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»Ein schnelles Ende droht der Kuh, die als erste gegen das Gemolkenwerden protestiert.« Ein Ausspruch von Professor Peder Bjornsen, kurz vor seinem plötzlichen Tod. Dreizehn Tage später stirbt in London der Wissenschaftler Guthrie Sheridan. Ebenfalls ganz plötzlich, ebenfalls an einem Herzversagen... wie es scheint. Zur gleichen Stunde bricht in Dortmund der bekannte Forscher Dr. Hans Luther in einer Telefonzelle tot zusammen. Bill Graham ahnt noch nichts von den mysteriösen Todesfällen oder ihrem gefährlichen Zusammenhang, als er in New York Zeuge des Todessturzes eines Menschen wird. Professor Walter Mayo stürzt aus dem sechzehnten Stock des Hochhauses, in dem sein Labor untergebracht ist... Irgend jemand, irgend etwas hat es auf die Wissenschaftler der Erde abgesehen. Sie müssen sterben, weil sie einer unheimlichen Bedrohung auf die Spur gekommen sind. Den Gedanken-Vampiren...
Ferner liegen vor in der Reihe der Ullstein Bücher: Science-Fiction-Stories 1 (2760) Science-Fiction-Stories 2 (2773) Science-Fiction-Stories 3 (2782) Science-Fiction-Stories 4 (2791) Science-Fiction-Stories 5 (2804) Science-Fiction-Stories 6 (2818) Science-Fiction-Stories 7 (2833) Science-Fiction-Stories 8 (2845) Science-Fiction-Stories 9 (2853) Science-Fiction-Stories 10 (2860) Science-Fiction-Stories 11 (2873) Science-Fiction-Stories 12 (2877) Science-Fiction-Stories 13 (2883) Science-Fiction-Stories 14 (2889) Science-Fiction-Stories 15 (2894) Science-Fiction-Stories 16 (2899) Science-Fiction-Stories 17 (2905) Science-Fiction-Romane: Jeff Sutton: Die tausend Augen des Krado 1 (2812) Sprungbrett ins Weltall (2865) Samuel R. Delaney: Sklaven der Flamme (2828) Cyril Judd: Die Rebellion des Schützen Cade (2839) Eric Frank Russell: Planet der Verbannten (2849) Larry Maddock: Gefangener in Raum und Zeit (2857) Bart Somers: Zeitbombe Galaxis (2872) Welten am Abgrund (2893) Manly W. Wellman: Insel der Tyrannen (2876) Invasion von der Eiswelt (2898) Robert Moore Williams: Zukunft in falschen Händen (2882) H. Beam Piper: NULL-ABC (2888)
Ullstein Buch Nr. 2906 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Titel der amerikanischen Originalausgabe: SINISTER BARRIER Übersetzt von Otto Kühn
Umschlagillustration: Fawcett Umschlaggraphik: Ingrid Roehling Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1939 by Street & Smith, Inc. 1948 by Fantasy Press Übersetzung © 1972 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1972 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3-548-12906-4
Eric Frank Russell
Gedanken-Vampire SCIENCE-FICTION-Roman
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
1 »Ein schnelles Ende droht der Kuh, die als erste gegen das Gemolkenwerden protestiert«, sagte Professor Peter Bjornsen halblaut vor sich hin. Diese etwas ungewöhnliche Bemerkung beruhte auf einer außerordentlich furchterregenden Erkenntnis. Er strich, mit den langen, schlanken Fingern durch das vorzeitig weiß gewordene Haar. Seine Augen, bei deren Anblick man unwillkürlich an Frösche oder Fische erinnert wurde, glänzten seltsam, so als habe ihn ein unbekanntes Fieber gepackt. Er starrte aus dem offenen Fenster seines Büros. Drei Stockwerke tiefer brauste der Verkehr durch die Straßen Stockholms. Aber die Augen des Professors waren ins Leere gerichtet. »Und die erste Biene, die sich dagegen auflehnt, daß man ihr den Honig wegnimmt, stirbt unter dem Schuh des Imkers.« Bjornsen schien das Rauschen des Verkehrs gar nicht wahrzunehmen. Plötzlich weiteten sich seine Augen, Angst sprach aus seinem Blick. Eine unnatürliche Kraft schien ihn zum Fenster zu ziehen, unwiderstehlich, so sehr er sich auch zu sträuben schien. Er hob die Hände, als wolle er sich gegen etwas stemmen. Wie unter einem hypnotischen Zwang folgte sein Blick einer formlosen, farblosen Scheibe, die durchs Fenster herein und zur Decke des Raumes schwebte. Mit einer schier unmenschlichen Anstrengung drehte er sich um und rannte zur Tür. Auf halbem Wege stieß er ein kurzes Ächzen aus, begann zu stolpern, stürzte. Im Fallen streckte er die Hand aus und riß den Terminkalender vom Schreibtisch. Er be-
gann zu keuchen, preßte die Hand gegen das Herz und rührte sich nicht mehr. Der Lebensfunke war erloschen. In einem leichten Luftzug, der plötzlich aufkam und sich gleich wieder legte, flatterte das oberste Kalenderblatt. Es war der 17. Mai 2015. Fünf Stunden vergingen, bevor die Polizei zu Bjornsen kam. Der Gerichtsarzt stellte Herzversagen fest, und das schrieb man auch auf den Totenschein. Auf dem Schreibtisch des Professors fand Polizeileutnant Becker einen Zettel mit einer Notiz in der Handschrift des Toten. Nicht genug zu wissen, ist gefährlich. Kein Mensch ist fähig, sich jede Sekunde des Tages bewußt zu sein, was er denkt; und über das, was er nachts träumt, weiß er so gut wie gar nichts. Ich weiß, daß ich bald sterben werde. Wenn das geschieht, dann muß – »Muß was?« fragte Becker. Er bekam keine Antwort. Die Stimme, die ihm die schockierende Auskunft hätte geben können, war für immer verstummt. Der Leutnant hatte gehört, was der Gerichtsmediziner über die Todesursache gesagt hatte. Er verbrannte den Zettel. Der Professor war eben, so überlegte er, wie alle anderen Wissenschaftler ein komischer Kauz gewesen. Wenn solche Leute alt wurden, dann taten sie manchmal die verrücktesten Dinge. Mußte wohl so sein, bei dem vielen akademischen Wissen, das diese Burschen Jahr für Jahr in sich hineinfraßen. Herzversagen stand auf dem Totenschein, und das war und blieb amtlich. Am 30. Mai befand sich Dr. Guthrie Sheridan auf dem Weg durch die Charing Cross Road in London. Seine Bewegungen waren ruckartig wie die einer me-
chanischen Puppe. Sein Blick war starr in den Himmel gerichtet, während sich seine Beine wie aus eigenem Antrieb bewegten. Er sah aus wie ein Blinder, der den Weg kannte. Als Jim Leacock den Doktor sah, fiel ihm dessen seltsames Benehmen erst nicht auf. Schnellen Schrittes ging er auf ihn zu und wollte ihm schon vertraulich auf die Schulter schlagen, als er entsetzt innehielt. Er blickte in das verzerrte Antlitz eines Menschen, der dem Wahnsinn nahe ist. »Jim! Mein Gott, bin ich froh, dich zu sehen!« sagte Guthrie und ergriff den Arm des anderen. Seine Stimme kam drängend. »Jim, ich muß mich mit jemandem aussprechen, sonst werde ich noch verrückt. Ich habe vorhin etwas ganz Unglaubliches entdeckt. Das hat es in der Geschichte der Menschheit noch nicht gegeben. Es ist einfach unfaßbar. Aber es ist die Erklärung für gewisse Phänomene, die wir bisher überhaupt nicht beachtet haben.« »Was hast du denn entdeckt?« fragte Leacock. Er blickte den anderen neugierig an. »Jim, eines kann ich dir jetzt schon sagen. Der Mensch ist ein Sklave. Er bestimmt weder über seinen Körper, noch über seine Seele. Jedes Tier im Wald ist besser dran –!« Er brach mitten im Satz ab und klammerte sich verzweifelt an den Freund. Seine Stimme wurde schrill. Hysterie klang durch. »Jetzt habe ich es gedacht, jetzt habe ich es gedacht!« Seine Knie knickten ein. »Es geht zu Ende mit mir!« Dann brach er auf dem Gehsteig zusammen. Leacock beugte sich über ihn, öffnete sein Hemd, fühlte nach dem Herzschlag. Er spürte nichts. Das Herz des Mannes hatte aufgehört zu schlagen. Herz-
versagen, wie es schien. Etwa um die gleiche Zeit, am selben Tag, ereilte Dr. Hans Luther ein ähnliches Schicksal. Man hätte es dem kleinen, rundlichen Wissenschaftler nicht zugetraut, daß er so schnell laufen konnte, wenn man es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte. Er rannte durch sein Labor, die Treppe hinunter und hinaus auf die Straße. Immer wieder wandte er den Kopf und blickte über die Schulter zurück. Ein glasiger Ausdruck stand in seinen Augen. Er schleppte sich bis zur nächsten Telefonzelle und rief den Lokalredakteur der Zeitung an, einen Freund. »Vogel, ich habe etwas festgestellt, das von umwerfender Bedeutung ist. Ihr müßt es unbedingt drucken, ganz groß herausbringen, bevor es zu spät ist.« »Könnten Sie das etwas präziser erklären?« fragte Vogel. »Ein breites Band ist um die Erdkugel gespannt, und darauf steht: Betreten verboten!« Schweißperlen liefen von Luthers Stirn herab. »Sehr spaßig«, entgegnete der Redakteur, der das allerdings gar nicht lustig fand, denn sein Gesicht auf dem kleinen Bildschirm des Fernsehtelefons blieb ausdruckslos. Wissenschaftler, das wußte er, hatten manchmal die kauzigsten Einfälle. »Sie müssen mich anhören!« schrie Luther. Mit dem Handrücken wischte er sich über die Stirn. »Sie kennen mich doch. Sie wissen, daß ich nicht lüge, daß ich keine Witze mache. Alles, was ich Ihnen sagen werde, kann ich beweisen. Und ich sage Ihnen, daß unser Planet vielleicht schon seit Tausenden von Jah-
ren eine... ah... ah!« Dann herrschte Stille in der Telefonzelle, nur aus dem Hörer, den jetzt keine Hand mehr hielt, drang die erschreckte Stimme des Redakteurs: »Luther! Luther! Was ist geschehen?« Aber Dr. Hans Luther konnte es ihm nicht sagen. Sein Körper rutschte an der Wand herab auf den Boden der Telefonzelle. Er verdrehte die Augen, die seltsam glänzten, und fiel auf die Seite. Er öffnete den Mund, aber kein Geräusch kam mehr heraus. Er starb in grauenvoller Lautlosigkeit. Der Redakteur schrie immer wieder den Namen des Wissenschaftlers, aber die toten Ohren hörten ihn nicht. Bill Graham hatte keine Ahnung von diesen drei Ereignissen. Die Sache mit Mayo erlebte er jedoch mit. Ganz zufällig wurde er Zeuge des Geschehens. Er ging gerade durch die vierzehnte Straße West in New York, als er völlig grundlos und ohne jegliche Veranlassung in die Höhe blickte. Neben ihm ragte der Wolkenkratzer des Martin Building in den Himmel. Und da sah er die menschliche Gestalt, die gerade an der Fensterreihe des zwölften Stockwerks vorbei herabstürzte. Der Körper überschlug sich in der Luft, und es sah aus, als käme eine Vogelscheuche herunter. Mit einem lauten Klatschen, bei dem sich einem der Magen umzudrehen drohte, prallte die Gestalt auf das Pflaster, wurde durch die eigene Wucht ein paar Meter weiter geschleudert und blieb dann liegen. Es klang, als springe jemand mit beiden Füßen auf eine reife Melone. Die Betondecke des Gehsteigs sah aus, als
habe man einen Kübel roter Farbe ausgekippt. Zwanzig Meter von Graham entfernt blieb eine dicke Frau ruckartig stehen und starrte auf den großen roten Fleck und das formlose Bündel. Ihr Gesicht bekam die Farbe einer nicht mehr ganz frischen Auster. Sie ließ ihre Handtasche fallen, legte sich auf den Gehsteig, schloß die Augen und murmelte Unsinniges vor sich hin. Im Handumdrehen bildete sich ein Kreis aus etwa hundert schreienden und kreischenden Passanten um den Ort der Tragödie. Der Kreis wurde immer enger, weil alle die zerschlagene Leiche sehen wollten. Wer hinten stand, wollte nach vorn, und diejenigen, die sich übergeben mußten, fanden keinen Weg hinaus. Der Tote hatte kein Gesicht mehr. Die Kleidungsstücke, soweit man diese als solche noch erkennen konnte, sahen aus, als hätte man sie durch einen Brei aus gequirlten Heidelbeeren und Quark gezogen. Graham hatte im Krieg schon ganz andere Leichen gesehen. Der Anblick dieses Toten verursachte ihm keine Übelkeit. Er beugte sich über die Leiche. An einer Stelle ragte eine kleine Plastikkarte aus der Kleidung. Es war eine Visitenkarte, schmierig von Blut. Er las den Namen ihres verblichenen Besitzers und stieß einen leisen Pfiff aus. »Professor Walter Mayo! Das kann doch nicht wahr sein!« Er schluckte, blickte noch einmal auf die menschlichen Überreste zu seinen Füßen, dann zwängte er sich durch die Menge, in der es inzwischen zu summen begonnen hatte wie in einem Hornissenschwarm. Er rannte in die Halle des Martin Building, hinüber zu den Personenaufzügen.
Im sechzehnten Stock blieb die Transportscheibe stehen, und Graham sprang auf den Gang hinaus. Er rannte den langen Flur hinunter, bis er Mayos Labor erreichte. Die Tür stand offen. In den Laborräumen befand sich niemand. Nichts deutete darauf hin, daß sich hier etwas Ungewöhnliches abgespielt hatte. Auf einem etwa zehn Meter langen Arbeitstisch standen Apparaturen für einen chemikalischen Versuch. Alles schien vorbereitet zu sein, aber als Graham die Röhren und Glaskolben berührte, waren sie kalt. Offensichtlich war mit dem Experiment noch nicht begonnen worden. Aufgrund der Beschaffenheit und Anordnung der Gefäße und Verbindungsstücke stellte Graham fest, daß hier eine fraktionierte Destillation vorgesehen war. Das Stofftrennungsverfahren sollte in sechzehn Stufen erfolgen. Der Stoff, der verdampft werden sollte, sah aus wie getrocknete Kräuter. Der Luftzug zwischen der Tür und dem geöffneten Fenster bewegte einige Papiere auf dem Schreibtisch des Wissenschaftlers. Graham trat an das Fenster und blickte hinunter. Vier Polizisten in blauen Uniformen hatten sich durch den Ring der Gaffer gedrängt und standen bei dem zerschmetterten Leichnam. Der Krankenwagen war soeben eingetroffen. Graham wandte sich vom Fenster ab und betrachtete die Papiere auf dem Schreibtisch des Professors. Er wußte nicht, wonach er suchen sollte, aber er hatte das unbestimmte Gefühl, daß hier irgend etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Er sah sich noch einmal im Labor um, dann ging er hinaus. Während er in der durchsichtigen Ein-Mann-Aufzugsröhre nach unten
schwebte, sah er in den beiden benachbarten Röhren zwei Polizisten nach oben fahren. In der Halle des Gebäudes stand eine Reihe von Telefonzellen. Nachdem er eine Nummer gewählt hatte, erschien auf der kleinen runden Bildscheibe das Gesicht eines Mädchens. »Mr. Sangster, bitte, Hetty.« »Ja, Mr. Graham.« Das Gesicht des Mädchens verschwand und das eines offensichtlich sehr robusten Mannes erschien. »Mayo ist tot«, berichtete Graham ohne Umschweife. »Er hat sich aus einem Fenster im sechzehnten Stock des Martin Building gestürzt. Der Körper schlug nur wenige Meter von mir entfernt auf. Ich hätte ihn nicht erkannt, wenn ich nicht zufällig eine Visitenkarte gefunden hätte.« »Selbstmord?« »Könnte man meinen«, sagte Graham, »aber ich glaube es nicht.« »Warum nicht?« »Weil ich Mayo sehr gut kannte. Ich habe seit zehn Jahren mehr oder weniger regelmäßig dienstlich mit ihm zu tun gehabt. Wie Sie wissen, ist meine Dienststelle an bestimmten Forschungsaufträgen stark interessiert, und meine Aufgabe war es, die Projekte zu prüfen und die Förderungswürdigkeit festzustellen. Für vier seiner Projekte hat Mayo bereits Geld von uns bekommen.« »Ich weiß«, sagte Sangster und nickte. »Normalerweise sind die Wissenschaftler ziemlich nüchterne Menschen«, fuhr Graham fort. »Und bisher hatte ich von Mayo den Eindruck, daß er durch gar nichts aus der Ruhe zu bringen sei. Sie können mir
glauben, Mayo ist nicht der Typ, dem man einen Selbstmord zutrauen würde. Jedenfalls nicht, solange er alle seine fünf Sinne beisammen hat.« »Das glaube ich Ihnen unbesehen«, sagte Sangster. »Was soll ich also veranlassen?« »Die Polizei hat keinen Grund, diesen Fall nicht wie einen ganz normalen Selbstmord zu behandeln. Ich kann mich nicht einmischen, weil ich für solche Fälle nicht zuständig bin. Ich schlage also vor, von höchster Stelle der Polizei den Auftrag zu geben, diesen Fall ganz besonders gründlich zu untersuchen. Zumindest soll man versuchen, die Hintergründe aufzudecken.« »Ich werde das veranlassen«, sagte Sangster. »Die zuständige Abteilung wird sich darum kümmern.« »Danke«, sagte Graham. »Keine Ursache. Wenn wir an der Richtigkeit Ihrer Entscheidungen jemals Zweifel hätten, würden wir Ihnen andere, weniger wichtige Aufgaben zuweisen.« Er senkte den Blick, und Graham hörte Papier rascheln. »Es gibt noch einen ähnlich gelagerten Fall.« »Was!« rief Graham. »Dr. Irwin Webb ist heute gestorben. Wir hatten uns vor zwei Jahren mit ihm in Verbindung gesetzt. Er sollte für uns ein neues Zielgerät entwickeln, und wir stellten ihm die finanziellen Mittel dafür zur Verfügung.« »Ich erinnere mich gut daran.« »Webb ist vor einer Stunde gestorben. Die Polizei hat uns benachrichtigt, weil man bei seinen Papieren einen Brief von uns gefunden hat.« Sangster machte ein grimmiges Gesicht. »Sehr seltsame Umstände haben zu seinem Tod geführt. Der Gerichtsarzt be-
hauptete mit Entschiedenheit, Webb sei an einem Herzversagen gestorben. Und während er starb, hat er um sich geschossen – scheinbar nur Löcher in die Luft.« »Löcher in die Luft geschossen?« fragte Graham verwundert. »Sie fanden eine Selbstladepistole in seiner Hand, und zwei Patronen fehlten. Kurz darauf holte man Geschoßfragmente aus der Wand seines Arbeitszimmers.« »Komisch.« »Männer wie Mayo und Webb sind für unser Land und den wissenschaftlichen Fortschritt zu wichtig, als daß man ihren Tod nur mit einem Achselzucken zur Kenntnis nehmen könnte. Schon gar nicht bei so mysteriösen Begleitumständen. Webbs Fall scheint mir von beiden der ungewöhnlichere zu sein. Deshalb möchte ich, daß Sie sich damit befassen. Ich wünsche, daß Sie sich persönlich alle Unterlagen ansehen, die er hinterlassen hat. Vielleicht finden Sie etwas, das uns Aufschluß über die Sache geben könnte.« »Die Polizei wird Schwierigkeiten machen. Meine Vollmachten reichen nicht so weit«, meinte Graham. »Man wird die Polizei in Kenntnis setzen, daß Sie namens der Regierung den Auftrag haben, Einsicht in die Papiere des Toten zu nehmen.« Ungefähr in der Mitte zwischen Tür und Fenster des Raumes lag Webb auf dem Teppich. Die blicklosen Augen starrten an die Decke, die Augäpfel waren so stark nach oben gedreht, daß die Pupillen unter den Lidern lagen. In der rechten Hand hielt er noch die Selbstladepistole. An der Wand hatten die Spurensicherer acht Kreise um die Einschüsse der jeweils
vier Segmente der beiden abgefeuerten Geschosse gezeichnet. »Er hat auf etwas geschossen, das sich ungefähr in dieser Richtung befunden haben muß«, sagte Leutnant Wohl zu Graham, während er eine dünne Schnur von der Wand mit den Einschüssen zu einer Stelle etwa anderthalb Meter über der Leiche spannte. »Daran besteht wohl kein Zweifel«, sagte Graham. »Aber es gab nichts, worauf er geschossen haben könnte«, fuhr Wohl fort. »Mehrere Personen befanden sich in unmittelbarer Nähe dieser Tür, als die beiden Schüsse fielen. Sie rannten sofort in den Raum und fanden den Mann in den letzten Zügen. Er versuchte zu sprechen, schien ihnen etwas sagen zu wollen, aber er brachte keine Worte über die Lippen. Niemand wäre in der Lage gewesen, den Raum zu verlassen, ohne dabei beobachtet worden zu sein. Sechs glaubwürdige Zeugen versichern uns das. Darüber hinaus bestätigte der Gerichtsarzt, daß ein Herzversagen die Todesursache ist.« »Vielleicht hat der Mann recht«, meinte Graham. »Vielleicht aber auch nicht.« Und noch während er sprach, kam es ihm so vor, als zöge eine kalte Luftströmung durch den Raum. Irgendein Instinkt meldete sich warnend in Grahams Gehirn, aber dann war dieser Eindruck auch schon vorbei. Zurück blieb ein schwaches Gefühl der Beklemmung, vielleicht vergleichbar mit der Furcht eines Hasen, der sich in sein Versteck duckt, während am Himmel der Habicht kreist. »Jedenfalls halte ich diese Erklärung für etwas simpel«, fuhr Leutnant Wohl fort. »Ich habe den Verdacht, daß dieser Webb unter Zwangsvorstellungen
litt, und da ich noch nie gehört habe, daß Herzkranke unter Halluzinationen leiden, muß er wohl etwas eingenommen haben, das die Ursache von beidem ist.« »Halten Sie ihn für drogensüchtig?« fragte Graham. »Genau das! Ich wette, die Obduktion wird meinen Verdacht bestätigen.« »Geben Sie mir Bescheid, wenn das stimmt«, sagte Graham. Er setzte sich hinter den Schreibtisch des Wissenschaftlers und durchsuchte den Inhalt. Er fand jedoch nichts von Interesse und auch nichts, was zu einer genaueren Prüfung Veranlassung gegeben hätte. Enttäuscht schloß er die Schubladen. Als nächstes kam der große Wandsafe an die Reihe. Leutnant Wohl hatte die Schlüssel dazu und sagte: »Wir fanden sie in seiner rechten Hosentasche. Ich habe noch nicht im Safe nachgesehen, da ich Anweisungen erhielt, auf Sie zu warten.« Graham nickte und schloß den Safe auf. Als die Tür aufging, konnten weder Graham noch Wohl einen Ausruf des Erstaunens unterdrücken. Denn im Safeinneren hing ein großes Blatt Papier, und darauf stand: Freiheit ist nur möglich bei höchster Wachsamkeit. Falls mir etwas zustößt, an Bjornsen wenden. »Wer zum Teufel ist Bjornsen«, fragte Graham und holte den Zettel aus dem Safe. »Keine Ahnung. Nie von ihm gehört.« Wohl blickte das Blatt Papier ratlos an und sagte dann plötzlich: »Geben Sie es mir. Es scheint von einem Block zu stammen. Die schwachen Eindrücke könnten uns Aufschluß darüber geben, was Webb auf das darüberliegende Blatt geschrieben hat. Vielleicht gelingt
es dem Labor, die Zeichen leserlich zu machen und Zusammenhänge herzustellen.« Graham reichte ihm den Bogen Papier. Wohl ging damit zur Tür und reichte ihn jemandem, der draußen gewartet hatte. Nachdem er seine Anweisungen gegeben hatte, kehrte Leutnant Wohl zu Graham zurück. Die nächste halbe Stunde verwendeten sie dazu, den eigentlichen Inhalt des Wandsafes zu untersuchen. Das Ergebnis war mager. Sie konnten lediglich feststellen, daß der Wissenschaftler nicht nur sehr ordentlich gewesen war, sondern auch etwas von der Kunst der Buchführung verstanden hatte. Jedenfalls hatte er genaue Aufzeichnungen über seine Einkünfte und Ausgaben geführt. Als der Leutnant zufällig in den Kamin blickte, fiel ihm die Asche auf dem Rost auf. Es war nur sehr wenig, aber von dem Blatt Papier, das hier verbrannt worden sein mußte, war nur noch feines Pulver übriggeblieben. Die Worte, die vielleicht darauf gestanden hatten, waren im wahrsten Sinne des Wortes zu Staub geworden. »Solche offenen Kamine sind Überbleibsel aus dem zwanzigsten Jahrhundert«, bemerkte Wohl. »Er scheint ihn dazu benutzt zu haben, Aufzeichnungen und Schriftstücke zu verbrennen. Offensichtlich gab es Dinge, die er unbedingt für sich behalten wollte. Was mochte das wohl gewesen? Und wer durfte das nicht erfahren?« Das Telefon summte, und während er hinging, sagte Wohl: »Falls dieser Anruf aus dem Labor kommt, dann erfahren wir jetzt vielleicht die Antwort auf beide Fragen.« Der Anruf kam tatsächlich aus dem Labor. Wäh-
rend das Gesicht eines Mannes auf dem Bildschirm erschien, drückte Wohl auf einen Knopf, damit Graham mithören konnte. »Es ist uns gelungen, die Schriftzeichen auf dem Blatt Papier, das Sie uns geschickt haben, lesbar zu machen«, sagte der Mann. »Ein Zusammenhang ist nicht erkennbar, aber vielleicht können Sie damit etwas mehr anfangen als wir.« »Lesen Sie vor«, sagte Wohl. Er hörte aufmerksam zu, während der andere Mann vorlas: »Es ist bekannt, daß Seefahrer besonders empfänglich sind. Davon ausgehend wird zu überprüfen sein, wie sich Bewohner von Küstengegenden im Vergleich zu denen im Binnenland verhalten. Wahrscheinlich Unterschiede in den optischen Eindrücken. Fawcett muß mir Unterlagen über die Häufigkeit von Kropfbildung bei Schwachsinnigen und Schizophrenen besorgen. Besonders bei letzteren. Es steckt System hinter diesem Irrsinn, man muß nur die Zusammenhänge herausfinden.« Der Mann auf dem Bildschirm hob den Blick. »Es sind zwei Absätze. Das war der erste.« »Lesen Sie weiter!« drängte Graham. Während der Mann den nächsten Absatz vorlas, ließ Graham den Bildschirm nicht aus den Augen. Das Gesicht des Leutnants wurde dagegen immer ratloser. »Es gibt eine Verbindung zwischen den unmöglichsten und scheinbar zusammenhanglosen Ereignissen. Es gibt seltsame Dinge, die man mit gewissen anderen Erscheinungen einfach nicht in Verbindung bringt. Zum Beispiel Lichterscheinungen am Himmel, heulende Hunde, Hellseher, über die wir zu Unrecht lächeln. Inspirationen, Gefühlsregungen und Schlechtigkeit. Glocken, die von selbst läuten. Schiffe, die auf ruhiger See verschwinden. Streit,
Brutalität, Rituale. Pyramiden ohne Spitzen. Wie der Alptraum eines überspannten Surrealisten. Ich würde zweifeln, wenn ich nicht genau wüßte, daß Bjornsen recht hat. Man muß der Welt die Augen öffnen, sofern dies ohne Massenmord möglich ist!« »Nun, was habe ich Ihnen gesagt?« fragte Wohl. Er tippte mit dem Zeigefinger bedeutungsvoll an seine Stirn. »Übergeschnappt durch Drogenmißbrauch.« »Abwarten«, sagte Graham und beugte sich über das Telefon, um sein Gesicht in den Aufnahmebereich der Kamera zu bringen. »Verwahren Sie dieses Blatt an einem sicheren Ort. Fertigen Sie zwei maschinengeschriebene Abschriften davon an und schicken Sie sie per Boten an Sangster, Finanz- und Kreditabteilung der Regierung in der Bank of Manhattan.« Dann schaltete er den Verstärker aus und legte den Hörer zurück. Das Licht auf dem kleinen Bildschirm ging aus. »Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich Sie gern zum Präsidium begleiten«, sagte er zu Wohl. Sie verließen den Raum gemeinsam. Wohl war davon überzeugt, daß der Fall in die Zuständigkeit der Rauschgiftabteilung gehörte. Graham überlegte, ob die beiden Todesfälle nicht doch natürlicher Natur sein konnten, trotz der etwas mysteriösen Umstände. Als sie über die Straße gingen, beschlich beide ein seltsames Gefühl. Etwas las ihre Gedanken und zog sich zufrieden zurück.
2 Im Präsidium erfuhren sie nichts Neues. Die Männer des Erkennungsdienstes waren aus den Räumen von Mayo und Webb zurückgekehrt, und die Fingerabdrücke waren untersucht worden. Es handelte sich in der Hauptsache um die Abdrücke der beiden Wissenschaftler; die wenigen anderen, die sie außerdem gefunden hatten, waren nicht in der Kartei. In beiden Fällen waren die Räumlichkeiten gründlich durchsucht worden. Man hatte nichts gefunden, was den Verdacht der Polizei erregt oder den von Graham bestätigt hätte. »Bleibt nur noch die Obduktion«, sagte Wohl. »Wenn sich herausstellt, daß Webb Rauschgift genommen hat, schließe ich die Ermittlungen in diesem Fall. Er starb an einem Herzversagen, während er auf Gespenster schoß, die ihm im Drogenrausch erschienen waren.« »Und bei Mayo könnten wir in diesem Fall dann wohl annehmen, daß er glaubte, in die Badewanne zu steigen, als er sich aus dem Fenster stürzte?« fragte Graham ironisch. »Wie?« Wohl machte ein überraschtes Gesicht. »Ich schlage vor, daß man bei beiden Leichen eine Obduktion vornimmt – falls dieses bei Mayos Zustand überhaupt möglich ist.« Graham griff nach seinem Hut. »Rufen Sie Sangster an, und geben Sie ihm die Ergebnisse durch.« Dann verließ er das Dienstzimmer des Leutnants. An der Ecke Pine Street und Nassau Street hatte es einen Unfall gegeben. Trotz der vielen Leute, die die
Stelle umringten, konnte Graham feststellen, daß es sich um zwei Luftfahrzeuge handelte, die offensichtlich in der Luft zusammengestoßen und abgestürzt waren. Immer mehr Neugierige fanden sich ein, um zu gaffen. Das erregte Geraune hörte sich an wie das Summen eines mächtigen Schwarmes von Hornissen. Graham spürte die krankhafte Erregung, die von der Menge ausging, fast körperlich, als er einen weiten Bogen um die Stelle machte. Es war, als läge eine ganz besondere Art von Schwingungen in der Luft. Die Gier der Menschen nach Sensationen ist unermeßlich, dachte er, während er davonging. Er betrat das Gebäude der Bank of Manhattan und nahm den pneumatischen Aufzug, der ihn in den vierundzwanzigsten Stock brachte. Er betrat das Vorzimmer, wechselte mit Hetty ein paar Worte und ging zu der Tür weiter, auf der Mr. Sangster stand. Er klopfte an und ging hinein. Sangster hörte wortlos zu, während Graham berichtete. »Mehr war nicht herauszubekommen, Sir«, schloß Graham. »Wir haben keinen einzigen konkreten Anhaltspunkt. Außer vielleicht dem, daß Webb um sich schoß, obwohl niemand außer ihm im Zimmer war. Und ich glaube nach wie vor nicht, daß Mayo Selbstmord begangen hat.« »Und was ist mit diesem Hinweis auf den Namen Bjornsen?« fragte Sangster. »Der Polizei ist es bis jetzt noch nicht gelungen, eine Person dieses Namens zu ermitteln. Das braucht wahrscheinlich Zeit.« »Hat man beim zuständigen Postamt angefragt, ob man dort vielleicht einen Brief von Bjornsen an Webb gefunden hat?«
»Nein. Daran hatten wir schon gedacht. Leutnant Wohl hat angerufen und nachgefragt. Es sind lediglich zwei Briefe belanglosen Inhalts von ehemaligen Studienkollegen von Webb eingegangen. Diese Wissenschaftler scheinen selbst noch nach langen Jahren Kontakt miteinander zu halten. Besonders wenn sie voneinander unabhängig an ähnlichen oder verwandten Projekten arbeiten.« »Was im Fall Bjornsen zutreffen könnte«, bemerkte Sangster. »Da fällt mir etwas ein!« Graham überlegte kurz, dann griff er nach dem Telefon. Er wählte und schaltete den Verstärker ein. Dann sagte er: »Smithsonian Institut? Ich möchte bitte Mr. Harriman sprechen.« Die Verbindung wurde hergestellt, und Harrimans Gesicht erschien auf dem Bildschirm. »Hallo, Graham, was kann ich für Sie tun?« »Walter Mayo ist tot«, berichtete Graham. »Irwin Webb auch. Sind beide heute morgen kurz hintereinander gestorben.« Harriman machte ein betroffenes Gesicht, während Graham ihm die Einzelheiten mitteilte. Dann fragte Graham: »Kennen Sie zufällig einen Wissenschaftler, der Bjornsen heißt?« »Ja. Er ist am siebzehnten dieses Monats gestorben.« »Gestorben?« Der Ausruf kam gleichzeitig von Graham und Sangster. Graham fragte: »Hat man irgendwelche ungewöhnlichen Umstände feststellen können?« »Meines Wissens nicht. Er war ein alter Mann, und daß er starb, überraschte niemanden. Warum fragen Sie?« »Ach, nur so. Was können Sie mir noch über ihn sagen?«
»Er war Schwede, Physiker, der sich besonders mit optischen Experimenten befaßte. Er war eigentlich schon sehr alt, hatte aber in Fachkreisen nach wie vor einen guten Namen. Hauptsächlich in Europa. Ich glaube, bei uns ist sein Name weniger bekannt geworden.« »Noch mehr?« drängte Graham. »Nicht viel. Er hielt sich stark im Hintergrund. Ich glaube, man hat ihn zuletzt nicht mehr ganz ernst genommen. Angefangen hat es auf einem Physikerkonkreß in Bergen. Er hielt ein ziemlich konfuses Referat über die Begrenzung des menschlichen Wahrnehmungsvermögens auf optischem Gebiet und erwähnte in diesem Zusammenhang mehrmals die Erscheinung von Geistern und Gespenstern. Mit ihm zusammen machte sich auch Hans Luther zum Gespött des Kongresses. Er war der einzige prominente Wissenschaftler, der Bjornsen ernst nahm.« »Und wer ist dieser Hans Luther?« »Ein deutscher Wissenschaftler, ein sehr kluger Mensch. Er ist tot. Er starb kurz nach Bjornsen.« »Was, noch einer?« Graham und Sangster blickten sich betroffen an. »Was ist denn?« fragte Harriman. »Auch Wissenschaftler sind Menschen. Sie sterben genauso wie andere Leute auch.« »Wenn sie wie andere Menschen sterben«, entgegnete Graham, »dann bedauern wir dies natürlich, ohne daß uns dies eigenartig vorkommt. Tun Sie mir einen Gefallen, Harriman. Besorgen Sie mir eine vollständige Liste aller international bekannten Wissenschaftler, die seit dem 1. Mai dieses Jahres gestorben sind. Und in jedem Fall brauche ich möglichst aus-
führliche Informationen.« Harriman schien diese Bitte ungewöhnlich zu finden, denn er machte ein überraschtes Gesicht. Dann sagte er: »Ich rufe Sie sobald wie möglich an.« Er unterbrach die Verbindung. Doch wenige Sekunden später erschien sein Gesicht wieder auf dem Bildschirm. »Ich habe vergessen, Ihnen zu sagen, daß Luther in einer Telefonzelle gestorben ist, während er mit dem Redakteur einer Zeitung telefonierte und offensichtlichen Unsinn von sich gab. Er starb an einem Herzversagen. Man nimmt an, daß er überarbeitet war und seelisch und körperlich zusammengebrochen ist.« Nachdem er noch einmal versprochen hatte, Graham sobald wie möglich anzurufen, wurde die Verbindung unterbrochen. Sangster sagte: »Je intensiver wir uns mit dieser Sache beschäftigen, desto verrückter erscheint sie.« Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und runzelte die Stirn. »Wenn Webb und Mayo nicht auf natürliche Art und Weise gestorben sind, dann aber auch keinesfalls auf übernatürliche. Daraus folgt logischerweise, daß der Tod in beiden Fällen auf gewaltsame Weise herbeigeführt worden sein muß.« »Mord? Aber weswegen?« fragte Graham. »Genau da liegt der Hund begraben! Welches waren die Motive? Es gibt einfach keine! Ich könnte mir zwar vorstellen, daß gewisse Kreise daran interessiert sein könnten, die Zahl der Wissenschaftler unseres Landes nach und nach zu dezimieren, um uns Schaden zuzufügen. Aber wenn auch schwedische und deutsche Wissenschaftler dran glauben müssen, ganz abgesehen von anderen Nationen, die wir vielleicht auf der Liste, die Harriman für uns zusammenstellt,
finden werden, stehen wir vor einer Situation, für die es keine logische Erklärung gibt. Das ist Irrsinn! Genau wie das hier.« Er schlug mit der Hand auf die Abschrift von Webbs Notizen. »Sie hatten den Verdacht, daß mehr dahinter stecken könnte. Haben Sie Beweise?« »Nein«, mußte Graham zugeben. »Keinen einzigen. Die vorhandenen Tatsachen geben keine Grundlage für eine einigermaßen vernünftig klingende Theorie ab. Ich muß ganz einfach versuchen, noch weitere Einzelheiten zu ermitteln.« »Und wie wollen Sie vorgehen?« »Ich werde mir diesen Fawcett einmal vorknöpfen, dessen Namen Webb erwähnt hat. Er müßte eigentlich in der Lage sein, mir etwas Interessantes zu erzählen.« »Kennen Sie Fawcett?« Sangster schien überrascht. »Nie von ihm gehört. Aber Frau Dr. Curtis, eine Stiefschwester von Webb, wird mir vielleicht sagen können, wo ich ihn erreiche. Zufällig kenne ich die Frau Doktor.« Sangsters verhärtete Gesichtszüge entspannten sich, und er begann zu lächeln. »Wie gut kennen Sie die Dame?« Graham grinste spitzbübisch und antwortete: »Noch nicht so gut, wie ich es mir wünschte.« »So so. Sie verbinden also das Angenehme mit dem Nützlichen, wie?« Sangster machte eine resignierte Handbewegung. »Na, von mir aus. Jedenfalls wünsche ich Ihnen viel Glück. Sollte es Ihnen gelingen, Ihren Verdacht durch Tatsachen zu erhärten, können wir das FBI auf den Fall ansetzen.« »Ich werde mich jedenfalls bemühen.« Graham
stand schon an der Tür, als das Telefon summte. Er blieb stehen, die Hand auf der Türklinke, während Sangster nach dem Telefon griff und den Verstärker einschaltete. Leutnant Wohls Gesicht erschien auf dem Bildschirm. Er konnte Graham nicht sehen, der außerhalb des Aufnahmebereichs der Kamera stand. »Webb muß das große Hautjucken gehabt haben, oder die Krätze.« »Das Hautjucken?« fragte Sangster, sichtlich verwirrt. »Wieso?« »Er hatte sich den linken Arm von der Schulter bis zum Ellbogen mit Jod eingeschmiert.« »Wozu denn das?« Sangster warf Graham einen ratlosen Blick zu. »Aus unerfindlichen Gründen. Seinem Arm fehlte überhaupt nichts. Ich nehme an, da nichts auf Krätze oder sonst einen Ausschlag hinwies, daß er es wegen eines harmlosen Juckreizes tat oder ganz einfach Lust hatte, sich den Arm anzumalen.« Wohl lächelte freudlos. »Der Obduktionsbericht liegt zwar noch nicht vor, aber ich hielt es für besser, Sie von dieser Tatsache gleich zu verständigen. Aber das ist noch nicht alles.« »Was gibt's denn noch?« fragte Sangster heftig. »Spannen Sie mich nicht auf die Folter, Mann!« »Auch Mayo hatte das Jucken oder die Krätze.« »Wollen Sie damit sagen, daß auch er sich den Arm angeschmiert hat?« »Ja, mit Jod«, bestätigte Wohl. Die ganze Sache schien ihm eine morbide Freude zu bereiten. »Den linken Arm von der Schulter bis zum Ellbogen.« Sangster starrte gebannt auf den Bildschirm und
atmete tief ein. Dann sagte er: »Danke für den Anruf!« Er legte den Hörer auf und blickte Graham verzweifelt an. »Ich bin schon unterwegs«, sagte Graham und ging hinaus. Dr. Curtis hatte, wie Graham zu seinem Mißvergnügen feststellte, eine Art, mit Besuchern sehr sachlich und geschäftsmäßig umzugehen. Darüber hinaus hatte sie eine sehr aparte Frisur – sie trug ihr schwarzes Haar ziemlich kurz – und eine für eine Wissenschaftlerin außergewöhnlich attraktive Figur, von welcher er den Blick kaum abzuwenden vermochte, was wiederum die Frau Doktor zu irritieren schien. »Irwin, mein Stiefbruder, hat sich seit über einem Monat sehr ungewöhnlich aufgeführt«, berichtete sie, offensichtlich bemüht, Grahams Aufmerksamkeit von ihrer Figur ab- und auf das Thema zu lenken. »Er wollte mir jedoch keine Gründe nennen, obwohl ich ihm mehrmals sagte, wie große Sorgen ich mir um ihn mache, was er wohl nur für weibliche Neugierde hielt. Am vergangenen Donnerstag merkte ich dann, obwohl er es vor mir geheimzuhalten versuchte, daß er vor irgend etwas Angst hatte. Ich hielt das für das Symptom eines bevorstehenden Nervenzusammenbruchs und riet ihm, eine ausgedehnte Ruhepause einzulegen.« »Hat sich am vergangenen Donnerstag etwas zugetragen, was man als Grund für seine plötzliche Angst ansehen könnte?« »Nein, nichts«, versicherte sie ihm. »Jedenfalls nichts, das geeignet gewesen wäre, eine so starke Reaktion bei ihm auszulösen. Ich muß einräumen, daß
seine Erschütterung natürlich sehr groß war, als er vom Ableben Dr. Sheridans hörte, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß das etwas –« »Entschuldigen Sie die Unterbrechung«, schaltete Graham sich ein. »Wer war Dr. Sheridan?« »Ein langjähriger Freund von Irwin. Ein britischer Wissenschaftler. Er ist vergangenen Donnerstag einem Herzanfall erlegen, so hieß es jedenfalls.« »Noch einer!« sagte Graham, mehr zu sich selbst. »Wie bitte?« Dr. Curtis sah ihn mit ihren großen schwarzen Augen fragend an. »Ach, ich habe nur laut gedacht«, wich er aus. Er beugte sich gespannt nach vorn und fragte: »Hatte Irwin einen Freund oder Bekannten, der Fawcett heißt?« Ihre Augen wurden noch etwas größer. »Ja, natürlich. Dr. Fawcett, Chefarzt der Staatlichen Nervenheilanstalt. Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß er etwas mit Irwins Tod zu tun haben sollte.« »Das ist auch nicht der Fall.« Er merkte, daß ihre kühle Gelassenheit nun einer ständig zunehmenden Neugierde Platz zu machen begann, und er war versucht, die günstige Gelegenheit zu nutzen und ihr noch einige weitere Fragen zu stellen, die ihm auf dem Herzen lagen. Aber irgendein Impuls in seinem Unterbewußtsein, vielleicht eine Warnung seines feinen Gespürs, daß Gefahr in der Luft lag, veranlaßten ihn, es nicht zu tun. Er ärgerte sich etwas darüber, daß er seiner inneren Stimme gehorchte, und fuhr fort: »Meine Dienststelle ist an der Arbeit ihres Bruders interessiert, und sein plötzlicher Tod hat natürlich Fragen aufgeworfen, die einer Erklärung bedürfen.«
Sie schien sich mit dieser Erklärung zufrieden zu geben und reichte ihm ihre Hand. »Selbstverständlich bin ich gern bereit, Ihnen zu helfen.« Er hielt ihre Hand so lange fest, bis sie sie ihm mit Gewalt entzog. »Sie waren mir bereits eine große Hilfe.« Er verließ ihr Arbeitszimmer im zwanzigsten Stock und eilte die Rampe hinunter bis zur Öffnung in der Wand des Gebäudes, an der etwa hundert Meter über dem Erdboden ein Luftverkehrsleitstrahl vorbeiführte. Ein Helikopter der Polizei wartete bereits auf ihn. Leutnant Wohl stand an der offenen Tür. »Sangster hat mir gesagt, wo ich Sie finden würde. Ich bin gekommen, um Sie abzuholen.« Graham stieg hinüber in den Helikopter und fragte: »Hat es etwas Neues gegeben? Sie sehen aus wie ein Jagdhund, der auf eine frische Spur gestoßen ist.« »Einer unserer Leute hat herausgefunden, daß Webb und Mayo kurz vor ihrem Tode telefoniert haben, beide mit derselben Person: Professor Dakin.« Er drückte auf einen Knopf, und der Helikopter setzte sich in Bewegung und folgte dem Leitstrahl der Luftstraße. »Dieser Dakin wohnt in der William Street, ganz in Ihrer Nähe. Kennen Sie ihn?« »Sehr gut. Sie sollten ihn eigentlich auch kennen.« »Ich? Warum?« Wohl hatte sich hinter den Steuerknüppel gesetzt und zog den kleinen Helikopter jetzt scharf in die Höhe. Die Passagiere wurden heftig in ihre Sitze gedrückt. Graham klammerte sich verzweifelt an die Handgriffe. Die Piloten von vier weiteren Helikoptern, die sich ebenfalls auf der Luftstraße befunden hatten, drohten ihnen mit den Fäusten.
