RUDI PESCHEL
Gefahrvolle Route
MILITÄRVERLAG DER DEUTSCHEN DEMOKRATISCHEN REPUBLIK
Nach Tatsachen gestaltet Seitenr...
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RUDI PESCHEL
Gefahrvolle Route
MILITÄRVERLAG DER DEUTSCHEN DEMOKRATISCHEN REPUBLIK
Nach Tatsachen gestaltet Seitenriß: H.Thiele Karte: Archiv; Fotos: ADN (3), Archiv (1)
l .—70. Tausend © Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik (VEB) — Berlin 1975 Die Tatsachenreihe erscheint monatlich Cheflektorat Militärliteratur Lizenz-Nr. 5 LSV: 7002 Lektor: Joachim Warnatzsch Umschlag: Karl Fischer Vorauskorrektur: Johanna Pulpit Korrektori Eva Plake Hersteller: Ingeburg Zoschke Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin
EVP 0,50 Mark
Nächtliches Manöver „...und dann lief die dünne Blasenspur direkt auf unser Schiff zu. Jedes Kommando kam zu spät, das U-Boot mußte den Torpedo aus nächster Nähe abgeschossen haben." Maschinist Wadim Schentjapin unterbrach seine Schilderung, blickte einen Moment zu seinen Zuhörern auf, die in der engen Kajüte seinen Worten folgten, und starrte dann zu Boden. ,,Diese faschistischen Barbaren", fuhr er mit belegter Stimme fort. „Die riesigen Roten Kreuze an unserer Bordwand waren meilenweit zu sehen. Aber sie haben unser Schiff auf den Grund geschickt. Wir hatten so viele Verwundete an Bord, Frauen, Kinder. Die meisten ertranken, bevor Hilfe eintraf." Die Tragödie, von der Schentjapin erzählte, hatte sich vor zwei Wochen, im Herbst 1941, im Schwarzen Meer, etwa vierzig Meilen südöstlich von Sewastopol, abgespielt. Das Lazarettschiff, ein ehemaliges Motorschiff der Schwarzmeerlinien befand sich auf dem Weg nach Suchumi, als es torpediert wurde und innerhalb von zehn Minuten sank. Dies war, wie alle hier dichtgedrängt sitzenden Matrosen wußten, nicht der erste und einzige Fall dieser Art. Sie befanden sich an Bord des sowjetischen Eisbrechers „A.Mikojan", der am Vortag im Hafen von Istanbul festgemacht hatte. Niemand durfte das Schiff verlassen, die gesamte Mannschaft stand in
Alarmbereitschaft. Zwar hatte die Türkei am 25. Juni 1941 verkündet, sie wolle neutral bleiben; aber darauf gab niemand etwas. Schließlich existierte zwischen der Türkei und Hitlerdeutschland ein am 18. Juni 1941, also wenige Tage vor dem Überfall auf die UdSSR abgeschlossener Freundschaftsund Nichtangriffspakt. Das war eine der letzten Maßnahmen des faschistischen Deutschlands bei der diplomatischen Vorbereitung zum Krieg gegen die Sowjetunion gewesen, und sie sollte dazu dienen, seine strategischen Ziele vom Süden her abzusichern. Mehr als fünf Monate tobte schon der Krieg im Lande. Schlecht stand es an den Fronten. Die Truppen setzten den faschistischen Eindringlingen erbitterten Widerstand entgegen, aber sie mußten noch immer zurückweichen. Im September stand der Gegner an den Zugängen zur Krim, im Oktober begann seine Offensive, die Mitte November mit der Einnahme der gesamten Krim endete. Nur die Verteidiger Sewastopols hielten heldenmütig der vielfachen Übermacht stand, verbissen sich in jede Handbreit Boden. Solange Sewastopol sich hielt, mußten die Faschisten ihren Appetit auf den Kaukasus zügeln. Seit vier Tagen hatte der Eisbrecher nur noch über Funk Verbindung zur Heimat. So würde es auch in den kommenden schweren Wochen sein. Ein langer, gefahrvoller Weg stand dem Schiff und seiner Besatzung bevor. Kapitän Sergej Sergejew hatte Befehl, die Tschuktschen-Halbinsel im Fernen Osten anzulaufen. Dort, in der Prowidenija-Bucht, begann
der eigentliche Auftrag; An der Pazifikküste liegende sowjetische Kriegsschiffe sollten über den Nördlichen Seeweg in die Barentssee geleitet werden, wo die sowjetische Flotte in harte Kämpfe mit den Faschisten verwickelt war, die auch auf dem Landweg den lebenswichtigen Hafen Murmansk in ihren Würgegriff zu nehmen versuchten. Eine Odyssee also, deren einzelne Passagen lauteten: Schwarzes Meer, Dardanellen und Ägäis, Mittelmeer, Suezkanal, Rotes Meer, Indischer Ozean, Kap der Guten Hoffnung, Südatlantik, Magellanstraße, Stiller Ozean, dann entlang der Westküste des amerikanischen Kontinents bis hinauf zur Tschuktschen-Halbinsel. Unter normalen Verhältnissen, im Frieden, wäre den Männern eine solche Weltreise höchst willkommen gewesen. Jetzt aber, in diesem erbitterten Krieg, waren alle besorgt. Nicht, daß sie um das eigene Leben gebangt hätten, so sehr sie dieses Leben, den Seemannsberuf und das Meer auch liebten. Aber würden sie den weiten, gefahrvollen Weg über 20000 Seemeilen glücklich bewältigen? Sie wußten, was von der Erfüllung ihres Auftrags abhing. Die Besatzung bestand aus ausgesuchten Männern, Seeleuten mit großen Erfahrungen, von denen einige erst vor kurzem auf das Schiff kommandiert worden waren, unter ihnen auch Wadim Schentjapin, der mehrere Jahre zur Besatzung eines leichten Kreuzers in Wladiwostok gehört, später — nach dem Besuch der Marineschule — in Odessa auf einem Minensuch-
boot Dienst getan und an den ersten Kämpfen gegen die Faschisten teilgenommen hatte. Am Tage ihres Auslaufens aus Batumi fand an Bord eine Parteiversammlung statt. Der Kommandant sprach, erläuterte ihren Auftrag. An der Stirnseite hing eine Tafel, daneben eine schon etwas zerschlissene große Weltkarte, die sicherlich erst in den letzten Stunden von irgendwoher besorgt worden war. „Genossen", begann der Kapitän, „die Heimat hat uns eine ehrenvolle, aber schwierige Aufgabe übertragen. Ich kann nicht sagen, ob wir imstande sein werden, sie zu erfüllen, aber wir werden das Äußerste dafür tun. Die vom Staatlichen Verteidigungskomitee gestellte Aufgabe ist ein Frontauftrag besonderer Art. Wir werden lange Zeit auf uns allein gestellt sein, Wochen, Monate. Mit Kreide rechnete Kapitän Sergej an der Tafel vor: Der Nördliche Seeweg ist die kürzeste Verbindung zwischen dem Stillen und dem Atlantischen Ozean. Von Murmansk nach Wladiwostok gibt es eigentlich nur drei Wege. Der durch den Atlantik, das Mittelmeer, durch den Suezkanal und das Rote Meer und dann Richtung Ost ist 13200 Seemeilen lang. Der andere, auch über den Atlantik, aber in Richtung West, und durch den Panamakanal, mißt 14 100 Seemeilen. Der dritte — eben der nördliche Weg — hat nur eine Länge von 6135 Seemeilen, also nicht einmal die Hälfte der beiden anderen. Doch der kürzeste Weg muß nicht immer der günstigste sein. Für die im Fernen Osten liegenden Flottenkräfte ist
die Nordroute die bessere. Militärstrategisch gesehen, gibt es keine andere Wahl. Für die Nordmeerflotte muß ein Weg durch das Eismeer gebahnt werden, denn es ist der kürzeste und der sicherste Weg. Der Kapitän erinnerte an die historischen Fahrten der Eisbrecher „Sibirjak", „Tscheljuskin" und „Litke", die in den Jahren 1932 bis 1934 bewiesen hatten, daß der Nördliche Seeweg in einer einzigen Navigationsperiode zurückgelegt werden kann. Der Eisbrecher „J.W. Stalin" hatte 1939 auch die Hin- und Rückfahrt bewältigt und somit die letzten Zweifel beseitigt, daß der Nördliche Seeweg für alle Schiffsklassen befahrbar ist, allerdings nur für etwa 70 Tage im Jahr. Außerhalb dieser Zeitspanne war die Gefangenschaft im Polareis so gut wie sicher. „Bis zur nächsten Navigationsperiode", fuhr der Kapitän fort, „müssen wir rechtzeitig an Ort und Stelle sein, selbst wenn uns in der Zwischenzeit widrige Umstände eine Woche oder zwei Wochen aufhalten sollten!" Der schwierigste Abschnitt ihrer Odyssee stand ihnen ohne Zweifel unmittelbar am Anfang der langen Fahrt bevor. Im Schwarzen Meer, in der Ägäis und im Mittelmeer operierte die faschistische Kriegsmarine. Ausgerechnet in deren Bereich mußten sie ohne Bewaffnung fahren. So lauteten die Bedingungen der türkischen Behörden für das Passieren des Bosporus und der Dardanellen. Maßgebliche militärische und ökonomisch wichtige Kreise der Türkei trugen sich nämlich mit dem Gedanken eines Angriffs ihrerseits auf die UdSSR, wobei sie sich die Rohstoffgebiete
Transkaukasiens und Teile des Wolgagebiets einverleiben wollten. Nur der Umstand, daß sie in einem solchen Fall unweigerlich Hitlerdeutschland ins Gehege gekommen wären, das natürlich niemandem gestatten würde, sich ein Stück der vermeintlichen Beute anzueignen, hielt diese Kreise von ihren Plänen ab. Praktisch aber gestatteten die türkischen Behörden den deutschen Faschisten, was sie der sowjetischen Seite verwehrten. Es gab zum Beispiel Beweise für die Benutzung türkischer Flugplätze durch deutsche Aufklärungsflugzeuge. Ungeachtet dieser Lage unternahm die Sowjetunion alles, um einen Anschluß der Türkei an den faschistischen Block und einen Eintritt in den Krieg gegen die UdSSR zu verhindern. Sie versicherte im August 1941 nachdrücklich, daß sie die territoriale Unantastbarkeit der türkischen Republik achten werde. Wie dem auch war: Mit der Sperrung des Bosporus und der Dardanellen, dieser beiden strategisch wichtigen Meerengen zwischen dem Balkan und Kleinasien, beherrschte die Türkei den einzigen Schiffahrtsweg zwischen dem Schwarzen Meer und dem Mittelmeer. Und die Neutralität lief darauf hinaus, daß sowjetische Schiffe diesen Weg ohne Bewaffnung fahren mußten und daß sowjetischen Kriegsschiffen dieser Weg überhaupt versperrt blieb. Mit dieser Situation sah sich der Eisbrecher konfrontiert, als er in Batumi auslief. In Istanbul verhalf ihnen der Zufall zu einem günstigen Liegeplatz. Sie schoben sich zwischen zwei
große Frachter, die unter neutraler Flagge liefen. Ein dreißig Mann starkes türkisches Hafenkommando kam an Bord, durchstöberte jeden Winkel des Schiffes, ließ keinen Seesack, keine Koje undurchsucht und verließ das Schiff erst, als es sich davon überzeugt hatte, daß sich auf dem Eisbrecher keinerlei Waffen befanden. Ein Landgang kam für keinen in Frage. Das lag vor allem im Interesse der eigenen Sicherheit. Es stand auch niemandem der Sinn danach. Gewiß — Istanbul, eine der schönsten altertümlichen Städte der Welt, mit ihren zahllosen Moscheen, schlanken Minaretts und Palästen, dem berühmten Goldenen Horn, dieser 7 Kilometer langen Hafenbucht, die den europäischen Teil der Stadt vom asiatischen trennt, wäre zu anderen Zeiten willkommenes Ziel eines ausgedehnten Bummels gewesen, doch nicht jetzt. In der Stadt wimmelte es von faschistischen Agenten, und auch seit ihrem Einlaufen drückten sich einige merkwürdige Gestalten in der Nähe des Schiffes herum, zogen jedoch später unverrichteterdinge wieder ab. So schien es jedenfalls. Ihre Absichten aber hätten sie bestimmt nicht aufgegeben. Die Männer der Besatzung ließen sich nur selten an Bord sehen. Darum auch wußte außer der Bordwache und dem Kapitän so gut wie niemand von dem vornehm gekleideten Herrn in Zivil, der das Schiff betrat. Die Dämmerung lag schon über dem Hafen, als der Stellvertreter des britischen Marineattachés in Istanbul an Bord der „Mikojan" kam, um mit dem
Kapitän zu beraten. Er handelte auf höchste Weisung, die ihrerseits auf einem am 12. Juli 1941 geschlossenen sowjetisch-britischem Abkommen über gemeinsame Operationen gegen Hitlerdeutschland fußte. Es ging um Einzelheiten der nächsten Etappen der Eisbrecherfahrt. „Ihr Schiff muß sich allein bis zu unserem Stützpunkt durchschlagen", erklärte der Brite. Er zog bedauernd die Schultern hoch. ,,Sie wissen, wie sehr wir selbst im Mittelmeerraum beschäftigt sind. Unsere Offensive in Nordafrika gegen Rommels Panzer, deren Nachschub wir unter allen Umständen unterbinden müssen, dann der Verlust von Kreta..." „Ich danke Ihnen trotzdem, daß Sie gekommen sind", erwiderte Kapitän Sergejew. Er geleitete seinen Gast bis zum Reep, wo er ihn verabschiedete. Der Brite verharrte ein paar Augenblicke, bis unten eine Taschenlampe kurz aufblinkte. Sergejew ging nachdenklich zur Brücke. „In einer halben Stunde alle Offiziere zu mir", befahl er dem Adjutanten. In der Kapitänskajüte holte er aus dem Safe eine Rolle mit Seekarten, breitete sie vor sich aus, vertiefte sich nochmals in die Karten, obwohl er die Route schon lückenlos aus dem Gedächtnis skizzieren konnte. Bis zum britischen Stützpunkt Famagusta auf Zypern mußten sie also ohne Zwischenaufenthalt durchkommen, ohne Schutz und unbewaffnet. Der britische Attaché hatte ihm nahegelegt, so schnell als
möglich diesen Hafen hier zu verlassen, bevor sich erst der gesamte faschistische Spionageapparat dem Schiff zu widmen begann. So schnell als möglich — das hieß noch heute nacht! Der Eisbrecher war kontrolliert und abgefertigt, man konnte ihnen also nichts am Zeuge flicken, wenn sie sich plötzlich aufmachten. Bloß gut, daß er dem Offizier des Kontrollkommandos heute nachmittag auf die Frage, wann das Schiff seine Fahrt fortzusetzen gedenke, nur ausweichend geantwortet hatte: Es könne heute, morgen oder erst in ein paar Tagen geschehen. Sein Entschluß stand fest, und auch Kommissar Michail Nowikow, ein zwanzigjähriger Ukrainer, billigte die Entscheidung. Ein besonderer meteorologischer Umstand kam ihrer Entscheidung entgegen. Von Süden her war Schlechtwetter gemeldet. Die Störungen würden noch in der Nacht dieses Gebiet erreichen. Hielt das schlechte Wetter, was es versprach, mußte es mit dem Teufel zugehen, wenn sie sich nicht unbemerkt fortstehlen konnten. Bis auf die Bordwache hatte die gesamte Besatzung den Befehl, sich aufs Ohr zu legen. Jede Stunde Schlaf war kostbar, in den nächsten achtundvierzig Stunden würde an Ruhe kaum zu denken sein. Aber nur die wenigsten vermochten einzuschlafen. Es schien, als habe die Unruhe, die innere Spannung auf das Kommende, das ganze Schiff erfaßt. Im Maschinenraum machten sich die Maschinisten immer wieder zu schaffen, hielten den nötigen Dampfdruck, prüften die Ventile, fetteten die Lager.
