SUN KOH-Taschenbuch
SUN KOH-Taschenbuch erscheint vierwöchentlich
im Erich Pabel Verlag KG, Pabelhaus, 7550 Rastatt...
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SUN KOH-Taschenbuch
SUN KOH-Taschenbuch erscheint vierwöchentlich
im Erich Pabel Verlag KG, Pabelhaus, 7550 Rastatt
Neubearbeitet von Heinz Reck
Copyright © 1978 beim Autor und Erich Pabel Verlag, Rastatt
Agentur Transgalaxis
Alle Rechte vorbehalten
Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck
Vertrieb: Erich Pabel Verlag KG
Verkaufspreis inkl. gesetzl. MwSt.
Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehen
und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden;
der Wiederverkauf ist verboten.
Alleinvertrieb und Auslieferung in Österreich:
Waldbaur-Vertrieb, Franz-Josef-Straße 21, A-5020 Salzburg
Bestellungen einzelner Titel dieser Serie nicht möglich
NACHDRUCKDIENST:
Edith Wöhlbier, Burchardstraße 11, 2000 Hamburg 1,
Telefon (0 40) 33 9616 29, Telex 02161024
Printed in Germany
August 1978
Scan by Brrazo 03/2006
Botschafter Jeremias Beckett nickte seinem Neffen, der eben den Raum betrat, grimmig zu. »Bist du doch noch gekommen?« Seine Stimme hörte sich an wie ein heraufziehendes Gewitter. Jimmy Beckett lockerte seine Gelenke in einer Weise, daß es aussah, als würden sie im nächsten Moment davonfliegen, und er erwiderte beruhigend: »Deinem Ruf mit affenartiger Geschwindigkeit folgend, bin ich herbeigestürzt, teuerster Onkel. Wo brennt’s?« Der Botschafter hieb krachend die Faust auf den Tisch. »Nenne mich gefälligst nicht immer ›teuerster Onkel‹. So lange wir im Dienst sind, bin ich für dich dein Vorgesetzter.« Jimmy lächelte friedlich. »Ganz wie du willst, teuerster Vorgesetzter.« Beckett zuckte zusammen, ließ sich aber nicht aus dem Konzept bringen. »Dein Vorgesetzter«, schnaubte er. »Vor einer Stunde habe ich dich rufen lassen, um wichtige dienstliche Angelegenhei ten mit dir zu besprechen. Jetzt kommst du endlich. Eine volle Stunde hast du mich warten lassen. Ich werde dich …« Jimmy wehrte mit einer sanften Handbewegung ab. »Ereifere dich nicht, Onkel Vorgesetzter. Es ist so fatal, wenn man einen Rückzieher machen muß. Ich werde das nächstemal unverzüglich und teilweise rasiert unter deine ge strengen Augen treten.« Der Botschafter fuhr hoch. »Untersteh dich! Wie ich dich kenne, erscheinst du tatsäch lich das nächstemal in dem angekündigten Zustand. Ich ver biete dir das.« Jimmy schüttelte melancholisch den Kopf. »Dein Wunsch ist mir selbstverständlich Befehl, aber du 6
nimmst mir hoffentlich die Bemerkung nicht übel, daß Bot schafter manchmal etwas komische alte Herren sind.« Beckett sank ächzend zurück und murmelte schwach: »Ich zähle mich noch nicht zu den alten Herren. Aber du wirst mich noch verrückt machen, wenn du noch ein halbes Jahr hierbleibst.« Jimmy ließ seine Gelenke wieder einschnappen und zog ein besorgtes Gesicht. »Ich werde Tante Eliza darauf aufmerksam machen, damit sie rechtzeitig Vorkehrungen trifft.« »Bleib hier!« rief der Botschafter, als er sah, daß der grau same Neffe seinen Worten die Tat folgen lassen wollte. »Setz dich. Hier sind Zigaretten. Bediene dich!« Eine Weile schwiegen die beiden Herren, die eben zum so undsovielten Male ihre Kräfte gemessen hatten. Die Famili enähnlichkeit war unverkennbar, nur daß alles, was bei dem Botschafter fest, bestimmt und kernig war, bei seinem Neffen schlaksig und spielerisch erschien. Jimmy Beckett erinnerte gewöhnlich an ein junges Pferd, dessen Bewegungen noch etwas tolpatschig sind. Es gab allerdings auch Leute, die gele gentlich einen ganz anderen Eindruck von ihm gewonnen hatten. Das Gesicht des Botschafters war gedrungen, von der Tro pensonne braun gebrannt und von einem Kranz weißer Haare überlichtet. Das Gesicht seines Neffen konnte man eher als schmal bezeichnen. Gebräunt war es auch, und die Haare schienen gleichfalls etwas von den Feuerfunken der Sonne mit abbekommen zu haben. Die Augen der Männer waren gleich: wasserhell, kühl und scharf. Und auch die Falten in den Au genwinkeln, die bei dem Botschafter auf einen gewissen Hu mor hindeuteten, zeichneten sich schon beim Neffen leicht ab. Botschafter Beckett hatte sich nach einigen tiefen Atemzü 7
gen, wie so oft in den letzten Monaten, zu einer Änderung seiner Taktik entschlossen. Man mußte diesem Leichtfuß Zu geständnisse machen, da er nun mal der Sohn der einzigen Schwester war. Und außerdem – insgeheim gefiel ihm diese unbekümmerte Art, diese Kaltschnäuzigkeit, die ihn lebhaft an die eigene Jugend erinnerte. Und schließlich gehörte der Botschafter zu den Leuten, die wußten, was in dem jungen Mann wirklich steckte. »Also, hör zu«, begann Beckett in verändertem Ton, »ich habe zwei Kleinigkeiten für dich, die deinen Fähigkeiten ent sprechen werden.« Jimmy richtete sich jäh auf. »Meinen Fähigkeiten?« fragte er argwöhnisch. »Wie meinst du das? Das riecht mir zu sehr nach Arbeit.« Der Bot schafter drückte ihn in den Sessel zurück. »Sei friedlich, du wirst dich dabei nicht überanstrengen. Es geht jedenfalls das Gerücht um, daß du ein gewandter Gesell schafter bist und es dabei verstehst, die Leute ziemlich unver blümt auszuholen, ohne daß sie es dir übelnehmen, weil… Ich wollte sagen, also gerade deshalb brauche ich dich.« Sein Neffe ging einfach über das Ablenkungsmanöver hinweg. Beckett grinste. »Anscheinend machst du dabei ein so harmloses Gesicht, daß sie dir keine ernste Absicht zutrauen.« Wider Erwarten lachte Jimmy amüsiert auf. »Sprich dich ruhig aus. Du willst sagen, daß sie mich für dumm halten. Ausgezeichnet, aber weiter.« Beckett winkte ab. »Nur eine Kleinigkeit. Lady Campton kommt mit dem Mittagszug, um uns zu besuchen. Ich kann mich nicht gut freimachen …« 8
»Wahrscheinlich ist sie nicht hübsch genug!« »… nicht gut freimachen«, wiederholte Beckett, »und Tan te Eliza muß ihren Fuß noch schonen.« »Gestern ist sie doch schon ganz schön spazierengegan gen«, warf Jimmy unbekümmert ein. Sein Onkel blickte anklagend zum Himmel. »Du bist ein Scheusal, junger Freund. Also jedenfalls wirst du gebeten, Lady Campton auf dem Bahnhof in Empfang zu nehmen und zu uns zu bringen.« »Soll ich mich sofort in ihrer Gegenwart nach den Ab fahrtszeiten der Züge erkundigen?« Beckett lachte. »Lieber nicht, sie könnte das gehörig krummnehmen und dann drei Monate bleiben. Behandle sie wie ein rohes Ei.« Jimmy schüttelte den Kopf. »Du schickst mich in Wirklichkeit doch wohl, um sie mit aller Gewalt zu bewegen, daß sie umgehend das Lokal ver läßt.« Der Ältere richtete sich steif auf. »Deine Ausdrücke, Jimmy, sind einfach …« Der Neffe winkte ab. »Schon gut, ich werde selbst im Konversationslexikon nachsehen. Wir haben uns jedenfalls ausgezeichnet verstan den. Kann ich die Spesen gleich kassieren?« Beckett riß die Augen auf. »Die Spesen?« Jimmy lächelte mild. »Du erwartest doch hoffentlich nicht von mir, daß ich alte Damen auf eigene Rechnung empfange. So weit geht die Freundschaft nicht, mein Lieber.« »Mein Lieber«, sagte der Botschafter protestierend, »du wirst in deinem Leben nicht begreifen, was Respekt und 9
Pflichterfüllung bedeuten.« Dann zog er jedoch sein Scheckbuch. * Zwei Stunden später stand Jimmy Beckett auf dem Bahnsteig von Kairo. Jimmy blickte gelangweilt dem einfahrenden Zug entgegen. In seiner linken Hand hielt er den vorschriftsmäßi gen Blumenstrauß, aber ganz so, als ob er nicht zu ihm gehör te und als ob er keine Ahnung von seinem Vorhandensein hätte. Die Wagen ruckten zum letztenmal und standen dann still. Eine buntscheckige Menge von Reisenden flutete über den Bahnsteig. Jetzt setzte sich Jimmy allmählich in Bewegung. An eini gen Fenstern begannen sich Köpfe zu zeigen. Es war Zeit, die alte Dame ausfindig zu machen. Er befand sich gerade dicht vor der Tür des ersten Wagens, als diese aufgestoßen wurde und eine junge Dame im Rahmen erschien, die in der rechten Hand einen kleinen Koffer trug und mit der linken einen größeren sowie einen Handkoffer schleppte. Jimmy blieb mit einer Plötzlichkeit stehen, die die junge Dame auf ihn aufmerksam machte. Himmel war das … Es muß zu Jimmys Schande eingestanden werden, daß er einfach keine Worte fand, um die besondere Schönheit des Mädchens zu würdigen. Er war wie vom Blitz getroffen. Die junge Dame errötete unter seinen unverhohlen bewun dernden Blicken, zog dann die Brauen zusammen und schritt vorsichtig die erste Stufe des Wagens hinunter. Da wurde Jimmy endlich lebendig. 10
Er lief hin, murmelte irgend etwas Unverständliches, nahm ihr den Koffer aus der Hand und langte gleichzeitig nach dem anderen. Und da hatte er eine Offenbarung. Am Koffer befand sich ein Namensanhänger, auf dem groß und deutlich der Name Campton stand. Ah! Koffer abgestellt, Blumenstrauß gezückt, höfliche Verbeu gung. »Jimmy Beckett. Tante läßt sich entschuldigen und bittet Sie, sich meiner Obhut anvertrauen zu wollen.« Sie stieg herunter und schüttelte ihm mit befreitem Lächeln die Hand. »Das ist aber fein, daß ich abgeholt werde«, sagte sie mit einer Stimme, die Jimmy wie Musik in den Ohren klang. »Ich bin Evelyn Gravor.« Den Nachsatz hätte sie sich lieber sparen sollen, denn er brachte Jimmy in größte Verwirrung. Evelyn Gravor? Man hatte ihn doch nach einer Lady Campton geschickt. Und der Koffer? Jimmy liebte es ebensowenig, eine unglückliche Figur zu machen, wie über unnütze Fragen nachzugrübeln. Er war ent schlossen, bei diesem jungen Mädchen einstweilen zu bleiben, und so unterdrückte er in philosophischer Gelassenheit alle aufsteigenden Bedenken. »Evelyn Gravor?« murmelte er zunächst etwas verunsi chert, setzte dann aber lebhaft hinzu: »Natürlich. Ich freue mich sehr, daß Sie gut angekommen sind. Wollen wir die Koffer gleich mitnehmen?« Sie nickte. »Gewiß, aber diesen dort nicht. Er gehört einer alten Da me, der ich behilflich war. Wo bleibt sie denn?« 11
Jimmy packte sie hastig am Arm und zog sie fort. »Kom men Sie, sie wird den Koffer schon finden. Alte Damen sind nichts für meine Nerven.« Sie folgte willig, sah ihn aber prüfend an. »So schwach besaitet, Mister Beckett?« Er zog ein klägliches Gesicht. »Nennen Sie mich um Gottes willen nicht Mister Beckett, Evelyn. Ich heiße Jimmy.« »Sind wir denn miteinander verwandt?« Er nickte lebhaft. »Aber natürlich, gewissermaßen Cousin und Cousine.« Sie schüttelte nachdenklich den Kopf. »Davon wußte ich bisher noch nichts. Warum duzen wir uns dann eigentlich nicht?« Er setzte die Koffer nieder, genauer gesagt, er ließ sie fast fallen. »Aber natürlich«, schrie er begeistert. »Bitte, entschuldige, ich bin von Natur aus schüchtern, und wenn man sich so das erstemal sieht, da traut man sich noch nicht so recht.« Sie lachte. »Du siehst aber gar nicht so schüchtern aus, Jimmy. Wie geht es Tante Euphemia?« Jimmy nahm die Koffer wieder auf und lief los, ohne Ant wort zu geben. »Geht es ihr nicht gut?« erkundigte sie sich darauf mit ei ner gewissen Besorgnis. »Es geht ihr ausgezeichnet«, versicherte er. »Tante Efeu wird sich freuen, dich zu sehen.« »Tante Efeu?« »Nun – ja … Ich – ich nenne sie so. Übrigens bist du sehr hübsch geworden, Eve.« Sie deutete einen Knicks an. 12
»Du siehst auch sehr gut aus, Jimmy.« »Oh – hm…« Sie hatten Jimmys Wagen erreicht. Er half Eve beim Einsteigen, verstaute das Gepäck und startete. Als er das Steuer nach rechts einschlug, legte sie die Hand auf seinen Arm. »Müssen wir nicht geradeaus?« Er sah sie mißtrauisch an. »Wieso?« »Tante schrieb mir, ich müßte mich links vom Bahnhof halten, wenn ich zur Kingsroad wollte.« Er zog die Stirn in Falten. »Hm, wir wollen aber doch nicht… Natürlich, ich meine, die direkte Straße dorthin ist gesperrt. Wir kommen auch so zur Kingsroad.« »Das wußte ich nicht«, sagte sie zufrieden. Jimmy Beckett war erheblich weniger erleichtert als sie. Seine Tante wohnte in einem ganz anderen Viertel als ihre Tante. Aber wohl oder übel mußte er das junge Mädchen an ihren Bestimmungsort bringen. Das konnte ein schönes Durcheinander werden. Sie saßen eine Weile schweigend nebeneinander, dann meinte er wie beiläufig: »Welche Hausnummer hat die Tante angegeben?« Sie wandte ihm erstaunt das Gesicht zu. »Du fragst aber komisch. Weißt du denn nicht, wo Tante Euphemia wohnt?« »Doch, doch«, sagte er eifrig, »aber sie – sie ist vor gar nicht so langer Zeit umgezogen, und da könnte es sein, daß sie dir noch die alte Nummer angegeben hat.« »Mir schrieb sie, daß sie Nummer sieben wohnt.« Jimmy nickte. 13
»Dann hat sie dir die neue Nummer schon angegeben, Eve.« Sie hatte darauf nichts zu erwidern. Zwei Minuten später hielt der Wagen vor der Kingsroad sieben. Jimmy schwang sich behend heraus und sagte selbst sicher: »Herzlich willkommen. Wie ich Tante Efeu kenne, wird sie bereits hinter dem Fenster stehen und dich aus der Ferne bewundern. Das gute Mädchen hat sicherlich alle Vor bereitungen getroffen, um dich würdig zu empfangen.« Sie schritten gemeinsam zur Tür, die sich in der schmiede eisernen Umfassung des parkartigen Vorgartens befand. Kurz vorher setzte Jimmy seinen Koffer ab und wollte mit eleganter Bewegung die Tür öffnen. Infolge des Schwungs verstauchte er sich fast die Hand. Die Tür war verschlossen. »Nanu?« Jimmy zog ein wenig geistreiches Gesicht. »Ist die Tür verschlossen?« erkundigte sich Evelyn Gravor arglos. Er schüttelte den Kopf wie ein Tragöde, der vor des Lebens unlösbarem Rätsel steht. »Unbegreiflich. Unerhört. Sollte sich einer der Dienstboten einen Scherz erlaubt haben?« Ihr praktisches Gemüt suchte bereits nach einem Ausweg. »Hast du keine Schlüssel?« Er kramte in seinen Taschen. Schließlich zog er die Hände leer heraus. »Leider nicht, ich muß sie vergessen haben.« Er drückte den Klingelknopf. Drinnen in dem weißen Bau schlug die Glocke an. Doch niemand rührte sich. Auch das zweite und dritte Klingeln hatte keinen Erfolg. Jimmy begann zu schwitzen und Ausdrücke zu murmeln, die 14
für gewöhnlich nicht zum Sprachschatz eines Diplomaten gehören. »Aber, Jimmy!« empörte sich schließlich Eve Gravor. »Wer wird denn so entsetzlich fluchen?« »Das ist doch zum Kotzen… Ich meine, ich möchte nur wissen, was das bedeuten soll?« Sie lächelte ihn freundlich an. »Vielleicht weiß Tante Euphemia, daß du mitkommst?« Er richtete sich kerzengerade auf. »Was willst du damit sagen?« »Oh, nichts.« Sie lachte. »Übrigens ist dort hinten ein Mann.« Er entdeckte ihn im gleichen Moment. Ganz hinten im Grundstück bewegte sich eine Gestalt. Er atmete erleichtert auf. »Das ist der Gärtner. Hallo! Hal lo!« Der Gärtner schien taub zu sein. Da machte Jimmy eine Verbeugung vor seiner frischgebackenen Cousine und mur melte: »Entschuldige, ich bin gleich wieder da.« Dann zog er sich an den Gitterstäben hoch und schwang sich mit der Geschmeidigkeit eines Turners über das Tor hinweg. Seelenruhig wanderte er in den Park hinein, bis er den Mann erreicht hatte. Es war tatsächlich ein Gärtner. Er blickte verwundert auf, als er den Fremden plötzlich vor sich stehen sah. »Was wollen Sie?« erkundigte er sich nicht besonders freundlich. »Wie kommen Sie hier herein?« Jimmy starrte auf seine knollige Nase. »Gewissermaßen auf Engelsfüßen, verehrter Herr.« Der Gärtner starrte auf Jimmys Füße, als überlegte er, welche Größe die Schuhe wohl haben mochten. Dann räusperte er sich. »Gut. Und was wünschen Sie?« 15
»Eigentlich nichts«, erwiderte Jimmy freundlich. »Ich wollte nur zu Tante Efeu.« Der Mann richtete sich vollends auf und nahm seine Hacke fester in die Hand. »Tante Efeu?« fragte er mit besorgtem Gesichtsausdruck. »Tante Euphemia«, verbesserte sich Jimmy. »Ist sie denn nicht zu Hause?« Der Gärtner zog ein ratloses Gesicht. »Ich verstehe Sie nicht. Zu wem wollen Sie?« Jimmy machte eine ungeduldige Bewegung. »Ich sagte Ihnen doch, zu Tante Euphemia.« Der andere fuhr sich mit der Hand an den Hinterkopf und begann sich zu kratzen. »Hm, meinen Sie etwa Mistress Fenholt?« Jimmy legte ihm mit großer Geste die Hand auf die Schul ter. »Fabelhaft, Sie haben es erraten. Natürlich meine ich die liebe, gute Euphemia Fenholt. Sie ist wohl nicht zu Hause?« »Nein«, brummte der Mann. »Wie kann sie auch zu Hause sein, wenn sie bereits vor zwei Wochen begraben worden ist.« »Äh …« Jimmy brauchte lange, bis er seine Fassung wie dergewonnen hatte. »Gestorben ist sie?« würgte er endlich heraus. »Natürlich«, sagte der Gärtner. »Oder glauben Sie, daß ich schlechte Witze mache? Sie müßten es doch eigentlich wis sen, wenn Sie ein Verwandter von ihr sind.« Jimmy zog die Brauen zusammen. »Tja – auch wieder richtig. Eigentlich müßte ich das wis sen. Aber ich komme gerade aus Übersee, und es ist das erste, was ich jetzt über ihren Tod höre.« Der Gärtner schien verdutzt zu sein, dann schob er seine Mütze ins Genick, legte sein Gesicht in Falten und streckte die Hand aus. 16
»Herzliches Beileid. Ich kann Ihnen den Schmerz nachfüh len. Solche Nachrichten bringen einen aus der Fassung.« Jimmy kurvte schleunigst mit seinen Mundwinkeln hinun ter und gab mit umflorter Stimme zurück: »Vielen Dank, vie len Dank. Wenn jemand meinem Herzen nahegestanden hat, so war es die liebe Tante Efeu – äh, Euphemia, das friedliche alte Mädchen. Tja, aber was nun?« Der Gärtner hob die Schultern. »Hierbleiben können Sie nicht, denn das Haus ist bereits disponiert. Es hat früher Mrs. Fenholt gehört, aber sie hat es vor ihrem Tod verkauft. Sie werden sich sicher sehr gewun dert haben?« »Warum? Wieso?« Der andere rückte mit leichter Vertraulichkeit näher. »Nun, wegen der Erbschaft.« Jimmy hatte eine Ahnung. »Aha, da sah es wohl ein bißchen knapp aus?« »Wissen Sie das denn nicht? Die alte Dame hat doch so gut wie gar nichts hinterlassen, und dabei galt sie als reich. Kein Mensch weiß, wo sie ihr Geld hingetan hat.« Jimmy überlegte einige Augenblicke. »Hm, ich auch nicht«, murmelte er schließlich, wandte sich scharf ab und ging zurück. Er hatte genug Neuigkeiten erfah ren und würde seine liebe Not haben, sie dem Mädchen bei zubringen. Diese Tante Efeu war ein großer Reinfall. * Evelyn Gravor hatte dem jungen Mann eine Weile nachgese hen. Er gefiel ihr nicht übel, selbst seine etwas kaltschnäuzige Art konnte sie nicht erschrecken. 17
Plötzlich wurde ihr bewußt, daß jemand an ihr vorüber schritt, nach einigen Metern stehenblieb und sie unentwegt anstarrte. Da überließ sie Jimmy dem Gärtner und wandte sich langsam der Seite zu, von der aus sie die Blicke fühlte. Ein Stück seitlich stand ein hochgewachsener, elegant ge kleideter Herr, dessen Gesicht von einem dichten schwarzen Vollbart umgeben war. Die Haut war dunkel getönt, das Haar pechschwarz, dunkelbraune Augen beherrschten das Gesicht. Der Mann mußte ein Ägypter sein. Evelyn Gravor wußte nicht viel von den Bewohnern dieses Landes. Ihrem prüfen den Blick fiel ganz nebenbei noch auf, daß der Fremde in der dunklen Krawatte einen unglaublich großen Stein trug und daß seine Finger mit kostbaren Brillantringen geschmückt waren, dann wandte sie sich wieder ab. Die forschenden Blik ke waren ihr peinlich. Jetzt setzte sich der Fremde wieder in Bewegung, näherte sich ihr. Als sie ihn dicht im Rücken spürte und merkte, daß er stehenblieb, wandte sie sich zum zweitenmal um. Der Fremde verbeugte sich mit vollendeter Eleganz und sagte mit weicher Stimme: »Verzeihen Sie, daß ich Sie anspreche. Ich werde Sie jedoch sofort allein lassen, sobald Sie es wünschen. Ich hatte nur den Eindruck, daß Sie der Hilfe bedürfen.« Seine Ehrlichkeit und Höflichkeit entwaffneten sie. »Ich danke Ihnen«, sagte sie freundlich, »aber ich bin durchaus nicht hilfsbedürftig, ich warte nur auf meinen Cou sin, der die Tür aufschließen will. Meine Tante, die hier wohnt, hat aus Versehen die Tür geschlossen.« Ein Ausdruck der Überraschung erschien auf dem Gesicht des Mannes. »Ach, Sie wohnen hier?« Seine Überraschung entging ihr nicht, deshalb gab sie et was scharf zurück: »Natürlich, bei meiner Tante.« 18
Der Fremde lächelte merkwürdig. »Dann darf ich mir gestatten, Ihnen die Tür zu öffnen.« Er zog gleichzeitig einen Schlüssel aus der Tasche und schickte sich an, ihn in das Schloß zu stecken. Das kam ihr höchst merkwürdig vor. »Nanu«, sagte sie erstaunt, »wie kommen Sie denn zu dem Schlüssel?« Er schloß auf, stieß die Tür zurück und verbeugte sich leicht. »Ich wohne ebenfalls hier. Das Haus gehört mir.« »Ihnen? Wer sind Sie?« stieß sie heraus. »Scheich Abu el Muluk.« Sie schluckte ein paarmal, dann meinte sie vorsichtig: »Soviel ich weiß, gehört das Haus meiner Tante Euphemia Fenholt.« In seinen Augen blitzte es für eine Sekunde auf. »Mistress Fenholt?« fragte er. »Soviel ich weiß, ist die Ei gentümerin dieses Grundstücks vor zwei Wochen gestorben.« Sie begriff die volle Tragweite seiner Bemerkung nicht, sondern lächelte zweifelnd. »Hier muß ein gewaltiger Irrtum vorliegen. Meine Tante lebt und wohnt hier. Vielleicht haben Sie Ihre Hausnummer vergessen?« Er schüttelte sanft den Kopf. »Das wäre höchst merkwürdig. Doch darf ich Sie bitten, näher zu treten und sich als mein Gast selbst zu überzeugen?« »Danke, danke«, wehrte sie hastig ab. »Ich werde auf mei nen Cousin warten, der wird das Mißverständnis bald aufklä ren.« Plötzlich trat er dicht an sie heran, und jetzt hatten seine Augen wieder den merkwürdigen Blick, der ihr zu Anfang aufgefallen war. 19
»Darf ich Sie trotzdem bitten«, sagte er leise, »mein Gast zu sein? Vielleicht nicht heute, aber doch morgen oder über morgen. Ich würde mich sehr freuen, Ihnen all mein Eigentum zu Füßen zu legen wie meine Verehrung.« Es war ihr unbehaglich zumute, aber sie lachte ihm ins Ge sicht. »Hier lebt man anscheinend im Eiltempo. Sie glauben doch nicht im Ernst, daß ich Ihrer Einladung Folge leiste?« »Ich würde mich sehr freuen«, beharrte er. »Nett von Ihnen«, gab sie kühl zurück. »Doch nun lassen Sie sich nicht aufhalten.« »Jede Minute, die ich in Ihrer Gegenwart verbringen darf, ist mir köstlich«, flüsterte er eindringlich. Evelyn Gravor gehörte zu den jungen Mädchen, die derar tige Szenen zwar gelegentlich im Kino oder im Fernsehen gern einmal sehen, trotzdem aber keinen besonderen Wert darauf legen, sie in der Praxis zu erleben. Sie war froh, als sie in diesem Augenblick Jimmy Beckett herankommen sah, und winkte ihm lebhaft zu. »Nun, Jimmy, was ist?« Jimmy war noch nicht ganz fertig mit seinen Überlegungen und wartete deshalb mit der Antwort, bis er heran war. Au ßerdem interessierte ihn der Fremde, der da plötzlich in der Tür stand, in außerordentlich hohem Maße. Abu wandte sich zu ihm um. Seine dunklen Augen bohrten sich in die wasserhellen des jungen Mannes. Das wirkte je doch auf Jimmy nicht im geringsten. Er deutete burschikos mit dem Daumen auf den Fremden und fragte seine Cousine: »Wen hast du denn da aufgegabelt, teuerste Eve?« Sie lächelte ihn an. »Dieser Herr behauptet, ein Scheich Abu el Muluk zu sein.« Jimmy entschloß sich zu einer Vorwärtsstrategie. Er 20
streckte seine rechte Hand aus, packte die des Scheichs und schüttelte sie. »Das ist ja fabelhaft. Ich wünsche mir schon lange, Sie kennenzulernen. Wie geht’s, altes Haus? Wie finden Sie Kai ro?« Der Scheich lächelte mühsam und trachtete danach, seine Hand freizubekommen. »Ausgezeichnet, Mister …« Jimmy begriff und stellte sich vor. »Jimmy Beckett. Offiziell bin ich hier Attaché, aber neh men Sie das um Gottes willen nicht tragisch. Ich bin jederzeit bereit, einen kleinen Spaß mitzumachen. Übrigens, wie haben Sie es denn fertiggebracht, hier hereinzukommen?« Abu war sichtlich verwirrt. Er wußte mit diesem ungestü men jungen Mann noch nichts Rechtes anzufangen, und so murmelte er denn mit Not und Mühe: »Ich hatte den Schlüssel zu meinem …« »Ja, denke dir«, fiel Evelyn lebhaft ein, »der Scheich be hauptet, das Haus gehöre ihm und er wohne hier.« Jimmy riß die Augen auf. »Er wohnt hier? Na, das hast du dir ja fein ausgeknobelt. Hm – natürlich wohnt er hier, selbstverständlich wohnt er hier. Warum soll er denn nicht hier wohnen? Schließlich, wenn es sein Haus ist, hat er doch auch ein Recht, hier zu wohnen.« Evelyn wurde blaß. »Ja – aber …« stammelte sie. Jimmy schwenkte den Koffer hoch. »Hier gibt’s kein Aber«, erklärte er bestimmt. »Hier hilft weiter nichts, als sich zurückzuziehen. Komm, schöne Cousi ne, gehen wir friedlich weiter. Verzeihen Sie, Scheich, ich wünsche Ihnen einen guten Tag.« 21
Scheich Abu war viel zu sprachlos, um einen Ton von sich zu geben, und Evelyn lief mechanisch wie in halber Bewußt losigkeit hinter dem stürmischen jungen Mann her zum Auto, weil ihr das immer noch lieber war, als neben dem Scheich stehenzubleiben. Sie begriff nichts, nicht das geringste. Jimmy hatte so viel geredet, daß er nun das Recht erwor ben zu haben glaubte, zu schweigen. Er kurvte los und ließ den Wagen durch die Straßen schießen, ohne nur ein einziges Mal die Lippen zu öffnen. Schließlich hielt es das junge Mäd chen nicht mehr aus. Sie stieß ihn leicht in die Seite. »Also, Jimmy, nun rede doch schon. Was ist denn eigent lich los?« Er sah sie mißbilligend an. »Los? Los ist nichts, alles in schönster Ordnung.« »Ja – aber, war denn Tante Euphemia nicht zu Hause?« »Tante Euphemia?« tat er erstaunt. »Von wem redest du? Habe ich dir nicht schon gesagt, daß sich Tante hat umtaufen lassen? Du mußt dich schon daran gewöhnen, sie Tante Eliza zu nennen.« »Du bist verrückt«, stellte sie sachlich fest. »Auch möglich«, knurrte er. Wieder stieß sie ihn an. »Wo ist denn Tante Euphemia nun?« Er wandte sich zu ihr und meinte bedächtig: »Also, mein liebes Kind, gewöhne dir vor allem die viele Fragerei ab. Das ist hier nicht Mode.« Sie ließ sich nicht einschüchtern. »An der Sache stimmt was nicht. Warum war Tante Eu phemia nicht zu Hause?« Er hob mitleidig die Schultern. »Sie ist schon zu Hause, aber ich sagte dir doch gleich, daß sie dir die alte Adresse geschrieben hat. Tante Eliza – gewöh 22
ne dir um Gottes willen den Namen Euphemia ab – Tante Eliza ist nun einmal ein verrücktes altes Huhn. Da war ich nun einige Tage nicht bei ihr, und schon erfahre ich, daß sie inzwischen wieder geheiratet hat, und ausgerechnet auch noch einen Kerl, der ebenfalls Beckett heißt. Ich werde dich nun dorthin bringen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann mir nicht helfen, ich …« Er strich ihr väterlich über das Haar. »Beruhige dich, Kindchen …« »Blöder Affe!« schnaubte sie ihn an und brachte ihr Haar in Sicherheit. »Beruhige dich«, mahnte er nachdrücklicher. »Ägypten ist ein merkwürdiges Land, und Kairo ist das verrückteste Nest, das es gibt.« »Vermutlich erst, seitdem du hier bist«, hauchte sie ah nungsvoll. Der Wagen hielt zum zweitenmal vor einem Villengrund stück. Diesmal war die Pforte nicht geschlossen, so daß sie ohne weiteres eintreten konnten. Der Butler mußte sie beo bachtet haben, denn er öffnete bereits die Tür. Jimmy klopfte ihm wohlwollend auf die Schulter. »Nun, wie geht’s, junger Mann. Ist Tante zu sprechen?« Der Butler verneigte sich und bejahte. »Schön, dann melden Sie mich und schaffen dann die Kof fer meiner Cousine hinein.« »Sehr wohl, Sir.« Der Mann wollte nach oben gehen, da rief ihn Jimmy zu rück und nahm ihn beiseite. »Augenblick, sagen Sie bitte meiner Tante, daß ich sie zu nächst für eine Minute allein sprechen möchte.« Der Butler verschwand und kam kurz darauf wieder, um zu 23
melden, daß Jimmys Besuch erwünscht sei. »Entschuldige mich, bitte«, wandte er sich an Evelyn, »ich komme sofort zurück. Tante wird kaum eher erscheinen.« Damit er ging. Eliza Beckett war eine jener weißhaarigen, gütigen älteren Damen, die auf den ersten Blick Sympathie erwecken. Sie war die einzige, die für die Streiche ihres Neffen Verständnis hatte und sich so leicht durch keine seiner Überraschungen ärgern ließ. »Nun, was bringst du mir heute?« erkundigte sie sich freundlich, als er eintrat. »Meine Cousine Evelyn«, gab er prompt zurück. Jetzt protestierte sie doch. »Untersteh dich, mir eines von deinen Verhältnissen ins Haus zu bringen. Warum hast du übrigens Lady Campton nicht abgeholt? Sie ist allein gekommen und hegt nun wahr scheinlich die besten Gefühle für uns.« Jimmy gab sich reuevoll. »Ich habe Lady Campton abgeholt, nur leider entdeckte ich später, daß es die falsche war.« Er berichtete mit überraschender Sachlichkeit seine Erleb nisse von dem Moment an, als er Evelyn Gravor zum ersten mal gesehen hatte. »Du wirst verstehen«, schloß er, »daß ich die junge Dame nicht so einfach auf der Straße sitzenlassen konnte. Wahr scheinlich hätte man ihr die Koffer geklaut, oder dieser Wü stenscheich hätte sie in seinen Harem verschleppt. So wußte ich mir nicht anders zu helfen, als sie hierherzubringen und dich zu bitten, sie unter deine Obhut zu nehmen.« Sie hob drohend die Brauen. »Damit willst du hoffentlich nicht sagen, daß ich eine alte Henne bin? Übrigens – sie ist wohl recht hübsch?« 24
Er nickte und legte eindrucksvoll die Hand aufs Herz. »Gar kein Ausdruck, teuerste Tante. Sie ist so schön, wie du in deiner Jugend gewesen sein mußt.« Sie hielt ihm lächelnd die geballte Hand unter die Nase. »Junge, Junge, das kann eine Grobheit, aber auch eine gro ße Schmeichelei sein. Ich werde mir mal das junge Mädchen ansehen.« »Und?« fragte er hoffnungsvoll. »Und ihr dann das beste Hotel von Kairo empfehlen.« »Weiter nichts?« »Und sie außerdem nachdrücklich vor dir warnen, teuerster Neffe.« Er sah sie kläglich an. »Ich werde dich wegen Geschäftsschädigung belangen las sen. Du tust mir wirklich einen großen Gefallen, wenn du dich der jungen Dame etwas annimmst. Es ist immer gut, wenn man seine künftigen Verwandten beizeiten kennenlernt.« Die alte Dame lächelte teilnahmsvoll. »Ich hoffe, daß das junge Mädchen klüger sein wird, als du ihr zutraust. Menschen von deiner Sorte finden ihr Lebtag keine Frau.« »Ach, du lieber Gott«, murmelte er bedrückt und sank auf einen Sessel, während seine Tante in stillem Triumph hinaus rauschte. * Zwei Tage später standen Jimmy und Evelyn auf dem Djebel Mokattam. Evelyn konnte sich kaum davon trennen. Sie bück te immer wieder auf die Stadt hinunter. »Nur einen Blick noch. Dieses Bild wird mir zur unvergeß lichsten Erinnerung werden. Ich will es immer vor Augen 25