Nachdem Graham wieder zu Atem gekommen war, fragte er: »Noch nie etwas von Dakins aufsehenerregender Erfindung gehört? Ihre Leute im Labor arbeiten bereits seit fünf Jahren damit.« »Nun ja, man kann nicht alles wissen«, entgegnete Wohl und konzentrierte sich auf den Verkehr. Links und rechts von ihnen ragten die Türme der Wolkenkratzer in die Höhe. Sie näherten sich der William Street. Der Helikopter verlor an Höhe, und kurz darauf setzte Wohl weich auf der breiten Hochstraße auf. Er zog den Rotor ein, dann fuhren sie auf den vier Rädern des Luftwagens weiter, nahmen die Ausfahrt und rollten die spiralförmig angelegte Rampe hinunter. Als sie in die William Street einbogen, kam ihnen mit hoher Geschwindigkeit ein anderes Fahrzeug entgegen. Es raste in die Einfahrt, die sie soeben verlassen hatten, und die Spirale hinauf. Während des Vorbeifahrens hatte Graham durch die Plastikscheiben ein vor Anspannung verzerrtes hageres Gesicht erkennen können. »Das ist er!« rief Graham. »Schnell, Wohl – das war Dakin.« Wohl wendete den Wagen und beschleunigte. Das Fahrzeug schien einen mächtigen Satz nach vorn zu machen, schoß zwischen zwei ihnen entgegenkommenden Wagen hindurch, und dann rasten sie die Spirale hinauf, die sie heruntergekommen waren. »Er dürfte inzwischen sechs Windungen über uns sein und in wenigen Sekunden die Einfahrt zur Hochstraße erreichen«, bemerkte Graham. Wohl brummte nur, während er mit eisernem Griff das Lenkrad umfaßt hielt. In der fünften Windung
blockierte ihnen ein Fahrzeug älteren Typs, das auf der Straßenmitte fuhr, den Weg. Leutnant Wohl schaltete die Polizeisirene ein und setzte zu einem riskanten Überholmanöver an. Graham erhaschte einen kurzen Blick auf das entsetzte Gesicht des Fahrers des überholten Fahrzeugs. Dann hatten sie die Einfahrt erreicht und bogen auf die Hochstraße ein. Der Abstand zu dem Wagen, den sie verfolgten, betrug etwa fünfhundert Meter. Wohl schaltete das Antriebsaggregat seines Wagens auf Höchstleistung. Die Zahlen huschten über den elektronischen Tachometer. 150 – 155 – 160 – 165 – »Gleich muß die Überführung über die Kreuzung kommen«, sagte Graham. »Wenn er mit dieser Geschwindigkeit über die Brücke rast, macht sein Wagen einen Luftsprung von über hundert Metern«, bemerkte Wohl. Er blickte besorgt nach vorn. »Sein Stabilisator wird zwar dafür sorgen, daß er auf allen vier Rädern aufsetzt, aber die Reifen gehen mit Sicherheit drauf. Dann verliert er die Herrschaft über den Wagen. Der Mann muß wahnsinnig sein, so zu rasen!« »Was darauf hinweist, daß etwas ganz Entsetzliches geschehen sein muß«, bemerkte Graham. Der Wagen war inzwischen in der langgestreckten Kurve, an deren Ende die Kreuzungsbrücke lag. Leutnant Wohl bemerkte: »Wir haben kaum hundert Meter aufgeholt. Sein Wagen hat einen stärkeren Motor, als ich angenommen hatte. Und er fährt ihn voll aus. Ich habe den Eindruck, er glaubt, er wird von irgend jemand verfolgt.« »Von uns«, sagte Graham und lächelte. Aber er blickte in den Rückspiegel, weil ihm plötzlich einge-
fallen war, daß sie nicht die einzigen sein könnten, die hinter Dakin herfuhren. Aber wer noch? Vor wem oder was floh Dakin? Warum sprang Mayo aus dem Fenster? Etwa auch, weil er sich verfolgt fühlte? Warum schoß Webb um sich, bevor er starb? Weshalb war Bjornsen gestorben, und was war Schuld daran, daß Luther in der Telefonzelle tot zusammengebrochen war? Fruchtlose Spekulationen, dachte Graham und stellte fest, daß die Straße hinter ihnen leer war. Da fiel von oben ein Schatten auf ihr Fahrzeug. Graham blickte durch das durchsichtige Dach nach oben und erkannte einen Hubschrauber der Verkehrspolizei, der mit gleicher Geschwindigkeit nur wenige Meter über ihnen dahinflog. Einige Sekunden lang rasten beide Fahrzeuge auf Parallelkurs weiter. Leutnant Wohl gestikulierte heftig mit der rechten Hand und deutete dann auf den Wagen des Professors. Der Hubschrauberpilot nickte mit dem Kopf, zum Zeichen, daß er verstanden hatte. Er zog den Helikopter steil in die Höhe, um über die Dächer der Hochhäuser hinweg auf direktem Kurs zu versuchen, noch vor Dakins Wagen die Überführung zu erreichen. Ohne das Tempo zu verringern, fuhr Wohl mit hundertachtzig Sachen in die Kurve hinein. Die Gummireifen kreischten auf dem Straßenbelag, als die Fliehkraft am Wagen zu zerren begann. Grahams Oberkörper wurde seitlich gegen die Tür gepreßt. Er spürte den Druck von Wohls Körper an seiner anderen Seite. Und während die Zentrifugalkraft sie in dieser Stellung hielt und der überlastete Stabilisator versuchte, das Fahrzeug waagrecht zur Straßenoberflä-
che zu halten, versagten die Reifen. Das Fahrzeug geriet ins Schleudern. Es drehte sich zweimal um die eigene Achse, dann schoß es breitseits die Straße entlang, haarscharf vorbei an einem entgegenkommenden Wagen, zwischen zwei weiteren Fahrzeugen hindurch, die mit knapper Not ausweichen konnten, streifte einen vierten Wagen und prallte mit einem dumpfen Knall gegen das Stahlgeländer der Hochstraße. Wie durch ein Wunder hielt das Gestänge stand. Wohl hatte es beim Aufprall die Luft aus den Lungen gepreßt. Jetzt saß er da und schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Mit zitternder Hand deutete er auf die Kreuzungsbrücke. Sie wölbte sich über einer anderen Trasse der Hochstraße, die im rechten Winkel unter der Fahrbahn, auf der sie sich befanden, hindurchführte. »Mein Gott!« sagte er keuchend. »Sehen Sie doch!« Sie befanden sich etwa vierhundert Meter vom höchsten Punkt der Überführung entfernt. Dakins Fahrzeug hatte den Scheitelpunkt erreicht. Auch der Polizeihubschrauber schwebte über der Stelle, konnte jedoch nicht eingreifen. Anstatt hinter dem Scheitelpunkt zu verschwinden, wie es unter normalen Umständen der Fall hätte sein müssen, bewegte sich Dakins Wagen auf der Tangente weiter. Die Geschwindigkeit war zu groß gewesen. Die Räder hatten die Bodenhaftung verloren. Der Wagen schoß geradeaus durch die Luft. Und dann schien es, als hinge er bewegungslos unter dem ihn verfolgenden Hubschrauber. Eine Sekunde lang vielleicht, dann begann die Schwerkraft unerbittlich zu wirken. Das Fahrzeug sank nach unten, ver-
schwand hinter der Überführung. »Verrückt!« hauchte Graham. Mit dem Handrükken wischte er sich den Schweiß von der Stirn. »Übergeschnappt. Hoffnungslos übergeschnappt!« Er drückte auf einen Knopf und versuchte, das Fenster auf seiner Seite zu öffnen. Die Plastikscheibe war verbogen und versank nur etwa bis zur Hälfte in der Türfüllung. Beide Männer saßen da wie Standbilder und horchten. Dann kam auch schon das Krachen und Knirschen, als Metall gegen Metall prallte. Nach einigen Sekunden folgte ein dumpfer Aufschlag. Wortlos stießen sie die Türen auf und sprangen hinaus. Sie rannten zur Überführung hinauf, und als sie den höchsten Punkt erreicht hatten, sahen sie etwa zehn Autos, die auf der Hochstraße angehalten hatten, und das mindestens zehn Meter lange Loch im Straßengeländer. Einige der Fahrzeugführer waren ausgestiegen und hielten sich an dem verbogenen Gestänge fest, während sie in die Tiefe blickten. Graham und Wohl hatten die Stelle erreicht und blickten ebenfalls hinunter. Am Rand der unter der Überführung hindurchführenden Fahrbahn lag ein Schrotthaufen. Anders konnte man das, was von Dakins Wagen übriggeblieben war, nicht beschreiben. Der Wagen war, nachdem er das Straßengeländer durchbrochen hatte, gegen die Wand des etwa fünf Meter entfernt aufragenden Wolkenkratzers geprallt, war davon wie ein Ball zurückgeworfen worden und auf den Rand der unten vorbeiführenden Fahrbahn gestürzt. »Entsetzlich, ganz entsetzlich!« sagte einer der Fahrer der Wagen, die angehalten hatten. »Er muß den Verstand verloren haben. Ich habe es genau gesehen.
Er kam durch die Luft geflogen, berührte gar nicht mehr die Straße, sondern brach durch das Geländer und krachte gegen die Hauswand. Ich hab den Knall genau gehört, als er unten aufschlug.« Er fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Hörte sich an, als fiele eine Kiste mit Eiern herunter. Ein furchtbares Geräusch! Wie schrecklich!« Auch die anderen schienen die Empfindungen dieses Mannes zu teilen. Graham glaubte, das Entsetzen spüren zu können, das über der Szene hing. Unten hatte sich eine Menschenmenge gebildet. Er konnte sich gut vorstellen, was jetzt die Gemüter dieser Menschen bewegte, ohne daß sie sich dessen vielleicht bewußt waren: Sensationslust, sadistische Freude beim Anblick von Gewalt, perverse Gier nach dem Grauenhaften. Bis zur Massenhysterie war nur noch ein kleiner Schritt. Das wirkte ansteckend auf die Menschen. Man konnte sich daran fast berauschen. Menschen, die als einzelne durchaus nüchtern waren, konnten in der Masse von einer Minute auf die andere in einen Rauschzustand verfallen. Entfesselte, unkontrollierte Gefühle – ein unsichtbares, substanzloses Rauschgift! Und noch ein Gefühl beherrschte ihn, während er in die Tiefe starrte. Ein Gefühl schuldbewußter Angst, wie ein Verschwörer oder Revolutionär, der sich gegen die herrschende Ordnung auflehnt, dessen umstürzlerische Gedanken, würden sie publik werden, ihn an den Galgen bringen könnten. Dieser Eindruck war so mächtig, daß es ihn große Anstrengung kostete, seine Gedanken wieder auf die Wirklichkeit auszurichten. Er riß seine Blicke von der Szene in der Tiefe los und stieß Wohl unsanft an.
»Wir können hier nichts mehr tun. Wir haben gefunden, was wir gesucht haben, allerdings anders als erwartet. Gehen wir.« Zögernd wich Wohl von der Lücke im Geländer zurück. Der Polizeihubschrauber war inzwischen auf der Hochstraße gelandet, und Wohl ging darauf zu. »Leutnant Wohl, Kriminalpolizei«, stellte er sich vor. »Rufen Sie bitte das Präsidium an und teilen Sie mit, daß man jemand schicken soll, der mein Fahrzeug abschleppt. Mein Bericht über den Zwischenfall folgt später.« Dann wandte er sich an die Fahrer der Wagen, die noch immer in die Tiefe starrten, und fragte, ob einer von ihnen zufällig in die William Street fahre. Er fand jemand, der bereit war, ihn und Graham mitzunehmen.
3 Sie durchsuchten Dakins Wohnung sorgfältig, fanden aber nichts Bemerkenswertes. Keine Abschiedsbriefe, keine Geheimnotizen – nichts, was irgendwie auffällig gewesen wäre. Als Weg zur Lösung dieses nicht einmal klar formulierbaren Rätsels erwies sich diese Suche als Sackgasse. Graham kam aus einem Nebenraum. In der Hand hielt er eine kleine, fast leere Jodphiole. »Das habe ich gesucht, weil ich auch in dieser Richtung etwas ahne. Es war in seinem Arzneischrank, zusammen mit einer derartigen Menge von Heilmitteln, daß man damit eine Drogerie aufmachen könnte. Dakin ist immer eine Art Hypochonder gewesen.« Er stellte das Fläschchen auf den Tisch und betrachtete es verdrossen. »Neues bedeutet auch das absolut nicht.« Sein enttäuschter Blick schweifte durch den Raum. »Hier verlieren wir nur unsere Zeit. Ich hätte ganz gern Dr. Fawcett in der Nervenheilanstalt einen Besuch gemacht. Können Sie mich hinfahren?« »Ich will erst mal anrufen.« Wohl benützte Dakins Telefon, um mit dem Präsidium zu sprechen. Nachdem er aufgelegt hatte, wandte er sich an Graham: »Es wird keine Obduktion stattfinden. Von Dakin ist kaum noch etwas übriggeblieben.« Er steckte die Jodphiole ein und öffnete die Tür. »Kommen Sie, sehen wir uns die Klapsmühle mal an. Wenn das so weitergeht, werden wir vielleicht demnächst auch dort landen.«
Die neue Nervenheilanstalt des Staates New York war ein riesiger Gebäudekomplex in einem ausgedehnten Parkgelände. Offensichtlich verfügte Dr. Fawcett über die besten Verbindungen zur Verwaltung. Der Nervenspezialist wirkte sehr klein hinter seinem wuchtigen Schreibtisch. Nachdem er die Abschrift von Webbs Aufzeichnungen gelesen hatte, die Graham ihm mitgebracht hatte, hielt er das Blatt eine Weile unbeweglich in der Hand und blickte seine beiden Besucher ausdruckslos an. »Diese Niederschrift läßt ja hochinteressante Schlüsse auf den Geisteszustand meines armen Freundes Webb zu«, meinte er nach einer Pause. »Traurig! Sehr traurig.« Er legte das Blatt hin, nahm die Brille ab und tippte mit dem einen Bügel darauf. »Ich hatte schon den Verdacht, daß er unter Zwangsvorstellungen litt, aber ich muß gestehen, ich ahnte nicht, daß es schon so schlimm geworden war.« »Worauf begründeten Sie Ihren Verdacht, Doktor?« fragte Graham. »Ich spiele leidenschaftlich gern Schach. Webb auch. Unsere Freundschaft war eigentlich nur die Folge unserer gemeinsamen Leidenschaft für dieses Spiel. Webb war Physiker und hatte sich bisher noch nie für Geisteskrankheiten interessiert; um so erstaunlicher war es für mich, als er plötzlich starkes Interesse dafür an den Tag legte. Auf seine eigene Bitte hin erlaubte ich es ihm, die Anstalt zu besuchen und einige unserer Patienten zu beobachten.« »Aha!« sagte Graham und lehnte sich gespannt nach vorn. »Nannte er Ihnen einen Grund für sein plötzlich erwachtes Interesse?«
»Nein, und ich fragte ihn auch nicht«, antwortete der Arzt. »Er interessierte sich vornehmlich für Zwangsvorstellungen, gepaart mit Verfolgungswahn. Und für Fälle von Schizophrenie.« »Und was sind das für Typen?« fragte Wohl. Dr. Fawcett hob die Augenbrauen. »Leute, die an Schizophrenie leiden, was denn sonst?« »Das sagt mir auch nicht mehr«, meinte Wohl auf eine naive Art. Der Arzt erklärte es ihm. »Das sind schizoide Egozentriker.« Wohl gab sich geschlagen. Wie zu seiner Verteidigung brummelte er nur noch: »Verrückte sind in meinen Augen eben Verrückte, ganz gleich, was für fremdländische Bezeichnungen man ihnen gibt.« »Und wie ging die Sache mit Webb weiter?« fragte Graham, um auf das Thema zurückzukommen. »Etwa eine Woche nach seinem Besuch rief er mich an und fragte, ob ich Unterlagen habe über Kropfbildung bei Schwachsinnigen.« »Hatten Sie welche?« »Ja.« Fawcett beugte sich aus dem Schreibtischsessel, zog eine Schublade auf und holte einen Aktendeckel heraus. »Ich hatte den Bericht für ihn vorbereitet. Nun, da er tot ist, braucht er ihn nicht mehr.« Er reichte Graham den Aktendeckel. Graham schlug ihn auf und überflog den einzigen Bogen Papier, den er enthielt. »Komisch«, meinte er dann. »In einer so großen Anstalt wie dieser hier kein einziger Fall von Kropf. Und in anderen Anstalten gibt es diese Krankheit auch nicht, oder zumindest nur in vereinzelten Fällen.« »Was an sich noch gar nichts bedeutet. Daraus geht
lediglich hervor, daß Schwachsinnige für eine Krankheit nicht sehr anfällig sind, die ohnehin nicht sehr häufig vorkommt.« »Was führt eigentlich zu Kropfbildungen?« fragte Graham. »Jodmangel«, antwortete Dr. Fawcett. Jod! Graham und Wohl blickten sich betroffen an. Dann fragte Graham: »Besteht ein Zusammenhang zwischen zuviel Jod im Organismus und Geistesschwäche?« Der Arzt lachte laut heraus. »Wenn dem so wäre, müßten die meisten Menschen, die zur See fahren, schwachsinnig sein. Deren Kost ist zum Teil sehr stark jodhaltig.« Graham erkannte sofort die Zusammenhänge. Wohl auch, denn der Blick, mit dem er Graham anstarrte, sprach Bände. Der Tote hatte das in seinen letzten Aufzeichnungen erwähnt. Seeleute sind besonders empfänglich. Empfänglich für was? Für Illusionen und Seemannsgarn, das seine Wurzeln in Illusionen hatte? Seeschlangen? Ungeheuer? Nixen? Der fliegende Holländer? Klaubautermann? Ertrunkene, die im Nebel auftauchen und verschwinden? Davon ausgehend wird zu überprüfen sein, wie sich Bewohner von Küstengegenden im Vergleich zu denen im Binnenland verhalten. Graham mußte sich sehr anstrengen, sich seine Erregung nicht anmerken zu lassen. Betont lässig nahm er die Abschrift von Webbs Aufzeichnungen vom Schreibtisch des Nervenarztes. »Danke, Doktor. Sie haben uns ein gutes Stück weitergeholfen.« »Zögern Sie nicht, mich anzurufen, wenn ich Ihnen
noch irgendwie behilflich sein kann«, meinte Fawcett. »Falls es Ihnen gelingen sollte, auf den Grund von Webbs Verhalten zu stoßen, wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie es mir mitteilten.« Am darauffolgenden Morgen war herrliches Wetter. Graham stand vor dem Spiegel und rasierte sich, als das Telefon summte. Der junge Mann auf dem Bildschirm fragte: »Mister Graham?« »Ja?« »Hier ist das Smithsonian Institut«, sagte der Anrufer. »Mr. Harriman wollte Ihnen gestern spätabends eine Nachricht zukommen lassen, konnte Sie aber nicht erreichen. Mr. Harriman hat mir aufgetragen, Ihnen folgendes zu bestellen: Er ist bei sämtlichen Presseagenturen gewesen und hat festgestellt, daß sie innerhalb der letzten fünf Wochen den Tod von achtzehn Wissenschaftlern gemeldet haben, sieben Ausländer und elf Amerikaner.« »Achtzehn!« stieß Graham hervor. Er betrachtete das Gesicht auf dem Schirm. »Haben Sie die Namen?« »Ja.« Der junge Mann las sie langsam vor, damit Graham mitschreiben konnte. Er gab auch jedesmal die Staatszugehörigkeit bekannt. »Sonst noch etwas, Sir?« »Bitte, richten Sie Mr. Harriman meinen Dank aus! Er soll mich gelegentlich im Büro anrufen.« »Ist gut, Mr. Graham.« Der Mann unterbrach die Verbindung. Graham verfiel in angestrengtes Grübeln. Am anderen Ende des Zimmers schlug der Gong des Fernnachrichtenempfängers leise an. Graham
ging hinüber und hob den Deckel an. Darunter lag der Zeitungswiedergabeschirm, der bei diesem Apparat auf die Übertragung der New York Sun eingestellt war. Eben begann die Morgenausgabe der Sun zum Mitlesen über den Schirm abzurollen. Während des Hinsehens schweiften Grahams Gedanken öfter ab. Plötzlich aber blickte er scharf hin, und seine volle Aufmerksamkeit war zurückgekehrt. Eine neue Schlagzeile war erschienen. TODESSTURZ EINES WISSENSCHAFTLERS Professor Samuel C. Dakin, 52, Physiker, wohnhaft in der William Street, verunglückte gestern auf einer Überführung der Hochstraße und stürzte mit seinem Fahrzeug auf die darunter liegende Fahrbahn... Der Bericht lief über eine halbe Spalte weiter, brachte auch eine Aufnahme des Wracks sowie eine Würdigung des »dahingegangenen Genies« und meldete, daß die Polizei der Ursache des tragischen Unfalles nachgehe. Den Abschluß bildete eine redaktionelle Bemerkung des Inhaltes, dies sei seit gestern früh der dritte Wissenschaftler, der in New York ums Leben gekommen sei. »Wir verweisen auf das Ableben von Professor Walter Mayo und Doktor Irwin Webb, worüber wir in unserer gestrigen Abendausgabe ausführlich berichtet haben.« Unter dem Wiedergabeschirm befand sich ein Fach für die automatische Reproduktion der Zeitung. Aus ihm zog Graham die Fotokopie der erwähnten Abendausgabe hervor. Auf zwei Spalten waren die
Fälle Mayo und Webb einander gegenübergestellt, der eine unter der Überschrift: MAYO STÜRZT VOM MARTIN BUILDING, der andere mit dem Titel: ZWEITER GELEHRTER TOT. Beide Berichte waren ziemlich oberflächlich abgefaßt. Aus ihnen ging nichts weiter hervor, als daß »die Polizei ermittelt«. In diesem Augenblick erschien Wohl. Ohne anzuklopfen stürzte er in das Zimmer. Mit einem kurzen: »Hab ich schon gesehen!« lehnte er das Exemplar der Zeitung ab. »Warum so aufgeregt?« »Meine Vorahnung!« Schwer atmend setzte er sich nieder. »Sie sind nicht der einzige, der Ahnungen hat.« Er keuchte, grinste als Entschuldigung, keuchte wieder. »Man hat die Obduktionen durchgeführt. Mayo und Webb waren voll von Rauschgift.« »Rauschgift?« fragte Graham ungläubig. »Meskalin«, fuhr Wohl fort. »Eine besonders reine Form von Meskalin. Der Mageninhalt wies deutliche Spuren davon auf.« Er machte eine Pause und schöpfte wieder Atem. »Und in ihren Nieren hatte sich Methylenblau angereichert.« »Methylenblau!« Graham zerbrach sich vergebens den Kopf nach einer vernünftigen Deutung dieser Mitteilung. »Unsere Leute haben die Ergebnisse sehr rasch ausgewertet. Sie fanden in den Laboratorien von Mayo, Webb und Dakin Meskalin, Methylenblau und Jod. Wir beide wären auch darauf gestoßen, wenn wir gewußt hätten, was wir suchen sollten.« Graham nickte. »Man kann wohl annehmen, daß eine Obduktion bei Dakin das gleiche Ergebnis gebracht hätte.«
»Ich denke schon«, sagte Wohl. »Unsere Techniker haben auch entdeckt, daß der Stoff in Mayos Destillieranlage indischer Hanf war, aus dem bekanntlich Haschisch gewonnen wird. Weiß der Teufel, wie er das Zeug ins Land geschmuggelt hat! Aber die Tatsache bleibt bestehen. Er scheint vorgehabt zu haben, Versuche mit anderen Drogen als Meskalin anzustellen.« »Wenn das zutrifft«, sagte Graham entschieden, »hat er es nur zu wissenschaftlichen Zwecken getan. Mayo war nie süchtig.« »Mag sein«, entgegnete Wohl. Graham schob ihm die Liste der Namen hin. »Werfen Sie mal einen Blick darauf! Nach den Erhebungen des Smithsonian-Institutes haben diese achtzehn Wissenschaftler während der letzten fünf Wochen ins Gras gebissen. Normalerweise hätten es nur drei oder vielleicht vier Todesfälle sein dürfen.« Er setzte sich auf die Tischkante und ließ die Beine baumeln. »Daraus folgt, daß die Quote zu hoch ist – unnatürlich hoch. Und weiterhin bedeutet es, daß wir in etwas verwickelt sind, das beträchtlich größere Dimensionen annimmt, als es zunächst den Anschein hatte.« Wohl ging die Liste genau durch und meinte: »Es ist nicht nur eine zu hohe Quote, sondern eine total verrückte Sache. Alle Rauschgiftfälle schlagen ins Pathologische um. Nur sind alle diese Fälle so ungewöhnlich, daß es mich seit gestern abend nicht mehr losläßt.« Er schnitt eine Grimasse. Mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, ließ Graham den Blick auf der Morgenausgabe der Sun ruhen, die noch immer langsam auf dem Schirm abrollte. Eben öffnete er den Mund, um Wohl eine Antwort zu
geben. Aber er schloß ihn wieder, ohne ein Wort zu sagen. Die Zeilen auf dem Bildschirm wurden plötzlich scharf und deutlich. Er sprang auf, und Wohl folgte seinem Blick. BEKANNTER EXPERTE VERUNGLÜCKT Stephen Reed, 60, aus Far Rockaway, erregte heute morgen großes Aufsehen vor der Central Library in der Fifth Avenue und warf sich anschließend unter einen Schwertransporter. Er war auf der Stelle tot. Reed war einer der führenden Spezialisten auf dem Gebiet der Augenchirurgie. Graham schaltete das Zeitungsgerät aus, schloß den Deckel und langte nach seinem Hut. »Nummer neunzehn!« sagte er leise.
4 Der verstorbene Stephen Reed hatte in einer Junggesellen-Villa gewohnt, in der eine ältere, mütterlich aussehende Wirtschafterin den Haushalt führte. Über die Arbeit des Wissenschaftlers wußte sie nichts zu berichten. Während sie sich auf ihr Zimmer zurückzog, durchsuchten die beiden Männer Reeds Arbeitszimmer. Sie fanden eine Menge von Papieren, die sie hastig sichteten. »Der nächste, der einen Herzanfall kriegt, wird mein Chef sein«, sagte Wohl voraus, während er nach einigen Briefen griff. »Wieso?« »Haussuchungen ohne richterlichen Beschluß sind gesetzwidrig. Wenn mein Vorgesetzter sehen würde, wie Sie mich dazu verleiten, meine Finger in die Angelegenheiten anderer Leute zu stecken, würde ihn bestimmt der Schlag rühren. Vielleicht wissen Sie's nicht, aber mit Ihrer gütigen Beihilfe bin ich auf dem besten Weg zur Degradierung.« Graham brummte spöttisch und setzte seine Suche fort. Es dauerte eine Weile, bevor er mit einem Brief in der Hand seinen Helfer ansprach. »Hören Sie mal zu!« Er las vor. »›Lieber Steve! Zu meinem Bedauern erfahre ich, daß Mayo Ihnen etwas von seinem Stoff abgibt. Ich weiß, daß Sie natürlich lebhaftes Interesse an der Sache haben, muß Ihnen aber sagen, daß man nur seine kostbare Zeit verschwendet, wenn man sich damit beschäftigt. Ich rate Ihnen, es in den Mülleimer zu werfen und nicht mehr
daran zu denken. Dort kann es keinen Schaden anrichten. Das weiß ich nur zu gut.‹« Graham blickte auf. »Als Absender ist Webb angegeben, und unterschrieben ist der Brief mit Irwin.« »Welches Datum?« »22. Mai.« »Nicht so lange her.« »Gleich zwei Glieder in der Kette!« bemerkte Graham. »Mayo – Webb – Reed. Das Zeug ist von einer Hand in die andere gewandert. So hab ich mir's vorgestellt.« »Ich auch.« Wohl schob Papiere hin und her, prüfte sie. »Persönliche Empfehlungen – wie ich vermutet habe. Allerdings scheint Webb aus irgendeinem Grunde versucht zu haben, Reed davon abzuraten.« »Der Grund liegt darin, daß die Beschäftigung mit der Sache den Tod bedeutete – und Webb hat das schon damals erkannt! Am 22. Mai wußte er, daß seine Tage gezählt waren – so sicher, wie ich weiß, daß ich hier auf meinen beiden Füßen stehe. Er konnte nicht viel dagegen tun. Aber er hat sich bemüht, Reed vor dem gleichen Schicksal zu bewahren.« Wohl blickte von seiner Arbeit auf und sagte: »Sie sprechen da verflucht ernst klingende Worte. Das hört sich ja so an, als würde es demnächst uns an den Kragen gehen.« »Ich kann für das Gegenteil nicht garantieren – sobald wir einmal wirklich anfangen, tiefer in die Materie einzudringen.« Er schob einen Stoß bedeutungsloser Papiere in eine Mappe zurück und brummte: »Absolut nichts!« »Mir geht's genauso!« bestätigte Wohl. »Was ist Konjunktivitis?«
»Eine Augenkrankheit.« »Ich dachte, das hat etwas mit lateinischer Grammatik zu tun.« Er blätterte rasch durch die letzten Schriftstücke und legte sie wieder an ihren Platz. »Hier hatte er kein Labor und auch keine Ordination. Er hat in der Augenklinik in Brooklyn operiert. Wir sollten mal hinfahren.« »Zuerst rufe ich mein Büro an. Höchste Zeit, daß ich mich melde!« Von Reeds Apparat aus führte er ein langes Gespräch mit Sangster. Dann sagte er zu Wohl: »Wir sollen sofort zu ihm kommen. Seit dem frühen Morgen wartet man auf uns. Sangster ist geladen, als hätte er eine Atombombe geschluckt.« »Wir?« betonte Wohl und zog die Brauen hoch. »Wir beide«, bestätigte Graham. »Etwas ganz Großes scheint in der Luft zu liegen.« Er rieb sich das Kinn und schaute sich im Raum mit offenkundiger Enttäuschung um. »Hier ist nichts zu finden. Fahren wir.« Sangster hatte einen großen, sehr gepflegten, militärisch aussehenden Mann mittleren Alters bei sich. Als Graham und Wohl eintraten, machte er stirnrunzelnd eine Kopfbewegung nach der Uhr hin und stellte den Gast als Oberst Leamington vor. »Die Ermittlung ist unserem Büro aus der Hand genommen worden«, erklärte Sangster ohne Einleitung und reichte Graham über den Tisch hinüber einen offiziellen Briefbogen. Das Papier raschelte in Grahams Hand, als er las: »Ihr Ansuchen um sofortige Überstellung zum Geheimdienst der Vereinigten Staaten wurde genehmigt. Besagte Überstellung wird mit dem heutigen
Tage wirksam. Sie erhalten Ihre Vollmachten und Weisungen von Oberst John H. Leamington, den Sie bis auf weiteres als Ihren Vorgesetzten betrachten werden.« Als er die berühmte Unterschrift am Schluß des Briefes bemerkte, schluckte er und blickte Sangster fragend an. »Aber Sir, ich habe doch nichts dergleichen beantragt.« »Sie können den Brief zerreißen, wenn Sie wünschen«, entgegnete Sangster. Oberst Leamington griff mit den Worten ein: »Die Sache ist einfach die, Mr. Graham, daß wir Ihnen die Möglichkeit bieten wollen, Ihre Untersuchung mit wirksameren Hilfsmitteln weiterzuführen, als Ihre gegenwärtige Stellung sie Ihnen bietet.« »Vielen Dank«, erwiderte Graham, noch immer etwas benommen. »Einer unserer Presseleute hat uns von den Fragen unterrichtet, die ihm Harriman in Ihrem Auftrage stellte. Dadurch wurde unsere Aufmerksamkeit auf eine Angelegenheit gelenkt, die uns sonst vielleicht noch eine Zeitlang entgangen wäre.« Er strich sich den sehr sorgfältig gestutzten Schnurrbart. Seine Miene war ernst, sehr ernst. »Elf der ums Leben gekommenen Wissenschaftler sind Amerikaner gewesen. Es waren Männer von unschätzbarem Werte für ihr Land. Aber so schwer dieser Verlust auch wiegen mag – er bedeutet nichts gegenüber der Gefahr einer Fortsetzung der Serie von Todesfällen. Die Bundesregierung kann an diesen plötzlichen geheimnisvollen Todesfällen nicht achtlos vorübergehen.« »Ich verstehe.« »Sie nehmen also den Auftrag an?« drängte Oberst
Leamington. »Ja, ja, natürlich!« Er nahm den Ring von Leamington in Empfang und steckte ihn an den Mittelfinger der rechten Hand. Er paßte genau. Man hatte offenbar seine Zustimmung vorweggenommen und schon alles vorbereitet. Graham wußte, daß auf der Innenfläche des Ringes, die aus mehrfach gehärtetem Iridium bestand, eine Gravierung angebracht war, so fein, daß ein unbewaffnetes Auge sie nicht erkennen konnte – eine mikroskopisch kleine Inschrift mit Name, Körpergröße, Gewicht, Bertillon-Maßen und dem Fingerabdruck-Code sowie der Geheimdienstnummer und einer trotz ihrer Winzigkeit vollkommen getreuen Wiedergabe seiner Unterschrift. Diese bescheidene Zier war sein einziges Dienstabzeichen, der alleinige Ausweis seiner Stellung. Aber obwohl niemand, der nicht mit den dazu erforderlichen Behelfen ausgerüstet war, die Vollmachtsurkunde lesen konnte, bildete sie allerorts das Sesam, öffne dich! zu sämtlichen Behörden. Während diese Gedanken Graham durch den Kopf gingen, stieg in ihm gleichzeitig eine schwache, unheimliche Empfindung drohender Gefahr auf. Wieder jene unbestimmte, kaum faßbare, aber ausgesprochen beunruhigende Warnung! Noch einmal blickte er auf den Ring, und es fiel ihm ein, daß man ihn auch von einem anderen, grausigeren Gesichtspunkt betrachten konnte: Dieser Ring könnte vielleicht – wie in so vielen anderen Fällen – das einzige Mittel bilden, um einen schrecklich entstellten Leichnam zu identifizieren. Graham schob diesen Gedanken beiseite und sagte: »Nur eines noch, Oberst! Ich würde gern weiter mit
Leutnant Wohl zusammenarbeiten. Er ist mit dem Fall eben vertraut wie ich – und wir brauchen uns gegenseitig.« Er wich Wohls dankbarem Blick aus und wartete auf Leamingtons Antwort. »Etwas ungewöhnlich! Aber ich denke, es wird sich einrichten lassen. Ich zweifle kaum daran, daß der Polizeipräsident sich bereit finden wird, Leutnant Wohl so lange freizustellen, bis er diese Sache erledigt hat.« »Besten Dank, Sir«, sagten Graham und Wohl wie im Chor. Das Telefon summte. Sangster meldete sich, reichte den Hörer Graham. Die übrigen Anwesenden betrachteten sein Mienenspiel während des Gespräches. Nachdem er aufgelegt hatte, berichtete er: »Frau Dr. Curtis hat einen Fernanruf von Professor Edward Beach erhalten. Dieser habe eben die Meldungen über Webbs und Mayos Hinscheiden gelesen. Er hat ihr ein tief empfundenes Mitgefühl ausgesprochen. Aber Dr. Curtis gewann den Eindruck, daß er ein auffälliges Interesse für die Einzelheiten der tragischen Vorfälle an den Tag legte.« »Und?« drängte Leamington. »Dieser Beach ist, wie Frau Dr. Curtis sagt, ein alter Freund Webbs. Ich kenne ihn übrigens auch. Er arbeitet für die National Camera Company in Silver City in Idaho. Beach ist genau der Gelehrtentyp, von dem man annehmen kann, daß er wertvolle Informationen über Mayo, Webb und Dakin besitzt.« Er hielt einen Augenblick inne, um dem, was er nun sagen wollte, erhöhten Nachdruck zu verleihen, und fügte hinzu: »Besonders, nachdem er Dr. Curtis ausdrück-
lich gefragt hat, ob ihres Wissens Webb, ebenso wie Mayo und Dakin, vor dem Tode mit der Bjornsenschen Formel gearbeitet habe.« »Bjornsen!« rief Sangster. »Ihnen allen sind wohl die daraus zu ziehenden Schlüsse klar«, fuhr Graham fort. »Beach stand mit den anderen in genau der gleichen Verbindung wie sie untereinander – durch einen auf gemeinsamen Interessen beruhenden Briefwechsel. Der Mann bildet ein Glied in der Unglückskette, aber das Schicksal der anderen hat ihn bisher noch nicht ereilt! Er ist ein Todeskandidat, der noch vernehmungsfähig ist. Ich muß ihn aufsuchen und zum Sprechen bringen, bevor er Leichnam Nummer zwanzig wird.« Er sah nach der Uhr. »Wenn ich Glück habe, erwische ich noch die nächste Maschine nach Boise.« Wohl sagte: »Komme ich mit, oder packen Sie die Sache allein an?« »Diesmal mach ich's in eigener Regie. Ich fahre zum Flugplatz. Rufen Sie unterdessen dort an und buchen Sie meinen Flug.«
5 Der New York-Boise-Seattle-Stratojet verließ die oberen Schichten der Atmosphäre. Eine Zigarette, die Graham sich über Oakley angezündet hatte, war erst halb geraucht, als der Jet zum Anflug auf Boise ansetzte. Beim Anflugbogen sah er Silver City links unten liegen. Die Stadt war in der trockenen, staubfreien Luft dieser Gegend leicht zu erkennen. In der Sonne leuchteten die weißen und gelblichen Bauwerke. Über den Umrißlinien ragten deutlich erkennbar die Anlagen des Werkes der National Camera Company empor. Einen Augenblick lang zeichneten sie sich noch scharf und bis in die Einzelheiten deutlich am Horizont ab. Im nächsten Moment war alles in einer mächtigen, aufsteigenden Wolke verschwunden. Graham zerdrückte die Zigarette zwischen plötzlich kraftlos gewordenen Fingern, erhob sich in seinem Sitz und starrte mit ungläubigen Augen auf das entsetzliche Schauspiel. Die Wolke wuchs ins Ungeheure und schwoll mit der Urgewalt eines Sandsturmes an. Von ihrem oberen Rand lösten sich kleine, schwarze Punkte, schwebten für Sekunden frei in der Luft, fielen wieder in das wirbelnde Chaos zurück. »Mein Gott!« keuchte Graham. Da man die Punkte auf so weite Entfernung sehen konnte, mußten sie groß sein, sehr groß – wie Häuser. In diesen spannungsgeladenen Augenblicken war es Graham, als hätte man ihm bei der Explosion einer Atombombe einen Zuschauerplatz in den ersten Reihen zur Verfügung gestellt.