Von ihnen und vom einwandfreien Funktionieren des Schiffsantriebs hing es hauptsächlich ab, ob der Durchbruch gelang. Die starken Maschinen brachten eine Leistung von 10000 PS. Eine echte Bewährungsprobe mußte der Eisbrecher bisher nicht bestehen, er war noch nicht einmal ein Jahr alt. Die Besatzung hatte ihn erst im Februar von der Werft in Nikolajew übernommen. Mit seinen 11 242 Tonnen gehörte er schon zu den gewichtigen Brocken. Vom Bug bis zum Heck maß er 106,6 Meter, und wie alle Eisbrecher besaß er einen bulligen stumpfen Bug, zwei Schrauben achtern, eine vorn. Der rings um den Schiffsleib führende, mit besonders dicken Metallplatten beschichtete sogenannte Eisgürtel machte ihn etwas schwerfällig. Das entsprach zwar ganz seinem eigentlichen Bestimmungszweck, nur für die bevorstehende Fahrt brachte dies einige Nachteile; der große Wasserwiderstand behinderte eine schnelle Manövrierfähigkeit. Als Linieneisbrecher, wie sie während der ersten sowjetischen Fünfjahrpläne unter anderem als ,,Nordmeerweg"-Typ in Serie gebaut wurden, bestand sein Vorteil in der wuchtigen Schiffsmasse und in der mächtigen Maschinenkraft. Gegen Mitternacht setzte ein leichter Sprühregen ein, der sich allmählich verdichtete. Die Konturen der im Hafen liegenden Schiffe verschwammen, die Perlenschnüre der Lichter schimmerten schwach und trübe, von den Aufbauten tropfte es unablässig auf die glitschig gewordenen Deckplanken.
Vom Eisbrecher drang kaum ein Lichtschein nach außen. Auch der Blaue Peter, das sonst übliche Signal für das bevorstehende Auslaufen eines Schiffes, war nicht gesetzt. Auf den Gängen brannten lediglich die Notbeleuchtungen, so daß selbst beim Öffnen eines Schotts nur ein. matter Lichtschein wahrzunehmen war. Sie wußten, wie verräterisch ein einziger Lichtschein sein konnte. Der Matrose Sinjukow hatte in der abendlichen Runde, als sie über das Kriegsgeschehen sprachen, eine Episode erzählt, die er von einem Kronstädter Matrosen gehört hatte. Es ging dabei um ein sowjetisches U-Boot, das unter kompliziertesten Bedingungen in der Ostsee operierte. Eines Nachts, als es bei schlechter Sicht ein gegnerisches Wachboot in vermeintlich sicherem Abstand verfolgte, blieb den Männern auf dem Turm vor Schreck fast das Herz stehen; ein heller Lichtschein blendete sie. Höchstens hundert Meter vor ihnen tat sich in der Finsternis ein Schott auf, helles Licht erleuchtete für Augenblicke das Heck des Wachschiffes, jemand trat heraus, schüttete irgend etwas über die Reling, ging zurück und schloß das Schott wieder. Jedes Alarmtauchen wäre zu spät gewesen. Aus irgendeinem Grunde hatte das Wachschiff seine Geschwindigkeit verringert, und so wäre das U-Boot beinahe aufgelaufen. Die zweite Stunde nach Mitternacht brach an. Das Schiff stand nun voll unter Dampf. Die übrige Mannschaft wurde geweckt. Alles verlief leise. Jeder bezog seinen Posten, die Ausgucks wurden verstärkt, halblaute Kommandos ertönten.
Bootsmann Timofej Moros begab sich zur Back. Er blickte auf seine Uhr. Die Leuchtzeiger standen auf ein Uhr vierzig. Aus dem Dunkel trat eine Gestalt zu den Matrosen, es war Kommissar Nowikow. „Genossen, es ist soweit, der Kapitän hat Leinen los befohlen." Durch das Schiff lief ein leichtes Zittern, das in dumpfes, rhythmisches Stampfen überging. Die Maschinen begannen zu arbeiten. Matrosen holten die Trossen ein. Am Heck begann das Wasser zu schäumen. Zunächst kaum merklich, schob sich der massige Schiffsleib des Eisbrechers rückwärts in das offene Wasser, entfernte sich von seinen Nachbarn, deren Umrisse sich in dem Regenvorhang allmählich verloren. Die nächsten zwanzig Minuten waren nervenaufreibend. Ohne fremde Hilfe und nachts in einem fremden Hafen bei miserabelster Sicht zu manövrieren, das verlangte alles von ihnen. Im Grunde war der Leuchtturm von Feneraki, dessen Geisterfinger über den Horizont wischte, der einzig halbwegs gut auszumachende Orientierungspunkt. Wenn sie den erst einmal hinter sich hatten! Im Marmarameer brauchten sie noch nichts zu befürchten. Von seiner Lage her beinahe ein türkisches Binnenmeer, würden die Faschisten es kaum wagen, hier in Aktion zu treten. Das hatten sie auch gar nicht nötig. Es genügte, sich am südlichen Ausgang der Dardanellen, dieses 70 Kilometer langen, schlauchartigen und stellenweise nur 1200
Meter breiten Wasserweges zwischen Marmarameer und Ägäis, zu postieren. Eine weitere Möglichkeit, den Schiffsverkehr zu kontrollieren, hatten sie an der Begrenzung der Ägäis zum Mittelmeer. Vom griechischen Festland reichte der Gürtel der Stützpunkte über die Inseln Kreta und Kárpathos bis zur Insel Rhodos. Mit diesem weitgeschwungenen Riegel verfügte der Gegner über ein recht dichtmaschiges Überwachungsnetz, wobei er die Vorherrschaft auch gegenüber seinen italienischen Verbündeten herauskehrte. Das Mussoliniregime hatte in der den Monaten nach seinem .Einfall in Griechenland, Ende Oktober 1940. eine Niederlage nach der anderen einstecken müssen. Hitlerdeutschland nutzte später die Schwäche seines Achsenpartners und bemächtigte sich während des Balkanfeldzugs von Anfang April bis zum 2. Mai 1941 fast des gesamten griechischen Territoriums und riß auch die unter italienischer Herrschaft stehenden Inseln des Dodekánésos an sich, womit die am weitesten vorgeschobene und faktisch schon im östlichen Mittelmeer liegende Insel Rhodos zu ihrem Machtbereich gehörte. In einer verlustreichen Operation (4000 Tote und Vermißte auf faschistischer Seite) eroberten Luftlandetruppen vom 20.Mai bis 1.Juni die Insel Kreta.
Ein vorübergehendes Versteck War ihr heimliches Auslaufen schon entdeckt worden? Diese Frage beschäftigte jeden an Bord des Eisbrechers. Wie dem auch sein mochte — spätestens bei Tage würde man im Hafen Istanbul bemerken, daß der sowjetische Eisbrecher bei Nacht und Nebel das Weite gesucht hatte. Ihr einziger Vorteil bestand ausschließlich in ihrem Vorsprung und — vorläufig noch — in dem scheußlichen Wetter. Der Regen fiel schon seit Stunden unablässig, von ihnen aus hätte es bis zum östlichen Mittelmeer so weitergehen können. Doch erfahrungsgemäß hielten in diesen Breiten die Schlechtwetterfronten nicht allzulange an. Allerdings traten in dieser vorwinterlichen Jahreszeit häufiger Stürme und dichte Regengebiete auf, und jede ,,Waschküche" würde ein Verbündeter sein, der sie ungefährdet ein Stück dem Ziel näher brächte. Eine große Verantwortung lastete auf den beiden Navigationsoffizieren Nikolai Cholin und Nikolai Marijan, zwei ruhigen, nachdenklichen Menschen. Da das Schiff entsprechend der jeweiligen Situation häufig den Kurs zu wechseln hatte, mußten ständig die Abweichungen berechnet und der jeweilige Standort neu bestimmt werden. Am späten Nachmittag dieses Tages begann der Regenvorhang zeitweilig aufzureißen. Als sie dann die Dardanellen glücklich passiert hatten und die Ägäis vor ihnen lag, stahl sich an der westlichen Kimm der Widerschein der untergehenden Sonne durch ein paar Wolkenlöcher.