haben, wenn ich abgereist bin.« Er streckte den Kopf vor. »Ich verstehe immer Abreise.« Sie blickte mit unsicherem Ausdruck zu ihm auf. »Selbstverständlich, ich werde in einigen Tagen wieder ab reisen. Ich muß zu meinem Vater.« Er winkte mit großzügiger Handbewegung ab. »Kommt gar nicht in Frage. Ich brauche dich …« »Du brauchst mich?« Er nickte düster. »Ja, dringend sogar. Zum Heiraten gehören nun mal zwei.« Sie wand sich aus seinen Armen. »Wenn das eine Liebeserklärung sein soll«, sagte sie unsi cher, »so ist es die seltsamste, die ich je gehört habe. Du soll test diese schlechten Scherze lassen.« Seine Stimme klang überraschend weich, als er antwortete: »Ich habe auch Momente, in denen ich es sehr ernst meine, Eve. Ich …« Er konnte seinen Satz nicht vollenden, denn sie legte ihm den Finger auf den Mund und sagte: »Bitte nicht, Jimmy, jetzt nicht. Jemand kommt.« »Wer kommt?« fragte er verwirrt und wandte sich ärger lich um. »Ah, natürlich, Muluk, der Unvermeidliche. Drehen wir uns weg. Ich kann das Gesicht nicht ausstehen.« Sie wandten sich den Bergen zu, um den Scheich nicht be achten zu müssen. »Es ist eigentlich sehr unhöflich von uns«, wandte sie ein. »Unhöflichkeit ist manchmal gesunde Notwehr«, entgeg nete er. »Hat dir der Scheich heute wieder eine Wagenladung Blumen geschickt?« »Wie immer. Seit vorgestern kann ich mich vor Blumen kaum mehr retten.« 26
»Und vor dem Scheich auch nicht. Er folgt dir doch auf Schritt und Tritt.« Sie nickte. »Er ist – auffallend zudringlich.« »Ich werde ihm das gelegentlich abgewöhnen müssen.« »Der Scheich ist nicht mit unseren Sitten vertraut«, ent schuldigte sie ihn. Er lachte kurz auf. »So sieht der gerade aus. Der hat lange genug in westlichen Städten gelebt, um zu wissen, was üblich ist und was nicht. Der Kerl weiß ganz genau, wie er vorgehen muß.« »Trotzdem wäre es mir lieb, wenn du Auseinandersetzun gen mit ihm vermeiden würdest.« Er sah sie mißtrauisch an. »Hm – legst du Wert darauf, es nicht mit ihm zu verder ben?« Sie schüttelte den Kopf. »Du verstehst mich falsch«, sagte sie leise. »Ich habe eine gewisse Furcht vor ihm.« »Nana«, beruhigte er, »so schlimm ist es auch wieder nicht.« Ihre Blicke gingen geistesabwesend in die Ferne. »Mir ist es manchmal, als würde er kein Mittel scheuen, um sein Ziel zu erreichen. Diese Scheichs sollen sich einen Sport daraus machen, jemanden zu verschleppen.« »Das hast du bestimmt in einem Klatschmagazin gelesen«, meinte er lachend. Sie blieb auffallend ernst. »Und wenn er nun doch irgendeine Sache im Schild führen sollte, was dann? Du sagtest mir gestern, Muluk sei ein unzi vilisiertes Land.« »Ist es auch«, bestätigte er, »aber wenn der Scheich frech 27
werden sollte, dann kann er in mir den passenden Wilden zu seinem Land finden. Schließlich werde ich doch meine zu künftige Frau nicht von jedem hergelaufenen Wüstensohn entführen lassen.« Mittlerweile war Abu unbemerkt von hinten an sie heran getreten, so daß er jetzt dicht hinter ihnen stand. Er räusperte sich, und als die beiden herumfuhren, verneigte er sich tief und sagte mit seiner gewöhnlichen Höflichkeit: »Es freut mich sehr, Sie zu sehen. Darf ich fragen, wie Ihnen dieses Land gefällt?« »Sehr gut«, erwiderte Evelyn mit Zurückhaltung. Jimmy hängte nicht ohne Bedeutung daran: »Wir stellten eben fest, daß man allein sein muß, um die Majestät dieser Landschaft erst so richtig zu empfinden.« Der Scheich reagierte nicht auf den Hieb, er schien über haupt nicht auf das zu achten, was Jimmy sagte, sondern nur Evelyn Antwort zu geben. »Noch besser würde Ihnen meine Heimat gefallen.« »Ich hörte bereits davon«, erwiderte das junge Mädchen. »Es ist schade, daß sie so weit von Kairo entfernt liegt.« Der Scheich protestierte mit einer knappen Handbewe gung. »Oh, durchaus nicht weit. Ein Ausflug, völlig ungefährlich. Sie würden mich beglücken, wenn Sie mir Gelegenheit gäben, Ihnen Biban el Muluk zu zeigen.« Sie lehnte kühl ab. »Danke. Dazu wird sich leider kaum eine Gelegenheit fin den, da ich schon in den nächsten Tagen wieder abreise.« In seinen Augen blitzte es auf. »Sie wollen Kairo verlassen?« »Ich fahre nach Assuan.« Jimmy Beckett legte ihr ebenso kühn wie liebevoll den 28
Arm über die Schultern. »Jawohl, aber erst, nachdem sie meine Frau geworden ist.« Evelyn wurde abwechselnd blaß und rot, vermied es aber, das Gegenteil zu behaupten. Abu wurde um einen Schein blas ser, beherrschte sich aber sonst vorzüglich. Allenfalls klang seine Stimme etwas spröder als sonst. »Ah, das nenne ich eine Überraschung. Sie haben sich schnell und sicher entschieden.« Jimmy lächelte harmlos. »Schon um der lieben Konkurrenz willen, bester Scheich. Und außerdem weiß man nie, wie lange man noch zu leben hat.« Um Abus Mund zuckte ein spöttisches Lächeln. »Eine weise Erkenntnis, wenn auch kein wirksames Mittel gegen den Tod.« »Da haben Sie recht«, gab Jimmy trocken zurück. »Ich weiß auch ein besseres Mittel.« »Die Menschheit wird Ihnen dankbar dafür sein, wenn Sie es nicht zum Geheimnis machen.« Jimmy schüttelte den Kopf. Sein sonst so harmloses Ge sicht war auffallend hart und finster. »Ein Geheimnis ist nicht dabei«, sagte er langsam, fast schleppend. »Es handelt sich letzten Endes nur darum, einem gewissen Widerling eine Lektion zu erteilen, die ihm für den Rest seines Lebens den nötigen Anstand beibringt!« »Aber, Jimmy!« sagte das Mädchen empört. Der Scheich hüstelte. »Ihre Ausdrücke sind mir unverständlich.« Er verneigte sich. »Erlauben Sie, Miss Gravor, daß ich mich zurückziehe?« »Die Erlaubnis haben Sie jederzeit«, sagte Jimmy anstelle des jungen Mädchens kühl. Der Scheich warf ihm einen mörderischen Blick zu und ging weiter. 29
*
Plötzlich scholl eine helle Stimme über den Platz, die von den Steinen zurückgeworfen wurde. »Mann, Nimba, du kannst hinkommen, wohin du willst, überall stehen Liebespärchen herum.« Jimmy Beckett und Evelyn Gravor fuhren auseinander. Sie sahen einen etwa sechzehnjährigen Jungen über den Platz kommen. Er war eher schmächtig als stark, aber sicher sehnig, zäh und geschmeidig. Sein Haar leuchtete rötlich auf, sein schmales, offenes Gesicht zeigte einen verschmitzten Aus druck; Evelyn verglich ihn unwillkürlich mit dem Gesicht Jimmy Becketts. Neben dem Jungen schritt ein wahrhaft herkulischer Neger, der nur dadurch nicht erschreckend wirkte, daß auf seinem Gesicht eine gewisse Gutmütigkeit lag. Und nun tauchte hinter den beiden ein dritter junger Mann auf, mit einem edel geschnittenen Gesicht, dessen Haut wie helle Bronze leuchtete. Die Bewegungen dieses Mannes waren von so unerhörter Vollkommenheit, so kraftvoll und geschmei dig zugleich, daß die beiden ihnen bewundernd folgten. Der schlanke Junge zog den Neger am Arm beiseite und erklärte mit der gleichen Lautstärke wie vorhin: »Siehst du, jetzt sind sie ganz verwirrt, weil sie sich überrascht fühlen. Komm, gehen wir, damit sie sich weiter ungestört beschäftigen können.« Jimmy Beckett holte tief Atem und sagte mindestens eben so laut zu dem jungen Mädchen: »Es ist eigentlich schade, daß die schönsten Gegenden der Erde durch Touristen über flutet werden. Da kommt irgendwo ein Großmaul, als ob die Welt um seinetwillen da wäre, und verdirbt anderen Leuten die ganze Stimmung.« 30
Hal Mervin, der jedes Wort verstanden hatte, konterte so fort. »Denkst du nicht, Nimba«, meinte er, »daß diese Aussieht zu schade ist für Leute, die gar nicht hinsehen? Übrigens, hast du eine Ahnung, seit wann es erlaubt ist, auf offener Straße zu küssen?« Nimba rollte bedenklich die Augen und flüsterte: »Sei still, er hört alles.« Und auf der anderen Seite drückte das Mädchen den Arm Jimmys und bat: »Nimm keine Notiz davon, Jimmy. Du wirst dich doch hier nicht herumstreiten wollen.« Aber Jimmy grinste beruhigend und schrie mit unveränder ter Stärke: »Ich bin nur neugierig, wann die Kinderfrau dem Baby dort die Flasche gibt.« Das war zuviel für Hal. Er wandte sich direkt zu Jimmy und sagte herausfordernd: »Meinen Sie mich?« Jimmy Beckett hob die Schultern. »Haben Sie denn noch einen Zwillingsbruder hier?« Hal kam lebhaft heran. Er schnaubte verächtlich. »Blöde Bemerkung. Was regen Sie sich denn auf, Sie – Sie … Mann, ich wette, daß Sie aus demselben Viertel stammen wie ich. Übrigens heiße ich Hal Mervin – und das ist Nimba.« »Jimmy Beckett«, stellte sich der Attaché vor. »Und das ist Miss Gravor.« Hal war keine Spur verlegen. »Ich bitte vielmals um Entschuldigung wegen meiner un höflichen Bemerkungen. Hätte ich geahnt, daß Sie jedes Wort verstehen, so hätte ich den Mund gehalten.« »Es war mir ein besonderes Vergnügen«, sagte Jimmy grinsend. »Wo ist denn der Gentleman, der …« Hal und Nimba drehten sich gleichzeitig um. »Eben, wo ist er denn?« 31
Aber da kam Sun Koh schon wieder um die Gebäudeecke und schritt auf die Gruppe zu. »Meine Freunde haben sich wohl schon auf ihre Weise be kannt gemacht«, meinte er lächelnd, nachdem er seinen Na men gesagt hatte. »Würden Sie mir eine Frage gestatten?« »Bitte?« »Stehen Sie in irgendwelchen Beziehungen zu dem Herrn, der jetzt eben den Hügel verließ?« Jimmy stutzte. »Meinen Sie Scheich Abu el Muluk? Dunkel, schwarzes Haar, schwarzer Vollbart, gut gekleidet?« Sun Koh nickte. »Eben den meine ich.« »Eine flüchtige Bekanntschaft, mehr nicht. Ist etwas mit ihm?« »Nichts Besonderes«, sagte Sun Koh. »Ich dachte nur, er hätte hier irgendwelche Heimlichkeiten.« Jimmy wollte nicht weiter fragen, und Sun Koh gab keine weitere Auskunft. So wechselten sie einige verbindliche Re densarten, dann ging Sun Koh mit seinen Freunden weiter und versank in die Betrachtung der Landschaft, während Jimmy Beckett und Evelyn den Djebel Mokattam verließen. * »Was war denn mit dem Scheich, Sir?« fragte Hal etwas spä ter. Sun Koh löste den Blick von der Landschaft. »Gehen wir«, sagte er. »Mir fiel auf, daß das Gesicht jenes Mannes, der von hier kam, von Wut und Leidenschaft verzerrt war. Er winkte einigen Ägyptern, die offensichtlich auf ihn gewartet hatten, wies nach der Stelle, wo das junge Paar 32
stand, und gab ihnen Befehle. Die ganze Art dieses Mannes machte auf mich den Eindruck, als ob er etwas Böses gegen die beiden plane. Er ging dann jedoch den Berg hinunter, und seine Leute folgten ihm. Wahrscheinlich hat mich mein Ein druck getäuscht.« Als sie eine Weile später am Fuß des Hügels angelangt wa ren, blieb Sun Koh plötzlich stehen. Prüfend gingen seine Blicke über die Umgebung. »Nun«, murmelte er, »was ist denn hier geschehen?« Nim ba deutete auf eine bestimmte Stelle in dem Buschwerk und dann auf einige Spuren, die zu ihr hinführten. »Ich sehe es, Sir«, sagte er. »Dort hat man etwas hingelegt, etwas Großes. Einige Männer haben es hingetragen, ihre Füße sind tief eingedrückt. Und hier – hier hat man etwas ge schleift. Es sieht bald so aus, als ob man einen Menschen überfallen und dorthin geschleppt hätte.« »Den gleichen Eindruck hatte ich auch«, erwiderte Sun Roh. »Und es muß geschehen sein, nachdem wir vorhin hier vorbeigingen, denn da waren diese Zeichen noch nicht zu sehen.« Er ging mit schnellen Schritten auf die Stelle zu, an der das Buschwerk eingedrückt und niedergerissen war. Vorsichtig schob er die dichten Zweige auseinander. Mitten im Busch lag ein menschlicher Körper. Jimmy Beckett. Kurz darauf hatten ihn Sun Koh und Nimba herausgezogen und neben den Weg gebettet. »Verletzt ist er nicht«, stellte Nimba fest. »Er ist aber be wußtlos.« »Ja, die Beule ist unverkennbar, Hal.« Der Junge rannte los, aber er war noch nicht wieder zu rück, als Jimmy Beckett bereits die Augen aufschlug. Verstört 33
blickte er um sich, dann ruderte er wild mit den Armen und stemmte sich hoch. »Himmel«, murmelte er, »was ist denn mit mir los? Ah…« Er wollte hochspringen, sank aber ächzend wieder zusam men, da er noch zu stark unter der Wirkung der Betäubung stand. Sun Koh drückte ihn vollends nieder. »Nicht so heftig. Sie brauchen noch etwas Ruhe. Wo ist Ih re Verlobte?« Jimmy wollte wieder hoch. »Evelyn – das ist es ja eben – wo ist sie? Die Kerle schlu gen mich nieder.« »Wer?« »Araber, mehr weiß ich auch nicht. Sie kamen scheinbar ganz harmlos, und plötzlich fielen sie über mich her. Evelyn – lassen Sie mich los, es geht schon wieder. Ich muß sie su chen.« Sun Koh half ihm auf die Füße und sagte teilnahmsvoll: »Fürchten Sie, daß sie verschleppt sein könnte?« Das Kinn des jungen Mannes schob sich hart vor. »Ich wette meinen Kopf, daß dieser Schleicher seine Hand im Spiel hat. Er ist wie wild hinter ihr her.« Sun Koh wurde sehr aufmerksam. »Der Mann, nach dem ich vorhin fragte?« »Eben der.« »Sein Benehmen war allerdings sehr verdächtig«, meinte Sun Koh nachdenklich. »Aber immerhin ist es sehr kühn, eine junge Dame hier in Kairo gewissermaßen von der Straße weg zu entführen.« »Es ist Wahnsinn«, fuhr Jimmy hoch. »Der Mann muß wissen, daß er nicht weit mit dem Mädchen kommt. Ich fürch te nur, er wird sie irgendwo hier verstecken, bis er sein Ziel erreicht hat. Ich möchte wünschen, daß ihr nichts passiert. Sie 34
entschuldigen mich wohl, ich will mich gleich auf die Suche machen.« Sun Koh hielt ihn fest. »Wo wollen Sie suchen?« Jimmy stutzte. »Nun – in der Stadt – überall…« Sun Koh schüttelte den Kopf. »Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich halte es für töricht, planlos zu suchen. Sie geben dem Kidnapper dadurch nur Gelegenheit, sich um so sicherer zu verstecken. Wollen Sie nicht lieber zunächst erst Alarm schlagen? Hier gibt es doch wohl Telefon?« Jimmy Beckett schlug sich ärgerlich an die Stirn. »Das Wichtigste vergißt man natürlich. Vielen Dank, Sir. Und wenn Sie irgend etwas beobachten, dann sagen Sie mir bitte Bescheid. Ich glaube, Sie haben gute Augen.« »Ich denke schon«, sagte Sun Koh lächelnd. Jimmy rannte los. Sun Koh sah ihm eine Weile nachdenk lich nach. Schließlich wandte er sich mit einer unmutigen Bewegung um. »Meine Augen sind sicher gut, aber mit dem Gehirn scheint es zu hapern. Ich überlege schon eine ganze Weile, was mir aufgefallen ist, als wir den Hügel herunterkamen, aber ich kann es beim besten Willen nicht finden. Kommt, wir kehren um, ich muß feststellen, was es war.« Sie gingen langsam den Hügel hinauf, nicht weit, dann kam Sun die Erleuchtung. Er blieb stehen und wies auf die dreieckige Öffnung einer Höhle. »Dort ist es«, sagte Sun Koh erleichtert. »Ich wußte doch, daß sich irgend etwas verändert hatte.« »An der Höhle?« fragte Hal. Sun Koh schritt mit seinen Begleitern dichter heran, klet 35
terte über die Blöcke, bis er unmittelbar vor der Mündung stand. Sie hatte die Gestalt eines Dreiecks, dessen beide obe ren Schenkel durch starke Eisenstangen gefaßt waren, zwi schen denen verbogene, rostige Stacheldrähte hin und her gezogen waren. »Als wir hinaufgingen«, erklärte Sun Koh, »war dieser Draht noch fest, dieser hier darüber war auffallend gerade. Den Zipfel weißes Tuch, der jetzt hier hängt, habe ich auch nicht bemerkt. Während wir oben waren, muß sich hier je mand zu schaffen gemacht haben. Es sieht bald so aus, als ob sich hier ein oder mehrere Menschen hindurchgezwängt hät ten.« »Wenn man den Draht wegnimmt und den anderen hoch biegt, hat man genug Platz«, stellte Hal fest. »Denken Sie, daß es möglicherweise mit dem verschwundenen Mädchen zu sammenhängt?« Sun Koh hob die Schultern. »Das ist zunächst nur eine Vermutung. Jedenfalls müssen besondere Gründe eintreten, um einen Ägypter zu veranlas sen, in die Höhle einzudringen. Das Stück Stoff sagt uns lei der sehr wenig.« Er nahm den losen Draht beiseite und schlüpfte zwischen den Stangen in die Höhle hinein, deren Boden mit Felstrüm mern übersät war. Sorgfältig begann er ihn mit der Lampe abzuleuchten. Nach einer Weile richtete er sich auf. »Es ist nichts zu finden. Der Boden hat keine Spuren hin terlassen.« Hal, der draußen am Rand eines Blockes hockte, beugte den Kopf vor. »Würden Sie mit einer Haarklammer zufrieden sein, Sir?« »Allerdings.« 36
»Hier ist sie.« Sun Koh nickte befriedigt. »Das genügt. Sie liegt bestimmt kaum länger als eine Stunde hier. Man hat das Mädchen in diesen Gang geschafft. Es ist kaum anzunehmen, daß man sie weit hineinschleppen will, aber sicher wird man sie auf diese Weise vorläufig ver stecken wollen.« Hal und Nimba folgten Sun Koh in den Gang hinein. Es war selbstverständlich, daß sie dem Mädchen halfen, wenn es möglich war. Sun Koh legte die Drähte wieder einigermaßen zurecht, dann schritt er voraus. Es war ein merkwürdiger Gang. Er verlor sehr bald die dreieckige Form, die er an der Öffnung hatte, und wurde fast tonnenartig gewölbt. Die Wände waren recht unterschiedlich, zeitweise glatt und wie vom Wasser ausgewaschen, zeitweise mit spitzen, vorstehenden Zacken, als ob man sie gewaltsam durchbrochen hätte. Der Boden war fast überall gleichmäßig mit Geröll bedeckt. Das Seltsamste an dem Gang aber war, daß er nach einer anfänglichen kurzen Biegung schnurgerade dahinlief. Der Scheinwerfer konnte ohne Hindernis nach vorn strahlen, bis sich sein Licht verlor. Minuten später hatten die drei Tuchfühlung. Sie liefen im merhin so leise, daß sie die Geräusche wahrnehmen konnten, die aus der Ferne zu ihnen zurückschallten. Und dann be merkten sie einen matten Lichtschimmer. Eine Kleinigkeit später sahen sie die Männer, die sie such ten, oder richtiger, sie sahen zunächst nur die Fackeln, die jene trugen. Nun stürmte Sun Koh vorwärts. Er wollte es nicht darauf ankommen lassen, daß sich in diesem engen Gang eine Schie ßerei im Dunkeln entspann. Die Leute hätten es zu leicht ge 37
habt, zu zweit oder zu dritt den Gang abzusperren und mitt lerweile das Mädchen weiterzuverschleppen. Bevor die Entführer sich noch recht darüber klar wurden, was vorging, war Sun Koh schon bei ihnen und hielt ihnen die Pistole unter die Augen. »Hände hoch!« befahl er. Die Leute standen wie geblendet in dem grellen Lichtke gel. Einer machte eine hastige Bewegung nach seinem Gürtel, aber schon peitschte ein Schuß, und er ließ die Hand mit ei nem Schmerzensschrei sinken. »Setzt die Trage nieder«, befahl Sun Koh. »Hal und Nim ba, ihr nehmt ihnen die Waffen ab.« Nach zwei Minuten war die Situation geklärt. Die Entfüh rer standen waffenlos auf einem Haufen, der von Hal bewacht wurde. Evelyn Gravor rieb sich die Stellen, an denen die Fes seln in ihre Haut eingeschnitten hatten. Sun Koh berichtete ihr kurz, daß Jimmy Beckett in Sicher heit sei, dann winkte er einen der Männer. »Wo wolltet ihr die junge Dame hinbringen?« Der Mann zögerte. Sun Koh hob die Pistole. »Ich zähle bis drei!« Das half. Der Mann begann zu zittern. »Nach Biban el Muluk, Herr«, sagte er. »In wessen Auftrag?« Wieder das Zögern, dann stockend: »Der Herr hat es be fohlen.« »Scheich Abu?« Der Mann nickte nur. Darauf begann der Rückmarsch. Da Sun Koh dem jungen Mädchen nicht zumuten wollte, mit ihren leichten Schuhen den langen, steinigen Weg in dem unbequemen Gang zurück 38
zulegen, ließ er sie wieder auf der Bahre Platz nehmen und diese von den Ägyptern tragen. Das verlangsamte naturgemäß das Tempo, und so war es bereits Spätnachmittag, als sie end lich wieder den Ausgang erreicht hatten. * Der Abend war schon ziemlich weit vorgerückt, als sich Jim my Beckett bei Sun Koh melden ließ. »Ich fürchtete schon, Sie seien überhaupt nicht aufzufin den«, sagte er. »Niemand wußte, wo Sie wohnen. So bin ich auf gut Glück durch die Hotels gegangen, um Ihnen für Ihre schnelle Hilfe die Hand schütteln zu können. Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar.« Sun Koh wehrte lächelnd ab. »Danken Sie dem glücklichen Zufall. Wie fühlt sich Miss Gravor?« »Sie hat sich erholt, nur den Schreck hat sie noch nicht ganz überwunden. Sonst ist ihr ja nichts geschehen. Ich lasse mich hängen, wenn nicht Abu hinter der Entführung steckt.« »Das steht fest. Ich fragte einen der Männer, und er gab zu, daß er von seinem Herrn den Befehl erhalten habe.« Jimmy rieb sich die Hände. »Ausgezeichnet – das bricht ihm den Hals. Ich denke, daß der Kerl nun Hals über Kopf verschwinden wird, damit man ihm nicht den Prozeß machen kann. Aber – warum hat mir Miss Gravor nichts davon gesagt? Sie meinte, sie wüßte es nicht.« »Ich fragte sehr leise, und sie achtete sicher nicht darauf. Im übrigen glaube ich auch, daß der Scheich die Stadt verlas sen wird, um den Folgen seiner Tat zu entgehen. Trotzdem, man kann es bei Menschen seiner Art nie genau voraussagen, 39
wie sie handeln werden. Vielleicht verläßt er sich auch auf die Schweigsamkeit seiner Untergebenen.« Jimmy ballte unbewußt die Hände. »Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als daß er noch hier ist. Ich habe einiges mit ihm zu bereden.« Sun Koh schüttelte den Kopf. »Verzichten Sie lieber darauf. Der Mann haßt Sie und wird vor nichts zurückschrecken.« Jimmy lachte grimmig. »Dann geht es ihm genauso wie mir. Ich werde auf jeden Fall versuchen, ihn noch anzutreffen.« Er verabschiedete sich voller Grimm. Sun Koh hatte seine Bedenken, aber er konnte ihn selbstverständlich nicht zurück halten. Die ganze Angelegenheit ging ihn ja nichts an. Er hat te in einem Notfall zugegriffen, im übrigen stand er zu den Nöten des jungen Paares in keinerlei Beziehung. Am nächsten Morgen wollte er ohnehin mit seinen Freunden die Stadt wie der verlassen. Eine Stunde später saß Jimmy Beckett zum zweitenmal Sun Koh gegenüber, diesmal jedoch völlig gebrochen und gegen sich und alle Welt wütend. »Ein Reinfall«, stöhnte er, »ein kompletter Reinfall. Ich habe mich direkt unmöglich gemacht. Die ganze Welt zwei felt an meinem Geisteszustand.« »Vielleicht doch nicht die ganze Welt«, tröstete Sun Koh. »Wollen Sie mir nicht erzählen, was vorgefallen ist?« Jimmy nickte kummervoll. »Hätte ich nur auf Ihren Rat gehört, dann hätte ich mir die letzte Stunde sparen können. Der Kerl ist ein ganz großer Gauner und dabei glatt und gewandt wie eine Schlange. Ich fuhr in seine Wohnung, wie ich Ihnen sagte, und hoffte, ich 40
könnte ihn ordentlich zwischen die Finger nehmen. Leider war er nicht anwesend. Ein Diener erklärte mir, der Scheich sei zum Ball gefahren. Das legte mich ja nun so ziemlich hin, denn auf eine solche Unverfrorenheit war ich nicht gefaßt. Ich denke, er verschwindet von hier, statt dessen amüsiert er sich quietschvergnügt auf dem Ball.« »Sie sind ihm gefolgt?« »Natürlich. In ganz Kairo gibt es heute abend nur einen Ball, nämlich bei Botschafter Masting. Ich bin selbst eingela den, hatte meine Karte in der Tasche. Im Abendanzug war ich nicht, aber das machte mir nichts aus, weil ich im Hause des Botschafters genau Bescheid weiß. Also kurz und gut, ich pirschte mich bis zum kleinen Salon vor und schickte dann einen Diener zum Scheich, der tatsächlich seelenruhig tanzte.« »Folgte er Ihrem Ruf?« Jimmy atmete tief auf. »Er kam – jeder Zoll ein Scheich. Wie ein Filmstar mar kierte er Erstaunen und leises Befremden, als er mich sah. ›Sie sind es?‹ sagte er. ›Was wünschen Sie so dringend von mir?‹ Ich hielt nicht viel vom langen Reden, sondern holte aus und langte ihm eine. Ein paar Leute, die dummerweise gerade in diesem Augenblick den Salon betraten, schrien entsetzt auf. Der Scheich wurde auf der einen Wange blaß und auf der an deren rot, und auf einmal hatte er ein Messer in der Hand und wollte auf mich los. Das kam mir gerade recht. Ich bin ein recht guter Boxer. Ich hätte ihn in einer Minute zusammenge droschen, aber da warfen sich die anderen Gäste zwischen uns, hielten mich fest und deckten den Halunken. Mittlerweile hatte die Band aufgehört, und von drüben drängte alles in hel len Scharen herein.« Sun Koh lächelte mit feinem Spott. 41
»Der Skandal, wie er sein soll.« Jimmy Beckett kratzte sich den Kopf. »Sie haben gut lachen, Botschafter Masting schrie mich verstört an: ›Was ist denn los? Sind Sie verrückt? Wie können Sie …‹“ Ich winkte ab und zeigte auf den Scheich, der vor Wut zit terte, dann erzählte ich in kurzen Worten von der Entführung Miss Gravors. Da richtete sich Abu auf und erklärte laut und deutlich, es sei alles Schwindel, er wüßte von nichts. Ich spielte meinen Trumpf aus mit der Aussage der Leute, die Sie gefangen haben. Trotzdem blieb er sicher, wurde immer kälter und bestritt alles. Das war mir zu bunt. Ich bat Masting, ans Telefon zu gehen und die Polizei zu befragen. Masting ging auch, kam nach einer Weile wieder. Die Polizei erwiderte ihm, daß ein Verhör noch nicht stattgefunden habe und auch nicht stattfinden könne, da alle Entführer tot seien. Eine Spei se, die man ihnen vor kurzem gebracht hatte, sei vergiftet ge wesen. Ein Verdacht gegen den Scheich liege nicht vor, und es sei auch nicht der geringste Grund zu einem solchen vor handen. Der Vorfall werde aber untersucht.« Sun Koh sah sehr ernst aus. »Der Scheich hat schnell gehandelt und die Zeugen gegen sich beseitigt.« Jimmy hob die Schultern. »Ich zweifelte keinen Augenblick an dem, was Sie mir ge sagt hatten. Leider nützte mir das nichts, denn ich war nun in der Lage, mit weiteren Beweisen dienen zu müssen. Die hatte ich nicht, und so stand ich ziemlich hilflos da. Ich weiß nicht genau, wie ich hinausgekommen bin, aber sicher war es nicht übermäßig ruhmvoll. Und nun sitze ich ganz hübsch in der Tinte, wenn ich dem Scheich sein Verbrechen nicht klipp und klar nachweisen kann.« 42
»Ich würde mir darüber nicht allzuviel Sorgen machen«, sagte Sun Koh. »Na, hören Sie mal!« protestierte Jimmy. »Nein«, betonte Sun Koh. »Ihre einzige und größte Sorge wird jetzt sein, über Ihr Leben zu wachen. Versetzen Sie sich bitte einigermaßen in die Lage des Scheichs. Sie haben ihn tödlich beleidigt. Er will seine Rache haben. Er hat ferner nach wie vor lebhaftes Interesse daran, Sie als seinen erfolg reichen Nebenbuhler aus dem Weg zu schaffen. Ist Ihnen klar, was das für Sie bedeutet?« »Vollkommen, aber es soll ihm nicht leichtfallen …« »Er wird sich dabei überhaupt nicht anstrengen«, unter brach Sun Koh ihn ziemlich schroff. »Sie müßten diesen Menschenschlag eigentlich kennen. Abu hat seine Leute, für die die Nichtausführung eines Befehls den Tod bedeutet. Er wird ihnen also befehlen, Sie zu beseitigen, und seine Diener werden Ihnen mit allen Möglichkeiten zu Leibe gehen. Sie entgehen vielleicht fünf Anschlägen, aber dem sechsten wer den Sie dann doch erliegen.« Jimmy zog knackend an seinen Fingergelenken. »Nette Aussichten, die Sie mir da prophezeien. Was wür den Sie mir raten?« Sun Koh sah ihn lange ernst an und sagte dann langsam: »Sie werden den Rat, den ich Ihnen geben kann, doch nicht befolgen.« »Nämlich?« »Verlassen Sie so schnell wie möglich Ägypten und neh men Sie Miss Gravor mit.« Jimmy zog die Brauen hoch. »Das – wäre eine Flucht.« »Aber das einzige Mittel. Sie werden Kairo trotzdem nicht verlassen?« »Wenigstens vorläufig nicht. Ich bin hier im Dienst. Und 43
Miss Gravor will zu ihrem Vater.« »Sie sind sich bewußt, daß Ihre Chance nur eins zu tausend steht?« Jimmy Beckett lächelte verlegen. »Ich sehe es ein, aber was soll ich tun?« »Sie könnten höchstens versuchen, den Angriffen jenes Mannes zuvorzukommen und ihn zwingen, sich eine Blöße zu geben.« Man sah es Beckett an, daß er sich nicht recht im klaren war, wie er den Ratschlag Sun Kohs in die Praxis umsetzen sollte. Er starrte eine Weile nachdenklich vor sich hin. Schließlich erhob er sich. »Am besten wird sein, ich überlege mir die Sache erst ein mal.« Sun Koh sprang auf. »Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich Sie begleiten. Mir ist, als liefen Sie geradewegs in den Tod.« Jimmy Beckett wehrte der Höflichkeit halber ab, ließ es sich aber im Grunde genommen recht gern gefallen, daß Sun Koh mit ihm kam. Sie fuhren in Jimmys Wagen zu seiner Wohnung, einem Bungalow, der inmitten eines blühenden Gartens lag. Als er den Wagen kurz vor der Garageneinfahrt abbremste, sah Sun Koh plötzlich, wie sich in den Büschen etwas Weißes beweg te. Er hatte es kaum wahrgenommen, als auch schon zwei Schüsse knallten. Instinktiv und sicher im letzten Moment riß er den jungen Mann einfach herunter und feuerte kurz darauf auf den hellen Schatten. Als sie beide unverletzt heraussprangen, lag der Garten to tenstill. Sun Koh beobachtete mit schußbereiter Waffe die Umge bung, während Jimmy Beckett den Wagen in die Garage fuhr. 44
Dann schritten sie nach oben. »Haben Sie einen Butler?« erkundigte sich Sun Koh. Beckett bejahte. »Er schläft wahrscheinlich schon. Im allgemeinen pflegt er auf mich zu warten, bis ich komme.« Sun Koh schüttelte den Kopf. »Ich fürchte fast, es liegen ernstere Gründe vor, daß Ihr Butler nicht erscheint. Ich gehe voraus. Geben Sie mir jeweils die Richtung.« Jimmy Beckett ließ Sun Koh vorausgehen. Die tiefe Ruhe im Haus kam ihm selbst unheimlich vor. Sun Koh bewegte sich außerordentlich vorsichtig. Er er wartete in jedem Augenblick einen Überfall oder sonst eine unangenehme Überraschung. Die Leute hatten Zeit gehabt, um alles gründlich vorzubereiten. Sorgfältig prüften seine Augen die Umgebung, aber nichts verriet, daß irgend etwas nicht in Ordnung war. Erst als Be ckett auf eine Tür wies, die zu seinem Wohnzimmer führen sollte, fiel Sun Koh etwas auf. Er ließ die Hand, die nach der Klinke greifen wollte, sin ken und bückte sich. »Pflegen Sie immer Fäden um Ihre Türgriffe zu wickeln?« »Nein«, gab Beckett erstaunt zurück. Sun Koh löste bereits den feinen Faden. »Ah, hier haben Sie eine nette Überraschung. Sehen Sie die kurze scharfe Spitze, die an dem Faden angebunden ist? Sie war durch den Türgriff verborgen. Unter gewöhnlichen Um ständen würde sie in Ihren Finger eindringen, wenn Sie die Tür öffnen wollten. Ich wette, daß die Spitze mit einem töd lich wirkenden Gift präpariert ist.« Beckett biß die Zähne aufeinander und schwieg. Sun Koh betrat das Wohnzimmer. Auch hier war nichts 45
