Nr. 492
Gefangene des Shemma In den Verliesen der Kuppelstadt von Peter Terrid
In das Geschehen in der Schwarzen Gala...
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Nr. 492
Gefangene des Shemma In den Verliesen der Kuppelstadt von Peter Terrid
In das Geschehen in der Schwarzen Galaxis ist Bewegung gekommen. Schwer wiegende Dinge haben sich bereits vollzogen – weitere Ereignisse von großer Be deutung bahnen sich an. Es begann damit, daß Duuhl Larx, der verrückte Neffe, mit zwei gefangenen Magi ern an Bord des Organschiffs HERGIEN durch die Schwarze Galaxis raste und Un heil unter seinen Kollegen stiftete. Es hatte damit zu tun, daß die große Plejade zum Zentrum der Schwarzen Galaxis gebracht wurde, und nicht zuletzt auch damit, daß Atlan, der Arkonide, und Razamon, der Berserker, in ihrem Wirken gegen das Böse nicht aufsteckten. Inzwischen hat die große Plejade den Lebensring um Ritiquian aufgelöst. Der Dunkle Oheim mußte seine bisher schlimmste Niederlage einstecken, und die Nef fen, die Statthalter des Dunklen Oheims, sind ausgestorben. Ob damit das Schicksal der dunklen Mächte in der Schwarzen Galaxis endgültig besiegelt ist, bleibt abzuwar ten. Der Dunkle Oheim hat jedenfalls einschneidende Maßnahmen getroffen, indem er die Dimensionsfahrstühle zusammenführte und mit ihnen startete. Nachdem dieses Unternehmen nicht verhindert werden konnte, versuchen die Ver antwortlichen von Pthor etwas anderes: Sie schicken Emissäre zu benachbarten Di mensionsfahrstühlen aus, die deren Bewohner zum Ungehorsam gegen den Dunklen Oheim aufrufen. Dabei werden einige dieser Emissäre GEFANGENE DES SHEMMA …
Gefangene des Shemma
3
Die Hautpersonen des Romans:
Lykaar und Braheva - Ein Ehepaar auf Reisen.
Orthfein - Ein Roboter unterwegs in besonderer Mission.
Elian - Ein Mann, der seine Rache vergißt.
Shemma - Herrscher im Lande Klerh.
Atlan - Der Arkonide erhält das Goldene Vlies zurück.
Valschein - Der Bildermagier nimmt seine Aufgabe tödlich ernst.
1. Regungslos hingen die weißen Schwaden zwischen den Klüften des Gesteins. Die Dämmerfelsen machten ihrem Namen alle Ehre. Jeder Schritt führte hinein ins Unge wisse, hinter jeder Biegung des Weges konnte etwas oder jemand lauern und war ten. Nur ein paar Schritte weit reichte die Sicht, dann wurden Licht und Schall ver schluckt, gleichsam aufgesaugt vom alles überlagernden Nebel. Undurchdringlich schien das kalte Weiß – und bedrohlich. Die Pthorer fröstelten. Einzig Orthfein, würdiger Arbeiter des Robotbürgers Leon dagan, zeigte keine Gänsehaut; ihm waren Reaktionen und Regungen dieser Art fremd. Das metallene Riesenei mit den beiden Kränzen um den Leib bewegte sich schlin gernd fort, wie es seine Art war. Der untere dieser beiden Kränze, ein buntes Sammelsu rium von Fortbewegungsorganen an kurzen Gliedmaßen, war schräg angeordnet. Das er zwang die eigentümliche Fortbewegung des Robots. Der Kranz von Handlungswerkzeu gen war ebenfalls schräg angeordnet – der Schräge des Fortbewegungsteils entgegen geneigt –, so daß Orthfein alle Mühe hatte, wirklich glaubhaft zu machen, daß er ein würdiger Arbeiter des Robotbürgers Leon dagan war – sein Anblick sah nämlich nicht sehr würdevoll aus. Die drei Pthorer aber, die ihn aus unter schiedlichen Gründen auf dieser gefahrvol len Reise begleiteten, mußten gegen ihre Gefühle ankämpfen, die in dieser Umgebung nahezu unvermeidlich waren. Der Nebel sickerte durch die dichteste Kleidung und netzte die Haut. Ein Frösteln begleitete die
drei, seit sie die Dämmerfelsen betreten hat ten, die zwei Dimensionsfahrstühle zum einen voneinander schieden, zum anderen aber auch miteinander verbanden. Hoch über dem Nebel der Felsgruppe verschmolzen die Wölbmäntel beider Dimensionsfahrstühle miteinander, während unten auf dem Boden die Völkerschaften eben dieser Dimensions fahrstühle zum blutigen Zwist rüsteten. Die Zeichen standen auf Sturm. Die Ptho rer, die sich durch den nebelverhangenen Paß kämpften, wußten nur wenig von den großen Zusammenhängen. Von dem, was sich auf und um Pthor zugetragen hatte, wußten sie nicht viel – als die Hauptleidtra genden solcher Konflikte waren sie sehr un informiert. Zwar war allgemein bekannt, daß es einen Dunklen Oheim und einige üble Neffen gab, aber was man sich unter diesen Begriffen vorzustellen hatte … Wen küm merte es, wenn es so schwierige Fragen zu lösen galt wie die, woher man am nächsten Morgen frisches Brot nehmen sollte? Da war Elian, der Dalazaare. Er war un terwegs, weil sein erhoffter Schwiegervater ihm die Geliebte nicht geben wollte. Ursa che dafür war der Umstand, daß der Dala zaare den geforderten Brautpreis nicht hatte zahlen können. Ursache dafür wiederum war ein gewisser Händler aus Orxeya, der Elian einige prachtvolle Yassels verkauft hatte, die dann aber zu starkbehaarten, blauhäutigen Zwerggeschöpfen zusammengeschrumpft waren. Ursache für diese Katastrophe … Jeder der Pthorer hatte sein höchst priva tes Bündel an Ärgernissen und Kummer zu tragen, größere Sorgen und kleinere. Woher das Essen für die nächsten Tage nehmen? Wann, wo, wie würde das Kind des Händ lers geboren werden? Sein Weib war
4 schwanger, und für einen liebenden Ehe mann gab es wahrhaftig größere Sorgen als galaktische Diplomatie oder Probleme zwi schen Neffen und Oheimen. »Verfluchter Dunst«, schimpfte Lykaar. Niemand antwortete ihm. Elian dachte an seine Geliebte im fernen Blutdschungel, der Händler an die ge wünschte Tochter, die nach Möglichkeit ih rer Mutter und hoffentlich nicht ihrem Vater ähnlich sehen würde, die Frau an ihren Gat ten, der neuerdings arge Anflüge von Selbst bewußtsein zeigte und ihr die Sorge einflö ßte, er könnte sie womöglich verlassen. Zwischen diesen dreien watschelte Orth fein im Bewußtsein der eigenen Wichtigkeit dem fernen Ziel entgegen. Irgendwo geradeaus, im Lande Klerh, be fand sich Shemma – mehr wußten die drei Menschen nicht. Shemma war Herrscher über Klerh, Shemma bereitete einen An griffskrieg gegen die Skaharan des Landes Luuhr vor, Shemma mußte dazu gebracht werden, dem Dunklen Oheim die Dienstbar keit aufzukündigen. Das war das, was be kannt war – und mehr war auch nicht nötig, die Lage zu verstehen. Gefährlich war sie al lemal. Der einzige, der leidlich wußte, worum es ging, war Orthfein. Auch sein Kenntnisstand war gering, aber er ahnte jedenfalls, daß das, was er zu tun hatte, wichtig war und uner hört wichtig werden konnte. Alles strebte einer Entscheidung entge gen, und in dieser höchst kniffligen, schwie rigen Lage konnte jede kleine Fehlentschei dung verhängnisvolle Folgen haben. Gelang es dem Gesandten des Robotbürgers nicht, das Shemma zum Frieden zu überreden, ge lang es nicht, den Krieg zwischen Shemma und dem Lahlogor von Luuhr zu verhindern, dann hatte das unter Umständen Auswirkun gen auf die innere Stabilität von Pthor, und das wiederum konnte fatale Folgen für die gesamte Schwarze Galaxis haben. Wenn Orthfein auch alle Zusammenhän ge, Winkelzüge, Listen, Finten und Ränke nicht begreifen konnte, so ahnte er doch, daß
Peter Terrid die gesamte Lage einer auf den Kopf gestell ten Pyramide glich, die im Augenblick mehr von Zufälligkeiten als umsichtiger Planung im Gleichgewicht gehalten wurde. In jedem Fall konnte jede kleinste Veränderung das ganze Gebäude haltlos in sich zusammen krachen lassen. »Nicht so hastig, Orthfein!« rief Lykaar. Der Orxeyaner hatte zwar seit dem nächt lichen Ritt durch den Todessumpf an Selbst vertrauen ganz außerordentlich dazugewon nen, aber das hieß nicht, daß er zum Leicht fuß geworden war. Vor den fahlen Schwa den, die jeden Hohlraum, jede noch so klei ne Senke füllten, hatte er gehörigen Respekt, und immer wieder wanderte sein Blick sor genvoll zu Braheva. Lykaar war nicht mehr in Sorge um sich selbst, seine Ängste krei sten mehr um sein Weib und sein Kind. »Schau mich nicht so furchtsam an«, sag te Braheva lächelnd. »Es wird noch sehr lan ge dauern, bis es soweit ist.« Lykaar grinste verlegen. Er kannte sich mit diesen weiblichen Ge heimnissen nicht recht aus, das war nichts für gestandene Männer, so hatte man es ihm jedenfalls beigebracht. Nun, man hatte ihn sehr viel Unfug gelehrt, dies war noch das kleinste Vorurteil, das er mit sich herum schleppte. »Wie lange wird es noch dauern, bis wir endlich wieder etwas zu sehen bekommen?« rätselte Lykaar laut. »Stunden, Tage? Vielleicht mehr?« Elians Antwort war nicht boshaft gemeint. Der Dalazaare war die feuchtheiße Land schaft des heimatlichen Blutdschungels ge wohnt – diese feuchte Kühle schlug sich bei ihm fast mehr aufs Gemüt als auf den Kör per. Er kam sich wie leimbeschmiert vor, klebrig, schmutzig. In diesem Gedünst konnte man nicht einmal ehrlich schwitzen, und gegen die alles durchsickernde Nässe gab es keinerlei Gegenmittel. Selbst die Geräusche ihrer Fortbewegung wurden von dem alles überlagernden Nebel nahezu unhörbar gemacht. Ab und zu tauchte im Sichtfeld der Wan
Gefangene des Shemma derer etwas auf, was nicht entweder Stein oder Nebel war. Skelette. Es hatte Kämpfe gegeben zwischen den Felsen, und diese Kämpfe waren nicht ohne Opfer geblieben. Bleiche Knochengerüste lagen in den Spalten, Wesen, die einstmals gelebt, geatmet, geliebt hatten. Gab es ir gend etwas, was wert war, in einer solchen Felsspalte getötet zu werden, zu verfaulen, Wanderern als Gebein zu erschrecken und ansonsten ausgetilgt zu sein für immer? Gab es überhaupt etwas, ob abstrakt oder kon kret, das wert war, das bißchen Leben, das man hatte, dafür wegzuwerfen? Opfern war ja nicht mehr als die hochtrabende Vokabel für den gleichen todbringenden Vorgang. Lykaar stellte sich diese Frage, als er an dem Knochengerüst eines Unbekannten vor beiging. Der Schädel wies eine schwere Verletzung auf, vielleicht hatte der Unglück liche nicht lange zu leiden gehabt. Dennoch. Der Nebel wirkte deprimierend. Er um hüllte nicht nur das Land, er überzog auch die Gedanken mit seinem kalten Hauch. Er zwang zur Konzentration, auch in Gedan ken. Die weit hinausschauende Betrachtung, der Blick auf das, was in gewissen Reden das große Ganze genannt wurde – in der fro stigen Intimität des Nebels waren solche Ge danken nicht möglich. Als würden sie von dieser weichen, hartnäckigen Wand zurück geworfen, prallten die Gedanken ins eigene Fleisch zurück. »Ich möchte ein Feuer anmachen«, sagte Braheva. »Ich brauche Wärme.« Lykaar ritt an sie heran und legte den Arm um sie. Während Orthfein einfach weiter watschelte, weil ihn solche Gedanken nichts angingen, kam auch Elian hinzu. Die drei lä chelten sich an, verbunden durch ein ge meinsames Gefühl. Umlauert vom weißen leeren Nebel, hatten sie sich nur gegenseitig, um sich Wärme zu spenden. Ein paar Augenblicke verharrten sie so, dann setzten sie den Weg fort. Es dauerte nicht lange, dann hatten sie
5 den gleichmäßig dahinwandernden Orthfein wieder eingeholt. Unbeirrbar schlingerte der Robot den Weg entlang. Es gab tatsächlich einen richtigen Weg, eine Straße, die in den Fels gehauen war. In einer Handbreite Abstand von den Felsen zur Rechten und zur Linken liefen die Spu ren der Wagen, daumenbreit, daumentief in den Fels gegraben – entweder geschlagen oder durch die Praxis des Transports allmäh lich hineingeschliffen. Der Gedanke, daß über diese vernebelte, triste Paßstraße immer wieder die Truppen Shemmas gezogen wa ren, um die Völker der Planeten zu bekrie gen, auf denen der Dimensionsfahrstuhl je mals gelandet war, hatte etwas Erschrecken des – man mußte sich nur vorstellen, wievie le Tausendschaften über diese Felsstraße ge zogen waren, wieviele Tausendschaften da von nicht zurückgekehrt waren, wieviele Tausende verschleppt, versklavt, unglück lich diese Straße im Nebel mit ihren Tränen genetzt hatten. An solche Dinge mußte fast zwangsläufig jeder denken, der den Weg ging nach Shemma – einem ungewissen Schicksal entgegen. Es war Elian, der den Gedanken in Worte faßte. »Unter Umständen ist die Strafe des Lahlogors leichter zu ertragen als die Güte Shemmas«, sagte der Dalazaare. »Möglich«, sagte Lykaar leise. Dennoch dachte er nicht an Umkehr. Auch dies würde er ertragen, wie so vieles andere, was ihm widerfahren war in jüngster Zeit. Irgendwann würde der Nebel enden. Was danach kam? Man würde sehen – Lykaar war auf vieles vorbereitet. Weiter ging der Ritt. Das Gefühl für die verstrichene Zeit war längst verschwunden. Die Besucher dieses seltsamen fremden Landes ritten und ritten, ohne sich um die Stunden zu kümmern. Der Gedanke an Mü digkeit schien auf geheime Weise gar nicht erst aufkommen zu wollen. Es ging immer tiefer hinein in das Land Klerh, das von Shemma beherrscht wurde. In gewisser Wei
6 se erinnerte dieser Ritt an die Durchquerung des gewaltigen Sumpfgebiets, das der Land brücke nach Klerh vorgelagert war. Auch dort hatte sich der Ritt in die Länge gezogen – jeder Stillstand hätte Reittier und Reiter augenblicklich in den grundlosen Morästen den Tod finden lassen. Was die Menschen dieses Mal dazu trieb, sich und ihren Tieren keine Ruhe zu gönnen, war nicht so leicht zu begreifen wie die of fenkundige Todestücke des Sumpfes. War es Sehnsucht oder Furcht, was die Reiter weitertrieb? Niemand vermochte es zu sagen. Lykaar hielt sich an Brahevas Seite. Er spürte, daß der Boden sich ein wenig senkte. Ging es jetzt endlich in das Land Klerh, aus dem Nebel heraus, der nachts an Dichte und Beklemmung verloren hatte? Irgendwo neben dem schmalen Pfad plät scherte ein Wasser. Lykaar suchte nach dem Bach und fand ihn auch. Obwohl er eigent lich keinen Durst hatte, trank er von dem Wasser – es schmeckte seltsam, wie tot, ganz anders als man Quellwasser zu erwar ten gewohnt war. Dennoch füllte Lykaar die lederne Fla sche mit dem Wasser; es schmeckte immer noch besser als der brackige Sud, den er aus dem Sumpf mitgebracht hatte. Lykaar kehrte zu Braheva zurück. Unver drossen war währenddessen der Botschafter des Robotbürgers Leondagan weitermar schiert, in der ihm eigenen kuriosen Art und Weise. Sein Anblick wirkte auf seine Be gleiter ein wenig erheiternd, und das tat gut in diesem deprimierenden Nebel. »Dort«, sagte Braheva plötzlich. »Sieh nur!« Über das tiefe Weißgrau des Nebels hatte sich eine Farbe gelegt, einstweilen nicht mehr als die Andeutung einer Farbe, ein lichter Schein, unsagbar tröstlich in dieser Einöde aus Fels, Wasser und Kälte. »Was mag das sein?« fragte Braheva. Lykaar zuckte mit den Schultern. »Ich bin zum ersten Mal hier«, sagte er achselzuckend. »Woher soll ich es wissen?
Peter Terrid Es sieht aus, als würde eine Sonne aufge hen!« Beide wußten, daß es zur Zeit keine Son ne gab – nicht für Pthor, nicht für Luuhr, nicht für Klerh. In diesen Tagen der Be drängnis waren die Tage trüb und die Näch te erhellt vom Leuchten der Wölbmantelkontakte – zu jeder Zeit des Tages wurde je dem Bewohner eines Dimensionsfahrstuhls vor Augen geführt, daß etwas mit den Inseln geschah. Noch nie zuvor in der bekannten Geschichte der Dimensionsfahrstühle waren so viele verschiedenen Weltenfragmente beieinander gewesen – Lykaar beispielswei se hatte überhaupt noch nie von einem sol chen Zusammentreffen in früheren Jahr zehnten gehört. Der Glanz über dem Nebel wurde ein we nig stärker. Er wirkte gelblich. »Ob das eine Verheißung ist oder eine Bedrohung?« »Wir haben nur eine Möglichkeit, das festzustellen«, sagte Elian neben Lykaar, »wir müssen hinreiten.« Er trieb sein Agreno an. Jetzt war deutlich zu erkennen, daß die Dämmerfelsen bald ein Ende haben würden. Immer steiler ging der Pfad hinab in die Tie fe. Die wolkenumhüllten Gipfel des Ge birgszugs mußten also bald überwunden sein. Was aber würde sich auf der anderen Sei te für ein Anblick eröffnen? Die Antwort ließ nicht lange auf sich war ten. »Herrlich!« freute sich Braheva sofort. »Ein Garten!« In der Tat – es sah aus wie ein riesiger Garten. Von einem Schritt auf den anderen war der Nebel verschwunden. Lykaar konnte ihn sehen, als er sich danach umdrehte. Wie festgemauert stand die weiche weiße Wand da – und voraus dehnte sich der üppigste Garten, den man sich nur denken konnte. Ei ne weitgedehnte Senke war zu sehen, die bis an den fernen Horizont reichte, und aus die ser Mulde stieg betäubender Duft zu den Reitern hinauf, die ihre Agrenos verharren
Gefangene des Shemma ließen. »Beachtlich«, erklärte Orthfein. »Sehr geometrisch.« Elian schüttelte den Kopf. Für einen Ro bot mochte es erfreulich sein, die Regelmä ßigkeit der einzelnen Teile dieses giganti schen Gartens zu betrachten – für ihn wie für die beiden anderen war es die strahlende Farbenpracht, die verwirrte und bezauberte. Ein Meer von Blüten und Blumen in allen nur denkbaren Schattierungen, leicht vom Wind bewegt, so daß es aussah, als lebe die ser Teppich aus glühenden Farben. »Und hier soll jemand wohnen, der die Skaharan angreifen will?« fragte Braheva. Sie sprach aus, was Lykaar ebenfalls bereits empfunden hatte. Der Kontrast war ungeheuer. Hier der wundervolle Park, ein einziges Schwelgen in Farben und Düften, in geome trischen und farblichen Harmonien. Nichts störte oder unterbrach die Vollkommenheit dieser endlosen Beete. Auf der anderen Seite das Land Luuhr, ei ne karge Steppe, eine unerhört wehrhafte Hauptstadt, mauerumsäumt, beherrscht von einem riesigen Gewaltmenschen, der kalt blütig über Leben und Tod gebot. Das ganze Land Luuhr schien in Waffen erstarrt, kriegbereit … Rüsteten die Skaharan tatsächlich, um ge gen dieses Blumenland Krieg zu führen? Wer oder was auch immer zwischen diesen Blütenteppichen lebte, es konnte unmöglich feindselig sein – so empfanden es die drei Menschen. Der einzige, der sich davon nicht beeinflussen ließ, war Orthfein. Er setzte den Weg fort, hinab in die Senke der Schön heiten – so hatten in unbewußter Überein stimmung die Pthorer das Land bereits ge tauft. »Was mag das sein?« fragte Elian leise. Er deutete auf eine Stelle mitten in dem Blütenteppich. Wie mochten diese Farben strahlen, wenn sie von einer Sonne beschie nen wurden? Und was mochte zum Vor schein kommen, wenn die wärmende Sonne den Dunst vertrieb, der sich um den fragli
7 chen Fleck gesammelt hatte? Die Antwort ließ nicht sehr lange auf sich warten. Der Dunst löste sich auf. Dunkel brauner Fels wurde sichtbar, eine steil aufra gende Zinne, und dann verschwanden die letzten Schleier. Die Kuppelstadt wurde sichtbar. Weit über das Land strahlte das Gold der Kuppeln, ein warmer, anheimelnder Glanz. Es gab eine Riesenkuppel, die alle anderen überragte, an ihrer Spitze glitzerte und gleiß te ein Edelstein in unerhörter Farbenpracht. Daneben gab es einen Kranz weiterer Kup peln, auch sie glänzend und weithin schim mernd. Die Gesichter der Pthorer verzogen sich zu einem Lächeln froher Erwartung. Elian sprach es aus: »Das muß Shemmas Stadt sein!«
2. »Es ist wie ein Traum«, murmelte Elian. Fast zaghaft setzten die Pthorer einen Schritt vor den anderen. Der gräßliche Ge birgszug mit seinen schaudererregenden Ne belschwaden lag hinter den dreien – vor we nigen Augenblicken hatten sie den Garten Shemmas betreten. Hoch über ihnen leuchte ten die goldenen Kuppeln der Stadt, Weg weiser und Verlockung in einem. Niemals hatte einer der Pthorer etwas von Pflanzen gehört, die so hoch wuchsen. Die Blütenkelche wiegten sich pollenschwer in Hüfthöhe, buntschillernde Vögel schwärm ten darüber, kaum so groß wie eine Kinder faust, aber unerhört schnell und wendig. Braheva strich sanft mit der Hand über ei ne der Blüten, ein leuchtendrotes Etwas mit gelben Staubgefäßen. Ein betäubender Dunst stieg auf, der eine schier unwidersteh liche Verlockung erhielt. Es gab keine gebahnten Wege in diesem Blütenparadies – die Pflanzen selbst schufen für die Reiter freie Bahn. Die Pthorer waren abgestiegen, hielten die Agrenos am Ge schirr und zerrten sie hinter sich her. Die Agrenos waren unwillig, eine Eigenschaft,
8 die ihre Reiter zum ersten Mal an den Tieren bemerkten. Witterten sie etwas? »Wozu dient dieser Garten?« fragte Bra heva. »Ist es denkbar, daß ein ganzes Land, ein Weltenfragment, von einer Küste bis zur anderen nur aus Gärten besteht, aus Blumen beeten?« »Möglich ist viel«, bemerkte Orthfein. Auch vor ihm bogen sich die Pflanzen zur Seite. Auf einer breiten grünen Gasse schlin gerte der Roboter dem Ziel entgegen. An diesem Ziel konnte kein Zweifel be stehen – selbst wenn die Kuppelstadt nicht Shemmas Zuhause gewesen wäre: keiner der vier hätte sich davon abhalten lassen, diesem Kuppelpalast einen Besuch abzustatten. Zwar konnte aus dieser beträchtlichen Ent fernung niemand Einzelheiten erkennen, vor allem fehlte jeglicher Hinweis, wie man zu den Kuppeln hinaufkam. Aber dadurch lie ßen sich die vier nicht beirren. »Kaum zu glauben, was die Skaharan über dieses Land berichtet haben«, sagte Ly kaar leise. »Wenn wir uns hier umgesehen haben, müssen wir auf dem schnellsten Weg nach Pthor zurückkehren – ich habe nämlich den furchtbaren Verdacht, daß sich die Rü stung der Skaharan hauptsächlich gegen Pthor richtet.« »Ich hoffe, du irrst dich«, murmelte Bra heva. Sie hatte die Schrecknisse der letzten Monate noch in schmerzender Erinnerung, und die Vorstellung neuer Kämpfe und Schlachten auf dem zerschundenen, leidge plagten Boden Pthors ließ sie erschauern. »Es wird so schlimm nicht werden«, sagte Lykaar zuversichtlich. Braheva sagte nichts, aber Lykaar wußte, was sie dachte – ihr wären Kämpfe jeglicher Art ein Greuel. Nicht zuletzt aus diesem Grund hatte sie Lykaar geheiratet, der – sei es aus Feigheit oder aus Einsicht in die eige ne Schwäche – stets jedem Kampf aus dem Weg gegangen war. Sie kamen zu Fuß nicht sehr schnell vor an, obwohl der Boden eben und leicht be gehbar war. Sie hatten es allerdings auch nicht eilig. Mit Augen und Nase versuchten
