JOACHIM RINGELNATZ
GEHEIMES KINDER-SPIELBUCH
joachim ringelnatz : das gesamtwerk in sieben bänden. herausgegeben von ...
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JOACHIM RINGELNATZ
GEHEIMES KINDER-SPIELBUCH
joachim ringelnatz : das gesamtwerk in sieben bänden. herausgegeben von walter pape, band 1 : gedichte, band 2 : gedichte, band 3 : dramen, band 4 : erzählungen, band 5 : vermischte prosa, band 6 : mein leben bis zum kriege, band 7 : als mariner im krieg, zürich : diogenes, 1994. © 1994 diogenes verlag ag zürich erstdruck: gustav kiepenheuer potsdam 1924
textvorlage: joachim ringelnatz: das gesamtwerk. digitale bibliothek band 121. lizenzausgabe mit freundlicher genehmigung von diogenes verlag ag zürich. copyright © 2005: directmedia publishing gmbh, berlin isbn: 3-89853-521-5
JOACHIM RINGELNATZ
GEHEIMES KINDER-SPIELBUCH mit vielen Bildern
1924
Inhaltsübersicht A Afrikanisches Duell 17
B Bülow, Nolle, Witte, Zoo 9
D Das Bergmannspiel 13 Das Doktor-Knochensplitter-Spiel 15 Die Rakete und der Kater 26
E Eine Erfindung machen 19 Es stand nach einem Schiffsuntergange 25 Es war ein faules Krokodil 28
H Himmelsklöße 11 Hui! Die Rakete stieg. Sie fauchte 26
M Maikäfermalen 10 Meine Tante, Frau Bebatte 29
S Schlacht mit richtigen Bomben 14 Schulgedichte zum Auswendiglernen 24 Sich interessant machen 22
U Übergewicht 25
V Volkslied 24
W Wenn ich zwei Vöglein wär 24
Fußnoten 30 Buch, Entstehungsgeschichte 31 Zeitgenössische Rezensionen 34
Abzähl-Reime Bülow, Nolle, Witte, Zoo ...¹ Auf dem Dache sitzt ein Floh, Der sich nicht zu helfen wo. Konikoki Kakadu ... Rose auf und Rose zu. Ferkel Ei und Ferkel Zwei. Wer nicht fehlt, ist mit dabei. Stachus, Kios, Kaos, Kies, Spinne, Speise, Scheiße, schieß. Sexu Elefant Asie. Fische haben nie kein Knie. Ritze Rotze Ringelratz Zwei Miezeschwein, ein Grunzekatz. Mein Großpapa heißt Lali, Der wird des Nachts ganz lila.
9
Maikäfermalen Setze Maikäfer in Tinte. (Es geht auch mit Fliegen.) Zweierlei Tinte ist noch besser, schwarz und rot. Laß sie aber nicht zu lange darin liegen, Sonst werden sie tot. Flügel brauchst du nicht erst rauszureißen. Dann mußt du sie alle schnell aufs Bett schmeißen Und mit einem Bleistift so herumtreiben, Daß sie lauter komische Bilder und Worte schreiben. Bei mir schrieben sie einmal ein ganzes Gedicht. –––– Wenn deine Mutter kommt, mache ein dummes Gesicht; Sage ganz einfach: »Ich war es nicht!«
10
Himmelsklöße ( Das Spiel, das Frau Geheime Hofrat Anette von Beighausen Berlin S.W., Königgrätzerstr. 771, als Kind so gern gespielt hat.) ² Je mehr Kinder dabei mitmachen, Umso mehr gibt es nachher zu lachen. –––– Dicke Papiere sind nicht zu gebrauchen. Man muß Zeitung oder Briefe von Vaters Schreibtisch nehmen. Keiner darf sich schämen, Das Papier mit der Hand in den Nachttopf zu tauchen. Wenn es ganz weich ist, wird es zu Klößen geballt Und mit aller Wucht gegen die Decke geknallt. Man darf auch vorher schnell noch Popel hineinkneten. Solche Klöße bleiben oben minutenlang kleben. Jedes Kind muß nun unter einen der Klöße treten Und den offenen Mund nach der Decke erheben. Vorher singen alle im Rund: »Lieber Himmel, tu uns kund, Wer hat einen bösen Mund.« Bis der erste Kloß runterfällt Und trifft zum Beispiel in Fannis Gesicht. Dann wird die Fanni umstellt. Und alle singen (nur Fanni nicht): »Schweinehündin, Schweinehund! Himmelsklöße taten kund: 11
Du hast einen bösen Mund. Sperrt sie in den Kleiderschrank Wegen ihrem Mordsgestank.« –––– Steckt eurem Vater frech die Zunge Heraus. Und ruft: »Prost Lausejunge!« Dann – wenn er vorher auch noch grollte – Vergißt er, daß er euch prügeln wollte.