Auffälliges. Auf einem Tablett stand eine Karaffe Wein. »Trinken Sie nicht davon«, riet Sun Koh. »Sind das hier Ihre Zigaretten?« »Ja.« »Rauchen Sie sie nicht, es könnten einige dabeisein, die Ihnen nicht bekommen.« Wie recht Sun Koh mit diesen Warnungen hatte, erwies sich erst am nächsten Tag. Sowohl Wein wie Zigaretten wa ren vergiftet. An der Verbindungstür zum Schlafzimmer fand Sun Koh einen zweiten Mordstachel. Die Leute hatten tatsächlich gründliche Arbeit geleistet. Wenn Jimmy Beckett auch einoder zweimal am Tod vorbeigegangen wäre, an irgendeiner Stelle hätte es ihn doch erwischt. Das Schlafzimmer bot das gleiche harmlose Bild wie alles vorher. Der mißtrauische Sun Koh fand jedoch unter der Bett decke eine der kleinen Schlangen, gegen deren Biß es kein Gegenmittel gibt. Er hieb ihr kurzerhand den Kopf, den sie ihm entgegenschnellte, mit dem Messer ab. Jimmy Beckett war sehr blaß. »Ich wäre schon längst ein toter Mann«, flüsterte er, »wenn Sie nicht mitgegangen wären.« Er trat ans Fenster, da ihm zumute war, als würde ihm die Brust eingeschnürt. Sun Koh sah es fast zu spät. Er konnte ihn gerade noch wegreißen, als durch den offenen Flügel ein Schuß peitschte und in die gegenüberliegende Wand eindrang. »Seien Sie nicht so leichtsinnig«, sagte er scharf. »Sie bie ten sich ja gerade als Zielscheibe dar. Versuchen Sie ein paar Stunden zu schlafen. Ich werde bei Ihnen bleiben. Am Mor gen sind Sie leidlich sicher.« Jimmy Beckett, dessen Nerven in der letzten halben Stunde erheblich gelitten hatten, fügte sich Sun Kohs Vorschlag. 46
Trotz aller Vorsicht wäre er doch noch um ein Haar den Anschlägen zum Opfer gefallen. Er ging ins Badezimmer. Sun Koh prüfte es erst durch, fand aber beim besten Willen nichts Gefährliches in ihm. Erst als er die Seife in die Hand nahm, fand er an ihrer Unterseite die dritte jener gefährlichen Spitzen. Jimmy Beckett hätte sich beim Waschen unweiger lich an ihr gerissen. Diese letzte Erkenntnis war für sein offenes, gerades Ge müt fast zuviel. Er zitterte förmlich vor innerer Erregung und sagte mühsam beherrscht: »Ich hätte nicht gedacht, daß man mit solchen Mitteln kämpfen kann. Ich glaube, ich werde morgen doch mit Miss Gravor die Stadt verlassen.« »Ein kluger Entschluß«, sagte Sun Koh. »Aber nun schla fen Sie. Morgen werden wir weitersehen.« »Mein Butler!« fiel Beckett ein. »Sie werden ihn doch nicht etwa getötet haben?« »Ich werde ihn suchen«, entschied Sun Koh. »Schließen Sie die Tür hinter sich und bleiben Sie vom Fenster weg. Oder warten Sie, es ist besser, wenn Sie mitkommen. Ihnen sind die Räumlichkeiten bekannt.« Sie durchstöberten das ganze Haus und fanden den Butler schließlich in einem Nebenraum der Küche. Er kam gerade wieder zu sich, aber er war so verwirrt und wußte so wenig, daß seine Aussage nichts nützte. Das einzige, woran er sich erinnerte, war ein verdächtiges Geräusch gewesen. Beckett schickte ihn auf Sun Kohs Geheiß zu Bett. Es dauerte lange, bevor Jimmy Beckett selbst zum Schla fen kam. Erstens schien es ihm nicht ganz faßbar, daß ein Mann über seinem Leben wachte, und zweitens wirkte die Erregung des Tages noch lange in ihm nach. Endlich gingen seine Atemzüge tief und ruhig. Aber das leichtsinnige, heitere Lächeln, das seine Züge 47
sonst so jung erscheinen ließ, lag heute nicht auf seinem Ge sicht. Die Mienen blieben trotz des Schlafes scharf und quä lend gespannt. Jimmy Beckett war innerhalb von vierundzwanzig Stunden ernster geworden als bisher in seinem ganzen Leben. Und er wurde nicht gerade heiterer, als er am nächsten Vormittag erfuhr, daß Evelyn Gravor abgereist war. * Assuan ist ein herrliches Fleckchen Erde. Ringsum in der Wüste haben die Pharaonen ihre Geschich te eingemeißelt. Im Osten, zwischen Assuan und Schellal, liegen die Steinbrüche, aus denen sich die Ägypter den wun dervollen Granit für ihre Baudenkmäler holten. Noch heute liegen dort zahlreiche Blöcke, die aus dem Felsen herausge sprengt, aber nie zum Bau verwendet wurden. An den Felsen sieht man noch Spuren der damaligen Technik, die Blöcke ohne Dynamit wegzusprengen. Die Ägypter bohrten zahlrei che Löcher in den Felsen, trieben Holzkeile hinein und tränk ten diese mit Wasser. Mit dem Aufquellen des Holzes platzte der Felsen. Diese Steinbrüche, aus denen die Tempel, Paläste und Grabdenkmäler der Pharaonen geschaffen wurden, lieferten in jüngster Zeit das Material zu einem Wunderwerk moderner Technik, zu dem riesigen Staudamm von Assuan. Zwei Kilometer lang und vierzig Meter hoch zieht er sich quer von Ufer zu Ufer dicht unterhalb des ehemaligen Was serfalles. Sieben Meter ist der Damm oben breit und dreißig Meter unten. Einhundertachtzig tunnelartige Schleusen führen durch den Damm hindurch und verteilen das Wasser, vierzig obere Schleusen regeln den Abfluß des Hochwassers im Stau 48
see, der eine Wassermenge von zwanzig Millionen Kubikme ter faßt, ausreichend, um zweitausend Quadratkilometer Bo dens zu kultivieren. Dieses Wissen vermittelt jeder Fremden führer, aber den unvergleichlichen Eindruck dieses ungeheu ren, sachlich kühlen Bauwerks inmitten der romantischen Umgebung muß der Tourist selbst in sich aufnehmen. Rechts am Ufer liegt Assuan. Es ist eine interessante Stadt, wer aber in der Hoffnung kommt, den geheimnisvollen Zau ber Afrikas in sich aufnehmen zu können, der hat sich ge täuscht. Wohl trifft man hier noch, sofern man sich der Mühe unterzieht, genügend Nubier, Beduinen, Bischarin und Abab den, doch im wesentlichen ist Assuan eine höchst moderne ägyptische Stadt, in der man monatelang leben kann, ohne groß etwas von Afrika zu spüren. Es war spätabends. Im nachtdunklen Park des ImperialHotels saßen drei Personen im Rondell. Sie hatten sich in die runde Steinbank zurückgelehnt und starrten auf ihre Füße, die einträchtig nebeneinander auf dem Tisch lagen. Die linke Flanke bildete der ehrenwerte Dr. Jan Hout, eine massige, schwere Erscheinung mit einem knolligen Säuferge sicht, aber nachweislich im Besitz überragender medizinischer Fähigkeiten. Er hielt in der Rechten eine Zigarre, in der Lin ken eine halbgeleerte Flasche Genever, an der er dann und wann genießerisch nuckelte. Die rechte Flanke nahm der Neger Nimba ein, annähernd zwei Meter groß und derartig mit Muskeln bepackt, daß Leute mit schlechtem Gewissen bei seinem Anblick blaß wurden. Er sog ebenfalls an einer Zigarre, die zwischen seinen mächtigen Händen fast verschwand. Klein und zierlich saß zwischen beiden Hal Mervin, sech zehn Jahre alt, mit grinsendem Gesicht, als hätte er irgendei nen Streich im Sinn. 49
Die drei Genossen schwiegen. Nur dann und wann fiel eine kurze Bemerkung, nur ab und zu grunzte einer vor Behaglich keit. Es war wirklich idyllisch. Seit zwei Stunden lagen sie nun hier und fühlten noch nicht die geringste Neigung, sich zu verändern. Leichte Schritte näherten sich. Die Köpfe vollführten eine kleine Schwenkung nach rechts. Die härteren, eiligen Schritte eines Mannes kamen hinterher. »Liebespaar«, analysierte Hout. Der Mann mußte die Frau in unmittelbarer Nähe des Ron dells eingeholt haben. Ein kleiner, erschreckter Aufschrei war zu hören, dann die gedämpfte Stimme des Mannes: »Endlich kann ich Sie allein sprechen, Miss Evelyn. Ich habe Ihnen viel zu sagen.« »Ich lege keinen Wert darauf, mit Ihnen zu sprechen, Scheich Abu el Muluk.« Die weibliche Stimme klang schroff und doch voll innerer Unsicherheit. »Im Interesse Ihres Vaters werden Sie Wert darauf legen«, erwiderte der Mann mit unmißverständlicher Drohung. »Sie halten seine Ehre und wohl auch sein Leben in der Hand. Überlegen Sie sich das wohl, bevor Sie mich so schroff be handeln.« »Ich verstehe Sie nicht«, antwortete sie bestürzt. »Sie verstehen mich sehr gut«, erwiderte er. »Sie wissen, daß Ihr Vater finanziell völlig von mir abhängig ist?« »Von Ihnen?« »Von mir. Ich brauche ja kein Geheimnis daraus zu ma chen, daß ich alle Verpflichtungen Ihres Vaters aufkaufte, nachdem ich Sie kennenlernte.« »Das ist doch kaum acht Tage her.« »Man arbeitet schnell in unserer Zeit«, erwiderte der Mann, und die drei Zuhörer glaubten, ihn hämisch grinsen zu sehen. 50
»Und warum taten Sie es?« fragte das Mädchen. »Weil ich Sie liebe, Miss Evelyn. Ich kann ohne Sie nicht leben. Sie müssen meine Frau werden.« »Und wenn ich mich weigere?« »Dann …« Der Mann sprach nicht weiter, aber in seinem Schweigen lag die Drohung so unverhüllt und unmißverständ lich, daß keiner der Männer daran zweifelte, was er meinte. »Ich liebe Sie nicht«, sagte das Mädchen. »Um Ihres Vaters willen werden Sie es lernen, Evelyn. Kommen Sie, geben Sie Ihrem zukünftigen Mann ein Küß chen.« »Ich verabscheue Sie!« entgegnete das Mädchen heftig. »Soll mir auch gleich sein.« Der Mann lachte hämisch. Die Geräusche eines stummen Kampfes waren zu verneh men. Hal Mervin war am schnellsten auf den Beinen. »Dem Bruder muß man mal etwas Anstand beibringen«, flüsterte er und eilte quer durch die Büsche auf die Geräusche zu. Nach wenigen Metern bereits bemerkte er dunkel und schattenhaft die beiden Gestalten. Das Mädchen wehrte sich offensichtlich verzweifelt gegen die brutalen Zugriffe des Mannes. »Na, was ist denn hier geplatzt?« rief Hal und sprang auf den Weg. Der Mann gab das Mädchen mit einem Stoß frei, so daß es taumelte. Hal sah in einem Lichtstreifen, der vom Hotel herüber durch die Bäume fiel, ein bleiches, hübsches Gesicht mit gro ßen Augen und verwirrten Haaren. Im gleichen Lichtschim mer bemerkte er auch den Mann. Dieser Mann stutzte sekundenlang, bis er erkannte, daß es der Junge war, der ihn gestört hatte. Dann knurrte er zornig 51
auf: »Was fällt dir ein? Eine unglaubliche Frechheit, erwach sene Leute zu belästigen. Scher dich zum Teufel, sonst mache ich dir Beine!« »Nur nicht so hastig«, erwiderte Hal gelassen und blieb breitbeinig stehen. »Ich werde gehen, sobald sich die Lady von Ihren Belästigungen erholt hat und ich sie ins Hotel be gleiten kann. Lassen Sie sich nicht aufhalten!« Der Mann trat drohend auf Hal zu. »Du willst wohl den Kavalier spielen, Jüngelchen? Mach, daß du fortkommst!« Der Mann hieb zu. Aber er schlug nur ein Loch in die Luft, denn Hal hatte sich blitzschnell geduckt und rammte nun von unten herauf seinem Gegner die Fäuste in den Magen, so daß dieser japsend in die Rumpfbeuge ging. Er war aber hart ge nug, um unter dem Stoß nicht zusammenzuklappen, im Ge genteil, er setzte jetzt ernsthaft zu einem Kampf an, bei dem Hal unbedingt den kürzeren gezogen hätte. Aber schon war die Verstärkung zur Stelle. Bevor der Mann zum zweitenmal ausgeholt hatte, huschte ein Schatten aus dem Gebüsch heraus. Jan Hout griff ein. Er stellte seine Flasche auf die Erde, packte den Mann mit der linken Hand vorn an der Brust, hob ihn wie einen unartigen Säugling in die Luft und versetzte ihm mit der Rechten eine derartige Ohrfei ge, daß sich der Kopf des Mannes förmlich auf den Rücken drehte. »Junge, Junge«, knurrte Hout dabei vergnügt, »dir werde ich beibringen, was Anstand ist. Verschwinde!« Damit ließ er den Mann niederplumpsen, gab ihm im Fal len jedoch mit der linken Hand eine zweite Ohrfeige, um den Kopf wieder zurechtzurücken. Wer jemals von Jan Hout eine Ohrfeige bekommen hatte, der war imstande, die Gefühle eines Menschen zu beschrei 52
ben, dem versehentlich eine Kegelkugel an den Kopf geflogen ist. Wer zwei Ohrfeigen gekostet hatte, der fühlte sich ir gendwo in der Milchstraße angesiedelt. Dieser Mann hatte den Genuß gehabt. Nichts beweist die Stärke des menschli chen Selbsterhaltungstriebs besser als der Umstand, daß er trotzdem noch schnell genug die beachtliche Schuhnummer Houts erkannte und fluchtartig vor ihr davonstürzte. Hal Mervin verbeugte sich wie ein Gentleman vor der jun gen Dame, die bestimmt während dieser Ereignisse kaum mehr als zwei Atemzüge getan hatte. »Ihren Arm, Miss Evelyn«, sagte er großartig, »Sie dürfen sich unter meinem Schutz sicher fühlen. Gestatten Sie, daß ich Sie in Ihr Hotel begleite?« »Oh – oh«, stotterte das Mädchen verwirrt, »vielen Dank.« Und dann begann sie auf einmal haltlos zu schluchzen. Sie schlug die Hände vor das Gesicht, und ihre Schultern zuckten. »Nun, nun«, murmelte Hal und machte eine betroffene Miene. »Nun, nun«, seufzte der herantretende Nimba und massier te sich mit den Handknöcheln seinen Schädel. »Nun, nun«, grunzte Hout leicht gerührt und legte sanft seine Hand auf das gebeugte Köpfchen Evelyns. Leider hatte er übersehen, daß er die halbvolle Geneverflasche wieder auf genommen hatte. So war denn der Erfolg seiner mitleidigen, väterlichen Regung etwas überraschend. Aus der Flasche gluckerte das kostbare Naß über die Haare des Mädchens. Kummer und Alkohol vertragen sich zwar sonst sehr gut, aber in diesem Fall schien die Form der alkoholischen Darbie tung doch nicht ganz die angemessene zu sein. Evelyn warf jedenfalls mit einem entsetzten Aufschrei die Arme zurück, schmetterte damit die Flasche zu Boden, stand sekundenlang wie eine verpfuschte Statue, starr unter dem grausigen Ein 53
druck der Berieselung, schrie dann abermals auf und stürzte schließlich, wie von den sattsam bekannten Furien verfolgt, davon. »Hm«, stöhnte Nimba und schielte besorgt auf Hal. Der holte erst einmal tief Luft und murmelte dann hörbar: »Herrgott, Doktor, das haben Sie aber wieder mal fein ange stellt. Mit Ihnen ein Drama zu spielen, ist gerade so gut, als wollte man eine Katze in den Schwanz kneifen und einen Liederabend geben.« Hout nahm Hals Kritik ohne Widerspruch hin und seufzte nur entschuldigend: »Verdammt, an die Flasche hatte ich nicht mehr gedacht.« »Folgen des Alkoholgenusses, Punkt drei: Der Alkohol zerrüttet die Gehirntätigkeit«, sagte Hal anzüglich. »Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf, so werfen Sie sich in Ihren besten Anzug und bitten bei der Lady feierlichst um Ent schuldigung.« Hout fuhr wild herum. »Das hätte mir gerade noch gefehlt. Erstens ist außer die sem Räuberzivil mein blaugestreifter Schlafanzug mein einzi ges anständiges Kleidungsstück.« »Vom Schlafanzug würde ich abraten«, sagte Hal. »Aber vielleicht kann Nimba Ihnen aushelfen.« »Wieso? Hat er einen Smoking dabei? Ich würde darin doch nur aussehen wie ein Vexierbild«, knurrte der Doktor unsicher. »Keine Angst, Doktor, ich habe keinen Smoking dabei«, tröstete Nimba mitfühlend. Hal schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Wer spricht denn von einem Smoking? Ich meine doch nur, Sie sollen Nimba mitnehmen. Wenn Ihnen der freund schaftlich seine Pranke über die Schulter legt, können Sie 54
getrost in Ihrem Hemd gehen, so wenig wird man von Ihnen sehen.« Nimba platzte los, Hout fuhr jedoch grimmig auf. »Dich soll doch gleich der Teufel massakrieren, wenn du mich verkohlen willst.« »Keine Beleidigungen«, protestierte Hal würdevoll, »sonst erzähle ich es Mr. van Ryken, was Sie unter Umgang mit Damen verstehen. Aber jetzt will ich erst mal sehen, ob die junge Dame glücklich gelandet ist.« Der Arzt kratzte sich nachdenklich am Kopf, dann bückte er sich nach der Flasche, stellte im Lichtschimmer fest, daß sie leer war, und murmelte schwer: »Kleiner Mann, was nun?« * Hal berichtete den Vorfall tatsächlich Sun Koh und Ryken. Als am nächsten Morgen die ganze Gesellschaft mit einer anderen Touristengruppe im Schiff zur Insel Philae hinüber fuhr, hatte der arme Doktor alle Hände voll zu tun, um sich der Sticheleien seines Freundes zu erwehren. Glücklicherwei se ließen sie im gleichen Maße nach, wie Landschaft und Bauten sehenswürdiger wurden. Die Insel Philae gilt als das schönste Idyll des gesamten Niltales. Sie ist nur dreihundertundfünfunddreißig Meter breit, aber auf diesem Fleckchen Erde stehen die herrlichsten Tem pelbauten. Hier wurden schon in uralten Zeiten Osiris, Hathor und Nephthys sowie Chnum und Satet, die beiden Götter des Nilkatarakts, verehrt, vor allem aber Isis, die Göttin der Ägyp ter. Die Bauten selbst sind freilich verhältnismäßig jung. Der älteste vorhandene Tempel wurde von Nektanebos IL im vier ten Jahrhundert v. Chr. gebaut, die anderen stammen über wiegend aus der Zeit der Ptolemäer und Cäsaren. Aus den 55
zahlreichen Inschriften geht hervor, daß in jener Zeit die Pil ger scharenweise zu der Insel kamen, um den Segen der ge heimnisvollen Göttin Isis zu erflehen. Sogar die räuberischen Nubier und Blemmyer knieten vor der heiligen Isis, opferten neben den ägyptischen Priestern und durften sogar von Zeit zu Zeit das wundertätige Bild der Göttin bei sich aufbewahren. Das Touristenboot legte an, die Passagiere strömten schau lustig auf die Insel. Aber schon bemächtigten sich die Führer ihrer Opfer und schleiften sie hinter sich her. Sun Koh und seine Begleiter hätten die Herrlichkeiten der Insel ganz gern still für sich genossen, aber es gab bei deren geringer Größe einfach nicht die Möglichkeit, die stimmge waltigen Erklärungen zu überhören. So nahmen sie es denn in sich auf, und als sie erst einmal den Humor der Sache erfaßt hatten, trugen sie es sogar mit Heiterkeit. »Ladies und Gentlemen«, deklamierte der leicht krumm beinige Führer in einem merkwürdig näselnden Englisch, »hier sehen Sie vor sich den Tempel der Isis, die bekanntlich die Liebesgöttin der alten Ägypter gewesen ist.« »Huch, nein«, schrie Hal entzückt, der einen untrüglichen Sinn für menschliche Schwächen hatte, »der Kerl zieht genauso ein Gesicht wie Sie, Doktor, wenn Sie vom Schnaps reden.« »Frechheit«, entrüstete sich Hout, »blöde sieht er einfach …« Er brach schleunigst ab, aber Hal frohlockte schon: »Nun, eben.« »Dies hier ist der erste Pylon«, deutete der Führer. »Er be steht aus zwei Türmen. Der rechte ist achtzehn Meter hoch, der linke ebenfalls. Allein schon das ist ein Beweis für die hervorragende Baukunst, die hier stattgefunden hat. Nun be achten Sie bitte die kolossale Figur, die auf diesem rechten Turm eingehauen ist. Ladies und Gentlemen, das ist keine häusliche Szene, sondern der Pharao Ptolemäus XIII. Neos 56
Dionysos, der seine Feinde bei den Haaren packt und die Keu le über sie schwingt, was in unseren friedlichen Zeiten als Grausamkeit gilt.« »Klassisch«, stöhnte Hai. »Sie würden die Flasche statt der Keule nehmen, Doktor.« »Laß deine unpassenden Bemerkungen«, kam knurrend die Antwort. »Ladies und Gentlemen«, fuhr der Führer fort, »wir kom men nun zum zweiten Pylon. Hier rechts sehen Sie über die sem natürlichen Granitblock das Bildnis von Ptolemäus VI. neben ihm seine angetraute Gattin, die meistens seine Schwe ster gewesen ist, vor ihnen die Götter Osiris, Isis und Horus. Auf dieser Hälfte hier stehen die gleichen Götter vor Ptole mäus XIII. woraus Sie die allseitige Beliebtheit der Götter ersehen können.« Die Gruppe bewegte sich ein Stück weiter. »Jetzt nähern wir uns dem Geburtshaus, Ladies und Gent lemen«, verkündete der Krummbeinige. »Hier sehen Sie eine Darstellung der Geburt des Horus, der eigentlich Harpokrates hieß. Sie brauchen nicht wegzusehen, meine Damen, es geht hier alles in Ehren zu. Und nun, wenn Sie mir folgen wollen, so zeige ich Ihnen den Isistempel, was hier die Hauptsache ist. Sie werden da noch den Altar sehen, der früher die heilige Barke und das Bildnis der Götter trug.« In dieser Tonart ging es weiter, durch alle Schönheiten der Insel hindurch, die selbst durch die Erklärungen nicht beein trächtigt werden konnten. Der Hathortempel mit seinen Dar stellungen von Tänzern und Musikern war wundervoll, und der säulengestützte Kisok gehörte unzweifelhaft zu den ent zückendsten Bauwerken der Erde. »Nun, wie gefällt es Ihnen?« erkundigte sich Ryken bei Sun Koh. 57
Über Sun Kohs Gesicht flog ein leichtes Lächeln. »Trotzdem ausgezeichnet. Es ist ein merkwürdiges Erleb nis, seine eigenen Ahnen hier in fremdem Land als Götter wiederzufinden.« Ryken sah ihn erstaunt an. »Wie meinen Sie das?« »Die Göttin Isis ist weiter niemand als einer meiner Vor fahren, die Maya-Königin Moo.« »Nanu, wie kommen Sie darauf?« Sun Koh wies mit einer Handbewegung auf den breitströ menden Nil. »Warum befindet sich der heiligste Tempel der Isis gerade auf dieser winzigen Insel, oberhalb des früher als Riegel wir kenden Nilkatarakts, weit entfernt von den eigentlichen Kul turzentren der Ägypter? Warum ist das heiligste Symbol der Göttin die Barke?« Ryken hob die Schultern. »Woher soll ich das wissen?« »Und noch eins«, sagte Sun Koh, ohne die Frage zu be antworten. »Im Sand von Gizeh liegt zu Füßen der Pyramiden eine mächtige Sphinx. Unter den Trümmern verfallener Palä ste und Tempel, inmitten von Schlingpflanzen, Kakteen und undurchdringlichem Gestrüpp fanden amerikanische Forscher auf der Halbinsel Yukatan, nämlich in Chichen-Itza, ebenfalls eine steinerne Sphinx. Sie ist etwas kleiner als die von Gizeh und älter, aber sie hat eine verblüffende Ähnlichkeit mit ihr, die sogar bis in die kleinsten Einzelheiten geht. Selbst die Haupthieroglyphen der ägyptischen Sphinx fand man in Yu katan wieder.« »Nehmen Sie es mir nicht übel«, sagte der Holländer, »aber Sie machen es genauso wie Donnel, der auch immer irgendwelche verblüffende Tatsachen hinstellt und mich dann 58
daran kauen läßt. Sie wollen eine Beziehung zwischen Yuka tan und Ägypten herstellen?« »Ich will Ihnen eine alte Geschichte erzählen«, erwiderte Sun Koh lächelnd. »Lange bevor hier Pharaonen zu herrschen begannen, blühte in Yukatan das Volk der Mayas, schuf dort herrliche Bauten, deren Trümmer noch heute zu sehen sind. Die Mayas waren ein seefahrendes Volk. In grauen Vorzeiten zogen Expeditionen von ihnen nach Westen. Sie segelten über den Stillen Ozean, berührten die Küsten Indiens, gingen aber erst in Westafrika an Land. Über Abessinien drangen sie vor bis ins Niltal und gründeten dort eine Kolonie.« »Ah, etwa hier?« »Leicht möglich, daß sich hier ein wichtiger Stützpunkt be funden hat. Die Mayas dehnten ihre Herrschaft allerdings sehr bald aus und wurden die Begründer des ägyptischen Reiches, die Ahnen der Pharaonen.« »Eine kühne Behauptung«, sagte Ryken. »Geduld«, meinte Sun Koh. »Jahrhunderte nach dem Ein dringen der Mayas in das Niltal regierte auf Yukatan der Kö nig Koh, ein mächtiger, edler Fürst. Nach uraltem Brauch hatte er seine Schwester Moo zur Gattin genommen.« »Wie bei den Ägyptern«, sagte der Holländer überrascht. »Und wie bei den Inkas«, ergänzte Sun Koh und fuhr fort: »Jener König Koh, dessen Namen ich trage, hatte einen jünge ren Bruder Aak. Dieser trachtete nach Thron und Gemahlin seines Bruders, und es gelang ihm tatsächlich, ihn zu besiegen und gefangenzunehmen. Er tötete ihn durch drei Lanzenstiche in den Rücken. Der Schmerz der Königin Moo war ungeheu er. Während noch der Kampf um das Reich tobte, ließ sie eine Grabstätte errichten, die sie nach alter Sitte mit einer Sphinx schmückte, deren Antlitz die Züge des Ermordeten trug. Dann bestieg sie, um den Werbungen des Mörders zu entgehen, ein 59
Schiff und fuhr damit nach Osten. Sie wollte zum Land Mu, der eigentlichen Heimat ihres Volkes. Das Land Mu – wir nennen es heute Atlantis – war aber damals bereits im Meer versunken. So fuhr sie denn immer weiter nach Osten und gelangte schließlich nach Afrika und ins Niltal. Hier war die Überliefe rung von den ersten Kolonisten noch lebendig, man nahm die flüchtende Königin des Mutterlandes mit großen Ehren auf und bot ihr Zuflucht bis an ihr Lebensende. Und als sie starb, wurden Icim, so nannte man Moo – Icim heißt Schwesterchen –, göttliche Ehren zuteil. Aus Icim wurde Isis, und die ge schichtlichen Ereignisse um Koh und Aak wandelten sich zur ägyptischen Sage von Isis, Osiris und Seth. Und das gewaltige Denkmal, das die Königin Moo ihrem geliebten Gemahl in der Fremde setzte, finden wir noch heute – eben die große Sphinx, das Abbild jenes steinernen Leoparden in Chichen-Itza.« »Eine erstaunliche Sage«, murmelte Ryken nachdenklich. »Durchaus keine Sage«, widersprach Sun Koh, »sondern geschichtliche Wahrheit. Die Schicksale der Maya-Königin Moo in Yukatan können Sie noch heute eingeritzt lesen, und zwar an dem schon genannten Mausoleum in Chichen-Itza. Nehmen Sie dazu eine der wenigen erhalten gebliebenen Schriften der Mayas, das Troano-Manuskript dazu, so kom men Sie in Übereinstimmung mit dem berühmten Kenner der Maya-Hieroglyphen, Le Plongeon, zwangsläufig auf eben die Darstellung, die Sie als Sage bezeichneten.« Ryken sagte: »Herrgott, ich glaube, ich begreife allmäh lich, warum so ein verrücktes Huhn wie Donnel weiter nichts macht, als sich mit solchen uralten Dingen zu beschäftigen. Was ist man doch für ein Waisenknabe in dieser Hinsicht. Man bildet sich immer ein, die Kultur habe gewissermaßen erst mit der eigenen Geburt angefangen oder wenigstens erst 60
in den letzten paar Jahrhunderten. Und dann ahnt man plötz lich, daß unser ganzes Treiben nur die Winzigkeit eines ge waltigen Kulturgeschehens ist, das vielleicht vor Tausenden von Jahren bereits seine höchste Blüte hatte.« Sun Koh antwortete nicht. Sein Blick war sinnend auf den Tempel der Isis gerichtet. Ryken erschrak förmlich, als seine Blicke Sun Kohs Gesicht streiften. Noch nie war ihm aufge fallen, wie fremdartig dieses Gesicht war. Es hatte sowenig von Europa wie von einem anderen Erdteil. So hatten viel leicht die Pharaonen ausgesehen, die Maya-Könige – oder die Herrscher des versunkenen Atlantis. Der Holländer wußte mehr vom Leben und der Geschichte dieses jungen Mannes als dieser selbst, wenn er es sich auch nie anmerken ließ. Aber heute wurde ihm zum erstenmal be wußt, was es bedeutete, daß hier ein Nachkomme der atlanti schen Könige lebend neben ihm stand. Ein zweiter Dampfer hatte auf der Insel angelegt, dem eine Schar Touristen entströmt war. Eine junge Dame löste sich aus der großen Menge. Ihre ganze Haltung verriet, daß sie mit nicht gerade heiteren Gedanken beschäftigt war. Sie fuhr erschrocken herum, als Sun Koh an sie herantrat und leise sagte: »Sie sind traurig, Miss Gravor? Brauchen Sie Hilfe?« »Ich – ich?« stammelte sie. Mit beruhigender Stimme erwiderte er: »Meine Leute be richteten mir, daß Sie gestern abend wieder durch Scheich Abu el Muluk belästigt wurden. Ich habe den Eindruck, daß Sie allein stehen und sich der Drohung jenes Herrn nicht recht zu erwehren wessen. Es liegt nicht in meiner Absicht, mich in Ihre Privatangelegenheiten zu drängen, aber ich möchte Ihnen die Gewißheit geben, daß Sie jederzeit auf meine Hilfe zählen dürfen.« 61
In ihrem wirklich hübschen, aber sehr blassen Gesicht zuckte es halb wie Abwehr, halb wie Weinen. Ihre großen Augen starrten auf den fremdartigen, königlichen Mann erst zweifelnd und ängstlich, dann wuchs das Vertrauen. Nach einer ganzen Weile antwortete sie zögernd: »Ich danke Ihnen. Sagen Sie auch bitte Ihren Leuten meinen Dank. Es war – scheußlich …« Ihr Kopf senkte sich, und sie sprach hastig weiter: »Aber es war ein Irrtum. Ich werde mich noch heute mit ihm verloben.« Sun Koh las zuviel aus der Seele des Mädchens heraus, um sich damit zufriedenzugeben. Er fragte eindringlich: »Wegen Ihres Vaters, Miss Gravor? Sie lieben doch den Scheich nicht?« Sie antwortete nicht, hob nur mit einer hoffnungslosen Bewegung die Schultern. »Wollen Sie mir nicht von sich und Ihrem Vater erzäh len?« bat Sun Koh sanft. Es war merkwürdig, wie alle Maßstäbe, die sonst für ge sellschaftliche Beziehungen gelten, innerhalb von wenigen Minuten sich spurlos aufzulösen schienen. Die Persönlichkeit Sun Kohs war so stark, daß sie einfach belanglos wurden. So begann Evelyn Gravor tatsächlich zu sprechen, obgleich Sun Koh für sie ein völlig Fremder war. »Mein Vater ist Archäologe. Er liebt seinen Beruf und sei ne Forschung über alles. Sie haben ihn sein großes Vermögen gekostet und mehr als das. Er hat für seine jetzigen For schungsarbeiten große finanzielle Verpflichtungen übernom men, denen er um so weniger gerecht werden kann, als sein Bankhaus vor kurzem zusammengebrochen ist. Der Scheich hat sich zum Alleingläubiger gemacht. Sobald er seine Forde rungen präsentiert, muß mein Vater seine Arbeiten einstellen. Und ich fürchte, er wird das Leben nicht mehr ertragen, eines 62
teils um seiner Ehre willen und anderenteils, weil es ohne Forschung jeglichen Reiz für ihn verloren hat.« Sun Koh schüttelte leicht den Kopf. »Könnte Ihr Vater vergessen, daß er noch eine Tochter hat?« Um ihre Lippen zuckte ein schmerzliches Lächeln. »Wäre das erstaunlich bei einem fanatischen Gelehrten? Ich bin ihm nie Lebensinhalt gewesen. Meine Mutter starb bei meiner Geburt, ich wurde bei Verwandten großgezogen, wäh rend mein Vater im Ausland seiner Arbeit nachging.« »Sie sind auch jetzt nicht mit ihm zusammen?« »Ich will gerade zu ihm. Er gräbt in der Nähe von Abu Simbel. Vor zwei Jahren habe ich ihn das letztemal gesehen, aber er ist trotzdem der einzige Mensch, den ich liebe. Ich wollte zunächst eine Tante besuchen, die in Kairo lebt, aber sie ist vor kurzem gestorben. Eigentlich müßte ich längst schon in Abu Simbel sein, aber…« »Mr. Beckett?« »Die Bekanntschaft mit mir brachte ihm nur Unannehm lichkeiten. Deshalb reiste ich lieber ab.« »Vermutlich die größte Unannehmlichkeit für ihn«, meinte Sun Koh. »Abu el Muluk hat jedenfalls Ihre Spur gefunden. Er will Sie erpressen?« »Er will meinen Vater ruinieren.« »Sie werden ihn trotzdem nicht heiraten!« »Ich kann nicht anders.« Er schüttelte energisch den Kopf. »Das ist ein Irrtum. Erstens würde Ihr Vater vermutlich ein derartiges Opfer nie annehmen …« »Er wird nichts davon erfahren«, flüsterte sie. »Und zweitens«, fuhr er fort, »besteht absolut keine Not wendigkeit dazu. Sie werden mir gestatten einzugreifen. Ich 63
suche schon lange nach einer Gelegenheit, in irgendeiner Form an den Ausgrabungsarbeiten bei Abu Simbel teilzuneh men, und hoffe, mich mit Ihrem Vater darüber auseinander setzen zu können.« Sie hob den Kopf. »Ich danke Ihnen. Es bleibt mir nichts übrig, als auf Ihre Hilfe zu hoffen. Aber Sie werden mit Abu el Muluk zusammenstoßen.« Sun Koh lächelte wieder. »Es wird kein besonderes Vergnügen für ihn sein. Und nun Kopf hoch, Miss Gravor, Sie haben nichts zu fürchten. Über lassen Sie getrost alles mir.« Sie reichte ihm mit einer schüchternen, zugleich rührend dankbaren Bewegung die Hand. »Ich vertraue Ihnen, Mr. Sun Koh.« Wenige Stunden später standen sich Sun Koh und Abu el Mu luk gegenüber. Die Spannung zwischen den beiden Männern war von An fang an scharf, obgleich Sun Koh in ruhigem Ton begann: »Die Angelegenheit, die mich zu Ihnen führt, ist geschäftli cher Art. Sie haben einige Schuldverschreibungen in der Hand, die Sie Mr. Gravor vorlegen möchten. Ich bin bereit, diese Schuldverschreibungen einzulösen.« »Ah!« Das war zunächst alles, was der Scheich darauf erwiderte. Er musterte schweigend den Mann, der ihm seine Pläne durchkreuzen wollte, gab es aber auf, als sich seine kleinen Augen mit denen Sun Kohs kreuzten. »Welches Interesse haben Sie daran?« fragte er endlich. »Ich möchte darüber keine Auskunft geben«, gab Sun Koh gleichmütig zurück. »Es wird Ihnen genügen, daß Sie das Geld erhalten.« 64