Peter Terrid sie, den Zauber in sich aufzunehmen, den die Blumenwelt Klerh verströmte. Aufgeregt wie Kleinkinder verfolgten sie den huschen den Flug der winzigen Vögel, und immer wieder stießen sie auf neue Entdeckungen. Es schien kein Wunder der Natur zu geben, das nicht auf Shemma eine Heimstadt gefun den hatte. Die abenteuerlichsten Blüten wa ren zu sehen, mit gewundenen Blättern, ge sägt, gezähnt, geschrägt. Es gab hauchdünne Stengel aus einem fast gläsern anmutenden Material, darauf einen goldfarbenen Blüten kelch. Wenn zwei dieser Kelche vom Wind sacht aneinandergestoßen wurden, ertönte ein feines, kaum hörbares Klingen, wie fer ner Gesang. Nicht den geringsten Hinweis gab es auf Aggression, das Friedensidyll war vollstän diger und perfekter kaum vorstellbar. Und es war genau diese Tatsache, die Ly kaar stutzig werden ließ. Er war stets vor sichtig, früher sogar recht ängstlich gewe sen, und eine der Auswirkungen dieser Vor sicht bestand darin, daß er allzu glatten Dar stellungen nicht glauben wollte. Das Idyll erschien ihm gleichsam zu perfekt, zu schön – irgend etwas konnte daran nicht stimmen. Indessen behielt dieser Gedanke nicht lan ge die Oberhand. Ein paar Augenblicke überdachte Lykaar den Sachverhalt kritisch, dann wurde er wieder von der Pflanzenwun derwelt in ihren Bann geschlagen. Bald waren Arme und Beine und Rümpfe bedeckt vom Blütenstaub, und jeder der vier war umgeben von einer atemberaubenden Wolke von Düften. Die Pollen glitzerten zum Teil auf der Kleidung, die Pthorer sa hen schon bald aus wie einem alten Märchen entstiegen. Seltsam aber war, daß es außer den be rückend schönen Pflanzen keinerlei Leben zu geben schien. Nirgendwo waren Bewoh ner dieser Insel zu sehen – es schien, als sei dieser Dimensionsfahrstuhl ausgestorben. Vielleicht, so hoffte Lykaar, gab es in der weithin leuchtenden Kuppelstadt weitere Hinweise zu finden. Der Weg, den Orthfein ausgesucht hatte, führte schnurgerade auf
Gefangene des Shemma die Kuppeln zu. Plötzlich aber verharrte der Roboter. »Was gibt es?« fragte Lykaar. Die drei schlossen zu Orthfein auf. Der Gesandte Pthors deutete auf etwas, das am Boden lag und weißlich schimmerte. »Was soll das sein?« Elian bückte sich und hob das Etwas auf. »Ein Knochen«, sagte er leichthin. »Ein Überrest irgendeines Tieres.« »Oder eines Menschen«, sagte Lykaar. »Kannst du es erkennen, Elian?« Der Dalazaare wendete das Knochenstück hin und her und betrachtete es eindringlich. »Nicht zu sehen«, sagte er. »Ich kann es beim besten Willen nicht bestimmen.« »Vermutlich liegen da noch andere Kno chen«, sagte Braheva. »Vielleicht ein ganzes Skelett.« »Sehen wir nach!« schlug Lykaar vor. »Was versprecht ihr euch davon?« erkun digte sich Orthfein. »Es ist nur Zeitver schwendung.« Die drei Pthorer sahen sich kurz an. »Geh nur voraus«, sagte Elian. »Wir wer den dich schon einholen.« Orthfein machte mit einem seiner Hilfs glieder eine wegwerfende Bewegung, dann schlingerte er weiter. Das Tempo, das er ein schlug, war mäßig: es konnte den dreien nicht schwerfallen, wieder zu Orthfein auf zuschließen. »Laßt uns nachsehen«, sagte Elian. Er kniete nieder. Braheva betrachtete die prachtvolle Blüte, die über den Köpfen der beiden Männern leise im Wind schwankte. Die Blüte besaß große feuerrote Blütenblätter, dazu gelb leuchtende Staubgefäße. Auf den Blütenblättern war eine feine bläuliche Maserung zu erkennen, ein seltsames Liniengespinst. »Kommt ihr weiter?« fragte Braheva, während sie weiter die Blüte betrachtete. Der Duft war herrlich, einladend und berau schend. Die Blütenblätter bewegten sich langsam. Eine Wellenbewegung bildete sich an den Rändern. Die goldgesäumten Kanten der
9 Blütenblätter schwangen in gleichmäßigem Rhythmus auf und ab – die goldene Kante ließ dazu glitzernde Schauer über die Blatt flächen laufen. Es war ein faszinierender Anblick. »Sieh an«, sagte Lykaar. Braheva sah nach unten. Die beiden Männer hatten den Rest des Skeletts gefunden. Es hatte sich um ein Le bewesen gehandelt, das im Bauplan gar nicht so verschieden von einem Pthorer ge wesen war – die Ähnlichkeit war jedenfalls offenkundig. Indessen war das nicht der Grund dafür, daß die beiden Männer sichtlich bleich ge worden waren. Daß man beim Graben ab und an auf ein fremdes Skelett stieß, gehörte zu den normalen Dingen des Lebens. Nicht normal aber war, daß die Wurzeln der wundervollen Pflanze, die Braheva so fasziniert betrachtet hatte, im Schädel des Skeletts zusammenliefen. Es konnte Zufall sein, nicht mehr – aber es war auch möglich, und der Gedanke ließ Braheva erschauern, daß die Pflanze diesen gräßlichen Nährboden brauchte. Was das hieß, wagte keiner der drei sich auszudenken. Von einem Augenblick auf den anderen war das Bild vollständig umgekippt. Was gerade noch Anmut, Schönheit und Ver lockung dargestellt hatte, zeigte sich nun voll Grauen, angsterregend, zur Flucht auf fordernd. »Noch ein Versuch«, sagte Elian zu Ly kaar. Der Orxeyaner nickte. Braheva preßte die Lippen aufeinander. Ungeheure Furcht hatte sie ergriffen. Die beiden Männer hatten nur ihre Hände und ihre Messer als Grabwerkzeuge zur Ver fügung, aber sie kamen rasch voran. Das Er gebnis stand nach kurzer Zeit fest. Auch die benachbarte Pflanze wuchs aus den Überresten eines Toten – eines Wesens, von dessen Knochengerüst kaum noch etwas zu erkennen war. Irgendein Unbekannter war hier gestorben, und eine Blume war er blüht aus seinem Leib.
10 Tröstlich? Braheva empfand den Gedan ken als grauenvoll. Sie sah über das riesige Feld hinweg, und ihr Verstand weigerte sich, das als wahr anzusehen. Soviel Tod und Leid, konzentriert auf dieser Fläche, auf die sem Dimensionsfahrstuhl. Es war unvor stellbar. »Sicheres wissen wir nicht«, sagte Elian. Er klopfte sich die Erde von den Händen. »Es kann Zufall sein. Jeder, der zur Kuppel stadt will und den gleichen Weg gegangen ist, den auch wir benutzt haben, wird, wenn er unterwegs stirbt, hier im Boden liegen. Und bei der Zahl der Blumen, die hier wach sen, ist es nur wahrscheinlich, daß sie auch im Skelett eines solchen Unglück …« »Ach, hör auf«, sagte Lykaar unwillig. Elian verstummte. Die drei sahen sich an. Ihnen stand die gleiche Frage im Gesicht geschrieben: weg laufen oder nicht? Lykaar sah hinüber zu der Kuppelstadt. Ein Stück voraus war Orthfein zu erkennen, der sich gemächlich durch das Blütenmeer auf die Kuppelstadt zubewegte. Lykaar drehte sich herum. Die Strecke war beträchtlich, die sie hätten zurücklegen müssen, um das Gebiet der Dämmerfelsen wieder erreichen zu können. Wenn dieser tödlich schöne Pflanzentep pich eine Falle war, dann hatten die drei Pthorer ohnehin keine Chance, dieser Falle lebend zu entkommen. Braheva sah die nahen Pflanzen an. Sie sah die sich bewegenden Blütenblät ter, und jetzt sah diese Bewegung nicht mehr gleichmäßig schwingend, fast tanzend aus – sie wirkte vielmehr bohrend und schneidend. Die trägen Bewegungen der Luftwurzeln – waren es die Tastversuche dieser Mordpflanzen, die Suche nach neuen Opfern? »Was machen wir?« Braheva zuckte mit den Schultern. Lykaar deutete auf die Kuppelstadt. »Wenn überhaupt, dann ist nur dort der Weg aus dieser Falle zu finden«, sagte er. »Ich habe keine Lust, diesen Weg fortzuset zen und Orthfein zu folgen, und ich bin
Peter Terrid schäbig genug, einzugestehen, daß mir das Schicksal eines Wolterhavener Robots gleichgültig ist, wenn es um meine eigene Haut geht – aber ich sehe bei klarem Ver stand wirklich keine andere Lösung als die se.« »Dem Tod in den Rachen hinein«, sagte Elian und nickte. »Noch hat er die Kiefer nicht geschlos sen«, meinte Lykaar. Braheva sah, wie schnell er atmete, um seiner Erregung Herr zu werden. »Nur in der Kuppelstadt können wir ein Rettungsmittel finden.« »Dann vorwärts«, sagte Elian. Er grinste mühsam. »So habt ihr euch euren Ausflug nicht vorgestellt, wie?« Für einen kurzen Augenblick vermochten Lykaar und Braheva zu lächeln. »Wahrhaftig nicht«, sagte Lykaar. »Wenn ich dieses alles geahnt hätte …« »Folgen wir Orthfein«, sagte Braheva. »Wir werden sonst den Kontakt zu ihm ver lieren.« Die drei griffen nach den Zügeln ihrer Agrenos und eilten dem Robot nach. Die Agrenos zu besteigen und zu reiten, wagten sie nicht – das hätte wie eine Flucht ausse hen können, und so etwas konnte Shemma nur reizen. »Wer oder was mag Shemma sein?« frag te Braheva unterwegs. »Der König dieses Landes«, sagte Elian. »Vergleichbar mit dem Lahlogor von Luuhr – oder mit seinem Robotgötzen. Und es scheint ein sehr grausamer Herrscher zu sein.« »Das stimmt«, murmelte Braheva. Sie brauchte nur einen Blick zur Seite zu werfen … Der Anblick des riesigen Gartens war in zwischen zur Qual geworden. Unwillkürlich verband Braheva – und ihren Begleitern ging es nicht anders – den Anblick der far benfrohen Blätter mit dem grausigen Boden satz, aus dem diese Pracht erwuchs. »Was sagen wir Orthfein?« fragte Lykaar. »Nichts«, schlug Elian vor. »Er würde es nicht glauben und auch nicht begreifen. Un
Gefangene des Shemma sere Beweise sind viel zu dürftig.« Zum ersten Mal empfand Lykaar fast so etwas wie Neid auf den Robot – zwar war auch solchen Geschöpfen Existenzangst nicht völlig fremd, aber sie konnte doch nicht so übermächtig werden wie in einem Menschen. Lykaar suchte mit den Augen Braheva und fand sie sehr konzentriert, fast versteinert. Wenig später war Orthfein erreicht. Un verdrossen und mit stets gleichbleibendem Tempo marschierte der Gesandte des Frie dens durch das Blütenmeer. Lykaar beschlich der Gedanke, daß es schwerlich etwas Hintergründigeres und Ab surderes geben konnte als dieses Bild – das Idyll eines lustig watschelnden Robotge sandten inmitten eines Blütenmeeres, das in jeder einzelnen Blüte Tod und Verderben enthüllte. Indessen konnte Orthfein von die ser Doppeldeutigkeit nichts wissen. So kamen die vier Pthorer ihrem Ziel im mer näher. Nichts geschah während dieses Marsches, das irgend jemanden hätte ängst lich oder furchtsam machen können. Das trügerische Idyll blieb erhalten. Die Pflanzen wichen noch immer sanft aus, um den Wan derern Platz zu machen. Und noch immer fehlten die anderen Be wohner des Planeten – oder waren die Pflan zen die Herren von Klerh? Elian deutete den beiden Orxeyanern, ein wenig zurückzubleiben. Orthfein marschier te unverdrossen weiter. »Ich frage mich«, sagte Elian leise und deutete mit einer sparsamen Handbewegung auf den Blütenteppich, »ob dies alles zusam men nicht jenes Wesen ist, das man Shemma nennt.« Braheva schluckte. »Du meinst …?« »Ein Lebensverband all dieser Pflanzen. Jede einzelne hat nur ein winziges Stück Vernunft – so wie ein entsprechend kleiner Teil eines Menschen auch unvernünftig ist. Aber alles zusammen könnte ein intelligen tes Wesen ergeben – eben ein Shemma.« »Entsetzlich«, murmelte Braheva kaum
11 hörbar, als fürchte sie sich davor, daß die Pflanzen in ihrer Nähe sie hören könnten. Es war peinigend, Tod und Entsetzen neben sich in so verlockend schöner Form zu sehen – in gewisser Weise wäre es den dreien wohler gewesen, wären sie durch ein Meer häßlicher, gieriger, offenkundig gefährlicher Pflanzen gewandert. »Wir müssen aufpassen«, sagte Elian. »Es dämmert bereits, und ich werde das Gefühl nicht los, daß die Nächte auf dieser Insel le bensgefährlich sind. Wir werden sehr sorg sam wachen müssen, jeder einzelne von uns.« »Nur er hat keine Sorgen«, murmelte Bra heva. Sie sah nach Orthfein. Die Orxeyanerin stieß einen unterdrück ten Schrei aus. »Duckt euch!« »Was gibt es?« »Ich habe etwas gesehen«, sagte Braheva. »Etwas, das sich bewegte.« Lykaar hatte sich der Länge nach auf den Boden geworfen – so war er von weitem nicht mehr zu erkennen. Um so leichter mußten die Agrenos aus zumachen sein, stellte Lykaar fest. »Wir können aufstehen«, sagte er. »Mag man uns nicht erkennen, so werden die dort drüben aber unsere Agrenos gesehen ha ben.« Elian blieb liegen. »Ihr wollt beieinanderbleiben?« fragte er hastig. Braheva und Lykaar wechselten einen ra schen Blick. »Selbstverständlich.« »Dann werde ich untertauchen«, sagte Elian. »Nehmt mein Agreno und zieht hinter Orthfein her. Ich werde aus der Ferne alles beobachten.« Lykaar wußte sehr wohl, daß die Wahr scheinlichkeit nicht von der Hand zu weisen war, daß Elian aus der Ferne den Tod seiner Begleiter würde beobachten können. Ruhig sagte er:
»Geh, und gib acht auf dich!«
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Peter Terrid
3. »Du willst ihnen auch noch entgegen ge hen?« fragte Braheva fassungslos. Lykaar nickte. »Ich halte es für stilvoller«, sagte er. »Obendrein bekommen sie uns in jedem Fall – warum sollen wir uns abstrampeln?« »Ich entdecke völlig neue Züge an dir«, sagte Braheva. Ihr Lächeln zeigte, daß die Spitze nicht ganz ernst gemeint war. Im Näherkommen waren die Fremden gut zu erkennen. Sie waren annähernd so groß wie die Pthorer, schwankend zwischen Lykaars Grö ße und der Länge des Dalazaaren. Schon von weitem war zu sehen, daß sie recht ge schickt und wendig sein mußten. »Sie haben Orthfein«, stellte Lykaar fest. Der Robot war von den Fremden einge kreist worden. Sie griffen ihn nicht an, aber es war klar, daß sie nicht daran dachten, den Wolterhavener freizulassen. Eine Gruppe kam Braheva und Lykaar entgegen. Sie mußten von Echsen abstammen, über legte sich Lykaar. Die Schuppenhaut, die in sattem Braun glänzte, wies darauf hin. Es war ein warmer, angenehmer Farbton, aber davon ließen sich die beiden Pthorer nicht irre machen. Die Ankömmlinge hatten weder den typi schen Echsenschwanz, noch die vorsprin genden Echsenschnauzen. Ihre Schädel setz ten sich vielmehr aus einigen überaus rund lich geformten Abschnitten zusammen. Un ter einer vorgewölbten Stirn saßen Augen, die Lykaar als blaugrün erkannte. Darunter wieder saß, halb kugelförmig gewölbt, die Kieferpartie. Die beiden Gruppen trafen aufeinander. Lykaar und Braheva blieben stehen, die Echsen umringten sie. Im Zenit der Kieferhalbkugel waren Na senlöcher zu erkennen, darunter der Mund. Ohren fand Lykaar keine, an ihrer Stelle gab es Höröffnungen, die von ringförmigen
Schuppen verborgen waren. »Wer seid ihr?« Lykaar atmete erleichtert auf. Die Frem den sprachen ein Idiom, das dem Pthors sehr ähnlich war – offenbar war diese Sprache al len Inseln und Inselbewohnern gemeinsam, aus alter Vergangenheit her. Die Zeit war an der Sprache der Bewohner natürlich nicht spurlos vorbeigegangen, es hatte Verschie bungen und Sinnentstellungen gegeben, aber grundsätzlich waren die Pthorer und die an deren Inselbewohner in der Lage, sich ge genseitig verständlich zu machen. »Wir kommen von Pthor.« »Kennen wir nicht!« Seltsam war der Kontrast zwischen den rundlichen Köpfen der Fremden und ihren schlanken Leibern, die kaum bedeckt waren. Offenbar waren sie recht stolz auf ihre braunglänzende Haut. »Eine Welteninsel, ein Dimensionsfahr stuhl«, sagte Lykaar. Die Fremden drängten ihn weiter, auf die Gruppe zu, die Orthfein eingekreist hatte. »Ein Land wie Klerh.« »Es gibt kein Land, das unserem gleich wäre, Fremder«, sagte der Anführer der Gruppe. »Wir sind die Linarvos, und dies ist unser Land. Von wo kommt ihr?« »Ursprünglich von Pthor, jetzt gerade von Luuhr«, antwortete Lykaar. »Ich werde mich beschweren!« erklärte Orthfein in diesem Augenblick. »Solche Übergriffe sind unerhört und widersprechen jeder Konvention.« »Sei still!« herrschte Lykaar ihn an. Orth fein schien gar nicht begriffen zu haben, was er mit seinem Geschwätz anstellte. »Ihr gehört zusammen, nicht wahr?« er kundigte sich der Anführer, ein besonders hochgewachsener Linarvo. »In der Tat«, erklärte Orthfein zu Lykaars stillem Ärger. »Wir sind in diplomatischer Mission unterwegs. Wir wollen zu Shem ma.« »Mehr nicht?« fragte der Linarvo mit hör barem Spott. »Das könnt ihr haben. Ihr wer det uns begleiten.« Den Pthorern blieb nichts anderes, als
Gefangene des Shemma sich in ihr Schicksal zu fügen. Die Linarvos kreisten die Pthorer ein und sorgten dafür, daß sie nicht ausbrechen konnten. Die Agre nos wurden ihnen abgenommen, Linarvos führten sie am Zügel. »Wohin führt ihr uns?« fragte Orthfein. »Zu Shemma«, wurde ihm geantwortet. Lykaar und Braheva sahen sich an. Der Weg der Linarvos führte gradlinig zu jener Erhebung, die von der leuchtenden Kuppel stadt gekrönt wurde. Die Pthorer hatten sich offensichtlich nicht getäuscht – unter den Kuppeln residierte Shemma. Vermutlich war die Stadt die Hauptstadt des Landes. »Und was erwartet uns bei Shemma?« wollte Lykaar wissen. »Das hat das Shemma zu entscheiden«, bekam er zur Antwort. »Und jetzt seid still, sonst wird es euch übel ergehen.« Die Linarvos schienen recht ruppige Ge sellen zu sein, indessen waren sie nicht grau sam. Sie umgaben ihre Gefangenen und ver hinderten so jede Flucht, aber sie verzichte ten darauf, die Pthorer zu fesseln – wahr scheinlich, weil ein Fluchtversuch ohnehin zum Scheitern verurteilt gewesen wäre. Erst nach geraumer Zeit wagte es Lykaar, einen Blick über die Schulter hinweg nach hinten zu werfen, wo er Elian vermutete. Von dem Dalazaaren war nichts zu sehen. Er verbarg sich geschickt zwischen den Blu men, und das wurde noch begünstigt durch die immer stärker werdende Dämmerung. Es war bereits ziemlich dunkel, als die Li narvos am Fuß des Felsens mit ihren Gefan genen ankamen. Es gab eine große Zeltstadt am Fuß der Felsnadel, dort schienen die Linarvos zu hausen. Lykaar konnte Dutzende von hohen spitzen Zelten sehen; dazwischen loderten Feuer, die Licht und Wärme zugleich spen den sollten. Zahlreiche Halbwüchsige tobten auf den Lagergassen, und es fiel Lykaar so fort auf, wie liebevoll die Linarvos ihre Nachkommenschaft behandelten. Dieses Echsenvolk schien eigentlich von recht sanf tem Charakter zu sein – wahrscheinlich lag es an Shemma, wenn sie der Schrecken ihrer
13 Nachbarn waren. Am hinteren Ende des langen Lagers be gann eine Treppe, eine steile Folge von Stu fen, die aus dem massiven Fels herausge schlagen worden waren. Zu den Eigentümlichkeiten der Linarvos schien es zu gehören, daß sie völlig schwin delfrei waren – und das war etwas, was man von Braheva und Lykaar überhaupt nicht be haupten konnte. Im Gegenteil, beide besa ßen eine ungeheure Furcht vor allem, was hoch hinauf ragte. »Da müssen wir hinauf?« fragte Lykaar entsetzt. »Ausgeschlossen.« »Ihr werdet mitkommen«, sagte der Li narvo hart. »Oder …!« Er spielte vielsagend mit einem unterarm langen Dolch. Die Klinge war kostbar zise liert und schön geschwungen, aber das machte es keineswegs angenehmer, an ihrem Stich zu sterben. Die beiden Pthorer schwiegen und ließen sich vorantreiben. Lykaar ging voran – er hoffte, auf diese Weise Braheva ein klein wenig helfen zu können. Daß er selbst vor Angst irgendwann umkommen würde, stand für ihn fest. Erstaunlich war, mit welcher Sicherheit sich Orthfein in die Höhe bewegte. Er rollte und schlingerte, als könnte er sich keinen Augenblick auf der Treppe halten, aber er gewann an Höhe, ohne dem Rand der Trep pe auch nur einmal zu nahe zu kommen. Die Linarvos leuchteten den Weg mit knistern den Fackeln aus, und das machte es nach ei nigen Dutzend Stufen erträglich. Man sah nur einen kleinen Teil der ungeheuer langen Treppe, vor allem aber war nicht mehr zu er kennen, wie tief es an der Stelle hinabging. Die Stufenfolge zog sich an der fast lotrech ten Wand in die Höhe, und nach kurzer Zeit war das Lager der Linarvos nicht mehr zu sehen, nur noch eine fahle Schwärze. Es gab viel Wolken am Himmel, und so war selbst von dem Widerschein der Wölbmantelkon takte nur wenig zu sehen. In dieser Finster nis stiegen die Pthorer, von den Linarvos ge führt, den steilen Weg hinauf zur Kuppel
14 stadt Shemmas. Seltsamerweise empfanden Braheva und Lykaar nur wenig Furcht. Vielleicht lag es daran, daß ihnen das Dunkel den Blick in die Tiefe verwehrte, der sie sonst hätte strau cheln lassen. Lykaar sah auf die Füße seines Vordermanns und stieg Stufe um Stufe hin auf, ohne nach rechts und links zu sehen. Nur einmal, als er gewohnheitsmäßig Bra heva mit Blicken suchte, fiel sein Blick hin ab in die schwindelnde Tiefe – entsetzlich weit unter den Kletterern schimmerten die Lagerfeuer der Linarvos. Die nächste Bie gung aber ließ das Bild wieder eintönig wer den – schwarz in schwarz. Nach einer halben Stunde machten die Li narvos eine Pause. Es gab an dieser Stelle einen Einschnitt im Fels; dazu hatte man ei ne große Plattform herausgemeißelt. Als die Wolken ein wenig lockerer stan den, konnte Lykaar Einzelheiten sehen. Der Weg führte jetzt den breiten Felsspalt hinauf, der erst bei der Kuppelstadt ein Ende fand. Hoch über sich sah Lykaar die Kup peln leicht schimmern, wie eine Verheißung kam es ihm vor. Die Linarvos gönnten den Kletterern fast eine Stunde Rast, dann machten sie sich wieder auf den Weg. Noch immer ging es steinerne Stufen hin auf, aber sie waren jetzt breiter und weniger steil. Es schien, als hätten die Pthorer den schwersten Teil des Weges bereits hinter sich. Braheva und Lykaar allerdings wußten, daß sie den schwersten Teil noch vor sich hatten – denn mit ein wenig Pech würden sie den Rückweg bei Tageslicht antreten müs sen, und bei dem bloßen Gedanken daran wurde Lykaar fast übel vor Angst. Unterwegs verlöschten die ersten Fackeln. Sie reichten nur bis zu einer bestimmten Hö he, den Rest mußten die Aufsteigenden nach Gefühl zurücklegen. Lykaar suchte Brahevas Hand. Wechsel seitig hielten sie sich fest, als sie hinter den Linarvos hinaufkletterten. Nur die sanft schimmernden Kuppeln in Shemmas Resi
Peter Terrid denz wiesen ihnen den Weg. Es wurde heller, als sie sich der Kuppel stadt näherten. Und als sie die letzten Stufen hinaufstiegen und den großen Platz erreich ten, der das Ende der Treppe markierte, war es um die Pthorer herum fast taghell. Das Licht kam von den großen Kuppeln, ein wei ches, angenehmes Licht, das Behagen ver breitete. Lykaar schätzte, daß die Kuppelstadt fast so groß war wie Orxeya, und Orxeya war bekanntlich von allen Städten und Stätten Pthors die größte und schönste. Auf den Straßen der Kuppelstadt waren etliche Li narvos unterwegs, die sich aber um die Ptho rer nicht weiter kümmerten. »Folgt mir!« sagte der Anführer des Li narventrupps. Das Kommando setzte sich wieder in Be wegung. Es gab nicht nur die großen goldschim mernden Kuppeln in der Stadt. Überall wa ren halbkuglige Gebilde zu sehen, größere und kleinere. Es gab sie auf den Dächern, sie saßen auf kleinen Türmen. An einem, das sich nur ein paar Fuß hoch auf dem Pflaster befand, kamen die Gefangenen vorbei, und der Zufall wollte es, daß die Linarvos für einen Augenblick stoppten. Lykaar sah zur Seite. Die Halbkugel bestand aus einem gläser nen Material, das mit einem goldfarbenen halb durchsichtigen Film überzogen war. Darunter erkannte Lykaar ein klumpiges Et was, einen weißlichen Körper, darüber ein rötliches, leicht zuckendes Netz. Lykaar würgte. Er hatte sich nie dafür interessiert, nie im Leben etwas Ähnliches gesehen, aber er ahnte, was da unter der Kugel lag. So und nicht anders beschrieben Leute, die angeb lich Bescheid wußten, ein Gehirn. Lykaar warf einen hastigen Blick auf den Sockel der Kuppel. Er war undurchsichtig, bestand aus einem sehr hart erscheinenden pechschwarzen Material, das einen gläser nen Klang gab, als Lykaar einmal versuchs weise mit dem Fuß dagegen stieß.