Die Zeit bis zum Einbruch der Dunkelheit erforderte besondere Wachsamkeit. Der Kapitän befahl, die Ausgucks zu verstärken. „Achtet mir auf jede Kleinigkeit", schärfte der Wachoffizier den Posten ein. „Jedes Objekt, auch das kleinste und harmloseste Fischerboot ist sofort zu melden. Bekommt der Gegner erst einmal mit, wer da vor seiner Nase vorbeiläuft, haben wir ihn bald auf dem Hals." Die Nacht verlief jedoch ohne Störungen. Nur einmal meldete der Signalgast 30 Grad Backbord einen schwachen Lichtschein, der offenbar von einem Küstenkutter kam. Obwohl sie selbst ohne jedes Positionslicht fuhren, machten sie vorsichtshalber einen weiten Bogen um das unbekannte Objekt. Kapitän Sergejew begab sich erst kurz vor Mitternacht in seine Kajüte. Bleierne Müdigkeit ließ ihn schnell einschlafen, aber der Schlaf war unruhig. Plötzlich rüttelte ihn jemand, er fuhr hoch, brauchte aber ein paar Augenblicke, um sich zurechtzufinden. Vor ihm stand der I. Wachoffizier. „Entschuldigung, Genosse Kapitän, ich hatte an die Tür geklopft, doch Sie meldeten sich nicht. Sie hatten befohlen..." „Schon gut", Sergejew winkte ab. „Was gibt's? Wie spät ist es?" „Fünf Uhr vierzig, Genosse Kapitän." ,,Danke. Und bitten Sie Leutnant Cholin auf die Brücke. Ich komme gleich." „Ist schon oben, er erwartet Sie bereits." Im Kartenraum fand der Kapitän den Navigations-
offizier über den Tisch gebeugt. Cholin meldete vorschriftsmäßig. Er hatte eine Seekarte des betreffenden Gebiets ausgebreitet. Mit dem Stechzirkel markierte er den derzeitigen Standort des Schiffes. Backbord von ihrem weiteren Kurs lag ein halbes Dutzend kleinerer Inseln. Reichlich 10 Meilen betrug die Entfernung bis zu ihnen. Allem Anschein nach waren sie unbewohnt und vegetationslos. Die Wassertiefe dazwischen betrug, sofern man den Angaben vertrauen durfte, minimal 20 Meter. Ein bißchen knapp, wenn man zwischen ihnen manövrieren mußte, aber... Fragend blickte der Navigator den Kapitän an. Dieser sah auf, vertiefte sich aufs neue in die Karte, rieb sich das Kinn. „Keine schlechte Idee, Leutnant", sagte er. „Wir versuchen's. Wir können uns nicht stundenlang bei Tageslicht hier herumtreiben." Es entsprach ihrer Taktik, am Tag, sofern ihnen nicht Schlechtwetter zu Hilfe kam, schützende Buchten kleiner, unbewohnter Inseln aufzusuchen und sich dort bis zum Einbruch der Dunkelheit zu verbergen. „Lassen Sie den Kurs entsprechend ändern!" befahl Sergejew. „Wir versuchen es am besten hier." Er wies auf eine halbmondförmige Insel, die höchstens drei oder vier Hektar groß zu sein schien. „Auf dieser Seite dürften wir einen idealen Liegeplatz haben, an dem uns so leicht keiner findet. Der Ankergrund ist möglicherweise nicht der beste, doch damit müssen wir zurechtkommen." Er vertiefte sich nochmals in die Seekarte, prüfte, ob
sich nicht vielleicht noch eine günstigere Möglichkeit bot. Doch der Navigationsoffizier hatte gewissenhaft gearbeitet. Im Umkreis von 20 Meilen fand sich beim besten Willen kein besseres Versteck, und ein größerer Radius kam angesichts des anbrechenden Tages sowieso nicht in Frage. Als der Kapitän den Ruderraum betrat, lag der neue Kurs bereits an. Er nahm das Nachtglas, doch noch ließen sich die Felsenriffe nicht ausmachen. Er befahl den Wachoffizier und den Bootsmann zu sich. ,,Sobald wir uns in der Nähe der Inseln befinden, gehen wir auf halbe Kraft. Und dann, wenn wir uns in die enge Bucht manövrieren, ständig Echolotmessungen! Die Angaben auf der Karte scheinen mir lückenhaft und nicht zuverlässig genug. Es fehlte gerade noch, daß wir hier irgendwo auf Grund geraten. Jede Messung ist einzutragen, denn auf dem demselben Weg müssen wir heute abend wieder hinaus!" Eine Viertelstunde später näherten sie sich der Inselgruppe. Dicht über dem Wasser lagen graue Nebelschwaden. Das war nicht nach ihrem Geschmack. Obendrein mußten sie. je näher sie kamen, feststellen, daß die felsigen Ufer nicht überall steil abfielen, sondern stellenweise terrassenförmig flach ins Meer hineinragten. Mit langsamster Fahrt schlichen sie in die Bucht. Unaufhörlich kamen die Echolotmeldungen. ,,Vierundsechzig Meter, einundsechzig, neunundvierzig. vierundfiinfzig, achtundvierzig, zweiund-
vierzig, achtunddreißig, dreißig, dreiunddreißig, siebenundzwanzig..." In solchen Augenblicken spürten alle auf der Brücke und im Maschinenraum die nervliche Anspannung, die von jedem ein Höchstmaß an Konzentration verlangte. Als sie den vorgesehenen Standort erreichten, zeigte das Echolot 23 Meter an. Das war jedenfalls mehr als die ,,Handbreit Wasser unterm Kiel", die jedem Schiff bei seinem Stapellauf gewünscht wird. Donnernd rasselte der Anker in die Tiefe, erreichte den Grund. „Auf Abdrift achten!" befahl der Kapitän. Auf glattem, felsigem Grund würde der Anker schlecht greifen. Mit großer Wahrscheinlichkeit traten hier starke Strömungen auf, die das Schiff unmerklich auf gefahrliche Untiefen zutreiben konnten. Die Männer, die nachts Dienst getan hatten, krochen müde in ihre Kojen, nicht ohne vorher an Deck noch eine ordentliche Prise frische Luft in die Lungen zu pumpen. Malerkommandos bewaffneten sich mit Pinsel und Farbtopf und begannen die Aufbauten mit einem Tarnanstrich zu versehen. Kommissar Nowikow trat an den Kapitän heran. Er hatte seit Beginn des Ankermanövers aufmerksam die Struktur des felsigen Eilands vor ihnen gemustert. An seinem höchsten Punkt mochte es 80 bis 100 Meter hoch sein. Die Insel sah unwirtlich und wenig einladend aus. Irgendwelche Spuren menschlicher Anwesenheit waren nicht zu entdecken. „Was hallen Sie davon. Genosse Kapitän, wenn ich mir ein paar
Mann nehme und mit einem Boot hinüberrudere. Ich möchte mir die Insel etwas naher ansehen, und auf dem Kamm könnten wir einen kleinen Wachdienst einrichten, der nach See zu beobachtet." Sergejew überlegte kurz. „Einverstanden! Gar nicht so übel. diese Idee", erwiderte er bedächtig. „Aber nehmen Sie eine Leuchtpistole mit, für den Notfall. Bei Gefahr sofort alles zum Schiff zurück! ... Und lassen Sie sich vom Smutje etwas Verpflegung mitgeben und Thermosflaschen mit Tee." Sergejew hielt den Kommissar, der sich schon entfernen wollte, einen Moment zurück. „Wen wollen Sie eigentlich mitnehmen" „Obermaat Kobez und die Matrosen Moskaljuk, Sinjukow. Gussew. wenn Sie gestatten." Der Kapitän nickte zustimmend. „Spätestens sechzehn Uhr müssen Sie zurück sein!" Abend lichtete der Eisbrecher den Anker, entfernte sich in weitem Bogen von der Insel, die ihm den ganzen Tag über Schutz gewährt hatte, und ging wieder auf Kurs Südsüdost. Eine gefährliche Begegnung Navigationsoffizier Marljan, der Leutnant Cholin abgelöst hatte, legte die genauen Kursberechnungen für die nächtliche Fahrt vor. Die vielen in der Ägäis verstreut liegenden Inseln gestatteten keinen geraden Kurs, obendrein wollten sie sowieso nahe der türkischen Hoheitsgewässer fahren.
Den ursprünglichen Plan, noch in derselben Nacht oder am nächsten frühen Morgen das Gebiet der Insel Sámos zu erreichen, mußten sie jedoch aufgeben; denn dieses Gebiet gehörte zu den gefährlichsten Abschnitten dieser Etappe. Die Insel war von den Faschisten okkupiert worden, die sich buchstäblich in Tuchfühlung mit dem türkischen Festland befand. Die Durchfahrt zwischen Insel und Türkei betrug höchstens zwei Seemeilen. Bei klarer Sicht würden sie sofort vom Gegner bemerkt werden, der auf Sámos einen stark ausgebauten Marinestützpunkt unterhielt. Auch Fliegerkräfte befanden sich dort, die ständig über dem Seegebiet patrouillierten. Da man für die nächsten vierundzwanzig Stunden weiter mit ziemlich klarem Wetter rechnen mußte, wäre es leichtfertig gewesen, wegen eines ohnehin fragwürdigen Zeitgewinns das gesamte Unternehmen zu gefährden und sich bei schönster Sicht den faschistischen Aufklärern zu präsentieren. Der Kapitän entschied, sich der Insel Sámos nur so weit zu nähern, wie dies ohne Risiko vertretbar war. und dann abermals in einer schützenden Bucht abzuwarten, bis eine Schlechtwetterfront den unbemerkten Durchschlupf ermöglichen würde. Sie mochten eine gute halbe Stunde gefahren sein, als vom Signalgast die Meldung kam: „Steuerbord voraus unbekanntes Objekt im Wasser!" Bisher war ihnen niemand direkt in die Quere gekommen. Jeder Begegnung vermochten sie bis jetzt rechtzeitig auszuweichen. Was konnte das sein?
Sollten sie es gar mit einem Unterseeboot zu tun bekommen? Der Kapitän befahl: „Hart Backbord!" Trotz der starken Nachtgläser ließ sich im letzten Schimmer des Tages nur ein schemenhafter schwärzet Gegenstand ausmachen, der sich in der langen, trägen Dünung wiegte sich einmal mehr, einmal weniger aus dem Wasser hob oder einige Augenblicke ganz untertauchte. Die Entfernung verringerte sich. — Ein U-Boot war das nicht! Dieser steuerlos dahintreibende Gegenstand war eine Treibmine! Vom Ankerschuh losgerissen, schwamm sie lautlos, und wer weiß wie lange schon, an der überfläche, ziellos und doch unheildrohend jedem Schiff, das ihr begegnete. Aller Augen starrten auf den dunklen runden Körper, der in einiger Entfernung am Eisbrecher vorbeitrieb und achtern im Kielwasser aus ihrer Sicht entschwand. Verteufelt! Da fehlte nicht viel! Sie atmeten auf, sich erst jetzt bewußt werdend, wie nahe sie dem Verhängnis gewesen waren. Wer weiß, wo sich dieses gehörnte schwarze Biest losgerissen hatte. Hoffentlich prallte es auf irgendein Riff, ohne Schaden anzurichten. Noch lange sprachen sie in der hereinbrechenden Nacht von diesen Satansdingern. Der Bootsmann erzählte, wie faschistische Fliegerkräfte schon am ersten Kriegstag Minen an Fallschirmen vor die Hafeneinfahrt von Sewastopol geworfen hatten. Die Minenräumboote konnten von da an wahrhaftig nicht
über Mangel an Arbeit klagen. Immer neue raffinierte Systeme brachte der Gegner zum Einsatz. Magnetminen, die erst beim dritten oder gar sechzehnten Kontakt mit einem Schiff detonierten. Es gab auch solche, die nur auf eine bestimmte Eisenmasse reagierten und für die ,,dicken Pötte" bestimmt waren, leichte Fahrzeuge aber ungeschoren ließen. Dann gab es Minen, die auf akustische oder optische Einflüsse ansprachen. Ja. auch solche raffinierten Teufelskugeln gab es. in denen all diese physikalischen Systeme miteinander koordiniert waren. Minen mit Fotozellen, die erst detonierten, wenn der Entschärfungsspezialist glaubte, schon alle gefährlichen Zähne gezogen zu haben, hatten schon vielen Seeoffizieren das Leben gekostet. Spätabends gingen der Kapitän und der Kommissar noch einmal durchs Schiff, hockten sich hier und da in den engen Kajüten zu den Männern. Seemännische Erfahrung besaßen sie alle, doch im Kampf hatten bisher nur wenige gestanden. Sie brannten darauf, es den Faschisten heimzuzahlen. Wenn sie doch wenigstens bewaffnet gewesen wären! Warum maßte sich die Türkei die Entscheidung darüber an. daß sowjetische Schiffe, sobald sie das Schwarze Meer verließen, ohne Schutz und Wehr den Faschisten gegenüberstanden? „Da hast du ihre ganze scheinheilige Neutralität", schimpfte Wadim Schentjapin, „aber bei den Deutschen drücken sie beide Augen zu."
Es war nicht einfach, der Besatzung die Lage klarzumachen. Alle hatten es jetzt schwer: die an der Front und die im Hinterland. Jeder wollte kämpfen, und mancher verstand nicht, daß seine Arbeit in der Heimat zur Zeit notwendiger und wichtiger war. Und schließlich: Wehrlos fühlten sie sich nicht: sie besaßen ihr starkgepanzertes Schiff und ihre Erfahrung. Klugheit und List, Mut und Kühnheit mußten die fehlenden Waffen ersetzen. Im nächsten Morgengrauen liefen sie wiederum eine kleine Bucht an. Dichter, niedriger, strauchartiger Bewuchs reichte
Stapellauf der „A. Mikojan" von der Helling der Schwarzmeerwerft Nikolajew
bis ans Ufer. So nahe als möglich schob sich der Eisbrecher an die Küste heran. Der Morgen war kalt. Auf der frischen und noch immer etwas klebrigen Farbe des Tarnanstrichs schimmerte feucht der Tau. Bald versuchten ein paar Matrosen, Fische zu angeln, mußten aber manch spöttische Bemerkung hinnehmen, denn die Beute fiel mager aus. Doch der Kommissar ermunterte sie; es war gut, wenn sich die Männer beschäftigten, das lenkte sie von der Frage ab, die sich insgeheim jeder stellte: Was würden die nächsten Stunden und Tage bringen? Die meisten Besatzungsmitglieder aber zog es zur Bordbibliothek. Hier gab es Romane in großer Auswahl, die Werke von Gogol, Tolstoi, Puschkin, Gorki; reichlich waren die verschiedensten Fachbücher vorhanden, und natürlich gab es auch viele Bücher über die Polarforschung, von Scott, Amundsen und Byrd, über die Drift des Eismeerdampfers ,,Sedow", über die Rettung der Tscheljuskin-Leute und viele andere Beschreibungen über die Bezwinger der Arktis. Selbstverständlich gab es über diese Themen, die mit ihrer eigentlichen künftigen Aufgabe im Nordmeer zusammenhingen, viele Diskussionen. Man stritt über die Zweckmäßigkeit mancher Expeditionen, die Gemüter erhitzten sich beim Streit, wessen Heldentaten höher eingeschätzt werden müßten und warum, ob in diesem oder jenem Fall Wagemut und Forscherdrang in vergangenen Jahrzehnten die Triebfeder des Handelns gewesen sei oder nur übertriebener persönlicher Ehrgeiz.