Abu el Muluk antwortete grob: »Ganz abgesehen davon, daß ich über Ihre Zahlungsfähigkeit nicht orientiert bin, denke ich nicht daran, die Wechsel aus der Hand zu geben. Sie sind bei mir ausgezeichnet aufgehoben.« In Sun Kohs Stimme legte sich eine kleine Schärfe. »Diese Stellungnahme ist überraschend neu. Soviel ich un terrichtet bin, waren Sie gestern abend fest entschlossen, das Geld von Mr. Gravor zu fordern.« »Hat Ihnen Miss Gravor das erzählt? Sie sind ihr wohl an genehmer als Liebhaber?« »Sie sollten Ihre Zunge hüten«, warnte Sun Koh scharf. »Es lag nicht in meiner Absicht, Sie moralisch zu demütigen, aber da Sie selbst darauf hintreiben, so darf ich Ihnen versichern, daß Ihre Handlungsweise niederträchtig und erbärmlich war.« Der Scheich ballte drohend die Hände. »Nehmen Sie den Mund nicht so voll, mein Lieber. Ich brauche keine Moralapostel, die mir gute Lehren erteilen, und wenn Sie sich einbilden, mir in die Quere kommen zu können, so irren Sie. Nehmen Sie sich in acht…« Über Sun Kohs Gesicht huschte ein mitleidiges Lächeln. »Sie haben in schlechter Gesellschaft gelebt, Scheich Abu el Muluk, daß Sie glauben, mich mit derartigen Reden beein drucken zu können. Miss Gravor steht jedenfalls unter mei nem Schutz, ebenso ihr Vater. Sobald Sie Ihre Rechnungen zu präsentieren wünschen, werden Sie mich zum Bezahlen vor finden. Ich gebe Ihnen den guten Rat, Ihre durchtriebenen Pläne fallenzulassen. Es wird eine unangenehme Erfahrung für Sie, wenn Sie auf ihnen beharren.« »So große Töne hat schon mancher geredet und zu spät seinen Fehler eingesehen.« »Das gleiche sagte ich Ihnen soeben«, erwiderte Sun Koh spöttisch. 65
»Was fällt Ihnen ein, mir zu drohen?« zischte der andere und trat an Sun Koh heran. Sun Koh spürte den Atem des Mannes, der sich mit zusam mengekniffenen Augen und schlagbereiten Händen dicht vor ihm aufgepflanzt hatte. Wie angewidert bog er den Oberkörper etwas zurück und sagte eisig: »Achten Sie auf Ihre Bewegun gen, ich kann Berührung durch Fremde nicht ertragen.« Das brachte den Mann zur Raserei. »Hund!« brüllte er und schlug zu, während in sein Gesicht eine rote Blutwelle schoß. Sun Koh ließ die Faust des Mannes vorstoßen. Erst im letz ten Augenblick hielt er mit einer blitzschnellen Bewegung seine Hand dagegen. Abu el Muluk schlug mit voller Wucht auf die Handfläche, aber es war gerade, als habe er gegen eine steinerne Mauer geschlagen, so hart prallte er auf und so we nig drückte der Stoß die Hand zurück. Der Scheich quittierte mit einem Aufschrei von Schmerz und Überraschung, der aber jäh abbrach, denn nun schlug Sun Koh zurück. Gegen den Schlag dieser schmalen, aber stählernen Faust gab es keine Deckung und keinen Schutz. Ebensogut hätte man versuchen können, ein fliegendes Geschoß mit der blo ßen Hand aufzuhalten. Die Bewegung von Sun Kohs Arm war kurz und kaum sichtbar, man erkannte sie eigentlich erst an den Folgen. Abu el Muluks Backenknochen verschoben und verkanteten sich, aus dem Mund quoll ein dumpfer, unklarer Laut, und gleich zeitig sprang der Mann mit einem halsbrecherischen Satz steil nach hinten und schlug schließlich langgestreckt auf dem Bo den auf. Sun Koh wartete geduldig. Nach fünf Minuten begann der Scheich sich wieder zu re 66
gen. Stöhnend und mit schweren Bewegungen kehrte er ins Leben zurück. Es dauerte jedoch noch eine ganze Weile, bis er die Augen aufschlug, und noch länger dauerte es, bis sein Gehirn wieder einen Gedanken fassen konnte. Endlich, als er sich schon halb aufgestützt hatte, blitzte das Bewußtsein des Geschehens in seinen Augen auf. Jetzt trat Sun Koh an ihn heran und sagte kalt: »Sie hätten sich diese Erfahrung ersparen können, Scheich Abu el Muluk. Hoffentlich haben Sie wenigstens daraus gelernt. Wollen Sie nun die Wechsel Mr. Gravors durch mich einlösen lassen?« Eine Fülle von Haß lag im Blick des Unterlegenen, und Haß strömte aus seinen Worten, als er mühsam erwiderte: »Ich will Ihr Geld nicht, fahren Sie zur Hölle!« »Sie lehnen also ab«, stellte Sun Koh fest. »Wie Sie wol len. Aber hüten Sie sich vor dem Versuch, Ihre gemeinen Plä ne fortzusetzen. Und belästigen Sie die junge Dame nicht mehr.« Er wandte sich ab und schritt hinaus. Der Scheich knurrte die übelsten Verwünschungen hinter ihm her. * Am Abend des gleichen Tages wurde auf Sun Koh geschos sen, als er mit Ryken und Hal auf der Uferpromenade ging. Der Schuß fehlte. Sie forschten sofort nach dem Täter, doch sie fanden von ihm keine Spur. Sun Koh zweifelte keinen Augenblick daran, daß nur der Scheich hinter dem Anschlag stecken konnte. Deswegen woll te er ihn im Hotel zur Rede stellen. Leider erfuhr er, daß er vor zwei Stunden Hals über Kopf abgereist sei, ohne Angaben über sein Ziel zu machen. Hal horchte aus lieber alter Gewohnheit im Hotel herum, 67
besonders bei den Boys. Dabei erfuhr er, daß Abu el Muluk wohl sein Gepäck zur Beförderung nach Kairo aufgegeben hatte, aber trotz der späten Stunde in einem gemieteten Wa gen in entgegengesetzter Richtung davongefahren sei. Das konnte nur bedeuten, daß der Scheich den Versuch machte, Abu Simbel zu erreichen und dort sein Spiel weiter zutreiben. »Brechen wir nun auch gleich auf?« erkundigte sich Ryken nach Klärung dieser Sachlage bei Sun Koh. »Wir wollen ja ohnehin nach Abu Simbel, und es wäre schließlich ganz gut, wenn wir den Kerl hindern könnten, weiteren Unfug anzurich ten.« Sun Koh schüttelte jedoch überraschenderweise den Kopf. »Nein, wir fahren erst morgen früh, mit dem gleichen Dampfer, den Miss Gravor benutzt. Ihr droht die größere Ge fahr, zumal es durchaus nicht feststeht, ob die plötzliche Ab reise Abu el Muluks nicht nur eine Finte ist. In Abu Simbel kann er höchstens mit Mr. Gravor zusammentreffen.« »Tja, das ist es doch eben …« »Ich bin da anderer Ansicht als das junge Mädchen«, erwi derte Sun Koh ernst. »Man sollte Ihrem Vater die Begegnung mit dem Scheich nicht ersparen. Ist er ein Mann, so wird er schon die richtige Antwort finden und sich nicht gleich um bringen. Ist er Egoist genug, um seine Tochter um seiner Liebhaberei willen zu opfern, so wissen wir, daß wir Miss Gravor auch vor ihm zu schützen haben. Ist er schließlich ein Schwächling, der um seiner Schulden willen, die er ja schon lange kennt, flieht, so haben weder die junge Miss noch sonst jemand viel verloren.« »Das klingt hart.« »Und ist in Wirklichkeit barmherzig gegen das junge Mäd chen. Wir fahren morgen früh.« 68
So kam es, daß Abu el Muluk am nächsten Tag am nördli chen Felsentempel von Abu Simbel freie Hand hatte. * Theophil Gravor war Mitte der Fünfzig. Er war ein Mann mittlerer Größe, eher schwächlich als stark, mit leicht vorge neigtem Oberkörper. Aber man sah ihm an, daß er ein Leben lang an freier Luft und bei angestrengter Arbeit verbracht hat te. Sein Gesicht war verwittert wie der Anzug. Er war ein Mann, der auf sein Äußeres wenig Wert legte. Theophil Gravor war wie gewöhnlich schwer beschäftigt. Er hielt von den neugierigen Schwätzern wenig, die manchmal im Weg herumstanden und dumme Fragen stellten, wie zum Bei spiel, wer denn nun eigentlich die Goldschätze bekäme, die hier ausgegraben würden. Immerhin war er noch höflich genug, die Form zu wahren und diesem einzelnen Fremden, der ihn dringend zu sprechen wünschte, nicht einfach davonzulaufen. Aber er war entschlossen, es so kurz wie möglich zu machen. Gerade heute mußte er mit höchster Wahrscheinlichkeit auf den Eckstein stoßen, nach dem er schon lange suchte. »Nun?« fragte er deshalb ungeduldig, als sich sein Besu cher Zeit nahm und die etwas primitiven und rätselhaft ange ordneten Einrichtungsgegenstände des Zeltes anstarrte. »Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen«, begann Abu el Muluk. »Bitte kommen Sie zur Sache!« drängte Gravor. »Was wollen Sie?« Abu el Muluk lächelte überlegen. »Ihr Arbeitseifer ist bewundernswert, aber ich fürchte, ich muß Sie schon für wenige Minuten in Anspruch nehmen. Sie haben eine Tochter, Mr. Gravor?« 69
Der Archäologe stutzte. Er sah aus wie ein Mann, dem langsam die Erinnerung an etwas völlig abseits Liegendes aufsteigt. »Ja, allerdings«, meinte er versonnen und dann plötzlich heftiger: »Was ist mit Evelyn? Ist etwas geschehen?« »Nein«, beruhigte der andere, »es geht ihr gut. Und ich bin gekommen, Sie um Evelyns Hand zu bitten.« »Was?« Gravor fuhr förmlich zurück. Sein Erschrecken war so ehrlich, daß der Scheich, unange nehm berührt, fragte: »Ist Ihnen der Gedanke so unwahr scheinlich?« Gravor schüttelte den Kopf. »Evelyn und heiraten? Du lieber Gott, warten Sie mal – tatsächlich, das Kind ist ja jetzt bereits mündig. Mein Gott…« Er verlor sich in seine Gedanken. Abu el Muluk wartete ei ne Weile und fragte dann: »Dürfen wir auf Ihre Zustimmung rechnen, Mr. Gravor? Ich liebe Evelyn und hoffe, wir werden glücklich miteinander leben.« Der Forscher erwachte wie aus einem Traum, sah den an deren lange ernsthaft an und sagte dann ruhig: »Das kommt etwas plötzlich. Wer sind Sie eigentlich?« Abu el Muluk kramte sofort einen ganzen Packen Papiere hervor, aus denen nicht nur seine Identität, sondern auch sein hervorragender finanzieller Stand einwandfrei hervorgingen. Gravor prüfte sie mit einer gewissen Feierlichkeit, und als er fertig war, sah er den Bewerber ein zweites Mal lange und ernsthaft an. Schließlich erklärte er sachlich: »Ich will Ihnen offen ge stehen, daß ich mir meinen zukünftigen Schwiegersohn im mer etwas anders vorgestellt habe. Die Hauptsache ist aber, daß sich meine kleine Evelyn, um die ich mich leider viel zuwenig gekümmert habe, bei Ihnen glücklich fühlt. Evelyn 70
kann frei wählen, sagen Sie ihr das. Und ich hoffe, zu ihrem Hochzeitstag kommen zu können, wenn sie nicht schon vor her einmal ihren alten Vater aufstöbern will. Also, meine Er laubnis und meinen Segen habt ihr.« Der Scheich verbeugte sich. »Ich danke Ihnen vielmals. Wollen Sie Ihrer – Evelyn nicht einige Zeilen darüber schreiben?« Der Archäologe stutzte. »Schreiben? Nein, wozu?« Sein Gegenüber sah ihn mit Unschuldsmiene an. »Nun, sie würde sich sicher sehr freuen.« Auf Gravors Stirn bildeten sich scharfe Falten. »Aber mir zu schreiben, hat das Kind wohl nicht für nötig gehalten. Schickt mir so einfach einen Bewerber auf den Hals? Nein, da ist nichts zu machen. Ich habe Ihnen meine Meinung erklärt, und damit basta.« »Ich würde aber trotzdem Wert darauf legen, wenn Sie ihr einige Zeilen schrieben«, erklärte der Scheich geschmeidig. »Erweisen Sie mir den persönlichen Gefallen, wenn Sie es nicht um Evelyns willen tun wollen.« Gravor zog die Brauen hoch. »Sie scheinen ja erheblichen Wert darauf zu legen. Kommt mir bald so vor, als sei etwas nicht in Ordnung.« Abu el Muluk lächelte gezwungen. »Ich hoffe, darin soll keine Beleidigung gegen mich liegen. Aber wenn ich offen sein soll, so muß ich gestehen, daß ich mit Evelyn noch nicht restlos einig bin und daß mir insofern Ihre zustimmende Stellungnahme erwünscht wäre.« Der Forscher sah ihn eine Weile starr an, dann fuhr er zor nig hoch. »Das ist doch die Höhe! Jetzt verstehe ich Sie erst. Sie kommen mit Evelyn nicht zu Rande, und da soll ich mit meinem Einfluß einspringen. Wie kommen Sie zu dieser un 71
glaublichen Frechheit? Ich soll gewissermaßen mein Kind in seiner Wahl beeinflussen … Ah, ich kann mir denken, daß Ihnen Evelyn die kalte Schulter gezeigt hat. Und nun versu chen Sie es auf diese Weise. Machen Sie, daß Sie hinaus kommen, ich habe mehr zu tun, als mich mit Träumern ab zugeben.« Er kochte vor Zorn. Abu el Muluk blieb verhältnismäßig kalt, wenn er auch die Zähne zusammenbiß und erwiderte: »Ich will Ihre Worte nicht gehört haben, denn Sie wissen nicht, daß die von mir gewünschte Entscheidung auch in Ih rem persönlichsten Interesse liegt.« »Wie meinen Sie das?« fragte Gravor scharf. Der Scheich hob mit überlegener Geste die Schultern. »Wie ich das meine? Mann, Sie haben Schulden, und das wissen Sie so gut wie ich.« Der Forscher wurde blaß. »Das wissen Sie auch schon? Und was geht Sie das an?« Abu el Muluk grinste und fuhr unbeirrt fort: »Ihre Gesamt schuldsumme beläuft sich zur Zeit auf hundertsechzigtausend Pfund, wenn ich nicht irre. Das ist ein ganz hübsches Vermö gen. Und dieses Vermögen schulden Sie mir.« Eine beängstigend lange Pause entstand. Gravor schöpfte mühsam Atem. Endlich keuchte er: »So liegen die Dinge. Und was haben nach Ihrer Meinung meine Schulden mit Evelyn zu tun?« Der Scheich zuckte mit den Schultern. »Gott, sind Sie schwer von Begriff. Ihre Schulden würden entweder eine Mitgift für Evelyn bedeuten und damit ver schwinden, oder Sie haben die Güte, sie zu bezahlen. Und da Sie das nicht können, müssen Sie wohl oder übel hier Ihre Sachen packen.« »Ah!« Gravor trat mit vorgebeugtem Oberkörper einen 72
Schritt näher. »Das wollte ich nur hören. Sie muten mir also zu, meine Tochter gewissermaßen an Sie zu verkaufen. Ich will Ihnen meine Antwort geben …« Ehe der Scheich begriff, mußte er eine kräftige Ohrfeige einstecken. Der enttäuschte Liebhaber brüllte vor Wut auf und wollte sich auf Gravor stürzen, aber schon hatte der Archäologe die Pistole herausgerissen und auf Abu el Muluk gerichtet. »Fort, fort, sonst gibt es noch einen weiteren Denkzettel für Ihr erbärmliches Ansinnen.« Abu el Muluk ballte die Hände, daß die Knöchel weiß he raussprangen und murmelte Verwünschungen, aber er wagte keinen Angriff, sondern verließ das Zelt. Gravor folgte ihm und hielt die Pistole auf ihn gerichtet, bis er über die Sandwel le hinweg verschwunden war. Zwischen dem ersten und zweiten Nilkatarakt erhob sich in Ufernähe eines der großartigsten ägyptischen Bauwerke: der Felsentempel von Abu Simbel. Ringsum reckten sich nackte Felsen empor, frei von aller Vegetation, nirgends ein Gras halm oder eine Pflanze, nirgends Spuren menschlichen Le bens, ausgenommen jene, die der Tourismus mit sich bringt. Sun Koh schritt mit Nimba, Hal Mervin, Ryken, Jan Hout und Evelyn Gravor langsam durch den ausgedehnten Vorhof. Staunend sahen sie die gewaltige Fassade des Tempels vor sich aufwuchten, der vor Jahrtausenden durch Ramses II. den Göttern Ammon-Tha von Theben und Ras-Harachte von Hi liopolis geweiht worden war. Die Fassade wurde durch vier kolossale steinerne Statuen gebildet. Majestätisch beeindruckten sie die Beschauer, nicht nur durch ihre gewaltige Höhe von rund fünfundzwanzig Me tern, sondern auch durch die herrliche Ausführung aller Ein 73
zelheiten. Freilich, die Jahrtausende waren an den riesigen Wunderwerken nicht spurlos vorübergegangen. Der Oberkör per der zweiten Statue lag abgestürzt neben den Füßen, ein mächtiger Trümmerhaufen. Auch die dritte Statue war stark beschädigt. Aber die beiden anderen zeigten noch deutlich die erhabene Schönheit dieser königlichen Standbilder. Zwischen den Kolossalfiguren standen kleinere Standbil der, die Verwandte des Königs darstellen sollten. Über ihnen befand sich in der glatten Felswand ein breiter Sims, in den betende Affenfiguren, das Gesicht der aufgehenden Sonne zugewandt, eingehauen waren. »Eine merkwürdige Darstellung«, sagte Sun Koh sinnend. »Diese Affensimse wirken eigentlich unägyptisch und müssen hier eine besondere Bedeutung haben.« »Es ist manches merkwürdig an diesem Tempel«, meinte Ryken. »So zum Beispiel, warum man ausgerechnet an dieser öden Stelle, die zum ägyptischen Kulturleben eigentlich nicht die geringste Beziehung hat, diesen gewaltigen Felsentempel errichtete.« »Das sollten Sie Ihren Freund Donnel fragen«, riet Sun Koh. Sie traten durch das große Tor zwischen dem zweiten und dritten Koloß in das Innere des Felsentempels hinein. Die Innenräume lagen unmittelbar hintereinander, und das erste Tor war so angeordnet, daß die Strahlen der aufgehenden Sonne durch alle drei Räume hindurch – fünfundfünfzig Me ter weit – bis in das Allerheiligste drangen. Der erste Raum war saalartig groß, von annähernd zwanzig Meter Breite und Tiefe. Das Bemerkenswerteste in ihm waren zwei Reihen von je vier mächtigen Statuen, je zehn Meter hoch und jede Ramses II. darstellend. Auch sie waren wie die Statuen der Fassade von ausgezeichneter künstlerischer Aus 74
führung. In den Händen trugen sie Schlinge und Peitsche, die bekannten Embleme des Osiris. Die Decke des Raumes war mit Geierskulpturen und mit dem Namen des Königs geschmückt, die Wände mit Darstel lungen der verschiedensten königlichen Taten. Langsam schritt die kleine Gruppe hindurch, gelangte in den zweiten, kleineren Saal und schließlich in den dritten und kleinsten Raum, der noch die Reste eines aus dem natürlichen Felsen gehauenen Altars zeigte. Hier hatten, wie die Wand skulpturen verrieten, einst die Bildnisse der beiden Götter und die heilige Barke gestanden. Die kleine Gruppe fand allerdings zunächst keine Zeit, das Innere der Halle zu bewundern. Sie entdeckte nämlich, kaum daß sich die Augen leidlich an das starke Halbdunkel gewöhnt hatten, Scheich Abu el Muluk. Er stand in der hinteren Ecke zusammen mit zwei Männern, deren weiße Burnusse ebenso grell sichtbar waren, wie ihre Gesichter unkenntlich ver schwammen. Der Scheich betrachtete allem Anschein nach angeregt die Wandzeichnungen und schien nichts von dem Eintritt der Ge sellschaft bemerkt zu haben. Mit betont gleichgültiger Miene schlenderte er schließlich an der Gesellschaft vorbei, gefolgt von den beiden Burnusträ gern. Nur seine Blicke, die sekundenlang Sun Koh streiften, verrieten den Haß, der in ihm glühte. Alles schwieg, nur Hal sagte plötzlich ziemlich laut zu Nimba: »Ich weiß nicht, hier riecht es nach Ungeziefer. Läuft uns vielleicht irgendein Mistkäfer über den Weg?« »Leicht möglich«, erwiderte der Neger. »Aber mit einem Fußtritt…« Sun Koh sah die beiden mißbilligend an, so daß sie ihr be ziehungsreiches Gespräch abbrachen. Abu el Muluk be 75
schleunigte seine Schritte trotzdem und war kurz darauf in der vorderen Halle verschwunden. Etwas später sahen sie ihn durch das Tor ins Freie treten. Evelyn Gravor wandte sich mit besorgtem Gesicht an Sun Koh. »Ich bin beunruhigt. Es wird Zeit, daß ich meinen Vater aufsuche.« »Der Scheich sah nicht wie ein Mann des Erfolges aus«, tröstete Sun Koh. »Aber es hindert uns auch nicht, Sie sofort zu Ihrem Vater zu bringen. Was meinen Sie, Mr. van Ryken?« Ryken nickte. »Donnel ist noch nicht anwesend, wie wir sehen. Er kann zwar jeden Augenblick eintreffen, aber die Entfernung zum Hathor-Tempel ist so gering, daß das nichts zu bedeuten hat. Ich schlage vor, daß Sie mit Ihren Freunden die junge Lady an ihr Ziel bringen, während ich mit dem Doktor hierbleibe und auf Donnel warte.« Gegen diesen Vorschlag war nichts einzuwenden. * Gravor freute sich kindlich, als seine Tochter plötzlich bei ihm auftauchte. Er umarmte sie mindestens ein dutzendmal und ließ erstaunlicherweise sofort die Ausgrabungsarbeiten für diesen Tag abbrechen. Sun Koh hielt sich mit Hal und Nimba im Hintergrund, bis die erste Begrüßung vorüber war. Sie dauerte freilich sehr lange, denn Vater und Tochter hatten sich zwei Jahre lang nicht gesehen, aber schließlich erinnerte sich Evelyn Gravor doch ihrer Begleiter und kam mit ihrem Vater zu ihnen. Sun Koh nahm bei der ersten Gelegenheit den Archäologen beiseite. 76
»Sie hatten heute Scheich Abu el Muluk hier draußen zu Besuch?« »Allerdings«, bestätigte Gravor, »der Kerl hatte die Unver schämtheit, in mir einen Halunken zu vermuten. Ich habe ihn zum Teufel gejagt.« »Leider ist er dort nicht angekommen«, entgegnete Sun Koh. »Wir trafen ihn im Felsentempel. Er hat Ihnen wohl kaum vorenthalten, daß er Ihre sämtlichen Wechsel und Schuldscheine in seine Hand gebracht hat?« Gravor lachte bitter auf. »Unter die Nase hat er mir’s gerieben. Aber da kennt er mich schlecht. Wenn’s nicht anders ist, packe ich eben mei nen Kram zusammen und fange auf meine alten Tage an, alles das niederzuschreiben, wozu ich in den letzten dreißig Jahren nicht gekommen bin. Mag er zusehen, wie er zu seinem Geld kommt. Es ist mir ein Spaß zu wissen, daß der Kerl an der Geschichte hängenbleiben wird und daß ich mit meiner Pleite keinen anständigen Menschen reinlege.« »Sie fassen die Lage erheblich weniger tragisch auf, als Ih re Tochter das befürchtet hat«, stellte Sun Koh fest. Gravor hob die Schultern. »Schließlich weiß ich ja nicht erst seit heute, daß ich Schulden habe. Es war eine unangenehme Stunde für mich, als ich von der großen Pleite erfuhr. Aber ich habe mich ei gentlich schnell darüber hinweggesetzt. Sehen Sie, die Maß stäbe für den Wert des Geldes verschieben sich bei unserei nem, der ein Leben lang in der Wildnis verbracht hat. Ich ha be ein großes Vermögen besessen und habe es glücklich ver pulvert, obgleich ich persönlich fast gar keine Bedürfnisse habe. Alles ist für die Forschung draufgegangen. Nun habe ich mich damit getröstet, daß schließlich andere auch mal was für diese wichtigen Arbeiten zusetzen können. Im Grunde bin 77
ich ja schon in den letzten Jahren weiter nichts gewesen als der Angestellte der Leute, die hier die Geschichte weiterfi nanziert haben.« »Ihre Ansichten erleichtern mir den Vorschlag, den ich Ih nen machen will«, sagte Sun Koh. Gravor wehrte schon ab, bevor er noch ausgesprochen hat te. »Lassen Sie mich ein offenes Wort reden, bevor Sie das sagen, was Evelyn mir bereits andeutete. Sie wollen finanziell einspringen. Ich sage Ihnen klipp und klar, daß jeder Pfennig, den Sie hier hineinstecken wollen, verloren ist. Es ist für Sie glatt hinausgeworfenes Geld. Lassen Sie diesen Scheich Abu el Muluk ruhig seine Schuldscheine präsentieren und mich meinetwegen pfänden. Soviel, wie ich zum Leben brauche, verdiene ich mir allemal. Also begehen Sie hier keinen Fehler, den Sie später bereuen könnten.« Sun Koh sah ihn ernst an. »Ich kenne Ihre Arbeit hier nicht und kann mir infolgedes sen kein Urteil über ihre Bedeutung machen. Es liegt mir auch fern, Ihre persönliche Entscheidung beeinflussen zu wollen. Wenn Sie zu dem Entschluß kommen, in Ihrer Heimat nun die bisherigen Ergebnisse Ihrer Forschertätigkeit auszuwerten und sich nebenbei Ihrer Tochter zu widmen, so wäre das sicher in vieler Hinsicht begrüßenswert. Wenn Sie aber diese Ausgra bungen fortsetzen möchten, weil Sie von ihrer Bedeutsamkeit überzeugt sind, so sollen Sie wissen, daß Ihnen die erforderli chen Summen zur Verfügung stehen, ohne daß es für mich eine Belastung bedeutet.« Gravor wiegte unschlüssig den Kopf. »Ich weiß nicht, was ich Ihnen darauf antworten soll. Am besten wird sein, ich überdenke die Sache erst noch mal, be vor ich mich entscheide. Ich muß gestehen, daß manches für 78
mich ein anderes Gesicht bekommen hat, seitdem ich Evelyn wiedersah. Das Kind braucht einen Menschen, der sich um sie kümmert.« »Überlegen Sie sich’s!« erwiderte Sun Koh ruhig. »Übri gens, hier in der Nähe ist ein gewisser Donnel in ähnlicher Weise tätig wie Sie. Warum arbeiten Sie nicht mit ihm zu sammen?« Der Archäologe sah aus, als habe er versehentlich einer Katze auf den Schwanz getreten. »Mit Donnel, diesem verrückten … Verzeihung, kennen Sie ihn?« »Nein. Ich hörte nur von ihm und hoffe, ihn in Kürze ken nenzulernen.« »Viel Spaß«, knurrte Gravor. »Mit dem Mann kann man nicht zusammenarbeiten.« »Warum nicht?« »Die verrücktesten Ideen packt er mit einer Selbstverständ lichkeit aus, wie ein Reisender seine Ware. Ehe man sich ver sieht, hat er einen eingewickelt, so daß man schließlich den gröbsten Unfug für wahr hält. Und dabei hat er eine geradezu himmelschreiende Phantasie. Die Ägypter sind für ihn Atlan ter aus einem sagenhaften, verschollenen Erdteil, die Pyrami den stammen aus Mexiko, unsere gesamte Kultur kommt von Westen statt von Osten und ähnlicher Unsinn, der in krassem Widerspruch zu allem steht, was die Wissenschaft der letzten Jahrhunderte als wahr erwiesen hat. Nein, Gott behüte mich vor Donnel.« »Sie machen mich wirklich gespannt auf seine Bekannt schaft.« Sun Koh lächelte amüsiert. »Sie halten es also zum Beispiel nicht für möglich, daß zwischen den Pyramiden auf Yukatan oder Mexiko und denen in Ägypten ein Zusammen hang besteht?« 79
»Nein, ausgeschlossen«, erwiderte Gravor eifrig. »Wie sollte es auch möglich sein? Die Leute hatten doch damals keine Schiffe, mit denen sie zueinander kommen konnten. Und an Atlantis glaube ich nicht. Selbst wenn einst ein ver bindender Erdteil bestanden hätte, wäre das in einer Zeit ge wesen, wo sich der Mensch noch im primitivsten Urzustand befand.« »Dem würde widersprechen, daß Forscher in Afrika ein viele hunderttausend Jahre altes Skelett mit hervorragender Schädelbildung fanden.« Der Archäologe sah Sun Koh mißtrauisch von der Seite an. »Fangen Sie auch noch an? Das klang geradezu nach Don nel. Glauben Sie mir nur, es ist Unsinn, hier irgendwelche Beziehungen knüpfen zu wollen oder sich gar an ein sagen haftes Atlantis zu klammern. Die gesamte ernsthafte Wissen schaft ist mit mir völlig einer Meinung, daß diese neuartigen Hypothesen weiter nichts als höchst unwissenschaftliche Schaumschlägerei sind.« »Aber die Pyramiden in Mexiko«, erinnerte Sun Koh be scheiden. »Purer Zufall, purer Zufall«, erklärte Gravor mit Überzeu gung. »Warum sollen jene Völker in Amerika nicht eine ähn liche kulturelle Entwicklung durchgemacht haben, ein ähnli ches Stil- und Kunstgefühl gehabt haben wie diese Pharao nen? Zugegeben, die Übereinstimmungen sind überraschend, aber das beweist nur die alte Wahrheit, daß sich alles auf Er den wiederholt. Man sollte nicht spekulieren, sondern sich an die nüchternen Tatsachen halten.« »Ganz recht.« Sun Koh nickte höflich. Er hätte den anderen mit Tatsachen zudecken können, aber er verzichtete darauf. Das Spiel wäre zu einseitig und zu grau sam gewesen. Gravor gehörte zu jener Schule von Archäolo 80
gen, die in hingebungsvoller Arbeit ein bestimmtes Gebiet beackern, die aber aus Mangel an Phantasie und innerem Schwung nicht fähig sind, ihre Funde zu kombinieren und in einen großen, sinnvollen Zusammenhang zu stellen. Sun Koh verzichtete daher darauf, ihn zu quälen, aber er nahm sich vor, sich über die Arbeit dieses Mannes zu orientie ren. Es war leicht möglich, daß er hier auf seinem Gebiet wichtige Dinge entdeckt hatte, deren Bedeutung er nicht ein mal ahnte. * Sun Koh kehrte mit seinen Begleitern noch am gleichen Abend zum Felsentempel von Abu Simbel zurück. Donnel war nicht eingetroffen, dafür hatte er ein halbes Dutzend Ka mele gesandt, die seine Besucher zu ihm bringen sollten. »Echt Donnel«, feixte Ryken. »Er selber ist zu bequem, sich auf den Weg zu machen, und da mutet er uns lieber zu, auf diesen Raubtieren durch die Wüste zu schaukeln. Na, ich werde ihm meine Meinung schon geigen. Vorläufig bleibt uns nichts übrig, als bei der Gelegenheit das Kamelreiten zu ler nen.« »Fein«, schrie Hal, »fangen wir gleich damit an.« »Nur langsam, junger Freund«, beruhigte Ryken, »du wirst morgen schon beizeiten die Nase voll haben. Für heute läßt sieh nichts mehr unternehmen, es ist gleich Nacht.« Am anderen Morgen begann ein groteskes Treiben um die Kamele herum. Keiner der fünf wollte es sich nehmen lassen, sein Wüstentier selbständig zu besteigen. Es gelang freilich nur Sun Koh, die anderen flogen auf den ersten Anhieb wie der herunter. Ryken und Jan Hout gaben nach dem ersten Versuch auf 81
und baten Sun Koh, er möchte sie auf die stehenden Tiere draufheben. Nimba blieb beim zweitenmal oben, Hal flog immer wieder herunter. Doch er versuchte es mit verbissener Zähigkeit stets von neuem. Er wurde fuchsteufelswild, und das um so mehr, als die anderen laut lachten. Da kam plötzlich ein Kamelreiter in schnellem Tempo von der Anhöhe heruntergeprescht. Unmittelbar vor der Gruppe brachte er sein Tier mit einem harten Ruck zum Stehen und sprang herunter. Seine Augen suchten und fanden Sun Koh, und schon reichte er ihm einen Zettel hin. »Von Mr. Gravor«, stieß er in gutturalem Englisch heraus. Sun Koh faltete den Zettel auf. Es standen wenige Worte, mit Bleistift geschrieben, darauf: »Evelyn ist verschwunden. Keine Spur von ihr. Bitte kommen Sie, wenn irgend möglich. Gravor.« »Evelyn Gravor ist entführt worden«, verständigte Sun Koh hastig die anderen. »Ich werde zu Gravors Lager reiten. Wollen Sie hier auf mich warten, Ryken, oder wollen Sie mittlerweile Donnel aufsuchen? Sie könnten dann Hal und Nimba gleich mitnehmen.« »Wir warten«, entschied Ryken. »Schön, ich hoffe, bald zurückzukommen.« »Sir, nehmen Sie mich mit!« rief Hal, aber Sun Koh hatte sein Tier schon gewaltsam in einen flotten Trab gebracht und winkte nur kurz ab. Gravor war ganz gebrochen. »Sie ist verschwunden«, rief er, kaum daß Sun Koh auf die Erde gesprungen war. »Sie ist verschwunden. Dahinter steckt weiter niemand als dieser Scheich. Wenn ich den Kerl erwi sche, wird es ihm schlecht ergehen. Mein armes Kind! Hätte ich doch wenigstens eine Wache aufgestellt… Aber an das Wichtigste denkt man erst hinterher.« 82
