Sara Paretsky
Geisterland Roman
Aus dem Amerikanischen von Sonja Hauser Die amerikanische Originalausgabe erscheint 1...
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Sara Paretsky
Geisterland Roman
Aus dem Amerikanischen von Sonja Hauser Die amerikanische Originalausgabe erscheint 1998 unter dem Titel »Ghostcountry« bei Delacorte, New York
Für Enheduanna und alle vermißten Poeten
Inhalt
1 Die Diva wärmt sich auf....................... 9 2 Die Hölle ................................... 22 3 Das häßliche Entlein.......................... 31 4 Die Frau an der Wand......................... 45 5 Performance hinter den Kulissen................ 51 6 Hagar's House............................... 60 7 Open-air-Klinik.............................. 70 8 Unsanftes Erwachen .......................... 80 9 Bibelstunde.................................. 87 10 Ausgezählt .................................. 99 11 Nach dem Aufruhr ........................... 106 12 Waschen Sie Ihre Hände in Blut?................ 118 13 Beschwörung der Göttin....................... 124 14 Barballaden.................................. 132 15 Ins kalte Wasser geworfen...................... 143 16 Verloren im Raum............................ 155 17 Blitz und Donner vom Großen Weißen Chef...... 156 18 Die Vorhölle................................. 166 19 Die Eiskönigin in der Unterwelt ................ 172 20 Die Eiskönigin kommt ins Schleudern ........... 181 21 Die heilige Becca erschlägt einen Drachen ........ 188 22 Endlich frei?................................. 194 23 Die vaterlose Waise ........................... 198 24 Die Zelte werden abgebrochen.................. 206 25 Die Vergangenheit wird ausgegraben............. 213 26 Sintflut ..................................... 221 27 Starr........................................ 231 28 Flucht aus der Klapsmühle..................... 242 29 Die große Schwester läßt los.................... 249 30 Ein Abend in der Oper........................ 256 31 Ein Opfer für die Jungfrau.....................258 32 Geschwüre, Skorbut und Aussatz ...............266 33 Der Laufbursche des Großen Weißen Chefs ......276 34 Noch einmal in den Kampf, Freunde ............281 35 Die Klagemauer..............................289 36 Eine Opernaufführung ........................295 37 Prinzessin in Schwierigkeiten...................300 38 Rummel an der Garage........................311 39 Wunder.....................................320 40 Zeig uns deine Möpse, Schätzchen...............331 41 Die Truppen sammeln sich.....................338 42 Palastrevolte.................................34^
43 Unter dem zunehmenden Mond ................357 44 Auf der Flucht...............................363 45 Die Anwältin als Bittstellerin...................371 46 Ketzer in der Kirche ..........................380 47 Traubensaft zu Wein ..........................387 48 Die Diva in Gefahr ...........................395 49 Mutter der Metzen............................397 50 Mord in der Kirche ...........................4°3 51 Und die Wand stürzte ein......................410 52 Der Tapferste der Trojaner.....................415 53 Extravorstellung im Krankenhaus...............418 54 Das Gesicht im Spiegel ........................429 55 Eine Dame verschwindet ......................433 56 Beisetzungsriten..............................44° 57 Der Schwan .................................452
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Die Diva wärmt sich auf
irgendwo in der Ferne brummte ein Cello. Sie versuchte mit aller Macht, sich zu erinnern, was das bedeutete: ein wütender Mensch, der kam, um ihr weh zu tun. Sie bemühte sich, auf die Beine zu kommen, aber sie hatte das Gefühl, irgend etwas ziehe sie nach unten. Vielleicht hatte auch jemand Gewichte an ihren Beinen befestigt, als sie vor der Madonna kniete. Das Cello wurde lauter, und sie geriet in Panik. Sie kämpfte mit ihrem Nachthemd, das sich um ihre Taille bauschte. Dann sah sie den Mann, der sich über sie beugte, das Gesicht rot-schwarz vor Zorn. »Nein, bringen Sie mich nicht um! Ich war's nicht, es war jemand anders! Die haben Gewichte an meinen Beinen befestigt!« Sie hörte sich selbst lachen, völlig nackt unter seinem Blick, und ihre Stimme hallte von Decke und Wänden wider. »Schauen Sie: Ich verberge nichts!« »Verdammtes Miststück!« zischte er. »Ich wünschte, ich könnte dich umbringen!« Er packte ein Kissen und drückte es ihr aufs Gesicht. Jemand anders packte ihre Arme und Beine, mit denen sie wild um sich schlug, wickelte sie in Laken und band sie fest um ihren Körper. Sie hustete, würgte, betete um Luft, und plötzlich war sie wach. Sie tastete ihren Hals ab. Die Muskeln waren so angespannt, daß ihr diese Berührung weh tat. Sie erinnerte sich jetzt nicht mehr an den Traum und auch nicht an die Vorfälle der vergangenen Nacht, aber ein unheilverkündender Schatten lag über ihrem Bewußtsein. Sie streckte die Hand nach ihrem Morgenrock aus, doch ihre Finger griffen ins Leere. Angst schnürte ihr die Kehle zu: Sie lag in einem Doppelbett, nicht ihrem eigenen Himmelbett, und sie hatte sich schlafen gelegt oder hatte 3 jemand anders sie ins Bett gebracht? -, ohne sich auszuziehen. Ihre Seidenbluse hatte sich nach oben geschoben, als sie schlief, und formte jetzt einen unbequemen Wulst um ihre Taille. Sie schlug die Decke zurück und sprang auf, viel zu schnell: Das Zimmer begann sich zu drehen, und ihre bestrumpften Füße rutschten auf den Dielen weg. Ihr Magen rebellierte. Gerade noch rechtzeitig fand sie einen Papierkorb. Sie hatte in den letzten Stunden nicht viel gegessen; aus ihrem Magen kam nur saure grüne Flüssigkeit. Kniend suchte sie auf dem Nachttischchen nach Papiertüchern. Dann fiel ihr Blick auf einen Radiowecker. Ein Uhr. Konnte das stimmen? Die Jalousien waren heruntergelassen, aber an den Rändern drang Sonnenlicht herein. Also konnte es nicht ein Uhr morgens sein - aber was tat sie am helllichten Tag in einem fremden Bett? Es sei denn, die Uhr ging nicht richtig. Sie war in La Bohème gewesen. Möglicherweise ist es ganz amüsant zu sehen, was eine kleine Truppe daraus macht, hatte sie gedacht. Deshalb also trug sie ihren Rock aus schwarzer Shantungseide. Sie erinnerte sich noch daran, sich angezogen zu haben, und wenn sie sich sehr konzentrierte, sogar daran, daß sie zusammen mit ihrem Begleiter einen Drink genommen hatte, bevor sie sich auf den Weg machten. Das war so gegen sechs gewesen. Sie waren in einem Restaurant gewesen; der Kellner war ziemlich unhöflich zu ihr; aber von der Aufführung wußte sie nichts mehr. Vielleicht hatten sie sie gar nicht besucht. Wie hatte ihr Begleiter überhaupt
geheißen? Ein Bewunderer - von denen gab es zu viele, als daß sie sich an jeden einzelnen erinnerte. Dieser Mann hatte ihr in den letzten sechs Wochen sogar seine Wohnung zur Verfügung gestellt, aber er trank beim Abendessen oft so viel, daß er im Theater einschlief. Neben dem Radiowecker befand sich ein Familienfoto -Becca, verkleidet als Esther für eine Aufführung der Sonntagsschule, dunkle, borstige Korkenzieherlocken umrahmten ihr Gesicht, und Harry, der sie anschmachtete. Becca war das genaue Ebenbild von Harry mit ihrem runden Gesicht und io
den Grübchen in den Wangen - aber sie war hübsch, und Harry sah aus wie ein Frosch. Sie selbst hatte immer Vasti, die sich gegen die sinnlosen Befehle des Königs wehrte, interessanter gefunden als die hirnlose Esther. Also war sie in Harrys und Karens Gästezimmer - wie dumm von ihr, es nicht zu erkennen, obwohl sie es schon so lange kannte. Harry hatte sie gezwungen, Italien zu verlassen, wie immer mit einer Klage über ihre Verschwendungssucht. Wenn sie zu Hause wäre - in ihrem wirklichen Zuhause in New York, nicht in der Wohnung, in der sie die letzten Wochen verbracht hatte -, würde sie sich einen Tee und eine Masseurin kommen lassen. Wenigstens konnte sie duschen. Sie zog ihre Strumpfhose aus und ließ sie zu Boden gleiten. Das Gästebad befand sich am anderen Ende des Flurs, also konnte sie sich nicht hier ausziehen, aber wenigstens würde sie sich ihres Büstenhalters entledigen. Er hatte sich in der Nacht nach oben verschoben und schnitt ihr nun in die Brust. Sie hatte das Gefühl, als wolle sie jemand erwürgen. Vorne auf ihrer Bluse war ein großer Fleck. War der schon drauf gewesen, als sie sie angezogen hatte? Hoffentlich war sie nicht so ins Restaurant gegangen. Sie hängte die Bluse um die Schultern, die Seide kühl auf ihren Brustwarzen. Vielleicht war sie lang genug, um sie als Morgenmantel verwenden zu können. Gerade als sie die Blusenzipfel bis zu ihren Oberschenkeln herunterzog, hörte sie Harry brüllen: »Will sie den ganzen Tag verschlafen? Was denkt sie eigentlich, wo sie ist? In New York, im verdammten Plaza Hotel vielleicht?« Dann eine Frauenstimme, zu leise, als daß sie beurteilen konnte, ob sie Karen oder Becca gehörte, und wieder Harry, der brüllte: »Geh rauf und weck sie. Sie schläft seit vier, schon viel länger als ich. Ich will mit Ihrer Hoheit sprechen.« Dann ein zaghaftes Klopfen, und Becca streckte den Kopf zur Tür herein. »Ach, du bist wach. Daddy möchte mit dir sprechen.« Sie deutete auf ihren Hals und schüttelte den Kopf. »Du hast die Stimme verloren?« fragte Becca und kam ganz ins Zimmer. Sie war vierzehn, die Zähne weiß hinter ihrer Spange, die Haare aber immer noch ziemlich widerspenstig. Sie trug jetzt nicht die fließende blaue Robe von Esther, sondern Pullunder, Shorts und Springerstiefel. »Janice? Bist du wach? Wir müssen uns unterhalten!« Harrys laute Stimme ließ sie zusammenzucken. »Sie hat die Stimme verloren!« rief Becca zurück, die offenbar ihre Freude an der Dramatik des Augenblicks hatte. »Dann soll sie sie verdammt noch mal suchen!« Harry stürmte ins Zimmer, doch als er ihre Brüste unter der Seidenbluse sah, wurde er rot und wandte den Blick ab. Er packte Becca und versuchte, sie aus dem Zimmer zu schieben. Doch Becca befreite sich aus seinem Griff. »Mein Gott, Daddy, du tust gerade so, wie wenn die Leute, die ich kenne, keine Brüste hätten. Wir sehen uns nach dem Fußballspielen immer nackt. Und meinen eigenen Busen kann ich mir doch auch anschauen.« »Red nicht so mit mir, ich bin keiner von deinen Schulkameraden.« Das kam ganz automatisch und klang nicht sonderlich überzeugend. »Janice, knöpf deine verdammte Bluse zu und kommt mit in die Küche. Wir müssen miteinander reden.« Jemand hatte ihre Jacke und ihre Handtasche neben der Frisierkommode auf den Boden fallen lassen. Sie hob die Jacke auf, hängte sie mit großer Geste ordentlich über einen Stuhlrücken und zupfte die Ärmel zurecht, während Harry sie hilflos von hinten anfauchte. Dann suchte sie ebenso theatralisch in ihrer Handtasche nach einem Stift. HEISSER TEE schrieb sie in Großbuchstaben auf die Rückseite eines Umschlags, den sie auf der Frisierkommode fand, und dann DUSCHE. Sie reichte Becca das Kuvert und ging den Flur entlang zum Bad, wo sie die Wasserhähne aufdrehte, um Harrys Proteste zu ertränken. Als der Wasserdampf sich im Bad ausbreitete, trat sie in die Dusche und begann die Muskeln in ihren Schultern zu kneten.
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Sie hielt den Wasserstrahl in ihren Mund, so daß er ihren Hals von innen massieren konnte, gurgelte ein bißchen und wandte dann den Rücken dem Wasser zu. Sanft ließ sie ihre Zunge über die Schneidezähne rollen. Mit leisen Trillern bewegte sie sich im mittleren Bereich ihres Stimmumfangs auf und ab, kaum, daß etwas zu hören war. Als ihre Nackenmuskeln sich zu entspannen begannen, versuchte sie es mit ein paar Vokalübungen, immer noch im mittleren Bereich, doch diesmal ein bißchen lauter. Nach ungefähr zwanzigminütigen Vokalübungen hämmerte jemand an die Badezimmertür, doch sie reagierte nicht, weil sie wußte, daß es Harry war. Sie konnte sich nicht nur denken, was er zu sagen hatte, sondern würde sich obendrein erkälten und müßte mit ihren Übungen noch einmal von vorne anfangen, wenn sie jetzt damit aufhörte. Also lockerte sie noch weitere zehn Minuten lang ihre Stimme mit Hilfe des Dampfes, bis sie glaubte, aus der Dusche steigen und ihre Übungen im Musikzimmer fortsetzen zu können. Sorgfältig legte sie ein Handtuch um ihren Hals, bevor sie die Duschkabine verließ, und nahm es erst wieder weg, als sie sich abgetrocknet hatte. Dann kickte sie die benutzten Handtücher hinüber in Richtung des Korbes für die schmutzige Wäsche. An der Tür hing ein Morgenmantel aus Baumwolle. Der gehörte sicher Karen, denn er hatte ein tiefrotes Blumenmuster und mehrere Schichten Spitze an den Ärmeln, aber niemand würde sie darin sehen, und das Ding war immer noch besser als ihre schmutzige Bluse. Der Morgenmantel wurde durch ein kompliziertes System von Bändern zusammengehalten; sie versuchte, den Mantel so hoch wie möglich um ihren Hals zu schließen, um diesen vor der Luft aus der Klimaanlage zu schützen. Um sicherzugehen, nahm sie noch ein Handtuch aus dem Schrank und legte es sich um den Hals. Sie hielt ihre Seidenbluse über den Berg von feuchten Handtüchern: Karen würde doch sicher daran denken, sie reinigen zu lassen, und sie nicht einfach in die Wasch '5
maschine stopfen, oder? Sie würde es ihr sagen, sobald sie mit ihren Übungen fertig war. Natürlich hatte Harry kein richtiges Musikzimmer, aber im Wohnzimmer befand sich ein ziemlich schlecht gestimmtes Klavier, das Instrument aus dem Haus ihrer Eltern, das sie benutzt hatte, als sie mit dem Singen anfing. Als sie am Schlafzimmer vorbei und die Treppe hinunterging, summte sie vor sich hin. Das Geräusch hallte in ihrem Kopf wider, und das Brummen sagte ihr, daß ihr Atem mühelos floß. Becca rannte hinter ihr her und reichte ihr eine große Tasse mit lauwarmem Tee. Sie blieb nicht stehen und hörte auch nicht auf zu summen, schenkte ihr aber ein hoheitsvolles Nicken. Vor dem Klavier ließ sie das Summen wieder zu Vokalen und dann zu Trillern werden. Nach einer halben Stunde war sie völlig verschwitzt, aber zufrieden mit ihrer Stimme. Bereits nach einer Viertelstunde hatte sie den Tee ausgetrunken und die Hand mit der Tasse ausgestreckt, damit sie wieder aufgefüllt würde. Als Becca nicht reagierte, hatte sie sich überrascht umgedreht und festgestellt, daß sie allein im Zimmer war. Früher hatte das Mädchen ihr immer gern bei ihren Übungen zugehört. Immer noch summend, war sie ins Bad gegangen und hatte die Tasse mit heißem Wasser aus dem Hahn gefüllt. Karen hatte den Kopf aus der Küche gestreckt, als sie vorbeiging. »Ach! Würdest du bitte die Handtücher in den Wäschekorb tun, wenn du fertig bist? Ich werde erst am Dienstag waschen. Möchtest du was zu essen? Harry mußte...« Sie hatte der nörgelnden Stimme den Rücken zugewandt, nicht sonderlich interessiert an dem, was Harry möglicherweise tun mußte, und war - immer noch summend - ins Wohnzimmer zurückgekehrt, um ihre Übungen zu Ende zu bringen. Früher hatte sie sie immer mit »Visi d'arte« aus Tosca abgeschlossen. Die Kraft ihrer Stimme, die sich schließlich bis zu jenem hohen D erhob, versetzte sie in Hochstimmung. Aber heute, das ahnte sie, würde sie die Arie nicht schaffen, und ihr Versagen vor Karen und Becca würde sie aus der Fassung bringen. Also gab sie sich mit ein paar deutschen Liedern
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zufrieden, die intellektuell anspruchsvoll waren, aber keine allzu hohen Anforderungen an die Stimme stellten. Nachdem sie sich Gesicht und Brust mit dem Handtuch abgetrocknet hatte, das zuvor ihren Hals umhüllte, ließ sie es neben dem Klavier auf den Boden fallen. Die Tasse nahm sie mit in die Küche und stellte sie sogar in die Geschirrspülmaschine. Harry konnte wirklich nicht behaupten, daß sie keinerlei Rücksicht auf seine Frau nahm.
Karen war mittlerweile im Garten hinterm Haus, wo sie sich, mit ausgebleichten Shorts und Hemd bekleidet, über ihre Pflanzen beugte. Dumpfes Wummern von oben ließ darauf schließen, daß Becca im Obergeschoß einem hämmernden Baß lauschte, den die heutigen Teenager für Musik hielten. "War dem Kind dieser Lärm wirklich lieber gewesen als ihre eigenen Übungen? Sie schnaubte wie ein hochgezüchtetes Rennpferd. Gott sei Dank war Harry verschwunden. Vielleicht riefen ihn die Alteisenberge auch am Sonntag. Das bedeutete, daß sie in Ruhe Mittag essen konnte, auch wenn sich nicht viel Verführerisches in Karens Kühlschrank befand: die Überreste des sonntäglichen Familienfrühstücks, bestehend aus Bagels mit bunten Lachsquadraten, die aussahen wie Linoleumreste; ein bißchen Lammbraten; Käse, der ihren Hals wieder verschleimen würde, und Eisbergsalat. Naserümpfend nahm sie einen Bagel sowie eine Grapefruit aus dem Kühlschrank und setzte Wasser für den Kaffee auf. Becca stapfte die hintere Treppe zur Küche herunter. »Hast du deine Stimme wieder?« »Ja, die ist jetzt so gut, daß sie Gläser zum Schwingen bringen kann.« Ohne die Stimme zu heben, nur mit Hilfe ihres perfekten Luftstroms, erzeugte sie einen hohen Ton, der Karens Kristallgläser in Schwingungen versetzte. Dieser Trick hatte Becca bereits als Kleinkind erfreut, und auch jetzt brachte er sie noch zum Grinsen. »Daddy ist wütend, aber er hat beschlossen, deinetwegen nicht auf seinen Golftermin zu verzichten.« »Harry ist von Natur aus jähzornig. Gibt's noch einen anderen Grund?« Becca schlang die Arme um die Knie. »Carl Benedetti hat ihn heute morgen um zwei angerufen, damit er dich aus dem Gefängnis holt.« Ihr Magen verkrampfte sich. Aus dem Gefängnis? Mit zitternden Händen nahm sie die Tasse Kaffee und verschüttete eine ganze Menge davon auf den Tisch. Becca ging zur Spüle, um einen Schwamm zu holen, und wischte die Pfütze weg. »Schätzchen, machen Teenager so was heutzutage? - Geschichten erfinden, um die ältere Generation zu schockieren?« »Mom hat schon gesagt, daß du dich wahrscheinlich nicht erinnern würdest.« Becca sah sie mit ihren grünen Augen besorgt an. »Und weswegen soll ich im Gefängnis gewesen sein? Vielleicht, weil ich mir unbefugt Zutritt zu Minskys Schrottplatz verschafft habe?« Durch das jahrelange Training gelang es ihr, ein spöttisch trillerndes Lachen hervorzubringen, obwohl ihre Hände zitterten. »Und was um Himmels willen hat Carl damit zu tun? Als ich das letzte Mal von ihm gehört habe, hat er gerade The Ghosts of Versailles an der Met zu Ende gebracht.« »Du hast ihn angerufen. Oder besser gesagt: Jemand hat ihn angerufen, und dieser Jemand hat dann Daddy angerufen, der nach Chicago reinfahren mußte, um dich zu holen. Daddy sagt, eigentlich hätte er dich dort versauern lassen sollen, das hätte dir nur gutgetan.« »Ach, Jan... ah, gut, daß du auf bist.« Karen war hereingekommen und wusch sich an der Spüle den Schmutz von den Händen. »Wir müssen uns unterhalten. Über heute Nacht.« »Becca hat mir so eine grausige Teenagergeschichte erzählt«, sagte sie ganz beiläufig. »Meiner Meinung nach solltest du solche kindischen Scherze nicht unterstützen. Und außerdem möchte ich nicht, daß du dich in meine Angelegenheiten einmischst.« »Ich soll mich nicht in deine Angelegenheiten einmischen?« Karen kreischte so laut, daß Töpfe und Gläser zu wackeln be 6 gannen. »Carl Benedetti hat uns mitten in der Nacht angerufen, nachdem du ihn aus dem Bett geholt hattest. Erinnerst du dich denn nicht mehr daran? Schau mich an und grins nicht so überheblich! Du hast dich gestern in La Boheme ganz schön lächerlich gemacht. Zwei meiner Nachbarn, die noch gar nichts von der Festnahme wissen, haben mich heute schon angerufen, um mir davon zu erzählen. Du hast den ganzen ersten Akt laut mitgesummt, und dann hast du beschlossen, dem armen Mädchen, das die Chance bekommen hatte, ihr Debüt in einer Amateuraufführung zu geben, die Schau zu stehlen. Du bist aufgestanden und hast den ganzen dritten Akt ihre Partie mitgesungen. Und jetzt sitzt du hier in meiner Küche, ißt meine Sachen, nachdem du ungefähr dreißig schmutzige Handtücher im ganzen Haus verstreut hast, und tust so, als würdest du dich an nichts mehr erinnern.« »Ich glaube nicht, daß sie sich erinnert, Mom. Das haben wir im Frühjahr gelernt, als wir in der Schule das Thema >Alkoholismus< behandelt haben. Man kann so betrunken sein, daß man sich hinterher nicht mehr an das erinnert, was man getan hat, besonders wenn's peinlich war.«
»Becca! Willst du... könnte es sein, daß du mich eine Alkoholikerin nennst?« »Bitte!« Becca, die sie früher sehr bewundert hatte, sah sie jetzt so bekümmert an, daß sie den Blick abwenden mußte. »Es macht alles nur noch schlimmer, wenn du lügst. Dabei weiß doch jeder, daß du deswegen in Chicago bist und nicht in New York. Du brauchst dich nicht zu schämen. Schließlich kannst du nichts dafür. Es ist eine Krankheit, und wenn du nur zugeben könntest...« Sie fegte die Teller vom Tisch und freute sich über den Lärm und die Bestürzung auf Karens und Beccas Gesicht, als sie zerbrachen. »Wenn ihr fertig seid mit euren grotesken Anschuldigungen, könntet ihr dann so gut sein, mir ein paar frische Sachen zum Anziehen zu suchen? Ich rufe dann jemanden an, der mich abholt.« »Wenn du meinst. Aber von meinen Sachen kannst du nichts ¡7 mehr haben. Als du das letzte Mal hier warst, hast du dir mein Donna-Karan-Kostüm ausgeliehen, und als du es mir dann endlich wiedergegeben hast, war es so versaut, daß sie selbst in der Reinigung nichts mehr machen konnten.« Karen atmete tief durch. »Und Harry möchte, daß du dir einen Job suchst. Er ist es leid, dich durchzufüttern.« »Möchte er vielleicht, daß ich mit einem Laster auf dem Schrottplatz herumfahre? Na, das wäre ja ein hübscher Anblick.« »Janice, du kannst tun, was jede andere Diva im Ruhestand auch macht: Du kannst...« »Mein Name ist Luisa Montcrief, und ich bin nicht im Ruhestand!« Hätte sie doch die Teller nicht schon bei Beccas kindischer Bemerkung heruntergewischt - jetzt war ihre Wut echt, und sie mußte sich körperlich abreagieren. »Ich möchte diese Stadt genauso gerne verlassen, wie ihr mich loswerden wollt, aber mein Manager hat es bis jetzt nicht als nötig erachtet, mir die Engagements zu verschaffen, die ich mir vorstelle.« »Tja, dann ruf ihn an und nimm Aufträge an, die du dir nicht vorstellst.« »Damit alle genau wie du behaupten, meine besten Tage seien vorbei? Ich glaube nicht, daß ich das möchte!« »Selbst wenn du nicht im Ruhestand bist: Würde es dich denn umbringen, wenn du ein paar Gesangstunden gibst? Es muß doch ein paar Leute in Chicago geben, die meinen, du könntest ihnen was Interessantes übers Singen beibringen.« Karen klang nicht allzu hoffnungsvoll. »Na schön. Ich rufe meinen Manager morgen früh an und sage ihm, daß ich allmählich ungeduldig werde.« Damit rauschte sie aus dem Zimmer, ganz die große Diva. »Wieso hast du ihr einen Tee gemacht? Habe ich dir nicht gesagt, daß du sie nicht bedienen sollst?« Karen holte einen Besen aus der Kammer und kehrte die Scherben zusammen. Becca nahm eine Haarsträhne in den Mund. »Die Aufmerksamkeit der Menschen fehlt ihr.« »Aber es ist nicht deine Aufgabe, meine Liebe, ihr DienstiS mädchen, ihre Zuhörerin und obendrein noch ihre Sekretärin zu spielen.« »Sie hat die Gläser für mich zum Klingen gebracht«, sagte ihre Tochter. »Es sieht deinem Vater ähnlich, daß er zum Golfspielen geht und mich mit ihr allein läßt«, brummte Karen. »Schließlich ist sie seine Zwillingsschwester und nicht meine. Ich habe ihn geheiratet und versprochen, in guten wie in schlechten Zeiten zu ihm zu stehen und nicht zu ihr.« »Tja, die schlechten Zeiten*, die sind eben sie für dich, Mom, das ist alles. Außerdem hat Daddy versucht, mit ihr zu reden, aber sie hat sich stundenlang im Bad eingeschlossen.« Karen zwang sich zu einem Lächeln. »Ich weiß, Kleines, deine Tante gibt mir ein Gefühl der Hilflosigkeit, und das macht mich aggressiv.« »Es war schön, als sie noch berühmt war«, sagte Becca. »Erinnerst du dich noch, wie wir damals zusammen mit Jackie Onassis beim Abendessen waren? Corie hat mir das nicht geglaubt - ich hab' ihm die Fotos zeigen müssen. Du hast so stark ausgesehen in deinem roten Kleid. Und ich war wie ein kleines siebenjähriges Mastschwein mit einer grausigen Perücke.« »Kleines, du hast wundervoll ausgesehen. Genau wie jetzt, obwohl du weißt, daß ich nicht sonderlich viel von diesen Springerstiefeln halte.« »Warum nennst du sie Janice, obwohl du weißt, daß sie den Namen haßt und ihn schon vor Jahrzehnten hat ändern lassen?« »Die Leute unterstützen deine Tante in ihrem Bestreben, die Wirklichkeit zu verdrängen, seit sie siebzehn ist. Da brauche ich ihr nicht auch noch zu helfen - ganz im Gegenteil. Es wird allmählich Zeit, daß sie mit der Schauspielerei aufhört und sich ihrem Alkoholproblem stellt.«
»Aber Daddy und du, ihr habt sie doch schon Janice genannt, als sie noch Engagements hatte. Janice Minsky - was für ein Name. Mit dem Namen würde ich auch kein Star sein wollen. Jemand wie ich würde allerdings auch nie ein Star. Warum habe ich nichts von ihr oder von dir, und warum bin ich nicht 8 groß und schlank? Warum muß ich ausgerechnet wie Daddy aussehen, wie eine kleine, plumpe Kröte?« »Na, du hast's aber heute mit den Tieren. Zuerst sagst du, du siehst aus wie ein Mastschwein, und jetzt ist Daddy auch noch eine plumpe Kröte.« Karen ließ die Scherben scheppernd in den Mülleimer gleiten. »Der Name Minsky ist immerhin gut genug für deine Reitstunden. Wenn deine Tante es akzeptieren könnte, eine Minsky zu sein, brauchte sie vielleicht den Gin nicht, um das zu vergessen, was sie an sich selbst nicht mag.« Die Diva segelte, bekleidet mit ihrem verknitterten Rock aus Shantungseide, wieder herein. Karen versuchte die weiße Bluse zu ignorieren, die aus ihrem eigenen Schrank stammte. Sie hatte keine Lust, sich mit ihrer Schwägerin noch weiter über solche Dinge zu streiten. »Ich habe meinen Chauffeurdienst angerufen. Die müßten bald jemanden schicken.« »Hast du Geld für den Wagen?« fragte Karen, die Hände auf den Hüften. »Keine Sorge. Ich nehme schon nichts von Beccas Collegegeld. Der Chauffeur bekommt sein Geld in der Stadt.« Beim Anblick des blauen Rolls-Royce, der vor dem Haus vorfuhr, verschlug es Becca den Atem. Dann rannte sie nach oben, um Corie anzurufen, damit auch er sich den triumphalen Abgang ihrer Tante ansehen konnte. Doch als die Diva in der Stadt ankam, öffnete der Mann, bei dem sie eine ganze Weile gewohnt hatte, die Tür gerade lange genug, um ihren Koffer davorzustellen. Er war nicht bereit, für den Rolls zu zahlen. Und er wollte ihr auch kein Geld dafür oder für das Hotelzimmer »leihen«, denn er wußte, daß sie eine Versagerin war. Und wenn sie das Geld so ohne weiteres von ihrem Bruder bekommen konnte, dann sollte sie es sich doch gleich von ihrem Bruder holen. Die Polizisten hatten ihn in der vergangenen Nacht zusammengeschlagen, als er versucht hatte, ihre Ehre zu retten, obwohl sie nicht nur sich selbst, sondern auch ihn zum Narren gemacht hatte. Er
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glaubte, daß sich seine Nieren nie mehr von diesen Prügeln erholen würden. Er wollte sie nicht mehr sehen. Sie ließ die Koffer im Flur stehen und ging zurück zum Wagen. Sie war keine Alkoholikerin, auch wenn Becca das sagte, doch die rüden Bemerkungen des Mannes weckten den Wunsch nach einem Drink in ihr, nur zur Beruhigung. Und jetzt verlangte auch noch der Fahrer Geld von ihr, und zwar auf ausgesprochen unhöfliche Weise. Sie würde ihren Manager anrufen und ihm sagen müssen, daß er diesem Chauffeurdienst keinen Auftrag mehr geben sollte. Ja, das war eigentlich eine Idee: Ihr Manager mußte ihr eine Kontonummer nennen, über die die Gebühren für den Wagen abgerechnet werden konnten. Doch ihr Adreßbüchlein war noch in einem der Koffer oben im Flur. Es war alles schrecklich kompliziert: Harry würde doch für alles bezahlen müssen. Vielleicht auch für ein Hotelzimmer. Am Morgen würde sie in New York anrufen und ihren Manager bitten, ihr die Tantiemen für ihre Plattenaufnahmen telegrafisch anzuweisen. Ihr Manager mußte jetzt auch einmal etwas für sie tun; schließlich hatte sie ihm seine Karriere aufgebaut. Sie gab dem Fahrer die Nummer von Harrys MasterCard und sagte ihm, er solle ihre Koffer holen und sie zum Ritz bringen. 2 1
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Die Hölle
ie Verwaltung ist Gott, und Hanaper ist ihr Prophet. Heute Vormittag haben die Sanitäter einen Mann eingeliefert, der sich vom fünfzehnten Stock des State of Illinois Building in das Atrium stürzen wollte. Er glaubte, er sei ein Huhn und könne fliegen - eine Sekretärin erwischte ihn gerade noch, als er auf dem Geländer balancierte. Es handle sich um einen Obdachlosen, der oft im State of Illinois Building unterwegs sei, sagten die Sanitäter. Hanaper, der gerade seine Runde machte, wurde in die Notaufnahme gerufen und schleifte mich mit, weil wir gerade einen meiner Patienten gemeinsam begutachtet hatten. Die Sanitäter erzählten Hanaper, was passiert war, und sagten, sie hielten den Mann für schizophren.
H. fiel ihnen ins Wort: »Hat einer von Ihnen eine Zulassung als Mediziner? Hab' ich mir schon gedacht. Ich bin der Leiter der psychiatrischen Abteilung im Midwest-Krankenhaus und brauche keine Sanitäter, die die Diagnosen für mich stellen.« Der Obdachlose saß zitternd, vor sich hinmurmelnd und die Augen vor Angst verdrehend auf einer Rollbahre. Hanaper ging zu ihm. In Anwesenheit der Krankenschwestern und anderen Patienten brüllte er: »Sie wissen doch, daß Sie kein Huhn sind, oder, Mann?« Der arme Teufel, der Angst hatte vor der Umgebung, in der er sich befand, vor den starrenden Menschen und dem weißen Mann im Arztkittel, der ihn anbrüllte, murmelte »nein«. Hanaper wandte sich an die Sanitäter und erklärte 9
ihnen, sie sollten den Mann wieder mitnehmen, es fehle ihm nichts. Die Sanitäter sagten, der Mann sei obdachlos. Ihrer Meinung nach sollte er nicht wieder auf die Straße, weil er nicht für sich selbst sorgen könne - er ernähre sich von den Sachen, die er in Mülltonnen finde. Und Hanaper, dem man nicht vorwerfen kann, er wäre inkonsequent, sagte, das beweise doch nur, daß er in der Lage sei, Nahrung zu finden. Ich hatte mich die ganze Zeit im Hintergrund gehalten, war mit meiner Umgebung verschmolzen wie die Rollbahren. Aber als er das sagte, versuchte ich ihm zu widersprechen. War das der duckmäuserische, stammelnde Protest eines Arztes, der sich Sorgen um seinen Job machte? Oder nur der Widerspruch von Lilys Sohn, der immer nervös wird, wenn er sich in Gesellschaft von Autoritäten befindet? Letztlich war das egal. H. fiel mir ins Wort: »Wenn Sie bereit sind, die finanzielle Verantwortung für diesen Mann zu übernehmen, Dr. Tammuz, können Sie so viele Diagnosen stellen, wie Sie wollen. Wenn nicht, sollten wir uns jetzt wieder den Patienten zuwenden, für deren Versorgung Sie bezahlt werden.« Und so setzten wir unsere triste Runde fort, und ich versuchte, Krankenhausaufenthalte zu empfehlen, die zu teuer und deshalb unnötig sind, oder, noch schlimmer, langfristige Psychotherapien. Nur der leiseste Verdacht, daß ich mich länger mit einem Patienten unterhalten möchte, löst in Hanaper die Angst vor Freud aus. Als ich in der Klinik anfing, dachte ich, ich hätte hier eine großartige Gelegenheit, die angewandte Psychotherapie zu lernen. Natürlich war Dr. Boten damals noch da. Ich wußte nicht, daß er und Hanaper sich wegen der Leitung der psychiatrischen Abteilung in den Haaren lagen - das Ergebnis allerdings stand nie in Frage, weil die Verwaltung geschlossen hinter Hanaper stand. Jetzt ist 9 Boten nicht mehr da. Man hat ihn zum Gehen gezwungen; er muß sich wieder auf seine eigene Praxis konzentrieren. Das Krankenhaus versorgt am Mittwochnachmittag widerwillig auch ambulante Patienten. Gruppentherapien finden am Freitagabend statt; sie sind sehr beliebt -schließlich bringen sie auch viel Geld ein, weil dort der Alkoholismus überarbeiteter Geschäftsleute behandelt wird. Da war kein Platz für Patienten, die mehr als nur Prozac oder einen Schuß Haldol brauchen. Héctor, der auf einem der oberen Betten im Bereitschaftszimmer des Krankenhauses mit Hilfe einer winzigen Stablampe schrieb, um seine schlafenden Kollegen nicht zu stören, legte den Stift bei der Erinnerung an die Frustrationen des Tages weg. Er und Hanaper waren aus der Notaufnahme in die Station zurückgekehrt, wo bereits Melissa Demetrios, die leitende Ärztin, mit einer neuen Gruppe von Medizinstudenten wartete. Sie waren vor dem Zimmer einer Frau stehengeblieben, die Héctor am vergangenen Nachmittag aufgenommen hatte. Ihre besorgte Tochter hatte sie hergebracht, nachdem sie ihre Mutter im Wohnzimmer angetroffen hatte, alle ihre Besitztümer vor sich aufgehäuft. Sie hatte gesagt, sie sammle Kraft für die Reise. Héctor zählte die Fakten auf und fügte dann hinzu: »Ihre Katze ist letzten Monat gestorben; das scheint sie ziemlich aus der Fassung gebracht zu haben. Möglicherweise hat der Vorfall einen bereits vorhandenen krankhaften Zustand verstärkt. Ich habe eine Generaluntersuchung angeordnet, um sicherzugehen, daß sie nicht nur an Vitamin-B-Mangel oder Schilddrüsenproblemen leidet, würde aber vorschlagen, daß wir uns noch ein paarmal mit ihr unterhalten, bevor...« »Prozac, Tammuz. Haben Sie schon veranlaßt, daß man ihr eine Probedosis verabreicht?« »Nicht, bevor ich ein besseres Gefühl für...« »Prozac wird bei Patienten mit Sammeltrieb empfohlen.« »Eigentlich leidet sie nicht unter einem Sammeltrieb, Sir. Sie
10 macht nur diese Tonfiguren, jedenfalls nach Aussage ihrer Tochter, oder...« »Sie schreibt alles auf kleine Zettel und sammelt sie, oder? Sieht mir sehr nach einer Zwangsneurose aus. Leute mit Zwangsneurosen reagieren gut auf Antidepressiva. Sie werden feststellen, daß zwanzig Milligramm täglich höchst effektiv sind.« Und als Hector störrisch im Flur stehenblieb, sagte Hanaper ungeduldig: »Haben Sie sich das notiert, Tammuz?« »Ich halte das für voreilig, Sir. Was ist, wenn sich ihr Problem als...« »Sie können solche Entscheidungen treffen, sobald Sie für diese Station verantwortlich sind. Ich möchte, daß sie eine Dosis von zwanzig Milligramm Prozac bekommt. Stat.« Es war typisch für Hanaper, daß er Routinefeststellungen mit medizinischem Jargon und lateinischen Ausdrücken durchsetzte. Manchmal fragte sich Tammuz, ob die Diplome, die an gut sichtbarer Stelle im Büro des Leiters der Psychiatrie hingen, gefälscht oder gestohlen waren und er das wenige, was er über Medizin wußte, aus medizinischen Fernsehsendungen gelernt hatte. Als Tammuz daraufhin immer noch nichts auf das Krankenblatt der Frau notierte, zog Hanaper ihn zu einem vertraulichen Gespräch beiseite, sprach aber so laut, daß auch die Studenten etwas hörten. »Dr. Tammuz, wir haben die Verpflichtung, die Menschen so schnell wie möglich zu heilen. Im Gegensatz zu Ihren emotionalen Appellen besteht diese Verpflichtung nicht nur gegenüber der Institution oder unserer Verwaltung, sondern auch gegenüber den Patienten selbst. Und, Tammuz, wenn Sie die Wahl hätten zwischen einer Pille, die Ihre Probleme innerhalb von zehn Tagen löst, und einer Analyse, die ein ganzes Jahrzehnt dauern kann, würden Sie sich da nicht für die Pille entscheiden? Nein, wenn ich's mir richtig überlege, würden Sie das nicht.« Hanaper erzählte den Studenten mit fröhlicher Stimme von Tammuz' Interesse für - »Vernarrtheit in«, wie er sich ausdrückte - die Psychoanalyse und dirigierte die Gruppe dann in das Zimmer der neuen Patientin, der er mit ebenso fröhlicher Stimme erklärte, Dr. Tammuz werde ihr eine Pille geben, die ihr dabei helfen würde, sich wieder so gut wie neu zu fühlen. »Was nicht heißt, daß Ihnen seine großen schwarzen Augen nicht auch helfen könnten, oder?« Und obwohl Tammuz sich selbst dafür haßte, hatte er die Anweisung ausgeschrieben. Die Frau, die inmitten eines Nests aus zerfetzten Papiertüchern saß, auf denen sie herumkritzelte, sagte: »Ich nehme keine Pillen. Das verbietet mir meine Religion.« Dann wandte sie sich wieder ihren Papiertüchern zu. Tammuz konnte ein Lächeln nicht ganz unterdrücken. Zum Glück stand er hinter Hanaper. Melissa und die Studenten wurden unruhig, weil sie nicht wollten, daß der Zorn des Abteilungsleiters sie traf. »Ich dachte, die Frau heißt Herstein.« Hanaper drehte sich zu Tammuz um. »Ist sie denn keine Jüdin?« Die jüdische Patientin und der jüdische Arzt. »Ich weiß es nicht, Sir; da müssen Sie sie selber fragen.« »Wieso kann die Religion es verbieten, Pillen einzunehmen, wenn man Jude ist?« fragte Hanaper einen der Studenten, nicht die Patientin selbst, über die er redete - ganz, als sei sie nicht anwesend. »Es steht in der Mischna«, sagte Mrs. Herstein plötzlich überraschend hinter ihrer Papierbarrikade hervor. »Sie glauben, die Probleme des Lebens zu kennen, junger Mann, aber Sie täten gut daran, die Mischna zu lesen.« Hanaper geriet ziemlich aus der Fassung, als sie ihn »junger Mann« nannte, und ließ seine Verwirrung sofort an uns aus. Melissa wurde gerügt, weil sie eine Patientin in die Langzeitabteilung aufgenommen hatte, ohne ihre Angaben zu überprüfen. Nun weigerte sich die Versicherung zu zahlen, und was sollten wir tun? Die Familie könnte Klage wegen Fahrlässigkeit einreichen, wenn sie nach der 10 Entlassung Selbstmord begeht, was Melissa durchaus für möglich hält. Was für eine Erleichterung, in die Nachmittagsklinik zu gehen. Wenigstens geben Leute mit Angstneurosen zu, daß sie ein Problem haben. Am Ende seiner Schicht in der Ambulanz versuchte Héctor sich aus der Klinik zu schleichen und ein bißchen am See spazierenzugehen. Er hoffte, eine halbe Stunde in der Maisonne würde ihn für die bevorstehende Nachtschicht wach machen. Melissa Demetrios hielt ihn auf, als er auf dem Weg zur hinteren Treppe war. »Dr. Stonds möchte einen Blick auf unsere Fälle werfen«, sagte sie. »Hanaper will, daß alle Ärzte anwesend sind - dann hat er ein paar Sündenböcke, wenn Stonds in die Luft gehen sollte.«
»Stonds?« Nach sieben Monaten im Midwest-Krankenhaus wußte Héctor, daß im Krankenhaus nichts ohne das Einverständnis des Neurochirurgen lief, aber er verstand nicht, warum Stonds sich für die Fälle der Psychiatrie interessierte. »Dr. Stonds interessiert sich für alles, was das Wohlergehen des Midwest Hospital und seiner Patienten betrifft«, sagte Melissa mit gesenkter Stimme, als wolle sie Hanaper nachäffen. Héctor lachte. »Ja, aber sieht er sich alle Aufnahmen an? Wann hat er dann noch Zeit, sich mit den Gehirnen der Leute zu beschäftigen?« »Ist es wirklich das erste Mal, daß wir, seit Sie bei uns arbeiten, ins Büro des Chefs gerufen werden?« Melissa sah sich um, um festzustellen, ob uns jemand belauschen konnte. »Stonds' Großvater - das ist der eigentliche Dr. Stonds - war einer der Gründer dieses Krankenhauses in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Das heißt, daß die Familie immer schon großen Einfluß auf das Haus hier gehabt hat. Als Abraham - unser Dr. Stonds - als Neurochirurg hier angefangen hat, waren Neurologie und Psychiatrie noch eine Abteilung, und die jungen Ärzte lernten, wie man >Nervenerkrankungen< be -11 handelt. Und so sieht Abraham die Geisteserkrankungen heute immer noch. Irgendwie hat er die Erlaubnis der Krankenhausverwaltung erhalten, daß er sich alle Fälle in der Neurologie und der Psychiatrie ansehen kann.« »Aha, das ist so etwas wie ein droit du seigneur«, sagte Hector. »Das paßt zur mittelalterlichen Atmosphäre dieses Krankenhauses.« »Droit du seigneur?« wiederholte Melissa. »Ach so, Sie meinen, daß die Barone mit den Töchtern der Bauern schlafen durften. Nun, wahrscheinlich haben Sie recht. Jedenfalls führt er sich gern auf wie ein Adeliger. Er lebt in allem nur erdenklichen Prunk an der Gold Coast, in einer riesigen Wohnung in einer jener ruhigen Straßen beim Cardinal's Palace. Im Sommer wird er Sie dorthin zum Abendessen einladen - das macht er bei allen Assistenzärzten am Ende ihres ersten Jahres. Seine ältere Enkelin ist übrigens hinreißend. Wenn es Ihnen gelingen sollte, ihr den Kopf zu verdrehen, brauchten Sie nie mehr vor Hanaper zu kriechen.« Hector schnaubte verächtlich. »Tja, aber dann müßte ich vor Stonds kriechen, und das wäre wahrscheinlich noch schlimmer. Oder vor seiner Enkelin, wenn sie ihm ähneln sollte. Ist sie Ärztin?« Melissa schüttelte den Kopf. »Nein, Anwältin. Das heißt also: Das Reich der Stonds wird mit dem alten Herrn niedergehen. Es gibt allerdings auch eine schlechte Nachricht: Obwohl er siebenundsiebzig ist, sagen alle, daß er im OP noch alles mitkriegt. Und er macht nicht den Eindruck, als wolle er sich schon aus seinem Reich verabschieden.« Melissas Piepser ging los. Sie las die Nummer auf dem Display. »Hanaper. Zeit für eine Runde Kriechen. Hector, ich weiß, daß Sie wirklich an die Psychotherapie glauben, aber versuchen Sie das heute nachmittag nicht zu erwähnen - dann wird Ihr Aufenthalt hier um einiges angenehmer.« Ich folgte Melissa den Flur entlang, wo wir uns Hanaper und zwei weiteren Assistenzärzten auf dem Weg zur 11 Chirurgie anschlossen. Ich sollte nichts von Psychotherapie erwähnen in der Diskussion über die Psychiatriepatienten - ich hätte gelacht, wenn mir nicht zum Weinen gewesen wäre. Oder umgekehrt! Hanaper zu beobachten, wie er vor Stonds katzbuckelt, ist fast noch schlimmer, als ihm zuzusehen, wie er einen Obdachlosen wieder auf die Straße schickt. Wie alle herrschsüchtigen Menschen verhält er sich gegenüber Leuten, die in der Hierarchie über ihm stehen, unterwürfig. Als Dienstjüngster der Anwesenden hatte ich das Vergnügen, meine Arbeit vom Großen Weißen Chef sezieren zu lassen. Hanaper brachte meine - Zitat - »Vorliebe für altmodische Methoden« zur Sprache, so daß Melissas Ratschlag sich erübrigte, weil ich meinen Glauben an nicht chemische Therapieformen erläutern mußte. Stonds ist zu sehr von seiner eigenen Größe überzeugt, als daß er sich auf Hanapers Sarkasmus bezüglich der Gesprächstherapie einlassen würde, aber nichtsdestotrotz erteilte er mir gute Ratschläge. »Zu meiner Zeit, junger Mann, waren die Leute ganz hingerissen von Freud. Sie dachten, die Psychoanalyse würde alle psychiatrischen Probleme lösen. Aber sehen Sie sich doch mal an, in welchem Zustand sich die moderne Gesellschaft befindet. Das ist eine direkte Folge der Freizügigkeit, die dadurch gefördert wird, daß die Menschen für all ihre Probleme Ausreden finden und sich um ihre persönliche Verantwortung drücken können. Die Pharmakologie macht
wesentliche Fortschritte in einigen hartnäckigen Fällen. Das Wichtigste ist, diese Leute wieder auf die Beine und an die Arbeit zu bringen.« Ich sagte das einzig Mögliche in dieser Situation: »Ja, Sir.« Dann brachte Hanaper, sozusagen als Abschlußscherz, die Äußerung meiner neuen Patientin über die Mischna zur Sprache. Ich hatte den Eindruck, daß Stonds beinahe in die Luft gegangen wäre. »Immer diese neurotischen 12 Frauen mit ihren alten Texten, die glauben, etwas über das Leben zu wissen. Darüber will ich nichts mehr hören, Hanaper. Sorgen Sie dafür, daß sie das Krankenhaus verläßt. Es gibt sicher wirklich kranke Menschen, die ihr Bett gut brauchen könnten.« Der Große Weiße Chef erhob sich, um zu gehen. Auf dem Weg nach draußen sagte er: »Ach, Hanaper, übrigens, ich möchte, daß Sie sich für mich um jemanden kümmern.« Und Hanaper zupfte an seiner Stirnlocke: Euer Wunsch ist mir Befehl, o König. »Luisa Montcrief«, sagte der Große Weiße Chef. »Eine Diva, deren Familie sich Sorgen um sie macht. Die Familie Minsky - sie haben dreihunderttausend Dollar für das Krebsforschungszentrum gespendet, nachdem die alte Mrs. Minsky hier an einem Glioblastom gestorben ist. Wir sind der Familie etwas schuldig. Ich habe dem armen Harry Minsky gesagt, seine Schwester könne am Freitag um elf in Ihrem Büro vorbeischauen.« Natürlich arrangierte Hanaper sofort seinen Tagesplan neu, was bedeutete, daß auch wir den unseren ändern mußten, denn Hanaper möchte, daß wir dabei sind und zusehen, wie man ein Gespräch mit einem Patienten führt. Daß wir unsere eigenen Patienten deshalb hintanstellen müssen, ist nicht wichtig. Schließlich müssen sich alle verneigen, wenn von Stonds die Rede ist, und alle müssen von seiner Pracht künden. 12
3
Das häßliche Entlein
Möglicherweise lobten im Krankenhaus alle Zungen Dr. Stonds, aber in seiner Fünfzehnzimmerwohnung an der Graham Street war das etwas anderes. Nun ja, Mrs. Ephers, die Haushälterin des Arztes (sein Schatten, sein Scharfrichter, murmelte die junge Mara), sang natürlich ein Loblied auf den Arzt. Mrs. Ephers hatte ihr ganzes Erwachsenenleben darauf verwendet, ihn nicht nur zu verehren, sondern sozusagen einen Tempel um ihn herum aufzubauen, in dem sie die Hohepriesterin war. Und seine ältere Enkelin Harriet, eine Schönheit, ja, sie richtete ihr Leben an seinen Grundsätzen aus. Im Alter von zweiunddreißig Jahren empfing sie nun ihren gerechten Lohn; als Partnerin bei Scandon and Atter kämpfte sie für ein halbes Dutzend Mandanten, darunter auch das Hotel Pleiades. Sie beschäftigte sich mit den Klagen wütender Gäste, den Mißgeschicken der Angestellten, den Versuchen der Stadtverwaltung, sich um ihre Verantwortung für die Gehsteige vor dem Gebäude zu drücken - und das alles mit so viel Energie, daß sie tagsüber fast unsichtbar war, wie Materie am Rande des Lichts, eine durchsichtige Farbsäule, heute türkis, weil sie ein Kostüm dieser Farbe trug. Aber die Frau und die Tochter des Arztes, nun, da konnte Mrs. Ephers nur sagen, es war letztlich ein Segen, daß die beiden im Verlauf ihres jeweiligen unangenehmen Lebens schon bald verschieden waren. Und was Mara, die jüngere Enkelin des Arztes, anbelangte - sie sah Mrs. Ephers gerade mit finsterem Gesicht über den Eßtisch hinweg an, ihr grobknochiger Körper und ihre borstigen schwarzen Haare in unschönem Kontrast zu Harriets Blässe und Zierlichkeit -, tja, da wünschte sich die Haushälterin nicht zum ersten Mal, daß sie den Arzt dazu überredet hätte, Mara zur Adoption freizugeben, als ihnen das Kind aufgedrängt worden war. Als Mara klein war, wußte sie, daß sich das häßliche Entlein in einen wunderschönen Schwan verwandelte, daß Aschenputtel den hübschen Prinzen bekam, daß die arme, hausbackene Schwester, die geduldig am heimischen Herd wartete und sich die Beschimpfungen der Stiefmutter gefallen ließ, einer Hexe begegnen würde, die sie mit Gold überhäufte, während die Brokatroben ihrer verwöhnten älteren Schwester mit Pech überschüttet wurden. Mara war sich sicher, daß sie eines Tages in den Spiegel schauen würde und ihre borstigen Locken sich in lange, gerade, seidenweiche Haare verwandelt hätten, so schön wie die ihrer Schwester Harriet. Natürlich wären sie immer noch schwarz und nicht gülden, aber das war in Ordnung, denn auch Schneewittchen hatte rabenschwarze Haare. Doch ihre Haut wäre nicht mehr schlammig-olivfarben, sondern rosigweiß wie die von Aschenputtel und Harriet. Dann hätte sie
einen großen Kreis von Freunden und Verehrern, wie Mara die Freunde ihrer Schwester in ihrer kindlichen Märchensprache bezeichnete, und plötzlich wäre sie auch für Ballett oder Tennis begabt. Und Harriet - nun, Mara konnte ihrer Schwester nichts Böses wünschen; Harriet wäre auch nicht auf ewig mißgestaltet, aber es würde ihr etwas sehr Schlimmes zustoßen, so daß ihr all die Male wieder einfallen würden, wo sie Mara nicht beachtet oder sie verspottet oder sie bei Großvater oder Mrs. Ephers verpetzt hatte, und es würde ihr leid tun. Dann würde Mara großzügig sein und der Hexe in ihrem Triumph sagen, daß sie ihrer Schwester vergab und sie doch bitte den bösen Zauber von ihr nehmen solle. Und Harriet wäre plötzlich wieder so schön wie vorher und hätte wieder ihre üblichen Freunde, doch sie würde auf all das verzichten und sich nur noch um Mara kümmern. Es tut mir ja so leid, würde sie sagen und einen tiefen Knicks vor ihr machen. Kannst du mir jemals verzeihen, daß ich dir so viel Pein bereitet habe? Da erschien Mrs. Ephers in der Tür zum Zimmer der sechs 13 jährigen Mara. Junge Frau, das Essen ist auf dem Tisch. Wie immer um diese Zeit. Du bist groß genug, um die Uhr zu lesen, eigentlich brauchtest du nicht mich, um dich zu holen. Dein Großvater wartet auf dich. Er arbeitet den ganzen Tag schwer, um dir ein schönes Zuhause bieten zu können; da kannst du doch wenigstens pünktlich zum Essen kommen. Hast du dir die Hände gewaschen? Und hast du wenigstens versucht, dir die Haare zu bürsten? Wahrscheinlich solltest du dir dazu eine Harke aus dem Garten holen. Mara setzte sich selbst insgeheim Ziele und dachte sich Prüfungen aus. Wenn sie eine Woche lang jeden Morgen zur Schule gehen konnte, ohne auf einen Riß im Boden zu treten; wenn es ihr gelang, Mephers zum Lächeln zu bringen; wenn sie es schaffte, drei Tage hintereinander danke zu ihr zu sagen (denn die Haushälterin ließ sich durchaus milde stimmen, zum Beispiel indem man ihr eine Tasse Tee brachte, wenn sie Großvaters Hemden bügelte - keine Wäscherei konnte ihr das gut genug machen -, oder durch einen Blumenstrauß; es sei denn, irgendeine Petze beschwerte sich, Mara habe die Blumen im Garten der Historical Society gepflückt); wenn sie in zwei Rechtschreiboder Rechenprüfungen die volle Punktzahl erreichte und Großvater sie dafür lobte; wenn sie acht wurde... Aber nie wurden ihre Haare glatt, und auch ihre Haut wurde nicht rosigweiß. Und als sie schließlich zwei Wochen vor ihrem zwölften Geburtstag ihre erste Periode bekam und sich ihre borstigen Haare immer noch nicht veränderten, wußte sie, daß ihr Schicksal besiegelt war. Und dann plötzlich wurde sie zum launischen Teenager. Was ist denn mit dir passiert? fragte Mrs. Ephers. Du bist immer so gut gewesen in der Schule; dein Großvater wird sich nicht gerade freuen über dein Zeugnis. Dann kamen die langen Sitzungen mit Großvater, der sich trotz seines vollen Tagesplans Zeit nahm, Mara ungeduldig Nachhilfe zu geben. Eine quadratische Gleichung - was bedeutet das? Ich weiß, daß du die Antwort kennst, Mara; stell dich nicht dümmer, als du bist, das ist alles andere als schön. 13 Da draußen herrscht erbitterter Wettbewerb, und ich versuche dich darauf vorzubereiten. Weißt du, du wirst nicht immer hier leben können. »Ich weiß«, brüllte sie dann eines Abends. »Ich weiß, daß du die Wohnung Harriet vererben wirst. Sie bekommt alles, sie hatte ja sogar ihren eigenen Vater. Du haßt mich dafür, daß ich auf die Welt gekommen bin, und jetzt willst du beweisen, daß ich nichts richtig machen kann, damit ich mich umbringe oder weglaufe und dich mit Mrs. Ephers und Harriet in deinem kleinen Himmel hier allein lasse.« Und dann rannte sie in ihr Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu, obwohl sie wußte, daß es in dem Haushalt verpönt war, Türen zuzuschlagen. Harriet, die sich gerade auf ihre juristische Abschlußprüfung vorbereitete, kam später noch in Maras Zimmer. »Sie sind alt. Sie wissen nicht, wie man mit einem Teenager sprechen muß.« »Also soll ich Mitleid mit ihnen haben? Sie sagen mir die ganze Zeit, wie häßlich ich bin. Ich kann nie mit dir konkurrieren.« »Du bist nicht häßlich. Wenn du nicht gerade finster dreinschaust, hast du ein ausdrucksstarkes, interessantes Gesicht. Das hat mir Godfrey erst neulich Abend gesagt.« Godfrey Masters, Harriets damaliger Verehrer.
»Tatsächlich?« Mara hob argwöhnisch die dunklen Augenbrauen, und schon bald sah sie nicht mehr so finster drein, obwohl »ausdrucksstark« und »interessant« natürlich längst nicht so gut war wie »hübsch« und »charmant«. Keiner der Verehrer blieb lange. Mara fragte sich, ob Harriet sie vorsätzlich vertrieb, aus Angst davor, sich in den Äther zu verflüchtigen wie ihre Mutter und Großmutter, sobald sie heiratete. Zuerst Oma Selena, die schwanger wurde, als Großvater Stonds gerade seine ersten Jahren als Assistenzarzt hinter sich gebracht hatte. Sie hätte noch ein bißchen warten können - schließlich hatte er an einem scheußlichen Krieg teilgenom 14
men, seinem Vaterland gedient und erst dann wieder seine Ausbildung als Arzt aufgenommen, aber im Zusammenhang mit ihr fiel einem als erstes sowieso das Wort »egoistisch« ein. Diese Gedanken stammten von Mrs. Ephers, die Selena kannte, seit Dr. Stonds seine Braut 1942 ins Haus gebracht hatte. Auch als er Selena noch liebte, sich von ihrem quirligen Charme betören ließ, wußte er, daß sie es nie schaffen würde, den Haushalt zu führen. Also stellte er Mrs. Ephers ein, nicht so sehr, um Selena eine Last abzunehmen (man konnte sich kaum vorstellen, daß eine so maßlose Person sich mit dem Gedanken an das Wohlbefinden eines anderen belasten ließ), sondern eher, damit auch immer ein schmackhaftes Essen auf dem Tisch stand, wenn er nach Hause kam, und damit er morgens und abends frisch gebügelte Hemden hatte. Denn auch im Alter von fünfundzwanzig Jahren und bis über beide Ohren verliebt legte Dr. Stonds Wert auf Ordnung im Leben. Damals war die Mutter des Arztes noch am Leben, aber irgend etwas an Selena vertrieb sie aus ihrem eigenen Zuhause. Mrs. Ephers begriff nie so ganz, was. Hinter verschlossenen Türen wurden Worte gewechselt. Selena kam mit ihrem geheimnisvollen Lächeln heraus, und die alte Mrs. Stonds, die Augen immer noch rot vom Weinen, packte ihre Sachen - darunter auch das Familiensilber der Stonds, ein Geschenk von Prinzessin Marguerite, die so ihrem Mann ihre Dankbarkeit für die Behandlung ihres epileptischen Sohnes beweisen wollte - und zog nach Palm Springs, wo ihre verheiratete Schwester lebte. Und dann hatte Mrs. Ephers in den zwei langen Jahren, die der Arzt im Ausland verbrachte, mit Selena zurechtkommen müssen. Vielleicht hatte Selena gehofft, Mrs. Ephers genau wie die Mutter des Arztes zu vertreiben, aber die Haushälterin gehörte nicht zu den Menschen, die Freunden den Rücken kehrten oder einen armen Mann wie den Arzt im Stich ließen. Die verträumte Selena, die sich in Anwesenheit des Arztes immer in ein Buch vertiefte, verbrachte die Kriegsjahre alles andere als träumerisch in dem Familientempel. Mrs. Ephers wußte so manches über Selena, doch sie hatte auch eine zu gute 14 Kinderstube genossen, als daß sie sich den Mund darüber zerrissen hätte. Der Arzt war kaum aus dem Krieg zurück, eine Auszeichnung für seinen heldenhaften Einsatz in der Ardennenoffensive an der Brust und einen Koffer voll Chanel No. 5 aus seiner Zeit in der Besatzungsarmee in der Hand, als Selena schon schwanger wurde. Mrs. Ephers erinnerte sich noch gut, wie wütend und frustriert er war, als Selena es ihm sagte. Sie war im vierten Monat, und allmählich begann man ihren Bauch zu sehen. Er war, wie gesagt, wütend, und das konnte ihm auch niemand verdenken. Ich dachte, du verwendest ein Diaphragma, brüllte er. Das habe ich verloren, antwortete Selena. Dabei hatte es die ganze Zeit unter dem Seidenmieder in ihrer Kommode gelegen, das sie ebenfalls nicht mehr trug, seit der Arzt wieder da war. Mrs. Ephers holte das Diaphragma heraus und reichte es ihr, nachdem Dr. Stonds am nächsten Morgen gegangen war: Ich wußte nicht, daß Sie es suchen, Mrs. Stonds. Und natürlich hatte Selena nicht gewußt, was sie darauf erwidern sollte. Eigentlich hätte sie zu dem Zeitpunkt schon wissen müssen, daß es keinen Sinn hatte, Mrs. Ephers etwas vorzulügen - das mit einem bedeutungsschwangeren Blick in Richtung Mara, die häufig log, wenn sie sich selbst und ihre Situation als Waise dramatisierte. Nun, Selena brachte ein gesundes Mädchen zur Welt und nannte es Beatrix, ohne ihren Mann zu fragen, der vorgehabt hatte, das Kind nach seiner Mutter zu nennen, stillte die Kleine ein paar Wochen lang, und eines Tages, als der Arzt vom Krankenhaus, wo er sich trotz seiner Jugend und seiner zweijährigen Abwesenheit bereits einen Namen in der Neurochirurgie gemacht hatte, nach Hause kam, stand er plötzlich mit einem Baby und ohne Frau da. Selena hatte ihm lediglich einen Zettel hinterlassen, auf dem sie ihm mitteilte, sie habe sich auf die Suche nach etwas gemacht.
All das wußte Mara, weil Mrs. Ephers es ihr ungefähr einmal pro Woche erzählt hatte, jeweils als Einführung zu einem 15 Vortrag darüber, daß sie ihren faulen Hintern bewegen und helfen, ihre Hausaufgaben machen oder ihre Ballettstunden besuchen solle. Schließlich hatte Harriet in diesem Alter bereits den Nobelpreis für Physik gewonnen, zusammen mit Nurejew in Schwanensee getanzt und eine olympische Medaille im Reiten gewonnen - rief Mara immer, um Mrs. Ephers zu übertönen. Aber das passierte erst, als sie dreizehn oder vierzehn war, zu einer Zeit also, als ihr klar wurde, daß sie keine Chance gegen ihre Schwester hatte. Wohin ist Oma Selena gegangen? fragte Mara Mrs. Ephers immer, als sie noch klein war. Hat meine Mama nie etwas von ihr gehört? Höre ich deswegen auch nie etwas von meiner Mama? Sie versuchte nur, ein bißchen Sicherheit in ihrer Angst davor zu finden, daß Beatrix verschwunden war, weil Mara vielleicht böse war, und zwar schon als Baby, und davor, daß Beatrix vor ihr geflohen war. Habe ich dich gebeten, dich um anderer Leute Angelegenheiten zu kümmern? fragte Mrs. Ephers dann immer. Das Leben deiner Großmutter hat den gebührenden Abschluß gefunden, und was deine Mutter angeht - nun, je weniger man darüber sagt, desto besser. Beatrix bedeutet »die Reisende«. In ihrem Abschiedsbrief schrieb Selena, sie hoffe, daß ihre Tochter zu einer großen Abenteurerin und Entdeckerin heranwachsen würde. Nein, der Brief existierte nicht mehr: Der Arzt wollte keine Erinnerungsstücke an diese schmerzliche Episode seines Lebens aufbewahren. Anfangs sah es so aus, als würde Beatrix Mrs. Ephers und dem Arzt alle Ehre machen. Sie besuchte kurze Zeit die Smith School - dieselbe Schule, die auch die alte Mrs. Stonds besucht hatte -, bevor sie im Alter von neunzehn Jahren einen der Assistenzärzte ihres Vaters heiratete. Dann übernahm sie die Haushaltsführung an der North Shore, brachte Harriet zur Welt und arbeitete für das Women's Board des Krankenhauses, ganz auf ein häusliches Leben im Dienste des Sozialen ausgerichtet. 15 Doch dann kam Harriets Vater gegen Ende des Vietnamkrieges bei einem Verkehrsunfall ums Leben, und Beatrix begann, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Sie driftete trotz ihres Alters in die Hippiewelt ab. Der Arzt hörte nun immer wieder unheilschwangeren Klatsch im Krankenhaus, über alkoholische Exzesse, Männer, Drogen und Rockstars. Der Arzt hätte gern an die Macht der Erziehung über die Natur geglaubt, aber offenbar floß schlechtes Blut in Beatrix' Adern, sonst hätte sie sich nicht so über ihre wundervolle Erziehung lustig gemacht. Großvater mußte Harriet bei sich aufnehmen, obwohl er das eigentlich nicht wollte. Das arme kleine Ding wäre ohne Nahrung und Kleidung dagestanden, wenn er ihr nicht geholfen hätte. Wirklich eine Schande, daß Beatrix sie nachts in dem großen Haus in Winnetka allein ließ, und dann der Dreck überall - die Lebensversicherung ihres Mannes hätte für eine Haushälterin ausgereicht, aber Beatrix zog es vor, das Geld mit vollen Händen auszugeben. Dr. Stonds hatte bereits ein Kind aufgezogen. Natürlich hatte Mrs. Ephers die eigentliche Arbeit erledigt - sie wechselte die Windeln, pflegte Beatrix, als sie die Windpocken hatte, sorgte dafür, daß sie neue Schuhe für die Schule bekam und ihre Hausaufgaben ordentlich machte -, aber er hatte dafür gesorgt, daß das ganze Unternehmen in einem angemessenen Rahmen stattfand. Schließlich wollte er nicht noch ein Mädchen ohne Mutter aufziehen müssen. Aber Harriet war zu einem entzückenden Püppchen herangewachsen, zu einem kleinen Juwel, und sie hatte sich der Juristerei zugewandt, als habe sie noch nie etwas anderes gemacht. Der Arzt war ganz vernarrt in Harriet. Genau wie Mrs. Ephers. Sie ließ es zu, daß Harriet sie »Mephers« nannte, auch wenn man sich gar nicht so leicht vorstellen konnte, daß jemand mit einer so aufrechten Haltung sich dazu herablassen konnte, einen Kosenamen anzunehmen. Harriet hatte seidige Löckchen, schrieb nur Einsen, schloß das Jurastudium ebenfalls mit der bestmöglichen Note ab, ritt, fuhr Schlittschuh 15 und ging nur mit gesellschaftlich akzeptablen jungen Männern aus. In der Zeit zwischen ihrem sechsten und dreizehnten Lebensjahr führten sie und ihr Großvater ein idyllisches Leben. Mrs. Ephers war ständig um sie herum, band ihnen die Schuhe, kämmte ihnen die Haare und sang morgens, mittags und abends Kirchenlieder, so jedenfalls erzählte man Mara die Geschichte. Hin und wieder ließ Beatrix sich blicken, aber Harriet weigerte sich, wie nicht
anders erwartet, die teuren Geschenke ihrer Mutter anzunehmen. Schließlich wußten sie alle, woher das Geld dafür stammte, und so hieß es: Nein, danke. Dann, als Harriet dreizehn war, tauchte plötzlich Beatrix auf, im neunten Monat schwanger. Und das nach achtzehn Monaten, in denen sie Harriet nicht ein einziges Mal angerufen hatte. Was für eine Mutter. Und Maras Vater? Wer wußte schon, wer er war. Wenn man sich allerdings die dunkle Haut und die krausen dunklen Haare des Babys ansah, mußte man das Schlimmste befürchten. Beatrix schenkte Harriet eine unerwünschte Schwester und verschwand dann, ähnlich wie ihre eigene Mutter, auf Nimmerwiedersehen. »Drogen«, sagte Mrs. Ephers immer und bürstete dabei Maras Haare so heftig, daß ihr die Tränen in die Augen traten. »Ihr waren immer nur Drogen und Alkohol wichtig. >Reisende<. Ja, sie hat gern gelacht und gesagt, sie sei eine Reisende, sie sei ausgestiegen... Halt still, Kleine, wenn ich dir eine Schleife ins Haar binde, damit du hübsch aussiehst fürs Abendessen. Harriet hat keinen Muckser getan, wenn ich ihr die Haare bürstete, und dann hat sie mir einen Kuß gegeben und sich dafür bedankt, daß sie so hübsch aussieht. Und was bekomme ich von dir, außer deiner Rumzappelei und deinem Schimpfen? Wer deine Mutter war, steht jedenfalls fest. Wenn dein Großvater nicht wäre, würde ich dich als kleine Wilde rumlaufen lassen, ganz, wie du dir das vorstellst. Er arbeitet schwer, damit du hier in dieser hübschen Wohnung leben kannst, da solltest du dich auch anstrengen, deinen Teil zu tun, indem du hübsch aussiehst und nett zu ihm bist.« 16
Eines Nachmittags, als Mara fünfzehn war, ging sie ins Büro des Herald-Star und sah die alten Ausgaben der Zeitung durch, bis sie einen Bericht über die Hochzeit ihres Großvaters fand. Ihre Großmutter trug einen glänzenden Schleier, der ihre Schultern bedeckte und mit dem Stoff des Hochzeitskleides verschmolz. Auf dem Mikrofilm war das Foto nicht sehr scharf; Mara konnte nicht beurteilen, ob Selena blonde oder dunkle Haare gehabt hatte. Jedenfalls war sie fast so groß wie Großvater, also etwa einsachtzig, und sie lächelte, nicht verzückt, wie manche Braut auf ihrem Hochzeitsbild, sondern in sich gekehrt, als wüßte sie um ein Geheimnis, das andere erst noch zu erkunden suchten. Mara las den kurzen Artikel drei- oder viermal und suchte nach Hinweisen auf ihre Großmutter, fand aber nichts. Selenas Vater August Vatick war Professor der Assyriologie an der University of Chicago. Die Frischvermählten wollten ihre Flitterwochen in Mexiko verbringen, und Großvater hatte vor, sich anschließend sofort wieder auf sein Medizinstudium zu konzentrieren. Mara drehte den Film weiter, um so vielleicht noch auf andere Informationen über ihre Familie zu stoßen. Die Geburt ihrer Mutter stand in einer Augustausgabe des Jahres 1946 auf den Gesellschaftsseiten der Zeitung. Uber der Spalte war ein Storch mit einer Windel im Schnabel abgebildet. Beatrix Vatick Stonds, die bei der Geburt dreitausendvierhundert Gramm gewogen hatte, war zusammen mit ihrer Mutter Selena (Mrs. Abraham Stonds) wieder zu Hause in der Graham Street, und beide waren wohlauf. Im April 1947 berichtete die Zeitung über eine Tragödie in der Familie des bekannten Chicagoer Assyriologen August Vatick. Er war zusammen mit Frau und Tochter in einem Schneesturm im Taurusgebirge umgekommen, wo er nach den Resten eines Tempels der Göttin Gula gesucht hatte. Selenas Ehemann, der berühmte Arzt, und ihre kleine Tochter Beatrix mußten nun daheim in Chicago allein zurechtkommen. Mara hatte das Gefühl, daß der Herald-Star die Schilderung 16
von Großvaters Trauer über den Tod seiner Frau ein wenig übertrieb: Sie persönlich konnte sich nicht vorstellen, daß er sich aus irgendeinem Menschen genug machte, um seinetwillen Trauer zu empfinden. Vielleicht war er wie Heinrich der Erste, meinte eine Schulfreundin, und hatte sein Herz zusammen mit seiner Frau begraben. Vielleicht hatte er seit damals nicht mehr gelächelt. Aber nicht einmal eine begnadete Geschichtenerzählerin wie Mara selbst konnte sich vorstellen, daß Großvater sein Herz irgendwo anders begrub als in seiner eigenen Brust. Als Harriet zur Welt kam, gab es keine Gesellschaftsspalten mehr in den Zeitungen. Folglich erwähnten sie auch nichts von Harriets oder Maras Geburt. Der Familienname von Harriets Vater war Caduke gewesen, also suchte Mara in den Ausgaben von 1972 nach einem Bericht über seinen Tod, um festzustellen, ob irgend etwas Verdächtiges daran gewesen war. Dr. Harold Cadukes Wagen, so las Mara im Herald-Star, war am Lake Shore Drive in einer Kurve über die Mittellinie geraten und mit einem entgegenkommenden Kombi zusammengeprallt. Eine Medizinstudentin, die neben ihm auf dem Beifahrersitz gesessen hatte, war bei dem Unfall ebenfalls ums Leben
gekommen. Aha! Also hatte Harriets Vater ihre Mutter betrogen. Aber das erklärte Mara auch nicht, was aus ihrer Mutter geworden war oder warum Oma Selena Beatrix zu Hause gelassen hatte, als sie in den Irak gefahren war. Dann schlug Mara den Begriff »Assyriologie« im Lexikon nach: »Wissenschaft von der Sprache, Geschichte und den Altertümern Assyriens«. Sehr hilfreich. Vielleicht war das so etwas wie alte Geschichte. Großvater hatte eine Freundin, Professor Granita, die dieses Fach studiert hatte und oft zum Abendessen in die Graham Street kam oder zusammen mit Großvater ins Theater ging. Mara rief sie an, um zu erfahren, ob sie etwas über ihren Urgroßvater Vatick wußte. »Ich habe Abraham gesagt, er soll kein so großes Geheimnis um Selena machen«, sagte Professor Granita am Telefon. »Es war einfach nichts Geheimnisvolles an ihr oder ihrer Familie. 4* Ihr Vater hat an einem assyrischen Wörterbuch gearbeitet, aber seine eigentliche Leidenschaft waren die Ausgrabungen. Er ist zurück in den Irak, sobald der Krieg vorbei war. Nein, nicht der Golf krieg - was bringen die euch eigentlich heutzutage in der Schule bei? Wenn's der Golf krieg gewesen wäre, müßte er doch heute noch leben. Der Zweite Weltkrieg. Deine Großmutter ist zu ihnen gefahren, nachdem deine Mutter auf die Welt gekommen war. Nein, ich weiß nicht, warum. Ich habe sie nur kurz gekannt; Dr. Vatick war bei meiner ersten Ausgrabung in der Nähe von Nippur dabei, als Selena sich ihm angeschlossen hat. Aber Mara, ich war damals noch eine junge Studentin, und er war ein berühmter Professor. Wir haben nur selten miteinander gesprochen. Und deine Großmutter? Nun, die war wunderschön, soweit ich mich erinnere. Vielleicht ein bißchen eigenwillig, aber ich habe sie wirklich nicht gut gekannt.« Mara sog die Luft durch die Zähne ein, was ihre Backen blähte und sie ein bißchen - das sagte zumindest ihr Großvater - wie ein Backenhörnchen aussehen ließ. (»Besonders hübsch siehst du so aber nicht aus, Mara« - also machte sie es immer, wenn sie ihn ärgern wollte.) Mara besorgte sich ein paar Bücher über die Geschichte des alten Irak. Mrs. Ephers fragte sie, wieso sie sich plötzlich für so etwas interessiere, und zwar in einem Tonfall, der Mara bewies, daß die Geschichte des Nahen Ostens in der Graham Street ein prekäres Thema war. Doch Großvater sagte nichts, als Mrs. Ephers Maras neue Leidenschaft beim Abendessen erwähnte. Er sagte lediglich, es sei schließlich höchste Zeit, daß Mara sich für irgend etwas interessiere, und vielleicht liege ihr die Archäologie ja im Blut. Enttäuscht darüber, daß sie keine deutlichere Reaktion auf die Assyriologie hervorgerufen hatte, brachte Mara die Bücher zur Bibliothek zurück und ärgerte ihren Großvater lieber damit, weiter Opern umzuschreiben. Als Mara elf war und Harriet bereits Jura studierte, begann ihr Großvater, Mara ins Konzert und in die Oper mitzuneh 17 men. Mara, die es nicht gewohnt war, daß jemand sich um sie kümmerte, erklärte nun, sie begeistere sich für die Oper - eine Gattung, die ein Kind nur schwer verstehen und verarbeiten kann und sich deshalb um so mehr als Interessensgebiet für sie anbot, weil sie sich so erhoffte, mehr Aufmerksamkeit zu bekommen. Als Teenager fand sie so etwas wie Erleichterung in den exaltierten Gefühlen der Bühne. Wenn Luisa Montcrief »Das Lied der Weide« aus Otello sang, trieb sie Mara damit fast zum Selbstmord. Ebenfalls als Teenager bezeichnete sie sich selbst als Feministin, um den Arzt zu verärgern, der sagte, der Feminismus sei wie alle Ideologien nur eine Ausrede für mangelnde intellektuelle Disziplin. Mara stritt sich mit ihm über alle Themen, die mit Frauen zu tun hatten, darunter auch die Oper. Warum mußten die Frauen immer sterben, während ihre dummen Liebhaber sich reuig an die Brust schlugen? Sie schrieb Rigoletto und Madama Butterfly um, weil sie an ihrer eigenen Familiengeschichte nichts ändern konnte. Großvater fand das widerlich: Wenn du anfängst, jetzt auch noch mit der Musik deine Spielchen zu treiben, können wir nicht mehr zusammen in die Oper gehen. Und so fand die kurze Harmonie zwischen den beiden schon bald ein Ende. Mara mühte sich weiter an der Latin School of Chicago ab. Obwohl sie natürlich nicht Harriets Supernoten erreichte, , schaffte sie die Aufnahmeprüfung für das College spielend. Doch sie konnte sich mit ihrem Wunsch, sich das College selbst auszusuchen und vielleicht eine der großen staatlichen Universitäten zu besuchen, nicht gegen die Familientradition durchsetzen. Schließlich war auch Harriet auf die Smith School gegangen, und der hatte es dort sehr gut gefallen. Mara wußte mittlerweile, daß sie weder glatte Haare noch eine rosigweiße Haut bekommen würde, wenn sie die Smith School besuchte, aber immerhin konnte sie sich noch vorstellen, dort einen attraktiven Kreis von Freunden und Verehrern zu gewinnen wie ihre Schwester.
Doch kaum den Klauen ihres Großvaters Stonds entkom 18 men, driftete sie ab, fand nur wenige Freunde und kein für sie zuträgliches Umfeld. Schon bald wandte sie sich dem Alkohol zu, um allen zu beweisen, daß sie letztlich doch Beatrix Stonds Tochter war, auch wenn sie keinen Vater hatte, mit dem sie sich identifizieren konnte. Obwohl das College es sich nicht mit einem reichen Mäzen verscherzen wollte, warf die Verwaltung Mara schließlich nach dem dritten Semester hinaus. Als sie wieder in Chicago war, stand sie morgens auf, um zu arbeiten, beschäftigte sich aber dann stundenlang damit, Musik zu hören und Tagebuch zu schreiben. Nachts trieb sie sich in der Stadt herum, in den Jazzklubs und den Lesbenbars, an all den Orten, an denen sich die anderen Entwurzelten trafen. Schlechte Anlagen schlagen immer wieder durch, sagte Großvater mit grimmigem Gesicht zu Mrs. Ephers. Ich habe recht daran getan, sie Mara zu nennen, denn der Herr hat mir ein schweres Schicksal auferlegt. 18
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Die Frau an der Wand
ara kletterte die Eisentreppe, die von der Michigan Avenue zu den Laster- und Busrouten führte, jeden Abend hinunter, und immer war die Frau an derselben Stelle. Sie saß im Schneidersitz auf einer Decke, den Rücken zur Wand, das Gesicht in den Schatten verborgen. In manchen Nächten flackerte das Licht von Kerzenstummeln, die sie aus den Mülltonnen der nahe gelegenen Hotels geholt hatte und die jetzt in leeren Whiskeyflaschen vor ihr steckten. Zwischen den Kerzen lag ein schmutziges Foto der Jungfrau Maria, das sie aus einer Zeitschrift herausgerissen hatte. Die Frau beugte sich wie im Gebet darüber. Das Kerzenlicht spiegelte sich golden in dem Foto und tauchte das grauweiße Gesicht und Haar der Frau in Gelb. Licht flackerte über dem feuchten Riß in der Wand hinter ihrem Kopf, wo Wasser aus einem undichten Rohr drang. Mara, die die Unterwelt auf ihrem Weg zu den Jazzbars auf der anderen Seite der Michigan Avenue passierte, blieb stehen, um sie anzustarren. Mrs. Ephers' Warnungen schössen ihr durch den Kopf: Du trittst in die Fußstapfen deiner Mutter. Paß auf, daß du nicht zusammen mit dem anderen Abfall von Chicago in einer Mülltonne landest. War das mit Beatrix passiert? fragte sich Mara. Sie sagten ihr immer wieder, Beatrix sei tot, aber immer so, daß sie es ihnen nicht glaubte: Sie erzählten ihr keine Einzelheiten, schürzten die Lippen und murmelten etwas von wegen »das Thema ist so schmerzlich für deinen Großvater, daß er darüber nicht sprechen will«. Wenn sie Harriet keine Ruhe ließ, erzählte ihr diese, sie sei damals auf einer Beerdigung gewesen. Hast du die Leiche gesehen, bist du sicher, daß das Mutter war? bohrte Mara dann weiter, doch Harriet herrschte sie an, 18 sie solle nicht so scheußliche Sachen fragen. In den Zeitungen stand nichts über Beatrix' Tod, weder unter dem Namen ihres Mannes noch unter ihrem Mädchennamen. Mara war der Ansicht, daß Großvater und Mephers Beatrix hinausgeworfen hatten, sich aber schämten, das zuzugeben. Ihre Mutter war vielleicht eine der zahllosen Obdachlosen, die, von niemandem wahrgenommen, durch die Wege und unterirdischen Straßen der Stadt marschierten. Mara begann, sich jede weiße Obdachlose, die ihr begegnete, genauer anzusehen, immer auf der Suche nach einer Ähnlichkeit mit ihrem Großvater oder Harriet, nicht mit ihrem eigenen Gesicht, das wahrscheinlich dem ihres Vaters ähnelte, wie Mrs. Ephers oft sagte, denn in der Stonds-Familie hatte es noch nie jemanden mit so hohen Wangenknochen gegeben. Und immer versuchte sie sich Harriet alt, faltig und grauhaarig vorzustellen, ihre glatte, blonde Schönheit zu Asche zerfallen. Ihre Mutter wäre um die Fünfzig, wenn sie noch am Leben war, aber es war kein Geheimnis, daß das Leben auf der Straße die Leute vor der Zeit altern läßt. Natürlich würde nur eine schreckliche Mutter ihre Kinder verlassen, und alle waren sich darüber einig, daß Beatrix eine schreckliche Mutter gewesen war - man brauchte sich ja nur anzusehen, was sie der armen Harriet mit ihren güldenen Haaren angetan hatte. Doch Mara wurde den Gedanken nicht los, daß sie selbst, irgendein Defekt an ihr, der vom Augenblick ihrer Geburt an zu sehen war, ihre Mutter veranlaßt hatte, aus ihrer aller Leben zu verschwinden. Denn bis zu Maras Geburt hatte Beatrix zumindest hin und wieder vorbeigeschaut. Aber seit jenem Tag, an dem Beatrix die
Wohnung verlassen hatte -ihr Baby war damals gerade neun Wochen alt -, hatte niemand sie mehr gesehen. Wenn Sie und Großvater mich nicht wollten, warum haben Sie dann Beatrix nicht in eine Therapie geschickt und ihr geholfen, sich ein Leben mit mir allein aufzubauen? fragte Mara Mrs. Ephers. Jemandem, der keine Hilfe will, kann man nicht helfen, 19 Mara. In den neunzehn Jahren ihres Lebens hatte sie diesen Satz schon unzählige Male gehört. Wir haben wirklich unser möglichstes getan, aber es hat nichts gefruchtet. Beatrix mußte selbst lernen, mit dem Leben zurechtzukommen. Wir haben für sie gebetet, aber der Herr hatte andere Pläne für uns alle. Mara wartete nur auf den Tag, an dem Großvater und Mrs. Ephers sie zu Beatrix auf die große Müllhalde des Lebens werfen würden. Immer wieder erklärten sie ihr, daß sie lernen müsse, für sich selbst zu sorgen; sie solle sich nicht darauf verlassen, daß sich irgendwo ein Treuhandvermögen für sie auftun würde, und schon gar nicht, solange sie nicht imstande sei, verantwortlich mit Geld umzugehen. Als sie drei Monate vom College zurück war, sprach ihr Großvater ein Machtwort: Du kannst nicht die Nächte durchsaufen und dann den ganzen Tag in deinem Zimmer sitzen und so tun, als wärst du eine Schriftstellerin, junge Frau. Es wäre was anderes, wenn du noch in der Schule wärst, aber da du dich ja gegen die Bildung entschieden hast, erwarte ich von dir, daß du einen Beitrag zu deinem Lebensunterhalt leistest. Sogar Harriet hatte zugestimmt: Du könntest deine Zeit besser nutzen, als in diesen Bars rumzuhängen. Warum meldest du dich nicht in einem Kurs für kreatives Schreiben an, wenn du schon nicht aufs College willst? Dann hättest du wenigstens wieder eine Aufgabe. Und überhaupt, sagte Harriet, wieso lassen die dich eigentlich in diese Jazzbars? Ich dachte, in diesem Staat muß man einundzwanzig sein, um in der Öffentlichkeit trinken zu dürfen. Natürlich wußte Harriet das ganz genau, denn sie war ja Anwältin und kannte alle Gesetze in- und auswendig, nicht nur die in den Gesetzbüchern, sondern auch die Benimmregeln, die Gesetze des Dschungels und sogar der Schwerkraft, denn schließlich war sie in der Schule in allen Fächern gut gewesen, auch in Physik. Harriet versuchte, Mara einen Job im Schreibbüro ihrer Kanzlei zu verschaffen, aber Mara tippte nicht schnell genug, und sie driftete immer in Tagträume ab, wenn sie eigentlich 19 einen genialen Text über Sicherheitsbestimmungen transkribieren sollte. Als nächstes überredete Harriet einen ihrer Klienten, das Hotel Pleiades, Mara in seinem Veranstaltungsbüro zu beschäftigen. Sie würde Anrufe entgegennehmen, potentielle Kunden freundlich informieren oder Hochzeiten und Bar Mizwas organisieren - das mußte sie doch schaffen, oder? Also zog Mara jeden Tag eine Strumpfhose an und schminkte sich die Lippen. Hast du dir die widerborstigen Haare gebürstet, Miss? rief Mrs. Ephers ihr noch nach, wenn sie die Wohnung am Morgen verließ. Und vergiß nicht, daß nicht nur dein Name auf dem Spiel steht, wenn du einen schlechten Eindruck machst. Deine Schwester hat sich sehr für dich eingesetzt; verdirb die Sache nicht, sonst schadest du ihrer Karriere. Das Hotel Pleiades befand sich auf der Ostseite der Michigan Avenue. Es handelte sich dabei um einen der Wolkenkratzer, die plötzlich auf den leeren Grundstücken rund um den Bahnhof hochgezogen worden waren. Das weiße Mauerwerk und die schiefergrauen Fenster des Hotels erhoben sich dreißig Stockwerke hoch über dem Fluß und nahmen den alten Gebäuden der Avenue das Licht weg, um den Hotelgästen einen unverstellten Blick auf den Lake Michigan zu ermöglichen. Das Hotel wurzelte in der Unterwelt, dem Schattennetz aus Straßen unter dem Herzen der Chicagoer Innenstadt. Die Parkgarage des Pleiades ging auf den Lower Wacker Drive, wo Lieferwagen und Müllabfuhr die Versorgung und spätere Entsorgung der Waren erledigten. Unter den rostenden Streben der Straßen, die durch die hell glänzende Stadt oben führten, fristeten die Obdachlosen ihr Dasein in Pappkartons, die sie notdürftig vor Regen und Schnee schützten, und ihre Haut wurde grau, weil sie nicht genug Licht und Luft bekam. Die Frau hatte ihr Lager in der Nähe der Pleiades-Garage aufgeschlagen. Der Platz unter dem undichten Rohr schien ihr wichtig zu sein: Als Mara eines Abends die Treppe zur Unterwelt hinunterkletterte, sah sie, wie ein Bettler eine Reihe von Büroangestellten an einer Bushaltestelle anschnorrte. 19
Die Pendler standen schweigend und bewegungslos in der Schlange, als könnten sie sich durch ihre Bewegungslosigkeit gegen das Virus der Obdachlosigkeit schützen. Als der Bus kam und die Pendler erleichtert in das Fahrzeug drängten, knurrte der Bettler etwas und ging die Straße hinauf, zu der Stelle an der Wand, an der die Frau normalerweise saß. Doch die Frau war nicht da. Während Mara den Mann dabei beobachtete, wie er die Hose öffnete und unterhalb des Risses gegen die Wand pinkelte, fragte sie sich, ob er die Frau vertrieben hatte, doch da tauchte sie plötzlich auf. Sie verscheuchte den Mann mit Flüchen: »Die Mutter Gottes weiß, daß du ihren Tempel geschändet hast! Sie wird dich verfluchen, deine Eier schrumpeln lassen, deinen Urin schwarz machen!« Der Bettler, der fast doppelt so groß war wie sie, stolperte davon, ohne die Hose zuzumachen. Mara mußte lachen. Tja, das war echtes Straßentheater, Performancekunst, Schwester. Ein Paar, das seinen Wagen gerade dem Parkwächter überlassen hatte, wich erschrocken zurück, zuerst vor dem Bettler, der seine Hose zuzumachen versuchte, während er dahin-schlurfte, und dann vor den Flüchen der Frau, die ihm über die Straße nachhallten. Als Mara an der Garage vorbeiging, hörte sie, wie der Fahrer des Wagens sich laut beim Parkwächter beschwerte: »Können Sie denn nicht dafür sorgen, daß die Straße hier unten saubergehalten wird?« »Sie ist sauber bis auf den Abschaum der Vorstädte, der hierherkommt und sie mit seinen Gedanken verschmutzt«, rief Mara. Sie wandte sich wieder der Obdachlosen zu, die mit einer zerknüllten Zeitung an dem dunklen Fleck herumrieb, den der Urin des Mannes hinterlassen hatte. Mara holte einen Fünfdollarschein aus ihrer Brieftasche und reichte ihn ihr. Die Frau hielt in ihrer Arbeit inne, um den Schein einzustecken. »Danke, Ma'am, danke. Die Mutter Gottes bedankt sich ebenfalls bei Ihnen. Ihr Gesicht an der Wand wird Ihnen zulächeln. Ihr Blut wird Sie reinigen.« 20
Als die Frau den Fleck beseitigt hatte, legte sie die Finger gegen den Riß an der Wand, aus dem rostrotes Wasser aus dem Rohr dahinter drang. Sie drückte ihre feuchten Finger auf Ma-ras Lippen, dann auf ihre eigenen. Mara versuchte, nicht das Gesicht zu verziehen oder zurückzuzucken, aber sie begann unwillkürlich zu würgen, als die Frau sie berührte und sie den kalkig-süßen Rost auf ihren Lippen schmeckte. Als sie an der Garage vorbeiging, stand dort schon der Parkwächter, der sie zusammen mit dem wütenden Paar beobachtet hatte. »Hey!« brüllte er ihr zu. »Sie da! Kennen Sie die Frau?« Mara machte ihr finsterstes Gesicht. »Sie ist meine Mutter, Arschloch. Was geht dich das an?«
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Performance hinter den Kulissen
Habe meine Runde früh gemacht, eine Blutuntersuchung angeordnet, bevor Mrs. Herstein entlassen wird, und ihr gesagt, sie solle sich die Ergebnisse nächste Woche in der Klinik abholen. Sie fragte, was passieren würde, wenn sie das Prozac nähme: »Werde ich dann tiefere Einblicke gewinnen?« Ich fragte sie, welche Einblicke. »In das Wesen des Lebens.« Davon hatte ich bisher noch nichts gelesen. Ich sagte ihr, darüber wisse ich nichts, das Medikament solle sie ruhiger machen, sie müsse dann nicht mehr so viel weinen. Doch da wurde sie wütend. »Ich will weinen. Durch das Weinen bekommt man tiefere Einblicke, wenn man es richtig macht.« Ich war zu müde, um mich näher mit ihren Gedanken zu beschäftigen. Habe ihr gesagt, sie solle nächste Woche wieder in die Klinik kommen, um ihre weitere Behandlung zu besprechen. Hatte kurz vor dem Aufwachen einen seltsamen Traum. Betrat einen Raum - groß, hell, leer, wie das Musikzimmer im Haus eines reichen Mannes -, dachte zuerst, ich sei allein, merkte dann aber, daß noch jemand da war, und zog einen Wandschirm weg. Entdeckte Mrs. Herstein dahinter, die Chirurgenhandschuhe trug, ein großes Schlachtermesser in der einen Hand, einen Stereoempfänger in der anderen. Sie wollte eine Gehirnoperation an mir vornehmen, mir den Empfänger einpflanzen. Ich wollte weglaufen, doch Hanaper verstellte mir lächelnd den Weg und sagte: »Soll sie's doch tun, wenn es sie glücklich macht.« Bin schweißgebadet aufgewacht, bevor sie mit ihrer Operation beginnen konnte. Soll das so etwas wie eine 5i
Elternsubstitution sein? Was wollte meine Mutter mir wohl meiner Meinung nach ins Gehirn pflanzen? Aber Hanaper als Ersatzvater ergibt nicht viel Sinn - ich hasse H, seine Herrschsucht und sein mangelndes Interesse für die Patienten, während mein Dad immer Frieden um jeden Preis wollte. Oder läßt sich das mit mangelndem Interesse an Kindern, also an mir, gleichsetzen? Hanaper hat mich heute morgen zu sich ins Büro gerufen. »Dr. Tammuz. Sie beklagen sich doch immer darüber, daß uns die Interessen des Krankenhauses wichtiger sind als die der Gesellschaft, oder?« Hector, der immer noch an den Traum denken mußte, beäugte den Leiter der Abteilung mißtrauisch. »Ja, Sir?« »Ich und das Krankenhaus, wir haben jetzt Gelegenheit, etwas zu tun. Ich glaube, daß Sie geradezu die Idealbesetzung für den Posten wären.« »Und was ist das für ein Posten, Sir?« »Die Lenore Foundation hat einen Fonds eingerichtet, damit wir einen unserer angehenden Psychiater einen Tag in der Woche zu den Obdachlosen schicken können. Wie Sie sicher wissen, kommen, weil der Bürgermeister die kommunalen psychiatrischen Kliniken geschlossen hat, immer mehr psychisch gestörte Obdachlose in die städtischen Krankenhäuser.« Hector fiel der Mann ein, der im State of Illinois Building hatte beweisen wollen, daß er ein Huhn war, der Mann, den Hanaper gezwungen hatte, das Krankenhaus zu verlassen, weil er nicht versichert war und das Krankenhaus die Behandlungskosten selbst hätte tragen müssen, und sagte: »Das war mir nicht klar, Sir.« Hanaper kniff die Augen zusammen, um zu sehen, ob diese Bemerkung ironisch gemeint war. »Der Mann, der sich um den Fonds kümmert, ist Angus Boten. Ich glaube, Sie haben ihn damals bei Ihrem Einstellungsgespräch kennengelernt. Leider konnte er nicht in unserer Abteilung bleiben, aber er hat mich gestern angerufen und gefragt, ob ich ihm jemand empfehlen könne. Natürlich habe ich sofort an Sie gedacht.« Hanaper starrte mich mit einer Mischung aus Großspurigkeit und Boshaftigkeit an. Bedeutet das, daß er weiß, wie enttäuscht ich bin, weil ich nicht mit Boten zusammenarbeiten kann? Aber wenn dem so wäre, würde er mir sicher nicht die Gelegenheit geben, irgendwie mit Boten in Verbindung zu treten. H weiß, daß ich mich mehr für Gesprächstherapie als für Medikamente interessiere, und er hält es für seine Aufgabe, mir diesen Unsinn auszutreiben. Er würde mich sicher nicht bewußt in eine Klinik schicken, in der die Betonung auf Botens Behandlungsansatz liegt. Wahrscheinlich kennt H die schlechten Bedingungen, die die Lenore Foundation zu bieten hat. Vermutlich gibt es dort nur einen kalten, sterilen Raum, wo mich fortwährend stinkende psychotische Männer und Frauen wie Mrs. Herstein beschimpfen, und das Ganze ohne Seife. Hector sah sich schon völlig übernächtigt Rezepte für Ativan, Prozac und Haldol ausstellen und den psychisch Gestörten Medikamente hinwerfen, wie die GIs den Kindern in den vom Krieg verwüsteten Ländern Süßigkeiten hingeworfen hatten. »Dann brauche ich wahrscheinlich nicht mehr so oft Bereitschaft zu machen, oder, Sir? Schließlich bin ich ja dann einen Tag in der Woche nicht hier im Krankenhaus.« Hanaper geriet ein wenig aus der Fassung, wenn auch nur kurz. »Wir legen Ihre Tätigkeit dort auf Freitag und Ihre Bereitschaft hier auf Freitagnacht und Samstag, Tammuz. So können Sie Ihre Notizen über die Obdachlosen im Bereitschaftszimmer diktieren. Das spart Ihnen Zeit, und Sie müssen nicht länger von zu Hause weg sein als unbedingt nötig. Obwohl Sie ja noch nicht verheiratet sind, oder?« Am liebsten hätte ich den Steuben-Briefbeschwerer genommen, den das Schwein auf seinem Schreibtisch hat, S21 und ihm damit den Schädel eingeschlagen. Und dabei hätte ich gern gesungen: »Steck dir den Job sonstwo hin.« Aber natürlich sagte ich nur leise: »Nein, Sir.« Dann erklärte er mir, wann und wo ich anzufangen hätte. Die Orleans Street Church hat uns einen Raum angeboten; dort wird ohnehin ein alter Kohlenkeller als Obdachlosenunterkunft genutzt. Hagar's House. Hagar - war das nicht die Frau, die in die Wildnis hinausgeschickt worden war? Was für ein passender Name: Die Frauen wurden aus der Wildnis in den Kohlenkeller geholt. Ich kann mich kaum noch daran erinnern, warum ich Arzt werden wollte. Selbst wenn ich meine Zeit in dieser Hölle zu Ende bringe, werde ich mich hinterher irgendeiner Fürsorgegruppe anschließen und wieder das gleiche tun müssen: Medikamente und nicht Therapien verschreiben,
ungefähr fünfzehn Minuten pro Patient, jede Aufnahme vor einem Ausschuß von Verwaltungspavianen rechtfertigen, die keine Ahnung von psychischen Erkrankungen haben! Ich wollte gerade gehen, als Hanapers Sekretärin ihn anpiepste; Luisa Montcrief war eingetroffen. - Die Diva, von der Stonds uns am Dienstag erzählt hat, die Frau, um die ihre Familie sich Sorgen macht. Die hatte ich, wie H offenbar auch, völlig vergessen, aber er freute sich, mich dabeizuhaben, und sagte seiner Sekretärin, sie solle Melissa ausrufen lassen, damit er noch ein größeres Publikum für seine wundervollen therapeutischen Methoden bekam. Doch dann kam die schlechte Nachricht von der Sekretärin: Die Diva hat keine Krankenversicherung. Die war ihr gekündigt worden, nachdem sie achtzehn Monate lang keine Beiträge gezahlt hatte. Auf den ersten Blick wirkte die Montcrief ausgesprochen eindrucksvoll dunkle Haare, die sie aus dem Gesicht mit den ausgeprägten Wangenknochen gekämmt hatte, ein teures purpurrotes Kleid. Sie wurde von einer anderen Frau begleitet, der Schwägerin, wie wir später erfuhren; sie hatte diesen besorgten Ge22 sichtsausdruck, den alle Leute, die sich um ihre Verwandten kümmern, nach einer Weile bekommen. »Ms. Minsky? Ich bin Dr. Hanaper. Ihr Bruder sagt, Sie hätten in letzter Zeit Probleme gehabt.« Die Diva sah mit spöttisch hochgezogenen Augenbrauen ihre Schwägerin an, die scharf sagte: »Er spricht mit dir, Janice.« »Aber meine liebe Karen, ich bin nicht Ms. Minsky. Du bist die einzige Person dieses Namens in diesem Raum. Es sei denn natürlich, Becca versteckt sich irgendwo hinter dem Wandvorhang.« Ihre Stimme klang voll, wie frischer Kaffee, und ihr Lachen brachte das Blut der anwesenden Männer in Wallung. »Sie nennt sich selbst Madame Montcrief«, sagte Karen Minsky zu Hanaper. »Ich bin hier in diesem Zimmer, Karen, und in der Lage, für mich selbst zu sprechen. Ich nenne mich selbst Madame Montcrief, weil ich so heiße. Schließlich habe ich meinen Namen im Alter von zwanzig Jahren offiziell ändern lassen, und dafür habe ich teures Geld bezahlt. Natürlich ist das >Madame< nicht inklusive, nur das >Luisa Montcrief<. >Madame< ist die Anrede, die ich mir aufgrund meiner herausragenden Stellung in der Welt der Musik erworben habe. Folglich hat es seine Richtigkeit, wenn die Leute mich so nennen.« »Außer natürlich, wenn du das Geld der Minskys brauchst«, sagte Karen in scharfem Tonfall. »Ich habe zwar meinen Namen ändern lassen, aber nicht meine DNA - ich bin immer noch die Tochter von Miriam und Herschel Minsky. Deshalb habe ich Anspruch auf meinen Teil ihres Vermögens.« »Sie hat ihren Teil des Erbes durchgebracht...« »Das war die Hälfte des Geldes, das unsere Eltern uns hinterlassen haben, aber von dem Erlös des Alteisenimperiums habe ich nichts gesehen. Ich glaube nicht, daß ich zuviel verlange, wenn ich meinen Anteil an diesen Einkünften fordere.« »Harry hat mit fünfzehn Jahren auf dem Schrottplatz zu arbeiten angefangen, und seitdem ist er jeden Tag dort gewesen. Er hat sich das Geld verdient. Und du schämst dich, wenn andere Leute erfahren, daß du eine Minsky bist, wenn auch nur durch die DNA.« »Als Harry mein Haus in Kampanien verkauft hat...« »Um die Schulden zu begleichen, die du auf der ganzen Welt angehäuft hattest...« »Meine Damen«, mischte sich Dr. Hanaper ein, »Sie haben sicher beide recht, aber vielleicht sollten wir uns der Frage zuwenden, welche Probleme Ms. Montcrief hat.« »Mir fehlt nichts, was ein besserer Agent nicht kurieren könnte«, sagte die Diva. »Harry und Karen sind unruhig, weil ich nicht arbeite, aber sie haben keine Vorstellung davon, wie ich mich fühle, ein Opernstar der Weltklasse, nachdem ich seit fast drei Jahren kein Engagement mehr gehabt habe.« »Die Leute haben deine Trinkerei vertuscht, solange sie konnten«, sagte Karen mit hochrotem Gesicht. »Länger, als ich es getan hätte. Ich weiß ja nicht, welche Macht du über Carl Benedetti von der Met hattest, aber der hat dich als Desde-mona nach New York geholt, obwohl man dich in London verhaftet hatte, weil du auf jemanden im Publikum losgegangen bist.« »Losgegangen?« fragte Hanaper. »Mit einer Waffe?« »Sie hat eine Karaffe nach einer Frau geworfen. Von der Bühne aus.« »Diese lächerliche Person hat im ersten Akt von Tosca so laut geredet, daß ich kaum noch etwas hören konnte. Ich beherrsche meine Partie perfekt, aber ich muß einfach hören können, wann ich
meinen Einsatz habe. Als Scarpia mich dazu zwang, das Todesurteil meines Geliebten zu unterzeichnen, war die Frau so laut, daß ich mich nicht auf >Visi d'arte< einstimmen konnte. Nach der Vorstellung haben mich meine Kollegen zum Essen eingeladen, aus Dankbarkeit dafür, daß ich sie zum Schweigen gebracht habe.« »War das, bevor oder nachdem die Polizei dich geholt hatte?« fragte Karen sarkastisch. »Wenn du vor dem zweiten Akt nicht fast die ganze Flasche Scotch getrunken hättest, hat )23
test du dich vielleicht auch besser auf die Inszenierung konzentrieren können. Außerdem glaube ich nicht, daß die Frau dich gestört hat, sondern die Buhs vom Balkon.« Karen wandte sich an Hanaper. »Trotzdem hat Carl Benedetti sie an die Met geholt. Aber das war der Anfang vom Ende.« »Karen, es ist wirklich erbärmlich, wie du mich vor Fremden verleumdest.« Die Diva lächelte Hanaper an. »Ihr Leben dreht sich ausschließlich um das Haus, das Harry ihr in Highland Park gebaut hat, und um ihr einziges Kind Rebecca. Sie ist immer schon eifersüchtig auf Beccas Zuneigung zu mir gewesen: Das Kind hat keinen Zugang zu Kultur und Schönheit in der Welt; beides muß ich ihr zeigen.« An diesem Punkt hatte ich den Eindruck, daß die arme Karen Minsky der Montcrief am liebsten an die Kehle gegangen wäre. Hanaper hatte offenbar das gleiche Gefühl -er ist nicht immer unsensibel. Jedenfalls schlug er vor, Karen solle draußen warten, während wir uns weiter mit Madame Montcrief unterhielten. Die Gespräch dauerte etwa eine halbe Stunde. Die Sängerin erklärte uns, sie trinke lediglich in Gesellschaft, und erzählte uns von den Eifersüchteleien in der Opernwelt, die zu den verleumderischen Berichten über ihren Alkoholismus geführt hatten. »Ihr Bruder sagt, Sie hätten ihm die Kreditkarten gestohlen und im letzten Monat ziemlich viel Geld für Hotels ausgegeben. Das klingt doch nicht nach Verleumdung, oder?« fragte Hanaper. »Harry und ich sind Zwillinge, aber keine eineiigen.« Sie lachte herzlich über ihren eigenen Witz. »Wir haben uns noch nie auf irgend etwas verständigen können, nicht mal als Kinder: Ihm ist Esther immer lieber gewesen als Vasti, also hat er die auch geheiratet. Und jetzt will er mich verbannen.« Hanaper stürzte sich auf das, was sie gerade gesagt hatte, 23 weil er dachte, soeben einen ersten Hinweis auf Wahnvorstellungen erhalten zu haben. Die Diva hob die Hände mit dramatischer Geste, die gleichzeitig theatralisch und echt wirkte. »Oje. Sie haben also noch nie etwas vom Buch Esther gehört, Doktor? Früher konnte man davon ausgehen, daß man mit einem Mediziner ein kultiviertes Gespräch führen konnte. Wissen Sie, das ist in Italien immer noch möglich. Dort sind die größten Opernfans oft Mediziner oder Priester. Und wenn ich zu einem von ihnen das gesagt hätte, was ich gerade zu Ihnen gesagt habe, hätte er sofort alles über die Beziehungen meines Bruders gewußt. Aber da die amerikanischen Arzte sich in ihrem Gewerbe ja hauptsächlich auf Medikamente und Geräte verlassen, haben sie wohl einen eher technischen Ansatz bei der Lösung von Problemen.« Am liebsten hätte ich applaudiert, habe mich aber sofort in meine Notizen vertieft, als Hanaper mich mißtrauisch ansah. Dann holte er die Schwägerin und sagte »Strenge«, das sei in einem solchen Fall die einzig sinnvolle Therapie. Wenn die Diva eine Krankenversicherung hätte, würde er natürlich das stationäre Alkoholikerprogramm des Midwest Hospital empfehlen, aber wenn Mrs. Minsky nicht bereit wäre, die Rechnung zu übernehmen? Doch Mrs. Minsky war alles andere als bereit, eine Rechnung über zwanzigtausend Dollar zu begleichen. Nun, riet H ihr, dann sorgen Sie dafür, daß sie die Familie nicht weiter ausnimmt. Geben Sie ihr eine letzte Chance, und wenn sie die versiebt, tja, dann helfen Sie ihr nicht mehr. Ach ja, übrigens können Sie meiner Sekretärin einen Scheck über zweihundertfünfzig Dollar geben. Melissa und mir blieb fast die Luft weg: Jetzt mußte die arme Karen Minsky auch noch fünfundsiebzig Dollar zusätzlich zahlen, weil Hanaper das Buch Esther nie gelesen hatte. Nachdem wir uns so schnell wie möglich verdrückt hat-*# ten, sagte Melissa: »Ich würde meinen Job hier aufgeben, wenn ich mich jemals so kleiden oder bewegen könnte wie Luisa Montcrief.« Und ich würde meinen Job hier aufgeben, wenn ich eine andere Möglichkeit wüßte, die Schulden für mein Studium zu begleichen, sagte ich, und dann gingen wir wieder zu unseren Patienten (für die uns die Verwaltung jeweils fünfzehn Minuten für ein persönliches Gespräch zugesteht).
Dr. Stonds stürzte sich auf mich, als ich am Ende des Tages gerade meine letzten Anweisungen notierte. Was war mit Madame Montcrief passiert? Er und seine Enkelin hatten sie immer gern in der Lyric Opera singen gehört. Ich sagte ihm, daß sie wohl eine Alkoholikerin ohne Krankenversicherung sei und daß wahrscheinlich nur noch Strenge helfen könne. Stonds sah mich daraufhin traurig an. Strenge ist auch bei Patienten, die eine Krankenversicherung haben, oft die beste Therapie, finden Sie nicht auch, Dr. ... Tammuz, so heißen Sie doch, oder? Wenn Sie ein bißchen mehr Erfahrung haben, werden Sie nicht mehr so oft über die Manipulierer, die Simulanten und Abhängigen unter den Patienten weinen. Sie müssen sich ein dickeres Fell zulegen, sonst gehen Sie an den Problemen Ihrer Patienten zugrunde. Den Ratschlag habe ich, glaube ich, bereits in meinem fünften Lebensjahr zum erstenmal gehört. Schon meine Mutter hatte mir immer gesagt, ich solle kein solcher Jammerlappen sein. Ein dickeres Fell. Im Lauf der Zeit, so mein Eindruck, ist meine Haut schon fast durchsichtig geworden.
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Hagar's Home
Du
solltest ein bißchen ehrenamtlich für Hagar's House arbeiten«, sagte Mrs. Ephers beim Frühstück zu Mara. »Dir blutet das Herz ob all der obdachlosen Frauen, aber du solltest wirklich einmal sehen, wie sie leben. Die meisten von ihnen trinken, obwohl manche von ihnen aus einem ebenso schönen Zuhause kommen wie du. Vielleicht könntest du ihre Familien dann besser verstehen, oder zumindest könnte dich das davon abhalten, den gleichen Weg wie sie zu beschreiten.« Mara zuckte mit den Achseln und stand schweigend vom Tisch auf. Sie hatte schon ein paarmal in dem Obdachlosenheim mitgeholfen, ohne irgend jemandem in der Graham Street etwas davon zu sagen, aber sie konnte die Leiterin des Heims nicht leiden. Die Kirche hatte sich nicht nur deshalb für Patsy Wanachs ausgesprochen, weil sie ein bißchen Spanisch konnte, sondern auch, weil sie ein Mitglied der Gemeinde war und alle sie seit ihrer Kindheit kannten. Patsy war genauso von Zucht und Ordnung besessen wie die Orleans Street Church, und sie würde es nie zulassen, daß die Obdachlosen aus dem Keller sich in die Kirchenbänke hinaufwagten. Mara fand es schrecklich, daß die Frauen um Tampons, eine zweite Frühstücksportion oder eine zusätzliche Decke bitten mußten, wenn sie vor Kälte zitterten. Die Feldbetten, die jeweils etwa eineinhalb Meter voneinander entfernt aufgestellt waren, boten keinerlei Privatsphäre. Die Frauen konnten ihre Sachen über Nacht in ein verschlossenes Büro legen, damit sie nicht von ihren Genossinnen bestohlen wurden, mußten sich aber dann an eine der freiwilligen Helferinnen, zum Beispiel Mara, wenden, wenn sie etwas von ihren Sachen haben wollten. Die wenigen Schließfächer konnten sich die Obdachlosen durch gutes Benehmen »verdienen«. 24
Mara fand es gräßlich, wie Patsy Wanachs die Frauen ansah, wenn sie gegen eine der Regeln verstoßen hatten. Wenn sie den Kopf schüttelte oder sich etwas notierte, war ihr Vergnügen darüber, Macht zu besitzen, deutlich zu spüren: LaBelle oder Caroline, wenn Sie ausfallend werden, müssen wir Sie bitten, die Unterkunft zu verlassen. An jenem Abend schüttete Mephers Harriet ihr Herz aus: Ich habe versucht, Mara für etwas zu interessieren, was nicht unmittelbar mit ihr selbst zu tun hat, aber genauso gut hätte ich mit dem Aufzug reden können. Das wäre sogar noch ein bißchen sinnvoller, denn der Aufzug kommt wenigstens, wenn ich auf den Knopf drücke. Harriet war müde. Sie wollte sich vor dem Abendessen noch eine Weile hinlegen, denn dann mußte sie Gastgeberin für ein paar von Großvaters Chirurgenkollegen spielen, doch als sie hörte, daß Mara im vorderen Zimmer Klavier übte, atmete sie tief durch und ging hinüber, um sich mit ihrer Schwester zu unterhalten. Mara spielte mit der linken Hand immer wieder denselben Dreiklang, während sie sich mit der rechten Akkorde zusammensuchte. Harriet verstand nicht, warum Patsy Wanachs' Verhalten für Mara problematisch war. »Die müssen Regeln haben. Ich weiß, das klingt unmenschlich, aber es gibt immer Menschen, die alles an sich reißen würden, wenn es diese Regeln nicht gäbe.« »Ja, zum Beispiel deine Mandanten.« Mara sah Harriet nicht an, hörte aber auf zu klimpern. »Schließlich haben sie ihre Banken nicht aufgebaut, ohne anderen Menschen etwas wegzunehmen.«
Harriet weigerte sich, mit ihr zu streiten. »Deshalb brauchen sie ja auch mich. Jemand muß ihnen die Regeln erklären und sie vor dem Gefängnis bewahren, wenn sie zu gierig werden. Tja, und Patsy erklärt diesen Frauen die Regeln, damit sie die Nacht nicht auf der Straße verbringen müssen. Weißt du, so toll ist der Job auch wieder nicht, so eine Obdachlosenunterkunft zu leiten. Die Kirche hat Glück, daß sie sich dazu bereit erklärt hat.« Mara drehte sich auf dem Klavierhocker um und sah ihre 25
Schwester an. »Ich rede ja nur von dem Blick, mit dem sie sich ihre Notizen macht. Sie sieht so glücklich aus, wenn sie jemanden zusammenstauchen kann.« »Ich glaube, das bildest du dir bloß ein, Mara, weil du dich gegen alle Autoritäten auflehnst«, sagte Harriet sanft. »Und daß Rafe Lowrie ein heuchlerischer Frömmler ist, bilde ich mir wahrscheinlich auch bloß ein, oder? Tja, jedenfalls ist er jeden Mittwochabend dort und hält eine Predigt. Er zeigt den Frauen, wie schlecht sie sind. Er nimmt Cynthia mit, und die muß dort die Bibeln austeilen. Er hat mehr Geld als Gott, und sein Sohn Jared ist einer der schlimmsten Vergewaltiger der Gold Coast...« »Mara!« rief Harriet, als wolle sie sie fragen, ob sie für diese Behauptung auch einen Beweis habe. »Frag doch Tamara Jacoby!« Maras Gesicht wurde rot vor Zorn. »Na schön, sie geht freiwillig mit ihm ins Bett, aber Cynthia sagt, sie hat schreckliche Angst vor ihm. Das ist die klassische Geschichte der mißhandelten Frau: Tamara ist wie hypnotisiert von ihm und kommt immer wieder zu ihm zurück. Und Cynthia muß leben wie eine Nonne; Rafe erklärt ihr mit seiner krächzenden Stimme, wie ihre Pflicht gegenüber Gott aussieht. Das ist nur seine falsche Art zu sagen: >Mach alles genau so, wie ich es sage.< Und genauso spricht er auch mit den obdachlosen Frauen. Deswegen gehe ich so ungern rüber zu Hagar's House.« »Er hat sich nur bereit erklärt, die Bibelstunden zu leiten, weil sich die Gemeindemitglieder nicht einigen konnten, ob die Unterkunft überhaupt weitergeführt werden sollte. Weißt du, als Mrs. Thirkell gemerkt hat, daß Zuhälter vor den Kirchentüren rumhingen...« Harriet setzte sich zu Mara auf den Klavierhocker und äffte die entrüstete Mrs. Thirkell nach. Mara mußte kichern. Die Orleans Street Church war 1893 erbaut worden, auf einem von einem Spekulanten gespendeten Grund, der gedacht hatte, der Reichtum, der sich nach dem berühmten Brand von 1871 über den Chicago River ausdehnte, würde sich nicht nur 25 im Norden, sondern auch im Westen bemerkbar machen. Geoffrey Lenore kaufte gleich nach dem großen Feuer das Land, auf dem später irische und deutsche Slums entstanden, und als ihm sein Fehler schließlich klar wurde, schenkte er drei Morgen davon der Kirche. Lenore stiftete außerdem das massive Steingebäude, das um ein Atrium herum erbaut wurde, damit seine einzige Tochter in dem Jahr, in dem die gesamte Anlage fertiggestellt wurde, ihre Hochzeit im Freien feiern konnte. Abgesehen von einem Längsschiff, das Notre-Dame alle Ehre gemacht hätte, hatte der Bau zwölf Räume für die Sonntagsschule und einen riesigen Saal, in dem die Menschen hätten tanzen können, wenn die Regeln der Kirche das erlaubt hätten. Als die Gemeindemitglieder sich ungefähr ein Jahrhundert später zum Kaffee trafen, waren sie schockiert, aber auch ein bißchen fasziniert vom Anblick der Frauen, die auf den Gittern über den U-Bahn-Schächten an der Chicago Avenue schliefen, und sie sahen sich ihr großes Kirchengebäude genauer an. Die riesigen Keller, in denen früher Kohle aufbewahrt worden war, wurden kaum noch genutzt. Man konnte sie sauber machen und als Schlafplätze herrichten; die Kirche konnte eine Küche einrichten, damit die Frauen eine warme Mahlzeit bekamen, bevor sie den Keller am Morgen wieder verließen. Das alles erwartete Gott von ihnen. Es würde noch einmal so werden wie Anfang der Achtziger, als sie das Gebäude für Flüchtlinge aus El Salvador geöffnet hatten - das war damals ein großer Erfolg gewesen, und die betroffenen Familien hatten sich als sehr dankbar erwiesen, weil sie erst einmal in richtigen Unterkünften untergebracht waren. Natürlich war dem Gemeinderat auch ohne viele Worte klar, daß die Obdachlosenunterkunft streng von der eigentlichen Kirche getrennt bleiben mußte. Der Zugang von der Hill Street, wo sich früher die Kohlenschächte befunden hatten, und die eigene Küche sorgten dafür, daß keine der obdachlosen Frauen jemals nach oben ins Hauptgebäude mußte. Doch sobald Hagar's House eingerichtet war, waren viele der Kirchgänger bestürzt über die tatsächlichen Lebensum
26 stände der Obdachlosen. Zum Beispiel tranken einige der Frauen. Die Gemeindemitglieder, die Kirchenlieder singend und lachend die Kohlenkeller saubergemacht hatten, waren nicht auf die Idee gekommen, daß auch Alkoholikerinnen unter den Frauen sein könnten - sie hatten sich vorgestellt, daß saubere, gepflegte Menschen hierherkommen würden, die einfach Pech gehabt hatten und der Kirche dankbar dafür waren, daß sie ihnen Unterschlupf gewährte. In ihrer Phantasie dankten sie Jesus und seinen Dienern, der Gemeinde der Orleans Street Church. Also untersagte der Gemeinderat Alkohol in der Unterkunft - auf dem Kirchengelände waren ohnehin alle alkoholischen Getränke verboten; sogar bei der Kommunion war nicht Wein, sondern Traubensaft im Kelch - und schärfte Patsy Wanachs ein, sie solle allen Betrunkenen die Tür weisen. Doch noch schockierender war es, daß manche der Frauen sich prostituierten: Patsy Wanachs berichtete, daß ihre Zuhälter zu der Unterkunft kamen und sie zu sehen verlangten. Eines Abends wurde sogar Ronald Hemphill, der gute alte Wachmann der Kirche, von einem der Zuhälter geohrfeigt, der sich am Portal Zutritt verschaffen wollte. Daraufhin forderten zahlreiche Gemeindemitglieder die Schließung der Unterkunft. Doch leider unterstützte Sylvia Lenore Hagar's House. Sie war die Urenkelin von Geoffrey Lenore und vertrat die Familie nach wie vor durch ihre Anwesenheit in der vordersten Bank. Sie war Mitglied des Gemeinderats und hatte - das murmelte Rafe Lowrie dem Pastor hinter vorgehaltener Hand zu bestürzend progressive politische Auffassungen. Wenn sie sich ihr Erbe selbst hätte verdienen müssen, darüber waren Rafe und seine Anhänger sich einig, dann hätte sie es nicht so großzügig ausgegeben. Pastor Emerson hatte alle Hände voll zu tun, um sowohl die Lowrie- als auch die Lenore-Fraktion in seiner Gemeinde zufriedenzustellen. Wie in vielen großen Kirchen in der Innenstadt gab es auch in der Orleans Street Church sowohl junge Fundamentalisten, die der sozial-konservativen Richtung zu 26 neigten, als auch ältere Gemeindemitglieder, die nicht nur in puncto Doktrin, sondern auch in sozialen Fragen liberaler dachten. Sylvia Lenore zum Beispiel, die vor fünfundsechzig Jahren in der Orleans Street Church getauft worden war, war in der progressiven Tradition aufgewachsen: Ihr Vater marschierte seinerzeit mit Martin Luther King in Memphis und Marquette Park, und ihre Großmutter leitete ein Gemeindezentrum in den Räumen der Sonntagsschule. Sylvia und Rafe gerieten sich regelmäßig vor versammelter Gemeinde in die Haare, ganz gleich, um welches Thema es sich handelte, ob Hagar's House oder die Kollekte für die Kirchenorgel. Eines Abends beschwor Sylvia »schwärmerisch« (wie Rafe Lowrie es ausdrückte) in einer besonders hitzigen Diskussion über Hagar's House die Verpflichtung der Kirche gegenüber Witwen und Waisen. Was wiederum Mrs. Ephers in Rage brachte: Sind denn die Frauen alle Witwen? wollte sie wissen. Sie sind doch wie die Frau im Johannesevangelium, die fünf sogenannte Ehemänner hatte, aber nie einen von ihnen heiratete. Lachen auf Seiten der Lowrie-Fraktion. Pastor Emerson erhob sich, um einen Kompromiss vorzuschlagen, bevor Sylvia oder irgend jemand von ihren wütenden Anhängern reagieren konnte. Er konnte es sich einfach nicht leisten, Sylvia Lenore zu vergrätzen - schließlich machten ihre hunderttausend Dollar jährlich einen wichtigen Teil des Kirchenbudgets aus. Außerdem fiel es ihm persönlich bedeutend leichter, mit Sylvia und ihren Freunden zusammenzuarbeiten als mit Rafe Lowrie, doch das versuchte er vor den ein bißchen mehr als fünfzehnhundert Gemeindemitgliedern zu verbergen. Zwar war er nicht immer einer Meinung mit Sylvia, aber sie rief ihn wenigstens nicht um zwei Uhr morgens an, um ihm einen Vortrag zu halten, wenn sie unterschiedlicher Ansicht waren. Und genau das hatte Rafe getan. Mehr als einmal. Hagar's House darf nicht geschlossen werden, drängte der Pastor; schließlich hatte die Gemeinde viel zuviel in das Pro 26 jekt investiert, um es schon wieder abzublasen. Gebt der Unterkunft ein Jahr, und wählt jemanden aus, der den Obdachlosen die Botschaft des Herrn verkündet. Nach einer weiteren halben Stunde der Feilscherei stimmte der Gemeinderat dem Vorschlag des Pastors zu, und Emerson atmete auf. Sylvia wußte, daß es um so schwieriger würde, die Unterkunft zu schließen, je länger sie existierte, doch Rafe war außer sich vor Freude über die Gelegenheit, Emerson zu zeigen, wie man eine Bibelstunde richtig leitete.
