Genetischer Code (mit Einlettercode) U
C
A
G
U
UUU UUC UUA UUG
Phe Phe Leu Leu
F F L L
UCU UCC UCA UCC
Ser Ser Ser Ser
S S S S
UAU UAC UAA UAG
Tyr Tyr Stopp Stopp
Y Y ochre amber
UGU UGC UGA UGG
Cys Cys Stopp Trp
C C opal W
U C A G
C
CUU CUC CUA CUG
Leu Leu Leu Leu
L L L L
CCU CCC CCA CCG
Pro Pro Pro Pro
P P P P
CAU CAC CAA CAG
His His Gln Gln
H H Q Q
CGU CGC CGA CGG
Arg Arg Arg Arg
R R R R
U C A G
A
AUU AUC AUA AUG
Ileu Ileu Ileu Met
I I I M
ACU ACC ACA ACG
Thr Thr Thr Thr
T T T T
AAU AAC AAA AAG
Asn Asn Lys Lys
N N K K
AGU AGC AGA AGG
Ser Ser Arg Arg
S S R R
U C A G
G
GUU GUC GUA GUG
Val Val Val Val
V V V V
GCU GCC GCA GCG
Ala Ala Ala Ala
A A A A
GAU GAC GAA GAG
Asp Asp Glu Glu
D D E E
GGU GGC GGA GGG
Gly Gly Gly Gly
G G G G
U C A G
Technische Daten zu Nukleinsäuren DNA:
1 kb Doppelstrang-DNA (dsDNA) hat ein Molekulargewicht von 6,6 x 105 1 kb Einzelstrang-DNA (ssDNA) hat ein Molekulargewicht von 3,3 x 105 Mittleres Molekulargewicht von 1 Nukleotid: 327 1 OD260-Einheit entspricht 50 µg dsDNA, 40 µg ssRNA oder 33 µg ssDNA. 1 µg DNA von 1 kb Länge entspricht 1,52 pmol DNA (oder 3,03 pmol Enden) 1 µg/ml DNA von 1 kb Länge entspricht 3,03 nM Enden 50 µg/ml DNA sind 1,4 x 10–5 M Nukleotidlösung 1 pmol DNA von 1 kb Länge entspricht 0,66 µg 1 pmol pBR322 DNA (4363 bp) entspricht 2,85 µg 1 µm dsDNA entspricht 2941 bp (ca. 3 kb) bzw. einem Molekulargewicht von 2 x 106 1 kb DNA entspricht 333 Aminosäuren (d.h. einem Protein von Mr = 37 000) 2 x 106 pmol Enden je µg linearer DNA: 660 x Anzahl der Basen/Molekül Schmelzpunkt für dsDNA (größer als 50 bp): Tm = 81,5 [°C] + 16,6 log (M [NaCl]) + 0,41 (%GC) –
550 –0,65 (% Formamid) (Anzahl bp)
Wichtige Internet-Links (Stand: 25.7.2005) Geschichte der Genetik „Mendel-Web“ mit Links zu den Originalarbeiten („Versuche über Pflanzenhybride“):
http://www.mendelweb.org/
Mendel-Museum Brünn
http://www.mendel-museum.org/
Allgemeine Datenbanken Literatur: Freier Zugang zu Volltext: Erbkrankheiten („Online Mendelian Inheritance in Man“): Gene: Micro-RNA (miRNA) Sequenzvergleiche:
Proteineigenschaften:
http://www.ncbi.nih.gov/PubMed http://www.biomedcentral.com/ http://www.ncbi.nlm.nih.gov/entrez/query.fcgi?db=OMIM http://www.ncbi.nlm.nih.gov/entrez/query.fcgi?db=Gene http://microrna.sanger.ac.uk/sequences http://www.ncbi.nlm.nih.gov/BLAST http://www.ebi.ac.uk/blast2/index.html http://www.ebi.ac.uk/clustalw http://www.expasy.org/
Genom-Datenbanken Allgemeine Einstiege mit Links zu genetischen Informationen von Viren, Bakterien, Hefen, Pflanzen, Würmern, Insekten, Frösche, Fische, Vögel und Säugetieren (wie Maus, Ratte, Katze, Hund, Schwein, Schaf, Rind, Schimpanse und Mensch): http://www.ensembl.org http://www.ncbi.nih.gov/Genomes/ http://genome-www.stanford.edu/ http://genome.ucsc.edu Suche nach Genen (unabhängig von Organismen): http://www.ncbi.nlm.nih.gov/entrez/query.fcgi?db=Gene Datenbanken und Programme für vergleichende Genomanalysen http://genome.lbl.gov/vista/index.shtml
Besondere Links E.coli Arabidopsis: Drosophila (Flybase): (Filme zur Entwicklung) C. elegans (mit vielen Links): Zebrafisch Mitochondriale DNA: Maus: Europäisches Maus-Mutanten-Archiv (EMMA): Phänotypisierung Mouse Genome Informatics (Jackson Labor; Bar Harbor/USA) Ratte:
http://www.genome.wisc.edu/ http://www.arabidopsis.org/ http://mips.gsf.de/projects/plants/ http://fly.ebi.ac.uk:7081/ http://flymove.uni-muenster.de/ http://elegans.swmed.edu/ http://zfin.org http://www.mitomap.org/ http://www.emmanet.org/ http://www.eumorphia.org/ http://www.mouseclinic.de/ ttp://www.informatics.jax.org/ http://www.ratmap.org/
Springer-Lehrbuch
Jochen Graw
Genetik 4., vollständig überarbeitete Auflage Mit 516 vorwiegend farbigen Abbildungen, 72 Tabellen und 30 Technik-Boxen
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Professor Dr. Jochen Graw GSF Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit Institut für Entwicklungsgenetik Ingolstädter Landstraße 1 85758 Neuherberg E-Mail:
[email protected]
Dieses Lehrbuch wurde von Wolfgang Hennig begründet (1.–3. Auflage) ISBN-10 3-540-24096-9 Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York ISBN-13 978-3-540-24096-9 Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York ISBN ISBN ISBN
3-540-42958-1 3-540-63528-9 3-540-56075-0
3. Auflage Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York 2. Auflage Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York 1. Auflage Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
abrufbar Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1995, 1998, 2002, 2006 Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinn der Warenzeichenund Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Iris Lasch-Petersmann, Heidelberg Radaktion: Stefanie Wolf, Heidelberg Herstellung: ProEdit GmbH, Heidelberg Umschlaggestaltung: deblik, Berlin Umschlagfotos: links: Zwillinge im Mutterleib, gettyimages; rechts: Krebszelle, Dr. Paul Andrews, University of Dundee, www.sciencefoto.com Satz: SDS, Leimen Gedruckt auf säurefreiem Papier 29/3152/Re 543210
Vorwort zur 4. Auflage
Nach drei erfolgreichen Auflagen der von Wolfgang Hennig begründeten GENETIK hat mich der Springer-Verlag gebeten, eine aktualisierte 4. Auflage zu erstellen. Ich habe diese Herausforderung gerne angenommen, weil ich in meinen Vorlesungen immer das Gefühl hatte, dass das Fach Genetik besonders dann gut vermittelt werden kann, wenn man die verschiedenen Teildisziplinen in einen engen Zusammenhang stellt. So wächst zwar das Wissen in unserem Fachgebiet derzeit explosionsartig, aber gerade darum treten viele Phänomene klarer hervor. Cytologische, morphologische oder auch formale Argumente bekommen plötzlich einen molekularbiologischen Unterbau und lassen sich leichter verstehen. Wie Wolfgang Hennig in seinem Vorwort zur 1. Auflage schrieb, ist es schwierig, als Einzelautor genetische Fragestellungen vollständig darzustellen. Dennoch ist es mir wichtig, den Studenten der Biologie im Grund- und Hauptstudium (oder wie es im Rahmen des Bologna-Prozesses jetzt heißt: in den Bachelor- und Master-Studiengängen) auch einen Eindruck von der Breite der Genetik zu vermitteln. Ich habe deshalb den historischen Bezug sehr knapp gehalten und die Genetik zunächst einmal von der molekularen Seite her entwickelt. Es folgt dann die Einbindung in die zellulären Strukturen der Pro- und Eukaryoten, so dass die formalen Aspekte (auch die der Populationsgenetik) vor der molekularbiologischen Grundlage (und auch mit dem molekularbiologischen methodischen Repertoire) leichter zu verstehen und zu bearbeiten sind. Die als Genomforschung in den letzten Jahren massiv vorangetriebenen Aspekte der modernen Genetik haben große Auswirkungen auf unser Wissen in den Bereichen der Entwicklungs- und Humangenetik. Weitere Modellsysteme haben sich mit neuen Techniken etabliert (z. B. Arabidopsis, der Zebrafisch und die Maus) und sind aus der modernen genetischen Forschung nicht mehr wegzudenken. Dem trägt die neue Auflage deutlicher als bisher Rechnung. Im Wesentlichen unverändert bleibt die Vielfältigkeit der Lernhilfen und der graphischen Gestaltung mit einem Überblick am Anfang eines Kapitels, mit Merksätzen, Blüten und Eulen zwischendurch sowie den Kernaussagen am Ende eines Kapitels und den Technik-Boxen, die eine kurze Einführung in technisch-methodische Aspekte geben. Allerdings wurden auch hier die Inhalte gründlich aktualisiert. Die Erkenntnisse der modernen Genetik wirken sich zunehmend auf unseren Alltag aus. Ich möchte daher nicht nur an die Fragen zur Lebensmittelherstellung durch gentechnisch veränderte Pflanzen und Tiere in der Landwirtschaft (und den verarbeitenden Betrieben) erinnern, sondern auch an die Fragen zur conditio humana, den Bedingungen, unter denen wir Menschen uns in der Vergangenheit entwickelt haben und wohin wir uns entwickeln können. Das schließt nicht nur die mögliche Beantwortung der Frage ein, welchen Weg die ersten Menschen aus Afrika heraus eingeschlagen haben (war das „die Vertreibung aus dem Paradies“?). Wir können auch nicht bei der Frage nach der Individualität (Stichwort hier: genetischer Fingerabdruck) oder bei der Frage der genetischen Diagnostik und Therapie
VI
Vorwort
stehen bleiben, sondern bekommen zunehmend auch den Bereich der genetischen Bedingungen unseres Verhaltens in den Blick. Erstaunlicherweise finden wir auch hier beim Menschen ähnliche Genkaskaden wie bei den „üblichen Modellsystemen“ Drosophila und der Maus. Das gilt sowohl für Grundzüge des Lernens und des Gedächtnisses, für Angst- und Suchtverhalten als auch für neurodegenerative Erkrankungen. In vielen Fällen beginnen wir gerade, solche Mechanismen als komplexe genetische Modelle zu beschreiben. Wenn wir uns der molekularen Grundlagen, Bedingungen und Grenzen unseres Verhaltens immer bewusster werden, zeigt das aber auch, dass unsere Freiheit nicht unbegrenzt ist, sondern sich „nur“ im Rahmen vorgegebener Möglichkeiten entfalten kann – „Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit“? Ich erwarte daher in den nächsten Jahren intensive Diskussionen darüber, was Pädagogik und Psychiatrie leisten können (und sollen). Damit möchte ich schließlich noch einen Aspekt aufgreifen, der in den letzten Wochen vor Drucklegung des Buches die Debatte der Feuilletons verschiedener renommierter deutscher Zeitungen beherrscht hat, nämlich die Frage nach dem „intelligenten Designer“ – oder ob nicht die ganze Darwin’sche Abstammungslehre auf den Müllhaufen der Geschichte zu schmeißen und durch die biblische Schöpfungsgeschichte zu ersetzen sei. Dem muss natürlich im Vorwort eines GenetikLehrbuches insofern widersprochen werden, als in den Naturwissenschaften – und die Genetik gehört hier zweifellos dazu – die „Arbeitshypothese Gott“ nicht vorkommt. Das hat nun nichts damit zu tun, dass alle Naturwissenschaftler gottlos seien, sondern es ist „nur“ eine methodische Beschränkung auf messbare und reproduzierbare Parameter. Dennoch gelingt es mit diesem „beschränkten“ Ansatz, eine Vielzahl von Mechanismen plausibel zu verstehen und zu begründen - Mechanismen, die eben vor 2000 Jahren noch unverstanden waren. Genauso gibt es heute noch offene Fragen, die vielleicht erst bei der nächsten Auflage der GENETIK beantwortet werden können – z. B., ob tatsächlich Mutationen in einem Gen (hier FOXP2) für die Ausprägung von Sprache verantwortlich sind, oder splice-Varianten in einem anderen Gen (hier: fruitless bei Drosophila) für die geschlechtsspezifische Ausprägung des Balzverhaltens. Ich möchte dieses Vorwort nicht schließen, ohne den Personen meinen Dank abzustatten, die zum Gelingen nicht unwesentlich beigetragen haben. Dazu gehören natürlich in erster Linie die Mitarbeiterinnen der Lehrbuchabteilung des SpringerVerlages, Iris Lasch-Petersmann, Stefanie Wolf und Elke Werner sowie in den Anfängen Manuela Kratz; dazu gehört auch das gründliche Lektorat von Bettina Holzheimer. Herr Bernd Reichenthaler (ProEdit) hat es verstanden, auch die letzten „last minute“ Ergänzungen noch einzuarbeiten. Ebenso dankbar bin ich Dr. Christine Schreiber (BIOspektrum/Elsevier) und besonders Dr. Tanita Casci (Redaktion Nature Reviews Genetics), die mich bei der Suche nach Bildern tatkräftig unterstützt haben. Schließlich gilt mein Dank den vielen Fachkolleginnen und -kollegen, die mir mit Rat und Tat, Bildern und Vorschlägen für gute Formulierungen zur Seite gestanden sind. Dieses Buch ist in vielen Bereichen eine Momentaufnahme aus dem Sommer 2005. Ich bin immer offen und dankbar für weitere Verbesserungsvorschläge und Kommentare aus allen Bereichen der „community“ und wünsche der 4. Auflage der GENETIK, dass sie weiterhin erfolgreich verwendet wird und den Lesern den Zugang zu einem faszinierenden Fach ermöglicht. Neuherberg/Unterschleißheim, im Juli 2005
Jochen Graw
Vorwort zur 3. Auflage
Die schnelle Entwicklung der Biologie in den letzten Jahrzehnten findet keine Parallele in der Geschichte der Naturwissenschaften. Die Genetik hat an dieser Entwicklung einen maßgeblichen Anteil. Es ist sicherlich für jeden Biologen faszinierend, diese Entwicklung miterleben zu können. Gleichzeitig kann man sich aber auch eines Gefühls der Hilflosigkeit nicht ganz erwehren, wenn man versucht, diese Entwicklungen in eine Form zu bringen, die es gestattet, das Fachgebiet in der Ausbildung von Studenten sachgemäß und in sinnvoller Weise darzustellen. Die Notwendigkeit der Beschränkung auf die Darstellung von Grundprinzipien wird stets ausgeprägter, und es erfordert ständige kritische Reflektion, was man überhaupt in den akademischen Unterricht einbeziehen will. Ein Lehrbuch soll dazu dienen, der/dem Studierenden einen Zugang zu seinem Fach dadurch zu schaffen, daß es ihr/ihm ermöglicht, sich mit den Grundlagen vertraut zu machen, die es schließlich gestatten, tiefer in Spezialgebiete des Faches einzudringen. Dennoch erwartet man, auch neue Entwicklung zumindest angedeutet zu finden und häufig gebrauchte Fachbegriffe wiederzufinden. Grenzen hierfür lassen sich heute nur noch willkürlich ziehen. Ich habe mich, ausgehend von solchen Überlegungen, in dieser neu bearbeiteten Auflage bemüht, wichtige neue Befunde einzuarbeiten, ohne in viele Details der neu erkannten molekularen Mechanismen einzudringen. Manche Bewertungen haben sich geändert und „Schleiereulen“ haben ihre Nistplätze verloren oder neue gefunden. Erneut haben mich viele Kollegen mit Hinweisen, Kommentaren und Material unterstützt. Ihnen gilt mein besonderer Dank! Ich hoffe, daß die Genetik auch in dieser Auflage wieder positiv aufgenommen wird. Shanghai, Oktober 2001
Wolfgang Hennig
Vorwort zur 2. Auflage
Die freundliche Aufnahme eines Lehrbuches durch die Benutzer ruft bei einem Autor eine besondere Motivation für Bemühungen zur Verbesserung hervor. In einem Fach, das sich so schnell entwickelt wie die Genetik, bringt das aber auch besondere Probleme mit sich: Eine Neuauflage müßte eigentlich teilweise neu geschrieben werden. Das ist aus vielerlei Gründen schwierig, wenn nicht unmöglich: Der Autor wäre in diesem Falle außerstande, noch anderes zu tun als sich ständig mit Teilgebieten des Lehrbuches zu beschäften. So bleibt nur ein Kompromiß möglich. Für die 2. Auflage habe ich eine gründliche Überarbeitung und Korrektur vorgenommen. Das Kapitel „Humangenetik“ habe ich aktualisiert und in diesem Zusammenhang Kapitel zum Human-Genom-Projekt und zur Gentechnologie hinzugefügt. Ich bin allen, die mich auf Fehler aufmerksam gemacht haben und die mir Anregungen und Hinweise gegeben haben, zu Dank verpflichtet. Nicht alle Vorschläge habe ich berücksichtigen können, und ich habe mich auch nicht allen Änderungsvorschlägen zuwenden wollen – ganz abgesehen von sachlich falschen Änderungsvorschlägen (ein Beispiel, das wiederholt kritisiert wurde: es muß richtig Promoter heißen, n i c h t Promotor!). Ein Grundlagen-Lehrbuch kann einen bestimmten Rahmen nicht überschreiten, wenn es dem Leser Einblicke in Basiswissen zu allen Teilgebieten der Genetik vermitteln soll. Eine wesentliche Umfangserweiterung der „Genetik“ ist aus der Sicht des Einzelautors auch nicht erstrebenswert. Es liegt mir aber daran festzustellen, daß der Verlag allen Vorschlägen zur Gestaltung von meiner Seite her sehr positiv gegenübersteht. Ich hoffe, daß die „Genetik“ weiterhin gern gebraucht wird, und ich bin weiterhin für jeden Kommentar, vor allem auch von studentischer Seite, sehr dankbar. Mainz, Januar 1998
Wolfgang Hennig
Vorwort zur 1. Auflage
Dieses Lehrbuch ist aus meiner Genetik-Grundvorlesung entstanden und reflektiert deren Struktur, wie sie sich im Laufe mehrerer Jahre aufgrund der Erfahrung in Prüfungen und durch Gespräche mit Studenten entwickelt hat. Hauptanliegen ist es mir stets gewesen, molekulare und klassische genetische und cytologische Gesichtspunkte soweit wie irgend möglich zu integrieren. Die Entwicklung der Genetik bietet hierzu immer bessere Möglichkeiten. Die Frage, ob der Genetik-Unterricht auf der klassischen Genetik oder auf den Kenntnissen der Molekulargenetik aufbauen soll, wird damit zum Teil gegenstandslos. Der sinnvolle Zugang zur Genetik ergibt sich in meinen Augen von selbst: Der logische Einstieg in das Denkgebäude der Genetik ist am einfachsten, wenn man deren historischer Entwicklung folgt. Wie wäre auf der molekularen Ebene zu erkennen, ob DNA-Veränderungen sich im Phänotyp auswirken? Die Aufklärung elementarer Mechanismen der Frühentwicklung bei Drosophila in den letzten Jahren hat für jeden deutlich werden lassen, daß der Bezug zum Phänotyp, also der Morphologie, die entscheidende Rolle für den Zugang zu den wesentlichen biologischen Fragestellungen spielt. Für einen einzelnen Autor ist es heute wohl unmöglich, in einem Grundlehrbuch der Genetik eine Vollständigkeit in der Darstellung der Fragestellungen anzustreben. Ich habe es als mein Ziel angesehen, grundlegende Mechanismen, deren Verständnis unabdingbar ist, an geeigneten Beispielen darzustellen. Deren Besprechung ergibt sich oft aus einem allgemeineren biologischen Zusammenhang. Ich habe mich daher nicht unbedingt von der Vorstellung leiten lassen, daß zusammengehörige Themen auch an einer Stelle besprochen werden müssen. Ein Beispiel dafür ist das Kapitel 5 über Steuerung der Genfunktion auf chromosomalem Niveau, das mir als Einführung dieser Problematik wichtig erschien, dessen molekulare Grundlagen aber erst später ausgeführt werden. Mein Bemühen war es daher auch, durch ausführliche Querverweise die Erarbeitung einer zusammenhängenden Sicht zu erleichtern. Ich habe in diesem ersten Ansatz darauf verzichtet, Fragen der Verhaltensgenetik und der Evolutionsforschung einzubeziehen. Im allgemeinen sind diese dem Fortgeschrittenenstudium zuzuordnen und hätten den Rahmen des vorliegenden Bandes damit überschritten. Die Populationsgenetik ist nur in sehr kurzer Form angesprochen, da hier das sehr übersichtliche deutschsprachige Lehrbuch von D. Sperlich zur Verfügung steht. Um von Beginn an den Zugang zur Fachliteratur zu erleichtern, habe ich im Text durchgehend für alle wichtigen Fachbegriffe die jeweilige englische Terminologie angeführt. Zudem sind häufig geeignete deutsche Begriffe nicht verfügbar. In solchen Fällen habe ich grundsätzlich die englische Terminologie verwendet. Ich finde beispielsweise durch nichts gerechtfertigt, den Begriff „single copy DNA“ durch eine so abstruse „Übersetzung“ wie „unikale DNA“, der man gelegentlich begegnet, zu ersetzen. Für Fachbegriffe habe ich im Glossar deren sprach-
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Vorwort
lichen Ursprung und seine Bedeutung vermerkt, um damit das Verständnis der Begriffe zu erleichtern. Die Frage,ob es sinnvoll ist,die Namen von Forschern anzuführen,wurde von mir positiv beantwortet: Es sind Menschen, die die entscheidenden Beobachtungen gemacht haben oder Wesentliches zu unserem Verständnis beigetragen haben. Warum sollten sie nicht genannt werden? In Einzelfällen wird diese Zuordnung vielleicht nicht immer der wissenschaftlichen Prioriät entsprechen, aber ich hoffe, daß diese sich als Ausnahmen erweisen. Wo irgend möglich, habe ich mich bemüht, mir eine Einsicht in die Originalliteratur zu verschaffen. Die Angabe der Lebensdaten der Forscher soll es dem Leser erleichtern,Parallelitäten in der Forschungsgeschichte der Genetik zu erkennen und die Befunde historisch einzuordnen. Umgekehrt habe ich Daten der Veröffentlichung bewußt überall da weggelassen,wo diese zur historischen Einordnung nicht notwendig sind. Die starke Verwobenheit der Genetik mit anderen biologischen Disziplinen führt zwangsläufig zu der Situation, daß ein umfassendes Genetiklehrbuch, schon durch die damit verbundene zeitliche Belastung, kaum noch von einem Einzelnen zu schreiben ist. Wenn ich dieses Wagnis dennoch unternommen habe, dann in der Hoffnung, daß es dadurch gelingt, eine möglichst einheitliche Konzeption in der Wahl und Darstellung der Inhalte sowie in der didaktischen Behandlung zu verwirklichen. Es muß dabei zugestanden sein, daß Schwerpunkte nach persönlichen Gesichtspunkten gesetzen werden. Dieses selektive Lehrprinzip entspricht dem Konzept, das Wagenschein unter dem Begriff „exemplarisches Lehren“ vorgestellt hat und das künftig auch in der universitären Ausbildung wohl die einzige Lösung angesichts der Fülle des Stoffes bleibt. In diesem Zusammenhang war ich immer wieder versucht, Ausflüge in die allgemeine Biologie zu unternehmen. Das aber ist nur ein Zeichen dafür, wie Genetik heute eigentlich zu verstehen ist, nämlich als allgemeine Biologie. Für alle Verbesserungsvorschläge, Hinweise auf Fehler und Anregungen, insbesondere auch von jenen, denen dieses Buch in erster Linie helfen soll, sich in der immer komplexeren Wissenschaft der Genetik zurechtzufinden – den Studenten der Biologie – werde ich besonders dankbar sein. Kommentare von meinen Studenten während der Entstehung des Buches haben bereits einen Niederschlag gefunden. Insbesondere sind auch didaktische Elemente wie z.B. die Technikboxen, das Glossar, die Zusammenfassung der Kapitel in Kernaussagen und die Hervorhebungen durch die Piktogramme auf Anregungen von Studenten entstanden. Meine positiven Erfahrungen im Grundunterricht mit ausführlichen Illustrationen der behandelten Problematik haben mich veranlaßt, den vorliegenden Text so sorgfältig und vollständig wie möglich durch Abbildungen und Tabellen zu unterstützen. Die erschöpfenden Legenden sollen den Text ergänzen und die Erarbeitung spezieller Punkte anhand der Abbildungen ermöglichen. Ebenso sind in einigen der Tabellen die experimentellen Schritte ausgeführt (z.B. bei den Mendelschen Regeln). Zur Erleichterung der Handhabung des Textes und zur Erhöhung seiner Übersichtlichkeit habe ich Beispiele und Experimente durch ein Blütenpiktogramm (es handelt sich um die Blüte einer Walderdbeere) gekennzeichnet. Textbereiche, in denen Fragen erörtert, ungelöste Probleme vorgestellt oder mehr spekulative Aussagen gemacht werden, sind durch das Piktogramm der Schleiereule hervorgehoben. Ich hoffe, daß die Einarbeitung der didaktischer Elemente das Buch auch für Biologielehrer zum Nachschlagen und zur Anregung geeignet macht. Der schnelle Fortschritt der Genetik zwingt zur ergänzenden Information bereits kurze Zeit
Vorwort
nach Beendigung der universitären Ausbildung. Weiter hoffe ich, daß in dieser Hinsicht auch das abschließende Kapitel, das sich mit Fragen der Gentechnologie beschäftigt, besondere Aufmerksamkeit findet, selbst wenn es bei Erscheinen des Buches teilweise bereits überholt sein mag. Viele Kollegen haben mir mit Rat und Vorschlägen sowie durch Material zur Verfügung gestanden. Ihnen gilt mein herzlicher Dank. Wilfried Janning (Münster), Erwin Schmidt (Mainz), Rolf Nöthiger (Zürich), Klaus Rajewsky und Matthias Cramer (Köln), Thomas Börner (Berlin), Peter Huijser (Köln), Klaus Cichutek (Frankfurt), Johannes Löwer (Frankfurt), Koos Miedema (Nijmegen) und Ron Hochstenbach (Nijmegen) haben Teile des Textes kritisch gelesen und wichtige Vorschläge zur Änderung und Ergänzung gemacht. Frau Seipp (Heidelberg) hat den ersten Teil des Manuskriptes mit viel Sorgfalt kommentiert. Weiterhin möchte ich für Materialien und Hilfe danken: Nicole Angelier (Paris), Rudi Appels (Canberra), Dietrich Arndt (BGA Berlin), David Bazett-Jones (Calgary), Hans Becker (Heidelberg), Wolfgang Beermann (Tübingen), Ann Beyer (Baltimore), Harald Biessmann (Irvine), W. Burkart (BfS Salzgitter), Werner Buselmaier (Heidelberg), B.M. Cattanach (Oxon), P. Colman (Melbourne), Thomas Cremer (Heidelberg), Christine Dabauvalle (Würzburg), Tara Devi (Delhi), John Doebley (St. Paul), William C. Earnshaw (Baltimore), Jan-Erik Edström (Lund), Hans Erni (Luzern), Elvira Finke (BGA Berlin), H. Frank (Tübingen), Joseph G. Gall (Baltimore), Walter Gehring (Basel), Susan Gerbi (Providence), David Glover (London), H. K. Goswami (Bhopal), Caspar Grond (Heidelberg), Rudolf Hagemann (Halle), Barbara Hamkalo (Irvine), Daniel L. Hartl (Boston), Martin Heisenberg (Würzburg), Daniele Hernandez- Verdun (Paris), W. Hilscher (Neuss), Ch. Holderegger (Zürich), Joel Huberman (Buffalo), Peter Huijser (Köln), Bernard John (Caldicot), Eberhard Kaltschmidt (Lüneburg), A. Kleinschmidt (Mainz), R. Koopman (Nijmegen), Christian Krause (Berlin), Peter Lawrence (Cambridge), Ruth Lehmann (Cambridge), Maria Leptin (Tübingen), Markus Lezzi (Zürich), John Lucchesi (Atlanta), Alfred Maelicke (Mainz), Oscar L. Miller, Jr. (Charlottesville), Peter Moens (Toronto), Christiane Nüsslein-Volhard (Tübingen), B.A. Oostra (Leiden), J.B. Rattner (Calgary), Georg Redei (Columbia), Wolf Reik (Cambridge), Ulrich Scheer (Würzburg), H. Schuhmacher (Braunschweig), Heinz Schwarz (Tübingen), Uli Schwarz (Tübingen), Dieter Schweizer (Wien), Dominik Smeets (Nijmegen), Günter Steinbrück (Tübingen), S. Takayama (Tokio), Diethard Tautz (München), Herbert Taylor (Tallahassee), William Theurkauf (Stony Brook), Michael Trendelenburg (Heidelberg), E. Trifanov (Rehovot), Friedrich Vogel (Heidelberg), Peter Vogt (Heidelberg), Eric Weinberg (Philadelphia), Dieter von Wettstein (Kopenhagen), H. Winking (Lübeck) und Ute Wolf (BGA Berlin). Nach vieljähriger Unterbrechung hat sich Herr Oberstudiendirektor B.Gotthardt, Berlin,noch einmal die Mühe gemacht,meine Altsprachenkenntnisse (im Glossar) zu überprüfen und zu ergänzen.Auch ihm möchte ich an dieser Stelle nochmals herzlich danken.Im Verlag bin ich Frau Anne C.Repnow und Frau Manuela C.Wolf für die ausgezeichnete, für beide Seiten unerwartet lange Zusammenarbeit und die vielfachen Hilfen sehr zum Dank verpflichtet. Frau Isolde Gundermann hat das Projekt herstellerisch betreut. Auch meinen vielen, sehr diskreten Gestaltungswünschen haben sie stets positiv gegenübergestanden, und sie haben durch Gestaltungsvorschläge viel zur endgültigen Form des Buches beigetragen. Insbesondere die didaktischen Elemente im Text haben erst durch diese Kommunikation ihre endgültige Gestalt gefunden. Frau Christiane von Solodkoff hat die computergraphische Überarbeitung der Abbildungen ausgeführt.
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Vorwort
Ein besonderes Anliegen ist mir die Feststellung, daß die Zusammenarbeit mit Sibylle Erni (Luzern) bei der Anfertigung der Abbildungen ein besonders motivierender Teil der Arbeit an diesem Buch war. Sie hat in vielen Fällen eigene Vorschläge zur Anordnung und Ausführung verwirklicht und Fehler in meinen Vorlagen aufgespürt. Ihr gilt mein besonders herzlicher Dank für ihren Einsatz, ihre Ausdauer und ihre Sorgfalt. Ihre Zusage, die Illustrationen auszuführen, hat meinen Entschluß zur Arbeit an diesem Buch entscheidend beeinflußt. Kranenburg, September 1994
Wolfgang Hennig
Hinweise zum Gebrauch und zur didaktischen Konzeption
Vielfältige Lernhilfen und die optische Gestaltung dieses Lehrbuches bieten dem Leser die Möglichkeit, sich dem komplexen Stoffgebiet Genetik auf verschiedene Weise bzw. auf verschiedenen Leseebenen zu nähern. Für den optimalen Gebrauch – sowohl zum intensiven Studium als auch zur schnellen Information über Teilbereiche – sollen die didaktischen Elemente und die Gliederung des Buches hier erläutert werden. Jedes Hauptkapitel wird durch eine inhaltlich charakteristische, ganzseitige Abbildung eröffnet, die das Interesse am Thema wecken und zum Weiterlesen motivieren soll. Zudem ist der Anfang jedes Kapitels durch einen farbigen Balken bis zum Rand leicht aufzufinden. Überblick
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Es folgt eine Zusammenfassung des Kapitelinhaltes in einer sehr allgemein gehaltenen Form. Durch die fortlaufende Lektüre dieser Abschnitte kann ein guter Überblick über die Teilprobleme der Genetik erhalten werden. Das erleichtert es auch, Zusammenhänge über die Kapitel hinweg zu erkennen. Die allgemeine Form soll das Interesse an der Detailinformation wecken. Innerhalb der Kapitel sind kurze Zusammenfassungen der wichtigsten behandelten Punkte hervorgehoben, damit sie auf den ersten Blick erkennbar sind. Diese Merksätze sollen die systematische Erarbeitung des Stoffes erleichtern. Sie eignen sich insbesondere auch zum schnellen Wiederholen. Fachbegriffe sind, ebenso wie die Hauptstichworte des jeweiligen Textabschnitts, durch halbfetten Druck hervorgehoben und bilden eine Art roten Faden durch das Buch. Dies trägt zur Übersichtlichkeit und besseren Gliederung des Lehrstoffes bei. Beispiele, die den theoretischen Hintergrund erläutern oder die Erarbeitung einer Fragestellung erleichtern sollen, sind im Textbereich durch eine Blüte gekennzeichnet und erlauben so ein schnelles Auffinden. Abweichend von üblichen Lehrbuchdarstellungen sind in den Text bisweilen auch ungesicherte Konzepte oder Vorstellungen oder auch weitgehend spekulative Ausblicke sowie offene Fragestellungen aufgenommen. Sie werden durch das Symbol einer Schleiereule angezeigt, das auf die Grenzen des gegenwärtigen Wissens aufmerksam machen soll.
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Hinweise zum Gebrauch und zur didaktischen Konzeption
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Kernaussagen
Technik-Box 1
Jedes Kapitel schließt mit einer Aufzählung von Kernaussagen, die den Inhalt des Kapitels nochmals in konkreten Punkten zusammenfassen. Es soll hierdurch erleichtert werden, nach der Bearbeitung des Kapitels zu prüfen, ob die wesentlichen Gesichtspunkte des Kapitels erfasst worden sind. Methoden der Genetik werden in getrennten Technik-Boxen dargestellt, auf die im fortlaufenden Text nur gelegentlich ausdrücklich verwiesen wird. Sie sind in den unterschiedlichsten Zusammenhängen relevant. Die Technik-Boxen sind im Inhaltsverzeichnis mit einem gelben Balken markiert. Eine Übersicht über die wichtigsten methodischen Ansätze ist so leicht möglich. Die am Ende des Buches nach Kapiteln sortierte Literaturübersicht soll es einerseits erleichtern, wichtige Originalarbeiten aufzufinden, andererseits aber auch Hinweise auf jüngere Reviews oder Originalarbeiten geben, die zur Vertiefung des Studiums von Teilaspekten geeignet sind. Eine Vollständigkeit ist nicht angestrebt. Im Glossar sind die wichtigsten Fachbegriffe zusammengestellt und kurz in ihrem sprachlichen Ursprung erklärt. Es folgt ein Verweis auf die Textstelle, an der der Begriff fachlich erläutert bzw. eine Definition gegeben wird. Dieses Verfahren erscheint besser geeignet als eine kurzgefasste Wiederholung. Es erlaubt eine schnelle Orientierung über wesentliche Begriffe und ihre Bedeutung. Das Sachverzeichnis ist bewusst sehr ausführlich gehalten und soll das Lehrbuch auch zum Nachschlagen geeignet machen. Die zahlreichen Querverweise im laufenden Text dienen dazu, besprochene Begriffe und Fragen, die auch in anderem Zusammenhang relevant sind oder vertieft werden, schnell aufzufinden. Abbildungslegenden sind so gehalten, dass Abbildungen auch ohne Rückgriffe auf den Text verständlich sind. Sie enthalten bisweilen auch Einzelheiten, die im Text nicht erwähnt werden, für ein tiefergehendes Studium jedoch notwendig sind. Der fortlaufende Zusammenhang des Textes wird dadurch besser gewahrt, ohne durch allzu viele Teilaspekte zu unübersichtlich zu werden. Tabellen wurden überall dort eingesetzt, wo es erforderlich erschien, Zahlenmaterial oder andere Daten zum besseren Verständnis besonders übersichtlich und prägnant darzustellen oder zum Nachschlagen zusammenzufassen.
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1 Was ist Genetik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.2 1.2.1 1.2.2 1.3
Gegenstand der Genetik . . . . . . . . . . Kurzer Abriss der Geschichte der Genetik . Molekulare Struktur des Genoms . . . . . Der Genbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . Konstanz und Variabilität . . . . . . . . . Umweltbedingte Variabilität . . . . . . . . Genetisch bedingte Variabilität . . . . . . . Theoriebildung in der Biologie . . . . . . Technik-Box 1 Isolierung genomischer DNA . . . . . . . .
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1 2 3 6 8 9 10 14 15
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Kapitel 2 Molekulare Grundlagen der Vererbung . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.2 2.2.1 2.2.2
Funktion und Struktur der DNA . . . . . . . . . DNA als Träger der Erbinformation . . . . . . . Chemische Zusammensetzung . . . . . . . . . . Konfiguration der DNA . . . . . . . . . . . . . . Physikalische Eigenschaften der Nukleinsäuren Die Verdoppelung der DNA (Replikation) . . . . Semikonservative Replikation . . . . . . . . . . Mechanismen der Replikation . . . . . . . . . . Technik-Box 2 Renaturierungskinetik-Experimente . . . . . . . Technik-Box 3 Gelelektrophorese . . . . . . . . . . . . . . . . .
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19 20 20 21 24 27 31 32 35
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Kapitel 3 Verwertung genetischer Informationen . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.3
DNA, genetische Information und Informationsübertragung Der genetische Code . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entschlüsselung des Codes . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beweis der Colinearität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeingültigkeit des Codes . . . . . . . . . . . . . . . . . . Transkription . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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57 58 63 63 64 65 65
XVIII
Inhaltsverzeichnis
3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3
Allgemeiner Mechanismus der Transkription . . . . . . . Transkription bei Prokaryoten . . . . . . . . . . . . . . . . Transkription ribosomaler Gene . . . . . . . . . . . . . . . Transkription Protein-kodierender Gene bei Eukaryoten . Reifung eukaryotischer mRNA: Spleißen und Editieren . . Translation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Initiation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elongation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Termination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Technik-Box 4 Polymerasekettenreaktion (PCR) . . . . . . . . . . . . . . . Technik-Box 5 Markierung von DNA: Nick Translation, Random Priming Technik-Box 6 Isolierung von RNA, cDNA-Synthese und RACE . . . . . . Technik-Box 7 In-vitro-RNA-Synthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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66 67 70 81 82 89 93 96 96
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99
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101
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102
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104
Kapitel 4 Genome von Prokaryoten und ihren Viren . . . . . . . . . . . . . 105 4.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4 4.3.5 4.4
Bakterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Extrachromosomale DNA-Elemente: Plasmide . F-Plasmid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andere Plasmide . . . . . . . . . . . . . . . . . Bakteriophagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vermehrungzyklus . . . . . . . . . . . . . . . . Bakteriophage λ (Lambda) . . . . . . . . . . . . Bakteriophage P1 . . . . . . . . . . . . . . . . . Bakteriophage T4 . . . . . . . . . . . . . . . . . Bakteriophage ΦX174 . . . . . . . . . . . . . . . Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . Technik-Box 8 Klonierung von DNA . . . . . . . . . . . . . . . Technik-Box 9 Two-Hybrid-Systeme . . . . . . . . . . . . . . .
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106 111 111 115 115 116 119 122 124 131 132
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135
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138
Kapitel 5 Molekulare Struktur und Regulation prokaryotischer Gene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 5.1 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.3 5.3.1
Kontrollmechanismen . . . . . . . . . . . . . Genstruktur und Genregulation . . . . . . . . Das lac-Operon . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Operonmodell . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Regulationsmechanismen . . . . . . . Quantitative Kontrolle von Biosynthesewegen Das trp-Operon . . . . . . . . . . . . . . . . .
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142 144 144 147 148 149 149
Inhaltsverzeichnis
5.3.2 5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3
Attenuation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regulation im l-Genom . . . . . . . . . . . . . . . . Regulation des lytischen Zyklus . . . . . . . . . . . . Regulation des lysogenen Zyklus . . . . . . . . . . . . DNA-Protein-Interaktionen . . . . . . . . . . . . . . Technik-Box 10 Restriktionsanalyse von DNA und Southern-Blotting Technik-Box 11 Northern-Blotting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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149 152 154 156 156
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159
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161
Kapitel 6 Zelle, Zellteilungen und Zellzyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 6.1 6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4 6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.4 6.3.5 6.3.6 6.3.7 6.4
Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . Die eukaryotische Zelle . . . . . . . . . Die Struktur der Zelle . . . . . . . . . . Keimbahnzellen und somatische Zellen Plastiden und Mitochondrien . . . . . Der Nukleolus . . . . . . . . . . . . . . Der Zellzyklus . . . . . . . . . . . . . . Mitose . . . . . . . . . . . . . . . . . . Meiose . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rekombination . . . . . . . . . . . . . Genkonversion . . . . . . . . . . . . . . Genetische Mosaike . . . . . . . . . . . Kontrolle des Zellzyklus . . . . . . . . Kontrollierter Zelltod: Apoptose . . . . Lebenszyklen von Eukaryoten . . . . . Technik-Box 12 Homologe Rekombination . . . . . . .
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165 166 166 169 170 176 178 178 183 192 200 202 208 212 213
. . . . . . . . . . . . . . . . .
222
Kapitel 7 Molekulare Struktur eukaryotischer Chromosomen . . . . . . 223 7.1 7.1.1 7.1.2 7.1.3 7.1.4 7.1.5 7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.3 7.3.1 7.3.2 7.3.3
Das eukaryotische Chromosom . . . . . . . . . . . . . . Chromosomen als Träger der Erbanlagen . . . . . . . . . Morphologie der Chromosomen . . . . . . . . . . . . . . Das Centromer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Telomer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Repetitive DNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Variabilität der Chromosomen und Dosiskompensation Die Variabilität der Chromosomen . . . . . . . . . . . . Dosiskompensation bei Drosophila . . . . . . . . . . . . Dosiskompensation bei Säugern . . . . . . . . . . . . . . Organisation der DNA im Chromosom . . . . . . . . . . Chromosomale Proteine . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nukleosomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Organisation der Nukleoproteinfibrillen . . . . . . . . .
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225 225 226 229 234 237 242 242 261 264 271 272 272 277
XIX
XX
Inhaltsverzeichnis
7.3.4
Chromosomale Territorien und Architektur des Zellkerns . . . . . . Technik-Box 13 Autoradiographie an Geweben, Zellen und Chromosomen . . . . . . Technik-Box 14 Chromosomenbänderung und Chromosomenpainting . . . . . . . .
278 285 286
Kapitel 8 Molekulare Struktur und Regulation eukaryotischer Gene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 8.1 8.1.1 8.1.2 8.2 8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.3 8.4 8.5 8.5.1 8.5.2 8.5.3 8.5.4
RNA-kodierende Gene: Ribosomale DNA . . . . . . . . . . RNA-kodierende Gene: Die 5S-rRNA-Genfamilie . . . . . RNA-kodierende Gene: Die tRNA-Genfamilien . . . . . . . Protein-kodierende Gene: I. Multigenfamilien . . . . . . . Die Globingenfamilie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Histongene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tubulingene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Protein-kodierende Gene: II. Einzelkopiegene . . . . . . . Die Genstruktur cytoplasmatischer Organellen . . . . . . Regulation und Initiation eukaryotischer Genexpression Der Promotor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Transkriptionsfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Enhancer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Locus-Kontroll-Regionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Technik-Box 15 DNA-Sequenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Technik-Box 16 Analyse von DNA-Protein-Wechselwirkungen . . . . . . .
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288 296 297 300 301 309 313 314 317 320 320 322 326 328
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331
. . . . . .
333
Kapitel 9 Instabilität des Genoms: Transposons und Retroviren . . . . . 335 9.1 9.2 9.3 9.3.1 9.3.2 9.3.3 9.3.4 9.4 9.5 9.6
Allgemeine Eigenschaften von Transposons . . . . . . . . Prokaryotische Transposons . . . . . . . . . . . . . . . . . Eukaryotische Transposons . . . . . . . . . . . . . . . . . Fold-back-Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Transposons mit terminalen invertierten Repeats Retrotransposons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Retroposons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prozessierte Pseudogene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Funktionelle Bedeutung von Transposons . . . . . . . . . Retroviren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Technik-Box 17 Verwendung von Balancer-Chromosomen . . . . . . . . . Technik-Box 18 P-Element-Mutagenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Technik-Box 19 Enhancer-trap-Experimente . . . . . . . . . . . . . . . . .
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336 340 341 341 343 345 348 354 355 355
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363
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364
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366
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 10 Veränderungen im Genom: Mutationen . . . . . . . . . . . . . . . 369 10.1 10.2 10.2.1 10.2.2 10.2.3 10.3 10.3.1 10.3.2 10.3.3 10.4 10.4.1 10.4.2 10.4.3 10.5 10.5.1 10.5.2 10.5.3 10.5.4 10.6 10.6.1 10.6.2
Klassifikation von Mutationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spontane Mutationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fehler bei Replikation und Rekombination . . . . . . . . . . . . . Spontane Basenveränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dynamische Mutationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chromosomenmutationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Numerische Chromosomenaberrationen . . . . . . . . . . . . . . Polyploidie in der Pflanzenzucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturelle Chromosomenaberrationen . . . . . . . . . . . . . . Induzierte Mutationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mutationen durch ultraviolette Strahlung . . . . . . . . . . . . . . Mutagenität ionisierender Strahlung . . . . . . . . . . . . . . . . Chemische Mutagenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reparaturmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Photoreaktivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exzisionsreparaturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rekombinationsreparatur oder postreplikative Reparatur . . . . SOS-Reparatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mutagenität und Mutationsraten . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mutagenitätstests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mutationsraten und Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Technik-Box 20 SSCP-Analyse (Single Strand Conformation Polymorphism-Analyse)
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
372 374 374 375 376 378 379 382 388 395 395 396 401 411 411 412 413 414 415 416 422
. .
427
Kapitel 11 Formalgenetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 11.1 11.2 11.2.1 11.2.2 11.3 11.3.1 11.3.2 11.3.3 11.3.4 11.3.5 11.4 11.4.1 11.4.2 11.4.3 11.4.4 11.4.5 11.4.6 11.5 11.5.1 11.5.2
Grundregeln der Vererbung: Die Mendel’schen Regeln . . . . . . . Statistische Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mathematische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die c2-Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mendel aus heutiger Sicht – Ergänzungen seiner Regeln . . . . . . Unvollständige Dominanz und Codominanz . . . . . . . . . . . . . Multiple Allelie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Ausprägungsgrad von Merkmalen . . . . . . . . . . . . . . . . Polygene Vererbung – Genetik quantitativer Merkmale . . . . . . . Pleiotropie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kopplung, Rekombination und Kartierung von Genen . . . . . . . Geschlechtsgebundene Vererbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kopplung von Merkmalen auf autosomalen Chromosomen . . . . Klassische Dreipunkt-Kreuzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kartierung von Genen durch Tetradenanalyse . . . . . . . . . . . . Moderne genomweite Kartierung mit Mikrosatelliten-Markern . . Kartierung von quantitativen Merkmalen und Modifikator-Genen . Populationsgenetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Hardy-Weinberg-Regel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genetische Zufallsveränderungen (Random Drift) . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
430 441 441 443 445 446 449 452 455 462 463 463 465 471 473 478 481 482 483 488
XXI
XXII
Inhaltsverzeichnis
11.5.3 11.5.4
Natürliche Selektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Migration und Isolation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Technik-Box 21 Kartierung genetischer Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
490 498 502
Kapitel 12 Genetische Kontrolle zellulärer Differenzierung . . . . . . . . . 503 12.1 12.1.1 12.1.2 12.1.3 12.2 12.2.1 12.2.2 12.2.3 12.3 12.3.1 12.3.2 12.4 12.4.1 12.4.2 12.4.3 12.4.4 12.4.5 12.5 12.5.1 12.5.2 12.5.3 12.5.4 12.5.5 12.5.6 12.5.7 12.5.8
Stammzellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Totipotenz von Zellkernen . . . . . . . . . . . . . . . . Embryonale Stammzellen . . . . . . . . . . . . . . . . . Somatische Stammzellen . . . . . . . . . . . . . . . . . Epigenetik und genetische Prägung . . . . . . . . . . . Was ist genetische Prägung? . . . . . . . . . . . . . . . Methylierung als epigenetische Markierung . . . . . . Wann erfolgt genetische Prägung? . . . . . . . . . . . . RNA-Interferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mechanismus der RNA-Interferenz . . . . . . . . . . . RNA-Interferenz in verschiedenen Organismen . . . . Umlagerung von DNA-Fragmenten . . . . . . . . . . . Kerndualismus: Mikro- und Makronuclei in einer Zelle DNA-Amplifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chromatinelimination und -diminution . . . . . . . . Veränderungen des Paarungstyps bei Hefen . . . . . . Die Oberflächenantigene von Trypanosoma . . . . . . Das Immunsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Funktion des Immunsystems der Säuger . . . . . . . . Entwicklung und Struktur der Immunoglobulingene . Molekularer Aufbau der L-Ketten . . . . . . . . . . . . Molekularer Aufbau der H-Ketten . . . . . . . . . . . . Antikörperklassenwechsel (class switching) . . . . . . . Transkription der Immunoglobulingene . . . . . . . . Die Unterscheidung von Selbst und Nicht-Selbst . . . . Allgemeine Gesichtspunkte des Säugerimmunsystems Technik-Box 22 RNAi: Spezifische Inaktivierung von Transkripten . . . Technik-Box 23 Immunologische Nachweismethoden . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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504 504 507 510 510 511 515 519 519 520 522 523 523 528 534 538 542 543 543 546 548 552 555 558 558 559
. . . . . . . .
561
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562
Kapitel 13 Entwicklungsgenetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565 13.1 13.1.1 13.1.2 13.1.3 13.2 13.2.1
Entwicklungsgenetik der Pflanze . . . . . . . . . . . . . . . . . Musterbildung in der frühen Embryogenese . . . . . . . . . . . Wurzel-, Spross- und Blattentwicklung . . . . . . . . . . . . . . Blütenentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklungsgenetik des Fadenwurms Caenorhabditis elegans Embryonalentwicklung von C. elegans . . . . . . . . . . . . . .
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567 568 570 574 578 580
Inhaltsverzeichnis
13.2.2 13.3 13.3.1 13.3.2 13.3.3 13.3.4 13.3.5 13.3.6 13.3.7 13.4 13.4.1 13.4.2 13.5 13.5.1 13.5.2 13.5.3 13.5.4 13.5.5
Organentwicklung bei C. elegans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklungsgenetik von Drosophila melanogaster . . . . . . . . . Keimbahnentwicklung und Geschlechtsdetermination bei Drosophila . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maternale Gene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anteriore Determinanten des Drosophila-Embryos . . . . . . . . . Posteriore Determinanten und Ausbildung der anterior-posterioren Achse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die dorso-ventrale Körperachse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Segmentierung bei Drosophila . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Imaginalscheiben, Metamorphose und Organentwicklung bei Drosophila . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklungsgenetik bei Fischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Embryonalentwicklung des Zebrafischs . . . . . . . . . . . . . . . . Genetische Experimente mit Zebrafischen . . . . . . . . . . . . . . Entwicklungsgenetik bei Säugern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Embryonalentwicklung von Säugern . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung von Zwillingen beim Menschen . . . . . . . . . . . . . Teratogene Effekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Organentwicklung bei Säugern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Keimzellentwicklung und Geschlechtsdeterminierung bei Säugern Technik-Box 24 in-situ-Hybridisierung von Nukleinsäuren . . . . . . . . . . . . . . Technik-Box 25 Morpholinos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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582 583
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652
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Kapitel 14 Das menschliche Genom – Grundlagen menschlicher Vererbung . . . . . . . . . . . . . . . . . 655 14.1 14.1.1 14.1.2 14.1.3 14.1.4 14.2 14.2.1 14.2.2 14.3 14.3.1 14.3.2 14.3.3 14.3.4 14.3.5 14.3.6 14.4 14.4.1 14.4.3
Methoden der Humangenetik . . . . . . . . . . . . . . Zwillingsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stammbaumforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Human Genome Project . . . . . . . . . . . . . . . Kartierung von Erbkrankheiten . . . . . . . . . . . . . Chromosomenanomalien . . . . . . . . . . . . . . . . Numerische Chromosomenanomalien . . . . . . . . . Strukturelle Chromosomenanomalien . . . . . . . . . Monogene Erbkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . Autosomal-rezessive Erkrankungen . . . . . . . . . . . Autosomal-dominante Erkrankungen . . . . . . . . . . X-chromosomale Krankheiten . . . . . . . . . . . . . . Y-chromosomale Gene . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besonderheit: Expandierende Triplettwiederholungen Vielfalt: Mutationen in den Globingenen . . . . . . . . Komplexe Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Gene und Krebs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diabetes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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XXIII
XXIV Inhaltsverzeichnis
Technik-Box 26 Differenzielle Genexpression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
716
Kapitel 15 Neurogenetik und die Genetik des Verhaltens. . . . . . . . . . . 717 15.1 15.1.1 15.1.2 15.1.3 15.2 15.2.1 15.2.2 15.2.3 15.3 15.3.1 15.3.2 15.4 15.4.1 15.4.2 15.4.3
Endogene Rhythmik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zugverhalten bei Vögeln . . . . . . . . . . . . . . . . . Zirkadiane Rhythmik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlafstörungen des Menschen . . . . . . . . . . . . . . Lernen und Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lernverhalten von Drosophila . . . . . . . . . . . . . . Lernverhalten bei Mäusen . . . . . . . . . . . . . . . . Kognitive Störungen bei Menschen . . . . . . . . . . . Angst und Sucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angst und Depression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Suchtkrankheiten, z.B. Alkoholismus . . . . . . . . . . Neurodegenerative und psychiatrische Erkrankungen Die Alzheimer’sche Erkrankung . . . . . . . . . . . . . Die Parkinson’sche Erkrankung . . . . . . . . . . . . . Psychiatrische Erkrankungen, z.B. Schizophrenie . . . Technik-Box 27 Transgene Mäuse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Technik-Box 28 Geninaktivierung bei Mäusen . . . . . . . . . . . . . .
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720 720 722 726 727 728 731 736 737 737 742 746 747 753 755
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Kapitel 16 Die Zukunft der Genetik – zwischen Gentechnik und Genomforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 763 16.1 16.1.1 16.1.2 16.1.3 16.2 16.2.1 16.2.2 16.2.3 16.3 16.3.1 16.3.2 16.3.3
Gentechnik und Biotechnologie . . . . . . . . . . . . . . . . . Gentechnische Modifikationen von Pflanzen . . . . . . . . . . Gentechnik in der Tierzucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gentechnische Aspekte bei der Behandlung von Krankheiten Genomforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pharmakogenomik und individualisierte Medizin . . . . . . . Populationsgenetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vergleichende Genomforschung – Evolution der Entwicklung Humangenetik und Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . Molekulare Diagnostik, Familienberatung und Reihenuntersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genetik und Reproduktionsmedizin . . . . . . . . . . . . . . . Quo vadis, homo sapiens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Technik-Box 29 in-vivo-Reportergen: das grün-fluoreszierende Protein (GFP). Technik-Box 30 Mikroarrays und DNA-Chips . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 786 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 803 Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 811 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 817 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 821
XXV
Übersicht über die Technik-Boxen Technik-Box 1 Isolierung genomischer DNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Technik-Box 2 Renaturierungskinetik-Experimente . . . . . . . . . . . . . . . . . Technik-Box 3 Gelelektrophorese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Technik-Box 4 Polymerasekettenreaktion (PCR) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Technik-Box 5 Markierung von DNA: Nick Translation, Random Priming . . . . Technik-Box 6 Isolierung von RNA, cDNA-Synthese und RACE . . . . . . . . . . Technik-Box 7 In-vitro-RNA-Synthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Technik-Box 8 Klonierung von DNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Technik-Box 9 Two-Hybrid-Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Technik-Box 10 Restriktionsanalyse von DNA und Southern-Blotting . . . . . . . Technik-Box 11 Northern-Blotting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Technik-Box 12 Homologe Rekombination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Technik-Box 13 Autoradiographie an Geweben, Zellen und Chromosomen . . . . Technik-Box 14 Chromosomenbänderung und Chromosomenpainting . . . . . . Technik-Box 15 DNA-Sequenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Technik-Box 16 Analyse von DNA-Protein-Wechselwirkungen . . . . . . . . . . . Technik-Box 17 Verwendung von Balancer-Chromosomen . . . . . . . . . . . . . Technik-Box 18 P-Element-Mutagenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Technik-Box 19 Enhancer-trap-Experimente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Technik-Box 20 SSCP-Analyse (Single Strand Conformation Polymorphism-Analyse)
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XXVIII Übersicht über die Technik-Boxen
Technik-Box 21 Kartierung genetischer Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . Technik-Box 22 RNAi: Spezifische Inaktivierung von Transkripten . . . . . . . Technik-Box 23 Immunologische Nachweismethoden . . . . . . . . . . . . . . Technik-Box 24 in-situ-Hybridisierung von Nukleinsäuren . . . . . . . . . . . Technik-Box 25 Morpholinos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Technik-Box 26 Differenzielle Genexpression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Technik-Box 27 Transgene Mäuse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Technik-Box 28 Geninaktivierung bei Mäusen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Technik-Box 29 in-vivo-Reportergen: das grün-fluoreszierende Protein (GFP). Technik-Box 30 Mikroarrays und DNA-Chips . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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782
Kapitel 1
Was ist Genetik?
Assyrisches Relief aus der Zeit Assurnassipal des Zweiten (883 bis 859 v. Chr.). Assyrer beim künstlichen Bestäuben von Dattelpalmen. (Abguss im Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung, Gatersleben; Photo: U. Wobus, Gatersleben)
2
Kapitel 1: Was ist Genetik?
Überblick Vergleicht man verschiedene Organismen miteinander, lassen sich zwei wichtige biologische Eigenschaften erkennen: Auf der einen Seite unterscheiden sich Organismen in ihrer Gestalt so deutlich voneinander, dass sie in verschiedene systematische Gruppen eingeteilt werden. Die wesentlichen Unterschiede zwischen diesen Gruppen sind offensichtlich erblich festgelegt, da sie sich mehr oder weniger unverändert auf die folgenden Generationen übertragen. Auf der anderen Seite unterscheiden sich aber auch die einzelnen Individuen innerhalb einer Organismengruppe voneinander. Diese Unterschiede reflektieren kleinere Variationen in der genetischen Gesamtausstattung und entsprechend unterschiedliche Antworten auf Umweltreize (Sonne, Kälte, Nahrungsangebot etc). Die Frage nach der individuellen Variabilität lässt sich experimentell überprüfen, z. B. bei Pflanzen durch vegetative Vermehrung, bei Tieren durch die Verwendung von Inzuchtstämmen und beim Menschen durch die Zwillingsforschung. Die Variabilität zwischen individuellen Organismen ist die Grundlage genetischer Forschung. Die Genetik wurde durch die Untersuchungen des Augustinerpaters Gregor Mendel in der Mitte des 19. Jahrhunderts begründet. Die Chromosomen wurden im Jahr 1888 von Waldeyer-Hartz als Bestandteile des Zellkerns erkannt und Nukleinsäuren von Friedrich Miescher im Jahr 1871 isoliert. Die molekulare Genetik beginnt mit der Charakterisierung der DNA als Doppelhelix durch Watson und Crick im Jahr 1953. Das führte unmittelbar dazu, die Grundlage des Mechanismus zu beschreiben, wie DNA
1.1 Gegenstand der Genetik Der Begriff Genetik ist aus dem Griechischen γενε− τικ τχνη (sprich: genetiké téchne) hergeleitet und lässt sich am treffendsten mit „Wissenschaft von der Erzeugung“ übersetzen. Der Begriff „Genetik“ wurde 1905 von William Bateson geprägt (zitiert nach Haynes 1998). Besser könnte der Wissensbereich dessen, was wir heute unter dem Fachgebiet der Genetik verstehen, nicht beschrieben werden: Die Fragestellungen der Genetik gehen zwar von der Aufklärung der Regeln und Mechanismen der Vererbung aus, haben aber heute darüber hinaus auch das Ziel, die Unterschiede in der genetischen Ausstattung verschiedener Organismen funktionell zu erklären (funktionelle Genomforschung). Damit steht die
verdoppelt wird (Replikation). In vielen Labors wurde daraufhin erkannt, wie ihre Information in mRNA umgeschrieben (Transkription) und in Proteine übersetzt wird (Translation), die dann die Information materialisieren. Die Veröffentlichung des menschlichen Genoms durch weltweite Forschergruppen im Jahr 2001 markiert den vorläufigen Höhepunkt genetischer Forschung. Die Genome höherer Organismen unterscheiden sich im DNA-Gehalt sehr. Das muss zum großen Teil den Unterschieden in der Menge repetitiver Sequenzen zugeschrieben werden und nicht wesentlichen Unterschieden in der Zahl Protein-kodierender Gene. Allerdings wird die Frage „Was ist ein Gen?“ auch heute noch ungenau beantwortet. War es für Mendel zunächst eine „Einheit“, die die Information für bestimmte Eigenschaften zum Inhalt hatte, so konkretisierte sich das in der Blütezeit der biochemisch-orientierten Genetik (etwa in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts) in der griffigen Formel „ein Gen – ein Enzym“. Aufgrund der genaueren Kenntnisse durch die molekulare Genetik wissen wir heute, dass die mRNA vieler Gene nach der Transkription noch vielfältig verändert wird und damit nicht nur für ein einziges Protein oder Enzym kodiert (Spleißen). Verschiedene regulatorische Elemente oberhalb und unterhalb der kodierenden Regionen sind für die richtige zeitlich-räumliche Expression eines Gens wesentlich verantwortlich. Diese Regionen werden im Allgemeinen neben der eigentlichen kodierenden Region zu einem Gen dazugezählt.
Genetik heute im Schnittpunkt anderer biologischer Disziplinen (wie Zellbiologie, Entwicklungsbiologie oder Molekularbiologie) und beeinflusst mit ihren methodischen Ansätzen diese Bereiche. Als universelle biologische Disziplin findet sie außerdem in allen Organismenklassen Anwendung, bei Mikroorganismen (z. B. Bakterien und Hefen) genauso wie bei Pflanzen, Tieren und Menschen. Gerade in den letzten Jahren war die Genetik wesentlich daran beteiligt, neue Technologien zu schaffen, die unter den Stichworten der Gen- bzw. Biotechnologie zusammengefasst werden können.
1.1 Gegenstand der Genetik
1.1.1 Kurzer Abriss der Geschichte der Genetik Das Wissen um die Vererbung von Eigenschaften ist keine Erfindung der Neuzeit. Wahrscheinlich haben bereits die frühesten Kulturen, die Land- und Ackerbau betrieben haben, ihren Vorteil aus der Erkenntnis gezogen, dass bestimmte nützliche Eigenschaften durch Züchtung von Pflanzen und Tieren, also durch Vererbung, über Generationen hinweg erhalten bleiben können. Die meisten unserer Haustiere haben ihre Eigenschaften erst in jahrhundertelanger Züchtung erhalten, und ein beträchtlicher Teil unserer wichtigsten Kulturpflanzen stammt von den Ackerbau betreibenden Indianern Nord- und Mittelamerikas, aus asiatischen Anbaugebieten sowie dem Mittelmeerraum (Tabelle 1.1). Zeugnisse davon finden sich etwa in der assyrischen Darstellung von Gärtnern, die Dattelpalmen bestäuben (siehe Photo am Anfang des Kapitels). Die gleiche Bestäubungstechnik hat es 2500 Jahre später Gregor Mendel (1822–1884; Abb. 1.1a) ermöglicht, die Grundregeln der Vererbung zu verstehen. Er hat die Existenz von Genen erkannt, und die Genetik hat dann den Weg ihrer Weitergabe an die Nachkommen erforscht. Sein Vortrag vor dem Naturforschenden Verein in Brünn (1865, publiziert 1866) blieb lange Zeit unbeachtet. Erst im Jahr 1900 wurden die
Tabelle 1.1.
Kulturpflanzen und ihr Ursprung
Ursprungsgebiet
Art
Mittel- und Südamerika
Mais, Kartoffeln, Tomate, Baumwolle, Paprika, Bohnen, Kakao, Tabak
Mittelmeer
Weizen, Erbse, Linse, Hopfen, Olive, Kohl, Rübe, Zwiebel
Asien
Hirse, Gerste, Hafer, Roggen, Reis, Sojabohne, Apfel, Birne, Pflaume, Apfelsine, Zitrone, Banane, Kirsche, Gurke, Möhre, Baumwolle, Feige, Maulbeerbaum, Zuckerrohr, Weinrebe, viele Gewürze
Nach Vavilov (1928)
Arbeiten Mendels durch Carl Correns, Hugo de Vries und Erich von Tschermak wiederentdeckt. Die Auswirkungen auf ganze Populationen beschrieben dann Godfrey Harold Hardy und Wilhelm Robert Weinberg 1908 in dem nach ihnen benannten Gesetz (s. Kap. 11.5.1). Die DNA als chemische Substanz wurde von Friedrich Miescher (1871) in seinem Labor im Tübinger Schloss entdeckt. Es blieb aber lange Zeit unklar, ob Proteine oder Nukleinsäuren die Träger der Erbinformation sind. Die zellulären Mechanismen der Vererbung haben Walter S. Sutton und Theodor Boveri (1902) in der Chromosomentheorie der Vererbung zusammengefasst. In der Zeit zwischen 1910 und 1915 konnte Thomas Hunt Morgan (1866–1945) durch seine Arbeiten an der Taufliege Drosophila zeigen, dass Gene in linearer Weise auf Chromosomen angeordnet sind. Er entdeckte dabei die geschlechtsgekoppelte Vererbung bei Drosophila und beschrieb das Phänomen des Crossing-overs von Chromosomen, womit er die relativen Positionen verschiedener Gene auf Drosophila-Chromosomen feststellen konnte (Nobelpreis 1933). Sein Schüler Hermann Joseph Muller (1890–1967) setzte die Arbeiten an Drosophila fort und erkannte zunächst die Möglichkeiten spontaner Mutationen; später induzierte er Mutationen durch Röntgenstrahlen (Nobelpreis 1956). Den Durchbruch zu einer modernen Wissenschaft brachten der Genetik im Jahr 1944 die Arbeiten von Oswald Theodore Avery (1877– 1955), der erkannte, dass die DNA die stoffliche Basis für die Übertragung der Erbinformationen ist – bis dahin war die gängige Meinung, dass nur Proteine mit ihrer komplexen, dreidimensionalen Struktur Erbinformationen beinhalten könnten. Die Strukturanalyse der DNA als Doppelhelix durch James Watson, Francis Crick und Maurice Wilkins im Jahr 1953 schließt diese Frühphase der modernen Genetik ab (Abb.1.1b). Durch die Strukturaufklärung der DNA hatte man aber auch schon den Hinweis auf die semikonservative Form der Replikation, die dann durch die Experimente von Matthew Meselson und Franklin W. Stahl im Jahr 1958 auch tatsächlich bestätigt wurde. Der Molekulargenetik der 1960er und 1970er Jahre ist es schließlich gelungen, uns auf dieser Basis die molekularen Grundlagen der Vererbung verständlich zu machen. Vor allem diese Aspekte werden dann in den ersten Kapiteln des Buches behandelt. Zu Beginn der 1970er Jahre beginnt auch die intensive Auseinandersetzung um das, was wir heute
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Kapitel 1: Was ist Genetik?
Abb. 1.1. a Gregor Johann Mendel (Augustinerpater und Begründer der modernen Genetik, 1822–1884). (Quelle: Internet), b Watson und Crick vor dem DNA-Modell. (Nach Watson 1969)
unter „Gentechnik“ zusammenfassen. Es zeichnete sich zu dieser Zeit ab, dass man DNA zwischen verschiedenen Organismen übertragen kann. Den führenden Forschern war durchaus bewusst, dass solches Vorgehen ein Wagnis war, und so verlangten sie im Jahr 1974, zunächst alle Experimente mit rekombinanter DNA von Viren, Toxin- oder Resistenzgenen auszusetzen. Dieses Moratorium kam zwar nicht zustande, aber man einigte sich 1975 auf der „Konferenz von Asilomar“ (Berg et al. 1975) in Verbindung mit staatlichen Sicherheitsbehörden genaue Regeln aufzustellen, an die sich Forscher bei Experimenten mit rekombinanter DNA zu halten hatten. Daraus entwickelten sich auf der Ebene der OECD gemeinsame Richtlinien, die später in allen industrialisierten Ländern in entsprechende Gesetze umgeformt wurden; in Deutschland ist es das Gentechnik-Gesetz (OECD: engl. Organisation for Economic Co-operation and Development; Organisation für wissenschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung). Die rasche Entwicklung der Technik der DNASequenzierung und die Einführung von automa-
tisierten Verfahren ließ es Ende der 1980er Jahre möglich erscheinen, auch Genome von ganzen Organismen und sogar das menschliche Genom zu sequenzieren. In den USA wurden das Department of Energy und die National Institutes of Health damit beauftragt, in 3 5-Jahresplänen von 1990 bis 2005 das Humangenomprojekt durchzuführen. Aus der amerikanischen Initiative entwickelte sich ein weltweites Netz von Genomforschern, die zunächst die Genome von Mikroorganismen sequenzierten. Den vorläufigen Höhepunkt erreichte die Initiative, als im Jahr 2001 zeitgleich die akademischen Institute (International Human Genom Consortium) und die private Firma Celera Genetics (Venter et al. 2001) einen ersten Entwurf für das menschliche Genom publizierten. Die Geschichte der Genetik (s. auch Tabelle 1.2) ist aber auch nicht frei von Verirrungen wie der Einführung des Begriffes Eugenik in die genetische Diskussion durch Francis Galton (1883). Galton trat für eine gezielte Kontrolle der Vererbung beim Menschen ein; er hat dabei „negative“ (präventive) und „positive“ Eugenik unterschieden. Die „negative“ Eugenik will
1.1 Gegenstand der Genetik
Tabelle 1.2.
Kurze Geschichte der Genetik
1866
Mendel veröffentlicht seine Schrift „Versuche über Pflanzenhybriden“
1871
Miescher entdeckt Nukleinsäuren
1883
Galton prägt den Begriff „Eugenik“
1902
Begründung der Chromosomentheorie durch Boveri, Correns und Sutton
1908
Gesetz über Konstanz der Allelieverhältnisse in idealen Populationen (Hardy und Weinberg)
1910–1915
Morgan beschreibt die lineare Anordnung von Genen auf Chromosomen
1926
Muller induziert Mutationen durch Röntgenstrahlen
1944
Avery erkennt die DNA als materiellen Träger der Erbinformation
1953
Beschreibung der DNA als Doppelhelix durch Watson, Crick und Wilkins
1958
Beweis für die semikonservative Replikation der DNA durch Meselson und Stahl
1961–1969
Entschlüsselung des genetischen Codes durch Nirenberg, Matthaei und Ochoa
1967
Arber entdeckt Restriktionsenzyme
1973
Erste Klonierung eines Plasmids durch Boyer, Chang und Cohen
1975
Konferenz von Asilomar zu Moratorium in der Gentechnik
1977
DNA-Sequenzierung nach Sanger
1985
Entwicklung der Polymerasen-Ketten-Reaktion durch Mullis
1988
Leder und Stewert erhalten Patent für transgene Maus
1990
Start des Humangenomprojekts
1995
Veröffentlichung der kompletten Sequenz des Genoms von H. influenza
2001
Erster Entwurf des menschlichen Genoms veröffentlicht
die erbliche Weitergabe von Allelen vermeiden, die Erbkrankheiten verursachen. Damit soll eine angebliche „Verschlechterung des menschlichen Genpools“ verhindert werden. Dieser Aspekt wird durch eine „positive“ Eugenik ergänzt, durch die die Weitergabe günstiger Allele unterstützt wird, um dadurch den menschlichen Genpool zu „verbessern“. Der Missbrauch dieses Begriffs durch die Nationalsozialisten unter Verwendung biologisch falscher Argumente hat Eugenik verständlicherweise nachhaltig diskreditiert.
Jede Überlegung zu genetischer Auslese und „Verbesserungsversuchen“ des menschlichen Erbguts durch eine Gentherapie über die Keimbahn muss sich vor dem Hintergrund des Holocaust und der Vernichtung „lebensunwerten“ Lebens rechtfertigen. Auch ein zweites dunkles Kapitel der Genetik muss erwähnt werden, nämlich die Konsequenz aus der Herrschaft des Agronomen Trofim Denisowich Lysenko (1898–1976) in der Sowjetunion der 1930er und 1940er Jahre. Er war ein heftiger Verfechter der
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Kapitel 1: Was ist Genetik?
These von der Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften, wie sie von Jean-Baptiste Lamarck (1744–1829) als Vorläufer der darwinschen Evolutionstheorie propagiert wurde. Ging es zunächst nur um die dringend notwendige Verbesserung der Pflanzenzucht, so wurde unter Lysenkos Führung die Genetik in der Sowjetunion bald als eine „schädliche Perversion der Wissenschaft“ bezeichnet, die „die Bemühungen der sowjetischen Forscher behindert, die Tier- und Pflanzenwelt zu verändern“ (zitiert nach Soyfer 2001). Mit Hilfe Stalins wurde diese Schule nach dem Ende des 2. Weltkrieges in der Sowjetunion und allen Staaten des damaligen Warschauer Paktes (auch in der DDR) durchgesetzt. Genetische Forschung wurde verboten, Labore geschlossen und unbequeme Wissenschaftler entlassen und ihr Werk verdammt. Nach dem Tod Stalins im Jahr 1953 dauerte es aber noch bis 1962, bis seine wissenschaftlichen Fehler und Fälschungen offen gelegt und er von Chruschtschow entlassen wurde. ! Die Fragestellungen der Genetik betreffen die
Aufklärung der Regeln und Mechanismen der Vererbung. Die Genetik hat aber heute auch das Ziel, die Unterschiede in der genetischen Ausstattung verschiedener Organismen funktionell zu erklären. Die moderne Genetik beginnt mit den Arbeiten Gregor Mendels in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Es folgte die Chromosomentheorie der Vererbung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die Aufklärung der DNA-Doppelhelix-Struktur im Jahr 1953 durch Watson, Crick und Wilkins sowie die Entschlüsselung des menschlichen Genoms im Jahr 2001.
Die rasante Entwicklung der Genetik in den vergangenen 100 bis 150 Jahren hat natürlich auch zu verschiedenen Subdisziplinen geführt. Als erstes müssen wir dabei die klassische Genetik nennen, die sowohl die Grundelemente der Vererbung und deren materielle und räumliche Manifestation erforscht als auch die Mechanismen der Verteilung des Erbmaterials bei der Zellteilung (wobei hier schon wieder die Abgrenzung zur Cytogenetik schwierig wird). Die klassische Genetik ist in vielen Bereichen sehr mathematischstatistisch orientiert; die meisten dieser Aspekte werden im Kapitel Formalgenetik (Kap. 11) besprochen. Methodisch ähnlich ist die Populationsgenetik (Kap. 12). Sie umfasst Erkenntnisse von genetischen
Regeln, die für Gruppen von Individuen gelten, und wie sie sich auf die Zusammensetzung und die Evolution der Organismen auswirken. Die molekulare Genetik untersucht die biochemischen Grundlagen der Vererbung. Sie will wissen, wie das Erbmaterial molekular aufgebaut ist und wie es in einer Zelle und im Gesamtorganismus seine Funktion ausübt. Diese Aspekte sind Schwerpunkt der ersten Kapitel des Buches. Fragen, die sich auf die genetischen Mechanismen der Zelldifferenzierung und der Embryonalentwicklung von Organismen beziehen, werden der Entwicklungsgenetik (Kap. 13) zugerechnet. Die Methoden im Gebiet Genetik des Menschen (Humangenetik) unterscheiden sich in mancherlei Hinsicht von denen, die an Tieren erprobt und gängig sind, daher ist es sicherlich sinnvoll, diese Teildisziplin – auch wegen ihrer Nähe zur Medizin – herauszuheben und die wichtigsten Aspekte in einem eigenen Kapitel anzusprechen (Kap. 14). Besonders interessant ist die Verhaltensund Neurogenetik, die in den letzten Jahren dank eines verbreiterten (und vor allem molekular orientierten!) Methodenspektrums sehr große Fortschritte gemacht hat (bei Würmern, Fliegen und Mäusen – und zunehmend auch beim Menschen). Sie wird in Kapitel 15 vorgestellt.
1.1.2 Molekulare Struktur des Genoms Die Gesamtheit der genetischen Informationen, die in einem Virus, einer Bakterien- oder Protozoenzelle bzw. in der Keimzelle eines mehrzelligen Organismus enthalten ist, fasst man unter dem Begriff Genom zusammen.Das Genom von Eukaryoten unterscheidet sich in seiner Größe erheblich von dem prokaryotischer Organismen. Selbst diejenigen eukaryotischen Arten, die am wenigsten DNA in ihren Zellkernen besitzen, haben eine mindestens 10fach größere DNAMenge als eine Bakterienzelle. Besonders große Eukaryotengenome erreichen einen DNA-Gehalt, der mehr als das 2000fache dessen einer E. coli-Zelle beträgt (Tabelle 1.3). Das ist zunächst nicht besonders überraschend, da wir davon ausgehen, dass eukaryotische Organismen im Allgemeinen viel mannigfaltiger und komplexer in ihren biologischen Funktionen sind als Prokaryoten. Weniger zu erwarten ist unter solchen Voraussetzungen jedoch, dass der DNA-Gehalt des Genoms nahe verwandter Arten erheblich variieren kann. Zum Beispiel treten bei Amphibien Unter-
1.1 Gegenstand der Genetik
Tabelle 1.3.
a
Genomgrößen: DNA-Gehalt (1C)
Art
Basenpaare (bp)
Daltons
Länge
Escherichia coli
4,1 × 106
2,8 × 109
1,4 mm
Salmonella typhimurium
1,1 × 10
8 × 10
3,8 mm
Bakteriophage Lambda (l)
4,85 × 104
3,3 × 107
16 µm
T2, T4, T6
1,75 × 105
1,2 × 108
60 µm
SV40
5,226 × 103
3,5 × 106
1,7 µm
ΦX174 (ds-Form)
5,386 × 103
3,2 × 106
1,8 µm
M13
6,408 ×
4,3 ×
2,1 µm
Plastiden
über 105
6,25 × 108
300 µm
Mitochondrien, Hefe
8 × 10
5 × 10
24 µm
Mitochondrien, Tiere
2 × 104
1,25 × 107
6 µm
Mitochondrien, Pflanzen
105 bis 106
6,25–62,5 × 107
30–300 µm
Saccharomyces cerevisiae
1,75 × 10
1,2 × 10
6 mm
Neurospora crassa
2,7 × 107
1,85 × 1010
9,2 mm
Caenorhabditis elegans
8×
5×
2,4 cm
Aplysia californica
2,6 × 108
1,8 × 1011
9 cm
Arabidopsis thaliana
8 × 107
5 × 1010
2,4 cm
Antirrhinum majusa
1–2 × 109
6,9–13,8 × 1011
34–68 cm
Zea mays
6,6 × 109
4,4 × 1012
2,2 m
Lilium longiflorum
3×
2×
100 m
Drosophila melanogaster
1,75 × 108
1,2 × 1011
6 cm
Fugu rubripes
4×
2,5 ×
12 cm
Strongylocentrotus purpuratus
8 × 108
5 × 1011
Xenopus laevis
2,8 × 109
1,85 × 1012
95 cm
Amphiuma spec.
7,65 × 10
5,29 × 10
26 m
Protopterus aethiopicus
1,3 × 1011
8,7 × 1013
43 m
Mus musculus
2,6 ×
1,7 ×
1012
89 cm
Rattus norwegicus
2,75 × 109
1,9 × 1012
94 cm
Homo sapiens
2,9 × 109
2,0 × 1012
99 cm
P. Huijser, persönliche Mitteilung
7
9
103
4
106
7
7
107
1011
108
10
109
10
1010
1014
1011
24 cm
13
7
8
Kapitel 1: Was ist Genetik?
schiede im DNA-Gehalt in der Größenordnung eines Faktors 100 auf (Tabelle 1.3). Ebenso unerwartet ist, dass zu den Organismen mit besonders großem Genom auch einzellige Protozoen gehören, deren Differenzierungsfähigkeit man nicht mit der von höheren Eukaryoten gleichstellen möchte. Umgekehrt könnte man zunächst einmal die Frage stellen, wie viel DNA für die Existenz komplexer Organismen mindestens erforderlich ist. Am einfachsten erscheint eine Antwort auf diese Frage, wenn man von der Anzahl der Gene ausgeht, die notwendig ist, um einen Organismus entstehen zu lassen, dessen Komplexität größer ist als die eines Einzellers. Die Genetik hat diese Fragen inzwischen weitgehend beantworten können, nicht zuletzt auch durch das Humangenomprojekt, das sich nicht nur zum Ziel gesetzt hatte, das menschliche Erbgut zu entschlüsseln, sondern auch das einer ganzen Reihe von Modellorganismen. So kam man bei Drosophila auf eine Zahl von etwa 14.000 Genen, was gut mit Annahmen übereinstimmt, die man aus den Mutageneseexperimenten an Drosophila gewonnen hatte. Umgekehrt waren die ursprünglichen Schätzungen für die Zahl der menschlichen Gene mit weit mehr als 100.000 viel zu hoch angesetzt. Man geht heute davon aus, dass das menschliche Genom etwa 30.000 bis 40.000 Gene enthält. Es ist damit ähnlich groß wie die Genome der Maus, der Ratte und des Pufferfisches Fugu, dessen Genom ebenfalls sequenziert ist. Haben die Genome der Säugetiere auch in etwa die gleiche Größenordnung von ca. 3 Gb (GigaBasen = 109 Basen), so umfasst das Genom von Fugu etwa nur 15%, das entspricht etwa 400 Mb (MegaBasen = 106 Basen; Venkatesh et al. 2000). Das liegt daran, dass bei Fugu eine Vielzahl repetitiver Elemente fehlt, die bei Säugetieren vorhanden sind. ! Die Gesamtheit aller Erbinformationen wird als
Genom bezeichnet. Während in Prokaryoten die Genomgröße mit der Anzahl vorhandener Gene direkt in Beziehung steht, besteht bei Eukaryoten eine große Diskrepanz zwischen der Genomgröße und der Anzahl der bei ihnen gefundenen Gene. Eukaryotische Genome sind in ihrem DNA-Gehalt wenigstens 10- bis 100-mal größer als aufgrund der Anzahl der Gene zu erwarten wäre, da sie eine Vielzahl von repetitiven Elementen enthalten.
1.1.3 Der Genbegriff Unser bisheriger Weg durch die Geschichte der Genetik hat uns stufenweise von der Entdeckung Mendels, dass es diskrete erbliche Merkmale gibt, über die Lokalisation der Gene in linearer Folge auf den Chromosomen bis zur Aufklärung der molekularen Identität der chemischen Verbindung geführt, die für die Vererbung verantwortlich ist, nämlich der DNA, und die im Normalfall die Aminosäuresequenz eines Proteins festlegt. Insofern erscheint uns zunächst einmal die Definition eines Genes mit der „Ein-Gen-ein-Protein-Hypothese zutreffend zu sein. Die weitere Aufklärung der molekularen Eigenschaften bestimmter DNA-Sequenzen hat uns jedoch eine früher ganz unvorstellbare Vielfalt der Eigenschaften von Genen vor Augen geführt, die für die Vielfalt der Funktionen des Erbmaterials unentbehrlich sind. Versuchen wir nun, auf der Basis dieser Kenntnisse genauer zu umreißen, was wir unter einem Gen verstehen, so geraten wir sehr schnell in Schwierigkeiten. Relativ leicht zu treffen ist die Entscheidung, dass flankierende DNASequenzen, die zur Regulation erforderlich sind, als Teil eines Gens zu betrachten sind. Wie aber steht es mit Regionen, die vielleicht Tausende von Basenpaaren upstream eines Gens liegen, dessen Regulation aber mit beeinflussen? Rechnen wir auch Enhancersequenzen außerhalb des Gens zu diesem, obwohl sie selbst vielleicht nicht unbedingt für die Expression des Gens benötigt werden? Auch diese DNA-Bereiche könnte man ohne weitere Probleme in den theoretischen Genbegriff einschließen. Schon schwieriger wird es, wenn wir uns fragen, ob wir etwa die Hunderte oder Tausende von 5SrRNA-Transkriptionseinheiten als ein Gen oder als mehrere Gene betrachten wollen (s. S. 70 ff). Der Ausfall einzelner solcher Transkriptionseinheiten würde die Zellfunktionen nicht beeinträchtigen und damit zu keinem sichtbaren Effekt führen, den wir fordern müssten, wenn wir die Korrelation Gen–Merkmal erhalten wollen, wie sie nach Mendel angebracht wäre. (Die Anzahl der 5S-rRNA-Kopien im Genom dürfte im Übrigen ohnehin ständigen Schwankungen durch normale zelluläre Prozesse wie (ungleiche) Rekombination und Amplifikation unterworfen sein, s. auch S. 292). Weitere Probleme für die Anwendung des klassischen Genbegriffes werden durch die Frage aufgeworfen, ob man die einzelnen Transkriptionseinhei-
1.2 Konstanz und Variabilität
ten der rDNA in Eukaryoten, die ja meistens drei einzelne RNA-Moleküle kodieren, als Gene betrachten möchte, oder ob man jedes dieser Moleküle als eigenes Gen ansehen will. Sicherlich könnte man argumentieren, dass sie vielleicht aus einem ursprünglichen Molekül hervorgegangen sind und dass lediglich die Weiterentwicklung der Funktion im Ribosom zu einer Aufspaltung in mehrere (Teil-)Moleküle geführt hat. Dass solche Prozesse der Unterteilung von Genen noch weiter fortschreiten können, sehen wir am Beispiel der geteilten 28S-rRNA von Insekten (s. S. 76), die zunächst in zwei Hälften geschnitten, dann aber durch Basenpaarung wieder zu einer funktionellen Einheit zusammengefügt wird. Wie aber sieht es bei der Definition des Genbegriffes bei gemeinsam regulierten Genfamilien aus, etwa den Globingenen? Sie beeinflussen zwar unzweifelhaft ein gemeinsames Merkmal, die Synthese von Hämoglobin. Ebenso unzweifelhaft sind die einzelnen Globingene als voneinander getrennte Funktionseinheiten anzusehen, selbst wenn es sich, wie bei den zwei α-Globingenen des Menschen, um identische DNA-Sequenzen mit identischer Regulation handelt (s. S. 304). Es ist leicht zu sehen, dass die Korrelation zwischen einem phänotypischem Merkmal und einer Einheit der Vererbung angesichts der Komplexität des Erbmaterials dieser Vielfalt nur ungenügend gerecht wird, wenn man sie mit einem einheitlichen Begriff, dem des Gens, beschreiben will. Auch die Korrelation „ein-Gen-ein-Enzym“ erfüllt den Wunsch nach einer allgemeinverbindlichen Definition eines Gens nicht befriedigend. Als brauchbar könnte man hingegen die Definition eines Cistrons, wie sie sich aus der Analyse der rII-Region von T4 (s. S. 128) ergab, für eine allgemeinere Definition eines Gens ansehen. Aber auch sie wird der Bedeutung cis-regulierender Faktoren in DNA schwerlich voll gerecht, vor allem dann, wenn wir uns das Vorkommen überlappender Gene vor Augen halten. Bei der Diskussion der Regulation des Gens, das für das mitochondriale Cytochrom-b der Hefe kodiert (s. S. 318), werden wir sehen, dass Protein-kodierende DNA-Sequenzen mit unterschiedlichen Eigenschaften der kodierten Proteine teilweise parallel zueinander verlaufen (polycistronische Gene). Wie passen solche Genomstrukturen in einen allgemeingültigen Genbegriff? Ein allgemein verbindlicher Genbegriff, der die unterschiedlichen Eigenschaften des erblichen Mate-
rials in ein einheitliches und leicht zu handhabendes Schema integriert, kann heute nicht mehr formuliert werden. Dennoch hat der Begriff des Gens seine Bedeutung in der Praxis nicht verloren. Man wird den Begriff „Gen“ jedoch jeweils sehr gezielt im Kontext eines gerade zur Diskussion stehenden genetischen Systems verwenden müssen, um ihn mit konkreten molekularen Vorstellungen anfüllen zu können. ! Folgende Aspekte gehören zu einem Gen:
• ein Gen ist durch seinen Platz auf dem Chromosom definiert, der durch Rekombinationsereignisse charakterisiert wird, • Bestandteil eines Gens sind die Exon/IntronBereiche, die gleichsinnig transkribiert werden, sowie die oberhalb liegenden, zugehörenden Promotor-Bereiche (s. S. 320; das schließt Spleiß-Variationen mit ein, s. S. 82). Umgekehrt können zwar Gene an der gleichen Stelle im Chromosom liegen – wenn sie aber von Strang und Gegenstrang kodiert werden, sprechen wir nicht von gleichen Genen. Auch regulatorische Elemente, die weit außerhalb des kodierenden Bereichs eines Gens liegen (z. B. Enhancer, s. S. 326), werden nicht dem jeweiligen Gen zugerechnet.
1.2 Konstanz und Variabilität Die Vielfalt der Erscheinungsformen der Organismen ist eine Eigenschaft der Natur, die wir als selbstverständliche Grunderscheinung des Lebens ansehen. Für den Biologen stellt diese Mannigfaltigkeit oder Variabilität der Formen und Eigenschaften von Organismen jedoch die Frage nach deren Ursachen. Wir möchten verstehen, nach welchen Gesetzmäßigkeiten Variabilität hervorgerufen wird und wie ihre Weitergabe an nachfolgende Generationen möglich wird. Man könnte zunächst vermuten, dass die Entstehung dieser Mannigfaltigkeit dem Zufall unterliegt. Bei näherer Betrachtung erkennen wir jedoch, dass bestimmte Grenzen der Variabilität einer bestimmten Eigenschaft innerhalb der Mannigfaltigkeit der Individuen gewöhnlich nicht überschritten werden.
9
10
Kapitel 1: Was ist Genetik?
Durch ein einfaches Beispiel wird uns verdeutlicht, dass die Variabilität der Erscheinungsformen bestimmten Gesetzmäßigkeiten gehorcht: Trotz aller Vielfalt in der Individualität verschiedener Menschen ist der Mensch als einheitliche Organismengruppe deutlich gegenüber allen anderen Organismengruppen abgegrenzt. Stark abweichende Gestalten, wie sie beispielsweise bei fehlerhafter Embryonalentwicklung auftreten können, sind im Allgemeinen nicht lebensfähig. Die Natur hat somit einerseits Mannigfaltigkeit geschaffen, diese aber zugleich bestimmten Gesetzen und Eingrenzungen unterworfen. Für die Existenz solcher Gesetze, die die Entstehung von Mannigfaltigkeit in den Formen und Eigenschaften von Lebewesen kontrollieren, spricht, dass viele dieser Formen und Eigenschaften nicht willkürlich auftreten, sondern dass sie von den Eltern an die Nachkommen weitergegeben werden. Ihre Entstehung und Ausbildung ist also an biologische Eigenschaften gebunden, die zwischen aufeinanderfolgenden Generationen von Organismen erhalten bleiben. Wie wir bei genauerer Betrachtung erkennen, werden sie in bestimmter Weise verteilt. Das Verständnis dieser biologischen Eigenschaften und der Gesetzmäßigkeiten, die ihrer Verteilung in aufeinanderfolgenden Generationen zu Grund liegen, ist der Gegenstand der Vererbungslehre oder Genetik. Das Verständnis dieser Gesetze setzt notwendigerweise die Unterscheidung der Einzelelemente, die diese Mannigfaltigkeit bestimmen, voraus und erfordert daher die Erforschung von deren Eigenschaften und Ursachen. Wenn wir davon ausgehen, dass Variabilität eine Grunderscheinung der erblichen Eigenschaften der Organismen ist, gilt es, experimentelle Ansatzpunkte für die Untersuchung dieser erblichen Grundlage der Variabilität zu finden. Hierfür ist es entscheidend, dass es gelingt, ein Untersuchungsmaterial zu finden, dessen erbliche Eigenschaften so einheitlich wie möglich sind. Mit Hilfe solchen Materials lassen sich dann nicht nur diese verschiedenen Eigenschaften als solche gegeneinander abgrenzen, sondern auch diejenigen Einflüsse auf die Ausprägung genetischer Anlagen erkennen und analysieren, die durch die Umwelt verursacht werden. Dass es solche Umwelteinflüsse geben muss, ist leicht zu erkennen: Ziehen wir eine Pflanze bei Dunkelheit aus einem Samen, so wird sie allenfalls schwach grün werden. Erst, wenn wir sie dem Licht aussetzen, bildet sich eine ausrei-
chende Menge Chlorophyll, so dass die Pflanze ihre normale grüne Farbe erhält. Die Umgebungsparameter bestimmen also, ob die individuelle Pflanze von ihrer prinzipiellen genetischen Fähigkeit, Chlorophyll zu bilden, Gebrauch macht oder nicht. Diese Beobachtung macht uns deutlich, dass wir bei der Erforschung der Vererbung zwei Aspekte grundsätzlich auseinanderhalten müssen: einerseits die Ausstattung eines Organismus mit bestimmten erblichen Eigenschaften und andererseits sein tatsächliches Erscheinungsbild, das durch diese erblichen Eigenschaften in einer bestimmten Umgebung hervorgerufen wird. Wir umschreiben diese beiden verschiedenen Aspekte demgemäß auch durch zwei verschiedene wissenschaftliche Begriffe: Die Gesamtheit der erblichen Eigenschaften eines Organismus nennen wir den Genotyp, sein tatsächliches Erscheinungsbild aber den Phänotyp. ! Wir unterscheiden zwischen dem Erscheinungsbild eines Organismus und seiner genetischen Veranlagung. Das Erscheinungsbild wird in der Genetik als Phänotyp eines Individuums bezeichnet. Die Gesamtheit aller erblichen Eigenschaften eines Organismus bezeichnet man als Genotyp.
1.2.1 Umweltbedingte Variabilität Die Lebewesen, an denen man den Einfluss der Umwelt auf den Phänotyp am besten erforschen kann, sind Pflanzen. Bei ihnen ist eine vegetative Fortpflanzung meist sehr einfach zu erzielen. Da vegetative Fortpflanzung keinerlei Veränderungen des genetischen Materials einschließt, sind alle Individuen, die auf diesem Wege erzeugt werden, genetisch identisch. Variabilität, die durch genetische Mechanismen erzeugt wird,kann so ausgeschlossen werden und ausschließlich umweltbedingte Variabilität wird sichtbar. Vegetative Vermehrung von Pflanzen kann auf zweierlei Art erfolgen: • Am einfachsten ist vegetative Vermehrung durch die Teilung von Wurzelstöcken oder durch Stecklinge zu erreichen. Man kultiviert Teile einer Pflanze, etwa einen Seitentrieb, bis er Wurzeln geschlagen hat, oder eine Wurzel, bis sie weitere Triebe erzeugt hat. Somit stehen weitere Abkömmlinge desselben Genotyps zur Verfügung.
1.2 Konstanz und Variabilität
• Einen alternativen Weg bieten neuere Kultur-
methoden, die es uns gestatten, aus Einzelzellen (oder aus Protoplasten) ganze Pflanzen zu ziehen. Auch in diesem Fall verfügt man mit allen Individuen, die auf diese Weise von einem gemeinsamen Ausgangsindividuum erhalten wurden, über ein genetisch einheitliches Material.
Man bezeichnet genetisch identische Pflanzen, die auf einem dieser Wege erhalten worden sind, als Klone. ! Vegetative Vermehrung bedeutet Vermehrung ohne vorangehende sexuelle Prozesse. Das genetische Material eines Organismus bleibt dadurch im Prinzip unverändert erhalten, so dass die Individuen, die durch vegetative Fortpflanzung entstanden sind, genetisch völlig gleich sind. Man bezeichnet sie als Klone.
Hat man auf einem dieser Wege genetisch einheitliches Untersuchungsmaterial bereitgestellt, können Experimente mit dem Ziel ausgeführt werden, zu ermitteln, inwieweit einerseits Umwelteinflüsse oder andererseits genetische Faktoren einzelne Eigenschaften der betreffenden Organismen bestimmen. Eine wichtige Voraussetzung für solche Versuche ist die Fähigkeit des Versuchsmaterials, in sehr unterschiedlichen Umweltbedingungen überhaupt existieren zu können. Unter diesem Gesichtspunkt hat sich die Schafgarbe (Achillea millefolium, Compositae) als besonders geeignet erwiesen, aber auch Fingerkrautarten (Potentilla, Rosaceae) sind ausgiebig untersucht worden. Betrachten wir zunächst einmal Pflanzenpopulationen derselben Art in verschiedenen Biotopen, so wird schnell deutlich, dass sich die Individuen der einen Population oft sehr erheblich, vor allem in ihrer Größe, von denen anderer Populationen unterscheiden. Studien dieser Art wurden in Nordamerika durch Jens Clausen und Mitarbeiter Ende der 1940er Jahre durchgeführt (Abb. 1.2). Sie dokumentieren eindringlich, dass die mittlere Größe von Achillea lanulosa, wie sie in den extrem unterschiedlichen Biotopen Kaliforniens gefunden wird, stark mit dem jeweiligen Biotop korreliert. Die mittlere Größe der Pflanzen in den niedrigeren, der kalifornischen Küste näher gelegenen Regionen der Sierra
Nevada, etwa bei Mather (1400 m Höhe) im Bereich des Koniferengürtels, liegt bei 75 cm. Pflanzen, die in den extremeren Milieubedingungen der subalpinen Tuolumne Meadows (2600 m Höhe) oder des hochalpinen Big-Horn-Sees (3350 m Höhe) wachsen, werden im Mittel nur 15 bis 20 cm hoch (Abb. 1.2). Man ist versucht, die Ursache für die geringe Größe in den ungünstigen Wachstumsbedingungen des alpinen Biotops zu sehen. Interessanterweise ist es aber gerade die genetisch bedingte Fähigkeit, solche schwachen Wuchsformen unter Extrembedingungen zu bilden, die es den Pflanzen gestattet, sich in einer Umgebung noch zu vermehren, in der andere Pflanzen gar nicht mehr existieren können.Die geringe Größe hat sowohl den Vorteil eines geringeren Nährstoffbedarfs als auch den besserer Widerstandsfähigkeit gegen ungünstige Klimaeinflüsse. Zudem wird dadurch die Wachstumsphase bis zur Fortpflanzungsreife verkürzt. Dieser Gesichtspunkt ist besonders wichtig, da die Vegetationsperiode in den betreffenden Biotopen besonders kurz ist. In Abb. 1.2 sind die unterschiedlichen Biotope und die zugehörigen mittleren Größen der Pflanzen zusammengefasst. Zusätzlich zur Angabe der mittleren Wachstumsgröße der Pflanzen in den verschiedenen Biotopen sind in Abb. 1.2 die Variabilität der Größen innerhalb der einzelnen Populationen und deren Häufigkeiten eingetragen. Es zeigt sich, dass sich diese teilweise überlappen. Aufgrund dieser Beobachtungen lässt sich nun die Frage stellen, ob die verschiedenen Pflanzenpopulationen sich genetisch so voneinander unterscheiden, dass der für ein Biotop jeweils charakteristische Größenbereich erblich festgelegt ist. Eine Antwort auf diese Frage können wir erhalten, wenn wir vegetativ vermehrte Nachkommen, also genetisch identische Individuen, der verschiedenen Pflanzenpopulationen auf die unterschiedlichen Biotope verteilen und ihr Wachstum verfolgen (Abb. 1.3).Wir erkennen,dass sich das Wachstum der vegetativ vermehrten Pflanzen dem der Populationen in dem entsprechenden Biotop vollständig anpasst. Die Größe der Pflanzen ist somit weitgehend umweltbedingt, nicht aber genetisch fixiert. Wir können aus diesen Beobachtungen ableiten, dass erbliche Eigenschaften einen Bereich festlegen,in dem Variabilität möglich ist.So ist eine optimale Anpassung an die jeweiligen Bedingungen gewährleistet. Dass es hierfür jedoch Grenzen gibt, wird deutlich, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass es offenbar prinzipielle Maximal- und Minimalgrößen gibt, durch die die Variabilität eingegrenzt
11
12
Kapitel 1: Was ist Genetik? cm
90
Achillea lanulosa
70
50
30
10 cm 70
50
30
Mather
Aspen Valley
Yosemite Creek
Tenaya Lake
Tuolumne Meadows
Big Horn Lake
Timberline
Conway Summit
Leevining
m 4000
2600
1300 Sierra Nevada
Abb. 1.2. Größenvariation von Achillea lanulosa in unterschiedlichen Biotopen. Das Landschaftsprofil zeigt einen Schnitt durch Zentralkalifornien (38°C nördlicher Breite) mit Höhenangaben der verschiedenen Ursprungsbiotope. Die Pflanzen wurden nahe der Pazifikküste bei Stanford angepflanzt und ihre Größenvariation mit den zugehörigen Häufigkeiten ermittelt. Die Häufigkeitsdiagramme (oben) sind in 5cm-Intervallen (horizontal) der Pflanzengröße markiert.
Great Basin Plateau
Vertikale Linien haben einen Abstand von jeweils 2 Individuen. Die Größen der Pflanzen in der Mitte der Abbildung geben die mittlere Größe der Individuen aus dem jeweiligen Biotop wieder. Die mittlere Größe der Individuen der verschiedenen Pflanzenpopulationen nimmt mit steigender Höhe des Ursprungsbiotops ab. Die mittlere Größe jeder Population ist, ebenso wie die Größenvariabilität, genetisch festgelegt. (Verändert nach Clausen et al. 1948)
1.2 Konstanz und Variabilität
Abb. 1.3. Größenwachstum von Achillea lanulosa in Abhängigkeit vom Biotop. Pflanzen wurden in verschiedenen Biotopen (Mather, Aspen Valley, Tenaya-Lake, s. Abb. 1.2) gesammelt, vegetativ vermehrt und in drei Biotopen (Stanford, Mather, Timberline, s. Abb. 1.2) neu angepflanzt. Übereinander gezeichnete Individuen leiten sich von der gleichen Ausgangspflanze durch vegetative Vermehrung ab, sind also genetisch identisch. Die unterschiedliche Fähigkeit der einzel-
wird: Eine Schafgarbe erreicht weder die Größe einer Sequoia noch bleibt sie in der Entwicklung bei der Größe eines Lebermooses stehen. Die jeweiligen Umweltbedingungen bestimmen aus diesem insgesamt möglichen Größenspektrum einen jeweils biotopspezifischen Variabilitätsbereich.
nen Pflanzen zum Größenwachstum in den unterschiedlichen Höhenlagen ist sehr eindringlich dokumentiert. Pflanzen aus einem alpinen Bereich bleiben auch in niedrigen Höhenlagen relativ klein, weisen aber deutlich die gleichmäßigste Wachstumsfähigkeit in der Extremlage von Timberline (hochalpin) auf, in der Pflanzen selbst aus mittleren Höhenlagen (Mather) häufig gar nicht mehr wachsen (2. und 6. Individuum von links). (Nach Clausen et al. 1948)
! Erbliche Eigenschaften bestimmen in Zusammenwirkung mit den jeweils gegebenen Umweltfaktoren den Phänotyp.
Ein Vergleich der Wachstumseigenschaften der verschiedenen Individuen in Abb. 1.3, die durch vegeta-
13
14
Kapitel 1: Was ist Genetik?
tive Vermehrung entstanden, also genetisch identisch sind, gestattet uns noch einen weiteren wichtigen Schluss: Wir können aus der Größe der Pflanze in einem Biotop keine Rückschlüsse auf die zu erwartende relative Größe in einem anderen Biotop ziehen. Es gibt somit keine „beste“ genetische Konstitution, sondern die speziellen Eigenschaften kommen, zumindest im Größenwachstum, durch ein komplexes Zusammenspiel von Erbanlagen und Umweltbedingungen zustande. Wenn wir uns also fragen, ob wir durch eine geeignete Zusammenstellung von Genen eine „ideale“ Pflanze experimentell erzeugen könnten, so müssen wir feststellen, dass es diese „ideale“ Pflanze gar nicht gibt, da jedes Individuum seine Eigenschaften stets in einer bestimmten Umgebung, also biotopspezifisch, entwickelt. Die Bedingungen dieser Umgebung aber können wir, wenn überhaupt, dann nur im Rahmen der allgemeinen Eigenschaften eines Biotops festlegen. Es gelingt uns nicht einmal, vorherzusagen, ob eine Pflanze groß wird oder klein bleibt, wie wir bei Achillea gesehen haben.
Diese Grenzen sind genetisch festgelegt und werden durch die Gesamtheit der erblichen Eigenschaften mitbestimmt. Die Fähigkeit eines bestimmten Genotyps, auf seine Umgebung in unterschiedlicher Weise zu reagieren, bezeichnen wir als die Reaktionsnorm eines Genotyps. Die Reaktionsnorm beschreibt die Variationsbreite des Phänotyps, die einem bestimmten Genotyp unter unterschiedlichen Umweltbedingungen zur Verfügung steht. Sie beschreibt also gewissermaßen die „Möglichkeiten“ eines Genotyps, sich an die Umgebungsbedingungen anzupassen. Ist der Phänotyp nicht mehr mit den Anforderungen der Umwelt in Übereinstimmung zu bringen, ist der Organismus nicht mehr existenzfähig. Wir können unsere Erkenntnisse aus diesen Versuchen also zusammenfassen: Die Ausprägung von Eigenschaften wird in erheblichem Ausmaße von den Umgebungsbedingungen bestimmt. Wir bezeichnen – im Gegensatz zur genetischen Variabilität – eine umweltbedingte Variante auch als Modifikation. ! Die Interaktion zwischen Umwelt und Genotyp ist
! Es gibt keine „beste“ genetische Konstitution, da
der Phänotyp durch ein komplexes Zusammenspiel von Genotyp und Umweltbedingungen entsteht.
1.2.2 Genetisch bedingte Variabilität Der grundlegende Einfluss der Umweltbedingungen auf das Größenwachstum wirft die Frage auf, inwieweit andere Eigenschaften einem gleich starken Einfluss der Umgebung unterworfen sind. Zur Beantwortung dieser Frage können wir nochmals auf die nordamerikanischen Feldstudien, dieses Mal am Fingerkraut, Potentilla, zurückgreifen. Vergleichen wir die verschiedenen Wachstumsformen, etwa der Blätter, in den unterschiedlichen Biotopen, so erkennen wir, dass – abgesehen von unterschiedlicher Größe – die Blattform von Pflanzen gleicher genetischer Konstitution in den unterschiedlichsten Biotopen sehr ähnlich bleibt, obwohl sie zwischen Pflanzen unterschiedlichen Genotyps beträchtlich variiert (Abb. 1.4). Das Ausmaß der Umweltabhängigkeit in der Ausprägung einer Eigenschaft ist also für verschiedene Eigenschaften sehr unterschiedlich groß. Grenzen in der Variabilität der Ausprägung bestimmter Eigenschaften gibt es für alle Merkmale.
ein allgemeines Phänomen, das alle Organismen betrifft und das den Phänotyp der Individuen mit prägt. Die umweltbedingten Variationen von Merkmalen werden auch als Modifikationen bezeichnet.
Wir müssen uns aber vor Augen halten, dass wir aufgrund des Phänotyps eines einzelnen Organismus nicht entscheiden können, ob eine vorwiegend erblich oder eine vorwiegend umweltbeeinflusste Eigenschaft vorliegt. Vielmehr kann eine solche Entscheidung nur durch eine genetische Analyse verwandter Individuen – beim Menschen also zum Beispiel durch Analyse eines Familienstammbaumes – getroffen werden. Der Grund für diese Schwierigkeiten ist darin zu suchen, dass Merkmale, die gewöhnlich genetisch bedingt sind, unter bestimmten Umständen durch Milieueinflüsse imitiert werden können. Man spricht in diesem Fall von einer Phänokopie. ! Phänokopien sind umweltbedingte, nichterbliche
Nachahmungen von Phänotypen, die aber alternativ auch durch bestimmte erbliche Konstitutionen (Vorhandensein bestimmter Allele) hervorgerufen werden können.
1.3 Theoriebildung in der Biologie
Timberline
Stanford
3050 m
50 m
cm 50 2485 m
40
Drummondi typica 2260 m
30
3050 m
2260 m 20
Drummondi bruceae
3350 m
10 2260 m Drummondi breweri 3050 m 0
Abb. 1.4. Blattformen verschiedener Rassen von Potentilla drummondii bei Wachstum in verschiedenen Biotopen (vgl. Abb. 1.2). Pflanzen wurden in unterschiedlichen Höhenlagen gesammelt, vegetativ vermehrt und in zwei extrem unterschiedlichen Biotopen (Stanford – nahe der Pazifikküste in
30 m Höhe – und Timberline in 3050 m Höhe) angepflanzt. Trotz der beträchtlichen Größenunterschiede verändern sich die Blattformen wenig. Ihre Form ist weitgehend genetisch festgelegt. (Verändert nach Clausen et al. 1940)
1.3 Theoriebildung in der Biologie
schlug er vor, dass sich alle Organismen im Laufe der Evolution aus gemeinsamen Vorfahren entwickelt haben. Er formulierte damit in seinem Buch On the origin of species by natural secelection, das 1859 erschien, die Deszendenztheorie oder Abstammungslehre. Ein anderer Forscher, Alfred Russel Wallace (1823–1913), war etwa gleichzeitig zu ähnlichen Vorstellungen gelangt. Seine wissenschaftlichen Stu-
Der erste Forscher, der ein geschlossenes Konzept entwickelte, das die Evolution von Organismen auf der Grundlage ihrer Erbeigenschaften zu erklären versuchte, war Charles Darwin (1809–1882). Auf der Grundlage seiner umfangreichen Studien, die er auf seiner Weltreise mit dem Schiff „Beagle“ durchführte,
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Kapitel 1: Was ist Genetik?
dien sind jedoch weniger beachtet worden als das Buch Darwins, zumal sie wesentlich weniger umfangreiche Dokumentationen zu den entwickelten Ideen über die Abstammung der Organismen enthalten. Diese gleichzeitige Entwicklung ähnlicher Vorstellungen veranschaulicht uns ein allgemeines Phänomen wissenschaftlicher Theorien: Fundamentale neue Vorstellungen reifen in der Wissenschaft allmählich heran und werden oft gleichzeitig für mehrere Forscher greifbar. Sie beruhen auf den Ergebnissen und Einsichten, die im Laufe der Zeit durch viele Wissenschaftler gesammelt worden sind. Schließlich gelingt es dann, solche Einsichten, die oft mit bestehenden Vorstellungen nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen sind, in ein neuartiges Konzept umzusetzen. Die Weiterentwicklung wissenschaftlicher Einsichten beruht auf der gelegentlichen Formulierung neuer Konzepte. Man bezeichnet solche Konzepte als Paradigmen. Ist ein Paradigma nicht mehr mit den Einsichten, die man gewonnen hat, vereinbar, so muss ein neues Paradigma formuliert werden. Wesentliche Fortschritte in der Wissenschaft werden durch die Formulierungen solcher neuen Konzepte oder Paradigmen eingeleitet. Der Begriff Paradigma ist gebräuchlich, seit ihn T. S. Kuhn 1962 im Sprachgebrauch der Wissenschaftstheorien populär gemacht hat. Allgemeine Konzepte, wie sie durch ein Paradigma fomuliert werden, sind, wie uns das Beispiel Darwins zeigt, sicherlich nicht an eine bestimmte Forscherpersönlichkeit gebunden, sondern würden zwangsläufig von anderen formuliert werden, da sie durch den Stand wissenschaftlicher Einsicht bedingt sind. Die besondere Leistung eines Wissenschaftlers besteht darin, nicht nur die Notwendigkeit zur Formulierung eines neuen Paradigmas, sondern auch seinen Inhalt richtig zu erkennen. Der Weg zu einem neuen Paradigma ist im Allgemeinen durch mehrere Schritte gekennzeichnet. Aus einer Anzahl von Beobachtungen und aus deren Analyse wird eine Hypothese formuliert. Eine solche Hypothese stellt noch keine endgültig gesicherte Einsicht dar, sondern formt zunächst nur die Grundlage, bestimmte Beobachtungen im Rahmen eines übergreifenden Konzeptes zu verstehen. Die weitere wissenschaftliche Arbeit besteht nunmehr darin, diese Hypothese zu untermauern oder zu widerlegen. Gelingt es, weitere wichtige Argumente für die Gültigkeit dieser Hypothese zu finden, so wird diese gegebenenfalls zu einer Theorie. Unter einer Theorie
verstehen wir eine nach allen wissenschaftlichen Vorstellungen gut gesicherte Vorstellung zu einem bestimmten Phänomen. So haben wir im Laufe der Besprechung der Eigenschaften des genetischen Materials gesehen, dass die Hypothese, dass Chromosomen die Träger der erblichen Eigenschaften eines Organismus sind, vor allem durch die Analyse von Geschlechtschromosomenmechanismen zu einer gesicherten Vorstellung, der Chromosomentheorie der Vererbung, entwickelt wurde (s. S. 183). Die Tatsache, dass auch cytoplasmatische Elemente wie Mitochondrien und Plastiden Erbinformation enthalten, widerlegt (falsifiziert) die Chromosomentheorie der Vererbung nicht, sondern erweitert sie allenfalls, wenn wir nicht überhaupt davon ausgehen wollen, dass nach unseren heute gebräuchlichen Vorstellungen auch Mitochondrien und Plastiden im Prinzip ein „Chromosom“ besitzen. Unabhängig von dieser Frage, was ein Chromosom ist, stellt jedoch die Einsicht, dass solche cytoplasmatischen Organellen ebenfalls Erbinformationen an die Nachkommen vermitteln können, eine Erweiterung der ursprünglichen Vorstellungen der Chromosomentheorie der Vererbung dar. Die von Darwin formulierte Deszendenztheorie ist heute von den Biologen als Grundlage unserer Vorstellungen über die Evolution anerkannt. Sie enthält zwar die Erklärung, dass Organismen durch bestimme evolutionäre Mechanismen entstehen. Aber viele Einzelheiten solcher Mechanismen sind noch ungeklärt. Zur Bewertung der Leistung Darwins muss man übrigens berücksichtigen, dass Mendels Regeln der Vererbung zu dem Zeitpunkt, zu dem Darwins Buch veröffentlicht wurde, noch nicht einmal publiziert, geschweige denn allgemein bekannt waren. Bei Kenntnis der Mendel’schen Untersuchungen hätte Darwin wichtige Gesichtspunkte der Erklärung von Evolutionsmechanismen deutlicher formulieren können. So hatte Darwin zur Erklärung der Evolution die Selektion als wichtigen Mechanismus erkannt, ohne jedoch konkret begründen zu können, was die materielle Basis der Selektion sein könnte. Natürlich beruht diese Vorstellung von der Selektion als wichtigem Evolutionsmechanismus auf der Beobachtung von Variabilität innerhalb von Populationen von Organismen. Die Ursachen für diese Variabilität waren ihm jedoch nicht bekannt, und es war unklar, wie diese Variabilität entstehen kann. Die Beobachtung von phänotypischer Variabilität von Organismen erweist sich somit wiederum als ein
1.3 Theoriebildung in der Biologie
wichtiges Grundelement wissenschaftlicher Erkenntnis. Sie ermöglichte es nicht nur, die Regeln der Vererbung zu ergründen (Kap. 11), die Grundlagen der Veränderungen des genetischen Materials zu erkennen (Kap. 9 und 10) und Zelldifferenzierungsvorgänge aufzuklären (Kapitel 12 und 13), sondern sie ist auch ein wichtiges Mittel, evolutionäre Prozesse zu verstehen. >
Kernaussagen
▬ Die Genetik beschreibt die Regeln und Mechanismen der Vererbung und erklärt funktionell die Unterschiede in der genetischen Ausstattung verschiedener Organismen. ▬ Die moderne Genetik beginnt mit den Arbeiten Gregor Mendels in der Mitte des 19. Jahrhunderts und hat innerhalb von etwas mehr als hundert Jahren mit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms 2001 ihren (vorläufigen) Höhepunkt erreicht. ▬ Die Gesamtheit aller Erbinformationen wird als Genom bezeichnet. ▬ In Prokaryoten steht die Genomgröße mit der Anzahl vorhandener Gene direkt in Beziehung.
▬ Bei Eukaryoten besteht eine große Diskrepanz zwischen der Genomgröße und der Anzahl ihrer Gene. Ursache sind eine Vielzahl von repetitiven Elementen. ▬ Ein Gen ist durch seinen Platz auf dem Chromosom definiert. ▬ Bestandteil eines Gens sind die kodierenden Bereiche (bei Eukaryoten Exons und Introns), die gleichsinnig transkribiert werden, sowie die oberhalb liegenden, zugehörenden Promotor-Bereiche. ▬ Der Phänotyp ist das Erscheinungsbild eines Organismus, der Genotyp ist die Gesamtheit aller seiner genetischen Eigenschaften. Im Zusammenwirken mit Umwelteinflüssen definiert der Genotyp den Phänotyp; vom Phänotyp kann nicht auf den Genotyp zurückgeschlossen werden. ▬ Vegetative Vermehrung bedeutet Vermehrung ohne vorangehende sexuelle Prozesse, so dass das genetische Material unverändert bleibt. Die entstehenden Individuen sind identisch (Klone). ▬ Biologische Variabilität kann genetische und umweltbedingte Ursachen haben. ▬ Umwelteinflüsse können genetische Effekte imitieren (Phänokopie).
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Kapitel 1: Was ist Genetik?
Technik-Box 1
Isolierung genomischer DNA Anwendung: Genomische DNA ist Ausgangsmaterial für viele genetische Verfahren: Klonierung von DNA-Fragmenten, Southern-Blot-Analyse, PCRAnalyse, Kartierung. Methode: DNA liegt im Zellkern als extrem langes, aber sehr dünnes Fadenmolekül vor. Aufgrund dieser physikalischen Labilität führen hohe Temperaturen und extreme pH-Bedingungen zur Denaturierung oder Präzipitation. Besonders durch Scherkräfte (z. B. beim Pipettieren) entstehen Strangbrüche, so dass üblicherweise nur Fragmente von DNA gewonnen werden; Fragmentlängen von ca. 50 kb reichen aber für die meisten molekulargenetischen Arbeiten völlig aus. Durch milde Extraktionsbedingungen (schwach alkalischer Puffer) kann aus Zellen (Gewebeteile, Blut, kleine Organismen) hochreine und biologisch aktive DNA gewonnen werden. Dabei werden durch vorsichtiges Homogenisieren und Zusatz ionischer
Detergenzien die Zellmembranen aufgeschlossen. Wichtig ist die Anwesenheit eines Komplexbildners (z. B. EDTA) für zweiwertige Kationen wie Mg2+ und Mn2+, die nukleolytische Enzyme aktivieren können. Durch EDTA werden diese Kationen aus der Lösung entfernt und Nukleasen dadurch inaktiviert. Proteine werden durch Zugabe eines proteolytischen Enzyms (Proteinase K) abgebaut, das selbst unter den gegebenen Reaktionsbedingungen (schwach alkalisch, EDTA, Detergens) noch aktiv ist und sich schließlich selbst abbaut, wenn kein anderes Substrat mehr vorhanden ist. Für die Gewinnung reiner DNA werden Proteinreste und Abbauprodukte durch Ausschütteln mit Phenol abgetrennt; Phenolrückstände werden durch Ausschütteln mit Chloroform entfernt (Spuren von Phenol können spätere Analysen mit Restriktionsenzymen stören!). DNA kann durch Alkohol (Ethanol, Isopropanol) gefällt werden; nach „Waschen“ mit
Alkohol (zum Entfernen von Salzresten) kann DNA getrocknet und aufbewahrt werden; die Lagerung erfolgt üblicherweise in „TE-Puffer“ (benannt nach seinen Hauptbestandteilen Tris und EDTA: 10 mM Tris-HCl, 1 mM EDTA, pH 8,0). Da Phenol und Chloroform gesundheitsschädliche Arbeitsstoffe sind, dürfen sie nur unter einem Abzug verwendet werden; man hat daher Methoden entwickelt, die diesen „klassischen“ Schritt vermeiden. Dazu wurden säulenchromatographische Verfahren entwickelt, die Silikatoberflächen verwenden oder auf der Ionenaustausch-Chromatograhie basieren. Je nach Extraktionsvolumen sind die benötigen Säulen sehr klein und können mit kleinen Reaktionsgefäßen eingesetzt werden. Da bei der DNA-Isolierung oft ein hoher Durchsatz mit gleich bleibender Qualität erforderlich ist, werden bereits viele automatisierte Verfahren angeboten.
Kapitel 2
Molekulare Grundlagen der Vererbung
Das Gemälde „Laokoon 1977“ von Hans Erni könnte als Voraussicht der Fragen gesehen werden, die sich durch die Fortschritte der Molekularbiologie stellen. Es drückt aber auch die Abhängigkeit des Menschen von seinem genetischen Material aus. (Mit freundlicher Genehmigung von H. Erni, Luzern)
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Kapitel 2: Molekulare Grundlagen der Vererbung
Überblick Zugang zur Entdeckung der chemischen Verbindung, die die Erbanlagen enthält, erhielt man durch die Beobachtung, dass es möglich ist, erbliche Eigenschaften durch Infektion von Mäusen mit abgetöteten Erregern zu übertragen. Eine solche Übertragung von Erbinformation wird als Transformation bezeichnet. Die chemische Analyse der transformierenden Substanz ließ erkennen, dass es sich um Desoxyribonukleinsäure (DNA) handelt. Der chemische Aufbau der DNA ist sehr einfach. Sie besteht aus einem Rückgrat aus Zucker- (Desoxyribose-) Molekülen, die durch Phosphodiesterbrücken miteinander verknüpft sind. An der Desoxyribose befinden sich heterozyklische Basen. Insgesamt kommen in der DNA nur vier verschiedene Basen (Adenin, Thymin, Guanin und Cytosin) vor. Die DNA kommt in Form einer Doppelhelix vor, die aus zwei antiparallel umeinander gewundenen Strängen besteht. Die beiden DNA-Stränge der Doppelhelix werden durch Wasserstoffbrücken zwischen den Basen zusammengehalten. Bei dieser Verknüpfung der Basen durch Wasserstoffbrücken bestehen nur zwei verschiedene Möglichkeiten. Es kann entweder Guanin mit Cytosin oder
2.1 Funktion und Struktur der DNA 2.1.1 DNA als Träger der Erbinformation Der Eindruck, dass das Geheimnis der chemischen Grundlage der Vererbung in den Proteinen zu suchen sei, beherrschte noch in den 1930er Jahren die Vorstellungen der Forscher. Dennoch gehen die grundlegenden experimentellen Befunde, die die Grundlage zur Identifikation der DNA als Träger der erblichen Eigenschaften bilden, bereits in die 1920er Jahre zurück. Frederick Griffith hatte beobachtet, dass bestimmte Bakterienstämme im Stande waren, erbliche Eigenschaften an andere Bakterienstämme mit ursprünglich abweichenden Eigenschaften zu übertragen. Für diese Untersuchungen hatte er Streptococcus pneumoniae (auch als Pneumococcus pneumoniae bezeichnet) verwendet, den Erreger der Lungenentzündung. Manche Streptococcus-Stämme formen auf dem Kulturmedium große, ebenmäßige Bakterienkolonien und werden daher als virulente S-Stämme (S für engl. smooth) bezeichnet. Subkutane
Adenin mit Thymin verbunden werden. Man bezeichnet solche miteinander verbundenen Basen als Basenpaare und die durch Basenpaare verknüpften DNA-Stränge als komplementäre Stränge. Zur konstanten Weitergabe des Erbmaterials muss sich die DNA identisch duplizieren können. Aufgrund ihrer Struktur ist die DNA hierzu sehr einfach in der Lage. Trennen sich die beiden Stränge der Doppelhelix einer Chromatide (nicht unterteilbare Längseinheit des Chromosoms), so kann an jedem der beiden Stränge ein neuer, komplementärer Strang synthetisiert werden, da seine Struktur durch die Basenfolge in dem alten Strang vollständig festgelegt ist. Man bezeichnet diesen Vorgang der Verdoppelung der DNA als Replikation. Durch Replikation entsteht eine zweite DNA-Doppelhelix. Während einer Zellteilung können die beiden Chromatiden auf die Tochterzellen verteilt werden und die Kontinuität des genetischen Materials ist damit gesichert. Da bei der Replikation in beiden neu gebildeten DNA-Doppelhelices jeweils ein Strang der ursprünglichen DNA-Doppelhelix erhalten bleibt, wird die Replikation als semikonservativ bezeichnet.
Infektionen von Mäusen mit diesen Erregerstämmen führen zum Tod der Mäuse. Hingegen zeigen Infektionen mit avirulenten R-Stämmen, von denen auf Kulturmedium kleinere, rauhe Kolonien geformt werden (R für engl. rough), keine letalen Folgen. Auch durch Hitze inaktivierte S-Stämme erzeugen keine Infektionen. Mischt man jedoch hitzeinaktivierte SStämme und lebende R-Stämme und infiziert damit eine Maus, so stirbt diese an den Folgen einer Infektion. Man bezeichnet diesen Vorgang als Transformation: Die hitzeinaktivierten virulenten Bakterien transformieren die avirulenten R-Stämme und erzeugen virulente Bakterien, indem sie eine, zunächst unbekannte, Substanz auf die avirulenten Bakterien übertragen. Die Ursachen für diese Transformation blieben unbekannt, bis Oswald Avery, Colin MacLeod und Maclyn McCarthy 1944 die entscheidenden Experimente ausführten. Sie behandelten die virulenten hitzeinaktivierten Bakterienstämme mit verschiedenen Enzymen, um auf diese Weise zu testen, durch welche chemischen Verbindungen die Transformation ausgelöst wird. Die Begründung Averys für die Wahl des experimentellen Systems erinnert auf-
2.1 Funktion und Struktur der DNA
fallend an Mendels Motivation für die Wahl seines Untersuchungsmaterials: „For purpose of study, the typical example of transformation chosen as a working model was the one with which we have had most experience and which consequently seemed best suited for analysis“ (Avery et al. 1944). Das entscheidende Ergebnis dieser Versuche war der Befund, dass proteolytische Enzyme (Trypsin, Chymotrypsin) und Ribonuklease keinen Effekt auf die Transformationsfähigkeit ausübten, wohl aber Desoxyribonuklease (in der Originalpublikation als „desoxyribonucleodepolymerase“ bezeichnet). Die physikochemischen Untersuchungen der transformierenden Substanz in der Ultrazentrifuge, durch Elektrophorese und durch Messungen des Absorptionsspektrums gaben zusätzliche Hinweise auf den Desoxyribonukleinsäurecharakter dieser Verbindung. So konnten kaum mehr Zweifel bestehen, dass die biologisch aktive Verbindung, die die Ursache für die Transformation der Pneumokokken war, DNA ist. Dennoch blieb die eigentliche Basis der biologischen Funktion von DNA noch immer unverstanden, und zu ihrer Erklärung bedurfte man des von Watson und Crick vorgestellten Strukturmodells der DNADoppelhelix. Avery und seine Mitarbeiter beschreiben am Schluss der Diskussion ihrer Versuchsergebnisse, in bemerkenswerter Zurückhaltung, die Konsequenzen aus ihren Befunden: „If the results of the present study on the chemical nature of the transforming principle are confirmed, then nucleic acids must be regarded as possessing biological specificity the chemical basis of which is as yet undetermined“ (Avery et al. 1944). ! Die Erkenntnis, dass DNA die Erbinformation ent-
hält, beruht auf Experimenten, die zeigen, dass DNA im Stande ist, erbliche Eigenschaften einer bakteriellen Donorzelle auf eine genetisch andersgeartete bakterielle Rezeptorzelle zu übertragen.
2.1.2 Chemische Zusammensetzung Die chemischen Verbindungen, die die Träger der Erbinformation sind, wurden schon 1871 durch Friedrich Miescher in seinem Labor im Keller des Tübinger Schlosses entdeckt. Miescher untersuchte
die Bestandteile von Eiter, den er aus Verbandsmaterial isolierte, das er aus der Tübinger chirurgischen Klinik erhielt. Dabei entdeckte er als wesentlichen Bestandteil des Eiters eine Substanz, die er Nuklein nannte. Ähnliche Verbindungen fand er im Sperma von Lachsen, aber sein Interesse wandte sich bald wieder den Eiweißmolekülen zu. Das Nuklein bezeichnen wir heute als Nukleinsäure. Nukleinsäuren erschienen Miescher als zu einförmig in ihrer chemischen Zusammensetzung, da sie im Wesentlichen große Anteile an Phosphat enthielten. Diese Einförmigkeit konnte sein Interesse nicht erwecken. Erst im Laufe der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts wurden die Bestandteile der Nukleinsäuren und ihr molekularer Aufbau genauer analysiert. Als Hauptkomponenten erkannte man in allen Nukleinsäuren vier heterozyklische organische Basen, Adenin, Guanin, Cytosin und Thymin oder, alternativ zum Thymin, das zu diesem nahe verwandte Uracil. Diese Basen sind seitlich an eine Kette von Riboseoder Desoxyribosemolekülen gebunden, die unter sich durch Phosphatdiesterbindungen miteinander verknüpft sind (Abb. 2.1). Man unterschied daher desoxyribosehaltige Nukleinsäuren, die die Bezeichnung Desoxyribonukleinsäure (DNS oder DNA vom engl. deoxyribonucleic acid) erhielten, von den ribosehaltigen Nukleinsäuren, Ribonukleinsäure (RNS oder RNA vom engl. ribonucleic acid) genannt. Ein wichtiger, aber zunächst in seiner eigentlichen Bedeutung nicht wahrgenommener Befund war die annähernde äquimolare Menge der organischen Basen. Erst Erwin Chargaff erkannte um 1950, dass nur jeweils zwei Basen, nämlich Guanin und Cytosin einerseits und Adenin und Thymin andererseits in der DNA in genau äquimolaren Mengen vorhanden sind. Diese grundlegenden chemischen Eigenschaften, zusammen mit röntgenspektrometrischen Daten der Struktur kristallisierter DNA-Moleküle, die einen helixartigen Aufbau der Moleküle als einfachste Interpretation anzeigten, waren entscheidend für das Verständnis der grundlegenden Struktur von DNAMolekülen. Sie erlaubten es James Watson und Francis Crick 1953, auf der Basis von Befunden, die gleich noch betrachtet werden sollen, ein Strukturmodell für die DNA zu entwerfen, das es ermöglicht, die grundlegenden Eigenschaften und Funktionen des genetischen Materials aller Lebewesen von der molekularen Seite her zu verstehen. Die DNA ist nach diesem Modell aus zwei antiparallelen Nukleinsäuresträngen aufgebaut, die in einer
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Kapitel 2: Molekulare Grundlagen der Vererbung
2.1 Funktion und Struktur der DNA
▲
rechtsgewundenen Spirale miteinander verwunden sind und durch Wasserstoffbrückenbindungen der Basen zusammengehalten werden (Abb. 2.2). Diese Struktur wird als DNA-Doppelhelix bezeichnet. In ihrer äußeren Form ist sie durch zwei Vertiefungen gekennzeichnet, die kleine und die große (engl. minor bzw. major groove) Furche. Diese Furchen spielen eine wichtige Rolle für die Interaktion der DNA mit Eiweißmolekülen zur Verpackung der DNA im Chromosom, aber auch für die Bindung regulatorischer Proteinmoleküle (s. S. 79, 157 und 324). Vor allem die major groove ist bedeutsam, da in ihr die Basenpaare in ihrer sequenzspezifischen Struktur zur Außenseite der Doppelhelix hin exponiert werden. Das Watson-Crick-Modell der DNA-Doppelhelix enthält als biologisch wichtigstes Strukturelement die Bildung von Basenpaaren durch Wasserstoffbrücken zwischen komplementären Basen (Abb. 2.3). Die Basenpaarung erfolgt jeweils zwischen der Aminound der Keto-Form des Adenin und Thymin oder zwischen Cytosin und Guanin. Da Adenin und Thymin durch zwei Wasserstoffbrücken miteinander verbunden sind, Guanin und Cytosin aber durch drei, ist die
Abb. 2.1a–d. Bausteine der DNA und RNA. a Grundbausteine der Nukleinsäure sind die Nukleotide, die aus einer Base (hier: Adenin), einem Zucker (hier: 2-Desoxy-D-Ribose) und einem Phosphatrest bestehen. Die Base ist über eine N-glykosidische Bindung mit dem 1’-C des Zuckers verbunden. Die Verbindung aus Base und Zucker wird auch allgemein als Nukleosid bezeichnet (hier: Adenosin). Der Phosphatrest ist als Säureanhydrid mit dem 5’-C des Zuckers verbunden; die dargestellte Verbindung heißt korrekt Adenosin-5’-monophosphat. b Die Nukleinsäuren werden entsprechend dem Zuckerbaustein als Ribonukleinsäuren (bei Verwendung der D-Ribose im Grundgerüst; Abk. RNA) oder Desoxyribonukleinsäuren (bei Verwendung der 2-Desoxy-D-Ribose im Grundgerüst; Abk. DNA) bezeichnet. Die beiden Zuckerbausteine unterscheiden sich durch die Anwesenheit (D-Ribose) oder Abwesenheit (Desoxyribose) einer OH-Gruppe am 2’-C. Die Nummerierung der einzelnen Atome im Ring ist angegeben. c Die Basen sind entweder die Purine Adenin (A) bzw. Guanin (G) oder die Pyrimidine Cytosin (C) bzw. Thymin (T). Bei der RNA tritt Uracil (U) an die Stelle von Thymin. Die Nummerierung der einzelnen Atome im Ring ist angegeben. d Über 5’→3’-Phosphodiesterbindungen am Zucker verbundene Nukleotide formen die Makromoleküle der Nukleinsäuren (die DNA und RNA unterscheiden sich durch die verwendeten Zuckerbausteine; s. b). Die jeweiligen Makromoleküle unterscheiden sich durch die Folge der organischen Basen (Sequenz). (d nach Löffler u. Petrides 2003)
Abb. 2.2. Strukturmodell der DNA-Doppelhelix zum Zeitpunkt der Verdoppelung (Replikation). Eine Windung der Doppelhelix der B-Konformation mit etwa 10 Basenpaaren benötigt etwa 34 Å, während der Durchmesser der Doppelhelix etwa 20 Å beträgt. Die große und kleine Furche (major groove und minor groove) sind angegeben. Die beiden DNAEinzelstränge weisen eine entgegengesetzte Orientierung auf (Pfeilköpfe und Angabe der endständigen C-Atome der Desoxyribose)
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Kapitel 2: Molekulare Grundlagen der Vererbung H O CH3
H N
H
N N
N
Thymin
Adenin O
N
N
Zucker
N
Zucker
H N
stoffbrückenbindungen zwischen zwei Basen (Guanin und Cytosin bzw. Adenin und Thymin) können zwei DNA-Ketten miteinander in Wechselwirkung treten und eine schraubenförmige „Doppelhelix“ mit einer tieferen und einer flacheren „Furche“ an ihrer Außenseite bilden.
2.1.3 Konfiguration der DNA O
H N
H
N
N
Cytosin
Guanin N
N
O
N
N
H H Zucker
Pyrimidin
Zucker
Purin
Abb. 2.3. Wasserstoffbrücken bei der Basenpaarung in der DNA. Bestimmte Basen (A und T in DNA bzw. A und U in RNA sowie G und C) können sich durch die Ausbildung von Wasserstoffbrücken paaren. Durch die Paarung solcher sogenannter komplementärer Basen entstehen doppelsträngige Nukleinsäuren, die die Form einer Doppelhelix annehmen
Doppelhelix in AT-reichen DNA-Abschnitten weniger stabil als in GC-reichen Abschnitten. Diese physikalische Eigenschaft kann auch zur experimentellen Bestimmung des mittleren Basengehaltes der DNA ausgenutzt werden (s. S.30).Für die Stabilität der Doppelhelix ist jedoch nicht allein die Energie der Wasserstoffbrückenbindungen entscheidend, sondern diese werden durch molekulare Interaktionen zwischen den Basen (van der Waals-Kräfte) – sogenannte stackingKräfte – ergänzt. ! Träger der Erbinformationen sind die Nukleinsäu-
ren. Es handelt sich hierbei um hochmolekulare lineare Kettenmoleküle, die durch ein Zucker-PhosphatGrundgerüst gebildet werden. In den meisten Organismen ist die Desoxyribose die Zuckerkomponente der Nukleinsäuren des Erbmaterials, die daher als Desoxyribonukleinsäure (DNA) bezeichnet wird. An den Zuckermolekülen befinden sich heterozyklische Purin- oder Pyrimidinbasen. Durch Wasser-
DNA-Doppelhelices können in mehreren strukturellen Konfigurationen vorliegen, die von der Basenfolge und den Ionenbedingungen im Lösungsmittel abhängig sind. Die von Watson und Crick vorgeschlagene Konformation wird als B-Konfiguration (B-Konformation) bezeichnet. Alternative Strukturen sind die A- und die Z-Konfiguration (A- und Z-Konformation) (Abb. 2.4). Da man die A-Konfiguration nur bei hohen Salzkonzentrationen oder in stark dehydratisiertem Zustand erhält, kommt sie möglicherweise in der belebten Natur nicht vor, oder nur unter besonderen Umständen, die mit dieser Struktur vereinbar sind. Die A-Konfiguration unterscheidet sich von der B-Konfiguration dadurch, dass die Basen nicht mehr perpendikular zur Achse der Doppelhelix angeordnet, sondern um etwa 19 ° gegen die Horizontale gedreht sind. Zugleich beträgt die Anzahl der Basenpaare je Windung der Doppelhelix 11 statt der 10 Basenpaare, die die B-Konfiguration kennzeichnen (Tabelle 2.1). Diese Veränderungen in der Struktur bedingen eine Vergrößerung des Durchmessers der Doppelhelix auf 25,5 Å anstatt der 23,7 Å, die in der B-Konfiguration gefunden werden. Die Anordnung der Basenpaare ist übrigens auch in der B-Konfiguration nicht strikt in der gleichen Ebene orientiert, sondern die Ebenen können geringfügig gegeneinander gedreht sein. Hieraus resultieren durch weitere Verschiebungen in der Basenanordnung und des Zucker-Phosphat-Rückgrates sequenzspezifische Unregelmäßigkeiten in der Doppelhelix. Die Trennung von A- und B-Konfiguration der Doppelhelix ist ebenfalls nicht absolut. In Regionen, in denen der eine DNA-Strang ausschließlich Pyrimidinbasen, der andere ausschließlich Purinbasen enthält, nimmt die Doppelhelix eine Struktur an, die Elemente beider Konfigurationen enthält, da der Polypurinstrang die Eigenschaften der A-Konfiguration, der Polypyrimidinstrang jedoch die der B-
2.1 Funktion und Struktur der DNA
Abb. 2.4. DNA in A-, B- und Z-Konformation. Die A- und BKonformation zeichnen sich durch eine Drehung der Doppelhelix im Uhrzeigersinn (nach rechts) aus, während die Z-Konformation Linksdrehung aufweist (Pfeile). Die in der Abbildung angedeutete geringere Windung von Z-DNA, die zugleich einen verminderten Durchmesser der Z-DNA zur Folge hat, bringt Veränderungen in der major und minor groove mit sich. (Nach Weaver u. Hedrick 1992)
Tabelle 2.1.
Konfiguration besitzt. Diese Eigenschaften haben strukturelle Konsequenzen im Chromosom. Die strukturelle Flexibilität von Nukleinsäuremolekülen wird auch verdeutlicht, wenn wir uns vor Augen halten, dass die Struktur von DNA/RNA-Hybridmolekülen, wie sie während der Transkription (s. S. 323) vorliegen, derjenigen der A-Konfiguration einer DNA-Doppelhelix nahekommt. In allen bisher beschriebenen Strukturformen der DNA ist die Doppelhelix rechtsgewunden, d. h. sie ist im Uhrzeigersinn gedreht, unabhängig davon, ob man von oben oder von unten auf das korkenzieherartig gedrehte Molekül schaut. Eine Linksdrehung hingegen findet man bei der Z-DNA-Konfiguration. Während die A-Konfiguration der DNA-Doppelhelix vielleicht biologisch wenig oder keine Bedeutung hat, gibt es Hinweise darauf, dass die Z-Konfiguration eine wichtige Aufgabe für die Funktion der DNA in Zusammenhang mit der Verwertung der in der DNA niedergelegten Information in der Zelle übernimmt. Z-DNA kann entstehen, wenn Pyrimidin- und Purinbasen in einem Strang miteinander abwechseln, zum
Physikochemische Eigenschaften der DNA Konfiguration A
B
Z
Windungsrichtung
rechts
rechts
links
Doppelhelix ∅
25,5 Å
23,7 Å
18,5 Å
bp/Helixwindung
~ 11
~ 10
~ 12
Windung zwischen Basenpaaren
33,6°
35,9°
60°
Basenneigung zur Helixachse
19°
–1,2°
–9°
Propellertwist
18°
16°
~ 0°
Helixachse läuft durch
Große Furche
Basen
Kleine Furche
Große Furche
eng, tief
breit
sehr klein, flach
Kleine Furche
breit, flach
eng
sehr eng, tief
Glykosylbindung
anti
anti
anti (Pyrimidine) syn (Purine)
Nach Watson et al. (1987); Voet u. Voet (1992)
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Kapitel 2: Molekulare Grundlagen der Vererbung
Beispiel also in einer poly[dG-dC] · poly[dC-dG]Sequenz oder einer poly[dA-dC] · poly[dT-dG]Sequenz. Auch in dieser Form stehen die Basenpaare nicht perpendikular zur Achse der Doppelhelix sondern in einem Winkel von 9 °. Der Abstand der Basen voneinander ist noch größer als in der A-Konfiguration und beträgt 12 Basen per Helixwindung. Eine volle Windung erfordert 45,6 Å und der Durchmesser beträgt nur 18,5 Å, das Molekül ist also länger und dünner. Die Struktur der Z-DNA ist somit viel gestreckter als die von B-DNA. Das hat auch zur Folge, dass die major groove beinahe völlig zugunsten einer relativ tiefen minor groove verschwindet. Der Name ZDNA leitet sich von der Zick-Zack-Struktur (engl. zigzag) ab, die die Phosphatgruppen an der Außenseite der Doppelhelix formen, wenn man sie sich untereinander verbunden vorstellt. Bei B-DNA hingegen zeigen sie sich in einer glatten, schneckenartig um die Doppelhelix gewundenen Linie. Die Z-DNA-Struktur wird offenbar nur in begrenzten Abschnitten der chromosomalen DNA ausgebildet, und es wird vermutet, dass sie als Erkennungsstruktur zur Bindung von Regulationsproteinen wichtig ist. Obwohl die Doppelhelix durch die geringe Anzahl der möglichen Basenpaarungen scheinbar eine sehr gleichförmige Struktur aufweist, muss man sich vor Augen halten, dass die spezifische Folge bestimmter Basenpaare der Doppelhelix dennoch eine sehr spezielle regionale Struktur vermitteln kann. Als Beispiel hatten wir bereits die Entstehung der Z-DNA-Konfiguration durch abwechselnde Purin-PyrimidinBasenpaare betrachtet. Besonderes Interesse findet gegenwärtig auch die Eigenschaft der DNA, kurvenförmige Molekülbereiche (engl. curved DNA) ausbilden zu können. Man hat solche DNA-Sequenzen aufgrund ihrer besonderen elektrophoretischen Eigenschaften entdeckt (Abb. 2.5). Sie migriert nämlich bei der elektrophoretischen Trennung langsamer ins Gel als es ihrer eigentlichen Größe entspricht. Das ist auf die veränderte sterische Struktur des DNA-Moleküls zurückzuführen, die die Wanderung durch die Poren eines Gels behindert. Die Biegung der Doppelhelix in eine kurvenförmige Gestalt wird durch die Basenfolge verursacht. Bestimmte Basenfolgen, so etwa poly[dA]-Regionen, führen zu einer Änderung der Drehung der Basenpaare gegeneinander, die erzwungen wird, da sonst sterisch unzulässige Überlappungen entstehen. Diese Drehung der Basen führt zu einer Abweichung von der B-Konfiguration (B′-Form),die an den Übergangsstel-
Abb. 2.5 a,b. DNA-Struktur: Gebogene DNA (curved DNA). a DNA-Molekül mit einem einzigen Sequenzelement, das eine Biegung induziert (Pfeil: AG/CT-Paar innerhalb der Nukleotidsequenz AAAAAAA↓GGGGGGG) b DNA-Molekül mit vielen Sequenzelementen, die eine Biegung induzieren (Pfeile in den Basenpaaren: AG/CT, GA/TC, GC/GC und CG/CG innerhalb der Nukleotidsequenz GG↓A↓G↓A↓G↓C↓T↓CACAC↓G↓AC↓TA ↓ GT↓C5). (a nach dem Original von B.E. Trifonov, Rehovot)
len zwischen der normalen B-Konfiguration und der B′-Konfiguration einen Knick (engl. kink) in der Richtung der Doppelhelix und damit eine Abweichung ihrer Längsachse von der vorherigen Richtung verursacht. Solche Abweichungen können auch durch andere als die zuvor genannten Basensequenzen bedingt sein. Insbesondere AA-Dinukleotide induzieren eine gebogene DNA-Struktur, wobei die Biegung in einer Ebene liegt, wenn sie in regelmäßigen Abständen relativ zur Doppelhelixwindung (z. B. alle 10
2.1 Funktion und Struktur der DNA
bis 11 Basenpaare) auftreten. Ähnliche Effekte werden noch für bestimmte andere Dinukleotide (z. B. AG oder GA) beobachtet, aber auch längere Sequenzeinheiten können Richtungsveränderungen bedingen. ! Die DNA-Doppelhelix kann in unterschiedlichen
Strukturformen vorliegen. Normalerweise bildet sie die rechtsgewundene B-Konfiguration aus. Bei bestimmten Basenfolgen und in bestimmten Stoffwechselsituationen kann sie jedoch eine linksgewundene Z-Konfiguration annehmen. Das hat strukturelle Konsequenzen, da die Doppelhelix in einen gestreckteren Zustand übergeht und die Vertiefungen an der Außenseite der Doppelhelix ihre Struktur verändern. Ein anderer rechtsgewundener Zustand, die A-Konfiguration, wird von der DNA in vivo wahrscheinlich nicht ausgebildet, kann jedoch bei DNA/RNA-Doppelsträngen auftreten.
Die funktionelle biologische Bedeutung solcher gebogenen DNA-Doppelhelices ist bisher nicht sehr gut verstanden. Es gibt Hinweise darauf, dass sie wesentliche Bedeutung für die Bindung bestimmter Proteine haben. Gebogene DNA-Abschnitte könnten aber auch dazu dienen, nukleosomenfreie DNAAbschnitte zu erzwingen, da die Biegung der Doppelhelix mit einer nukleosomalen Struktur nicht vereinbar ist. Dementsprechend hat man auch beobachtet, dass gebogene DNA-Bereiche Einfluss auf Transkription und Rekombination ausüben können.
pelhelix sehr wesentlich durch das PhosphodiesterZucker-Rückgrat der DNA bestimmt wird. Der hohe Gehalt an negativ geladenen Phosphatgruppen, die nicht durch entsprechende positive Ladungen kompensiert werden, verleiht der DNA eine stark negative Gesamtladung. Diese physikalische Eigenschaft wird uns in Zusammenhang mit der Art der Verpackung der DNA im Zellkern noch näher interessieren (s. S. 272). Ein besonders wichtiger Aspekt der Struktur der DNA-Doppelhelix ist deren Aufbau aus zwei antiparallel orientierten Einzelsträngen. Dem DNAModell (Abb. 2.1) können wir entnehmen, dass im Phosphat-Zucker-Rückgrat der DNA-Ketten die einzelnen Desoxyribosemoleküle durch Phosphodiesterbrücken zwischen ihrer 3′-OH-Gruppe und der 5′-OH-Gruppe des folgenden Desoxyribosemoleküls miteinander verbunden sind. Hierdurch entsteht eine Asymmetrie innerhalb der DNA-Kette, die zu einer 3′→5′-Orientierung der Desoxyribosemoleküle führt. Das Schema lässt auch erkennen, dass die miteinander zur Doppelhelix vereinigten DNA-Ketten gegenläufig, also antiparallel angeordnet sind: Der 3′→5′-Orientierung des einen Stranges steht eine 5′→3′-Orientierung des anderen Stranges gegenüber. Diese strukturelle Eigenschaft der Doppelhelix muss uns deutlich vor Augen stehen, da sie wichtige biologische Konsequenzen hat, die später im Einzelnen erörtert werden müssen. ! Die beiden gepaarten Nukleinsäurestränge sind in entgegengesetzter Richtung orientiert, haben also den Charakter antiparalleler Ketten.
