. Er hatte Xia-Ji gesagt, sie dürfe sich nicht bewegen, aber sie hatte trotzdem nach ihm geschlagen, hatte versucht sich aus seinem Griff zu befreien, als sähe sie das Messer nicht. Beinahe hätte sie es geschafft. »Großer Bruder, warum versteckst du dich?« Zhao Zhifu zuckte erschrocken zurück und starrte auf ein kleines schmutziges Kind herab, das eine Schüssel mit einem Rest Reis und ein wenig Gemüse festhielt. »Verschwinde.«
Er trat aus dem Hauseingang hervor, verärgert darüber, dass sein Benehmen so auffällig war, dass selbst Kinder seine Angst bemerk ten. Das kleine Mädchen starrte ihm nach, als er die Straße herunter ging und um eine Ecke bog. Sein Herz setzte einen Schlag aus, als er vier Soldaten der Stadtwa che sah, die ihm entgegen kamen. Er unterdrückte den Instinkt, der ihn zur Flucht zwingen wollte, drehte sich so ruhig wie möglich um und betrat eine Teestube. Der Geruch nach Tee und heißem Wein wirkte beruhigend. Zhao Zhifu setzte sich in eine Ecke, die vom Eingang nicht einzusehen war, und sah sich um. Es waren nur wenige Gäste zu sehen. Einige unterhielten sich, die anderen starrten nur müde in ihren Tee. Nie mand beachtete ihn. Es dauerte eine Weile, bis der Wirt endlich an seinen Tisch kam. »Was wünscht Ihr?« »Ich … äh …« Er hatte sich keine Gedanken darüber gemacht. »Entscheidet Euch! Ich habe noch andere Gäste, um die ich mich kümmern muss.« Zhao Zhifu sah ihn wütend an und dachte an Nanking. Für eine solche Unverschämtheit hätte er ihm dort die Ohren abgeschnitten. »Bringt mir einen Becher heißen Reiswein.« Seine Stimme verriet nichts von seinem Ärger. Er hatte sich wieder unter Kontrolle. Der Wirt schnaubte, wischte kurz über den Tisch und ging zurück zur Theke. »Hey, wie geht's? Du siehst aus, als könntest du Gesellschaft ge brauchen.« Ein braungebrannter Bauer mit runzligem Gesicht setzte sich ungefragt neben ihn. Zhao Zhifu sah ihn misstrauisch an. »Na komm schon. Du wirst doch wohl noch eine Kupfermünze übrig ha ben, um einen alten Mann zu einem Becher heißem Wein einzula den.« Zhao Zhifu schwieg. Der Bauer lachte. »Du traust mir wohl nicht, oder? Aber ich traue
dir. Bist du neu hier in der Stadt?« Zhao Zhifu nickte langsam. Er hatte den Bauern im ersten Moment davonjagen wollen, aber vielleicht war es nicht schlecht sich ein we nig mit ihm zu unterhalten. Wenn die Stadtwache nach dem Angrei fer zu suchen begann, würden sie kaum einen Mann verdächtigen, der ruhig mit einem anderen Wein trank. Sie würden nach den Ge hetzten suchen, nach denen, die in dunklen Hauseingängen standen oder sich in der Nähe der Stadttore aufhielten. Der Wirt kam und stellte einen Becher mit heißem Reiswein vor ihn auf den Tisch. »In meiner Schenke wird sofort bei Lieferung gezahlt!«, sagte er und streckte fordernd eine schmutzige Hand aus, die sein ständiges Tischabwischen zu einer Farce machte. Zhao Zhifu warf ein paar Kupfermünzen auf den Tisch. »Ich lade meinen neuen Freund hier ein, Wirt. Bring uns einen weiteren Be cher.« Der Wirt knurrte nur und nahm das Geld. »Ich danke dir, mein Freund.« Der Bauer grinste. »Lass mich dir eine schöne Geschichte erzählen, um meine Dankbarkeit zu bewei sen.« Zhao Zhifu ließ ihn reden, ohne selbst zuzuhören. Die Geschichten des Bauern kreisten um seine Nachbarn, um die Ernten und die Tie re auf den Weiden. Er war zufrieden, wenn sein Gegenüber ab und zu nickte und schien sich nicht daran zu stören, dass er keine Ant worten erhielt. Seine einfache Welt war beneidenswert, zumindest an diesem Tag. Zhao Zhifu dachte an Xia-Ji, wie sie sich drehte und er den Wider stand ihres Körpers an der Klinge spürte. Er wusste nicht, wie schwer er sie verletzt hatte, hoffte nur, dass sich bald eine Gelegen heit ergeben würde, es ein zweites Mal zu versuchen. Nur dann bitte ohne Soldaten, dachte er. Wo der hergekommen war, konnte er immer noch nicht sagen. Er hatte auf einmal vor ihm ge
standen, gerade als Xia-Ji zusammenbrach. Verletzt oder nicht, Zhao Zhifu hätte sie einfach mitnehmen können, aber der Soldat in seiner kaiserlichen Uniform hatte ihm einen solchen Schock versetzt, dass er einfach über die Mauer geflohen war. Und jetzt musste er auf eine weitere Gelegenheit warten, denn ohne Xia-Ji konnte er Kai-Xuan nicht unter die Augen treten. Kai-Xuan. Allein der Gedanke an ihn brachte Zhao Zhifu zum Zit tern. Er leerte den Becher Reiswein und winkte dem Wirt zu, noch zwei zu bringen. »Danke.« Der Bauer neigte den Kopf. »Meine Geschichten schei nen dir zu gefallen. Wie heißt du eigentlich, mein Freund?« »Mein Name tut nichts zur Sache«, sagte Zhao Zhifu immer noch in seine eigenen Gedanken versunken. »Du wirst schon deine Gründe haben, mir deinen Namen nicht zu verraten. Aber um auf die Geschichte von heute zurückzukommen, das ist wirklich eine Schande.« Ein innerer Instinkt ließ Zhao Zhifu aufsehen. »Was ist eine Schan de?« »Na, dass das ausgerechnet mit Li An-Nings Urgroßnichte passiert ist.« »Was ist mit ihr passiert?« »Das habe ich dir doch gerade erzählt.« »Dann erzähl es noch einmal!« Zhao Zhifu bemerkte, wie die an deren Gäste ihn anstarrten, aber das interessierte ihn nicht. Der Bauer blinzelte nervös. »Das weiß doch seit ein paar Stunden jeder. Sie ist umgebracht worden. Angeblich von einem Soldaten der kaiserlichen Wache in Peking in die Brust gestochen, aber das weiß man nicht genau. Die Familie schweigt genauso wie die Diener schaft. Und eigentlich ist das ja auch Quatsch. Was sollte wohl die Leibwache des Kaisers mit dem alten Gelehrten zu tun haben?« »Sie ist tot?« »Das sind Leute, die umgebracht werden, meistens.«
Zhao Zhifu stand auf. Der Bauer sagte noch mehr, doch er hörte schon längst nicht mehr zu. Ohne ein weiteres Wort verließ er die Gaststätte, gefangen in einer persönlichen Hölle, die ihn nicht loslas sen wollte. Tot. Er hatte Xia-Ji umgebracht, und so sehr ihn das schockierte, so bedauerte er doch eher sich selbst als sie. Sie war bereits tot, doch er würde die schlimmsten Qualen erleiden, bevor er ihr Schicksal tei len durfte. Kai-Xuan war kein Mann, der Versagen tolerierte. Und wenn ich nicht zu ihm gehe?, dachte Zhao Zhifu plötzlich. Wenn ich noch weiter nach Westen gehe in das wilde Land? Niemand würde mich je dort finden, selbst Kai-Xuan und seine Bruderschaft nicht. Mit neuem Mut ging er die Straßen entlang, kontrollierte jede Ecke, bevor er in sie einbog, und sah auf jede Straße zurück. Er hatte das östliche Stadttor fast erreicht, konnte bereits die Banner über den Hausdächern sehen, als er plötzlich an der Schulter gepackt wurde. Jemand zog ihn in einen Hauseingang. Eine Tür fiel schwer hinter ihm zu. Er blinzelte, versuchte seine Augen an die plötzliche Dunkelheit zu gewöhnen. Licht fiel nur durch einige Ritzen zwischen den Bret tern, die vor das einzige Fenster genagelt waren. Eine Faust traf ihn mitten ins Gesicht. Zhao Zhifu schrie auf und wurde gegen die Wand geschleudert. »Du nichtsnutziger Sohn einer räudigen Hure!« Jemand brüllte ihn an. Der Atem stank nach Knoblauch. »Unser Herr hat dir befohlen, die Tochter des Sekretärs zu entführen, nicht umzubringen!« »Aber ich war es doch gar nicht!« Die Lüge kam flüssig über Zhao Zhifus aufgeplatzte Lippen. Er spuckte Blut. »Ich … ich schwöre es bei der göttlichen Kuan Yin, Herr!«(Buddhistische Göttin der Gnade und Barmherzigkeit) »Du kannst schwören, bei wem du willst, das ändert nichts!« Sein Gegenüber war eine Silhouette in der Dunkelheit. Er schien groß und kräftig zu sein.
Zhao Zhifu ging in die Knie, wohl wissend, dass von diesem Ge spräch sein Leben abhing. Kai-Xuan hatte ihm einen Aufpasser hin terher geschickt, hatte ihm also von Anfang an nicht getraut. »Nein«, log er, »das … das kann nicht sein! Sie war doch noch am Leben, als ich sie verlassen habe. Mein Messer hat sie kaum berührt, aber der Soldat … er hatte ein Schwert. Mir blieb nichts anderes üb rig, als zu fliehen. Er muss sie umgebracht haben.« »Du redest Unsinn!« Eine Faust landete unter dem Auge des Gärt ners. Er prallte erneut gegen die Wand. Die Umgebung ver schwamm vor ihm. Sein Angreifer riss ihn am Kragen hoch und Zhao Zhifu hörte Stoff reißen. »Du bist ein nichtsnutziger Versager, der unserem Herrn Schande bereitet hat. Du weißt, dass er das nicht dulden kann.« »Das …« Zhao Zhifu wollte antworten, wollte um sein Leben bet teln, aber zwei Hände legten sich wie Eisenklammern um seinen Hals, drückten zu. Er spürte, wie er vom Boden hochgehoben wur de. Seine Füße zuckten unkontrolliert, das Blut rauschte in seinen Ohren. In seiner Lunge schien ein entsetzliches Feuer zu brennen und alles in ihm schrie nach Luft. Doch die kam nicht.
Der Soldat der kaiserlichen Wache beobachtete in seinem Versteck, wie ein Mann aus der kleinen Bruchbude am Rande der Straße ging. Einen Moment blieb er stehen und sah sich um, dann bog er in eine kleine Gasse ein und verschwand. Song Yi blieb stehen und wartete auf die Dunkelheit. Erst als nur noch das Licht der Häuser auf die Straße drang, löste er sich aus den Schatten und ging zur Hütte. Er hatte seinen Gegner bei der geplan ten Entführung bis zu dieser Hütte verfolgt, hatte gesehen, wie er hineingezerrt wurde und nicht wieder herauskam. Song Yi ahnte, was geschehen war. Eigentlich hatte er den Gärtner
gefangen nehmen und zu seinem Herrn bringen wollen, aber es schien so, als hätte ihm der Unbekannte einen Strich durch die Rech nung gemacht. Langsam öffnete er die Tür und sah in den Raum. Es war stock dunkel. Er tastete sich vor und fluchte leise, als er über einen großen Gegenstand stolperte. Vorsichtig tastete er danach, fand Kleidung und kalte Haut. Er packte den Körper bei den schlaffen Händen und zerrte ihn in Richtung Tür. Im spärlichen Licht der Straße war das Gesicht des Toten zu erken nen. Es war im Tode verzerrt und Song Yi erkannte, dass er erwürgt worden war. Du hast es verdient, dachte er, während er die auffällige Tätowie rung auf der Stirn betrachtete. Sie kam ihm bekannt vor, auch wenn er auf Anhieb nicht sagen konnte, woher. Er richtete sich auf und schloss die Tür hinter dem Toten. Man musste ihn schließlich nicht früher finden als nötig. Er wartete noch die zweite Nachtwache ab, und als die Straßen sich zur Nacht geleert hatten, kletterte er über die Stadtmauer und floh durch die Dunkelheit in Richtung Osten.
13. Song Yi ritt Tag und Nacht. Ein Pferd war bereits tot, das andere würde es bald sein. Er hatte, kurz nachdem er über die Mauer der Stadt Yin-chuan ge klettert war, in einer Herberge vor dem Stadttor zwei Pferde gestoh len und war in die Nacht hinausgeritten. In Yinchuan würde man ihn garantiert suchen, denn die Diener hatten nicht nur den Gärtner, sondern auch ihn in seiner kaiserlichen Uniform bemerkt. Er ver fluchte seine eigene Arroganz. Nie hatte er damit gerechnet, ent deckt zu werden, nur deshalb hatte er auf die unbequeme Kleidung verzichtet und war ungetarnt in das Anwesen eingedrungen. Er hoffte nur, dass sein Herr für diese Dummheit nicht bezahlen muss te. Und noch ein weiterer Gedanke ließ ihm keine Ruhe. Er wusste, dass er die Tätowierung des Toten schon einmal gesehen hatte. Während er durch die blassgelbe Landschaft in Richtung Peking ga loppierte, dachte er darüber nach und auch in den Herbergen, wenn er seine kurzen Rasten hielt. Aber erst drei Tage später, als er den Gelben Fluss überquerte, um auf die Hauptstraße nach Peking einzubiegen, fiel ihm ein, bei wel cher Gelegenheit er die Tätowierung gesehen hatte. Es war in Nanking gewesen, als General Zeng Guo-Fan die TaiPing-Rebellen besiegt hatte und sie in die verbrannte Stadt ritten. Überall roch es nach Verwesung und Tod. Er hatte Dinge gesehen, die kein Mensch jemals sehen sollte, furchtbare Spuren der Gewalt, Massaker und grenzenloses Leid. Und ein Name war immer wieder gefallen, so wie man über eine Seuche spricht, die Menschen dahin rafft. Kai-Xuan.
Nur einen seiner Männer hatten sie gefasst, einen jungen Mann, der zu dumm gewesen war, die Stadt mit den anderen zu verlassen. Auf seiner Stirn hatte Song Yi die Tätowierung gesehen. An Kai-Xuan dachte er, während er versuchte, nicht auf den Staub zu achten, der in die letzte Ritze seines Körpers kroch und ihn ein hüllte wie eine Decke. Was hatte Kai-Xuan mit dem Sekretär des rechten Geldes zu tun? Und wusste sein Herr Kong Chan davon? Wenn nicht, würde er es bald herausfinden.
Die Gesellschaft des weißen Lotus hatte sich in den ehrwürdigen Hallen des Kaisers Qian Long versammelt und saß vor den gelben Teeschalen, die Sun Tian wieder mit Tee gefüllt hatte. Natürlich war es der beste Tee; Kong bestand stets darauf, der Gesellschaft den größtmöglichen Respekt zu erweisen. Deng fehlte, denn nach seiner langen Krankheit war er – endlich, wie Kong sich heimlich eingestand – verstorben. Das war auch der Grund, warum die Mitglieder der Gesellschaft des weißen Lotus sich heute wieder im Kaiserpalast getroffen hatten. Man wollte über die Aufteilung des Geldes beraten, ein Unterfangen, das zweifellos im Streit enden würde. »Nun«, sagte Kong und rief damit die Gesellschaft zur Ordnung. »Ihr alle wisst, dass Deng in der vergangenen Woche verstorben ist, ohne eine Verfügung darüber zu hinterlassen, wer sein Geld bekom men soll.« Er wartete einen Moment ab und betrachtete die Männer durch halb geschlossene Augen. Keiner von ihnen hatte die Angelegenheit des verschwundenen Vermögens vergessen. Ihr Misstrauen stand deutlich wie eine Warze auf ihren Gesichtern. »Nun, werte Herren, was habt Ihr zu sagen? Ohne eine Verfügung würde das Geld an den nächsten männlichen Verwandten fallen,
das ist doch wohl selbstverständlich.« »Ja, aber hatte Deng denn einen männlichen Nachkommen?«, frag te Wang Sheng. »Nein, und das ist unser Glück.« Mao Wen-Yuan sah die anderen an. »Dass dieser Hundesohn gestorben ist, ohne einen von uns als Vermögensverwalter einzusetzen, sieht ihm ähnlich. Dennoch möchte ich die ehrenwerten Herren bitten, diesen Punkt erst später zu erörtern. Es gibt ein anderes Problem, das unsere Aufmerksam keit erfordert.« »Ach«, unterbrach Kong den Aufseher über die kaiserliche Uhren sammlung. »Was könnte wohl wichtiger sein als ein Weg, um an das nicht unbeträchtliche Vermögen des Deng Liu-Shi zu kommen? Ich denke, jetzt handelt es sich um einen antagonistischen Widerspruch in Eurem Benehmen!« Kong gab sich keine Mühe, den Sarkasmus in seinen Worten zu verbergen. Es überraschte ihn, als Mao sich nicht provozieren ließ, sondern ruhig weitersprach. »Ich möchte Eurer Exzellenz, dem Minister zur Rechten des Kai sers, natürlich in keiner Weise Vorschriften machen, aber unsere Runde hat im letzten Monat doch an Zahl abgenommen. Ich finde, wir müssten uns erst einmal darüber unterhalten, wen wir neu in unsere Gesellschaft aufnehmen wollen. Denn immerhin lässt sich nur schwer Geld verdienen, wenn wir so wenige sind.« »Dieser Ansicht bin ich überhaupt nicht«, unterbrach Kong seine Rede. »Und immerhin bin ich der Kopf dieser Gesellschaft und nicht Ihr.« Doch Mao wehrte den Angriff ab. »Probleme ideologischen Cha rakters können nur mit der Methode der Kritik und der Überzeu gung gelöst werden. Dieser Ansicht sind sicher auch die anderen Mitglieder unserer ehrenwerten Gesellschaft.« »Warum sollten sie das sein?« »Ich denke, dass es nicht nur sinnvoll ist, das Geld, das der Grup
pe schon immer zur Verfügung stand, umzuverteilen, sondern auch, neue Quellen aufzutun. Die übrigen Mitglieder pflichten mir sicher bei?« Mao sah Wang Sheng, Hu Feng und die anderen nacheinander an, doch die wichen seinem Blick aus und schwiegen. Kong dehnte die Stille so lange wie möglich aus und genoss seinen Triumph. Mao senkte den Kopf. »Zurück zum Thema«, sagte Kong. »Wir wollten uns darum küm mern, wie wir an das Geld des Deng Liu-Shi kommen. Haben die ehrenwerten Gesellschafter einen Vorschlag diesbezüglich?« Die Runde schwieg, bis Hu Feng, der Meister der kaiserlichen Theatergesellschaft war und damit unter der besonderen Gunst der Kaiserinmutter Ci Xi stand, das Wort ergriff. »Deng hatte keinen di rekten männlichen Nachkommen, dem er sein immenses Vermögen hätte zukommen lassen können. Jedoch hat er einen jungen Cousin vierten Grades, der das Vermögen rechtmäßig erbt. Aber vielleicht könnte sich einer von uns seiner Witwe als Vermögensverwalter zur Verfügung stellen.« »Das ist eine gute Idee. Derjenige kann dann nach Gutdünken schalten und walten und das Vermögen nach und nach unseren ei genen Schatzkammern zufließen lassen.« »Und wer wird sich dafür zur Verfügung stellen?« Hu Feng schlug vor Kong die Stirn auf den Boden. »Ich kann das tun, ehrenwerter Minister.« »Gut, dann ist das beschlossen. – Wer die Nachfolge von Pu-Yang antritt, kann eine Entscheidung für unser nächstes Treffen sein.« Kong nickte Mao lächelnd zu. Jetzt konnte er es sich leisten, großzü gig zu sein. Mao schien dieses Mal tatsächlich etwas sagen zu wollen, aber als er den Mund öffnete, tauchte Sun Tian plötzlich in der Tür auf. Kong sah ihn ungehalten an und verschränkte die Hände hinter dem Rücken seiner bestickten schwarzen Brokatrobe. »Was soll das,
Sun Tian? Hatte ich nicht gesagt, dass ich nicht gestört werden will?« Der kleine Eunuch fiel auf die Knie und schlug die Stirn drei Mal auf den Boden. »Das habt Ihr wirklich, ehrenwerter Meister, aber …« Kong machte eine herrische Bewegung in Sun Tians Richtung. »Und warum störst du mich dann?« »Da draußen ist ein Soldat in der Uniform eines Obersten der kai serlichen Wachen. Er sagt, er müsse Euch unter allen Umständen sprechen, und es dulde keinen Aufschub.« »Was mag denn wohl so dringlich sein, dass unser Treffen hier un terbrochen wird?«, meinte Mao spöttisch. Kong fuhr herum. »Soweit ich mich erinnere, werte Gesellschafter, haben wir auf unserem letzten Treffen ausgemacht, dass wir den eh renwerten Sekretär des rechten Geldes Li Si-Wen davon überzeugen wollten, uns nicht in die Quere zu kommen. Wir wollten uns dabei der Überredungskraft seiner Tochter versichern, die er zu seinem Großonkel nach Yinchuan geschickt hat. Ich habe einen Soldaten meiner kaiserlichen Leibwache nach dem Westen geschickt, um Li Xia-Ji in unsere Obhut zu begleiten. Ich denke, dort draußen steht der Oberste Song Yi, um mir von seinem Erfolg zu berichten.« »Das hättet Ihr mit uns absprechen müssen!«, warf Fu Heng ein. Kong ignorierte ihn und machte eine herrische Bewegung in die Richtung des immer noch zitternd auf dem Boden kauernden Sun Tian. »Lass den Obersten der Wache eintreten und berichten, Sun Tian.« Der kleine Eunuch stand auf und lief nach draußen. Es dauerte einen Moment, dann trat Song Yi mit langen Schritten in die Halle und fiel sofort vor Kong in den obligatorischen Kotau. Seine Uni form war staubbedeckt und seine Augen so geschwollen, als habe er seit Tagen nicht geschlafen. Neugierig starrten die Mitglieder der Lotusgesellschaft auf den Soldaten der kaiserlichen Wache hinab.
»Nun, Oberster, was hast du uns zu berichten?« »Mein Gebieter, der unwürdige Wicht hat in der Tat Neuigkeiten zu erzählen. Lasst mich als erstes berichten, dass die Tochter des eh renwerten Sekretärs des rechten Geldes Li Xia-Ji leider einem An schlag zum Opfer gefallen ist.« Kong starrte ihn zornig an. Aus den Augenwinkeln sah er Mao lä cheln. »Was soll das heißen, einem Anschlag zum Opfer gefallen? Soll das heißen, sie ist verletzt und nicht mehr unversehrt?« Der Oberste schlug wieder die Stirn an den Boden. »Der erbärmli che Wicht wollte dem Willen Eurer Exzellenz willfahren und die ja degleiche Tochter des Sekretärs des rechten Geldes betäuben und in seine Obhut nehmen. Doch er fand sie bereits in der Gewalt eines anderen vor, des Gärtners des weisen Li An-Ning.« »Nun, es dürfte doch nicht allzu schwierig für einen Obersten der kaiserlichen Leibgarde sein, sich eines Gärtners und eines jungen Mädchens zu erwehren und die Situation in seinem Sinne ausgehen zu lassen!« »Der Wicht dachte dies in der Tat auch. Doch der Gärtner hatte den liliengleichen Körper bereits mit seinem Messer verletzt. Er floh, und dem Wicht blieb nichts anderes übrig, als nach der Wunde zu sehen. Die Blütengleiche lag im Sterben, da sich das Messer in ihr Herz gebohrt hatte.« Seine Worte endeten in Stille. Die Mitglieder der Lotosgesellschaft strichen nervös über ihre Roben und tasteten nach den Teetassen. Kong sah ihre Schwäche und hasste sie dafür. Mao war der Erste, der wieder etwas sagte: »Ja, da hat uns das Schicksal wohl einen Strich durch die Rechnung gemacht. Womit sollen wir Li jetzt wohl noch besänftigen, wenn er das erfährt?« Kong winkte unwillig ab und wandte sich wieder an den Obers ten, der immer noch kniete, als erwarte er im nächsten Moment, dass ihm der Kopf von Rumpf getrennt würde. »Du sagst, der Gärtner war der Mörder von Lis Tochter.
