Seewölfe 736 1
Sean Beaufort
Gefährliche Freundschaft
Jeder Stoß, jedes Knirschen und Krachen aus den Laderäumen und ...
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Seewölfe 736 1
Sean Beaufort
Gefährliche Freundschaft
Jeder Stoß, jedes Knirschen und Krachen aus den Laderäumen und das grauenhafte Geräusch, mit dem der Kiel auf den Felsen zermalmt wurde, bedeuteten für Schipper Jens van Aacheren ein Stück Tod. Sein Schiff, voller kostbarer Gewürze und wertvoller Ladung, zerbrach Stück um Stück. Die „Wilhelm“ wurde zum Wrack. Und vierzig Männer mußten sterben. Holland lag unendlich fern, und der Tod war näher als je zuvor in seinem Leben. Beim nächsten Stoß, der das gestrandete Schifferschütterte, erwachten die Lebensgeister des Kapitäns. Er durfte nicht aufgeben, er, Jens, gab nie auf. Er würde bis zum letzten Augenblick kämpfen. Für sein Schiff, seinen Reichtum und seine Crew würde er gegen jeden und alles kämpfen... Die Hauptpersonen des Romans: Jens van Aacheren – der Kapitän der „Wilhelm von Oranien“ erleidet Schiffbruch, aber er gibt nicht auf. Edwin Carberry– gerät mit sechs Arwenacks an einen Brunnen der Eingeborenen – und Minuten später fallen alle sieben Mann um. Clint Wingfield – der Moses der Arwenacks ist nicht nur ein pfiffiges Kerlchen, sondern übt auch kluge Zurückhaltung, wenn es brenzlig wird. Philip Hasard Killigrew – leistet großzügig Hilfe und wird dann bitter enttäuscht.
1. Kapitän Jens van Aacheren stieß einen lauten Fluch aus, aber der heulende Sturm riß ihm die Worte von den Lippen. Wieder fühlte er durch die Planken des Achterdecks, wie der Kiel zitterte und sich durchzubiegen schien, wie einzelne Planken brachen und die Erschütterungen die Fleute vom Ruder bis zum Vorsteven schüttelten. Nur ein einziger Gedanke ging immer wieder wie eine Beschwörung durch seine Gedanken: So schnell bricht ein gutes Schiff nicht auseinander! Und die „Wilhelm von Oranien“ war ein verdammt gutes Schiff. Sie war an zwei Stellen aufs Riff aufgekommen, und auch die letzte Flut hatte sie nicht heben können. Seit Stunden wütete dieser grauenhafte Sturm. Jens van Aacheren hoffte inbrünstig, daß aus der nächtlichen, von Blitzen flackernd erhellten Finsternis eine riesige Woge heranrauschen und das gequälte Schiff von den Felsen schieben würde. Langsam in die Höhe und dann mit einem Schwung ins freie Wasser, das keine zwei Kabellängen entfernt war.
Jens klammerte sich an die Pfosten des Schotts. Sie hatten schon zwei Geschütze an Deck gemannt und über Bord gekippt. Nichts half, die Fleute saß fest, legte nach Backbord und Steuerbord über, schüttelte sich und krachte, und ab und zu setzte sie mit der vorderen Hälfte hart auf die knirschenden Felsen. Jedesmal gingen Geräusche und Erschütterungen durch den bauchigen Rumpf, als treibe man mit dem Hammer einen Nagel durch die Hirnschale der Seeleute. Neununddreißig Männer schufteten seit Stunden an Deck und in allen Laderäumen bis hinunter zur stinkenden Bilge. „Jan!“ schrie der Kapitän. „Wie sieht es aus? Schafft ihr's?“ Der Schiffszimmermann, der Plankenstücke und Bretter unter den linken Arm geklemmt hatte und sich an einer Leine quer über das Deck hangelte, schüttelte den Kopf. Auch seine Antwort war kaum zu verstehen. „Am meisten nutzt jetzt das Lenzen!“ brüllte er. Wieder rollte ein gewaltiger Donnerschlag über die weite Bucht. Der Zimmermann tappte weiter und enterte einen Niedergang ab.
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Ununterbrochen arbeiteten die Lenzpumpen. Aus mindestens einem Dutzend kleiner und großer Lecks tropfte, sickerte und lief Wasser ins Schiff, oder es schoß im dicken Strahl in eins der unteren Decks. Lasten schwammen auf und behinderten die Männer. Das steigende Wasser erreichte die Ölfunzeln, löschte die Flammen und kippte die Behälter um. Bilgenwasser, Seewasser, Dreck und Öl bildeten eine Brühe, in der die Seeleute versuchten, die Risse in den Planken und die aufgebrochenen Fugen auszubessern und zu verschließen. Wieder packte ein Brecher das Schiff von Backbord, gischtete an den Planken in die Höhe, brach über dem Schanzkleid zusammen und schoß gurgelnd und schäumend über die Kuhl. Die Fleute legte sich nach Steuerbord über. Bedrohlich schwankten die Masten, aber das stehende Gut hatte bisher noch am besten durchgehalten. Die Wanten schwangen peitschend hin und her und wirkten im kurzen, kreidigen Licht des nächsten Blitzes wie Spinnweben. Der Sturm jaulte und kreischte von Nordwesten heran und brach sich am auslaufenden Felskamm der Insel. Er verwandelte die Zacken der Felsen, in denen sich der Kamm unter der Wasserlinie fortsetzte, in kleine Zonen aus nassem Gestein und weißem Schaum, aus dem die Brecher in riesigen Fontänen senkrecht in die Dunkelheit geschleudert wurden. Regen hämmerte auf die Planken, die Schauer wurden umhergewirbelt und prasselten nacheinander aus unterschiedlichen Richtungen gegen Bordwand und Aufbauten. Jeder Mann an Bord, sowohl die elf Mann der untergegangenen „Harlingen“ als auch die neunundzwanzig Seeleute der „Wilhelm von Oranien“ schufteten weiter, ohne sich um das tobende Gewitter zu kümmern. An mehreren Stellen des Schiffes dröhnten Hammerschläge, oft lauter als das Krachen, mit dem die Wellen gegen die Planken, den Bug und das Heck schmetterten.
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„Es hilft nur eins“, murmelte der Kapitän, als er mit der brennenden Funzel in der linken Hand durch die Luke ins Deck unter seiner Kammer kletterte. „Weiter schuften. Bis zum bitteren Ende.“ Er fügte einen langen holländischen Fluch hinzu und lauschte auf das Gurgeln des eindringenden Wassers. Das Gewitter mit Regen und Sturm, mit aufgewühlten Wellen und dem mahlenden Knirschen von Kiel und Planken auf Stein und Korallen schien nicht enden zu wollen. Jens van Aacheren fühlte, als er sich unter Deck befand und der Lärm des Sturms leiser wurde, wie das Schiff stöhnte und ächzte. Und in jeder dieser drohenden Geräusche mischte sich das Hämmern und Sägen der Seeleute und das Klopfen und Zischen der Lenzpumpe. Unter den Decksplanken breitete sich ein Geruch aus, der schwindelerregend war. Es stank nach Gewürzen, die sich im Seewasser verteilten und auflösten. Ab und zu enterte ein Seemann an Deck, um Luft zu schnappen. Ein halbes Dutzend Niederländer stand im peitschenden, warmen Regen, hustete würgend und holte fast stöhnend Luft. Wieder zeigte ein Blitz ringsum das aufgewühlte Meer. Jede riesige Welle trug eine weiße Schaumkrone, die der Sturm fast waagerecht wegschleuderte. Plötzlich schien der Sturm nachzulassen oder gar aufzuhören. Eine seltsame Ruhe breitete sich aus, und als das Summen in den Ohren leiser wurde, hoben die Seeleute die Köpfe und warteten. Sie wußten nicht, auf was, aber sie fühlten, daß in der Finsternis etwas lauerte, das sie umbringen und die Fleute zertrümmern konnte. Ein leises Rauschen war zu hören, ein Winseln, dann wuchs das Geräusch an. Ein ferner Donnerschlag rollte durch die Luft. Das brausende Rauschen wurde lauter, und noch ehe die Seeleute begriffen, was ihnen drohte, wurde das Heck der Fleute in die Höhe gestaucht. Dann schoß das Schiff nahezu senkrecht vom Felsen, der Bug hob sich wieder, und eine unwiderstehliche Kraft schleuderte die Fleute voraus in die Dunkelheit. Die Masten schwankten, das
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Ruderblatt wurde hin und her gerissen, der Bug senkte sich. Joop Horn, der Erste, brüllte durch das Knarren und Zischen: „Wir sind frei! Die ‚Wilhelm' ist vom Riff freigekommen!“ „Ich gehe ans Ruder!“ schrie Piet Bloom, der Profos, der neben dem achterlichen Niedergang stand und ein Spanntau umklammerte. „Sonst schlagen wir quer!“ Er hastete, so gut es auf den nassen, glitschigen Planken ging, zum Kolderstock und packte zu. Das Ruderblatt stellte sich mittschiffs, und die Wucht der riesigen Welle, auf deren Kamm die Fleute wie ein bockendes Pferd ritt, schob den Rumpf des Schiffes in die Dunkelheit. Der Kapitän enterte wieder auf, ließ beinahe die Funzel fallen und rammte mit der Schulter schwer gegen einen Decksbalken. „Was ist los? Ist jemand am ...“ brüllte er. „Ich bin am Ruder!“ rief der Profos. „Wir sind vom Riff!“ „Habe ich gemerkt. Also doch ein Wunder!“ rief Jens van Aacheren. Er hob die Schultern und versuchte, in der aufgewühlten See irgendetwas zu erkennen, aber im flackernden Licht der Hecklaterne sah er nur die weißen Gischtstreifen. Der nächste Blitz zeigte wenigstens, daß sich in unmittelbarer Nähe der Fleute kein Land befand und das Schiff durch tiefes Wasser jagte. „Wird sich zeigen, Schipper!“ rief der Profos. „Ich bleibe hier, bis mich der Rudergänger endlich abgelöst hat.“ „Schon gut. Wir versuchen, die Fock zu setzen. Wir müssen auf Kurs bleiben.“ „Aye, aye, Schipper.“ Der Profos stemmte sich gegen die Hebelkräfte. Die „Wilhelm von Oranien“ krängte in beängstigender Schnelligkeit nach Backbord und Steuerbord, hob und senkte den Bug und schoß durch die Wellen. Die riesige Woge, die das Schiff vom Riff gerissen hatte, schien sich in der Dünung aufgelöst zu haben, von der die Fleute sacht gehoben und ins Wellental abgesenkt wurde. Der Kapitän und eine Handvoll Seeleute setzten das Focksegel. Sie hatten beträchtliche Schwierigkeiten.
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Daß die Fleute frei schwamm, war das beste Zeichen, daß die Seeleute erwarten konnten, aber der Umstand änderte nichts daran, daß unter Deck unaufhaltsam das Wasser kletterte. „Vielleicht finden wir noch in der Nacht einen flachen Strand!“ brüllte Peer Jordaan, der Bootsmann. „Es sind so viele Inseln um uns herum, daß es schon mit dem Satan zugehen müßte.“ An den Schwengeln der Lenzpumpe arbeitete jetzt die dritte Ablösung. Wieder wurden die Strahlen, die aus dem Rohr aus Holz und Lederbälgen schoß, dick wie ein Männerschenkel. Rochus van Traa und Jan Laan, die Schiffszimmerleute der Fleuten, hatten einige Lecks, noch über der Wasserlinie, gut abdichten können. Werg, Leinwand und mühsam erhitztes Pech waren mit Plankenstücken und Kanthölzern festgenagelt und mit Spieren gegen Innenhölzer und Spanten verkeilt worden. Aber unverändert drang entlang des Kiels und in der Bilge Wasser ins Schiff. In einigermaßen ruhigem Wasser würden die Schiffbrüchigen der „Harlingen“ und die Crew der „Wilhelm“ versucht haben, die Lecks von außen mit Segeltuch und dünnen Platten aus Blei abzudichten. Im Sturm war nicht daran zu denken. Die Männer nagelten und zimmerten Platten zusammen, preßten sie mit Gewalt unter den schwappenden Wasserspiegel und schoben sie an die Stellen, an der sie, tauchend oder mit ausgestreckten Armen, die Bruchstellen der Lecks ertastet hatten. Die Platten schwammen wieder in die Höhe, wurden zur Seite gedrückt, wirbelten durch das Wasser und aus den Händen der fluchenden Holländer. Das Wasser stieg nicht mit rasender Schnelligkeit, sondern bösartig langsam. Von Zeit zu Zeit schwemmte der unberechenbare Sog eine Seekiste heran, die mit der Ecke gegen die Brust oder den Rücken eines Seemannes prallte und ihn unter Wasser drückte. Das Schiff lag vier oder fünf Fuß zu tief in den Wellen, und jede Bewegung des bauchigen Rumpfes war schwerfällig geworden.
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Die Fock stand prall im achterlichen Wind. Die Fleute gehorchte dem Steuer und trieb durch die Dunkelheit. Noch immer tobte das Gewitter zwischen den Inseln und schien sich nicht weiterzubewegen. Aber die größte Wut war vorbei, die Blitze und die furchtbaren Donnerschläge spalteten seltener die Dunkelheit. Auch die Höhe der Wellen hatte abgenommen. Kapitän Jens van Aacheren, der Profos und der Erste blieben an Deck und am Ruder. Der Erste schaffte es endlich, den Docht der Hecklaterne höher zu drehen und die Buglaterne anzuzünden. Ein drittes und viertes Licht hängte er in die Wanten des Großmastes. Jetzt waren die Männer an Deck nicht mehr so hilflos, wenn sie aus den Laderäumen heraufkamen, um sich zu erholen. „Ich kann nur hoffen“, rief der Profos, „daß wir nicht in einer Stunde auf das nächste Riff krachen!“ „Wir suchen eine Bucht, in der wir die ‚Wilhelm' auf sandigen Grund setzen und kippen können“, antwortete der Kapitän. „Die Ladung ist wahrscheinlich hin. Die guten, teuren Gewürze!“ Joop Hoorn, dem das Wasser aus dem grauen Kinnbart lief, schüttelte den Kopf, als er mühsam auf das Achterdeck stieg. „Wahrscheinlich ist nicht die gesamte Ladung verdorben, Schipper“, sagte er. „Aber wie auch immer - der Schaden ist groß. Ich glaube, die ‚Wilhelm' tut es nicht mehr lange.“ „Sie muß durchhalten!“ rief van Aacheren. Unter den Decksplanken sah es weniger hoffnungsvoll aus. Rund drei Dutzend Niederländer waren an fünfzehn Stellen verteilt und versuchten, die Schäden auszubessern. Sie wußten nicht mehr, wie viele Fugen und Stöße aufgebrochen waren. Das Wasser drang an vielen Stellen ein, die Lenzpumpe schaffte es längst nicht mehr, die Menge des Seewassers wieder über Bord zu befördern. Die Wellen brachen sich hart an den Planken, am Bug und der Gillung. Jeder Schlag erschütterte die Fleute aufs neue, und jede einzelne Planke schien zu knarren und zu splittern. Ein grausiger Chor von
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Geräuschen der Zerstörung begleitete die Fahrt der „Wilhelm von Oranien“ durch die zweite Hälfte der Nacht. Das Licht aus den Wanten zeigte die Zerstörung an Deck. Leinen waren gebrochen, an vier Stellen war das Schanzkleid eingedrückt und zersplittert, und der Kapitän wußte, daß einige Teile der Rüsten schwer beschädigt waren. Piet Bloom hielt, ohne zu wissen, in welche Richtung und über welchem Grund die Fleute dahinschoß, die „Wilhelm“ auf geradem Kurs. Jens van Aacheren drehte die Sanduhr um und rechnete kurz. Noch vier Stunden bis zur Morgendämmerung, eine Wache lang. Backbord voraus lag eine kleine Insel. Als ein riesiger Blitz aufleuchtete und ein Drittel des Himmels ausfüllte, sahen Jens und Piet Bloom die schwarze, dreieckige Silhouette etwa drei Seemeilen voraus. Eine böse Ahnung packte Profos und Kapitän. Sie rechneten mit weiteren Klippen, Untiefen oder Riffen zwischen den Inseln. Die gewaltige Menge Wasser, die im Schiff hin und her schwappte, schlug krachend gegen die Planken und Spanten, und bei jedem Schlag, mit dem ein schwerer Teil der Ladung oder des Ballastes gegen das knarrende Holz prallte, zuckten die Holländer zusammen. Drei Stunden lang änderte sich nichts zwischen Kiel und Masttopp der „Wilhelm“. Die Männer schufteten verbissen weiter und glaubten, daß sich für jedes Leck, das sie beseitigten, an anderer Stelle ein neues öffnete. Sie glaubten, das Schiff falle langsam auseinander, Stück um Stück. Aber die Fleute brach nicht. Sie arbeitete sich schwerfällig durch die Wellen, sank tiefer ein, bewegte sich schwerfälliger, legte weit über und blieb viel zu lange in dieser Stellung, bis sich die Masten wieder aufrichteten. Rochus van Traa tauchte plötzlich im Licht auf. Dreck und Öl liefen in breiten Rinnsalen an seinem Körper hinunter. Übelriechende Tropfen fielen aus dem Vollbart. „Aussichtslos, Jens!“ schrie er, nachdem er frische Luft in seine Lungen gepumpt und
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lange würgend gehustet hatte. „Zu viele Lecks. Keine großen Lecks über der Wasserlinie, aber wahrscheinlich in der Bilge.“ „Ich suche eine Bucht!“ rief der Kapitän und versuchte, sich selbst zu beruhigen. „Aber bei der verdammten Dunkelheit ist nichts zu erkennen. Dort drüben, an Backbord, ist eine Insel. Mehr weiß ich auch nicht.“ „Wenn man die Blitze braucht, hört das Gewitter auf“, maulte Joop Horn. Der Kapitän hatte sich auf die Back vorgearbeitet und umklammerte ein Spanntau. Er versuchte, mit dem bloßen Auge und auch mit dem Kieker die Finsternis zu durchdringen, aber er konnte nur schäumende Wellen um den Vorsteven sehen. Als hätte der Himmel die Flüche gehört, flackerten in schneller Folge an Steuerbord achtern vier Blitze auf. Der Donner war nicht zu hören. Wieder packte ein eisiger Schrecken den Kapitän. Wahrscheinlich erkannte nur er die Gefahr, in der Schiff und Crew schwebten. An Steuerbord und Backbord tauchten für winzige Augenblicke, im grellen Licht scharf und drohend, schroffe Felswände auf. Die Fleute stampfte genau zwischen ihnen, an jeder Seite nicht mehr als eine Kabellänge Abstand, hindurch und auf einen dritten Schatten zu, der direkt voraus lag. Der nächste Blitz ließ Gischt, die Brecher an den Felsen, treibende Äste und Tangfetzen an beiden Seiten des Schiffes erkennen. Der große Schatten zeigte sich wieder. Der Kapitän entdeckte direkt voraus, zwei Seemeilen entfernt, eine große Bucht und einen Halbkreis weißen Sandes. Blieb die Fleute auf Kurs, würde sie genau die Mitte der Bucht treffen. Die beiden folgenden Blitze ließen mehr Einzelheiten sichtbar werden: Wald, Mangroven, die beiden Huks der Insel, und die Tatsache, daß die „Wilhelm“ die schroffen Felsbrocken hinter sich ließ. Die schäumenden Brecher verschwanden achteraus.