Das Landemanöver des Stratojet entzog das ferne Drama seinen Blicken. Ohne zu ahnen, daß etwas Außergewöhnliches vor sich ging, setzte der Pilot zur Landung an. Silver City war hinter den sich dazwischenschiebenden Ausläufern der Rocky Mountains verschwunden. Die große Maschine setzte weich auf und rollte über die Landebahn. Etwa hundert Privatpersonen und Angestellte befanden sich auf dem Flughafengelände. Aber keiner nahm von der Ankunft des Stratojet auch nur die geringste Notiz. Zu Bildsäulen erstarrt, standen sie in Gruppen hier und dort, die Gesichter nach Süden gerichtet. In südlicher Richtung stand, hoch über die Kette der Rockies emporragend, eine Wolke. Sie war nicht pilzförmig wie andere berüchtigte Wolken. In dunklen Spiralen wand sie sich empor und wuchs immer höher. Nun bildete sie schon eine schaurige Säule, die bis zum Himmelsgewölbe reichte, wie ein aus Gasen verdichtetes Riesengewächs, das seine Wurzeln in der Hölle hatte. Es war eine gewaltige, unheimliche Auftürmung wirbelnder Rauchballen. Und welcher Krach! Der Lärm des fernen Geschehens war unsagbar fürchterlich, obwohl er durch den räumlichen Abstand gedämpft wurde. Es klang nach gemarterten, zerrissenen Luftmassen. Es klang, als würde ein tollgewordener Riese durch den Kosmos Amok laufen und alles, was ihm in die gewaltigen Pranken fiel, zerreißen, zerfetzen, zerschlagen. Die gasförmige Wolke schwebte weiter in der Luft, während der dichtere Stamm des Pilzes in sich zusammenstürzte. Mit erschreckender Plötzlichkeit entzog er sich den Blicken. Der Körper des Ungeheuers
war verschwunden, doch seine giftige Seele stieg weiter in die Höhe und trieb nach Westen ab. Sein höllisches Kreischen aber und sein ersticktes Brüllen erfüllten noch sekundenlang die Luft, bevor der Lärm abklang und erstarb. Langsam, wie unter einem Bann, begannen die hundert Menschen sich wieder zu bewegen. Einige Angestellte des Flughafens näherten sich dem Stratojet. Am Rande der Rollbahn eilte jemand auf eine Sportmaschine zu. Graham rannte hinterher. »Schnell! Fliegen Sie mich nach Silver City! Dienstauftrag der Regierung!« Das Ziel des Fluges lag unter einer alles verhüllenden Staubwolke, die während des Anflugs der Maschine zögernd zu Boden sank. Gerade als das Flugzeug unmittelbar über der Stadt dahinbrauste, zerteilte ein Windstoß die finsteren Schwaden und gab den Blick auf das frei, was einst Silver City gewesen war. Silver City bestand nicht mehr. Das einstige Stadtgebiet war nun eine riesige Schramme auf der Fläche Idahos, eine fast hundert Kilometer lange, mit Trümmern übersäte Wunde. Vor Schreck zitternd, versuchte der Pilot auf gut Glück eine Landung. Er wählte dazu einen Streifen ebenen Landes am Nordrand der Stadt. Die Maschine setzte auf, machte einen Sprung, setzte wieder auf und kippte zur Seite, so daß die linke Tragflächenspitze sich in den Sand grub. Sie drehte sich im Halbkreis, verlor die linke Tragfläche und kam zur Ruhe. Die beiden Insassen stiegen unverletzt aus. Vor knapp einer Stunde hatte hier noch eine Stadt gestanden. Nun war es eine von Kratern durchsetzte
Fläche. Viele der Ruinen und Trümmer rauchten noch. Ein Wagen, dessen Fahrer wortlos hinter dem Sitz kauerte, brachte Graham nach Boise zurück. Er nahm ein Hotelzimmer, wusch und rasierte sich. Dann rief er Oberst Leamington an. Die Nachricht von der Katastrophe habe die Nation erschüttert, sagte der Oberst. Dem Präsidenten der Vereinigten Staaten waren schon von fünfzehn Staatsoberhäuptern ebenso wie von ungezählten Privatpersonen Beileidsbekundungen zugegangen. »Wir unternehmen alles Erdenkliche, um so rasch und so zuverlässig wie möglich zu ermitteln, ob es sich dabei um eine Wiederholung von Hiroshima, Black Tom oder Texas City handelt«, fuhr er fort, »das heißt, ob ein feindlicher Angriff, Sabotage oder ein verhängnisvoller Zufall vorliegen.« »Ein zweites Hiroshima ist es nicht«, erklärte Graham. »Das war keine atomare Entladung – wenigstens nicht in dem uns geläufigen Sinne. Es war eine gewöhnliche Explosion. Bloß die Ausmaße sind ins Gigantische gesteigert.« »Woher wissen Sie das?« »Man hat aus allen Richtungen Geigerzähler gebracht. Vor dem Weggehen habe ich noch eine ganze Anzahl Leute befragt, die mit solchen Geräten ausgerüstet waren. Sie gaben an, die Strahlung sei, soweit sie feststellen konnten, völlig normal. Das Gebiet scheint nicht verseucht zu sein.« »Hm!« brummte Leamington. »Ich nehme an, der Bericht darüber wird in Kürze bei uns einlaufen.« Er schwieg einige Sekunden lang. Dann sagte er: »Soll-
ten Sie vielleicht zufällig einem Zusammenhang zwischen der schrecklichen Katastrophe und dem Gegenstand Ihrer Untersuchung auf die Spur kommen, so müssen Sie alles liegen und stehen lassen und sich sofort mit mir in Verbindung setzen. In diesem Falle würde die Angelegenheit Dimensionen annehmen, mit denen ein einzelner bei weitem nicht fertig werden könnte.« »Für einen solchen Zusammenhang liegt kein Anhaltspunkt vor«, bemerkte Graham. »Ja, ja – so lange nicht, bis man ihn auf einmal entdeckt!« warf Leamington ein. »Durch die Dinge, die sich vorher abgespielt haben, bin ich überaus mißtrauisch geworden. Wenn Beach nicht einer der wenigen Überlebenden der Silver-City-Katastrophe sein sollte, so ist er inzwischen Nummer zwanzig auf der Liste geworden, genau wie Sie es befürchtet haben. Sein Mund ist ihm verschlossen worden, bevor man an den Mann herankommen konnte. Wie bei allen anderen. Mir gefällt das nicht!« »Mag sein, Sir. Aber...« »Graham, ich wiederhole mit dem größten Nachdruck: Sollten Sie auf irgendeine Art von Verkettung zwischen diesem Massensterben und der Angelegenheit, an der Sie arbeiten, stoßen, müssen Sie auf der Stelle Ihre Tätigkeit unterbrechen und mir unverzüglich berichten.« Polizeichef Corbett fand schließlich einen Augenzeugen im Hauptsaal des überbelegten Boiser Krankenhauses. Nach seiner Information war dieser Mann unter den dreitausend aus den Trümmern von Silver City lebend geborgenen Personen der einzige Ange-
stellte der Kamera-Werke. Der Patient steckte vom Kopf bis zu den Füßen in einem Streckverband. Sogar die Augen waren verbunden. Nur den Mund hatte man freigelassen. Ein starker Geruch nach Gerbsäure ging von ihm aus und gab stummes Zeugnis von den ausgedehnten Verbrennungen. Graham saß an der einen Seite des Bettes, Corbett an der anderen. Graham brachte seine Lippen ganz nahe an eines der verbundenen Ohren und fragte: »Was ist in die Luft gegangen?« Ein schwaches Flüstern wurde vernehmlich. »Die Tanks.« »Silbernitrat?« forschte Graham. »Ja.« »Können Sie sich das erklären?« »Nein.« Graham warf dem mithörenden Corbett einen vielsagenden Blick zu, der aber unerwidert blieb. Dann fragte er den Mann im Bett: »Womit waren Sie zur Zeit des Unglücks beschäftigt?« Es kam keine Erwiderung. »Wenn Sie sich weigern zu reden«, drohte Corbett, »könnten wir Mittel und Wege finden, Ihnen...« Graham winkte ab, näherte seine Lippen wieder der ausgestreckt daliegenden Gestalt und murmelte: »Dr. Beach ermächtigt Sie, alles zu sagen, was Sie wissen.« »Beach?« rief der Mann im Bett. »Er hat mir doch eingeschärft, nichts zu verraten.« »So?« Graham war höchst überrascht. »Was denn? Hat er Sie hier besucht?« »Eine Stunde, bevor Sie gekommen sind«, gestand der andere mit leiser Stimme.
Graham mußte sich sehr zusammennehmen, um nicht, wie es ihn drängte, laut herauszuschreien: »Dann ist er also am Leben!« Aber er unterdrückte das und sagte kühl. »In einer Stunde kann sich viel ändern. Sprechen Sie unbesorgt!« Der andere machte eine kleine Bewegung. »Vorgestern haben wir die neue Emulsion gefunden«, berichtete er. »Unter Beachs Anleitung haben wir fast drei Monate lang experimentiert. Es war eine angestrengte Arbeit, Tag und Nacht, in drei Schichten. Sie ist durchgepeitscht worden. Beach ließ nicht locker. Eine Einzelperson hätte zehn Jahre gebraucht, um das Zeug zu entwickeln. Aber man hat sechzig Leute angesetzt, und wir hatten alle Hilfsmittel zur Verfügung. Mittwoch früh war Wyman schließlich soweit. Aber wir haben nicht bestimmt gewußt, ob er wirklich das Richtige gefunden hatte – bis wir kurz vor der Explosion das Ergebnis testeten.« »Was für eine Emulsion war das? Und wie haben Sie die Probe gemacht?« fragte Graham. »Es war eine fotografische Schicht, die auf Frequenzen anspricht, die weit in den Infrarotbereich hineinreichen. Beach erklärte uns, damit müsse es möglich sein, irgendwelche scheibenförmigen Gebilde aufzunehmen – ich weiß nicht, warum. Niemand von uns wußte das. Wir haben Probeaufnahmen mit Wymans Emulsion gemacht. Und tatsächlich zeigten die Negative nach der Entwicklung Kreise, die wie kleine Sonnen aussahen.« »Weiter, weiter!« drängte Graham. »Wir haben die Bilder betrachtet und viel darüber gesprochen. Diese Sonnen waren offenbar kleine Kugeln, die eine unsichtbare Strahlung erzeugten. Drei
oder vier davon haben über dem Dach von Werkshalle vier geschwebt. Irgendwie – ich kann nicht erklären, wie und warum – hat uns der Anblick in große Aufregung versetzt. Ganz schrecklich war es! Richtiges Herzklopfen haben wir bekommen. Beach war zu der Zeit, da der Versuch positiv ausfiel, zu Hause. Wyman hat ihn angerufen und war mitten im Erzählen, da – rums!« »Aber Beach hat doch sicher von diesen kleinen Sonnen gewußt, bevor es Ihnen gelang, sie auf den Film zu bringen?« »Natürlich! Ich weiß nicht, woher seine Kenntnis darüber stammt. Aber jedenfalls hat er sie sich verschafft – von irgendwoher.« »Er hat nie eine Andeutung über die Natur dieser Erscheinungen gemacht?« »Nein. Er hat uns nur gesagt, wie sie auf einem Negativ aussehen müßten. Nichts weiter. In dieser Sache war er sehr verschlossen.« »Danke!« schloß Graham. »Ich glaube, Sie haben uns einen großen Dienst erwiesen.«
6 Wie eine tollgewordene Schlange wand sich der Pfad im Mondlicht. In zahllosen Biegungen und Krümmungen kroch er empor, immer höher. Ein galliger Mond ließ seine krankhaft bleichen Strahlen auf trübselige Steinblöcke, auf dräuende Kiefern fallen und tauchte die wilde Landschaft in ein blasses, gespenstisches Licht. In vielen Windungen stieg der Pfad den Hang empor und mündete schließlich in einem kleinen Hochtal, das bis auf den schmalen Zugang von mächtigen Felsmauern umschlossen war. Am Talende kauerte, eng an den Boden geschmiegt, ein Gebäude – angstvoll hingeduckt, soweit man das von einem Bauwerk sagen konnte. Es war keine wackelige Bretterbude, sondern ein festes Gefüge aus Beton und den Steinen der Gegend, niedrig und langgestreckt, schmucklos, in seiner völligen Abgeschiedenheit unheimlich. Graham drückte auf die Klinke, stellte fest, daß die dicke Stahltür abgesperrt war. Um das Geräusch zu verstärken, hob er einen Stein und klopfte damit. Kein Lebenszeichen! Er wandte der Tür den Rücken, starrte durch das Dunkel nach dem fernen, mondbeschienenen Wegweiser. Er legte das Ohr gegen die Tür, lauschte angestrengt, hörte ein schwaches Surren, das sich zu einem leisen Winseln steigerte. Ein Gefühl aufrichtiger Erleichterung erhellte seine Züge, als das Winseln verstummte. Ein kurzes metallisches Knarren folgte. Langsame, bedächtige Schritte näherten sich der Tür. Eine Kette rasselte, zahlreiche
Riegel wichen kreischend zur Seite, das Schloß schnappte zurück, die Tür öffnete sich zu einem zehn Zentimeter breiten Spalt. Aus dem schwarzen Streifen drang eine tiefe Stimme: »Was ist los?« Mit wenigen raschen Worten stellte Graham sich vor. Dann fragte er: »Sind Sie Professor Beach?« Die Tür tat sich weit auf, und der Mann, den das Dunkel im Innern des Gebäudes den Blicken entzog, sagte rasch: »Treten Sie ein, Graham! Wir kennen uns. In dieser Finsternis habe ich Sie nicht erkannt.« Graham betrat das Haus und hörte, wie die Tür hinter ihm zugeschlagen und versperrt wurde. Eine Hand faßte ihn am Arm, führte ihn durch einen völlig in Dunkelheit getauchten Flur und hielt ihn nach einigen Schritten an. Metall knarrte und rasselte, der Boden unter seinen Füßen sank in die Tiefe. Ein Aufzug! Nichts hätte man hier weniger erwartet. Licht flutete empor. Die Abwärtsbewegung hörte auf. In der hellen Beleuchtung sah Graham das Gesicht des Mannes. Der Gelehrte sah noch immer aus wie früher: hochgewachsen, hagere Züge, dunkles Haar. Die Last des Alters schien ihn nicht zu drücken. Graham konnte an dem Gesicht, das er mehrere Jahre lang nicht gesehen hatte, kaum eine Veränderung entdecken. Doch! Etwas hatte sich gewandelt, in auffälliger Weise gewandelt – die Augen. »Warum diese Finsternis im Obergeschoß?« erkundigte sich Graham, ganz im Banne dieser unheimlichen Augen. »Licht lockt nächtliches Raubzeug an«, erwiderte Beach ausweichend. »Das ist manchmal recht lästig.« Er musterte seinen Besucher. »Wie haben Sie mich
hier ausfindig gemacht?« »Der Herausgeber der Boiser Zeitung wußte, daß Sie hier einen großen Teil Ihrer Zeit verbringen. Morgen früh will er einen Reporter herschicken, um festzustellen, ob Sie noch am Leben sind. Da bin ich ihm zuvorgekommen.« Beach seufzte. »Das hab ich mir gedacht. Nach dem Vorgefallenen muß ich mich auf eine Invasion von Schnüfflern gefaßt machen. Dem entrinne ich nicht. Na, schön!« Er führte Graham in einen kleinen, mit Büchern ausgekleideten Raum und bot ihm einen Stuhl an. Nachdem er die Tür sorgfältig abgeschlossen hatte, setzte er sich seinem Gast gegenüber. Nervös spielten seine langen, schmalen Finger, während die merkwürdigen Augen unverwandt den Besucher anblickten. »Es tut mir wirklich leid, daß wir uns diesmal unter so furchtbaren Begleitumständen treffen. Ich nehme an, Ihr Kommen hängt mit der SilverCity-Katastrophe zusammen.« »Allerdings.« »Aber nachdem das Büro für Sonderfinanzierungen nicht in Mitleidenschaft gezogen ist, kann es doch kein Interesse an der Sache haben.« Beach zog die dunklen Brauen fragend hoch. »Das nicht«, bestätigte Graham. Er streifte seinen Ring vom Finger und reichte ihn dem Gelehrten. »Wahrscheinlich haben Sie von diesen Dingern gehört, auch wenn Sie noch keines gesehen haben. Auf der Innenfläche ist eine mit bloßem Auge nicht sichtbare Gravierung angebracht, die mich als Mitarbeiter des Geheimdienstes ausweist. Sie können sich davon, wenn Sie wünschen, mit Hilfe einer starken Lupe überzeugen.«
»Ah, der Geheimdienst!« Die Brauen senkten sich. Beach drehte den Ring zwischen den Fingern hin und her und gab ihn dann zurück, ohne ihn genauer anzusehen. »Ich will's Ihnen glauben.« Die Falten auf seiner Stirn vertieften sich. »Wenn Sie wissen wollen, warum das Silbernitrat in die Luft gegangen ist – ich kann es Ihnen nicht sagen. In den nächsten Wochen werden mich immer wieder Leute um Aufklärung bitten, Polizeibeamte, die Gewerbeaufsicht, Chemiker, Reporter. Sie alle können sich die Mühe sparen. Ich bin absolut außerstande, Aufschluß zu geben.« »Sie lügen!« sagte Graham rundheraus. »Wie kommen Sie zu dieser Behauptung?« Grahams Nackenhaare sträubten sich, als er antwortete: »Weil Sie und nur Sie allein wissen, daß die rätselhafte Explosion durch geheimnisvolle Wesen bewirkt wurde, die Sie zu fotografieren versuchten. Ein Mann, der unter Ihrer Anleitung arbeitete, hat eine Aufnahme von ihnen gemacht – und als Gegenschlag ist Silver City zerstört worden.« Graham suchte in Beachs Haltung Anzeichen für die Wirkung seiner Worte, sah aber nur ein krampfhaftes Aneinanderpressen der gefalteten Hände und ein fast unmerkliches Aufflackern in den glühenden Augen. »Die Vernichtung dieser Stadt«, fuhr Graham fort, »hat die gleiche Ursache – welche immer sie sein mag – wie das Ableben einer noch unbekannten Anzahl der besten Wissenschaftler der Welt. Wegen des Todes einiger dieser Gelehrten, die amerikanische Staatsbürger waren, führe ich eine Untersuchung – und das bringt mich zu Ihnen!« »Graham«, begann Beach, »der Welt ist eine wis-
senschaftliche Entdeckung beschieden worden, die so großartig, so bedeutungsvoll, in ihren Auswirkungen so weitreichend ist wie Fernrohr oder Mikroskop.« »Worum handelt es sich?« »Um ein Mittel, den sichtbaren Bereich des Spektrums weit ins Infrarot hinein auszudehnen.« »Ah!« »Bjornsen ist das geglückt«, fuhr Beach fort. »Es geschah wie bei vielen anderen großen Entdeckungen. Während der Suche nach etwas ganz anderem stieß er zufällig darauf. Aber er war so klug, den Wert der Entdeckung zu erkennen, und hat sie zu praktischer Verwendbarkeit weiterentwickelt. Gleich dem Fernrohr oder dem Mikroskop erschließt diese Entdekkung eine neue, ungeahnte Welt.« »Sie ist also der Schlüssel zu dem allgegenwärtigen Unbekannten?« warf Graham ein. »Sehr richtig! Als Galilei ungläubig durch sein Fernrohr blickte, sah er Dinge, die schon ungezählte Jahrhunderte lang vor Millionen blinder Augen gestanden hatten, jetzt jedoch neue, umwälzende Tatsachen wurden, die das zum Dogma erklärte, aber törichte kopernikanische Weltbild der Astronomie über den Haufen warfen.« »Es waren wunderbare Erkenntnisse«, bestätigte Graham. »Ein noch viel besseres Beispiel liefert das Mikroskop, weil es einen Sachverhalt enthüllte, der den Menschen seit jeher vor der Nase gelegen hat, ohne daß sie etwas davon ahnten – nämlich die Tatsache, daß wir unsere Welt, unser ganzes Dasein mit einer Unmenge von Lebewesen teilen, die außerhalb der Grenzen unseres Sehvermögens im unendlich Klei-
nen verborgen sind. Stellen Sie sich nur vor!« rief Beach eindringlich mit erhobener Stimme. »Lebendige, sich regende Geschöpfe, von denen es um uns, über uns, unter uns, in uns wimmelt, die selbst in unserem eigenen Blute sich gegenseitig bekämpfen, sich vermehren und sterben! Und doch hat niemand ihre Existenz festgestellt oder auch nur vermutet, bis das Mikroskop unser unzulängliches Auge geschärft hat.« »Auch das war eine große Entdeckung«, stimmte Graham zu. Obwohl er interessiert zuhörte, waren seine Nerven weiterhin gespannt, und er fuhr zusammen, als ihn der Mann unerwartet mit der Hand berührte. »Genau so, wie alle diese Dinge uns Jahrhunderte lang entgingen, teils im unvorstellbar Großen, teils im unfaßbar Kleinen versteckt, so haben andere Gegebenheiten sich uns dadurch entzogen, daß sie ins absolut Farblose flüchteten.« Beachs Stimme war noch immer unstet und etwas heiser. »Die Skala der elektromagnetischen Schwingungen ist unermeßlich groß. Außerhalb dieses armseligen, gänzlich unzureichenden Sehbereiches, jenseits einer Grenze, die man als Schranke des Todes bezeichnen kann, verbergen sich – jeden einzelnen unter uns von der Wiege bis zum Grabe tyrannisierend, unsichtbar an uns schmarotzend, erbarmungslos wie nur irgendein Parasit – unsere heimtückischen, allmächtigen Herren und Meister, jene Wesen, denen eigentlich die Erde gehört!« »Wie, zum Teufel, ist ihre Beschaffenheit? Lassen Sie die Anspielungen! Sprechen Sie deutlich, um Gottes willen!« Kalter Schweiß stand auf Grahams Stirn.
»Für Augen, deren Sehfähigkeit nach der neuen Methode erweitert ist, zeigen sie sich als schwebende Kugeln, die ein schwaches, hellblaues Licht aussenden«, erklärte Beach. »Weil sie ihm wie Zusammenballungen lebendigen Lichtes erschienen, hat Bjornsen ihnen den Namen Vitonen gegeben. Sie sind nicht nur lebendig – sie besitzen auch Verstand! Sie sind die Herren unserer Erde, wir nur die Schafe auf ihrer Weide. Sie sind grausame und fühllose Gebieter im Reiche des Unsichtbaren, wir nur ihre stammelnden, schwitzenden, schwachsinnigen Sklaven, so unbeschreiblich beschränkt, daß wir erst jetzt unserer Fesseln gewahr geworden sind.« »Können Sie diese Wesen sehen?« »Ich kann es. Manchmal verwünsche ich den Tag, an dem ich es gelernt habe!« Zwischen den Wänden des kleinen Raumes war der schwere Atem des Gelehrten deutlich zu hören. »Alle jene, die Bjornsens endgültige Versuchsanordnung wiederholten, haben sich die Gabe erworben, die Schranke des Gesichtssinnes zu durchbrechen. Sie sahen die Vitonen, gerieten in Erregung darüber, sannen der Entdeckung nach und schritten damit dem Schattenreich des Todes zu. Aus geringer Entfernung können die Vitonen menschliche Gedanken lesen – so leicht, wie wir in einem offenen Buch. Natürlich ergreifen sie rasch Maßnahmen, um der Verbreitung von Erkenntnissen zuvorzukommen, die schließlich dazu führen könnten, daß wir uns gegen ihre angestammten Rechte wenden. Sie wahren ihre Vorherrschaft über uns so mitleidlos wie wir unsere Herrenrolle der Tierwelt gegenüber: Wer sich auflehnt, wird aus dem Wege geräumt. Denjenigen von Bjornsens Nachahmern,
denen es nicht gelang, ihr Wissen in ihrem Innersten zu verbergen, oder die sich vielleicht von Träumen auf Abwege führen ließen, wurde Geist und Mund für immer versiegelt.« Er hielt inne und fügte hinzu: »Auch uns wird es vielleicht so ergehen.« Wieder trat eine Pause ein, die von dem unablässigen Ticken der kleinen Tischuhr in Bruchteile zerlegt wurde. »Seit ich meine Ermittlungen begonnen habe«, sagte Graham, »hatte ich immer wieder seltsame, unheimliche Augenblicke. Ich habe gespürt, daß es ungeheuer wichtig war, meine Gedanken anderswohin zu lenken. Mehr als einmal habe ich einem ganz unsinnigen, aber mächtigen Antrieb gehorcht und plötzlich weggedacht, weil ich fühlte, beinahe wußte, daß es so sicherer war.« »Das allein hat Ihnen das Leben gerettet«, meinte Beach. »Sonst lägen Sie schon längst unter dem grünen Rasen.« »Dann verfüge ich also über größere Selbstbeherrschung als geistig höherstehende Menschen wie Bjornsen, Luther, Mayo und Webb?« »Nein, keineswegs. Sie haben es nur leichter gehabt, weil Sie bloß eine unbestimmte Ahnung zu verbergen brauchten. Zum Unterschied von den anderen mußten Sie nicht das ganze furchtbare Wissen unterdrücken.« Es klang wie ein böses Omen, als er hinzufügte: »Die eigentliche Bewährungsprobe wird darin liegen, wie lange Sie jetzt ungeschoren bleiben.« Plötzlich sagte Beach: »Kommen Sie!« Er machte Licht, öffnete eine Tür und schaltete weitere Lampen ein, die ein trotz räumlicher Enge glänzend eingerichtetes Laboratorium beleuchteten. Beach schaltete das Licht in dem Zimmer, in dem
sie bisher gewesen waren, aus, schloß die Verbindungstür ab, wies auf eine Glocke an der Wand des Labors und sagte zu seinem Besucher: »Wenn im Nachbarraum der Kontrollschirm aufleuchtet, läutet die Glocke. Falls es dazu kommt, vernebeln Sie Ihre Gedanken rasch und gründlich – sonst müssen Sie sich auf das Ärgste gefaßt machen.« »Ich verstehe.« »Setzen Sie sich hierher!« ordnete Beach an. Er wusch sich die Finger mit ein wenig Äther und ergriff eine Flasche. »Diese Bjornsen-Reaktion ist synergistisch. Wissen Sie, was das heißt?« »Die Wirkung ist eine Gemeinschaftsleistung.« »Sehr richtig! Sie drücken das ziemlich eigenartig aus, aber ich habe kaum je eine bessere Begriffsbestimmung gehört.« »Was geschieht jetzt?« fragte Graham, während er ihn beobachtete. »Ich werde Sie nach Bjornsens Angaben behandeln. Sie erblinden dabei für einige Minuten. Aber erschrecken Sie nicht! Das kommt nur daher, daß Ihre Stäbchen und Zäpfchen sich umstellen. Während Ihr Sehvermögen sich umgestaltet, berichte ich Ihnen jede Einzelheit, die ich aufzudecken vermochte.« »Ist die Wirkung dieser Behandlung dauernd oder vorübergehend?« »Sie scheint dauernd. Aber ich will es nicht entschieden behaupten. Niemand ist noch in die Lage gekommen, sie so lange zu erproben, daß man darüber etwas Bestimmtes sagen könnte.« Er stellte die Flasche weg und kam mit der Phiole in der einen Hand und einem kleinen Wattebausch in der anderen auf Graham zu. »Jetzt beginnt es«, sagte er. »Und hö-
ren Sie sorgsam auf das, was ich Ihnen nun sage! Es könnte sein, daß ich keine Gelegenheit mehr finde, es zu wiederholen!« Ohne es zu wissen, sprach er damit prophetische Worte.
7 Bleiche Lichtbänder hüllten den untergehenden Mond ein. In dem Hochtal aber herrschte tiefe, fast greifbare Finsternis. In abweisender Einsamkeit ans Talende gekauert, verschwand das Bauwerk in der nächtlichen Dunkelheit – ebenso wie die Gestalt, die jetzt aus der panzerverkleideten Tür ins Freie huschte und durch die Düsternis auf die leise im Winde stöhnenden Kiefern zueilte. Einen Augenblick lang bekam die Gestalt, als sie bei dem verfallenen Wegweiser ins Mondlicht trat, die Umrisse eines Mannes. Dann verschmolz sie mit dem Schatten der Bäume. Ein Steinchen knirschte am Pfad, weiter weg knackte ein Zweig. Dann war wieder alles still. Am unteren Ende des Bergpfades breitete eine Eberesche ihre schützenden Arme über einen schlanken Zylinder aus glänzend poliertem Metall. Etwas schlich sich um den Baumstamm und tauchte in den Zylinder. Sanft einschnappend fiel eine Tür ins Schloß. Leises, aber kraftvolles Summen ertönte. Ein aufgestöberter Nachtvogel kreischte erschrocken auf, als der Zylinder aus dem schwarzen Schattensee unter dem Baum hervorschoß, über die Landstraße davonflitzte und mit einem Satz hinter der fernen Kammlinie verschwand. Nicht lange darauf stand dieser gleiche Zylinder im ersten Dämmerschein vor dem Flughafen von Boise. Auf der einen Seite des Firmamentes flimmerte noch schwaches Sternenlicht vor einem Hintergrund von allmählich verblassendem Grau. Gegenüber aber
spiegelte der Himmel die Röte des kommenden Tages. Morgennebel lagen wie Schleier auf den Rockies. Gähnend sagte Graham zu Polizeileutnant Keller: »Sehr triftige Gründe haben Beach und mich veranlaßt, zu verschiedenen Zeiten und auf getrennten Wegen zu reisen. Es ist wichtig, daß zumindest einer von uns Washington erreicht. Ich mache Sie persönlich dafür verantwortlich, daß Sie Beach in einer Stunde abholen und ihn wohlbehalten am Bahnhof in den Expreß setzen.« »Er wird rechtzeitig einsteigen, seien Sie unbesorgt!« versicherte Keller. »Gut, ich verlasse mich auf Sie.« Graham gähnte herzhaft, kümmerte sich nicht weiter um den Leutnant, der seine Augen gebannt anstarrte, und kletterte in die für hohe Geschwindigkeiten gebaute Armee-Düsenmaschine, die schon bereitstand. Eine leichte Erschütterung weckte Graham. Washington! Der Pilot stieß ihn sanft an, wies auf seine Uhr. Vier Gestalten eilten auf die Maschine zu, als Graham ausstieg. Zwei davon erkannte er: Oberst Leamington und Leutnant Wohl. Die beiden anderen waren Männer, die sehr würdevoll taten. »Ihre Nachricht habe ich erhalten, Graham«, rief Leamington und betrachtete den Ankömmling mit scharfen, vor Wißbegier brennenden Augen. Er zog das Telegramm aus der Tasche und sagte: »Sie teilen mir da mit: ›Fall weit aufgerollt. Lösung wichtig für Weltfrieden. Verdient Aufmerksamkeit des Präsidenten. Erwartet mich am Flughafen Washington. Ankunft Sondermaschine zwei Uhr vierzig.‹ Aus diesem Wortlaut« – er zwirbelte seinen Schnurrbart – »schließe ich, daß Sie mir ungeheuer bedeutungsvolle
Dinge bekanntzugeben haben.« »So ist es!« Grahams Blick wandte sich zum Himmel. Der Blick seiner kalten, glänzenden Augen heftete sich auf eine Stelle, wo scheinbar nichts zu sehen war. »Wenn ich nicht sehr vorsichtig bin, bleibe ich kaum so lange am Leben, daß ich berichten kann. Sie müssen mich irgendwo unter der Erde anhören, in einem geschützten Raum. Sagen wir, in den Kellern eines Regierungsgebäudes. Ferner würde ich bitten, ein Aufzeichnungsgerät laufen zu lassen, damit meine Worte festgehalten werden, für den Fall, daß meine Erzählung – bei aller Vorsicht und allem Glück, das ich ansonsten habe – unterbrochen wird.« »Unterbrochen?« Leamington fixierte ihn mit erstauntem Stirnrunzeln. »Sie haben recht gehört. Es kann jederzeit und überall passieren – die jüngsten Vorfälle beweisen es –, daß Aussagen ohne Warnung verhindert werden. In Anbetracht dessen, was ich jetzt weiß, ist die Gefahr, daß man mir plötzlich den Mund verschließt, größer als bei sonst jemandem. Ich brauche einen Ort, der halbwegs sicher ist.« »Schön. Ich glaube, das läßt sich machen«, sagte Leamington. Ohne die Mienen zu beachten, mit denen die anderen seine Bemerkungen anhörten, fuhr Graham fort: »Ich würde Sie auch bitten, zu veranlassen, daß Dr. Beach abgeholt wird, wenn er heute abend mit dem Zug in Pittsburgh ankommt. Man kann ihn hierher fliegen, und er wird meine Mitteilungen bestätigen – oder zu Ende führen.« »Sie sprechen sehr eigentümlich, Graham«, erklärte Leamington, während er den Ankömmling zu einem
Wagen führte. »Meine Worte sind nicht auffälliger als verschiedene Todesfälle der letzten Zeit.« Er stieg in das Fahrzeug; die übrigen folgten. »Sie werden sehr bald die ganze Geschichte erfahren, in klaren, verständlichen Ausführungen. Und vielleicht wird es Ihnen dann leid tun, daß Sie jemals davon gehört haben.« Und er erzählte seine Geschichte wirklich – dreißig Männern, die auf Reihen harter, unbequemer Sessel in einem Keller siebzig Meter unter dem Straßenniveau saßen. Ein Fluroreszenzschirm, den man herbeigeschafft hatte, überspannte die einzige Tür. Die hochempfindliche Schicht würde beim Durchgang unsichtbarer Eindringlinge warnend aufleuchten. Über den Köpfen der Anwesenden aber erhob sich, als Steinwall zwischen der geheimen Versammlung und den überall herumschnüffelnden Luftwesen, der Riesenbau des Pentagon. In einer Ecke lief ein Aufzeichnungsgerät. »Meine Herren!« begann Graham. »Vor einiger Zeit ist der schwedische Gelehrte Peter Bjornsen zufällig auf einen Weg neuer Erkenntnis gestoßen, den er weiterverfolgt hat, bis er vor sechs Monaten zum Ziele kam. Er fand nämlich, daß es möglich ist, den menschlichen Sehbereich zu erweitern. Er erzielte diese Wirkung mit Hilfe von Jod, Methylenblau und Meskalin. Obwohl nicht völlig geklärt ist, wie das Zusammenspiel dieser Komponenten sich vollzieht, besteht über deren Wirksamkeit kein Zweifel. Wer mit ihnen auf die von Bjornsen angegebene Art behandelt wird, dessen Augen können ein viel breiteres Band elektromagnetischer Wellen empfangen, als dem na-
türlichen Sehvermögen offensteht.« »Wieviel breiter?« fragte eine Stimme, der man den Zweifel anmerkte. »Die Erweiterung erfolgt nur in einer Richtung«, antwortete Graham. »Sie erstreckt sich tief in den Infrarotbereich hinein. Nach Bjornsen liegt die Grenze im Ultrakurzwellenband.« »Was? Wärmestrahlen kann man sehen?« rief der andere. »Wärmestrahlen – und noch langwelligere!« versicherte Graham. Er hob die Stimme, um das erstaunte Gemurmel zu übertönen, das seiner Mitteilung folgte, und fuhr mit Nachdruck fort: »Wie diese Wirkung im einzelnen entsteht, ist etwas, worüber Sie, meine Herren Gelehrten, sich den Kopf zerbrechen müssen. Worum es sich hier handelt und was das ganze Land, ja die ganze Welt angeht, ist eine erstaunliche Tatsache, die durch diese Entdeckung buchstäblich ans Licht gebracht wurde.« Er hielt inne. Dann berichtete er seinen Hörern diese Tatsache ohne Umschweife. »Meine Herren, eine andere und höhere Form des Lebens, als wir Menschen sie darstellen, beherrscht diese Welt!« Überraschenderweise erhob sich kein Ruf lauten, zornigen Widerspruches, kein ungläubiger Spott, nicht einmal ein aufgeregtes Stimmengewirr. Sie saßen alle da, wie mit ihren Sesseln verwachsen. Reihe für Reihe sah Graham erschrockene, sinnende, besorgte Augen. Alle Gesichter verrieten, daß seine Feststellung die abenteuerlichsten Erwartungen übertraf. »Ich versichere Ihnen, das ist Tatsache und jeder Widerlegung entrückt«, erklärte Graham. »Ich habe
diese Wesen selbst gesehen. Es sind blasse, aber sonderbar glühende bläuliche Bälle, die durch die Luft schweben. Zwei davon glitten rasch und lautlos über mich hin, als ich den einsamen Pfad von Beachs abgelegenem Labor in den Bergen zwischen Silver City und Boise hinunterschlich. Eine solche Kugel tanzte auch über dem Flughafen von Boise in der Luft, kurz bevor ich hierher abflog. Dutzende schwebten über Washington, als ich ankam. In diesem Augenblick sind ganze Scharen über der Stadt. Einige fliegen wahrscheinlich über diesem Gebäude. Sie zeigen überhaupt eine Vorliebe für Orte, die von vielen Menschen besucht werden. Aus verderbenbringenden Gründen pflegen sie sich dort, wo unsere Zahl am größten ist, in dichten Schwärmen zu sammeln.« »Welcher Art sind diese Wesen?« warf Senator Carmody ein. »Niemand weiß es. Noch war nicht genügend Zeit zu ihrer Beobachtung. Bjornsen selbst hielt sie für fremde Eindringlinge, die erst verhältnismäßig kurze Zeit auf der Erde sind. Aber er hat zugegeben, daß es sich dabei um eine bloße Annahme handelt, da er über keinerlei Grundlagen für eine abschließende Meinungsbildung verfügte. Der verstorbene Professor Mayo hat gleichfalls außerirdische Herkunft vermutet, war jedoch der Meinung, daß diese Wesen vor vielen Jahrtausenden unseren Planeten besetzt haben. Dr. Beach dagegen meint, sie seien auf der Erde heimisch, gleich den Mikroben. Wie er mir erzählte, ist der verstorbene Hans Luther noch weiter gegangen und hat unter Hinweis auf unsere körperlichen Unzulänglichkeiten behauptet, die Leuchtwesen wären die wahren Erdbewohner, wir dagegen die Nach-
kommen von Geschöpfen, die sie aus anderen Welten als kosmische Haustiere eingeführt hätten.« »Haustiere!... Haustiere!... Haustiere!« Das Wort flog von dem einen zum anderen. Jeder drehte es im Munde herum wie einen widerwärtigen Bissen. »Was weiß man denn nun wirklich über diese Wesen?« fragte jemand. »Leider sehr wenig. Sie haben nicht die geringste Ähnlichkeit mit Menschen. Soweit wir beurteilen können, sind sie so grundverschieden von uns und so völlig fremdartig, daß ich mir auch für alle Zukunft die Auffindung einer gemeinsamen Basis, die eine Art Verständigung gestatten würde, nicht vorstellen kann. Sie sehen aus wie leuchtende Kugeln, mit etwa einem Meter Durchmesser. Die Oberflächen sind in Bewegung, bläulich glühend, aber ohne erkennbare Gliederung. Auf einem gewöhnlichen Infrarotfilm bilden sie sich nicht ab. Beach hat sie allerdings jetzt mit Hilfe einer neuen Emulsion aufgenommen. Durch Radar lassen sie sich nicht feststellen, offenbar, weil sie die Impulse absorbieren und nicht reflektieren. Beach behauptet, daß sie sich mit Vorliebe um Radarantennen sammeln, wie durstige Kinder um eine Quelle. Er glaubt, sie hätten uns dazu angeregt, diese Funkmeßgeräte zu entwickeln – damit wir die Leuchtwesen durch unserer Hände Arbeit mit einer neuen, uns unverständlichen Nahrung versorgen.« Die Mienen seiner Zuhörer zeigten ein merkwürdiges Gemisch von Scheu und Grauen, als er fortfuhr. »Es hat sich herausgestellt, daß diese unheimlichen Kugelwesen sich statt des Sehvermögens der außersinnlichen Wahrnehmung bedienen und diese Fähigkeit in erstaunlichem Maße entwickelt haben. Da die-
ser sechste Sinn mit seinen rein geistigen Erkenntnissen von elektromagnetischen Wellen unabhängig ist, sind die Wesen seit jeher imstande, uns zu durchschauen, während wir sie nicht sehen können. Sie gebrauchen auch die Gedankenübertragung an Stelle von Stimmbändern und Hörorganen – sofern es sich nicht vielleicht bloß um eine Variante der gleichen außersinnlichen Wahrnehmung handelt. Jedenfalls können sie auf kurze Distanz – nicht aber auf weite Entfernungen – menschliche Gedanken lesen und verstehen. Bjornsen hat ihnen den Namen Vitonen gegeben, da sie offenbar nicht aus Materie, sondern aus lebendiger Energie bestehen. Sie gehören weder dem Mineral- noch dem Pflanzen- oder Tierreich an. Sie sind Energie.« »Was veranlaßt Sie zu der Behauptung, daß diese Dinger, diese Vitonen, unsere Beherrscher sind?« fragte Keithley, der zum erstenmal das Wort ergriff. »Bjornsen schloß es aus Beobachtungen, und seine Nachfolger kamen unausweichlich zum gleichen Schluß. Eine denkende Kuh würde denjenigen, der ihre Artgenossen immer wieder zur Schlachtbank führt, bald als ihren Herrn und Meister erkennen! Die Vitonen tun so, als gehörte die Erde ihnen – was auch zutrifft. Sie, meine Herren, und ich und der Präsident und jeder, König oder Bettler – wir alle sind ihr Besitz.« »Wenn das stimmt, fresse ich einen Besen!« fluchte eine Stimme im Hintergrund. Niemand sah sich um. Carmody runzelte die Stirn über die unliebsame Unterbrechung. Die übrigen hielten unbeirrt ihre volle Aufmerksamkeit auf Graham gerichtet. »Recht wenig ist bisher gefunden worden«, erklärte