Ist das nicht nur eine wilde Geschichte, um von deinem Versagen abzulenken?« Die Stimme des Soldaten klang aufgeregt, als er antwortete. »Ich schwöre, mein Gebieter, dass alles der Wahrheit entspricht, was ich sage. Es war wirklich der Gärtner. Der Wicht wollte ihn auch mit bringen, damit ihn Eure himmelhohe Exzellenz höchstpersönlich ei nem Verhör unterziehen kann, doch ich verlor ihn bei der Verfol gungsjagd durch die alte Stadt Yinchuan aus den Augen. Ein ande rer kam mir zuvor.« Aufgeregtes Gemurmel hallte durch den Raum. Kong ging beun ruhigt ein paar Schritte auf und ab. »Nun, der Mann ist also tot. Jetzt wissen wir nicht, wer hinter ihm stand und weshalb sich auch ein anderer für den Ersten Sekretär des rechten Geldes interessiert.« »Gebieter, vielleicht erlaubt Ihr dem Wicht noch eine Aussage. Ich habe die Leiche des Gärtners gesehen, der Mann trug eine auffällige Tätowierung auf der Stirn, die ihn als Mitglied der grauen Bruder schaft kennzeichnet.« »Das Zeichen der Triade des Kai-Xuan aus Nanking!«, rief Hu Feng. »Das ist schlimm, sehr schlimm.« Die Aufmerksamkeit der Gesellschafter wandte sich schlagartig dem Meister der kaiserlichen Peking-Oper zu. »Woher wollt Ihr das so genau wissen?« Wang Sheng schoss in seinem Misstrauen mal wieder über das Ziel hinaus. Kong seufzte innerlich. »Meine Schauspieler sind keine hochgeborenen Mitglieder des Volkes«, sagte Hu Feng. »Sie stammen oft aus der Unterwelt und haben mir von dieser Triade berichtet. Es ist kein Zweifel möglich, dieser Gärtner stand in den Diensten des Kai-Xuan.« »Wer genau ist dieser Kai-Xuan?«, meldete sich jetzt wieder Mao zu Wort. »Ich verkehre nicht in derartigen Kreisen. Wenn meine Un tergebenen dies täten, würde ich sie züchtigen und einsperren las
sen!« »Kai-Xuan war ein hochrangiges Mitglied der zehn Obersten Mit glieder der Tai-Ping-Rebellen. Er ist bekannt geworden für seine enorme Grausamkeit, die er immer wieder mit großem Vergnügen an den Tag legte. Eine seiner Lieblingsbeschäftigungen bestand dar in, als Strafe den Tod der Tausend Schnitte zu verhängen. Er hat die se Folter in aller Öffentlichkeit ausführen lassen. Die Opfer haben manchmal eine Woche lang gelitten, so wurde mir zugetragen. Kein Wunder, dass die Strafe bereits zu Zeiten der Ming-Dynastie abge schafft wurde.« Hu Feng schauderte sichtlich. Kong nutzte die Pause, um wieder das Wort zu ergreifen. »Danke«, wandte er sich an den Obersten. »Du kannst gehen. Hal te dich für weitere Fragen bereit.« Mit ehrerbietigen Verbeugungen verließ der Soldat das Zimmer. Kong sah ihm nach und wartete, bis er die Tür geschlossen hatte, be vor er weitersprach. »Nun, wir müssen uns damit abfinden, dass offensichtlich auch Kai-Xuan ein Interesse daran hatte, Li zu erpressen. Es wird besser sein, wenn wir uns erst einmal auf einen Beobachtungsposten zu rückziehen. Ich hoffe, alle Mitglieder der ehrenwerten Lotusgesell schaft sind damit einverstanden?« Er gab ihnen keine Gelegenheit zur Antwort, sondern drehte sich einfach um und verließ die Halle. Hinter sich hörte er die Männer tuscheln, aber das interessierte ihn nicht. Seine Gedanken kreisten um Kai-Xuan. Nur ob er ein Problem oder eine Lösung war, konnte Kong noch nicht sagen.
14. »… und so ist es passiert, Meister. Die Totenriten wurden bereits in Yinchuan gehalten. Ich habe die sterblichen Überreste Eurer Tochter noch nicht beerdigen lassen, weil ich dachte, Ihr würdet ihr noch einmal ins Gesicht sehen wollen. Ein Arzt in Yinchuan hat sich dar um gekümmert, es strahlt einen großen Frieden aus. Einen Frieden, den sie in ihrem Leben vielleicht nie hatte.« Fu Long verstummte, als er das maskenhafte Gesicht seines Men tors in die Ferne starren sah. Er überlegte, ob er Li Si-Wen allein las sen sollte, um ihn ungehindert trauern zu lassen, aber er hatte Angst, dass es vielleicht zu einem weiteren Unglück kam. Er sah zu den Leibwächtern, die ungerührt und mit vor der Brust verschränk ten Armen an der Wand standen. Es war ihnen nicht anzusehen, was sie von der Nachricht hielten. Fu Long stand auf und winkte den persönlichen Diener seiner Ex zellenz heran. »Hol einen Becher heißen Weines und schaffe eine kräftige Hüh nerbrühe mit rotem Zucker heran. Die Seele des Meisters ist auf eine Reise gegangen, sein Körper wird erschöpft sein, wenn sie wieder eintrifft.« Der Diener verneigte sich und verschwand. Fu Long nahm eine Decke und legte sie Li um die Schultern. Der reagierte nicht. Fu Long musste an die Worte seines Großvaters den ken, der ihm einmal von der Apathie erzählt hatte, die Menschen in Momenten großen Schmerzes überkam. Sein Großvater hatte gesagt, man könne nichts tun, wenn die Seele auf eine solche Reise ging, nur warten und hoffen, dass sie gesund wieder an ihren ange stammten Platz in der Leber zurückfand.(Für Chinesen saß der Ver stand im Kopf, das Gefühl im Herz und die Seele in der Leber.) Fu Long nahm gegenüber dem Meister Platz und wartete. Die
Leibwächter blieben hinter ihm. Er hörte nichts außer ihrem leisen Atem und einem gelegentlichen Rascheln. Es war vollkommen still in dem großen Haus. Als Li Si-Wen schließlich sprach, wäre Fu Long vor Schreck beina he aufgesprungen. »Wie ist es geschehen?« »Meister, den Göttern sei Dank, Ihr seid zurückgekehrt!« »Ja. Wie ist es geschehen?« Lis Gesicht war immer noch eine Mas ke. Fu Long war sich auf einmal nicht mehr sicher, dass seine Seele tatsächlich den Weg zurück gefunden hatte. »Man ist sich beim Hauspersonal des weisen Li An-Ning sicher, dass ein Soldat der kaiserlichen Leibwache der Mörder ist. Man sah ihn über die Mauer springen und dann in der Stadt verschwinden. Der Kreismandarin hat ihn allerdings in den nächsten Tagen nicht ausfindig machen können.« »Kaiserliche Leibwache?« Li stand auf. Die Decke rutschte von sei nen Schultern und fiel zu Boden. Er blickte darauf, als habe er sie jetzt erst bemerkt. »Wo sind meine Soldaten?« »Wozu braucht Ihr Eure Soldaten, Meister?« Fu Long wollte sich Li in den Weg stellen, aber die stummen Leibwächter deuteten be reits auf den Hof, wo sich die Brigade in der Dunkelheit versammelt hatte, um mit ihrem Herrn zu trauern. Der Kommandant schlug mit der Stirn auf den Boden, als Li durch die offene Tür trat und im Licht der Öllampen stehen blieb. »Ehren werter Meister des rechten Geldes, wir leiden mit Euch und möch ten Euch unserer tiefsten Ergebenheit versichern.« Li Si-Wen sah ausdruckslos über sie hinweg. »Das ist gut, denn ich werde eure Ergebenheit brauchen, Wang. Teile Waffen an deine Männer aus. Wir gehen zum Nordtor des kaiserlichen Palasts.« Fu Long sah die Überraschung auf den Gesichtern der Soldaten, aber sie kamen dem Befehl ohne zu zögern nach. »Exzellenz«, fragte er vorsichtig. »Warum gehen wir mitten in der
Nacht zum kaiserlichen Palast?« Li Si-Wen drehte sich zu ihm um. Er strahlte eine Kälte aus, die Fu Long erschreckte. »Um einen Mörder zu stellen.«
Die kaiserliche Wache am Nordtor des Palastes war überrascht, als der ehrenwerte Erste Sekretär des rechten Geldes Li Si-Wen heftig an das Tor pochte, Einlass begehrte und sich auch nach wiederhol ten Erklärungen nicht abweisen ließ. »Aber Eure Exzellenz haben doch sicher Verständnis, dass wir nach Sonnenuntergang niemanden hier in diesen Palast einlassen können. Es geht einfach nicht.« Li Si-Wen schwieg eine Sekunde, bevor er fortfuhr. »Wenn Ihr mich nicht auf der Stelle zu Kong Chan, den Ersten Minister zur Rechten, vorlasst, dann werde ich der Kaiserinmutter höchstpersön lich berichten, was für ein Unrecht der Lehrer und Vertraute ihres Sohnes mir, dem Protege des Kaisers, angetan hat. Und ich werde auch sagen, was Euer Anteil dabei war, Oberst!« Der ältere Soldat schluckte. Man sah ihm an, dass er den Grund für Li Si-Wens Anliegen ahnte, denn niemand, der gute Absichten hatte, kam auf die Idee, um diese Nachtzeit unbedingt den Minister sprechen zu wollen. Fu Long hoffte auf seine Menschenkenntnis, hoffte, dass der Soldat die Stimmung seines Herrn erkannte, aber der schüttelte nur den Kopf. »Entschuldigt die Beharrlichkeit dieses Wichts, ehrenwer …« Das war die letzte Silbe seines Lebens. Eine knappe Bewegung Lis, und der Oberst sank mit einem Dolch zwischen den Rippen zu Bo den. »Gebt ihr jetzt das Tor frei?« Seine Stimme war so kalt wie der Blick seiner Augen. Die Leibwächter traten an seine Seite, während die restlichen Torwachen zurückwichen. Ihre Blicke glitten über die
Soldaten hinweg, schienen die Chancen für Sieg oder Niederlage ab zuwägen. Dann gaben sie endlich das Tor frei. Fu Long atmete auf. Er wusste, dass sie sich nur zurückzogen, um Verstärkung zu holen, aber wenn Kong Chan nichts geschah – wie er immer noch hoffte –, dann würde die Nacht mit nur einem Toten enden. Die Soldaten blieben am Tor zurück. Fu Long hastete hinter sei nem Herrn und den Leibwächtern über die breiten Straßen der Ver botenen Stadt. Eunuchen gingen an ihnen vorbei und tuschelten, wenn sie Li erkannten. Einige waren sogar derart unhöflich, dass sie stehen blieben und der kleinen Gruppe nachsahen. Kongs Hof lag recht weit von der Palastmauer entfernt, doch als Fu Long durch das geöffnete Tor in den Innenhof trat, wurde ihm klar, dass die Neuigkeit ihrer Ankunft ihn irgendwo in den Straßen überholt haben musste. Mehr als ein Dutzend Eunuchen hatten sich versammelt; ob zum Schutz ihres Herrn oder aus Neugier, ließ sich nicht sagen. Auf Lis knappe Geste hin machte Fu Long einen Schritt vor. »Hier ist der Sekretär des rechten Geldes und wünscht den Minister zur Rechten zu sprechen.« Die Autorität in seiner Stimme überraschte ihn selbst, und er sah zufrieden, dass einer der Eunuchen sich sofort umdrehte und die Stufen zu den Gemächern Kongs hinauflief. Es dauerte einen Moment, bis der Herr des Hauses in der Tür erschien. Er trug seine Amtsrobe. Obwohl im Hintergrund sein Schlafgemach zu sehen war, glaubte Fu Long nicht, dass sie ihn geweckt hatten. Kong war nervös, das verriet die verkrampfte, steife Art, mit der er sich Li zuwandte und sich knapp verneigte. Seine Diener achteten darauf, zwischen ihm und den Besuchern zu bleiben, wie ein menschlicher Schutzschild. »Was wünscht Ihr zu dieser unmöglichen Stunde, Exzellenz Li? Ihr wisst doch sicher, dass man Euch hinrichten …« Li ließ ihn nicht aussprechen. War er vorher nur kalt und ent schlossen gewesen, wurde er jetzt so wütend, dass Fu Long plötzlich
daran zweifelte, dass irgendjemand diesen Innenhof lebend verlas sen würde. Li trat auf Kong zu. »Ihr seid derjenige Sohn einer fäulniskranken Hure, der meine Tochter auf dem Gewissen hat. Mich hinrichten? Ihr habt mir das Leben doch längst genommen! Glaubt Ihr, das Ende meiner Existenz interessiert mich noch?« Die Eunuchen rückten enger zusammen. Kongs kindlich weiches Gesicht war schweißbedeckt. Fu Long fragte sich, ob so ein Mörder aussah. »Exzellenz Li, ich schwöre Euch, dass ich nichts mit dem Tod Eu rer blütenduftenden Tochter zu tun habe.« Li machte einen weiteren Schritt auf ihn zu. Trotz der Übermacht der Eunuchen wirkte Kong so verzweifelt, als stünde er einem Dut zend Schwerter gegenüber. »Wenn ich könnte«, sagte Li so leise, dass Fu Long ihn kaum ver stand, »würde ich Euch der Folter aussetzen, hundert mal hundert Tage lang, bis Euer Geist ebenso zerbräche wie Euer Körper.« Er ging langsam um Kong herum. Die Eunuchen folgten ihm ebenso wie die Leibwächter, bewegten sich in einem bizarren Tanz, der erst endete, als Li sich plötzlich abwandte und im Schlafgemach ver schwand. Kong sah ihm mit sichtlicher Überraschung nach, bevor sein Blick Fu Long fand. »Was will Euer Meister in meinen Gemächern?« »Er hat seine Gründe, Exzellenz«, sagte Fu Long, obwohl ihn die Wendung ebenso überraschte. Auf einen Wink Kongs lösten sich zwei Eunuchen aus der Gruppe und stiegen vorsichtig die Holzstufen hinauf. Sie wirkten verängs tigt, was Fu Long ihnen nicht verdenken konnte, und wichen direkt wieder zurück, als Li in der Tür auftauchte. »Da mir diese Genugtuung jedoch verwehrt bleibt«, fuhr er fort, als sei keine Zeit vergangen, »muss diese eine Nacht reichen, um
Euch zu vernichten.« Li nahm ein Glas hinter seinem Rücken hervor. Einige Eunuchen stöhnten entsetzt, als er es hoch hielt, aber Kong starrte einfach nur darauf mit einem Gesicht, das so bleich war wie das eines Toten. Fu Long schluckte, als auch er begriff, was in der durchsichtigen Flüssigkeit des sorgsam verschlossenen Glases trieb: Es waren die abgeschnittenen Genitalien des Eunuchen, eingelegt in Alkohol. Er hatte manchmal in den Teestuben Pekings hinter vorgehaltener Hand tuscheln gehört, dass Eunuchen ihre abgetrennten Körperteile wie einen kostbaren Schatz aufhoben, um sie schließlich mit ins Grab zu nehmen. So war es ihnen möglich, vor den Totenrichtern mit vollständigem Körper zu erscheinen und in die Reihe der Ahnen aufgenommen zu werden. Ohne das kostbare Glas würden sie auf ewig in der Hölle landen. Kong machte ein merkwürdig quietschendes Geräusch. Seine Brust hob und senkte sich so schnell, dass er kaum sprechen konnte. »Bitte … Exzellenz, Ihr versteht nicht, was das bedeutet … es …« »Bedeutet es soviel, wie das Leben meiner Tochter bedeutete? Was war es Euch wert, sie töten zu lassen? Gold? Land? Und wen habt Ihr geschickt? Ich will Namen, Kreatur, und dann will ich Euch ster ben sehen.« Er schüttelte das Glas und Fu Long konnte ein Schaudern nicht unterdrücken. »Ich habe wirklich nichts damit zu tun.« Kongs hohe Stimme klang hysterisch. »Ehrenwerter Li, es ist wahr, dass ich Eure lotus gleiche Tochter entführen wollte, nur zur Erpressung, ohne ihr Bö ses zu wollen. Ich hätte sie gut behandeln lassen, so wie es einer Dame ihres Standes gebührt, aber jemand kam mir zuvor und tötete sie.« »Deine Lügen machen mich krank.« Li machte eine Geste, als wol le er das Glas wegwerfen. »Nein!« Kong fiel auf die Knie. Die Eunuchen wandten ihren Blick
ab, als wollten sie die Schande ihres Herrn nicht miterleben. Im sei nem tiefsten Innersten fragte sich Fu Long, wer von beiden die grö ßere Schande auf sich nahm. Der Quäler oder der Gequälte? Er dachte an Xia-Jis gebrochene Augen, und das Mitleid verging. »Exzellenz … wartet!« Kong hob beschwörend die Arme. »Das At tentat auf Euch, die graue Bruderschaft … sie wurde von Pu-Yangs Geld bezahlt. Ich besitze dieses Geld und … Ihr müsst mir glauben, ehrenwerter Li, dass ich es nie für so etwas Niederträchtiges wie die Ermordung Eurer Tochter verwendet hätte. Kai-Xuan selbst kam nach dem Mord zu mir und wollte bezahlt werden, aber ich schickte ihn fort. So ist es gewesen. Ich schwöre es beim Jadekaiser und bei dem Glas in Eurer Hand … so und nicht anders.« Er verneigte sich, bis seine Stirn den Boden berührte, eine Geste völliger Unterwerfung. Fu Long dachte an die Aussagen der Diener über den Mann in kaiserlicher Uniform und an den verschwunde nen Gärtner. Kongs Aussagen ergaben Sinn. Er konnte sich auch nicht vorstellen, dass ein Mann in seiner Situation gelogen hätte. Li drehte das Glas in seinen Händen. Ihm war anzusehen, was er plante. »Meister?« Fu Long trat vor und legte ihm vorsichtig die Hand auf den Arm. »Meister, tut das nicht. Xia-Ji wäre sicherlich entsetzt, wenn sie sehen würde, wie ihr diese arme Kreatur quält.« »Sie ist nicht hier, um es zu sehen.« »Aber Meister, was hat dieser verachtenswerte Kastrat denn schon in der Welt außer der Gier nach Reichtum? Ihr habt die Liebe Eurer Tochter immerhin fünfzehn Jahre lang genießen dürfen. Das ist ein Gefühl, das dieser Mann niemals kennen wird. Er hat vor allen zuge geben, den Überfall auf Euch befohlen und Pu-Yangs Geld an sich genommen zu haben. Damit hat er sein Leben doch schon verwirkt. Es ist nicht an Euch, ihn zu strafen. Nur der Kaiser hat dieses Recht.« »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist.« Li nickte langsam. »Ich danke dir für deine weisen Worte, Fu Long. Kai-Xuan sollte im Zen
trum meiner Rache stehen, nicht diese Kreatur. Lass uns gehen.« Er wandte sich um und ließ das Glas achtlos fallen. Kreischend warf sich Kong auf den kalten Steinboden und fing sei nen Schatz gerade noch auf. Li achtete nicht auf ihn, ging in der Mit te seiner Leibwächter der Palastmauer entgegen. Kong blieb weinend, sein kostbares Glas an sich gedrückt, zurück.
15. Sie waren wie Wölfe, die über eine Schafherde kamen. In den frühen Morgenstunden des ersten Tages umstellten die kaiserlichen Garden das berüchtigte Rotlichtviertel der Chinesenstadt und verhinderten, dass jemand hinein- oder hinausging. Und dann rückten sie vor. Sie trugen Schwerter und Gewehre, Äxte und Dolche, und sie stürmten die Opiumhöhlen, die Bordelle und die illegalen Wettbüros. Schlaftrunkene Menschen taumelten ihnen in dunklen Gängen entgegen und fielen unter ihren Schwert streichen. Die Soldaten wüteten in den Gassen und Kellern der Chi nesenstadt, waren wie besessen von der Belohnung, die der ehren werte Meister Li dem versprochen hatte, der ihm den Kopf von KaiXuan brachte. Land sollte es geben, Land mit Pächtern, deren Einkommen der Familie auf Generationen hinweg Wohlstand und Sicherheit garan tieren würde. Manche Soldaten wären bereit gewesen, dafür zu ster ben; dafür zu töten war beinahe selbstverständlich. Und so verloren Hunderte an diesem ersten Morgen ihr Leben und einige davon auch ihren Kopf. Kai-Xuan war jedoch nicht dabei, das versicherten zumindest vier seiner Männer, die nackt und angekettet wie Hunde in Lis Innenhof saßen und heute, am neunten Tag der Suche, vor Hitze und Hunger langsam begannen, den Verstand zu verlieren. Fu Long redete jeden Abend auf seinen Herrn ein, aber Li verweigerte ihnen weiter jegli che Nahrung, ließ es nur zu, dass die Diener ihnen einmal pro Tag Wasser brachten. In den ersten Tagen hatte er das Fluchen der Ver brecher bis in sein Schlafgemach gehört, mittlerweile waren die Nächte jedoch still. Ihr Wimmern war zu leise, um gehört zu wer den.
Immer noch brachten die Soldaten Köpfe zu Li. Fu Long hatte alte Männer, junge Männer, einen kahlköpfigen Mönch, einen Jungen, der höchstens zwölf gewesen war, zwei Frauen, einen Blinden und sogar einen Hundekopf gesehen – letzteren hatte ein Soldat einem alten Mann abgekauft, der behauptet hatte, ein Zauberer zu sein, der Kai-Xuan in den Körper eines Hundes gebannt hatte. Kommandant Wang hatte den Soldaten für seine Dummheit auspeitschen lassen wollen, aber Li war dagegen gewesen. Irgendwie hatte diese Ent scheidung Fu Long beruhigt, denn sie bewies ihm, dass sein Herr kein Ungeheuer geworden war – trotz der Männer, die im Innenhof hockten. »Wie viele Köpfe waren es bis jetzt?«, riss ihn Lis Stimme aus sei nen Gedanken. Sie saßen gemeinsam im Arbeitszimmer und warte ten auf Kommandant Wangs nächste Meldung. »Einhundertzwölf Menschen«, sagte Fu Long nach einem kurzen Blick in die Akten, »und ein Hund.« »Glaubst du, sie haben den Tod verdient?« Li sah nicht ihn an, sondern ein Bild an der Wand, das einen See voller großer Seerosen und ein kleines Boot am Ufer zeigte. »Es waren wohl Betrüger, Halsabschneider und Räuber, Meister. Die meisten sind gerechtfertigt aus dem Leben gerissen worden, nur bei dem Hund bin ich mir nicht sicher.« Es hatte ein Scherz werden sollen, aber weder Li noch Fu Long selbst lachten. »Man sollte meinen«, fuhr Li fort, ohne den Blick von dem Bild an der Wand zu nehmen, »dass ein Steckbrief ausreicht, um falsche Hinrichtungen zu vermeiden. Wofür habe ich ihn denn anfertigen lassen, wenn sie mir trotzdem noch die Köpfe von Kindern bringen?« Das ist es also, dachte Fu Long. Er kann den Jungen nicht vergessen. Bereits am zweiten Tag waren die Männer im Hof der Folter unter worfen worden, bis einer von ihnen schließlich – unter Androhung des Todes der Tausend Schnitte – einem Zeichner Kai-Xuan be
schrieben hatte. Der vervielfältigte Steckbrief war unter den Solda ten verteilt worden, doch trotzdem hatte drei Tage später einer den Kopf eines zwölfjährigen Jungen auf das Anwesen gebracht. Viel leicht fragte sich Li seitdem, ob irgendwo draußen in der Stadt ein Vater ihn ebenso verfluchte wie er Kai-Xuan. »Der Soldat ist für seinen Fehler bestraft worden, Meister, aber wenn Ihr mir diese Bedenken erlaubt: Das Bild auf dem Steckbrief zeigt ein Allerweltsgesicht. Selbst Eure edlen Gesichtszüge könnte man mit der Fratze dieses unwürdigen Mörders verwechseln, wenn man nicht zu genau hinsieht. Vielleicht solltet Ihr Eure Soldaten an weisen, den ganzen lebendigen Körper zu bringen, um solch unwi derrufliche Missverständnisse zu vermeiden.« Li stand auf und seufzte. »Kai-Xuan ist zu gefährlich. Wenn die Soldaten ihn finden, müssen sie ihn töten dürfen. Sie …« Das Öffnen der Tür unterbrach ihn. Fu Long drehte sich um und sah einen Diener, der auf der Schwelle kniete und den Kopf senkte. »Verzeiht diesem Wicht, edle Herren«, sagte er, »aber zwei Tauge nichtse bitten um Eure erhabene Aufmerksamkeit. Sie schwören, dass sie wichtige Nachrichten über die graue Bruderschaft, mögen die Götter sie zerschmettern, haben. Soll ich sie hineinschicken?« Fu Long sah die Ablehnung in den Gesichtern der Leibwächter und erhob sich von seinem Kissen. »Wenn es Euch nichts ausmacht, Meister, werde ich mit ihnen reden. Eure Zeit ist zu wertvoll, um mit etwas verschwendet zu werden, das wohl nur den Gerüchten der Teeküchen entstammt.« Li nickte zu seiner Erleichterung und Fu Long folgte dem Diener hinaus auf den Innenhof. Auch wenn der Sommer sich seinem Ende neigte, war es immer noch so heiß, dass die Farben blass und flach erschienen, so als habe die Sonne das Leben aus ihnen herausge saugt. Die vier Männer hatte man in der Mitte des Innenhofs angekettet, dort, wo es keinen Schatten gab. Ein Metallring, den man in eine der Steinplatten eingelassen hatte, und mehrere Ketten hielten sie, ob
wohl Fu Long bezweifelte, dass das noch nötig war. Die vier grauen Brüder lagen apathisch und mit Brandblasen übersät in ihren eige nen Exkrementen. Fliegenschwärme kreisten über ihnen, und der Gestank nach Urin war beinahe unerträglich. Einer der Männer hob mühsam den Kopf, als er Fu Long bemerkte, und krächzte etwas Unverständliches. Fu Long wandte sich ab. »So etwas sollte es im Haus des ehrenwerten Li nicht geben«, sagte der Diener, ein alter Mann mit wenigen Haaren und noch weniger Zähnen. »Fünfundfünfzig Jahre bin ich hier, Herr, doch dass ich so etwas einmal sehen würde, hätte ich nicht gedacht. Peitscht mich aus für meine Offenheit, aber die ganze Dienerschaft denkt so.« »Dann braucht die Dienerschaft wohl mehr Arbeit, wenn sie Zeit hat, sich um solche Dinge zu sorgen«, antwortete Fu Long, obwohl er die Ansicht des alten Mannes teilte. »Wo sind jetzt die Tauge nichtse, mit denen ich reden soll?« »Ich habe sie in den Garten gebracht, Herr, damit niemand sieht, was für unnütze Gestalten hier ein und ausgehen.« »Danke, du kannst gehen.« Fu Long legte den Rest des Weges allein zurück und betrat den Garten neben dem zweiten Innenhof. Xia-Ji hatte viel Zeit hier ver bracht, und er dachte daran, wie sehr er sie vermisste. Die beiden Besucher warteten neben dem Goldfischteich. Fu Long erkannte sofort, dass es sich um Bettler handelte. Einer von ihnen hatte einen Buckel und schielte so entsetzlich, dass Fu Long von ei nem Blick in seine Augen schwindelig wurde, der andere saß in ei ner Art Schubkarre. Seine Beine endeten nur eine Handbreit unter den Lenden in breiten Stümpfen. Fu Long bemerkte überrascht, dass beide recht gut genährt waren. Der Beinlose hatte sogar einen klei nen Bauch. »Herr«, sagten beide Bettler unterwürfig, als sie ihn sahen. Der Bucklige ging sogar schwerfällig in die Knie, aber Fu Long stoppte ihn mit einer Handbewegung.