Der junge Matrose Nikolai Schapirow aus dem Kiewer Gebiet, elternlos, der schon seit seinem dreizehnten Lebensjahr auf Schiffsplanken lebte, las sehr viel und intensiv. Er besaß ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl, wohl, weil er in jungen Jahren manchen Schubs hatte einstecken müssen. Jeder an Bord kannte inzwischen die Geschichte, die sich zutrug, als Schapirow. gerade erst neunzehn geworden, jenen ,,Knoten" zerriß, der ihn bisher daran hinderte, seine furchtsame Duldsamkeit zu überwinden. Selbst nicht gerade groß von Wuchs, hatte er, ,,gewissermaßen zum Ausgleich", wie er zu sagen pflegte. Judo gelernt. Eines Tages, es war in einem Vorortviertel von Odessa, sah er. wie zwei Halbwüchsige einen Jungen verdroschen, wegen einer Nichtigkeit, wie sich herausstellte. Sie prügelten auch noch auf ihn ein. als dieser schon am Boden lag und aus Mund und Nase blutete. ,,Nun, da konnte ich nicht anders, da gab es bei mir einen innerlichen Knacks. Den ersten habe ich aufs Kreuz gelegt, daß ihm alle Knochen krachten, und den anderen, der mich von hinten ansprang, habe ich fein säuberlich dazugepackt. Ja. so war das." Begegneten ihm von da an im Leben oder auch in Büchern Ungerechtigkeiten, nahm er leidenschaftlich Partei. So auch jetzt, als er in einem Buch von der Tragödie des Polarforschers John Franklin und seiner 123 Gefährten erfuhr. Franklin hatte Ende des vorigen Jahrhunderts den Seeweg aus dem Atlantik in den Pazifik, entlang der amerikanischen Nordküste, die
sogenannte Nordwestpassage entdeckt. Ihre Heldentat mußten die Männer mit dem Leben bezahlen. Nicht, weil die Naturgewalten stärker gewesen wären, sondern weil sie der gewissenlosen Profitsucht eines Geschäftemachers zum Opfer fielen. Hauptschuldiger an ihrer Tragödie war ein Kaufmann, der die Expedition mit ungenießbaren, faulen Konserven beliefert hatte. Schon wählend der ersten Überwinterung — erste Vergiftungserscheinungen waren aufgetreten — mußten die Konserven über Bord geworfen werden. Damit war das Schicksal der gesamten Expedition entschieden: Gnadenlos war sie dem Hungertod ausgeliefert. „Solch ein Schuft, dieser Kaufmann, war nicht besser als die Faschisten. Warum steht in diesem Buch nicht, was man mit dem Schurken gemacht hat?" Schapirow konnte sich lange nicht beruhigen. Am Abend dieses Tages blieb ihnen die Weiterfahrt verwehrt. Glutrot sank der Sonnenball ins Meer, versprühte von der Kimm her einen glitzernden Fächer auf der ruhigen See. Die meisten Besatzungsmitglieder hatten sich tagsüber während der Freiwache in windgeschützten Winkeln des Schiffes gesonnt und die geradezu unwirklich scheinende Ruhe genossen. ,,Geht es euch auch so", fragte einer. ,,Man bekommt ein schlechtes Gewissen, wenn man sich vorstellt, daß in der Heimat erbittert gekämpft wird. Und unsereins liegt hier faul herum und kann nicht einmal helfen." ,,Wart erst mal ab", beschwichtigte ihn ein älterer, sonst ziemlich wortkarger Matrose, „vielleicht bekommst du bald mehr zu tun,
als dir lieb ist. Noch haben wir das dicke Ende vor uns!" Nach dem Backen und Banken versammelte sich die gesamte Mannschaft im Gemeinschaftsraum. Der Kapitän sprach, nach ihm der Kommissar. Sie informierten über die Lage an der Front. Die Gesichter waren ernst. Dem Signalgast. dessen Wachsamkeit sie es dankten, daß die Begegnung mit der Mine nicht zum Verhängnis geworden war, wurde eine Belobigung ausgesprochen. Anschließend ging es um die nächste Etappe ihrer Schleichfahrt durch die Küstengewässer. Bis auf die Wachen erging an alle der strikte Befehl, wieder ,,auf Vorrat" zu schlafen. Morgen waren noch einmal alle Systeme an Bord zu prüfen. Die Havariekommandos hatten ihre Bereiche zu kontrollieren und die Aufgaben für den Ernstfall durchzuexerzieren. die Lenzpumpen und Bordventile mußten überprüft. die Schlauchleitungen für das Löschsystem kontrolliert, Sandsäcke vor empfindlichen Stellen aufgeschichtet werden. Bis zum Mittag mußten sämtliche Kontrollen beendet sein. Die Schiffsführung wußte aus der Wetterinformation, die der Funker mehrmals am Tag aus der Heimat empfing, daß im Laufe des nächsten Tages mit einer Wetterverschlechterung gerechnet werden konnte. Es handelte sich zwar nur um eine geringfügige Störung, doch mit etwas Glück mußte sie ausreichen, um die schmale Passage zwischen Sámos und dem türkischen Festland hinter sich zu bringen.
Ruhig und geheimnisvoll lag die Bucht in der Nacht. Schemenhaft, wie große, dunkle Wächter, standen die Berge, die sich hinter den breiten Uferstreifen erhoben. Am frühen Morgen färbte ein zartes Rosa den Himmel über den Bergen. Dünne Nebelschleier schwebten sacht über dem Wasser der spiegelblanken Bucht und zerfaserten allmählich. Am Vormittag zeigten sich die ersten Wölkchen, ein aufkommender leichter Wind trieb sie stets wieder auseinander. Mittags, als die Arbeiten an Bord ihrem Ende zugingen, zerriß das schrille Läuten der Alarmglocken die Betriebsamkeit. Kapitän Sergejew, mit Eintragungen in das Bordtagebuch beschäftigt, fuhr hoch und eilte, sich im Laufen die Jacke überstreifend, zur Brücke. Der Wachoffizier meldete und reichte ihm ein Fernglas. Während der Kapitän die Schärfe nachstellte, hörte er mit halbem Ohr die Erläuterungen des Leutnants. ,,Zuerst hielt sich die Rauchfahne lange hinter der Kimm, wanderte nur wenig nach Steuerbord, aber seit ein paar Minuten sind von dem Kahn die Masten zu sehen. Dürfte sich um ein kleineres Küstenschiff handeln. Wenn nicht alles täuscht und es seinen Kurs nicht ändert, hält es beinahe genau auf uns zu." ,,Hm", brummte Sergejew. Die Sache gefiel ihm gar nicht. Er wußte sich noch keinen rechten Reim darauf zu machen. Nach den Karten zu urteilen, befand sich 30 Meilen links und rechts von ihnen kein Hafen, von ein paar ärmlichen Fischeransiedlungen abgesehen.
Eisbrecher der ,,Nordmeerweg-Serie" im Seitenriß Was also mochte den anderen veranlaßt haben, hierher zu steuern? War es vielleicht auch einer, der — wie der Eisbrecher — die offene See besser mied und schützende Küstenregionen aufsuchte? Oder handelte es sich um ein Wachschiff? „Haben sich da draußen in den letzten Stunden Flugzeuge herumgetrieben, die uns entdeckt haben könnten und uns nun jemanden auf den Hals schicken", fragte Sergejew besorgt. Der Leutnant verneinte entschieden. „Das hätten wir sofort gemeldet." Jetzt konnte man durch das Glas ein paar Einzelheiten der Decksaufbauten erkennen. Lademasten ließen auf einen kleinen Frachter schließen. Aufatmend stellten sie etwas später fest, daß er jetzt mehr nach Steuerbord wanderte und ihnen die Breitseite zu zeigen begann. Gesehen konnte er sie. nicht haben, sie lagen so dicht unter Land, daß sie — nicht zuletzt
dank des Tarnanstrichs — allenfalls aus anderthalb oder zwei Meilen Entfernung bemerkt werden konnten, und auch dann nur. wenn jemand die Bucht Strich für Strich mit dem Glas absuchte. ,,Weiter beobachten!" befahl der Kapitän und ließ aus der Funkkabine die neuesten Wettermeldungen holen. Die nach wie vor gute Sicht ließ vermuten, daß sich die Störung Zeit ließ oder sich aufzulösen begann, bevor sie überhaupt dieses Gebiet erreichte. Das aber war gar nicht nach ihrem Geschmack. Am späten Nachmittag begann es sich einzutrüben. Eine leichte Brise kräuselte die Wasseroberfläche. Na endlich! ,,Klar Schiff zum Auslaufen!" Kommandos hallten über Deck, im Schiffsinnern schrillten Glocken. ,,Anker lichten!" — ,,Hart Backbord, langsame Kraft voraus!" Am Heck schäumte ein Wasserschwall auf, die beiden Schrauben drückten den massigen Leib des Eisbrechers zur Mitte der Bucht, das blasige Kielwasser beschrieb einen sanften Bogen, die Strudel zogen verebbend immer größere Kreise. Als sie das offene Wasser erreichten, sahen sie die breite, dunkle Wolkenfront, die sich am Horizont emporschob. Immerzu, in den nächsten vier Stunden könnte sie nicht dick genug sein, dachten sie bei sich. Windböen kamen auf. Vorboten des noch knapp 20 Meilen entfernt stehenden Schlechtwetters. Hin und wieder zeigten sich schon weiße Schaumkronen auf den Wellen.
Beide Navigationsoffiziere waren auf der Brücke. Sie stellten den genauen Standort fest und markierten den Kurs. Was nun kam. war in erster Linie Sache einer präzisen Navigation, das ging also sie. den Steuermann und den Rudergasten an. Ihr Kurs, dessen Linie auf der Karte einem ungleichmäßigen und an einigen Stellen zahnlosen Sägeblatt ähnelte, führte an Riffen und Untiefen vorbei. Er reduzierte die Gefahr einer Begegnung mit anderen Schiffen auf ein Minimum, erforderte jedoch höchste Präzision. Die ersten schweren Regentropfen klatschten auf das Deck, ein Windstoß warf krachend eine Luke zu. ,,Verdammt noch mal!" schimpfte jemand. Fünfzig Minuten noch, dann müßte — allerdings nur bei klarer Sicht — voraus die Insel Sámos in Sicht kommen. „Da ist einer vor uns!" Die Insel Sámos, etwa 470 Quadratkilometer groß, ist wegen ihres goldgelben, süßen Weines in aller Welt berühmt. Auf dem vorwiegend gebirgigen Eiland gedeihen Südfrüchte, Oliven, Tabak, und auch ein Asbestvorkommen gab es; doch allein der Wein verlieh der Insel seit jeher ihren Ruf. Leichte Überwasserkräfte und Seeflieger der Faschisten kontrollierten von hier aus den südlichen Teil des Ägäischen Meeres. Die Besatzung der „Mikojan" wußte darüber nichts Genaues, der Kapitän
mutmaßte nur eine koordinierte Überwachung des Seegebietes durch deutsche und italienische Flottenkräfte bis zu den größten Inseln des Dodekánesos Rhodos und Kárpathos. Der Funker saß in der kleinen Kabine, die Kopfhörer übergestülpt. Millimeter um Millimeter suchte er die Skale nach Funkverkehr ab. Sein geübtes Ohr wußte in diesem akustischen Gewirr schnell zu unterscheiden, wer da im Äther hing; aus der Stärke der Morsezeichen konnte man etwa auf die Entfernung oder die Feldstärke des Senders schließen. Jetzt eben — dieses rhythmische Stakkato, das mußte eine deutsche Station sein, deutlich zu unterscheiden die Vierergruppen und die Dreiergruppen „mit Griechen". Danach kam, bedeutend schwächer, die Bestätigung, dann nichts weiter. Es blieb auch in den folgenden 20 Minuten still. Dann folgte auf einer benachbarten Frequenz ein kurzer Dialog im Sprechverkehr, verzerrt und quarrend. Wieder Ruhe. Der Funker der „Mikojan" schloß daraus, daß sich beim Gegner nichts Aufregendes abspielte. Sicherlich hatte das Wetter die Leute in ihre Unterkünfte getrieben; sie schienen überzeugt zu sein, daß sich in diesem brodelnden Suppenkessel hier niemand herumtreibt. Die Männer des Ausgucks versuchten in der zunehmenden Dunkelheit den Regenvorhang zu durchdringen. Das Ölzeug triefte vor Nässe, Kälte zog unangenehm von den Füßen hoch. Auf der Brücke der Kapitän, Kommissar Nowikow, der Wachoffizier Tupoljow, der Steuermann und der Rudergänger. Von Tupoljow sagte man, er habe
TS 165. Peschel. Route
doppelt so scharfe Augen wie ein Durchschnitts-mensch. Das war sicherlich etwas übertrieben, doch etwas Wahres steckte schon dann. Was mancher nur mit dem Fernglas zu erkennen vermochte, sah Tupoljow schon mit bloßem Auge. Auch jetzt starrte er in die Finsternis, nahm kaum das Glas von den Augen, als hinge allein von ihm und seiner Wachsamkeit das weitere Schicksal des Schiffes ab. Plötzlich stutzte er, rieb sich die überanstrengten Augen, starrte erneut nach vorn. „Genosse Kapitän", rief er erregt, „da ist einer vor uns, etwa zwei Strich Backbord." Sergejew und der Kommissar suchten und holten sich durch die Optik der Gläser das Dunkel heran. Bald bemerkten auch sie das kaum auszumachende, leicht auf und ab geisternde Hecklicht eines Schiffes. „Maschinen halbe Kraft!" Der Maschinentelegraf schrillte. „Befehl, halbe Kraft!" kam die Bestätigung aus dem Maschinenraum. Was tun? Zum Überlegen blieb keine Zeit; sie befanden sich direkt vor der nur zwei Seemeilen breiten Durchfahrt. Handelte es sich da vorn um ein faschistisches Wachschiff, mußten sie sich schnell zurückfallen lassen. Fuhr vor ihrem Steven aber ein Türke oder ein anderer Neutraler, konnte es vorteilhaft sein, sich, etwas querab gestaffelt, an ihn zu hängen; gegnerische Horchposten könnte man vielleicht durch die Schraubengeräusche beider Fahrzeuge in die Irre führen. Das Glück ist dem Mutigen hold, dachte der Kapitän und kniff die Augen zusammen. „Ist er noch da?" Der Wachoffizier antwortete: „Fast nichts mehr zu
sehen; die Sicht scheint auch schlechter geworden zu sein." „Sollten ihm mehr ans Heck rücken. Oder was meinen Sie, Kommissar? Aufholen müssen wir." „Denke ich auch, Sergej. Jetzt heißt es nur noch: mitten durch!" Vergebens suchte der Kommissar in der Schwärze da draußen den winzigen Lichtschein. Er wandte sich an den Wachoffizier. „Deine Augen möchte ich haben." Seit zwei Jahren waren beide miteinander befreundet, hatten meist dieselben Planken getreten. Tupoljow antwortete nicht, sondern knurrte nur etwas. Plötzlich aber sagte er: „Ich habe ihn nicht mehr." Der Kapitän zog die Augenbrauen zusammen. Das gefiel ihm gar nicht. Sie holten wieder Fahrt auf, und dennoch kam der da vorn nicht mehr in Sicht. Es war kaum anzunehmen, daß das Schiff da vorn plötzlich seine Geschwindigkeit erhöht hatte. Weit eher schien es aus irgendeinem Anlaß vom Kurs ausgeschert und querab außer Sicht geraten zu sein. „Kurs beibehalten!" befahl er dem Wachoffizier. „Die Ausgucks verstärken und zur besonderen Wachsamkeit ermahnen!" „Zu Befehl, Genosse Kapitän!" Sergejew wandte sich an den Kommissar. „Wir gehen vorsichtshalber noch eine Viertelmeile näher an die türkische Küste heran." Für sich dachte er aber: Hoffentlich kommt uns keiner in die Quere. Bei dieser miserablen Sicht war an ein rechtzeitiges Ausweichen kaum noch zu denken.