Graham. »Aber schon dieses wenige bedeutet ungeheuer viel. Beach hat sich vergewissert, daß die Vitonen nicht bloß aus Energie bestehen, sondern auch von Energie leben, sich von ihr nähren – von unserer Energie! Für sie sind wir nichts als Kraftquellen, von einer gütigen Natur dazu erschaffen, die Bedürfnisse jenes Teiles ihrer Wesenheit zu befriedigen, den sie als Verdauungsorgan besitzen mögen. Deshalb züchten sie uns oder sorgen dafür, daß wir uns fortpflanzen. Sie sammeln uns zu Herden, weiden uns, melken uns und ernähren sich von den Energieströmen, die durch unsere Gemütsbewegungen entstehen – in genau der gleichen Weise, wie wir fett werden von der Milch, die wir den Kühen gegen ihren Willen abnehmen, nachdem wir ihnen milcherzeugendes Futter gegeben haben. Wenn man mir einen besonders empfindungsreichen Menschen zeigt, der ein gesundes und langes Leben hinter sich hat, so weiß ich, daß er eine preisgekrönte, mit Medaillen prämiierte Milchkuh der Vitonen ist.« »Diese Teufel!« empörte sich eine Stimme. »Wenn Sie meine Gedankengänge konsequent zu Ende denken, meine Herren«, betonte Graham, »so werden Sie erkennen, welch furchtbare Folgerungen sich daraus ergeben. Von der Energie, die in der nervösen Substanz durch den Denkakt ebenso wie als Reaktion auf Drüsenreize erzeugt wird, weiß man seit langem, daß sie elektrischer oder quasielektrischer Natur ist. Und von diesen ›Ausscheidungen‹ nähren sich unsere schattenhaften Herren. Sooft sie es wünschen, steigern sie die Ausbeute, indem sie Zwistigkeiten, Eifersüchteleien, Haß schüren und dadurch starke Gemütsbewegungen hervorrufen. Christen ge-
gen Mohammedaner, Weiße gegen Schwarze, Kommunisten gegen Kapitalisten – die einen wie die anderen sind Mahlgut in der Vitonen-Mühle. Alle füttern sie, ohne es zu wissen, fremde, ihnen unvorstellbare Wesen. So wie wir, bauen auch die Vitonen Nahrungsmittel an. In genau der gleichen Weise pflügen und säen und ernten sie. Unsere Menschennatur ist der Boden, der mit vitonisch beeinflußten Umweltbedingungen gepflügt, mit den Drachenzähnen des Zankes besät, mit bösen Gerüchten, Lügen und absichtlichen Entstellungen gedüngt, mit Argwohn und Mißgunst berieselt wird – nur, damit wir gute, fette Ernten an Gefühlsenergie zur Reife bringen, die mit den Sicheln der Drangsal geschnitten werden. Jedesmal, wenn jemand zum Krieg hetzt, bedient sich ein Viton seiner Stimmbänder und bestellt ein Festmahl für diese Leuchtwesen.« Es klopfte heftig an die Tür. Das plötzliche Geräusch ließ manche der Anwesenden von ihren Sitzen auffahren. Nachdem der Eingang frei gemacht worden war, trat ein uniformierter Mann ein, sprach im Flüsterton einige Worte zu dem Geheimdienst-Chef und ging wieder. Keithley erhob sich mit bleichem Gesicht. Er blickte erst Graham, dann die übrigen Anwesenden an und sprach leise mit ernster, etwas schwankender Stimme: »Meine Herren, ich muß Ihnen eine traurige Mitteilung machen. Eben hat man mir berichtet, daß es dreißig Kilometer westlich von Pittsburgh ein Zugunglück gegeben hat.« Er rang nach Atem. Man merkte ihm die Willensanstrengung an. »Es hat eine große Anzahl Verletzter gegeben und einen Toten. Das Todesopfer ist Dr. Beach.«
8 Es war der 9. Juni 2015, drei Uhr morgens. Die selten erwähnte, aber außerordentlich wirksame Propagandastelle der Vereinigten Staaten hatte Nachtschicht eingelegt. Ihre beiden langen Stockwerke im Innenministerium lagen finster und verlassen da. Aber eine halbe Meile entfernt, in einem unterirdischen Geschoß verborgen, das sich über fast einen Hektar dehnte und zwölf riesige Kellerräume umfaßte, arbeitete der gesamte Beamtenstab der Abteilung, durch achtzig freiwillige Helfer verstärkt. Eine mächtige Schicht von Beton und Stahl trennte diese Räume von dem darüberliegenden Geschoß und trug das Mammutgewicht mehrerer altmodischer Druckpressen, die man sauber, glänzend und geölt Jahr für Jahr in ständiger Bereitschaft gehalten hatte, für den Fall, daß einmal das Fernsehnachrichtenwesen im ganzen Lande einen Zusammenbruch erleiden sollte. Dreihundert Meter höher ragte darüber wie ein eleganter, schlanker Pfeiler das Verlagshaus der Washington Post auf. In die Hände der hier unten arbeitenden, auch noch in Hemdsärmeln schwitzenden vierhundert Männer hatte man die Fäden eines die ganze Welt umspannenden Nachrichtennetzes gelegt. Fernseh-, Rundfunk und Kabelverbindungen, sogar die Signalabteilungen der Streitkräfte standen ihnen zu Gebote. Berichte kamen herein, wurden zergliedert, miteinander in Beziehung gebracht, abgelegt. »Bleeker hat das Verfahren nachgeprüft, meldet, daß er zwei Kugeln sieht, die über der Delaware Avenue hingleiten.«
– »Geht in Ordnung! Sagen Sie Bleeker, er soll nicht weiter daran denken – wenn er kann!« – »Jetzt meldet sich Williams am Fernsprecher. Er hat die Probe angestellt, sieht Leuchtwesen.« – »Bestellen Sie ihm unseren Dank! Er soll sich rasch in Sicherheit bringen!« – »Tollerton ist am Apparat. Sein Versuch war erfolgreich, er beobachtet eine Kette blauer Kugeln, die in großer Höhe das Potomac-Tal überqueren.« – »Empfehlen Sie ihm, in einen Keller zu gehen und sich schlafen zu legen!« »Sind Sie's, Tollerton? Danke für die Verständigung! Nein, entschuldigen Sie, aber wir dürfen Ihnen nicht sagen, ob andere Versuche Ihre Feststellungen bestätigen. Warum? In Ihrem eigenen Interesse natürlich! Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf darüber und machen Sie ein Nickerchen!« Es war ein lärmendes, aber geordnetes Durcheinander, bei dem einlangende Anrufe sich zwischen auslaufenden Meldungen hindurchzwängten und jeder, der ein Ferngespräch abzuwickeln hatte, jedem anderen in der gleichen Lage den Rang abzulaufen versuchte. Mitten in diesen Trubel traten Schlag vier Uhr zwei Männer. Sie hatten den Tunnel durchschritten, der ein Jahrzehnt lang dazu gedient hatte, Tausende feuchter Zeitungsblätter auf ihrem eiligen Weg zur Bahnstation aus dem Gebäude zu bringen. Beim Eintritt hielt der erste Mann die Tür achtungsvoll für seinen Begleiter offen – einen großen, kräftig gebauten Mann mit grauem Haar und hellgrauen Augen, die ruhig und fest aus einem muskulösen, vertrauenerweckenden Gesicht blickten. Während der grauhaarige Mann stehenblieb und
das Bild des Saales in sich aufnahm, sagte der andere schlicht: »Meine Herren, der Präsident!« Augenblicklich herrschte Stille, alle erhoben sich und blickten in die so vertrauten Züge. Dann bedeutete der oberste Chef der Bundesverwaltung den Anwesenden, in ihrer Arbeit fortzufahren, und ließ sich in eine geschlossene Sprechzelle führen. Dort setzte er seine Brille zurecht, legte sich einige maschinegeschriebene Blätter handlich hin, räusperte sich und blickte ein Mikrophon an. Die Signallampe flammte auf. Der Präsident sprach. Sein Vortrag war selbstsicher, überzeugend, seine Stimme eindrucksvoll. Zwei Häuserblocks weiter nahm in einem unterirdischen Raum eine feine Apparatur seine Stimme auf und begann, zweitausend Tonkopien der Rede herzustellen. Lange, nachdem er wieder gegangen war, arbeitete der Apparat weiter und warf kleine Rollen magnetisierten Drahtes aus, die geschickte Hände ergriffen, in luftdichte Behälter verpackten und rasch weiterbeförderten. Um fünf Uhr früh flog der New York-San Francisco-Stratojet ab. Unter seiner Fracht versteckt lag ein Dutzend in Metallbüchsen verschlossener Tonkopien der Präsidentenrede. Unterwegs warf das Flugzeug drei davon ab, bevor der Pilot die Herrschaft über seine Gedanken verlor. Die Maschine verschwand spurlos. Der Jet nach London hatte die ersten zwanzig Drahtrollen übernommen, brachte sie heil über den Atlantik und lieferte sie am Bestimmungsort ab. Den beiden Piloten war gesagt worden, die versiegelten Büchsen enthielten Mikrofilme. Sie hatten deshalb
nur Mikrofilme im Sinn. Und so wurde das unbekannte Etwas, das sich vielleicht – in der Einzahl oder Mehrzahl auftretend – für ihre Gedanken interessierte, mit Erfolg getäuscht. Zu der im voraus festgesetzten Minute befanden sich drei Viertel der Kopien in den Händen der vorgesehenen Empfänger. Von dem restlichen Viertel hatte ein Teil natürliche, unvorhersehbare Verzögerungen erlitten. Die übrigen aber fielen den ersten Gegenschlägen in dem eben entbrannten grausigen Konflikt zum Opfer. Der Präsident hätte seine Rede ganz leicht unmittelbar in einer die gesamte Nation erfassenden Gemeinschaftssendung halten können. Aber genauso leicht hätte der vielleicht gerade bei diesem einen Mikrophon lauernde Tod seine Ausführungen schon nach dem ersten Satz abzuschneiden vermocht. Jetzt war es so, als stünden fünfzehnhundert Präsidenten an fünfzehnhundert Mikrophonen, die derart über die ganze Welt verteilt waren, daß einige in amerikanischen Konsulaten und Gesandtschaften in Europa, Asien und Südamerika, andere auf einsamen Inseln im Pazifik bereitstanden, wieder andere auf Kriegsschiffen weit draußen auf See, fern von menschlichen – und vitonischen – Siedlungen. Zehn waren in den arktischen Einöden aufgestellt, wo harmlos flackernde Lichtgebilde die einzige an Vitonen gemahnende Erscheinung darstellten. In den Oststaaten der Union war es sieben Uhr früh, in Großbritannien Mittag und anderswo die jeweils der Entfernung entsprechende Uhrzeit, als die große Neuigkeit schlagartig die ersten Seiten der altmodischen gedruckten Zeitungen überflutete, auf den Fernnachrichten-Schirmen aufleuchtete, aus der
Leinwand der dreidimensionalen Kino-Apparaturen in plastischen Lettern hervorsprang, aus Lautsprechern schmetterte, durch ÜbertragungsVerbundsysteme brüllte, in allen Straßen öffentlich verkündet wurde. Die Stimme der Menschheit gab ihrem Entsetzen Ausdruck – jede Rasse gemäß ihrer Gefühlsanlage, jedes Volk nach seiner Sitte, jeder einzelne entsprechend seiner seelischen Verfassung. In New York war der Times Square zum Erdrücken voll von verängstigtem Volk, das aufgeregt und schreiend hin und her wogte, die Fäuste gegen einen düsteren Himmel ballte, durch die Gefahr zur Angriffslust aufgestachelt wurde wie Ratten, denen man jeden Fluchtweg verlegt. Im Central Park hatte sich eine Menschenmenge zusammengefunden. Sie betete, sang Kirchenlieder, rief laut Christi Hilfe an, begehrte auf, weinte. Piccadilly in London war an diesem Morgen mit dem Blut von vierzig Selbstmördern besudelt. Am Trafalgar Square stockte jeglicher Verkehr. Sogar die berühmten Löwen verschwanden unter einer wahren Flut halbwahnsinniger Menschen. Und während die Löwen sich noch tiefer duckten als die Menschheit und ringsumher schreckensbleiche Gesichter schweißbedeckt auf Redner starrten, die den Tod als der Sünde Lohn verkündeten, brach die Nelsonsäule an ihrer Basis ab, neigte sich, wurde einen bangen Augenblick lang von einer zweiten Säule gestützt, die ihr, aus Entsetzensschreien verdichtet, entgegenwuchs, fiel dann zu Boden und zermalmte dreihundert Menschen. Erregung wallte empor, durstlöschend wie ein heller, klarer Quell. An diesem Vormittag nahmen Mohammedaner das
Christentum an, aus Christen wurden Muselmanen, Buddhisten, Trunkenbolde, alles mögliche. Kirchen und Bordelle tauschten ihre Besucher, und von beiden Einrichtungen her bereicherten schließlich die Irrenhäuser ihren Belag. Während viele Sünder sich beeilten, ihre Schuld in geweihtem Wasser abzuwaschen, wälzten die Reinen sich im Unrat, um ihre Gedanken abzulenken. Jeder benahm sich seiner Einsicht entsprechend, aber zumindest ein wenig gerieten alle aus dem Gleichgewicht. So wurde jeder einzelne zu einer Vitonenkuh, deren praller Euter strotzte, daß es für die Nutznießer eine Freude war. Die New York Times kam mit einer verspäteten Ausgabe heraus, in der sie mitteilte, die erste Morgennummer hätte »wegen plötzlicher Todesfälle« nicht erscheinen können. Zehn Angestellte waren an diesem Morgen bei der Times gestorben. Der Kansas City Star lag den Lesern zeitgerecht vor. In großer Aufmachung stellte er die Frage, was für einen Schwindel Washington diesmal ausgeheckt habe, um den Leuten ihre Dollars abzuknöpfen. Bei dieser Zeitung blieb alles am Leben. In Elmira fand man den Chefredakteur der Gazette tot an seinem Schreibtisch sitzend, den vom Fernsehempfänger reproduzierten Tatsachenbericht aus Washington noch in der erkalteten Hand. Der zweite Redakteur hatte versucht, das Blatt an sich zu nehmen, und war neben seinem Chef auf dem Boden zusammengesunken. Ein dritter Mann lag ausgestreckt neben der Tür, ein tollkühner Reporter, der an dieser Stelle hingestürzt war, als er den Gedanken faßte, er müsse einspringen und die Aufgabe zu Ende führen,
für die seine Vorgesetzten ihr Leben hingegeben hatten. Die Rundfunkstation WTTZ flog in die Luft oder in die Hölle, genau in dem Augenblick, als ihr Mikrophon eingeschaltet wurde und der Sprecher den Mund zur Durchsage der Nachricht öffnete, an die sich die Rede des Präsidenten anschließen sollte. Im weiteren Verlauf der Woche wurden schätzungsweise siebzehn Sender in den Vereinigten Staaten und vierundsechzig auf der ganzen Erde auf geheimnisvolle Art mit übernatürlichen Mitteln beschädigt, und zwar immer gerade rechtzeitig, um die Durchgabe von Enthüllungen zu verhindern, die andere als unerwünscht betrachteten. Auch die Presse litt schwer. In kritischen Augenblicken stürzten Zeitungsgebäude durch unerklärliche Explosionen ein, oder die Schriftleitungen verloren einen nach dem anderen ihre bestunterrichteten Mitarbeiter. Aber die Welt hatte es erfahren! Sie war gewarnt. Die Propagandisten hatten ausgezeichnet gearbeitet. Selbst unsichtbare Wesen konnten nicht überall zugleich sein. Die Kunde war in die Öffentlichkeit gedrungen, und ein Häuflein Auserwählter durfte sich sicher fühlen. Doch die übrige Welt zitterte. Bill Graham saß mit Leutnant Wohl und Professor Jurgens in dessen Wohnung am Lincoln Parkway. Sie waren damit beschäftigt, die Abendausgaben aller erreichbaren Zeitungen durchzusehen. »Der Widerhall ist ungefähr so, wie man es erwarten konnte«, bemerkte Jurgens. »Da wird allerhand verzapft! Schauen Sie sich nur das hier an!« Er reichte Graham den Boston Transcript. Das Blatt
erwähnte überhaupt nichts von unsichtbaren Mächten, sondern begnügte sich mit einem drei Spalten langen Leitartikel, der die Regierung heftig angriff. »Die Herrschaften werden sich nicht mehr so schrecklich überlegen dünken, wenn sie die Nase voll bekommen.« »Das meine ich auch.« Jurgens überlegte einen Augenblick. Dann sagte er: »Ich möchte nicht überspannt erscheinen, aber würden Sie so gut sein, mir zu sagen, ob augenblicklich solche Vitonen in der Nähe sind?« »In unmittelbarer Nachbarschaft nicht«, versicherte ihm Graham. Seine glitzernden Augen blickten durch das Fenster. »Einige gleiten an entfernten Dächern entlang, zwei schweben hoch über dem anderen Straßenende. Aber ganz in der Nähe sind keine.« »Gott sei Dank!« Jurgens' Züge entspannten sich. Er fuhr sich mit seinen schmalen Fingern wie mit einem Kamm durch das lange, weiße Haar und lächelte still, als er bemerkte, daß auch Wohls Gesicht sich aufgehellt hatte. »Ich bin vor allem neugierig darauf, was jetzt geschehen wird. Die Welt kennt nun die schlimmste Tatsache, die es überhaupt gibt. Aber was wird sie dagegen unternehmen – was kann sie tun?« »Es genügt nicht, daß die Welt den tödlichen Sachverhalt vom Hörensagen kennt. Sie muß ihn in seiner vollen, bitteren, unbestreitbaren Wirklichkeit mit eigenen Augen sehen«, erklärte Graham ernst. »Die Regierung hat die großen chemischen Werke in ihren Abwehrplan einbezogen. Der erste Schritt wird der sein, daß man zu niedrigen Preisen gewaltige Mengen der von Bjornsen in seiner Gebrauchsanweisung genannten Stoffe auf den Markt wirft, so daß die
breite Öffentlichkeit die Vitonen selbst erblicken kann.« »Wohin führt uns das?« »Das führt uns ein ganzes Stück näher an die unvermeidliche Aufdeckung aller Karten heran. In dem kommenden Kampf müssen wir die öffentliche Meinung geschlossen hinter uns haben. Dabei weiß ich mich frei von jeder nationalen Engstirnigkeit. Ich meine, die ganze Welt muß zusammenstehen. Alle unsere zahlreichen, zanklustigen Klüngel, seien sie politischer, religiöser oder sonstwelcher Art, werden ihre Streitigkeiten angesichts dieser großen Gefahr begraben und uns bei unserem künftigen Bemühen, dieser Bedrohung ein für allemal Herr zu werden, einhellig unterstützen müssen.« »Gewiß«, warf Jurgens zweifelnd ein. »Aber...« Graham fuhr fort: »Überdies müssen wir so viel wie irgend möglich über die Vitonen herausbekommen. Was wir bisher wissen, ist erschreckend wenig. Wir brauchen mehr Einzelheiten, und zwar derart viele, daß nur Tausende, ja Millionen von Beobachtern imstande sind, sie zu beschaffen. In kürzester Frist müssen wir den ungeheuren Vorsprung der Vitonen aufholen, den sie ihrer uralten Kenntnis der menschlichen Natur verdanken, und müssen einen ebenso tiefen Einblick in ihr Wesen gewinnen. Erkenne deinen Feind! Vergebens schmiedet man Ränke oder setzt sich offen zur Wehr, solange man nicht ein deutliches Bild davon hat, wogegen man sich auflehnt.« »Sehr vernünftig«, fand Jurgens. »Ich sehe nicht die geringste Hoffnung für die Menschheit, ehe sie diese Bürde abschüttelt. Aber Sie wissen doch, was der Wi-
derstand bedeutet?« »Was?« drängte Graham. »Bürgerkrieg!« Die durchgeistigten Züge des Psychologen verdüsterten sich, und er hob den Finger, um seine Worte zu unterstreichen. »Man kann auch nicht den armseligsten Schlag gegen diese Vitonen führen, bevor man die halbe Welt erobert und unterworfen hat. Die Menschheit wird gegen sich selber aufstehen – dafür sorgen schon diese Wesen. Die Hälfte, die unter vitonischem Einfluß bleibt, wird von der anderen Hälfte überwältigt, ja vielleicht sogar ausgetilgt werden müssen. Und zwar nicht bloß bis zum letzten Mann, sondern bis zum letzten Weib und Kind.« Jurgens hatte recht. Hundertprozentig recht! Bjornsens Chemikalien wurden erst seit sieben Tagen in Mengen auf den Markt geworfen, und schon fiel am frühen Morgen des achten Tages der erste Streich. Er zuckte mit so elementarer Gewalt nieder, daß ihn die ganze Menschheit wie einen seelischen Blitzschlag empfand. Ein azurblauer Himmel, den die aufgehende Sonne mit ihrer Röte sprenkelte, spie aus seinen unsichtbaren Oberschichten zweitausend dünne Flammenstreifen hervor. Sie senkten sich in Spiralen, wurden in der dichteren Luft weiß. Als sie weiter an Höhe verloren und dicker wurden, entpuppten sie sich als die Rückstoßgase gelber Flugkörper. Unter ihnen lag Seattle. Nur wenige Frühaufsteher schritten durch die breiten Straßen der Stadt. Viele Einwohner richteten erstaunte Augen aus den Fenstern zum Himmel, andere warfen bloß im Schlafe
die Köpfe auf den Kissen herum, als die Armada der Lüfte heulend den Puget-Sund überquerte und auf die Dächer von Seattle hinunterstieß. Der geschoßgleiche Sturzflug erhöhte das Heulen zu einem schrillen Kreischen. Dann brauste die Angriffswelle über den Hausdächern hin. An der Unterseite der Stummeltragflächen waren flammende Sonne als Nationalitätszeichen zu erkennen. Schwarze, unheimliche Klumpen lösten sich paarweise von den schlanken, stromlinienförmigen Rümpfen und bohrten sich dann in die Gebäude unter ihnen. Im Nu zerbarsten die Häuser in ein wirbelndes Gewoge von Flammen, Rauch und Trümmern. Sechs höllische Minuten lang schauderte und bebte Seattle, von einer ununterbrochenen Reihe gewaltiger Explosionen erschüttert. Dann verschwanden die zweitausend Flugzeuge wieder in die Stratosphäre, aus der sie gekommen waren, wie Gespenster aus dem Nichts. Vier Stunden später, während die Straßen Seattles noch von Glasscherben glitzerten und die Überlebenden in den Ruinen stöhnten, kamen die Angreifer wieder. Diesmal war Vancouver das Ziel. Sturzflug, sechs Minuten Inferno, Abdrehen. Langsam, zögernd lösten sich die Kondensstreifen in den höheren Luftschichten auf. Unten aber lagen trichterübersäte Straßen, auseinandergeblasene Geschäftsviertel, zerschmetterte Wohnhäuser. Am selben Abend, gleichzeitig mit einem ähnlichen und ähnlich wirksamen Angriff auf San Francisco, stellte die Regierung der Vereinigten Staaten amtlich die Angreifer fest. Die Erkennungszeichen auf den Bombern hätten genügender Hinweis sein sollen.
Aber man hielt eine solche Möglichkeit anfangs für zu absurd, als daß sie Glauben verdiente. Überdies hatten die behördlichen Stellen die Tage nicht vergessen, da es als zweckdienlich gegolten hatte, einen Streich unter jeder beliebigen Flagge, nur nicht der eigenen, zu führen. Aber es verhielt sich wirklich so. Der Feind war der Asiatische Bund, mit dem die Vereinigten Staaten die freundschaftlichsten Beziehungen zu unterhalten wähnten. Eine verzweifelte Funkbotschaft aus den Philippinen bestätigte den Sachverhalt. Manila war gefallen. Die Kriegsschiffe, Flugzeuge und Truppen des Bundes hatten die Inseln erobert. Die philippinische Armee bestand nicht mehr. Die Fernost-Trägerflotte der Vereinigten Staaten, die sich nichtsahnend weit weg auf Manöver befand, war schon angegriffen worden, als sie zum Entsatz heraneilte. Amerika trat rasch unter die Waffen. Seine Führer versammelten sich zur Erörterung der neuen Aufgaben, die mit solcher Wucht auf ihre Schultern gefallen waren. Horden leidenschaftlich entflammter Eiferer ergossen sich ohne Kriegserklärung über die Grenzen. In ihren Augen glühte Ahnungslosigkeit an Stelle von Wissen, ihre Seelen hatten sich einer göttlichen Mission geweiht. Los Angeles schwand über Nacht in einem Massensterben dahin, das aus den Wolken die Stadt überfiel. Die erste einzelne Feindmaschine, die Chicago erreichte, zerstörte einen Wolkenkratzer und zerfetzte mit dessen Stahl- und Betontrümmern tausend Menschenleiber, bevor eine Abfangrakete den An-
greifer mitten in der Luft in Stücke riß. Von keiner Seite waren bisher Atombomben, radioaktive Gase oder Bakterien verwendet worden. Man fürchtete gegenseitig die Vergeltung. Es war ein blutiger Kampf und doch ein Scheingefecht. Aber asiatische Truppen hatten sich ganz Kaliforniens und der Südhälfte Oregons bemächtigt. Am ersten September wurden die Luft- und UnterseeNachschübe von jenseits des Pazifiks stark eingeschränkt, um den wachsenden Verlusten zu begegnen. Der Bund begnügte sich damit, den gewaltigen Brückenkopf, den er auf dem amerikanischen Kontinent gewonnen hatte, festzuhalten und auszubauen. Ansonsten wandte er seine Aufmerksamkeit jetzt in die entgegengesetzte Himmelsrichtung. Im Triumphzug drangen seine Heersäulen westwärts vor. Die Verlegung des feindlichen Druckes in eine andere Richtung verschaffte Amerika eine kurze Atempause und gestattete es dem Lande, sich wieder zu fangen und von dem anfänglichen Schreck zu erholen. Die Presse, die sich bisher ausschließlich den verschiedenen Aspekten des Kampfes gewidmet hatte, hielt nun die Zeit für gekommen, auch anderen Themen etwas Platz einzuräumen, besonders Bjornsens früheren Versuchsreihen und den Nachrichten über vitonische Tätigkeit in Vergangenheit und Gegenwart.
9 Während ringsum alles in Trümmern lag, stand das Samariter-Krankenhaus noch unbeschädigt da. Seit der Invasion hatte New York arg gelitten. Immer wieder kamen Raketengeschosse von den entfernten Abschußbasen her. Durch ein gütiges Geschick oder kraft jener bekannten, gelegentlichen Durchbrechung aller Wahrscheinlichkeitsregeln war das Krankenhaus unversehrt geblieben. Hundert Meter vom Haupteingang kletterte Graham aus seinem verbeulten Wagen und betrachtete den Schutthaufen, der die Straße in ihrer ganzen Breite blockierte. »Vitonen!« rief Wohl warnend, als er den Wagen gleichfalls verließ und einen ängstlichen Blick auf den düsteren Himmel warf. Graham nickte schweigend. Er bemerkte, daß diese gespenstischen Kugeln in großer Zahl über der gequälten Stadt in der Luft schwebten. Abscheu malte sich auf Grahams hageren, muskulösen Zügen, als er hastig über die Masse von Trümmern stieg. Beim Erklimmen des Schuttberges mußte er tief Atem holen, und durch die geweiteten Nasenflügel drang jene scharfe, durchdringende Ausdünstung, wie sie sich nach heftigen Luftangriffen verbreitet, ein Geruch nach Menschen und Sachen, die gleichzeitig zermalmt worden waren und sich zersetzten. Als er oben anlangte, wandten sich seine wachsamen Augen zum Himmel. Die andere Seite des Trümmerwalles lief und sprang er in größter Eile hinunter. Wohl folgte ihm.
Sie hasteten über den zerklüfteten Gehsteig und passierten die Lücke in der Einfriedung, wo früher das Torhaus gestanden hatte. Als sie den bogenförmig ansteigenden, kiesbestreuten Zufahrtsweg einschlugen, der zum Haupteingang des Krankenhauses führte, hörte Graham ein plötzliches ersticktes Stöhnen seines Gefährten. »Um Himmels willen, Bill, da sind zwei hinter uns her!« Als er sich umsah, bemerkte er für den Bruchteil einer Sekunde zwei Bälle, blau, glühend, verderbendrohend, die in flachem Gleitflug auf ihn zuschossen. Sie waren dreihundert Meter entfernt, näherten sich aber gleichförmig beschleunigt. Die völlige Lautlosigkeit ihres Herankommens war beklemmend. Mit einem atemlos hervorgestoßenen »Rasch, Bill!« überholte ihn Wohl. Seine Beine griffen aus, wie noch nie zuvor in seinem Leben. Graham sprang hinter ihm her. Wenn ein solches Wesen einen der beiden Männer zu fassen bekam und die Gedanken seines Opfers las, würde es ihn sofort als Rädelsführer der Gegenseite erkennen. Was bisher die beiden gerettet hatte, war der Umstand, daß es die Vitonen Mühe kostete, die Menschen voneinander zu unterscheiden. Graham rannte wie von Furien gehetzt. Während des Laufens wurde ihm voll bewußt, daß Flucht zwecklos war, daß es im Gebäude keine Hoffnung für die Verdammten gab, kein bergendes Versteck, keinen Schutz gegen so überlegene Mächte, wie sie ihm folgten. Trotzdem zwang ihn etwas weiterzurennen. Wohl war ihm um die Weite eines Sprunges voraus. Der Abstand der heranrasenden Verfolger betrug
nur mehr zwölf Meter, als die beiden Männer nacheinander die Eingangstür aufstießen und hindurchschossen, ohne sie recht zu bemerken. Erschrocken und mit weit aufgerissenen Augen starrte ihnen eine Pflegerin nach, als sie Hals über Kopf durch die Halle stürmten. Dann führte sie eine bleiche Hand zum Mund und schrie auf. Lautlos, mit entsetzenerregender Unentwegtheit, flitzten die Lichtkugeln an der Krankenschwester vorbei, schossen um die Ecke und in den Gang, durch den die ausersehene Beute ihren Weg genommen hatte. Graham warf einen kurzen Blick auf die Leuchtwesen, als er wie besessen um die nächste Ecke schlitterte. Nur mehr sieben Meter waren sie entfernt und kamen rasch näher. Er schlug einen Haken um einen Arzt in weißem Mantel, scheuchte eine Gruppe von Pflegerinnen auseinander. Das Parkett der Korridore war glatt. Wohl rutschte aus, versuchte krampfhaft, das Gleichgewicht zu erhalten und stürzte zu Boden. Graham konnte nicht so plötzlich anhalten, sprang über ihn hinweg, rutschte selbst auf dem glatten Boden aus und krachte mit aller Gewalt gegen die nächste Tür. Der Türflügel ächzte, stöhnte, flog auf. Die Schultermuskeln in unwillkürlicher Abwehr gestrafft, machte Graham blitzschnell kehrt, um dem Unvermeidlichen ins Auge zu sehen. Er bückte sich, faßte Wohl bei der Hand und riß ihn auf die Beine. Dann zeigte er nach dem Ende des Korridors. »So etwas!« keuchte er. »So etwas!« »Was denn?« »Sie sind dort um die Ecke gekommen und plötzlich mit einem Ruck stehengeblieben. Einen Augen-
blick lang haben sie so gehangen und sich dunkel verfärbt. Dann sind sie auf und davon, als wäre der Leibhaftige hinter ihnen her.« Wohl schnappte nach Luft und sagte: »Da haben wir verdammtes Glück gehabt!« »Ja, aber wieso sind sie auf einmal verduftet?« fragte Graham mit verblüffter Miene. »Soviel man von ihnen weiß, pflegen sie nicht so einfach aufzugeben. Ich habe nie davon gehört, daß sie von einem Opfer ablassen, wenn sie es einmal aufs Korn genommen haben. Was ist ihnen diesmal eingefallen?« »Darüber zerbreche ich mir nicht den Kopf.« Ohne sich Zwang anzutun, grinste Wohl erleichtert. »Vielleicht waren wir ihnen nicht gut genug. Vielleicht haben sie gefunden, daß wir zu magere Bissen sind und daß sie anderswo besser bedient werden. Ich habe keine Ahnung – ich bin kein Born der Weisheit.« »Diese Vitonen machen sich oft so eilig davon«, sagte kühl und gelassen eine Stimme hinter ihnen. »Das ist schon wiederholt vorgekommen.« Graham drehte sich um und sah neben der Tür, an die er gestoßen war, eine Frau stehen. Aus dem Zimmer drang Licht und schuf einen goldenen Rahmen für ihre prächtige Figur. Ihre klaren, ruhigen Augen hefteten sich fest auf ihn. Die beiden Männer setzten sich an ihren Schreibtisch, und Wohl betrachtete eine dort stehende Fotografie. Er zeigte darauf, las die Widmung: Meiner Harmony von Papa und sagte: »Harmony? Ein hübscher Name! War Ihr Vater Musiker?« Das Eis begann zu tauen. Dr. Curtis nahm Platz und lächelte: »Ach nein! Ich glaube, ihm hat nur der Name gut gefallen.«
»Genauso wie mir«, meldete sich Graham. »Ich hoffe, wir werden an ihm unsere Freude haben.« »Wir?« Ihre fein geschwungenen Brauen hoben sich ein wenig. »Ja«, sagte er frech. »Eines Tages.« Die Temperatur im Zimmer sank um einige Grade. Dr. Curtis zog die Beine unter den Sessel zurück und verbarg sie vor spähenden Augen. Plötzlich erzitterte der ganze Fußboden, und aus den Lüften drang ein fernes Dröhnen zu ihnen. Alle drei waren sofort ernüchtert. Sie warteten, bis der Lärm sich legte. Dann begann Graham: »Was ich sagen wollte, Harmony...!« Er hielt inne und fügte hinzu: »Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich Sie Harmony nenne, nicht wahr?« Ohne ihre Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Sie haben da vorhin erwähnt, daß die Vitonen oft plötzlich das Weite suchen. Wie verhält es sich damit eigentlich?« »Das ist eine sehr geheimnisvolle Sache«, gab Dr. Curtis zu. »Ich kann es mir nicht erklären, habe auch wirklich keine Zeit gehabt, darüber nachzudenken. Ich kann Ihnen nur folgendes berichten: Sobald das Pflegepersonal auf Vitonen-Sichtigkeit behandelt war, haben wir entdeckt, daß die Leuchtbälle das Krankenhaus in beträchtlicher Anzahl heimsuchen. Sie dringen sogar in die Krankensäle ein und schmarotzen an Patienten, vor denen wir natürlich unsere Beobachtungen sorgsam geheimhalten.« »Ich verstehe.« »Aus irgendeinem Grunde belästigen Sie das Personal nicht.« Fragend blickte sie die Besucher an. »Warum, weiß ich nicht.« »Weil«, erklärte ihr Graham, »von ihrem Gesichts-
punkt aus gefühlskalte Leute nur lästiges Unkraut sind, besonders an einem Ort, wo es so viel feines, reifes, saftiges Obst gibt. Die Krankensäle hier sind wahre Obstgärten!« Ihr glattes, ovales Gesicht quittierte die Kaltschnäuzigkeit seiner Begründung mit einem mißfälligen Blick. Dann erzählte sie weiter: »Später haben wir bemerkt, daß zu gewissen Zeiten sämtliche Leuchtwesen im Krankenhaus so rasch wie möglich fliehen und eine ganze Weile nicht wiederkommen. Das geht drei- oder viermal am Tag so. Eben jetzt war es auch wieder der Fall.« »Und das hat uns höchstwahrscheinlich das Leben gerettet.« »Kann schon sein«, pflichtete sie bei. Ihr absichtlich gleichgültiger Ton täuschte weder Wohl noch Graham, der jetzt entgegnete: »Sagen Sie, Doktor... äh... Harmony«, – vor seinem strengen Seitenblick verflüchtigte sich Wohls Grinsen – »fällt vielleicht diese Vitonen-Abwanderung mit irgendeiner regelmäßig wiederkehrenden Phase des täglichen Krankenhausbetriebes zusammen? Etwa mit der Verabreichung gewisser Arzneien an Kranke oder dem Einschalten des Röntgenapparates oder dem Öffnen bestimmter Chemikalienflaschen?« Sie dachte eine Weile nach, ohne anscheinend den aufmerksamen Blick des Fragers zu beachten. Schließlich stand sie auf, sah irgendwelche Aufzeichnungen durch, drehte die Wahlscheibe ihres Fernsprechers und zog jemanden in einem anderen Gebäudeteil zu Rate. Nach dem Gespräch löste sich die Spannung in ihrer Miene. »Also, sehr geistreich war das nicht von mir! Aber
ich muß zugeben, die Lösung ist mir erst eingefallen, als Ihre Fragen mich darauf gestoßen haben.« »Und zwar?« drängte Graham. »Der Apparat für Kurzwellen-Therapie.« »Ah!« Er schlug sich auf das Knie und warf dem aufmerksam zuhörenden Wohl einen triumphierenden Blick zu. »Die Fiebermaschine! Ist denn der Kasten nicht abgeschirmt?« »Es ist uns nie ganz gelungen. Wir haben's versucht, weil er die Fernsehempfänger gestört hat. Über die Bildschirme sind, wie die Leute klagen, ganze Schachbretter gelaufen. Aber der Apparat ist sehr stark, erzeugt durchdringende Kurzwellen. Alle unsere Bemühungen waren umsonst. Soviel ich gehört habe, mußten die betroffenen Leute bei sich selber einen Störschutz anbringen lassen.« »Auf welcher Wellenlänge arbeitet das Gerät?« »Eineinviertel Meter.« Er sprang auf. »Endlich eine Waffe!« »Wieso eine Waffe?« Wohl war nicht übermäßig beeindruckt. »Die Vitonen mögen diese Wellen nicht. Das haben wir doch gerade selber erlebt! Gott weiß, wie die Impulse auf ihre völlig anderen Sinne wirken. Vielleicht empfinden diese Leuchtkugeln die Kurzwellen als unausstehliche Hitze oder – in ihre Empfindungswelt übersetzt – als höchst widerlichen Geruch. Das ist im einzelnen unwichtig. Aber wir können froh sein darüber zu wissen, daß sie sich davor mit größter Beschleunigung zu verkrümeln pflegen. Alles, was sie veranlaßt, ihre Tätigkeit anderswohin zu verlegen, ist also eine Waffe gegen sie.« »Mir scheint, da ist was dran«, gab Wohl zu.
»Wenn diese Geräte eine Waffe wären oder sich auch nur dazu gestalten ließen«, bemerkte Dr. Curtis in ernstem Ton, »hätten die Vitonen sie dann nicht schon längst zerstört? Sie haben doch nie Bedenken, zuzuschlagen, wo es ihnen nötig erscheint. Warum sollten sie etwas so Lebensbedrohendes verschonen – wenn es wirklich gefährlich für sie ist?« »Ich kann mir vorstellen, daß nichts besser dazu angetan wäre, die Aufmerksamkeit der verzweifelten Menschheit auf die besonderen Eigenschaften von Kurzwellensendern zu lenken, als wenn plötzlich einer nach dem anderen zerstört würde.« »Ach ja!« Ihre großen, dunklen Augen blickten nachdenklich. »Schlau sind die Vitonen schon! In dieser Beziehung sind sie uns immer ein Stück voraus.« »Gewesen!« berichtigte er. »Was liegt am Gestern, wenn es ein Morgen gibt?« Er griff nach dem Telefon. »Diesen Tip muß ich unverzüglich an Leamington weitergeben. Vielleicht erweist er sich als Dynamit. Vielleicht ist er das, was ich mir erhoffe. Gnade uns Gott, wenn nicht! Wenigstens dazu sollte er gut sein, daß die Techniker eine Vorrichtung zusammenbauen, um heute abend die Versammlung zu schützen.« Leamingtons müde, verhärmte Züge erschienen auf dem kleinen Bildschirm. Sie entspannten sich ein wenig, als er Grahams raschen Bericht gehört hatte. Nach dem Gespräch wandte sich Bill an Dr. Curtis. »Es handelt sich um eine Zusammenkunft von Wissenschaftlern, heute um neun Uhr abends im Gebäude des Bundes-Garantiefonds, Kellergeschoß, Water Street. Ich nehme Sie gern mit!« »Um halb neun bin ich bereit«, sagte sie zu.