Auch Rafes Anhänger beruhigten sich: Wenn die Frauen regelmäßig beteten und in der Bibel lasen, fanden sie vielleicht doch noch zu Gott - schließlich hatte Er selbst von Josua gefordert, die Hure Rahab zu verschonen, da sie in der Lage war, einen Boten Gottes zu erkennen. Also würden die Frauen in Hagar's House möglicherweise ebenfalls den Weg zu Jesus beschreiten. Vielleicht, so fügten ein paar Gemeindemitglieder kichernd hinzu, ersparte man der Kirche auf diese Weise sogar ein paar gefährliche Situationen. »Und manchmal«, sagte Mara zu Harriet, die immer noch neben ihr auf dem Klavierhocker saß, »zwingt er Cynthia, mitzugehen und Bibeln und Kaffee auszuteilen und solche Scheiße. Weißt du eigentlich, daß er sie verprügelt hat, weil sie sich bei mir das neue Madonna-Video angeschaut hat?« »Aber Großvater hat dir doch gesagt, daß du das nicht kaufen sollst; du kennst seine Einstellung zu derart sinnloser Zurschaustellung von Sexualität.« »Und das hat er sofort Rafe erzählen müssen. Das werde ich ihm nie verzeihen. Ich habe sie zu überreden versucht, daß sie in die Notaufnahme geht, aber Cynthia hatte Angst, was der Arzt sagen würde. Rafe würde sie am liebsten zu Hause einsperren. Weißt du, er ist jetzt bei diesen schrecklichen Heuchlern, die sich Family Matters nennen. Bei denen lernen die Männer, wieder richtige Männer zu sein. Sie bitten Gott, alle bösen Feministinnen aus ihrer Mitte zu vertreiben und ihnen gläubige Frauen für ihre Kinder zu schenken. Mrs. Lowrie hat ihn schon Vorjahren verlassen, weil er ihr den Arm gebrochen 27
hatte, aber Cynthia glaubt, sie kommt in die Hölle, wenn sie ihm nicht gehorcht.« Cynthia Lowrie und Mara Stonds waren ein ungleiches Paar, hatten sich aber bereits im Alter von neun Jahren in der Sonntagsschule angefreundet. Cynthias Mutter war damals gerade mit einem Computertechniker durchgebrannt, und Mara hatte nie eine Mutter gehabt. Obwohl sich immer mehr Ehepaare scheiden ließen, waren Mara und Cynthia die einzigen Mädchen in ihrer Sonntagsschulklasse gewesen, die keine Mutter gehabt hatten. Mara erzählte Cynthia, ihr Großvater habe Maras Mutter in die Psychiatrie gesperrt, obwohl ihr nichts fehlte, und daß er Mara verprügelte, wenn sie versuchte, ihrer Mutter den Schlüssel zuzustecken. Die Tatsache, daß Cynthia tatsächlich verprügelt wurde, machte großen Eindruck auf Mara, weswegen sie ihre eigene Geschichte auch mit diesem Detail anreicherte. Großvater hatte sie nie geschlagen, doch Mrs. Ephers ohrfeigte sie, wütend darüber, daß sie log, und wusch ihr den Mund mit Seife aus. Sie zwangen Mara, sich bei Rafe für die Geschichte zu entschuldigen. Tut mir leid, sagte sie. Meine Großmutter wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von den Russen entführt, weil mein Großvater ein CIA-Spion ist. Meine Mutter ist gestorben, als sie nach Rußland wollte, um meine Großmutter zu retten. Sie wurden beide von einem Exekutionskommando erschossen. Keine Strafe der Welt konnte Mara daran hindern, weiter Geschichten zu erfinden, wie Harriet es ausdrückte. Lügen sind das, sagte Mephers, und versuch ja nicht, sie als etwas Netteres hinzustellen. Rafe und Dr. Stonds waren sich nicht über viele Dinge einig, aber daß Cynthia und Mara sich andere Freundinnen suchen sollten, das war beiden klar. Dr. Stonds hatte etwas gegen diese Freundschaft, weil Cynthia seiner Ansicht nach ein zu niedriges Niveau für Mara hatte: Seiner Meinung nach sollte sie Freundinnen haben, die strebsam waren und Karriere machen wollten. Nach dem High-School-Abschluß ging Cynthia ins 6/ Schreibbüro einer großen Versicherungsgesellschaft. Sie würde dort nur so lange arbeiten, bis Rafe einen guten und gläubigen Ehemann für sie gefunden hatte. Rafe versuchte, der Freundschaft ein Ende zu setzen, weil Mara seiner Meinung nach Cynthia dazu anstiftete, ihm nicht mehr zu gehorchen. Dr. Stonds ließ sich von Mara auf eine Art und Weise auf der Nase herumtanzen, die er persönlich nie hinnehmen würde. Er hatte von Anfang an klargemacht, daß Mara ihn in seinem Haus mit dem gleichen Respekt behandeln mußte wie Cynthia. Und jetzt, da Mara aus dem College geworfen worden war, hoffte er, daß Cynthia erkennen würde, auf was für einem glatten Pfad nach unten Mara sich befand. Cynthia murmelte nur, ja, Daddy. Nein, ich treffe mich nicht mehr mit ihr, Daddy. Aber sie verschwieg ihm, daß sie fast täglich telefonierten, wenn Cynthia im Büro war. »Tja, und jetzt ist Rafe völlig geplättet, weil die Lenore Family Foundation einen Psychiater engagieren will, der die Obdachlosen betreut.« Mara trommelte mit der rechten Hand auf den Tasten herum. »Bloß einmal die Woche, freitags, aber offenbar ist der junge Arzt, für den sie sich
entschieden haben, ein Jude. Rafe hat sich darüber aufgeregt, daß eine christliche Kirche nicht in der Lage ist, einen gläubigen Christen für diese Aufgabe zu finden. Und außerdem darf der Arzt Männer und Frauen behandeln, was natürlich dazu führen könnte, daß die Obdachlosen sich der Fleischeslust ergeben. Weißt du, er erlaubt ihnen gerade noch zu essen, aber er wird natürlich niemals erlauben, daß sie wie Mann und Frau zusammenkommen.« Sie schlug einen disharmonischen Septakkord an, um ihrem Ärger Luft zu machen. »Dieses Arschloch hat den Beginn der psychiatrischen Betreuung tatsächlich um drei Wochen verzögert, damit Sylvia Lenore überprüfen konnte, ob sich nicht irgendein gläubiger Psychiater oder Sozialarbeiter in der Gemeinde berufen fühlt, die Obdachlosen zu betreuen! Gilbert Mcllvanie und Connie Trumaine haben wahrscheinlich einen ordentlichen Schreck gekriegt, als man ihnen angetragen hat, 28 einen Tag pro Woche für eine ehrenamtliche Tätigkeit zu opfern.« Harriet lachte, schüttelte aber den Kopf. »Beebie, du nimmst einfach alles zu schwer. Ich weiß, warum du dir so viele Gedanken über obdachlose Frauen machst, aber manchmal glaube ich, daß Großvater recht hat, wenn er sagt, daß du dich zu sehr mit ihnen identifizierst.« Mara verzog verletzt das Gesicht. »Beebie« war Harriets Kosename für sie, den sie nur selten benutzte, und jedesmal, wenn sie es tat, wurde Mara bewußt, daß alle Liebe aus ihrem Leben verschwunden war. Sie betrachtete ihre Gefühle als zwei Blutströme unterschiedlicher Farbe, die durch ihre Adern flössen und sich nie vermischten; sie konnte nie so genau sagen, welcher gerade stärker war. Mara wandte sich wieder dem Klavier zu. Harriet verließ das Zimmer, und der kurze Impuls, ihre Schwester in den Arm zu nehmen, wich einem Gefühl der Verärgerung, das sie ziemlich oft über sie empfand. Großvater hatte schon recht: Mara gab sich einfach keine Mühe. 28
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Open-air-Klinik
Habe schon seit Wochen nichts mehr geschrieben. Renne nur noch zwischen den Obdachlosen der Lenore Foundation und dem Krankenhaus hin und her. Bin enttäuscht, daß die Tätigkeit im Hagar's House mir nicht mehr Möglichkeiten gibt, mit Boten zusammenzuarbeiten. Er hat sich mit mir getroffen, bevor ich dort angefangen habe, und sich noch von meinem Einstellungsgespräch her an mich erinnert, was mich natürlich freute, aber er hat mir sofort gesagt, daß ich nicht viel Gelegenheit zu Therapien haben würde. Er will sich einmal monatlich mit mir treffen, um die Patienten und ihre jeweiligen Fortschritte mit mir zu besprechen - falls es welche geben sollte -, doch er hat nicht genügend Geld, um eine aktivere Rolle zu spielen. Also liegt die ganze Last auf meinen Schultern. Ich mache mich jeden Freitag auf den Weg in einen renovierten Kohlenkeller in der Orleans Street Church, wo sich Männer und Frauen, hauptsächlich Frauen, aus unterschiedlichen Obdachlosenunterkünften einfinden, um mit mir zu sprechen. Es gibt mehr obdachlose Männer als Frauen, aber die Frauen sind eher bereit, einen Arzt aufzusuchen und um Hilfe zu bitten. Dort gibt es keine Verwaltung, die die Sitzungen auf jeweils fünfzehn Minuten begrenzt. Doch nach der ersten Woche, in der innerhalb von fünf Stunden nur zwei Leute bei mir erschienen waren, hat sich die Zahl erhöht, und ich muß die Sitzungen nach eigenem Ermessen beschränken. Negativ ist außerdem auch die Feindseligkeit mancher Gemeinderatsmitglieder. Unterkunft und Beratungszimmer haben einen separaten Eingang in der Hill Street, aber 28 man kann dort nicht einfach so hineinmarschieren: Die Kirche ist wie eine neogotische Festung hinter dem zweieinhalb Meter hohen Zaun aus Schmiedeeisen. Ich werde davon eingeschüchtert wie müssen sich da erst die psychisch Kranken fühlen. »Die Sicherheitsmaßnahmen schrecken gerade die Leute ab, die am nötigsten Hilfe brauchten«, sagte Hector zu Patsy Wanachs, der Leiterin der Unterkunft. »Wenn man paranoid ist, reagiert man nicht auf eine Stimme aus der Wand, die wissen will, was man möchte.« »Eine Unterkunft in einer Kirche zu leiten, führt zwangsläufig zu einer Reihe von Kompromissen, Dr. Tammuz«, erklärte Patsy Wanachs ihm daraufhin, eine Hand auf dem Telefonhörer, damit er merkte, wie beschäftigt sie war. »Viele der Leute, die hierherkommen, haben ernsthafte Probleme mit Alkohol und Drogen, das ist Ihnen sicher schon aufgefallen. Und außerdem sind wir nur einen Katzensprung von einer der brisantesten Siedlungen in der ganzen Stadt entfernt. Vielleicht
schrecken unsere Sicherheitsmaßnahmen Menschen ab, die dringend Hilfe brauchten, aber sie halten uns auch die Drogenhändler und Zuhälter vom Leib.« Sie nahm den Hörer von der Gabel, um Hector zu zeigen, daß das Gespräch für sie beendet war. Eine der ehrenamtlichen Beschäftigten folgte ihm in den Saal. »Wir sind längst nicht so feindselig und abweisend, wie Sie glauben«, erklärte sie Hector. »Die Frauen haben bei uns ein gewisses Gefühl der Sicherheit, und das ist wichtig, wenn man auf der Straße steht. Außerdem gehören wir zu den wenigen Orten in der Stadt, wo die Frauen duschen können und ein warmes Frühstück bekommen.« Angenommen, jede Menge Sicherheit, etwas zu essen und eine Dusche reichen, um die persönlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Und dazu noch Gebetstreffen oder Bibelstunden oder wie die Leute das nennen. 7i
Die Treffen am Mittwoch Abend werden von einem etwas über vierzigjährigen Börsenmakler geleitet, der den Weg zu Jesus gefunden hat und nun auch die obdachlosen Frauen von Hagar's House zu ihm führen möchte. Rafe Lowrie. Er hat eine krächzende Stimme, wirkt aber glatt und ist immer gut gekleidet. In seinen Augen ist nicht der geringste Funke Fanatismus; vielleicht will er einfach nur alle Menschen in seiner Umgebung kontrollieren. Am zweiten Freitag meiner Arbeit dort kam er zu mir, um mich über meine Methoden und Ziele zu befragen. Er hat mir gesagt, ich solle die Erfolge, die er mit den obdachlosen Frauen habe, indem er ihr spirituelles Bewußtsein stärke, nicht unterlaufen. Im Hinblick darauf, daß viele meiner Patienten Wahnvorstellungen haben, habe ich Lowrie vorgeschlagen, die Sache mit dem spirituellen Bewußtsein etwas weniger wichtig zu nehmen. Daraufhin wurde er ziemlich wütend und sagte, er hätte den Gemeinderat ja davor gewarnt, einen Juden mit den Obdachlosen arbeiten zu lassen. Jesus trieb Teufel aus; wenn der Heilige Geist in der Orleans Street Church tatsächlich am Werk sei, sollten die Gemeindemitglieder eigentlich in der Lage sein, diese Leute gesundzubeten. Ich sagte ihm, daß mir alle Methoden recht seien, die gegen Schizophrenie halfen, ob nun Gebete oder Prolixin oder beides zusammen, sei mir egal. Da starrte er mich einige Minuten lang sprachlos an - wahrscheinlich kam er sich vor wie Clint Eastwood, der versuchte, Lee Van Cleef mit Blicken einzuschüchtern, aber in Wirklichkeit sah er eher aus wie jemand, der gerade eine Kakerlake in der Suppe gefunden hat. Dann machte er wie Clint Eastwood auf dem Absatz kehrt und marschierte ganz langsam davon. Im Krankenhaus erklärt mir Hanaper, ich sei so etwas wie ein Medizinmann, weil mir Therapien lieber sind als Medikamente, und hier in der Obdachlosenunterkunft 29
sagt mir dieser Wiedergeborene Lowrie, daß ich ein Heide sei - oder noch schlimmer: ein Jude -, der an die Medizin und nicht an Gebete glaubt. Ich habe jetzt immer wieder Träume, in denen ich mich rasiere und sich mein Gesicht ablöst. Manchmal taucht hinter der Haut ein Monster auf - ein scheußliches Phantasiegebilde aus Knochen und Blut. Manchmal bin ich eine Frau. Aber immer stellt sich mir die Frage: Wer bin ich wirklich? Dr. Boten hatte Hector vorgewarnt; die meisten Leute, die in die Orleans Street Clinic kamen, befanden sich in einer akuten Krise. Womit Hector allerdings nicht gerechnet hatte, waren der Pragmatismus und die gute Laune, mit denen viele von ihnen sich gegen die widrigsten Umstände behaupteten. Er stellte fest, daß er sich auf die Besuche einiger Stammpatienten zu freuen begann, darunter auch auf zwei Frauen, die unzertrennlich schienen. Jacqui und Nanette wollten nicht separat therapiert werden, sondern nur, daß Hector ihnen zuhörte. Sie erzählten ihm schreckliche Geschichten vom Leben auf der Straße: Die meisten obdachlosen Frauen wurden über kurz oder lang vergewaltigt; manchmal von obdachlosen Männern, manchmal auch von Polizisten, genauso häufig jedoch von weißen Geschäftsleuten auf dem Heimweg in die Vororte, zu ihren Frauen und Kindern. Jacqui ist schwarz, Nanette weiß. Offenbar spielen Rassenunterschiede auf der Straße keine so große Rolle wie im bürgerlichen Leben. Letzte Woche haben J & N mir erzählt, daß sie noch eine dritte Freundin namens Madeleine Carter haben, die immer schon eine angegriffene Gesundheit hatte, um die sie sich jetzt aber ernsthafte Sorgen machten. Es war gar nicht so leicht, ihnen die Geschichte aus der Nase zu ziehen - wahrscheinlich hatten sie Angst, daß ich sie auslachen oder ihnen sagen würde, sie sollten sich mit ihren Problemen an Jesus wenden.
30 Sie haben mir erzählt, daß Madeleine glaubt, die Jungfrau Maria sei ihr an einer Mauer am Lower Wacker Drive erschienen. Und jetzt bewegt sie sich nicht mehr von dort weg, nicht einmal bei allerschlechtestem Wetter. Früher schliefen die drei Frauen in Hagar's House oder mieteten sich zusammen ein Zimmer, wenn sie genug Geld hatten, aber jetzt will Madeleine nicht mehr von der Straße fort. J & N haben nicht allzuweit von Madeleine entfernt eine große Kiste gefunden, in der ein Generator verpackt war; wenn sie knapp bei Kasse sind, schlafen die beiden manchmal zusammen mit ihr darin. Sie haben die Kiste mit Decken ausgelegt, damit Madeleine darin notfalls Zuflucht suchen kann. J & N haben Madeleine zu überreden versucht, in meine Sprechstunde zu kommen, aber sie will ihren Platz an der Seite der Jungfrau Maria nicht verlassen. Deshalb haben sie mich gebeten, zu ihr zu gehen. Nach einer ziemlich langen Diskussion - ich habe ihnen gesagt, daß ich weder die Zeit noch die Energie habe, die Obdachlosen auf den Straßen aufzusuchen - haben sie mir erklärt: »Das ist nicht irgendeine Frau, Doktor, sondern unsere Freundin.« Man stelle sich nur einmal die zahllosen Freundinnen in der ganzen Stadt vor, die ich alle besuchen soll, aber etwas an dieser Freundschaft zwischen J & N rührt mich, also habe ich mich schließlich doch bereit erklärt, zu ihrer Freundin zu gehen, am Montagnachmittag, wenn ich meinen Dienst im Krankenhaus beendet habe. Die Frau an der Wand las in der Bibel. Als Hector mit ihren Freundinnen auftauchte, merkte Madeleine die Stelle in dem Buch ein und verstaute es in einer Plastiktüte. Bevor Hector sich auf eine Unterhaltung einstellen konnte, sagte Jacqui: »Das ist Dr. Tammuz, Madeleine. Er möchte sich mit dir über deine Wand unterhalten.« Madeleine drehte sich um und berührte einen Riß im Beton. Hector sah ihn sich genau an, konnte darin aber nichts ent30
decken, was einem Gesicht geähnelt hätte. Der Beton wurde von einer Linie geteilt, die aussah wie eine flache Sinuskurve; wenn er den Kopf ein wenig schräg legte, konnte er sich so etwas wie Frauenbrüste oder die Kinderzeichnung von einem aufflatternden Vogel vorstellen, aber kein Gesicht. Eine rötliche Flüssigkeit drang aus dem Riß, Rost von den Trägern dahinter. Madeleine tauchte die Finger hinein und steckte sie dann in den Mund. Hector gab sich alle Mühe, seinen Ekel nicht zu zeigen. »Ihr Blut«, erklärte Madeleine Hector. »Die Mutter Gottes weint blutige Tränen. Ich habe in der Bibel nach der Stelle gesucht, wo das beschrieben wird, doch ich kann sie nicht finden. Ich stoße nur immer wieder auf die Stelle, wo Isebel ermordet wird und ihr Blut an die Wand spritzt. Aber ich weiß, daß das hier nicht das Blut von Isebel ist, das Blut einer Hure, das schmecke ich.« Sie sah Hector trotzig an, als erwarte sie, daß er ihr widersprechen würde. Statt dessen fragte er sie, wie lange sie schon wisse, daß sich die Jungfrau Maria hinter der Wand verberge. »Seit sie eines Nachts zu mir gesprochen hat, als ich hier vorbeigegangen bin. Ein Mann hatte sich gerade an mir abreagiert, und als ich hier vorbeigekommen bin, hat sie durch diesen Riß zu mir gesprochen. Sie hat mir gesagt, daß ich ihre Tochter bin, so rein wie sie, daß sie weint, weil die restliche Welt nicht rein genug ist. Die anderen wollen nicht auf sie hören, aber ich höre ihr zu. Ich hab' meine kleine Tochter geliebt, ich hätte sie nie verlassen, aber sie haben mich gezwungen zu gehen. Die Heilige Mutter sagt, sie liebt mich so sehr wie ich mein eigenes kleines Mädchen liebe.« »Genau«, sagte Jacqui. »Die Jungfrau Maria muß sich um dich kümmern, aber du mußt auch was essen. Sagen Sie ihr das, Doktor.« Ich habe sie überredet, mit mir zu der Generatorkiste zu gehen, damit ich eine oberflächliche Untersuchung durchführen konnte. M hat verständlicherweise große Angst vor Männern, die sich offenbar immer wieder »an ihr abreagieren«, also erklärten sich Jacqui und Nanette bereit, draußen zu warten und mit ihr zu sprechen, während ich sie untersuchte. Unter den vielen Schichten von Jacken und Socken sah M aus wie ein Geist; ihre Haut war fast durchsichtig, weil sie schon seit Wochen nicht mehr in der Sonne gewesen war. Es scheint sich um einen Fall von akuter Schizophrenie zu handeln, die möglicherweise durch Vitamin- und Schlafmangel sowie Angst vor Vergewaltigung usw. verstärkt wird. Eigentlich gehört sie ins Krankenhaus, aber das würde bedeuten, daß sie ins County Hospital kommt, und sie will nicht weg von ihrem »Gesicht«. Auf Drängen ihrer Freundinnen hat sie zugestimmt, sich eine Spritze mit Prolixin geben zu lassen. Ich mache mir Gedanken über die
ethische Seite meiner Entscheidung, Medikamente in einer solchen Umgebung zu verabreichen. Wie kann sie hier eine ernstzunehmende Zustimmung geben? Eine Woche später kamen Jacqui und Nanette außer sich vor Freude zu Hector: Durch die Spritze hatte sich Madeleines Zustand deutlich verbessert. Sie aß jetzt wieder und verließ ihren Platz an der Wand auch ab und an, um hinauf an die Sonne zu gehen. Sie hatte sogar die eine oder andere Nacht in Hagar's House verbracht. Zwar bewachte sie immer noch das »Gesicht« in der Wand, aber sie trank nicht mehr so viel rostiges Wasser wie vorher. Jacqui und Nanette kauften Gänseblümchen im Topf bei Woolworth, um ihm ihre Dankbarkeit zu zeigen. Außerdem erzählten sie den Obdachlosen, Hector könne Wunder wirken; er sei ein einfühlsamer Mann, der sich ihre Probleme anhörte und ihnen die Medikamente gab, die ihnen tatsächlich halfen. Die beiden Frauen brachten ihm neue Patienten. Hector versuchte, Jacqui zu sagen, daß sie niemanden gegen seinen Willen zu ihm bringen solle. Jacqui schüttelte den Kopf. »Sie denken an die arme Ashley, 31 Doktor, aber Sie wissen nichts über ihr Leben. Sie ist abgehauen, um den Freunden ihrer Mutter zu entkommen. Da war sie erst dreizehn. Sie ist sofort einem Zuhälter in die Arme gelaufen, der sie bloß ausgenutzt hat. Sie ist wie viele Leute hier draußen; sie hält sich für wertlos und würde aus eigenem Antrieb nie zu Ihnen gehen. Ich und Nanette, wir müssen dafür sorgen, daß sie Hilfe bekommt, sonst ist sie in einem halben Jahr tot. Auch wenn sie nichts zu Ihnen sagt - die Pillen helfen ihr wirklich.« Lady Ashley läßt sich keine Spritze geben und nimmt ihre Pillen nicht, wenn sie allein ist, also bringt J sie jede Woche zu mir und sieht ihr dabei zu, wie sie eine Handvoll Haldol schluckt. Komisch, wie anders ich die Obdachlosen sehe, seit ich mit ihnen arbeite. Sie haben ein hartes Leben. In der Unterkunft müssen sie sich an strenge Vorschriften halten, aber sie schaffen das, ohne ihre Würde zu verlieren. Ich versuche von ihnen zu lernen, wie ich mit Hana-pers kleinlichen Vorschriften zurechtkommen kann, ohne meine Würde zu verlieren. Hanaper hat bei der Lektüre meiner Aufzeichnungen aus den vergangenen drei Monaten höchst amüsiert festgestellt, daß Mrs. Herstein, die zwanghaft Sachen hortet, jede Woche zu mir kommt; ihre Tochter ist immer dabei. Das ist eine von diesen Kleinfamilien, die durch Kernspaltung entstanden sind und sich jetzt in ein Schwarzes Loch verwandeln, das jede Freude und jedes Licht in sich aufsaugt. »Ach, Ihre schwarzen Augen, Dr. Tammuz, ich hab's doch gewußt, daß Mrs. Herstein die unwiderstehlich finden würde. Halten Sie sie sich warm - vielleicht gehört sie zu den Verrückten, die ein Vermögen unter ihrer Matratze haben. Und möglicherweise sucht sie ja noch Gesellschaft für diese Matratze.« Der Dunkelhäutige in Amerika, auch wenn er nicht aus Afrika stammt, steht in dem Ruf, enorme sexuelle Energien 31 zu besitzen. Dummer Großvater - du hast gedacht, wenn du vor den Ariern fliehst, könntest du auch den schmierigen Juden mit seiner perversen Sexualität zurücklassen. Aber Hanapers sogenannte Scherze sind gar nicht so schlecht für mich: Am liebsten würde ich kotzen, wenn er so redet, und ich stelle mir vor, wie er mit Mrs. H. schläft. Das wiederum führt mich zu der Frage, warum ich so heftig reagiere. Heute nacht habe ich geträumt, daß Jacqui, Nanette und Madeleine die drei Hexen aus Macbeth waren und am Lower Wacker Drive in einem großen Kessel rührten. Ich ging zu ihnen, um Madeleines Schizophrenie zu behandeln, aber sie lachten mich aus. Madeleine hob einen riesigen Holzlöffel in die Höhe und zischte: »Arzt, heile dich selbst!« Dann verwandelte sie sich in meine Mutter, und der Holzlöffel wurde zu einem Tiegel mit Gesichtscreme. Manchmal machte es ihm angst, wieviel die obdachlosen Frauen über ihn wußten - ein Teil dieser Informationen stammte aus dem Informationsnetzwerk auf der Straße, ein anderer Teil hatte mit ihrer durch das Leben, das sie führten, gewachsenen Sensibilität zu tun, die ihnen dabei half, in Sekundenbruchteilen zu entscheiden, ob jemand Freund oder Feind war. Sie wußten, daß Hector unverheiratet und an der Ostküste aufgewachsen war und daß er sich nicht mit seinem Chef verstand. »Ich habe den Eindruck, daß Sie weglaufen, Doktor, vor Ihrer Familie im Osten, vor Ihrem Chef, vor allen Dingen, denen Sie nicht ins Auge blicken wollen. Tja, und jetzt sind Sie hier gelandet, am
allerletzten Ort, den Sie finden konnten - auf der Straße«, sagte Jacqui eines Morgens. »Eines Tages werden Sie aufhören müssen wegzulaufen und sich ein Ziel suchen.« Als ehrgeiziger und abergläubischer Fürst wie Macbeth müßte man sich ihre Worte zu Herzen nehmen. Aber in ihren eigenen Augen waren sie ganz normale Frauen mit den übli 32 chen Sorgen - ihre Kinder (Nanette hatte einen Sohn, der wegen Drogendelikten immer wieder im Gefängnis landete; Jacqui hatte zwei Töchter, die von der Großmutter aufgezogen wurden, eine davon war Sekretärin in einer Anwaltskanzlei und konnte sich Urlaube in der Karibik leisten) oder ihre Haare oder auch die Männer in Springfield und Washington, die sich mit allen Mitteln, ohne Rücksicht auf Alte und Arme, bereichern wollten. 32
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Unsanftes Erwachen
Wieder quälte sie das Cello im Schlaf. Wieder kam der wütende Mann auf sie zu, und ein ganzer Chor wütender Männer sang, man solle sie erwürgen, sie für immer zum Schweigen bringen. Als sie nach unruhigem Schlaf erwachte, fand sie sich erneut in einem fremden Zimmer wieder. Sie war jahrelang jeden Morgen in einer anderen Stadt aufgewacht und hätte folglich an fremde Zimmer gewöhnt sein müssen, aber das genaue Gegenteil war der Fall. Sie sehnte sich danach, immer am selben Ort aufzuwachen, genau zu wissen, wo sie war. Es waren keine Bilder neben dem Bett, weder eins von Becca als Esther noch ihr eigener Talisman, ein signiertes Foto von Rosa Ponselle. (Die legendäre Diva war einmal zu einem Studentenkonzert in Cincinnati gekommen, als Luisa neunzehn war, hatte ihre Stimme gelobt und ein Foto signiert... Wo war das jetzt?) Neben dem durchgelegenen Bett stand ein wackeliger Nachttisch aus verkratztem Holz, auf dem schon viele Zigaretten ausgedrückt worden waren. Und auf diesem Nachttisch lag nichts außer ihrem rot-schwarzen Halstuch. Seine Spitzen hingen herunter auf den staubigen Boden. »Clio sollte es eigentlich besser wissen. Ein Halstuch von Valentino, ein Dreihundert-Dollar-Halstuch, wirft man nicht einfach auf den Boden«, brummelte sie. Natürlich hatte Clio an dem Tag zu arbeiten aufgehört, an dem sie ihren letzten Gehaltsscheck einlöste. In dieser Branche gab es einfach keine Loyalität. Es ging immer nur darum, die tollste Stelle zu finden, auch wenn sie nur noch heulten aus Angst vor der Abschiebung. Und schließlich hatte sie sich um die juristischen Auseinandersetzungen mit der Einwanderungsbehörde gekümmert - na schön, Leo hatte den richtigen So Anwalt gefunden und die Details erledigt, aber sie selbst hatte das alles erst ermöglicht. Sie hatte Clios Genie an dem Tag erkannt, an dem die Griechin Luisas schnellen Wechsel in... in... Der Kopf tat ihr schrecklich weh; warum war Clio nicht da, um sie zu massieren, warum gab sie ihr nicht ihre französischen cachets, das einzig zuverlässige Mittel gegen ihre Kopfschmerzen. Sogar diese blöden Kühe, Dame Dies und Dame Das, die nur die Nase über sie rümpften, waren sich darüber einig, daß Luisas cachets Manches besser waren als Alka-Seltzer. Der kleine Apotheker an der Rue Charpentier, dessen säuerliches Gesicht sich immer aufhellte, wenn sie zu ihm kam. »Bonjour, Madame! Ganz Paris vermißt Sie, wenn Sie nicht da sind, und der wunderschöne Sonnenaufgang über der Seine hat mir gesagt, daß Sie heute kommen! Wollen Sie Ihren Vorrat an cachets Manches auffüllen, Madame? Mon dieu, daß Sie mit Ihrer Engelsstimme solche Höllenqualen leiden müssen, ist doch wirklich ungerecht, aber ich sorge dafür, daß alles wieder in Ordnung kommt.« Wenn sie es schaffte, nach Paris zu fahren, würde der kleine Apotheker schon dafür sorgen, daß Leo oder Harry oder Clio sie nicht mehr so quälten. Carl würde ihr einen Platz im Flugzeug nach Paris reservieren. Carl war der einzige Mensch, der sie nicht anbrüllte, wenn sie mit ihm redete. Er war immer noch von ihr fasziniert. Er hatte sich in Houston in sie verliebt, als sie damals die Violetta sang. Tja, jener Sonntag in seiner Wohnung mit Blick auf den Central Park, ja, als ich die ersten paar Takte von »Sempre libera« hörte, wußte ich, daß das Vorsingen eine reine Formsache sein würde. Die fressen Ihnen aus der Hand, carina, seit die Tebaldi hier ihr Debüt gegeben hat... Ich war damals noch der dritte Assistent und erst fünfundzwanzig, aber was für eine Stimme! Die Ihre ist die erste seit damals, die an ihre lyrische Qualität heranreicht, obwohl sie dunkler und voller ist. Sie sollten die Aida singen, nicht die Violetta... Aber warum schenkte er ihr ständig Champagner nach, wenn sie nicht so viel trinken sollte? 32
Sie war keine Alkoholikerin, wie die Leute behaupteten. Diese Schlampe, die Cesarini, hatte diese Gerüchte in die Welt gesetzt, weil sie unbedingt die Fenena singen wollte, als sie Nabucco in Covent Garden wiederaufnahmen, und sie konnte es einfach nicht ertragen, daß Luisa die Rolle bekam. Also erzählte sie allen, Luisa trinke... Als sei die Welt der Oper ein Abstinenzlerparadies und als habe Luisa hinter der Bühne noch nie jemanden mit einer Flasche oder einem Beutel weißen Pulvers gesehen, für dessen Gegenwert sie sich eine Villa in Kampanien hätte bauen können anstelle der winzigen Wohnung, um die Harry so viel Trara machte. Das waren doch nur acht Räume, und es gab nicht einmal einen eigenen Strand; den mußte sie sich mit der Eigentumsanlage gleich nebenan teilen. Harry würde nie begreifen, daß man es in der Opernwelt ohne eine Zweitwohnung in Italien nie zu etwas brachte. Das Schwein hatte die Wohnung und die Möbel verkauft, ohne sie zu fragen, und mit dem Geld Rechnungen bezahlt, die er wahrscheinlich selbst ausgestellt hatte. Vermutlich waren das in Wirklichkeit Rechnungen von Karen. Karen, die sich ständig darüber beklagte, daß Luisa wieder irgendein blödes Kostüm von ihr ruiniert hatte, irgend so ein Ding von Donna Karen. Dabei hatte Galanos höchstpersönlich ihr die Roben für ihre Auftritte auf den Leib geschneidert dein Genie ist dazu nötig, diese Robe zur Geltung zu bringen, Luisa; wir beide werden zusammen eine Sinfonie des Sehens erschaffen, die deine Sinfonie des Klangs umschmeichelt - was kümmerte sie schon Karens Bockigkeit? Sie rappelte sich hoch, um nach ihrer Handtasche zu suchen. Abgesehen von dem Bett und dem Nachttisch befanden sich in dem Raum nur noch ein Stuhl und eine schiefe Frisierkommode mit einem kleinen Spiegel, der gerade so groß war, daß sie darin ihr Gesicht erkennen konnte. Aber die Falten, die sich von Nase bis Kinn eingegraben hatten... das Licht hier war einfach grauenhaft, warum hatte Leo ihr so ein scheußliches Hotel gesucht? Wo war sie überhaupt? Sie war krank, hatte Grippe - zu viele Auftritte. Sie hatte jeg 33
liehen Sinn für Zeit und Ort verloren, dachte, sie sei in Chicago, bei Harry, zwischen zwei Engagements, aber dieses kleine Zimmer sah aus wie der schreckliche Ort, an den der Taxifahrer sie damals in Istanbul gebracht hatte. Die ganze Verwirrung am Flughafen; am liebsten hätte sie Leo gefeuert, weil er nicht dafür gesorgt hatte, daß dort eine Limousine auf sie wartete, weil er sie in einer Wanzenburg übernachten ließ, ganz ähnlich dem Zimmer hier... Es war viel zu spät, als daß sie sich noch in einer fremden Stadt hätte orientieren können, und das verdammte Taxi hatte sie einfach hier abgesetzt und war mit quietschenden Reifen weitergefahren... Doch Carl hatte sie beruhigt, solche Fehler passieren nun mal, carina, und Leo ist der Beste, der Beste für eine Frau mit Ihren Launen und Ihrer Sensibilität, mit Ihrer Stimme, hatte er gesagt. Tja, und wohin hatte das geführt? Jetzt brüllte Leo sie jedesmal an, wenn sie ihn anrief -wenn sie ihn überhaupt dazu brachte, mit ihr zu reden. Er versteckte sich und wies diese Schlampe, die für ihn arbeitete, an, ihr zu sagen, daß er die ganze Zeit nicht da sei. Ihre Handtasche befand sich in der obersten Schublade der Kommode, doch ihr Adreßbuch war nicht darin. Aber sie wußte Carls Nummer ja auswendig. Schließlich hatte sie ihn damals wegen jener türkischen Episode angerufen; sie hatte der Vermittlung seine Nummer auswendig durchgegeben und Carl auf seine Kosten ihr Leid geklagt, und alles war wie durch ein Wunder wieder in Ordnung gekommen. Sie setzte sich aufs Bett und streckte die Hand nach dem Telefonhörer aus. Da merkte sie, daß es in dem Zimmer kein Telefon gab. Sie suchte herum, konnte aber nirgends einen Apparat entdecken, nicht einmal unter dem Bett. Panik stieg in ihr auf, dann Wut. Kein Telefon und kein Bad. Sie, Madame Montcrief, sollte sich in diesem winzigen Loch umziehen, in dem es nur diesen scheußlichen Spiegel, der ihr Gesicht verzerrte, gab und kein eigenes Bad? Und wo war ihr Morgenmantel? Ihre Hände zitterten, als sie ihren Koffer fand. Clio, möglicherweise auch Karen, hatte ihre Sachen einfach hineingestopft. Alles war verknittert, auf ihrer goldfarbenen Seidenbluse von 33 Ungaro war vorne ein länglicher Fleck - so wie sie aussah, hatte wahrscheinlich jemand den Boden damit aufgewischt. Sie holte ihre Schminksachen und ihren Morgenmantel aus dem Koffer und stolperte auf der Suche nach einem Bad den Flur entlang. Auf dem Flur roch es nach Kohl, und in dem Bad, das sie schließlich fand, stank es noch abscheulicher. Sie nahm die Zeitung, die jemand neben der Toilette hatte liegen lassen, und
breitete sie um die rostverschmierte Wanne aus. Auf einer der inneren Seiten entdeckte sie ihren Namen. Wie konnte Leo es zulassen, daß die Presse Lügen über sie verbreitete? Es wurde Zeit, daß er sich seine Provision verdiente, fünfundzwanzig Prozent von ihren Einkünften. Was leistete er denn dafür? Zuerst diese heruntergekommene Pension und dann auch noch diese... diese Verleumdung. Die Polizei mußte gestern eine Schlägerei in der South Wabash Avenue 65 beenden -nicht zwischen rivalisierenden Anhängern der Bulls, sondern zwischen einer Diva und ihren Schülern. Die Chicagoer Sängerin Luisa Montcrief, die sich wegen gesundheitlicher Probleme auf unbestimmte Zeit zurückgezogen hat, gab eine ihrer seltenen Unterrichtsstunden am Midwest Conservatory of Music, die, so die Anwesenden, in einer unschönen körperlichen Auseinandersetzung eskalierte. Das Konservatorium will keinen Kommentar dazu abgeben, aber die Studenten berichten, Luisa Montcriefs Bemerkungen seien grob gewesen und hätten wenig mit Stimmtechnik zu tun gehabt. Angeblich übertönte sie die Vorträge der Studenten mit lauter Stimme, meist übrigens auch noch falsch. Der Unterricht fand sein vorzeitiges Ende, als Madame Montcrief die Flöte einer Studentin packte und diese gegen das Fenster schleuderte. Die Glassplitter verletzten die schwangere Mildred Gomez, die gerade mit ihrem Ehemann Albert unter dem Fenster vorbeiging, so schwer, daß ihre Wunden an Kopf und Hals 34 mit zweiundzwanzig Stichen genäht werden mußten. Die Diva war nirgends zu erreichen. Ihre Sprecher in New York reagierten nicht auf die Anrufe unserer Reporter. Becca verschränkte die Finger. »Aber wo habt ihr sie hingebracht?« »Daddy hat ihr ein Zimmer in der Stadt gesucht. Sie kann nicht hierbleiben, Becca, das weißt du genau. Als sie nur hin und wieder betrunken war, war's noch nicht so schlimm, aber in den letzten sechs Monaten ist das ja jede Nacht so gegangen. Wir können nicht mehr so weitermachen - sie am allerwenigsten. Wenn sie überhaupt noch eine Stimme hat, ist das ein Wunder.« »Aber wovon wird sie leben?« »Von der Sozialhilfe. Daddy hat sich darum gekümmert.« Karen hob mit der Hand sanft das Kinn ihrer Tochter. »Kleines, sie hat ihr gesamtes Erbe durchgebracht. Schon vor Jahren. Sie hat das ganze Geld, das sie mit ihrer Stimme verdient hat, ausgegeben. Leo Golub hat ihr Tausende von Dollar Vorschuß für ihre Plattenaufnahmen bezahlt, von denen er nie wieder etwas sehen wird. Und seit sie wieder in Chicago ist, hat Daddy ihr über vierzigtausend Dollar gegeben. Wir können es uns nicht leisten, sie auf dem Niveau zu unterstützen. Jedesmal, wenn sie bei uns auftaucht, leidet meine Beziehung zu deinem Vater darunter. Die Geschichte am Midwest Conservatory hat das Faß zum Überlaufen gebracht.« »Nur, weil sie ein bißchen betrunken war...« »Es war nicht nur das.« Karen Minsky ließ die Hand sinken; in dem scharfen Tonfall, den Becca nicht ertragen konnte, sagte sie: »Wenn man sich auf dem Flur übergibt, ist das nicht bloß ein bißchen betrunken. Sie war einfach schrecklich: Sie hat ein Fenster kaputt geschlagen und den Studenten unglaubliche Schimpfworte an den Kopf geworfen. Ich lasse sie nicht mehr in dieses Haus. Das ist mein letztes Wort.« »Sie ist in einer Unterkunft vom Sozialamt, stimmt's? Du hättest mich wenigstens fragen können. Wenn ihr sie schon 8; nicht hier haben wollt, hätte sie mein Collegegeld haben können. Dann könnte sie sich selbst eine Wohnung suchen.« »Kleines, wir hoffen, sie wird endlich einsehen, daß sie sich in Behandlung begeben muß, wenn ihr niemand mehr zu Hilfe kommt. Dr. Hanaper hat gesagt, Strenge ist die einzige Lösung bei einem Menschen, der sich allen Problemen verschließt, wie deine Tante es tut. Und sei doch mal ehrlich: Du lädst deine Freunde doch auch nicht gern hierher ein, wenn sie da ist. Das hast du mir erst letzte Woche gesagt, nachdem sie sich im Wohnzimmer Corie an den Hals geworfen hatte.« »Aber wo ist sie? Wo habt ihr sie abgeladen?« Die Muskeln um Karens Mund verkrampften sich. »Wir haben sie nirgends abgeladen, Kleines. Dein Vater hat ihr eine Unterkunft gesucht, die sie sich von der Sozialhilfe leisten kann.« »Geld, immer nur Geld - über was anderes macht ihr euch nie Gedanken. Dir und Daddy ist es egal, daß sie Künstlerin ist. Sie ist so sensibel, daß sie mit der Sozialhilfe eingehen wird.« Becca rannte schluchzend aus der Küche, bevor ihre Mutter sie dazu bringen konnte zuzugeben, daß sie unvernünftig war.
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Bibelstunde
Rafe Lowrie hat mich gebeten - mich angewiesen? -, zu einer der Gebetsstunden am Mittwochabend zu kommen, damit ich sehe, was er - in seinen Worten: der Heilige Geist versucht, den Frauen in H House beizubringen. Es war eine merkwürdige Erfahrung - vorher war ich nur bei Hochzeiten von christlichen Freunden in einer Kirche. Das waren förmliche Anlässe, die immer ein festes Ritual hatten. Rafes Gebetsstunden folgen keinem festen Ritual; sie betonen die Existenz eines ganz persönlichen Gottes, der mit individuellem Leben und individuellen Wünschen zu tun hat. Die Sicherheit, mit der er das behauptet, erscheint mir lächerlich, läßt mich aber auch ein bißchen neidisch werden. Wie schön, wenn man sich vorstellen kann, daß sich irgend jemand im Universum um die Haare auf meinem Kopf Sorgen macht. Aus meiner Position sieht das alles eher düster aus. Jesus, erlöse uns von Obdachlosigkeit und Vergewaltigung, und wenn er es nicht tut, nun, dann stimmen Gottes Wege eben nicht mit den unseren überein. Die Menschen im Altertum ließen das Los entscheiden, wenn sie nicht wußten, wodurch sie das Mißfallen der Götter erregt hatten. Wenn man Pech hatte, dann stießen sie einen über Bord, und man wurde von einem Wal verschluckt, aber schließlich wurde ja dadurch der Sturm beendet, und alle anderen waren gerettet. Heute machen sie wieder das gleiche, wenn auch nicht ganz so direkt: Gott schlägt uns mit verschiedenen Plagen. Schwangere Teenager, Mütter, die von der Fürsorge leben, Feministinnen oder Schwule: Werft sie alle über Bord, dann beruhigen sich die Meere der Republik wieder. 35
Lowries Tochter kam mit, um die Bibeln auszuteilen und all die Dinge zu erledigen, für die der große Mann sich selbst zu schade ist. Sie führt die Frauen zu ihren Plätzen und ermahnt sie zum Schweigen. Mit ihren runden Schultern und dem verhuschten Gesicht wirkt sie viel älter als neunzehn (natürlich habe ich ihr Alter von Jacqui erfahren!). Die Veranstaltung begann damit, daß Lowrie betete. Seine Stimme ist heiser, weil er den ganzen Tag im Warentermingeschäft brüllen muß. »Jesus, sende uns deinen Heiligen Geist, damit wir das Wort verstehen, das du uns gegeben hast. Mach uns würdig, dieses Wort zu empfangen, sorge dafür, daß es uns auf dem Pfad der Rechtschaffenheit leitet. Herr, viele kommen zu dir wie die Frau im Buch Joel, die ihre Tochter für eine Flasche Wein verkaufte, doch auch ihr verspricht Gott die Erlösung, wenn sie aus tiefstem Herzen bereut. Andere wiederum sind wie der Mann in der Gruft von Gerasa so besessen von Dämonen, daß nicht einmal Ketten ihn festhalten konnten. Und dennoch vertrieb der Herr diese Dämonen durch den Glauben und das Gebet. Laßt uns beten, daß der Heilige Geist, der bereits unter uns zu wirken beginnt, uns die Kraft gibt, die Dämonen zu vertreiben, denn mit dem Glauben ist alles möglich, auch die Heilung von Krankheiten, vor denen die Medizin kapituliert.« Rafe schloß sein Gebet und öffnete die Augen, um zu den Frauen über die heilende Kraft von Gottes Wort zu sprechen. »Erinnert ihr euch noch an die Frau im Markusevangelium? Ihr Blut floß zwölf Jahre lang, und sie gab all ihr Geld für Ärzte aus, die nicht in der Lage waren, ihr zu helfen. Doch als sie voller Glauben die Gewänder Jesu berührten, hörte das Blut zu fließen auf.« Hector spürte, wie die Wut in ihm hochkam. Lowrie hatte darauf bestanden, daß er an der Bibelstunde teilnahm, weil er ihm oder den Frauen oder ihnen allen zeigen wollte, daß die 35
Psychiatrie in der Orleans Street Church nicht willkommen war. »Manche von euch kommen in großer Qual hierher, in größerer Qual als die Frau im Evangelium, und ihr glaubt, daß die Macht der Medizin euch heilen kann. Aber wie hat euch diese Macht bis jetzt geholfen? Sie hat euch doch nur euer Geld abgenommen und dafür gesorgt, daß ihr auf der Straße landet - genau wie bei der Frau im Evangelium. Daß sie die Gewänder des Herrn berührt hat, genügte, um sie zu heilen, obwohl Ärzte und Wissenschaft versagt hatten. Wenn ihr aus tiefstem Herzen glaubt, daß der Heilige Geist unter uns weilt, könnt auch ihr an Seele und Geist gesunden.« Ich habe keine Ahnung, warum Lowrie mich als Rivalen sieht. Schließlich bin ich nur ein junger Arzt, der siebzig Stunden wöchentlich für achtunddreißigtausend Dollar jährlich arbeitet. Damit kann man wahrlich keine großen Sprünge machen. Ich habe nicht mal Familie (obwohl ich Lily
natürlich immer irgendwie mitdenken muß), während er im Beruf erfolgreich ist, Kinder und eine jener hübschen, geräumigen Wohnungen an der Elm Street hat. Natürlich habe ich das alles vor der Gebetsstunde von Jacqui erfahren. Ich habe sie gefragt, woher sie so gut über mein und Lowries Leben Bescheid weiß. Da hat sie den Kopf in den Nacken geworfen und lachend gesagt: »Sie halten mich also für eine Hellseherin, Doktor? Nein, ich bin nur eine Obdachlose und obendrein noch schwarz unsichtbarer können Sie in Amerika nicht werden. Die Menschen unterhalten sich in meiner Gegenwart völlig ungeniert, ich könnte genausogut ein Möbelstück sein. Warum Rafe Lowrie unglücklich ist, kann ich Ihnen allerdings nicht sagen, denn dazu müßte ich tatsächlich hellsehen können. Vielleicht will Jesus ihn ja aus irgendeinem Grund auf die Probe stellen. Aber mit mir spricht Jesus leider nicht so wie mit Bruder Rafe.« 36
»Danke, Herr, ja, Herr«, murmelte Cynthia Lowrie immer wieder in regelmäßigen Abständen. Ein paar Frauen stimmten mit lauterer Stimme ein. »Ja, Jesus«, »preist Jesus«, murmelten sie, während Lowrie sie mit seiner krächzenden Stimme weiter bearbeitete. Andere, zum Beispiel Jacqui, saßen bewegungslos da. Hector hätte gern geglaubt, daß Jacqui das, was hier vor sich ging, ebenso widerlich fand wie er selbst, aber er hatte keine Ahnung, was sie dachte. Madeleine Carter, die Frau von der Wand, saß zwischen Jacqui und Nanette. Zwar hatte das Prolixin die schlimmsten Symptome gedämpft, aber sie zuckte immer noch ziemlich heftig. Ihre Lippen bewegten sich unablässig; sie schien mit für ihn nicht sichtbaren Gestalten Zwiesprache zu halten. Vielleicht wußte Rafe, dessen Geist offenbar näher am Spirituellen dran war, welche Stimmen Madeleine hörte. Wenn ja, tat Rafe sie sicher als Dämonen ab, aber was war, wenn es sich in Wirklichkeit um Engel handelte? Nach einem Blick auf Madeleines graue Haut und die Knochen, die an ihren Wangen und Handgelenken vorstanden -mehr konnte er wegen ihrer zahllosen Kleiderhüllen nicht sehen -, wünschte Hector sich, daß er ihr zusammen mit den Psychopharmaka eine Vitaminspritze gegeben hätte. Aber zumindest hatte sie sich von ihrer Wand wegbewegt. »Und die Ehebrecherin«, Lowrie hatte sich mittlerweile sexuellen Themen zugewandt. »Jesus sagt, wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein. Nun, wir werden sündenfrei, wenn wir uns in den Mantel des Blutes hüllen.« Und das gibt uns das Recht, mit Steinen zu werfen? dachte Hector. Die Worte weckten andere Assoziationen in Madeleine. »Isebels Blut ist gegen die Wand gespritzt«, weinte sie und knetete dabei mit den Händen die oberste Schicht ihrer Röcke. »Die Heilige Mutter hat versucht, durch Isebel zu sprechen, aber niemand wollte ihr zuhören. Doch jetzt ist sie in der Wand. Wir können alle hingehen und ihr Blut trinken. Dann sind wir geheilt.« 36 »Seh, sch«, sagte Jacqui, nahm Madeleines zitternde Hand und hielt sie fest. »Heute nacht will niemand mehr raus, Schätzchen. Wir bleiben hier und schlafen. Bruder Rafe, vielleicht könnten Sie weniger über Blut reden - das bringt Schwester Madeleine ziemlich aus der Fassung.« Bruder Rafe kniff die Augen zusammen. Schließlich war er der einzige, der hier etwas zu sagen hatte. Tagsüber zähmt er die wilden Termingeschäfte und in der Nacht die wilden obdachlosen Frauen. Und zu Hause beherrscht er dann vermutlich seine Kinder. Die Tochter, die heute abend hier war, sah zumindest ziemlich verschreckt aus, als Jacqui sich zu Wort meldete. Es gibt in der Unterkunft durchaus jemanden, der eine Therapie nötig hätte, aber wahrscheinlich hat es nicht viel Sinn, das zur Sprache zu bringen. Rafe beschloß, Jacquis Einwurf zu ignorieren - vielleicht hatte er ein bißchen Angst davor, was Madeleine möglicherweise tun würde, wenn er sie in noch größere Erregung versetzte. Statt dessen ergriff er Ms Hände und begann, um ihre Heilung zu beten. Aber sie läßt sich nicht gern ohne Vorwarnung berühren, schon gar nicht von einem Mann. Sie zuckte zurück und begann zu weinen. Bevor ich eingreifen konnte, nahm Nanette sie in den Arm und beruhigte sie, während Rafe die anderen Frauen bat, für ihre Schwester zu beten. Wahrscheinlich spürte er, daß die Aufmerksamkeit der Frauen nachließ, also las er eilig eine Bibelstelle aus dem ersten Buch Samuel vor, wo Hanna für ihren Sohn betet: Und Eli sagte zu ihr: »Wie lange willst du dich noch wie eine Betrunkene aufführen? Sieh zu, daß du deinen Weinrausch los wirst!« Hanna gab zur Antwort: »Nein, Herr! Ich bin eine
unglückliche Frau. Ich habe weder Wein getrunken noch Bier; ich habe nur dem Herrn mein Herz ausgeschüttet.« Lowrie wollte über diese Bibelstelle diskutieren, den 9i
Obdachlosen zeigen, daß es dem Herrn nicht gefällt, wenn Frauen trinken. Meine Mutter hat diese Stelle immer gehaßt, weil sie jedesmal an hohen Festtagen verlesen wurde. Warum beten diese Frauen um Söhne, knurrte sie früher meinen Vater und mich auf dem Heimweg an. Ich persönlich würde euch beide und auch noch den Hund weggeben, wenn ich dafür eine Tochter haben könnte. Ich kam mir schrecklich hilflos vor, als Lowrie die Stelle aus dem Buch Samuel erläuterte. Natürlich wäre es besser, wenn diese Frauen keinen Alkohol trinken und keine Drogen nehmen würden, aber ich finde es ausgesprochen manipulativ, eine Stelle einfach aus ihrem Zusammenhang zu reißen und damit die obdachlosen Frauen zu quälen. Er hätte doch genauso gut Jesaja wählen können. Ich persönlich kenne mich nicht sonderlich gut aus in der Bibel -ich habe seit dem letzten Jom-Kippur-Fest mit Lily, bevor ich nach Westen zum Studieren gegangen bin, keinen Gottesdienst mehr besucht -, aber heute nachmittag habe ich in der Krankenhausbibliothek die Begriffe »heimatlos« und »obdachlos« in einem Bibellexikon nachgeschlagen, und Jesaja sagt, Gott möchte, daß wir die armen Menschen, die ohne Obdach sind, bei uns zu Hause aufnehmen! Was würde wohl passieren, wenn ich das in dieser Kirche vorlese? Ich konnte mich nicht auf einen Bibelwettstreit mit Lowrie einlassen, obwohl er mich immer wieder herausfordernd ansah. Ich hasse dieses Gefühl der Sprachlosigkeit, vielleicht auch der Kastration, die Unfähigkeit, mich gegen Tyrannen wie Hanaper und Abraham Stonds und jetzt auch noch Lowrie zu wehren. Gerade als ich glaubte, seine Platitüden nicht länger ertragen zu können, und die Frauen bereits unruhig auf ihren Plätzen herumrutschten, während sie ganz mechanisch »danke, Herr, ja, danke, o Herr« murmelten, kam eine neue Frau herein. 37 Die Gruppe hörte Patsy Wanachs, die Leiterin der Unterkunft, mit einer Frau draußen vor der Tür reden, dann die volle Stimme der neuen Frau, undeutlich vom Alkohol. »Bibelstunden? Wie drollig. Nein, nein, betende Frauen möchte ich auf keinen Fall stören. So, so, ein Bibelexperte macht das Ganze? Dann muß ich ihn um seine Meinung als Fachmann fragen.« Luisa Montcrief betrat den Raum mit Patsy Wanachs im Schlepptau. »Bruder Rafe? Tut mir leid, daß ich störe, aber ich habe hier eine Frau, die gerade gekommen ist, Luisa Montcrief. Sie sagt, sie möchte an der Bibelstunde teilnehmen. Ich habe sie darauf hingewiesen, daß sie nicht stören darf.« »Jeder, der lernen möchte zu verstehen, ist hier willkommen. Kommen Sie herein, Schwester Luisa, nicht wahr? Setzen Sie sich.« Luisa sah aus wie die Parodie einer Diva. Der Rocksaum ihres schwarzen Seidenkostüms war aufgegangen, in den schwarzen Strümpfen hatte sie jede Menge Laufmaschen, und als Oberteil trug sie eine goldfarbene Bluse, an der Reste von Essen und Erbrochenem klebten. Sie torkelte herein, und Hector sah, daß sie den Absatz ihres rechten Schuhs verloren hatte. Vom Alkohol hatte sie rote Wangen, und ihre Augen glänzten zornig. Sie marschierte hinüber zu Rafe Lowrie. »Sind Sie hier zuständig? König Ahasverus mit seinem frommen Harem? Man hat mir gesagt, Sie kennen sich aus mit der Bibel.« Lowrie lächelte. »Nun, ich bin kein Experte, sondern jemand, der die Bibel zusammen mit den anderen Suchenden in diesem Raum verstehen möchte. Cynthia, weise Schwester Luisa einen Platz zu und gib ihr eine Bibel, damit sie mitverfolgen kann, was wir lesen. Wir sprechen gerade über das erste Buch Samuel, über Alkohol und Frauen; Sie würden sicher sehr von dem Text profitieren.« »Aha. Alkohol und die Bibel.« Luisa war stark betrunken; sie fiel fast hin, als sie sich über den Tisch beugte, um eine der billigen Bibeln in die Hand zu 37 nehmen, die die Kirche für die Frauen zur Verfügung gestellt hatte. Sie sprach klarer, als die meisten Leute es getan hätten, wenn sie so betrunken gewesen wären wie sie - nach all den Jahren auf der Bühne war deutliche Aussprache etwas ganz Natürliches für sie -, doch Hector hatte das Gefühl, daß Lowrie unterschätzte, wie nahe sie daran war, einfach umzukippen. Sie stakste zu einem Stuhl, verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden.
»Ja, die Bibel und Trunkenheit. Sieh dir den Wein nicht an, wenn er rot ist. Steht das nicht irgendwo? Tja, man sollte einfach beim Chardonnay bleiben.« Sie lachte lauthals. »Schwester Luisa!« herrschte Lowrie sie an. »Stehen Sie auf und setzen Sie sich auf einen Stuhl. Wenn Sie nicht mit ein bißchen Respekt zuhören können, sollten Sie lieber gehen.« Luisa warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, rappelte sich jedoch hoch und hievte sich auf einen der Klappstühle. »Ich habe Respekt vor dem, was Sie sagen. Alkohol und die Bibel. Lots Töchter haben ihn betrunken gemacht, damit er Inzest begehen konnte. Tja, dann konnte man ihn nicht bestrafen. Er konnte machen, was er wollte, ohne daß er bestraft wurde. Ist das nicht eine wunderbare Geschichte? Wenn, Sie ein Mann sind und in der Bibel, können Sie machen, was Sie wollen, und die sprechen Sie heilig, aber wenn Sie eine Frau sind, verbannen die Sie. Stimmt's, Herr Prediger?« Ein paar Frauen rutschten unruhig auf ihren Plätzen hin und her, doch eine sagte: »Jawohl, sie hat recht, Jesus.« »Cynthia, wieso kaust du an deinen Haaren herum? Geh hinüber und versuch, diese Frau zu beruhigen«, wies Lowrie sie an. Seine Tochter stolperte mit erbarmungswürdigem Gesichtsausdruck hinüber zu Luisa. »Wir beschäftigen uns heute abend nicht mit der Genesis. Sehen wir uns doch einmal gemeinsam das Buch Samuel an. Ein interessantes Buch, finden Sie nicht auch?« Luisa gestattete Cynthia, die Bibel an der besagten Stelle aufzuschlagen, aber ihr Einwand hatte die anderen Frauen aus 38
der Fassung gebracht. Eine von ihnen, Caroline, die inzwischen die Stelle mit Lot herausgesucht hatte, rief: »Das ist die Stelle, über die sie gesprochen hat: Sodom und Gomorra werden zerstört, und zuerst wollte Lot seine Töchter dem Pöbel vorwerfen. Er hätte zugelassen, daß seine eigenen Töchter vergewaltigt werden, wenn er so die Leute daran hätte hindern können, sein Haus anzugreifen. Und dann vergewaltigt er sie selber, tut aber so, als ob er betrunken ist und nicht weiß, was er macht. Na, wie gefällt euch das? Was ist das bloß für eine Bibelstunde?« »Und Isebel.« Madeleine erhob sich erregt. »Isebel haben sie den Hunden vorgeworfen. Ihr Blut ist gegen die Wand gespritzt, aber das war ihnen egal. Die Mutter Gottes weint blutige Tränen. Ihr Blut kommt aus der Wand, aber das ist ihnen egal.« Sie begann zu weinen. »Ich muß zurück, ich habe sie schon zu lange allein gelassen. Die Heilige Mutter wird glauben, ich bin wie alle andern, daß ich mir nichts daraus mache, was aus ihr wird.« Hector sprang auf und folgte ihr aus dem Raum. »Madeleine, die Heilige Mutter weiß, daß Sie sie am Tag und in der Nacht lieben. Und wenn sie Sie liebt, dann will sie sicher nur das Beste für Sie. Ist es im Augenblick nicht das Beste für Sie, wenn ich Sie ins Krankenhaus mitnehme, damit Sie sich ein bißchen ausruhen können?« »Ich komme nicht mit, Sie können mich nicht zwingen, sie zu verlassen. Ich hätte sie heute nacht nicht allein lassen dürfen.« »Dann lassen Sie mich Ihnen wenigstens noch eine Spritze geben«, insistierte Hector. »Dann beruhigen Sie sich ein bißchen.« »Ich will keine Spritze. Als Sie mir die Spritze gegeben haben, habe ich sie nicht mehr so gut gehört. Es hat sie wütend gemacht, daß ich versucht habe, mich von ihr abzuwenden.« Jacqui und Nanette kamen zu uns auf den Flur. »Madeleine, du kannst heute nicht noch mal raus. Es ist dunkel, es ist zu 38
gefährlich für dich, und wir wollen hierbleiben und uns ausruhen. Du weißt, daß du heute nacht hier ein Bett hast. Du könntest dich sogar duschen. Bleib hier bei uns.« Madeleine entwand Nanette ihre Hand, rannte den Flur hinunter und zur Tür hinaus. Hector machte Anstalten, ihr zu folgen. »Was wollen Sie machen?« fragte Jacqui. »Sie können sie nicht zwingen zurückzukommen. Und Sie können sie auch nicht zwingen, ins Krankenhaus zu gehen. Wahrscheinlich würden sie ihr dort ohnehin kein Bett geben! Es sind nur knapp zwei Kilometer bis zu der Wand; das schafft sie.« »Ich habe genug von Bruder Rafes Predigten, auch wenn die Betrunkene, die gerade gekommen ist, die Sache interessanter macht«, sagte Nanette. »Aber ich möchte nicht zuschauen müssen, wie Patsy Wanachs die Leute rauswirft, und das wird als nächstes passieren. Ich hole mir eine Tasse Kaffee. Wollen Sie auch eine, Doktor?«
Die Regeln in der Unterkunft sahen folgendermaßen aus: Die Betten standen von zehn Uhr abends bis um sechs Uhr am nächsten Morgen zur Verfügung. Bis zum Ende der Bibelstunde durfte niemand fernsehen, weil die Bibelstunde im Gemeinschaftsraum abgehalten wurde, wo der Fernseher stand und auch die Spiele stattfanden, die die Kirche für unverfänglich hielt. Wer sich nichts aus der Bibelstunde machte, hatte keine andere Wahl, als erst um zehn zu der Unterkunft zu kommen - aber da waren unter Umständen schon alle Betten vergeben - oder sich mit einer Tasse Kaffee ins Refektorium zu setzen, wo ein gelangweilter Freiwilliger darüber wachte, daß die Frauen sich nicht über die Speisekammer hermachten. Hector ging zur Tür des Gemeinschaftsraums zurück. Caroline, die mittlerweile die Stelle gefunden hatte, wo Lot mit seinen Töchtern schlief, stritt sich mit Rafe über die Bedeutung der Passage, die er aus dem ersten Buch Samuel ausgewählt hatte. »Das heißt nicht, daß Frauen nicht trinken sollten, sondern daß dieser Priester, dieser Eli, dachte, Hanna sei betrunken.« 39 »Aber wir wissen, daß das Wort, wenn es in der Bibel steht, das Wort Gottes und somit eine Orientierungshilfe für uns ist«, sagte Rafe. »Und es ist außerdem klar, daß Gott die Trunkenheit von Frauen durch Eli verurteilt.« »Aber wenn Männer sich betrinken, ist es in Ordnung.« Luisa, die bis dahin auf ihrem Stuhl hin und her geschwankt war und an ihren Strümpfen herumgezupft hatte, setzte sich aufrecht hin. »Als Schahvervus... Schaver... Hasherus Vasti holen ließ, da hat er getrunken, ja, Sir, goldene Kelche für den König. Aber sie wird verurteilt und verbannt, weil sie nicht zu diesem Betrunkenen will. Ist das in Ordnung, soll sie es denn zulassen, daß er sie bumst, wenn er betrunken ist? Das ist nicht fair. Wollen Sie vielleicht behaupten, Sie heiliger Bimbam oder wie Sie auch immer heißen mögen, daß es gerecht ist, wenn Könige sich betrinken, Frauen das aber nicht dürfen?« Lowries Lächeln verwandelte sich in einen Ausdruck der Wut. »Die Bibel ist das gerechte Wort Gottes. Aber niemand soll sich betrinken, am allerwenigsten Sie, wenn Sie hier reinplatzen und die Bibelstunde stören. Wenn Sie nicht...« »Wer sagt denn, daß ich betrunken bin?« fragte Luisa und erhob sich schwankend von ihrem Stuhl. »Diese Schlampe, diese Cesarini, stimmt's? Die ist doch bloß neidisch, weil sie die Fenena in Covent Garden nicht singen durfte...« Patsy Wanachs schob Hector beiseite, um in den Raum zu gelangen. »Luisa! Kommen Sie mit.« Die Leiterin der Unterkunft ergriff Luisas Hand und zog sie hinaus in den Flur. »Ich habe Ihnen ja gesagt, daß Sie wahrscheinlich nicht in der richtigen Verfassung für die Bibelstunde sind, aber Sie haben darauf bestanden, daran teilzunehmen. Und Sie haben mir versprochen, nicht zu stören. Jetzt sehen Sie sich mal an, was Sie angestellt haben: Madeleine Carter hat völlig aufgelöst die Unterkunft verlassen, und die anderen sind Ihretwegen ganz durcheinander. Bei uns gibt es Regeln, das habe ich Ihnen erklärt, als Sie hierhergekommen sind. Die erste ist gegen Trunkenheit, die zweite gegen Ruhestörung. Sie haben gegen beide verstoßen. 39
Wenn Sie heute nacht hierbleiben wollen, werden Sie sich jetzt ganz still ins Refektorium setzen, bis wir Ihnen ein Bett zuweisen können. Aber wenn Sie noch einmal betrunken hier auftauchen, werden wir Sie nicht mehr aufnehmen. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?« »Klar wie Kloßbrühe, meine gute Frau.« Luisas Verachtung wurde durch ihre verwaschenen Konsonanten und ihre wackeligen Beine ein wenig abgemildert. Schließlich folgte sie der Leiterin den Flur entlang zum Refektorium. Hector kam zu dem Schluß, daß auch er genug hatte von Bruder Rafes Predigten. Er ging an den obdachlosen Frauen vorbei, die sich mit ihren Habseligkeiten in Plastiktüten oder Einkaufswagen der Unterkunft näherten. Er blieb ziemlich lange in seinem Wagen sitzen. Irgendwann kam ein Mann ans Tor und wurde wütend, weil man ihm den Zutritt verwehrte. Er marschierte fluchend auf und ab, schleuderte eine Flasche gegen den Zaun, stapfte die Straße hinunter, kam wieder zurück und versuchte, sich im Windschatten von ein paar Frauen Zutritt zu verschaffen. Eine der ehrenamtlichen Helferinnen kam heraus. Hector fand es sehr mutig von ihr, daß sie sich persönlich mit dem Mann auseinandersetzte, doch das, was sie sagte, schien zu wirken: Der Mann verließ das Tor und überquerte die Straße, um es von der anderen Seite aus zu beobachten. Als Hector eine halbe Stunde lang im Wagen gesessen hatte, wankte Luisa heraus. Sie sang mit lauter Stimme »Sempre libera«, Violettas Arie aus dem ersten Akt von La Traviata.
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Ausgezählt
Harriet erfuhr an dem Tag von der Frau an der Wand, als Mrs. Ephers ihren Herzanfall hatte. Deshalb konzentrierte sie sich auch nicht mit ihrer üblichen Energie auf das Problem. Die Partner bei Scandon and Atter konnten es nicht fassen, als sich der Generaldirektor des Hotel Pleiades bei ihnen beklagte: Harriet hatte bisher immer sowohl Gäste als auch Hotel zufriedengestellt; niemand konnte es glauben, als sie diesmal ihren Anforderungen nicht gerecht wurde. »Ich habe Harriet eine E-Mail geschickt, sobald ich von der Sache erfahren habe«, erklärte der Generaldirektor dem Vorstand der Olympus-Hotelgruppe in einer jener endlosen Besprechungen, die solche Unternehmen veranstalten, um effektives Arbeiten zu verhindern und Schuld zuzuweisen. »Offenbar haben sich die Leute von der Parkgarage schon einmal beschwert und die Frau von der Polizei entfernen lassen, aber als sie wieder dort aufgetaucht ist, dachte Brian Cassidy - das ist der Wachmann in der Parkgarage -, die Hotelleitung habe beschlossen, sie dürfe bleiben, solange sie nicht auffalle. Doch in der Nacht...« In der Nacht wurde Luisa aus Hagar's House hinausgeworfen, weil sie die Bibelstunde gestört hatte. Sie lehnte sich gegen das Tor und murmelte vor sich hin. Als dann ein Mann vorbeikam und fragte: »Na, was macht denn ein hübsches Füchslein wie du ganz allein hier draußen? Sieht fast so aus, als könntest du Gesellschaft brauchen«, da winkte sie ein Taxi heran. In der Dunkelheit sah der Fahrer nur ihre herrische Handbewegung und das offensichtlich teure Kostüm, nicht, wie schmutzig und abgerissen sie tatsächlich war. Als er sie Ecke Michigan Avenue, Wacker Drive absetzte, mußte er feststellen, daß sie kein Geld hatte, und wurde fuchs40
teufelswild. Er ließ seinen Wagen mitten auf der Straße stehen und sprang, ohne darauf zu achten, daß er den Verkehr behinderte, heraus, um ihr nachzurennen. Erst das scheußliche Kreischen von Metall auf Metall veranlaßte ihn dazu, sich umzudrehen: Ein Bus hatte ihm die offene Tür weggerissen. Ein Polizist schlenderte herbei und fragte den Fahrer, was er sich eigentlich dabei denke, seinen Wagen mitten auf der Straße stehen zu lassen. Als dieser ihm erklärte, daß man ihn um sein Geld betrogen hatte, war Luisa schon verschwunden. Die beiden obdachlosen Frauen waren auf ihre Art ganz nett gewesen, dachte die Diva, als sie sich am Geländer festhielt, um nicht die Treppe hinunterzufallen. Nun, sie waren Kulturbanausen, die nicht einmal Violettas große Arie erkannten, als Luisa sie im Refektorium zu singen begann, aber immerhin hatten sie Verständnis für ihren Kummer gehabt, als diese Schlampe, die so große Stücke auf sich hielt, weil sie einen Titel hatte, Luisas spontanen Vortrag unterbinden wollte. Wie jämmerlich die Menschen doch in ihrer Bedürftigkeit wurden. Warum sollte Luisa vor der Leiterin einer Obdachlosenunterkunft katzbuckeln? Schließlich hatte ihr Name schon die Garderoben der Mailänder und Londoner Oper geziert. Aber als diese blöde Kuh sie gezwungen hatte zu gehen, waren ihr die beiden obdachlosen Frauen bis zur Tür gefolgt. Die Schwarze hatte ihr aufgeschrieben, wie sie zu einer Behelfsunterkunft am Lower Wacker Drive kam, die sie hin und wieder selbst aufsuchten. Ein Engagement war abgesagt worden, nicht wahr? Harry und Karen waren nicht zu Hause, das war's doch, oder? Aus irgendeinem Grund befand sie sich in Chicago und hatte keine Bleibe. Sie hatte ein Zimmer gehabt, so ein Loch, in das Harry sie gesteckt hatte, weil er immer neidisch auf sie war. Sie wußte nicht einmal mehr, warum; das ging schon seit ihrer Kindheit so. Tja, und dann war irgend etwas mit dem Zimmer schiefgegangen. Man hatte sie ausgesperrt, und der häßliche Mann an der Rezeption hatte Geld von ihr verlangt, wenn sie weiter dort bleiben wollte. Sie hatte ihm erklärt, daß sie persönlich ioo
sich nie um Geld kümmerte, ihr Manager erledigte das, und sie hatte ihm Leos Nummer in New York gegeben, aber der Mann an der Rezeption hatte sich geweigert anzurufen. Er hatte gesagt, er habe keine Lust, auch noch ein Ferngespräch zu führen, das sie nicht bezahlen könne, aber sie solle wiederkommen, wenn sie ihren Scheck von der Sozialhilfe habe. Dann könne sie ihre Schulden bezahlen; bis dahin würde er ihre Kleider als Pfand behalten. Als ob sie seine Schwelle je wieder überschreiten würde! Danach konnte sie sich an nichts mehr erinnern. Sie hatte einen Drink gebraucht, um sich zu beruhigen, aber es stimmte nicht, daß sie Alkoholikerin war, wie dieses Arschloch von Prediger
gesagt hatte. Wahrscheinlich hatte er etwas von den Gerüchten gehört, die die Cesarini und die Donatelli über sie verbreiteten. Schließlich ist man noch lange keine Alkoholikerin, bloß weil man ein bißchen Brandy braucht, wenn einen so ein schmieriger Typ aus dem eigenen Zimmer aussperrt. Dann hatte sie einen Mann gefunden, der bereit war, ihr ein bißchen Geld zu geben... Nein, du Hure, ich hab' dir das Geld nicht gegeben, damit du mir was vorsingst. Mach die Beine breit. Das mußte sie irgendwo im Kino gesehen haben, das war nicht ihr selbst passiert, aber irgendwie hatte sie das Geld für eine Literflasche Brandy bekommen. Die Frau in dem Schnapsladen war unglaublich grob gewesen; sie wollte das Geld sehen, bevor sie bereit war, die Flasche vom Regal zu holen. Eine fette Kuh mit drei Haaren am Kinn. Rasieren Sie sich erst mal, bevor Sie meine Flasche anrühren, hatte Luisa gesagt, ich will mir schließlich nicht Ihre Läuse einfangen. Und die Frau war richtiggehend aggressiv geworden; du hast Glück, daß ich dir die Flasche nicht über den Schädel ziehe, du betrunkene Hure. Chicago war eine schreckliche Stadt. Warum war sie hierher zurückgekommen? Harry hatte ihre hübsche kleine Wohnung in Kampanien verkauft, nur weil ihr Konto bei der Banca di Roma ein klein wenig überzogen war. Sie hatte dem Filialleiter gesagt, ihr Bruder sei reich, er würde sich darum kümmern. Und dann war Harry plötzlich in Italien aufgetaucht und hatte 41 sie angebrüllt, ohne ihr zu helfen. Er war wie alle Männer, gierig. Er war nur hinter dem Geld her; wie schrecklich, daß Becca mit so einem Vater groß werden mußte. Und jetzt auch noch dieser widerliche Taxifahrer, der sie anbrüllte. »Mein guter Mann, Sie hatten soeben das Privileg, der Welt größte Sopranistin in Ihrem Wagen zu befördern. Davon können Sie Ihren Enkeln erzählen, vorausgesetzt natürlich, eine Frau kommt Ihrem häßlichen Körper jemals so nahe, daß Sie sich überhaupt fortpflanzen können.« Tja, und dann lief er ihr auch schon auf der Straße nach. Sie mußte lachen, als der Bus die Tür von seinem Wagen wegriß; es geschah ihm recht, schließlich hatte er sie beschimpft. Eigentlich hätte sie dem Polizisten erklären sollen, daß er den Mann verhaften müsse... Doch ihr Überlebensinstinkt ließ sie lieber in den Untergrund abtauchen. Am Fuß der Treppe solle sie den Lower Wacker Drive entlanggehen und dann bei der zweiten Kreuzung rechts abbiegen. Die schwarze Frau hatte ihr das alles auf eine Serviette notiert. Das war wirklich nett. Auch in Chicago konnte man im gemeinen Volk also noch Menschen finden, die eine große Liebe für die Oper hegten. Natürlich war es hier nicht so wie in Kopenhagen oder Berlin, aber es wirkte doch aufmunternd, da der Rest der Welt es anscheinend darauf abgesehen hatte, sie lebendig zu begraben. Als sie in der zweiten Einfahrt stehenblieb, wurde sie wütend. Eine Frau erwartete sie. Wollte sie demütigen. Das war so etwas wie eine Bühne für Otello. Brennende Kerzen, ein Bildnis der Madonna dazwischen, und die Frau kniete verzückt vor dem Bildnis. Wahrscheinlich sang sie auch noch »Ave Maria, nell'ora della morte«. Luisa stürzte sich auf sie. »Wer hat Sie hergeschickt? Leo oder dieser blöde Tenor? Der hat's nicht ertragen, daß ich ihn an die Wand gesungen habe, und hat mich bei der New York Times angeschwärzt. Haben diese beiden obdachlosen Hexen mir eine Falle gestellt?« Sie glaubte, den Klang eines Cellos zu hören, der von der 41 hohen Betonüberführung widerhallte. »>Geh unter die Michigan Avenue, da kannst du unterkriechen, Luisa.< Und dabei wollten sich die beiden bloß über mich lustig machen.« Die Frau, die vor der Madonna kniete, begann zu schreien. »Komm mir nicht zu nahe, Isebel, die Hunde fressen mich, wenn sie dich in meiner Nähe sehen.« Luisa wollte sich umdrehen, verlor das Gleichgewicht und landete auf der Straße. »Wo sind die Kameras? Wo stecken sie denn, die verdammten Paparazzi... Ihr wollt mir doch bloß zeigen, daß ihr mich haßt. Aber ich war die Beste, das hat Carl Benedetti mir gesagt. Der hat meine Violetta gehört, carissima, die Stimme, diese Präsenz, ich werde Sie nicht zu einer Königin machen - die sind Sie schon -, aber ich werde die Welt dazu bringen, Ihr majestätisches Wesen zu erkennen, hat er zu mir gesagt, und nicht zu der Cesarini oder der Donatelli. Alle wissen, daß die beim Singen ein Mikrophon braucht, aber ich nicht, nicht mal in Covent Garden.« Sie lag heulend auf der Straße. Ein Wagen, der aus dem Hotel Pleiades kam, hätte sie beinahe überrollt. Der Fahrer sprang heraus. »Blöde Kuh! Warum liegst du hier auf der Straße rum?«
Luisa schluchzte weiter. Der Mann versetzte ihr einen Tritt, versuchte, sie in die Gosse zu rollen. »Hören Sie auf damit.« Mittlerweile hatten sich einige Schaulustige versammelt - Leute, die noch spät gearbeitet hatten und jetzt auf ihren Bus warteten, Theaterbesucher auf dem Weg zu ihren Autos; eine Frau schüttelte die Hand ihres Mannes ab, der sie zurückhalten wollte, und hielt dem Fahrer einen Vortrag. »Was ist, wenn die Frau verletzt ist? Wir sollten den Notarzt rufen. Patrick, geh rüber in die Garage und bitte die Leute, einen Krankenwagen zu rufen.« Der Autofahrer schenkte ihr keine Beachtung und brüllte Luisa, die immer noch am Boden lag, an: »Eigentlich sollte ich dich überfahren, du besoffene Hure. Verschwinde von der Straße!« Dann stieg er wieder ein und drückte auf die Hupe. Luisa 42 rührte sich nicht von der Stelle. Wo waren Leo, ihr Anwalt, die Polizei? Sie schniefte. Der Mann setzte den Wagen mit quietschenden Reifen zurück, ließ den Motor aufheulen und fuhr wieder vorwärts, nur ein paar Zentimeter an Luisa vorbei. Als er weiterhupte, begann Madeleine zu jammern: »Die Mutter Gottes haßt den Lärm. Er ist abscheulich. Sie wird Sie bestrafen. Sie wird schwarzes Blut auf Sie herabregnen lassen, weil Sie ihr Heim geschändet haben.« Die Schaulustigen entfernten sich von Madeleine und Luisa. Die drei Leute, die auf den Bus gewartet hatten, beschlossen, zur oberen Michigan Avenue zu gehen und dort ein Taxi zu nehmen, während die Frau, die sich anfänglich für die beiden Obdachlosen eingesetzt hatte, nun ihrem Mann beipflichtete, der sagte, sie hätten sich schon zu sehr eingemischt. Sie wollten lieber den Wagen holen und nach Hause fahren; schließlich wartete der Babysitter auf sie. Die Parkwächter standen bereits, angelockt von Luisas Geschrei, in der Ausfahrt der Parkgarage, als Brian Cassidy erschien. Das Hupen hatte ihn nicht aufgeschreckt, denn Hupen hörte man in der Stadt die ganze Zeit. Nein, eine Frau, die auf ihren Wagen wartete, hatte sich über das Chaos draußen beschwert. »Ich steige immer im Hotel Pleiades ab, weil ich mich hier sicher fühle, aber solche Streitereien auf der Straße sind einfach unmöglich. Was soll ich machen? Soll ich mir vielleicht eine kugelsichere Weste anziehen, wenn ich meinen Wagen holen will ?« »Ist nicht so schlimm, Mr. Cassidy«, sagte einer der Parkwächter. »Hat niemand geschossen, hat auch niemand eine Pistole. Sind nur zwei betrunkene Frauen; vielleicht sind sie auch verrückt. Sie haben niemandem was getan. Nur ein Mann war sauer und hat die eine fast überfahren.« »Ich möchte, daß mich jemand bis zum Foyer des Hotels begleitet«, sagte die wütende Frau. »Hier unten ist es nicht mehr sicher. Ich möchte nicht, daß sich irgendein Obdachloser auf mich stürzt.« 42 »Die Aufzüge sind im Innern der Parkgarage, Ma'am, und sie sind sicher. Nicolo wird Sie bis zum Foyer begleiten. Er paßt auf, daß Sie im Aufzug niemand belästigt.« Nicolo lächelte die Frau an und bot ihr seinen Arm, aber sie ließ sich nicht besänftigen. Als sie sicher in ihrem Zimmer war, schrieb sie eine detaillierte Beschwerde, in der sie auch erwähnte, wieviel die Hotels der Olympus-Gruppe jährlich an ihrem Unternehmen verdienten. Sie erwarte, vor Vorfällen solcher Art bewahrt zu werden. Nun, vielleicht frisierte sie die Geschichte in ein paar Punkten. Vielleicht versetzte in ihrer Version nicht der Fahrer Luisa einen Tritt und überfuhr sie fast; vielleicht versuchte in der Version der wütenden Geschäftsfrau Luisa dem Fahrer einen Schlag zu versetzen. Vielleicht begann die Frau an der Wand in ihrer Version, sie und alle Benutzer der Parkgarage zu verfluchen. Aber das war nicht gelogen; es war nur der Versuch, dem Generaldirektor klarzumachen, wie schwerwiegend das Problem war. Unten in der Parkgarage wies Brian Cassidy zwei der Wärter an, Luisa von der Straße wegzuziehen und sie hinter die nächste Ecke zu setzen, wo die Hotelgäste sie nicht mehr sehen konnten. Mittlerweile hatte die Diva das Bewußtsein verloren, und obwohl sie schon seit Monaten nichts Richtiges mehr gegessen hatte, ächzten die Männer, als sie sie die Straße entlang trugen. Sie lehnten sie gegen die Generatorkiste neben einem Mann, der an einer Dose Colt 45 nuckelte. IOJ
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Nach dem Aufruhr
Gian Palmetto, der Generaldirektor des Hotel Pleiades, möchte wissen, warum sie noch keine Antwort von ihrer teuren Anwältin bei Scandon and Atter haben. Die eine Sekretärin ruft die andere Sekretärin noch spät am Tag an: Ein Notfall in der Familie ist schuld daran, daß Ms. Stonds sich nicht mehr in ihrem Büro aufhält.
Palmetto ruft persönlich an. Es tut ihm leid, wenn Harriet eine persönliche Krise hat, aber er braucht Rat, und zwar dringend, wie man eine obdachlose Frau vom Gehsteig vor seiner Parkgarage entfernen könne. Er hatte sich am Morgen kurz mit Harriet unterhalten; sie wollte sich um die Sache kümmern. Würde Harriets Sekretärin um Himmels willen so freundlich sein, jemanden aufzutreiben, der weiß, was sie unternommen hat? Das weiß keiner? Harriet arbeitet doch sicher mit einer Verzögerungstaktik, weil sie glaubt, daß das Hotel ihre Schwester ungerecht behandelt hat, oder? Die Sekretärin glaubt, daß das nicht der Fall ist... die Polizei? Danke, ja, er ist schon bei der Polizei gewesen. Weil der Gehsteig öffentliches Eigentum ist, wird die Stadt die verdammte Frau nicht wegen unbefugten Zutritts verhaften. Die Leute von der Polizei können sie an einen anderen Ort verfrachten, aber sie können sie nicht ins Gefängnis stecken. Jemand hat vorgeschlagen, der Frau zu drohen; wenn sie Angst bekommt, verschwindet sie vielleicht von selbst. Aber er konnte wohl kaum einem Untergebenen den Auftrag geben, das zu tun. (Natürlich hätte er nichts dagegen, wenn so was passierte, aber heutzutage kann man keine solchen Anweisungen mehr geben: Irgendein Wichtigtuer würde sicher seine E-Mail entdecken oder ihn der ACLU melden. Und dann: Tschüs, Karriere.) Also muß Gian Palmetto sich etwas anderes 43 einfallen lassen. Für die dreihundert Dollar, die er Scandon and Atter pro Stunde für Harriets Ratschläge zahlt, könnte er doch eigentlich ein bißchen mehr Einsatz erwarten. »Was für ein Notfall?« erkundigt er sich, obwohl er eigentlich nur wissen möchte, wann sie wieder ins Büro kommt. »Ich wußte gar nicht, daß Harriet eine Familie hat.« »Die Haushälterin der Stonds, die schon seit Ewigkeiten bei ihnen ist, hat heute Nachmittag einen Herzanfall gehabt.« Familiärer Notfall. Da denkt man doch an ein Kind, das von der Schaukel gefallen ist, nicht an eine Haushälterin mit einem Herzinfarkt. Verständlicherweise ist Gian Palmetto wütend, als er auflegt. Besonders nach dem Bericht, den er vom Leiter der Veranstaltungsabteilung über Harriets jüngere Schwester erhalten hat. Er gibt sich redlich Mühe, einen Job für den armseligsten Menschen zu finden, der je im Hotel Pleiades gearbeitet hat - darunter auch die Spülerinnen und die Frauen in der Hotelwäscherei -, und dann läßt die Anwältin ihn einfach im Stich, weil ihre Haushälterin krank ist. In seiner Wut diktiert er einen Brief an Leigh Wilton, ein Vorstandsmitglied der Olympus-Gruppe. Tja, auch bei Scandon and Atter hatten nur die wenigsten gewußt, daß Harriet eine Familie hat. Ihre Rüstung war immer poliert, und ihre persönlichen Gefühle bewahrte sie in einer entlegenen Schublade auf. Ihre Mitarbeiter wußten nicht einmal, daß sie Waise und die Haushälterin praktisch ihre Mutter war. Sie hatte sich nie mit den Sekretärinnen oder Kollegen über ihre Familienangelegenheiten unterhalten. Wenn Leigh Wilton sich darüber beklagte, daß seine Kinder kein Ziel vor Augen hätten und seine beiden älteren Söhne wieder nach Hause zurückkämen, schüttelte Harriet mitfühlend den Kopf, erwähnte aber ihrerseits nichts davon, daß Mara das College abgebrochen hatte und jetzt in ihrem Schlafzimmer oder in Bars herumhing oder kaum in der Lage war, ihren anspruchslosen Job im Hotel Pleiades auszufüllen. Sie erzählte auch nichts davon, daß sie diesen Job schließlich auch noch verloren hatte. Ja, das Hotel feuerte Mara am Mittwochnachmittag. 10J
Mrs. Ephers hatte ihren Herzinfarkt am Donnerstag. Davor war sie, abgesehen von der einen oder anderen Erkältung, immer kerngesund gewesen. »Wir wußten nicht, daß sie ein Herzleiden hat«, erklärte Großvater Stonds dem Kardiologen. Wir wußten ja nicht mal, daß sie ein Herz hat, murmelte Mara. Sie gaben ihr die Schuld, Großvater und Harriet. Was hast du getan, fragte Großvater, denn Mrs. Ephers wollte erst ins Krankenhaus, nachdem der Portier ihr versprochen hatte, Mara nicht in die Wohnung zu lassen, solange er nicht zu Hause wäre. »Was hat sie dir erzählt?« brüllte Mara Großvater an, packte seinen Arm und zerrte daran, obwohl sie sah, wie er wütend wurde, weil sie so mit seiner Operationshand umging. »Hat sie dir den Brief gegeben? Hast du das Foto gesehen? Wer ist das?« Mara, die sich selbst als der häßliche Caliban der Wohnung in der Graham Street sah, pflichtete den anderen insgeheim bei, daß sie Mephers' Herzinfarkt ausgelöst hatte. Allerdings hatte das nichts mit ihrer Kündigung zu tun - schließlich war die nur die Bestätigung dafür, daß Mara immer
versagte. Vielleicht hatte Mephers' Herz ein bißchen schneller geschlagen vor Freude darüber, daß Mara wieder einmal gescheitert war, aber so etwas würde den Herzmuskel nicht schädigen. Nein, der Vorfall hatte mit Mephers' Wut darüber zu tun, daß sie Mara erwischt hatte, wie sie in ihrem Zimmer ihre Papiere durchsuchte. Die Haushälterin hatte Mara hochgezerrt, ihr eine so kräftige Ohrfeige gegeben, daß Mara sechs Tage lang ein blaues Auge hatte, und war dann zusammengebrochen, mit der rechten Hand den linken Arm packend, aber ohne einen Ton von sich zu geben. Sie war achtzig; eine Neunzehnjährige, noch dazu ein so kräftig gebautes Mädchen wie Mara, hochzuhieven war einfach zu anstrengend für sie gewesen. »Das waren nicht ihre Papiere«, versuchte Mara ihrer Schwester zu erklären. »Sie hatte einen Brief über Oma, von 44 jemandem in Frankreich. Er war an Mutter gerichtet. Und es war auch das Foto eines Mannes dabei, der aussieht wie du.« Harnet starrte sie an. »Mara, ich kann's einfach nicht fassen, daß du jetzt, wo Mephers schwerkrank im Krankenhaus liegt, die Unverfrorenheit besitzt, noch Geschichten über Beatrix zu erfinden. Du bist einfach zu alt für solche Sachen.« »Nein.« Maras dunkle Haut wurde vor Zorn noch dunkler. »Mephers hat immer behauptet, wir hätten keine Bilder oder Dokumente von unserer Mutter. Aber es gibt diesen Brief an Mutter, von jemandem in Frankreich. Und das Foto - ich schwör's dir, es sieht aus, als wärst du drauf, kostümiert!« »Mephers ist schwer krank, Mara. Erzähl mir bitte keine Geschichten mehr über Beatrix. Mephers ist die einzige Mutter, die ich je gehabt habe, und das gleiche gilt für dich. Eigentlich solltest du dir Gedanken darüber machen, ob sie wieder gesund wird, und dir keine Märchen über Beatrix und Frankreich ausdenken. Wenn Mephers sich keine Sorgen um dich gemacht hätte, hätte sie wahrscheinlich auch keinen Herzinfarkt erlitten.« Mara blieb die Luft weg, so ungerecht war Harriets Anschuldigung. »Sie hat sich Sorgen um mich gemacht? Sie hat sich in ihrem ganzen Leben noch keinen einzigen Tag Sorgen um mich gemacht. Als ich am Mittwoch nach Hause gekommen bin, habe ich sie dabei erwischt, wie sie in meinem Tagebuch gelesen hat.« Harriet schenkte Mara ihr schmallippigstes Mrs.-Ephers-Lächeln. »Du bist betrunken nach Hause gekommen, nachdem sie dich gefeuert haben. Das hat mir der Generaldirektor des Hotels gesagt. Mephers hat gesagt, sie wollte nur ein bißchen Ordnung in das Durcheinander in deinem Zimmer bringen - ich darf dich darauf hinweisen, daß es auf deinem Schreibtisch aussieht wie auf einem schlecht organisierten Wertstoffhof -, als du reingekommen bist und sie angeschrien hast. Möglicherweise hast du es dir in deinem Suff nur eingebildet, daß Mephers dein Tagebuch gelesen hat. Je weniger man zu dem Thema sagt, desto besser.« 44 Großvater und Hilda hatten keine Ruhe, solange sie nicht wußten, daß ihre Privatsphäre in ihrer Abwesenheit geachtet werden würde. Also kam der Hausmeister mit einem Mann vom Schlüsseldienst, der ein neues Schloß an der massiven Eichentür zu Mrs. Ephers' Zimmer anbrachte. Der Hausmeister gab Großvater und Harriet je einen Zweitschlüssel und schüttelte traurig den Kopf über Mara, mit der zusammen er früher in seiner Kellerwohnung immer Snicker-Riegel gegessen und sich die Spiele der Cubs angeschaut hatte. Niemand interessierte sich für Maras Version der Vorfälle. Ja, sie war tatsächlich gefeuert worden. Ja, sie hatte in der Mittagspause Alkohol getrunken. Sie haßte den Job und den dummen Spruch, mit dem sie die Anrufer begrüßen mußte: »Hier ist das Hotel Pleiades, immer ganz oben. Kann ich Ihnen behilflich sein?« Sie haßte die Gäste, die sie anbrüllten, weil in dem Blumenbukett in der Mitte des Tisches Margeriten steckten und keine Chrysanthemen, und sie haßte es, sagen zu müssen: »Es tut mir leid, daß Sie enttäuscht sind, Ma'am: Die Margeriten sind ganz frisch. Die Floristin hat gesagt, daß die Chrysanthemen, die wir um diese Jahreszeit bekommen könnten, ziemlich welk wären.« Am liebsten hätte sie allerdings das Blumenbukett gepackt und der Frau mit dem Karpfengesicht den Schädel damit eingeschlagen. Vor allen Dingen haßte sie die Sinnlosigkeit ihres eigenen Lebens, und mehr als einmal überredete sie einen der Kellner, ihr einen doppelten Bourbon zu bringen, damit sie den Nachmittag überstand. Es war halb drei, als man Mara mitteilte, daß sie gefeuert war. Zweistündige Mittagspausen gehörten einfach nicht zur Arbeitsplatzbeschreibung einer Assistentin im Veranstaltungsbüro. Man hat Sie zweimal gewarnt, aus Gefälligkeit Ms. Stonds gegenüber, sagte der Personalchef, aber
jetzt müssen wir Sie ziehen lassen. Bitte geben Sie Ihren Firmenausweis zurück und lassen Sie sich das Gehalt für eine Woche auszahlen. Sie sind fristlos gekündigt. Sie ging heim, weil sie nicht wußte, wohin sie sonst sollte. Sie schlich sich in die Wohnung, in der Hoffnung, daß Mrs. HO
Ephers sie nicht bemerkte, die es mit ihren achtzig Jahren immer noch hörte, wenn die Putzfrau in der Küche eine Tasse fallen ließ, während sie selbst ein Nachmittagsschläfchen hielt. Doch die Haushälterin war in Maras Zimmer und las in ihrem Tagebuch. Als Mara hereinschlich, starrten die beiden einander schockiert an. Mara schnappte nach Luft und wich zurück. Sie verließ die Wohnung und kam erst um drei Uhr morgens heim, als alle schliefen. Mrs. Ephers machte sich einen besonderen Spaß daraus, sie am nächsten Morgen um sieben zu wecken. »Du kommst zu spät zur Arbeit, Miss, wenn du nicht aufstehst.« »Kümmern Sie sich ausnahmsweise mal um Ihre eigenen Angelegenheiten«, erwiderte Mara und drehte sich um. »Das lasse ich mir nicht bieten, junge Dame.« Die Haushälterin marschierte zum Bett und rüttelte Mara. »Möchtest du vielleicht, daß ich deinen Großvater hole?« Mara stellte sich den Arzt wie einen Rammbock vor, den Mephers benutzte, um sie aus dem Bett zu scheuchen. »Ich bin gefeuert worden. Ich habe keinen Job mehr. Warum laufen Sie nicht schnell ins Eßzimmer und erzählen ihm alles ? Dann können Sie zusammen mit ihm darüber jammern, daß ich genauso bin wie Beatrix. Sie haben's ja schon immer gewußt; Sie hätten mich gleich in Pflege geben sollen, statt Ihre Wärme und Ihr sanftes Wesen auf eine so wenig erfolgversprechende Person zu verschwenden.« Der Arzt ließ Mara nach dem Frühstück zu sich ins Arbeitszimmer kommen. Ich werde deine schockierende Ausdrucksweise Hilda gegenüber dieses eine Mal noch ignorieren, aber ich bin ausgesprochen enttäuscht, daß du gefeuert worden bist. Was willst du jetzt mit deinem Leben anfangen? Du weißt, daß ich nicht ewig für dich aufkommen werde. Ich habe meine Lektion bei deiner Mutter gelernt. Nein, junge Frau, ich will jetzt nichts über Harriet hören: Sie war Waise, genau wie du, aber sie hat die Chancen genutzt, die sich ihr boten. Wenn du wieder aufs College gehen möchtest, brauchst du das nur zu sagen - ich bin sicher, daß wir eine Schule, eine gute Schule, in finden werden, die dich aufnimmt. Schließlich mangelt es dir nicht an Intelligenz. Wenn nicht, mußt du dir bis zum Ende des Monats einen neuen Job suchen. Und was ist, wenn ich das nicht tue? fragte sich Mara. Oder wenn Großvater mich rauswirft? Würde sie dann der Frau vor der Wand am Lower Wacker Drive Gesellschaft leisten? Mara zog sich an und ging in den Coffee Shop gegenüber. Sie fühlte sich seekrank, wie das oft so ist, wenn man zuviel Wein getrunken und zuwenig geschlafen hat. Ihre Hände zitterten, als sie den großen Kaffee zu einem Hocker am Fenster trug. Um neun sah sie ihren Großvater die Straße in Richtung Stadt hinuntergehen. Er war stolz darauf, daß er die ungefähr drei Kilometer bis zum Krankenhaus jeden Morgen noch zu Fuß schaffte, auch wenn es heftig schneite. Obwohl er schon siebenundsiebzig war, arbeitete er noch die ganze Woche als Berater in der Chirurgie und unterrichtete. Er hatte mit zweiundsiebzig Jahren aufgehört, selbst zu operieren, nicht etwa, weil er kein Selbstvertrauen mehr hatte, sondern weil er seine Karriere beenden wollte, solange seine Hand noch ruhig war. Mara war sich ziemlich sicher, daß er sterben würde, wenn er einmal nicht mehr ins Krankenhaus konnte, obwohl viele der jüngeren Arzte es als große Belastung empfanden, daß er sich in alles einmischte. Sie stellte sich die Beisetzung vor, wie Mrs. Ephers sich hysterisch ins Grab werfen und wie plötzlich Beatrix und Selena auftauchen würden, weil sie aus der Zeitung vom Ableben des Arztes erfahren hatten. Sie würden zusammen mit Mara zur Feier des Tages eine Flasche Champagner trinken und fortan im Süden von Frankreich leben. Schätzchen, uns tut's ja so leid, daß wir dich die ganzen Jahre mit diesen beiden Monstern allein gelassen haben, würde Oma sagen. Allerdings fiel auch Mara kein zwingender Grund ein, warum ihre Mutter und ihre Großmutter, die in ihrer Version glücklich zusammenlebten, sie nicht früher geholt hatten. Und sie wußte auch nicht, wie sie die Berichte über Selenas Tod wegerklären sollte. Nun, vielleicht hatte Großvater die Zei 45 tungen gezwungen, sie zu drucken - schließlich hatte er ziemlich großen Einfluß in Chicago.
Mara war bei ihrem dritten Kaffee angelangt und zitterte mittlerweile nicht nur, weil sie zuwenig geschlafen, sondern auch, weil sie zuviel Koffein im Körper hatte, als Mrs. Ephers die Wohnung verließ, um zum Markt zu gehen, wo es jetzt die frischesten Lebensmittel gab. Mara wartete fünf Minuten für den Fall, daß Mrs. Ephers etwas vergessen hatte, obwohl das dieser perfekt organisierten eisernen Jungfrau niemals passierte, und ging dann hinüber zur Wohnung. Raymond, der Portier, der sie schon seit ihrem dritten Lebensjahr kannte, begrüßte sie mit einem Lächeln und hielt ihr mit großer Geste die Tür auf. »Müssen Sie heute nicht arbeiten, Mara?« Mara erwiderte sein Lächeln schweigend und hastete zum Aufzug. Vielleicht, dachte sie, hatte Mrs. Ephers ja selbst etwas zu verbergen, wenn sie auf die Idee kam, Maras Tagebuch zu lesen. Der Einfall war Mara gekommen, als sie gegen Mitternacht im Corona's, einem Jazzclub in der Kinzie Street, saß und trank. Was wäre zum Beispiel, wenn die Haushälterin Harriets richtige Mutter war? Großvater und Mephers hatten's eben mal im herrschaftlichen Schlafzimmer getrieben, und Harriet war gezeugt worden, als die Haushälterin achtundvierzig Jahre alt war - es waren schon merkwürdigere Dinge passiert. Die Aufzugtür ging auf, und Mara betrat das Vestibül der Stonds. Die meisten Leute in dem siebenstöckigen Gebäude ließen ihre Wohnungstür tagsüber unverschlossen, weil sie glaubten, daß der verschlossene Aufzug und Raymond selbst in diesen schwierigen Zeiten abschreckend genug wirkten, aber Mrs. Ephers hielt das für eine Aufforderung zum Diebstahl. Also schloß Mara die Tür auf und lauschte. Barbara, die Putzfrau, war gerade in der Küche beschäftigt. Mara zog ihre Schuhe aus und schlüpfte in das Zimmer der Haushälterin. Das war ein Sakrileg, fast so, als käme man auf die Idee, im Garten Gethsemane Seil zu hüpfen, denn niemand durfte je ohne Einladung in das Zimmer von Mrs. Ephers, 46 nicht einmal Harriet. Maras Aufregung vertrieb ihr Gefühl, seekrank zu sein. Von der Wand hinterm Bett aus starrte sie Harriets Gesicht überlebensgroß an. Auf dem Foto trug sie die Robe der Jurastudenten; auf der Kommode standen weitere Bilder, auf denen sie gerade Schlittschuh lief, als Märchenfee in der vierten Klasse tanzte, ihren Abschluß an der High-School feierte oder auf ihrem Pony ritt. Den Nachttisch zierte ein Foto, das den Arzt, seine Enkelin und Mrs. Ephers bei Harriets Collegeabschluß zeigte. Mara vergeudete wertvolle Zeit mit der Suche nach Bildern von sich selbst. Sie fand lediglich zwei Fotos, eins von ihrem High-School-Abschluß und eine Aufnahme von ihrem vierten Geburtstag, auf der sie in die Kamera grinste, das blaue Samtkleid am Körper, an das sie sich noch gut erinnerte, weil es die Farbe von Harriets Augen hatte. Plötzlich überkam sie wieder ihre alte Sehnsucht nach blauen Augen und maisblondem Haar, wie damals mit vier Jahren, als sie den Stoff des Kleides berührt hatte. »Trottel«, flüsterte sie ihrem Vierjährigengesicht zu. »Wie konntest du nur lachen, wenn du wußtest, daß sie sich bloß lustig machen würden über dich?« Sie nahm den Silberrahmen, eins ihrer eigenen Weihnachtsgeschenke an Mrs. Ephers, legte ihn auf den Boden und trampelte darauf herum. Daß sie keine Schuhe trug, hatte sie völlig vergessen. Nur die Angst vor Mrs. Ephers, das Gefühl, daß die Haushälterin jede noch so kleine Veränderung in ihrem Zimmer bemerken würde, brachte sie dazu, das Bild wieder an seinen Platz zu stellen, gleich neben eines von Harriets Party zum zehnten Geburtstag, auf dem eine Schar weißgekleideter Mädchen mit Ballons auf der Yacht eines der wichtigsten Patienten von Dr. Stonds zu sehen war. In der Ecke stand ein Sekretär aus rötlichem Holz, die Schreibfläche leer. Mrs. Ephers las nicht viel - auf dem Fenstersims befanden sich lediglich eine Bibel, eine alte Ausgabe eines Buches von Edna St. Vincent Millay und eine aus der Bibliothek entliehene Biographie von Königin Viktoria. 46 Mara warf einen kurzen Blick in die Schubladen, wo ordentlich gebündelt Harriets Zeugnisse neben alten Haushaltsbüchern lagen. Mara suchte nach ihren eigenen Zeugnissen, konnte sie aber nicht finden. Verletzt verzog sie den Mund. Sie schloß die Schublade mit einem Ruck, nahm eine Haarnadel von Mrs. Ephers' Frisierkommode und machte einen tiefen Kratzer in die glänzende Schreiboberfläche des Sekretärs. Das ist für dich, du blöde alte Schachtel. Dann zog Mara eine Schublade der Frisierkommode heraus und tätschelte die Unterwäsche - weiße oder beigefarbene Baumwollslips sowie furchteinflößende Büstenhalter, die aussahen wie Brustpanzer, dazu ordentliche Stapel mit Wolljacken und Nachthemden, Baumwolle für den Sommer und Flanell für den Winter; sie konnte sich kaum vorstellen, daß Mrs. Ephers Großvater Stonds in den Sachen verführt hatte.