„Noch immer nichts zu sehen?" fragte er nach einer Weile den Leutnant. Tupoljow schüttelte verneinend den Kopf. Nun gab es nur noch eins: So schnell als möglich durch! „Volle Kraft voraus!" Der Griff des Maschinentelegrafen flog herum, das Rumoren im Schiff begann sich zu verstärken, es war, als begänne der stählerne Leib zu vibrieren. Da betrat der Funker die Brücke. An seinen Schläfen und Backenknochen war die Haut von den Muscheln der Kopfhörer leicht gerötet, deren Bügel in den dunklen Haarschopf eine schwungvolle Welle gedrückt hatte. „Genosse Kapitän", sprudelte er hervor, „bei den Deutschen ist nichts los, Verzeihung..., ich meine...", nun hatte er sich völlig verhaspelt, wurde rot und verlegen wegen der unmilitärischen Meldung. Er begann von neuem: „Genosse Kapitän, beim Gegner kein Funkverkehr. Er war absolut ruhig in den letzten fünfzehn Minuten. Wir haben seine Station voll drin", fügte er noch schnell hinzu. Unsicher wanderten seine Augen zwischen Kommissar und Kapitän hin und her. Daß es so danebengehen mußte mit seiner Meldung; sicherlich.würde man ihn jetzt zurechtweisen, und das nicht grundlos, gestand er sich ein. Doch nichts dergleichen geschah. „Danke", sprach der Kapitän ruhig. „Sie können gehen. Aber sofort Meldung, wenn sich etwas Neues ergibt. Die nächsten Wetterinformationen ebenfalls sofort zu mir!" „Zu Befehl, Genosse Kapitän!"
Als die Tür hinter dem Funker zuschlug, wandte sich Sergejew dem Kommissar zu, der schmunzelte. Sieh einer an, unser Kapitän, dachte er. Als hätte Sergejew die Gedanken des Kommissars erraten, winkte er belustigt ab. „Ich weiß schon. Eigentlich hätte er ja einen Rüffel verdient, aber ich brachte es nicht fertig; dieser Bursche freute sich so darüber, daß er eine gute Nachricht bringen konnte. Und außerdem hat er seinen Fehler gemerkt und sich korrigiert." Nowikow pflichtete dem Genossen bei. Er wußte von Sergejews Strenge und dessen Unnachsichtigkeit gegenüber allen Mängeln. Manchmal hieß es, der Kapitän treibe es bis zur Pedanterie. Doch damit tat man ihm unrecht, soviel hatte er, Nowikow, inzwischen längst aus eigenem Erleben festgestellt. Der Kapitän hatte ihm vor Wochen einmal gesagt: ,,Wissen Sie, Kommissar, manche Leute meinen, ich verzeihe nicht den kleinsten Fehler. Die so etwas behaupten, leisten sich im Grunde selbst den schlechtesten Dienst. Sie erfassen nicht das Wesen der Sache. Die Wahrheit ist doch vielmehr, daß die See keinen Fehler verzeiht, oder zumindest in den wenigsten Fällen. Es gibt keine Nachlässigkeiten ersten, zweiten oder dritten Grades. Was ich heute bei jemandem durchgehen lasse, kann sich beim nächstenmal, sagen wir in einer entscheidenden Situation, verhängnisvoll für das ganze Schiff auswirken. So jedenfalls hat man es mir beigebracht, und so halte ich es seither, wobei ich hinzufügen
möchte, daß mir viele persönliche Erfahrungen, auch bittere, diese Lehre mehr als einmal bestätigten." Nowikow verstand, daß zwischen dieser zwingenden Logik und Prinzipienfestigkeit des Kapitäns und seiner Nachsicht gegenüber dem Funker kein Widerspruch bestand; nur ein oberflächlicher Beobachter würde zu solch einem Schluß gelangt sein. Sergejew wußte sehr genau zu unterscheiden zwischen Nachlässigkeit und freudiger Impulsivität. Und er gab stets — wie auch in diesem Falle — Gelegenheit, einen Patzer oder Fehler gutzumachen. Er besaß ein ausgeprägtes Gefühl für den einzelnen Menschen und dafür, wie er ihn anzupacken halte. Ein halblautes Kommando rief den Kommissar aus seinen Gedanken in die Wirklichkeit zurück. Die Navigatoren hatten eine leichte Kursänderung angewiesen, der Rudergast betätigte, wie spielend, das große Speichenrad. ,,Kurs liegt an", meldete er. ohne einen Blick vom Kreiselkompaß zu wenden. ,,Haben Sie die Abdrift festgestellt und berücksichtigt", wollte der Kapitän wissen. ,,Ist geschehen", meldeten Cholin und Marijan beinahe wie aus einem Munde. „Sie ist äußerst geringfügig", ergänzte Cholin. Der Regen schien nachzulassen, man sah es an den Rinnsalen an den Scheiben. Wenn der Regen nur anhielt, wenigstens so lange, bis sie die Passage hinter sich hatten! Einen besseren Verbündeten als diesen Regenvorhang konnten sie sich nicht wünschen. Aus der Kombüse kam ein Gehilfe des Kochs mit
einer Teekanne. ,,Eine gute Idee", lobte der Kommissar. ,,Sind die Außenwachen auch versorgt?" ,,Noch nicht, aber sie sind jetzt ebenfalls an der Reihe, werden ja in fünf Minuten abgelöst." Obwohl sie jetzt sehr nahe der türkischen Küste fuhren, ließ sich vom Festland nichts entdecken. Kein Lichtschimmer, nichts, und auch von der Insel Sámos gab es keinen verräterischen Lichtschein. Sie hätten froh sein können, doch eher das Gegenteil schien der Fall. Ein gutes Drittel der engen Meerstraße lag schon hinter ihnen. Niemand begegnete ihnen bisher, ausgenommen jenes unbekannte Fahrzeug. Es schien geradezu unheimlich, daß ausgerechnet dieser wohl schwierigste Abschnitt so reibungslos verlief. Sollten sie wirklich dieses riesengroße Glück haben, ungeschoren davonzukommen? Oder braute sich ringsum Gefahr für sie zusammen, ohne daß sie etwas davon ahnten? Es mußte ja nicht einmal der Gegner sein, der ihnen in die Quere kam. sondern ein Küstenschiff oder ein Fischkutter. Dem Eisbrecher würde eine Kollision vermutlich nicht allzuviel ausmachen, sein Bug war imstande meterdickes Eis zu zermalmen. Doch eine Havarie würde andere Menschen in Gefahr bringen, würde SOS-Rufe und Notraketen zur Folge haben und dann könnten sie sich nicht länger verbergen, dann würde man ihre Spur aufnehmen und sie spätestens am nächsten Vormittag finden und gnadenlos jagen. Der Gegner würde ihnen seine Schiffe und Flugzeuge auf den Hals schicken, Torpedos, Bomben, Geschoßgarben.
Als der kommende Tag sich als blaßgrauer Streifen ankündigte, als ein steifer Wind den Regenvorhang stellenweise aufriß, als zwischen den tief dahinziehenden Wolkenfetzen einmal sogar ein einzelner Stern blinkte, da wollten sie es noch gar nicht recht fassen, daß sie die gefährliche Passage glücklich hinter sich gelassen hatten. Dort, weit zurück in dem Dunkel des abziehenden Regengebietes, dort lag die Insel Sámos. Als Kommissar Nowikow gegen vier Uhr dreißig die Funkkabine betrat und den übernächtigten Funker fragte, ob bei den „Fritzen" was los sei, meinte der Funker ruhig: „Nichts, Genosse Kommissar, die Nacht war ruhig. Ich habe kein Auge zugetan; es hätte ja sein können, daß die da plötzlich rebellisch werden und daß das uns gelten könnte. Aber hören Sie selbst..." Er nahm den zweiten Kopfhörer und gab ihn Nowikow. „Absolute Funkstille auf der Frequenz der Faschisten." ,,Gut, bleiben Sie weiter dran!" Der Kommissar klopfte dem Funker auf die Schulter und begab sich in den Maschinenraum. Er fühlte sich hundemüde und hätte sich am liebsten aufs Ohr gelegt. Aber die Leute unten im Schiff hatten es besonders schwer; der Lärm der Maschinen, die schlechte Luft, die Hitze. Und was nicht minder unangenehm war: Sie wußten so gut wie nichts vom Geschehen auf Deck. Ihre einzige Verbindung zur „Außenwelt" lief über den Maschinentelegrafen; doch die Kommandos blieben ihnen letztlich ein Rätsel,
verrieten nicht den Anlaß, der sie auslöste. „Maschinen stop" — das konnte Gefahr bedeuten. Doch welche? Dieses Stop! konnte noch rechtzeitig erfolgt sein, vielleicht aber auch schon zu spät? War es der Gegner oder ein harmloses Schiff? War es eine Mine oder gar ein Torpedo, dessen Blasenbahn direkt auf das Schiff zuhielt? Oder griff ein Flugzeug an? — Dutzende Möglichkeiten gab es, Dutzende Gefahren, doch sie wußten von alledem nichts, konnten nur Mutmaßungen anstellen, obwohl ihnen dafür kaum Zeit blieb, denn ihr ganzes Augenmerk galt dem störungsfreien Lauf der Maschinen, von deren Tüchtigkeit und Kraft viel abhing. Ein harmloser Kutter? Im Morgengrauen suchten sie lange nach einem halbwegs günstigen Liegeplatz. Sie fanden ihn an der stark zerklüfteten Küste und wählten eine kleine Bucht, die hinter einer Landzunge lag. Die Bucht war so eng. daß sie darin kaum manövrieren konnten. Sie mußten sich rückwärts durch die Hinfahrt jonglieren, und nicht nur dem Steuermann standen, als der Anker endlich zum Grund rasselte, feine Schweißperlen auf Stirn und Oberlippe. Nun machten sich auch die Anstrengungen und die Nervenanspannung der zurückliegenden Nacht bemerkbar Todmüde fielen sie in ihre Kojen: kaum einer hatte Lust, noch etwas zu essen. Aus dem Maschinenraum klang trotzdem lautes Hämmern. Der
Kommissar, schon im Begriff, seine Kajüte aufzusuchen, um sich ein paar Stunden auszuruhen, lenkte den Schritt zur schmalen eisernen Treppe und kletterte hinunter. Im fahlen Licht der Glühlampen sahen die ölverschmierten Gesichter der Männer noch blasser, erschöpfter aus. ,,Nichts Ernsthaftes", erklärten sie. noch bevor Nowikow fragen konnte. ,,Hin Ventil streikt, das bringen wir schnell wieder in Ordnung. In höchstens einer Stunde ist der Schaden behoben." Der Kommissar blieb eine Weile bei ihnen, beobachtete sie bei ihrer Arbeit, bewunderte die flinken Handgriffe und das Geschick der Leute. ,,Nimm den Sechzehner. — So. gegenhalten. — Genug — Jetzt die Mutter, nein, nicht die. da links liegt sie. neben den Dichtungen. — Aufpassen, überdreh das Gewinde nicht!" fast wie bei einer Operation, dachte Nowikow bei sich, ein gut eingespieltes Kollektiv, das genau weiß, was dem ,,Patienten" fehlt. Der II. Wachoffizier übernahm von Leutnant Tupoljow den Dienst. „Nach der Seeseite zu beobachten, jede Bewegung melden, ganz egal ob Schiff oder Flugzeug. Wenn's dicker kommt, wecke mich! Außerdem nach der Landseite beobachten, zwei Mann dürften dafür genügen." ,,Geht schon in Ordnung. Ist die Funkbude besetzt?" ,,Ja, sie haben vorhin abgelöst. Der Funker meldet sich ebenfalls bei dir, sollte etwas Wichtiges sein." Auf dem Schiff kehrte schnell Ruhe ein. Auch im