»Schon gut … Weshalb seid ihr hier?« Der Beinlose lächelte. »Ihr seid sehr direkt, Herr, was unter den Umständen nur verständlich ist, doch möchte ich Euch bitten, die sem nichtsnutzigen Wurm, der vor Euch liegt, einen Moment länger Euer kostbares Gehör zu schenken.« »So lange der Moment nicht zu einer Stunde wird, sei es dir ge währt.« Fu Long schüttelte innerlich über sich selbst den Kopf und fragte sich, warum er der Bitte des Bettlers so leicht nachkam. Nor malerweise ging er strenger mit ihnen um. »Ich danke Euch, edler Herr, der die Weisheit des Jadekaisers sein eigen nennt. Wenn es Euch gefällt, könnt Ihr diesen Wurm bei sei nem wertlosen Namen Tong Tomao nennen. Und wenn die Sonne untergeht, könnt Ihr den Übeltäter Kai-Xuan in Eurem Kerker an spucken, denn dieser unwürdige Bettler weiß, wo er sich aufhält.«
Die Hufe ihrer Pferde donnerten über die gepflasterten Straßen. Flie gende Händler und Geldwechsler brachten sich eilig hinter ihren Ständen in Sicherheit, als die Armee an ihnen vorbeistürmte. Mehr als tausend Mann drangen bis an die Zähne bewaffnet in die Gassen der Chinesenstadt vor. In ihren Klingen spiegelte sich das Licht der Sonne und in ihren Uniformen die Macht des Drachenthrons. »Der Kaiser, möge er zehntausend mal zehntausend Jahre regie ren, zeigt sich großzügig in seiner Anteilnahme«, rief Li über den Lärm der Soldaten hinweg. »Meint Ihr nicht eher die Kaisermutter, Meister?«, fragte Fu Long zurück. Li hätte beinahe gelacht, wenn er noch gewusst hätte, wie man das tat. Sein Schüler hatte Recht, er stand hoch in der Gunst der Kaisermutter, und zweifellos war es ihren Bemühungen zu verdan ken, dass er an der Spitze einer Armee in die Chinesenstadt einzog. Er fühlte sich wie ein Eroberer. Das ist für dich, Xia-Ji, dachte er, nur für dich.
Fußsoldaten fächerten auf ein Kommando auseinander und um stellten einen Häuserblock mit windschiefen Hütten und halb ver fallenen Steinruinen. Eine zweite Einheit, die mit Speeren bewaffnet war, drang in die Häuser ein und trieb die Bewohner auf die Straßen hinaus, wo sie von weiteren Soldaten in Empfang genommen wur den. Li sah junge Prostituierte, nicht älter als seine Tochter, die in Lumpen gehüllt und barfuß im Staub standen und sich ängstlich umsahen. Die alten Frauen, von denen die Dienste der jungen ver kauft wurden, keiften mit den Soldaten, bis eine von ihnen ins Ge sicht geschlagen wurde. Danach herrschte Ruhe. Ausgemergelte Gestalten mit Augen wie dunkle Brunnen taumel ten aus den Ruinen. Sie begriffen nicht, was geschah, und ließen sich willenlos zusammentreiben. »Der mittlere Block«, brüllte Wang seinen Männern zu. »Er soll im Keller sein.« Zwei Einheiten liefen los, blockierten sich beinahe gegenseitig in ihrem Drang, als erste in den Block zu gelangen. Li sah die Gier in ihren Augen und schüttelte den Kopf. Es hatte eine Zeit gegeben, da wären die Männer nur wegen ihrer Ehre in den Tod gegangen, aber selbst sein Urgroßonkel hatte diese Zeit nur noch aus Erzählungen gekannt. Er sprang von seinem Pferd und ging zu dem Karren, in dem der Bettler Tong Tomao lag. Sein namenloser Begleiter war zwar schweißüberströmt, hatte das Tempo aber erstaunlicherweise halten können. »Bist du sicher, dass es diese Straße ist?«, fragte Li. »Ganz sicher, ehrenwerter Sekretär Li.« Der Bettler stützte sich auf seine Hände, um besser über den Rand des Karrens hinwegsehen zu können. »Hier ist das Hauptquartier der Grauen Bruderschaft. Ich habe Kai-Xuan oft genug Informationen überbracht.« Er blickte auf seinen runden Bauch und lächelte. »Er hat stets gut bezahlt.« »Und doch verrätst du ihn jetzt?« Tong sah ihn an. »Die Gilde des schmutzigen Frosches hat gerne
für ihn gearbeitet. Wir haben zweimal am Tag gegessen, und ich konnte mir sogar diesen Karren mit einem eigenen Diener leisten und muss nicht mehr im Dreck kriechen wie ein Wurm. Es mögen kleine Dinge für Euch sein, Herr, aber uns bedeuten sie alles. Die Angriffe der Soldaten haben uns sehr geschadet. In den kleineren Gilden sind einige gestorben und niemand hat mehr Geld, das er mit uns teilen kann, geschweige denn Geld für Informationen. Und da die Angriffe erst enden werden, wenn Kai-Xuan gefasst ist, müs sen wir eben dafür sorgen, dass dies geschieht. Es geht ums Überle ben, Herr.« »Und wenn er tot ist, was dann? Wer wird euch dann die Informa tionen abkaufen?« Li war nicht wirklich an der Antwort interessiert, sprach nur mit dem Bettler, um die Zeit zu vertreiben, bis die Solda ten fündig wurden – falls sie fündig wurden. »Darüber«, sagte Tong, »habe ich bereits mit Eurem ehrenwerten Schüler gesprochen. Er glaubt auch, dass ein Mann wie Ihr über alle Dinge in der Stadt unterrichtet werden sollte.« Li lächelte. »Es ist bedauerlich, dass Ihr ein Krüppel seid. Ihr wäret ein guter Beamter geworden.« Tong neigte den Kopf, akzeptierte das Kompliment mit einer ge wissen Würde. »Vielleicht in einem anderen Leben, Herr.« »Ehrenwerter Li!« Wang winkte ihn zu einem Hauseingang und zeigte auf das dunkle Loch. »Am Ende des Ganges ist eine ver schlossene Tür. Wir sind noch auf keinen Widerstand gestoßen, aber die Soldaten versuchen sie jetzt zu öffnen. Einer von ihnen behaup tet, Stimmen dahinter gehört zu haben.« Li drehte sich nach Fu Long um, doch der verhörte einen festge nommenen Mann, der äußerst aufgeregt gestikulierte. Er fragte sich, worüber sie sprachen, nickte dann jedoch Wang zu. »Führe mich zur Tür. Ich will dabei sein, wenn die Soldaten sie öffnen.« Aus den Augenwinkeln bemerkte er die Blicke seiner Leibwächter. Sie waren sichtlich unglücklich über seine Entscheidung.
»Kommt«, sagte er und trat in den Gang. »Nein! Meister!« Der Schrei ließ ihn herumfahren. Er erkannte Fu Longs Stimme, wollte ihm zurufen, ihn fragen, weshalb er sich so ungebührlich auf führe, doch im gleichen Moment schlug etwas gegen ihn, so macht voll, dass er durch die Luft geschleudert wurde. Der Knall war scharf und laut. Staub wirbelte auf, wurde mit ihm auf die Straße getragen und zu Boden geworfen. Sand knirschte zwi schen seinen Zähnen und unter seinen Augenlidern. Er sah nichts und hörte nur ein lautes Fiepen, durch das ein weit entferntes Ge räusch von Schüssen drang. Taumelnd kam Li hoch. Sein linkes Knie gab unter ihm nach, aber er fing sich und stolperte vor, tiefer in den Staub hinein. Er hörte Menschen schreien und Schüsse, die nicht enden zu wollen schie nen. Irgendwer rief seinen Namen, aber in der Staubwolke konnte er noch nicht einmal die Richtung erkennen, aus der die Rufe kamen. Li hustete und stöhnte über die Schmerzen, die durch seinen Brustkorb schossen. Die Umgebung verschwamm vor seinen Au gen. Als er sich seiner selbst wieder bewusst wurde, saß er im Staub der Straße. Ein leichter Wind war aufgekommen, wehte den Sand hinweg und enthüllte Körper, Verletzte und Tote, die um ihn herum verstreut lagen. Erst als Li verkohlte Leichen und abgerissene Kör perteile sah, wurde ihm bewusst, was passiert war. Die Graue Bruderschaft hatte sie in eine Falle gelockt. Sie hatte Sprengstoff hinter der Tür verborgen und gehofft, das Chaos nach der Explosion zur Flucht nutzen zu können. Nur ob es ihnen gelun gen war, wusste Li nicht. »Fu Long!«, rief er über die Schreie der Verletzten hinweg. »Ich bin hier!« »Meister!« Die Antwort kam sofort, und nur wenige Lidschläge später hockte
Fu Long neben ihm im Sand. Sein Gesicht war weiß von Staub. »Ihr seid verletzt, Meister.« Er schüttelte unwillig den Kopf. »Habt ihr ihn gefasst?« »Wir wissen es nicht. Es sind so viele Leichen … Meister, es sind Hunderte.« Li stützte sich auf seine Schulter und stand vorsichtig auf. »Dieser Bettler soll sich die Leichen ansehen. Er …« »Das wird nicht gehen, Meister. Jemand hat ihm und seinem Be gleiter die Kehle durchgeschnitten.« Li schloss die Augen. Es geht nur ums Überleben, hatte der beinlo se Bettler gesagt, doch selbst diesen letzten Kampf hatte er verloren. »Tong war hinter der Absperrung«, sagte Li nach einem Moment. »Heißt das nicht, dass Kai-Xuan entkommen ist?« »Wenn er es denn war, Meister.« »Er war es, Fu Long …« Er unterdrückte den Drang zu fluchen und öffnete die Augen. »Ruf die Soldaten zusammen. Wir brechen auf.« »Jetzt, Meister?« Sein Schüler wirkte verwirrt, aber Li wusste nicht, wie er ihm den Schmerz erklären sollte, die Leere, die seine Seele erkalten ließ und die er manchmal Trauer und manchmal Lie be nannte. Nichts konnte ihm diese Leere nehmen, aber wenn er an Kai-Xuan dachte, war sie nicht mehr so bedeutsam, so als hätte er etwas ge funden, was an ihre Stelle treten konnte. Er nannte die Fülle Hass und gab sich ihr hin. »Ja, jetzt, Fu Long.«
16. Da ich an mich selber schreibe, lasse ich alle Schnörkel weg. Meister Li würde eine solche Disziplinlosigkeit vielleicht bestrafen, aber mir steht nicht der Sinn nach schönen Worten und Zitaten aus den Klassikern. Ein Jahr ist es her, seit wir aus Peking aufbrachen, ein Jahr, in dem ich nichts gesehen habe, außer Leid, Hunger und Gewalt. Die Dürre hat ganze Dörfer ausgerottet, und zwischen den Flüssen war das Land so leer, als hätten die Götter selbst beschlossen, die Menschen vom Angesicht ihrer Erde zu tilgen. Wenn wir dann doch Menschen sahen, dann waren es elen de, halbverhungerte Gestalten, die in Erdlöchern hockten und ihre Söhne als Eunuchen und ihre Töchter als Sklaven anboten. Die kaiserlichen Far ben unserer Armee erfüllten mich mit Scham, denn wir taten nichts, um diesen Menschen zu helfen. Sie werden sicherlich nur mit Abscheu an uns und damit auch an den Kaiser denken. Vielleicht ahnen sie noch nicht ein mal, dass er ein neunjähriges Kind ist und nichts von der Welt weiß. Aber wem versuche ich etwas vorzumachen? Selbst wenn er von dem Elend wüsste, würde er nichts daran ändern, ebenso wenig wie er die Ar mut in seiner eigenen Stadt bekämpfen würde. Schließlich ist es immer so gewesen und wird auch immer so sein. Doch nicht wegen der Armut schreibe ich die Geschichte meines letzten Jahres auf, sondern wegen des Ortes, zu dem wir heute gelangten und der mein Leben für lange Zeit verändern wird. Ich brauche die Gewissheit, dass etwas von mir zurückbleibt, auch wenn es nur ein Stück Papier ist. Wir fanden Kai-Xuans Spur östlich von Peking. Er und seine Gefolg schaft, die nach den Angaben einiger Bauern aus rund hundert Männern bestand, hatte nur wenige Stunden zuvor ein Dorf niedergebrannt und das Vieh und die Vorräte gestohlen. Es gab eine größere Stadt in der Nähe. Da er wegen der Tiere langsam voran kam, holten wir ihn bald ein. Noch nie zuvor hatte ich eine Schlacht miterlebt. Daher war ich sehr
überrascht, wie schnell alles vorbei war. Unter unserer großen Übermacht – schließlich hatten sich fünfhundert Soldaten auf Geheiß des Kaisers ange schlossen – floh die Graue Bruderschaft, wurde in einen Fluss getrieben und größtenteils getötet. Ich schätze, dass weniger als zehn Männer den Kampf überlebten. Natürlich war Kai-Xuan dabei. Danach brachen aber auch für uns schwere Zeiten an, denn es ist we sentlich schwieriger, zehn Männern zu folgen als hundert. Es vergingen mehrere Monate, bis wir eine zweite Gelegenheit zum Kampf erhielten. Wieder entkam Kai-Xuan. Meister Li war ein Besessener in dieser Zeit. Er aß wenig, schlief kaum und war an manchen Tagen so erschöpft, dass er sich am Pferd festbinden ließ, um nicht herabzufallen. Die Soldaten waren anfangs beeindruckt von seiner Hingabe, aber schließlich überwog die Müdigkeit der langen Reise, und die Desertationen begannen. In einem Monat verloren wir die Hälfte der Männer und fast zwei Drittel unserer Vorräte. Meister Li schien das nicht zu kümmern. Das ständig schwindende Geld und die Unzufriedenheit der Soldaten spielte keine Rolle in seiner Welt. Es gab nichts außer der Suche nach Kai-Xuan. Und so folgten wir ihm bis an den Ozean im Osten und weiter hinab in den Süden. Wir durchquerten Wüsten und reißende Ströme, sahen Kara wanen und Barbaren, doch Kai-Xuan war immer vor uns, wie ein Geist, der sein Vergnügen darin findet, uns zu täuschen. In manchen Nächten träumte ich sogar von ihm, und ich fürchtete, in die gleiche Besessenheit zu verfallen wie mein Herr. Wie oft ich ihn bat, die sinnlose Suche abzubrechen und nach Peking zu rückzukehren, kann ich nicht sagen, aber es sind sicher mehrere Dutzend Mal gewesen. Selbst Wang, der Meister Li wie ein Hund ergeben ist, rutschte auf den Knien und bettelte um die Rückkehr, aber es war vergeb lich. Vor drei Tagen schließlich fanden wir Kai-Xuan, oder soll ich sagen, wir fanden das Ende der einen Spur und den Anfang der nächsten, denn hier in Xiang Gang oder Hong Kong, wie die Einheimischen die Stadt in ihrem schrecklichen Dialekt nennen, scheint alles zu enden oder zu beginnen. Und so endete hier auch Wangs Reise, denn heute morgen hat Meister Li
ihn und die anderen Soldaten entlassen und zurück nach Peking geschickt. Sie weinten, als sie vor ihm auf den Knien lagen, und nur meine Würde verhinderte, dass ich in ihr Klagen einstimmte. Wie gerne hätte ich sie begleitet, doch das geht nicht, denn mein Platz ist hier bei meinem Meister. Und so wird es nur dieser Brief sein, der seinen Weg nach Peking findet, während ich auf eine neue Reise gehe, in ein Land voller Barbaren. Amerika. Dorthin ist Kai-Xuan geflohen und dorthin werden Meister Li und ich ihm folgen.
17. Fu Long brütete auf dem unteren Deck in dem riesigen Schlafsaal der Queen Victoria über dem Englischbuch, das er im Duftenden Ha fen(Duftender Hafen: die genaue Übersetzung des chinesischen Xi ang Gang (Hochmandarin für Hong Kong)) erstanden hatte, und versuchte hinter das Geheimnis der englischen Sprache zu kommen. Einen Abend vor der Abreise hatte er noch die Herberge unten am Hafen von Kowloon verlassen, um sich zu informieren, wie man die Sprache der westlichen Barbaren am besten lernen konnte. Er hatte gewartet, bis Meister Li in unruhigen Schlaf gefallen war, bevor er sich heimlich aus dem gemeinsamen Zimmer schlich, das ihn so an die Gasthauszimmer erinnerte, in denen er auf dem Weg nach Yinchuan übernachtet hatte … in der Heimat, in China … Doch das erinnerte ihn auch an Xia-Ji und daran, dass ihn jede Mi nute weiter vom so vertrauten Reich wegbrachte. Er verdrängte den Gedanken. Dass er nicht wusste, wann er nach China zurückkehren konnte, machte ihm Angst. Stattdessen dachte er zurück an Hong Kong. Staunend hatte er sich in Kowloon, wo er mit Meister Li gewohnt hatte, umgesehen. Er hatte noch nie eine so helle Stadt gesehen. Selbst am späten Abend waren auf der anderen Seite der Bucht, die die Insel Hongkong von der Halbinsel Kowloon trennte, die zwei- bis dreistöckigen Häuser der fremden Barbaren zu sehen. Etwas höher als die anderen Gebäu de ragte der weiße Kuppelbau des englischen Vizekönigs aus den sauberen und hellen Häusern der Barbaren empor. Es war ein beein druckender Anblick gewesen – ein Gedanke, den er sich schnell wie der verboten hatte. Er war unpatriotisch, hatten doch die fremden Teufel, die über den Ozean gekommen waren, dem Reich der Mitte die Insel im Krieg abgenommen.
Fu Long versuchte, sich wieder auf sein Englisch zu konzentrieren. Die Buchstaben der fremden Barbaren, nein, der Amerikaner, ver besserte er sich hastig, waren beinahe unverständlich. Ein Wort setz te sich bei ihnen völlig unästhetisch aus den immer wieder gleichen Zeichen zusammen. Es war nicht so, dass ein Zeichen ein Bild oder eine Idee wiedergab. Diese sogenannten Buchstaben mussten erst kombiniert werden. Auf welche Weise das geschah, war Fu Long nach wie vor nicht ganz klar. Mühsam versuchte er ein kleines p zu malen und sich dabei den Unterschied zu einem kleinen d zu merken. Ein altes Weib, das ihm gegenüber an dem großen Gemeinschaftstisch des Schlafsaals saß, beobachtete ihn belustigt. Sie war ebenfalls Chinesin. »Bist du auch auf dem Weg zu den duftenden Inseln?«, krächzte sie.(Alter chinesischer Name für Hawaii. Man erzählte sich in China, dass dort die Sandelholzbäume so häufig vorkamen, dass man all tägliche Gebrauchsgegenstände damit herstellte.) Ihre Stimme war so heiser, dass sie kaum zu verstehen war. »Nein, alte Dame«, erwiderte Fu Long höflich. »Ich bin mit mei nem Meister auf dem Weg nach Amerika.« »Na, ist ja egal, fremde Teufel sind hier wie dort. Was lernst du da? Die Beamtenprüfung musst du in diesem wilden Land voller fremder Teufel ja wohl nicht mehr bestehen, oder?« »Nein, ich lerne die Sprache der fremden Barbaren. Der ehrenwer te Sun Zi sagte: Verstehe deinen Feind, dann kannst du ihn besie gen.« Die Frau lachte humorlos. »Dann wünsche ich noch viel Vergnü gen. Ich werde mich auf das Deck begeben und den endlosen Ozean betrachten, damit ich meinen Enkeln davon erzählen kann.« Damit stand sie auf und schlurfte durch den Raum zur Tür hinaus. Fu Long sah ihr kopfschüttelnd nach und fragte sich, aus welchem Grund eine so alte Frau ihre Familie verließ und auf die Reise ging. Dann erinnerte er sich an seine Aufgabe und kehrte zurück zu
dem Englischbuch. Nach zwei Tagen kannte er alle Versionen des Alphabets auswen dig, die Druckbuchstabenversion in groß und klein wie auch die Schreibschriftversion. Erleichtert dachte er, dass er jetzt wohl mit den einfachen Wörtern und Sätzen anfangen konnte. Doch das er wies sich als schwierig. Er konnte immer noch kein Q von einem O unterscheiden und verstand nicht, dass jeder Buchstabe für einen Laut stand, die zusammen ein Wort ergaben. Die chinesische Schrift schien ihm viel einfacher. Die meisten Zeichen gaben wieder, was man sich unter dem Wort vorstellte oder zeigten schlicht und ein fach ein Bild. Das Zeichen für Sonne war ein uraltes, stilisiertes Bild derselben. Was ein S und ein N dagegen mit dem Wort Sonne im Englischen zu tun hatten, blieb ihm unklar. Diese Buchstaben kamen in Tausenden anderer Wörter ebenfalls vor. Es war verwirrend, aber er gab nicht auf. Er setzte seine Lektionen nur aus, um die Mahlzeiten einzuneh men und nach seinem Meister zu sehen, eine Pflicht, die ihn mit weitaus weniger Freude erfüllte, als das früher einmal der Fall ge wesen war. Meister Li war mit seinen Gedanken fast nie bei Fu Long und Amerika. Er wäre Kai-Xuan auch in die Hölle gefolgt, da interessier te es nicht, in welches Land er reiste, ebenso wenig, wie ihn Fu Longs Studien über Land, Leute und Sprache interessierten. Hier auf dem Schiff, auf dem man seit einer Woche nicht den Eindruck hatte, es würde vorwärts gehen, wurde Li Si-Wen ungeduldig und nervös. Er wollte an Land, um seine Jagd fortzusetzen und Kai-Xuan zu stellen, und seine Gedanken, wenn er sie denn teilte, waren düs ter und voller Hass. Fu Long musste sich immer wieder in Erinne rung rufen, wie sehr Li seine Tochter geliebt hatte, um die unheimli che Wandlung seines Herrn zu erklären. Er hoffte nur, dass dessen Seele Ruhe fand, wenn er Kai-Xuan endlich getötet hatte – sollte es je dazu kommen. Fu Long versuchte, sich wieder auf seine Bücher zu konzentrieren
und auf die einfachen Sätze wie: der Junge hat einen Ball. Langsam kam er hinter das Geheimnis der Buchstaben. Er sah auf, als ein chinesischer Schiffsjunge neben ihm auftauchte. Irgendwie erinnerte ihn dessen Gesicht an den Kopf des Jungen, den der Soldat an den Haaren festgehalten hatte, und er wandte den Blick ab. Der Schiffsjunge hockte sich neben ihn. »Was machst du da?« Er hatte den Dialekt eines Bauern, aber seine Augen waren wach und intelligent. »Ich lerne Englisch, um mich in Amerika verständigen zu können.« »Ich war schon oft da. Kann dir viel erzählen.« Und das tat er dann auch, obwohl Fu Long ihn nicht darum gebe ten hatte. Er erzählte von der Kolonie, die Amerika einst gewesen war, und von dem blutigen Krieg, der dem Land die Unabhängig keit gab. Trotz seines begrenzten Sprachschatzes fand Fu Long, dass er in die Unterhaltung hineingezogen wurde und vieles nicht ver stand, was dort selbstverständlich zu sein schien. So behauptete A Fa, das war der Name des Jungen, die Gesetze des Landes sähen vor, dass alle Menschen gleich waren, was Fu Long als völligen Blödsinn empfand. Schließlich war es wichtig, stets seinen Platz in der Hierarchie zu kennen. »Ja, aber das hat doch automatisch Anarchie und Chaos zur Folge«, sagte er überzeugt. Der Schiffsjunge spuckte den Rest seines Kautabaks ins Meer. »Klar, die Amerikaner haben gerade erst einen Bürgerkrieg hinter sich. Ist ja auch kein Wunder. Willst du wissen, was sie sonst noch tun?« Fu Long beugte sich vor, fasziniert und gleichzeitig abgestoßen von dem, was er hörte. Der Schiffsjunge genoss die Aufmerksamkeit. »Sie finden es unap petitlich, wenn man auf die Straße rotzt.« Er lachte, als er Fu Longs
Gesicht sah. »Das ist wahr.« »Ja, aber wo soll man denn sonst hinrotzen?« »Na, sie finden, man solle in Tücher rotzen, die man dann wieder in die Tasche steckt.« Fu Long spürte plötzliche Übelkeit. »Das ist ja widerwärtig. Man steckt sie wieder in die Tasche?« »Außerdem tragen sie nur Hosen, jedenfalls die Männer. Die Frau en tragen so riesige Röcke, wie Glocken. Und alle glauben, sie sind etwas Besseres. Und sie trinken Milch.« Fu Long beherrschte sich nur mühsam. »Milch? Kuhmilch?« »Ja, und sie machen da so ein komisches Zeug draus. Sie lassen's verderben, dann wird die Milch gelb, und das nennen sie dann Käse …. Glaub' ich jedenfalls.« Fu Long sah A Fa mit Grauen an. »Hast du das je probiert?« »Spinnst du? Bin doch nicht lebensmüde.« Fu Long wandte sich ab. Er hatte mit einigen Problemen gerech net, aber dass bereits die Nahrungsaufnahme zu einem schier un überwindlichen Hindernis werden würde, überraschte ihn dann doch. Er hoffte nur, dass die westlichen Barbaren (Amerikaner, korri gierte er sich innerlich) zumindest die Regeln des höflichen Um gangs untereinander beherrschten und dass die Matrosen, denen er in Hong Kong begegnet war, unrühmliche Ausnahmen darstellten. Ihr nächtliches Grölen hatte ihn einen Aufstand vermuten lassen, bis er begriff, dass sie einfach nur betrunken waren. Es müssen Ausnahmen sein, beruhigte er sich. Ein Volk kann nur überleben, wenn es die Regeln von Anstand und Höflichkeit beherrscht. Je des andere Verhalten endet im Irrsinn …
18. San Francisco war ein seltsamer Ort voller seltsamer Menschen, zu diesem Schluss kam Fu Long, als er und Meister Li das Schiff verlie ßen und sich mit den anderen Chinesen in eine lange Schlange stell ten. Ein kalter Wind blies vom Meer her und brachte den Geruch von Fisch und Robben mit. Weiße Barbaren (Amerikaner, korrigierte Fu Long sich erneut) trugen Waren von den am Dock liegenden Schiffen, während andere größere Frachtstücke auf Wagen transpor tierten. Zu seinem Erstaunen schien es sehr viele Pferde zu geben, wesentlich mehr, als er in der Heimat gesehen hatte. Amerika muss te ein reiches Land sein, wenn es sich die Fütterung so vieler Reittie re leisten konnte. Fu Long spürte Meister Lis Hand auf seinem Arm. »Was ist das für ein Mensch?«, hörte er Li fragen. Die beiden Leib wächter gingen neben ihm und betrachteten mit großer Neugier die Umgebung. Fu Long folgte seinem Blick und fand einen dunklen, fast schwar zen Mann, der mit nacktem Oberkörper Fässer verlud. »Das ist ein Afrikaner, Meister«, sagte er und dankte im Stillen dem Schiffsjungen für seine Informationen. »Die Amerikaner haben sie als Sklaven ins Land geholt, aber ihnen vor kurzem die Freiheit geschenkt.« Li hob den Blick. »Sie haben alle Sklaven frei gelassen?« »Ja, Meister.« »Warum haben sie etwas so Dummes getan? Wer erledigt jetzt die Arbeit der Sklaven?« »Ich weiß es nicht, Meister.« »Dann finde es heraus.«