12
Das Bergmannspiel Unter dem Bett ist der Schacht. Der wird entweder mit Bettdecken dunkel gemacht, Oder ihr spielt das Spiel bei der Nacht. In den Schacht schüttet ihr erst recht viel Kohlen. Die muß der Bergmann auf dem Bauche herausholen. Ein Licht oder Spirituskocher und zum Graben Eine Schaufel muß jeder Bergmann haben. Außerdem muß er vor allen Dingen sich hinten Ein Stück Leder aus Schuh oder Ranzen anbinden. Dann baut ihr aus Tisch und Stuhl und Fußbank drei Stufen, Dort, wo der Eingang sein soll. Jeder, der runterkriecht, muß erst »Glückauf« rufen Und schaufelt eine Zigarrenkiste voll Kohlen voll. Jeder, der rauskriecht, muß dann ganz dreckig sein. Und jedesmal müssen alle Glückauf schrein. Geben euch eure Eltern was hinten drauf, Dann habt ihr doch hinten das Leder und ruft nur: »Glückauf«.
13
Schlacht mit richtigen Bomben Das muß sein wie bei einer wirklichen Schlacht, Mit richtigem Zufall, wo’s blitzt und kracht. –––– Kannst du Stahllineale oder Fischbeinstäbe kriegen, Im Korsett in deiner Mutter wirst du welche finden. Die mußt du spannen, das heißt im Bogen biegen Und beide Enden mit Zwirn zusammenbinden. Lege solch Bomben auf einen Zeitungswisch, (Den du vorher mit Benzin begießt), auf den Tisch. Nun baust du ganz dicht drum rum deine Bleisoldaten Auf. Wie’s grade kommt, kreuz und quer, Als wären sie schon ins Handgemenge geraten. Spritze auch nochmals bißchen Benzin umher. Nun mußt du von etwa zwei Schritt zurück Brennende Zündhölzer zwischen schmeißen. Dann brennt alles. Die Bomben platzen und reißen Große Lücken. – Das ist das Soldatenglück, –––– Und wenn dein Vater dir droht, er wolle den Stock holen, Dann sage, das frühere Dienstmädchen Habe das Spiel dir empfohlen.
14
Das Doktor-Knochensplitter-Spiel Dazu braucht man nicht viel. Nur ein Gänse- oder Hühnerknöchelchen. Du, Berta, bohrst ein Löchelchen Ins Sofa und schiebst das Knöchelchen Weit rein, doch immer dicht unter die Sofahaut, Daß man’s von außen wie Knorpel anfassen kann, Was wie Geschwulst ausschaut. Das Sofa ist dann dein Mann. Ich bin der Doktor Frank. Du sagst: »Mein Mann ist so krank.« Ich fühle und sage mit ernster Miene: »Er hat einen Splitter im Herzen sitzen«, Und nehme das Ölkännchen von eurer Nähmaschine, Um erstmal Betäubung in das Geschwür einzuspritzen. Nun kommt die Operation; das ist das Schwere. Ich nehme ein Messer und eine Schere. Du nimmst ein Handtuch und fürchtest dich zuzusehn; Darum drückst du die Augen zu. Ich tu einen scharfen Schnitt, greife dann – das muß wie der Blitz geschehn – Mit der Zange (das ist die Schere) im Nu Den Knochen aus deinem Mann. Weil, wenn ich ihn nicht beim ersten Male geschickt Gleich rausbekomme, – ist die Operation mißglückt. –––– Das nächste Mal bist du Doktor Frank, Und mein Mann ist krank. 15
–––– Angst darfst du nicht haben. Denn meine und deine Eltern können uns – – – Weißt du, was ich meine?!?