»Wo hatten Sie Miss Evelyn untergebracht?« fragte Sun Koh kurz. »Hier in diesem kleinen Zelt. Ich hatte es erst gestern abend für sie aufbauen lassen. Heute morgen ließ sie sich nicht sehen. Erst dachte ich, sie schliefe so fest, aber dann war sie überhaupt nicht mehr im Zelt. Es ist zum Verzweifeln.« »Irgendwelche Spuren sind hier kaum wahrzunehmen«, stellte Sun Koh nach prüfenden Blicken fest. »Freilich, freilich«, räumte Gravor ein. »Wenn wirklich welche dagewesen sind, dann hat man sie zertrampelt. Und weiter oben beginnt gleich der Fels, da sind sowieso keine Spuren von den Entführern zurückgeblieben.« »Nur ein einziger Mensch hat Interesse daran, Ihre Tochter von hier zu verschleppen«, sagte Sun Koh nachdenklich. »Ich werde versuchen, Scheich Abu el Muluk zu stellen.« »Aber wenn Evelyn weiter ins Land hinein verschleppt wurde?« »Selbst dann bleibt Scheich Abu el Muluk die nächste Chance. Wahrscheinlich haben einige Landesbewohner in seinem Auftrag gehandelt. Wir trafen ihn gestern mit zwei Leuten. Jedenfalls ist er in Richtung Assuan weggefahren. Er wurde gestern nachmittag, während wir bei Ihnen waren, auf der Straße nach Norden gesehen.« Gravor faßte die Hände des jungen Mannes. »Retten Sie Evelyn, Mr. Sun Koh, sie ist mein einziges Kind. Ich habe mich zwar lange nicht um sie gekümmert, aber nun, nachdem ich sie wiedergesehen habe, könnte ich es kaum verwinden, sie an einen Schurken zu verlieren.« Sun Koh nickte ernst. »Ich werde tun, was ich kann, Mr. Gravor.« Kurz darauf jagte er das Kamel bereits wieder auf den Hü gel zu. 83
Ryken lief ihm bei Abu Simbel in größter Erwartung ent gegen. »Was ist?« schrie er. »Miss Gravor ist tatsächlich verschwunden, Spuren sind nicht zu finden. Ich muß sofort nach Assuan und versuchen, Scheich Abu el Muluk zu stellen. Wo sind Hal und Nimba?« Ryken hob verlegen die Schultern, zugleich zeigte sich auf seinem Gesicht eine gewisse Überraschung. »Sind Sie ihnen nicht begegnet? Sie sind Ihnen nach Gra vors Lager gefolgt.« »Ich habe sie nicht gesehen«, sagte Sun Koh. »Wie ist es überhaupt möglich, daß die beiden unterwegs sind?« Ryken hob abermals die Schultern. »Sie waren noch nicht recht über die Höhe, als es der Jun ge tatsächlich fertigbrachte, sich auf seinem Kamel zu halten. Zehn Minuten nach Ihnen war er verschwunden und kam nicht wieder.« »Und Nimba?« »Nimba ist dann selbstverständlich später gefolgt. Er hatte Angst um den Jungen, redete etwas von Verlaufen, hängte sich auf sein Tier und ritt ebenfalls los. Schließlich konnte ich ihn ja nicht festbinden.« Sun Koh lächelte. »Allerdings nicht, das wäre Ihnen wohl kaum gelungen. Na, die beiden werden sicher bald zurückkommen. Sagen Sie ihnen, daß sie in Ihrer Gesellschaft bleiben sollen, bis ich wieder von mir hören lasse. Lange wird die Angelegenheit in Assuan nicht dauern.« »Wird gemacht. Hals- und Beinbruch!« Sun Koh ritt weiter. * 84
Der Portier der eleganten Karawanserei mußte sich erst ein paarmal über die Augen wischen, bevor er in dem zerzausten und verschmutzten Kamelreiter den eleganten Gast wiederer kannte, der erst gestern das Hotel verlassen hatte. »Ist Scheich Abu el Muluk wieder hier eingetroffen?« er kundigte sich Sun Koh. »Allerdings. Er kam noch spät in der Nacht. Augenblick lich ist er jedoch nicht im Haus.« »Wird er zurückkommen?« fragte Sun Koh mißtrauisch. Der andere sah ihn erstaunt an. »Warum nicht? Scheich Abu el Muluk ist doch kein Mann, der Schulden hinterläßt. Außerdem hat er Gepäck mitge bracht, das oben in seinem Zimmer steht. Ganz bestimmt wird er zurückkommen.« Sun Koh atmete auf. »Schön, dann geben Sie mir mein Zimmer wieder und be nachrichtigen Sie mich sofort, wenn der Scheich eintreffen sollte.« Zwei Stunden später empfing ihn Abu el Muluk mit der Miene eines Pokerspielers in seinem Zimmer. »Sie wünschen?« erkundigte er sich, als Sun Koh eingetre ten war. Sun Koh trat dicht vor ihn hin. Er wußte, daß die Hand des anderen, die sich in der Jackentasche befand, eine Pistole um schloß. Er war jedoch nicht der Mann, der sich dadurch stören ließ. »Wo ist Miss Gravor?« fragte er schroff. Abu el Muluk zog mit betontem Erstaunen die Brauen hoch. »Miss Gravor? Was fragen Sie mich danach? Ich nehme an, daß sie sich in Ihrer Gesellschaft befindet.« 85
»Sie wissen, daß es nicht der Fall ist.« Wenn der Scheich kein schlechtes Gewissen hatte, so hatte er sich bestimmt gut in der Gewalt. Er spielte auch weiterhin den Erstaunten. Das einzige Auffällige war, daß er es ver mied, Sun Koh in die Augen zu sehen. »Ich habe nichts mit Miss Gravor zu schaffen.« »Es ist nicht das erstemal, daß Sie versuchen, die junge Lady auf unrechte Weise in Ihre Gewalt zu bekommen.« »Sie haben kein Recht, mich zu beleidigen«, entgegnete der Scheich heftig. »Zugegeben, ich liebe Miss Gravor und habe ihr das gesagt. Ich habe deswegen auch mit ihrem Vater gesprochen. Das ist aber ein Recht, das schließlich keinem Mann abgestritten werden kann. Ihre Verdächtigungen, die Sie daran knüpfen, weise ich entschieden zurück.« »Wunderbar gesprochen«, erwiderte Sun Koh spöttisch. »Wenn man Sie hört, hat man unbedingt das Gefühl, daß es keinen edleren Menschen gibt als Sie. Aber lassen wir nun den Scherz beiseite. Wo ist Miss Gravor?« Abu el Muluk zuckte mit den Schultern. »Was soll ich Ihnen sagen? Wenn Sie mir nicht glauben wol len, daß ich Miss Gravor seit gestern nicht gesehen habe …« »Das glaube ich Ihnen«, unterbrach Sun Koh kurz. »Na also.« Der Scheich atmete erleichtert auf. »Ich glaube Ihnen, daß Sie die junge Dame seit gestern nicht gesehen haben. Ich bin aber ebenso fest davon über zeugt, daß zwei Helfershelfer die Arbeit verrichtet haben, die von Ihnen erwünscht war.« In Abu el Muluks Gesicht zuckte ein nervöser Muskel. »Das ist – das ist eine unerhörte Verdächtigung«, stammel te er. »Sie werden es sich gefallen lassen müssen, daß ich sie Ih nen ins Gesicht sage. Und nun empfehle ich Ihnen, schleu 86
nigst die Karten aufzudecken.« »Ich habe nichts mit der Geschichte zu tun«, beharrte der Scheich. Sun Koh gab sich unbeeindruckt. »Lassen Sie diese Redensarten. Sie verraten mehr von sich, als Sie glauben. Seien Sie vernünftig, Mann. Meinen Sie im Ernst, daß Sie heute oder morgen den Ort aufsuchen können, wo Sie die junge Lady haben hinschaffen lassen? Wenn es mir nicht gelingt, schon jetzt von Ihnen alles zu erfahren, wo zu ich Ihnen in Ihrem eigenen Interesse rate, so dürfen Sie von einem überzeugt sein: Ich werde Tag für Tag und Nacht für Nacht ununterbrochen an Ihren Fersen hängen, werde Sie keinen Augenblick aus den Augen verlieren und jeden Ihrer Schritte so lange bewachen, bis ich Miss Gravor gefunden habe. Also bitte: Wo ist Miss Gravor?« Der Scheich starrte mit finsterem Gesicht auf seine Finger nägel und antwortete zunächst überhaupt nicht. Es sah aus, als überlege er. Nach einer Weile stieß er hervor: »Gut, ich will zugeben, daß ich einiges über die Entführung der jungen Lady weiß. Ihre Drohungen schrecken mich nicht, aber es ist viel leicht zweckmäßiger, wenn die Angelegenheit gleich bereinigt wird. Ich werde Ihnen einen Beweis dafür bringen, inwieweit ich mit der Sache zu tun habe. Bitte gedulden Sie sich einen Augenblick.« Er schritt durch das Zimmer auf eine schmale Tür zu, die in einen Nebenraum führte. Sun Koh sah ihm mißtrauisch nach und warnte: »Lassen Sie sich nicht einfallen zu fliehen. Wenn Sie nicht sofort wieder zurückkehren, haben Sie mich unerbittlich auf den Fersen.« Der Scheich wandte sich halb um und antwortete mit ei nem verzerrten, vieldeutigen Grinsen: »Keine Sorge, ich komme gleich zurück.« 87
Damit verschwand er hinter der schmalen Tür, die er hinter sich zuzog. Sun Koh wartete. Eine Minute verging, zwei Minuten, drei Minuten. Sollte es Abu el Muluk tatsächlich gewagt haben, das Wei te zu suchen? Sun Koh öffnete die Tür, durch die der Scheich vorhin ver schwunden war. Der dahinterliegende Raum war stockdunkel. Anscheinend handelte es sich um eine Art Abstellkammer, die auf der anderen Seite vermutlich ebenfalls eine Tür besaß. Sun Koh ging hinein. Ein merkwürdig scharfer Geruch hing in der Luft. Drei Schritte hatte Sun Koh in den dunklen Raum gemacht, als plötzlich die Tür, die er offengelassen hatte, zuschlug. Sun Koh fuhr herum. Was sollte das bedeuten? Er erstarrte mitten in der Bewegung. Schlagartig kam ihm zum Bewußtsein, woher dieser scharfe Geruch kam. Es war Schlangengeruch. Und da hörte er auch schon ein Rascheln, dann Zischen. Die Geräusche schienen von verschiedenen Seiten zu kom men. Sun Koh stand völlig unbeweglich, starr wie eine Statue. Das war für ihn zunächst die einzige Chance. Wenn Gift schlangen im Raum waren, so würden sie den Eindringling vielleicht nicht angreifen, wenn er sich nicht rührte. Die Augen Sun Kohs glühten immer stärker auf und sam melten die winzigen Spuren des Lichtes, die in das Zimmer chen drangen. Unmerklich drehte er den Kopf. Tatsächlich, es waren Schlangen in seiner unmittelbaren Nähe, mehrere Schlangen. Die eine pendelte in Angriffsstellung kaum einen halben Meter neben ihm, die andere tat das gleiche dicht ne ben der Tür. Weiter rechts kamen noch zwei dieser gefährli 88
chen Tiere herangekrochen. Sie waren auf das äußerste ge reizt, ein Wunder, daß sie noch nicht zugestoßen hatten. Sun Koh ahnte, daß ihm ein einziger Biß den Tod bringen würde. Es war ihm nicht möglich, genau festzustellen, zu welcher Art die Schlangen gehörten. Aber fast kam es ihm vor, als seien es die berüchtigten Sandvipern, deren Gift zu den gefährlichsten gehört. Das war die Tat von Abu el Muluk, ein echtes Gauner stück. Er hatte die Falle sorgfältig vorbereitet. Sein ganzes Gebaren war eine einzige Finte gewesen. Er war hier durch gegangen und hatte dabei vermutlich einen bereitstehenden Korb mit Schlangen geöffnet. Die Rechnung war einfach und ging glatt auf. Sein Verfolger würde auf alle Fälle einen Blick hier hineinwerfen. Dann brauchte man nur noch die Tür hinter ihm zuzuschlagen. Danach konnte Abu el Muluk ungestört seine Pläne vollenden. Sun Koh stand reglos und atmete flach. Endlich schienen sich die Schlangen so weit beruhigt zu haben, daß er den Versuch wagen konnte, die Tür zu errei chen. Es schien, als seien die Reptile eingeschlafen. Ihre Lei ber waren halb zusammengeringelt, während die vordere Hälfte wie ein senkrechter Stab den Kopf trug. Würden sie wieder aufzischen, wenn er jetzt den ersten Schritt tat? Sun Koh konnte diese Frage nie beantworten, denn im ent scheidenden Augenblick wurde die schmale Tür von außen geöffnet. Licht quoll herein, im Türrahmen erschien der Scheich. Auf seinem Gesicht lag häßlicher Triumph. Ohne Zweifel erwartete er, seinen Gegner nunmehr tot am Boden liegen zu sehen. 89
Das Licht mochte gerade noch hinreichen, um ihn die star re Gestalt Sun Kohs erkennen zu lassen. Sun Koh sah, wie der Schrecken über seine Züge ging. Und dann geschah das Entsetzliche, das keiner der beiden mehr verhindern konnte. Die Schlange, die unmittelbar neben der Tür gelegen hatte, erwachte mit einem kurzen Zucken aus ihrer krampfähnlichen Betäubung und stieß unvermittelt und ohne vorherige War nung zu. Aber nicht auf Sun Koh richtete sie ihren Angriff, sondern auf Abu el Muluk, der in der Tür stand. Der Scheich hatte kaum recht begriffen, was geschah. Über sein Gesicht huschte Erstaunen, dann bückte er sich und griff instinktiv mit der rechten Hand an die Stelle, an der die nadel scharfen Zähne der Schlange eingeschlagen waren. Sekunden lang blieb er in dieser Haltung, dann stöhnte er auf und brach zusammen. Gleichzeitig huschte Sun Koh wie ein Pfeil durch die Tür, kurz bevor die anderen Schlangen ihr zweites Opfer angriffen. Sun Koh überschlug sich weich in dem großen Zimmer und kam auf die Füße. Gleich darauf war er wieder an der Tür, zerrte den Scheich heraus und schlug die Tür zu. Die Schlangen waren damit vorläufig unschädlich. Er hob den Körper des Scheichs auf den Diwan und klin gelte Sturm. Ein Kellner stürzte herein. »Einen Arzt, aber schnell! Schlangenbiß«, rief Sun Koh dem Mann zu, der glücklicherweise sofort begriff und davon stürmte. Zwei Minuten später war der Arzt zur Stelle, mit ihm der Geschäftsführer und ein Assistent. Abu el Muluk lebte noch, aber er sah bereits aus, als sei er dem Tode näher als dem Leben. Sein Atem ging pfeifend und 90
stöhnend, seine Hände krampften sich wild durch die Luft, sein Gesicht war aufgedunsen, die Augen waren verdreht. Die Untersuchung durch den Arzt nahm nur kurze Zeit in Anspruch. Schulterzuckend trat er zurück. »Dem Mann ist nicht mehr zu helfen. Mehr als drei Minu ten gebe ich ihm nicht. Die Vergiftung ist bereits zu weit vor geschritten.« Sun Koh setzte sich neben den Sterbenden und versuchte, die Worte zu verstehen, die der Scheich stoßweise herauslall te. Leider war es vergeblich. Erst im letzten Krampf schien noch einmal eine Spur von Bewußtsein in dem Mann aufzu tauchen. Sun Koh ließ nichts unversucht und fragte sofort: »Wo ist Miss Gravor?« Tatsächlich schien der Scheich den Sinn der Frage erfaßt zu haben. Seine Lippen formten mühsam ein Wort, sein Atem schien noch einmal genügend Kraft zu haben. Sun Koh hätte nicht darauf schwören können, aber das, was der Sterbende herauslallte, schien wie Biban el Muluk zu klingen. Darin konnten Sinn und Beziehung liegen. Biban el Muluk hieß der Bergzug am Westufer des Nils, der die fruchtbare Ebene mit seinen steilen, kahlen Felsenhängen und seinen zerklüfteten, pflanzenlosen Schluchten von der Libyschen Wüste trennt. Vielleicht sollte die Nennung dieses Namens bedeuten, daß Evelyn Gravor dorthin verschleppt worden war. Abu el Muluks Körper bäumte sich empor, streckte sich noch einmal. Er war tot. Nun forderten die Lebenden ihr Recht. Sun Koh wurde mit Fragen bestürmt. Er gab eine kurze Aufklärung über das Vor gefallene, ohne sich in Einzelheiten zu verlieren. Der Ge schäftsführer wurde blaß vor Schrecken, als er hörte, daß in 91
seinem Hotel vier dieser schrecklichen Schlangen hausen soll ten. Er erkundigte sich ängstlich, ob es nicht ratsam sei, die Feuerwehr nebst Militär zu alarmieren. Sun Koh winkte jedoch ab. »Ich werde die Schlangen töten. Verschaffen Sie mir nur eine starke Scheinwerferlampe.« »Sofort, sofort«, versicherte der Geschäftsführer hastig und gab dem Kellner einen entsprechenden Befehl. Dann fragte er kopfschüttelnd: »Mit der Lampe wollen Sie die Biester tö ten?« Sun Koh lächelte. »Nein, die Lampe soll mir gutes Licht geben. Ich werde die Schlangen erschießen.« Die anderen Männer zogen bedenkliche Gesichter und nahmen sich vor, der gefährlichen Tür lieber nicht zu nahe zu kommen. Diese Schießerei schien doch reichlich gewagt zu sein. Die Lampe wurde gebracht. Sun Koh riß die Tür auf und trat zurück. Schon schnellte die erste Schlange vor. Ein Schuß krachte – mit zerschmettertem Kopf sank der Leib zusammen. Wenige Sekunden später wurde die zweite Schlange sichtbar. Auch sie starb unmittelbar darauf. Die beiden anderen Tiere mußte Sun Koh aufsuchen. Er entdeckte sie im Hintergrund des kleinen Raumes. Mit zwei Schüssen war ihr Schicksal besiegelt. Der Geschäftsführer ließ einen ganzen Schwall von Dan kesbezeugungen los, aber Sun Koh beeilte sich wegzukom men. Abu el Muluk war tot, aber Evelyn Gravor war damit noch nicht gerettet. * 92
Hal Mervin hing wie ein Sack auf dem Rücken des Kamels, das ein Tempo vorlegte, wie es der Junge nie für möglich gehalten hätte. »Halt, halt!« schrie er wohl zum hundertsten Male. »Halt doch an – du verrücktes Höckervieh!« Aber leider schien das Tier die englische Sprache nicht zu verstehen. Im Gegenteil, es sah ganz so aus, als ob es die Zu rufe und Flüche als Aufforderung zur Eile auffasse, denn es beschleunigte noch seine Geschwindigkeit. Es war zum Verzweifeln. Seit Stunden ging es nun schon ununterbrochen durch diese öde, nackte Felsenlandschaft, in der noch nicht einmal ein Grashalm zu finden war. Irgendwo links mußte der Nil seine Fluten stromabwärts wälzen. Ir gendwo voraus mußte Assuan liegen, aber vielleicht hatte er es auch seitlich liegengelassen und war schon nördlich davon. Hal kannte sich nicht mehr aus, das Kamel anscheinend da für um so besser. Zu Anfang war dem Jungen die Geschichte nicht übel vor gekommen. Er hatte am Felsentempel von Abu Simbel gerade mit den anderen trainiert, auf dieses Biest hinaufzusteigen und – was die Hauptsache war – sich oben zu halten, als der Bote von Gravor gekommen war. Er hatte die Nachricht gebracht, daß Evelyn Gravor entführt worden sei. Daraufhin war Sun Koh losgeritten. Fünf oder zehn Minuten später hatte die Zähigkeit Hals über die Tücke seines Kamels gesiegt. Es war ihm gelungen, das ruckweise Aufschnellen zu überstehen und oben zu blei ben. Leider hatte dann das Tier einen Koller bekommen, wäh rend er noch seinen Triumph genoß. Es war ohne ersichtliche Ursache losgaloppiert. Es ging hinter Sun Koh her, zum Hathor-Tempel hin, wo 93
Gravor sein Lager hatte. Mochte das irre Vieh ruhig laufen, am Ziel würde man es schon aufhalten. Zunächst kam es aus schließlich darauf an, sich oben zu halten und nicht schmäh lich in den Sand zu fliegen. Nach zwei Stunden stieg in Hal die erste Ahnung auf, daß an dem Programm etwas nicht stimmte. Immerhin hätte er bei diesem Tempo nunmehr an Ort und Stelle sein müssen, und außerdem sah die Landschaft ein bißchen anders aus, als er sie von gestern her in Erinnerung hatte. Nach einer weiteren Stunde zweifelte er nicht mehr im ge ringsten daran, daß ihn dieses Satansbiest sonstwohin führte, nur nicht zu Gravors Lager. Er versuchte, das Tier zum Halten zu bringen. Daraufhin verdoppelte es seine Geschwindigkeit. Er ließ sich zu dem traurigen Trick herab, das Kamel anzu feuern und in die Seite zu treten, in der stillen Hoffnung, es aus Trotz zum Halten zu bringen. Aber das Vieh schnappte nur verächtlich mit seiner borstigen Unterlippe und lief wie Nurmi. Schließlich verlegte sich Hal aufs Schimpfen. Das half zwar auch nichts, aber es erleichterte ihn. Stundenlang ging es so weiter. Der Junge hatte das be stimmte Gefühl, daß sich sein Hintern mürbe von den Kno chen löste. Das Kamel dagegen schien keine Beschwerden zu spüren. Bums – plötzlich stand es, und ebenso plötzlich flog Hal in vorbildlichem Bogen nach vorn und klatschte in eine kleine Mulde, die erfreulicherweise mit Sand gefüllt war. Minuten vergingen. Hal grübelte träumerisch darüber nach, welcher Einfall das hellgraue Teufelsvieh veranlaßt haben konnte, hier seinen Lauf plötzlich abzustoppen. Er kam zu keiner rechten Klarheit. 94
Mißtrauisch blinzelte er zu dem Kamel hinüber, aber das schielte ihn mit einem niederträchtig unschuldigen Blick an und stand im übrigen so ruhig und gelassen, als warte es ge duldig auf neue Aufträge. Hal erhob sich mühsam. Noch während er auf Knien und Händen gestützt lag, wurde ihm plötzlich bewußt, daß er in der linken Hand ein Taschentuch hatte. Das fand er seltsam. Erstens war es auf dem Kamel be stimmt nicht in seiner Hand gewesen, zweitens besaß er diese lächerliche Art von Taschentüchern überhaupt nicht. Das Tuch hatte hier gelegen, er war darauf gefallen und hatte es zufällig umklammert, ohne daß er sich dessen bewußt geworden war. Ohne Zweifel ein Damentaschentuch, eins von diesen win zigen Dingern mit Hohlsaumkante, wie sie das weibliche Ge schlecht bei sich führt. Hal betrachtete kopfschüttelnd die paar Quadratzentimeter dünnen Batists. Ha, das sollte natürlich ein Monogramm sein. Unleserlich verschnörkelt wie gewöhnlich. C und E oder G und E? Hal wollte das Tuch gerade als unwesentlich einstecken, als ihm die Erleuchtung kam. G.E. das konnte auch umge kehrt gelten. Und das hieß soviel wie Evelyn Gravor. Hal sprang auf die Füße. Evelyn Gravor? Das wäre eine Möglichkeit. Das wäre sogar die einzige. Die jungen Damen, die E.G. zeichneten, würden in dieser Einöde nicht gleich zu Dutzenden herumlaufen, vor allem nicht an einem Tag. Und das stand fest, daß das Tuch noch gar nicht lange hier lag. Da war er ahnungslos auf der gleichen Strecke geritten, die die Entführer benutzt hatten. Und Sun Koh suchte jetzt viel leicht irgendwo bei Abu Simbel nach der Verschwundenen, während er hier die einzige Spur gefunden hatte, die sie hinter lassen hatte. Sollte er umkehren und Sun Koh Bescheid sagen? 95
Ausgeschlossen. Erstens mochte der Himmel wissen, wel cher Weg nach Abu Simbel führte, und zweitens war es selbstverständlich, daß er die Chance ausnützte. Die paar Gangster konnte er allein fangen oder verjagen. Lächerlich, wenn er die junge Lady nicht befreien sollte. Wenn das Kamel weiterhin so gut lief wie bisher, hatte er die Entführer bald eingeholt. Das Kamel starrte melancholisch auf seine Hängelippe, als Hal Mervin herantrat. »Komm, streck dich nieder«, befahl Hal, während er es auf den Wollbauch tätschelte. Hal war voller Wohlwollen. Das Tier hatte keine schlechte Arbeit geleistet. Erstens hatte es ihn schnell auf die Spur der Gangster gebracht und zweitens ihn gerade hier abgesetzt. Das Kamel hörte die sanfte Aufforderung, aber es verän derte seine Stellung nicht. Hal wiederholte schon etwas unge duldiger – mit dem gleichen Erfolg. Nach dem zehntenmal tobte er los: »Kusch dich doch, du erbärmliche Kreatur, sonst springe ich dir auf den Balg, und wenn du über den Haufen fällst.« Er war allen Ernstes entschlossen, nun mit einem Anlauf seinen Sitzplatz wiederzuerobern, allerdings fürchtete er, daß ihm das schlechter bekommen könne als dem Tier. Das rannte schließlich einfach davon und ließ ihn hier buchstäblich auf dem Trockenen. Hal setzte gerade zum Sprung an, als sich die Szene beleb te. Hinter einem Felsvorsprung tauchte eine weißgekleidete Gestalt auf. Es war ein Junge, anscheinend nicht viel älter als Hal. Sein Gesicht war dunkelbraun, edel geschnitten, nur die Lippen vielleicht etwas zu voll. Die Augen waren tiefschwarz und feurig. Dieser Unbekannte schritt geradewegs auf das Kamel zu, 96
griff es am Kopf und kehlte irgendwelche Laute. Der Erfolg war für Hal durchaus überraschend. Das Tier knickte unver züglich seine Knochenbeine ein und legte sich fromm nieder. Hal glotzte. Da wandte sich der braune Junge mit einem leichten Lächeln ihm zu und meinte in fast fehlerfreiem Eng lisch: »Nun kannst du es besteigen. Dir ist das Wort unbe kannt, auf das es hört?« Hal holte tief Atem und schritt würdevoll heran. »Allerdings. So ist das kein Kunststück. Du hast mich be lauscht?« Der andere nickte. »Ich lag zufällig hinter dem Felsen, als du ankamst. Ich wollte dich nicht stören, aber da du Hilfe brauchtest …« »Na, ja.« Hal gab sich zufrieden. »Ich heiße Hal Mervin. Und wer bist du?« Der Junge neigte sich mit vollendeter Würde. »Ich bin Aschir, ein Bischari. Du bist ein Engländer?« »Ja, aus London. Aber du sprichst doch Englisch?« »Mein Vater schickt mich zur Schule.« »Wohnst du hier in der Nähe?« Aschir schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe nur mein Pferd ausgeritten. Es hat lange gestanden.« Er stieß einen kurzen Pfiff aus. Daraufhin bog eine braune Stute um die Ecke, ein herrliches Tier mit klugem Kopf und schmalen Fesseln, bei dessen Anblick Hal die Augen aufriß. »Donnerwetter, das ist ein Tierchen«, murmelte er begei stert, um lauter fortzufahren: »Hör mal, hast du irgend etwas von einer jungen Lady gesehen, die sich in der Gewalt von ein paar Kerlen befand?« Die Antwort des jungen Bischari kam zögernd: »Ich beo bachtete allerdings am Morgen zwei Männer, die eine verhüll 97
te Frau mit sich führten. Aber ich kann nicht sagen, ob es die gewesen sind, die du meinst.« »Das waren sie bestimmt«, versicherte Hal überzeugt. »Wo sind sie hin?« Aschir hob die Schultern. »Wer will das sagen? Sie ritten gen Norden, und da sie über die Furt hinaus waren, schien es mir, daß sie auf der Hö henstraße bis nach Karnak wollten.« »Das genügt«, rief Hal eifrig. »Ich werde hinter ihnen her reiten. Also direkt nach Norden meinst du?« »Gewiß. Aber sie sind Stunden voraus, und wenn auch dein Tier wunderbar ist, so wirst du Stunden brauchen, um sie einzuholen.« »Ist ganz egal, und wenn es bis ans Ende der Welt geht. Vielen Dank für deine Auskunft. Ach, reitest du zufällig zu den Felsentempeln von Abu Simbel?« »Es ist nicht ausgeschlossen, daß mein Weg dort vorbei führt«, erwiderte Aschir diplomatisch. »Da könntest du mir unter Umständen einen großen Gefallen tun«, sagte Hal. »Dort lagert nämlich die Gesellschaft, zu der ich gehöre. Du erkennst sie bestimmt daran, daß ein Riesenkerl von Neger bei ihnen ist. Sie sollen erfahren, daß ich nach Norden reite, weil ich hier eine Spur der jungen Lady gefunden habe, die man entführte. Könntest du das ausrichten?« Der Bischari nickte. »Ich werde es tun.« »Ich danke dir«, antwortete Hal. »Und nun will ich mein Raubtier wieder in Schwung bringen. Hoppla!« Hal hatte kaum den Rücken des ruhenden Tieres berührt, als dieses mit seinen bekannten Rucken aufschnellte. Hal ver paßte die Kurve und flog innerhalb einer Sekunde unsanft auf die Erde. 98
Aschir verzog keine Miene, als er die mißtrauischen Blicke Hals auf sich fühlte. Er beschränkte sich darauf, mit höfli chem Bedauern festzustellen: »Es ist für den Fremden nicht leicht, sich an ein Rennkamel zu gewöhnen. Ich fürchte, es wird dir noch manche Schwierigkeiten bereiten.« Hal stellte sich auf seine Beine und seufzte. »Scheußliche Erfindung, solche Kamele. Ein Pferd wäre mir tausendmal lieber. Ja, wenn man einen Gaul wie den da hat, dann kann man lachen.« Sehnsüchtige und bewundernde Blicke zu dem Pferd hin begleiteten diese Worte. Aschir schüttelte ungläubig den Kopf. »Willst du damit sagen, daß dir ein Pferd lieber wäre als dieses Kamel?« »Zehnmal lieber«, versicherte Hal mit Inbrunst. Das Erstaunen des anderen wuchs. »Aber es ist zehnmal soviel wert wie dieses Pferd, obgleich Esre das Blut der Stammutter Fatime in ihren Adern hat. Zehn solcher Pferde könntest du haben gegen ein einziges Kamel dieser Art. Selbst der Unwissende sieht, daß dieses Tier aus der berühmten Zucht des weißen Scheichs stammt.« Hal zuckte mit den Schultern. »Davon verstehe ich nichts. Für mich ist es jedenfalls ein Satansbraten. Aber hör mal, wenn das alles stimmt, könnten wir dann nicht einen kleinen Tausch vornehmen? Du nimmst das Kamel und ich das Pferd, dann ist uns beiden geholfen.« Der gute Hal hatte nicht die geringsten Bedenken, daß das Kamel nicht ihm gehörte, sondern jenem Mr. Donnel, den er noch nicht einmal kennengelernt hatte. Da war Aschir eher noch bedenklicher, obgleich ihn der Vorschlag sichtlich reiz te. Seine Augen funkelten, aber seine Stimme zögerte und warnte: »Ich würde dich übervorteilen. Das Kamel hat den zehnfachen Wert des Pferdes.« 99
Hal schob mit einer Handbewegung alle Einwände beisei te. »Das ist mir ganz gleich. Hier meine Hand, der Tausch ist abgeschlossen.« Nun schlug auch der junge Bischari ein. »Gut, wenn du willst, so nehme ich dein Geschenk an. Mein Pferd hört auf den Namen Esre. Wenn du es hinter dem Ohr streichelst und seinen Namen rufst, wird es wie der Wind dahineilen. Es ist das beste Tier unseres Stammes. Kannst du reiten?« »Davon kannst du überzeugt sein«, bestätigte Hal. »Also, nun sieh zu, daß du meine Leute in Abu Simbel verständigst. Du wirst es doch erledigen?« »Wie ich dir sagte.« »Dann leb wohl.« »Leb wohl. Allah ist groß«, murmelte Aschir, der immer noch nicht recht zu begreifen wagte, daß er zu einem so wert vollen Tier gekommen war. Ein Pferd wußte der junge Frem de tatsächlich zu reiten, das sah man an der Art, wie er sich in den Sattel schwang und mit leichtem Zügel das Tier davon schießen ließ. Hal ritt und ritt. Er war nie ganz sicher, ob das eine Straße war, über die die Hufe des Pferdes donnerten, aber da sich weder verführerische Abzweigungen noch eine wesentliche Ablenkung von der Nordrichtung zeigten, machte er sich kei ne Sorgen darüber. Dreimal traf er winzige Menschensiedlungen, an denen er wie das Pferd den Durst löschen konnten. Man schnatterte um ihn herum, er aber winkte nur mit einer Münze, zeigte auf das Maul seines Pferdes und auf seinen Mund, und darauf erhielt er alles, was er brauchte. Am Nachmittag erreichte er ein größeres Dorf, das etwas 100
abseits der Straße lag. Dort wiederholte er sein übliches Ver fahren mit Erfolg. Aber während er noch seinen ausgedörrten Mund erfrischte, fiel ihm auf, daß sich die Dorfbewohner plötzlich gereizt verhielten. Ihr unverständliches Geschnatter hatte irgend etwas Drohendes. Man drängte auf ihn ein, wies mit den Fingern auf ihn und auf das Pferd und wiederholte immer wieder den gellenden Satz, der nach einer Frage klang. Und je mehr er mit den Schultern zuckte, um so gehässiger und wilder wurde das Volk. Jetzt begannen schon einige Männer mit Dolchen und Gewehren zu fuchteln. Hal fand es zunächst unterhaltsam, aber sehr bald wurde es ihm lästig. Und als immer mehr Bewaffnete herangestürzt kamen, als sich der Kreis um ihn immer enger schloß, winkte er einfach freundlich mit der Hand und drängte die Menschen mit dem Leib des Tieres auseinander. Das Gebrüll verdoppelte sich, die Gewehre wurden auf ihn angeschlagen. Da wurde es dem Jungen denn doch zu gefähr lich. Das fehlte gerade noch, daß man ihn hier wegen einer unverständlichen Sache aufhielt, während Evelyn Gravor im mer weiter nach Norden verschleppt wurde. Er stieß die Stute in die Seite. Sie bäumte sich hart auf und donnerte dann mit gestrecktem Leib aus dem Dorf hinaus. Einige Schüsse knallten hinterher, richteten jedoch keinen Schaden an. Hal Mervin ahnte nicht, daß er durch den Heimatort Aschirs geritten war. Dort wußten die Frauen und Männer selbstverständlich nichts von dem Tausch. Sie erkannten aber das Pferd Aschirs wieder, der der Sohn ihres Scheiks war. Und als der fremde junge Reiter keine Auskunft gab, hatte man ihm die zunächst geflüsterte Vermutung laut ins Gesicht geschrien. Aschir liebte sein wertvolles Pferd und würde es keinem Fremden überlassen. Folglich war Aschir getötet wor 101