! DNA erweist sich trotz ihrer einförmigen chemi-
schen Struktur als ein sehr flexibles Molekül, dessen spezifische Struktureigenschaften innerhalb kleiner Bereiche des Makromoleküls durch bestimmte Basenfolgen verändert werden können.
Bereits aus diesen wenigen Beispielen wird deutlich, dass die DNA-Doppelhelix bei genauerer Betrachtung keine einförmige, wenig differenzierte Struktur ist, sondern einer Vielfalt von Strukturveränderungen unterliegen kann, die im Zusammenhang mit der zellulären Funktion der DNA Bedeutung gewinnen (s. S. 324). Das Strukturmodell der DNA-Doppelhelix (Abb. 2.2) lässt erkennen, dass der Außenbereich der Dop-
2.1.4 Physikalische Eigenschaften der Nukleinsäuren In den 1950er Jahren hatte man festgestellt, dass die DNA-Doppelhelix nicht nur denaturiert – also in Einzelstränge zerlegt – werden kann, sondern dass sich DNA-Einzelstränge unter geeigneten Ionen- und Temperaturbedingungen wieder zu einer Doppelhelix vereinigen können. Man bezeichnet diesen Vorgang als Renaturierung oder Reassoziation. Die durch Renaturierung gebildeten Moleküle nennt man auch Hybridmoleküle, und man bezeichnet den Vorgang der Doppelstrangbildung als Hybridisierung.
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Kapitel 2: Molekulare Grundlagen der Vererbung
Der Begriff Hybridmolekül soll im Folgenden auf alle durch Hybridisierung bzw. Renaturierung erhaltenen Doppelstrangmoleküle angewandt werden, unabhängig davon, ob die Doppelstränge den Ausgangsmolekülen entsprechen oder nicht. Solche Hybridmoleküle können also aus vollständig komplementären DNA- und RNA-Einzelsträngen oder aus zwei komplementären RNA-Strängen gebildet werden, oder sie können auch aus Nukleinsäuresträngen entstehen, die nicht vollständig komplementär sind. In den Hybriddoppelsträngen befinden sich dann ungepaarte Abschnitte – man spricht von Fehlpaarungen oder (engl.) mismatching. Einen solchen Doppelstrang nennt man auch eine Heteroduplex. Da die Stabilität der Doppelhelix (s. S. 23), durch die Basenpaarung bedingt wird (Abb. 2.6), sind solche ungenau zusammengefügten Heteroduplexstränge weniger stabil als vollständig gepaarte Moleküle. Die Stabilität eines Doppelstranges kann beispielsweise durch thermische Denaturierung ermittelt werden, da der Verlauf der temperaturabhängigen Denaturierung neben der Basenzusammensetzung von der Stabilität der Doppelhelix, also
von dem Anteil gepaarter und ungepaarter Basenpaare abhängig ist. Messen kann man Denaturierung durch Photometrie im Bereich des Absorptionsmaximums von Nukleinsäuren, das bei 260 nm liegt. Die Absorption von doppelsträngigen Nukleinsäuren ist bei einer Wellenlänge von 260 nm niedriger als die von Einzelsträngen. Aus einer thermischen Schmelzkurve (Abb. 2.6) kann man daher Rückschlüsse auf die Genauigkeit der Basenpaarung von Doppelsträngen erhalten, die in einem Hybridisierungsexperiment gebildet wurden. Je größer der Anteil ungepaarter Basenpaare ist, desto niedriger ist der Schmelzpunkt – die Temperatur, bei der 50% der Doppelstränge geschmolzen sind.
Abb. 2.6a–c. Schmelzkurve von DNA. a Doppelsträngige Nukleinsäuren können durch Erhitzung in Einzelstränge aufgeschmolzen werden. Die Temperatur, bei der 50% der Moleküle als Einzelstrang vorliegen, ist der Schmelzpunkt (Tm). b Der Schmelzpunkt ist vom GC-Gehalt der Nukleinsäuren abhängig. Außerdem schmelzen RNA/RNA-Doppelstränge bei höherer Temperatur als sequenzgleiche DNA/DNA-Doppelstränge. DNA/RNA-Hybridstränge liegen in ihrer Schmelztemperatur zwischen der von Doppelstrang-DNA und -RNA. c Vergleich des Schmelzverhaltens zweier verschiedener DNAs. Die linke Kurve (▲) zeigt das Schmelzverhalten von DNA aus
Mikronuklei des Ciliaten Stylonychia mytilus. Die rechte Kurve (●) zeigt das Schmelzverhalten der DNA aus Makronuklei des gleichen Organismus. Die Unterschiede erklären sich dadurch, dass in der Makronukleus-DNA ein großer Teil der DNASequenzen des Mikronukleus fehlen (s. Abb. 2.8 und Kap. 12.4.1). Die Basenzusammensetzung der DNA-Sequenzen des Makronukleus ist viel einheitlicher als die der DNA des Mikronukleus und sie zeichnet sich zudem durch einen höheren mittleren GC-Gehalt aus, so dass der Schmelzpunkt höher liegt als der der DNA des Mikronukleus. (b: Nach Marmur u. Doty 1962, c: nach Ammermann et al. 1974)
! Einzelstrang-DNA lässt sich durch Basenpaarung
komplementärer Stränge zur Doppelhelix renaturieren. Solche Hybridmoleküle können auch aus nicht vollständig komplementären DNA-Molekülen entstehen und weisen dann ungepaarte Abschnitte auf. Die entstandenen Doppelstränge werden in solchen Fäl-
2.1 Funktion und Struktur der DNA
Die Möglichkeit der Hybridisierung von Nukleinsäuren hat eine zentrale Bedeutung für die Aufklärung der Genomstruktur, für die Analyse von Genen, ihrer Feinstruktur und ihrer Lokalisation im Genom erlangt. Ein beachtlicher Teil moderner gentechnologischer Methodik macht Gebrauch von der Grundeigenschaft der Nukleinsäuren, sich in komplementären Abschnitten zu Hybriden oder sogar in Tripelhelixstrukturen zu vereinigen. Für das Verständnis der allgemeinen Struktur des eukaryotischen Genoms haben Renaturierungsversuche mit genomischer DNA eine grundlegende Rolle gespielt. Von ausschlaggebender Bedeutung war die Erkenntnis, dass die Kinetik der Bildung von Doppelhelices aus Einzelsträngen Information über die Komplexität eines Genoms, also letztlich über die Anzahl unterschiedlicher DNA-Sequenzen, geben kann. Wie wir sehen werden, unterscheidet sich die so ermittelte Komplexität eines Genoms mitunter erheblich von der tatsächlichen Größe des Genoms in Nukleotiden, wie man sie aus der photometrisch oder anderweitig ermittelten DNA-Menge im haploiden Genom (einfacher Chromosomensatz) errechnen kann. Man spricht daher auch von kinetischer Komplexität eines Genoms (im Gegensatz zur Genomgröße, die stets die Menge von DNA im haploiden Genom angibt). Die Bildung einer DNA-Doppelhelix aus Einzelsträngen folgt der Kinetik einer bimolekularen chemischen Reaktion (Reaktion 2. Ordnung), ist also konzentrations- und zeitabhängig. In der Reaktionsgleichung −
dc
dt
= k 2 [ c ]2
bedeutet k2 die Reaktionskonstante, die ein wichtiger Parameter für die Berechnung der kinetischen Komplexität einer DNA ist. Die Molarität von Nukleotiden in der Einzelstrangnukleinsäure wird durch c angegeben und t ist die Zeit in Sekunden. Roy Britten und seine Mitarbeiter haben die Reaktionsgleichung in
c
co
=
1 1+ k co t
In Abb. 2.7 ist die Reaktionskinetik auf der Grundlage dieser Gleichung als Prozentsatz der Renaturierung in Abhängigkeit vom Produkt aus der Anfangskonzentration co (von Nukleotiden in M × l–1 in den Nukleinsäureeinzelsträngen) und der Zeit t (in s) in einer semilogarithmischen Graphik dargestellt. Der Vorteil dieser Darstellungsweise ist, dass Reaktionskinetiken ohne eine Korrektur für unterschiedliche Anfangskonzentrationen von Einzelsträngen direkt vergleichbar sind, da sich Anfangskonzentration und Reaktionszeit umgekehrt proportional zueinander verhalten und somit durch die Darstellung des Produktes beide Größen als variable Einzelparameter in der Graphik eliminiert sind. Aus Abb. 2.7 ist auch zu erkennen, dass mit Hilfe des co × t -Wertes, bei dem die Hälfte der 100
% Einzelstrang
len als Heteroduplex bezeichnet. Die Genauigkeit der Basenpaarung in der Heteroduplex lässt sich durch Analyse der thermischen Schmelzeigenschaften der Doppelhelix ermitteln, da die Heteroduplex mit einem zunehmendem Anteil ungepaarter Regionen instabiler wird.
folgender Weise umgeformt, um ihre graphische Auswertung zu vereinfachen:
cot1/2
50
0
0,01
0,1
1
10 100 cot [M x s x l-1]
Abb. 2.7. Renaturierungskinetik der DNA. Diese Darstellung des Verlaufs einer chemischen Reaktion 2. Ordnung wird als cot-Kurve (gesprochen cot) bezeichnet. Sie ermöglicht den direkten Vergleich der Reaktionskinetiken verschiedener DNAProben, da in der Darstellung Unterschiede in der Reaktionszeit und DNA-Konzentration (durch die Bildung des Produktes aus Anfangskonzentration der denaturierten Nukleotide (co) und Zeit (t)) nicht zur Geltung kommen. Im cot1/2-Punkt sind 50% der Nukleotide zu Doppelsträngen renaturiert. Unterschiede verschiedener DNA-Proben im cot1/2-Wert zeigen direkt den Unterschied in der Komplexität der DNA an. Abweichungen vom sigmoiden Kurvenverlauf, wie er für die ideale Reaktion 2. Ordnung charakteristisch ist, zeigen die Zusammensetzung der DNA-Probe aus mehreren Fraktionen unterschiedlicher kinetischer Komplexität an, d.h. sie deuten auf das Vorhandensein repetitiver DNA-Sequenzen in der DNA-Probe
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Kapitel 2: Molekulare Grundlagen der Vererbung
Einzelstränge zum Doppelstrang reassoziiert ist (genannt cot1/2-Wert), die relative kinetische Komplexität eines Genoms beschrieben werden kann. Hat man mehrere Reaktionskinetiken unter gleichen Bedingungen (Ionenstärke, Temperatur, Länge der renaturierenden Stränge) ermittelt, so kann man durch Vergleich der cot1/2-Werte der verschiedenen Reaktionskinetiken direkte Informationen über die relativen kinetischen Komplexitäten der untersuchten Genome erhalten. ! Die Bildung einer Doppelhelix aus komplementä-
ren Nukleinsäureeinzelsträngen erfolgt reaktionskinetisch als biomolekulare Reaktion. Sie ist damit von der Konzentration der komplementären Stränge und der Reaktionszeit abhängig. Das gestattet es, durch Messung der Renaturierungskinetik Aufschlüsse über die Komplexität der renaturierenden Nukleinsäuresequenzen zu erhalten.
Abb. 2.8 zeigt eine Serie von Reaktionskinetiken der DNA verschiedener Organismen. Hierbei fällt auf, dass der Reaktionsverlauf bei Eukaryoten nicht mehr dem bei Prokaryoten beobachteten Reaktionsverlauf in einer einfachen sigmoiden Kurve folgt, sondern flacher – oder sogar in mehreren Stufen – verläuft. Britten und seine Mitarbeiter erkannten, dass dieses Reaktionsverhalten damit zu erklären ist, dass in eukaryotischen Genomen ein Teil der DNA-Sequenzen im haploiden Genom nicht nur einmal, sondern mehrfach vorhanden ist. Diese mehrfach vorhandenen DNA-Sequenzen wurden repetitive DNASequenzen genannt (engl. repetitive oder repeated DNA). Der Reaktionsverlauf erklärt sich aus der Überlagerung der Reaktionskurven verschiedener DNA-Fraktionen, deren Einzelsequenzen mit jeweils spezifischer und unterschiedlicher Häufigkeit im haploidem Genom vorhanden sind. Die detaillierte Untersuchung dieser unterschiedlichen DNA-Fraktionen hat weitere tiefgehende Einblicke in die Organisation des eukaryotischen Genoms vermittelt. Einige wichtige Gesichtspunkte der Zusammensetzung des Genoms aus Fraktionen unterschiedlicher Repetitivität lassen sich direkt aus den Reaktionskinetiken ablesen. So ist direkt festzustellen, dass in praktisch allen untersuchten Genomen neben repetitiven DNA-Sequenzen auch nichtwiederholte, sogenannte unique sequences vorkommen. Solche
Abb. 2.8 a,b. Vergleich der Renaturierungskinetiken der Genom-DNA verschiedener Organismen. Die Darstellung als cot-Kurve erlaubt einen direkten Vergleich der Renaturierungskinetiken verschiedener DNA-Fraktionen, sofern die Reaktionsbedingungen identisch sind (gleiche Moleküllänge, Ionenstärke und Renaturierungstemperatur). Der cot1/2-Wert jeder DNA ist dann linear proportional zur kinetischen Komplexität der DNA, d.h. ein doppelt so hoher cot1/2-Wert besagt, dass die betreffende DNA eine doppelt so hohe Sequenzheterogenenität besitzt wie die Vergleichs-DNA. Im Prinzip lassen sich daher Genomgrößen aus dem Vergleich der cot1/2-Werte ermitteln. Dieses Verfahren ist jedoch bei Anwesenheit repetitiver DNA-Sequenzen nicht anwendbar. a Verschiedene Renaturierungskinetiken von DNA-Sequenzen, die keine (oder einen geringen Anteil) repetitiver DNA-Sequenzen enthalten: 1 Poly U/A; 2 Maus-Satelliten-DNA; 3 Xenopus laevis rDNA; 4 Lambda 5 T4; 6 E. coli; 7 Stylonychia mytilus, Makronukleus; 8 Drosophila melanogaster; 9 Kalbsthymus, Einzelkopie-DNA-Fraktion. b Neben den Vergleichskurven (1 und 2: wie in a) werden die Renaturierungskinetiken verschiedener Eukaryoten mit repetitiven DNA-Sequenzen dargestellt. Die Kurven 7 und 12 zeigen die DNA aus Makronuklei (7) und Mikronuklei (12) von Stylonychia mytilus (vgl. Abb. 2.6c, Erklärung der Unterschiede: s. Kap. 12.4.1); 11 Mus musculus, Gesamt-DNA; 12 Stylonychia mytilus, Mikronukleus. (Kombiniert nach Britten und Kohne 1968, Ammermann et al. 1974, Laird 1971 u. Birnstiel et al. 1969)
2.2 Die Verdoppelung der DNA (Replikation)
DNA-Sequenzen sollen im Folgenden mit dem deutschen Begriff Einzelkopiesequenzen bezeichnet werden (statt des im Deutschen bisweilen verwendeten Begriffes „unikale DNA-Sequenzen“, dessen sprachliche Angemessenheit zweifelhaft ist; generell wäre es vorzuziehen, den englischen Begriff unique sequence zu gebrauchen). Die Reaktionskinetiken verdeutlichen weiterhin, dass jeder untersuchte Organismus ein ihm eigentümliches Muster repetitiver Sequenzen besitzt. Obwohl im Allgemeinen die Regel gilt, dass bei steigender Genomgröße auch der Anteil repetitiver Sequenzen steigt, kann das im Einzelfall unrichtig sein. Über die Häufigkeitsverteilungen verschiedener repetitiver DNA-Fraktionen lassen sich selbst bei nahe verwandten Arten keine Vorhersagen machen, da sie sehr starken Veränderungen unterworfen sind. ! Das Genom von Eukaryoten zeichnet sich durch
so bietet es sich an, nach einer wesentlichen Eigenschaft des Erbmaterials zu fragen, die Voraussetzung für die Gültigkeit der Mendel’schen Regeln ist: Es muss sich in Zusammenhang mit Zellteilungen identisch verdoppeln können, um zu gewährleisten, dass alle Zellen, insbesondere aber meiotische Zellen, mit der gleichen Erbinformation ausgestattet werden, und um den Wechsel zwischen Diploidie und Haploidie während der Bildung von Gameten erklären zu können. Die Fähigkeit zur identischen Verdoppelung des Erbmaterials muss daher als eine seiner entscheidenden Grundeigenschaften angesehen werden. Das Watson-Crick-Modell der DNA-Doppelhelix ist mit einer solchen Eigenschaft voll in Einklang zu bringen, wie beide Autoren selbst herausgestellt haben: „We have recently proposed a structure for the salt of deoxyribonucleic acid which, if correct, immediately suggests a mechanism for its selfduplication.“ (Watson und Crick 1953). Trennen sich die beiden DNA-Stränge der Doppelhelix durch Aufhebung der
den Besitz von Einzelkopie-DNA-Sequenzen und von repetitiven DNA-Sequenzen aus. Die Anteil beider Arten von Sequenzen ist starken Schwankungen unterworfen und variiert selbst zwischen nahe verwandten Arten.
2.2 Die Verdoppelung der DNA (Replikation) Die Befunde von Avery und seinen Mitarbeitern gaben einen eindeutigen Hinweis darauf, dass nicht Proteine, sondern DNA die für die Vererbung verantwortliche chemische Verbindung ist. Unterstützt wurde dieser Befund durch Experimente, die Hershey und Chase (1951) ausführten. Infiziert man Bakterien mit Bakteriophagen (Kap. 4.3), deren Hüllproteine mit 35S und deren DNA mit 32P markiert ist, so findet man, dass im Wesentlichen 32P-markiertes Material in die Bakterienzellen gelangt, während die 35S-Markierung an den Bakterienzellwänden zurückbleibt (Abb. 2.9). Da der Stoffwechsel und die Vermehrung der Bakteriophagen in der Zelle erfolgt , muss die DNA die maßgebliche chemische Komponente der Bakteriophagen sein, nicht aber das Protein. Fragt man nun nach der „chemischen Basis der biologischen Spezifität“, wie es Avery formuliert hat,
Abb. 2.9. DNA als genetisches Material. Schema der Versuche von Hershey und Chase. Die Experimente wurden mit dem Bakteriophagen T2 und Escherichia coli als Wirtszelle durchgeführt. Nach Infektion der Wirtszelle vermehrt sich der Phage und die Zelle entlässt neue Phagenpartikel. Durch unterschiedliche radioaktive Markierung der Phagenhüllproteine (mit 35S) und der DNA (mit 32P) lässt sich nachweisen, dass die DNA in die Zellen gelangt, während das Phagenhüllprotein an der Bakterienmembran verbleibt. Die neu gebildeten Phagenpartikel enthalten radioaktiv markierte DNA, jedoch kein radioaktiv markiertes Protein
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Kapitel 2: Molekulare Grundlagen der Vererbung
Basenpaarungen, so kann jeder der beiden Stränge als eine Matrize (engl. template) für die Synthese eines neuen komplementären Stranges dienen, so dass nach der Neubildung beider komplementärer Stränge zwei neue, strukturell aber völlig identische DNA-Doppelhelices vorliegen. Durch die genau festgelegten Möglichkeiten der Basenpaarung, nach denen sich ein Thymin jeweils nur mit einem Adenin und ein Guanin stets nur mit einem Cytosin paaren kann, ist auch die Abfolge der Basen in den neusynthetisierten Strängen identisch. Da nach diesem Modell jeweils einer der beiden Stränge der DNADoppelhelix bereits vorhanden ist, der andere aber neu gebildet wird, spricht man von einer semikonservativen Replikation der DNA. ! Die Struktur der DNA lässt erkennen, dass ihre
Verdopplung während der S-Phase des Zellzyklus durch Neusynthese jeweils eines neuen, komplementären Stranges an jedem der beiden vorhandenen Stränge der Doppelhelix erfolgt. Sie wird semikonservativ repliziert.
2.2.1 Semikonservative Replikation Experimentell wurde das Modell einer semikonservativen Replikation der DNA auf zwei Ebenen bestätigt. An bakterieller DNA demonstrierten Matthew Meselson und Franklin W. Stahl 1958 den semikonservativen Charakter der Replikation mittels analytischer Ultrazentrifugationstechniken. Gleichzeitig stellte Herbert Taylor cytologische Untersuchungsbefunde vor, die er an Pflanzenzellen erhalten hatte, aus denen er den gleichen Schluss der semikonservativen Replikation der DNA in eukaryotischen Zellen zog. Beide Befunde sollen im Folgenden in ihren Einzelheiten besprochen werden. Die Experimente von Meselson und Stahl wurden an dem Bakterium Escherichia coli durchgeführt. Grundlage dieser Experimente war die Überlegung, dass bei einer geeigneten chemischen Kennzeichnung des DNA-Einzelstranges, der nach dem WatsonCrick-Modell während der Replikation neu synthetisiert wird, nach zwei Verdopplungsrunden die Hälfte der DNA-Moleküle diese chemischen Markierungen enthalten müsste, während die andere Hälfte völlig frei von solchen Markierungen sein sollte. Zur che-
mischen Markierung von DNA während der Neusynthese erweist sich der Gebrauch des schweren Stickstoffisotops 15N geeignet, da es in Form von 15NH4Cl dem Kulturmedium beigefügt werden kann und dann in die heterozyklischen Basen der DNA eingebaut wird. Die Schwimmdichte (engl. buoyant density) der DNA wird hierdurch erhöht. Meselson und Stahl haben sich dieses Verfahren zu Nutze gemacht und Bakterien zunächst für 14 Generationen in einem 15N-Medium wachsen lassen, so dass die bakterielle DNA mit diesem Stickstoffisotop gesättigt war. Nun wurde das Medium ausgewechselt, und die Bakterien wurden in einem Medium weitergezüchtet, das einen Überschuss an 14NH4Cl sowie 14N-haltige Basen enthielt, so dass bei allen weiteren Replikationsrunden der DNA nur noch 14N-haltige Basen in die DNA eingebaut wurden. Entscheidend für die weitere Analyse war nun, dass man 15N- und 14N-haltige DNA-Stränge aufgrund des Dichteunterschiedes der N-Isotopen durch Dichtegradienten-Gleichgewichtszentrifugation voneinander trennen und somit ihre relativen Mengen innerhalb der GesamtDNA ermitteln kann. Führt man eine solche Analyse nach einer Generation Wachstum in 14N-haltigem Medium durch, so findet man, dass die Doppelhelix im Gleichgewichtsgradienten eine Schwimmdichte besitzt, die einen Mittelwert zwischen der Dichte völlig 14N-markierter DNA und völlig 15N-markierter DNA darstellt (Abb. 2.10). In diesem Fall müssen also die Hälfte der Basen das schwerere Isotop, die andere Hälfte das leichtere Isotop besitzen. Nach einer weiteren Generation Wachstum der Bakterien im 14N-haltigen Medium weist nur noch eine Hälfte der DNA die mittlere Dichte auf, während die andere Hälfte durch eine niedrige Dichte gekennzeichnet ist. Alle diese Beobachtungen sind nur mit der Erklärung vereinbar, dass alle neu synthetisierten DNA-Stränge das 14N-Isotop tragen und mit jeweils einem der alten (15N-haltigen) DNAStränge gepaart sind. Meselson und Stahl (1958) haben ihre Ergebnisse in den folgenden drei Schlüssen zusammengefasst: „1. The nitrogen of a DNA molecule is divided equally between two subunits which remain intact through many generations. 2. Following replication, each daughter molecule has received one parental subunit. 3. The replicative act results in a molecular doubling.“
2.2 Die Verdoppelung der DNA (Replikation)
15
DNA schwer ( N)
▲
(nach 1 Generation) DNA aus 15N und 14N)
Abb. 2.10. Nachweis der semikonservativen Replikation der DNA durch Meselson und Stahl. Die Abbildung zeigt die Analyse der Auftrennung von DNA in der analytischen Ultrazentrifuge. Die Schwimmdichte der DNA steigt mit dem Anteil an 15N-markierten Nukleotiden. Markiert man DNA, die 15N-Isotope enthält, über einen oder mehrere Repliktionszyklen mit 14N-haltigen Nukleotiden, so werden die 15N-Anteile der Markierung stufenweise verdrängt und die Schwimmdichte der DNA wird geringer. Demgemäß beobachtet man eine Verschiebung der DNA-Moleküle im CsCl-Gradienten in Bereiche geringer CsCl-Konzentration. Diese Verschiebung kann in in der analytischen Ultrazentrifuge durch Zentrifugation in CsClGleichgewichtsgradienten festgestellt werden, indem man die Absorption der CsCl-Lösung in der Ultrazentrifugenzelle im UV-Bereich (258 nm) misst. Die Abbildung zeigt die quantitative densitometrische Auswertung solcher Photos mit Angabe der Anzahl der Zellgenerationen, über die Replikation in 14N-Nukleotide-haltigem Medium erfolgte. Rechts die Interpretation der Daten, die die 15N-haltigen (schwarz) und 14Nhaltigen (rot) DNA-Einzelstränge darstellt. (Verändert nach Voet u. Voet 1992)
(nach 2 Generationen) 14 DNA leicht (aus N) 15 14 und hybrid (aus N und N)
(nach 4 Generationen) DNA leicht (aus 14N) (nur 1/8 ist noch hybrid)
Die Wissenschaftler kamen also zu dem Schluss, dass die Ergebnisse der gegenwärtigen Experimente genau mit den Erwartungen aus dem Watson-Crick-Modell für DNA-Replikation übereinstimmen („The results of the present experiments are in exact accord with the expectations of the Watson-Crick model for DNA duplication“). Einen ganz ähnlichen Ansatzpunkt zu der Frage, wie die Duplikation des genetischen Materials verläuft, wählte Herbert Taylor 1957 in seinen Experimenten. Im Unterschied zu Meselson und Stahl, deren Versuche rein biophysikalischer Natur waren, führte Taylor seine Versuche unter Verwendung cyto-
logischer Methoden an Wurzelzellen der Pflanze Bellevalia romana (auch: Hyacinthus romanus, Hyazinthe) durch. Als wichtige neue cytologische Methode war gerade die Autoradiographie verfügbar geworden (Technik-Box 13). Diese Technik bietet eine cytologische Auflösung, die ausreichend ist, um den Einbau radioaktiver DNA-Vorstufen innerhalb einer einzelnen Chromatide der Prophasechromosomen zu lokalisieren. Besonders geeignet ist für derartige Versuche 3H-Thymidin, da es ausschließlich in DNA eingebaut wird und diese damit spezifisch markiert. Lässt man Zellen in Medium mit radioaktivem Thymidin wachsen, so findet man Radioaktivität ausschließlich in neu replizierter DNA der Chromosomen. Die Versuche von Taylor entsprechen damit weitgehend denen von Meselson und Stahl: Es werden zunächst markierte Vorstufen während der Replikation in die DNA eingebaut (bei Meselson und Stahl: 15N, bei Taylor: 3H) und anschließend wird deren Verteilung (bei Meselson und Stahl: durch Gleichgewichtszentrifugation von isolierter DNA in der Ultrazentrifuge, bei Taylor: durch Autoradiographie von Chromosomen) in anschließenden Replikationszyklen der DNA in nichtmarkierten Medien untersucht. Während Meselson und Stahl von DNA-Doppelhelices ausgingen, die durch kontinuierliches Wachstum in markiertem Medium durchge-
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34
Kapitel 2: Molekulare Grundlagen der Vererbung
hend 15N-markiert waren, erlaubte Taylor die 3H-Markierung während einer S-Phase. Das gestattet es, bereits nach einer weiteren Replikation in nichtradioaktivem Kulturmedium Hinweise auf die Art der Replikation zu erhalten. Die Ergebnisse Taylors sind in Abb. 2.11 schematisch zusammengefasst. Man beobachtet nach der Replikation in 3H-Thymidin-haltigem Medium in der folgenden Metaphase zunächst ausschließlich vollständig markierte Chromatiden. Bereits nach einer weiteren S-Phase in unmarkiertem Medium findet man in der anschließenden Metaphase, dass alle Chromosomen eine unmarkierte und eine markierte Chromatide besitzen. Nach einer weiteren S-Phase sind die Hälfte der Chromosomen in beiden Chromatiden unmarkiert, während die andere Hälfte der Chromosomen jeweils eine markierte Chromatide aufweist. Diese Beobachtungen Taylors und seiner Mitarbeiter lassen sich völlig auf der Basis des Wat-
son-Crick-Modells der DNA-Doppelhelix erklären, wenn man annimmt, dass jede Chromatide aus einer einzigen DNA-Doppelhelix besteht. Diese Frage war zur Zeit der Experimente Taylors sehr umstritten, da viele Wissenschaftler aufgrund cytologischer Beobachtungen annahmen, dass Chromatiden aus mehreren durchgehenden Längseinheiten bestehen. Die Experimente Taylors schließen eine solche Chromatidenstruktur zwar nicht grundsätzlich aus, erfordern jedoch für eine solche Erklärung komplizierte zusätzliche Annahmen über die Struktur und Verteilung von Längselementen der Chromatiden. Damit wurden die Beobachtungen Taylors zugleich ein starkes Argument für die Ansicht, dass eine Chromatide aus einer einzelnen DNA-Doppelhelix besteht. Diese Annahme wurde durch viskosimetrische Messungen an DNA von Drosophila unterstützt. DNA-Moleküle können in einer Länge isoliert werden, die der Länge einer DNA-Doppelhelix in einer Chromatide ent-
Abb. 2.11 a,b. Nachweis der semikonservativen Replikation der DNA durch Taylor an Chromosomen der Hyazinthe (Bellevalia romana). Die damals neue Methode der Autoradiographie (s. Technik-Box 13) gab die Möglichkeit, die DNA der Chromosomen über mehrere Mitosen hinweg zu verfolgen und ihre Verteilung auf die Tochterchromatiden zu ermitteln. Auch Taylor verwendete, wie Meselson und Stahl, eine Isotopenmarkierung für seine Untersuchungen der Chromosomenverdoppelung. Allerdings gebrauchte er 3H-Thymidin, das eine spezifische radioaktive Markierung der DNA gestattet und im Autoradiogramm leicht zu lokalisieren ist. Lässt man Zellen für einen Zellzyklus in 3H-Thymidin-haltigem Medium wachsen, so wird die radioaktive Vorstufe während der SPhase in die DNA eingebaut. a Betrachtet man die Metaphasechromosomen in der ersten folgenden Mitose, so findet man ausschließlich einheitlich radioaktiv markierte Chromatiden. Durch Behandlung mit Colchicin (Abb. 10.11) erreicht
man, dass die beiden Chromatiden eines duplizierten Chromosoms im Centromerenbereich zusammenhängen bleiben. Nach einem weiteren Zellzyklus, der in nichtradioaktivem Medium durchlaufen wurde, zeigen die Chromatiden eine Differenzierung hinsichtlich der radioaktiven Markierung. Eine der Chromatiden ist, wie nach dem ersten Zellzyklus, radioaktiv. Die andere bleibt jedoch unmarkiert. Das kann nur bedeuten, dass die ursprünglich in radioaktivem Medium verdoppelte DNA einer Chromatide aus zwei Einzelsträngen besteht, die jeweils einen neuen, nunmehr radioaktiven komplementären Strang synthetisieren und dadurch zwei Chromatiden mit identischer genetischer Information hervorbringen. Jede der Chromatiden besteht nunmehr aus einem radioaktiven und einem nichtradioaktiven Strang. b Bei einer weiteren Verdoppelung in nichtradioaktivem Medium trennen sich diese Stränge, so dass eine unmarkierte und eine halbmarkierte Doppelhelix gebildet wird
2.2 Die Verdoppelung der DNA (Replikation)
spricht. Heute ist die Ansicht allgemein akzeptiert, dass eine Chromatide aus einer durchgehenden, kovalent geschlossenen DNA-Doppelhelix besteht. ! Jede Chromatide besteht aus einer DNA-Doppel-
helix. Die Doppelhelix ist damit das Grundelement der Chromosomen.
Die Versuche von Meselson und Stahl und Taylor lieferten den Beweis für die semikonservative Replikation der DNA in Zellen, wie sie nach dem WatsonCrick-Modell als Vermehrungsmechanismus der DNA vorausgesagt worden war. Dieser semikonservative Replikationsmechanismus stellt sicher, dass die Struktur der Doppelhelix, und damit des Erbmaterials, vollständig erhalten bleibt und auf folgende Zellgenerationen – und damit auch auf neue Organismen – übertragen werden kann. Wenn die beschriebenen Experimente uns auch zeigen, nach welchem Grundprinzip DNA identisch repliziert werden kann, so gewähren sie uns doch noch keinen Einblick in den tatsächlichen molekularen Verlauf der Replikation der DNA in der Zelle. Man muss sich nur vor Augen führen, dass in einigen Organismen, zum Beispiel bei Bakterien und manchen Viren, die DNA als ringförmiges, kovalent geschlossenes Molekül vorliegt, oder dass in anderen Fällen die Gesamtmenge an DNA im Genom, also die in einem einzigen Zellkern vorhandene Menge an DNA, eine Länge von einem Meter überschreiten kann, wenn man annimmt, dass die DNA ein einziges kovalentes Molekül darstellt. Selbst wenn es sich in einem Zellkern um kürzere Moleküle handelt, wie wir schon aus unserer Kenntnis der Existenz mehrerer Chromosomen innerhalb eines Zellkernes ableiten können, bleiben grundlegende Fragen bestehen. Eine dieser Fragen bezieht sich beispielsweise auf einen physikochemischen Gesichtspunkt: Wie können sich die Doppelstränge der DNA im Chromosom während der Replikation voneinander trennen, obwohl hierzu doch eine kontinuierliche Drehbewegung der Doppelhelix erforderlich wäre? Dieser Gesichtspunkt hat in der frühen Diskussion der Frage nach dem Replikationsmechanismus eine wichtige Rolle gespielt. Wir können ihn heute beantworten, da wir wissen, dass im Chromosom Enzyme vorhanden sind, die die DNA öffnen und wieder schließen können bzw. eine Rotation
steuern (sog. Topoisomerasen und Helikasen, s. Tab. 2.2). Hinzu kommen weitere, weitaus schwieriger zu beantwortende Fragen: Aus der klassischen Cytologie geht hervor, dass DNA ausschließlich im Zellkern vorhanden ist, hier aber sicher nicht als isoliertes Molekül vorliegt, sondern in den Chromosomen mit Proteinen verbunden ist. Wie verhalten sich diese Proteine – oder die Chromosomen überhaupt – während der Replikation? Im folgenden Abschnitt wird eine Zusammenfassung dessen gegeben, was über die Replikation der DNA heute bekannt ist.
2.2.2 Mechanismen der Replikation Die Struktur der DNA-Doppelhelix macht es auf den ersten Blick sehr einfach, sich deren Replikation vorzustellen. Erst, wenn wir uns die Situation genauer betrachten, erkennen wir, dass unserem Verständnis der zellulären und molekularen Mechanismen eine ganze Reihe grundsätzlicher Schwierigkeiten entgegensteht. Grundlegende Einsicht in den molekularen Mechanismus der Replikation gewann man an E. coli. Es hat sich jedoch gezeigt, dass die molekularen Mechanismen in Eukaryoten (Drosophila, Hefe) vergleichbar sind. In beiden Fällen erfolgt die Replikation ausgehend von einem Startpunkt (engl. origin of replication) nach beiden Richtungen (bidirektional). Bei E. coli ist das Chromosom ringförmig und besitzt nur einen einzigen Replikationsstartpunkt; bei Eukaryoten sind verschiedene Startpunkte über das Chromosom verteilt. Die an der Replikation beteiligten Enzyme und zusätzlichen Faktoren sind bei Pro- und Eukaryoten sehr ähnlich; das Grundprinzip ist in Abb. 2.12 dargestellt. Besonders fünf Aspekte sind für alle Replikationsprozesse wesentlich: • Grundsätzlich fügen die Enzyme, die einen DNAStrang auf der Grundlage der Basenkomplementarität in einen zweiten, komplementären Strang kopieren können (DNA-Polymerasen), die Nukleotide bei der DNA-Synthese ausschließlich an das 3’-OH-Ende des wachsenden Stranges an. Damit ist ein Wachstum nur in 5’→3’-Richtung möglich. • Bei der Besprechung der molekularen Struktur der DNA-Doppelhelix haben wir gesehen, dass die Basenpaarung zu einer antiparallelen Anordnung beider DNA-Einzelstränge führt (Abb. 2.2). Das führt zu Problemen bei der Neusynthese bei-
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36
Kapitel 2: Molekulare Grundlagen der Vererbung
der DNA-Stränge, wenn diese am gleichen Initiationspunkt beginnt (Abb. 2.12). Einer der beiden Stränge kann dann nicht kontinuierlich synthetisiert werden. Es werden in diesem Fall kleine Teilstücke von weniger als 1000 Nukleotiden Länge synthetisiert, die nach ihrer Synthese mit Hilfe einer DNA-Ligase kovalent miteinander verknüpft werden. Die Teilfragmente werden nach ihren Entdeckern Okazaki-Fragmente genannt (Okazaki u. Okazaki 1969). • DNA-Polymerasen können keinen neuen DNAStrang ohne einen bereits vorhandenen Startpunkt herstellen. Als Startpunkte können DNAoder RNA-Sequenzen dienen, die aufgrund ihrer Basenkomplementarität an den zu replizierenden DNA-Einzelstrang gebunden sind (Abb. 2.14).
Abb. 2.12. Molekularer Mechanismus der DNA-Replikation. Die Initiation der DNA-Synthese erfolgt im Replikationsursprung und verläuft zunächst nur in 5′→3′-Orientierung (leading strand) am 3′→5′-Strang der Doppelhelix (oben). Erst nach Passieren eines weiteren Replikationsursprungs wird auch am komplementären DNA-Strang die Synthese initiiert. Aus der Abbildung ist ersichtlich, dass die Synthese dieses Stranges (lagging strand) zunächst in Teilstücken (OkazakiFragmenten) erfolgt. Es bildet sich die Replikationsblase mit zwei Replikationsgabeln (Mitte). Unten ist ein Ausschnitt des lagging strand gezeigt, der Einzelheiten des Replikationsvorganges erkennen lässt. Die Initiation der Replikation dieses Stranges erfordert Primer-RNA-Moleküle, die vor der Ligation der neusynthetisierten Okazaki-Fragmente nukleolytisch entfernt werden. Anschließend werden die Okazaki-Fragmente ligiert
Man bezeichnet solche Startsequenzen als Primer. Während der Replikation werden durch eine RNA-Polymerase (auch Primase genannt) zunächst kurze RNA-Primer erzeugt, die nur etwa 4 bis 12 Nukleotide lang sind. An diesen RNAPrimern kann dann die DNA-Polymerase ansetzen und einen fortlaufenden DNA-Strang synthetisieren. • Aus der Abb. 2.12 ist erkennbar, dass zur Neusynthese der Doppelstrang der DNA über einen gewissen Abstand hinweg geöffnet werden muss. An diesen Prozessen sind Helikasen und Topoisomerasen beteiligt. In die sich öffnende Replikationsgabel hinein kann ein DNA-Strang in 5’→3’-Richtung kontinuierlich synthetisiert werden. Er wird als leading strand bezeichnet. Der Gegenstrang, der in der Form von Okazaki-Fragmenten synthetisiert wird, wird dagegen lagging strand genannt. Es entstehen auf diese Weise zwei Replikationsgabeln (engl. replication forks), die zur Bildung von Replikationsaugen oder -blasen (engl. replication bubble) führen. Solche Replikationsaugen lassen sich elektronenmikroskopisch an replizierender DNA demonstrieren (Abb. 2.13). • Ein für die Erörterung der Mutationsmechanismen (s. Kap. 10.2) wichtiger Gesichtspunkt ist die Fehlerrate, mit der DNA-Polymerasen Nukleotide in die neu synthetisierten DNA-Stränge einbauen. Die Fehlerhäufigkeit liegt bei 10–5 bis 10–6. Sie würde damit zu Veränderungen von Nukleotiden in einem großen Teil der replizierenden Gene führen. Durch Reparaturmechanismen sinkt jedoch die effektive Fehlerrate auf 10–9 bis 10–11. Nach den gemeinsamen Aspekten der DNA-Replikation bei Pro- und Eukaryoten (siehe auch Tabelle 2.2) sollen nun die spezifischen Eigenheiten diskutiert werden. Für die bakterielle Replikation ist in der Initiationsphase von besonderer Bedeutung, dass das DnaA-Protein mit dem Startpunkt der Replikation auf dem üblicherweise ringförmigen Bakterienchromosom in Wechselwirkung tritt. Alle Funktionen des DnaA-Proteins hängen von seiner Fähigkeit ab, spezifisch an die asymmetrische Erkennungssequenz zu binden, die DnaA-Box: 5’-TTATNCACA-3’. Der Startpunkt der Replikation (oriC) besteht üblicherweise aus mehreren derartigen DnaA-Boxen. Bei E. coli finden wir fünf DnaA-Boxen innerhalb von 260 bp. Im 5’-Bereich oberhalb dieser DnaA-Boxen befindet sich
2.2 Die Verdoppelung der DNA (Replikation)
Abb. 2.13. Replikation der DNA in Kernen des zellulären Blastoderms von Drosophila melanogaster. Die Replikationsblase ist deutlich zu erkennen. Die angrenzenden Replikationsstartpunkte sind noch nicht aktiviert. Die DNA ist mit Nukleosomen bedeckt. (Aus McKnight u. Miller 1977)
eine AT-reiche Region. Die Bindung von „aktivem“ DnaA (im Komplex mit ATP) an diese DnaA-Boxen (die Erkennung des Replikationsstartpunktes) ist der erste Schritt beim Zusammenbau des Initiationskomplexes und erfolgt mit hoher Affinität. Zu diesem Initiationskomplex gehören auch DnaB, eine E.coliHelikase, sowie weitere Hilfsproteine und Kontrollfaktoren. Außer an die 9 bp der DnaA-Boxen bindet das aktive DnaA-Protein mit geringerer Affinität auch an eine kürzere Sequenz aus 6 bp (5’-AGATCT-3’), die sich überwiegend in der noch nicht entspiralisierten, AT-reichen Region oberhalb der DnaA-Boxen befindet. Wenn diese Region jedoch durch andere Komponenten des Komplexes entspiralisiert wird, stabilisiert sich die Bindung durch hohe Affinität an die einzelsträngige DNA. Für die Umwandlung des Initiations- in den offenen Komplex ist eine Mindest-
menge von DnaA-Protein notwendig. Elektronenmikroskopische Untersuchungen zeigen, dass etwa 20 bis 30 DnaA-Monomere an einem aktiven Replikationskomplex beteiligt sind. Offensichtlich erlauben auch die abgestuften Affinitäten und Kooperationseffekte durch andere Mitglieder des Komplexes ein genaues Timing. Die doppelsträngige Region des Inititiationskomplexes umfasst zunächst etwa 28 bp. Wenn Einzelstrang-bindende Proteine (engl. single-stranded DNA-binding proteins, SSB) anwesend sind, vergrößert sich diese Region auf 44 bis 46 bp. Da Einzelstrang-DNA, die mit SSB bedeckt ist, ein schlechtes Substrat für die DnaB-Helikase ist, müssen die SSBs mit Hilfe des DnaA-Proteins aufgeladen werden. Dieser Ladekomplex enthält zwei Doppel-Hexamere von DnaB und des eigentlichen „Ladeproteins“ DnaC, ein Doppel-Hexamer für jede Replikationsgabel. DnaC verlässt den Komplex unmittelbar nach oder schon während des Ladevorgangs. Das dabei hydrolysierte ATP aktiviert die Helikase-Aktivität des DnaB-Proteins. Dabei rutschen die DnaB-Hexamere in 5’→3’ Richtung weiter und vergrößern das Replikationsauge auf etwa 65 bp. Die Primase tritt zu dem Initiationskomplex hinzu und synthetisiert die Primer für die beiden leading-Stränge. Nun kann die Klammer der Polymerase (engl. sliding clamp), ein ringförmiges Dimer der β-Untereinheit der DNA-Polymerase III, auf die startbereite Matrize aufgeladen werden. Dadurch wird die intrinsische ATPase-Aktivität des DnaA-Proteins aktiviert. Durch ATP-Hydrolyse wird das „aktive“ DnaA-Protein wieder inaktiviert und die Bildung weiterer Initiationskomplexe verhindert. Einen Überblick über die Initiationsphase der DNA-Replikation bei E.coli gibt die Abbildung 2.14, ein „Replisom“ ist in Abbildung 2.15 dargestellt. Bei E. coli sind fünf DNA-Polymerasen bekannt (DNA-Polymerase I–V). Viele DNA-Polymerasen besitzen zusätzliche Exonuklease-Aktivitäten und können somit auch Nukleotide aus einer Kette entfernen. Dabei entfernt die 5’→3’-Exonuklease die RNA-Nukleotide des Primers, und die 3’→5’-Exonuklease beseitigt falsch gepaarte DNA-Nukleotide. Die DNA-Polymerase III ist das Hauptenzym der Replikation, während die DNA-Polymerase I die RNA-Primer abbaut und danach die Lücken wieder auffüllt. Polymerase I überwiegt mengenmäßig die übrigen DNA-Polymerasen erheblich. In der Bakterienzelle sind etwa 300 bis 400 DNA-Polymerase I-Moleküle
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Kapitel 2: Molekulare Grundlagen der Vererbung
Tabelle 2.2.
Replikationsproteine in Pro- und Eukaryoten
Funktion
Prokaryoten
Eukaryoten
Erkennung der Startsequenz
DnaA (1 Untereinheit)
ORC (6 Untereinheiten)
Beladende Helikase
DnaC (1 Untereinheit)
CDC6 (1 Untereinheit)
Replikative Helikase
DnaB (1 Untereinheit)
MCM (6 Untereinheiten)
Topoisomerase
Typ I und Typ II, Gyrase
Typ I und Typ II
Einzelstrang-bindendes Protein
SSB (1 Untereinheit)
RP-A (3 Untereinheiten)
Primase
DnaG (1 Untereinheit)
Pol α/Primase (4 Untereinheiten)
Polymerase/Exonuklease
Polymerase III (3 Untereinheiten)
Pol δ (3–4 Untereinheiten); Pol ε (5 Untereinheiten)
Klammerlader
γ-Komplex (5 Untereinheiten)
RF-C (5 Untereinheiten)
Klammer
β-Untereinheit
PCNA
Entfernen der Primer
Polymerase I; RNase H
FEN-1, RNase H
Reifung des lagging-Stranges
DNA-Ligase (NAD-abh.)
DNA-Ligase I (ATP-abh.)
Nach Kelman (2000), Erläuterung der Abkürzungen im Text
vorhanden. Die Polymerase II ist mit etwa 40 Molekülen vertreten, während von der DNA-Polymerase III nur etwa 10 Moleküle vorhanden sind. Die DNAPolymerasen II, IV und V sind an Reparaturmechanismen beteiligt. Eine Übersicht über bakterielle DNA-Polymerasen gibt Tabelle 2.3. Ermittelt man die Replikationsgeschwindigkeit der DNA in einem E.-coli-Chromosom, so findet man, dass diese unabhängig von den Wachstumsbedingungen etwa 500 bis 1000 bp je Sekunde beträgt. Das wirft die Frage auf, wie ein Bakterium mit einer Chromosomenlänge von 4 × 106 bp bei bidirektionaler Replikation sich unter günstigen Bedingungen alle 20 Minuten teilen kann, da die Replikation des Chromosoms etwa 40 Minuten beansprucht. Dieses Problem wird von der Zelle dadurch gelöst, dass die Initiationsfrequenz der Replikation am Replikationsstartpunkt von der Dauer der Wachstumsgeschwindigkeit gesteuert wird. Bei hoher Wachstumsgeschwindigkeit beginnt die Initiation einer neuen Replikationsrunde bereits vor Vollendung der voran-
gehenden Replikation, so dass das Chromosom mehr als zwei Replikationsgabeln besitzt. ! Die Replikationsenzyme, DNA-Polymerasen, kön-
nen nur in 5’→3’-Richtung Nukleotide anfügen. Deshalb muss einer der beiden DNA-Stränge in kleineren Teilsequenzen, den Okazaki-Fragmenten, synthetisiert werden. Da die DNA-Polymerase zur DNA-Synthese ein 3’-OH-Ende als Startpunkt benötigt, wird am 5’→3’-Strang zunächst ein RNA-Primer synthetisiert, an dessen 3’-Ende die DNA-Polymerase die DNA-Synthese beginnt. Teilfragmente von etwa 1000 Nukleotiden werden dann, nach Abbau der RNA durch die Polymerase-eigene 3’→5’-Exonukleaseaktivität, kovalent aneinander gebunden.
Wie oben erwähnt, arbeitet die DNA-Polymerase III nicht fehlerfrei. In regelmäßig eingelegten Replikationspausen wird die neu synthetisierte DNA auf
2.2 Die Verdoppelung der DNA (Replikation) Abb. 2.14. Schematische Darstellung der Replikation bei E. coli. Der Initiationszyklus bei E. coli: Das aktivierte DnaA-Protein erkennt den Replikationsstartpunkt anhand der DnaABoxen und der oberhalb liegenden AT-reichen Sequenzen (HU: Histon-ähnliches DNA-Bindeprotein). Der Replikationsstartpunkt wird im Bereich der AT-reichen Sequenzen aufgeschmolzen und die Helikasen geladen (je 2 DnaB und DnaC-Komplexe aus je 6 Untereinheiten). Nach einer Umorganisation der Helikasen wird die Primase zum Initiationskomplex geladen. Das Priming erfolgt nach dem Beladen der Ringklammer und der ATP-Hydrolyse des aktivierten DnaAKomplexes. Die Polymerase III beginnt zu arbeiten, und die Replikation läuft bidirektional ab. (Nach Messer 2002) ▲
Abb. 2.15. DNA-Replikation am E.coli-„Replisom“. Das τDimere (grün) verbindet zwei Pol III-Kern-Moleküle (blau), eines für den leading-, das andere für den lagging-Strang. Die kombinierte leading- und lagging-Strang-Synthese wird bei Anwesenheit eines DNA-Schadens (angedeutet durch eine Zick-Zack-Linie unmittelbar vor der Polymerase auf dem leading-Strang) unterbrochen und der Replikationskomplex dissoziiert. Reparaturpolymerasen wie Pol IV oder Pol V übernehmen dann von der Pol III die Synthese des zerstörten Stranges. Die Rekonstitution des Replisoms erfolgt dann nach Durchführung der Reparatur. Als Teil des Replisoms sind hier die Pol III (Core-Enzym), der γ-Komplex (notwendig für die Beladung des β-Dimeren als Klammer) und die DnaB-Helikase gezeigt; aus Gründen der Klarheit sind Einzelstrang-Bindeproteine weggelassen. (Nach Goodman 2002)
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Kapitel 2: Molekulare Grundlagen der Vererbung
Tabelle 2.3.
a
Hauptklassen prokaryotischer DNA-Polymerasen
Enzym
Untereinheit (kDa)
Funktion
Pol I
103
„Kornberg Enzym“: Entfernung der RNA-Primer, Auffüllen der Lücke, Korrektur; 5’→3’ und 3’→5’-Exonuklease-Aktivitäta
Pol II
88
DNA-Reparatur; 3’→5’-Exonuklease-Aktivität
Pol III (Core)
α: 130 ε: 28 τ: 71 Θ: 10
Katalytische Untereinheit Korrektur; 3’→5’-Exonuklease-Aktivität Verbindung der Pol-III-Dimere Funktion unbekannt
Pol IV
40
DNA-Reparatur
Pol V
UmuC: 46 kDa UmuD: 15 kDa
DNA-Reparatur
Durch Behandlung mit der Protease Trypsin wird das Gesamtprotein in 2 Fragmente gespalten. Der C-terminale Teil enthält die 3’→5’-Exonuklease zusammen mit der DNA-Polymerase-Aktivität („Klenow-Fragment“).
Fehler überprüft. Ein wesentlicher Aspekt ist dabei die Mismatch-Reparatur, bei der überprüft wird, ob eine falsche Base eingebaut wurde. In E.coli ist dafür die Dam-Methylase verantwortlich, die alle Adenine in der 5’-GATC-3’-Sequenz methyliert. Unmittelbar ist zunächst nur der Eltern-Strang methyliert, der neu synthetisierte Strang aber noch nicht. Durch eine Reihe verwandter Mutator-Proteine (MutS, MutL, MutH) sowie Exonukleasen, Helikasen, DNA-Polymerase III, Einzelstrang-bindende Proteine (SSB) und Ligasen wird die fehlerhafte Stelle erkannt und repariert. Ein zweiter Mechanismus wird wirksam, wenn sich Schäden der DNA selbst (z. B. UV-induzierte Thymindimere) störend auf die Replikation auswirken. Kommt der Replikationskomplex an eine solche Stelle, löst er sich und überspringt den Schaden, um an anderer Stelle fortzufahren. Es entsteht eine Replikationslücke im Tochterstrang, die über 800 Basen umfassen kann. Diese Lücke wird durch einen Reparaturmechanismus beseitigt, der sehr große Ähnlichkeit mit rekombinatorischen Prozesssen hat und entsprechend als „rekombinatorische Reparatur“ bezeichnet wird. Eine Hauptrolle spielt dabei das RecA-Protein, das an die Einzelstrang-DNA-Enden links und rechts der Replikationslücke bindet und die
Schwesterchromatide oder das homologe Chromosom nach homologen Sequenzen absucht. Ist eine solche Stelle gefunden, dringt der Komplex in die Doppelhelix ein, verdrängt den homologen und bindet den komplementären Strang. Dieser dient dann als Matrize zum Auffüllen der Replikationslücke. Der verdrängte Strang paart sich mit dem Strang, der den DNA-Schaden aufweist. Durch EndonukleaseSchnitte und anschließende Ligation bilden sich letztendlich wieder zwei komplette Doppelhelices aus. Zu beachten ist, dass der ursprüngliche DNASchaden bei dieser Reparatur nicht behoben wird, sondern nur die Lücke im Tochterstrang. Ein grundsätzliches topologisches Problem der DNA-Replikation ergibt sich aus ihrer Helix-Struktur. Wenn mit fortschreitender Replikation die Helix entspiralisiert wird, geht dies nur, indem immer wieder Brüche in die Helix eingeführt werden, um so ein Verdrillen zu vermeiden. Die dafür zuständigen Enzyme werden als Topoisomerasen bezeichnet und in zwei Klassen (I und II) unterteilt. Topoisomerase I ist in der Lage, die Windungszahl der DNA um eins zu erhöhen, während Topoisomerase II diese Zahl um zwei reduziert. Topoisomerase I kann also ein vorhandenes negatives Supercoiling aufheben, während Topoisomerase II ein negatives Supercoiling induziert.
2.2 Die Verdoppelung der DNA (Replikation)
Der Mechanismus der katalytischen Wirkung beider Topoisomerase ist unterschiedlich. Topoisomerase I löst die Phosphodiesterbindung nur eines DNA-Stranges und lässt, selbst an die offenen Enden kovalent gebunden, den zweiten, nicht unterbrochenen Strang den geöffneten Strang durchqueren. Danach wird der unterbrochene Strang wieder geschlossen, so dass die Windungszahl nunmehr um eins erhöht ist (Abb. 2.16). Topoisomerase II hingegen induziert einen Doppelstrangbruch und verschiebt die Doppelhelix durch sich selbst, um sie dann wieder kovalent zu schließen (Abb. 2.17). Die bakteriellen Topoisomerasen I und III gehören zur Klasse I, wohingegen die bakterielle Gyrase und Topoisomerase IV der Klasse II zugerechnet werden. Ein erster Einsatz der Topoisomerasen findet schon in der Initiationsphase der Replikation statt. Die Gyrase katalysiert die notwendige Öffnung eines kurzen Bereichs ungepaarter DNA. In Abb. 2.18 ist ein DNA-Fragment zusammen mit einer gerade replizierten Region dargestellt (Replikationsauge), und die Replikationsmaschinerie an der Replikationsgabel ist durch ein Stäbchen zwischen den beiden frisch synthetisierten DNA-Strängen symbolisiert. Die topologischen Konsequenzen einer voranscheitenden Replikationsgabel und die Funktionen der Topoisomerasen hängen nun davon ab, ob die Replikationsmaschinerie im zellulären Raum rotieren kann. Stellen wir uns vor, dass das Stäbchen nicht um die Helix-Achse der noch nicht replizierten DNA vor der Replikationsgabel rotiert (der Replikationsapparat kann an die Membran gebunden und daher immobilisiert sein). In dem Maß, wie die Replikationsgabel voranschreitet, zwingt das Stäbchen die helikalen Windungen der DNA vor sich in einen immer kürzeren Bereich, und die DNA wird überdreht oder positiv supercoiled. Hinter der Replikationsgabel wird das Replikationsauge immer größer.
▲
Abb. 2.16. Funktion der Topoisomerase I. Nach einer lokalen Aufwindung der DNA-Doppelhelix durch die Bindung der Topoisomerase wird ein Strang der DNA durch das Enzym geschnitten. Das Enzym bindet hierbei an die beiden offenen Enden. Diese werden über den kovalent geschlossenen Einzelstrang gezogen und durch eine Ligase-Aktivität des Enzyms wieder kovalent miteinander verbunden. Hierdurch wird die Linkagezahl um eins erhöht, d.h. es wird ein positives Supercoiling erzeugt. (Nach Dean et al. 1983)
Wenn dagegen das Stäbchen rotieren kann, können die positiven „Supercoils“ vor der Replikationsgabel auf die Region hinter der Gabel verteilt werden, was zu einer Zwischendrehung der replizierten DNA führt und/oder zu einem positiven Supercoiling der unreplizierten DNA hinter der Replikationsgabel.
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Kapitel 2: Molekulare Grundlagen der Vererbung
Abb. 2.17 a,b. Die Funktion von Topoisomerase II (Gyrase). a Die A-Untereinheit der Topoisomerase II schneidet den DNADoppelstrang und trennt die Schnittstellen voneinander. Nachdem die intakte Doppelhelix die offene Stelle der DNA
passiert hat, wird der geöffnete Strang wieder geschlossen. b Folgen auf dem Niveau der DNA. Durch die Topoisomerase II kann ein negatives Supercoiling erzeugt werden (Schritte I bis III). (a: verändert nach Morrison u. Cozzarelli 1981)
Ein weiteres Problem tritt auf, wenn sich zwei aufeinander zu bewegende Replikationsgabeln vereinigen (Abb. 2.19). In dem Maß, in dem das parentale, unreplizierte DNA-Fragment immer kürzer wird, müssen Topoisomerasen die endgültige Trennung der beiden neu replizierten Stränge vornehmen: entweder eine Topoisomerase II mit einem Schnitt durch beide Einzelstränge oder eine Topoisomerase I mit einem Schnitt des Einzelstranges an der Verbindung des Einzel- mit dem Doppelstrang. Als Besonderheit soll hier die DNA-Replikation von Bakteriophagen (Kap. 4.3) erwähnt werden. Bei Phagen des Typs λ oder ΦX174 erfolgt sie nach dem Mechanismus des rolling circle (Abb. 2.20). Dabei wird beim Phagen ΦX174 jeweils nur eine Genomkopie repliziert und sofort verpackt. Beim λ-Phagen werden dagegen, ausgehend von einem zirkularisierten Phagengenom, zunächst lange lineare DNAStränge synthetisiert, die mehrere Kopien des Pha-
gengenoms in einer Tandemanordnung enthalten (Konkatemere). Mit Hilfe eines Terminase-Systems (Ter-System) werden in solchen linearen DNA-Molekülen Schnitte gesetzt, die jeweils in den cos sites erfolgen und somit jeweils ein komplettes Phagengenom freisetzen. Dieses kann nunmehr in einen Phagenkopf verpackt werden. Die enzymatischen Schnitte benötigen jeweils zwei benachbarte cos sites, die entweder beide ungeschnitten sind oder von denen einer geschnitten sein kann. Die Unfähigkeit des Ter-Systems, eine einzelne cos site ohne benachbarte zweite cos site in der zirkulären DNA zu schneiden, verhindert, dass der Replikationsmechanismus vorzeitig unterbrochen wird. Die DNA-Replikation eukaryotischer Zellen ist wesentlich komplexer als bei Prokaryoten, da bei Eukaryoten die Zellteilung nicht nur mit dem Wachstum des jeweiligen Gesamtorganismus, sondern auch mit gewebespezifischen Differenzierungsmus-
2.2 Die Verdoppelung der DNA (Replikation)
Abb. 2.18 a,b. Topologische Probleme bei fortschreitender Verlängerung der Replikationsgabel. Der Replikationsapparat ist als Stab gekennzeichnet, und die topologischen Konsequenzen der Kettenverlängerung hängen davon ab, ob der Replikationsapparat wirklich in der zellulären Umgebung frei rotieren kann. Die Enden der DNA sind an eine hypothetische Struktur gebunden, die eine Kern- oder Zellmembran sein kann. a Der Replikationsapparat ist fixiert; die DNA dreht sich, wenn sie sich durch den Replikationsapparat hindurchbe-
wegt, und positive Überdrehungen (engl. supercoils) häufen sich vor der Replikationsgabel an. b Der Replikationsapparat kann sich um die Helixachse der noch nicht replizierten DNA drehen. Diese Drehung erlaubt die Umverteilung der positiven Überdrehungen vor der voranschreitenden Replikationsgabel in die Region hinter der Replikationsgabel, führt dabei aber zu einer Verdrillung der verdoppelten DNA-Stränge. In beiden Fällen können Topoisomerasen das Problem lösen. (Nach Wang 2002)
tern verbunden ist. Außerdem kommt aufgrund der chromosomalen Organisation des eukaryotischen Genoms im Zellkern ein zusätzlicher Komplexitätsgrad hinzu. Die Replikation des Genoms findet auch nur in einer bestimmten Phase des Zellzyklus statt. Der Zellzyklus ist in 4 Schritte unterteilt, die G1, S, G2 und M-Phase: die erste Phase, G1 (eng. gap) beginnt am Ende der Zellteilung und ist durch Zellwachstum gekennzeichnet. Nachdem die G1-Phase abgeschlossen ist, wird die DNA in der S-Phase (S = Synthese) repliziert. Nach einer erneuten Wachstumsphase (G2) teilt sich die Zelle in zwei Tochterzellen während der M-Phase (M = Mitose). Als Schalter zwischen den verschiedenen Phasen fungieren Cycline, cyclinabhängige Kinasen (engl. cyclin-dependent kinases, CDKs) und CDCs (engl. cell division cycle) (für Details siehe Kap. 6). Eine naheliegende Frage bei der eukaryotischen DNA-Replikation ist, ob die DNA eines jeden Chro-
mosoms in einem einzigen Schritt verdoppelt wird (vergleichbar dem Mechanismus bei Prokaryoten) oder ob sie in Teilschritten repliziert. Eine erste Antwort hierauf haben autoradiographische Studien über das Replikationsverhalten von Chromosomen geben können. Antonio Lima-de-Faria erkannte schon 1959, dass bestimmte Chromosomenabschnitte zu einem späteren Zeitpunkt replizieren als die übrigen Chromosomenbereiche. ! Eukaryotische Chromosomen replizieren nicht kontinuierlich von einem Ende zum anderen, sondern verschiedene Chromosomenteilbereiche können zu unterschiedlichen Zeiten replizieren.
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Kapitel 2: Molekulare Grundlagen der Vererbung Abb. 2.19a–c. Topologische Probleme bei der Vereinigung zweier Replikationsgabeln. a Wenn das unreplizierte DNA-Fragment sehr kurz wird, kann eine Topoisomerase I die wenigen letzten Verdrillungen zwischen den Elternsträngen nicht mehr lösen. Diese einzelsträngigen Verdrillungen können entweder durch eine Topoisomerase III gelöst werden oder werden in doppelsträngige Verdrillungen (b, c) überführt, um sie dann von einer Typ-II-Topoisomerase aufzulösen. (Nach Wang 2002)
Spreitet man gereinigte DNA-Moleküle aus kurzzeitig mit 3H-Thymidin markierten menschlichen Zellen und führt an solchen Präparaten eine Autoradiographie durch, so findet man DNA-Moleküle, die mit mehrfachen Unterbrechungen radioaktiv markiert sind. Die Markierungsmuster weisen darauf hin, dass die Replikation der DNA an unterschiedlichen, von einander getrennten Stellen beginnt und bidirektional verläuft, da die Radioaktivität häufig symmetrisch um zwei unmarkierte Mittelregionen angeordnet ist (Abb. 2.21). Die mittleren Abstände der Replikationsstartpunkte betragen im Mittel deutlich über 100 kb und könnten sogar bei 500 kb liegen. Ein Genom muss Tausende von Replikationseinheiten besitzen, selbst wenn diese im Mittel 500 kb lang sind. Ein haploides menschliches Genom (3 × 109 bp), das innerhalb von etwa 8 Stunden repliziert wird, sollte etwa 10.000 bis 20.000 Replikationsstartpunkte besitzen.
! Die Replikation der DNA beginnt an bestimmten
Replikationsstartpunkten und läuft von dort aus nach zwei Seiten. Es gibt in eukaryotischen Chromosomen Zehntausende von DNA-Sequenzen, an denen die Replikation zu unterschiedlichen Zeiten beginnen kann.
Es gibt Anzeichen dafür, dass das differentielle Replikationsverhalten mit der Aktivität oder Inaktivität der betreffenden DNARegion in dem jeweiligen Zelltyp korreliert (s. S. 254). Das würde bedeuten, dass der Beginn der Replikation an bestimmten Replikationsstartpunkten gewebespezifisch reguliert wird. Ein Beispiel für gewebespezifische Unterschiede im Gebrauch von Replikationsstartpunkten können wir in der Frühentwicklung von Drosophila finden (Kap. 13.3.1).
2.2 Die Verdoppelung der DNA (Replikation) Abb. 2.20 a,b. Rolling-circle-Replikation. a Dieses Schema zeigt, dass die Replikation einen ringförmig geschlossenen DNA-Einzelstrang als Matrize zur Synthese einer Vielzahl von Kopien dieses Einzelstranges gebraucht. Der äußere (Plus-) Strang wird endonukleolytisch geöffnet und das offene 3′OH-Ende dient als Primer für die Replikation des inneren (Minus-) Stranges. An dem entstehenden Einzelstrang wird mit der Hilfe von Primern der komplementäre Strang in Form von Okazaki-Fragmenten synthetisiert, so dass ein neues DNA-Doppelstrangmolekül entsteht. b Rolling-circle-Mechanismus bei der Vermehrung des Phagen ΦX174. Das Schema zeigt Einzelheiten der Replikation. Die ringförmige, einzelsträngige Phagen-DNA wird nach der Infektion einer E. coliWirtszelle durch die wirtszelleigene DNA-Polymerase III zunächst repliziert und bildet die ringförmige, doppelsträngige Replikationsform I (RFI). Der ursprüngliche virale (Plus-) Strang der RFI-DNA, die zunächst in einer supercoiled Form vorliegt, wird durch das A-Protein geöffnet. Das A-Protein bindet kovalent an das 5′-Ende des geöffneten Einzelstranges. Der bei der Replikation durch die DNA-Polymerase III vom 3′OH-Ende des Einzelstranges her entstehende DNA-Einzelstrang assoziiert mit SSB-Protein (single-strand-binding protein) (kurze Pfeile). Sobald der Replikationsursprung erreicht ist, wird der Plus-Strang mit Hilfe des am 3′-Ende gebundenen A-Proteins, das mit dem 5′-Ende in Kontakt tritt, durch kovalente Ligation geschlossen und löst sich vom Minus-Strang. Damit ist der im Phagen enthaltene Plus-Strang fertiggestellt und kann im Phagenpartikel verpackt werden. Der MinusStrang dient zur weiteren Replikation von Phagengenomen. Die neu gebildeten Plus-Stränge können wiederum zu RFIDNA umgesetzt werden und dienen dann zur Synthese weiterer Plus-Stränge. Schließlich werden neusynthetisierte PlusStränge in Phagenköpfe verpackt, so dass schließlich keine weiteren RFI-Moleküle mehr zur Verfügung stehen. (Nach Freifelder 1983) ▲
Nach der Befruchtung erfolgt im Drosophila-Ei alle 10 Minuten eine Kernteilung. Das Intervall zwischen zwei Kernteilungen dient weitgehend der Replikation des Genoms, die in etwa 5 Minuten abgeschlossen sein muss. Um dieses Ziel bei einer Replikationsgeschwindigkeit von etwa 2,6 kb je Minute zu erreichen, sind 20.000 bis 50.000 Replikationsstartpunkte im Genom von Drosophila erforderlich. Diese werden in den frühen Kernteilungen wahrscheinlich alle verwendet und auch gleichzeitig aktiviert. Übereinstimmend damit wurde experimentell festgestellt, dass der mittlere Abstand der Replikationsstartpunkte in der Frühentwicklung bei etwa 8 kb liegt. In anderen Zelltypen von Drosophila ist dieser Abstand wesentlich größer und liegt in Speicheldrüsen im Mittel bei etwa 30 kb.
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Kapitel 2: Molekulare Grundlagen der Vererbung
Abb. 2.21a–d. Autoradiographische Demonstration von Replikationsstartpunkten in der DNA aus Kulturen menschlicher Zellen. In a und b sind die beiden Enden der Replikationsgabeln sichtbar. Weitere Replikationsstartpunkte befinden sich
! Der Zeitpunkt des Replikationsbeginns an ver-
schiedenen eukarotischen Replikationsstartpunkten kann gewebespezifisch reguliert werden.
Nachdem wir nun in der Frage der Zahl der Replikationsstartpunkte einen der ersten wesentlichen Unterschiede zwischen der Replikation bei Bakterien (ein Replikationsstartpunkt) und höheren Zellen (mehrere Zehntausend Startpunkte) gesehen haben, wollen wir uns nun den molekularen Details der eukaryotischen DNA-Replikation zuwenden. Ähnlich wie bei Prokaryoten finden wir eine Initiations-, Elongations- und Terminationsphase. Die Initiationsphase ist gekennzeichnet durch den Aufbau des prä-replikativen Komplexes an den entsprechenden Startsequenzen. Diese Startseqenzen wurden zunächst bei der Bäcker-Hefe Saccharomyces cerevisiae als „autonom-replizierende Sequenzen“ (ARS) beschrieben, da sie z. B. in künstlichen Chromosomen (engl. artificial chromosomes) ausreichen, um DNA-Synthese zu erlauben. Die Länge der ARSRegionen in Hefen gleicht mit etwa 200 bp ungefähr der des Replikationsstarts von Bakterien. Obwohl man bestimmte konservierte Elemente in den ARSRegionen gefunden hat (Abb. 2.22), weichen diese
innerhalb der Gabel. In c und d ist erkennbar, dass eine Initiation der Replikation mehrfach innerhalb begrenzter DNABereiche erfolgt ist. Der Längenmarker zeigt 50 µm in a, c und d an. (Aus Huberman u. Tsai 1973)
doch in der Mehrheit der Nukleotide voneinander ab, so dass man insgesamt nur Consensussequenzen angeben kann. Schon bei einer anderen Hefe, Schizosaccharomyces pombe, sind die Sequenzen, die den Replikationsstart steuern, über 800 bis 1000 bp verteilt. Die einzelnen Elemente umfassen etwa 20 bis 50 bp und zeigen keine deutlichen Sequenzhomologien zu denen von S. cerevisiae. Die Replikationsstartpunkte der Metazoa sind insgesamt schlechter definiert und können sich über tausende von bp erstrecken. Das andere Extrem sind die Replikationsstartpunkte der frühen Embryonen von Drosophila 250 bp
AT T T TATAT T TA T G T
Abb. 2.22. Struktur einer ARS-Region von Hefe. Die purpur dargestellten Sequenzbereiche innerhalb der 250-bp-Region, die für die Replikation notwendig ist, stellen die ARS-Consensus-Sequenz dar (in der Abbildung angegeben), die übrigen hervorgehobenen Blöcke enthalten weitere AT-reiche DNA-Elemente. Die Struktur von ARS- Regionen kann variieren. (Nach Campbell 1986)
2.2 Die Verdoppelung der DNA (Replikation)
und Xenopus, die offensichtlich kaum Sequenzspezifitäten zeigen, vermutlich um eine besonders schnelle DNA-Replikation und damit verbundene Zellteilung zu ermöglichen. Der Komplex, der den Replikationsstartpunkt erkennt (engl. origin recognition complex, ORC) und als Initiator der Replikation wirkt, besteht bei Eukaryoten aus 6 Einzelkomponenten (ORC1p→6p). Der ORC wurde zwar ursprünglich in S. cerevisiae charakterisiert, aber Folgestudien zeigten, dass er in analoger Form auch in Drosophila, Xenopus und in menschlichen Zellen vorkommt. Der ORC bindet in der G1-Phase in ATP-abhängiger Weise an die AT-reichen Regionen des Replikationsstarts, wobei er Einzelstrangbereiche von einer Größe von 80 bis 85 Basen bevorzugt. Die ORC-Bindung an das Chromatin ist nicht in allen Spezies Zellzyklus-abhängig reguliert. So bleibt der ORC bei Hefen und Drosophila zunächst an den Replikationsstart gebunden, bis er während der Mitose vom Chromatin entfernt wird. Eine wichtige Rolle beim Zusammenbau des gesamten Initiationskomplexes spielt CDC6 (engl. cell division cycle): Es ist ein ATP-bindendes Protein, das während der G1-Phase kurz vor der Initiation der DNA-Replikation exprimiert wird. Das Protein wird unmittelbar nach der Initiation der DNA-Replikation in der S-Phase wieder abgebaut. Man nimmt an, dass das CDC6-Protein – in Verbindung mit ORC – für die zeitliche Kontrolle der Initiationsphase verantwortlich und am Beladen des Initiationskomplexes mit der Helikase beteiligt ist. Der dritte Komplex, der für die Initiationsphase der eukaryotischen DNA-Replikation notwendig ist, wird als MCM (engl. minichromosome maintenance)Komplex bezeichnet. Er besteht in allen Eukaryoten aus 6 Untereinheiten (MCM2-7). Einige der Untereinheiten des MCM-Komplexes haben ATP-abhängige DNA-Helikase-Aktivitäten, DNA-abhängige ATPaseAktivitäten und die Fähigkeit, an einzelsträngige DNA zu binden. Der Zusammenbau des MCM-Proteins am Chromatin benötigt die koordinierte Funktion von ORC, und CDC6 sowie eines weiteren Proteins, Cdt1. Cdt1 bindet an den C-Terminus von CDC6 und beschleunigt die Bindung des MCM-Komplexes mit Chromatin; Cdt1-Mutationen in S. pombe führen zu einem Block der DNA-Replikation. Interessanterweise können ORC und CDC6 vom Chromatin entfernt werden, wenn der MCM-Komplex am Chromatin gebunden ist, ohne dass die DNA-Replikation beeinträchtigt
wird. Die Anwesenheit von Nukleosomen (besonders Histon H3) in unmittelbarer Nachbarschaft von ARS ist offensichtlich für die Ausbildung des prä-replikativen Komplexes notwendig.Nach der DNA-Replikation wird der MCM-Komplex übrigens wieder vom Zellkern ins Cytoplasma exportiert und wartet dort bis zur DNA-Replikation vor der nächsten Zellteilung, um dann erneut in den Zellkern transportiert zu werden. Alle Komponenten dieses Systems (CDC6, MCM und ORC) können durch CDKs (engl. cyclin-dependent kinase) phosphoryliert werden. Dadurch werden zumindest einige Teilfunktionen des jeweiligen Komplexes inaktiviert, so dass damit eine Wiederholung der Replikation im gleichen Zellzyklus verhindert wird (dies wird durch eine erhöhte Synthese von CDKs nach der DNA-Replikation erreicht).Ein weiterer Zellzyklus-abhängiger Inhibitor der DNA-Replikation ist Geminin. Es bindet an Cdt1 und verhindert somit die Bildung des Initiationskomplexes. Sein Abbau am Ende der Mitose ist eine Voraussetzung für eine neue Runde der DNA-Replikation im nächsten Zellzyklus. Nach dem Öffnen und Entwinden der Doppelstrang-DNA am Replikationsstartpunkt wird die DNA-Polymerase zu dem entstehenden Replikationsauge geladen, um eine schnell voranschreitende, bidirektionale DNA-Synthese zu ermöglichen. Die hohe Geschwindigkeit der DNA-Polymerase wird durch einen Faktor erreicht, der als „Ringklemme“ (engl. sliding clamp) die DNA umfasst und nach der Bindung der katalytischen Untereinheit der Polymerase diese an die DNA assoziiert. Da diese Ringklemme (engl. proliferating cell nuclear antigen, PCNA) selbst keine DNA-bindende Eigenschaft hat, benötigt sie einen Hilfsfaktor (Klammerlader, engl. clamp loader), den Replikationsfaktor C, der selbst wieder aus 5 Untereinheiten aufgebaut ist (RF-C1→5). Zwei DNAPolymerasen sind bei Eukaryoten in diesem Anfangsstadium essentiell: Pol ε und Pol α. Dabei benötigt die Pol α die Pol ε, wohingegen der Einbau von Pol ε offensichtlich unabhängig von Pol α erfolgen kann. Die Bildung des prä-replikativen Komplexes wird in Abb. 2.23 a–c gezeigt. Insgesamt sind am Aufbau des prä-replikativen Komplexes 14 Proteine beteiligt, davon können 10 ATP binden und ATP hydrolysieren. Vermutlich ist also die ATP-Bindung mit der Bildung der Komplexe gekoppelt und die ATP-Hydrolyse mit deren Zerfall. Es ist an dieser Stelle außerdem auf die Ähnlichkeit der Vorgänge bei E. coli hinzuweisen: Es gibt klare funktionelle Ähnlichkeiten zwischen DnaA und ORC,
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Kapitel 2: Molekulare Grundlagen der Vererbung
Abb. 2.23a–c. Der Initiationszyklus bei Eukaryoten. a Das Modell für die Bildung des prä-replikativen Komplexes enthält die wesentliche Information über die beteiligten Partner. Der relative Überschuss der MCM2-7-Komplexes ist durch die Assoziation mit dem benachbarten Chromatin angedeutet. b Für den Übergang vom prä-replikativen Komplex zur Entwindung des Replikationsstarts sind weitere Faktoren notwendig (MCM10, CDK, DDK, CDC45, Sld3 und RP-A). Nach diesem Modell verdrängt MCM10 im ersten Schritt des Übergangs Cdt1p aus dem MCM2-7-Komplex. c Die DNA-Poly-
merasen Pol ε und Pol α/Primase werden nacheinander in Abhängigkeit von Dpb11/Sld2 (zwei Regulatoren der DNAReplikation) aufgeladen. Die RNA/DNA-Primersynthese erlaubt den Zusammenbau der Klammer (PCNA) mit Hilfe des Klammer-Laders, des Replikationsfaktors RFC. Die Klammer aus PCNA ermöglicht es den Polymerasen α und ε, an den Primer-Matrize-Übergang zu binden und kontinuierlich DNA zu synthetisieren. Es wird vermutet, dass CDC45 die Synthese des leading und des lagging Stranges koordiniert. (Nach Bell u. Dutta 2002)
2.2 Die Verdoppelung der DNA (Replikation)
DnaC und CDC6/Cdt1 und DnaB und MCM2-7. Allerdings ist der Übergang zur eigentlichen Replikation bei Eukaryoten wesentlich komplexer als bei Prokaryoten. ! Eine zentrale Funktion bei der Kontrolle der DNA-
Replikation kommt dem ORC-Komplex zu, der von der frühen G1-Phase bis zur Mitose am Replikationsstartpunkt gebunden ist. Er sorgt, im Zusammenwirken mit Proteinkinasen der Zellzykluskontrolle, für die Bildung eines prä-replikativen Komplexes, der den Replikationsbeginn ermöglicht. Die im prä-replikativen Komplex enthaltenen MCM-Proteine werden im Laufe der S-Phase phosphoryliert und anschließend aus dem Chromatin entfernt. Im Laufe der G1-Phase wird der ORC-Komplex neu gebildet. Erst in der späten G1Phase des folgenden Zellzyklus kommt es erneut zur Dephosphorylierung der MCM-Proteine, die die erneute Bildung eines prä-replikativen Komplexes gestattet und somit eine neue Replikationsrunde einleitet. Die Replikation ist damit eng an die Zellzyklusregulation gebunden.
Die Pol α (auch Primase genannt) beginnt nach ihrer Assoziation an den Initiations-Komplex mit der Synthese kurzer RNA/DNA-Hybride, die zunächst aus ca. 10 RNA-Nukleotiden bestehen, denen 20 bis 30 DNANukleotide folgen. Dieses Oligonukleotid wird dann von der Pol ε (oder auch δ) für die fortschreitende Elongation des leading- und des lagging-Stranges genutzt (die Okazaki-Fragmente des lagging-Stranges sind bei Eukaryoten etwa 200 Basen lang). In Säugerzellen muss sich ein Initiationsereignis 4 × 104 mal am leading-Strang ereignen (das entspricht etwa der Zahl der Replikationsstartpunkte in Säugerzellen), aber es muss sich jedes Mal an den Startstellen der Okazaki-Fragmente wiederholen (ca. 2 × 107 mal in Säugerzellen). Der Ersatz der Pol α/Primase durch die schneller voranschreitende Pol δ ist abhängig von der RNA/ DNA-Primersynthese durch Pol α und wird durch eine ATP-Veränderung des Replikationsfaktors C (RF-C) reguliert (unter weiterer Beteiligung des Replikationsproteins A [RP-A], eines EinzelstrangBindeproteins). Beide Polymerasen, α und δ, sind hervorragend für ihre Funktionen geeignet: Pol α/ Primase kann die Synthese de novo initiieren, wohingegen die Pol δ (vor allem durch die Wechselwirkung
mit PCNA) die Fähigkeit hat, lange DNA-Abschnitte zu synthetisieren. Die vermutete Dimerisierung der Pol δ könnte bei der Koordination des leading- und des lagging-Stranges eine Rolle spielen (ähnlich wie das Holoenzym der Polymerase III bei E. coli) und bei der Etablierung der asymmetrischen Replikationsgabel wichtig sein, möglicherweise durch die Assoziation der Pol α/Primase zu einer der beiden Hälften der dimeren Pol δ. Eine Übersicht über die eukaryotischen DNA-Polymerasen gibt Tabelle 2.4. Während der DNA-Replikation wird der leadingStrang kontinuierlich repliziert, während der laggingStrang in der Form kurzer Okazaki-Fragmente synthetisiert wird. Um aus den Okazaki-Fragmenten einen reifen Doppelstrang herzustellen, werden DNA-Ligase I, FEN-1 (engl. flap endonuclease, auch als „Reifefaktor“ bekannt) und RNase H benötigt. Die Beendigung der Replikation erfolgt im Allgemeinen zufällig zwischen den Replikationsstartpunkten. Allerdings wurde kürzlich bei S. pombe beobachtet, dass es darüber hinaus auch spezielle „Terminator“-Sequenzen gibt. Das entsprechende Fragment, das zunächst auf etwa 800 bp eingegrenzt werden konnte (engl. replication termination site, RTS1), bindet insgesamt 4 Proteinfaktoren (swi1 und swi3 sowie rtf1 und rtf2). Bisher ist nur die Sequenz des swi1-Gens bekannt. Sie hat aber ein hohes Maß an Homologie zu Proteinen bei Drosophila, Maus, und Mensch, so dass davon ausgegangen werden kann, dass es sich nicht nur um ein isoliertes Phänomen bei S. pombe handelt. Vor über 20 Jahren wurde die DNA-Polymerase β als Prototyp für ein Reparaturenzym betrachtet. Es hat sich aber in der Folgezeit gezeigt, dass die Pol β nur für einen Reparaturmechanismus, nämlich den Austausch eines einzigen falschen Basenpaares,verantwortlich ist (engl. base-pair excision repair).Weitere Reparaturmechanismen sind die Nukleotid-Austausch-Reparatur (engl. nucleotide excision repair) sowie die Reparatur falscher Basenpaare (engl. mismatch repair) mit der Beteiligung der Polymerasen δ und ε. Doppelstrangbrüche werden mit Hilfe der Pol α/Primase und der Pol δ repariert,da hierbei die Bildung einer Struktur erforderlich ist, die einer Replikationsgabel ähnelt. Ein besonderes Problem der eukaryotischen Replikation ist die Bildung der Chromosomen-Enden (der Telomere). Im Gegensatz zur Synthese des leading-Strangs, die bis zum Ende der chromosomalen DNA durchläuft, kann der komplementäre laggingStrang nicht bis zum Ende repliziert werden, da die
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Kapitel 2: Molekulare Grundlagen der Vererbung
Tabelle 2.4. Enzym
Untereinheit (kDa)
Gensymbol (Mensch)
Chromosom (Mensch)
OMIMa
Funktion (Krankheiten)
POLA POLA2 PRIM1 PRIM2a
Xq22.3-q21.1 11q12.3 6p11-p12 12q13
312040
Katalytische Untereinheit Protein-Protein-Wechselwirkung Primase Primase
POLB
8p11.2
174760
DNA-Reparatur (Krebserkrankungen?)
Pol α
180 68 55 48
Pol β
38
Pol δ
124 51 66 12
POLD1 POLD2 POLD3 POLD4
19q13.3-q13.4 7 11q14 11q13
174761 600815
Katalytische Untereinheit (Krebserkrankungen) Protein-Protein-Wechselwirkung Multimerisierung, Wechselwirkung mit PCNA Protein-Protein-Wechselwirkung
Pol γ
140
POLG
15q25
174763
54
POLG2
17q
604983
Katalytische Untereinheit (Einschränkung der Augenbeweglichkeit) Prozessivität
261
POLH
6p21.1-p12
603968
59 17 12
DBP2 DBP3 DBP4
14q21-q22 9q33 2p12
Katalytische Untereinheit (Xeroderma pigmentosa) Multimerisierung Protein-Protein-Wechselwirkung Protein-Protein-Wechselwirkung
Pol ι
80
POLI
18q21.1
605252
DNA-Reparatur
Pol κ
99
POLK
5q13.1
605650
DNA-Reparatur
Pol λ
63
POLL
10
606343
DNA-Reparatur
Pol µ
55
POLM
7p13
606344
DNA-Reparatur
Pol θ
198
POLQ
3q13.3
604419
high-fidelity DNA-Polymerase; 3’→5’-Exonuklease
Pol σ
57
POLS
5p15
605198
Topoisomerase
Pol ζ
344
POLZ
6q21
602776
DNA-Reparatur
Pol ε
a
Klassen eukaryotischer DNA-Polymerasen
OMIM: Online Mendelian Inheritance in Man (http://www.ncbi.nlm.gov/OMIM)
DNA-Polymerase nicht im Stande ist, Nukleotide an 5’-Enden anzufügen. Die Synthese dieses Stranges muss daher über RNA-Primersequenzen und Okazaki-Fragmente erfolgen. Es wäre auch durchaus denkbar, dass am Ende der Chromosomen nur eine Einzelstrang-DNA vorhanden ist. Dies würde aber Probleme bei der folgenden Replikation ergeben: dieser Bereich könnte überhaupt nicht mehr repliziert
werden, so dass die Chromosomen an einem Ende ständig kürzer würden (Abb. 2.24). An Ciliaten-DNA (Tetrahymena) hat man zuerst erkannt, wie solche Schwierigkeiten der DNA-Replikation umgangen werden. Es zeigte sich, dass die Enden aus einfachen Wiederholungselementen der DNA-Sequenz (engl. repeats) aufgebaut sind, die zudem noch eine Besonderheit
2.2 Die Verdoppelung der DNA (Replikation) 3' 5' 5'
RNA-Primer
3' 3' 5' 3' 5' OkazakiFragment
GGGGGGGG
3' 5' 3' 5'
GG
G GG G G G
3' 5' 3' 5'
Abb. 2.25. Molekularer Mechanismus der Telomerase-Funktion. Es besteht im Telomerenbereich (s. Abb. 2.24) ein Gleichgewicht zwischen einem offenen DNA-Ende und einer Rückfaltung des 3′-Endes mit Hilfe von GG-Basenpaarungen. Die Telomerase kann an das offene 3′-Ende zusätzliche G-reiche Repeats anfügen (blau). Dadurch kann die RNA-Primase ihre normale Funktion in der Synthese eines RNA-Primers ausüben (rot) und das 3′-Ende der DNA wird repliziert (grün). Telomeren unterliegen daher einem regelmäßigen Wachstum durch die Telomerasewirkung. (Nach Cech 1987)
G G* G G* * G *G G G
3' 5'
Abb. 2.24. Telomeren-Replikation bei Tetrahymena (Protozoa, Ciliata). Die Replikation des lagging strand kann nicht beendet werden, da eine Primersynthese unmittelbar am 3′-Ende des DNA-Stranges nicht erfolgt. Die Telomerase fügt daher einen G-reichen DNA-Bereich an das 3′-Ende der DNA an, der durch abnormale GG-Basenpaarung zurückgefaltet werden kann und dadurch der Telomerase das Anfügen weiterer Repeats ermöglicht. Durch die Verlängerung des 3′-Endes entstehen zusätzliche Stellen für die RNA-Primase, die nunmehr einen RNA-Primer synthetisieren kann und damit ein freies 3′-OHEnde als Primer für die Vervollständigung der Replikation des betreffenden Einzelstranges zur Verfügung stellt
aufweisen: Das 3’-Ende des überhängenden Einzelstranges ist durch Zurückfaltung und intramolekulare Basenpaarung mit sich selbst gepaart (Abb. 2.25). Die Replikation erfolgt mit Hilfe eines besonderen Enzyms, der Telomerase (engl. telomere terminal transferase). Dieses Enzym, das aus RNA und Proteinkomponenten besteht, fügt dem Telomer nach dessen Öffnung am überhängenden Einzelstrang DNARepeats an, deren Sequenzeigenschaften durch die RNA der Telomerase festgelegt werden, also nicht vom Chromosom selbst.Sie sind im Allgemeinen GC-reich. An diesen hinzugefügten Repeats können dann RNAPrimer synthetisiert werden, die ein Auffüllen des komplementären Stranges bis auf eine endständige kurze Region gestatten.
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Kapitel 2: Molekulare Grundlagen der Vererbung
! Chromosomenenden (Telomere) bringen beson-
dere Probleme für eine vollständige Replikation mit sich. Um einen allmählichen Verlust von Endsequenzen des Chromosoms zu verhindern, haben sich besondere Mechanismen herausgebildet, mit deren Hilfe Nukleotidsequenzen an die Chromosomenenden angefügt werden können, so dass diese ungekürzt erhalten bleiben.
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Kernaussagen
▬ Träger der Erbinformation in der Zelle sind die Nukleinsäuren, wie sich durch Transformationsexperimente zeigen lässt. ▬ Es gibt Ribonukleinsäuremoleküle (RNA) und Desoxyribonukleinsäuremoleküle (DNA). ▬ RNA kommt meist als Einzelstrang vor, während DNA vorwiegend als Doppelhelix vorliegt. ▬ DNA kann in unterschiedlichen Konformationen vorliegen. Trotz ihres sehr gleichförmigen Aufbaus weist sie eine große Variabilität in Einzelheiten ihrer Struktur auf. ▬ Das Watson-Crick-Modell gestattet es, alle wichtigen Eigenschaften des Erbmaterials aus einfachen chemischen Mechanismen zu verstehen. ▬ Die Replikation erfolgt durch ein komplexes Zusammenspiel von Proteinen unterschiedlicher Funktionen und sie ist eng mit den Regulationsmechanismen des Zellzyklus verknüpft. ▬ Die DNA-Replikation ist mit häufigem Fehleinbau von Nukleotiden verbunden. Reparaturprozesse sorgen schon während der Replikation für die Beseitigung der meisten Fehler.
Technik-Box
Technik-Box 2
Renaturierungskinetik-Experimente Anwendung: Ermittlung der Anteile repetitiver DNA-Sequenzen und des Repetitionsgrades; Ermittlung der kinetischen Komplexität von DNA. Methode: DNA wird zunächst in Fragmente möglichst einheitlicher Länge (vorzugsweise um die 500 Nukleotide) geschert und anschließend denaturiert. Die Einzelstrang-DNA wird dann unter definierten Temperatur- und Ionenbedingungen und in einer genau festgelegten Konzentration renaturiert. Durch Messung des Anteils renaturierter Moleküle in bestimmten
Zeitintervallen kann eine Renaturierungskinetik erstellt werden (s. S. 29, Abb. 2.7). Die Messung des Anteils renaturierter Moleküle kann auf unterschiedlichem Wege erfolgen. Häufig angewendet wurde anfangs die Trennung von Einzel- und Doppelstrangmolekülen nach Bindung an Hydroxylapatit durch Elution mit Puffern unterschiedlicher Ionenstärken. Einzel- und Doppelstrangmoleküle eluieren hierbei getrennt. Ihre relativen Anteile können danach durch Radioaktivitätsmessungen oder durch Messung der optischen Dichte jeder
Fraktion bei 260 nm nach Denaturierung bestimmt werden. Ein einfacherer Weg ist die photometrische Bestimmung bei 260 nm (hier liegt das Absorptionsmaximum von Nukleinsäuren). Diese erfolgt am zweckmäßigsten durch Aufnahme einer Schmelzkurve von DNA-Proben in regelmäßigen Zeitintervallen. Die Schmelzkurve der DNA lässt nicht nur den Anteil an renaturierten Molekülen erkennen, sondern gibt auch Aufschluss über die Genauigkeit der Basenpaarungen in den renaturierten Molekülen.
Die Renaturierung kann entweder zu Doppelsträngen mit vollständiger Basenpaarung führen oder es entstehen unvollständig renaturierte Moleküle. Entscheidend für die Art der Renaturierung sind die experimentellen Bedingungen (Ionenstärke, Temperatur) während der Renaturierung und des darauffolgenden Waschens. Oft ist es wünschenswert, auch unvollständig gepaarte Heteroduplexmoleküle zu erhalten. In diesem Fall kann man ähnliche DNA-Sequenzen mit teilweise abweichender Sequenz identifizieren (z. B. Gene aus evolutionär entfernteren Arten).
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Kapitel 2: Molekulare Grundlagen der Vererbung
Technik-Box 3
Gelelektrophorese Anwendung: Auftrennung von Makromolekülen nach unterschiedlichen physikochemischen Kriterien. Voraussetzungen · Materialien: Elektrophorese macht von der Eigenschaft geladener Substanzen Gebrauch, in einem elektrischen Feld zum ihrer Ladung entgegengesetzten Pol zu wandern. Die Ladung von Substanzen lässt sich durch geeignete Umgebungsbedingungen festlegen. Die Wanderungsgeschwindigkeit im elektrischen Feld wird nicht nur von der Ladungsstärke bestimmt, sondern auch von der Konformation der ladungstragenden Moleküle und von den molekularen Eigenschaften des Elektrophoresesystems (z. B. Porenweite des Trägermaterials). Die elektrophoretische Trennung von Makromolekülen erfolgt in geeigneten Puffersystemen in einem Trägermedium, das zur Stabilisierung des Puffersystems, aber auch zur Festlegung des Trennungsbereiches der Moleküle dient. Als Trägermaterialien dienen vor allem Polyacrylamide unterschied-
Wanderungsrichtung der Nukleinsäuren
Taschen
–
Gel
Elektrodenanschlüsse
+
licher Konzentration (ca. 3 bis 20%) und unterschiedlichen Vernetzungsgrades. Hierin werden vor allem kürzere DNA-Fragmente, aber auch RNA, nach Größe oder Ladung fraktioniert. Für DNA- und RNA-Trennungen werden vorzugsweise Agarosegele (0,8 bis 4%) verwendet. Besondere Bedeutung hat die Pulsfeld-Elektrophorese erlangt, mit deren Hilfe es möglich ist, sehr große doppelsträngige DNAMoleküle nach ihrer Größe zu fraktionieren. Am häufigsten erfolgt eine Trennung nach Molekulargewicht oder Konformation. Methode: Die Elektrophorese erfolgt in elektrischen Feldern, die in einer Elektrophoresekammer zwischen Elektroden erzeugt werden. Je nach dem Anwendungsbereich werden geringe (15–150 V) oder auch sehr hohe Spannungen (2000 V) benötigt, um eine Trennung von Makromolekülen zu erreichen. Die Dicke des Trägermaterials variiert, je nach Anwendung, zwischen 1/10 mm und etwa 6–8 mm. Für analytische Anwendungen, zu
denen auch die DNA-Sequenzanalyse zählt, genügt es, sehr geringe Materialmengen aufzutrennen, so dass an die Kapazität des Trägermaterials keine hohen Anforderungen gestellt werden und man mit Bruchteilen eines Millimeters auskommt. Zur Handhabung solcher Gele sind natürlich besondere Verfahren erforderlich. Eine wichtige Erweiterung der Gelelektrophoresetechniken ist die zweidimensionale Elektrophorese. Hierdurch gelingt es, Moleküle sehr ähnlichen Molekulargewichts, aber unterschiedlicher Ladungseigenschaften, sehr effizient voneinander zu trennen (Abb. 8.1). Auch für DNA sind zweidimensionale Gelelektrophoresetechniken entwickelt worden. Diese werden vor allem zur Untersuchung replizierender DNA-Moleküle benötigt, da sie zur Trennung unterschiedlicher Replikationskonformationen, so z. B. von Replikationsgabeln oder von Replikationsblasen (s. S. 36), geeignet sind. Mittels der Pulsfeld-Elektrophoresetechnik kann die vollständige DNA ganzer Hefechromosomen von-
Beispiel für eine horizontale Agaroseelektrophorese von DNA. Das Gel wird in ein elektrisches Feld gebracht und die DNA wird in Taschen im Agarosegel gebracht (links). Aufgrund der negativen Ladung der DNA wandern die Restriktionsfragmente zur Anode. Rechts wird die Auftrennung der Restriktionsfragmente (s. Technik-Box 10) nach Größe gezeigt. Die weitere Analyse dieser Gele erfolgt z. B. durch Southern-Blotting und Hybridisierung (s. Technik-Box 10).
Technik-Box
Technik-Box 3
Gelelektrophorese (Fortsetzung) einander getrennt werden. Die Technik beruht auf einer in bestimmten Zeitintervallen wechselnden Feldrichtung während der Elektrophorese. Hierdurch werden selbst sehr große DNA-Moleküle durch ihre Reorientierung bei wechselnder Feldrichtung befähigt, die Poren eines Agarosegels zu durchwandern. Gelelektrophorese
kann mit Techniken kombiniert werden, in denen elektrophoretisch aufgetrennte Nukleinsäuren auf Membranfilter übertragen werden und auf diese Weise weiteren molekularen Analysen wie Hybridisierungsexperimenten zugeführt werden können (siehe Southern- und Northern-Blotting). Die Größen der untersuchten
Makromoleküle werden im Allgemeinen durch ihre elektrophoretische Mobilität im Vergleich zu Markermolekülen bekannter Größe angegeben. DNA wird in Basenpaaren (bp oder kb, also Kilobasenpaaren) angegeben, RNA mit der Anzahl ihrer Basen.
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Kapitel 2: Molekulare Grundlagen der Vererbung
Technik-Box 3
Pulsfeld-Gelelektrophorese Agarose- oder Polyacrylamidgele, wie sie gewöhnlich zur elektrophoretischen Trennung von Makromolekülen verwendet werden, haben nur einen begrenzten Anwendungsbereich für die Auftrennung von DNA-Molekülen. DNA-Doppelstränge, deren Länge 10–15 kb überschreitet, lassen sich nicht ausreichend voneinander trennen, um exakte Größenbestimmungen zu ermöglichen. Solche exakten Längenmessungen sind jedoch oft erforderlich, vor allem um größere Chromosomenbereiche von Organismen mit großen Genomen (z. B. Säuger) zu analysieren, aber auch für die experimentelle Arbeit mit Klonierungsvektoren, die den Einbau großer DNA-Fragmente gestatten (insbesondere Cosmide und YACs). In konventionellen Elektrophoresemethoden werden DNA-Moleküle bis zu einer bestimmten Größe, die von der Gelzusammensetzung abhängt, nach ihrer Länge aufgetrennt. Ihre elektrophoretische Mobilität ist umgekehrt zur Länge korreliert. Größere Moleküle lassen sich aber in einer Gelmatrix, die experimentell handhabbar ist, nicht
–
–
+
+
Gel
mehr trennen, zumal sie sich auch in ihrer ausgestreckten Tertiärstruktur von kleineren DNA-Doppelsträngen unterscheiden, die im Gel stärker zu globulärer Struktur tendieren. Die ausgestreckte Struktur langer Moleküle führt dazu, dass diese in den Gelporen hängenbleiben und sich nicht mehr weiterbewegen können. Durch ein besonderes Elektrophoreseverfahren, die Pulsfeld-Gelelektrophorese (engl. Pulsed Field Gel Elektrophorese, PFGE), gelingt es jedoch diese Blockierung der Bewegung im elektrischen Feld zu überwinden. Das Pulsfeld-Gelelektrophoresegerät besitzt mehrere Elektroden. Während der Elektrophorese wird der Strom in regelmäßigen Intervallen umgepolt (pulsed field). Dadurch können sich die DNA-Doppelstränge in ihrer Ausrichtung umorientieren und durch die Gelporen weiterwandern. Die Länge der Moleküle, die auf diese Weise noch im elektrischen Feld wandern können, hängt von der Dauer der Impulse ab (zwischen einigen Sekunden und mehreren Minuten). Unter geeigneten Bedingungen gelingt es, die DNA ganzer Hefechromosomen
(mehrere hundert kb bis zu mehr als 1 Mb) aufzutrennen. Eine Rolle für das Auflösungsvermögen spielt nicht nur die Pulslänge der Stromrichtung, sondern auch die Anordnung der Elektroden. Außerdem unterstützt eine allmähliche systematische Änderung der Pulselängen während der Elektrophorese die Genauigkeit der Auftrennung unterschiedlich langer Moleküle. Es soll hier nur angemerkt werden, dass die Isolation von DNA-Molekülen der erforderlichen Längen besondere Methoden erfordert. Konventionelle DNA-Isolierungstechniken erlauben es nicht, DNA von Längen wesentlich über 50–100 kb zu isolieren. Für DNA, die mittels Pulsfeld-Gelelektrophorese analysiert werden soll, führt man daher die DNA-Isolation nach Einbettung des Gewebes (oder der Zellen aus Zellkulturen) in Agarose durch. Die freigesetzten DNA-Moleküle bleiben hierdurch in ein Trägermedium eingebettet, das Brüche der DNA durch mechanische Belastung verhindert.
Es gibt unterschiedliche Arten der Pulsfeld-Elektrophorese-Apparaturen. Die einfachste Art besteht in einer normalen Horizontalgelapparatur, bei der die Polung der Elektroden in regelmäßigen Intervallen umgewechselt wird. Hier gezeigt ist eine CHEF-Apparatur (Contour-clamped homogenous gel electrophoresis), bei der ein alternierendes Feld in der angegebenen Weise erzeugt wird (die Pfeile geben die alternativen Richtungen des Feldes an).
Kapitel 3
Verwertung genetischer Informationen
Ribosomale DNA während der Transkription in Xenopus-Oocyten. Die Elektronenmikroskopie zeigt uns anschaulich molekulare intrazelluläre Prozesse. (Photo: O. L. Miller Jr., Charlottesville)
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Kapitel 3: Verwertung genetischer Informationen
Überblick Die bisher beschriebene Einförmigkeit der DNA in ihrem Aufbau steht im Widerspruch zu der großen Anzahl vielfältiger Informationen, die sie enthalten sollte, wenn sie tatsächlich die Grundlage von Vererbungsvorgängen darstellt. Die einzige in der DNA enthaltene Variabilität besteht in der Folge von insgesamt vier unterschiedlichen Basen. Diese Variabilität genügt jedoch, um umfangreiche Information zu speichern, wenn man annimmt, dass diese Information in Form eines Codes vorliegt, der mehrere Basen als Codewort umfasst. Der in der DNA verwendete genetische Code ist ein Triplettcode, der jeweils eine Gruppe von drei aufeinanderfolgenden Basen umfasst. Dieser Code ist für alle Organismen nahezu identisch. Die für die Zelle entscheidende Information ist die Festlegung einer spezifischen Aminosäuresequenz in aufeinanderfolgenden Basentripletts der DNA. Diese Triplettbasensequenz kann in der Zelle durch die Bildung entsprechender Proteine umgesetzt werden. Hierzu bedient
3.1 DNA, genetische Information und Informationsübertragung Alle bisher besprochenen Eigenschaften der DNA stehen in Einklang mit den Anforderungen an eine chemische Verbindung, die die erbliche Information eines Organismus beherbergt. Dennoch haben wir eine entscheidende Frage bisher nicht gestellt: Welche molekulare Eigenschaft der DNA befähigt sie, die große Vielfalt der Erscheinungsformen von Lebewesen in sich zu vergegenwärtigen? In der DNA-Struktur gibt es ja praktisch nur eine variable chemische Komponente, die an das gleichförmige Zucker-Phosphat-Rückgrat seitlich angefügte Base. Aber auch die hierbei mögliche Variabilität erscheint uns, wie schon Miescher vor mehr als 100 Jahren feststellte, sehr wenig geeignet, die Vielfalt lebender Erscheinungen zu erklären, da sich im Allgemeinen nur vier verschiedene Basen in der DNA miteinander abwechseln. Immerhin fällt uns die Vorstellung, dass nur vier unterschiedliche Einzelelemente eine sehr große Menge unterschiedlichster Information verschlüsseln können, heute viel leichter, da es uns aus der Informatik geläufig ist, dass schon zwei unterschiedliche Elemente – zum Beispiel „0“ und „1“ – sehr viel Information aufzunehmen vermögen, wenn sie in geeigneter Form gruppiert werden. Genau das ist
sich die Zelle einer weiteren Nukleinsäure, der einsträngigen Messenger-RNA (mRNA). Diese mRNA wird an der DNA nach dem gleichen Duplikationsverfahren synthetisiert (Transkription), das auch bei der Replikation zur Anwendung kommt. Die mRNA repräsentiert jedoch nur den einen der beiden DNA-Stränge, der als kodierender (kodogener) Strang bezeichnet wird. Wie der Name besagt, dient die mRNA als Bote zur Übertragung der genetischen Information ins Cytoplasma. Hier findet mit ihrer Hilfe an den Ribosomen die Proteinsynthese (Translation) statt. Jedes Basentriplett definiert eine Aminosäure. Sie wird von einer TransferRNA (tRNA) in der von der mRNA festgelegten Reihenfolge an die vorangehende Aminosäure geknüpft. Die tRNA erkennt ein Triplett in der mRNA mit Hilfe ihres Anticodons. Sie ist mit der zugehörigen Aminosäure beladen, die nun der wachsenden Polypeptidkette angefügt werden kann.
durch die organischen Basen in der DNA möglich: Durch die Vielfalt der Möglichkeiten der Basenreihenfolge im DNA-Strang wird die zur Existenz eines Organismus erforderliche Information in der DNA festgelegt. Die Beantwortung der Frage des Informationstransfers von der DNA als Informationsträger zur praktischen Verwertung im zellulären Stoffwechsel hat einen komplizierteren Weg genommen als es aus heutiger Sicht notwendig erscheinen mag. Zunächst aber war es erforderlich, die Frage zu beantworten, in welcher Weise Gene in der Zelle ihre Funktionen ausüben können. Prinzipielle Vorstellungen hierüber hatten sich bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt: Gene üben zentrale Aufgaben im Stoffwechsel der Zelle aus. Das kommt in den Worten E. B. Wilsons (1900) zum Ausdruck, wenn er schreibt: „The building of a definite cell-product, such as a muscle fibre, a nerve-process, a cilium, a pigmentgranule, a zymogen-granule, is ... the result of a specific form of metabolic activity, as one may conclude from the fact that such products have not only a definite physical and morphological character, but also a definite chemical character. … In its physiological aspect, therefore, inheritance is the recurrence, in successive generations, of like forms of metabolism …“
3.1 DNA, genetische Information und Informationsübertragung
Entscheidende Fortschritte im Verständnis der Genwirkung wurden in den 1940er Jahren gemacht. Hierbei waren vor allem genetische Studien biochemischer Prozesse am Schimmelpilz Neurospora von Bedeutung. Dieser Organismus ist für genetische Untersuchungen besonders geeignet, da sein Lebenszyklus die genetischen Analysen aufgrund der Möglichkeit von Tetradenanalysen besonders vereinfacht (s. S. 201). G. W. Beadle und E. L. Tatum kamen 1941 bei der Untersuchung der mutagenen Effekte von Röntgenstrahlen auf den Stoffwechsel zu der Erkenntnis, dass ein Gen für die Synthese einzelner Stoffwechselkomponenten verantwortlich ist. „Inability to synthesize vitamin B6 is apparently differentiated by a single gene from the ability of the organism to elaborate this essential growth substance.“ Dieser Schluss beruhte auf den experimentellen Befunden, dass eine genetische Veränderung eines Gen zu einer Blockierung eines Stoffwechselweges führt, der aber durch die Ergänzung des Zuchtmediums mit geeigneten Verbindungen aufgehoben werden kann. Lesen wir die Interpretation der Effekte von Mutationen im Stoffwechsel der Augenfarbstoffe von Drosophila nach (Abb. 11.15, Tab. 11.8), so ist die Interpretation dieser Befunde durch Beadle und Tatum naheliegend: Ein Gen kodiert die Information zur Bildung von Enzymen, also von Proteinmolekülen, die entscheidende katalytische Funktionen in Stoffwechselprozessen ausüben. Die Experimente von Beadle und Tatum führten daher zu der Ein-Gen-ein-EnzymHypothese, die lange Zeit die Vorstellungen über die Funktion eines Gens bestimmt hat. Die Ein-Gen-ein-Enzym-Hypothese wurde später auf eine Ein-Gen-ein-Protein-Hypothese erweitert. Im Prinzip hat sich diese Form der Definition in vieler Hinsicht als zutreffend erwiesen, wenn wir auch hierzu ergänzende Gesichtspunkte berücksichtigen müssen, die erst nach näherer Betrachtung der Struktur von Genen verständlich werden. Sie nehmen dieser einfachen Formulierung als Erklärung des Begriffes Gen ihre Allgemeingültigkeit. ! Die ersten molekularen Einblicke in die Funktion
von Genen ließen erkennen, dass der Begriff Gen hinsichtlich seiner zellulären Funktion mit einem Enzym, oder allgemeiner, mit einem Proteinmolekül in Beziehung gesetzt werden kann.
Dieser wichtige Schritt im Verständnis der Funktion von Genen wurde unmittelbar begleitet von der Frage nach der molekularen Verbindung zwischen der DNA-Sequenz eines Gens und der zugeordneten Proteinsequenz. Es war durchaus unklar, ob die Proteine nicht direkt im Zellkern synthetisiert werden und daher in einer direkten räumlichen Beziehung zur DNA-Sequenz stehen. Bereits in den 1940er und 1950er Jahren waren jedoch zahlreiche Stoffwechseluntersuchungen am zweiten zellulären Nukleinsäuretyp, der Ribonukleinsäure (RNS, engl. ribonucleic acid, RNA), durchgeführt worden. RNA ist als Zellbestandteil der DNA mengenmäßig weit überlegen, wird aber im Gegensatz zur DNA zum überwiegenden Teil im Cytoplasma gefunden. Viele Experimente zeigten eine direkte Korrelation zwischen intensiver Proteinsynthese und RNASynthese. Untersuchungen der Markierungskinetik von RNA nach Pulsmarkierung mit radioaktivem Uridin ließen erkennen, dass RNA im Kern synthetisiert wird, danach aber ins Cytoplasma gelangt. Besonders aufschlussreich waren Versuche von Lester Goldstein und Walter Plaut (1955) an Amoeba proteus. Die Amöben wurden mit Ciliaten gefüttert, die man mit 32P radioaktiv markiert hatte. 2 bis 3 Tage nach dieser Fütterung wurden Zellkerne der Amöben, die sich zu diesem Zeitpunkt als radioaktiv erwiesen, isoliert und in normale Amöben transplantiert, deren eigenen Zellkern man zuvor entfernt hatte.Autoradiographische Präparate, die man zu unterschiedlichen Zeiten nach der Kerntransplantation anfertigte, ließen erkennen, dass die Radioaktivität zunächst für einige Stunden im Kern verbleibt, nach 12 Stunden jedoch auch im Cytoplasma zu finden ist. Da Behandlung der Präparate mit Ribonuklease, einem Enzym, das RNA abbaut, zu einem vollständigen Verlust der radioaktiven Markierung führt, lässt dieses Experiment darauf schließen, dass RNA sich zunächst im Kern befindet, dann aber in Cytoplasma übertritt: „The evidence presented shows that RNA is synthesized in the nucleus and that RNA, or at least a nucleus-modified precursor of RNA, is transmitted to the cytoplasm“ (Goldstein und Plaut 1955). In der Folge konnte experimentell, besonders durch die RNA-Synthesehemmung mit Actinomycin D, untermauert werden, dass RNA ausschließlich an der DNA im Zellkern synthetisiert und anschließend ins Cytoplasma transportiert wird. Damit war jedoch das Problem der Umsetzung der genetischen Information in Proteinmoleküle keinesfalls gelöst. Die
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Kapitel 3: Verwertung genetischer Informationen
genetische Information war in der RNA nunmehr in ein – stoffwechselphysiologisch instabiles – Einzelstrangnukleinsäuremolekül verlagert, der Schritt zum Protein aber noch nicht erfolgt. Um diesen Schritt nachvollziehen zu können, war zunächst die Erkenntnis von Bedeutung, dass zelluläre RNA aus drei Hauptkomponenten unterschiedlicher Eigenschaften und Stabilität besteht: • ribosomale RNA (rRNA) • Messenger-RNA (mRNA) • Transfer-RNA (tRNA) Der Hauptanteil zellulärer RNA besteht aus Molekülen, die in cytoplasmatischen Partikeln, den Ribosomen, enthalten sind. Diese Moleküle werden daher ribosomale RNA (rRNA) genannt und repräsentieren etwa 40% des Gewichts eines Ribosoms (s. S. 290 f). In der Zelle sind etwa 85% aller RNA-Moleküle rRNA. Ribosomen hatte Georg Palade in den 1950er Jahren bereits im Elektronenmikroskop und durch Zellfraktionierungen als wichtige Bestandteile des endoplasmatischen Retikulums identifiziert (s. S. 167), wofür er 1974 mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet wurde. Ribosomale RNA ist – im Vergleich zu den anderen RNA-Fraktionen der Zelle – stoffwechselphysiologisch relativ stabil und verteilt sich auf wenige Größenklassen (s. S. 70). Diese Eigenschaften stehen im Widerspruch zu der ursprünglichen Vermutung, dass die ribosomale RNA den direkten Informationsübertrag von der DNA auf die Genprodukte durchführt. Heute wissen wir, dass die ribosomale RNA ein wichtiges Struktur- und Funktionselement der Ribosomen ist (s. S. 291). Der wichtigste Fortschritt im Verständnis des Informationsübertrages von der DNA auf Proteine wurde durch Experimente von Sidney Brenner, Francois Jacob und Matthew Meselson (1961) am Bakteriophagen T2 gemacht. Untersuchungen der RNA-Synthese führten zu der Einsicht, dass eine relativ instabile RNA-Fraktion, die nicht mehr als 4% der totalen zellulären RNA umfasst, als Messenger-RNA (mRNA) funktioniert. Ihre Aufgabe ist es, die Information der DNA an die Ribosomen im Cytoplasma zu tragen, um dort die Proteinsynthese zu ermöglichen. „It is a prediction of the hypothesis that the messenger-RNA should be a simple copy of the gene, and its nucleotide sequence should therefore correspond to that of the DNA ... Ribosomes are non-specialized structures which synthesize, at a given time, the protein dictated by the messenger they happen to contain.“
! Das einem Gen zugeordnete Protein wird nicht
am Chromosom direkt synthetisiert, sondern an einer einzelsträngigen Nukleinsäure, der Messenger-RNA, an den Ribosomen im Cytoplasma der Zelle.
Wie aber wird die Nukleotidsequenz der MessengerRNA in ein Proteinmolekül umgesetzt? Für das Verständnis der molekularen Grundlage dieses Prozesses ist ein weiterer Befund von Mahlon B. Hoagland und Mitarbeitern aus dem Jahre 1958 Voraussetzung. Neben ribosomaler RNA als Hauptkomponente zellulärer RNA war die sogenannte lösliche RNA (engl. soluble RNA, sRNA), heute allgemein Transfer-RNA (tRNA) genannt, als zweithäufigste RNA-Fraktion der Zelle beschrieben worden. Mengenmäßig umfasst sie etwa 5–10% der gesamten RNA. Hoagland und seine Mitarbeiter erkannten, dass an diese RNA, deren Länge nur etwa 80 Nukleotide beträgt, auf enzymatischem Wege Aminosäuren kovalent gekoppelt werden können. Diese Aminosäuren können anschließend von der tRNA enzymatisch mittels Peptidbindungen an Proteine angehängt werden. „It is therefore suggested that this particular RNA fraction functions as an intermediate carrier of amino acids in protein synthesis“ (Hoagland et al. 1958). Dieser Schluss fügt sich nahtlos einem Vorschlag von Francis Crick, nach welchem die Umsetzung der in der DNA enthaltenen Sequenzinformation in Proteinsequenzen mit Hilfe eines Adaptormoleküls erfolgt, das einerseits spezifische molekulare Interaktionen mit der Messenger-RNA eingehen kann, andererseits aber die Aminosäuren auf wachsende Polypeptidketten überträgt, die durch die jeweilige RNA-Sequenz definiert werden (Tabelle 3.1). ! Die Übertragung der Information zur Synthese
eines bestimmten Proteins erfordert neben einem an der DNA synthetisierten Messenger-RNA-Molekül noch zwei weitere RNA-Typen, die ribosomale RNA und die Transfer-RNA. Ribosomale RNA ist ein struktureller Bestandteil der Ribosomen. Transfer-RNA ist ein Adaptormolekül, das durch spezifische molekulare Interaktion mit der Messenger-RNA während der Proteinsynthese Aminosäuren in der richtigen Folge aneinanderfügen kann.
3.1 DNA, genetische Information und Informationsübertragung
Tabelle 3.1.
Genetischer Code (mit Ein-Buchstaben-Code für Aminosäuren)
U
C
A
G
U
UUU UUC UUA UUG
Phe Phe Leu Leu
F F L L
UCU UCC UCA UCC
Ser Ser Ser Ser
S S S S
UAU UAC UAA UAG
Tyr Tyr Stopp Stopp
Y Y ochre amber
UGU UGC UGA UGG
Cys Cys Stopp Trp
C C opal W
U C A G
C
CUU CUC CUA CUG
Leu Leu Leu Leu
L L L L
CCU CCC CCA CCG
Pro Pro Pro Pro
P P P P
CAU CAC CAA CAG
His His Gln Gln
H H Q Q
CGU CGC CGA CGG
Arg Arg Arg Arg
R R R R
U C A G
A
AUU AUC AUA AUG
Ileu Ileu Ileu Met
I I I M
ACU ACC ACA ACG
Thr Thr Thr Thr
T T T T
AAU AAC AAA AAG
Asn Asn Lys Lys
N N K K
AGU AGC AGA AGG
Ser Ser Arg Arg
S S R R
U C A G
G
GUU GUC GUA GUG
Val Val Val Val
V V V V
GCU GCC GCA GCG
Ala Ala Ala Ala
A A A A
GAU GAC GAA GAG
Asp Asp Glu Glu
D D E E
GGU GGC GGA GGG
Gly Gly Gly Gly
G G G G
U C A G
Die weitere Untersuchung der Transfer-RNA, insbesondere ihre Sequenzanalyse durch R. W. Holley und Mitarbeiter (1965), hat dieses Konzept bestätigt. Für jede der in Proteinen vorkommenden 20 Aminosäuren (Tabelle 3.2) gibt es in der Zelle eine oder mehrere spezifische tRNAs, die den von Crick vorgeschlagenen Adaptormolekülen entsprechen (zur Struktur der tRNA siehe Abb. 3.26). Jede tRNA erkennt mit Hilfe einer jeweils spezifischen Basensequenz (Anticodon) eine komplementäre Basensequenz (Codon) in der Messenger-RNA durch Basenpaarung. Auf diese Weise ist in der Messenger-RNA eine bestimmte Abfolge von Aminosäuren im Polypeptid festgelegt. ! Für jede der 20 Aminosäuren gibt es spezielle
Transfer-RNAs, die mit Hilfe ihres Anticodons die entsprechenden Codons in der Messenger-RNA durch Basenpaarung erkennen. Auf diese Weise können die in der DNA kodierten Aminosäuren aneinandergefügt werden.
Damit ist der grundsätzliche Ablauf der Übertragung genetischer Information von der DNA im Chromosom auf den Zellstoffwechsel durch die Synthese bestimmter Proteine erklärt: An einem Strang der chromosomalen DNA wird ein RNA-Molekül synthetisiert, das als Messenger-RNA-Molekül durch die Kernmembran ins Cytoplasma gelangt. Hier erfolgt nach Bindung der Messenger-RNA an Ribosomen mit Hilfe von Transfer-RNA-Molekülen, die mit einzelnen Aminosäuren beladen sind, die Synthese von Polypeptiden. Bevor wir näher betrachten, wie die Umsetzung einer Messenger-RNA-Sequenz in eine Proteinsequenz ermöglicht wird, soll noch ein anderer Gesichtspunkt hervorgehoben werden. Die Entwicklung des aufgezeigten Konzepts des Informationsübertrages wurde wesentlich unterstützt durch die Möglichkeit, Hybridisierungen von Nukleinsäuresträngen durchführen zu können (s. S. 28). Diese Technik wird später noch ausführlich dargestellt, da sie uns wichtige Schlüsse über die molekulare Struktur eukaryotischer Genome ermöglicht hat. Hier soll nur erwähnt werden, dass Nukleinsäureeinzelstränge unter geeigneten experimentellen Bedingungen bei ausreichender Basenkomplementarität zu Doppel-
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Kapitel 3: Verwertung genetischer Informationen
Tabelle 3.2.
Aminosäuren
strängen zusammengefügt werden können, wie sie ja in der DNA-Doppelhelix auch natürlich bestehen und regelmäßig durch intramolekulare Basenpaarungen innerhalb einzelner RNA-Moleküle geformt werden (s. S. 241). Mittels solcher Hybridisierungsexperimente, wie sie vor allem von Yankovsky und Spiegelman (1962), Goodman und Rich (1962) sowie von Bolton und McCarthy (1962) entwickelt worden
waren, konnte bewiesen werden, dass alle zellulären RNA-Fraktionen Basenkomplementarität zur chromosomalen DNA aufweisen und daher in der Erbinformation des Genoms enthalten sind. Da alle wesentlichen Stoffwechselprozesse einer Zelle durch Proteine kontrolliert werden, ist hiermit die Umsetzung genetischer Information verständlich geworden: Die DNA vermag mittels der in ihr kodierten
3.2 Der genetische Code
RNA-Moleküle und der mit deren Hilfe synthetisierten Proteine die Erbinformation in zelluläre Stoffwechselprozesse umzusetzen.
3.2 Der genetische Code Die Aufklärung der grundsätzlichen Mechanismen der genetischen Informationsübertragung innerhalb der Zelle ließ noch eine Frage unbeantwortet: Wie ist die Information der Proteinsequenzen in der DNA verschlüsselt? Der Versuch der Beantwortung dieser Frage führte zu einem Wettlauf zwischen verschiedenen Forschergruppen in den frühen 1960er Jahren. Die Antwort lässt sich in vier Punkten zusammenfassen: • Die genetische Information ist in der DNA in einem Triplettcode verschlüsselt, bei dem jeweils drei Basenpaare (= ein „Codon“) der Nukleinsäure eine Aminosäure festlegen. • Die verschiedenen Codons überlappen sich in der Nukleinsäuresequenz nicht, sondern folgen, von einem bestimmten Anfangspunkt, ohne dazwischengefügte Trennungszeichen („kommafrei“) kontinuierlich aufeinander. • Der Code ist degeneriert, d. h. mehrere verschiedene Codons können die gleiche Aminosäure identifizieren. • Der Code ist universell. Die ersten drei dieser Eigenschaften des genetischen Codes waren von F.H.C. Crick, L. Barnett, S. Brenner und R. J. Watts-Tobin (1961) in einer zusammenfassenden Bewertung eigener Befunde und der Befunde anderer Autoren herausgestellt worden. Die Aufklärung des Codes (Tabelle 3.1) in seinen Details beanspruchte, länger als von Crick und Kollegen erwartet („ ... the genetic code may well be solved within a year“), mehrere Jahre unter Einsatz verschiedenster Techniken. Wir wollen die wesentlichen Schritte im Folgenden nachvollziehen, da sie eine grundlegende Leistung der Molekularbiologie umreißen.
3.2.1 Die Entschlüsselung des Codes Der erste Schritt zur Entzifferung des Codes wurde durch Marshall W. Nirenberg und J. Heinrich Matthaei (1961) gemacht. In einem zellfreien System aus E. coli synthetisierten sie in
vitro Proteine und bewiesen, dass hierfür die Anwesenheit von template RNA (also Messenger-RNA) erforderlich ist. Der entscheidende Befund aber war, dass ein synthetisches Polynukleotid, das nur aus Uridin besteht, die Synthese nur eines Polypeptides zur Folge hat, das ausschließlich aus Phenylalanin aufgebaut ist. Die Synthese solcher Polynukleotide war mittels des Enzyms Polynukleotidphosphorylase möglich, das bei geeigneten Reaktionsbedingungen die Polymerisation von Ribonukleosiddiphosphaten zu Polyribonukleotiden unter Freisetzung von organischem Phosphat zu katalysieren vermag. Marianne Grunberg-Manago und Severo Ochoa hatten dieses Enzym bereits 1955 entdeckt. Doppelstrang-RNA aus Poly[A]/Poly[U] führte ebensowenig zur Synthese von Polypeptiden wie Zugabe von Nukleotiden oder Nukleosiden zum zellfreien System. Die Experimentatoren schlossen aus diesen Versuchen, dass eine Folge von drei Uracilbasen (also UUU in der Sprache des Codes) das Codon für Phenylalanin in einer Polypeptidkette ist. Wie uns Tabelle 3.1 zeigt, hat sich dieser Schluss bestätigt: Das erste Codon war entschlüsselt. In der Folge konnten noch 1961 mittels derselben Technik Codons für 13 weitere Aminosäuren festgelegt werden, vorwiegend in der Gruppe von S. Ochoa. Hierbei war es von Bedeutung, dass unterschiedliche Polynukleotidkombinationen auf synthetischem Wege dadurch hergestellt werden konnten, dass die Nukleotidsequenz, die durch Polynukleotidphosphorylase in vitro erzeugt wird, genau den relativen molaren Verhältnissen der Ribonukleosiddiphosphate im Reaktionsgemisch entspricht. Eine wichtige alternative Technik, die von M. Nirenberg und P. Leder 1964 entwickelt wurde, beruht auf der Fähigkeit von Ribosomen, RNA-Trinukleotide – also im Prinzip ein Codon – zu binden. Solche Ribosomen-RNA-Komplexe binden eine tRNA mit Hilfe ihres Anticodons, das mit dem Codon am Ribosom zur Basenpaarung befähigt ist. Trägt die tRNA eine (radioaktiv markierte) Aminosäure (sie wird auch als Aminoacyl-tRNA bezeichnet), so lässt sich diese Codon-Anticodon-Bindung in Filterbindungstests leicht demonstrieren, da Membranfilter keine freie tRNA, wohl aber Ribosomenkomplexe binden. Tests bestimmter synthetischer Codons mit verschiedenen Aminoacyl-tRNAs gestatteten es so, die Codon-Anticodon-Kombinationen mit bestimmten Aminosäuren zu korrelieren. Obwohl auch durch diese Methodik eine vollständige Aufklärung des genetischen Codes nicht gelang, waren schließlich
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Kapitel 3: Verwertung genetischer Informationen
doch etwa 50 der 64 möglichen Tripletts bestimmten Aminosäuren zugeordnet. Aus diesen Daten konnte nunmehr die frühere Annahme bestätigt werden, dass der Code degeneriert ist, d. h. dass mehr als ein Triplett eine bestimmte Aminosäure kodieren kann. Andererseits hatten die Versuche auch gezeigt, dass jedes Triplett nur eine Aminosäure identifiziert, also unzweideutig ist. Wesentliche Beiträge zur Bestätigung und Vervollständigung des Codes lieferte die Gruppe um Gobind Khorana, die Techniken zur gezielten Synthese längerer Ribonukleotidketten erarbeitet hatte, die dann im zellfreien E.-coli-Proteinsynthesesystem auf ihre Kodierungseigenschaften getestet werden konnten (Nishimura et al. 1965). Der genetische Code war somit, im Wesentlichen durch in-vitro-Experimente, aufgeklärt. Die Voraussagen von Crick und Kollegen über die Eigenschaften des genetischen Codes, wie sie zu Beginn dieses Kapitels aufgeführt sind, hatten sich bestätigt. Immerhin fehlten noch Bestätigungen dieses Konzeptes durch geeignete biologische Experimente. Diese sollten nicht lange auf sich warten lassen, und Teile des genetischen Codes wurden auf solchen Wegen bestätigt, lange bevor die Zuordnung aller Aminosäuren bekannt war. ! Der genetische Code wurde im Wesentlichen
durch in-vitro-Experimente aufgeklärt. Er hat den Charakter eines Triplettcodes, dessen Codons ohne Trennung aufeinander folgen, sich aber auch nicht überlappen. Der Code ist degeneriert, d. h. mehrere der aus den 4 Basen möglichen Dreierkombinationen identifizieren die gleiche der 20 Aminosäuren. Außerdem ist der Code bei allen Organismen nahezu identisch.
Zunächst muss jedoch noch ein allgemeiner Aspekt des genetischen Codes (Tabelle 3.1) erörtert werden. Eine genauere Betrachtung der Zuordnung von Tripletts und Aminosäuren lässt erkennen, dass sich die verschiedenen Tripletts, die als Folge der Degeneration des Codes für eine bestimmte Aminosäure kodieren, sich häufig nur in der letzten der drei Basen unterscheiden. Das hatte Francis Crick zu dem Vorschlag veranlasst, dass die Spezifität des Codes vor allem in den ersten beiden Basen zu suchen ist, während die letzte Base eine größere Freiheit besitzt.
Diese Hypothese, die auch als Wobble-Hypothese bezeichnet wird, hat sich experimentell bestätigt: Eine bestimmte tRNA kann verschiedene Codons erkennen, die für die gleiche Aminosäure kodieren. ! Der dritte Buchstabe des Codes ist nach der Wob-
ble-Hypothese flexibel und gewährt größere Freiheit bei der Erkennung durch die tRNA als die ersten beiden Buchstaben.
3.2.2 Beweis der Colinearität Zur Bestätigung der Eigenschaften des genetischen Codes durch Experimente, die von biologischen Materialien Gebrauch machen, haben sich Organismen mit sehr kleinem Genom als besonders geeignet erwiesen, da dieses einen leichteren Zugang zu bestimmten Genen gestattet. Experimentell besonders geeignet waren daher Phagen wie der Bakteriophage T4, das Tabakmosaikvirus (TMV) und der Phage MS2, aber auch einzelne Gene von E. coli, beispielsweise die Tryptophansynthetase, die in anderem Zusammenhang noch von Interesse sein wird. Sie wurde mit genetischen Techniken vor allem durch Yanofsky und Mitarbeiter untersucht und ergab eine Reihe von Argumenten für die Korrektheit des genetischen Codes (s. S. 61). Insbesondere wurde durch diese Versuche auch die Frage der „Colinearität“ der Kodierung zumindest indirekt beantwortet. Dieser Begriff bezieht sich auf die Art der Anordnung der Codons in einem Gen: Verläuft die Nukleotidsequenz in der DNA und die zum gleichen Gen gehörige Aminosäuresequenz vollständig parallel? Mutationsexperimente sprachen für eine solche colineare Anordnung. Der Phage MS2 vermehrt sich in E. coli-Zellen. Er besitzt – im Gegensatz zu den bisher besprochenen Organismen – als Genom ein Einzelstrang-RNA-Molekül von nur 3500 Nukleotiden. An genetischer Information sind nur drei Gene vorhanden. Eines davon ist zur Replikation des Phagengenoms erforderlich, es handelt sich also um ein RNA-replizierendes Enzym. Das zweite Gen kodiert für das Protein A, das zur Ausbildung neuer Phagen erforderlich ist (engl. maturation protein). Das dritte Gen enthält die Information für das Hüllprotein des Phagen (engl. coat protein). Die Aufklärung sowohl der Nukleotidsequenz als auch der Aminosäurese-
3.3 Transkription
quenz dieses Gens für das Hüllprotein durch F. Grosjean und W. Fiers (1972) ergab, dass die kodierende RNA-Sequenz 387 Nukleotide, das Hüllprotein aber 129 Aminosäuren lang ist. Da innerhalb des Hüllproteins allen Aminosäuren das auf der Grundlage des Codes erwartete Triplett in der Nukleotidsequenzen entsprach, wurde durch den Vergleich der beiden Sequenzen nicht nur die Richtigkeit des genetischen Codes bestätigt, sondern auch die Colinearität zwischen DNA und Protein bewiesen, d. h. die vollständige Parallelität der Nukleinsäure- und der Proteinsequenzen. Zusätzlich wurde vor dem Codon für die erste Aminosäure ein AUG-Triplett gefunden, das bereits aufgrund anderer Kriterien als Startcodon identifiziert worden war.
! Trotz der generellen Gültigkeit des genetischen
Codes gibt es in mitochondrialer DNA und nukleärer DNA einzelner Organismengruppen Abweichungen durch Veränderung der Bedeutung einzelner Codons.
Unabhängig von diesen vereinzelten Abweichungen kann jedoch von der Existenz eines Standardcodes gesprochen werden. Die Ausnahmen lassen sich leicht als individuelle Abweichungen von einem allgemeinen Grundprinzip erkennen, das die evolutionäre Zusammengehörigkeit aller Lebewesen überzeugend dokumentiert. Warum in Einzelfällen von diesem Standardschema abgewichen wird, ist bisher nicht zu erkennen.
! Ein Vergleich der DNA-Sequenz eines Gens und
der Aminosäuresequenz des zugehörigen Proteins bewies die Richtigkeit des genetischen Codes und die Colinearität, d.h. die lineare Parallelität zwischen DNA- und Proteinsequenz.
3.2.3 Allgemeingültigkeit des Codes Eine wichtige Frage bezüglich der Bedeutung des genetischen Codes betrifft seine allgemeine Gültigkeit: Ist er für alle Organismen gültig oder gibt es verschiedene Arten von genetischen Codes? Nach der Aufklärung des Codes herrschte zunächst für längere Zeit die Überzeugung, dass der Code universell ist, also für alle Organismen gültig ist. Erst später stellte sich heraus, dass diese Regel der Allgemeingültigkeit in einigen Fällen durchbrochen wird (s. Tabelle 6.1): In Mitochondrien von Hefen, Drosophila und des Menschen wurden einige abweichende Codons gefunden. So kodiert das Triplett UGA, das normalerweise eine Termination der Translation verursacht, den Einbau von Tryptophan. In Hefemitochondrien kodiert CUA Threonin statt Leucin. Bei Menschen ersetzt der mitochondriale Code für AUA das normalerweise kodierte Isoleucin durch Methionin, AGA und AGG bedeuten „Stopp“ statt, wie normalerweise, Arginin, und bei Drosophila wird Serin statt Arginin durch AGA kodiert. Neuerdings wurden Abweichungen vom universellen Code auch in Kern-DNA von Ciliaten, sowie im Genom von Prokaryoten (Mycoplasma) gefunden.
3.3 Transkription Seit der Aufklärung des genetischen Codes sind wir in der Lage, die in der DNA verschlüsselte Information für die Struktur von Proteinmolekülen zu lesen. In der Zelle erfolgt das Ablesen der Information und die Umsetzung in die entsprechenden Proteinmoleküle in mehreren Stufen (Abb. 3.1). Der erste Schritt Kern (Eukaryoten) Cytoplasma
DNA RNA-Polymerase
RNA Ribosomen, tRNA
Protein
Abb. 3.1. Das zentrale Dogma. Die genetische Information, die in der DNA niedergelegt ist, wird mit Messenger-RNA (mRNA) als molekulare Zwischenstufe an die Ribosomen übertragen, wo die Proteinsynthese an der mRNA erfolgt. In Eukaryoten sind die Orte der mRNA-Synthese in der Proteinsynthese durch die Kernmembran getrennt, während in Prokaryoten beides direkt an der DNA erfolgt. Das zentrale Dogma hat seinen dogmatischen Charakter inzwischen verloren: RNA kann auch als Matrize zur DNA-Synthese dienen (reverse Transkriptase)
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Kapitel 3: Verwertung genetischer Informationen
hierbei ist die Synthese einer einsträngigen Messenger-RNA (mRNA), die die Information der DNA für die Proteinsynthesemachinerie zugänglich macht. Die Synthese von mRNA wird als Transkription bezeichnet. Der Aufbau der mRNA entspricht dem der DNA, jedoch mit drei Unterschieden: • Anstatt der Desoxyribose enthält sie Ribose, • sie ist einsträngig, • anstatt des Thymidins wird das Nukleotid Uridin eingebaut. Diese Unterschiede zur DNA haben verschiedene Folgen für die chemischen Eigenschaften, deren wichtigste ihre relativ große chemische Instabilität ist. Grund für diese Instabilität sind die zwei Hydroxylgruppen in der Ribose, die aus energetischen Gründen die Bildung von 2′→3′-Ring-Diestern des Phosphats unterstützen, wobei die 3′→5′-Diesterbindung gelöst wird. RNA hydrolisiert daher leichter als DNA. Durch ihren Einzelstrangcharakter besitzt sie zudem eine hohe sterische Flexibilität und kann leicht gefaltet werden, was ihre Verpackung in Proteine zu kompakten Ribonukleoproteinpartikeln (RNP) erleichtert (s. S. 74). Solche Verpackungsmechanismen sind in Eukaryoten für den Transport der mRNA ins Cytoplasma besonders wichtig und dienen außerdem als Schutz gegen unerwünschten Abbau durch nukleolytische (nukleinsäurespaltende) Enzyme. ! RNA unterscheidet sich von DNA durch ihre Ein-
zelsträngigkeit, die zu Instabilität führt, durch den Ersatz der Thyminbasen durch Uracil und durch den Besitz von Ribose statt von Desoxyribose im ZuckerPhosphat-Rückgrat.
3.3.1 Allgemeiner Mechanismus der Transkription Der Mechanismus der Synthese von mRNA gleicht weitgehend dem der DNA. Mit Hilfe eines besonderen Enzyms, der RNA-Polymerase, wird der eine (antisense-) Strang der DNA kopiert, völlig vergleichbar dem Mechanismus während der Replikation der DNA durch DNA-Polymerase: Die RNAPolymerase katalysiert die Synthese eines RNA-Moleküls in 5′→3′-Richtung durch Aneinanderfügen von Nukleosidtriphosphaten, deren Reihenfolge durch die Basenkomplementarität mit dem DNA-Strang festgelegt ist. Wie auch bei der Replikation wird jeweils das 5′-P eines neuen Nukleotids mit Hilfe einer Phosphodiesterbindung an die 3′-OH-Gruppe des wachsenden RNA-Moleküls angefügt (Abb. 3.2). Im Unterschied zur DNA-Replikation ist hierfür jedoch kein Primer erforderlich, sondern die RNA-Polymerase kann die RNA-Synthese nach Bindung an eine dafür geeignete DNASequenz, die als Promotor bezeichnet wird (s. S. 146, 320), direkt mit dem ersten Nukleotid, das in der DNA festgelegt ist, beginnen. Allerdings erfolgt die Initiation der Transkription stets mit der Hilfe von Proteinfaktoren, so dass diese praktisch die Funktion eines Nukleinsäureprimers übernehmen. Erreicht die RNA-Polymerase ein anderes in der DNA kodiertes Signal, das Terminationssignal (engl. termination signal) (s. S. 69, 150), so wird die RNASynthese beendet. Damit unterscheidet sich RNAPolymerase in vier wichtigen Eigenschaften von DNA-Polymerasen: • Sie benötigt keinen Primer, • sie liest nur einen begrenzten, in der DNA selbst definierten Abschnitt der DNA, und RNA-Polymerase
3'
DNA
5'
T G AT G T TAT C T G C A G TA ATAT G T A A C UAC AAUAGA C GUCAUU A A A T C A CTACAATAGACGTCATTATACT U
5'
G
3'
5' RNA
Transkriptionsrichtung
Abb. 3.2. Schema der Transkription. Die RNA-Polymerase öffnet einen kurzen Bereich der DNA für die Synthese des RNAMoleküls am antisense-Strang der DNA. Die RNA-Polymerase bedeckt einen größeren DNA-Bereich als im Schema darge-
stellt. Die RNA-Synthese erfolgt, wie die DNA-Synthese, stets in 5′ → 3′-Richtung des wachsenden Moleküls. (Nach Watson et al. 1987)
3.3 Transkription
• sie verfügt im Gegensatz zu DNA-Polymerasen
über keine Nukleaseaktivität. • Als Endprodukt der RNA-Polymerase-Aktivität liegt ein Einzelstrangmolekül vor. Welcher DNAStrang in RNA umgesetzt wird, ist durch Signalsequenzen in der DNA festgelegt. ! Die Synthese von RNA erfolgt an der DNA durch
RNA-Polymerase in ähnlicher Weise wie die Replikation durch DNA-Polymerase. RNA-Polymerase liest jedoch nur Teilbereiche eines einzelnen DNA-Stranges, die durch ein Startsignal (Promotor) und ein Endsignal (Terminationssignal) gekennzeichnet sind. Sie benötigt, im Gegensatz zur DNA-Polymerase, keinen Nukleinsäureprimer. Eukaryoten besitzen im Gegensatz zu E. coli drei verschiedene RNA-Polymerasetypen, die spezifische RNA-Typen synthetisieren.
Terminologie. Um Verwirrungen in der Terminologie zu vermeiden, ist es wichtig, sich die gebräuchlichen Begriffe deutlich vor Augen zu führen: • Der DNA-Strang, der als Template (Matrize) für die Transkription dient, wird als antisense strand bezeichnet. Er wird in einer 3′→5′-Richtung abgelesen. • Die hieran durch Basenkomplementarität gebildete mRNA wird in 5′→3′-Richtung synthetisiert (also antiparallel). Wir nennen das entstehende mRNA-Molekül Sinn-Strang (engl. sense strand). Die mRNA entspricht in ihrer Nukleotidsequenz daher, abgesehen vom Ersatz des Thymidins durch Uridin, dem „Sinn-Strang“ oder kodierendem Strang (engl. coding strand) der DNA, der normalerweise nicht von der RNA-Polymerase gelesen wird. • Wird vom Sinn-Strang der DNA ein RNA-Molekül synthetisiert, wird diese RNA als antisense-RNA bezeichnet. In ihrer Sequenz entspricht sie dem antisense-Strang der DNA. Solche antisense-RNAMoleküle können nicht nur in vitro für experimentelle Zwecke hergestellt werden, sondern finden in besonderen Fällen auch in der Zelle Verwendung.
3.3.2 Transkription bei Prokaryoten Prokaryoten besitzen nur eine RNA-Polymerase. Sie besteht aus drei Proteinkomponenten, der α-, der βund der β’-Untereinheit. Zwei α-Untereinheiten formen zusammen mit je einem β- und einem β’-Molekül das Core-Enzym, das zusammen mit dem σ-Faktor das Holo-Enzym mit einem Molekulargewicht von 480 kDa bildet. Sowohl die RNA-Polymerase α als auch der σ-Faktor sind erforderlich, um die Promotorstrukturen zu erkennen,spezifisch daran zu binden und mit der Transkription zu beginnen (Initiationsphase). Ging man ursprünglich davon aus, dass nur ein σFaktor existiert (σ70 mit einem Molekulargewicht von 70 kDa), so kennen wir heute 6 zusätzliche σ-Faktoren (σS, σ32, σE, σF, σfecI und σ54). Alle diese σ-Faktoren können in mehreren Schritten an die Core-Polymerase binden. Die Bindung an den Promotor führt zunächst zu einem sogenannten „geschlossenen Komplex“, der durch lokales Aufschmelzen der DNA im Bereich von ca. –12 bis +4 in einen „offenen Komplex“ umgewandelt wird und so die Transkription einleitet. Ein typischer σ70-abhängiger Promotor enthält zwei konservierte Hexamer-Sequenzen etwa an den Positionen -10 (TATAAT) und -35 (TTGACA), die von jeweils einer der 4 Untereinheiten des σ-Faktors erkannt werden (Abb. 3.3). Andere σ-Faktoren sind
Abb. 3.3. Wechselwirkungen zwischen dem RNA-PolymeraseKomplex und Promotor-Elementen an einem Aktivator-unabhängigen Promotor. Die Regionen 2 und 4 der σ-Untereinheit des RNA-Polymerase-Komplexes sind für die Erkennung der Hexamer-Sequenzen an den Positionen –10 und –35 verantwortlich. Die α-Untereinheit der RNA-Polymerase besteht aus zwei Domänen: der N-Terminus (αNTD) bindet an die β/β’Untereinheiten, wohingegen der C-Terminus (αCTD) mit Hilfe zusätzlicher spezifischer Protein-DNA-Wechselwirkung an Elemente oberhalb des Hexamers der Position –35 (UPE) die Bindung des RNA-Polymerase-Komplexes an den Promotor verstärkt. αNTD und αCTD sind flexibel verbunden. Der Pfeil an Position +1 zeigt den Transkriptionsstart. (Nach Lloyd et al. 2001)
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Kapitel 3: Verwertung genetischer Informationen
für die Initiation der Transkription unter spezifischen Umweltbedingungen verantwortlich (σ32 für Wachstum oberhalb von 37 oC, σE für die Expression „extremer“ Hitzeschockproteine, σS für Stress-Antworten). Die β-Untereinheit (151 kDa, verantwortliches Gen: rpoB) wird als die hauptsächlich katalytische Untereinheit betrachtet. Sie bindet die Ribonukleotid-Triphosphate und bewirkt die Polymerisation der RNA-Kette. Die β-Untereinheit ist das Angriffsziel von Inhibitoren der Transkription wie Rifampizin und Streptolydigin. Im Gegensatz dazu ist die Funktion der β’-Untereinheit (155 kDa, verantwortliches Gen: rpoC) noch nicht voll verstanden. Die β’-Untereinheit enthält viele positiv geladene Aminosäuren, und es wird ihr daher eine unspezifische, DNA-bindende Funktion zugeschrieben. Die α-Untereinheit (37 kDa, verantwortliches Gen: rpoA) ist die einzige Untereinheit des Core-Enzyms, die als Dimer vorkommt. Sie hat 3 Funktionen:
• Initiation des Zusammenbaus des Core-Enzyms, • Beitrag zur Erkennung der Promotor-Sequenzen, • Wechselwirkung mit Transkriptionsfaktoren (Initiation und Anti-Terminatoren).