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Afrikanisches Duell Wenn dich der Paul oder jemand, den du kennst, Schwein schimpft oder wenn du ihn Rindsvieh nennst, Dann habt ihr euch beleidigt. Dann müßt ihr afrikanisches Duell machen. Ich bin der Schiedsrichter, der bei Ehrenwort euch vereidigt. Niemand darf auch nur mit der Wimper lachen. Jeder schweigt. Und ihr stellt euch dabei Gegenüber. Mit sechs Handbreit Abstand. Und dann Zähle ich langsam bis drei. Darauf spuckt jeder dem anderen ins Gesicht, Möglichst so lange, bis der nicht mehr sehen kann. Mich anspucken gilt aber nicht. –––– Wer zuerst sagt, er habe genug abgekriegt, Der ist besiegt Und muß sich von mir eine runterhauen lassen, Ohne sich wehren oder mich anfassen. Darauf dürft ihr euch nicht mehr hassen, 17
Sondern müßt euch bezähmen Wie Männer von Ehre und Stand. Jeder reicht dem andern die Hand. Weil die Helden in Afrika sich wegen Spucke nicht schämen.
18
Eine Erfindung machen ( Nur für Kinder, die keinen Schiß haben.) Wer was erfindet, wird furchtbar reich. Was man erfindet, ist ganz gleich. Wenn man nur allerlei Dinge zusammenmischt, Noch länger, als bis es zischt, und das Richtige rausfischt, Dann wird man in wenigen Stunden Berühmt oder macht Gold. Ich hab auch schon mal was zur Hälfte erfunden, Aber Wolfgang, mein Bruder, wollte nicht mehr. – Wenn ihr das etwa fertig erfinden wollt, Will ich’s euch sagen. Aber es ist sehr, furchtbar sehr schwer. Das allerwichtigste ist die teure Furchtbar gefährliche Salzsäure. Entweder findet ihr die im Klosett Hoch oben auf einem Brett. Oder ihr müßt euch unter das Dienstmädchen stecken. Dürft aber ja nicht dran lecken. –––– Erst legt ihr einen Goldfisch oder anderen Fisch – Es kann auch ein Rollmops sein – Nicht etwa auf den Tisch, Sondern: auf Elfenbein. Und zwar auf die weißen Tasten von dem Klavier. Müßt aber die Fische vorher mit Bier Und Zahnpulver kneten 19
Und auch erst tot treten, Damit sie auch liegen bleiben. Nun müßt ihr Seife, dann Zwiebel darüber reiben. Dann müßt ihr Pfennige, Nachtleuchterstücken Und anderes Kupfer tief in die Fische drücken Und nun darüber langsam die Salzsäure träufeln. Dann holt ihr schnell eine Schaufel (eigentlich zwei Schäufeln) 20
Voll glühender Kohlen. Wolfgang ließ mich damals die zweite Schaufel nicht holen. Der dumme Ochse ist ja zu unverschämt. Aber ihr müßt das zu Ende bringen. Wenn ihr noch Soda und Wachs und sowas zu nehmt, Dann wird’s schon gelingen. Und wenn eure Eltern was wollen, –––– Dann müßt ihr zum Trotz in die glühenden Kohlen fassen. Und sagt nur ganz barsch: Sie sollen Sich lieber und recht bald begraben lassen.
21
Sich interessant machen ( Für einen großen Backfisch.) Du kannst doch schweigen? Du bist doch kein Kind Mehr! – Die Lederbände im Bücherspind Haben, wenn du die umgeschlagenen Deckel hältst, Hinten eine kleine Höhlung im Rücken. Dort hinein mußt du weichen Käse drücken. Außerdem kannst du Käsepfropfen Tief zwischen die Sofapolster stopfen. –––– Lasse ruhig eine Woche verstreichen. Dann mußt du immer traurig herumschleichen. Bis die Eltern nach der Ursache fragen. Dann tu erst, als wolltest du ausweichen, Und zuletzt mußt du so stammeln und sagen: »Ich weiß nicht, – ich rieche überall Leichen –.« –––– Deine Eltern werden furchtbar erschrecken Und überall rumschnüffeln nach Leichengestank Und dich mit Schokolade ins Bett stecken. 22
Und zum Arzt sage dann: »Ich bin seelenkrank.« –––– Nur laß dich ja nicht zum Lachen verleiten. Deine Eltern – wie Eltern so sind – Werden bald überall verbreiten: Du wärst so ein merkwürdiges, interessantes Kind.