Gefangene des Shemma Der Marsch ging weiter. Lykaar sah hastig zu Braheva. Sie hatte nichts gesehen, und wenn, hatte sie – hof fentlich, dachte Lykaar – nicht verstanden, was sie gesehen haben mochte. Lykaar fragte sich, was seine Beobach tung zu bedeuten hatte. Waren es tatsächlich Gehirne, die er gesehen hatte in der Kuppel stadt? Und wenn ja, dann stellte sich als dringendste Frage vor allem diese eine: Lebten diese Gehirne noch? Lykaar versuchte sich vorzustellen, was es hieß, nur als Gehirn weiterzuleben, ohne Körper, ohne die Möglichkeit, sich bewegen zu können. Wenn sie lebten, staken sie dann freiwil lig in den goldschimmernden Kuppeln? Auf diese Frage gab es für Lykaar nur ei ne einzige Antwort – ein klares und ent schiedenes Nein. Er konnte sich keine Lebe wesen vorstellen, die für ihre geistige und körperliche Weiterexistenz einen solchen Preis zu zahlen bereit sein konnten. Er selbst wäre lieber gestorben, als unter solchen Be dingungen weiterleben zu müssen. Infolgedessen war er sicher, daß die We sen, deren Hirne unter den Kuppeln der Stadt gefangen saßen, dort gegen ihren Wil len verharren mußten. Vielleicht gab es Be dingungen, die sie zu erfüllen hatten, damit ihnen eines fernen Tages ein gnädiger Tod gewährt wurde – ein Ende einer grausigen Sklaverei, der schlimmsten, die sich Lykaar überhaupt vorstellen konnte. Der Linarvo setzte den Marsch durch die Kuppelstadt fort. Das Bild, das die Stadt von außen geboten hatte, setzte sich in ihrem Innenbezirk weiter fort. Die Häuser waren überaus schlank und hoch, und ein großer Teil von ihnen wies an der Basis jenen schwarzgläsernen Sockel auf, den Lykaar an den Hirnkuppeln bereits entdeckt hatte. »Es gefällt mir hier überhaupt nicht«, sag te Braheva. »Glaubst du, ich fühle mich hier wohl?« fragte Lykaar zurück. »Dies ist ein Ort des Schreckens, da bin ich mir ganz sicher.«
15 Er fragte sich, ob er und Braheva jemals diesen Ort wieder würden verlassen können. Oder war ihnen das gleiche Schicksal be schieden wie jenen Unglücklichen, deren Hirn unter einer goldglänzenden Glaskuppel zuckte – Lykaar konnte den lebenden Klum pen aus geringer Nähe betrachten, als er dar an vorbeigeführt wurde. Unwillkürlich griff er an den Gürtel. Er besaß noch einen Dolch. Sein Blick wander te zur Seite. Würde er es fertigbringen, was er sich in diesem Augenblick vorgenommen hatte – zuerst Braheva, dann sich selbst zu töten, um ihr und sich ein Leben als konserviertes Gehirn zu ersparen? Lykaar hatte Zweifel – nicht daran, daß er sich selbst töten würde. Das stand für ihn unverrückbar fest. Aber er fragte sich, ob er die Kraft aufbringen wür de, auf Braheva mit einem Messer in der Hand loszugehen und sie zu töten. Mit solchen Gedanken beschäftigt, mar schierte Lykaar hinter Orthfein durch die winkligen Straßen der Kuppelstadt. Es ging dem innersten Bereich entgegen – dort soll te, wie sich Lykaar erinnerte, Shemma hau sen. Niemand kümmerte sich um die Eindring linge. Offenbar waren die Linarvos Besu cher von anderen Welteninsel gewohnt. Lykaar fragte sich, wieviele Unglückliche schon diesen Pfad des Schreckens gegangen waren, die Tausende von Stufen hinauf, an den gräßlichen Kuppeln vorbei, hin zu Shemma … Lykaar fragte sich, wie wohl der Beherr scher dieses Dimensionsfahrstuhls aussehen mochte. Welchen Charakter mußte ein We sen haben, das sich in solch einer Umgebung wohl fühlen konnte, mitten in Leid und Qual? Fand Shemma etwa Gefallen an sol chen Quälereien? Die Vorstellung schien Lykaar absurd, aber er hatte begriffen, daß ihm nicht alles Denkbare verständlich sein konnte – so blieb ihm nichts anderes übrig, als darauf zu war ten, vor Shemma geführt zu werden. Vor einer glatten schwarzen Mauer blieb
16 der Trupp stehen. Die Mauer bestand wieder aus dem gräßlichen Glas. Lykaar sah scheu um sich. Das Zentrum der Stadt war erreicht. Über der Mauer wölbte sich die größte der goldenen Kup peln. Shemmas Heim, dachte Lykaar und wunderte sich, daß er einem solchen Scheu sal unterstellte, sich irgendwo heimisch zu fühlen. Der Anführer der Truppe schlug gegen die Mauer. Ein hallender Ton erklang, laut los schoben sich Türflügel auseinander. Die Linarvos traten zur Seite. »Vorwärts!« Orthfein schlingerte sofort los. Der Boden war ebenso schwarz wie die Mauer, glatt und fugenlos. Von oben kam goldenes Dämmerlicht, das schwach den Raum erhellte. Säulen oder Einrichtungen waren nicht zu sehen. Seltsamerweise machten die Schritte der Menschen keinerlei Geräusch in der Weite der Kuppelhalle. Sie durchmaß mindestens fünfzig Meter, und das war für jemanden, der die winkligen Gassen Orxeyas gewohnt war, eine gewaltige Spannweite. Wie hoch die Halle hinaufreichte, ließ sich vom Boden aus nicht ausmachen – der Blick ertrank förmlich in dem gleichmäßigen Goldlicht, das herabschimmerte auf den schwarzen Bo den. Es war kein Schatten, stellte Lykaar fest. Die Türen schlossen sich hinter den Ptho rern lautlos. Die drei waren völlig allein. Orthfein ließ sich davon nicht beeindrucken, er marschier te in seinem unverkennbaren Watschelgang weiter, auf die Mitte der Kuppelhalle zu. Es gab dort, stellte Lykaar fest, eine Erhe bung. Eine kleinere Kuppel, die knapp zwei Meter durchmaß. Furchtsam traten Lykaar und Braheva nä her. Es war ein riesiges Gehirn, das da zu se hen war unter der Kuppel, ein weißgraues Gebilde viergeteilt, überzogen von dicken roten Blutgefäßen, die leise zuckten und bebten.
Peter Terrid In die beklemmende Stille hinein erklang die Stimme Orthfeins: »Ich darf mich vorstellen, ich bin Orth fein, der Gesandte des Robotbürgers Leon dagan.« Eine leise freundliche Stimme antwortete ihm. »Ich bin das Shemma.«
4. Von Pthor stammen sie. Zwei Lebende und eine Maschine, und sie sind allen Ernstes den weiten Weg hierher marschiert, von Pthor über Luuhr nach Klerh. Eine interessante Neuigkeit – es gibt also jenseits von Luuhr weiteres Land, das mir gehören wird. Pthor muß weit im Süden zu suchen sein, habe ich mir ausgerechnet. Und wenn seine Bewohner so sind wie diese drei, werden sie mir sicherlich keine großen oder gar unüber windliche Schwierigkeiten machen. »Was wollt ihr in Shemmas Reich?« Ich muß freundlich sprechen, das hören sie gerne. Sie werden mir sehr dankbar sein, wenn ich sie erst unterjocht haben werde. Und vorher können sie sehr nützlich sein für mich. Seltsamerweise antwortet die Maschine, als wäre sie der Anführer der drei. »Ich bin Orthfein, und ich bringe dir Grü ße von meinem Herrn, dem Robotbürger Leondagan.« »Das hast du gesagt. Ich weiß auch, daß ihr drei von Pthor kommt. Was ist Ursache und Anlaß eurer Reise?« Sie fallen darauf hinein, selbstverständ lich. Ich kann es sehen. Nichts entgeht mir, und ich verstehe alles. Ihre Gesichter sind für mich wie offene Landschaften. »Wir bringen die Botschaft des Friedens«, sagte der Robot. Eine Enttäuschung, aber vielleicht kann man noch etwas retten. Sie werden mir dienstbar sein, diese Pthorer. Im Kampf ge gen die Aufsässigen Skaharan von Luuhr werden sie zwar nicht sehr viel helfen kön
Gefangene des Shemma nen, aber vielleicht machen sie durch Zahl wett, was ihnen an Größe fehlt. Man wird sehen. »Wie lautet diese Botschaft?« Noch immer ist es der Robot, der spricht. Sein Begleiter sieht ab und zu zur Seite. Of fenkundig gehören die Begleiter des Robots zusammen. »Werft die Fesseln ab, die euch vom Dunklen Oheim auferlegt sind«, sagt der Robot. Was will er? Gegen den Dunklen Oheim rebellieren? Was für eine Frechheit! Weiß er nicht, mit wem er redet? »Und wer, wenn nicht der Dunkle Oheim, soll uns regieren, unsere Geschicke lenken fürderhin?« »Wir selbst, die Bewohner der Dimensi onsfahrstühle.« Das ist mehr als frech, das ist Verrat, ja fast schon Wahnsinn. Was fällt dieser auf sässigen Maschine ein? Als ob die Linarvos in der Lage wären, ohne meine Umsicht und Planung auszukommen. Wo ich nicht befeh le, da ist Chaos, Anarchie. »Und wer herrscht auf Pthor? Wer gibt den Bewohnern Pthors Anweisungen und Befehle?« »Niemand«, erfrechte sich der Robot zu behaupten. Er muß lügen, das steht für mich fest. Es ist völlig unvorstellbar, daß ein Gebilde wie ein Dimensionsfahrstuhl ohne Herrschaft auskäme. Nie hat man dergleichen gehört. Selbstverständlich dürfen diese drei meine Macht niemals verlassen. Sie könnten den Linarvos die wunderlichsten Lügenmärchen auftischen, wenn ich sie freiließe. Womög lich kämen sie sogar auf den Einfall, Klerh ließe sich auch ohne mich bewohnen. Lä cherlich. »Habt ihr Soldaten?« »Nein.« »Keinen einzigen?« »Die Bewohner von Pthor wissen sich ih rer Haut zu wehren«, verkündete der Robot. »Gegen jedermann.« Aha, das ist eine Spitze gegen mich. Ich
17 werde ihn langsam rosten lassen, diesen Blechkerl. Quietschen wird er vor Angst. Und diese beiden, die da stumm und dumm neben ihm stehen, sie werden ebenfalls weg geschafft. Aber vielleicht kann ich sie noch brauchen, als Studienmaterial … man wird sehen. »Ihr seid durch Luuhr gereist. Ihr habt al so gesehen, wie der Lahlogor gegen mich rüstet.« »Er behauptet, sich verteidigen zu müssen – gegen dich.« Die Stimme muß ruhig und freundlich klingen. Seltsam, daß diese Wesen sich von so etwas hereinlegen lassen. Als ob man ein Todesurteil oder eine Kriegserklärung nicht auch freundlich, ja fast liebenswürdig vor tragen könnte. »Das ist nicht wahr. Ich greife niemanden an. Man unterwirft sich mir freiwillig.« »Das wird auf Pthor nicht zutreffen«, be hauptete der dreiste Robot. »Das wird man sehen«, sage ich. Es ist wirklich ungeheuerlich, was man sich von solchen Kreaturen bieten lassen muß. Diese drei haben nicht einmal den Re spekt an den Tag gelegt, der beim Umgang mit einem Einzelwesen meiner Art ange bracht ist – schließlich bin ich nicht irgend wer. Ich bin Shemma, und ich rede mit dem Dunklen Oheim. Es ist eine Plage, daß ich mich mit diesem Gesindel von Pthorern überhaupt abgeben muß. »Wir Pthorer haben gelernt, keinen Herrn mehr zu dulden.« Es ist tatsächlich der kurze rundliche Mann, der da geredet hat. Woher bezieht der Winzling die Frechheit dazu? Jeder bessere Skahar könnte ihn zerquetschen, ein Wink an meine Linarvos genügt, und er ist in Stücke gerissen – woher also der Mut? Ist er vielleicht übergeschnappt? Auch das wäre denkbar … Eine Falle. Man hat mir eine Falle ge stellt. Das sind gar keine Pthorer. Es gibt überhaupt kein Pthor. Nichts und niemand hat jemals von Pthor gehört. Ich weiß nichts von Pthor, und was ich nicht weiß, das kann
18 es einfach nicht geben. Es sind verzwergte Skaharan, und in diesem runden Robot steckt jemand drin. Das wird es sein. Es sind geisteskranke Zwerge von Luuhr, und sie wollen mich täuschen und einlullen. Sie werden mir freundliche Dinge sagen, und dann werden sie über mich herfallen. Ha, ha, sie haben nicht mit meiner Klug heit gerechnet. Immer unterschätzen sie mich, diese Narren. Nicht einmal der Dunkle Oheim, der doch sonst soviel weiß, behan delt mich so, wie es sich gehört. Auch er täuscht sich in mir. »Recht so.« Ich muß diese drei beruhigen. Es war ein Fehler, sie so nahe an mich herankommen zu lassen. Vielleicht wollen sie mit Stangen auf mich losgehen. Diesen Wahnsinnigen ist alles zuzutrauen. »Ihr werdet mir also nicht helfen, die krie gerischen Skaharan zu bekämpfen?« Wieder ist es der Mann, der antwortet. Er fällt sogar dem Robot ins Wort. »Wir sind gekommen, den Frieden zu bringen – nicht den Krieg.« Aha, da ist es heraus. Frieden wollen sie also. Eine Änderung der vom Oheim einge setzten Ordnung. Stillstand ist ihr Verlan gen. Sie wollen nicht mehr kämpfen und sich durchsetzen, Verrat, übelster, gemein ster Verrat. Der Dunkle Oheim wird mir dankbar sein, wenn ich dieses dreiste Völk chen züchtige. »Wo sind die anderen?« »Welche anderen?« »Ihr drei seid doch nicht allein gekom men? Wo sind eure Waffen? Wo verbergt ihr die Krieger, die euch schützen sollen?« »Wir brauchen so etwas nicht. Wir ver trauen darauf, daß Gesandte unverletzlich sind.« Ein guter Spaß. Wenn ich ihm den Kopf vor die Füße legen lasse, dann wird er wis sen, wie unverletzlich er ist. Was sich diese Leute herausnehmen, ist unerhört. Es wird höchste Zeit, daß ich die schwarze Hand meiner Gerechtigkeit auf das Land Pthor lege. Zuvor aber müssen die
Peter Terrid Skaharan besiegt werden, ohne Gnade und Erbarmen. Sie trotzen mir, diese Schurken – mir, Shemma! Sie sollen nicht trotzen, lie ben sollen sie mich. Nun, man muß sie nur genügend prügeln, dann werden sie auch lie ben. Ich muß mich darum kümmern, dem nächst. Was mache ich mit diesen dreien? Sofort töten lassen? Aber vielleicht können sie mir noch nützlich sein – wenn ich gegen Pthor marschieren lasse, können sie meiner Befrei ungstruppe Wege und Stege weisen. Wenn sie gegen den Dunklen Oheim revoltieren, werden sie wohl auch ihre eigenen Leute verraten. Weg mit ihnen. Ich will sie nicht mehr se hen.
* Elian suchte Sichtschutz. Es begann hell zu werden, mit jeder Mi nute war mehr zu erkennen, und ein dunkel häutiger Dalazaare mußte hier oben gewiß auffallen. Elian warf einen Blick zurück. Er fragte sich, wie er diesen aberwitzigen Aufstieg überhaupt geschafft hatte. Es war heller Wahnsinn gewesen, diese Stufen hinaufzu klimmen, noch dazu ohne die geringste Be leuchtung. Aber er hatte es geschafft – Ah vee wäre sicherlich stolz auf ihn gewesen. Ob er sie jemals wiedersehen würde? Oben in der Kuppelstadt gefiel es Elian überhaupt nicht. Er war die feuchte Hitze des Blutdschungels gewohnt, er war ge wohnt, daß der Blick nicht weit reichte, sich im Gestrüpp und Geäst verlor. Hier aber fand der Blick keinen Halt, wohin man auch schaute – weit dehnte sich das Land, und es war entsetzlich hoch. »Immer das gleiche«, murmelte Elian. Er entsann sich seines Abenteuers auf Lu uhr – auch dort war er nächtlich hinaufge stiegen, um in eine Stadt einzudringen und seine Begleiter suchen zu können. Der Un terschied bestand jetzt allerdings darin, daß
Gefangene des Shemma Elian nicht länger daran interessiert war, Ly kaar zu töten – im Augenblick wollte er Bra heva und ihm eher das Leben retten. Eins war dem Dalazaaren auf den ersten Blick klargeworden – diese Welt war unter drückt wie keine zweite. Die Orxeyaner, an Enge und Zusammenleben unter beschränk ten Bedingungen gewohnt, mochten nicht den rechten Blick dafür haben, aber ein Dalazaare wußte sofort, wenn er ein freies, selbstbestimmtes Lebewesen vor sich hatte. Wesen, die keinen Herren über sich dulde ten, schritten anders aus, bewegten sich frei er – für solche Dinge hatte Elian ein überaus scharfes Auge. Die Linarvos waren nicht frei, das stand für den Dalazaaren fest; ihre Bewegungen verrieten völlig eindeutig, daß sie geknechtet waren. Ihr Herr konnte eigentlich nur Shemma sein, und Elian war auf der Suche nach die sem Wesen. Elian kam an einer der kleinen Kuppeln vorbei. Anders als Lykaar erkannte Elian so fort, um was es sich im Innern der Kuppeln handelte – und anders als Lykaar erschrak Elian nicht. Das Leben im Blutdschungel war für die armen Stämme von grausamer Härte und lehrte Einsicht in die seltsamsten Zusammenhänge. Anders als Lykaar konnte sich Elian sehr wohl vorstellen, nur als Ge hirn weiterzuleben – es war eine Form des Lebens, und darauf allein kam es an. Die Dalazaaren und die anderen Stämme des Blutdschungels hatten lernen müssen, unter unsagbar harten Bedingungen zu überleben, und ihnen erschien fast jedes Mittel recht, wenn es nur zu überleben half. Daß eine solche Vorstellung Elian nicht gefiel, verstand sich von selbst. Der Dalazaare verhielt sich logisch. Er suchte Shemma im Herzen der Kuppelstadt. Als es Tag wurde, begannen die goldenen Kuppeln der Stadt zu leuchten und zu glän zen. Ihr Schein verstärkte das Tageslicht, das auf die Straßen der Stadt fiel. Elian mußte sich beeilen, wenn er nicht in Bälde gesehen werden wollte. Was ihm blühte, wenn man ihn fand, wagte er gar
19 nicht erst auszumalen. Elian schlüpfte in einen Seitenweg. Eine endlos lange Gasse, die sich an einer hohen schwarzen Mauer entlangzog. Elian war sicher, daß er beinahe am Ziel war – jenseits dieser Mauer mußte Shemma zu fin den sein. Dort steckten vermutlich auch die Freunde, die Elian retten wollte. Der Dala zaare griff an den Gürtel. Dort baumelte in einer kleinen Flasche das letzte aller Gegenmittel – ein hochkon zentriertes Pflanzengift, wie es bei den Stämmen des Blutdschungels in Gebrauch war. Es gab viele solcher Gifte; die Rezeptu ren wurden von Stamm zu Stamm, von Sip pe zu Sippe verschieden angewandt, die Ein zelheiten galten als großes Geheimnis. In vielen Fällen kamen die Blutdschungelbe wohner ohne solche Mittel aus; im Kampf Mann gegen Mann verzichteten sie in aller Regel auf solche Waffen. Galt es aber, eine besonders gefährliche Kreatur unschädlich zu machen, Riesentiere oder Mitglieder der nächtlichen Horden, dann wurde ab und zu auch von Pfeilgift Gebrauch gemacht. Elian fühlte sich wohl und sicher, solange er diese kleine Flasche aus feuergehärtetem Holz an seinem Gürtel wußte – zum einen sicherte sie ihm sein Entkommen, solange er in der Hand lebender Gegner war, zum an deren gewährleistete sie ihm ein schnelles und nahezu schmerzfreies Ende, wenn es keinen anderen Ausweg gab als diesen. Elian blieb stehen. Er schüttelte den Kopf, grinste dazu und murmelte: »Ich möchte wissen, wann ich wieder nor mal laufen kann.« Er stand an einer Stelle der Mauer, an der eine gegenüberliegende Hauswand die Mau er fast berührte. Der Abstand war recht ge ring – gerade richtig, um sich mit dem Rücken gegen die Hauswand zu lehnen und sich dann in diesem Kamin in die Höhe zu schieben. Natürlich war so etwas gefährlich, spezi ell für Dalazaaren, die mit Gebirgskletterei nichts im Sinn hatten. Aber es schien keinen
20 anderen Weg ins Innere der Umwallung zu geben. Elian begann mit dem Aufstieg. Er brauchte jetzt einige Zeit etwas Glück, zum einen, um nicht gesehen zu werden, zum an deren, um nicht abzustürzen und sich den Hals zu brechen. Meter um Meter schob sich Elian in die Höhe. Einmal kamen zwei Bewaffnete vorbei, aber sie waren so mit sich selbst beschäftigt, daß sie Elian gar nicht wahrnahmen. Immer hin mußte der Dalazaare einige Augenblicke höchster Angst durchkosten. Er war schweißnaß, als er endlich oben angekom men war. Rasch turnte er hinüber zu der schwarzen Mauer. Auf der Innenseite gab es Stiegen und Stufen, die es Elian leicht machten, sich einen Weg zu suchen. Wenige Minuten spä ter war der Dalazaare leise in den Palast ein gedrungen. Ein unheilverkündendes Dämmerlicht empfing ihn. Auf den Gängen war es leer, niemand war zu sehen. Elian spürte sein Herz laut und schnell schlagen. Im Innern von Häusern fühlten sich die Blutdschungelbewohner ohnehin selten gut; sie waren es gewohnt, im unmittelbaren Kontakt zu der sie umgebenden Natur zu le ben. Dieses Gebäude aber wirkte auf Elian wie eine körperlich greifbare Bedrohung. Es war, als säße in jedem Winkel das Grauen auf Posten, nach dem Vorwitzigen zu grei fen, der sich herwagte. So leise wie möglich bewegte sich Elian durch die verlassenen Räume. Ein seltsamer Duft lag in der Luft, ein Ge ruch, der Elian vertraut erschien und ihn zu gleich abstieß. Er brauchte geraume Zeit, bis er diesen Geruch einordnen konnte – es roch nach Blut, und das war um so befremdlicher, als Boden und Wände von fleckenloser Sau berkeit waren. Elian konnte nicht ausschlie ßen, daß er sich diesen Geruch nur einbilde te – gleichsam als Ergänzung zur Atmosphä re, die diese Räume besaßen. Man konnte
Peter Terrid sich nicht vorstellen, daß hier jemand lebte – jemand, der Freude an Farben und Bewe gung empfand, an Klängen und ästhetischen Kompositionen. Wenn es einen Götzen gab, der in diesen Räumen angebetet und gepriesen wurde, dann war es der Dämon der Macht. Ihm schien alles Untertan zu sein. Elian erreichte einen hochgewölbten Kup pelsaal, den er aber vorsichtshalber gar nicht erst betrat. Der Raum schien ihm nicht ge heuer. Elian blieb am Rand stehen, er suchte nach einem Hinweis auf den Verbleib der Freunde. Aus einem anderen Gang näherten sich einige Robots der Kuppel in der Mitte der großen Halle. Elian sah zu, daß er verschwand. Er fand eine Treppe, die ein paar Stufen hinab führte. Auch dort war niemand zu se hen. Kalt und still war es in dem seltsamen Pa last. Irgendwie machte die Atmosphäre der Bedrückung das Atmen schwer. Elian huschte weiter. Er entdeckte einen Raum, der nicht verschlossen war. Ge räuschlos schlüpfte Elian hinein. Dann stieß er einen Laut der Zufrieden heit aus. Er hatte die Freunde gefunden.