Mit fester Stimme berichtete Graham von dem Erlebnis, das er wenige Stunden vorher gehabt hatte. »Es ist dringend erforderlich«, sagte er zu den Wissenschaftlern, »daß wir sofort ausgedehnte Versuche mit Kurzwellen machen, die nach Radarart als scharf gebündelte Impulsstrahlen ausgesandt werden, und daß wir feststellen, ob gewisse Frequenzen – und welche – für die Vitonen tödlich sind. Meiner Ansicht nach wäre es wünschenswert, an einem abgelegenen, verkehrsarmen, von den Kampfgebieten möglichst entfernten Ort ein geeignetes Laboratorium einzurichten. Wir haben nämlich die Erfahrung gemacht, daß Vitonen sich dort sammeln, wo Menschen am dichtesten siedeln, während sie unbewohnte Gegenden sehr selten aufsuchen.« »Das ist eine ausgezeichnete Idee!« Leamington erhob sich, und seine hochgewachsene Gestalt überragte beträchtlich die sitzenden Nachbarn. »Wir haben nachgewiesen, daß die zahlenmäßige Stärke der Vitonen zwischen einem Zwanzigstel und einem Dreißigstel der menschlichen Erdbevölkerung liegt, und man kann damit rechnen, daß die Mehrheit davon sich in der Nähe ergiebiger Quellen menschlicher und tierischer Energie herumtreibt. Wenn man ein Labor in der Wüste, in einer Gegend mit spärlicher Erzeugung von Nervenströmen, einrichtet, kann es jahrelang unentdeckt und ungestört bleiben.« Schon faßte Leamington eine passende Örtlichkeit für die Forschungsstätte ins Auge, die, so hoffte er, das erste Antivitonen-Arsenal der Welt werden sollte. »Es nützt nicht viel«, mahnte Graham, als das Geräusch eines Raketeneinschlages verklang, »die Asiaten zu bekämpfen, wenn man nicht gleichzeitig
die Unterwerfung ihrer Oberherren in Angriff nimmt. Die Leuchtwesen ausrotten heißt die Quellen verstopfen, aus denen die Verblendung unserer Feinde gespeist wird, heißt, sie wieder zur Vernunft bringen. Sie sind Menschen wie wir. Reißt man sie aus ihren tollen Träumen, so nimmt man ihnen auch ihre Zerstörungswut. Wir wollen zum entscheidenden Schlag ausholen, indem wir die einzige schwache Stelle, die wir bis jetzt an den Vitonen entdeckt haben, der ganzen Welt mitteilen.« »Sollten wir nicht besser unsere eigenen Gelehrten zusammenfassen und ans Werk setzen?« fragte eine Stimme. »Das werden wir tun, dessen mögen Sie versichert sein! Aber wie wir zu unserem Schaden erfahren haben, sind tausend weitverstreute Forscher sicherer, als wenn tausend sich am gleichen Fleck zusammendrängen. Wir wollen die ganze westliche Welt für diese Arbeit aufbieten. Und nichts – ob sichtbar oder unsichtbar – kann unseren schließlichen Triumph verhindern!« Sangster war sehr ungehalten und bemühte sich nicht, seine üble Laune zu verhehlen. »Jetzt sind es zwölf Tage her seit jener internationalen Rundfunk-Verlautbarung, die jedermann ins Bild gesetzt hat«, wetterte er. »Hat irgendwer diese Generalmobilisierung gestört? Nein! Wurde auch nur eine einzige Rundfunkstation beim Schlafittchen gepackt und durcheinandergerüttelt? Nein, keine einzige! Wäre diese Kurzwellenforschung eine Bedrohung für die Vitonen, so hätten sie Krach geschlagen, um sie zu verhindern. Sie hätten sich eine Liste von Elek-
tronikspezialisten angelegt und wären systematisch gegen sie vorgegangen. Es hätte Tote gegeben von einem Ende der Welt bis zum anderen. Aber die Vitonen haben nicht reagiert. Folglich befinden wir uns auf dem Holzweg. Vielleicht sind sie den DiathermieGeräten nur deshalb ausgewichen, um uns auf eine falsche Spur zu locken. Vielleicht lachen sie sich jetzt in das, was bei ihnen die nicht vorhandenen Fäustchen ersetzt.« Erregt schlug er auf den Tisch. »Mir gefällt das nicht. Mir gefällt das gar nicht!« »Oder vielleicht wollen die Vitonen bloß, daß wir so denken wie Sie«, warf Graham leichthin ein. »Was?« Sangster riß den Mund mit solcher Plötzlichkeit auf, daß auf die Gesichter der anderen ein Grinsen trat. »Ihre Ansicht beweist nur, daß die Gleichgültigkeit der Vitonen uns entmutigen soll.« Graham ging zum Fenster und betrachtete das zerschossene New York. »Ich sage ›soll‹ – wohlgemerkt! Ich mißtraue der anscheinenden Unbekümmertheit. Diese verdammten Wesen verstehen mehr von menschlicher Psychologie, als Fachleute wie Jurgens vermutlich je lernen werden.« »Schon recht! Schon recht!« Sangster trocknete sich die Stirn vom Schweiß, wühlte unter den Papieren auf seinem Tisch, zog ein Blatt hervor und hielt es in die Höhe. »Hier ist ein Bericht von der Electra Elektronik-Gesellschaft! Ihre Fachleute, heißt es da, könnten ebensogut Daumen drehen. Sie meinen, die Kurzwellen müssen stinken. Sie haben auf vorbeifliegende Leuchtwesen jede Frequenz verschossen, die ihre Fabrik herausquetschen konnte. Aber die Biester haben nur einen Bogen gemacht – wie um eine Stelle,
von der üble Düfte aufsteigen. Bob Treleaven, der Obergescheite unter ihnen, sagt, er sei fest überzeugt davon, daß diese verfluchten Kugeln gewisse Frequenzen so empfinden wie wir Gerüche.« Vorwurfsvoll klopfte er mit dem Finger auf das Papier. »Wohin soll uns denn das führen?« »Abwarten«, empfahl Graham gelassen. »Schön! Wir können ja warten.« Sangster lehnte sich in seinem Sessel zurück, legte die Füße auf den Schreibtisch und setzte trotz seiner Verärgerung die Miene eines Mannes auf, dessen Geduld unerschöpflich ist. »Ich habe mächtiges Vertrauen zu Ihnen, Bill. Aber bei diesen ganzen Forschungen geht das Geld meines Büros drauf. Es wäre eine große Beruhigung für mich, wenn ich wüßte, worauf wir eigentlich warten.« »Wir warten, bis ein Wissenschaftler so ein Viton bei lebendigem Leibe anröstet.« Grahams wettergegerbtes Gesicht nahm einen grimmigen Ausdruck an. »Und – mir ist es in den Tod zuwider, das auszusprechen – wir warten auf den ersten in einer neuen Serie von Leichnamen.« Auf Sangsters Schreibtisch summte das Telefon. Sangster meldete sich und drückte den Verstärkerknopf. »Sangster!« klirrte es aus der Hörmuschel in scharf metallischer Klangfarbe. »Eben hat mich Padilla aus Buenos Aires angerufen. Er hat etwas gefunden! Er sagt... er sagt... Sangster... Oh!« Durch Sangsters verstört hervorquellende Augen und totenblasse Gesichtsfarbe aufgeschreckt, sprang Graham neben ihn und blickte auf das nachleuchtende Fernsehbild. Er kam gerade zurecht, um zu sehen,
wie ein Gesicht langsam vom kleinen Bildschirm verschwand, ein verschwommenes Gesicht, durch einen gespenstischen, glühenden Nebel verschleiert. Aber die schattenhaften Züge kündeten von unaussprechlichem Grauen. Dann schrumpften sie zusammen und verschwanden völlig. »Bob Treleaven!« flüsterte Sangster. »Es war Bob!« Er stand wie betäubt. »Sie haben ihn erwischt – und ich hab es mit angesehen!«
10 Das kleine, aber gut eingerichtete Labor der Electra Elektronik-Gesellschaft befand sich in peinlichster Ordnung. Nichts war von der Stelle gerückt, nichts hätte den Eindruck pedantischer Sauberkeit getrübt, hätte nicht unter dem baumelnden Telefonhörer ein Toter gelegen. Ein Polizeisergeant sagte: »Genauso haben wir den Raum vorgefunden. Wir haben inzwischen stereoskopische Aufnahmen des Leichnams gemacht.« Bill Graham nickte zustimmend, bückte sich und drehte den Körper um. Mit raschen, geschickten Griffen durchsuchte er das Opfer, legte den Inhalt der Taschen auf einen Tisch und sah die Gegenstände mit scharfer Aufmerksamkeit durch. »Alles umsonst!« bemerkte er verärgert. »Das alles miteinander besagt gar nichts!« Er richtete den Blick auf einen kleinen, lebhaften Mann, der mit kläglicher Miene neben dem Polizisten hin und her lief. »Sie waren also Treleavens Assistent? Was können Sie mir berichten?« »Bob ist von Padilla angerufen worden«, plapperte der kleine Mann und ließ seine verschüchterten Augen von dem Fragesteller zu dem Leichnam schweifen. Nervös zupfte er an dem sorgfältig gestutzten Schnurrbart. »Das wissen wir. Wer ist dieser Padilla?« »Ein persönlicher Freund Bobs, mit dem er auch in angenehmer Geschäftsverbindung gestanden hat.« Er knöpfte seine Jacke zu und wieder auf. »Padilla ist Patentinhaber der thermostatischen Verstärkerröhre,
einer Rundfunkröhre mit automatischer Kühlung, die wir unter seiner Lizenz erzeugen.« »Weiter, bitte!« drängte Graham. »Bob hat also diesen Anruf bekommen und ist in große Erregung geraten. Er hat erklärt, er wolle die Nachricht überallhin weitergeben, damit ihre Verbreitung nicht aufgehalten werden kann. Um welche Art von Nachricht es sich handelte, hat er nicht erwähnt. Aber sie brannte ihm sichtlich auf den Nägeln.« »Und dann?« »Er hat sich sofort ins Labor begeben, um jemanden anzurufen. Fünf Minuten später ist eine Bande Leuchtwesen in die Fabrik eingeflogen. Schon seit Tagen haben sie sich in der Gegend herumgetrieben, scheinen uns irgendwie beobachtet zu haben. Wir sind alle gelaufen, bis auf drei Leute im obersten Stockwerk.« »Warum die nicht?« »Denen sind die Augen noch nicht behandelt worden. Sie haben keine Ahnung gehabt, was vorgeht.« »Aha.« »Sobald die Leuchtwesen verschwunden waren, sind wir zurückgekommen und haben Bob tot unter dem Telefon gefunden.« Von neuem begann er mit fahrigen Bewegungen an seinem Schnurrbart zu zerren, und wieder glitt ein erschreckter Blick von dem Fragesteller auf den Leichnam. »Sie sagen, daß die Vitonen seit Tagen hier herumgeflogen sind«, warf Wohl ein. »Haben sie während dieser Zeit einen Angestellten überfallen, um in seinem Hirn Nachschau zu halten?« »Nicht einen, sondern vier!« Der kleine Mann wur-
de noch zappliger als bisher. »Vier Leute haben sie während der letzten paar Tage abgeschnüffelt. Das war ganz fürchterlich für uns. Man konnte nie sagen, wer als nächster an die Reihe kommen würde. Bei Tag haben wir nicht richtig arbeiten und bei Nacht nicht anständig schlafen können.« Er warf Wohl einen mitleidheischenden Blick zu und fuhr fort: »Den letzten haben sie gestern nachmittag erwischt. Er ist verrückt geworden. Draußen vor dem Tor haben sie ihn weggeworfen, als faselnden Idioten.« »Aber als wir gekommen sind, waren keine Vitonen zu sehen«, bemerkte Wohl. »Wahrscheinlich geben sie sich vorderhand damit zufrieden, daß ihr Gegenschlag die Fabrik bis auf weiteres als mögliche Gefahrenquelle ausgeschaltet hat.« Als Graham den Gegensatz zwischen der Fahrigkeit des Angestellten und dem dickfelligen Gleichmut des Polizeisergeanten bemerkte, konnte er ein Lächeln nicht unterdrücken. »Aber sie werden wiederkommen!« Er entließ den Zeugen zusammen mit anderen noch wartenden Angestellten. Mit Wohls Hilfe nahm er jeden Zettel, jeden Notizblock, auch das unscheinbarste Stück Papier zur Hand – in der Hoffnung, vielleicht doch einen Fingerzeig zu erhalten. »Das geht nicht mit rechten Dingen zu!« stöhnte Wohl verzweifelt. »Auch nicht die Spur einer Andeutung! Nicht einmal ein schäbiges kleines Endchen, das man packen könnte.« »Strengen Sie einmal Ihr Köpfchen an!« sagte Graham. »Sie wollen doch nicht sagen, daß Sie was gefunden haben?« Wohls ehrliche Augen wurden vor
Staunen so groß wie Mühlenräder. Noch einmal durchsuchte er das Labor, um sich zu vergewissern, ob er nicht etwas übersehen hätte. »Hier hab ich ja gar nichts gefunden.« Bill Graham packte seinen Hut. »Bei diesem verrückten Fall bleibt niemand so lange am Leben, daß er einem einen Faden an die Hand geben könnte. Es bleibt nichts übrig, als selber einen zu spinnen. Kommen Sie, fahren wir zurück!« Als sie durch Stamford fuhren, hob Wohl den Blick nachdenklich von der Straße, sah seinen Gefährten an und sagte: »Na, na! Ist denn das so eine Art Familiengeheimnis, wie?« »Wovon sprechen Sie?« »Von dem Faden, den Sie da spinnen.« »Es sind mehrere. Zunächst einmal wissen wir über diesen Padilla zu wenig. Wir müssen uns weitere Einzelheiten verschaffen. Vielleicht lohnt sich wenigstens eine davon. Zweitens scheint es, daß Treleaven etwa fünf Minuten lang ungestört am Telefon war, bevor er außer Gefecht gesetzt wurde. Mit Sangster war er kaum eine halbe Minute verbunden, und das ist sein letzter Anruf in diesem irdischen Jammertal gewesen. Wenn er also nicht vier und eine halbe Minute gebraucht hat, um Sangster zu erreichen – was unwahrscheinlich ist – so dürfte er vorher jemand anders angerufen haben. Wir müssen herausbekommen, ob das zutrifft, und wenn ja, mit wem er gesprochen hat.« »Sie sind ein Wundertier – und ich bin ein größerer Esel, als ich je gedacht habe«, fand Wohl. Graham grinste verlegen und fuhr fort: »Schließlich gibt's zwischen Buenos Aires, Barranquilla und Brid-
geport eine unbekannte Zahl von KurzwellenAmateuren. Vielleicht ist der eine oder andere gerade auf Wellenjagd gegangen. Wenn so jemand zufällig mitgehört und Padillas Meldung aufgeschnappt hat, so interessieren wir uns für ihn genauso lebhaft wie die Vitonen. Wir müssen den Mann auftreiben, bevor es zu spät ist!« Graham drehte sich auf seinem Sitz um und spähte durch das Rückfenster des Wagens. »Vitonen! Sie sind hinter uns her!« Seine scharfen Augen schweiften rasch nach vorn und den Seiten. Sie nahmen die ganze Gegend mit fotografischer Treue auf. »Holen Sie heraus, was das Zeug hält!« Während Wohl den Beschleuniger bis zum äußersten Anschlag schob, drückte Graham mit dem Daumen auf den Alarmknopf. »Es nützt alles nichts! Sie haben uns schon so gut wie erwischt!« keuchte Wohl. Er lenkte die Maschine durch eine Kurve, verhinderte dabei dreimal hintereinander ein Ausbrechen nach der Seite und brachte dann den Wagen wieder auf geraden Kurs. Die Straße war ein breites Band, das unter den Rädern abrollte. »Wenn wir doppelt so schnell fahren, entkommen wir ihnen auch nicht.« »Die Brücke!« rief Graham warnend. Er wunderte sich über die eigene Kaltblütigkeit, als er mit einer Kopfbewegung auf die blitzschnell herankommende Brücke wies. »Setzen Sie mit dem Wagen über den Uferdamm und tauchen Sie in den Fluß! Das ist noch ein Ausweg!« »Ein... schöner... Ausweg!« stieß Wohl hervor. Ohne darauf einzugehen, blickte Graham wieder nach hinten und sah die unheimlich leuchtenden Ver-
folger. Jetzt waren sie nur mehr zweihundert Meter entfernt und rückten rasch näher. In einer einzigen Kette aufgereiht, durchschnitten zehn von ihnen die Luft in jener anscheinend mühelosen, geschoßähnlichen Fortbewegungsart, die für diese Wesen so kennzeichnend war. Beim Näherkommen verbreiterte sich die Brücke perspektivisch. Unterdessen hatte die geisterhafte Horde fünfzig Meter aufgeholt. Besorgt teilte Graham seine Aufmerksamkeit zwischen dem, was sich vorn abspielte, und dem, was hinter ihnen geschah. Jetzt ging es, das sah er, auf Biegen und Brechen. Der Bruchteil einer Sekunde würde entscheiden, ob ihre Chance eins zu einer Million war – oder aber Null. »Ganz knapp schaffen wir's!« überschrie er das Heulen des Generators. »Wenn wir aufs Wasser aufschlagen, werfen Sie sich aus dem Wagen und schwimmen Sie unter Wasser flußabwärts, so lange Ihr Atem reicht. Kommen Sie immer nur für ein kurzes Luftschnappen an die Oberfläche! Solange diese Biester hier sind, bleiben Sie untergetaucht – und wenn Sie eine ganze Wochenration an Wasser saufen müssen. Immer noch besser als...« Er ließ den Satz unvollendet. »Aber...« setzte Wohl zur Widerrede an. Seine Züge waren gespannt. »Jetzt!« brüllte Graham. Er gedachte nicht zu warten, bis Wohl sich entschloß. Seine starken Finger umklammerten das Lenkrad und drehten es mit unwiderstehlicher Gewalt. Unwillig kreischte das arg mißhandelte Fahrzeug auf, als der schlanke Wagen die Böschung hinaufschoß, daß die Funken stoben. Im Bogen flog er über
den Damm hinaus, knapp dreißig Zentimeter unter der Betondecke der Brücke. Dann beschrieb er eine schöne Parabel durch die Luft. Wie ein ungeheures, zwanzig Meter langes Geschoß platschte er auf die Wasserfläche, so daß ein Sprühregen bis über das Straßenniveau hochspritzte. In dem zurücksinkenden Wasserfall schimmerte für einen Augenblick ein winziger Regenbogen auf. Mitten in einem Springbrunnen tänzelnder Gasblasen sank die Maschine tiefer und tiefer. Schließlich verschwand sie und hinterließ auf der zerwühlten Wasseroberfläche eine dünne Ölschicht, über der zehn Leuchtwesen für den Augenblick machtlos umherflogen. Ein Glück, dachte Graham, daß er die Geistesgegenwart besessen hatte, die Wagentür aufzureißen, bevor sie untertauchten. Sonst hätte ihn der Wasserdruck für wertvolle Sekunden in dem Wagen eingesperrt. Geschmeidig krümmte er den robusten, sehnigen Körper, stieß kräftig mit den Füßen ab und machte sich so aus dem Wagen los, der gerade am Grunde des Flußbettes aufstieß und sich zur Seite legte. Luftbläschen lösten sich langsam von Grahams Mund, als seine Lungen sich gegen die übermäßige Belastung aufzulehnen begannen. Er versuchte, seine Bewegungen zu beschleunigen, spürte, wie sein Herz hämmerte und die Augen aus den Höhlen traten. Eine geschickte Bewegung brachte ihn pfeilschnell aufwärts. Er steckte Mund und Nase über die Oberfläche, atmete aus und zog die frische Luft keuchend ein. Dann tauchte er wieder unter und schwamm kräftig weiter.
Viermal kam er so hinauf – rasch wie eine Forelle, die nach einer Fliege schnappt –, weitete die Lungen zu einem tiefen Atemzug, glitt wieder unter Wasser zurück. Schließlich schwamm er ins Seichte, und seine Schuhe streiften kiesigen Grund. Vorsichtig hob er die Augen über den Wasserspiegel. Von einer durch die Brücke verdeckten Stelle des Uferdammes erhoben sich gerade die zehn funkelnden Kugeln in die Lüfte. Forschenden Blickes beobachtete Graham von seinem Versteck aus ihren Aufstieg und folgte ihnen, bis sie nur mehr als zehn leuchtende Stecknadelköpfe an den Wolkenrändern hingen. Als die blauen Gespensterwesen rasch ostwärts abbogen, stieg Graham etwas benommen aus dem Wasser und stand triefend auf dem Damm. Still und friedlich glitt der Fluß vorbei. Als der einsame Mann die glatte Oberfläche sah, war er zuerst nur erstaunt. Bald aber schlug sein Gefühl in offene Besorgnis um. Als er sich dem Betonbogen näherte, sah er darunter Wohls Körper liegen. Mühsam stapfte er, während in seinen Schuhen das Wasser gluckste, längs des Dammes unter die Brücke und erreichte die regungslose Gestalt des Leutnants. Hastig strich er sich das nasse Haar aus der Stirn, bückte sich über die schlaff hingestreckten Beine des leblosen Mannes und schlang die Arme um sie. Mit den Händen faßte er Wohls Oberschenkel von hinten und erhob sich mühsam. Unter dem Gewicht seines Gefährten zitterten ihm die Muskeln. Er preßte den Körper an sich, hob ihn und blickte auf den hinunterbaumelnden Kopf. Aus Wohls aufgerissenem Mund begann Wasser zu laufen. Mit
ruckweise nach oben gerichteten Bewegungen schüttelte Graham den Rumpf, bis dem Munde kein Wasser mehr entquoll. Dann legte er den Körper auf den Bauch, kauerte sich rittlings über ihn, legte seine breiten, muskulösen Hände an die Rippen und begann, sie in festem Takte abwechselnd zu drücken und wieder loszulassen. Todmüde, aber unverdrossen setzte er diese Bewegungen fort, bis plötzlich ein krampfhaftes Zucken durch den Körper seines Gefährten lief und ein vom Wasser halb ersticktes Rasseln aus seiner Kehle drang. Eine halbe Stunde später saß Graham auf dem Rücksitz eines rasch aufgehaltenen Wagens und stützte mit den Armen Wohls zusammengekrümmte Gestalt. »Einen Mordsschlag hab ich auf die Birne gekriegt, Bill«, krächzte Wohl. Er hustete, stöhnte, ließ den Kopf kraftlos sinken. »Das hat mich betäubt. Vielleicht war's die Tür. Sie ist gegen die Strömung aufgegangen und hat auf mich zurückgeschlagen. Ich bin gesunken, hochgekommen, wiederum gesunken. Und Wasser hab ich geschluckt!« Aus seinen Lungen drang ein schwaches, gurgelndes Geräusch. »Ich fühle mich wie eine Wasserleiche, die einen Monat lang eingeweicht war.« »Sie werden sich wieder aufrappeln«, tröstete Graham ihn. »Sterben, Amen... Das war mein einziger Gedanke. Jetzt ist alles aus, hab ich mir gesagt. Ein scheußliches Ende... als Unrat... als Dreckbrocken... am Grunde des Flusses auf- und niederschaukeln, auf und nieder, zwischen Schlamm und Gasblasen, immerfort und ewig.« Sabbernd beugte er sich vor. Graham zog ihn
wieder zurück. »Schließlich habe ich mich hinaufgearbeitet... Und da hat mich so ein verdammter Viton erwischt.« »Was?« schrie Graham. »Ein Viton hat mich gepackt«, wiederholte Wohl stumpf. »Ich hab die Gespensterfinger gespürt... Getastet haben sie... in meinem Hirn... herumgesucht... gewühlt.« Er hustete heiser. »Mehr weiß ich nicht.« »Offenbar haben die Biester Sie auf den Damm geschleppt«, erklärte Graham erregt. »Wenn sie Ihre Gedanken gelesen haben, kommen sie unseren nächsten Schritten zuvor.« Leamington verzog den Mund und fragte: »Warum haben sie Wohl nicht getötet, wie sie's mit den anderen taten?« »Keine Ahnung! Vielleicht sind sie zu der Ansicht gelangt, daß er nichts weiß, was ihnen gefährlich werden könnte.« Bill Graham erwiderte den festen Blick seines Vorgesetzten. »Bei mir dürften sie übrigens der gleichen Meinung sein. Rechnen Sie also nicht jedesmal, wenn ich ausgehe, damit, daß ich Ihnen schon wegsterbe!« »Sie können mir nichts vormachen«, sagte Leamington. »Es ist ein Wunder, daß Ihnen das Glück so lange treu geblieben ist.« Graham ging nicht weiter darauf ein und sagte: »Gerade in den nächsten Tagen wird Wohl mir wirklich sehr fehlen.« Er seufzte leise. »Konnten Sie etwas über Padilla feststellen?« »Wir haben's versucht«, brummte Leamington verdrossen. »Unser Vertrauensmann hat herzlich wenig herausbekommen. Die Behörden haben alle Hände
voll zu tun und keine Zeit, sich mit ihm abzugeben.« »Wieso denn? Ein Anfall der chronischen Managerkrankheit?« »Nein, nicht das. Kurz nachdem wir gekabelt hatten, ist Buenos Aires von einem Luftangriff heimgesucht worden. Die Stadt ist schwer zerstört.« »Verdammt!« fluchte Graham und biß sich ärgerlich auf die Lippen. »Der einzige Anhaltspunkt geht auch zum Teufel.« »Nur mehr die Überprüfung der KurzwellenAmateure bleibt uns«, bemerkte Leamington. »Daran arbeiten wir gerade. Es wird einige Zeit dauern. Diese Leute haben eine besondere Vorliebe dafür, sich auf Berggipfeln oder mitten im wildesten Dschungel zu verstecken. Die unmöglichsten Örtlichkeiten suchen sie sich aus.« »Kann man sie nicht durch Funk erreichen?« »O ja, gewiß kann man das – so wie man seine Frau anrufen kann, wenn sie ausgegangen ist. Die Brüder setzen sich nur ans Radio, wenn der Heilige Geist über sie kommt.« Er schob eine Lade auf, zog ein Blatt Papier hervor und reichte es dem Besucher. »Knapp bevor Sie kamen, ist das hier eingelangt. Es mag von Belang sein oder auch nicht. Sagt es Ihnen etwas?« »United-Press-Bericht«, überlas Graham ebenso rasch wie aufmerksam die Druckzeilen. »Professor Fergus McAndrew, ein international bekannter Atomwissenschaftler, verschwand heute morgen unter geheimnisvollen Umständen aus seinem Hause in Kirkintilloch, Schottland.« Graham warf einen scharfen Blick auf den unbewegt dasitzenden Leamington. Dann wandte er sein Augenmerk wieder dem Blatt
zu. »Der Vorfall ereignete sich, als der Gelehrte beim Frühstück saß. Sein Teller war noch halb voll, der Kaffee noch warm. Mrs. Martha Leslie, seine Haushälterin, läßt es sich nicht ausreden, daß er von Leuchtwesen entführt wurde.« »Nun?« fragte Leamington. »Entführt! Und nicht getötet! Das ist auffällig!« Graham zog die Stirn in Falten und dachte angestrengt über diese neue Wendung der Dinge nach. »Anscheinend kann er nicht allzuviel gewußt haben. Sonst hätten sie ihn neben seinem Frühstück tot liegen lassen und nicht weggeschleppt. Wenn er aber keine Bedrohung darstellte, muß man sich wieder fragen, warum sie ihn mitgenommen haben.« »Das macht mich auch ganz stutzig!« Ausnahmsweise ließ Leamington seinen Empfindungen freien Lauf, so sehr sonst sein Dasein von Selbstbeherrschung erfüllt war. Er schlug heftig auf den Tisch und schrie: »Seit diese vertrackte Geschichte ausgebrochen ist, verstricken wir uns immer mehr in einem Gewirr von Fäden, und jeder führt uns zu einem Toten oder zu jemandem, der überhaupt nichts mehr ist. Sobald wir eine Spur verfolgen, stolpern wir über einen noch warmen Leichnam. Sooft wir irgendwo hingreifen wollen, tappen wir ins Leere. Jetzt fangen sie gar an, Beweismittel einfach beiseite zu räumen. Nicht einmal ein Leichnam bleibt uns mehr!« Er schnappte mit den Fingern. »Fort – glattweg verschwunden! Wo soll denn das enden? Und wann soll es enden – wenn überhaupt?« »Es wird enden, sobald das letzte Viton zugrunde geht oder der letzte Mensch sein Leben aushaucht.« Graham schwenkte den United-Press-Bericht und
wechselte das Gesprächsthema. »Dieser McAndrew muß wohl, glaube ich, einen Denkapparat haben, der für die begabtesten Männer gerade der gegenwärtigen Zeit bezeichnend ist.« »Na und?« »Deshalb begnügten die Vitonen sich bei ihm nicht wie sonst damit, das Hirn abzutasten. Sie wollen das ganze Räderwerk seines Geistes zerlegen, um herauszufinden, wie es funktioniert. Anders kann ich mir die Entführung an Stelle der üblichen Ermordung nicht erklären. Ich nehme an, daß den Vitonen unbehaglich geworden ist. Vielleicht haben Sie es sogar mit der Angst bekommen. Und deshalb nahmen sie den Gelehrten als geeignetes Objekt für ihre Superchirurgie mit sich.« Seine Augen flammten zu einer Leuchtkraft auf, die den Oberst erstaunte. »Die Vitonen wollen Mittelwerte bestimmen, um Wahrscheinlichkeiten abzuschätzen. Sie verlieren langsam ihre Selbstsicherheit und möchten wissen, was ihnen bevorsteht. Darum werden sie McAndrews Hirnkapazität messen und daraus ableiten, welche Aussichten wir besitzen, einen Sachverhalt zu entdecken, den sie offenbar ängstlich vor uns geheimhalten wollen.« »Und zwar?« »Erstens, daß es tatsächlich eine tödliche Waffe gibt, die unserer Entdeckung harrt – wenn wir klug genug dazu sein sollten. Die Vitonen sind also verwundbar!« Er hielt inne und fuhr dann bedachtsam fort: »Zweitens: wenn sie McAndrews Gehirn erforschen und die Überzeugung gewinnen, daß wir diese Waffe zu finden und zu entwickeln vermögen, werden sie alles tun, was in ihrer Macht steht, um der Bedrohung zu begegnen – und zwar verteufelt rasch.
Dann wird die Hölle losbrechen!« »Als ob wir sie nicht schon hätten!« rief Leamington. Er beschrieb einen weiten Bogen mit der Hand. »Können Sie sich vorstellen, daß unsere Lage noch verzweifelter werden kann, als sie schon ist?« Graham erwiderte nichts. Er war in Gedanken versunken, in tiefe, besorgte Gedanken. Jemand, der nun tot war, hatte ihm außersinnliche Wahrnehmungen zugetraut. Vielleicht besaß er sie wirklich. Oder aber er verfügte über die Gabe des zweiten Gesichtes. Jedenfalls wußte er, daß die Hölle bald mit größeren und wirksameren Überraschungen aufwarten würde. Dunkelheit! Tiefe, schaurige Finsternis, wie sie nur auf einer Stadt lasten kann, die einst im Lichterglanz erstrahlte. Bis auf das leuchtkäfergleiche Aufblitzen von Autos, die mit verhüllten Scheinwerfern an den unverglasten Fensterhöhlen der zerbombten New Yorker Straßenschluchten vorbeisausten, war alles in schwere, bedrückende, durchdringende Düsterkeit getaucht. An der Kreuzung mit der Oberen Sechsten Straße wurde in der Dunkelheit eine kleine, rote Taschenlampe hin- und hergeschwenkt. Graham bremste seinen Wagen ab, hielt an und stieg aus. »Was soll das heißen?« Aus der Finsternis tauchte ein junger Polizeibeamter auf. »Verzeihung, Sie, aber Ihre Maschine wird benötigt.« Er hörte schweigend zu, als Graham sich zu erkennen gab. Dann entgegnete er: »Leider kann ich nichts machen, Mr. Graham. Mein Befehl lautet, jedes Fahrzeug, das hier vorüberkommt, zu beschlagnahmen.«
»Schön, ich will mich fügen.« Graham griff in den Wagen, holte seinen Mantel heraus und zog ihn an. »Ich gehe zu Fuß.« »Es tut mir wirklich leid«, versicherte der Beamte. »Aber drüben im Westen ist es sehr brenzlig. Wir brauchen jede Maschine, deren wir habhaft werden können.« Er wandte sich an zwei Leute seines Trupps, der in der Dunkelheit kaum zu sehen war. »Den Wagen hier zur Sammelstelle!« Während noch die beiden Männer in das Fahrzeug krochen, drückte er schon wieder den Knopf seiner Taschenlampe, deren Licht durch eine rote Linse austrat und einen anderen sich nähernden Wagen stoppte. Graham eilte durch die Straße. Auf der einen Seite erhoben sich baufällige Mauern, zum Teil behelfsmäßig mit Balkenstreben abgestützt. Gegenüber ragten dürre Skelette als Überreste großer Geschäftshäuser in beklemmender Verlassenheit empor. Tief unter den Grundmauern der Stadt bissen mächtige Kiefer aus Beryllstahl in den gewachsenen Felsen. Schwere Gesteinsbohrer fraßen sich durch die tiefen Bodenschichten und schufen die Verkehrswege einer neuen, besser gesicherten Stadt, die für Raketen und Bomben unerreichbar sein sollte. Ein wunderlicher Einfall kam Graham. »Wenn alles fertig ist«, murmelte er, »wird die bisherige Untergrundbahn zur Hochbahn.« In dichten Perlen stand der Schweiß auf Grahams Stirn, als er den Zufahrtsweg zum Samariterspital hinaufschlich und durch die Eingangstür schritt. Bevor er bei Harmony eintrat, trocknete er sich die Stirn und beschloß, nichts von diesen tragischen Vorfällen zu verraten.
Sie war kühl und verhalten wie immer. Ihre samtschwarzen Augen musterten ihn mit einem Blick, aus dem eine Art tröstlicher Gelassenheit sprach. Diese Augen sahen aber tief in seine Seele. »Was ist vorgefallen?« fragte sie. »Vorgefallen? Wieso?« »Sie sehen verstört aus. Und vor kurzem haben Sie sich den Schweiß von der Stirn gewischt.« Er zog das Taschentuch heraus, fuhr sich wieder über das Gesicht und sagte: »Woran erkennen Sie das?« »Ihre Stirn war ganz verschmiert.« In ihren Augen malte sich Besorgnis. »Sind wieder Vitonen hinter Ihnen hergewesen?« »Nein, hinter mir nicht.« »Also hinter jemand anders?« »Was ist denn das Ganze?« fragte er. »Ein Quiz?« »Also, Sie haben wirklich ganz ungewöhnlich aufgeregt ausgesehen«, beharrte sie. »Wenn ich mit Ihnen spreche, gerate ich immer aus der Fassung.« Er bannte andere, schrecklichere Dinge aus seinen Gedanken und warf ihr einen verliebten Blick zu. »Bis ich mehr an Sie gewöhnt bin und Sie etwas besser kenne, werde ich schon wieder ins Gleichgewicht kommen.« »Was wollen Sie damit sagen?« »Ich möchte ein Rendezvous mit Ihnen«, sagte er. »Ein Rendezvous!« Ihre Augen hefteten sich flehentlich auf die Zimmerdecke. »Mitten in dem ganzen Wirbel kommt er daher und hat ein Rendezvous im Kopf.« Sie setzte sich hinter ihren Schreibtisch und nahm die Feder zur Hand. »Sie müssen total und komplett verrückt sein. Leben Sie wohl, Mr. Graham!
Guten Tag!« »Es ist Nacht, nicht Tag«, verbesserte er. Mit einem überschwenglichen Seufzer fügte er hinzu: »Eine Nacht, wie geschaffen für romantische Abenteuer.« Sie rümpfte hörbar die Nase und begann zu schreiben. »Schön!« fügte er sich. »Wenn ich abblitze, merk ich's schon. Dieser Tage ist mir das oft genug passiert. Ich hab mich dran gewöhnt. Also, reden wir von etwas anderem! Was gibt's Neues?« Sie legte die Feder nieder. »Ich hab bloß gewartet, bis Sie wieder zur Vernunft kommen. Seit ein paar Stunden wünsche ich mir Ihren Besuch.« »Tatsächlich? Das ist ja herrlich!« Vor Begeisterung sprang er auf. »Geben Sie sich keinen falschen Hoffnungen hin!« Sie winkte ihm, sich wieder zu setzen. »Es handelt sich um etwas Ernstes.« »Also, Herrgott, bin ich denn nichts Ernstes?« Er sprach zu der Wand. »Professor Farmiloe war bei mir zum Tee.« »Was hat der Typ mir voraus?« »Gute Manieren!« entgegnete sie anzüglich. Er zuckte zusammen und gab sich geschlagen. »Farmiloe ist ein lieber Kerl. Kennen Sie ihn?« fragte sie. »Flüchtig. Übrigens lege ich jetzt auf die Bekanntschaft keinen Wert mehr.« In überbetonter Weise setzte er eine eifersüchtige, verächtliche Miene auf. »Älteres Semester mit weißem Ziegenbart, nicht wahr? Auf der Fordham-Universität ist er, glaube ich, Fachwissenschaftler für das oder jenes. Wahrscheinlich betreut er dort die tropischen Schmetterlinge.«
»Er ist mein Taufpate.« Sie erwähnte den Umstand, als wäre damit alles erklärt. »Man kann ihn als Physiker bezeichnen.« »Bill«, ergänzte er ihren Satz. Sie stellte sich taub. »Ich glaube, er hat...« »Bill«, beharrte er. »Also, meinetwegen«, rief sie ungeduldig. »Bill, wenn es Ihnen besonderen Spaß macht.« Sie versuchte, ihre ernste Miene beizubehalten. Ihm entging aber nicht das ganz leise Lächeln, das sich darunter verbarg, und er war sehr froh darüber. »Bill, mir kommt vor, dem Mann ist irgend etwas Besonderes eingefallen. Das beunruhigt mich. Sobald nämlich jemand in der letzten Zeit einen neuen Gedanken faßt, muß er sterben.« »Nicht unbedingt. Wir wissen nicht, wie viele Menschen noch leben, die sich seit Monaten mit einer Idee tragen. Ich zum Beispiel.« »Ihnen hat man nichts angetan, weil Sie anscheinend nur eines im Kopf haben«, bemerkte sie schroff und zog ihre Beine unter den Stuhl. »Wie können Sie so etwas behaupten?« Er stellte sich schwer gekränkt. »Um Himmels willen, darf ich denn nicht bei der Sache bleiben, die ich Ihnen erzählen möchte?« »Also, geht in Ordnung!« Er schnitt ihr eine ärgerliche Grimasse. »Was bringt Sie darauf, daß der gute Farmiloe mit einer Ahnung geschlagen ist?« »Ich habe mit ihm über Leuchtwesen gesprochen und ihn gebeten, mir zu erklären, warum es so schwierig ist, eine Waffe gegen sie zu finden.« »Und was hat er geantwortet?« »Er meint, wir haben noch nicht gelernt, mit Ener-
gie so vertraut umzugehen wie mit Stoffen. Unsere wissenschaftlichen Fortschritte haben zwar zur Entdeckung der Vitonen, aber nicht mehr zur Entwicklung eines Mittels für ihre Beseitigung gereicht.« Ihre schönen Augen musterten ihn abschätzend, als sie fortfuhr: »Er sagt, wir können Energie in allen Formen und Gestalten auf ein Viton lenken. Wenn aber nichts dabei geschieht, haben wir keine Möglichkeit, festzustellen, warum das so ist. Wir können nicht einmal ein Viton fangen und festhalten, um herauszubekommen, ob es Energie reflektiert oder aber sie absorbiert und dann wieder ausstrahlt. Es steht nicht in unserer Macht, eines dieser Leuchtwesen zu erwischen und zu untersuchen, woraus es besteht.« »Wir wissen, daß die Vitonen gewisse Energieformen absorbieren«, betonte Graham. »Das trifft für Nervenströme zu. Die trinken sie ja in sich hinein wie durstige Rösser. Das gilt auch für Radarimpulse. Auf dem Radarschirm erzeugt ein Viton nicht den geringsten Leuchtfleck. Was aber das Geheimnis ihres Aufbaues anlangt, da hat der alte Farmiloe wohl recht. Davon haben wir keine Ahnung und sehen auch keinen Weg, der zu solchen Erkenntnissen führen könnte. Da liegt ja der Hund begraben.« »Professor Farmiloe ist der Ansicht, daß diese Leuchtwesen so etwas wie ein elektromagnetisches Feld um sich haben, das sie nach Belieben verändern können. Sie vermögen, sagt er, die meisten Energieformen in ihrer Umgebung zu beugen. Sie absorbieren nur diejenigen, die ihre natürliche Nahrung bilden.« Abscheu verdüsterte ihre Züge. »So zum Beispiel die Nervenströme, die Sie erwähnt haben.« »Und solche Ströme lassen sich mit keiner uns be-
kannten Apparatur erzeugen«, bemerkte Graham. »Sonst könnten wir die Kugeln damit füttern, bis sie bersten.« Ihr Lächeln huschte wieder über ihre Züge. »Im Spaß habe ich dann zu Farmiloe gesagt, daß ich gern einen großen Löffel hätte, mit dem ich die Vitonen kräftig durcheinanderrühren könnte.« Ihre schlanken Finger schlossen sich um einen nicht vorhandenen Kochlöffel und begannen schwungvoll zu rühren. »Aus einem mir unerfindlichen Grund war er von meinen quirlenden Handbewegungen anscheinend ganz hingerissen. Er machte sie nach und schwenkte einen Finger ständig im Kreis, als wäre das irgendein neues Gesellschaftsspiel. Bei mir war's ja nur ein närrischer Einfall. Aber warum hat er sich ebenso unvernünftig benommen? Er versteht doch von Energieproblemen beträchtlich mehr, als ich je zu erlernen hoffen darf.« »Darauf kann ich mir auch keinen Reim machen. Glauben Sie, daß er mit dem Alter kindisch wird?« »Kommt gar nicht in Frage.« »Dann begreife ich das nicht.« »Er hat keine Andeutung darüber gemacht, was ihm eingefallen war. Mit traumversunkener Miene hat er erklärt, er müsse jetzt gehen«, erzählte Harmony weiter. »Dann ist er in seiner etwas geistesabwesenden Art zur Tür geschritten. Bei der Verabschiedung hat er noch bemerkt, er wolle versuchen, mir diesen Löffel zu verschaffen. Ich weiß, daß er damit etwas Bestimmtes meinte. Er hat mich nicht mit leeren Worten abgespeist – er hat etwas gemeint!« Ihre sanft gewölbten Brauen zogen sich fragend hoch. »Was es wohl sein mag?«
»Toll!« stellte Graham fest. Er machte Rührbewegungen mit einem unsichtbaren Löffel. »Einfach toll! Genauso wie alles andere, seit diese verrückte Geschichte losgegangen ist. Wahrscheinlich ist Farmiloe vom vielen Studieren etwas hirnweich geworden. Er wird nach Hause gekommen sein und sich darangemacht haben, einen Rührlöffel zu entwickeln.« »Sie würden keine solchen Glossen machen, wenn Sie den Professor so gut kennen würden wie ich«, entgegnete sie scharf. »Er ist der letzte, der sein seelisches Gleichgewicht verliert. Es wäre mir recht, wenn Sie ihn aufsuchen würden. Vielleicht ist dort etwas für Sie zu holen.« Sie beugte sich vor. »Oder wollen Sie wieder zu spät kommen, wie gewöhnlich?« Er zuckte zusammen und sagte: »Schon recht, schon recht! Boxen Sie nicht weiter, wenn ich bereits am Boden liege! Ich gehe sofort zu ihm.« »Das ist eine ausgezeichnete Idee«, lobte sie. Als er aufstand und nach dem Hut griff, trat in ihre Augen ein anderer Ausdruck. »Wollen Sie mir nicht, bevor Sie gehen, sagen, was Sie so aufgeregt hat?« »Aufgeregt?« Er drehte sich langsam herum. »Da kann ich nur lachen! Ha, ha! Man stelle sich vor: Ich und aufgeregt!« »Mich können Sie nicht hinters Licht führen. Auch dieses Gerede mit dem Rendezvous hat mich nicht getäuscht. Als Sie hier hereingekommen sind, hab ich Ihnen gleich angemerkt, daß etwas nicht stimmt. Sie haben ausgesehen, als brüteten Sie Mord.« Ihre Hände falteten sich. »Bill, was ist los? Etwas Neues? Noch Ärgeres?« »Ach, zum Kuckuck!« Er dachte einen Augenblick nach. Dann sagte er: »Eigentlich kann ich's Ihnen ru-
hig erzählen. Früher oder später erfahren Sie's ja doch.« »Nun?« »Anscheinend töten die Vitonen ihre Opfer nicht mehr, sondern entführen sie – bringen sie weiß Gott wohin.« Er drehte den Hut in der Hand. »Wir haben keine Ahnung, warum oder wozu sie das tun. Aber wir können es uns in Träumen ausmalen – in bösen Träumen!« Sie erbleichte.