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Jens van Aacheren atmete tief durch, dann klammerte er sich am Schanzkleid fest und tappte Schritt um Schritt zum Achterdeck. „Land voraus“, sagte er mit deutlicher Erleichterung in der Stimme zu Rochus van Traa. „Zwei Meilen, nicht mehr.“ Der Zimmermann der „Harlingen“ starrte ihn ungläubig an. „Tatsächlich, Schipper?“ „Glaubst du, ich erfinde eine Insel, um euch Kerls zu beruhigen? Ich habe eine Bucht gesehen. Liegt genau voraus.“ „Herr im Himmel!“ rief van Traa. „Vielleicht schaffen wir es doch noch!“ Jens enterte den Niedergang auf, starrte in das schmutzige, unrasierte Gesicht des Profosen und in die leuchtend blauen Augen des Vierzigjährigen. „Hör zu, Piet“, sagte er drängend. „Halte genau diesen Kurs. Rechts voraus liegt eine große Bucht. Scheint flach genug zu sein. Vielleicht schaffen wir es mit der vollgelaufenen Fleute bis hart an den Strand. Mehr weiß ich nicht, ich habe nicht mehr sehen können. Wir sind eben haarscharf dem Tod entwischt. Zwischen zwei Riffinseln durch, genau zwischen den Brechern und den Felsen.“ Piet Bloom, der gefürchtete Schläger an Bord, hatte aufmerksam und schweigend zugehört, ohne auch nur für einen Atemzug die Pranken von der Pinne zu nehmen. Jetzt nickte er langsam und erwiderte: „Hört sich an, als ob es für uns die Rettung sei, nicht wahr?“ Er grinste und sah zu, wie hinter Joop Hoorn eine Handvoll triefender, verdreckter Männer aus dem Bauch des Schiffes erschienen. Ein neuer Regenguß prasselte aufs Deck nieder. „Noch knapp zwei Meilen“, wiederholte der Kapitän, an das erschöpfte Häuflein gewandt. „Eine Bucht voraus.“ „Da unten können wir nichts mehr tun. Ein paar Mann sind fast ersoffen, Kapitän“, rief Peer Jordaan, der Bootsmann. Er ließ die Schulternhängen und senkte den Kopf. „Es ist ohne Sinn.“ „Zum Teufel!“ schrie Jens van Aacheren. „Dann steigt an Deck. Wir haben gute Fahrt. Ich kann nur hoffen, daß die Bucht
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ohne Felsen und Riffe ist. Sand, das brauchen wir.“ „Richtig. Ich hole die Mannen“, sagte Joop, schob ein paar Leute vom Niedergang weg und enterte ab. „Wo steckt Luyken?“ rief der Kapitän. Aus den Schatten um den Großmast löste sich eine Gestalt. „Hier. Was gibt's, Schipper?“ Während der Stückmeister über die Kuhl auf das Achterdeck zuschwenkte, hörte mit erschreckender Plötzlichkeit der Regen auf. Das Rauschen, das an die Ohren der Männer schlug und die Dunkelheit erfüllte, stammte nur noch von den Wellen. Der Kapitän glaubte, den Widerhall der Wellen hören zu können, die über den Sand der Bucht ausliefen. „Hast du noch trockenes Pulver? Wir brauchen viel Licht am Bug. Oder fällt dir etwas anderes ein?“ Luyken Wijk führte eine Geste des Bedauerns aus und antwortete bedächtig: „Ein paar trockene Funzeln habe ich noch gerettet. Warten wir auf den nächsten Blitz, Kapitän?“ Jens schüttelte den Kopf und rief: „Zünd sie alle an! Und dann an den besten Stellen vorn ausbringen. Wird nicht viel helfen, aber vielleicht sehen wir, wohin wir steuern.“ Der Regen hatte tatsächlich völlig aufgehört. Die Gewitterwolken zerteilten sich und wurden zerstreut. Einzelne Sterne funkelten in den Wolkenlöchern. Der achterliche Wind blieb, und undeutlich hob sich voraus die Brandungswellen mit ihren gischtenden Schaumkämmen ab. Einige Minuten später hingen im stehenden und laufenden Gut über der Back die flackernden Lampen. Ihr Licht erhellte tatsächlich eine zungenförmige Zone vor dem Schiff. Der Erste und der Kapitän, gefolgt von einem halben Dutzend ihrer Leute, stiegen auf die Back und starrten ins Wasser, in die schwache Bugwelle und zu dem Brandungsstreifen. Je mehr Wolken verschwanden und noch mehr Sterne zu sehen waren, desto ungefährlicher und ruhiger wurde die See
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um die Fleute. Vor dem Schiff breitete sich das ruhige Wasser der Bucht aus. Auf den Wellen erschienen die ersten schwachen Lichtpünktchen und das helle Glitzern des Sternenlichts. Auch der Widerschein der vielen Lampen zeigte das Wasser, durch das die Fleute mit trägen Bewegungen torkelte. Die Aufregung wuchs, aber die erschöpften Männer schwiegen und starrten über das Schanzkleid in die Umgebung. Die Umrisse und die Unterschiede der Landschaft um die Bucht blieben undeutlich. Sie waren mehr zu erahnen als zu erkennen. Eine Welle packte das Schiff, der Bug hob sich schwerfällig und mit unheilvollem Knarren, dann erreichte die Brandungswelle die Fleute und schob den Dreimaster in die Bucht. Bloom hielt eisern den Kurs, die „Wilhelm“ glitt in ruhigeres Wasser und auf den Strand zu. Der helle Streifen war noch zweieinhalb Kabellängen entfernt, dann zwei, eineinhalb, und als die Besatzung glaubte, gleich einen sanften Ruck und das Knirschen von grobem Sand unter dem Kiel zu spüren, gingen drei harte Schläge durch den Schiffsrumpf. Der Kiel schrammte über Felsen, Das Schiff wurde nach Steuerbord gedrückt, dann folgte der zweite Schlag. Tauwerk riß mit peitschendem Knallen. Die Fleute legte sich nach Backbord, rutschte noch ein paar Yards weiter und rammte den nächsten Felsen. Aus dem Rumpf drangen Geräusche, die das Blut in den Adern stocken ließen. Die Fleute schob sich noch ein paar Handbreit über weichen Grund und kippte noch stärker nach Backbord. Dann hörten alle Bewegungen auf. Endlich sprach der Kapitän. „Wir hätten es schlimmer haben können“, sagte er mit mühsam gefestigter Stimme. „Denkt an die arme ,Harlingen', Männer.“ Piet Bloom stolperte auf die Kuhl und rief: „Bringt die Jolle aus! In einer Stunde sehen wir, was die Felsen angerichtet haben.“ Was der Kapitän gesagt hatte, war richtig: die „Wilhelm von Oranien“ hätte auch auf hoher See und in unbekannten Gewässern
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sinken können. Eine Bucht, eine Insel mit Bäumen und womöglich Wasser – das bedeutete viel Glück im großen Unglück. Luyken Wijk versuchte einen Rundblick, winkte ab und löschte eine Lampe nach der anderen. An Deck drängten. sich vierzig Mann. Joop Hoorn sagte: „Ich denke, es wird am besten sein, wir gehen an Land. Vielleicht bis auf eine Schiffswache. Was meist du, Jens?“ „Genauso halten wir's“, erwiderte der Kapitän. „Daß die Flut das Schiff hinauszieht, diese Gefahr besteht wohl nicht.“ Mit kraftlosen Bewegungen lösten die Holländer die Verzurrungen der Jolle, holten die Riemen zusammen und fierten das Boot ab. Die Jakobsleiter klapperte über die Planken und fiel klatschend ins Wasser. Die letzten Sturmwolken waren hinter der Kulisse der Bucht verschwunden, die Sterne begannen zu blinken. Wahrscheinlich umgab dichter Wald die gesamte Bucht. Bald würde jede Einzelheit zu erkennen sein. Der Profos versuchte, die Stimmung der Crew ein wenig zu heben. „Wir haben im Wald Holz für ein Dutzend Fleuten“, sagte er. „Unsere Masten stehen noch. Und wir werden auch nicht verhungern. Ich rieche Wald.“ Die beiden Zimmerleute standen vor einem eingedrückten Stück des MittschiffsSchanzkleides und betrachteten die Splitter und Brüche. „Das wird Monate dauern, Rochus“, sagte Jan Laan. „Oder noch länger.“ „Bleibt uns eine andere Wahl, mein Freund?“ fragte van Traa. „Vielleicht haben wir jetzt mehr Glück als in den letzten Tagen.“ „In diesem gottverlassenen Winkel der Welt?“ warf der Bootsmann ein. „Wer will freiwillig zum Ufer pullen?“ Einige Crewmitglieder zuckten lustlos mit den Schultern, und Piet Bloom teilte fünf Mann ein. Er sagte: „Ich sehe selbst nach, Kapitän. Einverstanden?“
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„Ja, klar. Wenn es hell genug ist, müssen wir versuchen, die Ladung an Land zu schaffen.“ Der Kapitän war jetzt, nachdem die größten Gefahren überstanden schienen, ebenso mutlos und erschöpft wie jeder andere. „Jetzt können wir nicht viel unternehmen“, sagte er halblaut. „Pullt an Land und legt euch in den Sand. Drei, vier Stunden Schlaf, das braucht jeder. Los, verholt euch.“ „Aye, aye, Sir.“ Nacheinander verließen die Besatzungsmitglieder das Schiff. Die Jolle wurde hin und her gepullt. Als die Holländer unter weit überhängenden Zweigen trockenen Sand fanden, ließen sie sich einfach fallen und wurden von dem Schlaf der Erschöpfung überwältigt, noch ehe sie richtig begriffen, daß sie diese Nacht überlebt hatten. * Niemand schlug die Schiffsglocke, aber um die Zeit, als man fünfmal hätte glasen müssen, war etwa die Hälfte der Crew auf den Beinen. Das Sonnenlicht badete die große Bucht in wohltuende Helligkeit. Das Wasser schien grünlich zu sein. Bis fast zum Schiff konnten die Holländer waten und schwimmen. Die Jolle dümpelte unter dem Heck der Fleute. Es gab wenig Geschrei, kaum laute Befehle, und auf dem Achterdeck versuchte Cornelis, der Koch, aus den halbverdorbenen Vorräten heißen, süßen Tee und ein Essen zu bereiten, das die Kameraden sättigen, aber nicht umbringen sollte. In der Sonne, die gut eine Handbreite über dem höchsten Baumwipfel des Uferwaldes stand, trockneten und dampften Fässer, Kisten und Ballen, die inzwischen aus der Proviantlast abgeborgen worden waren. Nur mit großer Mühe hatte Cornelis sein Feuer in Gang setzen können. Zwischen der „Wilhelm von Oranien“ und dem Strand tanzten Fässer und Kisten in
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einer langen, unregelmäßigen Kette. Die Crew hatte sämtliche Luken geöffnet und die Grätings über Bord gefiert. Ein Stück der Ladung nach dem anderen sollte an Land zum Trocknen gebracht werden, auch deswegen, um die Laderäume zu leichtern. Die Holländer schoben, halb schwimmend und watend, die Ladung durch das seichte Wasser zum Strand. Er bestand aus feinem, fast weißem Sand, der mit steigender Sonne trockener und heißer wurde, und bald dampfte die salzige Feuchtigkeit aus den Verpackungen. Eine Art Zeltdach aus Riemen, Langhölzern, einem Reservesegel und vielen Leinen hatten Jordaan und Hoorn aufgeschlagen. Eine Seite des Segels war an den Palmstämmen belegt. Mehr als zwei Dutzend Männer schliefen im Schatten. Sie kümmerten sich noch nicht um Durst und Hunger. Sie schnarchten und zuckten unruhig, wenn ein Alptraum sie packte. Jens van Aacheren war bei seinem Schiff geblieben und schlief in der feuchten Kammer im Heck. Das Klappern und Hämmern und das unentwegte Plätschern des Wassers hörte er nicht mehr. Cornelis rührte im großen Kessel. Er hatte nichts anderes als eine dicke, aber gehaltvolle Suppe fertiggebracht. Noch lagen zu viele Kisten im Wasser und unter Wasser in der Proviantlast. Aber eben hatte Peer Jordaan die Mucks geborgen und wusch sie im brackig gewordenen Trinkwasser aus. Joop Hoorn stand auf der Back und starrte zum Strand hinüber. „Verdammt“,- murmelte er. Er sprach zu sich selbst und zupfte am Kinnbart. „Der Kahn ist wirklich halb zerbrochen. Aber Jens hat recht. Wir hätten auch mitten im Meer absaufen können.“ Er zuckte hilflos mit den Schultern und preßte seinen runden Bauch gegen das Schanzkleid. Seine holländische Heimat tauchte vor ihm auf, das Land hinter dem Deich, die Felder und die Mühlen, die Gezeiten der See und die Fischer im Wattgebiet. Er war sich plötzlich wieder
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sicher, daß er die Niederlande wiedersehen würde, das Land der Wassergeusen. Er fluchte leise und erbittert. Mit seinen Flüchen hoffte er, die Eigenheiten des Chinesischen Meeres zu treffen, den Seeweg zwischen dieser namenlosen Insel und den gewürzreichen Molukken. Er sagte sich, daß es besser war, zu leben und die verdammten Gewürze waren verdorben als umgekehrt. Dann wandte er sich von den arbeitenden und schwimmenden Crewmitgliedern ab und ging steifbeinig zum Koch, um sich seine Muck füllen zu lassen. „Meinst du, Joop, daß wir es schaffen?“ fragte Cornelis brummig. „Ich hab da nicht viel Hoffnung.“ „Auch wenn wir nicht mehr fertigbringen als ein Floß“ erwiderte der Erste grimmig, „kehren wir zurück nach Rotterdam, Zeebrugge oder in die Schelde. Klar? Und wenn du verdammter Teesieder das Gegenteil laut verkündest, ertränke ich dich eigenhändig in deiner sauren Brühe.“ Cornelis grinste schräg, lachte kurz und füllte mit dem Schöpfer heißen Tee in einen hölzernen Becher. „Geht in Ordnung. Ende März sind wir zu Hause“, sagte er. „Mit frischen Gewürzen und einem Schiff, das so gut wie neu ist. Klar?“ „Klar“, sagte Joop und mußte nun auch grinsen. „Aber es wird wohl Anfang März werden.“ „März in drei Jahren. Was soll's!“ Die Laderäume und Lasten der Fleute waren randvoll gewesen. Selbst in der Bilge waren lederne Säcke gestapelt gewesen. Sieben Mann rumorten im Bauch des Schiffes und zerrten die Lasten heraus, lösten die straffen Knoten und bugsierten die Kisten und Fässer aus den Hohlräumen ins Wasser und schließlich in die Schlingen der Seile und Taue, die durch die Luken nach unten hingen. Langsam, aber mit sturer Beharrlichkeit, schwebte ein Packen nach dem anderen, triefend und tropfend, ins Sonnenlicht und wurde über das Schanzkleid gekippt. Von dort aus schoben die Holländer die Ladung zum Strand und in die Hitze. Die
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Männer versuchten zu retten, was zu retten war. Die Fleute leerte sich langsam. Seekisten und Leinwand trieben durch die Bucht. Gelegentlich enterte ein Mann an Deck und hockte sich zwischen den Taurollen und dem Werkzeug auf die salzverkrusteten Planken. Selbst zum Backen und Banken waren sie zu müde. An Land stöberten zwei Mann im Buschwerk zwischen Strand und Wald und fanden einen Tierpfad. Sie hofften, daß er sie zu einer Quelle oder einem Wasserlauf führte, und verschwanden im Halbdunkel des Inselwaldes. 2. Philip Hasard Killigrew verschränkte die Arme vor der Brust und sah zu, wie der Anker am Kranbalken belegt wurde. Langsam schwang das Heck der Schebecke herum, und der Bug deutete auf den Ausgang der Bucht. Die Strömung zog im Kreis und schwemmte abgerissene Blätter, ein paar ertrunkene Tierleichen und Schmutz aus der Bucht. Der wütende Gewittersturm hatte die Schebecke nicht gefährdet, weil sie- rechtzeitig die Bucht angelaufen hatten. Vor Anker und zwei Landleinen waren Gewitter, Regen und Sturm mühelos abgeritten worden. „Klar bei Anker“, meldete Edwin Carberry. „Wir können weiter, Sir.“ „Suchen wir also das Schiff, das sich Arwenack-Galionsfiguren an den Bug nagelt“, meinte der Seewolf grinsend. „Genügend Inseln, um zu suchen, gibt es ja.“ Halb vom schwachen Wind in der Fock, halb von der Strömung wurde das Schiff der Seewölfe aus der winzigen Bucht geschoben. Eine Stunde nach Sonnenaufgang, nach einem ausgezeichneten Frühstück, suchten die Arwenacks weiter. „Und vielleicht irgendwo ein Schiff oder ein Wrack. Eigentlich hätten wir Besseres zu tun“, murmelte der Erste.
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„Eigentlich ist es unsere Pflicht, zu helfen, selbst wenn es Mühe bedeutet“, entgegnete Hasard. „Darüber waren wir uns schon während der Hochzeitsvorbereitungen für Galions-Edwin einig.“ Die Schebecke ging aus dem Windschatten der Insel und auf Nordkurs. Die Segel standen prall, als der Rudergänger sich an Hasard wandte. „Kurs auf die Inselgruppe im Nordosten, Sir?“ „Genau dorthin“, antwortete Hasard. „Und, wie gewohnt, sehen wir uns gründlich um.“ „Irgendetwas finden wir bestimmt“ sagte der Profos. Die Schebecke krängte leicht nach Backbord, als sie Fahrt aufnahm und mit gischtender Bugwelle auf die Inseln zustampfte, die sich an der Kimm abzeichneten. Die Blicke der Seewölfe suchten den Himmel ab. Der Tag würde warm und sonnig werden. Ein paar weiße Wolken segelten über den Himmel. Hinter dem Heck der Schebecke blieben die jagenden und kreischenden Möwen und die Kormorane zurück, die in der Nähe der Buchten und Strände jagten. Die Arwenacks waren einigermaßen sicher, daß die große Galionsfigur nicht von einem spanischen oder portugiesischen Schiff stammte. Und wenn die Möglichkeit bestand, daß hier ein englisches Schiff in Seenot geraten war, galt nur ein Gedanke: schnelle Hilfe, wenn sie noch möglich war. Aber auch andere Länder, die mit England freundschaftliche Beziehungen unterhielten, konnten Schiffe in diesen Teil der Welt geschickt haben. Hasard und Ben Brighton suchten mit den Kiekern vom Grätingsdeck aus die Kimm ab. Das winzige, namenlose Inselchen, das ihnen vom Abend bis zum Morgen als Schutz gedient hatte, wurde im schäumenden Kielwasser rasch kleiner. Der Wind aus Südosten blieb kräftig und kühl. „Wenn ein Schiff die Figur deswegen verloren haben sollte“, sagte Dan O'Flynn und faßte die Meinungen und die
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Ergebnisse vieler Gespräche an Bord zusammen, „weil es in ernsthafte Schwierigkeiten geraten war, dann kann der Sturm dem Wrack den Rest gegeben haben.“ „Bisher haben wir noch keine Trümmer oder treibende Fässer gesichtet“, sagte Carberry. „Aber so wie ich unser Glück kenne, finden wir, was wir suchen. Und dann haben wir jede Menge Schwierigkeiten, wette ich.“ „Ich kann noch immer nicht verstehen“, sagte der Erste mit todernstem Gesicht, „aus welchen seltsamen Gründen du diese zierliche, liebenswerte Inselschönheit nicht zur Frau genommen hast, Ed.“ Carberry starrte ihn mißtrauisch an. „Willst du, daß ich von Bord gehe? Daß ich abmustere? Oder hättest du lieber einen Profoshammer?“ Ben Brighton zuckte mit den Schultern. Dan kicherte und gab dem Profos einen Rippenstoß. „Der Inselgötze war dir wirklich sehr ähnlich“, meinte Hasard. „Aber unseren Profos als Vater von sieben braunen Kindern kann ich mir auch nicht vorstellen, Ben. Ich weiß nicht, warum du so für diese Heirat bist.“ Carberry brummte einen Fluch, winkte ab und war sicher, daß ihn die Seewölfe ärgern wollten. Er verholte sich auf die Kuhl, wo er der Segelwache gute Ratschläge gab, die niemand hören wollte. Die Schiffsglocke wurde einmal angeschlagen. Das Deck war aufgeklart, ein paar Mannen spleißten Tauwerk. Ein paar Kabellängen an Steuerbord sprangen Tümmler aus dem Wasser und schienen den Seeleuten ihren nassen Tanz vorführen zu wollen. Die Dünung hob und senkte die Schebecke auf ihrem Weg zu den Inseln. Inzwischen waren deutlichere Einzelheiten zu unterscheiden. Es schienen mindestens vier Inseln zu sein, nicht sonderlich groß und unbekannt. Sie lagen, von der Schebecke aus gesehen, in einer schrägen Linie hintereinander. Aus dem dunklen Grün, das die erste Insel kennzeichnete, wurde in mehreren Abstufungen
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schließlich ein helles Grau, das mit dem Dunst der Kimm verschmolz. Ben gähnte und bemerkte: „In gut einer Stunde sind wir nahe genug dran. Ich bin auf Freiwache, Sir.“ „Aye, aye“, antwortete Hasard. „Schöne Träume. Von Inselhochzeiten.“ „Überlasse ich Edwin“, erwiderte der Erste. „Der Profos eignet sich besser für diese Form der Götzenverehrung.“ Er enterte den Niedergang ab und verholte sich unter Deck. Mit raumen Wind fuhr das schlanke Schiff auf die westliche Huk der nächstgelegenen Insel zu, durch dunkelblaues Wasser, unter einem strahlenden Himmel, über den mehr und größere Wolken drifteten. * Eine Stunde später waren Luft und Wind wieder fast unerträglich feucht geworden. Die Sonne schien das Wasser aufzusaugen und an die Luft weiterzugeben. Jede schnelle Bewegung rief einen Schweißausbruch hervor. Die letzten Spuren des nächtlichen Regens waren längst aus den Planken verschwunden. Salznebel stäubten hin und wieder aus den Segeln oder der Takelage. Auch Hasard hatte sein Hemd ausgezogen und versuchte, im Schatten des Seglers auf dem Achterdeck zu bleiben. Jan Ranse stand an der Pinne. Die Inselgruppe hatte sich in drei deutlich voneinander abgegrenzte Eilande aufgelöst. „Ein Strich nach Backbord abfallen“, sagte Hasard und setzte den Kieker ab. „Wir halten uns von der Doppelinsel fern.“ Sie hatten bisher nur wenige Segel sehen können. Die Schiffe bewegten sich weit entfernt vor der diesigen Linie der Kimm, und kein Segel hatte Ähnlichkeit mit denen von Karavellen, Galeonen oder der Leinwand von Schiffen, die aus den Ländern am östlichen Rand des Atlantiks stammten. „Aye, aye, Sir“, sagte Jan Ranse und stemmte sich gegen die Pinne. Die Bugwelle spritzte weit nach beiden Seiten und ließ das Wasser zu Gischt
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aufschäumen. Die wenigen Tropfen, die über die Back wirbelten, verschwanden von den heißen Planken nach wenigen Atemzügen. Die kleinen Eilande wanderten weiter an Steuerbord aus. Hasard und Dan O'Flynn peilten durch die Kieker. „Wahrscheinlich unbewohnt“, stellte Dan nach einer Weile fest. „Außer von Vögeln und Fiebermücken.“ „Ich kann auch nichts sehen, das auf Bewohner schließen läßt“, sagte der Seewolf. „Aber ein paar schöne Felsen und Riffe, auf die wir besser nicht zusteuern sollten.“ Der Durchmesser der näheren Insel war nicht größer als zwei Kabellängen. Das Eiland wirkte, als wuchere auf einer waagerechten Felsplatte ein undurchdringlicher Urwald. Fast überall fielen die Felsen steil zum Wasser ab. Tausende Vögel flatterten von den Baumkronen zum Wasser, vor der Kulisse der Wellen, die gischtend und zerstäubend gegen den ausgewaschenen Fels schlugen. Deutlich zeichneten die Höhenlinien der Gezeiten breite Streifen in schmutzigen Farben auf die dunklen Felsschroffen. „Schlechtes Fahrwasser“, setzte Hasard hinzu. „Und hier hat auch sicher kein Kapitän, der bei Sinnen ist, Schutz gesucht.“ „Du sagst es, Sir.“ Die Schebecke passierte in guter Fahrt beide Inseln. Schweigend beobachteten die Seewölfe, wie sich zwischen den Felsen, den Riffen und in dem wechselnden Spiel von Schatten und Sonnenlicht eine Passage öffnete, etwa ebenso breit wie der Inseldurchmesser. Eine Wolke, gebildet von Tausenden riesiger Schmetterlinge, flatterte von einer Insel zur anderen hinüber, über die gischtenden Fontänen des Wassers, das sich an sichtbaren und unsichtbaren Untiefen brach. „Feuer!“ sagte Dan plötzlich. „Rauchsäule!“ Hasard starrte in der angegebenen Richtung durch das Linsenrohr. Knapp drei Seemeilen entfernt, nur durch die Passage
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zu erkennen, lag eine große Bucht auf der Längsseite der dritten Insel. Im Zentrum der Bucht brannte ein Feuer. Eine dünne Rauchsäule hob sich scheinbar vom Wasser aus und zerfaserte in der Höhe der Baumwipfel. „Das wird unser neuer Kurs werden“, sagte Hasard. Die Schebecke glitt an der Passage vorbei, der Strand schob sich aus dem Sichtfeld. Die riesigen Farnbäume der zweiten Insel drängten sich an Steuerbord heran. Auch Ed Carberry hatte den Rauch gesehen. Hasard setzte ihm auseinander, welcher Kurs für die nächsten Seemeilen anlag. Langsam umrundete die Schebecke die zweite kleine Insel auf der Westseite. Kommandos hallten übers Deck. Die Segel wurden getrimmt, während die Schebecke in einem weiten Halbkreis, unterbrochen von zwei kurzen Schlägen nach Norden und Süden, wieder auf Ostkurs ging. Auch die Passage zwischen der langgestreckten Insel und dem kleinen Eiland war voller Untiefen. An einem Dutzend Stellen ragten weiße, gischtumspülte Riffe aus den Wellentälern. „Feuer, Rauch, die Riffe“, sagte Dan nachdenklich, „wenn ein Schiff hier im Sturm durchgeschüttelt wird, kann die Bucht dort drüben die einzige Rettung sein. Wie haben sie's eigentlich sehen können?“ Hasard beobachtete sorgfältig jeden Fußbreit der Klippen und der Ufer, die an Steuerbord vorbeizogen. Er antwortete: „Im Licht der Blitze, Mister O'Flynn.“ „So wird es wohl gewesen sein“, sagte Dan. „Also werden wir in etwa einer Stunde wissen, ob der Havarist den hölzernen Carberry verloren hat.“ Hasard grinste. Die langgezogene Insel, die nördlich der Doppelinsel lag, schien von ihrem westlichsten Punkt an dicht bewaldet zu sein. Buchten waren kaum zu sehen, wenn an einigen Stellen das Land zurücksprang, zeigten sich Felsen und luftwurzelstarrende Mangrovenwälder. über den Kronen riesiger Bäume kreisten Vogelschwärme. Noch war von den Huks der großen, sandigen Bucht nichts zu sehen, und auch
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der Rauch hob sich nicht über die Baumkronen. Langsam arbeitete sich die Schebecke gegen den Wind voran und kreuzte vor der langgestreckten Kulisse des Strandes nach Osten. Don Juan de Alcazar stieg aufs Grätingsdeck. „Senores? Wieder ein aufregendes Drama der christlichen Seefahrt?“ fragte er. Dan nickte und gab ihm das Spektiv. „Dort vorn, Backbord querab, sollten die ersten Einzelheiten auftauchen“, sagte er. Die östliche Huk wurde sichtbar, ein Sandstreifen, dann mehr und mehr von der Bucht, deren Öffnung etwa eine Seemeile breit war. Noch mehr Sand, Treibgut, ein greller, fast weißer Halbkreis. Einige Atemzüge später sagte Hasard in fast zufriedenem Tonfall: „Also doch. Ein Wrack auf Klippen und Untiefen. Und ich sehe die holländische Flagge.“ „Oder das, was von ihr noch übrig ist. Eine Fleute. Besonders werftneu sieht sie indessen nicht mehr aus“, bemerkte der Spanier lakonisch. Die Schebecke hatte, eineinhalb Seemeilen von der Fleute entfernt, den am weitesten östlich gelegenen Punkt des Kurses erreicht. „Achtung! Ruder Backbord!“ rief Carberry von der Kuhl zum Heck. „Wrack in der Bucht, Arwenacks!“ Das Schiff legte sich über, als es auf den neuen Kurs gezwungen war. Das Besansegel, das der kleinen Crew achtern Schatten geboten hatte, wurde in den Wind gebracht, die Schot losgeschlagen, und die Leinwand ins Gei gehängt. Jetzt, um Mittag, während des tiefsten Standes der Ebbe, schäumte das Wasser an den Bordwänden der Fleute. Im Bereich der Bucht, hinter der schwachen Brandungswelle, herrschte ruhiges Wasser. An Bord der Fleute sahen die Seewölfe niemanden, aber ein paar Männer schoben Kisten durchs Wasser auf den Strand zu, eine Handvoll anderer hatte die Schebecke gesehen und rannte winkend zum Wasser hinunter. Hasard rief: „Klar bei Fallen Anker!“ „Aye, aye, Sir.“
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Das schlanke Schiff, dessen Großsegel aus dem Wind genommen und ins Gei gehängt wurde, hob in der Brandungswelle den Bug. Big Old Shane hing weit über das Schanzkleid der Back und deutete nach achtern. Das Fahrwasser voraus war tief genug, obwohl sich die Farbe langsam zu einem schimmernden Smaragdgrün zu ändern begann. „In der Mitte, Backbord voraus. Wir müssen frei schwojen können“, ordnete Hasard an. Die Bewegungen und die Geräusche an Deck hatten einige Seewölfe der Freiwache geweckt. Sie enterten verschlafen die Niedergänge auf und schauten sich um. Die Ankerwache rumorte auf der Back. Dan O'Flynns scharfe Augen hatten die Szenerie erfaßt und hefteten sich auf die Einzelheiten. „Also“, sagte er, als seien die anderen halbblind, „die Galionsfigur der Fleute fehlt. Was erkennen wir daraus? Daß es einen niederländischen Bruder unseres verehrten Profosen gibt. Und die Fleute ist mehr Wrack als Schiff. Wie ist deine Meinung über die Lage, Sir?“ Mehr und mehr Einzelheiten zeigten sich vor den scharfen Linsen der Spektive. Schwach drangen die Begrüßungsschreie der Niederländer am Strand an die Ohren der Seewölfe. „Sie entspricht deinen überaus klugen Feststellungen, Dan“, erwiderte der Seewolf brummig. Er sah – noch nicht ganz – den Umfang der Arbeiten, die nötig waren, um aus dem Wrack wieder ein schwimmfähiges Schiff werden zu lassen. Immerhin: die Masten standen noch, auch wenn die Fleute reichlich schief im Schlick und wahrscheinlich auf Unterwasserfelsen oder Sand steckte. Der Anker fiel klatschend und versank gurgelnd. Big Old Shane rief die Lotung aus. „Sechs Yards und weniger!“ „Verstanden.“ Etwa fünfundzwanzig Yards Ankertrosse liefen durch die Klüse. Mit dem letzten Schwung zerrte die Schebecke den Anker tiefer in den Grund, nachdem die Trosse
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belegt war. Jan legte zwei ganze Schläge um die Pinne und belegte sie gewissenhaft. Carberry rief übers Deck: „Klar zum Abfieren der Jolle!“ „Aye, aye.“ Etwa zwanzig Arwenacks befanden sich jetzt an Deck und richteten ihre neugierigen Blicke auf das Wrack und die Männer am Ufer. Die Schiffbrüchigen waren aufgeregt. Sie winkten, schrien, liefen zu der Jolle und veranstalteten einen solchen Lärm, daß nacheinander vier Männer an Deck des wracken Schiffes auftauchten. Die Arwenacks hatten die Flagge Englands gesetzt. Hasard stemmte die Fäuste in die Seiten und sagte: „Die Jans denken sicher, daß die Rettung da ist. Sie haben nicht mit uns gerechnet.“ „Woher sollten sie auch wissen, daß der Seewolf hier kreuzt?“ fragte Dan. „Ich dachte nicht an uns, sondern an irgendein Schiff, das zufällig hier erscheint und ihnen hilft.“ „Wollen wir ihnen denn helfen?“ rief der Profos. „Wir sind doch nicht die Kindermädchen für die Mijnheers.“ „Das nicht. Aber wir helfen ihnen, so gut es geht. Vielleicht erinnert ihr euch daran, wie oft uns unbekannte Crews geholfen haben.“ „Bin ja nicht dagegen“, gab der Profos zurück. „Wollte nur fragen.“ „Jetzt hast du die Antwort“, sagte der Seewolf. Die Schebecke hatte alle Fahrt verloren. Jetzt zog sie die Strömung weiter ins Innere der Bucht, und die Ankertrosse straffte sich langsam. Hasard nickte Jan Ranse zu. „Es wird dir nicht schwerfallen, Jan, den Kapitän zu finden. Fang an zu brüllen.“ „Aye, Sir.“ Jan stellte sich ans Schanzkleid, hob beide Hände an den Mund und schrie in einwandfreiem Holländisch zum Wrack hinüber: „Wer ist der Schipper? Was hat den Schiffsbruch verursacht? Seid ihr aufgelaufen?“ Ein kleiner, bartloser Mann, sehnig und hager, rief mit tiefer Stimme zurück: „Ich
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bin der Kapitän. Jens van . Aacheren. Ja, wir sind auf ein Riff gelaufen, zusammen mit der anderen Fleute, der ,Harlingen'. Der Sturm hat uns losgerissen und hierher getrieben. Wir haben mehr Löcher als heile Planken. Elf Mann vom anderen Schiff sind bei uns. Könnt ihr uns helfen?“ Jan hob die Hand, winkte und wandte sich an Hasard, Dan und Don Juan. Er übersetzte langsam und unmißverständlich. Obwohl die anderen auch Holländisch konnten, war es sicherer. Hasard brummte etwas Unverständliches und erwiderte schließlich: „Sag ihm, wer wir sind. Und daß wir helfen, so gut es geht. Aber wir haben keine zwei Monate Zeit. Tote? Verletzte? Wie weit können sie sich selber helfen?“ „Alles klar, Sir“, sagte Jan Ranse und setzte sein Gespräch fort. Die Männer am Strand hatten zu winken und zu rufen aufgehört und lauschten der Unterhaltung von Schiff zu Schiff. Während die große Jolle abgefiert, die Riemen losgebändselt und die Jakobsleiter über die Bordwand ausgerollt wurden, verhandelten Jens van Aacheren und Jan Ranse. Aufmerksam hörten die vielen Holländer an Land und alle Arwenacks zu. Jan Laan, der Schiffszimmermann der „Wilhelm von Oranien“ war ebenfalls auf dem maroden Schiff zurückgeblieben. Er sah aus wie ein jüngerer Bruder von Big Old Shane. Er erklärte Piet Straaten und Jan Ranse, was vorgefallen war, und verblüffenderweise fing er mit dem Verlust der Galionsfigur an. Hasard, der das meiste verstand, grinste Ben Brighton zu. Der Lärm hatte den Ersten aus der Koje gescheucht. Während sich die Männer Fragen und Antworten zuschrien, lehnten Ferris Tucker und Ed Carberry nebeneinander am Backbordschanzkleid und betrachteten abwechselnd die Schäden am Wrack durch Bens Spektiv. Ferris brummte, halb verdrossen, halb von der Aufgabe gepackt: „Drei dicke Leinen um die Masten. Aber nur, wenn die Rüsten und die Wanten halten. Und dann den Kahn kippen, bis er auf dem Schanzkleid
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liegt. Da braucht es lange Leinen, Gevatter.“ „Denk dran, daß die Fleute voller Wasser ist. Vollgelaufen bis eine Handbreite unter der Kuhl.“ „Lenzpumpe. Und dann die Jans dransetzen, Tag und Nacht. Aber auf diese Weise kriegen wir sie schnell vom Schiet runter. Und von den Felsen, wenn ich recht sehe.“ „Wieviel, schätzt du, sind es? Kerle, meine ich?“ fragte Carberry. „Nasse Affenärsche, niederländische.“ „Drei Dutzend oder so. Auch eine seltsame Sache. Ich kenne Fleuten, die mit einem Dutzend Leuten gesegelt werden, weil sie so handig sind.“ „Vielleicht haben sie gedacht, daß die Hälfte der Crew krank wird, über Bord geht oder irgendwo in molukkischen Spelunken erdolcht wird. Deshalb ein größerer Vorrat an Jans von der Prielwürmerküste.“ „Mag sein“, sagte Ferris. „Aber sie scheinen vollzählig an den Strand geschwommen zu sein. Ich denke, wir helfen den armen Kerlen.“ „Natürlich. Ehrensache“, brummte der Profos. „Wollte nur meine Meinung sagen.“ „Das wird ein paar Tage dauern“, meinte der Schiffszimmermann versonnen. „Aber mit siebzig Mannen müßte es eigentlich mit dem Teufel zugehen, wenn wir den Kahn nicht flottkriegen würden. Die Masten stehen ja noch, immerhin.“ Edwin Carberry spuckte ins Wasser, sah dem Schaumflöckchen einige Atemzüge lang nach und deutete dann auf die Jolle, in die Hasard und Ben abenterten. „Abwarten, was der Sir mit dem anderen Kapitän bespricht. Ich kann mir denken, was er versprechen wird, der gutmütige Seewolf.“ „Kann ich mir auch denken. Viel Auswahl gibt's da nicht.“ Sie starrten schweigend auf die Jolle hinunter, die bemannt und langsam hinüber zur „Wilhelm von Oranien“ gepullt wurde. Die vielen Niederländer am Ufer scharten sich wieder um das Feuer, vielleicht hatten
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sie genug Fische für ein Mittagessen gefangen. 3. Joop Hoorn hatte die Hosen bis über die Knie aufgekrempelt. Aus dem trocknenden Stoff voller Stockflecken und ausgewaschener Stellen rieselte das Salz. Siebenunddreißig Mann befanden sich bei ihm am Strand. Sechs Männer reinigten die Wasserfässer mit Sand und viel Seewasser. Etwa eine dreiviertel Meile weiter, am Ende eines verschlungenen Tierpfades, war zwischen Felsen und Moospolstern eine Quelle gefunden worden, aus der kühles, sauberes Wasser floß. „Wer hätte das gedacht, Peer“, sagte der Erste und richtete seine strahlend blauen Augen auf den Bootsmann der „Wilhelm“. „Kaum sind wir trocken und haben unsere alten Knochen an der Sonne gewärmt, taucht ein englischer Dreimaster auf. Das Schicksal ist mit uns.“ „Aber es ist auch gegen unsere Ladung. Bisher ist die Hälfte verdorben“, antwortete der Bootsmann. „Und wenn wir noch ein paar Kisten öffnen, wird es mehr sein, das wir zum Suppekochen verwenden müssen.“ „Wer kann etwas dafür? Niemand“, sagte der Erste. „Sie werden uns helfen, die Engländer. Schönes Schiff, wie?“ „Und ohne Lecks“, äußerte Peer Jordaan. „Natürlich werden sie uns helfen. Hoffentlich sind es anständige Seeleute.“ Dem Stand der Sonne nach war es Mittag geworden oder kurz nach Mittag. Der Strand war übersät von Teilen der Ladung, des Proviants und des persönlichen Besitzes, die zum Trocknen ausgelegt waren. Die Jolle lag auf dem Sand. Die besten Taucher und Schwimmer hatten genügend Werkzeug aus der stinkenden 3rühe herausgeschafft, die den Rumpf bis dicht unter die Luks ausfüllte. Für die Wasserfässer und das Feuer waren einige Äste und Stämme aus dem Treibholz zu handlichen Kloben und Tragehölzern gehackt und gesägt worden. Cornelis rührte in seinem größten Kessel
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und versuchte, eine eßbare Suppe herzustellen. Das Salz im Faß war zu einem Brei geronnen, der unendlich langsam an der Sonne trocknete und sich in harte Brocken verwandelte. Rochus van Traa schlurfte halbnackt und barfuß wie die meisten Schiffbrüchigen, durch den heißen Sand. „Überall Salz“, sagte er mißmutig. „Und Sand. Aber heute abend ist alles trocken, denke ich.“ „Du solltest besser ein paar Bäume fällen und Bretter schneiden, Holzwurm“, erklärte Joop. „Wir brauchen viele Kanthölzer, Rundhölzer und Planken. Hoffentlich finden wir die Nägel und das Pech noch in der Suppe, die unter Deck schwappt.“ „Nicht ohne die Hilfe der Engländer“, sagte der Zimmermann. „Und nicht in den nächsten Stunden.“ Joop Hoorn zupfte an seinem Kinnbart. Er selbst hatte dafür gesorgt und sich davon vergewissert, daß jedes einzelne Stück, das die Seeleute mit viel Mühe im Schiffsrumpf gefunden hatten, an den Strand gebracht wurde. Was jetzt noch unter. Deck war, abgesehen von dem Steinballast und den Geschützkugeln, konnte erst später geborgen werden, wenn die Fleute auf der Seite lag wie eine dicke Amme im Schlaf. Was konnte er jetzt tun? Sein Blick fiel auf die Jolle und die Männer, die ihre Fässer auf den Strand gerollt und für einen Marsch zur Quelle vorbereitet hatten. „Ihr sechs“, sagte er und winkte einigen anderen der Crew und auch Rochus van Traa zu, „ihr geht jetzt zur Quelle und bringt so viel Frischwasser wie möglich zurück. Wir brauchen es nicht nur zum Trinken und Kochen, sondern auch für die Wäscherei. Sieh dich um, Rochus, ob du etwas Brauchbares findest: Lianen, Holz, Pilze oder Beeren. Ich werde zu den Engländern hinüberpullen und mit ihnen reden. Ihre schauerliche Sprache verstehe ich gottlob.“ „Alles klar“, erwiderte der Schiffszimmermann der „Harlingen“.