5. Der Dalazaare hoffte, daß sie noch lebten, obwohl es nicht danach aussah. Elian stand unter einer großen Kuppel, die erfüllt war von einem halbtransparenten leuchtenden Gebilde in Rot. In dieser ener getischen Struktur waren Körper zu erken nen, große und kleine, die verschiedenartig sten Geräte und Lebewesen. Reglos hingen die Körper in der Luft, auch die Lebewesen rührten sich nicht um Haaresbreite. Es sah aus wie ein Arsenal. Elian verbesserte sich: wie eine Art Rum pelkammer. Es gab weder Sinn noch Ord nung in dieser Halle.
Gefangene des Shemma »He, du!« Die Stimme war leise. Sie klang freund lich. Elian zuckte zusammen. Er sah sich um. Niemand war zu sehen, der diese Anrede ausgesprochen haben konnte. »Ich rede mit dir, Fremder.« »Wer bist du?« wollte Elian sagen, aber er brachte keinen Laut über die Lippen. »Yumingo!« bekam er zur Antwort. Elian zuckte wieder zusammen. Panik überfiel ihn. Er hatte sagen hören, daß es so etwas gä be, aber niemals hatte er sich träumen las sen, daß jemand tatsächlich … Götter der Tiefe, wie verhindert man, daß man dachte, daß man nicht … Nein, er wollte nicht an solche Dinge … es war wie verhext … sie ließen sich einfach nicht beiseite drängen, diese Gedanken. »Du kannst beruhigt sein, Elian«, sagte die freundliche Stimme. »Ich vermag nur zu erfassen, was du als Gedanken klar formu lierst – was im Innern deiner Seele vorgeht, vermag ich nicht zu erfassen, geschweige denn zu deuten und zu werten. Also habe keine Angst. Im übrigen könnte ich dich auch gar nicht verstehen – ich bin von ande rer Art als du.« Elian sah sich scheu um. »Wo bist du?« Er sprach den Gedanken vorsichtshalber aus. »Ich hänge in diesem Kator-Feld fest. Die Linarvos nennen diesen Ort die Kuppel der Ewigen Stille.« »Das stimmt«, sagte Elian. Außer seiner Stimme war kein Laut zu hören, nicht einmal Maschinengeräusche oder das Atmen der vielen, die hier einge kerkert waren … »Für alle Ewigkeit«, beantwortete Yumin go Elians unausgesprochene Frage. »Verzeih, deine Botschaft war zu deutlich.« »Schon gut«, sagte Elian. Der Dalazaare besaß ein gesundes Selbstvertrauen und wurde daher mit den veränderten Bedingun gen rasch fertig. Wenn es Wesen gab, die in
21 seinem Hirn herumspionieren konnten, mochten sie. Was er zu verbergen hatte, war nicht übler als die geheimen Gedanken an derer. Neues würde Yumingo da nicht fin den können. Unterdessen hatte sich Elian umgesehen. Orthfein war wegen seiner Gestalt un schwer zu finden gewesen, und in seiner Nä he waren auch die beiden anderen Pthorer zu erkennen. Braheva und Lykaar schwebten im Kator-Feld, die Augen waren geschlos sen. Die Gesichter waren ruhig und unver krampft – aber das bedeutete wahrscheinlich nicht, daß sich die beiden in dieser lautlosen Gefangenschaft wohl fühlten. »Hilf mir.« »Wie könnte ich das?« wollte Elian wis sen. An der Seite des Raumes, entlang der Wand, waren Schaltpulte zu erkennen. Ver mutlich wurde das Kator-Feld von dort aus gesteuert und geregelt. Elian half die Erkenntnis nicht viel. Er verstand von technischen Dingen nichts; mit so etwas gab man sich im Blutdschungel nicht ab. Elian kam zu der schmerzlichen Einsicht, daß er zwar die Vermißten gefun den hatte, aber außerstande war, ihnen zu helfen. »Hilf mir aus dem Kator-Feld«, bat Yu mingo. Elian hätte gern gewußt, wer dieser Yu mingo eigentlich war. Etwa das langbeinige Spinnenwesen hoch unter der Decke? Oder die flache, geschuppte Kreatur ein wenig da von entfernt? Oder jenes wunderschöne Flü gelwesen mit den buntschillernden Flügeln? »Das kann ich nicht«, sagte Elian traurig. »Ich würde dir helfen, schon um meine Freunde befreien zu können. Aber ich weiß nicht, was ich tun sollte.« »Ich werde dir raten«, sagte Yumingo. »Ich habe aufgepaßt, ich weiß, wie man die Instrumente bedienen muß.« Elian biß sich auf die Unterlippe. »Wir können es versuchen«, sagte er und trat an das Schaltpult. Den Sinn und Zweck der vielen Hebel und Schalter begriff er
22 nicht. Er konnte nur hoffen, daß Yumingo sich nicht irrte – und daß es sich auch nicht um eine infame Falle handelte. »Siehst du den Hebel dort, ja den, ganz links. Drücke ihn ein wenig nach rechts. Richtig so. Und jetzt ein Stück nach vorn, nein, nicht so viel.« Elian schielte über die Schulter hinweg nach oben. In dem Kator-Feld tat sich nichts. Irgendwo flimmerte ein Leuchtpunkt, aber darum kümmerte sich Elian nicht. »Noch ein wenig. Recht so. Und jetzt drücke den Hebel ein wenig – nur ein wenig in das Gerät hinein. Herrlich machst du das, nur weiter so! Und jetzt suche einen Knopf mit einer gelbroten Oberfläche, nein, nicht den, einen anderen. Und jetzt drückst du den Knopf.« Elian zögerte. Er ahnte eine Teufelei. »Ich bin dein Freund«, sagte Yumingo, der genau zu wissen schien, was für Gedan ken der Dalazaare hegte. Elian drückte den Knopf. Einen Augenblick später griff er nach sei nem Messer. Keinen Augenblick zu früh, denn aus der Höhe der Kuppel löste sich ein Körper und kam auf Elian zugeschossen. Jetzt wußte Elian, wer Yumingo war – die flache Schuppenkreatur, von der weiter nichts zu sehen war als der platte Leib und ein Kiefer, der sich in diesem Augenblick öffnete und eine beeindruckende Zahnreihe sehen ließ. »Hahaha!« gellte das Gelächter Yumingos durch die Halle. »Du Narr.« Elian suchte festen Halt und trat zu. Er erwischte den Angreifer im bestmögli chen Augenblick. Elians Fuß traf mit voller Wucht den Kopf Yumingos, und etwas im Körper des Angreifers knackte leise. In Elians Kopf gellte ein schrilles Schmerzens geschrei. Elian zögerte nicht lange. Er ahnte, daß ihm in diesem Wesen ein mordlustiger Feind erwachsen war, dem man keine zweite Gele genheit geben durfte. Elian hob den rechten Arm und stach
Peter Terrid nach Yumingo. Von der hochelastischen Haut des Angreifers prallte die Waffe jedoch ab, und Elian hatte noch das Glück, daß er seitlich abrutschte und sein Schwung so zur Seite ging; andernfalls hätte ihm der federn de Widerstand auch einen Armbruch eintra gen können. Elian wurde vom Schwung seiner Attacke nach vorn gezogen. Er strauchelte und fiel der Länge nach auf den Boden. Yumingo fackelte nicht lange. Blitz schnell schob sich der lebende Fladen über den Dalazaaren. Aber Elian hatte aufgepaßt. Die Klinge seines Messers ragte nach oben, und auf der Unterseite seines Leibes war Yumingo er heblich leichter verwundbar als auf der Oberseite. Gelbes Blut floß, Yumingo schrie und zuckte zur Seite. Einen neuen Angriff wagte der lebende Fladen nicht. Elian sah, wie er aus der Halle herausglitt, wobei sich sein Körper mit er staunlicher Geschwindigkeit wellenähnlich vorwärts bewegte. »Elender Verräter!« schimpfte Elian. Er versuchte sich zu erinnern, was Yu mingo ihm beigebracht hatte. Viel war es nicht – der Fladen hatte sich sogar bemüht, seine Hinweise ein wenig zu verschlüsseln. Dann fiel Elian auf, daß der leuchtende Punkt – ein gelber Punkt im roten KatorFeld – den Standort gewechselt hatte. Der Punkt strahlte nun genau da, wo gerade noch Yumingo gehangen hatte. Der Dalazaare überlegte sich, daß er mit dem Hebel ver mutlich die Bewegung dieses Leuchtpunkts gesteuert hatte, der Knopfdruck hatte dann die Wirkung der energetischen Fesselung in der Nähe des Leuchtpunkts aufgehoben. Da durch war Yumingo frei geworden. Elian griff wieder nach dem Hebel. Tatsächlich, der Leuchtpunkt wurde von dem Hebel gesteuert. Es war, wenn man es einmal herausgebracht hatte, gar nicht schwierig. Elian steuerte so, daß er Orthfein erreichte, dann drückte er den ominösen Knopf. Ein paar Augenblicke später glitt der
Gefangene des Shemma pthorische Roboter langsam auf den Boden. Orthfeins Stimme war plötzlich zu hören. »Eine unglaubliche Frechheit ist das«, schimpfte der Gesandte. »Was fällt diesem Monsterhirn ein, einen Gesandten Pthors einfach festzusetzen. Ich werde mich be schweren.« Elian verzichtete auf die naheliegende Frage, ob Orthfein seine Beschwerde viel leicht dem Dunklen Oheim selbst vortragen wollte. Der Dalazaare wollte so schnell wie möglich aus der Kuppelstadt verschwinden, sie war ihm überhaupt nicht geheuer – und obendrein lief draußen ein Gefangener her um, der unberechenbar war. »Laß Braheva und Lykaar frei«, bestimm te Orthfein. »Und dann wirst du dieses Ding dort frei machen.« »Fällt mir gar nicht ein«, erklärte Elian. Er sah nicht ein, was Orthfein mit dem zu sammengeballten Klumpen wollte. Wäh renddessen sorgte der Dalazaare dafür, daß die beiden Orxeyaner endlich befreit wur den. Der Blick, den Lykaar dem Dalazaaren nach der Befreiung zuwarf, sprach Bände – Lykaar hätte aus Dank alles gegeben, von Braheva selbstverständlich abgesehen. »Und jetzt das Bündel«, bestimmte Orth fein. »Laß uns von hier verschwinden«, stieß Lykaar hervor. »Mir reicht es – dieses Ge hirn ist übergeschnappt und größenwahnsin nig, und glaubt mir, als Orxeyaner kann ich beurteilen, ob einer meint, was er sagt, oder nicht. Dieses Shemma meint das, was es von sich gibt – wir müssen so schnell wie mög lich dafür sorgen, daß dieses größenwahn sinnige Geschöpf ausgeschaltet wird, bevor es alle anderen Dimensionsfahrstühle über fällt und unterwirft.« »Zuerst möchte ich dieses Ding haben«, erklärte Orthfein beharrlich. »Was liegt daran?« wollte Elian wissen. Orthfeins Antwort riß ihn fast von den Beinen. »Ich habe dieses Ding schon einmal gese hen, auf elektronischen Bildern«, verriet Or thfein. »Es ist das Goldene Vlies.«
23 Lykaar kicherte hemmungslos. »Wie sollte das hierher kommen?« fragte er. Das Goldene Vlies war ein Gegenstand der Sagen und Märchen, aber kein reales Ding – so dachte der Orxeyaner. »Alles muß ich selbst machen«, maulte Orthfein. Elian kam ihm zur Hilfe. Die Zeit dräng te. Früher oder später mußte Shemma mer ken, was in seinem Verlies vor sich gegan gen war, und danach jagten alle erreichbaren Linarvos vermutlich hinter den Dieben her. Außerdem bestand die Gefahr – Elian merk te es, als er Orthfein hantieren sah –, daß der Wolterhavener nur Unheil anrichtete. Sie brauchten nur kurze Zeit, dann lag der goldene Anzug auf dem Boden; ein unbe schreibbares Kleidungsstück, aber in Orth feins Augen der größte nur denkbare Schatz. Hastig nahm der Robotbürger den Anzug an sich. »Und die anderen?« fragte Elian und deu tete auf die restlichen Gefangenen des Ka tor-Feldes. »Möchtest du noch ein paar Flugfladen befreien?« fragte Orthfein. »Ich habe gesehen, was du angerichtet hast. Es ist besser, wir verschwinden hier.« Die Pthorer machten sich auf den Weg. Elian führte sie. Noch immer waren keine Wachen zu er kennen. Offenbar vertrauten die Linarvos auf die Wachsamkeit des Gehirns – und Shemma wiederum verließ sich wahrschein lich auf die Linarvos. »Man müßte dieses monströse Hirn abtö ten«, sagte Lykaar unterwegs. »Es ist eine furchtbare Gefahr für alle Lebewesen, mit seiner unglaublichen Machtgier.« Elian blieb stehen. »Das ließe sich machen«, sagte der Dala zaare, »aber es ist gefährlich.« »Wir wagen es«, entschied Lykaar. »Auf gar keinen Fall dürfen wir zulassen, daß das Gehirn Krieg nach Pthor trägt – und das wird es früher oder später tun. Mir ist der Lahlogor mit seiner Skaharan-Truppe ent schieden lieber als das Shemma mit seinem
24 Blumenidyll.« Elian griff an den Gürtel. Er wußte, daß im benachbarten Raum das große Gehirn zu finden war – vermutlich das wichtigste Gehirn in diesem Verbund. Elian spähte um die Ecke. Ein halbes Dutzend Li narvos war damit beschäftigt, das Gehirn zu umsorgen. Und noch eines entdeckte Elian – die goldene Kuppel über dem Zentralgehirn war geöffnet worden. Das Shemma-Hirn lag frei. Elian handelte mit der Schnelligkeit, die für einen Dalazaaren typisch war. Er zauberte die kleine Flasche mit dem Pfeilgift hervor, während er mit der linken Hand nach einem winzigen Pfeil griff: Das Blasrohr war nicht mehr als eine unterarm lange hellbraune Hülse, die an Elians Gürtel herabbaumelte und ziemlich harmlos aussah. Jetzt ließ aber der Dalazaare die restlichen Pfeile aus der Öffnung des Blasrohrs heraus gleiten, das als Köcher und Rohr zugleich diente. Nur einen der Pfeile behielt Elian in der Hand. An der nadelfeinen Spitze glänzte ein kleiner Tropfen des zähflüssigen Giftes. »Was hast du vor?« fragte Braheva erregt. Elian entfernte den Deckel vom Blasrohr und führte den Pfeil ein. Er zielte nur sekun denlang, dann verließ das winzige Geschoß das Rohr. »Getroffen«, sagte Elian halblaut. »Und jetzt so schnell wie möglich weg von hier, bevor die Hölle losbricht.« »Und was passiert mit Shemma?« Elian hatte die kleine, aber sehr gefährli che Waffe fallen gelassen. Im Laufen ver suchte er zu erklären. »Das Gehirn wird vergiftet. Möglich, daß es das Gift aushält, dann haben wir Pech ge habt. Wahrscheinlicher ist, daß das Gift in den nächsten Stunden seine Wirkung tut.« »In Stunden erst?« Elian nickte. »Ich habe gesehen, daß die Gehirne in der Kuppelstadt alle auf diesen schwarzen Sockeln stehen, und ich vermute, daß sie miteinander verbunden sind. Das ergibt ins gesamt einen riesenhaften Gehirnkomplex,
Peter Terrid und da wird es dauern, bis unser Pfeilgift wirkt! Normalerweise wäre ein Mensch so fort tot.« Die Pthorer rannten, so schnell sie konn ten. Sie stoppten erst, als der Alarm durch die Räume des Kuppelpalastes raste. Shemma war erwacht und hatte die Lage begriffen. Jetzt ging es um Leben und Tod, und es kam auf jeden Augenblick an. »Folgt mir«, stieß Elian hervor. »Ich ken ne einen Weg.« Die Pthorer hatten Glück. Der Weg, der Elian in den Palast hineingeführt hatte, war verlassen. Und unten auf der engen Straße war niemand zu sehen. »Da hinunter?« fragte Lykaar augenrol lend. Er und Braheva waren extrem hö henängstlich, und die Vorstellung, den en gen Schacht hinabzuklettern, noch dazu oh ne Hilfsmittel, erschreckte sie. Hinter sich aber wußten sie Shemmas Wut und die auf gebrachten Linarvos, und dieses Argument ließ die Furcht vor der Tiefe kleiner werden. Sie brauchten dennoch fast eine Viertel stunde, um den Abstieg zu bewerkstelligen. Danach blieben die Flüchtigen erst einmal stehen. Die Kuppelstadt war in heller Aufregung. Überall erklangen laute Stimmen, Befehle wurden geschrien und offenbar nicht be folgt, aus Lautsprechern erklangen weitere Anordnungen … »Es ist Shemma, dessen Stimme wir aus den Lautsprechern hören können«, sagte Ly kaar, der ein gutes Gehör hatte. »Das Gehirn lebt noch.« »Kommt hierher!« rief Elian gedämpft. »Ich habe ein Versteck gefunden. Wir müs sen warten, bis der Abend aufgezogen ist. Nur in der Dunkelheit können wir die Stadt verlassen.« Lykaar dachte an die endlos lange Treppe, die hinabführte zum Boden, und ihm wurde übel beim bloßen Gedanken an die Nacht. Elian führte die kleine Truppe in einen dunklen Gang hinein. Plötzlich blieb der
Gefangene des Shemma Dalazaare stehen. »Was gibt es?« Leise antwortete Elian auf Lykaars Frage: »Ich bin auf einen Körper gestoßen. Hier liegt ein Toter, ein Linarvo.« Lykaar drän gelte sich an Braheva vorbei nach Vorn. Er kniete neben Elian nieder. »Tot sagtest du?« »Ermordet«, stieß Elian hervor. »Hier, fühl das …« Lykaar betastete behutsam den Körper. Er war noch tageswarm, der Linarvo konnte al so erst vor kurzer Zeit gestorben sein. In der Hand hielt der Tote ein Schwert. Es hatte ihm nicht genutzt. »Yumingo!« stieß Elian hervor. »Der le bende Fladen – er hat den Linarvo auf dem Gewissen.« »Und uns wird man dafür steinigen«, murmelte Lykaar. Er versuchte sich an Yumingo zu erin nern. Er hatte das seltsame Lebewesen nur für einen Augenblick gesehen, als man ihn und Braheva in das Fesselfeld gesteckt hatte. Ein seltsames Tier, dachte Lykaar. Wo mochte es leben und wovon mochte es sich ernähren …? Lykaar griff nach Elians Arm. »Freund«, sagte der Orxeyaner eindring lich. »Wir müssen uns sputen. Wir haben keinen einzigen Augenblick mehr Zeit.« »Was ist los?« fragte Elian. »Wo würdest du ein Lebewesen wie Yu mingo ansiedeln? Und für was für eine Art Lebewesen hältst du den Fladen?« »Die zweite Frage ist einfach zu beant worten«, sagte Elian. »Eine höchst gefährli che Kreatur. Ich glaube, sie kann es mit etli chen Biestern aufnehmen, die wir im Blutd schungel haben.« »Das denke ich auch«, sagte Lykaar. Er hatte eine rauhe Stimme, das verriet seine Erregung. »Und wo würdest du ihn ansie deln?« »Auf Pthor?« Lykaar gab keine Antwort. Dann stöhnte Elian auf. Der Dalazaare hatte begriffen.
25 »Heiliges Himmelslicht!« Unwillkürlich hatte er wie Lykaar nach einem ausgedehnten Sumpfgebiet als Le bensraum für Yumingo gesucht. Auf Pthor gab es so etwas nur in beschränkter Größe. Aber auf Luuhr – der riesenhafte undruch dringliche Morast, der der Landbrücke vor gelagert war. Wenn es Yumingo schaffte, dieses Feuchtgebiet zu erreichen, war Luuhr ret tungslos verloren. In den grundlosen Morästen hatten die Skaharan keinerlei Chancen, Yumingo je mals zu stellen – und wenn es diesem Lebe wesen gelang, sich dort zu vermehren, dann war keiner mehr auf Luuhr seines Lebens si cher. In den Sümpfen konnten ganze Gene rationen von Yumingos ungestört heran wachsen – bis zu dem Tag, an dem sie aus schwärmen und Luuhr erobern konnten. »Vorwärts!« stieß Elian hervor.