Die Vorstellung von Mephers als Harriets Mutter verschwand zusammen mit Maras Erregung. Sie bekam wieder Kopfweh, und sie schämte sich. Dann hörte sie Barbara den Flur entlangschlurfen und die Tür schließen. Barbara verließ die Wohnung immer um zwei. War Mara etwa schon drei Stunden in Mrs. Ephers' Zimmer? Nein. Wahrscheinlich wollte Barbara nur zur Reinigung oder etwas besorgen. Mara rieb Speichel in den Kratzer, den sie auf dem Sekretär gemacht hatte. Jetzt würde sie wirklich Schwierigkeiten bekommen. Sie fing an zu schniefen - ungeliebte Waise, gefeuert, und jetzt auch noch Probleme, weil sie ein wertvolles Möbelstück ruiniert hatte. Beim Rubbeln drückte sie offenbar auf einen verborgenen Riegel, denn plötzlich öffnete sich die Schreibfläche in der Mitte. Ihr Selbstmitleid verflog sofort. Es war genau wie bei der kleinen Detektivin Nancy Drew: Das Geheimnis des alten Sekretärs. Und die kleine Detektivin steckte sofort die Nase in die Öffnung und holte ein schmales Bündel Papiere heraus. Ganz obenauf lag ein altes braunes Kuvert, adressiert an Mademoiselle, la Fille de Mme Selena Vatick Stonds, mit Tinte "47 geschrieben, die mittlerweile ganz braun geworden war. Blaugoldene Briefmarken glänzten auf dem Papier. Mara sah sich den Umschlag beim Fenster genauer an: Frankreich. Der Poststempel war verschmiert, deswegen konnte sie Datum und Stadt nicht genau lesen. Sie setzte sich an den Sekretär und holte heraus, was in dem Kuvert war, ein bißchen nervös bei dem Gedanken daran, was sie vielleicht finden würde. Sie entdeckte einen in französischer Sprache und mit der gleichen braunen Tinte geschriebenen Brief, der wie der Umschlag an die Tochter von Selena gerichtet war. Mara hatte sich in der High-School nicht sonderlich für Französisch interessiert. Jetzt verfluchte sie sich dafür, daß sie nie auf ihren Großvater gehört hatte: Französisch ist die einzig wahre Sprache für einen kultivierten Menschen, hatte er gesagt; verwende sie immer zur Mittagszeit, bis du sie beherrschst. Statt dessen hatte Mara sich für Japanisch entschieden, aber das nützte ihr jetzt nichts. Sie mühte sich mit den ersten Sätzen ab. Liebe Mademoiselle Stonds, ich bin eine sehr alte und sehr irgendwas anderes Frau, und die Zeit für irgend etwas ist längst vorbei. Im nächsten Absatz kamen Vatick Stonds und Nippur vor, aber Mara wußte nicht, in welchem Zusammenhang. Frustriert überlegte sie, ob sie es wagen konnte, den Brief zum Fotokopieren mitzunehmen, aber was war, wenn Mephers ihre Besitztümer jeden Abend überprüfte? Es konnte ja sein, daß sie betete: Herr, erlöse mich von Mara und schicke mir den Doktor in mein Bett. Und dabei streichelte sie diesen Brief an Beatrix. Vielleicht konnte Mara sich Teile des Briefes notieren, um sie dann später mit Hilfe eines Wörterbuches zu übersetzen. Also legte sie das Schreiben auf den Sekretär und schaltete das Licht ein. Dabei fiel ein Foto heraus, das Schwarzweißfoto eines blonden Mannes mit spöttischem Lächeln, für das die meisten Frauen ihre Seele verkauft hätten. Er trug ein zweireihiges Sakko aus Tweed im Stil der fünfziger Jahre. Doch was Mara noch stärker auffiel als das Lächeln und das vermutliche Alter des Bildes, war die Ähnlichkeit des Mannes 47 mit Harriet. Sie hielt das Foto neben das Bild von Harriet in ihrer Unirobe. Der Mann hatte breitere Wangenknochen, aber um Augen und Nase war die Ähnlichkeit verblüffend. Mara zuckte vor Schreck zusammen, als Mephers ihre Handtasche in der Tür fallen ließ. »Was treibst du hier, junge Frau?« »Wer ist der Mann? Wieso haben Sie diesen Brief? Er ist doch an Mutter adressiert!« brüllte Mara. »Was ist mit meiner Mutter passiert? Sie wissen, wo sie ist, hab' ich recht?« Die Haushälterin riß Mara das Foto aus der Hand und steckte es in ihren Ausschnitt. Als Mara es wieder herausholen wollte, packte Mrs. Ephers sie und gab ihr eine so kräftige Ohrfeige, daß sie ein blaues Auge bekam. Dann fiel sie aufs Bett, die rechte Hand auf dem linken Arm. Ihre Haut war wachsgrau, und ihr Atem kam in kurzen, flachen Stößen. »Raus hier«, flüsterte sie heiser. »Verschwinde aus meinem Zimmer und hol den Arzt.« 47
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Waschen Sie Ihre Hände in Blut?
jacqui und Nanette warteten heute Nachmittag in der Orleans Street Church schon auf mich, weil sie sich Sorgen um Madeleine machten. Nicht, weil sie wieder Stimmen hörte oder Visionen hatte,
sondern weil sie belästigt wird. Offenbar gehört ihre Wand zu den Fundamenten des Hotel Pleiades, eins von diesen ultramodernen, wahnsinnig teuren Dingern, die östlich der Michigan Avenue in der Nähe des Flusses aus dem Boden gestampft worden sind. Mir ist das seinerzeit nicht aufgefallen, aber anscheinend ist die Hotelgarage direkt neben Madeleines Wand. Die Hotelleitung möchte nicht, daß eine obdachlose Frau dort etwas von der Jungfrau Maria erzählt und damit die reichen Leute stört. Jacqui hat mir berichtet, daß die Hoteldirektion gestern abend die Wand mit einem Wasserschlauch abspritzen ließ, während M dort saß. Am liebsten wäre ich nach Hause gegangen und hätte mich vor meiner Wochenendbereitschaft noch eine Stunde ins Bett gelegt. Ich habe irgendwo gelesen, daß der Körper sich den Schlaf portionsweise holt, wenn man übermüdet ist, sogar, wenn man steht oder sich gerade mit jemandem unterhält. Ich frage mich, ob ich das jetzt schon bei meinen Patienten mache - oft bekomme ich nur einen Teil dessen mit, was sie mir erzählen. Ich mag Jacqui, aber ich habe auch Angst, daß sie sich wie meine Mutter gegen mich wenden wird: Schau mich an, wenn du mit mir sprichst, Hector - schließlich haben wir dich nach dem Tapfersten der Trojaner benannt. Nun, deinen Vater treibt's ja ständig mit irgendwelchen Ingenieuraufträgen in den Nahen Osten; da wird's Zeit, daß du deinem Namen Ehre machst und dich wie der Mann im 48 Haus benimmst. Also tat ich ihr den Gefallen. Ich meine Jacqui, aber das bedeutet immer auch irgendwo Lily. Nachdem seine letzte Patientin um halb sieben hinausgeschlurft war, begleitete Hector Jacqui und Nanette zu der Wand. Madeleine kniete vor dem Riß und weinte um ihre Habseligkeiten. Der Wasserstrahl hatte ihr Foto von der Jungfrau Maria völlig durchweicht. Sie versuchte gerade, ihre Bibel über einer Kerze zu trocknen, aber Hector bezweifelte, daß sie noch zu retten war - die Seiten klebten zusammen wie ein Papiertaschentuch, das man mitgewaschen hat. Als Hector auf sie zuging, um sich mit ihr zu unterhalten, wich sie zur Wand zurück. Er sah, daß die Decke, auf der sie kniete, feucht war. Er versuchte sich nicht allzusehr vor dem Schimmelgeruch zu ekeln, der davon aufstieg, und fragte Madeleine mit sanfter Stimme, ob er ihren Puls fühlen dürfe. Obwohl sich ihre Pupillen weiteten und sie schneller zu atmen begann, ließ sie es zu, daß er ihr Handgelenk ergriff. Ihr Puls war schwach und unregelmäßig; vermutlich war sie erkältet. Ihre übliche Erregung schien fiebrig verstärkt. Während er versuchte, sich mit Madeleine zu unterhalten, kam ein Mann in Anzug und Krawatte mit muskulösen Armen zu ihnen, die fast die Ärmel seines Sakkos sprengten. Er stellte sich als Brian Cassidy vor, der die Parkgarage des Hotels in der Nacht betreute. »Sind Sie für diese Frau verantwortlich?« wollte Cassidy wissen. Hector sagte: »Nein. Sie ist ziemlich krank, aber wie alle erwachsenen Menschen ist sie ganz allein für sich selbst verantwortlich. Sind Sie der Mann, der sie gestern nacht mit dem Schlauch abgespritzt hat?« »Ich bin verantwortlich für die Garage. Dazu gehört auch, daß wir die Straßen sauberhalten, damit unsere Gäste sich wohl fühlen.« »Sie haben ihr Heiligenbild und ihre Bibel kaputt gemacht. War das auch nötig, damit sich die Gäste hier wohl fühlen?« 48 Ohne daß es Hector bewußt geworden wäre, nahm seine Stimme etwas von dem Sarkasmus an, der in allen Aussagen seiner Mutter mitgeschwungen war. Der Mann, der für die Garage verantwortlich war, beugte sich trotzig und ein wenig verärgert vor. »Wir haben sie gebeten, sich zu entfernen, aber sie hat sich geweigert. Ich hatte keine andere Wahl; schließlich muß ich die Wand und den Gehsteig sauberhalten.« Jacqui deutete auf die Pappbecher und Papiertüten, die graubraun vor Dreck in der Gosse lagen. »Ich hab' das Gefühl, daß vor Ihrer Garage ziemlich viel Müll rumliegt. Wollen Sie das Zeug heute noch wegräumen, oder muß sich erst eine Obdachlose dazusetzen, damit Sie das Gefühl haben, daß es wirklich dreckig ist?« Zum erstenmal sah der Mann sie an: Erst als sie den Mund aufgemacht hatte, war sie zu einem menschlichen Wesen geworden. Er sah nur mich - weil ich weiß bin? Oder ein Mann? Oder ordentliche Kleidung trage? Jedenfalls fiel ihm nichts Besseres ein als die alte Leier von wegen »Anweisung von oben«. Man möchte meinen, daß die Menschen sich nach einem Eichmann dafür schämen müßten, so etwas zu sagen,
aber er schien offenbar zu glauben, daß das der vernünftigste Grund der Welt war, eine obdachlose Frau mit dem Wasserschlauch abzuspritzen. »Kann sie denn nicht auf die andere Seite gehen?« fragte Cassidy. »Wir wissen, daß sie da drüben in der Generatorkiste schläft, aber die ist nicht auf unserem Grund und Boden, und unsere Gäste können sie nicht sehen, also drücken wir ein Auge zu. Schließlich sind wir ja keine Unmenschen.« Jacqui und ich teilten Madeleine mit, was er gesagt hatte. Sie regte sich ziemlich auf. »Ich muß auf der Nordseite sitzen. Es steht geschrieben, daß die Klageweiber am Nordtor sitzen. Hier 49 steht's...« Sie fuchtelte mit ihrer feuchten Bibel vor mir herum. »Ich muß hierbleiben. Hier weint die Jungfrau.« Plötzlich war es mir ziemlich peinlich, mit ihr in Verbindung gebracht zu werden, wenn auch nur von dem Mann, der für die Garage verantwortlich ist. Und auch das war mir wieder peinlich schließlich habe ich einen Beruf, der auf Mitgefühl basiert. Ich versuchte alle Gedanken an Cassidy zu verdrängen und mich auf Madeleine zu konzentrieren. Abgesehen von ihrer geistigen Verwirrtheit ist da auch noch ihre Erkältung, das Fieber. Ich habe ihr vorgeschlagen, in der Unterkunft zu übernachten, um nicht ernsthaft krank zu werden. »Ich kann hier nicht weggehen, wenn die Heilige Mutter in Gefahr ist«, jammerte Madeleine. »Madeleine, Sie sind unterernährt, und ich glaube, daß Sie Fieber haben. Wenn Sie sich jetzt nicht helfen lassen, landen Sie in der Notaufnahme, und dann sehen Sie Ihre Heilige Mutter ziemlich lange nicht mehr.« Hector versuchte fürsorglich zu klingen, nicht ungeduldig. »Sie brauchen Antibiotika, Wärme und jede Menge Flüssigkeit.« »Hör auf den Doktor«, mischte sich Jacqui ein. »Er könnte längst daheim sein, aber er ist gekommen, weil es ihm wichtig ist, daß du am Leben bist.« »Lassen Sie sich wenigstens noch eine Spritze mit Prolixin geben«, drängte Hector. »Sie wissen doch, daß es Ihnen dann bessergeht: Sie fühlen sich sicherer und können nach oben gehen, wo Sie frische Luft und was zu essen bekommen.« »Nein!« kreischte Madeleine. »Sie versuchen, mir das Gehirn zu vernebeln. Als Sie mir die Spritze gegeben haben, habe ich nicht mehr gehört, was die Jungfrau sagt.« Cassidy verdrehte die Augen. »Also hört sie hier unten der Jungfrau Maria zu?« »Die Heilige Mutter weint blutige Tränen; sie kommen hier aus der Wand.« Madeleine steckte die Finger in das rostige Wasser und zeigte sie Cassidy, der angeekelt zurückwich. 49
»Sie ist schon seit Wochen hier unten«, sagte Hector. »Wieso sind Sie jetzt erst auf die Idee gekommen, ihren Teil des Gehsteigs sauberzumachen?« Er hat mir eine ausgesprochen phantasievolle Geschichte darüber erzählt, daß eine betrunkene Frau Hotelgäste angegriffen hat, als diese die Garage verließen. Jacqui schürzte die Lippen und zog mich beiseite. Vielleicht, so sagte sie, meint dieser Cassidy Luisa - J hatte Luisa zum Schlafen hierher, zu der alten Generatorkiste, geschickt, nachdem Patsy Wanachs sie hinausgeworfen hatte. Würde Luisa irgend jemanden angreifen? Möglicherweise wollte sie das, aber sie war mit Sicherheit nicht stark genug, denn sie ist mittlerweile ziemlich zerbrechlich. Aber wichtiger: Was ist aus ihr geworden? Cassidy hatte keine Ahnung, und offenbar war ihm das auch egal. Jacqui sagte, Doc, vielleicht wissen Sie das nicht, aber der Gehsteig hier gehört nicht dem Hotel, sondern allen. Die können nichts dagegen machen, wenn jemand auf dem Gehsteig sitzen will. Solche juristischen Informationen bekommt man mit, wenn man auf der Straße lebt: Ich hatte das natürlich nicht gewußt. Cassidy wurde wütend, versuchte Jacqui einzuschüchtern und sagte, das Hotel Pleiades habe vor seiner Aktion juristischen Rat eingeholt. Ob sie das Hotel verklagen wolle? Sie starrte ihn an, ohne etwas zu sagen, und er wandte sich mit zornigem Blick mir zu - vor seiner Garage würden sich keine obdachlosen Frauen niederlassen. Und wenn ich sie dazu ermutigen sollte, würde er dafür sorgen, daß die Hotelleitung mich verklagte. Er notierte sich meinen Namen und die Adresse des Krankenhauses. Soll ich Hanaper informieren? Und mir einen Vortrag darüber anhören, daß ich meine Kompetenzen überschritten habe? Warum soll ich die Sache selbst vorantreiben? Irgendwann werde ich mich zweifelsohne sowieso damit auseinandersetzen müssen. 49 Mit diesem fröhlichen Gedanken im Kopf kehrte ich ins Krankenhaus zurück. Ich machte noch einen kurzen Zwischenstopp in der Bibliothek, um mich per Computer darüber zu informieren, ob vor Madeleine schon andere Frauen Wahnvorstellungen von der Jungfrau Maria gehabt hatten.
Offenbar sind solche Visionen am Ende unseres Jahrhunderts ziemlich verbreitet - in einem kleinen Ort in Kansas zum Beispiel weint ein Wandgemälde Unserer Lieben Frau von Guadeloupe blutige Tränen. Das gleiche passiert in Italien. Ich las einen langen Artikel im New Yorker, der sich damit beschäftigte, wie die katholische Kirche solche Behauptungen überprüft, bis ich in die Notaufnahme gerufen wurde. Es ist wirklich unglaublich, daß jemand wie Rafe Lowrie, der die Bibelstunden der Orleans Street Church leitet, das Wort Gottes vernimmt und es an alle weitergibt, die bereit sind, ihm zuzuhören, als ganz normales Mitglied der Gesellschaft betrachtet wird, während Madeleine, die da unten Botschaften der Jungfrau Maria zu hören glaubt, als psychisch krank eingestuft wird. Natürlich ist sie psychisch krank - aber warum ist er es nicht?
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Beschwörung der Göttin
ara hatte sich in ihr Zimmer eingeschlossen und versuchte, die Göttin Gula zu beschwören. Ihr Großvater und ihre ältere Schwester taten so, als wüßten sie es nicht oder machten sich nichts daraus, aber wenn der Weihrauchduft über den Gang bis ins Wohnzimmer drang, konnten sie nicht mehr lesen oder reden und sich auf nichts anderes mehr konzentrieren als den Geruch. Sie konnten nicht viel hören, denn die Türen in der Wohnung waren zu dick, aber trotzdem lauschten sie gespannt Maras Stimme, die sich hob und senkte. Dr. Stonds lud Professor Verna Granita eines Abends zum Essen ein, damit sie Mara erklärte, wie wenig sie über die alten Sumerer und ihre Götter wußte. Professor Granita, eine alte Freundin des Arztes, war Assyriologin. Mara hatte sie vier Jahre zuvor angerufen, als sie versuchte, etwas über Oma Selena herauszufinden. Professor Granita hatte sich ihr ganzes Erwachsenenleben lang mit Literatur über die sumerischen Gottheiten beschäftigt und empfand lediglich Verachtung für die New-Age-Göttinnenverehrung. »Ihr jungen Frauen seid intellektuelle Schlampen«, sagte sie in ihrem korrekten britischen Englisch. »Ihr wünscht euch ein gynozentrisches Universum und pervertiert die historische Realität, indem ihr den alten Göttinnen Macht zuweist, die sie in Wirklichkeit nie hatten. Ihr seid nicht bereit, euch auf die harte Arbeit, die Forschung, einzulassen, um herauszufinden, was die Alten tatsächlich sagten oder glaubten. Ihr pickt euch einfach ein paar übersetzte Texte heraus und baut eine ganze Theologie darauf auf. Warum? Warum bleibt ihr nicht bei den Göttern, die ihr kennt - bei Geld, Sex und den anderen Dingen, die die junge Generation in Amerika anbetet?« 50 Zur Bestürzung von Harriet neigte Mara das Haupt, setzte sich im Schneidersitz auf den Stuhl und stieß einen hohen Klagelaut aus. Nach ein- oder zweiminütigem Klagen begann sie in demselben hohen, nasalen Ton zu singen: »Die Göttin spricht durch ihre unwürdige Dienerin. O Maid, du bist schwach, aber voll der Sehnsucht nach der Wahrheit und den heilenden Strahlen, die Gula auf die kranke Menschheit herabsendet. Wie viele tausend Jahre habe ich gewartet, stumm, immer schwächer werdend, bis eine kam, die meine Stimme vernahm.« »Mara! Wir haben jetzt genug von deinen Szenen. Stell die Füße wieder auf den Boden und unterhalte dich mit uns wie ein normaler Mensch.« Dr. Stonds' scharfer Tonfall brachte zwar seine Untergebenen zum Schweigen, aber Mara klagte weiter, als sei sie in so tiefe Trance verfallen, daß sie die Worte der Menschen nicht mehr hörte. »Sie wird dir nicht zuhören, grandpere«, sagte Harriet. »Gehen wir doch mit unserem Kaffee hinüber ins Wohnzimmer. Wenn sie merkt, daß sie kein Publikum mehr hat, wird sie sich ziemlich bald wieder beruhigen.« »Und das macht sie jeden Abend?« Professor Granita blieb stehen, um die Marmorskulptur von Louise Nevelson zu bewundern, als sie zum Wohnzimmer hinübergingen. »Sie klingt schrecklich einsam. Es wundert mich, daß Mrs. Ephers' Krankheit sie so mitnimmt - ich dachte, die beiden kommen nicht miteinander zurecht. Habt ihr schon etwas von der Reha-Klinik gehört?« »Ach, Mephers geht's ganz gut« sagte Harriet. »Die Ärzte sagen, sie kann nächste Woche wieder nach Hause, aber natürlich wollen wir nicht, daß sie sich aufregt, und wenn Mara Probleme macht...« Sie führte den Satz nicht zu Ende, doch der Arzt sagte: »Sie muß gehen. Diese Wohnung ist schon seit dreißig Jahren Hildas - Mrs. Ephers' - Zuhause, lange bevor wir überhaupt an Mara gedacht haben. Ich werde Hilda nicht in ein Pflegeheim stecken, bloß weil meine Enkelin ihr das Leben zur Hölle macht. Und außerdem ist Mara in gewisser Hinsicht für den Herzinfarkt verantwortlich.«
Harriet hatte das Gefühl, daß das Klagen aus dem Eßzimmer hier einen Augenblick lang aufhörte, wie ein elektrischer Strom, der einen Moment unterbrochen wurde, doch da brachte das Aushilfshausmädchen gerade den Kaffee herein, und das Klappern der Tassen übertönte Maras Gesänge. Sobald die Frau aus dem Zimmer war, zog Harriet die Schiebetür zu. »Nur aus Neugierde«, sagte die Professorin, »wer ist eigentlich diese Gula?« »Die sumerische Göttin der Heilkunst. Merkwürdig, daß Mara sich ausgerechnet auf sie stürzt - die Feministinnen beschwören im allgemeinen Inanna, weil sie die wichtigste weibliche Gottheit war. Sie versuchen, sie als oberste Göttin einzusetzen und durch viel Gelaber zu beweisen, daß das Patriarchat nur entstehen konnte, weil die weiblichen Gottheiten die Macht verloren.« »Ach, Mara ist keine Feministin«, sagte Dr. Stonds verächtlich. »Sie ist nur eine verwirrte junge Frau, die sich solchen Ideologien zuwendet, um zu kaschieren, daß sie unglücklich ist.« Professor Granita sah sich nach einem Platz um, auf den sie ihre Kaffeetasse stellen konnte. Der Tisch mit der Einlegearbeit neben ihr war eindeutig ein Kunstobjekt. Harriet erhob sich und stellte die Tasse auf ein Tablett. »Ich hab' gar nicht gewußt, daß Mara sich für die alten Sumerer interessiert«, sagte Professor Granita. »Allerdings hat sie mich vor drei oder vier Jahren einmal angerufen, um mich zu fragen, ob ich Selenas Vater kannte.« »Ich glaube nicht, daß du mir je davon erzählt hast. Und -was hast du ihr geantwortet?« Der Arzt runzelte die Stirn. Granita zuckte mit den Achseln. »Viel konnte ich dazu nicht sagen - nur das, was du auch weißt: daß ich Selena an der Grabungsstelle in der Nähe von Nippur kennengelernt habe. Ich habe damals an einem Seminar von Professor Vatick teilgenommen, aber seinerzeit ging es noch ein bißchen förm 51 licher zu zwischen Professoren und Studenten - ich habe ihn und seine Familie nicht näher kennengelernt. Außerdem hat Mara sich auch nicht für ihn interessiert; sie hat sich nur Gedanken über den Tod ihrer Großmutter gemacht. Als sie mich damals anrief, dachte ich, sie wolle die Geschichten, die sie ständig über Selena und Beatrix erzählte, mit ein paar Fakten untermauern. Sie hat die Angelegenheit nie mehr erwähnt.« »Ich wünschte, Mara würde ihr eigenes Leben mit Fakten untermauern«, sagte Harriet. »Sie behauptet, in Mephers' Zimmer einen an unsere Mutter adressierten Brief von jemandem in Frankreich gefunden zu haben, aber das war nur wieder eins von ihren Märchen. Mephers hat Mara dabei erwischt, wie sie ihre Sachen durchwühlt hat. Das hat ihren Herzinfarkt verursacht. Vermutlich deswegen hat Mara sich etwas ausdenken müssen, um sich selbst einreden zu können, daß sie sich im Hinblick auf Mephers' Erkrankung nichts vorzuwerfen hat. Ich muß gestehen, daß ich selbst neugierig geworden bin und nachgesehen habe. Aber natürlich habe ich nichts gefunden.« »Seit ihrer Geburt haben wir nichts als Probleme mit ihr«, schnaubte der Arzt. »Aber seit sie vom College geflogen ist, ist sie unerträglich.« »Wir hätten sie eben nicht dorthin schicken sollen, wenn ihr Herz am Michigan College hing«, sagte Harriet mit gezwungenem Lächeln, »doch das ist eine alte Geschichte. Natürlich hat Mephers' Herzinfarkt Mara ziemlich durcheinandergebracht, aber mit dieser Singerei hat sie erst angefangen, nachdem ... nun, nachdem ich ihr beim Abendessen von einem Problem erzählt hatte, das wir mit einer Obdachlosen haben.« Sie schwieg eine Weile, weil die Erinnerung an diese Episode ihr alles andere als angenehm war. Sie hatten gemeinsam zu Abend gegessen, und Harriet hatte ihrem Großvater gegenüber das Problem des Hotel Pleiades erwähnt. »Einer von deinen jungen Ärzten aus der Psychiatrie engagiert sich für die psychotische Frau an der Wand. Der Mann, der für die Garage verantwortlich ist, konnte sich nicht mehr "51 an seinen Namen erinnern, aber ich dachte mir, du solltest davon erfahren.« Und dann hatte sie Mara angesehen, deren dunkle Haut vor Zorn grünlich geworden war und deren Wangen sich zu ihrem - wie Großvater es nannte - Backenhörnchengesicht blähten. »Du setzt dich für deine faschistischen Mandanten ein, die eine Frau mit dem Wasserschlauch abspritzen, bloß weil sie die Stimme der Jungfrau Maria hört? Das könnte unsere Mutter sein! Die Frau ist obdachlos, was allein schon Grund genug ist, verrückt zu werden, und ihr müßt sie noch unglücklicher machen. Ihr beide haltet euch für absolut vollkommen, aber alle anderen kommen
nicht mit euch zurecht. Es wundert mich nicht, daß dich von deinen Verehrern nie einer heiraten wollte. Bei einem kalten, gemeinen Miststück wie dir würden ihnen ja schon nach ein paar Minuten die Eier abfrieren.« Dann war Mara vom Stuhl aufgesprungen und aus dem Haus gerannt. Großvater hatte am nächsten Tag ein ernstes Gespräch mit ihr geführt. Du kannst nicht hierbleiben, junge Frau, wenn du dich so hysterisch aufführst. Du hast das Vertrauen deiner Schwester durch deine Trinkerei während der Bürozeiten mißbraucht, und Hilda hättest du beinahe durch deine Schnüffelei umgebracht. Du bewegst dich auf dünnem Eis. Entweder du reißt dich jetzt zusammen und suchst dir einen Job, oder du mußt sehen, wo du unterkommst. Am nächsten Morgen war Mara mit dem Pendlerzug ins Hyde-Park-Viertel gefahren, wo sie sich im Oriental Institute in Übersetzungen alter Texte vertiefte. Sie fand auch ein paar wissenschaftliche Abhandlungen ihres Urgroßvaters, die sie ebenfalls las. Zwar handelte es sich dabei zum größten Teil um für sie unverständliche philologische Aufsätze, aber er hatte auch ein paar Beschwörungsformeln an die Göttin Gula übersetzt, in denen sie gebeten wurde, Krankheiten abzuwehren. Mara lernte diese Formeln auswendig, verkündete beim Abendessen, daß die Göttin Gula zu ihr spreche, und war ziemlich unzufrieden über die Kälte, mit der Harriet auf diese Eröffnung reagierte. 12 52
Harriet dachte damals, daß ihr das alles nicht allzuviel ausmachte - abgesehen vielleicht von der Verärgerung, die sie angesichts von Maras Geschichten eigentlich immer empfand. Doch jetzt, im Gespräch mit Professor Granita, fragte sie sich, ob sie nicht tatsächlich ziemlich kalt war. »Gehst du nicht immer noch in die Orleans Street Church, Abraham?« fragte Professor Granita gerade. »Warum bittest du nicht den dortigen Pastor, einmal mit Mara zu reden? Eine Christin sollte doch keine heidnischen Götter verehren. Ich könnte mir vorstellen, daß die Bibel voll ist von Frauen, die Je-hovas Zorn auf sich zogen, weil sie einen Altar für die alten Göttinnen errichteten.« »Je weniger Leuten ich von ihrer Dummheit erzähle, desto besser«, raunzte Großvater. »Ich glaube sowieso nicht, daß Mara auf Pastor Emerson hören würde«, sagte Harriet und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Ihrer Ansicht nach wollen alle Männer in Machtpositionen nur die Frauen kontrollieren. Leute von der Kirche sind für sie die schlimmsten.« »Und du stimmst nicht in ihr feministisches Gefasel ein?« fragte die Professorin. »Ich bin ja nicht unglücklich«, sagte Harriet lächelnd. »Also brauche ich keine Ideologien. Mara macht sich Vorwürfe wegen Mephers' Krankheit. Deswegen ist sie im Augenblick noch ein bißchen extremer als sonst.« »In meiner Zeit hat man unglückliche Mädchen zu den Verwandten in den Dolomiten geschickt. Angeblich helfen Spaziergänge in der Bergluft in solchen Fällen immer«, sagte Professor Granita und erinnerte sich dabei an ihre ältere Schwester, die einmal sehr unter einer unglücklichen Liebesgeschichte gelitten hatte. »Wenn das nichts nützte, haben die Eltern einfach eine Klistierspritze verwendet. Tja, und dann kam der Krieg, und der hat meine Generation endgültig von aller Aufregung und Melancholie kuriert.« »Mara scheint zu denken, daß sie sich in einem Krieg befindet«, sagte Dr. Stonds. »Und ich komme ihr als Sündenbock I52 für die ganze Welt gerade gelegen. Als junger Mann habe ich fest an den Einfluß der Umwelt auf die menschliche Moral geglaubt. Aber inzwischen habe ich drei Mädchen in immer demselben Umfeld, derselben Schule, demselben Haus und mit derselben Haushälterin aufgezogen. Die eine junge Frau ist eine Trinkerin und Verschwenderin geworden, und Mara scheint ihr nacheifern zu wollen. Jetzt im Alter glaube ich fest an die Genetik. In The Bell Curve steckt viel Wahres, auch wenn die Liberalen entsetzt darüber sind.« Harriet lächelte gezwungen. »Weißt du, mir gefällt der Gedanke, daß alles, was ich geschafft habe, durch meine DNA vorbestimmt war, nicht. Meine Persönlichkeit hatte doch sicher auch etwas damit zu tun, oder? Und offen gestanden sind meine Erinnerungen an mein Leben mit... mit Mutter bestenfalls vage. Aber sie sind so schmerzlich für mich, daß ich niemals wie sie leben möchte. Die arme Mara hingegen wünscht sich immer noch eine Mutter.« Dr. Stonds schnaubte verächtlich. »Komm mir nicht mit diesem pseudofreudianischen Zeug, Harriet. Wir haben einen jungen Arzt in der Psychiatrie, der an diese Ideen glaubt. Zum Glück kann ich mich auf Hanaper verlassen; der hat ihn fest im Griff.«
Professor Granitas großer Mund verzog sich zu einem süffisanten Lächeln. »Mein lieber Abraham, ich kann Frauen, die sich auf eine Couch legen, um einem Arzt ihre Probleme zu erzählen, auch nicht sonderlich leiden, aber ein Psychiater sollte doch wohl an dieses freudianische Zeug glauben, oder?« Wenig später ging sie. Es war merkwürdig, daß sich die beiden Schwestern so wenig ähnelten. Oder vielleicht stimmte das gar nicht. Sie mußte an ihre eigene Schwester Constanzia denken, die ihre Eltern in die Dolomiten geschickt hatten, als sie selbst sieben war - sonderlich ähnlich waren sie sich nicht gewesen, obwohl sie denselben Vater hatten. Warum lebten Mara und Harriet immer noch bei Abraham? Schließlich war Harriet hübsch, und Professor Granita rechnete eigentlich ständig mit ihrer Heirat. Das sollte nicht 53 heißen, daß eine Frau unbedingt einen Mann brauchte - sie selbst hatte auch allein ein ausgesprochen befriedigendes Leben geführt. Allerdings hatte es eine Zeit gegeben - sie war damals nach Chicago gekommen, denn Selena war ja nun tot -, aber Abraham hatte kein Interesse gezeigt. Er brauchte keine Frau, nicht einmal eine, die sich um die kleine Beatrix kümmerte, denn er hatte ja eine Haushälterin, die bei ihm wohnte. Sie genossen die gemeinsamen Abende in der Oper, die Gespräche über Kunst oder Politik und hin und wieder ein Abendessen im Drake Hotel, aber Liebe wurde daraus nie. Stonds, der damals schon ein großer Chirurg gewesen war, verlangte von den Menschen, mit denen er zusammenlebte, genausoviel Hingabe wie von seinen Kollegen im OP, und er konnte nichts mit einer Geliebten anfangen, der ihre eigene Arbeit wichtiger war als die seine. Sumerische Literatur, lachte er immer. Wie viele Leben hat die diese Woche schon gerettet? Letztlich hatte ihr das nichts ausgemacht. Nach Emil... Professor Granita versuchte, den Gedanken beiseite zu schieben, aber Harriets Gesicht heute abend, ein gewisser Blick im Schein der Lampe... Was für ein Foto verbarg die gräßliche Hilda Ephers da an ihrem wütenden Busen? 53
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Barballaden
Erzähl mir nicht, daß es nur zu meinem Besten ist. Es geht nur um dich und Mephers. Du willst mich doch hier rauswerfen, seit ich auf der Welt bin, und jetzt hast du endlich einen Grund. Mrs. Ephers ist alt und gebrechlich und braucht Ruhe, eine gute Gelegenheit, die letzten Spuren der bösen Beatrix und ihrer widerlichen Mutter Selena loszuwerden. Irgendwie haben's ihre Gene nicht bis zu der perfekten, goldenen Harriet geschafft, aber wir müssen sie mitsamt der Wurzel ausreißen, wenn sie bei Mara wieder auftauchen.« Wieder hatte Großvater Mara zu sich ins Arbeitszimmer gerufen. Wenn sie nicht mit der Singerei aufhörte und sich einen Job suchte - oder noch besser: wieder zur Schule ging -, mußte sie ausziehen. So sah das Ultimatum aus. »Ich sage dir nicht, daß du gehen mußt, obwohl es alles andere als ein Vergnügen ist, mit dir zusammenzuwohnen. Aber es wird allmählich Zeit für dich zu lernen, daß dein Verhalten auch Konsequenzen haben kann. Vielleicht tut es dir ganz gut, wenn du dich in einer eigenen Wohnung selbst um alles kümmern mußt - jedenfalls würdest du dann endlich mal merken, wieviel Hilda im Verlauf der Jahre für dich getan hat.« Großvater sagte das ziemlich kühl. »Von mir selbst will ich gar nicht reden. Vielleicht war es ein Fehler, daß wir dir das Gefühl gegeben haben, du hättest immer eine Bleibe hier.« »Wieviel Miete zahlt Harriet? Wahrscheinlich einen ganzen Batzen, denn schließlich verdient sie ganz gut, und du hast ihr drei Zimmer gegeben.« Maras Backen, die vor Wut und Elend wieder einmal aufgebläht waren, ließen Dr. Stonds' Gefühle ihr gegenüber noch unfreundlicher werden. »Harriets Situation ist eine völlig andere. Wenn du dich wie Harriet bemühen würdest, das beste aus den gebotenen Chancen zu machen, würde ich dir gern auch drei Zimmer geben. Aber wenn du dir jetzt Gedanken darüber machen solltest, wie du dir eine so hübsche Unterkunft wie die hiesige leisten kannst, dann kann ich nur sagen: Das hättest du dir früher überlegen sollen. Ich bin bereit, dir bei der Miete für eine ordentliche Wohnung unter die Arme zu greifen. Vorausgesetzt natürlich, du suchst dir Arbeit, damit du die übrigen Kosten selbst tragen kannst. Und du brauchst überhaupt nicht hier auszuziehen, wenn du dich wie ein zivilisierter Mensch benimmst.« »Ich benehme mich gerne so, wie sich deiner Meinung nach ein zivilisierter Mensch zu benehmen hat, wenn du dich benimmst wie einer, den ich für ehrlich halte«, sagte Mara. »Ich habe in
Mephers' Zimmer einen Brief aus Frankreich an Mutter gefunden, zusammen mit dem Foto eines Mannes, der Harriet unglaublich ähnlich sieht. Ich möchte wissen, wo Mutter wirklich...« »Ich habe genug von deinem Theater.« Das Gesicht des Arztes wurde rot. »Deine Mutter ist tot. Das habe ich dir schon unzählige Male gesagt, aber du hörst ja nicht zu. Mrs. Ephers wird am Donnerstag aus der Reha-Klinik entlassen. Das heißt, du hast zwei Tage Zeit, um dir Gedanken über dein weiteres Verhalten zu machen.« Im Hintergrund läutete eine Glocke: Die Köchin von der Agentur hatte das Essen fertig. Sie würde bleiben müssen, wenn Hilda wieder da war, das wurde dem Arzt nun klar: Hilda durfte sich nicht überanstrengen. Sie hatte ihr eigenes Wohlbefinden immer dem seinen untergeordnet, seit damals, als er zur Armee gegangen war und sie mit Selena allein gelassen hatte. Nach allem, was sie mit Selena und Beatrix durchgemacht hatte, verdiente sie nicht auch noch die Sache mit Mara. Vielleicht sollte er Mara einfach mal zu Hanaper schicken? Stonds glaubte zwar nicht daran, daß Psychotherapie immer half, aber irgend jemand mußte Mara ja zur Vernunft bringen. Er wurde zornig, wenn er daran dachte, wie oft Mara sich abscheulich aufgeführt hatte, an ihre Tobsuchtsanfälle als 54 Kind, an das blaue Samtkleid, das sie mit vier Jahren zerschnitten, an die Blumen, die sie aus dem Garten der Historical Society gestohlen, und daran, daß sie einfach seine Computerdaten gelöscht hatte, als er gerade einen Artikel für das American College of Neurosurgeons schrieb. Er hatte sie früher immer in die Oper mitgenommen, obwohl er viel lieber mit Verna Granita oder einem anderen intelligenten Erwachsenen gegangen wäre, und Mara dankte es ihm, indem sie sich bei einem Abendessen mit dem künstlerischen Leiter der Oper lächerliche Parodien ausdachte. Er hatte sie zu denselben Sommerlagern und Freizeitaktivitäten geschickt wie Harriet, doch bei Mara hatte das nur den Erfolg, daß sie vom College flog. Er hatte sie bestraft, sie zu bestechen versucht und sie angefleht. Doch nichts hatte gewirkt. Wie gesagt: schlechtes Blut schlug immer wieder durch. »Es ist Zeit zum Essen, Mara. Blas deine Backen nicht so auf, du siehst wieder mal wie ein Backenhörnchen aus.« »Ich bin zum Essen verabredet.« Sie stand auf und hoffte, daß Großvater ihre zitternden Hände nicht sehen, daß sie nicht vor ihm zu weinen anfangen würde. In ihrer Phantasie segelte sie aus dem Zimmer, die samtenen Röcke anmutig um ihre Beine wirbelnd. In ihrer Phantasie war sie wunderschön; sie hatte lange, glänzende Haare, zu einem Chignon geschlungen, die Taille so schmal, daß ein Mann sie mit den Händen umfassen konnte. Großvater war wie Tante Reed in Jane Eyre. Oder vielleicht doch eher wie der tyrannische Cousin; Mrs. Ephers jedenfalls, die immer temperamentvolle, hatte unglaubliche Ähnlichkeit mit Tante Reed, die mit ihren Kindern deren Lieblingsspiele spielte, sie Lügen erzählen ließ und dann Jane dafür bestrafte. Aber Jane war klein wie ein Vögelchen, so daß man sie kaum bemerkte, wenn sie ein Zimmer betrat oder verließ. Während Mara gegen einen Tisch stieß und dabei einen Stapel Papiere herunterwarf, sagte Großvater, du hast dich klar genug ausgedrückt - du brauchst nicht noch das Zimmer zu verwüsten. Oder soll ich hier auch noch ein Schloß dranmachen lassen? 54 Das war ein Hinweis auf Mrs. Ephers' verschlossenes Zimmer, in das Mara über die Außenbalkone gelangt war wie Cary Grant in Uber den Dächern von Nizza. Das war leicht gewesen, doch dann hatte sie zuviel Lärm gemacht beim Einschlagen des Fensters. Ich möchte dir beweisen, daß die Papiere da drin sind, hatte Mara Harriet erklärt, als ihre Schwester und Großvater in das Zimmer gerannt waren, aber natürlich war das Geheimfach im Sekretär leer gewesen. Mrs. Ephers hatte die Briefe beseitigt oder Großvater gebeten, es zu tun. Maras einzige Hoffnung, auf die sie sich selbst allerdings nicht verlassen wollte, bestand nun in einer Eingebung der Göttin Gula, die sie zu den Papieren führen würde. Vielleicht hatte Großvater Beatrix in die psychiatrische Abteilung im Krankenhaus gesperrt. Deswegen hörte er nicht auf, dort zu unterrichten - um sicher zu sein, daß sie nicht entkam. Er wollte Mara zu ihrer Mutter sperren, deshalb wollte er die Leute davon überzeugen, daß Mara verrückt war, daß sie von Briefen phantasierte, die nicht existierten. Vielleicht war sie tatsächlich verrückt. Oder würde es bald werden, wenn sie noch länger in diesem Mausoleum blieb. Sie schloß sich in ihrem Zimmer ein und rief Cynthia Lowrie an, um ihr ihr Herz auszuschütten. Zum Glück ging Cynthia selbst an den Apparat. Ihr Vater war nicht daheim, also konnte sie eine
Weile telefonieren. Wenn ihr Bruder Jared allerdings merkte, daß sie mit Mara redete, würde er es Rafe erzählen, und dann bekäme Cynthia wieder Schwierigkeiten. »Vielleicht wär's gar nicht so schlecht, wenn du ausziehst, Mara. Du weißt selber, daß du dort nicht glücklich bist. Ich wäre froh, wenn ich eine eigene Wohnung haben könnte.« »Warum suchen wir uns nicht zusammen eine Wohnung?« fragte Mara. »Dann kämst du endlich weg von deinem Vater und von deinem Bruder, diesem Arschloch, du müßtest keine Bibeln mehr bei den obdachlosen Frauen austeilen und keine Barthaare mehr aus dem Waschbecken im Bad holen.« Cynthia schnaubte verächtlich. »Willst du vielleicht das Bad saubermachen, wenn wir eine gemeinsame Wohnung haben? Dich möchte ich mal beim Putzen sehen. Außerdem würde Daddy mir nie erlauben auszuziehen, oder besser gesagt: Er würde es mir erst erlauben, wenn ich heirate. Ich meine... er steckt voll in dieser Family-Matters-Geschichte. Du weißt doch: Das ist die Gruppe, wo sich Männer treffen, die sich gegenseitig beweisen müssen, daß sie ihre Familie im Griff haben. Manche von ihnen suchen ihren Töchtern sogar den Ehemann aus. Daddy hat in der Kirche eine Ortsgruppe aufgebaut, von der du sicher schon gehört hättest, wenn du jemals in die Kirche gehen würdest. Er sagt, er könnte ruhiger schlafen, wenn er wüßte, daß ich irgendwann mal in einem guten christlichen Haushalt lebe und nicht bei irgendeinem Kerl, der meine schlimmsten Fehler noch unterstützt.« »Du mußt keinen Mann heiraten, den du nicht willst«, sagte Mara wütend. »Was könnte Rafe denn schon machen, wenn wir uns zusammen eine Wohnung suchen? Wahrscheinlich wäre er ziemlich sauer, aber was juckt uns das? Hier sind auch alle die ganze Zeit auf mich sauer.« »Ach, Mara, das ist nicht das gleiche, das weißt du genau... Hilfe, ich glaube, er ist grade heimgekommen. Ich muß aufhören ...« Sie legte auf. Mara ging die drei Kilometer zum Corona's in der Kinzie Street zu Fuß. Wahrscheinlich ist Cynthia noch schlimmer dran als ich, dachte sie, obwohl sie keine Lust hatte, Mitleid für ihre Freundin zu empfinden. Aber sie mußte ehrlich sein: Niemand würde Cynthia abends noch in eine Bar lassen. Vielleicht wusch Großvater ihr den Kopf, aber er sperrte sie nicht ein und verprügelte sie auch nicht. Jake, der Türsteher des Corona's, wußte, daß er sich eigentlich ihren Ausweis hätte zeigen lassen müssen, daß sie noch zu jung war, aber er nahm ihren Zehner, als er ihr trauriges Grinsen sah, und ließ sie herein. »Du weißt, daß am Dienstag nicht viel los ist, Mara.« »Ja, weiß ich, Jake, aber ich bin heute so down, daß ich mindestens genausogut jammern könnte wie die Mädels hinterm Mikrofon.« 55 Er lachte. »Tja, was Besseres haben wir nicht zu bieten. Aber du kannst ja rüber zum Gold Star gehen und dir Patricia Barber anhören.« Mara ging hinein. Im Gold Star wollten sie immer ihren Ausweis sehen - dort war es ihr noch nie gelungen, den Türsteher zu bestechen. Die Kellnerin setzte sie an einen Tisch bei der Tür und brachte ihr einen Bourbon, während eine weiße Frau mit dünner Stimme »Bottom of My Soul« sang. Als sie die Bühne verließ und der höfliche Applaus aufhörte, spielte der Pianist Variationen über »Bottom of My Soul« und sprach dabei ins Mikrofon. »Ihr wißt alle, daß heute nicht der Abend ist, an dem alle was vortragen können, wenn sie wollen. Wenn ihr eure fünf Dollar an der Tür abliefert und euch die teuren Drinks kauft, meint's Queenie auch gut mit euch und setzt euch keine billigen Imitationen vor. Aber heute abend haben wir hier im Klub ganz überraschend einen Gast, eine Sängerin, und sie hat sich bereit erklärt, ein bißchen für uns zu singen. Ich möchte, daß ihr unseren Chicagoer Star begrüßt... Luisa Montcrief.« Mara richtete sich auf. Luisa Montcrief, die Diva? Die trat doch sicher nicht hier in diesem Jazzschuppen auf. Doch als eine Frau mit Adlernase und purpurrotem Kleid die wenigen Stufen zu der Bühne hochstieg, erkannte Mara in ihr tatsächlich die Sängerin, die sie als Aida, Desdemona und in anderen großen Rollen in Verzückung versetzt hatte. Luisa wirkte wach und majestätisch. Obwohl sie zu dünn war und das Kleid um ihren Körper schlabberte, ließ ihre Präsenz die kleine Bühne überfüllt aussehen. Also stimmte das, was Großvater ihr erzählt hatte, nicht - daß Madame Montcriefs Familie sie zu dem Ekelpaket Hanaper gebracht hatte, weil die Diva ständig betrunken war. Lügner, Lügner! Er log, sobald er den Mund aufmachte.
Die Diva legte eine Hand aufs Klavier und ließ den Blick gebieterisch übers Publikum schweifen. Die Gäste an den wackeligen Tischen unterhielten sich - leise, ja, aber Luisa war es gewohnt, daß ehrfurchtsvolle Stille herrschte, wenn sie die 56 Bühne betrat. Als drei Männer einfach weiterredeten und einer von ihnen sogar laut lachte, beugte Madame Montcrief sich ein wenig nach vorn. »Wenn Sie Ihre Unterhaltung als Teil meines Vortrags verstehen, würde ich Sie bitten, zu mir auf die Bühne zu kommen. Andernfalls sollten Sie die Höflichkeit besitzen, still zu sein, wenn ich singe.« Ein paar Leute klatschten, doch die drei Männer erhoben sich, um zu gehen. Die Kellnerin lief ihnen nach, um abzukassieren, doch die drei gaben sich beleidigt. Sie kamen nicht ins Corona's, um sich beschimpfen zu lassen, und das noch dazu von einer Sängerin, die nicht mal im Programm angekündigt war. »Ach, verschwindet doch wieder in das Nest, aus dem ihr gekommen seid«, rief Mara ihnen nach. »Luisa Montcrief ist eine der größten Sängerinnen der Welt. Niemand will euer langweiliges Computer- oder Fußballgeschwätz hören. In der Oper müßtet ihr hundert Dollar zahlen, wenn ihr sie von so nah sehen wolltet, vielleicht sogar noch mehr.« »Ich lasse mir von niemandem vorschreiben, wie ich mich in der Öffentlichkeit zu verhalten habe.« Der kräftigste der drei Männer trat an Maras Tisch und sah sie wütend an. »Schade«, sagte die Diva von der Bühne aus. »Sie könnten wirklich noch viel lernen.« Der Pianist begann, Variationen über »Troubled in Mind« zu spielen. »Lassen Sie uns doch ein paar Songs hören, Luisa, während Minnie die Angelegenheit an der Tür regelt. Sie beherrscht das meisterhaft, und Sie sind eine meisterhafte Sängerin, also ist es doch am vernünftigsten, wenn jeder das tut, was er am besten kann.« Luisa zögerte, sich geschlagen zu geben, war aber noch so nüchtern, daß sie merkte: Das Publikum stand auf Seiten des Pianisten. Also verbeugte sie sich noch einmal ob des Applauses und begann zu singen. Sie hatte während ihrer Ausbildung viele Balladen und Broadway-Stücke vorgetragen und holte »Careless Love« aus ihrem alten Repertoire. Da sie ein gutes
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Gespür für Atmosphäre besaß, paßte sie ihre große Stimme dem kleinen Raum an und unterlegte sie mit einem rauchigen Unterton. Das Publikum, anfangs noch zurückhaltend, taute schon bald auf und klatschte heftig, als die letzten Töne verklangen. Luisa trank das Glas mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit, das neben ihr stand, fast leer und sang dann Marias Lied aus der West Side Story. Als sie mit dem dritten Song begann, einigten sich die drei Männer, die sich vorher so laut unterhalten hatten, mit Minnie und kehrten zu ihrem Tisch zurück. Laut lachend unterstrichen sie ihre gute Laune, indem sie auf den Tisch klatschten. Als Luisa »Thievin' Boy« beendete, applaudierten sie laut und pfiffen. »Ich sehe, daß unsere schwachsinnigen Freunde beschlossen haben, sich zu uns zu gesellen«, sagte Luisa. »Vielleicht sollte ich ein Lied für sie singen, und zwar so laut, daß sie es auch hören.« Sie begann mit ihrer vollen Stimme ein deutsches Lied zu singen. Der Pianist hinkte ihr lahm hinterher; Mara sah ihm an, daß er verärgert war. Die drei Männer machten weiter ihre lauten Bemerkungen, aber niemand hörte sie mehr. Als die Diva ihr Lied beendet hatte, fingen die übrigen Gäste zögernd zu klatschen an. »Nun, das war ein deutsches Lied, von Hugo Wolf, aus seinem berühmten Italienischen Liederbuch. Da unsere Freunde hier des Deutschen wahrscheinlich nicht mächtig sind, möchte ich noch einmal zusammenfassen, worum es darin geht. Es heißt in dem Lied: Wer hat euch gerufen? Wer hat euch eingeladen? Wer hat euch gesagt, daß ihr kommen sollt, wenn euch das eine so große Last ist? Geht, wohin ihr wollt, ich verzichte gern auf euren Besuch. Und genau wie Hugo Wolf verzichte ich gern auf euren Besuch, ihr Neandertaler. Geht jetzt, damit ich mit meinem Vortrag fortfahren kann.« Einer der Männer erhob sich und rief: »Hey, du pampige Schlampe, wir sind hier, weil wir amerikanische Sänger und amerikanische Lieder hören wollen. Verzieh dich wieder in deine deutsche Höhle.« 56 »Sie ist Amerikanerin, du Trottel«, brüllte Mara von ihrem Tisch aus. »Wenn ich so blöd war' wie ihr, würd' ich daheim bleiben und es nicht jedem zeigen.«
Ein paar Gäste lachten, aber andere nahmen ihre Handtaschen und Aktenkoffer und machten Anstalten zu gehen. Die Kellnerin kletterte zu Luisa auf die Bühne und flehte sie flüsternd an, den Männern keine Beachtung zu schenken und etwas Populäres zu singen. Doch Luisa zeigte ihr die kalte Schulter und begann mit voller Stimme »Sempre libera« aus La Traviata zu singen. Minnie rannte hinter die Bühne, um den Verstärkerstecker herauszuziehen. Doch auch ohne Verstärkung füllte Luisas Stimme den Raum. Minnie nahm sich das Mikrofon des Pianisten, um die Diva zu übertönen. »Tut mir leid, Leute, aber wir haben gerade eine Störung im Lautsprechersystem. Wir geben eine Runde aus, während wir versuchen, die Störung zu beheben.« Dann scheuchte sie Luisa von der Bühne. Die drei Männer applaudierten laut und begannen zu johlen. Mara stapfte zu ihrem Tisch hinüber. Sie nahm ein Glas in jede Hand und schüttete ihnen den Inhalt ins Gesicht. Sie saßen einen Augenblick lang bewegungslos da, heulten dann vor Wut auf und stürzten sich auf sie. Sie lag bereits auf dem Boden, als der Rausschmeißer die Männer wegzog. Er beförderte die drei hinaus. Dann kam Jake, kaum schneller atmend, wieder herein. »Und du, Mara, mußt auch verschwinden. Du weißt, daß Queenie so was nicht ausstehen kann. Wenn sie heute abend hier gewesen wäre, hättest du wahrscheinlich Hausverbot bekommen, du hast noch Glück gehabt.« »Ist gut, Jake. Kann ich mich zuerst noch ein bißchen saubermachen? Die bringen mich um, wenn ich so nach Hause komme.« Im Gegensatz zum Türsteher atmete Mara schwer, und sie war schmutzig und naß, weil sie auf dem Boden herumgerollt war. Ihre Füße klebten in ihren hochhackigen Schuhen. Im 57 trüben Licht der Toilette sah sie die ersten Anzeichen eines blauen Flecks unter dem linken Auge und Blut am linken Arm. Ihr Oberteil war unter einer Achsel gerissen. »Mein Gott. Ich sehe aus wie die Frau an der Wand.« Sie wusch sich Arme und Gesicht, so gut es ging, und ließ sich von Jake hinausbegleiten. Dort stand schon die Diva, die von Minnie verlangte, ihr das Taxi zu bezahlen. »Ach, da ist ja unsere kleine Heldin.« Luisa packte Maras Arm und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihr einen Kuß auf beide Wangen zu geben. »Wie tapfer von dir und wie nett, daß du mich gegen diese Banausen verteidigt hast.« Ihr Atem stank nach abgestandenem und frischem Whiskey. »Ich bewundere Sie schon seit Jahren«, murmelte Mara. »Schade, daß Queenie heute abend nicht da war. Sie ist ziemlich cool, sie hätte dafür gesorgt, daß diese Typen sich nicht so aufgeführt hätten.« »Ich schenke der canaglia keine Beachtung«, schnaubte Luisa, ein bißchen wie Harriets Pferd, dachte Mara und verkniff sich ein Kichern. »Chicago ist eine vulgäre Stadt. Hier hat man keine Achtung vor der Kunst. Dafür ist mein eigener Bruder das example par excellence. Er ist ein Kretin und fühlt sich auf dem Schrottplatz heimischer als in einem Konzertsaal. Kannst du dir vorstellen, daß wir einmal im gleichen Bauch gewesen sind? Ich bin zuerst auf die Welt gekommen - wahrscheinlich konnte ich es gar nicht erwarten, ihn zu verlassen. Sogar schon in utero habe ich gewußt, daß er ein Banause ist.« Diesmal konnte Mara sich das Kichern nicht verkneifen, aber sie sagte: »Hoffentlich halten Sie nicht alle Menschen in Chicago für so ignorant wie diese Kerle. Ich liebe Ihre Stimme. Ich habe alle Aufnahmen von Ihnen. Ihre Tosca habe ich bestimmt tausendmal gehört.« Luisa war höchst erfreut. »Du bist ziemlich jung für eine Opernliebhaberin. Ich könnte eine Gehilfin hier in der Stadt brauchen. Meine Garderobiere, mein Agent, sie haben mich alle im Stich gelassen; mein eigener Bruder hat mich vor die Tür gesetzt. Ich muß jetzt in Nachtklubs auftreten, und diese 57 malandrina - Verzeihung, diese Räuberin; ich habe so viele Jahre in Italien gelebt, daß mir immer italienische Worte da-zwischenrutschen - hat mir nicht mal das Geld für ein Taxi gegeben. Wenigstens hat sie mir den Auftritt bezahlt.« »Ich wohne bei meinem Großvater«, sagte Mara. »Er hat gedroht, mich rauszuschmeißen, weil ich gefeuert worden bin. Und weil er nicht zugeben will, daß er weiß, was mit meiner Mutter passiert ist.«
»Hah! Immer die Männer und ihre Fixierung auf den Beruf. Mein Bruder würde sich darüber freuen, wenn ich Kleinkindern Musikunterricht gäbe. Ich, die ich schon so oft an der Met und Unter den Linden in Berlin gesungen habe, ich, die ich nach meinem Debüt als Carmen an der Scala fünfzehn Vorhänge bekommen habe...« Sie verlor den Faden. »Er denkt die ganze Zeit nur an Geld und an Alteisen. Komm! Du darfst mich mit zu dir nehmen.« »Ich gehe heute nacht nicht nach Hause. Sie mußten sich zwischen mir und der Haushälterin entscheiden, und sie haben sich für die Haushälterin entschieden.« Mara schluckte ihr Selbstmitleid hinunter. »Denen werde ich eine Lektion erteilen.« 58
15
Ins kalte Wasser geworfen
Harriet, wofür, glauben Sie, zahle ich Ihrer Kanzlei dreihundert Dollar die Stunde? Doch nicht für irgendeinen Anwaltsgehilfen, der den Leuten von der Garage sagt, sie sollen die Wand mit einem Wasserschlauch abspritzen? Das hat überhaupt nichts bewirkt - im Gegenteil: Dadurch haben wir uns nur noch mehr Ärger eingehandelt. Irgendein wichtigtuerischer Arzt war letzte Woche da unten, um sich bei Brian Cassidy zu beschweren, und heute nacht... heute nacht...« »Ich weiß Bescheid über heute nacht«, sagte Harriet. »Die Polizei hat mich heute früh um drei geweckt. Sie haben nämlich meine Schwester festnehmen lassen.« »Meinetwegen hätt's auch der Papst höchstpersönlich sein können«, herrschte Gian Palmetto sie an. »Warum zum Teufel hat sie da unten vor der Garage so einen Zirkus veranstaltet?« Weil sie die Göttin Gula beschwören wollte. Und Luisa Montcrief unterhalten. Und es Harriet heimzahlen. Und Großvater auf die Palme bringen. Ja, all das und wer weiß, was sonst noch. »Außerdem hat sie erklärt, Sie hätten ihr gesagt, daß der Gehsteig öffentliches Eigentum ist. Auf wessen Seite stehen Sie eigentlich? Ich hätte gute Lust, das Leigh Wilton zu erzählen. Sie haben sich in letzter Zeit nicht richtig auf Ihre Arbeit konzentriert.« Es stimmte nicht, sie hatte Mara nicht gesagt, daß der Gehsteig öffentliches Eigentum ist. Als Harriet das Thema vergangene Woche beim Abendessen angeschnitten hatte, hatte sie nur Brian Cassidys Beschwerde über Hector weitergegeben. Großvater sagte, er habe mit Hanaper gesprochen, drängte Harriet aber, die Frau an der Wand wegen Hausfriedensbruchs entfernen zu lassen. ¡58 So einfach ist das nicht, hatte sie geantwortet; die Wände gehören zum Hotel, aber der Gehsteig gehört der Stadt, und das macht die Sache schwierig, besonders, wenn jemand die Frauen über ihre Rechte aufklärt. Das Hotel kann sich die Negativwerbung nicht leisten, die sich unweigerlich einstellt, wenn einer von diesen tollen Bürgerrechtsanwälten sich der Sache annimmt. Mara hatte einen Wutausbruch bekommen und das Haus fluchtartig verlassen. Harriet selbst war zornig und unerklärlicherweise auch verzweifelt zurückgeblieben. Die Schwestern hatten seitdem bis auf ein gemurmeltes »'tschuldigung« auf dem Flur nichts mehr miteinander gesprochen. Harriet hatte Kopfschmerzen. Sie wollte sich keine Gedanken darüber machen, warum Mara glaubte, sich für Madeleine Carter einsetzen zu müssen. Als der Anruf von der Staatsanwaltschaft kam, hatte Großvater darauf bestanden, zusammen mit Harriet zum Polizeirevier zu gehen. Den Rest der Nacht hatten er und ihre Schwester streitend verbracht. Falls diese Scharade - Großvater sprach das Wort französisch aus, als er es Mara an den Kopf warf dazu dienen soll, daß ich mir die Sache mit dem Ultimatum noch einmal überlege, dann hast du dich verrechnet, junge Frau. Mittlerweile waren sie wieder daheim in der Graham Street, und es war fast fünf Uhr früh. Ich möchte, daß du diese Wohnung noch heute verläßt, und ich werde dafür sorgen, daß du meinem Wunsch nachkommst. Im Stechschritt marsch, sagte Mara mit glühenden grünen Augen. Wie kannst du es wagen! brüllte Großvater so laut, daß der Kronleuchter wackelte. Wenn du das gesehen hättest, was ich in Europa gesehen habe, würdest du das nicht so leichtfertig sagen. Ich habe mein Leben aufs Spiel gesetzt, um eine Welt zu schaffen, in der ein verwöhntes, selbstsüchtiges Fräulein wie du nicht nur wegen Ruhestörung verhaftet wird, sondern dann auch noch nach Hause kommt und mir Beleidigungen an den Kopf wirft. 58 Du hast dein Leben im Kampf gegen die Nazis aufs Spiel gesetzt, sagte Mara, aber dieses Haus regierst du wie ein totalitärer Herrscher. Oma hat deine kleinlichen Vorschriften nicht ertragen,
deswegen ist sie gegangen. Und dann hast du noch deine eigene Tochter vertrieben. Nur Harriet hat so viel Angst, daß sie dir jeden Wunsch von den Augen abliest... Harriet und Angst? Du dumme Kuh, du bist gerade clever genug, um auf sie eifersüchtig zu sein, aber dazu, daß du ihr nacheifern könntest, reicht deine Intelligenz nicht. Harriet weiß nicht mal, was Angst heißt. Und dann bat er sein goldenes Mädchen, seinen Augapfel, eine Wohnung für Mara zu suchen und dafür zu sorgen, daß sie bis zum nächsten Nachmittag dort unterkam. Heute nacht ist die letzte Nacht, die sie unter diesem Dach verbringt. Er war hochrot im Gesicht vor Wut. Harriet war ziemlich wackelig auf den Beinen, weil sie zuwenig geschlafen hatte, weil sie sich darüber ärgerte, daß sich ihre Schwester in die Angelegenheit mit der Frau an der Wand eingemischt hatte, weil sie sich um Mephers Sorgen machte und weil sie über sich selbst nachdachte (war sie wirklich so kalt, wie Mara immer sagte? Hatte sie tatsächlich Angst?), aber als sie Maras verquollene Augen sah, überkam sie so etwas wie Trauer. Schließlich stand ihr eigenes Foto an deutlich sichtbarer Stelle in Mephers' Zimmer und in Großvaters Arbeitszimmer. Niemand hatte sich je Zeit für Mara genommen, seit damals, als Beatrix sie einfach in der Graham Street abgeladen hatte. Sie wünschte sich nichts sehnlicher als Aufmerksamkeit. Deshalb hatte sie sich auch die unglaubliche Geschichte ausgedacht, daß Mephers einen Brief an Beatrix in ihrem Zimmer versteckte. Maras Verhalten war die ganze Zeit über unangemessen -manchmal schon pervers - gewesen, aber wie konnte Harriet weiterhin in ihren eleganten mietfreien Räumen wohnen und sich von Großvaters Köchin versorgen lassen, während sie ihre Schwester ganz allein in eine düstere Wohnung steckte? ¡59 Mara braucht Hilfe, sagte sie Großvater. Sie braucht Hilfe und unsere Unterstützung. Vielleicht sollte sie zu einem Psychotherapeuten gehen. Komm mir bloß nicht mit dieser Mitleidsmasche, brüllte Großvater und vergaß dabei völlig, daß er selbst auch schon an so etwas gedacht hatte. Im Krankenhaus sehe ich tagtäglich Patienten, die trotz jahrelanger Therapie einfach nicht erwachsen werden und sich dafür bemitleiden, daß ihre Mutter sie nicht liebte oder ihr Vater sie vergewaltigt hat, und die meinen, daß sie deshalb nicht für ihre Handlungen verantwortlich sind. Sieh dir doch bloß mal Luisa Montcrief an: Die hat sich ihre wundervolle Karriere durch ihre Bockigkeit und ihre Maßlosigkeit ruiniert. Ihr Bruder hat schon recht. Solche Probleme lassen sich nur durch Strenge lösen. Er sagt, Hanaper hat ihm das geraten ist wirklich ein guter Mann, dieser Hanaper, ganz anders als dieser trottelige Tammuz, der die ganze Zeit was von wegen Therapie faselt. Harry Minsky und Großvater waren einander auf dem Polizeirevier begegnet. Natürlich kannten sie sich schon viele Jahre, denn schließlich hatte Großvater ein Glioblastom aus dem Gehirn von Harrys Mutter entfernt, aber damals war Großvater ein Chirurg gewesen, ein Priester, der Macht über Leben und Tod hatte, nicht ein Mensch aus Fleisch und Blut. Großvater hatte Harry seinerzeit nicht bewußt wahrgenommen; er war nur einer von vielen aus der Welt der Gebete und Tränen gewesen. Doch mitten in der Nacht, auf dem First-District-Polizeirevier, waren Harry Minsky und Abraham Stonds einfach zwei Männer, denen ihre weiblichen Verwandten schrecklich zugesetzt hatten. Harry raste nach Chicago hinein, nachdem Luisa das vierte Mal angerufen hatte, und zwar bei Becca, auf Beccas Anschluß. Als seine Tochter ihn weckte - Daddy, Tante Luisa hat Probleme, sie ist verhaftet worden, sie sagt, du möchtest ja bloß, daß sie im Gefängnis versauert -, stand er zornbebend auf. Sollte sie doch im Gefängnis versauern; ein Jahr dort wäre ein friedvolles Jahr für sie selbst. 59 Er raste in seinem Mercedes mit quietschenden Reifen die Auffahrt hinunter. Karen war so verschreckt, daß sie ihm im Nachthemd bis zur Straße nachlief, um zu sehen, ob der Wagen sich nicht überschlagen hatte. Harry wollte nach Chicago fahren, um der Polizei zu sagen, sie solle seine Schwester ohne Kaution und ohne Verfahren für den Rest ihres Lebens in den Knast schicken - er würde dafür beten, daß es nicht mehr so lange dauerte. Becca saß wach im Bett, aus Angst davor, daß er Tante Luisa umbringen würde. Nein, das war übertrieben, aber er fuhr wie ein Geistesgestörter. Was war, wenn er einen Unfall baute? Oder einen Hund überfuhr? Gegen fünf ging sie zu ihrer Mutter hinüber und erzählte ihr von ihren Ängsten.
Auch Karen machte sich Sorgen, aber ihre Befürchtungen waren spezifischer: daß Harry seine Schwester wieder nach Hause bringen würde und unfähig wäre, ihr Kontra zu geben, wenn es zu einer neuerlichen Krise kam. »Du bist so ungerecht«, jammerte Becca. »Sie ist eine große Künstlerin, und ihr habt sie in ein winziges Loch gesteckt.« »Sie ist eine große Trinkerin«, sagte Karen. »Weißt du schon, daß sie heute nacht jemandem eine Whiskeyflasche über den Kopf geschlagen hat? Und ein Polizeibeamter hat deinem Vater gesagt, daß sie außerdem noch ein junges Mädchen in die Sache mit reingezogen hat.« »Aber bedeutet das denn, daß sie ins Gefängnis muß? Warum kann Daddy keine Kaution für sie hinterlegen? Wenn ihr euch Gedanken wegen dem Geld macht, kann ich ja das Sparbuch auflösen, das deine Mutter für meine Bat Mizwa angelegt hat.« »Nein, Kleines, es geht nicht ums Geld.« Karen zog Becca näher zu sich heran. »Wir haben nur eine Chance: Deine Tante muß erkennen, daß sie therapeutische Hilfe braucht, und das erkennt sie nur, wenn niemand mehr ihr hilft. Dr. Hanaper hat uns gesagt, Strenge ist das einzige Mittel bei jemandem, der so die Augen vor seinen Problemen verschließt, wie Janice es tut. Was würdest du denn machen, wenn dein Vater sie in dem 60 Zustand, in dem sie dich angerufen hat, nach Hause bringen würde?« Darauf wußte Becca auch keine Antwort. Das war eine typische Erwachsenenfrage, die darauf abzielte, ihr das Gefühl zu vermitteln, daß sie unrecht hatte. Sie rief ihren Hund Dusty und nahm ihn mit ins Bett, wild entschlossen, wach zu bleiben, bis Daddy wieder zu Hause war. Während sie sich an Dustys Fell kuschelte, überlegte sie, wer dieses Mädchen wohl war, das ihre Tante da kennengelernt hatte. Plötzlich empfand sie so etwas wie Eifersucht und Ärger darüber, daß Tante Luisa einem anderen Mädchen den Vorzug gab. Sie versuchte sich vorzustellen, was Daddy und Mutter wohl täten, wenn sie zusammen mit ihrer Tante festgenommen worden wäre und wenn sie selbst sie mitten in der Nacht angerufen hätte. Vielleicht waren die Eltern dieses anderen Mädchens so verständnisvoll, daß sie es nicht am Telefon anbrüllten. Becca konnte nicht wissen, daß Mara Stonds von zu Hause keinerlei Mitgefühl erwarten konnte und folglich Großvater überhaupt nicht anrief. Das hatte jemand von der Staatsanwaltschaft für sie erledigt, als die Polizei sie ins Revier brachte. Mara erklärte dem Mann von der Staatsanwaltschaft, da könne sie auch gleich ins Gefängnis gehen, aber er schenkte ihr keine Beachtung. »Mara Stonds? Sind Sie mit Harriet verwandt? Sie ist Ihre Schwester? Wir haben zusammen Jura studiert. Glauben Sie mir, Mara, das Gefängnis würde Ihnen wirklich nicht gefallen: Da gibt's nur Nutten und Drogensüchtige. Die würden Sie ganz schön durch die Mangel drehen. Ehrlich. Warum rufen Sie nicht Harriet an? Ach so, ich verstehe, das ist Ihnen zu peinlich - ich rufe sie für Sie an.« Als Mara den Glanz in seinen Augen sah, wurde ihr bewußt, daß er zu Harriets Verehrern gehört hatte. Sie überlegte, ob sie ihm sagen sollte, daß er sich bei Harriet nicht einschmeicheln würde, wenn er sie rettete, sondern ihr wahrscheinlich eine größere Freude machte, wenn er dafür sorgte, daß sie ins Ge 60 fängnis kam, aber sie war zu apathisch, um sich auf ein Gespräch einzulassen. Als Mara und Luisa aufs Revier gebracht wurden, bekam Mara plötzlich Angst. Was hatte sie sich eigentlich bei der ganzen Sache gedacht? Vielleicht hatte Großvater recht, vielleicht hatte sie tatsächlich ein paar Gene der Verkommenheit geerbt. Vielleicht war es gar nicht Maras angeborene Schlechtigkeit, die Beatrix vertrieben hatte (ein Blick auf dieses häßliche Baby - völlig egal, daß sie wie die meisten Babys keine Haare auf dem Kopf gehabt hatte -, und schon würde die Mutter jene widerborstigen Locken erahnen, das äußere Zeichen des inneren, geistigen Todes, und so schnell sie nur konnte, vor dem Kind davonlaufen). Vielleicht hatte Beatrix ihre eigene Schwäche in Maras Babygesicht gesehen, Angst bekommen, daß sie ihre Monstrosität auf ihr zweites Kind vererbt hatte, und war voller Schrecken vor ihrem Spiegelbild geflohen. Mara, die neben Luisa im Revier saß, weinte vor Einsamkeit. Als Mara und Luisa das Corona's verlassen hatten, war Luisa Mara die Kinzie Street entlang gefolgt, die sich unter die Michigan Avenue duckte, durch ein Labyrinth aus unterirdischen Ladeplätzen, bis zu den Fundamenten des Hotel Pleiades. Unterwegs waren sie an einem rund um die Uhr geöffneten Schnapsladen vorbeigekommen, wo Luisa darauf bestanden hatte, daß Mara ihr eine Flasche Whiskey kaufte. Der Mann an der Kasse hatte Maras Ausweis sehen wollen, also hatte diese Luisa einen Zehner gegeben, der für eine Literflasche Four Roses reichte. Luisa hatte die
ganze Zeit daran genuckelt, als sie an Müllcontainern und obdachlosen Männern in alten Mänteln vorbeigegangen waren. Als sie dann endlich die Frau an der Wand erreichten, schwankte Luisa auf ihren hochhackigen Schuhen, und Mara legte den Arm um die Taille der Diva, um sie um die schlimmsten Löcher auf dem Gehsteig herumzudirigieren. Madeleine Carter war an ihrem gewohnten Platz. Der Gehsteig und die Wand dahinter waren immer noch naß, denn Brian Cassidy spritzte sie nun jeden Abend ab. Sobald einer der 61 Männer von der Putzkolonne auftauchte, sprang Madeleine auf, raffte ihre Sachen zusammen und verschwand um die Ecke. Wenn sie mit dem Spritzen aufhörten, kehrte sie zurück. Als erstes legte sie dann immer die Finger in den Riß, um sicher zu sein, daß sie nach wie vor rot vom Rost waren. Danach setzte sie sich ein wenig beruhigt wieder hin und versuchte in ihrer Bibel zu lesen oder leise mit der heiligen Mutter zu sprechen. »O ja, sie versuchen, mich zu verjagen und dich zu quälen, aber wir sind beide noch hier. Ich bin ein Fels, den nichts erschüttern kann. Ja, auf diesen Felsen kannst du deine Kirche bauen. Ich sehe deine Tränen, mach dir keine Sorgen, ich weiß, daß du die ganze Zeit versucht hast zu sprechen, aber niemand wollte dir zuhören. Doch jetzt bin ich hier, und ich höre dich, o ja, ich höre dich, Mutter, küsse mich, halte mich, schmecke mich, meine Tränen sind blutig wie die deinen.« Hin und wieder trat Brian Cassidy in die Einfahrt zur Garage und starrte Madeleine an. Er sorgte dafür, daß immer wieder ein Streifenwagen vorbeifuhr und sie mit seinen Scheinwerfern anstrahlte. Dann zitterte sie vor Angst, stellte sich auf die Zehenspitzen, um die Lippen auf den Riß zu legen, und klammerte sich an den schmutzigen Beton, als handle es sich dabei um einen Menschen, bis der Wagen sich entfernte. Der Streifenwagen fuhr an Mara und Luisa vorbei, als sie die Einfahrt zur Garage erreichten. Das nächtliche Licht kaschierte den Schmutz auf Maras Gesicht und Kleidung, so daß die beiden aussahen wie eine ganz normale Mutter mit ihrer Tochter, Luisa in ihrem purpurroten Kleid, Mara in ihrer Jeans, auf dem Heimweg vom Theater. Der Streifenwagen fuhr weiter. Brian Cassidy kehrte zu seinem Büro hinter dem Kassenhäuschen zurück. Mara ging neben Madeleine in die Hocke. Madeleine hielt sich die Bibel vors Gesicht. »Feiglinge, Feiglinge, sie sind alle Feiglinge, heilige Mutter, Feiglinge, die dich vernichten wollen. Sie werden verschwinden und mich hier lassen, sie sind Narren und böse Geister, aber du wirst dich um mich kümmern.« IJO
»Ich tue Ihnen nichts«, sagte Mara. »Wir sind hier, um die Wand mit Ihnen zu schützen und das Loblied der Göttin zu singen.« Als Madeleine weiterwimmerte, wich Mara so weit von ihr zurück, daß die Obdachlose schließlich die Bibel senkte. Mara setzte sich im Schneidersitz hin, schloß die Augen und begann, laut die Göttin Gula zu beschwören: »O Göttin, wir, deine unwürdigen Dienerinnen, rufen dich in deiner Macht und Majestät. Vertreibe die Männer, die uns unterdrücken. Erinnere sie daran, daß Leben und Tod in deiner Hand liegen. Deine Tränen an dieser Wand sind ein Zeichen. Wehe denen, die es nicht beachten. Die Pest wird auf sie herabregnen wie Hagel, ihre Hoden werden verschrumpeln, ihr Urin wird schwarz werden.« Madeleine wurde ganz aufgeregt. »Genau. Ihr Urin wird schwarz werden. Sie kommen und spritzen die Wand ab, sie reagieren sich an mir ab, aber die heilige Mutter macht ihren Urin schwarz.« Die beiden Parkwächter der Nachtschicht traten auf die Straße, um ihnen zuzusehen. Die Garage war die ganze Nacht über geöffnet, damit die Hotelgäste kommen und gehen konnten, wann sie wollten, aber meist war die Nachtschicht ziemlich langweilig: Wenn sich auf der Straße etwas tat, war das eine willkommene Abwechslung. Wenn Brian Cassidy davon erfuhr, würde er ihnen befehlen, den Wasserschlauch zu holen und die Frauen zu vertreiben, aber die beiden Parkwächter, die nicht viel Geld verdienten und kaum über die Runden kamen, belästigten nicht gern eine Obdachlose. Natürlich mußten sie es, wenn sie die Anweisung dazu bekamen, weil sie nicht selbst auf der Straße landen wollten, aber ihnen war es genauso lieb, wenn Brian Cassidy drinnen blieb. Und außerdem war die junge Frau, die jetzt neben der Pen-nerin sang, jung und, wie jede junge Frau, attraktiv. Vielleicht hatte sie ein paar Pfund zuviel auf den Rippen, aber dagegen hatte Nicolo nichts einzuwenden. Wenn man in einem teuren Hotel arbeitete, sah man so viel Verschwendung, weil diese reichen Frauen immer schlank bleiben wollten und nur ein bißchen Salat aßen, während
sie einen ganzen Teller mit Lachs oder Nudeln zurückgehen ließen. Es war schrecklich. Natürlich versammelten sich die Obdachlosen um die Müllcontainer des Hotels; hier fanden sie jeden Abend die Reste von Drei-Sterne-Menüs. Luisa, die sich gegen die Wand lehnte und an ihrer Flasche nuckelte, war immer noch wütend auf die Kellnerin im Corona's, die sich auf die Seite der Männer geschlagen hatte. Schließlich war sie eine Diva; und sie hatte ihr Bravourstück vorgetragen, die Violetta, die Carl Benedetti bezaubert, die ganz Europa und New York zu Begeisterungsstürmen hingerissen hatte. Aber diese Chicagoer Idioten, diese biersaufenden Anbeter des Mammon, hatten sie vor die Tür gesetzt. Genau wie ihr Bruder. Wahrscheinlich hatte ihr Bruder diese Trampel in der Bar sogar angeheuert, damit sie bei allen Auftritten in Chicago für Krawall sorgten. Dann sah sie die beiden Parkwächter. Im Corona's waren es drei Männer gewesen, nur einer von ihnen wirklich unangenehm. Wahrscheinlich waren das hier seine Freunde, die sich für ihn rächen wollten. Sie stellte die Flasche auf den Boden, stützte sich mit der Hand an der Wand ab und fing an, in voller Lautstärke »Sempre libera« zu rülpsen. Ihre Stimme war nicht mehr das flüssige Gold, das Benedetti vor zwanzig Jahren erfreut hatte. Im oberen Bereich klang sie zittrig, sie sang die Töne nicht sauber, aber die Lautstärke war die alte. Jedenfalls hörte sogar Brian Cassidy sie in seinem Büro hinter dem Kassenhäuschen. Er kam heraus; die Muskeln spielten unter seiner Jacke. »Nicolo, was ist denn hier los? Wieso stehst du untätig rum, während die Weiber sich hier aufführen?« Nicolo hob beschwichtigend die Hände. »Chef, die tun doch niemandem weh. Klar, sie ist betrunken und sie singt, aber wer hört sie schon?« »Ich. Und alle anderen, die die Garage benutzen. Ich will, daß sie verschwinden.«
tJ2 Wie auf ein Stichwort tauchte ein Lincoln Town Car auf und hielt vor der Einfahrt. Ein Paar stieg aus. Der Mann warf Nicolo seine Schlüssel zu; die Frau sah kurz zu Luisa hinüber und huschte in Richtung Aufzug. »Ist das ein neuer Service, Cassidy?« fragte der Mann. »Konzerte für die Gäste, während sie auf ihren Wagen warten?« Brian Cassidy leckte sich die Lippen. »Tut mir leid, Sir. Ich wollte gerade etwas dagegen unternehmen.« Er ging in sein Büro, um die Polizei anzurufen, während Nicolo den Garagenzettel des Mannes ausfüllte. Als Brian zurückkam, war das Paar verschwunden, und Nicolo lenkte den Wagen auf einen freien Platz. Brian ging zu Luisa hinüber und packte sie am Arm. »Verschwinden Sie hier, Lady, bevor die Leute anfangen, mit alten Stiefeln nach Ihnen zu werfen.« »Sie unverschämter Affe, wie können Sie es wagen, mich anzufassen?« giftete Luisa ihn an. »Hören Sie zu! Sie haben fünf Minuten Zeit, bevor die Polizei kommt. Wenn Sie noch laufen können, dann nehmen Sie die Beine in die Hand und sorgen Sie dafür, daß Ihre beiden Freundinnen auch verschwinden.« Mara sprang hoch. »Wer hat dich denn hier runtergesetzt, du Nazischwein? Dieser Gehsteig ist öffentliches Eigentum. Hast du schon mal was vom First Amendment gehört?« »Ja, da steht drin, daß großmäulige Weiber wie du keine Redefreiheit haben.« Dann schlug er ihr mit dem Handrücken ins Gesicht. »Hilfe!« schrie Mara. »Hilfe! Feuer!« Sie versetzte ihm einen Tritt gegen das Schienbein. Er packte sie und knallte ihren Kopf gegen die Wand. Sie stürzte zu Boden und begann gegen seinen Schritt zu treten. Er packte ihren linken Fuß und versuchte sie über den Gehsteig zu ziehen, doch sie entwand sich seinem Griff und klammerte sich an seinen Beinen fest. Er war kräftig gebaut; sie schaffte es nicht, ihn von der Stelle zu bewegen, aber er konnte sie auch nicht ¡62 richtig greifen. Luisa sah eine Weile mit hochmütigem Blick zu, doch dann fiel ihr plötzlich die Whiskeyflasche ein. Nachdem sie kontrolliert hatte, ob sie gut verschlossen war, schlug sie ihm damit auf den Hinterkopf. Daraufhin ließ Cassidy Mara los und stürzte sich auf Luisa. In dem Augenblick kam der Streifenwagen. Nach einer kurzen Unterhaltung mit Brian Cassidy nahmen die Polizisten Luisa, Mara und Madeleine vorläufig fest, legten ihnen Handschellen an und schoben sie auf den Rücksitz des Wagens. 62
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Verloren im Raum
Mara befand sich in einem Raumschiff, irgendwo in der Schwärze des Weltalls. Auf den Sitz neben ihr war Beatrix geschnallt. Vorne am Steuer, mit dem Rücken zu ihnen, saß eine Frau im Brautkleid; Mara sah nur das weiße Kleid und den Schleier, aber sie wußte, daß das Oma Selena war, weil sie auf dem Zeitungsfoto von 1942 mit dem Kleid abgebildet war. »Wo bringst du uns hin, Oma?« fragte sie. »In den Irak?« Die Frau am Steuer gab keine Antwort, aber Beatrix lachte. »Großvater hat dich in ein Schwarzes Loch gestoßen, weißt du das denn nicht? Du wirst nie wieder den Weg zurück finden.« Mara sah ihre Mutter an. Das Gesicht war ihr vertraut von Fotos, die sie in Harriets Schreibtisch gefunden hatte. Genau wie auf den Fotos war dieses Gesicht auch jetzt zweidimensional, ohne jede menschliche Tiefe. Unter Maras Blick verwandelten sich ihre Augen in leere Höhlen. Der hohle Kopf lachte weiter: Mara war etwas Lächerliches, nichts Liebenswertes, und sie war unglaublich komisch, weil sie sich ihrer eigenen Absurdität nicht bewußt war. Mara wollte von den beiden Frauen loskommen, aber die Gurte hielten sie fest. Sie wollte um Hilfe rufen, doch sie brachte kein Wort heraus, und selbst wenn sie etwas sagen hätte können: Wer hätte sie in der Weite des Alls schon gehört? 63
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Blitz und Donner vom Großen Weißen Chef
Manchmal frage ich mich, ob die Ausbildung in der Psychiatrie des Midwest Hospital uns nicht selbst zu Fällen für den Psychiater macht: Wenn du nach der Ausbildung wieder in die Normalität zurückfindest, hast du die nötige Qualifikation, um die psychisch Kranken zu behandeln. Ich habe keine Ahnung, wie ich das, was passiert ist, aufschreiben soll. Und die Königin sagte zu Alice im Wunderland: Fang mit dem Anfang an, tja, und der sah so aus... Wahrscheinlich muß ich in der Klinik beginnen; heute ist Mittwoch. In der Klinik geht es immer ziemlich chaotisch zu: Die Frauen in der Aufnahme sitzen an ihren Schreibtischen hinter einer Glasscheibe, und Metalltrennwände vermitteln den Patienten die Illusion, so etwas wie eine Privatsphäre zu haben. Aber in Wahrheit fühlt sich der Patient sofort isoliert. Das Chaos wird noch durch das Verhalten der Angestellten verstärkt. Hanapers Verachtung für die Patienten und die Mitarbeiter überträgt sich auf die Angestellten, die die Patienten ebenfalls kühl und verächtlich behandeln. Am Mittwoch beschäftigen wir uns mit den ambulanten Patienten der Psychiatrie und der Neurologie. Zuerst stellt man sich in eine Warteschlange, dann meldet man sich bei der Angestellten, Charmaine für die Neurologie, Gretchen für die Psychiatrie, an. Charmaine sagt: »Sie sind nicht auf der Liste von Dr. Szemanski. Sind Sie sicher, daß Sie einen Termin in der Neurologie haben? Ach so, Sie sind wegen der Psychiatrie hier. Dr. Tammuz oder Dr. Demetrios? Dann müssen Sie sich an Schalter drei anstellen. Nein, hier kann ich Sie iS63
nicht anmelden. Ich habe Ihnen doch gerade erklärt, daß das hier der Schalter für die Neurologie ist, oder? Und es steht ja auch groß und deutlich auf dem Schild hier, nicht wahr?« Dabei deutet sie auf ein winziges Schild hinter sich. Tja, und dann muß der Patient sich wieder hinten anstellen. Meine Kollegin Melissa hat mit Gretchen und Charmaine darüber geredet, ob man dieses strenge System nicht etwas lockern könnte, aber sie ist mit diesem Versuch nicht auf große Gegenliebe gestoßen. Denn das würde ihre Machtposition schmälern - sie könnten dann nicht mehr so viele Menschen herumkommandieren. Ich gehe nach dem Mittagessen zu Gretchen, um mir meinen Plan anzusehen. Es warten bereits zwölf Leute auf mich, Melissa und Szemanski. Sie heben den Blick in jener hoffnungsvollen Anspannung, die so typisch für Wartezimmer ist: Ist der Doktor da? Komme ich bald dran? Hat er gute Nachrichten für mich? Eine junge Frau sitzt bei Charmaine: Sie sieht krank aus und ungepflegt und scheint nicht besonders gut geschlafen zu haben. »Ich will mit Dr. Tammuz sprechen.« Charmaine rattert wieder ihren üblichen Spruch herunter: Das hier ist die Neurologie und so weiter und so weiter. »Ist schon in Ordnung, Charmaine.« Er wandte sich der jungen Frau zu, gerührt von ihrem elenden Gesicht. »Ich bin Dr. Tammuz, meine Sprechstunde fängt gleich an. Haben Sie einen Termin?«
Die junge Frau murmelte, sie habe keinen Termin und auch keine Überweisung, sie sei einfach von der Straße hereingekommen. »Ich unterhalte mich gern heute nachmittag mit Ihnen, aber erst, wenn ich die Leute mit Terminen versorgt habe, in Ordnung? Und in der Zwischenzeit können Sie Gretchen Ihre Daten geben«, sagte Hector. »Meine Daten?« sagte die Frau mit leiser Stimme. '64 »Name und Versicherung, das ist alles. Sie sind hier in einem Krankenhaus; wir müssen wissen, wem wir unsere Dienste in Rechnung stellen können.« »Ich zahle bar«, sagte sie. »Ich... ich möchte meinen Namen nicht nennen.« »Dr. Tammuz«, mischte sich Gretchen ein, »die Leute warten schon auf Sie. Ich kümmere mich um die verwaltungstechnischen Dinge.« Gretchen stand von ihrem Schreibtisch auf und folgte Hector in den winzigen Raum, der Mittwoch nachmittags als Sprechzimmer benutzt wurde. Sie schloß die Tür hinter sich und hielt ihm einen Vortrag darüber, daß er nicht einfach nach Lust und Laune neue Leute auf die Liste setzen könne, weil das die Verwaltung völlig durcheinanderbringe. »Sie hat gesagt, sie zahlt bar. Ich könnte mir vorstellen, daß die Verwaltung sich darüber freut.« »Es geht nicht ums Geld, Doktor, sondern darum, daß wir die Räume verteilt haben. Außerdem arbeiten Charmaine und ich am Mittwoch je nach Bedarf und Patientenzahl. Es gerät alles durcheinander, wenn die Leute einfach reinkommen, weil sie glauben, sofort mit einem Arzt sprechen zu können.« »Verstehe«, sagte Hector. »Dann meinen Sie also, wir sollten Menschen, die Probleme haben, abweisen?« »Ach, die Leute, die hier reinkommen, glauben nur, sie hätten Probleme. Die sollten mal versuchen, vier Kinder mit einem einzigen Angestelltengehalt aufzuziehen, wenn der Mann behindert daheim hockt.« Allmählich begreife ich ihr Verhalten. Eigentlich müßte sie sich selbst auf der anderen Seite des Schreibtischs befinden und um Beistand bitten; deshalb hilft sie anderen so ungern. Aber wenn ich versuche, auf sie zuzugehen, reißt sie mir fast den Kopf ab. Allerdings erklärt sie sich bereit, die junge Frau auf die Liste zu setzen, und geht wieder an ihren Schreibtisch zurück, um mir den ersten Patienten hereinzuschicken. iS64
Im Gespräch mit dem zweiten Patienten ruft Gretchen an. Ich achte nicht darauf, doch sie ruft noch einmal an und bringt damit nicht nur mich, sondern auch meinen Patienten aus der Fassung. Nach den fünfzehn Minuten, die ich für diesen Patienten Zeit habe, erklärt sie mir, daß Dr. Stonds mich hat ausrufen lassen. »Er will Sie sofort sehen«, sagt Gretchen mit einer Unschuldsmiene, die mich verunsichert. Ich sage ihr, daß ich nicht weg kann, weil zu viele Patienten auf mich warten. »Ich habe mit Dr. Hanaper gesprochen, als Sie auf meinen ersten Anruf nicht reagiert haben. Er meint, Sie sollten mit der Patientensprechstunde weitermachen, wenn Sie bei Dr. Stonds gewesen sind.« Ich bin wütend auf Stonds, weil er meint, wir müßten alle nach seiner Pfeife tanzen, und auf Hanaper, weil er sich seinem Willen unterwirft. Und ich bin wütend über meine eigene Ohnmacht. Ich entschuldige mich bei den wartenden Patienten und gehe zu Stonds. Dort sieht es ganz anders aus als in den kahlen Sprechzimmern in der Klinik, wo es lediglich einen Plastikstuhl für den Patienten und einen für den Arzt gibt und einen winzigen Metalltisch. Stonds residiert in einem riesigen Büro mit einer alten Großvateruhr und Bücherregalen aus Mahagoni. Seine Sekretärin arbeitet in einem Vorzimmer, das so groß ist wie meine ganze Wohnung. Hinter ihr befindet sich seine Privatbibliothek, die auch als Konferenzzimmer genutzt wird und wo er sich vor ein paar Wochen unsere psychiatrischen Fälle angesehen hat. Nachdem seine Sekretärin mit dem Gott Rücksprache gehalten hat, schickt sie mich ins Audienzzimmer. »Nun, Dr. Tammuz? Was haben Sie zu Ihrer Entschuldigung vorzubringen?« begrüßte Abraham Stonds Hector von seinem Platz hinter der lederbezogenen Schreibfläche seines Tisches aus. Brokatvorhänge sperrten die Sommersonne aus. Vor 64 hänge, Leder und Wände waren in Grün gehalten; eine einzige Lampe war eingeschaltet, und in ihrem gedämpften Licht kam Hector sich vor wie auf dem Grund eines Aquariums. »In welcher Hinsicht, Sir?« Hector war ein bißchen verwirrt über die Frage des alten Mannes.
»Stellen Sie sich nicht dümmer, als Sie sind, Dr. Tammuz. Was wollten Sie mit meiner Enkelin machen? Nach den Ereignissen der vergangenen Nacht ist es ganz schön dreist von Ihnen, sie sehen zu wollen.« Hector fiel die Kinnlade herunter. Er fragte sich, ob der alte Mann unter seniler Demenz litt, die seine Sekretärin bislang vor den anderen Mitarbeitern hatte kaschieren können. »Die Ereignisse der vergangenen Nacht, Sir?« sagte er. »Ich fürchte, ich...« »Sind Sie vielleicht ein verdammter Papagei, daß Sie mir alles nachplappern müssen? Ja, die Ereignisse der vergangenen Nacht. Meine Enkelin wurde verhaftet, unter anderem auch deshalb, weil Sie sich in Dinge einmischen, die Sie absolut nichts angehen. Und jetzt versuchen Sie, sie heimlich während Ihrer Sprechstunden zu sehen? Glauben Sie denn, Sie können mich zum Narren halten? Ich werde Ihnen schon zeigen, wer hier der Narr ist, junger Mann!« Dabei schlug Dr. Stonds mit der offenen Hand auf den Schreibtisch. Hector war nun wirklich überzeugt, daß der Chirurg krank war. In seinem eigenen Kopf machten sich unterschiedliche Gedanken breit: daß der alte Mann, auch wenn er verrückt war, Hectors Karriere ruinieren konnte; daß Hector Hilfe holen sollte; daß er Stonds beruhigen und so schnell wie möglich aus dem Büro verschwinden mußte. »Ah, Sir, könnte es sein, daß Sie mich mit jemandem verwechseln? Ich habe Ms. Stonds noch nie im Leben gesehen.« »Wie können Sie es wagen?« In dem gedämpften Licht schien Stonds' Gesicht groß zu werden wie ein Hai, der auf einen gestrandeten Seemann zuschwamm. »Sie haben sie doch zusätzlich in Ihre Patientenliste aufgenommen, und das ohne Termin, oder?« 65 »Das ist Ihre Enkelin? Ich hatte keine Ahnung... Sie hat mir ihren Namen nicht gesagt... Ich habe sie noch nie zuvor gesehen.« Hector wurde übel. Nach den Ereignissen der vergangenen Nacht... Hatte jemand die Tochter von Stonds angegriffen? Hatte sie seinen Namen erwähnt und beschlossen, ihn in die Bredouille zu bringen? »Hector Tammuz? So heißen Sie doch, oder? Und Dr. Hanaper hat Sie der Lenore Foundation für die Arbeit mit den Obdachlosen empfohlen, nicht wahr?« »Ja, Sir, aber...« »Und außerdem haben Sie beschlossen, sich für eine psychotische Frau einzusetzen, die neben der Garage des Hotel Pleiades lebt, und sie über ihre juristischen Rechte zu informieren.« »Nein, Sir. Ich weiß nichts über die gesetzlichen Regelungen und würde nie jemandem einen juristischen Rat geben.« Hectors Lippen fühlten sich steif und taub an, als habe jemand sie mit Formaldehyd konserviert. »Ich habe erfolglos versucht, die Frau wegen Schizophrenie und Paranoia zu behandeln. Ich habe sie zu überreden versucht, nach oben an die Sonne zu gehen, aber ich bin mit meinen Bemühungen gescheitert. Eine weitere Verbindung besteht nicht zwischen ihr und mir.« »Lügen Sie mich nicht an, junger Mann!« Wieder ließ Dr. Stonds die Hand auf den Schreibtisch sausen. »Sie haben dem Mann von der Hotelgarage Ihren Namen gegeben. Er hat uns gesagt, er hätte gehört, wie Sie die Frau beraten haben. Sie hätten ihr gesagt, der Gehsteig sei öffentliches Eigentum, und das Hotel könne sie nicht zwingen zu gehen.« Hector versuchte sich wieder an die Szene vor der Hotelgarage zu erinnern. Er sprach mit so vielen Menschen über so viele unterschiedliche Dinge, daß der Abend für ihn schon weit, weit weg war. Am deutlichsten erinnerte er sich noch an die Muskeln des Mannes von der Garage, die fast seine Jackenärmel sprengten. 65 »Ich sehe schon, Sie haben nicht damit gerechnet, daß wir einen Zeugen haben, Dr. Tammuz, stimmt's?« Dr. Stonds' Triumph riß Hector aus seinen Überlegungen. »Eine von den Obdachlosen, die mich zu Madeleine Carter gebracht hat - das ist die Frau, die ich behandeln wollte -, hat mir gesagt, daß der Gehsteig öffentliches Eigentum ist. Das wußte ich vorher nicht. Wahrscheinlich meint der Mann von der Garage, daß ich das gesagt habe, weil er die Frauen überhaupt nicht wahrgenommen hat. Sie sind obdachlos, und eine ist obendrein noch schwarz, da kann es schon sein, daß sein Gedächtnis ihm einen Streich spielt. Vermutlich ist das eine Art Projektion.«
Hector war erstaunt, daß er so ruhig argumentieren konnte, obwohl ihm der Boden unter den Füßen wegzugleiten drohte. Oder vielleicht redete er auch nur Unsinn, war aber zu durcheinander, es zu merken. »Aber, Sir, was hat das mit Ihrer... mit Ms. Stonds zu tun?« »Jetzt werden Sie bloß nicht frech, junger Mann! Dr. Hanaper hat mir erzählt, daß Sie ein Waschlappen sind, der sich vor jeder Verantwortung drückt. Und nun sehe ich auch, wie recht er mit seinem Urteil hatte: Sie versuchen, Ihr eigenes Fehlverhalten auf einen psychotischen Menschen abzuwälzen, der keine Ahnung von Gesetzen hat...« Während Dr. Stonds ihn weiter beschimpfte, begann Hector, seine Schulden im Kopf zu überschlagen, eine seiner Techniken zur Ablenkung, die er wohl ein Dutzend Mal pro Woche einsetzte. Die siebenundneunzigtausend Dollar für seine Ausbildung standen an erster Stelle, aber da waren auch noch andere Beträge, darunter die fünftausend für den gebrauchten Honda. Die Miete machte über sechshundert Dollar im Monat aus. Wenn er Versicherung, Zinsen und andere Fixkosten beglichen hatte, blieben ihm monatlich noch ungefähr zweihundert Dollar für Nahrung, Kleidung und Vergnügen - für die wenigen Abende, an denen er noch wach genug war, sich vergnügen zu können. Wie lange würde es dauern, bis er sich zu Madeleine Carter an der Wand gesellte, wenn Stonds ihn vor 66 die Tür setzte? Falls er nach diesem Nachmittag noch einen Job hatte, so überlegte er, sollte er sich vielleicht einen Schlafsack kaufen, damit er sich im Ernstfall nicht in einen alten Mantel hüllen mußte. Dr. Stonds sprach inzwischen nicht mehr von Hectors Charakterschwächen und seiner unzureichenden Ausbildung, sondern von seinen eigenen unangenehmen Erfahrungen im First-District-Polizeirevier. »Haben Sie eine Vorstellung davon, wie es ist, mitten in der Nacht geweckt zu werden und zu erfahren, daß die Enkelin wegen Ruhestörung verhaftet worden ist?« Natürlich nicht, du blödes Arschloch, dachte Hector, ich habe ja kein Kind, geschweige denn eine Enkelin. »Es muß furchtbar sein, Sir, aber ich begreife nicht, was das mit mir oder Madeleine Carter zu tun hat.« »Wer zum Teufel ist Madeleine Carter?« Hector versuchte, nicht hysterisch zu werden. »Das ist die schizophrene Frau, die vor der Garage des Hotel Pleiades kampiert. Der Grund, warum Sie mich sehen wollten.« »Hören Sie eigentlich nie zu, Tammuz? Sie ist schuld, daß man meine Enkelin verhaftet hat. Und das hat wieder damit zu tun, daß Sie sich in Dinge eingemischt haben, die Sie nichts angehen.« Hector kam sich vor wie ein gestrandeter Matrose, der das sichere Land vor Augen hat, aber gegen so viele Strömungen ankämpfen muß, daß er nicht mehr weiß, in welche Richtung er schwimmen soll. »Was hat sie... Ms. Carter... denn getan? Sie leidet unter ziemlich schweren Störungen; sie hat Angst vor fremden Menschen und ist unfähig, mit anderen Leuten zu kommunizieren. Jemand, der keine Erfahrung mit Psychosen hat, reagiert möglicherweise verwirrt auf ihr Verhalten. Aber ehrlich, Sir - ich weiß nicht, was heute nacht passiert ist. Warum hat man Ihre Enkelin verhaftet? Und was ist mit Madeleine Carter passiert? Ist sie auch verhaftet worden?« Hector stellte sich vor, wie Madeleine Stonds' Enkelin das Blut der Jungfrau anbot. Weil eine psychotische Obdachlose i66
ihre rost- (oder vielleicht auch blut-) verschmierten Finger ausstreckte, rannte die Stonds-Enkelin gleich zur Polizei und kreischte, Madeleine habe sie angegriffen. »Sie behaupten doch, etwas von der menschlichen Psyche zu verstehen«, sagte Stonds. Offenbar wollte er die Taktik ändern. Jedenfalls beugte er sich nun mitleidheischend über den Schreibtisch. »Dann sagen Sie mir doch, warum eine junge Frau, die nun wirklich alles hat, was man sich vorstellen kann« - dabei schlug er auf die Schreibtischplatte, um seine Worte zu unterstreichen -, »Bildung, Aufmerksamkeit, Geld... warum diese junge Frau sich in aller Öffentlichkeit zum Narren machen muß, um mich zu demütigen.« Hector sagte nichts. »Sie ist zu Ihrer tollen Psychopathin gegangen, um ihre ältere Schwester in Verlegenheit zu bringen, die übrigens die begabteste und vielseitigste junge Frau von Chicago ist. Und um mich in Verlegenheit zu bringen. Sie hat irgendwie diese verdammte Sängerin, die Schwester des armen Harry Minsky, kennengelernt, den Mann von der Garage angegriffen und ist schließlich verhaftet worden. Und jetzt ist sie in die Klinik gekommen, um sich bei Ihnen mit ihren Schandtaten zu brüsten. Und Sie behaupten immer noch, sie nicht zu kennen?«
Hector machte den Mund auf. »Sir, ich habe Ms. Stonds vorhin wirklich zum erstenmal gesehen, und ich hatte keine Ahnung, daß sie Ihre Enkelin ist. Ich wußte auch nicht, daß sie heute nacht verhaftet worden ist. Aber sie hat nicht wie jemand ausgesehen, der prahlen wollte; sie hat auf mich eher wie eine ziemlich unglückliche junge Frau gewirkt, die jemanden braucht, mit dem sie sich unterhalten kann.« Seine Hände zitterten vor Anstrengung. Er steckte sie in die Taschen. Stonds sah ihn mit finsterem Gesicht an. »Sie werden nicht mit ihr sprechen. Das ist ein Befehl. Ich habe für sie einen Termin mit Hanaper vereinbart. Ich kann mich darauf verlassen, daß er mir ehrlich sagt, wie er ihren geistigen Zustand be 67 urteilt, und daß er sie nicht ermutigt, sich in Selbstmitleid zu suhlen.« »Sir, bei allem Respekt: Sie ist gekommen, um mit mir zu sprechen. Sollte sie nicht...« »Ich habe jetzt wirklich genug von Ihrer Dreistigkeit, Tammuz. Solange ich in diesem Krankenhaus etwas zu sagen habe, werden die Patienten mit den Ärzten sprechen, die ich für richtig halte, auch wenn diese Patienten zu meiner eigenen Familie gehören.« Das alles wäre richtig komisch gewesen, wenn er es nicht so ernst gemeint hätte. Ich war zu verwirrt, um noch etwas zu sagen. Wahrscheinlich habe ich sowieso schon viel zuviel gesagt, jedenfalls mehr, als für meine Tätigkeit hier gut ist. Was für eine Macht diese Männer doch über unser Leben haben - die Krankenhäuser sind kleine totalitäre Staaten inmitten der Republik. Plötzlich bellte Stonds mich an: »Nun, worauf warten Sie noch?« Ich riß mich zusammen, so gut es ging, und kehrte in die Sprechstunde zurück. Stonds' Enkelin war nicht mehr unter den Patienten. i67
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Die Vorhölle
A ls Mara noch klein war, begleitete sie am Samstag gern ihren Großvater ins Krankenhaus. Die
Medizinstudenten ließen sie durchs Stethoskop ihren Herzschlag hören, und wenn Großvater mit seiner Runde fertig war, durfte sie mit ihm zu den Tierlabors, wo sie die Kaninchen streicheln konnte. Wo sie auch hinkamen - die Menschen blieben voller Hochachtung stehen, um sie vorbeizulassen, oder zeigten großes Interesse an dem kleinen Mädchen, weil es sich in Gesellschaft von Dr. Stonds befand. Als Mara noch ein Kind war, wurde Großvater durch den Respekt, den alle vor ihm hatten, noch bedeutender für sie. Ja, natürlich hatte sie Angst vor ihm, wenn er wütend wurde, aber er war so wichtig, daß er die Aufmerksamkeit und die Angst, die er bei anderen Menschen hervorrief, wert war. Einmal erklärte sie den Gästen beim Abendessen, ihrem Großvater gehöre das Midwest Hospital; alle lachten, und Großvater zerzauste ihr voller Freude die dichten Locken. Das war damals, als Harriet das College besuchte und Großvater sich kurze Zeit Mara zuwandte, um sich von ihr bewundern zu lassen. Heute jedoch, als sie versuchte, mit Dr. Tammuz zu sprechen, haßte sie Großvater dafür, daß ihm das Krankenhaus praktisch gehörte. Denn das bedeutete, daß sie in einer höchst privaten Angelegenheit keinerlei Privatsphäre hatte. Obwohl sie sich zusammen mit einer Gruppe von Angestellten durch einen Seiteneingang in das Gebäude schlich, hatte sie Angst, jeden Augenblick eine Stimme über die Gegensprechanlage zu hören: »Dr. Stonds, Ihre Enkelin hat soeben das Gebäude betreten. Sie befindet sich gegenwärtig im ersten Stock des Kobold Pavillon und bewegt sich in südlicher Richtung.« Seit ihrem letzten Besuch dort vor fünf Jahren hatte sich das 67 Krankenhaus in alle Richtungen ausgebreitet - fast wie ihr eigener Körper, dachte sie - und war zu einem unschönen Ort mit merkwürdigen Ausbuchtungen an den ungeeignetsten Stellen geworden. Sie hatte Mühe, die Psychiatrie zu finden, wollte aber niemanden nach dem Weg fragen, weil sie Angst hatte, erkannt zu werden. Doch ihre Vorsicht nützte nichts. Obwohl sie sich dagegen wehrte, brachte die Frau an der Rezeption Mara dazu, ihr ihren richtigen Namen zu nennen. Und schon war Großvater am Telefon und brüllte, was sie sich eigentlich einbilde, die schmutzige Wäsche der Familie in der Öffentlichkeit zu waschen: Es reicht dir wohl nicht, mich auf ein Polizeirevier zu hetzen, wo ich mir von einem fetten Schreibtischpolizisten einen Vortrag über die schlechte Disziplin in der amerikanischen Familie unserer Zeit anhören muß. Jetzt mußt du mich auch noch vor meinen
Kollegen und Studenten demütigen. Ausgerechnet vor Hector Tammuz, dem schwächsten Assistenzarzt, den wir seit zwanzig Jahren am Midwest Hospital gehabt haben und der die Ratschläge seiner erfahrenen Kollegen grundsätzlich mißachtet. Ich verbiete dir, mit ihm zu sprechen. Wie sollte ihr Tammuz auch helfen können? Sie war nur wegen des Traums von ihrer Mutter in dem Raumschiff zu ihm gekommen. Als sie aufwachte, hatte sie sich unglaublich allein gefühlt. Die Erinnerung an den Abend mit Luisa, an die betrunkene Diva, an ihre eigenen theatralischen Beschwörungsformeln für die Göttin und an die Verzweiflung der armen Frau, die die Jungfrau sprechen hörte, ließen ein Gefühl des Selbsthasses in ihr aufkommen. Sie ging ins Bad und sah ihr Bild in dem großen Spiegel an der Tür. Normalerweise wandte sie den Blick gleich wieder ab, aber jetzt zwang sie sich dazu, sich anzuschauen. Sie hatte einen massigen Körper, große, braune Brüste, struppige schwarze Haare im Schritt und unter den Achseln. Du ekelhafter Fettkloß, flüsterte sie dem Spiegel zu. Dann verzog sich ihr breites Gesicht zu einem Schluchzen, und sie gab sich selbst eine Ohrfeige. Warum heulst du, du Jammerliese? i68
Sie duschte, rubbelte wie wild an ihrer Haut herum und rief dann Cynthia Lowrie im Büro an, um sich trösten zu lassen: »Großvater will mich rauswerfen. Er sagt, ich darf morgen nicht mehr hier sein, wenn Mephers aus der Reha-Klinik zurückkommt.« »Du kannst nicht bei mir wohnen, Mara. Du weißt genau, daß es mein Vater nie zulassen würde.« »Ich will auch nicht bei deinem doofen Vater wohnen. Er ist noch schlimmer als Großvater. Aber... aber Cynthia, was soll ich bloß machen?« Dann erzählte sie ihr alles über das Abenteuer der vergangenen Nacht. Cynthia war schockiert, aber auch ein bißchen neidisch: Mara hatte so viel Mut, auch wenn dieser Mut sie dazu trieb, wirklich dumme Dinge zu tun. Es war nicht das erste Mal, daß Mara sie anrief, wenn ihre Impulsivität sie in Schwierigkeiten gebracht hatte, aber dies war das schlimmste, was sie ihr je gebeichtet hatte. »Meinst du, ich bin verrückt? Großvater redet so viel von dem bösen Blut, das in meinen Adern fließt, daß ich allmählich anfange zu glauben, er könnte recht haben. Vielleicht habe ich ja etwas an mir, was mir alle sofort ansehen.« »Du bist wirklich verrückt, Mara, wenn du dich vor eine Wand stellst und so tust, als würdest du mit einer alten Göttin sprechen. Aber weißt du, was du tun solltest? Du solltest mal mit einem Psychiater reden. Im Krankenhaus deines Großvaters gibt's so einen Arzt, der in Hagar's House die obdachlosen Frauen berät. Daddy sagt, daß dein Großvater ihn nicht sonderlich leiden kann und daß er ihn deshalb für den undankbaren Job ausgesucht hat. Daddy haßt ihn, weil er Jude ist, vielleicht auch, weil er auf Daddy herabsieht. Aber das würde dich doch nicht stören, oder? Ich meine, daß er Jude ist. Und er ist wirklich süß.« Als Mara im Krankenhaus anrief, erfuhr sie, daß Hector an jenem Nachmittag Sprechstunde in der Psychiatrie hatte. So etwas nannte man Synchronismus. Vielleicht war Gula tatsächlich so etwas wie eine Schutzgöttin für sie. 68 Dr. Tammuz war wirklich süß, das mußte Mara zugeben, als er sich im Wartezimmer mit ihr unterhielt. Und er hatte ein ausgesprochen freundliches Gesicht. Mara stellte sich vor, wie sie ihm von Harriet und Großvater erzählte. Er würde sich in Harriet verlieben, wenn er ihre Beschreibung hörte. Wie der Mann von der Staatsanwaltschaft in der vergangenen Nacht würde er Mara helfen, weil er sich Hoffnungen machte, so vielleicht ihre Schwester kennenlernen zu können. Und Harriet, die bisher alle Verehrer der Orleans Street Church und all die gläubigen jungen Christen abblitzen hatte lassen, die bei Großvater studierten oder Kommilitonen von ihr gewesen waren, würde sehen, daß Mara sich in Dr. Tammuz verguckt hatte, und ihn gerade deswegen heiraten. Als Großvater sie über Gretchens Telefon anbrüllte, schniefte Mara bei dem Gedanken daran, daß sie wie im Märchen in irgendeinem Dachkämmerchen versauern würde, während Harriet und Dr. Tammuz Flitterwochen auf einer griechischen Insel machten. »Ich weiß nicht, was ich mit dir anfangen soll, junge Frau«, schloß ihr Großvater. »Wenn du eine eigene Wohnung hast, liegst du den ganzen Tag faul herum und säufst, ohne dir Gedanken über einen Beruf zu machen. Für ein Internat bist du zu alt. Und aufs College willst du nicht. Also - was schlägst du vor?« »Du hättest mich im Gefängnis lassen sollen. Dann wärst zumindest du glücklich gewesen«, sagte sie zornig schniefend.
»Komm mir ja nicht mit deinen melodramatischen Anwandlungen, junge Frau, dazu bin ich nicht in der Stimmung. Du bist wirklich gestört; vielleicht könnte dir ein Krankenhausaufenthalt helfen. Dr. Tammuz ist nicht der Richtige, deinen psychischen Zustand zu beurteilen, aber wenn du schon mal hier im Krankenhaus bist, werde ich Dr. Hanaper bitten, dich zu untersuchen.« »Nein!« Dr. Hanaper war häufig zum Abendessen in der Graham Street. Mara haßte die Kälte in seinen Augen, auch wenn er Großvater und Harriet mit dem Mund anlächelte. 69 »Das ist doch nur einer von deinen Lakaien; der steckt mich in die geschlossene Abteilung, wenn er meint, daß du das möchtest. Aber da ist ja auch meine Mutter, oder? Du hast die Schnauze voll gehabt von ihr und sie einweisen lassen...« »Jetzt reicht's, Mara. Mein Beschluß ist gefaßt. Ich werde dafür sorgen, daß er sich heute nachmittag mit dir unterhält. Gib mir wieder die Angestellte.« Mara ließ den Hörer fallen und rannte aus der Klinik. Nun hatten Gretchen und Charmaine genug Gesprächsstoff. Die Warteschlange der Patienten, die immer länger geworden war, als Mara Gretchens Telefon blockierte (Charmaine hatte über ihren eigenen Apparat mitgehört), kam nun völlig zum Stehen, als die beiden Frauen sich zu den Aktenschränken zurückzogen, um sich über das Telefonat zu unterhalten. Sie wurden erst gestört, als Dr. Stonds Dr. Tammuz zu sich rief. Als Hector ein paar Minuten vor fünf seinen letzten Patienten verabschiedet hatte, unterhielten sich Gretchen und Charmaine erneut, während sie ihre Schreibtische aufräumten. Sie schenkten Hector keine Beachtung, der direkt vor Gretchen stand und darauf wartete, daß sie zu reden aufhörten. Schließlich fragte er wütend: »Gretchen, was ist aus Ms. Stonds geworden?« Sie sah ihn an. »Doktor, der Computer ist abgestürzt. Wir hatten alle Hände voll damit zu tun, ihn wieder zum Laufen zu bringen, da hatten wir keine Zeit, uns um jeden zu kümmern, der hier reingekommen ist.« »Warum haben Sie Dr. Stonds angerufen, obwohl sie einen Termin mit mir wollte?« Gretchen sah Charmaine an. »Das Problem mit Amerika heute ist, daß die Familien nichts mehr taugen. Das weiß jedes Kind. Ich kann doch keine Minderjährige ohne Krankenversicherung in die Liste aufnehmen, ohne daß ich ihre Eltern oder ihren Vormund verständige - das geht einfach nicht.« »Mit anderen Worten: Sie hatten Angst. Schließlich hätte Dr. Stonds ja herausfinden können, daß Sie von Ms. Stonds' /69 Besuch in der Klinik wußten, und Sie wollten es sich nicht verderben mit ihm. Na schön. Man muß in der heutigen Zeit wirklich vorsichtig sein; es werden einfach zu viele Jobs gestrichen. Wissen Sie, ob Dr. Hanaper mit ihr gesprochen hat?« Gretchen bleckte giftig die Zähne. »Fragen Sie ihn doch selbst, Dr. Tammuz. Wenn er eine so hohe Meinung von Ihnen hat, erzählt er Ihnen sicher gern alle Geheimnisse seiner Patienten. Wenn das alles ist, Doktor... Ich habe einen Babysitter, der nach sechs das doppelte kostet. Wahrscheinlich ist das für einen Arzt nebensächlich, aber für eine kleine Angestellte an der Rezeption ist es wichtig.« Sie schob die Schubladen ihres Schreibtischs mit einem Knall zu, verschloß sie ostentativ und marschierte, Charmaine im Schlepptau, aus dem Büro. Er sank auf einen der Stühle im Wartezimmer, die Glieder schwer von den Auseinandersetzungen des Nachmittags. In einer Hinsicht hatte Gretchen recht: Er mußte herausfinden, ob Dr. Hanaper Ms. Stonds untersucht hatte, aber allein bei dem Gedanken daran, sich mit seinem Vorgesetzten zu unterhalten, wurde Hector übel. Er wollte nach Hause, ins Bett, doch zuerst mußte er sich erkundigen, ob Madeleine Carter noch im Gefängnis war. Er hatte keine Ahnung, wie er die Sache mit der Polizei anpacken sollte. Vielleicht hätte Mara Stonds ihm sagen können, wohin sie Madeleine gebracht hatten. Er ging wieder ins Sprechzimmer, um seine Aufzeichnungen über die Sitzungen des Nachmittags zu diktieren, als er das Krankenhaushandbuch auf Melissa Demetrios' Schreibtisch sah. Darin standen die Privatadresse und die Telefonnummer von Stonds. Mit wackeligen Knien wählte er die Nummer. Als sich eine Frau mit kühler, distanzierter Stimme meldete, wurde er noch nervöser, sagte ihr aber seinen Namen und fragte, ob er mit Ms. Stonds sprechen könne.
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Die Eiskönigin in der Unterwelt
normalerweise kam Harriet nicht so früh am Abend nach Hause. Besprechungen mit Mandanten oder ihrem Seniorpartner Leigh Wilton sorgten meist dafür, daß ihr Arbeitstag bis sieben oder noch länger dauerte. Doch der Schlafmangel und die Sorge um Mara trieben sie an jenem Tag früher nach Hause. Gian Palmetto hatte sie nach dem Mittagessen noch einmal ziemlich aufgelöst angerufen. Er wollte wissen, was sie gegen das Verhalten ihrer Schwester vor der Garage zu tun gedenke. »Ich weiß es nicht, Gian«, hatte sie gesagt und ihre Müdigkeit und Verärgerung unterdrückt. »Ich werde mir alles noch einmal in Ruhe überlegen und Ihnen dann mitteilen, welches Vorgehen mir am sinnvollsten erscheint.« Normalerweise hatte sie am Nachmittag so viele Termine, daß sie kaum Zeit zum Essen fand. Sie war stolz darauf, sich um halb drei mit einem Installateur und um Viertel nach drei mit einer Ballerina unterhalten und die Probleme von beiden gleich gut verstehen zu können. Doch heute fiel es ihr schwer, sich auf die Menschen oder ihre Probleme zu konzentrieren. Der ganze Tag war schwierig gewesen, aber am schwierigsten war es, »nein« zu grandpere zu sagen, nein, sie würde keine Wohnung für Mara suchen. Doch Mara hatte sich nicht einmal für ihre Unterstützung bedankt. Und jetzt brüllte Gian Palmetto ihr ins Ohr, als habe Harriet Mara absichtlich zu der Garage geschickt, um ihn zu ärgern. Sie schlug mit der flachen Hand auf das Telefon und wünschte sich, es wäre Gians, nicht Maras Gesicht. Dann gab sie ihrer Sekretärin den Auftrag, ihre Nachmittagstermine zu verlegen, denn sie wollte zum Hotel Pleiades, um die Angelegenheit in den Griff zu bekommen, und dann nach Hause. »Ich bin heute einfach nicht fit. Wenn jemand überhaupt I 70
nicht warten kann, dann bitten Sie einen von den anderen Anwälten im Haus, sich mit ihm zu unterhalten.« Ihre Sekretärin zögerte einen Augenblick, bevor sie ja sagte. Normalerweise hüteten ehrgeizige junge Anwälte wie Harriet ihre Mandantenlisten aggressiv wie Hunde auf dem Schrottplatz. Entweder war Harriet tatsächlich krank, oder sie hatte den Biß verloren. Im zweiten Fall würde sich die Sekretärin nach einem neuen Job umsehen, denn der einzige Vorteil, den Harriet als Chefin bot, war ihr Erfolg. Das bedeutete, daß ein bißchen von ihrem Ruhm auch auf ihre überarbeiteten, aber ansonsten kaum beachteten Angestellten abfärbte. Wenn sie den Willen zum Erfolg verloren hatte, gab es keinen Grund mehr, bei ihr zu bleiben. Unten auf der Straße winkte Harriet ein Taxi heran, doch als sie gerade einsteigen wollte, überlegte sie es sich anders. Vielleicht bekäme sie einen klareren Kopf, wenn sie die eineinhalb Kilometer zum Hotel zu Fuß ginge. Es war ein warmer Julitag. In ihrem Büro liefen die Jahreszeiten in umgekehrter Richtung ab: Die Klimaanlage erwärmte die Räume im Winter so sehr, daß die Wollsachen auf der Haut scheuerten, während sie im Sommer lange Ärmel und Jacken tragen mußte, damit sie nicht fror. Draußen klebte ihr Kleid mit den langen Ärmeln und den Schulterklappen an ihr wie ein Plastikhandschuh. Da sie Turnschuhe auf der Straße nicht ausstehen konnte, die aus Erfolgsfrauen unprofessionelle Schlampen machten, taten ihr die Zehen in ihren hochhackigen Schuhen schon bald weh. Ihr Weg führte sie am Chicago River entlang; sie blieb bei einer der Brücken stehen, um ihren Füßen ein bißchen Erholung zu gönnen. Unter ihr fuhr ein Ausflugsboot in Richtung See vorbei. Sie konnte sich nicht vorstellen, Spaß an einem solchen Ausflug zu haben, eingeklemmt zwischen Fremden, in der Luft der Gestank des Dieselmotors, der sich mit den abgestandenen Fettdünsten aus der Kombüse vermischte. Aber hatte sie mehr Spaß an ihren einsamen Urlauben in Schiorten oder auf fernen Inseln als diese Leute da unten?