Die N-terminale Domäne der RNA-Polymerase α ist dabei für die Dimerisierung verantwortlich, wohingegen die C-terminale Domäne für die Wechselwirkungen mit dem Promotor zuständig ist. Verschiedene Möglichkeiten dieser Wechselwirkungen werden in Abb. 3.4 gezeigt. Die Bindestellen der Cterminalen Domäne der RNA-Polymerase α liegen oberhalb der Bindungsstellen für den σ-Faktor (zwischen -35 und -60). Ihre Consensussequenz ist sehr A/T-reich (5’-NNAAAWWTWTTTTNNNAAANNN3’; W = A oder T, N = jede Base). Offensichtlich binden die 2 C-terminalen Domänen etwas versetzt an diese Bindestelle. Die Ablösung vom Promotor (engl. promoter clearance), also der Übergang von der Initiations-
Abb. 3.4 a–c. Aktivierung der Transkription durch Wechselwirkungen der RNA-Polymerase mit Aktivatoren. a Der Aktivator (A, immer als Dimer gezeichnet) bindet spezifisch einerseits an die Aktivator-Bindestelle im Promotor und andererseits an die C-terminale Domäne der RNA-Polymerase α (αCTD). Dadurch wird die αCTD an die DNA herangeführt und die Protein-DNA-Wechselwirkung am Promotor verstärkt. b Der Aktivator geht eine spezifische Wechselwirkung mit der Region 4 der σ-Untereinheit ein. Dadurch wird der RNA-PolymeraseKomplex stärker an den Promotor gebunden bzw. verstärkt nachfolgende Schritte während der Transkription. c Der Aktivator bindet spezifisch sowohl an αCTD als auch an die Region 4 der σ-Untereinheit; beide Wechselwirkungen verstärken die Transkription. Die N-terminale Domäne (αNTD) der RNA-Polymerase α bindet an die β/β’-Untereinheiten; der Pfeil an Position +1 zeigt den Transkriptionsstart an. (Nach Lloyd et al. 2001)
3.3 Transkription
phase in die Elongationsphase, findet nach der Synthese der ersten Basen des Transkripts statt. Der Elongationsklomplex ist stabil, wenn das Transkript eine Länge von 9 bis 11 Basen erreicht hat. Für die Elongation der RNA ist nur noch das Core-Enzym erforderlich. Allerdings haben wir in den letzten 10 Jahren gelernt, dass die Elongation der Transkription kein monotoner Prozess ist, sondern dass die Elongationskomplexe in vielen verschiedenen Konformationszuständen existieren können. Hilfsproteine wie NusA, NusG, GreA und GreB können diese unterschiedlichen Konformationen erkennen und die Verteilung innerhalb dieser Zustände modulieren. Im normalen Zustand ist das Core-Enzym langlebig und aktiv, so dass ca. 60 bis 80 Nukleotide pro Sekunde angefügt werden können. Dieser Elongationskomplex ist sehr stabil und doch zugleich flexibel; das Konzept der „gleitenden Klammer“ (engl. sliding clamp) in Analogie zur DNA-Replikation ist zum Verständnis dieses Prozesses sehr hilfreich. Die Elongation kann aber an bestimmen Stellen („Pause“,„Ende“) oder unter bestimmten Umständen (Fehlpaarungen, Nachschubmangel von rNTPs) angehalten oder verlangsamt werden. Eine besondere Situation ergibt sich, wenn das entstehende Transkript Haarnadelstrukturen (engl. hairpins) ausbilden kann. Dies führt u. U. zur vorzeitigen Beendigung der Transkription (engl. attenuation). Die Beendigung der Transkription prokaryotischer Gene (Termination) wird entweder durch spezielle Terminationssequenzen (meist sehr GCreiche, palindromische Sequenzen, die stabile Haarnadelstrukturen ausbilden können: intrinsische Termination) oder durch die Anwesenheit des Terminationsfaktors ρ ermöglicht. Das ρ-abhängige Terminationssignal umfasst etwa 200 Basen, wobei der 5’Teil (ca. 40 Basen) noch zur wachsenden RNA gehört. Es bildet keine oder nur geringe Sekundärstrukturen aus und enthält einen hohen Anteil von Cytosin-Resten; allerdings sind bisher keine Consensussequenzen erkennbar. Der ρ-Faktor ist eine RNA-abhängige Ribonukleosid-Triphosphatase und bindet als ringförmiges Hexamer (Molekulargewicht der Monomeren je 46 kDa) an die RNA (es werden 78 Basen gebunden). Der N-Terminus enthält dabei die RNABindungsdomäne und der C-Terminus ist mit der Fähigkeit zur ATP-Hydrolyse assoziiert. Nach der Bindung an die RNA induziert die ATP-Spaltung Konformationsänderungen, die das Transkript durch das Hexamer hindurchziehen (in 5’→3’-Richtung,
Abb. 3.5. Topologisches Modell von mRNA, die an den Terminationsfaktor ρ gebunden ist. Die äußere Form des hier dargestellten Terminationsfaktors ρ basiert auf einer 3DRekonstruktion elektronenmikroskopischer Darstellungen. Die mRNA bindet spezifisch an die kontinuierliche Spalte an der oberen Peripherie. Das 3’-Ende der mRNA wird durch den Terminationsfaktor hindurchgeführt und endet an dessen aktiven Zentrum (hier nicht dargestellt). (Nach Richardson 2003)
Abb. 3.5) und so die RNA vom Elongationskomplex ablösen. Die ρ-Faktor-abhängige Termination ist für E. coli und einige andere Organismen essentiell und kann durch das Antibiotikum Bicyclomycin gehemmt werden. Allerdings gilt dies nicht für alle Bakterien: B. subtilis oder S. aureus sind in ihrer Transkriptionstermination nicht von einem ρ-Faktor abhängig. ! Prokaryoten verfügen über eine RNA-Polymerase. Sie besteht aus mehreren Untereinheiten, die das Core-Enzym bilden. Zusammen mit dem σ-Faktor bildet das Core-Enzym das Holo-Enzym. Die korrekte Erkennung des Promotors erfolgt durch die C-terminale Domäne der RNA-Polymerase α und den σ-Faktor. Nach der Initiation ist nur noch das Core-Enzym zur Elongation der RNA erforderlich. Die Termination erfolgt durch GC-reiche, palindromhaltige Terminatorsequenzen oder mit Hilfe des Terminationsfaktors ρ.
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Kapitel 3: Verwertung genetischer Informationen
3.3.3 Transkription ribosomaler Gene Die Ribosomen sind der Ort der Proteinbiosynthese (Translation), an dem sich die verschiedenen Komponenten (mRNA, tRNA) treffen und die Verknüpfung der Aminosäuren vermittelt wird. Sie sind aus verschiedenen Untereinheiten aufgebaut, deren charakteristische Eigenschaften die verschiedenen Komplexe aus RNA (ribosomaler RNA = rRNA) und Proteinen sind. Bei Bakterien kennen wir 3 rRNAs, die aufgrund ihrer ursprünglichen Charakterisierung in der Dichtegradientenzentrifugation als 5S-, 16S- und 23S-rRNA bezeichnet werden (S = Svedberg-Einheit). Bei Eukaryoten sind dagegen 4 rRNAs bekannt (5S, 5,8S, 18S, 28S). Obwohl die rRNAs prinzipiell einzelsträngig sind, sind weite Bereiche doppelsträngig organisiert. Bei Eukaryoten liegen die Gene der 18S-, 5,8Sund 28S-rRNA dicht beieinander. Abb. 3.6 zeigt, dass an der DNA ein primäres Transkript, die Pre-rRNA, synthetisiert wird, das vor dem für die 18S-rRNA kodierenden Abschnitt der DNA beginnt und bis hinter das 3’-Ende der 28S-rRNA reicht. Der Bereich zwischen dem 3’-Ende dieses primären Transkripts und dem Beginn der nächsten Transkriptionseinheit (d. h. des folgenden DNA-Repeats) wird als nicht-transkribierter Spacer bezeichnet (engl. non-transcribed spacer, NTS). Da der Beginn der Transkriptionseinheit noch nicht zur 18S-rRNA gehört, wird er auch als externer transkribierter Spacer (engl. external transcribed spacer, ETS) bezeichnet, dem der Bereich zwischen 18S- und 28S-rRNA als internen transkribierten Spacer (engl. internal transcribed spacer, ITS) gegenübersteht. ! Die 28S-, 18S- und 5,8S-rRNA werden in Form
eines einzigen primären Transkripts, der Pre-rRNA, von der DNA abgelesen.
Die Synthese ribosomaler RNA in Eukaryoten erfolgt durch ein spezielles Enzym, die RNA-Polymerase I, die ausschließlich diese Gene transkribiert. Im Gegensatz zu anderen Genen ist die Promotor-DNA-Sequenz, die die RNA-Polymerase I zur Bindung und Initiation der Transkription benötigt, sequenzmäßig nicht gut definierbar. Vergleicht man die rDNA-Promotorregionen bei verschiedenen Organismen, so lässt sich keine Consen-
sussequenz feststellen, wie durch John Sommerville gezeigt wurde. Vielmehr ist der gesamte Sequenzkontext in einem Bereich von etwa 40 Nukleotiden upstream (–40) bis zu etwa 10 Nukleotiden (+10) nach dem Initiationscodon (+1 bis +3) für die Initiation der Transkription wichtig. Möglicherweise sind aber auch noch weitere Upstream-Sequenzen für die Initiation der Transkription bedeutsam. Eine völlig offene Frage ist zudem, ob die Initiation der Transkription in der G1-Phase an jedem rDNA-Repeat willkürlich beginnen kann, oder ob sie am Promotor (P, Abb. 3.7b) des ersten rDNA-Repeats beginnt und sich von hier aus in die weiteren Repeats fortsetzt. Elektronenmikroskopische Bilder sprechen für die letztgenannte Alternative. Innerhalb des NTS befinden sich vor dem 5′Ende des ETS zwei zusätzliche Promotorregionen (P′) neben derjenigen am 5′-Ende des ETS (P), die durch ihre DNA-Sequenzhomologie ermittelt wurden. Durch Miller-Spreitungen lässt sich zeigen, dass in diesen Bereichen tatsächlich gelegentlich eine Initiation der Transkription erfolgt (Abb. 3.7). Andererseits enthält der NTS auch drei Terminationssequenzen für die Transkription. Zwei dieser Sequenzen (T1, T2) liegen nahe des 3′-Endes der 28SrRNA-Sequenz, der dritte (T3) liegt weit innerhalb des NTS, nur 215 bp vor dem Beginn des Promotors P, unmittelbar vor dem ETS des folgenden rDNARepeats. In-vitro-Versuche (sogenannte Nuclear-runoff-Experimente) hatten den Eindruck entstehen lassen, dass der NTS in vielen Fällen transkribiert und die Termination an der T3-Sequenz erfolgt. Die systematischen in-vivo-Untersuchungen von Transkripten aus Xenopus-Oocyten mit Hilfe der Miller-Spreitungstechnik und mit biochemischen Methoden durch Michael Trendelenburg und Mitarbeiter zeigten zwar, dass eine gelegentliche Transkription durch den NTS bis zum T3-Terminator erfolgt und bisweilen auch eine Initiation der Transkription an einem Spacer-Promotor stattfindet (Abb. 3.7). Solche Regulationsfehler der Transkription sind jedoch Ausnahmeerscheinungen, und in 99 % aller Transkriptionseinheiten erfolgt die Initiation am richtigen Promotor (P) und die Termination am Terminationssignal T2, das sich nur 235 bp downstream des Endes der 28S-rRNA-Region befindet. Diese Beobachtungen lassen zugleich auch erkennen, wie problematisch der Versuch ist, Regulationsmechanismen ausschließlich durch in-vitro-Experimente zu analysieren: Die
3.3 Transkription
Abb. 3.6a–c. Molekulare Struktur der Nukleolusorganisatorregion von Xenopus laevis (a, b) und menschlichen HeLaZellen (c). a Zwei Repeat-Einheiten von Xenopus-rDNA mit dazwischenliegenden Spacerbereichen. Die Pfeile geben die Richtung der Transkription an. Unter den Repeateinheiten ist die Struktur der Transkriptionseinheiten dargestellt. Die drei ribosomalen RNA-Moleküle, die in ihnen enthalten sind, sind grün. Die Pfeilköpfe geben die Schnittstellen an, die während des Processing zur Entstehung der Endprodukte führen. b Feinstruktur der Spacerregion mit den Regulationselemen-
ten. Hauptanteil des Spacers sind repetitive Sequenzelemente. Neben den beiden Terminatorsequenzen T1 und T2 dicht hinter dem Ende der 28S-RNA liegt ein dritter Terminator T3 unmittelbar vor dem Genpromotor. Darüber hinaus enthält der Spacer zwei Promotorregionen, die zu gelegentlichen Initiationsereignissen führen (s. Abb. 3.7). c Die Feinstruktur menschlicher rDNA ist der von Xenopus sehr ähnlich. Die Reihenfolge des Processings ist dargestellt. (Nach Wellauer et al. 1976 u. Reeder 1984)
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Kapitel 3: Verwertung genetischer Informationen
Abb. 3.7a–c. Initiationsmechanismus der Transkription von rDNA in Xenopus-Oocyten. Diese Analyse zeigt das hohe Auflösungsvermögen der Miller-Spreitungstechnik. Es werden Einzelheiten des Transkriptionsmechanismus erkennbar, die biochemisch nur schwer nachweisbar sind. a Neben der korrekten Initiation der Transkription am Beginn der Transkriptionseinheit kommt es gelegentlich (Häufigkeit etwa 1 in 100) zu falschen Initiationsereignissen (unten links, Pfeile) an einer der P’-Promotorregionen im NTS. Es erfolgt dann eine Termination am Terminator T3. b Dieses Schema zeigt, dass es
neben falscher Initiation im NTS (c) auch zu falscher Termination (b) kommen kann. Die Transkription erstreckt sich dann über den gesamten NTS und wird erst im T3-Terminator beendet. In (a) ist die normale Transkription dargestellt. c MillerSpreitungen unterschiedlicher NTS-Transkripte. Die Termination im T3-Terminator ist in (a) bis (d) leicht zu erkennen. In (e) ist eine sehr kurze Transkriptionseinheit kurz vor Beginn des ETS gezeigt. Die Termination erfolgt ebenfalls in T3. (Aus Meissner et al. 1991 und Trendelenburg 1982)
3.3 Transkription
DNA-Sequenzen werden hierbei offenbar aus dem Kontext ihrer Chromosomendomänen mit einer jeweils spezifischen Chromatinstruktur herausgelöst und können daher artifizielle Resultate ergeben. ! Die Transkription von rDNA erfolgt durch eine
besondere Polymerase, die RNA-Polymerase I. Innerhalb der rDNA-Repeats sind mehrere Promotorsequenzen vorhanden, die im Gegensatz zur evolutionären Konservierung der rRNA-Sequenzen bei verschiedenen Organismen keine Ähnlichkeit in der Nukleotidsequenz erkennen lassen. Obwohl die rDNA-Repeats drei Terminationssignale enthalten, erfolgen sowohl Initiation als auch Termination der Transkription überwiegend jeweils an einem bestimmten dieser Signale.
! Primäre
Pre-rRNA-Transkripte werden durch Splicing in die endgültigen Transkriptionsprodukte umgewandelt.
Auch in E. coli werden die sieben ribosomalen RNAGene (rrn-Operons) des Genoms zunächst in primäre Transkripte (30S-Pre-rRNA) kopiert, die neben einem 5S-rRNA-, einem 16S-rRNA- und einem 23SrRNA-Bereich noch ein oder zwei Transfer-RNAMoleküle enthalten. Die Organisation der verschiedenen rRNA-Moleküle innerhalb einer einzigen Transkriptionseinheit hat den Vorteil, dass damit unmittelbar die zum Aufbau der Ribosomen erforderlichen äquimolaren Mengen der verschiedenen rRNA-Moleküle zur Verfügung stehen (Abb. 3.8). Wie aber ist die gemeinsame Transkription von mehreren RNA-Molekülen, die im Ribosom voneinander unabhängig existieren, in eine Pre-rRNA zu verstehen? Abb. 3.8. Genomstruktur im Bereich eines der sieben ribosomalen RNA-Operons (rrn Operons) von E. coli K-12. Zwischen den ribosomalen RNA-Molekülen (16S, 23S) sind tRNAs (tRNA) kodiert, deren Art und Anzahl für die verschiedenen Operons jeweils charakteristisch sind. Im Gegensatz zu Eukaryoten ist auch die 5S ribosomale RNA (5S) in der gleichen Transkriptionseinheit zu finden. P1 und P2: TranskriptionsStarts. R: Schnittstellen für RNaseIII bei der Bildung der 16S- und 23S-rRNA-Moleküle. (Nach Ellwood u. Nomura 1982 aus Watson et al. 1987)
Die Antwort auf diese Frage erhalten wir in Abb. 3.6c. Durch einen besonderen Mechanismus, der als Splicing bezeichnet wird, wird das primäre Transkript in mehreren aufeinanderfolgenden Schritten zerschnitten, bis die im Ribosom enthaltenen rRNAMoleküle übrig bleiben. Dieses Zerschneiden des Primärtranskripts in einem Prozess, der Processing genannt wird, erfolgt bei Eukaryoten unmittelbar nach der Transkription im Zellkern. Da Processing ein weit verbreiteter Mechanismus im Zusammenhang mit der Transkription ist, den wir auch schon bei Prokaryoten finden können, müssen wir die damit verbundenen molekularen Vorgänge genauer betrachten.
Wie bereits erwähnt, wird auch E. coli-rRNA nicht in der Form der einzelnen RNA-Moleküle synthetisiert, sondern in größeren Pre-rRNA-Transkripten. Der Processingmechanismus dieser Pre-rRNA ist relativ gut untersucht. An ihm sind neben der Ribonuklease III, die innerhalb einer intramolekularen Doppelstrangregion der primären Transkripte angreift und die 16S-rRNA und 23S-rRNA herausschneidet (Abb. 3.6 und 3.8), eine Reihe anderer Enzyme beteiligt. Die endgültige Größe der Moleküle wird, ebenso wie das Herausschneiden der 5S-rRNA und der tRNA, unter Anlagerung ribosomaler Proteine bereits während der Transkription durch weitere nukleolytische Enzymaktivitäten erzielt. In diesen Splicingprozessen
23S 16S R P1 P2
R
R
R
tRNA
5S
tRNA
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Kapitel 3: Verwertung genetischer Informationen
scheint eine Methylierung von Basen in den funktionellen rRNA-Bereichen, die bereits kurz nach der Synthese der RNA erfolgt, von grundlegender Bedeutung zu sein. Wir begegnen hier einem allgemeinen Mechanismus zum Schutz von Nukleinsäuren gegen Degradation. ! Bei E. coli sind am Splicing der Pre-rRNA ver-
schiedene nukleolytische Enzyme beteiligt. Durch Methylierungen bestimmter Basen im Primärtranskript werden bestimmte Molekülbereiche gegen die Einwirkung der Nuklease geschützt.
In Eukaryoten verläuft der molekulare Mechanismus des rRNA-Processing bei verschiedenen Organismen und verschiedenen Genen unterschiedlich. Es erfolgt auch hier ein stufenweiser Abbau des primären Transkripts (Abb. 3.6 c). Ausgiebig untersucht wurde das Pre-rRNAProcessing in HeLa-Zellen, einer menschlichen Tumorzellenlinie. In HeLa-Zellen werden die Endprodukte des Processing, also 5,8S-rRNA, 18S-rRNA, und 28S-rRNA, im primären Transkript (45S-PrerRNA) zunächst, vorwiegend (zu 80 %) an den 2′-OHGruppen der Ribose und in geringerem Umfange (zu etwa 20 %) an ihren Basen methyliert. Offenbar beschützen diese Methylgruppen die betreffenden Molekülbereiche gegen die am Processing beteiligten Endonukleasen. Die Bedeutung einer anderen gelegentlichen Modifikation von Basen innerhalb der rRNA, die Substitution von Uridin durch Pseudouridin, ist unbekannt. Etwas tiefere Einsicht in das Processing hat man bei Hefen erzielt, bei denen zumindest acht aufeinanderfolgende Splicingereignisse bis zur endgültigen Struktur der rRNA-Moleküle durchlaufen werden müssen. ! Das Processing der Pre-rRNA in Eukaryoten
erfolgt in mehreren, in ihrer Reihenfolge nicht genau festgelegten Schritten. Auch hier spielen Methylierungen an Basen und an der Ribose in bestimmten Regionen des Moleküls eine Rolle beim Schutz gegen nukleolytischen Abbau.
Im Gegensatz zum Processing der Pre-rRNA von E. coli spielen beim eukaryotischen Pre-rRNA-Proces-
sing auch zusätzliche RNA-Moleküle eine Rolle (s. S. 85). Die sogenannten snRNA-Moleküle (engl. small nuclear RNA) sind universelle RNA-Komponenten des Zellkerns. Sie gehören 24 verschiedenen Sequenztypen an, die als U1 bis U24 bezeichnet werden. Sie sind im Allgemeinen mit Proteinen zu Ribonukleoproteinpartikeln (snRNP) verpackt (Tabelle 3.3). Von ihnen wird die U3-snRNA-Fraktion, ebenso wie U8snRNA und U13-snRNA, in hoher Konzentration in Nukleolen gefunden. Die übrigen snRNAs befinden sich als snRNPs im Nukleoplasma. Auch die U3snRNA ist im Allgemeinen an Ribonukleoproteinpartikel (RNPs) gebunden, die erforderlich sind, um die ersten Processingschritte am 5′-Ende des primären Transkripts auszuführen. Wahrscheinlich hat sie weitere Aufgaben in späteren Processingschritten, die die Entfernung des ITS zur Folge haben (Abb. 3.6). ! Am Processing primärer Transkripte bei Eukaryo-
ten sind kleine RNA-Moleküle, sogenannte snRNAs, beteiligt. Sie sind mit Proteinen zu Ribonukleoproteinpartikeln (RNPs) vereinigt, die bereits während der Transkription an die wachsenden rRNA-Moleküle binden.
Obwohl der generelle Aufbau und die Transkription der ribosomalen DNA bei allen Eukaryoten vergleichbar ist, gibt es einige Unterschiede, die sich nicht auf die nichttranskribierten Regionen beschränken. Der wichtigste Strukturunterschied betrifft die 28S-rDNA-Region einiger rDNA-Repeats. In Drosophila – und vielen anderen Organismen – kann die 28S-rDNA eine intervening sequence (IVS) besitzen, die die Kontinuität der 28SrRNA unterbricht. Intervening sequences werden auch als Introns bezeichnet, weil sie die kodierenden Regionen (Exons) unterbrechen. In den meisten Fällen werden Gene mit dieser Insertion transkribiert, und das Intron wird durch Splicing während des Processings des primären Transkripts entfernt. Bei Drosophila bleiben jedoch rRNA-Gene, die eine IVS besitzen, inaktiv oder ihre Transkription bricht am Beginn der IVS ab. Die funktionelle Bedeutung der IVS-Sequenzen ist nicht bekannt. In Drosophila gibt es zwei verschiedene IVS-Typen (Typ I und II), die beide ganz unterschiedliche DNA-Sequenzen besitzen und zu Familien transponierbarer Elemente gehören (Kap. 9.3).
3.3 Transkription
Tabelle 3.3.
Einige Beispiele für kleine RNA-Moleküle
Bezeichnung
Länge (Nukleotide)
Transkription durch
Kopien/2n
Organismus
U1
164
RNA-Polymerase II
30 10 500 3–4
Mensch Maus Xenopus Drosophila
U2
188–189
RNA-Polymerase II
20–40 10 500 5
Mensch Maus Xenopus Drosophila
U3
216
RNA-Polymerase II
6
Maus
U4
142–146
RNA-Polymerase II
4
Drosophila
U5
116–118
RNA-Polymerase II
mehrere
Xenopus
U6
107–108
RNA-Polymerase III
200 3
Maus Drosophila
U7
58
RNA-Polymerase II
5
Seeigel
7SL
300
RNA-Polymerase III
3–4 2 1
Mensch Drosophila Schistosaccharomyces pombe
254 7SK
330
RNA-Polymerase III
≤ 10
Mensch
4,5S
90–94
RNA-Polymerase III
850 690
Maus Ratte
Nach Singer u. Berg (1991)
! Manche rDNA-Repeats besitzen innerhalb der
28S-rRNA-Region eine intervening sequence (IVS). Während solche IVS-Sequenzen in vielen Organismen durch Splicing aus dem primären Transkript entfernt werden, synthetisieren solche rDNA-Repeats mit IVS in Drosophila keine vollständigen primären Transkripte.
Die übrigen Unterschiede in der molekularen Struktur der rRNA-Gene liegen vorwiegend in der Länge der NTS-Region (Abb. 3.6a), die durch die unterschiedliche Anzahl von internen Repeats innerhalb eines einzigen Genoms erheblich variieren kann. Der NTS ist übrigens auch
zwischen nahe verwandten Arten nicht nur starken Sequenzveränderungen, sondern auch erheblichen Längenunterschieden unterworfen. Besonders große NTS-Regionen besitzt menschliche rDNA (etwa 30 kb), in Drosophila melanogaster liegen sie bei knapp 4 kb, während Xenopus borealis mit etwa 3 bis 9 kb eine hohe Variabilität aufweist. ! NTS-Abschnitte sind oft sehr variabel in ihrer Länge. In ihren Nukleotidsequenzen weisen sie keine evolutionäre Stabilität auf, sondern verändern sich sehr schnell.
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Kapitel 3: Verwertung genetischer Informationen
Insekten-rDNA weist noch eine weitere Besonderheit im 28S-rRNA-Bereich auf. Während des Processings wird die 28S-rRNA nämlich in zwei etwa gleich große Teile gespalten, die nachträglich durch eine Basenpaarung an den Schnittstellen wieder zu einem 28SrRNA-Komplex zusammengefügt werden. Hierbei werden eine kleine Anzahl (bei Drosophila 13) Nukleotide entfernt, so dass im Vergleich zur DNA eine Lücke (engl. gap) in der 28S-rRNA entsteht. Eine funktionelle Bedeutung hiervon ist nicht bekannt. ! Die 28S-rRNA von Insekten wird durch eine
Unterbrechung (gap) in der Mitte des Moleküls gekennzeichnet, die durch Processing eingefügt wird. Im funktionellen Zustand im Ribosom werden beide Teile des 28S-rRNA-Moleküls durch Basenpaarung aneinandergehalten.
Die molekulare Analyse der rDNA in Tetrahymena hat einen molekularen Mechanismus von grundlegender Bedeutung aufgedeckt. Das in der 28S-rRNA enthaltene Intron ist imstande, sich selbst, ohne einen Beitrag von Proteinen, aus dem primären Transkript herauszuschneiden. Damit wurde deutlich, dass nicht nur Proteine, sondern auch Nukleinsäuren katalytische Funktionen übernehmen können. Eine solche Feststellung ist für evolutionäre Überlegungen entscheidend. Geht man davon aus, dass Nukleinsäuren die Ausgangsmoleküle bei der Entwicklung des Lebens waren, so muss man deren Funktionsfähigkeit hinsichtlich ihrer Replikation, aber auch zur Synthese anderer Nukleinsäuren und Proteine erklären können. Für beide Prozesse aber sind Enzyme unentbehrlich, da sie wichtige katalytische Aufgaben bei der Synthese von Polymeren übernehmen. Die autokatalytischen Fähigkeiten der rRNA beweisen, dass solche katalytischen Funktionen im Prinzip nicht nur von Proteinen, sondern auch von Nukleinsäuren übernommen werden können. Damit ist es nicht notwendig, für die ersten Prozesse bei der Entstehung lebender Materie die Existenz von proteinartigen Katalysatoren zu fordern. Vielmehr könnten deren Aufgaben wohl ursprünglich von Nukleinsäuren versehen worden sein.
! Das Intron in der 28S-rRNA von Tetrahymena kann
durch autokatalytisches Splicing der RNA ohne Mitwirkung von Proteinen aus dem primären Transkript entfernt werden. Das beweist, dass Nukleinsäuren katalytische Funktionen, vergleichbar denen von Enzymen, übernehmen können.
Der Mechanismus des autokatalytischen Splicings wurde durch Thomas Cech und Joan Steitz aufgeklärt. Es sind zweierlei Arten des Splicings bekannt, die beide unter der Bildung sogenannter Lariatstrukturen (engl. lariat: Lasso) verlaufen (s. Abb. 3.17). Bei Tetrahymena-rRNA wird zunächst ein Guanosinmonophosphat im Intronbereich gebunden, dessen 3′-OH-Gruppe nunmehr mit dem 5′-Ende des Introns eine Diesterbindung formt und dadurch eine OH-Gruppe am 3′-Ende des vorangehenden Exons freisetzt. Diese OH-Gruppe reagiert nun in gleicher Weise mit der 5′-PO4-Gruppe des ersten Nukleotids des folgenden Exons unter Bildung einer 3′-5′-Phosphodiesterbindung. Das 413 bp lange Intron wird dadurch vollständig herausgelöst. Dieser Splicingmechanismus wird als Typ I bezeichnet (Abb. 3.9). ! Das Splicing des Introns der 28S-rRNA von Tetra-
hymena erfolgt unter Bildung von ringförmigen Zwischenstufen innerhalb des primären Transkripts. Hierfür ist Guanosinmonophosphat erforderlich.
Ein vergleichbarer Splicingmechanismus, der jedoch kein externes Guanosin benötigt, sondern unter Verwendung des gleichen molekularen Umsetzungsmechanismus von einem internen Adenosin am 3′-Ende des Introns Gebrauch macht, wurde für andere Introns gefunden (Abb. 3.9). Die 2′-OH-Gruppe der Ribose reagiert mit der 5′-PO4-Bindung des ersten Nukleotids des Introns. Hierdurch wird eine 3′-OHBindung am 3′-Ende des vorangehenden Exons freigesetzt, die nunmehr mit dem 5′-PO4 des ersten Nukleotids des dem Intron folgenden Exons eine neue Phosphodiesterbindung eingeht und damit das zirkularisierte Intron freisetzt. Dieser Mechanismus wird bei mitochondrialen Transkripten gefunden (s. S. 318). Man bezeichnet ihn als Typ II. Neben der 5,8S-, 18S- und 23S-rRNA gibt es bei Eukaryoten noch die 5S-rRNA. Sie wird von einer
3.3 Transkription
3' HO-G P P Exon 1
HO P
PA OH P
PA OH P
A P
Exon 2
PG OH P
P
P G
2' HO A P P
HO I
P
PA OH II
P
A P OH III
Abb. 3.9. Splicingmechanismen eukaryotischer RNAs. Es werden drei Mechanismen unterschieden (die Typen I, II und III). Bei den Typen I und II handelt es sich um ein autokatalytisches Splicing, bei dem entweder ein externes GMP (Typ I) mit seinem 3′-OH eine Phosphodiesterbindung zum 5′-Phosphat des ersten Nukleotids des Introns bildet oder die Funktion des externen GMP durch ein Adenosin am Beginn des Exons 2 übernommen wird (Typ II). Die freigesetzte 3′-OH-Gruppe des letzten Nukleotids des Exons 1 kann nunmehr in gleicher Weise eine Phosphodiesterbindung zum 5′-Ende des ersten Nukleotids des Exons 2 bilden. Damit sind die zwei Exons miteinander verbunden und das Intron wird in Form eines Lariats aus dem primären Transkript entfernt. Bei den meisten Eukaryonten herrscht der Typ III des Splicings vor, bei dem Proteine eine Funktion im Splicingsmechanismus ausüben. Es wird hierbei ein Spliceosom geformt (Einzelheiten s. Abb. 3.17). (Nach Weaver u. Hedrick 1992)
Genfamilie von Tandemrepeats identischer Genkopien kodiert und von der RNA-Polymerase III transkribiert (Molekulargewicht 650 kDa, 10 bis 15 Untereinheiten). Die 5S-rRNA-Gene haben keine Introns; die Zahl der entsprechenden Gene ist jedoch viel höher als bei den anderen rRNA-Genen (z. B. X. laevis: 24.000), die oft am Ende des Chromosoms lokalisiert sind. Diese Gene lassen sich in zwei Gruppen
einteilen, die differenziell (somatisch bzw. oocytenspezifisch) exprimiert werden. Donald Brown und Ronald Roeder ist es mit ihren Kollegen gelungen (Bogenhagen et al. 1980; Bieker et al. 1985), einen Einblick in den Regulationsmechanismus zu gewinnen, der die differenzielle Transkription der somatischen bzw. oocytenspezifischen 5S-rRNA-Gene sicherstellt. Der erste überraschende Befund bei der Analyse der Regulationsregion der 5S-rRNA-Gene war, dass diese Region innerhalb des RNA-kodierenden DNA-Bereiches (engl. internal control region) liegt: Durch Deletionsversuche an einem isolierten somatischen 5SrRNA-Gen und anschließender Expression durch Injektion in Xenopus-Oocyten gelang es, die für die Regulation verantwortlichen DNA-Sequenzen festzulegen. Man kann einerseits alle flankierenden DNASequenzen im 5′- und 3′-Bereich entfernen, ohne die Transkription zu unterbinden, andererseits aber durch Deletionen ausschließlich im Bereich +50 bis +68 jegliche Transkription verhindern (Abb. 3.10). Dieser Bereich lässt sich in weitere funktionelle Unterabschnitte aufgliedern. Erst durch neuere Untersuchungen haben sich die Anzeichen gemehrt, dass auch DNA-Sequenzen im 5′-Bereich der Gene für die Regulation eine Bedeutung haben. Die Termination der Transkription erfolgt in einer T-reichen Region des Gens, die von einem GC-Bereich umgeben ist (Abb. 3.11). Die während der Transkription entstehenden poly[U]/poly[dA]Hybridabschnitte sind relativ instabil und führen zum Abbruch der Transkription. ! Die Regulation der Transkription der 5S-rRNA
erfolgt von einer Region innerhalb des kodierenden DNA-Bereiches.
Eine Schlüsselfunktion in der Regulation der Transkription der 5S-rRNA-Gene nehmen drei Transkriptionsfaktoren (TFIIIA, TFIIIB und TFIIIC) ein. Sie müssen sich der internen Kontrollregion eines 5S-Genes anlagern, bevor die RNAPolymerase III in der Lage ist, die Trankription zu initiieren (Abb. 3.12). Durch Footprinting wird bestätigt, dass der Transkriptionsfaktor TFIIIA im Sequenzbereich +47 bis +85 der kodierenden Region an die DNA gebunden wird. Dieses Protein ist der erste eukaryotische Transkriptionsfaktor (darum TF „A“,
77
78
Kapitel 3: Verwertung genetischer Informationen + + + + + + + + – –
5S-rRNA –80
–40
0
+40
+80
+120
+160
+200
bp
– – + + + +
die III bezieht sich auf seine Funktion gemeinsam mit RNA-Polymerase III), der identifiziert und in seiner Struktur aufgeklärt worden ist. Es handelt sich um ein Zink-Metalloprotein aus 344 Aminosäuren und mit einem Molekulargewicht von 38 500 Da (Abb. 8.26). Die Primärstruktur dieses Proteins ist,nicht zuletzt im Kontext seiner möglichen evolutionären Geschichte, besonders auffallend, denn es ist im aminoterminalen Bereich aus neun Repeats aufgebaut, die drei Viertel des gesamten Polypeptids einschließen. Die einzelnen, 30 Aminosäuren langen Repeatsequenzen sind nicht völlig identisch, wie man es auch bei anderen Proteinen mit internen Repetitionen ihrer Aminosäuresequenzen beobachtet. Entscheidend für die Funktion des TFIIIA-Proteins sind jedoch Paare von Cysteinen und Histidinen, die in festgelegten Positionen jeder Repeateinheit zurückkehren. Je ein Paar von Cysteinen und Histidinen innerhalb eines Repeats bindet nach Ergebnissen der Strukturanalyse des Proteins durch Atomabsorptionsspektroskopie ein Zinkion. Hierzu erfolgt eine Faltung des Polypeptids in neun fingerartige Domänen (Zinkfinger) (Abb. 8.26). Diese Domänen treten mit der DNA in Kontakt, indem sie in die major groove der DNA eingreifen und GGSequenzen im antikodierenden Strang der DNA erkennen.Die Hauptfunktion der Zinkfingerregion ist es, mit der DNA einen stabilen Komplex zu formen.
Abb. 3.10. Deletionsanalyse zur Ermittlung der regulatorischen DNA-Sequenzen der 5S-rRNA von Xenopus. In der Mitte ist ein 5S-rRNA-Gen mit den flankierenden DNA-Sequenzen (s. auch Abb. 3.12b) dargestellt. Die Zahlen geben die Nukleotidnummern relativ zum Beginn der kodierenden DNA-Sequenz an. Die Striche oberhalb und unterhalb des Gens geben unterschiedliche Längen von Deletionen an. Daneben ist angezeigt, ob das 5S-rRNA-Gen noch transkribiert wird (+) oder nicht (–). Die Deletionen, in denen keine Transkription mehr stattfindet, sind hervorgehoben. Sie überlappen im Mittelbereich des 5S-rRNA-Gens (etwa 40 Nukleotide) und kennzeichnen damit die für die Regulation erforderlichen DNA-Sequenzen. (Nach Bogenhagen et al. 1980)
Die Transkription wird durch das Carboxylende des TFIIIA-Proteins eingeleitet, das selbst nicht mit der DNA direkt in Kontakt tritt. Es ist eine der besonderen Eigenschaften eines solchen, einmal geformten Transkriptionskomplexes, dass dieser sehr stabil bleibt und dadurch eine häufig wiederholte Initiation der Transkription gestattet. ! Für die Regulation der Transkription der 5S-rRNA-
Gene sind drei Transkriptionsfaktoren erforderlich. Bei dem Transkriptionsfaktor TFIIIA handelt es sich um ein Zink-Metalloprotein, das sich in seiner Tertiärstruktur durch die Bildung von neun fingerartigen Domänen auszeichnet. Diese greifen in die major groove der DNA ein und binden an bestimmte DNA-Sequenzen.
5'
G T C G TA G G C T T T T G C A C T T T T 110
120
3'
130
Abb. 3.11. Terminationssequenz der 5S-rRNA-Gene. Die T-reichen Sequenzbereiche sind für die Termination entscheidend. Bei ihrer Deletion läuft die Transkription weiter. Die Zahlen geben die Nummern der Nukleotide im Gen an. Der rot angegebene Sequenzbereich liegt in der kodierenden Region. (Nach Bogenhagen et al. 1980)
3.3 Transkription
Abb. 3.12 a,b. Initiation der Transkription der 5S-rDNA. a Der Transkriptionsfaktor TFIIIA bindet zunächst unter Bildung eines instabilen Komplexes reversibel an die Regulationsregion der DNA. Ein weiterer Transkriptionsfaktor, TFIIIC, stabilisiert diesen Komplex. Erst nach Bindung eines weiteren Transkriptionsfaktors, TFIIIB, kann die RNA-Polymerase III binden und die Transkription initiieren. Vgl. die Initiation der Transkription durch RNA-Polymerase II (Abb. 8.24). b Vergleich
der für die Bindung von TFIIIA wichtigen Sequenzbereiche der 5S-rDNA und der 5S-rRNA. Die an der Bindung beteiligten Greichen Nukleotidbereiche sind schwarz hervorgehoben. TFIIIA steht in der DNA vor allem mit dem Sinn-Strang (d. h. RNA-gleichen Strang) in Kontakt. In der RNA bindet TFIIIA in einer Doppelstrangregion im gleichen Sequenzbereich. (Nach Bieker et al. 1985)
Wie ist aber der Unterschied in der Transkription der oocytenspezifischen und der somatischen 5S-rRNAGene zu erklären? Der Unterschied in der Nukleotidsequenz der beiden Typen von 5S-rRNA-Genen beschränkt sich auf drei Nukleotide in der internen Kontrollregion der 5S-rRNA-Gene. Offenbar genügt dieser Unterschied, um die Bindungsaffinität zwischen DNA und TFIIIA so zu verändern, dass hierdurch die differenzielle Regulation der somatischen und der oocytenspezifischen Gene erzielt wird. Die somatischen 5S-rRNA-Gene haben eine höhere Affinität zu TFIIIA als die oocytenspezifischen 5SrRNA-Gene. Das resultiert bei einer begrenzten Menge an TFIIIA-Protein in der Zelle, wie sie in somatischen Zellen vorliegt, in einer bevorzugten Transkription der somatischen 5S-rRNA-Gene, die zwischen 200- und 1000fach über der transkrip-
tionellen Aktivität der oocytenspezifischen Gene liegen kann. Dadurch weisen somatische Zellen praktisch nur eine Transkription der somatischen 5SrRNA-Gene auf. ! Die unterschiedliche Transkription der somati-
schen und der oocytenspezifischen 5S-rRNA-Gene beruht auf einem Unterschied in der Bindungsaffinität des TFIIIA zur 5S-rDNA und auf dem Titer des Transkriptionsfaktors in der Zelle. Bei niedrigem Titer des Transkriptionsfaktors erfolgt die Bindung ausschließlich an die somatischen 5S-rRNA-Gene, die durch drei veränderte Nukleotide in der Bindungsregion eine höhere Bindungsaffinität für TFIIIA besitzen.
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80
Kapitel 3: Verwertung genetischer Informationen
Offenbar spielt zusätzlich die Bindung von Histon H1 eine entscheidende Rolle in diesem Regulationsmechanismus. Isoliert man Chromatin aus somatischen Zellen, so sind die oocytenspezifischen 5SrRNA-Gene mit H1-Histon assoziiert und inaktiv, während die somatischen 5S-rRNA-Gene als Transkriptionskomplexe ohne Histon H1 vorliegen. TFIIIA-Bindung und Histon H1-Verpackung haben entgegengesetzte Effekte auf die Aktivität der oocytenspezifischen Gene. Nach Assoziation der oocytenspezifischen Gene mit Histon H1 in einer nukleosomalen Konstitution sind diese irreversibel reprimiert (Abb. 3.13). Die Abbildung zeigt, dass Histon H1 wahrscheinlich positionell mit der Bindungsstelle von TFIIIA konkurriert. Da die Konzentration von TFIIIA in somatischen Zellen niedrig ist, reicht die erhöhte Bindungsaffinität für TFIIIA der somatischen 5S-rRNA-Gene aus, um diese in einem aktiven Zustand zu halten.
Embryo schwer zu verstehen wäre, wenn nicht ein weiterer Regulationsparameter hinzukäme. Diesen finden wir in der Fähigkeit der oocytenspezifischen 5S-rRNA-Moleküle, selbst auch TFIIIA zu binden. Sie formen 7S-Ribonukleoproteinpartikel (RNP) sowie größere RNPs von 42S, die zusätzlich noch tRNA und weitere Proteine enthalten. Beide werden in nachweisbaren Mengen nur in Oocyten prävitellogener Entwicklungsstadien gefunden, scheinen also eine Speicherfunktion zu besitzen. Durch die Bindung von TFIIIA an 5S-rRNA wird mit steigender 5SrRNA-Konzentration in der Zelle die Menge an freiem TFIIIA bzw. TFIIIA in Transkriptionskomplexen reduziert, so dass ein Rückkoppelungseffekt eintritt. Bei steigender 5S-rRNA-Konzentration nimmt die Transkriptionsrate ab. Das führt zu einer schnellen Abnahme der Transkription oocytenspezifischer Gene während der frühen Entwicklung (s. Tabelle 3.4 und Abb. 3.14).
! Das Histon H1 ist an der Regulation der Tran-
! Da das TFIIIA-Molekül auch an 5S-rRNA binden
skription der 5S-rRNA-Gene beteiligt. Es wirkt kompetitiv zum TFIIIA-Faktor.
kann, wird bei steigender 5S-rRNA-Menge ein Teil der TFIIIA-Moleküle in 7S-RNPs verpackt und damit der Bindung an die 5S-rRNA-Gene entzogen. Das führt zur Abnahme der 5S-rRNA-Synthese in älteren Oocyten.
Andererseits ist die Konzentration von TFIIIA in Oocyten sehr hoch, so dass eine Abnahme der Transkriptionsrate in der reifen Oocyte und im frühen
Abb. 3.13. 5S-rDNA und Nukleosomenstruktur der DNA. Die Länge des 5S-rRNA-Gens ist so gering, dass es zu Kompetition der Bindung von TFIIIA und Histon H1 kommen kann. Histon H1 (Kreis) bindet am Eintritts- und Ausgangsbereich der das Nukleosomencore umgebenden DNA. Die Länge des 5SrDNA-Bereiches ist hervorgehoben
Die dargestellten Mechanismen geben uns ein recht vollständiges Bild der transkriptionellen Regulation eines eukaryotischen Gens. Die Transkription der 5S-rRNA-Genfamilie erfolgt durch eine eigene RNA-Polymerase III, die im Übrigen noch für die Transkription einiger weiterer struktureller RNAMoleküle ohne Protein-kodierende Funktionen, wie tRNA und bestimmte snRNAs, verantwortlich ist. Die Initiation der Transkription wird durch eine interne Kontrollregion gesteuert, die selbst ein Teil der RNA-kodierenden DNA-Sequenz ist. Durch die Bindung verschiedener Transkriptionsfaktoren an die interne Kontrollregion wird ein stabiler Transkriptionskomplex gebildet, der wiederholte Initiation der Transkription gestattet, ohne jeweils neu zu entstehen. Es gibt zwei Klassen gewebespezifisch transkribierter 5S-rRNA-Gene, die geringfügig verschiedene interne Kontrollregionen besitzen und dadurch unterschiedliche Bindungsaffinitäten zu den Transkriptionsfaktoren aufweisen. Das ermöglicht eine differenzielle Regulation der 5S-rRNAGene, teilweise im Zusammenspiel mit der Bindung
3.3 Transkription
Abb. 3.14. Regulationsschema der Transkription der 5S-rDNA in Xenopus in Oocyten (oben) und Somazellen (unten). Links sind die oocytenspezifischen 5S-rRNA-Gene gezeigt, rechts die somatischen. Die Initiation der Transkription durch TFIIIA erfolgt zunächst bei beiden Genotypen. Bei einem Überschuss an 5S-rRNA bindet diese kompetitiv den Transkriptionsfaktor TFIIIA und verhindert daher eine neue Initiation
der Transkription. In somatischen Zellen ist nur wenig TFIIIA vorhanden, so dass er aufgrund der höheren Bindungsaffinität nur an die somatischen 5S-rRNA-Gene gebunden wird. Zusätzlich sind die oocytenspezifischen Gene wahrscheinlich durch die Chromatinkonstitution inaktiviert (hier durch Bindung von Histon H1 symbolisch dargestellt)
bzw. Entfernung von Histon H1 vom Chromatin. Zudem kann zumindest einer der Transkriptionsfaktoren auch an die 5S-rRNA binden, so dass bei steigenden 5S-rRNA-Konzentrationen die freie zelluläre Konzentration des Transkriptionsfaktors abnimmt und die Syntheserate der RNA damit reduziert wird. Die Regulation der 5S-rRNA-Gene ist daher ein Modell für ein Regulationssystem aus transkriptionsregulierenden, DNA-bindenden Proteinen, die zugleich auf die Gewebespezifität und die Transkriptionsrate einwirken. Welche zusätzliche regulative Rolle 5′-upstream Regionen der Gene in diesem Regelsystem spielen, ist gegenwärtig ungeklärt. Die antagonistische Rolle von Histon H1 zur Bindung von Transkriptionsfaktoren verweist deutlich auf Regulationsfunktionen auch auf der übergeordneten Ebene der allgemeinen Chromatinkonstitution, wie sie schon für die Termination (und vielleicht auch Initiation) der ribosomalen RNA-Gene sichtbar geworden ist (s. S. 69).
3.3.4 Transkription Protein-kodierender Gene bei Eukaryoten Alle Protein-kodierenden eukaryotischen Gene und einige der snRNA-Gene werden durch die RNA-Polymerase II transkribiert. RNA-Polymerase II wurde durch ihre Empfindlichkeit gegenüber α-Amanitin, dem Gift des Grünen Knollenblätterpilzes (Amanita phalloides), identifiziert. RNA-Polymerase I ist gegen α-Amanitin unempfindlich, kann aber durch das Antibiotikum Actinomycin D gehemmt werden, gegen das wiederum RNA-Polymerase II relativ unempfindlich ist. Im Gegensatz zur bakteriellen RNA-Polymerase kann RNA-Polymerase II ohne zusätzliche Proteinmoleküle nicht an DNA binden. Solche für die Polymerasebindung essentiellen Proteine werden Transkriptionsfaktoren genannt. Die RNA-Polymerase II von S. cerevisiae besteht selbst aus 12 Untereinheiten, die innerhalb der Eukaryoten hoch konserviert sind. Die beiden größten Untereinheiten (Rbp1 und Rbp2) entsprechen der β- und β’-Untereinheit der bakteriellen RNA-Polymerase. Das Dimer aus Rbp3 und
81
82
Kapitel 3: Verwertung genetischer Informationen CH3
Tabelle 3.4. Titer von TFIIIA-mRNA und TFIIIA-Protein
in verschiedenen Zelltypen von Xenopus Stadium
mRNA-Moleküle / Zelle
N
Proteinmoleküle / Zelle
Frühe Oocyte
5 × 10 6
Oocytenstadium 4 – 6
1 × 10 6
Befruchtetes Ei
?
3 × 10 9
Gastrula
?
9 × 10 4
Schwimmende Kaulquappen
1
1– 2 × 10 4
O
+
NH
N
O
P
O
NH2
N
O– CH2 O
Nach Davidson (1986)
Rbp1 entspricht funktionell der α-Untereinheit des bakteriellen Systems, während es kein direktes Äquivalent zur σ-Untereinheit zu geben scheint. Einige der Transkriptionsfaktoren scheinen der σ-Untereinheit entsprechende Aufgaben zu übernehmen (z. B. das TATA-Box-bindende Protein oder die generellen Transkriptionsfaktoren TFIIB und TFIIF). Die Regulation der Expression Protein-kodierender Gene bei Eukaryoten ist komplex. Eine wichtige Rolle spielt dabei der Bereich von ca. 200 bp oberhalb des Transkriptionsstarts, der als Promotor bezeichnet wird, und an den der Komplex aus RNA-Plymerase II und Transkriptionsfaktoren bindet. Allerdings spielen auch noch andere DNA-Elemente (z. B. Enhancer, Locus-Kontroll-Regionen) und Chromatinstrukturen wesentliche Rollen. Die Transkriptionskontrolle Protein-kodierender Gene wird daher im Zusammenhang in Kap. 8.5 besprochen.
3.3.5 Reifung eukaryotischer mRNA: Spleißen und Editieren Drei Eigenschaften sind fast allen eukaryotischen mRNAs gemeinsam: • Am 5′-Ende des mRNA-Moleküls befindet sich eine besondere Nukleotidsequenz, die im Kern posttranskriptionell an die RNA angefügt wird (Abb. 3.15). Man bezeichnet diese Struktur als cap. • Am 3′-Ende ist die mRNA polyadenyliert, d. h. sie ist mit einem poly[A]-Schwanz versehen,
O O
O
P
–
OH
OH
O O
NH2
O–
P
N
N
O N
N
CH2 O
NH2 N
O
O
O
P
O
CH3
N
N
N
CH2 O
O
–
OH
O
CH3
Abb. 3.15. Messenger-RNA wird nach ihrer Synthese im Kern mit einer Cap-Struktur versehen. Hierzu wird am 5′-Ende der RNA über einen Triphosphorester ein Guanosin, jedoch in einer den übrigen Nukleotiden der RNA entgegengesetzten Orientierung, angefügt. Das Guanin dieses Nukleotids ist methyliert. Auch die folgenden zwei oder drei Nukleotide können in unterschiedlichen Kombinationen Methylgruppen an der 2′-Hydroxylgruppe der Ribose aufnehmen. Diese Struktur wird an jeder eukaryotischen mRNA gefunden
dessen Länge bei Globin-mRNA zwischen 50 und 75 Nukleotiden variiert. Die Polyadenylierung erfolgt, nach dem Splicing des primären Transkripts, ebenfalls im Kern. Sie erfordert ein Polyadenylierungssignal (AAUAAA) in der RNA, das
3.3 Transkription
etwa 12 bis 30 Nukleotide vor dem 3′-Ende der RNA liegt. • Vor und hinter der Protein-kodierenden Region befinden sich noch kurze RNA-Abschnitte, die nicht translatiert werden. Sie werden als Leaderund Trailerregionen bezeichnet. ! Eukaryotische mRNAs besitzen fast immer eine
cap am 5′-Ende und einen Poly[A]-Schwanz am 3′Ende. Außerdem besitzen sie häufig nichttranslatierte 5′- und 3′-Bereiche, die als Leader und Trailer bezeichnet werden (oder auch UTRs).
Die Nukleotidsequenzen der genomischen DNA vieler Gene zeigen, dass zwischen kodierenden Bereichen DNA-Sequenzen vorhanden sind, die man in der mRNA nicht wiederfindet. Sie werden, analog den IVS-Sequenzen der ribosomalen DNA, durch Splicing aus den primären Transkripten entfernt. Die Transkripte verfügen erst dann über ein durchgehendes offenes Leseraster, das die Synthese der Proteinkette gestattet. Das Splicing erfolgt jedoch, im Gegensatz zum Splicing der Pre-rRNA, bereits während der RNA-Synthese (Abb. 3.16). Solche innerhalb der Protein-kodierenden Regionen eines Gens, den Exons, gelegenen DNA-Abschnitte werden Introns genannt und sind in eukaryotischen Genen weit verbreitet (s. Kap. 8.5). Die Splicingmechanismen zur Entfernung von Introns unterscheiden sich von den früher besprochenen autokatalytischen Splicingmechanismen der rRNA von Tetrahymena (Typ I, s. S. 76) und den mitochondrialen Transkripten (Typ II, s. S. 318) dadurch, dass hier Enzyme die autokatalytische Funktion der RNA ersetzen (vgl. Abb. 3.9). Es werden Spliceosomen gebildet, die diese, unter Verwendung von bestimmten Erkennungssignalen an den 5’- und 3’Enden von Introns, aus den primären Transkripten herausschneiden. Die Erkennungssequenzen sind relativ einheitlich und umfassen etwa 9 Nukleotide an der 5’- und wenigstens 14 Nukleotide an der 3’Seite des Introns. Beide Erkennungssequenzen liegen größtenteils innerhalb des Intronbereichs und haben an der Schnittstelle am 5’-Ende stets ein GT, am 3’Ende ein AG in der DNA (GT-AG-Regel) (s. auch Abb. 3.9). Dieser Splicingmechanismus wird auch als Typ III bezeichnet.
Abb. 3.16. RNA-Splicing. Diese Miller-Spreitung von wachsenden Transkripten aus Drosophila-Embryonen zeigt, dass die Ausbildung von Intronschleifen durch Assoziation der flankierenden Splicejunctions bereits während der RNA-Synthese erfolgt. Die 3′- und 5′-Splicejunction sowie die Spliceosomen sind erkennbar. (Photo: A. Beyer, Charlottesville)
! Die meisten eukaryotischen Gene bestehen aus Exons und Introns. Die Introns werden durch Splicing aus der Pre-mRNA entfernt. Das Splicing erfolgt oft während der Pre-mRNA-Synthese. Im Allgemeinen werden Introns bei Eukaryoten mit der Hilfe von Nukleoproteinkomplexen, den Spliceosomen, entfernt. Am Aufbau von Spliceosomen sind auch snRNAs beteiligt.
Ein weiterer Unterschied zu den Splicingmechanismen der Typen I und II besteht außerdem in der Beteiligung besonderer RNA-Moleküle, der snRNAs (engl. small nuclear RNAs, vgl. Abb. 3.17) am Aufbau des Spliceosoms. Wie ihr Name sagt, handelt es sich bei den snRNAs um kleine RNA-Moleküle, deren Länge im Allgemeinen nur etwa 100 bis höchstens 300 Nukleotide beträgt. Wir lernen hiermit, nach der rRNA und der tRNA, eine weitere Klasse nicht Protein-kodierender RNA-Moleküle kennen, die, wie rRNA und tRNA, funktionelle Aufgaben in ihrer
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84
Kapitel 3: Verwertung genetischer Informationen
Eigenschaft als Nukleinsäuremoleküle wahrnehmen, nicht aber eine Funktion als Matrize für die Synthese von Proteinen besitzen. Man kennt bisher 24 verschiedene snRNA-Typen, die als U1- bis U24-snRNAs gekennzeichnet werden (Tabelle 3.3, Abb. 3.17). Sie formen nach ihrer Synthese Ribonukleoproteinpartikel (RNPs). Während ein Teil der snRNP-Partikel zunächst ins Cytoplasma wandert und dort größere snRNP-Komplexe formt, befinden sich andere snRNPs ausschließlich im Kern. Drei von ihnen, U3, U8 und U13, sind im Nukleolus lokalisiert, während U6-snRNA im übrigen Kernplasma vorkommt. Die Anzahl der snRNA-Moleküle ist mit bis zu 106 Molekülen in jeder Zelle sehr hoch. Ihre Transkription erfolgt durch dieselbe RNA-Polymerase II, die auch für die Synthese von mRNA verantwortlich ist. Lediglich U6-snRNA macht eine Ausnahme und wird, wie tRNA, durch die RNA-Polymerase III transkribiert (s. S. 297). Sie nimmt mit diesem abweichenden Transkriptionsmodus also nicht nur hinsichtlich ihrer ausschließlichen Lokalisation im Kern eine Sonderstellung ein. U6-snRNA unterscheidet sich von anderen snRNAs schließlich noch dadurch, dass sie keine 3-Methylguanosin-Cap besitzt, sondern lediglich ein γ-Methylphosphat als 5′-Ende. U4- und U6-snRNA findet man häufig durch Basenpaarungen aneinander gebunden im gleichen snRNP-Partikel, obwohl U6-snRNA in anderen snRNP-Partikeln auch alleine vorkommen kann. Neuerdings hat man snRNAs als Bestandteile von Introns aufgefunden. Sie scheinen in diesen Fällen eine Funktion im Intronsplicing der betreffenden Gene zu haben, so dass hiermit eine funktionelle Bedeutung von Introns sichtbar wird. ! Für das Intronsplicing eukaryotischer Pre-mRNAs
sind kleine RNA-Moleküle (snRNAs) erforderlich. Eukaryotische Zellen enthalten große Anzahlen solcher RNA-Moleküle, die verschiedenen Sequenztypen (U1 bis U24) angehören und in ihrem Vorkommen teilweise auf bestimmte Bereiche der Zelle beschränkt sind.
Wie auch rRNA zeichnen sich snRNAs durch eine relativ große Stabilität aus, die in der Größenordnung der Zeit eines gesamten Zellzyklus liegt. Sie kommen stets in Assoziation mit Proteinen vor und formen snRNPs mit bis zu 30 verschiedenen Proteinen, wie Lerner und Steitz 1979 festgestellt haben. Diese
Partikel sind mit Sedimentationswerten von 10S bis 12S viel kleiner als Ribosomenuntereinheiten. Jeder snRNA-Typ formt eine spezielle Art von snRNPKomplex, der aus mehreren verschiedenen Proteinen besteht. Verschiedene snRNP-Typen unterscheiden sich dabei nicht nur in der darin enthaltenen snRNA, sondern zum Teil auch durch unterschiedliche Proteine. Eine weitere Eigenschaft, die snRNA mit rRNA und tRNA teilt, ist das Vorkommen verschiedener durch Methylgruppen modifizierter Nukleotide wie 6-Methyladenosin oder Pseudouridin. Außerdem besitzen die snRNAs (ausgenommen U6) eine dreifach methylierte Kappe (m32,2,7-Cap) am 5′-Ende, wie sie uns schon von der mRNA her bekannt ist (Abb. 3.15). Die Primärstruktur der snRNA erlaubt intramolekulare Basenpaarungen (Abb. 3.17). Solche Sekundärstrukturen sind evolutionär besonders konserviert, wie es auch bei der Sekundärstruktur der rRNA bereits zu beobachten war. ! snRNAs kommen in verschiedenen Klassen von
Ribonukleoproteinpartikeln (RNPs) vor. Diese sind durch eine jeweils spezifische Zusammenstellung an snRNAs und Proteinen gekennzeichnet.
Interessant ist der Weg der Entdeckung von snRNAs. Bestimmte Autoimmunantikörper von Patienten mit einer Krankheit, die Systemischer Lupus erythematosus (SLE) genannt wird, reagieren spezifisch mit den snRNPs. Wir werden bei der Besprechung der Centromerenstruktur sehen, dass auch centromerenspezifische Antikörper bei Patienten mit Autoimmunkrankheiten gefunden werden (Kap. 12.5.7). Offensichtlich sind solche Krankheiten häufig dadurch bedingt, dass der betreffende Organismus Antikörper gegen wichtige allgemeine Bestandteile seiner eigenen Zellen herstellt. Die snRNAs benötigen zusätzliche Strukturinformationen, um ein genaues Splicing, dessen Ablauf im autokatalytischen Splicing ja sequenzabhängig ist, zu ermöglichen. Die Spliceosomen enthalten unter anderem U1- und U2-snRNPs. Der U1-snRNA kommt in diesen Komplexen eine Bindung an Nukleotide der 5′-Introngrenze zu, während U2-snRNA an der Verzweigungsstelle (engl. branch point) des Intronlariats bindet (Abb. 3.9). Der generelle Ablauf des Splicings ist damit dem des autokatalytischen Splicings vergleichbar.
3.3 Transkription
Abb. 3.17a–d. Molekulare Struktur und Funktion der snRNAs. a Die Nukleotidsequenz und Sekundärstruktur von U1-snRNA. snRNAs (ausgenommen U6) besitzen eine 5′-Cap. Die Nukleotide, die komplementär zur 3′-Splicejunction (T/C11NC/ TAGG) von Introns sind, sind hervorgehoben. snRNAs enthalten viele abnormale Basen. b und c zeigen schematisch
die Struktur von U4-, U6- und U2-snRNA sowie deren Interaktionen während des Splicingprozesses im Spliceosom (d). Das A im Intron in c zeigt den Verzweigungspunkt des Intronlariats (vgl. Abb. 3.9). Das Intron ist in 5′-Richtung verkürzt dargestellt. Der Verzweigungspunkt ist in d als schwarzes Rechteck dargestellt. (Nach Lührmann et al. 1990)
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Kapitel 3: Verwertung genetischer Informationen
! snRNPs bilden während der Transkription Spliceo-
! Die Bedeutung von Introns kann sowohl auf evo-
somen an den wachsenden Pre-mRNA-Molekülen und sorgen für das korrekte Splicing der Introns. Die meisten eukaryotischen Introns besitzen keine speziellen Erkennungssequenzen, wenn man von ihrer GT-AG-Sequenz absieht. Deshalb kann kein autokatalytisches Splicing stattfinden.
lutionärer Ebene als auf der Ebene der Genregulation zu suchen sein.
Über die Bedeutung der Introns, die in sehr vielen eukaryotischen Genen vorkommen, gibt es bis heute nur Spekulationen. Eine der meisterörterten Möglichkeiten bezieht sich auf die Beobachtung, dass Introns häufig verschiedene funktionelle Domänen eines Proteins voneinander trennen. Man kann solche Domänen als evolutionäre Bausteine betrachten, die in unterschiedlichen Kombinationen zusammengesetzt werden können und dadurch Proteinstrukturen hervorbringen, die speziellen Funktionen gerecht werden. Für diese Annahme evolutionärer Umorganisation gibt es bisher nicht viele Beispiele. R. Stick hat zeigen können, dass die in verschiedenen Formen vorkommenden, uns bereits als kernmembrangebundene Proteine bekannten Lamine wahrscheinlich durch eine Umkombination von Exons (engl. exon-shuffling) entstanden sind. Etwas besser lässt sich eine Variante dieser Vorstellungen belegen. Es gibt eine Anzahl struktureller Proteine, aber auch Enzyme, die sich aus wiederholten Untereinheiten zusammensetzen. Solche Untereinheiten erstrecken sich über größere DNA-Bereiche und sind sicher durch ungleiches Crossing-over (unequal crossing-over) entstanden (Abb. 14.34). Rekombinationsfehler, die sich auf die Struktur einer funktionellen Proteinregion störend auswirken können, lassen sich leicht eliminieren, wenn solche Proteinregionen in der DNA durch größere Introns voneinander getrennt werden, bei denen Sequenzveränderungen als Folge des Rekombinationsmechanismus keine Bedeutung haben. Eine ganz normale zelluläre Funktion könnten Introns auch dadurch ausüben, dass ihr Splicing die Möglichkeit zur posttranskriptionellen Regulation der Expression eines Gens bietet. Eine solche funktionelle Aufgabe von Intronsequenzen für die Regulation von Genen wird uns in anderem Zusammenhang interessieren (s. S. 318).
Die RNA-Polymerase II, die für die Transkription aller eukaryotischen Protein-kodierenden Gene verantwortlich ist, liest weit über die Enden der Proteinkodierenden Regionen hinweg. Die korrekten Enden der mRNA-Moleküle werden durch eine Endonuklease erzeugt, die in der Nähe des Polyadenylierungssignales (5´-AAUAAA-3´) im 3´-terminalen Bereich des mRNA-Moleküls die Pre-mRNA schneidet und damit die Polyadenylierung durch eine Poly[A]-Polymerase (PAP) ermöglicht. Zusätzlich ist eine weniger genau definierte, meist GU-reiche RNA-Sequenz etwa 30 Nukleotide downstream von der Schnittstelle am Polyadenylierungsprozess beteiligt. Die Polyadenylierungsschnittstelle ist in ihrer Sequenz nicht definiert, jedoch erfolgt der Schnitt oft nach einem A. Am Polyadenylierungsprozess sind etwa 10 – 12 Faktoren beteiligt. Der cleavage and polydenylation specificity factor (CPSF) bindet an das Polyadenylierungssignal und bildet mit den Faktoren CstF und CFIm sowie mit der Poly[A]-Polymerase einen Komplex. Der cleavage stimulation factor (CstF) bindet an das downstream-Element. Der cleavage Factor I (CF Im), der wahrscheinlich aus vier Proteinkomponenten besteht, bindet mit dem zuvor genannten Multiproteinkomplex. Der cleavage Factor II (CF IIm) ist für den Schnitt der RNA am 3’-Ende erforderlich und das poly[A]-binding protein 2 (PABP2) sorgt für die Verlängerung des Poly[A]-Schwanzes durch Stimulation der PAP. Es kontrolliert zugleich die Poly[A]Länge. Eine Ausnahme von diesem Polyadenylierungsprozess machen die Zellzyklus-regulierten Histongene, die keine Polyadenylierungssignale besitzen, so dass die Polyadenylierung unterbleibt. Das 3´-terminale Processing der mRNAs erfolgt mit Hilfe einer Region der Pre-mRNA, die etwa 70 bis 90 Nukleotide vom Ende des Protein-kodierenden Sequenzbereiches entfernt liegt (Abb. 3.18). Hier befindet sich zunächst ein invertierter Repeat, der ein Palindrom mit einer Stammlänge von etwa 6 bp zu bilden vermag. In einem Abstand von 13 bis 17 Nukleotiden downstream folgt eine purinreiche Sequenz. Die Palindromsequenz ist evolutionär hoch konserviert und von Seeigeln bis zum Menschen identisch. Die purin-
3.3 Transkription 3'-Ende Histon-mRNA 5'
T A AACGGC CTTTTCAG GCCACCAAA AAAAGAGCUG 3' C G UUU CU C G A C U A AU U G U G N 3' H O – U C C C G A U G A U C U G U U U A AG N CG
C
A U
GC AU AU AU GC GU CG CG U
p p p
2,2,7 m3
G
U7-snRNA C U U
Abb. 3.18. Struktur des 3′-Endes der Histon-pre-mRNA. Dem Ende der Protein-kodierenden Region folgt eine bei allen Histongenen konservierte Hairpin-Sequenz in der mRNA, an die ein Protein bindet. Die invertierten Repeats sind durch horizontale Pfeile markiert. Vier Basenpaare nach dem Ende der gepaarten Sequenz wird das 3′- Ende der mRNA durch eine Endonuklease erzeugt. In einem Abstand von 13 bis 17 bp, je
nach Histongen, hinter dem Zentrum der Hairpin-Sequenz folgt eine ebenfalls in allen Histongenen konservierte RNASequenz, die mit dem 5′-Ende von U7-snRNA Basenpaarungen eingehen kann. Dargestellt ist die Nukleotidsequenz der menschlichen U7-snRNA. Das 5′-terminale G ist methyliert. (Nach Mowry u. Steitz 1988)
reiche Sequenz besitzt eine auffallende Sequenzkomplementarität zur U7-snRNA, die nach Experimenten an Xenopus-Oocyten, denen Histon-Pre-mRNA injiziert wurde, für das Processing erforderlich ist. Wahrscheinlich werden während des Processings Basenpaarungen zwischen der purinreichen Sequenz und der U7-snRNA gebildet. Das Palindrom bleibt als Bestandteil der Histon-mRNAs erhalten und spielt möglicherweise eine Rolle in der zellzyklusgesteuerten Translationskontrolle. Die bisherige Darstellung der Umsetzung genetischer Information der DNA in mRNA als ein informationstragendes Molekül, das im zellulären Stoffwechsel verarbeitet werden kann, hat uns den Eindruck vermittelt, dass die Protein-kodierende Information stets lückenlos (abgesehen von Introns bei eukaryotischen Genen) im Genbereich enthalten ist. Diese Ansicht wurde auch allgemein vertreten, bis man an mitochondrialer DNA von Protozoen eine überraschende Entdeckung machte: Es bestand ein Unterschied zwischen der im Genom kodierten Proteinsequenz und der entsprechenden Nukleotidsequenz in der funktionellen mRNA. Diese Befunde stammen insbesondere vom Erreger der Schlafkrankheit, Trypanosoma brucei und anderen ver-
wandten Protozoen-Arten. Man spricht hier von RNAEditing. Vergleichbare Prozesse wurden später auch in mitochondrialen und nukleären Transkripten anderer Organismen beobachtet, die mittlerweile von Viren über Protozoen, Schleimpilzen (Physarum), Insekten und Säugern bis zu Pflanzen reichen. RNAVeränderungen, die durch posttranskriptionelles Editing erzeugt werden, werden durch zwei verschiedene Arten des Processing erreicht: • Sequenzspezifische Deletion von Nukleotiden bzw. sequenzspezifische Insertion von Nukleotiden, die nicht in der DNA kodiert sind • Enzymatische Veränderungen von Nukleotiden (C→U, A→I) Diese verschiedenen Arten des RNA-Editings scheinen evolutionär nicht miteinander verwandt zu sein und es wird vermutet, dass RNA-Editing in der Evolution mehrfach unabhängig enstanden ist. Dafür spricht nicht zuletzt die Beschränkung auf wenige, meist phylogenetisch weit getrennte Organismengruppen. Die enzymatische Veränderung von Nukleotiden erfolgt durch Deamidierung: entweder von C→U oder von A→I. Beide Prozesse erfordern Deaminasen
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Kapitel 3: Verwertung genetischer Informationen
(Cytosin-Deaminasen bzw. Adenosin-Deaminasen, Abk. ADAR von engl. adenosine deaminase acting on RNA bzw. CDAR von engl. cytosin deaminase acting on RNA). Die Deamidierung des Adenins ist wesentlich häufiger als die des Cytosins. ADARs wurden zuerst in Xenopus laevis entdeckt und wurden später in vielen Metazoa (incl. Säugetieren) kloniert und sequenziert (ADAR1 und ADAR2). ADARs wirken an RNA, die vollständig oder weitgehend als Doppelstrang vorliegt. Inosin, das aus dem ursprünglichen Adenosin gebildet wird, wird wie ein Guanosin translatiert. Damit verändert ADAR die Primärsequenzinformation der mRNA. Da allerdings Inosin mit Cytidin paart, können ADARs auch die Sekundärstruktur der doppelsträngigen RNA verändern, indem sie ein AUBasepaar in eine AC-Fehlpaarung umwandeln. Folglich können ADARs auch alle Prozesse beeinflussen, die sequenz- oder strukturspezifische Wechselwirkungen mit RNA eingehen. Es wurde bereits gezeigt, dass ADARs die Bedeutung von Codons verändern, Spleiß-Stellen bilden und RNA zum Zellkern dirigieren. ADARs aus allen Organismen haben eine gemeinsame Domänenstruktur mit einer unterschiedlichen Anzahl von Motiven, die an Doppelstrang-RNA binden (dsRBMs, engl. double-stranded RNA binding motifs),an die sich eine hochkonservierte C-terminale katalytische Domäne anschließt. Organismen unterscheiden sich in der Zahl der exprimierten ADARGene, und die ADAR-Proteine wiederum unterscheiden sich in der Zahl ihrer dsRBMs und des Abstandes zwischen den verschiedenen Domänen. Die ADARProteine 1 und 2 unterscheiden sich geringfügig in ihrer Substratspezifität (bes. in der Erkennung der spezifischen Zielsequenzen). Viele Beobachtungen deuten darauf hin, dass ADARs verschiedener Vertebraten funktionell homolog sind. Umgekehrt wurde noch keine RNA als Substrat der ADARs in Vertebraten identifiziert, die auch bei Invertebraten wie Würmern oder Fliegen ein Substrat wäre. Beispielsweise kommt die ADAR1 von Vertebraten im Gegensatz zu allen anderen ADARs auch mit einer lange N-terminale Verlängerung vor, die zwei Bindedomänen für Z-DNA besitzt. Die verlängerte Form wird über einen Interferon-abhängigen Promotor gesteuert und wird auch im Cytoplasma nachgewiesen (die „normalen“ Formen kommen dagegen im Zellkern vor). Daher wird für dieses Enzym auch eine Funktion in der Virusabwehr diskutiert.
Wie in Abb. 3.19 gezeigt, sind die Zielsequenzen von ADARs doppelsträngige Strukturen in der noch unreifen RNA. Dazu gehören kodierende Sequenzen, Introns und 5’- oder 3’-untranslatierte Sequenzen. Viele dieser editierten Stellen innerhalb der kodierenden Regionen verändern die Bedeutung der Codons, so dass mehr als eine Isoform von einem einzigen Gen synthetisiert werden kann. Dadurch erhöhen ADARs erheblich die Komplexität, die das Genom bietet, und im Einklang mit dieser Hypothese ist die ADAR-Aktivität in den Geweben des Nervensystems besonders hoch. Beispiele dafür sind die verschiedenen Transkripte für Glutamat- und Serotonin-Rezeptoren. Mäuse, die die editierte R-Form des Glu-B-Rezeptors nicht bilden können, werden mit Epilepsie geboren und sterben innerhalb der ersten 3 Wochen. Weitere Beispiele sind Gene, die für Natrium- oder ChloridKanäle in Drosophila kodieren. Die Deamidierung von Cytosin nach Uracil scheint wesentlich seltener zu sein und verläuft offensichtlich nach einem anderen Mechanismus. Im Gegensatz zu den ADARs arbeiten CDARs nach dem Spleißen – Introns unterdrücken die C→U-Edition. Auch die Ausbildung des Spliceosoms hemmt diese Form des Editierens. Es gibt einige sehr gut charakterisierte Beispiele für die C→U-Edition: Das erste (und damit das am besten untersuchte) Beispiel ist die Edition der mRNA für das Apolipoprotein B (Gensymbol: ApoB), weitere Beispiele sind die mRNAs des Gens für Neurofibromatose Typ 1 (Gensymbol: NF1) sowie für N-Acetyltransferase 1 (Gensymbol: NAT1). Am Beispiel der ApoB-mRNA wurde gezeigt, dass die C→U-Deamidierung hochspezifisch erfolgt: ein Cytosin unter 14.000 bp, die die mRNA insgesamt umfasst. Die minimale Sequenz, die zur Erkennung der Austauschregion notwendig ist, umfasst ca. 30 Nukleotide; allerdings spielt auch die Sekundärstruktur der mRNA eine wichtige Rolle. Die Edition der ApoB-mRNA verändert ein CAA-Codon zu einem UAA-Stopp-Codon; das verkürzte ApoB-Protein wird als ApoB48 bezeichnet. Beim Menschen ist die Edition auf den Dünndarm beschränkt; in der Leber wird das nicht-editierte Protein (ApoB100) gebildet. ApoB100 und ApoB48 haben offensichtlich unterschiedliche Funktionen im Lipidstoffwechsel. Die C→U-Edition der ApoB-mRNA erfordert eine einzelsträngige mRNA mit genau definierten Charakteristika in der unmittelbaren Umgebung der Editionsstelle (Abb. 3.20). Der funktionelle Komplex an der
3.4 Translation
Abb. 3.19 a,b. A→I-Edition durch ADARs. a Die Zeichnung verdeutlicht, dass ADARs an verschiedenen doppelsträngigen Stellen der RNA einwirken können (5’- und 3’-UTRs, Exons oder Introns). Eine Sequenz, die komplementär zu einer ExonSequenz ist, ist grün dargestellt. b Als Beispiel der von den ADARs als Ziel erkannten Haarnadelstruktur wird die ent-
Editionsstelle besteht außer der spezifischen katalytischen Deaminase (die in diesem Fall als apobec-1 bezeichnet wird) noch aus einem Komplementationsfaktor (ACF, auch als Kompetenz- oder Stimulationsfaktor bezeichnet), der als ein Adapter-Protein zwischen der Deamidase und der RNA fungiert. Es ist bisher unklar, wie weit verbreitet RNAEditing wirklich ist und welche biologische Bedeutung ihm zukommt. Vielleicht sind Fälle, in denen biologische Konsequenzen einleuchten, hier aufschlussreich: Eine mRNA von Paramyxoviren (verantwortlich für Masern und Mumps) wird während der Transkription modifiziert. Das resultiert in einer Population unterschiedlicher viraler Proteine, die durch unterschiedliche, nicht im Genom kodierte Leseraster entstehen. Hierdurch könnte das Virus sich dem Immunsystem entziehen. Die Anzahl von bekannten Fällen von RNAEditing wächst ständig, und es bleibt abzuwarten, welche zusätzlichen Informationen hieraus noch verfügbar werden, die es uns gestatten, diesem Mechanismus seinen richtigen Platz in unserem Bild der Funktionen des Genoms zuzuweisen.
sprechende R / G-Stelle der GluR-B, -C und -D-Transkripte dargestellt. Die Identitäten der blauen Sequenzen sind hoch konserviert. Die mit einem roten Punkt markierten Stellen variieren jeweils so, dass ein nicht-gepaarter Zustand aufrechterhalten wird. (Nach Bass 2002)
! Durch RNA-Editing kann mRNA posttranskriptionell durch die kontrollierte Insertion von Nukleotiden in ihren kodierenden Eigenschaften gezielt verändert werden.
3.4 Translation Die Umsetzung der mRNA in die darin kodierten Proteine wird als Translation bezeichnet. In Prokaryoten beginnt die Translation noch während der Synthese der Messenger-RNA (Abb. 3.21). In Eukaryoten hingegen ist zunächst ein Transport der mRNA-Moleküle vom Kern ins Cytoplasma der Zelle erforderlich, da nur dort die Mechanismen zur Proteinsynthese verfügbar sind. Die Trennung des Ortes der Transkription vom Ort der Translation ist durch die Entstehung eines Zellkerns möglich geworden. Wahrscheinlich ist dieser Schritt entscheidend für die Evolution komplizierter Mehrzeller mit differenzier-
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Kapitel 3: Verwertung genetischer Informationen
Abb. 3.20. C→U-Edition der mRNA. Es wird das Modell einer ca. 35 Nukleotide umfassenden Region um die Editionsstelle (roter *) der ApoB-mRNA gezeigt. Die schematische Zeichnung deutet die apobec-1- (rot) und ACF- (blau) Proteine an. Sie binden unterhalb und oberhalb der zu editierenden Base. Weitere Proteine (grün) können den Zusammenbau des Komplexes beeinflussen. Beachte, dass die Stöchiometrie der apo-
bec-1- und ACF-Proteine in Bezug auf das aktive Protein unbekannt sind. Das Modell betont die Bedeutung beider cis-aktiven Elemente in der Umgebung der zu editierenden Base (die Anker-Sequenz ist fett gedruckt) sowie die Notwendigkeit einer optimalen Sekundärstruktur der mRNA, die durch Effizienz-Elemente an den 5’- bzw. 3’-Enden aufrechterhalten wird. (Nach Blanc u. Davidson 2003)
ten Zell- und Gewebefunktionen gewesen. Die räumliche und zeitliche Trennung von Transkription und Translation hat nämlich über die reine Kontrolle der Transkription eines Gens hinaus die Entstehung vielfacher zusätzlicher Regulationsmöglichkeiten für die Expression von Genen gestattet. Diese erweitern die Anpassungsfähigkeit einer Zelle an unterschiedliche stoffwechselphysiologische Bedingungen beträchtlich. Verschiedene solcher Regulationsmechanismen werden im Zusammenhang mit der Struktur und Funktion einzelner Gene erörtert werden. An dieser Stelle sollen nur die Grundereignisse während der Translation von mRNA in Proteine dargestellt werden. Die Übersetzung der Nukleotidsequenz eines mRNA-Moleküls in die Aminosäuresequenz eines Polypeptids erfolgt an den Ribosomen. Ribosomen
sind cytoplasmatische Partikel aus rRNA und Protein, sie dienen als Werkzeuge für die Translationsmaschinerie und sorgen dafür, dass die erforderlichen sterischen molekularen Konfigurationen für die mRNA-Ablesung und Proteinsynthese geschaffen werden (s. S. 291). Für die Umsetzung der Nukleotidsequenz in eine Proteinsequenz sind • Transfer-RNA-Moleküle, beladen mit den jeweils spezifischen Aminosäuren (Aminoacyl-tRNA), • verschiedene Translations-Elongationsfaktoren, • Guanosintriphosphat (GTP) als Energielieferant und • das Enzym Peptidyltransferase erforderlich.
3.4 Translation TψC-Schleife
Acceptorstamm 5'-Ende
3'-Acceptorende
D-Schleife
variable Schleife
Anticodon AnticodonSchleife
Abb. 3.21. Aktives Gen von Escherichia coli. Elektronenmikroskopische Darstellung nach Miller-Spreitung. Erkennbar ist die gekoppelte Transkription und Translation eines nicht identifizierten Operons. An den wachsenden Transkripten sind die Ribosomen erkennbar. Vergleiche mit der Transkription von eukaryotischen Genen im Kapitelphoto 8. (Aus Miller et al. 1970)
! Die Proteinsynthese in Prokaryoten erfolgt am
wachsenden mRNA-Molekül am Chromosom, während sie in Eukaryoten an der mRNA in den cytoplasmatischen Ribosomen abläuft. Sie benötigt in beiden Fällen neben den Ribosomen mit Aminosäuren beladene tRNA (Aminoacyl-tRNA), Elongationsfaktoren, Peptidyltransferase und eine Energiequelle (GTP).
Als Voraussetzung für die Proteinsynthese muss zunächst die Transfer-RNA für ihre Aufgabe vorbereitet werden. Die tRNA ist ein strukturelles RNAMolekül (Abb. 3.22), dessen Aufgabe es ist, die Codons der mRNA zu erkennen und in die entsprechenden Aminosäuren umzusetzen. Das geschieht
Abb. 3.22. Sterisches Modell der tRNA. Die verschiedenen Regionen mit Basenpaarung formen in der dreidimensionalen Struktur eine L-förmige Konfiguration. In der Mitte liegt eine scharnierartige Region, die Beweglichkeit der Arme des Moleküls gegeneinander ermöglicht. (Nach Kim et al. 1974)
mit Hilfe des Anticodons in der tRNA, einer Region aus drei Nukleotiden, die die zu einem Codon komplementären Basen besitzt. Durch Basenpaarung mit einem Codon in der mRNA kann sich das aminosäurebeladene tRNA-Molekül (Aminoacyl-tRNA genannt) am Ribosom an den mRNA-Strang binden und dadurch für den Einbau der vorprogrammierten Aminosäure in die wachsende Peptidkette sorgen. Hierzu ist es natürlich erforderlich, dass die tRNA die richtige Aminosäure verfügbar hat. Die Beladung der tRNA mit den Aminosäuren erfolgt durch sogenannte Aminoacyl-tRNA-Synthetasen. AminoacyltRNA-Synthetasen sind Enzyme, die die dem jeweiligen Anticodon zugeordneten Aminosäuren mittels einer Esterbindung an das 3′-Ende des tRNA-Moleküls binden. Die Art dieser Bindung ist für alle tRNAs
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Kapitel 3: Verwertung genetischer Informationen
identisch, da die letzten drei Nukleotide am 3′-Ende jeder tRNA einheitlich die Sequenz CCA-OH 3′ haben. Die Bindung erfolgt zwischen der 2′-Hydroxylgruppe der Ribose, in einigen Fällen auch mit der 3′-OH-Gruppe des terminalen Adenosins und der Carboxylgruppe der zugehörigen Aminosäure. Die Bindung der Aminosäuren an die zugehörigen tRNAs erfolgt mit sehr hoher Spezifität. Eine solche hohe Spezifität ist erforderlich, um den Einbau falscher Aminosäuren in die Polypeptidketten zu verhindern. Diese Beladung mit der Aminosäure erfolgt über eine Phosphodiesterbindung mit der Ribose des 3′terminalen Adenosins (Abb. 3.23). Erforderlich ist hierzu ein Enzym, das Aminoacyl-tRNA-Synthetase genannt wird. Dieses Enzym bindet zunächst unter Bildung einer Peptidbindung zwischen der Carboxylgruppe einer Aminosäure und dem α-Phosphat von ATP die zugehörige Aminosäure und fügt diese dann mit ihrer Carboxylgruppe an die C2- oder C3-Hydroxylgruppe der Ribose des 3′-terminalen Adenosins der tRNA. H
H
eine tRNA spezifizierten Aminosäuren durch eine Phosphodiesterbindung an die Ribose des 3′-terminalen Adenosins der tRNA gebunden.
Nach erfolgter Bindung wechselt die Position der Aminosäure zwischen beiden Hydroxylgruppen. Zur Bindung an die wachsende Polypeptidkette befindet sie sich jedoch am 3′-OH. Es gibt für jede der 20 Aminosäuren eine eigene Aminoacyl-tRNA-Synthetase, die ihrerseits befähigt ist,die Aminosäure auf alle durch die Degeneration des Codes erforderlichen zugehörigen Isoacceptor-tRNA-Moleküle zu übertragen. Die Aminoacyl-tRNA-Synthetase muss daher einerseits eine hohe Spezifität für eine bestimmte Aminosäure besitzen, andererseits aber auch die unterschiedlichen zugehörigen tRNAs exakt identifizieren können. Bei den geringfügigen molekularen Unterschieden zwischen den tRNA-Molekülen ist das H
O
+
+
H–N–C–C H
! Mit Hilfe von tRNA-Synthetasen werden die durch
Adenosin
–P–P–P
H
H
OH OH
O +
H–N–C–C
O–
H
H
+
O – P – Adenosin H2C
O Adenin
Cytosin H
H
+
H
O
+
H–N–C–C H
H
O
H2C
H
OH
O
H–N–C–C OH O H H
O Adenin
H2C
O Adenin
Cytosin
Cytosin
Cytosin
Cytosin
Abb. 3.23. Beladung von tRNA mit Aminosäuren. Nach Aktivierung der Aminosäure durch ATP bindet die Aminosäure an die 3′-OH-Gruppe des 3′-terminalen A. Es besteht im Folgen-
Cytosin
den ein Gleichgewicht zwischen der Bindung an die 2′- oder 3′-OH-Gruppe. Zur Übertragung auf die wachsende Peptidkette am Ribosom befindet sich die Aminosäure stets am C3
3.4 Translation
eine erstaunliche Leistung des Enzyms. Wahrscheinlich bindet das Protein vor allem im „Scharnierbereich“ der tRNA und erkennt sterische Unterschiede im Inneren des L-förmigen Moleküls. Wir begegnen solch hoher Spezifität von Nukleinsäure-Protein-Interaktionen, wenn wir die Funktion des λ-Repressors betrachten (s. S. 154) und in Zusammenhang mit der Regulation der Transkription der 5S-rRNA (s. S. 78).
Es verdient hierbei noch erwähnt zu werden, dass die verschiedenen Codons für eine bestimmte Aminosäure in unterschiedlichen Organismen unterschiedlich häufig verwendet werden. Man spricht dann von einer bestimmten Codonpräferenz. Ob sie eine funktionelle Bedeutung hat oder rein evolutionär bedingt ist, ist nicht bekannt. ! Die Bindung der Aminosäuren an die zugehöri-
! Für jede Aminosäure gibt es nur eine Aminoacyl-
tRNA-Synthetase, die die Aminosäure an eine der zugehörigen tRNAs bindet.
Bei der Besprechung des genetischen Codes wurde bereits deutlich, dass zur Proteinsynthese nur 20 Aminosäuren zur Verfügung stehen. Aus 4 verschiedenen Nukleotiden (A, G, C, U) lassen sich jedoch in einem Triplettcode insgesamt 43=64 verschiedene Kombinationen ableiten. Nur drei dieser Basenkombinationen (UAG, UAA, UGA) werden für die Kennzeichnung des Abbruchs (der Termination) (engl. punctuation) der Translation verwendet. Alle übrigen Codons kodieren bestimmte Aminosäuren (Tabelle 3.1). Daher müssen verschiedene Aminosäuren mehreren unterschiedlichen Codons zugeordnet sein. Diese Erscheinung wurde bereits als Degeneration des genetischen Codes besprochen (s. S. 64). Jede der 20 Aminosäuren (Tabelle 3.2) erfordert für ihre Bindung an tRNA eine spezifische Aminoacyl-tRNA-Synthetase. Es gibt, im Gegensatz zu den 61 verschiedenen Aminosäurecodons (Tabelle 3.1), nur etwa 50 verschiedene tRNAs in Eukaryoten (in E. coli nur 30 bis 40). Jede dieser tRNAs weist eine hohe Spezifität für eine bestimmte Aminosäure auf, vermag jedoch unterschiedliche Codons, die einer Aminosäure zugeordnet sind, zu erkennen. Ein wichtiger Grund für diese Fähigkeit, mehr als ein Codon zu erkennen, liegt in der Tatsache, dass die meisten Codons für eine bestimmte Aminosäure sich nur im dritten Buchstaben des Codons unterscheiden. Nach der Wobble-Hypothese spielt dieser dritte Buchstabe für die Erkennungspezifität eine geringere Rolle als die ersten beiden Buchstaben des Tripletts (s. S. 64). In den übrigen Fällen der Kodierung von Aminosäuren durch unterschiedliche Codons mit abweichenden Tripletts gibt es mehrere tRNAs, sogenannte Isoakzeptor-tRNAs (engl. isoacceptor tRNAs), für eine Aminosäure.
gen tRNAs erfolgt für jede Aminosäure durch eine spezielle Aminoacyl-tRNA-Synthetase.
Im Ablauf der Translation müssen wir drei Stufen unterscheiden: • die Initiation der Translation, • die Elongation der Peptidkette und • die Termination. Diese drei Stufen sollen in den folgenden Abschnitten nacheinander betrachtet werden.
3.4.1 Initiation Als Initiation der Translation bezeichnet man die Bindung der ersten Aminosäure eines Polypeptids mit Hilfe der mRNA am Ribosom. Für eine erfolgreiche Initiation der Translation ist zunächst die Bindung der mRNA an ein Ribosom (s.Abb. 3.24 und 3.25) notwendig. Bei Prokaryoten (E. coli) erfolgt das an einer purinreichen Sequenz,die 8 bis 12 Nukleotide vor dem Initiationscodon AUG liegt. Diese Sequenz, die von J. Shine und L. Dalgarno (1974) identifiziert und daher auch Shine-Dalgarno-Sequenz genannt wird, findet eine komplementäre homologe Region am Ende der kleinen (16S) ribosomalen RNA, die sich in der kleinen (30S) Untereinheit des Ribosoms befindet (s. S. 292). In der rRNA enthält diese Sequenz stets die Nukleotide CCUCC (Abb. 3.25). Zunächst lagern sich die Translations-Initiationsfaktoren IF1, IF2 und IF3 sowie ein Guanosintriphophat (GTP) der 30S-ribosomalen Untereinheit an. Danach kann die mRNA mit ihrer Shine-Dalgarno-Sequenz sowie ein fMet-tRNAMolekül (Formyl-Methionin-tRNA) an die 30S-Untereinheit des Ribosoms gebunden werden (Abb. 3.24 und 3.25). Die fMet-tRNA ist bei Prokaryoten für den Beginn der Proteinsynthese am AUG-Initiationscodon erforderlich. Bei der Bindung dieser verschiede-
93
Kapitel 3: Verwertung genetischer Informationen
30SUntereinheit
GTP IF3 IF2 IF1 3 2 1
2 16SKomplementär
3
1
AUG UCU 5'
Abb. 3.24. Initiation der Translation. Zunächst wird aus Initiationsfaktoren, der kleinen Untereinheit des Ribosoms, fMet-tRNA und der mRNA ein 30S-Initiationskomplex gebildet, der nunmehr unter Freisetzung der Initiationsfaktoren an die große Ribosomenuntereinheit bindet und hierdurch den 70S-Initiationskomplex formt. (Nach Watson et al. 1987) ▲
94
3' fMet
3
tRNA UA C
UAC 2 AUG UCU 5'
3' 30SInitiationskomplex
1
1 2
50SUntereinheit
P-Bindungsstelle
GTP + P
A-Bindungsstelle
fMet
nen Komponenten an die 30S-Untereinheit des Ribosoms wird der Initiationsfaktor IF3 freigesetzt, der durch seine Ladung zunächst die Zusammensetzung des funktionsfähigen Ribosoms („70S“) aus den 30Sund 50S-Untereinheiten verhindert hat. Nach seiner Entfernung vom 30S-Initiationskomplex kann nunmehr durch Anlagerung der 50S-Untereinheit ein funktionsfähiges Ribosom gebildet werden. Die erforderliche Energie wird durch Umsetzung des GTP in GDP und Phosphat gewonnen, gleichzeitig werden auch die beiden Initiationsfaktoren IF1 und IF2 freigesetzt. Das neu zusammengesetzte Ribosom besitzt zwei Bindungsstellen, die P-Bindungsstelle (Peptidylbindungsstelle) und die A-Bindungsstelle (Aminoacylbindungsstelle). Die fMet-tRNA befindet sich zunächst an der P-Bindungsstelle. Nach Knüpfen der Peptidbindung mit der Aminosäure der AminoacyltRNA an der A-Bindungsstelle wird die wachsende Peptidkette wieder an die P-Bindungsstelle verlagert (Abb. 3.26). Dieser Prozess verläuft in Eukaryoten im Prinzip ähnlich. Allerdings gibt es hier keine Shine-Dalgarno-Sequenz, sondern die Bindung der mRNA an die kleinere Ribosomenuntereinheit („40S“-Untereinheit) erfolgt mit Hilfe der CAAT- bzw. der TATABox der mRNA (Abb. 8.24). An der Initiation sind mehr Initiationsfaktoren beteiligt als in Prokaryoten. Bisher sind wenigstens fünf eukaryotische Initiationsfaktoren (eIFs) bekannt. Das Initiationscodon ist ebenfalls AUG, jedoch benutzen Eukaryoten ein Met-tRNA anstelle einer fMet-tRNA für die Initiation der Translation. ! Zur Initiation der Proteinsynthese erfolgt zu-
UAC AUG 5'
UCU A AA 3' 70SInitiationskomplex
nächst die Bindung eines Ribosoms an die Ribosomenbindungsstelle in der mRNA. Der eigentliche Beginn der Proteinsynthese erfolgt am Initiationscodon der mRNA unter der Mitwirkung von Initiationsfaktoren nach der Zusammensetzung des Ribosoms aus seinen beiden Untereinheiten.
3.4 Translation mRNA-Leader Initiationscodon
Shine-Dalgarno-Sequenz
5' – AUGUAC
UAAGGAGGU
UGU AUG
3' –
A UU C C U C C A
UAG
GAA CAA – 3' – 5'
16S-rRNA (3'-Ende)
Abb. 3.25. Funktion der Shine-Dalgarno-Sequenz bei der Bindung von mRNA am Ribosom. Durch eine Basenkomplementarität der Shine-Dalgarno-Sequenz mit einem Bereich nahe des 3′-Endes der 16S-rRNA wird eine kurze Doppelstrangregion kurz vor dem Initiationscodon in der mRNA
geformt. Diese Ribosomenbindungsstelle wird benötigt, um eine korrekte Positionierung des Initiationscodons am Ribosom zu gewährleisten. Bei Eukaryoten ist die Shine-DalgarnoSequenz nicht vorhanden, sondern Initiationsfaktoren übernehmen funktionell deren Aufgabe
CH3
CH3
S
S Peptidyltransferase
CH2 O=
CH2
H CH2
O=
C N C C O
H
H
CH2OH
H
H CH2 C N C C O CH2OH N C C O
H
H2N C C O O
U AC A UG 5'
H
O
AGA UCU
OH
Knüpfung der Peptidbindung
U AC A UG
GG U 3'
5'
O
AGA UCU
GG U 3'
Abb. 3.26. Knüpfung der Peptidbindung während der Translation. Die Peptidyltransferase verknüpft die Carboxylgruppe der letzten Aminosäure der wachsenden, in der P-Bindungsstelle befindlichen Peptidkette mit der Aminogruppe der Aminosäure der in der A-Bindungsstelle befindlichen Aminoacyl-tRNA. Die wachsende Peptidkette wird dabei in
die A-Bindungsstelle verschoben und die tRNA in der P-Bindungsstelle wird freigesetzt. Die tRNA mit der wachsenden Peptidkette wird nunmehr in den P-site verschoben, so dass in der A-Bindungsstelle eine neue, durch das nächste Codon der mRNA festgelegte Aminoacyl-tRNA binden kann. (Nach Watson et al. 1987)
Sowohl die Ribosomen als auch die Initiationsfaktoren können in Prokaryoten und Eukaryoten für weitere Translationsinitiationsereignisse wiederbenutzt werden. Eine Initiation der Translation kann an einem mRNA-Molekül wiederholt erfolgen, noch bevor die Synthese eines zuvor initiierten Polypepti-
des beendet ist. Es entstehen dadurch die Polyribosomen oder Polysomen, bei denen mehrere Ribosomen mit daran wachsenden Polypeptidketten an einer einzigen mRNA gebunden sind. Die Anzahl von Ribosomen, die in einem Polysom verbunden sein können, sind von der Länge der mRNA-Moleküle
95
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Kapitel 3: Verwertung genetischer Informationen
3.4.2 Elongation
Abb. 3.27. Polysomenkette aus Speicheldrüsen von Chironomus tentans. Es handelt sich um eine besonders große mRNA, die in Balbiani-Ringen der Riesenchromosomen synthetisiert wird und für Proteine im Speichel der Larven kodiert. Die einzelnen Ribosomen und ihre Untereinheiten mit den wachsenden Proteinketten sind zu erkennen. Der Markierungsbalken entspricht einer Länge von 2 µm. (Aus Franke et al. 1982)
abhängig und schwanken zwischen etwa 5 Ribosomen an kurzen mRNA-Molekülen wie etwa an den Globin-mRNAs in Retikulocyten bis zu 50 Ribosomen in besonders großen mRNA-Molekülen. Die mittlere Größe von Polysomen liegt bei etwa 10 Ribosomen. Sie sind an mRNA-Molekülen von etwa 1000 bis 1500 Nukleotiden Länge zu finden. Polysomen sind bei Eukaryoten im Allgemeinen am rauhen endoplasmatischen Retikulum (ER) gebunden, das hierdurch seinen Namen erhalten hat. Sie können elektronenmikroskopisch aufgrund ihrer Größe leicht dargestellt werden (Abb. 3.27).
Die Verlängerung der Polypeptidkette während ihrer Synthese am Ribosom bezeichnet man als Elongation (Abb. 3.28). Unter Beteiligung zweier Elongationsfaktoren, EF-Tu und EF-Ts, formt die nächstfolgende Aminoacyl-tRNA einen Komplex, der aus der Aminoacyl-tRNA selbst, dem Elongationsfaktor EF-Tu und einem GTP-Molekül besteht. Dieser Komplex bindet aufgrund der Basenpaarung zwischen dem Codon der mRNA und dem Anticodon der Aminoacyl-tRNA im freien A-Bindungsplatz am Ribosom. Die beiden in den A- und P-Bildungsstellen befindlichen, nunmehr benachbarten Aminosäuren können mit Hilfe einer Peptidyltransferase durch eine Peptidbindung miteinander verknüpft werden: Das Peptid ist um eine Aminosäure verlängert. Gleichzeitig wird die Aminosäure vom ersten tRNA-Molekül freigesetzt, so dass dieses nunmehr als unbeladene tRNA vorliegt und sich vom P-Bindungsplatz ablöst. Mit Hilfe eines weiteren Elongationsfaktors, EF-G, wird anschließend die Peptidyl-tRNA des A-Bindungsplatzes auf den P-Bindungsplatz verschoben (daher der Name P-Bindungsplatz) und das nächstfolgende Codon steht im nunmehr freien A-Bindungsplatz für die Reaktion mit dem Anticodon des nächsten Aminoacyl-tRNA-EF-Tu-Komplexes zur Verfügung. Auch die in diesen Reaktionen verwendeten Elongationsfaktoren werden in der Zelle wiederverwendet. ! Für das Wachsen einer Peptidkette am Ribosom
sind Elongationsfaktoren und eine Peptidyltransferase erforderlich, die die Anlagerung der nächsten Aminoacyl-tRNA ans Ribosom und die Verknüpfung der Aminosäuren durch Peptidbindungen kontrollieren.
3.4.3 Termination Den Abbruch der Synthese einer Polypeptidkette am Ribosom bezeichnet man als Termination. Die Elongation der wachsenden Peptidkette wird in der zuvor beschriebenen Weise fortgesetzt, bis eines der drei Terminations- oder Stoppcodons (UAG, UAA oder UGA) in der mRNA erreicht wird. Diese werden von einem Terminationsfaktor (engl. release factor) erkannt, der für den Abbruch der Peptidsynthese und
3.4 Translation EF-Ts GDP
EF-Tu
EF-Tu GDP
GTP
Ser
EF-Tu
Bindung von AminoacyltRNA an der A-Bindungsstelle
GTP
Peptidtransferase
P
fMet
Ser
AGA
EF-Ts fMet
GTP U AC A UG
AGA
Ser
–P Bindungsstelle –A U AC A UG
UCU
AGA UCU
mRNA
Knüpfen der Peptidbindung
Translokation Ser fMet
fMet
AGA UCU
U AC A UG
Ser
AGA UCU
UAC EF-G-GTP Komplex
EF-G
GDP + P
Abb. 3.28. Der Translationsmechanismus. Die Proteinsynthese an den Ribosomen ist ein komplexer Vorgang, der viele verschiedene Komponenten beansprucht. Nach der Bildung des Initiationskomplexes (Abb. 3.24) befindet sich die fMet-tRNA in der P-Bindungsstelle. Nach der Bindung von Elongationsfaktoren bindet die folgende Aminoacyl-tRNA an
+ GTP
die freie A-Bindungsstelle. Nach Bildung der Peptidbindung (Abb. 3.26) wird die wachsende Peptidkette von der A-Bindungsstelle in die P-Bindungsstelle verschoben, so dass die Bindungsstelle für die Bindung einer neuen Aminoacyl-tRNA und damit für die Bildung der nächsten Peptidbindung frei wird. (Nach Watson et al. 1987)
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Kapitel 3: Verwertung genetischer Informationen
die Freisetzung des Polypeptids sorgt und zu einem Zerfall des Ribosoms in seine Untereinheiten und damit zur Ablösung der mRNA führt. In E. coli sind drei Terminationsfaktoren, RF1, RF2 und RF3, bekannt. Während RF1 die Terminationscodons UAA und UAG erkennt, kann RF2 an UAA und UGA terminieren. RF3 ist zusätzlich zur Funktion der beiden anderen Terminationsfaktoren erforderlich. In Eukaryoten ist der Vorgang der Termination weniger gut untersucht und die Anzahl beteiligter Faktoren ist unbekannt. ! Die Termination einer Polypeptidkette erfolgt am
Stoppcodon der mRNA. Hierbei sind Terminationsfaktoren beteiligt.
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Kernaussagen
▬ Die genetische Information wird in der DNA durch die Reihenfolge von vier verschiedenen organischen Basen festgelegt. ▬ Die genetische Information eines Gens ist in einem Strang der DNA im Allgemeinen als Code aus vier Basen für die Synthese eines bestimmten Proteins niedergelegt. ▬ Die genetische Information wird bei Eukaryoten von der DNA mittels eines an ihr synthetisierten komplementären Messenger-RNA-Moleküls (Transkription) ins Cytoplasma übertragen. ▬ Im Cytoplasma erfolgt an den Ribosomen nach der in der mRNA festgelegten Reihenfolge die Polymerisierung der Aminosäuren zu Polypeptiden (Translation). Hierfür sind aminosäurebeladene Transfer-RNA-Moleküle notwendig. ▬ Die Aufklärung des genetischen Codes und seiner grundlegenden Eigenschaften erfolgte unter Verwendung unterschiedlicher Methoden der Biochemie (z. B. Ribosomenbindungsstudien, Synthesen von Oligonukleotiden) und der Genetik (Mutagenese). ▬ Transkription dient der Übertragung der genetischen Information auf den Stoffwechsel der Zelle. An der Transkription sind neben der RNA-Polymerase mehrere Proteinfaktoren für die Initiation und Termination beteiligt. ▬ Translation dient der Übertragung der genetischen Information in Proteinmoleküle. Sie erfolgt an den Ribosomen, die sich bei Prokaryoten an der wachsenden RNA, bei Eukaryoten am endoplasmatischen Retikulum des Cytoplasmas befinden. Sie erfordert neben der aminosäurebeladenen tRNA eine große Anzahl zusätzlicher Proteine, die für die Initiation, Elongation und Termination der Synthese von Proteinen sorgen.
Technik-Box
Technik-Box 4
Polymerasekettenreaktion (PCR) Anwendung: Vermehrung (Amplifikation) eines bestimmten Nukleinsäurebereichs, der durch zwei Oligonukleotide begrenzt wird. Voraussetzungen · Materialien: Die PCR (engl. polymerase chain reaction) beruht auf der Fähigkeit von DNAPolymerasen einiger Organismen (z. B. Thermus aquaticus, Abk. Taq), Temperaturen von rd. 100 oC auszuhalten. Damit ist es möglich, nach dem Aufschmelzen doppelsträngiger DNA mit Hilfe zweier spezifischer Oligonukleotidprimer ein definiertes Fragment zu synthetisieren. Durch die zyklische Wiederholung von Aufschmelzen und
Synthese wird eine exponentielle Amplifikation des gewünschten Fragments ermöglicht, so dass mit extrem kleinen Mengen gearbeitet werden kann. Voraussetzung ist die Kenntnis der Bindesequenz für die Primer; die Sequenz des Bereichs zwischen den Primern kann dabei unbekannt sein. Methode: Der Reaktionsansatz enthält die DNA-Matrize (i.d.R. entweder genomische DNA oder cDNA), die hitzestabile DNA-Polymerase, die zwei spezifischen Primer sowie alle vier Desoxynukleotidtriphosphate in einem geeigneten Puffer. Das übliche Schema
(siehe auch Abbildung) sieht wie folgt aus: • Zunächst wird durch Erhitzen auf 95 oC die DNA aufgeschmolzen (30 s); • Durch Abkühlen auf die berechnete Bindungstemperatur der Oligonukleotidprimer (i.d.R. zwischen 45 und 60 oC) wird eine spezifische, komplementäre Bindung der Primer an die Matrize ermöglicht (30 s); • Die DNA-Polymerase startet bei einer Temperatur von 72oC und verlängert den Primer in 5’→3’-Orientierung (ca. 1 min pro 1000 bp); • durch Erhitzen auf 95 oC (30 s) wird die Reaktion gestoppt und die beiden DNA-Stränge wieder getrennt.
Die schematische Darstellung der PCR beginnt im Zentrum mit dem Aufschmelzen der DNA und der anschließenden spezifischen Anlagerung der Primer an ihren jeweiligen Gegenstrang. Nach der Bindung der Primer startet die hitzestabile DNA-Polymerase. Der neue Zyklus beginnt mit dem erneuten Aufschmelzen der DNA. Bei n Zyklen führt dies zu einer 2n-fachen Vermehrung eines DNA-Fragments, dessen Enden durch die jeweiligen Primer definiert werden. (Folienserie des Fonds der Chemischen Industrie: Biotechnologie/Gentechnik, 1996).
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Kapitel 3: Verwertung genetischer Informationen
Technik-Box 4
Polymerasekettenreaktion (PCR) (Fortsetzung) Man kann diesen Synthesezyklus viele Male wiederholen (i. d. R. 25–40-mal) und erhält auf diese Weise große Mengen identischer Doppelstrangmoleküle, die durch die beiden Primer begrenzt sind. Besonders vorteilhaft an dieser Methode ist die Hitzestabilität der Taq-Polymerase; dadurch können die aufeinander folgenden Denaturierungs- und Hybridisierungsschritte einander abwechseln, ohne dass zwischendurch neues Enzym beigefügt werden muss oder dass Reinigungsschritte erforderlich sind. Die PCR kann für eine große Anzahl unterschiedlicher Aufgaben in der Molekulargenetik eingesetzt werden, z. B.: • Größenbestimmung der Fragmente in der Gelelektrophorese (TechnikBox 3);
• Sequenzierung des Fragments (hier ist zunächst die Abtrennung der beiden Primer notwendig, da sonst die Sequenzierreaktion gleichzeitig an beiden Seiten startet; TechnikBox 15); • Klonierung des Fragments (besonders beliebt sind dabei Vektorsysteme, die mit Hilfe einer DNA-Topoisomerase eine direkte Klonierung des PCR-Fragments ermöglichen, ohne dass vorher eine Bearbeitung mit Restriktionsenzymen erfolgt; Technik-Box 8). Die PCR bietet eine Reihe von Variationsmöglichkeiten. In der Regel kann sie nicht dazu verwendet werden, quantitative Aussagen über die Menge der Matrize zu machen, da durch die
Vielzahl der Amplifikationsschritte die Unterschiede verwischt werden. Eine Möglichkeit ist jedoch die sog. „RealTime-PCR“: Dabei wird die Bildung des entstehenden PCR-Produkts während der Synthese gemessen, was z. B. durch die Verwendung von Farbstoffen möglich ist, die nur an doppelsträngige DNA binden. Die Real-TimePCR hat einen hohen Stellenwert bei der Bestätigung von Ergebnissen zur Untersuchung differenziell exprimierter Gene (z. B. aus Mikroarrays, Technik-Box 30). Diese Verfahren können jedoch nicht in den konventionellen PCR-Geräten durchgeführt werden.
Technik-Box
Technik-Box 5
Markierung von DNA: Nick Translation, Random Priming Anwendung: Markierung von DNA für Hybridisierungsexperimente. Methode: Die Markierung erfolgt entweder mit radioaktiven Isotopen (32P, 3H, 14C oder 35S) oder mit Nukleotiden, deren Basen mit Makromolekülen gekoppelt sind, welche einen immunologischen Nachweis (z. B. Digoxigenin = DIG mit Anti-DIG-Antikörpern) oder eine Komplexbildung mit anderen Makromolekülen (z. B. Biotin mit Avidin oder Streptavidin) zu ihrem Nachweis gestatten. Nick Translation. In doppelsträngiger DNA vorhandene Einzelstrangbrüche werden durch E.-coli-DNA-Polymerase I unter der Verwendung von markierten Nukleotidtriphosphaten in einer in-vitro-Reparaturreaktion aufgefüllt. DNA-Polymerase I entfernt aufgrund ihrer 5’→3’-Exonukleaseaktivität Nukleotide am freien 3’-Ende des DNAStranges an der Stelle des Einzel-
strangbruches und füllt den Einzelstrang gleichzeitig in 5’→3’-Richtung durch ihre Polymeraseaktivität replikativ auf, so dass markierte Nukleotide in die DNA eingefügt werden. Das Ausmaß der Markierung lässt sich durch den Einsatz von DNase I verändern, mit deren Hilfe eine geeignete Anzahl von Einzelstrangbrüchen in die DNA eingefügt werden kann. Durch Veränderung der DNase-I-Konzentration lässt sich das Ausmaß der DNaseI-Wirkung leicht kontrollieren. Random Priming. Eine höhere spezifische Aktivität der Markierung von DNA lässt sich durch Random Priming erzielen. Man macht hierbei von der Fähigkeit des Klenow-Fragments von E.-coli-DNA-Polymerase I Gebrauch, an geprimter Einzelstrang-DNA einen komplementären DNA-Strang in 5’-3’Richtung zu synthetisieren. Hierzu ist, wie für jede Replikation, ein Primer am neu zu synthetisierenden Strang
erforderlich. Als Primer verwendet man hierzu meist eine Mischung von Hexanukleotiden (bisweilen auch längere Oligonukleotide) mit einer zufälligen Basenfolge. Doppelsträngige DNA wird zunächst denaturiert. Nach einer Bindung dieser Oligonukleotide an die Einzelstrang-DNA in einer Bindungsreaktion (Annealing), die einer Hybridisierung gleicht, fügt man in einem in-vitro-System markierte Nukleotide und Klenow-Enzym zu. Das Enzym initiiert die DNA-Synthese an den Oligonukleotidprimern und synthetisiert unter Verwendung der markierten Nukleotide einen neuen DNA-Strang. Da die Primersequenzen aus zufälligen Nukleotidsequenzen bestehen, binden sie in genügend kurzen Abständen (ca. alle 0,5 bis 2 kb, je nach Primer) an die DNA, um eine vollständige Replikation aller DNABereiche zu garantieren.
Random Priming 5' 3'
3' 5'
denaturieren 5'
3'
3'
5'
Primer binden
Nick Translation 5' 3'
3' 5'
DNase I 5' 3'
3'
3'
5'
3' 5'
DNA-Polymerase I 5' 3'
5'
3' 5'
DNA-Polymerase I 5'
3'
3'
5'
DNA-Moleküle sind rot, die neu eingefügten Stränge und die Primer blau dargestellt. Die markierten Nukleotide sind durch blaue Kreise angegeben.
101
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Kapitel 3: Verwertung genetischer Informationen
Technik-Box 6
Isolierung von RNA, cDNA-Synthese und RACE Anwendung: cDNA ist Ausgangsmaterial einer Vielzahl genetischer Verfahren: Klonierung von cDNA-Fragmenten, Northern-Blot-Analyse, PCRAnalyse. Methode: Biologisch aktive RNA ist schwieriger zu präparieren als DNA, weil RNasen weit verbreitet (z. B. Hautoberfläche an Händen; endogene RNase im Gewebe) und schwer zu inaktivieren sind. Daher werden zur Präparation von RNA hoch erhitzte, sterile Glaswaren verwendet. Lösungen können auch mit Diethylpyrocarbonat (DEPC) versetzt werden (Inaktivierung von Enzymen durch Bindung an Histidin-Reste; Vorsicht: gesundheitsschädlich!). Vor Gebrauch muss aber das DEPC selbst durch Hitze inaktiviert werden, da es sonst auch die zugeführten Enzyme zerstört (zerfällt in Ethanol und CO2). Durch hohe Konzentrationen von Harnstoff, Guanidinhydrochlorid oder Guanidinisothiocyanat werden ebenfalls Proteine denaturiert. Weiterhin gibt es auch enzymatische RNase-Inhibitoren, die in hoher Konzentration aus Rinderlinsen isoliert werden (die Augenlinse braucht sehr langlebige mRNA!). RNA kann ähnlich wie DNA durch Phenolextraktion isoliert werden. Zur Isolierung von RNA aus Gewebe wird dieses zunächst in flüssigem Stickstoff schockgefroren (auch zur Vermeidung von RNase-Aktivitäten!), im Mörser zerrieben und in einem hochmolaren (4 M) Guanidinthioisocyanat-Puffer aufgetaut und homogenisiert. Das Homogenat wird mit 2 M Natriumacetat (pH 4) angesäuert und danach mit wassergesättigtem Phenol und Chloroform/Isoamylalkohol versetzt. Unter diesen Umständen ver-
bleibt die RNA in der wässrigen Phase, während Proteine und DNA in der organischen Phase verbleiben. Die RNA kann aus der oberen, wässrigen Phase abgenommen und mit Ethanol gefällt werden. Noch vorhandene DNA kann mit RNase-freier (!) DNase abgebaut werden. Für die spätere Herstellung von cDNA (engl. copy-DNA) wird die mRNA über das vorhandene 3’-Poly-A-Ende angereichert. Da die mRNA nur einen Anteil von 1–5 % der Gesamt-RNA ausmacht, ist ihre spezifische Anreicherung über eine Affinitätschromatographie mit immobilisiertem Oligo-dT notwendig (als Matrix wird Cellulose verwendet; die Länge beträgt etwa 20 – 50 Oligonukleotide). Bei hoher Salzkonzentration erfolgt eine spezifische Bindung über den Basenpaarungsmechanismus; mit niedriger Salzkonzentration kann die über ihr Poly-A-Ende gebundene mRNA wieder abgelöst und mit Ethanol gefällt werden. Auch zur cDNA-Synthese macht man sich die Besonderheit der mRNA mit ihrem Poly-A-Ende zunutze: Man benutzt ebenfalls Oligo-dT-Primer als Startstelle für die reverse Transkriptase, die dann in Anwesenheit aller vier dNTPs (Desoxynukleotid-Triphosphate) an der mRNA-Matrize einen komplementären Gegenstrang aus DNA aufbaut. Es entsteht ein DNA/RNA-Hybrid. Durch Zugabe von RNase H, DNA-Polymerase I und DNALigase (alle aus E. coli) wird der RNAStrang abgebaut und durch einen DNA-Strang ersetzt: Die RNase H erzeugt Lücken im RNA-Strang, die durch die DNA-Polymerase I aufgefüllt werden. Noch vorhandene RNAAbschnitte werden durch die 5’→3’
Exonuklease-Aktivität der DNA-Polymerase I abgebaut. Die einzelnen neu synthetisierten DNA-Abschnitte werden durch die DNA-Ligase verknüpft. Ein technisches Problem bei der Präparation von cDNA ist die Isolierung von vollständigen cDNAs, da einerseits mRNAs häufig unvollständig sind (durch natürliche oder experimentell verursachte Degradation), die cDNASynthese mit Reverser Transkriptase oft unvollständig verläuft und die Synthese des 2. Stranges der DNA das zurückgefaltete 3′-Ende des 1. Stranges als Primer benutzt. Infolgedessen fehlt in vielen cDNA-Klonen das 5′Ende der mRNA. Die Ermittlung dieses 5′-Endes der mRNA stößt häufig auf Schwierigkeiten. Eine Lösung bietet die RACE-Technik (Rapid Amplification of cDNA Ends). An das 3′-Ende des neusynthetisierten DNA-Einzelstranges fügt man mit terminaler Desoxynukleotidyltransferase einen Homopolymerschwanz (Poly[dC] oder Poly[dG]) an. Ein hierzu komplementärer Primer, der zusätzlich einen geeigneten Klonierungsadapter (Adapter 1) besitzt, (also Poly[dG] oder Poly[dC] mit einer am 5′-Ende gelegenen Restriktionsenzym-Schnittstelle) ermöglicht dann die Synthese des 2. DNA-Stranges mittels DNA-Polymerase. In einem weiteren Schritt wird anschließend die doppelsträngige cDNA durch PCR vermehrt. Als Primer dienen dazu ein Oligonukleotid aus einem bekannten internen Sequenzbereich der cDNA, das zusätzlich am 5′-Ende eine Adaptersequenz besitzt (Adapter 2), und ein weiterer Primer, der zum Adapter 1 komplementär ist. Die PCR-Produkte werden durch Gelelektrophorese nach Länge getrennt, und das gesuchte Produkt wird anschließend durch
Technik-Box
Technik-Box 6
Isolierung von RNA, cDNA-Synthese und RACE (Fortsetzung) einen Southernblot identifiziert. Die betreffende DNA kann aus dem Gel isoliert, aufgereinigt und mittels der terminalen Restriktionsschnittstellen in den Adaptoren kloniert werden. Diese ursprüngliche RACE-Technik hat jedoch verschiedene Nachteile. Einmal werden alle cDNA-Stränge, die mittels RT im ersten experimentellen Schritt synthetisiert werden, an ihrem 3′-Ende mit einem Homopolymerschwanz versehen, unabhängig davon, ob sie vollständige mRNAs repräsentieren oder nicht. Außerdem werden auch bei der Synthese des 2. DNAStranges häufig unvollständige Moleküle synthetisiert. Das führt dazu, dass viele der doppelsträngigen cDNA-Produkte an beiden Enden unvollständig sind. Man hat daher eine Reihe von Verbesserungen der RACE-Technik ausgearbeitet, von der hier die RLM-RACE (RNA ligase-mediated-RACE) (auch RLPCR – reverse ligation-mediated PCR – genannt) erwähnt wird. Bei dieser Methode besitzen nur solche PCR-Produkte einen Adapter am 3′-Ende, die das vollständige 5′-Ende der mRNA enthalten. Hierzu behandelt man in einem ersten Schritt die mRNA mit alkalischer Phosphatase (AP), die die 5′-Phosphatgruppen von degradierter RNA und von RNA ohne cap (d. h. rRNA, tRNA, 5S RNA usw.) entfernt. Es verbleibt eine Hydroxylgruppe am 5′Ende der RNA. Nach Inaktivierung der AP behandelt man die RNA mit TabakPyrophosphatase (TAP, tobacco acid pyrophosphatase), die die Anhydrid-
bindung in der 7-Methyl-Gppp-Kappe (s. Abb. 3.15) hydrolisiert. In dieser Reaktion werden mRNA-Moleküle mit cap in RNA-Moleküle mit einem 5′Phosphat überführt, an welches anschließend mittels T4-RNA-Ligase 5′-Adapter (Adapter 1) ligiert werden, während Moleküle mit einer freier 5′Hydroxylgruppe keine Ligation des Adapters zulassen. Die erhaltenen
5'
3'
5'
RNA-Moleküle werden anschließend mit einem geeigneten 3′-Primer (z. B. Oligo-dT, falls vollständige cDNAs gewünscht werden, oder mit anderen internen Primern, wenn das 3′-Ende bekannt ist) und einem Primer, der komplementär zum Adapter 1 ist, in cDNA umgesetzt. Auf diese Weise ist garantiert, dass man nur im 5′-Bereich vollständige mRNAs erfasst hat.
mRNA
3'
P AAAAAAAAAA
Adapter 1 (–) OH
TTTTTT 5'
3'
DNA-Synthese (1. Strang)
(Reverse Transkriptase) [Primer oligo [dT] ]
5'
3' Adapter 1 (–)
AAAAAA
Adapter 1 (+)
TTTTTT
3'
5'
DNA-Synthese (2. Strang)
PCR (Taq-Polymerase) [Adapter 1 (–)]
5'
3' Adapter 1 (–) TTTTTT
Adapter 1 (+) 3'
5' PCR (Taq-Polymerase) Adapter 2 (+)
5'
3' AAAAAA
Adapter 1 (–) Adapter 2 (+) 3'
5' PCR (Taq-Polymerase)
Cycling 5'
3'
[Adapter 1 (–) und Adapter 2 (+)] 3'
Adapter 1 (–)
Adapter 2 (–)
Adapter 1 (+)
Adapter 2 (+) 5'
103
Kapitel 3: Verwertung genetischer Informationen
Technik-Box 7
In-vitro-RNA-Synthese Anwendung: Gewinnung größerer Mengen einheitlicher, markierter RNA (z. B. zur in-situ-Hybridisierung, vgl. Technik-Box 24). Methode: Es gibt eine Reihe unterschiedlicher Verfahren zur in-vitroSynthese von RNA. Als Beispiel soll hier die Synthese mit Hilfe von T3oder T7-RNA-Polymerase erläutert werden. Beide Polymerasen werden von den gleichnamigen Bakteriophagen gewonnen. Sie initiieren die RNA-
Synthese an jeweils einer spezifischen Promotorsequenz in doppelsträngiger DNA. Die RNA-Synthese verläuft sehr effizient und gestattet die Herstellung großer Mengen von RNA. Erfolgt die Transkription in Gegenwart markierter Nukleotide, so lässt sich RNA sehr hoher spezifischer Aktivität gewinnen. Manche Klonierungsvektoren besitzen auf den beiden Seiten des Polylinkers T3- oder T7-Promotorregionen. Hierdurch wird es möglich, gezielt Transkripte jeweils nur des einen
BssH II T7
f1(+ )o
r ig in
pBluescript II KS +/–
CoIE1 ori
Z MCS Lac I L ac
Amp
104
Sac II Xma II Not I Xba I Spe I Bam HI Sma I Pst I EcoR I EcoR V Hind III Cla I SalI/HincII/AccI Xho I Dra II Apa I Kpn I
T3 BssH II
DNA-Stranges zu synthetisieren, so dass „sense-“ oder „antisense-RNA“ hergestellt werden kann (s. S. 67). Schneidet man die DNA vor der Transkription mit einem geeigneten Restriktionsenzym in der dem Promotor entgegengesetzten Polylinkerregion, so erfolgt die Transkription nur über die Länge des Inserts, nicht jedoch in die anschließende Vektorregion hinein.
Die Abbildung zeigt einen Teil des Vektors pBluescript KS (+/–) (Stratagene) (s. auch S. 135, Technik-Box 8) mit der Polylinker-Region. Diese Region enthält u.a. Promotorregionen für die RNA-Polymerasen T7 und T3, die gegenläufig am Rande der Polylinkerregion angeordnet sind. Das gestattet es, mit beiden RNA-Polymerasen gegenläufige DNA-Stränge zu transkribieren. Man kann die Transkription dadurch auf den Insert-Bereich begrenzen, dass man die Polylinkerregion mit einem geeigneten Restriktionsenzym hinter dem Insert (gesehen vom Promotor) schneidet. Die Polymerase fällt dann vom Template. Geeignet wäre z. B. ein Schnitt mit XhoI, wenn die Insertklonierung in der EcoRI-Schnittstelle erfolgt ist und mit T7-RNAPolymerase transkribiert wird.
Kapitel 4
Genome von Prokaryoten und ihren Viren
Rasterelektronenmikroskopische Aufnahme von Bakterien (Escherichia coli). (Photo: U. Schwarz, Tübingen)
106
Kapitel 4: Genome von Prokaryoten und ihren Viren
Überblick Ursprünglich nahm man an, dass Bakterien einfach ein DNA-Molekül als Chromosom besitzen. Erst allmählich hat es sich gezeigt, dass auch in Bakterien spezifische Proteine mit der DNA assoziiert sind und Bakterien daher „richtige“ Chromosomen besitzen. Die wesentlichen Grundzüge der molekularen Genstruktur und -funktion sind an Prokaryoten aufgeklärt worden. Neben Genen von Escherichia coli haben hierfür besonders extrachromosomale genetische Elemente,
4.1 Bakterien Bakterien (Archaebakterien und Eubakterien) sind einzellige Organismen ohne Zellkern. Sie sind die kleinste unabhängige Lebensform. Ihre doppelsträngige DNA ist im Allgemeinen ringförmig angeordnet und wird als „Bakterienchromosom“ bezeichnet. Bakterielle Genome schwanken in ihrer Größe erheblich: Das kleinste Bakterienchromosom von Mycoplasma genitalium umfasst 580 kb; das bisher größte sequenzierte Chromosom von Bakterien, Bradyrhizobium japonicum, enthält 9,1 Mb. Neben dem Chromosom besitzt die Bakterienzelle meist noch extrachromosomale DNA in Form von Plasmiden, die in unterschiedlicher Kopienzahl in der Zelle vorliegen und auf denen häufig Gene lokalisiert sind, die der Zelle zusätzliche Fähigkeiten vermitteln (siehe 4.2). Lange Zeit hat man einen grundsätzlichen Unterschied zwischen den Genomen von Pro- und Eukaryoten darin gesehen, dass Prokaryoten ihre Erbinformation als „reine“ Nukleinsäurestränge vorliegen haben, Eukaryoten hingegen „echte“ Chromosomen besitzen, die sich besonders durch die obligatorische Verpackung der DNA in chromosomalen Proteinen auszeichnen. Erst in den letzten Jahren hat man erkannt, dass auch die ringförmige DNA von E. coli mit chromosomalen Proteinen, die im Charakter den basischen Histonen der Eukaryoten entsprechen, und möglicherweise auch mit RNA assoziiert ist. Die DNA liegt in der E. coli-Zelle in der Form von schleifenförmigen (negativen) Supercoils (auch Superhelix genannt) vor. Es ist daher allgemein gebräuchlich geworden, auch bei Prokaryoten von Chromosomen zu sprechen, wenn wir uns auf deren Erbmaterial beziehen. Eine solche Nomenklatur ist durchaus
Plasmide genannt, und Bakteriophagen eine wichtige Rolle gespielt. Die Untersuchung der Bakterien- und Phagengene hat nicht nur den Schlüssel für den genetischen Code geliefert, sondern auch grundlegende Einsichten in die Feinstruktur und die Regulation von Genen im Stoffwechsel ergeben. Die Bakterien- und Phagengenetik ist daher eine wichtige Grundlage unseres heutigen Verständnisses der Molekulargenetik höherer Organismen.
sinnvoll, da keine grundsätzlichen Unterschiede zwischen der Art und Weise, in der die genetische Information festgelegt ist, bestehen. ! Das Genom von E. coli besteht aus einem einzigen
ringförmigen Chromosom, das mit basischen chromosomalen Proteinen in schleifenförmigen Superhelices angeordnet ist.
Angesichts der Haploidie von Bakterien war es ein unerwarteter Befund, als Joshua Lederberg und E. L. Tatum 1946 berichteten, dass sie bei Kreuzungen genetisch unterschiedlich markierter Stämme von E. coli abweichende neue Markerkombinationen in der Nachkommenschaft entdeckt hatten, die nur durch Rekombinationsereignisse erklärbar waren. Den Bericht dieser für die molekulare Genetik entscheidenden Beobachtung leiten die Autoren mit den Worten ein: „Hershey has reported the occurrence of novel combinations of inherited characters in a bacterial virus. It may not be amiss to describe briefly some experimental fragments relating to a situation in the bacterium Escherichia coli, which may be similar in some respects.“ Ausgangspunkt der Arbeiten von Lederberg und Tatum war die Möglichkeit, Mutationen in biochemischen Stoffwechselwegen bei E. coli durch ein sehr einfaches Verfahren zu untersuchen. Dieses Verfahren beruht auf der Beobachtung, dass man bestimmte Mutationen bei Wachstum von mutagenisierten Bakterienzellen auf geeigneten Nährböden leicht isolieren kann. Lässt man Bakterien auf einem sogenannten Minimalmedium wachsen,
4.1 Bakterien
das im Prinzip nur Salze enthält, so werden hier nur Zellen wachsen, die alle essentiellen Verbindungen selbst synthetisieren können. Man bezeichnet diese Art des Wachstums als prototroph. Mutanten, die essentielle Verbindungen aufgrund ihrer Genomveränderung nicht selbst produzieren können, werden nur auf einem Kulturmedium wachsen, das die betreffende Verbindung oder eine geeignete Vorstufe enthält, mit deren Hilfe die von der Zelle benötigten Endprodukte synthetisiert werden können. Man bezeichnet diese Art Wachstum als auxotroph. Lässt man verschiedene Stämme mit unterschiedlichen Mutationen gemischt auf Minimalmedium wachsen, so können durch das Medium die benötigten Wachstumsfaktoren ausgetauscht werden und Zellen als prototroph erscheinen, obwohl sie eigentlich auxotroph sind. In diesem Falle würde der prototrophe Zustand wieder aufgehoben, wenn man die einzelnen Zellen voneinander trennt und in sie einzeln in Kultur nimmt. Die Zellen erweisen sich dann als auxotroph. Lederberg und Tatum fanden jedoch in derartigen Experimenten, dass nach Kokultivierung von Zellen, deren einer Typ Biotin (B) und Methionin (M) zum Wachstum erforderte (Konstitution: B–M–P+T+), der andere Prolin (P) und Threonin (T) (Konstitution: B+M+P–T–), mit unerwarteter Häufigkeit prototrophe Kolonien auftraten. Isolierte man aus solchen prototrophen Zellkolonien Einzelzellen und testete sie auf ihre genetische Konstitution, so erwiesen auch sie sich als prototroph (Konstitution also: B+M+P+T+). Diese Konstitution konnte nur als das Ergebnis eines Rekombinationsvorganges angesehen werden, dessen Basis zunächst noch unverstanden war. Nichtsdestoweniger war damit der Weg für eine genetische Kartierung des E. coli-Genoms durch Rekombination bereitet. Bereits ein Jahr später publizierte Lederberg eine erste, vorläufige genetische Karte des E. coli-Chromosoms, die acht Gene enthielt. Er bewies damit, dass das genetische Material von Bakterien in einer den Kopplungsgruppen höherer Organismen ähnlichen Weise linear auf dem Chromosom angeordnet ist. („It was found that genetic markers behaved as if they were part of a system of linked genes. Some evidence for linear order of genes was obtained“, Lederberg 1947.)
! Auch bei haploiden Bakterien wird Rekombination von Markergenen beobachtet, die offenbar zwischen Zellen unterschiedlicher genetischer Konstitution ausgetauscht werden können. Durch solche Rekombinationsereignisse kann das Bakteriengenom genetisch in analoger Weise wie das diploide Eukaryotengenom kartiert werden.
Die nächste Chromosomenkarte aus dem Jahr 1964 enthielt 99 kartierte Gene, 1983 waren es 881 und 1988 1.027. Seit 1997 ist das Genom von E. coli (Stamm K12) vollständig sequenziert. Wir wissen, dass es 4,6 Mb umfasst und 4288 Gene enthält, die für Proteine kodieren. Dazu kommen 7 rRNA-Gene und 86 tRNA-Gene. Der Abstand zwischen zwei Genen beträgt nur ca. 100 bp. Die kodierenden Informationen liegen bei E. coli auf beiden DNA-Strängen, so dass die DNA sowohl im Uhrzeigersinn als auch im Gegenuhrzeigersinn transkribiert wird. Die alte Genkarte wird in Form einer Uhr dargestellt und in Einheiten von 0 bis 100 Minuten unterteilt (Erläuterung dazu siehe 4.2, Abb. 4.5 und erläuternden Text); als willkürlicher Nullpunkt wurde das thr-Gen festgelegt (Abb. 4.1). Die in der Datenbank niedergelegte Sequenz des E. coli-Chromosoms (Blattner et al. 1997) startet im Prinzip an derselben Stelle. Das 1. Basenpaar befindet sich in der Region zwischen den Genen lasT und thrL. Die Start- und Endpunkte der Replikation unterteilen das Genom in zwei Hälften, die als „Replichore“ bezeichnet werden. Das Replichor I wird im Uhrzeigersinn repliziert und enthält den in der Sequenz angegebenen Strang als leading-Strang, im Replichor II ist das der Gegenstrang. Viele Gene von E. coli sind in derselben Richtung angeordnet, in der auch die Replikation voranschreitet: Alle 7 rRNAGene und 53 der 86 tRNA-Gene werden in Richtung ihrer Replikation exprimiert. Das gilt aber nur für 55 % aller Protein-kodierenden Gene. Durch die Sequenzierung wurden einige bis dahin unbekannte Gene entdeckt, z. B. 7 neue tRNA-Gene und Gene für den Abbau aromatischer Verbindungen. Zusätzlich wurden 30 offene Leserahmen (engl. open reading frame, ORF) identifiziert, deren Funktion zunächst unklar blieb. Insgesamt kodieren die offenen Leserahmen im Durchschnitt für 317 Aminosäuren. 4 ORFs davon kodieren allerdings für 1500 bis 1700 Aminosäuren, aber 381 für Proteine, die kleiner als 100 Aminosäuren sind. Protein-kodierende
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Kapitel 4: Genome von Prokaryoten und ihren Viren
Abb. 4.1a–c. Kartierung des Genoms von E. coli durch F-Duktion. a Chromosomenkarte von E. coli mit wichtigen Markergenen. Verschiedene Hfr- Stämme transferieren das E. coliGenom nicht nur von unterschiedlichen Insertionsstellen (s. Abb. 4.2) aus, sondern auch in unterschiedlicher Richtung (Pfeile). b Detaillierte Karte von E. coli mit der Angabe unterschiedlicher Plasmidinsertionsstellen (gestrichelte Linien) und der Richtungsangabe des Transfers (Pfeilrichtung). Die Zahlen im Inneren geben die Zeit an (Minutenkarte), die bei Transfer ab dem (willkürlich vereinbarten) Nullpunkt verstreichen muss, um das betreffende Gen in die Empfängerzelle zu übertragen. c Allgemeine Darstellung des E.-coli-Genoms. Die Start- und Endpunkte der DNA-Replikation, Origin bzw. Terminus, sind durch eine grüne Linie verbunden; blaue Pfeile außen geben die Replikationsrichtung der beiden Replichore an. Eine Skala zeigt die Koordinaten sowohl in Basenpaaren als auch in Minuten an. Die Verteilung der Gene ist in den nächsten Ringen
angedeutet: Die orangenfarbenen Gene liegen auf dem Strang, der in der Sequenz der Datenbank angegeben ist; die gelben Gene liegen auf dem Gegenstrang. Die roten Pfeile zeigen den Ort und die Transkriptionsrichtung von rRNA-Genen. Die tRNA Gene sind als grüne Pfeile angegeben. Der nächste Kreis illustriert die Lage repetitiver Sequenzen. Die zentrale „Sonne“ im Zentrum der Abbildung ist eine Darstellung der inversen CAIWerte (engl. codon adaptation index, CAI; inverser CAI: 1-CAI). Lange gelbe Strahlen weisen auf einen niedrigen CAI-Wert hin und damit auf eine niedrige Genexpression. Diese Gene sind möglicherweise über horizontalen Gentransfer von E. coli aufgenommen worden und der niedrige CAI-Wert spiegelt noch den optimalen Codon-Gebrauch des früheren Wirts wider. Die CAI-Graphik ist umschlossen von einem Ring, der Ähnlichkeiten mit früher beschriebenen Proteinen von Bakteriophagen darstellt. (b: nach Bachmann u. Low 1980, c: nach Blattner et al. 1997)
4.1 Bakterien
Gene repräsentieren etwa 87,8 % des Genoms, 0,8 % kodieren für stabile RNAs und 0,7 % enthalten nichtkodierende Wiederholungssequenzen. 11% des Genoms werden regulatorischen und anderen Funktionen zugeordnet. Die Sequenzierung deckte auch frühere evolutionäre Prozesse auf, indem einigen Abschnitten mehr oder weniger gut erhaltene „Überreste“ von Phagengenen zugeordnet werden konnten. Die Sequenzierung des Genoms von E. coli, die insgesamt etwa 6 Jahre in Anspruch genommen hatte, ist allerdings erst der Anfang zum detaillierten Verständnis der Funktion dieses Genoms. Eine Auswahl weiterer, sequenzierter Bakteriengenome enthält Tabelle 4.1. Zwei Beispiele sollen etwas ausführlicher vorgestellt werden: Mycoplasma pneumoniae (M129) enthält nur ein kleines Genom (816 kb) und besitzt keine Zellwand. Es ist vielmehr nur von einer Cytoplasma-Membran mit Cholesterol als essentiellem Bestandteil umgeben. M. pneumoniae ist ein Humanpathogen, das eine „atypische Pneumonie“ in älteren Kindern und jungen Erwachsenen hervorruft. Als Oberflächenparasit heftet es sich an die respiratorischen Epithelien an. Diese kleinen Bakterien sind besonders interessant, weil damit die minimale Ausstattung einer sich selbst replizierenden Zelle definiert werden kann. Daher wurde das Genom von M. pneumoniae relativ früh (Himmelreich et al. 1996) komplett durchsequenziert. Es hat einen G/C-Gehalt von ca. 40 % und eine durchschnittliche „Kodierungsdichte“ von 90 %. Es wurden dabei 677 offene Leserahmen vorhergesagt. 76% zeigen sehr große Ähnlichkeiten zu anderen bekannten Genen. Die Reduktion der Genomgröße ist ein Ergebnis der Evolution und wird durch den vollständigen Verlust anaboler Stoffwechselwege erklärt (z. B. keine Aminosäure-Synthese!). Daher pflegt M. pneumoniae einen obligat parasitären Lebensstil, der von der Zufuhr exogener Metabolite essentiell abhängt. Allerdings konnten zunächst die Gene für einige typische Funktionen (Bewegungsvermögen, Chemotaxis, oxidativer Stress) von M. pneumoniae nicht identifiziert werden. Auch durch den „Verzicht“ auf eine Zellwand konnte der Parasit die Zahl der notwendigen Gene verringern. Außerdem benötigt M. pneumoniae für verschiedene grundlegende Prozesse wie DNA-Reparatur, DNA-Rekombination, Zellteilung und Protein-Sekretion deutlich weniger Gene als komplexere Bakterien. Im Gegensatz zum Verlust kompletter Stoffwechselwege wurde aber auch oft die Amplifikation voll-
ständiger Gene oder Gensegmente beobachtet sowie verkürzte Gene, die zusätzlich noch vollständig und aktiv vorliegen. Es wird vermutet, dass es sich hierbei um Relikte früherer Rekombinationsereignisse handelt. Schließlich sind unter den abgeleiteten Proteinen einige wenige, die überraschenderweise die größte Ähnlichkeit mit eukaryotischen Proteinen haben. Die wichtigsten Beispiele dafür sind Gene, die für den pre-B cell enhancing factor (pebf) und den Vorläufer der Carnitin-Palmitoyltransferase II (cpt2) kodieren. Beide Gene können Beispiele für einen horizontalen Gentransfer sein. Agrobacterium tumefaciens ist ein Pflanzenpathogen mit der einzigartigen Fähigkeit, einen definierten Abschnitt von DNA auf Eukaryoten zu übertragen, der dann in eukaryotische Genome integriert. Diese Fähigkeit des DNA-Transfers wird als wirkungsvolle Methode bei der Produktion transgener Pflanzen (z. B. Sojabohne, Mais und Baumwolle) genutzt. A. tumefaciens wurde als Ursache der Wurzelhalsgalle bei Pflanzen identifiziert, eines Tumors, der sich an der Eintrittstelle des Bakteriums (kleine Wunde) bildet. Durch die pflanzlichen Wundreaktionen werden Signale erzeugt, die die Genregulation der Agrobakterien umprogrammieren. Die Induktion der Pflanzentumore benötigt dafür nicht mehr als 18 Stunden. Damit ist das pflanzliche Gewebe umdifferenziert und wächst krebsartig weiter. Ein besonderes Kennzeichen dieser Tumore ist, dass sie in Gewebekultur phytohormon-unabhängig wachsen können. A. tumefaciens verfügt noch über eine weitere Besonderheit: Es enthält außer einem ringförmigen Chromosom auch noch ein lineares Chromosom (sowie zwei Plasmide, eines davon ist für die Tumorinduktion wichtig). Das Gesamtgenom hat eine Größe von 5,7 Mb und einen G/C-Anteil von ca. 60 %, ca. 90 % der DNA enthalten kodierende Informationen. Das zirkuläre Chromosom (2,8 Mb) enthält einen Replikationsstartpunkt, wie wir es von Bakterien kennen. Das lineare Chromosom (2,1 Mb) hat dagegen einen Replikationsstartpunkt, der an eine evolutionäre Herkunft von Plasmiden denken lässt. Entsprechend sind auch die Gene für essentielle Prozesse überwiegend auf dem ringförmigen Chromosom lokalisiert. Die Enden des linearen Chromosoms sind kovalent geschlossen und enthalten offensichtlich Haarnadel-Schleifen. Die Sequenz wurde im Jahr 2001 veröffentlicht (Goodner et al. 2001).
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Kapitel 4: Genome von Prokaryoten und ihren Viren
Tabelle 4.1.
Auswahl sequenzierter microbieller Genome 1
Name
Größe (Mb)
Institution
Jahr
Agrobacterium tumefaciens C58 Bacillus antracis
5,7
Cereon Genomics, Cambridge (USA)
2001
5,1
The Institute of Genome Research (TIGR), Rockville
2003
Bacillus cereus
5,4
Institut National de la Recherche Agronomique (INRA), Paris
2003
Bacillus subtilis
4,2
BSNR (intern. Konsortium)
1997
Borrelia burgdorferi B31
1,5
TIGR
1997
Borrelia garinii PBi
1,0
Institut für Molekulare Biotechnologie (IMB), Jena
2004
Caulobacter crescentus CB15
4,0
TIGR
2001
Chlamydophila pneumoniae J138
1,2
Universität Yamaguchi
2000
Escherichia coli K12
4,6
Universität Wisconsin
1997
Haemophilus influenzae RdKW20
1,8
TIGR
1995
Helicobacter pylori 26695
1,7
TIGR
1997
Lactococcus lactis subsp. lactis
2,4
INRA
2001
Legionella pneumophilia str. Paris
3,64
Institut Pasteur (Paris)
2004
Leptospira interrogans
4,63
Konsortium aus Sao Paulo
2004
Listeria monocytogenes EGD-e
2,9
Europäisches Konsortium
2001
Mycobacterium leprae TN
3,3
Sanger Institute, Hinxton
2001
Mycobacterium tuberculosis H37Rv
4,4
Sanger
1998
Mycoplasma genitalium
0,6
TIGR
1995
Mycoplasma pneumoniae M129
0,8
Universität Heidelberg
1996
Mycoplasma pulmonis
1,0
Genoscope, Evry
2001
Neisseria meningitidis
2,3
Sanger, TIGR
2000
Pasteurella multocida
2,3
Universität Minnesota
2001
Photobacterium profundum SS9
6,4
Universität Padua
2004
Pseudomonas putida KT2440
6,2
TIGR
2003
Salmonella typhimurium LT2
5,0
Washington University, St. Louis
2001
Shigella flexneri 2a str.301
4,8
Microbiologisches Genom Zentrum, Peking
2002
Staphylococcus aureus Mu50
2,9
Universität Juntendo
2001
Streptococcus agalactiae 2603V/ R
2,2
TIGR
2002
Streptococcus pneumoniae R6
2,2
Eli Lilly & Co, Indianapolis
2001
Thermococcus kodakarensis KODI
2,1
Universität Kyoto
2005
Tropheryma whipplei str. Twist
0,9
Genoscope
2003
Vibrio cholerae O1
4,0
TIGR
2000 / 2001
Yersinia pestis CO92
4,8
Sanger Institut
2001
Yersinia pestis biovar Medievalis str. 91001
4,8
Chinesische Militärakademie für Medizinische Wissenschaften
2004
1 Gesamtzahl:
233; Quelle: http://www.ncbi.nih.gov/genomes/lproks.cgi (Stand: Sommer 2005)
4.2 Extrachromosomale DNA-Elemente: Plasmide
4.2 Extrachromosomale DNA-Elemente: Plasmide Die Menge DNA im prokaryotischen Genom und zugleich auch die Anzahl von Genen ist generell viel kleiner als in eukaryotischen Genomen (Tabelle 1.3). Wohl aus diesem Grund findet man daher in Prokaryoten auch nur ein einziges Chromosom. Das lässt die Zellteilungsmechanismen von Bakterien viel einfacher ablaufen als in eukaryotischen Zellen, in denen für eine genaue Verteilung der Chromosomen auf die Tochterzellen gesorgt werden muss. Ein weiterer wesentlicher Unterschied zu Eukaryoten ist, wie bereits herausgestellt, die Haploidie der Bakterien. Man würde daher erwarten, dass ein wichtiges Element der Evolution bei Eukaryoten, die Erzeugung neuer Geno- und Phänotypen durch genetische Rekombination, in Prokaryoten nicht vorkommt. Wie im letzten Abschnitt gezeigt, wurde von Lederberg und Tatum jedoch entdeckt, dass Rekombination auch bei Bakterien stattfindet. Wie ist das trotz des haploiden Zustandes möglich? Bakterienzellen haben trotz ihrer Haploidie einen Ausweg gefunden, um Rekombinationsereignisse zur Veränderung ihrer genetischen Konstitution auszunutzen. Sie können nämlich eine Art sexuellen Prozess durchlaufen, durch den Rekombinationsereignisse induziert werden. Der sexuelle Prozess besteht in einer Paarung oder Konjugation zweier Bakterienzellen unterschiedlichen Genotyps mit einem anschließenden unidirektionalen Transfer des einen Bakteriengenoms in den Konjugationspartner. Konjugation ist nur möglich, wenn einer der Konjugationspartner ein (manchmal auch zwei) extrachromosomales ringförmiges DNA-Element, den 94 500 bp langen F-Plasmid, besitzt. Man bezeichnet solche extrachromosomalen doppelsträngigen DNAElemente allgemein als Plasmide (oder Episomen). Plasmide können sich unabhängig von der Replikation des Genoms der Bakterienzelle replizieren und liegen oft in mehreren identischen extrachromosomalen Kopien in der Zelle vor, deren Anzahl allerdings meist durch Gene in der Plasmid-DNA streng kontrolliert wird. In ihrem Stoffwechsel sind sie jedoch vollständig vom Stoffwechsel der Wirtszelle abhängig, da sie nur wenige Gene besitzen, die für die spezifischen Funktionen eines Plasmids verantwortlich sind.
! Bakterienzellen besitzen oft extrachromosomale Plasmide. Solche Plasmide wirken als Geschlechtsfaktoren und ermöglichen eine Konjugation von Bakterien, wobei jeweils eine Zelle mit Plasmid und eine ohne Plasmid paaren.