6. »Ich bin am Ende meiner Kräfte«, mur melte Braheva. Sie lehnte sich gegen Lykaar, um nicht umzufallen. Seit drei Tagen waren die Ptho rer unterwegs, sie hatten sich keine Pause gegönnt. Sie wußten, daß sie eine ungeheure Gefahr abzuwenden hatten und daß hinter ihnen das tobende Shemma nach ihnen such te. Das Gift hatte bereits zu wirken begon nen, wahrscheinlich würde es erst nach sehr langer Zeit zum Tod des Shemma führen. Einstweilen verwirrte es das Gehirn und sorgte so für die Lücken, die die Pthorer brauchten, um überhaupt überleben zu kön nen. Überall im Lande Klerh schwärmten die Linarvos aus, um nach den Flüchtigen zu suchen, immer wieder aufgescheucht und behindert durch einander widersprechende Anweisungen aus der Kuppelstadt. Es war Abend. Das Gebirge, das Klerh und Luuhr voneinander schied, war nahe. Und hinter sich, weit entfernt, konnten die Pthorer über dem Goldschein der Kuppeln
26 die Luft flimmern und flirren sehen. Ab und zu mischte sich ein rötlicher Ton in das strahlende Gold. Lykaar hatte das Bild auf seine Weise gedeutet – in der Kuppelstadt tobten Brände, die Herrschaft der Gehirne über das Land neigte sich dem Ende zu. Um eine Sorge leichter war daher der Vormarsch der Pthorer. Aber die Gewißheit, daß von Klerh keine Gefahr mehr drohte, zählte wenig, mit der ungeheuren Bedro hung verglichen, die Luuhr von Yumingo drohte. Denn Lykaar hatte, seiner angeborenen Vorsicht folgend, den Gedanken weiter ge sponnen. Der Lahlogor konnte sehr leicht auf die Idee kommen, daß genau das die Absicht der Pthorer gewesen war – Yumingo nach Luuhr einzuschleusen. Womöglich kamen die Ska haran auch noch auf den unseligen Gedan ken, sich für den Verlust ihres Dimensions fahrstuhls frühzeitig an Pthor schadlos zu halten – und daß das leidgeprüfte Pthor kei ne Chance hatte, dem Ansturm der riesen haften Skaharan-Krieger standzuhalten, ver stand sich von selbst. »Wir müssen weiter«, sagte Lykaar halb laut. Er war selbst ausgezehrt bis an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit, aber ihn trieb der Wille vorwärts, die sich abzeich nende Katastrophe für Pthor aufzuhalten. Natürlich hätte es Alternativen gegeben – er hätte sich mit Braheva davonmachen kön nen. Bis Shemma oder Yumingo alle Di mensionsfahrstühle verwüstet haben konn ten, mußte viel Zeit vergehen. Die beiden Orxeyaner wären vermutlich nicht alt genug geworden, um dieses Ende miterleben zu müssen. Aber da war auch das Kind, das Braheva erwartete, und für beide war die Vorstellung unerträglich, immerzu auf der Flucht leben zu müssen. »Wie sieht es aus?« fragte Elian. »Schafft ihr es?« »Wir müssen«, antwortete Lykaar. »Was bleibt uns anderes übrig?« Bald mußte die Grenze erreicht sein. Von Yumingo fehlte jede Spur. Einmal hatten die
Peter Terrid Pthorer den lebenden Fladen gesehen, nur für ein paar kurze Augenblicke. Normaler weise kroch Yumingo am Boden entlang, aber er war auch imstande, seine Körper wie Vogelflügel schlagen zu lassen und sich in einem wackligen Flugmanöver knapp zwei Meter über den Boden zu erheben. Dann entwickelte er eine beachtliche Geschwin digkeit. »Ob er vor oder hinter uns steckt, wüßte ich gern«, sagte Elian. »Das wird davon abhängen, was Yumingo vorhat«, antwortete Lykaar. Es war gut zu reden; das lenkte von den schmerzenden Gliedern und der bleiernen Müdigkeit ab. »Vielleicht will er so schnell wie möglich den Sumpf erreichen, vielleicht plant er auch, uns zu töten – wir sind immerhin die einzigen, die verraten könnten, wohin er sich gewendet hat.« »Was meinst du dazu, Orthfein?« fragte Elian. Der pthorische Robot trug zusammen gebündelt das Goldene Vlies und hütete es wie sein Leben. »Ich weiß nur, daß wir das Goldene Vlies schnellstens zu Atlan bringen müssen«, sag te Orthfein. »Die neuen Herren in der FE STUNG müssen sich damit beschäftigen.« »Wenn es diese Herren überhaupt noch gibt«, murmelte Lykaar pessimistisch. In dem trüben Licht des heraufziehenden Abends ließ der Weg sich nur mit Mühe er kennen. Schon wälzten sich erste Nebel schwaden über die Steine und schränkten die Sicht noch mehr ein. Aus diesem Nebel heraus kam Yumingo angerast. Der Angriff kam überfallartig, und keiner der vier war darauf vorbereitet. Elian, der voranging, wurde als erster ge troffen. Yumingos Körper prallte gegen ihn, der Dalazaare flog zur Seite. Der Schmer zenslaut, den er dabei ausstieß, bewies, daß Yumingo ihn verletzt hatte. Polternd kippte Orthfein um, als das Fladenwesen seinen Körper gegen den stähler nen Leib des Robots warf. Für Lykaar blieben nur ein paar kurze Au
Gefangene des Shemma genblicke. Er warf sich mit aller Kraft gegen Braheva. Die Frau kippte zur Seite. Sie schlug hart auf, überschlug sich und rollte ein Stück weg. Dann war Yumingo heran. Lykaar spürte, wie etwas in seiner Ma gengrube einschlug. Eine Kante von Yumin gos Leib hatte ihn getroffen. Der Schmerz ließ Lykaar fast bewußtlos werden. Er krümmte sich zusammen. Der nächste Angriff warf ihn von den Beinen, er fiel auf den Rücken und blieb einige Augen blicke schmerzverkrümmt liegen. Unterdessen warf sich Yumingo wieder auf Elian. Im Dämmerschein konnte Lykaar nur wenig sehen, nicht zuletzt, weil vor sei nen Augen Schmerzschleier das Bild trüb ten. Aber er erkannte, wie Yumingo sich ge gen Elian warf und den Körper des Dalazaa ren gegen einen Fels schleuderte. Danach blieb Elian reglos liegen. Braheva, dachte Lykaar. Das Kind. Er konnte kein Glied rühren, dafür war der Schmerz in seiner Magengrube viel zu stark. Er hoffte, daß Braheva ohnmächtig war oder sich tot stellte, vielleicht verschon te Yumingo sie dann. Es war gespenstig still geworden. Yumingo wurde langsamer. Er ließ sich auf den Boden gleiten und kroch zu Orthfein hinüber. Der Robot war völlig hilflos, er lag auf dem Rücken in einer Felsspalte, und we der seine Beine noch seine Arme fanden ir gendeinen Halt. Yumingo wälzte sich über den metallenen Leib des Robots. Lykaar konnte sehen, daß Orthfein immer noch fest das Bündel um klammert hielt. Eine halbe Minute verging, dann löste Yumingo sich wieder von Orthfein. Es hatte sich nichts verändert. »Du bist wach? Dann hilf mir!« Die Stimme schien mitten in Lykaars Schädel zu klingen. Er zuckte zusammen. »Dein Freund und deine Gefährtin sind ohne Bewußtsein, vielleicht tot«, sagte Yu mingo. Die Stimme war leise und ange nehm, fast zärtlich.
27 In Lykaar verkrampfte sich alles. Braheva tot? »Du wirst mir helfen, nicht wahr? Sonst werde ich deine Gefährtin töten.« Lykaar versuchte sich zu erinnern, wie Braheva gestürzt war. Sie konnte tatsächlich mit dem Hinterkopf irgendwo aufgeschlagen sein – hatte er sie mit seinem Manöver um gebracht? Bittere Zweifel quälten Lykaar; an Yumingo dachte er erst wieder, als sich der Fladen telepathisch meldete. »Steh auf und sieh nach, und dann wirst du mir helfen!« Lykaar erhob sich mit müden, schmerzen den Gliedern und einer gräßlichen Angst im Herzen. Braheva lag zehn Schritte von ihm entfernt. Sie rührte sich nicht, und Lykaar erkannte voller Schrecken, daß ihr Gesicht blutverschmiert war. Er griff nach Brahevas Hals. Die Schlagader pulste gleichmäßig und kräftig unter seinen Fingerkuppen. Bra heva lebte noch, und Lykaar stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Komm her!« Langsam ging Lykaar zu Yumingo hin über. Das Fladenwesen lag neben Elian auf dem Felsboden. Lykaar untersuchte auch den Dalazaaren. Er war ohne Bewußtsein. Ob er innere Verletzungen davongetragen hatte, konnte Lykaar nicht feststellen. »Nun?« »Sie leben beide«, sagte Lykaar. »Und was willst du nun von uns? Warum über fällst du uns?« »Kannst du mit der Maschine reden?« »Das kann ich.« »Dann sag ihr, sie soll tun, was ich sage. Ich will den Anzug haben.« Lykaar ging zu Orthfein hinüber. »Endlich«, sagte der Robot. »Hilf mir auf, ich bin gestürzt.« »Ich glaube nicht, daß Yumingo das zu lassen wird«, sagte Lykaar. »Er verlangt das Goldene Vlies.« »Woher weißt du das? Ich habe nichts ge hört.« »Er ist telepathisch veranlagt«, erklärte Lykaar. »Er hat mir zu verstehen gegeben,
28 daß er das Goldene Vlies haben will.« »Kommt nicht in Frage.« »Was sagt er? Gibt die Maschine den An zug heraus?« Lykaar zögerte einen Augenblick. »Orthfein weigert sich«, sagte er dann. In Lykaars Schädel entstand ein Laut höchster Wut. »Wenn er sich weigert, werde ich euch al le töten«, sagte Yumingo. »Ohne Ausnahme. Sage ihm das.« Lykaar hatte mit diesem Manöver gerech net. Er schielte zu Braheva hinüber, die sich noch immer nicht rührte. »Yumingo will uns töten, wenn du den Anzug nicht hergibst«, sagte Lykaar. »Und ich glaube, er meint es ernst.« »Ich zweifle nicht daran«, sagte Orthfein. »Trotzdem …« »Du willst zulassen, daß er uns umbringt, nur wegen dieses vermaledeiten Anzugs?« »Der Anzug der Vernichtung ist eines der größten Geheimnisse überhaupt – er ist weit wichtiger als ein paar Einzelpersonen.« »Eine feine Logik«, knurrte Lykaar. »So ungefähr würde auch der Dunkle Oheim re den.« »Was ist? Gibt er den Anzug her?« »Er weigert sich noch immer«, sagte Ly kaar. »Aber warte, ich werde mit ihm re den.« »Beeile dich«, sagte Yumingo. Noch im mer klang die Stimme freundlich und sanft. »Ich habe nicht viel Geduld.« »Orthfein«, drängte Lykaar. »Sei nicht verrückt, gib den Anzug her. Der Herr Leon dagan wird mit dir böse sein, wenn er er fährt, daß du wegen des Anzugs vier Men schenleben geopfert hast.« »Drei«, verbesserte Orthfein. »Indessen macht die Zahl nichts aus. Frage diesen Yu mingo, woher er den Anzug kennt und wie er in das Feld gekommen ist.« Die Unterhaltung wurde immer grotesker. Lykaar hätte sich die Haare raufen mögen. Da unterhielten sich zwei grundverschiedene Wesen über einen Anzug, und gleichzeitig ging es dem Dolmetscher dieser Unterhal
Peter Terrid tung an den Kragen. Jedes Wort, das Lykaar übersetzte, konnte ihn das Leben kosten. Dennoch trug er Yumingo die Bitte des Robots vor. »Warum will er das wissen?« »Er ist neugierig, und die Information ist für ihn von großer Wichtigkeit.« Yumingo gab einen telepathischen Laut des Unwillens von sich. »Genau weiß ich es auch nicht«, sagte das Fladenwesen. »Ich kann nur vom Hörensa gen berichten.« »Tu das!« »Es heißt«, begann Yumingo, und Lykaar wiederholte jedes telepathisch aufgefangene Wort in gutem Pthora, um Orthfein die Bot schaft weitergeben zu können. »Es heißt, daß eines Tages ein Raumschiff auf Klerh gelandet ist, das zwei Fremde an Bord hat te.« »Wie sahen die Fremden aus?« »Das weiß ich nicht. Die Fremden such ten auf Klerh nach einem Freund, den sie aber nicht finden könnten, weil sie den falschen Dimensionsfahrstuhl erwischt hat ten. Der Freund muß anderswo leben.« »Weiter!« »Für Shemma wurden die Fremden sehr bald zu einem großen Ärgernis, denn sie versuchten, die Linarvos und einige kleinere Völkerstämme auf Klerh zum Aufstand ge gen das Shemma zu bewegen, und teilweise ist ihnen das auch gelungen.« »Hat Shemma die Fremden fangen kön nen?« »Anfangs nicht; sie sind ihm, so heißt es, immer wieder entwischt. Eines der Wesen muß ein Dieb gewesen sein, ein sehr seltsa mer obendrein, denn der Fremde stahl wahl los die seltsamsten Dinge. Eines Tages muß dieser Dieb einen Fehler gemacht haben. Er hat nämlich aus der Kuppel der Ewigen Stil le ein Lebewesen gestohlen, das bei seinem Erwachen alle anderen Lebewesen im Um kreis in einen hypnotischen Schlaf versetzt hatte.« »Kennst du dieses Hypno-Wesen?« »Das war vor meiner Zeit«, berichtete
Gefangene des Shemma Yumingo. »Genügt das? Ich will endlich den Anzug haben.« »Du hast noch nicht berichtet, wie der Anzug in die Kuppel gekommen ist.« »Nun, Shemma hatte die Fremden in ih rem Schiff eingesperrt und alles unter einer Kator-Kuppel eingesperrt. Die HypnoKreatur hat Shemma allerdings aus dem Schiff genommen, und das war wohl der entscheidende Fehler. Plötzlich hat sich nämlich das Schiff der Fremden mit den In sassen aufgelöst und war verschwunden. Niemand hat jemals wieder etwas von ihnen gehört.« »Und du kennst nicht die Namen?« »Nein, ich weiß sie nicht. Und jetzt gib den Anzug her.« »Wie kam er in Shemmas Besitz?« »Die Fremden haben ihn zurückgelassen, sie haben ihn, bevor sie verschwanden, aus einer Schleuse ihres Schiffes gestoßen. Ge nügt dir das, Orthfein?« »Ich danke dir sehr für die Information, Yumingo«, ließ Orthfein durch Lykaar er klären. »Und? Bekomme ich den Anzug jetzt?« »Selbstverständlich nicht.« »Dann werde ich diese Leute töten«, er klärte Yumingo. »Du kannst ja weiter auf den Robot einreden, während ich deine Freunde töte. Danach bist du an der Reihe.« Lykaar hatte ein Messer im Gürtel, und er unternahm den verzweifelten Versuch, sich Yumingo zu widersetzen. Aber bevor er auch nur einen Stich hatte anbringen kön nen, hatte Yumingo ihn getroffen. Ein zwei tes Mal ging Lykaar halb bewußtlos vor Schmerz zu Boden. Er sah, wie Yumingo zu Elian hinüberg litt, um ihn unter sich zu begraben. Lykaar lag nicht sehr viel an dem Dala zaaren, von dem er befürchten mußte, aus Rache ermordet zu werden. Aber so ein En de hätte Lykaar seinem ärgsten Feind nicht gewünscht. »Orthfein!« schrie Lykaar mit letzter Stimmenkraft. »Gib den Anzug heraus. Die se Bestie macht ernst.«
29 Lykaar rappelte sich auf. Er schwankte zu Orthfein hinüber. Yumingo hielt inne. Lykaar erreichte den Robot. »Gib das Goldene Vlies her, bevor uns dieses Biest alle miteinander umbringt«, stieß er hervor. »Niemals«, lautete die Antwort des Ro bots. »Gib her!« Lykaar zerrte an dem Bündel, aber Orth feins dünne Metallarme waren stark genug, dieses Zerren auszuhalten. »Zwinge mich nicht zum Äußersten«, sagte Lykaar zischend. »Ich werde dich vom Weg herabwälzen und in die Schlucht stür zen lassen – aus deinen Trümmern kann sich Yumingo dann leicht das Goldene Vlies ho len.« »Du bist irrsinnig, Lykaar. Muß ich dich an das erinnern, was wir beredet haben?« »Es ist mir völlig gleichgültig, was wir beredet haben«, schrie Lykaar. »Es geht um das Leben meines Weibes und meines Kin des, und da ist mir dein Schicksal und das von Pthor völlig gleichgültig. Gib den An zug her, oder ich werfe dich in die Schlucht.« »Du trägst die Verantwortung, Lykaar«, sagte Orthfein. »Du allein.« Orthfein ließ das Bündel los. Lykaar griff danach und hob es auf. Er drehte sich um. »Da, nimm!« sagte er verächtlich und warf Yumingo das Bündel hin. Das Goldene Vlies entfaltete sich und blieb auf dem Fels liegen. »Sehr vernünftig«, sagte Yumingo. Die Fladenkreatur machte Anstalten, in das Innere des Anzugs zu schlüpfen. Lykaar sah nicht hin. Er eilte zu Braheva, die gerade zu sich kam und mit schmerzverzerrtem Ge sicht ihren Kopf betastete. »Was ist geschehen?« fragte sie. »Bist du gesund?« fragte Lykaar. Braheva nickte. »Mein Schädel brummt, aber es geht. Ich kann es ertragen. Was ist eigentlich pas siert?« »Yumingo hat uns überfallen«, sagte Ly
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kaar hastig. Er half Braheva aufzustehen. »Er wollte das Goldene Vlies haben.« »Aha, und wo ist er jetzt?« Lykaar drehte sich um. »Dort«, wollte er sagen und auf das Gol dene Vlies deuten. Yumingo war zu zwei Dritteln bereits in dem Anzug verschwun den, aber er rührte sich nicht mehr. »Yumingo!« rief Lykaar. Er wechselte einen raschen Blick mit Bra heva, dann hastete er zu Yumingo hinüber. Die Untersuchung dauerte nicht lange, und ihr Ergebnis war eindeutig. Das Fladenwesen war tot – und offensichtlich war es das Goldene Vlies gewesen, das den Tod Yumingos herbeigeführt hatte. Lykaar dachte an die beiden Fremden, de ren Namen er nicht einmal wußte. Sie hatten Pthor gerettet, Elian und Orthfein, und ihn und Braheva – und natürlich seinen Sohn.
7. »Es muß endlich etwas geschehen. So kann es nicht weitergehen!« Ich bemühte mich, nicht allzu deutlich zu lächeln. Valschein war wieder einmal außer sich. Der Bildermagier konnte sich einfach nicht darüber hinwegtrösten, daß er der Lö sung des Rätsels keinen Schritt nähergekom men war. Ich hatte ihm Möglichkeit gegeben, sich gründlich auszuruhen und zu entspannen, aber Valschein war viel zu sehr von seiner großen Aufgabe besessen gewesen, als daß er sich hätte ausruhen können. Seit dem Be ginn des Urlaubs hatte sich seine Stimmung zwar ein wenig gebessert, er war nicht mehr so deprimiert wie noch vor kurzem, aber an der fieberhaften Begeisterung für seine Auf gabe hatte sich nicht das geringste geändert. Valschein wollte das Parraxynt zusammen setzen – alles andere war unwichtig. »Nur gemach, Freund«, sagte ich. »Deine Nerven sind immer noch nicht die besten. Du wirst dich wieder übernehmen. Kannst du nicht an etwas anderes denken?« »Pah«, sagte Valschein und fuhr sich mit
einer wilden Gebärde durch die krausen dunklen Haare. »Woran soll ich denken? Es sen? Es gibt hier mehr, als ich verzehren kann! Schnaps? Brauche ich nicht.« Ich wartete auf die Fortsetzung, aber sie kam nicht. Valschein war Einzelgänger – ob aus Neigung oder unfreiwillig, entzog sich meiner Kenntnis. Er würde ein Einzelgänger bleiben, ganz besonders unter diesen Um ständen. Ich war sicher, daß er sich keine Gefährtin aussuchen konnte und würde, so lange er das selbstgesteckte Ziel nicht er reicht hatte – seine sogenannte Aufgabe. »Wann kann ich endlich wieder in den Saal, ich möchte weitermachen!« Ich sah den Bildermagier an. »Beschwere dich nicht, wenn es wieder schiefgeht«, sagte ich. Natürlich hatte ich nichts dagegen, wenn sich Valschein beeilte. Je früher der Schlüssel zusammengesetzt war, desto besser für Pthor und seine Be wohner. Ich stand allerdings vor der wenig ange nehmen Zwangslage, daß entweder Valschein vor Übereifer verrückt wurde, woran mir nichts liegen konnte, oder daß er beim nächsten hektischen Anlauf wieder eine vollständige Pleite erlebte und dann endgül tig als Hilfe ausschied. Ob es außer Valschein irgend jemanden auf Pthor gab, der das Rätsel zu lösen vermochte, entzog sich meiner Kenntnis. Ich war geneigt, die ärgste Möglichkeit für die wahrscheinlichste zu halten. »Also?« »Meinetwegen«, sagte ich. »Mach, was du willst.« In diesem Augenblick trat ein Dello her an. »Es steht jemand vor dem Tor, ein Abge sandter des Herrn Leondagan aus Wolterha ven.« »Laß ihn ein!« bestimmte ich. Ich fragte mich, was der Robot von mir wollte. Zum einen war ich fernmündlich leichter für die Wolterhavener zu erreichen, zum anderen fragte ich mich, warum der Ro bot ausgerechnet mich ausgewählt hatte –
Gefangene des Shemma sollte auch ich bekehrt werden, die Vor schrift der Vollkommenheit nicht länger zu befolgen? In ihrer robotischen Gründlichkeit wären die Robotbürger zu einer solchen Maßnahme wohl fähig gewesen. Den Raum betrat einer der lustigsten Ro boter, die ich je gesehen hatte. Eine eiförmi ge Konstruktion, die eilig auf mich zugetau melt kam. Dahinter tauchte ein stämmiger Mann auf, unverkennbar ein Orxeyaner, ne ben ihm eine stattliche Frau, für eine Or xeyanerin ein wenig zu hager, nach anderen Gesichtspunkten eine Schönheit. »Wir kommen aus dem Lande Luuhr«, sagte der Robot. »Dorthin hatte mich der Herr Leondagan geschickt, die frohe Kunde zu verbreiten, daß die Herrschaft des Dunklen Oheims zu Ende geht.« So konnte man es natürlich auch sehen, dachte ich amüsiert. Einige der Friedensge sandten waren in ihrem Übereifer wohl weit über das Ziel hinausgeschossen. »Der Lahlogor von Luuhr versichert Pthor seine Freundschaft und Unterstützung«, sag te der Robot. Ich sah, daß er ein Bündel trug, das einstweilig nichts Genaues erkennen ließ. »Außerdem sind wir nach Klerh gereist«, verkündete der Robotbotschafter. »Dort herrscht vielleicht noch das Shemma, viel leicht auch nicht mehr.« Die Botschaft des Robots war einigerma ßen dunkel. Ich würde wohl nachfragen müssen, um herauszubekommen, was er wirklich meinte. »Um die Sache zum Ende zu bringen, wir haben das dort erbeutet«, sagte der Orxeya ner. Er nahm dem Robot das Bündel ab und breitete es aus. Ich brauchte die Überraschung nicht zu schauspielern – mit vielem hatte ich gerech net, damit nicht. »Das Goldene Vlies!« stieß ich hervor. »Shemma hatte es erbeutet«, erklärte der Orxeyaner. »Und wir haben es Shemma ab gejagt. Wir wiederum verloren es an ein Fladenwesen namens Yumingo.« Ich lächelte freundlich, obwohl mir auch
31 diese Erzählung keinerlei Aufschluß über das Vorgefallene gab. »Als Yumingo versuchte, sich den Anzug überzustreifen, starb er. Wir haben ihn dar aus hervorgezerrt und dabei dies hier gefun den.« Er holte aus einer Tasche einen unterarm langen Stab hervor. Behutsam gab er den weißen Stab an mich weiter. Es gab einen deutlich erkennbaren Griff an diesem Stab. Ich legte meine Hand um das Griffstück …
* »Es tut mir sehr leid, Atlan, alter Freund.« Ich konnte ihn deutlich sehen, er stand vor mir und lächelte ein wenig niedergeschla gen. Algonkin-Yatta, neben ihm Anlytha. »Ich werde deinen Wunsch nicht erfüllen können, Atlan«, sagte der Kundschafter. »Perry Rhodan wird nicht erfahren, wo du dich aufhältst. Der Grund dafür ist ebenso einfach wie beschämend – wir haben uns verirrt. Wir wissen nicht mehr, wann und wo wir uns aufhalten; es gibt in diesem Durch einander keinerlei Orientierungspunkten mehr für uns, die helfen könnten, einen ge raden Kurs abzustecken. Dieser Dimensi onsfahrstuhl, er heißt Klerh, war unsere letz te Hoffnung, dich zu finden – vergebens, wie du jetzt sehen kannst.« Die Züge Algonkin-Yattas zeigten großen Ernst. »Mein Ratschlag, nimm dich vor Shemma in acht. Dieses seltsame Gehirnwesen ist ein heimtückischer und böser Feind, dazu von seltener Machtgier.« Der Kundschafter lächelte wieder. »Du brauchst uns nicht zu bedauern, alter Freund, Anlytha und ich haben Glück ge habt. Wir fanden vor kurzer Zeit erst eine Welt, die von Lebewesen bewohnt wird, un ter denen wir uns sehr wohl fühlen werden. Wir haben hier eine neue Heimat gefunden.« Ich lächelte, denn diese Nachricht erleich terte mich sehr.