»Ja, Meister.« Die Schlange schob sich weiter. An ihrem Ende, das konnte Fu Long jetzt sehen, befanden sich zwei einfache Holztische, an denen je ein Weißer saß. Die Chinesen gingen zuerst zum ersten Tisch, wo sie ein Papier vorlegten und dann zum zweiten, wo sie etwas unter schrieben. Er konnte nicht erkennen, worum es sich dabei handelte. »Fu Long?« »Ja, Meister?« Li sah über die lange Schlange hinweg zu den Hafengebäuden und auf die hellen Holzhäuser der Stadt, die sich in die Hügel er hob. »Es wird nicht leicht werden, Kai-Xuan zu finden.« »Das ist wahr, Meister.« »Aber es wird uns gelingen, daran darfst du niemals zweifeln.« »Ja, Meister.« Ein kleiner, gedrungener Mann, der vor ihnen stand, drehte sich um. Mit einer Geschwindigkeit, die Fu Long überraschte, trat einer der Leibwächter vor Li. Der Mann wich erschrocken zurück, fiel dann jedoch auf die Knie und berührte mit der Stirn den Boden. »Verzeiht diesem Wicht, dass er es wagt, Euch anzusehen, ehrwür diger Herr, aber er hört an Eurer Sprache, dass Ihr ein mächtiger und gebildeter Mann seid. Bitte erlaubt diesem Wicht, Euch seinen Platz in der Schlange anzubieten.« Fu Long neigte kurz den Kopf. »Mein Meister dankt dir für deine Höflichkeit.« Gemeinsam mit Li und den Leibwächtern ging er an dem knien den Mann vorbei, um dessen Platz einzunehmen, doch die beiden Männer, die vor ihnen gestanden hatten, lagen bereits auf den Kni en. Es dauerte keine fünf Herzschläge, bis Fu Long über eine knien de Schlange bis zu den beiden Tischen sehen konnte. Die beiden Amerikaner, die daran saßen, zeigten kopfschüttelnd auf die Knien den. Einer von ihnen, ein dicker Mann mit einem immens großen Schnauzbart und fast kahlem Kopf, tippte sich in einer Geste, die Fu
Long nicht kannte, mit dem Finger gegen die Stirn. Li schritt würdevoll an den Bauern und Tagelöhnern vorbei und wartete, bis Fu Long aufgeholt hatte. »Warum neigen diese Barbaren nicht den Kopf in den Staub?« Er klang nicht verärgert, nur verwundert. »Sie knien vor niemandem, Meister. Das gehört nicht zu ihrer Kul tur.« Li hob die Augenbrauen. »Was für ein seltsames Land …« Sie hatten den ersten Schreibtisch erreicht und blieben stehen. Fu Long verneigte sich leicht, unsicher, ob er vor einem Beamten oder einem Diener stand. »Sprichst du Englisch?« Der Mann nuschelte stark und war kaum zu verstehen. »Ja, das tue ich.« Die Worte klangen unvertraut und hart, aber sie schienen richtig zu sein, denn der Amerikaner nickte. »Gut. Namen?« »Dieser Mann ist Seine Exzellenz, der ehrenwerte Li Si-Wen, Erster kaiserlicher Sekretär des rechten Geldes, und mein Name ist Fu Long, sein unwürdiger Schüler.« »Li und Fu«, wiederholte sein Gegenüber ungerührt und schrieb die Namen in ein Buch. »Wenn die Eisenbahn eure Passage bezahlt hat, geht zum Nebentisch. Da könnt ihr euch für die Arbeit eintra gen.« »Wir haben unsere Passage selbst bezahlt.« Der Mann sah zum ersten Mal auf. »Was? Zeig mal die Papiere.« Fu Long griff in den Ärmel seiner Robe und legte die Reisedoku mente sorgfältig auf den Tisch. Der Mann betrachtete sie einen Mo ment und nickte dann sichtlich überrascht. »Tatsächlich. Na gut, dann könnt ihr gehen, wohin ihr wollt.« Er sah an Fu Long vorbei, hatte ihn bereits vergessen. »Der Nächste!« Fu Long blieb stehen. »Seine Exzellenz sucht einen Mann, den Ihr
vielleicht in Euer Buch eingetragen habt. Sein …« Der Mann unterbrach ihn grob. »Der nächste, hab ich gesagt! Mir ist es völlig egal, welcher Schlitzi hier wen sucht. Verschwindet und seht zu, dass ihr Arbeit findet!« Li, der kein Wort verstand, aber am Tonfall die Unhöflichkeit sei nes Gegenübers hören musste, tastete nach dem Schwert unter sei ner Robe. Fu Long griff nach seinem Arm und zog ihn hastig weiter. Erst als sie die Schlange hinter sich gelassen hatten und zwischen Lagerhallen und Fischhändlern auf die Stadt zugingen, ließ er sei nen Meister los. »Was hat der Mann gesagt?«, fragte Li. »Weiß er etwas über KaiXuan?« »Meister, er war äußerst unhöflich, und er hat mir keine Auskunft gegeben. Er verlangte sogar, dass wir eine Arbeit annehmen.« »Arbeit?«, fragte Li so entgeistert, als hätte er das Wort noch nie gehört. »Hast du ihm nicht gesagt, wer ich bin?« »Doch, ehrenwerter Li, aber er wollte mir nicht zuhören.« »Du hättest ihm Geld geben sollen.« »Meister«, sagte Fu Long demütig, »ich bitte zu bedenken, dass wir nur noch sehr wenig Geld haben und nicht wissen, wo wir den Verbrecher Kai-Xuan in diesem Land suchen müssen. Wenn ich einen Vorschlag machen darf?« Li lächelte. »Habe ich dich dafür nicht ausgebildet?« »Ja, Meister. Ich nehme an, dass Kai-Xuan nicht genügend Geld für seine Überfahrt hatte und sich deshalb eine solche Arbeit ge sucht hat, um seine Schulden zu bezahlen. Er besaß bei seiner Flucht nichts mehr als das nackte Leben. Vielleicht ist es möglich, seine Spur auf diese Weise zu verfolgen.« Li runzelte die Stirn. »Und welche Art Arbeit würde ein solcher Mann annehmen? Er ist ein Rebell, ein sadistischer Mörder und Ver brecher, und er behandelt seine eigenen Männer unwürdiger als Tie re. Aber trotzdem könntest du Recht haben. Finde heraus, ob du sei
ne Spur aufnehmen kannst, Fu Long. Und suche uns eine Unter kunft in einem der vornehmen Häuser dieser Stadt. Sicher werden die ergebenen Untertanen des herrlichen Jadekaisers seinem unwür digen Diener auch in diesem Land angemessene Unterstützung zu teil werden lassen.« Fu Long verneigte sich. »Gewiss, Meister.«
»Ich kenne keinen Kai-Xuan.« »Nein, Herr, ein solcher Mann ist mir nicht bekannt.« »Nein, Herr.« »Ich bedaure zutiefst, aber ich kann Euch nicht helfen.« »Nein …« »Nein.« »Nein.« Es war zum Verzweifeln. Seit sechs Wochen fragte sich Fu Long durch die chinesische Bevölkerung von San Francisco. Das ein zige, was er herausfand, war, dass Xia-Jis Mörder nicht zu den Gold suchern im amerikanischen Westen gehörte, weil Chinesen seit eini gen Jahren überhaupt nicht mehr nach Gold suchen durften. Hier in Kalifornien wurden die Chinesen ebenso als drittklassige Barbaren betrachtet wie die Weißen selbst im Reich der Mitte. Darin, so sinnierte er, während er nach einem weiteren ergebnislo sen Tag nach Hause zurückkehrte, lag vielleicht doch eine poetische Gerechtigkeit. Auch wenn es bitter war zu begreifen, dass die unge waschenen, ungebildeten, viehischen Weißen Teufel selbst den erha benen Jadekaiser in all seiner Herrlichkeit vermutlich nur gefragt hätten, ob er seine Passage selbst bezahlt hatte. Für Kai-Xuan musste es ein Schock gewesen sein, auf einmal wie ein Tagelöhner behan delt zu werden und nicht wie der gefürchtete Herr der Grauen Bru derschaft. Für Li Si-Wen jedoch war es ein ebenso großer Schock. Der Erste kaiserliche Sekretär des rechten Geldes war hier in San Francisco
nur ein nutzloser Mann, dessen Geld zur Neige ging und der nur wenige Worte Englisch sprach. Und Geld, das hatten sie alle hier rasch gelernt, war das einzige, was für die Weißen zählte. Die meisten Chinesen waren arm. Viele zahlten noch immer ihre Überfahrt ab. Diejenigen, die nicht beim Bau der transkontinentalen Eisenbahn mitarbeiteten, hatten sich in den Städten niedergelassen und verrichteten Frauenarbeit: Sie nähten Kleider, fertigten Schuhe, rollten Zigarren in den Fabriken der Weißen, führten kleine Restau rants oder Wäschereien. Manchmal hatte Fu Long versucht, sich XiaJin, die Unvergleichliche, in diesem Leben vorzustellen, aber es er schien ihm wie Blasphemie. Chinesische Frauen sollten nicht mit Amerika besudelt werden. Nur die jungen Männer kamen hierher, um Geld zu verdienen, und die meisten kehrten später nach China zu ihren Familien zurück. In den sechs Wochen seit seiner Ankunft hatte Fu Long nur eine einzige Frau gesehen, und die arbeitete als Prostituierte. Ohne Xia-Ji wären wir gar nicht hier, dachte er, während er an einem Haus vorbeiging, dessen Dach ausgebessert wurde. Und wieder hielt er sie in den Armen und fühlte, wie sie starb. Diese Erinnerung genügte, um das Heimweh zu verjagen und sich wieder an den Hass auf Kai-Xuan zu erinnern. Er würde ihn finden. Und dann würde Kai-Xuan am eigenen Leib erfahren, was er so vielen Men schen angetan hatte. Er würde ihn foltern, langsam und qualvoll, ihm die Haut in … Ein Poltern von oben. Ein Schrei. »Vorsicht!« Er zuckte heftig zu sammen und sprang zur Seite, aber es war schon zu spät. Etwas schlug gegen seinen Kopf und dann auf die Schulter, und um ihn wurde es schwarz.
Eine Armee kaiserlicher Soldaten mit eisenbeschlagenen Stiefeln marschierte durch seinen Kopf. Er wünschte sich, sie würden damit aufhören, aber natürlich konnte man ihnen das nicht sagen. So lag er
nur ergeben still und wartete, bis sie ihren schmerzhaften Marsch beendeten. Er konnte sich nicht erinnern, was passiert war. Er war durch das chinesische Viertel der Großen Stadt gegangen … und dann? Er wusste es nicht. Lebte er überhaupt noch? Er versuchte, den Kopf zu heben, aber sofort begannen die Soldaten mit Schwertern auf ihn einzudreschen, und stöhnend ließ er ihn wieder sinken. »Lieg still, Fu Long«, sagte eine Männerstimme in einem weichen Tonfall. Das war ein guter Rat. Gegen die Armee konnte man sich nicht wehren. Man konnte nur warten, bis sie verschwand. Als die Stimme wieder sprach, wusste er nicht, ob Zeit vergangen war. »Du warst sehr unvorsichtig«, sagte der Mann. »Durch die Große Stadt zu wandern und überall nach Kai-Xuan zu fragen, als wüsstest du nicht, wer das ist. Und als wüsstest du nicht, dass noch immer ein Kopfgeld auf Li Si-Wen ausgesetzt ist. Jeder hier weiß, dass Kongs Vermögen bei seinem Tod verschwunden ist, und die Chine sen hier wollen reich werden, Fu Long. Hast du nicht darüber nach gedacht, bevor du deinen Meister hierher gebracht hast?« Er hatte eine freundliche Stimme, aber seine Worte weckten in Fu Long eine lähmende, eisige Angst. »Was …«, versuchte er zu sagen, brachte aber nur ein Grunzen hervor, das sofort wieder ein Schwert durch seinen Kopf jagte. »Lieg still«, sagte der Mann. »Und danke dem himmlischen Kaiser und all deinen Ahnen, dass jemand dich rechtzeitig gewarnt hat, be vor der Balken dich totschlagen konnte.« Er lag still, mühte sich aber doch zu sprechen. Seine Stimme wollte nicht heraus; sie steckte irgendwo in der Finsternis in seinem Kopf fest. Er brachte nur einige stammelnde Laute zustande. »Li?«, sagte der Mann. »Ich habe meinen Diener zu ihm gesandt und ihm gesagt, was dir zugestoßen ist. Ich habe ihn auch gewarnt,
falls du das meinst. Schlaf jetzt.« Vielleicht war er ein Zauberer. Fu Long hatte von diesen Leuten gehört. Ihre Macht war so groß, dass der bloße Klang ihrer Stimme genügte, um Menschen in Schlaf zu versetzen. Die kaiserliche Ar mee trampelte noch immer durch seinen Kopf, aber er selbst war nicht mehr da. Schwerelos glitt er in die Dunkelheit, weg von den Schmerzen. Als er wieder aufwachte, konnte er die Augen öffnen, wenn auch nur mühsam. In seinem Kopf schmerzte und pochte es noch immer, aber diesmal so, als schlüge jemand von außen an ein Hoftor. Er lag auf einer Strohmatte in einem kleinen Raum, den er nicht kannte. Seine Hose und sein Kittel lagen gewaschen und gefaltet neben dem Fußende, obendrauf lag sein Hut. Seine Sandalen waren nicht zu se hen, vermutlich standen sie draußen. Zwei weitere Strohmatten la gen im rechten Winkel zu seiner Matte, und zwischen ihnen stand ein niedriger Tisch. Er drehte den Kopf und schaute auf seine Schulter. Sie war sauber verbunden und roch nach Salbei. Vorsichtig versuchte er, sie zu be wegen. Es schmerzte, aber sie schien nicht gebrochen zu sein. Da durch ermutigt, setzte er sich langsam auf. Sein Kopf fühlte sich un gewöhnlich schwer an. Er hob die Hand, tastete nach seiner Stirn und berührte einen weiteren Verband. Die Tür öffnete sich, und ein Chinese trat ein. Er war noch recht jung, Fu Long schätzte ihn auf Mitte zwanzig. Er sah aus wie ein ge wöhnlicher Arbeiter, aber sein Gesicht verriet eine wache Intelli genz. Er hatte auch ausgezeichnete Manieren. Als er sah, dass Fu Long wach war, verneigte er sich höflich. »Ich bin glücklich, Euch wieder bei Kräften zu sehen, ehrenwerter Fu Long«, sagte er. Die Stimme kam ihm bekannt vor, doch erst nach ein paar Sekunden erkannte er sie als die Stimme wieder, die bei seiner letzten wachen Zeit zu ihm gesprochen hatte. Er versuch te, die Verneigung zu erwidern, aber der Schmerz, der sofort durch seinen Kopf jagte, hinderte ihn daran.
»Was ist passiert? Wo bin ich?« »Ihr befindet Euch im Haus des Hsiao Weng.« Er verneigte sich er neut. »Ihr wurdet nach Eurem Unfall zu mir gebracht. Ich habe ver sucht, Euch mit meinem spärlichen Wissen zu helfen.« »Mein Unfall?« Fu Long dachte angestrengt nach. »Ich kann mich nicht erinnern … Ehrenwerter Hsiao, ich stehe tief in Eurer Schuld.« Hsiao lächelte ein wenig. »Nein, ehrenwerter Fu Long, es ist eine große Ehre für mich, dem Schüler des unvergleichlichen Li Si-Wen behilflich sein zu können.« Er kniete sich auf eine der Matten und betrachtete Fu Long, der sich unter dem eindringlichen Blick etwas unwohl fühlte, dann nickte er und klatschte leise in die Hände. Ein Diener trat ein und servierte Tee. Fu Long kannte sich mit Heiltees nicht aus, aber er schmeckte Salbei, Weihrauch, Engelwurz und Dra chenblut heraus, während Hsiao einen grünen Tee trank. Sie schwiegen, wie es sich gehörte. Erst nachdem Fu Long die Tas se geleert hatte, fragte er: »Wurde der Erhabene Li über meinen Un fall benachrichtigt?« Hsiao nickte. »Ich habe meinen Diener zu ihm geschickt. Er sendet Grüße und wird für alle Kosten aufkommen.« Fu Long zuckte leicht zusammen und dachte an das wenige Geld, das sie noch hatten. »Wie lange bin ich schon hier?« »Zwei Tage, ehrenwerter Fu.« »Und was ist passiert? Ich erinnere mich an nichts …« »Ein Holzbalken fiel von einem Dach und hat Euch getroffen.« Hsiaos Gesicht blieb unverändert freundlich, aber Fu Long hatte das Gefühl, dass der andere auf etwas wartete … irgendeine Reakti on vielleicht oder eine Erinnerung. Aber er war schon nicht mehr si cher, ob er das erste Erwachen nicht auch nur geträumt hatte. Dann aber sagte Hsiao: »Ihr habt großes Glück gehabt, Fu Long. In Zukunft solltet Ihr besser acht geben.« Diesen Tonfall kannte Fu Long. In China hatte er ihn oft gehört. Er enthielt eine Warnung, hundert ungesagte Dinge, vielleicht eine
Drohung. Er hatte nur nicht erwartet, ihn hier zu hören. Dieser Ton sagte ihm, dass China und alles, was sich dort ereignet hatte, nur eine Schiffsreise weit weg war. Die Männer, die China verließen, brachten ihre Geschichte und ihr Wissen mit, und er durfte nicht denselben Fehler wie die Weißen machen und glauben, das fremde Land lösche alle Erinnerungen aus. Langsam sagte er: »Das Vermögen des Pu-Yang?« Hsiao nickte ruhig. »Und Kai-Xuan. Das sind gefährliche Namen, ehrenwerter Fu Long. Ihr habt Euch und Euren Meister in große Ge fahr gebracht. In diesem Land kann der Kaiser, möge er tausend Jah re regieren, seinen Ersten Sekretär des rechten Geldes nicht schüt zen.« »Er konnte es auch in China nicht«, sagte Fu Long in plötzlicher Bitterkeit. »Li Xia-Ji, die liebliche Tochter des Herrn Li, wurde von Kai-Xuans Verbrechern ermordet. Wir haben ihn durch das ganze Land gejagt und seine Spur bis hierhin verfolgt. Er ist in Amerika, und wir werden ihn finden.« »Und ihr werdet selbst von den Kopfjägern gejagt, die das Vermö gen des Pu-Yang haben wollen.« Hsiao schüttelte den Kopf. »Hier in San Francisco werdet Ihr ihn nicht finden. Wenn er hier wäre, wüss te jeder einzelne Mann davon. Aber er war hier.« Fu Longs Herz setzte kurz aus und schlug dann doppelt so schnell weiter. »Ihr habt ihn gesehen?« »Nein«, sagte Hsiao, »aber es wurde geredet. Der fürchterliche Kai-Xuang, der Herr der grauen Bruderschaft, der schlimmer wütete als jede Seuche, ging wie ein gewöhnlicher Arbeiter von Bord eines Schiffes und reiste weiter nach Yee Fow, der Zweiten Stadt. Und dort heuerte er bei der Eisenbahn an. Mein Vetter arbeitet als Arzt dort, sein Name ist Fong Dun Shung. Er hat mir geschrieben, dass er Kai-Xuang selbst gesehen hat. Er hatte Angst und ging ihm aus dem Weg.« »Warum erzählt Ihr mir das?«, fragte Fu Long. »Warum helft Ihr uns?«
Hsiaos Gesicht verschloss sich, und er stand auf. »Ich komme aus Nanking … und ich hatte eine Familie …« Er räusperte sich. »Ich bin nicht sicher, ob ich Euch wirklich helfe, wenn ich Euch sage, wo Ihr ihn finden könnt. Der Weise sucht nicht nach der Schlange, die noch ihre Zähne hat.« »Wir werden dieser Schlange die Zähne ziehen«, erwiderte Fu Long überzeugt, aber seine Stimme klang wie die eines verängstig ten Jungen.
19.
Cheyenne, Wyoming, 1867 Es wurde niemals ruhig. Vom ersten Morgengrauen an bis in die Nacht dröhnte der Donner der Sprengungen durch die Berge, hämmerte Metall auf Metall, kreischten Sägen, brüllten Männer einander über den Krach hinweg an. Die massiven Eichenbohlen krachten in den Staub, kreischend raspelten sich die Sägen in das Holz, Schiene um Schiene landete an ihrem Platz und wurde mit riesigen Schrauben mit den anderen ver bunden. Die Eisenbahn fraß sich durch das weite Land, unermüd lich und unaufhaltsam, und wo sie vorbeikam, hinterließ sie eine Schneise der Verwüstung. Sie pflügte sich durch Gebirge, Wälder und Prärien, schwang sich auf hohen Brücken über Abgründe, die Jahrhunderte lang für unüberwindlich gehalten worden waren, und ihr Lärm vertrieb auf Meilen hinweg die Tiere. Nicht einmal nachts wurde es still. Zwar schwiegen die Hämmer und Sägen, und die Schienen lagen wie monströse starre Schlangen auf ihren Wagen, aber dafür schrien die Verwundeten im Lazarett, redeten und fluchten die Arbeiter an den Lagerfeuern, und häufig kam es zu Schlägereien, die von den Vorarbeitern mit Gebrüll und harten Tritten beendet wurden. Erst wenn die Feuer endlich herun terbrannten, die Männer in den großen Zelten unter ihre Decken krochen, wurde die Stimme des Landes wieder hörbar: der Wind, der durch das Tal pfiff, das Zirpen der Grillen und manchmal von ferne das Heulen eines Coyoten, das meist von einem ungezielten Schuss für kurze Zeit unterbrochen wurde. Und dann, nach kaum zwei Stunden, in denen die Wachposten mit den Gewehren im Arm
das riesige Camp umkreist hatten, schlug Jeb Fräser mit einem Hammer auf die Schienen, dass es wie eine Glocke durch die Stille hallte, und das Camp erwachte, und die Eisenbahn fraß sich brül lend in den nächsten Tag. Aber noch war es nicht soweit. Jeb stand mit dem Gewehr in der Hand an einem Abhang und blickte über das Tal des North Platte River hinweg nach Süden, wo die Berge von Colorado im Mondlicht blau schimmerten. Jeb hatte keinen Blick für die Schönheit der Ber ge. Für ihn waren sie eine Hoffnung, eine Verheißung – und eine tödliche Bedrohung. Überall in diesen zerklüfteten Schluchten konnten Indianer ste cken. Vor ein paar Jahren hatten die Soldaten weiter nördlich ein ganzes Indianerdorf massakriert, aber man konnte sich nicht darauf verlassen, dass die Eingeborenen ihre Lektion gelernt hatten und aus der Gegend verschwanden. Nur dann konnten die Arbeiter der Union Pacific Railroad Company ohne Angst vor Überfällen ihren Job erledigen und die Eisenbahnstrecke bis Promontory bauen, wo sie auf die Central Pacific treffen würden, die ihnen von Westen ent gegenkam. Dort sollte das gewaltige Projekt der transkontinentalen Eisenbahn endlich beendet sein, und Jeb, der seit dem Beginn der Arbeiten 1865 in Omaha dabei war, würde sich endlich mit einem großen Stück Land in Colorado niederlassen können. Und vielleicht fand er sogar Gold. Das würde er auch brauchen – seit Monaten hat te die Union Pacific ihm keinen Lohn mehr gezahlt. Die Stimmung bei den Männern war entsprechend schlecht, und die Arbeit ging nur mühsam voran. Jeb hasste die Eisenbahn, hasste den Lärm, den Dreck und den Gestank. Nach Promontory wollte er sein Geld neh men und in die Berge verschwinden, und dann würde er nur noch in die Nähe der Schienen kommen, wenn er sein Gold in Cheyenne vertrank. Aber bis Promontory war es noch weit. Er zuckte zusammen, als er plötzlich rechts in einiger Entfernung eine Bewegung sah. Sofort drehte er sich um und entsicherte sein Gewehr. »Halt! Wer ist da?«
Der Mann blieb stehen und hob die Hände. »Kein Gefah.« Er sprach undeutlich, und Jeb konnte ihn kaum verstehen. Er schwenkte das Gewehr. »Komm hier 'rüber, wo ich dich sehen kann. Lass die Hände oben, oder ich knall dich ab.« Vielleicht war der Mann einer der Arbeiter, aber Jeb wollte kein Risiko eingehen. Er kannte viele der Männer hier, aber diese Stimme war ihm fremd. Doch als der Mann näher kam und das Licht der La gerfeuer über seinen Körper flackerte, erkannte Jeb, dass ihn nie mand erkannt hätte, selbst seine eigene Mutter hätte wohl nicht mehr sagen können, wer er war. Sein Alter war unmöglich zu schät zen. Sein Gesicht war zu einer blutigen Masse zerschlagen, die zotti gen braunen Haare waren verklebt, und sein Hemd war schwarz von Dreck und Blut. Er stank nach Fäulnis und Verwesung. Jeb hatte sich selbst seit Wochen nicht gewaschen, und seine Nase war eigent lich gegen Gestank abgestumpft, aber das hier drehte selbst ihm den Magen um. »Wer zur Hölle bist du?«, fragte er. »Wo kommst du her?« Der andere ließ die Hände sinken. »Ih heise Paul. Ih suhe A'beit. Ih bin du die Bege gegangen.« »Durch die Berge? Meinst du Colorado? Bist du vor dem Bürger krieg abgehauen?« Er hatte von Deserteuren gehört, die sich in den Bergen versteck ten und oft erst nach Jahren wieder auftauchten. Doch der Mann starrte ihn nur verständnislos an. »Bügekieg?« »Schon gut.« Jeb hatte eigentlich gedacht, dass vier Jahre Krieg an niemandem spurlos vorbei gegangen waren, aber er schien sich ge täuscht zu haben. »Wer hat dich denn erwischt?«, fragte er stattdessen. »Du siehst schlimm aus.« »Is nihts.« »Wenn das nichts ist … na ja, ist ja dein Gesicht. Melde dich mor
gen früh bei den Casement-Brüdern, die brauchen noch Leute. Aber erst gehst du ins Lazarett und lässt dich verarzten. Du stinkst zum Himmel.« Der Mann öffnete den Mund und grinste ihn mit schwarz verfaul ten Zähnen an. Eine Wolke der Verwesung schlug Jeb entgegen. »Ih weis. Wo is das Lasarett?« Würgend zeigte Jeb mit dem Daumen über die Schulter. »Da lang – Jesus Christus – hau bloß ab!« Der andere ging an ihm vorbei, hüllte ihn in einen Gestank ein, der Übelkeit heiß in ihm aufsteigen ließ. Jeb stolperte ein paar Schritte zur Seite und übergab sich. Als er sich aufrichtete und den Mund abwischte, sah er wieder eine Bewegung, jetzt über ihm, doch diesmal blieb ihm keine Zeit zu reagieren. Ein sengender Blitz löschte sein Bewusstsein aus, und die Welt endete in tödlicher Stille. Blacktooth Paul war keineswegs ins Lazarett gegangen.