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Hatte Mara recht? War sie wirklich so kalt und lebte in ständiger Angst vor ihrem Großvater? Nun, vielleicht hatte sie tatsächlich Angst vor ihm, aber Mara begriff das Wesen dieser Angst nicht: Sie fürchtete nicht, daß er sie anbrüllen würde wie seine Studenten oder Mara, sondern daß er sie nicht mehr schätzen und lieben könnte. Sie nannte ihn grandpere und sprach oft französisch mit ihm, um ihn in seinem Glauben zu bestärken, daß er ein großer Kosmopolit war. Dadurch schuf sie eine noch größere Distanz zu Mara, die sich weigerte, diese Sprache zu lernen. Seit damals, als er und Mephers sie bei sich aufgenommen hatten, wußte Harriet, daß sie sich so stark wie möglich von Beatrix unterscheiden mußte, wenn sie bei den beiden bleiben wollte. Und als dann noch das Baby kam, ihre kleine Schwester, die sie von ihrem Thron verstoßen konnte, gab
sie sich noch mehr Mühe, perfekt zu sein. Wenn sie nicht die Beste war, zum Beispiel im Tennis oder im Reiten, hörte sie damit auf. Es war zu riskant zu versagen. Das Ausflugsschiff warnte ein kleineres Boot mit einem Tuten. Harriet warf erschrocken einen Blick auf ihre Uhr: Sie hatte sieben Minuten an der Brücke verbummelt, ohne auch nur einen Gedanken an die juristischen Probleme ihres Mandanten zu verschwenden. Sie schlüpfte wieder in ihre Schuhe und eilte in Richtung Hotel. Als sie am Hotel Pleiades anlangte, waren ihre Füße geschwollen, und die Haare klebten ihr schlaff am Kopf. Sie erniedrigte sich selbst vor Gian Palmetto, indem sie mit ihm zu der unseligen Garagenwand ging; verdammte egoistische, impulsive Mara, die ihr in der Nacht eine Szene gemacht hatte. Die Klimaanlage blies durch den feuchten Stoff ihres Kleides; als sie in Palmettos Büro ankam, zitterte sie. Seine Sekretärin brachte ihr eine Jacke und eine Tasse Kaffee und versprach, daß sie nicht lange auf Mr. Palmetto warten müsse. Harriets Verärgerung wuchs: Sie haßte das Gefühl, wie eine Bittstellerin im Büro eines Mandanten zu sitzen. Normalerweise warteten die Mandanten auf sie; sie war es nicht ge¡71 wohnt, verschwitzt wie ein Mitglied einer Putzkolonne dazusitzen, während Palmetto sie schmoren ließ. Sie holte ihr Handy aus der Handtasche und begann zu telefonieren. Als Palmetto schließlich erschien, war sie zu beschäftigt, um ihn wahrzunehmen. Nach einer langen Diskussion über die genaue Bedeutung von Paragraph sieben, Absatz zwei der Vorschriften der Illinois Commerce Commission über die Verantwortung von Abfallbeförderungsunternehmen für die Verschmutzung von Straßen schaltete sie den Apparat aus und tat so, als sehe sie ihn zum erstenmal. »Gian! Haben Sie lange warten müssen? Tut mir leid, aber ich mußte eine ganze Menge Leute vertrösten, um hierherkommen zu können, und Sie wissen ja: Heutzutage hält jeder sein Problem für das wichtigste. Wahrscheinlich ist es das Wetter, das macht alle nervös... Nun, was hat es also mit der Garagenwand auf sich? Warum ist sie plötzlich so wichtig geworden?« »Keine Ahnung. Ich werde Brian Cassidy bitten, uns die Situation näher zu erklären. Er sieht dort in der Nacht nach dem rechten. Im Augenblick müßte er in der Verwaltung sein -normalerweise schaut er dort so gegen halb vier zu einer Besprechung vor seiner Schicht vorbei.« Brian Cassidy war erfreut, Harriet kennenzulernen, und hoffte, sie sei in der Lage, das Problem zu lösen. Er war weiß Gott nicht darauf aus, Frauen tätlich anzugreifen, auch wenn diese Frauen Pennerinnen waren, aber dieses Weib... Entschuldigung, Ms. Stonds, dieses... Mädchen... ging ihm allmählich wirklich auf die Nerven. Genau wie Hector fielen Harriet zuallererst Cassidys Muskeln auf, die seine Jacke zu sprengen drohten. Mara hatte am Morgen gesagt, Cassidy habe sie geschlagen und ihren Kopf gegen die Wand geknallt; als Harriet daran dachte, bekam sie Mitleid mit Mara. Arme kleine Schwester; sie war von einem Monster verprügelt worden. Zwar war Mara ziemlich kräftig für eine Frau, aber gegen einen Gorilla kam auch sie nicht an. Und wie ein Gorilla sah Cassidy aus: Er hatte eine niedrige Stirn, blaue Augen und eine Stupsnase, die sich in seinem großen, runden, roten Gesicht fast verlor. »Mein Assistent hat mir gesagt, daß Sie die Wand jede Nacht mit einem Schlauch abspritzen. Und das entmutigt die Frau nicht?« Ihre Stimme war klar und kühl, wie Eis, und Brian Cassidy fingerte an seiner Krawatte herum vielleicht saß sie ja schief. »Sie verschwindet immer, bis wir fertig sind, und dann kommt sie wieder und zündet Kerzen an wie in der Kirche. Die ganzen Obdachlosen da drunten gehen mir allmählich auf die Nerven. Die schauen einen aus den Schatten heraus an wie Gespenster, aber diese Verrückte ist die schlimmste. Es ist gar nicht so leicht, für Ordnung in der Garage zu sorgen, wenn solche Scheiße... Entschuldigung... wenn die ganze Zeit so etwas passiert. Für die Frauen ist das am unangenehmsten. Eine von ihnen hat sich letzte Woche nachdrücklich beschwert.« »Madeleine Carter lungert vor der Garage herum«, sagte Harriet ruhig. »Eigentlich müßten wir sie wegbringen lassen können, wenn sie dort kampiert.« »Aber der Arzt, der letzte Woche hier war, er... Ich glaube, er wollte ihr eine Spritze geben und sie überreden zu gehen... Aber er hat auch gesagt, daß der Gehsteig öffentliches Eigentum ist und daß wir nichts gegen sie machen können, wenn sie sich dort aufhält.«
Harriet lächelte. »Wer ist denn dieser Arzt? Wäre es ihm recht, wenn ich seinen Patienten medizinische Ratschläge geben würde? Der Gehsteig gehört tatsächlich nicht dem Hotel, das stimmt. Aber Madeleine Carter lungert trotzdem herum, und man kann sie zwingen zu gehen. Sehen wir uns die Sache doch einmal an, während sie noch im Gefängnis ist.« Harriet hatte bei der Staatsanwaltschaft angerufen, bevor sie ihr Büro verließ: Die Polizei sorgte dafür, daß Madeleine und Luisa ein paar Tage lang Gelegenheit hatten, ihr Mütchen zu kühlen. Luisa hatte von einer Mitgefangenen eine kräftige Ohrfeige bekommen, weil sie es leid war, sich ständig »Sempre libera« anhören zu müssen. Die Staatsanwaltschaft versuchte i72
Madeleine ins County Hospital einweisen zu lassen, war sich aber nicht sicher, ob sie das schaffen würde. Harriet belastete ihren Mandanten nicht mit dieser Information - wenn die Leute von der Staatsanwaltschaft Madeleine nicht dazu brachten, sich ins Krankenhaus einweisen zu lassen, würde Palmetto sie den ganzen Sommer fragen, warum sie nichts unternommen hatte. Brian Cassidy ging ihnen voraus zum Personalaufzug. Als sie auf der Straße vor der Garageneinfahrt standen, wurde Harriet plötzlich nervös und fragte sich, ob Mara möglicherweise wieder zu der Garage zurückgekehrt war. Ihre Schwester würde sicher denken, Harriet versuche sie auszuspionieren; ihre Wangen würden sich blähen, und sie würde ihr vor ihrem Mandanten eine Szene machen. Doch zu ihrer Erleichterung befand sich niemand vor der Wand, weder Mara noch irgendeine der obdachlosen Frauen. Nach Brian Cassidys Schilderungen hatte sich Harriet eine kleine Enklave von Menschen in Kartonunterkünften und Schlafsäcken vorgestellt. Statt dessen standen nur wartende Leute an einer Bushaltestelle. Harriet war überrascht - Brian Cassidy deutete auf eine weitere Haltestelle an der Ecke; von dort fuhren drei Linien weg. Als Harriet fragte, wo denn nun die Obdachlosen seien, führte er sie zu einer kleinen Straße an der östlichen Seite der Garage. Sie gingen unter einer Zufahrt zum Lake Shore Drive hindurch. Zwischen zwei Strebepfeilern stand eine alte Holzkiste, aus der schon ein paar Latten herausgerissen waren. »Dort schläft unsere Pennerin hin und wieder. Und da drüben sind noch ein paar andere.« Cassidy leuchtete mit seiner Taschenlampe auf einen Stapel Decken, wie ein Zoodirektor, der einem Besucher die Schlangengrube zeigt. Nach einer Weile begannen sich die Lumpen zu bewegen, und Harriet merkte, daß das, was sie für eine Decke gehalten hatte, in Wirklichkeit ein menschlicher Kopf war. Sie machte kehrt und ging zur Garage zurück. Die Straße über ihr schien sich auf sie herabzusenken. Die V72 Straße vor ihr war nicht schmutzig - jedenfalls lag kein Abfall herum -, aber die grauen Wege und Wände und die Dunkelheit hier unten gaben ihr das Gefühl, durch Schmutz zu waten. Ein dumpfes Surren erfüllte ihren Kopf. Sie sprach ziemlich laut, um sich gegen den Druck der Unterwelt zu behaupten. »Können Sie mir die Stelle zeigen, an der die Frau immer sitzt? Ist es jeden Tag dieselbe Stelle?« Brian Cassidy ging zu dem Riß in der Wand. »Ich glaube, es ist ungefähr hier.« Er leuchtete mit der Taschenlampe darauf; Harriet sah Wachsreste auf dem Gehsteig, die von dem kleinen Altar der Frau übriggeblieben waren. Der Uringestank ließ sie blaß werden. Bei dem Gedanken, daß Mara auf dem dreckigen Boden hier saß und ihre idiotischen Sprüche sang, wich sie angewidert zurück. »Ist irgendwas an der Stelle, was sie besonders attraktiv für Madeleine Carter macht? Ist das Betteln hier vielleicht besonders lukrativ? Oder fühlt sie sich in der Nähe der Garage einfach sicherer?« Brian Cassidy sagte, wahrscheinlich sei die Stelle tatsächlich gut fürs Betteln, doch Nicolo, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, meinte: »Nein, Chef. Sie bettelt nie. Sie sitzt wegen... wegen dem Loch da. Sie meint, das ist ein besonderes Loch; das Blut von der Mutter Gottes kommt da raus.« Harriet war der Riß bisher nicht aufgefallen. Jetzt nahm sie Brian Cassidys Taschenlampe, um die Wand genauer zu inspizieren. Sie sah nur einen Spalt im Beton, aus dem rostiges Wasser drang. »Woher wissen Sie das?« fragte Palmetto Nicolo. »Immer wenn wir die Autos von den Gästen hierher fahren oder wenn der Chef sagt, wir sollen die Wand abspritzen, fängt sie zu weinen an. Sie nimmt zwei Finger, so«, dabei steckte er die Hand in den Riß, »und dann in den Mund. Und dann sagt sie allen, das ist das Blut von der Mutter Gottes.«
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Harriet wich vor der roten Flüssigkeit an Nicolos Händen zurück. »Aber das ist doch kein Blut, oder?« Brian Cassidy lachte. »Nein, Ma'am. Wahrscheinlich ist das Rost. Ich könnte mir vorstellen, daß ein Rohr hinter dem Beton ein bißchen leckt.« »Dann spachteln Sie's zu«, sagte Harriet. »Die Wand gehört Ihnen. Sie können sie reparieren, wann immer es Ihnen gefällt. Machen Sie die Kiste kaputt, in der sie schläft. Es gibt genügend Unterkünfte in der Stadt, wo sie schlafen kann - Sie müssen sie nicht hier dulden. Lassen Sie sie von einem Ihrer Sicherheitsleute wegführen, wenn sie noch einmal hier auftaucht. Und wenn sie trotzdem wiederkommt, dann rufen Sie die Polizei und lassen sie verhaften.« »Und Sie können garantieren, daß Ihre Schwester nicht noch einmal hier auftaucht und Schwierigkeiten macht?« fragte Gian Palmetto. Harriet ließ die Schultern hängen. »In bezug auf Mara kann ich überhaupt nichts garantieren. Aber wenn sie hier herumlungert oder Schwierigkeiten macht, brauchen Sie nicht... ich meine, daß sie meine Schwester ist...« Sie brachte die Worte nicht heraus und sagte schließlich: »Sie muß lernen, daß die Dinge, die sie tut, auch Konsequenzen haben können.« »Solange sie uns nicht die Presse auf den Hals hetzt«, sagte Palmetto. »Ich kann es mir nicht leisten, daß die Leute den Eindruck bekommen, ich mache harmlosen Obdachlosen das Leben schwer.« »Ich dachte, Sie können sich die Negativwerbung nicht leisten, daß eine obdachlose Frau hier unten die Jungfrau Maria anbetet. So viele Alternativen haben Sie nicht. Wie gesagt: Spachteln Sie den Riß zu, wenn der sie hierher lockt, und machen Sie den Platz für sie so unangenehm wie möglich. Wenn Sie das nicht wollen, müssen Sie es tolerieren, daß sie mit ihren Kerzen hier sitzt und die Mutter Gottes anheult.« Gian Palmetto hatte sich etwas anderes erwartet, so etwas wie einen Zauber, ja, daß Harriet die Frau einfach wegzauberte, daß sie Auszüge aus dem Illinois Criminal Code sang, 73 vielleicht die Götter der Gerechtigkeit hier unten am Lower Wacker Drive aktivierte. Er verbrachte zwanzig Minuten mit dem Versuch, sie zu anderen Vorschlägen zu überreden. Auf dem Heimweg diktierte sie ihren Bericht telefonisch und gab auch gleich die Zeit durch, die ihre Kanzlei dem Hotel Pleiades in Rechnung stellen konnte. In ihrem Ärger berechnete sie Palmetto sogar die sieben Minuten, die sie damit verbracht hatte, dem Ausflugsboot nachzustarren. 73
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Die Eiskönigin kommt ins Schleudern
s Hector anrief, stand Harriet gerade im Wohnzimmer und schaute hinaus auf die Straße. Als sie nach Hause gekommen war, hatte sie fest vorgehabt, alles mit Mara zu besprechen, obwohl sie nicht recht sagen konnte, was dieses »alles« war. Sie war wütend auf Mara, hatte aber gleichzeitig Schuldgefühle, weil sie ihrer kleinen Schwester all die Jahre nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Sie wünschte sich, daß Mara ausziehen und sie zusammen mit Mephers und Großvater in Ruhe lassen würde. Einerseits hätte sie Mara am liebsten verprügelt, andererseits stellte sie sich vor, wie sie ihre kleine Schwester schützend in eine warme Decke hüllte und sich um sie kümmerte. Aber als sie an Maras Tür klopfte und in scharfem Tonfall ihren Namen rief, erhielt sie keine Antwort. Sie wurde noch wütender und rief noch lauter. Verdammtes Miststück, tut schon wieder so, als würde sie sie nicht hören! Die Putzfrau kam aus der Küche. Sie erklärte Harriet in ihrem stockenden Englisch, daß Mara nicht zu Hause sei. Ja, sie war hiergewesen und nach ungefähr dreißig Minuten wieder gegangen, mit - Barbara suchte nach dem Wort und machte schließlich jemanden mit einer schweren Last nach - ja, mit einem Rucksack. Nein, Mara hatte keine Nachricht hinterlassen. Harriet schloß die Tür zu Mephers' Zimmer auf und sah nach, ob alles für die Rückkehr der Haushälterin bereit war. Die Laken waren frisch gewaschen, und die wenigen Bücher standen ordentlich aufgereiht, genauso, wie Mephers sie zurückgelassen hatte. Eine Restauratorin vom Art Institute, deren Mann grandpere das Leben gerettet hatte, hatte den zerkratzten Sekretär repariert. Vielleicht würde die Wohnung wieder heimeliger wirken, 73
wenn Mephers da war. Aber Mara - sie war wie die warnenden Geigen in einem Horrorfilm: Sie brachte immer schreckliche Dinge. Harriet ging in das Zimmer ihrer Schwester und zuckte wie immer zusammen ob der Unordnung, die dort herrschte. Die Schubladen standen offen, Blusen und Büstenhalter hingen heraus, überall lag Papier herum, Bücher stapelten sich neben dem Bett, ein muffiger Geruch stieg von den ungewaschenen Laken auf. Mara hatte ihren Computer angelassen. Harriet klickte einmal mit der Maus, um den letzten Text erscheinen zu lassen. Liebe Harriet, ich weiß, Du haßt mich, weil ich Dich vor Deinem Mandanten blamiert habe. Es tut mir leid, obwohl ich es immer noch schrecklich finde, daß das Hotel der obdachlosen Frau solche Angst einjagt. Ich weiß, daß es Dir und Großvater am liebsten ist, wenn ich verschwinde, weil Mephers morgen wiederkommt, und daß sie Euch wichtiger ist als ich. Also mache ich mich lieber aus dem Staub, bevor Großvater mich in die geschlossene Abteilung einweisen läßt. Vielleicht finde ich Mutter oder verwandle mich einfach in sie. Glaubst Du... ach, Scheiß, was hat's für einen Sinn Harriet sah sich im Zimmer ihrer Schwester um. Vielleicht hatte sie den Brief irgendwo anders fortgesetzt, und der Ausdruck lag herum. Nachdem sie überall nachgesehen hatte -auch in ihrem eigenen Zimmer -, kam sie zu dem Schluß, daß Mara den Brief nicht zu Ende geführt und den Computer eingeschaltet gelassen hatte, damit Harriet ihn sehen würde. Harriet druckte den Brief aus, speicherte den Text ab und schaltete den Computer aus. Immer mußte sie übertreiben. Gut, daß sie sich aus dem Staub gemacht hatte; sie konnten ein bißchen Ruhe brauchen in der Wohnung. Sie wollte sich auf die Suche nach ihrer Mutter machen! Wann würde Mara endlich glauben, daß Beatrix 74 tot ist? Drei Wochen vor Harriets fünfzehntem Geburtstag, als sie eine Party für ihre Schulfreundinnen organisierte und stolz auf ihre steile Handschrift die Einladungen schrieb, hatte Großvater ihr gesagt, daß Beatrix im Bad verunglückt war -paß immer auf, wenn du in die Badewanne steigst oder herauskletterst. Am deutlichsten erinnerte sich Harriet noch, abgesehen von ihren kühnen schwarzen Buchstaben auf den weißen Pappkärtchen, an ihre dünnen Arme, als Großvater ihr erklärte: Beatrix war mit schrecklichen Leuten zusammen, so schrecklich, daß es Großvater am liebsten war, wenn Harriet die genaueren Umstände nie erfuhr. Er hatte dafür gesorgt, daß die Zeitungen nichts darüber veröffentlichten, damit sie in der Schule niemand mit neugierigen Fragen belästigen konnte. Es hatte auch keine kirchliche Beisetzung gegeben - Beatrix hatte den Kontakt zu ihrer Familie schon zu lange abgebrochen -, nur eine kurze Andacht bei einem Bestattungsinstitut. Mara, die damals zwei Jahre alt gewesen war, begriff das alles noch nicht und weigerte sich später, es zu glauben. Harriet ging in ihre eigenen Räume am anderen Ende des Flurs, zog sich aus und stellte sich unter die Dusche, um den Schmutz der Straße von Haut und Haaren zu waschen. Sie ließ das Wasser noch über ihren Körper laufen, als sie schon längst sauber war, und dachte an... nichts. Als sie aus dem Bad kam, konnte sie immer noch nicht richtig denken. Wenn Mara weggelaufen war, löste das ihr Problem. Mephers würde nach Hause kommen, und sie und Großvater und Harriet würden das Leben wiederaufnehmen, das Mara vor neunzehn Jahren in Unordnung gebracht hatte. Sie wäre wieder Großvaters einzige Prinzessin. Hectors Anruf kam, als sie gerade die Hände gegen ihren Bauch drückte und spürte, wie leer es in ihrem Innern war. Als die unbekannte Stimme sich nach Ms. Stonds erkundigte, verkrampfte sich Harriet, weil sie glaubte, sie würde gleich wieder von einer neuen Katastrophe in Maras Leben hören. Aber sie sagte ja, sie sei Ms. Stonds. 74 Hector entschuldigte sich dafür, daß er am Nachmittag in der Klinik nicht mehr zu ihr gekommen war. »Ich will Ihren Großvater nicht hintergehen, aber wenn Sie sich mit mir unterhalten wollen, mache ich gern einen Termin mit Ihnen aus.« »Sie täuschen sich, Doktor... Ich bin Ms. Harriet Stonds. Wollten Sie mit meiner Schwester Mara sprechen?« Hector, der ohnehin schon nervös war, wurde noch aufgeregter, als er ihre kühle Stimme hörte. War es Mara gewesen, die zu ihm in die Klinik gekommen war? Hätte er wissen sollen, daß sie eine Schwester hat? Würde Harriet ihn bei Dr. Stonds verpfeifen? »Mara ist nicht da, Doktor... Wie war Ihr Name doch gleich? Tammuz. Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht sagen, wann sie zurückkommt. Soll ich ihr etwas ausrichten?«
Harriets Stimme klang so kalt wie Wasser kurz vor dem Gefrieren. Allerdings wußte sie das nicht. Sie wußte nicht, daß ihre glatte Oberfläche kalt war wie Jade. Sie wußte nur, daß sie in ihrem jetzigen Zustand der Leere nicht auf einen Fremden reagieren konnte. Am anderen Ende der Leitung schaffte der arme, verängstigte Hector es kaum, etwas herauszubringen, aber schließlich stotterte er, er mache sich Sorgen um Ms. Stonds, das heißt, um Ms. Mara Stonds. Er habe erfahren, daß sie in der vergangenen Nacht festgenommen worden sei, zusammen mit einer psychotischen Obdachlosen, die er zu behandeln versuchte; er hoffte, Ms. Stonds könne ihm sagen, wo man die Obdachlose hingebracht habe. »Ach.« Harriets Stimme wurde noch kühler. »Sie sind also der Arzt, der die Obdachlosen juristisch berät. Jetzt erinnere ich mich wieder: Mein Großvater - Dr. Stonds - hat von Ihnen gesprochen.« Hector, der über das Telefon an Melissas Schreibtisch gebeugt dastand, bekam wieder das Gefühl, seekrank zu sein, genau wie vor ein paar Stunden in Dr. Stonds' Büro. Das ärgerte ihn. Auf keinen Fall würde er sich von einem weiteren Mitglied der Familie Stonds niedermachen lassen. 75 »Ms. Stonds, ich habe niemandem juristische Ratschläge gegeben. Ich habe keine Ahnung von Gesetzen, aber hat denn der Gedanke, daß jemand erst dann schuldig ist, wenn man ihm seine Schuld nachgewiesen hat, inzwischen keine Gültigkeit mehr? Ich habe Ihre Schwester nicht ermutigt, ein Sit-in mit Madeleine Carter zu veranstalten: Ich habe Ihre Schwester heute zum erstenmal gesehen, und wir haben kaum mehr als ein Dutzend Worte gewechselt, die alle damit zu tun hatten, daß sie einen Termin mit mir vereinbaren wollte.« »Die Wand, vor der Ihre psychotische Patientin sitzt, gehört einem meiner Mandanten«, sagte Harriet, selbst überrascht darüber, daß sie ihm eine Erklärung gab. »Ich bin Anwältin. Der Mann, der für die Garage verantwortlich ist - ach, egal, was macht es schon für einen Unterschied, was wer zu wem gesagt hat? Jedenfalls habe ich meine Schwester heute morgen gegen Kaution freibekommen. Aber es war niemand da, der eine für Ihre Patientin oder diese andere Frau, die Sängerin, hinterlegt hätte. Sie werden ein paar Tage lang im County Jail festgehalten. Die Staatsanwaltschaft möchte Ihre Patientin ins County Hospital einweisen.« »Verstehe. Glauben Sie, ich sollte beim Gefängnis vorbeischauen?« fragte Hector. »Wissen Sie, wie man Informationen von den Gerichten bekommt? Sie brauchen als erstes die Aktennummer der Frau. Rufen Sie meine Sekretärin an; sie müßte eigentlich noch im Büro sein. Sie besorgt Ihnen die Nummer. Meine Schwester ist von zu Hause weggelaufen. Ich habe keine Ahnung, wo sie steckt. Ich mache mir Sorgen um sie.« Ihre Stimme war kein bißchen wärmer geworden. Hector konnte nicht wissen, daß sie gegen ihre eigenen Regeln verstoßen hatte, als sie ihm diese für sie vertraulichen Informationen gab. Er dankte ihr distanziert und förmlich und legte auf. Harriet fühlte sich zuerst absolut leer und wurde dann wütend. Sie war über ihren eigenen Schatten gesprungen, hatte ihm von ihren privatesten Angelegenheiten erzählt, ihm die Sache mit dem Gericht leichtgemacht. Und das alles nur, weil i75
seine zögernde, sanfte Stimme irgendwie verletzlich geklungen hatte - und er hatte einfach aufgelegt. Sie begann zu weinen, was sie nur noch wütender machte, konnte aber nicht aufhören. Sie hörte einen Schlüssel in der Tür und zog sich in die Schatten am anderen Ende des Zimmers zurück. Großvater haßte emotionale Ausbrüche, abgesehen von seinen eigenen natürlich. Sie wartete, bis sich die Tür zu seinem Zimmer schloß, dann schlüpfte sie in ihre eigenen Räume, um sich das Gesicht zu waschen. Als sie herauskam, um ihn zu begrüßen, wirkte sie ruhig wie immer. »Bist du heute früher daheim, Liebes?« Er gab ihr einen Kuß auf die Wange und warf einen Blick auf ihre alten Kleider. »Willst du noch mit Freunden weggehen?« Um ihm einen Gefallen zu tun, trug sie zum Abendessen normalerweise ein Kleid. »Nein, ich bin einfach nur müde und wollte etwas Bequemes anziehen.« »Hm. Nun, du siehst mit Jeans bedeutend besser aus als deine Schwester, aber irgendwie ist es merkwürdig. Du begleitest mich doch morgen, wenn ich Hilda abhole, oder? Ich weiß, daß es ihr dann leichterfällt, wieder hierherzukommen. Heute Nachmittag hat sie davon gesprochen, daß sie in ein Altenheim möchte, um Auseinandersetzungen mit Mara zu vermeiden, aber ich habe ihr gesagt, sie soll sich nicht lächerlich machen. Schließlich wohnt sie seit - mein Gott, wie die Zeit vergeht -, seit fünfundfünfzig Jahren hier.« »Mara meint, daß du sie in die Psychiatrie stecken möchtest«, sagte Harriet.
»Das wäre wohl auch die beste Lösung«, brummte er. »Sie ist wirklich ziemlich wirr. Keinen einzigen Tag würde sie es allein in einer eigenen Wohnung aushalten. Sie will nicht zur Schule gehen und braucht Hilfe, läßt sich aber nicht helfen. Sie hat versucht, Kontakt mit diesem Versager Tammuz aufzunehmen. Doch dem habe ich sehr schnell einen Riegel vorgeschoben, das kannst du mir glauben.« Harriet, die Großvater eigentlich von Hectors Anruf hatte 76 erzählen wollen, reagierte darauf nur mit einem neutralen »Ach« und sagte dann, daß Mara offenbar weggelaufen war. »Verdammt!« fauchte er, ohne zu fragen, woher sie das wisse. »Dann steht uns schon wieder das nächste Theater bevor, ausgerechnet jetzt, wo Hilda sich zu erholen beginnt. Wo ist sie hin?« »Ich weiß es nicht. Ich dachte mir, ich rufe nach dem Essen mal Cynthia Lowrie an; vielleicht weiß die etwas Genaueres.« Harriet spielte mit der Quaste eines Lampenschirms herum, weil sie nicht recht wußte, wie sie Großvater die Frage über ihre Mutter stellen sollte. »Weißt du, grandpere, Mara hat schreckliche Angst, daß sie wie Beatrix ist. Hast du sie jemals in die Psychiatrie gesteckt?« »Sie hat Angst, daß sie so wird wie ihre Mutter? Da sollte sie auch Angst haben. Das einzige, was uns bisher erspart geblieben ist, ist eine Reprise von Beatrix' sexueller Zügellosigkeit. Aber zweifelsohne werden wir als nächstes eine Kostprobe davon bekommen.« »Du hast nie versucht, Beatrix medizinisch beizustehen?« Großvaters Stirnrunzeln verwandelte sein Gesicht in eine furchteinflößende Maske. »Erzähl mir bitte nicht, daß du jetzt auch noch anfängst, meine Entscheidungen anzuzweifeln. Ich dachte, wenigstens du weißt, daß wir ohne sie besser dran sind.« Natürlich wußte Harriet das. Schließlich kannte sie den Text auswendig, weil Großvater oder Mephers ihn ihr in ihrer ganzen Jugend mindestens einmal wöchentlich vorgebetet und sich dazu beglückwünscht hatten, Harriet errettet zu haben. Nun allerdings fragte sie sich zum erstenmal, ob es ihr in Gesellschaft von Großvater wirklich so gutging. Besser als bei Beatrix auf jeden Fall, da widersprach sie nicht, aber hätte er ihr nicht zusammen mit den Französischstunden, den Ferien in Europa und dem dezenten guten Geschmack auch ein bißchen Wärme schenken können? i76
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Die heilige Becca erschlägt einen Drachen
Becca war alles so klar, als sie das Haus verließ. Ihre Mutter, die sie gehört hatte, kam heraus und fragte, wo sie hinwolle. Nach Northbrook Court, mit Kim und Mimi, sagte Becca. Karen runzelte schlaftrunken die Stirn. Sie glaubte ihrer Tochter nicht, war aber zu müde, um sich wieder mit ihr zu streiten. Sei zum Abendessen wieder da, sagte sie nur und dann noch: Wer fährt? Kims Mama, sagte Becca schnell. Gib nicht mehr als fünfundzwanzig Dollar aus, du hast dein Taschengeld für diesen Monat schon verbraucht. Karen hatte Angst, daß ihre Tochter Corie ihr Herz ausschütten würde. Sie hatte Angst, daß Beccas Wut und Verwirrung über ihre Tante sich schnell in eine leichter auslebbare Leidenschaft verwandeln würden. Sie wollte einfach nicht, daß Becca schon jetzt mit Corie schlief. Wenn sie gewußt hätte, daß ihre Tochter mit dem Rad weder zu Corie noch zu Kim fuhr, sondern zum Bahnhof, um den Zug um elf Uhr neunundvierzig nach Chicago zu nehmen - nun, wie hätte ihr das größere Sorgen bereiten können als der Gedanke an Petting, Sex ohne Kondom und Pille, der Gedanke daran, daß nur das Gesetz des Zufalls Becca vor einem Baby bewahren konnte? Nach dem nächtlichen Streit mit ihrer Mutter, die keine Kaution für Luisa bezahlen und sie nicht nach Hause holen wollte, war Becca wieder in ihr Zimmer gegangen. Sie hatte vorgehabt, wach zu bleiben, bis ihr Vater zurückkam, war aber schnell eingeschlafen und erst wieder aufgewacht, als Harrys Mercedes mit knirschenden Reifen um halb zehn unter ihrem Fenster zum Stehen kam. Sie war hinuntergelaufen, um an der Tür zum Eßzimmer zu lauschen. »Dr. Stonds war auch auf dem Revier«, sagte Daddy. »Wahr 76 scheinlich erinnerst du dich nicht mehr, aber er hat damals Mutters Gehirntumor operiert.« Mom murmelte daraufhin, daß Becca schlafe. Dann Daddys krächzende Stimme, die sich zu einem rauhen Flüstern senkte: Stonds' Enkelin... verrückte Obdachlose... (aufgebracht, viel lauter) Was zum Teufel hat Janice sich dabei gedacht? Ja, sie war betrunken. Nein, ich hab' sie im Gefängnis gelassen. In so einem Fall ist keine Kaution nötig; bei Ruhestörung lassen sie einen raus, wenn
man verspricht, sich zu bessern; aber sie wollen sie ein paar Tage dabehalten, bis sie trocken ist... Krankenhaus ... die Nase voll... Becca schlich sich wieder hinauf. Tante Luisa im Gefängnis. Seine eigene Schwester. Wenn sie eine Schwester hätte... Nein, sie hätte einen Bruder, und der würde Minsky Scrap Iron erben und der neue König des Alteisens werden, wie ihre Tante Luisa ihren Daddy gern nannte. Es war nichts Schlimmes an einem Alteisenhandel, das Geschäft war gut für unseren Planeten, denn man recycelte den rostigen Abfall anderer Leute, um den diese sich nicht mehr kümmern wollten. Als sie Corie kennengelernt hatte, hatte sie ihn fast verprügelt, weil er sich über Daddys Arbeit lustig gemacht hatte. Die Kinder in ihrer Schule... ihre Väter waren Anwälte und Ärzte, sie hatten keine Ahnung, wie wichtig es war, Gehälter zu zahlen; aber schließlich war Becca ihr einziges Kind, und Daddy konnte sich -nein, natürlich hatte er keine Vorurteile - nicht vorstellen, daß ein Mädchen in dem rauhen Beruf arbeitete. Weißt du, Becca, das ist schon hart genug für mich. Dein Großvater hat nie eine Pistole in die Hand nehmen müssen, aber ich war gezwungen, das Schießen zu lernen. Das ist kein Job für einen netten jüdischen Jungen und schon gar nicht für ein Mädchen. Becca sollte Tierärztin werden. Neben ihrem Hund hatte sie noch drei Hamster, ein Aquarium mit Goldfischen und zwei Katzen. Als Dusty sich einmal die Pfote an einer kaputten Flasche verletzt hatte, hatte Becca ihn gehalten, während Dr. Kalnikov die Wunde nähte. Und Dr. Kalnikov hatte gesagt, sie könne gut mit Tieren umgehen. 77 Wenn sie also einen Bruder hätte, würde sie den nicht im Gefängnis schmoren lassen, besonders nicht, wenn er ein sensibler Künstler wäre und daran gewöhnt, daß man ihn verhätschelte. Mom hatte recht, Becca gefiel es nicht, wenn Tante Luisa betrunken erschien, aber irgend jemand mußte sich um Luisa kümmern. Prostituierte mit Messern, das hatte sie im Fernsehen gesehen, saßen in Frauengefängnissen. Was, wenn eine Luisa am Hals verletzte und sie nie wieder singen konnte? Wegen der Geschichte mit dem Holocaust war es wichtig, sich immer für die Menschen- und Bürgerrechte einzusetzen; Harry und Karen spendeten eine Menge Geld für Gruppen wie die ACLU und das First Freedoms Forum, aber was war mit Luisas Bürgerrechten? Becca beschloß, mit dem Zug nach Chicago zu fahren. Sie suchte die Adresse vom First Freedoms Forum heraus und machte sich auf den Weg. Doch als sie in der Stadt ankam, verließ sie plötzlich der Mut. Natürlich war sie schon oft in Chicago gewesen - mit ihren Eltern hatte sie Shows besucht oder sich in der South Side den Schrottplatz angesehen -, aber sie war nie allein hier gewesen. Zusammen mit Karen hatte sie die Menschenmassen aufregend gefunden, aber jetzt, ganz allein inmitten der Pendlerströme, hatte sie Angst. Außerdem war ihr noch nie aufgefallen, wie schmutzig der Bahnhof mit seinen verdreckten Böden und dem Abfall überall war. Die Deckengewölbe erschienen ihr weit, weit weg. Irgendein einfallsloser Architekt hatte dafür gesorgt, daß kleine Sperrholzhäuschen mit Schnellimbissen auf der riesigen Fläche aufgestellt wurden. Sie sahen aus wie das Spielzeug eines unordentlichen Riesen, so willkürlich standen sie zwischen den Wartebänken und Fahrkartenschaltern. Becca spielte mit dem Gedanken, auf dem Absatz kehrtzumachen und wieder nach Hause zu fahren, aber schließlich war Tante Luisa im Gefängnis. Sie mußte beweisen, daß wenigstens ein Mitglied der Minsky-Familie Mitleid hatte. Also biß sie die Zähne zusammen und fragte einen Polizisten nach dem Weg zum LaSalle Drive. 77
Ihr Elan ließ noch mehr nach, als sie in einem überfüllten Vorzimmer darauf wartete, daß sich jemand mit ihr unterhielt. Als schließlich ein junger Mann mit khakifarbener Hose und zerknittertem weißen Hemd herauskam, tat dieser nichts, um ihr die Sache leichterzumachen. Er stand mit verschränkten Armen vor ihr und sah auf seine Uhr und in seine Akten, nur sie schaute er nicht an, bis sie fast kein Wort mehr herausbrachte. Doch bevor sie ihm alles erzählt hatte, sagte er, sie solle zu einer juristischen Beratungsstelle gehen, wenn sie kein Geld für einen Anwalt habe. First Freedoms Forum kümmere sich nur um Fälle, die konstitutionelle Bedeutung hätten. Und was wäre das? Ach, Redefreiheit, illegale Durchsuchungen oder Festnahmen, solche Dinge. »Nun, die Redefreiheit meiner Tante ist verletzt worden«, sagte Becca aufgebracht und stellte sich dabei vor, wie Luisa eine ihrer Arien in der Öffentlichkeit sang und sich sagen lassen mußte, sie solle den Mund halten. Der junge Mann seufzte theatralisch und sagte, Luisas Verhalten könne man nur als Ruhestörung bezeichnen, nicht als schützenswerte Äußerung. Mittlerweile war Becca den Tränen nahe.
Eine andere Anwältin, die ungefähr so alt wie ihre Mutter war, bekam zufällig mit, was da vorging. »Ruf doch mal im Revier an, Stefan. Oder wenn du zuviel zu tun hast, mach' ich das... Luisa Montcrief? Die Diva? Bist du sicher, daß man sie verhaftet hat, Kleine?« »Ja, sie ist meine Tante.« Und dann begann Becca zu schluchzen. Stefan floh wie vor dem Gestank aus einer offenen Kloake, was die Frau lächeln ließ. »Öffentliche Zurschaustellung von Emotionen mögen sie alle nicht sonderlich, was? Bleib erst mal hier, dann erledige ich ein paar Anrufe für dich.« Sie reichte Becca eine Packung Papiertaschentücher und verschwand für einige Zeit in einem Büro. Becca fragte die Frau an der Rezeption nach der Toilette, wo sie sich das Gesicht 78
wusch und sich die Lippen mit dem schwarzen Stift nachschminkte, den Karen so haßte. Als Becca wieder in den anderen Raum zurückkehrte, wartete die Frau schon auf sie. Sie hatte einen älteren Mann dabei, der auf Becca eher wie ein Anwalt wirkte als der junge Mann vorhin. Er hatte graue Haare, trug einen Anzug und sah sie mit ernstem und eindringlichem Blick an. Er musterte sie sogar so ernst, daß Becca Angst hatte, er könne mit ihr schimpfen, weil sie ihnen die Zeit stahl. Die Frau stellte ihn ihr als Maurice Pekiel vor, einen Experten für Redefreiheit. Sie selbst hieß Judith Ohana. Judith hatte die Leute von der Staatsanwaltschaft überredet, Luisa Montcrief freizulassen, aber, sagte sie, und schaute Becca dabei in die Augen: Es sieht fast so aus, als sei deine Tante ziemlich krank. Ich will dir nichts vormachen; sie leidet unter starken Entzugserscheinungen. Es wäre jetzt alles andere als angenehm für dich, sie zu sehen. Der Staatsanwalt hat Madame Montcrief ins County Hospital einweisen lassen, wo man sich um sie kümmern wird, bis ihre Krämpfe nachlassen. Und danach, tja, da muß deine Familie entscheiden, ob ihr sie wieder nach Hause holen wollt. Becca fühlte sich elend - weil sie einfach in die Stadt gefahren war und nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Familie der öffentlichen Schmach preisgegeben hatte; weil sie Judith Ohana mit einem Problem belästigt hatte, das ihr nun lächerlich vorkam und nicht dringend; weil sie erst vierzehn war und keine Ahnung mehr hatte, was sie von der Welt um sich herum halten sollte. Mit einem Dankeschön wandte sie sich zum Gehen. »Aber durch dich sind wir auf ein Problem aufmerksam geworden«, sagte Judith. »Mr. Pekiel will es sich genauer ansehen. Die Frau, die zusammen mit deiner Tante festgenommen wurde, hatte religiöse Visionen vor der Hotelgarage. Möglicherweise werden wir sie vertreten. Es kann sein, daß ihre Religionsfreiheit wichtiger ist als die Angelegenheit mit der Ruhestörung - nun, ich möchte dich hier nicht mit juristischen Dingen belasten -, aber es könnte sein, daß sie ein Recht hat, 78 sich da unten aufzuhalten, wenn das der einzige Ort ist, wo sie ihre Religion praktizieren kann. Deswegen möchten wir uns bei dir bedanken, daß du uns darauf aufmerksam gemacht hast. Ach ja, kannst du uns deine Telefonnummer geben? Es könnte sein, daß wir uns mit dir in Verbindung setzen müssen.« Als Becca nach Hause kam, hatte sie sowohl die Auseinandersetzung mit ihrer Mutter als auch ihre Lüge mit Northbrook Court vergessen. »Ich habe Tante Luisa aus dem Gefängnis geholt. Sie ist jetzt im Krankenhaus; ihr braucht euch also keine Sorgen darüber zu machen, daß sie hierherkommt.« Karen war wütend und wollte die ganze Geschichte hören. Als sie sie gehört hatte, bestrafte sie Becca mit drei Tagen Hausarrest. Becca marschierte hinauf in ihr Zimmer, hochnäsig wie eine Prinzessin vor dem gemeinen Volk, und rief dann sofort Corie und Kim an, um ihnen von ihrer Heldentat zu erzählen. 78
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Als
Endlich frei?
Kind versteckte Mara frische Unterwäsche und ein paar Cents Taschengeld in ihrem Puppenbett, damit sie jederzeit weglaufen konnte, wenn sie sich besonders verletzt und mißverstanden fühlte. Einmal rannte sie tatsächlich bis zur nächsten Straßenecke; das war in dem Sommer, in dem Harriet vom College nach Hause kam und in dem Maras Bemühungen, sich für ihre erwachsene Schwester schön zu machen, dazu führten, daß Großvater ihr den Kopf in die Küchenspüle hielt, während Mephers ihr das Gesicht wusch. Als die beiden dann später um Harriet herumscharwenzelten, fuhr Mara zusammen mit ihrem Dreirad den Lastenaufzug hinunter. Ray-
mond, der Portier, rief Mephers an, die Mara gerade noch erwischte, bevor sie die North Avenue überquerte. Mara hatte sich das Weglaufen so oft vorgestellt, daß sie ihre Sachen ziemlich schnell zusammen hatte, als der Augenblick tatsächlich da war: ein paar saubere Blusen, Socken und Slips, dazu Tampons, Zahnbürste, Deodorant und ihren Paß. Doch sie brauchte mehr als nur ein paar Cents Taschengeld. Sie hatte zwar über tausend Dollar gespart; aber da sie noch niemals selbst Rechnungen hatte zahlen müssen, hatte sie keine Ahnung, wie weit sie mit zwölfhundertzweiundvierzig Dollar käme. Als sie sich in der Zeitung die Wohnungsangebote ansah, war sie entsetzt, wieviel ein bescheidenes Apartment kostete. Sie mußte ihren Schlafsack mitnehmen, damit sie in den Parks übernachten konnte, ihre Taschenlampe und einige andere Dinge, die zum Schlafen unter freiem Himmel nötig waren. Sie versuchte, Harriet einen Brief zu schreiben, löschte das Geschriebene, fing wieder von vorne an und gab schließlich auf. Dann ging sie, den Rucksack auf dem Rücken, in die 79 Küche und steckte ein bißchen Obst, Nüsse und ein paar Cracker ein. Unten scherzte sie noch mit Raymond, der annahm, daß sie einen Campingausflug machte, und sie neckte, sie wolle wohl von zu Hause weglaufen. Sie fragte sich, ob sie ihn je wiedersehen würde, drückte ihm fünf Dollar in die Hand und schlug sein Angebot aus, ihr ein Taxi zu rufen. Sie hatte sich noch nicht überlegt, wo sie die Nacht verbringen würde. Ihr erster Impuls war Hagar's House gewesen, denn schließlich war sie ja jetzt eine Obdachlose, auch wenn sie zwölfhundert Dollar auf der Bank hatte. Aber Patsy Wanachs würde sofort Großvater und Harriet Bescheid sagen. Cynthia hatte ihr eingeschärft, nicht zu ihr zu kommen, und außerdem konnte sie nicht die Nacht unter demselben Dach verbringen wie Rafe Lowrie und dieses Schwein Jared. Der Gedanke an die Generatorkiste schoß ihr durch den Kopf, aber dann erinnerte sie sich wieder an die vergangene Nacht mit Luisa und Madeleine, an die Verhaftung und die Demütigungen des Tages. Luisa war betrunken gewesen... wenn Beatrix so gewesen war... natürlich hatte Großvater sich das wahrscheinlich ausgedacht; schließlich verbreitete er ja auch Lügen über Mara. Wenn Beatrix ihm widersprochen hatte... aber warum hatte sie dann die kleine Mara nicht mitgenommen? Harriet hatte ihr erzählt, daß sie nach dem Tod ihres Vaters zusammen mit Beatrix von Dosenfleisch und Bloody Marys lebte. Aber so war Mara nicht; sie wurde high vom Elend, nicht vom Alkohol wie Luisa. Mara würde in den Irak fahren, um die Wahrheit über Oma Selenas Tod herauszufinden. Was war, wenn sich Großvater auch über sie Lügen ausgedacht hatte und Oma Selena noch am Leben war, nicht nach Hause kommen konnte, weil Dr. Stonds sich weigerte, ihr das Geld für den Heimflug zu schicken, oder sie möglicherweise als Spionin für Saddam Hussein denunziert hatte? Mara hatte Bücher über Frauen gelesen, die sich als Männer verkleideten und so die Länder des Nahen Ostens bereisten. Würden ihre großen Brüste sich unter dem weißen Hemd 79 eines Mannes verbergen lassen? Sie würde Kaffee trinken in einem Wüstenzelt; die Männer würden über ihre Witze lachen, und schon bald würde sie fließend Arabisch sprechen. Doch dann würde ein verräterischer roter Fleck den weißen Sand der Wüste zieren. Man würde sie ausziehen, und ihre Brüste würden herauspurzeln wie reife Honigmelonen. Ein Reisebüro an der Michigan Avenue überraschte sie mit der Nachricht, daß sie nicht in den Irak reisen konnte. Seit dem Golfkrieg durfte niemand mehr in dieses Land, es sei denn, er war Mitglied einer Hilfsorganisation. »Aber meine Großmutter ist im Irak; sie ist verschwunden, jemand muß sie finden«, sagte Mara. Die Frau im Reisebüro hatte nicht das geringste Interesse am Schicksal von Maras Großmutter. Statt dessen versuchte sie, Mara für Israel oder die Türkei zu erwärmen. Als Mara daraufhin wütend wurde, sagte sie ihr, sie solle sich ans Außenministerium wenden, und erklärte ihr den Weg dorthin. Mara bestieg den Bus nach Süden - anders als Harriet kannte sie die Busse und fuhr auch mit der Hochbahn; das gehörte zu ihren Versuchen, sich eine Identität unabhängig von ihrer Schwester aufzubauen. Es war gerade Rushhour. Die Leute starrten sie an, als sie sich mit ihrem Rucksack in den Gang quetschte. Sie kam sich riesiger denn je vor; in ihrer Phantasie schwoll ihr Körper immer mehr an, bis sie glaubte, mit den Armen die Fenster auf beiden Seiten berühren zu können. In der Adams Street stieg sie aus und versuchte sich vorsichtig durch die Menschenmenge zu bewegen, trat jedoch mehreren Leuten auf die Zehen und stieß gegen einen Mann mit Aktentasche,
der sie beschimpfte - und das alles nur, um festzustellen, daß das Büro des Außenministeriums bereits seit halb fünf geschlossen hatte. Allmählich begann sie ihre eigene Geschichte zu glauben, daß nämlich ihre Großmutter trotz der Zeitungsberichte, die sie im Alter von fünfzehn Jahren gelesen hatte, und auch trotz der schmallippigen Beteuerungen von Mephers, Selena sei definitiv tot, noch am Leben war. Vielleicht auch ihre Mutter. 80 Schließlich hatten die Zeitungen nicht über das Ableben von Beatrix berichtet. Wenn sie Oma Selena finden könnte, käme alles wieder in Ordnung. Endlich würde Maras Körper die richtige Form annehmen, und ihr Leben bekäme einen Sinn. Sie bestieg den Zug in Richtung University of Chicago und Oriental Institute, das Museum, in dem sie sich ihr Wissen über Urgroßvater Vatick angelesen hatte. Näher würde sie an diesem Abend nicht mehr an ihre Oma herankommen; aber das war immer noch besser, als in der Graham Street zurückzukehren. Hinter dem Museum stand in einem Park die Universitätskapelle, ein gotisches Steingebäude, so groß wie eine Kathedrale. Zwischen den Büschen konnte sie ihren Schlafsack unbemerkt ausrollen. Sie lief bis zur Dunkelheit in den Straßen herum. Die Rucksackriemen schnitten ihr in die Schultern, und Haare und Kleidung klebten an ihr. Sie hatte sich keine Gedanken darüber gemacht, wie sie sich auf der Straße waschen könnte. Studenten gingen an ihr vorbei, die sich über Noten und Studienanforderungen unterhielten, Paare schlenderten mit Kinderwagen oder Hunden vorüber. Mara kam sich immer isolierter vor, weil sie keine Freunde hatte, die sie um Hilfe bitten konnte, und auch keine Verwandten. Sie hatte das Gefühl, völlig losgelöst von der Erde zu sein. Der Sommer verschwindet im Mittleren Westen auch in der Nacht nicht. Als die Dunkelheit hereinbrach und Mara ihren Schlafsack in der Nähe der Kapelle ausrollte, umhüllte die Luft sie warm und feucht. Trotzdem zog sie den Reißverschluß des Schlafsacks bis zum Kinn hoch, als könne er sie vor der Nacht schützen. Sie lag völlig verkrampft und mit klopfendem Herzen da, unfähig, sich zu entspannen. Als eine pelzige Gestalt an ihrem Gesicht vorbeihuschte, schnappte sie vor Angst nach Luft. Ihre Hände zitterten so sehr, daß sie sie kaum noch bewegen konnte. Doch irgendwie gelang es ihr, die Taschenlampe zu finden. Eine Katze starrte mit bösem Blick ins Licht, fauchte sie an und lief davon. ¡80
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Die vaterlose Waise
Während der nächsten Tage sagte Großvater beim Abendessen immer wieder, wie wunderbar Hilda - Mrs. Ephers -aussehe und wie angenehm es sei, daß Mara beschlossen habe, ein paar Tage zu verreisen, damit Hilda sich wieder eingewöhnen könne. Als Harriet Mephers die Wahrheit sagen wollte, nämlich daß Mara weggelaufen war, verbot Großvater es ihr: Je weniger Sorgen Mrs. Ephers sich im Moment machen muß, desto besser. Es beunruhigte Harriet, daß der Arzt sich keinerlei Gedanken über Maras Aufenthaltsort zu machen schien. Vielleicht war das das Alter: Er konnte nichts mit Maras Verhalten anfangen, also zuckte er gleichgültig mit den Achseln - ach, wahrscheinlich ist sie Beatrix auf dem Pfad der Verdammnis gefolgt. Jedenfalls sagte er das zu Harriet, als diese vorschlug, Maras Verschwinden der Polizei zu melden oder einen Detektiv anzuheuern, der sie aufspüren sollte. Mephers fragte nie, wo Mara war, und erwähnte auch nichts von der Episode, die zu ihrer Herzattacke geführt hatte. Infarkt, sagte Großvater dazu, »Herzattacke« ist ein unnötig dramatischer Ausdruck und beschreibt die Sache auch nicht richtig. Infarkt klingt irgendwie obszön, dachte Harriet; das Wort ließ den Gedanken an körperliche Funktionen aufkommen, die sie nicht mit der eisernen Disziplin der Haushälterin in Verbindung bringen konnte. Mephers hatte fast acht Kilo abgenommen, wirkte aber ansonsten unverändert. Trotz ihres Alters schien sie genausoviel Kraft wie vorher zu haben; nur am Nachmittag brauchte sie jetzt ein längeres Schläfchen. Morgens fuhr sie immer, nachdem sie sich vergewissert hatte, daß im Haushalt alles erledigt war, hinauf aufs Dach, wo sie eine halbe Stunde im Swim 80 mingpool schwamm. Dr. Stonds untersagte ihr jede schwere Arbeit, aber ihm und Harriet war völlig klar, daß der Haushalt Mephers aufrechthielt. Barbara, die Frau von der Agentur, die sich in Mephers' Abwesenheit um die fünfzehn Zimmer, das Essen und die Wäsche gekümmert hatte, kündigte am dritten Tag nach der Rückkehr der Haushälterin. Mexikaner, sagte Mephers tief
befriedigt. Die haben einfach keine Arbeitsmoral. Und wies die Agentur an, ihr eine Polin zu schicken. Harnet stellte überrascht fest, daß sie lange nicht so glücklich über Mephers' Rückkehr war, wie sie erwartet hatte. Sie wollte sie die ganze Zeit nach dem Brief fragen, den Mara angeblich gefunden hatte, und nach dem Foto des Mannes, der wie Harriet aussah. Hatten Sie einen Brief an Mutter aus Frankreich? Haben Sie den von Beatrix, oder haben Sie ihn abgefangen und nie jemandem gezeigt? Harriet hatte sich mit Mara gestritten und ihr erklärt, die Sache mit dem Foto bilde sie sich nur ein. Jetzt fragte sie sich, warum ihr Mephers' geheimer Triumph beim Betrachten der Wohnung anfangs nicht aufgefallen war. Selena war weg, Beatrix war weg, und Mara war verschwunden. Jetzt stand nur noch Harriet zwischen Großvater und Hilda Ephers. Sie fühlte sich verletzlich, wie damals mit sieben Jahren: Sie mußte sich von ihrer besten Seite zeigen, sonst würden die beiden sie zwingen zu gehen. Harriet rief Cynthia Lowrie in der unbewußten Hoffnung an, ein paar freundliche Worte über ihre Schwester zu hören. Doch es war Mittwochabend, und Cynthia teilte in Hagar's House Bibeln aus. Lowries Sohn - Harriet erinnerte sich nicht mehr an seinen Namen - sagte ihr das mit unangenehm spöttischer Stimme. Widerwillig erklärte er sich bereit, seiner Schwester etwas auszurichten. In der Obdachlosenunterkunft verfolgte Cynthia die Bibelstunde mit gequältem Gesicht, weil sie Angst hatte, daß eine der Frauen Rafe herausforderte oder widersprach. Letzte Woche, nach dem Eklat mit Luisa, hatte Rafe sie auf dem Nachhauseweg angebrüllt: Du hirnlose Idiotin, dich werde ich nie ¡81
loskriegen; welcher Mann würde schon so eine dumme Person wie dich heiraten wollen; Jared hat recht, du siehst aus wie eine zurückgebliebene Kuh, du bist einfach jämmerlich. Sobald sie zu Hause waren, hatte sie versucht, in ihr Zimmer zu rennen, aber er hatte sie gepackt und gegen die Tür geknallt, so heftig, daß ihre rechte Wange bis zum Knochen aufplatzte. Cynthia ging die nächsten zwei Tage nicht zur Arbeit, aber auch zu keinem Arzt. Cynthia haßte allmählich alles, was mit Jesus zu tun hatte, weil Seine Verehrung ihr persönlich so viel Elend und Schmerz brachte. Vor den Bibelstunden konnte sie nichts essen. Was ist denn in den Tomaten, daß du sie nicht runterkriegst - vielleicht Glassplitter? fragte Jared, der die Collegeferien zu Hause verbrachte. Klar, deine Kocherei war noch nie besonders, aber ich dachte, zumindest du bist immun dagegen. Wenn sie und Rafe dann in die Kirche gingen, war sie meistens den Tränen nahe. Der heutige Abend war unter den gegebenen Umständen ruhig verlaufen; eine der Frauen schlief während Rafes Sermon ein, während LaBelle die ganze Zeit über die zerstückelte Nebenfrau im Buch der Richter weinte und sich weigerte zu glauben, daß diese Passage nur allegorisch war: Die zwölf Stücke standen für die zwölf Stämme Israels, die nicht auf Gott hörten und ihren Platz zu Seiner Rechten den zwölf Aposteln überlassen mußten. Rafe erklärte LaBelle immer wieder diese allegorische Bedeutung, aber sie jammerte die ganze Zeit, das ist mir auch fast passiert, mein Freund hat so schlimm an mir rumgeschnipselt, daß ich dachte, er will mich in zwölf Stücke schneiden; ich bin beinahe gestorben, die mußten mich mit zweihundertdreiundsiebzig Stichen zusammenflicken; der Arzt hat gesagt, er hat noch nie jemanden gesehen, der so schlimm zerschnitten war und noch lebte. Doch an diesem Abend stellte niemand Rafes Autorität in Frage. Er leistete es sich sogar, so etwas wie mitleidsvolle Überlegenheit für die mißhandelte Frau zu empfinden, so daß die Heimfahrt nicht von seinem Brüllen begleitet wurde. 81 Als sie nach Hause kamen, brüllte Jared, der im Wohnzimmer zusammen mit seiner Freundin Tamara ein Spiel der White Sox anschaute: »Die hochnäsige Schwester von deiner Freundin Mara hat angerufen.« »Was... Harriet?« Cynthia sah ihren Vater an. »Was... Was will sie denn?« »Woher soll ich das wissen? Mit Dienstboten wie mir redet sie ja nicht.« Er äffte Harriet mit affektiertem britischen Akzent nach: »Ach, könnten Sie ihr wohl etwas ausrichten? Sagen Sie ihr doch bitte, sie soll Ms. Harriet Stonds anrufen, wenn sie nach Hause kommt.« Tamara, die es gewohnt war, sich nach Jareds Launen zu richten, lachte über seinen Versuch, Harriet nachzumachen, und tätschelte seinen Oberschenkel. Tamara war eine nervöse junge Frau
mit Hang zur Magersucht; Cynthia beneidete sie nicht um ihre glänzenden schwarzen Haare oder ihren hübschen schlanken Körper, denn Tamara hatte oft mehr blaue Flecken als sie selbst. »Ach.« Cynthia sah Rafe an. »Macht's dir was aus - es könnte ja was passiert sein. Ist es dir recht, wenn ich anrufe?« »Wenn du möchtest.« Er machte den Kühlschrank auf. »Wir haben kein Sodawasser mehr, Cynthia. Könntest du hin und wieder mal nachsehen, was wir im Haus haben, statt die ganze Zeit faul rumzuhängen? Nun ruf Harriet Stonds schon an, aber bild dir nicht ein, daß du irgendwas mit den beiden unternehmen kannst - die Antwort lautet nämlich nein.« Cynthia holte einen Sechserpack Sodawasser aus der Speisekammer und wartete, bis Rafe sich einen Bourbon mit Soda eingeschenkt und sich zu Tamara und Jared vor den Fernseher gesetzt hatte. Die Sox waren leider im Rückstand, und sie betete für ihren Sieg, bevor Jared und Rafe sich zu sehr aufregten. Als sie vom Küchenapparat aus anrief, ärgerte sich Harriet über ihre leise, atemlose Stimme. Was fand Mara nur an dieser tristen Person? Nach einer langen Vorrede brachte Harriet Cynthia endlich dazu, ihr von ihrer Unterhaltung mit Mara am 82 Nachmittag zu erzählen. (Ich weiß, daß sie dich angerufen hat, Cynthia; ihr zwei habt euch doch die letzten zehn Jahre in dem Glauben hochgeschaukelt, daß ihr zu Hause mißhandelt werdet ... Harriets kühle Stimme brachte Cynthia fast wieder zum Weinen.) Ja, schniefte sie, ja, sie würde es Harriet sagen, wenn Mara wieder anrief, aber sie müsse jetzt aufhören, Daddy möge es nicht, wenn sie abends die Telefonleitung blockiere. Als sie auflegte, hatte die Mannschaft von Texas weitere drei Punkte erzielt. Cynthia schlich auf Zehenspitzen in ihr Zimmer und verkeilte ein Wörterbuch zwischen Kommode und Tür, damit niemand sie aufmachen konnte. Harriet starrte mit gerunzelter Stirn den Telefonhörer an. Vielleicht hatte Mara recht, und Rafe Lowrie verprügelte Cynthia tatsächlich. Jedenfalls war es alles andere als normal, daß eine Neunzehnjährige solche Angst vor ihrem Vater hatte. Mara sollte bloß einmal ein oder zwei Wochen lang das Leben von Cynthia führen, dann würde sie vielleicht merken, wie gut es ihr bei grandpere ging. In der folgenden Woche, als die Aufregung über Mephers' Rückkehr allmählich abflaute, bekam Harriet hinsichtlich ihrer Schwester ein immer mulmigeres Gefühl. Am Freitag rief Gian Palmetto sie an - ich wollte Ihnen nur sagen, daß wir den Riß in der Wand zubetoniert haben und die Obdachlose nicht mehr wiedergekommen ist. Aber Brian Cassidy glaubt, gestern nacht Ihre Schwester dort gesehen zu haben. Harriet fuhr Freitag- und Samstagnacht an der Wand vorbei, sah aber niemanden, nicht einmal die beiden obdachlosen Frauen, die in den Nischen der unterirdischen Straßen nach Madeleine Carter suchten. Als Harriet ihren Acura ganz langsam an der Wand vorbeilenkte, drückten sich Jacqui und Nanette geübt in die Schatten. Harriet wartete, bevor sie zusammen mit Mephers die Elfuhrmesse in der Orleans Street Church besuchte, vor den Räumen der Sonntagsschule auf Cynthia. Cynthia, die sich ängstlich vergewisserte, daß Rafe nicht in der Nähe war, sagte, nein, sie 82 habe Mara nicht getroffen; ihr Daddy sehe es nicht gern, wenn sie mit Mara zusammen sei, seit sie vom College geflogen sei. Harriet, die es gewohnt war, sich mit nervösen Zeugen zu unterhalten, hatte den Eindruck, daß Cynthia mehr wußte, als sie sagte, und schließlich gelang es ihr - mit viel mehr Sanftheit, als sie normalerweise einsetzte -, Cynthia die Information zu entlocken, daß Mara sie noch ein zweites Mal im Büro angerufen hatte, am Freitag, nach dem Mittagessen. »Sie war ziemlich durcheinander... sie dachte, sie könnte in den Irak fahren, um nach ihrer... na ja, wahrscheinlich ist sie auch Ihre Großmutter. Sie sagt, Ihre Großmutter ist wahrscheinlich noch am Leben. Ihrer Meinung nach hat Dr. Stonds die Leute von der Zeitung bestochen, damit sie einen falschen Bericht über ihren Tod drucken. Aber offenbar kann man heutzutage nicht so einfach in den Irak fahren. Deshalb hat Mara mich gebeten, einen Detektiv für sie zu beauftragen, jemanden, der nach Ihrer Mutter suchen könnte, die, das meint jedenfalls Mara, ebenfalls noch am Leben ist. Aber natürlich konnte ich das nicht tun.« Mara, wenn du einen Detektiv brauchst, dann heuer selber einen an, hatte Cynthia ihr gesagt, verärgert über die Freiheit, die ihre Freundin zu genießen schien. Ich werde gefeuert, wenn die
mich hier bei weiteren Privatgesprächen erwischen. Und was ist mit mir? hatte Mara gefragt. Ich muß von einer Telefonzelle aus anrufen; hier gibt's nicht mal ein Telefonbuch. Nein, sagte Cynthia, Mara hatte nicht gesagt, wo sie war, nur, daß man ihr im Außenministerium ziemliche Schwierigkeiten gemacht hatte. Daraufhin hatte sie aus Angst, daß die Beamten sie bei Dr. Stonds verraten könnten, schleunigst das Büro verlassen, ohne ihren Namen anzugeben, und hatte Cynthia angerufen. Harriet ließ resigniert die Schultern hängen. Warum kannte ihre Schwester keine Leute, die besser mit ihrem Leben zurechtkamen? Man stelle sich das bloß einmal vor: Da verstrickte sie sich so sehr in ihre Phantasien über Selena, daß sie tatsächlich glaubte, sie könne sie im Irak aufspüren. 83 »Cynthia, rufst du mich bitte sofort an, wenn sie sich wieder bei dir meldet? Ich mache mir wirklich Sorgen um sie. Mara und du, ihr habt euch immer Geschichten ausgedacht, aber das ist kein Spiel mehr, weißt du.« Und Cynthia antwortete, mutig wie selten: »Ich weiß, daß das kein Spiel ist, Harriet. Sie und Dr. Stonds wollen sie in eine Irrenanstalt stecken. Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie die Betroffene wären?« Harriet wurde rot. »Nun werd nicht frech, Cynthia. Großvater möchte nur, daß ein fähiger Arzt Mara untersucht. Aber natürlich hat sie - und du scheinst ihr ja zuzustimmen -das sofort als Drohung interpretiert, sie in die Psychiatrie zu stecken.« Patsy Wanachs, die Leiterin von Hagar's House, kam den Flur entlang. Es überraschte sie, Harriet in ein Gespräch mit Cynthia Lowrie vertieft zu sehen, und sie dachte sich einen Grund aus, um stehenbleiben zu können. Das Family-Matters-Seminar, das Rafe Anfang August in der Kirche abhalten wollte, schien ihr ein geeignetes Thema. »Ich weiß, das ist eine Veranstaltung für Geschäftsleute, aber ich habe mir gedacht, vielleicht könnte Ihr Vater ein paar von den obdachlosen Männern einladen, die freitags immer zu Dr. Tammuz kommen. Da könnte man ihnen einige realistische Vorschläge für ihr zukünftiges Leben unterbreiten.« Sie schwieg einen Moment. »Ach, tut mir leid, Harriet - ich habe gar nicht gemerkt, daß Sie gerade etwas Wichtiges mit Cynthia besprochen haben. Es ist nicht so dringend.« »Wir sind schon fertig«, sagte Harriet und ging zu Mephers in den Altarraum. Sie setzte sich und versuchte sich auf die Predigt zu konzentrieren. In dem Text, der aus dem siebten Kapitel des Buches Jeremia stammte, hieß es, Gott wisse, daß Israel sich gebessert habe, wenn es aufhöre, die Witwe und die vaterlose Waise zu unterdrücken und Baal und andere fremde Götter zu verehren. Pastor Emerson predigte ungefähr eine halbe Stunde lang mit aufrichtiger Stimme über die vielen Baal-Gottheiten, die 83 die Amerikaner anbeteten: Sex, Geld, Macht. »Es überrascht nicht, daß manche Frauen die wirklichen Baal-Götter zu neuem Leben erweckt haben, gegen die der Prophet gepredigt hat. Geld und Sex sind ein minderwertiger Ersatz für den einen lebenden Gott. Vielen fällt es zu schwer, sich wirklich für Jesus zu engagieren, also wenden sie sich der Verehrung von Göttinnen zu. Der Glaube ist ein Geschenk; die Gnade ist ein Geschenk; aber wir können sie nicht einfach wieder verlangen, wenn wir sie in eine Ecke verbannt haben wie ein Kind ein Spielzeug, weil sie nicht genauso funktionieren, wie wir uns das vorstellen. Wir müssen uns gegenseitig in unserer Suche nach dem Glauben bestärken. Bruder Lowrie meint, er wüßte, wie er manchen der Männer in der Gemeinde auf ihrer spirituellen Reise weiterhelfen kann. Wir wissen alle, daß Bruder Lowrie ein ausgesprochen guter Verkäufer ist - nun, mich hat er jedenfalls dazu überredet, daß ich ihn ein Seminar hier in der Kirche abhalten lasse. Allerdings hat er mir noch nicht genau erklären können, worum es dabei geht, deshalb soll er Ihnen das selbst sagen. Bruder Lowrie?« Rafe huschte die Stufen zur Kanzel hinauf, wütend darüber, daß der Pastor einen so herablassenden Tonfall gewählt hatte. Wenn er selbst die Leitung dieser Kirche hätte, wäre das ganz anders. Er stellte sich auf die Kanzel und verbreitete sich eloquent über die Family-Matters-Gruppe. Die Männer müssen ihr Zuhause zurückgewinnen... Die Kinder haben keinen Respekt vor ihren Vätern, weil die Väter keine Autorität mehr haben... Harriets Gedanken schweiften schon sehr bald ab, zurück zu ihrer Schwester und deren Beschwörung der Göttin Gula. Die Predigt hatte sich mit der vaterlosen Waise und den fremden Göttern befaßt - Jeremia würde Mara wahrscheinlich sagen, daß sie den Zorn Gottes auf sich zog,
aber war Mara -und auch Harriet - nicht eine vaterlose Waise? Sollte man ihr nicht auch Mitleid entgegenbringen? 2
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Die Zelte werden abgebrochen
Kennen Sie diese junge Frau, Professor?« fragte der Mann vom universitären Sicherheitsdienst,
der Mara in Professor Granitas Büro schob. Verna Granita hob den Blick vom Computer. »Aber natürlich, das ist Mara Stonds. Was machst du denn hier, Mara? Möchtest du etwas Neues über die Göttin erfahren?« »Sie hat auf dem Campus übernachtet, Ma'am, und behauptet, eine Studentin von Ihnen zu sein.« Professor Granita musterte Mara belustigt - der Schlafsack hing aus ihrem Rucksack, sie war zerzaust und übernächtigt -und sagte dem Mann vom Sicherheitsdienst, sie brauche ihn nicht mehr. »Sie können sie ruhig in meiner Obhut lassen.« Nachdem sie ihm ein Formular unterschrieben hatte, verließ er endlich das Zimmer. »Nun, Mara? Ist die Klimaanlage in der Graham Street kaputt, daß du Zuflucht in den Weiten der South Side suchen mußt?« Noch vor einer Stunde hatte Mara in ihrem Kopf jenes Brummen vernommen, das sich nach zu vielen Tagen ohne menschlichen Kontakt einstellt. Jetzt schwoll dieses Brummen zu einem Donnern an, das von zuviel Kontakt kam, von Angst und Wut und Verlegenheit. Als der Mann vom Sicherheitsdienst sie angesprochen hatte, hatte Mara mit dem Rücken zum Museum auf ihrem Schlafsack gesessen, die Arme um die Knie geschlungen, und war vor und zurück gewippt. Nach fünf Nächten unter den Büschen neben der Kapelle war sie fiebrig vom Schlafmangel und weil sie sich mit niemandem unterhalten konnte. Sie konnte nicht mehr klar denken und sich auch nicht mehr daran erinnern, warum sie meinte, Oma Selena oder ihre Mutter seien noch am Leben. 84 An den ersten beiden Tagen ihrer Flucht hatte sie noch versucht, sich zu waschen. Sie hatte die Toilette in einem der Unterrichtsgebäude auf dem Campus aufgesucht. Und sie hatte sich einen Plan ausgedacht, wie sie Beatrix oder Selena finden könnte. Doch dann hatte die Frau vom Außenministerium so getan, als sei Mara eine Spionin, als wolle Mara in den Irak, um für Saddam Hussein zu arbeiten. Nein, danke, hätte sie am liebsten gesagt - schließlich fahre ich doch keine zwölftausend Kilometer, um mich wieder einem Mann auf dem Autoritätstrip unterzuordnen. Und weil sie Angst gehabt hatte, daß die Beamtin sich mit Dr. Stonds in Verbindung setzen könnte, wenn sie zuviel sagte, war sie einfach abgehauen. Wenn sie schon nicht in den Irak konnte, um zu beweisen, daß Großvater im Hinblick auf Oma Selena gelogen hatte, dann würde Mara zumindest die Wahrheit über ihre Mutter herausfinden. Alle sagten, Beatrix sei gestorben, als Mara zwei Jahre alt war. Wenn das stimmte, warum hatte dann nichts über ihren Tod in den Zeitungen gestanden wie bei allen anderen? -Uber das Ableben der verhaßten Tochter von Abraham, der verstoßenen Mutter von Harriet? Harriet herrschte Mara immer an, ja, natürlich ist sie tot, du dumme Kuh, ich war bei ihrer Beerdigung. Hast du ihre Leiche im Sarg gesehen, fragte Mara dann weiter, bist du dir sicher, daß sie Beatrix begraben haben? Natürlich hatte Harriet die Leiche nicht gesehen; Großvater besaß zuviel Stil, um die Leute der Vulgarität eines offenen Sarges auszusetzen. Aber das bedeutete, daß Beatrix unter Umständen noch am Leben war. Es sah Großvater ähnlich, die Sache als erledigt zu betrachten; Gott sei Dank haben wir sie los; obwohl seine eigene Tochter noch auf den Straßen herumirrte, immer auf der Suche nach etwas Eßbarem. Aber wie sollte Mara ihre Mutter finden, nach so vielen Jahren? Sie kannte weder die Namen ihrer Freunde noch den des Mannes, mit dem Beatrix in der Nacht von Maras Zeugung ins Bett gegangen war. Cynthia wollte ihr nicht helfen, einen Privatdetektiv zu engagieren - wahrscheinlich hielt Cynthia das Ganze für ein 20 j Spiel. Vielleicht war sie auch neidisch, weil Mara endlich etwas unternahm. All die Jahre hatten sie darüber gesprochen, wie sie Beatrix finden oder Rafe loswerden und schließlich zu Cynthias Mutter ziehen würden, aber was hatte Mara getan? Sie hatte immer schamlos übertrieben und Geschichten erzählt, wie Harriet und Mephers und Großvater es ausdrückten. Als Mara die Göttin Gula beschwor, wußte sie genau, daß sie es nur tat, um Großvater zu ärgern. Aber warum glaubte er
ihr nicht, daß sie das Foto in Mephers' Zimmer gesehen hatte? Warum glaubte er immer nur Mephers oder Harriet? Sie umschlang ihre Knie noch fester und wippte noch heftiger. »Sie wissen, daß das hier Privatgrund ist, junge Frau?« fragte sie ein uniformierter Schwarzer. Sie starrte ihn an, wurde sich plötzlich bewußt, daß um ihren Schlafsack herum leere Kartoffelchipstüten lagen, daß sie sich schon mehrere Tage lang nicht mehr gewaschen, daß sie ihre gebrauchten Tampons einfach in leere Fruchtsaftkartons gesteckt hatte. »Ich... ich bin Studentin«, stotterte sie. »Dann zeigen Sie mir mal Ihren Ausweis, Miss.« »Den habe ich nicht dabei. Ich bin auch keine Studentin der Universität, sondern eine Privatschülerin von Professor Granita, Verna Granita vom Oriental Institute. Sie ist Spezialistin für sumerische Göttinnen, wissen Sie, und... ich erprobe gerade ein paar von den sumerischen Beschwörungsformeln. Man muß sie bei Vollmond singen.« Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Man würde sie aufs Revier bringen. Dort würde es wieder eine Szene geben, und Großvater würde sie triumphierend in die Psychiatrie stecken. Vielleicht konnte sie einen falschen Namen angeben und ein paar Tage ins Gefängnis gehen - aber vor Gericht würde doch wieder einer von Harriets Verehrern auftauchen und sie identifizieren. Aber der Mann vom Sicherheitsdienst, der hierher geschickt worden war, weil sich angeblich eine Pennerin auf dem Universitätsgelände aufhielt, sah in Mara nur eine der vielen unge 85 pflegten Studentinnen, die ihren Dreck überall auf dem Campus hinterließen. Ihre Zottelhaare, die in der Graham Street so fehl am Platze waren, wirkten hier völlig normal. Nur ihre Nervosität ließ den Mann vom Sicherheitsdienst an dem zweifeln, was Mara sagte; also befragte er über Funk seinen Vorgesetzten, der ihm sagte, er solle das Mädchen zu Professor Granita bringen, um die Geschichte zu überprüfen. »Warum meinst du, daß Selena noch am Leben ist?« fragte Professor Granita, als sie allein waren. »Großvater und Mephers lügen die ganze Zeit; sie hassen mich, und sie haben Selena gehaßt, das merkt man ganz deutlich daran, wie sie über sie reden. Ich dachte...« Mara wurde rot und fing zu stottern an. Es klang wirklich lächerlich, wenn sie es laut aussprach: Großvater hat die Leute von der Zeitung bestochen, damit sie über ihren Tod berichten. »Und wahrscheinlich hat die Göttin Gula dir das alles gesagt, oder?« Professor Granita sah, daß Mara den Tränen nahe war, und fügte hastig hinzu: »Deine Großmutter ist wirklich tot, Mara. Ich war damals in Nippur. Die Expedition ins Taurusgebirge war ein Desaster. Eine ganze irakische Familie, die uns begleitet hatte, um uns zu bekochen und bei den Ausgrabungen zu helfen, ist ums Leben gekommen; sie wurden alle unter den Schneemassen begraben. Deine Großmutter und deine Urgroßeltern sind verhungert, bevor Hilfe kam.« Mara hatte das Gefühl, daß ihr Körper anschwoll und noch unansehnlicher wurde. In den harten Falten um Professor Granitas Mund las sie nicht die schmerzlichen Erinnerungen einer Wissenschaftlerin an ihre erste Expedition als junge Studentin, die vom Tod eines bewunderten Lehrers überschattet war, sondern Verachtung. Sie haßt mich auch, dachte Mara, die am liebsten sofort aus dem Büro und vor dem Blick jener spöttischen grauen Augen geflohen wäre, der sich in ihr Gehirn zu bohren schien. Professor Granita schüttelte den Kopf, um ihre Erinnerungen loszuwerden, und sah die schmutzige junge Frau vor sich 85 an. »Ich habe dich nie für einen Feigling gehalten, Mara, aber jetzt bist du weggelaufen, weil du dich nicht mit Mrs. Ephers auseinandersetzen willst, nachdem sie deinetwegen krank geworden ist.« Mara blähte die Backen vor Wut. »Das stimmt nicht. Ich bin weggelaufen, weil sie alle lügen. Ich habe einen Brief gefunden, den Mephers in ihrem Sekretär versteckt hatte. Er war auf französisch geschrieben, an meine Mutter, an die Tochter von Madame Selena Vatick Stonds. Ich kann nicht so gut Französisch, aber das habe sogar ich verstanden. Und es war ein Foto von einem Mann dabei, der große Ähnlichkeit mit Harriet hat; aber niemand glaubt mir, sie hören ja alle nur auf Mephers. Doch Großvater muß Bescheid wissen. Wo ist meine Mutter? War das ein Foto von Harriets Vater? Eigentlich kann das alles doch nur ganz schrecklich sein, wenn er unbedingt verhindern will, daß ich etwas darüber erfahre, oder?« Als Professor Granita nicht reagierte, rief Mara: »Sie wissen doch, wer der Mann ist, oder?«
Professor Granita beugte sich ein wenig vor und sagte mit klarer, aber durchaus verständnisvoller Stimme: »Manchmal ist es besser, nicht alles zu wissen, Mara. Ich weiß, das ist ein seltsamer Ratschlag von einer Frau, die ihr Leben damit verbracht hat, die Geheimnisse von längst Verstorbenen auszugraben. Aber findest du nicht auch, daß die Leute, die noch nicht so lange tot sind, ein Anrecht auf ihre Privatsphäre haben? Warum gehst du nicht wieder nach Hause? Du kannst nicht hier auf dem Universitätsgelände kampieren, und schließlich hast du ein wunderbares Zuhause, auch wenn Abraham nicht immer leicht zu nehmen ist. Du könntest dich an der Uni einschreiben, dann hättest du ein eigenes Zimmer. Ich glaube, ich werde den jungen Mann vom Sicherheitsdienst rufen, damit er dich nach Hause bringt. Wenn du dich ein bißchen beruhigt hast, kannst du zu mir kommen, und wir können uns über deine weitere Ausbildung unterhalten.« Professor Granita war mit Großvater befreundet; sie wollte 86 Mara wieder zu ihm zurückschicken. Mara sprang von ihrem Stuhl auf und stieß ihn dabei um. Sie rannte die breite Steintreppe hinunter, fest davon überzeugt, daß Professor Granita die Leute vom Sicherheitsdienst rufen würde, bevor sie zum Ausgang gelangen konnte. Doch sie drückte die schwere Tür auf und rannte hinaus, ohne daß jemand versucht hätte, sie aufzuhalten. Sie hastete die Straße entlang, an den alten Ziegelhäusern und schmalen Höfen vorbei, an Frauen mit Kinderwagen und Studenten, ohne daß sie irgend etwas davon wahrgenommen hätte, und landete schließlich völlig verschwitzt und um Luft ringend an der Southwater Station. Dort verschwand sie in der Toilette und ließ Wasser über ihren Kopf laufen. Dann, immer ein Auge auf den Eingang, zog sie nacheinander verschiedene Teile ihrer Kleidung aus und wusch sich am ganzen Körper. Natürlich waren alle Sachen, die sie dabei hatte, schmutzig. Aber es kam ihr nicht in den Sinn, sich in die Wohnung von Großvater zu schleichen, wenn niemand zu Hause war, um sich saubere Kleidung zu holen: Die Graham Street schien sich in einer völlig anderen Stadt zu befinden, zu weit weg, als daß sie sie hätte erreichen können. Sie verließ die Toilette. Da sie nicht wußte, wo sie sonst hinsollte, schlenderte sie zu der Hotelgarage und warf einen Blick auf die Wand. Jemand hatte sie zugespachtelt, ohne das kaputte Rohr dahinter zu reparieren: An den Rändern des frischen Betons breitete sich ein rostiger Fleck aus. Sie schaute sich nach der Frau um, die sich immer vor der Wand aufgehalten hatte. Von Madeleine Carters Unterschlupf waren nur noch kaputte Holzlatten übrig. Mara setzte sich zwischen die Latten. Sie hatte Kopfschmerzen und war müde. Sie wußte, daß sie etwas essen mußte. Vielleicht sollte sie ein paar Tage in ein Motel gehen, damit sie duschen, ausschlafen und sich einen Job suchen konnte. Der Gedanke blitzte kurz in ihrem Kopf auf wie eine Sternschnuppe, wurde aber schnell von ihrer Müdigkeit und Einsamkeit erstickt. 86 Wahrscheinlich hatte Professor Granita Großvater schon angerufen und ihm von ihrem Besuch erzählt. Großvater hatte schreckliche Angst, daß Mara sich auf dem gleichen Weg befand wie seine Frau und seine Tochter: Er hatte sie beide ermordet. Granita und Mephers waren Komplizinnen; sie glaubten, alle Spuren ihres Verbrechens beseitigt zu haben, aber jetzt bekam der Arzt Panik, weil er befürchtete, daß seine Enkelin etwas herausfinden könne. Er rief die Polizei an, drängte sie, Mara festzunehmen, weil sie eine gefährliche Kriminelle sei, und steckte sie in die geschlossene Abteilung des Midwest Hospital. Aber vielleicht würde Harriet ihr zu Hilfe kommen. Nicht die Polizei würde hier auftauchen, nein, ihre Schwester, nicht mehr ruhig, sondern mit verweinten, roten Augen: Mara, Kleines, es tut mir wirklich leid, daß ich dir nie geglaubt habe. Du hast immer recht gehabt mit deiner Meinung über Großvater und Mephers - sie sind wirklich Ungeheuer. Mara lehnte sich gegen eine Säule und schlief ein. 86
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Die Vergangenheit wird ausgegraben
Professor Granita kam gar nicht auf die Idee, Dr. Stonds anzurufen. Sie war fast fünfundsiebzig Jahre alt und mit ihren Gedanken wieder im Irak, im ersten Winter in Nippur. Wenn man vom Nahen Osten sprach, dachte man nie an Kälte, aber die Winter im Irak waren streng. Wie köstlich war doch die Liebe in einem Schlafsack, während der Wind den Schnee durch die Ritzen der Lehmwände ihres Häuschens trieb. Die Professorin lächelte: So etwas konnte man nur genießen,
wenn man jung war. Im Alter brauchte man ein richtiges Bett und Wärme, und man wollte sich keine Gedanken darüber machen müssen, ob vielleicht eine wütende Ehefrau auftauchte. Ein Brief in französischer Sprache an Beatrix? Mit dem Foto eines Mannes, der aussah wie Harriet. Warum war ihr das nie aufgefallen? Es war schon pervers, daß der Mensch so wenige Dinge wahrhaben wollte. Sie selbst war nicht immun gegen solche Verdrängungsmechanismen, aber es schockierte sie immer wieder, wenn sie sich selbst dabei ertappte. Jetzt, wo sie darüber nachdachte, war die Ähnlichkeit wirklich frappierend. Vielleicht war es der Mangel an Sinnlichkeit in Harriets Gesicht, der dazu geführt hatte, daß Professor Granita die Ähnlichkeit all die Jahre nicht aufgefallen war. Aber wahrscheinlich hatte das mit ihrem Wunsch zu tun, nichts darüber wissen zu wollen. Die Professorin verzog das Gesicht - der Spott, mit dem sie Mara eingeschüchtert hatte, blieb ihr nun selbst nicht erspart. Aber wer hatte Beatrix geschrieben, und wie war dieses Ungeheuer von einer Haushälterin an den Brief und das Foto gekommen? Hatte Ephers Abraham davon erzählt? Wahrscheinlich nicht: Er war so stolz, daß er eine solche Eröffnung mit Sicherheit nicht überlebt hätte. Wer hatte geschrieben, 21j
ohne zu wissen, daß Beatrix gestorben war? Denn das stand fest, auch wenn Mara sich wünschte, daß sie noch lebte. Wie lange lag der stürmische Märztag nun schon zurück, an dem sie Abraham zu dem Bestattungsinstitut im Nordwesten der Stadt begleitet hatte? Er hatte sich geweigert, irgend jemanden von der Gemeinde der Orleans Street Church an dem Gottesdienst teilnehmen oder überhaupt einen solchen Gottesdienst abhalten zu lassen. Die Jahre verschmolzen ineinander. Früher waren ihr besondere Ereignisse, ein bestimmter Liebhaber oder eine erstaunliche linguistische Entdeckung Erinnerungshilfen gewesen, aber jetzt erschienen ihr alle Ereignisse gleich weit weg. Jedenfalls war sie bei der Beisetzung gewesen, neben Harriet und Mrs. Ephers. Mara war damals wohl noch ein Baby; wahrscheinlich hatte man sie in der Obhut eines Babysitters gelassen Professor Granita konnte sich nicht erinnern, daß sie in dem Institut dabeigewesen wäre. Am ehesten erinnerte sie sich noch an Abrahams Wut, an seine Weigerung, sich über seine Tochter zu unterhalten, an seine grimmige Befriedigung darüber, daß es ihm gelungen war, die Zeitungen zum Schweigen zu bringen: Sie wird mich nicht noch als Tote in Verlegenheit bringen. Professor Granita hatte nie verstanden, warum Beatrix' Ableben Abraham so sehr in Rage brachte: In mancher Hinsicht war es ihm doch sogar sehr gelegen gewesen. Aber die Professorin hatte sich seinem Wunsch gebeugt, die Sache geheimzuhalten - schließlich war es seine Familie; sie würde sich nicht anmaßen, all die komplexen Gefühle verstehen zu wollen, die Familien zusammenhielten oder sie auseinandertrieben. Damals, wann immer es gewesen sein mochte plötzlich fiel ihr ein, daß sie sich während der Beisetzung Gedanken über die Wasserrohre in ihrer italienischen Wohnung gemacht hatte. Es war der Frühling gewesen, in dem sie zu Vorträgen nach Padua gereist war... Also vor siebzehn Jahren. Damals jedenfalls hatte sie sich schon keine Illusionen mehr über Abraham oder über die Aussicht auf eine mögliche Romanze mit ihm ge 87 macht: Er war ausschließlich mit sich selbst beschäftigt und absolut unfähig, irgend jemanden nicht als Reflexion seiner eigenen Wünsche zu sehen. Er war da keine Ausnahme; so waren die Männer alle. Das hatte Helen Vatick immer gesagt, Selenas Mutter, wenn die Frauen in Nippur zu ihr kamen und sich bei ihr beklagten, daß ihre Ehemänner sich nur für ihre Lehmgefäße und Inschriften interessierten. Sie sind in ihrer kleinen Welt gefangen, sagte Helen, so neidisch auf Jehova, der diese großartige Welt erschaffen hat, daß sie versuchen, sich ihr eigenes Universum aufzubauen. Oder haben sie sich deshalb einen Gott wie Jehova ausgedacht? Es heißt, wir schaffen uns einen Gott nach unserem Bilde, und soweit ich das angesichts der sumerischen Götter beurteilen kann, haben die Menschen von ihren Göttern immer erwartet, daß sie genauso engstirnig und besitzergreifend sind wie sie selbst. Und Granita hatte sich damals überlegen gefühlt, weil sie selbst in der Welt der Lehmgefäße und Inschriften gefangen war, keine jammernde Ehefrau, die in der Wüste nichts zu tun hat. Es sei denn natürlich, man war wie Sabine Tholuck, die den Beruf ihres Mannes so ernst nahm, daß sie sich von jungen Studentinnen wie Granita »Frau Professor« nennen ließ. Aber in Helen Vaticks Gegenwart fühlte sich Granita auch immer merkwürdig unfeminin; sie war nicht in der Lage, sich zu den Frauen zu setzen und sich mit ihnen über ihre Männer und die Kinder zu unterhalten. In
ihrer Erinnerung war Mrs. Vatick eine ausgesprochen feminine Frau. Das gleiche galt für Selena, auch wenn sie ein ganz anderer Typ war. Ach, was hatte es schon für einen Sinn, sich Gedanken über die jüngere Vergangenheit zu machen? Ihre Welt war die ferne Vergangenheit; dort wußte sie genau, was sie denken mußte, welche Schlüsse sie ziehen konnte. Doch bevor sie dorthin zurückkehrte, würde sie Harriet anrufen, um ihr zu sagen, wo Mara sich aufhielt. Und vielleicht würde sie vorsichtig nachfragen, welche Geschichte Abraham seinen Enkelinnen über den Tod von Beatrix erzählt hatte. 88
Als Professor Granita anrief, war Harriet gerade dabei, sich auf eine Besprechung vorzubereiten. Ihre Sekretärin Lauren weigerte sich zunächst, Professor Granita durchzustellen, aber diese ließ sich nicht so leicht abwimmeln, und Lauren, die selbst gern mehr über die neueren Entwicklungen in Harriets Leben erfahren wollte, verband sie dann doch mit ihrer jungen Chefin. Harriet war ziemlich kurz angebunden, weil sie gerade versucht hatte, sich auf die Probleme eines Abfallbeförderungsunternehmens zu konzentrieren, dem eine Anklage wegen illegaler Abladung von Giftmüll drohte. Also zog Mara jetzt auch noch die University of Chicago in die peinliche Geschichte hinein? Nun, herzlichen Dank für die Neuigkeit. Professor Granita war verblüfft, wie harsch Harriet auf ihren Anruf reagierte. »Harriet, Mara sieht nicht besonders gut aus. Sie hat die letzten Nächte im Freien verbracht. Kannst du nicht dafür sorgen, daß sie wieder heimkommt?« »Sie kann jederzeit wieder zurückkommen, vorausgesetzt natürlich, sie hört auf, sich wie die Primadonna in einer Seifenoper aufzuführen.« Harriet warf einen Blick auf ihre Schreibtischuhr: Ihre Mandanten würden in drei Minuten da sein. »Sie glaubt, daß Abraham sie im Hinblick auf Beatrix' Tod anlügt. Ich denke - ich hoffe -, ich habe sie davon überzeugen können, daß Selena wirklich 1947 gestorben ist. Aber kannst du ihr nicht begreiflich machen, daß Beatrix auch nicht mehr lebt? Ich mache mir Sorgen um Mara. Ich habe sie immer für halbwegs vernünftig gehalten, aber jetzt hat sie plötzlich die fixe Idee, daß sie Beatrix finden muß. Glaubst du, es würde was nützen, wenn du mit ihr sprichst, ihr die Wahrheit sagst?« »Die habe ich ihr schon zigmal gesagt. Ich war bei der Beerdigung dabei. Aber Mara glaubt mir nicht, sie sagt immer wieder, du hast sie nicht im Sarg gesehen. Aber selbst wenn Großvater sie offen hätte aufbahren lassen: er hat gesagt, daß Beatrix in der Badewanne ertrunken ist. Sie muß aufgeschwemmt und völlig entstellt gewesen sein.« Harriet schwieg. Sie hatte lange genug Alpträume gehabt, in denen der aufgeschwemmte Leich88
nam sich aus dem Sarg erhoben und sie verfolgt hatte, weil er sie in eine schreckliche Unterwelt entführen wollte, in der sie inmitten von kaputten Möbeln und Ratten hausten. »Mara sagt, sie hat einen französischen Brief an Beatrix gefunden«, sagte Harriet plötzlich. »Und das Foto eines Mannes, der große Ähnlichkeit mit mir hat. Wissen Sie, wer das war?« Sobald die Worte heraus waren, wünschte sich Harriet, sie hätte sie nicht gesagt. Es gab keinen solchen Mann. Und selbst wenn Harold Caduke nicht ihr richtiger Vater war - wäre das denn so schrecklich? Schließlich erinnerte sie sich ohnehin kaum noch an ihn. Allerdings hatte sie sich Mara gegenüber immer überlegen gefühlt, unter anderem deshalb, weil sie anders als diese den Namen ihres Vaters kannte. Sie war so über sich selbst verärgert, daß ihr das Schweigen am anderen Ende der Leitung und die unnatürliche Stimme, mit der die Professorin sagte, nein, sie habe keine Ahnung, Harriet solle dafür sorgen, daß Mara Hilfe bekam, gar nicht auffielen. »Ich gehöre zu den ältesten Freunden deines Großvaters, und du und deine Schwester, ihr liegt mir am Herzen. Es ist für niemanden gut, wenn sie, so durcheinander, wie sie augenblicklich ist, in der Stadt herumläuft.« Lauren erschien in der Tür. Der Mandant, der im Jahr immerhin ein paar hunderttausend Dollar für juristische Beratung ausgab, wurde allmählich ungeduldig. Harriet legte auf. Am liebsten wäre sie nach Hause gefahren und hätte alle Fotos ihrer Eltern herausgeholt, um nach einer Ähnlichkeit zwischen sich und ihrem Vater zu suchen. Und noch lieber hätte sie Mara eine Ohrfeige gegeben. Warum mußte sie ihre Familienangelegenheiten unbedingt an die Öffentlichkeit zerren? Als Lauren ungeduldig hüstelte, stand Harriet auf und ging ins Besprechungszimmer. Aber sie schaffte es nicht, sich auf das Problem zu konzentrieren. Es machte ihr angst, daß sie sich plötzlich nicht mehr an Besprechungen, die erst vor kurzem stattgefunden hatten, erinnern konnte. Was hatte es zu bedeuten, daß sich ihr Gehirn so auflöste? Floß etwa auch in
2/7 ihren Adern Beatrix' schlechtes Blut? Hatte es all die Jahre Ruhe gegeben und brach jetzt, in der ersten wirklichen Streßsituation ihres Lebens, mit aller Macht hervor? Nach der Besprechung arbeitete sie in der Mittagspause wie besessen Berichte durch. Leigh Wilton hatte ihr noch zwei weitere schwierige Probleme herübergeschoben, von denen das eine vor einem Termin um vier Uhr auf der anderen Seite der Stadt gelöst werden mußte. Sie brachte ihre Mitarbeiterinnen mit ihren Anforderungen fast zum Wahnsinn und sorgte dafür, daß sie ihre Mittagspause ebenfalls am Schreibtisch verbrachten. Sie war wild entschlossen zu beweisen, daß sie Großvaters mutiges kleines Mädchen war und mit jeder Herausforderung fertig wurde. Als sie sich an ihren Computer setzte, hörte sie eine ihrer Assistentinnen etwas von wegen PMS murmeln. Die andere kicherte. Harriet tat, als höre sie nichts. PMS - Post-Mara-Syndrom. Dagegen hatte sie schon den ganzen Tag angekämpft. Vielleicht sogar ihr ganzes Leben. Oder möglicherweise war's auch nur das Wetter, diese unerbittliche Schwüle. Um drei, als sie das Gebäude zusammen mit Leigh Wilton verließ, sah sie ein Gewitter über dem See heraufziehen, gewaltige Wolkengebirge, die sich auftürmten wie die Brüstung eines Riesenschlosses. Wie die Schachfiguren Gottes. Ihr Vater - war er überhaupt ihr Vater? - hatte die Wolken immer so genannt. Die Erinnerung daran war stärker als Leigh Wiltons Ausführungen über Rapelecs Patentkämpfe in Malaysia. Damals war sie sicher noch nicht älter als vier oder fünf Jahre gewesen. Sie war am See (wo? nicht in Winnetka, sondern irgendwo auf dem Land), und ihre Eltern stritten sich. Sie hörte noch das schreckliche Schluchzen ihrer Mutter - Harriet hatte zuerst gedacht, sie lache, und war vor Aufregung auf und ab gehüpft. Doch dann hatte ihre Mutter ihr eine Ohrfeige gegeben, wütend darüber, daß Harriet sich über ihren Kummer lustig machte, und Daddy hatte Harriet in den Arm genommen, war mit ihr zum Seeufer gegangen, hatte auf die weißen Wolkentürme gedeutet und gesagt: die Schachfiguren Gottes. 89 Wenn er es satt hat, die Welt zu regieren, spielt er eine Runde Schach. Die Erzengel verlieren immer; das macht sie wütend, und sie werfen die Figuren aufs Brett. Das ist der Donner. Sie konnte sich immer noch nicht auf ihren Mandanten und seine Probleme konzentrieren. Warum dachte sie nie über ihren Vater nach? War es in jenem Streit damals um Harriets leiblichen Vater gegangen? Er hatte sich durch alle Betten geschlafen, dieser Harold Caduke, gern gab sie das nicht zu, aber es stimmte leider: In der Nacht seines Todes war er mit einer anderen Frau zusammengewesen. Wahrscheinlicher war es da schon, daß ihre Mutter eine andere gewesen war nein, das war völlig unmöglich. Jetzt steckte Mara Harriet schon mit ihren hysterischen Phantasien an. Es war egal, ob Harold Caduke Harriets Vater war oder nicht: Großvater hatte sie offiziell adoptiert, als sie neun war, und sie hieß Stonds. Außerdem hatte sie den messerscharfen Verstand von Großvater geerbt und nicht Stroh im Kopf wie Mara. Wie oft hatte Mephers Mara eine Ohrfeige gegeben, weil sie log - Harriet war so etwas nie passiert! Als Harriet wieder im Büro war, versuchte sie sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, was ihr aber nur unzureichend gelang. Um elf wurde ihr bewußt, daß sie den Aufsatz über Gewerberecht in Indonesien schon dreimal gelesen hatte, ohne zu begreifen, wie er sich auf Leigh Wiltons Mandanten, ein Aufnahmestudio in Tel Aviv, anwenden ließ. Donner grollte über dem See. Sie ging ans Fenster. Wenn sie den Hals ein wenig reckte und die Augen zusammenkniff, konnte sie die Blitze über dem Chicago River sehen. Vielleicht würde der Sturm doch noch losbrechen und sie von ihrer Nervosität befreien. Ohne sich vom Fenster wegzubewegen, spielte sie die Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter ab. Die vierte stammte von Großvater, der kurz vor acht versucht hatte, sie zu erreichen. Er fragte sich, wo sie sei und wie sie vorhabe, die Sache mit dem Abendessen zu regeln. Normalerweise bist du in dieser Hinsicht rücksichtsvoller, meine Liebe; Hilda 89 schätzt es gar nicht, wenn du nicht anrufst, um ihr deine Pläne mitzuteilen. Die übrigen Nachrichten hörte sie nicht mehr ab, sondern löste sich vom Fenster, nahm den Schirm vom Haken neben der Tür und verließ das Büro. Als sie auf der Straße auf ein Taxi wartete, stellte sie sich ihre Heimkehr vor: Sie würde nervös Großvater begrüßen, der mit gerunzelter Stirn auf die Geschichte über einen schwierigen Mandanten reagieren würde, ihm die Wange zum Kuß hinhalten, Mephers selbst einen Kuß geben, sich in ihr Zimmer mit den hellen Vorhängen zurückziehen und versuchen, die Tränen zu weinen, zu denen sie so selten fähig war.
Was würde passieren, wenn sie nach Beatrix fragte, nach Mara und danach, wer die leiblichen Väter waren? Großvater würde die Lippen zusammenpressen und sagen: Meine liebe Harriet, ich habe immer gehofft, daß deine kühle Rationalität einen positiven Einfluß auf Mara haben würde und daß du dich nicht von ihren Hirngespinsten beeindrucken lassen würdest. Die ersten Regentropfen, dick und schwabbelig wie Blutplasmabeutel, fielen herunter, als endlich ein Taxi auf ihren ausgestreckten Arm reagierte. Einem plötzlichen Impuls gehorchend, sagte sie dem Fahrer, er solle auf dem Weg in die Graham Street an der Garage des Hotel Pleiades vorbeifahren. 90
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Sintflut
Blaulicht erhellte den Lower Wacker Drive. Ein Polizeiwagen versperrte die Kreuzung an der Stetson Avenue; ein Streifenpolizist blies mit dem überheblichen Gesichtsausdruck, den Beamte oft bekommen, wenn sie sich an einem Tatort befinden, in seine Pfeife und dirigierte die Wagen zurück zum Wacker Drive. »Ich muß hier durch«, erklärte Harriet dem Taxifahrer. Er zuckte mit den Achseln. »Unmöglich, Missus. Sie sehen doch den Bullen da vorn, oder? Soll ich den überfahren?« »Ich möchte, daß Sie anhalten. Ich muß mit ihm reden.« Der Streifenpolizist blies herrisch in seine Pfeife. »Weiter geht's, Kumpel, weiterfahren.« »Sehen Sie?« sagte der Fahrer. »Ich darf hier nicht halten.« Harriet kurbelte das Fenster herunter. »Officer! Ich bin die Anwältin von...« »Ist schon gut, Lady. Sorgen Sie dafür, daß der Fahrer umdreht.« Harriet machte die Tür auf, als der Fahrer gerade zur Kehrtwendung ansetzte. »Sie Vollidiot! Halten Sie sofort an! Wollen Sie mich umbringen?« Der Fahrer trat auf die Bremse. »Raus, du dumme Kuh. Ihr seid doch alle gleich. Zuerst wollt ihr heim, dann wollt ihr plötzlich nicht mehr heim. Bleib hier stehen, ach nein, halt doch lieber da drüben. Und jetzt hab' ich auch noch Scherereien mit der Polizei. Raus. Dein Geld kannst du behalten, das will ich nicht!« Harriet notierte sich seinen Namen und die Taxinummer. Morgen früh würde sie als erstes in der Taxizentrale anrufen. Sie sagte dem Fahrer, daß er mit einer offiziellen Verwarnung zu rechnen habe. Er raste so schnell die Straße hinunter, daß er 90
fast mit einem entgegenkommenden Streifenwagen zusammengestoßen wäre, dessen Fahrer das Steuer herumriß und den Taxifahrer zum Halten zwang. Harriet schenkte dem keine Beachtung und merkte auch nicht, daß der Taxifahrer in ihre Richtung deutete und Verwünschungen ausstieß. Sie ging mit herrischer Miene an der Polizeiabsperrung vorbei, ohne auf das Pfeifen oder die Rufe der Polizisten zu achten, hinüber zur Garage. Die Straße war überflutet. Harriet nahm an, daß es von dem Sturm kam. Mitten auf der Straße standen Reparaturfahrzeuge der Stadtwerke. Ein blauer Wagen vom Straßenbauamt parkte, flankiert von fünf Streifenwagen, vor der Garage des Hotel Pleiades, gleich neben der umstrittenen Wand. Es waren so viele Polizisten und Handwerker da, daß Harriet nicht sehen konnte, was eigentlich passiert war. Ein Krankenwagen, dessen rotes Licht sich mit dem blauen der Polizei vermischte, stand an der Bordsteinkante. Die Sprechfunkgeräte knisterten. Als Harriet sich auf die Zehenspitzen stellte, sah sie eine Rollbahre auf dem Gehsteig. Drei Frauen warteten neben der Rollbahre, die Gesichter leuchteten auf im Schein der Lichter, den Gesichtsausdruck konnte Harriet nicht deuten. Zwei trugen mehrere Kleiderschichten übereinander, und Harriet nahm an, daß es sich um Obdachlose handelte. Die dritte stand ein wenig abseits, obwohl sie offensichtlich zu ihnen gehörte. Sie trug ein schwarzes Kostüm, das eindeutig nicht von der Stange war. Was hatte sie hier bei den beiden verloren? Mittlerweile hatten sich einige Schaulustige eingefunden. Wahrscheinlich erhofften sie sich, ins Fernsehen zu kommen, denn zusammen mit dem Wasser waren Reporter, Kameraleute und Tontechniker gekommen. Harriet suchte die Menge nach den widerborstigen Haaren ihrer Schwester ab, aber es war schwer, irgend etwas zu erkennen, was nicht direkt vom Licht erfaßt wurde. Neben dem Krankenwagen stand Brian Cassidy. Harriet 90
ging zu ihm hinüber, als ein Polizist Anstalten machte, ihr zu sagen, daß sie hinter der Absperrung nichts verloren hatte. »Ms. Stonds!« begrüßte Cassidy sie voller Erleichterung. »Sie ist unsere Anwältin, Officer. Woher wußten Sie, was passiert ist? Ich habe Mr. Palmetto erst vor fünf Minuten angerufen.« Sie schüttelte den Kopf. »Das ist Zufall. Ich bin hier vorbeigefahren, um... um mir die Sache noch einmal anzusehen. Was ist passiert?« Cassidy machte eine hilflose Geste. »Dieses verdammte Miststück... tut mir leid, aber Sie wissen schon, diese psychotische Obdachlose! Sie hat uns ein paar Tage in Ruhe gelassen, aber heute abend ist sie wieder aufgetaucht. Wir haben die Wand zubetoniert, wie Sie's uns gesagt haben, und als sie das gesehen hat, hat sie zu jammern angefangen, wie wenn's der Weltuntergang wäre. Tja, und dann sind die anderen drei... na ja, Frauen... aufgetaucht. Die eine ist die, die sich neulich nacht die Seele aus dem Leib gesungen hat. Die hält sich wohl für 'ne Sängerin oder was.« War die Frau mit dem eleganten Kostüm Luisa Montcrief? Harriet hatte die Diva nicht gesehen, als sie die Kaution für ihre Schwester hinterlegte; sie hatte sich nur Harry Minskys Klagen angehört. Und sie hatte Mitleid mit ihm gehabt, weil sie ja selbst eine Schwester hatte. »Die Verrückte - eigentlich sind sie ja alle verrückt - hat gejammert, daß die Mutter Gottes ihr das nie verzeihen würde, und die andere, die Sängerin, hat italienisches Zeug gesungen.« Tatsächlich hatte es sich um Verdis »Madre, pietosa Vergine« gehandelt - gnadenreiche, jungfräuliche Mutter -, eine von Luisas Paradenummern. Sie hatte ihr Europadebüt damals als Leonora in Venedig gegeben; wie schade, daß das schöne Haus niedergebrannt war, obwohl sie lachte, als sie darüber las: Man stelle sich einmal vor, daß ein Gebäude mitten in Venedig abbrennt. Da gibt's so viel Wasser, daß die Stadt fast im Meer versinkt, und die Oper brennt bis auf die Grundmauern nieder. Sie war in der Wohnung eines Verehrers gewesen, als sie im 22J Herald-Star darüber las, und der Mann - wie hatte er noch geheißen? - war zusammengezuckt bei ihrem vollen, bezaubernden Lachen, so hatte Tyrone Bennet vom Londoner Inde-pendent es genannt. Der Verehrer, er war eben doch nur ein Kretin, hatte gesagt: Mußt du denn beim Frühstück einen solchen Lärm machen? Wahrscheinlich hatte er einen Kater; mit einem Alkoholiker muß man nachsichtig sein, und außerdem war er so nett gewesen, sie ein paar Wochen bei sich aufzunehmen, auch wenn er sich am Schluß als ziemlich boshaft entpuppt hatte. Zum Glück hatte sie selbst nie Probleme mit Alkohol oder Drogen gehabt. Natürlich wurden Juden selten zu Alkoholikern - sie selbst war der beste Beweis dafür, denn sie brauchte nur hin und wieder einen Drink, um ein bißchen ruhiger zu werden, wurde aber nie von dem Zeug abhängig wie so viele traurige Existenzen. Schon merkwürdig, daß ausgerechnet eine Jüdin einen so großen Teil ihres Lebens darauf verwendete, jämmerliche Bitten an die jungfräuliche Mutter Jesu zu singen. Wenn nicht »Madre, pietosa Vergine«, dann »Ave« oder »Ave Maria« oder Gounods »Anges purs, anges radieux«; man konnte meinen, sie hatte ihre Kindheit in einer Klosterschule verbracht. Als sie das Carl gegenüber erwähnte, legte er ihr einen Finger auf die Lippen: Erzähl lieber nicht überall herum, daß du Jüdin bist, cara, wir leben in einer häßlichen Welt, und dein Ruf ist noch nicht gefestigt. Du siehst aus wie eine Römerin, und »Montcrief« ist auch nicht gerade ein jüdischer Name. Vielleicht sollte ich dir als Talisman einen Rosenkranz kaufen; aber das Ding hatte ihr kein Glück gebracht, sie hatte es an dem Abend in der Met dabei wie immer, und... und sie hatte schreckliche Kopfschmerzen. Was wollte sie überhaupt hier bei dieser Verrückten, die glaubte, daß die Jungfrau durch die Wand blutete? Und dieser brutale Kerl in der Pension heute morgen, er hatte sie rausgeworfen. Sie haben mir den ganzen Flur vollgekotzt; und dann hatte er ihre Koffer die Treppe hinuntergestoßen. Sie hatte gerade erst eine grauenvolle Grippe überstanden; sie konnte sich nicht erinnern, jemals so krank gewesen zu sein 91
bis gestern war sie sogar im Krankenhaus gewesen, und sie hatte keine Ahnung, wie sie dorthin gekommen war. Kein Wunder, daß ihre Stimme nicht in bester Verfassung war: Sie hätte nicht so schnell wieder singen sollen; wahrscheinlich hatte sie sich auch deshalb übergeben müssen; aber war dieser Idiot bereit, ihr zuzuhören? Wahrscheinlich wurde er von Harry dafür bezahlt, daß er ihr das Leben zur Hölle machte. Sie hatte ihr Gepäck am Civic Opera House zurücklassen müssen, obwohl sie dort kein Engagement hatte. Was war das für ein Kampf gewesen, nur den Koffer dort zu lassen; sie hatten sich aufgeführt, als sei sie eine Pennerin und nicht eine Diva, die in dem Haus schon einmal acht
Vorhänge für ihre Aida bekommen hatte. Und dabei wurden die Räume im Augenblick nicht einmal benutzt. Es war Juli, da gab es keine Proben, sie wollte ja nur einen leeren Raum zum Üben. Dann war plötzlich Alessandro aufgetaucht und hatte ihr die Hand geküßt. Madame, Sie brauchen einen Raum zum Üben? Was, Sie denken an ein Comeback? Das wäre wirklich eine wundervolle Nachricht. Und er hatte ihr den Schlüssel zu einem der Räume im siebten Stock gegeben, wo ein gestimmter Konzertflügel für sie stand. Sie spürte den Schlüssel an ihrer Brust, und dieses Gefühl gab ihr Sicherheit. Sie war immer noch eine Diva, sie kam immer noch in die großen Opernhäuser der Welt. Dann war das Gewitter losgebrochen. Sie hatte versucht, in die Unterkunft der Kirche zu kommen, aber diese Schlampe dort, Patsy Irgendwie, wollte sie nicht hereinlassen. Wir haben Regeln hier, Luisa. Ich habe Ihnen vor zwei Wochen gesagt, daß Sie nicht betrunken hier auftauchen sollen. Gute Frau, ich bin gerade erst genesen. Sagt Ihnen Ihr Gott, dieser Jesus, an den Sie sich wenden, um sich darüber hinweg zu trösten, daß kein Mann Ihren kalten, steifen Körper will, sagt Ihnen dieser Jesus denn nicht, daß Sie kranke Leute bei sich aufnehmen sollen, wenn sie Hilfe brauchen? Als Antwort hatte sie nur einen Wutschrei erhalten: Versuchen Sie nicht, wieder hier reinzukommen; ich lasse Ihren Namen für immer von der Liste streichen. 92
Also war sie zum Lower Wacker Drive gegangen, in der Hoffnung, die Unterkunft zu finden, von der die schwarze Frau ihr erzählt hatte und wo sie schlafen konnte, wenn sie nichts anderes fand, aber dann war sie hier in diesem schrecklichen Chaos gelandet: Die Verrückte, die Schwarze und ihre weiße Freundin - sie alle hatten vor dem Riß in der Wand gejammert. Der einzige Riß ist der in eurem Kopf, hatte Luisa gesagt, aber sie hatten ihr erklärt, der Riß sei zubetoniert worden. Die Verrückte flehte die Jungfrau um Hilfe an, und Luisa beschloß, ihr beizustehen, ihr zu zeigen, wie man sich auf die richtige Weise an die Jungfrau wandte: auf italienisch, zur Musik von Verdi. Doch mitten in ihrer Arie waren diese Schlägertypen aufgetaucht; wahrscheinlich waren das Leute von der Callas; sie folgten ihr überallhin, ließen sich von Harry und Karen sagen, wo sie sich aufhielt, um sie fertigzumachen. Mein lieber Affe - Luisa hatte zu singen aufgehört, um sich mit dem Anführer zu unterhalten, der Arme wie ein Orang-Utan hatte -, ich weiß genau, was Sie vorhaben. Aber bitte warten Sie mit Ihren Belästigungen doch, bis ich an einem angemesseneren Ort auftrete - dann werden wir ja sehen, wer zuletzt singt. Während sie sich noch mit ihm stritt, holte die Schwarze ein Messer unter ihren zahlreichen Kleiderschichten hervor und begann, an dem Beton zu kratzen. Dabei rief sie, schau, Maddy, hier kannst du das Blut der Jungfrau sehen, es kommt immer noch durch. Daraufhin wandte sich der Affe von Luisa ab und der Schwarzen zu. Er brüllte, er würde die Polizei holen, wenn sie die Wand noch einmal anrührte; haut ab, ihr blöden Fotzen; und plötzlich hatte sich das Wasser über sie ergossen, in einem so kräftigen Strahl, daß die Verrückte beinahe hingefallen wäre. Zuerst hatte Luisa gedacht, das sei der Sturm: Sie hörte den Donner, doch dann sah sie das Wasser aus der Wand spritzen. Sie mußte lachen, so lächerlich sah der Affe aus, die Haare an den Kopf geklatscht, wie er versuchte, sich die Augen zu reiben, damit er wieder etwas sah. Und, man stelle sich vor, der Kerl behauptete tatsächlich, daß die Schwarze 92 die Flut verursacht hatte. Da konnte Luisa nicht mehr aufhören zu lachen. Das heisere Geräusch verursachte Harriet Zahnschmerzen. Sie sah Luisa verärgert an, aber die Diva reagierte auf böse Blicke genausowenig wie auf die Androhung von Gewalt. Harriets Füße waren patschnaß, was ihren Zorn noch verstärkte. »Aber ein bißchen Herumkratzen am Beton kann doch keine solche Flut auslösen.« »Nein?« sagte Cassidy. »Tja, dann würde ich gern wissen, was daran schuld ist. Die Männer von den Stadtwerken sagen, wahrscheinlich haben wir das Rohr kaputtgemacht, als wir auf dem Beton rumgehämmert haben, aber das ist Quatsch. Unsere Jungs haben nicht einmal das Loch richtig gesäubert, obwohl ich ihnen gesagt habe, sie sollen es machen, damit das Zeug auch hält. Aber sie haben's einfach zubetoniert. Rumgehämmert haben die hier mit Sicherheit nicht. Vor diesen Schlampen... Entschuldigung, vor diesen obdachlosen Frauen... hat niemand den Riß angerührt. Und dann hat die Verrückte plötzlich geschrien: >Die Mutter Gottes hat mir verziehen.< Tja, und hinterher hat sie den Kopf in den Wasserfall gesteckt und wäre fast ertrunken.« »Ist der Notarzt deswegen hier?«
»Ja. Dieser Idiot Nicolo hat die Notrufnummer gewählt, obwohl ich ihm gesagt habe, er soll das nicht machen. Hätte uns 'ne Menge Probleme erspart, wenn er sich nicht um sie gekümmert hätte. Wird Zeit, daß er sich nach 'nem neuen Job umsieht. Wahrscheinlich hat er vergessen, von wem er bezahlt wird.« Harriet sah ihn erstaunt an. »So etwas können Sie nicht in der Öffentlichkeit sagen, Cassidy. Ich bin die Anwältin des Hotels, aber es wäre mir nicht recht, wenn ich Sie in einem Arbeitsrechtsverfahren vertreten müßte, weil Nicolo einer Frau das Leben gerettet hat.« Sie ließ ihn stehen und ging hinüber zu dem Krankenwagen, wo sie brüllen mußte, um sich bei dem Lärm, den das Wasser, die Sprechfunkgeräte und die Stimmen der Männer verursachten, verständlich zu machen. »Ich bin die Anwältin des Hotels; wie geht es der Frau?« Der Fahrer des Notarztwagens wollte, beeindruckt von ihrem autoritären Tonfall, eine Antwort geben, als Harriet plötzlich eine ganze Reihe von Mikrofonen vor der Nase hatte. Sie hatte so laut gesprochen, daß auch die Reporter sie hörten. Die Scheinwerfer blendeten sie, als die Aufnahmetechniker näher herankamen, wie Tauben, die alle zur selben Zeit eine Tüte Popcorn entdeckt hatten. Wie hieß sie? Warum hatte das Hotel den Riß zubetonieren lassen? Glaubte sie, daß es sich tatsächlich um eine wunderbare Marienerscheinung handelte? Und hatte Madeleine Carter denn kein Recht, die Jungfrau an dieser Stelle anzubeten? Was hatte die Sturzflut ausgelöst? Würde sie die Entscheidung des Hotels befürworten, die Krankenhauskosten für Madeleine Carter nicht zu übernehmen? Was war, wenn Ms. Carter nun an einer Lungenentzündung starb? Harriet, die sich ihrer durchweichten Schuhe und ihrer klatschnassen Haare nur zu bewußt war, versuchte freundlich zu lächeln: Sie wußte, wie schlecht es für ihre Mandanten wäre, wenn sie im Fernsehen mit einem mißmutigen Gesicht gezeigt würde. »Wir können erst etwas sagen, wenn Fachleute sich die Stelle angesehen haben. Ich kümmere mich darum, sobald ich wieder in meinem Büro bin. Außerdem weiß ich nichts über Madeleine Carter und ihren Zustand. Ich wollte mich gerade darüber informieren, als Sie sich auf mich gestürzt haben.« Sie wandte sich den Sanitätern zu. Die Kameraleute filmten sie noch ein, zwei Minuten lang, dann machten sie sich auf die Suche nach einem neuen Objekt. Sie waren jetzt schon seit vierzig Minuten hier; und abgesehen von der Anwältin - ein Leckerbissen, denn sie würde hübsch aussehen im Fernsehen - war hier nichts mehr zu holen. Sie wußten bereits, was mit Madeleine Carter passiert war, daß sie den Kopf in die Sturzflut gesteckt hatte und fast ertrunken wäre, daß die Sanitäter sie ins Krankenhaus bringen wollten, aber kein freies Bett fanden. Wie Tauben, die plötzlich auffliegen, machten sie sich auf 93 den Weg zum nächsten Unglück, einem Unfall auf dem Kennedy Expressway, in den zehn Autos verwickelt waren. Ein neuer Wasserschwall ergoß sich über Harriets Füße. Ihre Dreihundertdollarschuhe aus Ziegenleder waren ruiniert. Mittlerweile stand ihr das Wasser bis zu den Knöcheln. Im Licht des Notarztwagens sah es aus wie Blut. Sie wich bebend zurück, um den Fluten zu entkommen. Was immer die Handwerker da auch machten - es dämmte die Sturzflut nicht ein, sondern verstärkte sie noch: Jetzt schien aus der ganzen Wand Wasser zu kommen. Verdammte Mara, daß sie sie in dieses Chaos mit hineingezogen hatte! Sollten doch die Leute von der Polizei, die Ärzte und die anderen Männer die Geschichte unter sich ausmachen. Sie jedenfalls würde nach Hause fahren und sich ins Bett legen. Doch ihr erster Impuls, nämlich ein Taxi heranzuwinken, war natürlich sinnlos. Die Straße war von Schaulustigen verstopft und mit Polizeibarrikaden versperrt. Jetzt, da die Kamerateams verschwunden waren, drängten die Schaulustigen immer näher. Harriet fragte den Fahrer des Krankenwagens, ob sie sich neben ihn setzen dürfe. »Das ist gegen die Vorschriften, Ma'am, aber Sie können sich hinten in den Wagen setzen, solange wir auf Anweisungen warten, was wir mit der Patientin machen sollen.« Die Sanitäter rutschten ein bißchen zur Seite für sie. Sie tranken Kaffee aus einer Thermoskanne und wechselten sich neben der Rollbahre auf dem Gehsteig ab, wo sie sich um die Patientin kümmerten und versuchten, ihr Gesicht vor dem Wasser zu schützen, das um die Räder der Bahre herumwirbelte. Harriet sah hinüber zu den obdachlosen Frauen, die auf der anderen Seite der Rollbahre standen wie Vieh, unbeeindruckt von dem Chaos um sie herum. Die Diva, die die Flut offenbar für einen tollen Witz hielt, begann Passagen aus einem Werk von Benjamin Britten über
die Geschichte von Noah zu singen. Ihre Stimme war so aus der Fasson, daß man die Geräusche, die sie von sich gab, kaum noch als Musik bezeichnen konnte. 94 Harriet ließ sich eine Tasse Kaffee von einem der Sanitäter einschenken. Als sie den Blick wieder hob, stand eine vierte Frau bei der Diva und den anderen beiden. Woher war sie gekommen? Die Polizei ließ niemanden durch, und Harriet war auch nicht aufgefallen, daß sie sich genähert hatte. Als Harriet den wilden Haarschopf sah, glaubte sie ihre Schwester zu sehen. Sie sprang ins Wasser und lief zu den Frauen hinüber, hin und her gerissen zwischen Erleichterung und Zorn. Doch als sie bei der Rollbahre anlangte, wich sie entsetzt zurück. Die Frau war schrecklich. Ihre üppige Haarpracht hatte sie so hochgesteckt, daß sie aussah wie ein Schlangennest, aber noch ekliger fand Harriet ihre Brüste. Die Frau stand mit nacktem Oberkörper da, und ihre Brüste wirkten so monströs, daß Harriet sich vorstellte, wie sie sich über den Gehsteig zu ihr herüberwälzten und sie erstickten. Das Knistern der Sprechfunkgeräte wurde lauter, als immer mehr Leute die Frau bemerkten. Die Männer stießen sich gegenseitig in die Rippen und machten obszöne Witze. Ihre Gesichter glänzten purpurfarben im Blaulicht der Streifenwagen. Als die Diva die Frau sah, hörte sie auf zu singen. »Vasti?« krächzte sie und berührte vorsichtig ihren nackten Arm. Madeleine Carter versuchte, sich auf der Rollbahre aufzurichten. »Heilige Mutter«, keuchte sie, »du bist gekommen, um mich zu retten.« Eine Hand zupfte an Harriets Ärmel. Sie erbebte, immer noch unter dem Eindruck dieser riesigen Brüste, und war erstaunt, als sie Mara neben sich stehen sah. »Harriet, hast du mich gesucht? Harriet, sieh dir ihre Haare an. Die sind genau wie meine. Harriet, das ist Mutter!«
27
Starr
Den ganzen Tag über war es grauenhaft schwül. Scharen von Spatzen kauerten vor dem Krankenhaus auf dem Asphalt, um sich vor dem aufkommenden Wind zu schützen. Die Patienten in der geschlossenen Abteilung waren völlig durcheinander - offenbar zersplittert das Gehirn in tausend Kristallscherben, wenn das Barometer fällt. Gegen Mitternacht brach der Sturm los. Ein Monster. Die Leute strömten in die Notaufnahme, um den Fluten zu entkommen. Eine Frau versteckte sich unter einer Rollbahre und schrie jedesmal, wenn es donnerte, laut vor Angst auf - es waren vier Männer nötig, um sie zu entfernen. Dann wurden die Verletzten von den Autounfällen eingeliefert, Kopfverletzungen und gebrochene Rückenwirbel. Habe sie gleich zu den Neurochirurgen weitergeleitet, die sich mit ihren Skalpellen über sie hermachen werden, und mich ins Stationszimmer zurückgezogen. Eine ganze Stunde Schlaf, bevor ich angepiepst wurde, ich solle in die geschlossene Abteilung kommen: Ein Teenager hatte sich die Pulsadern am linken Arm aufgeschnitten. Zuerst fragte ich mich, womit er das gemacht hatte, dann wurde mir klar, daß er die Adern durchgebissen hatte. Immer wieder wurde ich zum Telefon gerufen, während ich mich um den armen Jungen kümmerte. Allerdings brauchte ich fast eine Stunde, bevor ich ihn allein lassen konnte, und dann erwartete mich schon die nächste Katastrophe: Madeleine Carter. Die Sanitäter hatten mich angerufen, um mir zu sagen, daß sie versucht hatte, Selbstmord zu begehen, indem sie ihren Kopf in eine kaputte Leitung steckte. Ich dachte sofort an Gas, aber sie sagten nein, Wasser. Sie sei in einem üblen Zustand, nur noch halb bei Bewußtsein, fiebrig, aber sie brauchten die Erlaubnis, sie ins Krankenhaus bringen zu dürfen: In der ganzen Gegend war kein einziges Bett frei. Ich wußte, wenn ich das mit den Leuten von der Aufnahme besprach, würden die sich weigern; ich sagte den Sanitätern, sie sollten die Frau herbringen. Der Notarztwagen kam mit einem ganzen Gefolge an, wie in dem russischen Volksmärchen von der Frau, die an einer Zwiebel vom Himmel hängt, zusammen mit allen Verdammten, die sich an sie klammern. In meinem Fall waren das Jacqui, Nanette, Luisa Montcrief. Und außerdem... Jedesmal wenn er versuchte, über die vierte Frau zu schreiben, die Madeleine begleitet hatte, zog sich seine Haut zusammen wie eine Seeanemone, die man mit einem Stock berührt. Er versuchte, sich zu beruhigen, sich zur Konfrontation mit dem zu zwingen, was ihn so anwiderte - war es die Frau selbst oder der Aufruhr, den sie in seinem Innern verursachte? -, aber es war zu schwierig. Er konnte nicht darüber nachdenken.