11 Daß Professor Farmiloe tot war, unterlag keinem Zweifel. Graham wußte es, sobald er die Tür öffnete. Rasch durchschritt er den völlig verfinsterten Raum, ließ den Schein seiner Stablampe über die Fenster gleiten und vergewisserte sich, daß die Verdunklungsvorhänge keinen Schimmer nach außen dringen ließen. Dann suchte er den Lichtschalter. Die Deckenbeleuchtung in der Mitte flammte auf. Sachte hob Graham die gebückten Schultern, schob eine Hand unter das Hemd und befühlte die kalte Brust. Er betrachtete das bejahrte, freundliche Antlitz und bemerkte, daß es nichts von jenem entsetzten Ausdruck zeigte, der die Züge anderer Toter entstellte. Er hatte ein recht hohes Alter erreicht, dieser Farmiloe. Vielleicht handelte es sich überhaupt um ein natürliches Ende! Vielleicht war seine Lebensuhr unwiderruflich abgelaufen – und die Leuchtwesen hatten mit der Tragödie nichts zu tun. Auf den ersten Blick schien es wirklich so. Der friedliche Gesichtsausdruck sowie die Tatsache, daß ein Todesfall und keine Entführung vorlag, sprachen dafür. Der Pferdefuß war nur der: Wenn die Obduktion einen Herzfehler als Todesursache ergab, so bewies das nichts, rein gar nichts. In toller Hast durchsuchte er den Raum. Es handelte sich nicht um ein Labor, sondern um eine Verbindung von Büro und Privatbücherei. Er behandelte die Einrichtungsgegenstände nicht sehr schonend. Es fehlte nicht viel, so hätte er sie kurz und klein ge-
schlagen, weil er sich in den Kopf gesetzt hatte, alles nur irgendwie Bemerkenswerte aufzustöbern. Er fand nichts, auch nicht die geringste Kleinigkeit, an die er hätte anknüpfen können. Die Unmenge von Büchern, Urkunden und sonstigen Schriftstücken schien so nichtssagend wie die Rede eines Politikers. In Grahams hageren Zügen malte sich gelinde Verzweiflung, als er endlich die Suche aufgab und sich anschickte wegzugehen. In diesem Augenblick bemerkte er, wie der Leichnam, dessen Gleichgewichtslage durch die Durchsuchung erschüttert worden war, langsam auf dem Sessel ins Rutschen kam und mit dem Rumpf vornübersank, während die Arme an der glatten Schreibtischplatte vorglitten. Graham fuhr mit den Händen in die kalten Achselgruben, hob die Last und trug sie zu einem Ruhesofa. Dabei fiel etwas zu Boden und rollte mit metallischem Klang davon. Er bettete den Leichnam ausgestreckt hin und bedeckte das Gesicht. Dann suchte er nach dem hinuntergefallenen Gegenstand. Es war ein Drehbleistift. Graham fand die silbrigglänzende Hülse dicht bei einem Schreibtischfuß und hob sie auf. Offenbar mußte sie aus Farmiloes erstarrten Fingern oder von seinen Knien heruntergefallen sein. Die Erinnerung an die letzten Botschaften anderer Toten regte im Zusammenhang mit dem Stift seine Einbildungskraft mächtig an. Allerdings konnte Farmiloe – wenn überhaupt eine Gewalttat vorlag – ins Jenseits befördert worden sein, als er gerade seinen Gedanken in Schreibimpulse umwandeln wollte und den Bleistift erst zur Niederschrift ansetzte. Einem
übertölpelten Opfer vorher eine Chance zu geben, hätte durchaus allen Gepflogenheiten der Vitonen widersprochen. Wenn sie töteten, so geschah es immer ohne Warnung oder Aufschub – und sie besorgten ihr Mordgeschäft rasch und gründlich. In diesem Stadium seiner Überlegungen entdeckte Graham zur eigenen Überraschung einen bisher übersehenen Gesichtspunkt, nämlich, daß die Vitonen offenbar nicht lesen konnten. Etwas so Naheliegendes war ihm nicht eingefallen! Die Leuchtwesen hatten keine Sehorgane. Sie bedienten sich an ihrer Statt der außersinnlichen Wahrnehmung. Wenn also Farmiloe, so durfte man schließen, diesen Bleistift benützt hatte, so war seine Niederschrift nicht vernichtet worden, sondern erhalten geblieben – genauso wie die anderen Botschaften. Zum zweiten Male durchwühlte Graham die Schreibtischladen auf der Suche nach Schmierblocks, Zetteln, nach irgendeinem eiligen Gekritzel, das dem Eingeweihten etwas Bedeutsames vermitteln könnte. Vergebens! Jetzt blieb nur noch die Sun. Die letzte Abendausgabe dieser Zeitung lag ausgebreitet, aber nicht geöffnet, mitten auf dem Tisch. Anscheinend hatte Farmiloe sie gerade durchblättern wollen, als er plötzlich das Interesse an den Neuigkeiten dieser Welt verlor. Graham machte sich über das Blatt her. Mit einem Male holte er tief Atem. Er hatte einen Bleistiftvermerk gefunden. Es war nichts als ein dicker, rasch auf das Papier geworfener Ring, ein hastig hingeschmierter Kreis, eine zittrige Linie, wie jemand sie in einem Augenblick höchster Erregung – oder im allerletzten Moment seines Lebens – ziehen mag.
Graham fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen, während er die Botschaft aus dem Grabe zu enträtseln versuchte. Dieser in rasender Eile gezogene Ring stellte Farmiloes letzte Widerstandslinie dar, das hartnäckige Mühen des erlahmenden Hirns, einen Hinweis zurückzulassen – und mochte er noch so unbeholfen flüchtig oder weit hergeholt sein. In gewisser Hinsicht war diese Zeichnung rührend, bildete sie doch die letzte Huldigung des sterbenden Professors vor der Klugheit und Findigkeit seiner Mitmenschen. Andererseits war sie so sinnlos, daß man sich schwerlich etwas Törichteres vorstellen konnte. Der Kreis umschloß das Bild eines jungen Bären. Das Tier war gegen den Hintergrund eines Eisberges abgebildet. Aufrecht stehend hielt es die rechte Vorderpranke mit einladender Geste ausgestreckt. Der Kopf zeigte das aufreizende Schmunzeln des erfolgstolzen Gewerbetreibenden. Was der Bär anpries, war ein großer, prächtiger Kühlschrank. Darunter prangten einige verlockende Worte: »Ich stehe hier für den besten Kühlschrank der Welt ein. Auf seiner Tür finden Sie mich wieder.« »An Minderwertigkeitskomplexen leidet der Werbemann nicht«, brummte Graham. Hilflos brütete er über seinem Fund. »Jetzt geh ich ins Bett«, beschloß er. »Ich muß ein bißchen schlafen. Sonst fang ich an zu spinnen.« Sorgfältig riß er das Inserat aus der Zeitung, faltete es und legte es in die Brieftasche. Dann drehte er das Licht aus und ging. Auf dem Heimweg rief er von einer Telefonzelle in der Untergrundbahn das Polizeipräsidium an, be-
richtete über Farmiloe und gab zwischen wiederholten Gähnanfällen rasche Weisungen. Das ungute Gefühl, das sich in der vergangenen Nacht hätte einstellen sollen, suchte nun am Morgen die Verspätung durch besondere Eindringlichkeit wettzumachen. Graham bemühte sich, das Geheimdienstbüro telefonisch zu erreichen. Es meldete sich niemand. Diesmal reagierte er schleunigst. »Da ist etwas faul!« mahnte sehr vernehmlich sein ausgeruhtes, reges Hirn. »Aufgepaßt, lieber Freund!« Und er war wirklich sehr auf der Hut, als er sich wenig später dem Gebäude näherte. Das Haus sah ganz unverdächtig aus. Es lag mit all der wohlüberlegten Harmlosigkeit einer frisch gespannten Mausefalle da. Die nächsten Vitonen baumelten ziemlich weit im Westen von der Unterseite dicker Wolken herab. Eine Viertelstunde lang trieb Graham sich in der Nähe herum und teilte seine Aufmerksamkeit zwischen dem unheimlich stillen Gebäude und dem verderbendrohenden Himmel. Aber offenkundig gab es nur eine Möglichkeit, um herauszufinden, was mit Leamingtons Telefon los war: Er mußte hineingehen und nachsehen. So betrat er kurz entschlossen das Haus und wandte sich zu einem Fahrstuhlschacht. Aus dem Pförtnerhäuschen neben dem Aufzug kam ein Mann hervor und näherte sich ihm. Er hatte schwarze Augen und noch schwärzeres Haar, das wie angeklebt ein kreidebleiches Gesicht umrahmte. Er trug schwarzen Anzug und Hut, schwarze Schuhe. So mochte ein dichterisch angehauchter Schneider sich den Todesgott vorstellen! Mit leichten Pantherschritten schlich der Mann auf
dem Parkettboden heran, rief mit rauher Stimme: »Du...!« und feuerte sofort auf den Ankömmling. Wenn Graham eine Spur sorgloser oder ein bißchen weniger wendig gewesen wäre, hätte es ihm wahrscheinlich den Kopf gekostet. Auch so spürte er, während er sich zu Boden warf, die Geschoßsegmente höllisch knapp über seinem Schädel vorbeipfeifen. Liegend rollte er sich auf den Angreifer zu, in der Hoffnung, gegen dessen Beine prallen zu können, bevor der Mann wieder schießen konnte. Aber er erkannte, daß er nicht mehr zurechtkommen würde. Im schmerzhaften Vorgefühl des vierfachen Einschlages eines Segmentgeschosses krümmten sich seine Rückenmuskeln. Schon ertönte der erwartete Knall, scharf und hart. Unter dem Zwang der Nervenbelastung öffnete sich Grahams Mund zu einem Aufbrüllen, das seine Stimmbänder nicht mehr formten. Dann mit größtem Erstaunen stellte er fest, daß er zum zweitenmal nicht getroffen worden war. Gleichzeitig hörte er ein unheimliches Gurgeln, dem ein dumpfer Aufschlag folgte. In Grahams bodennahes Sehfeld schob sich ein blutüberströmtes Gesicht, aus dessen brechenden Augen noch immer der Wahnsinn hervorglomm. Mit turnerischer Gelenkigkeit schnellte der Geheimdienstler auf und blickte wie betäubt zu dem hingestreckten Gegner nieder. Ein leises Stöhnen lenkte seine Aufmerksamkeit in eine andere Richtung. Rasch sprang er über den Leichnam, lief zu der Treppe, die sich um die Aufzugsschächte wand, und beugte sich über die Gestalt, die hilflos vor dem Stiegenaufgang lag. Jetzt rührte der Mann sich ganz leise und machte kleine, klägliche
Bewegungen, bei denen vorn in seinem Rock vier blutumrandete Löcher sichtbar wurden. Mit der einen Hand umklammerte er eine noch warme Pistole, die andere hob sich mühsam und zeigte Graham einen schlichten Goldring. »Kümmern Sie sich nicht weiter um mich, Kamerad!« keuchte der Mann mühsam zwischen rasselnden Atemzügen. »Bis hierher bin ich gekommen... Weiter ging's nimmer.« Krampfhaft zuckten seine Beine. »Das Schwein hab ich wenigstens erwischt. Und Sie gerettet!« Was bedeutete dieser tödlich verwundete Beamte im Flur des Geheimdienstbüros? Warum hatte sich auf seinen Telefonanruf heute früh niemand gemeldet? »Lassen Sie mich liegen! Mit mir ist's aus.« Kraftlos versuchte der Mann, Grahams Hände wegzuschieben, als sie ihm den blutgetränkten Rock aufrissen. »Werfen Sie einen Blick hinauf! Und dann rasch davon!« Er würgte blutigen Schaum, der ihm den Mund füllte, zurück. »Die Stadt ist... voller Tollhäusler. Sie haben die Irrenanstalten geöffnet. Und die Verrückten... schwärmen umher. Gehen Sie, Kamerad!« »Mein Gott!« Graham erhob sich. Er wußte, daß der Mann zu seinen Füßen die Augen für immer geschlossen hatte. Er faßte die am Boden liegende Pistole und sprang auf die nächste Aufzugscheibe. Was erwartete ihn oben? Die Pistole hielt er schußbereit und richtete die glitzernden Augen nach der Schachdecke, während er voll Ungeduld auf seiner Scheibe emporschwebte – qualvoll langsam, wie ihm schien. Ein fürchterlicher Brechreiz krampfte seinen Ma-
gen zusammen, als er in Leamingtons New Yorker Stabsquartier blickte. Es glich einem Schlachtfeld. Rasch zählte er. Sieben Leichen! Drei lagen beim Fenster. Die erstarrten Gesichter trugen das unaustilgbare Zeichen eines teuflisch grausamen Schicksals eingeprägt. Die Pistolen steckten unbenützt in den Rocktaschen. Diesen Männern war keine Chance mehr geboten worden! Die anderen vier waren da und dort in dem Raum verstreut. Sie hatten die Waffen gezogen und abgefeuert. Unter ihnen befand sich auch Oberst Leamington, dessen gefurchtes Antlitz selbst im Tode noch seine Würde wahrte. »Die drei beim Fenster sind von Vitonen erledigt worden«, stellte Graham fest, nachdem er Bestürzung auf Entsetzen niedergekämpft und sich dazu gezwungen hatte, den Sachverhalt so gelassen wie möglich zu erwägen. »Die übrigen vier haben sich gegenseitig umgebracht.« Für den Augenblick vergaß er die Warnung: »Und dann rasch davon!« Er trat zum Schreibtisch seines Chefs, prüfte Lage und Haltung der einzelnen Körper. Es bereitete ihm keine Schwierigkeit, sich die ungefähre Abfolge der Ereignisse zusammenzureimen. Offenbar waren die beiden Männer, die jetzt tot an der Tür kauerten, zuletzt hereingekommen. Sie hatten auf Leamington und den Mann neben ihm angelegt, waren aber nicht rasch genug gewesen. Der Oberst und sein Begleiter hatten gleichzeitig mit den Ankömmlingen abgedrückt. Das Ergebnis konnte nicht zweifelhaft sein. Verglichen mit den altmodischen Einzelkugeln waren diese modernen Segmentgeschosse richtige Massenmörder.
Bei den sieben Leichen handelte es sich ausschließlich um Geheimdienstleute. Dieser Umstand bereitete Graham großes Kopfzerbrechen. Mit der Waffe in der Faust durchschritt er den Raum nach allen Richtungen, die Stirn über dem Versuch, eine Lösung zu finden, in tiefe Falten gelegt. Er schluckte sein Grauen hinunter, streifte den Leichen die einfachen, iridiumgefütterten Ringe von den Fingern und ließ die Reifen in seine Tasche gleiten. Was auch immer hier vorgegangen sein mochte – alle diese Männer waren Kameraden. In einer Ecke schlug leise eine Glocke an. Graham ging zu dem Fernnachrichten-Empfänger, schnellte mit einem Knopfdruck den Deckel hoch und sah die erste Morgenausgabe der Times in Bildübertragung. Aufmerksam verfolgte er den abrollenden Text. »Asiatischer Druck im Mittelwesten verstärkt sich«, brüllte eine Schlagzeile. »Arbeiterdemonstration verlangt, daß Atombombenvorräte unverzüglich eingesetzt werden.« – »Lage in Europa äußerst ernst.« – »Dreißig feindliche Stratojets im südlichen Kansas während des größten Luftkampfes dieses Krieges abgeschossen.« – »Viertausend-Meilen-Glückstreffer sprengt asiatisches Munitionslager in die Luft und zerstört hundert Quadratmeilen Land.« – »Binnen kurzem Bakterienkrieg, sagt Cornock.« – »Kongreß ächtet Vitonenkult.« Langsam kroch die Seite aus dem Schirm heraus. Dann folgten Lokalnachrichten. Ein rasches Begreifen leuchtete in Grahams Augen auf, als er die Meldungen überlas. Menschen liefen Amok! In ganz New York, in den meisten westlichen Großstädten wurden Leute entführt, in die Luft entrückt und dann wieder
zur Erde zurückgeschickt – in völlig verändertem Geisteszustand. Superchirurgie in den Wolken! Grahams Finger schlossen sich fester um die Waffe, als der Nebel zerriß, in den das Blutbad vor ihm seinen Geist getaucht hatte, und den Blick auf die furchtbare Bedeutung der Vorgänge freigab. Das war der Meisterstreich! Hilflose Rekruten wurden mitten aus den Reihen der Antivitonen-Armee ausgehoben. Sie verbürgten sich nur mit unvergleichlich größerer Wahrscheinlichkeit den Endsieg, sondern sorgten außerdem in der Zwischenzeit dafür, daß noch mehr süße Nahrung für die Leuchtwesen abfiel. Das Stabsquartier hatte sich zum Hinterhalt gewandelt. Vielleicht war es auch jetzt noch eine Falle! Es gab Graham einen Ruck, als ihm das einfiel. Unwillkürlich sprang er zum Fenster und blickte hinaus. Das aufgelockerte Gewölk hatte sich verzogen. Aus klarem, blauem Himmel schien leuchtend die Morgensonne. In dieser azurnen Kuppel mochten sich Hunderte oder auch Tausende von Leuchtwesen herumtreiben. Die einen schwebten vielleicht schon heran, andere beobachteten noch von oben her die Falle – bereit, augenblicklich hinunterzustoßen. Nicht einmal Bjornsens Verfahren konnte die Fähigkeit verleihen, gegen einen Hintergrund strahlenden Blaus ein leuchtendes Überblau wahrzunehmen. In der tiefstehenden Morgensonne zeigten Grundfarbe und Ultratönung den gleichen Schimmer und flossen irreführend ineinander über. Es wurde Graham bewußt, daß sein ängstliches Starren von ebenso ängstlichen Gedanken begleitet
war und daß die nach allen Seiten ausstrahlenden seelischen Schwingungen nahe Fallensteller anlocken konnten. Darum eilte er, ohne sich weiter aufzuhalten, zur Tür. Es war besser, rechtzeitig loszukommen! Er sprang in den Aufzug und fuhr blitzschnell hinunter. Knapp vor dem Hauptausgang lungerten zwei Männer. Von dem durchsichtigen Schacht aus bemerkte Graham sie in dem Augenblick, als seine Scheibe mit dem Geräusch aufprallenden Gummis im Erdgeschoß stehenblieb. Bevor seine Scheibe ihre elastischen Bremsschwingungen beendet hatte, ließ er sie weitersinken. Seine lange Athletengestalt entzog sich den Augen des wartenden Paares. Die beiden waren zuerst starr vor Erstaunen, dann stürzten sie zum Schacht. Sie trugen Pistolen. Fünf Stockwerk unter dem Straßenniveau hielt Graham an. Ehe noch das Seufzen der unsichtbaren Kompressoren verklang, war er schon aus dem Aufzug gesprungen und durch das unterirdische Geschoß bis zum Haupttreppenhaus gelaufen. Dort blieb er niedergeduckt, so lange er über seinem Kopf das Trampeln von Füßen hörte. Dann floh er mit der schußbereiten Waffe in der Hand durch eine Reihe verlassener Korridore und erreichte einen Ausgang am entgegengesetzten Ende des Gebäudes. Durch eine stählerne Falltür kam er ins Freie und sog mit Behagen die frische Luft ein. Nach dem Moder- und Rattengeruch der Kellergewölbe war sie doppelt köstlich. Ringträger kannten sechs solche Ausgänge, von denen die Allgemeinheit nichts wußte oder auch nur ahnte.
12 In der Ecke war eine Telefonzelle. Während er eine Nummer wählte, dankte er Gott, daß Wohl, als die Leuchtwesen ihn angriffen, mit seinen betäubten Gedanken nicht ihn und sein Haus verraten hatte. Das zerrüttete, gelähmte Hirn seines Gefährten hatte damals widerstandslos preisgegeben, was es vom Stabsquartier wußte, und dadurch die gierigen Menschenräuber veranlaßt, ihn unbeachtet auf dem Uferdamm liegenzulassen, weil sie raschest dort hineilen wollten, wo es dann ein so furchtbares Blutbad gab. Graham nahm sich vor, dem Polizeileutnant nie zu sagen, daß er und nur er den Vitonen den Weg zu Leamington und seinen Mitarbeitern gewiesen hatte. »Hier spricht Graham«, sagte er, als am anderen Ende der Leitung abgehoben wurde. »Hören Sie zu, Graham«, rief Sangster in dringendem Ton. »Kurz nach Ihrem letzten Anruf hab ich mit Washington Verbindung bekommen, und zwar durch Vermittlung von Amateursendern. Diese Leute scheinen über das einzige noch verläßliche Funknetz zu verfügen. Washington wünscht, daß Sie sofort hinüberkommen. Reisen Sie am besten gleich ab!« »Wissen Sie, was man von mir will, Sir?« »Nein. Ich konnte nichts erfahren, als daß Sie unverzüglich Keithley aufsuchen sollen. Drüben im Battery Park wartet ein erbeuteter asiatischer Stratojet auf Sie.« »So eine Idee, in einem Asiaten herumzugondeln! Unsere Kampfflieger würden ihn keine fünf Minuten lang in der Luft lassen.«
»Ich fürchte, Sie verkennen unsere Lage, Graham. Bis auf gelegentliche und sehr gefährliche Einzelunternehmungen sind unsere Kampfflieger zum Feiern gezwungen. Wenn ihnen nur die Asiaten gegenüberstünden, würden sie bald den Himmel von ihnen freifegen. Aber es kommen noch die Vitonen hinzu. Und das macht einen gewaltigen Unterschied. Wenn ein Leuchtwesen sich auf einen Piloten stürzen und ihn zwingen kann, seine Maschine als unser Ehrengeschenk auf feindlichem Gebiet zu landen... Na... wir können es uns einfach nicht leisten, Menschen und Material aufs Spiel zu setzen. Die Asiaten haben die Luftüberlegenheit gewonnen. Diese Tatsache wird vielleicht den Krieg gegen uns entscheiden... Also, steigen Sie ruhig in diesen asiatischen Kasten! Sie sind sicherer darin als sonstwo.« »Ich mache mich sofort auf die Beine.« Graham warf durch die Plexiglasscheibe der Zelle einen Blick, brachte die Lippen ganz dicht an die Sprechmuschel und fuhr rasch fort: »Ich habe Sie angerufen, weil ich Sie bitten wollte, mir eine Liste der hiesigen Kunden der Kältemaschinen-AG zu verschaffen. Ich wäre Ihnen auch verbunden, wenn Sie sich mit Harriman im Smithsonian Institut in Verbindung setzen und ihn um folgendes ersuchen wollten. Er soll alle noch tätigen Astronomen befragen, ob ihrer Meinung nach eine Beziehung zwischen den Leuchtwesen und dem Großen Bären denkbar ist.« »Dem Großen Bären?« wiederholte Sangster überrascht. »Ja. In der Sache geistert ein Bär herum, der bestimmt etwas bedeutet. Gott allein weiß, was. Aber ich muß es irgendwie herausbekommen. Ich habe die
Empfindung, daß es überaus wichtig ist.« »Wichtig? Ein Bär? Darf's nicht irgendein anderer Vierfüßler sein, wie? Ausgerechnet ein Bär?« »Ja, gerade nur so ein stinkender Meister Petz!« bestätigte Graham. »Ich bin fast überzeugt davon, daß mein astronomischer Einfall ganz verfehlt ist. Aber wir dürfen auch nicht die entfernteste Chance außer acht lassen.« »Eisschränke, Sternbilder und Bären!« leierte Sangster. »Jesus!« Nach einer kleinen Pause seufzte er. »Mir scheint, die Biester haben auch Sie erwischt, Graham. Aber ich will tun, wie Sie wünschen.« Der Flug nach Washington verlief rasch und ohne Zwischenfall. In dem Zimmer, in das er geführt wurde, befanden sich drei Männer. Er erkannte sie alle. Es waren Tollerton, ein Washingtoner Experte, Willets C. Keithley, Chef des Geheimdienstes, und schließlich ein Mann mit grauen Augen und markanter Kinnpartie – der Präsident! »Mr. Graham«, begann der Präsident ohne Einleitung. »Heute früh ist ein Kurier aus Europa gekommen – der fünfte, den man innerhalb von achtundvierzig Stunden geschickt hat. Seine vier Vorgänger sind unterwegs vom Tode ereilt worden. Er hat schlimme Nachrichten gebracht.« »Jawohl, Sir«, sagte Graham. »Auf die Stadt Brüssel in Belgien ist eine Rakete gefallen. Sie hatte atomare Sprengfüllung. Europa hat als Vergeltung zehn gleiche Raketen abgeschossen. Die Asiaten antworteten mit weiteren zwölf Stück. Heute früh hat die erste Atomrakete unser Land er-
reicht. Darüber wurde natürlich keine Meldung ausgegeben. Aber wir sind daran, einen harten Gegenschlag zu führen. Kurz, der lange befürchtete Atomkrieg hat begonnen.« Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken und ging auf dem Teppich hin und her. »Trotz alledem ist unsere Kampfmoral gut. Die Leute haben Vertrauen. Sie haben das Gefühl, daß schließlich der Sieg unser sein wird.« »Auch ich bin überzeugt davon, Sir«, bemerkte Graham. »Ich wollte, ich wäre dessen so sicher!« Der Präsident unterbrach seine Wanderung und blickte dem Geheimdienstler fest ins Auge. »Die gegenwärtige Lage ist nicht länger Krieg in der historischen Bedeutung dieses Wortes. Einen Krieg würden wir gewinnen. Aber hier handelt es sich um etwas anderes – um den Selbstmord des ganzen Menschengeschlechtes. Ein Mann, der in den Fluß springt, gewinnt nichts als den ewigen Frieden. In diesem Bruderkampf wird niemand siegen – höchstens vielleicht die Vitonen. Die Menschheit als Ganzes muß verlieren. Ebenso auch wir als Nation, da wir ja ein Teil der Menschheit sind. Die besonnensten Köpfe auf beiden Seiten haben das von Anfang an erkannt. Deshalb wurden auch die Atomwaffen so lange wie möglich zurückgehalten. Jetzt aber ist – Gott verzeih uns! – das Atomschwert gezogen worden. Weder wir noch die Gegner werden wagen, es zuerst in die Scheide zu stecken.« »Ich verstehe, Sir.« »Wenn das alles wäre, stünde es schlimm genug«, fuhr der Präsident fort. »Aber es ist bei weitem nicht alles.« Er ging zu einer Landkarte und zeigte auf eine dicke, schwarze Linie. Sie war von einem zur Seite
gesunkenen V durchbrochen, das seinen Keil über den größten Teil von Nebraska nach Osten schob. »Die Öffentlichkeit weiß nichts davon. Aber hier ist der Feind in den letzten zwei Tagen mit Panzern durchgebrochen. Dadurch entstand in der Frontlinie dieser vorspringende Winkel. Ob wir imstande sein werden, ihn zu begradigen, steht dahin.« »Jawohl, Sir.« Mit ausdruckslosen Augen blickte Graham auf die Karte. »Größere Opfer können wir nicht mehr bringen. Wenn der Feind noch stärker wird, vermögen wir ihn nicht aufzuhalten.« Der Präsident trat näher an Graham heran und bohrte seinen Blick fest in die Augen seines Gegenübers. »Der Kurier berichtet, daß Europas Lage äußerst kritisch ist, und zwar in solchem Ausmaße, daß man sich dort außerstande fühlt, länger als bis Montag, achtzehn Uhr, auszuharren. Bis dahin bleiben wir die letzte Hoffnung der Menschheit. Danach würden wir uns des Zusammenbruches oder der Vernichtung Europas schuldig machen. Bis Montag, achtzehn Uhr, nicht länger – um keine Minute länger!« »Sehr wohl, Sir.« Graham bemerkte, daß Tollerton aus weitgeöffneten Augen auf ihn blickte und Keithley ihn unverwandt scharf anstarrte. »Um offen zu sein: Wir alle ohne Ausnahme sind verloren, wenn wir nicht gegen die Grundursache dieses Unheils einen entscheidenden Streich führen können – gegen die Vitonen. Entweder es gelingt uns das, oder aber wir hören auf, als menschlich empfindende Wesen weiterzubestehen. Entweder es gelingt uns, oder die Überlebenden sinken in den Zustand von Haustieren zurück. Achtzig Stunden bleiben uns,
um einen Ausweg zu suchen!« Der Präsident sprach ernst, sehr ernst. »Ich erwarte von Ihnen, Mr. Graham, nicht, daß Sie die Rettung für uns finden. Ich mute niemandem Wunder zu. Aber da ich Ihren Ruf kenne und weiß, daß Sie vom Anfang an mitten in diesen Dingen stehen, wollte ich Sie persönlich ins Bild setzen; wollte Ihnen selbst sagen, daß jeder Ihrer Vorschläge unverzüglich und mit allen zu Gebote stehenden Mitteln verwirklicht werden wird; wollte Ihnen mitteilen, daß Sie alle Vollmachten, die Ihnen erforderlich scheinen, ohne weiteres erhalten werden.« »Der Präsident«, warf Keithley ein, »hat kürzlich folgendes gesagt: Wenn ein Mann in dieser Sache etwas erreichen kann, so sind Sie es. Sie haben das Ganze eingeleitet, Sie haben bis jetzt durchgehalten, und Sie sind die geeignetste Persönlichkeit, um alles zu einem guten Ende zu bringen – wenn das überhaupt möglich ist.« »Wo haben Sie die Regierungssachverständigen verborgen?« fragte Graham rundheraus. »Zwanzig sind in Florida und achtundzwanzig im Innern Puertoricos«, erwiderte Keithley. »Geben Sie mir diese Leute. Ich möchte bitten, daß sie zurückkommen und mir unterstellt werden.« »Einverstanden!« erklärte der Präsident. »Sonst etwas, Mr. Graham?« »Geben Sie mir unbeschränkte Vollmacht, alle Laboratorien, Fabriken und Verkehrsmittel zu requirieren, die ich brauche. Verfügen Sie, daß meine Materialanforderungen gegenüber allen anderen Vorrang genießen!« »Bewilligt.« Ohne Zögern sprach der Präsident das Wort.
»Und noch eine Bitte!« Graham wies auf Keithley und erklärte: »Seine Pflicht soll es sein, mich im Auge zu behalten. Und umgekehrt. Sollte einer von uns beiden zum Vitonensklaven werden, so soll der andere ihn sofort aus dem Weg räumen.« »Auch das ist genehmigt.« Keithley übergab Graham einen Zettel. »Sangster hat gesagt, Sie wünschten die Adressen unserer Außendienstler in New York. Auf dieser Liste finden Sie zehn Personen. Sechs wohnen in der Stadt, vier in der Umgebung. Zwei von den Stadtmännern haben schon eine Zeitlang keine Berichte erstattet. Ihr Schicksal ist unbekannt.« »Ich will versuchen, sie ausfindig zu machen.« Graham steckte den Zettel ein. »Achtzig Stunden! Denken Sie daran!« betonte der Präsident. »Achtzig Stunden entscheiden zwischen Freiheit für die Überlebenden und Sklaverei für die Nichtgestorbenen.« Mit väterlicher Gebärde klopfte er dem Mann vor ihm auf die Schulter. »Nützen Sie die Vollmachten, die wir Ihnen gegeben haben, gut! Und möge die Vorsehung Sie geleiten!« Mit solchem Schwung stürzte Graham in seine New Yorker Wohnung, daß er schon mitten im Zimmer stand, als er in einem Sessel eine Gestalt dösen sah. Die Deckenbeleuchtung war matt und schwach. Von dem elektrischen Heizkörper aber ging Glanz aus, der den ganzen Raum in helles Licht tauchte. Mit Hilfe der Wärmestrahlen zu sehen, hatte für die »breitsichtig« gewordenen Menschen längst den Reiz der Neuheit verloren. »Art!« rief Graham erfreut. »Gerade wollte ich in
Stamford anrufen und bitten, daß man Ihnen den Laufpaß gibt. Ich brauche Sie wie einen Bissen Brot.« Er übergab Wohl den Ausschnitt aus Farmiloes Exemplar der Sun. »Wir müssen uns beeilen. Bis Montag abend haben wir Zeit. Bis dahin muß es sich entschieden haben: Sieg oder Untergang! Ob wir selber sterben und verderben, ist egal, wenn wir nur unseren Termin einhalten.« Er zeigte auf das Inserat. »Das hier ist Farmiloes Abschiedsgekritzel. Und unser einziger Anhaltspunkt!« »Sind Sie so sicher, daß es überhaupt einer ist?« »Keineswegs! Nichts ist sicher in diesem jämmerlichen Dasein. Aber mir schwant, daß es ein wirklicher Hinweis auf etwas Wissenswertes ist – auf etwas, das Farmiloe das Leben gekostet hat.« »Sangster hat einen in die Universität verfrachtet. Und dort hat man ihn zerlegt. Bis zum letzten Bolzen, Stift und Drahtstück. Es fehlt nur, daß sie das Email weggekratzt hätten.« »Ist man dabei auf eine Idee gekommen?« »Nicht auf die mindeste. Kälte mag vielleicht Leuchtwesen töten, indem sie die Frequenz ihrer Schwingungen herabsetzt. Aber wie sollen wir die anwenden? Es gibt nichts Derartiges wie einen Kältestrahl. Man wird auch nie so etwas entwickeln – es ist theoretisch widersinnig.« Graham blickte besorgt auf die Uhr. »Fällt Ihnen bei dem Bären im Bleistiftkreis etwas ein?« »Brr!« machte Wohl. Abwechselnd verschränkte und löste er die Arme, wie, um sich warm zu machen. »Lassen Sie diese Mätzchen, Wohl! Wir haben keine Zeit für Späße.« »Ich spüre immerfort die Kälte von dem Eisberg«,
entschuldigte sich Wohl. Mit finsterem Blick musterte er das Bild, das ihn zu verhöhnen schien. »Ich kann dieses selbstgefällige Schmunzeln von dem Vieh nicht ausstehen. Es weiß, daß unsere Karre festsitzt, und schert sich den Teufel darum.« Er reichte den Ausschnitt Graham zurück. »Ich kann daraus nur eines entnehmen. Aber das weiß ich ohnedies schon längst, nämlich, daß Sie ein erstaunliches Talent haben, immer diejenigen Spuren ausfindig zu machen, bei denen am wenigsten herausschaut.« »Erinnern Sie mich nicht daran!« brummte Graham ärgerlich und stieß zornig mit dem Finger nach dem Ausschnitt. »Ein Bär! Da sitzen wir und bilden uns ein, wir haben einen Anhaltspunkt. Vielleicht – den Zauberschlüssel für unser Rätsel. Vielleicht die rechtzeitige Lösung, wenn wir nur auf die richtige Art hinsehen. Und dabei ist es nichts als ein auf den Hinterbeinen stehender, gegen Bezahlung posierender, dünkelhafter und wahrscheinlich mit Flöhen gesegneter Bär!« »Ja«, stimmte Wohl zu, weil ihm nichts Besseres einfiel. »Ein aufgerichteter, eitler, stinkender Bär! Ein schäbiger kleiner Bär in einer gottverlassenen Polarlandschaft!« »Wäre ich nur rascher hinter diesem Farmiloe hergewesen oder hätte ich ihn auf dem Nachhauseweg...« Mitten im Satz hielt Graham inne. Ein Ausdruck höchster Verblüffung trat in seine Züge. Mit einer Stimme, die vor maßlosem Erstaunen fast versagte, rief er: »Halt! Haben Sie nicht gesagt: Kleiner Bär?« »Na gewiß! Giraffe ist es doch keine. Das sieht ja ein Blinder.«
»Kleiner Bär!« schrie Graham, und seine Stimme schlug so plötzlich um, daß Wohl aufsprang. »Im Kleinen Bären ist doch der Polarstern. Und dazu der Eisberg, die Polarlandschaft! Polarisation! Das ist es! Polarisation!« Er stieß mit dem Finger in die Luft. »Teufel! Wieso bin ich nicht früher schon draufgekommen? Das muß doch jedes Kind erraten. Menschen mit so langer Leitung gehören erschlagen.« »Wie?« fragte Wohl und brachte den Mund nicht mehr zu. »Polarisation ist es! Da wette ich eine halbe Million Dollar gegen einen Pfannkuchen!« brüllte Graham. Sein Gesicht war purpurn vor Aufregung. Für gewöhnliches Sehvermögen wäre es rot erschienen. Er packte zwei Hüte, stülpte den einen dem verblüfften Wohl so schief auf den Kopf, daß sein Freund ganz verwegen dreinsah. »Fort! Wie die geölten Blitze! Wir müssen es der Welt bekanntgeben, bevor es zu spät ist! Los!« Sie stürzten durch die Tür und dachten gar nicht mehr daran, sie hinter sich zu schließen. Während sie den Gehsteig entlangliefen, warfen sie immer wieder Blicke in die Höhe. Am Himmel glühten blaue Punkte. Aber keiner schwebte herab. »Hier hinunter!« keuchte Graham. Er stürzte in einen Betonrachen, dessen Schlund zu der neuen unterirdischen Stadt führte. Die beiden Männer rannten in vollem Schwung die Rolltreppe abwärts, sprangen im ersten Geschoß in einen Aufzug und verließen ihn erst vierhundert Meter tiefer. Als sie von ihren Aufzugscheiben hüpften, schöpften sie ausgiebig Atem. An dieser Stelle mündeten sechs kürzlich erbaute Tunnel. Aus den zwei zuletzt
in Angriff genommenen Stollen drangen noch immer dumpfes Poltern und das heisere Knirschen rastlos bohrender Mammutmaschinen. Hydranten, Telefonzellen, öffentliche Fernsprechapparate und sogar ein kleiner Zigarrenladen befanden sich schon in diesen unterirdischen Räumen, die erst während der letzten paar Wochen entstanden waren. Ingenieure und Meßtrupps, Werkmeister und Arbeiter hasteten umher, schleppten Werkzeuge, Material, Instrumente und tragbare Lampen. Von Zeit zu Zeit ratterte ein schwerbeladener elektrischer Förderkarren aus dem Tunnel heraus und in einen anderen hinein. Es bedeutete nichts Gutes, daß die Arbeiter an den Aufzugschächten und den Lüftungsöffnungen der Klimaanlagen Zählrohre zur Feststellung radioaktiver Gase anbrachten. »Vitonen finden hier herunter selten den Weg«, bemerkte Graham. »Voraussichtlich können wir hier in verhältnismäßiger Sicherheit telefonieren. Gehen Sie in die Zelle nebenan, Art! Rufen Sie der Reihe nach alle technischen Erzeugungs- und Vertriebswerkstätten sowie alle einzeln arbeitenden Naturwissenschaftler an, die Sie im Telefonbuch finden. Sagen Sie ihnen, das Geheimnis ist vielleicht Polarisation in irgendeiner Form. Lassen Sie sich auf keine Erörterungen ein! Fordern Sie bloß noch jeden auf, die Nachricht überall dorthin zu verbreiten, wo er sich den meisten Nutzen davon verspricht. Dann hängen Sie ein!« »Geht in Ordnung!« Wohl trat in seine Zelle. Graham ging in die anschließende Zelle. Eine Stunde später verließ er seine Zelle, öffnete
die Tür nebenan und sagte zu Wohl: »Stecken Sie's auf, Art! Ich denke, wir haben die Sache so weit getrieben, daß sie nicht mehr aufzuhalten ist.« Ein fernes Dröhnen unterbrach ihn. Die Erde zitterte und erschauerte in raschen, qualvollen Zuckungen. Ein Schwaden warmer, eigentümlich riechender Luft fegte durch den Raum. In den durchsichtigen Aufzugschächten sausten schwere Gegenstände nieder, krachten geräuschvoll am Boden auf. Feiner Staub rieselte von der Decke. Aus der Ferne hörte man lautes Schreien. Das Toben schwoll an, kam näher. Brüllende, heulende Menschen stürzten aus den Tunnels, sammelten sich zu einer aufgeregt gestikulierenden Menge, die den unterirdischen Knotenpunkt verstopfte. Oben auf der Erde schien ein riesenhafter Trommler einen Wirbel zu schlagen. Neuer Staub senkte sich nieder. Das Trommeln hörte auf. Die Menge wogte hin und her. Jemand drängte sich durch die Menschen, trat in eine Telefonzelle und kam nach einer Minute wieder heraus. Durch seine bloße Sprachgewalt brachte er die anderen zum Schweigen und verschaffte sich Gehör. Seine Stentorstimme brach sich in mehrfachem Echo an den Wänden und erstarb mit schauerlichem Klageton in den Tunnels. »Der Ausgang ist verschüttet! Das Telefon geht. Die droben sagen, daß zehntausend Tonnen den Schacht blockieren. Vitonensöldlinge haben das angerichtet!« Die Leute heulten vor Wut auf, ballten die Fäuste und sahen sich um, als suchten sie einen Strick und ein paar Sündenböcke. »Schon alles erledigt, Kinder!« schrie der stimmkräftige Mann. »Die Polizei
hat sie erwischt und auf der Stelle niedergemacht.« Sein Feldherrnblick schweifte über die müden Gesichter. »Alles nach Nummer vier! Dort ist die kürzeste Strecke zum Durchbrechen.« Die Arbeiter murrten und machten finstere Gesichter. Aber sie drangen in den bezeichneten Tunnel ein. Bevor der düstere Eingangsbogen noch den letzten der Männer verschluckt hatte, brach mit verdoppeltem Ungetüm ein fernes Mahlen und Poltern los. Die Beryllstahl-Kiefer begannen sich weiterzufressen. Als der Sprecher den Arbeitern folgen wollte, hielt Graham ihn auf, gab sich zu erkennen und fragte: »Wie lange wird's dauern?« »Am raschesten geht es bei Tunnel vier«, erwiderte der stimmkräftige Mann. »Dort sind etwa dreißig Meter gewachsenen Felsens zwischen uns und einer anderen Arbeitsgruppe, die uns entgegenarbeitet. Wenn wir dort durchkommen, verbinden wir zwei Gangsysteme. Aber ich schätze, daß es unter drei Stunden nicht zu machen sein wird.« »Drei Stunden!« Graham blickte auf die Wanduhr und stöhnte. Von seinen so wertvollen achtzig Stunden waren zehn schon abgelaufen und hatten nichts erbracht als einen Gedankenblitz, der noch der praktischen Überprüfung harrte. Drei weitere Stunden würden jetzt mit Warten vergehen, mit dem Warten auf die Befreiung aus Erdentiefen, die zumindest sicherer waren als die gefahrdrohende Oberwelt. Wieder einmal hatten die Vitonen genau in der richtigen Minute zugeschlagen – oder aber der Teufel war den Seinen zu Hilfe gekommen!