20. Kai-Xuan, der harmlose Chinese, lenkte seinen Wagen den Hang hinab auf das Eisenbahncamp zu. Sein Maultier trabte ergeben vor dem Wagen her, auf dem sich Kisten voller Stiefel, Decken, Schüs seln und Zigarren türmten. Weder der kalte Herbstwind noch die Peitschenhiebe, mit denen sein Herr es gelegentlich grundlos be dachte, brachten es dazu, schneller zu laufen; es war gegen beides längst abgehärtet. Kai-Xuan saß auf dem Wagen, hielt die Zügel in beiden Händen und übte das höfliche, nichtssagende Lächeln, mit dem er den wei ßen Teufeln in ihrem Teil der Welt entgegentrat. Es hatte lange ge dauert, bis er gelernt hatte, seinen Hass, seine Wut und seine Ver achtung hinter dieser glatten Maske verschwinden zu lassen. Mitt lerweile beherrschte er die Maske fast perfekt. Nur ganz wenigen Menschen hatte er in den vergangenen Jahren sein wahres Gesicht gezeigt, und von denen war keiner mehr am Le ben. Bedauerliche Unfälle oder die Lynchjustiz eines aufgeheizten Mobs hatten sie dahingerafft; nie hatte auch nur die kleinste Spur zu Kai-Xuan zurückgeführt. Dies gab ihm eine gewisse Befriedigung in einem Land, in dem Chinesen als Menschen zweiter Klasse galten und ein Kai-Xuan seinen Lebensunterhalt offiziell damit bestreiten musste, den Eisenbahnarbeitern Lebensmittel und Stiefel zu verkau fen. Inoffiziell verkaufte er ihnen Schnaps und Munition; das war seine Lebensversicherung. Fünfmal pro Woche lieferte er die ge kauften Waren an das Camp. Die Weißen verhöhnten ihn wegen sei nes fremdartigen Aussehens, aber sie würden sich hüten, ihren ein zigen Schnapslieferanten im Umkreis von dreißig Meilen zu erschie ßen – so lange sie nüchtern waren. Wenn er von ferne das Grölen be trunkener Iren hörte, hütete er sich, ihnen nahe zu kommen, aber
während der Arbeit waren sie meistens nüchtern. Dafür sorgten schon die Vorarbeiter. Er war selbst für einige Zeit ein Vorarbeiter gewesen: bei der Cen tral Pacific, die zur Unterstützung für den Bau nach Osten Tausende von Chinesen angeworben hatte, die in Trupps von zwanzig Mann unter der Leitung eines fähigen Mannes Tunnel durch die Berge der Sierra Nevada sprengten und Schienen schneller verlegten als die Trupps der Weißen. Dafür waren sie ordentlich bezahlt worden. Je den Monat hatte der Zahlmeister dem Vorarbeiter dreißig Dollar pro Mann ausgezahlt, und dieser verteilte dann das Geld an seine Leute. Kai-Xuan hatte seinem Trupp während dieser Zeit lediglich 20 Dol lar ausgezahlt und den Rest behalten, und weil sie seinen Ruf kann ten, hatte keiner von ihnen gewagt, sich zu wehren. Nach chinesi schen Verhältnissen war er ihnen gegenüber noch äußerst großzügig gewesen. Doch eines Tages kam die Hälfte seiner Leute bei einer Sprengung mit Nitroglyzerin ums Leben, und die neuen Männer, die ihm zuge teilt wurden, kannten seinen Namen nicht und forderten ihren ge samten Lohn. Er sorgte dafür, dass zwei von ihnen eine weitere Sprengung mit Nitroglyzerin nicht überlebten, aber danach verbot die Bauleitung den Umgang mit diesem Stoff, und die Arbeiter kehrten zu Schwarzpulver zurück. Und die Stimmung gegenüber Kai-Xuan wurde unangenehm … Kurz nach dem entsetzlichen Winter von 1866/67 verließ er das Lager und ging nach Julesburg, danach folgte er der Union Pacific über Sidney und Kimball nach Cheyenne. In Salt Lake City wollte er sich niederlassen und einen großangelegten Handel mit chinesi schen Waren aufziehen. Da ihn die Rückkehr nach China den Kopf kosten würde, hatte er vor, in Amerika ein reicher Mann zu werden. Und eines Tages würde er ein Kopfgeld auf Li Si-Wen aussetzen – in Dollar. Seinem Gesicht war von diesen Gedanken nichts anzusehen, als er sich dem Camp näherte. Obwohl die Weißen trunksüchtige Raufbolde waren, kamen sie
recht schnell mit der Arbeit voran. Jeden Tag verlegten sie zwei Mei len Schienen. Aber die Union Pacific hatte ohnehin zwar den länge ren, aber einfacheren Teil der Strecke zu bewältigen. Die Central Pa cific überwand und durchquerte die Sierra Nevada nur mit Hilfe der chinesischen Arbeiter. Kai-Xuan neigte nicht dazu, stolz auf sein Volk zu sein, aber es fiel ihm leicht, die Weißen noch mehr zu ver achten als solche Wanzen wie Li Si-Wen oder seinen Speichellecker Fu Long. Er lenkte sein Maultier um eine Wegbiegung herum und fluchte, als es plötzlich vor einer Wolke von Fliegen scheute, die vor ihm aufwirbelte. Hastig griff er zur Peitsche und schlug sie dem Tier über den Rücken, aber es bäumte sich auf und wich zur Seite, ge fährlich nahe zum Hang hin. Kai-Xuan ließ die Peitsche los und zog mit aller Kraft an den Zügeln, bis das Tier endlich rückwärts trat und der Wagen wieder gerade stand. Dann packte er die Peitsche er neut und schlug sie dem Maultier über Hals und Schultern. »Du Sohn eines räudigen Hundes, du tausendfach verfluchter Vater ei nes Warzenschweins! Vorwärts!« Er prügelte auf das Tier ein, bis es blutete, aber es scheute weiter hin, schrie und schlug gegen den Wagen aus, dass es krachte. End lich sah Kai-Xuan ein, dass er es so nicht zum Weitergehen zwingen konnte. Er sprang vom Wagen und ging nach vorne, wobei er das Maultier noch einige Male brutal schlug. Dann packte er es beim Zü gel und drehte sich um, um es mit Gewalt weiterzuziehen. Und blieb abrupt stehen, als er sah, wovon die Fliegen aufgeflogen wa ren. Der Mann, der dort lag, war vermutlich ein Weißer, aber das war nur an seiner Kleidung und seinen Händen zu sehen. Sein Kopf war eine zerschmetterte Masse aus Knochen, Fleisch und geronnenem Blut. Seine Kehle war durchgeschnitten – oder zerfetzt, das war nicht mehr zu erkennen. Sein Gewehr lag neben ihm im Gras. Kai-Xuang überlegte, was er tun sollte. Der Tote selbst war ihm völlig egal, aber die Umstände seines Todes gaben zu denken. Of
fenbar lag er schon seit der vergangenen Nacht hier. Wer oder was hatte ihn getötet? Indianer? Ein Tier? Danach sah es eigentlich nicht aus. Ein Tier hätte begonnen, den Körper zu fressen, und Indianer besaßen Pfeile, die man nicht sah, bis sie einem plötzlich aus der Brust ragten. Vielleicht war es klüger, umzukehren und vorzugeben, er sei nie hier gewesen. Die Gerechtigkeit der Weißen ähnelte stark seiner eigenen in China, sie töteten erst und fragten später – erst recht, wenn man keiner von ihnen war. Er wollte nicht für einen Mord gehängt werden, an dem er ironischerweise gänzlich unschul dig war. Andererseits warteten die Männer im Camp auf ihre Waren, und er hatte bisher stets darauf geachtet, zuverlässig zu sein. Wenn er nun überhaupt nicht kam und die Leiche gefunden wurde, machte er sich erst recht verdächtig. Er warf einen Blick zum Himmel. Noch etwa drei Stunden bis zum Sonnenuntergang. Wenn er vor dem Abend wieder in Cheyenne sein wollte, musste er sich beeilen. Gewöhnlich machte ihm die Dunkelheit nichts aus, da alle seine Dämonen in China zurückge blieben waren. Aber plötzlich hatte er das unbehagliche Gefühl, dass es nicht besonders gut war, wenn ihn die Nacht draußen erwi schte. Er schaute sich um, aber die kahlen Hänge lagen still und un belebt unter den grauen Wolken. Und trotzdem schien es ihm, als sei er nicht ganz allein. Bevor er ihn verließ, trat er dem Toten einmal brutal in das ohne hin zerstörte Gesicht. Es sah den weißen Teufeln ähnlich, ihm selbst im Tod Ärger zu machen. Dann zerrte er das Maultier weiter, schwang sich auf den Wagen und trieb es unbarmherzig an.
»… und mein Maultier ist beinahe auf ihn getreten, Herr. Er lag da am Straßenrand mitten im Gras und war voller Blut, Herr. Glaubt Ihr, dass es die Indianer waren? Ich mache mir Sorgen; es war ent setzlich, wie er da so lag, der arme Mann, einer meiner besten Kun
den …« Leutnant Ian Flaherty blendete das aufgeregte Geplapper des Chi nesen aus, während er einen kleinen Trupp Soldaten zu der Stelle führte, an der angeblich eine Leiche liegen sollte. Seit der vergange nen Nacht waren tatsächlich drei Mann als vermisst gemeldet, aber es kam häufig vor, dass die Arbeiter sich einfach davonschlichen und in die Berge gingen, um Gold zu suchen. Wer wusste schon, was für Gespenster der verrückte Chinamann gesehen hatte. Aber er war verpflichtet, der Sache nachzugehen. Nur wünschte er sich, statt eines weißen Arbeiters hätte es diesen Chinesen erwischt, der ge wöhnlich ziemlich schweigsam war, doch jetzt überhaupt nicht mehr aufhörte zu reden. »… ich bringe meine Waren jede Woche ins Camp und nehme im mer diesen Weg; glaubt Ihr, das ist jetzt noch sicher, Herr? Vielleicht könnte ich ein paar Männer zum Schutz für meine Waren bekom men? Sie sind alle bezahlt, und ich liefere immer pünktlich, gerade jetzt im Herbst, wo die Männer gute Stiefel brauchen …« »Jetzt sei mal still, Chinamann«, sagte Flaherty. »Ich habe genug mit den Indianern zu tun, ich kann nicht noch Kindermädchen für gelbe Angsthasen spielen.« Der Chinese schlug die Augen nieder und murmelte demütig: »Gewiss, Herr, gewiss. Ich bin unwürdig.« Wenigstens hielt er jetzt den Mund. Und er führte die Soldaten zuverlässig zu der Stelle, wo er die Leiche gefunden hatte. Wieder stieg eine Wolke von Fliegen auf. Der Tote lag noch immer im Gras. Flaherty und Kai-Xuan (den Flaherty nur als »der China mann«, »der Händler«, »der Coolie« oder »Kay-Irgendwas« kannte) blieben stehen, während Corporal Getty ihn untersuchte. »Müsste Jeb Fräser sein«, meldete er, »ein Nachtwächter. Hätte sich heute morgen bei Mr. Casement melden sollen, hat er aber nicht getan. Hat von hinten eins über den Schädel bekommen, und dann hat man ihm die Kehle durchgeschnitten. Ziemlich wenig Blut, wenn Sie mich fragen.«
Flaherty nickte und schaute sich um. An dieser Stelle gab es weder Baum noch Strauch, nur die staubige Straße, die den Abhang zum Fluss hinunterführte. Keine Möglichkeit, sich anzuschleichen. Fraser musste seinen Mörder gesehen, vielleicht sogar mit ihm gesprochen haben. »Haben wir Spuren?« Getty war vielleicht kein indianischer Scout, aber seine Fähigkei ten im Fährtenlesen waren recht gut. Er untersuchte die Straße, dann stieg er ein paar Meter weit den Abhang hinauf. »Er kam von da drüben«, sagte er schließlich und wies in Richtung der Berge. »Auf dem Weg sind nur Fräsers Spuren erkennbar … der China mann hat den Rest zertrampelt und ist mit seinem Karren drüberge fahren.« »Ich bin unwürdig«, murmelte Kai-Xuan. »Ich bin verzweifelt. Ich bin außer mir. Ich bin …« »Du bist gleich ein Ex-Chinamann, wenn du nicht das Maul hältst!«, bellte Flaherty ihn an. »Zurück zum Camp. Smith und Car roll, ihr tragt die Leiche. Vielleicht kann Doc Brown noch was raus finden. Vorwärts!«
Leutnant Ian Flaherty konnte Chinesen nicht leiden. Erstens sahen sie albern aus mit ihren Schlitzaugen und der braunen Haut und ih ren tellerartigen Hüten, die sie falsch herum trugen. Zweitens bade ten sie andauernd. Drittens aßen sie – so hatte er gehört – Kakerla ken und Heuschrecken. Aber besonders hasste er, dass sie keine auf rechten Männer waren. Sie schauten einem nicht in die Augen, wenn sie sprachen; statt dessen verbeugten sie sich. Sie lächelten immer und tranken keinen Schluck Whisky, stattdessen betäubten sie sich mit Opium und lä chelten dann immer noch. Und sie machten Frauenarbeit, feilschten aber gerissener als die Araber. Wie sollte ein Mann aus so einem Volk schlau werden? Er versuchte es gar nicht erst und verabscheute
sie lieber sofort. Und dieser Kay-Irgendwas war einer der Schlimmsten. Mit dem stimmte selbst für einen Chinesen irgendwas nicht. Während Flaher ty ihn verhörte, jammerte und wehklagte dieser Bursche andauernd, betrauerte den Toten wie einen lieben Freund, betrauerte gleichzei tig das Geschäft, das ihm nun durch die Lappen ging, schwor dem Eisenbahnbau ewige Treue und versprach, alles zu tun, um bei der Aufklärung des Verbrechens zu helfen. Aber während er das tat, wurde Ian Flaherty das Gefühl nicht los, einer Theatervorstellung zuzusehen. Irgend etwas stimmte nicht mit den Augen dieses Chi nesen. Ian Flaherty war, ohne es zu wissen, ein ausgezeichneter Men schenkenner. Kai-Xuan wusste selbst, dass er maßlos übertrieb, aber wie alle skrupellosen Verbrecher hatte er keine Ahnung, wie er echte Ah nungslosigkeit und echten Schrecken vortäuschen sollte, daher spielte er genau die Art von Mensch, die er früher am liebsten gefol tert hatte, weil er sie so abgrundtief verachtete. Er hoffte, dass dieser junge Leutnant darauf hereinfiel. Was konnte der Mann schon über Chinesen wissen? »Es ist gut«, sagte Flaherty endlich angewidert. »Du kannst ge hen.« Der Chinese brach mitten im Satz ab und verbeugte sich tief. »Die ser unwürdige Wicht dankt Euch, Herr. Möge der Himmel Euren Feldern reichlich Segen spenden.« »Ja ja, schon gut.« Er sah zu, wie der Mann zur Tür huschte und fühlte sich an eine Ratte erinnert. Als der Chinese draußen war, sagte Corporal Getty, der an der Wand lehnte: »Was für ein kleiner Scheißer.« Flaherty warf ihm einen Blick zu und schaute dann aus dem Fens ter. Es war mittlerweile dunkel. Der Chinese ging durch eine Lichtinsel und verschwand in der Dunkelheit.
»Ich möchte, dass jemand ihn im Auge behält«, sagte Flaherty. »Schick ihm zwei Soldaten nach – für einen sicheren Heimweg.« Getty grinste. »Da wird er sich freuen. Gibt's denn einen Grund, Sir?« »Ich bin nicht ganz sicher.« Flaherty warf wieder einen Blick nach draußen. »Aber er hatte einen Blutspritzer auf dem Schuh.« Getty pfiff leise durch die Zähne. »Ich schicke ihm Smith und Har rison nach, Sir.« Flaherty nickte und drehte sich um, als es klopfte. »Ja!« Die Tür ging auf, und Doc Brown trat ein. Getty ging hinaus. Der Arzt schloss die Tür hinter ihm. Trotz seines Namens, der an den mittleren Westen denken ließ, war er noch recht jung, vielleicht Mit te dreißig, und stammte aus Boston. Sein Hemd und sein dunkler Anzug saßen tadellos. »Und?«, fragte Flaherty. »Das ist eine ziemliche Schweinerei«, sagte der Arzt ohne Um schweife. »Der arme Teufel hatte keine Chance. Der Mörder hat ihn von hinten niedergeschlagen – vermutlich mit einem sehr alten Ge wehr. Ich habe Holzsplitter in der Wunde gefunden. Dann hat er ihm die Kehle durchgeschnitten. Erstaunlich ist nur, dass die Klei der nicht viel stärker mit Blut getränkt sind. Ich hätte viel mehr Blut erwartet.« »Das sagte Getty auch«, sagte Flaherty. »Wie erklären Sie sich das?« »Kommt darauf an«, sagte Doc Brown. »Ich habe noch etwas Merkwürdiges gefunden. An der linken Schulter und an der Stirn sind Dreckspuren und Kratzer, die nicht von dem Sturz kommen. Es sieht eher nach Fingernägeln aus … oder Klauen.« Flaherty starrte ihn an. »Also doch ein Tier?« »Ich weiß es nicht«, sagte Doc Brown. »Aber an Ihrer Stelle würde ich mir Sorgen um die Männer machen, die heute nacht unterwegs
sind. Was immer das da draußen ist … es ist bewaffnet. Und es mag Blut …«
Die Jagd hat begonnen. Zwei hat er uns gestern Nacht zugetrieben; er selber roch nach dem fri schen Blut eines dritten. Wir tranken das Blut der beiden anderen und nahmen sie in den Äußeren Kreis auf. Sie sind jung und kräftig, ans Arbei ten gewöhnt. Die Älteren führen sie jetzt in die Riten ein. Wenn sie durch halten, ist es Zeit für den Inneren Kreis. Wenn nur der Alte von ihren Schreien nicht erwacht. Wir brauchen mehr. Viel mehr.
21. Kai-Xuan trieb das Maultier an, wie er es noch nie getrieben hatte. Mit dem Peitschenstiel, nicht mehr mit der Schnur, drosch er auf das Tier ein, bis es endlich in der weglosen Finsternis zu galoppieren be gann, krumm und jämmerlich, eine verdrehte Mischung aus Trab und Galopp, das schnellste, was es zustande bringen konnte, und doch nicht schnell genug, um dem Mann zu entkommen, der ihm nur immer mehr Schmerzen zufügte. Kai-Xuan hatte Angst. Er hatte sich noch nicht gefürchtet, als er das Eisenbahncamp verlassen hatte. Er hatte über diesen Leutnant und seine Fragen nachgedacht und wusste, dass der Mann ihm nicht traute. Aber das war zwischen Weißen und Chinesen nichts Unge wöhnliches, und Kai-Xuan hätte sich selbst auch nicht unbedingt als vertrauenswürdige Person bezeichnet. Er war ein hart gesottener Verbrecher, ein kaltblütiger Mörder, ein Überlebender unzähliger grausamer Schlachten. Und ein miserabler Schauspieler. Irgendwann während des Verhörs hatte er den Fehler begangen, dem Leutnant kurz in die Augen zu schauen. Und in diesem Mo ment hatte er gewusst, dass der andere ihn bis in seine tiefste Seele hinein durchschaute. Das war nicht der Grund für seine Angst. Er hatte Flaherty ledig lich auf seine Todesliste gesetzt. Und als er ging, sah er schon vor sich, wie irgendeine gekaufte Kreatur die Stadtbevölkerung aufhetz te und jemand in einem günstigen Augenblick ein Messer in Flaher tys Rücken trieb. In beinahe guter Stimmung ging er zu seinem Wa gen, stieg auf und trieb das Maultier an, das aus dem Halbschlaf aufschreckte. Er hatte den Toten schon fast vergessen, als er den Hang hin
aufrumpelte. Über ihm stand der tiefschwarze Himmel. Dichte Wol ken verdeckten die Sterne. Es war sehr kalt, und Kai-Xuan zog eine dicke Wolldecke aus dem Wagenkasten und wickelte sie um sich. Die Stimmen der Männer blieben hinter ihm zurück und wichen dem Schweigen der Erde. Kai-Xuan überließ es dem Maultier, sei nen Weg in der konturlosen Dunkelheit zu finden. Nach kurzer Zeit hörte er Hufschlag hinter sich, und jemand rief aus einiger Entfernung: »He, Chinamann! Anhalten!« Soldaten. Er blickte sich um, konnte sie aber nicht sehen. Er hörte, wie sie angaloppierten, und wurde sehr ruhig. Seine Gedanken wandten sich Taktiken und Strategien zu, die er schon hundert Mal erprobt hatte. Er hatte noch ein wenig Munition, und sie würden von ihm keinen Angriff erwarten. Sie hielten ihn ja noch immer für einen harmlosen schlitzäugigen Händler. Seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen, während er seine beiden Revolver zog. Soll ten sie nur kommen. Dann würden sie erfahren, wer Kai-Xuan wirk lich war. Doch dann hielten sie plötzlich an. Angestrengt blinzelte Kai-Xuan in die Dunkelheit. Er hörte zwei Schüsse und duckte sich unwillkür lich. Was ging da vor? Und dann hörte er sie schreien: Männer und Pferde gleicherma ßen. Laut. Gellend. In entsetzlichem Schrecken oder unerträglicher Qual. Kai-Xuan kannte solche Schreie; in früheren Zeiten hatte er sie selbst ausgelöst. Aber jetzt lauschte er, und sein Mund wurde tro cken. Seine Nackenhaare richteten sich prickelnd auf. Dann war plötzlich alles still. Kai-Xuan schluckte mühsam und stellte fest, dass seine Hände zit terten. Er sicherte die Pistolen, schob sie in seinen Gürtel und drehte sich um. Er nahm die Zügel auf und hob die Peitsche. Und dann fühlte er, dass etwas ihn aus der Finsternis heraus anschaute. Vor diesem Blick verging Kai-Xuan, der Mörder und Rebell, der einst verächtlich über den Tod gelacht hatte. Seine Pläne, seine Träume, seine Gier und der Hunger nach Macht: all das wurde zusammenge
knüllt wie ein Blatt Papier, wurde ins Feuer geworfen und verglühte zu schwarzer Asche. Übrig blieb ein Mann, völlig allein in einem ge waltigen fremden Land unter einem Himmel, der kein Erbarmen kannte. Und dann kam die Angst.
Die Peitsche zerbrach an dem blutenden Rücken des Maultiers, und er warf sie weg. Kopflos vor Angst und Schmerz galoppierte das Tier weiter. Der Wagen schlingerte hinter ihm her, krachte gegen Steine und in Erdlöcher, und Kai-Xuan, der sich nur noch an seinem Sitz festklammerte, wurde schmerzhaft durchgerüttelt. Seine Augen brannten von dem Bemühen, irgend etwas zu sehen, irgend eine Be wegung oder Form zu erkennen, aber da war nichts. Schon längst hätten die Lichter von Cheyenne vor ihm auftauchen müssen; die Stadt war keine drei Meilen vom Camp entfernt. Aber die Nacht blieb undurchdringlich. Er musste anhalten, musste umkehren … aber der bloße Gedanke daran versetzte ihn in Entsetzen. Irgendwo hinter ihm war etwas, waren mehrere … Wesen, schlimmer als Indianer oder Wölfe, und wenn er auch nur ein wenig langsamer wurde, würden sie ihn ein holen. Aber das Maultier röchelte und keuchte, und dann fiel es aus dem Galopp plötzlich in Trab und dann in Schritt. Kai-Xuan fuhr hoch, sprang vom Wagen und landete nicht auf steinigem Boden, wie er erwartet hatte, sondern auf weicher Erde. Er rannte zum Kopf des Maultieres und begann es in fliegender Eile auszuschirren. Das Tier stand mit gesenktem Kopf heftig zitternd da. Er warf das Geschirr auf den Boden und schwang sich auf den blutigen Rücken. Das Maultier warf den Kopf hoch, als er ihm brutal in die Seiten trat, ließ ihn jedoch sofort wieder sinken. Ein tiefes, rö chelndes Stöhnen drang aus seiner Brust, und dann sackte es plötz lich zusammen. Kai-Xuan gelang es gerade noch, abzuspringen, als das Tier mit einem dumpfen Laut zur Seite fiel.