»Dr. Tammuz, was um Himmels willen haben Sie denn heute nacht angestellt? Wie konnte eine einfache Diagnosesitzung zu einem Streit führen, der in Tätlichkeiten ausartete? Ganz zu schweigen übrigens von den drei Patientinnen ohne Krankenversicherung...« Hanaper war fuchsteufelswild; sein Gesicht glich einem roten Ballon, der gleich explodieren und Blut und Gehirn im ganzen Raum verspritzen würde. Hector, dankbar darüber, daß er sich rein praktischen Fragen zuwenden konnte, murmelte: »Möglicherweise bringen wir die Stadt oder das Hotel Pleiades dazu, die Kosten für Madeleine Carter zu übernehmen, Sir.« »Tja, wenn es Ihnen gelingt, das Problem auf zwei Patientinnen ohne Krankenversicherung zu reduzieren, ist das natürlich schon ein beachtlicher Fortschritt, Dr. Tammuz. Die Verwaltung wird sich sicher über Ihre Bemühungen freuen.« 95
Hanaper beugte sich über seinen riesigen Schreibtisch aus Walnußholz (woher hat das Krankenhaus bloß das Geld für dieses Monster, wenn es sich Patienten ohne Versicherung nicht leisten kann?), absolut unerträglich in seiner Ironie. Hector stellte ihn sich in einer Zwangsjacke vor, festgebunden an seinen schwarzen Kapitänsstuhl mit dem Siegel der Harvard University. Vielleicht hatte die Uni ihm damals beim Kauf seiner Diplome, die gerahmt wie alte Meister hinter seinem Kopf hingen, noch einen Kapitänsstuhl geschenkt. Am liebsten hätte ich gefragt: Haben Sie eigentlich schon mal bei einem Sturm wie dem heute nacht in der Psychiatrie gearbeitet? Haben Sie jemals sechsunddreißig Stunden am Stück gearbeitet, während die ganze Stadt im Chaos versinkt? Waren Sie in Gegenwart von verzweifelten Menschen schon jemals gefordert? Vor Hanaper teilten sich die Scharen der Kranken wie das Rote Meer unter den Händen von Moses - Hector stellte sich vor, wie sie sich aus den Fenstern stürzten, um Hanapers Verachtung zu entgehen. »Für jemanden, der so fest an Gesprächstherapie glaubt, haben Sie aber nicht gerade viel zu sagen, Dr. Tammuz. Darf ich Ihnen ein bißchen auf die Sprünge helfen? Millie Regier hat mir erzählt, daß Sie es fast mit einer der Frauen, einer Aphasiepatientin, getrieben hätten.« »Millie war heute nacht ziemlich durcheinander, Sir. Normalerweise gibt sie den Patienten keine Ohrfeigen und legt ihnen auch keine Zwangsjacken an. Aber wir waren beide erschöpft. Eine der Frauen war Luisa Montcrief, die Opernsängerin, die vor ein paar Monaten schon einmal hiergewesen ist. Sie war so betrunken, daß ich gar nicht begreife, wie sie sich auf den Beinen halten oder reden konnte. Die Sanitäter waren der Meinung, daß sie ausgenüchtert werden müsse. Deswegen haben sie sie überhaupt hierher gebracht. Und die andere...« ¿95
»War nackt. Ja, das habe ich schon von drei verschiedenen Leuten gehört, bevor Mühe es mir heute morgen erzählt hat.« Ihr Oberkörper war nackt gewesen, bis einer der Pfleger ein altes Hemd gefunden hatte. Ihre Brüste waren groß und golden wie reife Flaschenkürbisse und die Brustwarzen wie glänzende Kirschen. Selbst als es Millie Regier, der Stationsschwester in der Psychiatrie, gelungen war, sie zu bedecken - das war ein ziemlich harter Kampf gewesen, weil die Haare der Frau zu starren Locken aufgetürmt waren, die aussahen wie Hörner; außerdem war sie groß, und es kostete Millie einige Mühe, ihre langen, bronzefarbenen Arme in die Ärmel zu bekommen und die Locken und Zöpfe unter dem Stoff zu verstauen; die Frau hatte sich nicht gewehrt, aber auch nicht geholfen, sie hatte nur die Pfleger, die Geräte und Tammuz angestarrt -, auch noch, als diese riesigen Brüste, die aussahen, als könnten sie die ganze Welt nähren, bedeckt waren, ertappte Tammuz sich dabei, daß sein Blick immer wieder zu dem Busen der Frau wanderte und den roten Baumwollstoff mit den bunten Bildern von Sportlern, Basketbällen und Trophäen nach jenen kirschroten Brustwarzen absuchte. Millie hüstelte warnend. Hector wurde rot. Es fiel ihm schwer - er kam sich vor wie ein Mann, der versucht, die Füße aus einer Teergrube zu ziehen -, den Blick auf ihr Gesicht zu richten. Falkenaugen unter Brauen, die wie überhängende Klippen aussahen. Irgendwie hatte Hector das Gefühl, daß diese Augen mit unerbittlicher Belustigung geradewegs in seine Seele schauen konnten. Wütend über diese Vorstellung - natürlich war das nur die Folge seiner Erschöpfung -, verlor er seine mühsam antrainierte professionelle Beherrschung (es ging dabei um distanziertes Mitleid) und herrschte sie an: »Was hatten Sie bei Madeleine und Ms. Montcrief zu suchen?«
Die Diva klatschte begeistert in die Hände, und das machte ihn noch wütender. »Mein lieber Junge, wie schön, daß Sie mich kennen. Haben Sie mich als Aida gesehen? Oder als Leonora?« 96
»Ich habe Sie vor zwei Monaten hier in Dr. Hanapers Büro gesehen. Ich bin Arzt in diesem Krankenhaus. Ich habe Sie noch nie auf der Bühne gesehen.« Sie verzog das Gesicht wie ein enttäuschtes Kind. »Ich war... ich bin... die größte Verdi-Interpretin dieses Jahrhunderts. Das hat Die Zeit geschrieben. Sie kennen doch Verdi, oder? Und Sie wissen sicher auch, was eine Oper ist, nicht wahr, Doktor? Sie sollten sich die Zeit nehmen und Musik hören; das erweitert den Horizont und könnte Sie zu einem gebildeteren Menschen machen als diesen Dr. Hanaper; er ist ein ungebildeter Trottel - ich hoffe, Sie sind nicht mit ihm befreundet. Verdi hat als Komponist am meisten zu bieten.« Sie holte tief Luft und schmetterte »Sempre libera«. Hector, dessen Horizont tatsächlich nicht durch Verdi erweitert worden war, konnte nicht glauben, daß ein solcher Lärm die internationalen Kritiker einmal zu Lobeshymnen hingerissen hatte. Millie Regier beugte sich über die Amazone und gab Luisa eine Ohrfeige. »Ungefähr ein Dutzend Leute wartet auf den Doktor. Wir haben hier keine Zeit für solche Schauspielerattitüden.« Luisa straffte die Schultern und sagte in hochmütigem Tonfall: »Das ist keine Schauspielerei, meine gute Frau. Und ich versuche auch nicht, Ihnen die Aufmerksamkeit des Herrn Doktor zu stehlen - ja, ich sehe, daß Sie in ihn verliebt sind. Nach fünfundzwanzig Jahren in der Opernwelt mit all ihren Liebeleien, ihrem Haß und den Eifersüchteleien erkenne ich die Liebe, wenn ich sie sehe...« »Ms. Montcrief, könnten Sie mir Ihren Namen buchstabieren?« fiel Hector ihr ins Wort, bevor Millie völlig ausrasten konnte. »Mit einem >f< also - danke. Wir werden versuchen, im Entzug ein Bett für Sie zu finden - Millie, könnten Sie bitte mal oben anrufen? Und in der Zwischenzeit...« Die Äderchen um Luisa Montcriefs Nase wurden rot. »Ich bin keine Alkoholikerin! Wer hat Ihnen das erzählt? Vielleicht meine ach so fromme Schwägerin? Die hat auch schon mehr als einen Martini gekippt, die Gute, das kann ich Ihnen 96 flüstern! Oder war's die Cesarini, die ist nicht gut auf mich zu sprechen, weil...« Unvermittelt grunzte die Amazone etwas, offenbar etwas, was einen Sinn ergab, jedenfalls interpretierte die betrunkene Diva es so, denn sie sagte: »Vergeude doch deinen Atem nicht auf so was. Ich darf Ihnen jedenfalls mitteilen, daß ich nicht in den Entzug gehen werde. Was ist das überhaupt für ein gräßliches Wort. Es erinnert mich an unzählige Bürokraten, die sich immer wieder neue Methoden ausdenken, die Menschen zu erniedrigen, angefangen bei der Sprache. Sie verwandeln sie in harte, verletzende Geräusche, und plötzlich stellen sich alle in eine Reihe, um Befehle entgegenzunehmen. Wissen Sie, Doktor, die Nazis waren auch so; Sie haben doch schon was von den Nazis gehört, oder?« »Wenn Sie den Mund nicht halten und sich nicht auf die Fragen des Arztes konzentrieren, müssen wir Sie in eine Zwangsjacke stecken.« Millie hielt es nicht mehr aus; sie war immer noch wütend, weil diese Frau, die nach Erbrochenem und Scotch stank, einfach ihre geheimsten Gefühle herausgeschrien hatte, diese Frau mit der gelben Seidenbluse, auf der so viele Flecken waren, daß -sie aussah wie getrockneter Senf. »Millie, danke, aber ich denke, wir sollten das Gespräch hinter uns bringen, damit wir uns den anderen Patienten zuwenden können.« Hector versuchte zu lächeln, obwohl er so übermüdet war, daß er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. »Können wir mit Madeleine Carter anfangen? Wissen Sie, was mit ihr passiert ist?« Luisa beugte sich ein wenig vor und redete hinter vorgehaltener Hand mit ihm. »Sie ist wirklich arm dran, Doktor - sie ist verrückt, hat Wahnvorstellungen. Sie glaubt, daß die Jungfrau Maria durch einen Riß in der Wand zu ihr spricht. Wissen Sie, die Jungfrau Maria verfolgt mich schon mein ganzes Leben lang. Ich habe mit Lobliedern auf sie Karriere gemacht, und dann... dann...« Sie preßte die Hand gegen den Kopf, als habe sie Schmerzen, und plötzlich meldete sich Jacqui von der Tür aus zu Wort. 23 6 »Irgendwas ist da unten schiefgegangen, Doktor. Vielleicht hat Maddy recht, und die Wand ist tatsächlich verhext. Nanette hat auch gesehen, daß der Rost - Sie wissen schon, den Maddy für Blut hält - immer noch aus der Wand kam, obwohl das Hotel den Riß hat zuspachteln lassen. Also hab' ich ein bißchen mit dem Messer in dem Beton rumgebohrt, und plötzlich ist Wasser aus der ganzen
Wand gekommen. Das war wie der Felsen, aus dem Moses Wasser geschlagen hat. Dann hat die arme Maddy ihren Kopf druntergesteckt, ich weiß auch nicht warum, vielleicht weil sie Blut trinken wollte. Dabei war' sie beinahe ertrunken, aber ein barmherziger Samariter in der Garage - er gibt ihr manchmal was zu essen, wenn Mr. Cassidy gerade nicht herschaut - hat den Notarzt gerufen.« »Der Sturm war schrecklich«, sagte Nanette - sie sprach nur selten, schien sich hinter Jacquis stärkerer Persönlichkeit zu verstecken. »Es hat die ganze Zeit gedonnert, und wir haben überlegt, was wir mit Maddy anfangen, weil die ja unser Häuschen, die Generatorkiste, kaputtgemacht haben. Dann ist die Frau da aufgetaucht«, dabei deutete sie auf die furchteinflößende Fremde, ohne sie anzusehen, »und Maddy..., Maddy hat gedacht...« »Sie hat gedacht, das ist die Jungfrau«, mischte sich Luisa ein und hätte sich fast vor Aufregung die Lippen geleckt. »Ich habe sie für Vasti gehalten, aber Maddy, oder wie sie auch immer heißt, hat geschrien: >Die Heilige Mutter ist da, sie ist mir erschienen, sie vergibt mir und nennt mich ihre unschuldige Tochter. <« Hector bekam eine Gänsehaut, weil Luisa nicht nur Madeleines nasale Stimme mit der singenden Betonung so perfekt nachahmte, sondern auch ihre ruckartigen, unkontrollierten Bewegungen. Entzückt über seine Reaktion sprang Luisa auf und wischte mit rudernden Armen Hectors Aufzeichnungen auf den Boden. »Dann hat Luisa Minsky also Ihre Unterlagen vom Schreibtisch gefegt, Tammuz - das scheint mir eine ziem ^97 lieh kleine Ursache für eine große Katastrophe zu sein, für Ihren Verstoß gegen das Berufsethos. Jetzt müssen Sie sich schon sehr viel Mühe geben, um mich davon zu überzeugen, daß Sie fähig sind, Ihren Pflichten nachzukommen.« Aber ich konnte mir das ja selbst nicht erklären und noch weniger ihm. Es war nicht das erste Mal, daß ein Patient oder ein Mitarbeiter die Fassung verlor. Warum war es diesmal so viel schlimmer? Die Amazone sagte kein einziges Wort. Ich überlegte, ob sie vielleicht unter Aphasie litt, doch Millie war der Meinung, daß sie mit Luisa unter einer Decke steckte, denn die Sängerin schien in der Lage zu sein, eine Bedeutung in ihr Grunzen hineinzuinterpretieren. Es fing alles damit an, daß ich die Amazone nach ihrem Namen fragte. Sie starrte mich an und grunzte etwas - es war ein gutturales Geräusch, keinesfalls ein Wort, aber Luisa sagte sofort: »Sie heißt Starr.« »Hören Sie auf mit diesen Spielchen, Luisa, wir haben heute nacht auch so genug zu tun«, herrschte Millie Luisa an, als diese Hector zu erklären begann, daß man den Namen mit zwei »r« schreibe. »Vielleicht finden Sie und Ihre Freundin das witzig...« »Sie ist nicht meine Freundin«, sagte Luisa. »Wo wohnt sie?« wollte Hector wissen. »Mein lieber Junge - Doktor -, das weiß ich nicht. Wahrscheinlich irgendwo am Lower Wacker Drive, denn dort ist sie ja aufgetaucht. Aber ich habe sie heute nacht zum erstenmal gesehen.« »Dann würde ich gern erfahren, wie sie sich mit Ihnen verständigt. Bis jetzt hat sie keinen einzigen verständlichen Satz über die Lippen gebracht. Woher wissen Sie ihren Namen?« »Den hat sie mir gesagt. Im Notarztwagen, als wir hierhergefahren sind.« Luisa legte den Kopf schräg. »Sie müssen einfach lernen zuzuhören, Doktor. Das lernt man doch sicher als erstes, wenn man seine Ausbildung als Psychiater beginnt, 97 oder? Zuhören. Ich persönlich habe das absolute Gehör, deshalb verstehe ich sie mit Hilfe ihres Tonfalls.« Millie konnte nicht mehr länger an sich halten. »Hector -Dr. Tammuz -, bitte führen Sie eine richtige Untersuchung durch, oder schicken Sie sie dorthin zurück, wo sie hergekommen sind!« Dieser Ausbruch ist untypisch für Millie, die normalerweise immer Mitleid mit den Patienten hat. Ihre Reaktion hat mich so verblüfft, daß ich auch noch das letzte bißchen Fassung verlor. Ich wandte mich an Starr, sagte, wir müßten ihre Reflexe überprüfen, feststellen, ob sie einen Gehirnschaden hätte, und eine Blutuntersuchung machen, um zu sehen, ob sie Drogen nahm. Luisa, die auf der Schreibtischkante saß, ein Bein baumeln ließ und den Blick gesenkt hielt, wurde nun plötzlich wieder wach und sagte: Das ist nicht nötig, mit Starrs Gehirn ist alles in Ordnung; aber Millie und ich schenkten ihr keine Beachtung. Er hatte die Hand in Starrs Nacken, vor sich dieses Schlangennest aus Haaren, die Brüste streiften seinen Arm, und plötzlich spürte er, wie sich in seiner Hose etwas regte, und das war ihm peinlich.
Er leuchtete mit seiner kleinen Stablampe in ihre Falkenaugen. Starr riß den Kopf zur Seite und gab ein Geräusch von sich - ein Wort in einer Sprache, die nur sie allein sprach, vielleicht auch das Grunzen eines wütenden Tieres. Er war viel zu müde, stand viel zu kurz vor dem Nervenzusammenbruch, um es bewußt wahrzunehmen, doch es war ein lautes und unerwartetes Geräusch, und vor Schreck ließ er die Stablampe fallen. Starr hob sie auf und beäugte sie, als habe sie so etwas noch nie gesehen; dann ließ sie ihren Strahl über sein Gesicht wandern, über das von Luisa und Madeleine; als das Licht Madeleine erreichte, wimmerte sie und versuchte sich aufzusetzen. Hector ging zu ihr, um zu verhindern, daß sie von der Rollbahre fiel. 2'39
Dann kamen ein paar Pfleger, um Madeleine zu einem Bett zu schieben. Millie schnauzte sie an, sie sollten ihr zuerst helfen, Starr auf einen Stuhl zu setzen, damit sie ihr Blut abnehmen könnte. Die Pfleger, die normalerweise immer mit Millie scherzten und anders als manch andere im Krankenhaus sanft mit den Patienten umgingen, waren irritiert von Millies Verhalten. »Ich glaube nicht, daß das eine gute Idee ist, Millie«, versuchte Hector sich einzumischen, aber sie schenkte ihm keine Beachtung. Da er nur ein Assistenzarzt war, während sie schon seit acht Jahren das Kommando in der Nachtschicht führte, folgten die Pfleger ihren Anweisungen, nicht denen Hectors. Sie ergriffen Starrs Arme an den Ellbogen und dirigierten sie sanft zu dem Stuhl auf der anderen Seite des kleinen Schreibtischs. Die Falkenaugen schauten mißtrauisch, aber sie wehrte sich nicht, bis Millie eine Aderpresse um ihren Oberarm band und mit einer Spritze auf sie zukam. Starr schlug ihr die Spritze aus der Hand, riß sich die Aderpresse vom Arm, hob den Stuhl hoch und ließ ihn auf den Boden knallen. Da er aus Hartplastik war, zerbrach er nicht. Madeleine fing auf ihrer Rollbahre zu heulen an. Hector und die Pfleger, die versuchten, die rudernden Arme der Aphasie-kranken zu ergreifen, mußten mehrere Schläge einstecken. Millie rannte hinaus, um Leute vom Sicherheitsdienst zu holen. Plötzlich sagte Madeleine von der Rollbahre aus in ihrem nasalen Singsang: »Sie wollen unser Blut. Und als nächstes schauen sie uns ins Gehirn, um zu sehen, ob da Wellen oder Pulsschläge drin sind. Sie suchen nach Aluminium, Bitumen und Chrom, unser Gehirn ist wie die Stoßstange eines Autos.« Die Aphasiekranke hörte auf, mit den Armen zu rudern; sie schien sich voll und ganz auf Madeleines Stimme zu konzentrieren. Dann grunzte sie etwas. Hector spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten, als habe sie eine persönliche Warnung an ihn gerichtet. 98 »Sie können ihr kein Blut abnehmen«, sagte Luisa, die sich köstlich über den Kampf amüsiert hatte, unvermittelt. »Das hat was mit ihrer Religion zu tun, ich weiß auch nicht, was. Sie darf nichts von ihrem Blut weggeben.« Ich hätte der Montcrief am liebsten eigenhändig eine Ohrfeige verpaßt; sie führte sich auf, als machten wir das alles nur zu ihrer Belustigung. Irgendwie habe ich es geschafft, mich am Riemen zu reißen. Dann kam Millie mit zwei Leuten vom Sicherheitsdienst zurück. Sie wies die Männer an, Starr in eine Zwangsjacke zu stecken. Doch der Wutausbruch vorher war nichts, verglichen mit dem Kampf, der sich nun entspann. Die Amazone stürzte sich auf Millie und versuchte sie zu erdrosseln, aber den Sicherheitskräften und Pflegern gelang es schließlich zu viert, sie in die Zwangsjacke zu stecken. Normalerweise hasse ich diese menschenunwürdigen Dinger, die die Patienten demütigen und sie sogar daran hindern, selbständig zu essen. Heute nacht allerdings überkam mich schreckliche, animalische Wut. Ich war ganz außer mir vor Freude darüber, Macht zu haben, während die Frau hilflos dasaß in ihrer Zwangsjacke. Ich war froh, daß ich es war, der sie an einem Rollstuhl festband. Ich spritzte der Amazone Haldol und Ativan und schätzte dabei ihr Gewicht ein bißchen zu hoch in meiner animalischen Freude - ich ergötzte mich an meiner Macht, sie ruhigstellen zu können, statt darüber bestürzt zu sein. Als sie Starr in ihrem Rollstuhl wegschieben wollten, warf die Montcrief sich auf Starrs Schoß. Sie schlang die Arme um ihren Hals und weinte in die Zwangsjacke hinein. Die beiden widerten mich so an, daß ich den Pflegern sagte, sie sollten die Betrunkene zusammen mit der Aphasiekranken in die geschlossene Abteilung bringen. 98
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Flucht aus der Klapsmühle
Ein heißer Sommertag in den dreißiger Jahren; ich fahre eine staubige Landstraße im Süden entlang. Anfangs wirkt die Szenerie ganz normal, ein bißchen bukolisch: Das hohe Getreide zu beiden Seiten verstellt den Blick auf die Landschaft dahinter. Nirgends Menschen; die Insekten im Unterholz sind das einzige Leben außer mir selbst. Der Weg ist nicht asphaltiert; Staub wirbelt um mich herum. Ich fahre eine alte schwarze Klapperkiste. Irgendwie fühle ich mich unsicher in dem Wagen, bis ich merke, daß ich einem sehr gefährlichen Menschen zu entfliehen versuche. Wem und warum, weiß ich nicht. Mein Auto fährt maximal zehn Stundenkilometer, und mein Verfolger sitzt in einem modernen Wagen und nähert sich mit mehr als hundertdreißig Stundenkilometern. Ich fahre in das Feld, in der Hoffnung, mich hinter den hohen Halmen verbergen zu können. Doch vor mir tauchen, wie aus dem Erdboden, Jacqui und Nanette auf. Komm, sagen sie, Starr wartet schon auf dich. Dann führen sie mich zu einer Lichtung, wo Starr hingestreckt liegt. Sie bietet mir ihre Brüste dar. Sie sagt: Trink, du bist sehr durstig. Ich knie neben ihr nieder, aber da holen mich meine Verfolger ein. Sie sieht sie und verschwindet; ich knie auf dem Boden, den Mund offen, um Milch bettelnd. Und dann verstopft mir mein Verfolger Mund und Nase mit Schmutz. Er wachte keuchend und völlig verschwitzt auf. Es war drei Uhr morgens. Er zitterte und hatte Gliederschmerzen, als habe er Fieber. Er nahm das Zimmer erst ganz allmählich wahr, merkte, daß er angezogen war, und erinnerte sich vage daran, 99 daß er um sechs Uhr nach Hause gekommen war und sich eine halbe Stunde hinlegen wollte vor dem Abendessen. Die Gürtelschnalle schnitt in seinen Bauch, und die Krawatte, die er zwar gelockert, aber nicht abgenommen hatte, hatte sich hinter seinem Ohr verfangen. Vielleicht war sie an seinem Erstickungstraum schuld gewesen. Er setzte sich im Bett auf, war aber noch so schlaftrunken, daß er sich nicht überwinden konnte, sich auszuziehen. Er schlang die Arme um den Körper und wiegte sich hin und her. »Starr«, flüsterte er in der Dunkelheit, und Tränen liefen ihm übers Gesicht. »Starr.« Sie war zusammen mit der Diva verschwunden, und er fühlte sich irgendwie einsam. Als ihm wieder einfiel, was er - erst vor vierundzwanzig Stunden? - mit ihr angestellt hatte, daß er sie mit Haldol und Ativan vollgepumpt hatte, schämte er sich. Er schluchzte vor sich hin wie seit seiner Kindheit nicht mehr. Als er Hanaper am Morgen in die geschlossene Abteilung begleitet hatte, trafen sie dort auf Dr. Stonds, der sich gerade ziemlich wütend mit Venetra Marceau, der Stationsschwester, unterhielt. Die Schwester war schwarz, so schwarz, daß die Flächen ihres Gesichts in dem Neonlicht völlig verschwanden. Neben ihr wirkte Stonds fahl und körperlos. »Weil Sie sich hier wie der Herrgott aufführen«, sagte die Stationsschwester gerade, als Hector hereinkam, »mußte ich zwei Patientinnen zu Ihnen schicken. Jeder andere Arzt in diesem Krankenhaus wäre raufgekommen. Wenn Sie jetzt herkommen können, um mich zur Schnecke zu machen, warum war's dann vor zwei Stunden nicht möglich? Wenn Sie sich die Zeit genommen hätten, wären die beiden noch hier.« »Wie können Sie es wagen, in dem Ton mit mir zu reden, junge Frau? Ich mache Sie persönlich dafür verantwortlich, daß die beiden allein zu mir geschickt wurden. Sie wissen genau: jeder Patient, der diese Abteilung verläßt, muß von zwei Pflegern begleitet werden. Das steht doch in den Vorschriften, oder?« Stonds fuchtelte mit dem Krankenhaushandbuch vor ihrer Nase herum. 99 »Zwei Pfleger?« Sie knallte das Handbuch auf den Tisch im Schwesternzimmer. »Die Verwaltung gesteht uns morgens drei Pfleger für das ganze Stockwerk zu, und alle drei hatten zu tun, als Sie angerufen haben.« Hanaper stand auf einem Bein wie ein nervöser Storch, während wir darauf warteten, daß der große Mann unsere Anwesenheit bemerkte. Venetra entdeckte uns als erste. Sie ist vermutlich der einzige Mensch im ganzen Midwest Hospital, der Stonds die Meinung sagt; warum er sie nicht feuert, ist mir ein Rätsel. Vielleicht hat er Angst vor ihr. Wütend stellte sie Hanaper eine Frage, der ziemlich hochmütig reagierte, um seine Unsicherheit zu kaschieren: Wir sind hier, um die Frauen zu untersuchen, die Tammuz heute nacht aufgenommen hat.
»Darüber unterhalten wir uns gerade«, fauchte die Stationsschwester. »Er wollte sie sehen und hat eine der Schwestern überredet, die beiden allein zu seinem Büro zu bringen.« Die Schwester stand mit roten Augen und immer noch schniefend hinter Venetra. Sie konnte nicht erklären, wie es passiert war. Sie waren ziemlich langsam vorangekommen -Starr, immer noch groggy von den Psychopharmaka, im Rollstuhl, und Luisa neben ihr. Als der Aufzug sich in Bewegung setzte, schien Starr in Panik zu geraten. Sie rutschte von dem Stuhl herunter und kniete auf dem Boden, fast, als wolle sie den Aufzug zum Stillstand bringen. Die Schwester versuchte sie wieder in den Rollstuhl zu hieven, aber Starr war viel stärker als sie. Als der Aufzug hielt, schoben die beiden Patientinnen die Schwester beiseite und verschwanden im Treppenhaus. »Sie sind verschwunden?« wiederholte Hector mit dümmlichem Gesicht. »Ja, Dr. Tammuz«, sagte Venetra Marceau. »Und weil dieses Krankenhaus hier ein Labyrinth ist wie die meisten alten Häuser, in denen ich bis jetzt gearbeitet habe, gibt es mindestens fünfzig Wege herein und hinaus.« 100 Hector war hundemüde, und die Tatsache, daß Starr verschwunden war, gab ihm das Gefühl, schwerelos im Weltraum zu schweben. Er hatte gehofft, daß der Anblick Starrs ihn in Hanapers Augen rehabilitieren würde. Ihre überwältigende Sexualität würde Hanaper genauso aus der Fassung bringen wie Hector; sein Vorgesetzter würde sich wortlos in sein Büro zurückziehen und nie mehr behaupten, daß Hector sich erst noch bewähren müßte. Jetzt riß ihm die Enttäuschung fast den Boden unter den Füßen weg. Er konnte sich nur aufrecht halten, indem er sich auf den Schreibtisch stützte. Hector versuchte dem Streit zwischen Stonds und Marceau zu folgen, weil Hanaper sicher ihn dafür verantwortlich machen würde, aber sie schienen weit weg zu sein, wie Enten, die auf einem fernen Weiher quaken: Die Frauen waren gefährlich ... sie haben die Schwester über den Haufen gerannt, um aus dem Aufzug zu kommen... die Leute vom Sicherheitsdienst suchen sie schon... wir haben die Polizei verständigt... sie könnten jemanden tätlich angreifen... vielleicht sich selber . verletzen... das Krankenhaus könnte haftbar gemacht werden. »Dr. Tammuz behauptet, die Aphasiepatientin sei ziemlich ungewöhnlich gewesen«, sagte Hanaper. Marceau sah ihn an. »Das könnte schon sein, Doktor. Ich habe sie allerdings nur gesehen, als sie ruhiggestellt war.« Ungewöhnlich. Hector wurde wütend, als er merkte, daß sein Vorgesetzter sich so etwas wie eine Peep-Show erwartete. Kommen Sie näher, sehen Sie sich die Brustwarzen an, die im Dunkeln leuchten; für den Mann mit dem Schildchen am Kittel ist die Vorstellung gratis. Starr, ich werde dich vor seinen lüsternen Blicken schützen... Und plötzlich merkte er, wie sehr er sich nach ihr sehnte, daß er das Gesicht in ihren Brüsten vergraben und alle Angst vor dem Erwachsensein und der Verantwortung verlieren wollte. Er glaubte, ihre warme, straffe Haut zu spüren, sie mit seiner Zunge zu schmecken. »Dr. Tammuz hat sie aufgenommen. Vielleicht weiß er ja etwas über die Frauen.« Als Hector seinen Namen hörte, zuckte er zusammen. 100
Stonds und Marceau waren keine quakenden Enten, sondern heulende, fleischhungrige Wölfe. Hanaper würde ihnen seinen Assistenzarzt zum Fraß vorwerfen, und er würde seine Freude daran haben, wenn sie ihn verschlangen. »Dr. Tammuz, haben Sie denn völlig den Verstand verloren?« Dr. Stonds war außer sich vor Zorn, und die nackte Sehnsucht in Hectors Gesicht machte ihn nur noch wütender. »Tut mir leid, Sir, ich habe schon vierzig Stunden nicht mehr geschlafen«, sagte Hector mit rauher, flüsternder Stimme. »Wenn Sie mir sagen, warum Sie sich mit den Frauen unterhalten wollten, könnte ich Ihnen vielleicht behilflich sein.« »Wo waren Sie denn mit Ihren Gedanken, Tammuz?« fragte Hanaper. »Dr. Stonds möchte den Frauen ein paar Fragen über seine Enkelin stellen. Sie ist seit fast einer Woche nicht mehr zu Hause gewesen, das sollten Sie eigentlich wissen.« Wieso sollte ich das wissen? wollte Hector gerade fragen, als ihm das Gespräch mit der frostigen Enkelin wieder einfiel. Und dann ihre Schwester, die ihn vergangenen Mittwoch in der Klinik aufgesucht hatte. Sie war von zu Hause weggelaufen.
»Ich glaube nicht, daß Starr oder Luisa uns helfen könnten, sie zu finden«, sagte er laut. »Ich weiß, ihr Verhalten heute nacht könnte den Eindruck vermitteln, sie haben hellseherische Fähigkeiten, aber Starr spricht überhaupt nicht, und Luisa war sturzbetrunken.« Und dann stürzten sich Hanaper und Stonds gleichzeitig auf mich. Was war ich doch für ein Trottel, ein Esel, weiß Gott, was sonst noch, daß ich folgendes nicht mitbekommen hatte: Die Stonds-Enkelin war in der Nacht zusammen mit Starr, Luisa und Madeleine an der Wand gewesen. Harriet, der Gletscher, hatte sie dort gesehen und sie zur Heimkehr zu überreden versucht, aber das Mädchen war es vermutlich leid, mit einem Eisberg und einem Rottweiler zusammenzuleben, und hatte sich aus dem Staub gemacht. Stonds glaubte tatsächlich, daß eine der Frauen, die 101 in der Nacht völlig ausgerastet waren, mitbekommen hatte, wohin die Fremde verschwunden war. Dann sagte Hanaper: Nun, Schwester Millie sagt, daß Madeleine und Starr heute nacht von ein paar Frauen begleitet wurden - wo stecken die jetzt? Hanaper und Stonds schickten mich zum Hotel Pleiades, um mich dort nach Jacqui und Nanette umzusehen. Ich sollte sie ins Krankenhaus bringen, damit Stonds sich mit ihnen unterhalten konnte. Ich kam mir wie ein Apportierhund vor; Hector, lauf, bring uns die obdachlosen Frauen. Ich ging zu der Hotelgarage. Sie seien gerade dabei, eine Barrikade vor der Wand aufzubauen, sie abzuschotten, erklärte mir der Mann, der für die Garage zuständig ist. Das Ganze sah aus wie eine mittelalterliche Festung; überall ragten lange Dornen heraus. Jetzt kann niemand mehr der Wand zu nahe kommen, ohne aufgespießt zu werden. Keine Spur von Starr oder Luisa, Jacqui oder Nanette. Und auch nicht von Mara Stonds. Nur die Überreste der kaputten Generatorkiste, in der ich Madeleine einen Monat zuvor untersucht hatte. Ich fragte den Mann von der Garage, wieso die Kiste kaputt war. Sein Gesicht nahm einen verschlagenen Ausdruck an. »Es sind Beschwerden bei uns eingegangen, wegen der Ratten. Jemand hat darin Lebensmittel aufbewahrt, und die haben das Ungeziefer angezogen.« Ich war zu müde, um mich auf eine Diskussion einzulassen. Zu müde, vielleicht auch zu feige, ich weiß es nicht. Hector - der Tapferste der Trojaner. Er stolperte wie betrunken auf die Treppe zu, der Körper schwerelos, kaum noch auf dem Boden. Als er sich am Geländer festhielt, glaubte er zu fliegen. »Doktor! Wachen Sie auf!« Jacqui rüttelte ihn, als er sich gegen die Treppe lehnte. »Sie schlafen ja im Stehen!« Er blinzelte, nicht sicher, ob sie Teil eines Traums war. Er glaubte, gerade erst an der Stelle, an der er jetzt stand, nach ihr gesucht zu haben. ¿101
»Wir verstehen es, uns zu verstecken«, sagte sie, und dann sah er Nanette neben ihr. »Was sollen wir wegen Maddy machen, Doktor? Die dreht wirklich durch, wenn sie aus dem Krankenhaus kommt und die Dornen hier sieht. Man kann die Wand nicht mal berühren, so lang sind sie.« »Ist sonst noch jemand hier?« fragte er. »Luisa oder Mara Stonds oder... oder Starr?« »Wir können uns nicht um diese Luisa kümmern und schon gar nicht um Starr. Es gibt immer einen Aufruhr, wenn sie auftaucht. Es ist schon schwierig genug, auf Maddy aufzupassen.« Ich mußte ihnen sagen, daß Hanaper Madeleine in ein paar Stunden entlassen würde. Ich hatte sie besucht, bevor ich aus dem Krankenhaus gegangen war. Sie hatte ziemlich zerbrechlich ausgesehen. Ich habe keine Ahnung, wie lange sie das Leben auf der Straße noch durchstehen wird. Ich habe versucht, eine Sozialarbeiterin für ihren Fall zu interessieren, aber es ist immer wieder die gleiche Geschichte: Weil Madeleine keine Krankenversicherung hat, kann sich auch der Sozialdienst des Krankenhauses nicht um sie kümmern - das kostet zuviel. Ich habe ungefähr eine Stunde lang verschiedene Sozialdienste angerufen, mich mit Patsy Wanachs von Hagar's House und einer Frau von der Lenore Foundation unterhalten, aber schnell geht nichts - falls überhaupt etwas geht. Jacqui und Nanette nannten mir mehrere Orte, an denen Luisa möglicherweise war. Sie kennen sie und ihre Gewohnheiten nicht, haben mir aber von ein paar Obdachlosentreffs und Coffee Shops erzählt, in denen die Frauen den ganzen Tag vor einer Tasse Kaffee sitzen können. Ich lief in der ganzen Stadt herum, hörte aber nirgends etwas von Starr. Kurz vor sechs kam ich nach Hause und fiel ins Bett, ohne mich auszuziehen. 101
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Die große Schwester läßt los
Tante Luisa ist im Fernsehen«, rief Becca Minsky aufgeregt. Becca saß auf einem Küchenstuhl und wartete darauf, daß Kim Nagel sie zu einem Segelausflug mit ihrer Familie abholte. Karen hatte den kleinen Apparat in der Küche um fünf Uhr eingeschaltet, um beim Wäschezusammenlegen und Kochen die Nachrichten zu sehen. Karen wandte sich von der Waschmaschine ab, um einen Blick auf den Bildschirm zu werfen. Eigentlich hatte sie irgendeinen alten Filmausschnitt von einem Auftritt ihrer Schwägerin erwartet, nicht den Bericht von einer Straßenüberflutung. Don Sandstrom von Channel 13 erklärte gerade, was im Hotel Pleiades passiert war, und zeigte Bilder vom Höhepunkt der nächtlichen Sintflut. Luisa - Janice - stand im Hintergrund. Soweit man das anhand der Aufnahmen beurteilen konnte, sang sie. »Was macht sie denn dort?« wollte Becca wissen. »Tja - soll wohl so was sein wie >Singing in the Rain<.« Karen entlockte Becca kein Lächeln. »Offenbar begannen die Probleme mit einem Riß im Beton«, sagte Sandstrom gerade. »Eine Gruppe obdachloser Frauen glaubt, daß das Blut der Jungfrau Maria durch diesen Riß in der Wand dringt. Die Hotelleitung hat den Spalt zubetonieren lassen, aber um wieder an das zu kommen, was nach Meinung einer Obdachlosen Blut ist, haben sie den Beton weggekratzt, und das hat zu einer Sintflut geführt. Bis jetzt weiß niemand so genau, was wirklich passiert ist. Allerdings hat die Anwältin des Hotels, Harriet Stonds, Channel 13 versichert, daß es sich bei der aus der Wand dringenden Flüssigkeit nicht um Blut handelt, wie die Obdachlosen behaupten, sondern um rostrotes Wasser aus einem undichten Rohr. Die 102 Chicagoer Operndiva hat sich den protestierenden obdachlosen Frauen angeschlossen.« Die Kamera zoomte kurz auf Luisas Gesicht. Becca kam sie ziemlich schmal und krank vor. Aber bevor sie ihre Mutter darauf aufmerksam machen konnte, war schon das Büro von Harriet zu sehen. Dort saß die Anwältin in einem königsblauen Kostüm, das ausgezeichnet zur Farbe ihrer Augen paßte, hinter ihrem Schreibtisch, trotz ihres aufrichtigen Lächelns ehrfurchtgebietend. »Natürlich handelt es sich um einen Sachschaden. Um das Risiko für die Öffentlichkeit so weit wie möglich zu reduzieren, haben Techniker heute eine Konstruktion angebracht, die die Wand stützt, bis wir uns im klaren darüber sind, wie die Schäden im Innern aussehen. Ich möchte an dieser Stelle erwähnen, daß wir uns dreimal wegen der Reparatur des Rohres an die Stadt gewandt haben, aber unsere Anfragen wurden bisher ignoriert.« »Nur aus Neugierde, Ms. Stonds«, fragte Sandstrom nun hinter der Kamera, »haben Sie die Flüssigkeit, die da aus der Wand dringt, testen lassen?« Im Fernsehen zeigten sie nun Aufnahmen der letzten Nacht, als Harriet vor der Wand in die Kameras gesprochen hatte. »Um festzustellen, ob es sich dabei um Blut handelt?« Harriet lächelte verkrampft. »Wir standen alle bis zu den Knöcheln im Wasser. Ich glaube, die Feuerwehr und die Leute vom Stadtbauamt hätten das ziemlich schnell gemerkt, wenn sich da plötzlich Tausende von Litern Blut über uns ergossen hätten.« Jetzt war wieder die Garagenwand zu sehen, an der gerade die Dornen montiert wurden. »Das Fundament des Hotels ist im Grundgestein verankert, die Gäste brauchen sich also über die Standfestigkeit des Gebäudes keine Gedanken zu machen. Sie sahen einen Bericht von Don Sandstrom, Channel-13-Nachrichten.« »Das muß die Enkelin von Dr. Stonds gewesen sein«, sagte Karen. »Du kennst ihn wahrscheinlich nicht - er hat damals 2JO
deine Großmutter Minsky operiert. Sie ist wunderschön, findest du nicht auch? Ganz anders als ihre Schwester - die andere Enkelin. Die ist letzte Woche zusammen mit deiner Tante verhaftet worden.« »Ich weiß, das hast du mir letzte Woche erzählt«, sagte Becca in einem Ton, der darauf hinwies, wie dumm sie die Erwachsenen fand. »Tante Luisa sieht nicht sonderlich gut aus. Sie hätten sie nicht aus dem Krankenhaus lassen sollen.« »Sie konnten sie nicht festhalten.« »Weil sie keine Krankenversicherung hat und es ihrer Familie egal ist, ob sie stirbt.« Karen wandte sich wieder ihrer Wäsche zu. »Fangen wir nicht wieder damit an. Sie hätten sie auch vor die Tür gesetzt, wenn sie eine Krankenversicherung hätte. Deine Tante hat nur eine Chance:
zuzugeben, daß sie Alkoholikerin ist, und sich helfen zu lassen. Und wir als Familie müssen uns auf ein gemeinsames Vorgehen einigen, wenn sie sich je ändern soll.« »Ich weiß, daß sie Alkoholikerin ist, aber du freust dich auch noch darüber, daß ihre Karriere im Eimer ist. Dir hat's gefallen, als ich letztes Jahr bei meiner Bat Mizwa über unsere Verantwortung den Obdachlosen und Waisen gegenüber gesprochen habe, aber du bist eine Heuchlerin: Du willst nicht, daß ich tatsächlich etwas für eine Obdachlose tue, weil du sie haßt.« Becca glitt vom Stuhl und rannte aus der Küche. »Falls du vorhaben solltest, in die Stadt zu fahren und sie zu retten, solltest du dir das aus dem Kopf schlagen, weil ich es dir nicht erlaube«, rief Karen ihr nach, doch sie fragte sich, was sie unternehmen würde, wenn ihre Tochter ihr nicht gehorchte. Becca stapfte die Treppe hinunter; das ganze Haus erzitterte, als sie die Tür hinter sich zuschlug. Karen stand mit angehaltenem Atem im Eingangsbereich und wartete, was ihre Tochter als nächstes unternehmen würde. Sie fühlte sich hilflos, wie ein Schilfrohr im Wind, und dabei war Becca grundsätzlich wirklich ein gutes Mädchen... ein Teenager... eine junge Frau... was auch immer. Sie nahm keine Drogen und war nicht depressiv - Probleme also, die einer Familie wirklich zu schaffen machen. Trotzdem war es nicht richtig, daß Karen jetzt völlig verkrampft auf dem Flur stand. Eigentlich sollte Becca diejenige sein, die in ihrem Zimmer darüber nachdachte, wie sie ihre Mutter beschwichtigen könnte, und nicht umgekehrt. Karen wandte sich wieder ihrer Wäsche zu und lauschte so angestrengt, daß sie fast Kopfweh bekam. Dann hörte sie ein Klicken und ein Brummen von dem Telefon in der Küche und entspannte sich ein bißchen: Beccas Anschluß und der Hauptanschluß waren nicht gänzlich voneinander getrennt, so daß man immer merkte, wann sie benutzt wurden. Becca erzählte irgend jemandem ihre Sorgen - wahrscheinlich Corie, weil sie Kim ja sowieso gleich sehen würde. Vielleicht wäre Karen nicht ganz so ruhig gewesen, wenn sie gewußt hätte, daß ihre Tochter mit Judith Ohana vom First Freedoms Forum redete: Haben Sie die Nachrichten gesehen? Bedeutet das nicht, daß das Hotel die Bürgerrechte von Tante Luisa und den anderen Frauen verletzt hat? Auch Harriet Stonds hätte sich sicher nicht über Beccas Anruf gefreut, denn sie wollte alle Aktionen unterbinden, die das Hotel Pleiades weiter im Rampenlicht hielten. Harriet hatte in der vorangegangenen Nacht nicht sonderlich viel geschlafen, aber jetzt war sie fast außer sich vor Freude. Die Entscheidungsunfähigkeit, mit der sie zu kämpfen gehabt hatte, seit ihre Schwester weggelaufen war - nein, seit Mephers' Herzinfarkt -, war wie weggeblasen. Sie verbrachte den ganzen Vormittag mit Ingenieuren, die mit ihr die technischen Einzelheiten der Garagenwand durchgingen. Sie war wieder voll da, beschäftigte sich mit zehn Mandanten und einem Dutzend voneinander unabhängiger Probleme gleichzeitig und löste sie, wie ein Kind einen Rubicube zusammensetzt: in dreißig Sekunden, und die Erwachsenen schauen mit offenem Mund dabei zu. Ihre Mitarbeiterinnen und viele ihrer Kollegen hatten sie am Morgen im Fernsehen gesehen. Du hast wunderbar ausgeschaut; die Ruhe in Person; ich hätte kein Wort rausgebracht. Bist du gestern abend in den Sturm geraten? Hätte man gar nicht gedacht - deine Haare saßen einfach perfekt, wie du da so vor der Wand gestanden bist. Und heute siehst du besser aus denn je. Als ob sie ordentlich durchgebumst worden wäre, flüsterten ihre Mitarbeiterinnen einander zu, in der Hoffnung, nicht von ihr gehört zu werden. Harriet hörte sie, aber es war ihr egal, was sie sagten. Sex? Sex hatte ihr nie so viel Freiheit gegeben. Sie hatte das Gefühl, daß sie die Last, die Mara immer dargestellt hatte, jetzt endlich loswurde. Sie kam sich vor wie an den Pforten des Paradieses, wenn alle irdischen Probleme von einem abfallen. Maras schmutziges Gesicht in der Nacht, ihr Versuch, eine Verbindung zwischen Harriet und dieser gräßlichen Frau herzustellen, die da plötzlich bei der Wand aufgetaucht war: Als hätte Harriets Mutter so aussehen können wie diese aufgedunsene obszöne Kreatur, das aufgeschwemmte Monster aus Harriets Alpträumen... Der Anblick von Mara ließ Harriet angewidert in die Graham Street fliehen. Was war widerlicher gewesen - die nackte Frau oder Maras Einfall, daß diese Kreatur ihre Mutter sein könnte? Egal. Jedenfalls zog Harriet sich in dem Augenblick ganz und gar von ihrer Schwester zurück. Sie schob Maras Finger von ihrem Arm weg. Es wird Zeit, daß du mit diesen Spielchen aufhörst, Mara, und nach Hause kommst, sagte sie. Du wirst meinen Namen nicht in den Schmutz ziehen, bloß weil du dich mit irgendeiner Obdachlosen herumtreibst. Ihre Schwester stammelte: Ich habe mich nicht mit ihr herumgetrieben, sie ist gerade erst aufgetaucht, aber ich habe mich die ganze Zeit nach Mutter und Oma Selena gesehnt. Ich glaube, sie hat gespürt, daß ich Sehnsucht nach ihr hatte, und da ist sie einfach gekommen.
Großvater hatte also doch recht gehabt. Mara übertrieb wirklich schamlos. Harriet bot Mara mit eisigem Gesicht zwei Alternativen - sie konnte mit ihr nach Hause gehen, sich einen Job suchen und erwachsen werden; oder sie sollte zugeben, psychisch gestört zu sein, und sich helfen lassen. Doch Mara hatte nur mit schmerzverzerrtem Gesicht etwas geschrien und war in das Labyrinth der Straßen hinter der Garage verschwunden. 104 Harriet machte sich nicht genug aus ihr, um ihr nachzulaufen. Nein, sie fuhr nach Hause, legte sich zwischen ihre nach Lavendel duftenden Laken und hätte fast zu singen angefangen, obwohl sie mit ihren kaputten Schuhen beinahe drei Kilometer zu Fuß hatte gehen müssen, weil sie kein Taxi fand. Am Morgen blieb sie daheim, um mit Großvater zu frühstücken, statt im Fitneßraum ihre morgendlichen Übungen zu machen. Sie gab ihm einen herzlichen Kuß und entschuldigte sich für ihre Geistesabwesenheit während der Woche. »Ich habe mich eine Weile in die Phantasiewelt von Mara hineinziehen lassen. Aber ich habe sie gestern abend gesehen; anscheinend treibt sie sich mit ein paar obdachlosen Frauen unten am Hotel Pleiades herum. Ich weiß nicht, ob sie das macht, weil sie ihren Job dort verloren hat und die Leute in Verlegenheit bringen möchte oder weil das Hotel zu meinen Mandanten gehört und sie mich in Verlegenheit bringen will. Egal, welche der beiden Alternativen zutrifft: Ich habe genug. Soll sie machen, was sie will - mich geht das nichts mehr an.« Nachdem Großvater die ganze Geschichte der vergangenen Nacht gehört hatte, sagte er, er fühle sich verpflichtet, dem Gör zu helfen. Weißt du, Harriet, es könnte ja sein, daß diese Frauen ihre emotionale Labilität ausnutzen. Vielleicht wissen sie, daß sie aus einer wohlhabenden Familie stammt, und meinen, sie könnten so an Geld kommen. Da die Frauen, mit denen Mara sich herumtrieb, ins Midwest Hospital eingeliefert worden waren, würde er sie befragen, um herauszufinden, was sie vorhaben. Sie gab ihm noch einen Kuß und sagte: Du bist einfach zu großzügig. Und dann rief sie unten bei Raymond an, damit der ihr ein Taxi besorgte. Ihre gute Laune hielt das ganze Mittagessen über an, das sie zusammen mit drei Partnern und dem Vertreter der Ingenieursfirma, die der wichtigste Mandant ihrer Kanzlei war, im Saddle Club einnahm. Statt des grünen Salats ohne Dressing, den sie normalerweise hier aß, gestattete 104 sie sich eine richtige Mahlzeit: Fisch mit Sauce, Bratkartoffeln und grüne Bohnen in Butter. Morgen würde sie eine Stunde früher aufstehen und vor der Arbeit doppelt so lange im Fitneßraum schwitzen. Sie durfte noch eine ganze Nacht und einen halben Tag voller Glück genießen, bevor Gian Palmetto sie wieder ins Verderben stürzte. 2J5
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Ein Abend in der Oper
Luisa. spielte in dem Übungsraum der Oper, hoch droben über der Straße, Klavier für Starr.
Sie sehnte sich nach Musik, aber ihr Hals war zu trocken, als daß sie gewagt hätte zu singen. Luisa hatte nicht sonderlich viel Erfahrung auf dem Klavier -sie hatte gerade genug gelernt, um sich selbst bei manchen Stücken begleiten zu können, aber heute spürte sie die Musik in ihren Fingern. Nach einer Weile begann Starr zu singen. Die Worte, falls das überhaupt Worte waren, entstammten einer Sprache, die Luisa nicht kannte. Die Kehllaute waren rauh, und Starrs Stimme war kräftig, ohne melodisch zu sein, doch Luisa hörte ihr so aufmerksam zu, als trage Mozart höchstpersönlich etwas vor. Die rauhe Stimme schien sich mit Luisas Klavierspiel zu vermischen, mit halbvergessenen Akkorden aus halberinnerten Arien. Die Diva vergaß ihren rauhen Hals, ihren Zorn auf Harry und Karen, auf ihren Agenten und den Direktor der Met. Ihr ganzes Wesen konzentrierte sich in ihren Ohren. Während sie spielte und Starr sang, liefen in Luisas Gehirn Bilder ab wie in einer Diashow: ein Fluß; Stadttore und Ziegeltürme; dann eine lange, beschwerliche Bootsreise mit Gesetzbüchern und einem wütenden Vater, der sie verfolgte. Luisa spielte Passagen aus Schuberts Erlkönig, das drängende Stampfen der Verfolger in der Nacht. Starrs Vortrag schien sich zu verändern: Luisa wandte sich ihrem geliebten Verdi zu, während die Bilder immer wilder durch ihr Gehirn purzelten.
Der Himmel war strahlend blau wie über ihrer Villa in Kam-panien. Sie saß unter einem Baum, dessen lange, grüne Äste über ihr im Wind schwangen wie Arme, die sich ihr entgegenstreckten, um sie zu umarmen. Ein Vogel oben auf dem Baum 105 verspottete sie und flatterte dicht vor ihr herum, als sie versuchte, ihn zu verjagen. Dann tauchte ein Mann mit gesunder Gesichtsfarbe auf, der den Vogel fing und wegbrachte. So wurde König David in der Bibel beschrieben: ein Mann mit gesunder Gesichtsfarbe. Luisa hatte immer gedacht, das bedeute, er habe rote, gegerbte Haut, aber jetzt sah sie, daß der Ausdruck eher etwas mit Vitalität zu tun hatte, daß seine Haut von dem Blut, das durch seine Adern pulsierte, erglänzte. Kaum war ihr das klargeworden, als sie schon mit ihm auf einem riesigen Holzbett lag und in einer Ekstase auf ihm ritt, die sie bis dahin nicht gekannt hatte. Sie feuerte ihn mit Worten an, die sie nie ausgesprochen hätte: Pflüg mich, reiß mich auf, sagte sie, aber nicht sie ritt, sondern Starr, und es war auch kein Mann mit gesunder Gesichtsfarbe da, sondern nur sie selbst, Luisa. Sie löste ihre Finger von den Klaviertasten und tastete nach Starrs Brüsten, warm und fest wie aufgegangenes Brot; und plötzlich legten sich Starrs Lippen auf die ihren, glühende Kohlen, die sie verbrannten, sie erfrieren ließen und sie wieder auftauten; und dann ergoß sich Gold aus ihr, reinigte sie, schuf sie neu. Sie versuchte, die Beine um Starr zu schlingen, war aber zu klein. Starr wurde größer und größer, ihre schwarzen Schlangenhaare verwandelten sich in die Hörner einer Kuh, aus ihren Nüstern drang Feuer, und die ganze Welt war nicht so groß wie diese Brüste. Luisa klammerte sich an sie; schluchzte trotz ihres rauhen Halses; ihre Arme und Beine waren zu schwach für diesen Ritt, also packte sie die Hörner, aus Angst, daß sie ihr entschlüpfte, und plötzlich waren die Hörner dicke Strähnen verschwitzter Haare, der feurige Odem war nur noch der Geruch von Knoblauch, und die beiden Frauen schliefen eng umschlungen unter dem Flügel ein.
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Ein Opfer für die Jungfrau
Hinter einen Eisenträger gekauert, sah Mara von oben zu, wie die Dornen an der Wand angebracht wurden. Brian Cassidy stand direkt unter ihr und gab Anweisungen. Maras Schlafsack und die Kleider, die sie noch hatte, lagen in einem Plastikmüllsack zu ihren Füßen. Ein Mann hatte ihr den Rucksack in den frühen Morgenstunden gestohlen. Sie war aus ihrem unruhigen Schlaf erwacht, als sie spürte, daß eine Hand versuchte, den Rucksack unter ihrem Kopf herauszuziehen. Als sie sich zu wehren versuchte, schlug ihr jemand mit der Faust ins Gesicht, und einer ihrer Schneidezähne brach ab. Ihre Scheckkarte steckte sicher in ihrer Jeans, aber sie konnte es sich nicht leisten, Geld für einen neuen Rucksack zu verschwenden. Also ging sie von Müllcontainer zu Müllcontainer, bis sie einen festen schwarzen Plastiksack fand. Was würde passieren, wenn sie den Zahnarzt ihrer Familie aufsuchte? Würde er Großvater Bescheid sagen, oder würde er sie baden lassen und ihren Zahn wieder in Ordnung bringen? Sie war erst seit einer Woche auf der Straße, aber bereits jetzt konnte sie es sich nicht mehr vorstellen, wie es sich anfühlte, sauber zu sein. Wahrscheinlich hatte Harriet angeordnet, daß die Dornen angebracht wurden. Harriet, die sie haßte. Sie hatte diesen Haß vergangene Nacht im Gesicht ihrer Schwester gesehen: Plötzlich war der Ekel, den Harriet neunzehn Jahre lang so perfekt übertüncht hatte, ganz deutlich zu sehen gewesen, so deutlich wie eine Opernbühne, wenn der Vorhang aufgeht. Mara sah Fragmente ihres eigenen Lebens, all die Jahre, in denen sie sich so sehr nach Harriets Liebe gesehnt hatte - Harriets erste Sommerferien im College, die fünfjährige Mara, die stundenlang mit dem Dreirad vor dem Haus auf und ab fuhr, 105 weil sie ihre große Schwester als erste begrüßen wollte. Sie trug Make-up, das sie auf Harriets Frisierkommode gefunden hatte. Doch plötzlich wurde sie von Mephers gepackt - du weißt doch, daß man nicht einfach in das Zimmer von anderen Leuten gehen und sich ihre Sachen nehmen darf, oder? -, nach oben geschleift und unter der Küchenspüle abgeschrubbt, ohne daß Mephers ihren Rufen »ich warte auf Huwie, ich will ausschauen wie Huwie« Beachtung geschenkt hätte. Sie war wirklich dumm gewesen. Wie hatte sie nur ihr ganzes Leben lang so dumm sein können? Nicht genug, daß sie groß und unbeholfen war und ihre Haare von weiß Gott welchem Mann stammten, jedenfalls nicht von einem aus dem Stonds-Stammbaum. Harriet wollte ihre Liebe nicht - sie wollte, daß Mara verschwand. Und jetzt nahm Harriet Rache für all die Jahre, die sie mit
einer verhaßten Schwester hatte zusammenleben müssen, indem sie die Dornen in die Wand treiben ließ. Mara schämte sich, daß sie ihrer Schwester all die Jahre so blind hinterhergelaufen war. Deswegen war sie vor ihrer Schwester geflohen, und deswegen hatte sie auch nicht mitbekommen, wie Jacqui, Madeleine und die Diva verschwunden waren. Und die Frau mit den dichten schwarzen Haaren, dichter noch als Maras widerspenstiger Haarschopf, schwärzer, wilder, die Frau, die möglicherweise ihre Mutter war. Sie mußte diese Frau finden. Wenn sie tatsächlich ihre Mutter war, würde sie Mara sagen, warum sie sie allein bei Großvater zurückgelassen hatte. Nicht wegen dir, meine kleine Tochter, sondern weil... doch ihr viel nichts Glaubwürdiges ein. Weil Beatrix sich nur für Drogen interessierte, wie Mephers immer sagte, und nicht für ihr Baby. Etwas Besseres konnte Mara sich wahrscheinlich nicht erhoffen. Aber die Frau gestern nacht hatte nicht ausgesehen wie die Junkies, die Mara jeden Tag auf den Straßen zu Gesicht bekam. Sie hatte sich aufrecht gehalten, sich mit wachem, selbstsicherem, fast schon überheblichem Blick umgeschaut (wie kannst du das wissen, hörte sie Mephers sagen, du hast sie doch bloß 106 dreißig Sekunden lang gesehen). Aber egal, die Frau würde Mara in den Arm nehmen: Kleine Tochter, sie haben sich nicht gut um dich gekümmert. Und aus ihrem Nest in diesen bronzefarbenen Armen hörte Mara, wie die Frau Mephers und Großvater einen Vortrag hielt und dann Harriet rügte: Wie hast du dich von deiner kleinen Schwester abwenden können, die dich immer so verehrt hat? Bei dieser Vorstellung traten Mara die Tränen in die Augen. Sie weinte, klammerte sich an die unebene Kante des Pfeilers und döste ein. Ein paar Stunden später wurde sie durch Madeleines Aufschrei geweckt. Mara schaute hinunter. Madeleine stand vor den Dornen und jammerte, weil sie nicht mehr an die Wand kam. Nach der Sintflut der vergangenen Nacht befand sich nun ein ganzes Netz von Haarrissen auf der Wand, aber Madeleine wußte - oder glaubte zu wissen -, wo sich der erste Spalt befand, der Riß der Heiligen Jungfrau. Mara verstand nicht, was sie mit hoher Stimme jammerte. Brian Cassidy hatte nur auf diesen Augenblick gewartet. Im Laufschritt kam er aus der Garage. »Die Wand ist tabu für Sie und die anderen. Schauen Sie doch nur, was Sie angestellt haben, welche Kosten Sie dem Hotel verursacht haben. Und jetzt verschwinden Sie, sonst mache ich Ihnen Beine.« Er packte Madeleine an den Schultern und schüttelte sie. Die Obdachlose hing in seinen Armen wie eine Marionette; ihre dünnen Beine zuckten unter ihren zahllosen Rockschichten. Sie keuchte vor Anstrengung, als sie versuchte, sich zu befreien, und atmete stoßweise. Als sie sich seinem Griff nicht entwinden konnte, spuckte sie ihn an. Cassidy ließ sie los und schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. Mara begann entsetzt an ihren Fingern zu saugen. Pendler, die zu der Bushaltestelle wollten, wandten den Blick ab und wechselten auf die andere Straßenseite. Auf dem Boden liegend hielt Madeleine ihre Bibel hoch. »Sie haben diesen Ort entweiht. Die heilige Mutter haßt alle, die 106 ihren Tempel entweihen, sie wird ihre Flüche auf Sie herabregnen lassen. Sie wird all Ihre Taten verwirren und vereiteln. Sie wird Sie mit den Plagen Ägyptens schlagen, mit Geschwüren, Skorbut und Aussatz. Sie wird dafür sorgen, daß Sie offene Wunden an den Beinen bekommen, die nicht mehr heilen.« »Das riskiere ich, Fotze. Aber erst mal würde ich sagen, daß du verschwindest! Mach 'ne Mücke! Hau ab!« Cassidy beugte sich vor, packte ihren rechten Arm mit der Bibel und drehte ihn ihr nach hinten. »Und wenn du dich hier noch mal blicken läßt, kann dich die Müllabfuhr morgen früh aus dem Hotelabfall ziehen. Dir wird niemand nachweinen, das kann ich dir flüstern.« Er beobachtete sie, wie sie zur Bordsteinkante kroch, die Bibel fest gegen die Brust gedrückt, leise weinend. Er wollte ihr gerade einen Tritt versetzen, als er merkte, daß ein paar Pendler stehengeblieben waren. Er machte abrupt kehrt und ging hinüber zur Garage, wo ungeduldige Gäste sich beschwerten, weil sie auf ihren Wagen warten mußten. Mara, die sich schämte, weil sie zu feige gewesen war einzugreifen, kletterte hinunter und rannte zu Madeleine. Sie suchte in ihrer Tasche nach etwas, womit sie der Frau das Gesicht abwischen
konnte, fand aber nur eine schmutzige Unterhose. Sie hatte noch ein paar Schluck Orangensaft und brachte Madeleine schließlich dazu, etwas zu trinken. »Wir sollten Hilfe holen. Vielleicht könnten Jacqui und Nanette... Weißt du, wo die beiden sind?« Madeleine gab keine Antwort, wippte nur auf den Fußballen und weinte, die Mutter Gottes würde es ihr nie verzeihen, daß sie die Wand im Stich gelassen hatte. »Ich habe mir eine Spritze von dem Arzt geben lassen, und da habe ich sie vergessen. Jetzt haben sie ihre Wand kaputtgemacht. Sie wird mich genauso verfluchen wie ihn.« »Es ist nicht deine Schuld, Maddy; meine Schwester ist dafür verantwortlich. Die... die heilige Mutter...« Mara brachte die Worte kaum heraus und kam sich vor wie eine Heuchlerin. »Sie weiß, daß du sie liebst. Laß uns rüber zur Unterkunft ge 107 hen und ein bißchen schlafen. Morgen, wenn wir uns erholt haben, können wir uns immer noch etwas überlegen.« Madeleine wollte nicht mitkommen, aber für sie selbst wurde der Gedanke an Schlaf immer dringlicher. Wenn sie früh genug in Hagar's House eintraf, konnte sie noch ein Bett erwischen. Und sie konnte duschen. Dort würde sie auch Jacqui und Nanette sehen, die würden ihr sagen, was mit Madeleine geschehen solle. Sie würden auch wissen, was aus der Frau mit den Haaren geworden war. Ihr Puls beschleunigte sich, als sie durch die Straßen huschte, vorbei am Corona's und den anderen Jazzlokalen in der Kinzie und Hubbard Street. Die Leute wichen erschreckt zurück, wenn sie an ihnen vorbeiging: Mit ihren widerspenstigen Haaren und ihrem ungewaschenen Körper trug sie ein schreckliches Virus in sich, das Virus der Unsicherheit. Als sie noch ihren Job im Hotel hatte, war ihr aufgefallen, daß die Leute vor Madeleine oder den anderen Obdachlosen zurückwichen, und sie hatte voller Verachtung gedacht: Obdachlosigkeit ist keine Krankheit, die werden dich schon nicht anstecken. Jetzt sah sie, daß der Ekel tiefer reichte: Wenn Menschen, die eine Wohnung und einen Job haben, zugaben, daß jemand wie - na schön, wie Mara selbst mit ihrem abgebrochenen Zahn und ihren stinkenden Kleidern -, Mara ein Mensch war, dann mußten sie auch akzeptieren, daß das Leben unsicher war. Es war wie ein wilder Bulle im Rodeo, auf den man sich setzte, den man aber nicht beherrschte. Pläne, Diäten, Fitneßübungen, Investitionen - all das konnte einfach verschwinden, wenn ein Obdachloser tatsächlich ein Mensch war. Und dieser Gedanke machte angst. Also mußten sie Mara anschauen und sagen: Wir nehmen sie nicht wahr. Oder: Sie ist ein Problemkind - laßt sie doch ziehen, damit sie ihrer Mutter in jenes Schwarze Loch der Einsamkeit folgt. Sie blieb vor einem Laden stehen, dessen Fensterrahmen mit kleinen Spiegelpaneelen verziert war, und betrachtete sich stirnrunzelnd. Ja, sie war immer noch Mara. Das lag an den Haaren. Patsy Wanachs würde sie sofort erkennen, und dann, 107 wenn Großvater oder Harriet eine Warnung ausgegeben hatte (sofort eine Spritze mit Haldol geben und in die Psychiatrie einliefern)... Sie ging in einen Laden an der Ecke, um dort nach etwas zu suchen, womit sie ihr Gesicht verändern konnte. Es war ein schäbiger kleiner Laden, der noch nicht renoviert worden war, aber auch nicht darauf hoffen konnte, mit seinen schmutzigen Gängen und halbleeren Regalen noch viel länger zu überleben. Der libanesische Kassierer sah sie gleichgültig an - sie hätte alles mögliche stehlen können, wenn sie gewollt hätte. Schließlich kaufte sie ein Paar Kniestrümpfe für neunundsechzig Cents. Noch vor ein paar Tagen hatte sie ohne mit der Wimper zu zucken den dreifachen Betrag für eine Tasse Kaffee ausgegeben. Jetzt machte sie sich Gedanken darüber. Das Geld hätte sie viel sinnvoller für etwas Eßbares verwenden können. Sie zog einen der Strümpfe über den Kopf und betrachtete sich in den Spiegelpaneelen. Sie sah aus wie eine Terroristin oder eine Rübe. Nein, sobald sie den Schock über die abrupte Veränderung überwunden hatte, stellte sie erstaunt fest, daß sie tatsächlich ein Gesicht und Wangenknochen hatte: Zwar hatte sie nach einer Woche schlechter Ernährung und Schlafmangel ziemlich abgenommen, aber immerhin besaß sie ein echtes Gesicht unter all ihren widerspenstigen Locken. So würde sie nicht einmal ihre eigene Mutter erkennen! Sie grinste über sich selbst. Und jetzt, wo auch noch ein Schneidezahn abgebrochen war... An der Gegensprechanlage von Hagar's House mußte man seinen Namen nennen. Daran hatte sie nicht gedacht. Sie konnte nicht »Mara« sagen, weil der Name zu ungewöhnlich war; alle
Beschäftigten würden sofort an Mara Stonds denken. Schade, daß Großvater sie nicht Sue genannt hatte. Selena, antwortete sie schnell auf das knackende Geräusch aus der Gegensprechanlage. Selena Vatick. Dann mußte sie ein Gespräch mit einer der ehrenamtlichen Helferinnen führen; zum Glück nicht mit Patsy, denn die 108 hätte die Sache mit dem Strumpf sofort durchschaut. An jenem Abend war eine Freundin von Sylvia Lenore dort. Mara kannte sie vom Sehen, von all den Jahren in der Kirche, aber die Frau schien sie nicht zu erkennen. Selena war also neu hier? Die Regeln sahen folgendermaßen aus: Keine Drogen und kein Alkohol auf dem Kirchengelände, keine Ruhestörung, keine Männer. Dann erklärte sie ihr, wo sich die Toiletten und die Duschräume befanden, und fragte sie, ob sie irgend jemanden anrufen wolle, ob sie ihr bei der Wohnungssuche helfen sollten, ob sie Sozialhilfe bekomme, ob sie Kleidung aus der Kleiderkammer brauche. Wenn sie sich medizinisch beraten lassen wolle, könne sie sich an Dr. Tammuz wenden, der komme immer freitags; wenn ihr die Füße weh taten, kümmerte sich donnerstags ein Fußpfleger um die Frauen; und wenn sie Probleme mit der Seele hatte, gab es mittwochs die Bibelstunde. Heute war Dienstag, also waren keine Aktivitäten geplant. Die Betten standen ab zehn Uhr zur Verfügung; sie erhielt die Nummer dreiundzwanzig von siebenundzwanzig vorhandenen - sie war gerade noch rechtzeitig gekommen -, konnte aber noch duschen, wenn sie wollte. Mara wand sich im warmen Strahl der Dusche wie ein kleiner Hund unter der Hand, die ihn streichelte. Sie wusch ihre Unterwäsche und ihr zweites T-Shirt, holte sich ein sauberes Sweatshirt aus der Kleiderkammer, überlegte, ob sie eine enge Jeans oder eine zu weite Jogginghose nehmen sollte, und entschied sich schließlich unter den wachsamen Blicken einer weiteren ehrenamtlichen Helferin für die Jogginghose, die oben auf dem Pfeiler wahrscheinlich praktischer war. Es gab nur zwei Kleidungsstücke pro Monat, und ihr Name wurde sorgfältig in eine Kladde eingetragen; Vatick - das ist aber ein ungewöhnlicher Name. Welche Nationalität ist das? Mara machte ein finsteres Gesicht. Sumerisch. Die ehrenamtliche Helferin unternahm keinen weiteren Versuch mehr, ein Gespräch mit ihr zu beginnen. Im Gemeinschaftsraum traf Mara Jacqui und Nanette. Sie erzählte ihnen von Madeleines neuesten Qualen, fragte nach 108
der merkwürdigen Fremden und erfuhr, daß sie Starr hieß. Starr war zusammen mit Luisa und Maddy im Krankenhaus gewesen, aber wenn sie Maddy entlassen hatten, dann waren die anderen beiden vielleicht auch weg. Und, Kleines, wir sind müde. Wir sind heute morgen bis drei im Krankenhaus gewesen. Wir können uns heute nacht nicht um Maddy kümmern -wir brauchen ein Bett. Aber morgen früh gehen wir zu der Wand. Um zehn sank Mara auf Bett dreiundzwanzig, eine schmale Aluminiumliege wie alle anderen auch. Als die Kirche sie vor drei Jahren gekauft hatte, hatte Mara heftig widersprochen. Wer konnte denn auf so einem Ding schlafen? Jetzt wußte sie es - die Müden und die Beladenen. Nichts störte sie, nicht einmal, als Caroline und LaBelle sich wie üblich zu streiten anfingen, als Lady ein Phantom anheulte und LaBelles Zuhälter sich um drei Uhr früh Zutritt zu verschaffen versuchte. Sie schlief bis um halb sieben, als eine ehrenamtliche Helferin sie wachrüttelte. Frühstück, Selena, und dann müssen Sie gehen. Als sie zusammen mit Jacqui und Nanette bei der Wand erschien, war das Areal wieder von Polizisten abgeriegelt: Die frühmorgendlichen Pendler hatten Madeleine auf den Dornen aufgespießt gefunden. 108
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Geschwüre, Skorbut und Aussatz
Brian Cassidy verließ das Hotel am Mittwochmorgen um sechs Uhr nach seiner Schicht, um zu
schlafen oder zu trinken oder sich vielleicht zuerst noch eine Nutte auf der westlichen Madison Street zu suchen. In der Nacht war er immer wieder hinausgegangen, um nachzuschauen, ob die Verrückte sich an sein Verbot hielt. Falls er Madeleine Carter dabei beobachtet hatte, wie sie auf das Gerüst kletterte und sich ihren Gürtel um den Hals legte, hatte er vielleicht zufrieden genickt und war wieder in sein Büro zurückgekehrt. Falls er das tatsächlich gesehen hatte, sagte er nie
etwas davon. Er war weg, bevor der erste Pendler in die Garage rannte, und sagte, man müsse die Polizei und den Notarzt anrufen. Madeleine hatte Selbstmord begangen, daran bestand kein Zweifel. Das erklärte der Sanitäter dem Polizisten, obwohl natürlich die Leute von der Gerichtsmedizin das letzte Urteil darüber fällen mußten. »Aber der Mann von der Garage hat sie gestern nacht bedroht. Ich habe ihn gehört. Er hat gesagt, wenn sie nicht verschwindet, könnten die Leute von der Müllabfuhr sie aus dem Hotelabfall holen.« Mara versuchte das einem Polizisten und dem Sanitäter zu erklären, aber sie verscheuchten sie wie eine lästige Mücke. »Er hat sie sogar geschlagen und sie zu Boden gestoßen. Ich hab's gesehen.« Jacqui nahm sie am Arm und dirigierte sie mit sanftem Druck weg. »Der wird dir nicht zuhören, Kleines. Du bist eine Obdachlose - denen ist es egal, was du sagst. Arme Madeleine. Die Stimmen haben ihr den Garaus gemacht.« Wieder lag Madeleine auf einer Rollbahre, ein letztes Mal. Jacqui kniete neben ihr nieder. Mit ihren rauhen Händen strich sie über das schmale Gesicht, das jetzt aufgedunsen war, mit 109 Flecken übersät. Die Leichenhalle war ihr vorletzter Bestimmungsort. Man würde sie zu einer flüchtigen Obduktion dorthin bringen. Und dann würde man abwarten, ob sich Verwandte meldeten; wenn nicht, würde sie ein Armenbegräbnis bekommen. »Nanette ist zum Telefon gegangen, um den Doktor anzurufen. Vielleicht kann der sie überreden, daß sie sie zu ihm bringen.« Als könnte Hector Tammuz, der nicht einmal in seiner eigenen Abteilung etwas ausrichten konnte, die Pathologen des Midwest Hospital bewegen, etwas zu unternehmen. Zorn gärte in Mara wie Hefe im Teig. Daran war Harriet schuld, an Madeleines Tod, weil sie Brian Cassidy dazu angestachelt hatte. Aber diesmal würden Harriet und Brian, Großvater und Mephers nicht einfach so davonkommen. Mara stolperte hinterher, als die Sanitäter die Tragbahre hochhoben - ein Federgewicht; sie merkten kaum, daß sie etwas trugen. Mara sah nicht, daß Starr aus den Schatten zuschaute, die schwarzen Augen tränennaß, als habe sie die Tote gekannt. Luisa neben ihr zitterte vor Durst. Mara suchte sich ein Telefon und rief ein paar Reporter an. Über die Kosten machte sie sich keine Gedanken - sie ließ das Geld von Großvaters Kreditkarte abbuchen. Don Sandstrom von Channel 13, Gibson vom Tribüne, Murray Ryerson vom Herald-Star: Mein Name ist Mara Stonds. Sie kennen vielleicht meinen Großvater, den Neurochirurgen, oder meine Schwester, die Anwältin. Es ist ein schrecklicher Unfall passiert. Eine obdachlose Frau auf dem Gelände eines Mandanten meiner Schwester. Die Information machte die Runde: Taugt das für eine Story? Die kleine Stonds sagt, eine von den obdachlosen Frauen ist gestorben; sie hatte Visionen von der Jungfrau Maria; der Mann von der Garage hat sie bedroht. Anrufe beim First Freedoms Forum. Maurice Pekiel beriet sich mit Judith Ohana: Hat das was mit dem Mädchen zu tun, das dich gestern angerufen hat? Die Nichte von der alkoholkranken Diva Luisa Montcrief? Harriet Stonds ist eine gute Anwältin, eine wirklich gute Anwältin. Und Abrahm Stonds ist ein wichtiger Mann, dem darf man nicht auf den Schlips treten. Schau persönlich beim Hotel vorbei, um diskret nachzuforschen. Vor dem Hotel marschierte Mara mit einem Schild auf und ab: FRAGT MICH, WARUM DIESES HOTEL MADELEINE ERMORDET HAT. Die Jungs von der Garage sahen ihr zu, Brian Cassidy blieb drinnen, weil Don Sandstrom mit seinen Kameraleuten gekommen war (vorher war Cassidy schon einmal draußen gewesen, um Mara zu bedrohen, aber ihre Wut und ihre Anschuldigungen - ich hab' Sie gesehen, ich hab' Sie gehört - hatten ihn verunsichert, und er hatte sie nicht weg-gezerrt, wie er es anfangs vorgehabt hatte). Was ist Ihrer Meinung nach hier passiert, Ms. Stonds? fragte ein Reporter. Mara gab sich Mühe, nicht allzu fanatisch zu klingen. (Den Rat hatte ihr Jacqui gegeben: Wenn du das hier durchziehen willst, Mädchen, dann darfst du nicht wie eine Verrückte klingen. Ist schon schlimm genug, wenn du wie eine Verrückte aussiehst. Sie hatte sich rasch ein paar billige Kleidungsstücke gekauft und sich die Haare von Jacqui schneiden lassen: Ich marschiere nicht, aber ich werde dir helfen, anständig auszusehen.) »Madeleine Carter war der Überzeugung, daß die Jungfrau Maria durch einen Riß in dieser Wand blutet«, erklärte Mara dem Reporter. »Sie hat nie jemanden belästigt und auch nicht gebettelt,
aber sie hat Brian Cassidy angst gemacht - das ist der Mann, der für diese Garage zuständig ist -, solche Angst, daß er sie jede Nacht mit dem Wasserschlauch abgespritzt hat, sie und ihre Bibel. Und als das nichts genützt hat, hat er das Gerüst und die Dornen anbringen lassen, damit sie nicht mehr an die Wand konnte. Meine Schwester, die Anwältin Harriet Stonds, hat ihm den Tip gegeben. Wahrscheinlich hat diese kleine, zerbrechliche Obdachlose ihnen allen einfach zuviel angst gemacht. Heute nacht war ich da oben auf dem Pfeiler -Cassidy hat mich nicht gesehen -, und er hat sie geschlagen 110 und zu Boden gestoßen. Er ist riesig, Sie sehen ihn ja da drinnen, und Madeleine war winzig.« Judith Ohana, die nicht bereit war, etwas vor laufender Kamera zu sagen, sah von der Garage aus zu, wie das Team von Channel 13 versuchte, Brian Cassidy zu einem Interview zu bewegen. Sie sah auch, wie er im Personalaufzug hinauf ins Foyer floh. Es ist kein Schuldbekenntnis, wenn man vor laufender Kamera nichts sagen möchte, rief sie sich ins Gedächtnis, aber allzugut würden die Leute vom Hotel im Fernsehen nicht wegkommen. Als das Kamerateam weg war, unterhielt Judith Ohana sich mit Mara. Besonders gut gefiel sie ihr nicht - sie war ein mürrischer Teenager und hatte wohl noch ein Hühnchen mit ihrer Familie zu rupfen, erklärte sie Maurice Pekiel, als sie wieder mit ihm im Büro saß. Gut möglich, daß sich das First Amendment hier anwenden ließ. Im Augenblick wollte sie sich noch nicht ganz auf den Fall konzentrieren, sondern lieber abwarten, wie sich alles entwickelte. Judith markierte die Akte mit Becca Minskys und Mara Stonds' Anrufen mit einem grünen Reiter und diktierte eine Zusammenfassung. Als in den Vieruhrnachrichten Maras Ausführungen und Brian Cassidys Verschwinden im Aufzug zu sehen waren, befand Harriet sich gerade in einer Besprechung. Es war der schwierige Fall mit dem Spediteur, der Giftmüll im Mississippi versenkt hatte. Harriet, die wieder ganz auf der Höhe war und sich an ihrem eigenen Verhandlungsgeschick ergötzte, war alles andere als erfreut, als ihre Sekretärin sagte, sie solle Gian Palmetto anrufen. »Der wird sich ein bißchen gedulden müssen, Lauren. Das können Sie ihm doch sicher beibringen.« »Ich weiß schon, wie ich solche Dinge anpacken muß, Ms. Stonds, aber heute morgen ist beim Hotel Pleiades eine Obdachlose gestorben. Als die Leute vom Channel 13 mich um halb zwei angerufen haben, um Ihre Version der Geschichte zu hören, habe ich das noch nicht für wichtig genug gehalten, Sie zu stören. Aber in den Vieruhrnachrichten ist 110 plötzlich Ihre Schwester aufgetaucht und hat die Leute vom Hotel des Mordes bezichtigt. Wenn Sie das immer noch nicht für wichtig genug halten, muß ich mich natürlich entschuldigen.« Harriet nahm Lauren nur vage wahr; sie merkte lediglich, daß sie wütend war und sie sie eigentlich hätte besänftigen müssen. Klarer jedoch sah sie Mara. Sie wurde von einer Wut ergriffen, die der ihrer Schwester in nichts nachstand. Seit Mara laufen konnte, hatte das verdammte Luder eine Bedrohung für Harriets Arbeit, ihre Sachen und ihre Person dargestellt. Mit drei Jahren hatte Mara mit einem roten Marker Kringel auf Harriets Seminararbeit in Soziologie gemalt. Schau mal, Huwie, ich helf dir. Damals hatte es noch nicht überall Computer gegeben; sie hatte das ganze verdammte Ding noch einmal abtippen müssen. Und nicht einmal Großvaters Warnungen oder Mephers' Ohrfeigen hatten Mara daran hindern können, Harriets Kosmetika zu benutzen oder ihre Schallplatten oder Kassetten abzuspielen. Eine Aufnahme von Taj Mahal hatte sie völlig verkratzt; andere Platten hatte sie zerbrochen, sich dann heulend mitten in die Scherben gesetzt und vergeblich versucht, sie wieder zusammenzukleben. Und jetzt wollte sie Harriets Karriere kaputtmachen, sie vor Leigh Wilton dumm aussehen lassen, gerade jetzt, wo die Rede davon war, daß sie Partnerin werden sollte. »Besorgen Sie mir die Einzelheiten«, sagte Harriet zu ihrer Sekretärin. »Ich kann nicht aus dieser Besprechung raus. Die Mandanten müssen morgen früh vor Gericht erscheinen, und das könnte schwierig werden. Sagen Sie Gian... ich weiß nicht, was Sie ihm sagen können. Schicken Sie mir... nein, lassen Sie mich mit Leigh Wilton sprechen; vielleicht kann sich einer von den Partnern um die Spediteure kümmern, wenn sich der Fall zuspitzen sollte. Und versuchen Sie herauszufinden, wie die Anschuldigungen aussehen... Ach, das haben Sie schon? Natürlich. Ich weiß, eine verlässlichere Kraft als Sie könnte ich gar nicht kriegen, Lauren. Meine Schwester gehört in die Psychiatrie. Nun...« Sie überflog die Notizen ihrer Sekretärin. 110
»Sie marschiert vor dem Hotel Pleiades auf und ab? Rufen Sie Dr. Stonds an, vielleicht kann der sie irgendwie ins Krankenhaus bringen lassen.« Mara erschien ihr wie ein lästige Motte, und ihr Großvater würde sie mit einem großen Netz fangen und beseitigen. »Und bitten Sie jemanden, alle Nachmittagsnachrichten aufzuzeichnen.« Als sie sich wieder ihren Mandanten zuwandte, schien sich ihr Gehirn erneut aufzulösen, und die Freude der letzten beiden Tage war verpufft, als habe sie sie nie empfunden. Sie mußte ihre Mandanten bitten, das, was sie gesagt hatte, zu wiederholen, und begriff es auch nach dem zweiten oder dritten Mal noch nicht. Um halb acht brachte Harriet die Besprechung mit den Spediteuren schließlich zu Ende. Sie rief zu Hause an, um zu hören, ob es etwas Neues gebe. Großvater trank gerade einen Sherry und suhlte sich ob all der schrecklichen Frauen und nichtsnutzigen Assistenzärzte, die ihm das Schicksal bescherte, in Selbstmitleid. Er habe diesen Versager Tammuz zum Hotel geschickt, damit der nach Mara suche, erklärte er Harriet, aber dieser Trottel sei nicht mehr ins Krankenhaus zurückgekommen, er habe bis sieben auf ihn gewartet. Natürlich konnten sie die Polizei einschalten, sagen, Mara stelle ein Gefahr für sich selbst und alle dar, die mit ihr zu tun hatten; man konnte sie mit Gewalt ins Krankenhaus bringen lassen, aber es war mit Sicherheit nicht gut, wenn sich das alles vor den Augen der Öffentlichkeit abspielte. Harriet pflichtete ihm bei: Laß die Polizei vorerst aus dem Spiel - obwohl sie persönlich das Luder am liebsten erwürgt hätte. Großvater sagte, er habe Mitleid mit ihr, und Leigh Wilton würde Harriet doch sicher nicht für etwas verantwortlich machen, worauf sie keinen Einfluß hatte - und wann habe sie außerdem vor, nach Hause zu kommen? Harriet hatte sieben Nachrichten von Gian Palmetto erhalten. Beim ersten Anruf war er ziemlich durcheinander gewesen, hatte Lauren notiert. Beim zweiten sehr durcheinander.
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Und dann hatte er gebrüllt und sich Leigh Wilton geben lassen, der ihn beruhigt hatte (schließlich ist das die Aufgabe eines Partners). Mehrere Partner wollten sich mit ihr unterhalten. Einige boten ihr Unterstützung an, doch Leigh Wilton runzelte die Stirn, als habe sie sich geradezu darum bemüht, Negativschlagzeilen zu machen: War es wirklich im Interesse des Mandanten gewesen, die Dornen an der Wand anbringen zu lassen? Harriet riß sich zusammen und fauchte ihren Vorgesetzten nicht an. »Möglicherweise hat das Wasser Montagnacht Schäden am Fundament verursacht. Wir haben die Wand abstützen müssen. Wenn wir die Dornen nicht angebracht hätten, um diese obdachlosen Frauen abzuschrecken, und die Wand wäre eingestürzt, was hätten wir dann für Schlagzeilen?« Die Partner hatten unterschiedliche Ideen, und wie alle Anwälte bestand jeder von ihnen darauf, ihr eine halbe Stunde lang seinen Vorschlag zu erklären. Endlich schaffte sie es, sich das Video mit den Nachrichten anzusehen. Harriet schaute es sich viermal an. Judith Ohana vom First Freedoms Forum hatte recht gehabt: Brian Cassidy kam im Fernsehen nicht gut rüber; er sah aus wie ein Mafiakiller, der vor seiner gerechten Strafe floh. Wenigstens hatte sich der stellvertretende Direktor des Hotels bereit erklärt, ein Interview zu geben. Und er hatte sich wacker geschlagen: »Mara Stonds hat drei Monate lang für uns gearbeitet. Wir haben ihr kündigen müssen, weil sie während der Arbeitszeit trank. Daher wundert es mich nicht, daß sie Vorwürfe gegen das Hotel erhebt. Ehemalige Mitarbeiter, denen wir kündigen mußten, sind oft nicht gut auf uns zu sprechen, obwohl sie natürlich nicht immer Gelegenheit haben, ihren Groll im Fernsehen öffentlich zu machen.« »Aber die Tote - Madeleine Carter«, bohrte Don Sandstrom weiter, »stimmt es, daß das Hotel sie belästigt hat, weil sie Erscheinungen von der Jungfrau Maria hatte, neben Ihrer Garage?« Der stellvertretende Direktor lächelte selbstsicher. »Ich 2J2 glaube nicht, daß man es als Belästigung bezeichnen kann, wenn man versucht, jemanden daran zu hindern, unsere Gäste zu belästigen.« »Also haben Sie sie tatsächlich mit einem Hochdruckwasserschlauch abgespritzt?« »Wir reinigen den Gehsteig vor der Garage mit einem Wasserschlauch. Wenn sie sich geweigert hat wegzugehen, ist es schon möglich, daß sie einmal naß wurde.« Das klang nicht so gut. Und noch schlimmer, dachte Harriet: Wenn es sich erst einmal herumsprach, daß die Jungfrau Maria durch einen Riß in der Wand blutete, würden sicher etliche
hysterische Frauen dort auftauchen, und das würde noch mehr Medienleute anlocken. Mara war am Nachmittag allein vor dem Hotel auf und ab marschiert. Harriet hielt das Videoband bei einer Großaufnahme vom Gesicht ihrer Schwester an: Mara hatte wieder einmal die Backen gebläht. Der abgebrochene Schneidezahn ließ sie nicht verwegen wirken, sondern älter. Der Ekel, den Harriet Montagnacht beim Anblick ihrer Schwester verspürt hatte, verstärkte sich noch. Harriet rief im Hotel an. Gian Palmetto hatte ein Abendessen mit dem Bürgermeister abgesagt, um an seinem Schreibtisch bleiben zu können. Harriet sagte, daß sie sich mit Brian Cassidy unterhalten müsse. »Er ist im Krankenhaus.« »Wieso das denn? Er kann sich nicht verstecken, Gian. In den Nachrichten hat er keinen guten Eindruck gemacht. Wenn er jetzt so tut, als sei er krank, ist das das dümmste, was er machen kann.« »Er tut nicht so, Harriet. Er hat am ganzen Körper Ausschlag, sogar an den Fußsohlen. Ich hab' ihn gesehen. Er war völlig fertig, konnte weder sitzen noch stehen und kaum noch atmen. Sie haben ihm irgendwas gespritzt, damit der Juckreiz aufhört; er ist wirklich krank.« Harriet seufzte verärgert: Die kräftigsten Männer schienen immer als erste zusammenzubrechen. »Er muß irgendein ¿112 Statement abgeben. Mara behauptet, daß er die Tote bedroht hat. Was hat er dazu zu sagen?« »Ach, Harriet, es geht doch bloß um ein paar Obdachlose und Verrückte, und Ihre Schwester, nun, offen gestanden - tut mir leid, wenn ich das sagen muß, aber die hat doch nicht alle Tassen im Schrank. Nehmen Sie ihre Anschuldigungen gegen Brian wirklich ernst?« »Es ist egal, was ich ernst nehme. Ist Ihnen denn nicht klar, daß sich die Presse darauf stürzen wird? Was wollen Sie dem Aufsichtsrat erzählen, wenn die fragen, ob Brian Cassidy eine Obdachlose ermordet hat? Brian muß ein Statement abgeben. Ich fahre gleich anschließend ins Krankenhaus.« Harriets kühler Tonfall erzürnte ihren Mandanten: Vielleicht verlor er seinen Job, und sie klang wie der gefrorene Rotz an der Schnauze eines Eisbären. »Hören Sie auf, Harriet, der Mann kann nicht reden. Er hängt an einem Beatmungsgerät. Haben Sie's jetzt kapiert? Nicht alle sind so kaltschnäuzig wie Sie, okay?« Sie wurde rot, aber ihre Stimme klang jetzt noch distanzierter. »Gian, was werden Sie morgen machen, wenn eine ganze Schar hyperaktiver Frauen vor der Wand auftaucht und nach dem Blut der Jungfrau verlangt?« Daran hatte er noch nicht gedacht. Er platzte los, er würde überall Sicherheitskräfte aufstellen, die die Frauen verjagten, er würde sich Feuerwehrschläuche besorgen, Hunde, Waffen. Harriet fiel ihm nach genau vier Minuten ins Wort, die sie ihm später auf die Rechnung setzen ließ. »Wollen Sie das alles vor laufender Kamera machen? Das wäre ziemlich dumm. Damit würden Sie alles nur noch schlimmer machen... Was ich Ihnen rate? Erstens sollten Sie dort so schnell wie möglich Schilder aufstellen mit der Aufschrift: >Vorsicht! Wand bröckelt, Einsturzgefahr^ Sperren Sie den Gehsteig ab, und halten Sie die Zufahrt zur Garage frei. Postieren Sie ein paar ordentliche junge Männer in Hoteluniform, die den Leuten erklären, daß es gefährlich ist, sich der Wand zu nähern, aber ¿112 daß sie natürlich Fotos machen können, wenn sie wollen. Sie könnten sogar ein paar Stühle und eine kleine Kaffeebar dort aufstellen, damit die Leute sehen, daß Sie alles in Ihrer Macht Stehende tun.« »Das ist genau das Richtige für schaulustige Touristen, aber nicht für meine Klientel«, brummte Palmetto. »Die Gäste sind an Diskretion und Ruhe gewöhnt...« »Das habe ich bereits in Ihrer Werbebroschüre gelesen. Aber wieviel Ruhe werden Ihre Gäste noch haben, wenn es vor der Garage zu einer bewaffneten Auseinandersetzung kommt?« Palmetto war wütend auf Harriet: Die verdammte Zicke kostete ihn dreihundert Dollar in der Stunde. Und sie und ihre Schwester, diese Versagerin, hatten dafür gesorgt, daß das Hotel jetzt bis zum Hals in der Scheiße saß. Er würde jetzt nicht mehr alles machen, was sie empfahl. »Ich werde unseren Leuten Ihren Vorschlag unterbreiten. Mal sehen, was die davon halten.« Und dann knallte er den Hörer auf die Gabel. Harriet massierte sich die verspannten Schultern und stellte die Dokumente zusammen, die sie am Morgen für die Anhörung vor Gericht brauchen würde. Sie hatte keine Lust, mit Großvater lange
Diskussionen über Mara zu führen, also ließ sie sich Zeit, beschäftigte sich ausführlich mit Bundesgesetzen, erneuerte ihr Make-up und schlenderte dann gemächlich zum Aufzug. Sollte Gian Palmetto doch tun, was er wollte. Er machte ihr mehr Probleme als alle anderen Mandanten zusammen. Sollte sich doch die Olympus-Gruppe um die ganze Scheiße kümmern. Sie wäre froh, wenn sie sich darüber keine Gedanken mehr machen müßte. Doch lange, bevor Gian Palmetto eine Vorstandssitzung einberufen konnte, trafen Harriets düstere Vorhersagen ein. Gegen Mitternacht war die Wand belagert. 113
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Der Laufbursche des Großen Weißen Chefs
Den ganzen Tag über suchte Hector nach Starr. Als er seine Runde machte, glaubte er, sie aus den Augenwinkeln zu sehen, doch wenn er den Kopf drehte, war da nur eine Schwester mit einem Medikamentenwägelchen oder überhaupt niemand. Einmal verärgerte er Hanaper, weil er einfach das Bett eines Patienten verließ und den Flur hinunterlief, weil er überzeugt war, Starr soeben hinter der Tür gesehen zu haben. In der Kantine meinte er, sie an einem Tisch in einer Nische zu entdecken. Er bahnte sich einen Weg durch die Warteschlange, stieß einem der älteren Neurologen das Tablett aus der Hand und stolperte fast über ein kleines Mädchen. Den wütenden Rufen, die man ihm nachschickte, schenkte er keine Beachtung. Die Frau mit den schwarzen, hoch aufgetürmten Haaren war die Hausmeisterin. Er fühlte sich so verlassen, daß er sich in das Stationszimmer zurückzog und erst wieder herauskam, als sein Name ausgerufen wurde: Er solle in die Ambulanz kommen. Er hatte völlig vergessen, daß Mittwoch war und die Patienten wie üblich auf ihre Fünfzehnminutentherapie warteten. Hector war gerade mit dem letzten Patienten fertig, als Dr. Stonds ihn zu sich rief. Gretchen sagte es ihm, enttäuscht darüber, daß sie keine Therapiesitzung unterbrechen konnte. Insgeheim hegte sie die Hoffnung, daß der Neurochirurg Tammuz wegen seines unprofessionellen Verhaltens Montagnacht in der Notaufnahme zur Schnecke machen würde. Die Gerüchteküche im Krankenhaus war am Überkochen. Gretchen und Charmaine setzten die abenteuerlichste Version in Umlauf. Hector hatte in der Notaufnahme versucht, jemanden zu vergewaltigen, und Millie Regier zusammengeschlagen, als diese ihn daran hindern wollte. Ihrer Meinung nach würde 113 Millie gerichtlich gegen ihn vorgehen; er konnte sich glücklich schätzen, wenn er seine Approbation nicht verlor. Gretchen und Charmaine sahen ihm erwartungsvoll und schadenfroh nach, als er aus der Ambulanz hastete. Hector meinte, Stonds wolle ihn sprechen, weil sie Starr gefunden hatten. Er verschwendete keinen Gedanken darauf, warum Stonds sich die Mühe machen sollte, ihm das mitzuteilen, hatte aber solche Angst vor Hanaper - Hanaper mit seinem lüsternen Mund -, daß er den ganzen Weg zu dem Flügel, in dem der Neurochirurg residierte, rannte. »Ja, Sir«, keuchte er. »Ist sie hier?« Dr. Stonds war viel zu egozentrisch, um Hectors Eifer merkwürdig zu finden. Der Chirurg war es gewohnt, daß andere Leute seine Angelegenheiten wichtiger fanden als ihre eigenen. »Nein, Tammuz. Sie ist unten bei der verdammten Garage, die sie jetzt offenbar als ihr Zuhause betrachtet. Sie stellt eine Bedrohung dar, für sich selbst, vielleicht auch für andere, und ich möchte, daß Sie sie zu einer gründlichen Untersuchung hierher bringen.« »Ja, Sir, natürlich. Was hat sie angestellt? Sie hat doch keine Waffe, oder?« Stonds spielte nervös mit seinem Schreibset herum. »Nicht, daß ich wüßte. Aber sie ist ziemlich kräftig; fast hätte sie meine Haushälterin umgebracht.« Hector kniff kurz die Augen zusammen bei dem Gedanken daran, daß Starr in Stonds' Haus gewesen war. Warum war er vergangene Nacht nicht auf die Idee gekommen, dort nach ihr zu suchen? Wie war sie wohl mit der frostigen Enkelin zurechtgekommen? Und dann der geheime ergötzliche Gedanke: Sie war stark, sie würde sich wehren, er würde sie in die Arme nehmen müssen, um sie zu überwältigen. Er wandte sich zum Gehen. »Weiß Dr. Hanaper, daß wir sie holen wollen, Sir? Wird er die Einweisung billigen?« »Ich möchte mal wissen, was Sie im Kopf haben, junger
¿114 Mann. Ich brauche doch nicht Hanapers Erlaubnis, wenn ich meine eigene Enkelin ins Krankenhaus bringen lasse.« »Ihre Enkelin?« stotterte Hector. »Dr. Tammuz, Dr. Hanaper hat sich bei mir über Sie beschwert, und deswegen habe ich bereits mit Ihnen gesprochen. Wenn Sie sich nicht auf das Wohlergehen der Menschen konzentrieren können, die Ihrer Obhut übergeben werden, und wenn Sie den Anweisungen Ihrer Vorgesetzten nicht Folge leisten, müssen wir Ihre Beschäftigung in diesem Krankenhaus überdenken. Meine Enkelin Mara. Für wen sonst, meinen Sie, würde ich mich so einsetzen?« »Für Starr«, preßte Hector hervor. »Und natürlich für Luisa. Das sind die beiden Patientinnen, die aus dem Krankenhaus verschwunden sind und die ich gestern suchen sollte.« »Wir sind nicht das County Hospital, Tammuz. Ich weiß, daß Sie die Obdachlosen für die Lenore Foundation in der Kirche betreuen, aber Sie müssen Ihre dortige Tätigkeit streng von der hiesigen trennen. Doch jetzt machen Sie sich besser auf den Weg.« Hector stolperte aus dem Zimmer, ein wenig benommen, wie immer nach seinen Gesprächen mit Stonds, als seien die Wellen des Meeres über ihm zusammengeschlagen. Seine Gedanken gingen wild durcheinander: Werden sie mich feuern... verdammtes egoistisches Monster... was hat Mara mit der Haushälterin angestellt... vielleicht ist Starr auch an der Wand? Er ging die etwas mehr als zwei Kilometer zu Fuß; die Knie zitterten ihm vor Begierde. Doch Starr war nicht dort. Die einzige, die er entdecken konnte, war Mara Stonds, die auf der Bordsteinkante saß. Ihr Schild hatte sie mit der Schrift nach unten auf die Straße gelegt. In der Hand hatte sie einen angebissenen Apfel, den Nicolo, der freundliche Mann von der Garage, ihr gebracht hatte, nachdem Brian Cassidy ins Krankenhaus eingeliefert worden war: Er wird Sie nicht mehr belästigen; er ist sehr, sehr krank, er kann nicht... richtig atmen. Mara hatte wegen ihres abgebrochenen Zahns Schwierigkei 114 ten, den Apfel zu essen. Außerdem war sie zu apathisch, um Hunger zu haben. Ihre Wut war verflogen, sie war nur noch hundemüde. Sie konnte nicht nach Hause; diese Geschichte würde Harriet ihr nie verzeihen. Welcher Teufel hatte sie nur geritten, daß sie ihre Schwester vor den ganzen Journalisten beschuldigte? Sie hätte gern den angewiderten Ausdruck von Harriets Gesicht gewischt, aber nun würde diese sie ihr Leben lang unerbittlich bekämpfen. Solange Brian Cassidy sie beschimpft hatte, war sie in der Lage gewesen, wütend zu bleiben, aber er war nicht mehr hier, seit die Kamerateams ihn in das Gebäude gescheucht hatten. Da hatte Mara noch gekichert, weil die Affenarme ihm gegen die Kameras nichts nützten, aber nach seinem Verschwinden und den aufregenden Gesprächen mit den Reportern war sie in eine so schlimme Apathie verfallen, daß sie nicht einmal mehr die Kraft hatte aufzustehen. Hector setzte sich neben sie auf die Bordsteinkante. Sie sah ihn teilnahmslos an, als er leise ihren Namen sagte. Sie erinnerte sich trotz ihres kurzen Zusammentreffens im Krankenhaus in der vergangenen Woche nicht mehr an ihn und hielt ihn für einen Hotelangestellten, der sie überreden wollte zu gehen. Am Nachmittag hatte sie schon mit einigen Angestellten gesprochen, darunter auch mit einer alten Freundin vom Veranstaltungsbüro, die gerne mit ihr getrunken hatte. »Ich bin Dr. Tammuz, Ms. Stonds; wir haben letzte Woche im Krankenhaus kurz miteinander gesprochen. Ihr Großvater sagt, Sie fühlen sich nicht wohl.« »Woher will er das wissen? Schließlich hat er mich seit über einer Woche nicht mehr gesehen.« Ihr Elend ließ ihn vorübergehend seine Sehnsucht nach Starr vergessen. »Er sagt, Sie seien ziemlich aus der Fassung geraten und hätten seine Haushälterin verletzt. Wollen Sie mir davon erzählen?« Sie sah ihn mißtrauisch an. »Sind Sie hier, um mich in die geschlossene Abteilung zu bringen, oder wollen Sie wirklich wissen, was mit Mrs. Ephers passiert ist?« 114 »Niemand hat etwas von der geschlossenen Abteilung gesagt, Ms. Stonds. Ihr Großvater möchte nur, daß ich Sie ins Krankenhaus mitnehme, wo wir feststellen können, ob es ein Problem gibt, bei dessen Lösung wir Ihnen behilflich sein können.« »Er will mich einsperren, lügen Sie mich nicht an. Ich hasse Lügner mehr als alles andere auf der Welt.« »Er sagt, Sie hätten versucht, seine Haushälterin umzubringen. Ist das auch eine Lüge?« »Sie hatte eine Herzattacke«, brüllte Mara ihn an und sprang auf. »Sie hatte eine Herzattacke, weil sie wütend auf mich war. Ich hatte ein paar alte Dokumente gefunden. Sie ist so etwas wie die
Vertraute von Großvater und hütet bei uns zu Hause seine Geheimnisse. Alle Menschen außer mir katzbuckeln vor ihm, also erzählen Sie mir nicht, daß Sie nicht auf seine Anweisung hier sind. >Ach, gehen wir doch ins Krankenhaus, damit wir uns besser unterhalten können< -, klar, und wenn ich dumm genug bin, Ihnen zu glauben, spritzt er mir irgendeine Scheiße und klopft Ihnen anerkennend auf den Rücken. Lassen Sie mich in Ruhe, Doktor. So dumm bin ich nicht.« Sie nahm den Plastiksack mit ihren Habseligkeiten und ging, bevor er ihr eine Frage zu Starr stellen konnte. Er blieb auf der Bordsteinkante sitzen, zu müde, um ihr nachzulaufen. Das wollte er auch nicht. Er hatte Mitleid mit ihr. Stonds war ein schwieriger Chef, aber wenn man sich vorstellte, mit ihm zusammenleben zu müssen... Hector konnte es Mara nicht verdenken, daß sie von zu Hause weggelaufen war. Er hatte nicht die Kraft, sich Dr. Stonds mit seinem Seehundbellen an diesem Abend noch einmal zu stellen: Was ist denn los mit Ihnen, junger Mann? Ich gebe Ihnen einen simplen Auftrag, jeder Idiot könnte meine Enkelin ins Krankenhaus bringen, aber Sie sind ja noch dümmer als ein Idiot. Vielleicht würde Stonds Hanaper sagen, er solle Hector feuern, weil er Mara nicht mitgebracht hatte. Doch der Gedanke jagte ihm keine Angst ein. Zumindest könnte er dann so lange schlafen, wie er wollte. 115
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Noch einmal in den Kampf, Freunde
Patsy Wanachs wurde am frühen Abend klar, daß sie diesen Mittwoch alle Hände voll zu tun
haben würde. An den meisten Abenden wurde Hagar's House erst um halb acht geöffnet, um sicherzugehen, daß alle Jugendgruppen gegangen waren, wenn die obdachlosen Frauen die Räume betraten. Natürlich hatten die Frauen einen separaten Eingang, und natürlich befand sich die Unterkunft im Keller, aber die besorgten Eltern bestanden darauf, daß die Kinder nicht in die Nähe der obdachlosen Frauen gerieten. Am Mittwoch öffnete die Unterkunft wegen der Bibelstunde eine halbe Stunde früher als sonst. Die Frauen warteten bereits ab sechs vor dem Eingang und stritten sich um die besten Plätze, bevor alle Betten weg waren. An jenem Abend waren Jacqui und Nanette als erste da. Nachdem noch einige andere Frauen dazugekommen waren, erzählten die beiden die Geschichte von Madeleines Tod. Ein paar Frauen hatten Mara in den Nachrichten gesehen. Stimmt es, daß der Mann von der Garage Maddy bedroht hat? fragte Nicole. Ja, es stimmt, sagte Nanette. Und das bloß, weil sie da unten eine Erscheinung hatte. Die arme Maddy und ihre Stimmen, fügte Jacqui hinzu. Aber war es wirklich das Blut der Jungfrau? wollte LaBelle wissen. Hat es Wunder gewirkt? Nein, nein, das hat Maddy sich alles nur eingebildet, sagte Jacqui - wenn die Wand tatsächlich die Fähigkeit besäße, Wunder zu wirken, wäre Maddy jetzt noch am Leben und gesund. Aber hat denn schon jemand wirklich um etwas gebeten, sich etwas gewünscht? fragte LaBelle weiter. Vielleicht hatte Maddy das nie ausprobiert. LaBelle war der Meinung, daß sie die Wand prüfen sollten, nein, nicht sofort, schließlich wollte 115 sie ihren Platz in der Warteschlange nicht aufgeben; sie war den ganzen Tag auf den Beinen gewesen. Aber morgen. Und worum würde sie bitten? fragte Nicole spöttisch. Vielleicht um ein Haus mit hundert Betten und Essen, soviel man wollte? Und um eine Fußpflegerin und ein paar Kleider? Um solche Sachen bittet man die Jungfrau nicht, sagte LaBelle. Sie heilt die wunden Seelen; mit Häusern und Kleidern hat sie nichts am Hut. Ach, was weißt du denn schon? schnaubte Caroline verächtlich. Du bist doch nie 'ne Jungfrau gewesen, was übrigens beinahe stimmte, denn LaBelle war bereits im Alter von sechs Jahren von einem Onkel vergewaltigt worden, und als sie dreizehn war, verkuppelte ihre Mutter sie zwei- bis dreimal die Woche für Drogen. Bevor die beiden sich ernsthaft streiten konnten, öffnete Patsy Wanachs die Tür. LaBelle fragte sie, ob sie die Nachrichten und die junge Frau gesehen habe, die behauptete, das Hotel habe Maddy umgebracht. Patsy schnaubte verächtlich. »Mara Stonds ist ein Störenfried, und das wird sie immer bleiben. Der würde ich nicht mal glauben, wenn sie mir erzählt, daß die Kirche hier in der Orleans Street ist.« »Aber sie ist doch in der Orleans Street«, sagte LaBelle mit gerunzelter Stirn.
»Genau das meint sie ja, aber ich halte Mara nicht für einen Störenfried - sie hat nur Probleme«, sagte Jacqui, wahrscheinlich die einzige, die Mara jemals als klein, verletzlich und jung gesehen hatte und begriff, daß sie Angst hatte wie alle anderen hier. »Sie hat Probleme, aber sie war mutig genug, sich gegen den Mann von der Garage zu behaupten. Denn der ist bösartig und außerdem ziemlich kräftig.« Patsy betrachtete Jacqui mit einem Stirnrunzeln, als sie die Frauen zum Kellereingang scheuchte. »Maras Großvater, der seit ihrer Geburt für sie sorgt, hat immer nur Kummer mit ihr gehabt. Er will sie medizinisch behandeln lassen, aber sie läuft auf der Straße herum, weil sie so krank ist, daß sie nicht weiß, 116 was gut für sie ist. Wenn ihr sie irgendwo seht, solltet ihr sie davon überzeugen, daß sie ins Krankenhaus muß.« Die Frauen schwiegen. Der Gedanke, daß jemand freiwillig medizinische Hilfe anbot - das klang zunächst einmal gut, aber bei genauerem Hinsehen verbargen sich hinter dem warmen Essen und den Krankenhausbetten Injektionen und Einkerkerung, immer umgeben von den Verdammten. Patsy Wanachs hatte Mara nicht nur in den Nachrichten gesehen, sondern auch einen Anruf von Dr. Stonds erhalten: Wenn Mara bei Ihnen auftauchen sollte - was ich mir bei ihrer Neigung zu Übertreibung und Selbststilisierung durchaus vorstellen könnte -, lassen Sie es mich bitte wissen. Doch als Mara tatsächlich auftauchte, erkannte Patsy sie nicht. Sie hielt Ausschau nach ihrer wilden Mähne, nicht nach einer kahlköpfigen jungen Frau mit einem abgebrochenen Schneidezahn. Als Mara vor Hector flüchtete, schaffte sie gerade eineinhalb Häuserblocks, bevor sie um Atem ringend stehenbleiben mußte. Eine Woche schlechte Ernährung und Schlafmangel hatten die Muskeln geschwächt, die sie früher so leichtfüßig über Basketball- und Tennisplätze getragen hatten. Und der Müllsack, der immer wieder gegen ihre Seite schlug, behinderte sie zusätzlich. Sie stellte sich in den Lieferanteneingang eines Gebäudes an der Rückseite des Hotel Pleiades, doch als sie merkte, daß weder der Doktor noch die Polizei sie verfolgten, machte sie sich auf den Weg zu Hagar's House. Wenn sie rechtzeitig dort war und ein Bett für die Nacht ergatterte, war sie vielleicht in der Lage, sich am nächsten Morgen einen Plan zurechtzulegen. Dr. Tammuz behauptete, Großvater spreche nicht von der geschlossenen Abteilung, aber das glaubte sie ihm nicht. Wahrscheinlich hatte Großvater dem Assistenzarzt gesagt, er solle ihr irgend etwas erzählen, damit sie mit ihm ins Krankenhaus ginge, und dort würde er ihr dann eine Zwangsjacke anlegen und ihr irgendwas spritzen. Das hieß, sie mußte sich verkleiden, nicht nur auf der Straße, sondern auch in Hagar's House. Sie holte den Strumpf aus dem Beutel, zog ihn über den Kopf und betrachtete stirnrunzelnd 116 ihr Gesicht in einem Schaufenster. Wenn Patsy Wanachs auf die Idee kam, sich die Frauen genauer anzuschauen, riß sie ihr möglicherweise den Strumpf vom Kopf und erklärte ihr, sie solle mit ihren Spielchen aufhören. Und dann würde sie in ihrem gerechten Zorn Großvater anrufen. Mara schlenderte die Grand Avenue entlang und kickte kleine Asphaltbröckchen vor sich her. Ecke Wells Street kam sie an einem schmuddeligen Friseur vorbei. Vielleicht brachte ihr schmerzender Zahn sie auf die Idee, sich den Schädel kahl rasieren zu lassen. Jedenfalls fand der alte Schwarze, der allein in dem Laden war, ihren Wunsch nicht ungewöhnlich. Allerdings bestand er auf Vorauskasse. Sieben Dollar fünfzig. Das war ungefähr so viel, wie sie dem Friseur, der ihr die Haare jeden Donnerstagmorgen gestylt hatte, als Trinkgeld gab. Als sie sich dann im Spiegel sah, war sie schockiert. Sie sah aus wie ein Junge, und ihr Kopf fühlte sich kalt und ungeschützt an, obwohl es so schwül war. Patsy Wanachs, die bei der Anmeldung nur einen flüchtigen Blick auf Maras Gesicht warf, erkannte sie nicht, doch Cynthia Lowrie tat es. Cynthia teilte gerade im Gemeinschaftsraum Bibeln aus, als Mara hereinkam. Cynthia ließ die Bibeln fallen und hielt sich vor Schreck die Hand vor den Mund, bis Rafe sie fragte, ob sie jetzt auch noch das letzte bißchen Verstand verloren habe, das ihr der Herrgott mitgegeben hatte. Caroline und Ashley stellten die Klappstühle in einem großen Halbkreis auf - sie bekamen eine Extrakleiderzuweisung dafür, daß sie mithalfen -, während Cynthia weiter Bibeln austeilte. Cynthia versuchte die Frauen auf die Stühle zu scheuchen, aber sie waren noch ziemlich durcheinander wegen der Sache mit Madeleine und dem Hotel und setzten sich erst, als Rafe, der sich zuvor leise
mit Patsy Wanachs unterhalten hatte, sie anbrüllte. Sie waren es gewohnt, ihm zu gehorchen, und taten es auch diesmal, obwohl viele von ihnen ihre Gespräche nur widerwillig beendeten. Cynthia setzte sich auf den Stuhl neben Mara. Sie hatte Angst, etwas zu ihr zu sagen, weil Rafe das vielleicht bemerkte, 117 starrte aber immer wieder den kahlen Schädel ihrer Freundin an. Als sie Mara in den Sechsuhrnachrichten gesehen hatte, waren ihre Haare noch widerspenstig wie eh und je gewesen. »Wir beginnen mit einem Gebet. Cynthia, wirst du jetzt wohl aufhören, vor dich hinzuträumen, und zusammen mit uns Jesus bitten, daß er uns das Leben und seine Probleme verstehen hilft?... Herr, öffne unsere Herzen für Deinen Willen und Dein heiliges Wort. Vielleicht begreifen wir Deine Absichten nicht immer, aber wir wissen, daß Du aus Güte handelst und wie ein liebevoller Vater auf Deine Kinder aufpaßt.« An dieser Stelle trat Mara Cynthia auf den Fuß, aber Cynthia weigerte sich zu reagieren. Sie warf lediglich einen nervösen Blick auf Rafe. »Wir wissen, daß einige unserer Schwestern erschüttert sind über den Tod von einer aus unserer Mitte. Schwester Natalie war traurig, verwirrt im Geiste, und es war Dein Wille, ihren Geist umwölkt zu halten, aber...« »Madeleine«, sagte Mara, die spürte, wie die Wut wieder in ihr aufstieg. »Ihr Name war Madeleine. Und es kann nicht Gottes Wille sein, daß jemand so unglücklich ist wie sie.« Cynthia ergriff Maras Hand: Mach ihn nicht wütend, bettelten ihre Finger, er läßt es nur wieder an mir aus. »Wenn Sie etwas sagen wollen, junge Frau, dann warten Sie gefälligst, bis ich mit dem Gebet fertig bin. Ich nehme an, eine von unseren Helferinnen hat sich vergewissert, daß Sie überhaupt eine Frau sind?« »Ich bin allerdings eine Frau«, sagte Mara, »aber haben Sie sich auch schon mal Gedanken darüber gemacht, welcher Spezies Sie angehören? Sind Sie tatsächlich ein Mensch? Oder würden wir einen Außerirdischen finden, wenn wir Sie ausziehen? Sie haben für eine Frau gebetet, die auf schreckliche Weise ums Leben gekommen ist, aber Sie haben sich nicht einmal ihren Namen merken können. Sie hieß Madeleine, nicht Natalie, und wenn es Gottes Wille war, daß sie obdachlos war und Stimmen hörte, tja, dann ist er ein ziemlich armseliger Gott.« 117 »Wie können Sie es wagen?« Rafe sprang auf, die rauhe Stimme zornig. »Die Regeln für diese Bibelstunde sind unmißverständlich: Man darf nicht stören. Wenn Sie noch einmal den Mund aufmachen, ohne aufgefordert worden zu sein, lasse ich Sie aus der Unterkunft entfernen.« Jacqui gesellte sich zu Mara. »Mädchen, halt den Mund. Maddy hat jetzt ihren Frieden, und ihr wäre es nicht recht, wenn du dein Bett hier aufgibst, nur weil Bruder Rafe ihren Namen verwechselt hat. Wo immer sie auch sein mag: Sie ist stolz darauf, daß du sie verteidigt hast, aber laß es dabei bewenden, ja?« Rafe atmete ein paar Sekunden lang schwer, doch als er sah, daß Mara sich seinem Willen gebeugt hatte, setzte er sich wieder und wandte sich erneut seinem Gebet zu. Die heutige Bibelpassage stammte aus dem ersten Buch der Könige, wo der Prophet Elija den Sohn der Witwe von den Toten erweckte, dann aber erschrocken vor den Drohungen Isebels floh. »Und warum gibt es heutzutage keine Propheten mehr wie Elija, die die Toten zum Leben erwecken können?« fragte LaBelle, die an Madeleine dachte und an ihren Vater, der starb, als sie zwei war und sie allein bei ihrer Mutter und ihrem Onkel zurückließ: Wenn Jesus die Toten zum Leben erwecken konnte, warum ließ er ihren Vater dann sterben, obwohl er wußte, was ihr bevorstand? »Wir werden am Tag des Jüngsten Gerichts alle von den Toten erweckt«, antwortete Rafe. »Und die Offenbarung endet mit der Wiederauferstehung: Wir brauchen keine neuen Propheten - wir brauchen nur dem in Jesus Fleisch gewordenen Wort Gottes Folge zu leisten.« »Dann werden wir also quietschfidel, wenn wir sterben, stimmt's?« fragte Mara. »Junge Frau, vielleicht finden Sie das witzig, aber die Blasphemie ist eine Sünde wider den Heiligen Geist, die einzige Sünde, die nicht vergeben werden darf.« »Aber was ist, wenn Maddy eine Prophetin war?« fragte LaBelle weiter. »Was ist, wenn sie eine Prophetin der Mutter 117
gottes war? Die Frauen haben nie solche Prophetinnen gehabt, vielleicht spricht die Muttergottes jetzt zu uns, genau wie Maddy dachte, durch den Riß in der Wand. Wissen Sie, das wäre wie im richtigen Leben, da sprechen die Frauen auch durch Risse und Spalten.« »Hör auf damit, LaBelle«, sagte Jacqui barsch. »Bruder Rafe hat recht: Sie hat jetzt ihren Frieden. Laß sie in Frieden ruhen.« »Und fangen Sie nicht an, in der Kirche über Prophetinnen zu sprechen«, sagte Rafe. »Das kommt der Hexerei gefährlich nahe. Genauso übrigens wie die Andeutung, daß Blut aus einer Wand kommt. Die letzten zwei Tage waren die Nachrichten voll davon. Da unten war ein rostiges Rohr, und Natalie war eine labile Frau, die den Unterschied zwischen Rost und Blut nicht erkannt hat.« »Ihr Name war Madeleine. Hören Sie eigentlich nie zu, wenn eine Frau Ihnen etwas sagt?« fauchte Mara ihn an. »Und waren Sie vielleicht da unten an dem Riß und haben ihn sich selbst angeschaut?« fragte LaBelle. »Glauben Sie, weil Sie viel Geld haben und wir nicht, spricht Gott zu Ihnen, aber nicht zu uns? Das steht nicht in der Heiligen Schrift; in der Heiligen Schrift steht, es ist leichter für ein Kamel, durch ein Nadelöhr zu kommen, als für einen reichen Mann in den Himmel.« »Glauben Sie denn, wir machen uns etwas aus dem, was Sie zu sagen haben?« fügte Nicole hinzu. »Sie wissen so gut wie ich, daß wir nur in der Bibelstunde sind, weil wir sonst am Mittwoch kein Bett kriegen.« »Was weiß er schon über die Heilige Schrift, was wir nicht selber rauskriegen könnten?« mischte sich Caroline ein. »Ach, warum reden wir die ganze Zeit über Madeleine?« rief Ashley. »Niemand will das wahrhaben - sie war verrückt. Laßt uns die Bibelstunde zu Ende bringen und ins Bett gehen.« Als Nanette aufsprang, um sich mit Ashley zu streiten, brach in dem Raum das Chaos aus. Maddy ist ermordet worden, sagte sie, vom Hotel. LaBelle und Caroline stritten sich weiter darüber, ob Maddys Wand Wunder wirkte oder nicht, während andere dachten, 118 es ginge um eine Abstimmung darüber, ob sie die Bibelstunde überhaupt wollten. Ashley sagte, sie wolle mit dem Text weitermachen, damit sie bald ins Bett kämen. Zwei Frauen, die völlig erschöpft waren von den Wanderungen des Tages, schliefen ohnehin schon. Rafe Lowrie wurde fuchsteufelswild. Er sprang wieder auf und brüllte lauthals, aber die Stimme, mit der er die Warentermingeschäfte im Griff hatte, zeigte bei diesen Frauen keine Wirkung. Die meisten waren ebenfalls aufgesprungen, und all die Demütigungen, die sie auf der Straße hatten erdulden müssen, kamen nun in der Wut über Madeleines Tod zum Ausbruch. Cynthia war so bleich, daß ein Pickel auf ihrer Stirn rot leuchtete. Mara wußte, daß Rafe, sobald er mit ihr allein war, seine Wut an ihr auslassen würde. Plötzlich kletterte sie, überwältigt von dem Gedanken, daß sie Cynthia beschützen mußte, auf ihren wackeligen Metallstuhl. Zwei Frauen sahen sie an, aber die anderen stritten weiter. Patsy Wanachs kam, angelockt von dem Lärm, in den Raum. Sie nahm das Polizeipfeifchen, das sie um den Hals hängen hatte, in den Mund und blies hinein. Der langgezogene, schrille Ton ließ vorübergehend Stille einkehren. Und in diese relative Stille hinein rief Mara: »Die Wand kann tatsächlich Wunder wirken. Dienstagnacht hat Madeleine dem Garagenmann den Aussatz an den Hals gewünscht, das habe ich selbst gehört. Und heute nachmittag haben sie ihn ins Krankenhaus eingeliefert. Einer von den Leuten da unten hat mir erzählt, daß er am ganzen Körper Ekzeme hat und kaum noch atmen kann, weil sie auch in seiner Lunge sind.« »Es funktioniert!« rief LaBelle mit glänzenden Augen. »Gelobt sei Jesus! Gelobt sei Maria! Ich gehe zu der Wand. Vielleicht wird sie mich heilen oder dafür sorgen, daß mir die Knie nicht mehr weh tun. Nicole, du hast doch Probleme mit dem Unterleib. Laß uns sehen, was sie tun kann.« Mara nahm Cynthias Hand und zerrte sie mitten hinein ins Getümmel. 2 118
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Die Klagemauer
Ich suche in den Straßen unter der Michigan Avenue nach Starr und sogar in Lehmtunneln, die
tief in die Erde gegraben sind. Die Dunkelheit ist so dicht, daß es auf der Welt kein Licht mehr zu geben scheint, aber ich finde mich zurecht, ohne herumzutasten, als bestimme das Blut in meinen Adern meinen Weg.