23
Anhang Schulgedichte zum Auswendiglernen
Volkslied ³ Wenn ich zwei Vöglein wär Und auch vier Flügel hätt, Flög die eine Hälfte zu dir. Und die andere, die ging auch zu Bett, Aber hier zu Haus bei mir. Wenn ich einen Flügel hätt Und gar kein Vöglein wär, Verkaufte ich ihn dir Und kaufte mir dafür ein Klavier. Wenn ich kein Flügel wär (Linker Flügel beim Militär) Und auch keinen Vogel hätt, Flög ich zu dir. Da ’s aber nicht kann sein, Bleib ich im eignen Bett Allein zu zwein.
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Übergewicht ⁴ Es stand nach einem Schiffsuntergange Eine Briefwaage auf dem Meeresgrund. Ein Walfisch betrachtete sie bange, Beroch sie dann lange, Hielt sie für ungesund, Ließ alle Achtung und Luft aus dem Leibe, Senkte sich auf die Wiegescheibe Und sah – nach unten schielend – verwundert: Die Waage zeigte über Hundert.
25
Die Rakete und der Kater ⁵ Hui! Die Rakete stieg. Sie fauchte Am Dach vorbei und höher. Glühend jung. Bis sie in wundervollem Linienschwung In ferne, dunkle Abendwolken tauchte. Auf jenem Dache saß ein schwarzer Kater. Der sah die schöne Linie, und was tat er? Zunächst: Er fauchte ebenfalls. Dann dehnte er sich, reckte seinen Hals. Dann krümmte er den Buckel, hob ein Ohr Und streckte seinen Schweif graziös empor, Um jene schöne Linie nachzumachen. Doch die Rakete oben barst vor Lachen. Da warf sich unser schwarzer Kater Wild auf den Rücken. Und was tat er? Was tat er außer sich vor Wut? Nun, was man sonst gewöhnlich nicht Gerade auf dem Rücken liegend tut. Er tat es kräftig, tat es reichlich, gut; Er hatte kurz zuvor zu Haus Zwei Babyflaschen ausgesogen. Doch jenen herrlichen Raketenbogen – – Nein, nein, den kriegte er nicht raus.
26
Es war ein faules Krokodil, Das lag zwei Monate ganz still. Dann schlief es sieben Jahre ein, Und schließlich schien es tot zu sein.
28
Meine Tante, Frau Bebatte ⁶, Welche niemals Kinder hatte, Las vertieft im Tageblatte: »Ein Mulatte, Welcher dreizehn Kinder hatte, Aß vor Hunger eine Ratte, Welche 19 Junge hatte.« – Tante wurde weich wie Watte. »Nein« – so rief sie – »nein, die Ratte!«
29
Fußnoten [1] Bülow, Nolle, Witte, Zoo: Berliner U-Bahn-Stationen: Bülowstraße, Nollendorfplatz, Wittenbergplatz, Zoologischer Garten. [2] Himmelsklöße. Die Adresse im Untertitel war die Adresse der Familie Wilhelm Oertner, wo Ringelnatz und seine Frau bei Aufenthalten in Berlin wohnten. [3] Volkslied. Die Vorlage für die Parodie dieses berühmten deutschen Volksliedes hat Johann Gottfried Herder 1778 in seinen Volksliedern unter dem Titel Flug der Liebe zum erstenmal veröffentlicht. [4] Übergewicht. Dem Gedicht geht eine Zeichnung von Ringelnatz voraus, im Faksimile der Handschrift bezeichnet als: »Persische Gans, die eine Nähmaschine verschluckt hat. Dies wünscht Fräulein Else Junke zu Ostern Joachim Ringelnatz.« [5] Die Rakete und der Kater. Ringelnatz trug das »neue Verschen« am 4.12.1922 erstmals in den Berliner Kabaretts Rakete und Schwarzer Kater vor (Brief Nr. M 261b vom 5.12.); weder die Weltbühne noch der Simplicissimus waren an einer Veröffentlichung interessiert (Brief Nr. M 262c vom 10.12.1922). [6] Bebatte. Soll Babette heißen.
30
Buch und Autor Textüberlieferung: Geheimes Kinder-Spiel-Buch mit vielen Bildern. Potsdam: Gustav Kiepenheuer 1924. 49 S. 1931 wurde das Buch von Rowohlt übernommen. Notiz auf dem Einband: »Für Kinder von 5 bis 15 Jahren gedichtet und bebildert von Joachim Ringelnatz«.