Auf einmal war die Nacht sehr still, unterbrochen nur von Kai-Xu ans hastigen Atemzügen. Das Maultier regte sich nicht mehr, war nur noch ein schwarzer, formloser Haufen im Gras. Kai-Xuan schaute sich um, aber seine Verfolger waren nirgends zu sehen oder zu hören. Allmählich ebbte die Angst ab. Er hatte das Gefühl, aus einem Albtraum zu erwachen. Von den Lichtern der winzigen Stadt Cheyenne war weit und breit nichts zu sehen. Doch die kopflose Flucht schien bergauf geführt zu haben, einer Abzwei gung nach, an der er in den vergangenen Wochen häufig vorbeige fahren war und die, soweit er sich erinnern konnte, nach Süden zur Grenze zwischen Wyoming und dem neuen Staat Colorado führte. Vielleicht hatte er die Grenze schon überquert, ohne es zu wissen. Unter seinen Füßen war Gras, und undeutlich erkannte er die zotti gen schwarzen Umrisse einzeln stehender Fichten. Er musste umkehren. In Colorado gab es nichts außer Bergen. Er würde fliehen müssen – kein Mensch würde ihm jetzt noch glauben, dass er unschuldig war. Was auch immer den Soldaten zugestoßen war: er würde dafür gehängt werden. Wenn es ihm gelang, ein paar Sachen aus seinem Haus zu holen, konnte er schon am Morgen nach Osten unterwegs sein. Nach Omaha oder noch weiter – in irgendei ne große Stadt, in der er diesen ungeheuerlichen Himmel nicht mehr sehen musste. Vielleicht waren es doch Indianer gewesen, die eingeborenen Dä monen dieses Landes. Oder ihre Toten, deren Ruhe durch die Eisen bahn gestört worden war und die sich jetzt an den Lebenden räch ten. In China hätte er ihnen Reiskörner hingeworfen, um sie aufzu halten; hier aber wusste er nicht, wie sie zu bannen waren. Er fröstelte. Seine Decke hatte er längst verloren. Es würde ein lan ger, unangenehmer Fußweg zurück werden. Er machte den ersten Schritt, und aus dem Schattenriss der Fichten lösten sich drei schwarze Gestalten und kamen auf ihn zu. Ohne nachzudenken zog er beide Revolver heraus und feuerte. Donnernd hallten die Schüsse durch die nächtliche Stille, und voller Befriedi
gung sah er, wie die Gestalten zurücktaumelten. Niemand hatte sich je mit Kai-Xuan angelegt und überlebt. Der Donner der letzten Schüsse verhallte und rollte über die Täler hinweg. Dann war es wieder ruhig. Kai-Xuan behielt die Revolver in der Hand und ging zu der Stelle, wo eine der Gestalten reglos im Gras lag. Seine Augen schienen sich endlich an die Dunkelheit zu gewöhnen, oder vielleicht war die Nacht schon vorüber; jedenfalls konnte er erkennen, dass das Gesicht des Toten blutüberströmt war. Der Mund war eine klaffende schwarze Wunde. Der Mann war wie ein Weißer gekleidet und stank, als hätte er sich mit einem Skunk gepaart. Kai-Xuan trat ihn verächtlich in die Seite und wandte sich ab, um sich die beiden anderen anzusehen. Aber sein Fuß blieb hän gen, und etwas schloss sich um seinen Knöchel. Er blickte nach un ten. Es war eine menschliche Hand, die ihn festhielt. Als Kai-Xuans Blick zu dem zerschlagenen Gesicht hinzuckte, öff neten sich die Augen. Der Mund verzerrte sich zu einem grausigen schwarzen Grinsen. »Reingelegt«, sagte Blacktooth Paul. Die Kugeln zerfetzten ihm Kopf und Brust, und der Griff um KaiXuans Knöchel lockerte sich, sodass er sich losreißen konnte. Ein Blick zeigte ihm, dass auch die beiden anderen ganz und gar nicht tot waren. Grinsend kamen sie auf ihn zu. Er wich zurück und sah, dass der Mann, dessen Kopf er gerade mit Blei vollgepumpt hatte, wieder auf die Beine kam. Er schoss, aber diesmal zuckten die drei Dämonen nicht einmal zusammen. Zwischen den Bäumen hindurch rannte er los und auf eine hoch aufragende schwarze Masse zu, die sich bald in unzählige einzelne Fichten und Pinien auflöste. Seltsamerweise war sein Kopf jetzt völlig klar, die blinde Panik war verschwunden, seit er seine Gegner gesehen hatte. Es schien, als hätten die Weißen ihre eigenen Dämonen mitgebracht. Mit seinen Revolvern konnte er nichts ausrichten. Aber die Weißen waren hier fremd. Vielleicht waren ihre Dämonen an sie gebunden und muss
ten in ihrer Nähe bleiben; dann war es vielleicht möglich, dass er sich im Wald vor ihnen verstecken konnte. Er konnte seinen Weg jetzt recht gut sehen, obwohl die Bäume aus völliger Schwärze gemacht zu sein schienen. Aber der Grund dafür war nicht der heraufdämmernde Morgen, sondern der Mond, der sich ganz langsam zwischen den dichten Wolken herausschob und das Gras zwischen den Bäumen zu fahlem Grau aufhellte. Doch dann verschwand er wieder, und Kai-Xuan stolperte über eine Wur zel, die er nicht gesehen hatte, und schlug der Länge nach hin. Seine Hände waren voller Schürfwunden, als er keuchend auf die Beine kam. Sie brannten wie Feuer, aber er nahm den Schmerz kaum wahr.
In einiger Entfernung hielten die drei Gestalten an und hoben die Köpfe, als ob sie lauschten, aber es waren nicht die Geräusche von Kai-Xuans Flucht, die ihnen verrieten, wo er war. Es war die Witte rung. Blut, sagte einer von ihnen lautlos. In ihren toten Augen funkelte etwas auf, eine mörderische Gier. Wie Bluthunde folgten sie Kai-Xuans Spur.
Er rechnete nicht damit, sie durch bloßes Rennen abhängen zu kön nen, und er konnte auch nicht mehr rennen. Sein Körper war sehnig und von der harten Arbeit bei der Eisenbahn abgehärtet, aber jetzt tat ihm jeder Muskel weh. Sein linker Knöchel schmerzte höllisch, nachdem er in ein Loch geraten und umgeknickt war, doch er hum pelte verbissen vorwärts, duckte sich unter tiefhängenden Zweigen hindurch, kletterte über umgestürzte Baumstämme, wand sich zwi schen Felsen und Bäumen hindurch und watete durch einen eiskal ten Bach. Aber immer wieder hörte er sie hinter sich. Sie beeilten
sich offenbar nicht, aber sie schienen jederzeit genau zu wissen, wo er war. Das ist nicht das Ende, dachte er, während er sich an einem Fels hang vorbeischob und hörte, wie sie hinter ihm über ein schmales Geröllfeld stapften. Ich komme hier wieder heraus. Vielleicht bin ich nicht der listige Affenkönig Wu, aber mir wird schon einfallen, wie ich sie loswerde. Wenn ich nur etwas Sprengstoff hätte … Vor sich sah er einen schmalen Spalt zwischen zwei Felsen. Er war breit genug, dass man hineingehen konnte, doch vermutlich würde er auch für die Dämonen breit genug sein. Aber die Felsen oberhalb des Spaltes schienen recht locker zu liegen. Wenn er die Dämonen in die Höhle locken konnte … wenn er aus seinen restlichen Patronen das Pulver herausholen und eine Pulverspur legen konnte … hastig, ohne nachzudenken, zwängte er sich durch den Spalt, duckte sich und spähte nach draußen. Dann zog er die Revolver aus dem Gür tel, hockte sich hin und schüttete die eben erst nachgeladenen Patro nen wieder heraus. Gerade fing er an, sie mit seinem Messer aufzu bohren, doch ein Geräusch hinter ihm ließ ihn zusammenzucken. Es war ein leises, dumpfes Knurren. Etwas berührte sehr sacht, fast tastend seinen Rücken. Kai-Xuan schrie. Er schrie, als das Wesen ihn in die abgrundtiefe Dunkelheit der Höhle hineinzog, er schrie, als sich die Zähne in sei nen Hals gruben, und als sein Körper nicht mehr schreien konnte, schrie sein Geist weiter und immer weiter, bis er in der Finsternis er losch.
22. Li Si-Wen und Fu Long machten sich auf den Weg nach Sacramento, oder Yee Fow, der Zweiten Stadt. Dort hielten sie sich nicht auf. Sie kauften Fahrkarten für das neue große Abenteuer der Vereinigten Staaten, die frisch gebaute Eisenbahn. Als Chinesen durften sie nicht mit den Weißen im gleichen Abteil sitzen, sondern wurden ans Ende des Zuges verwiesen, zu den Chinesen, die für den Weiterbau der Bahn ins Land geholt worden waren. Sie waren damit ganz zufrie den, denn anders als die chinesischen Arbeiter wollten sie ja nichts von diesem Land und seinen Bewohnern. Doch zumindest Fu Long schaute während der Fahrt immer wie der neugierig aus dem kleinen, staubigen Fenster des Waggons. Die ses Land war so fremd, eine völlig andere Welt, und doch nur weni ge Wochenreisen von China entfernt. Wie anders wäre seine Ge schichte verlaufen, wenn die Chinesen und nicht die Europäer es zu erst besiedelt hätten? Überall, wo der Zug hielt, um Wasser und Kohlen nachzuladen, standen kleine Häusergruppen, die eines Tages zu Städten heran wachsen würden. Nur durch die Eisenbahn konnten sie überhaupt überleben. Entlang der Schienen tastete sich die Zivilisation der Weißen in das riesige, feindliche Land vor. Fu Long war entschlos sen, die Weißen zu verachten – aber den Mut konnte er ihnen nicht absprechen. Sie gingen überall hin, sie siedelten sich in den feindse ligsten Umgebungen an, sie suchten und forschten ohne Pause … Li sagte nur, als er das erwähnte: »Wer leer ist, muss beständig nach Fülle suchen.« Fu Long widersprach ihm nicht. Aber obwohl er die Weißen nur durch das staubige Fenster beobachtete, nie mit ihnen sprach und ihre Rohheit und Wildheit verabscheute, wurde ihm doch irgend
wann klar, dass allein der Bau der transkontinentalen Eisenbahn ihm alles über sie verriet, was er wissen musste. Es war möglich. Es war machbar. Also machten sie es, ganz gleich, was es sie kostete. Immer wieder sah er abseits der Bahnstrecke kleine Gruppen von Kreuzen. Das waren die Orte, an denen sie ihre Toten begruben: die Männer, die den Sprengungen oder den Winterstürmen zum Opfer gefallen waren. Chinesische Totenschreine sah er nicht. Die ausgebaute Bahnstrecke endete in der Sierra Nevada, wo die Chinesen mit Schwarzpulver Löcher in die Felsen sprengten, um die Tunnel voranzutreiben. Fu Long und Li Si-Wen wollten die Arbeiter nur befragen, aber nach wenigen Tagen begann es zu schneien, und ein fürchterlicher Schneesturm schloss sie ein. Meterhohe Schneewe hen machten eine Umkehr unmöglich, aber der Bau der Bahnstrecke ging trotzdem weiter – manchmal nur wenige Zentimeter pro Tag. Fu Long und die beiden Leibwächter wurden den Sprengkomman dos zugeteilt; für Li Si-Wen fand sich eine Arbeit als Koch. Kai-Xuan fanden sie nicht. Die Chinesen, die sie befragten, erin nerten sich an ihn, aber keiner wollte über ihn sprechen. Das einzi ge, was sie sagten, war: »Eines Tages war er fort.« Und Fong Dun Lung, der chinesische Arzt, sagte, er glaube, KaiXuan habe sich zu Fuß weiter nach Osten durchgeschlagen. Fu Long hoffte, dass diese niederschmetternde Aussage seinen Meister dazu bringen würde, die Jagd abzubrechen und nach dem Winter nach China zurückzukehren. »Ich werde ihn finden«, war alles, was Li Si-Wen darauf sagte. »Meister«, antwortete Fu Long, »er kann überall hingegangen sein. Dieses Land ist ungeheuer groß.« »Belehre mich nicht, Fu Long«, erwiderte Li. »Es steht dir frei, nach China zurückzukehren.« Fu Long senkte den Kopf und murmelte: »Vergebt mir, Meister.« Doch es gab Zeiten, in denen er bitter bereute, seine Ehre an Li ge
bunden zu haben. Nur die Erinnerung an Xia-Ji hielt ihn davon ab, der unsäglich harten Arbeit und den Qualen dieses Winters zu ent fliehen. Im Frühjahr 1866 verließen sie die Eisenbahn und machten sich zu Fuß auf den Weg nach Osten. Sie wussten nicht, dass Kai-Xuan ih nen immer nur einige Wochen voraus war. Einmal überholten sie ihn sogar und hielten sich mehrere Wochen in Salt Lake City auf, während er einer südlicheren Strecke folgte. Fu Long glaubte schon lange nicht mehr daran, dass sie ihn je fin den würden. Aber er hatte einen Eid geschworen, und so folgte er seinem Meister, der unbeirrt immer weiter nach Osten strebte, als zöge ihn ein unsichtbares Band vorwärts. Und die Leibwächter folg ten ihnen wie zwei stumme Schatten, arbeiteten, flohen und litten mit ihnen. Sie waren nirgendwo willkommen, und nirgendwo ließen sie sich nieder. Sie wurden Gespenster, dachte Fu Long, ruhelose Geister, die der Vergangenheit nicht entkommen konnten und immer weiter in die Irre gingen. In China hätten sie lernen können, mit der Trauer um Xia-Ji zu leben. Doch hier war ihr Tod der einzige Grund, wei terzuwandern, immer weiter, und beschossen, verprügelt, gejagt und vertrieben zu werden, ganz gleich, wohin sie kamen. Der Weise sagt: Bereise keine gefährlichen Länder und wohne nicht in solchen, in denen Chaos regiert. Fu Long wusste, dass sie sich weit vom Weg des Weisen entfernt hatten. Sie nahmen jede Arbeit an, um Geld für die Weiterreise zu verdie nen. Sie durchquerten die Rocky Mountains im Sommer mit einer Gruppe von Trappern und überlebten nur, weil sie gelernt hatten, Wunden zu verbinden, heilende Kräutertees zu kochen und das Es sen schmackhafter zu machen. Sie wurden das, was die Chinesen für alle Weißen waren: nützlich und unsichtbar. Mein Stolz, schrieb Fu Long in sein Tagebuch, ist das, was ich als ers tes verlor. Wie würde Xia-Ji lachen, wenn sie mich jetzt sähe. Doch weinen würde sie über ihren Vater.
Und als sie Kai-Xuan dann doch endlich fanden, war es zu spät.
»Ja«, sagte ein Mann an einem grauen Novembertag in der kleinen Stadt Cheyenne, »wir haben hier so eine schlitzäugige Kröte. Kay-ir gendwas. Sein Laden ist da drüben. Lasst mal sehen, wie schnell ihr laufen könnt.« Er zog den Revolver und schoss in den Erdboden dicht vor ihren Füßen. Hastig wichen sie zurück und eilten davon, und sein Lachen dröhnte hinter ihnen her. Aber Fu Long vergaß ihn sofort wieder. Dieser Mann war nicht wichtig. Der einzige, der zähl te, war Kay-irgendwas. Sein Herz schlug bis zum Hals, als er seinem Meister zu dem Haus folgte, das der Mann ihnen gewiesen hatte. Lis Augen funkelten; die drei Jahre vergeblicher und qualvoller Jagd schienen plötzlich von ihm abgefallen zu sein. Selbst die Leibwächter sahen nicht mehr wie gefühllose Zombies aus. Fu Long hatte nie versucht, herauszufin den, warum sie bei Li geblieben waren. Doch jetzt, in diesem Mo ment, war das Motiv aller vier Männer dasselbe: Kai-Xuan endlich zu finden und ihn in die Hölle zu schicken. Das Haus war ein baufälliger Schuppen abseits der staubigen Stra ße. Cheyenne selbst war kaum mehr als eine Ansammlung schäbi ger Hütten, doch zur Bahnstrecke hin wurde ein großes, mehrstöcki ges Haus gebaut, das in der Kargheit der baumlosen Landschaft und der trostlosen Häuser so trotzig wirkte wie eine edelsteinge schmückte Brosche an der Brust einer heruntergekommenen Frau. Sie blieben vor dem Laden stehen. In geschwungener englischer Schrift stand dort: BESTE CHINESISCHE HANDELSWAREN. Doch wichtiger war das viel unauffälligere geschwungene chinesische Na menszeichen an der Tür. Kai-Xuan, Inhaber. Li blickte darauf nieder, und für einen Moment wirkte er müde und alt. »Das ist aus ihm geworden?«, murmelte er leise und un gläubig. »Ein Händler?«
Dann gab er dem ersten Leibwächter einen Wink. Der Mann nickte und trat ohne Vorwarnung die Tür ein, die krachend nach innen flog. Doch keine Schüsse dröhnten ihnen entgegen, keine Explosion schleuderte sie zu Boden, und niemand schrie. Als sie den Laden be traten, sahen sie sich stapelweise Decken und Kisten gegenüber, Fässchen mit duftendem Zedernöl, Säcken mit getrockneten Bohnen und Tee, Hartbrot und Kräutern. Die Leibwächter durchsuchten das Haus und kehrten zurück. »Leer?«, fragte Li. Der erste Leibwächter nickte. »Dann zündet das Haus an.« »Meister …«, begann Fu Long erschrocken, aber Li warf ihm einen kalten Blick zu. »Wenn wir fertig sind, wird sich nicht einmal der Wind an KaiXuan erinnern. Nichts wird von ihm übrigbleiben.« Fu Long fügte sich. Als er begann, das Zedernöl in dem Laden auszugießen, regte sich in ihm ein seltsames Gefühl von hasserfüll ter Befriedigung, das er bis zu diesem Tag nicht gekannt hatte. Es war ein Gefühl nackter Barbarei und der Erkenntnis, dass sie end lich am Ziel waren. Ihre Jagd war fast zu Ende, und nun begann der letzte Akt. Doch gleichzeitig war er wie betäubt. Der Übergang kam zu plötz lich. Erst als sie das Haus verließen und der zweite Leibwächter mit ei ner brennenden Fackel auf die offene Tür zuging, wurde ihm be wusst, was sie gerade taten, und er packte Lis Arm – eine Unhöflich keit, die ihn bei einem anderen Meister den Kopf gekostet hätte. »Meister, das können wir nicht tun. Wir haben hier keine Rechte. Sie werden uns jagen. Sie werden …« Li riss sich los, gab dem Leibwächter ein Zeichen, und die Fackel flog in hohem Bogen zwischen die ölgetränkten Säcke. Mit einem donnernden Geräusch entzündete sich das Öl, und in Sekunden
schnelle stand das kleine Haus in Flammen. Das Feuer spiegelte sich in Lis Augen, als er sich Fu Long zuwand te. »Ich habe das Recht der Rache«, sagte er. Aber er duldete es, dass Fu Long ihn wieder am Ärmel fasste und zwischen die Häuser zog. »Wir müssen weg hier, Meister.« »Und wohin?« Li deutete zur Straße, wo sich einige Weiße sam melten und das Feuer anstarrten. Einer leckte an seinem Finger und hielt ihn in den Wind, dann zuckte er die Achseln, lachte und ging weg. Ein paar andere gestikulierten und schienen sich zu streiten, aber schließlich blieben sie einfach stehen und sahen zu, wie das Haus nieder brannte. »Siehst du«, sagte Li, »das ist unser Recht in diesem Land. Wir sind ihnen nicht einmal ein paar Eimer Wasser wert, und wir sind unsichtbar. Also können wir tun, was uns beliebt. Komm. Er kann nicht weit sein.« Fu Long fragte sich, ob die lange, schreckliche Jagd seinen Meister um den Verstand gebracht hatte. Vielleicht war es so, aber vielleicht war es auch schon an jenem lange zurückliegenden Tag geschehen, als er Li Si-Wen die Leiche seiner Tochter nach Hause gebracht hat te. Dieser Tag hatte sie alle gemordet. Er neigte den Kopf. »Ich folge Euch, Meister.«
»Ich kann Ihnen nicht helfen«, sagte Leutnant Flaherty. »Ich habe genug damit zu tun, das Camp ruhig zu halten. Das letzte, was ich brauche, ist Unruhe. Wenn Sie den Mann finden wollen, suchen Sie ihn selbst.« »Das habe ich vor«, ließ Li Fu Long sagen. Er selbst ließ sich nicht dazu herab, die barbarische Sprache der Weißen zu sprechen, also musste Fu Long für ihn übersetzen. »Sie haben ihn also zuletzt vor einer Woche gesehen, als er das Camp verließ?«
Flaherty ließ sich Zeit mit der Antwort. Aber er war immerhin höf lich. Er spuckte ihnen nicht vor die Füße und hatte Li sogar einen der beiden Stühle in seiner Hütte angeboten. Sie hatten das Eisenbahncamp um die Mittagszeit erreicht, als die Rauchwolke des niedergebrannten Hauses noch wie eine Klaue über der Stadt hing. Fu Long hielt seinen Jadeanhänger fest umklammert, doch das Gefühl drohenden Unheils ließ nicht nach. Die fiebrige Er regung vom Vormittag, als sie das Haus angezündet hatten, war be klommener Furcht gewichen. Vielleicht lag es an dem Funkeln in Lis Augen. Li war nicht mehr unsichtbar. Er war wieder der Oberbe fehlshaber eines Heeres kaiserlicher Soldaten – selbst wenn dieses Heer nur aus einem Schüler und zwei stummen Leibwächtern be stand. Selbst die Weißen würden diesen Mann nicht mehr überse hen. Sie taten es auch nicht. Sie riefen sofort ihren Anführer, der sich anhörte, was sie wollten, und dessen offenes irisches Gesicht bei der Erwähnung des Namens Kai-Xuans eine ganz seltsame Verände rung durchlief. »Kommen Sie«, hatte er nur gesagt und sie in sein Büro geführt. Jetzt fragte er: »Warum suchen Sie diesen Kay …« »Kai-Xuan«, sagte Fu Long. »Danke. Warum suchen Sie ihn?« Fu Long zögerte. Li beugte sich ein wenig vor. »Sag ihm die Wahr heit.« Fu Long blickte erst Li an, dann den Soldaten. »Der Verbrecher Kai-Xuan hat vor einigen Jahren die bluten … die Tochter meines Meisters Li Si-Wen ermordet. Li Si-Wen ist Erster kaiserlicher Sekre tär des rechten Geldes.« Er wusste inzwischen, dass dieser Titel in der englischen Sprache eher albern als erhaben klang, aber das bekümmerte ihn nicht mehr. Niemand, der Li Si-Wens hartes Gesicht sah, würde ihn für albern halten. »Mein Meister und ich haben den Mörder Kai-Xuan durch
halb China und von San Francisco bis hierher verfolgt, um ihn zu strafen und Gerechtigkeit zu üben.« Flaherty hörte sich das ruhig an. Dann fragte er: »Haben Sie Be weise?« Fu Long beherrschte sich meisterhaft, um ihm nicht ins Gesicht zu springen. »Mein Herr Li Si-Wen ist einer der höchsten Beamten des Kaiserreiches. Er führt ein Siegel des Kaisers mit sich, das ihn bevoll mächtigt, das Urteil zu vollstrecken.« Flaherty nickte. »Sie wissen aber doch sicher, dass Sie, Ihr – hm – Meister und dieser Kay-Chuan der Gerichtsbarkeit der Vereinigten Staaten unterstehen, solange Sie hier sind.« »Gewiss«, sagte Fu Long. »Können Sie mir nun sagen, wo sich der Verbrecher aufhält?« »Soweit ich weiß, ist er in den Bergen«, sagte Flaherty ruhig. »Wir fanden sein Maultier und seinen Wagen.« Dann beugte er sich leicht vor und sah Fu Long fest in die Augen. »Aber ich würde Ihnen nicht raten, ihm zu folgen.« »Wir sind ihm durch ganz China und …« »Ich weiß«, sagte Flaherty. »Aber ich werde Ihnen etwas sagen, was Ihren Entschluss vielleicht beeinflussen wird. Sein Maultier war tot, als wir es fanden. Der Wagen war Kleinholz, und in der Nähe fanden wir Blut. Die beiden Soldaten, die ihn in dieser Nacht nach Cheyenne begleiten sollten, waren ebenfalls verschwunden und wir fanden die Pferde später mit zerfleischten Kehlen und aufgerissenen Körpern im Wald. Das ist jetzt eine Woche her. In dieser einen Wo che habe ich acht meiner Soldaten verloren. Etwas da draußen hat sie getötet – etwas, das wir weder sehen noch hören können, aber es ist da. Ich gebe Ihnen den guten Rat, mit dem nächsten Zug wieder abzufahren und Ihren Kay-Chuan zu vergessen. Ich denke, er ist längst tot.« Fu Long schluckte. »Was hat er gesagt?«, fragte Li, und er übersetzte fast mechanisch.