Plötzlich taucht vor mir die Wand des Hotels auf, und Starr ist da, am anderen Ende des Gerüsts; die Diva an ihrer Seite ist wie die Katze einer Hexe. Starr fordert mich auf, zu ihr zu kommen, nicht durch ein Wort oder eine Geste, sondern durch etwas in ihrem Blick, was ich sogar in der Dunkelheit erkenne. Und ich gehe auf sie zu, vorbei an den Leuten zwischen uns, den singenden obdachlosen Frauen, den Vorortbewohnern auf der Suche nach einem Wunder - sie alle sind nur Schatten, die weder hören noch sehen. Das tatsächliche Wunder, jene süße Innerlichkeit, umfängt mich wie die Erde selbst, die unterirdischen Tunnel, die mich bedecken, aber nicht ersticken, zu Hause, ich bin zu Hause, ich bin... Er erwachte mit diesen Worten auf den Lippen. Er lag in seinem eigenen Bett, es war drei Uhr morgens, und er weinte vor Verzweiflung, weil der Traum sich verflüchtigt hatte. Er war mit ihr zusammen gewesen, in ihr, wie konnte er da allein in seinem Bett liegen? Er konnte sich nicht daran erinnern, das Hotel verlassen zu haben und in seine Wohnung zurückgekehrt zu sein. Er war noch lange, nachdem Mara Stonds vor ihm davongelaufen war, vor der Garage sitzen geblieben, lange nachdem die erste Wundersucherin erschienen war, angezogen, genau 2 119 wie Harriet es befürchtet hatte, von dem Bericht im Fernsehen. Saß auf der Bordsteinkante, zu müde, um mich zu rühren, und erwartete, daß sich der affenartige Mr. Cassidy mit seinem Feuerwehrschlauch auf mich stürzen würde. Immer mal wieder kam einer von den anderen Männern heraus, die in der Garage arbeiteten. Sie kannten mich noch von meinen früheren Besuchen: War ich nicht der Arzt, der sich um die arme loca ingenua gekümmert hatte? Es war eine Schande, wirklich eine Schande, was mit ihr passiert war. Aber der Chef war krank. Vielleicht hatte ihn Gott bestraft für seine Grausamkeit gegenüber der ingenua} Mir war bisher nicht bewußt gewesen, daß Gott sich höchstpersönlich um die Obdachlosen und psychisch Kranken kümmert, aber vielleicht war Madeleine ja in den Augen Gottes wegen ihrer Marienverehrung etwas Besonderes gewesen. Erst später habe ich herausgefunden, daß man Brian Cassidy wegen eines schweren Asthmaanfalls und einer Nesselsucht ins Midwest Hospital gebracht hatte. Er leidet schon seit Jahren unter Asthma und Allergien, und die Aufregung, vielleicht auch die Angst, hat diesen Anfall ausgelöst - solche Dinge passieren oft, auch ohne Gottes Zutun. Der Mann von der Garage huschte davon, um sich um einen Wagen zu kümmern, der an der Einfahrt gehalten hatte. Es war eine Touristin, die von dem Fernsehbericht über Madeleines Wand angezogen worden war. Die Frau war groß und schlank, etwas über vierzig, trug eine Jeans und ein T-Shirt mit dem Aufdruck »Notre Dame«, und ihre Augen traten aufgrund einer Schilddrüsenüberfunktion ein bißchen hervor. Weil ich auf der Bordsteinkante saß, nahm sie an, daß ich Genaueres über diesen wundersamen Riß wüßte. Ich gab mir alle Mühe, so zu tun, als wüßte ich nichts, aber der Mann von der Garage sagte, ja, ja, der Mann ist Arzt; er hat sich um die arme tote Frau gekümmert. 119 Daraufhin erklärte mir die Frau, sie werde von der blauen Aura der Jungfrau Maria beschützt: »Mein Mann wollte nicht, daß ich herkomme. Wissen Sie, wir wohnen draußen in Downers Grove, da gibt's eigentlich keine Schwarzen (sie beäugte meine semitischen Gesichtszüge in dem trüben Licht, um sicherzugehen, daß sie keinen Fauxpas begangen hatte), aber ich habe ihm gesagt, die blaue Aura schützt mich. Wenn die Wand hier echt ist, komme ich morgen mit meinem Gebetskreis her, und wir werden gemeinsam den Rosenkranz beten. Aber warum steht denn das Gerüst da? Wie konnten Sie es nur zulassen, daß jemand etwas absperrt, was möglicherweise ein heiliger Ort ist?« Sie versuchte, sich an den Dornen vorbeizudrücken, verfing sich mit dem T-Shirt daran, schaffte es aber, die Wand zu berühren. Der Mann von der Garage erklärte ihr, hilfsbereit, wie er nun mal ist, daß die arme ingenua immer ein Stück weiter unten saß, und er zeigte der Frau eine Stelle, die sich ungefähr drei Meter weiter weg von der Garage befand: »Hab' ich nicht recht, senor medico}« Vielleicht war das tatsächlich die Stelle, an der Madeleine immer saß - ich weiß es nicht mehr. Hector brachte nicht die Energie auf, sich von der Bordsteinkante zu erheben. Als die Nacht hereinbrach, kamen immer mehr Wundersucher vorbei, um sich die Wand anzusehen. Die Frau, die von der blauen Aura der Jungfrau Maria beschützt zu werden glaubte, blieb fast den ganzen Abend und führte die Neuankömmlinge zu dem Riß, den Nicolo ihr gezeigt hatte. Sie vergaß auch nicht, auf Hector zu deuten. Er war ihr Arzt, er weiß mehr, als er sagt.
Das, was Hector nicht sagen konnte und sich selbst auch nicht eingestehen wollte, versteckt ganz unten in seiner Psyche, war der Grund, warum er einfach sitzen blieb: Wenn er lange genug dasaß, würde vielleicht Starr wieder auftauchen wie schon vor... war das erst zwei Nächte her? Er wurde so 120 von seinen emotionalen Stürmen geschüttelt, daß jede Stunde für ihn so lang wie viele Tage wurde. So gegen neun hat Nicolo mir einen Teller mit Bohnen und Reis gebracht. Als ich gerade in dem Essen herumstocherte, traf ein ganzer Schwärm Frauen zu Fuß ein. Ich wollte mich schon in die Schatten verdrücken - noch eine weitere Gruppe von Wundersuchern würde ich nicht mehr verkraften -, als Jacqui sich aus dem Schwärm löste und mich umarmte. »Doktor! Ich hab's doch gewußt, daß Sie ein echter Freund von Maddy waren. Es sieht Ihnen ähnlich, daß Sie hier eine Mahnwache halten.« Tja, es sah mir überhaupt nicht ähnlich. Ich war ganz wund vor Sehnsucht, so wund, daß mir sogar die Umarmung einer übergewichtigen Obdachlosen mittleren Alters vorkam wie ein Freundschaftsbeweis. Ungefähr fünfzehn oder zwanzig Frauen von Hagar's House hatten plötzlich behauptet, vom Geist erfüllt zu sein, und waren zu der Wand aufgebrochen. Jacquis Freundin Nanette war da und Mara Stonds - Jacqui zeigte sie mir. Ich hätte sie nicht erkannt, denn sie hatte sich irgendwann in den vergangenen drei Stunden den Kopf kahlgeschoren. Und sie wurde von der völlig verängstigten Tochter von Rafe Lowrie begleitet, die ich vor zwei Wochen kennengelernt hatte, als sie die Bibeln in seiner Gebetsstunde austeilte. Die Frauen wußten nicht so recht, warum sie gekommen waren - vielleicht war es Wut oder auch Angst nach Madeleines Selbstmord gewesen: Sie hatten hierherkommen müssen; sie wollten sie nicht vergessen, denn wenn sie es taten, fielen auch sie der Vergessenheit anheim. Die Frauen begannen sich widersprechende Forderungen zu intonieren: mehr Betten für die Obdachlosen; verhaftet die Mörder von Madeleine Carter; laßt uns zu der Wand der Jung 2 120 frau. LaBelle war so von dem Wunsch beseelt, die rettende Kraft der Jungfrau zu spüren, daß sie anfing, an den Dornen zu zerren, um sie herauszureißen. Nicolo unterstützte sie begeistert. »Was macht's schon, wenn wir dieses kleine Stück hier wegmachen, das der ingenua gehört?« Er verschwand in der Garage und kehrte bereits nach wenigen Minuten mit einer Rohrzange zurück. Damit löste er ein paar von den Dornen, damit die Frauen eine nach der anderen zu der Wand gehen und gebückt den blutenden Riß berühren konnten. Immer wieder trafen Schaulustige ein; es herrschte eine fast schon festliche Stimmung des Widerstands. Nach einer gewissen Zeit lockte das Getümmel jemanden vom Hotel herunter. Vielleicht hatte sich auch einer der Gäste beschwert. Schließlich war nicht jeder von der Szenerie begeistert. Ein Mann mit Quadratschädel und Anzug rief wütend nach Nicolo. Ich zahle für die Garage und nicht für ein verdammtes Volksfest. Nicolos Verhalten änderte sich sofort: Er zog sich zurück, berührte beinahe devot seine Stirn und sagte, tut mir leid, Sir. So gegen zehn tauchte eine Delegation von der Hotelleitung mit der Polizei auf; vorher war ein Streifenwagen schon ein paarmal vorbeigefahren, ohne zu halten. Jetzt waren plötzlich sechs oder sieben Wagen da. Die Polizisten wandten sich an mich, als wüßte ich etwas. Aber ich sagte ihnen nur, die Frauen beteten für eine tote Freundin, eine Frau, die hier Selbstmord begangen habe. Ein Vertreter des Hotels forderte die Verhaftung der Frauen. Wenn es nur um die Obdachlosen gegangen wäre, hätten sie es vielleicht sogar gemacht, aber offenbar hatte die Schilddrüsenfrau, die von der blauen Aura der Jungfrau Maria beschützt wurde, irgendwelche wichtigen Kontakte vielleicht ist ihr Bruder Bischof, oder sie hat ¿120 der Holy Name Cathedral einen Batzen Geld gespendet -, so daß die Polizisten einfach herumstanden und zusahen. So gegen zehn weckten die Lichter und der Lärm die Vögel auf, die zu singen anfingen, weil sie meinten, es sei bereits Tag. Die Spatzen kamen im Sturzflug auf das Gerüst herunter, ließen sich dort nieder und zwitscherten so laut, daß sie alles andere übertönten. Als Hector den Blick zu den Balken hob, auf denen überall Vögel saßen, entdeckte er Starr am Rand der Wand. Seine Augen hatten ihm an jenem Tag schon
so oft einen Streich gespielt, daß er den Blick abwandte, die Augen schloß, den Atem anhielt und bis zwanzig zählte. Als er wieder hinsah, war sie immer noch da, und Luisa stand neben ihr. 121
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Eine Opernaufführung
Luisas Träume unter den Beinen des Konzertflügels wurden fiebrig. Zuerst war sie wieder in ihrer Wohnung in Kampanien gewesen und hatte auf dem weichen Gras im Garten gelegen. Doch plötzlich hatte sich unter ihr die Erde aufgetan, und sie befand sich tief in ihrem Innern, aus Brüsten und Geschlecht blutend. Sie versuchte das Blut wegzuwischen, mußte aber feststellen, daß sie angekettet war und die Hände nicht bewegen konnte. Große Kupferschilder preßten ihre Brüste an den Körper; ein Kupfergürtel umfaßte ihre Vulva. Eine munter plappernde Gruppe von Menschen ging an ihr vorbei; ein Familienausflug - der Mann mit der gesunden Gesichtsfarbe trug ein großes Holzbett und wurde von seinen Eltern und seinen beiden Söhnen begleitet. Sie wollte ihnen etwas zurufen, brachte aber keinen Ton heraus, und sie sahen sie auch nicht. Hinter ihnen kam eine Prozession, zahllose gebeugte, müde Menschen, die dahinschlurften, nicht marschierten, mit hängendem Kopf, jeder mit einem Bierkrug in der Hand. Luisas Hals war ganz rauh; sie hätte für dieses Bier ihr Leben und ihre Freiheit gegeben. In ihrem Traum beobachtete sie die Leute, die das Bier vor einem riesigen Kreuz ausschütteten. Die Erde tat sich auf und verschlang die Familie und das Bett. Der Riß wurde immer breiter und näherte sich der Stelle, wo sie hilflos angekettet lag. Felsbrocken stürzten von hohen Klippen herunter, polternd und widerhallend; dann verwandelte sich ihr Dröhnen in das bedrohliche Brummen von Violinen, und plötzlich war sie wieder in ihrem vertrauten Alptraum: Sie kniete vor der Madonna, Celli und rotgesichtige Männer bedrohten sie; die Welt um sie herum begann sich zu drehen, als sie um Hilfe schrie; ¿121 ihre Stimme in Gefahr; und die Madonna starrte sie mit lüsternen Falkenaugen an. Sie wachte auf, schlug in Starrs Armen um sich, und plötzlich hämmerte jemand gegen die Tür. »Wer ist da drin? Was ist hier los?« Die Stimme klang durch die schwere Tür gedämpft. Luisa rappelte sich hoch. Wie schon so oft, kam ihr die Galle hoch. Sie tastete in dem dunklen, fensterlosen Raum nach einer Tasse oder einem Papierkorb, womit sie die grünliche Flüssigkeit auffangen könnte, fand aber nur ihre Seidenjacke. Sie wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab. Wieder hämmerte der Mann gegen die Tür und drehte dann einen Schlüssel im Schloß. Der Schein einer Taschenlampe drang in den Raum, wanderte über den Flügel, ruhte schließlich auf den beiden Gestalten darunter. »Wer zum Teufel hat euch denn hier reingelassen? Was macht ihr hier? Raus! Und zwar sofort!« Es war der Nachtwächter. Der Schrei, den die Diva im Traum ausgestoßen hatte, war draußen im Flur deutlich zu hören gewesen. Der Nachtwächter hatte sich die schlimmsten Dinge ausgemalt, Geiselnahme, Vergewaltigung, Mord, und bereits den Alarmknopf gedrückt, um Hilfe zu holen. Er sah sich schon in den Morgenausgaben der Zeitungen: Held rettet Touristin. Nun, Schrecken gab es in diesem Raum allerdings genug, aber keiner davon war eine Tapferkeitsmedaille wert. Essensreste und eine leere Bierflasche auf dem Boden, der Gestank von Erbrochenem und zwei nackte Frauen, so erhitzt vom Schlaf und vom Sex, daß es ihm fast den Magen umdrehte vor Abscheu und Begierde. Er schaltete das Licht ein. »Zieht euch an, ihr Nutten! Wie seid ihr überhaupt hier reingekommen? Zieht euch an und verschwindet!« »Ich bin Madame Montcrief, mein guter Affe«, sagte Luisa ziemlich hochmütig. »Wenn Sie die Güte hätten, meinen Übungsraum zu verlassen...« »Madam? Na, du bist mir eine schöne Madam. Geh zurück 121 in das Bordell, aus dem du gekommen bist«, herrschte der Nachtwächter sie an. Er war nicht einmal in der Lage, eine Bezeichnung für das zu finden, was hier passiert war zwischen den beiden Frauen, beide nackt, die eine mit den größten Brüsten, die er je gesehen hatte. Diese Brüste streiften jetzt die Schulter der Dürren, die mit ihm geredet hatte, und das Gesicht der Frau strahlte eine tiefe Befriedigung aus - es war einfach schrecklich, daß zwei Frauen... Das Gesicht seiner eigenen Frau fiel ihm ein, wenn sie unter ihm im Bett lag, der Ausdruck so leer und teilnahmslos, als
spüle sie ab. Was wäre, wenn seine Frau und eine andere Frau - vielleicht diese Frau -, wie würden sie dabei aussehen? Nur zu gerne hätte er diese riesigen Brüste berührt, aber sie erfüllten ihn mit genausoviel Angst wie Begierde; er stand über ihr, die Hände ausgestreckt. Die kräftige Frau sah ihn an und lachte, so rauh, daß seine Erregung schwand, sich in Scham verwandelte und in Zorn. Er zerrte die Dürre unter dem Flügel hervor, schubste sie hinaus auf den Flur und beförderte ihre Kleider mit einem Fußtritt hinterher. »Zieh dich an, zieh dich endlich an, du Schlampe.« Die kräftige Frau stand, immer noch lachend, auf und zog einen Rock und ein T-Shirt an. Im bekleideten Zustand wirkte sie ganz normal, nicht größer als er selbst. Nur ihre Haare, die von ihrem Kopf abstanden wie die Hörner einer Kuh, ließen sie so groß aussehen. »Ich kann's nicht glauben, daß die Verwaltung einen Kretin wie Sie anheuert. Wie können Sie es wagen?« Luisa machte den Verschluß ihres Büstenhalters mit zitternden Fingern zu. »Sie können froh sein, wenn Sie noch einen Job haben, sobald ich mich mit der Direktion unterhalten habe. Man darf die Sänger in ihren Übungsräumen nicht stören. Ich bin Luisa Montcrief, aber vermutlich sagt dieser Name einem Idioten wie Ihnen nichts. Ich bereite mich gerade auf mein Comeback vor. Eigentlich wollte ich es in Chicago geben, aber wenn die Lyric Opera ihre Stars so behandelt, werden Sie mich hier so schnell nicht wiedersehen.« ¿122 Sie hob die früher goldfarbene Bluse vom Boden auf, die jetzt voller Flecken und Risse war, und das schwarze Valen-tino-Kostüm, inzwischen grau und formlos von Erbrochenem, Staub und zu vielen Nächten, in denen sie darin geschlafen hatte. Und Clio würde sie auch nicht mehr holen, wenn diese undankbare Schlampe ihre Kleidung so verkommen ließ. In der Ferne war der Aufzug zu hören, dann näherten sich die schweren Schritte eines Wachmannes. Der Nachtwächter teilte dem Wachmann mit, was er in dem Übungsraum gefunden hatte: obdachlose Frauen, die in die Oper eingebrochen waren. Und sehen Sie sich das mal an, rief er aus, als er die Flüssigkeit in dem Flügel entdeckte; diese Tiere haben doch glatt Bier in den Steinway gekippt. Ein Siebzigtausenddollarflügel, und diese Nutten haben ihn ruiniert. Ja, pflichtete ihm der Wachmann bei, sie waren wirklich überall, wie die Ratten. Als er sah, daß Luisa mit nacktem Unterkörper dastand, fragte er: Na, haben Sie die ordentlich durchgefickt? Wissen Sie, ich glaube, nun, ich glaube, die beiden haben's miteinander getrieben, sagte der Nachtwächter mit hochrotem Gesicht. Die da - er deutete auf Starr -, solche Titten haben Sie noch nie gesehen. Die haben's miteinander getrieben? Die Augen des Wachmannes glänzten: Das hatte er sich immer schon vorgestellt, aber noch nie gesehen. Na, vielleicht müssen die einfach mal mitkriegen, was ein richtiger Mann ist. Er drückte Luisa gegen die Wand - selber schuld, wenn sie mit ihrer Fotze vor ihm rumwedelte und öffnete den Reißverschluß seiner Uniformhose. Der Nachtwächter warnte ihn, als die andere sich ihm von hinten näherte und ihre Brüste sein Hemd berührten. Eine nach der anderen, Mädels, wollte er gerade sagen, es ist genug da für alle, als ein schweres Gewicht... später, in seinem Bericht, behauptete er, die Frau habe einen großen Stein in der Hand gehabt. Schließlich konnte sie ihn nicht mit bloßen Händen gegen die Wand ge 122 drückt und zu Boden geworfen haben, während der Nachtwächter mit offenem Mund dabeistand, ohne ihm zu helfen. Luisa zog sich an, während Starr aufpaßte, daß der Wachmann auf dem Boden liegen blieb. Starr stand einfach nur da und lachte rauh. Aber am Morgen, als er ins Polizeirevier gerufen wurde, um zu bestätigen, daß ein Wachmann in Ausübung seiner Pflicht angegriffen worden war, erinnerte sich der Nachtwächter nicht mehr an Starrs passive Geste; er sah ganz deutlich, daß sie eine Waffe in der Hand gehalten hatte, ja, einen Betonblock, den hatte sie vermutlich in dem Schutt draußen vor dem Gebäude gefunden. Und dann hatte die Frau, die behauptete, Sängerin zu sein, ihren Koffer gepackt, und die beiden waren verschwunden. Nein, er war ihnen nicht gefolgt, schließlich hatte er sich wirklich Sorgen um den Wachmann gemacht - obwohl der sich ohne Probleme wieder aufgerappelt hatte, sobald die Tür hinter den beiden Frauen ins Schloß gefallen war. Starr und Luisa folgten den nördlichen und östlichen Windungen des Flusses durch die Stadt, wichen schlafenden Menschen, Müllsäcken und allerlei Abfall aus. An der Michigan Avenue gingen sie in südlicher Richtung weiter, durch das Labyrinth kleiner Straßen zum Hotel Pleiades.
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Prinzessin in Schwierigkeiten
In den letzten drei Wochen sind nicht nur Wundersucher, sondern auch Schaulustige aus ganz
Amerika an diese unauffällige Stelle unterhalb der Michigan Avenue gekommen, um zu sehen, ob die Hoffnungen einer obdachlosen Frau sich erfüllt haben. Madeleine Carter war fest davon überzeugt, daß die Jungfrau Maria blutige Tränen durch einen Riß in dieser Wand weint. Ihr Glaube war so stark, daß sie trotz der Bemühungen des Hotels, dem die Wand gehört, sie von hier zu vertreiben, immer wieder hierher zurückkehrte.« Don Standstroms attraktives, fein gemeißeltes Gesicht auf dem Bildschirm machte einem Foto von Madeleine Carter Platz. Harriet hatte den Schnappschuß bereits gesehen. Ein weiteres Bild befand sich in der Akte, die die Rechercheure von Scandon and Atter für die Verteidigung des Hotels zusammenstellten. Das Foto zeigte Madeleine vor zwölf Jahren, zwischen ihrer zweiten und dritten Schwangerschaft, ihren einjährigen Sohn auf dem Arm und ihre zweijährige Tochter an der Hand. Madeleines Haare waren auf dem Bild ordentlich gekämmt, der dunkle Pullover bis oben zugeknöpft. Sie lächelte in die Kamera, aber ihr Blick wirkte angespannt und ängstlich, und sie sah älter aus als dreiundzwanzig. Harriet hatte am vorigen Freitag mit der Zusammenstellung einer Akte über Madeleine Carter begonnen, als Judith Ohana vom First Freedoms Forum im Namen von Mara Stonds, Jacqui Dotson und anderen Klage gegen das Hotel Pleiades erhob. Das Hotel müsse die Garagenwand als Ort, an dem man die Jungfrau Maria verehren konnte, zugänglich machen. In dem Schriftsatz hieß es, das Hotel habe Madeleine Carter durch seinen harten Widerstand gegen das in der Verfassung verankerte Recht auf freie Meinungsäußerung - in diesem Fall joo die Anbetung der Jungfrau Maria vor der Wand - in den Selbstmord getrieben. Harriet sah kein Problem darin, dem Gericht Madeleine Carters Psychose zu beweisen, falls es überhaupt soweit kommen sollte: Sie hatte herausgefunden, daß Madeleines Wahnvorstellungen bereits mit zwanzig begonnen hatten, als sie mit ihrem ersten Kind schwanger war. Nach vier Kindern in sieben Jahren, ein paar Krankenhausaufenthalten und einem immer angespannteren Familienleben hatte ihr Mann sich scheiden lassen. Kurze Zeit hatte Madeleine bei ihren Eltern gelebt, aber als ihre Mutter starb, war ihr Vater nicht mehr in der Lage, sich um die psychisch gestörte Tochter zu kümmern. In den folgenden Jahren hatte sie mehrere Hilfsarbeiterjobs verloren und war immer wieder in der Psychiatrie gelandet. Sie hatte keine Krankenversicherung; da es keine staatliche Gesundheitsversorgung und nur wenige akzeptable Therapieangebote gab, war sie auf der Straße gelandet, wo sie noch weitere drei Jahre gelebt hatte. Nun war sie mit fünfunddreißig gestorben sie war drei Jahre älter gewesen als Harriet. Sowohl der Ehemann als auch der Vater Madeleines machten sich stark für die Klage des First Freedoms Forum. Der Ehemann hatte den Schnappschuß von Madeleine mit ihren Kindern irgendwo in einer Rumpelkammer gefunden. Harriet plante ihren Auftritt vor dem Gericht präzise: Sie würde ein marineblaues Kostüm tragen und sich ein bißchen verächtlich, aber auch verständnisvoll geben. Hier ging es um ein vergeudetes Leben, um vier Kinder, die von der Mutter im Stich gelassen worden waren, um eine Frau, die Phantasie und Realität nicht trennen konnte und die letzten Tage ihres Lebens vor einem undichten Rohr verbracht hatte. Das Hotel war bis zu der Überflutung wirklich nachsichtig gewesen, doch dann hatte man die Wand zum Schutz der Passanten sichern müssen. Was für eine Tragödie - diese gestörte Frau hatte einfach nicht begreifen können, daß ihre geliebte Wand möglicherweise in sich zusammenfiel und sie verletzte. Harriets Seniorpartner teilte Harriets Optimismus nicht. 123 Leigh Wilton wies sie auf die Schar von Wundersuchern hin und war der Ansicht, daß sich die Geschworenen sicher von der geballten religiösen Energie an der Wand beeindrucken lassen würden. Die Hotelleitung würde dastehen wie ein reicher Tyrann, der die Frauen daran hindern wollte, die Jungfrau Maria zu verehren. Leigh war wütend, weil Harriet die ganze Angelegenheit nicht von Anfang an taktvoller angegangen war. Wieso hatte sie den Leuten vom Hotel den Rat gegeben, die Wand abzuspritzen, damit Madeleine verschwand? Warum hatten sie sie die Jungfrau nicht in Ruhe anbeten lassen?
Harriet wurde rot und stotterte, schließlich sei Madeleine geschäftsschädigend für ihren Mandanten gewesen; sie habe eine Schar von Randalierern angelockt (unter ihnen auch Ihre Schwester, schnauzte Leigh Wilton), die die Hotelgäste störten. Und hatte Leigh nicht selbst vorgeschlagen, daß das Hotel Madeleine den Aufenthalt vor der Garagenwand so unangenehm wie möglich machen sollte? Nein, nein, sagte ihr Seniorpartner ausgesprochen kühl. Der Vorschlag sei von Harriets Mitarbeiterin gekommen, denn Harriet sei ja nicht im Büro gewesen und habe sich folglich auch nicht um ihre Mandanten kümmern oder Anweisungen geben können. Harriet sah ihn mit offenem Mund an. Die Vergangenheit wird immer den Bedürfnissen der Gegenwart angepaßt; sie war sich dessen allerdings bisher noch nicht bewußt gewesen. Zum erstenmal, seit Großvater sie seinerzeit vor Beatrix gerettet hatte, spürte Harriet wieder so etwas wie Mißbilligung. Früher hatte ihre Mutter ihr angst gemacht: Beatrix war betrunken gewesen und hatte nach Zigaretten gestunken (wahrscheinlich auch nach Marihuana, aber das hätte Harriet damals nicht gewußt); die dunklen Haare verfilzt auf dem Rücken, hatte sie sich über das Bettchen ihrer Tochter gebeugt und ihr abwechselnd Wiegenlieder vorgesungen und Drohungen gegen ihren Mann ausgestoßen: Wenn ich ihn finde, schneide ich ihm den Schwanz ab, damit er ihn nirgends mehr reinstecken kann. 124 Dann war plötzlich wie durch ein Wunder ihr Großvater aufgetaucht, ein richtiger Held, und er hatte gesagt, Beatrix sei eine Schande. Er hatte diese übermächtige Frau in etwas Kleines, Schwaches verwandelt. Und Harriet hatte sich, angetan mit einem blauen Kleidchen, das genau zur Farbe ihrer Augen paßte, völlig auf die Seite von Großvater gestellt und sich die seidigen Haare von Mephers bürsten lassen, bis sie glänzten. Hin und wieder war Beatrix mit Geschenken aufgetaucht, die Harriet sich mit einem höflichen Blick ansah und zur Seite legte: Grandpere schenkt mir alles, was ich brauche, danke. Nein, danke, ich darf keine Süßigkeiten essen, die sind schlecht für meine Zähne und Haare. Nein, danke, ich will nicht ins Kino... in den Zoo... zum Einkaufen. Und eine kleine Schwester will ich auch nicht, aber offenbar war das die einzige Überraschung, gegen die sie sich nicht hatte wehren können. Sie war immer Klassenbeste, spielte hervorragend Tennis, entzückte Großvaters Gäste, seine Kollegen und Mephers, und sie wußte, wenn sie immer lächelte, sich nie beklagte, immer ordentlich war, sich hübsch kleidete und vor allen Dingen hart arbeitete und alle ihr gestellten Aufgaben (die Schularbeiten, ein paar Pflichten im Haushalt, damit sie nicht allzusehr verwöhnt wurde, und später ihren Beruf) perfekt erledigte, würde ihr niemals jemand mit der Verachtung begegnen, mit der Großvater sein einziges Kind, ihre Mutter, behandelte. Und nun tadelte Leigh Wilton, der sie immer mit der gleichen Nachsicht und Freundlichkeit behandelt hatte wie Großvater, ihre Arbeit. Sogar Großvater war wütend. Natürlich hatte sie ihn schon oft wegen Beatrix oder Mara oder seiner Untergebenen wütend erlebt, aber jetzt schwappte seine Wut auf Mara auch auf Harriet über. Ich kann mich ja bald nicht mehr in meinem eigenen Krankenhaus blicken lassen. Die Leute bemitleiden mich - mich, den Mann, der diesem Krankenhaus zu seiner führenden Position in der modernen Chirurgie verholfen hat. Und nun erhebt 124 Mara im Fernsehen Anschuldigungen gegen dich, gegen uns, daß wir die Armen nicht richtig behandeln. Es war deine Aufgabe, dich um diese psychotische Frau zu kümmern, Harriet. Ich kritisiere dich nur ungern, aber die Sache hast du wirklich nicht besonders geschickt angepackt. Und Harriet war so verletzt, daß sie ihn zum erstenmal anfauchte: Dein wunderbares Krankenhaus hatte schließlich Gelegenheit, Madeleine Carter zu behandeln, aber weil ihr immer nur an eure Kosten denkt, habt ihr sie wieder auf die Straße geschickt. Und zwar in schlechterem Zustand als zuvor. Harriet war schockiert über ihren Ausbruch: Großvater war doch ihr Beschützer; er war nur denen gegenüber streng, die nicht das Beste aus ihrem Leben machten, nicht gegenüber den guten und fleißigen Menschen. Sie spürte, wie sie sich veränderte, körperlich veränderte, sich in etwas Großes, Grobes wie Beatrix oder Mara verwandelte. Dieses Gefühl war so intensiv, daß sie in den Fitneßraum rannte und an den Maschinen arbeitete, bis ihr Körper wieder zierlich war und sie sich wieder konzentrieren konnte.
Nur Mephers, die normalerweise genau die Gefühle und Meinungen von Großvater spiegelte, gab weiterhin dem richtigen Menschen die Schuld, nämlich Mara: Mephers nannte die ganze Angelegenheit einen weiteren großen Auftritt der jungen Mara Bernhardt. Doch Mephers' Kritik baute Harriet nicht auf, sondern verwirrte sie. Mara hatte in einer Hinsicht recht: Mephers war kalt. Das bißchen Gefühl, das sie Harriet entgegenbrachte, war nicht mehr als eine Rippe des Heizkörpers, nicht genug, um ihnen beiden Wärme zu geben. Mephers erfuhr von Patsy Wanachs, daß Mara die Frauen aus der Unterkunft gescheucht und mit ihnen zu der Wand marschiert war - das war wirklich unerhört, unglaublich peinlich für ihre beiden Idole, den Doktor und die Enkelin. In einer Notfallsitzung des Gemeinderats drängte Mrs. Ephers die Mitglieder, all diejenigen nicht mehr in Hagar's House übernachten zu lassen, die sich vor der Garage zeigten. Viele der Frauen, unter ihnen LaBelle, Jacqui und Nanette, verbrach 125 ten den Tag vor der Wand und schliefen nachts in der Unterkunft. Der Gemeinderat pflichtete der Haushälterin bei: Dieses Verhalten war eine Beleidigung für Rafe Lowrie und Dr. Stonds. Als die Entscheidung getroffen war, schickten die Gemeindemitglieder Patsy Wanachs zu der berühmten Wand, um sie den obdachlosen Frauen mitzuteilen. Patsy sagte ihnen über Megaphon, daß künftig immer jemand von der Kirche da sein würde - Rafes Sohn Jared hatte sich bereit erklärt, die ganze Szene mit der Videokamera zu filmen -, um zu sehen, wer an den Protesten beteiligt war. Wer sich noch einmal vor der Wand blicken ließe, dürfe nicht mehr in Hagar's House. Daraufhin verschwanden die meisten obdachlosen Frauen, nur LaBelle, die immer noch auf Heilung durch die Jungfrau hoffte, blieb. Und Mara hatte natürlich keine andere Wahl als zu bleiben. Jetzt, wo Patsy wußte, daß sie kahlgeschoren war, konnte sie ohnehin nicht mehr in die Unterkunft. Cynthia war schon weg: Eine einzige Nacht auf der Straße hatte ausgereicht, um sie zu Rafe zurückzutreiben. Sie hatte keine Ahnung, warum sie sich überhaupt von Mara aus der Bibelstunde hatte zerren lassen. Und sie hatte Mara angeschrien: Nun hast du mich wieder in Schwierigkeiten gebracht. Schon als wir klein waren, bin ich dauernd deinetwegen verprügelt worden, und jetzt jetzt habe ich deinetwegen auch noch mein Zuhause verloren. Du kannst meinen Schlafsack haben, sagte Mara. Du kannst auch in die Graham Street gehen. Wenn du Großvater und Harriet sagst, wie schrecklich ich bin und daß ich dich in die Scheiße geritten habe, geben sie dir wahrscheinlich mein Zimmer. Außerdem: hast du denn keinen Job ? Kannst du dir keine eigene Wohnung mieten? Obwohl sie natürlich wußte, daß Cynthia ihren Gehaltsscheck immer Rafe gab, der dann entschied, wieviel Geld sie brauchte, und es ihr jeden Montag aushändigte. Starr, die von Mara mit einem verzückten Schrei begrüßt wurde - schau, das ist meine Mutter, schau, Cyn -, hatte Cynthia erschreckt. Wenn das deine Mutter ist, wundert's mich 125 nicht, daß dein Großvater sie vor die Tür gesetzt hat. Sie sieht aus wie die Hure Babylon. Dann hatten sich die beiden Freundinnen furchtbar gestritten, und Cynthia war verschwunden, als es hell wurde. Sie war zur Arbeit gegangen und dann nach Hause. Nach Hause zu Jared und Rafe, und auch am Sonntag konnte sie noch nicht wieder richtig laufen, um den Gottesdienst zu besuchen: Sie habe Heimweh gehabt, sagte Rafe, eine schlimme Bindehautentzündung - denn ihr rechtes Auge war zugeschwollen. Rafe trat nach dem Gottesdienst auf Abraham Stonds zu und hielt ihm vor Pastor Emerson einen Vortrag darüber, daß Stonds nicht einmal in seinem eigenen Haus für Ordnung sorgen könne. Sie haben dem Mädchen zu viele Freiheiten gelassen; jetzt sehen Sie ja, was passiert ist: Sie hat meine Tochter und eine ganze Menge unschuldiger obdachloser Frauen auf den Pfad der Verderbnis geführt. Auf dem Heimweg von der Kirche - Mrs. Ephers blieb wegen einer Sitzung des Gemeinderats noch da - nörgelte der Arzt wieder an Harriet herum; er kritisierte ihr Vorgehen gegen Madeleine, ihr Kleid - das Gelb steht dir einfach nicht; die Farbe läßt dich alt aussehen; der Ausschnitt ist zu groß für die Kirche -, ja sogar das Blumenarrangement im Vestibül der Graham Street - warum rot? Die Farbe entspricht überhaupt nicht meiner heutigen Stimmung. Da kam Harriet zum erstenmal der Gedanke, daß Mara und ihre Mutter, vielleicht sogar ihre Großmutter, Dr. Stonds zu Recht grollten. Harriet schlich sich Sonntagnacht aus der Wohnung, um bei der Wand vorbeizuschauen. Sie hoffte, daß Patsy Wanachs' Mitteilung die Frauen vertrieben hatte und die Hotelgäste wieder ungestörten Zugang zur Garage hatten. Doch leider kamen inzwischen Wundersucher aus der
ganzen Welt, da sich nun auch CNN auf die Geschichte gestürzt hatte. Zwar waren die meisten obdachlosen Frauen verschwunden, aber die Zahl der Leute vor der Garage hatte sich kaum reduziert. Und aus der Sicht des Hotels waren die Neuankömmlinge noch lästiger: Obdachlose Frauen konnte man ohne allzu große Schwierig 126 keiten vertreiben - die Aktion der Orleans Street Church hatte kaum jemand zur Kenntnis genommen. Aber die Schaulustigen waren eine andere Geschichte - wenn man die verscheuchen wollte, traten sie in Oprah Winfreys Show oder bei Jenny Jones auf. Mara stand vor der Wand, und die beiden Schwestern sahen einander an, ohne ein Wort zu sprechen. Harriet war wütend auf Mara, natürlich: Schließlich hatte sie die Leute vom Fernsehen hierher geholt, ihr das First Freedoms Forum auf den Hals gehetzt und würde nun vielleicht sogar ihre Karriere ruinieren - wer wußte das schon? Aber als sie die hohlen Wangen ihrer Schwester sah und ihren kahlgeschorenen Schädel, wünschte sich Harriet plötzlich, daß ihre Schwester einen Platz zum Schlafen hätte und daß sie ihr den Riesenstapel Butterbrote bringen könnte, den sie früher immer zum Frühstück verschlungen hatte. Sie versuchte zu vergessen, was Patsy Wanachs ihr über obdachlose Frauen erzählt hatte, daß Vergewaltigungen für sie an der Tagesordnung waren, wenn sie sich mehr als ein paar Wochen auf der Straße aufhielten. Als Harriet am Montag ins Büro kam, konnte sie ihrer Schwester, der Wand oder der Kritik an ihrem Umgang mit den Problemen des Hotels nicht mehr ausweichen. Ihre Sekretärin hatte bereits eine Nachricht von Leigh Wilton für sie: Er erwartete bis mittags einen Bericht, wie sie der Klage des First Freedoms Forum begegnen wolle. Daß er ihr das durch seine Sekretärin mitteilen ließ, war ein Beweis dafür, daß ihr Stern im Sinken war. Normalerweise hätte er sie persönlich angerufen. Harriet verriet mit keiner Miene, daß sie verletzt war, lächelte freundlich, ließ sich die Termine des Tages nennen und beauftragte eine Mitarbeiterin, ein Videoband über alle Fernsehmeldungen, die sich mit der Wand beschäftigten, zusammenzustellen. Und wieder wechselten ihre Gefühle Mara gegenüber von Mitleid zu Wut. Schließlich war sie der Ursprung all dieser Dissonanzen... Plötzlich merkte sie, daß sie sich zwanzig Minuten lang ein Video angeschaut hatte, ohne irgend 126 etwas mitzubekommen, und der Zorn auf ihre Schwester wuchs, denn sie war schuld daran, daß sie sich nicht mehr konzentrieren konnte. Sie spulte die Kassette zurück. »Monsignor Alvin Mulvaney, der Fachmann der Chicagoer römisch-katholischen Erzdiözese für wunderbare Erscheinungen, hat Channel 13 gegenüber versichert, daß es sich bei der roten Flüssigkeit nicht um Blut handelt, sondern um Rost. Warum die Wand allerdings weiterhin näßt, obwohl die Stadt das Rohr mittlerweile hat reparieren lassen, kann niemand sagen«, erklärte Don Sandstrom gerade auf dem Bildschirm »Nach Ansicht der Frauen vor der Wand besitzt die austretende Flüssigkeit besondere Heilkräfte. Eine sagt, jahrelange Blutungen hätten aufgehört, nachdem sie eine Nacht unter dem Riß verbracht habe; eine andere behauptet, nach langwierigen ergebnislosen Hormonbehandlungen endlich ein Kind empfangen zu haben - sie räumt allerdings ein, daß sie sich hinsichtlich der Schwangerschaft noch nicht ganz sicher sein könne -, während eine Dritte sagt, sie habe dank der Wand einen Abgang gehabt; Gott sei Dank, denn sie habe das Kind nicht gewollt. (Harriet machte sich Notizen; sie würde die Frauen befragen und sich medizinische Atteste für ihre Behauptungen vorlegen lassen.) »Vertreter des Hotel Pleiades sagen, sie hätten nicht die Absicht, die frommen Frauen an ihrer Marienverehrung zu hindern, müßten aber darauf bestehen, daß die Garage für ihre Gäste zugänglich bleibe. Außerdem wollten sie die Umgebung sauberhalten, was angesichts der zahlreichen Ratten hier nur vernünftig scheint.« An dieser Stelle wurde wieder die Szenerie vor der Garage eingeblendet. Es sah dort aus wie auf einem Rummelplatz, nachdem die meisten Stände abgebaut worden sind: Ein paar Dutzend Frauen und eine Handvoll Männer standen herum. Manche mit Kindern. Drei Frauen von der Downer's-Grove-Gebetsgruppe knieten auf dem Gehsteig und beteten den Rosenkranz, wie sie es seit Madeleines Tod jeden Tag getan hatten. 126 Die Hotelleitung hatte einen Teil des Gerüsts rund um Madeleines Riß entfernen lassen, so daß so etwas wie eine kleine Grotte entstanden war, wo drei bis vier Menschen gleichzeitig die Heilkraft des rostigen Wassers testen konnten. Manche hatten Schilder dabei, auf denen sie entweder ihren
Glauben an die Jungfrau Maria verkündeten oder dagegen protestierten, wie das Hotel mit Madeleine umgesprungen war. Überall lagen Papier und Pappbecher herum. Die obdachlosen Frauen hatten ihre Habseligkeiten zu Bündeln geschnürt. Sandstrom fuhr fort: »Einige Frauen sind der Meinung, daß mehr noch als Madeleine Carter eine andere Frau die Geschehnisse hier beeinflußt hat.« Harriet hielt die Luft an, weil sie annahm, daß nun Maras Gesicht auf dem Bildschirm erschiene. Statt dessen sah sie dieses widerliche Wesen, das auch in der Nacht der Überschwemmung dagewesen war, die Frau, von der Mara meinte, sie sei Beatrix. Im Fernsehen wirkten ihre Wangenknochen flacher, und ihre Falkenaugen glänzten weniger. Doch ihr Mund schimmerte rot und beunruhigend sinnlich in dem trüben Licht. Harriet stellten sich die Nackenhaare auf. Neben Starr, obwohl nicht deutlich zu erkennen, waren Mara, Luisa Montcrief und ein Mädchen mit einer Frisur, die der Maras, bevor sie sich einen Kahlkopf hatte scheren lassen, nicht unähnlich war. »Manche behaupten, die Wunderwirkung dieser Wand sei nur dann zu spüren, wenn diese Frau, die sie Starr nennen, anwesend ist«, erklärte Sandstrom. »Starr scheint so etwas wie eine idiote-savante zu sein; sie kann sich nur durch Grunzlaute verständlich machen. Eine berühmte Persönlichkeit unserer Stadt, die Operndiva Luisa Montcrief, die sich vorübergehend ins Privatleben zurückgezogen hat (hier wurde ein altes Konzertfoto von Luisa in einem leuchtendbunten Abendkleid über ihr jetziges alkoholgerötetes Gesicht geblendet), dolmetscht für sie. Dr. Clyde Hanaper, der Leiter der Psychiatrie im Midwest 3°9 Hospital, sagt jedoch, daß sowohl Starr als auch Luisa Montcrief Patientinnen des Krankenhauses gewesen sind und man daher annehmen dürfe, daß auch die anderen Frauen Alkoholikerinnen seien, die hier eine Show abziehen, um in unserer von den Medien beherrschten Welt berühmt zu werden. Monsignor Mulvaney von der Erzdiözese sagt außerdem, er habe die Wand sowohl in Anals auch in Abwesenheit von Starr getestet, und es habe sich weder an der chemischen Zusammensetzung der Flüssigkeit noch an den elektrischen Strömen, die durch die Wand verlaufen, etwas verändert. Egal, ob die Behauptungen der Frauen stimmen: Madeleine Carter mag tot sein, doch der Geist, den das Hotel Pleiades mit dem Wasserschlauch und dem Gerüst zu bannen versuchte, ist nach wie vor lebendig. Live vom Lower Wacker Drive, Don Sandstrom von Channel 13.« 127
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Rummel an der Garage
In Highland Park sah Karen Minsky gerade die gleichen Nachrichten an. Und genau wie Harriet suchte sie die Gruppe der Frauen ab, allerdings nicht nach Mara, sondern nach ihrer Tochter. Kim Nagels Mutter hatte Karen gegen halb vier angerufen. Ich dachte, es würde Sie interessieren diese Worte sind immer die Einleitung zu etwas, was man absolut nicht hören möchte. Dann hatte Mrs. Nagel Karen erzählt, was Kim ihr gerade gebeichtet hatte: Sie mache sich Sorgen um Becca, weil sie schon den ganzen Nachmittag versucht habe, sie anzurufen - Becca war doch nicht etwa zu Hause, oder? Nein, Becca war nicht zu Hause. Karen hatte am Morgen, als sie das Haus verließ, angenommen, Becca gehe mit Kim an den Strand. Nun, Mrs. Nagel wollte Karen nur von der Mutprobe erzählen, die die Kinder Becca aufgegeben hatten. Sie wissen selbst am besten, was zu tun ist, sagte Mrs. Nagel, aber wir würden Kim nie allein nach Chicago reinfahren lassen. Karen wurde flau im Magen; die Auseinandersetzung, die sie am vorigen Tag mit ihrer Tochter gehabt hatte, fiel ihr wieder ein. Madeleine Carter und ihre Wand waren Thema Nummer eins im Lokalteil des Herald-Star. Früher hatte Becca nie Zeitung gelesen, aber seit Luisas Festnahme schaute sie immer nach, ob das First Freedoms Forum sich für Luisa einsetzte. Becca hatte vor Aufregung einen spitzen Schrei ausgestoßen, als sie den Artikel entdeckte. Judith Ohana vom First Freedoms Forum sagt, das Hotel Pleiades verstoße gegen den im First Amendment verankerten Schutz der freien Meinungsäußerung, wenn es
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den Frauen, die die bröckelnde Wand am Lower Wacker Drive anbeten, Steine in den Weg lege. »Nur weil Untersuchungen ergeben haben, daß die Substanz, die die Flüssigkeit aus der Wand rot färbt, Rost ist, bedeutet das noch lange nicht, daß die Gläubigen sie nicht weiterhin für das Blut der
Jungfrau Maria halten können. Schließlich würden solche Untersuchungen auch ergeben, daß Meßwein die chemische Zusammensetzung von Wein und nicht von Blut hat. Würde das die Katholiken daran hindern zu glauben, daß es sich um das Blut Christi handelt?« Sie fügte hinzu, das First Freedoms Forum ermahne das Hotel, allen Leuten Zugang zu der Wand zu gewähren, die dort beten wollten. Mara Stonds, eine Sprecherin der Frauen, die vor der Wand protestieren, sagte: »Das Hotel hat diese psychisch kranke Frau an der Verehrung der Heiligen Jungfrau gehindert. Die Hotelleitung hat sie nicht nur mit dem Wasserschlauch abspritzen lassen, sondern auch Dornen an der Wand angebracht und sie damit in den Selbstmord getrieben.« »Schau dir das an!« Becca hielt ihrer Mutter die Zeitung unter die Nase. »Das Hotel, wo sie Tante Luisa festgenommen haben, hat eine obdachlose Frau in den Selbstmord getrieben. Und jetzt hat First Freedoms Forum Klage gegen das Hotel eingereicht, um die Wand für alle freizuhalten, die dort beten wollen.« »Ich habe die Geschichte gelesen«, sagte Karen ziemlich schroff. »Das ist ganz im Sinne von Mara Stonds. Sie ist eine ziemlich gestörte junge Frau, die ihrer Familie eine Menge Kummer bereitet. Und außerdem sieht sie schrecklich aus. Und dabei ist ihre Schwester so hübsch - findest du nicht auch? Merkwürdig, daß sie aus ein und derselben Familie kommen.« »Wieso? Daddy und Tante Luisa sehen sich doch auch nicht ähnlich, und die sind Zwillinge. Ich finde, Mara sieht dramatisch aus, wie Jeanne d'Arc: Verhaftet mich ruhig und verbrennt mich auf dem Scheiterhaufen.« »Die dramatischen Fähigkeiten deiner Tante werden wohl nicht zusammen mit ihr begraben werden.« Karen wandte sich seufzend einem Interview mit Germaine Greer im Feuilleton zu. »Also wärst du froh, wenn Tante Luisa stirbt, oder? Das wäre doch praktisch. Wenn der Typ aus der Garage doch bloß nicht krank wäre - der könnte sie ja auch noch überreden, Selbstmord zu begehen.« Becca sah ihre Mutter wütend an. »Becca!« Harry, der gerade den Wirtschaftsteil las, hob nicht einmal den Blick. »Ich habe dich gebeten, nicht so mit deiner Mutter zu sprechen.« »Nun, was würdet ihr machen, wenn es um mich ginge?« murmelte Becca. »Würdet ihr mich dann auch in so eine billige Absteige stecken?« »Schätzchen, bitte - nicht so früh am Morgen, ja?« sagte Karen. »Heute wird's heiß. Wenn ihr an den Strand geht, dann creme dich ordentlich ein. Du auch, Harry; letzte Woche hast du wie ein ausgesprochen unkoscherer Hummer ausgesehen, als du vom Club zurückgekommen bist.« Das Telefon klingelte, bevor Becca sich entscheiden konnte, wie sie auf den unerbetenen Ratschlag reagieren sollte. Karen nahm ab. »Mr. Benedetti! Nein, nein, wir sind schon seit Stunden auf.« Becca spitzte die Ohren, als sie den Namen des Met-Direktors hörte: Vielleicht wollte er Luisa die Chance zu einem Comeback geben. »Sie hat was getan?« fragte ihre Mutter entsetzt, und Beccas Phantasien verflüchtigten sich. »Tut mir leid, aber wir können wirklich nicht... Nein. Mein Mann hat bereits mehr als fünf-undvierzigtausend Dollar für sie bezahlt... Sie können den Leuten vom Lyric sagen, sie müssen das Geld irgendwo anders auftreiben... Nein, wir haben ein Formular unterschrieben: Wir können nicht für ihre Schulden haftbar gemacht werden, und wir sind nicht bereit, für sie einzuspringen... Sagen Sie 128 den Leuten vom Lyric, sie sollen sie festnehmen lassen, wenn sie wieder auftaucht; vielleicht bringen ein paar Monate Gefängnis Janice dazu, sich mit ihren Problemen auseinanderzusetzen. Daß sie als Sängerin am Ende ist, hat sie offenbar noch nicht wachgerüttelt.« Karen legte den Hörer mit einem Knall auf die Gabel. »Schon wieder eine neue Katastrophe. Janice hat sich mit einer anderen Frau in einem Übungsraum der Oper ein Liebesnest gebaut, aber ein Wachmann hat sie gefunden und rausgeworfen. Die beiden haben einen Riesenlärm gemacht und ziemlich viel Dreck hinterlassen, und irgendwie ist es ihnen sogar noch gelungen, einen Konzertflügel für siebzigtausend Dollar zu ruinieren. Die Leute von der Oper haben Benedetti angerufen, und der dachte, wir wären bereit, uns um das Problem zu kümmern. Ich weiß nicht, was Janice sich dabei gedacht hat.« Becca machte große Augen. »Eine lesbische Affäre? Das habe ich nicht gewußt! Und ihr glaubt, sie sollte deswegen ins Gefängnis? Habt ihr denn noch nichts von Stonewall gehört ...«
Harry legte die Zeitung weg. »Becca, jetzt reicht's. Hier geht's nicht um Bürgerrechte, sondern um die Beschädigung von fremdem Eigentum. Bitte bezieh das in deine Überlegungen mit ein, bevor du anfängst, sie zur Märtyrerin zu machen.« Becca stapfte wütend zum Strand, wo sie ihren Freunden eine dramatische Version von Luisas letzter Eskapade erzählte. Sie vergaß auch nicht zu erwähnen, daß sie selbst das First Freedoms Forum mit ins Spiel gebracht hatte. Je länger sie über diese Geschichte redeten, desto mehr meinte Becca, sich den Frauen vor der Hotelgarage anschließen zu müssen. Als sie sich dann schließlich am Abend in dem kleinen Einkaufszentrum des Vorortes eine Pizza teilten, sagte Kim, Becca habe doch ohnehin nicht den Mut, an einer Demonstration teilzunehmen, und Corie meinte, nur verrückte Frauen oder Lesben machten so etwas. Becca verkündete daraufhin aus Verwirrung und Wut - wegen ihrer Tante: War Luisa verrückt oder eine Lesbe? oder auch wegen sich selbst: War sie nicht genauso hart 129 im Nehmen wie Mara Stonds? -, daß sie am nächsten Morgen in die Stadt fahren würde und sie sie in den Nachmittagsnachrichten sehen könnten. Kim sagte erstaunt: Das traust du dich nie! Und Corie schnaubte verächtlich: Keine Sorge, das macht sie nicht; sie gibt nur an. Nein, das stimmt nicht, wehrte sich Becca. Schaut euch die Nachrichten an, dann werdet ihr schon sehen, wer angibt. Am Montag morgen tat sie so, als wolle sie den Tag mit ihren Freunden verbringen, fuhr aber mit dem Fahrrad zum Bahnhof und mischte sich unter die spätmorgendlichen Kaufwütigen, die unterwegs nach Chicago waren. Diesmal fiel es ihr leicht, sich inmitten der Menschenmassen zu bewegen. Sie war ganz aufgeregt, denn sie war ein Teil der Stadt; sie fand sich zurecht. Karen hielt diese Fähigkeit für ein Mädchen aus den Vororten nicht für angemessen, aber sie, Becca, hatte sie sich schon erworben. Gut, ein Polizist, den sie nach dem Weg fragte, brummte sie an, sie solle wieder heimgehen. Gut, sie nahm zuerst die falsche Treppe und stand unvermittelt in einer Gruppe rauchender Männer. Sie reagierten auf ihr plötzliches Auftauchen wie hungrige Löwen auf einen Springbock, der sich von der Herde abgesondert hatte. Doch als sie sich schon wünschte, niemals ihren sicheren Vorort verlassen zu haben, fand sie die richtige Treppe und landete mitten in den Demonstranten. Die Stimmung war eine Mischung aus Rummelplatz und Verkehrsunfall. Straßenhändler verkauften alles, von T-Shirts, auf denen der Riß in der Wand abgebildet war, bis zu Rosenkränzen, die mit hundertprozentiger Sicherheit in das Blut der Jungfrau getaucht worden waren. Mütter mit kleinen Kindern standen Schlange, um zu dem Riß in der Wand zu gelangen; andere Leute knieten und beteten vor der kleinen Grotte in der Mitte des Gerüsts. Ein paar Polizisten zwangen die Leute, sich in eine Warteschlange einzureihen. Schließlich mußten Gehsteig und Garageneinfahrt freigehalten werden. Die Beamten schnauzten jeden an, der sich über die von ihnen festgesetzten engen Grenzen hinauswagte. Und wenn man nicht in der Warteschlange stand, um die Wand zu küssen oder sich zu einem Gebet niederzuknien, tippte einem ein Polizist auf die Schulter und erklärte, man solle weitergehen. Becca war schüchtern und fühlte sich fehl am Platz. Als ein Polizist sie fragte, ob ihre Mutter wisse, wo sie sei, und sagte, sie dürfe hier nicht rumlungern, reihte sie sich schnell in die Schlange der Wundersucher ein. Eine Frau lud sie ein, zusammen mit ihrem Marienzirkel der blauen Aura den Rosenkranz zu beten. Als Becca sagte, sie sei Jüdin, erwiderte die Frau, die Muttergottes liebe sie trotzdem. Jemand versuchte ihr ein Schild in die Hand zu drücken, aber die meiste Zeit achtete, abgesehen von dem Polizisten, niemand auf sie. Als die Stunden vergingen, bekam sie Hunger und Durst. Sie wünschte, sie wäre nicht gekommen, aber sie wollte irgendeinen Beweis für Kim und Corie, daß sie dagewesen war. Wenn sie es nicht schaffte, an der Wand zu sein, sobald die Leute vom Fernsehen auftauchten, würden ihre Freunde ihr nie glauben, daß sie hier gewesen war. Gegen eins verschwand Becca kurz, um sich einen Hamburger und eine Cola zu kaufen. Als sie die Eisentreppe wieder hinunterstieg, entdeckte sie ihre Tante am anderen Ende des Gerüsts. Neben ihr standen Mara - Becca erkannte sie an ihrem kahlgeschorenen Schädel - und eine Frau, die ein bißchen wie Tante Luisa aussah. Wie Tante Luisa aussehen würde, wenn sie fünfzehn Zentimeter größer wäre und sich nicht zu... Becca dachte den Gedanken nicht weiter, daß Luisas Alkoholismus durchaus tödlich enden konnte.
Das mußte Starr sein, die laut Medienberichten entweder eine Idiotin oder die Hohepriesterin eines mysteriösen Kults war. Starrs Frisur war grotesk - bei einer anderen Frau hätte sie vielleicht wie eine ziemlich schlechte Perücke ausgesehen, aber zu Starr paßte sie irgendwie. Sie trug ein T-Shirt mit dem Aufdruck »Bulls«, das über ihrer Brust spannte, und einen seltsamen Rock, der ihr bis zu den Knöcheln reichte. Becca 3i6 konnte den Blick nicht von der Frau lösen; erst nach einer Weile merkte sie, daß sie sie anstarrte, was sich nicht schickte: Nur dumme Leute haben keine Manieren. Becca versuchte, zu ihrer Tante zu gelangen, doch die Menschen standen zunehmend dichter. Die Polizisten drängten die Leute zusammen, aber es gelang ihnen nicht, den Gehsteig völlig freizuhalten. Becca war klein, kaum einsfünfundfünfzig, und zwischen den vielen Leuten konnte sie nichts sehen. Einen Augenblick lang fürchtete sie, erdrückt zu werden. Doch dann besann sie sich auf die Tricks, die sie beim Fußball gelernt hatte, spreizte die Ellbogen ab, drückte zurück und bahnte sich einen Weg. Schließlich hatte sie es bis zum Gerüst geschafft. Und hier kam ihr die geringe Körpergröße zupaß: Sie schlängelte sich zwischen den dornenbewehrten Pfeilern durch, bis sie bei Luisa anlangte. Ihre Tante war außer sich vor Freude, sie zu sehen, und küßte sie ganz europäisch auf beide Wangen. Luisas Atem roch ein bißchen nach Bier, aber sie war längst nicht so betrunken wie beim letzten Mal, als Becca sie gesehen hatte. »Schätzchen! Wie hast du bloß Harrys und Karens Erlaubnis erhalten hierherzukommen?« Sie wandte sich Starr zu. »Das ist meine Nichte Becca Minsky. Und das ist Starr, Schätzchen.« Becca sagte schüchtern hallo. Starr ignorierte ihre ausgestreckte Hand, und Becca wurde rot; sie hatte Angst, die Frau könne böse auf sie sein, weil sie sie vor ein paar Minuten angestarrt hatte. Aus der Nähe sah sie ziemlich plump aus. Sie trug keinen Büstenhalter; Karen würde Becca nie so rumlaufen lassen. Auch Starr roch, und zwar nach Knoblauch und Bier und etwas anderem, das sie nicht so genau bestimmen konnte - der Geruch erinnerte ein bißchen an feuchten Lehm wie auf Daddys Schrottplatz an einem Regentag. Becca wandte sich an Mara und murmelte, wie mutig sie sie fand, doch auch Mara schenkte ihr keine Beachtung. Becca hatte so leise gesprochen, daß Mara sie in dem Lärm nicht hören konnte, aber das wußte Becca nicht. Sie war den Tränen nahe. Becca wollte sich gerade wieder entfernen, als sie eine Hand auf ihrem Kopf spürte. Sie hob den Blick und sah, daß Starr sie musterte. In den Schatten des Gerüsts war es nicht leicht, Starrs Gesicht zu erkennen, aber Becca hatte den Eindruck, daß die kräftige Frau sie auslachte. Daß diese plumpe Frau sich über sie lustig machte, brachte das Faß zum Überlaufen; sie stand kurz vor einem Tränenausbruch. Doch plötzlich merkte sie, daß es ihr gar nicht schlechtging, daß sie sich mitten in einem Abenteuer befand: Sie war jung und aufgeregt, und die Füße taten ihr in ihren hohen Basketballstiefeln nicht mehr weh. Am liebsten hätte sie getanzt. In diesem Augenblick kamen die Kameraleute. Das Bild, das Karen eine Stunde später in Highland Park sah, zeigte ihre Tochter Arm in Arm mit Mara Stonds, ein wenig schwankend, als befänden sie sich in einem überfüllten Ballsaal. Gleich daneben schien Luisa zu singen, aber das war bei dem Lärm nicht zu hören. Karen sah wie betäubt auf den Bildschirm. Mrs. Nagel und alle anderen Gemeindemitglieder würden hinter ihrem Rücken über sie reden: Die Schwägerin ist Alkoholikerin und ruiniert ihre Karriere, um mit dieser vulgären Frau zusammenzuleben, und ihre Tochter läßt sie mit Verrückten und Obdachlosen in Chicago herumlaufen. Alle würden das wiederholen, was Mrs. Nagel ihr am Telefon gesagt hatte, nämlich, daß ihre Kinder niemals allein in die Stadt fahren würden. Karen schaute, bis sich die Nachrichten anderen Themen zuwandten, und rief dann Harry an. Janice stellt eine Bedrohung für die Menschheit dar. Sie hat Becca verdorben und sie zu sich, zu den obdachlosen Frauen, geholt. Ruf die Polizei an, verständige Hanaper, ruf irgend jemanden an. Sorg dafür, daß deine Schwester hinter Schloß und Riegel kommt. Und als Becca schmutzig und mit strahlendem Gesicht heimkam, hieß es: Du hast den restlichen Sommer über Hausarrest, junge Frau. Ich kann dir nicht vertrauen. Von jetzt an gehst du nicht mehr allein aus dem Haus. Zu Karens Über3*8 raschung reagierte Becca darauf mit einem Lachen. Du solltest selber mal dort vorbeischauen. Du hast ja keine Ahnung, wie cool die Frau ist. Nein, nicht Mara Stonds, sondern die merkwürdige Frau, die nichts redet. Starr. Im Fernsehen sieht man das nicht; du mußt sie persönlich erleben.
Wenn sie dich berührt, hast du das Gefühl, daß sie dein Gehirn völlig umkrempelt. Du solltest sie dir wirklich anschauen. 131
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Wunder
iag dreiundzwanzig am Lower Wacker Drive«, sagte Don Sandstrom von Channel 13. Auf dem Bildschirm erschien das Gerüst, dazu wurde ein Kalender eingeblendet. »Seit Frauen, die hierher zu der Wand kommen, nicht mehr in die Obdachlosenunterkunft in der Orleans Street Church dürfen, tauchen fast keine Obdachlosen mehr vor der Garage des Hotel Pleiades auf. Die Maßnahmen der Kirche konnten allerdings den beständigen Strom der anderen Wundersucher nicht eindämmen. Channel 13 hat sich mit Mathilde Ledoq aus Belgien unterhalten, deren fünfjährige Tochter Bette an Leukämie erkrankt ist.« Dons dichter blonder Haarschopf wich dem Bild einer hageren Vierzigjährigen mit besorgtem Gesicht. »Madame Ledoq hat uns mit Hilfe eines Dolmetschers erklärt, daß sie ihre Tochter seit drei Tagen in dem Wasser aus dem Riß badet und daß Bette schon deutlich kräftiger ist... Dr. Clyde Hanaper, der Leiter der Psychiatrie im Midwest Hospital, wo das Kind untersucht wurde, sagt, es sei nichts Ungewöhnliches, daß Eltern von Kindern mit lebensbedrohlicher Krankheit sich oft etwas über den Zustand ihrer kranken Kinder vormachen.« Es folgte ein kurzer Ausschnitt mit Hanaper, der traurig und mitleidig aussah in seinem aufwendig eingerichteten Büro und die Macht der Wahnvorstellungen erklärte, die es den Menschen ermögliche, an Wunder zu glauben. Als nächstes sprach Don Sandstrom mit dem Wunderexperten der Erzdiözese Monsignor Mulvaney, der in bestimmtem, aber auch besorgtem Tonfall erklärte, Gebete könnten Wunder wirken. Wenn die Frauen sich allerdings heidnischen Göttern zuwandten, würde Gott wohl kaum... 131 Tag fünfundzwanzig am Lower Wacker Drive. »Hector Tammuz, der Arzt, der Madeleine Carter behandelte, als sie noch am Leben war, kommt immer noch zu der Stelle, an der sie starb. Heute abend haben wir ihn gegen sieben vor der Wand angetroffen. Er war unterwegs zum Midwest Hospital, wo die Ärzte in der Psychiatrie jeden Tag Sonderschichten einlegen, um dem Ansturm der Menschen Herr zu werden, die täglich zu der Wand gehen: Viele von ihnen müssen sich in der Notaufnahme der Psychiatrie behandeln lassen...« Hector kam immer wieder bei Einbruch der Dunkelheit zu der Wand, weil das die Zeit war, zu der Starr und Luisa oft dort auftauchten. Manche Wundersucher behaupteten, Starrs Anwesenheit, nicht die Wand selbst, heile sie. Sie brachten ihr Blumen oder Geld oder auch das Starkbier, das sie offenbar gern trank. Andere glaubten an die Kraft der Wand und hängten Kränze an das Gerüst oder stellten brennende Kerzen auf. Sie klebten Gebete auf den Beton um den Riß: Heilige Mutter, hilf Leon, einen Job zu finden... befreie mich von meiner Arthritis ... heile Melanie vom Krebs... mach mich schwanger... sorg dafür, daß ich einen Abgang bekomme... hilf Mark, mit dem Trinken aufzuhören... mit seinen Seitensprüngen... daß er mich nicht mehr verprügelt. Botschaften in Polnisch und Spanisch und Englisch, Bitten in Koreanisch, Russisch, Arabisch, in allen Sprachen der Stadt. Don Sandstrom wußte, daß dies die Story seines Lebens war, und beschäftigte sich aus den unterschiedlichsten Perspektiven damit. Sprach Starr eine eigene Sprache? Konnte die Diva ihr Grunzen tatsächlich übersetzen, oder hielten die beiden alle zum Narren? Sandstrom lud Philologen und Bauchredner ein, die diese Frage im Fernsehen diskutierten. Starr und Luisa wollten nicht ins Studio kommen, so daß Sandstrom Bildmaterial von den beiden benutzen mußte. Doch auf diesen Bildern war es schwer festzustellen, was die beiden sagten oder wie die Leute auf sie reagierten. Verna Granita vom Oriental Institute der University of Chicago erklärte sich bereit, an der Podiumsdiskussion teilzu 131 nehmen, zusammen mit drei Professoren von anderen Instituten. Normalerweise bedachte Professor Granita solche Sendungen mit Spott und Verachtung, doch ihr Kontakt zur Stonds-Familie erklärte natürlich ihr Interesse an Maras Aktivitäten. Bevor die vier Philologen mit der Diskussion begannen, trafen sie sich im Tonstudio von Channel 13 und hörten sich Tonbandaufnahmen von Starr und Luisa an. Starr war nur schwer aus dem allgemeinen Lärm herauszufiltern, aber die Toningenieure holten so viele Grunzlaute von ihr wie
möglich aus dem Geräuschchaos heraus und erstellten ein Mastertape, das sich ausschließlich auf sie und Luisa konzentrierte. Professor Granita und die anderen Wissenschaftler ließen sich das Band immer wieder vorspielen. Sie konnten weder vor noch in der Sendung entscheiden, ob die Geräusche, die die beiden von sich gaben, sich als Sprache interpretieren ließen. Sie einigten sich aber darauf, daß das, was Starr von sich gab, trotz ihrer bronzefarbenen Haut und ihrer Hakennase keine moderne semitische Sprache war. Die Philologen blieben nach ihrem fünfundvierzigsekündigen Fernsehauftritt noch im Studio, um sich weitere Aufnahmen von Starr anzusehen und anzuhören. Die Männer machten keinen Hehl daraus, daß sie sich für Starrs Busen interessierten, und hielten das Video wiederholt an den freizügigeren Stellen an. Professor Granita, die allmählich ungeduldig wurde über die rauhen Scherze ihrer Kollegen, betrachtete Starrs Haare mit den kunstvoll gedrehten Zöpfen. Wenn sie die Augen kurz zusammenkniff, sahen sie aus wie die Hörner von Figurinen auf alten sumerischen Walzensiegeln. Als sie die Sprache darauf brachte, reagierten ihre männlichen Kollegen verächtlich. Ach was, da besteht nicht die geringste Ähnlichkeit, Verna. Wollen Sie vielleicht behaupten, diese Kreatur könnte eine Sumererin sein, die viertausend Jahre lang geruht hat und deren DNA plötzlich reaktiviert wurde? Nein, das glaubte Professor Granita nicht. Allerdings fragte sie sich, ob Mara ihre Beschwörung der Göttin Gula intensi 132 viert hatte. Vielleicht hatte sie eine der Frauen überredet, sich von ihr die Haare wie eine Figur auf einem alten Walzensiegel frisieren zu lassen. Professor Granita zögerte, ihre Gedanken Dr. Stonds mitzuteilen: Er war bereits so wütend auf Mara, weil sie seinen Namen vor der ganzen Stadt in den Schmutz zog, daß Verna Granita seinen Zorn nicht noch schüren wollte. Allerdings ging die Professorin nach der Fernsehsendung mehrere Male zum Lower Wacker Drive, um Starr mit eigenen Augen zu sehen. Doch es waren zu viele Leute dort, und die Professorin war nicht bereit, sich in die Warteschlangen einzureihen, die sich bildeten, wenn Starr und ihre Begleiterinnen tatsächlich auftauchten. Die Polizei hinderte die Leute daran, neben der Wand zu schlafen oder auch nur stehenzubleiben und dem, was da vor sich ging, zuzusehen. Wenn sie beten wollten, nun gut, ansonsten sollten sie weitergehen. Also verschwanden Starr, Luisa und Mara nach einem kurzen Aufenthalt an der Wand immer wieder in den angrenzenden Straßen, tauchten ab und an bei unterschiedlichen Unterkünften auf, legten sich aber häufiger noch zusammen mit anderen Männern und Frauen zum Schlafen einfach in den warmen Sand am Lake Michigan. Nachdem Jared Lowrie eine Woche lang Videoaufnahmen gemacht hatte, um festzustellen, ob eine der Frauen von Hagar's House gegen die neue Regel verstieß, hatte er das Filmen satt, und es fand sich auch sonst keiner, der die Sommernachmittage dort mit einer Videokamera verbringen wollte. Also kehrten ein paar Frauen von Hagar's House zu der Wand zurück oder zogen zusammen mit Starr und Luisa herum. Am häufigsten kamen Jacqui und Nanette mit LaBelle, der Frau, die als erste die Heilkraft der Wand hatte überprüfen wollen, zur Garage. Wenn die Wundersucher ihnen Geld gaben, kaufte Mara etwas zu essen, und sie teilte die Sachen mit den Obdachlosen, denen sie begegneten. Irgendwann war ein Gerücht im Umlauf, daß Mara am Strand eine große Menschenmenge mit einer einzigen Tüte altem Brot satt bekommen hatte. 132 Als die Leute vom Fernsehen das mitbekamen, waren sie außer sich vor Freude: Das war der Wunschtraum eines jeden Medienmenschen - live in Galiläa dabei zu sein. Don Sandstrom von Channel 13 machte sich wie alle anderen auf die Suche nach einem verläßlichen Zeugen. Luisa und Mara Stonds waren nicht aufzutreiben. LaBelle jedoch spürte er in Hagar's House auf, wo sie allerdings keine Fragen beantworten wollte, aus Angst davor, daß Patsy Wanachs sie nicht mehr in die Unterkunft lassen würde, wenn sie LaBelle im Fernsehen sähe. Sandstrom fand lediglich einen Betrunkenen, der lachend vor und zurück wippte. »Diese Starr, die ist schon eine starke Type. Wenn die das Brot anrührt, verwandelt sich's in Schinkensandwiches oder auf was man grade Appetit hat. Jeder hat was abgekriegt; waren wohl zweihundert Leute da. Sie hat aus der Bierflasche getrunken und sie rumgereicht, tja, und plötzlich war so viel Colt 45 drin, daß alle ihren Durst löschen konnten.«
Der Sender war der Ansicht, daß die Aufnahmen mit dem Betrunkenen sich nicht zur Ausstrahlung eigneten, und deswegen gab es nur einen Bericht über die Gerüchte und ein Interview mit Monsignor Mulvaney und Pastor Emerson von der Orleans Street Church. Die Geistlichen waren erzürnt über die blasphemischen Äußerungen, zu denen die Leute durch Starr, Luisa und Mara Stonds angeregt wurden. »Es ist ja in Ordnung, wenn Frauen glauben, daß die Jungfrau ihre Gebete erhört«, sagte Mulvaney, »aber der Spaß hört auf, wenn diese Starr plötzlich so tut, als könne sie die gleichen Wunder wirken wie Unser Herr in Galiläa. Das ist Blasphemie. Ich würde Ihnen nachdrücklich empfehlen, nicht mehr über die Aktivitäten dieser Frau zu berichten - das ermutigt sie nur.« Natürlich hatte Channel 13 nicht die Absicht, seine Berichte abzubrechen, denn die Einschaltquoten waren hoch wie nie. Leider waren Don Sandstrom und sein Kamerateam nicht am Lower Wacker Drive, als Pastor Emerson und Monsignor
3*4
Mulvaney beschlossen, die Angelegenheit selbst in die Hand zu nehmen und sich persönlich an die Frauen zu wenden. Dr. Hanaper vom Midwest Hospital schloß sich ihnen an. Er hatte die beiden Geistlichen bei den zahllosen Fernsehsendungen über die Frauen an der Wand kennengelernt. Die Psychiater des Midwest Hospital waren gezwungen, ihre Aktivitäten ins Freie zu verlegen, denn die Sommerhitze, die Erwartungen, die die Leute hierher trieben, und die Stadt forderten ihren Tribut unter den Wundersuchern. Eine große Familie aus dem Norden New Yorks beispielsweise war so überwältigt von der Größe der Stadt und dem höhlenartigen Straßensystem am Lower Wacker Drive, daß alle neun einander an den Händen faßten und zusammen in den Chicago River sprangen. Andere litten an plötzlichem Gedächtnisverlust oder hielten sich für Reinkarnationen des Messias oder der Jungfrau Maria. Mindestens einmal täglich, manchmal sogar öfter, mußte die Polizei am Lower Wacker Drive einen Notarztwagen rufen, der einen der verrückten Wundersucher ins Krankenhaus brachte. Hanaper, der seine Runde machte, sich viele Geschichten über die Wand und über Starr anhörte über ihre Energie und Ausstrahlung, ihre Augen, die bis auf den Grund der Welt zu blicken schienen, über ihre wunderbaren Heilkräfte -, wollte sie nun persönlich sehen. Deswegen schaute er auf dem Weg zur Arbeit oder in der Mittagspause mehrere Male bei der Wand vorbei, aber Starr war nie da, wenn er kam. So war er auf Fernsehberichte oder die scheußlichen Schnappschüsse angewiesen, die die Wundersucher ins Krankenhaus mitbrachten. Starr war ein deutliches Beispiel für den Feminismus, der außer Rand und Band geraten war, erklärte Hanaper seinen Assistenzärzten und Studenten. Ihre aufdringliche Sexualität, die fast schon ans Nymphomanische grenzte, trieb sie dazu, sich vor Männern zu entblößen, um durch sexuelle Erfüllung auch so etwas wie Selbstbestätigung zu erhalten. »Sie haben sie doch schon ein paarmal persönlich gesehen, Dr. Tammuz, oder? Und außerdem sind Sie unser Freud-Experte. Ich hoffe, 32S Sie stimmen mir da zu. Sie weckt die latente Lust, die ihre Anhängerinnen bisher unterdrückt haben.« Hector, der das Blitzen in den Augen seines Chefs sah, merkte, daß Hanapers eigene latente Lust ziemlich kurz vor dem Ausbruch stand. Ich werde dich vor ihm beschützen, Starr, dachte er, und als Hanaper fragte, wann er Starr und ihr Gefolge - Luisa, Mara, Jacqui und Nanette - am wahrscheinlichsten an der Wand antreffen würde, antwortete Hector, mittags oder in der Morgendämmerung. Zufällig tauchte Starr tatsächlich eines Tages gegen Mittag an der Wand auf, als auch Hanaper, Monsignor Mulvaney und Pastor Emerson sich dort befanden. Der Monsignor erklärte den Polizisten, wer er war und daß er zusammen mit einem Arzt und einem protestantischen Pastor gekommen sei, um diese verblendeten Kreaturen zur Vernunft zu bringen. Und sofort eskortierten ein paar Polizisten die Männer direkt zu Starr und ihren Freunden. Die Frauen, die schon seit dem Morgengrauen darauf gewartet hatten, Starr zu sehen, murmelten entrüstet, aber darauf achteten die Männer nicht. Hanaper stieß einen leisen Pfiff der Anerkennung aus. Es war genauso, wie er es sich gedacht hatte: Der Körper war das Handicap dieser Frau; wahrscheinlich war sie in der Pubertät deswegen sehr befangen gewesen und hatte sich eine provokative Haltung als Abwehrmechanismus angewöhnt nach dem Motto: »Wenn du deinen Peinigern nicht die Stiefel lecken kannst, dann schließ dich ihnen an.« Und plötzlich stellte er sich vor, wie er diese riesigen Brüste leckte und Sahne in seinen
Mund floß... Hanaper hob den Blick und sah der Frau ins Gesicht. Einen Augenblick lang hatte er das Gefühl, daß sie seine Gedanken lesen konnte, als stünden ihm seine Phantasien auf die Stirn geschrieben. »Die Frauen gehören in ein Krankenhaus«, sagte Hanaper zu Monsignor Mulvaney. Mara, die das hörte, bekam Angst: Sie werden uns einsperren. Sie zupfte an Starrs Arm und flehte Luisa an, ihr zu erklären, in welcher Gefahr sie sich befanden, aber Starr lachte 134
nur, und Luisa sagte: Ach, mach dir keine Sorgen. Die sind bloß hier, um uns zu beweisen, wie wichtig sie sind. Die drei Männer hielten Starr einen Vortrag über ihren schädlichen Einfluß auf die Frauen, die sich so leicht beeindrucken ließen. Doch als Starr Pastor Emerson mit ihren schwarzen Augen ansah, wußte dieser mitten in seiner Bitte, sie solle die Wundersucher wieder zu ihren Familien nach Hause zurückkehren lassen, nicht mehr weiter. Ich bin sicher, daß das nicht Ihre Absicht ist, sagte Emerson, aber Sie lösen bei all diesen Menschen die unglaublichsten Phantasien aus. Dr. Hanaper sagte, nein, sie kann das nicht beeinflussen. Genau solche Dinge behandelt die moderne Medizin mit Medikamenten. Ach, Unsinn, herrschte der Monsignor ihn an. Solche angeblich pathologischen Zustände sind lediglich eine Ausrede, damit wir keine Verantwortung für unser Tun übernehmen müssen. Sie weiß genau, was sie tut - sehen Sie sich doch nur ihren Gesichtsausdruck an. Und während die Männer sich weiter untereinander stritten und Starr Vorträge hielten, konnten alle drei den Blick nicht von ihrem Körper lösen, von ihren vollen roten Lippen, die noch vollere Lippen weiter unten zu versprechen schienen, von ihren bronzefarbenen Armen, die aussahen, als könnte sie die Menschen darin wiegen. Mit glänzenden Gesichtern und zum Bersten gespannten Hosen redeten die drei Männer immer lauter und aggressiver, um ihren verräterischen Körper wieder unter Kontrolle zu bekommen. Und dann verkündete Dr. Hanaper wütend über Starrs Lachen, das rauh von den Stahlträgern widerhallte wie das Trompeten eines Elefanten, er würde sie mit Polizeigewalt ins Krankenhaus bringen lassen. Doch als der Arzt zu einem der Polizisten hastete, brach er plötzlich keuchend zusammen. Und als die Polizei endlich jemanden gefunden hatte, der Hanaper Erste Hilfe leisten konnte, waren Starr, Luisa und Mara längst verschwunden. Pastor Emerson gab Mara Stonds die Schuld daran, daß die 134 Angelegenheit eskaliert war. Er berief eine außerordentliche Versammlung des Gemeinderats ein. Die Kirche fühlte sich persönlich verantwortlich für die Situation, weil die Frauen von Hagar's House als erste an die Wand gepilgert waren. Und Mara Stonds, die eigentliche Anführerin der Gruppe, war in diesem Haus getauft worden. Der Gemeinderat sollte doch eigentlich in der Lage sein, Mara Stonds daran zu hindern, daß sie die Stonds-Familie, die Kirche und die Stadt in Verlegenheit brachte. Einige Mitglieder des Gemeinderats glaubten, die Geschichte, daß Starr die Massen genährt hatte, könne stimmen vielleicht war Starr eine Hexe, die ihre perversen Parodien von biblischen Wundern zum besten gab. Ihr wißt ja, sagte Rafe Lowrie mit unheilverkündender Stimme, im Buch Levitikus heißt es, du sollst nicht zulassen, daß eine Hexe am Leben bleibt. Unsinn, sagte Mrs. Ephers, hier geht es nicht um Hexen, sondern um Mara Stonds, die sich wie üblich in den Vordergrund spielt und nur Unheil anrichtet. Ich werde mit dem Arzt darüber reden. Er muß sie ins Krankenhaus bringen, denn da gehört sie hin; dann hört sie schon auf mit dem Unsinn. Doch einstweilen einigte sich der Gemeinderat auf zwei Dinge: Die freitägliche psychotherapeutische Beratung in der Unterkunft wurde fürs erste eingestellt. Hector Tammuz ermutigte die obdachlosen Frauen nur, Starr zu unterstützen. Wenn die Kirche diesen blasphemischen Aktivitäten in Chicago wirklich einen Riegel vorschieben wollte, mußte sie zuallererst in der eigenen Gemeinde für Ruhe und Ordnung sorgen. Man konnte nicht auf der einen Seite Dr. Stonds sagen, er solle seine Tochter von der Straße holen, wenn man selbst den Obdachlosen eine Zuflucht bot, von der aus sie neue Missetaten planen konnten. Außerdem beschloß der Gemeinderat, am Samstag der folgenden Woche einen Bußgottesdienst abzuhalten. An dem Tag veranstaltete Rafe Lowrie sein Family-Matters-Seminar, an dem die Geschäftsleute teilnahmen, die die gottgegebene Autorität über ihre Familie wiedererlangen wollten.
135 Bis dahin hatte Pastor Emerson weder Rafe noch dessen Family-Matters-Gruppe unterstützt, denn er hatte etwas gegen Rafes Auslegung der Heiligen Schrift. Doch nun war der Pastor wütend auf die obdachlosen Frauen, auf Mara Stonds und besonders auf Starr, weil er an der Wand gedemütigt worden war. Es wurde Zeit, daß die Gemeinde ihre Macht zeigte. Am Sonntag kündigte er den Bußgottesdienst von der Kanzel aus an und predigte mit wütender Stimme über einen Satz aus dem ersten Brief an Timotheus: »Wer seinem eigenen Hauswesen nicht vorstehen kann, wie soll der für die Kirche Gottes sorgen?« Emerson erklärte den versammelten Gläubigen, er würde Rafes Seminar mit einem Bußgottesdienst einleiten, um Gott zu zeigen, daß sie es bereuten, dem Zusammenbruch der öffentlichen Moral Vorschub geleistet zu haben. Denn Mara Stonds, die aus ihren Kreisen stammte, war die Anführerin dieser unseligen Geschichte geworden. Das ganze Debakel bewies doch nur, daß sie als Gemeinde, die den jungen Leuten den Weg weisen sollte, versagt hatten, denn war Mara nicht das Produkt einer zwölfjährigen Erziehung in der Sonntagsschule der Orleans Street Church? Doch in all der Zeit war es ihnen nicht gelungen, ihr die Festigkeit im Glauben zu geben, mit deren Hilfe sie einer gefährlichen Kultfigur wie Starr hätte widerstehen können. Die Gemeinde hatte sich zu sehr auf materielle Dinge konzentriert - dabei sah er in Rafes Richtung -und darauf, den Glauben durch soziales Engagement zu ersetzen - hier wandte er sich direkt an Sylvia Lenore. Man hatte den Herrn vergessen; schließlich war er es, der uns geschaffen hat, nicht wir selbst. Nach dem Gottesdienst trugen sich die Männer in eine Liste ein, die die Schließung der Unterkunft offiziell machen sollte. Die ganze folgende Woche stand das Telefon im Gemeindebüro nicht mehr still, so viele Männer riefen an, die unbedingt ihre gottgegebene Autorität wiedererlangen wollten. Dabei ging es nicht um so dumme Sachen wie Survival-Training oder um Trommeln mit nacktem Körper, sondern um ein einfaches 135 christliches Seminar, dessen Sinn jeder Geschäftsmann begreifen konnte. Dr. Stonds wußte von Mrs. Ephers, wie erzürnt der Gemeinderat darüber war, daß Mara zu den Anführerinnen der Frauen an der Wand gehörte. Als er Emersons Predigt hörte, wuchs auch seine eigene Wut auf Mara. Ihm fielen all die Dinge wieder ein, die er an seiner Enkelin noch nie hatte leiden können. Wie konnte sie es wagen, ihn in der Öffentlichkeit so bloßzustellen? Nach Hectors fruchtlosem Versuch, Mara im vergangenen Monat ins Krankenhaus zu bringen, hatte Dr. Stonds erklärt, er wolle nichts mehr mit Mara zu tun haben: Wenn sie nicht bereit war, sich helfen zu lassen, nun, dann sollte sie eben in der Hölle schmoren, wie ihre Mutter und Großmutter es vor ihr getan hatten. Aber der allgemeine Klatsch war einfach unerträglich. Schließlich pflichtete er Hilda Ephers bei: Es wurde Zeit, etwas zu unternehmen. Und wenn Mara schon Beatrix nacheiferte - nun, um so besser. Aber es war gar nicht so leicht, Mara zu finden. Starr ging nie zwei Nächte nacheinander in denselben Park. Und Dr. Stonds würde sich nicht so weit erniedrigen, daß er an den Stränden und felsigen Buchten nach seiner Enkelin suchte, nicht einmal zusammen mit der Polizei. Schließlich willigte er ein, zwei Männer vom privaten Sicherheitsdienst des Krankenhauses abends zu der Wand zu schicken, da Mara immer wieder dort auftauchte. Tag dreißig am Lower Wacker Drive, Tag einunddreißig... 135
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Zeig uns deine Möpse, Schätzchen
Gian Palmetto, der Generaldirektor des Hotel Pleiades, ist außer sich, denn über fünfzig Prozent der Gäste haben ihre Reservierungen rückgängig gemacht. Schließlich wollen Gäste, denen Ruhe und Anonymität wichtig ist, sich nicht an Frauen mit Rosenkränzen, an Frauen, die sich in dem rostigen Wasser aus der Wand duschen, und an Frauen mit schreienden Kindern vorbeikämpfen ganz zu schweigen von dem ganzen Abfall, den die Wundersucher auf dem Gehsteig hinterlassen. Natürlich brauchen die Leute von auswärts einen Platz zum Schlafen, aber sie nehmen sich lieber ein Zimmer im Motel, nicht im Luxushotel, wo die Übernachtung hundertachtzig Dollar aufwärts kostet. Palmetto hat mit Vorstandsmitgliedern telefoniert, ihnen Faxe geschickt, und jetzt sind sie persönlich gekommen. In der Kanzlei von Scandon and Atter finden Besprechungen zwischen Mervin Clinator, dem Vorstandsvorsitzenden der Olympus-Gruppe, und Leigh Wilton, dem Seniorpartner der Kanzlei, statt. Am Donnerstagnachmittag sitzt Harriet als Strafe dafür, daß sie
die Angelegenheit nicht in den Griff bekommen hat, am anderen Ende des Tisches. Sie macht sich Notizen und recherchiert, hat aber kein Recht auf eine eigene Meinung. Neben ihr Gian Palmetto, genauso in Ungnade gefallen, weil er nicht verhindern konnte, daß die Reservierungen im Hotel Pleiades rückläufig sind. Auch ein Anwalt der Stadt ist mit seinem Gefolge erschienen. Der Vorstandsvorsitzende der Olympus-Gruppe fragt sich besorgt, warum es der Polizei nicht gelingt, die Leute zu verscheuchen schließlich haben sie sich unbefugt Zutritt beschafft, lungern vor dem Gebäude herum und hinterlassen ihren Dreck dort.
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Der Anwalt der Stadt gibt sich verständnisvoll. Die Stadt weiß, wieviel das Hotel Pleiades in die Chicagoer Kunst investiert hat, ganz zu schweigen von den Wahlkampfspenden für den Bürgermeister. Deswegen stellt die Stadt zusätzliche Leute von der Müllabfuhr ab, um die öffentlichen Bereiche abfallfrei zu halten. Und natürlich patrouillieren rund um die Uhr Polizisten, die die Menschen daran hindern, die Einfahrt der Hotelgarage zu blockieren. Das reicht noch nicht, faucht der Olympus-Vorstandsvorsitzende Clinator. Wir wollen, daß die ganze Gegend geräumt wird. Nun, sagt der Anwalt der Stadt, wenn es nur um die obdachlosen Frauen ginge, hätte die Polizei kein Problem damit. Natürlich bleibt das, was ich gerade gesagt habe, unter uns. Alle Männer nicken: selbstverständlich. Aber wir haben drei Probleme: die Fernsehkameras, die Schaulustigen und die Klage, die das First Freedoms Forum eingereicht hat. Das Hotel kann nicht dafür verantwortlich gemacht werden, daß es die Rechte verletzt hat, die den Wundersuchern nach dem First Amendment zustehen, aber die Stadt. Mervin Clinator und Leigh Wilton müssen schon verstehen - bei dem Grad an Öffentlichkeit, den die Sache mittlerweile erreicht hat, muß die Stadt sich ganz genau an das First Amendment halten und Straße und Gehsteig für die Wundersucher freihalten. Und was ist, wenn wir die verdammte Wand einfach einreißen, neue Rohre legen und dem ganzen Spuk ein Ende machen? fragt Mervin Clinator. Der Anwalt der Stadt zeichnet mit dem Finger einen Kreis auf den Tisch. Das ist eine wundervolle Idee, allerdings sollte das Hotel warten, bis sich die Situation etwas beruhigt hat. Schließlich sieht es nicht gut aus, wenn das Hotel so herzlos mit gläubigen Frauen umspringt - übrigens ist eine von ihnen die Schwester eines Bischofs, und eine andere ist mit dem Chef einer Baufirma verheiratet, der dem Bürgermeister beim Wahlkampf immer ordentlich unter die Arme greift. 33* Und was ist, wenn sich die Situation überhaupt nicht mehr beruhigt? fragt der Olympus-Vorstandsvorsitzende. Leigh Wilton zieht seine Trumpfkarte aus dem Ärmel. Er sagt, er habe sich mit Clyde Hanaper vom Midwest Hospital unterhalten. Da ist eine Alkoholikerin, die mal eine großartige Sängerin gewesen ist, die lungert vor der Wand rum, scheint eine Lesbe zu sein, hat jedenfalls eine Affäre mit dieser kräftigen Frau - wie heißt sie doch gleich, Harriet? - Starr, genau, das Mädel, das die Gruppe irgendwie anführt. Nun, jedenfalls hat der Bruder von der Alkoholikerin genug; er ist der Ansicht, daß sie seine Tochter verdirbt, deshalb will er, daß sie in einer Klinik untergebracht wird. Wenn der Bruder bereit ist, die Kosten für die Alkoholikerin zu übernehmen, könnte Scandon and Atter sich etwas für Starr überlegen, sie psychiatrisch untersuchen lassen, sie vielleicht in die geschlossene Abteilung des Midwest Hospital stecken. Das Problem ist nur, daß diese Starr so etwas wie eine hypnotische Wirkung auf die Frauen an der Wand zu haben scheint. Deshalb können sie sie nicht tagsüber mitnehmen, wenn am meisten Leute da sind, am Ende gar Leute vom Fernsehen. Außerdem ist sie nicht immer an der Wand, und Sie wissen nicht, wo sie die Nacht verbringt. Aber die Leute vom Krankenhaus sind der Meinung, daß sie sie finden könnten. Ein Assistenzarzt, der sich schon seit längerem mit den obdachlosen Frauen beschäftigt, könnte das übernehmen. Sie werden es heute abend versuchen; vielleicht können sie die Frauen ja im Schlaf überraschen. Und wenn erst einmal diese Starr nicht mehr da ist... Mervin Clinator lacht. Das Weib würde ich wirklich gern im Schlaf überraschen. Die Möpse, die ich auf den Bildern gesehen habe, könnten einem wahrscheinlich mit einem einzigen Schlag den technischen K.o. versetzen.
Gian Palmetto und Leigh Wilton wiehern: Der Vorstandsvorsitzende macht einen Witz; plötzlich läßt die Anspannung nach. Die Besprechung endet im Austausch von Zoten; die Männer versuchen, sich gegenseitig mit unanständigen Witzen 137 zu überbieten. Harriet hat das Gefühl, nicht mehr da zu sein. In den ersten drei Stunden war sie kein Mensch mehr, keine Anwältin, nur noch eine Notizen machende Maschine; jetzt wird sie plötzlich zu einer Körpermaschine, denn Mervin Clinator verschlingt sie fast mit den Augen; seine Blicke durchbohren ihre fahlgrüne Kostümjacke und ihre Seidenbluse und landen bei ihren kleinen Brüsten, obwohl die wie immer durch einen Büstenhalter geschützt sind. Sie ist - abgesehen von der Assistentin des Anwalts der Stadt - die einzige anwesende Frau, und je deutlicher die Witze werden, desto ungenierter beobachten sie sie. Sie erhebt sich und geht zur Tür. Schätzchen, haben Sie denn gar keinen Humor? fragt der Vorstandsvorsitzende. Harriet dreht sich an der Tür um. Ach, soll das ein Scherz gewesen sein? Verzeihung, aber ich habe nie das Privileg gehabt, den Humor in einer Knabengarderobe kennenzulernen. Sie geht, wird aber von Leigh Wilton eingeholt. Das sind wichtige Mandanten, die sich mit einer ziemlich unangenehmen Angelegenheit auseinandersetzen müssen. Sie brauchen unsere Hilfe, und das bedeutet auch, daß sie hier ein bißchen Dampf ablassen dürfen. »Und ich habe kein Anrecht auf Unterstützung der Kanzlei, Leigh?« fragte Harriet. »Sie machen mich zum Sündenbock für etwas, das niemand hätte verhindern können. Und wenn der Mandant dann auch noch üble Zoten reißt, soll ich darüber lachen. Angenommen, ich hätte über einen Frauenwitz gelacht, Sie wissen schon, daß die Männer immer zwanghaft ihre Penisse vergleichen der ihre könnte ja zu kurz geraten sein, und wie witzig Frauen solche Ängste finden... Wäre das das gleiche gewesen?« »Was ist denn plötzlich in Sie gefahren, Harriet? Sie haben doch früher immer so zuverlässig fürs Team gearbeitet. Die Partnerfrage wird nach dem Labor Day entschieden. Die letzten sechs Jahre sind Sie stetig auf der Karriereleiter nach oben gestiegen. Zwingen Sie mich jetzt bitte nicht dazu, darüber 137 nachzudenken, ob Sie auch in Zukunft noch einen festen Platz bei Scandon and Atter haben werden.« Dabei starrt Leigh Wilton sie an, die Augen so groß, daß sie ihm gleich aus dem Kopf zu fallen scheinen. »Ich werde noch einmal über Ihr Benehmen heute hinwegsehen. Aber bitte sorgen Sie dafür, daß ich das Sitzungsprotokoll noch vor sechs bekomme. Und beschaffen Sie mir Informationen zu ähnlichen Fällen, damit ich feststellen kann, ob wir überhaupt einen Spielraum haben. In der Zwischenzeit unterhalte ich mich mit Hanaper vom Midwest Hospital. Ich glaube, es zahlt sich aus, wenn wir die Behandlungskosten für diese Starr ein paar Tage lang übernehmen. Schließlich könnte das die Situation entschärfen.« Er sieht sie an, um festzustellen, ob sie irgendwie reagiert. Sie bleibt ruhig, das beruhigt auch ihn sie ist ein braves Mädel, gut fürs Team. »Clinator und ich gehen im Casino Club zum Essen. Sie können ja, wenn Sie das Protokoll fertig haben, heimgehen, ein hübsches Kleid mit 'nem ordentlichen Ausschnitt anziehen und sich dann zu uns gesellen - das zeigt den Leuten von Olympus, daß Sie sich für die Sache heute nachmittag entschuldigen wollen. Um acht. Sie wissen doch, wo der Casino Club ist, oder?« Er gibt ihr einen Klaps aufs Hinterteil und macht sich auf den Weg zu seinem eigenen Büro. Harriet bleibt im Flur stehen. Ein ordentlicher Ausschnitt zur Beschwichtigung des Mandanten. Wird Leigh Wilton sie vielleicht zur Partnerin machen, wenn sie auch noch ihre Möpse zeigt? Sie sitzt in ihrem Büro und kommt sich vor wie in einer unsichtbaren Kiste; es fällt ihr schwer, die Arme zu bewegen. Haben solche groben Witze und Beleidigungen Mara aus dem Veranstaltungsbüro vertrieben? Hätte sie selbst etwas von Beebie lernen können und sie nicht immer kritisieren sollen? Wenn Mara so etwas passiert wäre, würde sie erhobenen Hauptes und splitternackt im Casino Club erscheinen. Harriet lächelt, sagt sich aber, daß sie nun mal nicht so ist wie Mara 137 so etwas würde sie nie tun; sie würde auch nicht auf dem Universitätsgelände kampieren oder zusammen mit den obdachlosen Frauen vor dem Hotel Pleiades demonstrieren. Am liebsten würde sie ihre Kündigung schreiben und gehen, aber ihre Ausbildung hat sie gelehrt, keine solch impulsiven Dinge zu tun. Sie muß mit jemandem reden, der sie bei der Entscheidung über ihr weiteres Vorgehen beraten kann.
Großvater. Er würde die Stirn runzeln. Sag bloß nicht, daß du plötzlich genauso impulsiv bist wie deine Mutter oder deine Schwester, Harriet. Du bist doch immer so vernünftig gewesen - ich dachte, auf dich könnte ich mich verlassen. Nun sei ein braves Mädchen. Ich rufe Leigh Wilton an; schließlich sitzen wir zusammen im Stiftungsrat. Mephers. Mara ruiniert dein Leben. Wenn sie nicht zu der Hotelgarage gegangen wäre und den ganzen Ärger mit den obdachlosen Frauen verursacht hätte, wäre das alles nicht passiert. Pastor Emerson. Vielleicht haben die Herren das nur im Eifer des Gefechts gesagt und schämen sich jetzt schon deswegen. Jesus sagt, wir sollen die andere Wange hinhalten. Dies scheint eine der Situationen zu sein, für die Jesus den richtigen Rat bereit hält. Harriet denkt an die Frauen, mit denen sie das College besucht hat, und an die Verehrer, die früher in Scharen in die Graham Street kamen. Sie ist zweiunddreißig und hat keine richtigen Freunde. Wieso? In was für einer Welt hat sie bis jetzt gelebt, daß sie so isoliert von anderen Menschen war und sich trotzdem für glücklich gehalten hat? Sie greift nach ihren Notizen und beginnt zu diktieren. Doch dann löscht sie das Band wieder. Es ist jetzt fünf Uhr; Leigh hat nur deshalb gesagt, sie solle den Bericht noch vor sechs Uhr fertig haben, weil er sie demütigen wollte, denn dann muß sie ihn selbst tippen und auch vergleichbare Fälle selbst heraussuchen; so spät ist keiner mehr da, der diese Arbeiten für sie erledigt. Vor einem Jahr, ja, noch vor sechs Wochen, hätte Großvaters braves Mädchen getan, was er wollte, doch heute nicht. 138 Aus reiner Gewohnheit greift sie nach ihrer Aktentasche. Sie sieht sie an und wirft sie auf einen Stuhl. Dann verläßt sie das Büro. Sie lächelt die anderen Anwälte, die Partner und Angestellten an, die sie verblüfft gehen sehen: Harriet Stonds verläßt das Gebäude ohne ihre Aktentasche und noch dazu vor sechs? Stürzt etwa der Himmel ein? 138
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Die Truppen sammeln sich
D r. Tammuz, ich habe Sie heute morgen in den Fernsehnachrichten gesehen«, sagte Melissa
Demetrios, die Hector gegenüber an dem Schreibtisch in dem winzigen Kämmerchen saß, das den Ärzten des Midwest Hospital zur Verfügung stand. »Was hatten Sie denn bei der Wand zu suchen? Stimmt es, daß Sie jeden Tag dort sind?« Hector brachte kein Wort heraus. Er spreizte die Finger, als könne er das, was er sagen wollte, besser mit Gesten ausdrücken. Außerdem sollte die Frage nicht lauten, ob er jeden Tag bei der Wand vorbeischaute, sondern ob er tatsächlich jeden Tag ins Krankenhaus ging. Stimmte es, daß er sich von Starr oder der Hoffnung, Starr zu sehen, losriß, um seinen blauen Assistenzarztkittel anzuziehen und die Runde bei den Patienten zu machen? Denn selbst wenn er ein Krankenblatt las, sich mit Mrs. Herstein unterhielt oder jemandem Haldol spritzte, spürte er Starrs Lippen, wie er sich an sie klammerte, sich in ihrer Fülle vergrub. Was ist denn in letzter Zeit mit Ihnen los? hörte er Melissa fragen. Sie sehen aus, als hätten Sie seit Wochen nichts mehr gegessen und sich nicht mehr rasiert. Ich bin mir nicht sicher, ob ich Sie in dem Zustand noch auf die Patienten loslassen kann. Ich erkenne den Unterschied zwischen Wachen und Träumen nicht mehr. Habe ich nun wirklich an jenen Brüsten gesaugt, von jenem süßen Geschlecht getrunken, oder ist das alles in meinen Träumen passiert? Woher soll ich das wissen? Doch wenn er das laut sagte, würde er selbst in einem der Betten im fünften Stock landen, mit Ativan behandelt, festgeschnallt, auf ewig von Starr ferngehalten. »...weil sie überall, wo sie auftaucht, Hysterie auszulösen 33 8 scheint, haben die Anwälte des Hotels Dr. Hanaper engagiert, der sie untersuchen soll. Sie versuchen, sie zusammen mit der Diva, die vor ein paar Monaten schon mal hier war, herzubringen. Dr. Stonds möchte außerdem, daß wir auch seine Enkelin behandeln; sie lebt jetzt schon seit mehr als einem Monat auf der Straße, und er macht sich große Sorgen um sie. Die Polizei hat gestern keine der drei Frauen finden können, obwohl es Dr. Hanapers Meinung nach nicht so schwer sein kann, sie aufzuspüren.« »Mara Stonds?« Hector versuchte, dem, was Melissa sagte, zu folgen und wie ein richtiger Arzt zu reagieren. »Vielleicht ist ihr Leben auf den Straßen ziemlich unkonventionell, aber als ich sie das
letzte Mal gesehen habe, hatte ich den Eindruck, daß sie glücklich ist. Sie zeigt keinerlei Anzeichen geistiger Verwirrung.« »Nun, ich glaube nicht, daß Sie sich darüber ein Urteil erlauben können. Und außerdem machen sich Dr. Stonds und Dr. Hanaper auch mehr Gedanken über diese Starr. Sie scheint hinter...« »Nein!« rief Hector. »Hanaper will nur... er will nur... Ich sehe das an seinem Blick, wenn sie ihn zu den Wundern befragen. Er geht immer wieder zu der Wand, weil er sie sehen möchte, und er schaut aus wie...« Er vergrub das Gesicht in den Händen. Hanaper war mit seinem geifernden Maul für ihn wie ein Schakal in der Steppe, dem beim Anblick einer wilden Kuh das Wasser im Mund zusammenlief. »Und was glauben Sie, wie Sie selbst aussehen, Dr. Tammuz? Wir sind überarbeitete Ärzte in einem städtischen Krankenhaus. Im Augenblick haben wir fast doppelt so viele Patienten wie gewöhnlich wegen dieser unseligen Geschichte. Sie schaffen Ihre Arbeit nicht, also müssen Ihre Kollegen und ich härter denn je schuften. Wenn Sie nicht bereit sind, im Team zu arbeiten, muß ich mit Dr. Hanaper über Ihre Leistungen sprechen. Das habe ich bisher vermieden; ich wollte mich zuerst mit Ihnen persönlich unterhalten.« Melissa war weiß im Gesicht; es war schwer, jemandem zu 139 sagen, daß er seine Arbeit nicht ordentlich erledigte, aber das konnte Hector sich nicht vorstellen. Er konnte sich auch nicht vorstellen, daß Melissa von Anfang an ihre eigenen Phantasien über ihn gehabt hatte, über seinen sinnlichen Mund und seine langen, schmalen Hände auf ihrem Körper, und daß sie angewidert war von der Besessenheit, mit der er hinter dieser Starr her war. Hectors Distanziertheit, seine Geduld, die er kultiviert hatte, um der Verachtung seiner Mutter zu entgehen, waren mit einem Mal verschwunden. Er schaffte es kaum noch, Melissa zuzuhören; er sah nur noch, wie sie den Mund auf und zu machte wie ein Hai, der einen ganzen Schwärm Fische verschlang... das Zeug zu einem guten Arzt... haben sich durch Ihr Engagement für die Obdachlosen aus der Bahn werfen lassen... habe mich mit Dr. Boten von der Lenore Foundation unterhalten. Plötzlich war Hector hellwach: Dr. Boten war wie Melissa der Meinung, daß Hector sich zu stark mit den obdachlosen Frauen identifizierte, die er in der Orleans Street Church behandelte. Bis sich die Frauen wieder beruhigt hatten, sollten die Sprechstunden ohnehin eingestellt werden; ob sie wiederaufgenommen würden, ob Hector sie wieder behandeln dürfte, hing sehr stark von seinem Verhalten in den kommenden Wochen ab. Hector ließ die Schultern hängen. Die Freitagnachmittage in der Kirche waren ihm sehr wichtig gewesen, weil er glaubte, so den Obdachlosen etwas Gutes tun zu können. Er sehnte sich danach, soviel Zeit wie möglich mit ihnen verbringen, einen Blick auf Starr erhaschen zu können. Wenn Melissa es ihm nun untersagte, dorthin zu gehen... Nein, das hatte mit Dr. Boten zu tun, mit Dr. Boten, dessen Ansatz in der Psychotherapie Hector nach Chicago und ins Midwest Hospital gelockt hatte. Und jetzt verriet er ihn, indem er die Sprechstunden einfach aussetzte. Wahrscheinlich war er neidisch auf Hector und seine außergewöhnliche Beziehung zu Starr. »... der Verlust der Würde macht beruflich einen schlechten Eindruck«, sagte Melissa gerade. 34° Doch die Sehnsucht nach Starr vertrieb jeden Gedanken an Würde aus Hectors Gehirn. Oft stolperte er mitten in der Nacht am See entlang, ohne sie zu finden. Die Parks erstreckten sich kilometerlang, und die Strände wechselten mit Felsenkaps, Häfen und großen Präriestücken ab. Er konnte nicht alles nach ihr absuchen. Also kehrte er enttäuscht ins Krankenhaus zurück, ohne sich zu rasieren oder zu essen, und schon bald sah er aus wie einer von den Männern, die sich am Freitag Nachmittag vor der Orleans Street Church drängten, um auf Hector mit seiner Tasche voller Zaubermittel zu warten. Hector war neidisch auf Maras Nähe zu Starr. Immer wenn er Starr sah, war Mara bei ihr. Das war typisch Stonds, daß sie sich einmischte, wo sie nichts zu suchen hatte. Gegen Luisa hatte er nichts, weil sie als einzige Starrs Grunzlaute zu verstehen schien - oder das jedenfalls behauptete - und weil die ehemalige Diva ihm überhaupt nicht wie ein Mensch vorkam. Doch Mara wirkte trotz ihres kahlgeschorenen Schädels und ihres abgebrochenen Schneidezahns, vielleicht auch gerade deswegen, verletzlich, ja sogar begehrenswert, und er hatte Angst, daß Starr sie besonders liebte. Einmal, als die Sonne gerade ihr rosa- und goldfarbenes Licht über das Wasser auf den Sand warf, hatte er Luisa, Starr und Mara im Schutz eines Felsens auf einer Landzunge am Strand in der Nähe der Montrose Avenue entdeckt. Sie waren nackt, und Mara hatte den Kopf an Starrs Seite
gekuschelt. Hector hatte aufgeschrien. Mara und Luisa hatten sich nicht gerührt, aber Starr war aufgewacht und hatte ihn angesehen. Sie hatte nichts gesagt, aber Hector glaubte zu spüren, daß sich seine Eifersucht und Begierde in ihren schwarzen Augen spiegelten. Er war davongestolpert und irgendwo am Strand zusammengebrochen. Als er wieder zu Bewußtsein gekom- * men war, hatte er im Bereitschaftszimmer des Krankenhauses gelegen. Er war nicht sicher, ob Starr ihm am Strand gefolgt war, ihn in ihre Arme genommen und ihm erlaubt hatte, in sie einzudringen, von ihr zu trinken, oder ob er das alles nur geträumt hatte. 140 »Dr. Tammuz!« Melissas scharfer Tonfall riß ihn aus seinen Überlegungen, allerdings erst, als sie seinen Namen zum drittenmal sagte. »Hören Sie mir überhaupt zu? Wir wollen wissen, wo wir Luisa Montcrief und Starr am ehesten finden können, damit Dr. Stonds seine Enkelin von der Straße holen und behandeln kann. Und Luisa und Starr müssen wir ebenfalls behandeln - es ist zu ihrem eigenen Besten. Falls Sie wissen, wo wir sie finden können, tun Sie allen - dem Krankenhaus, den obdachlosen Frauen, der Kirche und sogar der Stadt - einen großen Gefallen, wenn Sie es mir sagen. Damit würden Sie außerdem beweisen, daß Sie am Krankenhaus und Ihrer Arbeit hier tatsächlich interessiert sind.« An seiner Arbeit als Verteiler von Drogen und unzureichenden Therapien interessiert? Wenn er sich bemühte, das zu beweisen, war er möglicherweise auf ewig ruiniert. »Sie würden es vorziehen, wenn sie die Frauen nicht von der Wand wegschleppen müßten«, sagte Melissa, »weil sie Angst haben, daß es dann zu einem Aufruhr kommt. Glauben Sie, sie haben recht?« Das ist wichtig, das könnte Starr betreffen, paß auf, versuchte er, sich wachzurütteln. »Recht... Ach, Sie meinen, es könnte zu einem Aufruhr kommen? Die Verehrerinnen der blauen Aura sehen nicht so aus, als würden sie... letztlich ist die Wand nur den obdachlosen Frauen wichtig, aber die Kirche versucht sie davon fernzuhalten. Dieses Schwein Rafe Lowrie und sein Sohn, die haben sich Namen notiert und Fotos gemacht... Obwohl sie inzwischen damit aufgehört haben, sind viele von den obdachlosen Frauen nicht mehr zurückgekommen.« »Also meinen Sie, es wäre in Ordnung, wenn wir die Polizei bitten, die Frauen zu uns zu bringen, sobald sie sich wieder an der Wand blicken lassen?« fragte Melissa noch einmal. Er lehnte sich mit teilnahmslosem Gesichtsausdruck zurück. »Das weiß ich nicht. Auf jeden Fall gäbe es davon Filmaufnahmen, denn selbst wenn das Fernsehen nicht da ist, läuft irgendwo die Videokamera eines Schaulustigen. Wenn Hana 140 per sie erwischt - er darf sie nicht einsperren. Ich habe das einmal gemacht, es war schrecklich, ich weiß nicht, ob sie mir das je verziehen hat, ich muß Luisa mal fragen.« Seine Stimme schweifte ab, während er seine Finger miteinander verschlang. Nein, er durfte Luisa nicht fragen - er würde es nicht ertragen, wenn sie ihm sagte, daß Starr ihn immer noch für die Dinge haßte, die er ihr vor ein paar Wochen angetan hatte. Schließlich hatte er sie mit Drogen vollgepumpt und dazu ein schadenfrohes Gesicht gemacht. »Dr. Tammuz, wir sind alle überarbeitet, und wir treffen alle unsere Entscheidungen in der Hoffnung, daß sie zum Besten des Patienten sind - aber leider sind sie das nicht immer. In diesem Fall haben wir es mit einer Frau zu tun, die an Wahnvorstellungen zu leiden scheint und reihenweise Leute in einen Zustand der ungesunden Erregung versetzt. Ob wir Starr oder Luisa oder auch Mara Stonds helfen können, weiß ich nicht. Aber wenn wir diese Frauen eine Weile aus dem Verkehr ziehen, können wir vielen anderen Menschen helfen.« Hector suchte nach einem Argument, mit dem er seine Vorgesetzten überzeugen könnte. »Und was ist mit der Verwaltung? Ist die vielleicht bereit, drei Patientinnen ohne Krankenversicherung hier aufzunehmen? Vielleicht sind's auch nur zwei - wahrscheinlich hat Mara Stonds' Großvater dafür gesorgt, daß sie versichert ist.« »Machen Sie sich keine Gedanken über diesen Aspekt der Angelegenheit. Sagen Sie mir einfach nur den Ort, wo wir sie am ehesten finden können.« »Ich soll mir keine Gedanken übers Geld machen?« Seine dunklen Augen blitzten, und die Wut führte dazu, daß er einen Augenblick lang wieder zusammenhängend denken konnte. »Madeleine Carter könnte noch am Leben sein, wenn die Krankenhausverwaltung sich nicht so viele Gedanken übers Geld gemacht hätte. Als ich diese Stelle angenommen habe, dachte ich, ich könnte hier als
Psychiater arbeiten und lernen. Aber plötzlich wurde ein Zwanzig-zwanzig-Programm eingeführt; man darf mit den Leuten nicht länger als zwanzig Minu 141 ten in zwanzig Sitzungen reden, aber natürlich muß ich schon nach fünfzehn aufhören - sollen die Patienten doch sehen, wo sie bleiben, wenn sie dann noch nicht gesund sind. Außerdem sind sie von der Therapie zu Medikamenten übergegangen, weil das billiger ist. Sie haben Angus Boten vergrault. Und jetzt bringt eine obdachlose Frau, die nicht einmal sprechen kann, den Großen Weißen Chef und seinen katzbuckelnden Handlanger Hanaper so durcheinander, daß sie sogar ihr wertvolles Kostendämpfungsprogramm über Bord werfen.« Jetzt wurde auch Melissa wütend. »Dr. Tammuz, Ihre Gefühle in der Angelegenheit interessieren mich nicht. Sie sind nicht in der Position, sich in Therapiefragen aufs hohe Roß zu setzen, jedenfalls nicht, wenn Ihre eigenen Gefühle Sie daran hindern, Ihre Arbeit ordentlich zu erledigen. Wenn Sie mir nicht helfen wollen, die drei Frauen zu finden, und wenn Sie sich weigern, dem Krankenhaus bei der Erledigung seiner gesellschaftlichen Aufgaben behilflich zu sein, dann habe ich keine andere Wahl, als mich mit Dr. Hanaper über Ihre Pflichtauffassung zu unterhalten, und es könnte gut sein, daß der sagt, Sie müssen sich eine bestimmte Zeit bewähren. Möchten Sie das wirklich?« Selbstbehauptung seiner Mutter gegenüber hatte früher für ihn bedeutet, daß er ihr immer sagte, was er vorhatte. In den letzten Jahren hatte er versucht, sich in seinem Innersten einen kleinen privaten Raum zu bewahren, aber seit er Starr kennengelernt hatte, war er nicht mehr in der Lage, irgend etwas für sich zu behalten. Als er jetzt Melissa ansah, war sein erster Impuls, klein beizugeben. Hier könnt ihr Starr am ehesten finden: Die Nacht verbringt sie meistens irgendwo am See, häufig in der Nähe von Montrose Harbor, wo er sie schon zweimal entdeckt hatte, mitten im Präriegras, das in einem einsamen Winkel des Parks wuchs. Doch bevor er irgend etwas sagen konnte, klingelte das Telefon auf Melissas Schreibtisch. Sie ließ es in der Hoffnung klingeln, daß jemand anders rangehen würde. Als es aber nicht auf 141 hörte zu klingeln, nahm sie den Hörer in die Hand und fauchte ihren Namen hinein. Doch dann veränderte sich ihr Tonfall abrupt. »Ja, Sir... Verstehe, Sir... Ich werde mein möglichstes tun.« Sie legte auf und sah Hector an. »Das war Dr. Hanaper. Dr. Stonds hat den Sicherheitsdienst des Krankenhauses angewiesen, die drei Frauen zu suchen und hierherzubringen, weil die Chicagoer Polizei die Sache nicht wichtig genug nimmt. Dr. Hanaper möchte, daß Sie die Leute begleiten, denn die Frauen kennen Sie und vertrauen Ihnen. Ich habe ihm gesagt, daß Sie das machen würden; der Chef des Sicherheitsdienstes kommt gleich hierher, um Sie abzuholen. Rasieren Sie sich zuerst, damit Sie wie ein Arzt aussehen, nicht wie der Patient einer psychiatrischen Klinik. Es könnte auch nicht schaden, wenn Sie duschen.« Hector stolperte aus dem Stationszimmer zur Dusche der Ärzte. Während er sich rasierte, malte er sich aus, wie er Starr an Hanaper auslieferte, und dann... er konnte sich nicht vorstellen, daß er diesen Augenblick überleben würde. Am anderen Morgen würde er sich aufhängen. Oder vielleicht sollte er es jetzt tun, noch vor seinem Verrat. Er nahm die Krawatte ab und sah sich in dem Badezimmer nach etwas um, woran er sie festmachen konnte. Bevor er einen Haken oder eine Klinke fand, die sein Gewicht ausgehalten hätte, streckte jedoch ein Mann mit der braun-orangefarbenen Uniform des Sicherheitspersonals den Kopf zur Tür herein. »Dr. Tammuz? Dr. Hanaper sagt, Sie begleiten mich auf der Suche nach den drei Frauen.« 141
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Palastrevolte
In der Wohnung in der Graham Street hört Harriet Stimmen im Wohnzimmer. Großvater ist
bereits zu Hause und hat Gäste mitgebracht. Sie wird ihr freundliches Gesicht aufsetzen müssen, ruhig, aber aufmerksam, obwohl sie eigentlich nur ins Bett möchte, ganz still daliegen und sich in dem Nebel auflösen, der sich schon die ganze Woche angekündigt hat. Mrs. Ephers, die den Schlüssel im Schloß hört, kommt sofort in den Flur. Es könnte ja Mara sein, die wieder nach Hause gekommen ist. Raymond, der Portier, soll sie eigentlich vorwarnen, wenn Mara unten auftaucht, aber Mrs. Ephers vertraut ihm nicht - er hat sich schon immer von Mara um den Finger wickeln lassen.