Eine kleine Genugtuung bedeutete es für Graham, als er nach dem Stollendurchbruch feststellte, daß die anschließende Gruppe unterirdischer Räume zu einem Ausgang in der Westlichen Vierzehnten Straße führte. Denn gerade in das Tiefgeschoß des dort befindlichen Martin Building hatte Graham eine Besprechung mit den Regierungssachverständigen und einigen anderen Persönlichkeiten einberufen. Vierundsechzig Männer saßen unruhig und sorgenvoll in dem tiefgelegenen Schutzraum unmittelbar unter der Stelle, wo Professor Mayos Todessturz den ganzen Ablauf der Ereignisse eingeleitet hatte. Es fügte sich sinnvoll, dachte Graham, daß der Blutfleck dieser ersten Tragödie den Schauplatz jener Zusammenkunft bezeichnete, auf der die letzte Entscheidung über Sein oder Nichtsein der Menschheit vorbereitet werden sollte. »Man hat die Herren auf die Polarisation aufmerksam gemacht?« fragte er. Sie nickten. Jemand stand auf, um seine Meinung darzulegen. Graham winkte ab. »Im Augenblick können wir nicht diskutieren, meine Herren. Ich will Ihnen das nicht in Einzelheiten verraten. Vielleicht gibt es Personen unter Ihnen, denen nicht zu trauen ist!« Seine hageren, muskulösen Züge behielten ihren harten Ausdruck, als seine Augen neuerdings über die Anwesenden schweiften. Unbehaglich rückten die Zuhörer auf ihren Stühlen hin und her. Jeder warf vorsichtige Seitenblicke auf seine Nachbarn. Ihre Gedanken lagen offen zutage: ›Wen vermag ich Mensch zu nennen, wenn ich niemand Bruder heißen kann?‹ Graham fuhr fort: »Wir wollen Sie in acht Gruppen zu acht Personen aufgliedern. Diese Gruppen werden im ganzen Bundesge-
biet verteilt sein, und keine wird den Standort der anderen kennen. Was man nicht weiß, kann man nicht ausplaudern!« Wieder ging eine nervöse Bewegung durch die Reihen der Zuhörer. Wieder sah einer den anderen schief an. Wohl, der neben Graham stand, grinste vor sich hin. Ihm machte die Sache Spaß. Falls sich in dieser Schar berühmter Hirnathleten ein Dutzend Vitonensklaven befand, willenlose, aber überaus schlaue Spione in den menschlichen Kampfreihen, so war dies bestimmt allen übrigen unbekannt, und es gab kein gebrauchsfertiges Reagenz zu ihrer Feststellung. Jeder Anwesende konnte ganz leicht zwischen zwei unheimlichen Sendlingen des Feindes sitzen. »Ich werde jedesmal eine Achtergruppe beiseite nehmen, ihr gesondert meine Richtlinien bekanntgeben und sie nach ihrem Bestimmungsort abfertigen. Dann erst folgt die nächste Partie«, verkündete Graham. Er wandte sich an Kennedy Veitch, den führenden Strahlenfachmann. »Sie übernehmen die erste Gruppe, Mr. Veitch. Bitte, wählen Sie sich Ihre sieben Mitarbeiter!« Nachdem das geschehen war, führte Graham die acht Männer in einen anderen Raum und sagte zu ihnen rasch: »Sie gehen in das Acme-Werk in Philadelphia. Wenn sie glücklich dort ankommen, wird Ihre Aufgabe sich nicht in Versuchen erschöpfen dürfen, die auf die Vernichtung einiger Leuchtwesen abzielen. Das würde, wenn es gelingt, nur bedeuten, daß Sie selber durch andere in der Nähe weilende Vitonen unverzüglich beseitigt werden. Und wir können uns dann bloß den Kopf darüber zerbrechen, warum, zum Teufel, es so ergangen ist. Wir haben es satt,
immer wieder der Ursache solcher Todesfälle nachzuspüren!« »Ich sehe kein Mittel, wie man einen sofortigen Vergeltungsschlag verhindern könnte«, äußerte Veitch. Sein Gesicht war bleich aber die Lippen preßten sich entschlossen aufeinander. »Es gibt in der Tat keines – wenigstens vorderhand nicht.« Bill Graham nahm kein Blatt vor den Mund. Es war ihm gleichgültig, ob seine Worte unmenschlich klingen mochten. »Möglicherweise werden Sie samt Ihren Mitarbeitern zugrunde gehen. Aber wir wollen genau wissen, was Sie bis zu diesem Augenblick getan haben. Wenn Sie schon in die Grube fahren müssen und wir nichts dagegen tun können, so wollen wir wenigstens erfahren, warum Sie die Höllenfahrt antreten mußten!« »Ah!« keuchte Veitch. Mit weit aufgerissenen Augen scharten sich seine Männer um ihn. Auf ihnen lastete jenes merkwürdige Schweigen, mit dem Soldaten das Signal für einen Großangriff erwarten. »Man wird in Ihrem Labor überall Mikrophone anbringen, die an das städtische Fernsprechnetz angeschlossen sind. Ihr Arbeitsraum wird auch mit dem Fernschreibsystem der Polizei verbunden sein, und zwar durch einen ihrer Beamten, der bei Ihnen Dienst zu tun hat. Die Heeres-Signalgruppe wird Ihnen zwei Mann mit tragbaren Sende- und Empfangsgeräten zur Verfügung stellen. Präzisions-Bildzerleger werden weit entfernte Fernsehempfänger bedienen. In den umliegenden Gebäuden wird man Beobachter aufstellen, die Ihr Labor ständig in Augen behalten.« »So, so!« sagte Veitch unsicher und zögernd. »Jeder von Ihnen muß alle Handgriffe, bevor er sie
durchführt, bis ins einzelne erläutern. Diese Schilderung wird durch sämtliche verfügbaren Mitteilungskanäle – Mikrophone, Fernschreiber, Rundfunk – verbreitet werden. Die Bildaufnahmegeräte werden Ihnen dann bei der Ausführung zusehen. Ferne Beobachter sollen Augenzeugen der Ergebnisse sein. Falls Sie den Opfergang antreten, erfahren wir genau, warum Sie leiden mußten.« Veitch erwiderte nichts, und Graham fuhr fort: »Wenn es Ihnen gelingt, einem Leuchtwesen den Garaus zu machen, werden die technischen Einzelheiten dieser Heldentat einer großen, weiträumig verteilten Anzahl von Menschen vollständig und genau bekannt sein. Wir wissen dann, welche Versuchsanordnung zur Wiederholung des Vernichtungsschlages erforderlich ist. Wir werden die betreffenden Apparaturen in rauhen Mengen ausstoßen – und nichts im Himmel, auf Erden oder in der Hölle kann uns Einhalt gebieten.« Mit festem Blick musterte er die Männer. »An die Arbeit, meine Herren! Und Glück auf!« Er wandte sich an Wohl. »Bitten Sie Laurie, sieben Mitarbeiter auszusuchen und hier hereinzuführen!«
13 Die Versuchshalle der Faraday-ElektrogeräteGesellschaft nahm den Ruhm für sich in Anspruch, die geräumigste auf dem amerikanischen Kontinent zu sein. Nach ihrer Größe hätte man glauben können, sie diene zum Bau von Luftschiffen und nicht zur Entwicklung immer leistungsfähigerer Ikonoskope und Stereoschirme. Eine Reihe von Elektrogeneratoren mit Dieselantrieb nahm das eine Ende der hangarähnlichen Halle ein. Neben ihnen erhoben sich mächtige Transformatoren. Die Hauptschalttafel hätte dem zentralen Stromverteilerwerk einer Großstadt alle Ehre gemacht. Lange, verwirrend anzusehende Senderöhren aller erdenklichen Typen waren an einer Wand aufgereiht, einige erst im Bau, andere fertig, aber noch nicht überprüft. Die gegenüberliegende Wand nahmen eigenartige Gerüste aus Bandeisen, Rundstäben und Rohrschleifen ein – Versuchsmodelle von Richtstrahlantennen für Ultrakurzwellen. Durch diese Riesenhalle liefen keine Förderbänder. Sie war die Bastelstube für die einfallsreichsten Erfindertalente der Gesellschaft. Auf Tischplatten von Zimmergröße lag ein wüstes Durcheinander von Bildgeräten, Fotozellen, halbfertigen Stereoschirmen, Radiobestandteilen, Drahtknäueln und schematischen Diagrammen, die mit allerhand beim Nachdenken hingemalten Schnörkeln verunziert waren. Den Faraday-Werken lag nichts daran, eine Million Dollar in die verrücktesten Einfälle eines For-
schungslabors hineinzustecken. Wer war bei Kriegsausbruch nahe daran gewesen, einen LuxusFernsehempfänger mit stereoskopischen Sechsfarbenbildern auf den Markt zu bringen? Faraday! Duncan Laurie musterte mißmutig diesen Kehrichthaufen der Technik, den man seiner kleinen Gruppe zur Verfügung gestellt hatte, und sagte zu Graham: »Lineare Polarisation sollte nicht vernachlässigt werden. Es könnte ja sein, daß Farmiloe ein bißchen danebengeschossen hat.« »Das wurde bedacht«, beruhigte Graham ihn. »Wir lassen keine Möglichkeit, und mag sie noch so fernliegend erscheinen, unberücksichtigt. Draußen im Westen haben wir sogar eine Arbeitsgemeinschaft, die eine Behauptung überprüft, wonach die Vitonen sich auf einem Regenbogen heranschleichen können, so wie Schiffer an Stromschnellen vorbei ihr Boot über Land tragen.« »Großer Gott!« rief Laurie aus. »Die ganze Arbeit ist genau aufgeteilt. Ihre Gruppe wird sich ausschließlich mit hyperelliptischer Polarisation befassen.« »Geht in Ordnung!« Laurie zupfte nachdenklich am Ohrläppchen. »Diese Leuchtwesen scheinen Wellen in dem Bande von etwa drei bis vier oder fünf Millionen Angströmeinheiten zu reflektieren. Es fällt verdammt schwer, sie einer Spektralanalyse zu unterwerfen. Man kann nicht lange genug ein Instrument auf sie richten, um zu einem Ergebnis zu kommen. Das eine aber ist sicher. Sie stellen Energie in zusammengeballter, stabiler Form dar und sind trägheitslos.« »Sind Fische trägheitslos?«
»Fische?« wiederholte Laurie ehrlich erstaunt. Graham wies auf ein Oberlichtfenster. »Wir müssen unsere eigenen Lebensbedingungen vergessen und versuchen, die Dinge unter einem neuen Gesichtswinkel zu sehen. Dort oben ist das Luftmeer, von dem die Vitonen vielleicht unvergleichlich mehr spüren als wir. Es ist erfüllt von blauen, leuchtenden Fischen, die in ihrem Element schwimmen, und zwar mit Hilfe von Fortbewegungsmitteln, die uns auf dem Meeresboden umherkriechenden Geschöpfe nicht gegeben sind.« »Vielleicht haben Sie recht«, pflichtete Laurie bei. Er bedachte das Oberlicht mit einem Blick voll äußersten Abscheus. »Nachdem wir entdeckt hatten«, fuhr Graham fort, »daß die Vitonen durch Diathermie-Apparate wie ein Schwarm aufgescheuchter Fliegen in die Flucht gejagt werden, haben wir den Sachverhalt genauer untersuchen lassen. Es hat sich ergeben, daß die Leuchtwesen gegen elektromagnetische Wellen von zwei Zentimeter bis etwa eineinhalb Meter Länge empfindlich sind. Sie gehen nicht zugrunde, sie nehmen nur Reißaus, wie von einer Tarantel gestochen.« »Ich vermute, daß diese Wellenstöße das Kreisen ihrer Oberflächenelektronen stören«, äußerte Laurie. »Aber die Strahlen dringen nicht ein.« »Ganz richtig! Und ein solches Eindringen müssen wir erzielen. Und zwar nicht irgendwann im nächsten Jahr oder Monat, auch nicht in der kommenden Woche, sondern innerhalb zwei Tagen. Bisher haben wir an dem Stoff, aus dem die Vitonen bestehen, nur oberflächlich herumgeschnitzelt, und die Späne sind uns in die Augen geflogen. Wenn wir Glück haben,
bohren wir ihnen mit Hilfe polarisierter Strahlen ein Loch in ihren gefräßigen Bauch. Sonst aber müssen wir lernen, wie die Kühe zu muhen, denn dann bleiben wir für immer, was wir seit jeher gewesen sind – eine Herde gottverlassener Melktiere!« Er sah Laurie fest an. »Sie haben fünfzig Stunden Zeit. Beginnen Sie bei zwei Zentimetern und gehen Sie zu immer höheren Werten über!« »Soll geschehen!« versprach Laurie. Er gab seinen Mitarbeitern klare Weisungen. Die wenigen Männer, die in dem Riesenraum zu Zwergen zusammenschrumpften, stürzten an die Arbeit. Noch während Laurie seine Absichten bekanntgab, sandte der Fernschreiber die Kunde davon aus. Lautlos tätige, aber hochempfindliche Mikrophone fingen die Stimme des Gelehrten auf. Sie wurde in ein Dutzend verschiedener Richtungen und Entfernungen weitergetragen. Bildzerleger, die auf den Stahlträgern des Daches angebracht waren, hielten von oben her die Vorgänge optisch fest. In Wohls Begleitung eilte Graham zur Tür. Gerade als er dort ankam, tasteten die Fernsehgeräte einen grausigen Vorfall ab, der mit dramatischer Wucht in die Bildschirme weit entfernter Empfänger tauchte. Zunächst gingen plötzlich und gleichzeitig alle Lichter aus. Von der Schalttafel sprühte ein Schauer nach Metall riechender Funken. Durch die offene Luke eines Material-Fülltrichters an der Nordwand ergoß sich ein Strom gespenstischen Blaus. Flüchtige Glanzlichter zuckten als blauer Widerschein des eindringenden Vitons über die spiegelglatten Oberflächen der scheinbar regellos aneinandergereihten Apparate, glitten weiter und erloschen flackernd, als das
Leuchtwesen im Gleitflug gegen den Fußboden niederschwebte. Gerade dort, wo es sich niederließ, schimmerte ein furchtbar entstelltes Menschenantlitz schweißbedeckt aus dem Dunkel, in der unheimlichen Beleuchtung wie vom Aussatz gezeichnet – ein Leckerbissen, der darauf wartete, verschlungen zu werden! Von krampfhaft verzerrten Lippen drang hysterisches Gestammel, ein Geplapper, das in langgezogenes, heiseres Stöhnen mündete. Unmittelbar unter dem glühenden Dämon schleiften jetzt hilflose Füße am Boden, schlurften dahin, stießen gegen Tischbeine. Die funkelnde Kugel tanzte auf und ab, während von ihrer Unterseite eine leblose Gestalt baumelte. Das Leuchtwesen machte einige heftige, ruckartige Bewegungen, als wollte es Energie-Milch aus widerspenstigen Eutern melken. Von einem nahen Tisch kollerte ein Glasgegenstand zu Boden, prallte ab und hüpfte ein Stück weiter. Er schien die tanzende Kugel in grotesker Weise nachzuäffen. Jemand begann, sich zu erbrechen. Da schoß plötzlich von der Westseite des Labors her eine blendenrote Flamme durch den Raum. Auf der glitzernden Oberfläche des Vitons zeigten sich für einen Augenblick dunkelpurpurne Flecken. Wieder blitzte es auf. Der scharfe, harte Knall einer schweren Waffe schwoll im Widerhall zu ohrenbetäubender Stärke an. Das Leuchtwesen ließ seine Last wie einen alten Sack fallen. Rachedurstig flitzte es nach der Westseite der Halle und durchschnitt dabei wie ein Meteor im Fluge das ihm entgegenströmende Feuer. Kreischend schrie eine entsetzte Stimme ein unflätiges Wort, rang
nach Luft, verstummte. Das Viton machte an der Wand fünf wilde Rucke – wie gierige Schluckbewegungen eines Säufers. Wie rasch es dann verschwand, war atemberaubend. Gleich einem Pfeil schwirrte das Blau nach der Trichterluke zurück, leuchtete in deren offenem Rahmen auf und war im nächsten Augenblick im Freien. Vor dem wolkenverhangenen Himmel schrumpfte es rasch zusammen. Ein Trunkenbold kehrte vom Saufgelage heim! Durch das Dunkel in der Halle, die von außen her nur spärliches Licht empfing, stolperten Schritte, tönten laute Stimmen. Eine unsichtbare Hand verschloß rasch die Luke, so daß die Finsternis noch tiefer wurde. Graham riß die Tür weit auf und ließ das Licht des Nachmittags ein. An der gegenüberliegenden Wand leuchtete eine Stablampe die Schalttafel und die Sicherungen ab, hantierte jemand mit Fingern, deren Zittern sich nicht unterdrücken ließ. Plötzlich durchfloß der elektrische Strom wieder eine Reihe hochhängender Lampen. Laurie lief durch den Mittelgang und kniete neben einem Mann hin, der die Augen rollte und mit den Armen schlenkerte. Als der Gelehrte merkte, daß Graham bei ihm stand, wandte er ihm sein marmorgleich versteinertes Gesicht zu und starrte ihn aus merkwürdig glotzenden Augen an. »Er ist verrückt geworden«, stellte Graham kalt und sachlich fest. Der hingekauerte Mann schwatzte vor sich hin, daß es ein Graus war, faßte krampfhaft Lauries Hand, verfiel in trübsinniges, grimassierendes Schweigen. »Er hat nichts verraten. Sobald das
Viton ihn überfiel, hat er den Verstand verloren.« »Gott, ist das entsetzlich!« keuchte Laurie. »Wir bringen ihn hinaus.« Graham blickte auf den schütteren Ring verängstigter Zuschauer. Einer von ihnen hielt noch ein Kruzifix umklammert. »Zurück an die Arbeit. Lassen Sie sich nicht unterkriegen!« Langsamen Schrittes, wie betäubt, zerstreuten sich die Männer. Graham ging auf die Westseite der Halle zu, wo sich Wohl über eine andere zusammengesunkene Gestalt neigte. »Mausetot!« bemerkte der Leutnant ungerührt. Draußen heulte eine Sirene durch die Zufahrtstraße. An der offenen Tür der Halle erstarb der Klang zu düsterer Stille. Vier Polizeibeamte traten ein, von einem Mann in Zivil begleitet. Ruhig, wortlos trugen sie den uniformierten Leichnam hinaus und holten dann auch den zusammengebrochenen Gelehrten. Während sie ihn wegführten, bewegte er unaufhörlich die Lippen, ohne einen Laut von sich zu geben. Drei Polizisten stiegen in den Wagen und fuhren davon. Der vierte setzte sich an den Fernschreiber. Der Mann in Zivil ging auf Laurie zu. »Mein Name ist Ferguson. Ich bin der Ersatzmann.« Laurie stand wie betäubt da und ließ den Blick über seine Mitarbeiter wandern. Nervös zupfte er an einem Ohrläppchen. Von seiner Miene konnte man die Frage ablesen, die er nicht aussprach. »Alles bloß Organisation!« erklärte Graham. Mit umfassender Geste wies er auf die Mikrophone und Bildzerleger, die das Geschehnis überallhin gemeldet hatten. »Schon sind Ihre Ausfälle ersetzt. Machen Sie weiter mit Ihrer Aufgabe! Und zwar so eilig wie nur
möglich! Wir müssen das Wettrennen mit dem Tode gewinnen.« Graham stürzte hinaus. Während er in einen Wagen stieg, an dessen Lenkrad Wohl sich setzte, sagte er: »Ich möchte wetten, daß mein eigener Wagen inzwischen irgendwo im Westen zuschanden gefahren ist.« »Kann schon sein.« Wohl lenkte in die Mitte der Fahrbahn. »Wohin wollen Sie?« »Nach Yonkers. Dort draußen ist ein Bunker-Labor. Unter Steve Koenigs Leitung.« Er bemerkte Wohls Neugier und fügte hinzu: »In der näheren Umgebung sind nur diese beiden Gruppen. Wo sich die anderen befinden, verrate ich nicht. Nicht einmal Ihnen.« »Sie meinen, man könnte mich packen und nach Neuigkeiten abtasten?« Wohl späte zum Himmel und verzog das Gesicht. »Aber was machen wir, wenn Sie das Opfer sind? Setzen wir uns dann hin und sagen: ›Da kann man nichts machen?‹« »Noch ist's nicht so weit. Natürlich gibt sich niemand der Täuschung hin, daß ich unüberwindlich bin. Außer den vierundsechzig Männern, die ich angefordert habe, gibt es eine Menge anderer Gruppen, mit denen ich überhaupt nichts zu tun habe, von denen ich kaum weiß. Washington und andere Stellen haben diese Wissenschaftler jeweils dort hingebracht, wo sie den größten Nutzen bringen können. Und noch mehr! Niemand in den Vereinigten Staaten weiß, wo die südamerikanischen und europäischen Gelehrten arbeiten. Und umgekehrt kennen sie wieder nicht den Standort unserer Gruppen.« »Jetzt«, fand Wohl, »ist bestimmt einmal eine Zeit, wo viel Wissen Kopfweh macht.«
»Das will ich meinen!« erwiderte Graham nachdenklich. »Man hat alles so eingerichtet, daß für mich ebenso wie für jeden anderen der Grundsatz gilt: Wes Kopf leer ist, dem kann der Mund nicht übergehen.« Mit kraftvoll surrendem Generator wichen sie auf die rechte Fahrbahnseite aus und umfuhren in ungehemmtem Schwung einen mächtigen Bombentrichter in der Straße. Über dem riesigen Krater war die auch sonst stark beschädigte Hochstraße auf fünfhundert Meter überhaupt unterbrochen. Von den ausgezackten Rändern der Lücke ragten verbogene, rostende Stahlträger mit kurzen, dicken Stümpfen in die Luft. »Da hat's anständig reingehauen!« Wohl ließ den stromlinienförmigen Wagen im direkten Gang dahinsausen. Für zwei Meilen brauchte er nur um ein geringes mehr als eine Minute. An einer Straßenkreuzung verminderte er die Geschwindigkeit und bog nach links ab. In diesem Augenblick leuchtete der Himmel vor ihm plötzlich zu einem Mehrfachen der gewöhnlichen Helligkeit auf. Für den Bruchteil einer Sekunde fielen tiefe, scharf begrenzte Schatten über die Straße. Dann verschwand die Lichterscheinung. Wohl bremste ab und hielt. Gespannt wartete er. Die windschief dastehenden, nicht gestützten Hauptmauern eines nahen bombenbeschädigten Gebäudes stürzten mit fürchterlichem Krachen nieder. Die Trümmer ergossen sich über die Straße und füllten sie der ganzen Breite nach mit Schutt. Einige am Himmel hängende Vitonen begannen in westliche Richtung steil emporzufliegen. »Das war atomisch«, erklärte Graham. »Nur ein paar Meilen weit. Wahrscheinlich eine Rakete.«
»Wenn wir eine halbe Stunde früher drangewesen wären...« Wohl ließ den Satz unvollendet. »Wir waren es eben nicht. Und darauf kommt's an. Jetzt hat es keinen Sinn mehr weiterzufahren. Kehren wir um, Art! Ich versuch's durch den BatteryTunnel.« Sie rasten gegen Süden – weg von dem fernen Riesenpilz mit seinem todkündenden Knistern. Auf der sausenden Fahrt kamen sie an der Bank of Manhattan vorbei. Graham bemerkte: »Mir ist, als wäre es schon Jahre her, seit ich hier mein Quartier hatte.« Einen Augenblick lang schwieg er. Dann rief er plötzlich in scharfem Ton: »Halten Sie hier an der Ecke, Art!« Der Wagen fuhr an den Gehsteigrand und blieb stehen. Zusammengekauert saß Graham in seinem Sitz. Die Augen hielt er auf den Rückspiegel gerichtet. Dann riß er die Tür auf und wand sich hinaus. »Was ist los? Sehen Sie so den Rauchpilz besser?« Wohl tat an dem Lenkrad herum und blickte forschend auf seinen Freund. »Im vierundzwanzigsten Stock! Ja, es war im vierundzwanzigsten Stock.« Grahams Augen glitzerten. »Gerade, wie wir vorbeigefahren sind, ist in dieser Höhe etwas Blaues und Glänzendes aus einem offenen Fenster geschwirrt. Zufällig habe ich es ganz flüchtig gesehen. Die sechs mittleren Fenster in diesem Stockwerk gehören zu Sangsters Büro.« »Na, und?« »Ich bin ziemlich sicher, daß es ein Leuchtwesen war.« Zorn malte sich auf seinen Zügen. »Bleiben Sie sitzen, Art! Ich rufe an.«
Ohne Wohls Antwort abzuwarten, ging er in das nächste Gebäude und machte im Erdgeschoß in einem verlassenen, halbzerstörten Büro ein Telefon ausfindig. In seltsamem Gegensatz zu der ganzen Umgebung war bei diesem Apparat der Fernsehempfänger tadellos in Ordnung. Als die Verbindung zustande kam, tauchte auf dem kleinen Bildschirm ein Mädchengesicht auf. »Guten Tag, Hetty!« grüßte er so herzlich wie immer. »Guten Tag!« Sie lächelte mechanisch. »Ist Mr. Sangster im Büro?« »Nein. Er ist schon den ganzen Nachmittag weg. Aber ich erwarte ihn vor halb sechs Uhr zurück.« Ihre Stimme war eigentümlich stumpf und leblos. Doch ihr Lächeln wurde betonter, einladender. »Wollen Sie nicht herüberkommen und hier auf ihn warten, Mr. Graham?« »Leider nicht möglich. Ich...« »Wir haben Sie schon so lange nicht gesehen«, redete sie ihm zu. »Jetzt, wo in der Umgebung fast alles zerbombt und auch dieses Haus beinahe menschenleer ist, lebt man hier wie auf einer einsamen Insel. Ich fühle mich ganz verlassen, und manchmal wird mir ausgesprochen bange. Möchten Sie nicht kommen und ein bißchen mit mir plaudern, bis Sangster zurück ist?« »Hetty, das geht zeitlich nicht.« Ihr schmeichelnder Ton bewegte ihn. Aber er starrte gebannt auf den Schirm, der das geringste Zucken der Lippen, das leiseste Flattern der Lider deutlich zeigte. »Von wo aus sprechen Sie?« Wieder dieser stumpfe, leblose Schallplattenton!
Er konnte die Erregung kaum niederkämpfen. Seine Handflächen begannen zu schwitzen. Ohne auf ihre Frage einzugehen, sagte er langsam: »Ich komme hinauf, Hetty. Erwarten Sie mich so um fünf Uhr!« »Fein!« Ihr Lächeln wurde breiter. Aber der Ausdruck ihrer Augen stimmte nicht zu der Miene. »Also, es bleibt dabei! Sie lassen mich doch nicht umsonst warten, wie?« »Sie können sich auf mich verlassen, Hetty.« Er legte auf. Noch lange starrte er den Schirm an, von dem ihre vertrauten Züge langsam verschwunden waren. Furchtbare Wut erfüllte ihn. Seine Finger krümmten sich, als jucke es sie, jemanden zu würgen. Er machte sich mit einem saftigen Fluch Luft und eilte zu dem wartenden Wagen zurück. »Hetty ist von den Vitonen erwischt worden«, berichtete er Wohl. »Sie hat geredet und gestikuliert, als ob sie ein Uhrwerk in der Brust hätte. Dort oben ist eine Falle aufgestellt.« »So wie im Stabsquartier!« bemerkte Wohl. Er schluckte heftig, trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad und hielt Ausschau in die Luft. »Zehn zu eins möchte ich wetten, daß mein Wohnhaus inzwischen auch eine Falle geworden ist. Hetty und Sangster kennen es genau.« Der aufsteigende Zorn färbte seine Stimme. Er ballte die Fäuste. »Von Minute zu Minute schleichen sie sich näher an mich heran. Art, jetzt hab ich's satt! Diese Treibjagd ertrag ich nicht mehr lange. Ich stelle mich ihnen und hau ihnen eine in den Wanst, daß sie geradewegs zur Hölle fahren.« »Ist das Ihr Ernst?« fragte Wohl. Er stützte einen Ellbogen auf das Lenkrad und den Kopf in die Hand.
Mit fast wissenschaftlichem Interesse musterte er Graham. »So steht's also, he? Aufs Eis tanzen gehen wollen Sie, he?« Er hob den Kopf aus der stützenden Hand und schrie: »Reden Sie nicht daher wie ein kapitaler Idiot!« »Was hat denn Sie auf einmal gepackt, Art?« »Gar nichts.« Wohl zeigte seinen iridiumgefütterten Ring. »Und Sie wird auch nichts packen – wenn ich etwas dagegen tun kann.« »Ich habe nicht vor, mich packen zu lassen. Darum will ich den Biestern ja einen tüchtigen Hieb versetzen.« »Wie gedenken Sie das anzustellen?« »Das muß ich mir erst überlegen.« Graham kletterte in die Maschine, setzte sich hin und grübelte. Dabei beobachtete er ständig, ob nicht an das durchsichtige Wagendach herumstreifende Kugeln so nahe heranschlichen, daß sie seine Gedanken lesen könnten. »Wenn diese Falle mit Vitonen besetzt ist, so schneide ich nur auf. In Wirklichkeit bin ich dann einfach machtlos.« »Aha!« sagte Wohl zur Windschutzscheibe. »Das gibt er wenigstens zu.« Graham warf seinem Gefährten einen strafenden Blick zu und sagte: »Wenn sie aber – und das ist wahrscheinlicher – das unsaubere Handwerk einem Rudel Vitonensklaven überlassen haben, so gehe ich hinein, schlage ihnen die Zähne aus dem Maul und zieh mit Hetty wieder ab. Haben Sie etwas einzuwenden?« Wohl dachte nach. »Hm! Wenn die Vitonen sich wirklich auf ihre Söldlinge verlassen, ließe es sich, denke ich, machen. Ja, vielleicht gelingt Ihnen die Sa-
che, und Sie kommen wieder ungeschoren hinaus. Verdammt groß ist das Risiko auf alle Fälle. Etwas muß ich allerdings bemängeln.« »Und zwar?« »Daß Sie immer nur von sich allein reden.« Wieder ließ er den Ring aufblitzen. »Wir – verstehen Sie, wir – dringen ein und holen Hetty!« »Ich hatte nicht im Sinn, es allein zu machen, nicht einmal nur mit Ihnen zusammen. Ganz so verrückt bin ich doch nicht!« Graham warf einen letzten Blick auf die Bank of Manhattan. »Nach meiner Rückkehr aus Washington hab ich einen GeheimdienstKameraden ausgeforscht und ihm aufgetragen, die anderen neun ausfindig zu machen, die außer ihm angeblich noch in der Gegend auf den Beinen sind. Falls er sie hat aufspüren können, warten sie auf mich beim Zentralbahnhof. Wir wollen sie mitnehmen und sehen, was sich mit dieser Falle machen läßt. Wenn wir Glück haben, holen wir den Köder heraus, ohne daß sie zuschnappt.« Er lehnte sich in seinen Sitz zurück. »Drücken Sie auf die Tube, Art! Wir haben kaum mehr eine Stunde Zeit!« Acht Männer standen vor Graham. Er musterte ihre offenen, mutigen Gesichter mit den breiten, eckigen Kinnpartien und wußte, daß man die übrigen zwei nie mehr finden würde. Zehn hätten es ja alles in allem sein sollen. Jedem einzelnen dieser kräftigen jungen Männer stand diese Tatsache vor Augen, und jeder wußte ebensogut, daß ihre Zahl bald noch weiter zusammenschmelzen mochte. Aber nichts an ihrer Miene oder Haltung verriet dieses Bewußtsein. Es waren eben Männer des Geheimdienstes, Männer, die
dazu geschult waren, Verluste wettzumachen, indem sie die Arbeit der Fehlenden – und noch mehr – leisteten. »Meine Herren, Sie kennen Ihre Aufgabe?« fragte er. Sie nickten. Er wies mit dem Daumen aufwärts und erinnerte sie an die Beobachter, die zwanzig Stockwerke höher so postiert waren, daß sie über zwei Straßenzüge und den dazwischenliegenden niedergebombten Häuserblock hinweg in Sangsters Büro blicken konnten. »Die Beobachter melden, daß in dem Büro keine Leuchtwesen sind. Also haben wir es offenbar nur mit Vitonensklaven zu tun. Ich gehe jetzt hinein. Aber um wieder herauszukommen, dazu brauche ich Ihre Hilfe!« Wieder nickten sie. Niemand konnte verstehen, warum Graham so erpicht darauf war, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Aber es genügte ihnen, daß er diese Absicht hatte. Sie waren bereit, ihre Rolle zu spielen. »Also Kameraden, ich mach mich auf den Weg.« »Ich auch«, meldete sich Wohl und machte einen Schritt vorwärts. »Um Himmels willen, mischen Sie sich da nicht hinein, Art! Wir wissen nicht, wie solche Vitonensöldlinge reagieren. Mich kennt Hetty sehr gut. Aber bei Ihnen hat sie keine Ahnung, wer Sie sind. Wenn Sie mit hineintorkeln, können Sie das Ganze verpfuschen.« »Oh, verdammt!« rief der Leutnant. Graham grinste seinem enttäuschten Gefährten zu, eilte davon, ging – von den Feldstechern seiner hoch oben postierten Beobachter verfolgt – zur Bank of
Manhattan hinüber und trat ein. In der staubbedeckten, verwahrlosten Vorhalle lungerten fünf Männer herum. Ohne ihnen Beachtung zu schenken, schritt er zu den pneumatischen Aufzügen und fuhr in den zwanzigsten Stock. Dort ließen sich keine Eckensteher mehr blicken. Aber Graham spürte, daß Augen, wie man sie nur an Tollhäuslern, ja an Leichnamen sah, ihm nachstarrten, als er die Tür des Büros für Sonderfinanzierungen aufstieß. Mit einem flüchtigen »Tag, Hetty!« schloß er die Tür hinter sich. Seine scharfen Augen überflogen den Raum, bemerkten, daß die Tür zu Sangsters Büro geschlossen war, ebenso ein großer Schrank daneben. Sangster selbst war nicht sichtbar. Vielleicht hatte das Mädchen in dieser Beziehung die Wahrheit gesagt. Graham setzte sich auf eine Ecke von Hettys Schreibtisch und schlenkerte lässig mit den Beinen. »Ich war sehr beschäftigt, Hetty, bis über die Ohren in Arbeit! Sonst hätte ich Sie schon früher aufgesucht. Die Dinge reifen übrigens einer Entscheidung entgegen – so hoffe ich wenigstens.« »Inwiefern?« Sie fügte nicht hinzu »Bill«, wie es ihre Gewohnheit war. »Wir sind daran, endlich eine Waffe gegen die Vitonen herzustellen.« »Etwas mit Kurzwellen?« fragte sie und blickte ihn an. Ihm sträubten sich die Nackenhaare, als er die Leere in ihren sonst so lebhaften Augen sah, eine schreckliche, seelenlose Leere. So mochte es auch in ihrem Innern aussehen. Sie hatte wohl nichts mehr übrig für männliche Schäkereien oder weiblichen Flitterkram, schnitt auch keines ihrer sonst so gelieb-
ten Gesprächsthemen an. Ihre Interessen waren in erschreckender Weise gewandelt. Sie galten nur mehr den Waffen gegen die Vitonen, den Kurzwellen und – dem Manne, der vor ihr stand, ihm aber nur als dem ausersehenen Opfer ihrer Herren und Meister. »Gewiß!« Wie gebannt starrte er auf ihr Marionettengesicht, und Grauen erfüllte ihn bei dem Gedanken, daß hier nicht mehr die lebensprühende junge Dame saß, die er gekannt hatte, daß diese so vertraute Gestalt ein Roboter aus Fleisch und Blut geworden war. »Wir suchen in den Zentimeterwellen herum. Wir haben ein breites Band auf zahlreichen Gruppen von Physikern aufgeteilt. Viele Hunde sind des Hasen Tod.« »Das ist erfreulich«, erklärte sie mit völlig tonloser Stimme. Ihre blassen Hände bewegten sich, seinen Blicken entzogen, ständig auf ihrem Schoß unter der Schreibtischkante. »Wissen Sie, wo diese Gruppen sind und welche Arbeitsziele sie verfolgen?« Ein Frohlocken stieg in ihm auf, als sie die kindlich durchsichtige Frage stellte. Dieses arme, entartete Hirn hielt sich fügsam in einem einzigen Geleise, lief den Kurs, den man ihm vorgeschrieben hatte. Verschlagenheit waltete hier – aber nicht Klugheit. Selbst ein Schwachsinniger hätte durchschaut, worauf Hetty hinaus wollte. Eine doppelte Verpflichtung war ihr auferlegt worden: erstens, den Köder für die Falle abzugeben, und zweitens, dem Opfer wichtige Fingerzeige herauszulocken, bevor sie das Todessignal gab. Offenbar hatte die furchtbare Operation, der ihr widerstrebender Geist unterzogen worden war, ihr nicht die Fähigkeit des Gedankenlesens gebracht – falls die Vito-
nen diese Gabe ihren Sklaven überhaupt verleihen konnten. Jedenfalls merkte sie nicht das mindeste davon, daß er die Lage mit voller Klarheit erfaßte. Es bereitete ihm viel Mühe, seine erwartungsvolle Ungeduld zu verbergen, als er zu dem Mädchen sagte: »Es gibt zwar eine Unmenge solcher Gelehrtengruppen. Aber ich weiß von allen, wo sie sich befinden. Von jeder einzelnen weiß ich es.« Das war eine aufgelegte, faustdicke Lüge. Aber er machte sich kein Gewissen daraus, zu flunkern. »Sie brauchen nur eine Wellenlänge zu nennen, Hetty, und ich kann Ihnen sagen, wer an ihr arbeitet und wo das geschieht.« Die Antwort der Marionette bedeutete einen Verrat an ihren Drahtziehern. Ihr armes, zerrüttetes Hirn arbeitete so automatisch, daß es keiner Arglist fähig war. »Null Komma fünf Zentimeter«, erwiderte sie und sprach die Worte so aus, als wären sie unauslöschlich in ihrem gefolterten Hirn eingegraben. Ihre Hände glitten vor, langten unter den Schreibtisch. Sie machte sich fertig, die Botschaft entgegenzunehmen – und den Überbringer zu entlohnen. »Sonst wollte ich nichts wissen«, brummte Graham. Er sprang auf. Bevor sie noch eine Bewegung machen konnte, war er schon um den Schreibtisch herumgelaufen. Er streckte die Arme aus, um Hetty zu fassen. In diesem Augenblick wurde die Tür zu Sangsters Zimmer aufgerissen. Drohend stürzte eine Gestalt auf ihn zu. Graham warf sich nach vorn. Als er den Boden berührte, hielt er schon seine automatische Pistole in der Hand. Einen Moment lang stand der Irre still und zielte. Der Knall seines Schusses hallte in dem engen Raum wuchtig wider.