4.2.1 F-Plasmid Das F-Plasmid wird nur einmal in jedem Zellzyklus repliziert und anschließend gleichmäßig auf die Tochterzellen verteilt. Während der Konjugation erfolgt die Replikation nach dem Rolling-circleMechanismus (Abb. 2.20). Diese Replikationsweise ist wichtig, da hierbei zunächst ein einsträngiges lineares DNA-Molekül erzeugt wird, das während der Konjugation auf eine F–-Zelle (also eine Zelle ohne FFaktor) übertragen wird (Abb. 4.2). Der Transfer von Plasmid-DNA während der Konjugation ist nur möglich, wenn zuvor mit Hilfe von Plasmid-kodierten Genprodukten spezielle Oberflächenstrukturen, die Pili, auf der Zellwand gebildet worden sind. Jede Zelle kann 1 bis 3 solcher Pili bilden, deren Länge die der Zelle bei weitem übersteigt. Sie gestatten die Anheftung einer F+-Zelle an eine F–-Zelle und werden nach der Herstellung des Zellkontaktes von der Donorzelle resorbiert. Ursprünglich hatte man vermutet, dass sie auch als Transferkanäle für die Plasmid-DNA in die Empfängerzelle dienen, da sie innen hohl sind und damit einem Bakteriophagenschwanz gleichen, der zur Injektion der Phagen-DNA in die Wirtszelle benutzt wird. Aber diese Annahme hat sich nicht bestätigen lassen. Neben dem Gen für das stark hydrophobe Protein Pilin, das für die Ausbildung eines Pilus verantwortlich ist, besitzt ein F-Plasmid noch 10 bis 20 weitere Gene, deren Funktion bisher nur teilweise geklärt ist (Abb. 4.3). Einige davon sind zur Ausbildung der Pili erforderlich. Da die Replikation und der Transfer eines F-Plasmid während der Konjugation innerhalb von ein bis zwei Minuten abgeschlossen ist, und nach Beendigung einer Konjugation beide Konjugationspartner einen F-Plasmid enthalten (also F+ sind), kann innerhalb kurzer Zeit eine F–-Population von Zellen, die mit wenigen F+Zellen gemischt wird, in eine F+-Population verwandelt werden. Der Name F-Plasmid leitet sich von seiner Eigenschaft ab, Konjugation (F: fertility) einer
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Kapitel 4: Genome von Prokaryoten und ihren Viren
Zelle zu ermöglichen. Man bezeichnet das F-Plasmid daher auch als Sex-Plasmid (früher F-Faktor). ! Das F-Plasmid ist ein Plasmid, das den Zellen die
Fähigkeit vermittelt, eine Konjugation durchzuführen. Dieses Plasmid besitzt die Gene für die Ausbildung von langen Pili, mit deren Hilfe sich Konjugationspartner finden. Während der Konjugation repliziert sich das F-Plasmid durch einen Rolling-circleMechanismus, und eine Kopie des Plasmids wird auf den Konjugationspartner übertragen, während die ursprüngliche Kopie in der Donorzelle zurückbleibt.
Abb. 4.2. Übertragung des F-Plasmids auf eine F–-Zelle. Nach der Konjugation einer F+- und einer F–-Zelle wird in die Plasmid-DNA ein Einzelstrangbruch eingeführt. Nach der Bindung eines Proteins an das 5′-Einzelstrangende beginnt die Replikation der Plasmid-DNA nach dem Rolling-circle-Mechanismus (s. Abb. 2.20). Das freie 5′-Ende wird in die Empfängerzelle transferiert. Nach Transfer des gesamten F-Plasmids bis zum Transferursprung (oriT) trennen sich die beiden Konjugationspartner und in jeder Zelle wird die Replikation der DNA zu einem ringförmigen Plasmid abgeschlossen. Die DNA geht wieder in einen supercoiled Zustand über. (Nach Freifelder 1983)
Eine wichtige Eigenschaft des F-Plasmids ist, dass es gelegentlich in das E. coli-Chromosom integriert werden kann. Die Integrationsstelle ist nicht genau festgelegt, erfordert aber eine DNA-Sequenzhomologie zwischen F-Plasmid und Chromosom. Diese Sequenzhomologie wird durch sogenannte Transposons hergestellt, mobile DNA-Elemente, die sowohl in der DNA des F-Plasmid als auch im E. coli-Chromosom vorhanden sind (s. S. 351). Im F-Plasmid findet man die Elemente IS2, IS3 und γδ (Abb. 4.3). In das E. coli-Chromosom integriert das F-Plasmid mit Hilfe dieser „IS“-Elemente an Stellen, an denen sich ein homologes Element befindet. In Abb. 4.1 sind einige der wichtigsten Integrationsstellen im E. coliGenom gezeigt, an denen F-Plasmid-Integrationen, wenn auch in unterschiedlicher Häufigkeit, beobachtet wurden. Für den Integrationsvorgang selbst ist auch hier das RecA-Protein von E. coli (s. S. 196) erforderlich, das für Rekombinationsprozesse benötigt wird. Zellen, in denen das F-Plasmid im Bakterienchromosom integriert ist, werden als Hfr-Zellen bezeichnet. Dieser Name (Hfr von engl. high frequency of recombination) leitet sich von der Fähigkeit dieser Zellen ab, ihr eigenes Genom mit hoher Frequenz an Empfänger- (also F–-) Zellen übertragen zu können. Der Übertragungsprozess gleicht dem der Übertragung des F-Plasmid (Abb. 4.4). Nach einem Einzelstrangbruch im Replikationsstartpunkt des integrierten F-Plasmid wird ein 5′-Einzelstrangende unter gleichzeitiger Replikation nach dem Rolling-circleMechanismus in die Empfängerzelle übertragen. Der DNA-Transfer umfasst aber nunmehr nicht allein die DNA des F-Plasmids, sondern die gesamte daran
4.2 Extrachromosomale DNA-Elemente: Plasmide Abb. 4.3a–c. Das F-Plasmid. a Genetische Karte des FPlasmid mit Längenangaben auf dem DNA-Niveau (in kb) (Gesamtlänge 94 500 Basenpaare). Der oriT- Locus ist der Replikationsursprung und zugleich der Beginn des Transfers des Plasmids in eine andere Wirtszelle während der Konjugation. Die DNA-Sequenzen IS2, IS3 und γδ haben Bedeutung als Integrationssequenzen in das E. coli-Genom. Die Gene des traOperons sind zum Transfer erforderlich, die rep-Gene für die Replikation. Im Genombereich 40 kb liegen Gene, die die Vermehrung von Phagen verhindern (phi-Gene). b Paarung der IS3-Sequenzen im F-Plasmid und im E. coli-Genom. c Mechanismus und Folge der Integration des F-Plasmid in das E. coliGenom beim Übergang in eine Hfr-Konstitution der E. coliZelle. Als Folge der Integration ist das F-Plasmid im Genom von E. coli an beiden Seiten durch ein IS3-Element flankiert (vgl. Integration von Transposons, Abb. 9.8). (Nach Shapiro 1977) ▲
gebundene chromosomale DNA. Damit erhält die Empfängerzelle ein zusätzliches bakterielles DNAKomplement. Das ermöglicht die Rekombination mit der chromosomalen DNA der Empfängerzelle. Die besondere Art der Replikation hat übrigens zur Folge, dass auch die Donorzelle ein vollständiges eigenes Genom behält. Ein vollständiger Transfer des E. coli-Chromosoms erfordert etwa 90 Minuten. Oft wird er jedoch vorzeitig abgebrochen, so dass nur ein Teil des E. coliChromosoms in die Empfängerzelle gelangt. Man beobachtet daher einen Häufigkeitsgradienten in der Rekombination von Markergenen der Donorzelle mit der DNA der Empfängerzelle (s. Abb. 4.5). Markergene, die sich nahe an der Integrationsstelle des F-Plasmid in der DNA der Donorzelle befinden, weisen mit größerer Häufigkeit Rekombination auf als Gene, die weit entfernt von der Integrationsstelle liegen, weil sie bereits nach kurzer Transferzeit in der Empfängerzelle vorhanden sind. Da in verschiedenen Hfr-Stämmen die Integration des F-Plasmid an unterschiedlichen Positionen und in unterschiedlicher Orientierung relativ zum Bakterienchromosom erfolgt, kann man durch Rekombinationsexperimente mit unterschiedlichen Hfr-Stämmen eine vollständige genetische Karte des Bakterienchromosoms erstellen, die durch die besondere Art ihrer Ableitung zirkulär ist (Abb. 4.1). Dass das E. coliChromosom in Wirklichkeit zirkulär ist, kann hieraus nicht abgeleitet werden, ist aber inzwischen durch die Sequenzierung bewiesen.
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Kapitel 4: Genome von Prokaryoten und ihren Viren
a b c
z y x
Hfr-Zelle
Bakteriengenom mit F-Plasmid
Konjugation
Bakteriengenom –
F -Zelle F-Pilus a Hfr-Zelle
b c
z y x
Abb. 4.5. F-Duktion von Markergenen. Verschiedene Markergene von E. coli (azi, ton, lac, gal) werden durch F-Duktion mit einem bestimmten Hfr-Stamm übertragen. Ein vollständiger Transfer erfordert etwa 90 Minuten; durch Analyse der Rekombinationsraten nach unterschiedlich kurzen Transferzeiten konnte eine vollständige Chromosomenkarte von E. coli erstellt werden (vgl. Abb. 4.1). (Nach Jacob u. Wollman 1961)
! Plasmide können durch Sequenzhomologien a b c
z
y
x
Abb. 4.4. Transfer des F-Plasmid aus Hfr-Zellen. Die Replikation des Chromosoms beginnt am oriT des F-Plasmid (rot). Von hier aus wird zunächst ein Teil des Plasmids (s. Abb. 4.3 c), danach die anschließenden Teile des Bakteriengenoms (Gene a, b, c, usw.) in den F–-Konjugationspartner übertragen. Je nach Dauer der Konjugation werden kürzere oder längere Teile des Genoms der Hfr-Zelle übertragen, wobei diese selbst ein vollständiges Genom behält, da sie nach dem Rolling-circle-Mechanismus (Abb. 2.20) repliziert. Die Gesamtlänge des F-Plasmid beträgt nur etwa 2,5 % des Gesamtgenoms von E. coli, so dass meist nur Teile des E. coli-Genoms übertragen werden (s. Abb. 4.5). Die gestrichelten Bereiche zeigen neu replizierte DNA an
zwischen der Plasmid-DNA und dem Wirtszellgenom in dieses integriert werden. Im Falle des F-Plasmids entstehen auf diese Weise Hfr-Zellen, die bei Konjugation das Wirtszellgenom auf den Konjugationspartner übertragen. In diesem erfolgt in der entstehenden partiell diploiden Konstitution die Rekombination. Da die Integrationsstellen des FPlasmids über das Wirtszellgenom verteilt sind, können in verschiedenen Hfr-Stämmen unterschiedliche Wirtszellbereiche übertragen werden. Auf diesem Wege war es möglich, das gesamte E. coli-Genom genetisch zu kartieren.
Noch eine weitere Eigenschaft des F-Plasmid hat für die Bakteriengenetik und damit in letzter Zeit für gentechnologische Experimente große Bedeutung erlangt. Das ins bakterielle Genom integrierte FPlasmid der Hfr-Stämme kann nämlich gelegentlich mit geringer Frequenz (10–7 je Generation) das Chromosom wieder verlassen (ein Vorgang, der als Exzision bezeichnet wird) und als Plasmid weiterexistieren. Die Exzision kann entweder unter Verwendung der ursprünglich zur Integration verwendeten DNA-Sequenzen erfolgen, also durch eine
4.3 Bakteriophagen
homologe Rekombination, oder durch Rekombination mit einer anderen Stelle des Chromosoms. In diesem Fall wird ein Stück bakterieller DNA in das zirkuläre Plasmid integriert und diese kann dann bei Konjugationsereignissen in eine Empfängerzelle übertragen werden. F-Plasmide, die ein Stück genomischer DNA enthalten, bezeichnet man als F′-Plasmide. Den Transfer bakterieller DNA mittels eines F′-Plasmids bezeichnet man als F-Duktion oder Sexduktion (engl. F-duction oder sex-duction). Mittels solcher F′-Plasmide können Empfängerzellen partiell diploid gemacht werden. Sie werden dann auch als merodiploid bezeichnet. Man kann damit Komplementationsstudien durchführen oder auch die Konsequenzen von Änderungen der Gendosis untersuchen. Die experimentelle Verwendung derartiger genetischer Konstitutionen wird an anderer Stelle noch ausführlich besprochen (s. S. 121). ! F-Plasmide werden in Hfr-Stämmen gelegentlich
aus dem Wirtszellgenom wieder herausgeschnitten. Hierbei nehmen sie bisweilen ein Stück des Wirtszellgenoms mit in den entstehenden extrachromosomalen DNA-Ring auf. Bei der Konjugation wird diese DNA in die Rezeptorzelle eingeführt und erlaubt auf diesem Wege ebenfalls Rekombination von Teilen der Donorzell-DNA mit dem Rezeptorzellgenom. Man bezeichnet diesen Vorgang als Sexduktion oder FDuktion.
gegen Antibiotika vermitteln. Man findet sie in sogenannten R-Plasmiden, die bestimmte Resistenzen vermitteln (z. B. gegen Tetracyclin, Ampicillin oder Canamycin). Eine andere Klasse von Plasmiden sind die Col-Plasmide (Colizinogenfaktoren), die mittels spezieller von ihnen kodierter Proteine (Membranproteine, DNasen oder RNasen) andere Bakterienstämme, die das betreffende Plasmid nicht besitzen, abtöten. Wie schon erwähnt, ist die Anzahl von Plasmiden in einer Bakterienzelle im Allgemeinen kontrolliert und liegt zwischen einer und 50 Kopien je nach Plasmid. Die Übertragung von Plasmiden erfolgt bei manchen Plasmiden, wie beim F-Plasmid, durch Konjugation. Jedoch ist die Effizienz der Übertragung oft sehr viel geringer als beim F-Plasmid. Manche Plasmide können selbst keine Konjugation induzieren, wohl aber bei gleichzeitiger Anwesenheit von konjugationsinduzierenden Plasmiden mit übertragen werden. Allerdings sind nahe verwandte Plasmide meist inkompatibel und können nicht gleichzeitig in einer Zelle anwesend sein. ! Manche Plasmide verleihen durch den Besitz von Resistenzgenen den Wirtszellen Resistenz gegen Antibiotika oder andere Bakterienstämme.
Ein gentechnologisch wichtiges Plasmid ist das Plasmid Ti, das in Agrobacterium tumefaciens vorkommt. Ein Teil dieses Plasmids kann durch Bakterien in Pflanzenzellen übertragen werden und dort Tumoren induzieren.
4.2.2 Andere Plasmide
4.3 Bakteriophagen Neben dem F-Plasmid gibt es eine Reihe anderer Plasmide in E. coli. Es handelt sich ebenfalls um zirkuläre doppelsträngige DNA-Moleküle, deren Größe mit Molekulargewichten von meistens etwa 106 bis maximal 108 (1,6 × 103 bis 1,6 × 105 Basenpaare) nur wenige Prozent der des Bakterienchromosoms (4 × 106 bp) beträgt. Auch sie besitzen, wie das F-Plasmid, eine Reihe eigener Gene, sind aber zur Replikation weitgehend vom Genom der Wirtszelle abhängig. Obwohl E. coli-Zellen gewöhnlich auch ohne Plasmid existenzfähig sind, vermitteln Plasmide unter speziellen Bedingungen Eigenschaften, die ein Überleben der Bakterienzelle erst ermöglichen. Vor allem sind hierbei Resistenzgene zu nennen, die eine Resistenz
Bakteriophagen, meist kurz Phagen genannt, unterscheiden sich von Plasmiden prinzipiell dadurch, dass sie ein extrazelluläres Stadium durchlaufen können. Beiden ist gemeinsam, dass sie über keinen eigenen Stoffwechsel verfügen, sondern vollständig vom zellulären Stoffwechsel ihrer Wirtszellen abhängig sind. Phagen sind Viren höherer Organismen vergleichbar. Man kennt einige Tausend verschiedener Phagenarten, die sich in vielen Einzelheiten, unter anderem in Genomgröße und -aufbau, in Gestalt und Wirtsspezifität voneinander unterscheiden. Das Genom eines Bakteriophagen kann bestehen aus
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Kapitel 4: Genome von Prokaryoten und ihren Viren
• Einzelstrang-DNA oder • Doppelstrang-DNA, die
– linear oder – zirkulär ist, oder aus • linearer Einzelstrang-RNA. Während des extrazellulären Stadiums ist das Genom in eine Proteinhülle verpackt, die auch Capsid (engl. coat oder capsid) genannt wird. Die Hüllproteine werden vom Bakteriophagengenom kodiert, während andere für den Bakteriophagen notwendige Moleküle je nach Phagentyp – und damit Genomgröße – entweder im Phagengenom oder im Genom des Wirtsbakteriums kodiert werden. Die Proteinhülle des extrazellulären Stadiums ist erforderlich, um die Phagen-DNA vor Abbau (Degradation) zu schützen, zugleich aber auch, um die Infektion neuer Zellen zu ermöglichen. Nach der Form der Phagenpartikel kann man drei Typen von Bakteriophagen unterscheiden (Abb. 4.6): • filamentöse Phagen, bei denen die DNA in gestreckter Form in ein fadenförmiges Capsid verpackt ist, Beispiel: Bakteriophage M13 (= fd); • ikosaedrische, schwanzlose Phagen, deren Genom in hochkompakter Form in ein Capsid verpackt ist, Beispiel: Bakteriophage ΦX174; • ikosaedrische Phagen mit Schwanz, deren Genom ebenfalls in kompakter Form im Kopf des Phagen verpackt ist. Der Schwanz besitzt oft eine besondere Struktur zur Adsorption an die Zellwand sowie zusätzliche Fibrillen, Beispiele: Bakteriophage T4, Bakteriophage λ.
sätzlich kann man zwischen zwei Arten von Zyklen unterscheiden (Abb. 4.7): • den lytischen Zyklus und • den lysogenen Zyklus. Virulente Phagen benutzen eine infizierte Bakterienzelle zur Synthese neuer Phagenpartikel. Man bezeichnete diese Art der Vermehrung als lytischen Zyklus (Abb. 4.7). In den meisten Fällen werden die Zellen zerstört (lysiert) und die neugebildeten Phagenpartikel freigesetzt. Einige filamentöse Phagen (z. B. M13) hingegen entlassen die neugebildeten Phagen durch die Abschnürung von Ausstülpungen der Zellwand, ohne dass die Zelle hierdurch zerstört wird. Temperente Phagen hingegen leiten nach der Infektion einer Bakterienzelle einen lysogenen Zyklus ein (Abb. 4.7). Die meisten (mindestens 90 %) der bekannten Phagen gehören zu dieser Klasse. Ein temperenter Phage integriert sich nach der Infektion der Zelle im Allgemeinen zunächst ins Bakteriengenom und verbleibt dort als Prophage ohne wesentliche weitere Stoffwechselfunktionen. Lediglich durch die Synthese eines Repressors wird die Neuinfektion (engl. superinfection) mit dem gleichen Phagentyp verhindert. Die infizierte Zelle bezeichnet man als Lysogen. Da der Prophage ins Bakteriengenom inte-
! Bakteriophagen sind den Plasmiden ähnlich, wei-
sen im Gegensatz zu diesen jedoch ein extrazelluläres Stadium auf, mit dessen Hilfe sie andere Zellen in großer Zahl infizieren können. Während des extrazellulären Stadiums ist das Phagengenom in eine Proteinhülle verpackt. Bei Adsorption an eine Bakterienzelle wird die DNA in die Wirtszelle injiziert, während die leere Proteinhülle an der Bakterienmembran verbleibt.
4.3.1 Vermehrungzyklus Die Vermehrungszyklen der verschiedenen Bakteriophagentypen weisen viele Ähnlichkeiten auf. Grund-
Abb. 4.6a–c. Verschiedene Bakteriophagen. a Ikosaedrischer Phage mit Schwanz (z. B. T2, T4, Lambda). b Ikosaedrischer Phage ohne Schwanz (z. B. ΦX174). c Filamentöser Phage (z. B. M13)
4.3 Bakteriophagen
griert ist, wird er mit diesem repliziert und gelangt so in alle Nachkommen. Unter besonderen Umständen kann der Prophage jedoch das Bakteriengenom wieder verlassen und dann in einen lytischen Zyklus eingehen, der die Produktion neuer Phagenpartikel und deren Freisetzung zur Folge hat. Die Zelle wird hierbei zerstört.
Als Alternative zur Integration ins Wirtszellgenom verbleiben einzelne temperente Phagen als extrachromosomale Plasmide in einem lysogenen Zustand. Ein Beispiel hierfür ist der Phage P1 (s. Abb. 4.10), der mit einer Kopie (oder höchstens zwei Kopien) als extrachromosomaler temperenter Phage in einer E. coli-Zelle vorhanden sein kann.
Lytischer Zyklus
Lysogener Zyklus
Wirtszelle
Bakteriengenom
Phagenhülle Phagengenom
Vermehrung der Wirtszellen mit Prophagen Phagengenom
Exzision des Phagen
Wirtszellgenom
Lyse der Wirtszelle
Integration des Phagen ins Wirtsgenom
Vermehrung der Wirtszellen mit Prophagen
Prophage
Verpackung des Phagen
Replikation des Phagengenoms
Abb. 4.7. Zyklus des Bakteriophagen λ. Nach der Infektion der Wirtszelle durch die Phagen-DNA wird diese zunächst zirkularisiert. Im lytischen Zyklus (links) werden an dieser DNA als Matrize nach dem Rolling-circle-Mechanismus (Abb. 2.20) neue lineare Phagen-DNA-Moleküle synthetisiert. Gleichzeitig werden die Hüllproteine hergestellt, so dass schließlich eine Verpackung der DNA in den vorbereiteten Phagenkopf und ein Anfügen des ebenfalls vorbereiteten Phagenschwanzes erfolgen kann. Die Zelle lysiert dann und entlässt infektiöse neue
Phagenpartikel. Im lysogenen Zyklus (rechts) erfolgt zunächst eine Integration des λ-Phagen als Prophage ins bakterielle Genom. In dieser Form kann der Prophage über viele Zellgenerationen im Bakteriengenom verbleiben, ohne dass seine Anwesenheit erkennbar wird oder Folgen für die Wirtszelle hat. Erst bei einer spontanen oder induzierten Exzision des Prophagen kann es zu einer intrazellulären Vermehrung seines Genoms kommen und die Zelle mündet in den lytischen Zyklus ein. (Nach Watson et al. 1987)
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Kapitel 4: Genome von Prokaryoten und ihren Viren
! Bakteriophagen können nach der Infektion einer
Bakterienzelle entweder eine Vermehrungsphase durchlaufen und die Zelle danach in der Form neuer Phagenpartikel, meist unter Lyse der Zelle, verlassen. Andere Phagen können zunächst in ein inaktives Stadium übergehen, indem sie sich als Prophage ins Wirtszellgenom integrieren. Gelegentlich wird der Prophage aktiviert, verlässt das Wirtszellgenom und beginnt einen Vermehrungszyklus mit anschließender Lyse der Zelle.
Beiden Vermehrungszyklen von Phagen sind verschiedene Grundelemente gemeinsam, die zunächst im Zusammenhang mit der Besprechung des lytischen Zyklus besprochen werden. Für den lysogenen Zyklus sollen danach nur noch die dafür wichtigsten Gesichtspunkte herausgestellt werden.
Lytischer Zyklus Doppelstrang-DNA-Phagen mit einem lytischen Zyklus durchlaufen die folgenden Schritte, beginnend mit dem Zeitpunkt der Infektion einer Wirtszelle: • Adsorption an Rezeptoren in der Zellwand der Wirtszelle und Injizieren der DNA direkt in die Wirtszelle. • Die zelleigene RNA-Polymerase beginnt mit der Transkription der Phagen-DNA. Im Allgemeinen führt dieseTranskription unmittelbar zur Synthese einer phagenspezifischen RNA-Polymerase, die die weitere Transkription des Phagengenoms übernimmt, oder die Wirtszell-RNA-Polymerase wird modifiziert, so dass sie weitere phagenspezifische Transkripte produziert. Gleichzeitig wird häufig die Wirtszelltranskription ausgeschaltet, so dass nur noch Stoffwechselprozesse ablaufen, die vom Phagen für seine Vermehrung genutzt werden. • Die phagenspezifische Transkription stellt, oft in genau programmierter Folge, Proteine zur Verfügung, die zum Aufbau neuer Phagenpartikel notwendig sind. Hierbei handelt es sich um strukturelle Proteine sowie Proteine, die für die Zusammensetzung des neuen Phagen gebraucht werden. In manchen Phagen (z. B. λ) werden die Phagenpartikel vorgefertigt, so dass die PhagenDNA nach der Replikation direkt in die Hülle überführt werden kann. In anderen Phagen (z. B.
M13) erfolgt die Zusammensetzung des Phagen aus DNA und Protein gleichzeitig. Bei RNA-Phagen ist zur Replikation ein besonderes, vom Phagen kodiertes Enzym, die reverse Transkriptase (engl. reverse transcriptase) erforderlich, das die RNA über den Umweg eines Doppelstrang-DNAMoleküls vervielfachen kann. • Nach Produktion einer größeren Anzahl neuer Phagenpartikel (abhängig vom Phagentyp zwischen 50 und 500) werden diese nach Lyse der Zellwand freigesetzt. Einige filamentöse Phagen (z. B. M13) entlassen die neuen Phagenpartikel durch Extrusion, d. h. Abschnürung von der Zellwand ohne Zerstörung der infizierten Zelle. Der Wirtsbereich eines Bakteriophagen ist meist sehr eng begrenzt. Oft sind sogar nur einzelne Stämme einer bestimmten Bakterienart zur Vermehrung eines Phagen geeignet. Während der Bakteriophage T4 nicht nur auf vielen E. coliStämmen wachsen kann, sondern auch auf einigen anderen Bakterienarten, ist die Vermehrungsfähigkeit für den Bakteriophagen ΦX174 auf den E. coli-Stamm C beschränkt. Hinzu kommt eine weitere Beschränkung der Vermehrung mancher Phagen, die man als Wirtsrestriktion (engl. host restriction) bezeichnet. Lässt man beispielsweise einen Bakteriophagen λ auf einem E. coli-Stamm K wachsen und infiziert mit dem Lysat dieser Zellen einen E. coli-Stamm B, so kommt es nur zu einer geringfügigen Vermehrung des Phagen. Die Ursache hierfür liegt in einer Modifikation der Phagen-DNA, die im B-Stamm erfolgt ist. E. coli B produziert nämlich eine stammspezifische Nuklease (EcoB-Nuklease), die fremde DNA sequenzspezifisch zerschneidet und damit für die Trankription und Replikation unbrauchbar macht. Die zelleigene DNA ist, ebenso wie Lambda-DNA, die in diesen Zellen repliziert wurde, durch sequenzspezifische Methylierung am Adenin vor dem Abbau geschützt. PhagenDNA aus K-Zellen wird hingegen abgebaut. Ein geringer Erfolg der Infektion auf E. coli K gewachsener Phagen ist durch eine schnelle Methylierung einiger Phagen-DNA-Moleküle zu erklären, die dadurch den zellulären Schutzmechanismus der B-Zellen überwinden. In unserem Beispiel sind in E. coli K gewachsene λ-Phagen somit host-restricted für Stamm B, während in Stamm B gewachsene λ-Phagen host-modified (da methyliert) sind. Mit diesem Vorgang der Wirtsbegrenzung haben wir die Existenz einer wichtigen Art von Nukleasen
4.3 Bakteriophagen
kennengelernt, der sequenzspezifischen Endonukleasen oder Restriktionsenzyme (Smith et al. 1972). Diese Enzyme spielen durch ihre weite Verbreitung nicht nur eine Rolle für die Abschirmung von Zellen gegen Infektion mit fremder DNA, sondern sind für die Gentechnologie von entscheidender Bedeutung. ! Bakteriophagen haben meist einen eng begrenz-
ten Wirtsbereich und können nur auf wenigen Bakterienstämmen wachsen. Diese Wirtsspezifität beruht auf speziellen Schutzmechanismen, die die Wirtszellen zur Abwehr von Infektionen entwickelt haben. Hierbei spielen vor allem Endonukleasen eine große Rolle, die fremde DNA abbauen, zelleigene DNA aber aufgrund spezifischer Modifikationen, z. B. sequenzspezifischer Methylierung, intakt lassen. Nur wenn die Phagen-DNA dementsprechende Modifikationen besitzt, kann eine erfolgreiche Infektion stattfinden.
Lysogener Zyklus Der lysogene Zyklus kann als eine Erweiterung des lytischen Zyklus um eine inaktive, stabile Phase des Phagen angesehen werden. Dessen Integration ins Wirtszellgenom ist hierbei nicht obligatorisch. Da sie jedoch bei dem in der Geschichte der Genetik bestuntersuchten Phagen erfolgt, dem Bakteriophagen λ, muss sie genauer betrachtet werden. Zuvor seien noch die über den lytischen Zyklus hinausgehenden wichtigen Ereignisse im Leben eines temperenten Phagen zusammengefasst (Abb. 4.7): • Nach der Infektion der Wirtszelle wird zunächst eine RNA vom Phagengenom synthetisiert, die im Wesentlichen ein Repressorprotein kodiert. Dieses Repressorprotein unterbindet die weitere Transkription des Phagengenoms. Gleichzeitig entsteht ein phagenspezifisches Enzym, das zur Integration des λ-Genoms ins Wirtszellgenom erforderlich ist. • Die Phagen-DNA wird dann sequenzspezifisch ins Wirtszellgenom eingefügt und verbleibt dort als Prophage. • Zur Induktion eines lytischen Zyklus wird das Prophagengenom aus dem Wirtszellgenom herausgeschnitten und beginnt mit der Synthese phagenspezifischer mRNA sowie mit der Replika-
tion, bis schließlich Phagenpartikel aus der lysierten Zelle entlassen werden.
4.3.2 Bakteriophage l (Lambda) Von allen Bakteriophagen haben Experimente am Phagen λ (der Name ist der des griechischen Buchstaben „Lambda“) die wohl größten Beiträge zur Entwicklung der molekularen Genetik geleistet. Entdeckt wurde er als Bestandteil des E. coli-Stammes K12, der einen Lambda-Prophagen in seinem Genom enthält, also lysogen ist. Entscheidend für seine Bedeutung in der Molekulargenetik ist es, dass die Integration von Lambda als Prophage an einer spezifischen Stelle im E. coli-Chromosom, zwischen dem gal- und dem bioGen, erfolgt. Der Integrationsmechanismus bietet darüber hinaus wertvolle Möglichkeiten zur Verwendung des Phagen als Vektor in der Gentechnologie (s. S. 135). Ein λ-Phage besteht etwa zur Hälfte aus doppelsträngiger DNA, die etwa 50 Proteine kodiert, zur anderen Hälfte aus Protein. Die Genomgröße des Wildtyp-Phagen λ beträgt 48.502 bp; dieser Stamm hat jedoch eine 1-bp-Deletion im Vergleich zum „Ur-λ“. Die Sequenz ist seit 1982 bekannt (Sanger et al. 1982). Einen Überblick über die Struktur des λGenoms gibt Abb. 4.8. Nach der Adsorption an eine Wirtszelle mittels der Basalplatte des Schwanzes wird die DNA in die Zelle injiziert. Hier beginnt die Transkription des Lambda-Genoms, und es werden die für die Replikation der Phagen-DNA erforderlichen Genprodukte und die zur Bildung der Proteinkapsel und des Schwanzes notwendigen Proteine synthetisiert. Die neu replizierte Phagen-DNA wird dann mit den Proteinkomponenten zum Phagen zusammengesetzt (vgl. Abb. 4.13 für den Phagen T4). Nach etwa 50 Minuten (bei 37 °C) lysiert die Wirtszelle, und etwa 100 neue Phagen werden aus ihr freigesetzt. In einem alternativen Stoffwechselweg, der den lysogenen Zyklus einleitet, werden nach der Infektion der Wirtszelle nur Proteine hergestellt, die zur Integration des Phagen ins Wirtszellgenom erforderlich sind, während gleichzeitig dieReplikation und die Synthese von Hüllproteinen sowie der zur Zusammensetzung des Phagen notwendigen übrigen Komponenten unterdrückt (reprimiert) werden. Es kann dann die Integration ins Wirtszellgenom als Prophage erfolgen. Man erhält dadurch einen Bakterienstamm, der als Lysogen bezeichnet wird. Den Prozess der Bildung
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Kapitel 4: Genome von Prokaryoten und ihren Viren
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Schwanz-Gene
Abb. 4.8. Genomkarte des Bakteriophagen Lambda im zirkulären Zustand mit frühen und späten Genen sowie den wichtigsten Regulationssequenzen. Die Zirkularisierung erfolgt im cos-Bereich. Die frühen Gene sind in rot dargestellt, die verzögert frühen in grün und die späten in braun. Promotorregionen sind jeweils in dunklerer Farbe hervorgehoben
eines solchen Stammes bezeichnet man als Lysogenisierung. In einem Lysogen wird kontinuierlich ein Protein (der λ-Repressor), das vom cI-Gen des Phagen kodiert wird, synthetisiert (für Einzelheiten s. S. 153). Es sorgt für die Suppression der Aktivität des übrigen Phagengenoms und verhindert zugleich weitere Infektionen mit anderen λ-Phagen. Lysogene sind daher immun gegen weitere λ-Infektionen. Der Übergang in eine lytische Phase des Zyklus von Lambda wird durch gelegentliche Inaktivität eines Repressormoleküls verursacht. Der Prophage verlässt dann das Wirtszellgenom und beginnt mit der lytischen Vermehrung, wie sie bereits beschrieben wurde. Die Häufigkeit der spontanen Einleitung eines Lysezyklus ist etwa 10–3, also bemerkenswert hoch. Da jedoch die übrigen Zellen eines Stammes immun gegenüber λ-Infektionen sind, führen solche Ereignisse nicht zur Lyse der gesamten Kultur. Die Aktivierung eines Prophagen kann auch experimentell durch UV-Bestrahlung oder durch chemische Mutagene erfolgen. Einige cI-Mutanten bilden einen temperaturempfindlichen Repressor. In
solchen Mutanten kann die Lyse durch Temperaturerhöhung gezielt induziert werden, während bei normaler Temperatur unverändert das Wachstum des Lysogens erfolgt. Die Integration des Lambda-Genoms in das Wirtszellgenom erfolgt durch eine locusspezifische Rekombination (engl. site-specific recombination), an der bakterielle und Phagen-kodierte Proteine beteiligt sind (Abb. 4.9). Das λ-Genom besitzt terminale invertierte Repeats (engl. cohesive ends) von 12 Nukleotiden, die sogenannten cos-sites (von engl. cohesive sites). Mittels dieser cos-sites kann ein lineares Phagengenom zirkularisiert werden. Vom Phagengenom wird das Enzym Integrase bereitgestellt, das als eines der ersten Gene nach einer Phageninfektion in der Wirtszelle aktiviert wird. Die E. coliZelle stellt für die Integration ein Protein, genannt IHF (engl. integration hostfactor) zur Verfügung. Beide Proteine binden an DNA-Regionen im zirkularisierten λ- und im Bakteriengenom, die als attP und attB (von engl. attachment site Phage oder Bakterium) bezeichnet werden. Beide Regionen weisen eine 15-bp-Homologie in der DNA auf (Abb. 4.9), die für die Integration des Phagen Voraussetzung ist. Die gesamte für die Integration erforderliche Region in der Phagen-DNA umfasst 240 bp, während auf der Seite des bakteriellen Genoms nur die 15-bp-Homologie erforderlich ist. An der Phagenintegrationsstelle binden neben dem IHF-Protein noch zwei weitere Phagen-kodierte Proteine (gpint und gpxis). Die 240-bp-Phagen-DNA-Region scheint sich zusammen mit den akzessorischen Proteinen um die Integrase zu winden. Diese ist ihrerseits an die attP- und die attB-Regionen gebunden und liegt am Bindungsplatz wahrscheinlich als Oktamer vor. Die Integrase schneidet dann beide attachment sites in der in Abb. 4.9a gezeigten Weise durch Doppelstrangbrüche asymmetrisch (engl. staggered) (ähnlich wie die Topoisomerase II). Nach einem Rekombinationsereignis, dessen Mechanismus im Einzelnen nicht geklärt ist, ist der Lambda-Phage als Prophage kovalent ins Bakterienchromosom integriert. Für die Exzision des Prophagen ist neben der Integrase noch ein weiteres Enzym, die Exzisionase, notwendig. Sie bindet, zusammen mit der Integrase, an die attachment sites des Prophagen und führt anschließend die der Integration entgegengesetzte Reaktion aus. Der Prophage kann dann als Phage in den lytischen Zyklus übergehen.
4.3 Bakteriophagen
Abb. 4.9 a,b. Sequenzspezifische Integration des Phagen λ ins E. coli-Genom. Sequenzhomologien zwischen den attPund attB-Regionen von λ und E. coli (a oben) führen zu der Integration der Phagen in einer Position zwischen dem galund dem bio-Gen (b unten). Die horizontalen Pfeile zeigen die
! Der Bakteriophage Lambda (λ) ist ein temperen-
ter Phage, der sich an einer spezifischen Stelle – nahe dem gal-Operon von E. coli – ins Wirtszellgenom integrieren kann. Das Phagengenom bleibt in dieser Prophagensituation inaktiv, ausgenommen ist nur das cI-Gen (λ-Repressor). Der Prophage kann durch Stresseinwirkung auf die Wirtszelle aktiviert werden und geht nach Exzision aus dem Genom in den lytischen Zyklus über.
Obwohl die Exzision gewöhnlich sehr genau erfolgt, beobachtet man gelegentlich Fehler, die zur Folge haben, dass ein Teil der flankierenden DNA des Prophagen, also bakterielle DNA, mit in das replizierende Phagengenom aufgenommen wird. Es kann sich hierbei nur um eine der beiden flankierenden E. coli-Sequenzen handeln, also um DNA aus dem Bereich des gal-Operons oder des bio-Gens. Da diese DNA mit dem Phagengenom repliziert und anschließend in Phagenpartikel verpackt wird, kann Wirtszell-DNA durch Infektion in eine neue Wirtszelle übertragen und zusammen mit der Prophagen-DNA ins Bakterienchromosom integriert werden. Es erfolgt also auf diesem Wege eine Transduktion, die sich von der Transduktion durch andere Bakteriophagen, wie z. B. den Bakteriophagen P1 (s. S. 122), dadurch unterscheidet, dass die fremde DNA direkt
invertierten Repeats an, die vertikalen kurzen Pfeile die Schnittstellen, an denen die att-Regionen geöffnet werden. Die beiden Grenzbereiche links und rechts vom Phagengenom geben die Regionen an, innerhalb derer die Integration des Phagen erfolgt ist
ins Bakteriengenom integriert wird. Funktionell besteht kein Unterschied, da auch diese DNA transkribiert werden kann und – sofern die transduzierten Gene nicht defekt sind – funktionsfähige Gene vorhanden sind. Die betreffende Bakterienzelle ist mithin merodiploid, wie wir es bereits als Folge der Sexduktion kennengelernt hatten (s. S. 115). ! Die Integration der λ-Phagen ins Wirtszellgenom beruht auf einer DNA-Sequenzhomologie zwischen Phagen- und Bakterien-DNA an der Integrationsstelle. Durch Zusammenwirken von wirtszelleigenen und Phagen-kodierten Proteinen wird der Phage am attachment site ins Bakteriengenom eingefügt. Durch ein vergleichbares Rekombinationsereignis, aber unter Mitwirkung zumindest eines weiteren Enzyms, kann die Exzision des Prophagen erfolgen.
Die locusspezifische Integration von λ hat zur Folge, dass im Allgemeinen nur DNA aus dem der attBSequenz benachbarten Genbereich transduziert werden kann. Man spricht in solchen Fällen von spezialisierter Transduktion im Gegensatz zur generellen Transduktion, die bei zufälliger Auswahl der integrierten fremden DNA-Sequenzen vorliegt (s. S. 122). Für das Verständnis der Transduktionsvorgänge durch λ-Phagen ist es wichtig, sich den Replikations-
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Kapitel 4: Genome von Prokaryoten und ihren Viren
mechanismus des Phagen zu vergegenwärtigen. Die Replikation von l erfolgt nach dem Rolling-circleMechanismus, der bereits zuvor besprochen wurde (Abb. 2.20). ! Durch gelegentliche fehlerhafte Exzision des
Prophagen werden manchmal bakterielle DNAAbschnitte aus der Umgebung der attachment sites gemeinsam mit der Prophagen-DNA herausgeschnitten und in Phagenpartikel verpackt. Nach Infektion einer Bakterienzelle kann es dann zur Rekombination zwischen dem Wirtszellgenom und der mit der Phagen-DNA injizierten bakteriellen DNA kommen. Diese Art des Gentransfers wird als Transduktion bezeichnet. Es handelt sich wegen der Spezifizität der Integrationsstelle von Lambda im Wirtszellgenom um spezialisierte Transduktion.
4.3.3 Bakteriophage P1 Der temperente Bakteriophage P1 nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als er während der lysogenen Phase nicht ins Wirtszellgenom integriert wird, sondern als einzelnes zirkuläres, supercoiled DNAMolekül in der Zelle verbleibt (Abb. 4.10). Die Genomgröße des Phagen beträgt 91 500 bp, also etwas mehr als 20% der Größe des E. coli-Genoms. Seine Replikation ist an die der Wirtszell-DNA gekoppelt, so dass Tochterzellen ebenfalls je ein P1-Molekül erhalten. Würde man einen lytischen Zyklus induzieren, beispielsweise durch Infektion mit P1 oder durch Induktion der Lyse in lysogenen Zellen, so würde die Phagen-DNA beginnen, Hüllproteine und eine phageneigene Nuklease zu produzieren, die das Wirtszellgenom langsam zerschneidet. Außerdem würden neue Phagen-DNA-Moleküle synthetisiert. Während der Verpackung der Phagen-DNA in Hüllproteine kann gelegentlich ein Stück der partiell abgebauten Wirtszellgenom-DNA, das zufällig die richtige Länge zur Verpackung besitzt, anstelle der Phagen-DNA verpackt werden. Etwa 0,1% der entstehenden neuen Phagen enthält solche E. coli-DNA-Bruchstücke anstatt der Phagen-DNA. Solche Phagen können die E. coli-DNA nach ihrer Adsorption an Bakterienzellen in diese injizieren. Damit kommt es zur Duplikation des betreffenden Wirtszellgenombereiches in der Rezeptorzelle. Ähnlich wie bei der Übertragung von
E. coli-DNA durch Hfr-Stämme in F–-Zellen oder bei der F-Duktion kann innerhalb der bakteriellen Genomduplikation Rekombination erfolgen. Man bezeichnet diese Übertragung bakterieller DNA durch einen Phagen als Transduktion. Die Möglichkeit der Transduktion wurde 1952 am Bakteriophagen P22 bei Salmonella typhimurium durch Norton D. Zinder und Joshua Lederberg entdeckt. Da in diesen Systemen alle Wirtsgene ohne Einschränkung transduziert werden können, spricht man auch von genereller Transduktion (engl. generalized transduction). Sie steht im Gegensatz zur spezialisierten Transduktion (engl. specialized transduction), bei der ausschließlich bestimmte Gene transduziert werden können. Als Beispiel für spezialisierte Transduktion haben wir bereits den Bakteriophagen λ kennengelernt. Durch λ können nur Gene aus der Nachbarschaft seines speziellen Integrationsplatzes im Bakteriengenom während des Prophagenstadiums übertragen werden (s. S. 121). ! Der temperente Bakteriophage P1 wird im lyso-
genen Zyklus nicht ins Wirtszellgenom integriert, sondern verbleibt als extrachromosomales, ringförmiges DNA-Molekül in der Zelle. Nach Induktion des lytischen Zyklus beginnt eine Phagen-kodierte Nuklease das Wirtszellgenom zu zerstören. Gelegentlich können dadurch bakterielle DNA-Stücke einer geeigneten Länge entstehen, die dann in Phagenpartikel verpackt werden und durch Infektion in neue Wirtszellen gelangen. Da die auf diese Weise transduzierten DNA-Stücke beliebige Bereiche des bakteriellen Genoms sein können, haben wir es mit generalisierter Transduktion zu tun.
In rekombinationsdefekten Zellen (Rec–-Zellen) kann die transduzierte DNA als extrachromosomales Element, ähnlich einem F′-Plasmid (s. S. 115), erhalten bleiben. Das extrachromosomale Element bleibt zwar bei Zellteilungen erhalten, kann aber nicht repliziert werden, so dass jeweils nur eine Tochterzelle dieses Fragment erhält. Man spricht hierbei von abortiver Transduktion. Die Transduktion bakterieller Gene durch P1 hat wichtige Beiträge zur Ermittlung der genetischen Karte von E. coli geliefert, da die großen transduzierten Genomfragmente es erleichtern, Kopplung von Genen im Wirtszellgenom zu ermitteln.
4.3 Bakteriophagen
Abb. 4.10 a,b. Transduktion durch den Bakteriophagen P1. a Der Bakteriophage P1 verbleibt in der Wirtszelle in episomaler Form. Bei der Lyse der Zellen wird die Genom- DNA der Wirtszelle abgebaut. Hierbei entstehen auch DNA-Fragmente in einer Länge, die fälschlich in einen Phagenkopf (rot) verpackt werden kann. Durch Infektion einer neuen Wirtszelle gelangt diese genomische DNA in eine Wirtszelle, in deren
Genom sie durch homologe Rekombination eingefügt werden kann. Hierdurch können unterschiedliche Allele (im Beispiel Gen A+ und Gen A–) ausgetauscht werden, so dass die Wirtzellen veränderte genetische Eigenschaften aufweisen. b Einzelheiten der Rekombination. Rekombinationsereignisse erfordern zwei Schnitte im Rezeptor- und im Donorgenom. (Nach Freifelder 1983)
Die Fähigkeit des Bakteriophagen P1, große Stücke fremder DNA ohne die Anwesenheit phageneigener DNA in Bakterienzellen zu übertragen, wird auch für gentechnologische Experimente ausgenutzt. Man kombiniert hierzu beliebige DNA-Sequenzen mit kleinen zur Replikation und Stabilität in der Bakterienzelle erforderlichen Phagen-DNA-Bereichen und kann auf diese Weise eine stabile extrachromosomale Er-
haltung Phagen- und wirtszellfremder DNA erzielen. Durch Induktion des lytischen Zyklus kann diese DNA in guter Ausbeute für experimentelle Zwecke isoliert werden. Dieses DNA-Klonierungssystem (s. TechnikBox 8) gewinnt besondere Bedeutung durch seine Zwischenstellung zwischen Cosmiden (die etwa 35 000 bp fremder DNA aufnehmen können) und YACs (die viele Hunderttausende von Basenpaaren
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Kapitel 4: Genome von Prokaryoten und ihren Viren
fremder DNA enthalten). Da der P1-Phage zudem nur als einzelne Kopie in der Wirtszelle vorliegt, kommt es zu keiner unerwünschten Rekombination, die bei Plasmiden und Phagen, die in höherer Multiplizität vorhanden sind, experimentelle Probleme hervorrufen kann. ! Da P1-Phagenpartikel besonders große DNA-
Stücke (ca. 100 kb) transduzieren können, sind sie zur Ermittlung der Koppelung von Genen im E. coliGenom besonders geeignet. Auch für die Gentechnologie gewinnen sie durch die Zwischenstellung zwischen YACs und Cosmiden zunehmend an Interesse.
4.3.4 Bakteriophage T4 Der Bakteriophage T4 (Abb. 4.11 und 4.13) gehört zu den geradzahligen T-Phagen (engl. T-even phages: T2, T4, T6). Er ist, wie die übrigen geradzahligen T-Phagen, virulent. Diesen Phagen fällt in der Geschichte der Genetik eine besondere Rolle zu, da sie die ersten tiefgreifenden Einblicke in die molekulare Struktur von Genen gestatteten und zur Ausarbeitung der Grundlagen der Phagengenetik gedient haben. Diese Rolle geht auf die Arbeiten Max Delbrücks zurück, der in den frühen 1940er Jahren den Infektionszyklus dieser Phagen aufgeklärt und die ersten experimentellen Techniken der Phagengenetik an ihnen erarbeitet hat. Die experimentelle Arbeit mit dem T4-Phagen macht von seiner Fähigkeit Gebrauch, E. coli-Zellen zu infizieren und sich in ihnen innerhalb von etwa 30 Minuten um das 100fache zu vermehren. Mischt man E. coli-Zellen mit T4, so heftet sich der Phage mit der Basalplatte seines Schwanzes an die Zellwand an und injiziert seine 1,75 × 105 bp lange doppelsträngige DNA innerhalb weniger Sekunden in die Zelle (Abb. 4.6 und 4.11). Nach etwa 22 bis 25 Minuten, der latenten Periode (engl. lag period), lysieren die Wirtszellen und entlassen jeweils etwa 100 neu gebildete Phagenpartikel. Diese sind außerordentlich stabil und können über viele Jahre hinweg als Lysat infektiös bleiben. Für experimentelle Arbeiten wird ein Überschuss an E. coli-Zellen mit T4-Phagen gemischt und anschließend auf Agarplatten mit geeignetem Nährmedium ausgesät. Es formt sich durch die wachsen-
Abb. 4.11. Lineare DNA und Phagenhülle des Bakteriophagen T2. Die DNA wurde durch einen osmotischen Schock aus dem Phagenkopf eluiert und im Elektronenmikroskop dargestellt. Dieses Bild ist auch für den nahe verwandten Bakteriophagen T4 repräsentativ. (Aus Kleinschmidt et al. 1962)
den nichtinfizierten Zellen ein Bakterienrasen, auf dem sich allmählich größer werdende, klare Löcher von etwa 1 mm Durchmesser, sogenannte Plaques, bilden. Diese gehen in ihrem Ursprung auf einzelne T4-infizierte Zellen zurück, die nach der Phagenvermehrung lysieren und benachbarte Zellen mit den neugebildeten Phagen infizieren. Entscheidend für die Möglichkeit, den Phagen für genetische Untersuchungen zu verwenden, war der Befund, dass man gelegentlich veränderte Plaqueformen beobachten kann, die genetisch bedingt sind, also durch Mutationen im Phagen verursacht werden. Eine solche veränderte Plaqueform, die sich durch ihre Größe auszeichnet und auf einer veränderten Lysegeschwindigkeit der Zellen beruht, wurde beim Bakteriophagen T2 entdeckt, einem nahen Verwandten von T4 und mit dem
4.3 Bakteriophagen
genetischen Symbol r (für engl. rapid lysis) bezeichnet (im Gegensatz zum Wildtyp r+). Sehr bald wurden weitere Mutationen entdeckt, so zum Beispiel eine Mutante, die trübe Plaques bedingt (engl. turbid plaques, tu). Eine wichtige Klasse von Mutanten sind auch die Host-range-Mutationen (genetisches Symbol: h), die die Wachstumsfähigkeit in bestimmten Wirtszellen beschränken. So können bestimmte E. coli-Zellen (Ttor) nicht durch Wildtypphagen (h+), wohl aber durch den Phagen mit der Host-rangeMutation h infiziert werden. Vergleichbare genetische Veränderungen werden auch beim Phagen T4 gefunden, an dem die meisten Untersuchungen in der folgenden Zeit ausgeführt wurden. Eine für die künftigen Arbeiten ausschlaggebende Beobachtung von Alfred Hershey und Raquel Rotman (1949) war es, dass man nach gleichzeitiger Infektion einer Wirtszelle mit zwei genetisch verschiedenen Phagen in deren Nachkommenschaft Rekombinanten finden kann (Abb. 4.12). Mischt man zwei T2-Phagen, den einen mit den Mutationen r (rapid lysis) und h+ (host-range, wildtyp) (genetische Konstitution als r h+), den anderen mit der Mutation r+ und h (infektiös für Ttor-E. coliZellen) (genetische Konstitution also r+ h), so erhält man unter anderem rekombinante Nachkommen der Konstitutionen r+ h+ und r h mit einer Häufigkeit von etwa 2%. In ähnlicher Weise können Dreifaktorenkreuzungen ausgeführt werden, die geeignet sind, die relativen Abstände der untersuchten Gene festzustellen und damit eine genetische Karte zu konstruieren (Abb. 4.12). Bei der Ausarbeitung der Kreuzungsergebnisse ergaben sich jedoch unerwartete Probleme, als man Kreuzungen mit Markergenen ausführte, die nach der Kartierung eigentlich an den beiden entgegengesetzten Enden des Chromosoms liegen sollten (z. B. h42, ac41 und r67). Sie ergaben Rekombinanten, die für eine Anordnung r67-h42-ac41 sprachen. Als Erklärung hierfür bot es sich schließlich an, ein zirkuläres Chromosom anzunehmen (Abb. 4.12). Das war ein deutlicher Widerspruch zur elektronenmikroskopischen Analyse der Phagen-DNA, die ein lineares DNA-Molekül angezeigt hatte. Einen Ausweg aus dieser Diskrepanz bot die Erklärung, dass das Phagengenom zwar linear ist, aber an beiden Enden die gleichen Gene trägt, d. h. zirkulär permutiert ist. Die Gensequenz von fünf Genen (1 bis 5) im Genom wäre demnach beispielsweise schematisch folgendermaßen zu verstehen:
1–2–3–4–5–1–2. Diese Interpretation hat sich als richtig bestätigt. Die duplizierten Enden variieren, je nach dem Phagen, zwischen einer Länge von 2000 und 6000 Basenpaaren, also mehr als für ein einzelnes Gen erforderlich ist. Zudem hat es sich gezeigt, dass die wiederholten Abschnitte des Genoms in verschiedenen Phagen unterschiedliche Bereiche umfassen. In unserem Schema könnte die Genkarte also auch wie folgt aussehen: 3–4–5–1–2–3 oder 4–5–1–2–3–4–5. Die Erklärung für die Entstehung solcher zirkulären Permutationen gibt die Art des Replikationsmechanismus. Die Replikation erfolgt mit Hilfe des Rollingcircle-Mechanismus, durch den zunächst lange lineare Genomkopien produziert werden, die tandemartig hintereinander angeordnet sind (Abb. 2.20). Die DNA wird dann in den Phagenkopf hineingezogen. Sobald dieser gefüllt ist, wird die DNA abgeschnitten und der verbleibende Doppelstrang wird auf gleiche Weise in einen weiteren Phagenkopf verpackt. Die DNA-Menge, die in einen Phagenkopf passt, ist etwas größer als die des Genoms, so dass jeweils die ersten Gene der nächsten Genomkopie noch in den gleichen Phagenkopf verpackt werden. Dieser Mechanismus erklärt die Anwesenheit duplizierter Enden in jedem Phagen und zugleich deren Verschiedenheit in jedem Phagenpartikel. ! Der Bakteriophage T4 ist, wie alle geradzahligen Phagen, ein virulenter Phage, der sich durch sein zirkular permutiertes Genom auszeichnet. Die zirkuläre Permutation wird durch den Rolling-circle-Replikationsmechanismus zusammen mit der Art der Verpackung der Phagen-DNA in den Phagenkopf bedingt. Nach Doppelinfektion mit T4-Phagen unterschiedlicher genetischer Konstitution können mit relativ hoher Frequenz Rekombinanten erhalten werden, die eine sehr effektive genetische Analyse des Phagengenoms ermöglichen.
Mit diesen Experimenten war der Weg zur genetischen Analyse des Phagengenoms geebnet. Die Ana-
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Kapitel 4: Genome von Prokaryoten und ihren Viren
Abb. 4.12 a,b. Rekombination bei Bakteriophagen. a Nach Doppelinfektion einer Wirtszelle mit Phagen unterschiedlicher Genotypen (rot und schwarz) werden unter den Nachkommen neben den parentalen Genotypen auch Rekombinanten (rot/schwarz) gefunden. b Durch solche Rekombinationsstudien an den jeweiligen Markern wurde die Chromosomenkarte des Bakteriophagen T4 erstellt. Die Auswertung der Rekombinationshäufigkeiten ließ sich nur in Form einer zirkulären Chromosomenkarte interpretieren (unten). Dieses Ergebnis war unerwartet, da andere Daten dafür sprachen, dass es sich um ein lineares Chromosom handelt (oben). Die Erklärung für diese Diskrepanz der experimentellen Daten liegt in der zirkulären Permutation des linearen Genom. (b: Verändert nach Streisinger et al. 1964)
lyse des T4-Genoms hat, vor allem durch die Pionierleistungen Seymour Benzers, zu wichtigen ersten Einsichten in die molekulare Feinstruktur von Genen geführt. Benzer (1957) schreibt in der Einleitung zu seiner Arbeit The elementary units of heredity: „A remarkable feature of genetic fine structure studies has been the ability to construct (by recombination experiments) genetic maps which remain onedimensional down to the smallest levels. The molecular substance (DNA) constituting the hereditary material in bacteria and bacterial viruses is also onedimensional in character. It is therefore tempting to seek a relation between the linear genetic map and its molecular counterpart which would make it possible
4.3 Bakteriophagen
Fibrillen
Abb. 4.13 a,b. Der Bakteriophage T4. a Genom des Bakteriophagen T4 mit Angabe der Positionen von den Genen, die für die verschiedenen Phagenkomponenten kodieren. b Hauptereignisse bei der Morphogenese des Bakteriophagen T4. Die verschiedenen Schritte der Zusammensetzung des Phagen
erfordern die Gene, die mit ihrer Nummer verzeichnet sind. Die Nummerierung beruht auf einer Rekombinationskarte des Genoms (vgl. Abb. 4.12). (a: nach Mosig 1970, b: nach Wood aus Freifelder 1987)
to convert ,genetic length‘ (measured in terms of recombination frequencies) to molecular length (measured in terms of nucleotide units).“ Die Genomkarte des Phagen T4, die sich aufgrund dieser Experimente herausgebildet hatte, ist in Abb. 4.13 dargestellt. Weiterhin zieht Benzer den wichtigen Schluss: „The classical ‚gene‘, which served at once as the unit of genetic recombination, of mutation, and of function, is no longer adequate.“ Wir begegnen hier also
erster Kritik am klassischen Genbegriff, und wir werden uns mit seinem heutigen Verständnis noch genauer befassen müssen, wenn wir uns mit verschiedenen molekularen Aspekten der Genstruktur auseinandergesetzt haben (s. S. 128, 143). Benzers Arbeiten lieferten einen fundamentalen Beitrag für unsere Einsicht in den molekularen Aufbau von Genen. Die experimentelle Basis seiner Untersuchungen am rII-Locus des Bakteriophagen T4 ist der von Edwin B. Lewis (1951) ausgearbeitete
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Kapitel 4: Genome von Prokaryoten und ihren Viren
Cis-trans-Test (Abb. 4.14): „This test is used to tell whether two mutants, having apparently similar defects, are indeed defective in the same way. For the trans test, both mutant genomes are inserted in the same cell (e.g., in heterocaryon form, or, in the case of a bacterial virus, the equivalent obtained by infecting a bacterium with virus particles of both mutant types). If the resultant phenotype is defective, the mutants are said to be non-complementary, i.e., defective in the same ‚function‘. As a control, the same genetic material is inserted in the cis configuration, i.e., as the genomes from one double mutant and one non-mutant. The cis configuration usually produces a non-defective phenotype (or a close approximation to it). It turns out that a group of noncomplementary mutants fall within a limited segment of the genetic map. Such a map segment, corresponding to a function which is unitary as defined by the cis-trans test applied to the heterocaryon, will be referred to as a ‚cistron‘“ (Benzer 1957). Benzer definiert hiermit eine veränderte Form des Genbegriffes, das Cistron. Er schuf damit einen noch heute sehr gebräuchlichen Begriff, den wir in der Molekulargenetik in vielen Fällen für ein Gen gebrauchen können. Eigentlich handelte es sich aber bei dieser Definition lediglich um eine genauere Fassung dessen, was zuvor unter einem Gen verstanden wurde: Die Beziehung zwischen einer bestimmten phänotypischen Ausprägung eines Merkmals und einem genau festgelegten genetischen Verhalten. Dieses genetische Verhalten wird nicht mehr, • wie beim ursprünglichen Genbegriff, dadurch bestimmt, dass sich ein phänotypisches Merkmal in bestimmte Verteilungs- und Ausprägungsregeln einordnen lässt, wie sie in den Mendel’schen Regeln niedergelegt waren, • sondern wird nunmehr – wesentlich genauer – damit festgelegt, dass ein Merkmal auf der Grundlage phänotypischer Kriterien genetisch nicht weiter unterteilbar sein darf, um als ein Cistron bezeichnet werden zu dürfen. Obwohl sich diese Definition damit in ihrer rein genetischen Basis in keiner Weise vom Mendel’schen Genbegriff zu unterscheiden scheint, werden wir später sehen, dass sie – ganz im Gegensatz zum Mendel’schen Genbegriff – zugleich auch molekular anwendbar ist.
Abb. 4.14 a–d. Cis-trans-Test. Neu isolierte Mutationen (Dreiecke) können unterschiedliche Gene (hier mit A und B gekennzeichnet), die für die Proteine A oder B kodieren (a), betreffen (b) oder im gleichen Gen liegen (c und d). Zur experimentellen Analyse erzeugt man durch Kreuzung diploide Doppelmutanten. Im Wildtyp (a) werden beide Proteine, A und B, synthetisiert. In den genetischen Konstitutionen mit zwei Mutationen (b bis d) können beide Proteine dann synthetisiert werden, wenn die Mutationen in unterschiedlichen Genen (trans) erfolgt sind (b), nicht jedoch, wenn sie in beiden Homologen im gleichen Gen (cis) liegen (c und d). Aufgrund solcher Komplementationstest kann man genetische Einheiten definieren, innerhalb denen Mutationen sich im Allgemeinen nicht komplementieren können (Cistrons). Gelegentlich kommt es jedoch auch hier zu intracistronischer Komplementation, wenn zwei Mutationen im gleichen Cistron zu einer neuen, funktionsfähigen strukturellen Form des Genproduktes führen
4.3 Bakteriophagen
! Benzer führt auf der Grundlage des Cis-trans-Tests
von Mutanten den Begriff des Cistrons ein. Als Definition für ein Cistron gebraucht er das Ausbleiben phänotypischer Komplementation bei der Kombination zweier phänotypisch ähnlicher Mutationen in TransKonstitution, d.h. bei der Kombination beider Gene auf unterschiedlichen Chromosomen (z. B. durch Phagendoppelinfektion) in einer Zelle. Erfolgt hierbei Komplementation, so müssen beide Mutationen verschiedenen Cistrons zugehören.
Ausgangspunkt der Versuche Benzers ist die Überlegung, dass es erforderlich ist, eine große Anzahl von Mutanten zu untersuchen, um Aufschlüsse über die genetische Feinstruktur eines Gens zu erzielen. Geeignet ist hierzu nur ein Material, das es gestattet, große Mutantenzahlen zu isolieren und sie in Kreuzungen gegeneinander auszutesten. Dieser letzte Gesichtspunkt ist keineswegs trivial. Vielmehr sind Kreuzungstests sehr schnell praktische Grenzen gesetzt, wenn man sich die Größenordnungen vor Augen hält, die bei dem Versuch einer lückenlosen Analyse erreicht werden. Um n Mutanten in allen möglichen Kombinationen miteinander auszutesten, sind (da reziproke Ansätze nicht notwendig sind) n(n–1)/2 Kreuzungsansätze erforderlich. Die vollständige Analyse von 100 unabhängig voneinander induzierten Mutanten erfordert also 4950 Kreuzungsansätze, die von 200 Mutanten bereits 19 900 Kreuzungsansätze! Benzer hatte bei Abschluss seiner Versuche an der rII-Region an die 3000 Mutanten untersucht. Für deren vollständige Analyse wären etwa 5 000 000 Kreuzungen erforderlich gewesen, ein Aufwand, der technisch nicht durchführbar gewesen wäre. Es war also notwendig, einen experimentellen Ausweg zu suchen, der eine eindeutige Kartierung mit sehr viel weniger Aufwand ermöglichte. Hierzu bot sich die Verwendung von Mutanten an, denen ein größerer Bereich der rII-Region fehlt (von Benzer „abnormale“ Mutanten genannt). Solche Deletionsmutanten ermöglichen es, in einem ersten Kreuzungsansatz neue Mutanten schnell einer bestimmten Region eines Gens zuzuordnen (Abb. 4.15). Als Kriterium für den Deletionscharakter einer Mutation benutzte Benzer die Tatsache, dass in Rekombinationsexperimenten bestimmte Mutationen mit anderen Mutationen, die
• untereinander normales Rekombinationsverhalten zeigen, keine Wildtyp-Rekombinanten liefern, und dass sie • keine Reversionen zum Wildtyp liefern. Obwohl hierfür durchaus andere Erklärungen möglich wären, erwiesen sich die von Benzer für seine Versuche ausgewählten „Deletionsmutanten“ tatsächlich als solche. Deletionsmutanten können zunächst nach dem Schema in Abb. 4.15 gegeneinander kartiert werden, so dass man damit ihre Positionen in der genetischen Karte relativ zueinander bereits festgelegt hat. Die nachfolgende Kreuzung jeder neuisolierten Mutante mit einer Serie geeigneter Deletionsmutanten erlaubt es dann, jeder dieser Mutanten relativ schnell eine ungefähre Kartenposition zuzuweisen. In seiner genetischen Analyse setzte Benzer insgesamt 47 Deletionsmutanten ein. Natürlich ist die Verwendung eines geeigneten Gens, das eindeutige Identifikation von Mutationen mit einfachen Mitteln erlaubt, die Voraussetzung einer Feinstrukturanalyse eines Gens. Benzer machte von den rII-Mutationen des Bakteriophagen T4 Gebrauch, die sich durch einen r-Phänotyp (rapid lysis), also durch ihre spezielle Plaquemorphologie und durch ihr unterschiedliches Verhalten auf verschiedenen Wirtsstämmen von E. coli leicht erkennen lassen (Tabelle 4.2). ! Durch die Verwendung von verschiedenen einander überlappender Deletionsmutanten in Kreuzungsexperimenten können neu isolierte Mutationen schnell bestimmten Genregionen zugeordnet werden. Auf diesem Wege erübrigen sich Kreuzungsexperimente, in denen alle Mutationen in allen möglichen Kombinationen gegeneinander getestet werden.
Die Kartierungsexperimente ergaben zunächst, dass es bei der Ausführung von Cis-trans-Tests innerhalb der rII-Region des Genoms des Phagen T4 zwei voneinander genetisch unabhängige Einheiten – Cistrons nach Benzers Terminologie – gibt, die rIIA und rIIB genannt wurden (Abb. 4.17). Die weitere Analyse zeigte, dass innerhalb jeder dieser beiden Cistrons viele Mutationen induziert werden können, deren Lokalisation relativ zueinander eindeutig zu unterscheiden ist (Abb. 4.17). Da diese verschiedenen
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Kapitel 4: Genome von Prokaryoten und ihren Viren
Tabelle 4.2. Plaque-Morphologie von rII-Mutanten in
verschiedenen E. coli-Stämmen Phagenstamm
Phänotypen in den bakteriellen Wirtszellen: E. coli B
E. coli S
E. coli R
Wildtyp
Wildtyp
Wildtyp
Wildtyp
rI
r
r
r
rII
r
Wildtyp
–
rIII
r
Wildtyp
Wildtyp
Aus Benzer (1957)
Mutanten zugleich auch Rekombination untereinander zulassen, sind drei wichtige Einsichten aus diesen Kartierungsexperimenten abzuleiten: • Ein Cistron ist als genetische Einheit nicht identisch mit einer Rekombinationseinheit, sondern komplexer. • Ein Cistron ist als genetische Einheit nicht identisch mit einer Mutationseinheit, sondern komplexer. • Die physikalische Dimension einer Mutationseinheit und einer Rekombinationseinheit liegt in der Größenordnung einzelner Nukleotide. Heute ist durch DNA-Sequenzierung bewiesen, dass die kleinsten Einheiten für Mutation und Rekombi-
rII Phagengenom
rII-Deletionen (Teststämme)
Wildtyp (r+) r1272 r1242 rJ3 rPT1 rPB242 rA105 r638 A2
A3
A4
A5
A6
B
rI605 r1589 rPB230 A5a
A5b
A5c
A5d
rI993 rI695 rI168 A5c1
rJ148
A5c2a1
r548 r960 rEM50
A5c2a2
r795
rIIDeletionen
A1
A5c2b
rF27 rI1235
rIIDeletionen
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Abb. 4.15. Prinzip der Grobkartierung von Punktmutationen mit Hilfe von Deletionen in der rII-Region des Phagen T4. Oben ist das gesamte Genom des Phagen (vgl. Abb. 4.13) gezeigt. Die darunterliegenden Blöcke zeigen verschiedene Deletionsmutanten, die eine zunehmende Eingrenzung des mutierten Bereiches gestatten. Die zu lokalisierende Mutation wird in trans-Stellung zu den sieben verschiedenen Deletionen gebracht. Erfolgt beispielsweise durch die Deletion rPB242 keine Komplementation (vgl. Abb. 4.14), wohl aber durch die Deletion rA105, so muss die Mutation im Bereich A5 erfolgt sein. Die oberste Gruppe von Deletionen erlaubt es daher, durch sieben Kreuzungsversuche neue Mutationen unmittelbar den Regionen A1 bis A6 innerhalb der rIIA-Region zuzuweisen. Eine weitere Eingrenzung des mutierten Genombereiches kann nun durch drei weitere Deletionen der zweiten Gruppe erfolgen: Sie weist die Mutation durch das gleiche Verfahren wie zuvor beschrieben beispielsweise der Region A5c zu. Schließlich kann mittels dreier weiterer Deletionen in der dritten Gruppe die Feinkartierung erfolgen: Im Beispiel wird die Mutation durch die Deletionen rI695 und rI168 dem Bereich A5c2a2 zugeordnet. Abb. 4.17 zeigt uns das Ergebnis dieser Mutationsanalyse für die rII-Region des Phagen T4. (Nach Russell 1989)
4.3 Bakteriophagen
nation tatsächlich die Nukleotide sind. Die physikalische Länge der rII-Region besteht nach heutigem Wissen aus etwa 1300 Nukleotiden (800 für rIIA und 500 für rIIB). Da Benzer in seinen Versuchen über 300 verschiedene Kartenpositionen innerhalb der rIIRegion ermittelt hatte, ist in seiner Sammlung von 3000 Mutationen im Mittel jedes vierte Nukleotid einmal verändert gewesen. Die geringste Rekombinationshäufigkeit zum Wildtyp, die Benzer zwischen zwei Mutationen im rII-Bereich gefunden hat, beträgt 0,01%. Die genetische Karte des Genoms von T4 ist nach unserem heutigen Wissen 1500 Einheiten lang, die Größe des T4-Genoms beträgt 1,75 × 105 Basenpaare. Da bei einer Rekombinationshäufigkeit zum Wildtyp von 0,01% die Frequenz von Doppelmutanten enthalten ist, die in Benzers Experimenten nicht entdeckt wurden, beträgt die wirkliche kleinste Rekombinationshäufigkeit etwa 0,02%, also 0,02 Einheiten der genetischen Karte. Bezogen auf die genetische Größe des T4-Genoms bedeutet das, dass der kürzeste Abstand, bezogen auf die gesamte genetische Karte, 0,02/1500 = 1,33 × 10–5 beträgt. Bei einer Gesamtlänge des Genoms von 1,75 × 105 bp muss der Rekombinationsabstand – und damit auch der Abstand der beiden Mutationen mit der niedrigsten Rekombinationsrate – (1,33 × 10–5) × (1,75 × 105) Basen, also etwa 2 Nukleotide betragen.
Es muss abschließend noch ein anderer Phage erwähnt werden, der E. coli-Phage ΦX174. Das Genom dieses Phagen ist sehr klein und besteht aus einem einzelsträngigen DNA-Molekül von nur 5375 Nukleotiden. Man hat festgestellt, dass von dieser DNA elf verschiedene Proteine kodiert werden, die insgesamt rund 2300 Aminosäuren enthalten. Hierfür wäre eigentlich eine DNA-Länge von 6900 Nukleotiden erforderlich. Die Sequenzanalyse des Phagen durch Frederick Sanger (1978) erlaubte es, diesen Widerspruch zu lösen. Es zeigt sich nämlich, dass sich die Leseraster mehrerer Gene überlappen; d. h. eine Verschiebung des Leserasters um ein oder zwei Nukleotide gestattet die Synthese eines in seiner Aminosäurefolge völlig anderen Proteins (Abb. 4.16).
Abb. 4.16 a,b. Das Genom des Bakteriophagen ΦX174. a Genomkarte. Das 5375 Nukleotide lange Ringchromosom besitzt in drei Regionen überlappende Genbereiche (farbig). Die Ziffern geben nicht Protein-kodierende DNA-Bereiche an. O Replikationsursprung der Einzelstrang-DNA. PA und PD Promotor der Gene A und D. b Molekulare Feinstruktur der überlappenden Gene D, E und J. In der Mitte der Abbildung ist die
Basensequenz in der jeweiligen Grenzregion der Überlappung (Nukleotidnummern darüber angegeben) dargestellt. Die Tripletts der verschiedenen Leseraster sind durch farbige Rechtecke unter bzw. über den jeweiligen Aminosäuren gekennzeichnet. Jedes Gen ist durch ein großes Rechteck begrenzt. (a: aus Watson et al. 1987, b: nach Sanger et al. 1977)
! Die genetische Feinkartierung der rII-Region des Phagen T4 lässt erkennen, dass die kleinsten Rekombinations- und Mutationseinheiten in der Größenordnung einzelner Nukleotide zu suchen sind, während die klassische Genetik das „Gen“ als Einheit der Rekombination und der Mutation betrachtet hatte.
4.3.5 Bakteriophage ΦX174
131
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Kapitel 4: Genome von Prokaryoten und ihren Viren
! Protein-kodierende DNA-Sequenzen können im
Ausnahmefall auch überlappend angeordnet sein. Durch Verschiebung des Leserasters werden mehrere verschiedene Proteine im gleichen DNA-Bereich kodiert.
4.4 Transformation In den vorangegangenen Abschnitten haben wir gelernt, dass zwischen extrachromosomalen genetischen Elementen wie Plasmiden und Bakteriophagen und dem Genom eines Bakteriums direkte Austauschereignisse ablaufen können. Das kann letztlich eine Übertragung genetischer Information zwischen verschiedenen Individuen oder darüber hinaus, bei geringerer Wirtsspezifität, sogar zwischen verschiedenen Wirtsgruppen, zur Folge haben. Vieles deutet darauf hin, dass vergleichbare Mechanismen nicht nur bei Prokaryoten zu beobachten sind, sondern auch in Eukaryoten eine Rolle spielen. Zweifellos müssen sich unsere Vorstellungen über die Stabilität der Struktur eines bestimmten Genoms gegenüber der klassischen Vorstellung von der Konstanz des genetischen Materials grundlegend wandeln. Solche Ereignisse des Informationsübertrages durch Transformation müssen auch schwerwiegende Konsequenzen für unser Verständnis von Evolutionsmechanismen haben. In Zusammenhang mit der Beschreibung mobiler genetischer Elemente werden wir auf diesen Aspekt näher eingehen müssen. An dieser Stelle soll jedoch zunächst noch einmal an den Beginn der molekularen Erforschung des Erbmaterials zurückgegangen werden. Aus der Beschreibung der Experimente von Avery, die zur Identifikation der DNA als molekularer Trägersubstanz der Erbinformation geführt hatten (s. S. 21), war zu erkennen, dass ein Hinzufügen von DNA zu Zellen von Mikroorganismen zur Veränderung der Erbinformation führen kann, ohne dass wir zunächst die Grundlage dieser Experimente verstehen konnten. Nach der Besprechung von Mechanismen wie Sexduktion und Transduktion können wir nun jedoch diesen noch fehlenden Schritt zum Verständnis der Versuche Averys nachholen. In den Experimenten von Avery müssen die Streptokokken DNA aus den abgetöteten Zellen aufgenommen haben. Wir wissen heute, dass Streptococcus und einige andere
Abb. 4.17. Genetische Karte der rII-Region des Bakteriophagen T4. Die Vierecke zeigen die Anzahl der von Benzer erhaltenen Mutationen in jeder Position an. Zwei hot spots fallen besonders auf. Die Kartierung der Mutationen erfolgte nach der in Abb. 4.15 dargestellten Deletionskartierungsmethode. (Aus Benzer 1961)
Prokaryoten – im Gegensatz zu E. coli – DNA sehr leicht in die Zelle aufnehmen können. In den Zellen kommt es dann zu Rekombination mit der genomischen DNA, so dass die fremde genetische Information in das Genom der Zelle aufgenommen wird. In Averys Experimenten hat das schließlich zur Übertragung der Infektivität der Streptokokken, d. h. zum Tode der Mäuse durch Pneumonie geführt, obwohl die Erreger zuvor durch Hitze abgetötet worden
4..4 Transformation
waren: Die nichtpathogenen R-Typ-Streptokokken waren durch Aufnahme von DNA des pathogenen STyp-Stammes transformiert worden. Der Mechanismus der Transformation ist auch heute nur teilweise geklärt (Abb. 4.18). Offenbar können einige Bakterien gerichtet DNA verwandter Bakterien aufnehmen, indem sie mit Hilfe eines speziellen Proteins in der Zellwand spezifische Erkennungssequenzen extrazellulärer DNA binden. Die doppelsträngige Donor-DNA gelangt danach als Einzelstrangmolekül in die Rezeptorzelle, da beim Eindringen in die Zelle ein Strang der DNA durch eine Exonuklease abgebaut wird. Der verbliebene Strang wird wahrscheinlich mit einem schützenden Protein umgeben. Vermutlich mit Hilfe des RecA-Proteins oder eines verwandten Proteins kann der Einzelstrang dann Rekombinationsereignissen mit der genomischen DNA der Rezeptorzelle unterliegen. Die Rekombination erfolgt mit Hilfe der zellulären Mechanismen, wie sie an anderer Stelle besprochen wird (s. S. 192 ff). Transformation unterscheidet sich somit von den zuvor beschriebenen DNA-Übertragungsmechanismen durch Plasmide oder Phagen nur insofern, als die DNA zur Übertragung in diesem Falle keine Hilfselemente benötigt, sondern direkt von der Zelle aufgenommen wird. Auch dieser Mechanismus ist nicht auf Prokaryoten beschränkt, da man DNA nach geeigneten Permeabilisierungsschritten experimentell auch in eukaryotische Zellen einbringen kann. Neuerdings gibt es Hinweise darauf, dass horizontale Übertragung von DNA, d. h. Übertragung von DNA zwischen Individuen ohne sexuelle Kontakte, und zwar durch Parasiten, möglich ist (s. S. 347). DNAMoleküle, die auf diesem Wege übertragen werden, können anschließend durch Rekombination in das eukaryotische Genom eingebaut werden. Die Effektivität der Aufnahme von DNA ist für unterschiedliche Bakterien sehr verschieden. Während manche Mikroorganismen DNA leicht in die Zelle aufnehmen, wird in anderen die Aufnahme durch die Struktur der Zellwand unterbunden. Beispielsweise bedürfen E. coli-Zellen einer Vorbehandlung mit CaCl2-Lösungen, um für DNA durchlässig zu werden. Die meisten Prokaryoten besitzen zudem besondere Abwehrmechanismen gegenüber fremder DNA. Wie bereits erwähnt, sind spezielle Nukleasen in der Lage, zellfremde DNA von der zelleigenen zu unterscheiden, z. B. aufgrund von Methylierung, und somit gezielt zu vernichten (s. S. 119).
Abb. 4.18. Transformationsmechanismus bei Bakterien. Oben: Vom Bakteriengenom (Kreis) werden Kompetenzfaktoren (blaues Viereck) kodiert, die an membrangebundene Rezeptoren binden (Raute) und dadurch weitere Gene induzieren. Hierdurch werden membrangebundene DNA-bindende Proteine und Nukleasen (Kreise) aktiviert, die extrazelluläre doppelsträngige DNA binden und abbauen. Unten: Ein Einzelstrang dieser DNA kann durch DNA-bindendes Protein (Ellipsen) gegen Abbau geschützt werden. Dieser DNA-Einzelstrang kann in die Bakterienzelle eindringen und mit dem bakteriellen Genom rekombinieren. (Nach Watson et al. 1987)
Zusammenfassend lässt sich jedoch feststellen, dass die Möglichkeit der Aufnahme von fremder DNA in ein zelluläres Genom ein allgemeiner biologischer Mechanismus ist. Zwar haben viele – vielleicht alle – Zellen Schutzmechanismen entwickelt, die in den meisten Fällen die Aufnahme zellfremder DNA in das zelleigene Genom verhindern. Aber in Einzelfällen kann es zu solchen Austauschereignissen kommen. Bei Prokaryoten mit ihrer hohen Zellteilungsrate dürften solche Ereignisse ausreichen, um neue Eigenschaften in Zellpopulationen zu verbreiten und damit für Selektionsmechanismen verfügbar zu machen.
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Kapitel 4: Genome von Prokaryoten und ihren Viren
! Die Aufnahme fremder DNA in eine Zelle wird
als Transformation bezeichnet. Eine solche Fähigkeit und die zur Integration von DNA extrazellulären Ursprungs ins Genom ist eine allgemeine Eigenschaft pro- und eukaryotischer Zellen. Allerdings unterscheiden sich Zellen in ihrer Effektivität der Aufnahme von DNA. Einige Bakterienzellen verfügen über spezielle Mechanismen, extrazelluläre DNA an die Zellmembran zu binden und sie ins Innere der Zelle aufzunehmen, während die meisten Prokaryoten Abwehrmechanismen gegen das Eindringen fremder DNA entwickelt haben.
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Kernaussagen
▬ Prokaryoten besitzen stets nur ein Chromosom, das aus Einzel- oder Doppelstrang-RNA oder aus Einzel- oder Doppelstrang-DNA besteht. ▬ Auch Prokaryotenchromosomen enthalten spezifische chromosomale Proteine, jedoch keine Histone. ▬ Neben den Chromosomen können prokaryotische Zellen extrachromosomale Elemente enthalten, die aus RNA oder DNA bestehen.
▬ Diese extrachromosomalen Elemente ermöglichen auch bei den haploiden Prokaryoten Rekombinationsvorgänge. ▬ Extrachromosomale Elemente können rein intrazellulären Charakter haben. Sie heißen dann Plasmide (oder Episomen). ▬ Andere extrachromosomale Elemente durchlaufen extrazelluläre Phasen. Während extrazellulärer Stadien ist ihre Nukleinsäure in Proteinhüllen verpackt. Solche Elemente werden als Bakteriophagen (oder Phagen) bezeichnet. ▬ Plasmide und Bakteriophagen ermöglichen weitreichende genetische Manipulationen des Genoms ihrer Wirtszellen. ▬ Durch die Kombination von Bakterien- und Phagengenetik wurde die molekulare Grundstruktur des genetischen Materials aufgeklärt. Insbesondere wurde der Genbegriff durch die Definition des Cistrons auf molekularer Ebene verständlich. ▬ Eine wichtige allgemeine Eigenschaft lebender Zellen ist die Fähigkeit zur Aufnahme fremder DNA (Transformation) und deren Integration ins Genom. ▬ In Ausnahmefällen können bei Prokaryoten sich überlappende Gene vorkommen.
Technik-Box
Technik-Box 8
Klonierung von DNA Anwendung: Analyse bestimmter DNA-Segmente; genetische Manipulation. Voraussetzungen · Materialien: Als Vektoren werden zur Klonierung entweder bakterielle Plasmide, Bakteriophagen (vorwiegend λ, M13, aber auch P1), Cosmide (künstliche λ-Derivate),
künstliche Bakterienchromosomen (engl. bacterial artificial chromosome, BAC) oder künstliche Hefechromosomen (engl. yeast artificial chromosome, YAC) verwendet. Jeder Vektor nimmt DNA-Fragmente eines bestimmten, begrenzten Größenbereiches auf (Plasmide bis zu etwa 12 kb, λ-Phagen etwa zwischen 12 und 23 kb, Cosmide
um 30 kb, P1-Phagen um 90 kb sowie BACs und YACs mehrere hundert kb). Die heute verwendeten Vektoren sind gegenüber ihren Ursprungsformen durchweg stark verändert, da man sie den Bedürfnissen der Gentechnologie angepasst hat. Jeder Vektor zeichnet sich durch eine Reihe spezifischer Eigenschaften aus, so Die Abbildung zeigt die Klonierung in einem E. coli-Plasmid. Als Vektor-DNA dienen modifizierte Bakteriophagen oder Plasmide. Diese werden durch Restriktionsenzyme (hier: EcoRI) geöffnet. Durch Ligation mit dem entsprechenden Fragment der zu untersuchenden DNA wird diese in den Vektor eingefügt. Nach anschließender Transformation in kompetente E. coli-Zellen kann eine Selektion auf die gesuchten DNA-Sequenzen erfolgen. Der Vektor enthält ein Resistenzgen gegen Ampicillin (ampR), das lacZ-Gen zur Selektion auf die Anwesenheit eines Inserts und einen Klonierungsbereich mit verschiedenen Schnittstellen für Restriktionsenzyme (engl. multiple cloning site). In der Regel wird dieser Klonierungsbereich von Startsequenzen für RNA-Polymerasen (z. B. T7- und T3-RNA-Polymerasen) flankiert, die für die Herstellung von sense- und antisense-Transkripten (Technik-Box 7), aber auch als Startstellen für die PCR (Technik-Box 4) und DNA-Sequenzierung (Technik-Box 15) verwendet werden können. (Nach Kempken u. Kempken 2004)
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Kapitel 4: Genome von Prokaryoten und ihren Viren
Technik-Box 8
Klonierung von DNA (Fortsetzung) dass man die Wahl des Vektors von der Anwendung der Klonierung abhängig macht. Klonierungsvektoren sind stets mit einer Reihe von besonderen DNASequenzelementen ausgestattet, die die molekularbiologische Arbeit beträchtlich vereinfachen. Sie besitzen beispielsweise Polylinkerregionen (engl. multiple cloning site, MCS) mit verschiedenen Restriktionsschnittstellen, die das Einfügen fremder DNASequenzen (DNA-Inserts) erleichtern. Primerbindungsregionen (engl. primer binding sites) erleichtern die direkte Sequenzanalyse von klonierten DNASequenzen, da man zur Initiation der Polymerasereaktion in der SangerMethode (Technik-Box 15) einheitliche Primer verwenden kann. Außerdem verfügen die Vektoren oft über Promotorregionen, die eine Initiation einer RNA-Synthese an definierten
Promotorregionen mit spezifischen RNA-Polymerasen gestatten. Beispielsweise werden viele Vektoren mit T3- und T7-Promotorsequenzen versehen, die sich an den entgegengesetzten Enden des Polylinkers befinden. Auf diese Weise ist es möglich, gezielt Transkripte des einen oder des anderen DNA-Stranges des Insertionsfragmentes herzustellen (s. S. 104). Zur Vereinfachung der experimentellen Handhabung können sich außerhalb der Polylinkerregion besondere Restriktionsenzymschnittstellen befinden, mit deren Hilfe die gesamte Polylinkerregion einschließlich InsertDNA für weitere Manipulationen herausgeschnitten werden kann. Man spricht dann von einer „CartridgeStruktur“ der Polylinkerregion. Eines der wichtigsten Kriterien für die Brauchbarkeit von Klonierungsvekto-
ren ist ihre Eignung zur Unterscheidung zwischen Vektoren mit und ohne fremde DNA-Inserts. Ein Weg hierzu ist die Verwendung von Antibiotikaresistenzgenen (s. S. 115). Eine einfachere Methode besteht heute im Gebrauch des lacZ-Gens von Escherichia coli (Abb. 5.3). Dieses Gen ist so mit einer Polylinkerregion kombiniert, dass nach Induktion des lacZ-Gens eine Unterscheidung zwischen Vektormolekülen mit Inserts fremder DNA und solchen ohne Inserts stattfinden kann: Ist die Polylinkerregion intakt, d.h. ist keine DNA-Insertion erfolgt, so kann das lacZ-Gen nach Induktion voll exprimiert werden und produziert eine funktionelle β-Galactosidase, die durch Substratreaktionen nachgewiesen werden kann, welche zur Blaufärbung der Bakterienkolonie führt. Ist hingegen ein DNA-Fragment in die
Abb. a–d. Prinzip der Blau-Weiß-Selektion. a In den verwendeten E. coli-Zellen befindet sich ein mutiertes lacZ-Gen, das eine Deletion im 5’-Bereich seines offenen Leserahmens (ORF) trägt. Das Repressormolekül blockiert im Grundzustand die Expression des lac-Operons (vgl. dazu Kap. 5.2.1). b Der im Medium enthaltene synthetische Induktor IPTG bindet an den Repressor, der dadurch seine Konformation ändert und sich vom Operator löst. c Der Operator ist frei und das ∆LacZ-Protein wird gebildet, das aber wegen seiner N-terminalen Deletion inaktiv ist. d Der Vektor trägt das α-Peptid, das mit ∆LacZ einen enzymatisch aktiven Komplex bilden kann (α-Komplementation). Dieser Komplex wandelt das im Medium enthaltene, farblose X-Gal in einen blauen IndigoFarbstoff um. O: Operator; P: Promotor; T: Terminator. (Nach Kempken u. Kempken 2004)
Technik-Box
Technik-Box 8
Klonierung von DNA (Fortsetzung) Polylinkerregion eingefügt worden, so ist das lacZ-Gen unterbrochen und nicht mehr imstande, ein funktionelles Enzym zu erzeugen. Die betreffenden Bakterienkolonien bleiben daher ungefärbt. Somit ist eine Unterscheidung zwischen Bakterienkolonien mit klonierten DNA-Sequenzen und Kolonien ohne DNA-Inserts sehr vereinfacht. Methode: Beliebige DNA-Sequenzen, z. B. Genom-DNA eines beliebigen Organismus, werden mit Hilfe biochemischer Techniken in einen der zuvor beschriebenen Klonierungsvektoren eingefügt. Das erfolgt z. B. an den Restriktionsschnittstellen einer Polylinkerregion. Behandelt man den Vektor mit dem gleichen Restriktionsenzym wie die genomische DNA, so besitzen die einzelnen Moleküle beider DNAs die gleichen offenen Restriktionsschnittstellen an ihren Enden. Hierdurch ist
eine Verbindung eines Vektormoleküls mit einem Molekül genomischer DNA durch Basenpaarung an der Restriktionsschnittstelle möglich, sofern diese überhängende Einzelstrangenden besitzt. Mittels einer DNA-Ligase können dann die aneinandergesetzten DNAMoleküle in ein kovalent verbundenes Molekül umgewandelt werden. Bestehen keine überhängenden Restriktionsschnittstellen, so kann die Ligase auch solche Enden aneinanderfügen, wenn auch mit geringerer Effizienz. Die ligierten Vektor-Genom-DNAMoleküle werden dann in geeignete Gastzellen, meist von Escherichia coli, transformiert. In diesen Gastzellen werden sie wie gewöhnliche Plasmide repliziert und bilden somit einen festen Bestandteil der Gastzellen. Da jede Gastzelle nur ein DNA-Molekül aufnimmt, kann man nach der Transformation die Zellen auf Agarplatten aussäen. Nach deren Wachstum erhält
man durch die Isolierung einzelner Bakterienkolonien homogene Zellpopulationen, die nur einen DNA-Inserttyp besitzen. Die Charakterisierung des Inserts erfolgt durch PCR (Technik-Box 4) über die vorhandenen Primerbindungsstellen oder über Koloniehybridisierung (modifizierter Southern-Blot; Technik-Box 10) mit einer spezifischen, markierten Sonde. Die Gesamtheit aller Bakterienzellen bezeichnet man als Klonbank oder Klonbibliothek. Werden genügend Zellen transformiert, so repräsentiert die erhaltene Klonbibliothek das gesamte Genom eines Organismus, d.h. man kann unter günstigen Umständen alle DNA-Sequenzen eines Genoms in der Bibliothek wiederfinden. Die Isolierung einzelner Zellen gestattet deren Vermehrung und dadurch die Vermehrung einer einzelnen, im Plasmid enthaltenen DNA-Sequenz.
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Kapitel 4: Genome von Prokaryoten und ihren Viren
Technik-Box 9
Two-Hybrid-Systeme Für molekulare Prozesse in Zellen sind Protein-Protein-Interaktionen von außerordentlicher Bedeutung. Viele zelluläre Mechanismen verlaufen unter der Beteiligung von Proteinkomplexen (Beispiele: DNA-Polymerase, s. S. 39, Initiation der Transkription, s. S. 67, Nukleosomen, s. S. 274, Ribosomen, s. S. 291). Auf der Grundlage der Proteinstruktur kann man jedoch kaum Aufschluss darüber erhalten, ob ein Protein – und evtl. mit welchen anderen Proteinen – eine Interaktion eingeht. Eine wichtige Methode zum Auffinden von Proteininteraktionen ist das Two-Hybrid-System. Das Prinzip dieser Methode basiert auf der Erkenntnis, dass Transkriptionsfaktoren zwei wichtige Proteindomänen besitzen: eine DNA-Bindungdomäne (DBD) und eine Aktivierungsdomäne (AD). Die Aktivierungsdomäne ist zur Aktivierung der Transkription erforderlich. In der Praxis fusioniert man eine DBD mit einem Protein A und eine zugehörige AD mit einem Protein B. Bringt man beide Proteine in eine Zelle, so kann bei Interaktion beider Proteine aufgrund der Anwesenheit beider Domänen die Transkription eines Gens induziert werden, wenn es die für die Bindung der DBD erforderliche Regulationssequenz besitzt. In der Praxis kombiniert man für diesen Zweck eine DNA-Bindungssequenz, die als Bindungssequenz für die gewählte DBDDomäne geeignet ist, mit einem Reportergen (z. B. lacZ). Dieses Reportergen erlaubt es, dass Zellen, in denen miteinander interagierende Proteine mit den erforderlichen AD und DBD enthalten sind, an der Ausprägung des durch das Reportergen erzeugten Phänotyps erkannt werden
interaktionen von Fusionsproteinen mit AD und DBD-Domänen induziert werden. Ein anderes oft verwendetes Reportergen ist das lacZ-Gen. Die Verwendung von zwei Reportergenen gestattet eine bessere Identifikation von Zellen, in denen DBDund AD-Fusionsproteine Interaktionen eingehen. Zunächst wird z. B. auf Histidin-freiem Medium auf HIS3Funktion von HIS3-Mutanten getestet. Positive Zellen können dann durch Induktion des lacZ-Genes auf Medium mit X-Gal auf β-Galactosidaseaktivität geprüft werden. Im Two-Hybrid-Screen kombiniert man das Protein, zu dem man ein unbekanntes interagierendes Protein sucht, mit der DBD- oder der ADDomäne und die Insert-DNA einer cDNA-Bibliothek mit der komplementären Domäne. Dann kotransfiziert man beide Komponenten gemeinsam mit dem Reportergenkonstrukt in Hefezellen und selektiert auf die Funktion des Reportergens.
können. Im Falle von lacZ würde man eine Blaufärbung der Zellen sehen. Man verwendet für Two-Hybrid-Experimente im Allgemeinen Hefe (Saccharomyces cerevisiae), obwohl mittlerweile auch Säugerzelllinien erfolgreich verwendet worden sind. Als DBD kann man beispielsweise die DNABindungsdomäne des Lex A-RepressorProteins (s. Kap. 10.5.4) oder die des Hefeproteins GAL4 einsetzen. Als AD wird die Aktivierungsdomäne von GAL4 oder auch die des viralen VP16Proteins verwendet. Als Reportergene sind Gene der Aminosäure-Synthesewege von Hefe besonders nützlich, da sie auf geeigneten selektiven Medien ein differenzielles Wachstum derjenigen Hefezellen ermöglichen, die interagierende Proteine enthalten. So werden beispielsweise das LEU2-Gen oder das HIS3-Gen als Reportergene verwendet. Diese Gene gestatten in Leucin- bzw. Histidin-freiem Medium das Wachstum von LEU2–- bzw. HIS3 –Mutanten, wenn sie durch Protein-
Protein A (DBD): keine Bindung keine Initiation
DNA Bindungssequenz Protein B (AD): keine Bindung keine Initiation
Protein A + Protein B
Transkription
Technik-Box
Technik-Box 9
Two-Hybrid-Systeme (Fortsetzung) Spezialfall: GAL4/UAS-System Die funktionelle Untersuchung von Genen rückt in das Zentrum molekularbiologischer Forschung. Hierzu ist es insbesondere erforderlich, Gene nach Bedarf zu unterschiedlichen Zeitpunkten in der Entwicklung und in unterschiedlichen Zelltypen exprimieren zu können. Voraussetzung für solche Versuche ist es, geeignete Genkonstrukte, insbesondere solche mit speziellen Regulationsregionen, in das Genom des untersuchten Organismus einzubringen. Bei Drosophila schafft das P-Element-Transformationssystem (s. S. 343) (oder andere Vektorsysteme) diese Voraussetzung. Zur gezielten Regulation hat sich das GAL4/UAS-System bewährt. Zur Durchführung eines GAL4/ UASExperiments werden zwei genetische Komponenten benötigt: Ein Stamm mit dem Gal4-Gen der Hefe, das unter der Kontrolle gewünschter Regula-
tionselemente steht, die eine zellspezifische Expression des Gens gestatten. Die zweite Komponente ist eine Transformante mit dem untersuchten Gen, das unter der Transkriptionskontrolle einer UAS-Region steht. Der GAL4-Transkriptionsfaktor kann an die
Chromosome, Stamm A
Enhancer
UAS-Region binden und dadurch das dahintergeschaltete Gen aktivieren. Es gibt bereits eine Sammlung solcher Drosophila-Stämme, die aus den Stockzentren abgerufen werden können, so dass es oft nicht notwendig ist, diese Konstrukte selbst herzustellen.
P-Element mit Gal4-Gen (Hefe)
GAL4-Protein
Transkription UAS
Gen X
UAS
Gen X
Chromosome, Stamm B
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Kapitel 5
Molekulare Struktur und Regulation prokaryotischer Gene
Die moderne Elektronenmikroskopie gestattet uns die Darstellung kleinster biologischer Individuen und ihres genetischen Materials: Hier der Bakteriophage T2 mit der aus der Hülle entleerten DNA. Eines der frühesten Bilder dieser Art. (Aus Kleinschmidt et al. 1962)
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Kapitel 5: Molekulare Struktur und Regulation prokaryotischer Gene
Überblick Nach der Entdeckung der DNA und der Aufklärung der Mechanismen, nach denen Gene in ihr kodiert und dem Zellstoffwechsel verfügbar gemacht werden, stellt sich die Frage nach der Feinstruktur der Gene und nach den Regulationsmechanismen, die die differenzielle Expression von Genen in der Zelle steuern. Die ersten Einsichten in Genfunktionen wurden an prokaryotischen Genen, vor allem an stoffwechselregulierten Genen von E. coli gewonnen. Bei diesen Genen handelt es sich im Allgemeinen um Genkomplexe, die aus mehreren Enzym-kodierenden Sequenzabschnitten des Genoms bestehen. Man konnte hierfür zwei unterschiedliche Regulationsmöglichkeiten – die der positiven Induktion durch ein Induktormolekül und die der negativen Regulation durch ein Repressormolekül – aufklären. Die genetische Analyse der Regulation mehrerer Gene des Lactosestoffwechsels bei E. coli ergab, dass diese Gene eine besondere Kontrollregion besitzen, die als Operatorregion bezeichnet wird. Wird an ihr ein Repressormolekül gebunden, kann in dem ihm folgenden Genkomplex keine RNA-Synthese stattfinden, da der Weg der RNAPolymerase, die im Promotor an die DNA bindet, durch
5.1 Kontrollmechanismen Die Analyse der rII-Region des Bakteriophagen T4 durch Benzer war der erste Schritt zum molekularen Verständnis des Aufbaus eines Gens. Ein Gen muss demnach, wie die Nukleotidsequenz der DNA, als eindimensionale, lineare Struktur betrachtet werden. Unklar war aber auch nach der Feinkartierung der rII-Region die Frage nach der Colinearität zwischen der Aminosäuresequenz eines Proteins, das in einem Gen kodiert wird, und der Nukleotidsequenz in der DNA. Diese Frage konnte durch die Analyse der rII-Region nicht beantwortet werden, da ein Protein, das in dieser Region kodiert wird, nicht bekannt ist. Durch Untersuchungen der für die Tryptophanbiosynthese erforderlichen Gene in E. coli konnten Charles Yanofsky und seine Mitarbeiter 1964 durch Mutations- und Rekombinationsanalysen des Tryptophangenbereiches, ähnlich der Analyse Benzers an der rII-Region, eine direkte Beziehung zwischen Aminosäureabstand im A-Protein der Tryptophansynthetase und dem Kartenabstand der zugehörigen Mutationen darstellen. Da zudem noch veränderte
den zwischen Promotor und Genbereich liegenden Operator mit daran gebundenem Repressormolekül behindert wird. Erst bei Hinzutreten eines Induktors, der den Repressor von der DNA zu entfernen vermag, wird die RNA-Synthese freigegeben. Die Polymerase ist in diesem Fall in der Lage, mehrere hintereinanderliegende Gene zu transkribieren. Man bezeichnet einen in dieser Form regulierten Genbereich als ein Operon. Auch für andere prokaryotische Gene und für die Regulation des Genoms des Phagen λ erwiesen sich DNA-bindende Proteine als wichtige Regulationselemente. Verschiedene solcher Regulationsproteine sind als Dimere (oder Tetramere) wirksam und haben eine vergleichbare Grundstruktur, die durch zwei miteinander verbundene αHelixbereiche gekennzeichnet ist. Je einer dieser α-Helixbereiche der beiden ein Dimer formenden Proteinmoleküle reagiert mit dem α-Helixbereich des zweiten Proteinmoleküls, während der andere sequenzspezifisch mit der DNA in Kontakt tritt. Dieses Prinzip der DNA-Protein-Interaktion hat sich als ein allgemeines Prinzip auch in Eukaryoten erwiesen.
Aminosäuren durch Sequenzanalyse des Enzyms an Positionen von Mutationen in der genetischen Karte gefunden wurden, waren starke Argumente für eine direkte Parallelität zwischen der Nukleotidsequenz eines Gens und der Aminosäuresequenz des zugehörigen Proteins gegeben. Bei der Besprechung der Mechanismen zur Integration eines λ-Prophagen bzw. der Induktion des lytischen Zyklus dieses Phagen ist deutlich geworden, dass die Anwesenheit der Phagengene, die an diesen verschiedenen Stoffwechselprozessen beteiligt sind, allein nicht ausreicht, um die zellulären Ereignisse im Einzelnen zu verstehen. Die Ausprägung der benötigten Genfunktionen in einer den Erfordernissen der Zelle entsprechenden Weise ist vielmehr unverzichtbar mit der Regulation der Expression der beteiligten Gene verbunden. Der Schlüssel zur Regulation der Gene muss aber im genetischen Material selbst liegen. Wie der Mechanismus der Integration eines λPhagen ins Genom von E. coli uns bereits gezeigt hat, sind Proteinmoleküle an einer solchen Regulation beteiligt – im Falle des λ-Phagen verhindert beispielsweise der Repressor, der im cI-Gen kodiert
5.1 Kontrollmechanismen
wird, die Expression weiterer Gene. Es ist daher sinnvoll, den Genbegriff so zu verstehen, dass mögliche regulierende Elemente in der DNA als Teil des zugehörigen Gens betrachtet werden. Unsere ersten Erkenntnisse über die molekularen Mechanismen der Regulation der Genexpression auf der DNA-Ebene wurden an Prokaryoten gewonnen. Die zuvor beschriebenen Techniken der Sexduktion und Transduktion haben zur Aufklärung von Genregulationsmechanismen entscheidend beigetragen, da sie nicht nur eine partielle Diploidisierung des Genoms, und damit funktionelle Komplementationstests ermöglichten, sondern auch die Konstruktion gewünschter Genotypen durch Rekombination erlaubten. Die Aufklärung des Grundprinzips der Regulation verschiedener prokaryotischer Gene führte zu der Einsicht, dass es hierbei zunächst zwei gegensätzliche Regulationsprinzipien zu unterscheiden gilt (Abb. 5.1): • das der negativen Kontrolle und • das der positiven Kontrolle. Wie zweckmäßig es für eine Zelle ist, über beide Regulationsprinzipien zu verfügen, lässt sich leicht verstehen, wenn wir uns die unterschiedlichen Arten zellulärer Stoffwechselwege vor Augen halten. Auf der einen Seite gibt es Stoffwechselmechanismen, die dafür sorgen müssen, dass bestimmte Substanzen, die im Nährmedium der Zelle auftreten können, umgesetzt oder abgebaut werden. In diesem Falle ist eine Aktivierung des Stoffwechselweges dann erforderlich, wenn die betreffende Substanz vorhanden ist. Man bezeichnet diesen Regulationsvorgang der Anschaltung eines Stoffwechselweges bei Bedarf als positive Genkontrolle. Im Allgemeinen ist ein Induktor zur Anschaltung des Stoffwechselweges notwendig. Eine negative Genkontrolle, also die gezielte Abschaltung eines Gens, ist dann erforderlich, wenn eine im Zellstoffwechsel benötigte Substanz in ausreichenden Mengen vorhanden ist. Es ist in diesem Fall ein Repressor der Genfunktion erforderlich. Ein Beispiel hierfür ist die Umsetzung des Zuckers Lactose (ein „β-Galactosid“) in seine Bestandteile Glucose und Galactose (Abb. 5.2): Ist Lactose im Nährmedium einer Bakterienzelle vorhanden, werden die Gene eingeschaltet, deren Produkte zum Abbau des Zuckers benötigt werden. Lactose ist in diesem Fall sowohl Induktor als auch Substrat.
Abb. 5.1 a,b. Prinzipien der Genregulation. a Positive Regulation. Ein Gen wird bei Anwesenheit eines Induktors angeschaltet, indem dieser an die Regulationsregion der DNA bindet und dadurch die Transkription initiiert. b Negative Regulation. Das Gen ist normalerweise durch einen Repressor, der an die Regulationsregion bindet, inaktiviert. Wird das Repressormolekül durch einen Induktor so modifiziert, dass es nicht mehr an die DNA binden kann, wird die Regulationsregion des Gens freigegeben und es kann eine Transkription des Gens initiiert werden
Bakterienzellen können alle Aminosäuren selbst synthetisieren, nehmen diesen Syntheseweg aber nicht in Anspruch, wenn genügend Aminosäuren im Nährmedium vorhanden sind. In diesem Fall wird ein gewöhnlich aktiver Stoffwechselweg, oft unter Mitwirkung des Syntheseproduktes, inaktiviert. Das ist zum Beispiel der Fall bei der Biosynthese der Aminosäure Tryptophan. Tryptophan wirkt hier als Repressor. Die Gene, die in E. coli für den Abbau von Lactose oder für die Synthese von Tryptophan notwendig sind, gehören zu den ersten Genen, die von den Bakteriengenetikern der 1960er Jahre untersucht wurden. Sie wurden damit die ersten Gene, von deren molekularem Regulationsmechanismus man sich eine Vorstellung machen konnte. Die experimentelle Methodik zur Untersuchung der Gene machte von zwei Mitteln Gebrauch:
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Kapitel 5: Molekulare Struktur und Regulation prokaryotischer Gene
Abb. 5.2 a, b. Die Funktion der β-Galactosidase. a Umsetzung von Lactose in Galactose und Glucose. b Struktur des Galactoseanalogons Isopropylthiogalactosid (IPTG)
• dem der experimentellen Mutagenese, d. h. der
Induktion von Erbveränderungen, und der anschließenden Selektion auf Defekte in den untersuchten Genen und • der Möglichkeit, merodiploide genetische Konstitutionen der verschiedenen Mutationen mittels Transduktion oder Sexduktion zu erzeugen und die Genexpression in solchen Konstitutionen zu untersuchen. ! Man kann zwischen positiver und negativer Gen-
regulation unterscheiden. In positiven Regulationssystemen wird ein Gen durch einen Induktor aktiviert. In negativen Regulationssystemen wird ein Gen durch einen Repressor inaktiviert.
Die naheliegende Interpretation einer solchen erblichen Veränderung ist, dass durch sie der regulative Bereich des Gens zerstört wurde. Wirkt eine solche Mutation nur in cis-Stellung (also auf dem gleichen Chromosom, auf dem das Gen exprimiert wird), so erkennen wir, dass dem betroffenen Protein-kodierenden Gen in der DNA ein Bereich zugeordnet sein muss, der für die Regulation der Expression dieses Gens verantwortlich ist. In den folgenden Abschnitten werden die Einzelheiten der positiven und negativen Regulationskontrolle am Beispiel von zwei Genkomplexen von E. coli besprochen.
5.2 Genstruktur und Genregulation Um die grundlegenden Prinzipien genetischer Experimente bei der Analyse von Mutanten zu verstehen, ist es zunächst sinnvoll, sich einige wichtige genetische Gesichtspunkte einer solchen Analyse vor Augen zu führen: • Zwei Mutationen, die sich im Cis-trans-Test (Abb. 4.14) nicht komplementieren können, müssen im gleichen Cistron („Gen“) erfolgt sein. • Führt eine Mutation in einem positiven Regulationssystem (z. B. Lactoseabbau) dazu, dass das betreffende Gen nicht mehr regulierbar, sondern kontinuierlich aktiv ist, so sprechen wir von einer konstitutiven Expression des mutierten Gens.
5.2.1 Das lac-Operon E. coli-Zellen können Lactose als Kohlenstoffquelle gebrauchen. Es ist daher möglich, Mutationen in den Genen des Lactosestoffwechsels dadurch zu identifizieren, dass mutierte Zellen (lac–) mit Lactose als einziger Kohlenstoffquelle nicht mehr wachsen können. Kombinierte man verschiedene solcher Mutationen (lac–) durch Sexduktion, so erwiesen sie sich in einer F′lac–/lac+ oder einer F′lac+/lac–-Konstitution, also merodiploid, stets als fähig, Lactose zu verwerten
5.2 Genstruktur und Genregulation
(ihr Phänotyp ist Lac+). Dieses Gensystem wurde in den 1950er Jahren insbesondere durch Francois Jacob und Jacques Monod untersucht und 1961 publiziert. Zum Verständnis eines Gensystems muss man zuerst die Komplexität des betreffenden Systems ermitteln. Das erfolgt im Allgemeinen durch Kombination verschiedener Mutationen, um deren genetische Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu bestimmen (Tabelle 5.1). Kombiniert man demgemäß lac-Mutationen durch Sexduktion zu F′laca/lacb oder F′lacb/laca-Konstitutionen (wobei „a“ und „b“ unterschiedliche Mutationen darstellen), so lassen sich diese Mutationen in zwei Komplementationsgruppen einordnen, die als lacZ und lacY bezeichnet werden. Die genauere Untersuchung dieser beiden Komplementationsgruppen zeigte, dass lacZ für das Enzym kodiert, das zum Lactoseabbau notwendig ist, die βGalactosidase. Das lacY-Gen hingegen kodiert für ein Protein, das für den Transport der Lactose durch die Zellwand ins Zellinnere sorgt, wo ihr enzymatischer Abbau erfolgt. Das Enzym wird daher Permease genannt. Im Laufe der weiteren Untersuchung des lac-Gensystems wurde noch eine weitere Komplementationsgruppe, lacA genannt, entdeckt, die ein weiteres Enzym des Lactosestoffwechsels kodiert, die Transacetylase (Abb. 5.3). Für die Analyse von lac-Mutanten war es sehr hilfreich, dass man anstelle von Lactose als Induktor des lac-Systems ein Analogon, Isopropylthiogalactosid (IPTG) (Abb. 5.2b), einsetzen kann. IPTG wird selbst nicht abgebaut, da es nur als Induktor, nicht aber als
Tabelle 5.1.
Substrat wirksam ist, und es bleibt daher in konstanter Konzentration in der Zelle vorhanden. Die Induktion wird somit uneingeschränkt aufrechterhalten, d. h. das gesamte Gensystem bleibt aktiv. Induziert man das lac-System mit IPTG, so werden alle drei Proteine, LacZ, LacY und LacA, stets in proportional gleichen Mengen synthetisiert. Mutationen in einem der Gene haben im Allgemeinen keine Auswirkung auf die Expression der übrigen. Beispielsweise findet man in einer genetischen Konstitution lacZ– lacY+ lacA+, dass sowohl Permease als auch Transacetylase, aber keine β-Galactosidase synthetisiert wird. Es soll daher zur Vereinfachung im folgenden Abschnitt allein von der β-Galactosidase gesprochen werden, wenn die Expression aller drei Gene gemeint ist. Da in der E. coli-Zelle im Allgemeinen eine Induktion der β-Galactosidase notwendig ist, um ihre Expression zu beobachten, musste eine Mutantenklasse um so mehr auffallen, bei der alle drei Proteine auch in Abwesenheit eines Induktors produziert werden (Tabelle 5.1). Es lag nahe, die Ursache hierfür auf der Ebene der Regulation zu suchen. Solche Mutationen, die alle in einer Region links vom lacZ-Gen kartierten, wurden unter der Bezeichnung lacI-Mutationen zusammengefasst. Die wichtigsten Beobachtungen für das Verständnis dieser Mutationen waren, • dass die Synthese der rechts von lacI kartierenden Proteine stets konstitutiv war, wenn keine lacI+Region in der Zelle vorhanden war (also: F′lacI–/lacI– lacZ+lacY+ lacA+),
Lac-Operon-Mutanten, die zur Identifizierung des Regulationssystems essentiell sind
Genetische Konstitution
Synthese von lac mRNA
regulative Eigenschaften
F′lacI –/lacI – lacZ + lacY + lacA+ F′lacI +/lacI – lacZ + lacY + lacA+ F′lacI –/lacI + lacZ + lacY + lacA+
konstitutiv induzierbar induzierbar
I: reprimiert I: trans-wirksam
F′lacO c LacZ +/lacI – lacZ + lacY + lacA+ F′lacO c lacZ –/lacO + lacZ + lacY +lacA+ F′lacO + LacZ +/lacO c lacZ + lacY + lacA+
konstitutiv induzierbar konstitutiv
O c: cis-wirksam
F′lacO c LacZ –/lacO+ lacZ + lacY+lacA+ F′lacO c LacZ +/lacO+ lacZ – lacY+ lacA+
induzierbar konstitutiv
O +: cis-wirksam O c: cis-wirksam
Die Daten lassen erkennen, dass O-Mutationen ebenso wie O+ stets nur in cis wirksam sind, während I-Mutationen stets auch trans-wirksam sind.
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Kapitel 5: Molekulare Struktur und Regulation prokaryotischer Gene
Abb. 5.3a–c. Das lac-Operon von E. coli. a Molekulare Struktur des Genbereiches. Neben dem etwas entfernt liegenden Gen I für den Repressor gehören zum eigentlichen lacOperon-Bereich die drei Gene Z, Y und A, die für die Proteine β-Galactosidase, Permease und Transferase kodieren. Das β-Galactosidase-Gen hat an seinem 5′-Ende zwei Regulationselemente in der DNA, den Promotor und den Operator. Die Funktion des Operon ist in b und c dargestellt. b Im Normalzustand wird vom Gen I konstitutiv ein Repressor synthetisiert, der an den Operator des β-Galactosidase-Gens bindet und dadurch die RNA-Polymerase am Beginn der
Transkription hindert. c Bei Anwesenheit eines Induktors bildet sich ein Repressor-Induktor-Komplex, der nicht mehr am Operator binden kann. Bei genügend hoher Konzentration des Induktors wird somit der Repressor am Induktor gebunden und der Operator wird für die Initiation der Transkription durch die RNA-Polymerase frei. Das Operon kann in ein primäres Transkript kopiert werden, an dem bereits während seiner Synthese die Translation beginnt (s. Abb. 3.21). Die drei im lac-Operon kodierten Proteine haben eigene Translationsstartsignale und Terminationssignale, so dass sie als einzelne Polypeptide synthetisiert werden
• während bei Anwesenheit einer lacI+-Region,
weise in der Zelle vorhanden ist, zur Aktivierung der β-Galactosidase aber inaktiviert werden muss. Mit dieser Annahme lässt sich die konstitutive Synthese der lacZ-, lacY- und lacA-Produkte in lacI–-Mutanten verstehen: Ein nicht mehr funktionsfähiger Repressor ist außerstande, seine inaktivierende Funktion auszuüben.
gleichgültig, ob in cis oder trans (also: F′− lacI+/lacI– lacZ+ lacY+ lacA+ oder: F′lacI–/lacI+ lacZ+ lacY+ lacA+), die Expression stets normal induzierbar blieb.
lacI+ muss also für ein diffundierbares, mithin transaktives Produkt kodieren. Jacob und Monod schlossen aus diesen Befunden, dass lacI für die Synthese eines Repressors verantwortlich ist, der normaler-
5.2 Genstruktur und Genregulation
! Mutationen, die zur konstitutiven Genexpression
führen und auch in trans-Stellung wirksam sind, weisen auf die Synthese eines Repressors hin, der im Normalfall die betroffenen Gene inaktiviert. Bei Anwesenheit eines Induktors wird der Repressor in seiner reprimierenden Wirkung unterdrückt.
Es besteht aber noch eine weitere Gruppe von Mutationen, die zur konstitutiven Expression der β-Galactosidase führt, die Oc-Mutanten (c für engl. constitutive). Sie kartieren zwischen lacI und lacZ (Abb. 5.3) und sind von der genetischen Konstitution von lacI unabhängig. In Oc-Mutanten ist also β-Galactosidase auch in der Gegenwart einer lacI–-Mutation konstitutiv exprimiert. Im Gegensatz zu lacI-Mutanten sind alle O-Mutanten jedoch stets nur cis-wirksam (Tabelle 5.1): • Eine genetische Konstitution F′Oc/O+ lacZ gestattet eine normale Induktion von β-Galactosidase, • während eine Konstitution F′O+/Oc lacZ eine konstitutive Synthese von β-Galactosidase bewirkt. Im Gegensatz zu allen anderen Mutanten sind also O-Mutanten grundsätzlich nicht komplementierbar. Jacob und Monod erklärten diese Eigenschaft mit der Annahme, dass die O-Region einen regulativen DNABereich darstellt. Sie nannten ihn den Operator (Abb. 5.3). Verständlich wird seine Funktion, wenn man annimmt, dass der Operator die Aufgabe hat, den Repressor zu binden, wenn keine Aktivität der durch ihn kontrollierten Gene erforderlich ist. Bei einer strukturellen Veränderung des Operators, die zur Folge hat, dass der Repressor nicht mehr an die Operatorregion binden kann, kommt es zur konstitutiven Synthese der β-Galactosidase. ! Die Existenz von Mutationen, die ausschließlich in
cis-Stellung wirksam sind und zu einer konstitutiven Expression eines Gens führen, weist auf die Anwesenheit einer Regulationsregion in der DNA hin, die als Operator bezeichnet wird.
5.2.2 Das Operonmodell Damit waren die wesentlichen Elemente eines Regulationssystems entdeckt, das von Jacob und Monod (1961) als Operonmodell bezeichnet wurde. Demgemäß sprechen wir vom lac-Operon. Die Funktionsweise dieses Operons, wie wir sie heute verstehen, ist in Abb. 5.3 zusammengefasst. Die einzelnen Elemente dieses Funktionsmodells, gezeigt am lac-Operon, sind die folgenden: • Drei Gene kodieren für drei unterschiedliche Proteine (β-Galactosidase, Permease, Transacetylase). Diese Gene werden in ein einziges Messenger-RNA-Molekül transkribiert, dessen Synthese in einem (upstream gelegenen) Promotor (P in Abb. 5.3a) beginnt: Sie werden in einen polycistronischen Messenger transkribiert, also eine RNA, die die Information für alle drei Proteine enthält. • Der Promotor ist der Bindungsplatz der RNAPolymerase. • Das lacI-Gen kodiert für ein Proteinmolekül, den Repressor. Wird ein funktionsfähiger Repressor synthetisiert, findet keine Transkription des lacOperons statt. • Der Operator, der rechts (downstream) des Promotors liegt, reguliert die RNA-Synthese durch Bindung des Repressors. Ist an ihm Repressor gebunden, kann keine Transkription im Promotor beginnen, da das Repressormolekül die Fortbewegung der RNA-Polymerase verhindert. • Ein Induktor (z. B. Lactose oder IPTG) ist durch Bindung an den Repressor imstande, diesen zu inaktivieren. Der Repressor kann dann nicht mehr am Operator gebunden werden, so dass die Transkription vom Promotor durch den Operatorbereich fortschreiten kann. Bei einer genauen Betrachtung des im Operonmodell vorgeschlagenen Regulationsmechanismus könnte man den Eindruck gewinnen, dass hier die Problematik der Regulation nur um eine Stufe verschoben wird: auf die der Regulation der Repressorsynthese. Das ist jedoch nicht der Fall: Der Repressor wird konstitutiv synthetisiert und ist daher ständig, unabhängig vom Stoffwechselzustand der Zelle, mit einer geringen Anzahl von Molekülen (etwa 10) in der Zelle vorhanden.
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Kapitel 5: Molekulare Struktur und Regulation prokaryotischer Gene
! Das Zusammenspiel verschiedener Regulations-
elemente, des Operators, des Repressors und des Induktors, wird dadurch ermöglicht, dass die Repressorsynthese konstitutiv erfolgt. Der Repressor ist normalerweise am Operator gebunden und verhindert dadurch die Initiation der RNA-Synthese durch Blockierung der RNA-Polymerase. Durch Anwesenheit eines Induktors wird der am Operator gebundene Repressor inaktiviert und die Transkription kann initiiert werden. Promotor und Operator erweisen sich somit als ciswirksame Regulationselemente, während Repressor und Induktor trans-wirksam, also diffussibel sind. Regulationsprozesse verlaufen durch das Zusammenspiel stationärer und diffundierbarer Elemente.
5.2.3 Weitere Regulationsmechanismen Erst längere Zeit nach der Ausarbeitung des zuvor dargestellten Regulationsmodells für das lac-Operon ist aufgeklärt worden, dass die Regulation des lacOperons in Wirklichkeit komplizierter ist und einen zusätzlichen, positiven Regulationsmechanismus einschließt. Zur Initiation der RNA-Synthese im Promotor ist nämlich die Bindung eines zusätzlichen Regulationselementes erforderlich, des catabolite activator proteins (CAP), auch cAMP receptor protein (CRP) genannt. Wie dieser Name besagt, wird das CAP mit zyklischem AMP (cAMP) komplexiert und bindet in dieser Form an den lac-Promotor. Ohne dieses positive Regulationselement wird weder in lacI–, noch in Oc-Mutanten β-Galactosidase-mRNA synthetisiert. Der Grund für diese zusätzliche Regulation ist einleuchtend. Lactose wird durch β-Galactosidase in Glucose und Galactose gespalten, und auch Galactose wird letztlich in den Glucosestoffwechsel überführt. Ist nun genügend Glucose im Nährmedium vorhanden, so ist eine zusätzliche intrazelluläre Produktion von Glucose nicht notwendig. Da der cAMP-Titer in der Zelle durch Glucose reguliert wird und der cAMP-Gehalt in Gegenwart von Glucose niedrig ist, kann bei höheren Glucosekonzentrationen kein cAMP-CAP-Komplex gebildet und RNA-Synthese im lac-Operon nicht initiiert werden. Da cAMP-CAP-Komplexe auch an der Regulation anderer zuckerabbauender Operons beteiligt sind, erfolgt über dieses positive Regulatormolekül
eine Koordination und Integration der Aktivität verschiedener Stoffwechselwege. Der Beantwortung der Frage nach dem Regulationsmechanismus der Synthese einer bestimmten mRNA schließt sich die Frage nach der anschließenden Translation des Messengers an. Es war bereits darauf verwiesen worden, dass die drei im lac-Operon zusammengefassten Proteine β-Galactosidase, Permease und Transacetylase stets in gleichen relativen Mengen synthetisiert werden. Ihre relativen Molekülzahlen in der Zelle verhalten sich wie 1,0:0,5:0,2. Wie ist diese strikte Koppelung zu erklären, warum aber werden sie nicht in gleichen Mengen hergestellt? ! Ein dem Operatormechanismus übergeordneter
positiver Regulationsmechanismus koordiniert verschiedene miteinander verwandte Stoffwechselwege. Zur Initiation der Transkription im Promotor muss dieser zunächst durch Bindung eines Komplexes aus zyklischem AMP und einem catabolite activator protein (CAP oder CRP) aktiviert werden. Ohne diese Aktivierung ist die Induktion des lac-Operons nicht möglich.
Die Kopplung der Syntheseraten erklärt sich aus dem polycistronischen Charakter der mRNA. Für alle drei Proteine liegen primär die gleichen Anzahlen von mRNA-Molekülen vor. Nun besitzt jedes Cistron innerhalb des mRNA-Moleküls sein eigenes Translationsinitiationscodon AUG ebenso wie ein Terminationscodon. Bei jedem der Terminationscodons setzt nur ein Teil der Ribosomen die Translation der folgenden Cistrons fort, während der andere Teil vom Messenger abfällt. Hierdurch wird die Anzahl der von einem polycistronischen mRNA-Molekül hergestellten Proteinmoleküle für jedes in 3′-Richtung der mRNA gelegene Cistron geringer. Hinzu kommt, dass die normale Degradation der mRNA offenbar bevorzugt am 3′-Ende beginnt, so dass für die Translation des lacZ-, des lacY- und des lacA-Bereiches in dieser Reihenfolge stets weniger mRNA-Moleküle zur Verfügung stehen. Die Expression der verschiedenen im lac-Operon zusammengefassten Proteine unterliegt also einem polaren Effekt, der charakteristisch für polycistronische Genbereiche ist.
5.3 Quantitative Kontrolle von Biosynthesewegen
! Polycistronische Genbereiche zeigen oft polare
Effekte hinsichtlich der relativen Expression der aufeinanderfolgenden Cistrons. Solche Effekte erklären sich durch unterschiedliche Initiationshäufigkeiten der Translation an den verschiedenen Startcodons, aber auch durch differenzielle Degradation der mRNA, die am 3′-Ende beginnt. Cistrons am 3′-Ende sind daher stets in geringerem Maße exprimiert.
5.3 Quantitative Kontrolle von Biosynthesewegen 5.3.1 Das trp-Operon Die Fähigkeit, auf einem „Minimalmedium“, das im Wesentlichen Salze enthält, zu wachsen, unterscheidet Bakterien grundsätzlich von Eukaryoten. Eukaryoten bedürfen der Aufnahme organischer Verbindungen, da sie nicht über die notwendigen Biosynthesewege verfügen, um alle im Stoffwechsel erforderlichen organischen Komponenten selbst zu synthetisieren. Das gilt unter anderem für einen Teil der Aminosäuren, die sogenannten essentiellen Aminosäuren (beim Menschen die acht Aminosäuren Histidin, Leucin, Isoleucin, Lysin, Methionin, Phenylalanin, Tryptophan, Valin). Bakterien hingegen verfügen über die notwendigen Stoffwechselwege, mit deren Hilfe sie alle benötigten organischen Verbindungen selbst herstellen können. Ganz offensichtlich müssen diese Stoffwechselwege einer Regulation unterliegen, da die verschiedenen Produkte – beispielsweise im Gegensatz zum lac-Repressor – nicht konstitutiv benötigt werden. Als einen der ersten bekannten Stoffwechselwege in Bakterien haben wir bereits die Biosynthese des Tryptophans in E. coli erwähnt (s. S. 143). Zur Tryptophanbiosynthese sind die Enzyme Anthranilsynthetase, PhosphoribosylAnthranilat-Transferase, Phosphoribosyl-Anthranilat-Isomerase-Indol-Glycerolphosphat-Synthetase, Tryptophansynthetase β und Tryptophansynthetase α erforderlich. Wie wir schon im Zusammenhang mit dem Lactosestoffwechsel gesehen haben, sind auch die für diese Enzyme kodierenden fünf Cistrons (trpE, trpD, trpC, trpB, trpA) in einem Operon (trpOperon) zusammengefasst, und auch sie werden als polycistronischer Messenger transkribiert (Abb. 5.4).
Da sich die Menge an neusynthetisiertem Tryptophan (wie die der anderen Aminosäuren) den Erfordernissen der Zelle anpassen muss, wird der Biosyntheseweg des Tryptophan durch einen negativen Regulationsmechanismus reguliert, der eine sehr genaue Kontrolle der Menge an Endprodukt gestattet. Bei Abwesenheit von Tryptophan in der Zelle werden die erforderlichen Gene der Biosynthesekette angeschaltet, während in Gegenwart von Tryptophan durch dessen Bindung (als Corepressor) an ein zunächst inaktives Repressormolekül ein aktiver Repressor gebildet wird. Der aktivierte Repressor verhindert durch Bindung an den Operator die Transkription der Gene des trp-Operon. Das trpOperon besitzt also, wie auch das lac-Operon, neben seinem Promotor, der ja zur Initiation der Transkription aller Gene grundsätzlich erforderlich ist, einen gemäß seiner Funktion downstream vom Promotor gelegenen Operator und einen zugehörigen Repressor (trpR), dessen Gen in einer anderen Genomposition liegt.
5.3.2 Attenuation An der Regulation dieses Operons ist neben dem zuvor beschriebenen negativen Regulationsmechanismus durch eine Repressor-Corepressor-OperatorInteraktion noch ein zweiter Regulationsmechanismus beteiligt, der als Attenuationmechanismus bekannt ist. Er ermöglicht eine Feinabstimmung der Tryptophansyntheserate. Zusätzlich zum Operator ist nämlich noch ein weiteres cis-wirksames Kontrollelement innerhalb der Leadersequenz (trpL) vorhanden, das zwischen dem Operator und dem ersten Enzym-kodierenden Cistron (trpE) liegt. Der Leader wird transkribiert und kodiert für ein Protein (engl. leader peptide). Innerhalb dieser Leaderregion liegt der Attenuator (trp a). Die Funktion dieser Kontrollelemente wird uns verständlich, wenn wir uns die Nukleotidsequenzen dieser DNA-Abschnitte genauer betrachten (Abb. 5.5). Die wichtigsten Elemente hiervon sind: • die 14 Aminosäuren (52 Nukleotide) lange Leader-Peptide-Region, deren zwei Codons für Tryptophan in Aminosäurepositionen 10 und 11 (Nukleotidpositionen 54–59) eine wesentliche Rolle in der Regulation spielen. Vor diesem Leader Peptide befindet sich eine starke Ribosomenbindungsstelle;
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Kapitel 5: Molekulare Struktur und Regulation prokaryotischer Gene
p o
Leader Attenuator
trp E
trp D
trp C
trp B
trp A
trp-mRNA
Proteinprodukte AnthranilatSynthetase-I
AnthranilatSynthetase-II
PRAI IGPS
Tryptophan- TryptophanSynthetase β Synthetase α
Anthranilat-Synthetase (I2II2)
Chorismat
Anthranilat
Glutamin
Tryptophan-Synthetase (α2β2)
N-(5'-Phosphoribosyl)anthranilat
Enol-1-o-carboxyphenylamino1-desoxyribulosephosphat
Indol-3-glycerinphosphat
PRPP
Glutamat + Pyruvat
L-Tryptophan
L-Serin PPi
CO2
Glyceraldehyd-3-Phosphat
Abb. 5.4. Das trp-Operon von E. coli. Oben ist die molekulare Struktur des trp-Operons mit Promotor (p), Operator (o), der anschließenden Leadersequenz (auch trypL genannt) mit der Attenuator-Region (auch trp a genannt) und den fünf zum Operon gehörenden Protein-kodierenden Genen trpE, trpD, trpC, trpB und trpA. Die Transkriptionsprodukte sind unter dem Gen mit Pfeilen angegeben: Bei Transkription in Abwesenheit von Tryptophan wird das gesamte Operon transkri-
biert und die zugehörigen Proteine (im Schema angegeben) werden synthetisiert. Die Attenuatorregion ermöglicht eine Feinregulation der RNA-Synthese (s. Abb. 5.5), die je nach der Tryptophankonzentration in der Zelle die Transkription auf einen Teil der Leadersequenz beschränken kann (kurzer Pfeil: Attenuator-RNA). Im unteren Teil des Schemas ist die Funktion der im trp-Operon kodierten Enzyme im Tryptophanstoffwechsel dargestellt
• vier DNA-Abschnitte, die in unterschiedlichen
Codon UGA in Position 69–71 kann somit der Hairpin-loop A (aus den invertierten Repeats 1 und 2) nicht gebildet werden (Abb. 5.5). Dadurch wird die Ausbildung des Hairpin-loops C (aus den invertierten Repeats 3 und 4) uneingeschränkt möglich. Das führt zu einer Termination der Transkription, da der Abstand zwischen RNA-Polymerase und dem ersten Ribosom nur gering ist. Anders verhalten sich die intramolekularen Basenpaarungen bei Tryptophanmangel. In diesem Fall wird nämlich die Translation des Leader Peptides an den beiden trp-Codons UGG (Positionen 54–59) verzögert oder unterbleibt vollständig, je nach dem intrazellulären Tryptophantiter. Es kann sich nun der Hairpin-loop B ausbilden, da sich die beiden komplementären Repeats 2 und 3 direkt nach ihrer Synthese paaren können. Eine Termination der Transkription durch das Terminationssignal des Hairpinloops C erfolgt nicht, da dieser nicht ausgebildet wird. Mithin läuft die Transkription bis zum Ende
Kombinationen Basenpaarungen innerhalb der Transkripte zu hairpin loops (Haarnadelschleifen) ermöglichen. Diese selbstkomplementären Regionen (invertierten Repeats) liegen in den Nukleotidpositionen (1) 53–68, (2) 76–94, (3) 114–121, und (4) 126–134 (Abb. 5.5).
Hairpin-loops sind charakteristische Terminationssignale der Transkription, wenn ihnen eine poly[A]/poly[T]-Sequenz (also poly[U] im Transkript) folgt, wie es am Ende der mRNA des Leadersegmentbereiches der Fall ist (Nukleotidpositionen 133–141). Sie erlauben die Feinregulation der Transkription des trp-Operon, da in Bakterien Transkription und Translation eng gekoppelt sind. Ribosomen entfernen intramolekulare Basenpaarungen in einem Bereich, der in direktem Kontakt mit einem Ribosom steht (etwa 10 Nukleotide). Bei Translation des Leader Peptides bis zum Translations-STOPP-
5.3 Quantitative Kontrolle von Biosynthesewegen Abb. 5.5 a,b. Molekulare Struktur und Funktion der Attenuator-Region des trpOperons. a Schema der für die Attenuation wichtigen RNA-Region. Die verschiedenen möglichen Basenpaarungen innerhalb der RNA sind dargestellt und die Paarungsregionen 1, 2, 3 und 4 sind hervorgehoben (siehe kleines Teilschema). Auch die beiden UGG-Codons für Tryptophan und das StoppCodon sind angegeben. b Der AttenuationMechanismus. Die Teilabbildungen zeigen die Nummern der Paarungsregionen. Sie sind zusätzlich durch verdickte Linien gekennzeichnet. Die verschiedenen Hairpinloops sind durch Buchstaben verdeutlicht. Der Beginn des trpE-Gens ist ebenfalls angegeben. Links oben ist das in Abb. 5.5a mit der Nukleotidsequenz dargestellten Strukturschema zum Vergleich gezeigt. Die Ausbildung des Hairpin-loops C verursacht eine Termination der Transkription, da sie zusammen mit der Poly-A-Region in der DNA (im Nukleotidbereich 140) ein charakteristisches Terminationssignal für die Transkription darstellt. Ein wesentliches Element in diesem Regulationsmechanismus ist die enge Kopplung von Transkription und Translation. Die Ribosomen folgen der RNA-Polymerase sehr dicht und verhindern dadurch bei der Translation durch Entfernung von vorangehenden Basenpaarungen die Ausbildung der Hairpin-loop A. Das Leader-Peptid wird daher synthetisiert und findet sein Terminationscodon UGA bei den Nukleotiden 69–71. In diesem Fall ist die Bildung des Hairpin-loops A und B verhindert und es kann sich der Terminationsloop C formen, der die RNA-Synthese beendet (b, unten). Eine Expression des trp-Operons findet nicht statt. Ganz andere Folgen sind jedoch bei Tryptophanmangel zu verzeichnen (b, rechts). Durch den Mangel an Tryptophan wird die Translation des Leader-Peptids an den UGG-Codons 54–59 verzögert. Als Folge davon kann sich der Hairpin-loop B ausbilden, der eine Entstehung der Terminationsloop C verhindert. Die RNA-Synthese kann bis zum Ende des trp-Operons durchlaufen. Das hat eine normale Translation zur Folge. (Nach Kolter u. Yanofsky 1982)
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Kapitel 5: Molekulare Struktur und Regulation prokaryotischer Gene
des trp-Operons durch, so dass nunmehr Tryptophan synthetisiert werden kann. Dieser Regulationsmechanismus, den man als Attenuationmechanismus bezeichnet, kann allein dann wirksam sein, wenn Proteinsynthese stattfindet. Bei Abwesenheit translationeller Aktivität werden nach Initiation der RNA-Synthese im Promotor die beiden Hairpin-loops A und C geformt, so dass eine Termination der Transkription erst am Ende des Hairpin-loops C erfolgt. Das Attenuationsystem erlaubt also eine sehr fein abgestimmte Regulation der Aminosäuresynthese. Vergleichbare Regulationsmechanismen wurden für andere Aminosäuren (Histidin, Threonin, Leucin, Isoleucin, Valin und Phenylalanin) nicht nur bei E. coli, sondern auch bei verschiedenen anderen Bakterien nachgewiesen (z. B. Salmonella typhimurium). Auch in diesen Fällen befinden sich die jeweils spezifischen Aminosäurecodons im Leader Peptide (z. B. 7 Histidincodons im Histidinbiosyntheseweg oder 4 Leucincodons bei der Leucinbiosynthese), so dass das jeweilige Endprodukt nach einem einheitlichen Prinzip an der Regulation stets selbst beteiligt ist. ! Das trp-Operon besitzt neben dem negativen
Regulationsmechanismus, der auf einer RepressorCorepressor-Operator-Interaktion basiert, ein zusätzliches Regulationssystem, das auf einer Kontrolle der Transkriptionsrate durch intramolekulare Sekundärstrukturen der mRNA beruht. Je nach Translationsgeschwindigkeit können sich transkriptionshemmende Doppelstrangregionen in der RNA ausbilden, die die Translation abbrechen. Die Translationsgeschwindigkeit wird durch die Konzentration des Endproduktes gesteuert. Bei fehlendem Tryptophan wird sie verzögert, da kein oder wenig Tryptophan in die wachsende Polypeptidkette eingebaut werden kann. Das führt zu einer Fortsetzung der mRNA-Synthese, da keine Hairpin-loops mit Terminationseffekt gebildet werden.
Warum sind im trp-Biosyntheseweg zwei getrennte Regulationsmechanismen, der der negativen Kontrolle durch einen Repressor in Gegenwart des Endproduktes und der der Attenuation wirksam? In den anderen, zuvor erwähnten Aminosäurebiosynthesewegen (mit Ausnahme des Phenylalanin-Operons) gibt es keine repressorgesteuerte Regulation. Warum das trp-Operon noch ein
repressorabhängiges Regulationssystem neben der Attenuationregulation besitzt ist unklar; vielleicht wird hierdurch die Regulationsgenauigkeit erhöht. Die spezifischen Beiträge der beiden Regulationsmechanismen werden, bei einem Gesamtumfang einer etwa 500fachen Variationsmöglichkeit der Intensität der Expression des trp-Operons, mit einem Faktor von etwa 80 für den Repressionsmechanismus und einem Faktor 8 für den Attenuationmechanismus geschätzt.
5.4 Regulation im l-Genom Im Vermehrungszyklus des temperenten Bakteriophagen λ nimmt ein Regulationsmolekül – der λRepressor – eine zentrale Funktion in der Entscheidung darüber ein, ob der Phage nach der Infektion in eine lytische Phase eingeht, oder ob er als Prophage ins Wirtszellgenom eingebaut wird (s. S. 117). In den vorangehenden Abschnitten haben wir verschiedene Regulationssysteme kennengelernt, die primär auf einer Kontrolle der Initiation der Transkription (Operator-Repressor-Interaktion) beruhen. Eine Ausnahme hiervon ist das der Initiationsregulation überlagerte Attenuationsystem im trp-Operon. Dieses ist ein Beispiel für eine alternative Art der Expressionskontrolle eines Gens – die Kontrolle der Termination der RNA-Synthese. Ein solcher Mechanismus spielt auch in der Regulation des Vermehrungszyklus des Phagen λ eine entscheidende Rolle (Abb. 4.7). Für die Regulation der Expression des λ-Genoms ist die Art der Anordnung der Gene im Chromosom von entscheidender Bedeutung. Funktionell verwandte Gene liegen im λ-Genom in Gruppen beieinander.Das gestattet eine gemeinsame Regulation jeder dieser Gruppe von Genen durch eine gemeinsame Kontrolle auf dem Transkriptionsniveau. Nach einer λ-Infektion liegt das Phagengenom zunächst als lineare Doppelhelix ohne jegliche Regulationssignale vor. Zunächst zirkularisiert sich das λChromosom durch Ligation der cos-Sites (Abb. 4.8). Hierdurch werden die „späten Gene“ (engl. late genes), die für die Produktion der Phagenkopfproteine verantwortlich sind und im linearen Genom voneinander getrennt liegen, aneinandergekoppelt. Mit Hilfe der wirtszelleigenen RNA-Polymerase beginnt nun die Transkription der „frühen“ Phagengene (N und cro) (engl.„early genes“) an deren jeweiligem Promotor PL oder PR (Abb. 5.6b). Die Tran-
5.4 Regulation im λ-Genom Abb. 5.6a–d. Regulation des λ-Genoms. a Die Transkription des Genoms beginnt nach der Zirkularisierung. Der Genomabschnitt mit den wichtigsten Genen und deren Regulationsregionen (vgl. Abb. 4.8) ist hier vergrößert dargestellt. b Expression der frühen Gene. Zunächst wird die Transkription (blaugrüne Pfeile) der frühen Gene cro und N (rot) aktiviert. Die hier kodierten Proteine wirken als Antiterminator (pN) bzw. Repressor (cro-Protein) auf die Transkription des cround des N-Gens und gestatten daher die Fortsetzung der Transkription der beiden frühen Gene in die anschließenden verzögert frühen Gene bzw. reprimieren (cro-Protein) das Gen cI. c Die verzögerten frühen Gene cI, cII und cIII sind zur Expression der späten Gene und damit für die Produktion neuer Phagen erforderlich. d Im lysogenen Zustand supprimiert der im Gen cI kodierte λ-Repressor die Transkription der frühen Gene N und cro, so dass keine Phagenproteine synthetisiert werden können. cI wird durch die in cII und cIII kodierten Proteine induziert (s. c). Die Entscheidung, ob es zur Transkription der späten Gene (bei Repression des λ-Repressors durch das cro-Protein) und zum Übergang in den lytischen Zyklus oder zur Expression des λ-Repressors und damit zur Fortsetzung des lysogenen Zustandes kommt, hängt von kleinen Unterschieden zwischen den Konzentrationen beider Repressormoleküle ab, die wahrscheinlich z. T. durch Umweltbedingungen verursacht werden
skription verläuft in entgegengesetzter Richtung: Wir können hieraus ersehen, dass die beiden antiparallelen DNA-Stränge hinsichtlich kodierender Funktionen gleichwertig sind, und dass die Richtung der Genorientierung innerhalb kurzer Abstände des
Genoms wechseln kann. An den Terminationssequenzen am Ende des N- und des cro-Gens wird die Transkription beendet. Die Translationsprodukte, das Protein pN und das cro-Protein, sind Regulationsmoleküle mit unterschiedlicher Funktion: Das pN-
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Kapitel 5: Molekulare Struktur und Regulation prokaryotischer Gene
Protein wirkt als Antiterminator der Transkription der Gene N und cro, sorgt also für eine Fortsetzung der Transkription über die beiden frühen Gene hinaus. Damit ist es in der Lage, die Transkription und dadurch zugleich auch die Translation der „verzögerten frühen Gene“ (engl. delayed early genes) zu veranlassen. Mit der Transkription dieser Gene wird der lytische Zyklus des Phagen eingeleitet. Das cro-Protein dient als Repressor für die Synthese des λRepressors im Gen cI und wird daher bisweilen auch als Antirepressor bezeichnet. In dieser Funktion unterstützt es die Funktion des pN, da der λ-Repressor die Transkription aller λ-Gene, ausgenommen seine eigene Synthese, verhindert. Im lytischen Zyklus darf daher kein λ-Repressor vorhanden sein.
cI-Gens wirkt. Wie ist dieser scheinbare Widerspruch zu erklären? Offenbar liegt an dieser Stelle des Regulationssystems der Schalter für die Entscheidung zwischen lytischem und lysogenem Zyklus des Phagen. Zum Verständnis dieses Schalters ist es erforderlich, zunächst die Feinstruktur des cI-Gens näher zu
5.4.1 Regulation des lytischen Zyklus Betrachten wir zunächst die weitere Regulation des lytischen Zyklus. Mit der Transkription der Gene O, P und Q nach Einsetzen der Antitermination durch pN wird einerseits die Replikation des Phagengenoms durch die Genprodukte von O und P ermöglicht. Das im Gen Q kodierte Protein wirkt als Antiterminator der Transkription im Bereich der späten Gene S bis R (Abb. 5.6 c). Die Transkription der „späten Gene“ wird im Promotor PR′ initiiert (Abb. 5.7). Ist das Q-Protein vorhanden, so kann die Transkription über den gesamten, 26 kb langen Bereich der „späten Gene“ durchlaufen. Das Q-Protein bindet zuerst an die DNA in Bereich des späten Promotors PR′, bevor es an die RNA-Polymerase bindet. Diese durch das Q-Protein modifizierte RNA-Polymerase ist dann imstande, den 196 bp downstream des Promotors PR′ gelegenen Terminator TR′ zu überwinden und dadurch die Expression der „späten Gene“ zuzulassen. Die „verzögerten frühen Gene“ sind nicht ausschließlich für die Einleitung des lytischen Zyklus verantwortlich, sondern sie sind auch für den Beginn der Lysogenisierung unentbehrlich. Sie aktivieren nämlich außer den für die Replikation und Phagenkopfproteine verantwortlichen Genen auch das Gen cII, dessen Produkt, das Protein pcII, zusammen mit dem cIII-Genprodukt die Transkription des λRepressors im Gen cI ermöglicht (Abb. 5.6b, c). Die Gene cI, cII und cIII gehören zu den „verzögerten frühen Genen“. Bereits als eines der beiden „frühen Gene“ (N und cro) (Abb. 5.6b) wurde jedoch der Antirepressor cro aktiviert, der als Repressor des
Abb. 5.7 a,b. Feinstruktur des cI-Gens und des N-Gens und ihrer Regulationsregionen. a Die Operatorregionen besitzen stets je drei Bindungsstellen (O1 bis O3) unterschiedlicher Bindungsaffinität für die Regulationsproteine. b Als Folge dieser unterschiedlichen Bindungsaffinitäten bindet der λ-Repressor (links) zunächst an OR1. Dieser primären Bindung folgt eine kooperative Bindung eines zweiten Repressormoleküls an OR2. Diese beiden Repressormoleküle inhibieren die Expression von cro, gestatten jedoch die weitere Transkription von cI. Erst bei hohen λ-Repressorkonzentrationen wird auch OR3 besetzt. Das hat zur Folge, dass der damit überlappende PRMPromotor inaktiviert wird, so dass auch die Transkription von cI eingestellt wird. Das cro-Protein (rechts) hat die entgegengesetzten Bindungsaffinitäten für die Regionen OR1 bis OR3, so dass es zunächst den PRM-Promotor besetzt und damit die Transkription von cI unterbindet. Steigt die cro-Proteinkonzentration, wird auch die Transkription der rechts von PRM liegenden Gene reprimiert. Die Bindung des cro-Proteins erfolgt im Gegensatz zum λ-Repressor nicht kooperativ
5.4 Regulation im λ-Genom
betrachten (Abb. 5.7). Das Gen zeichnet sich dadurch aus, dass es zwei Promotorregionen, PRM und PRE, besitzt. Der Promotor PRE liegt rechts vom PR-Promotor, der die – in entgegengesetzter Richtung – verlaufende Transkription von cro beginnen lässt. Die Transkription des cI-Gens beginnt zunächst im rechten Promotor PRE mit Unterstützung der Proteine pcII und pcIII (Abb. 5.7a). Das pcII-Protein bewirkt eine Modifikation der RNA-Polymerase, ohne die die Bindung der RNA-Polymerase am Promotor nicht möglich ist. pcIII schirmt pcII gegen Abbau durch wirtszellspezifische Proteinasen ab. Die nach Initiation in PRE synthetisierten mRNA-Moleküle besitzen einen starken Ribosomenbindungsplatz und verursachen dadurch eine schnelle Synthese des λ-Repressors. Der Repressor bindet nunmehr sofort an den Operator OL der „frühen Gene“, die durch den Promotor PL angeschaltet werden und inhibiert damit die Synthese des Antiterminators pN. Gleichzeitig bindet der λ-Repressor aber auch an den Operator OR der durch PR regulierten Gene, so dass die weitere Synthese von cro unterbunden wird. Der Operator OR liegt unmittelbar rechts neben dem Promotor PRM (Abb. 5.7b). Er besteht aus drei einander sehr ähnlichen, aber nicht identischen Bindungsregionen (OR1, OR2 und OR3), die unterschiedliche Bindungsaffinitäten für den λ-Repressor besitzen. Sie nehmen von OR1 nach OR3 ab. OR1 und OR2 wirken kooperativ in der Bindung des λ-Repressors, so dass eine Bindung von Repressor an OR1 die unmittelbare Bindung eines weiteren Repressormoleküls an OR2 zur Folge hat. Dieser Repressorkomplex stimuliert die Bindung der RNA-Polymerase an den Promotor PRM, so dass damit die weitere Synthese des λ-Repressors ermöglicht wird. Erst bei großem Überschuss von Repressormolekülen werden diese auch am schwachen Operatorbindungsplatz OR3 gebunden. Da diese Region mit dem Promotor PRM überlappt, wird die Synthese des λ-Repressors nunmehr inhibiert. Der Bindungsplatz OR3 dient somit der Feinregulation der Produktion von Repressor, ähnlich wie der Attenuator im trp-Operon eine Feinregulation der Tryptophansynthese gestattet. Der Promotor PRE wird bei Bindung von λRepressor in OR1 und OR2 nicht mehr beansprucht, da er der Produkte der Gene cII und cIII bedarf. Diese werden aber durch den nunmehr vorhandenen λRepressor reprimiert. Die Hauptfrage ist aber mit der Aufklärung dieser molekularen Mechanismen noch nicht beantwortet:
Wie erfolgt die Entscheidung zwischen lytischem und lysogenem Zyklus? Nach der Infektion des Phagen und der ersten Phase der Transkription spielen zwei Regulationsmoleküle eine zentrale Rolle für die folgenden Ereignisse: der λ-Repressor und das cro-Protein als Antirepressor. Das cro-Protein übt seine reprimierende Wirkung auf die λ-Repressorsynthese durch Bindung an OR3 aus, kompetiert also für diesen Bindungsplatz mit dem λ-Repressor. Es kann, ebenso wie der λ-Repressor, auch an die anderen beiden Bindungsstellen OR2 und OR1 binden. Die Bindungsaffinitäten für die verschiedenen Bindungsregionen sind jedoch genau die entgegengesetzten zu denen des λ-Repressors. Diese Situation macht erneut deutlich, dass in der Regulation ein starker Wettbewerb (Kompetition) zwischen dem cro- und dem cII-Genprodukt besteht. Offenbar entscheiden subtile Unterschiede in der Konzentration der verschiedenen Regulatorproteine, ob der lysogene oder der lytische Weg eingeschlagen wird. Eine wichtige Rolle hierfür könnte die Menge an cII-Protein spielen, die unmittelbar nach der Infektion synthetisiert wird. Sie ist offenbar stark von den jeweiligen Wachstumsbedingungen der Zellen abhängig. Bei guten Wachstumsbedingungen, etwa hohem Glucosegehalt des Mediums, wird wenig cII-Protein hergestellt und der lytische Zyklus eingeschlagen. Wird hingegen anfangs viel cII-Protein synthetisiert, so ist die Anfangskonzentration an λ-Repressor hoch, und es wird der lysogene Zyklus bevorzugt eingeschlagen. ! Die Regulation des Vermehrungszyklus des Bak-
teriophagen λ erfolgt durch eine komplexe Interaktion von Repressorproteinen mit Regulationssequenzen in der DNA der kontrollierten Gene. Die DNA-Bindungsstellen für Regulationsproteine können aufgrund geringfügiger Nukleotidsequenzunterschiede unterschiedliche Bindungsaffinitäten für die Regulationsproteine besitzen. Durch quantitative Unterschiede in der intrazellulären Konzentration der Regulationsmoleküle wird die Transkriptionsrate reguliert.