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„Bambus ist gut für viele Zwecke. Ich paß schon auf. Los, Freunde!“ Etwa zwanzig Mann trugen sieben leere Wasserfässer und drangen an. der Stelle in den Uferwald ein, an der Rochus dünne Bäume, Aste und einige abgestorbene Stämme hatte fällen lassen. Der Boden war von Kokosnüssen übersät, die der Schiffsjunge und zwei Männer lustlos aufsammelten und zum Koch trugen. Joop rief: „Paul, Janni, Toni – wir nehmen die Jolle. Ich werde mit dem Ersten oder dem Kapitän der Engländer sprechen. Hier ist ohnehin nichts Vernünftiges zu tun. Klar?“ „In Ordnung“, sagte Paul. „Geht klar.“ Sie zogen die Jolle ins Wasser, drehten sie herum und pullten hinüber zu dem schlanken Schiff der Engländer. Joop packte die Belegleine und schleuderte sie zum Achterdeck der Schebecke hoch. Ein Engländer fing sie auf. Ein strohblonder, grünäugiger Hüne beugte sich über das Schanzkleid. „Bitte an Bord kommen zu dürfen“, sagte Joop. „Ich bin Hoorn, Joop Hoorn, der Erste von dem wracken Schiff dort drüben.“ Die Stimme eines unsichtbaren Crewmitgliedes war zu hören. „Erlaubnis erteilt. Entert auf, Freunde. Nehmt die Jakobsleiter.“ Der Grünäugige sagte: „Ich bin Holländer. Piet Straaten. Habt ihr Sorgen?“ Nacheinander enterten die vier Niederländer auf. Piet drückte ihnen Mucks in die Finger, und ein rothaariger Riese schenkte ihnen Reiswein ein. „Sorgen? Wie kommst du darauf? Wir haben eine Pause eingelegt, um wieder Sand zwischen den Zehen zu spüren“, erwiderte Joop, dann senkte er den Kopf. „Natürlich haben wir mehr Sorgen als Flöhe. Ihr seht selbst, wie's ums Schiff bestellt ist.“ „Ziemlich lausig“, antwortete Piet. „Wir werden euch helfen.“ Der Reiswein war nicht besonders stark, aber kühl und beruhigend. Die Holländer stürzten die Flüssigkeit wie halb Verdurstete herunter.
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„Alle Tampen und Blöcke, die wir aufgefischt und geborgen haben, liegen drüben an Deck“, sagte Joop und schaute sich um. Das Schiff der Engländer war in vorbildlicher Ordnung. Aufgeklart bis in die letzte Fuge. „Ihr helft uns wirklich?“ „Klar. Unser Sir verhandelt gerade mit deinem Schipper“, antwortete Piet Straaten. „Wann fangt ihr an?“ „Wahrscheinlich dann, wenn Philip Hasard Killigrew, unser Kapitän, wieder bei uns an Bord ist und uns genau sagte, was er mit eurem Kapitän ...“ „Mijnheer Jens van Aachern heißt der Kapitän“, sagte Joop zerstreut. mit van Aacheren beredet hat. Ich bin sicher, es war das Richtige“, beendete Piet Straaten und hob den Krug. * Zweieinhalb Stunden nach Mittag arbeiteten Higgy, die Zwillinge, Sven Nyberg und Nils Larsen an der Backbordseite der Bucht. Die dickste und längste Trosse, die sich in der Kabellast der Schebecke gefunden hatte, war von ihnen mit der Jolle durchs Wasser geschleppt und gezogen worden. Jetzt schlugen sie die Trosse um drei mächtige Baumstämme und belegten das Tau. An Bord des Wracks waren drei Holländer in die Masten aufgeentert und hatten dort ihre Tampen belegt. Das Ziel der Arbeiten war, die Fleute zu kippen, möglicherweise von den Unterwasserfelsen und vom Sand wegzuschleppen, auf jeden Fall aber die Steuerbordseite bis hinunter zum Kiel aus dem Wasser zu hieven. Tauwerk spannte sich, Blöcke schwammen im Wasser, und immer mehr Männer schwammen und wateten auf den Strand zu und hielten sich an den Enden fest. Takel und Mantel wurden eingeklinkt. Carberry und Joop Hoorn ver- suchten, den Überblick zu behalten und gaben ihre Befehle. Die Arbeit ging langsam vor sich, aber fast jeder Griff saß. Langsam spannten sich die Taue zwischen dem Wrack und den Bäumen am Ufer.
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Holländer und Engländer zerrten gemeinsam an den Enden. Vom Tauwerk liefen Tropfen durch die Kardeele und fielen ins stille Wasser der Bucht. Endlich, nach einer Stunde, standen die Taue straff, waren durchgesetzt – die Fleute legte sich noch weiter nach Backbord über. Das stehende Gut knarrte und knirschte, in den Verbindungen knackte es besorgniserregend, aber die Schräglage nahm zu. Handbreite um Handbreite hob sich die Steuerbordseite aus dem Wasser. Kurze Zeit später betrug die Schieflage mehr als fünfundvierzig Grad. Der Wasserpaß hob sich aus den kleinen Wellen. Die nockenähnlichen Punkte des Bewuchses tauchten auf, und das Schiff knirschte und scharrte auf dem Sand der Untiefe. Die Felsen hielten den Kiel fest, aber je mehr die Männer zogen und zerrten, je kürzer die Strecke zwischen Land und Fleute wurde, desto mehr rutschte das Wrack von der Unterwasserbarriere herunter und zur Backbordseite der Bucht hinüber. Am späten Nachmittag endlich, als die Masten fast parallel zur Wasseroberfläche lagen, bewegte sich das seewassergefüllte Wrack seitwärts, rutschte von den Felsen herunter und kam dreizehn Yards weiter auf dem sandigen Grund zum Stehen. Die Rahen und die Segel tauchten tief ins Wasser, aber das Kiel befand sich nur zwei Handbreiten unter dem Wasserspiegel. „Halt! Gut so! Es geht nicht mehr weiter!“ brüllte Edwin Carberry über den Strand und das Wasser. Vom Ruder bis zum Galionssteven lagen die Planken im Licht der sinkenden Sonne, außerhalb des Wassers. Hasard rief vom Heck der Jolle: „Gut so! Die Enden belegen! Die Jans sollen erst mal den Bewuchs abschrubben. Morgen helfen wir ihnen bei den Lecks.“ Langsam trieb die Jolle am halb aufgetauchten Schiff vorbei. Die Zerstörungen wurden im schonungslosen Licht sichtbar, und Ferris Tucker sagte schaudernd: „Das sieht nicht nur schlimm aus, das ist schlimm. Die Felsen haben das Schiffchen wahrhaftig übel zugerichtet.“
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Mehr als drei Dutzend kleinere und größere Lecks waren auf den ersten Blick zu erkennen. Die meisten Planken waren dicht über dem Kiel zerbrochen. Viele Fugen waren aufgerissen und klafften fingerbreit. Das waren die am schnellsten zu erledigenden Reparaturen. Der Rest war Arbeit für geübte Schiffszimmerleute. Eine Werft hätte viele Tage zu solchen Ausbesserungen gebraucht. „Aber es ist wieder hinzukriegen“, sagte Ben Brighton. „Die andere Seite ist wahrscheinlich ebenso schlimm dran.“ „Darauf kannst du deine Nase verwetten“, antwortete der Profos. „Ich schwimm rüber und helfe den armen Rübenschweinen.“ „Denk dran, daß bei Sonnenuntergang der Kutscher mit dem Essen fertig ist.“ Der Seewolf schätzte die Dauer der Arbeiten ab und war sicher, saß die etwa siebzig einsatzfähigen Männer rund zehn Tage brauchen würden, bis die Fleute wieder aufrecht schwamm und kein Wasser mehr zog. „Daran denke ich auch“, sagte Carberry und watete hinüber zu der Fleute. Ferris Tucker folgte mit seinen Seekisten, die voller Werkzeug waren. Drei Stunden lang bearbeiteten Arwenacks und Niederländer in schöner Eintracht nebeneinander die bewachsenen, klaffenden, zersplitterten Planken mit Zugmessern, Beiteln, Deckschrapern und Schleifsteinen. Der Bewuchs war bald heruntergeschlagen, abgekratzt und weggeschliffen, aber jede Handbreite der gereinigten Planken zeigte mehr Stellen, die auszubessern war. Sieben Mann der Holländer tauchten und schwammen im letzten Tageslicht im Bauch der Fleute herum. Sie versuchten, Werkzeuge, Pech und Teile der Ladung aus den Räumen unter den Decks herauszuschaffen. Bei Anbruch der Dunkelheit pullten, wateten und schwammen die Seewölfe aus allen Richtungen wie Vögel, die ihr Nest aufsuchten, auf die Schebecke zu und enterten an Deck. Sie wuschen das Salzwasser ab und warteten darauf, daß der
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Kutscher und Mac Pellew zum Backen und Banken riefen. * Am Strand brannten vier Feuer. Die beiden Laternen vorn und achtern der Schebecke spiegelten sich im ruhigen Wasser der Bucht. Aus dem Wald ertönten die vielfältigen Laute unsichtbarer Tiere, und in der Nähe jeder Lichtquelle tanzten riesige Schwärme sirrender Mücken. Über dem Wasser, vermischt mit einem dünnen Nebel, hing der stechende Geruch nach Pech und verbranntem Holz. Hin und wieder ertönte das langgezogene Rauschen, mit dem die Wellen über den Sand zischten. Mondlicht, Sternenlicht sowie der Widerschein der Laternen und Feuer beleuchteten die Fleute, die wie ein toter Walfisch auf der Backbordseite lag. Die letzte Arbeit der etwa zweieinhalb Dutzend Niederländer war gewesen, die Segel, Rahen und das laufende Gut abzuschlagen und zum Trocknen am Strand auszubreiten und auszulegen. Dank der Hilfe der Seewölfe herrschte auch zwischen den Resten der Takelage eine Ordnung und Übersichtlichkeit, die den Takelmeistern und Segelmachern die weiteren Reparaturen erleichtern sollten. Ben Brighton und Al Conroy, deren Oberkörper undeutlich über dem Schanzkleid zu sehen waren, gingen die Deckswache mit. Auf der Schebecke herrschte die Ruhe nach einem arbeitsreichen halben Tag. „Ob die Jans wohl der Versuchung widerstehen?“ fragte der Erste halb flüsternd. Niemand hielt sich mehr auf dem gekippten Wrack auf. „Welche Versuchung meinst du?“ fragte leise der Stückmeister. „Ihr Schiff zu reparieren?“ „Das auch“, erwiderte Ben. „Sie sehen den Unterschied zwischen der Schebecke und ihrer Fleute. Ein gewissenloser Kaperer hätte wenig nachzudenken. Mit unserem Schiff hätten sie keine Schwierigkeiten.“
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„Richtig.“ Der Stückmeister zuckte zusammen. „Hast du nur einen Verdacht, oder gibt es Hinweise dafür, daß sie uns überfallen wollen?“ Ben schüttelte den Kopf, dann warf er einen langen, wachsamen Blick in die Runde. „Nein, nicht mal einen Verdacht. Ich erinnere mich bloß an tausend Geschichten, die wir kennen, und die von solchen Überfällen berichten. Oder etwa nicht?“ „Natürlich. Heute nacht jedenfalls sind die Jans zu müde. Sie werden schnarchen und an nichts anderes denken. Und morgen wird die Hälfte der Crew nach Beeren, Braten und Pilzen suchen.” Der Stückmeister war ebenso wie jeder andere Arwenack höllisch froh, daß nach ständigen Abenteuern, Zwischenfällen und Gefahren endlich einmal Ruhe an Bord herrschte. Seine Geschütze und die Waffenkammer waren peinlich sauber und aufgeklart. Niemand rechnete damit, in der nächsten Zeit Culverinen, Musketen oder Drehbassen abfeuern zu müssen. Auch die Wache würde ruhig und ereignislos ablaufen. Es gab keine Kneipen in ein paar Dutzend Seemeilen Umkreis, keine Tuchmalerinnen und keine Eingeborenen, die ein Götzenfest feierten. Nur schnarchende Seewölfe unter Deck und schnarchende Holländer am Strand. Die Schläge und Doppelschläge der Schiffsglocke hallten über die große Bucht. Die Wache wurde abgelöst, und nach dem Frühstück saßen auch Roger Brighton und Will Thorne mit Marlspieker, Pricker, Segelnadeln und Segelmacherhandschuh in der Jolle, die zum Wrack und dann zum Strand hinübergepullt wurde. Die Niederländer kamen entlang des Wassers, die Seewölfe schwammen und pullten zur Fleute. Die Arbeiten auf dem trockenen Teil des Schiffes gingen weiter. Noch arbeiteten alle mit großer Begeisterung und bemerkenswertem Fleiß. Der Bewuchs wurde abgeschliffen, an drei Stellen kalfaterten die Arwenacks die Fugen, an anderen Stellen hebelten die Männer um
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Jan Laan und Rochus van Traa die geborstenen Planken heraus und sägten die Eratzhölzer in die entsprechende Länge. Hämmern, - Fluchen, Kommandos, das Schnarren der Sägen, Gelächter und die ächzenden Laute der Bohrer hallten durch die Bucht. Das Geschrei der Vögel mischte sich in die Arbeitsgeräusche von mehr als fünf Dutzend Männern. An Land wurden die Segel auseinandergezerrt und ausgebreitet. Noch immer fanden sich Stücke aus der Ladung, Ersatzsegel und Tauwerk, was aus der Steuerbordseite der Fleute geborgen und an Land gebracht wurde. Um die „Wilhelm von Oranien“ herrschte unablässige Bewegung. Der Rauch stank, noch mehr stank das Pech in dem rußigen Kalfaterkessel. Überall wurde gehämmert und gesägt. Nägel, auf Steinen gerade geklopft, klirrten in den Körben. Das durchdringende Hämmern der Schiffsschmiede scheuchte noch mehr Vogelschwärme aus dem nahen Wald. Philip Hasard Killigrew, der den Kapitän der Fleute um fast zwei Köpfe überragte, deutete zu Joop Hoorn und einem unbekannten Holländer, die gerade einen triefenden Packen zusammengefalteter Segelleinwand aus dem Wasser zerrten. „Wahrscheinlich ist es sinnvoll, Mister van Aacheren“, sagte der Seewolf, „wenn wir ein großes Stück Leinwand vorbereiten, das wir von außen über die Planken auf der Backbordseite ziehen, wenn wir mit der Steuerbordseite fertig sind.“ „Daran habe ich eben auch gedacht, Mijnheer Killigrew“, erwiderte Jens. „Wie ich es sehe, könnten wir heute abend mit einer Seite fertig sein.“ Hasard nickte. „Durchaus möglich. Unsere Mannen schuften, als würden sie gut bezahlt.“ Hämmer schlugen auf Kalfatereisen. Die aufgerissenen Lücken in den Planken, die stellenweise aussahen wie ein alter Zaun, wurden nacheinander geschlossen. Die tiefen Schrammen im Kiel wurden, so gut es ging, ausgefugt. Über einige Stellen nagelten die Mannen Jan Laans dünne
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Bleiplatten und klopften sie fest. Der Kiel, so zeigte sich, hatte das zweimalige Aufsetzen ausgehalten und war nicht gebrochen. Auch der unterste Teil des Ruderblattes mußte abgeschliffen, abgehobelt und durch eingepaßte Holzstücke ausgebessert werden. Späne und Sägemehl bildeten einen dichten Halbkreis um das Schiff und wurden von der Strömung in dünnen Schleiern und Schlieren auseinandergezogen. „Und was suchen die holländischen Fleuten in diesem gottverlassenen Weltende?“ erkundigte sich Hasard eine halbe Stunde später. Will Thorne saß im Sand und nähte rechteckige Flicken auf das Focksegel. „Wir versuchen, den Portugiesen einen Teil des Gewürzhandels wegzunehmen. Sie wissen, Mister Killigrew, daß Gewürze so kostbar werden wie Gold.“ „Wenn sie nicht gerade die Fische würzen, noch ehe sie gebraten sind.“ Hasard spielte auf die verdorbenen Gewürze an, die von den Holländern ins Wasser geschüttet wurden, wo sie verblüffende farbige Linien und Kreise hervorbrachten. „Wir wollen die Eingeborenen nicht bekehren, wir brauchen kein Land, keine Niederlassungen und keine Häfen. Wir suchen nur Händler, die an uns Gewürze verkaufen.“ „Und? Verkaufen sie?“ Der holländische Kapitän deutete an, daß es nicht so einfach wäre und erwiderte: „Viele Niederländer, müssen Sie wissen, haben lange Jahre in der portugiesischen Flotte gedient. Dabei haben wir alles erfahren, was wir wissen mußten. Und dann haben sich die Portus einen grundlegenden Fehler erlaubt.“ „Sie lassen mich neugierig werden, Kapitän“, sagte Hasard. Big Old Shane und Bob Grey arbeiteten an den Rüsten der Großmastwanten und kontrollierten Jungfern und Püttings. „Die Portugiesen haben das ,Itinerario` veröffentlicht.“
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„Klingt erstaunlich“, erwiderte Hasard. „Aber um was handelt es sich? Ich habe, muß ich gestehen, wenig Ahnung.“ Jens van Aacheren grinste und fuhr mit seiner sonoren Stimme fort: „Das ist eine Sammlung von allen erdenkbaren Quellen. Häfen, Strömungen, Seekarten, angefertigt von Mijnheer Linschoten, erschienen zwischen fünfzehnhundertdreiundachtzig und -einundneunzig, ausgerechnet in Goa.“ „Und das hat den Holländern entscheidend geholfen, Zugang zu dem südöstlichen Asien zu finden sowie zu vielen Einzelheiten der Schiffahrtswege?“ „So ist es, Kapitän Killigrew. Vor fünf Jahren ist die erste kleine Expedition aus Holland aufgebrochen. Cornelis van Houtman fuhr nach Atjeh, durch die Malakkastraße und von dort nach Banten, Madura und Bali. Schließlich folgten weitere Reisen, und seit der Jahrhundertwende haben wir sogar bei den freundlichen Balinesen und andernorts echte Niederlassungen. Klein, aber fein.“ „Und Sie waren natürlich auf dem Weg in die Heimat“, sagte Hasard. Der Holländer nickte langsam. „Ja. Beinahe hätten wir jede Hoffnung aufgeben müssen, jemals die Niederlande wiederzusehen.“ Am Strand waren die Segel, die Rahen und der gesamte Teil der Takelage ausgebreitet und aufgeschossen worden. Die Schäden waren gering, einige Holländer hockten im Sand und spleißten emsig Taue und Leinen. Auch die Segel hatten wenig gelitten. Hier war eine Kausch zu erneuern, dort einige Schnürgatjes, kleinere und größere Löcher, und am nächsten Tag brauchten sich die Holländer über ihre Takelage wenig Sorgen zu bereiten. „Und was haben Sie vor, Schipper“, fragte der Seewolf, „wenn die Fleute wieder klar ist?“ „Zurück zu den Molukken. Neue Landung“, sagte Jens knapp. „Was sonst? Sonst sind wir alle nach dem Landfall im Armenhaus.“ „Das läßt die lange Reise noch länger werden.“ Hasard seufzte. Ihm erging es
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nicht viel anders, aber sein Weg führte in die entgegengesetzte Richtung. Jens van Aacheren blickte nach der Sonne und sagte dann: „Ihr Koch hat uns einen halben Sack Reis geschenkt. Cornelis ist recht geschickt. Wir sollten gemeinsam am Strand essen. Einverstanden?“ Hasard zog die Schultern hoch und zwinkerte. „Ich werde das sofort klären. Wahrscheinlich haben sich auch unsere Köche um Backen und Banken gekümmert. Ich pulle zurück zur Schebecke.“ Hasard hatte sich vor Beginn der Arbeiten mit Ferris Tucker und dessen Helfern gründlich unterhalten. während der beiden halben Tage konnte er sehen, daß die Niederländer sowohl über genügend Werkzeuge und Material verfügten als auch tüchtige Handwerker waren. Für die Arwenacks stand es fest: wenn die Fleute schwamm und das Wasser aus dem Schiff gelenzt war, würden sie ankerauf gehen. Die Niederländer konnten sich binnen eines Tages oder zweier Tage leicht selbst helfen. Dazu brauchten sie die Arwenacks nicht. Er winkte den Zwillingen, und sie pullten hinüber zur Schebecke. Als sie außer Hörweite der Holländer waren, sagte Jung Philip: „Ich glaube, die Jans haben noch nie ein so gutes Schiff, gesehen.“ „Halte ich für undenkbar“, knurrte der Seewolf. „Wie kommst du darauf?“ Philip lachte halb verlegen und entgegnete: „Die Kerle hören immer wieder plötzlich mitten in der Arbeit auf, stöhnen voller Sehnsucht und starren zur Schebecke hinüber.“ „Ist ja auch ein schönes Schiff, Dad“, sagte Jung Hasard halblaut. „Philip hat richtig gesehen. Die weinen sich förmlich die Augen aus.“ „Aber nicht, wenn wir ihnen helfen“, sagte der Seewolf. „Danke für den Hinweis, Söhnchen. Wir werden in aller Ruhe darüber nachdenken. Der holländische Schipper hat jedenfalls ganz vernünftig mit mir gesprochen.“