»Schön, daß du so früh nach Hause kommst«, sagt Mrs. Ephers in dem trüben Eingangsbereich zu Harriet. »Du hast in letzter Zeit sehr hart gearbeitet, und daran ist nur Mara schuld. Es ist höchste Zeit, daß dieser Zirkus aufhört. Dein Großvater hat Mr. und Mrs. Minsky mitgebracht. Die beiden wollen dich unbedingt sehen, die Situation mit dir besprechen.« Mrs. Ephers begrüßt Harriet nie mit einem Kuß oder einem »Willkommen daheim«, sondern nur mit einer trockenen Bemerkung wie zum Beispiel: »Gott sei Dank, daß sie dich früher nach Hause gelassen haben; mußt du denn die ganze Arbeit in der Firma erledigen? Du bist genau wie dein Großvater - du arbeitest die ganze Zeit, bekommst aber nie etwas zurück.« (Abgesehen natürlich von der Kontrolle über das Krankenhaus und ein paar Millionen Dollar im Jahr, aber was ist das schon?) Harriet sehnt sich nach irgendeiner Form menschlicher Wärme und tritt einen Schritt auf die alte Dame zu, um sie zu umarmen, aber Mephers verkrampft sich bei ihrer Berührung. Also nimmt Harriet die Hände weg und läßt die Arme sinken, 34<$ die nun lächerlich wie die Arme eines Tintenfisches herunterhängen. Hat sie damals, als sie noch zur Schule ging, eigentlich irgend jemand in den Arm genommen, wenn sie nach Hause kam? Oder hieß es bloß: Nun wollen wir doch mal sehen, was du heute gelernt hast. Oh, der Doktor wird stolz auf dich sein; was bist du doch für ein kluges kleines Mädchen. In dieser wunderbaren Schule kann dir niemand das Wasser reichen; man möchte gar nicht meinen, daß du sechs Jahre deines Lebens zusammen mit Beatrix verbracht hast... Im College ist niemand so gut wie du... Und das Jurastudium hast du als Fünftbeste abgeschlossen; nun, wahrscheinlich kann man nicht immer die Beste sein... Es wundert mich nicht, daß du schon so jung so großen Erfolg im Beruf hast; schließlich bist du hübsch und fleißig und hast alle Chancen, die der Doktor dir geboten hat, genutzt. »Wer sind Mr. und Mrs. Minsky?« fragte Harriet mit teilnahmsloser Stimme. »Ach, dein Großvater hat seine Mutter operiert, aber das ist sicher schon zehn Jahre her. Zwar konnte er sie nicht retten, aber natürlich war die Familie sehr dankbar für alles, was er für sie getan hat. Tja, und außerdem ist es seine Schwester, die sich mit Mara vor der Wand herumtreibt - der arme Mr. Minsky. Diese betrunkene Sängerin, Luisa Montcrief. Früher war dein Großvater der Ansicht, daß sie die tollste Stimme der Welt hat, aber Hochmut kommt vor dem Fall, sage ich immer. Wenn du Mr. Minsky siehst, wirst du nicht glauben, daß er ihr Zwillingsbruder ist. Das ist sogar noch merkwürdiger als bei dir und Mara - schließlich ist sie ja nur deine Halbschwester, aber bei Zwillingen! Wahrscheinlich können einfach keine zwei Geschwister einen guten Charakter haben.« Harriet steht in der Tür, ohne sich von der Stelle zu bewegen, also dirigiert Mephers sie in Richtung Wohnzimmer. »Miss Harriet ist da, Doktor«, sagt sie. Sie benimmt sich immer wie eine Bedienstete, wenn Gäste da sind - und Harriet folgt ihr mit teilnahmslosem Gesicht. Leigh Wiltons Wunsch nicht 142 Folge zu leisten ist die eine Sache, aber sich auch noch gegen Großvater und Mephers aufzulehnen, dafür reicht ihre Kraft nicht. Großvater sitzt in seinem üblichen Sessel und unterhält sich mit einem Paar auf dem Sofa, beide Anfang Vierzig. Harriet gibt Großvater einen Kuß auf die glatte Wange - er rasiert sich immer noch ein zweites Mal, wenn er nach Hause kommt - und wird den beiden auf dem Sofa vorgestellt. Genau wie Mephers ist sie verblüfft darüber, daß der Mann Luisa Montcriefs Zwillingsbruder ist: Auf den Fotos sieht die Diva schlank aus, und sie hat eine Adlernase, während Minsky klein ist und sein Gesicht wie das einer freundlichen, aber besorgten Kröte wirkt. Seine Frau paßt überhaupt nicht zu ihm: Sie ist attraktiv, ganz die dezente Vorortsfrau. Die sandfarbenen Haare sind kurz geschnitten, und sie hat sonnengebräunte Haut und große blaue Augen. »Ich freue mich, daß du da bist, meine Liebe. Du kannst uns gleich einen Rat geben.« Großvater reicht ihr ein Glas mit trockenem Sherry. »Ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß Harriet Anwältin ist. Sie wird dafür sorgen, daß wir die Sache richtig angehen.« Die Minskys erklären ihr nervös die Angelegenheit. Janice sei schon immer schwierig gewesen, aber in den letzten drei Jahren sei sie völlig in ihre Trunksucht abgeglitten. »Wer ist Janice?« Harriet gibt sich alle Mühe, interessiert zu klingen. »Ach, so heißt sie eigentlich. Luisa Montcrief ist nur ihr Künstlername«, sagt Karen, die den größten Teil der Unterhaltung bestreitet.
Der Name Minsky ist gut genug für die Rechnungen, aber nicht gut genug für die Bühne - Harriet fällt ihr ins Wort, um ihr zu sagen, daß Janice möglicherweise gar nicht so unrecht hatte, den Namen zu ändern. Schließlich sei es als Jüdin gar nicht so leicht, Karriere zu machen... Doch Karen widerspricht ihr: Das hat überhaupt nichts damit zu tun. Janice hat schon immer ein Alkoholproblem gehabt; das ist ganz ungewöhnlich bei Juden; deshalb haben 143 wir auch ziemlich lange gebraucht, um dahinterzukommen. Der Intendant der Met konnte sie gut leiden und hat sich um ihre Karriere gekümmert. Harry mischt sich ein: Karen, versuch nicht, um den heißen Brei herumzureden, schließlich ist Ms. Stonds kein kleines Kind mehr. Sie hatten eine Affäre, deswegen hat Carl Benedetti sie unter seine Fittiche genommen. Aber vor drei Jahren ist sie im letzten Akt von Otello auf offener Bühne zusammengebrochen. Das gab einen ziemlichen Skandal, und Benedetti hat sich geweigert, sich noch einmal für sie einzusetzen. Von da an wollte sie niemand mehr unter Vertrag nehmen - ihr Agent hat allen gesagt, sie sei krank. Tja, und seitdem kam eins zum anderen. Sie hat ihr ganzes Geld durchgebracht und macht mir Vorwürfe, wenn ich etwas von ihren Sachen verkaufe, um ihre Rechnungen zu begleichen. Karen meldet sich wieder zu Wort: Sie hat eine Weile bei uns gewohnt, aber nachdem sie Hotelrechnungen von vierzigtausend Dollar über Harrys MasterCard abrechnen ließ, haben wir uns an Dr. Hanaper im Krankenhaus Ihres Großvaters gewandt. Er hat uns geraten, sie mit Strenge zu behandeln. Karen erzählt von den Katastrophen des Sommers, von ihrer Tochter Becca, einem Teenager, der sich nur allzugern beeinflussen läßt und ganz vernarrt ist - nun, nicht so sehr in die Tante, sondern in die romantische Aura, die das Leben dieser Tante zu umgeben scheint. »Tja, und jetzt ermutigt Luisa - Janice - Becca, sich zusammen mit ihr und dieser merkwürdigen Frau Starr, die sie irgendwo getroffen hat, auf den Straßen rumzutreiben. Becca findet das alles schrecklich aufregend; sie glaubt, Janice sei eine Märtyrerin für die Sache der Redefreiheit. Becca schleicht sich immer wieder aus dem Haus und fährt nach Chicago zu ihr. Sie spricht mit Anwälten und marschiert zusammen mit Janice und Starr vor dieser Wand auf und ab. Wir haben ihr gesagt, daß wir nichts mehr für Luisa bezahlen; sie muß lernen, sich selbst um ihre Probleme zu kümmern. Aber inzwischen machen wir uns Sorgen, was sie vielleicht mit Becca anstellt. 143 Wir wollen, daß Janice in Behandlung kommt. Becca muß endlich einsehen, daß ihre Tante eine sehr kranke Frau ist und keine Heldin. Dr. Stonds sagt, er macht sich ebenfalls Sorgen um seine Enkelin. Offen gestanden glauben wir, daß Becca Mara nacheifert - schließlich ist Mara nicht viel älter als sie, gerade so viel, daß sie eine Vorbildfunktion für sie übernehmen kann. Tja, und deshalb sind wir hier, um die Angelegenheit mit ihm zu besprechen.« Großvater schnaubt verächtlich. Mara als Vorbild für ein anderes Mädchen - das wäre zum Lachen, wenn seine Enkelin nicht gar so zerstörerisch wäre. Es wurde Zeit, daß sich ein Psychiater um sie kümmerte. Ich habe dem Gemeinderat versprochen... schließlich habe ich als ihr Vormund die Verpflichtung, für ihr Wohlbefinden zu sorgen... Harriet richtet sich so unvermittelt auf, daß sie den Sherry auf ihren Rock verschüttet. »Du willst Mara in die Psychiatrie stecken? Wann hast du denn das beschlossen?« Großvater hebt überrascht die buschigen Augenbrauen. »Wir haben uns letzte Woche in der Gemeinderatssitzung darüber unterhalten. Ich weiß, daß du in letzter Zeit viel zu tun hattest, meine Liebe, aber du weißt doch sicher, daß ich ein paar Leute vom Sicherheitsdienst des Krankenhauses gebeten habe, nach ihr zu suchen. Die Männer konnten aber nie richtig an sie rankommen. Wie alle psychisch Kranken ist sie ziemlich gerissen.« »Psychisch krank? Grandpere...« Harriets Stimme bricht ab: Sie will sich nicht vor Fremden über Mara unterhalten. Doch der Arzt hat keinerlei Bedenken, den Begriff zu verwenden. »Genau wie ihre Mutter. Schlechtes Blut - ich fürchte, meine Frau hat's in die Familie gebracht, und unsere einzige Tochter, die auch schon geraume Zeit tot ist, hat es wohl noch verstärkt. Als dieser Versager, Hanapers Assistenzarzt Hector Tammuz, Mara nicht überreden konnte, sich in Behandlung zu begeben, dachte ich, nun schön, ich lasse ihnen ihren Willen, aber so wird alles nur noch schlimmer. Unsere Kirche hält morgen 143
einen Gottesdienst für sie. Wenn Mara das herausfindet, ist es vermutlich ganz aus mit ihrem übersteigerten Ego. Nein, mein Beschluß ist gefaßt: Ich habe den Leuten von der Polizei gesagt, sie sollen Mara aufspüren und sie in die Psychiatrie bringen, wo sie hingehört.« Sie aufspüren. Großvater im Safarianzug mit einem großen Gewehr und einer grünen Minna voller Treiber. »Ist das wirklich nötig, Grandpere? Vielleicht ist es nicht unbedingt schön, daß Mara auf der Straße lebt, aber sie tut doch niemandem was.« »Sie tut niemandem was?« Der Arzt runzelt verärgert die Stirn. »Ich dachte, wir haben dir gerade erklärt, daß sie diese hysterischen Frauen in ihrem Verhalten ermutigt und die Tochter der Minskys verdirbt.« Harriet fragt die Minskys, was Mara ihrer Tochter tatsächlich getan hat. Sie hat Becca angestachelt, von zu Hause wegzulaufen und sich gegen ihre Autorität aufzulehnen. Zusammen mit Harrys Zwillingsschwester. »Und außerdem«, fügt Großvater hinzu, »wäre es dir doch sicher auch ganz recht, wenn deine Mandanten sich nicht mehr wegen deiner Schwester aufregen müßten, oder?« Harriet denkt, ihre Mandanten haben sie den ganzen Tag so aufgeregt, daß alles, was Mara tun könnte, lediglich die gerechte Strafe dafür wäre. Sie wünscht sich, ihre Schwester würde irgendwo eine Panzerfaust auftreiben und das Hotel Pleiades in die Luft jagen. Doch sie sagt nur: »Im Staat Illinois darf man einen psychisch kranken Menschen nur dann einsperren, wenn man beweisen kann, daß besagte Person eine Gefahr für sich selbst oder andere darstellt, und ich habe nicht das Gefühl, daß Maras Verhalten irgendeinen Hinweis darauf liefert. Wahrscheinlich könntest du eine Anhörung erzwingen; ich weiß nicht, vielleicht könnte dein zahmer Oberarzt Hanaper einen Richter davon überzeugen, daß Selbstmordgefahr besteht, aber ich persönlich bin der Meinung, ein wirklich guter Berater würde zu dem Schluß kommen, daß dem nicht so ist.« 144 Großvater kann es nicht fassen. »Meine liebe Harriet, willst du damit etwa andeuten, daß du Maras Recht, sich in der Stadt rumzutreiben, verteidigen würdest? Ich denke, jeder Richter würde mir beipflichten, daß ein Mädchen, das diese Wohnung hier gegen das Leben auf der Straße eintauscht, ein bißchen gestört ist.« Harriet schüttelt den Kopf. Die Kluft zwischen ihnen scheint so breit zu sein, daß ihr keine Worte einfallen, die sie überbrücken könnten. Sie sieht die Minskys düster an. »Tut mir leid, Mrs. Minsky. Es ist wirklich schade, daß Madame Montcrief nicht mehr in der Lage ist aufzutreten, aber ein Richter würde Ihnen vermutlich den Rat geben, die Sache innerhalb der Familie zu klären, nicht vor Gericht. Allerdings muß ich zugeben, daß ich mich mit der Rechtsprechung auf diesem Gebiet nicht so gut auskenne, deshalb würde ich Ihnen empfehlen, sich einen Anwalt zu suchen, der sich mit Zwangseinweisungen in die Psychiatrie beschäftigt hat.« Harriet stellt ihr Sherryglas ab, erhebt sich abrupt, ohne sich von den Minskys zu verabschieden, und geht in ihr Zimmer. Sie hört die Besucher nicht gehen, aber ein paar Minuten später kommt Großvater in ihr Schlafzimmer. »Harriet, ich weiß, daß du in letzter Zeit ziemlich viel Streß hattest, aber ich muß schon sagen, dein Verhalten hat mich doch überrascht. Die Minskys machen sich große Sorgen um ihre Tochter; sie haben mich um Rat gebeten und wollten auch dich fragen, aber du hast sie ausgesprochen rüde behandelt. Solltest du übrigens nicht die Schuhe ausziehen, bevor du dich auf die Tagesdecke legst?« Harriet setzt sich auf und schwingt die Beine über die Bettkante. »Ich will nicht, daß du Mara in die geschlossene Abteilung einweist.« »Harriet! Was ist nur mit dir los? Du willst doch nicht etwa behaupten, daß es normal ist, wenn sie sich an diese Starr hängt und zusammen mit Betrunkenen und Obdachlosen am Lower Wacker Drive rumlungert, oder?« 144 »Sie ist nicht verrückt, sondern einsam, genau wie ich auch. Auch ich sehne mich nach jemandem, der sich etwas aus mir macht, aus mir, dem Menschen Harriet, meine ich, nicht aus der Vorzeige-Harriet, die ihre Kunststückchen jedem vorführt, der sie darum bittet.« »Du bist übermüdet«, sagt der Arzt kühl. »Du klingst ja schon genauso melodramatisch wie deine Schwester. Würde ein geistig gesunder Mensch denn eine Obdachlose mit seiner Mutter
verwechseln? Genau das hat Mara doch getan, oder? Du hast mir selbst erzählt, daß sie gesagt hat, das ist Beatrix, obwohl sie weiß, daß Beatrix seit siebzehn Jahren tot und begraben ist.« »Ich bin mir sicher, daß sie das in ihrem Innersten weiß«, sagt Harriet, »aber immer wenn sie nach ihrer Mutter gefragt hat, hast du die Stirn gerunzelt und von etwas anderem gesprochen, und deswegen glaubt sie, daß irgendein Rätsel hinter Beatrix' Tod steckt. Wenn du mit ihr darüber geredet hättest, statt immer nur zu sagen, wie schlecht Beatrix gewesen ist, und überhaupt, je weniger man über sie spricht, desto besser ...« »Es wird Zeit, daß Harriet die Wahrheit über Beatrix erfährt«, meldet sich Mephers von der Tür aus zu Wort, wo sie schon seit einiger Zeit steht, ohne daß Harriet das aufgefallen wäre. »Dann wird auch sie verstehen, daß es das beste ist, Mara einzusperren, damit sie sich nicht verletzen kann.« Harriet starrt sie an. »Die Wahrheit? Ich... ich kenne die Wahrheit. Beatrix ist in der Badewanne ausgerutscht, das habt ihr mir bei der Beerdigung gesagt.« Großvater sagt, was für einen Sinn kann es haben, die ganze alte Geschichte wieder auszugraben, aber Mephers gefällt der Gedanke nicht, daß Harriet sich auf die Seite von Mara schlägt. Großvater und Mephers streiten sich, und Harriet hört zu. Sie spürt, wie das Eis um sie herum dicker wird, sie im Herzen eines Gletschers einschließt. Beatrix hat mit Drogen gehandelt und wurde zusammen mit dem Mann, dem schwarzen Mann, mit dem sie in jener Nacht geschlafen hatte, in einem Motel 145 verhaftet. Großvater war wütend, hat sie für unzurechnungsfähig erklären lassen und sie schließlich in die psychiatrische Abteilung des Midwest Hospital gesteckt. Beatrix hat eine Schallplatte aus dem Gemeinschaftsraum gestohlen, sie unter ihrer Bluse versteckt, sie in der Nacht zerbrochen und sich damit in der Badewanne die Pulsadern aufgeschnitten. Sie war schon tot, als man sie gefunden hat. Wie peinlich für Großvater - schließlich ist die Sache in seinem eigenen Krankenhaus passiert. Das war das schlimmste, was ihm seine undankbare Tochter antun konnte. Er hat dafür gesorgt, daß in der Öffentlichkeit nichts über ihren Tod bekannt wurde. Harriet sagte man die Wahrheit nicht, um sie zu schützen; Mara sagte man nichts, um sie nicht mit ihrem schlechten Blut zu belasten. Harriet würde am liebsten hysterisch lachen, aber sie reißt sich zusammen. »Ein Unfall in der Badewanne? Du hast gesagt, sie sei in der Badewanne ausgerutscht und gestorben. Ich habe mein ganzes Leben lang Alpträume gehabt, daß sie mit aufgedunsenem Gesicht hinter mir her ist, aber letztlich warst du hinter mir her und auch hinter ihr. Beatrix war deine Tochter. Was hast du mit ihr gemacht, nachdem Oma Selena weg war? Das gleiche, was du auch mit der armen kleinen Beebie gemacht hast? Hast du ihr gesagt, daß sie einen schrecklichen Makel hat?« »Wie kannst du es wagen?« schreit Großvater. »Stellst du dich jetzt auch gegen mich wie Selena und Beatrix und Mara? Wir haben Mara alles gegeben, die beste Erziehung, die beste Umgebung, ein gesundes, religiöses Umfeld, und sie dankt es uns genauso wie Beatrix, indem sie mit Alkoholikern und Huren rumlungert!« Abraham Stonds marschiert wütend in sein Arbeitszimmer. Mephers bleibt, um noch mit Harriet zu reden. »Ich habe ihm gesagt, wir hätten dir damals alles erklären sollen. Du solltest wissen, wie Beatrix wirklich ist, und Mara auch. Die ganzen Geschichten, die Mara sich ausgedacht hat, in denen sie ihre Mutter zur Heldin in irgendwelchen Abenteuergeschichten gemacht 145 hat... wenn sie gewußt hätte, wie schwach Beatrix tatsächlich war, hätte sie das sicher schnell ernüchtert. Aber dein Großvater wollte dir das alles ersparen, und jetzt sieh dir das Chaos an, vor dem wir stehen. Du mußt dich beruhigen; sonst bringst du deinen Großvater noch völlig aus der Fassung. Außerdem mußt du an deinen Beruf und deine Zukunft denken. Das ist alles eine sehr alte Geschichte und hat nichts mit dir zu tun.« »Es hat sehr viel mit mir zu tun. Warum mietet ihr nicht eine Plakatwand oder ein Flugzeug und laßt es an den Himmel schreiben: Wir sind perfekt, wir haben nichts falsch gemacht. Dann muß sich die ganze Welt vor euch und eurer eiskalten Barmherzigkeit verneigen.« Mephers starrt sie an, den Mund mißbilligend verzogen; sie werde noch einmal über Harriets Ausbruch hinwegsehen, denn schließlich habe Harriet in letzter Zeit ziemlich viel gearbeitet, sagt sie und marschiert aus dem Zimmer.
Harriet wirft sich aufs Bett und weint. Sie hat sich immer für so viel besser als Mara gehalten, aber was ist sie in Wirklichkeit? Nur das eiskalte Geschöpf ihres Großvaters. Sie hatte so viel Angst vor seiner Mißbilligung, daß sie immer getan hat, was er wollte. Plötzlich bemerkt sie Großvater, der wieder im Zimmer steht. »Harriet. Dein Benehmen ist höchst unschicklich. Reiß dich zusammen. Hilda ist ziemlich verletzt. Ich möchte, daß du dich bei ihr entschuldigst. Sie ist dir eine bessere Mutter gewesen als Beatrix, und du bist ihr mehr schuldig als nur ein bißchen Höflichkeit.« Reiß dich zusammen. Dabei hat ihre gedankenlose Eröffnung sie so aus der Fassung gebracht. Nein, es hat alles schon viel früher angefangen, als Leigh Wilton ihr einen Klaps auf den Hintern gegeben hat. Nein, eigentlich schon, als Mara weggelaufen ist und Harriet nicht mehr so genau wußte, was sie empfinden sollte: Reue oder Erleichterung. Aber vielleicht hat es auch schon beim Tod ihres Vaters angefangen, der ihre Mutter aus der Bahn warf. Ach, wenn Oma Selena doch nicht verschwunden wäre! Dann wäre alles anders gewesen, 146 dann hätten sie weiblichen Schutz vor Großvaters Gesetzen gehabt. Sie starrt in sein strenges Gesicht. »Bitte geh.« »Hilda wartet im Flur auf deine Entschuldigung. Ich werde ihr sagen, daß sie hereinkommen soll.« Sie springt vom Bett auf. »Raus. Sofort.« Als er keine Anstalten macht zu gehen, knöpft sie ihre Bluse auf, läßt sie auf einen Stuhl fallen, öffnet ihren Büstenhalter, zieht die Strumpfhose aus. Ihm ist das ausgesprochen peinlich. Als sie Rock und Büstenhalter auf den Boden gleiten läßt, geht er aus dem Zimmer. Sie verschließt die Tür, um das, was er zu Mephers sagt, nicht hören zu müssen, und betrachtet sich im Spiegel des Badezimmers. Alles im Raum ist aus Marmor oder Glas; die kalten, glatten Oberflächen spiegeln ihren Körper. Ihre blonden Haare, ihre Feinknochigkeit unterscheiden sie von der grob gebauten Mara, aber ihr Körper ist zu kalt, als daß irgend jemand ihn berühren wollte. Sie braucht jemanden, an dem sie sich festhalten kann. Sie muß Mara finden. Arme kleine Beebie, wie wird sie reagieren, wenn sie erfährt, daß ihre heldenhafte Mutter in Wahrheit eine Drogenhändlerin und eine Hure war und sich die Pulsadern aufgeschnitten hat, um Großvater zu entkommen? Wo soll sie ihre Schwester in dieser großen Stadt suchen? Sie finden, bevor Großvater sie einfängt und ins Krankenhaus zerrt? Dort wird er Mara mit Drogen vollpumpen, und dann wird sie nichts mehr wissen, sich an nichts mehr erinnern. Harriet zieht sich hastig an. Sie muß Mara vor der Polizei oder dem Sicherheitsdienst des Krankenhauses finden. Sie schlüpft nicht in ein Abendkleid mit tiefem Ausschnitt, wie Leigh Wilton es wünschte, sondern zieht Jeans und ein T-Shirt an. Sie stopft ein paar Dollarscheine und ihren Führerschein in die Tasche und flieht aus der Wohnung. 146
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Unter dem zunehmenden Mond
Füttere mich, füttere mich, füttere mich. Eine konstante Forderung, wo immer sie hinkamen, an
der Wand, unter den Obdachlosen, die die Nacht am Strand verbrachten, ja sogar unter den gutgekleideten Pendlern, die am Morgen in den Coffee Shops an ihnen vorbeidrängten. Der Lärm erfüllte ihr Gehirn, vertrieb Verdi daraus; sie konnte gar nicht glauben, daß Mara nichts hörte. Ihr Kopf war immer voll Musik gewesen, seit ihrem fünften Lebensjahr, als sie alle Kinderlieder von einer Schallplatte nachsang, die Oma Minsky ihr und Harry vorgespielt hatte. (Hör sie dir an, hatte Oma gerufen, die Kleine hat die Lieder erst einmal gehört und kann sie schon perfekt singen. Opa hatte irgend etwas gegrunzt, während Harry, der wütend war, daß sich niemand um ihn kümmerte, auf der Schallplatte herumtrampelte, bis sie kaputt war. Danach ertrug sie kaum noch gesprochene Worte, es sei denn, sie hatten etwas mit Liedern oder ihrer eigenen Stimme zu tun zuerst Kinderlieder, dann, als sie die High-School besuchte, kurze Konzertstücke, Grieg oder Purcell, immer die Hauptrolle in Musicalaufführungen, Harry mit mürrischem Gesicht bei der Kostümprobe, Proben, Applaus. Als sie dann die Maria in der West Side Story sang -im ersten Jahr an der Highland Park School, wo sie alle anderen Mädchen an die Wand spielte, mit denen der musikalische Leiter seit Jahren gearbeitet hatte -, schüttete ihr der eifersüchtige Bruder Ketchup übers Kostüm, aber nicht einmal das hinderte die Musik daran, ihr Gehirn zu überfluten.)
Doch jetzt hörte sie immer nur: füttere mich, pflege mich, heile mich, rette mich - als würde ihr eigener Durst, jenes unermeßliche Verlangen, das nicht einmal ein ganzer Liter Whiskey stillen konnte, hunderttausendfach vervielfältigt. 147 Mara lachte nur über Luisas Gejammere. »Du hast das absolute Gehör, deswegen hörst du alles um dich herum. Ich persönlich finde es wunderbar, Sandwiches auszuteilen und zu sehen, daß die Leute glücklich sind, weil sie etwas zu essen haben.« »Aber sie sind nicht glücklich.« Luisa hatte einen Kater und war schlecht gelaunt. »Das Gratisessen hindert sie nicht daran zu streiten - deins ist größer als meins; ich wollte Truthahn, keinen Schinken; ich hasse Käse und Mayonnaise. Warum können sie nicht einfach dankbar sein für das, was sie bekommen?« »Und du«, sagte Mara, »bist du denn dankbar für das, was du gehabt hast? Du warst eine Diva von internationalem Rang, aber du hast dich trotzdem mit allen gestritten.« Luisa marschierte aufgebracht davon, wie sie es regelmäßig ein- oder zweimal täglich tat. Als es zum erstenmal passierte, war Mara ihr nachgelaufen, um sich zu entschuldigen und sie zurückzuholen, aber Starr hatte sie am Arm gepackt und zurückgehalten. Obwohl Mara ihre Grunzlaute und Blicke nicht verstand, brachte Starr sie zum Nachdenken - Luisa muß selber damit fertig werden; sie ist nicht Großvater, ich muß sie nicht beschwichtigen. Und dann, als Starr Mara an sich drückte, sie küßte und an ihrem abgebrochenen Zahn leckte, damit der pochende Schmerz darin nachließ, dachte Mara, nein, ich muß auch ihn nicht beschwichtigen, ich kann einfach nur ich sein, Mara. Großvater hat mich Mara genannt, weil ich für ihn so etwas wie eine bittere Pille war, aber ich muß nicht auch noch eine bittere Pille für mich sein. Und als Luisa dann ein paar Stunden später zurückkam, gab Mara ihr einen Kuß, wischte ihr das angetrocknete Bier vom Mund und drückte sie sanft neben Starr in den Sand. Trotz der Tage und Nächte im Freien, mit all den Mängeln und Unannehmlichkeiten, war Mara... nicht nur glücklich, sondern stark, als könnte sie durch die ganze Stadt laufen, ohne außer Atem zu geraten. An den Abenden, an denen sie so 147 viel zu essen hatten, daß sie mit den anderen teilen konnten, schien sie über unerschöpfliche Kräfte zu verfügen. Tagsüber wanderten sie zusammen mit Tausenden von Obdachlosen durch die Straßen und Parks von Chicago, und in der Nacht schliefen sie, wo sie gerade landeten. In der zweiten Nacht im Freien waren sie in Richtung der nördlichen Vororte gegangen, zu dem sauberen Strand, an den Luisa sich noch aus High-School-Tagen erinnerte. Doch die Polizei hatte sie gegen zwei Uhr morgens geweckt, Mara ein blaues Auge verpaßt, die drei Frauen in den Streifenwagen geschoben und sie mit dem Satz, sich nie wieder in Chicago blicken zu lassen, hinter der Stadtgrenze rausgeworfen. Luisa hatte sie mit Flüchen bedacht: Wißt ihr eigentlich, wer ich bin, ihr Flegel? Ich bin in dieser konservativen Gegend aufgewachsen und später zur größten Interpretin der Werke Verdis geworden, die eure Generation erleben wird. Und dann hatte sie versucht, »Sempre libera« zu singen, doch nur ein rauhes Krächzen zustande gebracht. Der junge Polizist, dem noch nicht einmal ein Bart wuchs, hatte Luisa zum Abschied einen Tritt in die Nierengegend versetzt. Am nächsten Tag blutete Luisa und hatte Fieber. Mara wollte ihr Antibiotika besorgen, aber das hätte bedeutet, daß sie zu einem Arzt gehen mußten, der sie möglicherweise festhielt. Sie versuchte, Starr das Problem zu erklären, während Luisa mit fahlgrünem Gesicht in den Armen der kräftigen Frau lag. Ihre Erklärungsversuche wurden immer komplizierter, bis Starr plötzlich ein Stück Brot kaute. Mara war schon drauf und dran, einen Notarzt zu rufen, als Starr das feuchte Stück Brot aus dem Mund nahm und Luisa zwang, es zu essen. Luisa würgte daran herum, doch schon nach einer halben Stunde war die grünlich-fahle Farbe aus ihrem Gesicht verschwunden. Und am Nachmittag war sie wieder ganz die Alte - herrisch, stur und durstig. »Was hast du dabei empfunden?« fragte Mara. »Hat Starr dich geheilt? Wie war's, als du das Brot geschluckt hast?« Doch Luisa erinnerte sich nicht daran, daß Starr ihr das Brot 147 gegeben hatte. Sie glaubte, am Boden festgekettet gewesen zu sein, meinte, eine schreckliche alte Frau habe sie für immer und ewig am Boden festhalten wollen. »Und dann ist einer meiner Fans,
jemand aus Italien - in Italien lieben die Leute die Musik einfach noch -, mit einer Flasche Bier gekommen, gerade als ich dachte, ich müßte vor Durst sterben.« Mara fragte nicht weiter: Luisa hatte deliriert. Aber wenn Starr Luisas Nierenverletzung heilen konnte, warum war sie dann nicht in der Lage, sie von ihrem Alkoholismus zu befreien? Als sie Starr fragte, starrte diese sie so lange an, daß ihr ganz unbehaglich wurde, wie damals als Kind, wenn Mephers sie fragte, ob es wirklich nötig sei, daß sie ihre Nase immer in die Angelegenheiten anderer Leute stecke. Und dann tätschelte Starr ihre Haare - ein Zeichen dafür, daß Mara sie bürsten und wieder zu kunstvollen Zöpfen flechten sollte. Starr ging immer am liebsten mit Einbruch der Nacht zur Wand, aber sie konnten nie lange dort bleiben: Die Polizei scheuchte sie weiter und drohte Mara und Starr zu verhaften, falls sie herumlungerten. Ihr Lieblingsschlafplatz war eine kleine Landzunge am Ende von Montrose Harbor, wo hohes Präriegras wuchs, aber Luisa schaffte es nicht immer bis dorthin. Normalerweise war die kleine Landzunge nach Einbruch der Dunkelheit menschenleer, so daß Luisa sich ein wenig von dem Lärm der vielen Menschen erholen konnte. An jenem Abend erreichten sie die Landzunge bei Sonnenuntergang. Die Familien mit kleinen Kindern packten allmählich ihre Sachen zusammen; Drogensüchtige und Motorradfahrer begannen, die Felsen, die den Hafen säumten, zusammen mit schmusenden Paaren zu besiedeln. Mara sah Luisa nach, die zu den Felsen marschierte. Sie würde sich eine Flasche Whiskey erbetteln und in einer Stunde betrunken zurückkommen. Mara hatte keine Ahnung, ob Starr etwas gegen Luisas Abwesenheit oder ihre Trinkerei hatte. Wenn die Diva weg war, gab es niemanden, der Starr die Welt erklären konnte - oder umgekehrt -, aber nie war sie der Diva gegenüber ungeduldig. 148 Manchmal überlegte Mara, ob sie sich die Sache mit Luisas Blutungen und Starrs Stück Brot nur eingebildet hatte. Sie hörte wieder Großvaters Stimme, der sie zur Schnecke machte, weil sie sich Geschichten ausdachte, um im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. Er würde auch Starr und Luisa mit einem verächtlichen Schnauben abtun: theatralisches Getue; wenn du nicht auf sie achtest, benehmen sie sich schnell wieder wie zivilisierte Menschen. Mara mußte lachen, als sie sich Luisa und Starr in der Wohnung in der Graham Street vorstellte Harriet sittsam und aufgeregt, Mephers wütend, aber zum Schweigen verdammt. Und Großvater wäre so gedemütigt wie Dr. Hanaper und Pastor Emerson damals, als sie zusammen mit dem Bischof bei der Wand auftauchten. An jenem Abend zog Mara ihre Kleider aus und versteckte sie mit ihrem Schlafsack hinter einem Felsen. Am Tag zuvor waren die Wellen fast zwei Meter hoch gewesen und hatten sich am Strand gebrochen. An jenem Abend war das Wasser ruhig und sanft wie eine Wiege. Aus Juli war August geworden. Noch ein paar Wochen, dann würde das Wasser kalt werden, aber jetzt war es noch warm und streichelte ihren nackten Körper wie Seide. Mara schwamm schnell um die Landzunge herum, drehte sich auf den Rücken und ließ sich langsam zu ihrem Versteck zurücktreiben. Draußen auf dem See sah sie Dutzende von Segelbooten. Vielleicht war Harriet zusammen mit einem Verehrer irgendwo da draußen. Plötzlich hatte Mara Sehnsucht nach ihrer Schwester: Schöne Harriet, habe ich dir die Karriere ruiniert? Wirst du jemals wieder mit mir sprechen? Sie konnte nicht ewig zusammen mit Starr herumziehen. Wenn sie zu Harriet ginge, würde ihre Schwester sie dann wieder aufnehmen oder ihr zumindest helfen, eine Wohnung und einen Job zu suchen? Oder würde sie Mara die Tür vor der Nase zuknallen, das fein gemeißelte Gesicht genauso streng wie das ihres Großvaters? Der Mond hing über ihr wie der Bauch einer Schwangeren. 36i Plötzlich fühlte Mara sich sehr allein im Wasser, trotz der menschlichen Stimmen weiter unten am Strand. Sie drehte sich wieder auf den Bauch und schwamm, so schnell sie konnte, zum Strand, rannte aus dem Wasser, holte ihre Kleider und langte völlig außer Atem bei Starr an. Inzwischen war Luisa wieder da, und sie hatte Jacqui, Nanette, LaBelle, eine Flasche lauwarmen Muskateller und einen Haufen kalte Hamburger mitgebracht. Die fünf Frauen saßen beieinander und aßen. Als Mara sich zu ihnen setzte, nickten sie ihr zu, und Luisa reichte ihr einen Hamburger, aber niemand sagte etwas. Die Nacht war erfüllt von blinkenden Lichtern - Lagerfeuern, Zigaretten, Fahrradleuchten. Der Schein einer Taschenlampe tastete sich durchs Präriegras. Während Mara aß, achtete sie nicht
weiter darauf, doch dann wurde ihr plötzlich bewußt, daß es sich um eine organisierte Suche handelte. Sie packte Starr am Arm und verschluckte sich fast an dem Hamburger. »Da sucht uns jemand.« Jacqui und Nanette drehten sich um. Plötzlich rief eine heisere Stimme hinter der Taschenlampe: »Starr, ich bin's, Hector. Ich bin zusammen mit den Leuten vom Krankenhaus hier, Starr! Wir wollen dich wieder in eine Zwangsjacke stecken und mit Drogen vollpumpen. Wir nehmen dich mit, Starr, weg vom Sand und den Straßen. Komm, Starr, komm mit mir, wenn du das möchtest.« 149
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Auf der Flucht
Harriet war aus der Wohnung gerannt, zu ihrem Wagen, und hatte so verkrampft hinter dem Steuer gesessen, daß ihr jetzt die Schultern weh taten. Laß Mara an der Wand sein. Bitte, laß sie mich vor Großvater finden. Ecke Michigan Avenue, Upper Wacker Drive hätte sie fast einen Unfall gebaut - der wütende Fahrer hatte gehupt und ihr den Stinkefinger gezeigt, aber sie war so mit ihrer eigenen Angst beschäftigt, daß sie es gar nicht merkte. Sie hatte ihren Wagen vor dem Hotel Pleiades abgestellt und den Portier, der ihren Acura erkannte und herankam, um ihr die Tür zu öffnen, mit einem gezwungenen Lächeln begrüßt. »Wollen Sie die Herren von der Geschäftsleitung zum Abendessen abholen, Ms. Stonds?« Sie gab sich größte Mühe, ruhig zu wirken, und lächelte ihn an. »Nein, Dimitri, ich werde sie leider nicht begleiten können. Ich muß noch mal runter zur Garage, mir die Sache dort ansehen. Kann ich den Wagen fünf Minuten hier stehen lassen?« Sie fragte ihn noch nach seinem Sohn, der am MIT studierte, lächelte, ohne seine Antwort zu hören, und drückte ihm mechanisch fünf Dollar in die diskret ausgestreckte Hand. Sie rannte die Auffahrt zur Lobby hinauf, wo ihre Schuhe auf dem großen Aubussonteppich quietschten, und lächelte schmerzlich, als die Leute an der Rezeption sie mit der gleichen Hochachtung begrüßten wie die Leute im Krankenhaus Großvater. Wir haben gehört, Sie sorgen dafür, daß die Sache da unten sich endlich klärt, Ms. Stonds. Wir sind froh, wenn die Zimmer wieder belegt sind. Sie tänzelte nervös vor dem Garagenaufzug herum, während ein Gast neben ihr mit stoischem Bick geradeaus schaute, hielt das Warten irgendwann nicht mehr aus und raste die vier Treppen zur Garage hinunter. Sobald sie die Tür öffnete, hörte sie von der Straße her Schreie. Nicolo und zwei seiner Kollegen, die Nachtschicht hatten, standen am Eingang. Er wollte gerade erklären, daß er heute nacht kein Auto rausfahren könne - tut mir leid, Madam, aber Sie sehen ja, daß wir Probleme haben. Doch dann veränderte sich sein Tonfall, wurde deutlich kühler: Ach, Sie sind's, die Anwältin. Sie wissen schon Bescheid, oder? Harriet schenkte ihm keine Beachtung und kletterte auf eine Stoßstange, um über die Menge hinwegsehen zu können. Die Polizei hatte alle Wundersucher gegen die Wand gedrängt, wollte ihre Ausweise sehen und leuchtete ihnen mit Taschenlampen ins Gesicht. Männer vom Einsatzkommando sperrten die Treppen, die Straßen und die kleinen Wege ab, die zum Hotel führten. Wer keinen Ausweis dabei hatte, wurde zu den Streifenwagen gebracht, die am westlichen Ende der Straße standen. Harriet entdeckte Judith Ohana vom First Freedoms Forum. Ohana redete auf den verantwortlichen Beamten ein. Harriet konnte nicht hören, was Judith Ohana sagte, ging aber davon aus, daß sie den Fehler machte anzunehmen, ein Polizist im Krawalleinsatz interessiere sich für die Auslegung des First Amendment. Harriet unterdrückte einen Aufschrei, als einer der Streifenpolizisten der Anwältin vom First Freedoms Forum den Knüppel über den Kopf zog. Judith Ohana ging in die Knie. Zwei Polizisten schleiften sie halb bewußtlos zur grünen Minna. »Wer hat das angeordnet? Wer?« rief Harriet. »Erst heute Nachmittag hat ein Vertreter der Stadt gesagt, man würde die Leute hier unten nicht belästigen! Hat Brian Cassidy oder Mr. Palmetto das hier angeordnet? Wir müssen etwas unternehmen; wir müssen sie aufhalten. Das dürfen sie nicht machen.« Nicolo packte sie am Arm, als sie versuchte, die Garage zu verlassen. »Nein, Missus, das hat jetzt keinen Sinn. Vielleicht haben Sie das ja alles ins Rollen gebracht, aber Sie können's nicht stoppen. Die würden Ihnen bloß eins über den Kopf geben wie der anderen Anwältin auch. Sie gehen nicht da raus.« 3*4
Harriet fragte, ob dies das Werk von Brian Cassidy sei. Cassidy war zwar wieder aus dem Krankenhaus, aber er klang immer noch heiser und wirkte kleiner: Seine Affenarme waren geschrumpft, und den größten Teil seiner Schicht verbrachte er nun in seinem Büro. Beim Anblick der grünen Minna und der Streifenwagen war er ins Hauptgebäude verschwunden. Nicolos Englisch reichte fast nicht, um ihr das alles zu erklären. Harriet fiel ihm ungeduldig ins Wort: »Meine Schwester -Mara, die kennen Sie doch, oder? Sie... ist oft mit Starr zusammen. Sie ist groß und hat einen rasierten Schädel... Haben Sie... War sie heute abend hier?« »Ihre Schwester? Das Mädel ist Ihre Schwester, Missus, und Sie sind so mit ihr umgegangen? Warum wollen Sie sie jetzt plötzlich sehen?« »Ich muß ihr alles erklären, sie finden, sie verstecken. Bitte sagen Sie mir: War sie heute abend hier, als das alles angefangen hat?« Er sah sie argwöhnisch an. »Sie sind eine Anwältin; Sie haben die Dornen an die Wand machen lassen. Zuerst hat sich die eine Frau, die arme ingenua, umgebracht, und jetzt das hier! Was wollen Sie mit Ihrer Schwester machen?« Die Sehnen in Harriets Hals traten hervor. »Was soll ich Ihnen sagen - ich muß meine Schwester vor meinem Groß... vor der Polizei finden. Bitte helfen Sie mir. Wo verbringt sie die Nacht? Sie können mir das doch sicher sagen, oder?« Nicolo runzelte die Stirn und überlegte, ob er ihr vertrauen könne. Schließlich sagte er: »Na schön, Missus. Ihre Schwester war da, aber sie ist verschwunden, als die Polizei aufgetaucht ist. Die haben gewartet, bis niemand mehr vom Fernsehen da war, und dann sind sie plötzlich mit den Pferden gekommen.« »Wissen Sie, wo sie sein könnte?« Der Mann schüttelte den Kopf. »Der Doktor weiß es. Er war vor zehn Minuten mit ein paar Männern da. Ich glaube, sie haben etwas vom Strand gesagt, daß sie da hinwollen.« Vor zehn Minuten? Harriet drückte das Gesicht in ihre Hände und versuchte, sich so weit zu beruhigen, daß sie wie 150 der denken konnte. Der Doktor. Das konnte nicht Großvater sein - der war in der Wohnung gewesen, als sie gegangen war. Vielleicht Dr. Hanaper? Er würde immer machen, was Großvater sagte. Egal, wer der Arzt gewesen war, die zehn Minuten waren vorbei, und jetzt suchte er nach Starr. Nicolo konnte Harriet nichts Genaueres sagen. »Die obdachlosen Frauen schlafen im Sommer oft am See, Missus, aber der ist groß.« Harriet drehte sich um und rannte durch die Garage und die Treppe hinauf. In der Lobby war es gespenstisch ruhig; die wenigen Gäste schwebten wie Engel über den Teppich, unempfänglich für die Schreie der Verdammten zu ihren Füßen. In der Auffahrt rannte sie an Leigh Wilton vorbei, der mit Mervin Clinator und Gian Palmetto auf dem Weg zum Abendessen war. Harriet sah sie nicht, bis Wilton ihren Namen rief und fragte, wo zum Teufel sie hinwolle. »Leigh!« keuchte sie. »Wissen Sie, was da unten passiert? Wissen Sie, daß ein Polizist Judith Ohana gerade einen Knüppel über den Kopf gezogen hat? Ihre dummen Mandanten sitzen bis zum Hals in der Scheiße, aber diesmal werden Sie die Schuld dafür nicht mir zuschieben.« Er sah Harriet mit offenem Mund nach, als diese die Auffahrt hinunterrannte, an dem lächelnden Portier vorbei, der ihr »bis bald, Ms. Stonds« nachrief, als sie schon im Wagen saß, so zitternd und durcheinander, daß sie kaum in der Lage war zu starten. Der Strand begann an der Oak Street, am Rand der Gold Coast. Harriet, die nicht wußte, wo sie mit ihrer Suche anfangen sollte, kam zu dem Schluß, daß Mara die obdachlosen Frauen mit Sicherheit nicht in die Nähe all dieser Touristen gebracht hatte. Also fuhr sie zur North Avenue, suchte aufgeregt nach einem Parkplatz für ihren kleinen Sportwagen und quetschte ihn schließlich zwischen zwei Lieferwagen. Harriet blieb neben dem Wagen stehen, völlig verzweifelt beim Anblick des Parks. Auf den asphaltierten Wegen waren 150 überall Jogger, Rollschuhfahrer und Radfahrer unterwegs, und am Strand hielten sich Familien und schmusende Paare, einsame Trinker und laute Gruppen auf. Hier waren Dutzende von
Volleyballnetzen gespannt; trotz des schwächer werdenden Lichts spielten immer noch ein paar Leute. Wie sollte sie Mara inmitten all dieser Menschen finden? Sie griff noch einmal in den Wagen und holte eine Taschenlampe aus dem Handschuhfach. Dann begann sie am Strand entlangzulaufen. Es dauerte nicht lange, und ihre Schuhe waren voller Sand. Sie zog sie aus und lief barfuß weiter. Ungefähr eineinhalb Kilometer lang war der Strand nur ein dünner Streifen zwischen See und Straße, aber als sie schließlich zu der Freiluftbühne an der Fullerton Avenue kam, verschwand plötzlich der Sand. Das Ufer wurde immer felsiger, während sich nach Westen hin der Park mit seinen Wiesen und Blumen erstreckte. Harriet setzte sich auf einen Felsen, um die Schuhe wieder anzuziehen. Sie rang um Atem und hielt sich die Seite, als sie weiterrannte. Zwischenzeitlich war es stockfinster. Sie mußte die Taschenlampe einschalten, um nicht über Menschen oder Felsen zu stolpern. Die Batterie wurde immer schwächer. Sie tappte über leere Whiskeyflaschen und Beachbälle und stürzte schließlich über eine herausstehende Baumwurzel. Sie blieb schluchzend liegen. Sie war ganz allein; niemand konnte ihr helfen. Sie erinnerte sich kaum noch, warum sie eigentlich aufgebrochen war. Sie brauchte Mara, und das war merkwürdig, denn sie hatte Mara noch nie gebraucht. Als Mara klein war, hatte Harriet sie manchmal in der Nacht weinen hören. Dann war sie auf Zehenspitzen ins Babyzimmer geschlichen und hatte ihre kleine Schwester in den Arm genommen. Irgendwie tröstete sie der milchige Geruch und ihre feuchte Wärme. Ganz allmählich hörte das Jammern auf, wenn Harriet das Baby gegen ihren dünnen Teenagerkörper drückte. Eines Nachts schlief sie mit Mara im Arm auf dem Stuhl ein. Mephers war schockiert, als sie sie am Morgen so vorfand: Schau dich an, Harriet, jetzt ist dein schönes Nachthemd ganz 151 schmutzig. Du solltest dich schämen, daß du mit der vollen Windel auf dem Schoß hier sitzt; man könnte meinen, daß du im Gegensatz zu Beatrix und Mara weißt, wie wichtig es ist, sauber zu sei. Der Doktor wird enttäuscht sein. Wir werden das Nachthemd wegwerfen müssen; den Fleck kriege ich bestimmt nicht mehr raus. Was hast du dir überhaupt dabei gedacht, daß du dich von diesem schrecklichen Baby aus dem Bett hast holen lassen? Wenn du bei jedem Schreien gleich nach ihnen schaust, schreien sie bald nur noch, weil sie wissen, daß du dann kommst. Danach hatte Harriet nicht mehr auf das nächtliche Jammern reagiert. Sie lag verkrampft in ihrem Bett und wünschte sich, der Lärm möge aufhören, dachte, wie schlimm das Baby doch sein mußte, wenn es so fordernd war. Erst jetzt, hier am Ufer des Sees, wurde ihr klar, daß das Baby damals auch Harriets eigenen Kummer hinausgeschrien hatte. Und als sie das Baby nicht mehr tröstete, hatte auch sie jeden Trost verloren. Sie schlief ein. Als sie wieder aufwachte, war es nach Mitternacht. Ihre rechte Wange tat weh, sie war bei dem Sturz auf einen Felsen aufgeschlagen. Sie rappelte sich hoch, ganz steif von dem Schläfchen auf dem harten Boden, und ging langsam durch den Park. Im Licht des kalten, mißbilligenden Mondes sah sie die Menschen, die unter Planen oder Kartonteilen schliefen. Sie fühlte sich unerträglich einsam und verletzlich, eine leichte Beute für jeden, der Böses im Schilde führte. Ein Streifenwagen verlangsamte seine Fahrt und richtete die Scheinwerfer auf sie. Sie erstarrte, weil ihr die Szene vor der Hotelgarage wieder einfiel, wo der Polizist Judith Ohana den Knüppel über den Kopf gezogen hatte. Während die Männer sie aus dem Wagen heraus musterten, versuchte sie sich ins Gedächtnis zu rufen, daß sie eine Stonds war, eine wichtige Bürgerin und Anwältin, obwohl sie sich nur zu bewußt war, daß sie ungepflegt und schmutzig wirkte. Bis zu diesem Zeitpunkt war sie immer davon ausgegangen, daß die Polizei dazu da war, sie, Harriet Stonds, und ihre Besitztümer zu schützen. Obwohl sie in der Ausbildung gelernt 151 hatte, daß niemand schuldig war, solange seine Schuld nicht bewiesen war, hatte sie bis jetzt geglaubt, daß die Polizei niemanden ohne Grund festnahm - die Brutalität der Polizei war etwas, was Verbrecher sich ausdachten, um von ihren eigenen Verbrechen abzulenken. Doch heute abend an der Wand hatte sie gesehen, daß es jeden treffen konnte. Im Scheinwerferkegel gefangen, versuchte sie einen lebhaften Bericht Maras darüber zu vergessen, daß ein Polizist eine der Frauen von Hagar's House vergewaltigt hatte.
Die Männer schalteten das Licht aus und fuhren weiter. Harriet atmete erleichtert auf und ging weiter durch den Park in Richtung Straße. Dort winkte sie ein Taxi heran. Doch was für eine Demütigung: Der Fahrer wollte zuerst ihr Geld sehen, bevor er bereit war, sie zu ihrem Wagen am North Avenue Beach zurückzubringen. Als sie in ihrem Auto saß, wurde ihr bewußt, daß sie heute nacht nicht mehr nach Hause gehen konnte. Großvaters Wut und Mephers' Schmollen - damit wollte sie sich jetzt nicht auseinandersetzen. Sie lenkte den Wagen an den Straßenrand und zählte das Geld, das sie in die Tasche gesteckt hatte. Dreiundfünfzig Dollar. Reichte das für ein Hotelzimmer? In der Eile hatte sie vergessen, ihre Kreditkarten mitzunehmen. Sie hatte auch ihr Handy nicht dabei - sie müßte einfach schauen, ob sie etwas Billiges und Sicheres fand. Sie fuhr unter der Autobahn hindurch, Richtung Süden, ins Stadtzentrum. Sie fuhr ohne festes Ziel durch die Straßen, als sie an dem riesigen Komplex des Midwest Hospital vorbeikam. Vielleicht hatte Hector Tammuz heute nacht Dienst. Großvaters Versager. In den Fernsehberichten hatte es geheißen, er habe viel Zeit bei den Frauen vor der Wand verbracht. Vielleicht hatte er Mara gefunden, und sie war in Sicherheit. Sie lenkte den Wagen auf den Parkplatz, stellte sich auf den Platz ihres Großvaters und betrat das Gebäude durch den Personaleingang. Das Krankenhaus wirkte gespenstisch in der Nacht. Auf den Korridoren befanden sich abgesehen von den leeren Stühlen j152 nur ein paar schimmernde Aktenschränke. Plötzlich überkam sie wieder die Angst, die sie in dem nächtlichen Park gehabt hatte, und sie freute sich wie ein Schneekönig, als sie die Schwestern und Pfleger sah, die sich in der Notaufnahme fröhlich unterhielten. Sie schlüpfte ins Bad und wusch sich das Gesicht. Sie hatte die ganze Nacht Angst gehabt, aber trotzdem waren ihre Augen noch klar und blau. Abgesehen von dem blauen Fleck auf der rechten Wange, den sie sich bei ihrem Sturz zugezogen hatte, wies nichts auf das hin, was sie durchgemacht hatte. Sie ging zur Rezeption und sagte, sie sei die Enkelin von Abraham Stonds und müsse mit Dr. Tammuz sprechen. 152
45 Er
Die Anwältin als Bittstellerin
trieb in einer Unterwassergrotte dahin, ohne Flossen oder Tauchermaske: Er war nicht nur in der Lage zu atmen, sondern auch zu essen und zu trinken, denn plötzlich merkte er, daß er eine Tasse Kaffee in der rechten Hand hielt, aus der er hin und wieder einen Schluck nahm. Seegras schwankte in der Strömung, und goldene und rote Fische blitzten dazwischen auf. Draußen vor der Grotte fielen kleine Tropfen, wie Regen - sie trieben ganz langsam von der Wasseroberfläche zum Meeresgrund herunter. Er verdrehte die Füße wie ein Fisch die Schwanzflosse und bewegte sich in Richtung des Grotteneingangs. Wieder trieb ein Tropfen an ihm vorbei, und er pickte ihn aus dem Wasser. Es war eine rosa-elfenbeinfarbene Perle, die sogar noch so weit weg vom Tageslicht schimmerte, als scheine die Sonne darauf. Er hob den Blick. Eine Frau weinte auf die Wasseroberfläche. Er konnte nicht sagen, wer sie war seine Mutter oder Jacqui. Sie wollte zu ihm hinuntertauchen, konnte es aber nicht - das Wasser, in dem er sich so mühelos bewegte, war für sie wie Glas. Ihre Tränen wurden zu Perlen, wenn sie die glasige Barriere durchstießen, zu Juwelen, die er nur zu ernten brauchte. Die Perle in seiner Hand begann zu wachsen, bis sie so groß wie ein Straußenei war. Sie platzte auf, und heraus trieb Starr. Ihre schwarzen Haare lösten sich im Wasser und breiteten sich rund um sie herum aus. Sie reichten ihr bis zu den Knöcheln. Mit einem bronzefarbenen Arm wischte sie sich die Haare aus dem Gesicht. Mit dem anderen zog sie Hector zu sich heran und küßte ihn kurz, 152 aber intensiv, machte dann einen Purzelbaum und entfernte sich von ihm. Er war wieder allein mit den Fischen und den Perlen, doch er fühlte sich zum erstenmal glücklich, ganz in sich ruhend. Allerdings nur kurz: Ein gigantischer Frachter bewegte sich über ihm, und die Vibrationen erschütterten seine Grotte. Er schwamm zur Oberfläche, entschlossen, das Schiff von seinem Zufluchtsort wegzuschieben. Sein Piepser vibrierte an seinem Oberschenkel. Er lag im Bereitschaftszimmer des Krankenhauses und hatte keine Ahnung, wie er dorthin gelangt war. Er erinnerte sich, daß er zusammen mit dem Chef des Krankenhaus-Sicherheitsdienstes am Strand gewesen war. Er hatte das Megaphon des
Mannes genommen und eine Warnung an Starr durchgegeben; der Mann hatte sehr verärgert reagiert. »Das war ziemlich dumm, Doktor, wenn ich das so sagen darf. Dr. Hanaper hat mich gewarnt, und jetzt verstehe ich, was er meinte: Ihre Botschaft wird die Mädels verjagen, aber wir sollen sie doch finden und ins Krankenhaus bringen.« Schweiß tropfte Hector vom Nacken in den Hemdkragen und ließ ihn in der warmen Nachtluft zittern. Seine Warnung war impulsiv gewesen; er wußte nicht, was ihn dazu getrieben hatte, sie durchs Megaphon zu rufen. Er hatte das Gefühl, Starrs Gegenwart zu spüren, als sie sich dem Präriegras näherten, etwas Prickelndes in der Luft, das sein Blut in Wallung brachte - obwohl er in seinem gegenwärtigen Zustand nicht zwischen Begierde und dem Objekt dieser Begierde unterscheiden konnte, und er wußte auch nicht, ob er sich diese innere Unruhe nur einbildete oder nicht. Und dennoch stellte er sich in jenem Augenblick vor, wie Starr ihn wegschob, wie ihre flachen schwarzen Augen seine Schwächen reflektierten -Hector, der Tapferste der Trojaner, bricht wieder einmal zusammen, würde Luisa sagen; Starr möchte dich nicht in ihrer Nähe haben, weder jetzt noch in Zukunft. Da riß er einem Wachmann das Megaphon aus der Hand und brüllte hinein. 153 Er achtete nicht auf die Schelte des Sicherheitsbeamten. Hector hatte das Gefühl, das Tappen mehrerer Füße in Richtung Stadt zu hören. »Es gibt in der Nähe des Ufers ein paar Bänke«, sagte er. »Wenn sie hierherkommen, schlagen Sie gewöhnlich dort ihr Lager auf.« Er war stolz auf seine clevere Lüge. So würde der Mann vom Sicherheitsdienst Richtung Norden gehen, und Starr - vorausgesetzt, sie war tatsächlich dort gewesen und rannte jetzt weg -konnte sich ein anderes Versteck suchen. Zu seiner Bestürzung kümmerten sich die Männer gar nicht um das, was er sagte. Hector blieb stehen, als sich der Trupp zum See hin bewegte. Er wartete auf die wütenden Schreie, wenn jemand versuchte, Starr Handschellen anzulegen. Doch die Männer kehrten nur mit einem Schlafsack und einer McDonald's-Tüte zurück, in der sich zwei unangetastete Hamburger befanden. Der Sicherheitschef sagte: »Sieht fast so aus, als wäre da jemand ziemlich eilig aufgebrochen. Sagen Ihnen die Sachen was, Doc?« Im Schein der starken Lampe erkannte Hector Maras schmutzigen blauen Schlafsack, aber er verneinte die Frage mit einem Kopfschütteln. Mara hätte ihren Schlafsack nie einfach liegen lassen - sie war überstürzt geflohen. Vermutlich hatte er die Warnung also gerade noch rechtzeitig gerufen. Erleichterung durchströmte ihn: Die Frauen waren entkommen. Dafür würde Starr ihn lieben, sie würde ihn nicht mehr wegschieben. Doch die Freude währte nur kurz, schon bald übermannte ihn die Erschöpfung. Nach einem ganzen Monat ohne Ruhe, in dem er abwechselnd nach Starr gesucht und im Krankenhaus gearbeitet hatte, hatte er nicht mehr die Kraft zu denken oder sich zu bewegen. Er versuchte etwas zu sagen, was die Leute vom Sicherheitsdienst noch weiter von Starr weglockte, brach aber mitten im Satz auf dem Sand zusammen. Er merkte nicht, daß einer der Sicherheitsleute ihn zum Wagen zurücktrug. Er hörte auch nicht, daß der Chef des Sicher 153 heitsdienstes im Krankenhaus anrief und befahl, in allen Obdachlosenunterkünften der Stadt nachzufragen, ob jemand, auf den die Beschreibung von Starr paßte, sich dort aufhielt. Er hörte auch nicht die negativen Rückmeldungen, als sie in Richtung Süden fuhren: Die Frauen waren nirgendwo aufgetaucht. Fehlanzeige in Rachel's Rest, Lucy's Place und Angela's House. Und natürlich auch in Hagar's House, denn Patsy Wanachs hätte Dr. Stonds umgehend informiert. Hector rührte sich nicht einmal, als ein Anruf von Dr. Stonds kam, obwohl einer der Männer vom Sicherheitsdienst ihn wachzurütteln versuchte. Der Mann mußte Stonds schließlich selbst sagen, daß Hectors Warnung Starr und Mara wahrscheinlich vertrieben hatte. Verständlicherweise war der Arzt wütend, doch Hector bekam von seinen Beschimpfungen nichts mit. Im Krankenhaus trugen zwei Männer Hector fast zum Bereitschaftszimmer der Ärzte. Er hatte auch in dieser Nacht Bereitschaft, genau wie in all den Nächten zuvor, seit Hanaper ihm den Auftrag für die Betreuung der Obdachlosen in der Orleans Street Church gegeben hatte. Die Leute vom Sicherheitsdienst wußten Bescheid über die Freitagnächte im Krankenhaus - sie waren für das Sicherheitspersonal genauso anstrengend wie für die Ärzte. Freitags kamen all die Leute hierher,
die bei dem Gedanken an ein langes Wochenende allein durchdrehten, dazu Kinder, die von zu Hause weggelaufen waren, orientierungslose Touristen, Leute, die einen Selbstmordversuch unternommen hatten, überarbeitete Geschäftsleute, die nach zuviel Arbeit und zuwenig Schlaf irgendwann zusammenbrachen. Ihr Wohlbefinden lag in den Händen dieses erschöpften Arztes. Zum Glück, so dachten die Leute vom Sicherheitsdienst, war es nicht ihr Leben, das von ihm abhing. Im Bereitschaftszimmer war Hectors schützender Schlaf dann nicht mehr so tief. Als die Leute von der Notaufnahme ihn um zehn Uhr - zum drittenmal - anpiepsten, wurde er schließlich wach. Gott sei Dank, sagten die Angestellten, denn es kamen noch mehr Leute als üblich herein nach den Ereignissen vor der Hotelgarage. 154 Millie Regier, die Nachtschwester, die seit dem Vorfall mit Starr und Luisa nicht sonderlich gut auf Hector zu sprechen war, sagte, daß Dr. Stonds sich so bald wie möglich mit ihm unterhalten wolle. Der Arzt sei sehr, sehr wütend, weil er Starr und Mara gewarnt habe. Hector blinzelte Millie noch im Halbschlaf an, ohne etwas zu sagen, und kümmerte sich dann um einen Mann, der in einem Werbespot plötzlich eine private Botschaft von Michael Jordan gehört zu haben glaubte: Seine Frau sei eine gefährliche Verbrecherin und müsse erstickt werden. Als Hector mit dem Mann fertig war, versorgte er eine Frau aus South Dakota, der jemand vor der Hotelgarage eins übergebraten hatte. Den folgenden Patienten hörte er nur zu, tröstete sie und gab ihnen die nötigen Medikamente - ungefähr zwei Stunden lang. Er hatte sich gerade wieder aufs Bett gelegt, als Harriet ihn anpiepsen ließ. Hector schlüpfte in seine Schuhe und stolperte zu dem Wandtelefon vor dem Bereitschaftszimmer, um in der Notaufnahme anzurufen. Millie Regier sagte, immer noch ziemlich kurz angebunden, daß Dr. Stonds' Enkelin mit ihm sprechen wolle. In Raum A. Hector spürte wieder einmal, wie seine Hose zu spannen begann: Wenn Mara im Krankenhaus war, war Starr sicher nicht weit. Und wenn Mara tatsächlich da war, hatte irgendein Wichtigtuer sicher schon ihren Großvater informiert. Er marschierte mit offenen Schnürsenkeln zu Raum A und blieb erstaunt stehen, als er Harriet sah. Bevor er verwirrt zurückweichen konnte, erhob sich Harriet von ihrem Stuhl. »Dr. Tammuz? Ich bin Harriet Stonds. Tut mir leid, daß ich Sie belästige; ich weiß, wie es ist, wenn man Bereitschaft hat, aber ich muß meine Schwester finden. Ich hatte gehofft... ich dachte...« Sie wußte nicht so recht, was sie mit ihren Händen machen sollte, doch ihm fiel nicht auf, daß sie ziemlich durcheinander war. Schließlich war sie die Anwältin, die für all seine Sorgen verantwortlich war; sie hatte das Hotel gegen ihn und die obdachlosen Frauen aufgehetzt. 154 »Wenn Dr. Stonds Sie geschickt hat, vergeuden Sie hier Ihre Zeit«, sagte Hector und machte sich gar nicht erst die Mühe, ganz ins Zimmer zu kommen. »Mein Großvater?« Harriet war sich so sicher gewesen, daß er ihr Anliegen verstehen würde, also fiel ihr seine kühle Reaktion zunächst gar nicht auf. »Nein, nein, der weiß nicht, daß ich hier bin. Ich mußte meinen Namen - seinen Namen - verwenden, sonst hätte man Sie nicht angepiepst, aber verstehen Sie denn nicht... ach, Sie kennen uns nicht, Sie kennen ihn nicht... Er will Mara einsperren, meine kleine Schwester. Ich dachte... Sie wissen doch, wo sie sind, oder? Im Fernsehen hieß es, sie seien oft bei ihnen.« »Und Sie glauben, daß ich ausgerechnet Ihnen sage, was ich den Leuten vom Sicherheitsdienst und Ihrem Großvater nicht verraten habe? Nach allem, was Sie mir und den Frauen angetan haben?« Harriet starrte ihn an, als er so wütend mit ihr sprach: Das Hotel hatte zuerst Madeleine Carter und dann Starr, Luisa und Harriets Schwester verfolgt... die Dornen an den Wänden; der Beschluß der Kirchengemeinde, die obdachlosen Frauen nicht mehr in Hagar's House übernachten zu lassen, wenn jemand sie an der Wand sah... die schlägernden Polizisten vor der Hotelgarage... »Sie sagen, ich kenne Ihren Großvater nicht, Ms. Stonds, aber glauben Sie mir, ich kenne ihn sehr gut. Ich bekomme seine Persönlichkeit jeden Tag zu spüren in diesem Krankenhaus. Wenn er etwas sagt, müssen alle katzbuckeln und gehorchen. Und jetzt habe ich das Undenkbare getan: Ich habe es gewagt, nein zu sagen, und er hat gedroht, mich köpfen zu lassen. Weil das nicht funktionierte, schickt er Sie, um mich zum Gehorsam zu zwingen. Nun, es ist mir egal, ob ich hier rausfliege - ich mache es nicht.«
»Nicht! Ich ertrage das nicht!« Harriet weinte Tränen, die ihr Gesicht wie Glas bedeckten und bei einer falschen Berührung zu bersten drohten. »Ich habe ihm vor heute abend noch nie widersprochen. Es ist verdammt schwer. Alles ist so schreck 155 lieh, der Tod meiner Mutter... Er hat mich angelogen, genau, wie Mara immer gesagt hat. Er ist immer schon kalt gewesen; er hat mich nie geliebt, nur sein Bild von mir. Er - wir - haben die arme Beebie vertrieben, aber ich will sie zurück, ich will sie finden... bevor er sie findet... und zum Schweigen bringt.« Mittlerweile schluchzte sie so heftig, daß Hector sie kaum noch verstehen konnte. »Sie werden auf ihn hören... ich weiß es... die Gerichte sind... ich muß sie wegbringen... an einen sicheren Ort.« Als Hector sie anschaute, sah er, endlich, nicht seine Mutter Lily und nicht Melissa, die ihn am Nachmittag zur Schnecke gemacht hatte, sondern eine Frau, die Hilfe brauchte. Er füllte einen Pappbecher mit Wasser und reichte ihn ihr. »Versuchen Sie, sich zu beruhigen, Ms. Stonds, damit wir uns richtig unterhalten können.« Man soll die Patienten nicht berühren, das steht in jedem Handbuch, aber sie wirkte so elend, daß er ihr die Schulter tätschelte. »Ich habe den ganzen Strand abgesucht, um sie zu finden, weil der Mann an der Garage gesagt hat, daß sie dorthin gegangen ist, aber ich konnte... ich konnte sie nirgends entdecken.« Sie schluckte ihre Tränen tapfer hinunter. »Wissen Sie... wissen Sie, wo sie ist, Dr. Tammuz?« Er schüttelte den Kopf und dirigierte sie zu einem Stuhl. Als sie sich so weit erholt hatte, daß sie ihm zuhören konnte, erzählte Hector ihr von der Suche, die das Krankenhaus auf Anweisung ihres Großvaters durchgeführt hatte. »Sie kennen Ihre Schwester besser als irgend jemand sonst, Ms. Stonds. Haben Sie eine Ahnung, wohin sie geflohen sein kann? Hat sie Freunde?« »Ich kenne sie nicht sehr gut; sie ist dreizehn Jahre jünger als ich, und ich habe sie immer nur kritisiert, ohne sie je richtig kennenzulernen.« Harriet putzte sich die Nase. »Sie hat meines Wissens nur eine Freundin, Cynthia Lowrie. Aber Cynthia wohnt bei ihrem Vater, und der ist ein schrecklicher Mensch, er schlägt sie. Wenn Mara dort auftauchte, würde er sofort die Polizei rufen.« 155 »Rafe Lowrie? Den kenne ich. Nein, ich pflichte Ihnen bei, sein Haus ist nicht das richtige Versteck für Ihre Schwester und schon gar nicht für Starr und Luisa.« Es war merkwürdig, so distanziert über Starr zu reden, ohne daß die übliche Sehnsucht von ihm Besitz ergriff. »Wo soll ich als nächstes suchen? Ich will nicht hier rumsitzen und warten, bis jemand sagt, sie sei ins Krankenhaus gebracht worden. Ich könnte nicht in... die geschlossene Abteilung. Sie wird das gleiche machen wie Beatrix, wie unsere Mutter: Sie wird sich etwas Scharfes suchen und sich die Pulsadern aufschneiden. Sie wird sich nicht so einfach wegsperren lassen.« Wieder begann Harriet zu zittern. »Sie sollten nach Hause gehen und schlafen, Ms. Stonds. Um ein Uhr morgens kann niemand etwas tun.« »Nach Hause?« flüsterte sie, als höre sie das Wort zum erstenmal. War ihr Zuhause die makellose Wohnung mit den pastellfarbenen Vorhängen und Wänden, mit den Marmoroberflächen, wo Großvater und Mephers weiße Eiswolken atmeten? Wenn sie an ihnen vorbeiging und in ihr kaltes weißes Bett kletterte, würde sie bis zum Morgen erfrieren. »Ich würde Sie ja mit zu mir nehmen, aber ich habe heute nacht Bereitschaft, ich kann nicht weg«, sagte Hector, dessen Piepser in den letzten zehn Minuten fast ununterbrochen gegangen war. »Obwohl ich mir Sorgen um Ihre Schwester und um Starr mache, kann ich die Leute hier nicht im Stich lassen.« Er legte ihr seine Jacke um die Schultern, damit sie zu zittern aufhörte. »Vielleicht könnten Sie sich im Bereitschaftszimmer der Ärztinnen hinlegen. Und morgen können wir uns vielleicht mit Cynthia Lowrie unterhalten. Würde Ihre Schwester sie anrufen, auch wenn sie nicht zu ihr könnte?« Harriet, die dankbar für die Jacke und für seine Anteilnahme war, entspannte sich ein bißchen. Sie war müde, so müde, daß sie kaum noch denken konnte. »Cynthia.« Ihre eigene Stimme ließ sie noch einmal kurz wach werden. »Ja. Mara ruft immer Cynthia an, wenn es ihr 155
schlechtgeht. Sogar vom Park aus, nachdem sie weggelaufen war. Morgen... Cynthia wird in der Kirche sein. Reden Sie dort mit ihr.« Hector dirigierte sie den Flur entlang, machte die Tür zum Bereitschaftszimmer der Arztinnen auf und entdeckte ein Bett, das in dieser Nacht noch nicht benutzt worden war. Er deckte sie zu und ging wieder in die Notaufnahme. 156
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Ketzer in der Kirche
In der Orleans Street Church half Cynthia Lowrie gerade mit, Sandwiches für dreihundert Leute zu machen. Die Gemeinde rechnete nach dem Bußgottesdienst und Rafes Family-Matters-Treffen mit zahlreichen hungrigen Mäulern. Cynthia war mit Mrs. Ephers, Mrs. Thirkell und einer Handvoll anderer Frauen an der Arbeit. Rafe hatte sie um fünf Uhr geweckt und gesagt, sie solle ihren faulen Arsch rüber zur Kirche bewegen und ihm helfen, alles herzurichten. Er selbst verbrachte den Vormittag damit, seinen Vortrag wohl zum hundertstenmal zu proben, während Cynthia Lieder und Sinnsprüche nach dem heiligen Paulus fotokopierte (zuerst wurde Adam erschaffen und dann Eva... der Mann ist das Ebenbild und der Ruhm Gottes; die Frau jedoch ist der Ruhm des Mannes... die Frauen werden durch die Mutterschaft errettet... wenn ein Mann nicht für seine Verwandten und besonders für seine eigene Familie sorgt, verstößt er gegen den Glauben und ist schlimmer als ein Ungläubiger...) und schließlich in die Küche ging, um sich an der Vorbereitung des Essens zu beteiligen. Pastor Emerson war bis zu dem schicksalsträchtigen Ausflug zur Wand nicht sonderlich begeistert von Family Matters gewesen. Rafe sagte, das sei typisch: Männer glaubten so lange, sie könnten mit Feministinnen wie Sylvia Lenore zusammenarbeiten, bis sie persönlich bedroht wurden. Dann wollten sie nicht nur auf den fahrenden Wagen aufspringen, sondern ihn am liebsten gleich selber lenken. Als einer der Diakone Rafes Bemerkung wiederholte, tat der Pastor sie vor der Gemeinde mit einem Lachen ab. Die Kirche war wie eine Familie, die Kinder verpetzten einander immer 3 80 bei der Mutter; er konnte es sich nicht leisten, offiziell auf solche Berichte dritter Parteien zu reagieren. Doch insgeheim ärgerte er sich. Es war ziemlich anstrengend, eine große Kirche mit ihren streitenden Parteien zu leiten. Gemeinderatsmitglieder wie Sylvia und Rafe machten ihm die Arbeit nicht leichter, wenn sie ihn angriffen, statt selbst nach Kompromissen zu suchen. Sylvia zum Beispiel war wütend, weil die Gemeinde sich für die Beendigung der psychiatrischen Sprechstunden ausgesprochen hatte. Sie beschuldigte Emerson, vor den Frauen und den Armen Angst zu haben. Aber so einfach war die Sache nicht. Als Sylvia die Gemeinde in den achtziger Jahren überredet hatte, Flüchtlingen aus El Salvador Zuflucht zu bieten, hatte Emerson sie voll und ganz unterstützt, obwohl seitens der Kirche und des Außenministeriums Druck auf ihn ausgeübt worden war. Sylvia wollte einfach nicht sehen, daß die Situation eine völlig andere war. Die Gemeinde war sich hinsichtlich der Obdachlosenfrage so uneins, daß sie drohte auseinanderzubrechen. Doch das wollte Sylvia nicht wahrhaben, und sie war auch nicht bereit, es Emerson anzurechnen, daß er Hagar's House trotz der heftigen Angriffe von Rafe und seinen Anhängern offengehalten hatte. Sylvia und ihre Anhänger begriffen nicht, wie gefährlich diese Starr war. Anders als der Arzt und Mrs. Ephers machte der Pastor Mara keine Vorwürfe. Er hatte Mara seinerzeit getauft und konfirmiert; sie war immer schon ein leidenschaftliches, impulsives Mädchen gewesen und längst nicht so unkompliziert wie ihre wunderschöne ältere Schwester. Wahrscheinlich brauchte sie einfach ein Betätigungsfeld, um ihre überschüssige Energie loszuwerden. Es überraschte Emerson nicht, daß Mara sich an Starr hängte; Mara gehörte zu den Menschen, die sich leicht von einer charismatischen Person um den Finger wickeln lassen. Und die Öffentlichkeit sollte sich endlich darüber klarwerden, daß Starr eine gefährliche Kultfigur war. Ob Starr tat3* i sächlich ein Medium war, dessen Grunzlaute einzig und allein Luisa Montcrief deuten konnte, oder eine Gaunerin, die mit den Gefühlen von Frauen wie Mara spielte, war Emerson letztlich egal. Ihm machte viel mehr angst, daß Starr die Stabilität seiner Gemeinde, der Stadt und... aller menschlichen Beziehungen gefährdete.
Emerson wurde das an dem Tag klar, an dem er Starr vor der Wand begegnete. Ihr spöttisches Lächeln und ihr üppiger Körper erregten ihn nicht so wie Dr. Hanaper und den Monsignor. Starrs Schamlosigkeit erschien Emerson gefährlicher als ihre reine Sexualität: In ihrem Gesicht las er ihre Freude daran, alles durcheinanderzubringen. Emerson hatte das Gefühl, daß sie Hanapers und Monsignor Mulvaneys Unbehagen mit Schadenfreude sah, daß sie über sie lachte, als sie die Selbstbeherrschung verloren. Plötzlich hatte Emerson die Vision -wie durch ihre Augen -, daß Menschen auf der ganzen Welt sich gegen alle Autoritäten auflehnten. Die Revolte, zu der sie aufforderte, würde alles zerstören - Eigentum, Familien, Kirchen und die fundamentalen Strukturen der Zivilisation. Er kehrte in die Kirche zurück, entschlossen, den Glauben wiederherzustellen, der den Heiligen einmal geschenkt worden war, und zwar mit einem starken Zuhause und einer starken Familie als Bastion der Stabilität. Er konnte Sylvia Lenore nicht davon überzeugen, daß er deswegen noch lange nicht R.afes Auffassung eines historisch sanktionierten Patriarchats unterstützte. Manchmal ist eine entsprechende Autorität nötig, um die Stabilität zu gewährleisten, sagte er, doch Sylvia war anderer Ansicht. Auf der anderen Seite des Mittelschiffs jauchzte Rafes Partei fast in der Öffentlichkeit: Vor der Predigt des vergangenen Sonntags hatten sich nicht einmal zwanzig Männer - unter ihnen auch Rafes Sohn Jared, den sein Vater dazu gezwungen hatte - zu Rafes Seminar angemeldet. Doch Ende der Woche, nachdem sie erfahren hatten, daß von der Kanzel Sex und Sünde zu erwarten waren und hinterher wahrscheinlich bei Sandwiches anregende Geschichten ausgetauscht werden wür 157 den, hatten sich dann fast zweihundert Leute entschlossen, an dem Seminar teilzunehmen. Sogar Dr. Stonds hatte sich dazu durchgerungen; zumindest wollte er zusammen mit seiner Haushälterin und seiner Enkelin Harriet am Gottesdienst teilnehmen. Mit vorgerecktem Kinn hatte er Emerson erklärt, er wolle die Gemeinde nicht in dem Glauben lassen, daß sie ihn in Verlegenheit bringen und dazu veranlassen könne, zu Hause zu bleiben. Cynthia strich gerade mit schmerzendem Rücken Mayonnaise auf das sechshundertste Stück Brot, reichte es an Mrs. Ephers weiter, die es mit Schinken- oder Truthahnscheiben belegte und an Mrs. Thirkell weitergab. Mit einem Blatt Salat verziert landete es dann bei Patsy Wanachs, die es in der Mitte durchschnitt, bevor sie es auf eins der Tabletts legte. Rafe gab derweil in der Kirche Anweisungen, wie der Raum für das Treffen herzurichten war - die Stühle wurden in konzentrischen Halbkreisen aufgestellt, das Podium in der Mitte, die Lautsprecheranlage wurde getestet, die Erfrischungen im hinteren Teil des Raums untergebracht. Sobald die Sandwiches fertig waren, legten die Frauen Teller und Besteck bereit und stellten dreißig Dutzend Tontassen dazu. Dann füllten sie große Kaffeekannen mit Wasser und trugen sie zusammen mit mehreren Litern Traubensaft in den Altarraum. Ein paar von den obdachlosen Frauen, unter ihnen Nicole und Caroline, waren ihnen behilflich. Zwar war die Unterkunft tagsüber geschlossen, aber niemand konnte sie daran hindern, an einem Gottesdienst teilzunehmen. Cynthia meinte, Stimmen oben bei der Orgel zu hören, als sie begannen, die Gläser zu füllen. Sie sah das Längsschiff hinunter und fragte sich, ob jemand vom Chor zu früh da war, konnte aber niemanden entdecken. Aus dem großen Versammlungssaal drangen Teile von Rafes Vortrag herüber. Er hatte ihn zu Hause schon mehrfach vor Cynthia gehalten, entzückt über den Gedanken, daß die ganze Kirche ihm zuhören würde; jetzt hatte er sich Jared als Opfer auserkoren, vorgeblich, um die Lautsprecher zu testen: Die 157 Jahrtausendwende steht bevor, aber was haben wir in den letzten zweitausend Jahren geleistet?... Die Mißachtung der Familie und des Vaters als ihrem Oberhaupt... Die Frauen im Neuen Testament waren fromm und achteten die Autorität des Mannes... Als die Puritaner nach Amerika kamen... eine apostolische Form der Herrschaft... die Stadt auf einem Hügel... Abscheulichkeiten sonder Zahl... jetzt versammeln sich die Frauen vor einer kaputten Wand... symptomatisch für das Ende der... Die Männer könnten etwas von den Feministinnen lernen: sich zu behaupten... Fußabstreifer wurden erfunden, damit man auf ihnen herumtrampelt... Der Herr wird uns danach beurteilen, wie wir uns um unsere Familien kümmern ... die Aberkennung der Verantwortung durch die Feministinnen ...
Cynthias Kopf schmerzte von dem Lärm - von Rafes Sermon, dem Blubbern der Kaffeemaschinen und von Mrs. Ephers' Stimme, die ihr etwas ins Ohr flüsterte. In regelmäßigen Abständen bohrte ihr die Haushälterin die knochige Hand in die Schulter und erklärte ihr, Mara sei schuld an allen Problemen, mit denen die Stonds-Familie augenblicklich zu kämpfen habe - wenn nicht gar an allen Problemen, die nach Rafes Meinung Amerika plagten, seit die Theokratien der Neuenglandstaaten in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ein für allemal gestürzt worden waren. »Du hast Mara immer für etwas Besonderes gehalten«, zischte Mrs. Ephers, »aber jetzt siehst du das hoffentlich mit anderen Augen, oder?« Cynthia murmelte, sie habe etwas vergessen, und ging durch die Sakristei in die Apsis. Dort blieb sie entsetzt stehen: Einbrecher; sie plünderten den Altarraum. Nein, keine Einbrecher, sondern Frauen von Hagar's House. Wo sie nichts verloren hatten. Obwohl ihr ein wenig die Knie zitterten, versuchte Cynthia, autoritär aufzutreten. Doch die gekrächzte Rüge blieb ihr im Halse stecken. Mara Stonds. Und diese schreckliche Starr, deren Brüste schaukelten, als sie sich über einen der Krüge mit Traubensaft beugte. 158 »Cynthia!« rief Mara, als sie diese entdeckte. »Wir trinken gerade was von dem übriggebliebenen Traubensaft. Wir haben euch beobachtet, wie ihr die Gläser gefüllt habt, und gesehen, daß ihr die Krüge nicht ganz leer gemacht habt. Wir haben Durst. Aber keine Sorge, wir machen schon nichts schmutzig. Was ist los?« »Mara«, krächzte Cynthia. »Mara, du kannst nicht hierbleiben. In einer Stunde beginnt der Gottesdienst. Mit Kommunion und allem Drum und Dran.« »Wir sind ganz leise«, sagte Mara mit einem Blick auf Luisa, die nirgends lange leise bleiben konnte und jetzt gereizt war, weil sie gehofft hatte, in einem der Krüge Wein zu finden. »Wir suchen hier Zuflucht, wie damals die Flüchtlinge aus El Salvador. Ich glaube nicht, daß die Polizei uns aus der Kirche holen kann, oder? Aber um ganz sicherzugehen, habe ich bei verschiedenen Sendern angerufen. Wahrscheinlich schicken die rechtzeitig ihre Leute, die alles aufnehmen. Worum geht's überhaupt?« »Mein Gott, bist du doof«, krächzte Cynthia. »Dies ist ein Bußgottesdienst, weil wir eine solche Versagerin wie dich hervorgebracht haben. Und Daddys Family-Matters-Seminar fängt gleich hinterher an, also verschwinde, bevor du mich wieder in die Bredouille bringst. Und bitte nimm sie mit.« Starr hatte die Altardecke befingert, an den hohen goldenen Kerzen geschnuppert und die Bibel inspiziert, die auf dem massiven Pult ruhte. Starr ging zu Cynthia hinüber und drückte ihr das Kinn mit dem Finger hoch. Als Cynthia rot wurde und zurückwich, lachte Starr spöttisch. Ein Antwortlachen hinter ihr veranlaßte Cynthia, sich umzudrehen: Eine schwarze Obdachlose saß zusammen mit ihrer weißen Gefährtin in der vordersten Kirchenbank. Offenbar hielten die beiden Cynthia für ausgesprochen witzig. »Verschwindet, sonst rufe ich Daddy!« kreischte Cynthia. Mara versuchte, den Arm um ihre Freundin zu legen, aber Cynthia fauchte sie an. »Ich meine es ernst, Mara Stonds.« 38; »Ja, ja, ist ja schon gut, beruhige dich. Bevor der Gottesdienst beginnt, sind wir weg. Wenn Rafe uns sehen sollte, sagen wir, daß du dir alle Mühe gegeben hast, uns loszuwerden. Nein, natürlich sagen wir nicht, daß du uns gesehen hast.« Cynthia beobachtete Mara, wie sie sich mit der schmollenden Luisa beriet, die ihr aber schließlich zuzustimmen schien. Luisa zog Starrs Kopf zu sich herunter, während Mara die niedrigen Stufen zu Jacqui und Nanette hinunterging, um sich mit ihnen zu besprechen. Kurz darauf erhoben sich alle fünf Frauen und marschierten zum hinteren Teil der Kirche. Eine sechste, LaBelle, die bisher zwischen den Kirchenbänken verborgen war, gesellte sich zu ihnen. »Was macht ihr?« rief Cynthia, weil sie sich nicht auf den Ausgang zubewegten, sondern auf die nördliche Seite, wo eine Treppe hinauf zum Chorgestühl führte. Maras Stimme hallte gedämpft vom Treppenhaus im leeren Längsschiff wider. »Mach dir keine Gedanken. Wir bleiben auf der Empore, da merkt keiner, daß wir da sind. Und wenn Don Sandstrom von Channel 13 auftaucht, dann sag ihm bitte, wo wir sind, ja?« Ein paar Minuten später fand Mrs. Ephers Cynthia vorm Altar, die Finger im Mund. Rafe hat schon recht, daß er sie verprügelt, dachte die Haushälterin, schließlich provoziert sie ihn: Das dumme Ding sieht aus wie ein Schaf. Typisch Mara, daß sie ausgerechnet mit Cynthia befreundet ist.
»Cynthia? Warum stehst du hier herum, wenn noch tausend Dinge zu erledigen sind? Dein Vater will mit dir sprechen - es gefällt ihm nicht, wie du die Sprüche aufgehängt hast. Und was haben die Krüge auf den Kirchenbänken verloren? Hast du es dir etwa gemütlich gemacht, während wir anderen hinten geschuftet haben?« »Nein, Ma'am«, murmelte Cynthia. Sie schaute nach rechts, hinauf zur nördlichen Empore, wo etwas von Starrs Haaren zu sehen war, und folgte dann der Haushälterin zurück ins Refektorium. 159
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Traubensaft zu Wein
Gott gab Ezechiel den Auftrag, die wenigen, die entsetzt über die Scheußlichkeiten waren, mit einem Zeichen zu versehen: die Gerechten, die die Frauen haßten, welche am Nordtor des Tempels um ihren heidnischen Gott Dumusi und seine Gefährtin Ischtar weinten, und diejenigen, welche die Hure und ihre schmutzigen Taten verabscheuten. Ezechiel versah die Handvoll, die die Pornographie und Blasphemie um sich herum verachteten, mit dem Zeichen des Heils. Nur diejenigen, die dieses Zeichen trugen, wurden gerettet. Der Engel des Herrn ging durch Jerusalem, die große Stadt, und vernichtete all jene, die das Zeichen des Heils nicht trugen, vom ältesten Großvater bis zur frisch geborenen Tochter.« Pastor Emerson hielt inne, um seinen Blick über die Gemeinde schweifen zu lassen. Die Anwesenden lauschten aufmerksam, nicht wie vorher, bei der langen und langweiligen Litanei, die Rafe unbedingt hatte schreiben und vortragen wollen. Während dieser die Sünden seiner Nachbarn aufzählte, blätterten einige Gemeindemitglieder gelangweilt in ihren Gesangbüchern und waren froh, als Harriet Stonds mit dem jungen jüdischen Arzt ein wenig zu spät kam. Alle hatten gesehen, daß Harriet nicht mit Mrs. Ephers und Dr. Stonds eingetroffen war. Der Arzt kam allein während des Introitus herein. Er sah noch abweisender aus als gewöhnlich, als er sich neben Mrs. Ephers in die erste Bank setzte, so abweisend, daß niemand wagte, ihn auf Harriet anzusprechen. Vielleicht muß sie heute arbeiten, tuschelten die Gottesdienstbesucher. Schließlich berichteten alle Zeitungen auf der ersten Seite über die Krawalle der vergangenen Nacht; und sie war die Anwältin des Hotels - wer wußte, was für neue Probleme diese Monsterfrauen wieder verursachten. 159 Nein, nein, sagte Mrs. Thirkell; ich habe Hilda Ephers beim Sandwichmachen gefragt, ob Harriet kommt, und sie hat mir erzählt, daß Harriet sich schrecklich aufgeführt hat, genau wie ihre Mutter und ihre Schwester. Sie sollten mal hören, was sie gestern abend zu Hilda gesagt hat... Ja, und dann hat sie die Tür hinter sich zugeknallt und ist aus der Wohnung gestürmt. Dabei erholt sich Hilda gerade von einem Herzinfarkt. Noch lauter wurde das Gemurmel, als Harriet dann mitten in Rafes Litanei tatsächlich auftauchte. Sie war blaß, aber ordentlich angezogen - sie trug ein blaues Baumwollkleid. Sie hatte sich vergewissert, daß ihr Großvater die Wohnung verlassen hatte, bevor sie hinaufging, um ein Bad zu nehmen und etwas anderes anzuziehen. Sie hatte sowenig Zeit wie möglich in ihrem kalten Marmorbad verbracht. Sie wurde von einem schlanken, dunklen Mann begleitet, von dem jungen Arzt, erzählte Patsy Wanachs sofort auf der anderen Seite des Ganges, von dem jüdischen Arzt, der die obdachlosen Frauen ermutigt hatte, Krawall vor der Wand zu machen. Das Geflüster schwoll schließlich zu einem solchen Lärm an, daß die Leute im vorderen Teil der Kirche sich umdrehten, um Harriet und ihren Begleiter anzustarren. Sogar Mrs. Ephers hörte die Kommentare und wandte den Kopf. Mrs. Thirkell, die neben ihr saß, sah, daß Mrs. Ephers' Wangen beim Anblick von Harriet rot wurden. Die Haushälterin wandte den Blick schnell wieder ab und begann laut zusammen mit Rafe zu lesen: Wir haben das vierte Gebot vergessen. Unsere Kinder ehren uns nicht mehr als Eltern, weil wir zu schwach sind, um ihnen Respekt einzuflößen. Cynthia, die zwischen Jared und Mrs. Thirkell eingezwängt saß, wagte es kaum, den Blick zu heben. Wenn Rafe merkte, daß sie ihm nicht zuhörte... Harriet entdeckte Cynthia Lowrie und zeigte sie Hector, was Cynthia veranlaßte, rasch wieder nach vorne zu schauen. Anderen fiel auf, daß Harriet sich keinerlei Mühe gab, an dem Gottesdienst teilzunehmen: Typisch Stonds, das Mädel war sich viel zu gut für so einfache Leute wie die Gemeindemit 3 88
glieder. Aber warum war sie überhaupt gekommen, wenn sie nicht vorhatte, die Messe mit ihnen zu feiern? Rafe rief die Gemeinde, verärgert darüber, daß er nicht mehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, mit seiner lauten, krächzenden Stimme zur Ordnung. »Wir begehen neue Sünden, während wir Gott bitten, uns die alten zu vergeben.« Pastor Emerson hatte zufrieden registriert, daß das sogar Mrs. Thirkell zu salbungsvoll war; Sylvia Lenore tat so, als werde ihr übel. Die beiden Frauen neben ihr kicherten. Emerson kam nun zum Ende. »Wer von euch, meine Brüder und Schwestern, kann von sich behaupten, daß er des Heilszeichens von Ezechiel würdig wäre? Wer von den Anwesenden ist nicht von Gerüchten über die Wunder an der Wand in Versuchung geführt worden? Die Frauen, die die Schwachen dazu verführen wollen, dort zu beten, sind die gleichen Metzen, die Ezechiel tausend Jahre vor der Geburt Christi gesehen hat, und sie begehen die gleichen Scheußlichkeiten. Sie tun genau das Böse, das Johannes in seiner Offenbarung vorhergesehen hat. Metzen und Mütter von Metzen. Töchter von Metzen. Genau wie die Armen sind sie immer bei uns. Kehrt ihnen den Rücken zu. Und noch mehr: Verbannt sie aus unserer Mitte, so daß wir jener heiligen Stadt, des Neuen Jerusalem, würdig werden, rein und unbefleckt wie eine Braut für den Bräutigam. Amen.« Zustimmendes Gemurmel, als der Chor mit einer Hymne begann. Emerson war ein guter, ja ein begnadeter Redner, aber seine Predigten gefielen den fundamentalistischen Gemeindemitgliedern nicht immer. Heute jedoch hatte er genau das gesagt, was sie gern hörten. Als die vorbereitenden Worte zum Abendmahl gesprochen wurden, holten sie bereitwilliger ihre Brieftaschen heraus als sonst. Mrs. Ephers, Rafe und die anderen Diakone gingen zum Altarraum. Nachdem Pastor Emerson die Abendmahlsformel über dem Brot gesprochen hatte, teilten sie es zunächst unter den Gemeindemitgliedern aus, dann unter sich, und schließlich - denn die letzten werden die ersten sein - reichte ein Diakon dem Pastor das geweihte Brot. Anschließend sprach 160 Emerson die Formel über dem Traubensaft, und die Zeremonie wiederholte sich mit kleinen Gläsern. Dr. Stonds trank seinen Saft, machte ein verblüfftes Gesicht und schnupperte an dem Glas. Je mehr Gemeindemitglieder tranken, desto unruhiger wurde es in der Kirche. Es war Wein. Nicht Saft, sondern Wein. Wessen Idee war das gewesen, noch dazu an einem solchen Tag? Wer hatte sie beleidigt, indem er den reinen, unvergorenen Saft der Traube durch Wein ersetzte? Sylvia Lenore vielleicht? War sie deswegen zu einem Gottesdienst gekommen, von dem sie eigentlich nichts hielt? Oder der jüdische Arzt? Hatte er Harriet in seinen Bann gezogen und sie zu diesem Sakrileg überredet? Als schließlich auch der Pastor und seine Diakone tranken, brummte es in der Kirche wie von tausend Hornissen. Emerson war sich des Aufruhrs bewußt, aber erst, als er trank - wie immer als letzter -, erkannte er die Ursache. »Wer hat das getan?« fragte der Pastor wütend seine Diakone. »Cynthia Lowrie war bei den Krügen, als ich sie vor dem Gottesdienst gesucht habe«, verkündete Mrs. Ephers. Kaum jemand hatte verstanden, was im Altarraum gesagt wurde, aber alle sahen, daß Rafes Gesicht rot anlief. Wie ein Ballon, dachte Hector. Aber warum regen sich die Leute so auf? Nehmen Christen denn nicht immer Wein für die Kommunion? fragte er leise Harriet. Sie versuchte ihm zu erklären, daß einige protestantische Gruppen, wie diese zum Beispiel, von Abstinenzlern beherrscht wurden, doch Hector konnte sie in der allgemeinen Unruhe nicht verstehen. Rafe ging zu dem Mikrofon in der Mitte des Altarraums. »Cynthia Jane Lowrie, komm nach vorne.« Das wütende Brummen ebbte ab, als die Anwesenden die Hälse reckten, um besser zu sehen. Cynthia rührte sich nicht von der Stelle. »Cynthia Jane Lowrie, komm nach vorne, um dich zu erklären«, wiederholte Rafe. Jared erhob sich und stieß seine Schwester aus der Kirchen 160 bank. Er trat dabei Mrs. Thirkell und Mr. Stith vor Aufregung auf die Füße. Ein paar Leute, zum Beispiel Sylvia Lenore und ihre Freunde, wurden unruhig, aber niemand machte Anstalten, Cynthia zu helfen. Jared schob sie durch den Mittelgang nach vorn; als sie versuchte, sich an einer Kirchenbank festzuhalten, schleifte ihr Bruder sie die niedrigen Stufen zum Altarraum hoch.
»Cynthia Lowrie«, sagte Rafe ins Mikrofon, als sie neben ihm stand. »Was hast du mit dem Kommunionssaft gemacht?« Die Gemeindemitglieder, die ganz vorne saßen, sahen die Freude, die in Rafes Augen aufblitzte. Das Gemurmel in den Kirchenbänken ließ nach, als die Leute sich vorbeugten, um besser zu sehen. »Nichts«, flüsterte Cynthia so leise, daß die Gemeindemitglieder sie nicht hören konnten. »Lüg mich nicht an, nicht im Haus des Herrn, unter den Augen des allmächtigen Gottes, Cynthia Jane. Mrs. Ephers hat gesagt, sie hätte dich allein bei den Kommunionskrügen erwischt. Was hast du hineingeschüttet? Sag uns die Wahrheit.« »Ich hab' nichts gemacht«, jammerte sie, als Rafe ihr das Mikrofon unter die Nase hielt. »Ich bin hier reingekommen, und da war Mara Stonds mit ein paar Frauen. Sie haben aus den Krügen getrunken, und ich habe ihnen gesagt, sie sollen gehen. Ich hatte ja keine Ahnung, daß sie etwas in den Traubensaft getan haben.« »Mara?« zischte Mrs. Ephers hinter Cynthia. »Du hast gesagt, sie soll gehen? Du hast mir nicht erzählt, daß sie in der Kirche war? Was hast du dir dabei gedacht?« Cynthia begann zu weinen. Ihr Schluchzen wurde durch die Lautsprecheranlage verstärkt. Die Gemeinde war fasziniert. Harriet hatte diese Worte Hunderte von Malen aus dem Mund von Mrs. Ephers gehört - jedesmal, wenn Mara etwas tat, was zu impulsiv für die Grabesstille in der Graham Street war. Zum erstenmal nahm Harriet sie bewußt wahr; sie spürte den Stich, den sie Mara versetzt haben mußten, genauso stark 39" wie die Ohrfeige, die meist auf diese Worte folgte. Sie stand auf und drückte sich an Hector vorbei, weil sie wußte, daß Mrs. Ephers Cynthia gleich eine Ohrfeige geben würde. »Schnief hier nicht rum, junge Frau.« Patsch. »Wohin ist sie gegangen?« »Du hast sie gehört, Mädchen«, sagte Rafe. »Was hatten die Frauen vor? Wollten sie hier vielleicht eine schwarze Messe feiern? Wo sind sie?« Harriet erreichte, Hector im Schlepptau, die Altarstufen, als Rafe ausholte, um seiner Tochter eine Ohrfeige zu geben. Harriet bekam den Schlag bei dem Versuch, ihn abzuwehren, selbst ab. Hector fing sie auf, als sie durch den Aufprall ins Schwanken geriet. »Sie sind da oben, da oben«, jammerte Cynthia und deutete hinauf zur Empore. »Bitte schlag mich nicht, Daddy.« Harriet und Hector, Rafe und Mrs. Ephers, der Pastor, die ganze Gemeinde - sie alle reckten die Hälse, konnten aber dort oben nichts entdecken. Es herrschte kurzes Schweigen - die elektrisch aufgeladene Stille zwischen Blitz und Donner -, dann ging Jared mit ein paar Männern den Mittelgang nach hinten. Sie polterten die Treppe hinauf, den steinernen Fußboden der Empore entlang, wie ein Rudel riesiger Hunde: Sie japsten vor Freude auf, als sie ihre Beute aufspürten und sie in die Kirche hinunterzerrten. Harriet hielt Hectors Hand so fest, daß er blaue Flecken davon bekam. Vom Altarraum aus sah sie Mara in Jareds Armen, dahinter Starr und Luisa sowie drei weitere obdachlose Frauen, die sie von ihren Besuchen an der Wand kannte. Harriet hätte am liebsten ihre Schwester in die Arme geschlossen, doch die Menschenmenge, die sie von ihr trennte, schien undurchdringlich. »Mara, Beebie!« Das Mikrofon verstärkte die geflüsterten Worte und trug sie über den Lärm hinweg zu Mara. Sie sah Harriets blasses, angespanntes Gesicht, hörte ihren unwillkürlichen Aufschrei, lächelte: Harriet haßte sie doch nicht. 161 Sobald Rafe Cynthia zu sich nach vorn gerufen hatte, hatte Mara gewußt, daß sie sie verraten würde; Cynthia hatte nicht die Kraft, ihrem Vater Paroli zu bieten. Mara flüsterte Jacqui zu, sie sollten verschwinden. Es gab nur einen Weg von der Empore, nämlich die Treppe hinunter und vorbei am Chorgestühl, aber sie hatten trotzdem eine Chance zu entkommen; schließlich hatten sie einen Vorsprung. Aber wohin? flüsterte Jacqui zurück. Sie waren wie Kaninchen auf dem offenen Feld, von Jägern umzingelt. Doch da stürzten sich die Hunde schon auf sie; man packte sie, ohne daß sie in der Lage gewesen wären, den Männern wenigstens den einen oder anderen Tritt zu versetzen. Sogar Starr wirkte hilflos gegenüber diesem Rudel. Die Männer keuchten mit ihrer Beute die Stufen zum Altarraum hoch und stellten sich vor den Pastor. Die Gemeindemitglieder kletterten auf die Bänke, um besser zu sehen. Das ist also diese
Starr, sagte Mrs. Thirkell zu Mr. Stith, der links von ihr saß, wich aber angewidert zurück: Sein Gesicht glänzte vor Erregung. Er beugte sich vor, um Starr besser anstarren zu können; Speichel tröpfelte aus seinem Mundwinkel. Patsy Wanachs, die hinter Mrs. Thirkell saß, tippte dieser auf die Schulter: Schauen Sie nur - das sind doch ein paar von den Frauen, die schon so oft bei uns übernachtet haben. Das beweist eindeutig, daß wir recht haben. Sylvia Lenore wird jetzt bereuen, was sie gesagt hat. Gib ihnen den kleinen Finger, und schon nehmen sie die ganze Hand. Ich persönlich habe Hagar's House nie für eine gute Idee gehalten. Sylvia diskutierte mittlerweile besorgt mit ihren Anhängern: Das sieht übel aus; wir sollten versuchen, das zu verhindern, aber - irgendwie ist es blöd, die Polizei in einen Gottesdienst zu rufen. Was sollen wir machen ? Nach vorne gehen, mit ihnen reden? Die Lautsprecheranlage ausschalten? Rafe rief die Gemeinde zur Ordnung und bat um ihre Aufmerksamkeit. »Wir haben gerade gehört, daß die Metzen und die Töchter der Metzen verdammt werden, die unsere Stadt besudeln. Und jetzt stehen sie vor uns. Was sollen wir mit 162 ihnen machen?« Aber mit seiner heiseren Stimme kam er gegen den Lärm nicht an. Pastor Emerson ergriff das Mikrofon. »Ihr Frauen habt das Haus Gottes entweiht. Was habt ihr zu eurer Entschuldigung vorzubringen?« Seine Stimme dröhnte durch die Kirche. Die Gemeindemitglieder beruhigten sich allmählich, und er wiederholte seine Frage. Luisa Montcrief entwand sich dem Griff des Mannes, der sie festhielt, und ging zum Mikrofon. Und zum Entsetzen aller Anwesenden begann sie zu singen. 162
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Die Diva in Gefahr
Luisa fragte sich, warum sie in einer Kirche waren. Hatte Mara ihr ein Engagement besorgt, ohne ihr etwas davon zu sagen? Hatten Jacqui und sie auf der Empore darüber geredet? Dann waren die Zuhörer gekommen, sie zu holen, aber deswegen mußten sie wirklich nicht so fest zupak-ken. Nun, wenn das ein Gottesdienst war, wollten sie sicher etwas Religiöses hören. Das waren alles Ignoranten; wahrscheinlich kannten sie nur Schuberts süßliches, überstrapaziertes »Ave Maria«. Sie gab sich gedanklich einen Ton vor und begann zu singen. Doch statt des B-Dur von Schubert kam zu ihrem Entsetzen Verdis As-Dur aus ihrem Mund. In ihrem Kopf hörte sie die Geigenbegleitung. Gegen ihren Willen und trotz aller Bemühungen, die Arie aus ihrem Gedächtnis zu verbannen, sang sie Desdemonas »Ave Maria« aus dem letzten Akt von Otello. Und dann stand der wütende Tenor wieder mit aufgedunsenem Gesicht vor ihr, wie er es seit jenem schrecklichen Abend in der Met immer wieder getan hatte. Hör auf, du Schlampe. Das hier ist eine Kirche, kein Rummelplatz. Sie machte die Augen zu; ihre Stimme erhob sich zum zweigestrichenen A. Ja, sie hatte den Ton genau getroffen; sie täuschten sich, diese Idioten, die sagten, ihre große Zeit sei vorbei. Doch jetzt brüllte dieser rotgesichtige Kretin über die Musik hinweg; er versuchte nicht einmal zu singen und konnte auch den Text nicht. Er sprach englisch, nicht italienisch. »Prostituta«, ja, er nannte sie eine Hure und sagte ihr, sie solle den Mund halten. Idiot, wußte er denn nicht, daß das die Szene davor war? Und dann drückte er ihr den Hals zu und hob sie 162 hoch. Ihre Stimme, ihre Stimme, er würde sie für immer ruinieren. Gemurmel aus dem Chor; sie versuchten, ihn aufzuhalten. Ihr Dienstmädchen schrie um Hilfe, aber Luisa fiel in ein tiefes Loch ohne Boden. Es war kalt, es war kälter als Des-demonas Keuschheit; vielleicht würde auch sie in den Himmel hinaufgetragen. 162
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Rae
Mutter der Metzen
raste vor Zorn. Er hatte diese verdammten Frauen satt, die sich nicht beherrschen konnten, pampige Frauenrechtlerinnen wie diese eiskalte Schlampe Harriet Stonds, die Berufe ausübten, die eigentlich den Männern vorbehalten waren; seine Frau hatte ihn sitzenlassen, ihn gedemütigt; seine Tochter hinterging ihn, und jetzt auch noch das - diese Oberschlampe wagte es doch glatt, sich vor versammelter Gemeinde hinzustellen, dreckig zu grinsen und statt aufzuhören, als er ihr
sagte, sie solle den Mund halten, nur noch lauter zu singen, bis er keine andere Wahl mehr hatte: Sie zwang ihn, die Heiligkeit des Allerheiligsten zu schützen. Er wollte ihr nicht weh tun, sie sollte sich nur anständig benehmen. Harriet Stonds und dieser jüdische Arzt, die ihn am Arm packten, waren schuld. Rafe schob die beiden beiseite und stieß Luisa vom Mikrofon weg. Ihr Kopf knallte gegen den Altar; sie fiel nach hinten und blieb auf den Stufen liegen wie ein Spatz, der mit voller Wucht gegen ein Fenster geflogen ist. Mara schrie auf. »Sie haben sie umgebracht. Sie haben sie umgebracht.« Rafe hätte sich am liebsten auch noch Mara vorgenommen: Konnte Abraham Stonds denn nicht dafür sorgen, daß sich seine verdammte Enkelin ordentlich aufführt und nicht hier vor Gott und allen Anwesenden rumbrüllt wie eine verdammte Hexe? Dr. Stonds betrachtete Mara von der ersten Kirchenbank aus voller Abscheu. Er hatte schon vergessen, wie häßlich sie war, und jetzt, mit ihrem rasierten Schädel und den schmutzigen Kleidern, konnte der Kontrast zwischen ihr und Harriet, die so kühl und sauber war, gar nicht größer sein. Doch nun wandte 163 auch Harriet sich gegen ihn und flatterte vor versammelter Gemeinde mit diesem Versagerarzt von Hanaper herum. Jetzt kniete sich der junge Mann auch noch neben Luisa Montcrief. So ein ungeschickter Tölpel, man sollte ihm sagen, daß man einen Menschen, der sich das Genick gebrochen hat, nicht anrühren darf; aber wahrscheinlich war sie ohnehin schon tot - schließlich lag sie ziemlich verrenkt da. Harry Minsky hatte wirklich Glück, daß er sich jetzt nicht mehr um seine Schwester zu kümmern brauchte, obwohl es natürlich eine Tragödie war, nun, eher ein Skandal, daß Luisa hier in der Kirche gestorben war. Viel Sympathie konnte er allerdings nicht für diesen Rafe aufbringen; Stonds würde sagen müssen, es sei Mord gewesen, wenn die Polizei ihn fragte. Stonds war immer noch der beste Neurochirurg der Stadt, vielleicht von ganz Nordamerika; es war das beste, wenn er den jungen Tammuz daran hinderte, Luisa zu berühren; möglicherweise konnten ihr ja die berühmten Hände von Abraham Stonds noch helfen. Niemand bemerkte das Kamerateam von Channel 13, das gerade die Kirche betreten hatte. Alle waren so gebannt von dem Drama vor dem Altar, daß sie von den Scheinwerfern, den Kameras und von Don Sandstrom mit seinem allgegenwärtigen Mikrofon nichts mitbekamen. Jacqui und Nanette entwanden sich den Männern, die sie festhielten, und rannten zu Luisa hinüber. Sie rieben ihr die Hände und versuchten, ihren Puls zu fühlen. Harriet wollte zu Mara gelangen, war aber unfähig, einen Schritt zu machen oder auch nur darüber nachzudenken, was als nächstes zu tun war. Rafe beugte sich über Luisa und überlegte, ob er ihr auf die Füße helfen sollte. Es fehlte ihr nichts, nein, das konnte nicht sein, sie spielte nur Theater, wie Frauen das immer machten. Schließlich hatten auch seine Frau und Cynthia oft geschrien und so getan, als hätten sie Schmerzen, und dabei war gar nichts gewesen. Er beugte sich über sie, um ihr auf den Rücken zu klopfen und ihr zu sagen, was er auch seiner Tochter immer sagte: Setz dich hin, hör auf, dich wichtig zu machen - ich hol' dir ein Glas Wasser; leg dich eine Weile ins Bett. 163 »Lassen Sie bloß die Finger von ihr!« herrschte Hector Rafe an und schob ihn weg. »Sie haben sie schon schwer genug verletzt. Harriet! Bitte verständigen Sie die Polizei und einen Notarzt.« Sein strenger, autoritäter Tonfall - wie ein Arzt zu seinen Untergebenen - riß Harriet aus ihrer Apathie. Ein Telefon. Hinten im Büro war sicher ein Telefon. »Und Sie«, sagte Hector zu dem jungen Mann, der Luisa festgehalten hatte, »passen auf, daß Lowrie die Kirche nicht verläßt, bevor die Polizei hier ist.« Emerson wollte wissen, woher Hector das Recht nahm, in der Kirche Anweisungen zu erteilen. Hector schenkte ihm keine Beachtung. Mit sanfterer Stimme sagte Hector auch zu Jacqui und Nanette, sie sollten Luisa nicht berühren. »Wenn Sie sich das Genick gebrochen hat, dürfen wir sie nicht bewegen: Warten wir lieber auf den Notarzt.« Dr. Stonds gesellte sich zu Hector. »Junger Mann, ich nehme an, daß Sie über Kopf- und Genickverletzungen genausowenig wissen wie über psychische Störungen. Machen Sie Platz.«
Zu seinem eigenen Kummer stellte Hector fest, daß er dem Neurochirurgen ganz automatisch Platz machte. Stonds kniete neben Luisa nieder und legte zwei Finger auf ihren Hals. Genau, wie er gedacht hatte: kein Puls. Sylvia Lenore, Patsy Wanachs, Mrs. Thirkell und ein Dutzend anderer, die sich um Stonds und Luisa drängten, wollten wissen, was los war. Dr. Stonds pfiff sie wütend zurück: Er duldete keine Unordnung in dem Bereich, in dem er einen Patienten behandelte. Mrs. Ephers versuchte, seine Forderung durchzusetzen, doch niemand achtete auf sie. Sex und Tod, Starrs Körper, Luisas gebrochenes Genick, das war eine prickelnde Mischung. Tom Caynard wird sich ärgern, daß er nicht mitgekommen ist, sagte Jared zu seinen Freunden und vergaß, daß er selbst am liebsten auch zu Hause geblieben wäre. Von oben nahm Don Sandstrom alles auf Tonband auf, wü 164 tend auf seinen Kameramann, dem es nicht gelang, Luisa ins Bild zu bringen. Aber jetzt - was? -, oh, das war gut, wirklich sehr gut: Starr trat neben Stonds. Hol sie mit dem Zoom ran, rief er seinem Kameramann zu, jetzt geht's los. Starr packte Dr. Stonds an den Schultern und schob ihn beiseite. »Dr. Tammuz, vergessen Sie nicht...«, sagte er, dann sah er hoch und schwieg. Starrs Gesichtsausdruck war so wild, daß Jared und seine Freunde aufhörten, sich Witze zu erzählen. Der Kameramann zuckte bei ihrem Anblick zusammen und drehte die Kamera weg. Ihr T-Shirt war zerrissen, als die Männer sie von der Empore gezerrt hatten, und als sie sich jetzt über Luisa beugte, waren ihre nackten Brüste zu sehen. Daran war nichts Erotisches, das wurde Hector plötzlich klar. Sie wirkten jetzt mehr wie riesige Felsen auf ihn, die ihn zermalmen konnten; er spürte, daß er unter ihrem Gewicht keine Luft mehr bekam. Starr hob Luisa so mühelos hoch, als sei sie ein Kätzchen, und legte sie auf den Altar. Hector versuchte, sie daran zu hindern: Jemanden mit gebrochenem Genick darf man nicht bewegen. Pastor Emerson tadelte sie, weil sie den Tisch des Herrn benutzte. Doch Starr schob die Männer mit den Ellbogen beiseite. Sie strich Luisa mit ihren langen Fingern über Hals und Kopf und grunzte dabei leise. Sie beugte sich über sie und küßte sie auf den Mund und die Stirn. Die Diva streckte sich wie ein Baby nach einem Schläfchen und schlug die Augen auf. Diejenigen, die daneben standen, hörten sie lachen und sagen: »Starr, also hast du mich doch nicht vergessen.« Jacqui packte Nanette am Arm. »Gelobt sei Jesus, gelobt sei der Herr. Sie spricht.« Rafe wandte sich verächtlich an Hector: »Sehen Sie; sie ist überhaupt nicht tot, Sie verdammter Wichtigtuer.« Starr wandte sich um und starrte ihn an. Rafe versuchte zurückzustarren, doch sein Spiegelbild in ihren flachen schwarzen Augen war zu entsetzlich. Er sah sich selbst, einen nicht besonders großen Mann, der immer versuchte, sich 164 größer zu machen, indem er alle anderen dazu zwang, klein zu sein. Er wollte blinzeln und wegschauen, aber plötzlich schnappte er nach Luft. Er wollte um Hilfe rufen, doch seine Stimme, sein Werkzeug der Macht im Termingeschäft, war dahin. Cynthia! Jared! Warum halfen sie ihm nicht? Oder dieser jüdische Arzt, der so viel Mitleid mit den dummen obdachlosen Frauen hatte... Dr. Stonds, sah der hochherrschaftliche Dr. Stonds es denn nicht, wenn jemand in Not war? Schließlich hatte er sich auch nicht zweimal bitten lassen, als diese blöde Fotze, die sich über Rafes Vortrag lustig gemacht hatte, so tat, als sei sie verletzt. Verdammtes arrogantes Schwein. Doch Luisas plötzliche Gesundung hatte Dr. Stonds aus der Fassung gebracht. Er war überzeugt gewesen, daß sie tot war: Er hatte keinen Puls gespürt. Er konnte sich doch nicht so getäuscht haben, nicht in einer so grundsätzlichen Angelegenheit. Er betrachtete seine Hände: Sie konnten ihn nicht belogen haben. Das war sicher Maras Werk gewesen. Das Gör hatte die ganze Sache eingefädelt, um ihn vor allen zum Narren zu machen. Wut stieg in ihm hoch; sie verstärkte sich noch durch die zunehmende Lautstärke in der Kirche. Sie beobachteten ihn, machten sich über ihn lustig. Mara war schuld, und diese Starr. Sie hatte sogar Harriet dazu gebracht, sich gegen ihn zu wenden; die Dinge, die Harriet ihm am vergangenen Abend an den Kopf geworfen hatte; von selbst würde sie ihm nie widersprechen; das tat sie nur unter dem Einfluß dieses verdammten Kobolds, dieses Wechselbalgs. Er würde Mara schon zeigen, wer der Herr im Hause war; er würde sie in einer Zwangsjacke aus dieser Kirche schleppen lassen.
