Geister-
Krimi � Nr. 204 � 204
Andrew Hathaway �
Geister kennen � keinen Urlaub �
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Die Renovierung von Penford...
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Geister-
Krimi � Nr. 204 � 204
Andrew Hathaway �
Geister kennen � keinen Urlaub �
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Die Renovierung von Penford Castle war praktisch abgeschlossen. Nur noch wenige kleinere Arbeiten waren notwendig, bis das Schloß als Hotel eröffnet werden konnte. Ernie Manson, ein älterer Mann aus der Nachbarschaft, verdiente sein Geld mit Aushilfsarbeiten. An diesem Tag zog er einen schmalen aber tiefen Graben von Penford Castle zum Waldrand hinüber. Niemand war in seiner Nähe, als die Schaufel auf einen harten Gegenstand stieß. Ernie Manson wühlte mit den Händen in der lockeren Erde, bis er einen Schädel freigelegt hatte. Kaum berührten seine Finger die bleich schimmernden Knochen, als er wie vom Blitz getroffen zusammenbrach. Ernie Manson wurde ins nächste Krankenhaus gebracht. Um den Graben kümmerte sich niemand mehr. Nach und nach rutschte das Erdreich in das entstandene Loch und verschüttete den Totenschädel. Niemand hatte eine Ahnung von der im Schloßpark verscharrten Leiche, und Ernie Manson erwachte nicht aus der Bewußtlosigkeit. Daher wurde das Schloßhotel Penford Castle am 23. Juli von einer gutgelaunten Gesellschaft eingeweiht, die nichts von dem Schrecken ahnte, der Penford Castle drohte. * »Wer hat schon Verwandte in Australien?« stichelte Hazel Kent. »Ich jedenfalls nicht, und ich kann recht gut darauf verzichten.« Rick Masters, Londoner Privatdetektiv, warf seiner Freundin einen forschenden Blick zu. Er wollte herausfinden, ob sie die Anspielung ernst meinte oder nicht. »Möchtest du mit meinen Verwandten nicht zusammenkommen?« fragte er vorsichtig. »Du kennst mich, ich verlange von 3 �
dir nichts.« »Jetzt sind wir nun schon einmal in Heathrow, da können wir auch deine Verwandten abholen.« Hazel hauchte ihm einen Kuß auf die Wange. »Für dich ist mir kein Opfer zu groß.« Rick Masters stimmte in ihr Lachen ein. Sie saßen in einem der Restaurants des Londoner Flughafens, hatten ein reichliches Dinner hinter sich und waren bei einem italienischen Espresso angelangt, mit dem sie die internationale Speisenfolge beschlossen. Bis zur Ankunft der Maschine aus Sidney hatten sie noch zehn Minuten Zeit. »Weißt du, warum ich deine Verwandten aus Australien jetzt schon mag?« fragte Hazel Kent und lächelte Rick über den Rand ihrer Mokkatasse hinweg an. »Du bist ihretwegen mit mir ausgegangen. Und du hast dich nicht wieder durch einen dringenden Fall stören lassen.« Rick seufzte in sich hinein. Hazel hatte recht, sein Beruf als Privatdetektiv hatte ihnen beiden schon viele Abende verdorben, weil oft ein interessanter Fall dazwischengekommen war. Heute abend schien alles gutzugehen. Niemand wußte, wohin Rick gefahren war. Anrufe wurden in seiner Wohnung von einem automatischen Anrufbeantworter entgegengenommen und aufgezeichnet. Das Funkgerät in seinem Wagen war ausgeschaltet, damit er nicht auf diese Weise zu Hilfe gerufen werden konnte, und im Flughafenrestaurant kannte ihn niemand. »Hoffen wir nur noch, daß George und Elsa sympathisch sind«, murmelte Rick unbehaglich und blickte immer wieder zu der Tür, durch die seine Verwandten kommen mußten. »Sag bloß, du hast sie noch nie gesehen!« rief Hazel entgeistert aus. »Du kennst sie gar nicht?« Der Privatdetektiv schüttelte den Kopf. »Sie haben mir Fotos geschickt, damit ich sie erkennen kann, aber mehr auch nicht. Wir sind uns noch nie begegnet. Von London nach Australien ist 4 �
es ja doch ziemlich weit.« »Na, das kann heiter werden«, murmelte Hazel. Der zufriedene Gesichtsausdruck über den gelungenen Abend verschwand und machte einer gehörigen Portion Skepsis Platz. »Wer weiß, was da auf uns zukommt.« »Es kommt schon auf uns zu«, sagte Rick Masters, stand auf und ging einem jungen Ehepaar entgegen, das sich suchend umblickte. Ein paar erklärende Worte, dann brachte Rick seinen Vetter und dessen Frau an den Tisch und machte sie mit Hazel bekannt. Hazel Kent war angenehm überrascht, sie verstand sich genau wie Rick auf Anhieb gut mit George und Elsa Penning aus Sidney. Zu viert verbrachten sie den Abend, in dessen Verlauf eine unselige Idee geboren wurde. »Ich möchte gern eines der englischen Spukschlösser sehen!« rief Elsa Penning. »Ein richtig altes Schloß! Das wäre fabelhaft!« Und Hazel Kent nahm den Gedanken auf. »Es muß ja nicht gleich spuken, Rick«, wandte sie sich direkt an ihren Freund. »Aber einige Tage Urlaub auf einem Schloß in den Highlands wäre nicht schlecht.« »Ich habe gelesen, daß gestern ein neues Schloßhotel eröffnet wurde.« Rick Masters brauchte nicht lange nachzudenken, bis ihm der Name wieder einfiel. »Penford Castle in Schottland, ziemlich weit, aber die Fahrt lohnt sich.« Auch George Penning stimmte zu, so daß sie noch an diesem Abend Zimmer auf Penford Castle bestellten. Als Rick anrief, mußte er das Telefon ziemlich lange läuten lassen, ehe jemand an den Apparat ging. Hätten sie gewußt, warum es so lange gedauert hatte, wäre sicher alles ganz anders gekommen.
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*
Auf Penford Castle war die Einweihungsfeier am 23. Juli ohne Zwischenfälle verlaufen und zu einem großen Erfolg geworden. Sogar Fernsehen und Presse berichteten über die neue Attraktion Schottlands. Penford Castle, eines der schönsten Gebäude des Landes, stand von nun an dem zahlenden Publikum als Hotel zur Verfügung. Das Schloß gehörte einer Gesellschaft und wurde von einer Managerin geführt, Mrs. Hallingford. Obwohl sie mit so wenig Personal wie möglich auskommen wollte, mußte sie doch zahlreiche Hilfskräfte einstellen, deren Namen sie sich nicht einmal merkte. Es wunderte Mrs. Hallingford daher nicht, als gegen Abend des 24. Juli, des Tages nach der Einweihung, ein ihr völlig Unbekannter die Halle betrat und auf die Küche zuging. Draußen war es bereits dunkel, in der Halle brannte nur gedämpftes Licht. »Warten Sie einen Moment«, sagte Mrs. Hallingford und kam hinter der Rezeption hervor, hinter der sie allein arbeitete. »Sie könnten für mich…! Hallo, ich habe gesagt, daß Sie stehenbleiben sollen!« Die Managerin des Hotels beschleunigte ihre Schritte und versuchte, den wie ein Kellner gekleideten Mann einzuholen. Plötzlich machte er halt und drehte sich rasch zu ihr um. Entsetzt schlug Mrs. Hallingford die Hände vor den Mund und taumelte ein paar Schritte rückwärts. Ein fleischloser Totenschädel grinste ihr entgegen. Leere Augenhöhlen starrten auf sie herunter. Sie wollte schreien, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt. Das Entsetzen lähmte sie, daß sie nicht einmal die Flucht ergreifen konnte. Das Skelett stand nur wenige Schritte vor ihr und hob langsam die Hände. 6 �
»Nein, bitte nicht«, keuchte die Frau und starrte auf die Hände. Verblüfft runzelte sie die Stirn. Sie sah ganz normale Hände eines dunkelhaarigen Mannes, auf dessen Handrücken dichte Haare wuchsen. Ihr Blick zuckte nach oben. Sie wischte sich über die Augen, als sie das fragende Gesicht des Mannes erblickte. Es war einer der italienischen oder spanischen Aushilfskellner, die sie engagiert hatte. Wieso hatte sie für einige Sekunden geglaubt, ein Totengerippe zu sehen? War sie so überarbeitet, daß sie unter Halluzinationen litt? »Ja, was kann ich tun?« fragte der Kellner mit einem harten Akzent und blickte erwartungsvoll seine Chefin an. Erst jetzt hörte Mrs. Hallingford das Klingeln des Telefons an der Rezeption. Sie winkte dem Kellner zu, seine bisherige Arbeit weiterzumachen, und beeilte sich, ans Telefon zu gelangen. Mit geschäftsmäßiger Freundlichkeit nahm sie die Zimmerbestellung für Rick Masters, Mrs. Hazel Kent und das Ehepaar Penning aus Sidney in Empfang und bestätigte sie. »Sie werden sich bei uns wohl fühlen, Mr. Masters«, versicherte die Managerin des Hotels ganz automatisch. Dabei schweiften ihre Gedanken zu der unheimlichen Erscheinung ab. Es war doch alles nur Einbildung gewesen, oder? * Die meisten Gäste der Eröffnung waren noch am selben Abend oder am nächsten Morgen abgefahren, so daß das Haus im Moment zu drei Vierteln leer stand. Das sollte sich innerhalb der nächsten Tage schlagartig ändern. Es hatten sich zahlreiche Personen angesagt. Die Vorbestellungen machten enorm viel Arbeit, die Mrs. Hal7 �
lingford ganz allein erledigte. Es war daher kein Wunder, wenn ihre Nerven nicht mehr die besten waren. Aber daß sie anstelle eines normal aussehenden Menschen ein Totengerippe erblickt hatte, erschien ihr doch immer unwahrscheinlicher, je länger sie darüber nachdachte. Schließlich ließ es der Managerin keine Ruhe mehr. Sie übergab ihren Platz hinter der Rezeption dem Nachtpförtner und schob die Schreibarbeiten auf später auf. Den italienischen Kellner fand sie im Speisesaal. Er räumte die Tische ab und sorgte dafür, daß auch alle Kleinigkeiten auf den Servierwagen standen. Mit dem eigentlichen Servieren hatte er nichts zu tun. Unauffällig arbeitete er im Hintergrund, während die ungefähr zwei Dutzend Gäste ihr Dinner beendeten. Auf den Tischen flackerten Kerzen, die elektrischen Lampen waren im Speisesaal soweit gedämpft, daß man gerade genug erkennen konnte, um nicht zu stolpern. Das ergab eine fast unwirkliche Atmosphäre, die von den Gästen besonders geschätzt wurde. Weniger von Mrs. Hallingford. Fröstelnd verschränkte sie die Arme vor ihrem Körper und ließ den Kellner keine Sekunde aus den Augen. Sie hätte geschworen, daß sie ein Skelett gesehen hatte, und doch war es ganz unmöglich. Nach einer Weile wandte sich die Hotelmanagerin ab und wollte den Speisesaal verlassen, als sie durch die Halle einen Mann gehen sah, bei dessen Anblick es sie eiskalt überlief. Es war der italienische Kellner, der drinnen im Speisesaal arbeitete! Sie sah ihn gleichzeitig an zwei Orten! Für einen Moment dachte sie an Zwillinge. Es war möglich, daß sich einer als Kellner hatte anstellen lassen. Der zweite konnte sich jederzeit in der Maske seines Bruders frei im Schloß bewegen, ohne daß jemand Verdacht schöpfte. Mrs. Hallingford vermutete ein Verbrechen, eine Diebesbande, 8 �
die sich auf die Hotelgäste spezialisiert hatte. Dem wollte sie zuvorkommen. Kurz entschlossen heftete sie sich an die Fersen des zweiten, so unvermutet aufgetauchten Kellners. Er sah sich kein einziges Mal um, während er über die große Freitreppe hinauf in den zweiten Stock stieg. Die Managerin folgte ihm wie ein Schatten. Im dritten Stock lagen unausgebaute Zimmer. Noch hatte man das Hotel nicht so weit ausgedehnt und nur die beiden unteren Etagen renoviert. Vermutlich lag hier oben das Versteck des falschen Kellners. Mrs. Hallingford kannte keine Angst. Sie beschloß, den Mann sofort zu stellen, sobald er eines der Zimmer betrat. Doch dazu kam es nicht. Der Kellner ging langsamer, seine Schritte wurden unsicher. Mit ungläubigem Entsetzen starrte Mrs. Hallingford auf die herabbaumelnde Hand des Mannes. Das Fleisch verschwand, blanke Knochen traten hervor. Als sie den Blick hob, starrte sie kreidebleich in den augenlosen Totenschädel, den sie schon einmal gesehen hatte. Diesmal war die Wandlung vor ihren Augen vollzogen worden. Aus einem Menschen aus Fleisch und Blut war ein Skelett geworden! Mit kurzen, unregelmäßigen Schritten näherte sich das Gerippe einer Tür, stieß sie auf und verschwand in dem dahinterliegenden Raum. Wenn Mrs. Hallingford sich recht erinnerte, hatte hier früher das Personal gewohnt. Es waren einzelne kleine Räume, die nur über einen Zugang verfügten. Linda Hallingford stieß mutig die Tür auf und betrat das Zimmer. Das Licht im Raum funktionierte. Als sie den Schalter drehte, flammte eine von der Decke herunterhängende nackte Glühlampe auf. 9 �
Sie riß fassungslos die Augen auf. In dem Zimmer stand nicht ein einziges Möbelstück. Es gab keine Gelegenheiten, sich zu verstecken. Durch das Fenster konnte niemand fliehen, ohne Lärm zu machen. Es klemmte und war von außen durch Holzläden gesichert. Und trotzdem war der Kellner, der sich in ein Skelett verwandelt hatte, spurlos verschwunden. Nicht einmal in der dicken Staubschicht, die den Fußboden bedeckte, zeichnete sich ein Fußabdruck ab. In diesem Moment begriff Linda Hallingford, daß sie sich nichts eingebildet hatte. Sie war nervlich ganz in Ordnung, aber auf Penford Castle gingen Dinge vor sich, die man mit dem normalen Menschenverstand nicht verstehen und erklären konnte. Sie brauchte dringend Hilfe. Allerdings konnte sie sich nicht an die Polizei wenden. Die würde sie einfach auslachen oder für verrückt halten. Die Gästeliste fiel ihr wieder ein. Hastig sah die Managerin nach und fand tatsächlich den Namen Rick Masters. »Ob das der Privatdetektiv ist?« murmelte sie gespannt und beschloß, Mr. Masters zu fragen, sobald er eintraf. Vielleicht war er der richtige Mann für diesen Fall. * Für die Fahrt von London nach Penford Castle benutzten sie Hazel Kents Rolls Royce, den sie selbst steuerte. Rick saß neben ihr, während sich das Ehepaar Penning mit den Rücksitzen begnügen mußte. George Penning erzählte viel und spannend von Australien, ihrer neuen Heimat. Sie hatten dort Fuß gefaßt. Rick fiel allerdings auf, daß sie nie genau sagten, womit George Geld verdiente. 10 �
Ricks Vetter war vierunddreißig, seine Frau siebenundzwanzig Jahre alt. Sie wirkten beide ziemlich bieder, unbeholfen und auch ein wenig schüchtern. Es dauerte lange, bis sie aus sich herausgingen. So hatte Elsa Penning während der ganzen Fahrt sich noch kaum geäußert, sondern hatte das Reden ihrem Mann überlassen. Rick Masters und Hazel Kent dagegen waren ganz anders. Rick Masters, ein bekannter Privatdetektiv aus London, hatte sich in den vergangenen Jahren einen besonderen Ruf erworben, und zwar wußten Eingeweihte, daß er für alle Fälle zuständig war, in denen übersinnliche Phänomene auftraten. Rätselhaftes und Unerklärliches, das der Polizei zu schwierig erschien, war seine Spezialität. Er arbeitete oft mit Scotland Yard zusammen, besaß auch Verbindungen zum Secret Service und kam durch seine Arbeit mit einer Menge interessanter Leute zusammen. Schüchternheit oder Zurückhaltung konnte er sich in seinem Beruf gar nicht leisten. Bei Hazel Kent, seiner Freundin, war es genauso. Nach dem Tod ihres Mannes hatte sie die Kent-Werke übernommen, ein Wirtschaftsimperium, das sie selbst überwachte. Hazel hatte es verstanden, sich im Wirtschaftsleben durchzusetzen. Das half ihr auch bei der Überwindung privater Schwierigkeiten. Vier so verschiedene Menschen hatten im Moment nur ein Ziel gemeinsam, nämlich das Schloßhotel Penford Castle. Jeder erwartete sich von dem Aufenthalt im Schloß etwas anderes. Rick dachte daran, wie oft er schon in alten englischen Schlössern auf übersinnliche Phänomene gestoßen war. Hazel hoffte im stillen, daß der Service gut sein würde, da sie durch ihren perfekt funktionierenden Stadthaushalt verwöhnt war. Elsa und George Penning genossen die Nähe ihres berühmten Verwandten und freuten sich auf einige Tage in einem der traditionsreichen Schlösser ihres Mutterlandes. 11 �
Keiner von ihnen ahnte, welches Grauen auf sie zukam. * Gegen Montagabend näherten sie sich Penford Castle. Knapp vierundzwanzig Stunden war es her, daß die Managerin des Schloßhotels das Skelett gesehen hatte, das sich in einen normalen Menschen verwandeln konnte. Das Hotel hatte sich inzwischen mit Gästen gefüllt. Sie saßen auf der Terrasse und in der Halle, sie gingen rings um das Hauptgebäude spazieren oder spielten Golf. Einige von ihnen ritten, andere führten ihre Hunde spazieren. Hazels Rolls Royce fand nur wenig Beachtung und war auch nicht der einzige auf dem Parkplatz des Schlosses. »Hier scheint ja einiges los zu sein«, bemerkte Hazel Kent und musterte die Reihe der abgestellten Wagen. »Hoffentlich treffe ich keine Bekannten.« George und Elsa schwiegen, während Rick sie in das Gästebuch eintrug und die Schlüssel von einer Frau um die Vierzig entgegennahm. Sie stellte sich als Linda Hallingford, Managerin des Hotels, vor. »Wenn Sie irgendwelche Fragen haben, wenden Sie sich stets an mich«, bat Mrs. Hallingford, bevor sich ihre neuen Gäste auf die Zimmer zurückzogen. »Ich bemühe mich um jeden Gast. Dinner gibt es in einer Stunde, um zehn Uhr abends.« Hazel Kent vermerkte mit einem mißbilligenden Blick, daß die Hotelmanagerin sich auffallend für Rick interessierte. Es paßte Hazel auch nicht, daß Mrs. Hallingford persönlich ihre Gäste zu den Zimmern begleitete. Amüsiert fing Rick den eifersüchtigen Blick seiner Freundin auf, die sich erst beruhigte, als sich die Managerin zurückgezogen hatte. 12 �
Wenn er zum Dinner zurechtkommen wollte, mußte er sich beeilen. Rick ging als erstes in sein Badezimmer, um sich zu rasieren. Er hatte kaum den Apparat ausgepackt, als es an der Tür klopfte. Er dachte, daß ihn Hazel besuchen wollte, doch zu seiner Verblüffung trat die Managerin ein. »Ich habe Sie nach Fotos in den Zeitungen erkannt, Mr. Masters.« Die Hotelmanagerin wollte nicht so recht heraus mit der Sprache. »Ich habe nämlich Probleme, bei denen Sie mir helfen könnten.« Zuerst war Rick wütend darüber, daß er erkannt worden war. Er haßte nichts mehr, als im Urlaub arbeiten zu müssen, weil ihn jemand um einen Gefallen bat. Hätte er alle Wünsche erfüllt, wäre er nie dazu gekommen, Urlaub zu machen. Doch der Fall, den ihm Mrs. Hallingford schilderte, interessierte ihn sehr bald. Er ließ sich alles ganz genau beschreiben und achtete auf jedes Wort, machte sich aber keine Notizen. Mrs. Hallingford sprach ihn darauf an. »Ich schreibe mir nie etwas auf«, antwortete der Privatdetektiv daraufhin. »Die wichtigsten Dinge merke ich mir. Ich will nicht, daß jemand in meinen Unterlagen herumschnüffeln kann. Also gut, ich werde mich um diesen Fall kümmern. Vielleicht steckt wirklich etwas dahinter.« »Mr. Masters, ich habe mich ganz bestimmt nicht geirrt!« Die Hotelmanagerin schlug einen flehenden Ton an. »Ich habe zweimal diese schauerliche Umwandlung von einem lebenden Menschen in ein Skelett und umgekehrt erlebt. Ich weiß, wovon ich spreche!« »Na schön«, gab Rick Masters zu. »Nehmen wir einmal an, daß alles so stimmt, wie Sie es mir geschildert haben. Dann erklären Sie mir, weshalb Sie nicht zur Polizei gegangen sind? Das wäre 13 �
doch das naheliegendste gewesen.« Die Hotelmanagerin zuckte die Schultern. »Damit ich ausgelacht werde?« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein, das kommt gar nicht in Frage. Ich habe keinerlei Beweise. Die Polizei müßte mir glauben, aber das tut sie bestimmt nicht. Sie sind meine einzige Hoffnung, Mr. Masters. Wenn Sie nicht herausfinden, wieso sich der Kellner zweimal verwandelt hat, dann kann es niemand.« Rick war es gar nicht recht, daß die Managerin so große Hoffnungen in ihn setzte. Vielleicht mußte er sie enttäuschen, weil er in diesem Fall keine Lösung fand? »Ich werde tun, was ich kann«, murmelte er. »Wenn wir im Speisesaal sind, dann zeigen Sie mir den Mann. Ich werde ihn mir genauer ansehen.« Linda Hallingford bedankte sich bei dem Privatdetektiv und kehrte in die Halle zurück. Rick Masters beeilte sich mit dem Umziehen. Der Aufenthalt auf Penford Castle hatte eine überraschende Wendung genommen. Rick glaubte bereits zu wissen, worum es ging, aber er tippte falsch. Die Wirklichkeit übertraf seine Phantasie bei weitem. * Vorläufig verzichtete Rick Masters darauf, seine Begleiter einzuweihen. Er behielt nur den Kellner im Auge, den ihm Miss Hallingford von Ferne zeigte, und fand nichts Außergewöhnliches an dem Mann. Nach dem Essen fischte Hazel Kent eine Rose aus der Vase auf dem Tisch, roch daran und funkelte Rick über die Blume hinweg kampflustig an. »So, und jetzt könnten wir einmal miteinander offen reden! Was hat diese Mrs. Hallingford in deinem Zimmer 14 �
gesucht?« »Du bist doch nicht eifersüchtig?« Rick zwinkerte seinen Verwandten zu. »Hazel bildet sich nämlich etwas darauf ein, daß sie nicht eifersüchtig ist.« »Jeder Mensch ist es«, behauptete George. »Ich bin es auch«, gab Elsa zu. »Und wäre Mrs. Hallingford in dein Zimmer gegangen, George, dann…« Sie überließ es der Phantasie ihres Mannes, sich auszumalen, was in diesem Fall geschehen wäre. Rick erzählte, was er von der Hotelmanagerin erfahren habe, und rief damit bei George und Elsa ungläubige Gesichter hervor. Sie konnten sich nicht vorstellen, daß sich das wirklich ereignet haben sollte. »Abwarten«, sagte Rick. »Ich werde es bald herausfinden.« »Dann übernimmst du diesen Fall?« Hazel Kents Stimme wurde kühl und scharf. »Während wir Urlaub machen, nimmst du einen neuen Fall an! Ich habe schon in London wegen deines Berufs sehr wenig von dir. Da protestiere ich auch nicht mehr, weil ich eingesehen habe, daß du einen Beruf haben mußt, der dich ständig fordert. Aber im Urlaub! Wir sind hergekommen, um ein paar schöne Tage auf Penford Castle zu verbringen, aber nicht, damit du schon wieder einmal die Aufgaben der Polizei übernimmst! Wenn diese Mrs. Hallingford Schwierigkeiten mit dem Personal hat, soll sie sich doch an die Polizei wenden. Dazu ist sie ja da.« Rick versuchte, die Freundin zu beruhigen. »Ich habe noch gar nicht zugesagt, sondern nur versprochen, daß ich mir diesen Kellner ansehen werde. Schließlich ist es auch in unserem Interesse. Vielleicht kann ich ein Verbrechen verhindern, das uns sonst unseren Aufenthalt verderben würde. Hazel, ich halte nur die Augen offen, mehr nicht.« Obwohl sie sehr genau wußte, daß Rick sich nicht an dieses 15 �
Versprechen halten würde, sobald es ernst wurde, machte sie gute Miene zum bösen Spiel und erhob keinen weiteren Einspruch dagegen, daß sich ihr Freund mit dem neuen Fall beschäftigte. Die Unterhaltung an ihrem Tisch drehte sich fortan nur mehr um Geister, Spukschlösser und übersinnliche Phänomene. George und Elsa konnten gar nicht genug davon hören, und Rick hatte in seiner Laufbahn als Privatdetektiv für diese speziellen Fälle so viel erlebt, daß er ohne Pause erzählen konnte. Der Kellner arbeitete inzwischen unauffällig im Speisesaal und wurde ebenso unauffällig von Rick Masters beobachtet. Plötzlich gab sich der Privatdetektiv einen Ruck und erhob sich. »Mrs. Hallingford hat etwas von einem Doppelgänger des Kellners erzählt.« Er deutete unbemerkt von den anderen Gästen auf eine Tür im Hintergrund des Speisesaals. »Ich glaube, das ist mein Mann.« In der Tür, die nur vom Personal benützt wurde, stand für wenige Sekunden ein Mann, der dem Kellner aufs Haar glich. Als er sich wieder zurückzog, lief Rick bereits durch den Speisesaal. Er wollte nicht die Spur verlieren wie Mrs. Hallingford. Das Rätsel dieser unglaublichen Ähnlichkeit mußte er lösen. Der Kellner und sein Doppelgänger sahen einander so ähnlich, daß man sie nicht auseinanderhalten konnte. Dafür konnte es viele Gründe geben. Gründe, die nichts mit Geistern, Schwarzer Magie und Übersinnlichem zu tun hatten. Rick Masters gab sich selbst das Versprechen, daß er sich sofort zurückziehen würde, wenn es sich um einen reinen Kriminalfall handelte. Dann sollte sich die Polizei um die Aufklärung bemühen. Gehörte der Fall jedoch zu seinem Spezialgebiet, zu den übersinnlichen Phänomenen, ließ er sich durch niemanden zurückhalten, auch nicht durch Hazel Kent. Der Doppelgänger des Kellners lief in den dritten Stock hinauf. 16 �
Wie ein Schatten blieb ihm Rick Masters auf den Fersen und verlor ihn keine Sekunde aus den Augen. Der Mann drehte sich nicht um, als würde er sich vollständig sicher fühlen oder als wäre es ihm gleichgültig, ob ihn jemand beobachtete oder nicht. Dicht hintereinander schritten die beiden Männer über den spärlich erleuchteten Korridor, als sich der Doppelgänger auf einmal scharf nach rechts wandte und einen Raum betrat. Die Tür fiel hinter ihm zu. Ehe der Doppelgänger von innen abschließen konnte, warf sich Rick Masters gegen die Tür. Sie flog auf, er torkelte in das Zimmer hinein und schaltete blitzartig das Licht ein. Der Raum war unbewohnt. Außer den wichtigsten Möbelstücken befand sich nichts hier, was einen Aufenthalt angenehmer machte. Rick glaubte nicht, daß er das Versteck des Doppelgängers gefunden hatte. In dieser Umgebung konnte es niemand länger aushalten. Er wandte sich dem Doppelgänger zu und hatte bereits eine Frage auf der Zunge, als sein Blick in das Gesicht des Mannes fiel. Ricks Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Er trat erschrocken einen Schritt zurück. Die Haut des Mannes spannte sich über den Backenknochen bis zum Zerreißen. Die Augen sanken tief in den Höhlen ein. Seine Lippen wurden faltig und zogen sich von den Zähnen zurück. Die Haut an Hals und Händen vertrocknete zusehends. Rick Masters war unfähig, sich von der Stelle zu rühren. Vor seinen Augen verwandelte sich der Mann zuerst in eine Mumie und dann in ein Skelett, als auch noch die vertrocknete Haut schwand. Zuletzt stand er einem menschlichen Gerippe gegenüber, an dem die Kleidung des Kellners schlotterte. Noch ehe der Privatdetektiv irgend etwas unternehmen konnte, begannen sich die Umrisse des Skeletts aufzulösen. Die 17 �
Konturen verschwammen, als würden sie in Nebel eingehüllt. Das grausige Bild flimmerte und flackerte, daß Rick Masters schmerzlich die Augen schließen mußte. Als er sie wieder öffnete, war das Zimmer leer. Nicht einmal die Kleider waren von der unheimlichen Erscheinung zurückgeblieben. Hätte Rick nicht alles mit eigenen Augen gesehen, er würde es nicht glauben. Er war Zeuge eines übersinnlichen Vorganges geworden, für den es noch keine Erklärung gab. Eine übersinnliche Macht hatte versucht, einen Bewohner dieses Schlosses zu kopieren, hatte sich jedoch nach kurzer Zeit schon wieder aufgelöst und war ins Nichts, ins Jenseits zurückgekehrt. Das Motiv war genauso unbekannt und rätselhaft wie die übersinnliche Kraft selbst. In diesem Moment stand Ricks Entschluß fest. Diesen Fall würde er um jeden Preis aufklären. Er mußte unbedingt herausfinden, was hier vor sich ging. Ganz sicher war er keinem gewöhnlichen Verbrechen auf der Spur, sondern hatte es mit einem seiner Spezialfälle zu tun. Von jetzt an wollte er nicht mehr lockerlassen, bis er den Fall geklärt hatte. Von einem solchen Vorsatz war Rick Masters durch nichts und niemanden mehr abzubringen. * Bevor Rick Masters an den Tisch im Speisesaal zurückkehrte, zog er den italienischen Kellner beiseite, dessen Spiegelbild sich soeben vor seinen Augen aufgelöst hatte. Rick befragte den Mann nach seinen Verwandten und erfuhr, daß der Kellner ganz allein lebte und auch keinen Bruder hatte. Von einem Zwillingsbruder wollte er überhaupt nichts wissen. Das klang so ehrlich, daß Rick ihm glaubte. Höchstwahrscheinlich wußte der Mann 18 �
gar nicht, daß er kopiert worden war. Rick sprach nicht über seine Beobachtungen, sondern erklärte dem Kellner, er müsse sich im Auftrag der Hotelmanagerin unter dem Personal umsehen. Er wollte nicht, daß irgend jemand außer den unmittelbar Beteiligten wußte, welcher Sache er nachspürte. Hazel Kent empfing ihn mit hochgezogenen Augenbrauen, als er endlich wieder an ihren Tisch kam. »Nett, daß du dich auch einmal bei uns sehen läßt«, bemerkte sie spitz. »Willst du uns wirklich wieder Gesellschaft leisten, oder bist du nur auf der Durchreise?« »Ich habe den Doppelgänger verfolgt«, warf Rick ein und hoffte, daß ihre schlechte Laune nicht lange anhalten würde. »Seien Sie nicht so hart mit ihm, Mrs. Kent«, nahm ihn sein Vetter in Schutz. »Es ist doch Ricks Beruf.« »Ach, jetzt ergreifen Sie auch noch seine Partei, Mr. Penning?« Hazel lächelte matt und prostete Rick mit ihrem Rotweinglas zu. »Aber an meiner Stelle, Mr. Penning, hätten Sie schon längst Krach geschlagen. Das soll nun ein Urlaub sein!« »Der Doppelgänger des Kellners hat sich zuerst in ein Skelett verwandelt und danach in Nichts aufgelöst.« Rick sprach leise, damit ihn niemand an den Nebentischen verstehen konnte. Mrs. Hallingford, die Managerin, stand in der Nähe der Tür und beobachtete ihn, kam jedoch nicht an seinen Tisch. »Ich bin überzeugt«, fuhr Rick fort, »daß in diesem Schloß etwas vor sich geht, etwas Großes. Ich habe allerdings nicht die geringste Ahnung, worum es sich dabei dreht und gegen wen es sich richtet. Aber wir müssen sehr vorsichtig sein.« Seine australischen Freunde blickten ihn ratlos an. »Was sollen wir machen?« erkundigte sich George. »Es ist das erstemal, daß wir in einen solchen Fall verwickelt werden.« »Rick, du mußt uns schon erzählen, was wir tun sollen«, ver19 �
langte auch Elsa. »Rechnest du mit einem Überfall oder mit Dieben?« Rick und Hazel Kent wechselten einen wissenden Blick. Sie beide hatten schon mehrmals mit Übersinnlichem Kontakt gehabt und wußten daher, was ihnen bevorstand. »Bleibt am besten stets alle beisammen«, riet Rick. »Und richtet euch nach Hazel. Sie weiß Bescheid.« »Soll das heißen, daß Sie auch bei uns schlafen werden, Mrs. Kent?« fragte George Penning grinsend und erhielt dafür von seiner Frau unter dem Tisch einen Tritt gegen das Schienbein, »Das nicht gerade«, antwortete Hazel mit einem undurchsichtigen Lächeln. »Aber Sie beide sollten Ihr Zimmer während der Dunkelheit nicht verlassen. Und lassen Sie niemanden eintreten, auch uns beide nicht, wenn wir nicht ein bestimmtes Kennwort nennen.« »Warum denn das?« fragte Elsa verblüfft. Auch Rick Masters wußte nicht, was seine Freundin damit bezweckte. »Das mußt du mir schon genauer erklären«, verlangte er von Hazel. »Was hat es mit diesem Kennwort auf sich?« »Du hast eine Kopie des Kellners gesehen.« Hazel ließ ihre Augen durch den Speisesaal gleiten, in dem sich nur mehr wenige Menschen aufhielten. »Wer garantiert uns, daß nicht andere Kopien auftauchen werden? Kopien der Managerin, des übrigen Personals oder der Gäste? Vielleicht auch Kopien von uns?« Jetzt endlich verstand Rick, wovon sie sprach. »Australien«, schlug er vor. »Nehmen wir Australien als Kennwort. Wenn wir einander treffen, verlangen wir von dem anderen zur Erkennung das Stichwort Australien. Und damit auch der andere sicher ist, daß er es nicht mit einer Kopie zu tun hat, antwortet man mit Sidney. Alle einverstanden?« 20 �
Sie waren einverstanden und trennten sich bald danach. George und Elsa schienen bisher alles als eine Art unterhaltsames Gesellschaftsspiel zu betrachten und durchaus nicht begriffen zu haben, wie ernst es unter Umständen werden konnte. Kichernd und lachend zogen sie sich in ihre kleine Suite zurück, während Hazel sich mit einem schwachen Lächeln von Rick verabschiedete. »Sei vorsichtig«, flüsterte sie, während er sie an sich zog. »Wenn du mich brauchst, dann…« »Ich weiß, du hilfst mir.« Er drückte sie für Sekunden fest an sich und gab sie wieder frei. »Wer sagt dir, daß ich heute nacht noch etwas unternehme?« »Ich kenne dich«, antwortete Hazel schlicht. »Du bringst es nicht übers Herz, dich ins Bett zu legen, solange du das Geheimnis des Doppelgängers nicht gelöst hast.« Rick Masters widersprach ihr nicht, weil sie recht hatte. Er wartete, bis sie die Tür hinter sich abgeschlossen hatte. Dann machte er sich auf die Suche nach Mrs. Hallingford. Sie mußte ihm eine ganze Reihe Fragen beantworten. * Während Rick Masters mit der Hotelmanagerin sprach und sich Gäste und Personal zur Ruhe begaben, schreckte Colonel Ripley aus einem tiefen, traumlosen Schlaf hoch. Er hatte sich früher als die übrigen Gäste zur Ruhe begeben, weil er die Gesellschaft anderer Menschen nicht sonderlich schätzte und in seinem Alter auch früher Erholung brauchte. Sein Blick fiel auf die Uhr neben seinem Bett. Mitternacht! Sonst wachte er nie zwischendurch auf. Es beunruhigte ihn, und er lauschte besonders angestrengt in die Dunkelheit, ob es vielleicht im Schloß Lärm gab, der ihn 21 �
geweckt haben konnte. Nach einigen Sekunden hörte er ein Schaben und Scharren an seiner Tür, als würde sich jemand dagegenlehnen. Lautlos tastete Colonel Ripley nach seinem alten Armeerevolver, spannte den Hahn und schlich zur Tür. Mit einem Ruck riß er sie auf, richtete den Revolver auf den draußen Stehenden und ließ ihn wieder sinken. »Neville, was soll das?« fragte er unwillig und trat einen Schritt zurück. »Warum drücken Sie sich auf dem Korridor herum und kommen nicht einfach durch die Verbindungstür?« Neville war sein Butler, der einen Nebenraum bewohnte, den man durch eine Zwischentür erreichen konnte. Colonel Ripley kam nicht der Verdacht, daß er womöglich nicht den echten Neville vor sich sah. Er war nur neugierig, den Grund für den späten Besuch zu erfahren. »Machen Sie die Tür zu, Neville«, rief Colonel Ripley und ließ sich wieder in sein Bett fallen. »Was ist los? Was haben Sie auf dem Herzen?« fragte er und blickte dem Butler gespannt entgegen, als er auf ihn zukam. Neville blieb vor dem Bett stehen, streckte die Hand aus und berührte Colonel Ripleys Stirn. Der Colonel wehrte sich nicht. Die Geste wirkte völlig unverdächtig. Er zog nur erstaunt die Augenbrauen hoch. »Was wollen Sie, Neville?« rief er drängend. »Ich habe Sie etwas gefragt, also geben Sie endlich Antwort!« Noch einmal berührten die Finger des vermeintlichen Butlers die Stirn des Colonel. Im nächsten Moment schrie Ripley gellend auf und schlug die Hände gegen den Kopf. Der Colonel wand sich unter furchtbaren Schmerzen. Er stürzte auf den Boden, wälzte sich herum und schlug um sich. Seine Schreie wurden leiser und erstarben endlich vollständig. Auf seiner Stirn bildete sich ein schwarzes Zeichen. Es war ein 22 �
Totenkopf. Noch ein letztes Mal bäumte sich der Colonel auf, dann fiel er schlaff auf den Boden zurück. Im Nebenzimmer polterte es. Der Mann, der in das Zimmer des Colonels eingedrungen war, zuckte herum, dann huschte er in eine Ecke des Zimmers und löste sich langsam auf. Als die Verbindungstür zum Nebenraum aufflog und der echte Neville hereintrat, war sein Doppelgänger schon nicht mehr zu sehen. Zögernd trat der Butler auf den Toten zu, bückte sich und untersuchte ihn flüchtig. Als er sich aufrichtete, war sein Gesicht kreidebleich. * Rick Masters fand die Managerin in ihrem Büro hinter der Rezeption. Mrs. Hallingford blickte ihm erwartungsvoll entgegen und bot ihm einen Stuhl an. »Ich hatte gehofft, daß Sie noch heute zu mir kommen, Mr. Masters«, sagte sie, während sie sich an der Hausbar zu schaffen machte. »Einen Whisky?« »Nur einen kleinen«, winkte Rick ab. »Ich habe heute nacht wahrscheinlich noch viel zu tun. Ich bin auf eine sehr interessante Sache gestoßen, von der ich noch nicht viel weiß.« Während er sein Erlebnis mit der Kopie des Kellners schilderte, betrachtete er die Managerin des Hotels genauer. Linda Hallingford war eine schöne Frau, groß und schlank. Ihre tizianroten Haare trug sie zu einer ungebärdigen Frisur nach hinten gekämmt, daß die klassisch schönen Linien ihres Gesichts betont wurden. Ruhig hingen ihre dunklen Augen an dem Privatdetektiv. Nichts verriet, ob sie seine Schilderung aufregte. Nur in ihren Blick trat ein selbstbewußtes leuchten. Ricks 23 �
Erzählung bestätigte schließlich ihre eigenen Beobachtungen und war ein Beweis, daß sie sich nicht durch Halluzinationen hatte täuschen lassen. »Haben Sie irgendwelche Anhaltspunkte für mich?« forschte Rick. »Gab es in der letzten Zeit auf dem Schloß ungewöhnliche Vorgänge? Haben Sie Drohanrufe erhalten? Wurden Sie erpreßt?« Linda Hallingford schüttelte immer wieder den Kopf. »Nein, nichts von alledem«, behauptete sie. »Mr. Masters, ich hätte mich sofort an die Polizei gewandt, wenn zum Beispiel jemand gegen das Hotel Drohungen ausgestoßen hätte. Aber da war wirklich nichts, bis auf…« Sie brach ab, ihr Gesicht verschloß sich. Rick Masters beugte sich gespannt vor und faßte die Frau schärfer ins Auge. »Bis auf…?« Rick klopfte ungeduldig auf den Tisch. »Bis auf was? Sie wollten noch etwas hinzufügen, Mrs. Hallingford.« »Ach, das ist sicher nicht wichtig«, sagte sie mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Ein alter Mann aus der Nachbarschaft hat einige Arbeiten für uns erledigt. Bei einer der letzten Arbeiten erlitt er einen Schlaganfall und liegt seither bewußtlos im Krankenhaus. Aber das ist kein ungewöhnlicher Vorfall, wie Sie vorhin meinten.« »Warum nicht?« Rick horchte auf. »Unter Umständen kann das sogar sehr wichtig sein. Womit war dieser Mann beschäftigt?« »Er sollte einen Graben im Park ausheben«, gab die Managerin Auskunft. »Wir wollten noch ein Kabel für einen Beleuchtungskörper im Wald verlegen. Aber dazu ist es nicht mehr gekommen. Ernie Manson liegt jetzt im Krankenhaus. Wahrscheinlich war die Arbeit zu schwer für ihn, nahm der Arzt an. Wir hatten keine Zeit mehr, uns um den Graben zu kümmern. Ich lasse ihn morgen früh wieder zuschütten.« 24 �
»Nein, tun Sie das nicht!« Rick hob abwehrend beide Hände. »Ich möchte mir den Graben ansehen, und anschließend werde ich auch diesen Ernie Manson im Krankenhaus besuchen.« »Er ist ohnmächtig und nicht ansprechbar«, wandte Linda Hallingford ein. »Ich versuche es trotzdem!« Rick Masters stand auf und wollte sich zurückziehen, als sich die Tür des Büros nach einem kurzen Klopfen öffnete. Ein Mann im Pyjama und Morgenmantel trat ein. Rick konnte sich erinnern, den Mann schon einmal gesehen zu haben, und zwar im Speisesaal. Er hatte gemeinsam mit einem älteren, weißhaarigen Mann den Saal verlassen, als Rick und Hazel Kent mit ihren australischen Freunden gekommen waren. »Mrs. Hallingford«, sagte der Mann tonlos. Er wankte und mußte sich auf dem Schreibtisch stützen. »Können Sie sofort kommen? Der Colonel – der Colonel…« »Kommen Sie, zeigen Sie mir den Weg!« Rick Masters lief zur Tür, Linda Hallingford folgte ihm. Der Diener des Weißhaarigen raffte sich auf und ging ihnen voran. Die Tür eines der Gästezimmer stand weit offen. Schon von weitem sah Rick Masters die Gestalt auf dem Fußboden liegen. Die weißen Haare schimmerten im Schein der Nachttischlampe. »Um Himmels willen«, murmelte die Managerin. »Ist er tot?« Rick Masters betrat das Zimmer und beugte sich über den Weißhaarigen. »Wer ist das?« fragte er über seine Schulter zurück. »Colonel Ripley, ein pensionierter Offizier.« Linda Hallingford knetete nervös ihre Finger. »Und der Mann, der uns geholt hat, ist sein ehemaliger Bursche, jetzt sein Butler, Neville. Was ist mit dem Colonel?« »Er ist tot!« Rick Masters richtete sich auf und deutete auf die Leiche hinunter. »Ich glaube, jetzt werden Sie doch die Polizei 25 �
verständigen müssen. Denn das ist nicht mit rechten Dingen zugegangen.« »Selbstmord?« flüsterte die Managerin. Ihre Augen weiteten sich entsetzt, als Rick den Kopf schüttelte. »Mord?« hauchte sie. Rick Masters nickte. »Mord«, sagte er düster. »Hier, sehen Sie das Zeichen auf seiner Stirn?« Zögernd beugte sich Mrs. Hallingford über den Toten, von dessen Stirn ein schwarzer Totenschädel grinste. »Ein sehr makabrer Scherz«, stellte sie fest. »Das ist kein Scherz.« Rick versuchte, den Totenkopf abzuwischen. »Er wurde nicht aufgemalt, Mrs. Hallingford. Seine Haut verfärbte sich von allein so.« Nach einem ungläubigen Blick, mit dem sie den Privatdetektiv und den Toten musterte, lief Linda Hallingford aus dem Zimmer und hinunter in ihr Büro. Als Rick ihr etwas später nachkam, legte sie gerade den Hörer wieder auf den Apparat zurück. »Die Leitung ist tot«, sagte sie nervös. »Keine Verbindung.« Rick überzeugte sich davon. Aus dem Hörer kam wirklich kein einziger Ton. »Sie glauben mir wohl nicht?« fragte Linda Hallingford gereizt. »Nicht sehr schmeichelhaft!« »Ich vertraue nur mir selbst«, antwortete Rick nüchtern. »Auf diese Weise lebe ich länger.« Er bemühte sich um ein Lächeln. »Nehmen Sie es mir nicht übel, ich habe meine Grundsätze. Und in diesem Fall muß ich ganz besonders vorsichtig sein. Colonel Ripley wurde nicht einfach nur ermordet. Sein Täter ist vermutlich kein Mensch wie Sie und ich, sondern…« »Sondern?« Linda Hallingford beugte sich gespannt vor, als Rick schwieg. »Wer ist er, Mr. Masters?« Der Privatdetektiv sprach nicht weiter über seine Vermutung. Er nickte der Managerin flüchtig zu und verließ das Büro. Lang26 �
sam stieg er in den ersten Stock hinauf. Das Unbekannte hatte schneller zugeschlagen, als er vermutet hatte. Bevor er etwas unternehmen konnte, war bereits ein Mensch gestorben. Rick Masters brannte die Zeit auf den Nägeln. Er mußte zahlreiche Gäste und Angehörige des Personals schützen. Und er mußte dafür sorgen, daß Hazel und seinen Verwandten nichts passierte. Es war eine schwierige, fast unlösbare Aufgabe, da er keinerlei Anhaltspunkte hatte. Als er sich dem Zimmer näherte, in dem der Tote lag, mußte er sich zusammenreißen, um nicht einfach wieder umzudrehen und alles anderen zu überlassen. Aber dann sagte er sich, daß er gebraucht wurde. Er öffnete die Tür und sah sich dem Butler Neville gegenüber, der vor Angst halb wahnsinnig auf dem Boden kauerte und entsetzt auf den Teppich starrte. * »Neville!« rief Rick Masters den Mann leise an. »Was ist passiert? Neville, beruhigen Sie sich!« Der Butler hob langsam den Kopf und blickte Rick aus großen, verstörten Augen an. »Er – er ist – verschwunden«, murmelte er. »Der Colonel hat sich aufgelöst — vor meinen Augen… Skelett, er ist zum Skelett… Verschwunden!« Hilflos brach Neville ab. Der blasse, unscheinbare Mann konnte nicht fassen, was sich ereignet hatte. Rick untersuchte den Teppich. Er war so dick und flauschig, daß sich der Umriß von Colonel Ripleys Körper eingedrückt hatte und sich noch immer deutlich abzeichnete. Nur die Leiche selbst war nicht mehr im Zimmer, auch nicht im Nebenraum des 27 �
Butlers. Rick überzeugte sich davon, dann erinnerte er sich daran, daß der Butler zweimal das Wort Skelett ausgesprochen hatte. Sehr schnell stellte sich heraus, daß mit dem Colonel die gleiche erschreckende Verwandlung vor sich gegangen war wie mit der Kopie des Kellners. Er war zuerst zur Mumie, danach zum Skelett geworden und hatte sich anschließend vollständig aufgelöst. Nichts war zurückgeblieben. Neville schilderte dem Privatdetektiv auf seine Fragen alles ganz genau. Danach war er so erschöpft, daß er sich von Rick ohne Widerspruch in sein Zimmer bringen ließ, wo er sich hinlegte und augenblicklich einschlief. Rick lief zu Hazel Kents Zimmer und klopfte. Fast augenblicklich meldete sie sich und fragte, wer draußen sei. Rick nannte seinen Namen und fügte ihr vereinbartes Kennwort hinzu. Hazel ließ ihn eintreten und gab die Parole zurück. »Ich komme mir reichlich albern vor«, meinte sie lächelnd, sobald er ihr gegenüber saß. »Wie Kinder, die Geheimbund spielen und Parolen ausgeben.« »Aus dem Spiel ist bitterer Ernst geworden.« Rick schilderte seiner Freundin den Tod des alten Colonels. »Neville, sein Butler, behauptet, daß der Colonel vorher mit jemanden gesprochen habe und ihn Neville nannte.« »Du glaubst, daß eine Kopie des richtigen Butlers bei dem Colonel war und ihn tötete?« Hazel nagte nachdenklich an ihrem Daumennagel. »Das könnte sein«, entgegnete Rick vorsichtig. »Jedenfalls gibt es keine telefonische Verbindung nach draußen. Ich möchte im Moment auch nicht wegfahren, um euch nicht allein zu lassen. Wir wecken jetzt George und Elsa. Sie sollen in deinem Zimmer schlafen. Du hast doch nichts dagegen, Darling?« Hazel schüttelte mit einem spöttischen Lächeln den Kopf. 28 �
»Aber nein, gar nichts, Darling«, gab sie übertrieben freundlich zurück. »So habe ich mir schon immer einen Urlaub mit dir zusammen vorgestellt. Aber bringe die beiden nur herüber, es ist wirklich besser, wenn wir alle beisammen bleiben.« Der Privatdetektiv verließ das Zimmer seiner Freundin und klopfte an Georges und Elsas Tür. Auch hier wiederholte sich das Spiel mit den Erkennungswörtern, nur daß es diesmal länger dauerte, weil beide fest geschlafen hatten. »Ich finde, du übertreibst, Rick«, war Georges Kommentar, als er hörte, was Rick von ihnen wollte. »Aber bitte, wenn du meinst!« Elsa sagte gar nichts. Wie immer fügte sie sich in alles. Rick stellte für sich fest, daß er es mit dieser blonden, blauäugigen und schüchternen Frau keine zwei Tage ausgehalten hätte. Warum konnte sie nicht einmal widersprechen? Nachdem Rick seinen Vetter und dessen Frau in Hazels Zimmer abgeliefert hatte, machte er sich auf die Suche nach Linda Hallingford. Die Managerin sollte ihm eine Gästeliste geben, damit er sich davon überzeugen konnte, daß es den übrigen Gästen gutging. Rick Masters fand Linda Hallingford jedoch nicht in ihrem Büro. Er fand sie nirgendwo. Und nach einer halben Stunde wußte er, daß sich außer ihm, Hazel und den beiden Australiern überhaupt niemand mehr im Schloß aufhielt. Sie waren alle verschwunden. * Hazel Kent starrte ihren Freund ungläubig an, als Rick Masters mit der unglaublichen Nachricht in ihr Zimmer kam. George Penning und seine Frau Elsa schüttelten die Köpfe. 29 �
»Unmöglich!« erklärten sie. »Das kann nicht sein.« »Keine telefonische Verbindung mit der Außenwelt, und jetzt verschwinden die Gäste und das Personal.« Hazel Kent warf Rick einen ängstlichen Blick zu. »Vielleicht handelt es sich um eine Falle.« »Falle? Für wen eine Falle?« George Penning stellte sich vor Hazel und stemmte die Fäuste in die Hüften. Er trug nur einen Pyjama und einen Morgenmantel und wirkte nicht sehr imposant. Vielleicht eine Falle für Rick? Das glauben Sie doch selbst nicht. Niemand wird ein ganzes Schloß mit mehr als zwanzig Mann Personal und zahlreichen Gästen zu einer Falle für ihn umbauen. Wissen Sie, was es bedeutet, so viele Menschen einfach verschwinden zu lassen?« »Möglich ist es trotzdem«, beharrte Hazel auf ihrer Meinung. »Rick hat viele Feinde unter den Anhängern der Schwarzen Magie und unter Satansanbetern.« »Unsinn!« George Penning sprang auf, lief aus dem Zimmer und kam nach zwei Minuten mit einem kleinen Etui wieder. »Hier, Rick, ich werde die Sache in die Hand nehmen.« Mit spitzen Fingern nahm Rick Masters das Etui und klappte es auf. Er hatte nur einen Blick auf den Ausweis geworfen, als er kaum ein schallendes Gelächter zurückhalten konnte. »Ein Polizist«, stellte er fest und warf Hazel den Ausweis zu. »Mein Vetter George aus Sidney ist ein Polizist.« »Warum nicht?« erwiderte George beleidigt. »Ich arbeite bei der Kriminalpolizei. Wir haben auch in Australien Zeitungsartikel über dich gelesen, und in einigen Fachblättern war auch die Rede davon, daß du dich auf übersinnliche Phänomene spezialisiert hast. Ich wollte dir einmal bei der Arbeit zusehen und…« »Und vor allem hältst du nichts von meinen Arbeitsmethoden und glaubst auch nicht, daß es Übersinnliches gibt«, ergänzte Rick. »Du willst mir zeigen, daß ein vernünftiger Polizist nach30 �
weisen kann, daß bei mir alles nur Schwindel ist.« »Aber, Rick!« rief George Penning verlegen. »So war das nicht gemeint.« »Aber so ähnlich«, sagte Rick Masters mit einem schwachen Grinsen. »Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen. Du bist nicht der erste, der mir nicht glaubt. Aber jetzt geht es um wichtigere Dinge als um eine persönliche Meinungsverschiedenheit. Die Gäste und das Personal sind verschwunden. Wir müssen herausfinden, was geschehen ist und warum. Nur dann können wir den Leuten helfen.« »Und ich versuche, in den nächsten Ort zu gelangen«, entschied George Penning. »Ich hole die Polizei. Das erscheint mir sicherer, als wenn du selbst nachforschst.« »Wie du willst Kollege«, versetzte Rick bissig. Seiner Meinung nach würde sein Verwandter und Berufskollege keine Meile weit kommen. »Ich bleibe jedenfalls hier.« »Ich auch«, entschied Hazel Kent. »Ich habe mehr Vertrauen zu Rick.« »Ich bleibe bei dir«, versicherte Elsa Penning ihrem Mann. »Dürfen wir Ihren Wagen benützen, Mrs. Kent?« Hazel warf ihr die Schlüssel zu. »Fahren Sie den Rolls Royce nach Möglichkeit nicht zu Schrott«, bat sie. »Diese Wagen bekommt man nicht an jedem Kiosk.« Das Ehepaar Penning ging in sein Zimmer hinüber. Fünf Minuten später waren die beiden fertig angezogen und verließen das Schloß. Rick und Hazel hörten den Motor des Rolls Royce anspringen. »Hoffentlich bleibt der Wagen unbeschädigt«, seufzte Hazel. »Ich habe ihn erst gestern morgen waschen lassen.« Gleich darauf kreischten die Bremsen des Wagens. Rick und Hazel stürzten ans Fenster und beugten sich weit hinaus. Der Rolls Royce stand quer auf der Zufahrtsstraße zum Schloß. 31 �
Es war nichts passiert, soviel man auf diese Entfernung erkennen konnte. »Dein Wagen hatte mehr Glück als George«, rief Rick und stürzte aus Hazels Zimmer. Unten in der Halle kam ihm Elsa entgegengetorkelt, sie streckte die Arme von sich und tastete mit den Händen wie eine Blinde ihre Umgebung ab. Ihr Gesicht war in namenlosem Grauen verzerrt. Rick faßte sie an der Hand und hielt sie sanft fest. »Was ist passiert?« forschte er. »Elsa, komm schon, sag mir, was geschehen ist?« Elsa Penning sträubte sich plötzlich gegen Ricks Griff. Sie bäumte sich auf, schrie gellend um Hilfe und brach ohnmächtig zusammen. Rick Masters fing sie auf, ließ sie auf ein Sofa in der Halle gleiten und lief nach draußen. Hazel konnte sich um die Ohnmächtige kümmern. Er mußte zusehen, daß George nichts zustieß. Als er ins Freie trat, war von seinem Vetter nichts zu sehen. * George Penning war froh, daß Rick endlich über seinen Beruf Bescheid wußte. Das Versteckspiel war ihm bereits auf die Nerven gegangen. Es stimmte zwar, daß er bei seiner Englandreise seinen Vetter besucht hatte, einfach um Rick Masters einmal persönlich kennenzulernen. Es stimmte auch, daß er von Ricks Methoden nicht allzuviel hielt und sich lieber auf seine Polizeimethoden verließ, die er daheim in Sidney anwandte. Doch er hatte niemals damit gerechnet, daß er schon nach so kurzer Zeit Gelegenheit haben würde, gemeinsam mit Rick einen Fall zu klären. 32 �
Jetzt mußte es sich zeigen, wer der bessere Detektiv war! George Penning war so von der Idee begeistert, daß er gar nicht weiter darauf achtete, ob ihm seine Frau zu dem Rolls Royce folgte oder nicht. Sie holte ihn gerade noch rechtzeitig ein, schob sich auf den Beifahrersitz und klammerte sich fest, als er den Motor aufheulen ließ und stark beschleunigte. Die Reifen des schweren Wagens schleuderten Kies hinter sich auf. In einer Fontäne aus Staub und Steinen raste Hazels Rolls Royce los und auf die Ausfahrt des Schloßparks zu. Sie waren nur mehr wenige Wagenlängen vom Portal entfernt, als Elsa gellend aufschrie. Vor dem Wagen bildete sich plötzlich eine Wand aus wallenden Nebeln. George versuchte, noch rechtzeitig zu bremsen. Mit blockierten Rädern rutschte und schleuderte der schwere Wagen direkt auf die Wand zu. Es gelang ihm nicht mehr, den Wagen abzufangen. Der Rolls Royce bohrte sich mit dem Kühler in die Nebelschwaden. Nur die rechte Seitentür blieb im Freien. Elsa stieß sie auf, ließ sich hinausfallen und rannte zum Schloß zurück. In der Halle traf sie dann auf Rick Masters. George Penning jedoch hatte sich nicht mehr rechtzeitig aus dem Wagen befreien können. Er saß in jenem Teil, der in die Nebelwand hineinragte. George konnte nichts mehr von seiner Umgebung sehen. Das beleuchtete Armaturenbrett konnte er zwar befühlen, nicht jedoch erkennen. »Elsa?« rief er unterdrückt. »Elsa!« Seine Frau antwortete nicht. Er wollte zum Nebensitz greifen und Elsa suchen. Doch plötzlich stieß er gegen einen harten Widerstand. Erschrocken zog er die Hand zurück und versuchte es noch einmal. Es war unmöglich. Er wußte genau, daß es zwischen ihm und dem Beifahrersitz des Wagens keine Trennwand gab. Und doch 33 �
konnten seine Finger nur bis zum Rand der Nebelzone vordringen. Alles, was dahinter lag, blieb für ihn unerreichbar. Mit einer gemurmelten Verwünschung stieß George die Seitentür auf und sprang ins Freie. Als er zwei Schritte auf das Heck des Wagens zu machte, prallte er erneut gegen einen harten Widerstand. Wie eine Mauer erstreckte sich vor ihm die Trennlinie zwischen der Nebelzone und der gewöhnlichen Umgebung. Panische Angst keimte in ihm auf, als er die. schreckliche Tatsache begriff. Er war in der Nebelschwade, in die er mit dem Wagen hineingerast war, gefangen. Sosehr er sich auch anstrengte, er konnte sie nicht mehr verlassen. Es dauerte nicht lange, da sah er eine Gestalt auf sich zukommen. Zuerst blieb ihm das Herz vor Schreck fast stehen, doch dann erkannte er Rick Masters. »He, Rick! Hier bin ich! Hierher!« schrie George Penning. Der Privatdetektiv kam auf den Wagen zu, blieb davor stehen und starrte angestrengt in das Innere des Fahrzeugs. Er streckte auch ein paarmal die Hand aus, und George versuchte verzweifelt, diese Hand zu ergreifen, aber jedesmal veränderte Rick seinen Standort, bevor sein Vetter ihn erreichen konnte. Es nützte George auch nichts, daß er schrie und winkte. Der Privatdetektiv schien ihn weder sehen noch hören zu können. Schließlich entfernte sich Rick Masters wieder, ohne ihm geholfen zu haben. George Penning sprang wütend auf den Wagen zu und hieb die Hand auf die Hupe. Langgezogen gellte der Ton durch die Nacht. Rick Masters drehte sich daraufhin um und warf einen Blick zurück. Kopfschüttelnd ging er weiter auf das Schloß zu. Verzweifelt sank George Penning über dem Steuer des Rolls Royce, zusammen. Er merkte nicht mehr, daß ihm fast augenblicklich die Sinne schwanden und er in einen tiefen Schlaf sank.