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„Ich will ja auch nicht sagen“, verteidigte sich Philip junior“ „daß alle Jans hier in der Bucht uns überfallen, das Schiff kapern und damit zurück zu den Molokken segeln wollen.“ „Es sind die Molukken“, sagte sein Dad. „Immerhin hat uns Jens van Aacheren zum Essen eingeladen.“ Aber schon als sie die Jakobsleiter aufenterten, rochen sie, daß Mac Pellew und der Kutscher mehr als nur klebrigen Reis gekocht hatten. Aus der Kochstelle roch es verlockend. Hasard winkte hinüber zum Wrack und brüllte: „Backen und Banken auf der Schebecke, Arwenacks!“ „Aye, aye, Sir!“ tönte die undeutliche Antwort über das Wasser. Nacheinander stiegen die Arwenacks an Bord. Die Jolle wurde ein halbes Dutzendmal zwischen Strand und Schebecke hin und her gepullt. Die Gesichter der Mannen waren nicht nur schweißüberströmt und von der Sonne gerötet, sondern blieben ernst. Jeder gab seine Meinung ab. Hasard saß auf der obersten Stufe des Niedergangs, überblickte die Kuhl und hörte aufmerksam zu. Seine eigene Ansicht über den Zustand der Fleute stand bereits fest. „Heute nachmittag oder spätestens morgen früh, Sir“, sagte Mac Pellew, „brauchen wir mindestens drei Faß voll Frischwasser. Die Holländer haben eine Quelle gefunden. Sehr gutes Wasser“ äußerte Joop Hoorn, der Erste.“ Hasard nickte in die Richtung Ed Carberrys. „Unser Profos soll eine Crew abstellen. Morgen früh? Meinetwegen auch nach dem Essen. Unsere Vorräte sind wichtiger als die Fleute.“ Die Köche teilten das Essen aus. Don Juan de Alcazar betrachtete seine pechverschmierten Finger und meinte: „Von außen sieht unsere Arbeit einigermaßen gut aus. Die Steuerbordseite der Fleute wird wahrscheinlich abends dicht sein. Aber das Schiffchen ist in einem miserablen Zustand. Falls wir es
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morgen aufrichten, werden wir sehen, wie morsch manche Stellen sind.“ Ferris Tucker brummte verdrossen: „Juan hat völlig recht. Aber der Kiel ist in Ordnung. Der Loskiel weniger“ den haben die Felsen auf dem Gewissen.“ „Also dauert es nicht nur zwei oder drei Tage?“ fragte Sven Nyberg enttäuscht. „Vor ein paar Stunden hat alles besser ausgesehen.“ „Die Fleute ist ein altes Schiff“, sagte Roger Brighton. „Ich habe mich mit Piet Bloom unterhalten. Er weiß es auch“ ebenso wie der Kapitän. Die Ausbesserungsarbeiten sind gut, aber es kommt kein neues Schiff dabei heraus.“ „Kein Mensch kann wissen, ob die ‚Wilhelm' die Fahrt zu den Molukken und zurück nach Holland aushält. Ich glaube, daß der übernächste Sturm noch größere Schäden anrichten kann.“ „Weiß es der Kapitän?“ fragte Batuti. Dan O'Flynn zuckte ratlos mit den Schultern und schielte zu Hasard. „Ich halte ihn für einen guten Seemann“, erwiderte der Seewolf. „Ob er weiß, wie es unter der Wasserlinie aussieht – heute abend kann ich es euch genau sagen.“ Will Thorne erklärte ruhig: „Heute abend bin ich mit den Segeln fertig. Den Rest, hat Piet Bloom gesagt, schafft der Segelmacher der Fleute, Sir.“ „Gut. Ruh dich aus, Will“„ sagte Hasard. „Ich weiß schon, daß wir es nicht einfach haben. Trotzdem helfen wir auch weiterhin.“ Die Crew hockte schließlich vollzählig auf der Kuhl und ließ sich das Essen schmecken. Die Holländer hatten sich zu ihren Feuern verholt und löffelten Reisbrei, tranken Wasser und Kokosmilch oder kalten Tee aus aufgeweichten Teeblättern“ der etwas salzig schmeckte. Schwüle Hitze lastete über dem Wald und der Bucht. Jeder schwitzte, und wenn er an die Arbeit am Wrack dachte, schwitzte er noch stärker. Carberry teilte seine Wasserholer ein, und Philip Hasard Killigrew versuchte sich vorzustellen, was die Holländer dachten und planten“ und
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was, vielleicht, die nächsten Stunden und die Nacht bringen mochten. Schließlich stemmte sich Ferris Tucker in die Höhe und wischte seine schweißnassen roten Haare aus der Stirn. „Los“ Freunde“, sagte er. „Helfen wir den armen Jans mit ihrem morschen Gewürzkahn. Auch wenn sie nicht gerade wie die Besessenen schuften.“ „Richtig“, sagte Nils Larsen. „Ich hab auch schon fleißigere Schiffbrüchige erlebt, und zwar mehr als gestern und heute.“ „Dann braucht ihr euch auch nicht totzuarbeiten“, sagte der Seewolf entschlossen. „Du sorgst für Wasser“ Ed, und ich unterhalte mich mit dem Kapitän. Los, in die Jolle.“ „Aye, aye, Sir.“ Zwei Dutzend Seewölfe gingen an die Arbeit. Bisher hatten sie den Holländern geholfen, ohne viel darüber nachzudenken oder zu fragen. Jetzt sahen die meisten die Fleute und die Überlebenden mit anderen Augen. 4. Carberry saß an der Pinne der Jolle. Sechs Mann, zwischen sich die drei leeren Wasserfässer, pullten vom Heck der Schebecke quer über die Bucht und auf eine Stelle zwischen den beiden Feuern und dem Sonnensegel zu. „Du fragst deine Landsleute, wo diese Quelle ist, Jan“, sagte der Profos. Als er den Kopf drehte, sah er Clinton Wingfield, der bei einer Gruppe Holländer stand und so wirkte, als sei es ihm sehr langweilig. „Klar frage ich sie, Ed“, erwiderte Ranse. „Irgendwo im Wald, nicht zu weit entfernt, haben sie gesagt.“ „Mitten in der Bucht gibt es bestimmt keine Süßwasserquelle“, schnappte Batuti. „Wenn deine Landsleute Wasser gefunden haben, finden wir es sicherlich auch.“ Nur noch ein paar Niederländer standen und saßen im Sand. Der Rest der Crew arbeitete am Rigg und am Rumpf der Fleute. Der Lärm war bis hierher zu hören. Aber die meisten Geräusche stammten von den Arwenacks, die zwar nicht mehr so
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schnell und konzentriert schufteten, aber ihre Arbeit hinter sich bringen wollten. „Natürlich finden wir das Wasser“, sagte der Takelmeister. „Was soll das Gerede?“ Die Seewölfe hatten ihre Stiefel angezogen und trugen ihre Hemden offen. Carberry und Roger Brighton hatten ihre doppelläufigen Pistolen eingesteckt, die anderen hatten nur ihre Messer dabei und zwei Cutlasse, die als Macheten dienen konnten. Rundhölzer und Tauenden lagen zwischen den Duchten. Die Holländer starrten die beladene Jolle an, als wäre sie ein gestrandeter Wal. Clint seinerseits warf den Jans mißtrauische Blicke zu und holte sich eine Kokosnuß von dem sorgfältig aufgestapelten Haufen. Der Bug der Jolle scharrte über den nassen Sand. „Na, Freunde!“ rief Jan Ranse munter. „Zeigt ihr uns den Weg zur Quelle?“ „Dort, da hinten“, antwortete ein Holländer, „zwischen den Palmen durch. Ihr seht die Fußabdrücke.“ „Wie weit?“ fragte Stenmark. Langsam luden sie die Fässer aus und verwendeten Rundhölzer und Tauwerk, um Tragegeräte für je zwei Mann an den Fässern zu befestigen. „Fünfhundert Schritte“, lautete die Antwort. „Ihr könnt sie gar nicht verfehlen.“ „Danke“, sagte der Profos. „Wir sehen uns nachher wieder.“ Er nickte Clint zu und setzte sich an die Spitze des Zuges. Sie hatten keine Eile. Als sie nach dreißig Schritten in der halben Dunkelheit des Waldes verschwunden waren, schlug die kochendheiße, fast triefende Luft über ihnen zusammen und ließ jeden weiteren Schritt zur Qual werden. Sie stolperten über einen Pfad, der nicht viel breiter war als drei Handbreiten, und auf dem sie schwach die Eindrücke von Stiefeln und nackten Füßen erkennen konnten. Carberry schwang seinen Säbel und stapfte voran. Unentwegt schlug er nach den sirrenden Mücken, die seinen Kopf und die Schultern umtanzten.
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„Dieser Dschungel läßt mich verrückt werden“, knurrte er. Niemand bemerkte, daß Clint ihnen folgte. Er hatte die Kokosnuß halbiert, den Saft getrunken, und jetzt kaute er auf dem weißen Fruchtmark herum. Der Pfad schlängelte sich durch das Halbdunkel, lief durch Gräben und Löcher und über winzige Hügel, zwischen Steinhaufen hindurch, die bis zur Unkenntlichkeit überwachsen waren, führte über die riesigen, knorrigen Wurzeln der Urwaldriesen, und kein Schritt war geradeaus möglich. Das Schnattern und Kreischen unzähliger Tiere begleitete die sieben Seewölfe, während sie die Fässer zwischen sich schleppten. Carberry prallte zum drittenmal gegen einen Baum, fluchte laut und schrie: „Alles wegen der Holländer! Wir schuften uns hier wieder kaputt, bloß weil wir wegen der Jans in der Bucht liegen müssen.“ „Reg dich nicht auf!“ rief Blacky Ton hinten. „Auf dem Rückweg wird's erst richtig schwer. Schließlich brauchen wir das Wasser selbst.“ Sonnenstrahlen zuckten fast senkrecht durch das dichte Blätterdach. Blattreste und morsche Rinde regnete auf die Männer nieder. Rechts und links vom Pfad wuchsen weiße Pilze, von denen Schleimfäden hinunterhingen. Fliegen und andere Blutsauger summten bösartig in Schwärmen auf, wenn sich die Männer näherten. Es erschien ihnen wie eine Ewigkeit. Für fünfhundert Schritte, eine drittel Seemeile, brauchten sie schon viel zu lange. Nach einer Weile blinzelten sie, weil die Balken des grellen Lichts dicker und zahlreicher wurden. An der spitze der Fässerkarawane schob sich Carberry durch das Buschwerk, und seine Blankwaffe pfiff nach rechts und links. Er schlug den Kameraden den Weg frei, und als der Pfad plötzlich auf eine baumlose Fläche hinausführte, ging er noch fünf Schritte, ließ den Säbel sinken und trat zur Seite. „Davon haben die Rübenschweine nichts gesagt!“ rief er. „Kommt mal Das ist nicht zu glauben.“
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Er ging weiter. Seine Stiefel schoben sich durch kniehohes Gras. Die Lichtung weitete sich immer mehr, und einen Steinwurf weiter schien die Sonne ungehindert auf eine erstaunliche Szenerie. Batuti und Roger Brighton stellten ihre Faßtrage ab, schüttelten die Köpfe und folgten in Carberrys Spuren. „Sind sie blind, die Jans?“ fragte Bob Grey laut. „Und nach Quelle sieht das auch nicht gerade aus.“ Die Fässer wurden am Rand der Spur abgestellt. Schweigend und verblüfft folgten die sechs Arwenacks dem Anführer. Ihre Augen hatten sich schnell an das grelle Sonnenlicht gewöhnt. Die Lichtung schien immer größer zu werden. Mitten im unwegsamen Dschungel erhoben sich aus einer Grasfläche kleine Hügel, schräge Aufgänge und ein knappes halbes Dutzend seltsamer Bauwerke. Sie waren uralt und hatten nur verschwindend wenig Ähnlichkeit mit den Hütten, Häusern und Pfahlbauten, die den Arwenacks von den Inseln und Küsten dieser Gegend bekannt waren. Sie näherten sich einem langen Haus mit geschwungenem Dach und einem Giebel, der zum Eingang hin wie ein Schiffsbug geformt war. Das Langhaus bestand aus dunklen Steinblöcken, in deren Ritzen Moos und kleine Pflanzen wucherten. Ein Teil der Seitenwand war von den Wurzeln eines abgestorbenen Baumes auseinandergesprengt. Eine schräge Fläche, fünf Yards breit, führte vom Rand der Lichtung bis zum Eingang. Carberry sagte voller Aufregung: „Ein uraltes Dorf. Aber ich sehe keine Bewohner. Es müßte Spuren geben, nicht wahr?“ Riesengroße Schmetterlinge gaukelten kreuz und quer durch den Sonnenschein, der sich auf den grellbunten Flügeln brach und glühende Farben auffunkeln ließ. „Ich habe auch keine Spuren gesehen“, murmelte Jan Ranse und schob sich hinter Stenmark langsam auf den Eingang des Steinhauses zu. Die Lichtung schien ausgestorben zu sein, alle Geräusche aus den Baumkronen waren plötzlich viel
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leiser geworden. Die Arwenacks blickten sich um und fröstelten. Aus dem Eingang des Langhauses fuhr ein kalter Windhauch hervor. Roger Brighton packte den Griff der Pistole. Batuti nahm den Bogen von der Schulter und zupfte mißtrauisch an der Sehne. Zuerst erholte sich der Profos von seinem Erstaunen und erklärte übertrieben laut: „Also, davon haben uns die Holländer nichts gesagt. Wahrscheinlich wissen sie es selber nicht.“ „Es gibt keine Spuren. Sie sind mindestens zweimal zur Quelle gegangen, haben sie berichtet“, erklärte Roger Brighton. Die Männer standen jetzt vor dem offenen Eingang aus Steinsäulen und steinernen Balken, die auf den ersten Blick wirkten, als hätten die unbekannten Erbauer im Stein den Eindruck von bearbeitetem und geschnitztem Holz hervorrufen wollen. Es gab nicht mal Spuren von Nestern und Vogelkot. „Wir haben uns verlaufen und irgendwo den Pfad in der falschen Richtung verlassen. Bist du blind, Profos?“ fragte Jan Ranse und ging auf einer breiten Mauerkrone nach rechts. Ein seltsamer Geruch, der ein wenig nach Arrak erinnerte, drang aus dem Gemäuer. Das Haus war zehn Yards breit und etwa dreißig Yards lang. „Ich hab nichts gemerkt.“ Carberry versuchte sich zu verteidigen. „Wir finden ja sofort wieder zurück.“ Batuti schüttelte fassungslos den Kopf, als er das steinerne Langhaus betrat. Zwei Yards weit fielen die Sonnenstrahlen in das Innere. Der Geruch wurde stärker. Die Seewölfe fühlten sich beobachtet. Lauerten hier Eingeborene mit vergifteten Pfeilen? Kopfjäger, die die Schädel ihrer Opfer als Brautgeschenk mitbringen mußten? Schrittweise wagten sich die Arwenacks tiefer in das Langhaus. Unter dem Dach aus Steintraversen und Felsplatten zog sich ein breites Band von einem Ende zum anderen an den Längsmauern hin. Durch die Öffnungen im gemeißelten
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Rankenwerk drang Licht ins Innere. Der Boden war knöchelhoch mit Laub, Moos und Pflanzenabfällen bedeckt. Jeder Schritt rief eine Kette raschelnder Geräusche hervor. „Leer. Hier hat schon eine Ewigkeit niemand gehaust“, meinte Bob Grey und bemerkte an den Wänden tief eingeritzte Zeichnungen. Er ging näher heran und versuchte zu erkennen, was er mit ausgestrecktem Arm berühren konnte. Die anderen gingen zögernd weiter, auf die Helligkeit zu, die durch den steinernen Türsturz am anderen Ende des ungewöhnlichen Bauwerks fiel. „Leer und verlassen“, meinte auch Stenmark. Bob Grey sah, tief eingeritzt und mit uralten Resten von Farbe, ein breites Band, das in Kniehöhe begann und in Augenhöhe endete. Es schien sich bis zum anderen Ende der Mauer hinzuziehen. Langsam ging Bob Grey daran vorbei und sah Männer, die mit Pfeil und Bogen, Speeren und Beilen und Messern kämpften, sich gegenseitig die Köpfe abschnitten, die gebündelten Köpfe schwenkten und an den langen Haaren kreisen ließen. Totenschädel auf langen Stangen ragten zwischen den Hütten eines Dorfes in die Höhe. Auslegerkanus arbeiteten sich durch gigantische Wellen. Auch von Boot zu Boot wurde erbittert gekämpft. Die Krieger erbeuteten Frauen, paarten sich mit ihnen, schleppten sie weg, erschlugen sie oder verstümmelten sie auf schreckliche Weise. „Scheinen ja reichlich unangenehme Zeitgenossen gewesen zu sein“, sagte Blacky, der die Bilder auf der gegenüberliegenden Seite studierte und immer wieder fassungslos den Kopf schüttelte. Jedes neue Bild rief einen größeren Schauder hervor. „Aber gute Baumeister waren sie!“ dröhnte Carberrys Stimme vom Eingang her. „Seht euch das an.“ Die Männer schritten durch die raschelnden, staubtrockenen Abfälle weiter und gingen von einer schauerlichen Ritzzeichnung zur nächsten. Es waren
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immer wieder ähnliche Szenen geschildert, voller Kampf und bösartiger Grausamkeit. Männer kämpften gegen Haifische und wurden von den Fischen zerfetzt. Andere Krieger wanden sich in den Armen riesiger Kraken und schnitten den Meeresungeheuern die Fangarme ab. „Wir kommen. Nur keine unsinnige Eile, Profos!“ rief Batuti. Auch er fühlte sich unbehaglich und glaubte, daß gleich eine Horde dieser verrückten Mörderkrieger aus dem Wald hervorbrechen würde. Er ging auf den Profos zu und blieb überrascht stehen. Ebenso überrascht war Carberry. Er deutete nach schräg unten. „Unglaublich“, sagte Roger Brighton beklommen. Vom Eingang oder Ausgang des Langhauses, das sicherlich vierhundert Menschen Platz bot, führten Treppen in sieben Richtungen. Sie endeten auf kleinen Plattformen in unterschiedlichen Höhen und Größen. Die Plattformen, die sich wie gedrungene Türme aus dem Grün der Umgebung, aus wuchernden Büschen und verkrüppelten Bäumen erhoben, waren untereinander durch weitere Mauern und Stege verbunden. Die Zeit und der Dschungel hatten an den Steinen genagt. Die Kanten waren abgesplittert und von kleinen Wurzeln auseinandergedrückt. Überall lagen Bruchsteine. „Vielleicht haben sich diese blutrünstigen Kopfjäger gegenseitig ausgerottet oder sind fortgezogen“, sagte Jan Ranse. „Ein seltsames Bauwerk. Was sollen diese Türme?“ Es war mehr als seltsam. Zwischen dem Gewirr von Treppen, Rampen, Geländern und Mauern befand sich genau im Zentrum ein Brunnen. Jedenfalls handelte es sich um eine kreisrunde Wasserfläche, regungslos und tiefschwarz. Sie schien das Sonnenlicht gierig in sich aufzusaugen. „Und was soll der Brunnen oder Tümpel?“ fügte Batuti hinzu. Wachsam gingen seine Blicke nach allen Seiten. Aber aus dem Dschungel brachen keine Angreifer hervor. Nicht ein Vogel wagte sich in die Nähe der Bauwerke.
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„Das wissen nur die verschwundenen Bewohner“, erwiderte Roger. „Von dieser Brühe möchte ich allerdings nicht trinken.“ „Niemand von uns, denke ich.“ Bob Grey sah sich nach weiteren Zeichen oder Merkmalen um, die etwas über diese rätselhafte Ruine erklärten. Blacky und Jan Ranse gingen langsam und mit großer Vorsicht die Stufen zum nächsten Absatz hinunter und näherten sich der steinernen Umrandung des schwarzen Brunnens. „Das ist, sage ich euch, ein verfluchter Ort.“ Carberry folgte den beiden abwärts, aber zusammen mit Stenmark auf einer anderen Treppenanlage. Seine Stimme schien von der Umgebung verschluckt zu werden. „Old Donegal hätte seine helle Freude.“ Die Seewölfe waren auf jede Überraschung gefaßt. Aber sie hörten nur das Geräusch ihrer Schritte auf den Mauerresten und den eigenen Atem. Hin und wieder summte ein Insekt unsichtbar zwischen den Mauern. Der schwarze Wasserspiegel lag unbeweglich da wie eine gläserne Platte. Der Geruch, der in den Nasen kitzelte und bis ins Hirn drang, wurde schärfer. „Und dieser Gestank“, äußerte Bob Grey und blieb neben dem Wasser stehen „ist alles andere als einladend. Ich bin dafür, wir verholen uns zu unseren Fässern und suchen die richtige Quelle.“ Carberry schlich vorsichtig näher. Der Durchmesser des Wasserlochs betrug etwa vier Yards. Hier wuchsen nicht mal Gräser aus den Spalten der Steinblöcke. „Gleich“, sagte der Profos. „Ich möchte nur wissen, ob dieser Brunnen mal gutes Wasser geliefert hat. Mitten im Urwald, wahrscheinlich tief und gemauert – das waren keine wilden Eingeborenen, schätze ich.“ Als sie um den schwarzen Brunnen herumstanden, erschien fast in der Mitte der Wasserfläche aus der Tiefe eine kleine Blase, erreichte die Oberfläche und platzte mit einem leisen Geräusch. Eine zweite, größere folgte, dann eine ganze Gruppe, als ob ein Taucher die Luft ausstoße.