32 »Wir haben diese Welt noch einmal ver lassen, unseres Auftrags wegen und wegen des Anzugs der Vernichtung. Du wirst ver stehen, daß wir in dieser Botschaft nicht die Koordinaten dieser Welt angeben – zum einen wissen wir nicht, ob du mit den Daten etwas anfangen könntest, zum anderen wol len wir dort ungestört und in Frieden leben. Dieser Dimensionsfahrstuhl Klerh, auf dem wir uns gerade aufhalten, hat bereits den Auftrag erhalten, die Schwarze Galaxis an zusteuern. Wir hoffen daher, daß dich diese Botschaft eines fernen Tages erreichen wird. Und es ist nicht möglich, den Flug des Weltenfragments mitzumachen. Frage nicht nach Gründen, aber wir wissen, daß wir eine unmittelbare Konfrontation mit dem Dunklen Oheim nicht überleben können.« Algonkin-Yatta hob ein letztes Mal die Hand zum Gruß. »Leb wohl, Atlan«, sagte er mit leiser werdender Stimme. »Wir wünschen dir das Glück, das du für deine Aufgabe brauchen wirst. Leb wohl!« Das Bild verschwand. Der Botschaftsstab in meiner Hand fühlte sich plötzlich kühl an. »Hast du etwas erkennen können?« fragte mich der Orxeyaner. »Wir haben selbst die sen Stab in die Hand genommen, aber außer deinem Namen konnten wir nichts verste hen.« »Es war eine wichtige Botschaft eines sehr guten Freundes«, sagte ich langsam. Ich wußte nicht, wie dieser Stab technisch funktionierte; es war dies eines der vielen kleinen Geheimnisse, die niemals gelüftet werden würden. »Habt vielen Dank für eure Mühe«, sagte ich. Ich wußte nicht, wie ich mich bei den Orxeyanern für die Strapazen bedanken soll te, die sie auf sich genommen haben muß ten, um mir diese Botschaft zukommen las sen zu können. »Was ist das für ein Ding?« fragte Valschein und deutete mit fiebrigen Augen auf den Anzug der Vernichtung. »Das Goldene Vlies?« »Richtig«, bestätigte ich.
Peter Terrid »Ich muß es haben«, sagte Valschein. »Unbedingt muß ich es haben. Nur mit die sem Anzug kann ich das Rätsel lösen.« »Es ist zu gefährlich«, warnte ich den Bil dermagier. »Du hast gehört, was mit dem Wesen Yumingo geschehen ist, als es ver sucht hat, den Anzug überzustreifen.« »Pah«, machte der Bildermagier. »Was weiß ich, warum es bei Yumingo versagt hat – bei mir würde es wirken. Atlan, ich bitte dich, überlasse mir den Anzug. Nur für ein paar Stunden, nur bis ich den Schlüssel und das Parraxynt zusammengesetzt habe, nicht länger. Nur diese wenigen Stunden.« »Ausgeschlossen«, beharrte ich. »Es könnte dir das Leben kosten, und das ist die Sache nicht wert.« Valschein kniff die Lippen zusammen. Ich sah ihm an, daß er mit dieser Antwort nicht zufrieden war, aber daran konnte ich nichts ändern. »Kann ich etwas für euch tun?« fragte ich den Robot und die beiden Orxeyaner; eine überflüssige Frage, denn mir stand ohnehin nicht viel zu Gebote. Die Orxeyaner sahen sich kurz an, dann lächelten sie. »Wir haben, was wir brauchen«, sagte die Frau. »Und draußen wartet ein Freund von uns.« »Ich möchte zu dem Herrn Leondagan zu rückkehren«, verkündete der Wolterhavener. »Ich muß ihm unbedingt berichten, was sich zugetragen hat.« »Dann geht«, sagte ich und verabschiede te mich von den dreien. Sie hatten mir einen großen Dienst erwiesen, wahrscheinlich auch ganz Pthor.
* Valschein sah den Davonschreitenden scheel hinterdrein. Wahrscheinlich wollte er den Ruhm allein erben, das war das Motiv, warum man ihm den Anzug nicht geben wollte. Eifersucht, Neid und solche Beweggründe waren im Spiel, und er, Valschein, sollte der Verlierer sein.
Gefangene des Shemma Was konnte man tun? Valschein ahnte, wo Atlan das Goldene Vlies hinbringen würde. Der Mann mit den weißen Haaren und den roten Augen hatte Vertrauen zu Valschein, er würde den ge heimnisvollen Anzug zwar wegräumen, aber er würde ihn nicht einsperren oder listig ver bergen. Valschein mußte sich entscheiden, was er wollte – das Vertrauen rechtfertigen oder brechen. Der Preis, der als Belohnung für den Vertrauensbruch winkte, war schwindel erregend hoch – Valschein war erfüllt von dem sicheren Gefühl, daß es ihm mit Hilfe des Goldenen Vlieses möglich sein würde, das Zusammensetzspiel zu lösen. Es war eine arge Zwickmühle, in der der Bildermagier steckte. Auf der einen Seite wollte er Atlan nicht enttäuschen, indem er das Rätsel des Schlüssels ungelöst ließ; auf der anderen Seite wollte er ihn auch nicht dadurch enttäuschen, daß er ihn hinterging und den Anzug an sich brachte. »Hm«, überlegte Valschein. »Ich will ihn ja nicht behalten …« Änderte das etwas, fragte er sich. Natür lich wollte er das Goldene Vlies nicht für sich, so vermessen war der Bildermagier nicht. Er wollte den Anzug nur benutzen zum Wohle der Sache; sobald er den Schlüs sel zusammengesteckt hatte, wollte Valschein den Anzug selbstverständlich zurück geben. Änderte das etwas an der Tatsache, daß er Atlan hinterging? Nichts, wie sich Valschein selbstkritisch eingestand. Dann war das Risiko zu bedenken, von dem die Orxeyaner und auch Atlan gespro chen hatten. Nun, was das betraf, war das Risiko Valscheins Sache. Wenn er dabei zu schaden kam – wieso eigentlich? – mußte er es ausbaden. Minutenlang blieb Valschein unschlüssig stehen, dann faßte er den endgültigen Ent schluß. In der sicheren Erkenntnis, daß er früher oder später doch nach dem Goldenen Vlies greifen würde, beschloß Valschein, dem Hin
33 und Her ein Ende zu machen und schnell zu handeln. Er kannte sich gut genug, um zu wissen, daß er der Versuchung erliegen wür de – warum dann nicht sofort? Es verkürzte die Angelegenheit und ersparte ihm langes, selbstquälerisches Grübeln. Valschein verließ seine Kammer. Er brauchte nicht lange, um in Atlans Zimmer einzudringen und das Goldene Vlies zu finden. Er packte den Anzug zu ei nem Bündel zusammen und huschte damit davon. Zum ersten Mal, seit er sich der Aufgabe gewidmet hatte, verschloß Valschein hinter sich die Tür, als er den Raum mit den Teilen des Parraxynts betrat. Er entrollte den Anzug. Minutenlang zögerte er. Ganz von der Hand zu weisen war die Gefahr nicht, von der Atlan gesprochen hatte, und Valschein hing an seinem Leben. Auf der anderen Sei te war das Leben keinen lausigen Quork mehr wert, wenn er das Parraxynt-Rätsel nicht löste; man hätte ihn als den größten Versager und Maulhelden unter den Magi ern verhöhnt und verspottet. Dann lieber das Leben wagen, sagte sich Valschein. Er schlüpfte sehr vorsichtig in das seltsa me Gewand. Nichts geschah, als er es über gestreift hatte. Valschein schloß den Anzug. Eine rätselhafte Stimmung hatte ihn befal len. Mit unglaublicher Härte und Schnellig keit schlug sein Puls. Dann machte sich Valschein auf den Weg hinüber zu jener Stelle, an der die einzelnen Teile des Schlüssels lagen. Mit jedem Schritt floß neue Kraft in ihn hinein. Zuversicht erfüllte den Bildermagier, ein starkes, unwiderstehliches Gefühl, daß er jetzt und hier das Geheimnis lösen würde. Valschein griff nach den Teilen des Schlüssels. Aus seinem Innern stiegen Bilder auf, zwingende Impulse, Befehlen ähnlicher als Ahnungen. Valschein handelte wie ein Schlafwandler. Er spürte nicht, wie die Zeit verstrich. Er sah nur, wie sich die Teile des Schlüs
34 sels ineinanderfügten, wie die Kanten ver schwammen und dann verschmolzen, wie aus den Teilen auf eine geheimnisvolle, un begreifliche Art und Weise eine Einheit wurde. Ein Rauschzustand hatte den Bilder magier ergriffen, er handelte wie eine aufge zogene Gliederpuppe. Seine Hände bewegten sich, als seien sie selbständig, gesteuert von geheimem Wis sen, das ihm von irgendwoher zuflog. Valschein begriff nicht, was er tat, aber er konn te erkennen, was das Ziel sein würde – das erreichbare Ziel. Die Teile des Schlüssels fügten sich zu sammen, ein Stück paßte zum anderen. Das ging nicht glatt und reibungslos ab, es war unerhört kompliziert. Man mußte die Teile aufeinanderfügen, dann gegeneinander be wegen und mitten in dieser Bewegung ein weiteres Teil hinzufügen. Nur wenn die Be wegungen genau synchronisiert waren, tat sich eine Lücke auf, die die Teile zusam menhalten ließ. Wie das im einzelnen funk tionierte, woran es lag – Valschein vermoch te es nicht zu sagen. Schweiß lief über sein Gesicht, sein Atem ging schnell, in heftigen Stößen. Aber er ar beitete weiter, er wollte es wissen in diesen Minuten. Dann war die Arbeit vollbracht, und Valschein wußte selbst nicht, wie. Der Schlüssel war zusammengesetzt – ei ne golden schimmernde Kugel, die auf dem Boden lag, ein Abbild der Vollkommenheit. Valschein kicherte unterdrückt. Er nahm nicht wahr, daß Stunden vergan gen waren, seit er mit der Arbeit begonnen hatte. Er sah nur, daß der Schlüssel zusam mengesetzt war, daß er das schier Unmögli che vollbracht hatte. Lodernder Ehrgeiz brannte nun in dem Bildermagier. Hatte er den Schlüssel gefunden, wollte er nun auch das andere für unausführbar erach tete Werk in Angriff nehmen und vollenden. Jetzt galt es, die letzten Geheimnisse Pthors dem rätselhaften Dunkel des NichtWissens zu entreißen. Das Parraxynt mußte
Peter Terrid zusammengesetzt werden. Valschein schauderte einen Augenblick lang. Schwindelnde Furcht ergriff ihn. War er der Mann, so etwas zu tun? War er groß genug für diese Aufgabe? War es nicht Ver messenheit, als einzelner hier wirken und Rätsel lösen zu wollen, von denen Wohl oder Wehe zahlloser Welten abhängen konnte? Valschein holte tief Luft. Er spürte, wie eine Woge von Kraft und Zuversicht über ihm beinahe zusammenschlug. Heiß loderte in ihm der Wille, das Werk zu wagen, der größte aller Pthorer zu sein, Valschein, der Magier, der das Parraxynt zusammengesetzt hatte. Er begann die Arbeit, nahm ein Stück zur Hand. Wie von unsichtbaren Händen gelei tet, wanderte sein Blick über die Zahl der Teile, blieb an einem heften, das überhaupt nicht paßte, und sich dennoch mit dem er sten Teil zusammenfügte, als gäbe es gar keine andere Möglichkeit. Dann dieses Teil, wieder verquer, unpassend, aber dennoch sich einfügend in das große Ganze des Par raxynts. Er arbeitete mit steter Kraft und Zähig keit. Die Zeit verstrich, ohne daß der Bilder magier etwas davon merkte. Er sah nur, wie das gewaltige Werk unter seinen Hände wuchs. Demutsvolle Verzückung durchströmte den Bildermagier, als er begriff, was mit ihm in diesem Raum geschah, als er erkann te, daß das Parraxynt Gestalt anzunehmen begann, daß der Weg endlich gefunden war, auf dem die Lösung zu suchen war. Immer weiter wuchs das geheimnisvolle Gebilde unter Valscheins Händen. Mochten auch Teile fehlen – Valschein sah vor sei nem inneren Auge genau, wie die fehlenden Stücke auszusehen hatten – man würde sie finden, und falls nicht … Valschein traute sich nun zu, die fehlenden Bruchstücke zu rekonstruieren. Er machte eine kleine Pause, nicht aus Er schöpfung, nur aus Neugierde. Er wollte einen kurzen, ruhigen Blick auf das werfen,
Gefangene des Shemma was er bereits erreicht hatte. Er wollte versuchen, die geheimnisvollen Zeichen zu deuten, die auf den Bruch stücken der Parraxynts zu finden waren. Valschein blieb stehen und betrachtete sein Werk. In diesem Augenblick meldete sich in ihm die schmerzhafte Erkenntnis, daß er das Werk nicht würde vollenden können. Valschein spürte, wie sein Herzschlag aussetzte. Seltsamerweise empfand er kei nerlei Angst, obwohl er sofort wußte, daß er nun sterben mußte. In seinem Gehirn formte sich die Erkennt nis, daß er sich sein Leben lang getäuscht hatte. Immerzu war er auf der Suche gewe sen nach seiner großen, universalen Beru fung. In diesem Augenblick sah er klar, daß er zu nichts Großem berufen war, daß er, Valschein, so klein und unbedeutend war, daß man sich nach ein paar Wochen nicht mehr an ihn erinnern würde. Kein Ruhm, keine Glorie, kein ehrendes Andenken – nichts dergleichen. Nur die bescheidene, fast demütige Er kenntnis, daß es nur eine wichtige Tatsache in seinem Leben gegeben hatte. Er hatte gelebt – das war alles, und er war dankbar dafür. Valschein starb mit einem seltsamen Lä cheln auf den Lippen – dem Ausdruck leiser Ironie. Die einzige wirklich wichtige, funda mentale Einsicht und Erkenntnis hatte er erst im Augenblick seines Todes gefunden – und er besaß das Format, darüber noch lächeln zu können.
8. Tiefer Schrecken erfaßte mich, als ich das Fehlen des Goldenen Vlieses bemerkte. Ich hatte nicht damit gerechnet, daß Valschein – nur er kam für diese Tat in Frage – so leicht sinnig und besessen sein könnte. Ich verließ sofort meine Kammer und suchte nach dem Bildermagier. Als erstes eilte ich naturgemäß zu jenem Raum, in dem Valschein seit beträchtlicher
35 Zeit seine Mühen darauf verwandte, das Par raxynt oder doch wenigstens den Schlüssel zusammenzusetzen. Zum ersten Mal fand ich die Tür ver schlossen. Ich hämmerte dagegen, rief den Namen des Bildermagiers, aber er antworte te nicht. Ich legte ein Ohr an die Tür, um hören zu können, ob sich im Innern etwas tat. Es war erschreckend ruhig. Ich hatte keine andere Wahl – ich mußte die Tür aufbrechen. Dazu brauchte ich Werkzeuge, und vor allem kostete das Zeit. Ich hatte noch eine geringe Hoffnung, Valschein lebend anzutreffen, aber diese Hoff nung schwand mit jeder Minute, die ich brauchte. Der Bildermagier lag regungslos auf dem Boden, als ich die Tür endlich geöffnet hat te. Ich eilte zu ihm hinüber, aber ich kam zu spät. Valschein war tot, aber zum ersten Mal sah ich ihn zufrieden lächeln. »Armer Kerl«, murmelte ich. Ich hatte leichtsinnig gehandelt. Ich hätte den Anzug sorgfältig verstecken sollen. Die Versuchung war für den von seiner Arbeit besessenen Valschein zu groß gewesen. Er hatte das Experiment gewagt, und es hatte ihm das Leben gekostet. Und was hatte es ihm eingebracht? Ich warf nur einen flüchtigen Blick auf das Parraxynt; es war zu zwei Dritteln be reits fertiggestellt, eine unglaubliche Lei stung. Fast noch bedeutungsvoller aber schien mir die goldene Kugel, die neben Valschein auf dem Boden lag. Ich wußte nicht, wie sie dorthin gekommen war, aber ich ahnte, wie sich die Sache verhielt. War das der geheimnisvolle Schlüssel? Es gab Zeit, das nachzuprüfen. Vorerst aber mußte ich für Valschein sorgen. Ich zog ihn aus dem Anzug hervor, der ihn getötet hatte. Der Körper des Bilderma giers war erstaunlich leicht. Ich trug den To ten fort, legte ihn in einer verschließbaren Kammer ab. Später wollte ich mich um sei
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ne Bestattung kümmern. Dann kehrte ich in die Parraxynt-Halle zurück. Als nächstes sorgte ich dafür, daß auch der Anzug der Vernichtung sorgfältig weg geschlossen wurde. Ein zweites Mal wollte ich nicht am Tod eines Freundes schuld sein, nur weil ich ihm den Anzug zu leicht zu gänglich gemacht hatte. Erst nachdem ich dieses besorgt hatte, kümmerte ich mich um den Schlüssel. Schwer lag die Kugel in meiner Hand. Kein Wunder, daß Valschein es vorher nicht geschafft hatte, sie zusammenzusetzen. Ich konnte keine Naht, keine Fuge, nicht die kleinste Ritze erkennen. Es war, als sei die Kugel aus einem Stück gedreht. Was sollte ich damit tun? Es gab für mich darauf nur eine Antwort. Ich nahm die Kugel und machte mich auf den Weg hinab in die Tiefe von Pthor. Ich hielt den Schlüssel in der Hand, nach dem die »Seele« verlangte, jetzt wollte ich ihn ihr bringen. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was der Schlüssel bewirken konnte. Aber ich hatte das feste Vertrauen, daß es kaum etwas sein konnte, was den Pthorern weiteres Un gemach bereiten konnte. Dennoch schlug mein Herz schneller, als ich ein weiteres Mal in die Unterwelt des Dimensionsfahr stuhls hinabstieg. Ich suchte die Transmitterkammer auf. Sie sah aus wie gewöhnlich – ein kleiner, auf den ersten Blick leerer Raum, ohne be sondere Kennzeichen. Ich war gespannt, wo ich diesmal heraus kommen würde …
* Es war nicht die Halle mit den Steueranla gen. Es war auch nicht die Quelle des Le bens. Wieder einmal lernte ich einen völlig neuen Bezirk der pthorischen Unterwelt kennen. Der Ort, an dem ich herauskam, war dun kel. Ich brauchte einige Sekunden, bis sich
meine Augen damit abgefunden hatten, da nach konnte ich wenigstens Umrisse erken nen. Eine Höhle, eine düstere, langgestreckte Grotte. Der Fels, aus dem Boden, Decke und Wände bestanden, war fast schwarz. Ich griff nach dem Gestein, es war von eisiger Kälte. Hatte der Schlüssel dafür gesorgt, daß ich ausgerechnet hier herausgekommen war? Höchstwahrscheinlich, sagte ich mir. Langsam setzte ich einen Fuß vor den an deren. Mir war in dieser beklemmenden Höhlenwelt alles andere als geheuer. Die ganze Szenerie schrie geradezu nach Gefahr, hinter jedem Winkel konnte eine tödliche Bedrohung lauern. Die Atmosphäre dieser schaurigen Grotte war eindeutig – wenn es den personifizierten Tod gab, dann hatte er hier seine Heimstatt. Ich ahnte, und diese Ahnung verstärkte sich mit jedem Schritt, daß ich dem Geheimnis von Pthor unmittelbar auf den Fersen war. Ich ging weiter. Die Höhle wölbte sich nun höher, öffnete sich zu einem weiten Gewölbe. Von irgendwoher kam düsteres blaues Licht. Ich fröstelte. Ein kühler Wind blies mich an, strich an Öffnungen vorbei und schuf dabei einen tiefen hohlen Ton, der ei nem langgezogenen Stöhnen ähnlich klang. Hier lauerte das Böse, durchzuckte es mich. Die Ahnungen und Gefühle, die der Ort bei mir auslösten, wurden immer stärker. So seltsam es sich auch anhören mochte, genau das erleichterte mir die Arbeit. Ich mußte dieser Beklemmung trotzen, so genau wie möglich auf sie zugehen. Der Schlüssel konnte dabei vielleicht helfen. Die Wahr heit, die Erkenntnis, die ich suchte – sie saß hinter diesem bösen Lauern, hinter der im mer heftiger würgenden Bösartigkeit, die aus jedem Winkel strahlte. Ich entsann mich der Gersa-Predoggs des Neffen – dort war die Ausstrahlung ähnlich gewesen. Hier war sie noch klarer, unver fälschter – und entschieden stärker.
Gefangene des Shemma Ich mußte mich zusammennehmen. Ich helfe dir, kam ein kurzer Impuls des Extrasinns. Ich würde diese Hilfe bitter nötig haben, das wußte ich. Denn noch hatte ich das Zen trum des Gewölbes nicht erreicht. Und dort, da war ich mir sicher, lauerte ein gefährli ches, unheimliches Etwas, das ich einstwei len nicht beschreiben konnte, dessen Exi stenz aber nicht zu leugnen war. Es war das Etwas, von dem die alles überwältigende Bösartigkeit ausging. Alles in mir schrie danach, mich schnell stens von diesem Ort des Grauens zu entfer nen – gleichzeitig aber fühlte ich mich von dem rätselhaften Zentrum der TerrorAtmosphäre magnetisch angezogen. Halb automatisch, wie aufgezogen, mach te ich einen Schritt nach dem anderen, im mer tiefer hinein in das Gewölbe, immer nä her an den Mittelpunkt dieser Halle des Grauens heran. Meine Gedanken verwirrten sich. Ich konnte einen einmal gefaßten Gedanken nicht nachvollziehen, weil er sofort wieder verwehte. Es war, als jage der Ansturm bö ser Gefühle jeden anderen Impuls vor sich her wie ein Sturmwind ein abgerissenes Blatt. Weiter! Jeder Schritt war eine Qual. Ich schwank te, taumelte fast. Dann sah ich ihn. Ein schwärzliches Etwas, ein düsterer Ball, der zuckte und sich bewegte. Aus den Winkel des Raumes schienen schwarze Ne bel zu dem Gebilde hinzufließen und sich mit ihm zu vereinigen. Der schwarze Kern von Pthor, gab der Extrasinn durch. Ich mußte dreimal nachdenken, bevor ich in der Lage war zu begreifen, was der Extra sinn mir da mitteilte. Zu stark war die Aura der Bösartigkeit, die das schwarze Etwas verbreitete. Es bewegte sich, als lebe es. Und es schi en seine schwarze Nebelnahrung aus dem Land zu beziehen. Es sah aus, als sauge es
37 die düsteren Nebel aus dem Gestein, um sich davon zu ernähren. Ich wollte weglaufen. Es war die letzte Regung der Vernunft, die mir riet, dieses Wesen zu meiden. Aber das Trommelfeuer der Empfindungen, das über mich hereinge brochen war, ließ so vernünftiges Handeln gar nicht mehr zu. Ob ich wollte oder nicht, ich taumelte auf die Wesenheit zu, die sich da tief unter dem Boden von Pthor eingenistet hatte. Dieses Wesen enthielt gleichsam die Essenz der Bösartigkeit; was hier konzentriert war, hät te ausgereicht, ein Millionenheer von Schur ken mit verbrecherischer Energie zu versor gen. Nur halb nahm ich wahr, daß ich den Schlüssel weit vor mich her gestreckt hatte, als könne mir der matt schimmernde Metallball etwas helfen. Immer näher kam ich dem Kern, und im mer verwirrter und unklarer wurden meine Gedanken. Ich war kaum mehr in der Lage, mich auf den Beinen zu halten. Getrieben von Impulsen, die stärker waren als ich, tor kelte ich auf den Kern zu. Dann hatte ich das Wesen erreicht. Der Schlüssel berührte die äußerste Schicht der rätselhaften Existenzform, drang darin ein. Ich stöhnte auf. Eisige Kälte durchfuhr meinen ganzen Körper mit schockartiger Schmerzlichkeit. Ich ließ den Schlüssel den noch nicht los. Wie aus weiter Ferne nahm ich wahr, daß sich das ganze Gebilde plötzlich zusammen zog. Im nächsten Augenblick wich der furchtbare Druck, der auf mir gelastet hatte. Ich wußte, daß ich verschwinden mußte. Alles in mir schrie danach, den Ort schnell stens zu verlassen. Es war eine Qual. Mein Körper schien mir kaum noch gehorchen zu wollen. Ich setzte mit letzter Kraft einen Fuß vor den anderen, gezeichnet von völliger Erschöpfung. Ich war nicht mehr in der Lage, klar zu denken, als ich den Weg zurückschwankte, den ich gekommen war. Irgendwann muß
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ich dann das Bewußtsein verloren haben.