»Danke ihm und frage, ob wir vier Pferde kaufen können.« »Sicher«, sagte Flaherty. »Solange Sie damit ruhig und friedlich nach Hause reiten.« »Gewiss«, sagte Fu Long höflich. »Mein Herr dankt Ihnen für die Warnung.« Sie bezahlten das Geld für die Pferde und verließen die Hütte. Auf den ersten Blick sah das Camp recht normal aus. Wie im Camp der Central Pacific wurde hier Schiene um Schiene verlegt und mit wenigen gezielten Hammerschlägen an den Schwellen be festigt. Auf den Waggons wimmelte es von Männern, die Schienen hoch wuchteten und auf Pferdekarren luden. Einer sprang auf den Wagen, trieb das Pferd zum Galopp bis nach ganz vorne zum Ende des Schienenstranges und hielt es dort an. Sofort hoben zehn Män ner eine Schiene herunter, legten sie an ihren Platz, hämmerten sie fest, und schon kam der nächste Wagen mit der nächsten Schiene. Es ging hier schneller vorwärts als bei der Central Pacific, die sich jeden Meter durch die Berge mit Tonnen von Schwarzpulver hatte frei sprengen müssen. Und es gab keine chinesischen Arbeiter, nur Wei ße. Und Soldaten. Sie waren überall. Sie patrouillierten um das Lager, schwerstens bewaffnet, als erwarteten sie jederzeit einen Angriff. Und als Fu Long einige Weiße musterte, die in der Nähe Holzschwellen von ei nem Wagen auf den Boden luden, sah er nur verbissene, finstere Ge sichter. Abgesehen von dem Lärm der Hämmer, dem Dröhnen der Schienen und dem Fauchen der Lokomotive herrschte eine seltsame Stille. Von den notwendigen Befehlen abgesehen, sprach hier kein Mensch, und Fu Long spürte, wie ihm eine Gänsehaut über den Rücken kroch. Die Weißen redeten immer, vor allem bei der Arbeit. Laut, grob und roh. Aber diese hier nicht. Er spürte ihre Blicke im Rücken, aber sie riefen ihm nicht einmal eine Schmähung zu. Er war jetzt so nervös, dass selbst eine Beleidi
gung ihn eher beruhigt als verärgert hätte. Zwei Soldaten brachten ihnen die Pferde, und sie prüften Sättel und Zaumzeug und saßen auf. Es war lange her, dass Fu Long gerit ten war, und er fühlte sich unbehaglich. »Wohin jetzt, Meister?«, fragte er. »Wohin?«, wiederholte Li. »In den Wald, wohin denn sonst?«
23.
Colorado, 1867 Vergiss mich, dachte das Wesen, das einmal Francis Carlton gewesen war. Vergiss, dass ich existiere. Denk an etwas anderes. Träum heute Nacht nicht von mir. Um ihn herum regten sich die anderen Schläfer. Es war kein menschliches Erwachen. Aus tiefster Starre schlugen sie plötzlich die Augen auf und erhoben sich. Ihre Körper schienen sich neu zu formen, zum Leben gezwungen durch einen Willen, der ihnen nicht gehörte. Risse in der borkigen dunklen Haut schlossen sich. Das Wissen strömte wie Wellen zwischen den Schläfern, und seine Ge danken waren ihre. Vergiss uns. Träum heute Nacht nicht von uns. Drei der Körper blieben reglos liegen: Neugeborene, deren Geist zu schwach gewesen war. Zerbrochene Gefäße. Hunger regte sich in ihm; ein Hunger, der durch Blut nicht gestillt werden konnte. Er fühlte, wie sich seine Hände zu Klauen krümm ten. Der winzige Fetzen Menschlichkeit in ihm, der sich noch erin nerte, einmal Francis Carlton gewesen zu sein, wimmerte in wortlo sem Entsetzen, als sich die Klauen in das tote Fleisch der Zerbroche nen gruben, doch er hatte keine Chance gegen den Hunger. Die Älteren hielten sich zurück, als die Jüngeren die toten Körper zerrissen. Doch ihre Gedanken liefen wie Wellen über das Schlacht feld. Wir sind gekommen, um vergessen zu werden. Wir sind gekommen, um uns zu befreien.
Einer der Jüngeren beteiligte sich nicht, obwohl der Hunger auch in ihm tobte. Er beobachtete das Gemetzel aus erloschenen Augen und wischte sich das Blut aus Mund und Nase. Dann wandte er sich ab und huschte in einen der endlosen verzweigen Gänge in der Höhle. Die Älteren hielten ihn nicht zurück. In einer der Höhlen kauerte angekettet ein nackter Mann. Der Jün gere kroch zu ihm hin und strich ihm fast zärtlich über die schwar ze, verdreckte, scheußlich vernarbte Haut. Der Mann zuckte zusam men und versuchte auszuweichen. Seine Augen waren weit aufge rissen, aber er schrie nicht. Er konnte nicht mehr schreien, seit er kei ne Zunge mehr hatte. Aber er konnte noch wimmern wie ein Tier. Der Jüngere streichelte ihn, und seine Hände krümmten sich zu Klauen. »Jules«, wisperte er, und dann riss er ihm die Haut in Fetzen.
Von Kai-Xuans Maultier waren nur noch ein paar schwarze Fleisch fetzen über einem dunklen Gerippe übrig. Käfer und Fliegen krab belten über die Knochen. Die Aasfresser hatten sich schnell geholt, was ihnen zustand. Noch ein paar Wochen, und auch die Knochen würden verschwunden sein. »Wölfe vermutlich«, sagte Li, als er sein Pferd an den Überresten vorbeitrieb. Fu Long nickte, obwohl er nicht recht daran glaubte. Im Gegensatz zu Li, der lediglich annahm, dass der amerikanische Leutnant sie hatte loswerden wollen, hielt er es nicht für unwahrscheinlich, dass in diesem Wald irgendetwas Unheimliches war. Die Gesichter der Eisenbahnarbeiter hatten zu deutlich ihre Angst verraten. Und Fu Long wusste zu viel über sie, um sie für Feiglinge zu halten. Er hielt auch sich selbst nicht für einen Feigling. Aber er fuhr trotz dem bei jedem Knacken zusammen, und seine Hände, die sich um die Zügel krampften, waren schweißnass.
»Wie sollen wir ihn nach einer Woche noch finden, Meister?«, fragte er. »Wenn er könnte, wäre er doch zu seinem Haus zurückge kehrt.« »Vielleicht liegt er mit gebrochenem Knöchel in einer Höhle«, sag te Li und ahnte nicht, dass er damit die Wahrheit zumindest streifte. »Stell dir sein Gesicht vor, wenn er seinen Retter sieht.« Fu Long antwortete nicht. Sie drangen jetzt tiefer in den Wald vor. Die Bäume rückten näher an sie heran und schlossen das Licht aus. »Es wird bald dunkel«, sagte er nervös. Li trieb unbeirrt sein Pferd an. »Dann zünden wir ein Feuer an.« Die Leibwächter folgten, gebunden durch Ehre und das Wissen, dass sie ohne Hilfe in diesem Land keine Chance hatten. Fu Long blickte sich jetzt häufiger unbehaglich um. Im grauen No vemberlicht wirkten die Bäume finster und bedrohlich, und unter den Zweigen herrschten konturlose Schatten. War da rechts eine Be wegung? Er blinzelte und kniff die Augen zusammen, um besser se hen zu können, aber da war nichts. Oder doch? »Meister …« »Ja, Fu Long?« Li bewies eine übermenschliche Geduld mit seinem Schüler. »Ich glaube, wir werden verfolgt, Meister.« Li Si-Wen hielt sein Pferd an. »Wo?«, fragte er knapp. Fu Long zeigte nach rechts. Li nickte dem ersten Leibwächter zu, und dieser trieb sein Pferd zwischen die Bäume, ohne auch nur eine Miene zu verziehen. Sie sahen zu, wie er das Pferd durch das Unterholz trampeln ließ und gelegentlich mit dem Schwert in einen Busch fuhr. Aber nichts regte sich, außer einer Krähe, die in der Nähe verärgert krächzte. Der Leibwächter kehrte zurück und schüttelte den Kopf, doch im gleichen Moment sah Fu Long eine Bewegung im Unterholz. »Da!«
Für eine Sekunde dachte er, es sei ein Tier, das zwischen den Äs ten hervorbrach, aber dann erkannte er, dass es sich um einen schwarzen Menschen handelte, der wie ein Wilder in Felle gehüllt war. Die beiden Leibwächter reagierten so schnell wie Falken. Sie sprangen von ihren Pferden und auf den Mann zu. Der versuchte zwischen ihnen hindurch zu tauchen, hatte aber keine Chance. Ihre Hände schlossen sich um seine Arme und zwangen ihn zu Boden. »Frag ihn, wer er ist«, sagte Li. Fu Long nickte. »Wer bist du?«
Sein Name war Freeman. Nachdem er seine Panik, die vier Chinesen könnten Männer des Gesetzes sein, überwunden hatte, führte er sie zu seinem Lager. Er redete ununterbrochen, faselte etwas von längst vergangenen Morden auf einer Plantage, von Steckbriefen, die doch sicherlich noch an allen Bahnhöfen und Sheriffbüros hingen, und von seinem Leben hier oben in den Bergen, wo ihn nie ein Sheriff finden würde. Fu Long sagte ihm nicht, dass er auf seinen Reisen keinen einzigen Steckbrief gesehen hatte und dass die Männer, die ihm davon vor Jahrzehnten erzählt hatten, wohl eigene Gründe für diese Behaup tung gehabt hatten. Er übersetzte die wirren Monologe Freemans geduldig für seinen Meister, und der hörte ebenso geduldig zu. »Frag ihn nach Kai-Xuan«, sagte er schließlich, als die Geschichten langweilig wurden und sich zu wiederholen begannen. »Ja, Meister.« Das war der Zeitpunkt, an dem Freeman zum ersten Mal das Wort Vampir aussprach. »Sie sind hier oben«, sagte er, »leben in einer Höhle zusammen, alle, Paul und Jules und andere, die ich nicht kenne. Sie dienen ihm, diesem … Ding … das sie ihren Herrn nennen. Ich weiß viel über
sie. Sie denken, ich höre nicht zu, wenn sie reden, aber das tue ich … und sie reden im Geist, doch ich kann sie manchmal hören.« Er beugte sich vor wie ein Verschwörer. »Das Ding denkt, es be herrscht ihren Geist … das stimmt nicht. Sie wollen das Ding töten. Sie sind wie Sklaven für das Ding, aber so wie ich auf der Plantage, das Messer in meiner Hand und der Gang ins Schlafzimmer meines Herrn … das werden sie tun … mit Magie, nicht mit dem Messer. Sie werden den Geist des Dinges auslöschen und der eine, der neu bei ihnen ist … der wird die anderen betrügen … ich weiß das alles.« »Wenn hier oben Vampire leben«, stellte Fu Long die offensichtli che Frage, »warum haben sie dich nicht längst getötet?« Freeman bekreuzigte sich hastig. Sein faltiges Gesicht wirkte er schrocken. »Darüber denke ich nie nach. Weil … ich glaube, wenn ich ihre Gedanken sehe, sehen sie vielleicht auch meine … und dann fragen sie sich auch, weshalb sie mich nicht töten.« Li hob die Augenbrauen, als Fu Long seine stockende Übersetzung beendet hatte. »Ich glaube«, sagte er, »in diesem Land gibt es keinen Menschen, der nicht den Verstand verloren hat. Frag ihn noch einmal nach KaiXuan und betone, dass wir eine klare Antwort wünschen.« »Ja, Meister.« Fu Long wandte sich wieder Freeman zu. »Reden wir – bei den Göttern, was ist das?« Er sprang erschrocken auf, taumelte zurück und prallte gegen einen Baum. Neben ihm stellten sich die Leibwächter schützend vor Li. Die Dolche in ihren Händen reflektierten das Licht der Lagerfeu er. Freeman saß als einziger ungerührt am Feuer. Sein Körper war steif, seine Augen glänzten schwarz, als wären sie voller Öl. Er dreh te langsam und ruckhaft den Kopf, so wie eine jener mechanischen Puppen, die Fu Long in der Großen Stadt gesehen hatte. »Das ist Zauberei.« Li blieb hinter seinen Leibwächtern, aber die
Neugier war deutlich in seinem Gesicht zu erkennen. »Nur was die se Zauberei vermag, weiß ich nicht. Glaubst du, dass er uns hören kann?« »Ich bin nicht sicher, Meister.« Fu Long trat vorsichtig einen Schritt vor. Sein Schwert lag neben der Satteltasche auf dem Boden, keine Armlänge von Freeman entfernt. Er ging in die Hocke und streckte die Hand aus. Seine Finger streckten sich, berührten den kühlen Griff des Schwertes. Freemans Kopf zuckte herum. Fu Long hätte vor Schreck beinahe aufgeschrien, doch dann blickte er in dessen Augen, in diese schwarzen, unmenschlichen Seen, und etwas sah ihm daraus entge gen … Gier. Die Gier nach etwas, das längst vergessen ist, das es vielleicht so gar nie gab. Die Sehnsucht nach Leben ist unersättlich, unstillbar. Es sucht die Wärme, die nur im Blut zu finden ist, das doch so schnell erkal tet. Da ist keine Sprache, kein Verständnis, noch nicht einmal Hass, nur Sehnsucht und Gier. Und die Erinnerung an eine Zeit – oder ist es nur ein Traum? –, als das Blut warm war und das Klopfen des Herzens den Rhythmus des Lebens diktierte. Aber auch die Erinnerung vergeht, wenn die Gier erwacht und der Suchende findet. »Fu Long!« Er tauchte aus den dunklen Seen auf, erschöpft wie ein Schwim mer, der sich durch Wellen kämpfen muss, um zum Strand zu ge langen. Seine Knie gaben unter ihm nach. Er stützte sich mit den Händen auf den weichen, kalten Waldboden. Es stimmt. Der Gedanke hämmerte in seinem Kopf. Alles, was Free man gesagt hat, ist wahr. Die Vampire, Magie … mögen die Götter uns gnädig sein … »Was ist los, Fu Long?« Er hörte Besorgnis in Lis Stimme und räusperte sich. Ein Geschmack nach Blut lag auf seiner Zunge. »Weg …«, sagte er heiser. »Wir müssen weg von hier. Er sieht uns …« »Wer sieht uns?«
Fu Long kam auf die Beine. Es fiel ihm schwer, Worte für das zu finden, was er gespürt hatte. »Der Vampir … dieses Ding … er benutzt Freeman, um zu sehen, deshalb lässt er ihn am Leben. Wir müssen weg von hier … bevor er …« Er dachte an die Gier und schüttelte sich innerlich. »Bevor er … uns findet.« Freeman saß immer noch stumm am Feuer. Fu Long achtete sorg sam darauf, ihm nicht in die Augen zu blicken, als er nach seiner Satteltasche und dem Schwert griff. Li band sein eigenes Pferd be reits los und führte es auf die Lichtung. Einer der Leibwächter trat neben Fu Long. Geistesabwesend wollte der ihm seine Satteltasche reichen, doch ein plötzlicher gurgelnder Laut ließ ihn herumfahren. Mit dem Leben verschwanden auch die dunklen Seen aus Free mans Augen. Langsam, beide Hände auf die durchgeschnittene Kehle gepresst, sank er zur Seite. Seine Beine zuckten, die Fersen schlugen rhythmisch auf eine Wurzel. Es klang wie das Schlagen ei nes Herzens … Der Leibwächter wischte den Dolch sorgfältig an ein paar Blättern ab, bevor er ihn wieder einsteckte. Fu Long wandte sich ab und be festigte die Satteltaschen, wohl wissend, dass der Mann richtig ge handelt hatte. Hinter ihm ließ das gurgelnde Geräusch nach und der Rhythmus stoppte. Fu Long schwang sich auf sein Pferd und hoffte, dass die Totenrichter Freeman Gnade schenken würden. Die Trampelpfade, die durch den Wald führten, waren so schmal, dass sie hintereinander reiten mussten. Ein Leibwächter übernahm die Spitze, dann ritt Li, hinter ihm Fu Long und als letzter schließ lich der zweite Leibwächter. Fu Long erinnerte sich an das, was Freeman über die Vampire ge sagt hatte, über ihre Flugkünste und ihre großen Kräfte, und er er tappte sich oft dabei, dass er versuchte, durch die Baumkronen in den nächtlichen Himmel zu blicken, anstatt sich auf tief hängende
Äste zu konzentrieren. Die Pferde waren nervös, tänzelten unsicher zur Seite, wenn sie den Ruf eines Coyoten hörten, und tasteten sich ebenso blind durch die Dunkelheit wie ihre menschlichen Reiter. Nur dort, wo die Bäu me weit auseinander standen und das Mondlicht harsche Schatten auf den Boden warf, ließen sich die nächsten Meter des Weges er kennen. Ansonsten waren Li und Fu Long auf die Aufmerksamkeit des ersten Leibwächters angewiesen, der vor tief hängenden Ästen wartete und ihre Pferde an dem Hindernis vorbeiführte. Das häufige Knacken und ein gelegentliches Stöhnen brachten Fu Long zu der Überzeugung, dass der Leibwächter ebenfalls keine Methode gefun den hatte, um die Äste rechtzeitig zu entdecken. In der Dunkelheit verlor er jegliches Zeitgefühl. Er wusste nicht, ob sie eine Stunde geritten waren oder zwei, wartete nur und hoffte auf das erste Tageslicht, auf den Moment, an dem sich der Himmel rosa färbte und sie endlich in Sicherheit waren. Aber noch lag eine Nacht zwischen ihnen und dieser Sicherheit. Ein Ast knackte laut. Jemand stöhnte und schlug auf dem Boden auf. Ein Pferd wieherte. »Meister?« Fu Long spürte seinen Herzschlag in den Schläfen. Die Bäume waren schwarze Schemen in einer dunkelgrauen Nacht. »Mir ist nichts passiert.« Fu Long hörte das Rascheln von Blättern und das Knirschen von Leder. »Anscheinend kann selbst mein Leib wächter nicht vor jedem tiefhängenden Ast warnen. Zum Glück blieb dir der Anblick meines würdelosen Falls erspart.« »Ja, Meister.« Fu Long war froh, dass Li sein Grinsen in der Dun kelheit nicht sehen konnte. »Soll ich vielleicht die Führung überneh men?« »Nein, dein Kopf ist nicht geeignet für ständige Kollisionen mit harten Gegenständen. Leibwächter Zwei soll den Platz mit Leib wächter Eins tauschen.« »Ja, Meister.«
Fu Long führte sein Pferd zur Seite, um den Leibwächter passieren zu lassen. Der Waldboden war zu weich, um den Hufschlag zu hö ren, aber er spürte den warmen Körper des Pferdes neben sich, als es an ihm vorbei trabte und stehen blieb. »Ich glaube, Ihr seid im Weg, Meister«, sagte Fu Long anstelle des stummen Leibwächters. »Nein, mein Pferd steht zwischen den Bäumen. Es ist genug Platz.« Fu Long sah in die Dunkelheit neben sich. Ein merkwürdig kaltes Gefühl breitete sich in seinem Magen aus. »Wenn es ein Problem gibt«, sagte er, »dann ergreif meine Hand.« Er streckte sie aus, tastete nach dem Leibwächter neben sich und berührte das harte Leder des Sattels. Es war kühl und feucht von der nächtlichen Luft. Niemand saß darauf. Die Kälte in seinem Magen ließ Fu Long zittern. »Meister? Der zweite Leibwächter … er ist weg …« Schweigen antwortete ihm. Für einen furchtbaren, unendlichen Moment glaubte Fu Long allein im Wald zu sein, das letzte Opfer ei ner unheimlichen Kreatur. »Vielleicht«, sagte Li dann doch, »hat ein Ast ihn niedergeschla gen. Wir sollten absteigen und ihn suchen. Leibwächter Eins, komm zu mir.« Wieder legte sich Schweigen über den Wald. Es war kein Laut zu hören, so als wäre das Leben aus diesen Bergen geflohen oder über mannt worden vom Tod. »Fu Long?« Eine mühsam erzwungene Ruhe lag in Lis Frage. »Ja, Meister?« »Es scheint, als wären wir allein.« »Vielleicht sind beide Männer den Ästen zum Opfer gefallen.« Fu Long stieg von seinem Pferd ab und führte es auf Li zu. »Ja, das wird es wohl sein. Wir sollten nicht weiterreiten, sondern
warten, bis der Morgen graut und sie uns wiederfinden können.« »Ein weiser Vorschlag, Meister.« Er hörte, wie Li abstieg und sein Pferd an einen Baum band. Das Tier schnaubte leise. Fu Long tastete sich vorbei an einigen Baumstämmen, stolperte über freiliegende Wurzeln und fand schließlich den Arm seines Meisters. »Hier scheint es recht bequem zu sein«, sagte Li in einem Tonfall, als wären sie Gäste in einem Teehaus. »Setz dich, mein Sohn.« Li hatte ihn noch nie mein Sohn genannt und Fu Long wusste nicht, wie er mit dieser unerwarteten Ehre umgehen sollte. Also ließ er sich mit überkreuzten Beinen nieder und schwieg. Sein Meister war eine Silhouette in der Nacht. Er saß neben ihm, so dicht, dass sich ihre Hemden berührten. Das Rascheln gab Fu Long Sicherheit, über zeugte ihn, dass Li nicht ebenso verschwinden würde wie die Leib wächter. Sie beide, da war er sich sicher, wussten oder ahnten doch zumin dest, dass die Leibwächter nicht von Ästen niedergeschlagen wor den waren. Sie waren ihm zum Opfer gefallen, dem Wesen, das Fu Long aus dunklen Seen entgegen gestarrt hatte, aber trotzdem spra chen weder er noch Li darüber. Was brachte es schon, über das Un heil zu reden, bevor es über einen kam? Damit beschmutzte man nur die eigene Seele. »Es gibt eine Legende«, sagte Li schließlich, »die man sich in den Klöstern des Westens erzählt. Sie handelt von einem Dämon namens Kuang-shi. Ist dir der Name bekannt?« »Nein, Meister.« »Vor fast zweitausend Jahren soll er im Westen geherrscht haben. Sie nannten ihn den Sohn des Wolfes, und die Stadt, die sie ihm er richteten, bestand aus Gold.« Fu Long blickte in den Schatten, der Lis Gesicht war. »Sie bauten eine goldene Stadt?«
»Ja, mein Sohn, eine goldene Stadt der Vampire. Es gab dort auch Menschen, aber die waren Sklaven oder Vieh, um den Hunger der Vampire zu stillen. Ihr Reich währte eine lange Zeit, doch dann ver schwanden sie. Manche sagen, dass sie in ihren Träumen noch heute über uns herrschen.« »Wieso ist das Reich verschwunden, Meister?« Fu Long begriff, weshalb Li die Geschichte erzählte. Er hatte eine Möglichkeit gefun den, sich mit der Gefahr auseinander zu setzen, ohne sie zu erwäh nen. »Ein Mann hat das Reich vernichtet, so heißt es zumindest. Ein einzelner Mann …« »Wie hat er es vernichtet?« »Ich weiß es nicht, aber es ist ihm gelungen. Ist das nicht Hoffnung genug?« Fu Long schwieg. Er sah keine Hoffnung in einer diffusen Legende aus einer längst vergessenen Zeit, aber das ließ er unausgesprochen. Stattdessen räusperte er sich und sagte: »Meister, ich möchte Euch danken für die Lehren und die Weisheit, an der ihr mich teilhaben ließet. Ich danke Euch für jeden Tag, den ich in Eurer und der Ge genwart Eurer Tochter verbringen durfte. Selbst wenn wir das Licht des Morgens nie wieder erblicken sollten, so bin ich doch glücklich, mein Leben in Euren Dienst gestellt zu haben.« Er wollte sich verneigen, aber Lis Hand hielt ihn zurück. »Nein, verneige dich nicht vor mir. Meine Rache hat mich hierher geführt, nicht meine Weisheit, aber du bist der Wut nicht verfallen. Du bist ein weiserer Mann als ich, mein Sohn, und deine Freund schaft ehrt mich.« Fu Long schüttelte den Kopf, nicht gewillt, seinen Meister diese Worte sagen zu hören. Er öffnete den Mund, um zu antworten und spürte, wie etwas leicht wie Seide über seine Wange glitt. Abwesend wollte er es – einen Nachtfalter? Ein Blatt? – mit der Hand beiseite wischen. Seine Finger berührten etwas Kaltes, Trockenes, das brü chig wie Pergament und doch so hart wie Leder war. Die Erkenntnis
stach wie ein Messer in seinen Kopf. »Es ist hier!« Sein Schrei kam ungewollt, aus reinem Instinkt. Er stieß seinen Meister zur Seite und spürte Klauen heiß und scharf auf seinem Rücken. Etwas kreischte, Äste brachen und ein Schatten glitt über Fu Long hinweg. Er hörte, wie Li sein Schwert zog. »Nein, Meister, nicht kämpfen. Wir müssen weg!« Er griff nach Lis Jacke und zog ihn an den Bäumen vorbei. Der Schatten blieb über ihnen, mal weiß leuchtend im Sternenlicht, mal schwarz und unförmig im Schatten der Blätter. Fu Long wusste, dass er mit ihnen spielte, dass er sie auf dem Weg entlang trieb, den er für sie erwählt hatte, aber es gab keinen Ausweg. Als er die Leibwächter sah, verlor er den Boden unter den Füßen und stürzte. Sein Kopf schlug gegen einen niedrigen Ast. Für einen Augenblick wünschte er sich, das Bewusstsein zu verlieren. Aber das geschah nicht, und der vom Mondlicht erhellte Anblick der zer fleischten Männer mit ihren zerfetzten Kehlen stand wie ein Mahn mal vor seinem inneren Auge. Über ihm kreischte der Schatten, als wolle er ihn antreiben, ihn zwingen aufzustehen und die Jagd fortzusetzen. Fu Long bewegte sich nicht. Wenn so sein Ende aussah, dann sollte es jetzt passieren, wo er noch einen Hauch von Würde hatte und nicht in blinder To desangst erstarrt war. Man kann dem Tod nicht davon laufen, dachte er müde, und ich werde es auch nicht tun. Erst als er Lis Schrei hörte, richtete er sich dann doch wieder auf. Der Schatten hatte seinen Meister zu Boden geschleudert und hockte über ihm, eine nackte, haarlose Kreatur, deren Krallen so scharf wie Messer waren. Li hatte beide Hände erhoben und stach mit seinem Schwert auf den fast durchsichtig weißen Körper ein. Die Kreatur kreischte unter den Hieben, ob aus Schmerz oder Ver gnügen war nicht zu erkennen. Ihre langen dürren Arme fuchtelten