Es muss noch angemerkt werden, dass die zuvor für den Promotor PR und den Operator OR beschriebenen Regulationsprozesse in ähnlicher Weise auch für
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Kapitel 5: Molekulare Struktur und Regulation prokaryotischer Gene
Promotor PL und Operator OL gelten. Für das Verständnis des Grundprinzips der Regulationsprozesse ist eine weitere Erörterung dieser Regulationssequenzen jedoch nicht erforderlich.
5.4.2 Regulation des lysogenen Zyklus Ist der lysogene Zyklus eingeschlagen, erfolgt die Integration des Phagen nach den bereits früher beschriebenen Mechanismen (s. S. 117). Nach der Integration erhält der Prophage die Synthese einer geringen Menge an λ-Repressor aufrecht. Die Anwesenheit des Repressors hat zur Folge,dass die übrigen Phagengene reprimiert bleiben. Nur gelegentlich kommt es zur Derepression, wenn aus sekundären Gründen der Repressortiter absinkt.Die Funktion des λ-Repressors erklärt uns noch eine zweite Eigenschaft eines Lysogens: Die Immunität gegen erneute Infektion (Superinfektion) mit einem neuen Lambda-Phagen. Ursache hierfür ist das Vorhandensein des λ-Repressors, der neu injizierte Phagen-DNA sogleich gegen Transkription reprimiert und damit sowohl die Integration als auch einen lytischen Zyklus verhindert. ! Immunität einer Bakterienzelle gegen erneute
λ-Infektion (Superinfektion) wird durch die λ-Repressormoleküle bewirkt, die im Lysogen vorhanden sind. Sie reprimieren die Expression eines neu in die Zelle injizierten Lambda-Genoms.
5.4.3 DNA-Protein-Interaktionen In einem Lysogen kann der lytische Zyklus durch UV-Bestrahlung oder chemische Mutagene induziert werden. Durch solche physiologischen Stresssituationen werden in der Wirtszelle DNA-Reparaturmechanismen aktiviert. In diesen Reparaturmechanismen spielt das RecA-Protein eine zentrale Rolle (s. Kap. 10.5.4). Das RecA-Protein verfügt über eine Proteaseaktivität, die unter anderem den λ-Repressor spezifisch abbaut. Hierdurch ist eine Initiation der Transkription in den „frühen Genen“ möglich, die damit einen lytischen Zyklus einleiten können. Diese induzierte lytische Vermehrung des Phagen ist biologisch gesehen sinnvoll, da unter Bedingungen, die erhöhte Mutagenitätsraten zur Folge haben, eine unmittel-
bare Vermehrung sinnvoller ist als die Aufrechterhaltung des Prophagenstatus. Bei den verschiedenen Regulationsmechanismen spielen molekulare Interaktionen zwischen der DNA und Regulationsproteinen eine bedeutende Rolle. Sowohl der λ-Repressor als auch das cro-Protein, CAP, der trp-Repressor und der lac-Repressor üben ihre Funktionen durch eine direkte Bindung an DNA aus. Alle diese Proteine haben eine relativ kleine Bindungsregion in der DNA, die zehn Basen in der Doppelhelix kaum überschreitet. Sie besitzen aber eine hohe und genau kontrollierte Bindungsspezifität und -affinität, wie sie am Beispiel der unterschiedlichen Bindungsaffinitäten des λ-Repressors und des croProteins besonders deutlich geworden sind. Durch die Arbeiten von Marc Ptashne und Mitarbeitern haben wir Einsicht in die physikochemischen Eigenschaften solcher Repressor-DNA-Komplexe bekommen. Alle zuvor genannten Repressoren zeichnen sich durch eine einheitliche Struktur aus: Sie bestehen aus zwei αHelixregionen, die über einen kurzen Proteinbereich miteinander verbunden sind, der beide Helices gegeneinander dreht. Man bezeichnet solche Strukturen als Helix-turn-Helix- oder als Helix-loopHelix-Motive (HLH) (s. auch S. 325). An der DNA-Bindungsstelle bildet der Repressor ein Multimer aus identischen Peptiden. Der lac-Repressor ist ein Tetramer, der gal-Repressor ein Dimer. Die röntgenkristallographische Analyse des DNA-Repressorkomplexes zeigt uns die sterische Anordnung des Repressorkomplexes relativ zur DNA (Abb. 5.8). Beim gal-Repressor greift einer der α-Helix-Bereiche jedes Dimers in die major groove der DNA ein, während der zweite α-Helixbereich mit dem des anderen Dimers in Kontakt steht. Durch experimentelle Veränderung derjenigen Aminosäuren innerhalb der α-Helixregion, die in die major groove der DNA eingreift, haben Mark Ptashne und Mitarbeiter (Irwin u. Ptashne 1987) und Benno Müller-Hill und Mitarbeiter (Suckow et al. 1996) feststellen können, welche Aminosäuren für die jeweils spezifische Erkennung der DNA-Sequenz an einer Bindungsstelle verantwortlich sind. Durch gezielte Substitionen solcher Aminosäuren konnte die Bindungsspezifität eines Repressormoleküls gezielt in die eines anderen Repressors umgewandelt werden. Aus diesen Versuchen geht hervor, dass die Regeln der Sequenzerkennung in der DNA für verschiedene Repressoren sehr ähnlich sind. Diese Versuche lassen zudem
5.4 Regulation im λ-Genom
α2
P P
α1
G
α3 P
G P P
α
C N
33,8 Å
β3
N α
β3
C
P P
α2
α1
α3
N
G
C
P G
α3 P P
α1 α2
Abb. 5.8. Molekulare Struktur und Funktion von Helix-loopHelix-Regulationsfaktoren am Beispiel des cro-Proteins und des λ-Repressors. Die Proteine bestehen aus α-Helixbereichen (Zylinder, als α gekennzeichnet) und β-Faltblättern (flache Pfeile, als β gekennzeichnet). Die in die major groove der DNA eingreifenden α-Helices sind durch ein dunkles Rot hervorgehoben. Beide Repressoren wirken als Homodimere. Der Bereich eines Monomers ist jeweils durch blaue Markierung hervorgehoben, die zugehörigen α-Helices (dunkelrot), die den DNA-Kontakt vermitteln, sind erkennbar. Die N-terminalen
erkennen, dass Proteine in der Lage sind, die sehr kurze, spezifische Basensequenzen in einer DNA-Doppelhelix von außen zu erkennen (vgl. S. 323). Die geringe Ausdehnung des für diesen Erkennungsmechanismus erforderlichen DNA-Bereiches veranschaulicht, welchen Problemen man bei der Identifizierung solcher Regulationsbereiche in Eukaryotengenomen gegenübersteht.
und carboxyterminalen Enden der Moleküle sind durch N und C gekennzeichnet. Die Dimension ist durch einen senkrechten Pfeil angezeigt. Rechts ist der Lambda-Repressor in seiner an die DNA gebundenen Form zu sehen, in der Mitte der croRepressor. Links ist die Position der α-Helices α2 in der Doppelhelix schematisch angegeben. Innerhalb der Doppelhelix sind die für die Bindung wichtigen Guaninreste gekennzeichnet (G). Die beiden Monomeren eines Repressorkomplexes sind jeweils symmetrisch zum Operator angeordnet (vgl. auch Abb. 8.26). (Nach Watson et al. 1987 und Voet u. Voet 1992)
! Verschiedene DNA-bindende Regulationsmole-
küle besitzen eine gemeinsame Grundstruktur. Sie bestehen aus zwei voneinander getrennten α-Helixregionen, mit deren einer sie untereinander Dimere bilden. Die zweite α-Helixregion greift jeweils in die major groove der DNA-Doppelhelix an einer spezifischen Erkennungssequenz ein. Die Erkennungsspezifität wird einerseits durch die Basensequenz auf der Seite der DNA und andererseits durch die Aminosäuresequenz auf der Seite des Proteins bestimmt.
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Kapitel 5: Molekulare Struktur und Regulation prokaryotischer Gene
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Kernaussagen
▬ Die ersten Genregulationsmodelle wurden an Bakterien erarbeitet. Sie ergaben, dass es negative (Repression) und positive (Induktion) Kontrollmechanismen gibt. ▬ Nach dem Operonmodell besteht ein Gen aus ciswirksamen Promotor- und Operatorbereichen am 5′-Ende einer Gruppe von Genen. Diese werden über trans-wirksame Repressoren und Induktoren reguliert. ▬ Der Regulation eines Genkomplexes nach dem Operonmodell können andere Regulationsmechanismen übergeordnet sein. ▬ Ein Feinregulationsmechanismus ist der Attenuationsmechanismus, der bei mehreren Aminosäurebiosynthesewegen von Escherichia coli und anderen Bakterien gefunden wurde. Er ist durch ein
zusätzliches cis-wirksames Regulationselement, der Leadersequenz vor dem ersten Cistron, charakterisiert. Die Translationsgeschwindigkeit dieser Leadersequenz bestimmt, ob im darauffolgenden Abschnitt des primären Transkriptes intramolekulare Basenpaarungen entstehen können, die als Terminationssignale für die Transkription wirken. ▬ Die Aufklärung der Regulationsmechanismen des Bakteriophagen λ hat Einblicke in die Mechanismen der DNA-Protein-Interaktionen gewährt, die sich heute als auch für die eukaryotische Transkriptionskontrolle zutreffend erwiesen haben. Die DNA-Bindung erfolgt durch die Erkennung spezifischer kurzer Nukleotidsequenzen in der großen Furche der DNA durch α-Helixbereiche von HelixLoop-Helix-Proteinen (HLH-Proteinen), die Dioder Tetramere formen.
Technik-Box
Technik-Box 10
Restriktionsanalyse von DNA und Southern-Blotting Anwendung: Charakterisierung von DNA-Sequenzen durch Kartierung von Restriktionsenzymschnittstellen; Ermittlung von Sequenzhomologien durch Hybridisierungsexperimente. Einer der entscheidenden Fortschritte für die Analyse von DNA war die Entdeckung der Restriktionsenzyme. Restriktionsenzyme sind Endonukleasen, die die DNA sequenzspezifisch schneiden. Die Erkennungssequenzen sind für verschiedene Restriktionsenzyme unterschiedlich lang und liegen für die meisten Enzyme im Bereich von 4 bis 8 Nukleotiden. Bei 50% G+C-Gehalt einer DNA und zufallsgemäßer Nukleotidverteilung ist der erwartete mittlere Abstand der Erkennungssequenzen in einem DNA-Molekül durch die Länge der Erkennungssequenz (L in Nukleoti-
den) bestimmt und kann nach der Formel A = 4L errechnet werden, da für jede Nukleotidposition 4 Basen möglich sind. Die Erkennungssequenzen sind in sehr vielen Fällen symmetrisch und daher in der Lage, ein Palindrom zu formen. Die Schnittstelle in Bezug auf die Erkennungssequenz ist jedoch unterschiedlich. So kann sie genau in der Mitte liegen (Abb. a). In diesem Fall erhält man eine glatte Schnittstelle (engl. blunt end). Wenn sie nicht in der Mitte liegt, erfolgt der Schnitt meist symmetrisch in Bezug auf die Mitte. Als Ergebnis erhält man an der Schnittstelle einen 5′- oder 3′-Einzelstrangüberhang (staggered ends oder protruding ends) (Abb. b und c). Solche Einzelstrangenden sind für die Gentechnologie sehr nützlich, da sie leicht
Abb. a–c zeigt verschiedene Restriktionsenzyme in ihrer Sequenzspezifität und die resultierenden Einzelstrangenden in der DNA. d zeigt die Struktur der 3′- und 5′-Enden der Einzelstränge.
mit einem komplementären Einzelstrangende assoziieren und somit einen neuen Doppelstrang bilden können. Die dann noch vorhandenen Einzelstrangbrüche können mit einer DNA-Ligase entfernt werden, die eine kovalente Bindung in den DNA-Einzelsträngen herstellt, sofern das jeweilige 5′-Ende ein Phosphat und das 3′-Ende eine OH-Gruppe zur Bildung der Phosphodiesterbindung (Abb. d) (s. S. 23) enthält. Man bezeichnet daher solche Einzelstrangenden auch als stickyoder cohesive ends. Durch Dephosphorylierung der 5′-Enden lässt sich daher die Bildung von intramolekularen oder intermolekularen kovalenten Ligationsprodukten verhindern. Das ist für eine effektive Klonierung von DNA-Restriktionsfragmenten sehr wichtig. Unterschiedliche Restriktionsenzyme, die die gleiche Erkennungssequenz haben, bezeichnet man als Isoschizomere. So erkennen z. B. MboI und Sau3A das gleiche Tetranukleotid (GATC), an dessen Enden die Schnitte erfolgen. Diese Sequenz entspricht einem Teil der Erkenungssequenz von BamHI (Abb. c), obgleich BamHI ein Hexanukleotid erkennt. Das ermöglicht es, MboI- oder Sau3A-geschnittene DNAFragmente in BamHI-geschnittene Vektoren einzuligieren (nicht aber umgekehrt!). Die Verwendung von Restriktionsenzymen gestattet die Herstellung von Restriktionskarten der DNA. Solche Restriktionskarten sind für Klonierungsexperimente wichtig, da sie wichtige Anhaltspunkte für sinnvolle weitere Klonierungsschritte geben. Sie gestatten auch den Vergleich verschiedener DNA-Fragmente und können auch Hinweise auf Heterozygotien im Genom geben (Nachweis von Mutationen und Polymorphismen).
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Kapitel 5: Molekulare Struktur und Regulation prokaryotischer Gene
Technik-Box 10
Restriktionsanalyse (Fortsetzung) Southern-Blot Methode: DNA-Moleküle (z. B. klonierte DNA-Fragmente oder GenomDNA) werden in Parallelreaktionen mit unterschiedlichen Restriktionsenzymen geschnitten. Die Reaktionsprodukte werden auf Agarosegelen in nebeneinanderliegenden Spuren elektrophoretisch nach ihrer Größe aufgetrennt. Nach Inkubation mit Ethidiumbromid lassen sich die Restriktionsfragmente im UV-Licht sichtbar machen. Ihre Länge kann durch Ver-
gleich mit Marker-DNA-Fragmenten errechnet werden. Durch Vergleich der Resultate von Restriktionsexperimenten mit einzelnen oder mehreren Enzymen lassen sich die Positionen von Restriktionsenzymschnittstellen relativ zueinander ermitteln. Es können so „Restriktionskarten“ einer DNASequenz erstellt werden. Nach alkalischer Denaturierung der zunächst noch doppelsträngigen Fragmente im Gel wird die DNA durch Diffusion auf Membranfilter übertragen,
an denen sie irreversibel fixiert wird. Diese Filter werden mit markierten Nukleinsäuren hybridisiert. Hybride werden durch Autoradiographie (bei radioaktiven Nukleinsäuren und bei der Verwendung von fluoreszierenden Agenzien zur Markierung, z. B. AMPPD) oder durch Färbungen (bei DIG-markierten Nukleinsäuren und Reaktion mit enzymgekoppelten Antikörpern) erkannt. Diese Methode wird nach ihrem Erfinder Edwin Southern als Southern-Blotting bezeichnet.
Southern-Blotting. a Es ist die technische Ausführung eines Southern-Blots dargestellt: Aus einem Vorratsgefäß wird Puffer über ein saugfähiges Papier zu dem darüber liegenden Gel gesaugt. Über dem Gel befindet sich eine Membranfolie (häufig Nylon), die wiederum mit Filterpapier und Papiertüchern abgedeckt ist. Ein Gewicht verteilt den Druck gleichmäßig auf das gesamte Gel und stabilisiert den Aufbau. Durch diese Anordnung wird der Puffer durch das Gel hindurchgesaugt und nimmt dabei die DNA mit, die auf der Membranfolie haften bleibt. Die Effizienz der Übertragung (üblicherweise über Nacht) kann durch Färbung mit Ethidiumbromid überprüft werden. (Nach Surzycki 2000) b Ergebnis eines Southern-Blots. Die Restriktionsfragmente im Gel sind nach Anfärbung mit Ethidiumbromid im UV-Licht zu erkennen (links). Nach dem Blotten und Hybridisieren mit einer radioaktiv markierten DNA-Probe werden im Autoradiogramm solche Restriktionsfragmente erkennbar, die mit der verwendeten Probe Sequenzhomologien aufweisen (weiße Pfeile im linken Bild). Die Buchstaben E und H kennzeichnen die Behandlung mit den Restriktionsenzymen EcoRI bzw. HindIII; der Marker am linken Bildrand deutet die Größe der erhaltenen Fragmente an.
Technik-Box
Technik-Box 11
Northern-Blotting Anwendung: Analyse von gewebeoder entwicklungsstadienspezifischen RNA-Fraktionen auf Sequenzhomologien in Hybridisierungsexperimenten. Methode: Vergleichbar der Übertragung von DNA auf Membranfilter in Southern-Blotting-Experimenten (Technik-Box 10), wird beim Northern-
Blotting zunächst RNA unter denaturierenden Bedingungen (zur Lösung inter- und intramolekularer Basenpaarungen) elektrophoretisch nach Größe getrennt und dann durch Diffusion aus dem Gel auf Membranfilterfolie übertragen. Diese wird dann in Hybridisierungsexperimenten mit den interessierenden Nukleinsäuren, die
markiert sind, auf RNA-Fraktionen untersucht, die mit der markierten Nukleinsäure Komplementarität zeigen. Der Name der Methode geht in diesem Fall nicht auf den Erfinder zurück, sondern dient lediglich der Unterscheidung vom Southern-Blotting (southern engl. auch „südlich“, northern engl. „nördlich“).
Die Methode des Blotting entspricht im Prinzip der eines SouthernBlots (Technik-Box 10). Zunächst wird eine Gelelektrophorese von RNA durchgeführt, bei der die RNA-Moleküle im elektrischen Feld nach Molekulargewicht aufgetrennt werden. Wegen der starken Neigung der RNA, Sekundärstrukturen zu bilden, erfolgt die Elektrophorese unter denaturierenden Bedingungen. Nach der Trennung wird die RNA vom Gel auf einen Membranfilter übertragen. Der Membranfilter wird mit radioaktiver (oder anders markierter) Nukleinsäure (Einzelstrang-DNA oder RNA) hybridisiert. Anschließend erfolgt die Autoradiographie (oder Färbungsreaktion), die es gestattet, zur Probe homologe RNA-Fraktionen aufgrund ihrer Hybridbildung zu identifizieren. Hier ist das Ergebnis eines Northern-Blots von RNA aus verschiedenen Geweben gezeigt, die mit radioaktiv markierter Histon H3-DNA (s. S. 232) hybridisiert wurde. Das Autoradiogramm zeigt, dass unterschiedliche RNA-Fraktionen (Größen in Nukleotiden, nt, angegeben) in den Geweben auftreten, die zudem polyadenyliert (gekennzeichnet mit A+) sind oder keinen Poly[A]-Schwanz (gekennzeichnet mit A–) besitzen. (Aus Akhmanova et al. 1997)
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Kapitel 6
Zelle, Zellteilungen und Zellzyklus
Metaphase der Lungenzelle eines Molches. Die modernen mikroskopischen Techniken gestatten eindrucksvolle Einblicke in die strukturelle Organisation von Zellen. Durch differenzielle Färbung werden die Komponenten der Metaphasezelle sichtbar: Centrosomen (magenta), Chromosomen (blau), Mikrotubuli (grün) und Intermediärfilamente (rot). (Photo: Alexey Khodjakov)
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Kapitel 6: Zelle, Zellteilungen und Zellzyklus
Überblick Der Lebenszyklus einer Zelle höherer Organismen ist aus cytologischer Sicht im Wesentlichen durch den Wechsel zwischen einem Stadium der Zellteilung (Mitose) und der dazwischen liegenden Phase (Interphase) gekennzeichnet. Während der Interphase ist vor allem der Zellkern mit dem Nukleolus und diffusem Chromatin sichtbar, während sich im Cytoplasma der Zelle Organellen wie Mitochondrien, Plastiden (in Pflanzenzellen) oder der Golgiapparat erkennen lassen. Während der Zellteilung (Mitose) werden im Kern Chromosomen sichtbar, der Nukleolus hingegen verschwindet und die Kernmembran löst sich auf. Gleichzeitig bildet sich ein Spindelapparat, mit dessen Hilfe sich die Chromosomen gleichmäßig auf die zwei neu entstehenden Tochterzellen verteilen. Während die Kernmembran sich neu bildet, dekondensieren die Chromosomen und bilden das diffuse Interphasechromatin, und der Nukleolus bildet sich neu. Untersucht man die Zellteilungen während der Keimzellentwicklung, so stellt man einen grundsätzlichen Unterschied während der letzten zwei Teilungen (Meiose) vor der Gametenbildung fest. In der ersten dieser Zellteilungen wird die Anzahl der Chromosomen auf die Hälfte reduziert. Das geschieht durch die Paarung je zweier morphologisch gleicher Chromosomen, die dann, während der ersten meiotischen Zellteilung, zu den entgegengesetzten Spindelpolen wandern. In der zweiten meiotischen Teilung werden wie während der Mitose die beiden Chromatiden eines jeden Chromosoms auf die Tochterzellen verteilt. Bei jeder gewöhnlichen Zellteilung wird die gleichmäßige Verteilung des gesamten genetischen Materials bei unveränderter Gesamtzahl der Chromosomen sichergestellt, während für die Keimzellentwicklung die Anzahl der Chromosomen halbiert wird. Die Untersuchung der Verteilung sogenannter Geschlechtschromosomen zeigte, dass die meiotische Paarung je zweier Chromosomen zwischen den beiden elterlichen (homologen) Chromosomen des Organismus erfolgt. In einem Chromosom ist eine große Anzahl von Genen gekoppelt. Vor der ersten meiotischen Teilung läuft ein Prozess ab, der für den Austausch von Genen zwischen jeweils zwei homologen Chromosomen sorgt, die Rekombination. Während der Rekombination findet ein Crossing-over, also ein Stückeaustausch zwischen je einer Chromatide zweier homologer Chromosomen, statt. Das führt zu einer Vermischung von Allelen während der Keimzellentwicklung.
In einigen Organismen, besonders bei Schimmelpilzen, kann man alle Meioseprodukte genetisch analysieren. Hierbei zeigt es sich, dass die genetische Konstitution der haploiden Zellen von der erwarteten Konstitution abweicht. Bei einem Stückeaustausch zwischen den Prophasechromatiden dürfte die Häufigkeit der verschiedenen Allele nicht verändert werden, selbst wenn ihre Kopplungsbeziehungen verändert sind. Die Abweichungen von den erwarteten Häufigkeiten lassen sich durch den molekularen Mechanismus der Rekombination erklären. Im Bereich der DNA-Brüche entstehen während der Rekombination DNA-Moleküle, die aus den beiden ursprünglich getrennten Chromatiden entstanden sind. Da diese ungepaarte Basenbereiche aufgrund abweichender DNA-Sequenzen enthalten können, werden Reparaturprozesse erforderlich, die im Bereich des Rekombinationsereignisses in der DNA die vollständige Basenpaarung der beiden gepaarten DNA-Stränge wiederherstellen. Die Angleichung der beiden Stränge aneinander erfolgt unter willkürlicher Verwendung eines der beiden DNA-Stränge als Matrize für die Korrektur des zweiten DNA-Stranges. Als Folge dieser Korrekturvorgänge kann es zu Verschiebungen in den Allelhäufigkeiten kommen. Solche Abweichungen werden auch als Genkonversion bezeichnet. Als Mosaike bezeichnet man Individuen, die Zellen enthalten, die sich hinsichtlich ihrer Chromosomenstruktur oder -zahl unterscheiden. Ursachen sind Fehler in der Trennung der Schwesterchromatiden (Nondisjunction) oder mitotische Remkombinationen. Solche genetischen Mosaike haben große Bedeutung für die Lösung entwicklungsgenetischer Fragestellungen. Ein zentrales Element im Ablauf der Zellteilungen ist die präzise Regulation der einzelnen Teilschritte. Der Zellzyklus startet dabei in der G1-Phase; nach dem Überschreiten eines Kontrollpunktes ist die Zelle irreversibel auf Teilung programmiert. In der anschließenden S-Phase wird die DNA repliziert. Nach der G2-Phase erfolgt die eigentliche Zellteilung, die Mitose. An der Regulation des Zellzyklus ist eine Reihe von Proteinkinasen beteiligt. Man unterscheidet zunächst Cycline und Cyclin-abhängige Kinasen. Dazu kommen noch eine Reihe phosphorylierbarer Proteine, die wichtigsten sind Rb, E2F und p23. Eng verknüpft mit der Regulation des Zellzyklus ist auch der programmierte Zelltod (Apoptose).
6.1 Rückblick
6.1 Rückblick Die Zelle als ein Grundbaustein aller Organismen war bereits 1665 durch Robert Hooke (1635–1703) bei seinen Untersuchungen an Pflanzen beschrieben worden und er führte auch die Bezeichnung cell ein. Diese Beobachtungen waren mit Hilfe eines einfachen Mikroskops gemacht worden (Abb. 6.1). Obwohl in der Folge Nehemiah Grew (1614–1712) und Antoni van Leeuwenhoek (1632–1723) die mikroskopische Feinstruktur von Tieren und Pflanzen in vielen Details studierten, setzte das mangelhafte Auflösungsvermögen der frühen Mikroskope solchen Studien enge Grenzen. Erst die Verbesserungen der optischen Qualität, insbesondere durch die Korrektur sphärischer und chromatischer Aberrationen, erlaubten es, Feinheiten im Bau tierischer Gewebe zu erkennen. So beschrieb Theodor Schwann (1810–1882) im Jahre 1839 tierische Zellen und erkannte, dass auch sie Zellkerne besitzen. Der Zellkern war bereits 1831 von Robert Brown (1773–1858) (nach ihm ist die Brown’sche Molekularbewegung benannt) bei Orchideen entdeckt worden. Matthias Jacob Schleiden (1804–1881) schloss, dass der Zellkern eine zentrale
Abb. 6.1. Das Mikroskop von Robert Hook. Die Beleuchtung erfolgte mittels einer Öllampe
Rolle für die Zellentwicklung spielt, nahm jedoch an, dass Kerne während der Zellteilung aus „Protoplasma“-Körnchen neu entstehen. Karl Wilhelm von Nägeli (1817–1891) erkannte 1848, dass Zellen durch Zellteilung auseinander entstehen, aber erst Rudolf Ludwig Virchow (1821–1902) kam zu der Erkenntnis, dass alle Zellen stets durch Teilung aus bereits existierenden Zellen entstehen („omnis cellula e cellula“). Die Bedeutung des Zellkernes wurde durch die Erkenntnisse Oskar Hertwigs (1849–1922) im Jahre 1875 und Eduard Strasburgers (1844–1912) zwei Jahre später (1877) hervorgehoben. Sie erkannten, dass die Befruchtung auf einer Vereinigung je eines Zellkerns mütterlichen und väterlichen Ursprungs als Folge der Verschmelzung zweier Keimzellen beruht. Beide Wissenschaftler schlossen daraus, dass die Erbeigenschaften im Kern enthalten sein müssen. In den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts waren von verschiedenen Cytologen färbbare Körperchen im Kern beobachtet worden, die während der Zellteilungen sichtbar sind. Für diese Kernbestandteile wurde 1888 von Wilhelm von Waldeyer-Hartz (1836–1921) die Bezeichnung Chromosomen eingeführt, die auf die charakteristischen Färbungseigenheiten dieser Kernstrukturen Bezug nimmt. Die wichtige Rolle der Chromosomen im Zellkern wurde durch die cytologischen Studien der Zellteilung deutlich. Hierbei spielten vor allem Untersuchungen an befruchteten Eiern eine Rolle (Abb. 6.2), wie sie unter anderem von Walther Flemming (1843–1905) und Carl Rabl (1853–1917) durchgeführt wurden. Eine der wichtigsten Erkenntnisse war, dass die Anzahl der Chromosomen während der Zellteilung (Mitose) (Flemming 1882) unverändert bleibt. Etwa gleichzeitig beschrieben Edouard van Beneden (1846–1910), Theodor Boveri (1862–1915), Thomas Harrison Montgomery (1873–1912) und andere Cytologen, dass durch einen besonderen Zellteilungsmechanismus während der Entstehung männlicher und weiblicher Keimzellen eine Halbierung der Anzahl der Chromosomen stattfindet und dass durch die Vereinigung der Keimzellen die ursprüngliche Chromosomenanzahl, wie man sie in somatischen Zellen findet, wiederhergestellt wird. Für diesen besonderen Teilungsmechanismus wurde von J. B. Farmer und E. Moore (1905) der Begriff Meiose eingeführt. Bereits 1885 zieht August Weismann (1834–1914) in seiner berühmten Abhandlung Über die Kontinuität des Keimplasmas als Grundlage einer Theorie der Vererbung einen entscheidenden Schluss aus all diesen Befunden, ohne ihn jedoch mit
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Kapitel 6: Zelle, Zellteilungen und Zellzyklus
Abb. 6.2a–d. Erste Darstellung der indirekten Kernteilung durch ihren Entdecker, Anton Schneider (1873). Sie wurde am Sommerei des Plathelminthen Mesostomum Ehrenbergii beobachtet. a Seitliche Ansicht des Kernes in der Metaphase, b Aufsicht auf die Metaphasechromosomen vom Spindelpol. c Anaphase in Seitenansicht und d späte Anaphase mit beginnender Durchschnürung des Eies. (Nach Schneider 1873 aus Cremer 1985)
den Mendel’schen Beobachtungen in Verbindung zu bringen. Er schreibt: „the complex mechanism for cell division exists practically for the sole purpose of dividing the chromatin, and ... thus the [chromatin] is without doubt the most important part of the nucleus.“ Fast gleichzeitig wurden auch die chemischen Verbindungen entdeckt, die, wie sich erst viel später (1944) herausstellte, die erblichen Eigenschaften bestimmen: Friedrich Miescher (1844–1895) isolierte 1871 im Keller des Tübinger Schlosses aus Eiter die Nukleinsäuren als einen Hauptbestandteil des Chromatins. Er selbst erkannte die Bedeutung seiner Entdeckung nicht, sondern vermutete wegen der chemischen Einförmigkeit dieser Verbindungen, dass Proteine die wichtigeren Bestandteile des Chromatins seien. Eine endgültige Vorstellung über die chromosomale Grundlage der Vererbung zu entwickeln gelang erst im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts nach der Wiederentdeckung der Mendel’schen Regeln (1900), obwohl zahlreiche wissenschaftliche Beobachtungen, die eindeutige Hinweise auf die materielle Basis des Erbmaterials enthielten, bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gemacht worden waren. Edmund Beecher Wilson (1856–1939), Walter Stanborough Sutton (1876–1916) und Theodor Boveri (1862–1915) zeigten zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass das mitotische und meiotische Verhalten der Chromosomen vollständig den Erwartungen der genetischen Analysen über das Verhalten des Erbmaterials entspricht. Sie schufen hierdurch die Chromosomentheorie der Vererbung. Als endgültiger Beweis für die Richtigkeit dieser Theorie wird die Übereinstimmung zwischen dem Erbgang und dem cytologischen Verhalten der Geschlechtschro-
mosomen und dem Erbgang geschlechtsgebundener Merkmale gewertet. In den folgenden Abschnitten wird zunächst auf die Struktur der Zelle und die Morphologie der Chromosomen eingegangen. Das Verhalten der Chromosomen in somatischen und Keimzellen im Einzelnen wird im nächsten Kapitel dargestellt.
6.2 Die eukaryotische Zelle 6.2.1 Die Struktur der Zelle Schwann war in seinen „Mikroskopischen Untersuchungen über die Übereinstimmung in der Struktur und dem Wachsthum der Thiere und Pflanzen“ im Jahre 1839 zu dem Schluss gekommen, dass „alle Gewebe aus Zellen bestehen oder sich auf verschiedenste Weise aus Zellen heranbilden“. Damit war einer der Grundpfeiler nicht nur der Zell- und Entwicklungsbiologie, sondern auch der Genetik errichtet. Ein weiterer Stützpfeiler der modernen Zellbiologie war die Erkenntnis Rudolf Virchows aus dem Jahre 1855, dass Zellen nur aus Zellen entstehen können. Hauptmerkmal einer Zelle höherer Organismen ist ihre Untergliederung in Cytoplasma und Zellkern (Abb. 6.3). Beide Zellbereiche werden durch eine doppelte Kernmembran voneinander getrennt (Abb. 6.4). Organismen, die einen Zellkern besitzen, bezeichnet man als Eukaryoten. (Der Begriff „Eukaryonten“, der häufig gebraucht wird, ist sprachlich nicht korrekt.) Sie stehen im Gegensatz zu den Prokaryoten, die keinen durch eine Kernmembran abgesonderten Kern in ihren Zellen besitzen und dadurch grundlegende Unterschiede in ihrem zellulären Stoffwechsel aufweisen. Der Erwerb eines Zellkerns dürfte evolutionär entscheidend für die Entstehung vielzelliger Organismen mit Zellen und Geweben unterschiedlichster Funktionen und Formen gewesen sein. Innerhalb der Zelle setzt sich die Kernmembran in Membransystemen fort, die das Cytoplasma durchziehen und daher endoplasmatisches Retikulum genannt werden. An diesen Membransystemen laufen die meisten Stoffwechselprozesse ab, und sie sind teilweise dicht mit Ribosomen besetzt („rauhes“ endoplasmatisches Retikulum). Zudem dienen diese Membranen einer Kompartimentierung – also strukturellen Unterteilung – der Zelle, die funktionell
6.2 Die eukaryotische Zelle Abb. 6.3. Schema einer eukaryotischen Zelle. Die Darstellung vereinigt Merkmale tierischer und pflanzlicher Zellen. Das genetische Material befindet sich im Zellkern (Name: Eukaryot!) und in cytoplasmatischen Organellen (Mitochondrien und Plastiden). Plastiden und Vakuolen sind charakteristisch für pflanzliche Zellen. (Nach Monneron u. Bernhard 1969)
Kerndoppelmembran mit Ribosomen Nukleolus Kernpore
Kern Cytoplasma
Vakuole endoplasmatisches Retikulum Golgi-Apparat
Mitochondrium Laminschicht
wichtig ist. Umgeben werden tierische Zellen von einer Zellmembran, pflanzliche Zellen zusätzlich noch von einer Zellwand. Die Verstärkung der zellulären Umhüllung bei Pflanzen ist zur Erhaltung des Binnendruckes (Turgor) erforderlich. Beide Strukturen dienen nicht nur der Abgrenzung der Zellen nach außen, sondern erfüllen auch wichtige Aufgaben für das jeweilige Gewebe – und damit letztlich für den Gesamtorganismus – durch die Kontrolle von Transportvorgängen sowohl in die Zelle hinein als auch aus der Zelle heraus. In ähnlicher Weise werden auch Transportvorgänge durch die Kernmembran kontrolliert. Hierfür spielen Kernporen eine entscheidende Rolle (Abb. 6.4 und 6.5). ! Die Zellen höherer Organismen zeichnen sich
durch eine Untergliederung in Zellkern und Cytoplasma aus. Organismen mit einem Zellkern werden daher – im Gegensatz zu den kernlosen Prokaryoten – als Eukaryoten bezeichnet. Der Kern ist durch eine Kernmembran vom Cytoplasma abgegrenzt.
Im Cytoplasma von Eukaryotenzellen (Abb. 6.3) finden wir verschiedene Organellen wie den Golgiappa-
rat, ein membranbildendes Organell, sowie Mitochondrien und – in Pflanzen – Plastiden und Vakuolen. Im Kern (Abb. 6.6) sind insbesondere ein oder mehrere Nukleolen auffällig sowie in vielen Fällen stark färbbare, meist amorphe Einschlüsse, das Heterochromatin. Der Nukleolus ist ein Organell, das in allen stoffwechselaktiven Zellkernen beobachtet wird, jedoch in bestimmten Phasen des Zellzyklus aufgelöst bzw. neu gebildet wird (s. S. 179). Beim Heterochromatin handelt es sich um inaktives Chromatin (s. S. 256). Nur durch spezielle Methoden lässt sich zeigen, dass der Kerninhalt, das Karyoplasma, durch ein Kernskelett, d. h. ein Netzwerk aus Proteinfibrillen, strukturell gegliedert ist. Es ist nicht zuletzt für die Verdoppelung und die Positionierung der Chromosomen wichtig, bestimmt aber zugleich auch die Form des Kerns. Ein wichtiger Bestandteil der meisten Zellkerne ist eine Proteinschicht, die der inneren Kernmembran angelagert ist und aus Laminmolekülen geformt wird (s. Abb. 6.3 und 6.6). Diese Laminlage ist offenbar nicht nur für die Strukturierung des Kerns und die Anheftung der Chromosomen an die Kernmembran unentbehrlich, sondern sie ist auch an der Kontrolle des Stofftransportes zwischen Kernraum und Cytoplasma beteiligt.
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Kapitel 6: Zelle, Zellteilungen und Zellzyklus
Abb. 6.4. Schema der dreidimensionalen Struktur eines Kernporenkomplexes. Die doppelte Kernmembran öffnet sich in den Poren. Die Poren werden am Rande durch acht Proteinmoleküle, die den Annulus (Ringwulst) formen, umgeben und in der Mitte durch ein Ribonukleoprotein (Zentralgranulum) (nicht gezeigt, s. Abb. 6.5 b) verschlossen, so dass nur ein enger Kanal von etwa 15 nm Durchmesser für Transportprozesse verfügbar ist. Der Transport von Material durch die Poren wird in beiden Richtungen aktiv kontrolliert
Es gibt zunehmend Hinweise auf eine tiefgreifende Strukturierung des Karyoplasmas in funktionelle Domänen, die beispielsweise für die Replikation der DNA eine Rolle spielen, aber auch andere Funktionen im Kernstoffwechsel haben (s. S. 280). Die Struktur des Cytoplasmas wird durch ein Skelett von Mikrofibrillen bestimmt, das Cytoskelett. Am Aufbau des Cytoskelettes sind vor allem dünne Mikrofilamente (7 nm) und dickere Mikrotubuli (25 nm) beteiligt. Mikrofilamente bestehen aus Aktinmolekülen, die zu Filamenten polymerisieren, Mikrotubuli werden aus Tubulinen zusammengesetzt. In vielen tierischen Zellen gibt es noch zusätzliche Elemente, die intermediären Filamente (engl. intermediate filaments), deren Durchmesser genau zwischen dem der zuvor genannten Filamente liegt (8 bis 10 nm). Intermediärfilamente sind aus unterschiedlichen Proteinen zusammengesetzt, so unter anderem Vimentin, Desmin und Keratine. Die verschiedenen cytoplasmatischen Filamente sind im Zellskelett auf komplexe, noch weitgehend unver-
Abb. 6.5 a, b. Elektronenmikroskopische Aufnahmen von Kernporen in Xenopus-Oocyten. a Querschnitt durch eine Oocytenkernmembran. Die Doppelmembran ist deutlich zu erkennen, ebenso die in regelmäßigen Abständen gelegenen Kernporen. b Aufsicht auf eine Kernmembran mit Kernporen. Porenkomplexe sind in großer Anzahl vorhanden und regelmäßig angeordnet. Das Zentralgranulum der Poren ist sichtbar. (Photos: C. Dabauvalle, Würzburg)
standene Weise miteinander verwoben und auf unterschiedliche Weise, z.T. auch mit Hilfe von Myosinfasern, in der Zellmembran verankert. Dieses Cytoskelett ist nicht nur für die Regulation von Stoffwechselvorgängen, sondern vor allem auch für die Ausbildung der jeweiligen Zellform von entscheidender Bedeutung. ! Das Cytoplasma eukaryotischer Zellen ist durch
ein Membransystem, das endoplasmatische Retikulum, durchsetzt, das mit der Kernmembran verbunden ist. Die Verbindung des Karyoplasmas mit dem Cytoplasma erfolgt über Poren in der Kernmembran. Sowohl im Karyoplasma als auch im Cytoplasma befinden sich fibrilläre Elemente, die ein Kernskelett bzw. ein Cytoskelett aufbauen. Kern- und Cytoskelett
6.2 Die eukaryotische Zelle Nukleolus
Kerndoppelmembran Poren
Zygote
Soma
Laminschicht Chromatin
Perichromatingrana
Abb. 6.6. Interphasezellkern. Chromosomen sind nicht sichtbar. Sie bilden das diffuse Chromatin des Kernes. Der Kernmembran, die von Poren durchsetzt ist, lagert sich innen eine Proteinschicht aus Laminen an. Der Nukleolus ist ein obligatorischer Bestandteil jedes Interphasekernes. (Nach Monneron u. Bernhard 1969)
sind nicht nur für die Form des Kerns und der Zelle bestimmend, sondern stehen auch im Dienste des Stoffwechsels. Auch der Zellkern wird in funktionelle Domänen untergliedert, über deren strukturelle Grundlage jedoch wenig bekannt ist.
6.2.2 Keimbahnzellen und somatische Zellen Betrachten wir die Entwicklung eines vielzelligen Organismus, so sehen wir, dass aus einer einzigen befruchteten Eizelle eine Vielzahl von Zelltypen unterschiedlicher Form und Funktion gebildet wird (Abb. 6.7). Diese Zellen entstehen durch Zellteilungen, die als mitotische Teilungen bezeichnet wer-
Keimbahn
Abb. 6.7. Entstehung von Keimbahn und Soma während der Ontogenese. Bei vielen Tieren werden (im Gegensatz zu Pflanzen) die künftigen generativen Zellen frühzeitig determiniert. Von einem bestimmten Zeitpunkt an entstehen aus diesen Zellen keine somatischen Zellen mehr. Diese Zellen formen dann in ihrer Gesamtheit die Keimbahn. Somatische Zellen differenzieren sich in verschiedene Zelltypen, können jedoch keine generativen Zellen mehr bilden (vgl. auch Abb. 12.25)
den. Im Ablauf des Lebenszyklus eines Organismus müssen neben der Vielzahl unterschiedlicher Zellen, die die verschiedenen Teile des Individuums aufbauen, auch Zellen entstehen, die dafür sorgen, dass sich das betreffende Individuum fortpflanzen kann: die Keimzellen, auch als Geschlechtszellen oder Gameten bezeichnet. In den meisten Tieren wird bereits sehr früh in der Entwicklung eines Individuums festgelegt, welche Zellen sich später zu Keimzellen entwickeln. Wir sprechen daher von Keimzellen, im Gegensatz zu Somazellen. Später werden wir sehen, dass sich die Entwicklung der Keimbahnzellen mancher Organismen sehr weitgehend von der Entwicklung somatischer Zellen unterscheiden kann (Kap. 13.3.1). Da die Entstehung eines neuen Organismus, außer bei vegetativer Vermehrung, die Verschmelzung zweier Keimzellen voraussetzt, müssen wir aufgrund der Mendel’schen Beobachtungen erwarten, dass bei der Entstehung der Keimzellen eine Veränderung in der Ausstattung dieser Zellen hinsichtlich ihrer Erbeigenschaf-
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Kapitel 6: Zelle, Zellteilungen und Zellzyklus
ten erfolgt. Keimzellen müssen somit Besonderheiten aufweisen, die sie grundsätzlich von anderen Zellen unterscheiden. Die frühe Unterscheidung von Keimzellen und somatischen Zellen, die man bei Tieren beobachtet, trifft in dieser Form für Pflanzen nicht zu. Hier kann die Entscheidung des Überganges zwischen somatischen und Keimzellen zu beliebigen Zeitpunkten des Wachstums stattfinden, wie die Möglichkeit der vegetativen Vermehrung leicht erkennen lässt. Um eine geschlechtliche Fortpflanzung von Pflanzen zu gestatten, die vegetativ vermehrt wurden, muss in jedem so vermehrten Pflanzenteil die Fähigkeit zur Entwicklung von Keimzellen vorhanden sein. Die meisten Pflanzenzellen scheinen im Gegensatz zu tierischen Zellen die Fähigkeit beizubehalten, sich zu Keimzellen zu entwickeln. ! In mehrzelligen Organismen unterscheidet man
zwischen Keimzellen und somatischen Zellen. Keimzellen können bei Tieren bereits frühzeitig in der Entwicklung determiniert sein. In einer Pflanze behalten Gruppen von Zellen ihre Totipotenz und es kommt erst im Laufe des Wachstums zu der Entscheidung, ob eine Keimzelle geformt wird.
6.2.3 Plastiden und Mitochondrien Zellen sind im Prinzip in der Lage, DNA fremder Genome in sich aufzunehmen und zu verwerten. In einer ganz besonderen Form ist das im Laufe der Evolution in der Eukaryotenzelle erfolgt. Eukaryotische Zellen haben nämlich prokaryotische Elemente in sich aufgenommen und funktionell für sich nutzbar gemacht. Diesen Schluss muss man aus der Tatsache ziehen, dass verschiedene Zellorganellen, insbesondere Mitochondrien und Plastiden, ein eigenes funktionelles Genom besitzen, das in den molekularen Eigenschaften weitaus mehr dem Genom eines Prokaryoten gleicht als dem eines Eukaryoten. So ist die Struktur der ribosomalen RNA, die in mitochondrialer DNA kodiert wird, nicht nur in ihrer Größe, sondern auch in ihren Nukleotidsequenzen derjenigen von Prokaryoten sehr ähnlich. Auch die strukturelle Organisation des Mitochondrienund Plastidenchromosoms gleicht der von Prokaryotenchromosomen.
Die DNA von Mitochondrien und Plastiden trägt grundlegend zur Zellfunktion der Eukaryotenzelle bei. Insbesondere sind Enzyme des Energiestoffwechsels (Abb. 6.8) in ihr kodiert, und ein Teil der organellspezifischen Translationsmaschinerie der Mitochondrien wird von deren eigener DNA zur Verfügung gestellt. Dennoch sind Mitochondrien und Plastiden nicht selbständig lebensfähig. Vielmehr funktionieren sie nur in engem Zusammenspiel mit dem Zellkern. Selbst Teile der Mitochondrienmembran und viele der in ihnen erforderlichen Enzyme sind im Kern kodiert und müssen daher in diese Organellen importiert werden. Überhaupt kann man diese cytoplasmatischen Organellen genetisch kaum als eigenständig betrachten, da selbst ein Genaustausch zwischen Kerngenom und mitochondrialem Genom stattfinden kann, wie in einzelnen Fällen festgestellt worden ist. Das ist auch nicht unerwartet, wenn eine Zelle sogar imstande ist, DNA, die aus ihrer Umgebung aufgenommen wird, in ihr Genom einzubauen. Umso einfacher sollte der Einbau zellinterner DNA ins nukleäre Genom möglich sein. ! Cytoplasmatische Organellen wie Mitochondrien
und Plastiden besitzen ein eigenes Genom aus doppelsträngiger zirkulärer DNA. Da diese Genome in vielen Zügen denen von Prokaryoten entsprechen, nimmt man an, dass Mitochondrien und Plastiden sich von prokaryotischen Symbionten eukaryotischer Zellen ableiten. Dass mitochondriale Gene sowohl Eigenschaften prokaryotischer als auch eukaryotischer Gene zeigen können, ist dadurch zu erklären, dass ein Austausch von Genen zwischen Kern und Mitochondrien stattfinden kann. Der Erbgang von Plastiden- oder Mitochondriengenen wird häufig auch unter dem Begriff der extranukleären Vererbung behandelt.
Genetische Information ist im Plastidengenom (Plastom) vorhanden und wird mütterlich (matroklin) vererbt. Wir wollen an dieser Stelle die Grundzüge der Organisation von Plastiden- und Mitochondrienchromosomen betrachten. Die DNA der Plastiden besteht aus einem zirkulären doppelsträngigen DNA-Molekül von 120 000 bis 180 000 bp Länge, also etwa von der Länge eines geradzahligen T-Phagengenoms (s. Tabelle 1.3). Im
6.2 Die eukaryotische Zelle
Allgemeinen enthalten Plastiden mehrere identische Kopien dieser DNA-Moleküle. Auch Mitochondrien enthalten zirkuläre doppelsträngige DNA-Moleküle, die allerdings kleiner sind als die der Plastiden. Ihre mittlere Größe liegt bei 15 000 bis 20 000 bp. Sie sind in 1 bis 10 identischen Kopien in jedem Mitochondrium vorhanden. Eine Ausnahme machen jedoch höhere Pflanzen, deren mitochondriale Gene auf mehrere zirkuläre DNADoppelstrangmoleküle unterschiedlicher Größe verteilt sind. Die molekulare Struktur der mitochondrialen DNA ist in einigen Organismen vollständig sequenziert (http://ihg.gsf.de/mitop2/start.jsp). Sie enthält im Allgemeinen etwa 40 Gene (während Plastidengenome aufgrund ihrer DNA-Länge bis zu 200 Gene enthalten können). Sowohl Plastiden als auch Mitochondrien enthalten in ihrer DNA Gene für eine organellspezifische ribosomale RNA, die in ihrer Größe und Sequenz der rRNA von Bakterien mehr verwandt ist als der der nukleären rRNA der gleichen Zelle. Auch einzelne ribosomale Proteine und einige der tRNAs werden, je nach Organismus, in den Organellen kodiert, während DNA- und RNA-Polymerasen sowie Regulationsfaktoren und die meisten Strukturproteine der Mitochondrien aus dem Kern stammen. Somit stellt das Organellengenom nur eine kleine Anzahl von Genprodukten für die Funktion des Organells selbst zur Verfügung. Welche dieser Komponenten vom Kern und welche aus dem Organell herstammen, ist abhängig vom Organismus, also ganz offensichtlich nicht funktionell bestimmt. Der Unterschied in der rDNA zwischen nukleärem und mitochondrialem Genom hat die auch aus anderen Gründen diskutierte Ansicht unterstützt, dass Mitchondrien und Plastiden in den eukaryotischen Zellen ursprünglich Symbionten prokaryotischen Ursprungs waren, bevor sie sich zu obligatorischen Bestandteilen eukaryotischer Zellen entwickelt haben. Diese Symbiontenhypothese wird heute als Erklärung für die Entstehung von cytoplasmatischen Organellen mit eigenem Genom weitgehend akzeptiert. Interessant ist natürlich in diesem Zusammenhang die Frage nach der Struktur der Protein-kodierenden mitochondrialen Gene. Wir werden sehen, dass eukaryotische Gene sich durch eine Reihe von Eigenarten von prokaryotischen Genen unterscheiden. Ein wichtiger Unterschied ist die Existenz nichttranslatierter DNA-Bereiche innerhalb von
Genen, der Introns. Gibt es solche Introns in mitochondrialen Genen? Die Antwort hängt auch hier vom Organismus ab, der betrachtet wird. In menschlichen Mitochondrien hat man keine Introns feststellen können, während in Hefe Introns gefunden wurden (Abb. 6.8). Überhaupt erweist sich das menschliche mitochondriale Genom als besonders kompakt: Es fehlen alle nichtkodierenden Spacerregionen (oder Intergenregionen) zwischen Genen. Außerdem gibt es nur einen einzigen Promotor und selbst Translations-Terminations-Signale werden erst bei der Polyadenylierung der mRNA erzeugt, nämlich durch Anhängen von (A)n an terminale U- oder UA-Nukleotide. Eine biologisch noch bemerkenswertere Beobachtung ist die Tatsache, dass man sogar den Austausch von Protein-kodierenden Genen zwischen Kern und Mitochondrien beobachtet hat. So ist das Gen für eine Untereinheit der ATPase bei der Bäckerhefe im Kern zu finden, während es bei Neurospora in den Mitochondrien liegt. Die Replikation der mitochondrialen DNA ist zwar nicht an die S-Phase gebunden, ihre Kopienanzahl im Cytoplasma, und damit auch das Replikationsverhalten, wird jedoch vom Zellkern kontrolliert. Es zeigt sich, dass der Zellkern und die cytoplasmatischen Organellen genetisch eng miteinander gekoppelt sind und dass dem Austausch genetischer Information zwischen beiden Komponenten anscheinend keine Grenzen gesetzt sind. In diesem Zusammenhang ist es um so überraschender, dass Mitochondrien dennoch einen sehr grundlegenden Unterschied in ihrem genetischen Material gegenüber dem Kern aufweisen. Der genetische Code, der sonst universell ist (s. S. 63), besitzt einige mitochondrienspezifische Abweichungen. Er wird daher auch als mitochondrialer genetischer Code bezeichnet. Die Abweichungen des menschlichen mitochondrialen Codes sind in Tabelle 6.1 zusammengefasst. Die mitochondrialen Codes anderer Organismen besitzen teilweise andere Abweichungen vom Standardcode. Auch bei Pflanzen zeigen sich Vererbungsmuster, die auf der genetischen Information aus Plastiden, insbesondere der Chloroplasten, beruhen. Correns hat schon 1909 Beobachtungen an der Wunderblume Mirabilis jalapa gemacht, aus denen er darauf schloss, dass bestimmte erbliche Eigenschaften auch mit dem Cytoplasma übertragen werden. Diese Beobachtungen lassen sich in zwei Punkten zusammenfassen:
171
Kapitel 6: Zelle, Zellteilungen und Zellzyklus Large ribosomal RNA
Thr
Ser ch R
Small ribosomal R NA
eb Phe
Cy to
m ro
Cys Leu Gln Lys His Arg Gly
Pro
rib o
Asp Ser Arg Ala Ile
L so arg m e al R
Val
Glu
mit
Thr
Leu
Thr
ND1 mit
6
ND6
Tyr Asn Met Cytochrome c oxidase II
NA
ATPase subunit 9 oli
Thr
ery R cap R spi R
Ribosome assocated Protein
Val Cytochrome c oxidase III
Ile
mit
f Met
Gln
ND5 –
ND2 Ala Trp Tyr
His
Glu
f Met
Asn Cys
Leu Ser
Ser
Arg Gly
Trp
Lys
C
ND4 ND4L oli R ATPase subunit 6
Asp
ND3 Cy toc oxi hrome c das e III mit –
Cyto chrome c
ATPase subunit 6
oxidase I
Pro
yt o ox chro ida me se c I
Cytochrome b
172
par R
ec rom II h c e o Cyt xidas o
Small ribosomal RNA Trp
ATPase subunit 8
Abb. 6.8. Karte der mitochondrialen Genome von Hefe (außen) und vom Menschen (innen). Das menschliche mitochondriale Genom ist im Gegensatz zu dem der Hefe sehr kompakt. In Wirklichkeit ist Hefemitochondrien-DNA etwa 5 ×
so lang wie die des Menschen. Es gibt kaum intergenische Regionen und praktisch keine Introns in der menschlichen mitochondrialen DNA. (Aus Darnell et al. 1990)
• Reziproke Kreuzungen geben unterschiedliche
zungen (Abb. 6.9). Bestäubt man Blüten von rein grünen Zweigen mit Pollen von rein weißen oder weißgrün gescheckten Zweigen, oder führt man eine Selbstbestäubung einer Blüte eines rein grünen Zweiges durch, sind alle Nachkommen rein grün. Selbstbestäubung von Blüten eines rein weißen Zweiges hingegen ergibt, ebenso wie die Befruchtung ihrer Blüten mit Pollen von grünen Pflanzen, ausschließlich weiße Nachkommen, die aber aufgrund des Chlorophyllmangels bereits als Keimlinge absterben. Nachkommen von Blüten aus gescheckten Zweigen einer Pflanze, die mit Pollen grüner Pflanzen bestäubt werden, ergeben grüne, gescheckte oder
Phänotypen, • der Phänotyp wird ausschließlich vom mütterlichen Phänotyp bestimmt. Während sich die erste dieser Beobachtungen noch mit einer geschlechtsgekoppelten Vererbung erklären ließe (s. Kap. 11.4.1), ist das für die zweite nicht mehr möglich. Die Beobachtungen von Correns beziehen sich auf die fleckenartige Verteilung (Weißbuntheit) grüner und nichtgefärbter Bereiche auf den Blättern der Pflanze in bestimmten Kreu-
6.2 Die eukaryotische Zelle
Tabelle 6.1 Besonderheiten des mitochondrialen
Codes des Menschen Codon
Aminosäure
UGA (STOPP)
kodiert für
trp
AUG (Initiations-Met)
kodiert für
Met (intern)
AUA (Ile)
kodiert für
Met (intern)
AUG
kodiert für
InitiationsMethionin
AUA, AUU, AUC (alle Ile)
kodieren für
InitiationsMethionin
AGA, AGG (beide Arg)
kodieren für
Chain Termination (STOPP)
Abb. 6.9 a,b. Cytoplasmatische Vererbung bei der Wunderblume Mirabilis jalapa. a Die Pflanze zeigt grüne und weiße Bereiche. b Die unterschiedliche Färbung erklärt sich aus der Segregation der Plastiden. Enthält eine Zygote Plastiden mit
rein weiße Nachkommen, wobei die letzteren wiederum absterben. Diese Beobachtungen zeigen uns, dass die genetische Konstitution der Chromosomen offenbar ohne Bedeutung ist, da sich stets der mütterliche Phänotyp ausprägt. Wir sprechen hierbei von einer mütterlichen oder matroklinen Vererbung. Dieser Vererbungsmodus muss unterschieden werden von mütterlichen Effekten, (engl. maternal effects), die als entwicklungsphysiologische Effekte nur für eine Generation von Bedeutung sind, sich aber im Gegensatz zum obengenannten Beispiel nicht weitervererben (s. Kap. 13.3.2). Die mikroskopische Analyse der Zellen von Mirabilis jalapa lässt uns erkennen, dass die matrokline Vererbung der Blattfarbe durch die Chloroplasten (oder Plastiden) bedingt wird, je nachdem, ob diese zur Chlorophyllsynthese befähigt sind oder nicht. Plastiden sind cytoplasmatische Organellen von Pflanzen, die im Dienste der Photosynthese stehen und den dazu erforderlichen Mechanismus beherbergen. Plastiden enthalten meistens Chlorophyll. Dieses verleiht den Zellen die grüne
und ohne Fähigkeit zur Chlorophyllbildung, so kann es im Laufe der weiteren Zellteilungen zu einer Segregation beider Plastidentypen kommen. Als Folge davon bildet die Pflanze grüne und ungefärbte Bereiche aus. (Aus Suzuki et al. 1989)
173
Kapitel 6: Zelle, Zellteilungen und Zellzyklus
x
männlich steril
rf , cms-T rf cms-T
Rf , cms-N Rf cms-N
Abb. 6.10. Praktische Anwendung von cytoplasmatischer Pollensterilität in der Kulturpflanzenzucht. Das Texas-Cytoplasma (cms-T) verursacht männliche Sterilität der Maispflanze durch Degeneration des Pollens. Maispflanzen, die diesen cytoplasmatische Faktor besitzen, können sich daher nur als weibliche Pflanzen vermehren (vgl. Abb. 6.45). Das vereinfacht die Erzeugung von Hybriden besonders günstiger Konstitution, da cms-T-Pflanzen direkt durch Pollen einer gewünschten anderen Linie als männlicher Elter bestäubt werden können, ohne dass die männlichen Blüten des cms-T-Elters zuvor manuell entfernt werden müssen. Da die Nachkommenschaft männlich steril ist, also durch Selbstbefruchtung keine Maiskolben entwickeln kann, wird durch ein weiteres genetisches Element (Rf, restore fertility) in den männlichen Eltern die Fertilität der Hybriden wiederhergestellt. Das dominante genomische Rf-Gen vermag den CMS-Charakter eines Trägers zu unterdrücken. Die Hybriden dieser Kreuzung sind daher fertil. Sie können mit dem väterlichen Elter rückgekreuzt werden und liefern dann eine weitere, zu 50 % fertile Hybridgeneration. (Aus Goodenough 1984) ▲
174
fertiles Hybrid
Rf , cms-T rf cms-N
Farbe. Ist kein Chlorophyll in den Plastiden vorhanden, erscheinen die Zellen weiß. Beide Plastidenformen können gleichzeitig in der Zelle vorkommen und führen zu einer schwächeren grünen Färbung. Der Schlüssel für den matroklinen Erbgang liegt darin, dass Plastiden rein mütterlich vererbt werden, da der Pollenschlauch keine Plastiden übertragen kann. Das allein würde als Erklärung nicht ausreichen, sondern wir müssen zusätzlich annehmen, dass Plastiden eine eigene Erbinformation dafür enthalten, ob sie Chlorophyll bilden können oder nicht. In der Tat hat es sich gezeigt, dass Plastiden ein eigenes Genom besitzen. Es kodiert für eine Anzahl von Proteinen, die in den Plastiden benötigt werden.
Die enge Koppelung zwischen nukleärem und cytoplasmatischen Erbmaterial wird besonders eindringlich durch ein wichtiges Enzym der Plastiden, die Ribulose-biphosphatCarboxylase, veranschaulicht. Diese Carboxylase ist verantwortlich für die CO2-Bindung während der Photosynthese und kommt daher in den Blättern grüner Pflanzen in großen Mengen vor. Sie ist aus 16 Proteinuntereinheiten zusammengesetzt,von denen 8 aus je 450 Aminosäuren bestehen und im Plastidengenom kodiert werden. Sie werden dementsprechend auch in matrokliner Weise vererbt. Die übrigen 8 Polypeptide von je 100 Aminosäuren werden jedoch im Zellkern kodiert und vererben sich somit gemäß den Mendel’schen Regeln. Wir sehen daraus, dass Plastiden nicht autonom, sondern funktionell eng an das nukleäre Genom gekoppelt sind. Eine wichtige praktische Anwendung findet eine genetische Eigenschaft, die dem mitochondrialen Genom von Pflanzen zugeschrieben wird. Es handelt sich um die cytoplasmatische männliche Sterilität (engl. cytoplasmic male sterility, CMS), auch als Pollensterilität bezeichnet. Sie wird ausschließlich mütterlich vererbt, wie es für mitochondriale und Plastidenvererbung zu erwarten ist, da über die männliche Keimbahn keine funktionellen Mitochondrien in die Nachkommen gelangen. In der Pflanzenzucht ist diese Form der Sterilität bei der Erzeugung von Hybriden, die züchterisch oft besonders günstige Eigenschaften besitzen, von gro-
6.2 Die eukaryotische Zelle
ßem Nutzen, da sie Selbstbefruchtung der zur Erzeugung von Hybriden verwendeten Linien verhindert. Dadurch werden aufwendige manuelle Schutzmaßnahmen gegen Selbstbefruchtung überflüssig. In Abb. 6.10 wird eine Kreuzung dargestellt, die von CMS Gebrauch macht. Die in dieser Kreuzung als mütterliche Pflanze dienende Linie enthält das Merkmal cms-T (cms-Texas), das dafür sorgt, dass alle Pollen dieser Pflanze steril sind. Als väterlicher Elter dient eine Linie mit dem Merkmal Rf (engl. restored fertility), das dafür sorgt, dass die Hälfte der Pollen der Hybridpflanze, die sich durch besonders hohe Ernteausbeuten auszeichnet, fertil bleibt (Abb. 6.11). Dieser Vererbungsweg erinnert in vieler Hinsicht auffallend an Phänomene, die wir als Hybriddysgenese bei Drosophila noch kennenlernen werden (s. S. 344). Einige Beobachtungen veränderter Restriktionsmuster in der mitochondrialen DNA von cms-T-Stämmen gegenüber der von cms-N-Stämmen lassen den Verdacht aufkommen, dass wir es hier mit ähnlichen Phänomenen zu tun haben könnten, wie bei Hybriddysgenese. Diese be-
ruht auf Genomveränderungen durch bewegliche genetische Elemente (s. S. 345). Man hat bis heute zwar keine solchen Elemente in mitochondrialer DNA entdeckt. Aber es lässt sich auch nicht ausschließen, dass, wie für andere kernkodierte Moleküle, eine Kommunikation beweglicher DNA-Elemente zwischen Kern und cytoplasmatischen Organellen stattfindet.
Abb. 6.11. Ergebnisse von Heterosis beim Mais. Die Hybride (ab 3. Pflanze von links, Eltern: Pflanzen 1 und 2) zeichnen sich durch besonders hohen Ertrag aus, so dass es wünschenswert ist, wenig aufwendige Verfahren zum Erhalt solcher Hybriden zu entwickeln. Die Verwendung von CMS (s. Abb. 6.10) ist ein
wichtiges Verfahren der Maisgenetik zur Erzeugung von fertilen Hybriden. Spätere Inzuchtgenerationen (ab 4. Pflanze von links) lassen deutlich nachlassende Erträge erkennen. (Aus Goodenough 1984)
! Die zirkulären Plastidengenome sind relativ groß
(bis zu 200 Gene) und werden als Plastom bezeichnet. Sie kommen in den Plastiden in mehreren Kopien vor, die sich genetisch teilweise unterscheiden. Mitochondriale DNA ist ebenfalls zirkulär, enthält jedoch nur etwa 40 Gene. Sie ist im Allgemeinen in mehreren identischen Kopien in jedem Mitochondrium vorhanden. Die Gene beider Organellen werden rein mütterlich vererbt. Funktionell sind sie auf ein Zusammenwirken mit dem nukleären Genom angewiesen.
175
176
Kapitel 6: Zelle, Zellteilungen und Zellzyklus
6.2.4 Der Nukleolus Bereits die klassischen Cytologen hatten erkannt, dass Nukleolen in den sekundären Konstriktionen oder Nukleolusorganisatorregionen (NORs) (s. S. 228) gebildet werden. Elektronenmikroskopische Untersuchungen hatten nachgewiesen, dass Nukleolen direkt mit dem Chromosom in Verbindung stehen. Ferner haben Untersuchungen an Drosophila gezeigt,dass die rDNA mit den NORs korreliert ist. Durch in-situHybridisiderung mit markierter rDNA lies sich schließlich beweisen, dass die Synthese von rRNA auf die im Interphasekern sichtbaren Nukleolen beschränkt ist (Abb. 6.12; elektronenmikroskopische Darstellung der Verbindung zum Chromosom siehe Abb. 6.13). Nukleolen müssen also als Stoffwechselorgane aktiver rRNA-Gene angesehen werden. MillerSpreitungen von Nukleolen haben das schließlich direkt bestätigt. ! Der Nukleolus ist der Ort der chromosomalen
rRNA-Synthese während der Interphase. In ihm ist die rDNA der Nukleolusorganisatorregion für die Transkription dekondensiert.
Für die Entstehung eines neuen Nukleolus in der Telophase ist der Beginn der Transkription ribosomaler DNA die Voraussetzung. Unterbleibt sie, oder wird sie experimentell durch Hemmung der RNAPolymerase I verhindert, so wird kein Nukleolus geformt. Unter normalen Stoffwechselbedingungen bildet sich der Nukleolus bei Beginn der rRNASynthese nach einer beendeten Mitose durch die Zusammenlagerung sogenannter pränukleolärer Körper (engl. prenucleolar bodies), die bereits vorgeformt sind und aus dem vorangegangenen Zellzyklus stammen. Offenbar sind die wachsenden Transkripte erforderlich, um die Bildung eines Nukleolus aus seinen verschiedenen Komponenten zu ermöglichen. Es wird angenommen, dass die 5′-Enden der Transkripte unmittelbar nach ihrer Synthese mit Proteinen des Zellkerns, insbesondere mit Fibrillarin, assoziiert werden und damit die zur Bildung von präribosomalen Partikeln erforderlichen RNA-Proteininteraktionen einleiten. Vergleichbare Vorgänge kennen wir in Zusammenhang mit der Bildung von Lampenbürstenschleifen (s. S. 247 f). Chromosomen sind also nicht nur Orte der Transkription, sondern
Abb. 6.12 a–c. Lokalisation des Nukleolus im Chromosom und Darstellung der RNA-Synthese durch in-situ-Hybridisierung. a Sekundäre Konstriktion (Pfeile) an der Stelle der NOR im X-Chromosom von PtK1-Zellen (Marsupialia). In-situHybridisierung (gelb) (b) und Ag-NOR-Färbung (blau) der nukleolären Proteine (c) beweist, dass an der Stelle der sekundären Konstriktion die rDNA lokalisiert ist. (Aus Robert-Fortel et al. 1993)
spielen in den darauffolgenden Stoffwechselprozessen eine unverzichtbare Rolle. ! Die Bildung eines Nukleolus in der G -Phase 1
erfolgt durch die Anlagerung vorgefertigter Proteine aus prenucleolar bodies, die aus dem letzten Zellzyklus stammen, an die neu entstehenden Transkripte. Im Nukleolus findet nicht nur die Transkription der rDNA statt, sondern in ihm werden auch die präribosomalen Partikel weitgehend zusammengesetzt.
Ultrastrukturell kann man in Nukleolen drei Komponenten unterscheiden, • die dichten fibrillären Komponenten (engl. dense fibrillar components),
6.2 Die eukaryotische Zelle
• die fibrillären Zentren (engl. fibrillar centers) und • die granulären Komponenten (engl. granular components).
Der Anteil dieser verschiedenen Komponenten am Volumen des Gesamtnukleolus ist abhängig vom Zelltyp und von der transkriptionellen Aktivität der rDNA. Vor allem die granuläre Komponente nimmt in hoch transkriptionsaktiven Nukleolen den Hauptanteil des nukleolären Volumens in Anspruch. Das wird verständlich, wenn wir die drei Komponenten den Strukturen, die man in Miller-Spreitungen erkennt, zuzuordnen versuchen. Ultrastrukturelle Studien der Gruppen von Puvion-Dutilleul, Scheer und anderen haben in den letzten Jahren gezeigt, dass die fibrillären Zentren vorwiegend transkriptionsaktive rDNA enthalten. In den dichten fibrillären Komponenten hingegen befindet sich der Hauptanteil inaktiver rRNA-Gene, während der granuläre Teil der Nukleolen fertige Genprodukte, also präribosomale Partikel, jedoch keine DNA enthält. ! Die unterschiedlichen stoffwechselphysiologischen Prozesse, die im Nukleolus ablaufen, spiegeln sich in der Ultrastruktur des Nukleolus wieder. Fibrilläre Zentren sind die Hauptsyntheseorte der rRNA. In der granulären Komponente des Nukleolus befinden sich die vorgefertigten präribosomalen Partikel, während dichte fibrilläre Komponenten transkriptionsinaktive DNA enthalten.
Abb. 6.13 a,b. Elektronenmikroskopische Darstellung des Nukleolus in Riesenchromosomen von Chironomus thummi. a Der Nukleolus umgibt das 4. Chromosom ringförmig. b Stärkere Vergrößerung von a. Die Verbindung zum Chromosom wird sichtbar. (Photo: Ch. Holderegger, Zürich)
Der Nachweis von U3-snRNA, U8-snRNA und U13-snRNA, die am Processing ribosomaler Pre-RNA beteiligt sind, im Nukleolus, mehr noch aber der Nachweis von U3-snRNA an den terminalen Verdickungen der wachsenden Transkripten zeigen, dass der Nukleolus auch Ort des Processings der primären rRNA-Transkripte ist. Wie wir bereits an den Miller-Spreitungen gesehen haben, werden die Transkripte während ihrer Synthese mit Proteinen assoziiert. Es liegt nahe anzunehmen, dass sich hierunter bereits Proteine befinden, die im Cytoplasma Bestandteile der reifen Ribosomen sind. Diese Vermutung wird dadurch bestätigt, dass man das ribosomale S1-Protein bereits im Nukleolus in präribosomalen Partikeln gefunden hat. Inwieweit komplette Ribosomenuntereinheiten bereits im Nukleolus vollständig zusammengesetzt werden, muss im
177
178
Kapitel 6: Zelle, Zellteilungen und Zellzyklus
Einzelnen noch festgestellt werden. Mit Sicherheit aber muss man den Nukleolus als ein Kernkompartiment ansehen, das im Dienste der strukturellen Integration von RNA und Proteinen zu weitgehend vorgefertigten ribosomalen Untereinheiten steht. ! Der Nukleolus erweist sich als ein eigenes Kern-
kompartiment mit komplexen Stoffwechselfunktionen. In ihm erfolgen neben der Transkription auch das Processing der Pre-rRNA und die Zusammensetzung präribosomaler Partikel.
gesamt auch als Interphase bezeichnet (=Phase zwischen zwei Mitosen). In der klassischen Cytologie nannte man einen Interphasekern auch Ruhekern, da man annahm, er befinde sich in einem Ruhestadium zwischen zwei Mitosen. Dieser Begriff ist nach unserem heutigen Wissen jedoch falsch, da gerade in der Interphase die Erbinformation abgelesen und im Stoffwechsel der Zelle verwertet wird. Die Interphase ist daher der Teil des Zellzyklus, in dem eine hohe Stoffwechselaktivität herrscht. ! Der Lebenszyklus einer Zelle ist durch zwei Ereig-
6.3 Der Zellzyklus 6.3.1 Mitose
nisse untergliedert: Durch die Verdoppelung des Erbmaterials (S-Phase) und durch die Zellteilung (Mitose). Den Abschnitt zwischen zwei Mitosen bezeichnet man als Interphase. Der erste Abschnitt der Interphase zwischen der Zellteilung und der S-Phase wird als G1-Phase, der Abschnitt zwischen der S-Phase und der Mitose als G2-Phase bezeichnet.
Eine Vermehrung von Zellen durch Zellteilungen ist nur dann möglich, wenn sichergestellt ist, dass die Erbinformation jeder Zelle vollständig und gleichmäßig auf die Tochterzellen verteilt wird. Jede Zelle muss also über die Fähigkeit verfügen, ihre Erbinformation identisch zu verdoppeln, so dass beide Zellteilungsprodukte, die Tochterzellen, eine gleiche Ausstattung mit Erbinformation erhalten. Den Lebenszyklus einer Zelle können wir nach zwei Gesichtspunkten unterteilen: • die Verdoppelung der Erbinformation und • die Zellteilung. Es hat sich herausgestellt, dass in den weitaus meisten Zellen die Verdoppelung der Chromosomen auf eine erste Stoffwechselphase folgt, die man G1-Phase (G von engl. gap = Lücke) nennt. Den Zeitraum des Zellzyklus, innerhalb dessen sich die Chromosomen verdoppeln, nennt man Synthese- oder S-Phase. Es folgt ein weiterer Zeitabschnitt bis zur Zellteilung, währenddessen die Zelle stoffwechselaktiv ist, die G2Phase (Abb.6.14).Dieser schließt sich endlich die Zellteilung oder Mitose (M-Phase) an. Die Abfolge von G1-, S- und G2-Phase und der Mitose bezeichnet man als einen Zellzyklus. Die Chromosomen im Zellkern sind während der G1-, der S- und der G2-Phase nicht sichtbar.Vielmehr ist der Kern mit diffusem Chromatin angefüllt, das den Chromosomen entspricht. Er besitzt außerdem einen oder mehrere Nukleoli (s. Abb. 6.6). Dieser Zeitabschnitt des Zellzyklus wird ins-
Abb. 6.14. Der Zellzyklus. Der Zellzyklus beginnt mit der G1-Phase nach der Mitose (M). Wird der Restriktionspunkt (R) überschritten, so beginnt die Replikationsphase der DNA (S-Phase). Nach Abschluss der Replikation folgt die G2-Phase, nach deren Abschluss die Zelle in eine neue Mitose eintritt. Der Zeitraum vom Beginn der G1-Phase bis zum Beginn der nächsten Mitose wird als Interphase bezeichnet. Die verschiedenen Phasen variieren, je nach Zelltyp, in ihrer Dauer (vgl. Tabelle 6.2). Im Schema sind die relativen Längen der verschiedenen Phasen dargestellt, wie man sie beispielsweise in Zellkulturen findet. Der gesamte Zellzyklus dauert in vielen Fällen etwa 20 Stunden
6.3 Der Zellzyklus
Tabelle 6.2 Zellzykluslängen in verschiedenen
Zelltypen Art
Interphase (min)
Mitose (min)
3
6
420
40
14
28 32
700
23
1300
40
Hamsterfibroblasten (Zellkultur)
640
24
Säugerzellkultur
900
60
Vicia faba, Wurzelmeristem
1000
120
Ratte, Corneaepithelzellen
14 000
70
Drosophila melanogaster, Ei Physarum polycephalum Psammechinus (Embryo, erste Teilungen) 200 – 300 Zellstadium Hühnerfibroblasten (Zellkultur) Mausfibroblasten (Zellkultur)
Nach Mazia (1961) und Kihlman et al. (1967)
Mit Beginn der Mitose (Abb. 6.14 und 6.15) werden die Chromosomen im Zellkern als individuelle Einheiten sichtbar. Nach Maßgabe ihrer Struktur unterscheidet man verschiedene Stadien während der Zellteilung, die durch den Zustand und die Bewegung der Chromosomen definiert werden. Selbstverständlich handelt es sich bei der Zellteilung um einen kontinuierlich fortlaufenden Prozess. Aber es ist gebräuchlich, auch in solchen kontinuierlich verlaufenden Prozessen bestimmte Stadien durch leicht erkennbare Merkmale zu identifizieren. Während der Interphase sind die Chromosomen fast vollständig in einen diffusen Zustand übergegangen. Man spricht hier von einer Dekondensation der Chromosomen. Der Kern enthält einen oder mehrere Nukleolen. Während der Prophase beginnt eine Kontraktion der Chromosomen, die auch als Kondensation bezeichnet wird. Sie ist in der Metaphase abgeschlossen. Gleichzeitig bildet sich der Nukleolus zurück und verschwindet. Während der Metaphase kann man im Mikroskop kompakte, stark anfärbbare Chromosomen unterscheiden, die sich nunmehr in der Mitte des Zellkerns in einer Ebene angeordnet haben (Äquatorialebene) (Abb. 6.16).
Man erkennt erst jetzt deutlich, dass die Metaphasechromosomen in der Längsrichtung zweigeteilt sind – eine Folge der Verdoppelung in der S-Phase. Beide Untereinheiten – die Chromatiden – hängen nur noch in einem kleinen Bereich, dem Centromer, zusammen. Mittelpunkt des Centromers eines jeden Chromosoms ist das Kinetochor. So wird eine besondere Struktur bezeichnet, an der ein Teil der Spindelfasern ansetzt. Es muss hier darauf hingewiesen werden, dass die Begriffe Kinetochor und Centromer gegenwärtig mit unterschiedlicher Bedeutung verwendet werden. In der klassischen Cytologie sind beide Begriffe synonym. Der Begriff Centromer wurde 1903 von W. v. Waldeyer-Hartz (1836–1921) eingeführt, der Begriff Kinetochor 1936 von Franz Schrader. Der Begriff Kinetochor wird bevorzugt in der Elektronenmikroskopie gebraucht. Gegenwärtig wird jedoch in zunehmendem Maße, vor allem in der englischsprachigen Literatur, zwischen dem Centromer als der gesamten Region, die als Ansatzbereich für die Spindel dient, und dem Kinetochor als zusätzlichem äußeren Element, das bei der Interaktion des Chromosoms mit den Kinetochorfibrillen gebildet wird (s. Abb. 7.4), unterschieden. ! Das diffuse Chromatin des Interphasekerns wird
während der Mitose inaktiv und kondensiert sich unter Bildung kompakter Metaphasechromosomen.
Nach der Anordnung in der Äquatorialebene (Abb. 6.16) beginnen die Chromatiden, sich vollständig voneinander zu trennen, und sie bewegen sich in entgegengesetzter Richtung auf die Kernpole zu. Zu diesem Zeitpunkt hat sich die Kernmembran aufgelöst. Der frühere Bereich des Kerns ist durch einen fibrillären Apparat, die Spindel, eingenommen, die für die Verteilung der Chromosomen verantwortlich ist. Die Spindel wird im Allgemeinen von den Spindelpolen her ausgebildet, die sich an gegenüberliegenden Stellen des Cytoplasmas außerhalb des Bereiches der ehemaligen Kernmembran befinden. Nur in Ausnahmefällen werden intranukleäre Spindeln ausgebildet. Tierische Zellen besitzen Centriolen, die im Centrosom liegen. Dieser Zellbereich ist das Organisationszentrum der Spindel. Von ihm aus werden die Spindelfasern gebildet, mikrotubuläre Elemente aus Tubulinen, die zum Teil direkt mit dem gegenüber-
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180
Kapitel 6: Zelle, Zellteilungen und Zellzyklus
Spindel
Metaphase
frühe Anaphase
Prometaphase
späte Prophase
späte Anaphase
Telophase frühe Prophase Interphase
Nukleolus Kernmembran Centriol
Abb. 6.15. Die Mitose. Während der frühen Prophase wandern die Centriolen zu entgegengesetzten Positionen an der Kernmembran und das Chromatin beginnt, sich zu kondensieren, so dass zunächst langgestreckte Chromosomen sichtbar werden. Im Laufe der Prophase kontrahieren sich die Chromosomen weiter, die zwei Chromatiden werden erkennbar und der Nukleolus löst sich auf. In der späten Prophase löst sich die Kernmembran auf, die Spindel beginnt sich auszubilden und die Chromosomen wandern in die Äquatorialebene des ehemaligen Kernes (vgl. Abb. 6.16b). In der Metaphase liegen alle Chromosomen in der Äquatorialebene. Homologe Chromosomen sind hierbei im Allgemeinen zufallsgemäß verteilt und
ungepaart. In der Anaphase trennen sich die Chromatiden jedes Chromosoms und wandern zu entgegengesetzten Spindelpolen. Auf diese Weise ist sichergestellt, dass jede Tochterzelle einen vollständigen Satz Chromosomen erhält. In der späten Anaphase liegen die Chromatiden nahe an den Spindelpolen und die Durchschnürung der Zelle beginnt. In der Telophase formt sich die neue Kernmembran, die Centriolen verdoppeln sich und die Dekondensation der Chromosomen beginnt. Während der Interphase haben sich die Chromosomen dekondensiert und formen ein Chromatingerüst im Zellkern. Der Nukleolus hat sich neu ausgebildet. Das Schema zeigt die Mitose einer Tierzelle
6.3 Der Zellzyklus
Abb. 6.16 a, b. Anordnung der Chromosomen und des Spindelapparates im Zellkern während der mitotischen Metaphase. Eine Paarung der Homologen erfolgt normalerweise während der mitotischen Metaphase nicht. a Wird ein Zellkern in der durch die Spindel gelegte Ebene betrachtet, sieht man
die Chromosomen in der Mitte zwischen den Spindelpolen. b Wird ein Zellkern in der hier dargestellten Ebene (Äquatorialebene) betrachtet, erhält man die charakteristischen Bilder von Metaphaseplatten, da die Chromosomen alle in dieser Ebene angeordnet sind
liegenden Centrosom verbunden sind (Polarfibrillen, auch Polfasern genannt; engl. polar fibrils), zum Teil aber auch direkt an den Kinetochoren der Chromosomen ansetzen (Kinetochorfibrillen, auch Chromosomenfibrillen genannt; engl. kinetochore fibers). Die Enden der Spindelfasern, die sich durch die Anlagerung von Tubilinmolekülen verlängern und auf die Centromerregionen der Chromosomen zu wachsen, werden mit einem +-Zeichen, die zu den Polen hin gerichteten Enden mit einem –-Zeichen gekennzeichnet. Sie sind nicht nur für die korrekte Lokalisation der Chromosomen in der Äquatorialebene des Kerns verantwortlich, sondern steuern vor allem auch die Trennung der Chromatiden. Diese verschiedenen Prozesse werden durch unterschiedliche Proteine ermöglicht, die am Aufbau der Spindel beteiligt sind. So enthält eine Spindel Proteine wie Tubuline, die durch Polymerisation Fibrillen ausbilden, Dynein oder dynein-ähnliche Moleküle und Kinesine. Diese Proteine, die die Bewegungsfunktionen innerhalb der Spindel unterstützen, werden daher Motorproteine genannt. Für den Zusammenhalt von Chromatiden (Chromatidencohesion) während der Mitose bis hin zur Anaphase ist ein Protein, das Cohesin, verantwort-
lich. Eines der mitotischen Cohesine wird bei der Hefe im Gen Scc1, ein meiotisches Cohesin vom Gen Rec8 kodiert. Eine Protease, genannt APC (anaphase promoting complex) aktiviert während der Anaphase einen anderen Proteasekomplex, der aus einem zunächst inaktiven Komplex der Proteine Separin (Gen Esp1 der Hefe) und Securin (Gen Pds1 der Hefe) besteht. APC baut Securin, das ubiquitiniert ist, proteolytisch ab und setzt dadurch Separin als aktive Protease frei, die nunmehr Cohesin abbaut und dadurch die Chromatidentrennung ermöglicht (Abb. 6.17). APC ist ein Multiproteinkomplex, der die Progression des Zellzyklus durch die Anaphase in Mitose und Meiose kontrolliert. Seine Wirkung erstreckt sich auf Cohesine und Condensine sowie auf den Cyclin B/Cdc2-Komplex. APC überprüft den Zustand der Spindel: Stellt er eine ausreichende Tension im Spindelapparat fest, wird der Mitose-Checkpoint aktiviert und die Progression des Zellzyklus durch die Anaphase wird initiiert. Bei Defekten im Spindelmechanismus oder bei der Segregation wird der Zellzyklus blockiert.
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Kapitel 6: Zelle, Zellteilungen und Zellzyklus
! Der Zusammenhalt von homologen Chromoso-
men und Chromatiden wird durch Proteine bedingt, deren kontrollierter proteolytischer Abbau in der Anaphase durch eine Protease des APC die Trennung von Chromosomen bzw. Chromatiden ermöglicht. Der APC steht im Dienste der Zellzykluskontrolle und kontrolliert den Fortgang des Zellzyklus durch Mitose und Meiose.
Die beginnende Trennung der Chromatiden kennzeichnet die Anaphase. Die Bewegung der Chromatiden in Richtung auf den jeweiligen Pol wird dadurch erreicht, dass das Tubulin am kinetochor-
nahen Ende der Kinetochorfibrillen depolymerisiert und die Fibrille dadurch verkürzt wird. Gleichzeitig mit diesem Bewegungsprozess der Chromatiden beginnen die Polarfibrillen sich zu verlängern, so dass die Pole auseinanderrücken. Hierdurch wird der Platz für die Teilung der Zelle durch eine in der Mitte zwischen den Polen gelegene Einschnürung geschaffen. Während der späten Anaphase erreichen die Chromatiden die Spindelpole, und die Zelle beginnt, sich in der Mitte zwischen den Spindelpolen zu teilen. Hieran sind fibrilläre Elemente entscheidend beteiligt, die vor allem aus Aktin aufgebaut sind. Die Spindel löst sich auf und in der Telophase beginnen die Chromatiden zu dekondensieren. Eine neue Kernmembran wird ausgebildet, ein neuer Nukleolus entsteht, und die Zellmembran schließt sich zwischen beiden neuentstehenden Kernen (Cytokinese), so dass die Bildung der Tochterzellen beendet ist und ein neuer Zellzyklus beginnen kann. Zwischen den beiden Zellen bleibt ein Aggregat aus Polarfibrillen und aus anderen Rückständen des Teilungsprozesses zurück, das als Phragmoblast und später, in stark kondensiertem Zustand, auch als Flemming-Körper (engl. midbody) bezeichnet wird. ! Mit Hilfe des Spindelapparates, der aus fibrillen-
bildenden Proteinen, vorwiegend Tubulin, und Motorproteinen aufgebaut ist, erfolgt die Verteilung der Chromosomen auf die Tochterzellkerne. Nach Abschluss der Zellteilung gehen die Chromosomen wieder in ihren stoffwechselphysiologisch aktiven Zustand über und dekondensieren zum Interphasechromatin.
Abb. 6.17. Steuerung der Chromatidentrennung in der Anaphase durch Proteasen: Die im Separin-Securin-Komplex inaktive Protease Separin wird durch den anaphase promoting complex (APC) aktiviert. Das Separin baut das die Chromatiden verbindende Cohesin proteolytisch ab und ermöglicht damit die Trennung der Chromatiden. Es gibt bei der Hefe Mitose-spezifisches Cohesin (SCC1) und ein Meiose-spezifisches Cohesin (REC8)
Auch die Ausbildung der Kernmembran ist ein komplexer Prozess, an dem sowohl cytoplasmatische als auch chromosomenassoziierte Proteine (Lamine) beteiligt sind. Offenbar erfolgt die Organisation der Kernmembran unter Kontrolle der Chromosomen. Die verschiedenen Bestandteile des Kernskelettes und des Karyoplasmas werden zunächst während der Bildung der Kernmembran in der Telophase vom Kerninneren ausgeschlossen und danach, unter aktiver Kontrolle, durch die Kernporen in den Kern importiert.
6.3 Der Zellzyklus
6.3.2 Meiose Bei der Entwicklung der Geschlechtszellen wird die Anzahl der Chromosomen halbiert, um bei der Verschmelzung der männlichen und weiblichen Gameten wieder die für den jeweiligen Organismus charakteristische Zahl zu erreichen. Aber es genügt hierbei nicht, die Anzahl der Chromosomen willkürlich auf die Hälfte zu reduzieren, sondern es muss eine genau kontrollierte Verteilung erfolgen, die sicherstellt, dass alle Tochterzellen die vollständige genetische Ausstattung erhalten. Bei mitotischen Zellteilungen werden nur die Chromatiden verteilt und die Chromosomenanzahl bleibt somit unverändert. Hingegen sind für die Meiose zusätzliche zelluläre Mechanismen erforderlich, um die Homologen gleichmäßig zu verteilen. Diese Prozesse verlaufen in zwei Zellteilungen, die als meiotische Teilungen oder Reifeteilungen bezeichnet werden.Der Ablauf der meiotischen Teilungen und die damit verbundenen besonderen Prozesse werden unter dem Begriff Meiose zusammengefasst (Abb.6.18). Diese wesentlichen Ereignisse der beiden meiotischen Teilungen sind • die Trennung der homologen Chromosomen (im Gegensatz zur Mitose!) in der ersten meiotischen Teilung (Meiose I) und • die Trennung ihrer Chromatiden (wie in der Mitose!) während der zweiten meiotischen Teilung (Meiose II). Die kontrollierte Verminderung der Chromosomenzahl auf die Hälfte erfolgt dadurch, dass sich zunächst die homologen (replizierten) Chromosomen in der Prophase paaren (Synapsis), sich aber in der darauffolgenden Anaphase wieder trennen und zu den entgegengesetzten Spindelpolen wandern (Segregation). Damit erhält in dieser ersten meiotischen Teilung jede Tochterzelle einen vollständigen Chromosomensatz. Ein wichtiger Gesichtspunkt hierbei ist, dass die Verteilung der väterlichen und mütterlichen Chromosomen zufallsmäßig erfolgt, so dass in den Tochterzellen jede mögliche Kombination der Chromosomen vorliegen kann. Das hat zur Folge, dass die Keimzellen völlig neue Allelenkombinationen besitzen können und somit nach der Befruchtung in den Nachkommen neue Genotypen und Phänotypen entstehen. Da die Chromosomenzahl in dieser ersten Reifeteilung (Meiose I) durch die Trennung der homologen Chromosomen auf einen haploiden Wert reduziert worden ist, nennt man diese Tei-
lung auch Reduktionsteilung. Bevor sich diese Zellen zu Gameten differenzieren, erfolgt eine weitere Teilung, die zweite meiotische Teilung (Meiose II), auch Äquationsteilung genannt. Da sich bereits während der Interphase vor der ersten meiotischen Teilung, also vor der Reduktionsteilung, die Chromosomen, wie in jedem normalen mitotischen Zellzyklus, verdoppelt haben, besteht jedes der homologen Chromosomen aus zwei Chromatiden. In der der ersten meiotischen Teilung folgenden Interphase durchlaufen die nunmehr haploiden Zellen keine weitere S-Phase, da die Chromosomen bereits repliziert sind. Während der zweiten meiotischen Teilung werden nun die beiden Chromatiden jedes Chromosoms genauso auf die Tochterzellkerne verteilt wie während jeder mitotischen Zellteilung. Die entstehenden haploiden Tochterzellen besitzen somit jeweils eine Chromatide eines jeden Chromosoms. Eine S-Phase wird auch während der darauf folgenden Entwicklung der haploiden Zellen zu Gameten meistens nicht durchlaufen, sondern die nächste Verdoppelung der Chromosomen findet im Allgemeinen erst nach der Befruchtung in der Zygote statt. Von diesem grundlegenden Schema der Meiose gibt es eine ganze Reihe von Abweichungen in verschiedenen Organismen. Beispielsweise können vor der Reifung der Gameten noch Mitosen durchlaufen werden und die Anzahl haploider Zellen dadurch erhöht werden (Kap. 11.4.4). Jedoch bleibt das Grundprinzip stets erhalten: Aus einer diploiden Keimbahnzelle entstehen haploide Geschlechtszellen. Die Verteilung der Chromosomen während der Entstehung der Keimzellen stellte einen grundlegenden Schritt auf dem Wege zur Chromosomentheorie der Vererbung dar. Die endgültige Bestätigung der Richtigkeit dieser Theorie erfolgte schließlich durch die Analyse des Erbganges von Geschlechtschromosomen (s. Kap. 11.4.1). ! In der Keimbahn wird die Anzahl der Chromo-
somen auf einen haploiden Zustand reduziert. Die Meiose schließt zwei Zellteilungen ein. Die erste (Reduktionsteilung) dient der Trennung homologer Chromosomen, die zweite (Äquationsteilung), wie jede normale Mitose, der Trennung der Chromatiden. Zur Trennung der Homologen während der Reduktionsteilung ist es erforderlich, dass die Homologen sich zuvor paaren (Synapsis).
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Kapitel 6: Zelle, Zellteilungen und Zellzyklus
Abb. 6.18. Die Meiose. Die aufeinanderfolgenden Stadien der Meiose sind schematisch dargestellt. Während der ersten meiotischen Teilung werden homologe Chromosomen voneinander getrennt (Präreduktion), während der zweiten meiotischen Teilung die Chromatiden der einzelnen Chromosomen. Jede (diploide) primäre Meiocyte ergibt auf diese Weise vier haploide Meioseprodukte. Im männlichen Geschlecht differenzieren sich diese haploiden postmeiotischen Zellen zu Spermatozoen. Im weiblichen Geschlecht degenerieren meist drei der Meioseprodukte während die vierte haploide Zelle sich zum Ei entwickelt. In einigen Organismen durchlaufen die haploiden Meioseprodukte zusätz-
liche mitotische Teilungen. Die Prophase der ersten meiotischen Teilung wird aufgrund morphologischer Kriterien der Chromosomenstruktur in eine Reihe von Stadien unterteilt, die bei den meisten höheren Organismen als charakteristische meiotische Chromosomenzustände auftreten. Rekombinationsereignisse in der ersten meiotischen Prophase führen für bestimmte Chromosomenabschnitte zu einer Postreduktion, d.h. zu einer Verteilung väterlicher und mütterlicher Allele erst in der zweiten meiotischen Teilung. Für bestimmte genetische Analysen hat dieser Postreduktionsmechanismus experimentelle Konsequenzen (s. Abb. 13.48). Es ist die Meiose von Tieren dargestellt
6.3 Der Zellzyklus
binationen vor Augen hält. Diese werden durch den Ausdruck 2n beschrieben, wobei n die Anzahl der Chromosomenpaare ist. Für eine menschliche Keimzelle (haploid 23 Chromosomen) ergibt das 8 388 608 Möglichkeiten. Damit ist aber die Vielfalt der möglichen Genotypen in der Nachkommenschaft noch keinesfalls beschrieben. Da zur Befruchtung eine zweite Keimzelle mit einer ebenso großen Anzahl von Möglichkeiten ihrer genetischen Konstitution hinzukommt, beträgt die Anzahl möglicher genetischer Konstitutionen (8,39 × 106)2 = 7 × 1013! Dabei sind Crossing-over-Ereignisse noch nicht einmal berücksichtigt. Eine genauere cytologische und genetische Untersuchung der Meiose zeigt, dass die Neuverteilung väterlicher und mütterlicher Allele durch einen weiteren Mechanismus noch verstärkt wird: den der Rekombination zwischen homologen Chromosomen. Rekombination heißt, dass homologe Regionen väterlicher und mütterlicher Chromosomen ausgewechselt werden, so dass ein Partner eines solchen Austauschereignisses nunmehr sowohl Allele väterlichen als auch mütterlichen Ursprungs besitzt, während das andere an der Rekombination beteiligte Chromosom die komplementäre Allelenkombination besitzt (Abb. 6.19). Die Anzahl der möglichen Allelenkombinationen in den Nachkommen wird also durch Rekombinationsereignisse noch einmal erhöht.
Im Unterschied zu normalen Mitosen erfolgt während der Interphase zwischen der ersten und der zweiten Reifeteilung keine DNA-Synthese. Dadurch erhält jede Zelle nach der Meiose nur einen einzigen Chromosomensatz (ist also haploid), dessen Chromosomen nicht verdoppelt sind.
Wir haben bei der Besprechung der meiotischen Teilungen gesehen, dass die Verteilung väterlicher und mütterlicher Chromosomen während der Reduktionsteilung zufallsgemäß erfolgt. Das ist für die Entstehung eines neuen Individuums genau genommen nicht erforderlich, sondern die Reduktionsteilung könnte im Prinzip auch so erfolgen, dass es zu einer Trennung der väterlichen von den mütterlichen Chromosomen kommt. Bei der Betrachtung populationsgenetischer Gesichtspunkte (s. Kap. 11.5) werden wir aber sehen, dass die zufallsgemäße Verteilung der Chromosomen eine wichtige Bedeutung für die Evolution hat: Die Mischung väterlicher und mütterlicher Allele führt zur Entstehung neuer Genotypen und Phänotypen, die neue Möglichkeiten für Selektionsprozesse und andere evolutionäre Mechanismen bieten. Welche Konsequenzen die zufallsgemäße Verteilung der elterlichen Chromosomen für die Anzahl möglicher Kombinationen hat, wird deutlich, wenn man sich die Anzahl der theoretisch möglichen Kom-
Abb. 6.19. Rekombination zwischen homologen Chromosomen. Als Folge der Rekombination ergibt sich eine Neukombination von Allelen auf zwei der Chromatiden (im Beispiel A M und a m). Es entstehen daher in den Nachkommen neue Genotypen
a
M
a A
M m
A
m
a
A
M
m
meiotische Prophase I
a
M
A
M
a
m
A
m
sekundäre Meiocyten
a
M
a A
m M
A
m
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Kapitel 6: Zelle, Zellteilungen und Zellzyklus
! Die zufallsgemäße Verteilung der väterlichen und
! Die wesentlichen Punkte der zwei meiotischen
mütterlichen Chromosomen in der ersten meiotischen Teilung führt zu einer beträchtlichen Variabilität in der genetischen Konstitution der Keimzellen. Die Variabilität führt zu neuen Genotypen und Phänotypen in der Nachkommenschaft. Für Evolutionsprozesse ist die Variabilität von großer Bedeutung, da sie Ansatzpunkte für Selektion bietet.
Teilungen lassen sich im folgenden Schema zusammenfassen: Die Hauptereignisse während der ersten meiotischen Teilung sind • die Chromosomenkondensation, • die Paarung der Homologen, • die Rekombination und Bildung von Chiasmata, • die Trennung der Homologen und Verteilung auf zwei Tochterkerne.
Eine entscheidende Grundlage für die Rekombination ist die Homologenpaarung (Synapsis), die zugleich eine Grundlage der meiotischen Chromosomenverteilung ist. Ohne Homologenpaarung wäre es der Zelle nicht möglich, dafür zu sorgen, dass beide Tochterzellen einen vollständigen Chromosomensatz erhalten. Meiotische Rekombination ist also eng mit anderen meiotischen Mechanismen verbunden. ! Durch Austausch von Chromosomenbereichen
zwischen den homologen Chromosomen (Rekombination) wird die Variationsbreite der genetischen Konstitution noch zusätzlich zur Zufallsverteilung der väterlichen und mütterlichen Chromosomen erhöht.
Zur Verdeutlichung soll an dieser Stelle die Terminologie der Chromosomenstruktur während der Meiose nochmals zusammengefasst werden. Während der Interphase vor der ersten Reifeteilung kommt es zunächst zur Replikation der Chromosomen. Ein Chromosom besteht zu diesem Zeitpunkt aus einer einzigen Chromatide. Durch die Replikation verdoppelt sich die in jedem Chromosom enthaltene DNA-Doppelhelix (s. S. 23). Nach der S-Phase besteht jedes Chromosom daher aus zwei Chromatiden (die je eine DNA-Doppelhelix enthalten). Gepaarte homologe Chromosomen (auch Bivalent genannt, da aus zwei Chromosomen gebildet) bestehen somit aus insgesamt vier Chromatiden und werden daher auch als Tetrade bezeichnet. Endergebnis der Meiose ist die Verteilung dieser vier Chromatiden (=DNA-Doppelhelices) einer Tetrade auf vier Zellen.
Das Hauptereignis während der zweiten meiotischen Teilung ist: • die Trennung der Chromatiden.
Die Zellen, in denen die erste Reifeteilung (Meiose I) erfolgt, werden Meiocyten I genannt. Deren Interphase verläuft normal und schließt eine S-Phase ein. Nach der S-Phase weisen die Meiocyten I, wie jede diploide Zelle nach der S-Phase, einen 4C-Wert (= 4 Chromatiden) auf. Zu Beginn der Prophase I werden Chromosomen sichtbar, die sich bereits jetzt strukturell von mitotischen Prophasechromosomen unterscheiden (s. Abb. 6.18). Die langgestreckten Chromosomen, deren zwei Chromatiden während des frühesten Prophasestadiums, Leptotän genannt, noch nicht getrennt erkennbar sind, haben ein perlschnurartiges Aussehen, da sie Verdickungen aufweisen. Diese Verdickungen werden als Chromomeren bezeichnet. Oft sind die Chromosomenenden der Kernmembran angelagert. Mit fortschreitender Kondensation, d. h. Verkürzung der Chromosomen, beginnen sich die Homologen an einzelnen Stellen zu paaren. Dieses Stadium heißt Zygotän. Die Paarung schreitet allmählich, ausgehend von bereits gepaarten Bereichen, über die gesamte Länge der Chromosomen fort. Sie erfolgt hierbei nicht kontinuierlich, sondern beginnt an mehreren Stellen gleichzeitig. Im Pachytän sind die Homologen vollständig gepaart (es besteht Synapsis). Man spricht bei dieser Chromosomenkonfiguration von Bivalenten (= zwei gepaarte homologe Chromosomen. Die Zelle ist noch diploid oder 2 n!). Gelegentlich kann man nun bereits die beiden Chromatiden jedes der homologen Chromosomen erkennen, obwohl diese meist erst im folgenden Stadium, dem Diplotän deutlich sichtbar werden. Für den chromosomalen Strukturzustand, in
6.3 Der Zellzyklus
dem alle 4 Chromatiden der zwei homologen Chromosomen sichtbar sind, ist daher auch die Bezeichnung Tetrade gebräuchlich. Im Allgemeinen kann man in allen Tetraden eine oder mehrere Stellen erkennen, an denen sich die Chromatiden der homologen Chromosomen zu überkreuzen scheinen. Man nennt eine solche Überkreuzung ein Chiasma. Chiasmata zeigen an, dass innerhalb der betreffenden Tetrade Rekombination,also ein Austausch der Chromatiden homologer Chromosomen stattgefunden hat. Die genaue Stelle des Austausches im Chromosom kann man hieraus jedoch nicht ableiten, da sich im Allgemeinen bereits bald nach dem Rekombinationsereignis die Chiasmata in Richtung auf die Chromosomenenden verlagern. Man bezeichnet diesen Vorgang als Terminalisierung der Chiasmata. Möglicherweise steht die Terminalisierung mit den molekularen Mechanismen der Rekombination in Zusammenhang (s. S. 197). Insgesamt nimmt die Anzahl der Chiasmata innerhalb eines Bivalents proportional zur Länge der Chromosomen zu. Während des Diplotänstadiums kontrahieren sich die Chromosomen weiter, und die homologen Paarungspartner beginnen sich zu trennen, so dass schließlich ein Zwischenraum zwischen ihnen entsteht. Der Zusammenhalt erfolgt im Wesentlichen nur noch durch die Chiasmata. Chiasmata haben damit eine wichtige Funktion, denn sie garantieren den Zusammenhalt der Homologen bis zur Anaphase und damit gleichzeitig deren gleichmäßige Verteilung auf die zwei Tochterzellen. In der Diakinese wird die Kondensation der Chromosomen abgeschlossen. Die Abstoßung (Repulsion) der Homologen ist besonders ausgeprägt.Der Nukleolus ist nicht mehr zu sehen, und die Kernmembran beginnt sich aufzulösen. Eine Spindel entwickelt sich, und die Spindelansatzstellen (Centromeren) der homologen Chromosomen beginnen, sich nach den Spindelpolen zu orientieren. Dieser Prozess ist während der Metaphase I beendet. Die Chromosomen haben sich in der Äquatorialebene angeordnet. Die Centromeren der Homologen sind in Richtung auf die gegenüberliegenden Spindelpole orientiert. Damit kann in der Anaphase I die Verteilung der Chromosomen beginnen. Die Homologen trennen sich nunmehr unter Auflösung der Chiasmata vollständig und wandern zu den entgegengesetzten Spindelpolen. In der Telophase I beginnt die Dekonden-
sation der Chromosomen und die Ausbildung einer neuen Kernmembran. ! Während die Interphase vor der ersten meioti-
schen Teilung normal verläuft, zeichnet sich die Chromosomenstruktur in der Prophase durch Besonderheiten aus. Zunächst kommt es zur allmählich fortschreitenden Paarung der Homologen, die mit einer Kondensation beider Homologen einhergeht. Während dieser Paarungs- und Kondensationsvorgänge kommt es zur Rekombination, die in der späten Prophase durch Chiasmata (Überkreuzungen) sichtbar wird. Die Chiasmata sind zum Zusammenhalt der Homologen notwendig. Durch diese Paarung wird sichergestellt, dass die Tochterzellen jeweils eines der Homologen jedes Chromosomenpaares erhalten.
In der Meiose II werden die Zellen jetzt Meiocyten II genannt (Abb. 6.18). Ihre Interphase ist meist kurz und unterscheidet sich von einer normalen Interphase dadurch grundsätzlich, dass keine Verdoppelung der Chromosomen stattfindet. Meiocyten II sind haploid (n), besitzen jedoch noch 2 Chromatiden (2C) in ihren Chromosomen. Diese werden in der zweiten Reifeteilung, die vergleichbar zu einer Mitose verläuft, auf die Tochterzellen verteilt. Diese sind natürlich – wie die Meiocyten II – haploid (n), besitzen aber nur noch eine Chromatide je Chromosom (1C). Der Verlauf der zweiten Reifeteilung weist im Übrigen keine Besonderheiten auf. ! In der zweiten meiotischen Teilung werden die
Chromatiden verteilt. Jeder Tochterkern besitzt nunmehr einen haploiden (n), nicht-replizierten Chromosomensatz.
Es muss ergänzend noch angemerkt werden, dass die Behauptung, es handele sich bei der ersten Reifeteilung um die Reduktionsteilung, aus der Sicht eines einzelnen Gens nicht unbedingt korrekt ist. Zieht man nämlich in Betracht, dass in bestimmten Abschnitten der Chromosomen Rekombination stattgefunden hat, wird deutlich, dass die betroffenen Genbereiche eigentlich auch in den Meiocyten II diploid sind (Abb. 6.19). Da die Rekombination zwischen den Chromatiden homologer Chromosomen erfolgt ist, besteht ein
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Kapitel 6: Zelle, Zellteilungen und Zellzyklus
Chromosom nicht mehr, wie gewöhnlich, aus zwei identischen Chromatiden, sondern vereinigt Chromatiden mit möglicherweise unterschiedlichen Allelen. Diese werden erst in der Reifeteilung II voneinander getrennt. Die Reduktionsteilung erfolgt also in Bezug auf diese Allele erst während der zweiten Reifeteilung. Bei Pilzen lässt sich das anhand einer Tetradenanalyse direkt veranschaulichen (s. S.201).Von der ersten Reifeteilung als Reduktionsteilung kann man also nur sprechen, wenn man hierunter die Trennung homologer Chromosomen in ihrer Gesamtheit versteht. Das ist nicht ganz ungerechtfertigt, da die Chromosomen offenbar ihre Individualität (als väterlich oder mütterlich im Ursprung) stets aufrecht erhalten, und sich nicht, wie man auch annehmen könnte, nach der meiotischen Paarung aus beliebigen Teilen der vier Chromatiden rekonstituieren. Entscheidend für die Zuordnung einer Chromatide zu einem bestimmten (d. h. väterlichen oder mütterlichen) der homologen Chromosomen ist die Herkunft des Centromerenbereiches, der stets als väterlich oder mütterlich identifiziert bleibt. Diese Unterscheidung ist auch für das Verständnis des Mechanismus mitotischer Rekombination von grundlegender Bedeutung (s. S.204 f).Man muss sich vor Augen halten, dass diese Überlegungen nicht nur begrenzte Bedeutung für einzelne Gene haben, sondern einen beträchtlichen Teil des Genoms umfassen können. Meiotische Rekombination erfolgt mindestens einmal in jedem Chromosom, d. h. sie schließt damit einen nicht unerheblichen Teil des Genoms ein. ! Durch die Rekombination wird die klare Unter-
scheidung von der ersten meiotischen Teilung als Reduktionsteilung und der zweiten meiotischen Teilung als Äquationsteilung aufgehoben. Beide Begriffe können streng genommen nur in Bezug auf das gesamte Chromosom oder in Bezug auf die Centromerenregion angewandt werden, da für rekombinierte Chromatidenbereiche Reduktionsteilung und Äquationsteilung in umgekehrter Folge ablaufen.
Austauschereignisse können natürlich auch zwischen den Chromatiden desselben Chromosoms (Schwesterchromatiden) stattfinden. Man spricht dann von Schwesterchromatidenaustausch. Ein Schwesterchromatidenaustausch hat normalerweise jedoch keine erkennbaren Folgen, da einerseits die genetische
Information in beiden Chromatiden identisch ist (s. S. 227), sich der Austausch andererseits aber auch nicht in Form eines Chiasma äußert, da die Schwesterchromatiden eng gepaart bleiben. Es stehen uns heute jedoch cytologische Techniken zur Verfügung, die es gestatten, Schwesterchromatidenaustauschereignisse sichtbar zu machen (s. Kap. 10.6.1). Immerhin können als Folge von Fehlern bei der Rekombination Veränderungen in Schwesterchromatiden auftreten, die zu genetisch veränderter Information in einer oder beiden Schwesterchromatiden führen. ! Der molekulare Mechanismus der Rekombination
kann auch zwischen Schwesterchromatiden ablaufen. Solche Austauschereignisse sind jedoch normalerweise wegen des identischen Informationsgehaltes der Schwesterchromatiden genetisch nicht zu erkennen: Es gibt keine Neuverteilung von Allelen (= genetische Rekombination).
Es könnte nach der bisherigen Darstellung der Eindruck entstehen, dass Rekombination auf die meiotische Prophase I beschränkt ist. In einem späteren Abschnitt werden wir jedoch sehen,dass es auch mitotische Rekombination gibt. Allerdings ist die Häufigkeit von Rekombinationsereignissen in mitotischen Zellen mit einem Anteil von etwa 10–5 sehr viel geringer als während der Meiose (etwa ein Rekombinationsereignis je Chromosomenarm). Mitotische Rekombination beruht vermutlich auf gelegentlichen Brüchen in der DNA, die bei der darauffolgenden Reparatur durch Fehler im Reparaturmechanismus zu Rekombination führen. Die grundlegenden Reparaturmechanismen sind wahrscheinlich die gleichen, die auch für die meiotische Rekombination herangezogen werden. In der Meiose sind jedoch besondere Mechanismen hinzugekommen, wie sie in den komplexen cytologischen Ereignissen während der meiotischen Prophase I zum Ausdruck kommen, um durch hohe Bruchhäufigkeiten eine hohe Austauschfrequenz bei großer molekularer Genauigkeit (Ausschluss von Fehlpaarung und damit Verlust oder Duplikation von Chromosomenstücken) zu erzielen.
6.3 Der Zellzyklus
! Rekombination erfolgt auch in mitotischen Zellen.
Die Häufigkeit liegt jedoch um einen Faktor 105 niedriger als die Häufigkeit meiotischer Rekombination.
Es gibt einzelne Ausnahmefälle, in denen man achiasmatische Meiosen beobachtet hat. Das ist z. B. bei Drosophila-Männchen der Fall. In solchen Organismen, deren Reifeteilungen ohne Chiasmata ablaufen, erfolgt auch keine Rekombination. Das muss als ein weiterer Beweis dafür gewertet werden, dass Chiasmata und Rekombination unterschiedliche Aspekte des gleichen chromosomalen Mechanismus darstellen: den des Austausches von Chromatidenstücken. Eine wichtige Voraussetzung für Rekombination ist die Bildung synaptonemaler Komplexe (SCs), die im Zygotän und Pachytän zwischen den homologen Chromosomen zu beobachten sind (Abb. 6.20 bis 6.22). Während des Zygotän beginnt die Homologenpaarung. Sie setzt zunächst an einzelnen Stellen homologer Chromosomen ein, breitet sich dann aber schnell aus und hat im Pachytän die Chromosomen in ihrer gesamten Länge erfasst. Etwa gleichzeitig mit der Paarung der meiotischen Prophasechromosomen oder nur wenig später bildet sich zwischen den beiden Homologen eine zentrale Struktur aus, eben der synaptonemale Komplex. Die beiden Homologen bilden die seitlichen Begrenzungen einer hauptsächlich aus Protein aufgebauten inneren Struktur. Diese besteht aus zwei lateralen und einem zentralen Längselement, die durch transversale Filamente zusammengehalten werden (Abb. 6.20, 6.21). Zusätzlich findet man auf ultrastrukturellem Niveau noch kleine rundliche Körperchen, die Rekombinationskörper (engl. recombination nodules), deren Funktion, wie auch die des SC überhaupt, umstritten ist. Diese Rekombinationskörper besitzen einen Durchmesser von etwa 100 nm. Damit haben sie das etwa 125fache Volumen eines Ribosoms (s. S. 292), können also große Mengen von Proteinmolekülen enthalten. (Ein Ribosom enthält etwa 80 Proteinmoleküle. Ein Rekombinationskörper könnte also an die 10 000 Proteinmoleküle enthalten!) Die geschilderte Grundstruktur des SC ist von der Hefe bis zum Menschen praktisch identisch und zeigt kaum Variabilität. Die ersten molekularen Befunde sprechen demgemäß auch für eine beträchtliche evolutionäre Stabilität zumindest mehrerer der am Auf-
bau der SCs beteiligten Proteine. Ganz offensichtlich handelt es sich bei den SCs um meiosespezifische Strukturen, die in anderen Zellstadien und Zelltypen nicht zu finden sind. Zumindest einige ihrer Hauptproteinkomponenten werden ausschließlich während der meiotischen Prophase synthetisiert. Man nahm lange Zeit an, dass der SC erforderlich ist, um für eine exakte Paarung der Homologen, die Induktion von Brüchen und für die Wiederverheilung gebrochener Chromatiden zu sorgen. Es zeigte sich jedoch in Untersuchungen an Hefen, dass einzelne dieser Prozesse bereits vor der Ausbildung der SCs abgeschlossen sind. So sind Doppelstrangbrüche in der DNA bereits in der frühen Prophase zu finden, also vor Beginn der Entstehung von SCs. Die Induktion von Brüchen in der DNA und deren Reparatur, ob nun innerhalb der Ursprungschromatide, der Schwesterchromatide, oder mit einer der Chromatiden des homologen Chromosoms, erfordert komplexe Mechanismen, zu denen eine große Anzahl unterschiedlicher Enzyme unerlässlich ist. Vielleicht dienen die zentralen Längselemente der exakten Paarung von DNA-Strängen, die von einem Rekombinationsereignis betroffen sind. Die Rekombinationskörperchen könnten den enzymatischen Apparat enthalten, der für die Rekombination erforderlich ist, zumal man gezeigt hat, dass sie zahlenmäßig mit der Anzahl von Rekombinationsereignissen recht gut übereinstimmen. Auch ihre Lokalisation im Bereich von Chiasmata im späten Pachytän spricht für eine solche Annahme. Allerdings ist nach diesen Vorstellungen von der Funktion von SCs schwer zu verstehen,warum die gleichen Proteine, die am Aufbau der SCs beteiligt sind, auch in Drosophila-Männchen während der meiotische Prophase gebildet werden, obwohl es hier keine Rekombination gibt. Vorstellungen, nach denen SCs eher der Verhinderung weiterer Rekombination dienen, würden besser in diese Befunde passen. Voraussetzungen für die meiotische Paarung von Chromosomen sind letztlich Sequenzhomologien auf der DNA-Ebene, aber sie sind zumindest im Beginn der Paarung nicht essentiell, da man auch die Paarung nichthomologer Chromosomenregionen beobachten kann, die anfänglich an der Bildung von SCs beteiligt sind. Ein Ausgangskriterium für die Homologenpaarung muss also auf einem höheren Niveau der Chromosomenstruktur zu suchen sein, es sei denn, dass bereits sehr
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Kapitel 6: Zelle, Zellteilungen und Zellzyklus
Abb. 6.20a–d. Ultradünnschnitt durch einen synaptonemalen Komplex (a) und schematische Interpretation (b). Das Chromosomenende (Telomer) ist der Kernmembran über den attachment plaque (ap) angelagert. Das zentrale Element sowie die lateralen Elemente sind teilweise erkennbar, ebenso ein Rekombinationsnodule. Die chromosomale DNA (ch) formt mit einer besonderen Struktur, dem Core (co), einen Komplex, dessen Ende an der Kernmembran im attachment
plaque verankert ist. ce Centromer, ms Centromeren-DNA, t Telomer, rn Rekombinationsnodul, ne Kernmembran, sc synaptonemaler Komplex, le laterales Element, sat repetitive DNA. c Längsschnitt und d Querschnitt durch einen synaptonemalen Komplex des Ascomyceten Neittiella. Der Querschnitt zeigt ein Rekombinationsnodule. (Photos: P. Moens, North York, c und d: D. von Wettstein, Kopenhagen)
kurze DNA-Sequenzähnlichkeiten zur Initiation einer Paarung ausreichen (s. auch Abb. 14.33). Auf diese Anfangsstadien der Paarung scheint allerdings ein zweiter, genauerer Paarungsschritt zu folgen, der nunmehr DNA-Sequenzhomologien überprüft und falsche Paarungen aufhebt. Hierfür sprechen insbe-
sondere auch cytologische Beobachtungen an Allopolyploiden (s. Kap. 10.3.2). Als allopolyploide Pflanzen bezeichnet man Kuturpflanzenhybriden, deren Genom aus zwei unterschiedlichen Ausgangsformen zusammengesetzt ist. Beispielsweise sind manche
6.3 Der Zellzyklus Chromatiden laterales Element zentrales Element transversale Fibrillen Rekombinationskörperchen Chromatiden
Abb. 6.21. Schema eines synaptonemalen Komplexes (SC) im Pachytän. Zwischen den beiden gepaarten homologen Chromosomen mit ihren jeweils zwei Chromatiden fügt sich der SC ein, der aus zwei lateralen und einem zentralen Längselement besteht, die über transversale Elemente miteinander verbunden sind. Die Funktionen der verschiedenen Komponenten sind gegenwärtig ebenso unbekannt wie die des gesamten SC. Rekombinationsnodule liegen auf diesem Komplex, wahrscheinlich in Bereichen, in denen eine Rekombination stattgefunden hat
Weizensorten hexaploid (Konstitution AA BB DD), wobei deren Genom aus denen dreier unterschiedlicher Ausgangsarten (A, B und D) besteht, deren jede mit zwei Chromosomen (also diploid) vertreten ist. In solchen Hybridformen erfolgt zunächst eine Zufallspaarung der verschieden Partnerchromosomen (hier Homöologe genannt; homöolog sind A, B und D), die aber im Laufe der meiotischen Prophase zugunsten einer Paarung homologer Chromosomen (also A mit A, B mit B und D mit D) korrigiert wird. ! Meiotische Rekombination wird von der Aus-
bildung synaptonemaler Komplexe begleitet. In Organismen ohne synaptonemale Komplexe in der meiotischen Prophase erfolgt keine meiotische Rekombination.
Ein interessanter Aspekt der Bildung von SCs ist ferner, dass stets nur zwei Homologe einen Komplex formen, während – etwa in Triploiden – weitere Homologe ungepaart bleiben, d. h. ein Univalent formen. Allerdings kann der Paarungspartner bei Triploidie wechseln, so dass alle drei Homologen zumindest streckenweise an der Bildung von SCs teilnehmen können. Wir haben in diesem Fall ein Trivalent vorliegen. In tetraploiden Kernen können demgemäß zwei Bivalente geformt werden. Die Art der Paarung im SC unterscheidet sich daher grund-
sätzlich von der Art der Paarung, wie wir sie bei mitotischen Chromosomen mancher Insekten, z. B. bei Drosophila, oder zwischen den Chromatiden in Polytänchromosomen vorliegen haben (s. S. 249 f). Die Paarung mitotischer Chromosomen bezeichnet man als somatische Paarung. Somatische Chromosomenpaarung hat keinen funktionellen Bezug zu meiotischer Paarung. Ihre molekulare Grundlage ist unbekannt. ! Im Gegensatz zur Paarung von Chromatiden in Polytänchromosomen erfolgt die Homologenpaarung im synaptonemalen Komplex stets nur zwischen zwei Partnern.
Wenn wir die Lage der Chromosomen in der frühen Prophase betrachten (Abb. 6.22), ist es leicht zu sehen, dass bei der schrittweisen Paarung der Homologen im Leptotän gelegentlich nichthomologe Chromatiden (oder Chromosomen) zwischen zwei sich paarenden Homologen liegen können. In diesem Fall ist die vollständige, kontinuierliche Ausbildung des SC für zwei Chromosomenpaare unmöglich. Man bezeichnet eine solche physische Verknüpfung zweier gepaarter Bivalente mit dem englischen Begriff interlocking. In Fällen von interlocking würde es zu Komplikationen bei der Homologentrennung in der Anaphase kommen. Die Zelle verfügt jedoch über Korrekturmechanismen, die eine derartige Verknotung von Chromosomen dadurch auflösen, dass die DNA geöffnet und nach einer Verlagerung der Chromatiden wieder kovalent verknüpft wird. Beide Chromosomenpaare liegen nunmehr voneinander getrennt vor, und der SC kann sich über die volle Länge der Chromosomen ausbilden. Hierbei spielt wahrscheinlich ein Enzym eine Rolle, die Topoisomerase II. Dieses Enzym ist in der Lage, DNA-Doppelstränge zu öffnen und wieder zu schließen (Abb. 2.17). Es ist in den lateralen Elementen des SC nachweisbar. Die Topoisomerase könnte also während der Ausbildung des SC zwischen den Homologen befindliche andere Chromatiden oder Chromosomen dadurch entfernen, dass sie deren DNA-Doppelstränge öffnet und nach einer Verschiebung gegenüber denen des am SC beteiligten Chromosoms wieder verknüpft. Auch das wäre eine wichtige und unabdingbare Funktion des SCs, die im Übrigen nicht an Rekombinationsereig-
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Kapitel 6: Zelle, Zellteilungen und Zellzyklus Abb. 6.22. Synaptonemaler Komplex. Interlocking (Pfeil) und Chiasmata. (Photo: P. Moens, North York)
nisse gebunden ist und lange nach abgeschlossener Rekombination erfolgen kann. ! Die Paarung der Homologen ist gelegentlich mit
mechanischen Problemen wie die der Verknotung (interlocking) mit Nichthomologen verbunden. Der synaptonemale Komplex verfügt über Topoisomerase II oder andere Enzyme, die das interlocking aufzulösen vermögen.
6.3.3 Rekombination Genetische Analysen haben gezeigt, dass Rekombination nicht grundsätzlich auf die meiotische Prophase beschränkt ist, sondern auch in mitotischen Zellen erfolgt. In späteren Kapiteln wird noch deutlich werden, dass Rekombinationsereignisse für bestimmte Gensysteme eine fundamentale Rolle während der Entwicklung eines Organismus spielen (s. Kap. 12.4.4 und 12.5.2). Rekombination erweist sich somit als ein allgemeiner biologischer Mechanismus, der nicht nur evolutionär (durch Rekombination in Keimzellen), sondern auch entwicklungsphysiologisch (durch Rekombination innerhalb bestimmter Gene in somatischen Zellen) von grundlegender Bedeutung ist. Das wirft die Frage nach dem evolutionären Ursprung von Rekombinationsmechanismen auf. Zweifellos sind Rekombinationsereignisse in den Keimzellen für die Nachkommen primär nicht relevant oder können sich sogar nachteilig auswirken, falls hierdurch ungünstige Allelen-
kombinationen entstehen oder durch den Crossingover-Mechanismus Defekte erzeugt werden (s. Kap. 10.2.1). Die Aufklärung der molekularen Mechanismen, die an Rekombinationsereignissen beteiligt sind, lässt erkennen, dass sie auf Mechanismen beruhen, die ursprünglich wohl für DNA-Reparaturen (s. Abb. 10.43) entstanden sind. Wir hatten bereits bei der Besprechung der Replikation gesehen, dass für die DNA-Synthese ein Korrekturmechanismus erforderlich ist, der Replikationsfehler eliminiert, die durch Fehleinbau von Nukleotiden durch die DNAPolymerase verursacht werden. Es zeigt sich nun, dass sich ein zellulärer Mechanismus, der für die Evolution höherer, diploider Organismen eine wahrscheinlich entscheidende Rolle gespielt hat, aus einem grundlegenden Mechanismus entwickelt hat, der für die identische Verdopplung und für die Instandhaltung des genetischen Materials unentbehrlich ist. Wir werden Parallelen hierzu in anderem Zusammenhang begegnen. Der molekulare Mechanismus der Rekombination war lange Zeit Gegenstand kontroverser Meinungen. Cytologische Beobachtungen, unter anderem von Harriet B.Creighton und Barbara McClintock,die eine direkte Korrelation zwischen genetischem Austausch und cytologisch sichtbaren Veränderungen in den Chromosomen bewiesen, hatten bereits darauf hingedeutet, dass Rekombination mit einem Stückaustausch zwischen homologen Chromatiden verbunden ist. Wir wissen heute, dass das Bruch-und-Wiederverheilungsmodell (engl. breakage and reunion), das von Robin Holliday (1964) auf molekularem Niveau ausgearbeitet wurde, die Ereignisse im Prinzip richtig beschreibt. Dieses Modell wurde durch Matthew
6.3 Der Zellzyklus
Meselson und Charles Radding (1975) erweitert und dürfte nach unserem heutigen Verständnis die grundlegenden Mechanismen der Rekombination auch in Eukaryoten zutreffend beschreiben. Beobachtungen, die für einen Bruch- und Wiederverheilungsmechanismus sprechen, hatte bereits Herbert Taylor 1957 beschrieben. In seinen Experimenten, mit denen er Beweise für den semikonservativen Charakter der Replikation erbracht hatte, hatte er auch festgestellt, dass regelmäßig Chromatiden zu finden sind, die nur teilweise radioaktiv markiert waren, während die homologe Chromatide genau das komplementäre Muster aufwies. Das war nur mit direktem Stückaustausch zwischen den beiden Chromatiden zu erklären. Immerhin blieb seinerzeit die Frage ganz ungeklärt, ob auch eine DNA-Neusynthese bei der Entstehung der unmarkierten Chromatidenbereiche (nach dem ursprünglich sehr populären Copy-choice-Modell, s. Abb. 6.25) beteiligt war. Mit der Erkenntnis, dass Rekombination bei Eukaryoten generell im 4-Strangstadium erfolgt (s. S. 195), ist sowohl das BruchWiederverheilungsmodell als auch das Copy-choiceModell vereinbar. Zur Klärung der Frage, ob DNA-Neusynthese einen entscheidenden Beitrag zur Rekombination liefert, dienten Versuche von M. Meselson und J. J. Weigle (1961), in denen sie wiederum von der Markierungstechnik mit schweren Isotopen Gebrauch machten, die bereits zur biochemischen Demonstration der semikonservativen Replikation erfolgreich eingesetzt worden war (s. S. 33, Abb. 2.10). Genetisch unterschiedliche λ-Phagen, deren einer Genotyp mit 13C15N-DNA markiert war, während der andere Genotyp unmarkiert blieb (also 12C14N-DNA enthielt), wurden gemeinsam in Zellen von E. coli infektiert. Die daraus erhaltenen Bakteriophagen wurden in CsCl nach ihrer Schwimmdichte aufgetrennt, und die verschiedenen Dichtefraktionen wurden auf ihre genetische Konstitution getestet (Abb. 6.23). Es ließ sich zeigen, dass die Bakteriophagen, deren DNA partiell mit 13C15N markiert war, einen genetisch rekombinanten Genotyp besitzen. Wie bereits in Taylors Experimenten war damit der direkte Beweis für einen Stückaustausch in Zusammenhang mit Rekombination erbracht. Da diese Versuche noch nicht ausschließen, dass die nicht mit schweren Isotopen markierte Bakteriophagen-DNA durch Neusynthese in Zusammenhang mit der Rekombination
entstanden war, wurde ein weiteres Kreuzungsexperiment mit nunmehr ausschließlich 13C15N-markierten Bakteriophagen unterschiedlicher genetischer Konstitution durchgeführt. Erfolgt die Vermehrung dieser Bakteriophagen in E. coli-Zellen, die in unmarkiertem (also „leichtem“) Medium wachsen, so wird die Mehrzahl der Nachkommen teilweise markiert oder unmarkiert sein. Dennoch bleiben stets einige Bakteriophagen unrepliziert und werden zu neuen Phagenpartikeln gepackt. Einzelne solcher noch vollständig 13C15N-markierten DNA-Stränge können zudem aufgrund der hohen Multiplizität der Phagengenome in der Zelle nach der Coinfektion ein Rekombinationsereignis mit einer genetisch ungleichen Bakteriophagen-DNA durchlaufen haben, so dass ihr Genotyp von dem der beiden parentalen Bakteriophagen zu unterscheiden ist. Der Nachweis solcher vollständig 13C15N-markierten und zugleich rekombinanten λ-Phagen gelang. Damit war bewiesen, dass der molekulare Mechanismus der Rekombination auf Brüchen und Wiedervereinigung zweier DNA-Doppelhelices ohne wesentliche DNA-Neusynthese beruht (Abb. 6.24). Das Copy-choice-Modell, das eine Rekombination während der DNA-Synthesephase durch Wechsel des Templates annahm (Abb. 6.25b), war damit widerlegt. ! Rekombination erfolgt durch Bruch und Wieder-
verheilung zweier DNA-Doppelhelices.
Die an Rekombinationsereignissen beteiligten molekularen Mechanismen sind an Prokaryoten aufgeklärt worden. Inzwischen sind jedoch auch Einsichten in eukaryotische Rekombinationsprozesse erzielt worden. Die folgende Darstellung der molekularen Prozesse beschreibt die Ereignisse, wie sie für Rekombination bei E. coli aufgeklärt worden sind. Wesentliche Schritte eines Rekombinationsereignisses sind hierbei: • Induktion von DNA-Einzel- oder Doppelstrangbrüchen, • Paarung zweier homologer DNA-Doppelhelixregionen, • Austausch zwischen zwei Einzelsträngen der gepaarten Doppelhelices, • Auflösung der viersträngigen Struktur durch Erzeugung weiterer Brüche – entweder in den bereits rekombinanten Strängen oder in den
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Kapitel 6: Zelle, Zellteilungen und Zellzyklus Doppelinfektion
A
a
B
b
C
c
Doppelinfektion
a
Trennnung in CsCI
Trennnung in CsCl
A
a
B
b
A
a
B
b
A
a
B
b
A
a
b c A
a
b
B
c
C A
CsCl-Gradient
194
oder B C
Abb. 6.23. Mechanismus der Rekombination. Infiziert man E.-coli-Bakterien mit einer Mischung von Phagen, deren einer Teil mit 13C und 15N markiert ist und die Markergene A, B und C trägt, deren zweiter Teil die normalen Isotopen 12C und 14N und die Marker a, b und c enthält, so beobachtet man nach Trennung der neu entstandenen Phagenlysate im CsCl-Gleichgewichtsgradienten, dass sich die Phagen nach unterschiedlicher Dichte auftrennen. Man findet in den Fraktionen niedriger Schwimmdichte neu synthetisierte Phagen, im Bereich mittlerer Schwimmdichte Phagen, deren DNA teilweise die schweren Isotopen enthält und im Bereich höherer Schwimmdichte Phagen, deren DNA zur Hälfte aus schweren Isotopen besteht. Diese schwere Fraktion besteht aus den ursprünglich markierten DNA-Molekülen, die jedoch während der Replikation der Phagen in der Wirtszelle einen neuen, leichten DNA-Strang synthetisiert haben. Sie enthalten die Marker A, B und C. Die mittlere Fraktion enthält ebenfalls ursprüngliche DNA-Bereiche, die jedoch aufgrund von Rekombinationsereignissen unterschiedlich lang sind und nie einen vollständigen Einzelstrang umfassen. Genetisch erweisen sie sich erwartungsgemäß als Rekombinanten (in der Abbildung: A, b, c oder a, B, C). Rekombination schließt also den Austausch von DNA-Stücken ein, wie bereits Taylors Experimente angezeigt hatten (Abb. 2.11)
b
B
Abb. 6.24. Rekombination ist nicht von der Replikation abhängig. In Ergänzung zu dem in Abb. 6.23 dargestellten Versuch musste noch gezeigt werden, dass Rekombination auch ohne jede DNA-Replikation ablaufen kann. Hierzu wurden E.coli-Zellen mit einer Mischung von Phagen unterschiedlichen Phänotyps (A, B und a, b), jedoch durchweg mit schweren Isotopen markiert, infiziert. Nach Auftrennung der Phagenlysate im CsCl-Gradienten und anschließender Untersuchung der verschieden Phagenfraktionen zeigte es sich, dass auch in der vollständig schweren Fraktion Rekombinanten (A, b oder a, B) vorhanden waren. Damit war bewiesen, dass Rekombination nicht an die DNA-Synthese gekoppelt ist, wie man nach dem Copy-choice-Modell (Abb. 6.25 b) erwarten müsste
komplementären Partnersträngen – und Wiederverheilung nach Austausch der Enden. Obgleich viele Einzelheiten dieser verschiedenen Schritte bekannt sind, bestehen doch noch erhebliche Unsicherheiten über deren genaue Mechanismen. Das wird bereits bei Betrachtung der ersten beiden Schritte, der Induktion von Brüchen und der Paarung der Austauschpartner deutlich.
6.3 Der Zellzyklus Abb. 6.25 a, b. Copy-choice und Bruchund-Wiederverheilung als zwei unterschiedliche Modelle für die Rekombination. a Das Bruch-und-Wiederverheilungsmodell geht davon aus, dass nach zwei Brüchen in den zwei beteiligten DNA-Doppelhelices eine Wiederverheilung der DNA-Fragmente in falscher Anordnung erfolgt. Dieses Modell hat sich schließlich als prinzipiell richtig erwiesen. b Das Copy-choice-Modell schlägt vor, dass große Teile der Moleküle nach einem erfolgten Bruch neu synthetisiert werden und dass aufgrund eines Fehlers in der Wahl des Matrizenstranges für die DNA-Neusynthese eine Rekombination die Folge ist
DNA-Brüche. Der erste Schritt eines Rekombinationsereignisses ist wahrscheinlich die Induktion eines Einzel- oder Doppelstrangbruches in der chromosomalen DNA, zumindest in Hefe-DNA. Für höhere Eukaryoten besteht hierüber noch keine Klarheit. Experimentell lässt sich die Induktion von Brüchen bei Hefe als erster Schritt der Rekombination dadurch beweisen, dass man solche DNA-Defekte durch Bestrahlung oder chemische Agenzien (s. Kap. 10.4) induziert. Durch derartige Ereignisse wird die Häufigkeit von Rekombinationsereignissen in einer Größenordnung von 1000- bis 3000fach erhöht. Die molekulare Analyse von Hefechromosomen hat darüber hinaus zeigen können, dass eine erhöhte Anzahl von Doppelstrangbrüchen in einer bestimmten, genau definierten Chromosomenregion direkt mit einer erhöhten Rekombinationsrate von Genen im betreffenden Chromosomenbereich gekoppelt ist. Welche endonukleolytischen Enzyme diese primären Brüche in der DNA verursachen, ist nicht vollständig geklärt. Vermutlich müssen gleichzeitig durch Exonukleasen Einzelstrangregionen erzeugt werden, da nur hieran die Bindung eines Proteins (in E. coli das RecA-Genprodukt, in Eukaryoten das Protein RAD1) möglich ist, dessen Anwesenheit Voraussetzung für mehrere der folgenden Schritte ist. Bei der Hefe sind drei Proteine, RAD50, MRE11 und XRS2 bekannt, die an der Vorbereitung der Bindung von RecA-Protein (bzw.
RAD51) an die ssDNA (single-stranded DNA) beteiligt sind. Die Proteine RAD52, RAD55 und RAD57 unterstützen die Bindung von RAD51 an die ssDNA. Sie müssen wahrscheinlich an die ssDNA gebunden sein, bevor RAD51 bindet. Das funktionelle RecA-Protein ist ein Tetramer eines Polypeptids aus 352 Aminosäuren, RAD1 ist aus 400 Aminosäuren aufgebaut. Beide Proteine sind über einen Bereich von 220 Aminosäuren sehr ähnlich. Strangpaarung. Der mit RecA-Protein assoziierte DNA-Einzelstrang dringt in die intakte DNA-Doppelhelix des homologen Paarungspartners ein (engl. strand invasion). Hier verdrängt der Einzelstrang einen der gepaarten Stränge unter Aufwindung der Doppelhelix und paart mit dem komplementären Strang der denaturierten Doppelhelix. Es bildet sich die sogenannte D-Loop. Man bezeichnet die hierin enthaltenen dsDNA- und ssDNA-Moleküle als joint molecules. Einzelstrangaustausch. Das RecA-Protein bildet mit der Einzelstrang-DNA (ssDNA) eine rechtsgewundene Nukleoproteinfibrille mit 18,6 Basen in jeder Helixwindung. Die ssDNA wird in dieser Struktur ungewöhnlich gestreckt, so dass ihre Basen offenbar für die Paarung mit der homologen DNA besonders exponiert sind. Die ssDNA ist in dieser
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Kapitel 6: Zelle, Zellteilungen und Zellzyklus
Konformation um 50 % länger als normale ssDNA. Dieser Nukleoproteinfibrille lagert sich die Doppelstrang-DNA (dsDNA) an, die an der Rekombination beteiligt ist (Abb. 6.26). Es folgt ein Prozess, währenddessen die ssDNA nach Homologie in der dsDNA sucht. Diese Suche ist zeitlich limitiert. Wenn keine Homologie entdeckt wird, wird sie beendet und an anderer Stelle in der dsDNA erneut aufgenommen. Ist die Suche nach Homologie erfolgreich, werden die homologen DNA-Abschnitte zunächst gepaart, und es kommt zur Stranginvasion der ssDNA in die homologe dsDNA-Region. Als weiteres Protein tritt RAD54 hinzu.
Die Proteine RAD51, RAD55 und RAD57 findet man in mitotischen und meiotischen Zellen. Ein Meiose-spezifisches Protein der Hefe mit Ähnlichkeit zur RAD51 ist DMC1 (d. h. Einzelstrang-DNA-bindend). In Säugern wurden Homologe für DMC1 und die meisten der RAD-Proteine gefunden. Eine weitere wichtige Komponente des Rekombinationsmechanismus ist das Replikationsprotein A (RAP) (engl. replication protein A). Es bindet ebenfalls an ssDNA und unterstützt die Bindung von RAD51. Das Ergebnis dieser molekularen Vorgänge ist eine viersträngige Struktur, wie sie 1964 von R. Holliday vorgeschlagen wurde (Abb. 6.27) und daher als
Abb. 6.26 a– c. Mögliche Funktion des RecA-Proteins bei E. coli bei der Strangpaarung. Das RecA-Protein unterstützt das Eindringen eines DNA-Einzelstranges in den homologen Doppelstrang (a) oder verursacht die Bildung einer viersträngigen DNA-Region (b). In beiden Fällen kann es anschließend zu
einem Austausch zwischen zwei Einzelsträngen kommen. Als Ergebnis entsteht eine viersträngige DNA (c), die auch als Holliday-Struktur bezeichnet wird. (Nach Howard-Flanders et al. 1984)
6.3 Der Zellzyklus
Holliday-Struktur (engl. Holliday junction) bezeichnet wird. Durch DNA-Spreitungen hat man die Existenz von Holliday-Strukturen bei prokaryotischen DNA-Molekülen nachweisen können. Die Struktur der DNA-Doppelhelix gestattet die Bildung solcher viersträngiger Kombinationsmoleküle, ohne dass Basenpaarungen entfallen. Zudem ist eine Verschiebung des Überkreuzungspunktes vom ursprünglichen Austauschpunkt durch eine reißverschlussartige Verschiebung der Basenpaarungen in beiden
Abb. 6.27 a, b. Holliday-Struktur und branch migration. a Die Holliday-Struktur erlaubt durch einfache Rotation eines oder beider DNA-Doppelhelices eine Verschiebung des ursprünglichen Rekombinationspunktes in einem Prozess, der als branch migration bezeichnet wird. b Vermutlich entsteht während der Rekombinationsprozesse eine Verzweigungsstelle, an der die Basenpaarungen nahezu ungestört durchlaufen. Branch migration kann bei rechtsgewundener DNA (A- oder B-Konformation) entweder durch Rotation eines Moleküls um das andere (oben) oder durch Rotation der beiden Doppelhelices um sich selbst (unten) erreicht werden. So wird eine sterische Konfiguration hergestellt, die einen endonukleolytischen Schnitt und damit die Trennung der nichtrekombinierten Strängen ermöglicht (vgl. Abb. 6.28). Die Rekombination ist damit abgeschlossen. (Nach Cox u. Lehmann 1987)
Doppelhelices möglich. Hierdurch kommt es zur Erscheinung der branch migration, also einer Wanderung des Verzweigungspunktes, ähnlich wie wir es bereits bei der Terminalisierung von Chiasmata von cytologischer Sicht her kennengelernt haben (s. S. 187). Diese Verschiebung des Verzweigungspunktes kann mit 50 Nukleotidpaaren je Sekunde sehr schnell erfolgen und über mehrere tausend Basenpaare fortschreiten.
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Kapitel 6: Zelle, Zellteilungen und Zellzyklus
! Bei der Rekombination wird durch Brüche und
kreuzweise Wiederverheilung der DNA-Enden eine viersträngige Holliday junction gebildet, die eine allmähliche Verschiebung des Überkreuzungspunktes der DNA-Moleküle gestattet. Durch eine solche branch migration entstehen Heteroduplexregionen in der DNA. Diese führen unter Umständen zu abnormalen Segregationsverhältnissen von Allelen.
Eine wichtige Konsequenz dieser Verschiebung des Überkreuzungspunktes ist die potentielle Entstehung von zwei Heteroduplexmolekülen, wenn die Basensequenz in den beiden Ausgangs-DNA-Doppelhelices nicht identisch ist (Abb. 6.28). Hieraus ergeben sich unterschiedliche Konsequenzen, je nachdem, ob sich eine Replikation der DNA anschließt, oder ob es zur Korrektur der nichthomologen Regionen der Doppelhelix kommt. Auflösung. Zum Abschluss des Rekombinationsereignisses ist ein weiterer Austausch innerhalb der DNA erforderlich, um das Vierstrangstadium aufzulösen und wieder zwei Doppelhelices herzustel-
len, ein Prozess, der Auflösung (engl. resolution) genannt wird. Auch hierbei ist bei E. coli das RecAProtein funktionell von Bedeutung (Abb. 6.26). Die Auflösung kann zunächst durch einen weiteren Endonukleaseschnitt in den bereits rekombinierten DNA-Einzelsträngen erfolgen, so dass, nach der branch migration, nur ein relativ kurzes Stück der DNA ausgetauscht ist und zudem noch als Heteroduplex vorliegt (Abb. 6.28). Zum Verständnis des alternativen molekularen Mechanismus und seines Ergebnisses ist eine sterische Umlagerung der Holliday-Struktur von Bedeutung, wie sie von Meselson und Radding (1975) vorgeschlagen wurde, und die man als Isomerisation bezeichnet (Abb. 6.28). Durch Drehung an der Verzweigungsstelle (Abb. 6.26c) können die bereits rekombinanten DNA-Einzelstränge – im zweidimensionalen Modell nach „außen“ (Abb. 6.28) – umgelagert werden, so dass nunmehr durch weitere Endonukleaseaktivität mit darauffolgender Ligation der entstehenden freien Enden auch die beiden anderen DNA-Stränge ausgetauscht werden. Man erhält somit zwei vollständig rekombinante Doppelhelices, die zudem durch branch migration eine Heteroduplexregion begrenzter Länge enthalten können.