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„Das wird immer verrückter!“ rief der Gambiamann. „Da unten hockt einer. Der hat uns gesehen und will uns etwas sagen.“ „Wahrscheinlich, daß wir von der schwarzen Suppe nichts trinken sollen“, murmelte Blacky und blickte fasziniert auf die platzenden Blasen. Der süßliche, unangenehme Geruch erzeugte in seiner Nase ein leichtes Kitzeln. Noch während sie versuchten, die Ursache der aufsteigenden Blasen herauszufinden, nahmen Menge und Größe der Blasen zu. Das Innere des Brunnens schien zu kochen. Die Blasen platzten mit lauten Geräuschen, und der Geruch fing an, die Sinne zu benebeln. Jan Ranse begriff es als erster und schrie: „Weg hier! Das ist schlechte Luft!“ „Ich merk's“, sagte Carberry keuchend. Die Männer spannten mitten im wildesten Brodeln und Schäumen ihre Muskeln, aber der Geruch, der von dem dünnen Nebel aus dem Inneren der Blasen ausging, breitete sich blitzschnell nach allen Seiten aus, vermengte sich mit der feuchtheißen Dschungelluft und fraß sich die Lungen der Seewölfe. Sie sprangen nach allen Seiten auseinander, hielten sich die Nasen zu, aber nach dem dritten oder vierten Atemzug stolperten sie, schwankten und brachen zusammen. Carberry konnte acht Stufen klettern, ehe er zur Seite kippte und schweigend Liegenblieb. Batuti und Roger versuchten sich zum Eingang des Langhauses zu retten, aber die giftigen Gase aus der Tiefe holten sie ein, bevor sie den Bereich der sauberen Luft erreichten. Eine halbe Minute später, als das Brodeln und Zischen aufhörte, lagen die sieben Seewölfe in grotesken Stellungen auf den Stufen, Rampen und Mauern. Ihre Körper bewegten sich nicht. Sie lagen da wie tot. Die letzten kleinen Blasen platzten. Langsam klärte sich das Wasser des schwarzen Brunnens, das eine gelblichgraue Färbung angenommen hatte. Der lastende, süßlich-ätzende Geruch blieb zwischen den Mauern hängen und verteilte sich in der Hitze nur langsam. Die
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Lichtung im Dschungel mit ihren geheimnisvollen Gebäuden war wieder zu einer Zone der Stille und Bewegungslosigkeit geworden. Nur das scharfe Sirren von Hornissen durchbrach dann und wann die Ruhe. * Clint schleuderte den Rest der Kokosnuß schräg nach oben. Dort hatte er eine Bewegung und einen kleinen Körper gesehen, einen Affen, der ihn mit Rindenstückchen bewarf. Die halbe Schale flog durch die Blätter und schlug knackend irgendwo auf. Dann ertönte aus dem Blattwerk ein markerschütterndes Kreischen und Schnattern. Mindestens ein Dutzend Äffchen, die er vorher nicht gesehen hatte, schwang sich von Ast zu Ast und schrie mörderisch. Clint grinste zufrieden, senkte den Kopf und betrachtete die Abdrücke der Stiefel auf dem Pfad. „Eigentlich müßten sie schon auf dem Rückweg sein“, murmelte er. Der Erste, Mister Brighton, hatte den Moses vom Wrack der „Wilhelm“ geholt und ihm aufgetragen, sich umzuhören und umzusehen. Clint war hinter den Wasserholern hergeschlichen und sagte sich, daß die Holländer, wenn sie tatsächlich etwas im Schilde führten, sich auf sieben einzelne Seewölfe im Dschungel eher stürzen würden als auf den Rest in der offen Bucht. Aber im Grunde rechnete er nicht damit, daß die Jans Unsinn in den Köpfen hatten. Er hatte abseits des Pfades, hervorragend versteckt, eine Viertelstunde gewartet. „Nicht einer ist ihnen hinterher geschlichen“, sagte er und folgte weiter den Spuren auf dem Pfad. „Aber wo stecken die Freunde?“ Clint setzte Schritt um Schritt, haute sich suchend um, fand aber nichts Bemerkenswertes. Eine Viertelstunde später bog er um den riesigen Wurzelstock eines Baumes, roch feuchte Pflanzen und stolperte über einige kniehohe Steinbrocken. Gegenüber der Quelle, die
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über einem Kreis aus weißem Kies sprudelte, war der Boden zerwühlt. „Mister Carberry! Profos! Roger!“ rief Clint einige Atemzüge später. Nur das Kreischen der Vögel und das Schnattern der Affchen antwortete ihm. Er sah weder volle noch leere Fässer, keine Tampen, keine Rundhölzer. Er hob die Schultern und tappte in einem Kreis rund um die Quelle. Zehn Schritte vom Rand des ausgewaschenen Steinbettes entfernt gab es keine einzige Spur, die von einem Menschen stammte. Clint lachte unsicher auf und flüsterte: „Sie sind doch mitsamt den Fässern nicht weggeflogen!“ Sicherheitshalber legte er den Kopf in den Nacken und betrachtete die dicken Baumstämme der Umgebung. Weder im Moos noch an den unzähligen Lianen und Schlingpflanzen entdeckte er irgendeinen Hinweis. Wo waren die sieben Seewölfe? Sie hatten sich auch nicht versteckt, um ihn zu ärgern. Dafür war viel zuwenig Zeit. „Mister Carberry hat wohl den Weg nicht gefunden“, sagte der Moses, drehte sich um und ging langsam den Pfad zurück. Diesmal achtete er noch sorgfältiger auf die Spuren. Er wußte, daß die sieben Männer ihre Stiefel angezogen hatten und andere Spuren hinterließen als die barfüßigen Holländer. Hinter der Barriere des Waldes war von den Holländern und den Seewölfen nichts mehr zu hören. Clint folgte dem Pfad bis zu einer ,Stelle, an der die Eindrücke der Stiefelsohlen nach links führten. Vor seinen Fußspitzen sah es tatsächlich so aus, als gable sich der schmale Pfad. „Alles klar“, sagte Clint. „Sie haben sich ganz einfach verlaufen.“ Carberry war geradeaus weitergegangen, statt auf dem Weg zur Quelle der getretenen Spur nach links zu folgen. Clints Schritte wurden größer, als er hinter den sieben Kameraden herlief und hoffte, sie bald zu sehen. Etwa zehn Minuten dauerte es, bis er den Windungen und Steigungen folgend, den Rand der Lichtung erreichte. Es gab keinen Pfad, nur die Spuren der Seewölfe zogen
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sich durch das dichte Gestrüpp. Einer der Männer hatte Ranken, Farne und Wedel gekappt und aus dem Weg geräumt. Die abgeschlagenen Reste lagen rechts und links der Spur. Von der Helligkeit geblendet, blieb Clint nach wenigen Schritten stehen. „Ein – ein Steinhaus“, flüsterte er erschrocken. Als er blinzelnd weiterging, merkte er, wie still es auf der Lichtung wurde. Die Spur führte direkt zum schwarzen Eingang des Steinbauwerks. Die leeren Fässer waren rechts von ihm abgestellt. Jetzt wußte er, wo die Seewölfe waren. Er hob die Hände an den Mund und rief: „Mister Carberry? Batuti! Wo seid ihr?“ Die unnatürliche Ruhe verschluckte seine Rufe. Zögernd ging er weiter, schaute sich um und sah nur den Rand des Waldes, die Gräser, deren Spitzen sich leicht bewegten, und die wenigen Insekten, die umhersummten. Er nahm seinen Mut zusammen und ging die schräge Fläche hinauf zum steinernen Türsturz. Er schnupperte mißtrauisch. Ein unbekannter Geruch herrschte in der Nähe des wuchtigen Hauses mit dem geschwungenen, hochragenden Giebel aus Stein. Endlose Verzierungen Ranken, Köpfe und Ornamente waren überall in den dunklen Stein gemeißelt. Das Haus war uralt, aus einer Zeit, die niemand mehr kannte, sagte sich der Moses. Wieder schaute er sich um, aber nichts regte sich. Er rief ein zweitesmal nach den Männern, aber aus dem Inneren des Hauses antwortete nur ein hohles hallendes Echo. Als sich Clints Augen an das Halbdunkel im Steinhaus gewöhnt hatten, sah er die Spuren in der hohen Schicht aus Pflanzenresten. Er blieb in der Mitte zwischen den Wänden und ging, je mehr er sich dem anderen Eingang näherte, immer schneller. Am Schluß rannte er durch den hochstaubenden Abfall. „Mister Carberry!“ rief er. Dann sah er den Profos schräg unter sich halb über einer Mauer hängen, und sein Ruf erstickte in einem gepreßten Schrei.
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Clint wagte sich noch ein paar Yards weiter und sah die Männer, die einige Schritte von einer runden, pechschwarzen Wasserfläche entfernt dalagen. Ihre Körper einen erschreckenden Anblick. Keiner bewegte sich, sie lagen in unnatürlichen Stellungen da. Als Clint den nächsten Atemzug tat, fiel ihm wieder der seltsame Geruch auf. war hier viel stärker als am anderen Ende des Langhauses. Er schloß die Augen. Die Bilder drehten sich kurz, als er den Blick auf Batuti richtete. „Vielleicht“, flüsterte er und Wußte nicht, was er unternehmen sollte, „hat der Geruch sie umgebracht. Giftige Luft? Warum hier, mitten im Dschungel?“ Clint war unschlüssig. Seine erste Regung war gewesen, die Stufen hinunterzustürmen und den Freunden zu helfen. Doch er ahnte, daß der Gestank etwas mit ihrem Tod zu tun hatte. Er wollte nicht sterben. Aber er konnte sie doch nicht einfach dort liegenlassen und zu Sir Hasard zurückzulaufen. „Was soll ich tun?“ frage er sich und setzte seinen Fuß auf die nächsttiefere Stufe. Er atmete mit weit offenem Mund. Er spürte den Geruch sogar a der Zunge. Aber er merkte noch nichts. Sein Herz schlug schneller, Plötzlich schwitzte er, und seine Haut wurde eiskalt. Er wagte langsam eine Stufe nach der anderen. und näherte sich Jan Ranse, der am weitesten von dem schwarzen Wasser entfernt und jetzt fast zu Clints Füßen lag. „Jan“, sagte der Moses drängend. „Was ist los? Bist du tot?“ Clint bückte sich, kniete dann neben Jan Ranses Kopf und schob seine Hand unter den Hinterkopf des Seewolfes. Jan Ranse bewegte sich nicht. Seine Augen waren geschlossen. Er lebte nicht mehr. 5. Ferris Tucker stand bis zur Brust im Wasser und paßte ein unterarmlanges Stück Holz in die Seitenkante des unteren Vorstevens ein. Sein Hammer dröhnte
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gegen ein Kantholz, das auf dem frisch gehobelten Ersatzstück lag. Leim quoll aus den Fugen, und jeder Schlag trieb den Ersatz in die Vertiefung hinein, bis das alte und das fast weiße Holz plan lagen. Der Schiffszimmermann ließ den Hammer sinken und bewegte die schmerzenden Muskeln in den Schultern. Fünf Fuß über ihm, auf der glattgeraspelten Bordwand, saßen Jan Laan Rochus van Traa. Beide grinsten d schienen sich über den Fleiß des Seewolfs zu freuen. Ferris verschluckte einen derben Fluch und rief zu ihnen hinauf: „Dafür daß die ‚Wilhelm' euer verdammtes Wrack ist, laßt ihr die Arbeit aber gemütlich angehen, Jan!“ „Keine Sorge. Wir wissen, wem das Schiff gehört“, sagte Rochus. „Euch nicht.“ „Beim Arbeiten hätt ich's nicht bemerkt“, erwiderte Ferris bissig. „Was ist los mit euch? Müde? Mit der einen n Bordwand sind wir fast fertig.“ Rochus gähnte und blickte zum Strand hinüber, wo über dem Feuer ein Kessel hing. „Todmüde“, sagte er. „Und zwar wir alle. Das war zuviel für uns.“ Ferris watete aufs Heck zu und musterte die vielen Ausbesserungen sowie die fingerdicken Tropfen, die aus den Fugen der Planken hervorgequollen waren. Er blieb neben dem Ruderblatt stehen und sah gegenüber dem Wrack am Ufer einige Holländer, die so leise miteinander sprachen, daß nicht mal ihre eigenen Leute auf dem Wrack ein Wort verstehen konnten. Halb im Wasser trieb ein großes Segelleinwand, an dessen Ecken fingerdicke Leinen angeschlagen waren. „Wenn ihr schon aufgebt, bevor es richtig angefangen hat“, sagte Ferris verärgert, „dann kommt ihr nie aus der Bucht weg.“ Es war zwischen den Männern abgesprochen worden, daß zuerst die Segeltuchfläche von außen oder unten gegen die Bordwand gedrückt und festgezurrt und dann das Schiff aufgerichtet werden sollte. Langsam watete
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Ferris, neben sich Paddy Rogers, zum Strand. „Faule Bande“, murmelte Paddy. „Schon seit Stunden faulenzen sie.' „Ich rede mit Hasard“, erwiderte der Schiffszimmermann wütend. „Wir werden doch nicht vom holländischen Kapitän bezahlt.“ Wenn die „Wilhelm von Oranien“ wieder gerade auf dem Kiel stand und kein Wasser - oder nur wenig - eindrang, mußte sie gelenzt werden. Dann erst konnte man sie um hundertachtzig Grad drehen und wieder auf die Seite legen. „Genauso tun die Jans“, sagte Paddy. „Gerade noch, daß sie ihre Pfefferkörner waschen.“ „Entweder ändert sich das bald, oder ich schmeiße meinen Hammer hin“, maulte Ferris und trat nach einem aufgeschossenen Tampen. Knapp zwei Dutzend Seewölfe hatten bisher am Wrack gearbeitet. Ferris winkte, und nacheinander sammelten die Mannen ihre Werkzeuge, die Holzreste und die Leimtöpfe ein. Drei Stunden vor Sonnenaufgang waren die wichtigsten Reparaturen auf der Steuerbordseite ausgeführt. Ohne viel Eifer arbeiteten ein paar Holländer an den letzten Stellen, die noch zu kalfatern waren. „Ich habe gehört“, sagte Don Juan de Alcazar, „daß sie glauben, ihr Schiff sei nicht mehr zu reparieren.“ „Unsinn“, erwiderte Ferris laut. „Wenn auch die Backbordseite geflickt ist, können sie noch lange segeln, die Jans. Angsthasen!“ Mehr als drei Stunden würde die Helligkeit des Tages noch anhalten. Das Wetter war gut geblieben. Stechend heiße Sonne und eine lastende Schwüle trotz des Windes lagerten über der Bucht. Die Strömung hatte die Abfälle und einen Teil des Schmutzwassers aus der Bucht geschwemmt. Aus den Luken der „Wilhelm“ drang ständig eine graubraune Brühe. Higgy sagte leise zu Juan: „Du hast recht. Ich habe ein paarmal gehört, daß die Jans nicht daran glauben, ihr Kahn würde
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wieder richtig flott. Sie beneiden uns um die Schebecke. Mehr als Neid – sie hassen uns fast, weil wir ein gutes Schiff haben.“ Hasard, Old Donegal und Ben Brighton pullten von der Schebecke zum Ufer. Ferris und Don Juan winkten hinüber. „Das klingt gefährlich“, brummte Bill. „Wenn die Jans die Schebecke wollen ...“ Er beendete den Satz nicht und wartete, bis Hasard aus der Jolle sprang. „Wo steckt eigentlich Jens van Aacheren?“ fragte der Seewolf. Don Juan deutete zum Feuer, das mehr als eine halbe Meile entfernt war. „Zählt seine Pfefferkörner. Das andere Gewürzzeug ist vergammelt, sagen seine Leute. Er scheint es auch nicht eilig zu haben, der Schipper.“ Hasard senkte seine Stimme und zog Ferris näher zu sich heran. „Al Conroy hat seine Artillerie neu geladen und feuerbereit. Die Drehbassen sind ein gutes Mittel, den Holländern zu zeigen, daß sie mit ihrer eigenen Fleute segeln müssen. Wo sind eigentlich die Mannen von Eds Wassercrew?“ „Im Wald. Hoffentlich schon auf dem Weg hierher, weil sie nämlich schon viel zu lange an der Quelle herumtrödeln“, erwiderte Paddy. Hasard wandte sich an Ferris und sagte: „Ich spreche mit Jens van Aacheren. Es gibt ein Mittel. Holländer schnell von dem Segen der Arbeitswut zu überzeugen. Stellt die Fleute auf den Kiel, nachdem ihr die Leinwand ausgebracht habt. Dann können sie die ganze Nacht abwechselnd die Lenzpumpe bearbeiten. Wetten, daß sie morgen noch müder sind?“ „Einverstanden“, antwortete Ferris. „Aber sag dem Kapitän, daß er seine Faulpelze antreiben soll. Sonst spielen wir nicht mehr mit, Sir.“ „In Ordnung, Ferris.“ Hasard setzte sich mit langen Schritten in Bewegung und eilte über den feuchten Sandstreifen auf das Feuer zu. Tatsächlich hatten die Holländer die Pfeffersäcke, die lange im Salzwasser gelegen hatten, geöffnet. Sie wässerten die Pfefferkörner im Süßwasser und breiteten sie dann auf
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Tüchern und Segeltuch aus, damit die Sonnenhitze die Nässe vertrieb. Es arbeiteten wirklich nur noch vier Holländer an der Fleute. Die anderen standen herum und redeten, einige lagen im Schatten und schnarchten. Hasard dachte mit steigender Wut daran, daß bis auf die notwendigen Ausnahmen seine Seewölfe an dem Wrack schufteten, als wäre es das eigene Schiff, und als er bei Kapitän van Aacheren anlangte, hatte sich sein Ärger in kontrollierte Wut verwandelt. Er blieb vor dem drahtigen, kleinen Mann stehen und nickte zur Begrüßung. „Ihre Männer, Mijnheer van Aacheren“, sagte er leise und in scharfem Tonfall, „scheinen sich auf merkwürdige Weise für die Hilfe zu bedanken. Sie arbeiten tagsüber immer weniger und noch langsamer. Jetzt zum Beispiel sind nur noch meine Männer an der Arbeit. Haben Sie entsprechende Befehle gegeben, Kapitän?“ Der Holländer war zusammengezuckt und starrte in Hasards beherrschtes Gesicht. „Natürlich nicht, Mister Killigrew“, sagte er. Seine Stimme, die sonst dunkel und hallend war, klang flach und belegt. „Wie kommen Sie zu einer solchen Unterstellung?“ „Sehen Sie sich um“, sagte Hasard. „Alle Holländer schlafen, tratschen miteinander oder drehen die Daumen.“ „Sie sind müde. Harte Tage und Nächte liegen hinter uns, Kapitän.“ Hasard stemmte die Fäuste in die Hüften und warf einen Blick auf die drei Seeleute, die mit schläfrigen Bewegungen einige Sack Pfefferkörner, die auf Tüchern ausgebreitet waren, umwendeten. „Hinter uns liegt weitaus mehr an Arbeit und Schufterei. Trotzdem helfen wir, so gut und schnell wir können. Sie und Ihre Männer haben die Wahl, Kapitän van Aacheren.“ Hasard blieb ruhig. Er verstand die Handlungsweise der Holländer nicht, es sei denn, sie hätten sich alle abgesprochen und versuchten ein übles Spiel. Wie dieses Spiel aussehen würde, wußte er. Und er kannte auch die Mittel dagegen. Das
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Ausbleiben der Wasserholer beunruhigte ihn noch nicht. „Welche Wahl?“ fragte der Holländer. Er war zwei Schritte zurückgegangen, um den Kopf nicht in den Nacken legen zu müssen, wenn er in Hasards eisblaue Augen blickte. Eine ganz einfache Überlegung. Wir haben noch drei Stunden bis zur Dämmerung. In dieser Zeit bringen Ihre Crew und meine Männer das Segeltuch aus, richten die Fleute auf, wenn dann noch Zeit ist, reparieren wir ein paar Planken und drehen das Schiff – wie gesagt, wenn es vom Grund freikommt. In der Nacht lenzen Ihre Männer, und morgen abend können wir fertig sein.“ Der Holländer nickte und ließ die Schultern hängen. „Die Crew wird nicht begeistert sein. Meine Männer haben hart gearbeitet“, sagte er und breitete die Arme aus. „Wir tun, was wir können.“ „Sie haben seit Mittag kaum mehr gearbeitet, ausgenommen vielleicht die beiden Zimmerleute“, widersprach Hasard. „Wenn wir heute abend nicht das Gefühl haben, daß es Ihnen ernst ist, gehen wir morgen früh ankerauf und lassen Sie und Ihre Crew samt dem Pfeffer allein. Ich bin sicher, daß Sie mich richtig verstanden haben, Kapitän.“ Er grüßte kurz, drehte sich um und marschierte durch den knirschenden Sand wieder zurück zu seinen Leuten. Als er sich nach hundert Schritten umdrehte, sah er van Aacheren, der auf die Pfefferumwender einredete, gestikulierte und auf die Fleute deutete. Hasard grinste kurz und setzte sich zu Ferris und den anderen Seewölfen. „Ich habe ihm gesagt, was passiert, wenn seine Mannen nicht auf der Stelle zu schuften anfangen.“ „Er war offensichtlich begeistert“, meinte Don Juan und ließ Sand durch seine Finger rieseln. „Was tun wir, Amigo?“ „Bis Sonnenuntergang versuchen, die Fleute aufzurichten. Dann zur Schebecke. Backen und Banken. Wenn der Kahn morgen gelenzt ist, helfen wir ihnen noch.
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Wenn nicht, gehen wir ankerauf. Sie werden hier nicht umkommen. Und wie man ein Schiff repariert, wissen sie auch.“ „Einverstanden. Ein guter Vorschlag“, sagte Ferris. „Wo ist der Profos mit seiner Crew?“ Hasard zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Wenn sie in einer Stunde nicht da sind, sehen wir nach. Sind alle Holländer da, oder fehlt eine größere Menge? Vierzig Mann sollten es sein.“ Die Seewölfe zählten die Gestalten. Zwei waren auf der Fleute, der Rest lümmelte tatsächlich am Strand herum. „Los“, sagte er entschlossen. „Packen wir alle noch einmal an. Zeigen wir's den Holländern.“ „Na denn“, brummte Ferris Tucker und wischte den Sand vom Hammerstiel. Die Arwenacks brauchten keine Befehle. Sie griffen nach den Tampen, wateten ins Wasser und zu den Blöcken und Klappläufern. Es dauerte lange, bis mit Hilfe der beiden Zugtaue die Leinwand unter den Planken und bis zum Kiel gezerrt und gezogen worden war, Der Zug, der auf den Masten stand, wurde Handbreite um Handbreite verringert. Langsam hoben sich die Masten, die flach auf dem Wasser gelegen hatten, aus den winzigen Wellen. Die Zwillinge enterten zum Schanzkleid hinauf, zerrten das nasse, steife Tuch in die Höhe und belegten die Tauenden. Während einundzwanzig Seewölfe arbeiteten, sammelte der Kapitän tatsächlich seine Leute und ging mit etwa fünfunddreißig Mannen ohne große Eile zur Fleute. Einige Holländer trugen lederne und hölzerne Putzen, „Hierher, Gentlemen!“ rief Hasard. Die Masttopps waren schon mehr als eineinhalb Yards von der Wasseroberfläche entfernt. Die Fleute bewegte sich knarrend und widerwillig. Der Kiel verschwand unter dem Wasser, und Stück um Stück hoben sich die Masten. Der Ballast schien nicht weit aus der Bilge herausgekollert zu sein. Je mehr der Zug auf die Masten nachließ, desto mehr richtete sich das Wrack auf.