Maschinenraum verstummte der Lärm, und aus so manchen Kajüten vernahm man das tiefe, gleichmäßige Schnarchen der Schläfer. Der Wind wehte unangenehm kalt, pfiff um die Aufbauten und heulte in der Takelage. Das Barometer war noch mehr gefallen. Schlechtwetter — nur her damit, davon konnten sie auch in den nächsten Tagen nicht genug kriegen! Am Himmel, weit entfernt, außerhalb der Dreimeilenzone, zog ein Flugzeug langsam seine Bahn. Sicherlich ein faschistischer Aufklärer. Aber der konnte sie hier in der Bucht nicht entdecken, sie lagen geschützt. Erst am Nachmittag begann sich das Leben zu regen. Die meisten holten die am Morgen versäumte Toilette nach, rasierten sich, besserten ihre Uniformen aus. Einige spielten Schach und hatten ein zahlreiches Publikum, zu dem sich vorübergehend auch der Kapitän gesellte. Sergejew war gut gelaunt, er lobte die Männer für ihren bisherigen vorbildlichen Einsatz, vor allem in der vorausgegangenen Nacht. „Aber werdet mir nicht übermütig!" mahnte er. „Ihr kennt doch das alte Sprichwort: ,Die Küken werden im Herbst gezählt.' Der Herbst ist zwar schon längst vorbei, jedenfalls dem Kalender nach, doch bei unserer Reise haben wir den Stichtag noch vor uns." Am Abend mußten sie früher als ihnen lieb war, auf Kurs gehen. Doch der Kapitän durfte kein Risiko eingehen, die enge Fahrrinne aus der Bucht stellte schon am hellichten Tag eine hohe navigatorische
Anforderung, um so mehr in der Dämmerung. So beschloß er auf Vorschlag des Steuermanns, Mischa Russakow, den Liegeplatz noch bei Tageslicht zu verlassen. Ausgerechnet um diese Zeit mußte am Abendhimmel wieder ein Flugzeug auftauchen, doch glücklicherweise drehte es ab, ohne sie bemerkt zu haben. Die See wurde zusehends unruhig. Vereinzelte Brecher rollten heran, prallten auf den bulligen Bug und zersprühten in Gischtkaskaden über das Vorschiff. Noch keine 20 Seemeilen mochte der Eisbrecher zurückgelegt haben, als vom Ausguck gemeldet wurde: „Kutter zehn Strich Backbord." Das Fahrzeug war kaum zu erkennen, es mußte aus irgendeiner größeren Bucht kommen, an deren Küste es Fischerdörfer gab, und kreuzte ihren Kurs. „Meldung an Funker: Kutter in der Nähe. Genau prüfen, ob Funkverkehr; wenn ja, sofort Meldung zur Brücke!" Das kleine Schiff ritt schwer auf der See. Was, zum Teufel, trieb diese Nußschale bei solch scheußlichem Wetter hinaus? Der Kutter machte langsame Fahrt, er mußte also, wie sich Kapitän Sergejew ausrechnete, lange vor ihnen den unmittelbaren Küstenbereich verlassen haben. Dennoch blieb die Frage, was er hier suchte. Eines war sicher: Machte er sich über Funk bemerkbar, handelte es sich nicht um einen harmlosen Fischkutter, sondern um ein Wachschiff der Türken oder gar um einen Spion der Faschisten. Der
Unterschied spielte in beiden Fällen kaum eine Rolle. So oder so hetzte der ihnen Verfolger auf den Hals! Hier half nur taktisch kluges und schnelles Handeln. „Positionslichter an!" befahl Sergejew. Und ohne erst die fragenden Blicke der anderen abzuwarten, fugte er erklärend hinzu: „Ganz egal, wen wir da vor uns haben; soll er glauben, wir hätten nichts zu verbergen. Sobald er außer Sichtweite ist, laufen wir wieder völlig abgedunkelt!" Ihre Besorgnis erwies sich als unbegründet. Der Kutter blieb stumm wie ein Fisch. Wahrscheinlich hatte er sie nicht einmal bemerkt, hatte mit sich selbst genug zu tun. Er kam bald achtern außer Sicht. Sie befanden sich nun schon geraume Zeit im Seegebiet der Sporaden. Diese der türkischen Südküste vorgelagerte Inselgruppe mit ihrem größten Eiland Rhodos bildete sozusagen den Anfang jenes Inselbogens, der über Kreta bis zur Halbinsel Peloponnes reichte. Die Entfernung zwischen den einzelnen Inseln betrug im Höchstfall 100 Kilometer Luftlinie. Das erleichterte es den Faschisten, die Nahtstelle zwischen Ägäischem und Mittelmeer zu überwachen. Welch enorme militärische Bedeutung sie diesem Riegel beimaßen, zeigte die mit hohen Verlusten erreichte Einnahme der Insel Kreta. Hier also, im östlichen Teil des Sperriegels, fiel die Entscheidung. Alle bisherigen Strapazen und Gefahren nahmen sich klein aus gegenüber dem, was sie nun erwartete. Kapitän Sergejew beriet sich noch einmal mit den
Offizieren. Es gab zwei Wege, um durchzubrechen. Der östliche führte durch die 8 Seemeilen breite Straße zwischen Rhodos und dem türkischen Festland. Der andere führte in Südsüdost zwischen Rhodos und Kárpathos hindurch. Die Entfernung zwischen beiden Inseln maß etwa 60 Kilometer Luftlinie. Die Möglichkeit, daß man sie von Land her entdeckte, war hier vermutlich geringer, allerdings befanden sie sich dann in offenen Gewässern, weit weg von schützenden Küstenregionen. Es wurde entschieden, die östliche Route zu nehmen, die durch die türkischen Küstengewässer führte. Wenn sie nur erst einmal die Hälfte des Weges zwischen Rhodos und Zypern hinter sich hätten! Danach operierten schon britische U-Boote sowie Marineflugzeuge der Seeüberwachung. So jedenfalls halte es ihnen der stellvertretende Marineattache in Istanbul bei seinem Besuch an Bord zu verstehen gegeben. Noch einmal überdachten sie alles, prüften jedes Für und Wider, rechneten nach, erwogen Ausweichvarianten. Jetzt ging es aufs Ganze! Sie waren fest entschlossen, auch diese gefährliche Etappe zu bezwingen. „Alles auf Gefechtsstation!" erscholl das Kommando. Die Maschinen arbeiteten mit voller Kraft, die Heizer sorgten dafür, daß die „Schornsteine sauber blieben", das heißt, daß mit äußerst geringer Rauchentwicklung gefahren wurde. Jetzt, in der Nacht, hatte dies zwar
keine Bedeutung, doch der Morgen war nicht mehr fern, und dann mußte die Rauchfahne ihres Schiffes so dünn wie nur möglich sein. Die zurückliegenden Tage hatten außerordentliche Konzentration und Wachsamkeit verlangt. Bis hierher war alles gut verlaufen, es grenzte beinahe an ein Wunder. Doch wie oft zeigte es sich im Leben, daß dann, wenn man schon nicht mehr damit rechnete, noch irgendeine Komplikation auftrat. Konnte es nicht sein, daß die Faschisten die Spur des Eisbrechers aufgenommen hatten und ihn hier, am südlichsten und letzten Kontrollbereich, bereits erwarteten? Vielleicht lauerte irgendwo ein gegnerisches U-Boot. Oder an einem Punkt des Himmels tauchte ein Aufklärer mit dem verhaßten Balkenkreuz an Rumpf und Tragflächen auf. Sie gaben sich keinen Illusionen hin: Solch unvorstellbares Glück wie bisher wurde ihnen kaum noch einmal zuteil werden. Sicher — es war kein zufälliges Glück gewesen. keines, das einem in den Schoß fällt: sie hauen sich dieses Glück durch kluge Taktik und navigatorisches Können erzwungen. Doch diesmal? Sie mußten durch, unbedingt! Und es brannte der unbeugsame Wille in ihren Herzen. Wir müssen durch, um jeden Preis! Wetterstörungen, die sich angekündigt halten, erwiesen sich dürftig. Kleinere Nebelfelder boten zwar zeitweilig ein wenig Schutz, aber sie behinderten ebenso ihre eigene Sicht. So bestand die Gefahr, daß urplötzlich ein Gegner vor ihnen auftauchte. In solch
einem Falle waren sie mit ihrem schwerfällig reagierenden Schiff von vornherein im Nachteil. Überdies würden sie ihn weitaus später bemerken. Die Boote waren kleiner und darum schwerer auszumachen. Gegenüber U-Booten mit einer Wasserverdrängung von knapp 700 Tonnen oder Schnellbooten, deren Wasserverdrängung zwischen 80 und 100 Tonnen lag und die nächstens 35 Meter lang waren, bot der Eisbrecher ein überaus gutes, weithin auszumachendes Ziel. Während Masten und Aufbauten über der Kimm für einen Gegner längst sichtbar waren, blieb er für sie noch völlig verborgen. Deshalb ließ Sergejew die provisorischen ,,Krähennester", die Ausgucks auf beiden Masten, ständig besetzen. Die Männer mußten alle halbe Stunde abgelöst werden. Trotz der dicken Pelzkleidung waren sie steifgefroren, wenn sie aus luftiger Hohe herunterkletterten. ,,Zu Gefrierfleisch wirst du da oben", ächzten sie und griffen dankbar nach den Bechern mit heißem Tee ,,Sei bloß nicht so knauserig'" ermahnten sie scherzhaft den Gehilfen des Kochs, der das heiße Getränk mit Hochprozentigem verstärkte.
Berühmte sowjetische Eisbrecher Am 11. Januar 1940 führte der Eisbrecher ,,J. W. Stalin" Eismeerdampfer „Georgi Sedow" aus dem Eis des Grönlandmeeres. Die ,,Sedow" hatte mit zwei weiteren Eisbrechern (die aber schon 1938 aus dem Eis befreit werden konnten) 1937 eine Drift begonnen. 812 Tage driftete die,,Sedow" im Eis der Arktis, wobei sie 3500 Kilometer zurücklegte Der Eisbrecher „J. W. Stalin" (11000t, 15kn)wurde, wie auch die ,,A. Mikojan", die ,,Molotow". die ,,L. Kaganowitsch", zwischen 1937 und 1940 gebaut Der Eisbrecher ..Krassin" (10630t. 19kn) lief 1917 vom Stapel. Dieses Fahrzeug rettete am 12. Juli 1928 die ,.Nobile"-Expedition (siehe auch „Tatsachen", Nr. 84). 1958 wurde die ,,Krassin" in der Wismarer Mathias-Thesen-Werft (unser Bild) völlig überholt.
Sie machten schnelle Fahrt. Der Nachmittag brach an. Die letzten Stunden hatten keine Überraschungen gebracht. Nun fieberten sie dem Abend entgegen, der die schützende Dunkelheit bringen würde. Morgen früh würde die Insel Rhodos und damit dieser neuralgische Punkt ihrer Fahrt hinter ihnen liegen; denn von der kleinen Insel Kastellorizo. dem östlichsten italienischen Stützpunkt. brauchten sie nichts mehr zu fürchten. Dann wurden sie in nördlichem Bogen Kurs Golf von Antalya fahren, an dessen östlichem Rand sie schließlich wieder auf Südkurs beidrehen wollten, um die nur noch 35 Meilen entfernten Küstengewässer Zyperns zu erreichen. Entdeckt! Signalgast Lebedew, ein vierundzwanzigjähriger dunkeläugiger Odessaer, sah auf seine Uhr, Vier Minuten noch, dann wurde er abgelöst. Er fror jämmerlich, die feuchte Kälte krallte sich förmlich in den Menschen fest. Mit klammen Fingern hielt er den starken Feldstecher. Hier oben schaukelte es mitunter beträchtlich, und es erforderte dann schon etwas Geschick, den Horizont gewissenhaft abzusuchen und keinen Sektor auszulassen. Mitunter narrten ihn die überanstrengten Augen, dann galt es, noch einmal ruhig und konzentriert zu beobachten, sich genau zu überzeugen, bevor man womöglich falschen Alarm auslöste.