Abb. 6.28 a,b. Molekularer Mechanismus der Rekombination. a Entstehung von Heteroduplex-DNA-Bereichen durch branch migration. b Vervollständigung und Abschluss der Rekombination durch Isomerisation und Auflösung. Durch Drehung um den Verzweigungspunkt (vgl. Abb. 6.27) wird eine Konformation der DNA-Stränge hergestellt (rechts), die eine endonukleolytische Öffnung der noch nicht rekombinierten DNA-Stränge und einen Austausch dieser Stränge ermöglicht. Alternativ können die ursprünglichen Stränge wieder vereinigt werden (links), wobei durch die branch migration ein Stück Heteroduplex in anderweitig nichtrekombinanten DNA-Molekülen entsteht. (Nach Watson et al. 1987)
6.3 Der Zellzyklus
Neben Proteinen, die funktionell dem RecA-Produkt von E. coli entsprechen, sind, wie schon aus der bisherigen Beschreibung der Rekombinationsereignisse hervorgeht, noch weitere Proteine erforderlich. Bei E. coli sind hiervon die Produkte des RecB-Gens und des RecC-Gens bekannt, die zusammen, möglicherweise mit einem dritten Protein, einen Enzymkomplex RecBC (gelegentlich auch Exonuklease V genannt) eines Molekulargewichtes von Mr = 300 000 bilden. Dieser Enzymkomplex bindet an Einzelstrang-DNA-Enden und windet die Doppelhelix von hier aus auf, während er an ihr entlangläuft (Abb. 6.29). Ein gewisser Bereich der Doppelhelix bleibt im Enzymbereich ungepaart, da das Enzym sich um etwa 300 bp je Sekunde fortbewegt, die Doppelhelix danach aber nur mit einer Schnelligkeit von etwa 200 bp je Sekunde zurückgebildet wird. Das Enzym erkennt eine bestimmte Nukleotidsequenz (5′GCTGGTGG-3′), die Chi-Sequenz (von engl. crossing over hotspot instigator) genannt wird und an ungefähr 1000 Positionen des E.-coli-Chromosoms (im Mittel alle 5000 bp) zu finden ist. RecBC schneidet den DNA-Strang mit der Chi-Sequenz kurz hinter dem 3′-Ende der Sequenz endonukleolytisch und erzeugt so eine Einzelstrangregion, an die das RecAProtein binden kann. Dieser Strang kann dann die Rekombination mit einer zweiten Doppelhelix nach den bereits beschriebenen Mechanismen einleiten. Das E.-coli-Chromosom ist normalerweise ringförmig und besitzt daher keine Einzelstrangenden. In normalen Bakterienzellen ist Rekombination allerdings auch nicht von Bedeutung. Erst im Falle von Konjugation wird ein zweites DNA-Molekül für mögliche Rekombination verfügbar. Dieses Molekül ist linear und bietet daher eine Bindungsstelle für den RecBC-Komplex an.
dass solche Rekombinationssequenzen generell vorhanden sind. Die höhere Struktur eukaryotischer Chromosomen, die Ausbildung synaptonemaler Komplexe und die Anreicherung spezifischer DNASequenzen in deren lateralen Elementen (s. S. 191) sind vielleicht als Anzeichen für die Existenz solcher speziellen Sequenzen zu werten. Versucht man, die Befunde von Prokaryoten auf Eukaryoten zu übertragen, so stellen sich eine Reihe von Fragen, die sich aus den bereits dargestellten Beobachtungen über Rekombination in der meiotischen Prophase ergeben. Zunächst einmal muss
Chi
RecBCKomplex
3'-OH 5'-PO4
5' 3'-OH RecA-Protein
! Bei E. coli sind verschiedene Proteine bekannt, die
spezifische Aufgaben bei der Rekombination erfüllen. Innerhalb des E.-coli-Genoms gibt es DNA-Sequenzen, an denen Rekombination bevorzugt erfolgen kann, wenn Einzelstrangenden vorhanden sind. Das ist im Allgemeinen nur bei Konjugationsvorgängen der Fall.
Auch in höheren Organismen gibt es offenbar spezifische Rekombinationsstellen in der DNA wie beispielsweise Untersuchungen an Pilzen gezeigt haben. Es erscheint durchaus möglich,
Abb. 6.29. Funktion des RecBC-Proteins. Der RecBC-Komplex bindet ausschließlich an Doppelstrang-DNA-Enden. Von hier aus wandert er an der DNA entlang und trennt die beiden Einzelstränge voneinander. Gelangt der RecBC-Komplex an einer der im E.-coli-Genom enthaltenen Chi-Sequenzen, schneidet der Komplex durch seine Endonukleaseaktivität den DNAStrang vor dem 3′-Ende der Chi-Sequenz. Das entstandene Einzelstrang-DNA-Ende gestattet nun die Bindung von RecAProtein, das seinerseits eine Rekombination mit einem anderen DNA-Doppelstrang einleiten kann. Der RecBC-Komplex erlaubt somit, dass zellfremde DNA (Lambda-Phagen-DNA oder andere DNA, die durch Transformation in die Zelle gelangt ist) in das Genom der Wirtszelle eingefügt wird. (Nach Watson et al. 1987)
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Kapitel 6: Zelle, Zellteilungen und Zellzyklus
bedacht werden, dass in Eukaryoten während der Rekombination vier DNA-Stränge – zwei von jedem der homologen Chromosomen – vorhanden sind. Rekombination zwischen Schwesterchromatiden erübrigt sich, wenn man sie vom Standpunkt der genetischen Konstitution der Nachkommen aus betrachtet, da Schwesterchromatiden stets genetisch identisch sind. Das schließt natürlich nicht aus, dass ein solcher Austausch zwischen Schwesterchromatiden vorkommen kann. Genetisch würden Schwesterchromatidenaustausche sich nicht nachweisen lassen. Dienen synaptonemale Komplexe dazu, Rekombination von Chromatiden homologer Chromosomen gegenüber Schwesterchromatidenaustauschen zu begünstigen? Die Asymmetrie in der räumlichen Anordnung homologer Chromatiden gegenüber den Schwesterchromatiden würde einem Strangselektionmechanismus eine strukturelle Grundlage bieten. Umgekehrt muss man jedoch auch die Frage stellen, wie innerhalb eines synaptonemalen Komplexes der Vorgang der Isomerisation (Abb. 6.28) ablaufen kann, da er schwerwiegende räumliche Veränderungen in der Lage der lateralen Elemente des synaptonemalen Komplexes mit sich bringen müsste. Spielen Rekombinationsnodules in diesem Prozess eine Rolle? Rekombinationsnodules (s. S.189) sind kleine Partikel,die im zentralen Bereich des SCs liegen und im Laufe der Prophase ihre Größe verändern. Oder sind diese Rekombinationsnodules am Vorgang der branch migration beteiligt, der sich cytologisch zwangslos mit dem Prozess der Terminalisierung von Chiasmata (s. S. 187) vergleichen lässt? Die schnell fortschreitende Analyse der molekularen Bestandteile synaptonemaler Komplexe und der Rekombinationsmechanismen in der Hefe verspricht uns baldige Antworten auf viele dieser Fragen.
6.3.4 Genkonversion Das Holliday-Modell der Rekombination gestattet es, weitere genetische Beobachtungen molekular zu erklären, die in Experimenten gemacht werden, in denen man die genetische Analyse aller Nachkommen eines einzelnen Rekombinationsereignisses durchgeführt hat. Hierfür hat sich vor allem die Tetradenanalyse in Hefen und Schimmelpilzen besonders bewährt. Einer der wichtigsten Befunde solcher Tetradenanalysen war die gelegentliche Abweichung vom 1:1-Verhältnis, das bei Rekombinationsereignissen zwischen zwei Markergenen in der
Nachkommenschaft eigentlich erwartet wird (Abb. 6.30). Man bezeichnet diese Abweichungen als nichtreziproke Rekombination oder als Genkonversion. Genkonversion ist eine allgemeine Erscheinung. Sie wird jedoch besonders leicht nachweisbar, wenn nach den zwei meiotischen Teilungen noch eine Mitose folgt, wie das bei Neurospora crassa oder Sordaria brevicollis der Fall ist (s. Abb. 6.44 und 6.30). In beiden Arten findet man die acht Ascosporen in einer Anordnung im Ascus, die den Teilungsschritten während der Meiose und der darauffolgenden Mitose entspricht, da die Teilungsspindeln wegen der engen Asci keinen Überlappungen oder Verschiebungen unterliegen können (s. Abb. 6.44). Zwei nebeneinanderliegende Sporen reflektieren daher stets die genetische Konstitution einer DNA-Doppelhelix zu Beginn der ersten meiotischen Teilung. Tabelle 6.3 zeigt uns die quantitativen Ergebnisse einer Tetradenanalyse. Neben den erwarteten elterlichen und rekombinanten Genotypen (siehe Abb. 6.30) finden wir zwei abweichende genetische Konstitutionen. Diese lassen sich anhand des Holliday-Modells (Abb. 6.28) auf zweierlei Weise erklären (Abb. 6.30). Nach Abb. 6.30 kann eine abnormale 4:4-Segregation durch ein Rekombinationsereignis entstehen, das als zweites Austauschereignis in den gleichen DNA-Strängen bei der Lösung der Holliday-Verzweigung entsteht. Erfolgt darauf eine Korrektur der Heteroduplexbereiche in einer der neu entstandenen Doppelhelices, so erhält man eine 5:3-Segregation. Erfolgt die Korrektur in beiden neuen Doppelhelices, so folgt ein 6:2-Segregationsverhältnis. Ein 5:3- und 6:2-Verhältnis kann aber auch zustande kommen, wenn nach Abb. 6.28 die Auflösung der Holliday-Verzweigung durch ein zweites Austauschereignis in den noch nicht betroffenen DNA-Strängen der Doppelhelices erfolgt. Auch hier erhält man zunächst eine abnormale 4:4-Segregation, oder, im Falle von Korrekturen in den Heteroduplexregionen der Doppelhelices, 5:3- oder 6:2Segregation. ! Abnormale Segregationsverhältnisse, Konversion
genannt, sind besonders bei Tetradenanalysen in Pilzen leicht nachweisbar. Sie lassen sich durch die Entstehung und nachfolgende Korrektur von Heteroduplexregionen in der DNA als Folge der Rekombination verstehen.
6.3 Der Zellzyklus Abb. 6.30. Rekombination und Tetradenanalyse: Segregationsmuster von Markerallelen nach Rekombination in Neurospora-Ascosporen. Die abnormale Verteilung der Marker, die bei Tetradenanalysen zu beobachten ist, lässt sich nach dem Holliday-Modell des Rekombinationsmechanismus erklären, wenn man annimmt, dass in Heteroduplexregionen der DNA ein Korrekturmechanismus einen Angleich der Nukleotidsequenz des einen Stranges an den anderen vornimmt. Links sind schematisch die DNA-Einzelstränge der vier Chromatiden in der meiotischen Prophase dargestellt. Oben ist ein Crossing-over-Ereignis mit den Folgen auf der molekularen Ebene dargestellt. Die Konstitution jeder Chromatide hinsichtlich eines Markerallels ist angegeben. Durch Heteroduplexbildung sind zunächst unterschiedliche DNA-Sequenzen in den beiden Einzelsträngen der Doppelhelix einer Chromatide zu finden. Diese werden in der Folge entweder unterschiedlich oder nicht korrigiert. Die Fälle, in denen Korrektur erfolgt, sind durch einen Kreis hervorgehoben. Die jeweils resultierenden Ascosporenzahlen und -anordnungen sind rechts wiedergegeben. Auch hier können Ascosporenverteilungen auftreten, die von denen ohne Rekombination nicht zu unterscheiden sind. Sie entstehen dann, wenn keine Korrektur der Heteroduplexregion erfolgt. Man spricht hier von aberranter 4 : 4 Segregation
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Kapitel 6: Zelle, Zellteilungen und Zellzyklus
Tabelle 6.3 Beispiel für Genkonversion
(Markergene m1 und m2)
Kreuzung:
a m1 m2+ b × a+ m1+ m2 b+
Die Analyse der Nachkommengenotypen ergibt folgende Ascosporenverteilungen: I. Kein Crossing-over 4 : 4-Verhältnis aller Sporen II. Normales Crossing-over 4 : 4-Verhältnis III. Genkonversion (s. Abb. 6.30) aberrantes 4 : 4-Verhältnis 6 : 2- oder 2: 6-Verhältnis 5 : 3- oder 3 : 5-Verhältnis Beispiel eines Ascus mit einer 2: 6-Konversion im Marker m1 a m1 m2+ b a m1 m2+ b a m1+ m2+ b Konversion Konversion a m1+ m2+ b a m1+ m2 b+ a m1+ m2 b+ a m1+ m2 b+ a m1+ m2 b+ Zum Verständnis der molekularen Grundlage der 2:6-Segregation s. Abb. 6.30
Die bisher vorgelegten experimentellen Daten lassen sich zwanglos auf der Grundlage der zuvor diskutierten Rekombinationsmechanismen erklären. Allerdings haben Tetradenanalysen auch zu Ergebnissen geführt, bei denen einzelne der erwarteten Konversionstypen nicht oder unerwartet selten auftraten. Die Ursachen hierfür sind gegenwärtig noch unklar. Sie könnten auf Unterschieden in der Schnelligkeit des Ablaufes der verschiedenen molekularen Prozesse, etwa aufgrund genspezifischer DNA-Sequenzen, beruhen. Andererseits ist nicht auszuschließen, dass primär nicht ein Einzelstrang den Beginn des
Rekombinationsereignisses verursacht, sondern dass die Rekombination mit einem Doppelstrangbruch beginnt wie von Jack Szostak (1983) vorgeschlagen wurde. Für einen Beginn von Rekombination durch Doppelstrangbrüche, zumindest in vegetativen Zellen von Hefen, wurde in letzter Zeit durch Nancy Kleckner (1996) und Alain Nicolas (Debrauwère et al. 1999) der experimentelle Nachweis geliefert. Sollte sich zeigen, dass Doppelstrangbrüche auch in meiotischer Rekombination den ersten Schritt des Austausches einleiten, müssten Modifikationen in die zuvor dargestellten molekularen Modelle von Rekombinationsmechanismen eingeführt werden, die auch unser Verständnis von Genkonversionsmechanismen verändern würden. Abschließend muss noch darauf verwiesen werden, dass Genkonversion auch zwischen nichthomologen Chromosomenregionen auftreten kann, sofern beide am Konversionsereignis beteiligten Chromosomenbereiche eine homologe DNA-Sequenz besitzen. Hier kann es dann zu lokal begrenzten Austauschereignissen kommen, die den zuvor beschriebenen im Prinzip entsprechen. Höchstwahrscheinlich sind für Genkonversion jedoch DNA-Replikationsmechanismen verantwortlich, wie sie in Zusammenhang mit DNA-Reparaturprozessen wirksam werden (s. Kap. 10.5.3).
6.3.5 Genetische Mosaike Wir werden in Zusammenhang mit der Besprechung des Dosiskompensationsmechanismus bei Säugern sehen (s. S. 264 ff), dass innerhalb eines einzelnen Organismus zwei unterschiedliche Allele zellspezifisch zur Ausprägung kommen können, ohne dass diese zellspezifische Ausprägung – wie etwa im Falle gewebespezifischer Genexpression (s. S. 323) – genetisch vorprogrammiert, also funktionell erforderlich ist. Die unterschiedliche Merkmalsausprägung ist allein durch die zufällige Anwesenheit zweier unterschiedlicher Allele in einem Individuum bestimmt. Man bezeichnet einen Organismus, der eine in dieser Weise unterschiedliche Ausprägung eines Merkmals zeigt, als ein Mosaik. Weibliche Säugetiere sind demnach hinsichtlich der Ausprägung X-chromosomaler Merkmale Mosaike. Für uns erkennbar wird dieser Mosaikcharakter gewöhnlich natürlich nur für zellautonome Gene. Für alle übrigen Gene kann eine extrazelluläre Verteilung der Genprodukte dafür sor-
6.3 Der Zellzyklus
gen, dass die mosaikartige Ausprägung der Gene verdeckt und zumindest teilweise kompensiert wird. Das erklärt auch, warum ein heterozygoter Zustand für bestimmte Erbkrankheiten bei Frauen im Allgemeinen keine schwerwiegenden Konsequenzen hat, da Zellautonomie von Genprodukten nicht die Regel ist. Da stets eine Mischung unterschiedlicher Zelltypen im Gesamtgewebeverband vorliegt, vermögen die funktionellen Zellen den Defekt der übrigen zu kompensieren. Wir müssen diese Form der Mosaikbildung durch Funktionsunterschiede von Genen innerhalb eines Organismus – wir können sie als physiologische Mosaike bezeichnen – von einer anderen Form eines Mosaiks unterscheiden, die auf Unterschieden in der genetischen Konstitution der verschiedenen Zellen beruht. Veranschaulichen lassen sich die Eigenschaften eines solchen genetischen Mosaiks am einfachsten an einem wichtigen experimentellen System. Man kann Tiere aus Zellen unterschiedlicher genetischer Konstitution dadurch erzeugen, dass man während der Frühentwicklung genetisch markierte Zellen fremden Ursprungs in einen Embryo injiziert (Abb. 6.31). Bei Mäusen ist hierfür ein Morulastadium besonders geeignet. Man kann in eine Morula entweder Zellen eines anderen etwa gleichaltrigen Embryos injizieren, oder man mischt einfach die Zellen zweier Morulae und transferiert nach vorübergehender in-vitro-Kultur diesen chimären Embryo in eine Gastmutter, so dass sich nach Implantation des Embryos eine Maus entwickelt, die aus Zellen zweier verschiedener Individuen entstanden ist. Solche Chimären zeigen dann mit geeigneten Markern ein ähnliches Verteilungsmuster der Zellen wie wir es in Zusammenhang mit der X-Chromosomeninaktivierung kennen lernen werden (Abb. 7.33). Solche Versuche haben für entwicklungsbiologische Fragestellungen eine wichtige Rolle erlangt, da sie uns Informationen über die entwicklungsphysiologischen Zusammenhänge zwischen verschiedenen Zellen vermitteln können. Vergleichbare Versuche sind auch bei anderen Organismen möglich, wie wir bei der Besprechung entwicklungsgenetischer Fragen noch sehen werden.
Morula
Morula
gemischter Blastocyst
Abb. 6.31. Die Entstehung einer Maus-Chimäre. Man entfernt von zwei oder mehr 8- bis 32-Zell-Morulae die Hüllen, mischt die Zellen und implantiert sie nach vorübergehender in-vitroKultivierung in den Uterus einer mit Hormonen vorbehandelten Maus. Hierdurch wird die Implantation ermöglicht. Die sich hieraus entwickelnden Jungen bestehen aus einer Mischung genetisch verschiedener Zellen, die sich von den verschiedenen Ausgangsmorulazellen ableiten. Enthalten diese Zellen unterschiedliche Marker, wie hier am Beispiel der Haarfarbe gezeigt, so ist der Mosaikcharakter der Maus phänotypisch sichtbar. (Aus Luria, Gould u. Singer 1981)
! Ist ein Individuum aus Zellen unterschiedlicher
Konstitution zusammengesetzt, so sprechen wir von einem genetischen Mosaik. In entsprechender Weise können wir auch von physiologischen Mosaiken sprechen, wenn verschiedene Zellen durch einen unterschiedlichen Funktionszustand des Genoms gekennzeichnet sind.
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Kapitel 6: Zelle, Zellteilungen und Zellzyklus
Mitotische Instabilität An dieser Stelle soll uns jedoch noch die Möglichkeit beschäftigen, dass es auch mit rein genetischer Methodik möglich ist, genetische Mosaike zu erzeugen. Das klassische Beispiel für solche Mosaike finden wir in der DrosophilaGenetik. Eine der dafür erforderlichen Techniken macht von der Möglichkeit Gebrauch, durch geeignete genetische Konstitution eines Individuums Nondisjunktion mit erhöhter Frequenz zu erzeugen. Besonders geeignet hierzu ist ein spezielles X-Chromosom von Drosophila, das sich durch eine Ringform (Ring-X-Chromosom) auszeichnet. In ihm sind beide Telomeren miteinander verschmolzen. In heterozygoten Weibchen, die ein normales und ein Ring-XChromosom besitzen, ist dieses Chromosom mitotisch instabil. Aufgrund der abnormalen Struktur geht während der Mitose relativ häufig eine der Schwesterchromatiden verloren, so dass anschließend zwei genetisch unterschiedliche Zelltypen vorliegen: eine Zelle mit einem normalen diploiden Komplement und eine Zelle, die nur ein X-Chromosom besitzt (Abb. 6.32). Da Zellen mit nur einem X-Chromosom bei Drosophila männlich sind, solche mit zwei X-Chromosomen jedoch weiblich, ist die sich entwickelnde Fliege aus Zellen unterschiedlichen Geschlechts zusammengesetzt. Nun ist in Drosophila – im Gegensatz zu Säugern, deren zelluläres Geschlecht hormonal determiniert wird (s. Kap. 13.5.5) – die Geschlechtsbestimmung der Zellen zellautonom (s. Kap. 13.3.1). Ist das normale X-Chromosom dieser Mosaikfliege mit rezessiven genetischen Markerallelen versehen, die wir im Phänotyp erkennen können, so werden wir Fliegen mit dementsprechenden Mustern finden. Einige Beispiele sind in Abb. 6.32 gezeigt. Da diese Tiere sowohl männliche als auch weibliche Zellen besitzen, bezeichnet man sie als Gynander. Selbstverständlich kann man ein genetisches Mosaik bei Verwendung geeigneter Marker auch in anderen Entwicklungsstadien bis hin zum Blastoderm erkennen (Abb. 6.33). Versuche dieser Art haben wichtige Aufschlüsse über entwicklungsgenetische Mechanismen gegeben.
Mitotische Rekombination Mit der zuvor beschriebenen Technik der Verwendung von Ring-X-Chromosomen sind wir bei der Anwen-
Abb. 6.32. Gynandromorphe von Drosophila melanogaster. Die schwarzen Bereiche zeigen eine männliche Konstitution der Zellen (X/0), die weißen Bereiche eine weibliche Konstitution (X/X) an. Diese verschiedenen Mosaikfliegen wurden mit Hilfe eines instabilen Ring-X-Chromosoms erzeugt. Dieses Chromosom geht relativ häufig während der frühen Mitosen verloren, so dass neben X/X-Zellen auch X/0-Zellen entstehen. Da das normale X-Chromosom ein rezessives Markerallel trägt, das sich zellautonom ausprägt und die Unterscheidung von X/X und X/0-Zellbereichen bei der Fliege gestattet, kann man die männlichen und weiblichen Bereiche dieser Gynander unterscheiden. (Aus Janning 1978)
dung auf X-chromosomale Markergene beschränkt. Eine solche Beschränkung würde es nicht gestatten, beliebige Fragestellungen anzugehen. Daher hat man eine alternative genetische Technik entwickelt, die von mitotischer Rekombination Gebrauch macht. Bevor wir hierauf näher eingehen, müssen wir zunächst den Mechanismus mitotischer Rekombination kennenlernen. In einem früheren Kapitel haben wir gelernt, dass Genaustausch zwischen Chromatiden – das Crossing-over – ein charakterisches Ereignis während der ersten meiotischen Prophase ist (s. S. 185). Solche Austauschereignisse können auch in mitotischen Zellen stattfinden. Im Allgemeinen wird man sie hier jedoch nicht erkennen, da sie nicht in der abweichenden genetischen Konstitution von Nachkommen sichtbar werden und geeignete zelluläre Marker für diese Art von Mosaikmustern im Allgemeinen nicht
6.3 Der Zellzyklus Abb. 6.33. Entstehung von Gynandromorphen (= Gynander) bei Drosophila. Abhängig von der Teilungsebene der Kerne in der Zygote (obere Reihe) oder in den darauffolgenden Kernteilungen werden Zellen, die eines der X-Chromosomen während der Mitose verlieren (s. Abb. 6.32), auf unterschiedliche Regionen des Embryos verteilt. Dementsprechend ist auch das Gynandermuster der Fliege (unten rechts) bereits im Embryo festgelegt (unten links). Die linke untere Abbildung zeigt eine fate map des Embryos, in der die Regionen identifiziert sind, die die Zellen enthalten, die später die verschiedenen Organe und Strukturen der Larve oder Fliege formen. (Aus Merriam 1978)
vorliegen. Unter geeigneten experimentellen Bedingungen – also dem Einsatz geeigneter Markergene – können wir aber auch mitotische Crossing-overEreignisse sichtbar machen und diese sogar für entwicklungsbiologische Untersuchungen einsetzen. Um den Mechanismus zu verstehen, müssen wir uns über den Verteilungsmechanismus der Chromatiden während der mitotischen Teilung im Klaren sein (s. Abb. 6.15). In Abb. 6.34 sind die Folgen eines mitotischen Crossing-overs in der G2-Phase dargestellt, wenn dieses je eine Chromatide der beiden Homologen in einer heterozygoten Zelle betrifft. Wir betrachten hier die möglichen Ergebnisse mitotischer Rekombination für ein Homologenpaar mit den Markern singed (sn) und yellow (y), die heterozygot vorliegen. Es zeigt sich, dass als Resultat eines Crossing-overs neben dem Ausgangszelltyp (Wildtyp) drei weitere Phänotypen auftreten können (yellow, singed und yellow + singed). Das Ergebnis mitotischer Rekombination lässt sich besonders leicht am Komplexauge von Drosophila darstellen (Abb. 6.35). In Fällen, in denen ein Markergen (im vorliegenden Falle das white-Gen mit den Allelen white und whiteco [co für engl. coral]) dis-
tal vom Austauschpunkt liegt, entstehen zwei genetisch ungleiche Tochterzellen. Beide sind nunmehr für eines der Allele homozygot geworden, d. h. eine der Zellen hat die genetische Konstitution w/w, die andere die Konstitution wco/wco. Natürlich ist dieser genetische Unterschied in den meisten Zellen eines Individuums nicht zu erkennen, da das white-Gen nur in wenigen Geweben exprimiert wird. Unmittelbar sichtbar wird der Effekt von Veränderungen in der genetischen Konstitution jedoch im Komplexauge, da das whiteGen die Augenfarbe beeinflusst (s. Abb. 11.15, Tab. 11.8). Erfolgt ein solches mitotisches Rekombinationsereignis während der larvalen Entwicklung in Zellen, die später das Auge ausbilden, so können wir unterschiedliche Färbungsmuster erkennen (Abb. 6.35). Registriert man die Muster vieler solcher Mosaikaugen, so macht man die bemerkenswerte Beobachtung, dass diese Muster bestimmte Grenzen einhalten, die nicht überschritten werden. Ganz ähnlich entdeckt man auch im übrigen Körper einer Fliege solche Grenzen. Sie trennen unterschiedliche Regionen des Körpers voneinander, die man als Kompartimente bezeichnet hat. Das Auftreten solcher
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Kapitel 6: Zelle, Zellteilungen und Zellzyklus
Abb. 6.34. Mitotisches Crossing-over und seine Folgen. Abhängig von der Lage von Zellmarkergenen relativ zum Crossing-over-Bereich erhält man unterschiedliche Phänotypen. Markergene sind singed (sn) (gebogene Borsten) und yellow (y) (helle Körperfarbe) im X-Chromosom von Drosophila melanogaster. Links ist die Ausgangssituation der replizierten mitotischen Zelle dargestellt. Untersucht werden genetische Konstitutionen mit zwei heterozygoten Markergenen, die entweder in cis-Stellung (I und II) oder in trans-Stellung (III und IV) liegen. In der Mitte ist das Rekombinationsereignis mit seiner Position relativ zu den Markern angegeben. Rechts werden die resultierenden Tochterzellen (vor der Replikation der Chroma-
tiden) gezeigt. Der resultierende Phänotyp ist ganz rechts ersichtlich. Da der Phänotyp der Ausgangszellen (links) wildtyp ist, findet man für jedes der Crossing-over-Ereignisse einen abweichenden Phänotyp in zumindest einer der Tochterzellen. Im Falle IV erhält man sowohl homozygote sn/sn-Zellen als auch homozygote y/y-Zellen, die sich in einer Wildtypumgebung befinden. Dieses Crossing-over-Ereignis führt daher zur Bildung eines Zwillingsfleckes (y- und snZellen in Wildtyp-Umgebung). Es ist erkennbar, dass mitotisches Crossing-over stets zur Entstehung von genetischen Mosaikbereichen im Organismus führt
6.3 Der Zellzyklus
Kompartimentgrenzen hat uns Einblicke in die Entwicklungsmechanismen vermittelt, die später ausführlicher besprochen werden (s. Kap. 13.3.7). Betrachten wir das Ergebnis einer mitotischen Rekombination (Abb. 6.35) genauer, so entdecken wir noch eine Besonderheit der Markerausprägung, die durch eine geeignete Wahl der Allele im Experiment erzielt wird: Wir finden drei verschiedene Phänotypen der Zellen im Bereich eines mitotischen Crossing-overs. Der Bereich des Austausches ist natürlich von Wildtypzellen umgeben, da wir einen heterozygoten Zustand zweier sich komplementierender Allele vorliegen haben (w/wco). Daneben erkennen wir zwei mutante Phänotypen, die durch die Homozygotie der beiden mutanten Allele (w/w, also weiße Augen, und wco/wco, also rubinrote Augen) bestimmt werden. Curt Stern hat den Begriff Zwillingsfleck (engl. twin spot) für solche Konstitutionen eingeführt (Abb. 6.34 bis 6.36). Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass solchen somatischen Mosaiken auf vergleichbare Weise – Abb. 6.35. Zwillingsflecken im Komplexauge von Drosophila melanogaster. Der Mechanismus der Entstehung von Zwillingsflecken wird in Abb. 6.34 dargestellt. Im vorliegenden Beispiel wurden zunächst für die allelen Marker white (w) und white-coral (wco) heterozygote Embryonen erzeugt. In diesen wurde die mitotische Crossing-overHäufigkeit während der frühen Larvenstadien durch Röntgenbestrahlung erhöht. Im Auge der Fliege resultieren aus solchen Crossing-over-Ereignissen Zwillingsflecken aus homozygoten wco/wco (korallenrot), homozygoten w/w- (weiß) und heterozygoten Ommatidien. Homozygote wco/wco- Ommatidien sind dunkler rot als heterozygote w/wco-Ommatidien und diese wiederum sind dunkler als homozygote w/wOmmatidien. Die Größe der Flecken hängt vom Zeitpunkt des Crossingovers ab. Zeichnet man alle zu beobachtenden Fleckengrenzen in ein Auge ein (unten rechts, vorletztes Auge), so erkennt man, dass von den Flecken bestimmte Grenzen strikt beachtet werden, die ein Fleck nicht überschreitet (unten ganz rechts). Diese Grenzen stellen Kompartimentsgrenzen dar. (Aus Becker 1957)
d. h. durch mitotische Rekombination – entstandene Keimbahnmosaike gegenüberstehen, die natürlich in den Nachkommen von normalen meiotischen Rekombinanten zunächst nicht zu unterscheiden sind. Gelingt es allerdings, die Nachkommenschaft eines Elters vollständig – oder zumindest zu einem großen Teil – genetisch zu analysieren, so werden wir solche mitotischen Rekombinationsereignisse, die gonialen (d. h. spermatogonialen oder oogonialen) Ursprungs sein müssen, dadurch erkennen, dass viele gleiche Rekombinanten auftreten. Das ist bei meiotischem Crossing-over nicht zu erwarten, das jeweils nur in einzelnen Keimzellen vorkommt. Je früher während der gonialen Mitosen die Rekombination erfolgt ist, desto größer ist verständlicherweise die Anzahl gleichartiger Rekombinanten in der Nachkommenschaft, da mitotisch größere Zellklone der rekombinanten Konstitution gebildet werden (Abb. 6.35). Die Häufigkeit mitotischer Rekombination ist zumindest etwa 100- bis 1000fach geringer als die der
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V
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Kapitel 6: Zelle, Zellteilungen und Zellzyklus
meiotischen Rekombination. Sie kann jedoch ebenso wie diese experimentell, z. B. durch Röntgenbestrahlung, gesteigert werden. Die Häufigkeit mitotischen Crossing-overs kann dadurch ermittelt werden, dass man die Häufigkeit spermatogonialer Austauschereignisse ermittelt. Goniale Rekombination wird durch Gruppen (engl. cluster) gleicher Rekombinanten in der Nachkommenschaft erkannt, da ein
Rekombinationsereignis in Spermatogonien zu mehreren identischen Gameten führen muss. Die Anzahl dieser identischen Gameten ist desto größer, je früher das mitotische Crossing-over in der Keimbahn erfolgt ist (s.o.). ! Mosaike können experimentell durch Chromoso-
menverluste oder durch mitotisches Crossing-over induziert werden. Sie können dann der Analyse von Entwicklungsprozessen und des entwicklungsphysiologischen Weges einzelner Zellen dienen. Mitotisches Crossing-over beruht im Gegensatz zu meiotischen Crossing-over wahrscheinlich auf der DNA-Neusynthese, wie sie bei DNA-Reparaturprozessen stattfindet.
6.3.6 Kontrolle des Zellzyklus
Abb. 6.36. Zwillingsfleck beim Menschen. Die Umgebung des Auges dieses neunjährigen Mädchens zeigt zwei Bereiche abweichender Hautfärbungen in der Umgebung normal gefärbter Haut. Die Flecken (Naevi vasculares) werden durch eine Verengung (heller Bereich) bzw. Erweiterung (dunkler Bereich) der Hautkapillaren verursacht. Sie beruhen wahrscheinlich auf einem mitotischen Crossing-over, das zur Bildung von Bereichen unterschiedlicher genetischer Konstitution geführt hat. Nicht immer bilden sich so klar begrenzte Hautbereiche, sondern die Zellen können auch voneinander getrennt liegen. (Aus Happle, Koopman u. Mier 1990)
Die Dauer eines Zellzyklus ist durch den besonderen Charakter des jeweiligen Zelltypus bestimmt und weist große Unterschiede auf (Tabelle 6.2, Abb. 6.14). Betrachtet man hingegen die relative Dauer der einzelnen Abschnitte des Zellzyklus, so findet man Variabilität in der Länge überwiegend in der G1-Phase. Zellen, die nicht mehr mitotisch aktiv sind, oder die sich zumindest zeitweilig nicht mehr teilen, überschreiten einen bestimmten Punkt in der G1-Phase nicht. Dieser Zeitpunkt wird als Restriktionspunkt (R) bezeichnet. Er übt eine wichtige Kontrollfunktion im Zellzyklus aus, da er dafür sorgt, dass eine Zelle nicht in die Replikationsphase eintreten kann, bevor die notwendigen Voraussetzungen hierzu erfüllt sind. Besonders wichtig ist es, dass die DNA keine Brüche oder anderweitige Veränderungen enthält, die zu Problemen bei der Replikation führen würden. Weitere Kontrollpunkte, die den Fortgang des Zellzyklus regulieren, befinden sich in der G2-Phase vor dem Beginn der M-Phase und in der M-Phase. Man bezeichnet solche Kontrollpunkte des Zellzyklus auch als Checkpoints. In den Regulationsprozessen, die erforderlich sind, um solche Kontrollpunkte im Zellzyklus zu überschreiten, spielen eine Reihe von Proteinen eine wichtige Rolle, die stadienspezifisch aktiviert werden. An allen diesen Kontrollpunkten sind Proteinkinasen und Proteasen beteiligt. Solche Proteine sind insbesondere Cycline, deren Konzentration in der Zelle den Übergang zwischen G1-und
6.3 Der Zellzyklus
S-Phase bestimmt. Das Aktivitätsspektrum der Proteinkinase selbst wird durch Modifikation des Grades ihrer Phosphorylierung beeinflusst. Hat eine Zelle den Restriktionspunkt in einem Zellzyklus überschritten, so ist sie irreversibel auf die Beendigung des begonnenen Zellzyklus festgelegt und durchläuft eine weitere Mitose. Zellen, die ihre Teilungsaktivität eingestellt oder zeitweilig unterbrochen haben, bezeichnet man als in der G0-Phase befindlich. Sie haben den Restriktionspunkt nicht überschritten, und ihre Chromosomen sind nicht verdoppelt, da sie keine S-Phase durchlaufen haben. Zellen, die sich im normalen Proliferationszustand befinden, müssen eine Reihe jeweils für sich geregelter Schritte vollziehen: • Wachstum • Replikation der DNA (Verdoppelung der Chromosomen) • Chromosomensegregation während der Zellteilung • Zellteilung
von „sekundären Messengern“ (kleine Moleküle wie cAMP, Inositoltrisphosphat oder Diacylglycerol). Über die sekundären Messenger werden intrazelluläre Zellzyklus-regulierende Proteine induziert. Die Zellzyklusregulation ist besonderes gut an der Bäckerhefe S. cerevisiae untersucht. Das Grundprinzip soll an diesem Organismus dargestellt werden. Hauptkomponenten der Zellzyklusregulation der Hefe sind zwei Proteinklassen, die • Cycline. Sie umfassen die Cycline A, B, D und E. Cycline sind die primären Zellzyklus-regulierenden Proteine (Abb. 6.37). Sie sind zyklisch aktiv und verleihen den CDKs ihre Substratspezifität. • CDKs (Cyclin-abhängige Kinasen, engl. cyclindependent kinases). CDKs werden durch Komplexbildung mit Cyclinen aktiviert und durch sterische Modifikation zur Substratbindung befähigt. Die ATP-transferierenden Aminosäuren werden hierbei in eine geeignete sterische Position gebracht. CDKs müssen zu ihrer Aktivierung zudem phosphoryliert werden.
Zum Durchlaufen dieser einzelnen Phasen des Zellzyklus sind sich periodisch wiederholende Mechanismen erforderlich, deren Einzelkomponenten sowohl auf sich selbst regulatorisch zurückwirken als auch auf folgende Prozesse Einfluss nehmen. Der Restriktionspunkt (R-Punkt), der entscheidend für den Übergang der G1-Phase in die S-Phase ist, wird dadurch definiert, dass der Zellzyklus vorher Mitogen-abhängig ist und sensitiv gegen Proteinsyntheseinhibitoren. Bis zum R-Punkt wird der Zellzyklus durch das Cytokin TGFβ (engl. transforming growth factor b) blockiert. Nach Durchlaufen des Restriktionspunktes ist der Zellzyklus Mitogen-unabhängig und wird durch Proteinsyntheseinhibitoren nicht mehr gehemmt. Mitogene sind extrazelluläre Wachstumsfaktoren (auch „primäre Messenger“), die als Liganden an Rezeptoren in der Plasmamembran binden und dadurch eine Signalkaskade induzieren. Diese führt letztlich zu Regulationsvorgängen auf der Transkriptionsebene. Wachstumsfaktoren (Mitogene) sind extrazelluläre Signale (Proteine), die das Zellwachstum stimulieren und den Fortschritt des Zellzyklus kontrollieren. Es gibt allgemeine Wachstumsfaktoren, wie z. B. PDGF (engl. platelet-derived growth factor), die auf unterschiedliche Zelltypen wirken, und zellspezifische Faktoren, wie z. B. NGF (engl. nerve growth factor). Ihre Bindung an den Rezeptor führt über G-Proteine zu einer Induktion
Beide Komponenten sind für sich genommen inaktiv. Die Bildung von CDK-Cyclin-Komplexen (Abb. 6.39) ist stadienspezifisch und wird durch extrazelluläre Signale (Mitogene) ausgelöst. Die Konformation der CDKs wird bei einer Komplexbildung mit Cyclinen so verändert, dass sie befähigt werden, Phosphatgruppen von ATP auf Zielproteine (z. B. das Rb-Protein) zu übertragen. Zielproteine sind die CyclinCDK-Substrate. Sie aktivieren Zellzyklus-regulierte Gene, bei denen man early-response-Gene von delayed-response-Genen unterscheidet. Zu den earlyresponse-Genen gehört Cyclin D (Abb. 6.39). Diese Gene werden durch Wachstumsfaktoren induziert und haben ein konstantes Expressionsniveau. Zu den delayed-response-Genen gehört z. B. Cyclin E. Solche Gene sind abhängig von den Produkten der earlyresponse-Gene und werden demgemäß von Proteinsyntheseinhibitoren in ihrer Funktion gestört. Es handelt sich um wichtige Gene der Zellzyklusregulation, z. B. die Cycline der G1-Phase und replikationsinitiierende Proteine (Abb. 6.38). Cyclin-CDK-Komplexe haben die Aufgabe, Substratproteine zu phosphorylieren: • Cyclin-CDK-Substrate sind im Einzelnen noch wenig bekannt. Ein wichtiges Substrat ist das Retinoblastoma-Protein (Rb-Protein). Die Funktion eines Cyclin-CDK-Substrat-Komplexes lässt sich am Beispiel dieses Proteins gut darstellen.
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Kapitel 6: Zelle, Zellteilungen und Zellzyklus Abb. 6.37 a–d. Aufschlüsselung der Funktion von Cyclinen im Zellzyklus. Die Bilder zeigen die Blockierung des Zellzyklus in verschiedenen Stadien der Mitose, wenn unterschiedliche Cycline fehlen. Der Defekt in den embryonalen Zellteilungen von Drosophila wird in Mutanten erzeugt, bei denen die destruction box (db) aus den Cyclin-Genen entfernt wurde. a Cyclin A (CycA)-Defekt: Eine Verzögerung der Mitose tritt in der Metaphase ein. b Cyclin B (CycB)-Defekt: Die Verzögerung tritt in der frühen Anaphase ein. c Cyclin B3 (CycB3)-Defekt: Die Verzögerung tritt in der späten Anaphase ein. d Schema der zeitlichen Funktion verschiedener Cycline. Es wird deutlich, dass die Reihenfolge des Cyclin-Abbaus immer CycA – CycB – CycB3 ist. TUB: Tubulin (Photos: Christian Lehner, Bayreuth)
Das Rb-Protein (kodiert von einem Tumorsuppressor-Gen, s. Kap. 14.4.1) hat 12 Phosphorylierungsstellen, deren Phosphorylierung das Protein inaktiviert. Bis zum R-Punkt ist das Rb-Protein hypophosphoryliert und somit aktiv, danach wird es bis zur Mitose durch Phosphorylierung inaktiviert. Die Phosphorylierung erfolgt durch CyclinCDK-Komplexe. Im aktiven Zustand unterdrückt das Rb-Protein die Transkription von Genen,die erforderlich sind,
um den Zellzyklus voranzutreiben (E2F-regulierte Gene: Cyclin E, c-ras, c-myc), da es den Transkriptionsfaktor E2F bindet. Hierdurch kommt es zur Unterbrechung des Zellzyklus. Die Phosphorylierung des Rb-Proteins bewirkt eine Dissoziation des Rb-E2F-Komplexes und der freigesetzte E2FFaktor kann die Transkription E2F-abhängiger Gene induzieren. Das führt zugleich zu einer Autoregulation der Synthese von Cyclin E. Dieser Regulationsmechanismus erlaubt es, eine der Ursachen
6.3 Der Zellzyklus
abnormaler Zellproliferation zu verstehen. Fehlt das Rb-Protein auf Grund einer Mutation, oder ist es durch Mutation defekt, kann kein Rb-Komplex mehr geformt werden. Infolgedessen kommt es zu ungehemmter Zellproliferation, da nunmehr der E2F-Faktor uneingeschränkt zur Verfügung steht. Das Rb-Protein liefert uns somit ein erstes Beispiel für eine Ursache genetisch bedingter Tumorbildung.Die Zelle benötigt kein extrazelluläres Signal mehr, um den Restriktionspunkt zu überschreiten: Ein mutiertes Gen kann die Funktion eines Wachstumsfaktors imitieren und somit zur ungehemmten Zellproliferation führen. Noch eine weitere Klasse von Proteinen ist an der Regulation des Zellzyklus beteiligt, die • CKIs (CDK-Inhibitoren). Ihre Funktion besteht in der Inhibition des Zellzyklus durch Blockierung der CDKs. Sie umfassen zwei Familien: CDK4und CDK6-Inhibitoren (INK4A, p15, p16, p18, p19) und die Cip/Kip-Familie (p21, p27, p57), die allgemein auf Cycline wirkt. Der Mechanismus ist in Abb. 6.40 dargestellt.
des paired-Genes (pd, Paarregelgen, in jedem 2. Segment aktiv, s. S. 613f ) im GAL4/UAS-System (s. S. 138) aktiviert und induziert den Übergang in die S-Phase. (Photos: Christian Lehner, Bayreuth)
Expressionsniveau
Abb. 6.38. Postmitotische (G0-Phase) Zellen von Drosophila können durch Cyclin E veranlasst werden, in die S-Phase einzutreten, wie durch die Markierung (BrdU) angezeigt wird. In dieser Transformante wird Cyclin E durch den prd-Promotor
Mitogen
Cyclin D
Cyclin E
G1
R
S
Abb. 6.39. Cyclin-Expressionsniveaus während der G1-Phase. Nach der Induktion von Cyclin D durch Mitogene werden durch den Cyclin D-CDK-Komplex delayed-response-Gene induziert, zu denen Cyclin E gehört
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Kapitel 6: Zelle, Zellteilungen und Zellzyklus Abb. 6.40. Die Regulation des Zellzyklus. G0, M, G1, S und G2 bezeichnen die einzelnen Phasen des Zellzyklus (Ruhe, Mitose, erste „Lücke“ [engl. gap], DNA-Synthese und zweite „Lücke“). Der Restriktionspunkt (R) befindet sich zwischen G1 und S-Phase. RB bezeichnet das unphosphorylierte Rb-Protein, RB-p dagegen seine phosphorylierte Form. (CDC: cell division cycle; CDK: cyclindependent kinase) ( Nach Lundberg u. Weinberg 1999)
! Der Zellzyklus ist einer komplizierten Regulation
unterworfen. So ist der Eintritt in die S-Phase von der Überwindung des Restriktionspunktes abhängig. Dessen Überwindung wird zentral durch eine Proteinkinase in Wechselwirkung mit anderen Proteinen, insbesondere Cyclinen, reguliert. Die Proteinkinase selbst wird durch phosphorylierende Enzyme in ihrer Aktivität kontrolliert. Weitere Zellzykluskontrollpunkte gibt es am Übergang von der G2-Phase zur Mitose und während der Mitose.
6.3.7 Kontrollierter Zelltod: Apoptose Die Zellbiologie ist sich der Tatsache, dass es einen genetisch programmierten Zelltod gibt, erst in den letzten 30 Jahren bewusst geworden. Das ist um so erstaunlicher, als in entwicklungsbiologischer Hinsicht Zelltod ein allgemeines biologisches Phänomen ist. Hinzu kommt, dass cytologische Hinweise auf Zelltod bereits in den Arbeiten von Walther Flemming (1885) und später in den Arbeiten anderer Cytologen vorhanden sind. Erst durch J.F.R. Kerr wurde 1972 programmierter Zelltod, auch als Apoptosis bezeichnet, als wichtiges biologisches Prinzip erkannt und hat seither vielseitige Beachtung gefunden. Apoptose spielt nicht nur in jeder normalen Entwicklung eines multizellulären Organismus eine Rolle, sondern hat auch große Bedeutung im Zusammenhang mit der Tumorentstehung. Im Rahmen der normalen Zellzykluskontrolle werden Zel-
len, die Defekte aufweisen wie etwa unvollständige Replikation oder DNA-Schäden, gezielt vernichtet. Bei einer mangelhaften Kontrolle des Zellzyklus können solche beschädigten Zellen jedoch überleben und unter Umständen in einen Zustand ungehemmter Proliferation übergehen und somit eine Tumorbildung verursachen. Als Beispiel für programmierten Zelltod ist der Nematode Caenorhabditis elegans besonders geeignet (siehe auch Kap. 13.2). Dieser nur 1,2 mm lange Wurm, dessen Generationszeit nur 3,5 Tage beträgt, ist zellkonstant. Der adulte Hermaphrodit enthält genau 958 somatische Zellen, adulte Männchen 1057. Zum Zeitpunkt der Gastrulation enthält der wachsende Organismus 650 Zellen, die sich weiterhin teilen. Dennoch enthält der Wurm zum Zeitpunkt des Schlüpfens nur 558 Zellen. Das Schicksal aller Zellen ist während der Entwicklung genau festgelegt. Das bedeutet, dass auch der Tod bestimmter Zellen genetisch vorprogrammiert ist. Im Hermaphroditen werden insgesamt 1090 somatische Zellen durch Mitose gebildet. Hiervon sterben 131 durch genetisch programmierten Zelltod. Mutanten von C. elegans, deren Gene ced-3 oder ced-4 defekt sind, haben gezeigt, dass diese Gene eine zentrale Bedeutung für den Zelltod haben: In ced-3oder ced-4-Mutanten überleben Zellen, die normalerweise während der Entwicklung absterben. Das Gen ced-3 kodiert eine Cystein-Protease. Solche Proteasen werden auch als Caspasen bezeichnet. Sie spielen eine Schlüsselrolle in apoptotischen Prozessen. Das Protein, das vom ced-4-Gen kodiert wird, bindet mit seiner N-terminalen Region an die ced-3-Caspase
6.4 Lebenszyklen von Eukaryoten
und aktiviert diese. Es handelt sich also um einen Caspase-Aktivator, der auch als Adaptormolekül bezeichnet wird. So wie es unterschiedliche Caspasen gibt, existieren auch eine Reihe von Caspase-Aktivatoren (Adaptorproteine). Manche dieser Proteine besitzen sogenannte death effector domains (DED) oder death domains (IDD), mit deren Hilfe sie an andere Moleküle binden. Solche Komplexe vermitteln dann das eigentliche apoptotische Signal. Andere Proteine verhindern durch ihre Anwesenheit die Induktion des apoptotischen Wegs. Ein Beispiel ist das ced-9-Gen. Das ced-9-Protein inhibiert die Caspaseaktivität. Das entsprechende Säugergen, bcl-2, war das erste Gen, dessen Bedeutung für die Apoptose erkannt worden war. Mittlerweile hat man gefunden, dass es nur ein Mitglied einer größeren Genfamilie ist, die Funktionen in apoptotischen Prozessen ausübt. Die meisten Gene dieser bcl-2Familie inhibieren Apoptose (bcl-x, A1, mcl-1, bcl-w), während andere Gene aktivierend wirken (bax, bad, bak u. a.). In knock-out-Mäusen verursacht das Fehlen eines funktionellen bcl-2-Gens intensiven Zelltod, z. B. in Lymphgeweben, und führt zu einem frühen Tod. ! Apoptose oder programmierter Zelltod ist ein
natürlicher, genetisch programmierter Prozess. Er spielt nicht nur in der normalen Entwicklung vielzelliger Organismen eine fundamentale Rolle, sondern ist auch für Kontrollprozesse, wie sie in jeder Zelle regelmäßig ablaufen, ein wichtiges Element zur Verhinderung der unkontrollierten Proliferation von Zellen.
Eine zentrale Rolle in der Regulation der Apoptose nimmt allerdings das p53-Protein ein, das lange Zeit nur unter seiner Tumorsuppressor-Wirkung betrachtet wurde. p53 greift in den Zellzyklus an zwei Kontrollpunkten ein: an dem G1-Restriktionspunkt und dem G2/M-Kontrollpunkt. Normalerweise liegt p53 in der Zelle in einem labilen Zustand vor; wird aber während des Zellzyklus ein Fehler in der DNA entdeckt (z. B. ein Doppelstrangbruch), der bei Fortschreiten des Zellzyklus zur Manifestation als Mutation in der DNA führen würde, so wird innerhalb von ca. 30 Minuten p53 post-translational stabilisiert. Da p53 ein Transkriptionsfaktor ist, induziert seine Akkumulation die entsprechenden Zielgene, z. B. p21,
das wiederum den Cyclin D/CDK4/6- bzw. Cyclin E/CDK2-Komplex hemmt und somit die Dissoziation von Rb und E2F verhindert (Abb. 6.40). Die p53abhängige Arretierung in G2 hemmt die Cyclin B/CDC2-Aktivität (ebenfalls über p21), die Cyclin Bund CDC2-Transkription wird durch p53 selbst gehemmt. An diesem komplexen Vorgang sind noch weitere Proteinkinasen und ihre Substrate beteiligt. Insgesamt sind viele Zielgene von p53 daran beteiligt, Apoptose auszulösen. Effizient wird dies, wenn die verschiedenen Signalwege zusammenwirken. Dabei können zunächst zwei Gruppen von Genen unterschieden werden, nämlich solche, deren Expression auch durch Rezeptoren an der Zelloberfläche aktiviert wird, und solche Gene, die für Proteine kodieren, die apoptotische Effektor-Proteine regulieren. Die verschiedenen Wirkungen von p53 kumulieren in ihrer Wirkung auf die Mitochondrien, insbesondere in der Freisetzung von Cytochrom C, was wiederum die Caspase-Kaskade aktiviert und damit zentrale Proteine des Zellkerns (z. B. Lamine A und B) sowie von Signalketten inaktiviert (z. B. Proteinkinasen A und B und das Rb-Protein). Damit ist der Tod der Zelle besiegelt.
6.4 Lebenszyklen von Eukaryoten Die Beschreibung der meiotischen Prozesse hat gezeigt, dass die Entstehung von haploiden Keimzellen, die eine Vererbung genetischer Eigenschaften nach dem von Mendel erkannten Prinzip des Wechsels zwischen Diploidie und Haploidie und der zufallsgemäßen Verteilung väterlicher und mütterlicher Allele erst ermöglicht, komplizierte zellmechanische und molekulare Anforderungen an die Zelle stellt. Die Komplexität dieser Prozesse hat offenbar zu einer starken evolutionären Erhaltung der einmal entstandenen zellulären Mechanismen geführt: Die meiotischen Prozesse verlaufen, von Einzelheiten sehr untergeordneter Bedeutung abgesehen, über alle Eukaryoten hinweg sehr ähnlich, obwohl deren Lebenszyklen sich durch eine große Vielfalt unterschiedlicher Differenzierungsprozesse und durch unterschiedliche Betonung der Haplophase oder Diplophase innerhalb des Lebenszyklus auszeichnen. Um die unterschiedlichen Aspekte der Vererbung und der Funktion von Genen sowie die Wege zu deren Erforschung zu verstehen, müssen wir zunächst diese Lebenszyklen verschiedener Organis-
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Kapitel 6: Zelle, Zellteilungen und Zellzyklus
mengruppen genauer betrachten. Sie zeigen die Vielfalt von Möglichkeiten, die hinter den einfachen Mendelschen Prinzipien der Vererbung verborgen sind. Alle Organismen bedürfen zu ihrer Existenz und Vermehrung der Zellteilung. In höheren Organismen haben wir zwei Arten der Zellteilung kennengelernt, die mitotische und die meiotische Zellteilung. Beide Formen sind erforderlich, um den Wechsel zwischen diploidem Organismus und haploiden Keimzellen zu ermöglichen (Kernphasenwechsel). Oberflächlich betrachtet erscheint uns damit der Lebenszyklus eines Organismus auf zellulärer Ebene sehr einfach gegliedert: Der diploide Organismus produziert in dafür bestimmten Organen – den Gonaden – haploide Keimzellen männlichen oder weiblichen Typs, die nach einem sexuellen Paarungsprozess vereinigt werden und zu einer Zygote verschmelzen und damit einen neuen diploiden Organismus begründen. Wenn wir jedoch verschiedene Gruppen eukaryoter Organismen genauer betrachten, erkennen wir, dass die Natur die Trennung in haploide und diploide Zelltypen ausgenutzt hat, um den biologischen For-
menreichtum zu vergrößern und dadurch an die unterschiedlichsten Lebensbereiche jeweils optimal angepasste Organismen hervorzubringen (Abb. 6.41). Das wird dadurch erreicht, dass der haploide Zustand (die Haplophase) ausgedehnt wird und in Form eines eigenständigen (ein- oder mehrzelligen) Organismus zeitweilig lebensfähig ist. Als einfachstes Beispiel hierfür ist in Abb. 6.42 der Lebenszyklus eines einzelligen Eukaryoten, der Bäckerhefe, Saccharomyces cerevisiae, dargestellt. Wir sehen, dass die Hefezellen sowohl in haploidem als auch in diploidem Zustand über längere Perioden existenzfähig sind und sich durch Knospung (engl. budding) vermehren können. Diploide Zellen, die sich unter guten Nährstoffbedingungen durch Teilung vermehren, beginnen bei Nährstoffmangel die Meiose und formen 4 haploide Ascosporen, die zunächst in der Mutterzelle verbleiben und dadurch einen Ascus formen. Die Ascosporen bilden nach ihrer Freisetzung durch Zellteilungen Kolonien von Einzelzellen, die im Prinzip unbegrenzt im haploiden Zustand verbleiben kön-
Abb. 6.41. Der Lebenszyklus von Eukaryoten besteht aus einem Wechsel zwischen Diploidie und Haploidie. Die relativen Anteile beider Zustände sind bei verschiedenen Organismen sehr unterschiedlich. Niedere Organismen verbringen einen großen Teil ihres Lebenszyklus in der Haplophase (rot
hinterlegt), während bei höheren Eukaryoten die diploide Phase bevorzugt wird. Im Extremfall beschränkt sich bei Eukaryoten die haploide Phase auf einige wenige Zellen während der Gametenbildung. (Nach Luria, Gould u. Singer 1981)
6.4 Lebenszyklen von Eukaryoten
nen. Sie gehören jeweils einem von zwei gegensätzlichen Geschlechtstypen oder Paarungstypen (engl. mating types), a und α, an. Zellen solcher gegensätzlicher Paarungstypen können miteinander fusionieren und ihre Kerne verschmelzen lassen, so dass wieder ein diploider Zustand erreicht ist.
Ist bei Saccharomyces cerevisiae ein Wechsel zwischen einem diploiden und einem haploiden Zustand zu beobachten, so existieren viele andere Einzeller, insbesondere andere Pilze und Algen, vorwiegend als haploide Zellen. Ein Beispiel hierfür ist die einzellige Grünalge Chlamydomonas reinhardtii (Abb. 6.43).
α/a Zygote
diploide vegetative Phase (2n)
a α
Meiosis
α Ascus haploide vegetative Phase (n)
α a
a
Ascosporen (n)
Abb. 6.42. Lebenszyklus der Bäckerhefe Saccharomyces cerevisiae. Die Haplophase ist rot, die Diplophase blau dargestellt. Nach der Meiose, die in einem Ascus vier haploide Ascosporen hervorbringt, vermehren sich diese vegetativ durch Teilung oder zwei Zellen entgegengesetzten Paarungstyps (a oder α) verschmelzen zu einer Zygote. Auch diese diploide Zelle kann
sich vegetativ vermehren. Unter bestimmten Umweltbedingungen kann aber auch eine meiotische Teilung eingeleitet werden. Es erfolgt somit ein regelmäßiger Wechsel zwischen Haploidie und Diploidie. Die Ascosporen unterschiedlicher Paarungstypen (a und α) können sich spontan auseinander bilden
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Kapitel 6: Zelle, Zellteilungen und Zellzyklus
Abb. 6.43. Lebenszyklus der Grünalge Chlamydomonas reinhardtii. Die Haplophase ist rot, die Diplophase blau dargestellt. Nach der Meiose fusionieren zwei haploide flagellentragende Gameten entgegengesetzten Paarungstyps (+ und - ) und formen eine zunächst mit vier Flagellen versehene bewegliche Zygospore. Diese verwandelt sich in eine unbewegliche, inak-
tive Zygospore, in der unter günstigen Umweltbedingungen die Meiose stattfindet. Nach den meiotischen Teilungen folgt eine weitere Mitose, aus der acht haploide Zellen entstehen. Sie vermehren sich vegetativ, bis eine Paarung einen neuen Meiosezyklus einleitet. Der Lebenszyklus der Grünalge ist weitgehend durch Haploidie gekennzeichnet
Diese Alge bildet ebenfalls haploide Gameten zweierlei Geschlechts (in diesem Organismus als + und – bezeichnet). Diese Gameten besitzen jeweils ein Paar Flagellen. Treffen zwei Gameten unterschiedlichen Geschlechts (engl. ebenfalls mating type) zusammen, so formen sie durch Fusion zunächst eine mit vier Flagellen versehene bewegliche Zygote. Diese verwandelt sich in eine unbewegliche, inaktive und gegen ungünstige Umgebungsbedingungen widerstandsfähige Zygospore. Unter günstigen Bedingungen werden durch eine Meiose vier haploide Kerne gebildet, von denen jeweils zwei
dem entgegengesetzten Geschlecht zugehören (+ oder –). Durch eine mitotische Teilung werden aus ihnen acht bewegliche haploide Zellen geformt, die sich vegetativ fortpflanzen können, bis sie als Gameten wiederum fusionieren. Der Schimmelpilz Neurospora crassa ist ein vielzelliger Organismus, dessen haploides Stadium aus feinen fadenförmigen Mycelien besteht (Abb. 6.44). Diese Mycelien sind vielkernig. Die einzelnen Kerne können haploide einzellige Sporen (Conidien) bilden, die wiederum zu haploiden Mycelien auswachsen können. Solche Mycele gehören
6.4 Lebenszyklen von Eukaryoten
Abb. 6.44. Lebenszyklus des Schimmelpilzes Neurospora crassa. Die Haplophase ist rot, die Diplophase blau dargestellt. In der Haplophase bilden sich fadenförmige Mycelien, die einzellige, haploide Sporen (Conidien) jeweils eines Paarungstyps (a oder A) ausbilden können. Treffen Conidien eines Paarungstyps auf ein Mycel des entgegengesetzten Paarungstyps, werden sie in das Mycel aufgenommen. Ihre Kerne durchlaufen mehrere synchrone Mitosen und verschmelzen dann mit den haploiden Kernen des Mycels unter Bildung mehrere (diploider) Zygoten. Die Zygoten liegen in schlauch-
artigen Fortsätzen des ehemaligen Mycels (nun Perithecium) und formen je einen Ascus. In den Asci folgen die meiotischen Teilungen, wobei die Richtung der Teilungsspindeln festgelegt ist, so dass die Anordnung der Meioseprodukte ihren Ursprung genau feststellen lässt. Den meiotischen Teilungen schließt sich eine Mitose an, deren Teilungsebene ebenfalls festgelegt ist. Die entstandenen acht Ascosporen werden aus den Asci freigesetzt und wachsen zu Mycelien aus. Auch bei diesem Organismus überwiegt die Haplophase
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Kapitel 6: Zelle, Zellteilungen und Zellzyklus
jeweils einem von zwei möglichen Paarungstypen an, die als a und α bezeichnet werden und dem männlichen und weiblichen Geschlecht höherer Organismen vergleichbar sind. Treffen Mycelien des einen Geschlechts auf ein Mycel des entgegengesetzten
Geschlechts, so werden die Conidienkerne von diesem aufgenommen und durchlaufen zunächst mehrere synchrone mitotische Teilungen. Die Kerne verschmelzen dann mit haploiden Kernen des Mycels und formen somit mehrere Zygoten. Die Zygoten
Sporophyt Keimling
Embryosackmutterzelle Maiskorn mit Embryo
Pollenschlauch Spermakerne
veg. Kern
Pollenentwicklung Embryosackmutterzelle Makrosporen Synergide Ei sek. Embryosackkern Antipode
Embryosack abortive Meiosporen
Abb. 6.45. Lebenszyklus von Zea mays. Die Haplophase ist rot, die Diplophase blau dargestellt
6.4 Lebenszyklen von Eukaryoten
befinden sich in getrennten, zylindrischen, sackartigen Gebilden, den Asci (Einzahl: Ascus). Hier durchlaufen sie die Meiose, wobei sich die Teilungsspindeln der ersten und zweiten meiotischen Teilung in der Längsrichtung des Ascus orientieren und nicht überlappen. Als Folge dieser Anordnung sind die Kerne in der Längsrichtung sortiert, und zwei Tochterkerne liegen jeweils benachbart. Nach einer zusätzlichen mitotischen Teilung der Kerne im Ascus, die ebenfalls mit längsorientierten Spindeln verläuft, enthält jeder Ascus acht haploide Kerne, deren Entstehungsgeschichte im Laufe der Teilungen durch ihre Anordnung genau nachzuvollziehen ist (Abb. 6.44). Wir haben in anderem Zusammenhang gesehen, dass diese Situation von großem wissenschaftlichem Wert für das Verständnis eines so grundlegenden meiotischen Ereignisses wie das der Rekombination, aber auch für die Kartierung von Merkmalen in den Chromosomen war (Abb. 6.30). Die haploiden Kerne bilden acht Ascosporen, die ausreifen und dabei von einer schwarzen, resistenten Zellwand umgeben werden, so dass sie ungünstige Umgebungsbedingungen unbeeinträchtigt überstehen. Mehrere Asci sind in Fruchtkörpern, den sogenannten Perithecien, zusammengefasst. Unter geeigneten Bedingungen (im Labor: Hitzeschocks bei 65 °C für 30 Minuten) brechen die Asci auf und die haploiden Ascosporen werden entlassen, um erneut haploide Mycelien auszubilden. ! Der Wechsel zwischen Haploidie und Diploidie im
Lebenszyklus von Eukaryoten kann zu optimaler Anpassung an die Lebensbedingungen ausgenutzt werden, indem entweder die Haplophase oder die Diplophase im Lebenszyklus stärker betont wird. In niederen Eukaryoten wird häufig der haploide Zustand stärker betont, indem die haploiden Meioseprodukte eine eigenständige und oft langzeitige Lebensform darstellen und nur gelegentlich durch Paarung gegensätzlicher Paarungstypen vorübergehend einen diploiden Zustand durchlaufen.
Die bisher betrachteten niederen Eukaryoten zeichnen sich durch die Gleichwertigkeit ihrer haploiden und diploiden Lebensphase (Saccharomyces) oder durch die Betonung der haploiden Phase (Chlamydomonas, Neurospora) aus. Bei höheren Eukaryoten wird die haploide Lebensphase stets mehr reduziert, bis bei höheren Tieren die haploide Phase bis auf
wenige Ausnahmen auf die mitotisch nicht mehr teilungsfähigen Gameten beschränkt bleibt und die Organismen überwiegend aus diploiden Geweben bestehen. Offenbar bietet die Diploidie größere Flexibilität der Genfunktionen gegenüber wechselnden Umweltbedingungen aufgrund des Vorhandenseins zweier Allele. Da die Allele oft unterschiedlich (heterozygot) sind, ergeben sich selektive Vorteile (s. S. 175). Bei Samenpflanzen ist die haploide Generation, der Gametophyt, auf eine kleine Anzahl von Zellen reduziert und in die diploide Zellgeneration, den Sporophyten, aufgenommen. Eine der für die genetische Grundlagenforschung wichtigsten Pflanzen ist der Mais (Zea mays). Sein Lebenszyklus ist in Abb. 6.45 dargestellt. Die Gameten werden in den Blüten geformt. Zunächst bilden sich männliche haploide Mikrosporen als Pollen in den Antheren und weibliche haploide Makrosporen in den Fruchtknoten. Jeder haploide Pollenkern teilt sich noch einmal mitotisch, so dass jedes Pollenkorn zwei haploide Kerne besitzt. Beim Auswachsen des Pollens zum Pollenschlauch erfolgt eine weitere Teilung eines der beiden Kerne. Hierdurch werden zwei Gametenkerne geformt, deren einer mit dem Eizellkern verschmilzt. Bei der Bildung der Eizelle hat die weibliche Megaspore zunächst in drei Mitosen den Embryosack gebildet, der acht Kerne enthält. Einer der Kerne ist der Eizellkern, der mit dem einen der beiden Gametenkerne des Pollenschlauches verschmilzt und den Zygotenkern (2 n) formt. Der zweite Gametenkern des Pollenschlauches verschmilzt mit zwei Kernen des Embryosackes und bildet dadurch einen triploiden Kern (3 n) mit zwei Sätzen mütterlicher und einem Satz väterlicher Chromosomen. Dieser triploide Kern teilt sich und bildet in der Folge das triploide Endosperm, ein Nährgewebe für den Embryo. Diese beiden Komponenten, das Teilungsprodukt des Zygotenkerns, der Embryo, und das Endosperm, formen die Maiskörner. Die Zygote wächst zur diploiden Maispflanze heran, während das Endosperm degeneriert, wenn es seine Aufgabe als Nährstoffreservoir für den keimenden Samen erfüllt hat. Wichtig für das Verständnis der Ergebnisse der Maisgenetik ist es zu realisieren, dass das Endosperm in seiner genetischen Konstitution der Konstitution der Zygote, also der F1-Generation, entspricht, jedoch aufgrund seines triploiden Charakters eine doppelte Gendosis mütterlichen Ursprungs besitzt.
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Für die experimentelle Maisgenetik ist entscheidend, • dass durch geeignete Maßnahmen unkontaminierter Pollen einer Pflanze erhalten werden kann und • dass eine unkontrollierte Befruchtung verhindert werden kann. Die Morphologie der Maispflanze ist für beide Kriterien gut geeignet, da die endständigen männlichen Blüten (Blütenrispen, engl. tassel) und die axialen weiblichen Blüten (werden zu Kolben, engl. ears) morphologisch voneinander getrennt und somit im Experiment durch Einschluss in Papiertüten gut gegeneinander abzutrennen sind. Der haploide Gametophyt ist somit bei Angiospermen auf wenige haploide Zellen (die Mikrosporozyten im männlichen, die Makrosporozyten im weiblichen Geschlecht) beschränkt. In höheren Tieren geht die Reduktion der haploiden Phase noch weiter und beschränkt sich auf haploide Gameten in beiden Geschlechtern. Als Beispiel hierfür werden wir in anderem Zusammenhang den Lebenszyklus der Säuger am Beispiel des Menschen besprechen (Abb. 13.49). ! Höhere Eukaryoten zeichnen sich durch eine
zunehmende Betonung der diploiden Phase in ihren Lebenszyklen aus. In höheren Pflanzen und Tieren ist die haploide Phase auf eine geringe Anzahl von Zellen reduziert, die in den diploiden vielzelligen Organismus integriert werden und praktisch nur noch der Wahrnehmung von Fortpflanzungsfunktionen dienen.
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Kernaussagen
▬ Die Zellen höherer Organismen zeichnen sich durch eine Untergliederung in Zellkern und Cytoplasma aus (Eukaryoten). Der Kern ist durch eine Kernmembran vom Cytoplasma abgegrenzt; das Karyoplasma ist aber über Poren in der Kernmembran mit dem Cytoplasma verknüpft. Sowohl im Cytoplasma als auch im Karyoplasma befinden sich fibrilläre Elemente, die das Cytoskelett bzw. das Kernskelett aufbauen.
▬ Cytoplasmatische Organellen wie Mitochondrien und Plastiden besitzen ein eigenes Genom aus doppelsträngiger, zirkulärer DNA. Sie haben sich aus intrazellulären symbiontischen Parasiten entwickelt und ihre Eigenständigkeit zugunsten einer engen funktionellen Interaktion mit dem nukleären Genom aufgegeben. Das Plastidengenom enthält bis zu 200 Gene, das mitochondriale Genom jedoch nur etwa 40. Der genetische Code der Mitochondrien unterscheidet sich teilweise vom Universal-Code, mitochondriale DNA wird nur matroklin vererbt. ▬ Der Lebenszyklus einer Zelle ist durch die DNAReplikation (S-Phase) und die Teilung der Zelle (Mitose, M-Phase) gekennzeichnet. Die dazwischenliegenden „Lücken“ werden als G1- bzw. G2Phasen bezeichnet. ▬ Das diffuse Chromatin kondensiert in bestimmten Phasen der Mitose (bes. in der Metaphase) und wird dadurch lichtmikroskopisch sichtbar. ▬ Mit Hilfe des Spindelapparates erfolgt die Verteilung der Chromosomen auf die Tochterzellkerne. ▬ In der Keimbahn wird die Anzahl der Chromosomen in zwei Schritten auf den haploiden Zustand reduziert (Meiose): In der ersten Zellteilung (Reduktionsteilung) werden die homologen Chromosomen getrennt, in der zweiten Zellteilung (Äquationsteilung) werden die Chromatiden getrennt. ▬ Durch Austausch von Chromosomenbereichen zwischen homologen Chromosomen (Rekombination) wird die Variabilität der genetischen Konstitution erhöht. ▬ Neben reziproker Rekombination gibt es auch nicht-reziproke Rekombination (Genkonversion). Genkonversion erklärt sich durch die molekularen Mechanismen der Rekombination, kann aber auch bei DNA-Neusynthese bei DNA-Reparatur eintreten. ▬ Ist ein Individuum aus Zellen unterschiedlicher Konstitution zusammengesetzt, so sprechen wir von einem genetischen Mosaik. Somatische, genetische Mosaike können durch Nondisjunction oder mitotisches Crossing-over entstehen. ▬ Der Zellzyklus ist einer komplexen Regulation unterworfen: Der Eintritt in die S-Phase ist von der Überwindung des Restriktionspunktes anhängig. Wichtige Proteine hierbei sind Cycline und Cyclinabhängige Proteinkinasen. Eine zentrale Rolle
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nimmt die Phosphorylierung des RetinoblastomProteins (Rb) ein. Einen zweiten wichtigen Kontrollpunkt gibt es beim Übergang von der G2- in die M-Phase. ▬ Apoptose (programmierter Zelltod) ist ein genetisch programmierter Prozess zur Verhinderung von unkontrollierter oder unerwünschter Zellproliferation. Eine zentrale Rolle in der Regulation der Apoptose spielt p53, das auch für ein Tumorsuppressor-Gen kodiert.
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Kapitel 6: Zelle, Zellteilungen und Zellzyklus
Technik-Box 12
Homologe Rekombination Für jede genetische Analyse, ganz besonders aber für gentherapeutische Ansätze, sind Techniken zum gezielten Ersatz einer genomischen DNASequenz durch eine andere von vorrangiger Bedeutung. Man gebraucht für solche Zwecke homologe Rekombinationsmechanismen (site-specific recombination). Im Idealfall soll ein Rekombinationsexperiment dieser Art zum Austausch intragenomischer DNA-Sequenzen führen, ohne dass dadurch fremde – oder überhaupt zusätzliche – DNA ins Genom eingeführt wird. Eine solche Situation lässt sich durch ein zweistufiges Experiment erreichen, wie es im Folgenden dargestellt wird. Es beruht auf dem Gebrauch von ReplacementVektoren. Bei solchen Vektoren befindet sich ein Markergen innerhalb der Sequenz, die zur genomischen DNASequenz homolog ist. Der Einsatz solcher Vektoren erfordert ein doppeltes Rekombinationsereignis (Genkonversion!) innerhalb der homologen Sequenzbereiche. Dem Genom wird
hierbei zunächst zusätzlich fremde DNA (die des Markergens) hinzugefügt. Im einem zweiten Schritt wird dieses Markergen wieder entfernt. Das Experiment macht zunächst von einer positiven Selektion, danach von einer negativen Selektion Gebrauch. Im hier gezeigten Beispiel enthält das Vektorkonstrukt zwei Markergene. Einer dieser Marker liegt innerhalb der Sequenzregion, die bei der Rekombination ins Genom eingeführt werden soll. Es kann beispielsweise das menschliche HPRT-Gen (HPRT: Hypoxanthinphosphoribosyltransferase) verwendet werden, wenn man HPRT–Zellen zur Transformation verwendet und in HAT-Medium selektiert (HATMedium: Hypoxanthin, Aminopterin, Thymidin). Aminopterin blockiert die Synthese von Purinen und Thymidylat. Das Hypoxanthin ermöglicht durch die HPRT die Purinsynthese. Als zweites Markergen dient beispielsweise das Thymidinkinase-Gen (TK) von Herpes simplex. Es liegt außerhalb des homologen Sequenzbereiches. Selektiert
man nach der Transformation auf TK– und HPRT+, so erhält man Transformanten, die einen Austausch in der gewünschten Genomregion besitzen: Zufällige Integration des Vektorkonstruktes ins Genom hat nämlich einen TK+- und HPRT+-Phänotyp zur Folge. TK+-Zellen aber können durch Behandlung mit dem Thymidinanalogon Gancyclovir abgetötet werden. Die aus der ersten Transformation erhaltenen Zellen werden nun in einem zweiten Schritt mit einem Vektor transformiert, der lediglich die gewünschte modifizierte Gensequenz (z. B. mit einer Punktmutation) enthält. Durch eine erneute Genkonversion im gewünschten Genbereich wird nun das HPRTGen durch die mutierte Gensequenz ersetzt. Transformanten können als HPRT–-Zellen in Medium mit 6-Thioguanin selektiert werden. Auf diese Weise ist der gezielte Ersatz eines Allels durch ein beliebig modifiziertes Allel möglich, ohne dass fremde DNA im Genom verbleibt.
Kapitel 7
Molekulare Struktur eukaryotischer Chromosomen
Synchrone Teilungen der Zellen eines Embryos von Drosophila im syncytialen Blastoderm. Tubulinfibrillen erscheinen rot, Actinfibrillen grün. (Photo: B. Theurkauf, Stony Brook)
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Kapitel 7: Molekulare Struktur eukaryotischer Chromosomen
Überblick Die Chromosomen sind die lichtmikroskopisch sichtbaren, materiellen Träger der Gene. Bedeutet das aber, dass sie lediglich eine Ansammlung kettenartig aneinandergefügter Gene sind? Aus allen cytologischen Beobachtungen schließen wir, dass die Chromosomen, und damit die Gene, in Mitose und Meiose gleichmäßig auf die Tochterzellen verteilt werden. Dazu werden die Centromerenbereiche der Chromosomen benutzt, die als Ansatzpunkte für die Mikrotubuli des Spindelapparates dienen. So werden die Chromosomen oder deren Untereinheiten, die Chromatiden, bei der Zellteilung auf die Tochterzellen aufgeteilt. Auch bei der DNA-Replikation haben Chromosomen eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Der normale Replikationsmechanismus linearer DNA-Moleküle führt in jedem Replikationszyklus zu einer Verkürzung der DNADoppelhelix von den Enden her, da die RNA-Primer am Ende der DNA zwar entfernt, aber nicht durch DNASequenzen ersetzt werden können. Außerdem muss eine spezielle Struktur sicherstellen, dass die freien Enden der DNA im Chromosom nicht von Exonukleasen abgebaut werden oder durch Reparaturenzyme mit den freien Enden der DNA eines anderen Chromosoms verschmelzen. Das wird durch besondere terminale Domänen, die Telomere, gewährleistet. Bei der weiteren Untersuchung der molekularen Struktur des Genoms machte man die unerwartete Entdeckung, dass das eukaryotische Genom zum größten Teil nicht aus Protein-kodierenden DNA-Sequenzen besteht. Ein großer Teil der DNA-Sequenzen gehört zur repetitiven DNA, die, wie der Name schon sagt, in vielen, teils identischen, teils voneinander strukturell abweichenden, aber ähnlichen Kopien im Genom vorhanden ist. Ein Teil dieser DNA, vor allem hochrepetitive Sequenzen, ist in heterochromatischen Chromosomenabschnitten lokalisiert. Andere sind in Einzelkopien über das gesamte Genom verstreut. Die erstaunlich großen Unterschiede im DNA-Gehalt der Genome höherer Organismen müssen hauptsächlich Unterschieden in der Menge repetitiver DNA zugeschrieben werden. Sie beruhen also nicht auf wesentlichen Unterschieden in der Zahl Protein-kodierender Gene. Chromosomen sind dynamische Strukturen, die strukturell und funktionell eng mit dem Stoffwechsel und dem Differenzierungsgrad der jeweiligen Zelle verbunden sind. Ihre Bedeutung geht weit über das hinaus, was man von einem reinen „Gen-Depot“ erwarten würde. So hat die unterschiedliche Konstitution der Geschlechtschromoso-
men in den beiden Geschlechtern zur Folge, dass die Anzahl der Kopien der auf diesen Chromosomen gelegenen Gene im männlichen und weiblichen Geschlecht unterschiedlich ist. Solche quantitativ unbalancierten Genkonstitutionen werden in der Regel vom Organismus nicht toleriert. Verschiedene Organismengruppen haben daher spezifische Mechanismen entwickelt, um für einen funktionellen Ausgleich (Dosiskompensation) der verschiedenen Genkopienzahlen zu sorgen. In Säugetieren wird eines der beiden X-Chromosomen des weiblichen Geschlechts inaktiviert, so dass ein der hemizygoten X-Chromosomenkonstitution des männlichen Geschlechts funktionell gleichwertiger Zustand zustande kommt. In Drosophila erfolgt der Ausgleich in der Genaktivität durch erhöhte Aktivität der X-chromosomalen Gene im Männchen. Die Inaktivierung des Säuger-X-Chromosoms lässt verschiedene wesentliche biologische Mechanismen erkennen. Abgesehen von der Feststellung, dass ganze Chromosomen innerhalb eines Genoms gerichtet funktionell inaktiviert oder hyperaktiviert werden können, ist es von grundlegender Bedeutung, dass eine einmal erfolgte Inaktivierung innerhalb eines Organismus im Allgemeinen erhalten bleibt. Das Chromosom muss mithin eine Information aufnehmen, die dafür sorgt, dass es in allen folgenden Zellgenerationen inaktiv bleibt. Man bezeichnet eine solche Information als chromosomale Prägung (Imprinting). Eine weitere Konsequenz der X-Chromosomeninaktivierung ist, dass verschiedene Zellen von Säugerweibchen eine unterschiedliche Konstitution hinsichtlich der aktiven X-chromosomalen Gene besitzen können. Säugerweibchen sind daher funktionelle Mosaike in Bezug auf die Ausprägung geschlechtsgebundener Gene. Wir wissen, dass die chromosomale DNA in einer ersten Verpackungsstufe in der Form von kompakten Nukleosomen organisiert wird. Sie windet sich hierzu zweimal um einen Komplex aus Histonproteinen. Eine Kette derartiger DNA-Histonpartikel formt eine Chromatinfibrille von 10 nm Durchmesser. Diese Fibrille wird jedoch zusätzlich in Fibrillen höherer Ordnung organisiert. Aktives und inaktives Chromatin unterscheiden sich dabei in dem Ausmaß der Kondensation; Insulator-Elemente sind an der Ausbildung offener Chromatinstrukturen und an der Anheftung der Chromatiden an der Kernmembran beteiligt. Die Kompartimentierung des Zellkerns in chromosomale Territorien und Interchromatindomänen erlaubt die räumliche Trennung verschiedener funktioneller Abläufe im Zellkern, wie Transkription und Reifung der RNA.
7.1 Das eukaryotische Chromosom
7.1 Das eukaryotische Chromosom 7.1.1 Chromosomen als Träger der Erbanlagen Die Chromosomentheorie der Vererbung besagt, dass die Erbeigenschaften eines Organismus in seinen Chromosomen niedergelegt sind. Sie wurde kurz nach der Wiederentdeckung der Mendel’schen Regeln von Sutton und Boveri formuliert und sehr bald durch mehrere Forscher bestätigt. Als Folge dieser Erkenntnis hat die Chromosomenforschung während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle für die Genetik gespielt und eine große Zahl von Beobachtungen zur Verfügung gestellt, die wir erst heute anhand molekularer Forschungsergebnisse allmählich verstehen lernen. Ein Widerspruch zwischen den Mendel’schen Regeln und cytologischen Beobachtungen scheint in der Feststellung zu liegen, dass die Anzahl der Chromosomen bei den meisten Organismen relativ niedrig ist (Tabelle 7.1), jedenfalls zu gering, um mit der Vorstellung vereinbar zu sein, dass jedes Chromosom einer Erbeigenschaft zuzuordnen ist. Obwohl über die tatsächliche Anzahl der Erbeigenschaften (Gene) verschiedener Organismen noch bis in jüngste Zeit sehr widerstreitende Ansichten vertreten wurden, wurde doch sehr bald erkannt, dass jedes Chromosom Hunderte oder sogar Tausende von Erbeigenschaften tragen muss. Dieser Schluss steht nunmehr aber in eindeutigem Widerspruch zu der Regel Mendels, dass sich Merkmale unabhängig voneinander auf die Nachkommen verteilen, da alle in einem Chromosom gelegenen Gene gekoppelt bleiben, also nicht unabhängig voneinander verteilt werden (s. Kap. 11.4). Dieser scheinbare Widerspruch zu Mendels experimentellen Ergebnissen konnte durch die Genetiker dadurch aufgelöst werden, dass sie erkannten, dass die in den Untersuchungen Mendels studierten Merkmale (s. Tab. 11.1) auf unterschiedlichen Chromosomen liegen oder in einigen Fällen im Chromosom so weit voneinander entfernt liegen, dass stets ein Crossing-over zwischen den gekoppelten Genen stattfindet. Daher verteilen sie sich während der Meiose tatsächlich scheinbar unabhängig voneinander auf die Keimzellen.
Tabelle 7.1. Die Chromosomenanzahlen verschiedener Organismen Art
Chromosomenanzahl (2n)
Aspergillus nidulans 8 (n) Neurospora crassa 7 (n) Saccharomyces cerevisiae 17 (n) Chlamydomonas reinhardtii 16 (n) Vicia faba (Saubohne) 12 Allium cepa (Zwiebel) 16 Antirrhinum majus (Löwenmäulchen) 16 Arabidopsis taliana 10 Zea mays (Mais) 20 Oryza sativa (Reis) 42 Triticum aestivum (Weizen) 42 (6n) Hordeum vulgare (Gerste) 14 Secale cereale (Roggen) 14 Nicotiana tabacum (Tabak) 48 (4n) Solanum tuberosum (Kartoffel) 48 (4n) Lycopersicum esculentum (Tomate) 24 Pisum sativum (Erbse) 14 Brassica oleracea (Kohl) 18 Pinus ponderosa 24 Ophioglossum reticulatum (polyploid) 1260 Caenorhabditis elegans 11 웧, 12 웨 Planaria torva 16 Ascaris megalocephala var. univalens 2 (Spulwurm) Stylonychia mytilus ca. 300 Musca domestica (Hausfliege) 12 Drosophila melanogaster (Fruchtfliege) 8 Culex pipiens (Mücke) 6 Apis mellifica (Honigbiene) 32 웨 (2n), 16 웧 (n) Bombyx mori (Seidenspinner) 56 Lysandra atlantica (Schmetterling) 446 Danio rerio (Zebrafisch) 25 Triturus viridescens (Salamander) 22 Rana pipiens 26 Xenopus laevis (Krallenfrosch) 36 Gallus domesticus (Haushuhn) ca. 78 Columba livia (Taube) 80 Cavia porcellus (Meerschweinchen) 64 Mus musculus (Hausmaus) 40 Rattus norvegicus (Ratte) 42 Mesocricetus aureatus (Goldhamster) 44 Cricetulus griseus (Chinesischer Hamster) 22 Oryctolagus cuniculus (Kaninchen) 44 Felis domesticus (Katze) 38 Canis familiaris (Hund) 78 Bos taurus (Stier) 60 Equus caballus (Pferd) 64 Equus asinus (Esel) 62 Ovis aries (Schaf) 54 Sus scrofa (Schwein) 40 Macaca mulatta (Rhesusaffe) 48 Gorilla gorilla 48 Pan troglodytes (Schimpanse) 48 Pongo pygmaeus (Orang Utan) 48 Homo sapiens (Mensch) 46
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Kapitel 7: Molekulare Struktur eukaryotischer Chromosomen
7.1.2 Morphologie der Chromosomen Die Untersuchung des Zellzyklus hat uns gelehrt, dass wir Chromosomen lichtmikroskopisch nur während der Mitose, nicht aber in der Interphase erkennen können. In der klassischen Cytologie hatte man sich die Frage gestellt, ob Chromosomen auch während der Interphase in ihrer Individualität erhalten bleiben, oder ob sie sich während der Telophase auflösen und erst während der folgenden Prophase neu ausbilden. Diese Frage hätte bereits durch die cytologischen Beobachtungen Walther Flemmings (1843–1905) und Balbianis (s. Abb. 7.20) definitiv beantwortet werden können, nachdem auch Carl Rabl (1853–1917) sich aufgrund cytologischer Untersuchungen an Amphibienzellkernen bereits im Sinne einer chromosomalen Kontinuität durch den gesamten Zellzyklus hindurch ausgesprochen hatte. Dennoch wurde die Tatsache der Konstanz der Chromosomenindividualität erst auf der Grundlage der Beobachtungen von Cytologen in den 1930er Jahren endgültig akzeptiert. Es waren gleichzeitig Emil Heitz (1892–1965), Hans Bauer (1905–1988) und Theophilus Shickel Painter (1889–1969), die diesen wichtigen Schluss zogen. Es ist heute eindeutig geklärt, dass Chromosomen während der Interphase nicht nur in ihrer Individualität erhalten bleiben, sondern dass sie im Interphasekern möglicherweise auch bestimmte Lagebeziehungen zueinander eingehen. Dass die Lagebeziehungen nicht ganz bedeutungslos sind, wird durch eine Reihe von Beobachtungen suggeriert, auf die im Einzelnen in späteren Abschnitten eingegangen werden wird. Es sollen hier nur einige Beispiele genannt werden: • die häufige Verschmelzung von Nukleolen (s. auch S. 228), • die Tendenz von Heterochromatinbereichen, miteinander zu verschmelzen (s. S. 229), • die Assoziation der Geschlechtschromosomen der Säuger im Barr-Körper (s. S. 264).
Gestalt Am auffälligsten sind die unterschiedlichen Gestalten der Chromosomen, die man oft bereits innerhalb eines Zellkernes beobachten kann, vor allem aber beim Vergleich der Metaphasechromosomen verschiedener Organismen (Abb. 7.1). Neben selteneren punktförmigen Chromosomen herrschen stäbchen-
artige oder V-förmige Gestalten vor. Bei den V-förmigen Chromosomen gibt es solche, bei denen die beiden Chromosomenarme annähernd gleich lang sind und solche, bei denen ein Arm deutlich kürzer ist als der andere. Sehen wir uns diese Chromosomen während ihrer Anaphasebewegungen an, so erkennen wir, dass bei den stäbchenförmigen Chromosomen stets ein Ende des Chromosoms in Richtung auf den Spindelpol orientiert ist, bei den V-förmigen aber der Bereich des Chromosoms, an dem sich beide Arme treffen. Auf Grund dieses Verhaltens nennt man die betreffenden Chromosomen auch akrozentrisch (= telozentrisch) oder metazentrisch (Abb. 7.1). Zwischen beiden Extremformen der Chromosomenmorphologie gibt es ein Kontinuum von Varianten, das von geringfügig ungleichen Chromosomenarmlängen bis zu einer Morphologie reicht, bei der ein zweiter Chromosomenarm kaum erkennbar ist. Man spricht demgemäß von submetazentrischen oder subtelozentrischen Chromosomen, ohne dass diese Bezeichnungen mehr als rein deskriptiven Wert haben. Immerhin kann uns die Chromosomenform wichtige Hinweise auf deren Evolution geben, denn metazentrische Chromosomen können durch Verschmelzung zweier akrozentrischer Chromosomen entstanden sein oder akrozentrische durch Trennung beider Arme eines metazentrischen Chromosoms (Abb. 7.1). Die Verschmelzung akrozentrischer Chromosomen wird auch Robertson’sche Fusion (zentrische Fusion) (engl. Robertsonian fusion) genannt und ist ein für die Evolution von Säugerchromosomen charakteristisches Phänomen. Erscheinungen dieser Art sind insbesondere für die Ermittlung populationsgenetischer und evolutionärer Zusammenhänge von Bedeutung. ! Chromosomen sind normalerweise nur in der Mi-
tose und Meiose, also in der kondensierten Form der Pro-, Meta- und Anaphase, sichtbar. Ihre Größe und Form variiert stark und ist jeweils charakteristisch für eine Spezies.
Centromeren Die Bezeichnungen metazentrisch oder telozentrisch (sprachlich ein Widerspruch in sich selbst) sollen
7.1 Das eukaryotische Chromosom Abb. 7.1. Verschiedene Chromosomenformen, links in der Metaphasekonfiguration, rechts in ihrer charakteristischen Anaphaseanordnung. Die Centromeren sind durch Kreise dargestellt. Die Spindel zeigt Mikrotubuli, die an den Centromeren ansetzen (Kinetochorfibrillen), und durch die gesamte Spindel von Pol zu Pol durchlaufende Mikrotubuli (Polarfibrillen)
Metaphase
Anaphase
metazentrisch submetazentrisch
subtelozentrisch
punktförmig
nicht auf die Lage der Mitte des Chromosoms hinweisen, sondern kennzeichnen die Lage des Centromers. So nennt man den Bereich der Chromosomen, in dem die Spindel ansetzt, um die Bewegung des Chromosoms während der Mitose und Meiose zu den Spindelpolen zu steuern (s. Kap. 6.3.1, 6.3.2). In Chromosomen, deren Kinetochor nicht terminal liegt, erkennt man den betreffenden Chromosomenabschnitt bereits im Verlauf der zunehmenden Chromosomenkondensation während der Prophase als Einschnürung. Man bezeichnet diesen Bereich in der cytologischen Terminologie daher auch als primäre Konstriktion. Diese Morphologie steht mit einer besonderen molekularen Struktur des Centromerenbereiches in Zusammenhang. ! Die Form der Chromosomen wird durch das Cen-
tromer bestimmt. Die Region des Centromers bildet in der Metaphase die primäre Konstriktion. Sie dient dem Ansatz der Spindelfasern, die für die Verteilung der Chromatiden während der Zellteilung sorgen.
Chromatiden Die zweite auffallende Eigenschaft eines Prophaseoder Metaphasechromosoms ist dessen deutliche Längsteilung: Es besteht aus zwei Längsuntereinheiten, die wir Chromatiden nennen. Sie sind das Produkt des Verdoppelungsmechanismus der Chromosomen, der während der S-Phase abläuft (Replikation). Es entstehen dabei in allen Chromosomen aus einer Chromatide zwei Schwesterchromatiden.
Die Chromatiden sind zunächst bis in die frühe Prophase eng gepaart, trennen sich aber mit der fortschreitenden Kondensation der Chromosomen und hängen schließlich nur noch in ihren Centromerenbereichen zusammen. Erst in der Anaphase trennen sie sich unter Einfluss der Spindel und wandern zu den entgegengesetzten Spindelpolen. Durch diesen Mechanismus ist gewährleistet, dass beide Tochterzellkerne eine Chromatide eines jeden Chromosoms erhalten. Chromatiden sind somit die Grundelemente eines Chromosoms und stellen von der Anaphase bis zur S-Phase gleichzeitig auch ein Chromosom dar. Wenn man von einem Chromosom spricht, wird man daher – je nach dem Zusammenhang – zuvor klären müssen, ob man ein Chromosom vor oder nach der S-Phase meint. Den Status des Zellkernes kennzeichnet man daher auch sinnvollerweise durch Angabe der Anzahl Chromatiden (C-Wert) eines Chromosomenpaares (2C oder 4C während des mitotischen Zellzyklus oder C, 2C oder 4C während der Meiose, s. S. 186). ! Grundeinheit eines Chromosoms ist die Chromatide. Ein Chromosom besteht vor der Replikation aus einer einzigen Chromatide, nach der Replikation in der S-Phase aus zwei identischen Schwesterchromatiden.
Nukleolenbildungsorte Betrachtet man Chromosomen genauer, so erkennt man in einzelnen Chromosomen eines Chromosomensatzes neben der primären Konstriktion eine
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Kapitel 7: Molekulare Struktur eukaryotischer Chromosomen
weitere Einschnürung. Man bezeichnet sie als sekundäre Konstriktion. In cytologisch günstigen Fällen kann man erkennen, dass an dieser Stelle des betreffenden Chromosoms während der Interphase und der frühen Prophase der Nukleolus mit dem Chromosom verbunden ist. Wir wissen heute, dass der Nukleolus von diesem Chromosomenbereich her geformt wird. Er wird daher auch Nukleolenbildungsort oder Nukleolusorganisator [engl. nucleolus organizer region (NOR)] genannt. NORs befinden sich, je nach Organismus, nur an einem Teil der Chromosomen. Sie sind für die Zelle lebenswichtig, da sie die Gene für ribosomale RNA tragen, die als struktureller Bestandteil der Ribosomen für die Proteinsynthese erforderlich ist (s. S. 60). Der Nukleolus ist ein Organell, dessen Bildung den funktionellen Zustand der betreffenden Gene anzeigt (s. S. 176), und er ist daher in allen stoffwechselaktiven Zellen zu finden. Die Anzahl der NORs in den Metaphasechromosomen stimmt nicht immer mit der Anzahl der in der Interphase sichtbaren Nukleolen überein. Hierfür gibt es zwei Ursachen: Erstens neigen Nukleolen in vielen Organismen zur Verschmelzung. Diese kann soweit gehen, dass nur ein Nukleolus sichtbar ist, obwohl mehrere NORs im Genom enthalten sind. Zweitens hat man beobachtet, dass in manchen Zellen nicht alle NORs aktiv werden und einen Nukleolus formen (s. S. 290). ! Die sekundäre Einschnürung (Konstriktion) in
manchen Chromosomen kennzeichnet die chromosomale Region, in der während der Interphase der Nukleolus gebildet wird. Sie wird daher auch Nukleolenbildungsort oder Nukleolusorganizerregion (NOR) genannt.
Satelliten Es soll noch erwähnt werden, dass sekundäre Konstriktionen bisweilen weit terminal im Chromosom auftreten und dann einen kurzen Chromosomenbereich abtrennen, den man als Satelliten bezeichnet. E. Heitz hat für solche Chromosomen auch den Namen SAT-Chromosomen eingeführt. Die Konstriktion kann in einem solchen Fall eine NOR-Region enthalten oder auch nicht. Warum es im letzten Fall zur Ausbildung einer Konstriktion kommt, ist unklar.
Einige Hinweise auf eine besondere molekulare Chromosomenstruktur in solchen Bereichen hat man in jüngster Zeit durch die Analyse des Fragilen-XSyndroms erhalten (s. Kap. 14.3.5). Hier findet man, dass die erhöhte Bruchhäufigkeit mit einer besonderen Sequenzstruktur der DNA verbunden ist. Man kann mehr allgemein davon ausgehen, dass hier eine strukturelle Organisation innerhalb der Chromatiden vorliegt, die vielleicht mit der Anwesenheit von Heterochromatin korreliert ist. Der cytologische Begriff des Satelliten, wie er hier definiert ist, darf nicht mit dem Begriff Satelliten-DNA verwechselt werden (s. S. 232). Es besteht kein Zusammenhang zwischen beiden Erscheinungen.
Telomeren Ein zwar cytologisch im Allgemeinen nicht besonders abgehobenes, aber unverzichtbares Strukturelement eines jeden Chromosoms ist das Telomer. So bezeichnet man das Ende eines Chromosomenarmes. Entfernt man ein Telomer durch einen röntgeninduzierten Bruch, so ist das Chromosom instabil. Die Betrachtung der molekularen Struktur von Telomeren wird uns zeigen, dass es sich hierbei tatsächlich um besondere DNA-Strukturen handelt, die an jedem Chromosom vorhanden sein müssen, um dessen Integrität zu gewährleisten. Es wird oft die Ansicht vertreten, dass bei akrozentrischen Chromosomen das Ende, das dem Centromer zugeordnet wird, ein terminales Centromer trägt. Hierfür gibt es jedoch keine Beweise. Im Gegenteil gibt es gute Gründe anzunehmen, dass neben einer solchen Centromerenregion noch ein kurzer Chromosomenarm vorhanden ist, der zumindest aus einem Telomer besteht. Dieser Gesichtspunkt wird im Zusammenhang mit der molekularen Struktur von Centromeren und Telomeren näher erörtert (s. S. 230 ff und 234 ff). ! Wichtige Strukturelemente der Chromosomen sind deren Enden, die als Telomeren bezeichnet werden. Chromosomenarme ohne Telomer sind instabil.
7.1 Das eukaryotische Chromosom
Heterochromatin Bereits an ungefärbten Metaphasechromosomen, deutlicher aber in gefärbten Chromosomenpräparaten, kann man erkennen, dass Chromosomen nicht gleichförmig strukturiert sind, wenn man einmal von den bereits besprochenen Strukturelementen absieht. Sie sind in kompaktere – und zugleich auch stärker anfärbbare – Abschnitte und weniger kompakte Bereiche unterteilt. Kompakte Chromosomenregionen findet man regelmäßig um die Centromerenbereiche herum, manchmal auch terminal, oder sie umfassen ganze Chromosomenarme oder sogar ein ganzes Chromosom (Abb. 7.2). Auf Grund ihrer stärkeren Färbbarkeit führte E. Heitz für sie die Bezeichnung Heterochromatin ein. Man nennt solche anders färbbaren Chromosomenbereiche auch heteropyknotisch. Eine einfache Erklärung für die stärkere Färbbarkeit ist, dass die Chromatiden in solchen Chromosomenbereichen stärker kondensiert (verpackt) sind, so dass sie höhere Konzentrationen an DNA enthalten. Heterochromatische Chromosomenbereiche sind übrigens nicht nur in Pro- und Metaphasechromosomen erkennbar, sondern bleiben auch in der Interphase sichtbar, da sie im Allgemeinen nicht an der Dekondensation der Chromosomen während der Telophase teilnehmen, sondern in ihrem kondensierten Zustand verbleiben und zudem oft im
Abb. 7.2a–c. Prometaphasechromosomen aus Gehirnganglien verschiedener Drosophila-Arten. Neben der unterschiedlichen Form der Geschlechtschromosomen (X und Y) sind stärker gefärbte, heterochromatische Bereiche zu erkennen. Diese umfassen einen Arm der XChromosomen, die gesamten Y-Chromosomen und die Centromerenbereiche der Autosomen (A). a Drosophila hydei, b D. neohydei, c D. eohydei. (Aus Hennig 1978)
Interphasekern miteinander verschmelzen. Auch dieses Verhalten weist auf besondere Eigenschaften des Heterochromatins hin. ! Einige Chromosomenbereiche zeichnen sich durch differenzielle Färbungseigenschaften aus, die auf einem anderen Kondensationsgrad dieser Chromosomenregion beruhen. Solche Chromosomenabschnitte werden als heterochromatisch bezeichnet.
7.1.3 Das Centromer Funktion Bei der Besprechung der cytologischen Struktur der Chromosomen haben wir bereits einen wichtigen Bestandteil des Chromosoms kennengelernt: Das Centromer mit dem Kinetochor (s. S. 179). Dieser Chromosomenbereich dient den Mikrotubuli des Spindelapparates während der Mitose und Meiose als Ansatzpunkt und ist damit für die Bewegung der Chromosomen zu den Spindelpolen verantwortlich. Chromosomen ohne Centromer können bei der Zellteilung nicht korrekt verteilt werden und gelangen
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Kapitel 7: Molekulare Struktur eukaryotischer Chromosomen
entweder durch Zufall in die eine oder andere der Tochterzellen oder gehen ganz verloren. Beispiele für solche Chromosomen sind manche B-Chromosomen, die in der Keimbahn einiger Organismen vorkommen und durch Zufallsverteilung in den prämeiotischen und meiotischen Teilungen an die Tochterzellen weitergegeben werden (s. S. 257). Andere centromerenlose Chromosomen entstehen als Folge von strukturellen Veränderungen in Chromosomen. Diese defekten Chromosomen gehen bei der nächstfolgenden Zellteilung verloren (s. Kap. 10.3). Das Centromer ist zudem für den Zusammenhalt der Chromatiden bis zur Anaphase bzw. der Homologen in der meiotischen Anaphase I verantwortlich.
Chromosomale Struktur des Centromers Centromerenbereiche haben eine besondere morphologische und molekulare Struktur. Morphologisch zeichnen sie sich dadurch aus, dass den beiden Chromatiden eines Prophase- und Metaphasechromosoms eine Struktur angelagert ist, die den Kinetochorfibrillen der Spindel als Angriffspunkt dient (Abb. 7.3). Diese Struktur, die als Kinetochor bezeichnet wird, kann kugel- oder plattenförmig sein, je nachdem, welchen Organismus wir betrachten. Bei Vertebraten werden generell plattenförmige Strukturen gefunden. Bei diesen Platten sind drei Lagen zu unterscheiden, eine äußere und eine innere, 40 bis 60 nm dicke Schicht und eine dünnere, 25 bis 30 nm Abb. 7.3. a Schematische Darstellung der Centromerenregion eines Metaphasechromosoms. a metacentrisches Metaphasechromosom mit primärer Konstriktion (= Centromer). b bis d vergrößerte Darstellung der Centromerenregion. b zeigt den Verlauf der 200 bis 400 nm-Fibrillen der beiden Chromatiden. c zeigt deren Substruktur, die in d durch Behandlung mit dem Fluoreszenzfarbstoff Hoechst 33258 in einen gestreckten und weniger dicken Zustand (ca. 100 nm) übergeht. Im unteren Teil der Abbildung (b) ist die Ultrastruktur des Metaphasechromosoms und der Centromerenregion schematisch wiedergegeben. Die verschiedenen Chromosomendomänen sind identifiziert. Unten rechts ist ein Schema der Strukturbestandteile eines Kinetochors zu sehen. (Aus Rattner 1991)
7.1 Das eukaryotische Chromosom
dicke Mittellage. Es sind neuerdings jedoch Zweifel aufgekommen, ob diese Struktur nicht durch Artefakte bei der Fixierung hervorgerufen wird. Centromere sind durch besondere Proteine gekennzeichnet, die man in den letzten Jahren mittels Antiseren identifizieren konnte. Diese Antiseren stammen von Patienten mit Autoimmunkrankheiten (s. Kap. 12.5.7). Solche Proteine sind beispielsweise die INCENPs (engl. inner centromere proteins), die in der Pro- und Metaphase im inneren Centromerenbereich zwischen den Chromatiden liegen. Die INCENPs findet man in der Interphase frei im Kern verteilt, sie sind also während der Mitose nur vorübergehend mit den Centromerenbereichen verbunden. William C. Earnshaw hat solche Proteine daher
Abb. 7.4a–d. Chromosomale Passenger-Proteine. Die INCENPs sind in verschiedenen Stadien der Mitose durch Antikörperreaktionen sichtbar gemacht und erscheinen in grüner und weißer Fluoreszenz. Die Chromosomen sind orange gefärbt. a Frühe Metaphase in Ansicht auf die Äquatorialebene. b Frühe Anaphase in Seitenansicht auf die Spindel. c Frühe Anaphase in Aufsicht auf die Spindel vom einem Spindelpol. In der Metaphase (a) sind die INCENPs im Centromerenbereich und an den Telomeren zu finden. Während der Anaphase sammeln sie sich in den Bündeln von Mikrotubuli (b,c) bis sie während der Cytokinese (d) im Bereich der interzellären Brücke (MidbodyBereich) zurückbleiben. Balken 5 µm (a,b); 2,5 µm (c) und 15 µm (d) (Aus Earnshaw u. Bernat 1991)
als chromosomale Passenger-Proteine (engl. chromosomal passenger proteins) bezeichnet. Es sind noch eine Reihe weiterer Proteine, darunter die CENPs (engl. centromere proteins), identifiziert worden (Abb. 7.4), die ebenfalls nur vorübergehend während der Pro- oder Metaphase an die Centromerenbereiche binden. Andererseits scheint die generelle Centromerenstruktur auch während der Interphase erhalten zu bleiben, da sich die sogenannten CRESTProteine (engl. calcinosis, Raynaud’s phenomenon, esophageal dismotility, sclerodactyly, and telangiectasia) auch in Interphasekernen in punktförmigen Bereichen des Kerns nachweisen lassen, die wohl den Centromerenbereichen der Chromosomen entsprechen.
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Kapitel 7: Molekulare Struktur eukaryotischer Chromosomen
! Der Centromerenbereich der Chromosomen dient
der Kontrolle der Verteilung der Chromosomen und Chromatiden durch den Spindelapparat während Mitose und Meiose. Die Kinetochorfibrillen der Spindel greifen an besonderen Proteinstrukturen an der Oberfläche der Chromatiden, den Kinetochoren, an. Diese Bereiche zeichnen sich durch besondere Proteine aus, die teilweise nur während der Pro- und Metaphase am Chromosom gebunden sind.
Zu den bisher identifizierten Säuger-Centromerenproteinen gehören: • CENP-A. Es ist nur in aktiven Centromeren vorhanden und zeigt Ähnlichkeit zu Histon H3. • CENP-B. Es bindet an die DNA in der CENP-Box, die man in menschlicher α-Satelliten-DNA (centromerassoziiert) und in der minor-satellite-DNA (s. Abb. 7.5) der Maus findet. Deletion des Gens für CENP-B in Mäusen zeigt keine phänotypischen Effekte. • CENP-C. Es ist nur in aktiven Centromeren vorhanden. Im Gegensatz zu CENP-B ist es für die Centromerenfunktion erforderlich. • CENP-E. Möglicherweise ein Motorprotein für die Bewegung der Chromosomen in der Spindel. Außerdem ist im Centromerenbereich Topoisomerase IIa vertreten, die für Chromosomenkondensation und die Trennung von Schwesterchromatiden erforderlich ist. Weiterhin sind Proteinkinasen (Mas und Bub) gefunden worden, deren Funktion wahrscheinlich mit der Anheftung der Chromosomen an die Spindel zusammenhängt.
DNA-Struktur des Centromerenbereiches Auch auf der DNA-Ebene weist der Centromerenbereich Besonderheiten auf. Durch in-situ-Hybridisierung hat sich zeigen lassen, dass im centromerassoziierten Heterochromatin stets größere Blöcke von hochrepetitiven DNA-Sequenzen liegen (Abb. 7.5). Am bekanntesten ist die Satelliten-DNA, die in den Centromerenregionen der Mäusechromosomen zu finden ist (s. auch S. 237). Die Centromerenbereiche der Mäusechromosomen sind aus (mindestens) zwei Klassen hochrepetitiver DNA aufgebaut, die als minor und major satellite, also als kleine und große Satelli-
Abb. 7.5 a,b. Anreicherung repetitiver DNA-Sequenzen im Centromerenbereich der Chromosomen von Mus spretus. a Hybridisierung mit der mouse minor satellite DNA. Die Markierung liegt in Blöcken über der gesamten Centromerenregion. b Hybridisierung mit der mouse major satellite DNA. Diese DNA-Sequenzfamilie ist hier nur im Grenzbereich zum Euchromatin im langen Arm lokalisiert. Elektronenmikroskopische Autoradiographie. (Aus Narayanswami et al. 1992)
ten-DNA, bezeichnet werden. Diese Bezeichnung bezieht sich auf die relativen Anteile beider Sequenztypen am Genom. Die genauere Untersuchung dieser DNA-Bereiche enthüllt eine klare Untergliederung in mehrere Teilbereiche. Man findet die gleichen Satelliten-DNAFraktionen auch in einer der Hausmaus Mus musculus verwandten Art, M. spretus, und auch hier sind sie in einem charakteristischen, aber von der Hausmaus verschiedenen Muster organisiert (Abb. 7.5a). Auch in anderen Organismen hat man Hinweise auf eine z. T. chromosomenspezifische Organisation dieser hochrepetitiven DNA-Blöcke erhalten, und in Hefechromosomen wurde eine spezielle Struktur der Centromerenregionen unter Beteiligung repetitiver Elemente nachgewiesen (Abb. 7.6). Die detaillierte Analyse der Centromerenbereiche höherer Eukaryoten ist aufgrund des Aufbaus aus tandem-repeats sehr kompliziert. Menschliche Chromosomen zeichnen sich im Centromerenbereich durch große Blöcke von α-Satelliten-DNA aus, die aus einen 170 bp-Repeat bestehen und hunderte von kb DNA umfassen können.
7.1 Das eukaryotische Chromosom 35 kb cen1
55 kb cen2 cen3
110 kb
Abb. 7.6. DNA-Repeatstruktur im Centromerenbereich von Hefechromosomen (Schizosaccharomyces pombe). Die Centromerenbereiche der Chromosomen 1 (cen1), 2 (cen2) und 3 (cen3) sind unterschiedlich lang, bestehen jedoch aus den gleichen DNA-Sequenzelementen in einer genau festgelegten
strukturellen Anordnung. Schwarze Pfeile: dg-Repeats, rote Pfeile: dh-Repeats, große graue Pfeile: imr-Sequenzen, kleine graue Pfeile: tm-Sequenzen, vertikale schwarze Striche: tRNAGene. (Aus Murakami et al. 1991)
Bei Hefechromosomen haben sich Hinweise darauf ergeben, dass repetitive DNA-Sequenzen in den Centromeren funktionell bedeutsam sind. Sehen wir uns die molekulare Feinstruktur eines Centromerenabschnittes eines Chromosoms von Saccharomyces cerevisiae an, so finden wir zwei Arten von DNASequenzen innerhalb eines 130 Basenpaare langen Abschnittes (Abb. 7.7). Eine zentrale Region von 82 bis 88 Nukleotiden, die zu über 93% aus AT-Sequenzen bestehen, wird links und rechts von DNASequenzen flankiert, die bei verschiedenen Chromosomen nahezu identisch sind. Die Gesamtregion von 130 Basenpaaren kann sowohl in Mitose als auch in Meiose die Funktion eines Centromerenbereichs ausüben, wenn man sie in ein künstliches Chromosom
aus Plasmid-DNA einbaut und in eine Hefezelle transformiert. Funktionell ist also dieser kurze DNABereich völlig ausreichend, um eine normale Verteilung der Chromatiden bzw. Chromosomen zu garantieren. Es hat sich gezeigt, dass die Mutation eines einzelnen Basenpaares im CEN3-Bereich die Centromeraktivität blockieren kann. Man muss also davon ausgehen, dass bei diesem Organismus die DNASequenz entscheidend für die Funktion dieser chromosomalen Domäne ist. Man kennt inzwischen verschiedene centromerassoziierte Proteine, zu denen auch CSE4 gehört, ein dem Histon H3 ähnliches basisches Protein, das dem CENP-A-Protein des Menschen entspricht.
Element I
Element II
Element III
– – – ATA A G T C A C AT G AT – – 88 bp (93% AT ) – – T G AT T T C C G A A – – – C E N 3 – – – ATA A G T C A C AT G AT – – 89 bp (94% AT ) – – T G AT T T C C G A A – – – C E N 11 – – – ATA A G T C A C AT G AT – – 82 bp (93% AT ) – – T G AT T T C C G A A – – – C E N 4
Abb. 7.7. DNA-Sequenzen im Centromerenbereich von Hefechromosomen (Saccharomyces cerevisiae). Die Centromerenbereiche der Chromosomen 3 (CEN3), 4 (CEN4) und 11 (CEN11) sind in ihrer Nukleotidsequenz nahezu identisch. Sie liegen innerhalb eines 250 bp langen DNA-Bereiches, der sich durch eine besondere Proteinstruktur auszeichnet. Der in der Abbil-
dung dargestellte DNA-Abschnitt reicht aus, um in artifiziellen Chromosomen (YACs, yeast artificial chromosomes) die Funktion eines normalen Centromers auszuüben, d. h. die Chromosomen verteilen sich in Mitose und Meiose wie normale Chromosomen. (Aus Watson et al. 1987)
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Kapitel 7: Molekulare Struktur eukaryotischer Chromosomen
! Repetitive DNA-Elemente sind Grundbestandteile
aller Centromerenbereiche. Sie sind in bestimmten Mustern organisiert und diese sind chromosomenund artspezifisch.
Die Funktion der hochrepetitiven DNABlöcke in den Centromerenbereichen ist noch ungeklärt. Vermutlich spielen die besonderen Eigenschaften repetitiver DNA hinsichtlich ihrer Bindungseigenschaften für Proteine eine wichtige Rolle. Hierfür geben die Analysen von Centromerenregionen in Drosophila-Chromosomen Hinweise. Bei Drosophila bestehen Centromeren aus Blöcken von repetitiven Sequenzen, in die einzelne (teilweise defekte) Transposons eingelagert sind. Es ist daher anzunehmen, dass in höheren Eukaryoten – im Gegensatz zur Bäckerhefe – Centromerenfunktionen durch die Komplexbildung von Satelliten-DNA mit chromosomalen Proteinen erzielt werden. Mit einer solchen Annahme lässt sich auch die Vorstellung vereinbaren, dass Centromere durch Kontakte bestimmter Chromosomenregionen mit funktionellen Centromerbereichen neu entstehen können. Solche „Neocentromere“ sind nach Deletionen funktioneller Centromere in menschlichen Chromosomen wiederholt beobachtet worden und haben zu dem Verdacht geführt, dass eine Centromerenfunktion auch epigenetisch programmiert werden kann. Man könnte auch annehmen, dass die Blöcke repetitiver DNA im Centromerenbereich für die Homologenerkennung in der Meiose eine Bedeutung haben, da sie eine eindeutige Kennzeichnung eines bestimmten Chromosoms durch ein besonderes DNA-Muster ermöglichen. Ob jedoch solche oder andere Funktionen mit den Heterochromatinblöcken verbunden sind, oder ob sie lediglich hier zu finden sind, weil beispielsweise die Mechanismen zur Elimination nichtfunktioneller DNA in den Centromerenbereichen nicht sehr effektiv sind, oder ob sie gänzlich andere, noch unverstandene Funktionen ausüben, bleibt abzuwarten.
7.1.4 Das Telomer Funktion Natürliche Chromosomenenden (Telomeren) sind cytologisch durch keine besonders auffälligen Strukturen gekennzeichnet. Auf ultrastrukturellem Niveau erkennt man jedoch ähnliche strukturelle Unterschiede zum übrigen Chromosom wie im Centromerenbereich (s. Abb. 7.3). Cytologisch erscheinen sie heterochromatisch, wenn sie überhaupt als besonderer Chromosomenabschnitt erkennbar sind. Auf ultrastrukturellem Niveau lassen sie im Zygotän eine Verdickung erkennen, die zunächst von der Bildung des synaptonemalen Komplexes ausgeschlossen ist: Die Paarung der Homologen beginnt meist in einem Chromosomenbereich der etwas proximal des Telomers liegt. Das weist auf einen gewissen Sonderstatus der Chromosomenenden hin. Nach Abschluss der Homologenpaarung im Pachytän sind jedoch auch die Telomeren vollständig an der Bildung des synaptonemalen Komplexes beteiligt. Funktionell sind den Telomeren besondere Aufgaben zuzuweisen: • Sie müssen gegen Fusionen mit anderen Chromosomen geschützt sein und die Enden der DNADoppelhelix gegen exonukleolytische Angriffe schützen. • Sie müssen besondere Eigenschaften besitzen, um die vollständige Replikation der Doppelhelix zu ermöglichen. • Sie tragen zur spezifischen Lokalisation der Chromosomen im Kern bei. In der meiotischen Prophase sind sie oft mit der Kernmembran assoziiert. Diese unterschiedlichen Aspekte der Telomerenfunktion müssen sich in einer dementsprechenden molekularen Struktur widerspiegeln.
Molekulare Struktur Eine besondere molekulare Struktur der TelomerenDNA ist auch zu erwarten, wenn man sich den Mechanismus der DNA-Replikation vergegenwärtigt (s. S. 51). Im Gegensatz zur Synthese des leading strand, die bis zum Ende der chromosomalen DNA durchläuft, kann der komplementäre Strang (lagging strand) nicht bis zum Ende repliziert werden, da die
7.1 Das eukaryotische Chromosom
DNA-Polymerase nicht im Stande ist, Nukleotide an 5′-Enden anzufügen. Die Synthese dieses Stranges muss daher über RNA-Primersequenzen und Okazaki-Fragmente erfolgen. Es wäre durchaus denkbar, dass am einen Ende der Chromatiden eine Einzelstrang-DNA vorhanden ist. Das würde aber Probleme bei der folgenden Replikation ergeben: Dieser Bereich könnte überhaupt nicht mehr repliziert werden, so dass die Chromatide an einem Ende ständig kürzer würde. Diese Probleme wurden ausführlich in Kapitel 2 erörtert.
Molekulare Telomerenstruktur von Hefechromosomen Die Struktur der Chromosomenenden von Hefe ist komplexer als die der makronukleären Ciliatenchromosomen. Sie erstreckt sich über mehr als 100 Basenpaare, enthält aber ebenfalls GC-reiche DNA-Repeats (Abb. 7.8). Im Anschluss an solche GC-Repeats der Telomeren findet man längere repetitive DNA-Sequenzen, die sogenannten Xund Y′-Repeats, die an einigen (Y′) oder allen (X) Telomerenbereichen zu finden sind. Die Telomerenregion ist aus einer X-Sequenz und einer Y′-Sequenz aufgebaut, die durch eine (interne) C1–3 A-Sequenz miteinander verbunden werden. Am Ende des Y′Bereiches befindet sich eine weitere (telomerische) C1–3A-Sequenz. Während der Replikation werden enzymatisch einzelne oder mehrere 3′-G1–3T-5′Gruppen an das 3′-Ende der replizierenden DNA angehängt. Diese Verlängerung gestattet es den Replikationsenzymen, den Telomerenbereich in einen 5′C1–3 A-3′-RNA-Primer zu kopieren, mit dessen Hilfe der unvollständige Strang dann aufgefüllt werden kann. Die Anzahl der angefügten Repeats ist bei verschiedenen Hefestämmen unterschiedlich, jedoch konstant innerhalb eines Stammes. Wie bei Ciliaten wird also auch in Hefen eine GC-reiche Sequenz zur Erhaltung des Telomerenbereiches verwendet.
Molekulare Telomerenstruktur von Drosophila-Chromosomen Der GC-Reichtum der Telomerenenden scheint jedoch kein generelles Kriterium zu sein. Die Struktur der Chromosomenenden, die man bei Drosophila gefunden hat, ist komplexer, ähnelt im Prinzip aber
Abb. 7.8 a,b. Strukturelle Organisation und Replikation eines Hefetelomers. a Das Telomer von Hefen ist komplexer aufgebaut als das der Ciliaten (Abb. 2.24). Wesentliche DNAElemente sind auch hier GC-reiche Repeats (C1–3A), die durch die Telomerase ergänzt werden können. Neben den terminalen C1–3A-Sequenzrepeats findet man bei manchen Telomeren ein X-Y′-DNA-Element, dessen beide Teilbereiche durch eine weitere interne C1–3A-Sequenzrepeatregion voneinander getrennt sind. Die Bedeutung der X-Y′-Elemente ist noch ungeklärt, sie scheinen jedoch den Charakter von Transposons zu besitzen. b Replikation defekter Telomerenregionen. Ein solches unvollständiges Telomer kann ähnlich wie bei der Rekombination durch Invasion eines Einzelstranges zu einem vollständigen Telomer ergänzt werden, indem eine ergänzende DNA-Synthese durchlaufen wird. (b: Nach Watson et al. 1987)
der der Hefen. Dass Telomerenbereiche vieler Eukaryoten DNA-Repeats enthalten, war schon lange durch in-situ-Hybridisierungsexperimente bekannt. Bei D. melanogaster ist es Mary Lou Pardue und Harald Biessmann (1992) gelungen, eine solche telomerenassoziierte DNA-Sequenz zu identifizieren. Es handelt sich um die HeT-A- und TART-Sequenzen, Mitglieder von Familien repetitiver DNA-Sequenzen, die in Telomeren und im centromerenassoziierten
235
236
Kapitel 7: Molekulare Struktur eukaryotischer Chromosomen
Heterochromatin von D. melanogaster vorkommen. Die HeT-A-Sequenzfamilie gehört zu den transponierbaren DNA-Elementen. Man kann bei Drosophila durch Röntgenbestrahlung Chromosomen erzeugen, deren Telomeren fehlen. In seltenen Fällen gelingt es, solche Chromosomen zu stabilisieren. Es zeigt sich, dass solche Chromosomen etwa 70 bis 75 terminale Nukleotide je Generation (etwa 1 bp je Zellgeneration) verlieren, wie man aufgrund der bereits dargestellten Replikationsprobleme erwarten muss. Hält man solche Chromosomen für einige Zeit in getrennten Fliegenstämmen, so kann es in einzelnen Zuchten spontan zur Stabilisierung der Chromosomen kommen. Die Analyse solcher Chromosomen zeigt, dass die Telomerenbereiche nunmehr eine oder mehrere Kopien der HeT-A-DNA-Sequenzfamilie enthalten, die neu in diese Chromosomenregion eingefügt worden sein müssen. Ob diese Insertion durch einen Transpositionsmechanismus (s. S. 339) oder durch nichthomologe Rekombination erfolgt ist, ist noch nicht ganz geklärt. Jedoch spricht das Vorkommen von Poly[A]-Bereichen an den neu eingefügten HeT-A- und TART-Elementen für Transpositionsereignisse. So überraschend es zunächst erscheinen mag, Transposons in Telomerenstrukturen zu finden – eine genauere Betrachtung zeigt, dass der Grundmechanismus der Telomerenverlängerung gleich bleibt. Eine Telomerase ist im Prinzip eine Reverse Transposase. Die Insertion von Retroposons erfolgt aber – über RNA-Intermediäre – durch eine Reverse Transkriptase (s. S. 356 f). Diese Beobachtungen zeigen wiederum, dass repetitive DNA-Sequenzfamilien eine unentbehrliche Rolle in der Chromosomenstruktur ausüben können. Ob auch bei Drosophila einfache GC-reiche Tandem-Repeats an den äußersten Chromatidenenden vorhanden sind, wie bei Ciliaten und Hefen,ist bisher ungeklärt,aber es gibt keine Hinweise darauf. Auch die Funktionen der komplexeren DNARepeats bei Hefen bzw. HeT-A- und TART-Sequenzen bei Drosophila hinsichtlich der Telomerenstruktur sind unverstanden. Sie könnten beispielsweise der Telomerase als Erkennungssequenzen dienen oder auch Funktionen in der Interaktion der Telomeren mit der Kernmembran ausüben. Mittels künstlicher Hefeminichromosomen, sogenannter YACs (engl. yeast artificial chromosomes) lässt sich,wie schon die Centromerenfunktion,so auch die Telomerenfunktion isolierter
DNA-Sequenzen testen. Kombiniert man beispielsweise Telomerensequenzen von Tetrahymena, eine Hefe-CEN3-Sequenz (s. S. 233) und eine ARS-Sequenz (s. S. 46) mit beliebigen anderen DNA-Sequenzen einer Länge von 50 kb bis weit über 1000 kb und transformiert diese linearen Moleküle dann in eine Hefezelle, so werden sie wie normale Hefechromosomen repliziert und in Mitose und Meiose korrekt auf die Tochterzellen verteilt. Sie verhalten sich mithin wie „echte“ Chromosomen.
Telomerenproteine Die Besonderheiten der DNA-Struktur in den Telomeren lassen die Frage aufkommen, ob sie sich auch durch besondere Proteine auszeichnen, wie wir es bereits für die Centromerenregionen gesehen haben. Man hat nicht nur spezifische Telomerenproteine gefunden, sondern alles deutet daraufhin, dass die Proteinzusammensetzung von Telomeren sehr komplex ist. Eine wesentliche Funktion solcher Proteine besteht neben der Kontrolle der Telomerenlänge darin, die Fusion mit anderen Telomeren zu verhindern. Andere Proteine müssen spezifische Interaktionen mit der Kernmembran eingehen, wie sie in der meiotischen Prophase in manchen Organismen erfolgt und sich in der Ausbildung von Bukett-Stadien anzeigt. Es sind mehrere Telomerenproteine bekannt, deren Funktionen jedoch nur unvollständig aufgeklärt sind. Bei Hefe kennt man das Telomerenprotein TAZ1, bei Säugern die Proteine TRF1 und TRF2. Für das Telomerenprotein TAZ1 konnte gezeigt werden, dass seine Überexpression zu einer Verkürzung der Telomeren, eine Störung seiner Funktion zu einer Verlängerung der Telomeren führt. In Schistosaccharomyces pombe führt eine Deletion von TAZ1-Protein zu einer Blockierung der Meiose. Es erfolgt keine Rekombination, und das Chromosomen-Clustering unterbleibt, Telomere werden nicht verlängert, und es kommt zu keinem Silencing. In diesem Zusammenhang ist es auch von Interesse, dass zellzyklusrelevante Proteine wie Cdc13 in Telomeren von S. cerevisiae zu finden sind. Mutationen zeigen eine schnelle Verkürzung der Telomeren. So zeigt es sich erneut, dass Zellzyklusregulation und Chromosomenstruktur eng miteinander verwoben sind. Es wäre jedoch falsch anzunehmen, dass mit dem Vorhandensein von Telomerase die Fragen bezüglich
7.1 Das eukaryotische Chromosom
der Instandhaltung von Telomeren gelöst sind. Es hat sich nämlich bei knock-out-Mäusen gezeigt, dass diese ohne Telomerase über mehrere Generationen lebensfähig bleiben. Untersuchungen in Hefe und an menschlichen Tumorzelllinien ohne Telomeraseaktivität zeigen, dass Telomeren auch ohne Telomerase instand gehalten werden können. Höchstwahrscheinlich spielen hierbei Rekombinationsmechanismen eine Rolle. Es ist verständlich, dass in einem so kritischen Bereich des Genoms alternative Mechanismen verfügbar bleiben, wenn der primäre Korrekturmechanismus ausfällt. Auch unsere Kenntnis der Telomerenstruktur und -funktion steht noch in den Anfängen. Viele diesbezügliche Fragen werden sich erst mit unserer zunehmenden Kenntnis molekularer Interaktionen zwischen Nukleinsäure und Proteinen stellen und lösen lassen. Dass die Kenntnis der biologischen Funktionen im Telomerenbereich der Chromosomen von großer Bedeutung ist, deutet sich in der Möglichkeit an, dass Telomeren und Telomerasefunktionen eng mit der Regulation des Zellzyklus verknüpft sind und dass die Kontrolle der Telomerenlänge eine wichtige Rolle im Proliferationsverhalten der Zelle, z. B. als Tumorsuppressormechanismus, und für Fragen der Alterung von Zellen spielt. Das wird durch Beobachtungen belegt, nach denen in bestimmten menschlichen Tumorzellen die Aktivität der katalytischen Telomerase-Untereinheit TERT erhöht ist. Generell findet man hohe Telomeraseaktivität in Keimbahnzellen und wenig oder keine Telomerase in somatischen Zellen.
7.1.5 Repetitive DNA Die Untersuchung von Reaktionskinetiken von eukaryotischer DNA ließ bereits frühzeitig erkennen, dass aufgrund unterschiedlicher Sequenzhäufigkeiten mehrere DNA-Sequenzfraktionen unterschieden werden müssen. Am auffälligsten in einigen Organismen waren DNA-Anteile, die besonders schnell renaturierten und einen relativ großen Anteil an der Gesamt-DNA umfassen können. Man bezeichnete diese repetitiven DNA-Fraktionen daher als hochrepetitive DNA (engl. highly repetitive DNA). Zuerst ausführlich untersucht wurde eine hochrepetitive DNA-Fraktion der Hausmaus, Mus musculus, die bereits zuvor als Satelliten-DNA (engl. satellite DNA) bekannt gewesen war.
Die Bezeichnung Satelliten-DNA ist durch die analytische Methodik bedingt, die zur Entdeckung dieser DNA-Fraktion geführt hat. In den frühen 1960er Jahren war Gleichgewichtsultrazentrifugation, vor allem in CsCl oder CsSO4, von DNA eine der wenigen verfügbaren Methoden, um DNA zu fraktionieren. Grundlage der Fraktionierung ist in solchen Experimenten die mittlere Basenzusammensetzung der DNA, da das Kriterium der Trennung die Schwimmdichte (engl. buoyant density) ist. Die Schwimmdichte wird durch die Basenzusammensetzung bestimmt. Während der Zentrifugation stellt sich im Zentrifugenröhrchen ein Gradient aus Cs+-Ionen ein, der schließlich ein Gleichgewicht erreicht, bei unveränderten Zentrifugationsbedingungen unverändert bleibt und unbegrenzt stabil ist. Da die Schwimmdichte der DNA mit abnehmendem AT-Gehalt steigt, erfolgt eine Trennung der DNAMoleküle nach ihrem mittleren AT- (oder GC-) Gehalt. Es zeigt sich, dass bei praktisch allen Eukaryoten der Hauptanteil der DNA-Moleküle einen mittleren GC-Gehalt von etwa 40% hat. In CsCl-Gradienten bedingt das bei 20 °C eine Schwimmdichte von 1,701 g × cm–3. Neben dieser Hauptfraktion, der sogenannten Hauptbande (engl. main band), findet man beinahe immer zusätzliche kleinere Fraktionen, die sich in ihrem jeweiligen GC-Gehalt deutlich von dem der Hauptbande unterscheiden und dadurch eine andere Schwimmdichte besitzen. Im Gleichgewichtsgradienten erscheinen sie daher auch als getrennte Fraktionen, sogenannte Satellitenfraktionen oder Satellitenbanden, da sie von der Hauptmenge der DNA abgetrennt sind (Abb. 7.9). Satellitenbanden können, je nach GC-Gehalt, eine niedrigere oder höhere Schwimmdichte besitzen und daher im Zentrifugenröhrchen über oder unter der Hauptbande erscheinen. Man spricht demgemäß auch von leichten (niedriger GC-Gehalt) oder schweren (hoher GCGehalt) Satelliten-DNAs. Die Beobachtung, dass Satelliten-DNA-Fraktionen selbst zwischen nahe verwandten Organismengruppen in völlig verschiedenen Anzahlen, relativen Mengen der Gesamt-DNA des Genoms und unterschiedlichen mittlerer Basenzusammensetzung auftreten, hatte zunächst zu dem Verdacht geführt, dass es sich hierbei um Viren handelt. Erste Sequenzanalysen, die durch Edwin Southern Ende der 1960er Jahre durchgeführt wurden, schlossen diese Möglichkeit sehr schnell aus. Die Lokalisierung von Satelliten-DNAs im Genom durch in-situ-
237
Kapitel 7: Molekulare Struktur eukaryotischer Chromosomen 1,701
OD 260
238
1,696
ρ [g x cm-3]
Abb. 7.9. Densitometrische Darstellung der Dichteverteilung (OD, optische Dichte) von DNA nach Gleichgewichtszentrifugation im CsCl-Dichtegradienten. In der analytischen Ultrazentrifuge wird die Dichteverteilung an geringen Mengen von DNA ermittelt. Die Abbildung zeigt DNA der Maus (Mus musculus). Die Trennung einer Satelliten-DNA (Dichte ρ = 1,696 g × cm–3) und der Hauptfraktion (90 %) (Dichte ρ = 1,701 g × cm–3) ist gut zu erkennen. (Daten: W. Hennig, Mainz)
Hybridisierung (Technik-Box 13) räumte die letzten Zweifel darüber aus, dass es sich bei SatellitenDNA um integrale Teile des Eukaryotengenoms handelt. ! Hochrepetitive DNA zeichnet sich meist durch
eine besondere, von der Hauptmenge der DNA abweichende Basenzusammensetzung aus. Sie erscheint dann in Gleichgewichtszentrifugationsexperimenten aufgrund ihrer abweichenden Schwimmdichte als Satellitenbande.
repetitive DNA-Sequenzen meist aus sehr einfachen, tandemartig wiederholt angeordneten DNA-Sequenzen bestehen. Die Länge einer dieser wiederholten Sequenzen ist bisweilen äußerst kurz und kann, beispielsweise bei Satelliten-DNA der Hausmaus, nur fünf Basenpaare umfassen, wie Edwin Southern gezeigt hat. In anderen Fällen können solche Grundsequenzen jedoch auch einige Hundert Basenpaare lang sein. Die tandemartig angeordneten DNASequenzen sind in den meisten Fällen nicht identisch, sondern ihre Nukleotidsequenzen weichen im Allgemeinen erheblich von der als Consensussequenz ermittelten Grundsequenz ab, sie divergieren (engl. diverged nucleotide sequences) (Abb. 7.10). Repetitive Elemente des Typs der simple sequence DNA werden oft auch als Mikrosatelliten bezeichnet. Unter diesem Begriff haben sie sich vor allem als Marker zur Kartierung von Genen einen festen Platz im Methodenspektrum der Genetik erobert (s. Kap. 11.4.5). Man vermutet, dass simple sequences oder Mikrosatelliten bei der DNA-Replikation entstehen, wenn kurzzeitig freie DNA-Enden vorliegen. Diese freien Enden können gegenüber dem komplementären Strang um einige Nukleotide versetzt werden. Diese Nukleotide werden dann neu synthetisiert und so dupliziert. Der zufällige Entstehungsmechanismus macht verständlich, dass die aus simple sequences gebildeten Mikrosatelliten bei verschiedenen Individuen sehr heterogene Längen aufweisen. Diese Längenpolymorphismen macht man sich bei der Erstellung genetischer Fingerabdrucke zu Nutze: Durch den Vergleich der Längen dieser Genregionen können sowohl Individuen eindeutig identifiziert als auch Verwandtschaftsbeziehungen (z. B. Vaterschaftsnachweise) aufgeklärt werden. ! Satelliten-DNA besteht aus meist kurzen, tan-
Die Gleichgewichtszentrifugationstechnik gestattete es, Satelliten-DNAs relativ einfach zu isolieren. Die Analyse solcher DNA-Fraktionen hat gezeigt, dass es sich meist um hochrepetitive DNA-Sequenzen handelt, so dass der Begriff Satelliten-DNA heute üblicherweise alternativ zum Begriff hochrepetitive DNA-Fraktion gebraucht wird, obwohl auch andere DNA-Sequenzen als Satellitenfraktion sichtbar werden können. Ein weiterer Begriff, der ebenfalls oft auf hochrepetitive DNA-Fraktionen angewendet wird, ist der von Peter Walker geprägte Begriff simple sequence DNA. Er beruht auf dem Befund, dass hoch-
demartig wiederholt angeordneten DNA-Sequenzrepeats. Die Einzelrepeats weichen im Allgemeinen in ihrer Nukleotidsequenz voneinander ab.
Häufig wird angenommen, dass es sich bei SatellitenDNA ausschließlich um hochrepetitive DNA handelt. Daher soll hier darauf verwiesen werden, dass auch kodierende DNA-Sequenzen als Satelliten-DNA erscheinen können, wenn sie eine von der Hauptmenge der DNA genügend abweichende Basenzusammensetzung haben und in größerer Kopienanzahl im
7.1 Das eukaryotische Chromosom
Amplifikation
Amplifikation
Verteilung über das Genom Ausbreitung in der Population
Weitere Verteilung im Genom Weitere Amplifikationen
Degeneration durch Mutation
Amplifikation einer anderen Sequenz
Abb. 7.10. Modellvorstellung der Evolution von SatellitenDNA. Dieses Modell versucht, die Verteilungs- und Evolutionsmuster von Satelliten-DNA zu erklären. Nach einer lokalen Amplifikation einer Grundsequenz werden Kopien allmählich durch das Genom verstreut. Die verstreuten Kopien degenerieren und sind nicht mehr als Elemente der zuvor amplifizierten DNA-Sequenzfamilie erkennbar. Die ursprünglich amplifizierten Satelliten-DNA-Sequenzen werden im Laufe der Evolution relativ häufig durch neu amplifizierte Sequenzen ersetzt wie die großen Unterschiede in der Ausstattung mit SatellitenDNA zwischen nahe verwandten Organismen beweisen. (Aus Walker 1971)
Genom vorliegen. Das bekannteste Beispiel hierfür ist die extrachromosomale rDNA in Xenopus-Oocyten (s. S. 295). Der Begriff Satelliten-DNA enthält daher keinerlei Definitionen für bestimmte DNA-Sequen-
zen, sondern bezieht sich allein auf die Tatsache, dass bestimmte DNA-Fraktionen im Gleichgewichtsgradienten eine von der Hauptmenge der genomischen DNA abweichende Schwimmdichte zeigen. Funktionell wissen wir bis heute relativ wenig über Satelliten-DNA. Ihre Nukleotidsequenzen schließen in allen bisher bekannten Fällen die Kodierung von Proteinen aus. Transkribiert wird hochrepetitive DNA nur in Ausnahmefällen. So wurden in TriturusOocyten Transkripte solcher DNA-Fraktionen beobachtet. Möglicherweise ist Satelliten-DNA in der Keimbahn generell transkriptionsaktiv. Viele Anzeichen, darunter insbesondere ihre chromosomale Lokalisation, deuten jedoch in erster Linie eher auf strukturelle Aufgaben hochrepetitiver DNA im Chromosom als auf wesentliche stoffwechselphysiologische Funktionen. Damit stimmt überein, dass man solche hochrepetitiven DNA-Sequenzen bevorzugt in Centromeren- und Telomerenbereichen findet (s. S. 230 ff, 234 ff). Neben hochrepetitiver DNA enthalten Eukaryotengenome noch erhebliche Anteile von niedrigerrepetitiven DNA-Sequenzen. Die meisten dieser DNA-Sequenzen sind über das gesamte Genom verstreut zu finden, bilden aber bisweilen ähnliche tandemartige Anordnungen, wie das für hochrepetitive DNA die Regel ist. Da die Häufigkeit solcher DNASequenzen im Allgemeinen sehr viel niedriger ist als die der hochrepetitiven Sequenzfraktionen, unterscheidet man etwas willkürlich „mittelrepetitive“ (engl. middle repetitive) und „niedrigrepetitive“ (engl. low repetitive) Anteile. Beide DNA-Fraktionen gehören Sequenzen an, die man unterschiedlichen Familien repetitiver DNA-Sequenzen zuweisen muss. Ähnlich wie hochrepetitive DNA besteht innerhalb jeder dieser Sequenzfamilien große Sequenzähnlichkeit der verschiedenen Familienangehörigen. Im Gegensatz zu hochrepetitiver DNA sind die Kopien dieser Familien jedoch im Genom verstreut (engl. interspersed repetitive sequences). Wir unterscheiden aufgrund der Größe zwei Klassen von mittelrepetitiven Sequenzen: Kurze Sequenzen von 200 bis 400 bp Länge werden als SINEs (engl. short interspersed element) bezeichnet. Zu ihnen gehören auch die Alu-Elemente, die den größten Teil der mittelrepetitiven Sequenzen des menschlichen Genoms ausmachen. Ihren Namen haben sie aufgrund ihrer Eigenschaft erhalten, dass sie alle die Erkennungssequenz des Restriktionsenzyms AluI enthalten. Alu-Elemente haben eine Größe von ca.
239
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Kapitel 7: Molekulare Struktur eukaryotischer Chromosomen
300 bp und kommen etwa 700 000 bis 1 000 000-mal im menschlichen Genom vor. Die zweite Klasse mittelrepetitiver Sequenzen hat eine Länge von mehreren kb (1,4 bis 6 kb) und wird daher als LINEs (engl. long interspersed element) bezeichnet; sie kommen in geringerer Kopienzahl im Genom vor (60 000 bis 100 000). Aufgrund ihrer Eigenschaft, von bestimmten Restriktionsenzymen geschnitten zu werden, werden sie verschiedenen Familien zugeordnet; die bekannteste ist die KpnFamilie (wird mit dem Restriktionsenzym KpnI geschnitten). Vollständige Elemente dieser Familie enthalten eine Reverse Transkriptase; sie sind daher nichtvirale Retroelemente. Weitere Details der SINEund LINE-Elemente werden aufgrund ihrer Transposon-Eigenschaften dort besprochen (s. Kap. 9). Die Anzahl der Mitglieder einer Sequenzfamilie mittelrepetitiver DNA kann in einem weiten Bereich variieren. So gibt es Sequenzfamilien mit Hunderttausenden von Kopien im Genom, während andere Sequenzfamilien nur 2 bis 10 Kopien umfassen. Im Übrigen ist es schwierig, eine Abgrenzung zwischen mittelrepetitiver und hochrepetitiver DNA auf der Grundlage der Kopienanzahl zu treffen. Es kann durchaus zu Überschneidungen der Häufigkeitsverteilungen kommen, wenn man die Charakteristik des Sequenztypes zur Grundlage der Unterscheidung macht. Die Unterscheidung von hoch- und mittelrepetitiver DNA ist daher bisweilen mehr als eine operationelle Unterscheidung anzusehen. Wie schon bei hochrepetitiver DNA sind auch bei niedrigerrepetitiven DNA-Familien die einzelnen Kopien im Genom nicht notwendigerweise identisch, sondern können in der Sequenz beträchtlich voneinander abweichen. Im Extremfall ist die Zusammengehörigkeit überhaupt nur durch sorgfältige Sequenzvergleiche festzustellen. Im Vergleich zu hochrepetitiven DNA-Sequenzen sind DNA-Sequenzen niedrigerer Repetitionsgrade evolutionär weniger variabel und oft noch in entfernter verwandten Organismen zu finden. Dafür ist teilweise natürlich die verstreute Anordnung im Genom mit verantwortlich. Unter diesen Umständen ist eine Korrektur und Angleichung an eine Grundsequenz, wie sie z. B. in der rDNA erfolgt, gegenüber einer Anordnung in Gruppen generell erschwert. Hauptgrund für die größere Sequenzerhaltung aber ist, dass zu dieser DNA-Fraktion auch Gene gehören. Man kann davon ausgehen, dass Gene im Allgemeinen zumindest in Teilbereichen weniger Veränderun-
gen durch Mutationen im Laufe der Evolution zulassen als DNA-Bereiche, die nicht für Proteine kodieren. Es hat relativ vieler Experimente und letztlich der Anwendung gentechnologischer Methoden bedurft, um zu einem genaueren Verständnis der Zusammensetzung repetitiver DNA-Fraktionen niedriger Repetitionshäufigkeiten zu gelangen. Zusammenfassend lässt sich heute sagen, dass der Hauptanteil an der mittelrepetitiven DNA aus transponierbaren DNASequenzen (Transposons) besteht, also DNA-Sequenzen, die ihre Position im Genom verändern können (s. Kap. 9). Diese DNA-Sequenzfamilien können in der Anzahl vorhandener Kopien äußerst variabel sein. So gibt es im menschlichen Genom transponierbare Elemente mit 300 000 bis 500 000 Kopien im haploiden Genom (z. B. die sogenannten Alu-Sequenzen, s. S. 352). In Drosophila hingegen hat sich die mittlere Größe einer Familie transponierbarer Elemente bei 30 bis 60 Kopien stabilisiert. Ihre Längen können ebenfalls in weiten Bereichen variieren, liegen aber meist zwischen 1 und 8 kb. Neben Transposons gibt es auch eine Anzahl von Genen, die in größeren Kopienzahlen vorhanden sind. Insbesondere sind hier die Gene für strukturelle RNA-Moleküle zu nennen (ribosomale RNA, S. 295), aber auch Proteinkodierende Gene können in größeren Kopienzahlen vorkommen. Als Beispiel seien die Gene für Histonproteine genannt (s. S. 309), die, je nach Organismus, mit 50 bis zu mehreren hundert Kopien im haploiden Genom vertreten sind. ! Neben hochrepetitiver DNA besitzen eukaryoti-
sche Genome größere Anteile an mittel- und niedrigrepetitiven DNA-Sequenzen. Diese sind im Genom verstreut und bestehen aus längeren DNA-Sequenzen als hochrepetitive DNA. Unter solchen DNA-Sequenzen befinden sich auch Gene. Ein anderer Teil mittelrepetitiver DNA-Sequenzen gehört zur Klasse der „mobilen genetischen Elemente“ (Transposons).
Abschließend soll hier noch eine Fraktion repetitiver DNA-Sequenzen erwähnt werden, die sich von den bisher besprochenen repetitiven DNA-Sequenzen grundsätzlich dadurch unterscheidet, dass sie nicht mit einer Reaktionskinetik 2. Ordnung reassoziiert, sondern als Reaktion 1. Ordnung, also nach Art einer monomolekularen Reaktion. Das bedeutet, dass es
7.1 Das eukaryotische Chromosom
sich um intramolekulare Renaturierung handeln muss. Die Kinetik 1. Ordnung unterscheidet sich von der einer Reaktion 2. Ordnung dadurch, dass sie nicht von der Zeit oder der Konzentration der Reaktionspartner abhängig ist. Die Renaturierungsgeschwindigkeit dieser DNA-Fraktionen ist so hoch, dass man sie mit der normalen Messung einer Renaturierungskinetik praktisch nicht erfasst, da die Renaturierung bereits beendet ist, wenn man mit der Messung beginnt. Es fiel bei Renaturierungsexperimenten bereits frühzeitig auf, dass praktisch in allen eukaryotischen Genomen eine solche schnelle Anfangsreaktion zu beobachten ist, die etwa 1 % der DNA umfassen kann. Elektronenmikroskopische Untersuchungen, und spätere DNA-Sequenzanalysen zeigten, dass es sich hierbei um denaturierte DNA-Moleküle handelt, die aufgrund interner gegenläufiger (d. h. invertierter) komplementärer Nukleotidsequenzen einen (partiellen) Doppelstrang formen (Abb. 7.11). Solche gegenläufigen komplementären Sequenzbereiche werden auch als inverted repeats, und die gebildeten Molekülstrukturen als fold-back-Elemente oder Palindrome bezeichnet. Gemeinsam ist ihnen, dass sie im Allgemeinen einen internen, nichtkom-
Abb. 7.11. Foldback-Renaturierung. Gegenläufige DNA-Sequenzen innerhalb eines Stranges (rot) können Doppelstrangregionen formen. Befindet sich zwischen diesen invertierten Sequenzbereichen ein nichtinvertierter DNA-Abschnitt, so formt er bei einer Einzelstrangbasenpaarung eine Einzelstrangschleife oder hairpin loop. Den gepaarten Einzelstrangbereich bezeichnet man auch als Stamm. Solchen Strukturen kommen beispielsweise wahrscheinlich Funktionen in Zusammenhang mit Transpositionsmechanismen (s. S. 341 f ) zu
plementären DNA-Abschnitt enthalten, der im Renaturierungsprodukt als Einzelstrangschleife (engl. hairpin loop) zu finden ist. Es ist inzwischen geklärt, dass solche DNA-Sequenzen überwiegend Teile von Transposons sind. Es besteht ein Zusammenhang der DNA-Struktur mit dem Integrationsmechanismus, der für die Insertion des Transposons ins Genom verantwortlich ist (Abb. 9.2). Aber auch Regulationselemente in der DNA können Palindromcharakter besitzen (Abb. 3.18). ! Ein kleiner Teil eukaryotischer DNA-Sequenzen zeichnet sich durch intramolekulare gegenläufig komplementäre Sequenzbereiche (inverted repeats) aus. Die gebildeten Molekülstrukturen, sogenannte foldback-Elemente (Palindrome), vermögen durch Basenpaarungen Einzelstrangschleifen (hairpin loops) zu formen. Viele solcher Sequenzen stehen in Zusammenhang mit der Beweglichkeit bestimmter DNAElemente im Genom. Andere repräsentieren Regulationssequenzen.