Mittlerweile herrschte ein einziges Durcheinander in der Kirche; jeder wollte sehen, was da vor sich ging. Wer ganz vorne stand, bekam mit, daß Abraham Stonds seine Enkelin ergriff und ihr die Arme auf den Rücken drückte. Ein Mann rief, sie müßten dem Arzt helfen; schließlich würden ein paar alte Frauen und ein Prediger nicht allein mit diesen Weibern fertig - er spürte die Körper unter seinen Händen, das Blut in 165 seinen Schläfen pochte, und rund um ihn herum Gesichter, die ebenfalls vor Erregung glänzten: Ja, laßt uns dem Doktor helfen. Die Leute weiter hinten konnten nur die Schatten sehen, die die Kerzen an die Wand warfen. In diesem Schattenspiel wirkte Starr wie eine große gehörnte Bestie, wie eine wilde Kuh. Eine Hexe. Wie konnte sie es wagen, eine Frau in der Kirche zu küssen... Mutter der Metzen... Pastor Emerson hat gesagt, man soll sie verbannen... in der Bibel... keine Hexen ... Die Gemeinde drängte zum Altar. Pastor Emerson versuchte, sie zurückzuhalten, wurde aber beiseite gefegt wie ein Stück Treibholz von der tosenden See. Ein Dutzend Hände packte die riesigen goldenen Kerzen und schwang sie gegen Starr. Mara befreite sich aus dem Griff ihres Großvaters. Sie packte Starr am Arm und versuchte sie wegzuziehen, aber sie wurde selbst von hinten ergriffen und mit Jacqui und Luisa zu Boden geworfen. Manische Fäuste schlugen Hector ins Gesicht und drängten ihn von Starr weg. Der Kameramann nahm auf, was er konnte, aber bei dem schlechten Licht und aus der Perspektive... die Leute stürzten sich auf Starr, doch er konnte nicht sehen, was sie machten. Ja, ja, noch einmal, krach, die Knochen werden zu Matsch unter ihrer Haut; ja, sie ist eine Schnecke, ein Reptil. Zerquetscht sie, vernichtet sie. Die Schatten tanzten an der Wand. Die Kerzen waren riesige Knüppel, die sich immer wieder erhoben und senkten, bis die geschundene Kreatur kollabierte und zu Boden sank. 165
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Mord in der Kirche
Mara lag in Harriets Bett, den Kopf im Schoß ihrer Schwester. Nachdem sie wochenlang auf der Erde geschlafen hatte, war es merkwürdig, wieder in einem Bett zu liegen, besonders in dem ihrer Schwester. Mit geschlossenen Augen versuchte Mara sich vorzustellen, daß sie noch am Strand war und daß sich Starrs Kopf mit den wilden Haaren, wilder, als die ihrigen jemals gewesen waren, über ihr befand. Sie verzog die Lippen zu einem schmerzlichen Lächeln: Neunzehn Jahre lang hatte sie versucht, Harriet zu werden, und jetzt wollte sie plötzlich, daß Harriet Starr wurde. Nein, das nicht. Sie wünschte sich vielmehr, daß dieser abscheuliche Kampf in der Kirche nie stattgefunden hätte. Sie wollte zu Hause bei Harriet sein, die sie sanft im Arm hielt, und Starr sollte weiterhin unterwegs sein, damit Mara ihr hin und wieder begegnen konnte. Harriet streichelte den kahlgeschorenen Schädel auf ihrem Schoß. Es begannen schon wieder kleine schwarze Locken darauf zu sprießen, wie Meeresmoos. Mara schlief noch nicht ganz. Harriet hatte nichts Besseres zu tun, als ihren Kopf zu streicheln und ihre Schwester schlafen zu lassen oder auch nicht - ganz wie sie wollte. Zum erstenmal seit sechsundzwanzig Jahren hatte sie keinen festen Plan für die nächsten Stunden. Als Harriet ihre Schwester in die Graham Street gebracht hatte, hatte Mara noch immer vor Kummer und Entsetzen über Starrs Ermordung geschluchzt. Harriet selbst bewegte sich in einer marmornen Trance; sie weinte nicht und dachte auch nicht nach. Wie ein Roboter zog sie ihre blutbefleckte Kleidung aus, schlüpfte in einen Morgenmantel und ließ Wasser in die Badewanne laufen. Genauso, wie Mara sich an Starrs T-Shirt festhalten mußte, mußte Harriet sich an Mara klammern. Wenn sie ihre Schwester auszog, sie badete und ihr die 165 winzigen frischen Löckchen wusch, konnte Harriet nicht zusammenbrechen. Als Mara dann schließlich aus der Wanne stieg, war sie ein bißchen ruhiger. Sie warf einen Blick auf den großen nassen Fleck auf Harriets elfenbeinfarbenem Morgenmantel und sagte, sie würde sich selbst abtrocknen, sie wolle nicht Harriets Morgenmantel ruinieren. »Macht nichts«, sagte Harriet, dann fiel ihr die Schelte ein, die sie sich von Mephers einhandeln würde, weil sie so achtlos gewesen war: Das ist gute Seide, hast du nicht dreihundert Dollar dafür ausgegeben und mir gesagt, der Morgenmantel hält ewig? Aber wie lächerlich es war, sich Gedanken über einen Morgenmantel zu machen, wenn man gerade... sie zitterte bei der Erinnerung an das, was sie soeben erlebt hatte, und drückte Mara enger an sich.
Nachdem sie von Pastor Emersons Büro aus einen Notarztwagen für Luisa gerufen hatte, war sie hinausgerannt, um zu warten. Während sie wartete, ganz starr vor Angst, hörte sie das immer lauter werdende Getöse von drinnen. Mara, was machst du da? Legte sich ihre leichtsinnige kleine Schwester mit Rafe, seinem Sohn und all den erregten Männern an? Warum ist der Notarzt noch nicht da, warum kommt er nicht? Sie sah auf die Uhr - es waren erst drei Minuten vergangen, doch sie hatte das Gefühl, es wären zwei Tage gewesen. Gerade wollte sie wieder hineingehen, als die Sanitäter eintrafen. »Hier rüber«, rief sie, als sie mit der Tragbahre in Richtung Haupteingang trotteten. »Wenn Sie dort reingehen, kommen Sie nie zu ihr durch.« Doch sie hörten sie nicht. Harriet lief über die Wiese, um sie durch die Sakristei zum Altar zu lotsen, und erzählte ihnen unterwegs die wirre Geschichte mit Luisa - es war ein schlimmer Unfall, vielleicht hatte sie sich das Genick gebrochen; drinnen war eine wütende Menge. Die Sanitäter waren Menschen in Panik gewohnt: Das hier war eine reiche weiße Frau, und wahrscheinlich war dies die erste Krise ihres Lebens - wenn in der Kirche jemand gestürzt 166 war, fielen jetzt wahrscheinlich alle alten Damen in Ohnmacht und glaubten, sie brauchten einen Notarzt. Die Sanitäter tätschelten Harriet beruhigend den Rücken und folgten ihr. Schon in der Sakristei hörten sie den Lärm: Schreie, Rufe, manisches Lachen. Ihre herablassende Verachtung über Harriets Panik verflog. Auf den ersten Blick konnten sie nicht beurteilen, was da vor sich ging. Irgendeine Art von Ritual vielleicht - Arme und Rücken hoben und senkten sich wie in einer übersteigerten Tanzparodie. Doch da war noch etwas anderes, der Geruch von Blut und versengten Haaren, und dazu ein heilloser Lärm, wie das Bellen von tausend Hunden. Hier tobte ein Mob, schlimmer als alles, was sie je auf der Straße gesehen hatten. Die Sanitäter ließen die Tragbahre stehen und rannten zu ihrem Notarztwagen, um die Polizei zu rufen. Harriet sah sich nach Mara und Hector um, entdeckte aber nur Pastor Emerson. Er saß zusammengesunken in einer der geschnitzten Nischen hinter dem Altar. Seine Lippen bewegten sich stumm in seinem wachsgrünen Gesicht. »Pastor Emerson.« Sie stürzte sich auf den Geistlichen. »Was ist los? Meine Schwester...« Er gab ihr keine Antwort. Sie schüttelte ihn, doch er starrte sie nur verständnislos an. Harriet stieß einen verzweifelten Schrei aus und stürzte sich in den Mob. Als die Polizei schließlich mit Megaphonen und Schlagstöcken eintraf, hatte sie ihre Schwester immer noch nicht gefunden. Die Polizisten gingen systematisch vor. Sie legten allen, die ihnen in die Quere kamen, Handschellen an. Patsy Wanachs und Mrs. Thirkell saßen mit Handschellen auf dem Boden und sahen einander kurz an, bevor sie den Blick beschämt abwandten. In dem Maße, wie die Polizei die Leute festsetzte, legte sich auch der Lärm, allmählich wurde der Mob ruhiger. Männer und Frauen sahen einander an, nahmen die glänzenden Augen und die geifernden Münder wahr und wichen angeekelt zurück. 166 Die Sanitäter, die bis dahin im hinteren Teil des Mittelschiffs geblieben waren, konnten nun ungehindert zum Altar durchgehen. Starr lag vor dem Altar, ihr Gesicht ein einziger blutiger Brei. Ihre großen schwarzen Haarhörner waren verschwunden; sie waren büschelweise ausgerissen, und ihre Kopfhaut war blutverschmiert. Jared Lowrie stand mit einem schwarzen Büschel in der linken Hand neben der Leiche. Als ihm ein Polizist Handschellen anlegte, grinste er süffisant und drehte sich entrüstet weg. »Was habe ich denn getan? Warum wendet ihr euch nicht an die eigentliche Anführerin, an diese Mara Stonds da unten?« Hector und Mara kauerten neben Starr. Hectors Gesicht war ebenfalls blutrot von den Schlägen, die er hatte einstecken müssen. Das rechte Auge war zugeschwollen, aber das schien er nicht zu merken. Jacqui, Nanette und Luisa krochen unter dem Altar hervor, wo sie sich vor den Massen versteckt hatten. Nahe bei ihnen, aber nicht bei ihnen, und ebenfalls in Sicherheit, waren Dr. Stonds und Mrs. Ephers, Rafe und Cynthia. »Jesus, sei uns gnädig«, flüsterte Jacqui und kniete sich neben Hector. Harriet schob die letzten Leute, die noch herumstanden, beiseite, um zu ihrer Schwester zu gelangen. »Mara, Beebie, meine Kleine, es tut mir ja so leid.«
Sie setzte sich neben ihre Schwester und nahm sie in den Arm. Sie versuchte, nicht vor dem zerschlagenen Kopf Starrs zurückzuweichen, den Mara nicht loslassen wollte. Mara lehnte sich an Harriet und weinte. Ein Polizeibeamter kam mit einem Sanitäter auf sie zu. Er versuchte, die Gruppe rund um Starr zu befragen, aber niemand war in der Lage, ihm eine Antwort zu geben. Dr. Stonds murmelte etwas von wegen Mara, das Mädchen habe vom Tag ihrer Geburt an nur Probleme gemacht, während Mrs. Ephers heftig nickte. Harriet hob den Kopf, um zu widersprechen, doch dann merkte sie: Großvater sprach so unzusammenhängend, daß der Polizist ihm keine Beachtung schenkte. 167 Plötzlich tauchte Don Sandstrom hinter den Sanitätern auf, das Mikrofon in der Hand. Er hielt es Mara vors Gesicht, und plötzlich merkte er voller Freude, daß die Frau, die sie im Arm hielt, die Anwältin des Hotels war, die telegene Harriet Stonds. Normalerweise war sie so ruhig, daß man das Gefühl hatte, man brauche einen Eisbrecher, um sich mit ihr unterhalten zu können, doch jetzt sah sie aus, als sei sie in einen Wirbelsturm geraten. »Ms. Stonds, sind Sie als Vertreterin Ihrer Kanzlei hier?« Harriet hob den Blick, die Augen fast schwarz vor Qual. »Sie waren hier? Sie haben all das gefilmt und nichts dagegen unternommen? Dachten Sie, das Ganze ist ein Spiel? Konnten Sie die Kamera nicht weglegen und Hilfe holen?« Ihre Lippen waren so geschwollen, daß sie kaum sprechen konnte. Sie beugte sich ein wenig vor, um ihre Schwester noch enger an sich zu drücken. Don wich zurück. Diese verdammte Zicke, immer spielte sie die Überlegene. Er trommelte seine Leute zusammen - es hatte keinen Zweck, während der Aufräumungsarbeiten hierzubleiben. Die Polizisten würden sie auf dem Revier interviewen. Die Sanitäter hoben Starr vorsichtig auf die Bahre. »Was werden Sie mit ihr machen?« fragte Mara die Sanitäter leise. »Wir bringen sie ins Midwest Hospital«, sagte einer von ihnen. »Und Sie«, fügte er an Hector gewandt hinzu, »kommen besser auch mit, damit sich jemand ihr Gesicht ansieht. Soweit ich das beurteilen kann, ist Ihr Wangenknochen gebrochen.« »Bedeutet das, daß sie nicht tot ist?« fragte Jacqui. »Ich meine, wenn Sie sie ins Krankenhaus bringen?« Die Sanitäter schwiegen verlegen. »Nein.« Hector zuckte zusammen, als ihm der Schmerz in seinem Gesicht bewußt wurde. »Sie ist wirklich tot. Sie müssen sie ins Krankenhaus bringen, damit ein Totenschein ausgestellt wird. Erst dann können sie sie in die Leichenhalle fahren.« 167 »Sind irgendwelche Verwandten von ihr anwesend?« fragte ein Sanitäter. Harriet erwartete, daß Mara sagen würde, Starr sei ihre Mutter gewesen, doch da meldete sich Luisa zu Wort: »Ich bin ihre Schwester.« Einer der Sanitäter wandte sich wegen der Einzelheiten an Luisa, und die Diva gab ohne zu zögern einen Familiennamen und eine Adresse für Starr an. Keine Autopsie, sagte Jacqui, wir wollen nicht, daß jemand an ihr rumschnipselt. Aber trotzdem muß sie in die Autopsie, das ist das Gesetz, erklärte ein Sanitäter ihr. Die Leiche wird nächste Woche für die Beerdigung freigegeben. Lassen Sie sich von der Polizei eine Aktennummer geben. Als die Sanitäter Hector auf eine Tragbahre hoben, stand Dr. Stonds auf und klopfte sich die Hose ab. »Ich bin Abraham Stonds, der Leiter der Neurochirurgie im Midwest Hospital. Hier ist eine ältere Dame mit einem Herzleiden, die vor dem jungen Mann behandelt werden müßte. Er kann ganz gut selber gehen. Sie braucht die Tragbahre.« Jetzt klang die Stimme von Dr. Stonds wieder kräftig und autoritär. Die Sanitäter wandten sich Mrs. Ephers zu. An Herzanfälle waren sie gewöhnt, und sie wußten genau, was zu tun war. Sie würden sie mitnehmen, an ein EKG und ein Beatmungsgerät anschließen und eine weitere Tragbahre für Hector schicken. Harriet folgte mit Mara der Tragbahre, auf der Starr lag. Jacqui und Nanette und auch die weinende LaBelle, die sich in den Nischen seitlich des Altars versteckt hatte und erst jetzt hervorgekommen war, begleiteten sie. Luisa kletterte in den Notarztwagen und wartete auf Starr. Harriet hielt Maras Hand, während ihre Schwester niederkniete, um Starrs blutige Lippen zu küssen, und ließ sie auch nicht los, als sie sich selbst bückte, um Hector einen Zettel mit ihrer Privatnummer in die Hand zu drücken. »Rufen Sie mich an, wenn Sie fertig sind, dann hole ich Sie ab.«
»Und Hilda?« fragte Großvater aus dem Notarztwagen, in dem Mephers transportiert wurde. »Du läßt die Frau, die dir 168 mehr als eine Mutter gewesen ist, einfach ins Krankenhaus fahren, ohne sie eines Blickes zu würdigen?« Mephers war mehr für sie gewesen als eine Mutter? Nun, vielleicht. Jedenfalls im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Harriet überließ ihre Schwester einen Augenblick Jacqui und kletterte in den Notarztwagen, in dem Mephers an alle möglichen Monitore angeschlossen war, ihr Herzschlag so gleichmäßig wie ein Pendel. Mephers machte die Augen nicht auf und drehte den Kopf weg, als Harriet ihr einen Kuß geben wollte. »Du hast dir deinen Weg selber gewählt, Harriet Stonds. Hoffentlich bist du dir sicher, daß es der richtige ist.« Harriet stieg aus und fuhr mit Mara in das Mausoleum in der Graham Street. Und irgendwann schlief ihre kleine Schwester dann ein. 168
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Und die Wand stürzte ein
niemand weiß genau, was heute morgen in der Orleans Street Church passiert ist«, sagte Don Sandstrom. »Es besteht kein Zweifel daran, daß anstelle des Traubensafts, den die Kirche für die Kommunion verwendet, Wein in den Krügen war. Aber ob das der Scherz einer betrunkenen Sängerin und einer gestörten jungen Frau war, die sich in der Kirche versteckten, oder das Werk der dämonischen Starr, werden wir wohl nie erfahren.« Becca Minsky schaute die Sechsuhrnachrichten mit Dusty und ein paar Plüschtieren in ihrem Zimmer an. Seit Becca erfahren hatte, daß die Polizei Judith Ohana in der vergangenen Nacht vor der Wand zusammengeschlagen hatte, wollte Becca unbedingt nach Chicago. Was wollte sie denn in der Stadt, fragte Harry; wollte sie sich vielleicht auch verprügeln lassen? Becca wußte auch nicht so genau, was sie wollte - eine Heldin sein, Luisa retten, einfach nur die Aufregung miterleben, die in der Stadt herrschte. Karen und Harry beschlossen, ihre Tochter keine Minute aus den Augen zu lassen. Als Becca mitten in der Nacht, eine Stunde, nachdem ihre Eltern ins Bett gegangen waren, auf Zehenspitzen aus ihrem Zimmer schlich, wurde sie von einem der Schrottplatz-Wachmänner aufgehalten. Sie kannte den Mann schon ihr ganzes Leben lang, aber ihre Versuche, ihn zu beschwatzen, waren nutzlos; er holte ihren Vater, und sie erhielt Hausarrest. Wenn du mir nachspionieren und Leute anheuern mußt, die mich bewachen, fauchte Becca, dann komme ich erst wieder aus meinem Zimmer, wenn ich zur Schule muß. Wenn du meinst, daß ich dir dein Essen auf einem Tablett hinaufbringe, junge Frau, nun... das kannst du dir aus dem Kopf schlagen, sagte Karen, die hinter Harry im Flur stand. 168 Becca hob stolz den Kopf und verkündete, sie sei im Hungerstreik. Nachdem sie Frühstück und Mittagessen ausgelassen hatte, kam sie ins Grübeln, ob es wirklich nötig war zu fasten, aber als sie die Nachrichten einschaltete, vergaß sie ihren Hunger wieder. Bilder von Luisa, die neben dem Altar lag, sowie eine Nahaufnahme von ebenjenem Steinaltar, um zu zeigen, wie massiv er war. Becca stürzte zur Tür und rief zu Karen hinunter: Luisa ist ermordet worden... doch da setzte sich ihre Tante lächelnd auf und umarmte Starr. Becca blieb in der Tür stehen, die Finger im Mund. Plötzlich war die Hölle los in der Kirche. »Als man die Menge endlich auseinandergetrieben hatte, stellte man fest, daß es eine Tote, die Aphasiekranke Starr, und zahlreiche Verletzte gegeben hatte. Am schlimmsten traf es Hector Tammuz, den idealistischen jungen Arzt, der sich ganz der Sache dieser obdachlosen Frauen verschrieben hat.« Es wurde kurz ein Bild des bandagierten Hector im Krankenhausbett gezeigt. »Es bleibt noch eine wichtige Frage: Was ist passiert, bevor die Meute sich auf Starr stürzte? Hatte sich Luisa Montcrief tatsächlich das Genick gebrochen, wie Dr. Tammuz glaubt? Oder war sie lediglich ohnmächtig geworden, wie der berühmte Neurochirurg Dr. Abraham Stonds behauptet? Wir konnten uns leider nicht mit Dr. Tammuz unterhalten, weil er sich noch von einer Operation an seinem gebrochenen linken Wangenknochen erholt, doch Dr. Stonds versichert Channel 13, Luisa Montcrief habe nur so getan, als sei sie schwer verletzt.« Sandstrom war ins Krankenhaus gefahren, um ein Interview mit Hector und Stonds zu machen, hatte aber enttäuscht feststellen müssen, daß der junge Mann noch zu groggy von der Narkose war, um irgend etwas zu sagen. In einer Hinsicht allerdings hatte Sandstrom Glück gehabt: Monsignor
Mulva-ney war im Büro von Dr. Stonds. Die Erzdiözese hatte den Geistlichen ins Midwest Hospital geschickt, um herauszufinden, ob diese Starr tatsächlich eine Frau von den Toten erweckt 169 hatte. Das würde die Kirche in ein heilloses Dilemma stürzen, wenn sie der aphasischen Nymphomanin Wunderkräfte zuerkennen müßte. Mulvaney konnte nur noch auf Dr. Stonds' Versicherung hoffen, daß Luisa sich entweder verstellt hatte oder einfach betrunken zusammengebrochen war. Stonds und Mulvaney gingen zusammen mit Dr. Hanaper zu Hector, um ihm zu sagen, er solle der Presse gegenüber nicht solch unverantwortliches Zeug von sich geben. Besonders Stonds wurde wütend bei dem Gedanken, daß dieser verdammte Assistenzarzt es vielleicht so aussehen ließ, als könne er, Abraham Stonds, nicht beurteilen, ob jemand tot oder lebendig war. Sandstrom sicherte sich überglücklich Aufnahmen von Hectors bandagiertem Gesicht und ein Versprechen von Monsignor Mulvaney, daß er an einer Podiumsdiskussion mit dem Titel »Starr - Heilige oder Psychopathin?« teilnehmen würde. Als Sandstroms salbungsvolle Worte vom Bild dreier Kinder abgelöst wurde, die in einem Weizenfeld sangen, rannte Becca hinunter in die Küche. Karen briet ein Hühnchen, um ihre Tochter durch die Düfte aus ihrem Zimmer zu locken. »Es war schrecklich, Mom. Sie haben nicht gesagt, ob Tante Luisa in dem Krawall tatsächlich verletzt worden ist oder nicht. Warum haben sie das getan? Weil sie dachten, Mara hat Wein in den Traubensaft geschüttet?« Sie sah jung und verängstigt aus und klang auch so. Jetzt war sie nicht mehr die große Tragödin der letzten Wochen, sondern wieder das Kind, das sie im Grunde ihres Herzens tatsächlich noch war. Karen zog sie zu sich heran. »Ich weiß es nicht, Kleines. Ich weiß auch nicht, was die Menschen dazu bringt, sich so zu verhalten. Es ist schrecklich, nicht wahr?« Becca klammerte sich fester an ihre Mutter. »War Tante Luisa - sie haben sie nicht gezeigt... sie haben nicht gesagt...« »Sie ist. im Krankenhaus. Jemand hat uns angerufen. Sie hat dich als ihre nächste Verwandte angegeben. Die Ärzte wollen 169 sich ihren Kopf und ihren Hals ansehen, um sicher zu sein, daß sie sich bei dem Sturz nichts gebrochen hat.« Karen schwieg einen Augenblick. »Nach dem Essen fahren wir hin und besuchen sie. Aber das bedeutet nicht, daß sie heute mit zu uns nach Hause kommt, ja?« Becca zögerte einen Moment und nickte dann. Sie hatte versucht, auf Luisa aufzupassen, und das war dabei herausgekommen. Die nette Judith Ohana vom First Freedoms Forum war von einem Polizisten zusammengeschlagen worden. Luisa war in der Kirche zu Boden geschleudert worden und Starr ermordet - im Augenblick war ihr die Erwachsenenwelt einfach zu schrecklich. In Zukunft, ja, in Zukunft würde sie kämpfen und ihren Springerstiefeln alle Ehre machen. Aber im Moment gab sie sich damit zufrieden, ein Kind zu sein und sich von Karen mit leisen Worten und Brathühnchen trösten zu lassen. Oben lief noch der Fernseher. Don Sandstrom sagte gerade: »Heute nachmittag ist die Garagenwand des Hotel Pleiades am Lower Wacker Drive eingestürzt. Die Ingenieure, die wir befragt haben, sind der Meinung, daß das Gewicht des Stahlgerüsts, das das Hotel anbringen ließ, um die Wand am Einsturz zu hindern, diesen noch beschleunigte. Die Wand stand im Zentrum der Aktivitäten rund um die tote Starr. Selbst von den Philippinen waren die Leute angereist, um geheilt zu werden. Hier hat die Polizei gestern nacht zahlreiche Wundersucher gewalttätig auseinandergetrieben. Trotz der Brutalität, mit der die Polizei dabei vorging, rettete der Einsatz zweifelsohne viele Menschen, weil plötzlich große Betonstücke auf die Stelle herabregneten, an der die Wundersucher sich normalerweise trafen. Gian Palmetto, der Generaldirektor des Hotel Pleiades, der gerade die Garage inspizierte, wurde von einem herabfallenden Teil am Kopf getroffen; er liegt mit schweren Verletzungen im Midwest Hospital.« Dann folgten Bilder von der Garageneinfahrt. Die Wandverkleidung war weggebrochen; Fliesen und Mauerwerk lagen auf dem Gehsteig und der Straße. Die Arbeitslampen, die die
4't
Hilfstrupps angebracht hatten, um besser zu sehen, warfen groteske Schatten: Die Dornen des Gerüsts ragten wie sich krümmende Glieder in die Luft, so daß man meinen konnte, Hunderte von Leichen seien unter dem Schutt begraben. Die ganze Nacht über riefen besorgte Verwandte aus Perth und Peoria an, die sicher sein wollten, daß keiner ihrer Verwandten verletzt worden war.
Don Sandstrom war so glücklich wie noch nie: Jeder Anruf aus dem Ausland stand für viele Zuschauer, die er seiner Quote hinzufügen konnte. Sein Agent erklärte ihm, NBC in New York werde ihm demnächst ein Angebot machen. Er neigte kurz den Kopf, um dem Schicksal zu danken, das Starr nach Chicago geführt hatte: Seine weitere Karriere war gesichert. 170
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Der Tapferste der Trojaner
Yroja war in Flammen und Leid untergegangen, und der Körper Hectors, des Tapfersten der Trojaner, wartete auf einer Bahre darauf, von den Flammen verzehrt zu werden, die an den Stadtmauern leckten. Seine Mutter hatte ihm zum achten Geburtstag eine Kinderversion der Ilias geschenkt. Darin hatte er gelesen, wie der Tapferste der Trojaner getötet und sein Körper um die Stadt geschleift wurde. Wir haben dich nach ihm benannt, Hector, hatte seine Mutter gesagt, so daß er von vornherein mit einem blutigen Ende rechnete. Der Traum kehrte bei jedem Mißerfolg wieder, egal, ob klein - er verlor beim Querfeldeinlauf oder schaffte die Aufnahme an die Johns-Hopkins-Universität nicht oder groß, als Madeleine Carter sich umbrachte. Seine Mutter wachte an seiner Bahre, eine gewaltige Gestalt, so riesig, daß er und die sterbende Stadt zu Spielzeugfiguren schrumpften und sie allein Menschengröße hatte. Doch bevor sie sich über ihn lustig machen konnte, tauchte Starr neben ihr auf. Sie ergriff Lily und hielt sie in ihrer bronzefarbenen Hand, bis seine Mutter klein war, kleiner als Hector auf seiner Bahre, und nicht mehr über ihn lachen, ja, ihn nicht einmal mehr sehen konnte. Starr beugte sich mit einem mitleidigen Blick aus ihren schwarzen Augen über ihn. »Du bist der Tapferste der Trojaner, Hector; ich bin zufrieden mit dir. Die Narbe an deiner Wange wird dich immer an deinen Mut erinnern.« Die Fesseln, die ihn an die Bahre banden, lösten sich, und er setzte sich auf. Er streckte die Arme nach Starr aus, doch sie verschwand. 170 Er wachte schluchzend auf; sein Gesicht schmerzte. Er wollte sich die Tränen abwischen, merkte aber, daß seine rechte Gesichtshälfte bandagiert war. Ja, er war wieder in seinem vertrauten Krankenhaus, aber in einer ihm nicht vertrauten Position - als Patient, nicht als Arzt. Man hatte seinen zertrümmerten Wangenknochen operiert, und jetzt lag er im Bett - das war der Traum eines jeden Assistenzarztes: ein paar Tage im Bett und hinterher noch ein paar Wochen Erholung; das alles zu einem Zeitpunkt, an dem es ihm letztlich egal war, ob er lebte oder starb oder jemals wieder schlief. Er hatte so große Schmerzen, daß es ihm schwerfiel, sich zu konzentrieren. Verband und Anästhetika machten es ihm fast unmöglich, die Seiten seines Tagebuchs zu erkennen. Seine Handschrift war so unbeholfen wie die Schritte einer Betrunkenen - Luisa - auf dem Strand. Er hing an einem Morphiumtropf, weigerte sich aber, ihn zu benutzen. Er wollte den Schmerz als letzte Verbindung zu Starr auskosten. Eine Krankenschwester rügte ihn: Er dürfe nicht weinen, nicht nach einer Gesichtsoperation, sonst würde die Wunde nicht ordentlich verheilen. Gegen seinen Wunsch gab sie ihm doch das Morphium, und er verfiel wieder in tiefen Schlaf. Er schlief und wachte ohne jegliches Zeitgefühl. Er blinzelte einer Krankenschwester oder einem Arzt ins Gesicht und döste wieder weg. Einmal wachte er auf, als Dr. Hanaper seinen Puls fühlte. Er glaubte, Dr. Stonds hinter Hanaper zu erkennen, der irgend etwas von Luisa Montcrief brüllte. Sie ist nicht meine Patientin, sagte Hector mit geschwollenen Lippen und nicht sehr deutlich. Ein andermal meinte er, einen Geistlichen zu sehen, und er bekam Angst: Ich sterbe, und sie glauben, ich bin Katholik. Keine Letzte Ölung, flüsterte er, ich bin Jude, und dann schlief er wieder ein, in der Hoffnung, Starr noch einmal in seinen Träumen zu finden. Er befand sich in einem Hochgeschwindigkeitszug, der sich von Starr wegbewegte. Wenn er es schaffte auszusteigen und einen Zug zu finden, der zurückfuhr, zurück zum Samstagmorgen, zu Starr, würde alles wieder in Ordnung kommen. Er 170 versuchte, den Zug anzuhalten, wie in einem Film, aber er schaffte es nicht. Dr. Boten, in der Uniform eines Schaffners, erklärte ihm, es sei nicht möglich, den Zug anzuhalten: Die Züge auf diesem Gleis verkehren nur in einer Richtung.
Am Sonntagmorgen ließ der Schmerz endlich nach, und Hector wußte wieder, wo er war: in einem Zimmer im Midwest Hospital; Starr hatte er viele Stationen hinter sich gelassen. 171
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Extravorstellung im Krankenhaus
Harriet erfuhr vom Einsturz der Garagenwand, als Leigh Wilton sie am Sonntagnachmittag
anrief. Großvater war da gerade wieder dabei, eine Tirade gegen Mara loszulassen. Großvater hatte erst am Sonntagmorgen, als er zum Krankenhaus aufbrechen wollte, gemerkt, daß seine jüngere Enkelin sich in der Wohnung aufhielt. Als er tags zuvor von einem Besuch bei Mephers zurückgekehrt war, hatten die beiden Schwestern schon in Harriets Bett geschlafen. Er hatte Harriets geschlossene Tür gesehen und daran gedacht nachzusehen, ob sie zu Hause sei, sich dann aber anders entschieden. Sollte sie doch den ersten Schritt machen. Als Dr. Stonds am nächsten Morgen in die Küche trat, war er verblüfft, Mara mit einer Tasse Kaffee in der Hand zu sehen. Er war schockiert und angewidert. Wie konnte sie es wagen zurückzukommen; wie konnte Harriet es wagen, sie hereinzulassen! Typisch Mara, absolut typisch, daß sie sich nicht nur gestern in der Kirche über ihn lustig gemacht hatte, sondern sich jetzt auch noch in seine Küche setzte, häßlicher denn je. Plötzlich vergaß er, wie oft er ihre Figur kritisiert hatte, und betrachtete nur angeekelt ihr eingefallenes Gesicht. Die sechs Wochen auf der Straße hatten das Fett von ihren Knochen gesaugt. Als sie ihn vorsichtig mit »guten Morgen, Großvater« begrüßte, wurde er tiefrot. Nenn mich nicht Großvater, brüllte er. Er wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben. Ihr gestriger Auftritt in der Kirche war schlimmer als alles, was sie sich bis dahin geleistet hatte. Nicht einmal Beatrix und Selena waren so schamlos gewesen. Sich in aller Öffentlichkeit mit dieser betrunkenen Schlampe Luisa so aufzuführen, daß ganz Chicago sagen konnte, 171 Dr. Stonds' beste Tage seien wohl vorbei, und dann dreist wie eine Nutte wieder in die Wohnung in der Graham Street zu marschieren - er würde jetzt Mrs. Ephers aus dem Krankenhaus abholen und erwarte, daß Mara verschwunden sei, wenn sie zurückkämen, sonst müsse sie die Konsequenzen tragen. Er stürmte hinaus, ohne ihre Antwort abzuwarten. Doch auch im Krankenhaus, seinem ganz persönlichen Zufluchtsort, fand er keinen Trost. Den aufgeregten Gesprächen im Schwesternzimmer entnahm er, daß ein Fernsehteam im Krankenhaus war, um Aufnahmen von Luisa Montcrief zu machen. Er wußte nicht einmal, daß diese jämmerliche Alkoholikerin im Krankenhaus war. Wütend rief er in der Neurologie an und erfuhr, daß man die Frau - auf Kosten des Krankenhauses - nicht nur mehreren teuren Untersuchungen unterzogen hatte, sondern ihr auch noch ein Bett gegeben hatte. Das hatte er alles nur diesem übereifrigen Assistenzarzt von Hanaper zu verdanken. Der übrigens auch im Krankenhaus behandelt wurde und über die Verletzung an seiner Wange jammerte. In Stonds' Jugend hatten die Assistenzärzte ein paar Schmerzen und Mühen als Teil ihrer Ausbildung hingenommen und aus einem blauen Auge keine große Affäre gemacht. Und Tammuz belastete das Krankenhaus nicht nur mit guten fünfzehntausend Dollar für diese verdammte Frau, nein, er plusterte sich auch noch vor den Fernsehkameras auf. Der Neurochirurg konnte nicht in Luisas Zimmer schauen, weil die vielen Reporter und Kameras ihm den Blick verstellten, aber er hörte Hectors Stammeln. Der Ansturm der Kameras hatte auch Hector überrascht. Als er am Sonntag aufgewacht war, hatte er sich gewünscht, bei Jacqui oder Mara zu sein, die seine Trauer verstehen würden. Er hatte Luisa nie leiden können - ihre theatralischen Gesten, die Tatsache, daß sie sich vormachte, eine große Sängerin zu sein, die sich vorübergehend ins Privatleben zurückgezogen hatte, hatte ihn schon bei ihrem ersten Treffen in Hanapers Büro gestört. Nur seine obsessive Beziehung zu Starr hatte es ihm er 171
möglicht, die Witze der Diva und ihr dramatisches Schmollen in den Wochen, in denen sie und Starr auf der Straße lebten, zu ertragen. Doch jetzt lag Luisa im Krankenhaus; vielleicht konnte er mit ihr über Starr und seinen Kummer sprechen. Die Diva saß im Bett. Gebadet und mit einem sauberen Morgenmantel bekleidet - smaragdgrüne Seide, ihre Nichte hatte ihn ausgesucht -, sah sie viel organisierter aus, als Hector sie je erlebt
hatte. Aber natürlich hatte sie auch seit zwei Tagen keinen Alkohol mehr getrunken; vielleicht war dies das erste Mal, daß Hector sie nüchtern erlebte. »Luisa? Ich bin's, Hector Tammuz.« Sie konzentrierte sich gerade auf ihre Atmung, eine Hand auf dem Zwerchfell, die andere vor dem Mund, und weigerte sich, ihn wahrzunehmen. Hector tat das ganze Gesicht weh, als er die Zähne zusammenbiß - veranstaltete die Diva diese Show für ihn oder für sich selbst? Er ging zum Fenster, um ihr zu zeigen, daß sie in ihm kein Publikum hatte. Sie hechelte wie ein kleines Kind, das eine Dampflokomotive nachmacht, und sagte dann, mit kräftigerer Stimme denn je: »Wie nett von Ihnen, daß Sie vorbeischauen, mein lieber Junge. Aber was ist denn mit Ihrem Gesicht passiert?« »Ich bin in der Kirche zusammengeschlagen worden, als ich versucht habe zu... Starr zu helfen.« Er stellte einen Stuhl neben Luisas Bett. »Wie geht es Ihnen?« Sie lachte heiser. »Mir könnt's gar nicht besser gehen, danke der Nachfrage. So gut sogar, daß ich so bald wie möglich wieder mit der Arbeit beginnen möchte. Aber ich weiß, daß ich langsam machen muß, sonst verderbe ich mir die Stimme.« »Sie wissen doch, daß Starr tot ist, oder? Stört Sie das denn nicht?« Sie starrte ihn erstaunt an. »Natürlich weiß ich, daß sie tot ist. Wollen Sie mir jetzt einen Vortrag halten, weil ich mir nicht die Augen nach ihr ausweine? Sie hat mir meine Stimme wiedergegeben. Wenn ich nicht wieder mit der Arbeit anfinge, das wäre eine wirkliche Tragödie. Ich habe mich bereits mit Dr. Glosov in Philadelphia unterhalten. Er arbeitet in der Re 172 habilitation und hat sich auf Stimmprobleme spezialisiert. Ich werde Dienstag früh mit ihm sprechen.« In diesem Moment kamen die Kamerateams herein - nicht nur Don Sandstrom, sondern Vertreter aller vier Sendeanstalten, Julia Nordstrom von Channel 8, Zeitungsreporter, sie alle drängten in das winzige Krankenzimmer und blockierten den Flur. Madame Montcrief, was haben Sie empfunden, als Ihr Kopf gegen den Altar knallte? Madame Montcrief, wie sah Ihre Beziehung zu der toten Starr aus? Was hat sie auf dem Altar mit Ihnen gemacht? Hat sie Sie von den Toten erweckt? Luisa hatte noch nie etwas gegen Publicity gehabt, wußte aber nicht so recht, wie sie diese Fragen beantworten sollte. Sie konnte nicht sagen, was Starr getan hatte, weil ihre Erinnerung daran ziemlich wirr war. Sie war an einem kalten, einsamen Ort gewesen. In ihrem Kopf war ein Bild wie das Fragment eines Traums - von einer alten Frau, die ihren Kopf in ein Faß mit Ton drückte. Dann war Starr gekommen und hatte sie aus dem Faß herausgezogen; vielleicht hatte es sogar einen Kampf mit der alten Frau gegeben, Luisa wußte es nicht. Sie erinnerte sich nur noch daran, daß Starrs kräftige Finger Schlamm aus ihrem Hals holten. Und als ihre Lunge frei war und sie wieder atmen konnte, hatte sie eine unvergleichliche Freude durchströmt. Zum erstenmal seit zwanzig Jahren hatte sie kein Bedürfnis nach einem Drink. Die Befreiung von diesem Verlangen versetzte sie in eine solche Hochstimmung, daß sie nicht einmal der Tod Starrs trüben konnte. Aber das konnte sie den Reportern nicht sagen: Es war eine Sache, sich selbst gegenüber zuzugeben, daß sie sich mit dem Alkohol ruiniert hatte, aber die übelsten Gerüchte der Opernwelt zu bestätigen, nein... Die Cesarini und die Donatelli würden sich vor Lachen nicht mehr einkriegen. »Der junge Mann dort drüben kann Ihnen das alles sagen«, erklärte sie schließlich und deutete auf Hector. »Er ist Arzt, und er war dabei.« Die Pressegeier stürzten sich auf Hector. Was war mit sei 172
nem Gesicht passiert? Hatte er sich die Verletzung bei seinem Versuch, Starr zu retten, zugezogen? Er war doch der Psychiater, der sich um die Frauen an der Wand gekümmert hatte, oder? Was war in der Kirche passiert? »Ich habe Luisa - Madame - Montcrief nur ganz kurz untersucht. Ich... ich dachte, sie habe sich das Genick gebrochen, und ich habe auch keinen Puls mehr gespürt, aber heute ist sie eindeutig wieder gesund. Vielleicht...« Er schwieg. Vielleicht was? Wenn sie tatsächlich gestorben war, dann hatte Starr sie von den Toten auferweckt, und der Gedanke war so unerträglich, daß er davor zurückschreckte. Hinter einem der Kameramänner, die die Tür blockierten, brüllte Dr. Stonds: »Die Frau war ganz eindeutig nicht tot, weil sie jetzt in diesem Krankenhaus ist und ein Bett beansprucht, das ein
wirklich Kranker dringend brauchte. Sie ist Alkoholikerin. Wahrscheinlich hat sie in der Kirche einfach das Bewußtsein verloren und ist dann wieder zu sich gekommen. Und nun wollen die Leute glauben, daß sie Zeuge eines Wunders geworden sind.« Niemand schenkte dem besten Neurochirurgen der Welt Beachtung, als er versuchte, in das Zimmer zu gelangen. »Machen Sie gefälligst Platz, Sie Flegel«, sagte er zum Kameramann von Channel 5, der die Tür blockierte. »Sie sind in meinem Krankenhaus, nicht in der Garderobe eines Rockstars.« »Augenblick, wir sind gleich fertig«, sagte der Kameramann, der eine Großaufnahme von Luisas Gesicht auf dem Krankenbett wollte. Die Reporter wandten sich von Hector ab und wieder der Diva zu: Und wer war Starr? Stimmt es, daß Madame Montcrief ihre Sprache verstanden hatte? Was für eine Sprache war es denn? Aus welchem Land kam Starr? Sie sah irgendwie arabisch, vielleicht auch jüdisch aus mit ihrer bronzefarbenen Haut und ihren riesigen schwarzen Augen. Sie hat nie etwas von ihrer Vergangenheit erwähnt, sagte Luisa. Was heißt schon sprechen, sie hat sich keiner Sprache bedient, die ein Linguist analysieren könnte; sie hat nur klargemacht, was sie dachte und was sie wollte, und sie hat immer 173
erkannt, was die Leute um sie herum beschäftigte. Es ist doch auch nicht wichtig, wie sie sich verständlich gemacht hat, oder? Nur, daß sie dazu in der Lage war. Luisa wurde ungeduldig über all diese Detailfragen und schließlich wütend, als Julia Nordstrom von Channel 8 sagte, ihrer Meinung nach habe sie sich das alles nur ausgedacht. Andere drängten herein und wollten wissen, ob Starr wirklich Wunder gewirkt habe: Hatte sie nicht eine ganze Menge Menschen am Strand satt gemacht? Kranke geheilt? War sie eine Heilige, eine Dämonin, eine Psychopathin? Was meinte Hector? »Daß sie lebendiger war als alle Menschen, denen ich je begegnet bin«, sagte er. »Ich werde ihren Tod nie verwinden.« »Ich bin Dr. Stonds«, verkündete der Chirurg, außer sich vor Wut, daß man ihm in seinem eigenen Krankenhaus keine Beachtung schenkte. »Ich bestehe darauf, daß Sie mich sofort in dieses Zimmer lassen, sonst...« »Dr. Stonds?« Julia Nordstrom drehte sich um, das Mikrofon in der Hand. »Dr. Stonds, Sie waren gestern in der Orleans Street Church. Dr. Tammuz, der ebenfalls dort war, sagt, er sei davon überzeugt, daß Luisa Montcrief tot war. Hatten Sie auch diesen Eindruck?« »Dr. Tammuz ist der verantwortungsloseste und unerfahrenste Arzt, den wir je beschäftigt haben. Er kann sich kein Urteil erlauben, und es ist auch nicht seine Aufgabe, den Zustand eines Patienten mit den Medien zu besprechen. Und wenn Sie jetzt nicht gehen, rufe ich die Leute vom Sicherheitsdienst und lasse Sie gewaltsam entfernen. Dr. Tammuz, Sie können gestern als den letzten Tag Ihrer Anstellung betrachten.« Stonds stürmte in sein Büro, um einen Brief an Hanaper zu diktieren, in dem er diesem die Entlassung Hectors nahelegte. Und danach diktierte er einen Brief an seinen Anwalt, in dem er Mara enterbte. Doch keines der beiden Schreiben dämpfte seine Wut. Sie wurde nur noch schlimmer. Er ging in die chirurgische Abteilung und rügte Krankenschwestern und Ärzte 4*3 für tatsächliche oder eingebildete Vergehen, bevor er in der Kardiologie bei Mrs. Ephers vorbeischaute. Die zuständige Ärztin erklärte Stonds, Hilda gehe es gut; ihr Herzschlag sei regelmäßig; sie sei wirklich erstaunlich kräftig für ihr Alter. Er könne sie gleich mit nach Hause nehmen. Auf der Heimfahrt erzählte Stonds seiner Haushälterin, daß er Mara am Morgen in der Wohnung vorgefunden habe. »Ich habe ihr gesagt, sie soll gehen, aber sie ist mittlerweile so dreist geworden, daß sie möglicherweise immer noch da ist. Ich wollte Ihnen das nur sagen, Hilda, damit Sie keinen Schock bekommen wie ich heute morgen. Da hat sie sich den Bauch vollgestopft, ohne vorher zu fragen.« Als sie in der Graham Street ankamen, war Mara tatsächlich im Wohnzimmer und regelte telefonisch alles für die Beerdigung dieser ekligen Nymphomanin. Dr. Stonds riß ihr den Hörer aus der Hand und knallte ihn auf die Gabel. Doch statt zu weinen oder ihn anzubrüllen, sah sie ihn nur mitleidig an. Mitleidig! Das brachte das Faß zum Überlaufen. Sein Zorn auf Luisa, Hector und die Medien traf zuerst Mara, dann Harriet, die ins Wohnzimmer gerannt kam, als sie ihn brüllen hörte: »Wie kannst du es wagen, Mara vor mir zu verstecken; wie
kannst du es wagen, diesem Wechselbalg, dieser Schlange beizustehen?« Er werde die Polizei rufen und Mara in die Psychiatrie bringen lassen, wo sie hingehöre. Harriet folgte ihm ins Arbeitszimmer. »Ich bin Maras Anwältin, und ich werde vor jedem Gericht in diesem Staat gegen dich kämpfen, damit Mara nicht in die Psychiatrie kommt'. Schlange? Sie war eine Waise, die du unerbittlich, vom ersten Augenblick an, mit deinem gnadenlosen Haß verfolgt hast. Jetzt ist es meine Aufgabe, dafür zu sorgen, daß das ein Ende hat.« Sein Gesicht wurde tiefrot. Sie hatte einen Moment Angst, daß er einen Schlaganfall bekommen könnte. Doch er sagte absolut beherrscht: »Ich bin zutiefst enttäuscht, Harriet. In einer Zeit, in der ich dich besonders brauche, erweist du dich als kindisch und unzuverlässig.« 174 »Bitte, grandpere...« Harriet streckte beschwörend die Hände aus. Mrs. Ephers erschien in der Tür. »Hört denn keiner das Telefon? Es hat sicher schon zwanzigmal geklingelt. Es ist dein Chef, Harriet, und er hat etwas weit Wichtigeres mit dir zu besprechen als Mara und ihr kindisches Benehmen.« Harriet ging automatisch zum Telefon, obwohl sie sich nicht mehr für das interessierte, was Leigh Wilton zu sagen hatte. Genau wie Großvater klang er wütend, aber beherrscht. »Die Leute von der Olympus-Gruppe sind gerade hier, Harriet, obwohl Sonntag ist. Wir brauchen Sie dringend. Die Lage ist sehr ernst. Diese Judith Ohana vom First Freedoms Forum wird uns die Sache sehr schwer machen. Offenbar behauptet sie, daß wir der Hotelleitung den Polizeieinsatz von Freitagnacht empfohlen haben. Mr. Clinator ist der Meinung, daß unsere Vorschläge die Probleme verursacht haben, vom Selbstmord dieser Wahnsinnigen im Juli bis zu Palmettos Verletzung gestern nacht. Wir müssen ihm ein bißchen um den Bart gehen, und zwar schnell. Ich habe auf das Segelwochenende mit meiner Familie verzichtet. Sie müssen jetzt einfach Ihre persönlichen Gefühle hintanstellen und an das Wohl der Kanzlei denken.« »Heißt das, daß ich ein Kleid mit einem ordentlichen Ausschnitt anziehen soll? Das Wohl der Kanzlei interessiert mich nicht mehr: Ich kündige. Sie bekommen morgen einen Brief von mir.« Überlegen Sie sich das noch mal... tolle Zukunft... Entscheidung über Wahl zum Partner steht in drei Wochen an... sich wegen eines eingebildeten Affronts von einem wichtigen Mandanten so anzustellen... Und so weiter und so fort. Sie legte auf, aber Großvater konnte sie nicht einfach zum Schweigen bringen. Er marschierte vor ihr auf und ab; er brüllte nicht mehr. Dafür spuckte er die Worte aus wie abgebissene Zigarrenenden. »Was?« fragte er. »Du gibst einen wunderbaren Job auf wegen deiner elenden Schwester und ihrer jämmerlichen 174 Freundinnen? Nimmst du es mir übel, daß ich dir nicht die Wahrheit über den Tod deiner Mutter gesagt habe? So kleinlich kannst du doch nicht sein, Harnet.« Nein. Sie nahm ihm das nicht übel. Die Nachricht hatte sie ziemlich aus der Fassung gebracht, als sie sie zum erstenmal hörte - war das erst vor zwei Tagen gewesen? -, aber jetzt erschien sie ihr nicht mehr wichtig. Es war egal, wie Beatrix gestorben war. Wichtig war nur, daß sie sich von diesem Haus der Kälte distanziert und einen Platz gefunden hatte, an dem sie leben konnte. Morgen würde sie sich eine Wohnung suchen, zusammen mit Mara, wenn ihre Schwester das wollte. »Dieses Haus der Kälte?« fragte Großvater zornig. »Schließlich habe ich dich aus Schmutz und Chaos in dieses Haus geholt und dir alle Chancen geboten, die man sich nur denken kann.« »Ja, ja, alle Chancen. Du hast wirklich viel für mich getan. Du hast mir zu einer Hülle verholfen, die mich durchs ganze Leben begleiten kann. Aber jetzt muß ich sie mit Leben füllen.« »Keine Mutter hat ihr Kind je so geliebt wie Hilda dich - das gilt übrigens auch für mich. Sie hat im letzten Monat ziemlich viel mitgemacht; das hat sie Mara zu verdanken. Ich möchte nicht, daß sie sich nun auch noch mit deinem undankbaren -deinem unschönen - Verhalten auseinandersetzen muß.« Harriet nickte. »Ihr habt das Kind Harriet geliebt, so gut ihr konntet. Beide. Aber ihr habt nur die Fassade geliebt, und das Kind Harriet hat diese Fassade poliert und poliert, damit sie schön glänzt für euch. Tut mir wirklich leid, grandpere, aber das kann ich jetzt nicht mehr. Vielleicht, wenn ich ein bißchen Abstand gewonnen habe, in meiner eigenen Wohnung lebe... Dann wirst du sehen - wir werden sehen...«
»Ich bin bereit, wegen des Schocks, den du gestern erlitten hast, gewisse Zugeständnisse zu machen«, fiel Großvater ihr ins Wort. »Ich werde sogar Mara noch eine Chance geben, wenn sie bereit ist, sich wie ein zivilisierter Mensch zu beneh175 men. Du brauchst Urlaub, du mußt ein bißchen ausspannen. Ich rufe bei der Air France an. Du kannst morgen nach Paris fliegen - das hat dir bis jetzt immer gutgetan.« »Du begreifst nicht«, sagte sie traurig. »Ich brauche keinen Urlaub. Mir geht es gut. Oder zumindest befinde ich mich auf dem Weg der Besserung.« Als sie Großvaters Arbeitszimmer verließ, wartete Mephers schon im Flur. Sie lächelte schadenfroh. »Also wendest du dich auch gegen ihn?« sagte die Haushälterin. »Tja, dann seid ihr jetzt schon zu viert. Selena, eine Hure, die sich angezogen hat wie eine Dame. Beatrix - sie hat sich zumindest nicht die Mühe gemacht, sich rauszuputzen. Mara -sie ist zu häßlich, um sich rauszuputzen. Ich dachte, du bist jemand, auf den er sich verlassen kann, aber letztendlich seid ihr alle gleich, ihr Vatick-Frauen.« »Mephers!« Harriet, die noch von der Auseinandersetzung mit Großvater zitterte, brach über Mephers' Boshaftigkeit in Tränen aus. Sie legte den Arm um die Schultern der alten Frau, aber Mephers schob ihn weg. »Ich versuche ihn seit 1942, als die alte Mrs. Stonds mich in diesen Haushalt gebracht hat, vor den Vatick-Frauen zu schützen. Tja, Selena, die sah aus, als könne sie kein Wässerchen trüben. Aber sie war wie eine Katze, ist in der Wohnung rumgeschlichen auf ihren Samtpfötchen und dann lächelnd in die Nacht verschwunden. Währenddessen hat er zwei Jahre lang für sein Vaterland gekämpft. Und was hat sie gemacht? Jedenfalls nicht freiwillig fürs Rote Kreuz gearbeitet, das kann ich dir versichern. Und dann hat sie uns einfach mit einem Baby sitzenlassen und ist in den Nahen Osten verschwunden. An dem Tag, an dem ich von ihrem Tod erfahren habe, war ich das erste Mal glücklich. Bis sich rausgestellt hat, daß Beatrix das genaue Ebenbild ihrer Mutter war - allerdings ohne ihren Charme, falls dich das interessiert. Als der Doktor dich aufnehmen wollte, habe ich ihn gebeten, gut darüber nachzudenken, darüber, wie schwer Selena und Beatrix uns das Leben gemacht hatten, aber er hat sich 4*7 immer aufgeopfert. Er hat immer zuerst an seine Patienten und an seine Familie gedacht, nie an sich selbst. Ich dachte, wenigstens du würdest ihn nicht enttäuschen. Aber jetzt muß ich feststellen, daß du genauso übel bist wie die anderen. Ich habe nie ein Wort gesagt, solange wir stolz auf dich sein konnten. Aber du sagst, das war nur eine leere Hülle? Nun, junge Frau, dann solltest du wissen, daß du nichts von ihm verlangen kannst. Nicht das geringste. Ich habe das dreizehn Jahre lang für mich behalten, um ihn nicht zu verletzen und damit er nicht seinen Glauben an dich verlor, aber jetzt verdienst du es nicht anders. Du hast gedroht, ihn vor Gericht zu bringen und dich für Mara einzusetzen, also hast du ein Recht, die Wahrheit zu erfahren. Ich hätte es wissen müssen -Bastard zu Bastard. Ich dachte, du hättest Klasse, aber er hat recht: Am Ende kommt das schlechte Blut immer durch.« Harriet starrte sie mit offenem Mund an. Die Haushälterin drückte ihr einen Umschlag in die Hand. »Lies das hier. Das hat deine betrunkene Schwester beim Spionieren in meinem Zimmer gefunden. Und wenn du meinst, daß das eine Lüge ist, solltest du dich mit der guten Professorin Granita in Verbindung setzen. Sie hat von Anfang an Bescheid gewußt, aber nichts dagegen unternommen, daß du bei ihm lebst.« 42 8
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Das Gesicht im Spiegel
Chère Mademoiselle, maintenant que je suis une femme âgée et seule, il est trop tard pour continuer à nourrir des vieilles rancunes. J'ai rencontré votre mère, Mme Selena Vatick Stonds, en Iraque, il ya des nombreuses années mais je ne la connaissais pas bien. Elle était venue sur un chantier près de Nippur où son père et mon mari travaillaient au sein d'une équipe d'archéologues envoyées par l'Institut d'études orientales de l'Université de Chicago...
Harriet war so durcheinander, daß sie den Brief mehrmals lesen mußte, um den Inhalt zu verstehen. Meine liebe Miss Stonds, jetzt, da ich alt und einsam bin, hat es keinen Sinn mehr, sich über vergangene Dinge zu ärgern. Ich habe Ihre Mutter, Madame Selena Vatick Stonds, vor vielen Jahren im Irak getroffen, ohne sie besser kennenzulernen. Sie kam zu der Ausgrabungsstätte in der Nähe von Nippur, wo ihr Vater und mein Mann einem Team von Archäologen vom Oriental Institute der University of Chicago angehörten. Ich muß gestehen, daß ich Madame Stonds überhaupt nicht leiden konnte, aber das lag möglicherweise an den Umständen. Wir hatten nur ein gemeinsames Interesse: meinen Mann, den Mme. Stonds während des Zweiten Weltkriegs kennengelernt hatte. Der Krieg hat ihn ins Oriental Institute in Chicago geführt, wo er bei Professor Vatick studierte. Es war unvermeidlich, daß er auch Ihre Mutter kennenlernte, und angesichts des Charakters meines Mannes, den ich leider nur zu gut kenne, war es auch unvermeidlich, daß er und 176 Ihre Mutter - die unglaublich charmant sein konnte - alsbald eine Affäre begannen. Der Krieg ging zu Ende, wir kehrten nach Nippur zurück, und mein Mann fand andere Interessen - es gab dort eine junge Italienerin, ebenfalls eine Assyriologin; keine Schönheit wie Ihre Mutter, aber ausgesprochen temperamentvoll. Ich frage mich heute, warum ich bei ihm blieb. Damals erschien mir das nicht nur als eine Sache des Stolzes, nein, ich glaubte auch, es sei meine Pflicht... Ich sehnte mich nach Kindern, aber das war nicht möglich. Als Madame Stonds in Nippur auftauchte, behauptete sie, ihre Tochter, die sie acht Monate zuvor zur Welt gebracht hatte, sei Emils Kind. Natürlich war ich wütend und über alle Maßen verletzt. Aber Emil hatte nicht vor, mich oder das Vermögen meiner Familie zu verlassen, das ihm seine Arbeit als Archäologe erst ermöglichte. Und die Tatsache, daß er nun Vater war, änderte nichts an seiner Überzeugung. Sie wissen wahrscheinlich, daß Ihre Mutter während der unseligen Expedition in die Berge starb, bei der auch Professor und Madame Vatick ums Leben kamen. Emil, der ebenfalls an dieser Expedition teilgenommen hatte und dem Madame Stonds gefolgt war, überlebte nicht nur diese Lawine, sondern noch zahlreiche andere Katastrophen. Er starb vor zehn Jahren in Lyon - ein Taxi überfuhr ihn -, und ich wohne seitdem allein in dem großen Haus meiner Familie in der Auvergne. Inzwischen haben die Wut und die Eifersucht, die ich mein ganzes Leben lang empfunden habe, dem Bedürfnis nach einem Unterpfand seines Lebens Platz gemacht, nein, vielleicht nicht seines Lebens, sondern seiner Zukunft. Ich frage mich, ob etwas Wahres an Selena Vaticks Geschichte ist. Ich habe nicht viele Möglichkeiten, es herauszufinden, aber ich lege ein Foto von Emil im Alter von ungefähr vierzig Jahren bei. Wenn Sie eine Ähnlichkeit mit sich selbst darin sehen, nun, wären Sie dann so nett, mir zurückzuschreiben? Zoe Farrenc 43 o »Nun?« Mephers beobachtete Harriet beim Lesen, und dabei mischten sich Wut und ein Gefühl des Triumphs in ihrem Gesichtsausdruck. »Was sagst du dazu, du Reinheit in Person?« »Sie haben das seit dreizehn Jahren gewußt? Und nie etwas davon gesagt? Wie sind Sie überhaupt an den Brief gekommen?« Harriet zitterte so sehr, daß sie die Worte kaum über die Lippen brachte. »Sie hat ihn Beatrix geschickt, aber Beatrix war schon lange tot. Ich kann kein Französisch schließlich hat niemand ein Vermögen für meine Bildung ausgegeben! Ich habe mir den Brief im Romanistischen Institut übersetzen lassen, aber selbst dann habe ich mich noch geweigert zu glauben, war darin stand. Von Beatrix und Mara - ja. Aber von dir? Doch das Foto spricht Bände. Nur auf dich konnte er so stolz sein - du warst immer die Beste in der Schule, warst eine ausgezeichnete Studentin. Ich wollte ihm das nicht wegnehmen, indem ich ihm sagte, daß du nicht seine Enkelin bist. Aber jetzt hast du beschlossen, dich auf die Seite der Schwachen zu schlagen. Du hast dich für Mara entschieden. Ich wollte sie nie in der Wohnung haben. Ich habe dem Doktor damals geraten, er solle sie zur Adoption freigeben, aber er hat darauf bestanden, sie aufzunehmen. Sehen Sie doch nur, welche Freude Harriet uns macht, hat er gesagt. Nun, Mara hat uns keinen einzigen Tag lang Freude gemacht. Er hat ihr schon den richtigen Namen gegeben, denn der Herr hat mir mit ihr ein schweres Los auferlegt.«
Harriet hatte das Foto noch gar nicht gesehen, so sehr hatte sie sich auf den Brief konzentriert. Als Mephers es aus dem Umschlag zog und ihr unter die Nase hielt, war sie verblüfft über die Ähnlichkeit mit ihrem eigenen Gesicht, wie schon vor ihr Mara. »Also hat Mara sich das alles nicht nur eingebildet. Sie... Sie haben sie aus dem Haus getrieben. Sie haben sie der Lüge bezichtigt und sie wieder einmal in Schwierigkeiten gebracht...« Bevor Harriet noch etwas sagen konnte, gab Mephers ihr eine schallende Ohrfeige und marschierte davon. 177 Harriet setzte sich aufs Bett und rieb sich, unfähig zu denken, das Gesicht. Schließlich las sie den Brief noch einmal. Das mußte eine Lüge sein. Aber wenn es tatsächlich eine Lüge war, welches Motiv hatte Mme. Farrenc gehabt, den Brief nach all den Jahren zu schicken? War sie vielleicht senil geworden? Aber warum sonst hätte Selena ihre kleine Tochter im Stich lassen sollen, wenn nicht, um sich auf die Suche nach ihrem Vater zu machen? Harriet wälzte immer wieder die gleichen Fragen im Kopf, während sie das Foto anstarrte. Darauf war ein blonder Mann mit feinen Zügen und sinnlichen Lippen unter einem kurzgeschnittenen Schnurrbart zu sehen, der direkt in die Kamera schaute. Das hätte gut und gern sie selbst sein können, mit einem aufgeklebten Bart für ein Kostümfest verkleidet. Sie suchte hektisch in einer Schublade nach Fotos von ihrem eigenen Vater und verglich sie mit ihrem Gesicht. Es half nichts. Sie sah immer noch aus wie Emil Farrenc. 177
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Eine Dame verschwindet
Die dramatischen Ereignisse, die sich seit Juli in dieser Stadt zugetragen haben, haben heute eine neue und bizarre Wendung genommen: Dr. Clarence Ciliga, der Leiter der Gerichtsmedizin von Cook County, mußte zugeben, daß die Leiche der Frau, die unter dem Namen Starr bekannt war, verschwunden ist.« Im Fernsehen war Don Sandstrom zu sehen, der mit ernstem Gesicht vor der Bezirksleichenhalle stand. Innerlich jedoch jubelte er: Channel 13 hatte ihm einen unglaublichen Zuwachs an Zuschauern zu verdanken, doch das Interesse an der Geschichte - und damit auch das der nationalen Sender an seiner Person - begann sich zu verflüchtigen. Die fehlende Leiche brachte wieder Leben in die Angelegenheit. Er hoffte, bereits am Labor Day in New York zu arbeiten. »Starr wurde am Samstagnachmittag vom Midwest Hospital hierhergebracht, wo ein Pathologe den Totenschein ausgestellt hat. Opfer eines gewaltsames Todes werden routinemäßig hierhergebracht.« Hier wurde Bildmaterial von den Krawallen in der Orleans Street Church eingeblendet, um die Zuschauer daran zu erinnern, daß Starr eines gewaltsamen Todes gestorben war. »Obwohl die Frauen, die Starr nahestanden, darum baten, Starr nicht zu obduzieren, hat Dr. Ciliga die Verletzungen gründlich untersucht. Trotz möglicherweise gegenteiliger Hoffnungen der Anhängerinnen von Starr besteht keinerlei Zweifel daran, daß die Frau tot ist.« Hector ergriff Harriets Hand. Sie sahen die Nachrichten zusammen mit Mara in seinem Krankenzimmer. Hector wurde bewußt, daß er zu jenen Anhängern Starrs zählte, die sich wünschten, Starr habe den Angriff überlebt und sei aus der Gerichtsmedizin geflohen. 177 Harriet war zu betäubt von den schockierenden Entwicklungen der letzten Tage, um bei dem Bericht viel zu empfinden. Außerdem wußte sie, daß Starrs Leichnam fehlte - sie hatte das bereits am Nachmittag im Bestattungsinstitut erfahren, wo sie mit Mara und Jacqui alles Nötige für die Beerdigung veranlassen wollte. Mara hatte sich ein Institut gewünscht, das noch niemals für die Gemeinde der Orleans Street Church tätig gewesen war, und Jacqui war daraufhin eines in der South Side eingefallen. Als die Schwestern eintrafen, waren Jacqui und Nanette bereits mit LaBelle, Caroline und einer Handvoll anderer Frauen von Hagar's House dort. Luisa war nicht dabei - sie war bereits am Tag zuvor nach Philadelphia gefahren, um so bald wie möglich mit ihrem Rehabilitationsprogramm zu beginnen. Sie schickte lediglich einen riesigen Kranz (den Harry bezahlte, was er allerdings noch nicht wußte). Mara las die Widmung darauf: »Cessarono gli spasimi del dolore; in me rinasce, m'agita insolito vigor.« Das war Violettas letzte Textzeile aus La Traviata: »Mein Schmerz endet hier; ich werde wiedergeboren, mit ungewöhnlicher Kraft«, übersetzte Harriet für die anderen Frauen. Typisch Luisa, sagte Jacqui, daß sie in
einem solchen Augenblick nur an sich selbst denkt - hätte sie nicht noch einen Tag warten können, bevor sie zu ihrem berühmten Stimmdoktor fährt? Und hätte sie nicht eine Zeile, die Trauer ausdrückte statt eines Lobgesangs auf ihre eigene Genesung, schicken können? Bei den Medienleuten sprach sich schnell herum, wo die Beisetzung stattfinden würde, so daß die Fernsehteams schon vor den Trauergästen vor dem Bestattungsinstitut eintrafen - zusammen mit einer ganzen Phalanx von Zeitungsfotografen. Eine Stunde, nachdem der Leichnam hätte eintreffen sollen, machte sich allmählich Unruhe breit. Harriet rief in der Gerichtsmedizin an und wurde über die neuen Entwicklungen informiert. »Was soll das heißen, Sie haben die Leiche verloren? Hat sie 178 denn niemand bewacht? Es kann da doch nicht einfach jemand rein und sie mitnehmen, oder?« Dr. Ciliga sagte, »verloren« sei ein zu starkes Wort; wahrscheinlich war nur das Schildchen am großen Zeh heruntergefallen oder vertauscht worden. Sie seien gerade dabei, sich alle Leichen anzusehen. Ms. Stonds müsse verstehen, daß sich immer mehrere hundert gleichzeitig in der Leichenhalle befänden; man hätte heute elf freigegeben und sei gerade dabei, sich mit allen Bestattungsinstituten in Verbindung zu setzen, ob auch jedes die richtige Leiche habe. Tja, was für eine unschöne Angelegenheit; er könne schon verstehen, wie schwierig das alles für die Familie sei, aber sie solle sich doch bitte in Geduld üben... Als die Sechsuhrnachrichten gesendet wurden, war klar, daß Starr verschwunden war. Don Sandstrom erklärte, daß es nicht unmöglich wäre, sich illegal Zugang zu der Leiche zu verschaffen. Wer allerdings ein Interesse an Starrs Leiche gehabt haben könne, sei ein Rätsel, aber die Zuschauer von Channel 13 könnten darauf zählen, daß der Sender die Geschichte weiterverfolge. »Was hältst du davon?« fragte Hector, als die Werbung kam und sie den Ton abschalteten. »Könnte es sein, das Mrs. Ephers Starr gestohlen hat, um euch zu ärgern?« Harriet machte eine hilflose Geste. »Ich kann nicht mehr klar denken. Mir tut alles weh, als hätte man mich irgendwo festgebunden und verprügelt. Heute morgen in der Intensivstation hat sie die ganze Zeit geschrien, daß ich nicht seine Enkelin bin, daß ich ihm nicht zu nahe kommen soll... Ich dachte immer, sie liebt mich, weiß aber nicht, wie sie diese Liebe zeigen soll... und jetzt weiß ich nicht mehr, was ich über sie und ihn und alles denken soll.« Großvater - für Harriet würde er immer Großvater bleiben - hatte in der Nacht einen Schlaganfall gehabt. Harriet erfuhr erst davon, als sie ins Krankenhaus kam, um Hector zu besuchen. Sie war sofort in die Intensivstation gerannt. Mephers, die auf dem Flur auf und ab marschiert war, hatte 178 sich auf Harriet gestürzt und ihr mit den Fingernägeln das Gesicht zerkratzt. Du hast ihn umgebracht, hatte Mephers gekreischt, weil du dich gegen ihn gewandt und auf die Seite Maras geschlagen hast. Nach allem, was er für dich getan hat, hast du dich als die ärgste Natter im Nest entpuppt! Harriet war zurückgewichen, direkt in die Arme einer Schwester, die ihr das Gesicht gesäubert und erklärt hatte, es sei nichts Ungewöhnliches, wenn Angehörige sich in solchen Streßsituationen nicht mehr unter Kontrolle hätten; Harriet solle Mephers' Ausbruch nicht persönlich nehmen. Harriet hatte sich soweit beruhigt, daß sie ungefähr eine Stunde am Bett ihres Großvaters sitzen konnte. Sie hatte seine Hand gehalten und leise mit ihm geredet, aber nichts dabei empfunden. Ihr Geist und ihre Gefühle schienen nicht mehr zu existieren. Als sie Freitagnacht die Wohnung verlassen hatte, um Mara zu suchen, war das gewesen, als sei sie in ein Kanu geklettert, das sich kurz vor Stromschnellen befand. Seitdem war sie in diesen Stromschnellen herumgeworfen worden, ohne daß sie etwas dagegen unternehmen konnte. Es war ein Schock, als sie erfuhr, daß Großvater (wahrscheinlich) nicht mit ihr verwandt war. Allerdings hatte sie in den letzten Tagen so viele Schocks erlitten - die Nachricht über die Zwangseinweisung ihrer Mutter ins Krankenhaus und ihren Selbstmord dort, die Erkenntnis, daß Großvater ziemlich kalt war, nein, nicht nur kalt, sondern grausam, und zwar zu Mara und zu Beatrix und auch zu Harriet selbst, die schrecklichen Ereignisse am Samstag in der Kirche -, daß sie sich kaum dazu zwingen konnte, über Großvater, Oma Selena oder Emil Farrenc nachzudenken. Mara schien diese Geschichte nicht so mitgenommen zu haben. Mara war im Gegensatz zu der strahlenden Harriet ja immer schon das böse Mädchen gewesen, und das Leben auf der Straße hatte sie so stark verändert, daß sie kaum noch etwas erschüttern konnte. Ja, Mara erinnerte sich
noch an das Foto, das sie in Mephers' Schreibtisch gefunden hatte, an das Gesicht, das so viel Ähnlichkeit mit Harriets aufwies, aber Har 43 179 riet solle aufhören, sich Gedanken über diese alte Geschichte zu machen. Das Jetzt war wichtig, was sie von nun an aus ihrem Leben machen würden. Am Sonntagnachmittag saß Harriet auf ihrem elfenbeinfarbenen Bett, die Knie bis zum Kinn hochgezogen, und dachte, er hat mir ein Zuhause gegeben, eine Ausbildung, Liebe - und dann versuchte sie, sich zu erinnern, wann er tatsächlich liebevoll zu ihr gewesen war; doch ihr fiel nur sein selbstherrliches Lob ein, wenn sie ihm und seinem Namen wieder einmal alle Ehre gemacht hatte: Es war richtig, dich bei uns aufzunehmen, hatte er oft gesagt. Jetzt erkannte sie, daß das Ende ihrer Beziehung zu ihm bereits im Anfang angelegt war, von dem Tag an, an dem sie in ihren nagelneuen Schuhen in der Wohnung herumgeschlichen war, zu verängstigt, etwas zu sagen oder zu berühren, denn es konnte ja sein, daß der Arzt oder sein furchteinflößender Schatten Mrs. Ephers sie wieder zu Beatrix zurückschickte. Sie hatte Großvaters Wut über Mara oder irgendeinen Krankenhausausschuß im Lauf der Jahre so oft miterlebt, und schließlich hatte sie vergessen, wie hart sie als kleines Kind an sich gearbeitet hatte, um ihn nie zu verärgern. Als sein Zorn sich am Sonntag gegen sie richtete, zuckte sie zusammen und versuchte, ihn zu beschwichtigen. Den ganzen Nachmittag über, als sie und Mara packten und sich unterhielten, spürte sie seine Wut in der Wohnung; sie pochte und schlug wie eine schwere Faust auf sie ein. Hast du das all die Jahre empfunden? fragte sie Mara. Wie hast du das nur ertragen? Sonntagabend, bevor sie und Mara zum Essen ausgingen, erklärte sie ihm, sie würde bis Dienstag mit Mara ausziehen und ihn in Ruhe lassen. Er verzog das Gesicht kurz wie ein Kind, das von seiner Mutter allein gelassen wird. Doch am Montagabend, als er seine Runde im Krankenhaus beendet hatte und nach Hause kam, überspielte er seine Verletztheit wieder mit Wut. Er fauchte Harriet an, sie solle dafür sorgen, daß Hilda Mara nicht sehen müsse: Hilda war alt, sie hatte erst vor 179 kurzem einen Herzinfarkt gehabt, sie konnte keine weiteren Schocks mehr brauchen von dieser Natter, die er da an seinem Busen genährt hatte. Als Harriet versuchte, Mara zu verteidigen, spuckte Mephers selbst Gift und Galle gegen Harriet und Mara. Harriet war entsetzt, sowohl über das verzerrte Gesicht der Haushälterin als auch über ihre Worte, und versuchte, sie zu beruhigen, aber Mephers war nicht mehr ansprechbar. Harriet wußte, daß sie nun für sie als die Ursache allen Übels galt. Wenn Harriet nicht gewesen wäre, hätte er Mara nie zu sich genommen. Nein, noch schlimmer: Wenn Harriet nicht gewesen wäre, hätte der Doktor sie, Hilda Ephers, geheiratet, die ihr ganzes Leben ihm geschenkt hatte. »Sie halten nur Mara für einen Wechselbalg«, hatte sie den Arzt angeschrien. »Aber sie sind es beide.« Stonds war von dem Ausbruch irritiert gewesen und hatte ihn mit Hildas Müdigkeit begründet. Er hatte sie in ihr Zimmer gescheucht und ihr ein Beruhigungsmittel gegeben: Denken Sie an Ihr Herz, hatte er ihr geraten. Doch in ihrem Zimmer, wo Mrs. Ephers immer gehofft hatte, ihre Liebe zu vollenden, hatte sie schließlich den Brief von Zoe Farrenc und das Foto von Emil herausgeholt und sich damit dem Arzt an die Brust geworfen. Harriet hatte Mephers' wütende Stimme gehört, und es war ihr übel geworden vor Ekel. Sie war völlig erschöpft von den Gefühlsausbrüchen des Tages - der ganzen Woche - und verließ die Wohnung in der Graham Street, als der Arzt sich noch mit seiner Haushälterin in deren Zimmer aufhielt. Mara hatte mittlerweile eine möblierte Wohnung gefunden, die sie vorübergehend mieten wollten. Als Harriet dort ankam, übernahm Mara die Rolle, die Harriet immer innegehabt hatte: Sie rieb ihr die Hände, machte ihr einen Tee und dirigierte sie ins Bett. Am folgenden Morgen unterhielt Harriet sich mit dem Chef der Neurologie über ihren Großvater. Der Neurologe kannte Harriet noch von den Essenseinladungen in der Graham Street und sprach deshalb ganz offen mit ihr: Sie taten ihr möglich 43 179 stes für Dr. Stonds, aber selbst, wenn er das Bewußtsein wiedererlangte, würde er sich wahrscheinlich nicht mehr ganz erholen. Harriet solle nicht allzu optimistisch sein.
Harriet hatte an Großvaters Seite gesessen, bis es an der Zeit war, zu dem Bestattungsinstitut zu gehen. Die Mitteilung, daß die Leiche verschwunden sei, war daher nur noch so etwas wie eine sanfte Brise nach einem heftigen Sturm. 180
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Beisetzungsriten
Dr . Stonds starb zwei Wochen vor dem Erntedankfest. In den Monaten seiner Krankheit
besuchte Harriet ihn jeden Morgen im Krankenhaus. Sie saß neben der röchelnden Gestalt und erzählte ihm leise schöne Geschichten aus einer glücklicheren Zeit. Am Nachmittag kehrte sie dann in das Haus zurück, das sie und Mara am nordöstlichen Stadtrand gekauft hatten. Solange das Wetter es zuließ, schwammen die beiden Schwestern, gingen spazieren und versuchten, zusammen eine neue Vergangenheit aufzubauen: Wie war ihre Mutter gewesen? Wieso war sie drogen- und alkoholabhängig geworden? Wie wichtig war es, daß Mara nie erfahren würde, wer ihr Vater war? Und welchen Unterschied machte es, daß Emil Farrenc ihr leiblicher Großvater war? Sie unterhielten sich mit Hector und Professor Granita darüber. In der Zeit kam die Professorin häufig zu Besuch - zum Teil deshalb, weil sie immer eine der wenigen richtigen Freundinnen von Abraham Stonds gewesen war, aber auch, weil sie froh war, mit Harriet und Mara über Selena und Emil Farrenc sprechen zu können. Als sie das erste Mal zu Besuch kam, behandelte Mara sie ziemlich rüde. Sie konnte einfach nicht glauben, daß die Professorin die Ähnlichkeit zwischen Harriet und Emil Farrenc in all den Jahren nie bemerkt hatte. Doch Hector brachte Mara dazu, die Sache anders zu sehen. Die Menschen haben erstaunliche Fähigkeiten, wenn es um die Verdrängung von unangenehmen Dingen geht, sagte er. Das war Mara doch sicher auch bei Dr. Stonds und Mrs. Ephers aufgefallen, oder? Und vielleicht hatte sich die Professorin geschämt, daß sie sich in einen Mann verliebt hatte, der sich nicht 180 für sie interessierte, und deshalb die Erinnerung an sein Gesicht aus ihrem Gedächtnis gestrichen. Außerdem lag damals, als Großvater Stonds Harriet adoptierte, Professor Granitas Affäre mit Farrenc fast ein Vierteljahrhundert zurück. Und es war sicher das letzte, was die Professorin erwartete - eine Ähnlichkeit zwischen ihrem früheren Geliebten und der Enkelin des Doktors zu entdecken. Mara akzeptierte Hectors Interpretation widerwillig, begrüßte die Professorin aber erst wirklich herzlich, als sie eines Tages sagte, Großvaters Gedanken über das schlechte Blut seien Unsinn und absolut überholt. Die Schwestern hatten diskutiert, ob sie versuchen sollten, Informationen über Emil Farrencs Familie zu beschaffen. Harriet hatte herausgefunden, daß Zoe Farrenc zwei Jahre zuvor ohne Erben gestorben war. Harriet wollte gern soviel wie möglich über Emil erfahren, vielleicht, weil sie ihm so ähnlich sah, doch Mara war dagegen: In dem Brief von Zoe an ihre Mutter war Emil Farrenc nicht gerade gut weggekommen - warum sollten sie sich jetzt noch mit einem zweiten gräßlichen Großvater belasten? Am Abend sprach Harriet Professor Granita auf dieses Thema an. »Sie wissen doch sicher etwas über seine Familie. Ich möchte nur wissen, wo er geboren wurde - dann könnte ich den Rest herausfinden.« Die Professorin hob die dünnen Augenbrauen. »Und warum möchtest du das wissen, meine liebe Harriet?« Harriet errötete bei ihrem spöttischen Tonfall. »Schließlich fließt sein Blut in unseren Adern, und wenn ich je ein Kind haben sollte...« »Mein Gott, diese Besessenheit«, rief Professor Granita aus. »Ich konnte schon Abraham diesen Blödsinn nicht ausreden, aber fangt ihr jetzt nicht auch noch damit an. Dieser Gedanke ist die Wurzel aller Übel im zwanzigsten Jahrhundert. Manchmal glaube ich fast, ihr Amerikaner seid genauso schlimm wie die Nazis. Ständig macht ihr euch Gedanken über die Vermischung der Rassen und degenerierte Rassen und die Wirkung der Asiaten oder Afrikaner auf euer eigenes nordisches 180 Blut. Das ist ein gesellschaftliches Konstrukt, sonst nichts. Für euch war Abraham euer Großvater. Ich sehe keinerlei Grund, ihn nicht weiter so zu nennen oder in diesen uralten Geschichten rumzustochern.«
Danach begann Mara, sich auf die Essen mit Professor Granita zu freuen. Die Professorin fand unter den alten Papieren des Oriental Institute sogar noch ein Tagebuch von Selenas Mutter. Es war zusammen mit August Vaticks Aufzeichnungen nach seinem Tod nach Chicago geschickt worden, aber niemand hatte sich je dafür interessiert - für wen sollten auch die Notizen einer einfachen Ehefrau schon von Bedeutung sein? Auf den vergilbten Seiten dieses Tagebuchs lasen Mara und Harriet von dem Beschluß ihrer Großmutter, Emil Farrenc zu folgen, zuerst in den Irak und dann ins Taurusgebirge. Helen Vatick berichtete von den letzten Tagen ihrer Tochter, von ihrem Tod im Schneesturm, davon, daß sie sich bei dem Versuch, Farrencs Zelt zu finden, verirrt hatte. Nach dem Schneesturm hatte sich Farrenc, der als kräftigster der Expedition überlebt hatte, auf den Weg gemacht, um Hilfe zu holen. Er hatte zwei Wochen gebraucht, um das nächste Dorf zu erreichen. Als er mit einer Rettungsmannschaft zurückkehrte, waren die Vaticks und der Rest des Teams bereits tot. Harriet und Mara lasen den verblichenen letzten Eintrag von Helen Vatick: Ich sehe, daß dieses Tagebuch voll kleinlicher Jammerei über August und Selena steckt. Wenn ich nur von vorn anfangen könnte - versuchen, Freude zu finden. Das Leben ist zu kurz, um es mit Vorwürfen zu vergeuden. Ich wünschte, ich könnte diese Botschaft noch Abraham Stonds vermitteln und meiner kleinen Enkelin, die ich nie sehen werde. Der letzte Satz gefiel Mara: Da hatte jemand ihrer Mutter etwas Gutes gewünscht, auch wenn Beatrix diese Wünsche nie 181 erreicht hatten. Doch Mara war auch erstaunt über Selena: Wie konntest du nur so kindisch sein, einem Mann, der sich nicht für dich interessierte, in einen Schneesturm zu folgen? Professor Granita sah Mara fragend an: War es nicht genauso kindisch, die Graham Street zu verlassen und auf der Straße zu leben? Mara wurde rot und schwieg. Eines Abends stellte Professor Granita die Frage, die ihr seit dem Tag, an dem sie Starr an der Wand gesehen hatte, durch den Kopf gegangen war: Hatte Mara Starrs Haare wie die Hörner der Götter auf den alten sumerischen Walzensiegeln frisiert? Die Frage rutschte ihr bei einem Abendessen heraus, in dessen Verlauf Jacqui und Nanette erklärten, warum sie an einer Fernsehdebatte über Starr teilgenommen hatten: War sie eine Heilige oder eine Dämonin, oder einfach nur eine obdachlose Verrückte gewesen? (»Don Sandstrom hat uns zweihundert Dollar geboten«, sagte Jacqui zu Hector. »Das ist ziemlich viel Geld für zwei obdachlose Frauen.«) »Ich weiß, daß du im letzten Frühjahr öfter im Museum warst, um dich über die alten Sumerer zu informieren, Mara, und seitdem beschäftigt mich diese Frage«, sagte Professor Granita. Mara blähte wütend die Backen, aber Hector und Harriet fragten die Professorin, was ein Walzensiegel sei. Die Professorin holte eine kleine blaue Röhre aus ihrer Handtasche. »Eigentlich sollte ich das nicht mit mir herumtragen, weil es dem Museum gehört. Es ist ein Lapislazuli-siegel aus dem alten Sumer, fast fünftausend Jahre alt. Die Figur mit den Hörnern ist Inanna, die wichtigste Göttin der Sumerer.« Neugierig beugten sich alle über ihre Hand. Professor Granita hielt ein Vergrößerungsglas über den Stein, damit die eingemeißelten Figuren besser zu erkennen waren. »Dann meinen Sie also, daß Mara die Göttin Gula mit ihren Beschwörungen tatsächlich zum Leben erweckt hat?« fragte Hector die Professorin lachend. Professor Granita wußte nicht so recht, was sie glauben 181 sollte. Schließlich kannte sie Maras Begabung, Geschichten zu erfinden. Hatte sie die alten Siegel gesehen und dann eine Obdachlose überredet, die Haare wie die Göttin Inanna zu tragen? »Starr war nicht so«, stammelte Mara. »Sie hat immer nur das getan, was sie wollte. Aber sie mochte es, wenn ich ihr die Haare kämmte. Sie hat die Zöpfe jeden Abend gelöst, und am Morgen habe ich sie ausgekämmt und wieder geflochten. Deshalb weiß ich auch, daß es echte Haare waren, keine Kuh-hörner wie auf dem Siegel.« Professor Granita wußte nicht, ob sie Mara glauben sollte oder nicht; sie hatte im Lauf der Jahre schon so viele Geschichten von ihr gehört. Aber Hector war ebenfalls dabei gewesen, und er wußte, daß Starr keine Kreation Maras war. »Sie halten sie doch nicht wirklich für eine Göttin, oder?« fragte Harriet die Professorin. »Ich weiß, daß die Leute ganz hysterisch ihretwegen waren. Hat sie tatsächlich Wunder gewirkt? Hat sie Luisa Montcrief in der Kirche von den Toten auferweckt? Aber es gibt eine rationale Erklärung für alles,
was passiert ist. Sogar grandpere dachte anfangs, Luisa sei tot. Er hat gesagt, daß jemand, der so betrunken ist - und das war sie jedenfalls zu dem Zeitpunkt -, in eine so tiefe Bewußtlosigkeit verfallen kann, daß er wie tot erscheint.« »Warum ist das eigentlich so wichtig?« fragte Mara. »Warum müßt ihr sie unbedingt in eine Schublade stecken? Es reicht doch, daß sie hier war. Sie hat mich geheilt und Hector und Dutzende anderer Menschen. Sie hat mir das Leben gerettet und Luisa auch. Ist es so wichtig, ob sie etwas Übernatürliches getan hat oder nicht? Man hat ihr in die Augen gesehen und sich selbst darin entdeckt, so wie man war. Für Leute wie Rafe Lowrie zum Beispiel war das schrecklich - er konnte seinen eigenen Anblick nicht ertragen. Aber wenn man diese Konfrontation mit sich selbst ertrug, entdeckte man auch, daß man sich selbst gern haben konnte.« Es war unvermeidlich, daß das leidenschaftliche Interesse -sowohl an ihrem Leben als auch an ihrem Tod - mit der Zeit 182 nachließ. Hector hörte irgendwann auf, ihre Leiche zu suchen. In den ersten Monaten nach ihrem Tod behaupteten immer wieder Leute, sie gesehen zu haben: in einer Garage, auf einem Fußballplatz, in einem Einkaufszentrum. Dann ließ Hector alles liegen und stehen und eilte an den Ort, wurde aber immer enttäuscht. Schließlich tat er alle Meldungen nur noch mit einem Achselzucken ab: Mara hatte recht - mehr als das Bild von ihr, das sie in ihrem Herzen trugen, würden sie nicht mehr bekommen. Und vielleicht brauchten sie auch gar nicht mehr. Harriet sah irgendwann ein, daß der Staatsanwalt niemanden wegen Mordes an Starr anklagen würde. Niemand konnte - oder wollte - eine Aussage darüber machen, wer Starr tatsächlich erschlagen hatte, erklärte ihr der Staatsanwalt wiederholt. Auch die Fernsehaufnahmen waren da keine große Hilfe; auf den Bildern war nur der Mob als solcher zu erkennen, nicht die Gesichter derjenigen, die auf sie eingeprügelt hatten. Und der Gedanke, daß man in der Orleans Street Church, einer Gemeinde, der so viele wohlhabende Chicagoer Bürger angehörten, mit Massenverhaftungen begann - nun, der Staatsanwalt wurde blaß bei dem Gedanken daran, denn das war politischer Selbstmord. Schließlich ließ Harriet die Angelegenheit auf sich beruhen. Als der Herbst nahte, stellten Jacqui und Nanette allmählich ihre Besuche bei Mara in Rogers Park ein und zogen sich in ihre alten Unterschlüpfe auf den Straßen zurück. Professor Granita reiste nach Padua wie in jedem Winter. In den Talk-Shows war nicht mehr die Rede von Starr, und Don Sandstrom war immer noch in Chicago. Großvater Stonds' Tod war so etwas wie ein Schlußstrich unter dem ersten Kapitel von Maras Leben. Sie wollte sich etwas Neues aufbauen, wußte aber nicht so recht, was. Auch ihre neue Nähe zu Harriet verlor nun ein wenig an Intensität. Sie würde Harriet immer mögen, aber jetzt hingen sie nicht mehr zusammen wie in den vergangenen drei Monaten. Und die wachsende Vertrautheit zwischen Harriet und Hector machte Mara - nun: eifersüchtig. Tja, Hector war also Har 182 riets neuer Verehrer, genau wie Mara es an ihrem ersten Tag in der Klinik vorhergesehen hatte. Mara wollte Hector nicht selbst als Liebhaber - nein, sie war eher neidisch, weil er Harriets Aufmerksamkeit von ihr abzog. Das Midwest Hospital hatte Hector trotz Dr. Stonds' diktierter Anordnung nicht gefeuert. Der Personalausschuß, der Hectors Akte durchging, war der Meinung, daß der junge Tammuz vielleicht ein bißchen zu heftig auf die obdachlosen Frauen reagiert, sich das Problem aber nun von selbst gelöst hatte. Außerdem konnte es sich das Krankenhaus nicht leisten, auf einen der Assistenzärzte zu verzichten. Hector hatte zwar noch seinen Job, aber er konnte sich nicht vorstellen, noch weitere achtzehn Monate nur Drogen und kleine Therapiehäppchen zu verteilen. Er unterhielt sich immer öfter mit Harriet über seine Pläne; schließlich war sie ungefähr so alt wie er und versuchte ebenso wie er herauszufinden, ob sie den Beruf, für den sie sich mit zwanzig Jahren entschieden hatte, weiter ausüben wollte. Harriet traf sich immer öfter mit Hector zum Abendessen, bevor er im Krankenhaus anfing. Und als Sylvia Lenore Harriet bat, die generelle Beratung für eine neue Stiftung zugunsten Obdachloser zu übernehmen, unterhielt sich Harriet darüber häufiger mit Hector als mit Mara. Harriet sah einen Platz für Hector in Sylvias Plan; er konnte die Obdachlosen dauerhaft psychologisch betreuen. Endlich hatte Hector wieder Freude an seinem Beruf. Er fragte Dr. Boten, ob er bei ihm eine Zusatzausbildung als Therapeut machen könne, während er am Midwest Hospital arbeitete.
Hector und Harriet blieben bis spät in die Nacht auf, nicht, um über Starr zu reden, sondern um zu lachen und über die schöne neue Welt zu reden, die sie zusammen schaffen wollten - und natürlich, dachte Mara, endeten diese Diskussionen irgendwann in Harriets Bett. Und genauso natürlich war Hector mit ihnen zusammen auf Großvaters Beerdigung. Mara versuchte, sich darüber zu freuen, daß Hectors Anwesenheit Harriet genausoviel Trost spendete wie ihre eigene. 183 An der Beerdigung nahmen ganze Generationen von Stonds-Studenten und -Kollegen teil, ebenso die Gemeindemitglieder der Orleans Street Church. Ihrer Meinung nach hielt der Mann, der die Gemeinde seit Pastor Emersons abrupter Amtsniederlegung leitete, eine wunderbare Grabrede. Doch war es, so flüsterte Wilma Thirkell Patsy Wanachs zu, ziemlich schockierend, daß Mara Stonds mit hocherhobenem Haupt dasaß, als hätte nicht sie den Schlaganfall des Arztes durch ihr ungeheuerliches Benehmen ausgelöst. Und der jüdische Arzt, flüsterte Patsy zurück, was macht der denn hier? Hatte er etwa Harriets Hand genommen, als sie sich setzten? Linda Bystour beugte sich ein wenig vor, um sich an ihrem Gespräch zu beteiligen. Ich habe gehört, sie wohnt mit ihm zusammen. Natürlich, murmelte Mrs. Thirkell, ich hab' ja nie geglaubt, daß Harriet so gut ist, wie sie immer tut; diese perfekten Manieren, dieses selbstgefällige Lächeln - das ist alles nur Fassade... hab' ich immer schon gesagt. Mrs. Ephers war außer sich, als Harriet und Mara sich mit Hector in die Kirchenbank der Stonds setzten. Ohne auf ihre Nachbarn zu achten, rief sie wütend einen der Meßdiener herbei, der die Schwestern zu einem anderen Platz führen sollte. Harriet versuchte mit ihr zu reden. »Bitte, Mephers, ich weiß, daß Sie einiges durchgemacht haben, aber können wir nicht in Ruhe hier sitzen, grandpere zuliebe...« Mrs. Ephers fiel ihr ins Wort. »Nenn mich nie wieder so, und wage es nicht, von deinem Großvater als grandpere zu sprechen! Du hast dich gegen ihn entschieden, du und diese... diese Mara. Du bist schuld an seinem Schlaganfall...« Sie wollte sich nicht beruhigen, bis Hector und die Schwestern auf die andere Seite des Mittelganges wechselten. Die Krankheit des Arztes hatte Hilda Ephers ziemlich mitgenommen, das sah Patsy Wanachs. Die Haushälterin hielt sich längst nicht mehr so gerade, und zum Sonntagsgottesdienst kam sie wiederholt mit Essensresten auf ihrer ungebü-gelten Kleidung. Bei Treffen des Gemeinderats störte sie die 183 Diskussionen mit unzusammenhängenden Schimpftiraden gegen Harriet, die in ihren Augen jetzt noch schlimmer war als Mara. Während der Arzt in einem Pflegeheim auf den Tod wartete, wechselte Mrs. Ephers in der Graham Street in sein großes Bett. Dort nahm sie alle Mahlzeiten ein und ging, außer wenn sie den Gottesdienst besuchte, nur noch selten aus dem Haus. Linda Bystour rückte näher an Mrs. Thirkell heran: Und sehen Sie sich Mara an! Mit welchem Recht erscheint sie derart triumphierend hier? Ähnliche Kommentare machten in der Kirche die Runde; Mara freute sich offenbar über den Tod des Arztes. Anders konnten Patsy Wanachs und Linda Bystour sich die Veränderungen in Abraham Stonds' jüngerer Enkelin nicht erklären. Mara hatte so viele Jahre mit mürrischem Gesicht und hängenden Schultern in der Kirchenbank der Stonds gesessen, daß es verblüffend war, sie jetzt kerzengerade dort sitzen zu sehen, zwar nicht hübsch - hübsch würde sie nie sein -, aber irgendwie attraktiv mit ihren ausgeprägten Wangenknochen und ihren grünen Augen. Diese Verwandlung konnte nur auf Kosten des Arztes stattgefunden haben. Mara merkte erst im Verlauf des Requiems, welche Gefühle sie für Großvater hegte. Sie trauerte nicht um ihn, aber ihr wurde klar, daß sie Mitleid mit ihm hatte. Hector behauptete zwar, Großvater sei kein Mensch gewesen, mit dem man Mitleid haben konnte, schließlich habe er weit mehr Anerkennung in seinem Leben gehabt als die meisten Menschen. Aber für eine Neunzehnjährige war der berufliche Erfolg kein angemessener Ersatz für die Frau und das Kind, das er verstoßen hatte. Beatrix war zwar nicht sein leibliches Kind gewesen, aber das hatte er nicht gewußt. Während der neue Pastor Abraham Stonds' Tugendhaftigkeit rühmte, schüttelte Mara den Kopf über ein Leben, das mit Groll vertan worden war. Nach der Beisetzung gaben sie und Harriet einen kleinen Empfang im Gemeindesaal. Cynthia Lowrie bahnte sich einen Weg zu Mara. Es war das erste Mal, daß sich die beiden seit je
184 nem Samstag in der Kirche vor drei Monaten wiedersahen. Mara hatte bisher keine Lust gehabt, sich mit Cynthia zu unterhalten. Eigentlich war sie Cynthia nicht böse, weil sie die Frauen verraten hatte, um nicht von Rafe verprügelt zu werden. Doch wenn sie sich ein Gespräch mit ihr vorstellte, sah Mara Cynthia wild mit den Armen fuchtelnd, während sie sich eine Ausrede nach der anderen einfallen ließ und Mara aber sicher, aber sicher sagte und ihr die Schulter tätschelte. Mara wußte, daß sie sich zu sehr verändert hatte, um mit Cynthia zusammen zu jammern. Auch Cynthia hatte sich verändert, zumindest äußerlich: Sie hatte kürze Haare und war auffällig geschminkt. Mara machte große Augen. Die beiden Freundinnen begrüßten einander verlegen. »Nun, dann ist der alte Doktor also gestorben. Tut es dir leid?« fragte Cynthia. Mara zuckte mit den Achseln - sie wollte nicht über ihre Gefühle für Großvater sprechen. »Du hast eine neue Frisur, stimmt's? Was sagt denn Rafe zu dem Make-up?« »Rafe redet nicht mehr. Er hat die Stimme verloren an dem Tag... du weißt schon. Er war schon bei allen möglichen Spezialisten. Keiner weiß, was die Ursache ist. Ich könnte nicht sagen, daß mich das sehr berührt. Ich ziehe sowieso aus.« Das Leben der Lowries hatte sich verändert. Mit seiner Stimme schien Rafe seine Autorität verloren zu haben. Er ging nicht mehr zur Börse, weil er keine Anweisungen mehr brüllen konnte, und lief wütend und verwirrt zu Hause herum. Cynthia zwang ihn, sie ebenfalls zur Zeichnungsberechtigten für sein Bankkonto einzusetzen, damit sie sich selbst Kleider und einen Wagen kaufen konnte. Sie erklärte ihm, daß sie nicht mehr für ihn kochen würde. Wenn er nicht arbeitete, konnte er sich sein Essen ja selbst kochen oder eine Haushälterin einstellen, ihr war das egal. Sie würde ohnehin ausziehen und aufs College gehen; zahlen müsse natürlich er; er und Jared konnten machen, was sie wollten. Sonderlich begeistert schien Jared über die Veränderung 184 nicht zu sein. Er verbrachte die Nächte bei Nutten, in der stillen Hoffnung, von der Impotenz zu genesen, unter der er seit jenem ereignisreichen Samstag litt. Er machte sich nicht die Mühe, die Briefe zu öffnen, in denen sein College nachfragte, ob er vorhabe, seine Studien wiederaufzunehmen. Sie lagen zusammen mit den leeren Bourbonflaschen in einer Ecke seines Zimmers. Genau wie Rafe schien er nun Angst vor seiner Schwester zu haben. Er verließ das Zimmer, wenn sie hereinkam, und sprach nur mit ihr, wenn er eine neue Flasche Whiskey von ihr wollte. Cynthia hatte keine Lust, Mara von den Veränderungen zu Hause zu erzählen, auch nicht davon, daß sie ihre neue Macht genoß, und erzählte nur, daß sie im Januar mit dem Studium an der University of Illinois beginnen würde. »Ich habe gehört, daß Harriet sich mit dieser Langweilerin Sylvia Lenore nun ganz um die Obdachlosen kümmern will. Willst du auch bei ihr mitmachen?« Der Spott in Cynthias Stimme rief ein unbehagliches Gefühl in Mara hervor. Sie wich zurück. Wie war es möglich, daß sie und Cynthia früher jeden Tag miteinander geredet hatten; sie konnte sich nicht mehr vorstellen, dieser trotzigen Person ihre innersten Gefühle anzuvertrauen. Nach ein paar weiteren unbeholfenen Konversationsversuchen verabschiedete sich Cynthia; die Wege der beiden jungen Frauen hatten sich endgültig getrennt. Mit wem Mara auch sprach, sie hatte fortwährend das Gefühl, daß die Leute sie nur anstarrten, sich nicht mit ihr unterhalten wollten. Mara erinnerte sie wieder an ihren eigenen Wahnsinn in der Kirche. Die Gemeindemitglieder hatten dafür gestimmt, Hagar's House zu schließen, damit die obdachlosen Frauen sie nicht ständig an den Tag erinnerten, an dem in ihnen die Mordlust erwacht war. Es war gar nicht so leicht, jemanden zu finden, der zugab, an dem Tag in der Kirche gewesen zu sein, an dem Starr ermordet wurde, obwohl Sylvia Lenore Wilma Thirkell und Patsy Wanachs nur zu gern daran erinnerte, daß sie gesehen hatte, wie sie in Handschellen abgeführt 45° wurden. Die Gemeindemitglieder sprachen fortan von »jenem schrecklichen Samstag, als die obdachlosen Frauen die Kirche stürmten und so viel Schaden anrichteten«. Der Anblick von Mara Stonds weckte die Erinnerung daran, was wirklich passiert war, und das tat weh. Mara fiel es schwer, sich an das Versprechen zu halten, das sie Harriet gegeben hatte: niemanden anzufauchen. Als sie sah, wie der neue Pastor sich auf Hector stürzte, um ihm begeistert von der kirchlichen Erwachsenenbildung zu berichten, hatte Mara genug.
»Dr. Tammuz würde das wirklich gerne hören, aber wir müssen jetzt meine Schwester nach Hause bringen. Der Tod von Großvater hat sie ziemlich mitgenommen, und die Organisation des heutigen Tages ist auch sehr anstrengend gewesen.« Als Hector und die beiden Schwestern draußen waren, konnten sich die Trauergäste endlich ungestört über die Arroganz der beiden Stonds-Enkelinnen unterhalten. 185
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Der Schwan
In der zweiten Dezemberwoche gab Luisa Montcrief auf dem Campus der Northwestern University einen Liederabend. Am liebsten hätte sie ihr Comeback in Berlin oder London gegeben, aber die großen Opernhäuser und Konzertveranstalter der Welt waren noch nicht bereit, ein Risiko mit ihr einzugehen. Sowohl der Stimmexperte in Philadelphia als auch Luisas Agent Leo rieten ihr, erst einmal mit Vorträgen in kleineren Sälen anzufangen. Ihr Ruhm würde wieder wachsen, sobald die Leute sie hörten, sagte Leo: Luisas Stimme habe nie besser geklungen als jetzt. Leo hatte zunächst keine Zeit damit vergeuden wollen, nach Philadelphia zu fahren, um sie im Reha-Zentrum singen zu hören, aber als sie geendet hatte, war er außer sich vor Freude. Ein Wunder war geschehen: Der jahrelange Alkoholmißbrauch hatte ihre Stimme nicht ruiniert. Früher war sie eine glänzende Sopranistin gewesen, aber im Vergleich zu ihrer jetzigen Stimme klang die von vor zehn Jahren dünn und amateurhaft. Sie verstand es, auch seine Zweifel an ihrer Standfestigkeit zu zerstreuen. Jetzt war sie wieder die egoistische, temperamentvolle Diva von früher; doch in einem seltenen Anfall von Ehrlichkeit erklärte sie ihm, sie habe sich fast durch den Alkohol ruiniert. Sie entschuldigte sich sogar für alle unangenehmen Dinge, die sie möglicherweise im Suff zu ihm gesagt hatte. Leo kehrte nach New York zurück und brachte die Northwestern University dazu, Luisa Montcrief in ihr Winterprogramm aufzunehmen. Dann rief er nicht nur die Kritiker in New York an, sondern auch die in Hamburg und London, um ihnen zu sagen, sie würden es auf ewig bereuen, wenn sie Luisa Montcriefs Comeback in Chicago zu spät mitbekämen. 185 Luisa kam an einem Tag, an dem der Wind die Wellen über die Felsen am Lake Shore Drive trieb, im Ritz an. Abgesehen von Leo begleiteten sie noch ihr alter Pianist, eine neue Garderobiere und ihr persönlicher Trainer. Die Diva hatte ihren Hals eingehüllt, um ihn vor der Kälte zu schützen. Sie weigerte sich, ihre Suite zu verlassen, bevor es am nächsten Nachmittag Zeit war, in die Limousine zu steigen. Allerdings bat sie Leo, ihrer Nichte, Mara, Jacqui und Nanette eine Eintrittskarte zu schicken. Luisa und Leo hatten das Programm sorgfältig zusammengestellt: Den Mittelpunkt des Vortrags bildete Mozarts »L'amerö, sarò costante«. Um dieses Stück gruppierten sie eine Reihe kurzer Lieder und Arien, die sich alle um das Singen selbst drehten. Der Abend sollte mit Griegs kurzem »Ein Schwan« enden, in dem ein sterbender Schwan so wundervolle Töne von sich gibt, daß der Zuhörer sich fragt, ob er seinen Ohren trauen kann, ob er nicht eigentlich einem lebenden Vogel lauscht. Grieg sei zu düster als Konzertabschluß, fand Leo, aber Luisa bestand darauf. Ganz vorne im Saal saßen Jacqui und Nanette. Mara war verblüfft, wie sehr die Diva sich verändert hatte. In der Zeit auf der Straße war Luisa so ausgemergelt gewesen, daß sie sich kaum auf den Beinen halten konnte. Seit ihrer Abreise aus Chicago hatte sie zugenommen. Jetzt glänzten ihre Haare wieder, und als sie die Bühne in ihrem grellbunten Kleid betrat, wirkte sie selbstsicher wie nie. Am Ende des Konzerts hatte Mara alles vergessen, was sie im vergangenen Sommer mit der quengeligen Alkoholikerin erlebt hatte. Die Zuhörer sprangen von den Stühlen, um ihr zu applaudieren, doch Mara blieb weinend sitzen, unfähig, sich zu bewegen. Die Schönheit dieser Stimme, die sie in den Himmel entführte - würde sie je in ihrem Leben etwas machen, das sich mit Mozarts Musik oder Luisas Interpretation dieser Musik vergleichen ließ? Luisa hatte Mara zu der anschließenden Party eingeladen. Mara blieb nur kurz, um Luisa zu gratulieren, denn die Diva, 185 die an einem Kräutertee nippte, wurde so von Kritikern belagert, daß sie nur Zeit für eine flüchtige Begrüßung hatte. Becca Minsky stand mit glänzenden Augen neben ihrer Tante und saugte den Beifall auf. Mara wollte nicht auch noch am Rand von Luisas Triumph dabeisein, es war schon schlimm genug, daß sie in Hectors und Harriets Leben nur noch eine Rolle am Rand spielte.
Am nächsten Morgen ging Mara in Richtung Süden am See entlang bis zu der kleinen Landspitze, an der sie manchmal mit Starr kampiert hatte. Der Wind, der ihr ins Gesicht blies, paßte genau zu ihrer düsteren Stimmung. Als sie durchs Präriegras wanderte, stieß sie auf die Reste ihres alten Schlafsacks, den sie im August dort zurückgelassen hatte, als Großvaters Sicherheitskräfte aufgetaucht waren. Sie hatte das Ding völlig vergessen. Der blaue Stoff war mittlerweile ausgebleicht, und die Füllung hing heraus; dieser Schlafsack wärmte jetzt niemanden mehr. Sie schleuderte ihn hoch und beobachtete, wie der Wind ihn am Ufer entlangblies. Das hohe Gras, das jetzt schon braun war, raschelte tröstend. Mara kniete nieder, vertrieb die kleinen Vögel, die dort nisteten, und starrte aufs Wasser hinaus, ohne etwas zu sehen. Starr hatte ihr Leben verändert, weil sie sie dazu gebracht hatte, sich nicht mehr selbst zu hassen. Mara hatte anfangs gedacht, das würde ihr fortan alle Entscheidungen erleichtern, und sie würde nun immer wissen, was sie als nächstes tun mußte, vielleicht sogar, daß sie eine wunderbare Gabe wie die Luisas erhalten würde, mit der sie ihre Zuhörer zu Tränen rühren konnte. Aber jetzt erkannte sie, daß der Weg, der vor ihr lag, nicht so leicht war. Sie konnte die Welt, in der sie lebte, nicht durch reine Willenskraft in einen Ort verwandeln, der den Obdachlosen Unterschlupf bot und an dem Großväter immer nur liebevoll mit ihren Schutzbefohlenen umgingen. Sie würde immer wieder Tage der Verzweiflung erleben. Und manchmal würde sie sich auch Harriet gegenüber grausam verhalten. Ihre 186 eigene Heilung war noch nicht abgeschlossen; sie würde sich jeden Tag aufs neue damit auseinandersetzen müssen. Vielleicht sollte sie wieder zurück an die Uni, wie Großvater gemeint hatte. Das wäre schon komisch, wenn sie am Ende doch das machte, was er immer gewollt hatte. Morgen früh, nein, noch heute nachmittag würde sie in die Bibliothek gehen und sich ein College suchen, das ihr auf ihrem Weg helfen könnte. Sie blieb noch ein bißchen im Gras sitzen, ließ sich den Winterwind durch die Haare wehen und genoß den Frieden, der sich einstellt, wenn man eine Entscheidung getroffen hat. Sie saß so lange still da, daß die Spatzen wieder herankamen und laut piepsend im Gras nach Futter pickten. Plötzlich wurden sie so laut, daß Mara sich umwandte, um zu sehen, wer sich näherte. Ein Schwan kam durchs braune Gras auf sie zu. Als er sie erreicht hatte, blieb er stehen und legte den Kopf schräg, um sie zu mustern. Mara sah in seine flachen schwarzen Augen und glaubte, sich selbst darin zu sehen, freundlich, nicht bitter, mit starken Flügeln, die sie in die Lüfte tragen würden. Dann schüttelte der Schwan die Federn und erhob sich in die Luft; die Spatzen flogen verschreckt auf. Jetzt war es ganz leer am Strand. Mara erhob sich und machte sich auf den Weg nach Hause. 186
Danksagung
Die Ragdale Foundation in Lake Forrest Illinois hat mir den Raum und die Zeit für die Arbeit an Teilen dieses Buches zur Verfügung gestellt. Der Assyriologe Dr. Jeremy Black vom Wolfson College in Oxford und Dr. P. R. S. Moorey, Leiter des Ashmolean Museum in Oxford, ließen mich an ihrem Wissen über die alten Sumerer teilhaben inklusive einer privaten Führung durch das Museum. Lorian Stein-Schwaber hat mir die Grundlagen der Stimmtechnik erläutert und mir gestattet, ihrer Meisterklasse mit der Sängerin Judith Hadden beizuwohnen. Reverend Walter Green und seine Leute von Thresholds, die psychisch kranken Obdachlosen mobile Hilfe bieten, haben mich auf ihren Touren durch Parks, Obdachlosenunterkünfte und Schlafplätze auf den Straßen unter dem Chicagoer Loop mitgenommen. Bei Reverend Gail Russell und ihrem Team von Sarah's Circle, einer Obdachlosenunterkunft für Frauen, durfte ich einige Zeit ehrenamtlich mithelfen. Von Cathy St. Clair, die für die Community Emergency Shelter Organization arbeitet, habe ich eine Menge Informationen über die Chicagoer Obdachlosen bekommen. Alice Cottingham hat mir all diese Kontakte vermittelt. Isabel Thompson hat mir die gängigen Behandlungsmethoden bei psychischen Erkrankungen erklärt, und Beth Blacksin hat mir erläutert, wie betreute Pflege die Behandlung psychischer Krankheiten beeinflußt.
Der Jurist Cass Sunstein von der University of Chicago hat mir wichtige Informationen zum Thema Redefreiheit zukommen lassen. Dr. Don Hogue hat mir an einer wesentlichen Stelle des 187 Manuskripts sehr geholfen. R. D. Zimmerman hat mir diesen Kontakt vermittelt. Jo Anne Willis hat mir bei den Recherchen zu den unterschiedlichsten Themen geholfen. In einer frühen Version des vorliegenden Romans kam ein Komponist vor, der allerdings nicht bis zur Endfassung überlebt hat. Bei der Gestaltung dieser Figur hat mir der Chicagoer Komponist Gerald Rizzer geholfen, der mich in die Geheimnisse der Musiktheorie einweihte. Dank Thea Musgrave, der Hauskomponistin der Virginia Opera, durfte ich den Proben von Simon Bolívar beiwohnen und konnte die Uraufführung dieser Oper besuchen. Ardis Kranik, über deren Ableben ich sehr traurig bin, hat mich Ms. Musgrave vorgestellt und mich an ihrer eigenen großen Erfahrung in der Opernwelt teilhaben lassen. Wie immer sind alle Fehler, die in diesem Buch vorkommen, meine Schuld und haben nichts mit all den Leuten zu tun, die mich beraten haben. Ich möchte außerdem betonen, daß dies ein fiktives Werk ist. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen oder Ereignissen ist rein zufälliger Natur. So besteht zum Beispiel keinerlei Ähnlichkeit zwischen Lorian Stein-Schwaber oder Judith Hadden und Luisa Montcrief, zwischen Sarah's Circle und Hagar's House oder zwischen Lennie Cerullo und Abraham Stonds. Ann, Eve, Joanna und besonders SCW haben mir auf der beschwerlichen Reise bis zum Ende dieses Romans beigestanden. Und noch ein Wort an jene, die sich Sorgen um V. I. Warshawski machen: Die Detektivin war im Streik, aber wir haben gerade eine neue Verhandlungsrunde begonnen und werden wohl bald wieder zusammenarbeiten.