Irgendwelche Gegenstände fielen hart auf Grahams Rücken. Die Schranktür öffnete sich. Graham ließ den ersten Angreifer kurz aus den Augen, schoß in den offenen Spalt des Schrankes, sah von den Türrändern Holzsplitter wegfliegen, wußte, daß alle vier Geschosse eingedrungen waren. Keuchend lehnte sich eine Gestalt aus der Öffnung, bückte sich tiefer, erbrach schaumiges Blut. Dann purzelte der Mann der Länge nach hin. Der blutüberströmte Rumpf verlegte seinem irren Gefährten den Weg. Hetty benützte die gefahrvolle Lage, in der Graham sich befand, riß eine Schublade auf und zog etwas heraus. Sie beugte sich über den Schreibtisch nach Graham hin. Ihre leeren, gefühlskalten Augen visierten über einen kleinen, altmodischen Revolver. Ihre Handknöchel waren weiß geworden. Mit verzweifeltem Ruck hob Graham von seiner Seite her den Schreibtisch, so daß die Platte gegen Hettys Körper stieß und sie in ihren Sessel zurückschleuderte. Ihre kleine Waffe ging nach oben los, die Kugel traf die Zimmerdecke. Draußen im Korridor dröhnten Schritte. Bei den Aufzugschächten fluchte jemand laut. Mit der Geschmeidigkeit einer Kobra sprang Graham auf und feuerte – gleichzeitig mit seinem ersten Angreifer. Sein linker Arm zuckte unwillkürlich und wurde glühend heiß. Aber der Irre sackte zusammen wie ein gefällter Stier. Die Eingangstür wurde nach innen aufgebrochen. Vor ihr standen zwei Männer des Geheimdienstes, die Waffe in der Hand. Harte, knallende Geräusche hämmerten vom Ende des Ganges her. Eines der Ge-
schosse traf auf Metall und heulte schrill auf, während es als Querschläger weiterflog. Zwei Kugeln schlugen dumpf in den hölzernen Türrahmen, eine andere klatschte weich in Fleisch. Der kleinere der beiden Geheimdienstler würgte, spuckte, würgte wieder, lehnte sich kraftlos gegen die Wand, glitt an ihr nieder. In sitzender Stellung kämpfte er mit dem Tod. Die Pistole entglitt seinen Fingern, der Kopf sank ihm schlaff auf die Brust. »Alles ist voll mit ihnen!« beteuerte der andere. »Überall wimmelt es von den Kerlen.« Er lugte um die Tür herum nach links und schoß zweimal rasch hintereinander in den Korridor. Von rechts her pfiff eine ganze Salve nach der gleichen Richtung, und in den folgenden Sekunden schlüpften, während es draußen still wurde, noch vier Geheimdienstler in den Raum. »Geschwind!« drängte Graham. »Ich möchte dieses Mädchen hinausschaffen.« Er wandte sich rasch herum, in der Absicht, Hetty zu fassen und wegzutragen. Da fiel ihm vom offenen Fenster her Schimmer fernen blauen Lichtes in die Augen. »Vitonen!« Etwa zwanzig dieser Leuchtwesen flitzten durch die Luft, eines hinter dem anderen, wie eine Kette riesiger Glasperlen. Geradewegs auf den Raum zu flogen sie. Wieder dröhnten schwere Schritte durch den Korridor. Während Graham zur Tür sprang, eröffneten seine Kameraden schon das Feuer. Der todwunde Mann an der Wand tastete blind nach seiner Waffe, fiel zur Seite hin und schloß die Augen für immer. Blut sickerte ihm aus dem Mund. Vom Gang her vernahm man dumpfes Krachen
und Ächzen, unartikuliertes Grölen. Im nächsten Augenblick stand ein Rudel starr blickender Vitonensklaven im Zimmer. Sie führten ihren Angriff unter völliger Mißachtung persönlicher Sicherheit und mit der sinnlosen Wucht abschnurrender Automaten. Es waren Roboter, nur darauf eingerichtet, zu töten – gleichgültig, wie und warum. Ein Durcheinander kämpfender Menschenleiber drängte ihn aus dem Höllenlärm des Zimmers, schob ihn längs des Ganges zu den Aufzugschächten. An seiner Schulter hing ein zermalmendes Gewicht, tausend Hände schienen gleichzeitig nach ihm zu greifen. Er sah, wie einer seiner Gefährten die Mündung seiner Pistole in einen sabbernden Mund schob und abdrückte. Knochensplitter, Blut, Schleim flogen nach allen Richtungen auseinander, als der Irre, dem ein Teil des Schädels fehlte, unter Grahams Füße kollerte. Weit hinter ihm – oder war es vor ihm oder sonst in einer Richtung? – brüllte eine Stimme etwas von Vitonen. Wie ein Bulle stürzte Graham zwischen eine Horde von Irren und schlug noch wahnsinniger um sich als sie. Dann wurde die ganze Welt zu einem Inferno wütenden Feuers, durch das er in die Tiefe sank, weiter und immer weiter, bis jeder Laut verstummte.
14 Graham lockerte ein wenig den Verband um seinen Kopf und starrte durch das Fenster, aus dem früher die Beobachter sein Abenteuer verfolgt hatten, auf den fernen Block der Bank of Manhattan. Dann wandte er sich zu den anderen um. »Wie, zum Teufel, sind wir aus dieser Schweinerei herausgekommen? Wie ist das zugegangen?« »Ich und die zwei mit mir, wir haben in der Vorhalle fünf Kerle auf dem Hals gehabt«, berichtete Wohl. Er strich sich über sein verletztes Knie und zuckte zusammen. »Dann haben wir durch die Aufzugschächte den Klamauk von oben gehört, als die anderen sechs Ihnen zu Hilfe kamen. Kurz darauf sind zwei davon hinuntergesaust, wie halbversengte Vögel aus einem Waldbrand, und haben Sie mitgebracht. Sie waren bewußtlos geschlagen. Zum Kotzen haben Sie ausgesehen, das kann ich sagen.« Er rieb sich wieder das Knie und murmelte einen Fluch. »Ihre Samariter haben gesagt, sie seien nur um ein Haar einem Vitonenbesuch entkommen.« »Und Hetty?« »Schauen Sie dorthin!« Wohl reichte ihm einen Feldstecher. »Sie hat's Mayo nachgemacht.« »Was? Aus dem Fenster gesprungen?« Als Wohl nickte, verfiel Graham in Grübeln. Also war die Verpflichtung, die diesem armen, entarteten Hirn auferlegt worden war, nicht nur, wie er gedacht hatte, eine doppelte, sondern eine dreifache gewesen. Sie mußte nach getaner Schuldigkeit auch noch selbst aus dem Leben gehen.
Traurig betrachtete er das armselige Bündel auf dem Gehsteig. Binnen kurzem würde man es auflesen und in Ehren bestatten... Wie gut, daß seine Kameraden und er so rasch aus dem Gebäude gelangt waren! Unter den verschüchtert hinschleichenden Millionen der New Yorker Bevölkerung blieben sie nun wieder einmal für die Leuchtwesen unerkennbar. Graham sagte zu seinem Freunde: »Zwei haben mich hinuntergebracht? Nur zwei?« Seine forschenden Augen schweiften zu den vier vom Kampf zerzausten Kameraden, die neben ihm standen und von denen zwei unbehaglich von einem Fuß auf den anderen traten. »Was ist mit den anderen vier geschehen? Sind sie niedergeschossen worden?« »Ja, zwei von ihnen«, antwortete einer der beiden unruhig trippelnden Männer und wies mit einer Handbewegung nach der Manhattan-Bank. »Bathurst und Craig sind dort zurückgeblieben.« »Warum?« »Die meisten Vitonensöldlinge waren schon entweder auseinandergejagt, verwundet oder tot. Aber dann sind die Leuchtwesen selbst erschienen, und zwar von oben her, während wir versuchten, Sie unten herauszuschaffen. Deswegen haben Bathurst und Craig sich Zeit gelassen und...« Seine Stimme versagte. »Die beiden haben den Angriff der Vitonen auf sich gelenkt, weil sie wußten, daß kein anderer Ausweg blieb?« mutmaßte Graham. Sie hatten ihr Leben für ihn zum Opfer gebracht. Alles, was Graham dazu sagen konnte, hätte abgeschmackt geklungen. Aber er wußte, daß man von ihm keinerlei Bemerkung darüber verlangte oder er-
wartete. Getreu den Überlieferungen ihres Standes hatten zwei Männer des Geheimdienstes getan, was sie für ihre Pflicht hielten. Das war alles! Graham rieb sich den linken Arm und hob unter dem Hemdärmel den dünnen Verband. Es war bloß eine Fleischwunde. Wohl meinte: »Lassen Sie sich das eine Lehre sein. Man soll nicht mit dem Kopf durch die Wand rennen. Man holt sich nur Beulen dabei.« »Ich hoffe, ich habe uns die Rettung geholt«, erwiderte Graham rasch. Ohne Wohls verblüffte Miene zu beachten, wandte er sich an die vier Männer des Geheimdienstes. »Sie beide«, sagte er und wies auf zwei von ihnen, »Sie machen sich raschest nach Yonkers auf. Die direkte Straße wird nicht passierbar sein. Auf der Strekke gibt es wahrscheinlich einen bösen Strahlungsherd, der Sie zu einem Umweg zwingen wird. Aber Sie müssen hin, um jeden Preis!« »Wir schaffen es. Keine Sorge!« versicherte der eine. »Schön! Bestellen Sie Steve Koenig, er soll schleuniger als schleunigst 0,5 cm ausprobieren. Und sagen Sie ihm, der Tip ist heiß! Es wird besser sein, Sie trennen sich, und jeder geht möglichst seinen eigenen Weg. Das verdoppelt Ihre Chance, durchzukommen. Nicht vergessen – 0,5 cm! Damit weiß Koenig schon alles.« Dann wandte er sich an das andere Paar. »Die Marconi-Werke haben ihre unterirdische Fabrik am Queens-Ende unserer Katakombenstadt eingerichtet. Die Leute pfuschen dort auf eigene Faust herum, ohne Auftrag von Washington. Aber sie werden den
Wink, den ich ihnen gebe, gut gebrauchen können. Sausen Sie also hin und sagen Sie Deacon, wir haben Grund zur Annahme, daß 0,5 cm die kritische Wellenlänge ist.« »Jawohl, Mr. Graham«, antwortete einer der beiden. Nun sprach Graham zu allen vieren: »Richten Sie, bitte, noch folgendes aus! Sollten die einen oder anderen Erfolg haben, so müssen sie flink sein, wenn sie sich gegen unliebsame Betriebsstörungen sichern wollen. Mit der ersten Apparatur, die sie herstellen, sollen sie die eigene Fabrik schützen, mit den nächsten ihre Stromlieferanten. Erst nachher – und ja nicht früher! – dürfen sie Anforderungen der öffentlichen Hand berücksichtigen. Sagen Sie ihnen, es ist wesentliches Erfordernis, daß sie keiner bürokratischen Panikmacherei Gehör schenken, bevor sie die eigenen Fabrikanlagen und die Elektrizitätswerke abgeschirmt haben. Ist das klar?« »Gewiß, Mr. Graham.« Rasch, aber mit wachsamen Blicken verließen die vier das Zimmer. Grahams Züge strafften sich grimmig, als er zu Wohl bemerkte: »Wenn wir einen Weg finden, um wirksame Waffen herzustellen, lassen wir sie uns nicht gleich während der Erzeugung zerstören.« »Logisch!« pflichtete Wohl bei. Er zwinkerte fragend: »Mir scheint, Sie haben was herausgebracht, Bill.« »Ja. Hettys Denkmechanismus ist von ihren Auftraggebern darauf eingestellt worden, eine ganz bestimmte Einzelheit zu erforschen. Und diesem Umstand verdanke ich meine Entdeckung. Zweifellos beabsichtigten die Leuchtwesen, die Auskunft, sobald
die Arme sie mir herausgelockt hätte, aus ihrem Hirn zu saugen und unverzüglich Gegenmaßnahmen zu treffen. Hetty sollte den Standort jener Gelehrtengruppe ermitteln, die auf 0,5 cm oder in der Nähe dieser Wellenlänge arbeitet. Hätte sie es zuwege gebracht, so wären diese Männer ausgelöscht worden. Wahrscheinlich hätten die Vitonen gleichzeitig auch andere Gruppen liquidiert, nur, um uns irrezuführen. Wir hätten keinen Anhaltspunkt für die wirksame Wellenlänge gehabt, und die Biester wären die einzige Bedrohung losgeworden, die sie fürchten.« »Du lieber Gott!« Wohls Gesichtsausdruck spiegelte ein Gemisch von Freude und Bewunderung. »Und um das herauszukriegen, haben Sie sich in die Höhle des Löwen begeben? Ebensogut hätten Sie ja damit rechnen können, daß die Vitonen selber Ihnen das Geheimnis verraten!« »Das haben sie auch getan«, war Grahams bündige Antwort. »Sie haben uns die Auskunft durch einen ihrer Bevollmächtigten erteilt. Sehr liebenswürdig von ihnen! Der Teufel soll sie in der Luft zerreißen!« Er blickte auf die Uhr. »Von diesem Ergebnis müssen wir ausgehen und trachten, in den paar wertvollen Stunden, die uns noch bleiben, ans Ziel zu kommen. Nur mit der Polarisation wird sich's spießen! Wir haben es ja mit Ultra-Kurzwellen zu tun und nicht mit gewöhnlichem Licht.« »Ach was!« tröstete ihn Wohl. »Bis jetzt haben Sie alles geschaukelt!« »Ich? Sie meinen ›wir‹!« »Nein, nein, Sie!« beharrte Wohl. »Wunderbar haben Sie sich gehalten. Und mit der Zeit findet sich zu jeder Hacke ein Stiel.«
»Ja, nur müssen wir ihn verdammt rasch finden, sonst wird's zu...« Er hielt inne, rieb sich den pulsenden Arm und starrte seinen Gefährten an. »Da fällt mir ein, Photonen lassen sich elliptisch polarisieren, indem man sie bei schiefem Einfall an einer völlig glatten Silberplatte reflektiert.« »Na und? Für Silber wüßte ich mir eine bessere Verwendung!« »So könnte es gehen«, fuhr Graham unbeirrt fort. »Das Problem liegt zum Großteil in der Frage: Brechung oder Reflexion? Aber Silber könnte von Nutzen sein. Wenn ein so kurzwelliger Strahl von einer Silberoberfläche abprallt, besteht begründete Aussicht, daß es hyperelliptisch polarisiert wird – besonders wenn wir nach Bergstrom an die Platte ein hochfrequentes magnetisches Wechselfeld anlegen und dadurch die Oberfläche hart und fest machen, so daß die Absorption auf ein Minimum herabgesetzt wird.« »Also, da würde ich Gift drauf nehmen!« Wohl grinste verlegen. »Genau, wie Sie es gesagt haben, muß es gehen. Das sieht doch jeder Blinde, wenn er sich die Ohren verstopft.« »Mir scheint, das ist unter tausend möglichen der einzig günstige Fall«, murmelte Graham. »Jedenfalls ist es einen Versuch wert, wenn Laurie sich nicht etwas Besseres ausgedacht hat.« Plötzlich hatte er seine Schmerzen vergessen und war wieder ganz erfüllt von Tätigkeitsdrang. »Auf, Art! Wir gehen noch einmal zu Laurie.« In der großen Faraday-Halle werkten jetzt hundert erstklassige Facharbeiter im Schweiße ihres Angesichts. Sie waren aus verschiedenen umliegenden Fa-
briken für Rundfunkgeräte und wissenschaftliche Instrumente dienstverpflichtet worden, und jeder verstand sein Handwerk so gut, daß Lauries kleine Gelehrtengruppe sich ungehindert ihren Sonderaufgaben widmen konnte. Viele Stunden wertvoller, unausgesetzter Arbeit steckten in der auf engstem Raum zusammengedrängten, aber sehr verwickelten Apparatur, die strahlend und glitzernd mitten in der Halle auf dem mit allerhand Material besäten Boden stand. Als Herzstück der Anlage funkelte lange, schmale Senderöhren. Zylindrische Abschirmgitter erhoben sich aus dem Rahmenwerk einer Drehscheibe, die auf einem Dutzend gummibereifter Räder rollte. Von einem kleinen Schalttisch aus, vor dem ein Sitz angebracht war, konnte die ganze Anlage wie ein Drehkran elektrisch im Kreise bewegt werden. Der Strom wurde durch Kabel zugeführt, die von den Endkupplungen aus in Schlangenwindungen am Boden zu den Generatoren liefen. Graham verließ Laurie und besichtigte das offene Gelände vor der Halle. Hier ragte mitten auf einer Fläche, die für die endgültige Aufstellung der Anlage planiert worden war, ein Ring riesiger Kupfersäulen aus dem Boden, die jederzeit an das verwickelte Erdungssystem des Senders mit seinen Plattenkondensatoren angeschlossen werden konnten. Weit im Osten, irgendwo über Long Island, setzte sich ein Aufgebot blauer Punkte in Bewegung. In dieser Entfernung sahen sie winzig klein aus. Grahams Augen leuchteten auf, als er sie bemerkte. In einer schönen Klemme steckten sie jetzt, dachte er und vergaß, wie gewöhnlich, daß er selbst in viel ärgeren
Nöten war. Sie glichen Hunderten aufgeregter Imker, die Tausende von Bienenstöcken mit Millionen von Insekten nach einzelnen Tieren absuchten. Sie mochten hierhereilen und dorthin, auch noch an ein Dutzend anderer Orte. Aber sie konnten nicht überall zugleich sein. Das war ihr schwacher Punkt. Grahams Blick kehrte zu den Kupfersäulen zurück, und er fragte sich, ob selbst dieses starke Erdungssystem imstande sein würde, den fürchterlichen Stromstoß abzuleiten, den ein rachsüchtiger Feind in die Anlage jagen konnte. Er zweifelte daran. Auch eine zehnmal so wirksame Erdung würde nicht mit Höllengewalten fertig werden können, wie sie auf Silver City gefallen waren. Mehr durfte man sich nicht erwarten, als ein einziges Viton zu zerstören – und die übrigen wissen zu lassen, warum die Trümmer der Faraday-Werke weithin in die ganze Umgebung hinausgeschleudert worden waren. Aber dann erfuhr die Welt wenigstens, daß noch Hoffnung war, wenn man nur ein klein wenig länger standhielt. Ja! Die Vernichtung eines einzigen Vitons würde genügen! Hinter dem vorgesehenen Standort des Senders hatte man einen breiten Schacht ausgehoben, der sich wie ein riesiges Leitungsrohr in die Tiefe senkte. Seine Wände waren mit einer sechs Zoll dicken Schicht aufgespritzten, rasch trocknenden Betons ausgekleidet. In seiner Längsachse verlief eine Gleitstange. Ein einziger Mann sollte den Sender betätigen. Für den Fall eines Erfolges würde er sich aus der dann zu erwartenden Vernichtungsorgie zu retten versuchen, indem er an der Stange in den Schacht glitt – tief, tief in die Finsternis der Erde. Es war ein recht primitives
Mittel, aber der kürzeste Fluchtweg, den man sich unter den obwaltenden Umständen ausdenken konnte. Graham kehrte wieder in die Halle zurück und fragte Laurie: »Wie lange noch?« »Fünfzehn Minuten.« Laurie wischte sich die feuchte, sorgenvoll gerunzelte Stirn. »In einer Viertelstunde ist alles fertig. Für den Fall, daß der Versuch gelingt, haben wir schon die Bestandteile für zehn weitere Anlagen bereit.« Mit einer Handbewegung wies er auf die Schar fleißiger Werkleute. »Und vorausgesetzt, daß wir nicht hingeschlachtet werden, können wir die Sender in wenigen Stunden aufgebaut haben.« »Nein, das werden Sie nicht tun.« Grahams Widerspruch war eindeutig und gebieterisch. »Sie werden alles Reservematerial sofort in sichere Entfernung bringen. Man muß damit rechnen, daß dieses ganze Gelände hier die Himmelfahrt antritt, wenn die Vitonen Unrat wittern. Während dieser Vernichtungsorgie halten wir unser Rüstzeug besser anderswo als hier.« Er ging zu einem Mikrophon und sprach rasch hinein. Drei Minuten später fuhr am Tor eine Lastwagenkolonne vor. Jedes Fahrzeug lud seine Last auf und ratterte davon. Still, nachdenklich entfernten sich auch die Arbeiter in Gruppen. Nichts blieb zurück als mitten in der Halle der Projektor für die polarisierten Wellen. Vier Männer aus Lauries Gruppe stellten eilends da und dort einen Anschluß her oder machten andere letzte Handgriffe. Graham lehnte an der Drehscheibe und beobachtete die Männer mit einem kühlen Gleichmaß, das ihn
selbst überraschte, wenn er daran dachte, wie nahe der kritische Zeitpunkt herangerückt war. Nach Tagen höchster Nervenanspannung war er plötzlich innerlich so unbewegt wie ein steinerner Buddha. Er glich einem Mann, der endlich im Sessel des Zahnarztes sitzt, nachdem er eine Stunde kribbliger Ungeduld im Wartezimmer verbracht hat. Sein Blick blieb auf einem der vier Wissenschaftler haften, einem untersetzten Mann mit beginnender Scheitelglatze inmitten eines Haarkranzes. Der Mann, den Graham angeredet hatte, wandte ihm ein verschrumpftes Affengesicht zu und richtete aus blaßblauen Augen einen ausdruckslosen Blick auf ihn. Dann ließ er ein Stück dünnen Kabels fallen und griff nachlässig in die Tasche, als suchte er eine Drahtschere. Unverzüglich legte Graham auf ihn an. Der wohlgezielte Schuß streckte den Mann glatt nieder, und er fiel auf den Rücken. Während Laurie und die anderen mit bleichen Gesichtern dastanden, beugte Wohl sich über den Toten und zog aus seiner Rocktasche einen kleinen, eiförmigen Gegenstand hervor. »Eine Bombe! Mit diesem hübschen, kleinen Ding hätte er Hackfleisch aus uns gemacht.« »Halten wir uns nicht auf damit! Tragen Sie das Zeug weg, Art, und werfen Sie's in den Wasserbehälter draußen!« Dann wandte er sich zu Laurie: »Entfernen Sie diese Abzweigleitung und überprüfen Sie die Stromzuführung, Duncan! Schauen Sie, ob die Wattleistung stimmt. Wenn ja, wollen wir das Ganze ins Freie bringen und an die Kupfererdungen anschließen.« Nach einer Minute erklärte Laurie: »Die Anlage ist
betriebsfertig. Besser funktionieren wird sie niemals mehr, auch nicht, falls sie sich als Niete herausstellt – geschweige denn, wenn sie wirksam ist.« »Sehr gut!« Man brachte den Sender ins Freie und verband ihn mit den Kupfersäulen. Laurie und seine drei Männer gingen. Nur Wohl blieb bei seinem Freund. Graham saß hoch oben auf dem Sitz vor dem Schalttisch. Den Stromschalter hatte er ebenso in bequemer Reichweite wie die Handgriffe für Projektorantrieb, Rohrverstellung und Drehscheibe. Ihm zu Häupten spannte sich schwerlastend ein matter, wolkenverhangener Himmel. Während im Süden die Rauchund Trümmersäule eines Raketeneinschlages hochstieg, hatte Graham eine Auseinandersetzung mit Wohl. »Verziehen Sie sich, Art!« befahl er. »Dort drüben sind Vitonen.« Er zeigte auf eine Horde glühender Kugeln, die aus Nordost herankam. »Ich habe jetzt keine Zeit, herumzuhocken und mit Ihnen zu debattieren. Laufen Sie Duncan und den anderen nach! Ich gebe Ihnen eine halbe Minute Zeit.« »Aber...« begann Wohl zu widersprechen. »Verschwinden Sie!« brüllte Graham. Er sah zu, wie sein Freund davonschlenderte, wartete, bis er hinter der Halle außer Sicht war. Dann setzte er sich zurecht. Vor ihm ragte das zylindrische Rohr auf, als gehörte es zu einem Riesengeschütz. Die anfliegenden Leuchtwesen waren jetzt nur mehr eine Meile entfernt. Während er seinem Gefährten Zeit gab, sichere Entfernung zu gewinnen, suchte er mit seinen breit-
sichtigen Augen den Himmel ab. Der Ursprung der Vitonen würde nie bekannt werden, dachte er. Ihre Herkunft würde ebenso ein Geheimnis bleiben wie die der Pneumokokken, der Pudel oder irgendeiner anderen Form des Lebens. Aber er persönlich neigte sehr zu der Ansicht, daß sie echte Erdengeschöpfe waren. Und eine Ahnung sagte ihm, daß die Zeit anbrach, da sie von dieser gleichen Erde ausgetilgt werden würden – wenn nicht von der einen menschlichen Kampfgruppe, dann von irgendeiner anderen. Die Stunde der Entscheidung hatte geschlagen, der schicksalhafte Augenblick war gekommen. Er schwenkte das große Rohr herum, richtete es auf die vorrückenden Kugelwesen. Es bewegte sich leicht in seinen Kardangelenken. Mit einem Blick auf die Uhr stellte er fest, daß in neunzig Minuten Europas Galgenfrist endete. Er legte einen Schalter um und ließ den Strom in seine Anlage treten. Einige Sekunden dauerte es, bis die Röhren warm wurden. In der Ferne, an beherrschenden Punkten, zehn oder zwölf Stockwerke hoch, saßen Beobachter und blickten durch Feldstecher, die in ihren Händen zitterten. Der Halbzentimeterstrahl schoß in das Rohr, polarisiert, lenkbar. Er fuhr aus der Rohrmündung, seine wirbelnden Impulse umtanzten eine mit den Rahmenvisieren gleichlaufende Achse. Diese Zielvorrichtung aber war auf die Vitonen gerichtet. Die hier verwendete Wellenfrequenz lag außerhalb des Bjornsen-Sehbereiches, und der Strahl selbst war unsichtbar. Doch seine Wirkung wurde in verblüffender Weise augenfällig. Das Leuchtwesen, das an der Spitze einer Kette von zehn schwebenden Kugeln
heranschwirrte, hielt plötzlich mitten in der Luft inne, als stieße es an ein den Blicken verborgenes Hindernis. Seine Farbe wurde trüber, wandelte sich von leuchtendem Blau zu dunklem Purpur, schlug fast unvermittelt in ein außerordentlich hell strahlendes Orange um. Dann zerplatzte das Viton, ohne eine Spur zu hinterlassen. Es verschwand so gänzlich und völlig, daß die Armee versteckter Beobachter über diese Plötzlichkeit erschrak. Die übrigen neun Leuchtwesen hüpften unentschlossen auf und ab. Ein zweites durchschritt die Stufenleiter von Blau zu Purpur, Orange und Vernichtung, ehe die übrigen sich mit Windeseile zerstreuten und kerzengerade in die Wolken aufstiegen. Jemand brüllte wie ein wilder Stier, als Graham das Rohr steiler aufrichtete und ein drittes Viton in vollem Fluge traf. Ganz flüchtig sah Graham, wie in der Gegend des Broadway der Boden eine riesige weißlichgelbe Flamme ausspie. Ein Krach folgte. Dann kam der Explosionswind, der den einsamen Mann in seinem Sitz hin- und herschaukelte. Graham preßte die Lippen fest aufeinander. Damit hörte das seltsame Brüllen auf, und er merkte, daß es aus seinem eigenen Mund gedrungen war, daß er sich, ohne es zu wissen, heiser geschrien hatte. Ein sechster Sinn – oder seine außersinnliche Wahrnehmungsgabe – gebot ihm, die ganze Anlage herumzudrehen. Schwindelnd rasch wirbelte das Antriebsgehäuse vor ihm her, und er bekam eine Kette von Kugeln vor das Rohr, die ihn von Süden her angriffen. Wieder begann er zu brüllen, als das Spitzenviton
tief purpurn wurde. Die folgenden Leuchtwesen bremsten so plötzlich ab, daß er den Eindruck gewann, sie müßten Füße haben, die sie einstemmten, die aber doch – die Geschwindigkeit war zu groß – weiterrutschten, so daß sie geradewegs auf das getroffene Viton prallten, im gleichen Augenblick, als es in strahlendem Orange aufflammte. »Eines für Mayo!« schrie er und tanzte auf seinem Sitz. »Eines für Webb! Eines für Beach! Ihr dreckige, stinkende Bande gemeiner Schmarotzer! Und jetzt eines für Farmiloe! Und eure ganze verfluchte Sippschaft für Bjornsen!« Sein tolles Heulen verstummte, und er beobachtete, wie sich der Aufeinanderprall der Vitonen in der Luft auswirkte. Für die Zeit eines einzigen Pulsschlages blieb die wild kreisende Energiezusammenballung als eiförmiges Gebilde in dem wie erstaunt starrenden Himmel hängen. Dann zerplatzte sie mit fürchterlichem Knall. Grahams Trommelfelle schienen sich durch den Schädel hindurch berühren zu wollen. Der Luftdruck riß ihn fast von seinem Behelfssitz. Die ganze Anlage zerrte ächzend an ihren Verankerungen. Während die gewaltige Menge von Energie wild auseinanderstob, trafen sengende Strahlen Grahams Gesicht, daß ihm die Haut wie von bösem Sonnenbrand glühte. Er mußte die Augen schließen, um sie vor dem blendenden Licht zu schützen. Aber er konnte nicht stillhalten, wollte es nicht. Dies war das Ende der Spur, die er verfolgt hatte. Dies war eine einsame halbe Stunde, wie sie ihm noch nie beschieden worden war. Und vor allem – dies war die Vergeltung! Wieder heulte er wie ein Indianer, als
er geschickt das Projektorrohr um neunzig Grad hochschwenkte und zwei funkelnde Bedrohungen, die von oben her auf ihn niederflitzten, zu nichts zerstäubte. Nun war es ihm klar, wie die Vitonen jene Silver City-Tanks in die Luft gesprengt hatten. Ein Dutzend von ihnen, oder zwanzig oder vielleicht fünfzig, begingen damals Selbstmord, indem sie sich in die Behälter stürzten und gleichzeitig miteinander verschmolzen. Dadurch verloren sie ihr natürliches Kräftegleichgewicht und verwandelten sich insgesamt zu Supersprengkörpern. Alte Überlieferung hielt bei ihnen eine geheime Erkenntnis wach, die ihre menschlichen Leibeigenen erst kürzlich gewonnen hatten: daß nämlich Energieformen – mögen sie im Atomkern oder in Vitonen wohnen – sich in heftiger Explosion entladen, wenn eine kritische Masse überschritten wird. Jene Silvernitratmoleküle hatten die ärgste Erschütterung erfahren, die nur denkbar ist, einen Schlag in den Nacken, demgegenüber eine Atombombenentladung wie ein harmloses Streicheln anmutete. Und der große, schwarze Finger, der sich damals himmelwärts streckte und den Weg wies, den Silver Citys Menschenseelen gingen, war nichts als eine ungeheuerliche Säule außer Rand und Band geratener Atome gewesen, die in die Lüfte schossen und neue Verbindungen suchten. Wieder wirbelte Graham seine Drehscheibe herum und verabreichte einer herankommenden Sechsergruppe eine Gratisprobe der Höllenqualen. Er sah, wie sie ihre Energie in sichtbaren Frequenzen zerstrahlten und untergingen. Diese Vitonen konnten es
sich leisten, den gewöhnlichen Schwingungszuständen von Wellen unbekümmert Trotz zu bieten, weil die Natur sie gegen den Einfluß aller von der Sonne erzeugten Strahlen gewappnet hatte. Sie konnten ihnen nichts anhaben. Vielleicht waren sie ihnen sogar angenehm. Aber hyperelliptisch polarisierte Schwingungen! Die bohrten sich in ihre Eingeweide wie Korkzieher. Weit draußen am Nordhorizont sammelte sich nun ein gewaltiges Aufgebot von Leuchtwesen. Graham versuchte, sie mit seinem Strahl zu erreichen, konnte jedoch keine Wirkung beobachten und schloß daraus, daß sie sich außerhalb seiner Reichweite befanden. Von Menschen aufgerissene Vulkane spien im Osten neuerlich ihr Feuer aus. Es roch nach Ozon, verbranntem Gummi und frischem Beton. Ringsumher brüllten Stimmen, von der Entfernung gedämpft. Graham riß sich aus seinem Sinnen, als die fernen Kohorten am Himmel emporschwärmten. Sie riefen eine so starke, phantastische Lichterscheinung hervor, daß man sich deren völlige Unsichtbarkeit für gewöhnliche, nicht vorbehandelte Augen kaum vorstellen konnte. Es waren ihrer Tausende, buchstäblich eine ganze Armee leuchtend blauer Punkte, die den Nordhimmel weithin in beklemmende Glut tauchten – eine Heerschar der Lüfte, die nicht dem Himmel entstammte und der die Hölle schon lange den Zutritt verweigert hatte. Die Schnelligkeit, mit der sie anrückten, war schier unglaublich. Eben als Graham sich für die Dinge, die da kommen sollten, bereit machte, wandelte sich mitten in der feindlichen Zusammenrottung ein kleiner Fleck erst zu dunklem Purpur, dann zu Orange und ver-
puffte schließlich in nichts. Für einen Augenblick stand Graham vor einem Rätsel. Dann entsann er sich. »Yonkers!« »Der gute, alte Steve!« brüllte er. »Er hat es geschafft. Nur fest hineinpfeffern, Steve!« Jetzt ließ auch Graham den Strahl seines Projektors aufschießen und besprengte mit ihm die rasch größer werdenden Angreifer. Blau wurde schlagartig zu Purpur und Orange, erlosch dann völlig. Eine noch unversehrte Abteilung löste sich von der Hauptmacht und stieß im Sturzflug auf Yonkers nieder. Mitten im Fall änderten einige der Kugeln ihre Farbe. Die übrigen schossen, Rache heischend, auf Graham los. Er wußte, was jetzt geschehen würde, merkte es an der Art, wie sie sich während des Heranfliegens allmählich aneinanderdrängten. Bis zum letzten Augenblick machte er ihnen die Hölle heiß. Mit wütenden Flüchen auf den Lippen und mit Mordgier im Herzen räumte er gründlich unter ihnen auf. Dann, als sie zum selbstmörderischen Zusammenprall ansetzten, gewann er in vier verzweifelten Sprüngen den Schachteingang, umfaßte die Gleitstange und ließ sich von der Schwerkraft hinunterziehen. Als er mit atemberaubender Geschwindigkeit hinabsauste, waberte und wogte für einen Augenblick gespenstisches, glühendes Blau über der Schachtmündung. Der ganze Himmel war zu einer Kuppel schimmernden Azurs geworden. Dann flammte plötzlich ein unerträglich greller Lichtschein auf. Ohrenbetäubendes Tosen, als würde die ganze Welt in Fetzen gerissen, brandete gegen Grahams mißhandelte Trommelfelle. Die Stange schwang hin und her,
wie der Stab eines Zauberkünstlers. Hilflos wurde Graham von seinem Stand weggeschnellt und fiel in schwankende Tiefen. Der Schacht bebte von oben bis unten, seine Wände bröckelten ab. Erde, Steine, Betontrümmer rieselten als todbringender Hagel hinter dem fallenden Menschenkörper her. Schließlich löste sich ein Klumpen, der größer und dunkler war als die übrigen, stürzte schwerfällig durch die pechschwarze Finsternis und schlug in nachgiebiges Fleisch. Graham stieß einen Seufzer aus, der nicht mehr aus dieser Welt zu kommen schien. Sein Geist segelte davon – wie eine Barke aus trauerschwarzem Ebenholz, die sich in einer düsteren See wiegt. Dieses Gefühl, im Bett zu liegen, war wirklich angenehm, so wohlig, daß es sich verlohnte, die Täuschung festzuhalten. Zufrieden schob Graham den Kopf in bequemere Stellung. Da durchzuckte ihn ein scharfer Schmerz, und er öffnete die Augen. Ja, er lag tatsächlich im Bett! Er schlenkerte mit den Fingern, tastete umher. Kein Zweifel, ein Bett! Höchst erstaunt betrachtete er das weiße Laken. Dann bemerkte er auf der gegenüberliegenden Wand ein Bild. Man sah darauf einen von Hunden gestellten Hirsch. Graham streckte ihm die Zunge heraus. Neben ihm knarrte ein Stuhl. Vor Schmerz zuckte der Verwundete zusammen, als er den Kopf wandte und Wohls breitschultrige Gestalt bemerkte. »Guten Abend, Siebenschläfer!« begrüßte der Leutnant ihn mit öliger Höflichkeit. Er wies auf eine Uhr und einen Kalender. »Es ist Donnerstag, zweiundzwanzig Uhr. Drei Tage lang haben Sie jetzt taub
und stumm, dumm und krumm dagelegen. Mit anderen Worten, ganz wie Mutter Natur Sie erschaffen hat.« »So, so!« Graham fauchte etwas weniger feurig als sonst. Er starrte den Hirsch an. »Haben Sie dieses verdammte Vieh hergehängt? Wenn ja, so ist das ein schlechter Scherz.« Wohl blickte ihn an, unterzog sich der Schwerarbeit eines angestrengten Nachdenkens und rief dann: »Haha!« Mühsam hob Graham den Oberkörper ein wenig, stützte sich auf einen Ellbogen und beschloß, das heftige Pochen in seinem Schädel nicht zu spüren. »Geben Sie mir meine Klamotten, Sie schwachköpfiger Detektivlehrling, Sie! Ich haue ab!« »Nichts zu machen!« Mit seiner breiten Hand drückte Wohl ihn sacht nieder. »Jetzt bin ich an der Reihe, zu kommandieren. Und Sie müssen folgen!« Mit unverhohlenem Vergnügen machte er seinem Freund diese Eröffnung und fuhr fort: »Die Biester haben ein paar Quadratmeilen Land zerstört und eine Menge Beobachter kaltgemacht. Zwölf Stunden haben wir gebraucht, bis wir Ihren Heldenkeller gefunden und die Portion Hasenklein, die Sie gewesen sind, ausgegraben haben. Drum bleiben Sie jetzt brav liegen und lassen Sie sich von Onkel Wohl ein Wiegenlied vorsingen!« Im nächsten Augenblick kam sie herein und setzte sich neben ihn. Mit dem freundlichsten Ton, den sie für Krankenbesuche zur Verfügung hatte, fragte sie ihn: »Wie geht's? Was spüren Sie?« »Etwas sehr Angenehmes!« Er hatte eine Hand ausgestreckt und ihre Finger umfaßt.
Mit einem Ruck entzog sie ihm die Hand. »Hier ist nicht der richtige Ort für solche Sachen.« »Anderswo haben Sie mir nie Gelegenheit dazu gegeben«, erklärte er. Sie erwiderte nichts und starrte den Hirsch an, ohne ihn zu sehen. »Eine heillose Idee!« meinte er. »Wie bitte?« »Das dort!« Mit einer Kopfbewegung zeigte er nach dem Bild. »Da wollte, glaube ich, jemand eine boshafte Anspielung machen. Sie vielleicht?« »Ich?« Sie war höchst erstaunt. »Unsinn! Wenn es Sie stört, laß ich das Bild herunternehmen.« »Da wäre ich Ihnen dankbar dafür. Es erinnert mich zu sehr an mich selber. Und, genaugenommen, an alle Menschen!« »Tatsächlich? Wieso denn?« »Ein gehetzter Hirsch! Seit der Morgenröte der Geschichte sind wir immerfort gehetzt worden. Zuerst haben wir nichts davon geahnt. Dann aber erkannten wir es ganz klar. Es ist angenehm zu wissen, daß dieser Spuk verflogen ist. Vielleicht kommt nun eine schönere Zeit. In den bösen Tagen haben Sie geholfen. Drum sollten Sie jetzt auch beim Umschwung zum Besseren mittun.« »Ich bin mir nicht bewußt, irgendeine nennenswerte Unterstützung geboten zu haben«, erklärte sie mit kühler Höflichkeit. »Sie haben uns drei wertvolle Fingerzeige gegeben: wegen Beach, wegen der Kurzwellen-Apparate und wegen Farmiloe. Ohne Sie würden wir noch immer im dunkeln tappen.« Er setzte sich auf und blickte sie an. »Aber ich selber mag auch nicht länger Gespen-
stern nachjagen. Mir reicht es.« Sie gab keine Antwort, sondern wandte nur den Kopf ab und sah nachdenklich zur Zimmerdecke. Er verschlang mit seinen Augen die Formen ihres Gesichtes, die Rundung ihrer Wangen, den Bogen ihrer Wimpern. Und er wußte, daß sie seinen Blick spürte. »Dort oben, Harmony, kreisen die Sterne«, fuhr er fort. »Vielleicht gibt es auch auf ihnen Lebewesen, Geschöpfe aus Fleisch und Blut wie wir, freundliche Wesen, die uns – wenn der Fluch der Vitonenherrschaft nicht gewesen wäre – schon lange einen Besuch abgestattet hätten. Hans Luther war der Meinung, sie seien vor dem Betreten der irdischen Weideflächen gewarnt worden. Verboten, gebannt, verfemt – das ist die Erde gewesen.« Wieder ruhte sein Blick auf der Frau neben ihm. »Alles, was sich der Mühe gelohnt hätte, war verboten – denen, die gern zu uns gekommen wären, ebenso wie denen, die hier eingekerkert waren. Nichts war gestattet, als was unsere Herren und Meister ihren Zwecken dienlich fanden.« »Aber das alles ist nun vorbei«, murmelte sie. »Ja, vorbei! Wir können unsere Gefühle jetzt für uns selbst verströmen, brauchen nicht andere damit zu nähren. Endlich sind alle unsere edlen Leidenschaften unser eigen. Das Sprichwort sagt: ›Können zwei sich vertragen, hat der dritte nichts zu sagen.‹ Und schon gar nicht, wenn der dritte ein Viton ist. Ist Ihnen zu Bewußtsein gekommen, daß wir beide jetzt im wahrsten Sinne des Wortes ungestört und allein sind?« »Wir?« Sie wandte ihm ihr Gesicht zu und wölbte die Brauen.
»Vielleicht haben Sie vorhin recht gehabt. Hier ist nicht der richtige Ort«, bemerkte er. »Aber wenigstens die richtige Gelegenheit ist es!« Er zog sie an sich und drückte seine Lippen auf ihren Mund. Sie schob ihn weg, aber nur ganz sacht. Nach einer Weile besann sie sich und schlang den Arm um seinen Nacken.