5' – GGG C C A T T A G A T T GG C C C C C G A A T C T A A T T T G T G A T G – 3' 3' –
C C C G G T A A T C T A A C C G G G G G C T T A G A T T A A A C A C T A C – 5'
C G G
C C
T T A G A T T 5' – G GGC C A 3' –
C
C G A A T C T A A T T T G T G A T G – 3'
C C CGG T A A A C A C T A C – 5' A T A T T A C G T A A T A T C C C G G G G G
241
242
Kapitel 7: Molekulare Struktur eukaryotischer Chromosomen
Tabelle 7.2. Eigenschaften repetitiver DNA-Sequenzen Bezeichnung
Sequenztyp
Lokalisation
Sequenzen mit bekannter Funktion
hochrepetitive DNA, simple sequence DNA oder Satelliten-DNA
kurz (5 bis einige Hundert bp)
vorwiegend im Heterochromatin
unbekannt
mittelrepetitive DNA
mehrere Hundert bp bis mehrere kb
verteilt im Genom in vielen Positionen
Transposons, Genfamilien
Einzelkopie DNA
mehrere kb
im gesamten Genom
Gene
In Tabelle 7.2 ist eine Übersicht über die Eigenschaften repetitiver DNA-Sequenzen zusammengestellt. Wir können erkennen, dass die zunächst rein operationalle Einteilung in Sequenzklassen unterschiedlicher Repetitionshäufigkeiten zur Entdeckung verschiedener wichtiger Grundbausteine eukaryotischer Genome geführt hat. Die Anwendung von in-situ-Hybridisierung zur Lokalisation hochrepetitiver DNA-Sequenzen ergab, dass diese vornehmlich in heterochromatischen Chromosomenregionen, insbesondere in Centromeren- und Telomerenbereichen, aber auch in konstitutiv heterochromatischen Chromosomenarmen, stark angereichert sind. Das ist auch mit dem Befund, dass im Allgemeinen keine Transkripte solcher DNASequenzen beobachtet werden, vereinbar. Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Betrachtung hochrepetitiver DNA ist, dass Satelliten-DNA-Fraktionen evolutionär schnellen Veränderungen unterworfen sind. Das kann nur bedeuten, dass das Genom über Eliminations- und Amplifikationsmechanismen verfügt, die gemeinsam in der Lage sind, eine vorhandene hochrepetitive DNA-Fraktion kurzfristig und relativ vollständig durch eine neue zu ersetzen. Geht man von der Lokalisation von hochrepetitiver DNA im Heterochromatin aus, so drängt sich die Vermutung auf, dass sie mit dem besonderen Verpackungsmodus der DNA in diesen Genombereichen, zumindest aber mit der Bindung spezieller chromosomaler Proteine in Verbindung gebracht werden müssen. Auch die Lokalisation in Centromerenbereichen spricht hierfür.
7.2 Variabilität der Chromosomen und Dosiskompensation 7.2.1 Die Variabilität der Chromosomen Der kurze Abriss der wesentlichsten Eigenschaften von Chromosomen, wie sie von der klassischen Cytologie verstanden worden sind, hat einen wichtigen Gesichtspunkt außer acht gelassen: den der Variabilität in der Morphologie der Chromosomen, wie sie bereits mit einfachen cytologischen Methoden erkennbar ist. Zwei grundlegende Beobachtungen an Chromosomen, die bereits mit einfachen Mikroskopen möglich waren, sind einerseits die generelle Konstanz der Chromosomenanzahl in den verschiedenen Zellen eines Organismus und zugleich innerhalb einer biologischen Art (Spezies) oder Unterart. Ausnahmen findet man lediglich in den Keimzellen einiger Organismen, die eine abweichende Chromosomenanzahl besitzen. Diese Besonderheiten sollen in einem besonderen Abschnitt besprochen werden (s. S. 258). Im Gegensatz zu dieser Uniformität der Chromosomen innerhalb eines Organismus und zwischen Organismen einer Art steht die große Variabilität der Chromosomenanzahlen und -morphologie, die man beim Vergleich verschiedener Arten und vor allem höherer Gruppen des Tier- und Pflanzenreiches findet (Tabelle 7.1). Weder die Anzahl noch die Gestalt der Chromosomen weist dabei eine Korrelation zur
7.2 Variabilität der Chromosomen und Dosiskompensation
Entwicklungshöhe des betreffenden Organismus auf. Einzellige Organismen, wie etwa Ciliaten, können eine große Anzahl von Chromosomen besitzen, komplexe Vielzeller hingegen wenige (Tabelle 7.1). In manchen Organismengruppen allerdings wird offensichtlich eine größere evolutionäre Erhaltung einer bestimmten Chromosomenanzahl angestrebt als in anderen. Es bleibt offen, ob das mit der Tendenz zu einer relativ einheitlichen Genomgröße zusammenhängt, oder ob hier auch eine Stabilisierung der Chromosomenanzahl selbst eine Rolle spielt. Beispielsweise liegen die Chromosomenzahlen von Säugern im Allgemeinen zwischen 2n = 40 bis 50. Teleostier hingegen besitzen meist sehr viele und kleine Chromosomen, so wie Vögel ganz allgemein durch den Besitz vieler Minichromosomen gekennzeichnet sind.
Bandierungsmuster Mit neueren Techniken der Chromosomenuntersuchung erzielt man eine viel tiefere Einsicht in die strukturelle Differenzierung und Vielgestalt eukaryotischer Pro- und Metaphasechromosomen als mit den klassischen Methoden der Mikroskopie. Bei der Anwendung von besonderen Färbungsverfahren, die als Bänderungstechniken bezeichnet werden, kann man ein früher ganz unerwartetes Maß an Auflösung in der Chromosomenfeinstruktur erreichen. Sie erlaubt die eindeutige individuelle Identifikation eines jeden Chromosoms auch in Organismen, deren Karyotyp früher eine Unterscheidung der verschiedenen Chromosomen allenfalls in der sehr groben Form von Chromosomengruppen gestattete. Als Karyotyp bezeichnet man die Gesamtheit der Eigenschaften eines Chromosomensatzes, also die Anzahl und die spezifische Form der einzelnen Chromosomen. Das beste Beispiel für die Vorteile der erhöhten Auflösung durch Bänderungstechniken sind menschliche Chromosomen, bei denen man mit herkömmlichen Techniken lediglich 7 Chromosomengruppen (A–G) und 2 Geschlechtschromosomen auf der Grundlage ihrer Größenunterschiede identifizieren konnte (Abb. 7.12). Eine genauere Analyse ist jedoch aus humangenetischer Sicht, insbesondere für die Chromosomenanalyse in Zusammenhang mit genetischer Familienberatung, von entscheidender Bedeutung. Die Anwendung differenzieller Färbungsmethoden hat zudem früher ungeahnte Möglichkeiten für eine äußerst genaue Kartierung jedes einzelnen Chromo-
soms gegeben. Diese Genauigkeit der Kartierung gestattet es nunmehr,allein schon durch Stammbaumanalysen (s. Kap. 14.1.4) in Kombination mit vergleichenden Chromosomenuntersuchungen Gene im menschlichen Genom sehr genau zu kartieren (Abb. 7.13). Hinzu kommen neue Techniken der in-situ-Hybridisierung (Chromosomenpainting), die den Anwendungsbereich der Bänderungstechniken noch erweitern (s.Abb. 7.12b). Man unterscheidet heute im Wesentlichen vier Färbemethoden, die unterschiedliche, aber genau reproduzierbare Färbungsmuster der Chromosomen ergeben. G-Banden erhält man nach einer Vorbehandlung in warmer Salzlösung oder mit proteolytischen Enzymen (Proteinase K oder Pronase E) und anschließender Giemsafärbung oder durch die Verwendung AT-spezifischer Fluoreszenzfarbstoffe (z. B. DAPI, DIPI). Q-Banden sieht man als fluoreszierende Chromosomenabschnitte nach Quinacrinfärbung. RBanden (engl. reversed bands) erkennt man nach einer Behandlung mit Fluoreszenzfarbstoffen, die bevorzugt GC-reiche DNA anfärben (z. B. Mithramycin, Acridinorange). Schließlich findet man CBanden nach Behandlung der Chromosomen mit Alkali und Säure und anschließender Giemsafärbung. Dass es sich hierbei um keine zufälligen Eigenschaften chromosomaler Verpackung handelt, wird durch zwei Tatsachen belegt. Zum einen findet man, dass bestimmte Bänderungsmuster im Laufe der Evolution, zwar in veränderten chromosomalen Positionen, aber im Übrigen doch strikt konserviert erhalten bleiben. Solche Befunde wurden vor allem bei der vergleichenden Untersuchung von Primatenkaryotypen gemacht. Offenbar bleiben bestimmte Genkombinationen in der gleichen Gruppierung von Banden erhalten, durchlaufen aber chromosomale Verschiebungen ganzer Gruppen von Banden. Zum anderen weisen bestimmte Bandenmuster wie das G- und das R-Bandenmuster eine enge Korrelation zur DNA-Synthese der betreffenden Chromosomenabschnitte auf. Das zeigt, dass die Möglichkeit, bestimmte Chromosomenbereiche differenziell zu färben, eine grundlegende strukturelle Eigenschaft der Organisation von Chromosomen reflektieren muss: Banden zeigen chromosomale Organisationseinheiten an, deren molekulare Struktur bisher unverstanden ist. Einer der Bandentypen, die C-Banden, lässt sich spezifisch bestimmten heterochromatischen Chromosomenbereichen zuordnen.
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Kapitel 7: Molekulare Struktur eukaryotischer Chromosomen
Abb. 7.12. a Menschliche Chromosomen mit 850 Banden. Die relative Länge von Chromosomen und Banden basiert auf exakten Messungen. (Vogel u. Motulsky 1996),
7.2 Variabilität der Chromosomen und Dosiskompensation
Abb. 7.12. b Neue Untersuchungstechniken gestatten es, die einzelnen Chromosomen individuell zu färben und somit eindeutig zu identifizieren. Da diese Färbung auf in-situ-Hybridisierung mit chromosomenspezifischen Proben durchgeführt werden, können nicht nur Aneuploidien, sondern auch Translokationen leicht erkannt und bestimmten Chromosomen zugeordnet werden (Photo: Ilse Chubda)
Die Erstellung von Bänderungskarten der menschlichen Chromosomen hat große Bedeutung für die genetische Kartierung erlangt. Nicht nur Stammbaumanalysen in Zusammenhang mit erblichen Krankheiten, sondern auch molekulare Techniken, mit denen die Isolierung menschlicher Gene möglich ist, gestatten es, durch geeignete Methoden deren chromosomale Lokalisation in bestimmten Chromosomenbanden zu ermitteln. Es sind umfangreiche Genkarten mit Hilfe dieser Techniken erstellt worden. Zu Details siehe Technik-Box 14. ! Nach geeigneter Vorbehandlung und anschlie-
ßender Färbung mit bestimmten Farbstoffen werden in Pro- und Metaphasechromosomen Querbandenmuster sichtbar, die für jedes Chromosom charakteristisch sind. Das ermöglicht die Ausarbeitung von Bänderungskarten für einen Karyotyp. Diese cytogenetische Kartierung hat große Bedeutung für die Humangenetik, da sie eine Möglichkeit bietet, chromosomale Defekte im Lichtmikroskop aufzufinden.
Abb. 7.13. Chromosomenpainting durch Fluoreszenz-in-situHybridisierung (FISH) mit einer DNA-Sequenz, die spezifisch Chromosom 11 erkennt. Der Karyotyp zeigt eine Metaphase aus HeLa D98/AH-2-Zellen. Es handelt sich um eine Zellkultur eines hochmalignen cervikalen Adenokarzinoms des Menschen (Patient: Henrietta Lacks, daher HeLa), die seit langem als Standardzellkultur gebraucht wird. Der Karyotyp der HeLa D98/AH-2-Linie ist im Gegensatz zu vielen anderen Zellkulturen besonders stabil. Er zeigt in mehr als 50% der Zellen 61 Chromosomen, mit spezifischen Monosomien, Trisomien und Markerchromosomen, die von Chromosomenrearrangements abstammen. Die Identität verschiedener dieser Chromosomen konnte erst durch FISH ermittelt werden, da auch die Analyse der Bandierungsmuster keine vollständigen Aufschluss über die Herkunft der Fragmente erbrachte. Die Fluoreszenz identifiziert spezifisch und ausschließlich Chromosom 11. Die zur Hybridisierung verwendete Probe besteht aus einer Mischung von DNA-Sequenzen, die ausschließlich auf Chromosom 11 zu finden sind. (Photos: D. Rueß und C. Grond, Heidelberg)
Geschlechtschromosomen Betrachten wir den diploiden Karyotyp (die Gesamtheit der Chromosomen in ihrer spezifischen Form und Größe) eines beliebigen Organismus, so werden wir in vielen Fällen feststellen können, dass sich ein oder mehrere Chromosomen auf der Basis ihrer identischen Morphologie oder Bandierungseigenschaften nicht als homologe Chromosomen klas-
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Kapitel 7: Molekulare Struktur eukaryotischer Chromosomen
sifizieren lassen (Abb. 7.14 b). Es lässt sich leicht feststellen, dass diese Schwierigkeit meist nur für ein Geschlecht besteht, während sich im anderen Geschlecht alle Chromosomen völlig normal in Zweiergruppen sortieren lassen (Abb. 7.14 a): Hierbei fehlt das eine der beiden ungleichen Chromosomen des anderen Geschlechtes, während das andere doppelt, also diploid vorhanden ist wie alle übrigen Chromosomen auch. Ganz offensichtlich besteht also ein Zusammenhang des Vorhandenseins dieses morphologisch abweichenden Chromosoms mit dem Geschlecht des Organismus. Derartige Chromosomen werden daher als Geschlechtschromosomen bezeichnet – im Gegensatz zu allen übrigen Chromosomen, die man Autosomen nennt. Die wichtigste Konsequenz des Besitzes von unterschiedlichen Geschlechtschromosomen wird uns bei der Betrachtung der Meiose deutlich: Die Gameten besitzen zur Hälfte jeweils das eine oder das andere Geschlechtschromosom. Im Geschlecht mit identischen Geschlechtschromosomen gibt es diesen Unterschied in den Gameten natürlich nicht. Welches Geschlecht dabei die „normale“ und welches die abweichende Chromosomenkonstitution zeigt, hängt vom Organismus ab. Bei Säugern beispielsweise ist das Männchen das heterogametische Geschlecht, während bei Vögeln oder bei Schmetterlingen (Lepidopteren) das Weibchen heterogametisch ist. Zur nomenklatorischen Kennzeichnung von Geschlechtschromosomen verwendet man generell die Namen Xund Y-Chromosom, wenn das Männchen heterogametisch ist, oder W- (≈Y) und Z-Chromosom (≈X), wenn das Weibchen heterogametisch ist. In einem Fall haben also die Weibchen die Geschlechtschromosomenkonstitution XX, die Männchen die Konstitution XY, im anderen die Weibchen die Geschlechtschromosomen WZ, die Männchen ZZ. Nicht bei allen Organismen findet man unterschiedliche Geschlechtschromosomen in einem der Geschlechter. Bei manchen Tiergruppen besitzt das heterogametische Geschlecht lediglich ein Geschlechtschromosom im diploiden Satz, während dasselbe Chromosom im homogametischen Geschlecht doppelt vorhanden ist. In diesem Fall kennzeichnen wir die Geschlechtschromosomenkonstitutionen mit XX und X0. Wir können diese Beobachtung, mehr noch als die Strukturunterschiede in Organismen mit zwei verschiedenen Geschlechtschromosomen, als Hinweis darauf verstehen, dass Geschlechtschromosomen funktionell,
Abb. 7.14 a,b. Metaphasechromosomen von Drosophila melanogaster. a Weibchen mit zwei X-Chromosomen, b Männchen mit einem X- und einem Y-Chromosom. Zwei der Autosomenpaare sind metazentrisch, das dritte Paar ist punktförmig
also hinsichtlich ihrer genetischen Information, nicht identisch sind. Im Prinzip sind die Geschlechtschromosomen im heterogametischen Geschlecht stets haploid, ein Zustand den man auch als hemizygot bezeichnet. Für die Ausprägung der auf hemizygoten Chromosomen lokalisierten Gene hat das schwerwiegende Konsequenzen, denn ein dort vorhandenes Allel wird stets voll ausgeprägt, unabhängig davon, ob es im anderen (homogametischen) Geschlecht rezessiv oder dominant erscheint. Cytologen bezeichnen Geschlechtschromosomen aufgrund der unterschiedlichen Morphologie auch als heteromorph und nennen sie dementsprechend Heterosomen. Obwohl weit weniger gebräuchlich, ist diese Bezeichnung in mancher Hinsicht zweckmäßiger als der Begriff Geschlechtschromosomen, denn dieser suggeriert eine direkte Funktion des Chromosoms bei der Geschlechtsbestimmung des Organismus. Das ist jedoch nur bedingt richtig, wie später noch gezeigt wird (s. Kap. 13.5.5). Das Geschlechtschromosom des Männchens von Drosophila, das YChromosom, hat zum Beispiel keinerlei geschlechtsbestimmende Funktionen, während beim Menschen wichtige männliche geschlechtsbestimmende Gene auf dem Y-Chromosom liegen. In beiden Fällen ist das männliche Geschlecht heterogametisch, wie uns die Bezeichnung der Geschlechtschromosomen verrät. Nicht näher eingegangen wird hier auf Fälle multipler Geschlechtschromosomen, wie sie z. B. bei einigen Marsupialiern (Beuteltieren), Rodentiern (Nagern), anderen Vertebraten, aber auch bei Insekten oder Pflanzen gelegentlich beobachtet werden. Es
7.2 Variabilität der Chromosomen und Dosiskompensation
können in solchen Fällen mehrere X- oder Y-Chromosomen vorhanden sein. Der Erbgang von Geschlechtschromosomen ist nicht nur von großer praktischer Bedeutung, sondern seine Erforschung hat grundlegende Mechanismen der Chromosomenverteilung in Meiose und Mitose aufgedeckt (s. Kap. 6.3.1 und 6.3.2). Sein Verständnis ist daher besonders wichtig. ! Bei vielen Organismen findet man Geschlechts-
chromosomen (Heterosomen), die sich von den übrigen Chromosomen (Autosomen) dadurch unterscheiden, dass sie sich trotz ihres homologen Charakters morphologisch unterscheiden. Während das eine Geschlecht zwei identische Geschlechtschromosomen besitzt (es ist homogametisch), ist das andere durch zwei unterschiedliche Geschlechtschromosomen heterogametisch. Heterogametie kann im männlichen (X/ Y-Chromosomen) oder weiblichen Geschlecht (W / Z-Chromosomen) auftreten. In manchen Organismen fehlt das zweite Geschlechtschromosom im heterogametischen Geschlecht ganz (X / O-Typ) oder es sind mehr als zwei Geschlechtschromosomen vorhanden.
Lampenbürstenchromosomen Bisher haben wir eine Form von Variabilität der Chromosomenstruktur betrachtet, die den Organismus insgesamt betrifft, also mit seiner genetischen Ausstattung in Beziehung steht. Variabilität der Chromosomenstruktur findet man aber auch, wenn man verschiedene Zelltypen vergleicht. Es gibt gute Gründe zu vermuten, dass solch eine Variabilität mit der Funktion der Chromosomen in den betreffenden Zelltypen zu tun hat. Eine ungewöhnliche cytologische Struktur finden wir beispielsweise bei den Prophasechromosomen einiger Organismen während der ersten meiotischen Teilung. Ganz allgemein sind meiotische Prophasechromosomen durch die vielen Chromomeren charakterisiert, die sich perlschnurartig auf den Chromosomenachsen zeigen. In manchen Organismen bilden sich – meist in der weiblichen Keimbahn – von diesen Chromomeren schleifenartige Strukturen aus, sogenannte Lampenbürstenschleifen, die den Chromosomen ein diffuses Aussehen geben (Abb. 7.15). Wegen ihres Erschei-
Abb. 7.15. Lampenbürstenchromosomen. Bivalent IX aus einer Oocyte von Pleurodeles waltlii in einer Phasenkontrastaufnahme. Die beiden Homologen berühren sich lediglich in einigen Chiasmata. Neben einer großen Anzahl morphologisch ähnlicher Schleifen, die sich nur in ihren Längen unterscheiden, erkennt man eine Sphäre (Pfeil) und zwei ungepaarte globuläre Schleifen (Pfeilkopf). Es handelt sich hierbei um charakteristische Landmark-Schleifen, die zur Identifikation des betreffenden Bivalents dienen können. (Aus Angelier et al. 1986)
nungsbildes werden diese Chromosomen auch Lampenbürstenchromosomen (engl. lamp-brush chromosomes) genannt, da sie im Extremfall den früher zur Reinigung von Petroleumlampen gebräuchlichen Bürsten ähnlich sehen (Abb. 7.16). Solche Lampenbürstenchromosomen sind vor allem in den primären Oocyten vieler Organismen zu beobachten, treten jedoch bisweilen auch im primären Spermatocytenstadium auf.
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Kapitel 7: Molekulare Struktur eukaryotischer Chromosomen
Abb. 7.16 a,b. Schematische Darstellung der Feinstruktur der Lampenbürstenchromosomen. a Links oben ist ein Bivalent in seiner Grundstruktur wiedergegeben. Die paarigen lateralen Schleifen sind rechts und unten vergrößert zu sehen. Jede der
Schleifen wird von einer der Chromatiden eines Chromosoms durch Dekondensation der DNA im Zusammenhang mit der Transkription geformt. b Cytologische Struktur verschiedener Bivalente. (Aus Callan 1963 und Gall 1956)
Am eindrucksvollsten sind Lampenbürstenschleifen bei einigen Amphibienarten ausgebildet. An der Basis einer jeden Schleife befindet sich ein Chromomer. Die Anzahl der Schleifen entspricht ungefähr der der Chromomeren. Es werden also Tausende von Schleifen geformt, jedoch scheint nicht jedes Chromomer Schleifen auszubilden. Da es sich um Prophasechromosomen handelt, ihre Chromatiden also bereits verdoppelt sind, wird jeweils ein Paar von Schleifen gebildet, dessen einer Partner jeweils einer Chromatide zuzuordnen ist. Während der Oocytenentwicklung, die bei Amphibien normalerweise ein halbes Jahr oder noch viel länger andauern kann, sind einige Veränderungen in der Ausbildung von Schleifenpaaren zu beobachten, d. h. nicht alle Schleifenpaare sind während der gesamten meiotischen Prophase I zu sehen. Während nun die Mehrzahl dieser Schleifen eine sehr einheitliche Struktur aufweist und sich nur in der Länge unterscheidet, fällt eine Minderheit durch eine besondere, für jede Schleife charakteristische Morphologie auf. Da sie hierdurch zur Identifikation und Kartierung der jeweiligen Chromosomen geeignet sind, werden sie in der englischen Literatur als landmark loops bezeichnet. Besonders deutlich ist eine solche abweichende Morphologie bei den giant granular loops des Molches Notophthalmus zu erkennen (Abb. 7.17). Diese Schleifen bestehen aus einer homogenen Grundmasse, in
die Körnchen unterschiedlicher Größe eingebettet sind. Sie unterscheiden sich auch in ihren Transkriptionseigenschaften von den meisten übrigen Schleifen. Lässt man sie nämlich in Gegenwart radioaktiv
Abb. 7.17. Lampenbürstenchromosomenschleifen von Notophthalmus viridescens. Durch Hybridisierung mit 3H-markierter RNA wurden die wachsenden Transkripte an der Schleife radioaktiv markiert und anschließend autoradiographisch sichtbar gemacht. Die markierte Probe ist komplementär zu den neusynthetisierten RNA-Molekülen an der DNA-Achse. Es wird spezifisch die RNA im sphere-Locus im Chromosom 6 markiert. (Aus Gall et al. 1981)
7.2 Variabilität der Chromosomen und Dosiskompensation
markierter RNA-Vorstufen (z. B. 3H-Uridin) für kurze Zeit (wenige Stunden) RNA synthetisieren (eine sogenannte Pulsmarkierung), so sind sie nur in einem Teilbereich, beginnend an einem Ende, radioaktiv markiert, wie die anschließende Autoradiographie zeigt. Die Länge des radioaktiven Teilbereiches nimmt mit der Inkubationszeit zu, bis nach etwa 24 Stunden die gesamte Lampenbürstenschleife radioaktiv markiert ist. Das kann nur bedeuten, dass sie nicht über die ganze Länge transkriptionsaktiv ist. Der molekulare Mechanismus, der diesem Markierungsmuster zugrunde liegt, ist bisher nicht verstanden. Wir müssen Lampenbürstenschleifen jedenfalls als aktive Gene ansehen.So stellt sich die Frage,welche Beziehung zwischen Lampenbürstenschleifen und Genen besteht. Die Länge der Lampenbürstenschleifen in manchen Arten, wie beispielsweise Notophthalmus, übersteigt bei weitem die Länge einzelner Gene. Durch in-situ-Hybridisierungsexperimente konnten Joseph G. Gall und seine Mitarbeiter zeigen, dass zumindest ein Teil der Schleifen mehrere Transkriptionseinheiten beherbergt. Diese Beobachtung schließt an die Befunde an Riesenchromosomen an, deren Querscheiben ebenfalls oft mehr als eine Transkriptionseinheit enthalten (s. S. 252). In der klassischen Cytologie ist man hingegen davon ausgegangen, dass Chromomeren die cytologischen chromosomalen Äquivalente einzelner Gene sind. Inwieweit Lampenbürstenschleifen (und Querscheiben in Riesenchromosomen) tatsächlich ausschließlich mit den Chromomeren meiotischer Prophasechromosomen zu korrelieren sind, ist jedoch nach wie vor eine offene Frage. Eine völlige Übereinstimmung eines Lampenbürstenschleifenbereiches mit dem Bereich eines einzelnen Gens kann heute ausgeschlossen werden, wenn man ein Gen als die DNA-kodierende Region für ein Protein ansieht (s. auch Diskussion des Genbegriffes, S. 8). Es wäre mit Sicherheit eine grobe Vereinfachung, Lampenbürstenschleifen einfach als Orte erhöhter Transkription zu betrachten. Warum sind sie dann auf die meiotische Prophase beschränkt? Ganz offenbar erfüllen sie für die Keimzellentwicklung wichtige Stoffwechselfunktionen. Besonders deutlich wird das an Lampenbürstenschleifen, die von Fertilitätsgenen im YChromosom von Drosophila während des primären Spermatocytenstadiums ausgebildet werden, wie Meyer, Hess und Beermann zu Beginn der 1960er Jahre feststellten. Offenbar ist die Ausbildung solcher
großer Lampenbürstenschleifen, wie sie besonders gut ausgebildet bei D. hydei gefunden werden, eine Besonderheit einer begrenzten Anzahl von Drosophila-Arten, während kleinere Schleifen des Y-Chromosoms wohl bei den meisten, wenn nicht allen Drosophila-Arten, zu finden sind. Große Lampenbürstenschleifen in D. melanogaster, D. hydei und einigen anderen Arten enthalten mehr als 250 000 Basenpaare (bisweilen weit über 1 000 000 bp) DNA, wie die elektronenmikroskopische Darstellung transkriptionsaktiver Lampenbürstenschleifen beweist. Die DNA dieser Y-chromosomalen Lampenbürstenschleifen ist in sehr komplexer Weise aus repetitiven (wiederholten) DNA-Sequenzen aufgebaut. Neuerdings wurde ein Dynein-Gen im YChromosom nachgewiesen. Es ist jedoch fraglich, ob dieses Gen einer Transkriptionseinheit innerhalb einer Lampenbürstenschleife zugeordnet werden kann. Vieles spricht dafür, dass diese riesigen Transkriptionseinheiten, die die Lampenbürstenschleifen bilden, in ihrer Hauptfunktion keine Protein-kodierenden Eigenschaften aufweisen. Vielmehr dienen die noch an der DNA befindlichen Transkripte wahrscheinlich der Bindung von Kernproteinen. Sie tragen also zu einer Kompartimentierung des Kerns bei, wie sie in letzter Zeit für verschiedene Moleküle beobachtet wurde. Man kann daher diese Lampenbürstenschleifen auch als ein weiteres Beispiel für übergeordnete Funktionen von Chromosomen im Kernstoffwechsel ansehen, wie wir sie in der Bindung von Lamin an die Chromosomen über die Mitose hinweg erwähnen (s. S. 182) und in der Form der centromerassoziierten chromosomal passenger proteins besprechen (s. S. 231). ! In manchen Organismen werden in der Prophase der ersten Reifeteilung Lampenbürstenchromosomen gebildet. Von den Chromomeren auf der Chromosomenachse werden zwei laterale symmetrische Schleifen ausgebildet, die transkriptionsaktiv sind. Jede dieser Schleifen ist einer der Chromatiden zuzuordnen.
Polytäne Chromosomen (Riesenchromosomen) Ein anderer Typ von cytologisch ungewöhnlichen Chromosomen lässt sich in manchen Geweben, vor
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Kapitel 7: Molekulare Struktur eukaryotischer Chromosomen
allem von Insekten, beobachten. Sie zeichnen sich durch eine ungewöhnliche Größe und einen großen strukturellen Detailreichtum aus (Abb. 7.18). Aufgrund ihrer Größe werden diese Chromosomen Riesenchromosomen oder polytäne Chromosomen genannt. Diese Bezeichnung beschreibt den Aufbau dieser Chromosomen: Sie bestehen aus einer großen Anzahl exakt gepaarter Chromatiden, die durch wiederholte Replikation der chromosomalen DNA ohne darauffolgende Zell- und Kernteilungen entstehen. Eine wichtige Eigenart von Riesenchromosomen ist ihr Querscheibenmuster. Man spricht auch von Banden, die auf den Chromosomen quer zu ihrer Längsrichtung zu beobachten sind. Diese Querscheiben entstehen dadurch, dass die chromosomale DNA in diesen Chromosomenbereichen stärker konzentriert ist als in den beiderseitig angrenzenden Chromosomenabschnitten, den Interbanden. Die Banden oder Querscheiben sind zwar in ihrer Anordnung längs der Chromosomenachse sowohl in ihrer Dicke als auch im Abstand sehr variabel, kennzeichnen aber gerade dadurch eine bestimmte Chromosomenregion eindeutig. In unterschiedlichen Zellen und Entwicklungsstadien sind die Querscheiben eines bestimmten Chromosomenabschnittes im Prinzip stets gleich. So kann man sie, ähnlich wie die land-
mark loops von Lampenbürstenchromosomen, zur Identifizierung nicht nur des Chromosoms, sondern auch der genauen Position innerhalb eines Chromosoms, also zur Feinkartierung, benutzen. Man hat daher für Organismen, für die eine Kartierung von Interesse ist, Chromosomenkarten auf der Grundlage der Querscheibenmuster erstellt. Am besten ausgearbeitet sind die Riesenchromosomenkarten von Drosophila melanogaster, die eine wichtige Grundlage für genetische und molekulare Analysen des DrosophilaGenoms geworden sind (Abb. 7.18). Bereits frühzeitig hat man eine Verbindung zwischen Querscheiben und den Chromomeren der meiotischen Prophasechromosomen vermutet. Übereinstimmend mit der Interpretation der Bedeutung von Chromomeren hat man geschlossen, dass Querscheiben die chromosomalen Orte der Gene sind, während Interbanden eine Art Brückenfunktion zugeschrieben wurde. Dieses Modell wurde auch durch die Beobachtung unterstützt, dass die Konstanz der Querscheibenstruktur eines Chromosoms nicht absolut ist. Genaue Vergleiche ließen erkennen, dass sehr charakteristische lokale Veränderungen in unterschiedlichen Geweben oder im Laufe der Entwicklung des Organismus auftreten können (Abb. 7.19). Wolfgang Beermann hatte 1952 erkannt, dass diese Veränderungen eine Folge sich ändernder Genaktivität sind. Bei Abb. 7.18. Cytologische Karte der Riesenchromosomen von Drosophila melanogaster. Die Chromosomen sind aufgrund ihres Bandenmusters in Regionen unterteilt, die der Kartierung von Genen dienen. Die hier gezeigte ursprüngliche Karte ist inzwischen durch spätere cytologische Arbeiten ergänzt worden. (Verändert nach Painter 1933)
7.2 Variabilität der Chromosomen und Dosiskompensation
Beginn der Transkription eines Gens wird die DNA einer Querscheibe dekondensiert und damit für die an der RNA-Synthese beteiligten Moleküle und Enzyme zugänglich. Die Region verliert ihre starke Lichtbrechung im Phasenkontrastmikroskop (und zugleich ihre verstärkte Färbbarkeit durch DNA-spezifische Farbstoffe). Man bezeichnet solche Chromosomenregionen als Puffs. Puffs können bisweilen mehrere benachbarte Querscheiben einschließen, oder sich sogar schrittweise über eine Reihe von Querscheiben hinwegbewegen. Besonders große Puffs nennt man nach ihrem Entdecker E.G. Balbiani (1881) BalbianiRinge. Am bekanntesten sind die Balbiani-Ringe in den Riesenchromosomen von Chironomiden (Zuckmücken) (Abb. 7.20). Dass in solchen Puffs RNA synthetisiert wird, lässt sich durch den Einbau radioaktiv markierten Uridins nachweisen (Abb. 7.21). Bei Einstellung der Transkription erfolgt eine Kondensation der chromosomalen DNA und damit eine Rückbildung in die stärker lichtbrechenden Querscheiben. Die Tatsache, dass in Riesenchromosomen eine intensive RNA-Synthese zu beobachten ist, kennzeichnet diese Chromosomen als Interphasechromosomen. Das erklärt auch ihre Länge: Wie bei normalen Interphasechromosomen ist die chromosomale DNA der Riesenchromosomen dekondensiert, und die Chromosomen sind nur dadurch sichtbar, dass sie aus einer Vielzahl lateral gepaarter Chromatiden bestehen. Der Interphasecharakter dieser Chromosomen wird auch dadurch deutlich, dass in ihnen durch Autoradiographie mit radioaktivem Thymidin Replikation nachgewiesen werden kann. Sie durchlaufen also gewissermaßen sich wiederholende S-Phasen, ohne zwischendurch einen vollen Zellzyklus, der eine ▲
Abb. 7.19a–c. Struktur der Riesenchromosomen. a Entstehung eines Puffs und Interpretation seiner Feinstruktur. Ähnlich wie in Lampenbürstenchromosomen (vgl. Abb. 7.16) entsteht der Puff durch Dekondensation der chromosomalen DNA während der Transkription. Jede der im rechten Schema gezeichneten Linien stellt eine DNA-Doppelhelix dar. b Entstehung und Regression eines Puffs in einem Riesenchromosom in Malpighigefäßen von Chironomus unter Einfluss des Häutungshormons Ecdyson. c Schema eines Riesenchromosoms, bestehend aus vier Chromatiden. Die Querscheiben sind als aufgefaltete Regionen dargestellt, die Interbanden als gestreckte Bereiche. Rechts ist die Entstehung eines Puffs aus einer Querscheibe durch Transkription der DNA dargestellt. (a und b: Aus Beermann 1952, c: Aus Hennig 1974 nach Beermann)
Mitose beinhaltet, abzuschließen. Messungen des DNA-Gehaltes haben ergeben, dass die Vermehrung der DNA in den Riesenchromosomen mit dem Faktor 2n erfolgt. Die Anzahl der Verdoppelungsschritte (n) kann mehr als 13 betragen, so dass der Polytäniegrad in diesem Fall über 8192 liegt. Solche Polytäniegrade findet man in Speicheldrüsenchromosomen
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Kapitel 7: Molekulare Struktur eukaryotischer Chromosomen
Abb. 7.20. Balbiani-Ringe im Chromosom IV von Chironomus tentans nach metachromatischer Toluidinblaufärbung. DNAreiche Chromosomenbereiche (Querscheiben) erscheinen dunkel, während RNA-reiche Regionen (Balbiani-Ringe, Puffs) rot gefärbt sind. (Photo: W. Hennig, Mainz)
von Zuckmückenarten der Gattung Chironomus. Durch die Angabe des Polytäniegrades kennzeichnet man die Anzahl der Chromatiden im Riesenchromosom. In Drosophila-Polytänchromosomen von Speicheldrüsen liegt der endgültige Polytäniegrad bei 1024 oder 2048. In anderen Geweben (z. B. Malpighigefäßen, Darmepithel) ist er niedriger (64 oder 128). Vergleichen wir einen mitotischen Metaphasechromosomensatz mit einem Riesenchromosomensatz aus den Speicheldrüsen von Drosophila (Abb. 7.22), so müssen wir einige grundsätzliche Unterschiede feststellen. Der auffallendste Unterschied liegt darin, dass die Chromosomenanzahl in den Speicheldrüsenkernen der einer haploiden Zelle entspricht. Die Ursache hierfür ist nicht Haploidie dieser Zellen, sondern liegt in der somatischen Paarung der Chromosomen begründet. Somatische Paarung ist eine Besonderheit von Drosophila und anderen Insekten. Im Gegensatz zu den meisten anderen Organismen sind hier homologe Chromosomen in allen Geweben, also nicht nur in meiotischen Zellen, gepaart. In den Riesenchromosomen erfolgt diese Paarung so intensiv, dass eine Unterscheidung der beiden Homologen normalerweise nicht mehr möglich ist. Liegen allerdings Chromosomenaberrationen, z. B. eine Inversion, vor, so werden beide Homologe im Bereich der Aberration sichtbar: Die Inversion induziert die Bildung einer Inversionsschleife (Abb. 7.23), vergleichbar der Struktur, die beim Vorliegen von Inver-
Abb. 7.21. RNA-Synthese in Riesenchromosomen. Durch den Einbau radioaktiv markierten Uridins in die neusynthetisierte RNA lässt sich zeigen, welche Chromosomenbereiche aktive Gene enthalten. Hier wurde eine Speicheldrüse von Chironomus tentans für 6 Stunden mit 3H-Uridin-haltigem Medium inkubiert. Die Riesenchromosomen wurden anschließend der Autoradiographie unterworfen. Die schwarzen Regionen im Chromosom sind Silberkörnchen, die im autoradiographischen Film an belichteten Stellen nach Entwicklung sichtbar werden (s. Technik-Box 13). Einbau radioaktiver RNA-Vorstufen wird in den Puffs beobachtet, wie nach der Interpretation Beermanns (Abb. 7.19) zu erwarten ist. (Aus Pelling 1964)
sionsheterozygotie während der Homologenpaarung in der meiotischen Prophase I auftritt (s. Abb. 6.18). Liegt eine Deletion in einem der Homologen vor, bildet sich eine Paarungslücke. Solche Heterozygotien waren von großer Bedeutung für die praktische genetische Arbeit, da sie die cytologische Kartierung von Genen sehr erleichterten (Abb. 7.24). Durch vergleichende Analyse der Phänotypen von Heterozygoten mit dem cytologischen Bild der Speicheldrüsenchromosomen kann man ein Gen auf einen Teilbereich einer Querscheibe genau kartieren. Durch solche Analysen wurde der white-Locus von Drosophila melanogaster einem Teil-
7.2 Variabilität der Chromosomen und Dosiskompensation
bereich der Querscheibe 3C2 des X-Chromosoms zugewiesen (Abb. 7.25). Für Drosophila melanogaster, einige andere Drosophila- und andere Dipterenarten gibt es detaillierte Riesenchromosomenkarten. Neben der rein genetischen Karte, die mit Hilfe von Rekombinationshäufigkeiten erstellt wird (s. Kap. 11.4), haben solche cytologischen Karten eine wichtige Bedeutung für die Identifizierung der chromosomalen Lokalisation von Genen, zumal der Aufwand hierfür durch moderne insitu-Hybridisierungstechniken gering ist.
Das Replikationsverhalten der Riesenchromosomen nach einem 2n-Modus legt die Annahme nahe, dass die gesamte chromosomale DNA gleichmäßig vermehrt wird. Das ist jedoch nur mit Einschränkungen richtig. Besonders deutlich wird das bei einem Vergleich der mitotischen Metaphasechromosomen von Drosophila virilis mit den Speicheldrüsenchromosomen. Die mitotischen Chromosomen sind metazentrisch, und einer der Arme der Autosomen ist heterochromatisch. Den Riesenchromosomen fehlt der gesamte heterochromatische
Abb. 7.22. Riesenchromosomensatz aus den Speicheldrüsen eines Hybridweibchens von Drosophila eohydei und D. hydei im Vergleich zu einem diploiden mitotischen Metaphasechromosomensatz aus Gehirnganglien von D. eohydei in gleicher Vergrößerung. Die Riesenchromosomen sind mit ihren Cen-
tromerenbereichen in einem Sammelchromozentrum vereinigt. Eines der Autosomenpaare zeigt eine Paarungslücke aufgrund der heterozygoten Konstitution der Genome. An verschiedenen anderen Stellen (Telomeren!) ist ebenfalls eine Trennung der Homologen zu erkennen. (Photos: I. Hennig)
253
254
Kapitel 7: Molekulare Struktur eukaryotischer Chromosomen 34 z zw1
8 zw8
12 5 20 zw4 zw10 zw2
9 zw3
1234 6 7 8 9
12
·
E
1 234 5 1234 6 7 8 9
F
23
A
7 4 3 zw6 zw12 zw7
5 7 2 zw5 zw11 zw9(sa) w
1 2 34 51 2 3
·
·
· ·· 12 ··5 61 234 5
1 234 5 1 2 3 5 67 9 10
B
C
D
E
Df(1)wrJ1
Abb. 7.23. Inversionsschleife im Chromosom 2 von Drosophila hydei. Riesenchromosom aus Speicheldrüsen des 3. Larvalstadiums. Am Beginn und am Ende der Inversion sind die Chromatiden der homologen Chromosomen über einen kurzen Bereich ungepaart, während bei Drosophila sonst die Homologen auch in somatischen Zellen gepaart sind. Nimmt man die Enden des Inversionsbereiches aus, ist am Chromosom nicht zu erkennen, dass es aus beiden Homologen besteht, da eine enge Paarung erfolgt ist. (Photo: W. Hennig, Mainz)
Chromosomenarm. Auch das heterochromatische YChromosom ist in männlichen Speicheldrüsenkernen nicht sichtbar (Abb. 7.24). Cytophotometrie zeigt, dass Heterochromatin generell nicht an der Polytänisierung teilnimmt, also im Vergleich zum Euchromatin unterrepliziert bleibt, im Allgemeinen wohl auf einem 4C-Niveau. Allerdings ist das eine grobe Verallgemeinerung. Eine genaue Betrachtung der Riesenchromosomen von Drosophila lässt erkennen, dass in den Chromosomenabschnitten, die man als Grenzbereiche zwischen Eu- und Heterochromatin identifizieren kann, ein diffuses Material ohne deutliche Querscheibenstruktur liegt. Nach Heitz bezeichnet man diese Chromosomenabschnitte als β-heterochromatisch (Abb. 7.26). Solche β-Heterochromatinbereiche sind in den Riesenchromosomen offensichtlich (zumindest partiell) polytänisiert. Im Gegensatz hierzu bezeichnet man in Riesenchromosomen nichtpolytänisiertes Heterochromatin als α-Heterochromatin (Abb. 7.26). Da die Unterscheidung zwischen α-und β-Heterochromatin nach dem Kriterium der Polytä-
Df(1)62g18 Df(1)65j26 Df(1)w258-42 Df(1)K95 Df(1)w-N71a Df(1)64j4
Df(1)64c4 Df(1)w258-11 Df(1)X12 Df(1)wrJ2 Df(1)62d18 Dp(1;3)w264-58a Df(1)w258-45 Df(1)64f1
Dp(1;3)w67k27 Df(1)w-64d Dp(1;2)w+70h31 Dp(1;4)wm65g Dp(1;3)w49a
Abb. 7.24. Cytologische Kartierung von Genen in Riesenchromosomen. Durch die mikroskopische Analyse der Bandenmuster in Riesenchromosomen mit unterschiedlichen Deletionen und Vergleich mit der phänotypischen Expression des zu lokalisierenden Gens kann dessen Position zumindest bis auf einzelne Querscheiben genau festgestellt werden. Die cytologische Chromosomenkarte ist unter dem Chromosom (Kartenbereich: 2E1 bis 3E5) angegeben. Die Striche im unteren Abbildungsbereich zeigen die Länge der jeweiligen Deletion (Df) bzw. Duplikation (Dp) an (vgl. auch die Kartierung der rII-Region von T4, Abb. 4.17). Die hier gezeigte Kartierung der white-zeste-Region von Drosophila melanogaster wurde von Judd und Mitarbeitern durchgeführt (vgl. auch die genetische Karte in Abb. 11.27). Die oberste Zahlenreihe gibt die Anzahl der für jedes kartierte Gen gefundenen Allele. Die zweite Zahlenreihe von oben verzeichnet die gefundenen Loci. zw1 bis zw12 sind letale bzw. semiletale Loci. Jeder Locus kann cytologisch einer bestimmten Querscheibe im Riesenchromosom zugeordnet werden. Auf solchen cytogenetischen Analysen beruht die heute überholte Annahme, dass jede Querscheibe ein Gen enthält. (Aus Beermann 1972)
nisierung nur an Riesenchromosomen möglich ist, gibt es kein Kriterium dafür, ob eine solche Differenzierung in zwei Arten von Heterochromatin eine allgemeine Eigenschaft der Chromosomen ist, oder ob sie eine Besonderheit von Drosophila-Riesenchromo-
7.2 Variabilität der Chromosomen und Dosiskompensation
sa
w
1
LRM rst vt
*
N
2 3"4"5 6 7 In wm4 In
z+64b9
: wm , invertiert : w+ , nicht invertiert
Df wma N63b : wma Df w-ec64d
: w–
Serie von GREEN'S Df
Df rst2
Abb. 7.25. Kartierung des white-Locus in Drosophila melanogaster. Mit der in Abb. 7.24 demonstrierten Methode der cytogenetischen Kartierung durch Deletionen und Duplikationen wurde durch Beermann und Kollegen die Lokalisation des white-Gens bis auf einen Teilbereich der Querscheibe 3C2 vorangetrieben. Insbesondere durch die Defizienz Df w-ec64d, bei der eine white-Funktion fehlt, und die Inversion In z+64b9, bei der der (funktionelle) white-Locus nicht mit invertiert ist, lässt sich die Lokalisation von white auf den linken Bereich der Querscheibe 3C2 eingrenzen. Die molekularen Analysen haben diese Lokalisation bestätigt. Zugleich wird durch die molekulare Analyse belegt, dass kein 1:1-Verhältnis zwischen der Anzahl der Querscheiben und der Anzahl von Transkriptionseinheiten in der gesamten Region besteht. (Aus Beermann 1972)
somen darstellt. Wahrscheinlich muss man die Existenz von – zumindest – diesen zwei Heterochromatintypen jedoch als einen allgemeinen Charakter eukaryotischer Chromosomen ansehen. ! In vielen spezialisierten Zellen von Insekten, aber
auch von anderen Organismen, findet man Riesenchromosomen (Polytänchromosomen), die durch mehrfach aufeinanderfolgende Replikation der Chroma-
Abb. 7.26. α- und β-Heterochromatin im Sammelchromozentrum der Riesenchromosomen von Drosophila melanogaster. Das zumindest partiell polytäne β-Heterochromatin zeichnet sich durch eine diffuse Strukturierung ohne Querscheiben aus, während das kompakte α-Heterochromatin als stark lichtbrechendes Element im Sammelchromozentrum liegt. (Photo: W. Hennig)
tiden ohne Trennung der Chromatiden und ohne Zellteilungen entstehen. Es handelt sich um Interphasechromosomen. Sie zeigen eine Gliederung in Banden (oder Querscheiben) und Interbanden. Dieses Muster ist chromosomenspezifisch und gestattet eine Kartierung von Genen bis auf Teilbereiche einer Bande. Banden können sich dekondensieren und formen Puffs. Solche Puffs sind ein Anzeichen für Transkription im betreffenden Chromosomenbereich. Die Anzahl von Riesenchromosomen in Drosophila entspricht der eines haploiden Chromosomenkomplements, da die Homologen gepaart sind und somit ein Riesenchromosom formen.
Untersuchungen der Riesenchromosomenstruktur in Zusammenhang mit Positionseffekten (engl. position effect variegation) belegen, dass sich β-Heterochromatin durch einen veränderten Packungsmodus der DNA gegenüber Euchromatin auszeichnet. Unter einem Positionseffekt versteht man einen (inaktivierenden) Einfluss, den die chromosomale Umgebung auf ein Gen ausübt, wenn es (durch eine Translo-
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Kapitel 7: Molekulare Struktur eukaryotischer Chromosomen
kation oder Inversion) in eine neue chromosomale Position verlagert wird.Dieser inaktivierende Einfluss der Umgebung ist jedoch oft nicht vollständig, so dass in einigen Zellen noch Genexpression beobachtet wird, während sie in andern unterdrückt ist. In Mutanten, die Positionseffekte zeigen, ist das cytologische Erscheinungsbild von Querscheibenbereichen, in denen das in seiner Expression variable Gen liegt, verändert. Die Querscheibenstruktur wird in einem Teil der Kerne in solchen Chromosomenabschnitten aufgegeben und ist der Struktur von β-Heterochromatin vergleichbar. Offensichtlich erfolgt hier in einem Grenzbereich von Chromosomenbrüchen eine in ihrem lokalen Ausmaß nicht genau kontrollierte Strukturveränderung der Chromosomen durch Assoziation mit Proteinen, die normalerweise charakteristisch im Heterochromatin zu finden sind. Das führt zu einer veränderten Verpackung der DNA, die eine Inaktivierung des davon betroffenen Chromosomenabschnittes zur Folge hat. Im Riesenchromosom werden solche strukturellen Chromosomenveränderungen, die normalerweise allenfalls aufgrund phänotypischer Effekte erkennbar sind, direkt sichtbar. Eine zusätzliche Einschränkung erfährt die Annahme, dass alle Chromosomenbereiche während der Polytänisierung gleichmäßig replizieren, durch Beobachtungen,nach denen einzelne Querscheiben oder kleine Bereiche mit mehreren Querscheiben nur teilweise an der Polytänisierung teilnehmen. Sie bleiben im Polytäniegrad hinter den übrigen euchromatischen Chromosomenabschnitten zurück oder befinden sich sogar auf einem 2C- oder 4C-Niveau. Einige dieser Regionen sind in Riesenchromosomen cytologisch als weak points zu erkennen. Kann man für heterochromatische Chromosomenabschnitte den Ausschluss von der Replikation vom funktionellen Standpunkt her noch verstehen, da solche Bereiche im Allgemeinen keine,oder in den polytänen Zellen nicht relevante Gene enthalten, so ist die Ursache und der Mechanismus für die partielle Unterreplikation euchromatischer Chromosomenbereiche ebenso unverstanden wie deren strukturelle Grundlage. Man ist bisher davon ausgegangen, dass in solchen Regionen die Kontinuität der chromosomalen DNA in einem Teil der Chromatiden unterbrochen ist. Es kann jedoch auch zum Ausschluss von DNA-Abschnitten von der Replikation kommen,wobei die flankierenden DNA-Abschnitte anschließend wieder kovalent miteinander verbunden werden, so dass die Kontinuität der chromosomalen DNA wiederhergestellt wird.
In anderen Fällen hat man übrigens eine entgegengesetzte Situation gefunden: die Überreplikation von Chromosomenbereichen mit der Folge einer Erhöhung der Kopienzahl bestimmter Gene, beispielsweise der Choriongene in den Follikelzellen des Drosophila-Ovars (s. Kap. 13.3.1). Wir ersehen hieraus, dass Chromosomen eine erhebliche strukturelle Flexibilität besitzen und sich den stoffwechselphysiologischen Bedingungen eines Zelltyps auf unterschiedliche Weise anpassen können. Wir werden später noch weitere Gesichtspunkte solch einer Flexibilität des Genoms auf dem DNA-Niveau besprechen. Fragt man nach dem funktionellen Hintergrund der partiellen Unterreplikation, so wird man wohl davon ausgehen müssen, dass hierbei quantitative Fragen der Genexpression eine Rolle spielen. Es ist bemerkenswert, dass partielle Replikation bisher vor allem bei Genen festgestellt wurde, die sehr grundlegende Funktionen in der Zelle wahrnehmen, beispielsweise bei rDNA und für Histongene. Vielleicht sind die normalen Regulationsmechanismen dieser Gene nicht in der Lage, die zellspezifisch erforderliche Aktivität dieser Gene mit der erhöhten Gendosis nach der Polytänisierung regulativ in Einklang zu bringen. Die Folge könnte sein, dass eine Regulation der Anzahl verfügbarer Genkopien durch Regulation des Polytäniegrades stattfindet, ähnlich wie der hohe Bedarf an Chorionproteinen in Drosophila-Ovarien durch eine intrachromosomale Überreplikation der erforderlichen Gene erzielt wird. Angesichts dieser Beobachtungen lokaler Unterschiede der DNA-Replikation selbst in mitotischen Chromosomen ist es wichtig festzustellen, dass alle experimentellen Daten dafür sprechen, dass eine Chromatide im Normalfall aus einer einzigen kovalent hindurchlaufenden DNA-Doppelhelix besteht. In unserer bisherigen Besprechung von Riesenchromosomen haben wir Puffs als Orte intensiver RNA-Synthese kennengelernt. Klassische Cytologen wie Breuer und Pavan,später auch Swift,GabrusewiczGarcia,Crouse und Keyl,haben jedoch bereits frühzeitig erkannt, dass es in Insektenpolytänchromosomen auch Puffs gibt, in denen eine Überreplikation der DNA (DNA-Puffs) stattfindet, die vergleichbar ist mit der Überreplikation der Choriongene in ovarialen Follikelzellen von Drosophila.
7.2 Variabilität der Chromosomen und Dosiskompensation
Besonders auffallend und daher besonders ausgiebig untersucht sind diese DNA-Puffs in Larven von Sciara- und RhynchosciaraArten (Trauermücken der Familie Sciaridae). In Rhynchosciara angelae werden gegen Ende des 4. Larvenstadiums (Tag 62 der larvalen Entwicklung) gleichzeitig mehrere große Puffs gebildet, die sich während der Präpuppenperiode allmählich wieder zurückbilden (Abb. 7.27). In diesen Puffs wird die DNA während der Puffingperiode bis zu 16fach überrepliziert. Gleichzeitig erfolgt eine intensive Transkription, die mRNA für Sekretproteine liefert. Diese fibrillären Sekretproteine sind in großen Mengen zur Bildung des Kokons erforderlich (s. auch S. 314f). Wir lernen hiermit einen der Mechanismen kennen, die Zellen zur Verfügung haben, um große Mengen
bestimmter Moleküle in kurzer Zeit zu produzieren. Andere Mechanismen neben der hier erwähnten intrachromosomalen Überreplikation, auch Amplifikation genannt, zur Erhöhung der Stoffwechselleistung eines bestimmten Gens sind neben der Polytänisierung von Chromosomen die Polyploidisierung und die extrachromosomale Amplifikation. Für diese alternativen Wege der Erhöhung der Anzahl der DNA-Templates für mRNA-Synthese werden wir an anderen Stellen noch Beispiele besprechen (Kap. 12.4.2). Eine andere Möglichkeit zur Deckung eines hohen Bedarfs an bestimmten Molekülen ist der Import dieser Moleküle aus Hilfszellen. Ein Beispiel für einen solchen Fall ist die Funktion der Nähr- und Follikelzellen während der Oogenese von Drosophila (Kap. 13.3.1). ! Heterochromatische Chromosomen und Chromosomenabschnitte sind von der Replikation ausgeschlossen und daher in polytänen Kernen nicht sichtbar. Einige andere Chromosomenabschnitte können partiell unterrepliziert sein oder werden überrepliziert. Man unterscheidet aufgrund des unterschiedlichen Unterreplikationsverhaltens zwischen α- und β-Heterochromatin. α-Heterochromatin nimmt an der Polytänisierung nicht teil.
Keimbahn-limitierte Chromosomen
Abb. 7.27. DNA-Puffs in Rhynchosciara. Die Folge von Riesenchromosomen aus Speicheldrüsen von Rhynchosciara angelae zeigt die allmähliche Ausbildung eines DNA-Puffs im Laufe der Entwicklung der Larve. Die Puffs bilden sich nach ihrer Aktivitätsphase zu normalen Querscheiben zurück, die aber nun durch einen erhöhten DNA-Gehalt gekennzeichnet sind. (Aus Breuer u. Pavan 1955)
Wie so oft in der Biologie, gilt auch hier die Regel, dass alle Zellen eines mehrzelligen Organismus über einen vollständigen Chromosomensatz verfügen, nur mit Einschränkungen. Die auffälligsten Abweichungen von dieser Regel beobachtet man in Keimzellen mancher Organismen. In den einfachsten Fällen findet man hier zusätzliche Chromosomen, deren Anzahl und Größe mehr oder weniger variieren kann. Man spricht auch von überzähligen Chromosomen, Extrachromosomen (E-Chromosomen) oder, wenn sie in somatischen Zellen nicht zu finden sind, von Keimbahn-limitierten Chromosomen. In der cytologischen Nomenklatur werden sie auch häufig als B-Chromosomen bezeichnet. Prinzipielle Unterschiede zwischen diesen Chromosomen betreffen wahrscheinlich ausschließlich den Verteilungsmechanismus, der für ihre Elimination aus somatischen Zellen verantwortlich ist. Sie werden daher im Fol-
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Kapitel 7: Molekulare Struktur eukaryotischer Chromosomen
genden als biologisch prinzipiell gleichwertig betrachtet. Besonders gut untersucht sind die B-Chromosomen von Zuckmücken der Familie Orthocladiinae (Dipteren), deren Anzahl sich mit einer gewissen Variationsbreite bei etwa 100 je Keimzelle stabilisiert. Hans Bauer hat in genetischen Experimenten gezeigt, dass diese Chromosomen für die Fertilität der Individuen unentbehrlich sind. B-Chromosomen kommen besonders häufig bei Pflanzen vor. Ihre biologische Funktion ist unbekannt. In ihren cytologischen Eigenschaften sind sie als heterochromatisch zu bezeichnen, und damit stimmt auch überein, dass sie offenbar vorwiegend aus repetitiver DNA aufgebaut sind. Vielleicht sind sie in ihrer Funktion intrachromosomalen heterochromatischen Chromosomenbereichen anderer Organismen vergleichbar, die anscheinend eine keimbahnspezifische Funktion haben. Hinweise auf die Existenz solcher Bereiche geben Organismen, bei denen heterochromatische Chromosomenabschnitte bei der Entstehung somatischer Zellen während der Frühentwicklung aus dem Genom eliminiert werden. Die bisher erwähnten Keimbahnchromosomen kommen häufig in nicht genau festgelegter Anzahl im Genom der Keimbahn vor, und sie gehen bei der Bildung somatischer Zellen im frühen Embryo offenbar nicht durch gerichtete Eliminationsmechanismen, sondern einfach durch das Fehlen eines geregelten Verteilungsmechanismus verloren. Die Ursachen für diese Zufallsverteilung bzw. ihren Verlust muss man im Fehlen von Centromeren suchen, ohne die Chromosomen bei der Zellteilung nicht geordnet verteilt werden können (s. S. 179). Es gibt jedoch auch keimbahnspezifische Chromosomen, sogenannte limitierte Chromosomen (L-Chromosomen), die in den Keimzellen durch besondere Mechanismen verteilt werden. Am bekanntesten sind die limitierten Chromosomen der Nematocere Sciara (Diptera), deren komplizierter Verteilungsmechanismus in Abb. 7.28 dargestellt ist. Die Verteilung der Chromosomen ist in dieser Art nicht allein durch die Unterscheidung von somatischen und Keimbahnzellen, sondern auch durch das Geschlecht des Individuums bestimmt. Somatisch besteht das Genom von Sciara coprophila aus drei Autosomenpaaren und einem X-Chromosom im männlichen Soma oder zwei X-Chromoso-
men in weiblichen Somazellen. Ungewöhnlich ist nun bereits, dass in (haploiden) Spermatozoen neben je einem Autosom zwei X-Chromosomen (mütterlichen Ursprungs) vorhanden sind, während ein (haploides) Ei einen Autosomensatz, jedoch nur ein X-Chromosom besitzt. Die Geschlechtschromosomenkonstitution ist also in Soma und Keimbahn umgekehrt. Als Folge dieser Geschlechtschromosomenkonstitution erhält die Zygote drei X-Chromosomen. Je nach Geschlecht werden ein oder zwei der X-Chromosomen während der frühen Furchungsteilungen bei der Bildung somatischer Zellen eliminiert. Der zur Elimination erforderliche Mechanismus kann zwischen den X-Chromosomen männlichen und weiblichen Ursprungs unterscheiden, denn im Männchen bleibt stets das mütterliche X-Chromosom somatisch erhalten, während im weiblichen Soma stets ein XChromosom mütterlichen und eines väterlichen Ursprungs zu finden ist. Die X-Chromosomen müssen also in ihrem Ursprung gekennzeichnet sein, ein Zustand, den man mit dem Begriff Imprinting charakterisiert (s. Abb. 7.38). Ein solches chromosomales Imprinting scheint auch bei den Autosomen vorzuliegen, denn die Autosomen in den Spermatozoen sind stets mütterlichen Ursprungs. Diese bereits hochgradig spezialisierte Chromosomenkonstitution wird noch zusätzlich durch die Anwesenheit keimbahnlimitierter Chromosomen (limitierter Chromosomen) kompliziert. In der Zygote finden wir drei große metazentrische L-Chromosomen, zwei väterlichen und eins mütterlichen Ursprungs. Diese L-Chromosomen werden in einem Eliminationsschritt nach der 5. oder 6. Zellteilung, noch vor der Elimination der X-Chromosomen, aus den somatischen Zellen entfernt. Im Gegensatz zu den früher beschriebenen B-Chromosomen werden die limitierten Chromosomen gezielt eliminiert. Sie durchlaufen einen normalen Zellzyklus bis zur Metaphase, bleiben dann aber zwischen den Tochterzellkernen liegen, da die Chromosomenenden sich offenbar nicht in zwei Chromatiden spalten und dadurch voneinander trennen können. Der zugrundeliegende molekulare Mechanismus ist unbekannt. Auch in der männlichen Keimbahn erfolgen mehrere komplexe Eliminationsschritte. Zunächst wird eines der L-Chromosomen entfernt, in einem nächsten Schritt verliert die Zelle eines der väterlichen XChromosomen. Diese ersten Eliminationsschritte erfolgen während der Spermatogonienmitosen. Die übrigen Eliminationsereignisse fallen ins Spermato-
7.2 Variabilität der Chromosomen und Dosiskompensation 1. Elimination
2. Elimination
Meiose I X Ei
Männliche Keimbahn
Meiose II
XX
XXX Zygote
XX Spermium
XX
Männliches Soma
X
Weibliches Soma
XX
Mütterliches X Väterliches X
Abb. 7.28. Chromosomenkonstitution in verschiedenen Keimzell- und Somazellstadien von Sciara coprophila. Oben: Chromosomenelimination in Spermatogenese und Soma des Männchens. Unten: Chromosomenelimination in somatischen Zellen des Weibchens. Die somatischen Zellen von Männchen und Weibchen unterscheiden sich lediglich in der Elimination der X-Chromosomen: Im Männchen werden beide paternalen X-Chromosomen eliminiert und nur das maternale X-Chro-
mosom bleibt erhalten, während im Weibchen eines der paternalen X-Chromosomen im Genom verbleibt. Die L-Chromosomen sind auf die Keimbahn beschränkt und werden beim Männchen teilweise nach einem komplizierten Mechanismus in der Frühentwicklung bzw. während der Meiose entfernt. Ungewöhnlich ist auch die unterschiedliche XChromosomenkonstitution in Keimzellen und somatischen Zellen des Männchens. (Aus Metz 1938)
cytenstadium. In einer ersten meiotischen Teilung (Abb. 7.29), die als monozentrische Mitose verläuft, werden die väterlichen Chromosomen von den Homologen mütterlicher Herkunft getrennt, wobei alle verbliebenen L-Chromosomen unabhängig von ihrem Ursprung mit den mütterlichen Chromosomen segregieren. Die väterlichen Chromosomen sammeln sich in einem kleinen Eliminationsvesikel und degenerieren. Aus dieser Teilung entsteht demnach eine einzige sekundäre Spermatocyte. Diese teilt sich mittels einer normalen bipolaren Spindel (Abb. 7.29). Hierbei erfährt jedoch das X-Chromosom, das den übrigen Chromosomen in der Verteilung vorausläuft, keine Chromatidenverteilung, wie sie für die übrigen Chromosomen stattfindet, sondern beide Chromatiden werden zusammen an einen Pol verlagert. Die Zelle, die diesen Zellkern erhält, wird zum Spermatozoon, während die andere Zelle degeneriert. Der komplizierte Eliminationsmechanismus hat sich offenbar in einer Reihe verwandter Nematoce-
ren-Arten erhalten. Das deutet auch darauf hin, dass der Besitz von keimbahnlimitierten Chromosomen für diese Gruppe von Organismen selektive Vorteile bietet. Wie schon im Falle der B-Chromosomen müssen wir davon ausgehen, dass die heterochromatischen L-Chromosomen in der Keimbahn eine biologische Funktion haben. Von der ungewöhnlichen Chromosomenkonstitution von Sciara ist der Schritt zu den vielerlei Anomalien, die wir bei verwandten Dipterengruppen antreffen, nicht weit. Es sollen an dieser Stelle jedoch nur noch die Chromosomenverhältnisse von Schildläusen (Sternorrhynchi: Coccidina) dargestellt werden, da sie ein klassisches Beispiel für chromosomales Imprinting sind. In beiden Geschlechtern findet man in somatischen Zellen 2n = 10 Chromosomen. Während diese im Weibchen ein normales Verhalten im Zellzyklus aufweisen, bleibt im männlichen Soma die Hälfte der Chromosomen heterochromatisch und verschmilzt
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Kapitel 7: Molekulare Struktur eukaryotischer Chromosomen
Meiose I
Meiose II
Abb. 7.29. Schematische Darstellung der ersten und zweiten meiotischen Teilung in der männlichen Keimbahn von Sciara coprophila (vgl. Abb. 7.28). Oben: In der ersten meiotischen Teilung bildet sich eine monopolare Spindel, die die noch vorhandenen L-Chromosomen, das mütterliche X-Chromosom und ein Homologes jedes der zwei Autosomenpaare zum Pol wandern lässt, während die übrigen vier Chromosomen aus der Zelle eliminiert werden. Unten: In der zweiten meiotischen Teilung wandert das X- Chromosom mit beiden Chromatiden vorab zum Spindelpol. Von den übrigen Chromosomen folgt jeweils nur die eine Chromatide während die andere eliminiert wird. Die Abbildung lässt noch die klumpenförmigen Reste des Eliminationschromatins aus der ersten Teilung erkennen. (Aus Gerbi 1986)
in einem Chromozentrum des Interphasekerns (Abb. 7.30). Auch in der männlichen Keimbahn ist das Verhalten der Chromosomen ungewöhnlich. Abweichend von einer typischen ersten meiotischen Teilung erfolgt zunächst eine äquationale Teilung der Chromosomen, also eine Verteilung der Chromatiden auf die Tochterzellen. Auch die zweite meiotische Teilung ist nicht nur dadurch abnormal, dass hier nun die Homologen getrennt werden, sondern deren Verteilung auf die Tochterzellen ist nicht zufallsgemäß. Es werden nämlich die in den somatischen Zellen heterochromatischen Chromosomen von den euchromatischen Chromosomen getrennt. Nur die Tochterzelle mit den euchromatischen Chromosomen ist in der Lage, ein funktionelles Spermatozoon zu bilden, während die andere Zelle degeneriert. Was unterscheidet nun die beiden Chromosomensätze und was ist die Ursache für die Heterochromatisierung eines der haploiden Komplemente
im Männchen? Die Antwort haben Bestrahlungsversuche ergeben. Bestrahlt man elterliche Tiere und untersucht die Nachkommen cytologisch, findet man, je nach Dosis der Röntgenbestrahlung (s. Abb. 10.28), Chromosomenaberrationen. Diese treten ausschließlich in den heterochromatischen Chromosomen männlicher Nachkommen auf, wenn Elternmännchen bestrahlt wurden, aber ausschließlich im euchromatischen Chromosomensatz, wenn die Elternweibchen bestrahlt wurden. Bestrahlt man Männchen mit erhöhten Dosen, beobachtet man eine zunehmende Letalität weiblicher Nachkommen, während die Überlebensrate männlicher Nachkommen nicht beeinflusst wird. Mutationen kommen also nur zur Wirkung, wenn der bestrahlte Chromosomensatz in den Nachkommen euchromatisch bleibt (also in Weibchen), während sie im heterochromatischen Zustand der Chromosomen (in Männchen) nicht sichtbar werden. Das bedeutet, dass der Chromosomensatz väterlicher Herkunft im Männchen heterochromatisch wird und offenbar, zumindest in somatischen Zellen, nicht funktionell ist. Es liegt hier, wie schon bei Sciara, ein chromosomales Imprinting vor, das den Nachkommen gestattet, zwischen Chromosomen väterlicher (paternaler) und mütterlicher (maternaler) Herkunft zu unterscheiden. Welcher Art die im Chromosom niedergelegte Information zu ihrer Identifikation ist, ist nicht bekannt. Frühere Annahmen, dass Methylierung der DNA für das Imprinting in Coccidenchromosomen verantwortlich ist, scheinen sich nicht zu bestätigen. Die Tatsache, dass Mutationen im heterochromatischen Zustand der Chromosomen nicht zur Ausprägung kommen, ist ein weiterer Beweis für funktionelle Inaktivität heterochromatisierter Chromosomen. Die inaktivierten (väterlichen) Chromosomen der Coccidenmännchen sind zudem ein weiteres Beispiel für fakultatives Heterochromatin. ! In manchen Organismen (insbesondere bei Pflan-
zen und Insekten) kommen Chromosomen vor, die auf die Keimbahnzellen beschränkt sind. Sie werden, je nach Art und Verteilungsmechanismus, B-Chromosomen, L-Chromosomen oder E-Chromosomen genannt. Obwohl die biologische Funktion unbekannt ist, zeigen die bisweilen vorhandenen hochkomplexen Verteilungsmechanismen – z. B. bei Sciara – an, dass
7.2 Variabilität der Chromosomen und Dosiskompensation Abb. 7.30 a,b. Chromosomales Imprinting bei Schildläusen. a Die Meiose im Männchen verläuft abnormal: Die erste meiotische Teilung erfolgt äquational, d.h. durch Verteilung der Chromatiden auf die Tochterzellen. Die zweite meiotische Teilung verläuft als Reduktionsteilung, d.h. Trennung der Homologen. Die väterlichen und mütterlichen Chromosomen werden jedoch nicht, wie gewöhnlich, willkürlich verteilt, sondern es trennen sich die väterlichen von den mütterlichen Chromosomen, so dass Spermatiden mit einem rein väterlichem und andere mit einem rein mütterlichem Genom entstehen. Die Zellen mit den väterlichen Chromosomen degenerieren, während sich die Spermatiden mit einem mütterlichem Genom zu funktionellen Spermatozooen entwickeln. b Auch die mitotischen Zellen weisen Besonderheiten auf. Während die Zellen weiblicher Schildläuse einen normalen Mitosezyklus durchlaufen, bleiben in Zellen männlicher Individuen die Chromosomen väterlichen Ursprungs während der Interphase heterochromatisch, d.h. nichtfunktionell. (Nach Brown u. Nur 1964)
mit der Ausstattung der Keimzellen mit keimbahnlimitierten Chromosomen selektive Vorteile verbunden sein müssen. Das spricht für spezielle biologische Funktionen in der Keimbahn. In einigen Fällen ist die Verteilung von limitierten Chromosomen mit chromosomalem Imprinting verbunden, das in den Nachkommen diese Chromosomen nach väterlicher oder mütterlicher Herkunft unterscheiden lässt.
7.2.2 Dosiskompensation bei Drosophila Das Genom eines Organismus ist genetisch sehr genau balanciert. Es toleriert größere Abweichungen, insbesondere wenn diese die Chromosomenanzahl betreffen, nicht, ohne mit schwerwiegenden Störungen der Funktion des genetischen Materials zu reagieren. Umso erstaunlicher ist es, dass bei einem einzigen Chromosomenpaar Abweichungen offenbar nicht zu
vergleichbar schwerwiegenden Defekten führen: bei Veränderungen der Geschlechtschromosomenzahlen durch Nondisjunktion. Mehr noch: Die Verteilung der Geschlechtschromosomen in beiden Geschlechtern selbst schließt bereits eine abnormale Konstitution ein. Während eines der Geschlechtschromosomen im einen Geschlecht in diploider Anzahl vorhanden ist, liegt es im anderen Geschlecht nur haploid (hemizygot) vor. Ist überhaupt ein zweites Geschlechtschromosom vorhanden, wie in allen X / Y- oder W/Z-Geschlechtsbestimmungsmechanismen oder in davon abgeleiteten Geschlechtschromosomenkonstitutionen, so ist dieses in einem Geschlecht haploid vorhanden, fehlt aber im anderen Geschlecht vollständig. Diese genetische Situation kann nicht einfach durch eine (partielle) genetische Identität der Geschlechtschromosomen erklärt werden. Wie lässt es sich aber dann erklären, dass hier unterschiedliche Genkopienzahlen keine Funktionsstörungen hervorrufen, während das im übrigen Genom fast stets der Fall ist?
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Kapitel 7: Molekulare Struktur eukaryotischer Chromosomen
Die Natur hat hierfür einen einfachen Ausweg gewählt. Durch geeignete molekulare Kontrollmechanismen hat sie dafür gesorgt, dass die Aktivität der geschlechtschromosomalen Gene in beiden Geschlechtern im Prinzip gleich ist und dass das Expressionsniveau X-chromosomaler Gene dem autosomaler Gene entspricht. Diese Kontrollmechanismen werden Dosiskompensationsmechanismen genannt. Es sind zwei prinzipiell unterschiedliche Dosiskompensationmechanismen bekannt. • Der eine wird bei Drosophila und wahrscheinlich bei anderen Insekten gefunden. Er beruht auf einer Verdoppelung der Aktivität X-chromosomaler Gene im Männchen im Vergleich zur Aktivität dieser Gene im Weibchen. • Der andere Mechanismus wurde bei Säugern aufgedeckt. Er sorgt dafür, dass jeweils nur ein XChromosom aktiv ist, während das andere (im weiblichen Geschlecht) inaktiviert wird. ! Die ungleiche Anzahl von Geschlechtschromoso-
men in den beiden Geschlechtern verlangt einen regulativen Ausgleich der Expression der auf ihnen gelegenen Gene. Der hierfür erforderliche Mechanismus wird als Dosiskompensation bezeichnet.
Das Problem des Dosisunterschiedes bei geschlechtsgekoppelten Genen war den Drosophila-Genetikern bereits frühzeitig bewusst geworden. Da es aus genetischen Experimenten herzuleiten war, dass die Allele beider X-Chromosomen von Drosophila zur Ausprägung kommen, schlug H. J. Muller 1932 einen Dosiskompensationsmechanismus vor, nach dem X-chromosomale Gene im Weibchen nur in reduziertem Maße aktiv sind, so dass ihre Gesamtaktivität der des einen X-Chromosoms im Männchen entspricht. Diesem Modell Mullers widersprachen Experimente von Mukherjee und Beermann (1965), die in ihren Untersuchungen von der damals neu entwickelten Methode der Autoradiographie Gebrauch machten (siehe Technik-Box 13). Sie markierten neu synthetisierte RNA mit 3 H-Uridin und ermittelten die Einbauraten, d. h. die RNA-Syntheseraten, für X-chromosomale und autosomale Gene in Riesenchromosomen männlicher und weiblicher Speicheldrüsen. Es zeigte sich, dass die RNA-Syntheseaktivität in den X-Chromosomen beider Geschlechter gleich und
zudem vergleichbar mit der von Genen in den stets diploiden Autosomen war. Die Wissenschaftler schlossen aus diesen Beobachtungen auf eine Hyperaktivität des X-Chromosoms im Männchen. Diese Interpretation wurde in der Folge durch weitere Studien sowohl auf dem RNA- als auch auf dem Proteinsyntheseniveau untermauert. Wie lässt sich eine Hyperaktivität des X-Chromosoms im Männchen molekular erklären? Es ist plausibel anzunehmen, dass eine Kopplung dieses Regulationsmechanismus mit der Geschlechtsbestimmung vorliegen sollte, da ja die unterschiedlichen Chromosomenkonstitutionen direkt mit dem Geschlecht des Organismus zusammenhängen. So konnte Thomas Cline 1978 zeigen, dass ein für die Geschlechtsbestimmung zentrales Gen, Sex-lethal (Sxl), zugleich auch die Dosiskompensation kontrolliert. Zusätzlich sind jedoch für die erhöhte X-chromosomale Genaktivität im Männchen eine Reihe autosomaler Gene (u. a. male specific lethal, msl) mit verantwortlich. Ihr Ausfall hat letale Folgen im männlichen, nicht aber im weiblichen Geschlecht, wie J. M. Belote und John Lucchesi (1980) zeigen konnten. Die Letalität erscheint auf diesem Hintergrund verständlich: Wird die Aktivität des X-Chromosoms im Männchen nicht erhöht, so werden zu wenig Genprodukte produziert und die Entwicklung wird so gestört, dass die Männchen sterben. Alle diese Befunde zeigen an, dass das XChromosom eine Ausnahmestellung hinsichtlich seiner Genregulation einnehmen muss: Wie ist es sonst zu erklären, dass die autosomalen Gene in ihrer Aktivität weder durch das Geschlecht noch durch die erwähnten msl-Gene beeinflusst werden? Es liegt nahe, die Ursache in der Struktur X-chromosomaler Gene zu suchen. Die molekulare Feinstrukturanalyse einzelner Gene hat jedoch bis heute keine Hinweise auf regulatorische Besonderheiten ergeben, sieht man von der hohen Konzentration von CA/GT-Sequenzen im X-Chromosom ab. Solche Sequenzen können eine Z-Konformation der DNA induzieren. Die neueren Befunde über die molekularen Komponenten des Dosisregulationsmechanismus zeigen ein komplexes Bild der Interaktion von Proteinfaktoren. ! In Drosophila wird eine Dosiskompensation durch
eine erhöhte Genaktivität im X-Chromosom erreicht.
7.2 Variabilität der Chromosomen und Dosiskompensation
Wie bereits erwähnt, spielt das Sxl-Gen nicht nur bei der Geschlechtsbestimmung eine wichtige Rolle, sondern auch bei der Dosiskompensation. Untersucht man seine Funktionen, wird deutlich, dass bei der Aktivierung der ersten zygyotisch aktiven Gene im syncytialen Blastoderm (frühes Entwicklungsstadium bei Drosophila; vgl. Abb. 13.17) eine Dosiskompensation X-chromosomaler Gene im Männchen noch nicht erfolgt sein kann. Dosiskompensation würde den Zählmechanismus, der das X:A-Verhältnis im Embryo ermittelt und damit das Geschlecht bestimmt, außer Kraft setzen. Dosiskompensation kann daher erst in späteren Entwicklungsphasen voll wirksam werden. Für das Verständnis der Dosiskompensationsmechanismen spielen einige autosomale Gene eine wichtige Rolle, die im Falle einer Loss-of-function-Mutation zu männlicher Letalität führen. Es handelt sich um das Gen maleless (mle) und die vier Gene male-specific lethal1, 2 und 3 (msl1, msl2, msl3) und males-absent-on-the-first (mof). Homozygot mutante Männchen aller dieser fünf Gene sterben im Laufe der Larvalentwicklung ab, während Weibchen lebensfähig sind. Untersuchungen von J. M. Belote und J. Lucchesi haben gezeigt, dass in solchen mutanten Männchen die Menge X-chromosomaler Genprodukte verringert ist. Das deutet darauf hin, dass die Dosiskompensation in solchen Männchen nicht richtig funktioniert. Die Vermutung, dass die Genprodukte des mle-Gens und der msl- und mof-Gene die Hyperaktivität des X-Chromosoms im Männchen kontrollieren, ließ sich durch Untersuchungen der zellulären Lokalisation der fünf genannten Proteine beweisen. Diese Proteine binden in Männchen spezifisch an das X-Chromosom, während sie in Weibchen am X-Chromosom nicht nachweisbar sind (Abb. 7.31). Die fünf Proteine bilden einen Multiproteinkomplex, der an das XChromosom bindet. Das MLE-Protein ist eine ATP-abhängige RNA-Helikase. MOF hat HistonAcetyltransferase-(HAT-)Aktivität. Es bindet an das N-terminale Ende von Histon H4. Zusätzlich sind für die Bindung des Multiproteinkomplexes zwei RNAMoleküle, roX1 und roX2, erforderlich, die beide im X-Chromosom kodiert werden. Nach gegenwärtigen Vorstellungen über die molekularen Prozesse, die zur Aktivitätserhöhung im X-Chromosom führen, werden zunächst die MSL-Proteine an spezifischen Stellen des X-Chromosoms gebunden, die die roX-Gene einschließen. Sie bilden Komplexe mit den roX-RNAs,
die dann in der Lage sind, an weitere X-chromosomale Loci zu binden. Von hier aus vermögen sie, sich über flankierende Chromosomenbereiche auszubreiten. Die Bindung dieser RNP-Komplexe bewirkt Veränderungen in der Chromatinstruktur, die zur Erhöhung der Transkriptionsrate im männlichen X-Chromosom führen.
Abb. 7.31 a,b. Dosiskompensation bei Drosophila. Das nur im Männchen gebildete MSL-1-Protein bindet spezifisch an das männliche X-Chromosom. Es spielt eine noch ungeklärte Rolle bei der Regulation der aufgrund der Dosiskompensation erhöhten Transkriptionsrate dieses Chromosoms. a Riesenchromosomensatz aus Larven von D. melanogaster, Stamm Samarkand, nach DNA-Färbung. b Der gleiche Chromosomensatz nach Immunreaktion mit Anti-MSL-1-Antiserum und anschließender Immunreaktion mit Texas-Rot-konjugiertem sekundärem Antiserum. (Photo: J. Lucchesi, Atlanta)
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Kapitel 7: Molekulare Struktur eukaryotischer Chromosomen
! Die Hyperaktivität des X-Chromosoms im Männ-
chen wird durch fünf chromosomale Proteine induziert, die durch Kombination mit strukturellen RNAMolekülen (roX1 und roX2) durch Veränderungen der Chromatinstruktur eine erhöhte Transkriptionsaktivität ermöglichen. Die Expression solcher Proteine im Weibchen wirkt sich ebenso letal aus wie das Fehlen dieser Proteine im Männchen. In beiden Fällen ist die fehlerhafte Dosiskompensation für die Letalität verantwortlich.
XXXXX-Individuen zwei, drei oder vier Barr-Körper aufweisen.Das ist ein sehr eindeutiger Hinweis darauf, dass alle gegenüber der männlichen Normalkonstitution (mit einem X-Chromosom) überzähligen X-Chromosomen inaktiviert werden, und zwar unabhängig vom Geschlecht des Individiums. Sie bleiben auch in der Interphase kondensiert und liegen als spätreplizierendes Heterochromatin vor. Diese Interpretation wird von der genetischen Seite her gestützt. Die maßgeblichen Experimente sind leicht zu verstehen, wenn man die Folge einer
7.2.3 Dosiskompensation bei Säugern Auf einem ganz anderen Weg wird die Dosiskompensation in Säugern erreicht. Auf der Grundlage cytologischer Studien und genetischer Daten wurde von Mary Lyon 1961 die Hypothese (Lyon-Hypothese) formuliert, dass im weiblichen Geschlecht von Säugern eines der X-Chromosomen inaktiv ist. Auf der cytologischen Seite war ein zentraler Befund für das Verständnis der Dosiskompensation die Beobachtung von M.L.Barr,dass in Interphasezellen von weiblichen Säugern ein stark anfärbbarer Chromatinkörper, auch Geschlechtschromatin (engl. sex chromatin) genannt, zu beobachten ist, der in männlichen Zellen fehlt. Der klassischen Definition nach handelt es sich hierbei um Heterochromatin. Heterochromatin wird aber als funktionell inaktives chromosomales Material angesehen. Die Korrelation dieses Geschlechtschromatins mit dem nach Lyon inaktiven X-Chromosom würde somit die Lyon-Hypothese unterstützen. Diese Korrelation lässt sich tatsächlich durch einfache cytologische Methoden beweisen. Nach seinem Entdecker (Barr u. Bertram 1949) wird das Geschlechtschromatin auch Barr-Körper (engl. Barr body) genannt. Dieser Barr-Körper entsteht durch eine ringförmige Struktur des inaktiven X-Chromosoms. Entscheidend war, dass cytologische Beobachtungen erkennen ließen, dass dieser heterochromatische Körper im Falle von Geschlechtschromosomenanomalien fehlt oder auch in erhöhter Anzahl vorhanden ist. Die Anzahl vorhandener BarrKörper ist jeweils um eins geringer als die Gesamtzahl der vorhandenen X-Chromosomen (Abb. 7.32). Das bedeutet, dass Klinefelter-Männer (XXY) einen Barr-Körper besitzen, Turner-Frauen (X0) keinen, während XXX-, XXXX- oder
Abb. 7.32 a,b. Barr-Bodies in Interphase-Zellkernen von Säugern mit unterschiedlichen Anzahlen von X-Chromosomen. Es bleibt jeweils nur ein X-Chromosom aktiv, während die übrigen als inaktives („fakultatives“) Heterochromatin (= BarrBody) erscheinen. Im Allgemeinen verschmelzen sie nicht miteinander, so dass die genetische Konstitution aus einem Interphasekern (beim Menschen z. B. in Schleimhautabstrichen von den Innenseiten der Wangen) leicht zu ermitteln ist. Allerdings kann eine bestimmte Anzahl von Barr-Bodies durch unterschiedliche Konstitutionen der Geschlechtschromosomen verursacht werden wie die obere Zeile anzeigt (a). Menschliche XXX-Zellen, gefärbt mit fluoreszierenden Antikörpern gegen Histon H1. Zwei der X-Chromosomen formen Barr-Bodies. Die Barr-Bodies sind durch die Antikörperfärbung besonders deutlich sichtbar (b). Photo: T. Yang
7.2 Variabilität der Chromosomen und Dosiskompensation
Inaktivierung eines der X-Chromosomen in Individuen bedenkt, die für ein Markergen heterozygot sind. Wichtig ist hierbei, dass man ein Markergen auswählt, das zellautonom zur Ausprägung kommt, dessen Genprodukte also auf die Zelle beschränkt bleiben, in der das Gen stoffwechselaktiv ist. Offensichtlich können Zellen in diesem Falle nur eine Ausprägung eines der beiden Allele zeigen, wenn eines der X-Chromosomen inaktiv ist. Es stellt sich dann die Frage, ob in allen Zellen dasselbe X-Chromosom inaktiv ist, oder ob verschiedene Zellen unterschiedliche X-Chromosomen inaktivieren und wenn ja, wie diese Zellen zueinander angeordnet sind. Die Antwort lässt sich sehr einfach an Markergenen ablesen, die die Fellfarbe von Mäusen bestimmen. Sieht man sich ein für ein solches Gen heterozygotes Mäuseweibchen an,
Zygote
Abb. 7.33. Fleckenhafte Ausprägung von heterozygoten Markergenen als Folge der Inaktivierung eines X-Chromosoms in Säugern. Bei Anwesenheit geeigneter heterozygoter Zellmarker in den X-Chromosomen ist die Inaktivierung bzw. Aktivierung eines bestimmten Allels leicht zu erkennen, da bei Zellautonomie der Genexpression phänotypische Mosaike gebildet werden. In der Abbildung ist ein Mosaik in der Fellfarbe einer Maus und die jeweilige physiologische Konstitution der X-Chromosomen in den zugehörigen Interphasekernen dargestellt. Die Größe der Farbflecken im Fell wird durch die Anzahl der gleichartigen Zellen, d.h. durch den Zeitpunkt der Inaktivierung des einen X-Chromosoms in der Embryonalentwicklung bestimmt (vgl. Abb. 7.35). (Nach Lyon 1963 und Thompson 1965)
so erkennen wir eine gefleckte Färbung des Fells (Abb. 7.33). Dieses Muster beantwortet zwei unserer Fragen: Erstens kann offenbar jedes der beiden XChromosomen inaktiv werden. Zweitens betrifft die Inaktivierung jeweils Gruppen benachbarter Zellen, bei denen dasselbe X-Chromosom inaktiv ist, wie die fleckenförmige Verteilung des Ausprägungsmusters beider Allele belegt. Dass das bei Mäusen beobachtete Verteilungsmuster keine Ausnahme, sondern die Regel ist, beweisen ähnliche Untersuchungen am Menschen (Abb. 7.34). Ein geschlechtsgebundenes Gen, das verschiedene Merkmale beeinflusst, führt auch zur Absonderung eines Substrates durch die Schweißdrüsen, das durch eine Farbreaktion leicht sichtbar gemacht werden kann. Das Verteilungsmuster der Expression des Allels entspricht dem der Verteilung der Farbflecken im Mäusefell. Aus der vergleichenden Untersuchung von weiblichen Individuen aufeinanderfolgender Generationen lässt sich leicht erkennen, dass die Ausprägung des Allels nicht an bestimmte Körperregionen gebunden ist, sondern sich zufallsgemäß im Körper verteilt. Wir können also davon ausgehen, dass das Ausprägungsmuster des einen X-Chromosoms gegenüber dem des anderen nicht genetisch fixiert ist. Wie erklärt sich dann die Bildung von homogenen Bereichen, die sich mit Bereichen der Ausprägung des alternativen Allels abwechseln? Die Antwort können wir aus einem Schema der Entwicklung eines Organismus ableiten. Dieses Schema zeigt uns, dass Gruppen miteinander verwandter Zellen, sogenannte Zellklone, bestimmte Gewebe, Organe oder andere Unterteile eines Organismus bilden. (In der englischsprachigen Literatur wird der Begriff cell lineage gebraucht.) Übertragen wir dieses Schema einer klonalen Zelldifferenzierung auf die Inaktivierung des X-Chromosoms, so gelangen wir zu der Erkenntnis, dass Gruppen benachbarter Zellen, die eine einheitliche Genexpression des einen Allels zeigen, in der Entwicklung (Ontogenese) des Organismus aus einer gemeinsamen Urprungszelle herstammen müssen, in der die Entscheidung über die Aktivität oder Inaktivität eines bestimmten Allels erfolgt ist. Diese Entscheidung muss, wenn man das Fleckenmuster betrachtet, irreversibel sein, da offensichtlich innerhalb eines Farbbereiches kein Umschlag zur Expression des anderen Allels erfolgt. Zudem können wir erkennen, dass die Größe eines Farbfleckes uns Infor-
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• Die Entscheidung über die Aktivität eines X-
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Abb. 7.34. Zufallsgemäße Inaktivierung eines der weiblichen X-Chromosomen beim Menschen. Eine X-chromosomale rezessive Mutation (Anhidrotische ektodermale Dysplasie) führt zu Veränderungen in den Sekreten der Haut, die durch geeignete Färbungen sichtbar gemacht werden können. Bei einem Vergleich der Sekretmuster, die durch die Heterozygotie der Mutation und die Inaktivierung des X-Chromosoms entstehen, über mehrere Generationen zeigt sich, dass die Muster nicht erblich festgelegt sind, sondern individuell variieren. (Nach Passarge u. Fries 1973)
mationen über den Zeitpunkt der Inaktivierung des anderen X-Chromosoms vermittelt: Ist der Fleck groß, so sind viele Mitosen nach dieser Entscheidung erfolgt. Das bedeutet, dass die Entscheidung früher in der Entwicklung des Organismus erfolgt sein muss als bei kleineren Flecken. Diese Situation ist in Abb. 7.35 dargestellt, die die Ergebnisse solcher Untersuchungen zusammenfasst. Aus dem Schema können wir hinsichtlich der Entscheidung über die Aktivität eines X-Chromosoms als wichtigste Schlüsse das Folgende zusammenfassen:
Chromosoms erfolgt in der frühen Embryonalentwicklung. • Die Entscheidung erfolgt nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt innerhalb der Entwicklung, sondern kann zeitlich für verschiedene Zellen variieren. • Die Entscheidung ist irreversibel, d. h. ein einmal inaktiviertes X-Chromosom bleibt in allen folgenden Zellgenerationen inaktiv. Über die molekularen Ursachen der Inaktivierung der X-Chromosomen bei Säugern gibt es heute schon recht präzise Vorstellungen. Die frühen Ereignisse dieses Prozesses werden durch ein Inaktivierungszentrum (engl. X-chromosome-inactivation centre, Xic) kontrolliert. Aufgrund cytogenetischer Daten wird die Größe des Xic-Genorts mit etwa 1 Mb angegeben. Diese Region enthält mindestens vier Gene, die an der X-Inaktivierung beteiligt sind: Xist kodiert für ein spezifisches Transkript des inaktiven X-Chromosomes (engl. X inactive-specific transcript), das allerdings nicht für ein Protein kodiert. Xist ist für die Funktion von Xic wichtig. Die anderen Elemente innerhalb der Xic-Region sind verantwortlich für die Xist-Expression. Eines davon ist DXPas34, das ursprünglich aufgrund seines Methylierungsprofils auf dem aktiven X-Chromosom definiert wurde. Das andere ist das TsiX-Transkript, ein nicht-kodierendes Transkript, das vom Gegenstrang zu Xist abgelesen wird und das die Aktivität von Xist zu Beginn der Inaktivierung reguliert (Abb. 7.36). Ein hervorragendes Modell, um die frühen Vorgänge bei der X-Inaktivierung zu untersuchen, sind embryonale Stammzellen (ES) der Maus. Durch insitu-Hybridisierung mit Fluoreszenzmarkern (engl. fluorescence in situ hybridization, FISH) kann die Xist-RNA erkannt werden: In weiblichen ES-Zellen erscheinen zwei punktförmige Signale, wohingegen bei männlichen ES-Zellen nur ein derartiges Signal erscheint (Abb. 7.37). Werden die weiblichen ES-Zellen zur Differenzierung angeregt, häufen sich XistTranskripte an dem später inaktiven X-Chromosom an, wohingegen die Expression von Xist an den aktiven männlichen und weiblichen X-Chromosomen abgeschaltet wird. Der Beginn der X-Inaktivierung erscheint daher unmittelbar mit der Anhäufung von Xist-Transkripten gekoppelt zu sein. Dabei ist die Hochregulierung der Xist-Expression offensichtlich auch mit einer Verlängerung der Lebenszeit der Xist-
7.2 Variabilität der Chromosomen und Dosiskompensation
Zygote
Zellgenerationen
Abb. 7.35. Inaktivierung des SäugerX-Chromosoms während der frühen Embryonalentwicklung. Die Inaktivierung eines der beiden X-Chromosomen erfolgt zufallsgemäß, ist jedoch hinsichtlich des Zeitpunktes nicht genau festgelegt. Eine einmal erfolgte Inaktivierung ist im Allgemeinen irreversibel und führt daher zu phänotypischen Mosaiken, falls zellautonom ausgeprägte unterschiedliche Allele geeigneter Markergene in beiden X-Chromosomen vorhanden sind (siehe Abb. 7.33). Im inaktiven Zustand ist das X-Chromosom als Barr-Body (vgl. Abb. 7.32 und 7.33) dargestellt. Die beiden elterlichen X-Chromosomen sind mit unterschiedlichen Farben gekennzeichnet
X-Inaktivierung
X-Inaktivierung
X-Inaktivierung
Transkripte verbunden. Zwei Promotoren (P1, P2; Abb. 7.36) sind für die stabile Xist-Transkription verantwortlich; es wird diskutiert, ob der weiter oberhalb liegende Promotor P0 oder weitere regulatorische Elemente für die frühere Expression der instabilen Xist-Transkripte verantwortlich sind. Wichtige Hinweise auf die Funktion von Xist kamen von verschiedenen künstlichen Maus-Mutanten. Das Ausschalten des Xist-Gens in knock-outMäusen zeigt, dass Xist für die Inaktivierung in cis, d. h. auf demselbem Chromosom, notwendig ist; umgekehrt zeigt die Überexpression von Xist in transgenen Mäusen und auch in entsprechenden ESZellen eine weitreichende Hemmung der gesamten Transkription in cis. Diese Hemmung ist zunächst abhängig von der kontinuierlichen Xist- Expression und zunächst noch umkehrbar. Xist muss über 48 Stunden aktiv sein, um eine Abschaltung zu erzielen. Wenn 72 Stunden erreicht sind, ist der Fortschritt der X-Inaktivierung nicht mehr von Xist abhängig, und
es erscheint das Gesamtbild der sekundären X-Inaktivierung. Dazu gehört vor allem die Hypoacetylierung der Histone. (Die noch undifferenzierten Zellen sind hyperacetyliert, wohingegen die Zellen, die schon festgelegt sind, hypoacetyliert sind.) Deletionsexperimente in der Xic-Region machen deutlich, welche Abschnitte für die Auswahl des zu inaktivierenden X-Chromosoms verantwortlich sind. Die Deletion des DxPas34-Locus, der in der Initiationsregion des TsiX-antisense-Transkripts liegt, beseitigt sowohl die antisense-Aktivität von TsiX als auch die Xist-Transkription (oder vermindert sie zumindest stark). Ein weiterer wichtiger Hinweis über die Auswahl des zu inaktivierenden Chromosoms kommt aus Untersuchungen über die X-Inaktivierung in extraembryonalem Gewebe wie dem Trophektoderm. Hier spielt sich offensichtlich ein Mechanismus ab, der über Imprinting gezielt das väterliche X-Chromosom ausschaltet (Abb. 7.38). Die Inaktivierung des pater-
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Kapitel 7: Molekulare Struktur eukaryotischer Chromosomen
Abb. 7.36. Das X-Inaktivierungszentrum. Die dargestellten bekannten Elemente und Regionen im X-Inaktivierungszentrum (Xic) beeinflussen die Auswahl und die cis-Inaktivierung während des Beginns der X-Inaktivierung. Gene sind fett dargestellt, und die Pfeilrichtungen geben die jeweilige Richtung der Transkription an. Brx (brain X-linked), Tsx (testis X-linked) und Cdx4 (caudal-4) sind Gene, die zwar im Xic liegen, aber wohl keine definierte Funktion im Zusammenhang mit der X-Inaktivierung haben. Die 2.1(2)P-Region zeigt unterschiedliche Histon-H4-Hyperacetylierung in undifferenzierten weiblichen und männlichen embryonalen Stammzellen (ES) und ist
möglicherweise ein regulatorisches Element in der X-Inaktivierung. P1 und P2 sind somatische Promotoren von Xist, und von P0 wird vermutet, dass es in undifferenzierten ES-Zellen und in frühen Embryonen als Promotor von Xist wirkt. S12 und S19 sind Pseudogene ribosomaler Gene, die im 5’-Bereich des Xist-Gens der Maus liegen. Regionen, die in verschiedenen Mausmutanten deletiert wurden, sind als schwarze Balken eingezeichnet. Die blauen Balken zeigen Regionen, denen bestimmte Funktionen (Wahl, Zählen, Inaktivierung) zugeordnet werden konnten. (Avner u. Heard 2001)
nalen X-Chromosoms wird außerdem in allen Geweben der Beuteltiere gefunden; es wird daher auch die Hypothese vertreten, dass dies die ursprüngliche Form der X-Inaktivierung sei, und dass die zufällige X-Inaktivierung erst später bei der Evolution der Eutheria (Plazenta-Tiere) „erfunden“ wurde. Die Inaktivierung des X-Chromosoms beginnt am Xic und breitet sich von dort über das gesamte XChromosom aus. Die Inaktivierung kann sich dabei auch in autosomale Bereiche ausdehnen, wenn diese durch Translokation in die Nachbarschaft von Xic kommen. Diese Ausbreitung kann über weite Distanzen erfolgen – 100 Mb oder mehr sind dabei keine Seltenheit. Die Inaktivierung dieses autosomalen Materials unterscheidet sich nicht von dem des XChromosoms – höchstens in seinem Ausmaß: Es ist gewöhnlich nicht so effektiv und nicht so ausgeprägt, und es ist mit einer begrenzten Ausdehnung der XistRNA in dem autosomalen Bereich assoziiert. Mary Lyon (2003) vermutete, dass repetitive Sequenzen vom LINES-Typ für die Ausbreitung der Xist-RNA verantwortlich sind, indem sie als Zwischenstationen oder Verstärker-Elemente wirken. Sowohl im menschli-
chen X-Chromosom als auch im X-Chromosom der Maus wurden doppelt so viele LINE-Elemente gefunden wie in den Autosomen,und es scheint,dass sowohl die Zahl der LINE-Elemente als auch ihre Verteilung innerhalb des X-Chromosoms mit der Effizienz der X-Inaktivierung korrelieren. Eine Analyse von mehr als 600 Genen des X-Chromosoms des Menschen zeigte allerdings, dass ca. 15 % der X-gekoppelten Gene der Inaktivierung „entkommen“. Die meisten davon liegen auf dem kurzen Arm des X-Chromsoms (Xp). Die Häufigkeit, mit der Gene auf dem kurzen Arm von der Inaktivierung verschont bleiben, entspricht der Häufigkeit autosomaler Gene bei X:autosomalen Translokationen und ist ein Zeichen dafür, dass der kurze Arm des menschlichen X-Chromosoms unter evolutionären Gesichtspunkten erst „kürzlich“ zum X-Chromosom hinzugekommen ist. Dieser Abschnitt enthält auch deutlich weniger LINE-Elemente – umgekehrt ist deren Dichte am höchsten in der Region Xq13-Xq21, die das menschliche XIC enthält. Weiterhin sind etwa 10% der X-gekoppelten Gene in unterschiedlichem Ausmaß inaktiviert, was zu einer beachtlichen
7.2 Variabilität der Chromosomen und Dosiskompensation
Abb. 7.37. Xist-Transkription in embryonalen Stammzellen der Maus. Das Muster der Xist-RNA-Expression in weiblichen ES-Zellen wurde während der Differenzierung mit Hilfe der insitu-Fluoreszenzmarkierung (FISH) untersucht. Das linke Bild zeigt eine undifferenzierte ES-Zelle mit zwei punktförmigen Xist-RNA-Signalen, die auf die Anwesenheit von zwei instabilen Xist-Transkripten an beiden aktiven X-Chromosomen hinweisen. Das mittlere Bild zeigt, dass nach der Differenzierung
Entwicklungsstadium
Xist-Expression
das Xist-Transkript von einem der beiden Allele stabilisiert wird und das in cis zu inaktivierende X-Chromosom bedeckt. Das X-Chromosom, das aktiv bleibt, behält auch die instabile Form des Xist-Transkripts. Das rechte Bild zeigt, dass die XistRNA das inaktive X-Chromosom bedeckt und dass das XistGen des aktiven Chromosoms ausgeschaltet wurde. (Avner u. Heard 2001)
X-Inaktivierung
Väterl. Imprinting wirksam
X-Methylierung
Oogonie Oocyte Oocyte, spät Zygote frühe Zellteilungen Morula Blastocyste Trophektoderm extraembryon. Gewebe primitives Endoderm Innere Zellmasse 5-Tage-Embryo
7-Tage-Embryo Soma
Abb. 7.38. Verhalten des Säuger-X-Chromosoms im weiblichen Geschlecht. Im Trophektoderm ist ausschließlich das väterliche X-Chromosom inaktiv. Ein väterliches Imprinting besteht zwar bereits während der ersten Teilungen, kommt jedoch erst später funktionell zur Geltung. Im Männchen
kommt das Xist-Gen während der Spermatogenese zur Expression, eine Inaktivierung des X-Chromosoms ist ausschließlich in männlichen Keimzellen zu beobachten, während eine Methylierung vollständig fehlt. Das Schema beruht auf Beobachtungen an Mäusen
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Kapitel 7: Molekulare Struktur eukaryotischer Chromosomen
Heterogenität der Genexpression bei Frauen führt (Carrel u. Willard 2005). Ein aktuelles Modell für die X-Inaktivierung bei Säugetieren zeigt Abb. 7.39. Die charakteristischen Eigenschaften der Xchromosomalen Inaktivierung – ihr Ausmaß, ihre Stabilität und genaue Regulation während des Entwicklungsprozesses – lässt vermuten, dass hier mehrere Moleküle und Faktoren in genau aufeinander abgestimmter Weise miteinander interagieren, wie wir das auch von anderen epigenetischen Prozessen kennen. Von besonderem Interesse ist dabei die besondere Stabilität des inaktiven XChromosoms in der Gebärmutter von Säugern (z. B. auch im Vergleich zu Beuteltieren). Die Inaktivierung wird im Wesentlichen durch Hypoacetylierung und Hypermethylierung in den entsprechenden Promotoren aufrechterhalten. Bei den Beuteltieren dagegen finden wir nur Hypoacetylierung in den inaktiven XChromosomen. Ein zweiter interessanter Punkt ist die Ähnlichkeit zwischen den verschiedenen Wegen der Dosiskompensation bei Drosophila und Säugern. Auch wenn das Ergebnis im Detail unterschiedlich ist (Drosophila: Überaktivität im X-Chromosom; Säuger: Inaktivierung), so gibt es doch eine auffallende Parallele: Auch hier spielen zwei kleine, nicht-kodierende RNA-Transkripte (roX1 und roX2) eine wichtige Rolle. Insbesondere bindet offensichtlich das roX2-Transkript an MOF, eine Histon-Acetyltransferase, die dadurch aktiviert wird. Wechselwirkungen mit RNA sind also offensichtlich ein weit verbreitetes Phänomen in regulatorischen, Chromatin-abhängigen Netzwerken. ! Bei Säugern erfolgt die Dosiskompensation durch
Inaktivierung eines X-Chromosoms in weiblichen Zellen. Die Inaktivierung erfolgt in der frühen Embryonalentwicklung und betrifft zufallsmäßig das väterliche oder mütterliche Chromosom. Das inaktive X-Chromosom ist als Barr-Körperchen cytologisch sichtbar. Die Inaktivierung des X-Chromosoms geht vom X-Inaktivierungszentrum aus und beruht im Wesentlichen auf der Expression des Xist-Transkripts, das für kein Protein kodiert. Als Ergebnis der Xist-Bedeckung wird die Transkription der Gene des X-Chromosoms abgeschaltet. Dabei werden die Promotoren der Xgekoppelten Gene methyliert und das entsprechende Chromatin deacetyliert.
Abb. 7.39a–e. Modell der X-Inaktivierung bei Säugern. Das Modell stellt einige der Elemente vor, die an der Inaktivierung des X-Chromosoms beteiligt sind. a Vor der Inaktivierung wird die Xist-RNA als instabile Form (gestrichelte rote Linien) exprimiert, und die vermuteten hemmenden Faktoren (rot) verhindern entweder die Hochregulierung von Xist und/oder seine Assoziation mit dem Chromosom in cis. b Die Menge an XistRNA steigt durch Stabilisierung, durch erhöhte Transkription oder durch Entfernung der blockierenden Faktoren. LINE-Elemente können an diesem Ausbreitungsprozess beteiligt sein entweder durch Assoziation mit Nukleoprotein-Komplexen (einschließlich Xist) durch einen Mechanismus, der als Repeatabhängiger Abschalt-Prozess diskutiert wird (engl. repeatinduced gene silencing, RIGS). c Die stabilisierte Xist-RNA bedeckt das X-Chromosom vor seiner endgültigen Inaktivierung. d Als Ergebnis der Umhüllung durch die Xist-RNA wird die Transkription der Gene des X-Chromosoms abgeschaltet. e Modifikationen des Chromatins (Histon-Deacetylierung, Methylierung von Promotoren X-gekoppelter Gene sowie Ergänzung des Chromatins durch die Histon-Variante macroH2A) überführen das von Xist-RNA bedeckte Chromosom in einen stabilen, inaktiven und kondensierten Zustand. (Avner u. Heard 2001)
7.3 Organisation der DNA im Chromosom
7.3 Organisation der DNA im Chromosom In den vorangehenden Kapiteln haben wir Chromosomen von zwei Ebenen her betrachtet, ohne diese miteinander zu verbinden. Zunächst haben wir den wichtigsten molekularen Bestandteil eines Chromosoms, die DNA, als Träger der Erbinformation erörtert. Später haben wir die lichtmikroskopisch erkennbaren Eigenschaften, also die Cytologie der Chromosomen, kennengelernt. Um diese Ebenen miteinander zu verbinden und um unser Verständnis der Chromosomenstruktur zu erweitern, lassen sich nunmehr drei Fragen formulieren: • Wie ist die DNA im Chromosom strukturell organisiert? • Unterliegt diese strukturelle Organisation Veränderungen im Laufe des Zellzyklus? • Gibt es noch andere molekulare Grundbausteine der Chromosomen, die von allgemeiner Bedeutung sind? Die beiden letzten Fragen können wir, wenigstens in einem allgemeinen Rahmen, bereits aufgrund unserer bisherigen Kenntnisse beantworten. Dass die Chromosomen, und damit auch die DNA, strukturellen Veränderungen unterliegen muss, haben wir bei der Besprechung des mitotischen und des meiotischen Zellzyklus gesehen: Die Strukturen, die gemeinhin als Chromosomen bezeichnet werden,erscheinen in ihrer mikroskopisch erkennbaren Struktur erst im Laufe der Prophase, bleiben während der Zellteilung erhalten und werden in der Telophase wieder unsichtbar. Während des übrigen,zeitlich weitaus überwiegenden Teiles des Zellzyklus (s. Abb. 6.14) ist die Anwesenheit der Chromosomen (und die der DNA) im Zellkern allein mittels besonderer Techniken festzustellen. Die chromosomale DNA muss mithin eine sehr grundlegende strukturelle Reorganisation durchlaufen, um diese verschiedenen chromosomalen Organisationszustände einzunehmen. Dass DNA nicht der einzige Bestandteil der Chromosomen ist, hat man mit Hilfe von proteinspezifischen Farbstoffen bereits frühzeitig nachweisen können. Behandelt man ein Chromosomenpräparat mit proteolytischen Enzymen, so bleiben keine erkennbaren Strukturen im Präparat zurück. Das bedeutet, dass ein relativ großer Anteil des Chromosoms aus Proteinen bestehen muss. Außerdem kann man, z. B.
durch den Einbau radioaktiv markierter Nukleotide, zeigen, dass auch RNA in den Chromosomen enthalten ist. ! Chromosomen enthalten neben der DNA Proteine und RNA als Strukturkomponenten.
Welche große Bedeutung der strukturellen Organisation der DNA im Chromosom zukommt, wird deutlich, wenn wir uns den DNA-Gehalt eines diploiden Kernes vor Augen halten. In Tabelle 1.3 sind die Größen verschiedener Genome zusammengestellt. So enthält beispielsweise das menschliche Genom 94 cm DNA. Bei 46 Chromosomen sind das im Mittel 2 cm DNA je Chromosom. Ein normaler Interphasekern hat einen Durchmesser von nur etwa 10 µm, und ein mittleres Metaphasechromosom des Menschen ist ungefähr 5 µm lang. Um die DNA in einem Chromosom, und dieses in einem Zellkern, unterzubringen, muss die DNADoppelhelix also um das etwa 4000fache verkürzt werden. Nähere Aufschlüsse darüber, wie das ermöglicht wird, haben uns elektronenmikroskopische Untersuchungen der strukturellen Organisation von Chromosomen vermittelt. Die ersten Untersuchungen dieser Art zeigten, dass ein Chromosom aus 25–30 nm dicken Längsfibrillen besteht. Detailliertere Studien, die durch das zunehmend höhere Auflösungsvermögen des Elektronenmikroskops und neue Techniken der Chromosomenanalyse unterstützt, bzw. überhaupt erst ermöglicht wurden, ergaben, dass die 25–30 nm-Fibrille aus mehreren Untereinheiten aufgebaut ist. So lässt sich zeigen, dass es im Chromosom eine noch niedrigere Organisationsstufe, nämlich die 10 nm-Fibrille gibt. (Das entspricht 100 Å; diese Längeneinheit wurde früher für sehr kleine Abstände verwendet, 10 Å Ⳏ 1 nm) Diese Fibrillen müssen die DNA-Doppelhelix enthalten, deren Durchmesser jedoch nur etwa 2,4 nm beträgt. Das bedeutet, dass ein beträchtlicher Anteil der 10 nmFibrillen aus anderen Molekülen bestehen muss, vornehmlich aus Proteinen. Man bezeichnet sie daher als Nukleoproteinfibrillen.
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Kapitel 7: Molekulare Struktur eukaryotischer Chromosomen
! Chromosomale DNA ist in Längsfibrillen unter-
schiedlicher Hierarchiestufen organisiert. Die niedrigste Organisationsstufe ist eine 10 nm-Fibrille, die folgende eine 25–30 nm-Fibrille. Diese Fibrillen werden durch Interaktionen zwischen DNA und Proteinen erzeugt.
7.3.1 Chromosomale Proteine Die Proteinbestandteile der Chromosomen haben schon lange das Interesse der Forscher gefunden, bevor die DNA in ihrer Funktion als Träger der Erbinformation erkannt worden war. F. Miescher hatte sich für die stark basischen Proteine des Chromatins interessiert, da man in der Variabilität der Proteine Aufschluss über die Art der Erbsubstanz gesucht hatte (s. S. 3). Die Bezeichnung Chromatin war von Flemming 1882 zur Kennzeichnung des färbbaren Materials im Interphasekern eingeführt worden. Albrecht Kossel beschrieb 1884 das erste chromatinassoziierte Protein, das er aus Gänseerythrocyten durch Extraktion mit Säure gewonnen hatte (für diese Arbeiten erhielt er 1910 den Nobelpreis für Medizin).Aus Interphasechromatin erhält man dabei vorwiegend eine Proteinfraktion, die als Histonfraktion bezeichnet wird. Sie besteht aus mehreren verschiedenen Proteinen, den Histonen. Die Histone sind, wie ihre Isolationsmethode anzeigt, stark basische Proteine, und sie formen das Grundgerüst fast aller eukaryotischer Chromosomen. Die positive Ladung dieser Proteine
wird durch zahlreiche basische Aminosäuren bedingt. Sie dient dazu,die negative Ladung der Phosphatgruppen der DNA zu kompensieren. Histone können dadurch eine enge Bindung mit der DNA eingehen. Durch die Bindung der Histone an die chromosomale DNA werden charakteristische Strukturen, die Nukleosomen, geformt, die im Elektronenmikroskop sichtbar gemacht werden können (Abb. 7.40). Sie sind die Grundelemente eukaryotischer Chromosomen in nahezu allen Zelltypen. Anders zusammengesetzt ist lediglich das Chromatin in männlichen Keimzellen. Hier werden die Histone bei vielen Organismen durch noch stärker basische Proteine ersetzt. Oft handelt es sich dabei um Protamine, wie sie besonders charakteristisch in Lachssperma vorkommen. Diese Proteine verpacken die DNA im Spermienkopf in einer nichtnukleosomalen Struktur.
7.3.2 Nukleosomen Histone sind lysin- und argininreiche Proteine. Ein Nukleosom wird von vier verschiedenen Histontypen, H2A, H2B, H3 und H4 (Tabelle 7.3) geformt. Von jedem dieser Histone sind je zwei Moleküle im Nukleosom vorhanden. Die vier Histone bilden daher ein Oktamer (Abb. 7.41), um das sich im Chromosom etwa 140 Basenpaare der DNA-Doppelhelix in knapp zwei (genau 1,75) Linkswindungen (also gegen den Uhrzeigersinn) anordnen. Ein Histonoktamer wird auch als Core des Nukleosoms bezeichnet, die daran beteiligten Histone sind die Corehistone. Sie bestehen aus einem zentralen H32/H42-Tetramer und zwei Abb. 7.40. Nukleosomen im Chromatin aus Oocyten des Salamanders Pleurodeles waltlii. (Aus Scheer 1987)
7.3 Organisation der DNA im Chromosom
Tabelle 7.3. Eigenschaften von Histonen Typ
Aminosäuren
Mr
Lys/Arg-Verhältnis
Bemerkungen
H1
215
21 000
20,0
variabel
H2A
129
14 500
1,25
reich an Lys, Variabilität begrenzt
H2B
125
13 700
2,50
reich an Lys, Variabilität begrenzt
H3
135
15 300
0,72
reich an Arg, sehr konserviert
H4
102
11 200
0,79
reich an Arg, sehr konserviert
Während Histon H1 bereits zwischen nahe verwandten Organismengruppen starke Aminosäuresequenzunterschiede zeigt, ist die Variabilität der Histone H2A und H2B begrenzt; Histone H3 und H4 hingegen unterscheiden sich in ihrer Aminosäuresequenz zwischen verschiedenen Organismen kaum. Es gibt eine Reihe gewebespezifischer oder entwicklungsstadienspezifischer Histonvarianten, die die oben verzeichneten zellzyklusregulierten Histone ersetzen können. Die funktionelle Bedeutung ist jedoch unbekannt.
seitlich daran anliegenden Dimeren aus H2A/H2B. Durch Vertiefungen an der Oberfläche dieses Histoncores windet sich die DNA. Positiv geladene Aminosäuren an den sogenannten β-Brücken zwischen den Histonen treten in Kontakt mit der negativ geladenen DNA. Diese relativ einfache Konstruktion der HistonDNA-Interaktion erlaubt eine leichte Dissoziation, wie sie wahrscheinlich für Replikation und Transkription unabdingbar ist. Die Röntgenstrukturanalyse des Nukleosoms (Abb. 7.41) hat wichtige Einzelheiten der Organisation der Histone aufgezeigt. Die C-terminalen Regionen der Histone sind einander sehr ähnlich und bestehen aus zentralen α-Helices, die über β-Schleifen auf jeder Seite mit zwei kürzeren seitlichen αHelices verbunden sind. Je zwei β-Schleifen formen durch Kontakt eine β-Brücke. Die 16 β-Schleifen ergeben somit 8 Brücken, deren jede einen Kontaktpunkt mit der DNA schafft. Die zentralen Helices dienen der Dimerisierung der Histone, die sich in diesem Bereich berühren (man spricht von einer Handshake-Region). Die N-terminalen Enden der Nterminalen α-Helices berühren sich ebenfalls und formen vier weitere Kontaktstellen mit der DNA in deren minor groove. Somit haben 12 der 14 Helixwindungen der DNA um das Nukleosom Kontakt mit den Histonen. Wahrscheinlich stehen auch die beiden verbleibenden Windungen der DNA noch in Kontakt mit den Corehistonen. Die zentrale Struktur aus den
α-Helices bezeichnet man auch als Histonfalte (engl. histone fold). Betrachtet man die sterische Konfiguration des Nukleosoms, so wird erkennbar, dass es nahezu symmetrisch ist. Das Symmetriezentrum liegt in der Mitte der DNA, die die Corehistone umgibt. Man nennt diese DNA-Position die Dyadenachse. Bei der Besprechung der DNA-Struktur wurde darauf hingewiesen, dass die DNA trotz ihrer scheinbaren Gleichförmigkeit sequenzspezifische Unregelmäßigkeiten aufweist. Das bedeutet, dass auch die strukturelle Organisation im Nukleosom nicht einförmig ist. Eine echte Symmetrie lässt sich nur erreichen, wenn die DNA-Sequenz aus einem invertierten Repeat von 73 bp besteht, der im Bereich der Dyadenachse sein Zentrum hat. Jede Abweichung in der Sequenz führt zu veränderten Bindungseigenschaften zwischen DNA und Histoncore. Es ist auf dieser Grundlage leicht einzusehen, dass Nukleosomen dazu tendieren sequenzspezifische, in ihrer Bindungsenergie bevorzugte und sterisch begünstigte Positionen in der DNA einzunehmen. Das erklärt den Vorgang der „Nukleosomenpositionierung“ (engl. nucleosome positioning), d. h. die Tatsache, dass es DNA-Sequenzen gibt, innerhalb derer Nukleosomen bevorzugte Positionen einnehmen oder andere, die aufgrund der DNA-Struktur nukleosomenfrei sind. Ein Beispiel dafür sind DNA-Sequenzen, deren einer Strang nur Purinbasen, deren anderer aber
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Kapitel 7: Molekulare Struktur eukaryotischer Chromosomen
Abb. 7.41 a,b. Atomstruktur eines Nukleosoms. a Core-Partikel (146 bp DNA), links von oben, rechts von der Seite. Die DNA-Stränge sind braun und türkis dargestellt, die Histone blau (H3), grün (H4), gelb (H2A) und rot (H2B). b Die 73 bpHälfte des Core-Partikels, von oben. Die vertikale Dyadenachse liegt bei dem zentralen Basenpaar („0“, oben im Bild). Jede weitere der sieben Doppelhelixwindungen ist nummeriert (1 bis 7). Die Histone sind in b, c und d farblich gekennzeichnet wie in a, die carboxy- (C) und aminoterminalen (N) Enden, sind angegeben.
7.3 Organisation der DNA im Chromosom
Abb. 7.41 c,d. c N-terminale Histonbereiche, die durch die minor groove der DNA (weiß) aus dem Nukleosomencore-Partikel herausragen. Links: H2B (rot) und H3 (blau). Rechts: Vergrößerte Darstellung des N-terminalen H3-Bereiches (Aminosäuren 39 bis 42: HRYRP), der durch die minor groove zwischen den DNA-Windungen SHL1 (Zentrum der DNA im Nukleosom) und SHL-7 heraustritt. Die Elektronenverteilung der Aminosäuren ist in magenta angegeben. d Das H3-H4- (oben) und das H2A-H2B- (unten) Histonfaltenpaar. Die Dyadenachse verläuft durch die SHL1 1/2und SLH4 1/2-Bereiche der DNA (s. b). Die Seitenketten der Aminosäuren bzw. Arginine, die in die minor groove der DNA eingreifen, sind angegeben (Nummern der Aminosäuren). Die α-Helixbereiche der Histone sind mit α gekennzeichnet, die Loop-Bereiche mit L. Die L1- und L2-Loops formen miteinander β-Strukturen über Wasserbindungen. (Aus Luger et al. 1997)
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Kapitel 7: Molekulare Struktur eukaryotischer Chromosomen
nur Pyrimidinbasen enthält (also z. B. poly[dA]/ poly[dT]). Diese DNA-Struktur gestattet es aus sterischen Gründen nicht, Nukleosomen zu formen. Entsprechende DNA-Sequenzen finden sich beispielsweise in Centromerenregionen der Chromosomen und im Heterochromatin, teilweise aber auch in Promotorbereichen. Das ist einsichtig, da diese DNABereiche spezielle Aufgaben der Proteinbindung haben bzw. für die Bildung von Transkriptionskomplexen leicht zugänglich sein müssen. Die strukturellen Eigenschaften der Nukleosomen sind von erheblichem biologischen Interesse, da sie Erkennungssignale für Regulationsfaktoren liefern können. Eine bekannte Erscheinung ist die aufgrund der Dyadenstruktur des Nukleosoms abweichende Konformation der DNA im Bereich von 1,5 Windungen beiderseits der Dyadenachse. Diese Eigenschaft wird von der im HIV (s. S. 357) kodierten Integrase benutzt, um bevorzugt in der in diesem Bereich erweiterten major groove der DNA zu binden und die Integration des Virus ins Genom zu bewirken. Im Chromosom sind Nukleosomen im Allgemeinen in regelmäßigen Abständen angeordnet. Abhängig vom Zelltyp folgen zwei Nukleosomen in Abständen von etwa 160 bis 200 Basenpaaren. Hiervon entfallen 20 bis 60 Basenpaare auf das Verbindungsstück zwischen den 140 Basenpaaren, die das Core umgeben (Abb. 7.41). Ein Nukleosomenstrang hat einen Durchmesser von etwa 10 nm und entspricht damit den elektronenmikroskopisch identifizierten 10 nm-Fibrillen. Die Verpackung in Nukleosomen verkürzt die DNA um einen Faktor von 7. Durch DNA-sequenzspezifische Eigenschaften kommt es jedoch oft zu bestimmten Anordnungen der Nukleosomen in bestimmten Chromosomenbereichen oder es werden nukleosomenarme oder -freie Bereiche geschaffen. Die Röntgenstrukturanalyse des Nukleosoms hat einen weiteren sehr wichtigen Aspekt ergeben: Die terminalen Bereiche der Histone dringen aus dem Nukleosom nach außen, so dass sie zu Interaktionen mit anderen Molekülen in der Lage sind. Diese Histonbereiche unterliegen jedoch Modifikationen, die ihre Konformation und damit auch Funktion beeinflussen. Insbesondere die Lysine können acetyliert werden, aber auch Phosphorylierung an Serinen, Methylierung an Lysinen, ADP-Ribosylierung oder Ubiquitierung werden beobachtet. Die Folgen von Acetylierung sind besonders gut untersucht: Histone
in transkriptionsaktiven Bereichen der Nukleosomenkette sind meist acetyliert, während sie in transkriptionsinaktiven Chromatinbereichen nicht acetyliert sind. Alle Modifikationen von Histonen haben Konsequenzen für die Chromatinstruktur, und das genaue Verständnis der komplexen Muster der Modifikationen wird eine notwendige Voraussetzung zum Verständnis von Genregulationsvorgängen sein (vgl. Kap. 8.2.2). ! Die niedrigste Organisationsstufe der chromoso-
malen DNA in der 10 nm-Fibrille wird durch die Bildung von Nukleosomen erreicht. Basische chromosomale Proteine, die Histone, bilden Proteinoktamere, um die sich die DNA in zwei Windungen mit einer Gesamtlänge von etwa 140 Basenpaarungen herumlegt. Nach etwa 20 bis 60 Basenpaaren folgt ein weiteres Nukleosom, so dass Nukleosomenketten entstehen, die elektronenmikroskopisch als 10 nm-Fibrillen erscheinen und eine etwa 7-fache Verkürzung der DNA-Länge verursachen.
Histone umfassen mengenmäßig jedoch nur die Hälfte der im Chromosom vorhandenen Proteine. Es muss also andere Proteinkomponenten im Chromatin geben, die bis heute jedoch nur ungenügend untersucht sind. Zu ihnen gehören insbesondere HMG-Proteine (engl. high mobility group), kleine basische Proteine, die universelle Bestandteile der Chromosomen sind. Das Bild eines Nukleosoms suggeriert, dass wir es mit einem dicht gepackten Proteinkomplex zu tun haben. Die physikalische Strukturanalyse von Nukleosomenkristallen zeigt jedoch, dass im Inneren eines Nukleosoms viel freier Raum vorhanden ist. Wahrscheinlich gewährt das dem gesamten Nukleosomencore eine Flexibilität, wie sie für stoffwechselphysiologische Veränderungen der Chromosomenstruktur, insbesondere in Zusammenhang mit der Transkription, erforderlich ist. Elektronenmikroskopische Daten deuten zwar darauf hin, dass die Nukleosomenstruktur der DNA teilweise auch während der Transkription erhalten bleibt. Welchen Strukturveränderungen das Chromatin während der Transkription aber im Einzelnen unterworfen ist, ist noch ungeklärt. Sicherlich müssen die Nukleosomen strukturell verändert werden, wenn der durch die RNA-Polymerase geformte
7.3 Organisation der DNA im Chromosom
Transkriptionskomplex ein Nukleosom passiert. Von einem Verständnis der strukturellen und funktionellen Konsequenzen der Chromatinorganisation selbst auf diesem einfachen Niveau sind wir noch weit entfernt. ! Nicht alle DNA-Bereiche sind aufgrund ihrer
Sequenz geeignet, eine nukleosomale Struktur anzunehmen. Auch während der Transkription müssen die Nukleosomen zumindest kurzfristig verändert oder entfernt werden, um der Polymerase die Fortbewegung an der DNA während der RNA-Synthese zu gestatten.
7.3.3 Organisation der Nukleoproteinfibrillen Durch die Bildung von Nukleosomen erfährt die DNA gegenüber der Länge einer freien Doppelhelix eine Verkürzung um einen Faktor 7. Wir müssen hieraus schließen, dass noch weitere Schritte der Verpackung der DNA erfolgen müssen, um die in einem einzelnen Chromosom enthaltene DNA-Menge von beispielsweise 2 cm in einen Interphasekern von 10 µm Durchmesser, bzw. in ein 5 µm langes und 1 µm dickes Metaphasechromosom zu verpacken. Über diese Verpackung der DNA auf dem nächsthöheren Niveau ist jedoch bis heute kaum etwas bekannt. Die elektronenmikroskopische Beobachtung von 25 bis 30 nm-Fibrillen (Abb. 7.42) deutet bereits an, dass es zunächst wohl zu einer weiteren Auffaltung der Nukleosomenkette kommt. Einen wichtigen Beitrag zu dieser Auffaltung liefert ein weiteres Histonprotein, das Histon H1 (Tabelle 7.3). Obwohl man seine genaue strukturelle Anordnung im Chromatin bis jetzt nicht in allen Einzelheiten kennt, wissen wir, dass es sich einerseits mit seinem globulären Mittelteil der DNA am Nukleosom in der Weise anlagert, dass die DNA-Spirale stabilisiert wird. Andererseits kommt es aber auch, zumindest mit seinem C-terminalen Bereich, mit der zwei aufeinanderfolgende Nukleosomen verbindenden DNA in Kontakt. Es wird daher angenommen, dass es an einer Aufwindung der nukleosomalen 10 nm-Fibrille zur 25 bis 30 nm-Fibrille beteiligt ist. Hierfür spricht auch die Beobachtung, dass das Histon H1 in inaktivem Chromatin vorhanden ist, in transkriptionsaktivem
Chromatin hingegen nicht oder in nur geringeren Mengen gefunden wird. Für die molekulare Struktur der 25 bis 30 nm-Fibrille gibt es noch keine endgültigen Vorstellungen. Als eine der möglichen Strukturformen wird die Bildung eines Solenoids, einer spiraligen Aufwindung der 10 nm-Fibrille vorgeschlagen. Andere Forscher nehmen an, dass die 25 bis 30 nm-Fibrille aus kugelförmigen Komplexen von Nukleosomen besteht, den sogenannten Superbeads (Abb. 7.42). Beide Strukturen schließen sich im Übrigen nicht gegenseitig aus, und vielleicht können sie auch unter bestimmten Bedingungen ineinander übergehen. Es gibt aber auch Hinweise darauf, dass noch andere Strukturformen vorliegen müssen. Generell muss man annehmen, dass ein Chromosom in seinen verschiedenen Struktur- und Funktionszuständen in der Zelle eine äußerst dynamische Struktur darstellt und ständig strukturellen Veränderungen unterliegt. Auch die 25 bis 30 nm-Fibrille ist nur eine mittlere Stufe in der höheren strukturellen Organisation des Chromosoms. Sind unsere begründeten Vorstellungen von der molekularen Struktur schon auf diesem Niveau äußerst begrenzt, so wird die Diskussion über noch höhere Organisationsstufen im Wesentlichen nur noch durch Spekulationen beherrscht.
Abb. 7.42. Modell einer Chromatide nach partieller Auffaltung der Nukleosomenkette zur 30 nm-Fibrille. Die aufeinanderfolgende Nukleosomen verbindenden Histon-H1- Moleküle sind nicht gezeigt. (Nach Klug aus Darnell et al. 1990)
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Kapitel 7: Molekulare Struktur eukaryotischer Chromosomen
Abb. 7.43a–c. Die Struktur von Metaphasechromosomen. a Submetazentrisches menschliches Chromosom aus einer Zellinie (COLO-320), bei dem die Windung der Chromatiden in der elektronenmikroskopischen Darstellung gut zu erkennen ist. b Submetazentrisches Chromosom aus einer Mäusezellinien (L929), das durch besondere Vorbehandlung die Win-
dung der Centromerenregion im Elektronenmikroskop besonders deutlich zeigt. c Die spiralige Struktur der Chromatiden menschlicher Metaphasechromosomen (COLO-320) ist auch im Lichtmikroskop zu erkennen. (a und c: aus Rattner u. Lin 1987a; b: aus Rattner u. Lin 1987b)
Bevor hierzu einige Gesichtspunkte erörtert werden sollen, ist es sinnvoll zu fragen, ob es überhaupt eine allgemeingültige höhere Organisationsstufe gibt. Dass sie in der Tat vorhanden ist, wird durch zahlreiche cytologische Beobachtungen belegt, wie beispielsweise die zeitweilige Ausbildung spiraliger Strukturen der Chromatiden (Abb. 7.43). Man muss auch aus theoretischen Gründen annehmen, dass eine übergeordnete Organisation eines Chromosoms besteht: Wie anders sollte es möglich sein, aus einem so dekondensierten Zustand, wie ihn ein Chromosom in der Interphase erreicht, innerhalb kurzer Zeit in den hochgeordneten Verpackungszustand eines Metaphasechromosoms zu gelangen!
7.3.4 Chromosomale Territorien und Architektur des Zellkerns
! Die strukturelle Organisation chromosomaler DNA
auf höherer Ebene erfolgt durch Aufwindung der 10 nm-Fibrille unter der Beteiligung des Histons H1 und anderer chromosomaler Proteine.
Nachdem wir nun die grundlegende Organisation der DNA in Form von Nukleosomen kennen gelernt haben, wollen wir uns der Architektur des Zellkerns insgesamt zuwenden. Diese Architektur ist gekennzeichnet durch dreidimensionale Netzwerke höherer Chromatinstrukturen einerseits und Kompartimentierung andererseits. Beides ist essenziell für die Integration biologischer Prozesse wie DNA-Replikation, Transkription und Reifung der mRNA. In den letzten Jahren haben es neue Methoden der Zellbiologie erlaubt, die Architektur des Zellkerns und mögliche Funktionen genauer zu beschreiben. Farblich kombinierte Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierungen an einzelnen Zellen zeigten, dass einzelne Chromosomen an bestimmten Stellen („Territorien“) im Zellkern zu finden sind. Ein typisches Beispiel aus einer Hühnerzelle zeigt Abb. 7.44. Ob es ein reproduzierbares Arrangement der Chromosomen in den jeweiligen Zellkernen gibt, ist noch
7.3 Organisation der DNA im Chromosom
Abb. 7.44a–d. Chromosomen-Territorien in einer Hühnerzelle. a DAPI-gefärbte, diploide Metaphase einer Hühnerzelle. b Dieselbe Metaphase nach in-situ-Hybridisierung mit verschiedenen Fluoreszenzfarbstoffen. Die Proben zur Anfärbung der Hühnerchromosomen wurden mit einem kombinatorischen Schema mit Östradiol (1, 4, 5, 6), Digoxigenin (2, 4, 6, Z) und Biotin (3, 5, 6, Z) markiert. c Östradiol- und Digoxigeninmarkierte Proben werden über Sekundärantikörper nachge-
wiesen, die mit Cy3 und FITC markiert sind; biotinylierte Proben werden über Cy5-gekoppeltes Streptavidin nachgewiesen. d Der optische Schnitt in der Mitte eines Fibroblasten-Zellkerns des Huhns zeigt wechselseitig ausschließliche ChromosomenTerritorien, wobei homologe Chromosomen an unterschiedlichen Stellen lokalisiert sind (beachte, dass in diesem Schnitt jeweils nur eines der beiden Chromosomen-Territorien für die Chromosomen 4 und 6 sichtbar ist). (Cremer u. Cremer 2002)
unklar. Es verdichten sich aber zumindest bei menschlichen Chromosomen die Hinweise darauf, dass die kleineren Chromosomen üblicherweise innen und die größeren an der Peripherie des Zellkerns zu finden sind. Allerdings ist für die Position weniger die Größe des Chromosoms entscheidend als vielmehr die Zahl der Gene (bzw. die Gendichte). Besonders deutlich wird dies an den fast gleich großen, menschlichen Chromosomen 18 und 19 (85 bzw. 67 Mb): Das genärmere Chromosom 18 befindet sich üblicherweise am Rande des Zellkerns, wohingegen das gendichtere Chromosom 19 im Innern des Zellkerns vorkommt (Abb. 7.45). Auch das Bandenmuster der mitotischen Chromosomen ist ein Beispiel für Kompartimentierung. Die Arme der mitotischen Chromosomen bestehen aus früh-replizierenden Banden (den hellen GiemsaBanden = R-Banden), die sich mit den mittel bis spät replizierenden, dunklen Giemsa-Banden (= G-Ban-
den) abwechseln. R-Banden haben eine höhere Gendichte und enthalten Haushaltsgene und gewebespezifische Gene, wohingegen G-Banden arm an Genen sind und nur gewebespezifische Gene enthalten. Die höchste Gendichte ist in einer Unterfraktion der RBanden, den T-Banden, enthalten. Spät replizierende C-Banden, die wahrscheinlich überhaupt keine Gene enthalten, beinhalten das centromere Heterochromatin und einige Elemente des konstitutiven Heterochromatins. Es war allgemein anerkannte Ansicht, dass die DNA-Replikation an Hunderten verschiedener Stellen in R/T-Banden beginnt, die im Innern des Zellkerns lokalisiert sind. Allerdings zeigen neuere Arbeiten an primären Fibroblastenzellen, dass die Replikation an wenigen Stellen in der Nähe des Nukleolus beginnt. Das in der mittleren Phase der Replikation replizierende Chromatin der G-Banden wird überwiegend in der Mitte des Zellkerns und der Gegend des Nukleolus gefunden, aber auch an Ein-
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Kapitel 7: Molekulare Struktur eukaryotischer Chromosomen
ren der RNA im Inneren der kompakten Chromatindomänen zu verhindern. Weiterhin gibt es deutlich Hinweise darauf, dass transkriptionell stille Gene in der Nähe des centromeren Heterochromatinclusters lokalisiert sind; aktive Gene sind dagegen an anderen Stellen positioniert. Die Position einzelner Gene erscheint dynamisch und abhängig vom Zustand der Transkription. Eine Zusammenfassung dieses Modells gibt Abb. 7.46.
Abb. 7.45 a,b. Chromosomen-Territorien genreicher und genarmer Chromosomen. Im Zellkern einer nicht-stimulierten menschlichen Lymphocyte sind 3-dimensionale Rekonstruktionen der Territorien der Chromosomen 18 (rot: genarm) und 19 (grün: genreich) gezeichnet. Die Territorien des Chromosoms 18 werden üblicherweise an der Peripherie des Zellkerns gefunden, wohingegen die Territorien des Chromosoms 19 im Innern des Zellkerns gefunden werden. a X, Y-Ansicht: Der Schnitt durch die Mitte des Nukleus ist als grauer Schatten gezeigt. Es können nur die Territorien unterhalb der Schnittebene gesehen werden. b X, Z-Ansicht: Der Pfeil markiert die Seite, von der der Schnitt in a betrachtet wurde. (Cremer u. Cremer 2002)
buchtungen der Kernlamina. Spät replizierendes Chromatin enthält die heterochromatische Region und ist sowohl an der Peripherie als auch im Innern des Zellkerns enthalten. Die Markierung der DNA mit Thymidin-Analoga ergab Hinweise darauf, dass in verschiedenen lebenden Säugerzellen bei der DNA-Synthese Chromatinaggregate entstehen. Diese „Replikations-Foci“ bestehen aus Clustern aktiver Replikons zusammen mit den Replikationsfaktoren; sie haben einen DNAGehalt von ca. 1 Mb. Während der S-Phase ist die Replikationsmaschinerie mit einem ReplikationsFocus für die Zeit verbunden, die notwendig ist, um dessen Replikation zu beenden (ca. 1 Stunde). Erstaunlicherweise bleiben die Replikations-Foci aber auch nach der Replikation sichtbar und können unabhängig vom aktuellen Zustand des Zellzyklus durch mehrere Zellzyklen beobachtet werden. Neben den bisher besprochenen Kompartimenten des Zellkerns, die von Chromosomen angefüllt werden, gibt es auch definierte Bereiche, die offensichtlich frei von Chromatin sind. Dieser Interchromatinbereich ist mit einem Netz von Ribonukleoproteinen angefüllt. Es ist vorstellbar, dass hier gespleißte RNA mit Proteinen komplexiert und zu den Kernporen transportiert wird, um so ein Verwir-
! Untersuchungen der höheren Ordnung des Chro-
matins zeigten, dass Chromosomen in bestimmtem Kompartimenten des Zellkerns (Territorien) zu finden sind. Der Ort eines Gens innerhalb eines Chromosoms beeinflusst seinen Zugang zur Maschinerie spezifischer Kernfunktionen wie der Regulation der Transkription und das Spleißen. Diese Betrachtungsweise lässt sich mit einem topologischen Modell der Genregulation verbinden.
An dieser Stelle kommen mögliche neuartige Strukturen ins Spiel, die als Insulatoren von Chromatinregionen bezeichnet werden. Insulatoren werden in vielen Organismen (von Hefen bis zu Menschen) gefunden. Es sind Sequenzelemente, die die Wechselwirkungen zwischen Enhancern und Promotoren (vgl. Kap. 8) verhindern, wenn sie zwischen diesen lokalisiert sind. Sie verhindern auch Positionseffekte auf die Wirkung von Transgenen. Sie markieren offensichtlich Grenzen zwischen größeren Transkriptionseinheiten als dies einzelne Gene alleine darstellen. Daher sind sie Schlüsselelemente in dem Prozess, voneinander unabhängige Domänen der Genexpression zu etablieren. Erste Hinweise auf diese Rolle der Insulatoren beim Aufbau von Chromatindomänen erhielt man bei der Analyse des gypsy-Insulators von Drosophila. Proteinkomponenten dieses Insulators kommen an ca. 500 Stellen im Drosophila-Genom vor. Diese Stellen sind jeweils an den Grenzen der Banden zu den Interbanden der polytänen Chromosomen vorhanden, was eine Funktion bei der Trennung von kondensiertem (= stillem) und nicht-kondensiertem (= aktivem) Chromatin nahe legt. Diese 500 Insulatoren verschmelzen aufgrund von Wechselwirkung mit daran gebundenen Proteinen zu ca. 25 größeren Strukturen, die als „Insulator-Körperchen“ bezeichnet werden und überwiegend in der Peripherie diploider Zellen
7.3 Organisation der DNA im Chromosom
Abb. 7.46a–g. Modell einer funktionellen Chromosomenarchitektur. Es sind die einzelnen Charakteristika des Modells der Chromosomen-Territorien mit Interchromatin-Kompartimentierung am Beispiel einer menschlichen HeLa-Zelle dargestellt. Obwohl es für viele Einzelaspekte experimentelle Beweise gibt, ist das Gesamtbild (noch) spekulativ. a Chromosomen-Territorien haben komplexe gefaltete Oberflächen. Die Vergrößerung zeigt das topologische Modell der Genregulation: Eine große Chromatinschleife mit vielen aktiven Genen (rot) dehnt sich von der Oberfläche des Chromosomen-Territoriums in das Interchromatin-Kompartiment aus. b Chromosomen-Territorien enthalten unterschiedliche Bereiche für die kurzen bzw. langen Chromosomenarme sowie für das Centromer (Stern). Im oberen Bereich sind aktiv transkribierte Gene (weiß) auf der Chromatinschleife lokalisiert, die von dem centromeren Heterochromatin entfernt ist; das untere Bild zeigt die Verwendung derselben Gene (schwarz) im centromeren Heterochromatin, was zu ihrer Abschaltung führt. c Chromosomen-Territorien haben variable Chromatindichten (dunkelrot: hohe Dichte; hellgelb: geringe Dichte). d Ein Chromosomen-Territorium zeigt früh replizierende (grün) und mittel- bis spät-replizierende (rot) Chromatinbereiche. Jeder
Bereich enthält ca. 1 Mb. Genarmes Chromatin (rot) ist bevorzugt an der Peripherie des Zellkerns und in engem Kontakt mit den Kernlamina (gelb) lokalisiert, aber auch an den Einbuchtungen der Lamina und um den Nukleolus (nu) herum. e Höhere Chromatinstrukturen formen eine Hierarchie von Chromatinfasern. Die Vergrößerung zeigt den topologischen Aspekt der Genregulation und deutet an, dass aktive Gene (weiße Punkte) an der Oberfläche knäuelartiger Chromatinfasern liegen. Stille Gene (schwarze Punkte) liegen eher im Inneren der Chromatinstrukturen. f Interchromatin-Kompartimente (grün) enthalten Komplexe (orange Punkte) und größere Domänen (Anhäufungen oranger Punkte), die kein Chromatin enthalten. Dort findet stattdessen Transkription, Spleißen, DNA-Replikation und -Reparatur statt. g Chromosomen-Territorien mit Chromatindomänen in der Größenordnung ~1Mb (rot) und Interchromatin-Kompartimente (grün) dehnen sich zwischen diesen Bereichen aus. Die Vergrößerung zeigt die topologischen Beziehungen zwischen den Interchromatin-Kompartimenten und aktiven bzw. stillen Genen. Aktive Gene (weiß) sind an der Oberfläche dieser Domänen lokalisiert, wohingegen stille Gene (schwarz) im Innern zu finden sind. (Cremer u. Cremer 2002)
vorhanden sind. Dadurch trennen die Insulatoren die Chromatinfasern in Schleifen oder Domänen und bilden dabei rosettenartige Strukturen. Diese sind wahrscheinlich an perinukleäre Substrate gebunden (vielleicht die Kernlamina?), die als Gerüst dienen, um die Organisation des Zellkerns aufrecht zu erhalten (Abb. 7.47).
Es ist eine interessante Hypothese, dass die Insulator-Sequenzen gleichzeitig auch diejenigen Stellen repräsentieren, die aufgrund von Strukturuntersuchungen als Matrix-Binderegionen bekannt wurden (engl. matrix attachment region, MAR, oder auch scaffold attachment region, SAR). MARs bzw. SARs wurden als DNA-Sequenzen cha-
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Kapitel 7: Molekulare Struktur eukaryotischer Chromosomen
Abb. 7.47 a,b. Insulator-Elemente organisieren Chromatinfasern im Zellkern durch die Einrichtung getrennter Kompartimente höherer Chromatinstrukturen. a Die Domänen des offenen Chromatins (gelbe Nukleosomen) werden von Insulatoren begrenzt (rote Ovale), die durch ihre Wechselwirkungen eine Schlaufe bilden. Hochkondensiertes Chromatin (blaue Nukleosomen) ist auf ein bestimmtes Kompartiment beschränkt. Das Chromatin wird im inneren Kompartiment stark umgebaut, und die Histon-modifizierenden Enzyme, die zur Kondensation
des Chromatins beitragen, sind hier reichlich vorhanden. Dagegen werden Proteine, die an der Öffnung des Chromatins beteiligt sind, durch die Insulatoren gebunden und sind in den äußeren Segmenten angereichert. b Das Diagramm zeigt einen Teil des Zellkerns mit kompartimentiertem Chromatin. Durch Wechselwirkungen der Insulatoren mit der Kernlamina oder den Kernporen-Komplexen ist dieser Teil des Chromatins mit der Peripherie des Zellkerns verankert. (Labrador u. Corces 2002)
rakterisiert, die die Anheftung individueller Chromatinschleifen an eine proteinhaltige Matrix bzw. an ein Kernskelett sowohl in Interphase-Kernen als auch im mitotischen Chromosom bewirken. Eine mögliche Funktion der MAR/SAR-Elemente ist aber auch die Wirkung als Insulatoren. Eine derartige Identität von struktureller und funktioneller Wirkung wurde für die MAR-Elemente der apoB-, b-Interferon- und α1Antitrypsin-Gene des Menschen und für das Lysozymgen des Huhns gezeigt. Ein weiteres Beispiel ist der gypsy-Insulator von Drosophila. Hier wurden Wechselwirkungen nicht nur mit der Kernmatrix gezeigt, sondern auch mit Topoisomerase II und Histon H1 (als Übersicht dazu siehe Zhan et al. 2001 im Literaturverzeichnis). Das Konzept der Insulatoren wird ergänzt durch unterschiedliche Modifikationen der Histone (Methylierung des Histon H3 an Lys9 korrespondiert mit Heterochromatin und inaktivem Zustand und Methy-
lierung an Lys4 sowie Acetylierung der Histone H3 und H4 korrespondiert dagegen mit dem aktiven Zustand). Zusätzlich sind weitere Proteine in der inaktiven Region mit dem Chromatin assoziiert (z. B. bei Hefe Swi6 Drosophila HP1). Für das β-Globincluster wurde gezeigt, dass die flankierenden Insulator-Sequenzen Bindestellen für das CTCF (engl. CCCTC-binding factor) Protein enthalten. Werden Transgene mit CTCF-Bindestellen flankiert, behalten sie den Zustand hoher Histonacetylierung unabhängig vom Transkriptionszustand des Gens oder der Anwesenheit aktiver Enhancer in der entsprechenden Domäne. Gerade das Beispiel der Insulatoren des β-Globingenclusters zeigt aber auch, dass das Insulator-Konzept dynamisch sein muss, um die unterschiedliche Aktivierung der individuellen β-Globingene während der Embryonalentwicklung zu erklären. Ein mögliches Modell dazu ist in Abb. 7.48 vorgestellt.