den, und der Unbekannte hatte sich des Tieres bemächtigt. Schon eilten die Männer nach ihren Waffen und zu ihrem Führer, um ihm zu berichten. Da jagte Hal davon. Das gab die letzte Gewißheit. Eine Viertelstunde später raste ein Trupp der besten Reiter, voller Trauer und Wut im Herzen und von glü henden Rachegefühlen beseelt, hinter dem ahnungslosen Jun gen her. Hal war ahnungslos, aber er hatte keine lange Leitung. Als er plötzlich wenige hundert Meter hinter sich eine rasende Kavalkade auftauchen sah, deren gellendes Geschrei und dro hend geschwungene Büchsen nicht gerade wie freundliche Begrüßung wirkten, da baute er sich seinen Vers zurecht. Die verrückten Kerle aus dem Dorf setzten ihr unverständliches Gebaren fort und wollten ihn greifen. Na schön, man konnte ja einmal versuchen, wer länger durchhielt. Esre hatte ja schon eine Menge hinter sich, aber das Tier war geradezu herrlich. Es lief immer noch leicht und unbeschwert. Und es hatte bestimmt noch allerhand zuzuset zen. Hal beugte sich vor und krabbelte hinter dem Ohr des Pferdes, wobei er weisungsgemäß den Namen in die Ohrmu schel flüsterte. Tatsächlich, die brave Stute streckte sich noch mehr, griff noch weiter und schneller aus. Nach einer Weile blickte sich der Junge an. Der Abstand wurde nicht nur gehalten, sondern vergrößerte sich sogar noch. Nun kam es vorläufig nur darauf an, wer die meiste Ausdauer hatte. Er grinste. Denen dort hinten würde jedenfalls das Gebrüll bald vergehen. Wenn die dachten, daß er einfach stehenblei ben und die Arme heben würde, hatten sie sich getäuscht. Hal wußte nicht, daß außer den Bischari auch noch ein an derer schimpfte. 102
Das war Nimba. Er ritt auf gleicher Spur hinter dem Jungen her. Und je schneller Hal nach Norden raste, je länger es dauerte, ehe er ihn in Sicht bekam, um so unfreundlicher wurde seine Laune. Nimba war aufgebrochen, als Hal nicht wieder zurückkam. Er war in Sorge um den Jungen und wollte zusehen, warum er so lange ausblieb. Vielleicht war er irgendwo gestürzt und konnte nicht wieder hoch. Es war ihm gelungen, die Stelle festzustellen, an der Hals Kamel in die direkte Nordlinie eingebogen war. Wohl oder übel hatte er das gleiche getan. Und dann hatte er nach ge raumer Zeit Aschir getroffen. Sie hielten sich gewissermaßen gegenseitig an. Aschir hät te blind sein müssen, wenn er diesen schwarzen Riesen hätte übersehen sollen, und Nimba erkannte schon von weitem das Kamel, das Hal geritten hatte. Er war naturgemäß voller Miß trauen, bis er sich eine Weile mit dem jungen Bischari unter halten hatte. Aschir versprach, weiter nach Abu Simbel zu reiten und dorthin Nachricht zu bringen. Nimba ließ sich einige Merk zeichen für den Weg geben und setzte dann seinen Weg mit erhöhter Geschwindigkeit fort. Er kannte sich mit dem Renn kamel besser aus und wüßte aus ihm etwas herauszuholen. Ein Flieger hätte von oben her einen seltsamen Anblick genossen. Tief unten bewegten sich auf dem unwirtlichen Bergland östlich des Nils vier Gruppen mit angestrengtester Geschwindigkeit vorwärts. Am langsamsten ging es bei der ersten Gruppe, die aus zwei Arabern und einem jungen Mädchen bestand. Doppelt so schnell fegte Hal einsam hinter ihnen her. Eine Kleinigkeit langsamer folgte eine verbissene, rache dürstende Gruppe finsterblickender Bischari, die den ver 103
meintlichen Tod ihres jungen Stammesgenossen rächen woll te. Und ganz hinten brauste, wie vom Sturmwind getragen, der riesige Neger auf dem hellen Renner der Wüste, schneller als alle anderen, die vor ihm waren. Irgendwann und irgendwo mußten diese vier Gruppen auf einandertreffen. Aber es würde nicht mehr an diesem Tag geschehen. Denn jetzt senkte die Nacht schnell und dicht ihre dunklen Tücher und machte die felsigen Pfade unsichtbar. Schlagartig stopp ten die vier Gruppen. Erst am Morgen, wenn der Tag wieder graute, würden sie die wilde Jagd von neuem aufnehmen. Erst am kommenden Tag würde die Katastrophe eintreten. * Kurz bevor die Nacht hereinbrach, landete unmittelbar neben den Kolossalstatuen des Felsentempels von Abu Simbel Sun Kohs Flugzeug. Die Maschine kam senkrecht herunter. Als sie weich aufgesetzt hatte, sprang Sun Koh heraus. Der bronzehäutige junge Mann, dessen Bewegungen einen trainierten Körper verrieten, schüttelte den beiden Männern, die auf ihn zugeeilt kamen, die Hand. »Sind Nimba und Hal schon eingetroffen?« fragte er als er stes. Ryken, ein beweglicher, fast zierlicher Mann mit festem Gesicht und hellen, scharfen Augen, schüttelte den Kopf. »Bis jetzt noch nicht. Sie werden vorläufig auch kaum kommen.« Jan Hout, auf dessen schwerem Leib der typische knollige Kopf eines Gewohnheitssäufers saß, ergänzte brummend die se Mitteilung: »Ein Bote war da. Hal ist auf der Spur des 104
Mädchens nach Norden zu, und Nimba versucht, ihn einzuho len.« »Also hat der sterbende Scheich doch die Wahrheit ge sprochen«, sagte Sun Koh nachdenklich. »Abu el Muluk ist tot?« riefen die beiden Männer wie aus einem Mund. Sun Koh gab einen kurzen Bericht über die Ereignisse in Assuan. Anschließend mußte er den beiden Neugierigen sein Spezialflugzeug erklären. Besonders Ryken, der selbst ein technisches Genie war, konnte gar nicht fertig werden vor Bewunderung. »Dieser Doktor Peters, der die Maschine erfunden hat, ist ein Freund von Ihnen?« fragte er schließlich. »Den Mann möchte ich kennenlernen, der ist mir wahrhaftig noch über.« »Fahren Sie in die Sonnenstadt der Mayas auf Yukatan«, riet Sun Koh lächelnd. »Bei der Gelegenheit lernen Sie gleich ein ganzes Dutzend solcher Leute kennen.« Der Holländer sah ihn erschrocken an. »Wollen Sie damit sagen, daß dort drüben tatsächlich ein Dutzend solcher Leute vom Schlag dieses Erfinders für Sie arbeitet?« Sun Koh nickte. »Zwölf junge Leute, und jeder ist auf seinem Spezialgebiet ein hervorragendes Genie wie Peters.« Ryken flüsterte: »Mann, wissen Sie, was das bedeutet, welche ungeheure Macht in diesen Köpfen liegt? Sie sind ja dann bald unserer eigenen – hm – hm …« Er brach ab. Offensichtlich hätte er um ein Haar etwas ver raten, wovon Sun Koh nichts wissen sollte. Dieser war klug genug, nicht weiterzufragen, sondern lenkte ab. »Die Aufgaben, die die Zukunft mit sich bringen wird, sind auch so groß, daß ich geniale Köpfe brauche. Aber wenden wir 105
uns dem Nächstliegenden zu. Ich muß mich vor allem um Hal und Nimba kümmern. Aber heute scheint es ja zu spät zu sein.« »In einer Viertelstunde haben wir Nacht«, prophezeite Hout. »Dann werde ich morgen früh fliegen, auf diese Weise entdecke ich sie am schnellsten«, entschloß sich Sun Koh. Es war gut so, denn bereits eine halbe Stunde nach Son nenuntergang traf völlig unerwartet Donnel ein. Er war ein Freund Rykens, geheimnisvoll wie der Holländer selbst. Sei netwegen war Sun Koh hierhergekommen. Ryken hatte er zählt, daß dieser Donnel sich sein Leben lang ausschließlich mit allem befaßt habe, was auf den verschollenen Erdteil At lantis Bezug hatte, daß er vielleicht der einzige Mensch sei, der sich gründlich auskenne. Daraufhin hatte sich Sun Koh entschlossen, diesen Mann zu treffen. Donnel war nicht am vereinbarten Platz gewesen, sondern hatte ein halbes Dutzend herrlichster Rennkamele mit der Weisung geschickt, ihn aufzusuchen. Man hätte Folge gelei stet, wenn nicht die Entführung Evelyn Gravors dazwischen gekommen wäre. Und nun kam Donnel selbst. Urplötzlich steckte er den Kopf in das Zelt und beschwerte sich: »Da sitzt ihr und trinkt euch seelenruhig einen an. Und ihr stellt euch vor, daß ich euch meine kostbare Zeit opfere. Ihr seid ganz schön naiv, seid ihr.« Donnel wirkte wie eine Kreuzung zwischen Professor und Hippie. An den Füßen trug er auffallend gelbe Schuhe mit weißen Paspeln, darüber strahlten giftgrüne Socken auf dünnen Bei nen, um die eine viel zu weite Hose schlotterte. Das Hemd war ein taschenbesetztes Khakihemd, dem er einen Stehkra gen mit schwarzer Krawatte aufgepfropft hatte. 106
Irgendwie paßte die Aufmachung zum Gesicht. Das Auf fälligste war zunächst ein Bart, ferner eine randlose Brille, darüber eine erstaunlich hohe Stirn und ein Riesenschädel, der absolut haarlos auf einem viel zu dünnen Hals saß. Der Mann wirkte grotesk, und doch ging von ihm etwas Undefinierbares aus, das alle Lächerlichkeit seines Äußeren vergessen ließ. Nach der ersten Begrüßung verschanzte sich Donnel hinter einer Flasche Wein – Jan Hout wäre nie ohne einen genügenden Vorrat davon losgezogen – und erklärte drohend: »So, mein lieber Ryken, nun berichte, warum du mich hierherge lockt hast. Schade, daß du auf den Kamelritt nicht hereinge fallen bist. Ich hätte es mir ja denken können.« »Ich wäre schon gekommen«, entgegnete Ryken, »aber leider wurde eine uns bekannte junge Lady entführt, darum sind wir in Verzug geraten. Übrigens ist es die Tochter von Gravor, den du auch kennst.« »Gravor? Ich hätte nie gedacht, daß er eine Tochter haben kann. Aber schieß los, wo brennt’s?« »Bei dir«, erwiderte der Holländer trocken, »du weißt, daß Mr. Sun Koh gekommen ist, um von deiner Atlantisforschung zu hören. Allerdings habe ich ihm von einigen verblüffenden Übereinstimmungen zwischen untergegangenen Völkern in Europa, im Mittelmeerraum und bei den alten Amerikanern schon erzählt. Ebenso haben wir uns über einige Überschnei dungen im Aufbau der Sprachen unterhalten.«* »Dann kann ich mich ja auf einige Ergänzungen beschrän ken«, meinte Donnel. »Es wäre mir in der Tat lieb, noch einiges mehr von Ihnen über Atlantis zu hören«, sagte Sun Koh. »Sie wurden mir als Kenner bezeichnet.« *
Siehe auch SUN KOH Band 5: »Turm der Stürme« 107
»Nun, es gibt, wie Sie von Mr. Ryken erfahren haben, viele Beweise dafür, daß Atlantis bestanden hat. Seine Auswande rer, so meine ich, vielleicht auch seine Eroberer haben die Kultur von Atlantis gegen Osten nach Europa und gegen We sten nach Amerika getragen. Ich möchte mich nur noch auf eine Sache beschränken, von der ich bisher noch nie gespro chen habe. Als die goldlüsternen, raubgierigen Horden der Spanier in Mittelamerika eindrangen, als sie durch Feuer und Schwert, durch viehische Grausamkeit, durch heimtückische Hinterlist und schamlosen Treuebruch das Reich der Mayas und Azte ken eroberten, da wähnten diese armen Völker anfangs, nun sei der weiße Messias über das Meer gekommen und bringe ihnen die glückliche Zeit wieder, von der ihre uralten Lieder träumerisch raunten. Damals lebte in jenen Völkern noch die Erinnerung an eine sagenhafte Vorzeit, die Erinnerung an die erste Einwanderung der Atlanter. Und es ist wahrhaftig ein Kinderstück, diese Erinnerung herauszuschälen. Der rote Mann lebte noch im Urzustand, in der Barbarei der Steinzeit, als die lichten Sonnensöhne von der aufgehen den Sonne her über das Meer kamen und in Anahuac lande ten. Votan führte sie und Quetzalcoatl, der göttliche Sohn einer begnadeten Jungfrau. Er war der Edle, der Heiland. Sein Gesicht war weiß, und während die eingeborene Bevölkerung bartlos war, wurde sein Gesicht von einem lang wallenden Bart bedeckt. Seine Stirn war hoch und frei und sein gelocktes Haar blond. Er trug ein langes, weißes Gewand mit einge stickten Kreuzen. Dieser weiße Heiland voller Güte und Son ne verabscheute die blutigen Menschenopfer und schaffte sie ab, er führte Kalender, Gesetz und Schrift ein und brachte dem Volk ein goldenes Zeitalter. 108
Aber die Götter der Finsternis fürchteten um ihre Herr schaft und stießen ihn durch bösen Zauber in Schuld und Elend, so daß er seine Herrschaft verlor und, von wenigen Getreuen begleitet, wieder ostwärts zum Meer wanderte. Dort verschwand er, nachdem er die Botschaft hinterlassen hatte, daß er einst wiederkehren und allen Menschen Frieden und Glück bringen werde. Und er hinterließ ein Zeichen, ein Wunder, bevor er das Land verließ. Er schoß einen Pfeil durch einen alten Baum, der an der Küste stand. Die beiden Enden des Pfeils dehnten sich, wurden dick wie der Stamm selbst und bildeten mit diesem ein Kreuz. Dieses Zeichen des weißen Heilands, dessen Schiff einsam über das Meer ent schwand, wurde heiliges Symbol des Volkes. Das also raunten die mittelamerikanischen Völker, deshalb sahen sie die spanische Horde als Boten des Messias an. Eine Sage, die übrigens manche Ähnlichkeit mit der Christusge schichte hat, aber ist sie nicht völlig eindeutig? Noch heute finden Sie den gekreuzten Baum des weißen Heilands an den Tempelruinen von Uxmal und Palenque. Als im Jahre 1519 Cortez auf der Insel Cozumel an der Ostküste von Yukatan landete – was fand er? Ein großes steinernes Kreuz, das die Eingeborenen anbeteten. Und noch heute, Sun Koh, träumt es und raunt es in den Resten jener alten Völker, die sich erhalten haben, noch heute singt und schwingt dort drüben die sehnsüchtige Hoffnung, der Glaube an den blond gelockten Messias, der von Osten her über das Meer wieder kommen und die glückliche Zeit bringen soll.« »Ich weiß«, sagte Sun Koh leise. Die großen, leuchtenden Augen in dem hellen Bronzegesicht unter dem reinen, hellen Blond der gelockten Haare waren in eine weite Ferne gerich tet.
109
*
Hal Mervin erwachte am Morgen in dem übelriechenden Zelt des kümmerlichen Dorfes, in das er sich am Abend todmüde hineingeworden hatte. Er erschrak, als er beim Hinaustreten die Sonne schon ziemlich hoch am Himmel sah. Wie leicht konnten ihm seine Verfolger schon auf den Fersen sein. Innerhalb weniger Minuten war er fertig zum Weiterreiten und warf sich auf das Pferd. Eine Stunde lang ging es im schärfsten Tempo nordwärts. Das Tier griff frisch aus. Doch plötzlich stolperte es, knickte ein. Hal riß es mit scharfem Ruck wieder hoch, aber das Unglück war bereits geschehen. Das Pferd begann zu lahmen. Hal schätzte den Wert des edlen Tieres zu sehr, als daß er es hätte zuschanden reiten wollen. Er untersuchte es sorgfäl tig, konnte jedoch nichts Besonderes feststellen. Vermutlich handelte es sich um eine Zerrung. Er ritt langsam weiter. Irgendwann mußte er ja wieder auf ein Dorf treffen, möglicherweise konnte er dann ein frisches Pferd kaufen oder eintauschen. Sollten ihn die Verfolger in der Zwischenzeit einholen, würde er sich schon zur Wehr setzen. Vorsichtshalber bog er nach Westen ab. Die Verfolgung der Entführer mußte vorläufig aufgegeben werden. Es war besser, sich nun an den bewohnten Nilstreifen zu halten. Das war sein Glück, denn er schlüpfte damit aus der Falle, die man ihm bereits gestellt hatte. Die Bischari waren ihm am Morgen dicht auf den Fersen gewesen. Sie bemerkten ihn, aber sie verhielten sich jetzt klü ger als am Tag vorher. Ohne sich bemerkbar zu machen, folg ten sie zunächst und schnitten dann im schnellsten Tempo die große Schleife ab, die der Weg machte. Dadurch kamen sie 110
vor den Jungen. Er würde direkt in ihre Arme laufen. Hal kam jedoch nicht, sondern trudelte langsam zum Nil hinunter. Dadurch stieß er auf die Eisenbahnlinie, die von Assuan aus nach Norden, nach Karnak führte. Es war nur eine Kleinigkeit, das Pferd bei einer der Stationen unterzubringen und sich in den nächsten Zug zu setzen. Freilich, was er in Karnak sollte, war ihm selbst noch ein Rätsel. Aber nichts fehlte Hal weniger als ein gesundes Gott vertrauen. Die Spur der Entführer hatte er zwar aufgeben müssen, aber sie waren nun einmal nach Norden geritten und hatten wohl kaum die Absicht, ihr Leben lang in unbewohnten Gegenden zu bleiben. Sie mußten früher oder später wie er zum Nil. Wenn man an den üblichen Knotenpunkten die Au gen offenhielt… Donnerwetter, da hatte er doch wieder nicht an das Ein fachste gedacht. Wozu gab es denn hier Polizei im Land? Er ließ sich nach seiner Ankunft in Karnak unverzüglich zu dem Kommandanten des Polizeipostens führen. Da der Beam te flüssig Englisch sprach, machte die Verständigung keine Schwierigkeiten. Hal Mervin erklärte ihm den Fall. Zum Schluß bat er ihn, seine Leute auf Evelyn Gravor und ihre Entführer aufmerk sam zu machen. »Ist schon geschehen«, versicherte der Polizeioffizier über raschenderweise. »Wieso?« fragte Hal erstaunt. Der Ägypter holte sich einen Zettel mit Notizen. »Du bist doch der junge Engländer, der mit Aschir, dem Sohn des Scheichs Ibn Ahman, das Reittier tauschte? Er gab dir sein Pferd für ein Kamel?« »Allerdings. Aber woher wissen Sie das?« »Von Assuan aus wurde uns eine entsprechende Mitteilung 111
durchgegeben. Aschir scheint der Vernünftigste bei der gan zen Geschichte zu sein. Er war noch in der Nacht in Assuan und gab folgendes zu Protokoll: Ich traf in den Bergen einen jungen Engländer. Dieser sagte mir, daß von Abu Simbel aus eine englische Lady entführt worden sei und daß er nach Nor den ihren Spuren folgen wolle. Da er Schwierigkeiten mit seinem Reittier, einem Kamel, hatte, überließ ich ihm auf sei nen Wunsch mein eigenes Pferd. Ich übernahm den Auftrag, seine Gesellschaft in Abu Simbel zu verständigen. Als ich nach Einbruch der Dunkelheit in mein Heimatdorf zurück kehrte, erfuhr ich, daß die Überlassung meines Pferdes an den Fremden zu einem Mißverständnis geführt hatte. Der Englän der war durch das Dorf geritten. Meine Leute hatten mein Pferd erkannt und entsprechende Fragen gestellt. Diese wur den nicht beantwortet, im Gegenteil, der Engländer ergriff die Flucht. Das führte bei meinen Angehörigen zu der Annahme, ich sei überfallen und beraubt worden. Infolgedessen nahm ein Teil unserer Leute die Verfolgung des Flüchtigen auf. Es besteht somit die dringende Gefahr eines blutigen Zusammen stoßes aus einem Irrtum heraus. Ich bitte deshalb, Polizeistrei fen zur Bergstraße hinaufzuschicken, um einerseits den Frem den zu schützen und andererseits meine Leute vor einem Mißgriff zu bewahren. Soweit das Protokoll in gekürzter Form. Wir haben selbst verständlich sofort einige in Frage kommende Posten alar miert und außerdem unsere Leute wegen der angeblich ent führten Engländerin verständigt. Es ist gut, daß du uns nun nähere Anhaltspunkte gibst.« Hal schüttelte den Kopf. »Also deshalb ritten die Kerle wie verrückt hinter mir her, weil sie dachten, ich hätte einen Überfall begangen. Na, so ein Witz.« 112
»Der Witz hätte das Leben kosten können«, erwiderte der Beamte ernst. »Du kannst von Glück reden. Die Bischari hät ten kurzen Prozeß gemacht.« »Ich vielleicht noch kürzeren. Aber das ist ja nun egal. Die Hauptsache ist, daß Miss Gravor gefunden wird und nicht diesem Scheich Abu el Muluk in die Hände fällt.« »Scheich Abu el Muluk wurde gestern von Assuan als tot gemeldet, von einer Giftschlange gebissen. Näheres habe ich noch nicht erfahren.« »Wird wohl ein anderer sein. Also, Sie übernehmen die Sache. Ist für mich etwas zu tun?« »Wohl kaum. Aber es ist ratsam, wenn du in der Nähe bleibst. Vielleicht brauchen wir jemanden, der die Englände rin identifiziert.« Hal sah den anderen erschrocken an. »Wollen Sie damit sagen, daß – daß sie tot sein könnte?« Der Polizeioffizier zuckte mit den Schultern. »Eigentlich nicht, aber es gibt noch andere Möglichkeiten. Die junge Lady kann für den Harem eines Stammesfürsten bestimmt sein. Wir haben da so unsere Erfahrungen. Und in solchen Fällen können wir nur eingreifen, wenn wir uns auf irgendeinem Weg absolute Sicherheit über die Person der Frau verschaffen können.« Hal versicherte, daß er in einigen Stunden wieder nachfra gen würde, und ging. Er war sehr nachdenklich geworden. Der letzte Hinweis des Mannes machte ihm zu schaffen. Hal wanderte unruhig durch die Umgebung. Er strich an den Lehmhäusern der Fellachen vorbei und beobachtete die Jungen, wie sie unermüdlich das Nilwasser zu ihren Feldern emporschöpften. Er sah die Frauen wie wandelnde Königin nen mit den Wassergefäßen auf dem Kopf dahinschreiten, sah Eselsreiter und weidende Herden und burnusverhüllte Araber, 113
die auf dem Boden kauerten und friedlich ihre Tschibuks rauchten. Später bummelte er durch die Ruinen. Eine Zeitlang vergaß er alles um sich herum, so imposant wirkte dieser Riesentem pel. Nicht weniger als einen Quadratkilometer Raum umfaßte die Gesamtanlage der Wunderbauten, die frei von allen späte ren Einflüssen unmittelbar in altägyptische Zeit versetzten, in jene Zeit, in der Karnak noch der heilige Tempel der uralten Stadt Theben war. Hal fühlte sich förmlich bedrückt, als er von einem dieser Riesendenkmäler zum andern schritt. Er stand vor dem ersten Pylon mit seinen hundertunddreizehn Metern Breite, fünfzehn Metern Tiefe und dreiundvierzig Metern Höhe und blickte an der Reihe mächtiger Widderstatuen entlang zum Nil hinunter. Er trat in den großen Hof, der allein achttausend Quadratme ter Fläche besitzt, mit den Kolossalsäulen und den Tempeln Setis II. und Ramses III. Er blickte vom zweiten Pylon in den großen Säulensaal, der Ammon geweiht war, und vergaß dar über Zeit und Stunde. Es war wirklich überwältigend. Hier standen Hunderte ge waltiger Säulen, von denen jede einzelne für sich so stark und so hoch wie ein Turm war. Und auf ihnen ruhte seit Jahrtau senden ein Dach aus mächtigen Steinquadern. Die Bodenflä che war riesig, und doch faßte die Halle nicht viele Menschen, weil eben die Säulen dicht nebeneinander standen. Zehn Me ter Umfang und annähernd fünfundzwanzig Meter Höhe hatte jede von ihnen. Und weiter ging es zum dritten, vierten, fünften und sech sten Riesenpylon, durch Höfe und Hallen mit riesigen Statuen und Obelisken, durch Kapellen und Säulentempel, an mächti gen Steinkolossen und Büsten der Pharaonen vorbei, an Denkmälern unbekannter Herrscher mit fremdartigen Trach 114
ten und seltsamen Emblemen. Namen, Geschichte und Sage flüsterten: Ammon, Mut und Chons, Setis und Ramses, Make re, Hatschepsut, Thutmes und wie sie alle hießen. Es war schwer, über dem unbeschreiblichen Zauber dieser Ruinen an andere Dinge zu denken. Eine kleine Beobachtung machte jedoch dem Jungen schlagartig wieder die Gegenwart bewußt. Als er auf die Straße stieß, die von Karnak weiter nach Norden führte, sah er in der Ferne drei Kamelreiter angetrabt kommen. Daran war zunächst nichts Besonderes. Doch plötz lich löste sich der mittlere und versuchte Feld zu gewinnen. Die beiden anderen setzten sich jedoch kurz darauf ebenfalls in schnellere Bewegung und holten den Ausreißer wieder ein. Das machte den Jungen stutzig. Er verbarg sich und beobach tete weiter. Die drei kamen direkt auf ihn zu. Als sie bis auf fünfzig Meter heran waren, zweifelte Hal kaum mehr daran, wen er vor sich hatte. Die mittlere der drei Personen war eine Frau. Die untere Hälfte des Gesichts war verhüllt, aber die obere zeigte helle Haut und blaue Augen, sogar eine blonde Haarsträhne. Evelyn Gravor? Die Gesichter der beiden Männer waren dunkel. Es waren die Gesichter von Einheimischen. Hal hörte heftige Worte, deren Sinn er leider wegen der Entfernung nicht verstand. Aber ganz bestimmt stritt sich die Frau mit ihren Begleitern. Und jetzt trieb sie plötzlich wieder ihr Tier mit heftigen Schlägen an. Das Kamel begann zu rennen und den anderen vorauszujagen. Eine halbe Minute lang schienen die beiden Männer zu zö gern – lange genug, um der Frau einen Vorsprung von zwan 115
zig Metern zu geben – , dann jagten sie mit unwilligen Ausru fen ebenfalls los. Hal ließ die Frau an sich vorbeipreschen, dann sprang er mit einem Satz vor, riß seine Pistolen heraus und hielt sie drohend den Verfolgern entgegen. Sie brachten ihre Tiere jäh zum Stehen. »Absteigen!« befahl Hal kurz. Ein Schwall unverständlicher Worte ergoß sich auf ihn. Der eine der Männer nestelte an der Pistolenhalfter, die an seinem Sattel befestigt war. Hal schoß. Mit einem Fluch fuhr die Hand des Mannes zum Ohrläppchen, das die Kugel gestreift hatte. »Herunter mit euch, aber ein bißchen lebhaft!« Hals Stim me klang drohend. Überraschend schnell legten sich die Kamele, und die Männer stiegen mit steifgehaltenen Armen ab. »So.« Hal nickte befriedigt. »Immer nur hübsch vernünftig. Ich werde euch schon beibringen, die junge Lady in Ruhe zu lassen.« Auf einmal konnte der kleinere der beiden Männer ziem lich fließend Englisch sprechen. »Was soll das?« erkundigte er sich hochfahrend. »Unerhört!« fiel nun auch der andere ein. »Straßenräuber in unmittelbarer Nähe des Ortes! Das wird dich den Kopf ko sten, Bursche.« »Reißt euer Maul nicht so auf, sonst gibt’s gleich an Ort und Stelle eine bezahlte Rechnung. Von Abu el Muluk habt ihr ja doch nichts mehr zu erwarten. Was hat er euch denn für euren Streich gezahlt?« »Ich verstehe kein Wort«, sagte der Kleinere. »Ach wirklich?« höhnte Hal. »Die junge Lady kennt ihr wohl auch nicht?« 116
»Welche junge Lady?« Hal zeigte nach hinten. »Na die, die eben weggeritten ist, Miss Gravor.« »Miss Gravor?« ächzten die beiden. Der Junge grinste. »Ihr scheint ja ganz ahnungslose Engelchen zu sein.« »Ich bin Oberst Lahsan vom zweiten ägyptischen Reiterre giment«, fuhr der Kleinere hoch. »Und das ist Minister Meh med.« »Und ich bin der chinesische Außenminister Na So Wat«, sagte Hal belustigt über die Frechheit der beiden. »Kehrt marsch! Nehmt eure Tiere am Zügel oder laßt sie meinetwe gen auch hier.« Die beiden wurden unruhig. Sie tauschten einige Worte un tereinander aus, dann meinte der Kleinere: »Wir nehmen an, daß du es auf unser Geld abgesehen hast. Wieviel willst du?« Hal machte eine drohende Bewegung. »Ich brauche euer Geld nicht. Vorwärts, wir gehen direkt zur Polizei.« Die Gesichter der beiden waren unbeschreiblich. »Zur Polizei?« Der Junge nickte. »Paßt euch wohl nicht, was? Es wird euch aber nichts hel fen. Los jetzt!« Schulterzuckend gingen die beiden los. Hal folgte im Ab stand von zwei Metern mit schußbereiter Waffe. Nach zehn Minuten marschierten sie bereits durch die Straßen von Karnak. Fellachen, Touristen und sonstige Pas santen rissen Mund und Augen auf. Innerhalb von Minuten lief eine Horde von Kindern und Hunden zusammen, die um die drei herumtobte. Hal hielt es für ein Versehen, daß dieser und jener der Pas 117
santen sich verneigte, als er mit seinen Gefangenen vorbei ging. Aber bald beobachtete er das immer häufiger. Sogar die eingeborenen Polizisten standen stramm und vergaßen, den Mund zu schließen. Kultivierte Leute hier. Sie wußten ein Verdienst zu schät zen und dem Helden, der zwei solche Verbrecher gefangen hatte, Ehre zu erweisen. Die beiden Männer gingen ohne den geringsten Fluchtver such nebeneinander her. Sie unterhielten sich. Dann und wann schienen sie sogar zu lachen. Und sie gingen gemütlich wie bei einem Spaziergang. Hal ärgerte sich darüber und fuhr sie an: »Nicht so gemüt lich, ihr beiden, sonst heize ich euch ein. Die Hände auf den Rücken und den Kopf gesenkt, wie sich das gehört. Und Schritt fassen könnt ihr auch, Sie vor allem, Oberst. Sie haben ja nicht einmal eine Ahnung, was ein Oberst für einen Schritt hat.« Die Gefangenen nahmen gehorsam die Hände nach hinten, senkten die Köpfe und faßten Schritt. So ging es ins Polizei gebäude hinein. Alle, denen sie begegneten, erstarrten. Hier schien es selten vorzukommen, daß Verbrecher gefangen wurden. Hal hielt sich nicht lange mit Fragen auf, sondern stieß die Tür auf, durch die er schon einmal gegangen war. Der Offi zier am Schreibtisch blickte nicht auf. »So«, sagte Hal mit Genugtuung. »Hier bringe ich die bei den Burschen, die Miss Gravor entführt haben.« Der Offizier blickte auf. Sein Unterkiefer klappte herunter. Die Augen traten beängstigend aus den Höhlen, und seine Haut lief blau an. Er würgte. »Hoheit – Herr Oberst…« »Mann, den Schwindel werden Sie doch nicht glauben?« 118
Hal wunderte sich, aber plötzlich fiel ihm ein, daß der Offizier eigentlich noch gar nicht wissen konnte, wofür sich die beiden ausgaben. Die beiden Gefangenen brachen in lautes Lachen aus, wäh rend der Offizier immer noch stotterte: »Hoheit – ich verstehe nicht…« »Schon gut. Wir werden hier als Verbrecher und Mädchen räuber vorgeführt.« »Sind Sie auch«, behauptete Hal mit Nachdruck. »Oder etwa nicht?« »Zufällig nicht«, entgegnete der Größere freundlich. »Ich bin tatsächlich Minister Mehmed, und das ist mein Adjutant.« Hal erschrak. »Stimmt das?« Der Offizier nickte nachdrücklich und wollte etwas sagen, aber Hal kam ihm zuvor und verbeugte sich gewandt vor dem Minister. »Dann bitte ich höflichst um Entschuldigung, Hoheit. Ein bedauerliches Mißverständnis. Kommt bekanntlich in den besten Familien vor. Guten Morgen.« Er wollte gehen, aber der Minister hielt ihn zurück. »Augenblick, bitte. Wollen Sie uns nicht wenigstens erzäh len, wie es zu diesem Mißverständnis gekommen ist? Schließ lich haben wir Ihnen ja das Vergnügen bereitet, als eingefan gene Verbrecher durch die Stadt zu laufen.« »Tut mir leid«, seufzte Hal. »Also, gestern ist eine junge Lady in dieser Richtung entführt worden. Sie kamen zu dritt, und das eine war eine junge Lady, und ausgerissen ist sie Ih nen auch. Was hätten Sie gedacht?« In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen, und die junge Lady, von der Hal eben gesprochen hatte, stürzte herein. »Mehmed!« rief sie strahlend und warf sich dem Minister an den Hals. 119
Dieser tadelte nachsichtig: »Dein Eigensinn hat Unheil an gerichtet, Grace. Wir sind als deine Entführer hierhergebracht worden.« »Schrecklich!« seufzte sie. »Ich fürchtete schon um dein Leben. Ich hörte den Schuß und sah dich in der Gewalt dieses Wegelagerers. Aber ich konnte nichts weiter tun, als über ei nen Umweg in die Stadt zurückzureiten und die Polizei zu alarmieren.« »Danke«, sagte der Minister trocken und wandte sich an Hal. »Das ist die junge Lady. Sie ritt voraus, weil wir eine kleine Meinungsverschiedenheit hatten.« »Das soll unsereins nun wissen«, murrte Hal und beeilte sich hinauszukommen, um seinen Schmerz in der Einsamkeit zu vergessen. * Nimba ritt ahnungslos in die Falle, die die Bischari für ihn aufgebaut hatten. Es rettete ihm das Leben, daß die Bischari beschlossen hatten, den Mörder Aschirs lebendig zu fangen. Sie hoben wohl drohend die Gewehre, als die Staubwolke um die Ecke fegte, aber es fiel kein einziger Schuß. Nimba sah plötzlich den Weg durch ein Dutzend schwer bewaffneter Leute versperrt. Er stoppte sein Tier mit einem scharfen Ruck und machte sich schußbereit. Jetzt erkannten die Bischari, daß sie den Falschen auf gehalten hatten. Schreie der Enttäuschung gellten auf. Scheich Ibn Ahman ritt an Nimba heran, der wie ein dro hendes Ungewitter auf dem hellgrauen Renner hockte. »Sprich englisch!« knurrte Nimba. »Wer bist du?« wiederholte der Scheich wunschgemäß in schwerfälligem Englisch. 120