* Als ich wieder zu mir kam, fühlte ich mich noch immer zerschlagen und völlig er schöpft. Ich lag in der Transmitterkammer. Und neben mir auf dem harten Boden lag der Schlüssel – in seine Einzelteile zerfallen. Ich schickte einen fragenden Impuls an den Extrasinn. Ich wollte wissen, was sich zugetragen hatte. Die Antwort war lakonisch kurz. Der Extrasinn teilte mir mit, daß ich es gerade noch geschafft hatte, den Transmit terraum zu erreichen, dann war ich völlig er schöpft zusammengebrochen und hatte viele Stunden wie betäubt geschlafen. Diese Nachricht besagte nicht viel, aber sie trug erheblich dazu bei, meine Stimmung zu heben. Insgeheim hatte ich befürchtet, daß die Berührung des schwarzen Kerns von Pthor mit dem goldenen Schlüssel eine ver hängnisvolle Kettenreaktion in Gang gesetzt haben könnte. Nichts dergleichen war ge schehen, anderenfalls hätte man mich längst aufzuspüren versucht. Ich sah auf die Teile des Schlüssels. Ob ich ihn wieder zusammenbekommen konnte? Ich wollte es wenigstens versuchen. Seltsam war, daß ich nun genau das glei che erlebte wie Valschein. Auch ich hatte plötzlich eine bestimmte Empfindung, daß der Schlüssel so oder so zusammengesetzt werden müsse, aber sobald ich versuchte, die Teile zusammenzufügen, mißlang das kläglich. Fast schien es, als wehre sich der Schlüssel gegen meine unbeholfenen Versu che. Ich probierte es länger als eine Stunde, dann gab ich auf. Es hatte keinen Sinn, län ger herumzuexperimentieren – ich war nicht berufen, den Schlüssel zusammenzusetzen. Etwas befremdet stellte ich fest, daß mir diese Tatsache nichts ausmachte. Eine stille Zufriedenheit hatte sich über mich gelegt, ein sicheres Gefühl, daß der Schlüssel sei
nen Zweck bereits erfüllt hatte. Es war nicht mehr nötig, mit den Teilen herumzuexperi mentieren. Ich pfiff halblaut eine uralte Melodie von Arkon vor mich hin. Auf seltsame Art und Weise fühlte ich mich fast beschwingt. Mit denkbar bester Laune stieg ich aus den Tie fen Pthors wieder hinauf in die belebteren Teile des alten Raumschiffs. Erst als ich an Valschein dachte und an das Problem, wo ich ihn bestatten sollte, leg ten sich wieder trübe Gedanken auf mein Bewußtsein. Möglich, daß der Schlüssel sei nen Zweck erfüllt hatte, daß Wichtiges ge schehen war für Pthor – es war ein elend ho her Preis dafür gezahlt worden. Und irgendwo hatte ich das sichere Ge fühl, als sei es damit noch immer nicht zu Ende. Die allerletzten, tiefsten Geheimnisse Pthors würde erst die Zukunft enthüllen.
9. »Wie beim letzten Mal«, stellte Braheva zufrieden fest. Lykaar grinste säuerlich. Den Weg, den sie jetzt entlangzogen, kannten die beiden Orxeyaner von ihrer frü heren Irrfahrt her. Damals, als die neuen Horden der Nacht ans Licht gestiegen wa ren, hatten die den gleichen Weg von der FESTUNG nach Orxeya zurückgelegt. Da mals allerdings hatten sie einen Zugor be nutzt, den Lykaar einem Händler abge schwatzt hatte. Jetzt waren sie wieder mit ih rem Yasselgespann unterwegs. Braheva saß auf dem Wagen, dahinter sta pelten sich die Güter, die Lykaar auf Luuhr erstanden hatte. Der Lahlogor hatte sich als großzügig erwiesen; die Ladung würde Ly kaar selbst dann wieder zum reichen Mann machen, wenn er sein früheres Vermögen verloren hatte. Hinter dem Wagen trabten vier große, yasselähnliche Kreaturen – der Beginn einer kleinen Herde, die Elian zu züchten gedach te. Das Vieh von Luuhr entsprach in seinen
Gefangene des Shemma Abmessungen den Bewohnern, war also sehr groß und fleischig ausgefallen. Die vier Tie re, zwei Zuchtpaare, waren dazu bestimmt, Elians dringendstes Problem zu lösen – den Brautpreis für Ahvee zu zahlen. Mit diesen vier Tieren war Elian sicher, Ahvee endlich heimführen zu können, und auf dem Wagen der beiden Orxeyaner lag noch eine Kiste mit allerlei Tand, den der Lahlogor Elian ge schenkt hatte. Für den Dalazaaren war der Ausflug nach Luuhr und Klerh ein voller Er folg gewesen. Seinen Plan, sich an Lykaar zu rächen, hatte Elian längst aufgegeben. In Gedanken war der Dalazaare schon jetzt mehr im Blutdschungel als in der Wirklichkeit. Das Gespann polterte und rumpelte über die Ebe ne von Kalmlech; es war die kürzeste Route zwischen der FESTUNG und der Stadt der Händler. Ganz ungefährlich war die Sache nicht, aber die drei hatten schon Ärgeres überstanden. Orthfein hatte sich abgesetzt. Der Robot hatte es eilig gehabt, er war nun in Dauer märschen nach Wolterhaven unterwegs; was er dem Herrn Leondagan alles zu berichten haben würde, konnten die drei sich ausma len. »Einer der Vollstrecker«, sagte Lykaar. Er hatte diese Gestalten schon einmal ge sehen und hatte keine gute Erinnerung an die Rotkutten. »Er sieht aus wie hypnotisiert«, sagte Eli an. »Sieh ihn dir an.« Lykaar faßte den Vollstrecker schärfer ins Auge. Elian hatte zweifellos recht. Der Fremde in der roten Robe bewegte sich wie ein Schlafwandler über die Ebene. »Wohin mag er wollen?« rätselte Elian. Lykaar plagte sich mit der gleichen Frage. Er versuchte sich auszurechnen, wo das Ziel des Vollstreckers liegen mochte. Nach Ly kaars Einschätzung genau dort, wo mitten in der Ebene Kalmlech aus einem grell leuch tenden Krater die neuen Horden der Nacht aufgestiegen waren und Panik über Pthor ge tragen hatten. Diese Zeiten waren Lykaar noch in denkbar schlechtester Erinnerung.
39 »Lykaar! Elian! Vorsicht!« Lykaar hörte Brahevas Stimme und drehte sich um. Sein Unterkiefer klappte herunter. Zu spät für eine Flucht. Die Bestie mußte im nächsten Augenblick heran sein, eine monströs große Kreatur, eine Ansammlung von krallenbewehrten Pranken und geballten Muskelbündeln. Lykaar griff dennoch nach dem Messer. Die Bestie kümmerte sich nicht um die beiden. Mit unglaublich müden Bewegun gen schleppte sich das Monstrum dahin, kraftlos, ziellos, fast eine Karikatur seiner selbst. »Unglaublich«, staunte Lykaar. »Ich glau be zu träumen. Sind das die Horden der Nacht?« »Es sieht ganz so aus«, murmelte Elian, der langsam wieder Farbe ins Gesicht be kam. Auch ihm war der Schreck in alle Glie der gefahren. »Ich verstehe nicht, warum das Vieh so lethargisch ist.« »Besser, als wenn es munter wäre«, mur melte Lykaar. »Aber du hast recht, irgend etwas stimmt hier nicht.« »Reisen wir weiter«, schlug Elian vor. »Dann werden wir sehen, ob das, was wir beobachtet haben, ein Einzelfall ist oder nicht.« Die beiden Männer stiegen den Hügel hinab zu dem Gespann. Lykaar sah, daß auch Braheva blaß geworden war, und das gefiel ihm. Ab und zu brauchte er diese Be stätigung, daß Braheva an ihm ebensosehr hing wie er an ihr. »Was ist mit den Horden los?« fragte Bra heva. »Als die Bestie auftauchte, gab ich keinen Quork mehr für euer Leben – und dann das …« »Pthor spielt verrückt«, murmelte Lykaar. »Nichts stimmt mehr. Die Vollstrecker lau fen wie in Trance über die Ebene, die Hor den der Nacht verwandeln sich in Schoßtiere …« »Yassels schrumpfen zusammen und be kommen lange blaue Haare«, ergänzte Elian. Braheva und Lykaar sahen sich an. Ir gendwo in der Nähe – in der Weite der Ebe
40 ne ließen sich nur schwer genaue Landmar ken ausmachen – hatten sie den ersten Ver such mit Lykaars Wundersalbe unternom men. War das seltsame Verhalten der beiden Kreaturen darauf zurückzuführen? »Nein«, murmelte Lykaar. »Das nicht. Ich weigere mich, das zu glauben!« Das hatte ihm noch gefehlt, daß seinetwe gen ganz Pthor außer Rand und Band geriet. Die Zeiten waren schlimm genug für einen Händler aus Orxeya, der Grund genug hatte, sich vor empörter Kundschaft zu fürchten. Wenn jetzt … Lykaar wagte nicht den Ge danken zu Ende zu denken. »Wir fahren weiter«, bestimmte er. »Einfach gerade aus. Dann werden wir se hen, was passiert.« Braheva ließ das Gespann antraben. Die Reise wurde fortgesetzt. Schon nach einer knappen Stunde tauchte die nächste Gestalt in Sichtweite auf, eine Bestie aus den nächt lichen Horden, die auf einem Hügel lag und laut schnarchte. Lykaar und Elian schlichen sich ein wenig näher und erkannten hinter dem Hügel eine ganze Menge von Mon stren, die sich auf dem Boden ausgestreckt hatten. Ein Teil schlief, der Rest döste vor sich hin. Im Hintergrund stapften zwei Rot kapuzen dem Zentrum der Ebene entgegen, mit den gleichen automatenhaften Bewegun gen, die die beiden Pthorer schon beim er sten Vollstrecker gesehen hatten. »Offenbar hat es sie alle miteinander er wischt«, stellte Lykaar fest. »Ich weiß nicht, wie das passiert ist, aber es kommt genau zur rechten Zeit. Jetzt können wir unbehel ligt reisen – und in Orxeya wird es jede Menge Fleisch geben.« In der Tat mußten die phlegmatischen Nachtmonstren für die Jäger aus Orxeya oder dem Blutdschungel eine leichte Beute werden. Wahrscheinlich würden sie einfach liegenbleiben, so sahen sie jedenfalls aus Lykaars Blickwinkel aus. »Unglaublich«, sagte Braheva, als Lykaar ihr Bericht erstattet hatte. »Wir werden das melden müssen.« »Das wird Orthfein wahrscheinlich besor
Peter Terrid gen«, sagte Lykaar. »Dem Robot muß das seltsame Verhalten der Vollstrecker und der Bestien ebenfalls aufgefallen sein, und die Robotbürger haben bessere Möglichkeiten, die FESTUNG zu informieren. Oder willst du, daß wir umkehren?« Braheva schüttelte den Kopf. »Ich habe Sehnsucht nach unserem Haus«, sagte sie. »Dieses Wanderleben ist nichts für mich.« Lykaar lächelte freundlich. Die Idee, sich als Wanderhändler durchzuschlagen, war sein Einfall gewesen; ein Einfall, den er ins geheim schon mehr als einmal bedauert hat te. Er war froh, daß Braheva ähnlich dachte wie er. In einem Punkt allerdings war Lykaar sehr besorgt – nach wie vor. Das war die vermaledeite Angelegenheit mit der Wun derdroge. Wenn Lykaar Pech hatte, dann gab es jetzt in Orxeya einige Dutzend Män ner, die früher als Ehrenmänner, gute Händ ler und Orxeyaner von echtem Schrot und Korn in hohem Ansehen gestanden hatten und nun als Zwerge mit langen blauen Haa ren herumliefen und über diese Verwand lung sicherlich nicht begeistert waren. Vor deren Rache hatte sich Lykaar zu fürchten – wenn er Pech hatte, und wenn er einen Blick zur Seite auf Braheva warf und sein Glück in Liebesdingen bedachte, dann mußte er auf das Schlimmste gefaßt sein. Lykaar warf einen Blick auf Elian. Die Angelegenheit mit den Yassels war berei nigt, aber das hieß nicht notwendigerweise, daß die beiden nun gute Freunde geworden wären. Ob es für einen gewitzten Händler auch im Blutdschungel bei den Dalazaaren eine Lebensmöglichkeit gab? Lykaar über dachte das Problem, während er neben dem Weg herging. Alles kam darauf an, was unterdessen in Orxeya geschehen war. Lykaar jedenfalls näherte sich seiner Hei mat mit sehr zwiespältigen Gefühlen.
*
Gefangene des Shemma »Meinst du nicht …?« begann Lykaar zaghaft. Braheva warf ihm einen strengen Blick zu, der Lykaar noch kleiner werden ließ, als er es ohnehin schon war. Die Umwallung von Orxeya war in Sicht. Noch eine knappe halbe Stunde, und das Yasselgespann mit den drei Reisenden muß te die Stadt der Händler erreicht haben. Was dann geschehen würde, ließ sich nicht vorhersagen – Lykaar war geneigt, das Schwärzeste anzunehmen. Elian grinste still in sich hinein. Er war sehr gespannt, wie sich der Händler aus der Affäre ziehen wollte. Lykaar grinste säuerlich. Er hatte über haupt keine Lust, seinen Feinden in die Ar me zu laufen, aber ihm blieb keine andere Wahl. Ein Orxeyaner aus Lykaars Bekannten kreis wanderte in Sichtweite vorbei. Wäh rend Lykaar am liebsten in Deckung gegan gen war, winkte der andere einen freundli chen Gruß hinüber. Lykaar grüßte zurück. »Vielleicht wird es doch nicht so schlimm«, murmelte Lykaar hoffnungsvoll. Er hatte insgeheim damit gerechnet, daß der erste, der ihn zu Gesicht bekam, in die Stadt eilte und eine mörderische Rotte von Ge prellten zusammentrommelte. Einstweilen sah es nicht danach aus. Gleichmäßig trabten die Yassels der Stadt entgegen. Es hatte sich etliches getan in der letzten Zeit. Einige Schäden, die bei der großen Pa nik auf Pthor entstanden waren, hatte man unterdessen ausgebessert, dafür war die Stadtmauer an einer anderen Stelle in jüng ster Zeit niedergebrannt, vermutlich aus Un achtsamkeit. »Haltung!« stieß Braheva hervor. Sie rammte Lykaar den Ellenbogen in den Leib. »Ich bemühe mich ja«, gab Lykaar zu rück. Niemand hinderte die drei daran, die Stadt zu betreten. Und hinter dem Tor gab es auch keinen Pöbelhaufen, der auf Lykaar lauerte. Sollte es am Ende doch zu keiner Panne ge
41 kommen sein? Einiges Aufsehen erregte allerdings der Dalazaare. Die Bewohner des Blutdschun gels lagen mit den Orxeyanern in immer während blutiger Fehde oder waren auf ewig mit ihnen verbündet – das hing von der Jah reszeit ab, vom jeweiligen Stamm der Blutd schungelbewohner und von der Laune der Orxeyaner. Zur Zeit schienen die Dalazaaren wieder einmal die Erzfeinde der Orxeyaner zu sein. So jedenfalls interpretierte Lykaar die bösen Blicke, mit denen Elian bedacht wurde. Der Dalazaare sagte nichts, aber er war sehr wachsam, und seine rechte Hand ent fernte sich nur sehr selten vom Gürtel. Wehe dem Orxeyaner, dem es einfiel, dem Dala zaaren zu nahe zu treten – Elians Sippe war berüchtigt für ein besonders stark ausge prägtes Ehrgefühl. »Hallo, Lykaar! Gute Geschäfte ge macht?« Lykaar zuckte zusammen. Das Organ war unverkennbar – der alte Korrand, einer der klapprigsten und eifrigsten Weiberhelden, die Orxeya je gesehen hatte. Er war einer der ersten gewesen, die Lykaar mit seinem Verjüngungsapparat versorgt hatte. Sehr langsam wandte sich Lykaar zu dem Sprecher um. Er stieß einen Seufzer der Er leichterung aus. Korrand war normalgroß, sein Haar hatte ein feuriges Rot, von grauweißen Strähnen durchsetzt. Er sah aus wie das, was er war – ein recht rüstiger Greis. Von Zwergenwuchs oder blauen Körperhaaren war nichts zu se hen. »Prächtig«, beteuerte Lykaar. »Ganz her vorragend.« »Das freut mich«, sagte Korrand und winkte zum Gruß. »Ich werde dich in den nächsten Tagen einmal besuchen kommen.« »Ich freue mich schon darauf«, sagte Ly kaar. Seine Laune hatte sich schlagartig gebes sert. Er grinste selbstsicher und sah sein Weib herausfordernd an. »Na, was habe ich gesagt?«
42 Braheva leckte sich die Lippen. »Soll ich es dir wiederholen?« fragte sie trocken. Lykaar machte ein schuldbewußtes Gesicht. »Lieber nicht«, sagte er. »Aber du wirst mir recht geben, es sieht ganz danach aus, als hätte ich mich getäuscht – jedenfalls was die Wirkung des Mittels auf Menschen an geht.« »Vielleicht setzt sie beim Menschen nur wesentlich später ein«, sagte Elian. Lykaar bedachte ihn mit einem mörderischen Blick. Während Braheva mit sicherer Hand das Yasselgespann zu ihrem Haus lenkte, begeg neten sie etlichen Freunden und Bekannten. Es gab kein einziges unfreundliches Gesicht zu sehen, und allmählich wurde die Angele genheit fast schon unheimlich. Das Haus stand noch und war unversehrt. Niemand hatte die Türen aufgebrochen, das Mobiliar gestohlen oder zertrümmert oder den roten Hahn aufs Dach gesetzt, um sich für erlittenes Ungemach am Besitzer zu rä chen. »Irgend etwas stimmt hier nicht«, sagte Lykaar leise. »Wenigstens ein bißchen böse könnten die Leute schon sein.« Sie führten die Yassels auf den Hof. Dort standen einige Boxen, in denen Lykaar bei seiner Abreise kleine blaue Haaryassels zu rückgelassen hatte. Jetzt standen prächtige wohlgenährte Tiere darin, die freudig wie herten, als sie Lykaar erblickten. »Das grenzt an ein Wunder«, sagte Ly kaar leise. »Ich kann gar nicht sagen, wie dankbar ich bin, daß diese Sache noch ein mal glimpflich abgelaufen ist.« »Offenbar hält die negative Wirkung des Wundermittels nur ein paar Tage oder ein paar Stunden an«, versuchte Elian die Sache zu erklären. Er freute sich darauf, bei seiner Rückkehr die Yassels wieder vorzufinden, mit denen er Ahvee hatte bezahlen wollen. Nun hatten die Tiere wieder ihren ursprüng lichen Wert – und Elian besaß obendrein die Zuchttiere von Luuhr. Nun, vielleicht gab der alte Grajyn noch eine Tochter her, man würde sehen.
Peter Terrid »Ein Glück, daß dieses Problem ein für allemal erledigt ist«, sagte Braheva seuf zend. Elian konnte sich daran erinnern, wie Ly kaar seine letzten Vorräte im Palast des Lahlogor vernichtet hatte. Er und Lykaar hatten die wundersame Paste verbrannt. Das Zeug brannte ziemlich gut und entwickelte sehr lustige Dämpfe, die bunt schillerten und sich im Palast schnell verteilt hatten. Was danach passiert war, was für Szenen sich ab gespielt hatten, darüber war strengstes Still schweigen vereinbart worden. Elian für sei nen Teil war froh, daß seine Haare darüber nicht weiß geworden waren. Nun, inzwischen hatte der Lahlogor von Luuhr wieder normale Größe, der famose Bartwuchs seines weiblichen Hofstaats ge hörte der Vergangenheit an, und die seltsa me Wunderdroge existierte nicht mehr. Nie mals wieder würden Yassels grün anlaufen oder blauhaarig werden. »Wann willst du abreisen?« fragte Lykaar den Dalazaaren. Elian zuckte mit den Schul tern. »In den nächsten Tagen«, sagte er, ohne nachzudenken. »Du wirst verstehen, daß ich meine Ahvee schnell wiedersehen möchte.« Lykaar sah Braheva an und nickte ver ständnisvoll. »Aber zunächst wirst du unser Gast sein«, sagte Lykaar. »Du weißt, daß die Gast freundschaft der Orxeyaner sprichwörtlich ist?« Elian dachte an die zahlreichen kleineren und größeren Scharmützel, die es zwischen den Stadtbewohnern und den Leuten aus dem Blutdschungel in den letzten Jahren und Jahrzehnten gegeben hatte. Er nickte, denn die Gastfreundschaft der Orxeyaner war sprichwörtlich – wenn sie sich erst einmal zur Freundschaft hatten durchringen können. Es dauerte dann auch nicht lange, bis Ly kaar und Braheva zusammen mit ihrem Per sonal ein üppiges Mahl aufgetischt hatten. Es gab Braten und frisches Brot, dazu besten Kromyat. Das Mahl hatte kaum begonnen, als sich
Gefangene des Shemma auch schon die ersten Freunde einstellten. Der erste, der erschien war, Peran, wie im mer ganz in Blau gewandet. Wenig später tauchte Achar auf, der die geheimnisvolle Wundersalbe komponiert hatte. Man konnte nur hoffen, daß es ihm nie wieder gelingen würde, etwas Ähnliches zu fabrizieren. In zwischen hatte er einen schwunghaften Han del mit einem völlig nutzlosen, aber den noch recht gewinnträchtigen Artikel eröff net, den er Achars Wagenradabzieher ge nannt hatte. »Es ist herrlich, wieder in der Heimat zu sein«, sagte Lykaar und hob den Humpen. Die Freunde taten ihm Bescheid. »Ich hoffe, daß das Wanderleben jetzt ein Ende hat«, sagte Braheva. »Mir jedenfalls langt es – endgültig.« »Es wird sich alles zum Guten wenden«, behauptete Lykaar. Er hatte seinem armen Weibe wirklich sehr viel zugemutet seit jenem Tag, an dem er Achar ein klappriges Yasselgespann und eine Wagenladung Seife abgekauft hatte. Seit jenem Tag war Lykaar nicht mehr zur Ruhe gekommen, das gleiche galt für Brahe va. In ein paar Monaten würde sein Kind ge boren werden, vielleicht eine Tochter, so hübsch wie ihr Vater, oder ein Sohn, so kräf tig wie seine Mutter. Lykaar war bereit, sich über alles zu freuen. Er hatte auch allen Grund dazu. Scheuer und Keller waren wohlgefüllt, auf dem Hof stand ein Wagen mit kostbarer Ladung, die Freunde waren da und schmausten – für einen Händler aus Or xeya konnte es kein herrlicheres Leben ge ben. »Kann ich dich sprechen?« Lykaar hörte, was Achar ihm ins Ohr flü sterte. »Natürlich«, sagte Lykaar. »Komm mit.« Die beiden verzogen sich in ein benach bartes Zimmer. Lykaar war ersichtlich zu Wohlstand gekommen – der Raum wurde von Öllampen erhellt, nicht wie sonst in Or xeya üblich von knisternden Fackeln. »Ich brauche wieder etwas«, sagte Achar.