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„Das geht besser, als ich gedacht habe“, murmelte Hasard. Der Kiel war auf ganzer Länge im Wasser verschwunden. Weniger als vierzig Grad, knapp ein Achtelkreis, ragten die Masten aus dem Wasser, Teile des Schanzkleides tauchten auf. Sand und Wasser rannen an den Holzteilen hinunter. Ben Brighton rief: „Eigentlich müßte die Fleute, selbst wenn sie auf Grund sitzt, fast senkrecht stehen können.“ Krebse und Krabben in allen Größen wieselten über den Sand und ins Wasser. Vor den watenden Männern flüchteten Scharen kleiner Fische mit aufblitzenden Bäuchen. „Warten wir ab, ob sie sich voll aufrichtet. Hauptsache, die Holländer können die Pumpe bedienen“ Knarrend und knirschend bewegte sich das Wrack weiter. Immer mehr von der Backbordseite schob sich aus dem Wasser. Die riesige Menge Seewasser im Inneren schwabbte über das Deck, gurgelte durch die Luken und lief in feinen Strahlen aus den Lecks der Bordwand. „Weiter so!“ Als die Taue durchzuhängen begannen, saß der Kiel auf Grund. Die Abweichung von der Senkrechten betrug etwa zwanzig Grad. Mehr als zwei Drittel des Schiffes befanden sich unter Wasser, und die Fleute bewegte sich nicht mehr. „Schlagt die Taue an den Masten los!“ rief der Seewolf. Eine Gruppe Holländer enterte auf. Zwei Mann stellten sich an die Lenzpumpe und fingen zu arbeiten an. Ein Dutzend Männer bildete eine Kette und lenzte mit den Pützen. Die kleinen Lecks, meist aufgerissene Fugen zwischen Planken über der Wasserlinie waren den Seewölfen nicht wichtig. Aber vielleicht konnten sie von innen einige große Lecks abdichten. „Los, Kollegen!“ rief Ferris den beiden holländischen Zimmerleuten zu. „Sehen wir nach. Bevor der Kahn nicht leer ist, brauchen wir gar nicht zu versuchen, ihn herumzudrehen.“ „Verstanden, Zimmermann.“
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Auch die Zimmerleute enterten über die glitschige Jakobsleiter auf und kletterten auf das schräge Deck. „Heute brauchen wir gar nicht daran zu denken“, sagte schließlich Don Juan, als die Taue von den Masten abschlagen waren und im Wasser trieben, „daß sich die Fleute drehen läßt. Zuviel Wasser.“ Mittlerweile spuckte das Abflußrohr der Lenzpumpe schmutziges Wasser in dicken Strahlen außenbords. Dazu kamen die Güsse aus den vollen Pützen. Diesmal arbeiteten die Holländer ebenso angestrengt wie die Seewölfe. Einige Männer tauchten, nachdem sie mühsam die Niedergänge abgeentert waren, in die Brühe hinunter und versuchten, weitere Kisten und Fässer zu bergen, die sich losgerissen hatten. Auch Hasard enterte auf die Kuhl der Fleute. Das Deck war voller Schmutz und naß, aber die Planken schienen in Ordnung zu sein. Er wagte sich auf dem bugwärtigen Niedergang ein paar Stufen abwärts und sah sich um. Ferris Tucker stand bis zur Brust im Wasser und tastete die Planken ab. Das Wasser im Schiff war mittlerweile um drei oder vier Fingerbreiten gesunken. „Die Leinwand scheint die größten Lecks zu verschließen“, sagte der Seewolf. „Wir versuchen, von außen mehr zu sehen.“ „In Ordnung, Kapitän“, sagte Rochus van Traa. „Wir versuchen's von binnen.“ Hasard sah ein, daß so ziemlich jede sinnvolle Arbeit noch eine Weile warten mußte. Wenn endlich die Flut auflief und genügend gelenzt worden war, konnten sie die Fleute drehen und wieder auf die Seite legen. Seiner Schätzung nach mußten die Jans tatsächlich die ganze Nacht lang lenzen. Er konnte hier und jetzt nicht mehr helfen und enterte zum Strand ab. „Juan“, sagte er, „die Zwillinge und ich pullen zur Schebecke. Helft den Jans noch eine Stunde beim Lenzen, dann kehrt zurück an Bord. Um die Wasserholer kümmere ich mich selbst.“ Der Spanier grinste kurz, deutete zu den schuftenden Holländern und erwiderte: „Sie haben plötzlich begriffen, daß ohne
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Arbeit nichts läuft. Alles klar, Capitan. In einer Stunde auf der Schebecke.“ Die Zwillinge hatten von der Schebecke alle Pützen geholt, die sie gefunden hatten. Jeder, der nichts zu tun hatte, schnappte sich eine Pütz und reihte sich in die Ketten der Männer ein, die das Schiff lenzten. Als sie entdeckten, daß tatsächlich mehr Wasser außenbords befördert wurde, als eindrang, verdoppelten sie ihren Eifer. Gleichmäßig bewegte sich der Schwengel der Lenzpumpe auf und nieder. Das Wasser neben dem Wrack verwandelte sich in eine schmutzige Brühe, die übel roch. Hasard blickte seine Söhne an und sagte schließlich: „Pullt hinüber zum Feuer. Juan, kommst du mit? Wir suchen Carberry und seine Crew.“ „In Ordnung.“ Sie pullten zur Mitte des Strandes und fragten den Koch Cornelis nach dem Weg zur Quelle. Er beschrieb ihn, so gut er konnte, und sagte, daß er von Carberry und dessen Mannen nichts gehört und gesehen hätte, seit dem Augenblick, als die Männer in den Wald eingedrungen wären. * Clinton Wingfield ließ Juan Ranses Kopf wieder auf den Stein der Treppe zurücksinken, dann rüttelte er an den Schultern des Holländers. Der Moses war ratlos und konnte nicht glauben, was er sah. Er sprang auf und rannte zu Blacky hinüber. „Blacky!“ rief Clint. „Ihr könnt nicht tot sein. Beweg dich doch. Steh auf.“ Er legte die Finger, wie er es vom Kutscher gelernt hatte, gegen die Innenseite von Blackys Handgelenk und tastete nach dem Herzschlag. Gleichzeitig hörte er von rechts ein dumpfes Stöhnen, dann ein würgendes Husten. Er drehte den Kopf und sah, wie Stenmark versuchte, sich aufzurichten. „Sten!“ rief Clint mit halber Erleichterung. „Die anderen bewegen sich nicht. Was ist passiert?“
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Seine Fingerspitzen ertasteten das schwache Pochen des Herzschlages. Stenmark hustete weiter, ohne eine Antwort zu geben. Er zog sich an dem steinernen Geländer in die Höhe und stierte um sich. Er begriff nichts, fand sich nicht zurecht, aber dann tappte er in Clints Richtung. „Clint? Wie kommst du hierher?“ fragte er stockend, immer wieder von Husten und Würgen unterbrochen. „Bin euch gefolgt. Hab sonst nichts zu tun“, sagte der Moses. „Blacky lebt auch. Er ist bewußtlos.“ „Wir müssen sie hier wegbringen“, sagte Stenmark. „Der Brunnen hat uns vergiftet.“ „Ich kann Blacky nicht tragen“, sagte Clinton. Stenmark packte zu. Sie hoben Blacky hoch, legten die Arme auf ihre Schultern und zerrten den Mann in die Höhe. Seine Füße schleiften nach. Clint und Stenmark schleppten den schlaffen Körper auf den Ausgang des Hauses zu. Während sie Stufe um Stufe höher kletterten, zuckte Blacky, bewegte schließlich unbewußt die Beine, atmete hörbar ein und aus und hatte einen Hustenanfall, als sie den Schatten des gekrümmten Steingiebels erreicht hatten. Sie setzten ihn auf den Boden und lehnten seine Schultern gegen den kühlen Stein. Stenmark erholte sich langsam und wischte den Schweiß aus seinem Gesicht. „Holen wir die anderen“, sagte er hustend. „Das ist ein teuflischer Ort. Ich erzähl's dir nachher.“ „Ist es der Gestank?“ fragte Clint, während sie zu Jan Ranse hinunterstiegen, den röchelnden Mann aufhoben und mühsam zu Blacky hinaufschleppten. Carberry kam zu sich, fluchte keuchend und zog sich hoch. Er sah Clint und Stenmark, blickte zu den anderen regungslosen Gestalten und hustete würgend. Er wankte zu Batuti, schüttelte den Gambiamann wie eine Puppe und packte ihn dann an der großen Gürtelschnalle. Er schleppte ihn langsam und fluchend aus
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dem Bereich der Mauern und Treppen und zog ihn in die Höhe. „He, Mandingo!“ dröhnte seine Stimme. Dann hustete er wieder, als sei es seine letzte Stunde. „Auf die Beine! Wir leben noch.“ „Wir leben wieder“, ächzte Batuti. Roger Brighton und Bob Grey waren einige Minuten später in Sicherheit. Der unbekannte Geruch hing noch immer über dem schaurigen Ort, dessen Einzelheiten der Moses erst jetzt richtig wahrnahm. „Ihr habt euch verlaufen-. sagte er schließlich. „Ich bin zur Quelle gegangen und wieder zurück.“ „Hasard wird sich sorgen“, sagte Carberry. Die Seewölfe waren bleich und schweißüberströmt. Ihre Haut schien grau geworden zu sein unter der Sonnenbräune. Batutis Gesicht hatte die Farbe von nasser Asche angenommen. Aber mit jedem Atemzug in der sauberen Luft erholten sie sich ein wenig. „Mit Sicherheit sorgt sich der Sir“, sagte Batuti. „Mir zittern die Knie. Ich bin schwach wie ein Säugling. Jetzt weiß ich auch, warum Sam Roskill tagelang wie ein Halbtoter dalag. Er hat sich wahrscheinlich so gefühlt wie ich jetzt.“ „Hast recht“, bestätigte der Profos. „Heute schleppen wir auch keine schweren Fässer mehr. Zurück zum Strand, zur Schebecke.“ „Einverstanden“, erwiderte Jan Ranse „Das war knapp, sage ich. Die giftige Luft ist aus dem tiefen Brunnen aufgestiegen. Aber warum gerade als wir den Brunnen angeschaut haben?“ „Keine Ahnung“, murmelte der Profos. „Es wird spät. Los, sehen wir zu, daß wir uns zur Bucht verholen. Clint du weißt, wo wir uns verlaufen haben? „Der Moses nickte. „Ganz genau“, sagte er. „Ihr seid geradeaus gegangen statt nach rechts.“ „Könnt ihr Rübenschweine schon eure Beine bewegen?“ erkundigte sich der Profos zartfühlend. „Oder muß ich einen von euch tragen?“ „Wird schon zu schaffen sein“, sagte Roger Brighton. „Wir haben überlebt. Aber niemand wird uns erklären können, wer
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hier mitten auf einer namenlosen Insel diese Haufen Steinblöcke aufeinander gebaut hat.“ „Die Welt ist voller Rätsel, Takelmeister“ sagte Carberry und winkte. „Zum Schiff.“ Sie rappelten sich auf und folgten Carberry, der sich durch den Eingang wagte und davon wankte. Bis auf Clint spürten alle Seewölfe jeden einzelnen Muskel. Sie schlurften durch den Unrat auf dem Boden des Langhauses und hatten keine Augen für die schauerlichen Ritzzeichnungen. Das wenige Sonnenlicht hatte sich rot gefärbt. Schweigend, taumelnd und mit langsamen Bewegungen, mit Clint am Ende, bewegte sich der Zug durch die Düsternis des Hauses auf das Grasfeld hinaus. „An Bord ist noch genug Wasser“, sagte Carberry, während er sich umdrehte und seine müde Schar musterte. „Morgen früh holen wir die Fässer.“ „Schon gut. Lassen wir die Fässer hier liegen?“ fragte Batuti. „Klar. Niemand wird sie wegtragen oder stehlen“, sagte Roger Brighton. Sie folgten ihren eigenen Spuren, trafen nach einer mühsamen Kletterei wieder auf den Pfad und taumelten eine Viertelstunde später zwischen den Büschen auf den Strand hinaus. Hasard und die Zwillinge wollten gerade zur Quelle eilen. Die Gruppen stießen fast zusammen. Der Seewolf fing den schwankenden Profos auf und fragte erschrocken: „Was ist passiert, Ed? Ihr seht aus, als hättet ihr eine Schwefelmine besichtigt.“ „So ähnlich war's auch“, erwiderte Jan Ranse. „Wir sind halb ohne Besinnung. Schlechte Luft, voller Gift, das hat uns beinahe umgebracht. Das ist so schlimm wie Sam Roskills Fieber, Sir.“ „Der Moses hat uns gefunden“, sagte Blacky. „Wir sind vom Pfad abgeraten, haben seltsame, uralte Bauwerke gesehen, und dann brodelte giftige Luft aus einem tiefen Brunnen.“ Sie schleppten sich zur Jolle. Roger und Clint berichteten, was sie gesehen hatten und Was vorgefallen war. Die Seewölfe
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schoben die Jolle ins Wasser und fielen erschöpft auf die Duchten. über der. offenen Bucht stand, zwei Handbreiten über der Kimm, die riesige rote Sonne. „Eine Muck voll Schnaps“; brummte Carberry und schüttelte sich, „und ein guter Schlaf, und morgen früh sind wir wieder bei Kräften.“ Kopfschüttelnd antwortete Hasard, während er den Riemen einsetzte und zu pullen anfing: „Ihr werdet erst mal ausruhen. Ein Gas, das aus der Tiefe des Waldbodens steigt und euch fast umgebracht hat – damit ist nicht zu spaßen. In die Kojen, Kerls, aber schnell.“ Sie pullten zur Schebecke und enterten über die Jakobsleiter auf. Der Kutscher erschien aus der Kombüse, warf forschende Blicke auf die Gesichter der Männer und kehrte mit einem Krug und vielen Mucks wieder zurück. „Und wenn ihr morgen früh nicht wieder in Ordnung seid“, sagte Hasard im Befehlston, „dann holen andere das Wasser. Clint kennt den Weg. Los! Verholt euch!“ „Aye, aye, Sir“, brummte der Profos und setzte sich auf die Stufe des Niederganges. Er zerrte an seinen Stiefeln und merkte, als er die Muck in der Hand hielt, daß seine Finger zitterten. Hasard lehnte am Schanzkleid und sah zu, wie Carberrys Crew nacheinander den Niedergang abenterten und im Rumpf der Schebecke verschwand. Dann winkte er Clint zu sich heran und sagte: „Erzähl mir genau, was passiert ist. Die Holländer haben die Häuser und den Brunnen wahrscheinlich nicht entdeckt, wie?“ „Nein, Sir“, erwiderte der Moses. „Es gab nur eine Spur. Die war vom Profos und den sechs anderen Seewölfen.“ Dann berichtete er, woran er sich erinnerte. Schweigend hörte Hasard zu. Sein Blick ging immer wieder hinüber zur Fleute, die sich aus dem Wasser hob. Unentwegt wurde mit allen Kräften gelenzt. Die Masten des Schiffes standen seit wenigen Minuten gerade. Der Kiel hatte sich aus dem Sand gelöst.
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Auf der „Wilhelm von Oranien“ hatten die Holländer drei Laternen entzündet. Die Arwenacks hatten einen Krug Palmöl herausgerückt, denn die Schiffbrüchigen hatten ihr Öl verbraucht. Die Vorräte, von denen sie sprachen, befanden sich in den Laderäumen und daher unter Wasser. Solange die Lampen brannten, wechselten sich die Holländer an der Lenzpumpe ab und brauchten die Hilfe der Seewölfe nicht. „Die letzten Stunden haben sie tatsächlich gearbeitet“, sagte der Erste halblaut. „Aber das Ganze gefällt mir irgendwie nicht. Ich habe bemerkt, daß sie Bambusknüppel geschnitten und allerlei Rundhölzer herumliegen haben. Es soll wie zufällig aussehen, Sir.“ „Sie planen also wirklich, uns das Schiff wegzunehmen?“ fragte Hasard. Bis auf die etwa vierzehnköpfige Crew, die das Schiff lenzte, hatten sich alle Holländer um die Feuer am Strand versammelt. „So sieht es aus. Ich vermute, sie lassen sich noch etwas Zeit. Vierzig Holländer, das reicht. Sie können zwei Schiffe bemannen. Unsere Schebecke und ihre Fleute, wenn sie wieder seetüchtig ist.“ Hasard und der Erste nickten einander zu. Auch das war denkbar. Ebenso konnten sie sich vorstellen, daß ihnen die Holländer großzügig die Fleute überließen. Hasard lachte kurz und warf einen Blick auf die Drehbassen. „Sieben Mann fallen vorübergehend aus“, sagte er. „Heute nacht wäre eine gute Zeit für einen Überfall. Oder sollten wir schon jetzt ankerauf gehen? Dann verlieren wir nur ein paar Fässer, mehr nicht.“ „Den Verlust könnten wir verschmerzen, Sir“, sagte Ben. „Ich bin dafür, erst morgen die Bucht zu verlassen. Diese müden Holländer schlagen wir mit links in die Flucht.“ „Sie sind sicher anderer Meinung. Undank ist der Welt Lohn“, äußerte der Seewolf. Er war nicht sehr besorgt über das Schicksal von Crew und Schiff, denn alle
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Mannen waren an Bord, und die erste Wache war aufgezogen. Die Flammen der Lampen und der Feuer spiegelten sich im Wasser. Man würde jeden Schwimmer und erst recht die Jolle sehen, wenn sie sich näherten. Bisher waren die Arbeitsgeräusche nicht abgerissen. Es schien gegen den Plan der Holländer vielleicht sogar Widerspruch zu geben, denn sonst würde das Lenzen wenig Sinn ergeben. „Wir holen morgen das verdammte Wasser“, sagte Hasard schließlich, „und dann gehen wir ankerauf. Die Fleute schwimmt. Die Holländer können den Rest selbst erledigen.“ „Höre ich gern, Sir“, erwiderte der Erste. „Mittags sind wir auf und davon, Kurs auf Surabaja.“ Die ersten Stunden der Nacht blieben feucht und heiß. Ab und zu wehte eine auflandige Brise, aber auch sie brachte keine Kühlung. Zwischen den Sternen zogen Nachtwolken auf. Vor den Feuern bewegten sich die Gestalten der Holländer. Leise Gesprächsfetzen drangen, vermengt mit den Geräuschen der Lenzpumpe, über das Wasser. Plymmie lag auf dem Grätingsdeck, blickte schläfrig zu den Feuern hinüber und zuckte manchmal mit dem Schwanz. Solange die Wolfshündin nicht Laut gab, drohte von den Holländern keine Gefahr. Hasard streckte sich aus und dachte darüber nach, was holländische Freundschaft so mit sich brachte. Seine Gedanken waren nicht sehr erfreulich, aber er konnte nicht ändern, was in den Köpfen der Jans vorging. * Peer Jordaan schüttelte den Kopf. „Bei allem schuldigen Respekt, Kapitän“, sagte er leise und blickte zu Boden. „Ich will nicht meutern oder widersprechen. Aber ich halte das, was ihr plant, nicht für gut. Es ist feige und nicht anständig. Ich halte nichts davon, den hilfreichen Engländern ihr Schiff wegzunehmen.“
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„Keiner von uns ist Pirat“, sagte der Kapitän hart. Er schien sich längst entschlossen zu haben. „Aber mit der ‚Wilhelm' gelangen wir nicht mehr weit. Das Schiff der Engländer wird uns überall hinbringen. Alle Männer, von der ‚Wilhelm' und die von der ,Harlingen` sind dafür. Wir warten nur auf den günstigsten Augenblick.“ „Alle wollen die Schebecke. Ein gutes, schnelles Schiff“, sagte Joop Hoorn. „Ich habe mit jedem einzelnen gesprochen. Morgen stürmen wir die Schebecke. Die Engländer sind ahnungslos.“ Der Bootsmann schüttelte wieder den kantigen Schädel und entgegnete: „Sie helfen uns mit Werkzeug und Material. Und wir wollen ihnen das Schiff stehlen. Ich sage euch, das ist unrecht. Und die Engländer werden sich bestimmt nicht freiwillig die Schebecke wegnehmen lassen. Wie wollt ihr deren Pistolen, Musketen und Kanonen ausschalten?“ „Das wird sich zeigen, Bootsmann.“ Der Stückmeister führte eine wegwerfende Geste aus. „Sie haben bestimmt kein Geschütz geladen. Außerdem haben wir feinen Plan.“ „Du weißt, Piet, daß ich kein Feigling bin“, sagte der Bootsmann. „Weiß ich, Jordaan. Du willst also nicht ein bißchen Engländer verprügeln?“ „Nicht ein bißchen“, entgegnete Peer. „Ich gehe auf die Fleute und lenze die Bilge oder nagle Planken fest. Ihr könnt euch totschlagen und erschießen lassen. Dabei werde ich nicht helfen. Ich habe keinen Haß auf die Engländer.“ „Keiner haßt die Engländer“, sagte der Kapitän. Er sah ein, daß er den Bootsmann nicht zwingen kannte. Er zuckte mit den Schultern. Vielleicht besann er sich, wenn es wirklich losging, eines Besseren. „Wir lieben nur ihr Schiff.“ „Das läuft aufs gleiche erwiderte der Bootsmann. „Tut, was ihr wollt. Ich bin morgen auf der Fleute.“ „Und ich gehe jetzt an Deck. Die brauchen mich beim Lenzen“, sagte Rochus van Traa. „Wir haben mit den Engländern
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vereinbart, dass sie uns helfen, den Kahn zu drehen und auf die Seite zu legen.“ „Das wird sie noch länger in Sicherheit wiegen und sogar in verschiedene Gruppen auseinanderbringen. Es ist leichter, mit drei, vier verschiedene Gruppen fertig zu werden, nicht wahr?“ „Genau“, pflichtete der Schiffszimmermann dem Kapitän bei. „Vielleicht findest du in der Bilge noch ein paar Säbel, Jordaan.“ „Wenn ich sie heraufholen kann, kriegt ihr sie“, versprach der Bootsmann. Die Besatzung der Fleute und der „Harlingen“ hatten ihre Pläne abgesprochen und würden bis zu dem Augenblick, an dem Jens van Aacheren das Angriffssignal gab, so weiterarbeiten wie bisher. Die Crew war satt, und zwei Drittel von ihnen hatten die Decken gewaschen und getrocknet. Jetzt lagen sie im warmen Sand und schnarchten. Langsam brannten die Feuer herunter, während sich die Ablösung zur Fleute in Bewegung setzte. * Einige Minuten vor der ersten Morgendämmerung stieg Edwin Carberry an Deck, atmete tief die kühle Luft ein und dehnte den Brustkorb. Das Zittern in den Gelenken war ebenso vergangen wie das Brummen unter der Hirnschale. Mit jedem weiteren Atemzug fühlte sich der Profos besser. „Wieder unter den Lebendigen, Carberry“, sagte er zu sich und drehte den Kopf. Am Strand schwelte die Glut, und erstaunlicherweise lenzten die Holländer noch immer. Die Fleute schien einigermaßen dicht zu sein, denn der Rumpf lag sehr hoch im Wasser. Die Bucht roch nach Bilgenwasser. „Bald seht ihr nur noch unser Heck, ihr Rübenschweine“, murmelte der Profos und nickte Batuti zu. „Alles in Ordnung, schwarzer Mann?“ „Ich fühle mich wieder stark. So wie immer. Aber Alpträume hatte ich jede Menge. Einer schlimmer als der andere.“
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„Ich habe von den Jans geträumt. Daß sie uns überfallen.“ Dan O'Flynn winkte ab. „Nicht so laut! Hört alle her. Hasard ist sicher, daß die Holländer heute versuchen werden, uns zu überfallen. Sie wollen, ganz klar, die Schebecke. Sie denken, daß wir nichts ahnen, Al Conroy weiß natürlich längst, was zu tun ist. Gehst du Wasser holen?“ „Klar. Es wird besser sein, wenn ich eine größere Crew mitnehme.“ Dan legte die Hand auf die Pistole in seinem Gurt. „Und Waffen nehmt ihr gefälligst auch mit. Gegen uns alle, an einem Fleck, haben sie nichts auszurichten. Aber sieben oder zehn Mann an der Quelle, da. schlagen die Jans wahrscheinlich zu. Wann gehst du?“ „Gleich. Wenn ich genügend Kerle zusammengetrieben habe.“ Carberry holte sich kalten Tee aus der Kombüse. Batuti, Stenmark, Jan Ranse und Ferris Tucker sagten, sie würden beim Wasserholen helfen. Sie steckten Pistolen ein, die der Waffenmeister vorbereitet hatte. Big Old Shane gesellte sich hinzu, ebenso die Zwillinge, die ihre Deckswache beendeten. „Je früher wir zurück sind“, sagte der Profos, „desto eher ist alles vorbei. Los, Kerls. In die Jolle. Holen wir das verdammte Wasser.“ „Ich bin auch dabei!“ rief der Moses, der den Niedergang aufenterte. „In Ordnung, Söhnchen“, sagte der Profos. „Habt ihr alle eure Feuerrohre eingesteckt'?“ „Aye, aye, Sir.“ Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Viele Nebelschwaden lagerten vor dem Wald und über dem Strand. Die Lenzpumpe arbeitete seit wenigen Minuten nicht mehr, aber die Holländer lenzten noch mit den Pützen. Nacheinander enterte ein Seewolf nach dem anderen in die Jolle, zuletzt der Moses, der die Pinne packte. Vögel lärmten am Waldrand, in der Morgendämmerung kreiste ein Fischadler über der stillen Bucht. Die neun Seewölfe pullten die Jolle zum Strand, zogen den Bug aus dem Wasser
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und marschierten entschlossen und schweigend auf die Lücke in den Büschen zu: Die Holländer lagen noch da und schienen zu schlafen, nur Cornelis, der Koch, hantierte an dem Holzstapel. „Schneller“, sagte Ferris Tucker. „Clint, zeigst du uns, wo wir abbiegen müssen?“ „Ja. Es ist nicht weit.“ Von sämtlichen Zweigen und Blättern tropfte die Nässe. Im grünen Wirrwarr zeichnete sich der schlammige, von Spuren und Tritten durchpflügte Pfad dunkel ab. Als Hasard junior als letzter den Wald betrat, zuckten die ersten Sonnenstrahlen über die Baumwipfel. Clint setzte sich an die Spitze und führte die Seewölfe ohne Schwierigkeiten bis zu der Stelle, an der Carberry nicht nach rechts abgebogen war. Kurze Zeit später hatten sie die Fässer wiedergefunden, hoben sie auf und kehrten auf den richtigen Weg zurück. „Das war gar nicht so weit“, sagte Carberry ein paar Minuten später. „Aber das hat ja niemand sehen können, hier im dunklen Dschungel.“ Clint erreichte als erster die Quelle und kletterte über die Wurzeln der alten Bäume, trank Wasser aus den hohlen Händen und verschwand hinter einem Vorhang aus Lianen. Carberry schob sich um die Baumstämme und setzte das Faß ab. „Jetzt sind wir richtig“, sagte er. „Also. Waschen wir die Fässer erst mal aus, Freunde.“ Sie gingen an die Arbeit. Bald waren die Fässer sauber und konnten vollgeschöpft werden. Die Seewölfe drängten sich im Halbkreis um die Kiesfläche, aus der die Quelle sprudelte. Die Fässer füllten sich langsam. „Wir bleiben zusammen“, sagte Ferris Tucker. „Kann ja wirklich sein, daß die Jans eine Schweinerei planen.“ „Richtig. Wir schleppen die Fässer aus dem Wald und gehen ohne große Abstände. Seht euch um.“ Der Profos und Batuti verschlossen das erste Faß, packten die Rundhölzer und hoben die schwere Traglast auf. Sie trugen
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sie ein Dutzend Schritte vom Rand der Kiesfläche weg, halfen den anderen, und eine halbe Stunde danach waren auch die großen Fässer gefüllt. „Vorwärts, bringen wir sie zum Strand!“ ordnete Carberry an. Die Seewölfe bewegten sich mit größerer Vorsicht auf dem feuchten Pfad. Die Fässer hingen schwer in den Tauenden. Schweigend und schwer atmend schleppte die Männer Schritt um Schritt ihre Last auf dem schwierigen Pfad strandwärts. Zehn Minuten, nachdem das letzte Paar die Quelle hinter sich gelassen hatte, kreischten die Affen in den Zweigen und vollführtes einen gewaltigen Lärm. Aus den Ästen ließen sich Gestalten fallen, sprangen den Mannen auf die Schulter und rissen sie zu Boden. Andere Holländer sprangen aus dem Gebüsch und warfen Schlingen um die Schultern der Seewölfe. Knüppelhiebe prasselten auf Köpfe und Schultern. Carberry knickte in den Knien ein, wurde halb vom Faß überrollt, dann merkte er, wie ihm die Sinne schwanden. Blitzschnell war er gefesselt und ins Gebüsch geworfen. Big Old Shane ließ das Rundholz los, griff nach der Waffe, aber auch er wurde von einer Übermacht prügelnder und mit Tampen ausgerüsteter Holländer zu Boden gerissen und an Händen und Füßen gefesselt. Es waren mehr als zwei Dutzend Kerle, die den Überfall bestens vorbereitet hatten und ebenso gut ausführten. Sie schafften es, ohne dass die überrumpelten Seewölfe sich wirklich wehren konnten, die Männer niederzuschlagen und zu verhindern, dass sie zu den Pistolen greifen konnten. Batuti rollte ohne Besinnung unter einen Farn. Die Zwillinge, die sich in einer wütenden Rangelei mit Holländern auf dem Waldboden gewälzt hatten, wurden ebenfalls gefesselt und geknebelt. Alles war in rasender Eile ausgeführt worden. Die Holländer verstanden ihr Geschäft meisterhaft. Als acht Seewölfe bewegungslos und unfähig zu schreien oder wenigstens zu fluchen, neben dem
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Pfad zwischen Wurzeln und modernden Holz lagen, hoben die Holländer die Fässer auf und schleppten sie, zusammen mit zwei Pistolen, die sie erbeutet hatten, mit sich. * Bei ersten Geschrei der flüchtenden Affen und dem Aufflattern der vielen Vögel war Clint stehengeblieben. Als er den ersten Schatten aus dem Gewirr der dicken Äste fallen sah, flitzte er hinter einem umgestürzten Baumstamm und sah den Ameisen zu, die dicht vor seiner Nase über den Stamm liefen und winzige Holzstücke in den Zangen schleppten. Clint hob von Zeit zu zeit den Kopf und sah zu, wie die Seewölfe niedergeschlagen, überwältigt und gefesselt wurden. „Nicht mal der Profos hat sich wehren können“, flüsterte Clint, der die furchtbare Wirkung des Profoshammers kannte. Er griff nach dem Messer in der Gurtscheide. Er brauchte nicht lange zuzusehen und zu warten. Die Jans packten die Fässer und trugen sie weg. Vorsichtig stand der Moses auf und pirschte zu der Stelle des Überfalls. Zuerst durchschnitt er die Fesseln der Zwillinge und zog ihnen die Stoff streifen aus den Zähnen. Jung Hasard atmete schwer und brachte dann heraus: „Du bist wirklich der gute Geist der Crew, Moses. Schnell, zu den anderen!“ „Und dann den Jans hinterher!“ rief Philip junior unterdrückt. Sie sprangen nach rechts und links und befreiten die anderen Seewölfe von den Fesseln und Knebeln. Carberry wollte zu fluchen anfangen, aber Batuti, der seine Pistole aufhob, säuberte und einsteckte, rief ihm halblaut zu: „Schrei nicht, Profos! Sie haben uns die Arbeit abgenommen. Schnell, zum Strand. Da ist jetzt wahrscheinlich der Teufel los.“ Den Seewölfen hatte der Überfall nur ein paar Beulen und Abschürfungen eingebracht. Aber jetzt gab es keinen Zweifel mehr an der Hinterlist der Holländer. Die Wut der Arwenacks war
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geweckt. Sie packten ihre Waffen und stürmten auf dem Pfad zum Strand. „Leise“, sagte Stenmark drängend. „Die Kerle müssen glauben, daß wir noch immer außer Gefecht seien.“ So schnell wie möglich liefen sie auf die schmalen Streifen Helligkeit zu, die den Rand des Waldes kennzeichneten. Jenseits der grünen Barriere ertönte noch kein Lärm. Im Zickzack kletterten sie über Wurzeln oder übersprangen Löcher im Waldboden. Sie blieben schweratmend stehen, als sie zwischen den ersten Palmbäumen die Fässer sahen. „Sehr gut. Die Kerle haben uns viel Arbeit erspart“, sagte Ferris Tucker und schob sich vorwärts, bis er hinter einem Busch stand und einen Teil des Strandes überblicken konnte. Die Kessel über den Feuern dampften, aber der Koch war nicht zu sehen. Die Jolle, noch vor einer guten halben Stunde genau gegenüber der Palmengruppe auf den Sand gesetzt, fehlte. Clint kroch unter dem Busch hinaus in die Helligkeit des Strandes und spähte nach rechts. „Alle sind bei der Fleute“, sagte er aufgeregt. „Unsere Leute auch.“ Nacheinander glitten die Seewölfe aus dem Wald, verteilten sich in der Deckung und versuchten, genau zu erkennen, wie es um die Schebecke stand. „Diese Affenärsche“, sagte der Profos fast bewundernd. „Das sind doch eiskalte Verbrecher. Seht euch das an!“ Der Strand war bis auf den rechten Teil, rund um die Fleute und gegenüber des schwimmenden Halbwracks, völlig leer. Beide Jollen lagen nahe der „Wilhelm“ halb auf dem Sand. Auf der Schebecke konnten die versteckten Arwenacks nicht mehr als vier Mann erkennen. Einer davon war unverkennbar Al Conroy, der auf dem Achterdeck neben der Drehbasse am Schanzkleid stand und durch ein Spektiv zur Fleute hinüberpeilte. Ferris Tucker stieß den Profos an und sagte: „Wir müssen versuchen, unbemerkt zur Fleute zu gelangen. Sollte nicht allzu schwierig sein.“
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Clint und die Zwillinge waren schon zwei Dutzend Schritte weit entfernt. Vor dem Dschungel standen an den meisten Stellen des Strandes Kokospalmen und einzelne Büsche, an denen feuerrote Beeren wuchsen. Ohne große Hast, immer wieder auf die Menge von rund fünf Dutzend Männern achtend, schlichen die Arwenacks nordwärts auf die Fleute zu. Die Holländer hatten ihr Schiff nicht nur weitestgehend gelenzt, sondern auch herumgedreht. Jetzt wurden wieder die Taue an den Masten sowie an den Baumstämmen und Wurzeln am Ufer belegt, um die andere Seite der Bordwand möglichst weit aus dem Wasser zu kippen und ebenso auszubessern wie die Steuerbordseite. Holländer und Seewölfe arbeiteten nebeneinander und miteinander, und es war kein Anzeichen von einem Kampf zu entdecken. Der Gambiamann lachte plötzlich kehlig auf und sprudelte heraus: „Das sind tatsächlich raffinierte Pfeffersäcke. Sie lassen sich bis zum Schluß helfen. Vielleicht glauben sie selbst nicht ganz daran, uns überwältigen zu können.“ Die Fleute trieb langsam zum Ufer. Als der Kiel im Sand aufsetzte, kippten Handbreite um Handbreite die Masten. Noch immer förderte die Lenzpumpe schmutziges Wasser. Die neun Mann sprangen von Stamm zu Stamm und waren bisher unbemerkt geblieben. Sie hatten schon die Hälfte des Weges zurückgelegt. Stenmark blieb stehen, starrte zu Conroy hin über und glaubte, daß das Spektiv direkt auf ihn richtete. Al Conroy wußte Bescheid: wenn er seine Kameraden sah, würde er die richtigen Schlüsse ziehen. Zur Sicherheit winkte Stenmark zur Schebecke und hastete weiter. Big Old Shane sagte halblaut: „Wir warten, bis es losgeht. Einverstanden?“ „Richtig. Hat einer von euch die Holländer erkannt, die uns überfallen haben?“ fragte Batuti. „Es ging zu schnell, und es war zu dämmerig“, antwortete Ferris Tucker.