»Wer bist du?« fragte Nimba zurück. »Ich bin Scheich Ibn Ahman. Wir sind auf der Jagd nach dem Mörder meines Sohnes. Er hat ihn meuchlings überfallen und beraubt.« Nimba zog die Stirn in Falten. »Und da habt ihr mich in Verdacht?« »Nein, nein«, versicherte der Scheich. »Wir erkannten dich nur nicht zur rechten Zeit. Du kannst in Frieden weiterzie hen.« »Was ich euch auch geraten haben möchte«, murmelte Nimba, um dann lauter fortzufahren: »Ich wünsche euch, daß ihr den Mörder recht bald findet.« »Wir hoffen es. Hast du ihn nicht überholt?« Nimba schüttelte den Kopf. »Auf meinem Weg war niemand. Aber höre, Scheich, ihr wartet doch sicher schon eine ganze Weile hier. Habt ihr nicht zufällig einen jungen Engländer gesehen?« »Einen jungen Engländer?« Der Scheich horchte auf. »Ja, etwa sechzehn Jahre alt, sommersprossig, Khakiklei dung und auf einem Kamel wie dieses hier.« Der Scheich blickte ihn durchbohrend an. »Ein junger Engländer ist auf dieser Straße geritten. Er sah so aus, wie du ihn beschreibst. Er ritt jedoch ein Pferd.« Nimba zuckte mit den Schultern. »Nun, dann hat er vielleicht sein Tier gewechselt. Mit dem Kamel kam er ohnehin nicht besonders gut zurecht.« In den Augen des Scheichs glühte es auf. »Ja, er hat sein Tier gewechselt. Und bei dieser Gelegen heit hat er meinen Sohn überfallen. Dein junger Engländer ist der Täter, auf den wir warten.« »Du bist verrückt!« Ibn Ahman richtete sich in den Bügeln auf. 121
»Du vergißt, mit wem du sprichst. Ich weiß, daß der junge Engländer ein Mörder ist. Er ritt Esre, das Pferd meines Soh nes, und floh, als man ihn fragte. Und mein Sohn ist ver schwunden. Ist der Mörder ein Freund von dir?« Nimba nickte bedächtig. »Ja, er ist ein guter Freund von mir. Und du verdächtigst ihn zu Unrecht. Er ist kein Mörder. Denke daran, falls du ihn doch noch finden solltest. Und nun lebt wohl.« Der Scheich war damit nicht einverstanden. Er hob die Hand und rief: »Halt! Du bleibst bei uns, bis wir den Mörder gefunden haben. Du bist sein Freund und weißt vielleicht mehr von dem Mord.« »Du bist verrückt!« stellte Nimba zum zweitenmal fest. »Ich habe mehr zu tun, als hier meine Zeit zu vertrödeln.« Ibn Ahman rief seinen Leuten einige Worte zu, worauf die se ihre Gewehre auf Nimba anlegten. Nimba handelte jetzt schnell. Er beugte sich vor, packte den Scheich mit seiner Linken beim Kragen und hob ihn aus dem Sattel heraus zu sich herauf. Gleichzeitig trieb er sein Kamel an, das unverzüg lich ein schnelles, gestrecktes Tempo annahm. Ibn Ahman wehrte sich verzweifelt, aber es wirkte kaum anders als das ohnmächtige Strampeln eines Kindes. Seine Leute standen mit verblüfften Gesichtern und wagten nicht zu schießen. Es geschah alles so schnell, daß Nimba bereits zwi schen ihnen hindurch war, bevor sie die Situation richtig er faßt hatten. Und dann war es zu spät. Das Kamel griff trotz der doppelten Last wunderbar aus. Eine Viertelstunde jagten sie so dahin. Der Scheich verhielt sich ruhig. Kein Wort wurde gewechselt. Plötzlich tauchte vor ihnen eine Staubwolke auf. Kamelrei ter wurden sichtbar. Nimba machte sich kampfbereit. Dem Scheich entging es nicht. Ein höhnisches Lächeln glitt über 122
seine Lippen. »Polizei!« triumphierte er. »Um so besser.« Nimba atmete auf. Der kleine Trupp sprengte heran und stoppte ab. Nimba hielt ebenfalls an. Der vorderste der Männer lüftete den wei ßen Überwurf. »Scheich Ibn Ahman?« stellte er erstaunt fest. Nimba ließ seinen Gefangenen auf den Boden gleiten, nachdem er die Uniform gesehen hatte. »Sie gehören zur Polizei?« »Ja«, bestätigte der Leutnant höflich. »Wie kommen Sie zu dem Scheich?« »Ich nahm ihn mit, weil er und seine Freunde mir an den Kragen wollten.« »Sein Freund ist der Mörder meines Sohnes«, rief der Scheich. »Ich wollte ihn als Geisel festhalten.« »Aschir lebt«, antwortete der Leutnant nicht sehr freund lich. »Sie sind nahe daran gewesen, einen Mord zu begehen, Scheich Ibn Ahman. Für Verbrechensbekämpfung ist in die sem Land die Polizei zuständig. Nicht jeder kann sein eigener Richter sein.« »Wir sind freie Bischari«, murrte der Scheich. »Aschir lebt tatsächlich?« »Natürlich«, erwiderte der Leutnant unfreundlich. »Nie mand hat ihm etwas zuleide getan.« »Aber der Fremde ritt sein Pferd und floh vor uns.« »Sollte er sich etwa von euch abschlachten lassen? Das Pferd gab ihm Aschir selbst. Der junge Engländer kam mit seinem Kamel nicht zurecht und tauschte deshalb mit deinem Sohn. Und es war bestimmt kein schlechter Tausch für Aschir.« In den Augen des Scheichs funkelte es kurz auf, als er die 123
se Möglichkeit überdachte. Dann fragte er: »Sie sagen es, als wären Sie dabeigewesen. Woher wollen Sie das alles wis sen?« Der Leutnant machte eine ärgerliche Bewegung. »Sie haben immer noch nicht begriffen, daß es Telefone und Funkeinrichtungen gibt. Aschir ist verständiger als sein Vater. Er erfuhr in eurem Dorf, daß ihr hinter dem Engländer hergeritten seid. Er ritt sofort nach Assuan und machte eine Meldung, die uns durchgegeben wurde.« »Allah imma Allah«, murmelte Ibn Ahman. Er wandte sich ab und ging seinen Leuten entgegen, die aus der Ferne heran gejagt kamen. Nimba wandte sich an den Leutnant. »Ist etwas über den Aufenthalt des Jungen bekannt?« »Darüber wurde nichts gemeldet. Wir dachten, wir könnten ihn hier treffen. Aber es sind noch mehr Leute von uns unter wegs. Irgendein Trupp wird ihn schon finden.« Nimba entschloß sich nach einigem Zögern, die Jagd auf Hal aufzugeben. Es war wahrscheinlicher, daß er irgendwo auf Polizeiposten stieß, als daß er einzuholen war. Zwei Stunden später traf er Hal, als dieser eben leicht benommen aus der Polizeistation von Karnak herauswankte. Die Überraschung und Freude war gegenseitig. »Mensch, Nimba – wie kommst du denn hierher?« »Lächerliche Frage!« Nimba strahlte. »Ich bin dauernd hinter dir hergeritten. Unmündige Kinder läßt man doch nicht allein herumreiten. Wie leicht können sie sich verlaufen!« Hal tippte an seine Schläfe. »Angeber! Ich bin hinter den Entführern von Miss Gravor her. Eben dachte ich, daß ich sie aufgetrieben hätte, aber lei der war es nur ein Minister mit seinem Adjutanten.« »Wieso?« 124
Hal berichtete, und Nimba rieb sich die Nase, um sein Grinsen nicht sehen zu lassen. * Sun Koh war bereits über Karnak gewesen, als Hal sich aus seinem Zelt hochrappelte. Er hatte ohne Schwierigkeiten un terhalb der Stadt die Gesuchten entdeckt: zwei Männer, zwi schen denen eine verhüllte Frau ritt, die offensichtlich be wacht wurde. Sun Koh ging so weit hinunter, bis er volle Ge wißheit hatte. Er wurde bemerkt, aber die Entführer schöpften wohl kaum ernsthaft Verdacht, denn er stieß sofort wieder in die leichten Wolkenschleier hinauf, die ihn den Blicken ent zogen. Vielleicht wäre es das kürzeste Verfahren gewesen, zu lan den und die Entführer zu stellen. Sun Koh verzichtete jedoch darauf, weil er nicht wußte, welche Anweisungen die Männer hatten. Die Landung erforderte Zeit, so daß er nicht überra schend eingreifen konnte, und diese Männer wußten, daß auf ihr Verbrechen die Todesstrafe stand. Das konnte leicht dazu führen, daß sie im Fall der Gefahr die Kronzeugin beseitigten. Die kleine Gruppe ließ Karnak liegen und passierte ober halb davon den Nil. Das entsprach den Erwartungen, denn das Biban-el-Muluk-Gebirge lag am westlichen Ufer. Sun Koh hatte von oben her einen großartigen Blick auf die Totenstadt der alten Thebaner, die sich mit gewaltigen Baudenkmälern in das Gebirge hineinzieht. Er sah zwischen fruchtbaren Feldern die riesigen Bildnisstatuen des Königs Amenhotep III. ungeheure, zwanzig Meter aus dem Nil schlamm herausragende Standbilder, die einst aus einem ein zigen Felsblock herausgehauen worden waren. Jenseits der Tempel von Medinet Habu sah er das berühm 125
te Ramsesseum, in dessen einem Tempel die einzige Inschrift gefunden wurde, die den Aufenthalt der Juden in Ägypten erwähnt, und zwar an einer Stelle des Merneptah, jenes Pha rao, dessen Heer im Roten Meer unterging. Er blickte in den großen Festsaal mit seinen riesigen Säulen, in den hinteren Saal und auf die langgestreckten Ziegelgewölbe, die einst die Weinkeller der Pharaonen waren. Hier wurden Weinkrüge gefunden, die 3300 Jahre dort gelegen hatten. Sie waren noch verkorkt, trugen das Siegel Ramses II. und Inschriften, die Name und Jahr der Weinernte angaben. Die drei Menschen unten ritten immer weiter durch die steinigen, kahlen Täler und die zerklüfteten Schluchten. Sie strebten ohne Zweifel auf Der el Bachri zu, in dessen Nähe im Jahre 2882 nicht weniger als fünftausend der kostbarsten Al tertümer aus einer Grabschlucht zutage gefördert wurden. Dieses ganze Gebiet war ja weiter nichts als eine einzige Grabstätte. In den wie Honigwaben durchlöcherten und mit Grabkammern durchsetzten Felsen ruhten Millionen von Menschen. Hunderte von Grabkammern waren von Forschern und von Beutelustigen aufgebrochen worden, aber sicher gab es dort unten immer noch Tausende, die über die Zeiten unbe rührt geblieben waren. Die reichen Ägypter setzten ihre Toten mit größter Heimlichkeit bei und verbargen die Eingänge so sorgfältig unter Schutt, daß oft schon das nächste Geschlecht nicht mehr wußte, wo die Grabstätten der Vorfahren lagen. Der Grund konnte darin liegen, daß die Toten wertvolle Schätze und Schmuck mitbekamen. Kurz vor dem großen Tempel der Hatschepsut bogen die drei Reiter in ein schmales Seitental ein, in eine finstere Schlucht, die von oben wie der rissige Schnitt eines Messers wirkte. Es war jetzt nahezu unmöglich, sie von oben her im Auge zu behalten. Nur dann und wann sah man die Kleidung 126
als helle Flecken aufleuchten. Sun Koh beobachtete trotzdem, bis er den Eindruck ge wann, daß die drei ihr Ziel erreicht hatten oder sich wenig stens in seiner Nähe befanden. Dann ging er mit der Maschine hinunter. Nach einer glatten Landung blickte er von oben her in die Schlucht hinein. Von Evelyn Gravor und ihren beiden Entführern war nichts mehr zu sehen. Auch die Kamele waren verschwunden. Ir gendwo mußte sich eine Höhle befinden. Sun Koh lag am Rand der Schlucht. Unter ihm brach der Fels scharfkantig ab, als wäre er erst kürzlich abgesprengt worden. Zehn Meter weiter unten setzte eine Schutt- und Ge röllhalde an, die schräg in den Grund der Schlucht hineinführ te und ihn teilweise ausfüllte. Zehn Meter waren nicht der Rede wert. Sun Koh schwang sich über den Rand und sprang hinunter. Seine Füße trafen federnd auf. Die Wirkung war überra schend. Fast augenblicklich löste sich die ganze Geröllhalde ab und glitt in die Tiefe, erst zögernd, dann immer schneller und mit donnerndem Getöse. Sun Koh stand, gleich darauf wurden ihm die Füße wegge zogen. Er glitt mit hinunter, aber nicht weit. Seine Füße trafen plötzlich auf querliegenden Felsen, auf einen Block, der sich ebenfalls bewegte. Der Block wich, ein dunkles Loch öffnete sich – und Sun Koh fiel. Er warf sich herum, aber da schlug sein Kopf gegen Stein. Er stürzte bewußtlos in die Tiefe. Als er wieder erwachte, lag er mit gefesselten Händen und Füßen auf glattem Steinboden. Neben seinem Kopf wuchtete eine riesige Säule zwanzig Meter in die Höhe. Von oben drang durch einen langen Spalt Sonnenlicht ein. Der Raum verlor sich in unbestimmter Dämmerung. Säu 127
len und wieder Säulen, auf denen Skulpturen geheimnisvoll zu leben schienen. Sun Koh wußte jetzt, was geschehen war. Er lag in einer der unbekannten Grabkammern. Das rutschende Geröll hatte einen oberen Verschlußstein, der vielleicht schon lange ge lockert war, mitgerissen und einen klaffenden Spalt geöffnet, durch den er gestürzt war. »Mr. Sun Koh?« Sun Koh kippte sich herum. Ein Stück von ihm entfernt lag Evelyn Gravor, ähnlich gebunden wie er. »Miss Gravor? Wie geht es Ihnen?« »Nicht schlecht.« Sie seufzte. »Man hat mich bisher an ständig behandelt.« »Aber Sie sind gefesselt.« »Erst, seitdem Sie herunterstürzten. Man fürchtete, ich könnte Ihre Fesseln lösen.« »Wie lange liege ich hier?« »Schon viele Stunden. Es muß Nachmittag sein.« »Wo sind die beiden Männer?« »Weiter vorn. Sie suchen nach dem Ausgang.« »Bitte?« »Es hat einen Geröllrutsch gegeben. Die Stelle, an der wir hereingekommen sind, ist verschüttet.« Schritte hallten dumpf. Die beiden Männer kehrten zurück. Es waren tatsächlich die beiden, die Sun Koh im Felsentempel von Abu Simbel mit Scheich Muluk zusammen gesehen hatte. Sie pflanzten sich mit verdrießlichen Gesichtern dicht vor Sun Koh auf. »Wer sind Sie?« fragte der eine mürrisch. »Sie haben uns verfolgt.« »Anscheinend«, bestätigte Sun Koh leichthin. »Oder meint ihr, Miss Gravor sei schutzlos?« 128
»Das wird Ihnen schlecht bekommen. Sobald Scheich Abu el Muluk eintrifft…« »Der Scheich wird nie hierherkommen. Er ist tot.« Evelyn Gravor unterdrückte ihre Überraschung, die Män ner wechselten erschrockene Blicke. Nach einer Pause fragte der Ältere: »Woher wollen Sie das wissen?« »Er starb in meiner Gegenwart an dem Biß einer Schlan ge.« »Es ist nicht wahr«, widersprach der Mann. »Glaubt es oder nicht«, erwiderte Sun Koh gleichgültig. »Wenn ihr lange genug gewartet habt, werdet ihr schon wis sen, ob es stimmt oder nicht. Habt ihr den Ausgang wiederge funden?« »Nein«, sagte der eine zögernd. »Der Ausgang ist ver schüttet. Wir können nicht mehr hindurch.« »Und wie habt ihr euch das Weitere gedacht?« Sie hoben die Schultern. »Wir werden warten.« »Worauf?« »Wer weißes?« »Na, schön, das könnt ihr halten, wie ihr wollt, aber nun löst vor allem einmal unsere Fesseln. Ihr habt Miss Gravor umsonst entführt, denn euer Auftraggeber lebt nicht mehr. Es wird gut für euch sein, wenn ihr versucht, euer Unrecht wie dergutzumachen.« Die beiden begannen heftig miteinander zu tuscheln. Sie waren anscheinend geteilter Meinung. Schließlich erklärte einer laut: »Sie bleiben gefesselt. Wir haben keine Lust, Ge fangene zu werden.« Sun Koh lächelte. »Ihr seid es ohnehin. Wir sind alle Gefangene der Pharao nen. Entschließt euch besser.« 129
»Es bleibt dabei!« »Wie ihr wollt!« Sun Koh zwang seine Hände mit einem kraftvollen Ruck auseinander, so daß die nicht besonders festen Stricke rissen und mit zerfaserten Enden abfielen. Fast gleichzeitig und noch ehe die beiden begriffen, schnellte er sich auf seine gebunde nen Füße, drehte sich etwas und packte die Männer, die seit lich von ihm standen. Mit dumpfem Geräusch wuchteten sie zusammen, dann stürzten sie zu Boden. Einen Augenblick lang vergewisserte sich Sun Koh, daß die beiden wirklich außer Gefecht waren. Dann holte er dem einen das Messer aus dem Gürtel und durchschnitt die Stricke an den Füßen. »So«, er reckte sich und schritt dann zu dem Mädchen hin über, »jetzt sind die Rollen vertauscht.« »Sie haben sie getötet?« erkundigte sich Evelyn Gravor unsicher. »Kein Gedanke«, beruhigte er, »sie werden gleich wieder wach sein.« Er wollte eben die Fesseln durchschneiden, als ihm einfiel, daß er die Stricke recht gut gebrauchen konnte. So knüpfte er sie denn auf. Dann nahm er den Arabern seine Waffen ab, die sie sich bereits angeeignet hatten, ebenso alle sonstigen Waf fen, von denen sie mehr als genug bei sich trugen. Dann fes selte er sie Rücken an Rücken mit den verschränkten Händen aneinander. Miss Gravor nahm willig die Pistole, die er ihr reichte. »Bleiben Sie bitte hier«, sagte er, »und behalten Sie die beiden im Auge. Es ist besser, sie zu bewachen. Sobald sie versuchen, sich zu befreien, rufen Sie mich.« »Der eine ist schon wach«, sagte sie. Sun Koh wartete, bis die beiden richtig zu sich gekommen 130
waren und seine Worte erfassen konnten. Dann machte er sie darauf aufmerksam, daß ihnen der geringste Befreiungsver such das Leben kosten würde. Die Männer nickten krampfhaft. Sun Koh schritt zwischen Säulen hindurch zu der Stelle, wo sich der Eingang zu dieser Grabkammer befunden hatte. Eine kurze Untersuchung, die wegen des nachrutschenden Gesteins nicht ungefährlich war, zeigte ihm, daß selbst für ihn ein Durchkommen an dieser Stelle kaum mehr denkbar war. Hier lagen riesige Blöcke, dazwischen Hunderte kleinerer Stücke, die sich wahrscheinlich als starke Schicht auf den Grund der Schlucht und damit vor den Eingang gelegt hatten. Das war Arbeit, wochenlange Arbeit für eine gut ausgerüstete Ausgrabungsexpedition, aber nicht für einen einzelnen Mann. Er ging zurück. Miss Gravor und die Männer hatten sich kaum gerührt. »Wo sind eigentlich die Kamele geblieben?« erkundigte er sich. »Sie standen dicht neben dem Eingang unter einer über hängenden Felsenplatte«, antwortete Miss Gravor. »Dann sind sie verschüttet und tot.« Er ging nun in die Tiefe des Felsens hinein. Dieser erste Raum war nur eine Vorkammer, der eine zweite und dann eine dritte folgte. Die Luft war sehr kühl hier unten, aber abgesehen von ei nem leichten Modergeruch war sie verhältnismäßig rein. An die Stelle der Säulen traten glatte Wände. Im Licht der Taschenlampe stellte Sun Koh fest, daß sie mit eingemeißel ten Bildern und Texten versehen waren, die offensichtlich die Reise des Toten unter Leitung des widderköpfigen Sonnen gottes auf einer Barke durch die Unterwelt darstellen sollten. Nach der dritten Kammer öffnete sich ein größerer Saal. In 131
dessen Mitte befand sich eine Vertiefung, und hier stand ein mächtiger Alabastersarg, über und über mit wundervollen Darstellungen geschmückt. Die Archäologen würden ihre helle Freude an diesem Fund haben. Die Grabstätte, die einen der zahlreichen Pharaonen beher bergen mochte, war zu Ende. Nirgends eine Öffnung zu fin den, nirgends ein Spalt, der in die Außenwelt führte. Das war zu erwarten gewesen. Nun blieb als einzige Möglichkeit die Bruchstelle, durch die er gestürzt war. Sun Koh kehrte zurück, zur Erleichterung des jungen Mäd chens, das sich nicht besonders angenehm fühlte. Nachdenk lich starrte er in die Lücke hinauf. Zwanzig Meter, keine An laufmöglichkeit und oben keine Stelle, an der man sich richtig anklammern konnte. Das sah böse aus. »Sie wollen dort hinauf?« fragte Evelyn Gravor. Er nickte. »Das ist der Weg, auf dem wir die Grabkammer verlassen müssen. Einen anderen gibt es nicht.« Sie machte sich wohl zum erstenmal klar, in welcher Lage sie sich befand. Ihre Stimme schwankte, als sie rief: »Aber es ist doch unmöglich, dort hinaufzukommen.« Er sah sie freundlich an. »Es muß uns gelingen, Miss Gravor, und es wird gelin gen.« »Und wenn nicht?« Sun Koh hob die Schultern und schwieg. Was hatte es für einen Zweck, dem Mädchen zu erzählen, daß sie dann für ewig Gefangene dieses toten Pharaos bleiben würden, daß sie verdursten und verhungern mußten. Hilfe von außen war nicht zu erwarten. Sun Koh lehnte sich an eine der Säulen und überlegte, während die ängstlichen Blicke des Mädchens und der Ara 132
ber, die allmählich die Lage begriffen, auf seinem Gesicht ruhten. Ein Mittel gab es ja im äußersten Fall, eine letzte Chance. Sun Koh kannte die Kraft seiner Arme. Es würde ihm ge lingen, einen dieser Araber bis in den Spalt hinaufzuschleu dern, vielleicht sogar noch höher. Aber würde der Mann nicht mit zerschmetterten Gliedmaßen aufschlagen? Und wenn er schon heil Fuß faßte, dann war es sehr leicht möglich, daß er einfach seiner Wege lief. Es war das sicherste Mittel für ihn, um einer Strafe für die Entführung zu entgehen. Sun Kohs Blicke glitten über die Säulen. Sie führten auf wärts. Und plötzlich stand ein Bild vor seinem Auge, das er irgendwo einmal gesehen hatte. Ein Eingeborener erkletterte, die Füße am Baum, die Hände in einer Schlinge, die um den Baum lief, eine Palme. Das war die Lösung. Sun Koh straffte sich. So mußte es gelingen. Er verständig te mit knappen Worten das Mädchen und die Araber von sei nem Vorhaben. Die Araber schworen hoch und heilig, daß sie alles tun würden, was er verlangte. Sun Koh glaubte es ihnen um so eher, als er sah, daß die beiden sich der Gefahr durch aus bewußt waren. Er band sie los. Den Strick brauchte er dringend als Halte seil. »Ihr wartet also, bis ich wiederkomme«, schärfte er ihnen noch einmal ein. »Länger als eine Stunde werde ich kaum bleiben. Und betragt euch vernünftig, sonst findet man hier eines Tages eure Mumien. Wenn ich euch herausgeholt habe, dürft ihr unbesorgt eurer Wege gehen.« »Wir schwören beim Bart des Propheten«, murmelten die Männer. Evelyn Gravor war bleich, aber gefaßt. Das Alleinsein mit 133
den beiden fürchtete sie nicht, denn sie war ja schon die ganze Zeit in deren Begleitung gewesen. Wohl aber fürchtete sie für Sun Koh. Ihr Herz zitterte für ihn. Aber sie war klug genug, es nicht merken zu lassen. Mit dem feinen Instinkt der Frau spür te sie, daß dieser Mann nie mehr als Güte und Freundschaft für sie übrig haben würde. Sun Koh prüfte den geknoteten Strick sorgfältig und legte ihn um die günstigste Stelle, dann begann er seinen Aufstieg. Es sah von unten geradezu entsetzlich aus, wie er mit fast waagerecht liegendem Körper an der Säule hinauflief, aber in Wirklichkeit war es gar nicht so schlimm. Die Schlinge hielt und rutschte nach. Sun Kohs Muskeln waren gut durchtrai niert, und seine Sinne glichen sorgfältig und schnell alle ent stehenden Gefahren einer Gleichgewichtsverlegung oder einer Zugschwankung aus. Überraschend schnell war er am Kopf der Säule angelangt. Jetzt kam das schlechteste Stück. Auf der Säule ruhte unmit telbar die Felsdecke, die schräg überhängend gerissen war. Nur auf der anderen Seite, an dem weggekippten Felsblock konnte er Halt finden. Sun Koh drehte sich herum, so daß er mit dem Gesicht nach unten sah. Dann krümmte er vorsichtig die Knie, faßte sein Ziel ins Auge und stieß sich mit voller Kraft von seiner glatten Unterlage ab, schräg aufwärts in den Spalt hinein. Der Sprung glückte. Sun Koh faßte die Kante des Blocks und zog sich darüber hinaus auf das Geröll. »Alles in Ordnung«, rief er beruhigend hinunter und eilte davon. Er mußte einen langen Umweg machen, um zu der Ma schine zu gelangen, denn an der Wand der Schlucht, an der er heruntergekommen war, konnte er nicht wieder hinauf. Das Flugzeug war unberührt. Auf dem Rumpf saß ein Aas 134
geier, der sich unter mißtönigem Krächzen mit schwerem Flügelschlag davonmachte, als Sun Koh angelaufen kam. Eine Viertelstunde später landete er auf dem kleinen Platz von Karnak, inmitten der auseinanderstiebenden Bevölkerung. Nur zwei kamen auf die Maschine zugerannt – Nimba und Hal. »Es ist Sun Koh!« jubelte Hal. »Hab ich dir’s nicht gleich gesagt? Das ist die neue Maschine.« Sun Koh sprang heraus und schüttelte seinen beiden Freunden die Hände. »Da seid ihr Ausreißer ja. Schnell, besorgt ein paar Stricke. Ich brauche ungefähr fünfundzwanzig Meter.« Ein dritter Mann kam herangelaufen. Jimmy Beckett. »Wo ist Miss Gravor?« rief er schon auf halbem Weg. »Haben Sie Miss Gravor gefunden?« »Den können Sie als Schallplatte verkaufen, Sir«, sagte Hal. »Seit wir ihn getroffen haben, singt er uns das gleiche Lied vor. Liebe muß eine schreckliche Krankheit sein.« »Kümmert euch um das Seil«, sagte Sun Koh und nahm Jimmy Beckett in Empfang, der ihn mit Fragen bestürmte. Sun Koh beruhigte ihn. Es dauerte eine ganze Weile, bevor Nimba und Hal mit ei nem genügend langen Seil zurückkamen. Jimmy Beckett wollte unbedingt mit in das Flugzeug hinein, um Evelyn Gra vor persönlich zu retten. Aber Sun Koh hielt es für besser, daß er in Karnak blieb. So verzichtete er wohl oder übel. Das war gut so. Als Sun Koh mit Hal und Nimba in jenes Tal zurückkehrte und sich in das Grab hinabseilte, fand er Evelyn Gravor und die beiden Araber nicht mehr vor. Er entdeckte aber genügend Spuren, die verrieten, was geschehen war. 135
Ein zweiter Geröllrutsch hatte einen Ausgang freigelegt, und die beiden Araber hatten sich mit ihrer Gefangenen durch ihn entfernt. Wenig später waren sie mit einem Trupp Reiter zusammengetroffen, der möglicherweise schon auf sie gewar tet hatte. Und jetzt befand sich der ganze Trupp auf einem Weg, der tiefer in das Innere des Biban el Muluk hineinführte. Sie entdeckten ihn auf der Scheibe des Fernsehers und er kannten in seiner Mitte Evelyn Gravor, ohne zunächst etwas unternehmen zu können. Abu el Muluk war tot, aber seine Befehle galten immer noch. * »Nach meiner Berechnung«, sagte Sun Koh später, »muß der Trupp in dieser Gegend sein Nachtlager aufschlagen, wenn er es nicht vorzieht, in eines der Seitentäler zu den Dörfern ab zubiegen. Da er es aber sehr eilig hat, ist das kaum wahr scheinlich. Wir müssen uns also hier einen Landeplatz su chen, der die Maschine vor den Ankommenden verbirgt. Ich denke, dort wird die richtige Stelle sein. Tiefer, Nimba. Dort links, oberhalb der Brücke und hundert Meter zurück.« Der Pfad, der als solcher kaum kenntlich war, führte an der linken Wand einer gewaltigen Schlucht entlang, deren Wände in hohen, zerklüfteten Terrassen aufwärts stießen. Der erste Absatz lag ungefähr fünfzig Meter über dem Pfad und war glatt und geräumig genug, um die Maschine aufzunehmen. Außerdem schien von dort aus der Abstieg zum Pfad nicht besonders schwierig zu sein. Der Pfad selbst kam ziemlich breit in einer Krümmung den Berg herauf. Kurz hinter der Biegung erweiterte er sich zu einem geschützten Platz. Sun Koh nahm an, daß der Trupp 136
hier über Nacht rasten würde. Hinter der Ausbuchtung nahm die Breite des Saumpfades schnell ab. Sie verringerte sich auf kaum mehr als einen Me ter, und dann war der Pfad zu Ende. Wenigstens auf dieser Seite. Er führte nämlich über eine Seilbrücke und schlängelte sich dann dicht an der jenseitigen Wand entlang, um bald gänzlich zu entschwinden. Das Felsband, auf dem der Weg lief, war nicht der Grund der Schlucht. Dieser lag fast hundert Meter tiefer. Der Einschnitt, den die Brücke überspannte, war minde stens zwanzig Meter breit. Das genügte, zumal wenn man in die Tiefe blickte, um beim Anblick dieser Brücke das kalte Grausen zu spüren. Hal hatte allen Grund, das Kunstwerk von oben her mit Mißtrauen zu studieren. »Ein Glück, daß wir nicht dort hinüber müssen«, murmelte er. »Ich habe meine Lebensversicherung nicht erneuert.« »Du hast doch überhaupt keine«, entgegnete Nimba, der neben ihm lag. »Woher willst du denn das wissen?« Nimba grinste. »Ich wüßte nicht, welche Gesellschaft dir auch nur einen Cent für dein Leben geben sollte.« »Bei dir ist das natürlich anders«, höhnte Hal. »Dich versi chern sie auf jede Summe, weil jedes kleine Kind weiß, daß du dich nie in Gefahr begibst.« Nimba brummte gemütlich. »Das nicht, aber schließlich ist bekannt, daß ich mich mei ner Haut zu wehren weiß.« Hal war ehrlich entrüstet. »Willst du damit sagen, daß ich …« »Ruhe!« befahl Sun Koh vom Flugzeug her. »Ein Mann 137
kommt auf dem Pfad entlang.« Es war ein harmloser Einheimischer, der zufällig kurze Zeit darauf die Brücke passierte. Hal bekam dadurch Gele genheit, die Schwindelfreiheit und Geschicklichkeit dieser Leute zu bewundern. Der Mann lief über die Brücke wie über festes Land. Das schaukelnde Schwanken schien ihn ebenso wenig zu stören wie der Umstand, daß einige der Querseile schon vermorscht nach unten hingen. Da sich die drei auf der Felsterrasse nicht verrieten, be merkte der Einheimische sie nicht. Er ging die Schlucht hin unter in die Richtung, aus der der Trupp mit dem geraubten Mädchen kommen sollte. Stunden vergingen. Endlich, als die dunklen, blauschwarzen Schatten schon beträchtlich an den Schluchtwänden nach oben gestiegen wa ren, sagte Sun Koh: »Sie kommen um die Biegung.« Sie standen alle drei im Flugzeug und blickten auf die Scheibe, die den reitenden Trupp zeigte. Hal wies auf die Scheibe. »Sie halten doch gar nicht an.« Sun Koh beobachtete eine Weile und nickte schließlich. »In der Tat, sie reiten weiter. Das wundert mich. Die Nacht bricht gleich an.« »Vielleicht wollen sie die Brücke noch hinter sich haben?« »Der Mann an der Spitze ist sehr unruhig«, bemerkte Nim ba. »Sollten sie von uns erfahren haben?« »Kaum möglich«, erwiderte Sun Koh. »Er scheint sich mehr um den Himmel und das Wetter zu sorgen.« Der Trupp hatte die Brücke erreicht. Ohne anzuhalten oder abzusitzen, lenkte der Anführer sein Tier auf den schwanken den Steg. Dieses betrat ihn willig. Behutsam, aber sicher und ohne Zögern ging es auf die andere Seite hinüber. 138
Der zweite Mann folgte. Als er drüben angelangt war, setz te sich das Pferd, das Evelyn Gravor trug, in Bewegung und brachte sie hinüber. Ein Reiter nach dem anderen passierte die Brücke. Es dau erte eine Weile, bis sich die sechzehn Reiter und ihre Gefan gene auf dem jenseitigen Pfad befanden. Sie waren nicht mehr deutlich zu sehen, weil die Schleier der Nacht inzwischen dicht geworden waren. Sun Koh wußte jetzt, wo der Trupp lagern würde. Hinter der jenseitigen Pfadkrümmung lag eine ähnliche Erweiterung wie auf dieser Seite. Sie würde wohl den Trupp für die Nacht aufnehmen. Seine Vermutungen wurden bald bestätigt. Die Reiter stie gen aus den Sätteln. Zwei von ihnen hoben das Mädchen, das offenbar erschöpft war, herunter. Die Pferde wurden zusam mengetrieben. Ein Feuer loderte auf. Das übliche Lagerbild entwickelte sich. Erst das aufflammende Feuer ließ eine Höhle erkennen, die sich in die anstehende Felswand hineinfraß. Nach ihrer Öff nung zu schließen, mußte sie groß genug sein, um allen aus reichenden Schutz gegen die Witterung zu bieten. Sun Koh beobachtete ununterbrochen. Er war entschlossen, Evelyn Gravor aus der Mitte der Entführer herauszuholen, und so prägte er sich schon jetzt eine Reihe von Kleinigkeiten ein, die für ihn lebenswichtig werden konnten. Seine Aufgabe wurde ihm nicht leicht gemacht. Der ausgebauchte Platz war vom Wächter aus gesehen ein gutes Vorfeld, auf dem man einen Fremden leicht entdecken konnte. Evelyn Gravor wurde in die Höhle hineingetragen und lag sicher weit hinten, ge deckt durch die Männer, die sich in der Höhle zusammen drängten. Nur völlige Geräuschlosigkeit oder schnelle Gewalt gaben unter diesen Umständen einige Aussicht auf Erfolg. 139