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Nachdem Rick Masters Elsa in der Halle gefunden hatte, trat, er vor das Schloß und lief auf den Rolls Royce zu, der in der Nähe des Hauptportals mit ausgeschaltetem Motor stand. Schon von weitem sah Rick die zusammengesunkene Gestalt hinter dem Lenkrad. George schien nicht verletzt zu sein, und doch hing er starr auf dem Sitz. Als Rick ihn anfaßte, fühlte sich sein Arm hart wie Eisen an. Es war unmöglich, ihn hinter dem Lenkrad hervorzuziehen. In diesen Sekunden hatte Rick Masters keine Ahnung, daß George die Szene ganz anders erlebte, daß sein Vetter glaubte, Gefangener in einer Nebelwolke zu sein und sich wenigstens auf einem begrenzten Raum frei bewegen zu können. Rick tat sein Bestes. Er versuchte alles mögliche, um George wieder zu Bewußtsein zu bringen oder ihn aus dem Wagen zu ziehen. Aber es war alles umsonst. Endlich gab Rick auf. Er wollte zu Elsa zurückkehren und sie über den Zwischenfall ausfragen, der ihre Flucht von Penford Castle verhindert hatte. Der Privatdetektiv hatte sich einige Schritte von dem Wagen entfernt, als hinter ihm die Hupe aufgellte. Er wirbelte herum und sah, daß die erstarrte Gestalt seines Vetters nach vorn auf den Hupknopf gekippt war. Er rührte sich aber noch immer nicht. Hazel stand in der Eingangstür zur Halle. Elsa lag in einem der Sessel und hatte die Beine hochgelegt. »Es geht ihr nicht gut, sie hat einen Schock. Was ist mit ihrem Mann?« »Er lebt, aber er ist zu einer Statue erstarrt!« Rick hakte sich bei Hazel unter und betrachtete nachdenklich die Umgebung des Schlosses. »Warum verschwinden alle Personen, wir vier ausgenommen? Was ist geschehen?« Er ballte die Faust und schlug damit gegen die Steinmauer. »Man könnte fast meinen, daß man 35 �
uns in eine Filmkulisse gelockt hat und daß wir hier nur ein paar Schauspieler und Statisten getroffen haben, die alle zu einem gigantischen Film gehören. Und uns hat man in der Kulisse vergessen, als der Film fertig war.« »Ich glaube nicht, daß ein toter Colonel zu einem Film gehört«, erwiderte Hazel mit einem sarkastischen Lächeln. »Und dein Vetter da draußen im Rolls Royce wohl auch nicht.« »Rick!« Elsa Penning war wieder Voll zu sich gekommen und winkte den Privatdetektiv zu sich. »Was ist mit George?« »Er rührt sich nicht«, antwortete Rick Masters besorgt. »Elsa, was ist passiert? Ich habe nicht gesehen, warum ihr stehengeblieben seid.« Sie schilderte die Nebelwand, in die sie hineingerast waren. »Ich konnte mich in Sicherheit bringen, aber George wurde von der Nebelwand verschluckt.« Rick sagte ein paar tröstende Worte und kehrte zu Hazel zurück. »Sieht so aus, als wäre er in übersinnlichen Einfluß geraten«, berichtete er ihr leise. »Ich kann ihm vorläufig nicht helfen, aber…« Er wurde unterbrochen. Durch das Schloß hallten schwere Schritte. Blechern schepperte es auf der breiten Treppe, die von der Halle in die einzelnen Etagen des Schlosses führte. Hazels Hand umfaßte Ricks Arm. Bebend drückte sich seine Freundin an ihn. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Rick die Treppe hinauf zu dem Punkt, an dem der Unbekannte jeden Moment auftauchen mußte. Und dann begann Elsa Penning zu schreien. * Elsa konnte von ihrem Platz aus einige Sekunden früher sehen, � 36 �
wer die Treppe herunterkam. Ihr Gesicht war vor Grauen entstellt, als sie auf die Füße sprang und schwankend zurückwich. Sie streckte die Hände abwehrend gegen die Gestalt aus, deren schwere Schritte die Halle erfüllten. Rick Masters sprang auf die Frau zu, riß sie mit sich und schob sie und Hazel in einen geschützten Winkel der Halle. Dann tauchte seine Hand unter seine Jacke. Er trug immer eine Pistole bei sich, die er jetzt zog und entsicherte. Gespannt wartete er auf das Auftauchen des Unbekannten. Die Waffe hielt er im Anschlag. Sekunden später war es soweit, auf der Treppe schimmerte und blitzte es. Zuerst erblickte Rick die Beine einer Ritterrüstung. Er erinnerte sich, daß im ersten Stock mehrere solcher Rüstungen auf dem Korridor standen. Noch konnte er das Gesicht des Unbekannten nicht sehen. Das Visier war aufgeklappt. Nur sobald er sich umwandte, hätte er den Fremden erkennen können. In der Hand trug der Mann ein Schwert mit einer blitzenden Klinge. Rick durfte sich auf keinen Kampf einlassen. Wenn seine Pistole gegen die Rüstung versagte, blieb ihm nur noch die Flucht. Das armlange Schwert war eine zu gefährliche Waffe, als daß er dem Ritter hätte Widerstand leisten können. Der Unbekannte erreichte einen Treppenabsatz und schwenkte herum. Ein Blick in das Innere des Helmes – und Rick wußte, daß auch diesmal kein Lebender hinter dem Anschlag steckte. Durch das Visier konnte er deutlich ausmachen, daß niemand in der Rüstung steckte. Magische Kräfte trieben sie voran. Mit einem gewaltigen Schwertschlag zerschmetterte der gepanzerte Unsichtbare das Geländer der Treppe. Die Marmorstücke flogen wie Geschosse durch die Luft. Jetzt kannte Rick kein Zögern mehr. Er riß die Pistole hoch und schoß. Kugel um Kugel jagte er durch den Lauf, und jeder Schuß 37 �
traf. Die erste Patrone durchschlug den Helm, die zweite die Ketten am Hals, die dritte die Brustpanzerung und so weiter. Hätte sich ein normaler Mensch in der Rüstung befunden, wäre er spätestens nach dem dritten Schuß tot umgefallen. So aber kam die Rüstung weiter in die Halle herunter, torkelte auf Elsa und Hazel zu und hob das Schwert zum tödlichen Schlag. Mit einem Sprung warf sich Rick von hinten auf die Rüstung. Die Pistole entfiel ihm. Das Magazin war sowieso leergeschossen, die Waffe wertlos. Mit der Kraft der Verzweiflung klammerte sich der Privatdetektiv an den eisernen Arm mit dem Schwert und spannte sich an. Es gelang ihm nicht, die Rüstung auch nur um Haaresbreite zu bewegen. Der eiserne Kämpfer wurde von Kräften aufrechterhalten, gegen die kein menschliches Wesen etwas auszurichten vermochte. Hazel versuchte, die vor Angst fast besinnungslose Elsa mit sich zu zerren und außer Reichweite des Schwertes zu bringen. Es gelang ihr gerade noch rechtzeitig. In der nächsten Sekunde schlug der eiserne Kämpfer zu. Das Schwert pfiff durch die Luft und traf den Steinboden an der Stelle, wo eben noch Hazel gestanden hatte. Voll Grauen sah Rick, daß die getroffenen Steinplatten in tausend Stücke zersprangen, das Schwert jedoch unversehrt blieb. Entsetzt wartete der Privatdetektiv darauf, daß der eiserne Kämpfer zum nächsten Angriff überging. Statt dessen begann die Rüstung zu wanken, brach in die Knie und fiel mit ohrenbetäubendem Klirren und Scheppern auf den Boden. Blut schoß aus den Löchern in der Rüstung, als hätten Ricks Kugeln doch einen lebenden Menschen getroffen. Ein krampfhaftes Zucken schüttelte den eisernen Ritter, dann erschlaffte der auf dem Boden Ausgestreckte. Das Schwert ent38 �
fiel der kraftlosen Hand. Zögernd trat Rick Masters näher. Behutsam streckte er die Hand aus und befühlte das Innere des Helmes. Erst nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß in der Rüstung kein Lebewesen steckte, auch kein unsichtbares, atmete er auf. Er hatte keine Erklärung dafür, woher das Blut kam, auch nicht, wieso eine leere Rüstung gehen und kämpfen konnte. Aber er wußte, daß sich alle Aktionen gegen sie richteten. Es mußte einen Grund geben, weshalb die übersinnliche Macht, die hier am Werk war, das gesamte Personal und alle Gäste des Schloßhotels beseitigt hatte, um allein Rick, Hazel, George und Elsa zu bekämpfen. Sobald Rick diesen Grund kannte, war der Fall gelöst. Doch bis dahin war es noch ein weiter und gefährlicher Weg. * Hazel bemühte sich um Elsa, die kaum noch ansprechbar war. Inzwischen demontierte Rick Masters die Rüstung und verstreute die Einzelteile überall in der Halle und den angrenzenden Räumen. Das Schwert hätte er am liebsten zerstört, doch einerseits war es sehr kostbar, und andererseits gab es in diesem Schloß Dutzende, von Mordwaffen. Die Vernichtung einer einzigen würde ihm keinerlei Vorteile bringen. »Ich sehe nach George«, rief er Hazel zu, sobald er mit seiner Arbeit fertig war, und verließ Penford Castle. Erstaunt stellte er fest, daß es bereits dämmerte. Der Morgen war nicht mehr fern. Im Osten färbte sich der Himmel schon hellrot. Der Rolls Royce stand noch immer an derselben Stelle. Auch Georges Haltung hatte sich nicht verändert. Als Rick Masters erneut versuchte, Kontakt zu seinem Vetter 39 �
aufzunehmen, hatte er wieder das Gefühl, mit einer Steinstatue zu sprechen. Er war auch nicht in der Lage, den Mann hinter dem Steuer hervorzuzerren. »Dann eben nicht«, murmelte Rick und betrachtete verbissen den Wagen. Elsa hatte etwas von einer Nebelwand erwähnt, in die sie hineingefahren seien. Vielleicht half es, wenn Rick den Wagen von seinem gegenwärtigen Standort entfernte. Er kletterte auf den Beifahrersitz und streckte die Hand nach dem Zündschlüssel aus. Gleichzeitig trat er die Kupplung und legte den Retourgang ein. Es war schwierig, über George hinweg den Wagen zu bedienen, aber schließlich gelang es Rick, den Rolls Royce rückwärts rollen zu lassen. Bereits nach zwei Wagenlängen fühlte der Privatdetektiv, wie sein Vetter aus der Erstarrung erwachte. Er hielt den Wagen an und wandte sich grinsend an George. »Na, mein Lieber?« fragte er. »Wie ist das mit meinen Methoden? Hältst du jetzt mehr von ihnen?« George Pennings Gesicht bedeckte sich mit Schweiß. Nachträglich zeigte sich das Grauen, das er durchlitten hatte. »Rick – ich – ich war – gefangen«, keuchte er. »In einer Nebelwand gefangen! Es war grauenhaft! Ich habe dich gerufen und dir gewunken, aber du hast mich nicht gesehen!« »Du hast die ganze Zeit still hinter dem Steuer gesessen«, gab Rick zurück, stieg aus und umrundete den Wagen. »Rutsch rüber, ich versuche es selbst einmal«, sagte er und schob sich hinter das Lenkrad. George Penning klammerte sich ängstlich an dem Haltegriff vorn am Armaturenbrett fest, als Rick sich dem Hauptportal näherte. Sie waren noch drei Wagenlängen davon entfernt, als eine 40 �
undurchdringliche Nebelwand vor dem Kühler auftauchte und die Weiterfahrt versperrte. Rick rammte den Fuß auf die Bremse. Er wollte nicht die gleiche Erfahrung wie sein Vetter machen und womöglich stundenlang in der Gewalt des Übersinnlichen als Gefangener verbringen. Er wendete den Rolls Royce und stellte ihn vor dem Schloß ab. Elsa fiel ihrem Mann schluchzend um den Hals, als er die Halle betrat. Hazel löschte indessen sämtliche Lichter. Die Sonne würde bald aufgehen, es war hell genug, um alle Einzelheiten zu erkennen. Ein schöner, sonniger Tag kündigte sich an. Es war ein für Schottland sogar ungewöhnlich prachtvoller Tag. Nur die vier Gefangenen von Penford Castle konnten ihn nicht genießen, weil sie noch nicht ahnten, was alles auf sie zukam. »Ich bin dafür, daß wir erst einmal Frühstück machen«, rief Hazel Kent und klatschte in die Hände. »Wer hilft mir?« »Alle«, antwortete Rick und schloß sich ihr sofort an. Es stellte sich heraus, daß keiner allein bleiben wollte. Ihnen allen steckten die Schrecken der Nacht noch in den Gliedern. Beim Frühstück überlegten sie, was sie jetzt tun konnten, doch niemandem fiel etwas Gescheites ein. Hazel hatte den vernünftigsten Einfall. »Wir ruhen uns aus, während einer immer wacht«, schlug sie vor. »Wir haben die ganze Nacht kein Auge zugetan. Wer weiß, wie lange dieser Zustand noch anhält. Lebensmittel gibt es hier genug, aber ohne Schlaf können wir nicht auskommen.« Die anderen stimmten ihrer Idee zu. Rick übernahm die erste Wache und ließ sich von George ablösen. Um zwölf Uhr mittags war Hazel an der Reihe, und die letzte Wache fiel Elsa zu. Um sechs Uhr abends wurde Rick von Hazel geweckt. »Das Dinner ist fertig«, meldete seine Freundin mit gespielter Würde 41 �
und imitierte einen steifen, alten Butler der traditionellen Schule. Sie wollte die aussichtslose Situation durch einen Scherz überspielen. »Darf ich bitten, Sir!« Stöhnend stemmte sich Rick Masters hoch. »Weißt du, das ich geträumt habe?« fragte er ächzend. »Ich habe doch tatsächlich geträumt, daß ich Urlaub auf einem Schloß machen wollte. Und als ich dort eintraf, stellte sich heraus, daß es ein Spukschloß war, so daß ich statt eines Urlaubs einen neuen Fall am Hals hatte.« »Wie tragisch.« Hazel lächelte tapfer. »Wer hat eigentlich behauptet, daß Träume Schäume sind?« »Ich bestimmt nicht.« Rick erhob sich und legte seinen Arm um die Schultern seiner Freundin. »Hat hier jemand etwas von Dinner gesagt? Ich bin hungrig wie ein Wolf.« * Rick und Hazel hielten sich noch am besten. George und Elsa waren völlig mit den Nerven fertig. »Wie macht ihr es nur, daß ihr so ruhig bleibt?« jammerte Elsa nach dem Essen, das den Umständen entsprechend einfach, aber sehr reichlich gewesen war. »Ihr tut so, als gäbe es überhaupt keine Angst!« »O doch«, erwiderte Hazel Kent lächelnd. »Wir haben nur schon ein paarmal eine ähnliche Situation erlebt und wissen, daß wir unsere Kräfte schonen müssen. Wir dürfen uns nicht schon verrückt machen, bevor es richtig losgeht.« »Richtig losgeht?« wiederholte Elsa und erbleichte. »Meinen Sie denn, Mrs. Kent, daß noch etwas passieren wird?« »Selbstverständlich«, antwortete Rick an ihrer Stelle. »Wir sind auf Penford Castle gefangen, und dafür gibt es einen Grund. Ehe wir diesen Grund nicht kennen, können wir kaum etwas zu 42 �
unserer Rettung tun.« »Aber wer hält uns denn gefangen?« mischte sich George ein. »Ich gebe zu, daß ich keinen Rat mehr weiß. Deine Methoden, Rick, scheinen doch besser zu sein als meine.« »Vorläufig kann ich auch nichts unternehmen«, winkte Rick ab. »Aber um auf deine Frage zurückzukommen, wer uns gefangenhält. Ich weiß es nicht. Es kann ein Zufall sein, daß wir in eine Falle gelaufen sind. Es ist möglich, daß uns jemand aufgelauert hat, der mich vernichten will. Ich habe dem Bösen schon großen Schaden zugefügt und habe daher viele Feinde im Lager, der Schwarzen Magie und der Satansjünger. Ich schlage vor, daß wir einen Rundgang durch das Schloß machen. Dann erfahren wir am ehesten, was hinter allem steckt.« »Ich bleibe mit Elsa hier«, entschied Hazel. »Wir beobachten die Halle und den Park vor dem Schloß.« Rick verstand ihre Absicht. Sie wollte Elsa schonen, die von allen die schwächsten Nerven zu haben schien. Gemeinsam mit George stieg er hinauf in den ersten Stock und begann seinen Rundgang. Sie fanden das Podest, auf dem früher die Ritterrüstung gestanden hatte, die sie gestern angegriffen hatte. In allen Zimmern des Schlosses gab es Anzeichen dafür, daß die Menschen in höchster Eile aufgebrochen waren und gar keine Zeit gehabt hatten, ihre Sachen in Ordnung zu bringen. Etliche verqualmte Zigaretten lagen auf den Fußböden. Nur durch glückliche Zufälle hatte es keinen Brand gegeben. »Als ob sich die Leute von einer Sekunde auf die andere in Luft aufgelöst hätten«, murmelte George. »Rick, ich sage dir, daß ich mir keinen Reim auf die Geschichte machen kann. Ehrlich, jetzt glaube ich sogar, daß irgendwelche Geister dahinterstecken.« »Dann bist du einsichtiger als Chefinspektor Hempshaw von Scotland Yard«, entgegnete Rick mit einem schwachen Grinsen. 43 �
»Der Chefinspektor und ich, wir arbeiten oft zusammen. Ich hätte ihn schon längst verständigt, wenn wir Telefon hätten. Er ist ein sturer Polizist, aber ein guter dazu. Bevor er jedoch zugibt, daß übersinnliche Kräfte im Spiel sind, muß es noch dicker kommen.« »Das hört sich an, als wären dieser Chefinspektor Hempshaw und mein Chef, in Sidney Zwillingsbrüder«, rief George und lachte. »Beide haben eines gemeinsam…« Er verstummte, als vor dem Schloß ein donnerndes Krachen erscholl. Im nächsten Moment zuckte eine Stichflamme durch die Dunkelheit des hereinbrechenden Abends. »Hazel!« schrie Rick Masters auf. Er stürzte ans Fenster und beugte sich weit hinaus. Unten am Hauptportal stand ein Wagen in Flammen. Es war genau jene Stelle, an der vor fast vierundzwanzig Stunden Hazels Rolls Royce stehengeblieben war. Diesmal war es ein amerikanischer Straßenkreuzer. Er war mit voller Wucht gegen die steinernen Pfeiler des Portals geprallt. Die Kühlerhaube war in sich zusammengeschoben, der ganze Wagen auf die Seite gekippt. »Hazel!« Rick schrie den Namen gegen das Prasseln der Flammen. Er konnte nicht mehr rechtzeitig den Wagen erreichen, um der Fahrerin zu helfen. Trotzdem schnellte er herum und rannte wie von Furien gehetzt die Treppe hinunter, durchquerte die Halle und jagte auf das brennende Wrack zu. »Bleib doch hier, Rick«, hörte er hinter sich Georges Stimme. Als er die Flammen erreichte, blieb er ratlos stehen. Seine Schultern sackten herunter, Tränen füllten seine Augen. Es war unmöglich, auch nur einen Schritt näher an das Wrack heranzugehen. Die Hitze trieb ihn zurück. Zum löschen fehlten sämtliche Geräte. Hinter dem Steuer erkannte er eine leblose Gestalt, die langsam 44 �
in den Flammen verglühte. »Warum regst du dich so auf?« fragte in diesem Moment George dicht neben ihm. »Es ist doch nicht dein Wagen.« Entgeistert hob Rick den Kopf und starrte seinem Vetter ins Gesicht. »Was hast du gesagt?« flüsterte er. »Und was ist mit Hazel?« »Weiß ich nicht«, gab George zurück. »Im Wagen sitzt sie jedenfalls nicht. Siehst du denn nicht, daß er leer ist?« Ricks Kopf zuckte herum. Noch einmal richtete er seinen Blick auf die brüllenden Flammen. Diesmal erkannte er deutlich, daß niemand im Wagen saß und auch nicht vor dem Brand darin gesessen hatte. Die übersinnliche Macht, die hier am Werk war, hatte ihn getäuscht. Wo aber war Hazel wirklich? Sie hatte gemeinsam mit Elsa einen Rundgang um das Schloß unternehmen wollen und war bisher noch nicht zurückgekehrt. »Komm, wir suchen sie«, rief Rick und lief rechts herum. Auf seine Zeichen hin schlug George die andere Richtung ein. »Hinter dem Schloß treffen wir uns!« Rick drang rasch vor, um das letzte Tageslicht auszunützen. Er hatte keine Taschenlampe bei sich. Dieser Teil des Schloßparks war sehr gepflegt, so daß die Überprüfung keine Schwierigkeiten bereitete. Er brauchte nur hinter die sorgfältig angelegten Hecken zu blicken, um zu sehen, ob sich dort jemand versteckt hielt. Er kam rasch voran und traf hinter dem Schloß auf seinen Vetter. »Du hast sie auch nicht gesehen?« Sofort war Ricks Sorge wieder erwacht. »Wo können sie stecken?« »Im Schloß«, meinte George unbehaglich. »Übrigens, ich habe dort hinten einen schmalen Graben entdeckt, der vom Schloß wegführt. Aber ich habe mich nicht weiter darum gekümmert.« »Die Hotelmanagerin hat mir etwas von diesem Graben 45 �
erzählt«, antwortete Rick zerstreut. Im Moment machte er sich um die beiden Frauen viel zu große Sorgen, als daß er diesem Graben weiter nachgegangen wäre. »Komm, wir sehen im Haus nach!« George Penning wartete seine Antwort gar nicht erst ab, sondern lief voran. Über die hintere Terrasse drangen sie in die Bibliothek des Schloßhotels ein. Hier drinnen war es bereits so dunkel, daß man die Hand nicht mehr vor den Augen sehen konnte. George tastete nach dem Lichtschalter und drückte ihn. Rick, der schon ein paar Schritte in den Raum hinein getan hatte, stockte. Mitten auf dem Teppich lag eine verkrümmte Gestalt. Er sah weiße Haare, im Teppich verkrallte Hände und ein verzerrtes Gesicht. »Colonel Ripley«, murmelte der Privatdetektiv. »Wie kommt er hierher?« Jetzt sah auch George die Leiche. Er kniete neben dem Toten nieder und untersuchte ihn genau. »Ich kann keine Verletzungen feststellen«, sagte er, als er sich wieder aufrichtete. »Sieht fast so aus, als wäre der Colonel eines natürlichen Todes gestorben.« »Ich glaube eher, er hat die Wahrheit über Penford Castle erkannt und ist daran gestorben«, murmelte Rick Masters. »Male nie den Teufel an die Wand!« rief George erschrocken aus. »Das würde ja bedeuten, daß wir auch sterben müssen, wenn wir die Wahrheit herausbekommen.« »Zuerst müssen wir die beiden Frauen finden.« Rick riß sich gewaltsam von dem Anblick des Toten los und lief weiter in die Halle, wo Hazel und Elsa ruhig auf der Sitzgarnitur saßen und in Zeitschriften blätterten. »George«, rief Rick erleichtert. »Sie sind hier!« »Natürlich sind wir hier«, antwortete Hazel Kent verwundert. 46 �
»Wir haben uns die ganze Zeit nicht von der Stelle gerührt.« � *
Entgeistert starrte Rick Masters auf seine Freundin, danach auf Elsa. »Und was ist mit dem Wagen dort draußen?« fragte er. »Mit diesem amerikanischen Straßenkreuzer?« »Wir wollten damit wegfahren«, gab Hazel zu. »Aber am Portal ist der Motor einfach stehengeblieben. Also sind wir ausgestiegen und zurück zum Schloß gegangen.« »Der Wagen ist ausgebrannt«, eröffnete ihr Rick. Hazel blickte ihn verblüfft an, sprang auf und rannte zum Fenster. Ihre Augen weiteten sich in ungläubigem Erstaunen, als sie das verkohlte Wrack entdeckte. »Und in der Bibliothek liegt die Leiche des Colonels«, fuhr Rick fort. »Er ist als einziger von allen wieder aufgetaucht.« Hazel verlangsamte den Schritt und betrat nur zögernd die Bibliothek. Rick folgte ihr. George richtete sich soeben auf. »Das hier hat unter dem Toten gelegen«, sagte er und streckte Rick ein dickes Buch entgegen. »Ein Geschichtswerk über diese Gegend hier. Vielleicht gibt es einen Anhaltspunkt.« »Ein Buch unter der Leiche? Sorgfältig blätterte Rick Masters das Geschichtsbuch durch, konnte aber auf Anhieb nichts entdecken. »Ich werde es später durchsehen. Erst müssen wir uns um die Leiche kümmern.« Es gab eine kleine Kapelle in einem Seitenflügel. Dorthin brachten sie den toten Colonel und legten ihn auf eine Bank. Rick und George sahen einander fragend an. »Wir können ihn nicht lange hier liegen lassen«, meinte George. »Laß dir etwas einfallen, wie wir die Polizei verständi47 �
gen können!« »Ich weiß leider auch keinen Rat«, gestand Rick Masters ein. »Bisher habe ich noch keinen so seltsamen Fall erlebt. Scheinbar stimmt nichts zusammen.« Sie kehrten zu den beiden Frauen zurück, und Hazel machte den Vorschlag, sich noch einmal alles zu überlegen. »Vielleicht haben wir nur eine Kleinigkeit übersehen, die entscheidend ist«, überlegte sie. »Also, wie hat alles angefangen?« »George und ich, wir wollten Urlaub in einem alten Schloß machen«, fing Elsa Penning an. »Und ich hatte gerade in der Zeitung von der Eröffnung dieses Schloßhotels hier in Penford Castle gelesen«, fuhr Rick Masters fort. »Es ist also reiner Zufall, daß wir hier gelandet sind.« Die Managerin will gesehen haben, wie sich der Doppelgänger eines Kellners in ein Skelett verwandelte und danach einfach verschwand.« Hazel Kent blickte Rick erwartungsvoll an. »Das war noch vor unserem Eintreffen geschehen.« »Hatte also nichts direkt mit uns zu tun«, ergänzte der Privatdetektiv. »Ich selbst konnte das gleiche Phänomen beobachten. Es scheidet aus, daß uns die Managerin etwas vorgelogen hat, um sich wichtig zu machen. In diesem Schloß spukt es tatsächlich.« »Dann wurde die Leiche des Colonels gefunden«, nahm George Penning den Faden auf. »Sein Butler berichtete, der Colonel habe unmittelbar vor seinem Tod mit jemandem gesprochen, den er mit Neville anredete. Neville heißt sein Butler. Wir können annehmen, daß wieder ein Doppelgänger unterwegs war.« »Unmittelbar nach diesem Zwischenfall verschwinden die übrigen Gäste und das Personal. Nur wir vier blieben zurück.« Rick Masters rieb sich mit dem Handrücken über die Stirn und versuchte, sich zu konzentrieren. »Wer kann mir dafür einen 48 �
vernünftigen Grund sagen?« »Jemand möchte uns quälen und umbringen«, sagte Elsa zitternd. Sie drängte sich schutzsuchend an ihren Mann. »Man hat uns von den anderen isoliert, um uns zu foltern und…« »Dann hätte man uns einfach entführt«, fuhr Rick dazwischen. »Wozu dann dieser Aufwand?« »Reiner Zufall«, nahm George Penning an. »Was sollte es sonst sein, Rick?« »Das war kein Zufall«, behauptete der Privatdetektiv. »Wenn ich nur wüßte, weshalb ausgerechnet wir vier…« »Wir werden für eine besondere Aufgabe gebraucht«, vermutete Hazel Kent. »Für etwas, was nur wir vier erledigen können.« »Das ist es!« rief Rick Masters aus. »Das muß es sein!« »Welche Aufgabe?« George Penning blickte ihn zweifelnd an. »Hast du auch nur die geringste Ahnung, worum es geht? Und wer uns eine Aufgabe stellen möchte?« »Das Buch, das wir bei der Leiche des Colonels gefunden haben!« Rick Masters hielt den dicken Wälzer hoch. »Es handelt von der Geschichte des Schlosses und seiner Umgebung. Ich wette, hier finden wir einen Anhaltspunkt.« »Und dann ist da noch dieser Graben«, erinnerte ihn Hazel. »Er könnte ebenfalls eine Bedeutung haben.« »Richtig«, nickte der Privatdetektiv. »Ein alter Mann, der ihn gezogen hat, erlitt angeblich einen Schlaganfall und wurde in ein Krankenhaus eingeliefert. Wer weiß, ob das stimmt.« »Wir werden es herausfinden.« Rick Masters schlug das Buch auf und begann, die einzelnen Seiten zu überfliegen. Hazel Kent forschte in der Schloßbibliothek nach und fand noch drei Ausgaben dieses Werkes, so daß auch George und Elsa und sie selbst Rick bei seiner Suche nach einem Anhaltspunkt helfen konnten. 49 �
Um Mitternacht waren sie fertig. »Umsonst«, murmelte Rick. »Ich habe nichts gefunden.« »So viel über englische Geschichte habe ich in meinem ganzen Leben nicht gelesen«, seufzte George. »Aber entdeckt habe ich auch nichts.« Elsa schüttelte nur den Kopf, streckte sich auf einem Sofa in der Halle aus und war im nächsten Moment eingeschlafen. Hazel rieb sich die geröteten Augen. »Ich glaube, ich werde nie wieder ein Buch in die Hand nehmen«, ächzte sie. »Nein, ich habe auch nichts entdeckt.« »Das heißt, daß wir wahrscheinlich nicht fähig sind, die uns gestellte Aufgabe zu lösen«, mutmaßte Rick Masters. Er hatte kaum ausgesprochen, als ein leichtes Beben das Schloß erschütterte. Elsa Penning fuhr mit einem Aufschrei hoch und auch die anderen richteten sich erschrocken auf, aber ehe sie etwas tun konnten, erloschen sämtliche Lichter. Rick Masters, Hazel Kent und ihre Freunde aus Australien sanken in sich zusammen. Von einer tiefen Ohnmacht umfangen, erlebten sie nicht mit, was sich in den nächsten Minuten ereignete. Penford Castle zur Geisterstunde! Blitze zuckten aus den Fenstern, die Türme wurden von einem geisterhaften Schimmer umhüllt. Die unheimlichen Erscheinungen dauerten nur wenige Minuten, dann war alles wieder vorbei. Äußerlich hatte sich nichts verändert. Doch der Schein trog. * Als Rick Masters die Augen aufschlug, merkte er sofort, daß � 50 �
etwas nicht stimmte. Er wußte allerdings nicht, was es war. Das Zimmer, in dem er geschlafen hatte, war ihm fremd. Er tastete nach seiner Uhr, fühlte, daß er sie nicht am Handgelenk trug, und fand sie neben sich auf dem Nachtschränkchen. Daneben stand ein Telefon mit einem Schildchen: SCHLOSSHOTEL PENFORD CASTLE Wie Schuppen fiel es Rick von den Augen. Weshalb war ihm nicht sofort eingefallen, daß er mit Hazel und seinen Verwandten aus Australien ein paar Urlaubstage auf Penford Castle verbrachte? Kopfschüttelnd stand er auf, ging ins angrenzende Badezimmer und zog sich fertig an. Als er auf den Korridor hinaustreten wollte, stockte er. Die ganze Zeit über hatte er das Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben. Er kam allerdings nicht dahinter, was es war. Hazel war schon fertig, als er an ihre Tür klopfte. Gemeinsam holten sie die Australier ab und gingen mit ihnen in den Speisesaal. Ungefähr die Hälfte der Tische war besetzt. Mrs. Linda Hallingford, die Hotelmanagerin, kümmerte sich um ihre Gäste. Die Kellner eilten zwischen den Tischen und der Küche hin und her. Gedämpfte Musik von einem Tonband lieferte einen ansprechenden Rahmen. Durch die hohen Fenster des Speisesaals fiel schwacher Sonnenschein herein. Der Tag versprach, zumindest für schottische Verhältnisse, schön zu werden. Nach einiger Zeit, in der sie sich über belanglose Dinge unterhalten hatten, wurde Rick auf einen blassen, unscheinbaren Mann in schwarzem Anzug aufmerksam, der heftig auf die Managerin einredete. »Kennt ihr den dort?« erkundigte sich Rick. »Ich glaube, er ist Butler bei einem der Gäste.« »Schon möglich«, gab George wenig interessiert zurück. »Du 51 �
solltest deinen Tee nicht kalt werden lassen, Rick. Was gehen dich die Butler anderer Leute an?« »Rick geht alles etwas an, aus dem er einen neuen Fall für sich bauen kann«, bemerkte Hazel spitz. »Offenbar tut ihm der Urlaub nicht gut, er braucht schon wieder Arbeit.« Rick ließ sich nicht aufhalten. Er murmelte eine Entschuldigung und verließ ihren Tisch. Mrs. Hallingford blickte ihm erleichtert entgegen. »Vielleicht können Sie uns helfen, Mr. Masters«, flüsterte sie. »Mr. Neville vermißt Colonel Ripley. Mr. Neville ist sein Butler.« Rick nickte dem Butler flüchtig zu und zuckte die Schultern. »Ich würde vorschlagen, Sie lassen das Personal nach dem Colonel suchen. Ich kann Ihnen dabei kaum helfen.« »Ja, natürlich«, antwortete die Hotelmanagerin reserviert. Sie hatte wahrscheinlich mehr erwartet. »Ich werde es sofort anordnen.« Rick Masters kehrte zu seinem Platz zurück. »Nicht der Rede wert«, beruhigte er seine Begleiter. »Der Colonel wird vermißt, sonst nichts.« Sie frühstückten zu Ende und blieben anschließend noch eine Weile sitzen, bis sie auf eine merkwürdige Unruhe in der Halle aufmerksam wurden. Rick Masters und George Penning gingen nachsehen. Einige Kellner scharten sich um Mrs. Hallingford, die bleich, aber gefaßt aussah. »Mr. Masters, wir müssen die Polizei verständigen«, rief sie ihm entgegen. »Colonel Ripley liegt in der Kapelle. Jemand hat ihn dorthin gebracht und die Tür von außen abgeschlossen. Der Colonel ist tot!« Rick brauchte nur einige Sekunden, um sich von seiner Überraschung zu erholen. »Wir verständigen am besten gleich Scotland Yard«, bestimmte 52 �
er dann, ging ans Telefon und rief in London an. Chefinspektor Kenneth Hempshaw, Ricks langjähriger Freund bei der Londoner Kriminalpolizei, versprach, so schnell wie möglich zu kommen. Somit schien der Fall in den besten Händen zu liegen. Noch ahnte keiner der Beteiligten, welche Überraschungen auf sie warteten. Zunächst kam Polizei aus der nächsten Stadt, ein Inspektor und zwei Sergeanten. Sie stellten nur wenige Fragen, fotografierten die Leiche, ließen sie von einem Arzt untersuchen und baten die Gäste des Schloßhotels, das Gebäude vorläufig nicht zu verlassen. Damit sich auch alle daran hielten, wurde ein Posten an das Hauptportal gestellt. Rick Masters war dabei, als die Polizei wieder gegen Mittag abzog. Der Inspektor saß im vordersten Wagen, als dieser plötzlich unmittelbar vor dem Portal bremste. Die Kriminalbeamten stiegen aus und gingen näher an das Tor heran. Neugierig lief Rick zu ihnen. »Haben Sie etwas entdeckt?« fragte er gespannt. Der Inspektor musterte ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen. »Hier hat es vor kurzer Zeit gebrannt, Mr. Masters«, antwortete er. »Sie sind doch angeblich ein so berühmter Detektiv. Können Sie mir erklären, was gebrannt hat?« Rick sah sich ratlos um. Seine Augen glitten über die Büsche des Parks. Nirgendwo sonst als am Portal konnte er die schwarzen Brandspuren entdecken. »Keine Ahnung, ich habe…«, setzte er an und stockte. Seine Augen weiteten sich, als er den amerikanischen Straßenkreuzer in, der Reihe der anderen Wagen auf dem Parkplatz entdeckte. In seiner Erinnerung hakte etwas ein. Dieser Wagen hing mit einem Brand zusammen! Aber wie? Er kam nicht dahinter. 53 �
Die Polizisten warteten auf keine Antwort. Sie sicherten die Brandspuren und rückten ohne einen weiteren Kommentar ab. Den Nachmittag über hielt sich Rick von den anderen fern, bis ihn Hazel gegen Abend im Schloßpark stellte. »Rick, willst du mir nicht erzählen, was dich bedrückt?« fragte sie und hakte sich bei ihm ein. »Seit die Polizisten fort sind, bist du nicht mehr ansprechbar.« »Sie haben Brandspuren am Portal gefunden«, murmelte er. »Sie sind ganz frisch. Und auf dem Parkplatz steht ein amerikanischer Straßenkreuzer. Ich glaube, daß er etwas mit einem Brand zu tun hat, aber ich komme nicht dahinter.« »Seltsam!« Hazel blieb stehen und hielt den Privatdetektiv zurück. »Rick, ich habe geträumt, daß ein Straßenkreuzer vor dem Portal des Schlosses verbrannt ist!« Rick Masters wollte noch etwas erwidern, als eine schwarze Limousine in den Park einfuhr und vor dem Schloß hielt. »Das ist Hempshaw«, rief Rick und lief los. Er erwartete, von seinem Freund zumindest mit einem Lächeln begrüßt zu werden, aber der Chefinspektor blickte ihm ernst entgegen. »Kommen Sie, Rick«, sagte er nur und nickte Hazel flüchtig zu. Erstaunt folgte ihm Masters ein Stück in den Schloßpark. Die Sonne stand bereits tief. Die Bäume und Büsche warfen lange Schatten. Obwohl es nicht kühl war, fröstelte Rick und blickte sich nervös um. Er hatte plötzlich das Gefühl, von unzähligen Augenpaaren belauert zu werden. »Was ist denn los, Kenneth?« fragte er drängend. »Sie machen ein Gesicht, als ob…« »Warum haben Sie die Polizei belogen, Rick?« fuhr der Chefinspektor auf. »Warum haben Sie meinen Kollegen ein Märchen erzählt, von dem kein einziges Wort stimmt?« Erschrocken trat Rick Masters einen Schritt zurück. »Kenneth! 54 �
Ich verstehe kein Wort!« wehrte er sich gegen die Anschuldigung. »Nein?« Der Chefinspektor senkte seinen bulligen Schädel und starrte Rick wütend an. Er störte sich nicht daran, daß Hazel Kent ihnen gefolgt war und jetzt jedes Wort verstehen konnte. »Dann werde ich es Ihnen sagen, Rick! Der Colonel starb an Herzversagen, in seinem Alter nicht so ungewöhnlich. Aber er starb bereits vor sechsunddreißig Stunden, bevor sein Tod der Polizei gemeldet wurde. Er starb nicht in der Schloßkapelle, sondern jemand hat ihn dorthin getragen, vermutlich sogar zwei Personen. Das kann man alles mit Hilfe unserer Methoden aus den Spuren herauslesen.« Der Chefinspektor hatte sich in Wut geredet. Die Worte kamen rasch und leise zischend über seine Lippen, daß Rick sie kaum verstehen konnte. »Und noch etwas«, fuhr der Chefinspektor fort: »Die Brandspuren am Tor stammen von einem ausgebrannten Auto. Hier ist aber keines zu sehen. Es gibt auch keine Spuren, daß vor dem Portal ein Auto gebrannt hat. Wir haben zur die Flammenspuren direkt auf den Pfeilern. Wie erklären Sie sich das, Rick?« Rick Masters stand wie betäubt vor seinem Freund von Scotland Yard. Mit allem hatte er gerechnet, nur nicht damit, solche Vorwürfe zu hören. Und was das schlimmste war, er konnte dem Chefinspektor überhaupt nichts erklären. »Letzte Frage, Rick!« fauchte Hempshaw. »Wieso war gestern den ganzen Tag über niemand auf Penford Castle zu erreichen? Zahlreiche Leute haben angerufen, ein paar wollten persönlich herkommen, fanden aber alles verschlossen. Niemand öffnete ihnen. Was ist in diesem Gebäude vor sich gegangen, Rick?« Rick Masters preßte seine Hände gegen die Schläfen. »Ich weiß es nicht, Kenneth«, stöhnte er. Der Druck in seinem Kopf war kaum noch auszuhalten. »Aber ich werde es herausfinden, das 55 �
verspreche ich Ihnen.« Keuchend warf er sich herum und rannte zurück ins Schloß. In seinem Zimmer angekommen, fiel er auf das Bett und preßte stöhnend den Kopf gegen das Kissen. Er glaubte, sein Schädel würde jeden Moment zerspringen. Rick zitterte am ganzen Körper. Ihm war, als würde eine unsichtbare Hand nach ihm greifen, ihn wie eine Spielzeugpuppe packen und zerquetschen. Irgendeine unheimliche Macht wollte verhindern, daß er etwas unternahm. Dennoch war er fest entschlossen, Licht in das Geheimnis zu bringen, das Penford Castle umgab. * Chefinspektor Hempshaw schlug sein Quartier in Penford Castle auf. Mrs. Hallingford wies ihm auf seinem eigenen Wunsch zwei Zimmer im Erdgeschoß zu. Im Gegensatz zu früheren Fällen hielt sich diesmal der Chefinspektor abseits von Rick und Hazel. Um ihre australischen Freunde kümmerte er sich überhaupt nicht. Er mißtraute ihnen, vor allem aber Rick Masters. Er war überzeugt, daß sich auf dem Schloß Dinge abgespielt hatten, die ihm der Privatdetektiv absichtlich verschwieg. »Du solltest versuchen, Hempshaw umzustimmen«, redete Hazel ihm beim Abendessen zu. »Er verdächtigt dich.« »Ich habe es schon versucht«, murmelte Rick Masters düster. »Er hat mir nicht einmal zugehört.« »Du weißt doch, daß ich in Sidney bei der Polizei arbeite«, mischte sich Ricks Vetter George ein. »Dort haben wir ein altes australisches Sprichwort, das geht…« »Moment«, fuhr Rick auf. »Du arbeitest bei der Polizei? Bei der Kriminalpolizei von Sidney, George, das hast du mir noch nie 56 �
gesagt, und doch weiß ich es. Wieso?« George schüttelte den Kopf. »Ich habe es dir erzählt, Rick«, meinte er verstört. »Aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern.« »Ich weiß es auch«, meldete sich Hazel. »Ich war bestimmt dabei, aber ich kann ebenfalls…« »Das ist es«, fuhr Rick Masters auf. »Wir alle haben eine große Gedächtnislücke! Wir können uns nicht mehr an Colonel Ripleys Tod und an den Brand am Portal erinnern. Die Polizei hat eindeutige Beweise, aber unser Gedächtnis versagt.« »Wenn wir einen Anhaltspunkt aus der Zeit ohne Gedächtnis finden«, sagte Hazel aufgeregt, »dann wird uns auch alles wieder einfallen.« Chefinspektor Hempshaw saß ebenfalls im Speisesaal und blickte verstohlen zu ihnen herüber. Die Aufregung an ihrem Tisch schien ihm nicht zu gefallen, aber er kam nicht herüber, um sich danach zu erkundigen. »Ich schlage vor, daß wir uns trennen«, sagte Rick. »Jeder soll sich einfach treiben lassen, wohin es ihn gerade zieht. Vielleicht haben wir auf diese Weise Glück!« Alle waren einverstanden. Rick wartete, bis Hazel, George und Elsa den Speisesaal verlassen hatten. Hazel ging hinaus auf den Parkplatz, George stieg die Freitreppe nach oben und Elsa trat hinaus in den Park. Er selbst folgte einer inneren Stimme in die Bibliothek des Schlosses und blieb vor den Regalen mit den unzähligen Büchern stehen. Sein Blick glitt den Rücken entlang, bis sie an einem Buch mit einem schwarzroten Einband haften blieben. Gebannt trat Rick näher und zog das Buch aus der Reihe heraus. Es war ein Werk über die Geschichte von Penford Castle und seine Umgebung. In diesem Moment hoben sich die Schleier vor Ricks Augen. Er 57 �
wußte plötzlich alles, was geschehen war. Ganz deutlich konnte er sich an die seltsame Erscheinung des Doppelgängers erinnern, der sich in ein Skelett verwandelt und danach in Nichts aufgelöst hatte. Er wußte wieder, daß er und Hazel und seine australischen Freunde für einen ganzen Tag die einzigen Menschen im Schloß gewesen waren. Der Brand des Straßenkreuzers, damit sie nicht fliehen konnten! Das Wiederauftauchen der Leiche des Colonels! Wie hatte er das alles vergessen können? Überstürzt verließ Rick Masters die Bibliothek. Der Chefinspektor saß noch immer an seinem Tisch. Erstaunt blickte er auf, als Rick sich auf einen der freien Stühle fallen ließ. »Haben Sie sich zu einem Geständnis entschlossen, Rick?« fragte er zurückhaltend. »Kein Geständnis«, widersprach ihm Rick grinsend. »Aber Sie werden auch so zufrieden sein.« Er winkte Hazel zu, die einen Blick in den Speisesaal warf. Daraufhin holte sie George und Elsa, und erst als alle am Tisch versammelt waren, beschrieb Rick, was sich bisher ereignet hatte. »Sie als einziger haben das Gedächtnis wiedererlangt?« fragte der Chefinspektor zweifelnd. »Schwindeln Sie nicht, um mir das Wirken von übersinnlichen Kräften einzureden?« »Chefinspektor Hempshaw, der alte Skeptiker«, seufzte Rick und legte das Buch mit dem schwarzroten Umschlag auf den Tisch. Im selben Moment stießen Hazel, George und Elsa überraschte Rufe aus. »Jetzt kann ich mich auch erinnern«, riefen sie wie aus einem Mund. »Bisher war alles, was du erzählt hast, fremd für mich«, meinte Hazel Kent. »Rick, dieses Buch muß eine ganz besondere Bedeutung haben, sonst hätte es uns nicht geholfen.« 58 �
Rick Masters betrachtete das Buch mit schmalen Augen. »Es ist der Schlüssel zu dem Geheimnis, aber ich kann es nicht richtig lesen. Ich habe es versucht, ohne Erfolg.« »Soll ich es auf Fingerabdrücke untersuchen lassen?« bot Chefinspektor Hempshaw an, dessen Mißtrauen offenbar beseitigt war. »Das wird kaum etwas nützen, Kenneth«, entgegnete Rick lächelnd. »Hier handelt es sich um übersinnliche Phänomene.« »Das ist nicht bewiesen«, wehrte der Chefinspektor ab und erhob sich. »Morgen früh sprechen wir weiter.« »Alter Skeptiker«, rief ihm Rick hinterher und mußte unfreiwillig lachen. »Hempshaw wird sich nie ändern. Aber ich glaube, das ist ganz gut so. Da kann man sich wenigstens auf etwas verlassen in diesem verworrenen und unübersichtlichen Fall.« * Die anderen waren schon alle schlafen gegangen, als Rick Masters in der Bibliothek des Schlosses stand. Noch einmal hatte er das Geschichtsbuch genau durchstudiert, aber es half ihm nicht weiter. Schon oft war es in seiner reichen Praxis vorgekommen, daß sich in einem alten Buch ein Hinweis auf eine lange zurückliegende Bluttat fand. Diese Bluttat war meistens der Anlaß für Spukerscheinungen und übersinnliche Phänomene gewesen. Gewalttaten gab es auch in dem vor ihm liegenden Buch, aber keine davon war in einen direkten Zusammenhang mit Penford Castle zu bringen. Es paßte einfach nichts zusammen. Dennoch war der Privatdetektiv überzeugt davon, daß das Buch in irgendeiner Form die Lösung des Falles beinhaltete. Er mußte sie nur noch finden. Als er grübelnd am Fenster der Bibliothek stand und in den 59 �
dunklen Park hinausstarrte, glaubte er plötzlich, zwischen den Büschen eine Bewegung zu sehen. Sofort preßte er sein Gesicht gegen die Scheiben und schirmte die Augen mit den Händen gegen das störende Licht in der Bibliothek ab. Deutlicher als zuvor erblickte er eine Gestalt, die sich zwischen den Büschen einen Weg suchte. Rick hastete zum Lichtschalter und drehte ihn herum. In der Bibliothek wurde es finster. Dem Unbekannten draußen im Park konnte das nicht verdächtig vorkommen. Im Schloß ging man eben zur Ruhe. Immerhin war es bereits elf Uhr nachts. Jetzt konnte er deutlich erkennen, daß dort draußen zwischen den Büschen ein Mann stand. Das Gesicht verschwamm in der Dunkelheit und war nicht mehr als ein heller Fleck. Und der Gestalt nach konnte Rick nur mit Sicherheit behaupten, daß es sich nicht um den Chefinspektor handelte. Diesen Fremden mußte er sich näher ansehen. Zwar konnte es sich bloß um einen Polizisten handeln, der Penford Castle bewachen sollte, aber Rick wollte es auf jeden Fall herausfinden, wer sich dort draußen herumtrieb. Er verließ das Schloß durch eine Nebenpforte und pirschte sich an die Büsche vor der Bibliothek heran. Deutlich konnte er den Unbekannten gegen den helleren Hintergrund des Schlosses erkennen. Er stand noch immer an derselben Stelle und bewegte sich nicht. Doch als Rick so nahe gekommen war, daß er den Unbekannten mit einem Sprung erreichen konnte, tauchte dieser überraschend zwischen den Büschen unter. Enttäuscht heftete sich Rick an seine Fersen. Er hatte geglaubt, mit dem ahnungslosen Fremden ein leichtes Spiel zu haben, und nun mußte er ihm quer durch den ganzen Park folgen. Rick half dabei nur, daß er sich bereits gut auskannte. Sie umrundeten das Schloß, so daß Rick zu der Überzeugung 60 �
kam, daß der Fremde ein Polizist war, der einen Rundgang unternahm. Schon wollte er die Verfolgung abbrechen, als es passierte. Der Fremde ging voran. Sie überquerten soeben ein großes freies Rasenstück. Weit und breit stand kein Busch, kein Baum. Es gab auch sonst keine Möglichkeiten, sich zu verstecken. Deutlich sah Rick den Mann vor sich. Im nächsten Augenblick geriet er mit dem rechten Fuß in eine Vertiefung, verlor das Gleichgewicht und stürzte. Für den Bruchteil von Sekunden war er abgelenkt. Als er wieder zu dem Verfolgten hinüberblickte, war dieser verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt! Entgeistert wischte sich Rick über die Augen. Es gab tatsächlich nur die Erklärung, daß sich der Unbekannte in Luft aufgelöst hatte. Also war es doch kein Polizist gewesen, sondern wiederum jenes Wesen, das die Fähigkeit besaß, menschliche Gestalt anzunehmen, sich in ein Skelett zu verwandeln und anschließend zu verschwinden. Rick Masters war erneut Augenzeuge des Spuks von Penford Castle geworden. Und wieder tauchte die Frage nach dem Grund auf. Weshalb zeigte sich diese Gestalt, die sich dann doch vor den Augen der Menschen auflöste, ohne eine Botschaft oder etwas Ähnliches zurückzulassen? Rick raffte sich vom Boden auf und betrachtete das Loch, in dem er hängengeblieben war. Der Mond schien ausreichend hell, daß er erkennen konnte, in welcher Falle er sich gefangen hatte. Es war kein Loch, sondern ein schmaler Graben, der sich vom Schloß bis hierher zog. Rick erinnerte sich in diesem Moment daran, was ihm die Hotelmanagerin erzählt hatte. Sie hatte diesen Graben von einem alten Mann ziehen lassen, der während der Arbeiten einen Schlaganfall erlitten hatte und ins Kranken61 �
haus eingeliefert worden war. Morgen früh wollte er sofort diesem Zwischenfall nachgehen. Er hatte eine Idee, die ihn nicht mehr losließ. Vielleicht hatte ihn der Geist absichtlich hierher geführt, um ihn auf diesen Graben oder den alten Mann aufmerksam zu machen. Nachdenklich kehrte Rick Masters ins Schloß zurück und ging auf sein Zimmer. Hazel und seine australischen Verwandten schliefen schon. Zumindest brannte in ihrem Zimmer kein Licht. Obwohl er sonst nicht unter Schlaflosigkeit litt, fand der Privatdetektiv in dieser Nacht lange keine Ruhe. Er hatte nicht das Gefühl, daß auf Penford Castle böse Kräfte wirkten, aber einen Toten hatte es schon gegeben. Der Colonel war zwar laut Chefinspektor Hempshaw eines natürlichen Todes gestorben, doch Rick führte sein Herzversagen auf den Spuk von Penford Castle zurück. Ein Opfer war schon zuviel. Rick mußte verhindern, daß es mehr gab. * Es ließ George Penning keine Ruhe, daß ihn sein Vetter einfach überging. Bei allem, was bisher vorgefallen war, hatte sich Rick nie an seine Meinung gehalten, sondern war immer nach seinem eigenen Willen vorgegangen. Dabei arbeitete er, George Penning, bei der australischen Polizei, und die war nicht schlechter als die englische. Von Anfang an hatte George nicht daran geglaubt, daß es übernatürliche Kräfte gab. Für alles ließ sich eine Erklärung finden, eine einfache und logische Erklärung, die vor Gericht einer gründlichen Untersuchung standhielt. Elsa, seine Frau, unterstützte ihn in seiner Meinung. »Auch 62 �
dieser Chefinspektor von Scotland Yard glaubt nicht an Ricks Geschichten«, bemerkte sie, nachdem sie sich in ihr Zimmer zurückgezogen hatten. »Aber er ist mit Rick befreundet. Darum zeigt er sein Mißtrauen nicht so deutlich.« »Genau das habe ich mir auch gedacht.« George Penning nickte heftig. »Weißt du, ich finde Rick ja sympathisch, aber ich fürchte, daß ich ihn entlarven muß – als Schwindler und als Scharlatan, der sich die Geistergläubigkeit einiger Mitmenschen zunutze gemacht hat. Er genieß einen tollen Ruf als Privatdetektiv in Spezialfällen. Ich glaube, er ist zwar ein guter Detektiv, mehr aber nicht. Alles andere hat er erfunden, um einen Reklamegag zu haben.« »Laß ihn doch in Ruhe, George«, bat Elsa. »Ich finde ihn auch nett. Warum willst du ihm schaden?« »Er hat mich wie einen dummen Jungen behandelt und mich übergangen«, rief George wütend. »Das lasse ich mir nicht gefallen. Wozu bin ich bei der Polizei?« Darauf hatte Elsa nichts mehr zu erwidern, weil auch sie es als empörend empfunden hatte, daß Rick ihren Mann nicht um Hilfe gebeten hatte. Sie hielt daher George auch nicht zurück, als er noch einmal ihr Zimmer verließ. Es war halb elf Uhr abends, als George Penning die Freitreppe hinunterschlich und sich nach Rick Masters umsah. Der Zufall kam ihm zu Hilfe. Die Tür der Bibliothek stand einen Spalt breit offen. Drinnen brannte trotz der späten Stunde Licht. Rick ging unruhig auf und ab. Auf einem der Tische lag das bekannte rotschwarz gebundene Geschichtsbuch. George richtete sich auf eine längere Wartezeit ein, doch gleich darauf benahm sich Rick sehr seltsam. Er preßte die Hände gegen die Glasscheibe und spähte angestrengt in den Park hinaus. Danach schaltete er das Licht in der Bibliothek aus und trat 63 �
erneut ans Fenster. Obwohl George Penning nicht wußte, was Rick sah, verhielt er sich richtig. Er verließ das Schloß durch den Vordereingang, umrundete es und wartete bereits an der Rückfront, als der Privatdetektiv ins Freie trat. Endlich erblickte George auch den Grund für Ricks seltsames Verhalten, Gemeinsam mit dem Privatdetektiv verfolgte er einen Unbekannten durch den Schloßpark. Der Fremde ging voran, dann folgte in einem großen Abstand der Privatdetektiv. George wiederum hielt eine Entfernung zu Rick ein, die groß genug war, daß ihn sein Vetter nicht entdeckte. Er wollte keine peinlichen Fragen beantworten. So kam es, daß er nicht genau beobachten konnte, was sich auf der großen Wiese hinter dem Schloß ereignete. Er hörte einen halblauten Ausruf Ricks, sah den Privatdetektiv stürzen und gleich darauf wieder auf die Beine taumeln. Dann sah er sich vergeblich nach dem Unbekannten um. »Merkwürdig«, murmelte George und runzelte die Stirn. Er hatte nicht gesehen, wohin der Fremde gelaufen war. Auf den Gedanken, daß sich der Mann in Nichts aufgelöst haben könnte, kam er nicht. Er stand zu weit entfernt, um die richtigen Schlüsse zu ziehen. Rick Masters untersuchte den Boden, kehrte in das Schloß zurück und ging sofort in sein Zimmer. Als George Penning sicher war, daß sein Vetter seine Räume nicht mehr verlassen würde, lief er noch einmal in den Schloßpark. Rick war in einer Rinne gestolpert, die sich vom Schloß bis hierher an den Waldrand erstreckte. Noch während George Penning sich den Kopf darüber zerbrach, wozu diese Rinne angelegt worden war, fand er den Endpunkt des schmalen Grabens. Er ließ sich auf die Knie niedersinken und steckte die Hände in ein tiefes Loch. 64 �
Seine Finger trafen auf einen harten Gegenstand, den er mit einem kurzen Ruck aus der lockeren Erde zog. Da er keine Taschenlampe bei sich trug, konnte er nicht genau erkennen, was er in den Händen hielt. Erst durch Betasten begriff er, was für ein grausiger Fund es war. Er hielt den Armknochen eines Menschen in den Händen! Entsetzt ließ er den Knochen sinken und starrte in das dunkle Loch. Die schmale Furche mündete in ein Grab! Hier draußen lag eine Leiche verscharrt, die Leiche eines Menschen, der bestimmt eines unnatürlichen Todes gestorben war. George Penning bückte sich und nahm den Knochen an sich. Er wollte sofort den Chefinspektor von Scotland Yard verständigen. Doch kaum hatte er einen Schritt getan, als er lautlos zu Boden stürzte. Mit ausgebreiteten Armen und Beinen blieb er auf dem Rasen liegen. Seine Augen blickten glanzlos gegen den nachtschwarzen Himmel über Penford Castle. * Obwohl Elsa Penning fest entschlossen war, auf Georges Rückkehr zu warten, mußte sie doch irgendwann eingeschlafen sein. Sie erwachte erst wieder, als helles Licht durch das Fenster hereinflutete. Erschrocken blickte die junge Frau auf die Uhr. Die Zeiger standen auf sechs! Sie hatte die ganze Nacht verschlafen. Beunruhigt setzte sie sich auf. Das Bett neben ihr war unberührt, George war die ganze Nacht nicht zurückgekommen. Das mußte nichts Schlimmes bedeuten. Von Sidney her kannte sie es, wenn er nachts auf Einsatz ging. Es war schon oft vorgekommen, daß sie am Morgen noch nicht wußte, wo er abgeblieben war. 65 �
Diesmal jedoch sorgte sie sich um ihren Mann. Sie waren nicht in Sidney, und George war nicht zu einem normalen Dienstgang aufgebrochen. Sie hielten sich auf einem schottischen Schloß auf, in dem sich die merkwürdigsten Dinge ereigneten. Er war ganz allein gewesen und hatte niemanden, an den er sich um Hilfe wenden konnte. Hastig zog sich Elsa Penning an und trat ans Fenster. Sie wollte nachsehen, ob Hazels Rolls Royce überhaupt noch an seinem Platz stand. Vielleicht war sie gemeinsam mit Rick Masters während der Nacht weggefahren und George hatte die beiden in einem anderen Wagen verfolgt? Der Rolls Royce stand wuchtig und majestätisch wie immer an seinem Platz. Schon wollte sich Elsa abwenden, um die Suche nach ihrem Mann aufzunehmen, als ihr Blick hinaus auf die Wiesen fiel, die das Schloß umgaben. Beschattend legte sie die Hand über die Augen und strengte sich an, um etwas erkennen zu können. Auf dem Rasen wallte Nebel, ein Rest der Nacht. Er verhüllte die Sicht weitgehend, und doch war sie sicher, daß ganz hinten am Waldrand jemand im Gras lag. In diesem Moment dachte Elsa Penning nicht daran, irgend jemanden zu wecken. Sie lief aus dem Zimmer, hetzte die Treppe hinunter und rannte über den Rasen hinter dem Schloß. Ihr Herz schlug bis zum Hals. In Sidney hatte sie sich immer davor gefürchtet, daß man sie eines Tages an die Leiche ihres Mannes holen würde, um ihn zu identifizieren. Im Geist hatte sie sich unzählige Male den schweren Weg gehen sehen. Und jetzt war alles, ganz anders. Sie war allein auf einer feuchten Wiese, über die der Morgennebel zog. Weit vor ihr lag ein Mann auf dem Rasen. Sie wußte nicht, ob es George war, aber sie fühlte es, daß nur er es sein konnte. Und dann stand sie vor ihm. Seine gebrochenen Augen starrten 66 �
sie an, ohne sie zu sehen. Die Arme waren seitlich ausgebreitet, die Beine eingeknickt. Er hatte keine sichtbaren Wunden. Wären seine erloschenen, offenen Augen nicht gewesen, hätte man meinen können, daß er schlief. Schweigend sank Elsa neben der Leiche zu Boden und blieb wie tot liegen. * Rick Masters und Hazel Kent waren zur normalen Zeit aufgestanden, hatten sich fertiggemacht und wollten frühstücken, als sie merkten, daß ihre Freunde aus Australien nicht am Tisch saßen. Rick lief noch einmal nach oben, fand sie jedoch auch in ihrem Zimmer nicht. »Mrs. Hallingford«, rief er die Hotelmanagerin, die soeben den Korridor entlangkam. »Haben Sie Mr. oder Mrs. Penning gesehen?« »Mrs. Penning ist draußen im Park«, gab die Managerin freundlich Auskunft. »Ich vermute, daß ihr Mann bei ihr ist.« »Im Park?« staunte Rick. »Um diese Uhrzeit?« »Sehen Sie selbst!« Die Managerin wies auf das offenstehende Korridorfenster. Deutlich konnte Rick von hier oben die Gestalt seiner Verwandten erkennen. Er ahnte sofort, daß etwas nicht stimmte. Zwei Minuten später stand er erschüttert neben der Leiche seines Vetters und versuchte vergeblich, Elsa dazu zu überreden, ins Haus zu kommen. Es blieb ihm schließlich nichts anderes übrig, als Elsa bei ihrem toten Mann zurückzulassen und zum Schloß zurückzukehren. Hazel kam ihm bereits besorgt entgegen. 67 �
»Wo ist Hempshaw?« rief ihr Rick entgegen. Sie deutete über ihre Schulter zurück. Im nächsten Moment drängte sich Hempshaw an ihr vorbei. Rick winkte ihnen zu. »George ist tot«, sagte er knapp, als sie ihn erreichten. »Mein Vetter«, fügte er erklärend für den Chefinspektor hinzu. »Er ist… vielmehr war er Ihr Kollege, Kenneth. Er war bei der Polizei in Sidney.« »Tot?« Hazel warf einen entsetzten Blick zu der Leiche hinüber. »Ich muß mich sofort um Elsa kümmern.« Sie wartete nicht ab, was Rick und der Chefinspektor beschlossen, sondern lief zu der jungen Frau, die sich noch immer nicht bewegte. »Wie ist das passiert?« forschte Chefinspektor Hempshaw. Er faßte Rick scharf ins Auge. »Was wissen Sie darüber, Rick? Sie müssen es mir sagen!« »Ich würde es gern sagen, aber ich weiß es nicht«, brauste Rick auf. »Ich weiß nur, daß ich gestern abend hier an dieser Stelle einen Mann verfolgt habe, der sich vor meinen Augen in Luft aufgelöst hat! Aber das akzeptieren Sie ja wieder nicht, weil Sie nicht an Übersinnliches glauben wollen«, fügte er verbittert hinzu. »Keine Verletzungen«, bemerkte Hempshaw leise. »Falls er nicht vergiftet wurde, tippe ich auf einen natürlichen Tod. Herzinfarkt oder Gehirnschlag.« »Gehirnschlag?« Rick zog die Augenbrauen zusammen und biß sich auf die Unterlippe. In seinem Gedächtnis schlug eine Alarmklingel an. »Was haben Sie auf einmal?« forschte der Chefinspektor. »Wissen Sie noch etwas? Sie dürfen nichts verschweigen, denken Sie daran!« »Ein alter Mann hat auch einen Schlaganfall erlitten, aber er lebt noch, soviel ich weiß.« Rick Masters hatte es plötzlich sehr 68 �
eilig, vom Tatort wegzukommen. »Der Mann liegt im Krankenhaus. Er hat den Graben hier gezogen. Ich bin letzte Nacht in diesem Graben gestolpert. Und jetzt liegt Pennings Leiche daneben. Es muß etwas mit dieser unscheinbaren Furche auf sich haben. Ich werde versuchen, ob ich mit dem alten Mann sprechen kann. Vielleicht kann er mich wenigstens verstehen.« Während der Chefinspektor seine Kollegen in der nächsten Stadt telefonisch verständigte, holte sich Rick die Papiere und Schlüssel für Hazels Rolls Royce und startete den schweren Wagen. Er trat das Gaspedal weit durch, daß der Kies hinter den Rädern hochspritzte. Ungehindert konnte er das Portal passieren. Auch der Polizeiposten ließ ihn durch. Ricks Ziel war das Krankenhaus, in dem der alte Manson lag. Zu spät fiel Rick Masters ein, daß er das rotschwarz gebundene Buch nicht mitgenommen hatte. Vielleicht hätte es bei dem Kranken eine Erinnerung ausgelöst. Doch jetzt wollte er nicht mehr umkehren, um keine Zeit zu verlieren. Er hatte das Gefühl, sonst zu spät zu kommen. Und auf seine Vorahnungen konnte er sich meistens verlassen. * Der schwere Rolls Royce fegte wie ein Rennwagen durch die Kurven. Rick schonte den Wagen nicht und stellte eine neue Rekordzeit zum Krankenhaus auf. Überall aufgestellte Schilder wiesen ihm den richtigen Weg. Vor dem Eingang des Krankenhauses tauchten zwei Krankenschwestern mit einer fahrbahren Bahre auf. Sie glaubten, daß der daherpreschende Rolls Royce einen gefährlich Erkrankten oder ein Unfallopfer bringen würde. Statt dessen sprang der Privatdetektiv heraus und erkundigte 69 �
sich nach Ernie Mansons Zimmer. »Erster Stock, Zimmer 104«, gab die Schwester Auskunft. »Aber Sie müssen sich beeilen, sonst können Sie nicht mit ihm sprechen. Lange bleibt er nicht mehr bei uns.« »Sieht es so schlimm aus?« fragte Rick erschrocken. Das tragische Ende seines Vetters stand noch ganz frisch vor seinem geistigen Auge. Sollte Ernie Manson sein Zusammentreffen mit der übersinnlichen Kraft von Penford Castle ebenfalls mit dem Leben bezahlen müssen? »Mr. Manson wird heute entlassen«, antwortete die Schwester lächelnd. »Er hat sich bei uns blendend erholt.« Erleichtert suchte Rick Masters nach dem Zimmer des alten Mannes und stand endlich einem ausgeruht wirkenden, blendend gelaunten Mann Anfang sechzig gegenüber, der es offenbar nicht erwarten konnte, das Krankenhaus zu verlassen. Rick stellte sich vor und erklärte, weshalb er gekommen war. »Mrs. Hallingford hat mich beauftragt, Ihren Unfall zu untersuchen, Mr. Manson«, behauptete er. »Sie brachen zusammen, während Sie für Mrs. Hallingford arbeiteten. Das könnte unter Umständen für die Versicherung wichtig sein.« »Das verstehe ich schon«, erwiderte der alte Manson. »Aber daß man deshalb gleich einen Londoner Privatdetektiv schickt!« Er schüttelte den Kopf. »So wichtig bin ich nun auch wieder nicht.« »Sie sollten sich nicht unterschätzen, Mr. Manson«, entgegnete Rick freundlich. »Wie war das nun mit dem Unfall? Haben Sie zu schwer gearbeitet?« »Unfall?« Manson schüttelte den Kopf. »Ich weiß wirklich nicht, wie es passiert ist, aber ein Unfall war es bestimmt nicht. Ich kann mich nicht mehr so genau erinnern. Ich weiß nur, daß ich einen schmalen Graben gezogen habe. Mrs. Hallingford wollte noch ein Kabel für einen Beleuchtungskörper verlegen. 70 �
Und plötzlich…« Er brach ab, sein Blick wurde stumpf. Rick beugte sich vor und rüttelte den alten Mann an der Schulter. »Mr. Manson, was ist dann passiert?« drängte er. »Sie sind zusammengebrochen. Weshalb?« »Ich… ich weiß es nicht!« schrie Manson auf. In sein Gesicht trat der Ausdruck höchsten Entsetzens und Grauens. »Ich habe etwas – gefunden – und… Mord! Es war Mord! Ich weiß, daß es Mord war, aber niemand ahnt etwas! Das Grab… Grab…« Rick wurde von einer harten Hand an der Schulter gepackt und zur Seite geschoben. Ein Arzt drängte sich an ihm vorbei und beugte sich über Ernie Manson. »Was haben Sie mit dem Mann gemacht?« fuhr der Arzt Rick an. »Wieso hat der Patient einen Rückfall erlitten?« »Sie sind der Arzt, also müßten Sie es wissen«, antwortete Rick kühl und erhob sich. »Mr. Manson war geheilt«, behauptete der Arzt. »Wir wollten ihn heute entlassen.« »Geheilt – wovon?« fragte Rick scharf. »Woran litt er denn, Doktor?« Der Arzt drehte sich kurz um und maß ihn mit einem unsicheren Blick. »Ich darf Fremden gegenüber keine Auskunft geben«, murmelte er. »Gute Ausrede, aber ich durchschaue Sie«, gab der Privatdetektiv zurück. »Niemand in diesem Krankenhaus hat eine Ahnung, woran Ernie Manson gelitten hat und jetzt wieder leidet.« Damit ließ er den Arzt stehen und ging zur Tür, Für ihn stand fest, daß Manson noch immer unter dem schweren Schock litt, den er auf Penford Castle erlitten hatte, als er Opfer eines übersinnlichen Phänomen wurde. Die Kunst der Ärzte würde da nicht viel helfen. 71 �
»Wenn Sie etwas brauchen, ich bin auf Penford Castle zu erreichen«, sagte Rick zu dem Arzt, der ihm den Rücken zuwandte. »Rick Masters, Privatdetektiv aus London.« Damit verließ er das Krankenzimmer. Ernie Manson wurde heute nicht als geheilt entlassen. Er hatte aber immer noch mehr Glück gehabt als George Penning, Ricks Vetter, der den Kontakt mit dem Übersinnlichen nicht überlebt hatte. * Während der Rückfahrt nach Penford Castle ließ sich Rick Masters mehr Zeit als bei der Hinfahrt. Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen und Sinn in den ganzen Fall zu bringen, doch er strengte sich vergeblich an. Wenn er einmal glaubte, den Anfang einer Erklärung gefunden zu haben, entglitt ihm der Faden spätestens nach einer halben Minute, weil ein Widerspruch auftauchte, den er nicht mehr entwirren konnte. Es war zum Verzweifeln! Auf der einen Seite hatte Rick Masters nicht das Gefühl, es mit einer bösen Kraft zu tun zu haben. Er glaubte eher an einen zufälligen Kontakt mit einem Geist. Andererseits gab es bereits zwei Todesopfer. Auch wenn Chefinspektor Hempshaw behauptete, daß Colonel Ripley eines natürlichen Todes gestorben war, glaubte Rick an einen direkten Zusammenhang mit den übersinnlichen Erscheinungen im Schloß. Bevor er eine Lösung gefunden hatte, traf er wieder auf Penford Castle ein. Die Polizei war noch an der Arbeit und sicherte alle Spuren, die mit George Pennings Tod zu tun hatten. Ein Stück abseits stand ein Krankenwagen mit geschlossenen Türen. Chefinspektor Hempshaw sprach mit dem Inspektor und den 72 �
beiden Sergeanten, die aus der nächsten Stadt gekommen waren. Als er den Rolls Royce bemerkte, den Rick auf den Parkplatz steuerte, verabschiedete er sich von seinen Kollegen und kam zu dem Privatdetektiv herüber. »Haben Sie etwas erreicht, Rick?« fragte der Chefinspektor gespannt, sobald Rick die Tür öffnete. »Nicht viel«, antwortete der Privatdetektiv wahrheitsgemäß. »Ich weiß jetzt nur, daß Ernie Manson keinen Schlaganfall oder Herzanfall erlitten hat, sondern daß er so wie George auf ein übersinn…« »Rick!« unterbrach ihn Hempshaw hastig. »Der Arzt hat Ihren Vetter untersucht. Herzversagen, ein ganz natürlicher Tod.« »So wie bei Colonel Ripley«, bemerkte Rick wütend. »Und das nennen Sie natürlich? Merken Sie nicht, was dahintersteckt? Denken Sie nur an diesen schwarzen Totenschädel, der sich auf der Stirn des Colonels abgezeichnet hat? Oder haben Sie das schon vergessen?« Anstelle einer Antwort ging der Chefinspektor auf den Krankenwagen zu und öffnete die hinteren Türen. Rick erblickte die Bahre, auf der die Leiche seines Vetters angeschnallt lag. »Hier, sehen Sie«, forderte ihn der Chefinspektor auf. Er schlug die Decke zurück und entblößte das Gesicht des Toten. Ricks Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen, als er das schwarze Mal auf der Stirn erblickte. Es hatte die Form eines Totenschädels wie bei Colonel Ripley. »Was sagte der Arzt dazu?« fragte er mit belegter Stimme und blickte sich nach allen Seiten um, ob er irgendwo Hazel oder Elsa erblickte. Zu seiner Erleichterung zeigten sie sich nicht. Der Chefinspektor schien seine Gedanken zu erraten. »Mrs. Kent kümmert sich um Mrs. Penning«, sagte er. »Die Ärmste ist mit den Nerven völlig fertig.« Er räusperte sich, um seine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. »Was der Arzt zu diesen 73 �
Totenschädeln gesagt hat? Nicht viel! Es gibt keine vernünftige Erklärung. Dieses Gebilde sieht so aus wie ein Muttermal oder wie ein Brandmal, doch niemand weiß, wieso es auf der Stirn des Toten erschienen ist.« Rick Masters zog die Decke wieder über das Gesicht seines toten Verwandten und schlug die Wagentüren zu. »Ich habe Ihnen die richtige Erklärung geboten, Kenneth«, meinte er. »Aber Sie wollen mir nicht glauben. Dann arbeite ich eben auf eigene Faust weiter, wie schon so oft.« »Vielleicht bringen genauere Untersuchungen den Grund ans Tageslicht«, wich Chefinspektor Hempshaw einer Antwort aus. Rick Masters kannte das. Ehe Hempshaw zugab, daß in einem seiner Fälle eine übersinnliche Kraft im Spiel war, mußte es eindeutige Beweise dafür geben. Und selbst dann noch suchte er verzweifelt nach einer natürlichen Erklärung. »Sir, können wir fahren?« rief ein Mann in einer grauen Uniform mit einer schwarzen Mütze zu Hempshaw herüber. Der Chefinspektor nickte, und der Uniformierte bestieg zusammen mit einem zweiten Mann den Krankenwagen. »Sie müssen mir noch genauer erklären, was sich innerhalb der vierundzwanzig Stunden abgespielt hat, in denen Penford Castle von der Außenwelt abgeschnitten war.« Chefinspektor Hempshaw klopfte Rick Masters auf die Schulter. »Träumen Sie, Rick?« fragte er ungeduldig. »Ich brauche Ihre Aussage für die Protokolle.« Rick Masters blickte hinter dem Krankenwagen her, der sich in mäßigem Tempo dem Hauptportal näherte. Durch Hempshaw abgelenkt, drehte er sich um und wollte etwas sagen, als ein ohrenbetäubender Krach erscholl. Rick und Hempshaw wirbelten herum und starrten erschrocken zum Hauptportal. Sie konnten allerdings nicht genau erkennen, was dort geschehen war, weil eine dichte Nebelwand 74 �
die Sicht versperrte. »Wie konnte das passieren?« schrie der Chefinspektor und winkte den übrigen Polizisten zu, die sich verwirrt umsahen. Rick wartete nicht ab, bis die anderen etwas unternahmen. Er rannte auf die Rauch- und Nebelwolken zu. Schon jetzt machte er sich auf das Schlimmste gefaßt. * Noch bevor Rick Masters den verunglückten Krankenwagen erreichte, löste sich der Nebel langsam wieder auf. Er hatte nur für wenige Sekunden den Wagen umhüllt und sich dabei nicht weiter ausgedehnt. Erleichtert stellte der Privatdetektiv fest, daß das Fahrzeug nicht in Brand geraten war. Keuchend warf er sich gegen die Seitentür und riß sie auf. Bei dem Aufprall gegen einen der steinernen Pfeiler des Hauptportals waren die beiden Begleiter des Krankentransporters betäubt worden. Rick untersuchte sie flüchtig. Sie schienen mit einigen Prellungen davongekommen zu sein. Forschend blickte er sich nach allen Seiten um. Es gab keinen erkennbaren Grund für den Unfall. Als er probeweise am Lenkrad drehte, konnte er auch hier keinen Fehler feststellen. Der Kühler des Krankenwagens war beträchtlich eingebeult, das rechte Vorderrad aus der Verankerung gerissen. Er konnte sich nicht vorstellen, daß der Aufprall bei der geringen Geschwindigkeit des Wagens so heftig gewesen war. Aber das alles war nur eine Bestätigung für seine Vermutung, daß dieser Unfall auf keine natürlichen Ursachen zurückging. Der seltsame Nebel, der unmittelbar nach dem Aufprall den Wagen umgeben hatte, war ein weiterer Beweis. Chefinspektor Hempshaw und die übrigen Polizisten erreich75 �
ten das Wrack. Die beiden Begleiter des Wagens wurden herausgehoben und auf den Rasen gelegt. Der Arzt kümmerte sich um sie. »Nichts Schlimmes«, meldete er bereits nach einer kurzen Untersuchung. »Sie werden bald wieder zu sich kommen. Trotzdem möchte ich sie ins Krankenhaus bringen.« Einer der beiden Sergeanten übernahm den Transport. Der Inspektor gab dem zweiten ein Zeichen. »Sie schaffen die Leiche weg«, ordnete er an. In diesem Moment kam Rick ein schockierender Gedanke. Die ganze Zeit über hatte er sich den Kopf zerbrochen, wieso es zu diesem Unfall gekommen war. Nun glaubte er, den Grund zu kennen. Der Sergeant umrundete das Wrack, öffnete die hinteren Türen und löste die Verriegelung der Bahre. Er stutzte, beugte sich in das Wageninnere und schlug die Decke zurück. Bei seinem Aufschrei wirbelten alle zu ihm herum. Schreckensbleich kam er aus dem Wagen geklettert und mußte heftig schlucken, ehe er ein Wort herausbrachte. »Der Tote – der Tote ist weg!« rief er entsetzt. Chefinspektor Hempshaw drängte sich an den anderen vorbei und überzeugte sich davon, daß der Sergeant sich nicht geirrt hatte. Zu dritt durchsuchten sie den Krankenwagen, ohne die geringste Spur zu finden. »Jemand hat die Leiche gestohlen, anders ist das nicht möglich«, eröffnete der Inspektor der örtlichen Polizei. Man sah ihm an, daß er selbst nicht so recht an diese Erklärung glaubte. »Ich lasse sofort eine Fahndung nach den Leichenräubern anlaufen.« Rick Masters fing von Chefinspektor Hempshaw einen sehr nachdenklichen Blick auf. Endlich schien sich der Chefinspektor zur Ricks Meinung durchzuringen, daß auch in diesem Fall 76 �
übersinnliche Kräfte am Werk waren. Denn nur durch ihr Wirken war das Verschwinden der Leiche zu erklären. Rick Masters wartete ab, bis einer der Sergeanten mit den leicht verletzten Fahrern des Krankenwagens startete, dann wollte er ins Schloß gehen, um nach Hazel zu sehen. Der Inspektor stand an seinem Wagen und gab das spurlose Verschwinden der Leiche über Funk durch. Ricks Blick fiel auf den Chefinspektor. Verstohlen machte ihm Hempshaw ein Zeichen und ging langsam tiefer in den Schloßpark hinein. Der Privatdetektiv folgte ihm. Vielleicht war es jetzt möglich, mit Hempshaw vernünftig zu sprechen. * Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, bis der Chefinspektor endlich stehenblieb und sich an Rick wandte. »Sie haben mich zwar nicht restlos überzeugt«, fing Hempshaw an, »aber vorläufig glaube ich Ihnen. Ich habe nämlich ganz deutlich gesehen, daß sich diese Nebelschwaden auf den Krankenwagen selbst beschränkt haben. Niemand hat sich dem Wagen genähert, schon gar nicht Leichenräuber. Und trotzdem ist der Tote weg.« »Endlich haben Sie einmal einen Ihrer unumstößlichen Beweise«, seufzte Rick Masters erleichtert. »Was werden Sie jetzt unternehmen, Kenneth?« Der Chefinspektor zuckte die Schultern. »Das kommt ganz darauf an, wie Ihre Theorie des Falles aussieht«, antwortete er vorsichtig. »Ich selbst weiß mir im Moment keinen Rat mehr.« Rick hörte ihm mit gemischten Gefühlen zu. Schließlich wußte er auch noch nicht, wie die einzelnen Ereignisse auf Penford Castle zueinander paßten. Doch dann entwickelte er doch seine 77 �
Theorie. »Am meisten Kopfzerbrechen bereitet mir die Tatsache, daß die übrigen Gäste und die Angehörigen des Hotelpersonals einfach verschwunden waren«, erklärte er. »Wie das vor sich ging, kann ich nicht erklären, Kenneth. Manche Dinge entziehen sich einfach unserer Vorstellungskraft. Aber ich bin nach wie vor davon überzeugt, daß ein Wesen aus einer anderen Welt Kontakt mit uns aufnehmen wollte. Es wollte uns nicht schaden, sonst hätte es uns einfach getötet. Es hat uns auch nicht gepeinigt, obwohl es die Mittel dazu gehabt hätte.« »Und wieso kam dann dieser Kontakt nicht zustande?« warf der Chefinspektor skeptisch ein. Er konnte Rick nicht widersprechen, aber nach wie vor plagten ihn Zweifel an der Theorie des Privatdetektivs. »Kenneth, ein Geist kann nicht einfach zu jedem Menschen sprechen«, erläuterte der Privatdetektiv. »Wir haben ohnedies einen deutlichen Hinweis durch dieses schwarzrot gebundene Buch erhalten. Wir verstehen ihn nur noch nicht.« »Vielleicht kann ich Ihnen weiterhelfen«, verkündete der Chefinspektor mit einem zufriedenen Lächeln. »Ich war nicht untätig, Rick. Haben Sie sich schon um den Verfasser dieses Geschichtsbuches gekümmert?« Rick Masters schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe nur den Inhalt durchgearbeitet. Ich dachte, daß ich einen Hinweis auf eine Bluttat in der Vergangenheit finde.« »Der Autor dieses Buches hieß James Tucker.« Der Chefinspektor legte eine wirkungsvolle Pause ein. »Vor siebenunddreißig Jahren verschwand er spurlos. Er war damals Soldat und war in der Nähe von Penford Castle stationiert. Seine Einheit sollte in den nächsten Tagen nach Frankreich verlegt werden. Er kam eines Abends nicht mehr zurück und wurde als Deserteur gesucht. Man hat nie wieder etwas von ihm gehört.« 78 �
»Sehr interessant«, stellte Rick fest. »Endlich kommt etwas Licht in die Sache. Verfolgte man damals den Fall weiter?« Der Chefinspektor zog sein Notizbuch aus der Tasche und fand auf Anhieb die richtige Seite. »Es war Krieg, Rick«, gab er zu bedenken. »Die Truppe, der Tucker angehörte, wurde sogar zwei Tage früher als geplant nach Frankreich gebracht. Die Ereignisse überstürzten sich. Zwar hat die Polizei in der ganzen Grafschaft nach dem angeblichen Deserteur James Tucker gesucht, ihn aber nicht gefunden. Und wie schon erwähnt, nach dem Krieg ist er auch nicht mehr aufgetaucht. Vielleicht ist er ausgewandert, vielleicht bei einer anderen Truppe im Kampf gefallen. Vielleicht aber hat er einen anderen Namen angenommen und ist untergetaucht.« »Oder er starb damals vor siebenunddreißig Jahren hier auf Penford Castle«, ergänzte Rick Masters. Chefinspektor Hempshaw zog die Augenbrauen zusammen und schüttelte den Kopf. »Wie kommen Sie auf diese Idee, Rick?« forschte er. »Weil es dann einen Grund gäbe, warum sein Geist hier spukt«, antwortete Rick. »Sehr weit hergeholt«, brummte der Chefinspektor skeptisch. »Ich glaube nicht, daß Sie genügend Beweise für diese Theorie finden werden.« »Abwarten«, widersprach der Privatdetektiv zuversichtlich. »Kenneth, ich bin überzeugt, daß sich der Geist wieder bei mir melden wird. Er hat mehrmals versucht, die Gestalt eines im Schloß lebenden Menschen anzunehmen. Ganz ist ihm das nicht geglückt, er hat sich wieder in ein Skelett verwandelt und ist schließlich verschwunden. Aber er wird noch einmal Kontakt aufnehmen.« Über das Gesicht des Chefinspektors glitt ein knappes Lächeln. »Dann erklären Sie mir nur noch, Rick«, verlangte er, »wieso 79 �
Ihr angeblich so friedlicher Geist den Colonel und Ihren Vetter tötete, obwohl Mr. Manson nur krampfartige Anfälle erlitt. Und setzen Sie mir auseinander, wo die Leiche Ihres Vetters ist!« Rick Masters seufzte. »Ich bin kein Hellseher, Kenneth«, entgegnete er. »Warten wir ab, daß der Geist noch einmal Kontakt aufnimmt. Ich bin sicher, daß wir ihn dann besser verstehen werden.« »Ich will niemanden besser verstehen, schon gar nicht einen Geist«, erwiderte Hempshaw gereizt. »Ich will die rätselhaften Todesfälle aufklären und neues Unglück vermeiden. Und ich will eine Leiche wiederfinden, die sich vor meinen Augen aufgelöst hat.« »Dann haben wir ja wieder einmal dasselbe Ziel«, stellte Rick Masters lächelnd fest. »Es hat nur sehr lange gedauert, bis Sie es gemerkt haben, Kenneth.« Der Chefinspektor warf ihm einen forschenden Blick zu. Er war sich in diesem Moment nicht sicher, ob sich Rick über ihn lustig machte oder nicht. Endlich wandte er sich mit einem ungeduldigen Achselzucken ab. Rick Masters blickte noch eine Weile hinter ihm her, dann betrat er das Schloß, das ein düsteres Geheimnis in seinen Mauern barg. * Die ganze Zeit über hatte Hazel Kent bei der jungen Witwe Wache gehalten. Elsa Penning lag teilnahmslos auf ihrem Bett und starrte zur Decke. Sie reagierte auf nichts und merkte nicht einmal, daß Rick das Zimmer betrat. Hazel erhob sich und kam ihm an der Tür entgegen. Hastig schob sie ihn auf den Korridor hinaus, kam hinterher und schloß 80 �
die Tür. »Laß sie jetzt in Ruhe, Rick«, bat Hazel. »Sie hat einen schweren Schock erlitten. Der Arzt hat ihr eine Beruhigungsspritze gegeben, aber ich glaube nicht, daß es viel helfen wird.« Hazel zog die Tür einen Spalt auf und spähte in den Raum. »Ich habe Angst, daß sie sich etwas antut.« »Elsa hat aber sehr gefaßt gewirkt«, wandte Rick Masters ein. »Gar nicht, als ob sie zu einer Verzweiflungstat fähig wäre.« »Du scheinst nicht viel von Frauen zu verstehen«, versetzte Hazel. »Du müßtest das eigentlich wissen und beurteilen können, nicht wahr?« Rick zwang sich zu einem flüchtigen Lächeln. »Schließlich kennst du mich recht gut.« »So habe ich das nicht gemeint«, wehrte Hazel ab, zwischen Ärger und Lachen schwankend. »Ich meine, du hast nicht begriffen, daß Elsa nur für ihren Mann lebte. Sie betete ihn an. Das hat man bei jedem ihrer Worte gemerkt. Und jetzt ist er tot. Ihr Leben hat seinen Sinn verloren.« Rick nickte. »Ich weiß schon, wie du es meinst«, murmelte er. »Sobald sie schläft, komm zu mir. Dann gehen wir zum Lunch hinunter auf die Terrasse.« Hazel kam eine halbe Stunde später. Während des Essens berichtete ihr Rick, was sich in der Zwischenzeit ereignet hatte. »Aber weshalb ist Georges Leiche verschwunden?« fragte Hazel entsetzt. »Das ergibt doch keinen Sinn!« »Bestimmt steckt ein Sinn dahinter«, widersprach Rick. »Wir erkennen ihn nur noch nicht. Warten wir es ab!« Das Essen verlief viel zu hastig, weil sich Hazel beeilte, wieder nach oben zu Elsa zu kommen. Für den Rest des Tages sah Rick nichts mehr von seiner Freundin. »Ich hätte doch Dracula mitnehmen sollen«, bemerkte er verär81 �
gert, als er sich abends von ihr verabschiedete. Sie wich nicht von Elsas Seite und hatte sich im Zimmer der jungen Witwe ein Bett aufstellen lassen. »Dracula würde wenigstens immer bei mir bleiben.« »Du weißt genau, daß er sich von dieser leichten Vergiftung noch nicht erholt hat«, wandte Hazel ein. Dracula war Ricks Hund, eine winzige Promenadenmischung, die er gern als »Polizeihund« vorstellte. »Es war schon besser, Dracula in meinem Haus in guter Pflege zu lassen.« »Trotzdem fühle ich mich einsam«, beschwerte sich Rick. »Und dabei bist du diejenige, die sich über meine Arbeit aufregt. Angeblich werde ich immer in den schönsten Minuten durch einen Auftrag gestört.« »Jetzt siehst du wenigstens einmal, wie das ist«, hielt ihm Hazel vor. »So wie dir jetzt, so ergeht es mir sehr oft.« Rick gab ihr einen Kuß und streifte die schlafende Elsa mit einem kurzen Blick. »Ich werde es mir zu Herzen nehmen«, versprach er. »Wenn wir diesen Fall hinter uns gebracht haben, werde ich dafür sorgen, daß meine Arbeit unser gemeinsames Leben nicht mehr so oft stört.« Sie wußten beide schon, daß Rick dieses Versprechen nicht halten konnte, aber Hazel äußerte sich nicht dazu, und Rick zog es vor, rasch den Raum zu verlassen. Er ging in die Bibliothek hinunter, zog das von James Tucker verfaßte Buch im schwarzroten Einband zu sich heran und malte sich noch einmal aus, was sich alles vor siebenunddreißig Jahren in diesem Schloß abgespielt haben mochte. Die Gedanken machten sich selbständig. Rick dachte alle Möglichkeiten durch, bis ihn ein Geräusch aus seinen Überlegungen riß. 82 �
Von der Bibliothek führte eine schmale hohe Glastür hinaus auf eine Terrasse. Die Tür hatte sich soeben geöffnet und gleich darauf wieder geschlossen. Langsam drehte sich Rick Masters um. Unauffällig glitt seine Hand unter seine Jacke und an den Griff seiner Pistole. Doch als er sah, wer in der Bibliothek stand, ließ er die Hand sinken. »Darauf habe ich gewartet«, sagte er leise und nickte George Penning zu. »Ich wußte, daß du zurückkommen wirst.« * Der verschwundene Leichnam stand wenige Schritte vor Rick Masters. Das Gesicht wirkte leblos, wie aus Stein gemeißelt oder aus Wachs gegossen. Nichts deutete darauf hin, daß der Tote sich auf rätselhafte Weise wieder bewegen und sogar selbständig handeln konnte. »Bist du George?« fragte Rick Masters vorsichtig. Noch brachte er sich nicht in Sicherheit, weil er nicht glaubte, daß der Tote eine Gefahr für ihn darstellte. »Bist du George Penning?« fragte er noch einmal eindringlich. Der zu einem neuen Leben erwachte Leichnam schüttelte den Kopf. »Ich – bin – Tucker – James – Tucker«, kam es abgehackt aus seinem Mund, ohne daß er die Lippen bewegte. »James – Tucker…« Rick Masters beugte sich gespannt vor. »Der Autor des Buches über die Geschichte von Penford Castle«, sagte er leise und eindringlich. »Warum kommst du zu mir? Was ist vor siebenunddreißig Jahren geschehen?« James Tuckers Geist hatte von der Leiche George Pennings Besitz ergriffen, um für kurze Zeit wieder einen menschlichen Körper zu haben, einen Körper, mit dessen Hilfe er Kontakt zu 83 �
Rick oder anderen Menschen aufnehmen konnte. Soweit sah Rick Masters klar. Er wußte nur noch nicht, was der Geist des Buchautors wirklich von ihm wollte. »James Tucker!« rief er der starren Gestalt entgegen. »Was ist damals passiert? Was kann ich dabei tun?« »… Mord…« Das Wort wehte wie ein Lufthauch durch den Raum. Es bereitete dem lebenden Toten unsägliche Schwierigkeiten, die einzelnen Worte zu formen, als habe er nicht genug Kraft zum Atmen. »Mord – Colonel – keine Ruhe, obwohl Colonel – tot… Mord und – Colonel – Ruhe…« Der leblose Körper krümmte sich wie unter großen Schmerzen zusammen, torkelte rückwärts und riß die Tür zur Terrasse auf. Zum Glück hielt sich dort draußen im Moment niemand mehr auf. Es hätte eine Panik unter den Gästen gegeben, wäre der Tote plötzlich scheinbar lebendig wieder aufgetaucht. Rick Masters sprang auf und lief hinter dem lebenden Toten her. Er wollte ihn aufhalten, um mehr zu erfahren, doch er kam zu spät. Als er auf die Terrasse hinaustrat, lag sie leergefegt vor ihm. Er lauschte in die einbrechende Nacht hinaus, aber außer den üblichen Geräuschen war nichts zu hören. Rick Masters kannte die Nummer des Zimmers, in dem Chefinspektor Hempshaw untergebracht war. Er wählte über Haustelefon das Zimmer direkt an und bekam den Chefinspektor nach dem zweiten Klingelton an den Apparat. »Kommen Sie sofort in die Bibliothek, Kenneth«, bat der Privatdetektiv. Zwei Minuten später stürmte der Chefinspektor herein und blieb verblüfft stehen, als er außer Rick niemanden erblickte. »Soll das ein Scherz sein?« fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen. »Rick, warum haben Sie mich so eilig hierher bestellt? Meinen Sie nicht, daß ich mir auch Ruhe verdient…« 84 �
»Kenneth, soeben war George Penning hier«, unterbrach ihn der Privatdetektiv und verzog den Mund zu einem winzigen Lächeln, als er Hempshaws Verblüffung sah. »Sie haben richtig gehört, Kenneth, George Penning, mein Vetter aus Australien. Er ist natürlich tot, aber James Tuckers Geist hat ihn übernommen und benützt ihn jetzt als…« »Rick, lassen Sie mich damit in Ruhe«, fuhr der Chefinspektor auf. »Sie wissen ganz genau, daß ich in einem solchen Fall nichts unternehmen kann.« »Also schön«, seufzte der Privatdetektiv ergeben. »Dann ziehe ich meine Informationen zurück. Mehr habe ich nicht zu berichten.« Hempshaw zuckte die Schultern und wandte sich zur Tür. »Manchmal müssen Sie mich für unverbesserlich stur halten«, sagte der Chefinspektor plötzlich. »Nicht manchmal, Kenneth, sondern immer«, verbesserte ihn Rick Masters. »Vielleicht ändern Sie einmal Ihr Image!« Chefinspektor Kenneth Hempshaw drohte seinem Freund scherzhaft mit der Faust. »Ihre Lizenz als Privatschnüffler kassiere ich eines Tages«, versprach er und verließ die Bibliothek. Hempshaw würde genausowenig die Lizenz einziehen lassen, wie Rick ihn für stur hielt. Der Chefinspektor mußte sich allerdings aufgrund seines Berufs an gewisse Regeln halten, die für Rick Masters nicht galten. So konnte. Hempshaw zum Beispiel nicht in seinen Bericht für seine Vorgesetzten hineinschreiben: 21.00 Uhr: Die vermißte Leiche betritt die Bibliothek. 21.15 Uhr: Ich warte, bis die vermißte Leiche wiederkommt, um Kontakt mit mir aufzunehmen. Er schrieb aber auch nicht in seinen Bericht, daß ihn Rick Mas85 �
ters fünf Minuten nach seinem Weggang aus der Bibliothek noch einmal anrief. »Kenneth, Sie müssen mir unbedingt alle möglichen Informationen über Colonel Ripley besorgen«, bat Rick Masters. »Ich muß vor allem über seine Vergangenheit beim Militär genau Bescheid wissen. Wo war er vor siebenunddreißig Jahren und so weiter.« »Für Sie tue ich überhaupt nichts mehr«, erwiderte der Chefinspektor verärgert. »Sie halten mich für stur.« »Das haben Sie behauptet, Kenneth«, wehrte Rick lachend ab. »Und ich widerspreche doch nicht einem Chefinspektor von Scotland Yard.« Mit einem undefinierbaren Knurren legte Hempshaw wieder auf, und Rick Masters wußte, daß sein Freund von jetzt an mit Volldampf nach den gewünschten Unterlagen suchen ließ. »Trotzdem ist er stur«, murmelte Rick und zog wahllos eines der Bücher aus dem Regal. Er mußte sich die Zeit vertreiben, bis der Geist noch einmal Kontakt zu ihm suchte. * Gegen elf Uhr nachts öffnete sich die Tür, die von der Halle in die Bibliothek führte. Rick Masters, der beim leisesten Geräusch herumwirbelte, entspannte sich wieder, als er seine Freundin erkannte. Hazel Kent sah müde und zerschlagen aus. Mit einem Seufzer ließ sie sich neben ihm auf das Ledersofa sinken. »Ich habe mir unseren Urlaub wirklich anders vorgestellt«, murmelte sie. »Hoffentlich können wir bald zurück nach London fahren. Mein Büro mit den pausenlos klingelnden Telefonen ist gegen dieses Schloß direkt eine Erholung.« 86 �
»Ich sehne mich auch nach meinem Wohnbüro in der City«, gab Rick zurück. »Und nach Dracula.« Eine Weile unterhielten sie sich über den Hund und kamen unweigerlich auf den augenblicklichen Fall zurück. »Hoffentlich hat Elsa nichts von der Aufregung um die Leiche ihres Mannes mitbekommen«, meinte Rick besorgt. »Es müßte für sie furchtbar sein, zu wissen, daß eine unheimliche Macht Besitz von ihm ergriffen hat.« »Sie war den ganzen Tag über teilnahmslos und schläft jetzt«, antwortete Hazel. »Sie weiß nur, daß er tot ist. Und das genügt ihr, der Armen. So, ich gehe wieder nach oben und versuche zu schlafen. Viel Glück, Darling.« Rick schloß sie in seine Arme und dachte mit Bedauern an die Zeit, die sie hier versäumten. Die Erinnerung an gemeinsam verbrachte Stunden schob sich für kurze Zeit in den Vordergrund, bis der Privatdetektiv Schritte hörte, die sich von der Halle der Bibliothek näherten. Es war wieder nicht der Tote, sondern Linda Hallingford, die Hotelmanagerin. Sie hatte sich während des Tages kaum blicken lassen. Rick wußte nur von Chefinspektor Hempshaw, daß sie die Polizei um Diskretion gebeten hatte. »Mr. Masters.« Zögernd kam sie näher. »Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich habe Sie zwar gebeten, Ermittlungen in unserem Hotel anzustellen, aber ich ziehe diesen Auftrag wieder zurück. Die Sicherheit meiner Gäste und vor allem der Ruf unseres Hauses…« »Schon gut«, unterbrach Rick sie. »Ich verstehe Sie! Sagen Sie mir nur, ob die übrigen Gäste etwas von den Vorgängen mitbekommen haben?« »Nun, es ist bekannt, daß Colonel Ripley gestorben ist«, gab die Managerin zu. »Und dann wissen einige Leute, daß Ihr Vetter ums Leben gekommen ist. Aber Genaues ist nicht durchgesi87 �
ckert. Davon, daß seine Leiche verschwunden ist, weiß niemand etwas. Bitte, rühren Sie nicht mehr Staub auf, als unbedingt nötig ist. Ich will nicht, daß Sie noch, länger ermitteln.« »Ich bleibe nur ein paar Stunden in Ihrer wundervollen Bibliothek sitzen, Mrs. Hallingford«, erwiderte Rick mit einem undurchsichtigen Lächeln. »Mehr will ich gar nicht. Ein gutes Buch, und ich bin zufrieden. Und wenn es soweit ist, werde ich das Schloß verlassen.« Er ließ allerdings offen, wann es soweit sein würde. Die Managerin ließ sich nicht anmerken, ob sie ihn durchschaute oder nicht. Sie wünschte ihm noch eine gute Nacht und zog sich ohne ein weiteres Wort zurück. Kaum hatte sich die Tür hinter ihr geschlossen, als Rick Masters auf die Uhr blickte. Es fehlte nur mehr eine Minute bis Mitternacht. Ungeduldig erhob er sich und trat an die Glastür. Im nächsten Moment weiteten sich seine Augen. * Der Leichnam seines Vetters stand am Rand der Terrasse zwischen den Büschen und hob winkend die Hand. Rick Masters überlegte nicht lange. Das Zeichen konnte nur ihm gelten. Er trat hinaus auf die Terrasse und blickte sich vorsichtig nach allen Seiten um. Er wollte nicht unbedingt in diesem Moment von der Polizei überrascht werden. Zwar konnten ihm der Inspektor der örtlichen Polizei und seine beiden Sergeanten nichts anhängen, aber sie hätten das Zusammentreffen zwischen Rick und dem Geist verhindert, vielleicht sogar für immer unmöglich gemacht. Zu seiner Erleichterung ließ sich kein einziger Polizist sehen, obwohl Rick sicher war, daß sie diese Nacht über Wache hielten. Wahrscheinlich aber hatte der Chefinspektor, der seine Pläne 88 �
durchschaute, dafür gesorgt, daß er ungestört blieb. Langsam ging Rick Masters auf seinen toten Vetter zu und blieb wenige Schritte vor ihm stehen. Er mußte sich gewaltsam in Erinnerung rufen, daß er es nicht mehr mit George Penning zu tun hatte, sondern daß der Geist von James Tucker in den Leichnam gefahren war, ihn lenkte und auch aus ihm sprach. »Komm mit«, murmelte der Untote dumpf. Der Mond ging auf und übergoß den Schloßpark mit seinem geisterhaften Schein. Rick Masters bewegte sich fast wie ein Traumwandler, so unwirklich sah alles aus. Dazu kam das Bewußtsein, vor sich einen lebenden Toten zu haben, in den der Geist eines vor langen Jahren Verstorbenen gefahren war… Weiter kam der Privatdetektiv nicht, denn George Penning blieb stehen. Rick blickte um sich. Sie standen auf einer kleinen Lichtung, die ringsum von Büschen umgeben und ausreichend gegen Sicht gedeckt war. »Hör mir zu, unterbrich mich nicht«, verlangte der Geist durch Georges Mund. »Ich bin der Geist von James Tucker. James Tucker wurde vor siebenunddreißig Jahren auf diesem Schloß ermordet. Damals war Krieg. Ich hatte davor ein Buch über Penford Castle und seine Umgebung geschrieben. Jetzt war ich in der Nähe des Schlosses stationiert und sollte nach Frankreich verlegt werden. Ich wollte vor der Abreise noch einmal das Schloß sehen.« Während der Schilderung rührte sich der Leichnam nicht von der Stelle. Auch seine Lippen bewegten sich kaum. Er wirkte wie ein Roboter in Menschengestalt. »Hier im Schloßpark lauerte mir Ripley auf. Damals war er noch nicht Colonel! Er war ein einfacher Soldat wie ich. Wir stritten wegen eines Mädchens. Ich merkte zu spät, daß er völlig 89 �
betrunken war. Er erschoß mich und verscharrte meinen Körper im Park des Schlosses, über das ich geschrieben hatte. Seither finde ich keine Ruhe.« »Colonel Ripley geriet nie in Verdacht«, nahm Rick Masters den Faden auf, als der Geist schwieg. »Du hast ihn umgebracht?« »Ich wollte es nicht«, behauptete James Tuckers Geist durch den Mund von George Penning. »Ich wollte es wirklich nicht. Vor einigen Tagen stieß ein alter Mann beim Graben auf meine Gebeine. Plötzlich war ich nicht mehr an mein enges Gefängnis unter dem Rasen von Penford Castle gebunden, sondern konnte mich frei bewegen. Ich wollte Kontakt mit den Lebenden aufnehmen, aber es gelang mir nicht. Danach versuchte ich, den Colonel zu zwingen, meine Gebeine zu begraben – würdig, wie es sich gehört. Das scheiterte auch. Der Colonel starb vor Schreck, als er mich erkannte. Es hatte ihn an den Schauplatz seines Verbrechens zurückgezogen, und hier ist er auch umgekommen. Sein Schicksal hat sich erfüllt. Aber meines ist noch ungewiß.« »Das Verschwinden aller anderen Menschen aus dem Schloß…«, setzte der Privatdetektiv an. »Es sollte euch Zurückgebliebene aufmerksam machen«, gab der Geist bereitwillig Auskunft. »Aber ihr habt meinen Hilferuf nicht verstanden. Auch der alte Mann, der auf meine Gebeine gestoßen ist, und dieser andere Mann, aus dessen Körper ich jetzt zu dir spreche, sie haben mich nicht verstanden. Meine Kräfte haben sie geschockt und getötet, ohne daß ich es wollte. Ich sehne mich nur nach Ruhe. Du mußt mir helfen! Begrabe meine Gebeine, dann bin ich erlöst, und auf Penford Castle wird ebenfalls Ruhe einkehren.« »Ich werde es tun«, versprach Rick Masters. »Ich werde sofort…« 90 �
Weiter kam er nicht. Wie ein gefällter Baum stürzte die Leiche seines Vetters zu Boden. Der Geist hatte den Körper verlassen. Rick bückte sich zu George und trug ihn zurück zum Schloß. Dann erst rief er Chefinspektor Hempshaw in seinem Zimmer an und bestellte ihn in die Bibliothek. »Wie haben Sie das geschafft, Rick?« rief der Chefinspektor aus, als er die Leiche zu Gesicht bekam. »Alle Achtung! Wir haben das gesamte Gelände abgesucht, und Sie präsentieren uns den Toten.« »Ich habe gar nichts dazu getan«, korrigierte ihn Rick Masters. »Ich habe nur daran geglaubt, daß sich der Geist James Tuckers mit mir in Verbindung setzen wollte. Und er hat es getan. Jetzt braucht er den Körper meines Vetters nicht mehr, um sich mit mir zu verständigen. Ich weiß bereits, was er von mir will.« Chefinspektor Hempshaw tat, als hätte er nichts gehört. Er telefonierte, und fünf Minuten später kamen die beiden Sergeanten der örtlichen Polizei und schafften die Leiche unauffällig aus dem Schloßhotel weg. »Wir haben übrigens noch einen dritten Todesfall zu untersuchen, Rick«, teilte Chefinspektor Hempshaw Rick mit, als sie wieder allein waren. »Und zwar dürfte es sich um James Tucker handeln.« »Wieso das?« fragte Rick mit böser Vorahnung. »Heute nachmittag fanden wir in diesem schmalen Graben, den Mr. Manson gezogen hat, einen menschlichen Knochen«, berichtete Hempshaw mit unüberhörbarem Stolz in der Stimme. »Daraufhin suchten wir weiter und legten das ganze Grab frei. Vor ungefähr dreißig bis vierzig Jahren wurde an dieser Stelle eine Leiche vergraben. Unser Arzt meinte, die Knochen wären ungewöhnlich gut erhalten und sollten…« »Kenneth, Sie Unglücksmensch«, fuhr Rick auf. »Wissen Sie, was Sie und dieser Inspektor getan haben? Es ist das Grab von 91 �
James Tucker gewesen, und sein Geist war es auch…« »Was heißt hier Geist?« unterbrach der Chefinspektor. »Wir sind einem Mord auf der Spur, nicht mehr und nicht weniger.« Rick Masters merkte genau, wann er bei dem Chefinspektor nichts erreichen konnte. Im Moment war es soweit. Es hatte keinen Sinn, noch weiter in ihn zu dringen. Er wollte nichts mehr von übersinnlichen Erscheinungen wissen, da er sich wieder an kriminalistische Tatsachen halten konnte. »Erzählen Sie mir nur, was mit den Gebeinen des Toten geschehen ist«, bat Rick. »Mehr will ich gar nicht wissen.« »Meine Kollegen haben sie sichergestellt.« Er zuckte die Schultern. »Dieser Fall geht mich eigentlich gar nichts an, Rick. Ich will mich auch nicht einmischen. Übrigens, der Mann hatte eine Schußverletzung am Schädel.« »Wohin wurden die Gebeine gebracht?« bohrte Rick. »Kenneth, ich muß es wissen!« »In das Krankenhaus«, gab der Chefinspektor zur Auskunft. »Ein spezielles Labor gibt es hier nicht bei der Polizei. Aber im Krankenhaus haben sie einen sehr guten Pathologen.« Mehr hörte Rick Masters nicht mehr. Er ließ den verdutzten Chefinspektor in der Bibliothek zurück und lief aus dem Schloß hinaus auf den Parkplatz. Hazels Rolls Royce war ihm mittlerweile fast schon so vertraut wie sein eigener Wagen, den er in London zurückgelassen hatte. Der Motor sprang beim ersten Versuch an, obwohl der Wagen mindestens zehn bis fünfzehn Jahre alt war. Fast lautlos setzte sich der riesige Schlitten in Bewegung. Rick beschleunigte, sobald er das Hauptportal des Schlosses hinter sich hatte. Im Moment sah er noch keine Möglichkeit, wieder an das Skelett James Tuckers herankommen konnte. Aber er mußte dafür sorgen, daß die sterblichen Überreste des Mannes ordnungsge92 �
mäß begraben wurden. Bisher hatte sich der Geist friedlich verhalten, doch niemand konnte garantieren, daß er nicht feindselig werden würde, falls seine Wünsche nicht erfüllt wurden. Rick Masters wollte jedenfalls nicht die Verantwortung tragen. Deshalb war er entschlossen, alles zu versuchen, um nach siebenunddreißig Jahren einen Mordfall so schnell wie möglich abzuschließen. * Kaum stand der Rolls Royce auf dem Parkplatz des Krankenhauses still, als Rick den Zündschlüssel abzog und hastig ins Freie sprang. Er hetzte über die asphaltierte Fläche und lief geduckt in die geräumige Vorhalle hinein. Es hatte zu regnen begonnen, dicke Tropfen, die wie Geschosse vom nächtlichen Himmel prasselten. Mit dem schönen Wetter war es endgültig vorbei. Die Nachtschwester sagte Rick, wo er den behandelnden Arzt für Ernie Manson finden konnte. Ohne sich vorher anzumelden, stieg der Privatdetektiv in den ersten Stock des modernen Gebäudes hinauf und fand gegenüber der Treppe eine offenstehende Tür. Es handelte sich um den Aufenthaltsraum des Personals, und zwei Männerstimmen drangen bis ins Treppenhaus. Rick hätte nicht gelauscht, doch dann fiel der Name Manson! »Und ich sage dir, Jack, daß da nichts stimmt«, behauptete der eine Arzt. »Er hatte keinen Schlaganfall und keinen Herzinfarkt, der Mann ist so gesund wie du und ich. Zumindest wäre ich gern so gesund wie er.« »Aber du hast selbst gesehen, daß er kaum ansprechbar ist und sich nicht bewegen kann«, hielt ihm sein Kollege vor. »Er ist krank, auch wenn du es nicht begreifen willst.« 93 �
»Natürlich ist er krank, aber nicht im normalen medizinischen Sinn«, erklärte der erste Arzt. »Er ist an das Bett gefesselt, aber er…« Mehr hörte Rick Masters nicht, weil er sich zurückzog. Er hatte von dem behandelnden Arzt nur einiges über den Zustand von Ernie Manson erfahren wollen. Jetzt wußte er, daß Manson sein Bett nicht verlassen konnte. Der Privatdetektiv kehrte in die Halle zurück und überlegte, wie er vorgehen sollte. Er wollte unbedingt dafür sorgen, daß die Gebeine James Tuckers so schnell wie möglich begraben wurden, um weiteres Unglück zu vermeiden. Dazu mußte er erreichen, daß sie von der Polizei freigegeben wurden. »Einen Moment, bitte!« rief er, als er einen ihm fremden Arzt durch die Halle gehen sah. »Kann ich Sie sprechen?« Der Arzt blieb stehen und blickte ihm erwartungsvoll entgegen. »Ich glaube nicht, daß ich Ihnen helfen kann, Mister«, erwiderte er zurückhaltend. »Ich bin an diesem Krankenhaus der Pathologe. Sie wollen sicher mit einem der behandelnden Ärzte sprechen.« Rick lachte über den glücklichen Zufall. »Genau nach Ihnen habe ich gesucht«, behauptete er. »Ich wollte mit Ihnen über das dreißig Jahre alte Skelett sprechen. Mein Name ist Rick Masters.« »Der Privatdetektiv aus London?« Der Pathologe nahm Ricks Ausweis entgegen, prüfte ihn sorgfältig und gab ihn wieder zurück. »Der Inspektor und auch der Chefinspektor aus London haben mir von Ihnen erzählt, Mr. Masters. Ich heiße Levine, James Levine.« »Dr. Levine.« Rick trat nahe an den Pathologen heran. »Gibt es einen Grund, die Gebeine länger im Labor zu belassen? Könnte man sie sofort begraben?« Der Arzt zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Meine Untersu94 �
chungen sind abgeschlossen«, gab er zur Antwort. »Aber es liegt nicht an mir, sondern an der Polizei, ob…« »Danke, mehr wollte ich nicht wissen.« Rick blickte sich suchend nach einem Telefon um. »Was haben Sie übrigens festgestellt?« »Ich darf nicht…«, setzte Dr. Levine an. In diesem Moment ertönte ohrenbetäubendes Krachen und Klirren. Es kam aus dem Kellergeschoß. »Mein Labor!« rief der Pathologe erschrocken. Rick begriff augenblicklich, was geschehen war. Im Labor des Pathologen hatte sich eine Explosion ereignet! Ausgerechnet in dem Raum, in dem die Gebeine James Tuckers lagen! Wenn sie bei der Explosion zerstört worden waren, konnte Tuckers Geist nie mehr Ruhe finden. Bevor irgend jemand im Krankenhaus etwas unternahm, hetzte Rick bereits auf die Treppe zu und flog sie förmlich nach unten. Aus einer offenstehenden Tür auf der anderen Seite des Korridors wälzte sich beißender schwarzer Qualm. Und dann tauchte in der Tür ein Mann auf, den Rick Masters nur zu gut kannte. * Ernie Manson hielt sich krampfhaft am Türrahmen fest. Sein Gesicht war rußgeschwärzt, seine Haare angesengt. In der Hand hielt er eine große Segeltuchtasche, die prall gefüllt war. »Manson, was machen Sie hier?« rief Rick und vertrat dem alten Mann den Weg. »Haben Sie die Explosion ausgelöst?« Doch Manson konnte ihn nicht verstehen. Wie hypnotisiert wandte er sich ab und wollte durch den Korridor zur Treppe laufen. Rick Masters verstellte ihm den Weg und hielt ihn am Arm 95 �
zurück. »Manson, was haben Sie in der Tasche?« Rick griff nach der Segeltuchtasche und wollte sie dem Mann aus der Hand reißen. Manson sträubte sich, der Griff riß, und die Tasche fiel auf den Boden. Das Klappern verriet Rick, welchen makabren Inhalt sie barg. Inzwischen drängten Ärzte und Krankenschwestern in den Korridor vor dem Labor. Der Pathologe versuchte gemeinsam mit einigen anderen Ärzten, den Brand im Labor zu löschen. Sie setzten Schaumlöscher ein und erstickten damit die Flammen binnen weniger Sekunden. Rick beteiligte sich nicht weiter. Für ihn war im Moment nur wichtig, daß er die sterblichen Überreste James Tuckers sichergestellt hatte. Fest hielt er die Segeltuchtasche an sich gedrückt, damit sie ihm in dem Durcheinander nicht wieder entrissen wurde. Er mußte dafür sorgen, daß die Gebeine so schnell wie möglich begraben wurden, damit der Spuk auf Penford Castle endlich vorbei war. Während das Personal des Krankenhauses noch immer damit beschäftigt war, die Gefahren im Labor zu bannen, und die Feuerwehr eintraf, hielt Rick Ausschau nach Manson. Der alte Mann war nirgends zu sehen. Bevor Rick das Krankenhaus verließ, überzeugte er sich davon, daß Manson auch nicht in sein Zimmer zurückgekehrt war. Es war für den Privatdetektiv nicht schwer zu rekonstruieren, was geschehen war. James Tuckers Gebeine waren von der Polizei in das Krankenhaus gebracht worden und sollten hier noch eine Weile festgehalten werden. Tuckers Geist hatte Manson beauftragt, das Skelett zu stehlen und wahrscheinlich zum Schloß zurückzubringen. Bei seinem Eindringen in das Labor hatte der unerfahrene Manson die Explosion ausgelöst. 96 �
Aber wo steckte der alte Mann im Moment? Die Antwort erhielt Rick, sobald er auf den Parkplatz des Krankenhauses trat. Ein schwerer Körper prallte gegen ihn, daß er das Gleichgewicht verlor und gegen einen der geparkten Wagen taumelte. Die Segeltuchtasche entglitt seinem Griff. Ernie Manson bückte sich blitzschnell danach und wollte sie an sich reißen, aber Rick war schneller. Er packte Manson an den Armen, zerrte ihn hoch und wollte ihn gegen den Wagen drängen, als ihn ein harter Schlag gegen die Brust traf. Nach Luft ringend wankte Rick rückwärts. Manson setzte mit der Kraft und Wendigkeit eines Zwanzigjährigen nach. Seine Augen waren starr auf Rick gerichtet, in seinem Gesicht regte sich kein Muskel. Er hatte den Befehl erhalten, das Skelett in Sicherheit zu bringen, und diesen Auftrag wollte er um jeden Preis ausführen. Rick duckte sich unter einem Faustschlag, der ihm das Kinn zerschmettert hätte, und rammte Manson die Doppelfaust in den Magen. Der Mann zeigte keinerlei Wirkung. Seine Hände legten sich wie stählerne Klammern um Ricks Hals und schnürten ihm die Luft ab. Entsetzt versuchte der Privatdetektiv, sich aufzurichten und den Griff an seinem Hals zu lockern. Es gelang ihm nicht. Er wollte die Hände Mansons wegziehen, aber die Finger des Mannes gruben sich nur noch tiefer ein. Er schlug und trat um sich, doch Manson blieb unerbittlich. Um den Befehl, den er von einem Geist erhalten hatte, auszuführen, schreckte er auch vor einem Mord nicht zurück. Mit letzter Kraft ließ Rick sich einfach fallen, zog die Beine an und rammte sie Manson gegen den Leib. Im nächsten Moment konnte er wieder frei atmen. Gierig holte er Luft, schüttelte die Benommenheit ab, die bereits nach ihm gegriffen hatte, und wollte Manson endgültig überwältigen. 97 �
Der alte Mann ergriff die Flucht. Ehe Rick ihn packte, verschwand er zwischen den geparkten Wagen, die Tasche mit dem kostbaren Inhalt ließ er zurück. Rick nahm sofort die Verfolgung auf, mußte sie jedoch sehr bald aufgeben. Es hatte keinen Sinn, Manson noch länger zu jagen. Er war entkommen! Rick verstaute die Tasche im Rolls Royce und startete. Er war sicher, daß er diesen Fall bald zu einem guten Abschluß bringen konnte. Es war nur noch eine Frage der Zeit. Rick Masters hatte dabei allerdings eine unheimliche Kraft übersehen, die im Spiel war und die sich bisher noch nicht eingemischt hatte. Sie lauerte auf die passende Gelegenheit, um einzugreifen und Verderben zu bringen. * Obwohl Rick Masters um vier Uhr nachts zum Schloß zurückkam, brannte in allen Räumen des Erdgeschosses Licht. Besorgt fragte er sich, was hier schon wieder passiert sein mochte. Als er den Rolls Royce vor dem Eingang anhielt, flog die Tür auf, Chefinspektor Hempshaw und Hazel Kent kamen entgegen. »Wir haben uns Sorgen um dich gemacht«, rief Hazel. »Wo warst du nur so lange?« »Was ist im Krankenhaus geschehen?« rief Hempshaw aufgeregt. »Ich habe etwas von einer Explosion gehört? Und dann hat mich mein Kollege aus der Stadt angerufen. Das Skelett Tuckers ist verschwunden.« Rick beruhigte die beiden erst einmal und führte sie in die Bibliothek. Hempshaw wehrte die Managerin ab, die sich ihnen anschließen wollte. Erst als sie unter sich waren, gab Rick eine genaue Schilderung der Ereignisse. »Wir brauchen nur noch dafür zu sorgen, daß diese Gebeine 98 �
hier würdig bestattet werden, dann ist der ganze Spuk vorbei«, sagte er und stellte die Segeltuchtasche auf den Tisch. Chefinspektor Hempshaw vergewisserte sich, daß sich tatsächlich das Skelett darin befand, schloß die Tasche wieder ab und nahm sie an sich. »Tut mir leid, Rick, aber aus Ihren Plänen wird nichts«, wendete er ein. »Sehen Sie, die Polizei hat das Skelett eines Ermordeten gefunden. Wir können den Fall nicht abschließen, so lange wir den Mörder nicht ermittelt haben.« »Aber ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß der Colonel Ripley es war«, drängte Rick ungeduldig. »Soll ich in meinen Untersuchungsbericht schreiben, daß der Geist des Ermordeten selbst den Colonel als Mörder bezeichnet hat?« Hempshaw zog spöttisch die Augenbrauen hoch. »Was glauben Sie, wie lange bin ich dann noch Chefinspektor bei Scotland Yard?« Rick zuckte ergeben die Schultern. »Wenn Sie meinen, Kenneth«, antwortete er wütend. »Aber ich warne Sie! Irgend etwas geschieht noch, wenn wir nicht bald für ein Begräbnis sorgen.« »Keine Angst, wir halten die Augen offen«, versuchte Hempshaw, ihn zu beruhigen. Es gelang ihm allerdings nicht. Es klopfte kurz an die Tür, dann steckte Mrs. Hallingford den Kopf in die Bibliothek. »Telefon für Sie, Mr. Hempshaw«, meldete sie. »Ich lege das Gespräch auf diesen Apparat.« Sie deutete auf das Telefon in einer Ecke der Bibliothek. Hempshaw ging an den Apparat und hob ab, sobald es klingelte. Sein Gesicht verdüsterte sich, und als er wieder auflegte, bildeten seine Lippen nur mehr einen schmalen Strich. »Colonel Ripleys Leiche ist spurlos aus dem Leichenkeller des Krankenhauses verschwunden«, berichtete er knapp. »Manson 99 �
ist nicht aufzufinden, und niemand weiß, wo George Pennings Leiche ist.« Rick und Hazel wechselten einen betroffenen Blick. »Ich glaube, heute nacht passiert noch etwas auf Penford Castle«, prophezeite Rick. Niemand widersprach ihm. Fast körperlich fühlten sie die nahenden Gefahren. * So schnell gab Rick Masters nicht auf. Noch glaubte er, den Chefinspektor umstimmen zu können. Hempshaw ließ sich jedoch nicht davon überzeugen, daß für eine genaue kriminaltechnische Laboruntersuchung des Skeletts keine Zeit mehr war. Durch die heftige Diskussion achtete keiner von ihnen auf den Schloßpark. Auch Hazel warf keinen einzigen Blick aus dem Fenster. Plötzlich flog die Tür zur Halle auf. Neville, der Butler des Colonels, wankte in die Bibliothek und warf die Tür hinter sich wieder ins Schloß. Sein Gesicht war von Grauen entstellt. Er setzte mehrmals zu sprechen an, brachte jedoch keinen Ton über die Lippen. »Nehmen Sie erst einmal Platz«, forderte ihn der Chefinspektor auf. »Und trinken Sie einen Schluck!« Er lief in die Halle und kam mit einem Glas Whisky zurück. Dankbar nahm Neville es entgegen und kippte den Inhalt auf einen Zug hinunter. »Ich habe ihn gesehen«, keuchte er endlich. »Ich habe ihn ganz deutlich und bestimmt gesehen! Ein Irrtum ist ausgeschlossen! Es war der Colonel!« Wie elektrisiert fuhren Rick, Hazel und der Chefinspektor hoch. »Wo haben Sie den Colonel gesehen?« fragte Rick hastig. 100 �
»Draußen im Park«, stammelte er. »Ich habe ihn von meinem Fenster aus gesehen. Er stand drüben in den Büschen.« »Und Sie irren sich nicht?« vergewisserte sich der Chefinspektor, »Immerhin ist es Nacht, man kann die Hand kaum vor den Augen sehen. Und Sie wissen ja, daß der Colonel an einem Herzschlag gestorben ist, Mr. Neville.« »Ja, schon, das weiß ich«, gab der Mann nervös zu. »Trotzdem, es war der Colonel. Im Krieg war ich sein Bursche, danach sein Butler. Ich kenne ihn seit mehr als dreißig Jahren.« »Haben Sie einmal den Namen James Tucker gehört?« fragte Rick überraschend. Neville drehte sich zu ihm herum und schüttelte ratlos den Kopf. »Niemals«, behauptete er. »Wir werden uns darum kümmern, Mr. Neville«, versprach der Chefinspektor. »Am besten, Sie gehen wieder auf Ihr Zimmer. Wahrscheinlich hat sich jemand einen schlechten Scherz erlaubt.« Dem Gesicht des Butlers sahen sie deutlich an, daß er an keinen Scherz glaubte, aber da er selbst auch keine Erklärung wußte, fügte er sich wortlos in die Anordnung des Chefinspektors. »Es geht los«, warnte Rick. »Colonel Ripleys Leiche! Der Mörder ist sogar nach seinem Tod noch einmal an den Schauplatz des Verbrechens zurückgekehrt.« Mehr konnte er nicht mehr sagen, da in diesem Moment der schrille Schrei einer Frau durch das nächtlich stille Schloß gellte. »George!« schrie sie durchdringend. »George! Ich komme!« »Das ist Elsa!« Hazel schnellte von ihrem Sessel hoch und rannte zur Tür. Rick und der Chefinspektor schlossen sich ihr an. Die Ereignisse begannen, sich zu überstürzen. * 101 �
Überall im Schloß öffneten sich Türen. Die Gäste strömten auf die Korridore, um sich nach dem Grund der Störung zu erkundigen. Elsa schrie unausgesetzt weiter, allerdings konnte Rick nicht mehr verstehen, was sie rief. Er versuchte, sich zusammen mit Hazel und dem Chefinspektor nach oben zu drängen. Die Gäste versperrten die Treppe, so daß totale Verwirrung entstand. Plötzlich öffnete sich eine Gasse. Rick stand Elsa gegenüber. Ihr Blick ging über ihn hinweg. Ihr Gesicht hatte etwas Entrücktes an sich. »George«, flüsterte sie. »Ich habe ihn gesehen. Er ist draußen im Park und wartet auf mich.« Rick trat auf sie zu und ergriff ihre Hand. »Komm, ich bringe dich wieder in dein Zimmer«, redete er beruhigend auf sie ein. »Du sollst dich nicht so aufregen.« Ein Ruck durchlief ihre Gestalt. Der Blick ihrer blauen Augen klärte sich, wurde nüchtern und hart. Der verträumte Ausdruck ihres Gesichts erlosch schlagartig und wich einem verbitterten Zug. »Ich weiß, daß George tot ist, Rick«, sagte sie mit klirrender Stimme. »Trotzdem habe ich ihn unten im Park gesehen. Ich bin nicht verrückt! Ich weiß sehr gut, was ich mir nur eingebildet habe und was nicht. George steht unten im Park!« Die übrigen Gäste verfolgten die Szene gespannt. Sie konnten jedes Wort verstehen, aber sie glaubten offenbar nichts davon. »Ich weiß, Elsa«, flüsterte Rick. »Komm in dein Zimmer, ich werde dir alles erklären!« »Ich will keine Erklärungen, ich will zu George!« schrie sie auf. Sie verlor völlig die Beherrschung und ging auf Rick mit den Fäusten los. Er hielt sie fest, und im selben Moment brach sie 102 �
zusammen, leise schluchzend lag sie in seinen Armen. Chefinspektor Hempshaw half ihm, Elsa Penning nach oben zu bringen. Hazel blieb freiwillig bei ihr und wollte für den Rest der Nacht an ihrem Bett Wache halten. »Schließ die Fensterläden«, riet Rick. »Sie soll nicht mehr sehen können, was sich im Park abspielt.« »Ich werde gut für sie sorgen«, versprach Hazel. »Der Arzt hat genügend Beruhigungsmittel dagelassen. Mach dir keine Sorgen.« »Ich mache mir aber Sorgen«, erwiderte der Privatdetektiv und küßte seine Freundin flüchtig. »Paß lieber auf dich selbst auf«, riet Hazel. Rick Masters nickte und wandte sich der Treppe zu. In derselben Sekunde erschütterte ein gewaltiger Donnerschlag das Schloß. * Für einen Augenblick glaubte Rick, das Schloß würde einstürzen. Die Mauern wankten und knirschten. Von der Decke siebte feiner Staub herunter. Entsetzt sah er, daß sich in einer Wand schmale Risse bildeten. »Ein Erdbeben!« rief Hazel, die sich verzweifelt im Türrahmen festhielt. »Kein Erdbeben«, schrie Rick Masters zurück. »Der Blitz hat im Schloß eingeschlagen.« »Aber es war doch gar kein Gewitter!« Hazel richtete sich langsam wieder auf und trat an das Fenster von Elsas Zimmer. »Und jetzt hängen die Wolken so tief, daß sie die Türme streifen.« Elsa war fest eingeschlafen. Sie hatte nicht einmal mehr den Donnerschlag gehört. Rick streifte sie mit einem mitleidigen Blick. 103 �
»Sie merkt nichts von den Gewalten, die dort draußen toben«, flüsterte er. »Ich glaube, es wird eine richtige Schlacht um die Gebeine James Tuckers geben. Sein Geist will, daß sie endlich bestattet werden, damit er Ruhe findet. Der Geist seines Mörders möchte das verhindern, um ihm auch noch nach dem Tod zu schaden. Schrecklich!« »Kannst du denn gar nichts dagegen unternehmen, Darling?« fragte Hazel erwartungsvoll. »Tu doch etwas!« »Wenn ich nur wüßte, was.« Rick zuckte die Schultern. »Vorläufig kann ich nur dafür sorgen, daß die Gebeine nicht in die falschen Hände geraten. Und daß sie nicht zerstört werden.« »Wo ist die Tasche überhaupt im Moment?« fragte Hazel. »Noch immer unten bei Hempshaw in der Bibliothek«, gab der Privatdetektiv zur Auskunft. »Ich gehe jetzt zu ihm hinunter. Und du?« »Ich bleibe bei Elsa«, bekräftigte Hazel ihren ursprünglichen Entschluß. »Ich kann dir ohnedies nicht helfen.« Rick schloß die Fensterläden des Zimmers, dann verließ er den Raum und lief nach unten. Inzwischen tobte das Unwetter mit voller Macht. Ein Blitz nach dem anderen zuckte aus den tiefhängenden Wolken nieder. Der Regen fiel wie ein schwarzer Schleier, so daß man kaum etwas sehen konnte, auch nicht, wenn die Blitze die Umgebung erhellten. Chefinspektor Hempshaw war nicht mehr der einzige, der die Stellung hielt. Überall in der Halle standen oder saßen die Hotelgäste. Mrs. Hallingford kümmerte sich um die Leute und versuchte, das Hotelpersonal zum Arbeiten zu bewegen. Bei diesem Unwetter konnte und wollte niemand schlafen, daher sollten die Leute versorgt werden. In der Bibliothek traf Rick nur Hempshaw an. »Ich habe dafür gesorgt, daß mir niemand zu nahe kommt«, 104 �
rief der Chefinspektor, sobald er seinen Freund erblickte. »Ich glaube, Sie haben recht, Rick. In dieser Nacht wird noch einiges geschehen. Diese Gebeine sind mehr als heiß begehrt.« »Wir lassen niemanden in die Bibliothek, das ist am sichersten«, schlug Rick vor. »Haben Sie überhaupt noch die Tasche samt Inhalt?« Der Chefinspektor griff unter den Tisch, holte die Tasche hervor und stellte sie auf den Tisch. Im nächsten Moment erlosch das Licht. Draußen in der Halle ertönte ein vielstimmiger Schrei. »Stromausfall«, stieß der Chefinspektor hervor. »Ausgerechnet jetzt! Ob nur das Gewitter daran schuld ist?« Wieder zuckten mehrere Blitze vor den Fenstern und erhellten die Bibliothek mit ihrem bläulichen Licht taghell. Rick erblickte eine Kerze auf dem Tisch, zog sein Feuerzeug hervor und steckte sie in Brand. Hempshaw holte von den übrigen Tischen und Regalen Nachschub an Kerzen und baute sie ebenfalls auf dem Tisch neben der Segeltuchtasche auf. Mit einem kurzen Blick in die Halle vergewisserte sich Rick, daß sich die Leute auch hier geholfen hatten. Er dachte an Hazel, aber er konnte sich deutlich erinnern, daß auch in ihrem Zimmer Kerzen standen. Feuer hatte sie immer bei sich. Um Hazel mußte er sich weniger Sorgen machen als um die Tasche mit dem kostbaren Inhalt. »Ich glaube nicht an einen Zufall«, überschrie er das Rollen des Donners. »Genausowenig, wie das Gewitter ein Zufall ist. Da steckt ein Plan dahinter.« »Sie glauben, daß jemand die Tasche an sich bringen will?« Hempshaw blickte sich unbehaglich in der Bibliothek um. Der große Raum wurde von den wenigen Kerzen nur ungenügend erleuchtet. Herumstehende Gegenstände warfen lange Schatten an die 105 �
hohe Decke und die mit Büchern bedeckten Wände. »Ich habe eine Idee, Kenneth.« Rick nahm die Tasche an sich und winkte dem Chefinspektor, ihm zu folgen. Sie betraten die Halle und bahnten sich einen Weg zwischen den Gästen durch zur Rezeption. Mrs. Hallingford blickte ihnen erwartungsvoll entgegen. Sie streifte die Tasche in Ricks Armen mit einem mißtrauischen Blick. »Können wir Sie für einen Moment sprechen, Mrs. Hallingford?« fragte Rick und bemühte sich um ein charmantes Lächeln. Die Managerin schien keine große Lust zu haben, ihnen zu helfen. Wahrscheinlich hatte sie im Moment schon genug Sorgen. »Kommen Sie«, forderte sie sie ohne ein Lächeln auf und ging ihnen in ihr Büro voran. Rick blieb dicht hinter ihr, als wollte er verhindern, daß sie es sich noch einmal anders überlegte, und der Chefinspektor beeilte sich, den Anschluß nicht zu verlieren. »Sie wünschen?« fragte die Managerin kühl, sobald der Chefinspektor die Tür ihres Büros geschlossen hatte. »Wir wollen nicht viel, nur diese Tasche in Ihrem Tresor einschließen«, bat Rick. »Das ist alles.« Die Hotelmanagerin zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Offenbar hatte sie einen wesentlich unangenehmeren Wunsch erwartet. Wortlos ging sie zur hinteren Wand ihres Büros, klappte ein großes Gemälde zur Seite und legte die dahinter befindliche Panzertür des Safes frei. »Sie haben Glück«, bemerkte sie dabei, ohne sich umzudrehen. »Nur ein paar Leute haben ihre Wertsachen in den Safe gelegt. Daher habe ich genug Platz für diese große Tasche. Was enthält sie eigentlich, wenn ich fragen darf?« »Sie dürfen nicht fragen«, knurrte Hempshaw. 106 �
»Ich brauche Ihnen den Safe nicht zur Verfügung zu stellen«, erwiderte Mrs. Hallingford scharf. Sie schloß die Tür wieder zur Hälfte und blieb davor stehen. »Ich habe nämlich den Verdacht, daß diese Tasche beziehungsweise ihr Inhalt für die meisten Aufregungen verantwortlich ist.« »Es sind Beweise in einem Kriminalfall«, antwortete Rick wahrheitsgemäß, ohne alles zu enthüllen. Sie blickte ihn forschend an, zuckte endlich die Schultern und öffnete den Safe. Erleichtert schob Rick die Tasche hinein und beobachtete genau, wie sie die Kombination veränderte. Bei allem mußten sie sich mit dem flackernden Schein einiger Kerzen behelfen. Zwischendurch tauchten Blitze alles in gleißendes Licht, bei dem man überhaupt nichts erkennen konnte, weil es die Augen blendete. Die ganze Szene erschien Rick gespenstisch und unwirklich, und er atmete erleichtert auf, daß sie die Tasche mit ihrem wertvollen Inhalt endlich in Sicherheit wußten. »Wir müssen allerdings dafür sorgen, daß Mrs. Hallingford nicht in die falschen Hände gerät«, sagte Hempshaw leise zu dem Privatdetektiv, als sie die Halle durchquerten und die Bibliothek betraten. »Mrs. Hallingford weiß die Kombination. Freiwillig wird sie sie nicht verraten, aber wenn jemand nachhilft…« Rick schüttelte den Kopf. »Dann war es doch keine so gute Idee, nicht wahr, Kenneth?« seufzte er. »Wir brauchen zwar nicht mehr auf die Tasche aufzupassen, dafür müssen wir uns um Mrs. Hallingford kümmern. Das kommt auf das gleiche heraus.« »Es wird nicht leicht sein, in dieser Dunkelheit auf die Managerin aufzupassen.« Chefinspektor Hempshaw verzog sein Gesicht zu einem grimmigen Lächeln. »Die Nacht ist für uns noch lange nicht vorbei, Rick. Diesmal schließe ich mich Ihrer Meinung an. Es wird noch einiges passieren.« 107 �
*
Die Zeit schlich träge dahin. Es war erst fünf Uhr, als Rick Masters aus einem leichten Schlummer hochschreckte. Länger als ein oder zwei Minuten konnte er nicht geschlafen haben. Chefinspektor Hempshaw saß auf der anderen Seite des Tisches in der Bibliothek. Zwischen ihnen flackerten noch immer die Kerzen. Sie brannten extrem langsam, der Docht war kaum länger geworden. Die elektrische Beleuchtung funktionierte noch immer nicht. Seufzend reckte sich der Privatdetektiv. Die Müdigkeit drückte bleiern auf seine Augenlider, daß er sie kaum offenhalten konnte. Um nicht wieder einzuschlafen, stand er auf und trat an das Fenster zum Park. In einiger Entfernung glaubte er, eine Gestalt zu erkennen. Er war sich seiner Sache nicht sicher, doch als der nächste Blitz niederzuckte, wußte er es. Etwa dreißig Schritte vom Schloß entfernt stand ein Mann und blickte unverwandt zu Rick herüber. Der nächste Blitz schlug ungefähr hundert Meter von der Bibliothek entfernt in einen Metallzaun ein. Geblendet schloß Rick die Augen. Als er sie öffnete, sah er den Unbekannten noch immer an derselben Stelle. Schon entschloß sich der Privatdetektiv, nach draußen zu schleichen und den Mann zu überwältigen, wer immer es auch war. Doch dann schlug der nächste Blitz ein. Erschrocken blieb Rick stehen und wartete angespannt darauf, ob es noch eine Entladung geben würde. Sekunden später fuhr der nächste Blitz nieder. Jetzt gab es für Rick keinen Zweifel mehr. »Kenneth!« schrie er auf. »Rasch, Kenneth!« 108 �
Der Chefinspektor schreckte hoch und blickte schlaftrunken um sich. Erst als er Ricks heftige Zeichen bemerkte, kam er auf die Beine und trat an das Fenster heran. »Die Blitze schlagen immer dichter am Schloß ein«, berichtete Rick ohne lange Erklärungen. »Drei Blitze habe ich bisher beobachtet. Jeder lag ein Stück näher, und zwar kommen sie auf einer geraden Linie zu uns heran.« Schweigend beobachtete Hempshaw drei Blitze lang, ob Ricks Behauptung stimmte. Dann nickte er düster. »Sie haben recht«, sagte er. »Woher kommt das?« »Wenn wir die Linie verlängern, stoßen wir auf das Büro«, erklärte der Privatdetektiv. »Und dort auf den Safe! Jemand lenkt die Blitze gegen den Safe. Er will offenbar die Gebeine James Tuckers vernichten. Und zwar ist es… dort, sehen Sie!« Rick zeigte auf die Umrisse einer Gestalt. Sie konnten sich fast nur noch durch Zeichen verständigen oder mußten aus Leibeskräften schreien, weil das unablässige Grollen des Donners alle anderen Geräusche übertönte. Sie drückten die Gesichter gegen die Glasscheiben und spähten angestrengt nach draußen. In dem Sekundenbruchteil zwischen dem Aufflammen des nächsten Blitzes und der Blendung durch die Urgewalten der Natur erkannten sie das Gesicht. »Colonel Ripley!« stieß Chefinspektor Hempshaw hervor. »Richtig, es ist der Colonel«, bestätigte der Privatdetektiv. »Er will verhindern, daß der von ihm Ermordete jemals Ruhe findet. Ich gehe ins Büro hinüber und lasse mir von Mrs. Hallingford den Safe öffnen. Wir müssen die Tasche an einer anderen Stelle in Sicherheit bringen.« »Sobald Sie die Tasche haben, wird sich der Angriff gegen Sie richten«, gab der Chefinspektor zu bedenken. »So trifft er nur einen leblosen Gegenstand, nämlich den Safe, und der ist bestimmt versichert.« 109 �
»Das schon«, gab Rick zu. »Aber ich kann nicht zulassen, daß in Zukunft Penford Castle zu einer Stätte des Grauens wird, weil James Tuckers Gebeine im Safe verbrannt sind.« Er wollte den Raum verlassen, als ihn ein lauter Ruf des Chefinspektors zurückhielt. »Warten Sie noch, Rick!« überschrie Hempshaw den Donner. »Sehen Sie selbst.« Rick Masters kehrte an das Fenster zurück und wartete auf den nächsten Blitzschlag. Seiner Berechnung nach mußte er ungefähr fünfzig Schritte entfernt direkt vor ihnen einschlagen. Der Blitz spaltete einen mindestens zweihundert Meter entfernt stehenden Baum, der sich eben noch in ihrem Sichtfeld befand. Der Angriff der Naturgewalten fand nicht statt. * Rick Masters wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Das ist eben noch einmal gutgegangen«, seufzte er. »Ehrlich gesagt, Kenneth, ich wäre nicht gern vor den Blitzen geflohen.« »Die Nacht ist noch nicht vorbei«, bemerkte der Chefinspektor nervös. »Wer weiß, was noch alles geschieht.« »Sie wiederholen sich«, gab Rick grinsend zurück. Er konnte nicht wirklich über ihre Lage lachen, aber etwas wie Galgenhumor stieg in ihm hoch. »Ganz bestimmt wird sich…« Der Rest des Satzes ging in ohrenbetäubendem Krachen unter. Der Blitz hatte einen der Türme des Schlosses getroffen. Die Erschütterung ließ die Kerzenleuchter auf dem Tisch tanzen. In der Halle ertönten die Schreckensschreie der Gäste. »Ein solches Unwetter habe ich noch nicht erlebt«, rief der Chefinspektor, sobald das Grollen verklungen war. »Sie, Rick?« Der Privatdetektiv schüttelte den Kopf. »Ich werde einmal nach den Leuten draußen in der Halle sehen«, sagte er. »Und 110 �
anschließend kümmere ich mich um Hazel. Sie ist mit Elsa ganz allein.« Er stieß die Tür zur Halle auf. Das Bild hatte sich nicht verändert. Nach wie vor standen, lagen und saßen die Gäste und das Personal in der Halle teils auf den Sitzgarnituren, teils auf dem Boden. Die Hotelmanagerin hatte es aufgegeben, das Personal zum Arbeiten anzutreiben. Bei diesem Unwetter dachte auch niemand daran, irgend etwas zu bestellen. Unaufgefordert ließ sie ein paar Flaschen Whisky und Sherry kreisen, damit die Leute wenigstens ihre ärgste Angst betäuben konnten. Niemand achtete auf Rick. Er wollte Mrs. Hallingford auf sich aufmerksam, machen, damit sie mit ihm in ihr Büro ging, aber es gelang ihm nicht. Die Managerin hatte alle Hände voll zu tun und war nicht ansprechbar. Der Privatdetektiv verzichtete daher vorläufig auf eine Kontrolle des Tresors und ging nach oben, um nach Hazel und Elsa zu sehen. Klopfen hatte keinen Sinn, bei dem ununterbrochenen Donnergrollen hätte er schon mit beiden Fäusten gegen die Tür hämmern müssen. Er drückte die Tür auf und blieb überrascht stehen. Hazel hatte eine Petroleumlampe aufgetrieben. Sie stand auf dem Tisch und brannte mit schwacher Flamme. Der Brennstoffbehälter war noch zu drei Vierteln gefüllt, also würde die Lampe bis zum Anbrach des Tages durchhalten. Im schwachen Schein der Flamme sah Rick Elsa im Bett liegen. Sie hatte die Augen geschlossen, atmete gleichmäßig und schlief wahrscheinlich unter dem Einfluß von Beruhigungsmitteln trotz des unausgesetzten Lärms tief und fest. Und Hazel hatte es sich in einem Sessel bequem gemacht und die Beine auf einen Hocker gelegt und schlief ebenfalls. Bei ihr 111 �
wirkte die Müdigkeit wie das stärkste Schlafmittel. Rick nahm lächelnd eine Decke aus dem Schrank und legte sie über seine Freundin. Dann verließ er das Zimmer wieder und lief nach unten. Mrs. Hallingford war noch immer nicht für ihn zu sprechen, so daß er sich dazu entschloß, auf eigene Faust im Büro nach dem Rechten zu sehen. Der Inhalt der Tasche war für ihn einfach zu wertvoll, als daß er ihn lange unbeaufsichtigt gelassen hätte. Rick drückte die Tür zum Büro auf und schlüpfte in das dunkle Zimmer. Erschrocken prallte er zurück. Am Safe stand ein Mann und hantierte im Schein einer Taschenlampe am Kombinationsschloß. Rick tat einen Schritt in das Büro hinein. Sein Fuß stieß dabei gegen eine am Boden stehende Vase, die mit lautem Klirren umfiel. Der Mann am Safe wirbelte herum. Rick erkannte ihn im selben Moment. Es war Ernie Manson. Der Befehl des Geistes hatte ihn hierher geführt. * Rick Masters rührte sich nicht. Er wollte sich auf keinen Kampf mit dem von übersinnlichen Kräften besessenen Mann einlassen. Ernie Manson stand ganz unter dem Einfluß von James Tuckers Geist. Diesen Einbruch verübte er nur auf Befehl des Geistes. Warum sollte er überhaupt eingreifen, fragte sich Rick. Manson arbeitete im Interesse des Geistes und würde die Gebeine, falls er sie an sich brachte, richtig behandeln. Ein weiterer Kampf hatte keinen Sinn. Der Privatdetektiv wartete ab, und als Ernie Manson merkte, 112 �
daß Rick ihn nicht angriff, wandte er sich wieder der Safetür zu. Fasziniert beobachtete Rick, wie der Mann den Safe ohne Gewalt öffnete. Manson war kein Safeknacker, und er kannte die Kombination nicht. Trotzdem fand er mit traumwandlerischer Sicherheit die richtige Einstellung. Tuckers Geist half ihn dabei. Endlich öffnete sich die Safetür mit einem satten, saugenden Geräusch. Manson trat einen Schritt zur Seite, um in das Innere greifen zu können. In diesem Moment sprang das Fenster mit einem klirrenden Krachen auf. Ein Schatten schwang sich über die Fensterbank und stürzte sich auf Manson. Entsetzt erkannte Rick den Eindringling. Es war der Colonel, genauer die Leiche des Colonels. Der Geist des Mörders versuchte, die Gebeine seines Opfers an sich zu bringen. Er wollte gleichsam den Mord, den er vor siebenunddreißig Jahren begangen hatte, ein zweitesmal ausführen. »Manson, werfen Sie sich zur Seite!« rief Rick dem alten Mann zu. Es war die einzige Rettungsmöglichkeit, da ein normaler Mensch nicht gegen die Übermacht eines lebenden Toten ankämpfen konnte. Nicht einmal Ricks Pistole würde in dieser Situation helfen. »Manson, weg vom Safe!« rief der Privatdetektiv noch einmal, doch Manson blieb stehen und hob die Hände, um den Angreifer abzuwehren. Rick sah den Ausgang des Kampfes voraus. Manson war ein lebender Mensch aus Fleisch und Blut. Er konnte gegen den wandelnden Toten nicht ankommen, auch wenn ihn der Geist Tuckers lenkte. Mit einem einzigen Schlag stieß der Colonel den alten Mann zur Seite. Manson prallte schwer gegen die Safetür, verlor das Gleichgewicht und brach in die Knie. 113 �
Rick sprang vor. Er konnte nicht tatenlos zusehen, wie der alte Mann umgebracht wurde, auch wenn er Manson nicht zu helfen vermochte. Mit einem der Holzstühle holte Rick weit aus und schlug nach dem Colonel. Der Stuhl traf den Kopf des Untoten, der zerschmetterte und in seine Einzelteile auseinanderfiel. Der wandelnde Tote jedoch zeigte keinerlei Reaktion. Manson hätte die kurze Atempause benützen können, aber er war nicht freier Herr seiner Entscheidungen. Noch immer lenkte ihn der Geist James Tuckers. Manson warf sich erneut dem Angreifer entgegen. Diesmal half ihm nichts mehr. Die Hände des Colonels schlossen sich mit unerbittlicher Kraft um seinen Hals. Rick Masters schlug und zerrte an den Armen des lebenden Toten. Er tat alles, um diesen Mord zu verhindern. Es war vergeblich. Mit ohnmächtiger Wut mußte Rick mit ansehen, wie Mansons Bewegungen schlaffer wurden und er schließlich leblos auf den Boden rollte, als der Colonel ihn freigab. Jetzt richtete sich der Untote auf und wollte in den Safe greifen, doch Rick versetzte der schweren Panzertür einen Stoß. Sie fiel zu, die Verriegelung schnappte ein. Mit einem weiten Satz brachte sich der Privatdetektiv außer Reichweite des Untoten. Er rechnete damit, daß der Colonel ihn angreifen würde, um sich zu rächen, aber nichts dergleichen geschah. Eine Weile rüttelte der Colonel vergeblich an der Safetür. Als er sich nicht öffnen ließ, wandte er sich ab und verließ das Büro auf dem gleichen Weg, auf dem er eingedrungen war — durch das Fenster. Rick wischte sich den Schweiß von der Stirn. Trotz der kühlen Nachtluft, die durch die zerbrochene Scheibe hereinströmte, 114 �
glühte er vor Hitze. Seine Hände zitterten, als er ein Taschentuch hervorzog und sich damit das Gesicht trocknete. Verzweifelt starrte er auf den Toten, der vor dem Safe lag. Warum hatte er in diesem Fall nichts unternehmen können, um den Schrecken zu beenden? Warum war er nur so machtlos gewesen? Die Antwort gab er sich selbst im gleichen Atemzug, weil einander zwei Mächte aus dem Jenseits gegenüberstanden, James Tucker und der Colonel – Opfer und Mörder. Die Menschen auf Penford Castle bekamen die Auswirkungen dieser Auseinandersetzung zu spüren. Endlich gab sich Rick Masters einen Ruck und ging hinüber in die Bibliothek. Der Chefinspektor mußte von dem Mord erfahren und entscheiden, was als nächstes geschehen sollte. Rick hatte eine Idee, wie er ihre aussichtslose Lage bessern konnte. Die Frage war nur, ob er Hempshaw dafür würde gewinnen können. * Zuerst ging der Chefinspektor wortlos in das Büro der Managerin und untersuchte die Leiche Ernie Mansons. Jetzt ließ sich nicht vermeiden, daß auch Mrs. Hallingford aufmerksam wurde und den Toten in ihrem Arbeitszimmer sah. Sie hielt sich bemerkenswert tapfer, obwohl Manson einen schrecklichen Anblick bot. Und noch jemand zeigte Selbstbeherrschung – Hazel Kent, die ausgerechnet in diesem Moment in die Halle herunterkam und sich zum Büro durchfragte. Rick ging ihr an der Tür entgegen und legte ihr den Arm um die Schulter. »Ich bin aufgewacht und habe dich gesucht, Darling«, mur115 �
melte sie. »Armer Teufel! Was wird jetzt aus ihm und den anderen?« Rick wußte genau, wen sie mit den anderen meinte, nämlich die beiden wandelnden Toten, die auf verschiedenen Seiten kämpften. George Penning für das Mordopfer und Colonel Ripley für sich selbst. »Mrs. Hallingford«, wandte sich Rick an die Managerin des Hotels. »Gibt es auf Penford Castle einen Friedhof?« Sie schüttelte den Kopf. »Nicht mehr, Mr. Masters. Auf dem Friedhof wurde schon seit einigen Jahrzehnten niemand mehr begraben. Er existiert zwar noch, wird jedoch nicht mehr benützt. Das Geschlecht der Penfords ist ja schon lange ausgestorben.« »Zeigen Sie mir bitte den Friedhof und verschaffen Sie mir Hacke und Schaufel«, bat Rick. Der Chefinspektor warf ihm einen durchdringenden Blick zu und nickte. Er hatte offenbar verstanden, was Rick wollte, und bat die Hotelmanagerin ebenfalls um Werkzeug zum Graben. Hazel blieb in der Bibliothek, als sich die beiden Männer auf den Weg zu dem ehemaligen Friedhof machten. Er lag nicht weit vom Schloß entfernt, war ringsum von einer niedrigen Mauer umgeben und fast bis auf den letzten Platz belegt. Nur in einer Ecke fanden sie eine freie Fläche, die für ein Grab ausreichte. »Meinen Sie, daß ein so schlichtes Begräbnis genügen wird, um den Spuk zu beenden?« fragte Chefinspektor Hempshaw und gab damit indirekt zu, daß er nun doch endlich Ricks Theorie über den Fall voll und ganz akzeptierte. »Wir können nur hoffen, Kenneth, daß es genügt«, erwiderte der Privatdetektiv und machte sich an die Arbeit. Schweigend hoben sie ein Grab aus, während der Regen auf sie niederprasselte und sie bis auf die Haut durchnäßte. Keiner von ihnen achtete darauf. Statt dessen beeilten sie sich, das Grab fer116 �
tigzustellen, bevor ein weiteres Unglück geschah. Auf dem Rückweg blickte sich der Chefinspektor mehrmals um. »Ich habe mich schon gewundert, daß wir nicht angegriffen werden«, bemerkte er. »Warten Sie ab, bis wir die Gebeine zum Friedhof schaffen«, sagte Rick. »Das Grab allein stört den Mörder nicht. Er wird aber mit allen Mitteln verhindern, daß wir Tuckers Skelett darin zur Ruhe betten.« Fröstelnd zog der Chefinspektor den Kopf zwischen die Schultern und beschleunigte seinen Schritt. »Dann wollen wir es hinter uns bringen«, sagte er düster. »Kommen Sie, Rick!« * Hazel erwartete sie mit heißem Tee und Whisky, den sie nicht zu sparsam in die Teetassen füllte. »Rick, deine Kleider sind völlig durchnäßt!« rief sie aus, als sie ihren Freund erblickte. »Und Sie, Mr. Hempshaw, sehen auch nicht besser aus. Was habt ihr da draußen so lange gemacht?« Rick erklärte ihr seinen Plan, die sterblichen Überreste des Mordopfers nach siebenunddreißig Jahren zu begraben, um endlich die Ruhe auf Penford Castle wiederherzustellen. »Ich gehe mit«, entschied Hazel energisch. »Viel zu gefährlich«, wehrte der Chefinspektor ab. »Sie können nicht…« »Ich kann!« Hazel holte sich einen Regenschirm, nahm selbst einen kräftigen Schluck von dem Tee-Whisky-Gemisch und nickte den beiden Männern zu. »Worauf warten wir noch?« Achselzuckend suchten Rick und Hempshaw nach Mrs. Hallingford, ließen sich von ihr den Safe öffnen und nahmen die Tasche an sich. 117 �
Rick trug sie auf seinen Armen, während Hempshaw Ricks Pistole an sich nahm und sie entsicherte. Um die Hotelgäste möglichst wenig zu beunruhigen, stiegen sie einfach durch das zerbrochene Fenster des Büros ins Freie und schlugen die Richtung zu dem offengelassenen Friedhof ein. Sie waren noch keine zehn Schritt weit gegangen, als Hazel einen schrillen Warnschrei ausstieß. Rick wirbelte herum und starrte auf die dunkle Gestalt, die sich aus den Büschen löste und direkt auf ihn zukam. Er begann zu laufen, drückte die Tasche an sich und achtete darauf, daß er auf dem feuchten Boden nicht ausglitt. Hinter sich hörte er das Keuchen des Chefinspektors und Hazels. Als er einmal für einen Moment den Kopf wandte, sah er auch den Verfolger, der deutlich aufgeholt hatte. Es war der Colonel, der mit allen Mitteln verhindern wollte, daß die Gebeine seines Opfers begraben wurden. Wenn er Rick erreichte, war der Privatdetektiv verloren. »Schießen Sie, Kenneth!« schrie Rick in seiner Verzweiflung, obwohl er wußte, daß gewöhnliche Patronen einer wandelnden Leiche nichts anhaben konnten. »Schießen Sie endlich!« Der Chefinspektor blieb stehen und legte auf den Colonel an. Drei-, viermal bellte die Waffe in seinen Händen auf. Die Kugeln trafen, aber sie riefen keine Wirkung hervor. Hempshaw steckte die Pistole weg und warf sich dem Untoten in den Weg. Ein normaler Mensch wäre durch den Zusammenprall aufgehalten worden. Nicht so der lebende Tote. Hempshaw schrie auf, als ihn der Colonel rammte. Er hatte das Gefühl, gegen einen fahrenden Zug geprallt zu sein. Hoch wirbelte er in die Luft und fiel schwer auf die durchweichte Wiese zurück. Nur der morastige Boden dämpfte seinen Aufprall, daß er sich wieder aufraffen konnte. 118 �
Rick Masters hatte erst die halbe Strecke zum Friedhof zurückgelegt. Er wandte noch einmal den Kopf und erkannte, daß er es nicht schaffen konnte. Doch in diesem Moment tauchten zwei andere Gestalten dicht vor Rick aus den Büschen auf und verlegten dem Colonel den Weg. Mit Schaudern erkannte Rick seinen Vetter George und Ernie Manson! Der Geist hatte beide wiederbelebt, um sie dem Colonel entgegenzustellen. Nur für Sekunden sah Rick dem Kampf zu, der sich zwischen den drei Untoten entspann. Rick Masters konnte seinen Schritt verlangsamen und sogar warten, bis ihn Hazel und der Chefinspektor eingeholt hatten. Noch einmal wandten sie sich schaudernd nach den drei lebenden Toten um, dann beeilten sie sich, daß sie endlich zum Friedhof kamen. * Das offene Grab hatte sich bereits mit Regenwasser gefüllt. Rick ließ die Tasche hineinfallen. Gemeinsam mit dem Chefinspektor schaufelte er das feuchte Erdreich wieder in die offene Grube. Hazel blieb unterdessen auf der niedrigen Mauer stehen, um die Umgebung zu beobachten. »Ich kann die Kämpfenden sehen«, rief sie nach einer Weile. »Es wird heller!« Das merkte auch Rick, der alles bereits ohne Schwierigkeiten erkennen konnte. »Die Wolkendecke reißt auf«, rief er keuchend. »Woran wollen Sie erkennen, ob es funktioniert?« stöhnte der Chefinspektor. »Ich meine, daß der Bann gebrochen ist?« »Abwarten«, gab der Privatdetektiv zurück. Er wußte selbst noch nicht, ob und wie sie einen Erfolg merken würden. 119 �
»Rick, sie kommen näher!« rief Hazel plötzlich aufgeregt. Erschrocken fuhren Rick Masters und Chefinspektor Hempshaw auf, als sie ohrenbetäubendes Krachen ganz in ihrer Nähe hörten. Im selben Moment zuckten auch wieder grelle Blitze aus den Wolken, die sich über dem Friedhof schlössen. Rings um sie schlugen die Blitze ein. Sie schrien erschrocken auf, aber ihre Schreie gingen in dem betäubenden Donnern unter. Mit Gesten machte sich Rick dem Chefinspektor verständlich. Er zeigte Hempshaw, daß sie das Grab so schnell wie möglich schließen sollten. Sie schaufelten mit aller Kraft. Zwischendurch warf Rick immer wieder einen Blick über die Mauer. Er konnte jetzt von seinem Standort die drei Untoten sehen. Der Colonel kämpfte mit der Wut des Unterlegenen, der sein Ziel nicht aufgeben wollte. George und Manson fingen jeden seiner Hiebe auf und versuchten immer wieder, ihn vom Friedhof fernzuhalten. Der lebende Tote verfugte über unglaubliche Kräfte. Entsetzt stellte Rick fest, daß der Colonel sogar noch stärker war als George und Manson zusammengenommen. Nicht mehr lange, und er würde seine beiden Gegner überwunden haben und durchbrechen. »Schneller!« brüllte er dem Chefinspektor zu und schaufelte mit aller Kraft die letzte Erde zurück in das frische Grab. »Vorsicht!« schrie Hazel. Ricks Kopf zuckte hoch. Der Colonel war durchgebrochen und näherte sich ihnen mit unglaublicher Geschwindigkeit. »Fertig!« rief Chefinspektor Hempshaw. Er hatte soeben die letzte Schaufel Erde auf den kleinen Hügel geworfen und festgedrückt. Im selben Moment blieb der Colonel stehen, als wäre er gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen. Auch George und Manson erstarrten. 120 �
In atemloser Spannung warteten sie darauf, was als nächstes geschehen würde. Die Wolkendecke riß von Horizont zu Horizont und trieb rasch auseinander. Blauer Himmel kam zum Vorschein. Im Westen noch dunkel, im Osten rötlich gefärbt. Der Sonnenaufgang stand unmittelbar bevor. Der Colonel und die beiden anderen Untoten sanken zu Boden und rührten sich nicht mehr. Rick Masters löste sich als erster aus seiner Starre und trat an die drei Leichen heran. »Wir haben nichts mehr von ihnen zu befürchten, Kenneth«, flüsterte er. »Sie sind tot. Lassen Sie sie abtransportieren.« Chefinspektor Hempshaw nickte stumm und kehrte mit hängenden Schultern zum Schloß zurück. Rick Masters trat auf seine Freundin zu und legte Hazel die Arme um die Schultern. Sie lehnte sich gegen ihn und warf einen langen Blick auf die drei Leichen. »Ein Mord, der siebenunddreißig Jahre zurückliegt«, murmelte sie. »Und heute ist die böse Saat aufgegangen.« »Ich konnte es nicht verhindern«, sagte Rick, als müßte er sich rechtfertigen. »Ich weiß«, beruhigte ihn Hazel. »Komm ins Schloß! Vielleicht hat noch jemand heißen Tee für uns.« Nach einem letzten Blick auf die drei Opfer kehrten sie nach Penford Castle zurück, in dem ein Urlaub zu einer Flut des Grauens geworden war. ENDE
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