Entstehung: Über Ringelnatzens Schaffen für Kinder ist in den Anmerkungen zu Kleine Wesen (Bd. 2, S. 375) das Wichtigste zusammengefaßt. Der Plan zum Geheimen Kinder-Spiel-Buch taucht erstmals in einem Brief vom 13.10.1922 auf (Brief Nr. M 241b): »Ich habe eben abends noch einen Vers für eine Kinderbuchidee geschrieben.« Am 19.10. (Brief Nr. M 244) dichtet er »noch an dem Kinderbuch« und fragt seine Frau: »Habt ihr irgendein absonderliches eigenes (womöglich recht umfangreiches oder gar gefährliches) Kinderspiel getrieben (wie zum Beispiel mein Ärztespiel oder mein Bombenspiel mit Korsettstäbchen??) Ich brauche sowas für mein Kinderbuch, das lauter solche eigentlich nicht empfehlenswerte aber phantasiereiche Kinderspiele bringen soll.« Bereits im November kann er das Manuskript an den Lektor des Kurt Wolff-Verlages, Kurt Pinthus, senden: »Dr. Pinthus schrieb mir, daß ihm das Kinderspielbuch riesigen Spaß gemacht habe und er es dem Kurt Wolff demnächst zeigen werde.« (Brief Nr. 31
M 248c vom 11.11.1922.)Doch schon Anfang Dezember kommt die Absage des Verlages, der gerade dabei ist, von Ringelnatz die erweiterten Ausgaben von Kuttel Daddeldu und den Turngedichten zu drucken. »Dr. Pinthus teilte mir mit, daß Sie davon absehen, mein ›Geheimes Kinderspielbuch‹ zu verlegen«, schreibt er etwas enttäuscht an den Verleger. (Brief Nr. KW 8 vom 11.12.). Daraufhin bietet er das Kinder-Spiel- Buch dem Berliner Verlag Osterheld an, der auch ablehnt (Brief Nr. M 264 vom 14.12. und M 266a vom 16.12.). Aber sehr bald kommt eine Abmachung mit dem Verleger Gustav Kiepenheuer zustande, der ihm am 8.1.1923 schreibt, er würde den Vertrag in den nächsten Tagen schicken. Als Ringelnatz am 26. März den Verlag aufsucht und nach einem Sektgelage schließlich »der ganze Verlag (auch die Angestellten) ganz besoffen waren«, knöpft er dem Verleger hunderttausend InflationsMark Vorschuß ab (Brief Nr. M 296a). Doch dauert es noch lange, bis das Buch erscheint. »Kiepenheuer trödelt weiter«, klagt er (Brief Nr. M 310b vom 27.4.1923), und im November fehlt dann dem Verlag das Geld für den Druck (Brief Nr. M 353b vom 25.11.). Erst im Februar 1924 erscheint das Geheime Kinder-Spiel-Buch zum Preise von 3,50 Mark, die Vorzugsausgabe kostet 15,– Mark und hat folgenden Druckvermerk: »Fünfzig Exemplare des ›Geheimen Kinder-Spiel-Buches‹ wurden auf deutsches Bütten abgezogen und in der Handabteilung von Julius Hager, Leipzig, in Halbpergament gebunden. Jedes Exemplar wurde vom Verfasser eigenhändig signiert und mit einer Original-Zeichnung versehen.« 32
Dem Verlag geht fünf Monate nach Erscheinen des Buches eine polizeiliche Verfügung zu (zitiert nach In memoriam, S. 87): der polizeipräsident. Tgb. Nr. I/5672. Potsdam, den 8. Juli 1924. Das in Ihrem Verlag erschienene Buch ›Joachim Ringelnatz, Geheimes Kinder-Spiel-Buch mit vielen Bildern‹ bildet eine ernste Gefahr für die sittliche Entwicklung der Kinder. – – Mit dem äußeren Anschein läßt sich der Inhalt des Buches nach keiner Richtung hin in Einklang bringen. Dieser Inhalt beeinflußt vielmehr die sittlichen Auffassungen sowohl wie den Geschmack der Kinder in einem Sinne, der als durchaus verderblich bezeichnet werden muß und polizeilicherseits nicht geduldet werden kann. Auf Grund des Allgem. Landrechtes Teil II Titel 17 § 10 wird Ihnen daher hiermit aufgegeben, das genannte Buch äußerlich auf einem gut sichtbaren Umschlag mit einem Vermerk zu versehen, aus dem deutlich erkennbar ist, daß das Buch nur für Erwachsene bestimmt ist. Sollten Sie diesem Gebot nicht bis zum 20.7.24 nachgekommen sein, so werde ich von den mir auf Grund des § 132 des Landesverwaltungsgesetzes vom 30. Juli 1883 zustehenden Zwangsmaßnahmen unnachsichtlich Gebrauch machen. gez. v. Zitzewitz« 33
Bislang ist kein Exemplar des Geheimen Kinder-SpielBuches bekannt geworden, bei dem der Hinweis des Umschlages »Für Kinder von 5 bis 15 Jahren« durch einen Vermerk »Nur für Erwachsene« überklebt wäre.