43 Lykaar zwinkerte verblüfft. »Brauche? Wovon?« »Nun, von deiner Wundermedizin. Orxe ya redet unter der Hand über nichts anderes mehr. Du wirst hier seit geraumer Zeit sehn süchtig erwartet.« »Oha«, sagte Lykaar. Zu mehr reichte es einstweilen nicht. »Nun rück schon heraus damit. Ich habe meinem Großvater eine Portion davon ver sprochen, sobald du wieder zu erreichen bist.« Lykaar leckte sich die Lippen. »Es gibt da ein gewisses Problem«, sagte er zögernd. Achar sah ihn verweisend an. »Was für ein Problem?« »Ich habe das Zeug vernichtet«, gestand Lykaar. »Verbrannt. Es gibt keinen Wunder trank mehr.« Achar rollte entgeistert mit den Augen. »Das lügst du«, sagte er hoffnungsvoll. »Du willst mich ärgern und erschrecken, nicht wahr? Du hast noch genug von dem Zeug, oder?« »Nein!« stieß Lykaar hervor. »Ich habe alles vernichtet. Ich habe nämlich entdeckt, daß das Mittel eine Nebenwirkung hat – die Yassels, die ich damit behandelt habe, sind ganz klein, blau und haarig geworden, und deshalb habe ich das Zeug vernichtet. Ich bin heilfroh, daß das Mittel bei Menschen nicht so wirkt.« »Wer sagt das?« Lykaar wurde bleich. »Soll das bedeuten, daß auch … oh nein, Achar. Sag, daß das nicht wahr ist. Sie sind klein und blau und haarig geworden …!« »Sind sie, gib dich keinen Illusionen hin«, sagte Achar trocken. »Und?« fragte Lykaar schreckensbleich. Er sah sein ungeborenes Kind schon als Halbwaise an seinem Grabe trauern. »Der Effekt hat einen Tag angehalten«, sagte Achar. »Danach waren sowohl die Yassels als auch die Leute wieder groß und hatten normale Hautfarbe.« »Dem Schicksal sei Dank«, seufzte Ly
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kaar. »Was geblieben ist, war die Behaarung, du Tropf. Kannst du dich an Polher erin nern?« »Den Glatzkopf?« »Von wegen Glatzkopf, er trägt jetzt eine feuerrote Lockenpracht, daß seine Söhne vor Neid fast platzen. Und jeder will dein Wun dermittel haben … sie werden aus allen Tei len Pthors angereist kommen, von fernen Welten … von überall her.« Lykaar mußte sich gegen eine Wand leh nen, um nicht umzufallen. »Nein!« jammerte er. »Du hast noch ein paar Tage Zeit, dann werden sie dir das Haus stürmen.« Lykaar faßte Achar bei der Hand. »Ab in den Keller«, sagte er hastig. »Wir müssen experimentieren, sofort. Vielleicht schaffen wir es noch.« Sie kehrten in den Wohnraum zurück. »Wohin, Lykaar?« fragte Braheva, der das käsige Aussehen ihres Gatten nicht ent gangen war. »Seife sieden«, stieß Lykaar hervor. »Riesige Mengen Seife, ich werde es dir später erklären.« Braheva sah ihren Mann zusammen mit Achar verschwinden, und sie stieß jenen Seufzer aus, der gleichsam als Leitspruch dieser Ehe gelten konnte: »Wenn das nur gutgeht.«
10. Elian pfiff vergnügt vor sich hin. Ein paar Stunden noch, und er würde das Siedlungs gebiet seiner Sippe erreicht haben. Und abermals ein paar Stunden, und er würde mit seinem Weib seine Hütte beziehen können. Zudem war er jetzt vermutlich der wohlha bendste Dalazaare, der je im Blutdschungel gelebt hatte, auch das ein Grund, der Elian froh und heiter stimmte. Elian hatte zwei Tage bei seinen Freunden in Orxeya verbracht, bis er es dort nicht mehr ausgehalten hatte, weil der Seifenge ruch aus dem Keller nicht mehr zu ertragen
gewesen war. Von Lykaar hatte Elian in die sen Tagen nichts mehr gesehen, aber einmal von ihm gehört, als irgend etwas im Keller in die Luft geflogen war. Elian bewegte sich langsam. Er wußte, daß der Blutdschungel seine Tücken hatte, und die Verhältnisse in diesem Gebiet des Dimensionsfahrstuhls waren noch unüber sichtlicher und bedrohlicher geworden durch das komplette Durcheinander, das die flüch tenden Pthorer dort angerichtet hatten. An jene Tage, an denen halb Pthor vor Angst ir re war und das unterste zu oberst gekehrt hatte, dachte niemand im Blutdschungel ger ne zurück. Es war durchaus möglich, daß einzelne Versprengte bis auf diesen Tag im Blutdschungel herumirrten. Hinter Elian trabten die Zuchttiere. Der Dalazaare war gespannt, ob es gelingen wür de, die Tiere auf Pthor heimisch zu machen. Auf der anderen Seite hatte Elian inzwi schen seine Ansichten über Pthor gründlich ändern müssen – er hatte in den letzten Ta gen viel über die größeren Zusammenhänge erfahren, in die Pthor verwickelt war. Die frühere Einstellung ließ sich jetzt nicht mehr halten – man konnte nicht einfach in den Tag hinein leben und darauf vertrauen, daß es bei allem Hin und Her im Blutdschungel grundsätzlich keine Veränderungen geben würde. Dennoch blickte der Dalazaare vertrau ensvoll in die Zukunft. Heiteren Angesichts und Gemüts mar schierte er durch die Randzonen des Blutd schungels, immer tiefer hinein in jenen Be reich von Pthor, der den meisten anderen nicht recht geheuer war. Die spärliche Besiedlung des Dschungels führte dazu, daß Elian unterwegs nieman dem begegnete. Erst als er das Gebiet seines Stammes erreichte, traf er auf Menschen. Es war – Zufall oder Fügung – Ahvee, auf die er stieß. Sie war gerade damit beschäf tigt, Wasser zu holen. Als sie Elian erblick te, stieß sie einen leisen Freudenschrei aus, ließ den Wassersack fallen und rannte ihm entgegen.
Gefangene des Shemma »Endlich bist du wieder da«, freute sie sich. »Wir hatten schon Angst, du seist tot.« »Wie du sehen kannst, lebe ich noch«, sagte Elian. Diese Art der Begrüßung gefiel ihm; sie war die Mühen und Strapazen der Reise nach Klerh fast wert. »Warum bist du nicht früher zurückge kehrt?« fragte Ahvee. Sie warf einen scheu en Blick auf die Zuchttiere, die hinter Elian standen und sich an dem umstehenden Grün zeug gütlich taten. »Und was sind das für Tiere?« »Eins nach dem anderen«, sagte Elian. »Ich wollte mich an dem betrügerischen Händler aus Orxeya rächen, der mir die Yas sels verkauft hat.« »Ich weiß, aber die Yassels sind völlig normal«, rief Ahvee aus. »Das wissen wir jetzt, damals wußte ich es nicht«, sagte Elian grinsend. Langsam setzte er seinen Weg fort. Ahvees Wasser sack lud er einem der Tiere auf. »Ich bin ziemlich weit herumgekommen«, berichtete Elian. »Unter anderem nach Lu uhr und Klerh, das sind zwei benachbarte Dimensionsfahrstühle, weißt du.« »Ach«, sagte Ahvee, und Elian merkte, daß sie ihm nicht recht glaubte. Er wäre der erste Dalazaare gewesen, der eine so weite Reise gemacht hätte. »Dort haben wir allerlei erlebt. Wir haben Shemma besiegt, ein Gehirnwesen in einer Kuppelstadt.« »Wer sind wir?« »Nun, der Händler, sein Weib, ein Robot aus Wolterhaven und ich. Es war sehr schwierig und überaus gefährlich.« »Das glaube ich«, sagte Ahvee halblaut. »Und woher hast du nun diese entsetzlich großen Tiere?« »Es sind ganz normale Tiere«, korrigierte Elian sanft. »Sie stammen von Luuhr, da ist fast alles größer als hier. Die Leute, die dort leben, sind fast ohne Ausnahme größer als ich oder irgendein Dalazaare.« »Und sie haben dir diese Tiere geschenkt? Wofür?« Elian merkte allmählich, daß Ahvee seine
45 Geschichte mit unleugbarer Skepsis anhörte. Sie wußte wohl nicht recht, ob sie dem, was Elian sagte, Glauben schenken sollte oder nicht. »Nun, wir haben Yamthla ausgeschaltet und einen Krieg zwischen den Linarvos von Klerh und den Skaharan von Luuhr verhin dert.« Ahvee schielte zu den Tieren. Ihr Gesichtsausdruck besagte, daß solch ein Geschenk wohl nicht zuviel war, um einen offenkundig Geistesgestörten wieder friedlich loszuwerden. Auf der anderen Seite war die Gabe viel zu kümmerlich, um ange messen für die Verhinderung eines Krieges zwischen zwei Dimensionsfahrstühlen zu sein. »Wer oder was … aber das kannst du al les später erzählen«, sagte Ahvee. »Als er stes solltest du dich waschen und umziehen, und dann siehst du nach deinen Yassels, und dann kannst du zu meinem Vater gehen, ja?« »Genau so werde ich es machen«, sagte Elian. Ahvee sah ihn zärtlich an. »Und noch eines, bitte, erzähle nichts von Klerh und Linarvos und solchen Sachen. Das macht sich nicht gut.« Elian lächelte verhalten. Er konnte Ahvee verstehen. Woher sollte sie zu der Weiträu migkeit und Großartigkeit des Denkens kommen, die einem so weitgereisten Mann wie ihm zu Gebote standen? Elian pferchte die Zugtiere im gleichen Gatter ein, in dem auch seine Yassels unter gebracht waren. Die Tiere hatten die Abwe senheit ihres Besitzers gut überstanden, ver mutlich hatte Ahvee sie gepflegt und gefüt tert. In Elians Hütte hatte sich nichts verän dert. Auf dem Weg vom Pferch zur Hütte wurde er sehr neugierig angesehen, aber Eli an achtete nicht darauf. Möglichst würdevoll schritt er an den Freunden vorbei. Später, nach der Heirat, wollte er ein großes Fest geben, und dann wollte er von seinen Erfah rungen berichten. Elian brauchte nicht lange, um sich frisch
46 zu machen. Er suchte aus dem Kasten mit den Geschenken des Lahlogors ein paar Kleinigkeiten heraus, die er einsteckte. Dann machte er sich auf den Weg zu dem Vater seines zukünftigen Weibes. Grajyn saß vor seiner Hütte und nippte ab und zu etwas Milch. Er blieb ruhig sitzen, als Elian nähertrat. Mit einer Handbewegung forderte er Elian auf, sich zu setzen. Es war, als habe sich nicht das geringste verändert. Auch diesmal kam der Alte wie der ohne Umschweife zur Sache. »Du kommst wegen meiner Tochter, nicht wahr?« »In der Tat«, bestätigte Elian. »Du hast die Yassels gesehen?« Grajyn nickte wohlgefällig. »Ich nehme die Tiere«, sagte er. »Du kannst meine Tochter haben, sie gehört dir.« Elian zwinkerte verblüfft. Daß der Alte ein überaus großes Interesse zeigte an dieser Heirat, verwunderte Elian, aber mit einer so raschen Entwicklung der Dinge hatte er wahrlich nicht gerechnet. In gewisser Weise kam es ihm vor, als werfe Grajyn ihm seine Tochter wie einen alten Lumpen vor die Fü ße. Ein wenig mehr Sitte und Anstand wäre in diesem Fall angebracht gewesen. Indessen versuchte Elian, sich nichts an merken zu lassen. Irgendwie kam er sich zwar um die Feierlichkeit einer solchen ritu ellen, Unterredung geprellt vor, aber was er wirklich wollte, war Ahvee, und die hatte er nun. Ein halbes Dutzend Mitglieder des Dorfes hatten Grajyns Zusage gehört, der Alte konnte nun nicht mehr zurück. »Ich habe dir ein Geschenk mitgebracht«, sagte Elian. Er brachte die beiden Wurfmes ser zum Vorschein, die er für Grajyn schon vor geraumer Zeit besorgt hatte. Zum ersten Mal während dieser Prozedur tat der Alte etwas, was man von ihm erwar tete. Er prüfte die Messer lang und sorgfäl tig. Elian brauchte die Probe nicht zu scheu en, die Messer waren hervorragend ausba lanciert, kleine Kunstwerke in ihrer Art. »Sehr nützlich«, bemerkte Grajyn. Er würde zwar bis ans Ende seiner Tage nicht
Peter Terrid mehr genügend Kraft aufbringen, eines der Messer auch tatsächlich zu werfen, aber er schien dennoch mit der Gabe mehr als zu frieden. Als nächstes schleppte Elian den Stoff heran, der für seine zukünftige Schwieger mutter bestimmt war. Auch dieses Werbege schenk fand die Zustimmung des alten Gra jyn. Langsam wurde Elian die Sache unheim lich. Der Handel wickelte sich so glatt ab wie kein Geschäft zuvor, und Elian wußte eines sehr genau: der alte Grajyn war ein ausgemachtes Schlitzohr. Man mußte auf der Hut sein. Eine große Schnapsflasche wurde übergeben, sie war als Geschenk für Ahvees einzigen Bruder bestimmt. Dann brachte Elian das Schlangen hauthalsband zum Vorschein, daß er für Ah vee hergestellt hatte. »Später«, sagte Grajyn. »Du hast Zeit. Willst du mir nicht erzählen, was es mit den großen Tieren für eine Bewandtnis hat, die du mitgebracht hast?« »Später«, sagte nun seinerseits Elian. »Sollen wir den Geisterbeschwörer rufen?« »Das ist keine schlechte Idee«, sagte Gra jyn. »Bringen wir die Zeremonie hinter uns. Ich werde es ohnehin kaum ertragen können. Mein armes Kind.« »Arm dürfte nicht mehr zutreffen«, sagte Elian zuversichtlich. Indessen hörte der alte Grajyn nicht auf, das erbarmungswürdige Schicksal seiner be dauernswürdigen Tochter zu bejammern. Das gehörte eigentlich zur Zeremonie, wirk te aber ein wenig unpassend, da sich der Al te vorher auch nicht an Sitte und Herkom men gehalten hatte. Die Vorbereitungen für die große Hoch zeitszeremonie waren rasch abgeschlossen. Das ganze Dorf wartete seit geraumer Zeit auf diese Hochzeit, daher dauerte es nicht lange, bis sich alle eingefunden hatten. Auf dem Platz zwischen den Hütten wurde ein großes Feuer gemacht; vor Elians Hütte wurden die ersten Braten vorbereitet, Freun de schleppten große Kalebassen mit Bier
Gefangene des Shemma und Schnaps heran. »Bist du bereit?« fragte Grajyn. »Das bin ich«, bestätigte Elian. Grajyn klatschte in die Hände, und ein wenig später erschien der Geisterbeschwö rer. Er trug ein langes Gewand, das aus vie len hundert Blättern kunstvoll zusammenge heftet worden war. Vor dem Gesicht trug er eine Maske aus Holz, die im Licht des Feu ers besonders bedrohlich wirkte. Elian spürte, wie sein Herz schneller schlug. Dies war der wichtigste Teil der Zeremo nie. Der Geisterbeschwörer schuf einen Frei raum für das Paar, indem er alle Dämonen und bösen Geister der näheren Umgebung bannte. In diesem Freiraum, der den Kräften des Bösen keinen Zutritt geben sollte, muß ten sich die Paare einander versprechen – nur dann hatte die Ehe Aussicht auf Erfolg. Elian hielt nicht sehr viel von Geisterbe schwörung, aber wider Willen wurde er ge packt. Der Beschwörer tanzte den großen Hochzeitstanz, und er steigerte sich immer mehr in eine tänzerische Ekstase hinein. Nach einer Stunde war die Menge genü gend angeheizt, um in den allgemeinen Tanz einzufallen. Auch Elian begann damit, rhythmisch auf den Boden zu stampfen. Dazu wurden die Kalebassen mit Schnaps von Hand zu Hand gereicht. Die Männer waren unter sich, die Frauen waren in den Hütten geblieben. Es hieß, es bringe Unheil über eine Ehe, wenn außer der Ehefrau noch ein Weib an der Zeremonie teilnahm. Als das Fest seinen Höhepunkt erreicht hatte, wurde die Braut auf den Platz geführt. Ohrenbetäubender Lärm kündigte ihr Er scheinen an. Mit schrillen Pfiffen und lauten Zurufen taten die versammelten Männer kund, daß sie Elians Wahl billigten. Daß ei nige bei der Lobpreisung der Braut ihrer Zunge ein wenig die Zügel schießenließen, gehörte zum Ritual. Die Männer formten einen großen Kreis, der Elian, das Feuer und wenig später auch Brautvater und Braut einschloß.
47 Die Braut war vollständig verhüllt; sie trug ein langes dunkles Gewand und wurde von ihrem Vater langsam auf Elian zuge führt. Das Herz des Dalazaaren schlug schnell und heftig. Unmittelbar vor Elian blieb Grajyn ste hen. Mit lauter Stimme fragte er: »Willst du diese meine Tochter zum Wei be nehmen, Elian?« Elian öffnete den Mund. »Nein!« sagte er dann hart. Ein Stöhnen ging durch die Menge. »Was soll das heißen?« schrie Grajyn zornrot. »Daß ich unter deinen Töchtern Ahvee zum Weib nehmen werde und nicht diese da!« Er riß dem Mädchen den dunklen Schleier vom Gesicht. Es war Aslee, Ahvees ältere Schwester, auch sie ein attraktives Weib, aber eben nicht Ahvee. »Elender Betrüger!« schrie Elian. »Um noch etwas als Brautpreis herauszuschlagen, mutest du deiner Tochter eine solche Demü tigung zu?« Aslee war bleich geworden. Sie sah Elian dankbar an, daß er sofort an sie und ihre Schmach gedacht hatte. Grajyn stieß ein hohes Gelächter aus. »Du wolltest eine Tochter von mir haben, nun gebe ich dir eine. Haben wir über Na men gesprochen? Nein, haben wir nicht. Nun, so nimm sie!« Elian richtete sich auf. Er ließ seine Hand vorschnellen, und er packte Grajyn an der Gurgel. Ohne sich sonderlich anzustrengen, hob er den Alten auf und schleppte ihn näher an das Feuer heran. »Hier wirst du rösten, bis du dich beson nen hast«, sagte Elian laut. Er stieß Grajyn näher an die Flammen. »He!« rief der Alte. »Was soll das? Wir haben einen Handel geschlossen, diese Män ner sind meine Zeugen. Es ist Sache des Va ters, die Braut auszuwählen.« »Du wußtest, daß ich Ahvee wollte und keine andere, oder?« »Na und? Vielleicht hast du es dir anders
48 überlegt, während du auf Reisen warst. Du hättest ja etwas sagen können, nicht wahr?« »Ich sage es hier und jetzt.« Elian drängte Grajyn noch näher an die knisternden Scheite heran. Langsam wurde die Sache sehr heiß und ungemütlich. »So etwas von Habgier habe ich noch nie erlebt«, schimpfte Elian. »Ich bin alt«, jammerte der Brautvater. »Meine Tage sind gezählt, und ich möchte wissen, wo ich mein müdes Haupt zur Ruhe betten kann. Was habe ich Schlechtes getan, daß du mich so bedrohst? Zu Hilfe, Leute, rettet mich vor diesem Unhold!« Der Geisterbeschwörer trat auf Elian zu. »Er hat recht«, sagte der Mann unter der Maske. »Du hättest den Namen der Braut nennen müssen. Das hast du nicht getan, und nun mußt du nehmen, was dir der Vater an bietet. So ist es Sitte bei uns.« Elian ließ Grajyn los. Der alte Dalazaare rieb sich den Hals, da Elian ein wenig hart zugepackt hatte. Elian wandte sich an den Geisterbeschwö rer. »Darf ich den Kaufpreis mindern oder än dern?« »Nein, du hast dein Wort gegeben.« »Aber ich darf noch etwas dazugeben?« »Das bleibt dir unbenommen.« Elian sah Grajyn an. »Also gut«, sagte er. »Ich bin gleich wie der da.« Ein paar Augenblicke später kehrte er zu rück, in der Hand eine kleine Flasche. »Dies«, sagte Elian, »ist ein weiteres Ge schenk an meinen zukünftigen Schwiegerva ter.« Aus Grajyns Gesicht sprang unverhohlene Habgier und Zufriedenheit. Elian trat auf ihn zu. Er öffnete die kleine Flasche und goß den Inhalt zu aller Erstaunen dem Alten über den Kopf. »Was tust du?« schrie Grajyn. »Frecher Kerl!« Elian blieb ruhig stehen. »Es ist ein Geschenk, das deiner Habgier würdig ist«, sagte er. »Ein Trank, gebraut
Peter Terrid von meinem Freund Lykaar – und er war derjenige, der den Trunk für die Yassels er funden hat.« Grajyn rollte mit den Augen. Die nackte Angst stand ihm im Gesicht geschrieben. »Was wird mit mir geschehen?« schrie er. »Werde ich jetzt auch verkleinert?« Elian sah ihn verächtlich an. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Lykaar hat sehr geheimnisvoll getan, als er mir die Fla sche gab. Für ganz besondere Gelegenhei ten, hat er mir gesagt, und er hat ganz eigen tümlich gelächelt, als er das gesagt hat.« »So helft mir doch!« schrie Grajyn. »Er hat mich mit seinem Zaubertrank verhext.« »Hilf dir selbst«, sagte der Geisterbe schwörer. »Hier haben wir nichts mehr zu tun.« Grajyns Zähne klapperten deutlich hörbar. Der Alte war ein gebrochener Mann. »Nimm Ahvee!« schrie er und streckte flehentlich die Hände aus. »Nur rette mich vor dem Zaubertrank!« »Du gibst mir Ahvee? Wo ist sie?« »Hier!« Ohne daß Elian etwas davon gemerkt hat te, hatten Aslee und Ahvee die Plätze ge tauscht. Ahvee trug jetzt das traditionelle Brautgewand. Sie griff nach Elians Arm. »Hilf mir!« ächzte Grajyn. Elian sah ihn streng an. »Du hast mich einmal betrogen, ich weiß nicht, ob du es ein zweites Mal versuchen wirst«, sagte er hart. »Erst nach der Hoch zeit werde ich dir helfen!« Grajyn nickte eifrig. Elian konnte nur mit Mühe ein spöttisches Grinsen unterdrücken. Dieser Sorge war er nun ledig. Die Zeremonie konnte ihren Fortgang nehmen. Eine knappe Stunde danach waren Elian und Ahvee unwiderruflich verheiratet, es gab kein zurück mehr. Grajyn hatte sich nicht widersetzt. Er hockte neben seinem bunt herausgeputzten Weib und schielte ab und zu auf seine Hände, ob sich da irgendei ne Veränderung zeigte. »Was hast du mit ihm gemacht?« fragte
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Ahvee ihren Mann leise. Elian grinste. »Warum willst du das wissen?« »Er ist schließlich mein Vater.« »Du brauchst dir keine Sorgen zu ma chen«, sagte Elian. »Es war nur Wasser, nichts als Wasser. Ein kleiner Trick.« Ahvee kicherte unterdrückt. Das Fest konnte weitergehen. Irgendwo, viele Reisestunden entfernt, starb jetzt zur gleichen Zeit vielleicht der Zwingherrscher über Klerh, irgendwo anders, Lichtjahre ent
fernt, rüstete zur gleichen Zeit vielleicht der Dunkle Oheim zum letzten Kampf um die Herrschaft. Elian interessierten die Gefahren in der Ferne nicht; er war zufrieden damit, das Glück an seiner Seite zu haben. Und tief in ihm schlummerte die feste Zuversicht, daß dieses Glück Bestand haben würde.
ENDE
Weiter geht es in Atlan Band 493 von König von Atlantis mit: Die Dimensionsfalle von H. G. Ewers