Endlich trat drüben Ruhe ein. Sun Koh erhob sich. Wäh rend er seine Waffen nachprüfte, sagte er: »Es wird Zeit. Be vor ich drüben bin, werden sie im ersten Schlaf liegen. Haltet die Maschine startbereit.« Die beiden blickten ihn betroffen an. »Sollen wir denn nicht mitkommen?« fragte Hal. »Denke an die Brücke«, sagte Sun Koh lächelnd. »Ich komme schon hinüber.« »Du bleibst«, entschied Sun Koh. »Und Nimba wird dir Gesellschaft leisten. Ihr könnt nicht viel helfen. Es wird schon für einen Mann schwer genug sein, sich anzuschleichen. Und wenn es zum Kampf kommen sollte, halte ich mir die Männer schon allein vom Leib.« Hal und Nimba mußte sich zufriedengeben, und so stieg Sun Koh allein auf den Pfad hinunter. Das bereitete, wie vo rauszusehen, keine Schwierigkeiten. Sun Koh kam hinunter, ohne ein Geräusch zu verursachen. Dafür stimmte ihn etwas anderes bedenklich: Das Wetter schlug um. Durch die Schlucht brauste hohl und dumpf mit zunehmender Stärke ein Wind, der gelegentlich böig wurde. Die Brücke schwankte stark, als Sun Koh seinen Fuß auf sie setzte. Der rüttelnde, böige Wind trieb sie vor sich her und ließ sie wieder zurückfallen. In der Luft war ein dumpfes Summen, das wohl von den angespannten Seilen herrührte. Sun Koh ließ sich nicht beeindrucken. Er lief sicher mit elastischen Knien und federndem Körper über die Stangen und Bretter hinweg, ohne auch nur einmal zu zaudern. Seine beiden Begleiter am Fernsehgerät atmeten trotzdem auf, als sie seine schattenhafte Gestalt auf der anderen Seite ankommen sahen. * 140
Der Sturm nahm beängstigend zu. Als Sun Koh die Biegung des Pfades erreicht hatte und den Lagerplatz vor sich sah, heulte und tobte der Sturm schon so stark, daß er alle Geräu sche wegriß und gleichzeitig den nächtlichen Wanderer mit brutaler Gewalt gegen die Felswand zu werfen drohte. Im Schein des nur noch schwach glimmenden Feuers ent deckte Sun Koh den Wächter an der gleichen Stelle, an der er ihn schon im Fernseher beobachtet hatte. Die anderen Männer schienen in der Höhle zu schlafen. Sun Koh glitt wie ein Schatten an der Wand entlang und in die Ausbuchtung des Felsens hinein. Er kam nahe genug an den Wächter heran, ohne gehört zu werden. Dann schnellte er sich vorwärts und warf sich gegen den Wächter, so daß dieser wie ein plötzlich entleerter Sack zusammensank. Eintönig brauste der Sturm. Sun Koh versuchte, das Dunkel im Hintergrund mit seinen Augen zu durchdringen. Es gelang nur schlecht. Er mußte auf gut Glück, ohne zu wissen, wie tief die Männer schliefen, an die Höhle herangehen. Die Araber lagen in ihre Decken gehüllt wie dunkle Klum pen auf dem Felsboden. Ihr Schlaf war stärker als das johlen de Lied des Orkans. Vermutlich waren sie es gewohnt, den Sturm in ihren Ohren zu hören, und wahrscheinlich waren sie auch von dem langen Ritt erschöpft. Sun Koh hob behutsam den Fuß und setzte ihn in die Lük ke zwischen zwei Schläfern. Der Mann rechts regte sich. Hatte er Gefahr gespürt, oder geisterte ein Traum durch seine schlafenden Sinne? Sun Koh stand ohne Bewegung. Er fühlte keine Furcht, sondern nur kühle Spannung. Sobald einer der Schläfer hochschreckte, mußte er blitzschnell handeln. 141
Der Schläfer wälzte sich etwas auf die Seite und kam wie der zur Ruhe. Die Gefahr hatte ihn nicht geweckt. Jetzt zog Sun Koh den zweiten Fuß nach. Alles schlief weiter. Einige behutsame Schritte, dann stand er neben Evelyn Gravor. Er beugte sich nieder und legte sehr behutsam seine Hand auf ihren Mund, um sie am Schreien zu hindern. Sein linker Arm schob sich unter ihren Körper und hob ihn hoch. Evelyn Gravor spürte nichts davon. Ihr Schlaf war infolge der Erschöpfung so tief, daß sie wie eine Tote im Arm Sun Kohs hing. Zurück! Auch jetzt blieb ihm das Glück treu. Keiner der Schläfer regte sich, keiner sprang auf und stieß einen Alarmruf aus. Und nun stand Sun Koh wieder draußen und lief mit schnellen Schritten auf den Pfad hinaus. Der Sturm hatte inzwischen an Wucht zugenommen. Ein rasender Orkan preßte sich durch die Schlucht hindurch und packte Sun Koh, um ihn in die Schlucht hinunterzuwerfen. Doch Sun Koh schritt wie ein Riese mit überlegenen Kräf ten. Evelyn Gravor wurde wach, als der Sturm an ihr zerrte. Sie schrie auf und tastete wild um sich. Sun Koh drückte seinen Mund an ihr Ohr. »Keine Angst, Miss Gravor. Ich habe Sie befreit und brin ge Sie zurück.« Sie sagte etwas, aber der Sturm riß ihre Worte weg. Jeden falls hatte sie begriffen, denn sie sträubte sich nicht mehr, sondern ließ sich ruhig tragen. Sun Koh spürte plötzlich ein scharfes Brennen an seinem Ohr. Ein Schuß? Er wandte im Weiterlaufen den Kopf. Zu sehen war nichts. 142
Vielleicht war der Wächter wieder zur Besinnung gekommen und schoß nun blindlings in die Nacht hinein. Da war die Brücke. Selbst Sun Koh hatte jetzt Bedenken, als er die Brücke vor sich sah. Der rasende Sturm hatte sie weit ausgebogen, so daß sie merkwürdig quer zu ihrer ursprünglichen Lage stand. Die Dunkelheit hüllte sie fast ein. Man sah nicht viel mehr als die Seilstränge, die in einer verzerrten Kurve in den Abgrund hineinliefen. Evelyn Gravor schrie vor Entsetzen. »Nicht dort hinüber! Bitte nicht! Die Brücke ist furchtbar!« »Schließen Sie die Augen«, befahl Sun Koh kurz. Er mußte hinüber. So setzte er entschlossen seine Füße auf die schwankenden Bretter und Seile. Er tastete sich Schritt für Schritt vorwärts. Sehr schnell wurde ihm dabei bewußt, daß er sich fast etwas Ungeheuerliches vorgenommen hatte. Sein Körper mußte die vom Sturm schräggedrückte Brücke erst wieder einigermaßen in ihre normale Lage hinunterdrücken, um genügend Grund für die Füße zu finden. Andererseits raste der Sturm unabläs sig weiter gegen die Brücke an. Sie schwankte und taumelte auf und nieder, und mit ihr pendelten Sun Koh und seine le bende Last in wilden, irren Schwingungen über dem Abgrund. Zwanzig Meter breit war der Abgrund. Sun Koh hatte fünfzehn Meter hinter sich, als die Katastrophe eintrat. Unter normalen Verhältnissen hätte ihn das Geräusch des Reißens gewarnt, vielleicht auch das immer stärkere Nachge ben der Seile, aber unter der Gewalt des Sturmes blieb er bis zum letzten Augenblick ahnungslos. Plötzlich fand sein vortastender Fuß keinen Halt mehr. Die Brücke zerriß unter ihm. Der Schreck krallte sich eiskalt in seine Nerven, konnte sie 143
aber nicht lähmen. Instinktiv warf er sich zur Seite und griff nach einem der Tragseile. Er erreichte es. Seine Hand schloß sich wie eine stählerne Klammer um das Seil. Die beiden Körper wurden am Seil zu einem Riesenpendel, das auf die Wand der Schlucht zuraste, gelöst aus dem Verband der Brücke, deren Teile vom Sturm davongewirbelt wurden. Sun Koh nahm unwillkürlich die Füße nach vorn, um den Aufschlag an der Felswand zu mildern. Noch hielt das Seil, und solange es hielt, konnte es nicht so schlimm werden. Der große Schwung gegen die Felswand dauerte kaum Se kunden, aber für Sun Koh streckten sich die Sekunden. Es blieb ihm Zeit genug, um zu spüren, was geschah. Das Seil, an dem sie hingen, hielt nicht, sondern gab nach. Es riß unter der doppelten Belastung. Und gleich darauf schien es, als würden sie von dem Sturm, der sie im Fallen seitwärts abtrieb, nur noch allein ge tragen. Und eine Winzigkeit später tauchte vor ihnen die Felswand auf. * Hal und Nimba schmerzten die Augen. »Das ist er«, behauptete Hal. »Das ist er nicht«, widersprach Nimba. »Natürlich ist er es!« »Er ist es nicht!« Sie stritten sich und wußten doch beide nichts Genaues. Die Mattscheibe war fast schwarz. Der Pfad ließ sich nicht mehr erkennen. Das überreizte Auge sah mehr, als sich auf dem Bildschirm abzeichnete. 144
Abgesehen davon war die Kamera auf eine Stelle gerichtet, die Sun Koh längst passiert hatte. Sie hatten Sun Koh in die Höhle gehen und etwas später wieder am Feuer vorbeikommen sehen. Da hatte plötzlich der Sturm einige Feuerreste hochgerissen, und da sie auf geringste Entfernung eingestellt hatten, waren die Augen vorüberge hend geblendet worden. Sie sahen eine Weile überhaupt nichts, und dann vertauschten sie die Personen. Sun Koh befand sich schon auf dem Pfad, als die beiden die Kamera auf die Stelle richteten, an dem der Pfad ansetzte. Die beiden Beobachter sahen, daß sich dort ein Mensch be wegte. Es war aber nicht Sun Koh, sondern der Wächter, der aufgeschreckt und dicht hinter Sun Koh vorgestürzt war. Der Wächter versäumte den Alarm. Sein Schuß ging im Heulen des Sturmes unter. Er versuchte, auf dem Pfad voran zukommen, sah aber ein, daß das unmöglich war. Daraufhin lief er zurück und gab Alarm. Und jetzt entdeckten Hal und Nimba ihren Irrtum. Da war es bereits zu spät. Sie fanden Sun Koh nicht mehr, und sie fanden die Brücke nicht mehr. An deren Stelle gähnte der bloße Abgrund. »Wo ist Sun Koh?« flüsterte Hal erschrocken. »Wo ist Sun Koh?« klang es wie ein Echo aus Nimbas Mund. Er wartete keine Antwort ab, sondern verließ das Flugzeug. Als er nach wenigen Schritten aus dem schützenden Winkel der vorspringenden Felsnase heraustrat, packte ihn der Sturm. Nimba kämpfte sich trotzdem bis an den Abstieg heran. Dort legte er sich flach auf den Boden und spähte hinunter. Nichts zu sehen. Sun Koh befand sich nicht am Felsen. Minuten später erhob sich Nimba und stemmte sich wieder gegen den Sturm. Sein Herz war schwer von Enttäuschung 145
und Sorge. Jetzt blieb nichts übrig, als im Flugzeug abzuwar ten. Da sprang der Wind um. Nimba spürte, wie der Druck auf seiner Seite plötzlich aussetzte. Dafür stieß eine Sekunde spä ter der Orkan von oben herunter. Das Flugzeug! Die Felsnase nützte jetzt dem Flugzeug nichts mehr. Der Sturm griff nach ihm. Nimba sah mit eisigem Schrecken, wie es unter den wilden Stößen des Orkans gegen die Felswand taumelte. Im nächsten Augenblick konnte es zerschmettert werden. Und nun wechselte die Windrichtung abermals. Der Orkan fegte mit verstärkter Wucht aus seiner ursprünglichen Rich tung. Er packte die Maschine, die er eben erst aus ihrem Win kel herausgelockt hatte, und warf sie wie ein Kinderspielzeug vor sich her, über die Terrasse hinweg. Er wirbelte es herum und warf es in die Tiefe. Nimba stöhnte. Sun Koh verloren – Hal verloren. Im näch sten Augenblick würde die Maschine unten aufschmettern und Hal begraben. Da fuhr er hoch. Das Flugzeug stürzte nicht. Keine fünfzig Meter voraus stand es mitten in der Schlucht wie angenagelt gegen den fau chenden Sturm. Und jetzt stieß es nach vorn – aufwärts … Nimba schrie vor Freude auf. Hal hatte es geschafft! Der Prachtjunge hatte es fertigge bracht, ans Steuer zu kommen und die Maschine zu fangen, obgleich er sicher nicht weniger überrascht worden war als Nimba. Das Flugzeug verschwand. Nimba starrte gegen den schwarzen Himmel, in dem es verschwunden war. Hal hatte begriffen. Bei diesem Sturm konnte er nicht wie 146
der landen. Er ging in die Höhe, um die Maschine aus dem Bereich dieser gefährlichen Wände herauszubringen. Nun drängte sich in Nimba die Sorge um Sun Koh wieder in den Vordergrund. Da er ohnehin nicht mehr umzukehren brauchte, versuchte er, an der Wand hinunterzukommen. Das war ein böses Stück Arbeit für ihn. Die Wand war nicht glatt und bot genügend Halt für Hände und Füße, aber der Sturm verwirrte die Sinne und griff körperlich wie ein Feind an. Er riß an den Händen und Füßen und drängte sie von den Stellen weg, die sie eben erfaßt hatten. Er stemmte sich mit furchtba rer Gewalt gegen den mächtigen Körper Nimbas und versuch te immer wieder, ihn von der Wand herunterzureißen. Endlich erreichte Nimba den Pfad. Eine Minute später brach der Sturm mit einem letzten, ir ren Hohnlachen ab, als lohne es sich nicht mehr für ihn. Wahrscheinlich hatte er sich außerhalb der Schlucht gedreht und heulte nun quer über sie hinweg. Um Nimba herum entstand nach dem Lärm des Orkans ei ne Stille, die ihn fast betäubte. Er brauchte Minuten, bevor er sich an sie gewöhnt hatte. Dann schrie er in die Schlucht hin ein: »Sun Koh! Sir!« Sun Koh antwortete nicht. Eine Erwiderung kam nur von der anderen Seite der Schlucht. Es waren die wirren Rufe des Reitertrupps. Nimba verstand sie nicht. Dann sah er den Trupp, der sich jetzt ebenfalls bis an die Schlucht heranwagte. Es wurde heller. Der schwarze Wolkenvorhang riß auf. Der Mond warf bleiches Licht in die Schlucht hinein. Die Araber entdeckten Nimba. Einer von ihnen schoß. Nimba drückte sich hinter den Baum, an dem das Brücken seil befestigt gewesen war. Die Araber mußten recht wütend sein. Sie schossen in un 147
regelmäßiger Folge weiter, obgleich es zwecklos war. Nimba blieb zehn Minuten lang in Deckung, dann hatte er es satt. Er zog seine Pistole und schoß zurück. Von drüben kamen einige Schreie, dann zogen sich die Männer zurück und verschwanden hinter der Biegung. Jetzt hatte Nimba Ruhe. Die Ruhe war jedoch nur äußer lich. Je stiller es um ihn herum wurde, um so stärker quälte ihn die Sorge. Hal war immer noch nicht zurück, obgleich das Wetter jetzt eine Landung ermöglicht hätte. War ihm doch noch et was zugestoßen? Hatte er die Orientierung verloren? Es muß te nicht gut um Hal stehen, wenn er immer noch nicht kam. Und von Sun Koh war auch nichts festzustellen. Aber viel leicht war er doch nicht beim Überschreiten der Brücke ge stürzt? Vielleicht war die Brücke schon vorher vom Sturm zerrissen worden, und er befand sich irgendwo dort drüben in leidlicher Sicherheit? Nimba redete sich gut zu, aber es half ihm nicht viel. Die Welt blieb schwarz und düster. Er hockte da und kämpfte ge gen die Trübsal – eine Stunde, zwei Stunden. Dann schlief er ein. * Hal verhielt sich tatsächlich hervorragend, als der Sturm das Flugzeug packte. Er hing ahnungslos über dem Fernseher. Da warf ihn plötzlich die Bö gegen die Wand, und gleichzeitig merkte er, wie die Maschine in den Sturm geriet. Ohne zu überlegen, warf er sich in halber Besinnungslosigkeit nach vorn an das Steuer. Er bediente bereits die Armatur, bevor er noch richtig zum Sitzen gekommen war. Und dann wurde die Maschine hinausgeworfen. 148
Glück war natürlich auch dabei, daß die Maschine in die sem Augenblick anwarf. Hal ging mit voller Kraft gegen den Sturm an. Wie Nimba bereits vermutet hatte, erkannte er, daß eine neue Landung un ter diesen Umständen nicht möglich sein würde, und beschloß darum, weiter oben das Abflauen des Sturmes abzuwarten. Er hatte das Fliegen in Yukatan gelernt. Das war schnell gegangen, weil er mit Leidenschaft am Steuer saß und gleich zeitig weder Angst noch Beunruhigung in sich spürte. Auf dieser Reise flogen meist Nimba oder zur Abwechs lung Sun Koh. Hal kam fast überhaupt nicht an das Steuer, obgleich es sein brennendster Wunsch war. Und nun hatte er die Maschine ganz allein in der Hand. Er flog, raste mit einem wunderbaren Apparat gegen den wütenden Sturm an und ver gaß dabei Nimba, der ihm unten entgeistert nachstarrte, ver gaß Sun Koh, der irgendwo im Abgrund lag. Die ganze Welt versank für ihn. Er flog im Rausch, in einem tollen Strudel der Begeiste rung, im Hochgefühl des Wolkenstürmers. Es war kein Wunder, daß Hal nicht auf Höhe, auf Weg und auf Richtung achtete. Er hielt sich gegen den Sturm, und als dieser seine Richtung änderte, wurde es ihm kaum bewußt. Er raste gegen die Berge an, schnellte darüber hinweg, tänzelte in die breitbuchtigen Täler hinein und stieß wieder nach oben. Er spielte ein wundervolles, elegantes Spiel, wobei er das techni sche Wunderwerk gegen die Naturgewalten einsetzte. Erst nach zwei Stunden kam er zur Besinnung. Er verlang samte das Tempo und merkte nun so ganz nebenbei, daß er schon lange nur noch im Sturm seiner eigenen Geschwindig keit geflogen war. Daraufhin verringerte er die Geschwindig keit noch mehr, bis die Maschine fast stillstand, stellte die automatische Steuerung ein und widmete sich nun der Orien 149
tierung. Ein Blick nach unten zeigte ihm, daß er sich noch immer über der Bergwelt des Muluk befand. Mehr aber auch nicht. Sorglos beugte er sich über die Scheibe des Fernsehers und begann die Kamera zu steuern. Das Bild der Landschaft saß in seinem Gedächtnis fest. Er konnte mit wenig Mühe die Richtung einhalten, die sie ge stern geflogen waren. Ja, es gelang ihm sogar, die Stelle wie derzufinden, an der das Flugzeug gestanden hatte. Langsam senkte er sich in die Schlucht hinein, in die rechts und links die zerrissenen Seile hingen. Erst dicht über dem Pfad brachte er die Maschine zum Stillstand. Die Schlucht war tot. Weder auf der Terrasse noch auf dem Pfad zeigte sich ein Mensch. Keine Spur von Nimba, keine Spur von Sun Koh. Hal wußte wirklich nicht, was er unternehmen sollte. So tat er das, was seiner Meinung nach das klügste war. * Sun Koh war mit der reißenden Brücke gestürzt, wie ein Stein, der von der einen Seite schräg nach unten zur anderen Wand geworfen worden war. Als er erwachte, setzte ihn nichts mehr in Erstaunen als eben der Umstand, daß er überhaupt noch lebte. Doch er lag sogar auf trockenem Felsboden, und greifbar neben ihm streckte sich der bewußtlose Körper des Mädchens, das er gerettet hatte. Mehr und mehr wich die Betäubung von ihm. Seine Augen wurden wieder klar und seine Sinne scharf und aufmerksam. Jetzt erst richtete er sich auf. Das war allerdings eine böse Sache. Seine Gelenke und seine Muskeln waren wie zusammengestaucht, verprellt und 150
blutunterlaufen. Er mußte die Zähne zusammenbeißen, um überhaupt auf die Beine zu kommen. Ein böser Sturz war das sicher gewesen, doch gebrochen war nichts. Mit der Neugier eines Menschen, der seinen Augen nicht zu trauen wagt, sah sich Sun Koh um. Er befand sich in einer Höhle, genauer gesagt in der Mün dung eines Felsganges, der sich im Hintergrund schwarz ver lor. Einen Meter vor ihm befand sich der äußere Rand der Höhle. Als er mit behutsamen Schritten an den Rand heran trat, sah er unter sich die senkrechte Wand abfallen und im tobenden Wasser des dunklen Flusses sich verlieren. Zwanzig Meter gegenüber stand die andere Wand, zehn Meter weiter oben und links seitlich hingen die zerrissenen Seile der Brük ke herunter. Da wußte er, was geschehen war. Der Schwung des Seiles, an dem er sich im Sturz festgehalten hatte, hatte ihn wie ein Pendel gegen die Wand geworfen, und ein geradezu unfaßba rer Glückszufall hatte ihn gerade diese Stelle erreichen lassen, an der sich die Höhle befand. Jetzt kümmerte sich Sun Koh vor allem um das Mädchen. Sie war bewußtlos, aber sonst sicher nicht erheblich verletzt. Ihre Glieder waren heil, und ihr Atem ging ruhig. Allenfalls konnte sie zusammengestaucht sein wie er, aber soweit er sich erinnerte, hatte er sich bemüht, mit seinem Körper den An prall abzufangen. Evelyns Bewußtlosigkeit war mehr ein Schlaf. Sie erwach te, als Sun Koh ihre geprellte Schulter berührte. Der Schmerz zuckte durch ihren Körper und ließ sie stöhnend auffahren. Es dauerte bei ihr noch eine ganze Weile länger als bei Sun Koh, bevor sie begriffen hatte, daß sie noch lebte. Als Sun Koh sah, daß sie wieder aufnahmefähig war, erklärte er ihr kurz die Lage. 151
Er half ihr, sich auf die Füße zu stellen, und ging wieder an den Abgrund, um nachdenklich seine Umgebung zu betrach ten. Es gab nur eine Rettung für sie beide. Wenn jemand von oben einen Strick herunterwarf, an dem man hochklettern konnte, war es eine Leichtigkeit, sich aus dieser Lage zu be freien. Sun Koh nahm an, daß Hal und Nimba noch oben auf der Terrasse auf ihn warten würden oder in der Umgebung nach ihm suchten. Er rief. Doch vergeblich. Es kam keine Antwort. Nachdem er verschiedene Male nutzlos gerufen hatte, zog er seine Waffe und schoß. Der Knall brach sich mehrfach an den Wänden. Aber Antwort blieb aus. Nach einer halben Stunde wußte Sun Koh, daß seine Freunde nicht in der Nähe waren. Er kannte die Gründe nicht, warum sie sich entfernt hatten, aber er sorgte sich um die beiden. Nachdem die Rettung durch die Hilfe von oben ausschied, blieb als allerletzte Möglichkeit der Gang, an dessen Aus gangspunkt er stand. Vielleicht führte er irgendwo in die Hö he, vielleicht gelangte man durch ihn an das freie Tageslicht. Sun Koh verständigte das Mädchen von der Lage. »Es wird uns nun nichts anderes übrigbleiben«, sagte er, »als einen Marsch in den Berg hinein zu unternehmen. Viel leicht haben wir Glück. Es ist natürlich auch möglich, daß wir stunden- und tagelang in diese unterirdische Welt hineinwan dern, ohne einen Weg zu finden, der uns zur Sonne führt.« Evelyn Gravor sah vertrauensvoll zu ihm auf. »Sie werden mich schon zurückbringen. Ich habe keine Angst vor der Wanderung und bin überzeugt, daß wir irgendwo ins Freie gelangen.« So begannen sie den Marsch in die Finsternis hinein. 152
Sun Koh schritt voran. Seine Taschenlampe warf ihren hel len Lichtkegel voraus. Evelyn schritt hinter ihm her. Zwei Stunden vergingen. Die Luft in dem Gang wurde immer schlechter. Sie roch wie alte, abgestandene Kellerluft, die jahrelang nicht erneuert wurde. Und doch mußte ein ge wisser Wechsel dasein, von irgendwo mußte wenigstens eine Spur frischer Luft durchströmen, sonst wäre sie noch viel schlechter gewesen. Das eben war es, was Sun Koh Hoffnung gab. Vor ihm mußte eine Stelle liegen, an der der Gang Ver bindung mit der Erdoberfläche besaß. Plötzlich taumelte das Mädchen und stützte sich gegen die Wand. »Ich glaube, ich bin fertig«, meinte sie verlegen. »Dann haben Sie hoffentlich nichts dagegen, daß ich Sie trage«, gab er mit einem sanften Lächeln zurück, hob sie auf seine Arme und marschierte weiter. Abermals verging eine Stunde. Dann war der Gang zu En de. Er führte einfach blind gegen den Felsen. Es gab keinen Ausgang ins Freie. Es war eine Sackgasse. Sun Koh setzte seine Last ab und untersuchte das Gang ende genau. Es lag keine massive Wand vor ihm, das sah er auf den er sten Blick. Der Gang oder der Ausgang wurde durch mächtige Blöcke versperrt, die wild durcheinander im Lichtkegel der Lampe lagen. Er löschte die Lampe. Als sich seine Augen an die Dun kelheit gewöhnt hatten, begann er seine Untersuchung von neuem. Plötzlich faßte sein Auge einen schwachen Lichtstreifen, der im hinteren Ende einer Fuge seitlich auf den einen Block fiel. Fast zögerte er, ihn anzuerkennen, schwankte, ob es nicht 153
ein weißer Strich sei oder eine Täuschung seiner angestreng ten Augen, aber dann machte er die gleiche Feststellung noch einmal. Dort hinten fiel durch eine Ritze Licht ein. »Ich denke, wir kommen hinaus«, sagte er daraufhin zu Evelyn Gravor. »Bitte, ziehen Sie sich ein Stück in den Gang zurück, damit ich mich hier frei bewegen kann.« Er zog die Jacke aus und machte sich an die Arbeit. Das Schwerste lag am Anfang. Die Steine waren derartig verkeilt, daß es geradezu unmöglich schien, sie aus ihrem Verband herauszulösen. Sun Koh suchte sich schon einen der kleinsten heraus und setzte seine Kräfte gegen ihn ein. Die Angriffsmöglichkeiten waren jedoch so gering, daß er nach einer Weile kurzerhand seine Pistole zog und mit einigen vor sichtig berechneten Schüssen erst einmal das Lager des Stei nes aufsplitterte. Er mußte dadurch zwar in schlechterer Luft arbeiten, aber er hatte doch wenigstens die Genugtuung, daß der Stein beim neuen Ansatz seiner Kräfte wich und sich her auslösen ließ. Nun kam der nächste dran. * Nimba war am Morgen aus einem gesegneten Schlaf erwacht. Nachdem er sich wieder über die mißliche Lage, die er beim Schlafen vergessen hatte, klargeworden war, rief er nach Sun Koh. Die Antwort blieb aus, da Sun Koh um diese Zeit noch be täubt lag. Nimba überlegte lange und gründlich. Schließlich ent schloß er sich, nach Karnak zurückzukehren. Er konnte hier nicht warten, bis ihn der Hunger schwächte, und außerdem war die Stadt der Ausgangspunkt, zu dem die anderen wohl zurückkommen würden. 154
So schritt er denn kräftig aus und brachte sich so gerade außer Hörweite, als Sun Koh nach ihm zu rufen begann. Nach einigen Stunden legte Nimba eine Ruhepause ein. Er hatte gerade eine Felsnase umgangen, um die sich der Pfad herum schlängelte, um auf der anderen Seite in einer Rinne, vermut lich einem alten Flußbett, weiterzuführen. Dort, wo die Rinne am Felsen ansetzte, lag ein Haufen Felsblöcke. Sie befanden sich im Schatten und luden geradezu zum Sitzen ein. Nimba suchte sich einen passenden Platz aus, streckte seine Glieder und schloß die Augen. Er hatte kaum eine Minute gelegen, als er sich schon aufgeschreckt herum wälzte. Hatte da nicht eben in der Nähe ein Stein nachgege ben? Er spähte. Tatsächlich, dort wühlte irgend etwas. Gab es etwa größere Raubtiere hier, auf deren Höhle er geraten war? Unter ihm polterte es. Steinblöcke bewegten sich. Das war so sonderbar, daß Nimba unwillkürlich rief: »Hallo, ist dort je mand?« Er hörte zu seiner Überraschung leise, aber deutlich einen Gegenruf. »Nimba?« Nimba wurde blaß. Es kam ihm nicht ganz geheuer vor, daß hier mitten im Gebirge jemand seinen Namen rief. Es dauerte eine Weile, bis ihm aufging, daß ihm die Stimme be kannt war. Dann brüllte er zurück: »Sir, sind Sie es? Hier ist Nimba!« »Hier ist Sun Koh!« drang die Antwort aus dem Felsen heraus. »Hilf mir, die Steine wegzuräumen.« Nimba schluckte. Dann wurde er lebendig. * Hal flog bis zur Unglücksstelle zurück und nahm sich von dort aus den Weg nach Karnak genau aufs Korn. Er fand jetzt, 155
daß es besser gewesen wäre, das gleich von Karnak aus zu tun. Sun Koh und Nimba konnten sich ja bereits zu Fuß auf dem Rückweg befinden, und er konnte sie übersehen haben, weil er nur daran interessiert gewesen war, erst einmal die zerfetzte Brücke wiederzufinden. Das Flugzeug glitt in verwegenem Flug so tief wie möglich durch die Schluchten hindurch, immer gefährlich an den Wänden vorbei. Und dann sah Hal plötzlich die Gesuchten unter sich, zwei Männer und eine Frau, neben einem Loch im Felsen: Sun Koh, Nimba und Evelyn Gravor. Er schrie die Namen, obgleich ihn niemand hören konnte, ließ die Maschine in einer tollkühnen Kurve fallen und setzte sie nicht weit von den dreien auf. Sobald sie stand, sprang er freudestrahlend heraus. Er lief auf Sun Koh zu, aber Nimba fing ihn kurz vorher ab und bellte ihn an: »Kommst du end lich, du nichtsnutziger Bursche? Natürlich, wenn die Arbeit vorbei ist. Du hast dich wohl verdrückt, weil du Arbeit gero chen hast?« »Loslassen!« fauchte Hal ihn an. »Arbeit? Rede du nur von Arbeit! Hast dir wohl die Fingernägel ein bißchen manikürt, was?« Nimba grinste und hielt ihm seine aufgewetzten Finger hin, aber damit konnte er Hal nicht beeindrucken. »Na ja, mancher ist eben ungeschickt.« Er verzichtete jedoch auf allen Spott, als er gleich darauf Sun Koh gegenüberstand. Die Kleider Sun Kohs waren nur noch Lumpen, und seine Hände sprachen noch deutlicher als die Nimbas. Sie flogen zusammen nach Karnak zurück, und Hal durfte sogar weiterhin das Flugzeug führen. Er war stolz darauf und freute sich insgeheim, daß niemand aufgefallen war, wie weit er sich in der Nacht verflogen hatte. Die geheime Freude ver 156
ging ihm, als Sun Koh ihn bei den Ohren nahm und auf die Kraftstoffanzeige wies. Daraufhin beichtete er wohl oder übel. * Jimmy Beckett fand die schönsten Worte, die der Situation angemessen waren. Er fand sie allerdings erst Stunden später. Als Sun Koh mit dem jungen Mädchen kam, war sein Herz so voll, daß er überhaupt nichts sagen konnte. Er versuchte am nächsten Tag, als Sun Koh mit seinen bei den Begleitern seiner Einladung Folge geleistet hatte, seinen Dank nachzuholen, aber Sun Koh winkte rechtzeitig ab. »Bitte, sparen Sie sich die Worte, Mister Beckett. Wir wis sen, daß Sie sich freuen. Das genügt uns. Und Sie brauchen uns nicht zu danken, wir taten nur unsere Pflicht. Ich wünsche Ihnen, daß Sie mit Miss Gravor recht glücklich werden.« »Das wünsche ich mir auch«, versicherte Jimmy Beckett mit Inbrunst, holte einen versiegelten Brief aus seiner Tasche und gab ihn seiner Verlobten. »Hier ist übrigens noch ein Schreiben für dich, Evelyn. Es kam an dem Tag, an dem du verschwunden bist. Ich nahm es inzwischen an mich.« Evelyn Gravor blickte verwundert auf den Brief. »Aus London und von einem Notar? Merkwürdig! Ich möchte ihn am liebsten gleich öffnen, wenn niemand etwas dagegen hat. Ich bin sehr neugierig.« Niemand hatte etwas dagegen, und so brach sie das Siegel auf und überflog das Schreiben. Sie wurde blaß und gab es an Jimmy weiter, der es dann laut vorlas: »Ihre Tante, Mistress Euphemia Fenholt, beauftragte uns kurz vor ihrem Ableben, Ihnen auf ein Sonderkonto bei der Bank von England ihr ge samtes Vermögen im Betrag von 1 850 000 Pfund zu über weisen, ferner, Sie unverzüglich davon zu verständigen, daß 157
sie Ihnen dieses Geld noch bei Lebzeiten zur freien Verfü gung schenkt. Wir dürfen Sie zum besseren Verständnis dar über informieren, daß Mistress Fenholt die Erbschaftssteuer scharf verurteilte und außerdem völlige Klarheit über ihre noch zu erwartende Lebensdauer besaß. Wir gaben Ihnen nach London Nachricht, erhielten diese jedoch zurück, da Sie inzwischen abgereist waren. Nachdem wir Ihren gegenwärtigen Aufenthalt feststellen konnten, holen wir die Benachrichtigung hiermit nach und überweisen Ihnen gleichzeitig den Betrag von 10 000 Pfund auf die Ägyptische Staatsbank, Kairo, zu Ihrer Verfügung. Wir erlauben uns, die erforderlichen Formulare beizulegen, so daß bei Vorlage Ihres Reisepasses Zahlung erfolgen kann. Wir bitten Sie, uns baldmöglichst Anweisung über die Verwendung des auf Ihrem Konto liegenden Betrages zu ge ben bzw. uns bei Ihrer Rückkehr nach London Gelegenheit zu einer persönlichen Rücksprache zu geben …« Auf den Rest verzichtete Jimmy Beckett. Dafür holte er tief Luft. Nach einigen Sekunden allseitigen Schweigens murmelte er: »Diese liebe alte Tante Efeu muß wirklich ein schrecklich anständiges Urvieh gewesen sein. Wir werden ihr eine stille Träne der Rührung weihen.« ENDE Bitte beachten Sie die Vorschau auf der nächsten Seite.
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Als SUN KOH Band 7 erscheint:
Freder van Holk
Der fressende
Kreis
Eine gefährliche Erfindung, ein ehrgeiziger Politiker, ein gewissenloser Agent und ein biederer Werkmei ster rühren an die Geheimnisse Sun Kohs. Ein Rea genzglas wird zerbrochen, Ameisenheere überfluten Amerika, und ein stählernes Rezept rettet die Welt. Hal entdeckt Tote, die wieder verschwinden, ein Zug überfährt alle Signale, Sun Koh findet ein Finanzge nie und springt dem Tod ins Genick, während der LFD immer schneller über die Weichen donnert und in die Katastrophe hineinrast. Die SUN KOH-Taschenbücher erscheinen vier wöchentlich und sind überall im Zeitschriftenund Bahnhofsbuchhandel erhältlich.
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