scheinbar sinnlos über ihm herum. Fu Long griff nach seinem Schwert und zog es aus der Scheide. Im Gegensatz zu Li war er kein erfahrener Schwertkämpfer. Die Klinge fühlte sich fremd in seiner Hand an. Er schlich sich an die Kreatur heran, deren Kreischen heller und lauter wurde. Sie hockte auf Meister Li wie eine Hure auf einem Freier. Dann hatte Fu Long sie erreicht. Mit beiden Händen umklammerte er sein Schwert, holte aus und … Das Kreischen verstummte. Die Kreatur fuhr herum, starrte ihn plötzlich an. Fu Long starrte zurück in schwarze Seen und in die Er innerung aus Jahrtausenden. Seine Gier war so unfassbar wie sein Alter, sein Gesicht ein Relikt aus einer Zeit, als Menschen nicht mehr als ein Flüstern in den Träumen der Götter waren. In den schwarzen Seen gab es keine Gedanken und keine Gefühle. Wenn die Kreatur ihre Bedeutung jemals gekannt hatte, so hatte sie diese doch längst vergessen. Geblieben war nichts außer der Gier und dem Entsetzen. Fu Long ließ sein Schwert fallen. Die schwarzen Seen zogen an sei ner Seele und drohten sie aus dem Körper zu reißen. Wie, fragte er sich in einem Moment überwältigender Angst, sollte man etwas tö ten, das älter als die Welt war? Die Kreatur streckte ihren Arm aus und strich über sein Haar. Und Fu Long rannte. Wie ein Wahnsinniger rannte er in den Wald hinein, getrieben von Angst und Ekel. Er dachte weder an sich, noch an seinen Meister, nur an das Grauen dieser einen Berührung. Ein Teil von ihm wollte nach Osten laufen, dem Sonnenaufgang entgegen, ein anderer fragte sich, wo Osten sei. Er prallte gegen Äste, riss sich Gesicht und Hände an dornigen Sträuchern auf, stolperte über umgestürzte Baumstämme und hoch stehende Wurzeln und lief doch weiter, das Kreischen der Kreatur in den Ohren. Ein Baum stoppte schließlich seinen Lauf, als er so heftig dagegen
prallte, dass Blut aus seiner Nase schoss und ihm schwarz vor Au gen wurde. Fu Long wusste nicht, wie lange er auf dem Boden gele gen hatte, bis er sich dann doch aufsetzte und zurückblickte, dort hin, wo er immer noch das Kreischen hörte. Er zog die Knie an, umarmte sie, als könne er dadurch die eisige Kälte aus seinem Geist vertreiben und dachte an seinen Meister, der allein dort war, nur er und die Kreatur. Wie entsetzlich musste die Angst sein, die er empfand und wie einsam war es dort, in diesen Minuten, die nur mit seinem Tod enden konnten. Fu Long stand auf und spuckte Blut aus. Seine Augen tränten. Er war sich ziemlich sicher, dass seine Nase gebrochen war. Vielleicht war es dieser Schmerz, der sein Bewusstsein aus der Angst gerissen hatte, vielleicht war es auch nur die Erkenntnis, dass er das nächste Opfer sein würde. Er drehte sich um und ging los, langsamer und vorsichtiger zwar, aber immer noch so schnell, dass er nicht jedem Hindernis auswei chen konnte. Bevor die Angst ihn übermannte, hatte er den richtigen Gedanken gehabt, hatte erkannt, dass man dem Tod nicht davon laufen konnte, egal, wie schnell man war. Man konnte jedoch auf den Tod zu laufen und ihn finden, egal, wie langsam man war …
24. Li hielt so lange aus, wie er konnte. Er krallte die Hände in den Bo den und kämpfte mit zusammengebissenen Zähnen gegen den Schmerz, doch irgendwann wurde es zuviel und er schrie. Für einen Augenblick verschaffte ihm der Schrei Erleichterung, doch dann mischte sich das Kreischen der Kreatur in sein Stöhnen, ekstatischer und orgiastischer als je zuvor. Ihre Krallen hinterließen tiefe, schmale Wunden in seiner Brust. Ihre Zunge leckte über seine Haut und ihre Lippen berührten beinahe zärtlich sein Blut. Li wünschte sich, sterben zu können, doch sein ganz privater Tod der tausend Schnitte schien nicht enden zu wollen. Längst hatte sein Arm keine Kraft mehr, um das Schwert zu füh ren. Es lag nutzlos neben ihm. Die Klinge war verklebt mit schwar zem Blut, doch die Kreatur, von der es stammte, schien den Verlust nicht zu bemerken. Li hatte selbst gesehen, wie sich die Wunden schlossen, kaum, dass er sie geschlagen hatte. Er schloss die Augen und kämpfte gegen den nächsten Schrei. Es war schwieriger, nachdem er einmal nachgegeben hatte, aber er wollte nicht, dass Fu Long als letzte Erinnerung an seinen Meister diese Schreie hörte. Für ihn musste er weiterleben und weiter kämp fen, so lange es ging, denn während die Kreatur mit ihm beschäftigt war, hatte Fu Long eine Chance zur Flucht – und mit jedem Schritt, den er sich entfernte, wurde sein Überleben wahrscheinlicher. Aber es war schwer, so schwer, nicht zu schreien. Der Schmerz, das Kreischen der Kreatur und der Rhythmus ihrer Bewegungen erfüllten sein Universum. Und doch war da immer noch ein kleiner Teil, eine Ecke in seinem Bewusstsein, die davon unberührt blieb und irgendwie die Kraft fand, dem Entsetzen zu wi derstehen, das seinen Geist hinwegzufegen drohte. In diesem Teil
lebte Xia-Ji und inmitten des Horrors war es ihr Gesicht, das vor sei nem Auge stand und die Kreatur verblassen ließ. Ich hätte dich nicht hierher holen sollen, dachte er, nicht in diesen Schmutz. Aber wenn der letzte Mensch, der mir in dieser Welt etwas be deutet, überleben soll, dann brauche ich die Kraft, die in der Erinnerung an dich steckt. »Meister?« Ich habe nie bemerkt, wie gut ihr zusammen gepasst hättet, erst als ich Fu Longs Brief las, wurde mir das klar. Du hättest dafür gesorgt, dass er sich nicht zu wichtig nimmt, wie er es gerne tut, wenn ihm die Bedeutung seines Amtes klar wird. »Meister?« Du … Li stutzte, als die Veränderungen langsam an sein Bewusstsein drangen. Der Druck auf seinem Körper war ebenso verschwunden wie das irrsinnige Kreischen der Kreatur. Seine Beine bewegten sich, und er schien zu gehen. Er öffnete die Augen. Sein Kinn lag auf seiner Brust, Blut lief aus tiefen Wunden über seine Haut und färbte seine Hose schwarz, sei ne Füße schleiften über den Boden, aber trotzdem bewegte er sich. Verwirrt drehte er den Kopf und entdeckte Fu Long, der seinen Arm um die Schultern gelegt hatte und ihn stützte. »Du?« »Meister, endlich hört Ihr mich. Ich weiß, die Kreatur hat Euch schwer verletzt, aber wenn Ihr mir nicht helft, dann wird sie ihr Werk vollenden können.« Li konzentrierte sich auf seine Beine, zwang sie zur Bewegung und hörte Fu Long erleichtert aufatmen. »Wo ist sie?«, fragte er, als die Schmerzen in seiner Brust so weit zurückgegangen waren, dass er sich einen vollständigen Satz zu traute. »Ich weiß es nicht. Als ich zurückkam, war sie verschwenden. Ihr
lagt allein und bewusstlos vor mir.« »Du hättest nicht zurückkommen sollen. Ich hätte dir mehr Weis heit zugetraut.« »Ja, Meister.« Li hörte den Stolz in seiner Stimme, so wie er zuvor das Grinsen ›gehört‹ hatte, als der Ast ihn vom Pferd warf. Er wollte ihm das sa gen, aber eine Welle aus Schmerz und Schwindel ließ ihn zusam mensacken. Fu Long fing ihn auf und zog ihn weiter den Weg entlang. »Ihr dürft jetzt nicht aufgeben, Meister. Wir müssen nur die Nacht über leben, dann wird alles wieder gut. Ich werde einen Arzt für Euch finden, und wir kehren diesen Bergen den Rücken und fahren zu rück nach China.« »Kai-Xuan.« Li stützte sich schwer auf Fu Long und wartete dar auf, dass der Schwindel nachließ. »Kai-Xuan«, sagte er dann. »Ich werde diese Berge nicht eher ver lassen, bis sein Körper vor mir liegt.« Fu Long fing sein Gewicht auf. »Ihr seid so stur wie ein Maultier, Meister.« »Das ist wahr.« Er sah auf, als Fu Long neben ihm plötzlich stehen blieb. »Hört Ihr das, Meister?« Einen Moment hörte Li nichts außer seinem eigenen, hämmernden Herzschlag, dann drang ein anderes Geräusch zu ihm durch: Stim men, die entfernt zu singen schienen, als sprächen sie ein Gebet. Ein rötliches Schimmern lag über den Baumwipfeln. Li glaubte einen Moment an die Dämmerung, bis er erkannte, dass es sich um Feuer handelte – sehr große Feuer. »Da sind Menschen«, sagte er. Fu Long nickte und ging los, dem Schein entgegen. »Wir müssen sie um Hilfe bitten.« Er beschleunigte seine Schritte. Li hätte beinahe geschrien, als er
stolperte und der Schmerz wie eine Lanze in seine Brust stach. Aber er biss die Zähne zusammen und schwieg. Der Feuerschein kam näher, der Gesang wurde lauter. Li war be reits lange genug in Amerika, um die englische Sprache auch gesun gen zu erkennen, aber das, was er hörte, hatte nicht die geringste Ähnlichkeit damit. Es waren abgehackte, gutturale Laute, die sich nur schwer in eine Melodie einbinden ließen. Keine Sprache, die er jemals gehört hatte, klang so, und er konnte sich nicht vorstellen, dass menschliche Zungen in der Lage waren, diese Laute auszuspre chen. »Was ist das für eine Sprache?«, fragte er, ohne wirklich eine Ant wort zu erwarten und spürte, wie Fu Long unter ihm die Schultern hob. »Vielleicht polnisch. Ich habe gehört, dass viele Polen in den Ber gen als Goldsucher unterwegs sind.« »Und diese polnischen Goldsucher beten nachts singend an großen Feuern?« Li sah ihn stirnrunzelnd an. »Ich weiß nichts über dieses Volk, Meister.« »Dann lass uns trotzdem hoffen, dass es Polen sind.« Dass es keine Polen waren, wurde Li klar, als sie nahe genug an die Feuer herangekommen waren, um die Männer und Frauen zu erkennen, die nackt zwischen ihnen tanzten und sangen. Einige wa ren Indianer, andere Weiße. Sie hatten ihre Körper mit Farbe – oder Blut? – beschmiert und tanzten langsam, als wären sie in Trance. Leichen lagen auf dem Boden, sorgfältig angeordnet und bildeten bestimmte Muster, die in dunklen Linien weitergeführt wurden und sich in den Mustern der Tanzenden wiederfanden. »Ich glaube nicht, dass sie uns helfen werden«, sagte Fu Long ne ben ihm leise. »Nein, das …« Li unterbrach sich. Seine Hand krallte sich so fest in Fu Longs Schulter, dass der scharf die Luft einzog.
»Meister, was …« Seine Stimme erstarb, als er sah, was auch schon Li bemerkt hatte. Obwohl beide ihm noch nie gegenüber gestanden hatten und sein Gesicht nur von Zeichnungen kannten, wussten sie sofort, wer es war, der dort zwischen den Flammen stand und die Leichen mit Blut beschmierte. »Kai-Xuan …« Li wartete darauf, etwas zu fühlen. Triumph, Rachsucht, Trauer oder Wut, etwas davon oder alles zugleich hatte er erwartet, aber da war nichts außer einer bleiernen Müdigkeit, die seinen Geist nach unten ziehen wollte, wohin, das wusste er nicht. Er hatte Kai-Xuan gefunden, doch jetzt, wo er nur einen Steinwurf weit entfernt war, fragte er sich, warum er sich je die Mühe gemacht hatte ihn zu su chen. Xia-Ji war tot und würde es immer bleiben, und in den Geschich ten, die man sich vielleicht schon jetzt in den Teehäusern Pekings er zählte, würde ihr Leben untrennbar mit seinem Hass verbunden sein. Er hatte ihr Andenken besudelt. Er hatte versagt. »Lass uns gehen, Fu Long.« Er wollte sich abwenden, aber sein Schüler ließ es nicht zu. »Nein, Meister, Ihr seid vielleicht zu schwach, um Eure Rache zu vollenden, aber ich bin es nicht.« Er ließ Li vorsichtig zu Boden sin ken und zog einen kleinen Dolch aus seinem Gürtel. »Ich widme Kai-Xuans Tod Eurer Tochter Xia-Ji.« »Warte!« Li richtete sich auf und griff nach seinem Hemd, aber der Stoff glitt durch seine Finger. Fu Long verschwand mit zwei Schrit ten zwischen den Bäumen, bevor er ihm erklären konnte, dass es nicht mehr wichtig war. Li benötigte mehrere Anläufe, bis er schließlich schwankend und zusammengekrümmt auf seinen Füßen stand. Der Weg zu den Feu ern war nicht weit, aber er wusste, dass jeder Schritt zur Tortur wer den würde. Trotzdem setzte er einen Fuß vor den anderen, stur, wie das Maultier, mit dem Fu Long ihn so treffend verglichen hatte. Und mit jedem schmerzerfüllten Atemzug kam er den Feuern ein biss
chen näher.
Was tue ich hier? Fu Long hatte den Rand der Lichtung erreicht und war hinter einem Strauch in Deckung gegangen. Der Griff des Dol ches war glitschig in seiner Hand, der Schweiß sammelte sich auf seiner Stirn. Ich führe die Aufgabe meines Meisters zu Ende, beantwortete er seine eigene Frage, ob er es möchte oder nicht. Er wusste, dass Li im Sterben lag, ebenso wie Li selbst das wusste. Die Wunden waren zu tief und zahlreich. Selbst mit der Hilfe eines Doktors konnte er kaum überleben. So würde er den Tagesanbruch nicht mehr erleben, und wenn er schon in diesen von den Göttern verlassenen Bergen sein Leben beenden musste, dann sollte sein ärgster Feind ebenfalls den Tod finden. Fu Long schob sich vorsichtig auf die Lichtung. Wie ein Bettler, der durch den Staub kriecht, robbte er durch das hohe, nasse Gras. Die Gesänge waren so laut, dass niemand ihn hören konnte. Er spür te ein seltsames Kribbeln auf der Haut, so wie man es manchmal während eines Gewitters empfand. Die nackten Tänzer schwankten jetzt, wirkten erschöpft und abwe send. Fu Longs Mund war trocken, als er in den ersten Lichtkreis kroch und sich bemühte, nicht auf die Leichen zu blicken, die vor ihm lagen. Vorsichtig hob er den Kopf. Kai-Xuan stand etwas von ihm entfernt. Er schien wacher zu sein als die anderen, denn er sah sich immer wieder um, als habe er etwas zu verbergen. Fu Long senkte rasch den Kopf und würgte, als er den Verwesungsgestank der Leiche roch. Er hörte das Kreischen einen Lidschlag, bevor die Kreatur über ihn hinweg glitt und zwei Tanzenden mit einer beiläufigen Bewegung die Köpfe abriss. Fu Long duckte sich, sah aus den Augenwinkeln, wie die kopflosen Gestalten zu Staub zerfielen.
Vampire, dachte er verstört. Sind sie etwa alle Vampire? Die anderen reagierten sofort. Ihre Hände fischten glühende Lan zen aus den Flammen und schleuderten sie der Kreatur entgegen. Sie mussten seit Stunden in der Glut liegen. Fu Long roch verbrann tes Fleisch. Der Dolch in seiner Hand erschien ihm auf einmal lä cherlich. Zehn, dann zwanzig Lanzen bohrten sich in die Kreatur, nagelten sie am Boden zwischen den Leichen fest. Ihr Kreischen steigerte sich zu einem Inferno. Fu Long krümmte sich darunter zusammen, spür te, wie Blut aus seinen Ohren über seine Wangen lief. Die Tanzenden hoben ihre verkohlten Hände, sangen über das Kreischen hinweg – alle, bis auf Kai-Xuan, der unbemerkt hinter die Kreatur getreten war. Seine Hände waren unverletzt, und er schien nicht das Gleiche zu singen wie die anderen. Fu Long richtete sich auf und taumelte an den Feuern vorbei. Die Erde bebte unter ihm, ein tiefes Grollen brachte seinen Körper zum Vibrieren. Kai-Xuan war nur noch wenige Schritte entfernt, als die Kreatur plötzlich zu brennen begann. Tiefschwarze Flammen über zogen ihren Körper und hüllten sie ein. Die Tanzenden wichen zu rück, nur Kai-Xuan trat vor. Seine Arme waren ausgebreitet, als wol le er die Kreatur umarmen. Fu Long sah seine Chance. Drei Schritte nahm er Anlauf, bevor er, den Dolch in beiden Händen, in Kai-Xuans Rücken sprang. Die Klin ge drang tief ein und brach am Rippenbogen ab. Kai-Xuan wurde von dem Schwung nach vorne getragen. Seine Hände tasteten blitz schnell nach dem Dolch, fanden Fu Long und pressten ihn an sich. Der schrie, als beide Körper dem schwarzen Feuer entgegen fielen. Er schlug mit den Fäusten nach den kalten Händen Kai-Xuans, doch der ließ nicht los, riss ihn mit sich, als müsse er im Tod noch ein letz tes Leben nehmen. Dann hüllte das Feuer Fu Long ein. Es ist merkwürdig, den eigenen Körper verbrennen zu sehen. Der Schmerz ist dumpf, so als würde man sich von einem alten Freund verabschieden, von dem man weiß, dass man ihn nie mehr wiedersehen
wird. Am Ende, kurz bevor den Flammen die Nahrung ausgeht, krümmt der Körper sich zusammen, bis er nur noch halb so groß ist wie zuvor. Ich wusste nicht, dass das passiert, aber jetzt glaube ich, dass die Zeit gekom men ist, das Feuer zu verlassen. Es hat einen Körper und einen Geist ver nichtet und zwei Körper und zwei Geister vereint. Einen davon muss ich töten, das weiß ich. Ich weiß viele Dinge, sehr viele Dinge. Fu Long warf sich aus den schwarzen Flammen, den Tanzenden entgegen. »Tötet ihn!«, schrie er und griff nach einem der brennenden Baum stämme, die das Feuer nährten. Die Kreatur taumelte aus der Schwärze hervor, nicht kreischend oder tobend, sondern zielgerichtet. Dem ersten Tänzer brach sie das Genick, den zweiten stieß sie ins Feuer und dem dritten bohrte sie eine der glühenden Lanzen ins Herz. Fu Long holte aus und schleuderte den Baumstamm. Er drehte sich in der Luft, prallte gegen die Kreatur und warf sie zu Boden. Die roten Flammen leckten über die bleiche Haut, färbten sie schwarz. »Wer bist du?«, fragte Kai-Xuan aus ihrem Mund, aber Fu Long antwortete nicht. Er spürte ihre Schwäche, erhob sich vor ihr in die Luft und trat nach ihrem Gesicht. Sie wich aus, aber er hatte die Be wegung vorhergesehen, kannte den Geist darin zu gut, um sich täu schen zu lassen. Dieses Mal traf der Tritt sie in die Brust, und zwei Tanzende, die bis jetzt nur zugesehen hatten, warfen sich gegen sie und trieben sie dem Feuer entgegen. »Wer bist du?«, schrie Kai-Xuan. Fu Long landete vor der Kreatur auf dem Boden. Seine Hand schloss sich um den Dolch in seinem Rücken und zog ihn heraus. Sein Griff war hölzern. Er drehte ihn, bis der Rest der abgebroche nen Klinge tief in seine Finger schnitt. »Ihr Name war Xia-Ji, Tochter von Li Si-Wen, und ich hätte mein Leben für sie gegeben.«
Er stieß zu. Selbst seine übermenschliche Kraft hätte beinahe nicht ausgereicht, um das stumpfe Holz in die Brust der Kreatur zu treiben, doch nach einem Moment brachen die Rippen, und der Griff fand sein Ziel. Kai-Xuan sank in die Knie. Er schrie nicht, fluchte nicht, brach ein fach nur zusammen, schwankend, auf Hände und Knie gestützt. Der Körper der Kreatur, der in den Jahrtausenden vergessen hatte, wie es war zu sterben, zerfiel nicht zu Staub, sondern wurde nur lang sam blasser, bis der Boden durch ihn hindurch schimmerte und er schließlich, endlich verschwand. Fu Long wandte sich ab und sah zu den anderen Vampiren, die unsicher vor ihm zurückwichen. Er verstand ihre Verwirrung, wuss te selbst nicht genau, weshalb das Ritual auf diese Weise geendet hatte. Kai-Xuans Geist war endgültig in der Kreatur vergangen, so wie der Geist der Kreatur im schwarzen Feuer geendet hatte. Und jetzt lebte er, Fu Long, im Körper Kai-Xuans weiter, ein menschli cher Geist in der Hülle eines Vampirs. Vielleicht war es ein grausa mes Spiel der Götter, vielleicht eine Gnade, die er noch nicht ver stand. In gewisser Weise jedoch hatte er die Rache Lis zu Ende ge führt – und mehr konnte man von einem Schüler nicht verlangen.
Fu Long fand seinen Meister zwischen zwei Eichen. Er lag am Bo den, zu schwach, um zu sprechen, zu schwach, um auch nur noch eine Bewegung zu machen. Fu Long schloss ihn in die Arme und hielt seinen sterbenden Körper fest, bis der letzte Atemzug in einem Seufzer endete. Erst dann, als Fu Long die gebrochenen Augen schloss, fiel ihm auf, was Li als Letztes in seinem Leben gesehen hatte – Kai-Xuans tränenüberströmtes Gesicht.
Epilog Wenn ich an mich selber schreibe, brauche ich keine Schnörkel. Dann den ke ich nur an ein Leben, das vergangen ist, und an einen zweiten Brief, der in einem leeren Haus in Peking liegt. Ich weiß nicht, ob ich je dorthin zu rückkehren werde oder ob ich es überhaupt möchte. Es gibt wenig dort, was mich noch interessiert. Dieser neue Körper stellt mich vor neue Herausforderungen, die wohl je den Meister überfordern würden. Nun, vielleicht nicht Li, aber er war im mer etwas Besonderes. Ich bin jetzt Linkshänder, das war die erste Überraschung dieses Körpers. Die zweite war die Stille, die mich umgibt, wenn ich mich nicht bewege. Es war mir nie klar, dass Blut ein Geräusch macht, wenn es durch den Körper fließt und dass der eigene Herzschlag ständig gegenwärtig ist, ebenso wie das Gefühl des Atems, der über die eigene Unterlippe streicht. Zu spüren, dass all das vergangen war, löste ein Gefühl der Einsamkeit aus, wie ich es noch nie gekannt habe. In dieser ersten Nacht, als ich meinen neuen Körper bekam, ließen mich die Vampire in Ruhe. Ich glaube, es ist meine Ausstrahlung, die sie ver stört. Eine menschliche Seele in einem toten Körper ist widernatürlich. Niemand von ihnen hat so etwas je erlebt. Ich weiß das, weil ich alles über sie weiß. Der Biss der Kreatur, der unse re Körper verbindet, lässt mich in ihren Geistern lesen, doch sie erkennen nichts in meinem, außer, dass ich dort bin. Das erschreckt sie. Ich wartete, bis sie den Ritualplatz verlassen hatten, bevor ich den langen Weg durch den Wald antrat. Die Dunkelheit war jetzt ein Freund, ich empfand ihre Gesellschaft als angenehm und schützend. Schließlich er reichte ich Freemans Lager, holte eine Schaufel und mehrere Stangen Dy namit. Ich begrub Meister Li und meinen eigenen zerstörten Körper, bevor ich zur Höhle ging, das Dynamit anbrachte und den Eingang sprengte.
Die Vampire im Inneren werden auch ohne Blut nicht vergehen. Sie wer den schlafen, und eines Tages werde ich vielleicht hierher zurückkehren, um über sie zu herrschen. Es ist ein merkwürdiger Gedanke, so etwas tun zu wollen, und ich befürchtete, dass das Feuer nicht alles vernichtet hat und dass der Dämon dieses Körpers ein Teil von mir geworden ist. Aber ich schweife ab. Ich verbrachte den Tag in einer kleinen Höhle nördlich des Eisenbahner lagers und träumte von Kuang-shi und der goldenen Stadt der Vampire. Der Mann, der gekommen war, um sie zu zerstören, war ebenfalls dort, aber als ich erwachte, konnte ich nicht sagen, ob ich ihm helfen oder ihn stoppen wollte. In der Nacht stahl ich ein Pferd und ritt nach Süden, warum, weiß ich nicht. Vielleicht liegt es daran, dass unsere Reise uns einst von Peking südlich nach Hong Kong führte und am Ende ein Leben endete und ein neues begann. Vielleicht liegt es aber auch nur an der Straße, die im Süden breiter zu sein scheint als im Norden. Ich werde also nach Süden gehen und dann entscheiden, wohin mein Weg mich führen soll. In Kalifornien, so glaubte zumindest einer der Vam pire, kann man sich großen Vampirfamilien anschließen und Macht erlan gen. Macht … ich bin mir nicht sicher, ob mich das überhaupt interessiert. Es gibt soviel, das wichtiger ist als Macht und Gold. Diese Weisheit kannte sogar ein junger, arroganter Beamter namens Fu Long. Aber er hatte ja auch einen guten Lehrer…