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„Wahrscheinlich sind's die, die am meisten erschrecken, wenn sie uns sehen.“ Am Strand, zwischen d Werkzeugen, dem Rigg und den zum Trocknen ausgebreiteten Ladungsteilen lagen genug Rundhölzer, Spieren und Kanthölzer in passender Länge herum. Die heranpirschenden Seewölfe, kochend vor Wut und mit angespannten Muskeln, sahen zwischen den schuftenden Crews den Seewolf und den holländischen Kapitän. Mehr und mehr legte sich die „Wilhelm von Oranien“ zur Seite. Aus einigen Lecks lief Wasser nach außen, ab und zu klatschte ein Faß oder eine Kiste ins Wasser und wurde aufs Trockene geschoben. Ein großer Schwarm Möwen flatterte über dem Schiff und tauchte in die Wellen. Noch ein paar Minuten, und die ProfosCrew befand sich unmittelbar gegenüber dem Schiff, zwischen dem Gestrüpp, das sich hinter den Palmen und vor dem Waldrand ausbreitete. Die Fleute war gerade einen Bogenschuß weit entfernt. „So“, sagte Carberry und zog seine Pistole. „Es fällt mir schwer, aber wir müssen noch warten.“ „Sie haben uns nicht gesehen“, stellte der Moses fest. „Auch Sir Hasard „Gleich werden sie uns kennenlernen“, sagte Batuti. Sie kauerten, ein oder zwei Yards voneinander entfernt, in einer Reihe nebeneinander und warteten mit steigender Ungeduld. Je länger sie die beiden Crews beobachteten, desto stärker und untrüglicher wurden die Anzeichen, daß der Zusammenstoß unmittelbar bevorstand. Die Arwenacks sahen zu, daß zwischen ihnen und den Holländern genügend Platz Sie beobachteten die aufgeregt arbeitenden Jans sehr genau. Die Holländer fingen ebenfalls an, Gruppen zu bilden, die sich in verdächtiger Nähe der primitiven Waffen zusammenfanden. Aber noch immer kreischten die Scheiben und knarrten die Blöcke. Die Leinen und Trossen waren hart durchgesetzt, das Deck der Fleute hatte sich in eine abschüssige Fläche
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verwandelt. Die Krängung betrug mindestens fünfundvierzig Grad. Kommandos hallten zwischen Schiff und Strand hin und her. Immer wieder wurden die Zugtaue neu belegt und gesichert. Schließlich, als das Schanzkleid fast die Wellen berührte, sprang der holländische Kapitän zur Seite und fuchtelte mit den Armen. „Achtung“, rief Jan Ranse. „Es geht los!“ Jens van Aacheren deutete in verschiedene Richtungen und gab schnelle, laute Kommandos. Fragend blickten die Zwillinge Jan Ranse an. Langsam stand der Holländer auf und nickte. „Er schreit, daß alle Seewölfe niedergeschlagen und gefesselt werden sollen. Los!“ „Bringt nicht zu viele um“, knurrte Ferris Tucker. Fast gleichzeitig stürmten sie aus dem Gebüsch hervor. Die Holländer sehen sie noch nicht, denn jeder stürzte sich auf einen Knüppel oder griff einen Seewolf an. Carberry holte tief Atem und brüllte: „Arwenack!“ Augenblicklich raste er los, feuerte einen Lauf der Pistole in die Luft ab und nahm eine Gruppe von drei Holländern aufs Korn, die sich auf Don Juan und Dan O'Flynn stürzen wollten. Der zweite Schuß aus Carberrys Waffe peitschte und traf den Ersten der „Wilhelm“, Joop Hoorn, in die Schulter. Der überfall war gut geplant worden und begann an allen Teilen des Strandes nahezu in derselben Sekunde. Carberry warf die leergeschossene Waffe dem Moses zu, bückte sich und packte eine beinlange Spake. Dann jagte er durch das Gewühl, duckte sich unter pfeifenden Hieben und sprang auf Jens van Aacheren zu. Er schwang die Spake und würde den Kapitän getroffen haben, wenn der zwei Kopf kleinere Mann nicht blitzschnell unter ihm weggetaucht wäre, wobei er seinen Knüppel gegen Carberrys Schienbein schmetterte. Der Profos schrie wie ein wütender Stier, sprang auf einem Bein und holte zum berüchtigten Hammer aus.
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Seine rechte Faust schoß im weiten Bogen durch die Luft und traf den Kapitän, der hin und her sprang, an der Schulter. Der Kapitän drehte sich aufschreiend einmal um die eigene Achse und schlug der Länge nach in den Sand. Mit dem Hinterkopf krachte er gegen einen Block. Gleichzeitig spürte Carberry einen wütenden Schmerz im Genick. Er wirbelte herum, und die Spake drosch einem Holländer den Knüppel aus der Hand. Mit einem Schmerzgeheul wandte sich der Kerl zur Flucht und rannte in Batuti hinein, der ihn mit einem trockenen Haken in das Reich der Träume schickte. Clint rannte herum, wich jedem Angriff aus und sammelte leergeschossene Pistolen und andere Waffen auf, die er im Sand fand. Big Old Shane wälzte sich mit Jan Laan, der annähernd seine Körpermaße hatte, über den abschüssigen Strand. Beide Männer hielten einander fest umklammert und klatschten ins Wasser, als sich Laan aufrichten wollte. Knapp vierzig Holländer und einunddreißig Arwenacks kämpften gegeneinander. Joop Hoorn saß ein paar Schritte außerhalb des Getümmels im Sand und hielt seine Schulter. Er stöhnte, sein Gesicht war schmerzverzerrt. Zwischen seinen Fingern lief Blut über die Haut und tropfte in den Sand. Peer Jordaan, der Bootsmann, kauerte neben dem schrägen, zerfetzten Schanzkleid der Fleute und blickte schweigend, mit verdrossenem Gesicht, auf das Getümmel. Schreie, splitterndes Holz, vereinzelte Pistolenschüsse, das Klirren von Säbeln, Flüche und Hilferufe, die Geräusche dumpfer Schläge und das Jammern der Getroffenen vermischten sich zu einem schauerlichen Getöse. Clinton Wingfield fesselte den Kapitän mit gekreuzten Handgelenken an den Block, der mitten im Zuggeschirr hing. Dann rannte der Moses hinüber zu Roger Brighton und stellte einem Holländer ein Bein. Der Kerl, der Roger von hinten anspringen wollte, schlug in den Sand und
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fluchte, als er sich wieder aufrappelte, den Mund voller Sandkörner. Sven Nyberg zog ihn vollends in die Höhe und traf mit einem gewaltigen Hieb den eckigen Kiefer des Holländers. „Hier!“ schrie er. „Einer mehr für dich, Moses!“ „Aye, Sir“, erwiderte Clint fröhlich und zog ein weiteres Bändsel aus seinem Gürtel. Minuten später gab es mehrere Holländer, die sich nicht mehr rühren konnten. Aber noch waren die Jans in der Übermacht. Obwohl ein Dutzend von ihnen von Pistolenkugeln verwundet waren, kämpften sie mit den der Verbissenheit weiter. Die Zwillinge kämpften Seite an Seite. Sie trieben zwei jüngere Crewmitglieder vor sich her, zwischen den Tauen hindurch, am nassen Sandstreifen vorbei und schließlich ins Wasser. Die langen Spieren knallten erbarmungslos gegeneinander. Ein Holländer stolperte, kippte in die Wellen, und Hasard schnellte sich auf ihn und tauchte ihn unter. Philip junior bohrte seine Zehen in den Sand, stäubte dem Angreifer eine Ladung davon ins Gesicht und traf ihn schließlich entscheidend. Gurgelnd brach der Holländer zusammen. Philip Hasard sah, wie Piet Bloom, der kahlköpfige Profos der Fleute, hinter seinen Rücken griff und das Messer hervorzog. Hasard packte das Rundholz fester und täuschte einen Ausfall vor. Geschickt wich der Mann mit dem riesigen Oberlippenbart aus, fluchte auf niederländisch und griff an. Er war schnell und flink, seine stechenden Augen schienen jede Finte des Seewolfs vorauszusehen. Bill tauchte aus dem Getümmel auf, erkannte Hasards Notlage und bückte sich nach einem Stück angefaulter Planke. Ohne Warnung schleuderte er das schwere, vollgesogene Holz. Es wirbelte sich mehrmals überschlagend, durch die Luft und traf das Handgelenk des Profosen. Das Geräusch und jaulende Schrei des Holländers bewiesen, daß etwas.
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gebrochen war. Das Messer blitzte auf und flog im hohen Bogen davon. Hasards Rundschlag fegte den Profos von den Beinen. „Danke!“ schrie Hasard und stürzt sich erneut ins Getümmel. Die Schlägerei begann sich allmählich zugunsten der Seewölfe zu entwickeln. Die Männer wüteten wie die Berserker. Zwei Holländer, die ihre enden Köpfe in den Händen verstecken wollten, flüchteten entlang Wassers auf ihre schwelenden Feuer zu. Hasard wehrte den Angriff eines knüppelschwingenden Holländers ab und stieß einen gellenden Pfiff aus. Al Conroy war mit einem Sprung an der Drehbasse. Er zielte sorgfältig und senkte die Lunte auf das ZündDer peitschende Knall der Explosion hallte über die Bucht. Im Sonnenlicht blieb die Feuerzunge unsichtbar. Rauch wallte auf. Ladung aus Steinsplittern, Kieseln und gehacktem Metall pfiff durch die Luft, prasselte gegen das Schanzkleid der Fleute und in die Baumwipfel, dicht über den Köpfen Kämpfenden. Es regnete Blattfetzen , Äste und Rinde. Der Schuß war für die Holländer das endgültige Signal. Eine Handvoll versuchte noch einmal, einen Keil zu bilden und die Gruppe um Hasard mit Messern und Knüppeln anzugreifen, aber es lagen zu viele regungslose oder gefesselte Kerle im Sand und zwischen den verstreuten Ladungsteilen. „Schluß jetzt, ihr Verrückten!“ schrie Piet Straaten, so laut er konnte. Er hielt sich den blutigen Ellbogen und holte tief Luft. „Bis jetzt war's noch Spaß! Hört auf! Ihr habt verloren!“ Der zweite Niederländer, Jan Ranse, brüllte: „Ab jetzt geht's euch .schlecht! Unsere Geschützcrew schießt euer verdammtes Schiff und euch zusammen. Gebt auf! Euer Kapitän ist tot, seht ihr nicht?“ Der Kapitän war keineswegs tot, aber er lag bewegungslos da und stöhnte leise. Philip junior richtete seine leergeschossene
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Doppelläufige auf den Kopf van Aacherens. Die Holländer ließen die Knüppel sinken. Der Stückmeister, Luyken Wijk, stand fünf Yards vor Hasard. Obwohl er ziemlich mitgenommen war und aus einem Dutzend kleiner Schnitte, Prellungen und Risse blutete, war der Blick aus seinen blauen Augen trotzig und voller Wut. „Ihr habt gewonnen, Seewölfe“, sagte er keuchend. „Beinahe hätten wir euch besiegt. Aber ihr habt die Kanonen.“ „Unter anderem“, erwiderte Hasard hart. „Und ich überlege mir, ob wir nicht ein paar gezielte Schüsse auf euer Wrack abgeben. Dann könnt ihr von mir aus ein Jahr lang an eurer Fleute arbeiten.“ Er wandte sich an Carberry. „Ed, wir nehmen alles mit, was uns gehört. Die Holländer sollen sich dort aufstellen.“ Er deutete zu dem Feuerchen, über dem der Kessel hing, aus dem das heiße Pech rauchte und stank. An dieser Stelle würde der nächste Schuß Al Conroys mitten in die Gruppe von etwa zwei Dutzend Männern treffen. „Los, ihr Rübenschweine!“ donnerte Carberry und schwang seine Spake. „Stellt euch auf! Schneller, ihr hinterhältiges Pack!“ Er faßte an seinen Hinterkopf und zuckte zusammen. Als er die Hand wieder wegnahm, waren die Finger blutig. In sein stoppelbärtiges Gesicht trat ein wilder Ausdruck. Als er auf die Holländer zurückte, neben sich die Kräftigsten der Crew, wichen die Kerle zurück und stolperten durch den Sand. Als sie die Köpfe drehten, war die Mündung der Drehbasse auf sie gerichtet, und deutlich sahen sie den dünnen Rußfaden, der von Al Conroys Lunte aufstieg. 7. Clint, die Zwillinge und Pete Ballie pullten, so schnell sie konnten, die Jolle zur Schebecke. Schnell tauschten sie die leergeschossenen Pistolen gegen frisch geladene aus, die ihnen Al Conroy in
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einem Korb abfierte. Pete enterte auf und ging zur Back. „Paß auf unsere Inselpiraten auf, Al“, sagte er. „Vielleicht versuchen sie es noch mal.“ „Keine Sorge. Ich sehe, auf wen ich ziele“, erwiderte der Stückmeister grimmig. Die Zwillinge stießen die Jolle ab und pullten aus Leibeskräften. Clint hatte die Pinne unter die Achsel geklemmt und hielt, für die Holländer deutlich sichtbar, zwei Waffen in den Händen, die Läufe senkrecht in die Luft deutend. Etwa zwei Dutzend Niederländer waren davongerannt oder lagen blutüberströmt und an den Händen gefesselt in der Wuhling am Strand. Der Rest umstand das Feuer. Die Männer ließen die Köpfe hängen. Paddy Rogers, Jack Finnegan und Blacky liefen zur Jolle, nahmen die Pistolen und verteilten sie. Jetzt schien auch die letzte Gefahr gebannt, ein Dutzend Läufe richteten sich auf die Verlierer dieses heimtückischen Überfalls. Hasard wartete, bis seine Mannen Werkzeug, Material und die dicken Bündel der Tampen in die Jolle geladen hatten. „Sechs Mann zum Schiff“, sagte er halblaut. „Klar bei Anker aufhieven.“ „Aye, aye, Sir.“ Hasards Entschluß stand spätestens seit dem Anfang der wilden Schlägerei fest. Er nickte den Zwillingen zu und sagte zu Stenmark und Bob Grey: „Ihr holt die Fässer mit der Jolle der Holländer. Beeilt euch. An Deck hieven und dann pullt ihr den Kahn wieder hierher. Klar?“ „Verstanden, Sir.“ Der Seewolf wartete, bis beide Jollen abgestoßen hatten und verschiedenen Zielen entgegengepullt wurden. Er ging die wenigen Schritte bis zu der Stelle, an der Jens van Aacheren lag, zog sein Messer und trennte die dünnen Fesseln des Mannes durch. Er starrte auf den kleinwüchsigen Mann hinunter und hob den Doppellauf der Waffe eine Handbreite. „Ich bin um eine schlechte Erfahrung reicher, Mijnheer“, sagte er mit schneidender Schärfe. „Eine schöne Freundschaft zwischen schiffbrüchigen Holländern und hilfsbereiten Engländern.“
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Der Kapitän war benommen und suchte nach Worten. Er richtete sich auf Knien und auf und schüttelte den Kopf. „Wir wollten ...“, fing er an, dann schien er eine Ausrede gefunden zu haben. „Eigentlich wollte ich Sie nur zwingen, uns zu den Molukken mitzunehmen.“ Hasards Augen huschten über die Bucht, hefteten sich auf seine Männer, die in einem Halbkreis mit schußbereiten Pistolen die Holländer bewachten, glitten an der Fleute hinauf und hinunter, dann sagte er bissig. „Ich glaube Ihnen kein Wort. Unter anderen Voraussetzungen hätten wir Ihnen weiterhin geholfen. Sie werden auf der Insel nicht verdursten und verhungern, und eines Tages ist auch die Fleute schwimmfähig. Ich hoffe nicht, daß wir uns irgendwo begegnen.” Jens van Aacheren stand schwankend auf und stotterte eine Erklärung. Hasard drehte sich um und ließ den Holländer stehen. Zwei Fässer befanden sich schon in der Jolle. Die Arwenacks eilten zwischen Waldrand und Wasser hin und her. Die Ausrüstung der anderen Jolle wurde an Bord der Schebecke gehievt. „Das war's, Sir“, sagte Don Juan de Alcazar, der neben Hasard getreten war. „Sie haben sich genauso verhalten, wie wir uns gedacht haben.“ Der Seewolf nickte. Er schien mit seinen Gedanken schon woanders zu sein. „Mit etwas mehr Hinterlist hätten sie vielleicht sogar gewonnen“, antwortete er und sah zu, wie ein einzelner Mann von der Fleute abenterte. Unter dem linken Arm trug er eine Seekiste. Er nickte schweigend Juan und Hasard zu und ging zu seinen Leuten. Als er die triefende Kiste öffnete, fielen Salbentöpfe und nasse Tücher heraus. Er ging schweigend daran, die Wunden der Holländer zu untersuchen. „Einer hat nicht mitgekämpft“, sagte der Spanier erstaunt. „Der Bootsmann des anderen Schiffes. wenn ich nicht irre“, erwiderte Hasard. „Er hat sich ein paar Beulen erspart. Ein besonnener Mann.“
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Die Jolle der Holländer bewegte sich, tief im Wasser liegend, quer durch die Bucht aufs Heck der Schebecke zu. Hasard entschied: „Ich gehe kein Risiko mehr ein. Wir bleiben hier, jeder, der eine Pistole hat, die anderen verholen sich zum Schiff.“ „Ich sage es ihnen.“ Der Seewolf blieb an der höchsten Stelle des Strandes stehen. Seinen Augen entging nicht die kleinste Bewegung. Aber die Holländer dachten nicht mehr daran, etwas an ihrer Niederlage zu ändern. Mit schleppenden Schritten ging der Kapitän zu seiner Crew und setzte sich in den Sand. * Eine halbe Stunde später pullte Rochus van Traa die Jolle der Fleute zum Ufer. Alle Seewölfe befanden sich an Deck der Schebecke. Das Ankerspill knarrte und klirrte, und die triefende Trosse wurde aufgeschossen. Langsam schob die Schebecke ihren Bug dem Anker entgegen, schwacher Wind ließ die Segel flappen. Wachsam und starrköpfig stand Al Conroy, ein grimmiges Lächeln im Gesicht, neben der feuerbereiten Drehbasse. Aber seine Ziele zerstreuten sich langsam über den Strand. Die Holländer saßen da, versammelten sich um den Kessel des Kochs und bewegten sich wie geprügelte Hunde. Von der Back erklang eine laute Meldung: „Anker an Bord und belegt.“ Das Großsegel killte, die Fock stand prall in der schwachen Brise. Piet Straaten stemmte sich gegen die Pinne. „Verstanden. Zunächst Kurs Südwest.“ „Aye, aye, Sir.“ Noch während die Crew die Jolle an Deck hievte und verzurrte, nahm die Schebecke langsam Fahrt auf. Fast lautlos schob sich das schlanke Schiff durch die niedrigen Wellen, die gegen die Planken gluckerten. Schwach begann die Bugwelle zu schäumen, pfeilförmig zeichnete sich das Kielwasser ab. Halblaute Kommandos hallten übers Deck. Als sich die Schebecke in der Brandungswelle hob und senkte,
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waren alle drei Segel gesetzt. Die Holländer starrten wortlos auf das Heck der Schebecke. Vier Doppelschläge der Schiffsglocke waren das letzte, das die Holländer von den absegelnden Arwenacks hörten. Genau um Mittag segelte die Schebecke, leicht nach Backbord geneigt, um die südliche Huk der Bucht und geriet außer Sicht. „Auf nach Surabaja“, sagte Hasard und setzte sich. Die Spannung fiel von ihm ab, seine Schultern sanken nach vorn. „Verdammte Holländer. Warum haben sie nicht ein bißchen länger nachgedacht?“ „Weil jeder Seemann“, erwiderte Ben Brighton und kontrollierte Segel und Kompaß, „in einer solchen Lage halb verrückt vor Angst wird und zu jedem Schwachsinn fähig ist.“ „In zwei, drei Tagen hätten sie's mit unserer Hilfe geschafft“, sagte Hasard. Der Kutscher und Mac Pellew klapperten in der dampfenden Kombüse, und Carberry trieb die Freiwache unter Deck. „Ich würde, im Vertrauen, auch lieber mit der Schebecke segeln, wohin auch immer, als mit der zusammengeklebten und gepichten Fleute“, fügte Hasard hinzu. Der Erste lachte. Dann winkte er dem Profos, der eine breite Binde um den Kopf trug und ihn mit rotgeränderten Augen anstarrte. „Brummt dein Köpfchen noch, Ed?“ fragte Ben. „Bis Surabaja oder zum nächsten Wasserloch sind die Beulen wieder verschwunden.“ „Ich weiß eines ganz . sicher“, schimpfte der Profos. „Der nächste holländische Havarist kann liegenbleiben, bis er verfault. Ich rühre keinen Finger mehr.“ „Es wird dir, denke ich, an Bord nicht mal der Moses widersprechen.“ Auch Hasard mußte grinsen. „Alles in Ordnung unter Deck, Ed?“ „Alles bestens. Die paar Kratzer, die wir empfangen haben, sind nicht wichtig. Die Jans hat's weit schlimmer erwischt.“ „Die haben es auch verdient“, antwortete der Erste. „Und unseren Clint sollten wir zum Helden der Wasserfässer schlagen.“
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„Schließlich hat er uns zweimal aus einer höchst miesen Lage befreit“, bekannte der Profos. „Wenn er wieder an Deck ist, kriegt er seine Muck voll Reiswein.“ „Dir fällt auch nichts Besseres ein, Ed“, sagte Hasard kopfschüttelnd. „Ich bin froh, daß wir aus der Bucht verholt haben. Eine gefährliche Freundschaft sind wir mit den Holländern eingegangen.“ „Richtig, Sir. Aber ein bißchen Glück, und schon sind wir wieder auf Kurs. Meine Beulen sind dabei das kleinste übel. Mich freut, die Rübenschweine ihren Kahn jetzt selbst seetüchtig reparieren. Wird eine ganze Menge Arbeit sein.“ Hasard nickte zufrieden. „Aber nicht mehr unsere Arbeit“ Vor der kleinen durch deren Riffe die Fleute getrieben worden war, ging die Schebecke auf Ostkurs und kreuzte nach Nordosten. Eine Stunde später versammelten sich die Arwenacks zum Backen und Banken, und schrittweise kehrte an Bord die Ruhe und Stimmung ein, die sie alle brauchten, um das Abenteuer möglichst schnell wieder zu vergessen. * Bootsmann Peer Jordaan spuckte in den Sand, stand auf und blickte in die Gesichter der, Männer, die er verbunden und deren blaue Kecken er mit gelber Salbe bestrichen hatte. „Ich habe es euch gesagt“, erklärte er. „Der Seewolf und seine Männer haben geahnt, daß ihr einen Überfall plant. Von Anfang an war es ein blödes Vorhaben.“ „Sag das unserem Schipper“, antwortete der Erste. „Aber es hätte klappen können. Wir haben ja noch unsere brave, halb durchlöcherte ‚Wilhelm'. Was meinst du, Kapitän?“ rief er. Mürrisch, mit dem Gesichtsausdruck eines Mannes, der alles gewagt und alles verloren hatte, gab Jens van Aacheren zur Antwort: „Geht, verdammt noch mal, zum Schiff und arbeitet weiter, wenn ihr euren Brei gegessen habt.“
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„Aye, aye, Sir“, erwiderte der Erste ein wenig spöttisch. Wenn er lachte, taten ihm Nase und Kiefer weh. Die Seewölfe hatten einen verdammten Schlag am Leibe. Er gab zu, daß er die Engländer weit unterschätzt hatte. Jan Laan und Rochus van Traa hatten ihre Beulen mit kalten Umschlägen versorgt, redeten leise miteinander und hoben schließlich die Schultern. „Es wird ein paar Tage länger dauern“, sagte Rochus schließlich. „Aber wir flicken die Fleute genauso gut zusammen wie mit der Hilfe der Engländer.“ „Schon gut. Geht an die Arbeit“, brummte der Kapitän und streckte sich im Schatten aus. Er fühlte sich hundeelend. Er schlief ein und wurde vom Lärm geweckt, den rund drei Dutzend Mannen am Schiff vollführten. Sie scharrten, kratzten und schliffen die Bordwand ab, stemmten zerbrochene Planken heraus, sägten und hämmerten. Die Arbeit half ihnen, zu vergessen, daß ihr Plan keinen Erfolg gehabt hatte. Jens van Aacheren stemmte sich mit dröhnendem Schädel in die Höhe und sah zu, wie die letzten Teile der Ladung an den Strand gebracht und zum Trocknen ausgebreitet wurden. Es stank noch immer, aber das viele Seewasser hatte die Bilge gereinigt, und über die Holzteile breitete sich eine dünne Schicht weißer Salzkristalle aus. „Fünfzehn Tage“, murmelte der Kapitän. „Schneller geht es nicht. Bis wir alles wieder richtig verstaut und das Rigg in Ordnung gebracht haben... Vom Liegeplatz der „Wilhelm von Oranien“ bis zum Mittelpunkt der Bucht breitete sich eine riesengroße Wuhling aus. „Glücklicherweise haben wir die Bordkasse nicht verloren.“ Er sinnierte vor sich hin und versuchte, mit dem Fehlschlag fertig zu werden: Viel lieber würde er jetzt auf dem Achterdeck der Schebecke stehen und seine Befehle geben. Vor seinen Augen verschwammen die Bilder der Crewmitglieder, die sich an allen Ecken und Enden mit der Reparatur der Bordwand beschäftigen.