Auch jetzt wieder stutzte er, rieb sich die Augen, setzte erneut das Glas an und stellte die Schärfe nach. Irrte er sich wirklich nicht? Drei dunkle Punkte am Horizont, sie blieben und verschwanden nicht? Ein Irrtum war ausgeschlossen, im Gegenteil, die Punkte markierten sich allmählich stärker und deutlicher. Unverkennbar, drei S-Boote, die offenbar mit hoher Geschwindigkeit auf den Eisbrecher zuhielten. „Drei Strich Steuerbord fremde Boote", schrie er aus Leibeskräften mit sich überschlagender Stimme. „Sie halten auf uns zu!" Von der Brücke konnten sie noch nichts sehen. Schon gellten die Alarmglocken durch das Schiff. — Gefechtsalarm! Für Sascha Lebedew war alles andere vergessen, die Kälte, die steifgefrorenen Finger. Er war jetzt das Auge des Schiffes; noch sah nur er jene rasch aufholenden Objekte, von denen er wußte, daß es nur der Gegner sein konnte. Aus den Unterweisungen wußte er, daß ihnen in diesem Seegebiet nur leichte Überwasserkräfte begegnen konnten, seltener UBoote. Die italienische Flotte hatte im westlichen Mittelmeer vollauf zu tun, vor allem mit schweren und mittleren Einheiten, um die bedrohlich starken Verluste des Seenachschubs für das Afrika-Korps unter Rommel möglichst niedrig halten zu helfen. Und was da wie ein Wirbelwind auf sie zuschoß, waren Schnellboote. Diese Objekte, auffallend flach gebaut, besaßen niedrige Aufbauten, und der mächtige Gischtbart vor dem Bug ließ auf überaus hohe
Geschwindigkeit schließen. Der Abstand verringerte sich zusehends. Schnellboote! Es gab keinen Zweifel! Nun sah man sie auch von der Brücke aus. Lebedew enterte katzenhaft von seinem hohen Ausguck. Dort oben war er nun nicht mehr wichtig, jetzt war sein Platz unten auf Deck. Die Boote näherten sich in gestaffelter Formation. Mit 40 Knoten preschten sie heran, holten Meter um Meter ein, sie fuhren mit der nahezu dreifachen Geschwindigkeit des schweren Eisbrechers. Erst als sie in weitem Bogen auf den Kurs der „Mikojan" einschwenkten und den Eisbrecher fast überholten, verminderten sie ihr Tempo und blieben auf gleicher Höhe. Die Entfernung bis zu ihnen betrug höchstens 150 Meter. Jede Einzelheit war zu erkennen, die geöffneten Klappen der zwei Torpedoausstoßrohre am Bug, das niedrige Steuerhaus mit dem Signalstand, der Niedergang im Heckteil, das große Rettungsfloß, die schweren Maschinengewehre und die ZwillingsSchnellfeuerkanonen. Drüben starrten sie durch Ferngläser herüber. Anscheinend rätselten sie herum, wen sie da vor sich hatten. Noch schienen sie nicht daraus schlau zu werden, mit welchem Schiffstyp sie es zu tun hatten. Wie sollten sie auch ausgerechnet hier einen Eisbrecher vermuten? ,,Da! Sie geben Signale!" Sie entzifferten: „Wessen Schiff? Wohin?" „Da könnt ihr lange warten", knurrte Kommissar Nowikow durch die Zähne. Vom Eisbrecher erfolgte
keine Antwort. Nur das Stampfen im Schiffsinnern nahm zu, sie erhöhten die Geschwindigkeit. Was würde nun geschehen? Drüben scherten zwei Boote aus, setzten sich etwas zurück. Auf dem Führungsboot hasteten Männer über Deck, die Kanonen und Maschinengewehre schwenkten ein. An den Mündungen blitzte es auf. „Deckung!" Die Leute auf der „Mikojan" warfen sich auf die Planken, aber noch im Fallen hörten sie die Einschläge der Geschosse. Glas splitterte, eine Maschinengewehrgarbe strich über die Bordwand; es klang, als ob jemand Erbsen auf ein Blech schüttete. Dann trat plötzlich wieder Ruhe ein. „Jemand verwundet?" Doch offenbar hatten alle den ersten Feuerüberfall unbeschadet überstanden. Vorsichtig erhob sich der erste, lugte durch ein zerschossenes Seitenfenster, bereit, sich blitzschnell zu ducken, falls drüben wieder das Feuer eröffnet würde. Das Führungsboot der Faschisten fuhr noch immer auf gleicher Höhe, die Mündungen der Waffen starrten drohend herüber. „Sie signalisieren wieder. Da, seht mal!" „Folgen Sie mir!" Dreimal wiederholte der Signalgast des Schnellbootes den Winkspruch, dann schoß das Boot nach vorn, schob sich am Eisbrecher vorbei und setzte sich etwa hundert Meter vor ihn, glich dann seine Geschwindigkeit der der „Mikojan" an und beschrieb einen sanften Bogen nach Südost. „Was haben sie vor? Wohin wollen sie mit uns?" Kommissar Nowikow sah zum Kapitän.
Sergejew blickte starr geradeaus, er überlegte angestrengt. Er mußte eine Entscheidung fällen, jetzt, sofort, er durfte nicht warten damit. Dann sprach er langsam: „Die wollen mit uns nach Rhodos, das ist genau der anliegende Kurs. Gut, das sollen sie haben. Denn vorläufig wollen wir so ziemlich in die gleiche Richtung. Sollen sie ruhig glauben, wir folgten ihren Weisungen. Solange sie sich in diesem Glauben wiegen, werden sie uns weitgehend in Ruhe lassen. Später werden wir weitersehen." Sergejew wandte sich zu den beiden Navigatoren. ,,Wie weit ist es von hier bis Rhodos?" „Knapp fünfundzwanzig Meilen." „Nun, dann haben wir noch etwa anderthalb Stunden Galgenfrist, laßt sie uns nutzen, Genossen! Vor allem werden wir unsere Geschwindigkeit drosseln und unsere Maschinen schonen. Bald werden wir von ihnen das Äußerste verlangen müssen." Sergejew sprach mit ruhiger Stimme, seine Besonnenheit strahlte auf die anderen aus. ,,Schiff zum Versenken vorbereiten!" befahl er dann. ,,Was auch kommen mag, unser Schiff bekommen sie nicht. Eher bohren wir es selber in den Grund." Aber noch stand der Kampf unentschieden, noch gewannen sie mit jeder zurückgelegten Meile ein Stück ihres Kurses, Im Kielwasser der ,,Mikojan" fuhren in größerem Abstand voneinander die beiden Rottenboote. Man ließ den Eisbrecher nicht aus den Augen, verfolgte jede Bewegung an Bord. Mehrmals holte eines der Boote auf, näherte sich
ihrem Schiff bis auf 30 Meter. Bald wurde ihnen der Zweck dieses Manövers klar. Die Faschisten versuchten die am Heck befindliche überpinselte Aufschrift zu entziffern, die über Namen und Heimathafen des Schiffes Aufschluß gab. - Offenbar gelang es ihnen schließlich auch, denn dieses Rottenboot schloß dicht auf, und ein Megaphon quarrte. „Russkij, sdawajtes!" forderte man den Eisbrecher auf, sich zu ergeben. Nun waren die Würfel endgültig gefallen! Der Gegner wußte, mit wem er es zu tun hatte, nun war ihm jedes Mittel recht, das Schiff und dessen Besatzung in seine Gewalt zu bekommen oder aber es zu vernichten. Die Erregung stieg auf den Höhepunkt. Ein ungleicher Kampf stand bevor, aber leichtes Spiel sollte der Gegner nicht haben! Das Führungsboot scherte aus, legte sich in Lauerstellung, während das zweite Rottenboot, das sich bisher Backbord gehalten hatte, auf die andere Seite überwechselte und in Kiellinie mit dem Vordermann fuhr. „Sie wollen sich nicht gegenseitig ins Schußfeld geraten", konstatierte Steuermann Mischa Russakow. „Paßt auf, gleich geht der Höllentanz los!" Sie sahen drüben auf den Schnellbooten die hastigen Bewegungen an den Geschützen und Maschinengewehren, das zweite S-Boot ließ sich etwas zurückfallen, während das erste 'in Höhe der Brücke des Eisbrechers blieb. Für einen Moment zuckte der Gedanke auf: Die wollen uns entern; das
eine schießt uns die Brücke in Klump, hält mit seinen Bordwaffen alles an Deck nieder, während die anderen... Doch diese Chance stand ungünstig für den Gegner. Die über dem Wasser aufragende Bordwand maß über 8 Meter, das Reep war eingezogen, nein, so leicht kam man nicht auf ihr Schiff. Hetzjagd im Kugelhagel Erneut gellte es hohl durch ein Megaphon: „Russkij, sdawajtes! Dawai! Dawai!" Die Faschisten begannen nervös zu werden. „Das könnte euch so passen, ihr Halunken!" quetschte Nikolai Schapirow durch die Zähne. Vorhin, als die ersten Salven verstummten, war er, jede Deckung ausnutzend, zum Heck geschlichen. Nun hockte er in einem Winkel, halb verdeckt von einem Haufen Tauwerk. Sein ganzes Augenmerk galt dem Wasserwerfer, der seit dem Gefechtsalarm unter Druck stand. Mit der Handhabung war er vertraut, alle Decksleute hatten das für den Ernstfall gelernt. Die Löschkanone war zwar zum Eindämmen von Bränden an Deck bestimmt, doch das spielte jetzt keine Rolle. Nur erst einmal an das Ding herankommen! Mit ein paar großen Sätzen konnte er den Werfer erreichen, doch man würde ihn zu früh bemerken; das zweite Boot hielt sich ziemlich nahe an ihrem Schiff. Gerade dies wollte Schapirow aber nutzen. Auf allen vieren kroch er los, machte sich so flach wie möglich, unverwandt das Schnellboot im Auge behaltend.
Gleich hatte er es geschafft, das Ventilrad und den großen Rohrbügel des Drehgelenks konnte er schon fast ergreifen. Mehrmals dachte er: Warum schießen die Faschisten nicht? Er konnte nicht wissen, daß der Gegner noch glaubte, der Eisbrecher füge sich seinem Befehl. Nun war Schapirow heran. Geschafft! Noch einmal holte er tief Luft, dann richtete er sich blitzschnell auf, wahrend die Rechte schon das Ventilrad herumwirbelte. Ein eiskalter Wasserstrahl schoß nach vorn, Schapirow korrigierte,er sah nur noch die dunklen Uniformen auf dem Schnellboot, sah, wie ein Maschinengewehr zu ihm herumschwenkte. Doch da prallte schon der harte Strahl auf den Drehkranz, der Schütze warf die Arme hoch, es wirbelte ihn beiseite, der Strahl streute krachend über die Aufbauten des Schnellbootes, zersplitterte die Ruderhausverglasung, fegte die anderen Geschützbedienungen beiseite. Schapirow spürte nichts, er sah nur den zollstarken Strahl, der in wilden Kaskaden auf dem Boot zerstob und ein heilloses Durcheinander verursachte. Er kam erst zur Besinnung, als er die Leuchtspurgarben bemerkte, die sich von dem anderen Rottenboot zu ihm herantasteten. Da rettete er sich mit einem Hechtsprung in Deckung. Die Faschisten waren nicht mehr zu halten. In rasender Wut eröffneten sie nun das Feuer aus allen Rohren, auch das Führungsboot jagte heran und nahm den Eisbrecher unter Beschuß. Die tollkühne Tat Schapirows hatte ihnen deutlich gemacht, daß sie
keine leichte Beute vor sich hatten, sondern eine Besatzung, die ihr Leben so teuer wie möglich verkaufte. Das plötzliche Ausbrechen vom Kurs verriet, daß der Eisbrecher zu fliehen versuchte. Er erhöhte seine Geschwindigkeit. Die Männer im Maschinenraum holten" das Letzte aus den Maschinen. Obermechaniker Trofimow hatte ihnen vorhin erklärt, wie es um sie stand. Sie vernahmen hier unten trotz des Lärms das dumpfe Tong-tong-tong der Einschläge. Wie mochte es oben aussehen? Die Geschützbedienungen auf den Schnellbooten hatten bald heraus, daß mit Bordwaffen dem stahlbewehrten Rumpf des Eisbrechers kaum beizukommen war, der nun schon seit zehn Minuten mit äußerster Kraft nach Süden fuhr. Sie konzentrierten ihr Feuer auf die Brücke. Das Ruderhaus sah wüst aus. Überall trat man auf Glassplitter, die Holztäfelung wies unzählige Einschüsse auf, von der Decke baumelte glimmende Isolierung in Fetzen herunter, es roch nach verbranntem Gummi und schmorenden Kabeln. Im Kartenhaus lag Steuermann Mischa Russakow, kalkweiß im Gesicht; ein Splitter hatte ihn am Oberarm getroffen, er blutete stark. Der Bordarzt bemühte sich um ihn. Zwei Matrosen schleppten den bewußtlosen Signalgast Jemeljan Polestschuk in die Offiziersmesse. Er hatte zwei Bruststeckschüsse, einen davon in die Lunge, erhalten. Eine Hiobsbotschaft jagte die andere. Der vordere
Schornstein glich einem Sieb. An vielen Stellen auf Deck kräuselte beizender Rauch, flackerten kleine Brände auf. Pausenlos kämpfte Bootsmann Moros mit einem Dutzend Matrosen gegen die Flammen. Jede Deckung nutzend, löschten sie im Geschoßhagel die gefährlichen Brände, tauchten überall auf, gönnten sich keinen Augenblick Ruhe. Ihre Augen waren gerötet, die Gesichter verschmiert, an den Händen hatten sie Brandblasen. Drüben zischten zwei Leuchtkugeln in den Himmel. Der Kapitän sah es, und die anderen auf der Brücke sahen es auch, und noch bevor einer etwas fragen konnte, kam von Sergejew schon die Antwort: „Jetzt werden sie uns mit Torpedos auf den Pelz rücken!" Und richtig — die Schnellboote scherten aus, entfernten sich vom Eisbrecher und brachten sich, die Geschwindigkeit erhöhend, in günstige Schußposition. Eins der Boote blieb etwas zurück, was hatte das zu bedeuten? Fieberhaft verfolgten die sowjetischen Matrosen das Manöver des Gegners. Da klatschten auch schon die ersten beiden Torpedos ins Wasser. Zwei Blasenbahnen näherten sich dem Eisbrecher. Die Entfernung betrug höchstens 250 Meter. Blieb da überhaupt noch eine Chance, den verderbenbringenden Aalen auszuweichen, sie rechtzeitig auszumanövrieren? „Hart Backbord! Beide Maschinen stop!" Nur träge gehorchte das schwere Schiff dem Steuer. Wild schäumte es am Heck auf.