Zeitgenössische Rezensionen Oskar Loerke in Berliner Börsen-Courier Nr. 153 vom 30.3.1924, wieder abgedruckt in: O.L., Der Bücherkarren. Besprechungen im Berliner Börsen-Courier 1920–1928. Unter Mitarbeit von Reinhard Tgahrt hrsg. von Hermann Kasack. – Heidelberg/ Darmstadt 1965, S. 212–213:
Endlich habe auch ich etwas von dem schon legendenumwobenen Joachim Ringelnatz kennengelernt! Künstler, die zwanzigmal bedeutender sind als er, behaupten überzeugt und selbstlos, er sei zehnmal bedeutender als sie. Wie kommt das? Es ist die Verbeugung vor dem Artisten. Sie kennzeichnet heute den weltläufigen Mann, – so etwa, wie es heute unter den fortgeschrittenen jungen Leuten als besonders forsch gilt, keine Zigaretten zu rauchen. Es wäre verkehrt, Ringelnatzens Begabung anzufechten; es wäre töricht, die Größe seines Talents zu leugnen, nämlich die Größe, die es verglichen mit kleineren zeigt. Wie aber kommt es, daß sein Kubikmaß genau ebenso lange und breite und tiefe zu übertreffen scheint? – Der Verfasser hat zu seinem natürlichen Charakter noch eine zweite Natur für die Mitmenschen ausgebildet, und die34
se führt den Namen Joachim Ringelnatz. Sie hat Scheinwerfereigenschaften, sie leuchtet in das Werk, – mehr, sie dichtet es. Ganz in der Form der Kunst bestehen nur kleine Bruchstücke des »geheimen Kinder-spiel-buches«, das meiste darin fordert den Vortrag oder die solidarische Antiphilisterstimmung. Der Fortschrittler oder die Verdonnerung des »Geschmacks« als einer vorsintflutlichen, akademischen Angelegenheit oder die Konvention des feigenblattlosen »Wahrheitssagens« oder die Verhöhnung des zeitlos Dichterischen als Hypochondrie der sanften Heinriche, und dergleichen mehr. Man versteht. Daher steigen diese Verse jedoch auch nie in die Sphären der verbummelten Genies auf, denen ein Gott etwas im Schlafe eingibt: Ringelnatz muß schon immer selbst den unwillkürlichen Gott spielen. Die Verse steigen auch nicht in die Bezirke des höheren Blödsinns auf, so überwältigend lustig sie für den Moment wirken können, so fest sie manchmal zum Zitieren haften bleiben. Also Kinder erfinden Abzählreime, Spiele, welche die Erwachsenen niederträchtig nennen. Der Dichter gibt Lieder dazu, die für ihr Gemüt und bombenfest unschuldiges Gewissen passen, ferner eine Reihe sehr hübscher Bilderchen. Seine Kühnheit ist, daß er, ohne es eben als kühn zu empfinden, die natürliche Roheit der Kinder malt, zweitens die Roheit unserer Zeit, drittens, daß er die Roheit des Lesers kitzelt, ohne daß dieser sich seiner stürmischen Freude geniert. Ab und zu ekelt sich nur einer, aber über den wird zur Tagesordnung geschritten. Natürlich muß in den Versen eine gemachte Naivität sein. 35
Die Gemachtheit als Mittel brauchte ihrer Größe nichts abzubrechen. Nur feixt die Naivität und grinst marode. Das bei soviel Ernst, Lächeln und Lachen? Man stelle zum Ernst, Lächeln und Lachen sich das einmal vor. Das ist nicht gut, das ist nicht ersten Ranges. Richard Samuel in Zeitschrift für Sexualwissenschaft 11 (1924/25). S. 133:
Ringelnatz, der grundsätzlich stets betrunkene Münchener Bänkelsänger, läßt seinen Turngedichten dieses Kinderspielbuch folgen, von dessen Bucheinband dem Leser die eigentümlichen Gestalten der Kinderweltwirklichkeit bunt entgegenleuchten: zerbrochene Puppen, aufgehängte Kinderwäsche, fliegende Schweinchen, blutendes Küchenbeil, umtanzter Froschkönig, nießender Walfisch. Hatte Ringelnatz in seiner letzten Gedichtsammlung eine der modernen »Bewegungen« ad absurdum geführt und den tönenden Sinngebungsprogrammen ihrer Führer seine grundsätzliche Sinnlosigkeit, weil Lächerlichkeit alles wirkenden tätigen Daseins entgegengestellt, so ergreift er jetzt, ins Breite gehend, ein ganzes Lebensalter, das früheste im menschlichen Dasein, um an seinen Hintergründen bereits die Sinnlosigkeit, Eindeutigkeit und Bodenlosigkeit des ganzen erwachsenen Daseins aufzuzeigen »Geheimes« Kinderspielbuch nennt der Dichter seine Verse, in dem er von der nur scheinbar wirklichen Welt der Kindesseele abgeht, die sich in Harmlosigkeit heiterer Freude und Frische, in absoluter Reinheit und Unberührtheit sozusagen 36
blumenhaft darstellt und hinter die Kulissen der kindlichen Seele führt, wenn sie sich allein unter sich oder bloß mit dem Stillschweigen beobachtenden Dienstpersonal oder gar mit dem Dichter zusammen weiß, der, weil er sie versteht, ihr Vertrauen hat. Der Dichter selber gibt in diesem Buch den Kindern Spiele Er lehrt sie Abzählreime, er zeigt ihnen wie man Maikäfer malt, wie man Bergmann spielt, wie man auf moderne Weise eine Bleisoldatenschlacht schlägt, wie man Erfindungen macht usw. Er weiß, daß er ihre geheimsten Gefühle trifft, wenn er ihnen den größten Unfug anrät, sie zum Lügen anreizt, sie gegen die Eltern aufhetzt, sie die Schuld auf andere schieben läßt. Und er meint, ihren wirklichen Trieben entgegenzukommen, indem alle diese Spiellehren den Zug zur Schweinerei, zur Unanständigkeit, zur lasziven Aufreizung des infantilen sexuellen Empfindens haben, wenn also die sadistische Komponente immer wieder hervorgehoben wird. So stellt sich denn ein abstoßendes Bild der Kinderseelenwirklichkeit dar, abstoßend und unwahr deshalb, weil es in einer gemeinen Einseitigkeit die tatsächliche Wirklichkeit auf den Kopf stellt. Scheiße, Ferkel, rotzen, kotzen, Klosett, Nachttopf, Mordsgestank, tot-treten und alle nur erdenklichen Assoziationen dieser Grundbegriffe machen die Elemente dieses Buches aus. Jedes Gedicht enthält nun noch in sich selber Zweideutigkeiten und mehr oder weniger grobe sexuelle Anspielungen, die das Bild nicht erfreulicher machen. Greifen wir jenes Spiel: »Eine Erfindung machen« heraus. Ein Goldfisch oder Rollmops soll auf die Elfenbeintasten 37
des Klaviers gelegt, dort erst totgetreten werden, »damit sie auch liegen bleiben«, dann mit Bier und Zahnpulver geknetet, Seife und Zwiebeln darüber gerieben, Kupferpfennige dann eingestreut und dann langsam Salzsäure darüber geträufelt werden. [Es folgen Vers 11–16.] Man sieht, hier ist es abgezielt auf den Allgemeininstinkt des heutigen Kabarettpublikums, dessen Lachnerven nur auf dem Umweg über die unteren Phantasiekräfte angereizt werden können. Das Buch ist ein Symptom für die Geisteshaltung der Gegenwartsdekadence, die bekanntlich Ringelnatz zujubelt und ihn witzig findet, dem Dichter ist dabei am wenigsten ein Vorwurf zu machen. Er ist ja der Narr, der nur ausspricht, was die anderen denken, der die Maske herunterreißt und der Zeit das wahre Gesicht vorhält. Seine Reimkraft und der Schwung seiner sprachlichen Rhythmik, die tatsächlich Einheit in diese sinnlosen Wortaneinanderreihungen und Assoziationen und sogar einen gewissen Wohllaut in diese Schweinereien bringen, heben ihn immerhin weit über sein Publikum hinaus.
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