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Eigentlich, sagte er sich, ehe ihn die Müdigkeit wieder überwältigte, waren sie gut davongekommen – kein Toter, keine ernsthafte Verletzungen und ein Wrack, das immerhin nach einigen Tagen wieder schwimmen würde. * Sechs Stunden lang kreuzte die Schebecke gegen den Wind aus Südosten. Die Dünung ließ das Schiff in die Höhe schwingen und senkte es wieder in die Wellentäler. Fünf Yards weit spritzte der Waschwall der Bugwelle nach Steuerbord und Backbord. Jetzt krängte die Schebecke nach Steuerbord und näherte sich wieder der dunkelgrauen, kaum deutlich aus der Kimm auftauchenden Linie der langgestreckten Insel im Süden. Surabaja lag weit voraus. Dan O'Flynn rechnete aus, daß sie in zwei Tagen die Hafenstadt erreichen konnten. Im Westen ballten sich dunkle Wolken zusammen. Seit dem Eintreffen in der Bucht der Holländer war die Luft heiß und voller triefender Feuchtigkeit gewesen. Auch jetzt änderte sich nichts daran, jede Bewegung rief einen Schweißausbruch hervor. Die Seewölfe hatten das Deck aufgeklart und beseitigen den Rest der Wuhling unter Deck. Will Thorne besserte ein paar Jacken aus, fünf Mann spleißten Tauwerk, die Segelcrew döste, ans Schanzkleid gelehnt. Die Wellen wurden höher, kleine Schaumkämme zeichneten sich ab, und aus den Wolken im Westen wurde langsam eine dunkle Wand, die sich der Sonne entgegenschob. „Das gibt ein schönes, langes Gewitter“, sagte Dan O'Flynn, nachdem er Ben Brighton abgelöst und seinen Platz auf dem Achterdeck eingenommen hatte. „Vielleicht erwischen wir einen Zipfel Wind davon, der uns etwas schneller ans Ziel bringt.“ Old Donegal zuckte mit den Schultern und beäugte die wachsende Wolkenwand, die
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sich dunkler färbte und gelbe Ränder zeigte. „Kann natürlich auch sein, Söhnchen, daß uns das Gewitter wieder mal voll trifft und gehörig zusammenstaucht.“ „Kann sein, Dad“, sagte Dan. „Wir haben wohl noch ein paar Stunden Zeit, um zu reffen. Und irgendwo voraus ist eine Insel, die sich Pulau Bawean nennt. Ich habe den Namen von unseren lieben holländischen Freunden. „Wie weit?“ „Sie wußten's selbst nicht“, erwiderte Dan. „Und ich habe nicht ihre Karten und Aufzeichnungen.“ Das Meer ringsum war leer. Vor einer Stunde hatten sie ein Dschunkensegel gesichtet, das südwärts aus dem Blickfeld verschwunden war. Jetzt sah Dan mit seinen scharfen Augen die Möwen, die sich, weit voraus, um etwas zankten, das in den Wellen trieb. Old Donegal kicherte. „Ob wir es ohne Störung und Unterbrechung nach Surabaja schaffen? Was denkst du, Dan?“ Die Erzählungen der Wasserholer über das steinerne Langhaus, die unbekannten Gemäuer und den fast tödlichen schwarzen Brunnen hatten seine Phantasie länger beschäftigt, als Carberry, Clint und Jan Ranse ahnten. „Wahrscheinlich nicht“, entgegnete der Navigator. „Ich sehe auf dem Wasser die Möwen, und schon werde ich wieder unruhig.“ Er ging nach Backbord, lehnte sich über das Schanzkleid und beobachtete die schreienden, auffliegenden und streitenden Vögel. Sie stritten sich um den Kadaver eines armlangen Fisches und zerrten die Gedärme durchs Wasser. Drei Kabellängen weiter gab es die nächste Gruppe zankender, kreischender Möwen. „Weißt du, Dad“, sagte Dan etwas beunruhigt, „jedes Zeichen auf dem Meer hat seine Bedeutung. Vieles kennen wir nicht, aber denk dran, wie es dir erging. Warum gibt es sieben Gruppen von Möwen und Kormoranen in einer fast
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geraden Linie, die sich um tote Fische zanken? Was hat das zu bedeuten?“ Wieder zuckte der alte Admiral mit den Schultern. „Wie soll ich das wissen. Ich bin ja keine Möwe“, brummte er und stellte sich neben Dan ans Schanzkleid. Die dunklen Wolkentürme wuchsen höher. Einige kleine Wolken trieben vor der Sonne vorbei. Das Wasser färbte sich dunkel, und die kreischenden Möwen blieben achteraus zurück. Dan zog das Spektiv aus der Tasche, hob es ans Auge und spähte nach rechts voraus. Auch dort waren mindestens ein Dutzend Möwen, die aufstiegen, ins Wasser einfielen und Fleischbrocken in den Schnäbeln davontrugen. Dan kratzte sich unschlüssig im Nacken. Weder hungrige Möwen noch tote Fische waren auf dem Meer eine Seltenheit. Was ihn störte, war der Umstand, daß sich die Gruppen der scharfschnäbligen Fresser in nahezu gleichmäßigen Abständen zeigten. Er schwieg, hob wieder den Kieker ans Auge und suchte langsam die gesamte Kimm ab. Im Süden sah er undeutlich die Küstenlinie, sonst war das Meer ohne Segel, ohne springende Delphine, ohne irgendeine Auffälligkeit. Nur die Anzeichen, daß es ein gewaltiges Gewitter geben würde, wurden deutlicher. Ein Drittel des Himmels war von der dunkelgrauen Riesenwolke, die in vielen gigantischen Türmen auswuchs, bedeckt. „Ich sage dir, Söhnchen, uns steht eine unruhige Nacht bevor“, sagte Old Donegal. „Als Strafe für die ruhigen Tage und Nächte in der Bucht.“ „Wir werden auch dieses Gewitterchen abreiten“, versicherte Dan. „Der Weg in die Karibik ist wirklich mit Hindernissen gespickt“, sagte Old Donegal versonnen. „Und das alles wegen der Galionsfigur, die so aussah wie der Profos, wenn er guter Laune ist.“ Dan setzte den Kieker ab und schüttelte den Kopf. Inzwischen hatte er die zehnte Gruppe Möwen entdeckt. Wenn er die Linie der einzelnen Vogelgruppen verlängerte, endete sie dort, wo sich die
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Insel Pulau Bawean befand – wenn es stimmte, was die Holländer ihm berichtet hatten. Sie wußten es aber nicht genau, denn die Fleuten hatten diese Insel auch nicht angelaufen. Al Conroy enterte den Niedergang auf und hob die Hand. „Gewitter, nicht wahr?“ sagte er und deutete zu der schwarzen Wand, die sich näherschob. „Später, Stückmeisterchen“, erwiderte Old Donegal. „Du hast heute keine Arbeit mehr.“ „Brauche ich auch nicht. In meiner Pulverkammer ist alles in Ordnung und aufgeklart.“ Sie schwiegen und schauten sich um. Die Kette der flatternden Möwen verlor sich an der Kimm. Die Inseln, die mittags verlassen worden waren, versteckten sich längst hinter dem Dunst am Horizont. Die Schebecke war völlig allein auf dein Meer, und jetzt schob sich der Rand der Wolkentürme vor die sinkende Sonne und löschte deren Licht aus. Graues Abendlicht senkte sich über das Meer. Dan O'Flynn nickte Luke Morgan, der an der Pinne stand, schweigend zu. Dann enterte er auf die Kuhl ab und bewegte sich zur Back. „Bevor ich den Seewolf wecken lasse“, sagte er zu Don Juan de Alcazar, „möchte ich wissen, was es mit diesen großen, toten Fischen auf sich hat. Irgendwie seltsam, das Ganze.“ „Ich kann mir auch keinen Reim darauf bilden“, erwiderte der Spanier. „Du hast recht: seltsam.“ Sie standen hinter dem Schanzkleid auf der Back, duckten sich unter den salzigen Spritzen und hielten Ausschau über die See, deren Wasser fast schwarz geworden war. Es würde nicht mehr lange dauern, bis nach dem farbensprühenden Wolkenspiel der Abenddämmerung die Nacht hereinbrach und das Gewitter heranraste, mit Blitz, Donner, Regen und Sturm. 8.
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Acht Stunden nach Mittag: nach wenigen Minuten e einer jähen Abenddämmerung lege sich die Schwärze der Nacht über das Meer. Riesige, kalkweiße Flächenblitze zuckten waagerecht über die Kimm dahin und zitterten zwischen den riesigen Wolken, die Sterne und Mond Die Wachen hatten gewechselt. Im kräftigen Wind aus Westen schob sich die Schebecke bockend und stampfend nach Osten, parallel zur Küstenlinie, laut Dan O'Flynn sechs oder mehr Seemeilen entfernt. Dan hatte vor wenigen Minuten, als noch Licht über die Gischt der Wellen zuckte, den fünfzehnten toten Fisch und um den Kadaver herum mindestens zwei Dutzend Möwen, Kormorane und Reiher gesehen. „Ein neues Geheimnis der chinesischen Gewässer“, murmelte er. „Wenn ich nur eine Ahnung hätte, was as diese Fischleichen bedeuten.“ Der erste Blitz, weit hinter dem Heck der Schebecke, schlug ins Meer. Die Hälfte des Himmels hatte sich mit schwarzen Wolken bezogen. Die andere Hälfte zeigte Sterne und einen fahlen Mond. Der Donner ließ lange auf sich warten. Dann ertönten die rumpelnden und krachenden Geräusche, unendlich weit entfernt. Hasard erschien noch ein wenig schläfrig an Deck, als Blacky die Laternen anzündete, die Dochte hochdrehte und die Laternen wieder einhängte. „Die nächste Sturmnacht“. knurrte er Seewolf. „Diesmal zur Abwechslung wieder mal auf offener See, nicht in einer geschützten Bucht.“ „Das Gewitter rückt näher“, bestätigte Smoky. „Segel raffen, Sir?“ Noch lange nicht“, erwiderte der Seewolf ruhig, „Wir wollen ja nicht langsamer werden.“ Der Wind, den das Gewitter vor sich herjagte, kam in langen, harten Stößen. Die Schebecke bäumte sich auf und wurde schneller. Mit achterlichem Wind jagte das schlanke Schiff ostwärts durch die aufschäumenden Wellenkämme. Die Segel standen prall.
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Falls es noch Möwen gab, so gingen ihre Schreie im Stampfen und Zischen unter. Dan O'Flynn stand auf der Back und versuchte zu erkennen, ob sich vor dem Bug irgendwelche Hindernisse im Fahrwasser erkennen ließen. Die ersten Regentropfen prasselten auf das Deck nieder. Blitze und Donner rasten heran, und der Wind kühlte sich ab. Der Regen wirbelte die heiße Schwüle davon. Die Seewölfe atmeten tief und dachten an die holländische Fleute, die von dem Gewittersturm vielleicht umgeworfen, aus der Vertäuung gerissen oder von den hohen Wellen in der Bucht beschädigt wurde. „Nicht mehr unser Problem“, knurrte Hasard und federte die Stöße des Rumpfes mit den Knien ab. Der Wind heulte und pfiff in der Takelage, die Segel standen prall unter dem Druck des Sturms. In Sekundenabständen schlugen mächtige Blitze ins Meer. Die Männer sahen nur die endlose Fläche schäumender Wellen, von denen der Sturm die Schaumkronen wegriß. Riesige Gischtkämme bildeten sich rechts und links in der Bugwelle, wenn die Schebecke krachend einsetzte. Schmale Rinnsale liefen über die Planken, die sich schwarz zu färben begannen. Die gewaltigen, ohrenbetäubenden Donnerschläge begleiteten die Schebecke auf ihrer schnellen Fahrt nach Osten. Dan verstaute den Kieker wieder, denn der Gischt und der Regen auf den Linsen ließ eine Beobachtung unmöglich werden. Er verließ sich auf seine Augen. Er hatte sich mit einer Sorgleine gesichert und folgte den Bewegungen des Bugs. Die Blitze ließen auch erkennen, was voraus lag - bisher nur aufgewühltes Wasser. Stundenlang befand sich die Schebecke im Mittelpunkt der Gewitterwolken, bis der Aufruhr der Elemente vor Mitternacht nach Norden abschwenkte, der strömende Regen abriß und sich achteraus die ersten Sterne zeigten. Der Mond schob sich hinter den jagenden Wolken hervor, und um das Schiff breitete sich die glitzernde, funkelnde Fläche des
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Meeres aus, ohne Lichter an Land oder auf Inseln, ohne fremde Schiffe bis zur Kimm. Die Blitze verloren sich im Norden, und nur der günstige Wind blieb. „Was habe ich eigentlich erwartet?“ fragte sich Dan. „Noch mehr tote Fische? Und warum?“ Er spähte übers Wasser, hinaus auf die winzigen Lichtpünktchen, die sich ununterbrochen bewegten. Mondlicht und Sternenlicht zeigten ihm aber weder Inseln noch große Gegenstände, die in den Wellen trieben. Er zuckte mit den Schultern und löste den Knoten der Sicherungsleine. Langsam verholte er sich zum Heck und stieg den Niedergang zum Achterdeck hoch. Er nickte dem Seewolf zu und sagte: „Wir werden also niemals erfahren, wer die großen Fische umgebracht hat. Schade. Die Möwen verraten es uns auch nicht.“ „Beruhige dich, Dan“, erwiderte Hasard und schwenkte seine Hemdärmel im Wind. „Für uns sind ganz andere Fragen und Geheimnisse wichtig.“ „Trotzdem“, sagte Dan O'Flynn. „Ich würde gern in meine Karten und Berichte hineinschreiben, welche Naturerscheinungen den Seemann narren, hier, nördlich von Batavia.“ „Vergiß es, Dan.“ Von den Wellen verschwanden die weißen Schaumkämme. Die Bewegungen des Rumpfes und das Knarren und Knirschen des Riggs beruhigten sich. Noch immer lief die Schebecke bemerkenswert schnelle Fahrt. Jetzt stand Sven Nyberg an der Pinne. Nach einer Weile, in der er den Stoff auf seiner Haut trocken werden fühlte, sagte Dan: „Ich will meinen VaternichtalsHinterdie-Kimm-Späher ablösen, Sir, aber wir sollten einen Mann auf die Back stellen.“ „Hast du ein schlechtes Gefühl?“ fragte Hasard. Auch er versuchte zu erkennen, was an Steuerbord und Backbord zu sehen war. Der Seewolf, der ebenfalls nichts auf der weiten Meeresfläche sehen konnte, nahm die Unsicherheit Dan O'Flynns keineswegs auf die leichte Schulter.
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„Nicht gerade das, Sir. aber mehr Sicherheit hat noch nie geschadet.“ „Einverstanden. Gehst du bis zum Wachwechsel wieder auf die Back?“ Dan nickte. „Aye, aye, Sir.“ Dan verfolgte mit d Augen einen Flächenblitz im Norden. Eine hellgraue Wolkenwand dicht über der Kimm erstrahlte für Sekunden in kreidigweißer Helligkeit. Der Mann mit den scharfen Augen wechselte wieder auf seinen Platz hinter dem Schanzkleid und sicherte sich. Und kurz vor dem Glasen war er sicher, daß die Schebecke auf eine seltsame Erscheinung zusteuerte, die fernab von Land oder Inseln mitten auf dem Meer lauerte. Noch sah er nicht genug. Aber mit jeder Minute erfaßten seine Augen mehr von einem unglaublichen Vorgang. * Der Wind wirbelte einen dünnen Schleier zwischen d a Wellen fort, Fahler Nebel verwis sie den Widerschein des Mondlichts, die Erscheinung hinter dem Kamm der Dünungswoge verschwand. Dan starrte darauf, bis seine Augen tränten. Als der Bug der Schebecke wieder in die Höhe gehoben wurde und die Sicht frei war, sah Dan, daß er tatsächlich einen Nebel erkannt hatte. Die Entfernung, schlecht zu schätzen, mochte eine Seemeile betragen. Er drehte sich um und rief Matt Davies „Weitermelden, Matt! Seltsamer Nebel recht voraus! Hasard soll auf die Back kommen!“ „Aye, aye!“ Dan starrte weiter geradeaus. Hasard Philip junior eilten über die Kuhl und enterten zu Dan auf. „Was siehst du?“ fragte Philip junior. „Blasen und Nebel. Oder Dampf. Aber wo soll Dampf herkommen, mitten im Meer?“ erwiderte Dan. Schweigend starrten sie dorthin, wohin Dans ausgestreckter Arm deutete. Diesmal sahen drei Arwenacks die dünne Nebelfahne, die dicht über den Wellen
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nach Osten davongewirbelt und aufgelöst wurde. Im besten Augenblick der Beobachtung erschien im weiten Umkreis in den Wellen weiße, schäumende Blasen, als tauche ein riesiges Tier aus der Tiefe auf. Aber der mächtige Körper eines Walfisches war weit und breit nicht zu entdecken. Hasard stieß Dan an und sagte: „Hast wirklich scharfe Augen. Und ein gesundes Mißtrauen. Matt!“ „Sir?“ „Einen Strich nach Steuerbord abfallen!“ „Aye, aye, Sir“, antwortete die Segelwache und gab den Befehl an den Rudergänger weiter. In der Mitte der runden Fläche, in der das Wasser zu kochen schien, quoll eine große Blase aus der Tiefe. Zwei oder drei Yards betrug der Durchmesser der milchigen Halbkugel, bevor sie platzte. Wieder breitete sich Dampf oder Nebel aus. Die Erscheinung wanderte langsam nach Backbord aus. „Hast du eine Erklärung, Dan?“ fragte Jung Philip. Dan schüttelte den Kopf. Der Seewolf erwiderte: „Eins scheint sicher zu sein: Dort brodelt etwas aus der Tiefe des Meeres nach oben. Aber was es ist ...?“ Er ließ den Satz unbeendet. Die Schebecke war näher an die Erscheinung herangesegelt. Der Kreis, der aus kleinen Blasen, Schaum und Schmutz zu bestehen schien, war in Wirklichkeit sehr viel größer. Der Durchmesser betrug mehr als fünfzig Yards. Unaufhörlich kochte und brodelte die Meeresoberfläche. Im schwarzen Wasser vor dem Bug zeichneten sich breite Schleier ab, Hier war das Wasser gelb oder bräunlich gefärbt. Die Schleier wurden von einer Strömung gepackt und mitgesogen. Wieder tauchte eine große Blase auf und zerplatzte. Das Geräusch war nicht zu hören, aber der Nebel färbte sich weißgrau und trieb davon. Hasard schnupperte und sagte: „Es stinkt. Und da sind auch wieder deine toten Fische, Dan.“
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Er deutete an drei Stellen voraus. Große, dunkle Körper schwammen regungslos in den Wellen. Wenn sie sich drehten, schimmerten silberne Bäuche und farbige Schuppen auf. Zwischen den Kadavern trieben lange Tangblätter und schwarze Algen. Hasard schrie nach achtern: „Noch mal einen Strich abfallen!“ Inzwischen hatte sich das Deck bevölkert. Die Seewölfe konnten von fast jedem Punkt der Decks die kreisrunde Fläche sehen. Während die Schebecke näher herangesteuert wurde, wich sie weiter nach Steuerbord aus und schnitt durch die Schmutzspuren im Wasser. Die Männer auf der Back berieten sich leise, beobachteten jede Einzelheit, und plötzlich rief Hasard: „Dort, die Blasen! Und die toten Fische und all das Zeug. Dan, das ist ein Strudel. Siehst du die farbigen Spuren zwischen den Wellen?“ Die Schebecke stampfte in der Dünung. Jetzt befand sich der Mittelpunkt der Blasen mehr als eineinhalb Kabellängen entfernt und fast Backbord querab. „Du hast recht Sir“, antwortete Dan, „Es ist ein kleiner Mahlstrom. Und jetzt wieder! Die Blasen steigen auf.“ In unregelmäßigen Abständen entließ irgendein Vorgang auf dem Meeresgrund eine riesige Blase, die nicht platzte, bevor sie die Wasseroberfläche erreichte. Der Wind wehte eine unsichtbare Wolke üblen Gestanks zum Schiff. „Es riecht nach Schwefel“, sagte Jung Philip. „Und nach fauligem Schlick. Und nach dem verdammten toten Fisch. Und nach anderen Dingen, die ich nicht kenne.“ Wieder hallten einige Kommandos übers Deck. In einem weiten Bogen umrundete die Schebecke, inzwischen mitten in dem hochgespülten und fein verteilten Schlick vom Meeresboden, die blasige Fläche. Jetzt waren auch fremdartige Geräusche zu hören. Die unzähligen Blasen lösten sich mit prasselndem, leisen Knistern auf, als zerbräche unaufhörlich dünnes Holz. Dazwischen platzten die großen Luftblasen mit einem hörbaren dumpfen Geräusch wie eine ferne Explosion.
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„Eine gespenstische Blasenstrudelei“, sagte Old Donegal. „Geisterhaft! Da rülpst der Meermann.“ „Ich glaube eher, daß sich tief unten ein feuerspeiender Berg geöffnet hat“, sagte Hasard zweifelnd. „Deshalb der schweflige Gestank.“ Die Schebecke beendete den Halbkreis und ging in den Wind. Die nassen Segel killten und überschütteten die Mannen mit einem feinen Regen. Der Seewolf wagte nicht, näher heranzugehen. Das weiße Mondlicht bot genügend Helligkeit. Jeder konnte sehen, was vor dem Bug strudelte und zischte. Ständig tauchten aus der schwarzen Tiefe neue Massen von Blasen auf und drehten sich nach außen. Wieder zerbarst eine milchige Riesenblase, und jetzt stand der Gestank mit dem Wind den Männern direkt in die Gesichter. „Der Nebel und die verdorbene Luft“, sagte Philip junior aufgeregt, „sie sind heiß. Vielleicht doch eine Spalte im Boden, aus der glühendes Erdreich dringt? Und das Wasser verwandelt sich in Dampf.“ „Es wird keiner hinuntertauchen und nachsehen. Jedenfalls befinden wir uns nicht über einer gefährlichen Untiefe“, widersprach der Seewolf: Die bewegungslosen Lebewesen aus der Tiefe wurden ein paar Handbreiten hoch aus dem Wirbel und dem Schaum geschleudert und trieben im Kreis davon, zusammen mit den Algen und dem Schlick. „Also, Dan“, sagte Hasard, der wie jeder andere voller Spannung und deutlichem Mißtrauen das schäumende Schauspiel beobachtete, „sind deine Fragen beantwortet? Das Geheimnis der toten Fische gelöst?“ Dan biß auf die Unterlippe und nickte langsam. Der schauerliche Gestank wurde durchdringender und reizte zum Husten. „Es ändert sich nichts“, sagte er nach kurzem Nachdenken. „Der Wirbel dreht sich und spuckt tote Fische und Dreck aus, und die Blasen platzen. Aber wenn sich hier eine Erdspalte geöffnet hat, dann
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bricht vielleicht woanders ein richtiger Vulkan aus.“ „Hoffentlich nicht gerade dort, wohin wir segeln. Ich glaube. wir sollten wieder abdrehen und den guten Wind ausnutzen“, schlug Hasard vor. Als hätte der Meeresgott seine Worte gehört, verwandelten sich der Strudel und der Schaumkreis in ein brausendes, zischendes Inferno. Aus der Tiefe schossen Dutzende und schließlich Hunderte großer Blasen. Der Gestank nahm den Männern den Atem. Langsam drehte sich der Bug der Schebecke wieder nach Osten zurück, das Killen der Segel wurde ohrenbetäubend laut. Jung Philip schrie gegen den Lärm an: „Das Meer will uns vergiften und kochen! Weg hier, Dad!“ Hasard winkte zur Kuhl, aber die Segelcrew hatte bereits die Schoten losgeworfen und trimmte die Segel. „Davon werde ich noch lange träumen“, sagte Dan kopfschüttelnd und erachtete den Mahlstrom, der sich schneller drehte. Jetzt bedeckte der Dampf aus der Tiefe die schäumende runde Zone, die in einzelnen spitzen Zungen auslief. Die Wellen und die Dünung zerrissen die Schleier und lösten sie auf. Eine Schaumspur erreichte das Heck und gurgelte um das Ruderblatt, als die Schebecke Fahrt aufnahm und sich mit steigender Geschwindigkeit von der Gefahrenstelle entfernte. Der Wind vertrieb zwar den Gestank, aber noch einige Minuten lang wehte mit dem raumen Wind der stechende Geruch heran und reizte Augen und Nasen. „Kurs Ost liegt an!“ schrie der Rudergänger und hustete.
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„Verstanden.“ Dan und Hasard standen am Backbordschanzkleid und blickten auf den weißen Fleck im Meer, der achteraus kleiner wurde und sich hinter der nächsten Dünungswelle versteckte. „Erstaunliche Erlebnisse, mitten in der Nacht und mitten auf dem Meer“, sagte der Seewolf. „Ob dieser Strudel lange an derselben Stelle bleiben wird - wer kann das sagen?“ „Ich nicht, Sir.“ Dan sog frische Seeluft in seine Lungen. Der Gestank verflüchtigte sich mit jeder weiteren Kabellänge. Langsam gingen die Männer zurück zum Achterdeck und warfen einen letzten Blick auf die nächtliche Überraschung achteraus. Dan sagte halblaut und gähnte: „Einen zweiten Strudel werden wir wohl in dieser Nacht nicht mehr sehen. Ich bin auf Freiwache, Sir.“ „Träum nicht vom Mahlstrom!“ rief ihm Hasard nach. „Stell dir lieber vor, wie fröhlich es im nächsten Hafen sein wird.“ „Hoffentlich“, murmelte Dan und verholte sich in seine Koje. Eine Viertelstunde lang spürte er noch die Bewegungen des Rumpfes, dann schlief er ein. Noch immer trieb der günstige Wind nach dem Unwetter die Schebecke ostwärts. Am Morgen würden sie sehen, wie weit sie von der Küste entfernt segelten. Stunden später sichteten die Arwenacks Steuerbord voraus die winzigen Lichter einer Gruppe von Fischerbooten. Die Crew wußte, daß ihr Schiff auf richtigem Kurs lag. Was sie an Land erwartete – so war es immer –, wußten sie noch nicht...
ENDE