Sie starrten auf die unruhige See, ballten verzweifelt die Fäuste. Verdammt — wenn doch dieser Bug schneller herumkäme! Der eine Torpedo, das sahen sie schon jetzt, lief vorbei, doch der andere, hol's der Teufel, erwischte sie wahrscheinlich! Wie an einer Schnur gezogen, näherte sich die Blasenbahn sechzig Meter - vierzig - dreißig - zwanzig. Die Ohnmacht schnürte die Kehle zu. Nein, das ging nicht gut. Ein Matrose stürzte zur Reling, einen Moment schien es, als wolle er sich über Bord stürzen, dem tödlichen Geschoß entgegen, bevor dieses das Schiff traf. Sie sahen, wie der Mann plötzlich herumfuhr, einen wilden Schrei ausstieß, aufs Wasser wies und in wilden Sprüngen zurückrannte. Was sie nicht einmal mehr zu hoffen gewagt hatten, war eingetreten: Wenige Meter von der Bordwand entfernt, zog dieser zweite Torpedo vorbei. „Das war knapp, viel hätte nicht gefehlt...", sprach Leutnant Gussenko, der II. Wachoffizier, mit heiserer Stimme. Er wollte noch etwas sagen, aber da gellte ein Schrei: „Achtung! Torpedos aus vier Strich Backbord!" Kapitän Sergejew reagierte blitzschnell. Ohne erst hinzusehen, befahl er: „Beide Maschinen äußerste Kraft zurück!" Ihm wurde, als er den Alarmruf hörte, im Bruchteil von Sekunden klar, was geschehen war. Während sie den ersten Torpedos ausgewichen waren, böten sie nun durch das harte Backbordmanöver jenem
zurückgebliebenen Boot ihre volle Breitseite. Darauf schien der Gegner gewartet zu haben: eine große Zielscheibe, die kaum noch Fahrt machte, der Vorhalt war minimal. Sie hatten es mit einem erfahrenen Gegner zu tun. Die da drüben verstanden ihr mörderisches Handwerk. Ob es diesmal noch ein Entrinnen gab? Für einen Moment keimte Hoffnung auf. Von der zweiten Blasenbahn war nichts mehr zu sehen. Möglicherweise ein Grundläufer, das kam gelegentlich vor. Der andere Torpedo jedoch schnürte unbeirrt auf das Schiff zu. Der reißt uns das halbe Vorschiff weg! durchfuhr es den Kapitän. Er krallte sich an eine Verstrebung und starrte auf die unheimliche Blasenbahn. Jeden Augenblick mußte die Detonation kommen, die dem Eisbrecher den Todesstoß versetzte. — Ein Aufbäumen des stählernen Schiffsleibes, dazwischen Schreie der Verwundeten, und dann ein Gurgeln von eindringendem Wasser, das fürchterlichste Geräusch, das ein Seemann kennt. Das alles würde sich innerhalb weniger Minuten abspielen — das schnell wegsackende Wrack, der gräßliche Sog, eine mit Trümmerteilen bedeckte riesige Öllache, dazwischen vielleicht noch ein paar Männer, deren Tod sich verzögerte. Doch nichts von alledem geschah. Die Katastrophe verfehlte sie nur um Haaresbreite. Der Torpedo war, wie Wadim Schentjapin hastig berichtete, so nahe
vorbeigeglitten, daß er beinahe den Rumpf streifte. Dem jungen Matrosen stand noch das Entsetzen über die durchlebten Augenblicke im Gesicht geschrieben. Das also empfand man, bevor der Tod zupackte. Doch die Ereignisse gönnten ihnen keine Atempause. Die Faschisten griffen, wütend über ihren vierfachen Mißerfolg, erneut an. Aus allen Rohren feuernd, umkurvten sie das Schiff. In diesem Kugelhagel blieb wenigstens ein Trost: Die Faschisten besaßen offenbar keine Torpedos mehr. „Sie wollen uns kurz und klein schießen und dann versuchen, unser Schiff zu entern", rief Kommissar Nowikow. „Aber das werden wir ihnen gründlich versalzen!" Die Matrosen der Deckskommandos bewaffneten sich mit Äxten, Messern, Schaufeln und schweren Schraubenschlüsseln. Sollen die Faschisten nur kommen! Lebend kriegen sie uns nicht! „Äußerste Kraft voraus!" Offenbar von den Schnellbooten herbeigerufen, näherte sich ein Seeflugzeug; die Faschisten wollten den Eisbrecher unter keinen Umständen entkommen lassen. Der II. Wachoffizier erkannte den zweimotorigen Eindecker mit Schwimmern und einfachem Seitenwerk. Eine He 115, konstatierte er, ein Torpedoflugzeug. Die Maschine kurvte ein, donnerte im Tiefflug über das Schiff. Dann zog sie eine weite Schleife und wiederholte den Anflug. Vom führenden Schnellboot stiegen Leuchtkugeln hoch, die Boote entfernten sich, um das bevorstehende Drama aus sicherem Abstand verfolgen zu können.
Wieder donnerte die Maschine über ihr Schiff, mit den Schwimmern fast die Mastspitzen berührend. Nach einer weiten Kurve glitt die He 115 tiefer herunter, bis sie dicht über dem Wasser flog. Genau auf sie zu! Aber noch bevor sich der Torpedo vom Rumpf löste und, zwischen den Schwimmern hindurchfallend, aufklatschend ins Meer tauchte, hatte Kapitän Sergejew schon reagiert. „Hart Steuerbord!" Mit knapper Not entgingen sie so der aus geringer Entfernung abgeschossenen tödlichen Waffe. Doch was war das? Eine zweite Heinkel, deren Anflug sie gar nicht bemerkt hatten, rüstete zum Torpedoangriff, während der Pilot der ersten Maschine jetzt den Eisbrecher mit seiner 20Millimeter-Bordkanone angriff. Der Eisbrecher war ein gefundenes Fressen für die gegnerischen Flieger, ein fetter Brocken, von dem ihnen kein Abwehrfeuer entgegenschlug — eine ideale Zielscheibe. Die zweite Maschine unternahm einen weiten Anfing. Offenbar hatte der Pilot es nicht eilig, oder er wollte absolut auf Nummer sicher gehen. Die Maschine gewann an Höhe, legte sich in eine leichte Kurve. Auf einmal löste sich ein dunkler Gegenstand von ihr, der Fall währte nur Sekunden, dann blähte sich eine weiße Kuppel, und am Fallschirm sank der dunkle Gegenstand schnell nieder, tauchte, etwa 500 Meter vom Eisbrecher entfernt, aufspritzend ins Wasser. Ein Teufelsding! Eine solche verwünschte Überraschung hatten die Faschisten auch noch parat! Der
Kapitän kannte diese Art selbststeuernder Torpedos. Nach dem Eintauchen ins Wasser geht diese Waffe nach einer bestimmten Geradeausstrecke in eine immer enger werdende spiralförmige Bahn über, gleichsam das Ziel selbst suchend. Es war, das wußten alle an Bord der ,,Mikojan'', im bisherigen Verlauf des Seekrieges nicht sehr häufig gelungen, solchen Torpedos auszuweichen. Der dunkle Schatten der anderen Heinkel huschte heran, eine Serie von Einschlägen prasselte in die Aufbauten. Flammen zuckten auf. Jemand schrie schmerzerfüllt. Vorn im Ruderhaus sank der Rudergast Lukjanzew, von Splittern getroffen, lautlos in sich zusammen. Beizender Qualm legte sich auf die Lungen, machte das Atmen zur Qual. Der Kapitän und der Kommissar hockten auf der Außenbrücke. Von dort gaben sie ihre Befehle. Der rechte Mantelärmel des Kapitäns hing in Fetzen, Blut sickerte. Er achtete nicht darauf; zum Verbinden war später Zeit, wenn es überhaupt noch dazu kam. Jetzt gab es nur eins, nämlich alles Menschenmögliche zu versuchen, um diesen letzten und so gefährlichen Torpedo auszumanövrieren! Aufgeben kam nicht in Frage. Noch immer glomm ein Funke Hoffnung. Schon längst besaßen sie kein Gefühl mehr für Zeit und Raum. Allen sah man die Spuren der Erschöpfung an. Seit anderthalb Stunden jagte man sie, verfolgte sie mit Torpedos, deckte sie mit einem Geschoßhagel ein, gönnte ihnen keine Atempause. Glücklicherweise hielt sich die Zahl der Verwundeten
noch niedrig. Noch — wie aber mochte es in einer Viertelstunde aussehen? Vielleicht lebte dann kein einziger mehr von ihnen. Später wußte niemand zu sagen, wie sie diesem sechsten und letzten Torpedo entkommen waren. Vermutlich hatten sie, mit äußerster Kraft fahrend, hinter dem Torpedo dessen Bahn geschnitten und damit den tödlichen Kreis durchbrochen. Keiner hatte es mit Sicherheit gesehen. Vielleicht funktionierte auch der zielsuchende Mechanismus des Torpedos nicht oder ungenau. In jenen Minuten blieb niemandem Zeit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Die beiden He 115 ließen nicht vom Schiff ab. Wie große Habichte stießen sie herunter. Die Luft war erfüllt von dem häßlichen Kleckern der Einschläge ihrer Bordwaffen, dem Zirpen der Querschläger. Krachend schlug ein Lüfter um. Die faschistischen Piloten gaben nicht auf, und beinahe schien es, als ob sie ihr Ziel erreichen würden. Ein Feuerstoß von oben traf die Barkasse. Sie war voller Treibstoffässer und stand sofort in Flammen. Jeden Augenblick konnte die Ladung explodieren und das Hinterschiff in ein einziges Flammenmeer verwandeln, das sich durch Luken, Schotts und Lüfter in den Maschinenraum ergießen und in Sekundenschnelle das Schicksal des Schiffes besiegeln würde. Fünf, sechs Matrosen stürzten los. Sengende Hitze ließ sie zurückprallen. Sie übergossen sich mit Wasser und stürmten triefend zu den Davits, an denen die
Barkasse hing. Die lodernde Glut machte jeden Schritt zur Qual, dörrte die Lungen aus, die Kleidung begann zu dampfen. Endlich gelang es, die Verriegelungen zu lösen und die Davits auszuschwenken. Nun schwebte die brennende Barkasse außenbords, doch die riesige Gefahr für das Schiff war damit kaum gemindert. „Taue kappen!" Sie hieben mit verzweifelten Schlägen auf die armdicken Taue, die durchtrennten Phasen schlängelten sich blitzschnell auf, ihre Enden begannen sofort zu glimmen. Diese erbarmungslose Glut! Einer brach zusammen, gleich darauf ein zweiter. Andere schleppten die hitzedampfenden Körper beiseite, stürmten mit Beilen in diese lodernde Hölle. Da explodierte das erste Faß. Die vordersten Männer wurden beiseite gefegt, sie wälzten sich mit brennenden Sachen, um die Flammen zu ersticken. Gleich darauf die zweite Explosion, sie zerriß die restlichen Taue, krachend schlug die Barkasse aufs Wasser, die ganze Treibstoffladung flog in die Luft, und schnell breitete sich ein brennender Teppich aus. Fetter dunkler Qualm kroch wabernd über die Wogen, türmte sich quellend auf. Nur mit Mühe vermochte sich der Eisbrecher aus dem Flammenmeer zu lösen. Die beiden Maschinen entfernten sich. Hielten sie, ohne sich noch einmal genau überzeugt zu haben, das Schiff schon für tödlich angeschlagen? Erst jetzt bemerkten die zu Tode erschöpften Männer auf dem Eisbrecher den aufkommenden Wind, der eine riesige Wand dunkler Wolken rasch vor sich her
schob. Ein Unwetter zog auf. Deshalb also entfernten sich die Flugzeuge. Noch immer mit äußerster Kraft fahrend, brachte der Eisbrecher den brennenden Teppich zwischen sich und die drei Schnellboote. Die Besatzung der „Mikojan" löschte die Brandherde, sorgte sich um die Verwundeten. Die Seemänner standen und starrten zu dem sich immer mehr entfernenden brodelnden glühenden Teich, bis er schließlich nur noch als heller, leuchtender Fleck zu erkennen war. Sie spürten die ersten schweren Tropfen, rochen den unverwechselbaren feuchten Atem des Nebels, der sich immer dichter um das Schiff schloß und es endgültig dem Zugriff seiner Verfolger entzog. Der 11 242 Tonnen große Eisbrecher „A. Mikojan" mit seiner tapferen Besatzung unter Kapitän Sergej Sergejew erreichte den britischen Stützpunkt Famagusta auf Zypern. Er setzte befehlsgemäß seine Fahrt, aber nun mit verschiedener Artilleriebewaffnung aufgerüstet, auf dem vorbestimmten Kurs fort und ging am Ende seiner Odyssee in der Prowidenija-Bucht an der Tschuktschen-Halbinsel vor Anker. Von dort geleitete er mit weiteren Eisbrechern sowjetische Kriegsschiffe über den Nördlichen Seeweg in die Barentssee. 1956 wurde der Eisbrecher „A. Mikojan" abgewrackt.