7.3 Organisation der DNA im Chromosom
Es gibt außerdem Hinweise, dass während der Evolution verschiedene Klassen von Genen in solchen Domänen zusammengefasst wurden. Man schätzt, dass ca. 20% der Drosophila-Gene in einer der etwa 200 Gruppen benachbarter Gene gefunden wurden, die in gleicher Weise exprimiert werden. Jede dieser Gruppen umfasst ca. 10 bis 30 Gene. Obwohl die Art der Cluster bei Hefen ähnlich ist, gibt es keine funktionelle Beziehung. Auch beim Menschen gibt es derartige Cluster, allerdings entspricht das einzige signifikant co-replizierende Cluster Haushaltsgenen.
Abb. 7.48a–c. Dynamik von Insulatoren. Die Regulation der Insulator-Funktion führt zu verschiedenen Mustern der Chromatinorganisation. a Lineare Anordnung des Interphase-Chromatins. Das hoch kondensierte Chromatin ist blau markiert, und offene Chromatindomänen sind gelb gekennzeichnet. Domänen mit regulierbaren Insulatoren sind rot; diese Insulatoren können während der Zelldifferenzierung verändert werden. b Während der Entwicklung sind Domänen höherer Chromatinstrukturen durch aktive Insulatoren (rote Quadrate) organisiert. Inaktive Insulatoren und ihre flankierenden Regionen bleiben im heterochromatischen Kompartiment. c In einem bestimmten Gewebe werden die Chromatindomänen nach der Aktivierung der flankierenden Insulatoren geöffnet, und nach der Inaktivierung anderer Insulatoren werden dessen Regionen heterochromatisch. (Labrador u. Corces 2002)
! Insulator-Elemente können Domänen unterschiedlicher Genexpression dadurch etablieren, dass die lineare Information der Chromatinfasern in eine dreidimensionale Struktur übersetzt wird, die es erlaubt, das Genom in einzelne Kompartimente zu zerlegen. Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass die Anwesenheit von Insulatoren auch für den Übergang der Banden/Zwischenbanden der polytänen Chromosomen von Drosophila verantwortlich ist. Die Analyse der Histonmodifikationen innerhalb einer InsulatorDomäne lässt vermuten, dass diese dreidimensionale Struktur die Aktivität der Histon-modifizierenden Enzyme ermöglicht, so dass die Methylierung und Acetylierung der Histone H3 und H4 ebenso zur Aufrechterhaltung der offenen Chromatinstruktur beiträgt. Diese Chromatinorganisation spiegelt das offensichtliche Clustering aktiv exprimierter Gene im Eukaryotengenom wider. Insulatoren beeinflussen auch die Enhancer-Funktion durch die Veränderung der DNA-Topologie oder Histonmodifikation. Die Anheftung der Insulatoren an die Kernlamina oder Kernporenkomplexe bildet das notwendige Gerüst.
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Kapitel 7: Molekulare Struktur eukaryotischer Chromosomen
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Kernaussagen
▬ Eukaryotische Chromosomen bestehen aus DNA, RNA und Proteinen. ▬ Chromosomen sind normalerweise nur im kondensierten Zustand während der Pro-, Meta- und Anaphase der Mitose bzw. Meiose im Lichtmikroskop sichtbar. ▬ Die Grundeinheit eines Chromosoms ist die Chromatide; nach der Replikation (aber vor der Verteilung auf die Tochterzelle) besteht ein Chromosom aus zwei identischen Schwesterchromatiden. ▬ Das Chromosom ist in kleine Domänen differenziert, die durch verschiedene Färbemethoden sichtbar gemacht werden können (Bänderung). ▬ Die Form der Chromosomen wird durch das Centromer bestimmt. Über die Kinetochoren dient das Centromer in der Metaphase als Ansatz für die Spindelfasern, die für die Verteilung der Chromatiden während der Zellteilung sorgen. ▬ Weitere wichtige Strukturelemente der Chromosomen sind deren Enden, die als Telomere bezeichnet werden. Chromosomenarme ohne Telomere sind instabil. ▬ Repetitive DNA-Elemente sind nicht nur Grundbestandteile von Centromeren und Telomeren, sondern finden sich an vielen heterochromatischen Stellen des Genoms. Man unterscheidet hoch-, mittel- und niedrigrepetitive Elemente. Hochrepetitive DNA hat möglicherweise strukturelle Funktionen im Genom. Mobile genetische Elemente gehören zur Klasse der mittelrepetitiven DNA-Sequenzen. ▬ Die ungleiche Anzahl von Geschlechtschromosomen in den beiden Geschlechtern verlangt einen
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regulativen Ausgleich der Genexpression ihrer Gene (Dosiskompensation). In Drosophila erfolgt diese Dosiskompensation durch erhöhte Genaktivität im X-Chromosom, bei Säugern durch zufällige Inaktivierung eines der beiden X-Chromosomen im weiblichen Geschlecht. Das inaktive X-Chromosom ist als Barr-Körperchen sichtbar; die Inaktivierung geht vom X-Inaktivierungszentrum aus. Der Hauptanteil chromosomaler Proteine dient der Verpackung der DNA, die trotz ihrer hohen negativen Ladung auf kleinstem Raum im Zellkern untergebracht werden muss. Demgemäss sind stark basische Proteine zur Kompensation der negativen Ladungen der Phosphatgruppen der DNA notwendig. In somatischem Gewebe dienen hierzu vor allem die Histone. Je zwei Moleküle von jedem der 4 Core-Histone bilden ein Nukleosom, um das sich die DNA-Doppelhelix windet. Zur Stabilisierung dient ein Molekül des Histons H1. Nukleosomen formen eine 10 nm-Fibrille, die die niedrigste Organisationsstufe der Chromatide darstellt. Die zweite Organisationsstufe ergibt eine 25–30 nm-Fibrille; im Chromosom werden Chromatinfibrillen höherer Ordnung geformt, deren Organisation sich mit den dynamischen Veränderungen der Chromosomen im Laufe des Zellzyklus ändert. Chromosomen sind in bestimmten Kompartimenten des Zellkerns (Territorien) zu finden. Insulator-Elemente trennen Bereiche unterschiedlicher Transkriptionsaktivitäten auf den Chromosomen.
Technik-Box
Technik-Box 13
Autoradiographie an Geweben, Zellen und Chromosomen Anwendung: Lokalisation radioaktiv markierter Moleküle in biologischen Materialien. Voraussetzungen · Materialien: Zur Markierung werden β-Strahler mit niedrigem Energiespektrum verwendet. Besonders geeignet sind 3H- und 14Cmarkierte Verbindungen, aber auch 35S- und 125I-markierte Moleküle sind mit Einschränkungen einsetzbar. Neuerdings finden auch nichtradioaktive Verbindungen wie Digoxigenin (DIG) oder Biotin, die an Nukleotide gebunden werden, mit einem anschließenden Nachweis durch Antikörper oder Avidin Verwendung. Diese sind mit alkalischer Phosphatase oder anderen Enzymen gekoppelt (Immunologische
Nachweismethoden, s. Technik-Box 23). Deren Bindung an DIG (DIG-spezifische Antikörper) oder Biotin (Avidin oder Streptavidin) lässt sich durch die enzymatische Umsetzung eines Substrats in Farbstoff oder durch enyzminduzierte Chemofluoreszenz nachweisen (z. B. mit AMPPD). Methode: Nach dem Einbau markierter Verbindungen in biologische Materialien (bes. Nukleinsäure und Proteine) werden cytologische oder elektronenmikroskopische Präparate hergestellt. Diese werden mit einem lichtempfindlichen Film überzogen (heute meist mit flüssiger photographischer Emulsion) und für die erforderliche Zeit im Dunkeln exponiert.
Der photographische Film wird durch die beim Zerfall der Radioisotopen emittierte Energie lokal geschwärzt. Nach der Entwicklung ermöglichen die belichteten Stellen des Filmes die Lokalisation der markierten Verbindungen innerhalb eines Gewebes, einer Zelle oder eines Chromosoms. Die erreichte Auflösung ist von den verwendeten Verbindungen abhängig. Mit 3H-markierten Verbindungen werden die höchsten Auflösungen (ca. 1 µm bei cytologischen Präparaten) erzielt. Damit ist die Lokalisation von Nukleinsäuren in definierten Bereichen von Metaphasechromosomen möglich.
Photographischer Film
Cytologisches Präparat
Exponieren
Entwickeln
Autoradiographie. Radioaktiv markiertes Gewebe wird auf einen Objektträger gebracht und mit lichtempfindlicher Emulsion bedeckt. Nach Exposition des Films wird er entwickelt. Die durch Silberkörnchen gekennzeichneten Regionen des Präparates lassen die Lokalisation radioaktiven Materials im Gewebe erkennen. In den Photos sind die Resultate einer Autoradiographie zu sehen. Im Phasenkontrast lassen sich cytologische Strukturen des Gewebes identifizieren (oben), während im Durchlicht (unten) die Silberkörnchen in der Emulsion deutlich erkennbar sind. Falls erforderlich, lassen sie sich nachträglich auch wieder durch Behandlung mit Abschwächerlösung entfernen, um die darunterliegenden Gewebeteile genauer erkennen zu können.
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Kapitel 7: Molekulare Struktur eukaryotischer Chromosomen
Technik-Box 14
Chromosomenbänderung und Chromosomenpainting Anwendung: Identifizierung bestimmter Chromosomen oder Chromosomenregionen in Pflanzen, Tieren und Menschen. Diese Techniken haben insbesondere in der diagnostischen Humangenetik große Bedeutung. Voraussetzungen: Gewinnung von Zellen, Wachstum der Zellen in Kultur, Arretierung der Chromosomen in der Metaphase und Analyse am Mikroskop. Methode: In Metaphasechromosomenpräparaten wird nach unterschiedlicher Vorbehandlung eine Bänderung der Chromosomen sichtbar: G-Banden: Vor der Färbung mit Giemsa-Lösung, einem DNA-bindenden Farbstoff (Azurblau: demethyliertes Methylenblau), werden die Chromosomen kontrolliert mit Trypsin
behandelt. Die dunklen Banden bezeichnet man dann als G-Banden, helle Banden sind G-negativ. Q-Banden: Man färbt die Chromosomen mit einem Fluoreszenzfarbstoff (z. B. Quinacrin, 4’,6-Diamino-2-phenylindol [DAPI] oder Hoechst 33258), der bevorzugt an AT-reiche DNA bindet, und betrachtet sie anschließend unter UV-Licht. Die fluoreszierenden Banden bezeichnet man als Q-Banden; sie sind identisch mit den G-Banden. R-Banden: Dabei sind alle Banden gefärbt, die G-negativ sind (reverses G-Bandenmuster). Man denaturiert die Chromosomen vor der Giemsa-Färbung durch Erhitzen in einer Salzlösung; dabei denaturiert besonders die AT-reiche DNA. R-Banden sind Qnegativ. Dasselbe Muster erhält man, wenn GC-spezifische Chromomycin-
Farbstoffe (Chromomycin A3, Olivomycin, Mithramycin) gebunden werden. Neue Möglichkeiten der Chromosomenidentifizierung auch im Interphasekern, also im dekondensierten Zustand, bietet die in-situ-Hybridisierung mit einer Mischung unterschiedlich markierter, repetitiver DNA-Fragmente, die chromosomenspezifisch sind (s. Abb. 7.12b). Nach geeigneten Erkennungsreaktionen für die markierten Nukleotide (meist durch Bindung fluoreszenzmarkierter Antikörper) lässt sich das betreffende Chromosom hochspezifisch darstellen. Durch unterschiedliche Markierungen verschiedener DNA-Fragmente lassen sich auch mehrere Chromosomen oder Chromosomenabschnitte gleichzeitig differentiell färben (engl. chromosome painting; siehe auch in-situ-Hybridisierung: Technik-Box 24).
Differenzielle Färbung von Chromosomen mit Fluoreszenzfarbstoffen (Photo: Ilse Chubola)
Kapitel 8
Molekulare Struktur und Regulation eukaryotischer Gene
Miller-Spreitung der wachsenden Transkripte an der DNA einer Lampenbürstenschleife von Drosophila. (Photo: I. Siegmund und W. Hennig, Mainz)
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Kapitel 8: Molekulare Struktur und Regulation eukaryotischer Gene
Überblick Die Struktur eukaryotischer Gene ist in vieler Hinsicht komplexer als die prokaryotischer Gene. Dazu gehört nicht nur die Intron/Exon-Struktur, sondern auch die Zusammenfassung vieler Gene zu Familien identischer oder ähnlicher DNA-Sequenzen, deren Funktion in vielfältiger Weise geregelt wird. Die Kontrolle ihrer Expression erfolgt auf verschiedenen Ebenen und umfasst Promotor, Enhancer und Locus-Kontroll-Regionen, die alle letztendlich in die Transkription des jeweiligen Gens eingreifen. Die molekulare Struktur eukaryotischer Gene wurde erst viel später analysiert als die prokaryotischer Gene. Einerseits ist die Genomgröße von Prokaryoten viel geringer und damit für genetische und molekulare Methoden wesentlich besser zugänglich. Andererseits sind bei Bakterien und Phagen mit der Selektion von Mutanten und Rekombinanten sowie mit Transduktion und Sexduktion experimentelle Mittel zur Genanalyse verfügbar, wie sie bis zur Entwicklung gentechnischer Methoden in den 1970er Jahren für Eukaryoten nicht vorstellbar waren. Unser Verständnis der DNA-Struktur des Eukaryotengenoms nahm nach der Entdeckung repetitiver DNA in den frühen 1960er Jahren schnell zu. Aber auch jetzt analysierte man die molekulare Struktur einzelner eukaryotischer Gene wegen ihrer schwierigen Isolierung nur sehr langsam. Als erstes eukaryotisches Gen isolierten H. Wallace und M. Birnstiel im Jahr 1966 die DNA, die für die ribosomale RNA von Xenopus kodiert. Die Aufklärung der molekularen Struktur dieser Gene durch Donald Brown sowie Max Birnstiel und ihre jeweiligen Mitarbeiter gegen Ende der 1960er und in den frühen 1970er Jahren brachte uns erste überraschende Einsichten in Eigenschaften eukaryotischer Gene, die sich bald durch die einsetzende
8.1 RNA-kodierende Gene: Ribosomale DNA Ausgangspunkt der molekularen Analyse des ersten eukaryotischen Gens war die Beobachtung, dass bestimmte Mutanten des Krallenfrosches Xenopus laevis unter ihren Nachkommen 25% lebensunfähige Kaulquappen aufwiesen, während weitere 50% der Embryonen nur einen anstelle von zwei Nukleoli besaßen. Diese Befunde deuteten daraufhin, dass es sich um eine heterozygote Defizienz des Nukleolus in beiden Eltern
intensive Analyse eukaryotischer Gene mit gentechnologischen Mitteln verallgemeinern und erweitern ließen. In den 1980er Jahren revolutionierte die Etablierung der Polymerase-Ketten-Reaktion (engl. polymerase chain reaction, PCR; Scharf et al. 1986) die gentechnische Methodik. Mit ihr wurde es möglich, unbekannte DNAFragmente zwischen den Startstellen (Primern) einer DNA-Polymerase in vitro soweit zu amplifizieren, dass sie einer Detailanalyse zugänglich wurden. In dieser Phase begannen, zunächst in den USA, dann auch in Europa und in Deutschland, die systematischen Analysen des menschlichen Genoms, die „Humangenomprojekte“, die mit Hochdurchsatztechniken menschliche DNA und die von Modellorganismen (Maus, Ratte, Drosophila, und auch Pflanzen wie Reis und Arabidopsis) komplett sequenziert haben. Höhepunkt war im Jahr 2001 die gleichzeitige Publikation des menschlichen Genoms durch ein Konsortium öffentlicher Wissenschaftler (International Human Genom Sequencing Consortium) und die Firma Celera (Venter et al. 2001). Das Genom der Maus folgte ein Jahr später (Mouse Genome Sequencing Consortium 2002). Seit 2003 liegt auch das Genom der Ratte vor (http://www.ensembl.org/Rattus_norvegicus/). Das Genom des Huhns (Gallus gallus) wurde Ende 2004 vom International Chicken Genome Sequencing Consortium publiziert (Hillier et al. 2004). Die Genome von Arabidopsis und Reis sind seit 2000 (The Arabidopsis Genome Initiative) bzw. 2002 (Goff et al.) bekannt. Eine Aufgabe der modernen Genetik ist es jetzt, diesen Sequenzen auch ihre entsprechenden Funktionen zuzuordnen – das Zeitalter der „funktionellen Genomforschung“ hat begonnen.
handeln könnte. Eine solche genetische Konstitution spaltet erwartungsgemäß in je 25% Homozygote (mit und ohne Nukleolus) und 50% Heterozygote auf. Wie die Cytologie zeigte, war der Tod von 25% der Nachkommen tatsächlich durch eine homozygote Defizienz des Nukleolus zu erklären. Diese Beobachtungen beweisen, dass der Nukleolus eine lebenswichtige Funktion in der Zelle wahrnehmen muss, und Wallace und Birnstiel zeigten 1966 durch Hybridisierungsexperimente, dass der Verlust der Nukleolen mit dem Verlust von ribosomaler DNA gekoppelt war. Da ribosomale RNA ein struktureller Bestandteil der Ribosomen ist, kann es nicht überraschen, dass
8.1 RNA-kodierende Gene: Ribosomale DNA
ein Verlust des Nukleolus, also möglicherweise aller Gene, die für rRNA kodieren, letal sein muss, wie es in den zuvor erwähnten Xenopus-Embryonen beobachtet wurde. ! Etwa 90 % der zellulären cytoplasmatischen RNA
befindet sich als struktureller Bestandteil in den Ribosomen. Die Gene für diese ribosomale RNA liegen in den Nukleolusorganisatorregionen (NORs) der Chromosomen.
Die Isolierung ribosomaler DNA (rDNA) aus dem Genom von Xenopus laevis war durch Gleichgewichtszentrifugation der Genom-DNA dieses südafrikanischen Krallenfrosches in CsCl möglich geworden. Es zeigt sich nämlich, dass sich die rDNA, ähnlich wie hochrepetitive DNA-Fraktionen (s. S. 238), in solchen Gradienten in ihrer Schwimmdichte aufgrund eines erhöhten GC-Basengehaltes von der der Hauptmenge der Genom-DNA unterscheidet. Die Untersuchung von Ribosomen hatte ergeben, dass diese vier verschiedene RNA-Moleküle als Strukturbestandteile enthalten, die sich aufgrund unterschiedlicher Größen leicht unterscheiden. Da sie zunächst durch ihre Sedimentationseigenschaften charakterisiert wurden, erhielten sie die Bezeichnungen 28S (26S in Prokaryoten, 25S in Hefe), 18S (16S in Prokaryoten, 17S in Hefe), 5,8S (einheitlich etwa 160 Nukleotide) und 5S (einheitlich etwa 120 Nukleotide). Zusätzlich wird in Drosophila-Ribosomen noch ein 2S-rRNA-Molekül eingebaut. Die Anzahlen von Nukleotiden in diesen RNA-Molekülen schwanken innerhalb der Eukaryoten erheblich. So kann „28S“rRNA zwischen 25S und 28S (4000 bis 5000 Nukleotide) variieren und „18S“-rRNA zwischen 16S und 19S (im Mittel 2000 Nukleotide). ! Eukaryotische Ribosomen enthalten vier ver-
schiedene RNA-Moleküle, je ein 28S-, 18S-, 5,8S- und 5S-rRNA-Molekül, als Strukturbestandteil.
Mit Hilfe von Hybridisierungsexperimenten mit diesen verschiedenen RNA-Fraktionen konnte man die ersten Aufschlüsse über die molekulare Feinstruktur der ribosomalen DNA gewinnen, die man aus Xeno-
pus-DNA isoliert hatte. Gene für die 18S- und 28SrRNA findet man eng gekoppelt, äquimolar und in jeweils mehreren Kopien auf einem einzigen DNAMolekül, wenn man ausreichend lange Stücke der DNA isoliert. Auch 5,8S-rRNA ist in den gleichen DNA-Molekülen kodiert. Zwischen diesen RNAkodierenden Abschnitten liegen jedoch noch andere DNA-Bereiche höheren GC-Gehaltes, die zu keiner der ribosomalen RNA-Fraktionen komplementär und nur teilweise in den Transkripten enthalten sind. Sie werden als Spacerregionen bezeichnet, da sie offenbar die Funktion besitzen, die einzelnen ribosomalen Gene voneinander zu trennen. Die Abb. 3.6 zeigt uns, dass in der DNA die einzelnen Gene abwechselnd in vielen Kopien als tandemartig hintereinanderliegende Blöcke angeordnet sind. Innerhalb eines Blocks (auch Repeateinheit oder rDNA-Repeat genannt) sind die 18S-, 5,8S- und 28S-rRNA in jeweils gleicher Reihenfolge zu finden. Getrennt sind alle Repeateinheiten stets durch eine Spacer-DNARegion. Sie zeichnet sich durch eine besondere Feinstruktur aus, auf die wir noch genauer zurückkommen müssen. Bei den Spacern unterscheidet man nach ihrem Transkriptionsverhalten einen nichttranskribierten (NTS) und einen transkribierten Spacer. ! Die Gene für 28S-, 18S- und 5,8S-rRNA findet
man als tandemartig wiederholte Gengruppen in der rDNA. Die wiederholten Gengruppen werden durch nichttranskribierte Spacersequenzen voneinander getrennt.
Die Abb. 3.6a lässt erkennen, dass 5S-rRNA nicht mit den drei übrigen ribosomalen RNA-Genen verbunden ist. Ihre Gene liegen als gesonderte Gruppen tandemartig wiederholter, identischer Genkopien in anderen Genombereichen. Bei Xenopus finden sie sich an den Enden der meisten Chromosomen, bei Drosophila melanogaster in einem einzigen Block im Chromosom 3. ! Die Gene für 5S-rRNA liegen an anderen Stellen im Genom als die übrigen rRNA-Gene, sind aber ebenfalls in vielen, tandemartig angeordneten Kopien vorhanden.
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Kapitel 8: Molekulare Struktur und Regulation eukaryotischer Gene
Angesichts der Bedeutung der rRNA als struktureller Bestandteil der Ribosomen überrascht es nicht, dass die generelle Struktur der verschiedenen rRNA-Moleküle von Prokaryoten bis zu höheren Eukaryoten große Ähnlichkeiten aufweist. Alle Moleküle gleichen sich in ihrer allgemeinen Unterteilung in verschiedene Domänen, die jeweils in charakteristische Doppelstrang- und Einzelstrangbereiche gegliedert sind. Selbst in der Nukleotidsequenz findet man über evolutionär weit entfernte Organismengruppen hinweg ein hohes Ausmaß an Sequenzähnlichkeiten. Dieser evolutionäre Druck zur Sequenzerhaltung hängt sicherlich mit den spezifischen Funktionen der rRNA im Ribosom zusammen (s. S. 60). ! Ribosomale RNA-Moleküle besitzen evolutionär
hochkonservierte Strukturbereiche, die aufgrund intramolekularer Basenpaarungen eine spezifische sekundäre Struktur ausbilden können. Diese Domänen sind für die Struktur des Ribosoms bedeutsam. Einzelstrangbereiche der rRNA spielen im Ribosom durch Basenpaarung mit Teilbereichen der mRNA eine Rolle bei der Translation.
Die molekulare Feinstruktur der Ribosomen wurde durch die Arbeiten in den Labors von Wittmann, Nomura und Traub aufgeklärt (Abb. 8.1). Ein Ribosom besteht aus zwei Untereinheiten. Jede dieser Untereinheiten ist aus einer großen Anzahl unterschiedlicher ribosomaler Proteine zusammengesetzt, die mit wenigen Ausnahmen nur einmal in jedem Ribosom vorkommen. Außerdem enthalten sie strukturelle RNA-Moleküle, die ebenfalls nur je einmal in jedem Ribosom vorhanden sind (Tabelle 8.1). Invitro-Bindungsstudien haben erkennen lassen, dass die Zusammensetzung einer Ribosomenuntereinheit durch Anlagerung der ribosomalen Proteine in komplexer Weise erfolgt. Obwohl man zunächst vermutete, dass die ribosomale RNA im Wesentlichen für die Zusammensetzung eines Ribosoms verantwortlich ist, geht man heute davon aus, dass rRNA-Moleküle vor allem mit ihren Einzelstrangregionen auch eine wichtige Rolle während der Translationsvorgänge spielen, indem es zu Basenpaarungen mit mRNA-Bereichen und tRNA-Molekülen kommt. Beispielsweise weist die Fibroin-mRNA an ihrem 5′Ende eine auffallende Homologie zum 3′-Ende der RNA auf, die für eine zeitweilige Bindung beider
Moleküle aneinander während der Translation durch Basenpaarung spricht. ! Ribosomen bestehen aus zwei Untereinheiten,
deren jede spezifische strukturelle RNA-Moleküle enthält. Diese RNA-Moleküle sorgen nicht nur für die strukturelle Anordnung der Proteinkomponenten im Ribosom, sondern gehen während der Translation auch mit mRNA-Molekülen zeitlich begrenzte Basenpaarungen ein.
Obwohl die molekulare Feinstruktur der rDNA seit langem aufgeklärt ist, beschränkt sich unser Wissen ihrer funktionellen Bedeutung auf die wenigen Details, die wir zuvor erörtert haben. In den folgenden Abschnitten werden eine Anzahl biologischer Probleme dargestellt, die einerseits die Komplexität der mit der rDNA verbundenen biologischen Funktionen verdeutlichen sollen, andererseits aber zugleich allgemeine Fragen der Struktur und Funktion eukaryotischer Gene anschneiden. Ein seit langem bekanntes Phänomen der Transkription ribosomaler DNA ist die Erscheinung der nukleolären Dominanz (engl. nucleolar dominance). Mit diesem Begriff wird angedeutet, dass in bestimmten Situationen nicht die gesamte zelluläre rDNA transkribiert wird, sondern dass nur einzelne von mehreren Nukleoli aktiviert werden. Der bestuntersuchte Fall einer nukleolären Dominanz liegt in Hybriden zwischen Xenopus borealis und X. laevis vor. In solchen Hybriden sind in der frühen Entwicklung ausschließlich ribosomale Gene aktiv, die dem Genom von X. laevis zugehören, während rDNA des X. borealis-Genoms inaktiv bleibt. Vermutlich sind für diese differenzielle Aktivierung der X. laevis-rDNA die Nukleotidsequenzen in der NTS-Region verantwortlich wie Versuche von Ronald Reeder (1984) andeuten. Donald Brown hatte bereits in den frühen 1970er Jahren die überraschende Feststellung gemacht, dass die NTS-Bereiche beider XenopusArten in ihrer Nukleotidsequenz erheblich voneinander abweichen, während die rRNA-kodierenden Bereiche praktisch identisch sind. Die in der NTS-Region enthaltenen Repeats (Abb. 3.6b) weisen große Sequenzähnlichkeit mit der Promotorregion auf und dienen möglicherweise der Bindung von RNA-Polymerase
8.1 RNA-kodierende Gene: Ribosomale DNA
Abb. 8.1a–c. Aufbau der Ribosomen. a Ein Ribosom (oben) besteht aus zwei Untereinheiten, deren jede bestimmte rRNAMoleküle und eine große Anzahl von Proteinen enthält. Die Größe der RNA und der Proteine sowie deren Zahl unterscheidet sich zwischen Pro- und Eukaryoten. Hier ist die Zusammenstellung eines eukaryotischen Ribosoms gezeigt (vgl. Tabelle 8.1). b und c Proteinmuster der ribosomalen Untereinheiten von E. coli. Die Auftrennung und Analyse der Proteine gelang in zweidimensionalen Acrylamidgelen. (b und c aus Kaltschmidt et al. 1970)
oder von Cofaktoren, die zur Initiation der Transkription erforderlich sind. Vielleicht bestimmt die Affinität zwischen solchen NTS-Repeats und Initiationsfaktoren oder RNA-Polymerase, oder auch einfach die Anzahl der Repeats, welche Gene in Hybriden vorzugsweise transkribiert werden. Versuche an Säugerhybridzellen deuten andererseits aber auch darauf hin, dass zusätzliche Faktoren die selektive Transkription bestimmter ribosomaler DNA-Regionen beeinflussen.
! Es kann zur bevorzugten Transkription der rDNA in bestimmten Nukleoli kommen. Diese Erscheinung wird als nucleolar dominance bezeichnet. Die DNASequenz in den NTS-Regionen ist hierfür mit verantwortlich, jedoch sind wahrscheinlich weitere zelluläre Faktoren beteiligt.
Die Besprechung der Eigenschaften der DNA, die für ribosomale RNA kodiert, und ihrer Lokalisation im Genom hat uns eine bemerkenswerte Tatsache vor
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Kapitel 8: Molekulare Struktur und Regulation eukaryotischer Gene
Tabelle 8.1.
Zusammensetzung der Ribosomen
Organismus
Untereinheit
Proteine
RNA
Nukleotide
E. coli
30S 50S
21 (S1-S21) 31 (L1-L34)*
16S rRNA 23S rRNA 5S rRNA
1541 2904 120
Eukaryoten
40S 60S
33 49
18S rRNA 28S rRNA 5,8S rRNA 5S rRNA
1,6–2,4 kb 3,6–4,7 kb ca 160 ca 120
In Drosophila ist ein zusätzliches 2S-rRNA-Molekül in der 60S-Untereinheit enthalten. Vollständige E. coli-Ribosomen sedimentieren als 70S-Partikel, die Ribosomen von Eukaryoten als 80S-Partikel. * In der Nummerierung L1–L34 sind einige Proteine enthalten, die keine konstitutiven Komponenten der 50S Untereinheit sind.
Augen geführt: rRNA wird durch eine Familie tandemartig angeordneter, identischer Gene kodiert. Funktionell ist es verständlich, dass mehr als eine Genkopie benötigt wird, da große Mengen an ribosomaler RNA zur Deckung des Bedarfs an Ribosomen erforderlich sind. Die Sequenzidentität der vielen Genkopien wirft aber die Frage auf, wodurch verhindert wird, dass diese sich allmählich durch Mutationen verändern und dass auf diese Weise eine Sequenzheterogenität innerhalb der Genfamilie entsteht. Umgekehrt stellt sich – angesichts der beträchtlichen evolutionären Ähnlichkeit der kodierenden Regionen – die Frage, wie sich eine solche in sich sequenzhomogene Genfamilie im Laufe der Evolution in eine sequenzveränderte, aber in sich ebenfalls homogene Genfamilie umwandeln kann. Als Beispiel hatten wir bereits die rDNA-Repeats verschiedener Xenopus-Arten erwähnt (s. S. 290), in denen die NTSRegion in ihren DNA-Sequenzen im Gegensatz zu den rRNA-Sequenzen völlig verändert sind. Als Erklärung sind zwei verschiedene Möglichkeiten vorstellbar. Einerseits könnte eine solche Genfamilie bei jeder individuellen Ontogenese durch ein Stadium gehen, in dem nur noch eine einzige Kopie vorhanden ist. Diese wird dann vermehrt („amplifiziert“), um die Genfamilie für den betreffenden Organismus neu aufzubauen. Solche Vermehrungsmechanismen sind im Eukaryotengenom vorhanden, wie an anderer Stelle gezeigt wird (s. Kap. 12.4.2). Einem, wenn auch nur teilweise vergleichbarem Beispiel dieser Art begegnen wir im Prinzip auch bei der Vermehrung der rDNA-Kopien
während der Makronukleusentstehung in Ciliaten, wo im generativen Mikronukleus ein einziges Gen für rRNA vorhanden ist (s. Kap. 12.4.1). Für Familien hochrepetitiver DNA ist gut dokumentiert, dass Mechanismen zu ihrer schnellen Entfernung aus dem Genom und zu einem Ersatz durch eine neue Sequenzfamilie im Genom vorhanden sind. Dass ein solcher Mechanismus bei der Korrektur von Genfamilien generell eine Rolle spielen könnte, muss rein spekulativ bleiben, da Untersuchungen von DNA aus Keimzellen keine Hinweise darauf geben, dass hier die Anzahl von Genkopien vorübergehend reduziert wird. Auch scheint die Tatsache, dass aufeinanderfolgende Spacer oft in ihrer Länge variabel sind, zunächst gegen einen solchen Mechanismus zu sprechen. Andererseits hat man bei der Amplifikation von DNA-Sequenzen Hinweise darauf erhalten, dass die Zelle über Korrekturmechanismen verfügt, die auf einer Exzision und anschließender Vermehrung einzelner Sequenzkopien beruhen. Eine Entscheidung über die tatsächlichen Vorgänge im Organismus ist bisher aufgrund experimenteller Gegebenheiten nicht möglich. Eine Alternative hierzu könnten Korrekturmechanismen sein, die für eine regelmäßige Sequenzangleichung der verschiedenen rDNA-Kopien sorgen. Einer der bekannten zellulären Mechanismen, dem eine solche Funktion zufallen könnte, ist der der Rekombination, die zwischen den Tandemkopien in beiden Schwesterchromatiden erfolgen könnte (Abb. 8.2). Dass solche Rekombinationsereignisse zwischen nichthomologen DNA-Bereichen tatsächlich vorkommen, werden
8.1 RNA-kodierende Gene: Ribosomale DNA
wir noch an anderen Beispielen sehen (s. Abb. 14.34). Obwohl Berechnungen darauf hindeuten, dass solche Rekombinationsereignisse ausreichen könnten, um eine „Homogenisierung“ tandemartig wiederholter Genkopien zu erreichen, ist diese Erklärung nicht voll befriedigend. Vielleicht muss man davon ausgehen, dass beide vorgeschlagenen Mechanismen an der Erhaltung der Sequenzidentität innerhalb von Genfamilien beteiligt sind. ! Die Identität der rDNA-Repeats wirft die Frage
nach den zellulären Korrekturmechanismen auf, die diese Identität aufrechterhalten. Als alternative Erklärungsmöglichkeiten bieten sich die Deletion der meisten Repeats und folgende Amplifikation eines einzigen Gens in jeder Generation oder eine Angleichung der Sequenzen durch ungleiches Crossingover an.
Direkt in Zusammenhang mit der Frage der Sequenzidentität der multiplen Gene steht die Frage nach der Kontrolle von deren Anzahl. In E. coli sind nur sieben Genkopien vorhanden, bei denen die Effektivität der Transkription allerdings dadurch noch um einen Faktor 2 gesteigert wird, dass sie nahe am Replikationsstartpunkt liegen und daher frühzeitig im Zellzyklus verdoppelt werden. Hingegen sind bei allen Eukaryoten einige Hundert ribosomale RNA-Gene vorhanden (Tabelle 8.2).
Abb. 8.2. Modell der Korrektur von tandemartig hintereinander angeordneten, identischen Genen. Ungleiches Crossing-over innerhalb der Gene zwischen den Chromatiden ermöglicht es, eine Angleichung der Gene sowie eine Regelung ihrer Anzahl durchzuführen. Das Vorkommen solcher Rekombinatonsereignisse ist für Hefe experimentell gezeigt worden
Da NORs die Eigenschaft haben, eine sekundäre Konstriktion zu bilden (s. S. 228), lassen sich die rRNAGene leicht in den Chromosomen lokalisieren. Hierdurch und aus in-situ-Hybridisierungsexperimenten, wissen wir, dass die Anzahl von NORs im Genom verschiedener Organismen sehr variabel ist. Während Drosophila melanogaster zwei NORs, je eine in jedem Geschlechtschromosom, besitzt, findet man in Drosophila hydei drei, eine im X- und zwei im Y-Chromosom, und im menschlichen Genom gibt es fünf NORs (auf den Autosomen 13, 14, 15, 21 und 22). In Xenopus laevis hingegen ist eine einzige NOR in Chromosom 12 zu finden, und die Hefe Saccharomyces cerevisiae hat ebenfalls eine einzige chromosomale Region für rDNA in Chromosom 12. ! Die Anzahl und Lage der rDNA-Kopien im Genom variiert in verschiedenen Organismen beträchtlich. Es ist jedoch stets mehr als ein Gen vorhanden.
Eine wichtige Frage ist, inwieweit die verschiedenen rDNA-Kopien im Genom überhaupt transkribiert werden und ob sie vielleicht in verschiedenen Zelltypen differenziell reguliert werden. Hinweise darauf, dass die Initiationsfrequenz der RNA-Polymerase I stark variiert, gibt es aus Miller-Spreitungsexperimenten nicht. Viele Spreitungsversuche wurden an Keimbahnzellen ausgeführt, und es spricht alles dafür, dass in diesen
Exakte Paarung:
Länge der Repeatbereiche unverändert:
Versetzte Paarung:
Länge der Repeatbereiche verlängert bzw. verkürzt:
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Kapitel 8: Molekulare Struktur und Regulation eukaryotischer Gene
Tabelle 8.2. Die Anzahl ribosomaler RNA-Gene bei verschiedenen Eukaryoten Art
Anzahl (haploid: n, diploid: 2n)
Saccharomyces cerevisiae
140 (n)
Tetrahymena thermophila
1 (n) im Mikronukleus, ca 104 im Makronukleus
Acetabularia mediterranea
1900 (n)
Vicia faba
9500 (n)
Drosophila melanogaster
150 (웧) 250 (웨), (2n)
Xenopus laevis
800 (2n)
Homo sapiens
560 (n)
Zellen die überwiegende Mehrheit der rDNA-Kopien aktiv ist. Umgekehrt gibt es jedoch Zelltypen, in denen Miller-Spreitungsexperimente an rDNA nicht besonders erfolgreich verlaufen. Wahrscheinlich liegt die Ursache darin, dass hier nur ein kleiner Teil der vorhandenen rDNA-Gene aktiv und damit nur schwer auffindbar sind. Dafür sprechen auch ultrastrukturelle Studien von Nukleolen, die zeigen, dass die Anteile an fibrillären Zentren, dichten fibrillären Komponenten und granulären Komponenten in verschiedenen Zelltypen unterschiedlich sind. Ganz offensichtlich gibt es jedoch Regulationsmechanismen, die die Anzahl der rDNA-Kopien im Genom annähernd konstant halten. Besonders deutlich wird das in Experimenten an „bobbed“ (bb)-Mutanten von Drosophila, die durch Ritossa und Spiegelmann (1965) als Defizienzmutanten für ribosomale DNA erkannt worden sind. Deletiert man rDNA bis zu einem Minimum von etwa 30 Kopien, so zeigen die Individuen in zunehmendem Ausmaß allgemeine morphologische Defekte. Diese beginnen mit einer Verkürzung der Borsten auf dem Scutellum und reichen bei starken bobbed-Effekten (d. h. wenig rDNA) bis zu einem stark deformierten Abdomen. Die Anzahl vorhandener rDNA-Kopien korreliert dabei direkt mit der Stärke des bobbed-Phänotyps. Unterhalb einer Zahl von etwa 30 Kopien reicht die Anzahl der rRNA-Gene
nicht mehr aus, um lebensfähige Individuen entstehen zu lassen. ! Eine starke Abnahme an rDNA im Genom führt zu
pleiotropen Effekten und schließlich zur Letalität, sobald eine Mindestanzahl von Genkopien unterschritten wird. Die bobbed-Mutation in Drosophila hat sich als partielle Deletion von rDNA erwiesen. Der Grad des bobbed-Effektes in verschiedenen Allelen ist durch die Anzahl vorhandener rDNA-Repeats bestimmt.
Unter bestimmten genetischen Bedingungen lässt sich für Drosophila melanogaster zeigen, dass die Anzahl an X-chromosomalen rDNA-Kopien (jedoch nicht der Y-chromosomalen Kopien!) innerhalb einer Generation wieder korrigiert werden kann und den normalen Mittelwert erreicht. Die Regulation der Kopienanzahl erfolgt in der Keimbahn weiblicher Fliegen, wenn diese nur einen NOR besitzen (also bei einer genetischen Konstitution X/XNO–). Man bezeichnet einen solchen Vorgang als Magnifikation. Die Schnelligkeit, mit der diese Magnifikation erfolgt, schließt wohl aus, dass es sich um rein zufällige Rekombinationsereignisse handelt, so dass hier ein intrachromosomaler Amplifikationsprozess stattfinden muss. Zusätzlich aber muss ein relativ genauer Zählmechanismus verfügbar sein, der die schnelle Angleichung an den Wildtyp sicherstellt. ! In bestimmten genetischen Konstitutionen kann
eine zu niedrige Anzahl von rDNA-Repeats bis auf den normalen Mittelwert erhöht werden.
Dass es zelluläre Regulationsmechanismen gibt, die die Anzahl an transkribierbaren rRNA-Genen kontrollieren und regulieren, wird noch durch andere Beobachtungen belegt. W. Hennig und Mitarbeiter beobachteten 1971, dass während der Polytänisierung der Chromosomen in den Speicheldrüsen von Drosophila die rDNA nur teilweise mitrepliziert. Wir haben es hier also mit einer Unterreplikation zu tun, wie man sie in einer extremen Form auch bei repetitiver DNA im Heterochromatin findet (s. S. 256). Interessanterweise ist die
8.1 RNA-kodierende Gene: Ribosomale DNA
Anzahl an rDNA-Kopien in einer polytänen Zelle unabhängig von der genetischen Konstitution der Larven, d. h. sie steht in keinem Zusammenhang mit der Anzahl rDNA-Kopien im diploiden Genom. Auch hier kommt wiederum die Fähigkeit der Zelle zum Ausdruck, die Kopienanzahlen von Genen recht genau kontrollieren zu können. ! Während der Polytänisierung kommt es zu einer
Unterreplikation von ribosomaler DNA gegenüber anderen Genen.
Häufiger – und leichter – als eine Reduktion der Anzahl von rDNA-Kopien in bestimmten Zellen lässt sich das Gegenteil, eine Überrepräsentation ribosomaler RNA-Gene beobachten, die man als Amplifikation bezeichnet. Die ersten Beobachtungen amplifizierter Nukleolen wurden an Kröten der Gattung Bufo gemacht, aber die hauptsächlichen molekularen Studien beschäftigen sich mit den Oocyten von Xenopus laevis. Die Oocyten vieler Amphibien besitzen eine große Anzahl (je nach Art 600 bis 1000) von extrachromosomalen Nukleolen. Im reifen Zustand der Oocyten liegt die DNA dieser extrachromosomalen Nukleolen bei Xenopus laevis kappenförmig der Kernmembran an. Extrachromosomale Nukleolen enthalten ringförmige DNA-Moleküle, die sich als Kopien der chromosomalen ribosomalen DNA erwiesen. Die Anzahl der rDNA-Kopien variiert in verschiedenen extrachromosomalen Nukleolen (3 bis 10). In Miller-Spreitungsexperimenten lässt sich zeigen, dass die rDNA dieser Nukleolen in Oocyten transkriptionsaktiv ist (Abb. 8.3). Sie gehen während der meiotischen Teilungen verloren, so dass in der Eizelle wieder ein normales haploides Komplement an rDNA vorhanden ist. Die gesamte Menge an extrachromosomaler rDNA, die in einer Oocyte gebildet wird, ist außerordentlich groß. Ein repliziertes Genom (4C) von X. laevis enthält 0,02 pg DNA, während eine Oocyte 25 pg DNA enthält. Die Menge an DNA in diesen Zellkernen ist damit auf das 1000fache der Menge DNA eines normalen diploiden Kernes angewachsen. Die Art der Entstehung der ersten extrachromosomalen Nukleolen ist bis heute ungeklärt. Möglicherweise wird ein einzelner rDNA-Repeat aus dem
Abb. 8.3. Amplifizierte extrachromosomale rDNA mit fünf rRNA-Genen aus den Oocyten des Gelbrandkäfers Dytiscus marginalis. (Aus Scheer 1987)
Chromosom herausgeschnitten, wie das in anderen Fällen extrachromosomaler Amplifikation zu geschehen scheint (vgl. Kap. 12.4.2). Die spätere extrachromosomale replikative Vermehrung erfolgt im Karyoplasma durch einen Mechanismus, den wir bereits als Replikationsmechanismus von Bakteriophagen kennengelernt haben: den Rolling-circle-Mechanismus (Abb. 2.20). Er macht auch die unterschiedliche Länge der extrachromosomalen DNA-Moleküle verständlich, da auf diese Weise unterschiedlich lange DNAStücke linear repliziert und anschließend zirkularisiert werden können. Dass es sich bei der Amplifikation ribosomaler DNA bei Xenopus um keine Ausnahmeerscheinung handelt, beweisen Befunde bei einer Reihe von Insekten, bei denen man in den Oocyten ebenfalls extrachromosomale DNA findet, die durch Amplifikation aus der chromosomalen rDNA entsteht. Diese extrachromosomale rDNA wird oft in Form auffälliger, stark färbbarer DNAKörperchen (engl. DNA bodies) gefunden. Klassische Beispiele hierfür sind die nach ihrem Entdecker genannten Giardina-Bodies (1901) in den Oocyten von Wasserkäfern der Familien Dytiscidae (Gelbrandkäfer) und Colubridae und die DNA-Bodies in Oocyten des Heimchens Achaeta domesticus (Abb. 8.4).
295
296
Kapitel 8: Molekulare Struktur und Regulation eukaryotischer Gene
8.1.1 RNA-kodierende Gene: Die 5S-rRNA-Genfamilie
Abb. 8.4 a,b. Amplifizierte rDNA in den Oocyten von Insekten: Giardina-Bodies in Oocyten des Gelbrandkäfers Dytiscus marginalis. a In Pachytänkernen wird ein stark kondensierter Feulgen-positiver Körper beobachtet, der b im Diplotän in viele kleine Nukleolen zerfällt (vgl. Abb. 8.3!). (Aus Trendelenburg et al. 1977)
! In Oocyten mancher Organismen kommt es zur
extrachromosomalen Amplifikation von rDNA. Diese rDNA vermehrt sich extrachromosomal durch einen Rolling-circle-Mechanismus und liegt in der Form vieler ringförmiger DNA-Moleküle vor, die während ihrer Transkription eine Vielzahl von Nukleolen bilden. Sie sind erforderlich, um den Ribosomenbedarf des sich entwickelnden Eies zu decken.
Die Befunde am ersten in seiner molekularen Struktur aufgeklärten Gen, der ribosomalen DNA, haben eine Reihe von Besonderheiten gezeigt, die sich später als generelle Eigenschaften eukaryotischer Gene erwiesen haben. Obwohl man Processing von primären Transkripten gelegentlich auch bei Prokaryoten beobachten kann, wie es ja für die rRNA-Gene von E. coli besprochen wurde, ist es ein in Eukaryoten besonders weit verbreitetes und charakteristisches Phänomen. Die Existenz von Insertionen innerhalb kodierender Regionen, wie sie zuerst durch die IVS der 28S-rRNA dokumentiert wurde, ist für beinahe alle eukaryotischen Gene kennzeichnend. Generell werden solche Insertionen als Introns bezeichnet, im Gegensatz zu den Exons, wie die Protein-kodierenden Abschnitte eines Gens genannt werden (s. auch S. 74).
Bisher wurde nicht näher darauf eingegangen, dass Ribosomen neben 28S-, 18S- und 5,8S-rRNA noch ein 5S-rRNA-Molekül als Strukturbestandteil der großen Untereinheit besitzen. Diese RNA wird nicht im rDNA-Repeat kodiert, sondern bildet eine eigene Genfamilie von Tandemrepeats identischer Genkopien. Ihre Transkription erfolgt durch eine andere Polymerase als die der rDNA. Es handelt sich um die RNA-Polymerase III, die auch für die Synthese von tRNA verantwortlich ist. Auch die RNA-Polymerase III ist ein hochmolekularer Enzymkomplex (etwa Mr = 650 000) und besteht aus 10 bis 15 Untereinheiten. Der allgemeine Aufbau der DNA-Region mit 5S-rRNA-Genen gleicht dem der rDNA: Zwischen den tandemartig angeordneten 5SrRNA-kodierenden DNA-Sequenzen befinden sich nichttranskribierte Spacerbereiche. Deren Länge variiert zwischen aufeinanderfolgenden 5S-rRNAGenen, wie es auch bei der rDNA der Fall ist. Die Nukleotidsequenz der Spacerregionen verändert sich in der Evolution ähnlich schnell wie die der rDNASpacer. Untersuchungen an Xenopus laevis und X. borealis, die sogar (sterile) Kreuzungshybriden bilden können, haben gezeigt, dass die Spacer-DNASequenzen beider Arten sowohl in der rDNA als auch bei den 5S-Genen stark voneinander abweichen, während die RNA-kodierenden Bereiche praktisch identisch geblieben sind. In den 5S-rRNA-Genen sind weder Introns zu finden, noch erfolgt ein Processing an den Enden, sondern die Gene werden in der endgültigen Länge der 5S-rRNA-Moleküle abgelesen. Die Anzahl der Genkopien liegt generell viel höher als die der rRNA-Gene. Das ist wohl auch der Grund, dass für 5S-rRNA-Gene keine Amplifikation in den Oocyten erforderlich ist. ! Die in den Ribosomen befindliche 5S-rRNA wird
in einem eigenen Cluster von Genen kodiert, die durch eine eigene Polymerase, die RNA-Polymerase III transkribiert werden. Zwischen den Genen liegen, wie bei der rDNA, nichttranskribierte Spacer. Sie sind aber nicht mit anderen Genen zu komplexen Transkriptionseinheiten zusammengefasst. Ein Processing er-
8.1 RNA-kodierende Gene: Ribosomale DNA
folgt nicht, da eine korrekte Termination am Ende des 5S-rRNA-Moleküls erfolgt und keine Introns vorhanden sind.
Bei Xenopus laevis gibt es etwa 24 000 Kopien der an den Enden der meisten der Chromosomen liegenden 5S-rRNA-Gene. Diese Gene lassen sich in zwei Gruppen einteilen. Eine dieser Gruppen kodiert für die somatische 5SrRNA, während die andere Gruppe für die Synthese oocytenspezifischer 5S-rRNA verantwortlich ist. Diese oocytenspezifischen Gene umfassen den weitaus überwiegenden Teil der 5S-rRNA-Gene, während die somatische 5S-rRNA an nur etwa 400 Genkopien synthetisiert wird. Auf diese Weise wird erreicht, dass ein so hoher Bedarf an 5S-rRNA in Oocyten gedeckt wird, wie er der Produktion an rRNA entspricht (die Anzahl der 5S-rRNA-Gene in einer Oocyte ist aufgrund ihrer 4C-Konstitution 100 000!). Obwohl in der Oocyte beide Gruppen von 5S-rRNA-Genen aktiv sind, bleibt nur die oocytenspezifische 5S-rRNA stabil, während der somatische 5S-rRNA-Typ abgebaut wird. ! Bei Xenopus gibt es zwei Arten von 5S-rRNA-
Genen, deren eine nur in den Oocyten aktiv ist.
schen weniger als zehn (Hefe) und einigen Hundert (mehr als 200 in Xenopus laevis) im haploiden Genom (Tabelle 8.3). Die Verteilung dieser Gene in den Chromosomen unterscheidet sich grundsätzlich von der der Gene für 18S- und 28S-rRNA und der 5S-rRNA. Identische Gene liegen oft nicht tandemartig zusammen, sondern können sich in unterschiedlichen chromosomalen Positionen befinden. Andererseits ist im Allgemeinen eine Gruppe unterschiedlicher tRNAGene in einer chromosomalen Region vereinigt. Sie sind jedoch durch relativ große Spacerbereiche (auch Intergenregionen genannt, engl. intergenic regions) voneinander getrennt (Abb.8.5).Transkribiert werden die Gene in eine Pre-tRNA, die anschließend einem Processing unterliegt. Einige der tRNA-Gene haben Introns.Eine im Vergleich zu den bisher besprochenen Genen neue Eigenschaft dieser Gruppen von Genen ist es, dass die Richtung der Transkription nicht für alle Gene einer Gruppe identisch ist, sondern dass die einzelnen Gene in entgegengesetzten Orientierungen transkribiert werden können. Die Transkription erfolgt, wie die der 5S-rRNA und die der U6-snRNA, durch die RNA-Polymerase III. ! Auch tRNAs werden als Genfamilien kodiert. Sie werden, wie 5S-rRNA, durch die RNA-Polymerase III transkribiert. Es wird zunächst eine Pre-tRNA gebildet, die anschließend einem Processing unterliegt.
8.1.2 RNA-kodierende Gene: Die tRNA-Genfamilien Auch die Gene, die für den zweiten (neben der rRNA) in der Zelle mengenmäßig vorherrschenden RNA-Typ, die Transfer-RNA, kodieren, bilden Genfamilien. Aus dem genetischen Code lässt sich ableiten,dass es 64 verschiedene tRNASorten geben sollte. Diesen müssen sich die insgesamt 20 Aminosäuren der verschiedenen Codons zuordnen. Einige tRNAs sind jedoch in der Lage, verschiedene Codons für die gleiche Aminosäure zu erkennen (s. S. 64, Wobble-Hypothese), so dass in E. coli nur etwa 40 verschiedene tRNA-Gene vorhanden sind. In E. coli ist je ein Gen für jede dieser tRNAs vorhanden, während im Genom von Eukaryoten jede der tRNAs in mehreren Genkopien vertreten ist. Die Zahl identischer Gene ist unterschiedlich, sie liegt zwi-
Tabelle 8.3. Anzahl von tRNA-Genen in verschiedenen Organismen Art
Anzahl der Gene (n)
Saccharomyces cerevisiae
360
Tetrahymena pyriformis
800
Drosophila melanogaster
800
Xenopus laevis
7000
Rattus norvegicus
6500
Homo sapiens
1300
Aus Singer u. Berg (1991)
297
Kapitel 8: Molekulare Struktur und Regulation eukaryotischer Gene
0,5
1
1,5
tRNALeu
PPP GC A A CGCCG A U A A GGUAUCGCGA A A A A A A A G A U
2
2,5
25
30
35
3
Lys Arg
Asn
Ile Lys Lys Lys Asn Arg
Eine RNA-Komponente der RNase P ist nämlich in in-vitro-Experimenten ausreichend, um die Pre-tRNA richtig zu zerschneiden. Zunächst werden hierbei die 5′-Enden der tRNAs erzeugt (Abb. 8.6), danach werden durch die exonukleolytisch wirkende RNase D die 3′-Enden bis zum charakteristische 3′-CCA-OH-Ende der funktionsfähigen tRNA (s. S. 92) entfernt. In den sieben anderen Gengruppen von E. coli liegen ribosomale RNA-Gene, 5S-rRNAGene und tRNA-Gene zusammen vor und werden in dieser Form als ein gemeinsames 30STranskript abgelesen (Abb. 8.6). In Eukaryoten sind solche Genanordnungen nicht bekannt und auch unwahrscheinlich, da die verschiedenen RNA-Typen hier durch unterschiedliche RNA-Polymerasen tran-
Lys
Leu
20 Ala
Asn
15
Met2-B
10 Met2-A
5
Lys Arg
Arg
Asn Asn
In E. coli finden sich die tRNA-Gene in unterschiedlichen Kombinationen. So enthält eine Gruppe von tRNA-Genen die Sequenzen für tRNALeu, tRNAMet und tRNAGln (Abb. 8.6), während eine andere Gruppe neben tRNAIle, tRNAAla und tRNAThr (neben rDNA-Sequenzen) enthält. Die Gene der zuerst genannten Gruppe werden in eine gemeinsame Pre-tRNA transkribiert, und anschließend durch Splicing voneinander getrennt. Hieran sind möglicherweise verschiedene Enzyme, so die Ribonuklease P (RNase P) und die Ribonuklease D (RNase D), beteiligt, aber es kann nicht ausgeschlossen werden, dass auch ein RNA-kontrolliertes Splicing, wie es beim autokatalytischen Splicing der Pre-rRNA von Tetrahymena beschrieben wurde, erfolgt (s. S. 77 f).
Phe Tyr
298
40
45
kb
5,5
kb
Abb. 8.5. Gruppen von tRNA-Genen im Genom höherer Organismen. (Aus Watson et al. 1987)
2. Repeat
3,5
4
4,5
5
tRNAGln 1
U A CCAUUCA CCA GA A A GCGUUGU A CGGA U U U U U U C A U C AC
GCC AU CUUCUUC U GG C GA AUG A G U C tRNAMet M A CCGC U GGCC U A U GCC AU CG A A GA A A C A AU CU
tRNAGln 1 tRNAMet M
Abb. 8.6. Struktur einer der Gruppen von tRNA-Genen im Genom von E. coli. Sieben tRNA-Gene liegen innerhalb dieser Region und werden in einem primären Transkript abgelesen. An den durch Pfeile gekennzeichneten Stellen wird das primäre
tRNAGln 2
A CC A A A U U C U G A A U G U A U C G A A U A
A CC A A UUGU GCCA A U A U U A A A U C U U A A A C G G C U U C U
U C A C G A U U A U A C G G U GA C GC A CC CA GU A A C U tRNAGln 2
U U C G C AU C G A A A A A GCCACA UU
C G G C G A G C U U U U U GCUUU A UGC GA UGUU U A C G U C G U C G G U U A U A C C A U U
Transkript durch die RNA-Ribonuklease P geschnitten. Die Sekundärstruktur der RNA ist hypothetisch. (Nach Nakajima et al. 1981)
8.1 RNA-kodierende Gene: Ribosomale DNA
skribiert werden. In E. coli hingegen erfolgt die Transkription sowohl der rRNA als auch der tRNA und mRNA durch dieselbe RNA-Polymerase. Auch hier werden die 5′-Enden der tRNAs durch die RNase P hergestellt, während die rRNA-Moleküle durch die Ribonuklease III aus Transkriptbereichen herausgeschnitten werden, die durch intramolekulare Basenpaarungen doppelsträngig sind (s. S. 73). In Eukaryoten wird ebenfalls eine Pre-tRNA synthetisiert. Das Processing erfolgt durch verschiedene Enzyme, die bei Hefen ausgiebig untersucht worden sind. Wesentlich für das korrekte Splicing ist wahrscheinlich auch die besondere Sekundärstruktur der tRNA, die evolutionär von Prokaryoten bis zu höheren Eukaryoten trotz aller Nukleotidsequenzunterschiede hin erhalten geblieben ist (s. S. 298).
küls. In diesem Bereich ist auch die Anzahl der Basenpaarungen gering. Wahrscheinlich verleiht diese Struktur dem Molekül eine Flexibilität (Scharnierwirkung), die auch für den Translationsprozess von Bedeutung sein kann. In einer zweidimensionalen Darstellung nimmt das Molekül die Form eines vierblättrigen Kleeblattes an (engl. cloverleaf) (Abb. 8.7), dessen vier „Blätter“ bestimmte Teilbereiche des Moleküls charakterisieren. Sie werden als D-Loop, Anticodon-Loop, TψC-Loop und Acceptorstamm be3' OH
5' P
Acceptorstamm
Posttranskriptionelle Modifikationen Obgleich die Sekundärstruktur der tRNA-Moleküle sich außerordentlich gleicht, wie man auch nach ihrer Funktion bei der Translation erwarten würde, bestehen doch Längen- und Sequenzunterschiede. Die Längen der verschieden tRNAs liegen zwischen 73 und 93 Nukleotiden. Besonders auffallend ist weiterhin, dass tRNA-Moleküle viele seltene Basen aufweisen, die posttranskriptionell auf enzymatischem Wege erzeugt werden (Abb. 8.7 und 8.8).Vor allem Methylierungen spielen hierbei eine Rolle. Die meisten der Basen bestimmen durch intramolekulare Basenpaarungen eine dreidimensionale Struktur des Moleküls, wie sie am Beispiel der tRNA für Phenylalanin zuerst ermittelt wurde. Zu dieser Basenpaarung tragen aber auch molekulare Interaktionen im Zucker-PhosphatBereich des Moleküls bei.Das L-förmige Molekül trägt am 3′-Ende der tRNA, das sich durch eine kurze Einzelstrangregion mit einer CCA-Gruppe auszeichnet, die durch die jeweilige tRNA spezifizierte Aminosäure. An seinem entgegengesetzten Ende enthält das L-förmig gefaltete Molekül, eingebettet in Doppelstrangregionen, einen sieben Basen langen Einzelstrangbereich, der das Anticodon enthält. Das Anticodon wird stets durch modifizierte Basen flankiert. Diese strikt eingehaltene sterische Konfiguration im Anticodonbereich ist wahrscheinlich wichtig für die Kontrolle der genauen Basenpaarung zwischen Codon und Anticodon. Unterschiede in der tRNALänge finden sich vor allem im Übergangsbereich zwischen den beiden Armen des L-förmigen Mole-
D-Schleife
TψC-Schleife
Variable Schleife Anticodonschleife
* Anticodon
*
A
C
G
U
Purin
Pseudouridin
Hypermodifiziertes Purin
Pyrimidin
Abb. 8.7. Struktur der tRNA. Ein tRNA-Molekül besteht aus mehreren Regionen, die durch intramolekulare Basenpaarungen gekennzeichnet sind und daher als Schleifen bezeichnet werden. In der ebenen Projektion erinnert die Struktur an ein vierblättriges Kleeblatt (cloverleaf). tRNAs enthalten viele seltene Nukleotide (farbig hervorgehoben), die sich in bestimmten, genau festgelegten Positionen befinden. In einzelnen Teilbereichen des Moleküls ist die Anzahl der Nukleotide für verschiedene tRNA-Arten variabel (kleine Punkte)
299
300
Kapitel 8: Molekulare Struktur und Regulation eukaryotischer Gene
Abb. 8.8. Chemische Struktur verschiedener seltener Nukleotide
zeichnet. Die meisten doppelsträngigen Bereiche enthalten evolutionär konservierte Basenpaare. ! tRNA-Moleküle bilden eine spezifische, evolutio-
när stark konservierte Sekundärstruktur (Kleeblattstruktur) durch intramolekulare Basenpaarungen aus. tRNA enthält eine größere Anzahl seltener Basen, die posttranskriptionell erzeugt werden.
8.2 Protein-kodierende Gene: I. Multigenfamilien Die erste Begegnung mit eukaryotischen Genfamilien in Form der rDNA und der 5S-rRNA-Gene hat bereits erkennen lassen, dass wir es im eukaryotischen Genom mit einer wesentlich größeren Komplexität der Genstruktur zu tun haben als das bei Prokaryo-
ten der Fall ist. Es sind wohl drei Ursachen, die eine solche Ausweitung der Struktur und der Funktionen des genetischen Materials erforderlich machen: • die Diploidie, • die Trennung zwischen dem Kern als Ort der Transkription und dem Cytoplasma als Ort der Translation und • die große funktionelle Differenzierungsfähigkeit der somatischen Zellen. Für die ribosomalen RNA-Gene scheinen diese Gesichtspunkte nicht von besonderer Bedeutung zu sein, da ihre Funktion sich in Prokaryoten und Eukaryoten nicht wesentlich unterscheidet.Was sich jedoch unterscheidet, ist die Notwendigkeit der Regulation der Synthese ribosomaler RNA in Abhängigkeit von der jeweiligen Stoffwechselsituation. In Bakterienzellen dürften hier relativ einfache Alternativen vorgegeben sein – eine niedrige Aktivität in ruhenden oder eine hohe Stoffwechselaktivität in wachsenden Zellen. In Eukaryoten müssen wir mit sehr unterschiedlichen
8.2 Protein-kodierende Gene: I. Multigenfamilien
Anforderungen in verschiedenen Zelltypen rechnen, die offenbar spezielle Mechanismen zur Regulation des unterschiedlichen Bedarfs erforderlich machen. Der extrem hohe Bedarf an Ribosomen in einer Amphibienoocyte (s. S. 295) sei hier nur zur Erinnerung erwähnt. Es ist daher naheliegend, für andere eukaryotische Gene die Existenz ähnlicher oder sogar noch weitergehender Regulationsmechanismen anzunehmen. Wir werden an einigen ausgewählten Gensystemen weitere Besonderheiten eukaryotischer Gene kennen lernen, die zwar unser Wissen über eukaryotische Genstruktur und -funktionen nicht erschöpfend darstellen, aber die ihre Grundzüge erkennen lassen. Eine Ausweitung dieses Themas wird noch in Zusammenhang mit der Besprechung von Differenzierungsleistungen von Zellen erfolgen. In den folgenden Abschnitten werden wir sehen, dass unseren gegenwärtigen Kenntnissen der Regulationsmechanismen noch sehr viel engere Grenzen gesetzt sind als in prokaryotischen Gensystemen. Das ist bei genauerer Betrachtung auch nicht überraschend, haben wir doch bei der Erörterung der strukturellen Organisation eukaryotischer Chromosomen bereits erkannt, wie wenig Einsicht wir auf diesem grundlegenden Niveau der Organisation des genetischen Materials bisher erlangt haben. Die Diskussion der Komplexität eukaryotischer Chromosomenstruktur hat uns zugleich verdeutlicht, dass das Verständnis von Regulationsvorgängen sehr eng an das Verständnis des strukturellen Zustandes eines Chromosoms gekoppelt sein muss. Wie erfolgt eine funktionsgerechte und zeitlich koordinierte Dekondensation eines Chromosoms? Wie können Regulationsmoleküle ihre Signalsequenzen in der DNA erkennen, wenn diese in Histone und andere chromosomale Proteine verpackt ist? Bevor wir imstande sein werden, derartige Fragestellungen zu beantworten, werden wir auch nicht in der Lage sein, die Regulation einzelner Gene in allen Einzelheiten zu verstehen.
8.2.1 Die Globingenfamilie Das Hämoglobin ist das wohl bestuntersuchte eukaryotische Protein. Der Grund dafür ist darin zu suchen, dass Blutkrankheiten, die auf Anomalien dieses Proteinkomplexes beruhen, sehr weit verbreitet sind und wegen ihrer schwerwiegenden physiologi-
schen Folgen medizinisch große Bedeutung besitzen (Abb. 8.9). Als Sauerstoffüberträger ist das Hämoglobin in den Erythrocyten lebensnotwendig. Wichtige Schritte in der Analyse des Hämoglobins waren die Ermittlung der vollständigen Aminosäuresequenz sowie die röntgenkristallographische Untersuchung, die das Strukturmodell des Hämoglobins ergab (Abb. 8.10). Hämoglobin A ist ein Komplex aus vier Proteinketten, von denen je zwei identisch sind. Sie werden als α- und β-Globinketten bezeichnet. Jede dieser Ketten ist in sich gefaltet und schließt eine funktionelle Gruppe, die Hämgruppe, ein.
Abb. 8.9. Elektrophoretische Trennung unterschiedlicher Hämoglobinketten. Die hier gezeigten Elektrophoreseergebnisse sind Daten aus Populationsuntersuchungen (anämische Kinder, hauptsächlich aus Nordindien, in Krankenhäusern von Delhi). Sie zeigen die Unterschiede in der elektrophoretischen Mobilität verschiedener Hämoglobine. Bemerkenswert ist insbesondere auch der große Unterschied zwischen HbS und HbA, obwohl nur eine Aminosäure verändert ist! (Unveröffentlichte Daten von Dr. S. T. Devi u. R. Jerath, Neu-Delhi)
301
302
Kapitel 8: Molekulare Struktur und Regulation eukaryotischer Gene
! Das Hämoglobin ist ein Komplex aus vier Poly-
peptidketten (Globinen) mit einer funktionellen Gruppe aus Porphyrinringen, die ein zentral gelegenes Fe2+-Ion einschließen. Diese als Hämgruppe bezeichnete funktionelle Gruppe ist für die sauerstoffübertragende Funktion des Hämoglobins verantwortlich.
Diese aus Porphyrinringen aufgebaute Gruppe enthält ein zentral gelegenes Fe2+-Ion, das für die sauerstoffbindende Funktion des Hämoglobins verantwortlich ist. Das menschliche Blut enthält vom 6. Lebensmonat an fast ausschließlich HbA,das sich in zwei Fraktionen trennen lässt, HbA1 (97%) und HbA2 (2,5%), sowie eine kleinen Menge ab HbF (0,5%). Während die αKetten aller dieser Hämoglobinvarianten gleich sind, unterscheiden sich die anderen beiden Ketten voneinander: HbA1 besitzt zwei β-Ketten, HbA2 zwei δ-Ketten und HbF zwei γ-Ketten (Tabelle 8.4). Der Name HbF erklärt sich daher, dass das HbF den Hauptanteil des fötalen Hämoglobins ausmacht. Wie
Tabelle 8.4. Hämoglobinvarianten im Laufe der Ontogenese des Menschen Lebensalter
Bezeichnung
HbKetten
Anteil
bis zur 8. Woche
Hb Gower 1
ζ2 ε2
100 %
ab der 8. Woche
Hb F + Hb Gower 2 + Hb Portland
α2 γ2 α2 ε2 ζ2 γ2
ab Geburt
Hb A1 Hb A2 Hb F
α2 β2 α2 δ2 α2 γ2
97 % 2,5% 0,5%
uns Abb. 8.11 zeigt, werden im Laufe der Ontogenese des Menschen verschiedene Hämoglobinketten synthetisiert und in verschiedenen Kombinationen zu funktionsfähigen Tetrameren zusammengefügt. Die Gründe für die Verwendung verschiedener Proteinketten unter unterschiedlichen Entwicklungsbedingungen lassen sich leicht verstehen, wenn wir
Abb. 8.10. Die tetramere Struktur des Hämoglobins. Das Hämoglobin ist ein Komplex aus vier Proteinketten, je zwei identischen α- und zwei identischen β-Globinketten. Über 70% des Proteins sind durch α-Helices charakterisiert (Zylinder A-H; im α-Globin fehlt die Helix D). Im Mittelpunkt jeder Kette liegt die Hämgruppe, die für den Sauerstofftransport verantwortlich ist. Die Kontaktpunkte der verschiedenen Ketten unterliegen Konformationsveränderungen bei Sauerstoffaufnahme und -abgabe. Die aminound carboxiterminalen Regionen der Ketten sind gekennzeichnet. (Nach Löffler u. Petrides 2003)
8.2 Protein-kodierende Gene: I. Multigenfamilien 100
Anteil (%)
Abb. 8.11. Entwicklungsspezifisches Expressionsmuster der Globinketten in der menschlichen Entwicklung. Während der ersten drei Monate der Entwicklung wird Hämoglobin im Dottersack synthetisiert. Danach folgt eine Phase, in der die Hauptsyntheseorte Leber und Milz sind. Hier wird hauptsächlich das fötale Hämoglobin produziert. Zur Zeit der Geburt übernimmt das Knochenmark die Hämoglobinsynthese. Allein hier erfolgt nach der Geburt Hämoglobinsynthese. Die Phasen der Produktion der verschiedenen Hämoglobinketten sind angegeben. Die Expression der Globingene ist somit einer stark gewebespezifischen und entwicklungsspezifischen Regulation der Transkription unterworfen. (Nach Vogel u. Motulsky 1982)
α1, α2
Aγ und Gγ
60
β
ε 20
die jeweiligen Bedingungen des Sauerstoffaustausches beachten. Während der frühen Embryonalentwicklung besteht zunächst kein eigener Blutkreislauf. Unter diesen sehr ungünstigen Bedingungen wird der Sauerstoffaustausch durch ein Hämoglobin mit besonders hoher Bindungsaffinität für Sauerstoff versehen. Später, nach Entwicklung des embryonalen Blutkreislaufes, sind die Bedingungen der Sauerstoffversorgung des Fötus zwar günstiger, aber der Sauerstoffaustausch mit dem mütterlichen Blut muss immer noch durch die Placentabarriere erfolgen. Die Bindungsaffinität für Sauerstoff kann nunmehr geringer sein, muss aber immer noch höher sein als nach der Geburt, wo ein ungehinderter Sauerstoffaustausch in der Lunge erfolgen kann.
ζ δ 3
6 9 Monate Entwicklung
12
24
nat beginnt im Knochenmark allmählich die Proliferation von Retikulocyten, die sich im Blut zu Erythrocyten ausdifferenzieren. Gleichzeitig nimmt die Synthese von Hämoglobin in Leber und Milz ab, so dass bereits kurz nach der Geburt ausschließlich nur noch die Retikulocyten für die Hämoglobinsynthese verantwortlich sind (Abb. 8.11). Erythrocyten besitzen bei Säugern keinen Kern mehr, sind aber mit großen Mengen Hb-mRNA beladen, so dass sie zur Hb-Synthese in der Lage sind. ! Die Hämoglobinsynthese erfolgt je nach Lebensalter des Menschen in unterschiedlichen Geweben, ist nach der Geburt jedoch auf die Retikulocyten beschränkt.
! Die Zusammensetzung der Hämoglobinmoleküle
verändert sich während der fötalen Entwicklung und nach der Geburt aufgrund der physiologischen Erfordernisse des Sauerstoffaustausches im Blut.
Das Hämoglobin wird nach der Geburt ausschließlich in den roten Blutkörperchen, den Erythrocyten, gefunden. Sie stammen von Stammzellen des hämatopoietischen Systems im Knochenmark ab (s. Abb. 12.4). In frühen Entwicklungsstadien besitzt der Fötus jedoch noch kein Knochenmark. Daher wird Hämoglobin zunächst im Dottersack gebildet, später in der Leber und der Milz. Erst ab dem 4. Lebensmo-
Die Beschreibung des Hämoglobins gewährt uns einen interessanten Einblick in den Ablauf wissenschaftlicher Forschung: Die Beobachtung einer Krankheit führte zur Aufdeckung der genetischen und dann der molekularen Ursache dieser Krankheit. Man lernte, die molekularen Grundlagen einer wichtigen Stoffwechselfunktion, der der Sauerstoffübertragung, durch physikochemische Analysen zu verstehen. Die weitere Aufschlüsselung des Systems führte uns zu allgemeinen Einsichten über die Art der Funktion eukaryotischer Gene (wie im Folgenden in mehreren Schritten noch sichtbar werden soll).
303
304
Kapitel 8: Molekulare Struktur und Regulation eukaryotischer Gene
Im Zusammenhang mit Einsichten in eukaryotische Genstruktur und -funktion sind an den zuvor geschilderten Einzelheiten die folgenden Gesichtspunkte von näherem Interesse: • Hämoglobin setzt sich aus mehreren ähnlichen Proteinen zusammen. • Diese Proteine werden nicht nur zu unterschiedlichen Zeiten während der Ontogenese synthetisiert, • sondern sie treten während der verschiedenen Entwicklungsstadien auch in verschiedenen Zelltypen auf. Wir müssen es also mit einer komplizierten Steuerung von Genfunktionen in Abhängigkeit von Zelldifferenzierungsprozessen zu tun haben. Die Beobachtung verschiedener Globinmoleküle in den 1960er Jahren legte es nahe anzunehmen, dass diese von verschiedenen Genen kodiert werden. Es stellt sich damit natürlich als erste Frage die nach der Lokalisation der zugehörigen verschiedenen Globingene im Genom. Durch vergleichende Stammbaumanalysen von Familien mit Hämoglobinanomalien gelang es relativ bald zu erkennen, dass die Gene für die α- und β-Ketten entweder sehr weit voneinander entfernt im gleichen Chromosom oder sogar auf verschiedenen Chromosomen liegen müssen, da in Heterozygoten für αund β-Varianten eine häufige Segregation dieser unterschiedlichen Typen zu beobachten war. Hingegen ließ sich zunächst keine Rekombination zwischen β- und δ-Varianten finden, so dass man für diese beiden Ketten von einer engen Koppelung ausgehen musste. Die verfeinerte Analyse zeigte später, dass beide Gene tatsächlich sehr dicht benachbart sind, da man Kombinationsmoleküle aus β- und δKetten entdeckte (s. Abb. 14.34). Die Zuordnung der α- und β-Ketten zu bestimmten Chromosomen wurde dann mit der Hilfe von Zellhybriden möglich. Fusioniert man menschliche Zellen mit den Zellen von Mäusen, so verlieren diese Hybridzellen allmählich Chromosomen, und zwar bevorzugt die menschlichen Chromosomen.Die Chromosomenkonstitution solcher Hybridzellinien kann man durch Chromosomenbänderung leicht ermitteln. Zudem sind die Hämoglobingene des Menschen und die der Maus so unterschiedlich, dass man sie in Nukleinsäurehybridisierungsexperimenten leicht unterscheiden kann. Es gelang auf diese Weise, die β-Kette auf Chromosom 11 des Menschen zu lokalisieren.
Auch die α-Kette konnte wenig später durch Zellhybridisierungsmethoden dem Chromosom 16 zugeordnet werden. Nachdem in der Folge weitere Details der Lokalisation verschiedener Globinketten bekannt wurden, gelang schließlich A. Efstradiadis und seinen Kollegen 1980 die Isolierung der DNA-Bereiche, die für die menschlichen Hämoglobingene kodieren. Die Ergebnisse der Feinstrukturanalyse sind in Abb. 8.12 zusammengefasst. Sie zeigen, dass die verschiedenen Hämoglobinketten in zwei voneinander getrennten Gruppen im Genom kodiert werden, der α-Gruppe auf Chromosom 16, und der β-Gruppe auf Chromosom 11. Beide Gruppen enthalten mehrere Gene für verschiedene Ketten, die durch größere DNA-Bereiche (intergenische Bereiche) voneinander getrennt sind. ! Die für die Synthese der verschiedenen Globin-
ketten erforderlichen Gene liegen beim Menschen in zwei Gruppen auf zwei verschiedenen Chromosomen.
In der a-Gruppe (engl. a-cluster) erkennen wir, dass innerhalb von etwa 30 kb DNA neben zwei identischen Kopien des α-Gens (α1 und α2) ein ζ-Gen (ζ2) (griech. Buchstabe zeta: ζ) vorhanden ist. Darüber hinaus gibt es weitere Gensequenzen, die als ψα1 und ψζ1 (griech. Buchstabe psi: ψ) bezeichnet werden. Die DNA-Sequenzanalyse ließ erkennen, dass es sich um unvollständige, nicht funktionsfähige Genkopien handelt. Sie werden daher als Pseudogene (daher Psi!) bezeichnet (Jacq et al. 1977).
kb 0
10
20
α-Globingengruppe
30
40
50
60
ψζ ψα1 α2 α1
ζ
β-Globingengruppe ψβ2
ε
Gγ
Aγ
ψβ1
δ
β
Abb. 8.12. Die α- und β-Globingengruppen des Menschen. Die α-Gengruppe liegt im Chromosom 16, die β-Gengruppe im Chromosom 11. Jede Gruppe enthält mehrere Pseudogene (durch ψ gekennzeichnet). Die Gene sind über mehr als 30 (α-Gengruppe) bzw. 60 kb (β-Gengruppe) verteilt. (Nach Efstratiadis et al. 1980, u. Karlsson u. Niehuis 1985)
8.2 Protein-kodierende Gene: I. Multigenfamilien
In der b-Gruppe (engl. b-cluster) sind innerhalb einer DNA-Gesamtlänge von 50 kb neben den Genen für die namensgebende β-Kette, die δ-Kette, die εKette und zwei Gene für γ-Ketten (Gγ und Aγ) vorhanden, die sich nur geringfügig voneinander unterscheiden (Tabelle 8.5). Außerdem finden sich auch hier zwei Pseudogene (ψβ1 und ψβ2). Sieht man sich beide Globingengruppen an, so fällt auf, dass die verschiedenen Gene in der Reihenfolge ihrer Aktivität während der Ontogenese angeordnet sind (vgl. Abb. 8.11). Da das für beide Gruppen gilt, kann man davon ausgehen, dass diese Anordnung nicht zufällig ist. Der strukturelle Zusammenhang der Globingene wird noch deutlicher, wenn man die Aminosäuresequenzen der aufeinanderfolgenden Gene, z. B. in der β-Globingruppe, vergleicht (Tabelle 8.5). Alle Globinketten der β-Gruppe besitzen 146 Aminosäuren. Die β- und δ-Ketten unterscheiden sich in 10 der Aminosäuren, die β-und γ-Ketten in 40 Aminosäuren, während die beiden γ-Ketten (Gγ und Aγ) sich nur in einer einzigen Aminosäure (Position 136) unterscheiden. Die Divergenz der Aminosäuresequenzen wird also mit wachsendem Abstand auf dem Chromosom größer. Es liegt daher nahe anzunehmen, dass zwischen diesen Genen ein bestimmter evolutionärer Zusammenhang besteht.
Tabelle 8.5.
! Jede der zwei Gruppen menschlicher Globingene
enthält neben mehreren DNA-Bereichen, die für unterschiedliche Globinketten kodieren, nichtfunktionelle Pseudogene. Die Anordnung der funktionellen Gene in jeder Gruppe entspricht der Folge ihrer Aktivierung im Laufe der Ontogenese.
Evolution der Globingene Noch bevor man mehr über die strukturelle Anordnung der verschiedenen Globingene im Genom wusste, nahm man aufgrund der Aminosäureketten der verschiedenen Globinketten an, dass es sich um eine Genfamilie handelt, die sich im Laufe der Evolution nach und nach durch mehrere Genduplikationsschritte entwickelt hat. Diese Überlegungen beruhten nicht allein auf der Kenntnis der menschlichen Hämoglobine, sondern bezogen den Vergleich der Hämoglobine und verwandter Moleküle wie dem des Myoglobins aus anderen Organismengruppen mit ein. Neuere Arbeiten haben die Familie der Globingene noch um zwei weitere Mitglieder erweitert: Neuroglobin und Cytoglobin. Das Myoglobin ist ein Protein, das in der Muskulatur den Sauerstofftransport übernimmt. Das Neuroglobin wird überwiegend
Einige Struktureigenschaften der menschlichen Globingene
Gen
Länge (AS)
Introns
Anzahl AS-Substitutionen
verglichen mit
α-Globin α1-Globin α2-Globin ζ2-Globin θ2-Globin
141 141 141 141 141
2 2 2 2 2
– – 0 60 58
– – α1-Globin α1-Globin α1-Globin
β-Globin ε-Globin Aγ-Globin G γ-Globin δ-Globin
146 146 147 147 146
2 2 2 2 2
78 (von 141) 36 40 1 10
α-Globin β-Globin β-Globin A γ-Globin β-Globin
Leghämoglobin Myoglobin
143 153
3 2
Nach EMBL-Datenbank
305
306
Kapitel 8: Molekulare Struktur und Regulation eukaryotischer Gene
in den Nervenzellen exprimiert. Man vermutet, dass es eine Schutzfunktion bei der Sauerstoffunterversorgung hat und Sauerstoff schneller zu den Mitochondrien transportieren kann. Das Cytoglobin (auch bekannt unter der Bezeichnung Histoglobin) kommt in vielen verschiedenen Geweben in unterschiedlicher Menge vor; auch dieses Protein dient wahrscheinlich der Sauerstoffversorgung der Zellen. Für beide Proteine wird darüber hinaus aber auch eine Sauerstoff-verbrauchende Funktion bzw. die eines Sauerstoffsensors vermutet. Aufgrund der Abweichungen und Ähnlichkeiten der DNA- bzw. Aminosäuresequenzen kann man einen Stammbaum der Globingene entwerfen. Er gibt den einfachsten Entwicklungsweg im Laufe der Evolution zwischen den verschiedenen Molekülen wieder (Parsinomieprinzip: der direkte Weg, auf dem man eine phylogenetische Entwicklung ableiten kann). Noch vor der Aufspaltung der α- und β-Globingenfamilien müssen verschiedene Duplikationsschritte erfolgt sein, die zunächst das Neuroglobin von der gesamten Genfamilie vor ca. 800 Mio. Jahren abspalteten. Die nächste Duplikationsrunde (vor ca. 600 Mio. Jahren) ergab die Vorläufer der Hämoglobine einerseits und der Cyto-/MyoGlobine andererseits (Abb. 8.13). Weitere Duplika-
tionen vor ca. 450 Mio. Jahren führten dann zur getrennten Entwicklung des Cytoglobins und Myoglobins sowie der α-und β-Globine; die weitere Entwicklung der Hämoglobine ist dann entwicklungsgeschichtlich wesentlich jünger. Bei der Betrachtung der Intron-Exon-Struktur der α- und β-Globingene fällt auch auf, dass die Lage und Länge der Introns fast in demselben Maß konserviert ist wie die der Exons (Abb. 8.14). Die Entdeckung der Cyto- und Neuroglobingene ist ein Erfolg der systematischen Sequenzierung des menschlichen Genoms und einiger Modellorganismen wie Maus und Zebrafisch. Beide Gene wurden zunächst in den ESTDatenbanken (engl. expressed sequence tag, EST) unter vielen, nicht zugeordneten cDNA-Sequenzen gefunden. Das entsprechende Gen der Ratte wurde durch einen systematischen Ansatz der Protein-Analytik identifiziert, als hochregulierte Proteine in einer fibrotischen Leber untersucht wurden. Beide „neuen“ Gene erwiesen sich in der Folge jedoch als entwicklungsgeschichtlich älter als die schon lange bekannten Hämoglobine.
Abb. 8.13. Evolutionäres Modell der menschlichen Globingene. Die unterschiedlichen Chromosomen, auf denen die menschlichen Globingene lokalisiert sind, sind oben angege-
ben. Funktionelle Gene sind farbig, Pseudogene grau. (Nach Pesce et al. 2002)
8.2 Protein-kodierende Gene: I. Multigenfamilien Abb. 8.14. Feinstruktur der Globingene und ihre Transkription. Die Introns werden durch Splicing aus dem primären Transkript entfernt. Am 5′-Ende der mRNA wird eine Kappe angefügt, am 3′-Ende ein Poly[A]-Schwanz. (Nach Karlsson u. Nienhuis 1985)
! Die Globingene haben sich im Laufe der Evolu-
tion durch mehrere aufeinanderfolgende Duplikationen aus einem ursprünglichen Globingen entwickelt. Ihre evolutionäre Geschichte kann durch Vergleiche der Aminosäureveränderungen aufgeklärt werden.
Nach den Genen für die ribosomale RNA sind wir mit der Hämoglobingenfamilie einer zweiten Gruppe von Genen begegnet, die in mehreren Kopien in tandemartiger Anordnung im Genom vorkommt. Im Unterschied zu den rRNA-Genen sind jedoch die meisten der Hämoglobingene strukturell und funktionell verschieden. Geht man davon aus, dass sich beide Genfamilien im Laufe der Evolution durch Verdopplungsmechanismen vermehrt haben, so reflektiert der gegenwärtige Zustand die funktionellen Verschiedenheiten beider Genfamilien: • Die rRNA-Gene sind in großer Anzahl in identischer Struktur notwendig, um die erforderliche Synthese großer Mengen an rRNA zu gewährleisten, ohne die zumindest einige Zelltypen nicht überlebensfähig wären. Es muss also zusätzlich zum Vermehrungsmechanismus der Gene ein weiterer Mechanismus verfügbar sein, der die Gleichheit der Genkopien sicherstellt und zugleich auch deren Anzahl kontrolliert.
• Die Hämoglobingene hingegen haben durch ihre
schrittweise Verdopplung im Laufe ihrer Evolution die Möglichkeit zur differenzierten Anpassung an unterschiedliche Stoffwechselsituationen gegeben. Insekten und niedere Vertebraten besitzen nur ein oder zwei Hämoglobingene, während die Entstehung der inneren Entwicklung der Nachkommen bei Säugern mit weiteren Verdopplungsschritten und mit der Aufspaltung in embryonale, fötale und adulte Hämoglobine einhergeht (Abb. 8.15): Der kritischen Situation der Sauerstoffversorgung durch die Placenta hinweg wird durch die Entstehung geeigneter Proteine mit höherer Sauerstoffaffinität Rechnung getragen.
Bei den rRNA-Genen gibt es kaum Hinweise auf die Existenz defekter Gene innerhalb der Tandemrepeats eines NOR, die den Pseudogenen in der Hämoglobinfamilie vergleichbar wären. Grund hierfür ist vielleicht die Vielzahl der rRNAGene innerhalb eines solchen Genclusters, die bis heute eine systematische Analyse unmöglich gemacht hat. Es sind aber Fragmente ribosomaler DNA außerhalb der rDNA beobachtet worden, und vielleicht muss man rDNA mit IVS-Insertionen bei Drosophila mit solchen Pseudogenen vergleichen, da sie nicht funktionell sind. Andererseits werden vergleichbare rDNA-Gene mit IVS-Insertionen in anderen Orga-
307
308
Kapitel 8: Molekulare Struktur und Regulation eukaryotischer Gene 0
10
20
ε
30
40
50
ψβ
Gγ Aγ
ε
δ γ ψγ
60
70
80
90
100
β
kb β-Globingengruppe Mensch
β Lemur
εγ3
βh0 βh1 ψβ ψβ
β1d
Abb. 8.15. In allen Organismen mit Globingenen haben sich mehrere, funktionell verschiedene Globingene entwickelt. (Nach Singer u. Berg 1991)
β2d Maus
ε
β βH ε Huhn
ζ
ψα1 ψζ
ψα2 α1 α2 ψϑ
α-Globingengruppe Mensch
α2 α1 Maus π
αD
αA Huhn
L α1a
L αA α1b 1
βA1
L β1a
βL1b
A α11
βA11
L β11a
L β11b
X. laevis (1) L α11a
L α11b
X. laevis (2) α C1 ψ C3
nismen transkribiert und durch Ausschneiden der IVS in Stand gesetzt, funktionelle RNA-Moleküle zu produzieren. Man kann andererseits auch annehmen, dass der Mechanismus, der für die Sequenzidentität ribosomaler RNA-Gene sorgt (s. S. 292), gleichzeitig defekte rDNA-Kopien („Pseudogene“) aus dem Genom entfernt. Auf die für die Entstehung von Pseudogenen verantwortlichen Mechanismen werden wir, ebenso wie auf Vermehrungsmechanismen für chromosomale DNA, an anderer Stelle noch zurückkommen (s. Kap. 12.4.2).
Allgemeine Struktureigenschaften eukaryotischer Gene Die Betrachtung der Hämoglobingenfamilie hat uns eine Reihe von Eigenschaften eukaryotischer Gensysteme vor Augen geführt, die zur Verdeutlichung
Leghämoglobin Sojabohnen
abschließend noch einmal zusammengefasst werden sollen. Die Rückverfolgung eines einzelnen genetischen Merkmals, der Sichelzellanämie, bis auf seinen molekularen Ursprung hat zu der Entdeckung geführt, dass die Ausbildung von Hämoglobin auf einem komplexen Zusammenspiel von Genen beruht. Dieses Gensystem hat sich im Laufe der Evolution durch Verdoppelung vorhandener Gene entwickelt. Die duplizierten Gene haben allmählich durch strukturelle Veränderungen in ihren kodierenden Bereichen unterschiedliche, wenn auch stets noch verwandte, Funktionen übernommen. Die Abfolge ihrer Funktion im Laufe der Ontogenese spiegelt sich in der linearen Anordnung der Gene in der DNA wieder. Die in einer Gruppe liegenden Gene stehen unter einer übergeordneten Kontrolle, der die Regulation der Einzelgene untergeordnet ist. Die Genfeinstruktur selbst zeichnet sich durch zwei für Eukaryoten charakteristische Elemente aus: durch die Untergliederung in Exons und Introns und durch
8.2 Protein-kodierende Gene: I. Multigenfamilien
die Existenz nicht Protein-kodierender Bereiche an den 5′- und 3′-Enden der Transkriptionseinheiten. Die Exon-Intron-Gliederung hat zur Folge, dass besondere Processingmechanismen entwickelt worden sind, die durch besondere Molekülkomplexe – snRNA und Proteine – geregelt werden.Außerdem wird die mRNA nach dem Splicing im Kern am 5′-Ende mit einer methylierten Kappenstruktur versehen, die zur Stabilisierung des mRNAMoleküls beiträgt, und am 3′-Ende wird eine Poly[A]Sequenz angefügt. Deren Addition wird durch eine Signalsequenz im 3′-nichttranslatierten Bereich bewirkt. Die Funktionen sowohl der Cap als auch des Poly[A]-Schwanzes der mRNA sind nicht eindeutig geklärt. Beide dürften aber am Transport der mRNA ins Cytoplasma durch Interaktionen mit Proteinen und an der Stabilisierung des mRNA-Moleküls gegen Degradation beteiligt sein (vgl. Kap. 3.3.5).
8.2.2 Histongene Hinsichtlich ihrer Nukleotidsequenz gehören die Gene für die Histone zu den evolutionär am besten erhaltenen Multigenfamilien. Das ist angesichts der Funktion der Histone als Strukturbestandteile der Nukleosomen nicht überraschend (s. Abb. 7.41). Wir unterscheiden zunächst fünf Klassen von Histonen, die als H1, H2A, H2B, H3 und H4 bezeichnet werden. In Säugetieren wurden in allen Histonklassen (aus-
Tabelle 8.6.
genommen H4) weitere Untertypen identifiziert. Die variantenreichste Klasse ist dabei die der H1-Histone: Hier kennen wir 7 verschiedene Untertypen, die als H1.1 – H1.5, H1o und H1t bezeichnet werden. Auch für die stärker konservierten Klassen der Histone H2A, H2B und H3 sind verschiedene Untertypen beschrieben. Während der Replikation müssen große Mengen von Histonen zur Bildung neuer Nukleosomen bereitgestellt werden. Das erklärt eine Kopplung der Histonsynthese an die Regulation des Zellzyklus. Besonders hoch ist der Bedarf an Histonen in Zellen, die sich schnell teilen; also vor allem während der frühembryonalen Entwicklung. Dies ist sicher ein Grund für die Vielzahl der Histongene im Genom. Trotz der evolutionären Erhaltung der Aminosäuresequenzen zumindest einiger der Histone ist die Anordnung ihrer Gene im Genom jedoch sehr unterschiedlich. Die Mehrzahl der Histongene ist in Gruppen (engl. cluster) organisiert (Tabelle 8.6). Mit Ausnahme von Vögeln und Säugetieren bilden die Wiederholungen von H1 und den 4 Kern-Histongenen H2A, H2B, H3 und H4 oder nur ein Quartett dieser 4 KernHistone dabei tandemartige Muster (Abb. 8.16) und gleichen damit den rRNA-Repeats, in denen ja ebenfalls verschiedene Gene kombiniert sind und sich tandemartig angeordnet wiederholen. Im Unterschied zur rDNA bilden die verschiedenen Histongene innerhalb einer Gruppe jedoch getrennte Transkriptionseinheiten. Zusätzlich zu diesen Hauptclustern
Histongene
Art
Kopienanzahl (n)
Anordnung der Gene
Saccharomyces cerevisiae
2
gegenläufig
Drosophila melanogaster
100
teilweise gegenläufig in Cluster
Drosophila hydei
120
teilweise gegenläufig in Cluster
Strongylocentrotus purpuratus
500
gleiche Orientierung in Cluster
Notophthalmus viridescens
700
teilweise gegenläufig in Cluster
Xenopus
25
teilweise gegenläufig in Cluster
Huhn
10 + 1
teilweise gegenläufig in Cluster
Mensch
10–25
in Cluster
309
310
Kapitel 8: Molekulare Struktur und Regulation eukaryotischer Gene
Abb. 8.16. Die Histongene verschiedener Organismen. Histongene bilden Multigenfamilien und kommen stets in tandemrepetierten Einheiten vor, die alle Histongene enthalten (H1, H2A, H2B, H3 und H4). Sie werden jedoch nicht wie rRNA in gemeinsamen primären Transkripten abgelesen, sondern werden einzeln transkribiert. Dabei kann die Tran-
skriptionsrichtung identisch sein, wie bei Seeigeln, oder entgegengesetzt wie bei Drosophila oder Notophthalmus. Neben diesen Gengruppen und vereinzelten Pseudogenen gibt es außerdem noch einzelne Histongene (wie z. B. einzelne Histone-H3.3-Varianten bei Drosophila und Säuger), die außerhalb der Gencluster liegen. (Nach Darnell et al. 1990)
gibt es auch kleinere Cluster; es wurden auch einzelne Histongene beobachtet. Die Histongene bei Vögeln und Säugetieren kommen ebenso in Gruppen vor, bilden aber keine tandemartigen Wiederholungsmuster. Die Hauptgruppe der menschlichen Histongene liegt auf dem Chromosom 6 (6p21.2). Es enthält die Gene für die 5 wichtigsten H1-Histone (H1.1 – H1.5), das H1t-Gen und in der Nachbarschaft Gene für die Kern-Histone. Eine zweite, kleinere Gruppe befindet sich auf dem Chromosom 1 (1q21) und besteht nur aus Genen, die für Kern-Histone kodieren. Eine entsprechende Organisation wurde auch für die Maus und die Ratte beschrieben. Wie oben bereits angedeutet, ist es notwendig, dass während der S-Phase Histone für die neusynthetisierte DNA in stöchiometrischer Menge bereitgestellt wird. Nun gibt es aber einige Histone, die besonders in Geweben mit geringer Teilungsrate exprimiert werden, z. B. überwiegend in ausdifferenzierten Leber-, Nieren- und Gehirnzellen. Diese Histone können also auch unabhängig von der SPhase gebildet werden und werden als Ersatz-Histone (engl. replacement) bezeichnet; dazu gehören die H1o-, H2A.X-, H2A.Z- und H3.3B-Histone. Diese ErsatzHistone liegen außerhalb der oben erwähnten Grup-
pen; so befindet sich das menschliche H1o-Histongen auf dem Chromosom 22. Alle bekannten S-Phase-abhängigen Histongene besitzen keine Introns und haben vergleichsweise kurze 5’- und 3’-untranslatierte Regionen. Ihr 3’-Ende ist gekennzeichnet durch ein invertiertes Wiederholungs-Element, das möglicherweise zu einer Haarnadelschlaufe der mRNA führt. Diese Struktur ist an der koordinierten Reifung der Histon-mRNA und der Regulation ihrer Lebenszeit während der S-Phase beteiligt. Diese spezifischen Symmetrie-Elemente kommen bei den Ersatz-Histonen nicht vor, die dafür aber verhältnismäßig lange und polyadenylierte 3’-Regionen enthalten. ! Die Struktur der Histongene und das Processing
ihrer Pre-mRNAs unterscheiden sich von den meisten anderen eukaryotischen Protein-kodierenden Genen. Die meisten Histone besitzen weder Introns noch einen Poly[A]-Schwanz.
8.2 Protein-kodierende Gene: I. Multigenfamilien
Regulationsfunktionen von Histonen
Postranslationale Modifikationen
Bei der Regulation der Expression der oocytenspezifischen 5S-rRNA-Gene war die Rolle des Histon H1 als regulatorischer Antagonist des TFIIIA-Transkriptionsfaktors bereits zur Sprache gekommen (s. S 80). Auch andere Beobachtungen, die allerdings noch sehr vereinzelt sind, deuten darauf hin, dass Histone generell noch andere Funktionen als die von Strukturproteinen der Nukleosomen wahrnehmen können. Nicht überraschend ist es daher, dass man beobachtet hat, dass Histon H1 Rekombinasefunktionen ausüben kann. Auch für andere Histone vermutet man spezifische stoffwechselphysiologische Funktionen. So hat man die Histone H2A und H2B als Bestandteile von Thymushormonkomplexen gefunden.
Ein wichtiges Element für die Regulation des funktionellen Zustandes der Histonproteine sind posttranslationale Modifikationen. Besondere Bedeutung haben dabei vor allem Phosphorylierung, Acetylierung und Methylierung, aber auch Ubiquitinierung und ADP-Ribosylierung sind bekannt. Diese Veränderungen spielen sich vor allem an den nach außen abstehenden N-terminalen Bereichen der Histone ab (Abb. 8.17). Besonders intensiv untersucht ist die Acetylierung und Deacetylierung der Histone, die durch spezifische Enzyme katalysiert wird (Histonacetyltransferasen, HATs, und Histon-Deacetylasen, HDACs). Die wichtigsten Stellen der Acetylierung in H3-Histonen sind die Lysin-Reste 9, 14, 18 und 23; in den H4-Histonen sind die Lysin-Reste 5, 8, 12 und 16 bevorzugte Ziele der Acetylasen. Phosphorylierung der H3-Histone erfolgt bevorzugt an Serin-10 und ist
Abb. 8.17. Domänenorganisation und N-Terminus des Histons H3. a Allgemeine Chromatinorganisation. Wie in anderen Histonen ist der N-Terminus des Histons H3 (rot) hochkonserviert und in der Chromatinfaser nach außen gerichtet. Es sind verschiedene posttranslationale Modifikationen bekannt, z. B. Acetylierung (grünes Dreieck), Phosphorylierung (weißer Kreis) und Methylierung (gelbes Sechseck). Weitere Modifikationen können an der globulären Domäne vorkommen. b Schematische Darstellung möglicher Modifikation am N-Terminus des Histons H3. Die Aminosäuresequenz des N-Terminus des menschlichen Histons H3 ist im EinBuchstaben-Code angegeben. Zum Vergleich ist der N-Terminus des menschlichen CENP-A-Proteins gezeigt, einer centromerspezifischen H3-Variante, sowie des Histons H4, des nukleosomalen Partners von H3. Der Abstand zwischen den acetylierbaren Lysin-Resten (rot), potentiellen Phosphorylierungsstellen (blau) und Methylierungsstellen (violett) ist konstant. Der Lysin-Rest an Position 9 des Histons H3 (Stern) kann sowohl acetyliert als auch methyliert werden; der Lysin-Rest 9 im CENP-A-Protein (fett) kann ebenfalls chemisch modifiziert werden. (Nach Strahl u. Allis 2000)
311
312
Kapitel 8: Molekulare Struktur und Regulation eukaryotischer Gene
direkt korreliert mit der Induktion besonders früher Gene wie c-jun, c-fos und c-myc. So ist beispielsweise die gleichzeitige Acetylierung von H4 an Lys16 und die Phosphorylierung von H3 an Ser10 Voraussetzung für die verstärkte Transkription bestimmter Abschnitte des männlichen X-Chromosoms. Methylierung erfolgt in den H3-Histonen bevorzugt an den Lysin-Resten 4, 9 und 27. Allerdings können diese Lysin-Reste einfach, zweifach oder gar dreifach methyliert sein, was eine weitere Komplexitätsebene hinzufügt. Histonspezifische Methyltransferasen (HMTs) sind bekannt und spielen vermutlich eine wichtige Rolle in der Aktivierung der Transkription. Die oben grob wiedergegebenen Befunde zur Modifikation der Histone im Rahmen zellulärer Signalketten führten zur Hypothese eines „Histon-Codes“ durch Strahl und Allis im Jahr 2000. Die vielfältige Modifikation der N-
terminalen Überhänge der Histone führt zu unterschiedlichen Veränderungen der elektrostatischen Bedingungen, unter denen Faltung oder Entfaltung des Chromatins möglich ist. Damit kann die Verwendung verschiedener Modifikationen (und ihrer Kombinationen) als dauerhafter Signalverstärker im Rahmen spezifischer Signalketten bei bestimmten zellulären Prozessen dienen (z. B. Mitose, Aktivierung oder Abschaltung von Genen). Eine Übersicht über diese Möglichkeiten gibt Abb. 8.18. Allerdings ist diese Hypothese nicht unumstritten. Andere Autoren (z. B. Schreiber u. Bernstein 2002) interpretieren die Modifikationen von Histonen als Teil epigenetischer Prozesse, die es erlauben, Informationen durch die Aufrechterhaltung des Modifikationsmusters von Histonen über Zellteilungen hinweg weiterzugeben.
Abb. 8.18. Die Histon-Code-Hypothese. Histone werden an ausgewählten Aminosäureresten modifiziert und es wurde gezeigt, dass manche Muster mit biologischen Prozessen gekoppelt sind (z. B. Acetylierung und Transkription). Immer mehr deutet darauf hin, dass verschiedene Modifikationen am N-Terminus der Histone H3 (rot) oder H4 (schwarz) in ihrer Abfolge oder in Kombinationen bestimmte biologische Abläufe steuern. Dabei können die vielfältigen Modifikationen in Form einer Hierarchie oder in definierten Kombinationen in
bestimmten Regionen der Chromatinfaser wirksam werden. Bekannte Proteine, die mit bestimmten Modifikationen assoziiert sind oder an die entsprechenden Stellen binden, sind angegeben. Zusätzlich wird auch darüber diskutiert, dass die N-terminale Domäne des CENP-A-Proteins (blau) im Zusammenhang mit der Mitose ebenfalls modifiziert wird (z. B. durch Phosphorylierung); der gelbe Bereich in Klammern bezeichnet ein Motiv, in dem sich Serin- und Threonin-Reste mit ProlinResten abwechseln. (Nach Strahl u. Allis 2000)
8.2 Protein-kodierende Gene: I. Multigenfamilien
8.2.3 Tubulingene Tubuline sind als Grundbausteine der Mikrotubuli unverzichtbare Strukturelemente von Zellen. Ihre Aminosäuresequenz ist, zumindest in den funktionell wichtigen Proteinregionen, in verschiedenen Organismengruppen weitgehend unverändert erhalten. Für den Aufbau von Mikrotubuli sind im Wesentlichen zwei Tubulinmoleküle, das α- und das β-Tubulin, erforderlich. Neuerdings wurden weitere Mitglieder der Tubulinfamilie entdeckt, die als γ-, δ-, ε-, ζ- und η-Tubuline bezeichnet werden. Das Minimal-Set der Tubuline sind die α-, βund γ-Tubuline, die in allen eukaryotischen Zellen vorkommen; die übrigen Tubuline haben eine evolutionär beschränkte Verteilung. Mikrotubuli erfüllen sehr unterschiedliche Aufgaben in den Zellen. Im Spindelapparat haben sie zentrale Funktionen bei der Verteilung der Chromosomen in Mitose und Meiose. Als Bestandteile von Flagellen und Cilien sind sie für die Fortbewegung von Zellen entscheidend. Außerdem sind sie am Aufbau des Cytoskeletts wesentlich beteiligt. Gemäß diesen unterschiedlichen Funktionen werden in verschiedenen Zelltypen auch strukturell verschiedene Tubulinarten benötigt; zwei Beispiele sind in Abb. 8.19 dargestellt. Die verschiedenen Tubulingene liegen in vielen Organismen über das Genom verstreut oder in kleinen Gruppen zusammen. Beispielsweise sind in D.
Abb. 8.19 a,b. Elektronenmikroskopische Aufnahmen von Mikrotubuli. a Elektronenmikroskopische Aufnahme eines Schnitts durch eine Säugetiercentriole, die den typischen Kranz von 9 Mikrotubuli-Tripletts zeigt. b Elektronenmikroskopische Aufnahme eines Längsschnitts durch eine Trypanosomen-Zelle, die den Basalkörper einer Flagelle zeigt. Basalkörper an der Basis von Flagellen (und Cilien) sind strukturell den Centriolen ähnlich und zeigen eine neunfache Symmetrie. Ebenso ist in der Nähe des Basalkörpers der Kinetoplast sichtbar, eine Organelle, die das mitochondriale Genom der Trypanosomen enthält, und die mit dem Basalkörper durch eine Serie von Filamenten verbunden ist. Abkürzungen: f: Flagelle, bb: Basalkörper, k: Kinetoplast, m: Mitochondrium. (Nach McKean et al. 2001)
melanogaster alle Tubulingene auf Chromosom 3 zu finden, während sie in D. hydei auf die Chromosomen 2 und 3 verteilt sind. Im Gegensatz zu den Histongenen besitzen die Tubulingene Introns und unterliegen einem Processing. Sie verhalten sich in vieler Hinsicht wie Einzelkopiegene. Die Beteiligung von Mikrotubuli an einer breiten Palette zellulärer Strukturen wurde schon in frühen zellbiologischen Arbeiten erkannt. Dies führte zur der Multi-Tubulin-Hypothese (Fulton u. Simpson 1976), die die Verschiedenheit der Tubuline berücksichtigte und vorschlug, dass verschiedene Mikrotubuli-Strukturen innerhalb einer Zelle aus verschiedenen Tubulinen aufgebaut sind. Es ist heute offensichtlich, dass die meisten eukaryotischen Organismen mehrere Gene haben, die für die verschiedenen Isoformen der α- und β-Tubuline kodieren. So enthalten die Basalkörperchen von Drosophila das β1-Tubulin, während in den Axonemen der Spermien-Flagellen nur das β2-Tubulin genutzt wird. Diese Verschiedenheit wird durch ein kaleidoskopartiges Muster posttranslationaler Modifikationen weiter verstärkt. Neben den üblichen Modifikationen wie Acetylierung, Palmitoylierung, Phosphorylierung und Polyglutamylierung erscheinen Detyrosinierung und Polyglycylierung als Tubulin-spezifische Modifikationen. Als Multigenfamilie haben die Tubulingene einen gemeinsamen evolutionären Ursprung. Sie haben sich durch Genduplikation und anschließende Divergenz ihrer Nukleotidsequenzen entwickelt, wie wir es in
313
314
Kapitel 8: Molekulare Struktur und Regulation eukaryotischer Gene
ähnlicher Weise bereits bei den Globingenen beobachten konnten. Im Unterschied zu diesen ist jedoch keine regulative Rückkopplung und stufenweise Aktivierung oder Inaktivierung der Transkription während der Ontogenese erforderlich. Bei den Globingenen hat die besondere stoffwechselphysiologische Situation mit der Notwendigkeit koordinierter Aktivierung und Inaktivierung der verschiedenen Globinketten wahrscheinlich auch einen Selektionsdruck zugunsten einer Erhaltung als Gengruppe ausgeübt. ! Die Tubulin-Multigenfamilie unterscheidet sich
von den anderen bisher besprochenen Multigenfamilien durch die weite Verteilung der Gene auf unterschiedliche Positionen im Genom. Trotz ihrer strukturellen und funktionellen Verschiedenheit haben die einzelnen Tubulingene einen gemeinsamen evolutionären Ursprung. Auch sie sind durch Genduplikationen entstanden.
8.3 Protein-kodierende Gene: II. Einzelkopiegene Neben einer Vielfalt von Multigenfamilien besitzt das eukaryotische Genom ohne Zweifel auch viele Einzelkopiegene. Allerdings gilt auch hier, dass die Situation in verschiedenen Organismen durchaus sehr unterschiedlich sein kann. Zum Beispiel gibt es bei der Hefe Saccharomyces cerevisiae nur ein einziges Gen für Aktin, während in allen übrigen bisher untersuchten Eukaryoten mehrere Aktingene gefunden wurden. Solche Unterschiede bestehen aber nicht nur zwischen niederen und höhereren Eukaryoten. So besitzt Drosophila zum Beispiel nur ein einziges Gen für die schwere Muskelmyosinkette (engl. muscular heavy chain myosin, MHC), während in Säugern mehrere Gene für MHC vorhanden sind. Es lassen sich also kaum Voraussagen über die genetische Konstitution eines bestimmten Gens in einem bestimmten Organismus treffen, sondern man muss in unterschiedlichen Organismen jeweils andere genetische Konstitutionen erwarten. Als Beispiel für ein Einzelkopiegen soll an dieser Stelle ein Gen näher betrachtet werden, das uns einerseits neue Gesichtspunkte
zur Genstruktur und Genfunktion vor Augen führen wird, zum anderen aber auch die Zusammenwirkung verschiedener bereits zuvor besprochener Mechanismen in eukaryotischen Genomen veranschaulicht. Es handelt sich um das Fibroin-Gen des Seidenspinners Bombyx mori, das unter anderem wegen seiner praktischen Bedeutung für die Seidenherstellung viel Interesse auf sich gezogen hat. Seide gehört zu den fibrillären Proteinen, die in tierischen Zellen in großen Mengen synthetisiert werden. Fibrilläre Proteine kommen im Cytoskelett aller Zellen, in der extrazellulären Matrix und in vielen spezialisierten Zelltypen wie Muskelzellen oder keratinisierenden Zellen (Epithelzellen) vor. Seide gibt es in vielen unterschiedlichen Varietäten und sie übersteigt in ihrer Vielfalt die Variabilität anderer fibrillärer Proteine bei weitem. Das bekannteste Beispiel des Vorkommens von Seide ist der Kokon, den die Seidenspinnerraupe bei ihrer Verpuppung erzeugt. Aus solchen Kokons wird Seide in großem Maßstab gewonnen. Seide wird in ähnlicher Weise von vielen anderen Lepidopteren erzeugt, aber zum Beispiel auch von Spinnen zum Bau ihrer Netze verwendet. Seide ist aufgrund ihrer besonderen Struktur, die einen weiten Bereich verschiedener Proteinkonformationen einschließt, die stabilste Naturfaser. Sie hat daher sowohl theoretisches Interesse im Zusammenhang mit dem Studium von Proteinkettenstrukturen als auch praktische Beachtung wegen ihrer Bedeutung in der Seidenherstellung gefunden. Seidenproduzierende Schmetterlinge gehören zu den wenigen genetisch intensiv untersuchten Insekten. Hauptlieferant für Seide ist seit über 4000 Jahren der Seidenspinner, Bombyx mori. ! Der Hauptbestandteil der Seide ist das Fibroin. Es
wird von einem Einzelkopiegen in bestimmten Zellen der Seidendrüsen des Seidenspinners synthetisiert. Das Fibroin formt zusammen mit anderen Proteinen den Seidenfaden, der seinem Aufbau aus fibrillären Proteinen seine besondere Stabilität verdankt. Ähnliche fibrilläre Proteine sind Bestandteile des Cytoskeletts der Zelle.
Für die Synthese des wichtigsten Bestandteils des Seidenfadens, des Fibroins, ist das Fibroingen verantwortlich. Am Aufbau des Seidenfadens bei B. mori sind noch die Produkte eines weiteren Fibro-
8.3 Protein-kodierende Gene: II. Einzelkopiegene
ingens, des Gens für die leichte Fibroinkette (engl. light chain fibroin gene), sowie die Produkte mindestens zweier Serizin-Gene beteiligt. Die Synthese des Fibroins beginnt am 4. bis 5. Tage des 5. Larvalstadiums der Raupe, und zwar ausschließlich in den großen hexagonalen Zellen der hinteren Seidendrüsen. Die Seidenproteine werden im Lumen dieser Drüsen in Form einer wässrigen Lösung gesammelt. Diese besteht zu 30% aus Protein. Das ist eine Konzentration, die man in vitro gar nicht herstellen kann, da sie unmittelbar zur Gelierung der Lösung führen würde. Während das Fibroin im stark gefalteten hinteren (posterioren) Teil der Drüse synthetisiert wird, entstehen die Serizinbestandteile im mittleren Abschnitt der Drüse. Im vorderen (anterioren) Bereich der Drüse mischen sich beide Bestandteile miteinander und mit den Produkten der zweiten Drüse und werden dann durch einen gemeinsamen ausführenden Gang als Seidenfaden ausgeschieden. Dieser besteht daher aus zwei umeinandergewundenen Fibroinketten, die in eine Lage amorphen Serizins eingebettet sind. Der entstehende Seidenfaden ist nur schwer wieder in Lösung zu bringen. Die besondere Struktur des Fibroins wird durch die mechanische Streckung beim Spinnen erzielt: Die Moleküle des Fibroins orientieren sich hierbei in einer Längsstruktur, die noch genauer beschrieben werden soll. Die Seidendrüsen beanspruchen schließlich bis zu 40% des gesamten Körpergewichtes der Larve. Sie vermögen innerhalb von etwa 4 Tagen einen Seidenfaden von 13 bis 25 µm Durchmesser und von bis zu 4000 m Länge zu produzieren. Mit dessen Hilfe wird der Kokon geformt, aus dem nach weiteren 9 bis 14 Tagen der Seidenspinner schlüpft. Das Fibroin wird von einem einzigen Gen im Genom des Seidenspinners kodiert. Das ist überraschend, wenn man sich die Menge an Genprodukt vor Augen hält, die in einer sehr kurzen Zeit bereitgestellt werden muss. Es werden in 4 Tagen etwa 300 µg Fibroin, das sind etwa 1015 Fibroinmoleküle, in jeder Zelle der Drüse gebildet. Da sich in einer Zelle etwa 1010 Fibroin-mRNA-Moleküle befinden, werden von jedem mRNA-Molekül in vier Tagen etwa 105 Fibroinmoleküle hergestellt. Das würde bedeuten, dass an jedem der beiden Allele in einer diploiden Zelle mehr als 104 Transkripte in jeder Sekunde synthetisiert werden müssten. Eine solche Syntheseleistung ist auch bei höchster Transkriptionsrate nicht erreichbar. Die hohe Syntheserate von Fibroin hat daher
bereits frühzeitig zu der Frage Anlass gegeben, ob eine Amplifikation des Fibroin-Gens in den hinteren Seidendrüsen erfolgt. DNA-Messungen an den Seidendrüsen hatten ergeben, dass jede Zelle der hinteren Seidendrüsen DNA enthält, wie sie einer Ploidie der Zelle von 400 000, jede Zelle in der mittleren Seidendrüse DNA, die einer Ploidie von 200 000 entsprechen würde. Zur Klärung der Frage, ob es hier zur Amplifikation der Fibroingene, ähnlich der der rDNA in Xenopus-Oocyten, oder einfach zur Vervielfachung des Genoms durch Polyploidisierung oder Polytänisierung kommt, wurden von Donald Brown und Yoshiaki Suzuki Hybridisierungsexperimente durchgeführt, die bewiesen, dass der relative Anteil der Fibroin-DNA im Verhältnis zur Gesamt-DNA (0,0022%) in diploiden Zellen und in der hinteren Seidendrüse gleich ist. Damit war eine spezifische Amplifikation des Fibroingens ausgeschlossen. Auch eine Polytänisierung lässt sich ausschließen, da die Drüse keine Polytänchromosomen besitzt. Die Drüsenzellen erzielen also ihre hohe Syntheseleistung für Fibroin durch Polyploidisierung des gesamten Genoms um einen Faktor von etwa 105 bis 106. ! Obwohl Fibroin in den Seidendrüsen der Seidenraupe innerhalb weniger Tage in besonders großen Mengen synthetisiert wird, ist es im Genom nur als Einzelkopiegen vorhanden. Die hohe Syntheseleistung wird durch ein besonders hohes Maß von Polyploidisierung der fibroinsynthetisierenden Zellen ermöglicht.
Das Fibroinpolypeptid hat ein Molekulargewicht von Mr = 350 000 und wird durch eine 16 kb lange mRNA kodiert. Die molekulare Feinstruktur des Polypeptides ist sehr gleichförmig. Es ist sehr glycin-, serin- und alaninreich und baut sich aus identisch wiederholten Untereinheiten auf: Gly – Ala – Gly – Ala – Gly – [Ser – Gly – (Ala – Gly)n]8 – Ser – Gly – Ala – Ala – Gly – Tyr Im Wesentlichen alternieren also in diesem Molekül Ser-Gly- und Ala-Gly-Gruppen miteinander. Im Polypeptid weist das Glycin als Seitenkette in die zur Alanin- oder Serinorientierung entgegengesetzte Richtung. Das hat zur Folge, dass sich im Seidenfaden kristalline b-Faltblattstrukturen (engl. b-sheets oder b-pleated sheets) aus den antiparallel gelagerten,durch Wasserstoffbrücken miteinander verbundene Poly-
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Kapitel 8: Molekulare Struktur und Regulation eukaryotischer Gene
peptideketten ausbilden können. Die Faltblattstrukturen sind für die hohe Stabilität des Seidenfadens verantwortlich (Abb. 8.20). Die gestreckte Anordnung der Fibroinmoleküle im Seidenfaden wird durch die mechanischen Vorgänge während der Entstehung des Seidenfadens beim Verlassen der Spinndrüse hervorgerufen. Eine gewisse Dehnbarkeit des Fadens wird durch im amorphen Endbereich der Moleküle gelegenes Tyrosin erzeugt, vor allem aber auch dadurch, dass die Wasserstoffbrücken eine leichte Kontraktion der im kristallinen Proteinbereich (b-Sheets) gestreckten
Polypeptidketten verursachen.Diese fügen sich zudem unter einer geringfügigen Spiralisierung der Polypeptidketten aneinander. Auch das trägt zur Dehnbarkeit des Seidenfadens bei. Der Aufbau dieses Polypeptids ist in Hinblick auf die Evolution seiner Struktur interessant. Die tandemartige Anordnung der identischen Untereinheiten spricht sehr dafür, dass die heutige Struktur des Gens im Laufe der Evolution durch Duplikationen von Grundsequenzen entstanden ist. DNA-Sequenzduplikationen spielen also nicht nur für die Verviel-
Abb. 8.20 a,b. Grundstrukturen von Polypeptiden. a α-Helix. Diese Struktur wird unter bestimmten Voraussetzungen in der sekundären Struktur der Polypeptidkette ausgebildet und durch Wasserstoffbrücken (blau gepunktet) stabilisiert. Eine Windung der stets rechtsgewundenen Helix enthält 3,6 Aminosäurereste und die Höhe einer Windung beträgt 54 nm. Der Wasserstoff am Stickstoff einer Peptidbindung bildet eine Wasserstoffbrücke (blau gepunktet) zum Sauerstoff der jeweils vierten folgenden Peptid-C=O-Gruppe aus. Diese Struktur ist sehr starr festgelegt und wird häufig über drei Windungen (etwa elf Aminosäuren) oder auch über längere Bereiche (bis zu etwa zwölf Windungen) erhalten. Häufig ist ein hydrophober Aminosäurerest je Windung ins Innere der Helix gerichtet. Das Schema gibt die Struktur nur annähernd wieder. b β-Faltblatt.
β-Faltblattstrukturen können in paralleler oder antiparalleler Anordnung der Polypeptidketten entstehen. Im Bild ist eine parallele Anordnung gezeigt, Abb. 8.21 zeigt eine antiparallele Anordnung. Die Seitenketten aufeinanderfolgender Aminosäuren weisen abwechselnd links und rechts aus der Ebene des Moleküls. Die Abbildung lässt erkennen, dass jeder zweite Aminosäurerest die gleiche Faltungsrichtung einnimmt. Der Abstand zwischen dem 1. und 3. Aminosäurerest (eine Faltung) beträgt etwa 70 nm. Faltblätter werden aus 2 bis 15 Polypeptidketten geformt. Die Länge solcher Regionen beträgt bis zu 15 Aminosäurereste. In der antiparallelen Form (s. Abb. 8.21) ist die Struktur aufgrund der strukturell günstiger orientierten Wasserstoffbrücken stabiler. Aminosäureseitenketten sind mit einem R angegeben. (Nach Voet u. Voet 1992)
8.4 Die Genstruktur cytoplasmatischer Organellen
fachung ganzer Gene eine Rolle, sondern sind auch für die innere Struktur von Genen wichtig. Es gibt auch andere Proteine, die einen gleichartigen Aufbau aus wiederholten gleichen oder sehr ähnlichen Untereinheiten zeigen. Zu diesen Proteinen gehören beispielsweise die Proteine der Augenlinse (Kristalline). Mit der β-Faltblattstruktur (Abb. 8.20) hat uns das Fibroin nach der α-Helix eine zweite, wichtige Grundstruktur von Proteinen vor Augen geführt. Sie ist in vielen fibrillären Proteinen und als Teilstruktur globulärer Proteine zu finden. Die beim Fibroin zu beobachtende Aneinanderlagerung von vier antiparallel orientierten Strängen wird auch in anderen Proteinfasern gefunden (Abb. 8.21). Hierbei kann es generell zur Assoziation von zwei bis fünf Peptidketten kommen.
! Die β-Faltblattstruktur des Fibroins vergegenwär-
tigt die neben der α-Helixstruktur wichtigste Proteingrundkonformation. Beide Strukturen spielen eine große Rolle für die Entwicklung quarternärer Proteinstrukturen.
Die molekulare Struktur des Fibroins lässt noch einen anderen wichtigen Schluss zu. Die Tandemstruktur des Proteins muss sich auch in der DNA-Struktur widerspiegeln. Unterstützt wird das noch dadurch, dass im Fibroingen die verschiedenen Codons für Alanin, Serin und Glycin nur selektiv gebraucht werden. Für Glycin wird im Wesentlichen GGU und GGA verwendet, für Serin UCA und für Alanin GCU. Wir begegnen hier einem Beispiel für selektiven Codongebrauch (engl. codon usage), der darauf hinweist, dass auch die dritte Basenposition eines Codons einem selektiven Evolutionsdruck unterliegen muss. ! Das Gen für Fibroin ist ein Beispiel für den selektiven Gebrauch von Codons (codon usage), der bei vielen Eukaryoten als gruppenspezifisches Charakteristikum zu beobachten ist.
8.4 Die Genstruktur cytoplasmatischer Organellen
Abb. 8.21. Aufbau eines Seidenmoleküls. Der Seidenfaden besteht aus vier antiparallel (horizontale Pfeile) orientierten Fibroinmolekülen (rot). Diese antiparallel angeordneten Polypeptidketten vermögen β-Faltblattstrukturen (s. Abb. 8.20) auszubilden, in denen die unterschiedlichen Aminosäuren mit ihren verschiedenen Seitenketten die in der Abbildung gezeigte Orientierung einnehmen. Die Glycinseitenketten (kleine rote Kreise) je zweier Fibroinmoleküle einerseits und die Alanin- und Serinseitenketten (große grüne Kreise) andererseits sind zueinander orientiert. Dieser Strukturaufbau zeigt die Bedeutung des Aufbaus des Polypeptids mit jeweils einem Glycin in jeder zweiten Position der Ketten. Die unterschiedlichen Seitenketten der Aminosäuren (Glycin einerseits, Alanin und Serin andererseits) bedingen zugleich unterschiedliche Abstände der Moleküle (rechts angegeben). (Nach Marsh et al. 1955)
Eine der ersten bekannten mitochondrialen Mutationen war die Mutante poky von Neurospora crassa (auch mi-1 genannt), die von Mary und Herschel Mitchell isoliert und als cytoplasmatische Mutation beschrieben wurde (Haskins et al. 1953). Diese Mutante, die durch ihr schlechtes Wachstum gekennzeichnet ist, verursacht einen Processingfehler, der zur Folge hat, dass ungenügende Mengen an (mitochondrialer) 19S-rRNA bereitgestellt werden. Das wiederum führt zu einem Mangel an kleinen mitochondrialen Ribosomenuntereinheiten. Hierdurch wird die mitochondriale Proteinsynthese gestört, so dass es zu einem langsamen Wachstum der Zellen kommt.
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Kapitel 8: Molekulare Struktur und Regulation eukaryotischer Gene
Besonders ausführliche genetische Untersuchungen wurden den mitochondrialen Cytochromgenen von Saccharomyces cerevisiae gewidmet, die zu den bestuntersuchten mitochondrialen Proteinen gehören. Die Cytochrome sind nicht nur in den Mitochondrien lokalisiert, sondern werden auch im mitochondrialen Genom kodiert. Sie spielen eine wichtige Rolle im Stoffwechsel der Atmung. Ihre Aufgabe ist es, an der Elektronenübertragung in der Atmungskette mitzuwirken. Die genetische Struktur des Cytochrom-b-Gens (Abb. 8.22) gab zunächst Rätsel für ihr Verständnis auf. Der Gen-
bereich lässt sich in mehrere scheinbar getrennte genetische Untereinheiten gliedern, die sogenannten Boxen. Man kann genetisch 15 solcher Bereiche, als Box 1 bis Box 15 bezeichnet, unterscheiden. Die Nummerierung der einzelnen Boxen wurde durch die Folge ihrer Entdeckung bestimmt. Einige dieser Boxen (Box 3, 10 und 7) zeichnen sich dadurch aus, dass Mutationen in ihnen in trans wirksam sind, also eigentlich eine eigenständige Genfunktion anzeigen (s. S. 128), während die übrigen Boxen bei Mutationen nur cis-Effekte zeigen. Die Tatsache, dass die meisten Mutationen in den Boxen 1 bis 15 sich unter-
Abb. 8.22 a,b. Schematische Darstellung des Cytochrom-bGen von Saccharomyces cerevisiae. Die Introns und Exons sowie die verschiedenen genetisch definierten Boxen sind angegeben. a Das primäre Transkript liefert zunächst eine mRNA für die Maturase, die ihrerseits ein Splicing des 2. Introns bewirkt, so dass nunmehr eine vollständige Cytochrom-b-mRNA gebildet wird (b). Sinkt der Maturase-Spiegel ab, so kann das Splicing des Introns 2 nicht mehr bei allen pri-
mären Transkripten erfolgen, so dass nunmehr wieder Maturase-mRNA vorhanden ist. Es besteht also ein Rückkopplungsmechanismus, der den Titer an Cytochrom-b-mRNA und Maturase regelt. Im Exon und Intron 4 wird ebenfalls eine Maturase kodiert, die für das Splicing im oxi-III-Gen wichtig ist. Somit ist der Stoffwechsel der Cytochrom-b-Synthese mit dem der Oxigenase-III-Synthese gekoppelt
8.4 Die Genstruktur cytoplasmatischer Organellen
einander nicht komplementieren lassen und dass keine Mutation innerhalb einer Box andere Mutationen in der gleichen Box komplementiert, weisen sie dennoch nach unseren bisher aufgestellten Kriterien (cis-trans-Test, s. S. 128) als zu einem einzigen Gen gehörig aus. Das stimmt mit dem Befund überein, dass in diesem gesamten Bereich des Genoms das Cytochrom b kodiert wird. Ein Verständnis des merkwürdigen Komplementationsverhaltens ließ sich jedoch erst durch die Aufklärung der molekularen Feinstruktur gewinnen (Abb. 8.22). Es zeigte sich, dass die verschiedenen Boxen jeweils ein Exon oder ein Intron repräsentieren. Einige der Boxen, nämlich die bereits genannten Boxen 3, 10 und 7 (entsprechend Introns 2, 3 und 4), haben allerdings eigenständige Funktionen, indem sie trans-wirksame Kontrollfunktionen ausüben, die im Folgenden erläutert werden sollen. Nach der Synthese des primären Transkripts wird zunächst Intron 1 durch autokatalytisches Splicing (Abb. 8.22) entfernt. Das zweite Intron (Box 3), das auf ein nur 15 bp langes Exon 2 folgt, besitzt ein offenes Leseraster, das kontinuierlich von Exon 2 über die Introngrenze durchläuft und daher die Synthese eines Proteins gestattet, dessen Synthese erst an einem Stoppcodon nach 840 bp im Intron 2 beendet wird. Dieses Protein ist erforderlich, um das zweite Intron aus dem primären Transkript zu entfernen und wird daher RNA-Maturase genannt. Erst durch diesen ersten Splicingschritt wird das vollständige Splicing des primären Transkriptes zur Cytochromb-mRNA möglich. Dieses Gen ist somit durch einen interessanten Rückkopplungsmechanismus zur Regulation der Cytochrom-b-Produktion gekennzeichnet: Durch das maturasekontrollierte Splicing zum Cytochrommessenger wird die Produktion neuer Maturase unterbunden. Sinkt deren Konzentration zu weit ab, kann das durch sie kontrollierte Splicing nicht mehr in ausreichendem Maße erfolgen, so dass dadurch wiederum Transkripte zur Verfügung stehen, die das Intron 2 enthalten, und mithin die Neusynthese von Maturase ermöglicht wird. Im Prinzip enthält die Cytochrom-b-Region also die Information für zumindest zwei Proteinmoleküle unterschiedlicher Funktion, deren jeweilige Synthese die des anderen Proteins ausschließt. Die Beobachtung, dass auch das Intron 4 (Box 7) sowohl zum Splicing des primären Cytochrom-b-Transkriptes (Entfernen von Intron 4) als auch zum Splicing des primären Transkriptes eines anderen Genes, der
Cytochromoxidase III,erforderlich ist,zeigt eine noch höhere Komplexität der Struktur und Regulation dieses Genbereiches an. ! Das Cytochrom-b-Gen der Bäckerhefe S. cerevisiae weist eine komplexe genetische Struktur auf. Mehrere seiner Introns kodieren für Maturasemoleküle, die für das Splicing des primären Transkripts zur funktionellen Cytochrom-b-Messenger-RNA erforderlich sind. Da ihre Aminosäuresequenz sich in der DNA teilweise mit der des Cytochrom b überlappt, entsteht ein komplexer Rückkopplungsregulationsmechanismus für die Cytochrom-b-Synthese.
Mutationen in Intronbereichen (Box 14) können darüber hinaus das Splicing des Introns 4 verhindern, wenn sie in Grenzbereichen zwischen dem Introns und den Exons 4 und 5 liegen. Die DNA-Abschnitte im Übergangsbereich zwischen Introns und Exons sind daher offenbar für den Splicingmechanismus bedeutsam. Solche Mutationen gestatten es daher, die strukturellen Voraussetzungen für Splicingprozesse zu ermitteln. Von der genetischen Seite interessiert uns, dass der Cytochrom-b-Bereich des mitochondrialen Hefegenoms drei verschiedene Arten von Mutationen zu unterscheiden lässt: • ausschließlich cis-wirksame Mutationen in den Exons, • ausschließlich cis-wirksame Mutationen in den Introns (Splicingmutationen), und • trans-wirksame Mutationen in den Introns (Maturasemutationen). Obwohl nach den Kriterien des Cis-transTests (s. S. 128) solche trans-wirksamen Mutationen eigenen Cistrons, also „Genen“, zuzuordnen wären, liegen sie hier innerhalb eines komplexen genetischen Systems. Diese Situation veranschaulicht uns erneut die Problematik, die mit Versuchen verbunden sind, eine einheitliche Definition für den Begriff Gen zu geben (s. S. 8). Im vorliegenden Falle ist es durchaus sinnvoll, von mehreren sich überlappenden Genen zu besprechen, wenn man den Genbegriff anwenden möchte. Zu einem solchen Vorgehen passt auch die Beobachtung, dass in menschlicher mitochondrialer DNA das Gen für Cytochrom b keine Introns enthält, dieses also tatsächlich ein
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Kapitel 8: Molekulare Struktur und Regulation eukaryotischer Gene
einziges Gen darstellt. Zudem gibt es auch Hefestämme, denen die ersten drei Introns im Cytochrom b fehlen.
ten beteiligt sind. Wir konzentrieren uns dabei auf diejenigen Gene, die für Proteine kodieren und durch die RNA-Polymerase II transkribiert werden (andere wurden bereits früher besprochen, vgl. Kap. 3.3.3).
! Mutationen in Intronbereichen des Cytochrom-
b-Gens der Bäckerhefe beeinflussen die Funktion dieses Gens. Sie gestatten es, Introneigenschaften in Zusammenhang mit Splicingmechanismen zu untersuchen.
Die Beschreibung der genetischen Struktur des Cytochrom-b-Gens zeigt weiterhin, dass es sich hierbei um ein typisches eukaryotisches Gen handelt, obwohl wir zuvor gelernt haben, dass sich die Genome der cytoplasmatischen Organellen, also auch das der Mitochondrien, höchstwahrscheinlich von prokaryotischen Symbionten ableiten (s. S. 170). Wir haben aber auch gesehen, dass es zwischen nukleärem Genom und dem Genom cytoplasmatischer Organellen zum Genaustausch kommen kann, so dass es nicht überrascht, in mitochondrialer DNA Gene mit der charakteristischen Struktur eukaryotischer Gene wiederzufinden.
8.5 Regulation und Initiation eukaryotischer Genexpression Wir haben in den vorangehenden Abschnitten einiges über die Anordnung eukaryotischer Gene in Chromsomen gelernt. Wir haben gesehen, dass Gene entweder isoliert in ihrem genomischen Kontext vorliegen können oder als Genfamilien in Clustern – jedes Mal haben wir aber die Frage nach der Regulation ihrer „richtigen“ Expression ausgelassen. Dabei bedeutet „richtig“: Zu den richtigen Zeiten an den richtigen Orten – denn oft wird ein Gen und sein Produkt nicht nur einmal, sondern zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Organen bzw. Geweben benötigt. Dabei müssen wir auch noch beachten, dass das eukaryotische Genom nicht nur ein paar wenige, sondern 30.00 bis 40.000 Gene enthält, die in einem fein abgestimmten Netzwerk wirksam werden sollen. Man kann schon allein aufgrund dieser Vorstellung erahnen, dass verschiedene Ebenen der Transkriptionskontrolle notwendig sind. Wir wollen im folgenden Abschnitt also betrachten, welche strukturellen Elemente an der Regulation von Genen in Eukaryo-
8.5.1 Der Promotor Der Bereich, der dafür verantwortlich ist, dass die Transkription eines Gens durch die RNA-Polymerase II-Maschinerie initiiert wird, wird als Promotor bezeichnet (siehe dazu auch Kapitel 3.3). Wir können dabei den Kernbereich des Promotors und den proximalen Promotor unterscheiden. Der Kern-Promotor (engl. core promoter) ist der kleinste notwendige Abschnitt, um die Transkriptionsmaschinerie zu starten. Typischerweise umfasst der Kern-Promotor den Transkriptionsstartpunkt sowie etwa 35 Nukleotide (nt) oberhalb und unterhalb (es ist dabei üblich, den Transkriptionsstartpunkt mit „+1“ zu bezeichnen; die Nukleotide oberhalb werden mit einem „-“ versehen). Innerhalb dieses Kernbereiches können wir oft verschiedene Sequenzmotive erkennen: die TATA-Box, den Initiatior (Inr), das Erkennungselement für den Transkriptionsfaktor TFIIB (engl. transcription factor IIB recognition element, BRE) und Elemente unterhalb des Promotors (engl. downstream promoter element, DPE). Abb. 8.23 gibt dazu einen Überblick. Unter den Elementen des Kern-Promotors ist die TATA-Box am längsten bekannt (Goldberg 1979, Breathnach u. Chambon 1981). Ihren Namen verdankt sie der Consensussequenz TATAAA; allerdings gibt es eine Reihe von Sequenzvariationen. In Metazoen ist die TATA-Box üblicherweise 25 bis 30 Nukleotide oberhalb des Transkriptionsstartpunktes lokalisiert. In Hefen variiert ihre Lage stärker; hier ist sie im Bereich von -40 bis -100 nt zu finden. Systematische Untersuchungen an Promotoren menschlicher Gene oder von Genen bei Drosophila zeigen, dass nur etwa 32% bzw. 43% der jeweils untersuchten Promotoren eine TATA-Box enthalten. Überwiegend bindet an die TATA-Box das „TATA-Box-Bindungsprotein“ (TBP). Allerdings muss man beachten, dass es auch verwandte (engl. related) Faktoren (TBPr) gibt, die diese Bindungsstelle ebenfalls benutzen können. Es wird allgemein angenommen, dass das TBP über seine Wechselwirkungen mit der RNA-Polymerase II diese an die richtige Startposition dirigiert. TBP ist ein universeller Transkriptionsfaktor, der von allen drei eukaryotischen RNA-Polymerasen benötigt wird. Kristallogra-
8.5 Regulation und Initiation eukaryotischer Genexpression
phische Studien haben gezeigt, dass TBP sattelartig auf der TATA-Box sitzt und die DNA in einem Winkel von 80o in Richtung auf die große Furche biegt. So entsteht eine Konformation der DNA, die eine Bindung von TFIIB zu beiden Seiten der TATA-Box gestattet. Bei genauer Analyse verschiedener Promotoren fällt auf, dass Gene mehrere TATA-Boxen besitzen können. Dabei gehorcht die eine der kanonischen Consensussequenz (TATAAA), die andere weicht davon ab. So wird beispielsweise der Promotor des HitzeschockProteins Hsp70 über die kanonische Bindestelle TATAAA aktiviert; diese Form wird durch einen Hitzeschock und den Transkriptionsfaktor E1A stimuliert. Wird nun diese kanonische TATA-Box durch die TATABox des SV40-Virus ersetzt, so geht die Stimulierung durch E1A verloren, aber die Aktivierungsmöglichkeit über den Hitzeschock bleibt erhalten. Der Initiator beinhaltet den Transkriptionsstartpunkt und wurde in vielen Eukaryoten identifiziert; Abb. 8.23 zeigt, dass allerdings seine Consensussequenz in verschiedenen Gattungen unterschiedlich sein kann. Der Transkriptionsstart erfolgt üblicherweise an dem Adeninrest innerhalb dieser Consensussequenz; dieses Nukleotid wird mit +1 gezählt (A+1). Der uns schon bekannte Faktor TFIIB bindet auch an den Initiator, die Spezifität wird über seine Untereinheiten TAFII150 bzw. TAFII250 vermittelt (engl. TBP-associated factor, TAF). Allerdings kann gereinigte RNA-Polymerase auch bei Abwesenheit eines Initiator-Signals und von TAFs die Initiation starten. Weitere spezifische Interaktionspartner mit
dem Initiator sind TFII-I (ein basisches Helix-LoopHelix-Protein) und YY1 (ein Zinkfinger-Protein). Das DPE-Element wurde zunächst in Drosophila identifiziert, da es den Transkriptionsfaktor TFIID (und außerdem TAFII40 und TAFII60) bindet; später wurde es auch in Menschen und anderen Spezies charakterisiert. Das DPE-Element kommt häufig in Promotoren vor, die über keine TATA-Box verfügen. Das DPE ist 28 bis 32 Nukleotide unterhalb des Transkriptionsstarts lokalisiert. Diese Positionsgenauigkeit ist für die Funktion essentiell, da TFIID nicht nur an das DPE-Element, sondern zugleich auch an den Initiatior bindet. Auch wenn die Consensussequenz etwas degeneriert erscheint, führen Mutationen an entscheidenden Stellen zu einer Verminderung der Transkriptionsaktivität um das 10 bis 50-fache.Ausnahmen von dieser strengen Positionsregel gibt es im β-Globin-Promotor, dessen downstream-Element (hier DCE bezeichnet; engl. downstream core element) im Bereich von +10 bis +45 lokalisiert ist. Die Funktionen der TATA-Box und des DPE-Elementes erscheinen nach dem bisherigen Kenntnisstand antagonistisch: Durch biochemische Methoden wurde ein Protein charakterisiert (NC2/ DR1-Drap1), das die TATA-abhängige Transkription hemmt. Mutationen, die zu Veränderungen dieses Proteins führen, beeinflussen diese Repressor-Wirkung deutlich. Allerdings wird die stimulierende Wirkung auf das DPE-Element dadurch nicht aufgehoben. Das BRE-Element liegt in der Regel unmittelbar oberhalb der TATA-Box; auf sein 3’-C folgt unmittelbar das 5’-T der TATA-Box. Das BRE-Element dient
Abb. 8.23. Elemente des Promotor-Kernbereichs. In der Abbildung sind einige Elemente dargestellt, die an der Transkription durch RNA-Polymerase II beteiligt sind. Jedes dieser Elemente wird nur in bestimmten Promotoren gefunden, so dass jeder Promotor in spezifischer Weise nur einige, alle oder auch keines dieser Motive enthalten kann. Das BRE ist eine 5’-Verlängerung einiger TATA-Boxen. Das DPE benötigt ein
Initiator-Element und befindet sich genau an der Position +28 bis +32 (gerechnet in Bezug auf den Transkriptionsstart, der als +1 gezählt wird). Die DPE-Consensussequenz wurde mit Promotoren und Transkriptionsfaktoren von Drosophila entwickelt; die Inr-Consensussequenz ist für Drosophila (Dm) und Menschen (Hs) angegeben. (Nach Butler u. Kadonaga 2002)
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Kapitel 8: Molekulare Struktur und Regulation eukaryotischer Gene
der spezifischen Bindung von TFIIB. Allerdings erscheinen die bisherigen funktionellen Untersuchungen etwas widersprüchlich, da die Daten, die an unterschiedlichen Systemen generiert wurden, sowohl eine positive als auch eine negative Wirkung auf die Aktivität des Kern-Promotors zeigen. Der proximale Promotor befindet sich direkt oberhalb des Kernbereichs und umfasst etwa die Region von –50 bis –200 in Bezug auf den Transkriptionsstartpunkt. In diesem Abschnitt sind typischerweise viele Erkennungsstellen für eine Gruppe sequenzspezifischer DNA-bindender Transkriptionsfaktoren. Dazu gehören SP1, CTF (CCAAT-bindender Transkriptionsfaktor, der auch als nuclear factor I [NF1] bezeichnet wird) oder CBF (CCAAT-Box-bindender Transkriptionsfaktor, der auch als nuclear factor Y [NF-Y] bezeichnet wird). Der proximale Promotor enthält oft als charakteristisches Element die CAAT-Box, die etwa 80 Nukleotide oberhalb des Initiationscodons liegt (Abb. 8.23). Oft ist außerdem eine GC-reiche Region (GCBox, Consensussequenz: GGGCGG, Abb. 8.23) etwa 60 bis 100 Nukleotide vor dem Initiationscodon zu finden. Im Gegensatz dazu sind CpG-Inseln lange GCreiche DNA-Abschnitte (500 bp bis 2 kb), die Wiederholungen von CG-Dinukleotiden enthalten. Die CpG-Inseln vor aktiven Genen sind in der Regel nicht methyliert; ihre Methylierung führt zur Abschaltung der entsprechenden nachfolgenden Gene. Promotoren, die CpG-Inseln enthalten, besitzen typischerweise keine TATA-Box oder DPE-Elemente, aber dafür eine Vielzahl von GC-Box-Motiven, an die SP1Transkriptionsfaktoren binden. Im Unterschied zur TATA-Box-gesteuerten Transkription startet die über CpG-Inseln gesteuerte Transkription an mehreren schwachen Startstellen, die oft über 100 bp verteilt sind. In diesem Fall erfolgt die Steuerung über die Kombination von SP1 mit Initiator-Elementen. Es ist allerdings nicht notwendig, dass ein Promotor alle diese Elemente zugleich enthält; es ist insbesondere ein weitverbreitetes Missverständnis, dass alle Promotoren eine TATA-Box enthalten müssen.Die verschiedenen genannten Elemente treten in unterschiedlichen Kombinationen oder in Kombination mit weiteren Sequenzelementen oberhalb auf. Es handelt sich also um eine modulare Organisation der Regulationsregion, die erhebliche Freiheiten in der Art ihres Aufbaus besitzt. Interessanterweise ist die Orientierung der CAAT-Box und der GC-Box nicht festgelegt, wohl aber die der TATA-Box. Durch die
TATA-Box wird aber die Richtung der Transkription festgelegt, so dass ihre Orientierung entscheidend für die Transkription ist. Die Aktivitäten des Kern-Promotors werden durch zahlreiche weitere Elemente ergänzt, darunter Enhancer, Silencer oder Insulatoren. ! Die Transkription Protein-kodierender Gene er-
folgt durch die RNA-Polymerase II und wird durch eine Vielzahl von Elementen im Promotorbereich reguliert. Im Kern-Promotor (-35/+35) gibt es oft eine TATA-Box, einen Initiator, BRE- und DPE-Elemente. Der proximale Promotor (–50 bis –200) kann die CAAT-Box und GCBoxen enthalten.
8.5.2 Transkriptionsfaktoren Die Bindung der Transkriptionsfaktoren und der RNAPolymerase II an die DNA erfolgt in einer genau festgelegten Reihenfolge (Abb. 8.24). Eine der Aufgaben der Transkriptionsfaktoren dürfte es sein, für eine genaue Positionierung der RNA-Polymerase in Bezug auf das Initiationscodon zu sorgen, um dadurch einen auf das Nukleotid genauen Beginn der RNA-Synthese zu garantieren. Fehlerhafte Initiation würde ja zu Leserasterverschiebungen oder zum Verlust von bzw. zur Anfügung zusätzlicher Aminosäuren führen. Der gesamte Initiationskomplex bedeckt etwa 110 Nukleotide und erstreckt sich ungefähr über den Nukleotidbereich –80 bis +30, wobei Nukleotid +1 definitionsgemäß das erste Nukleotid des Initiationscodons ist. ! Protein-kodierende Gene werden von der RNA-
Polymerase II transkribiert. Sie bedarf zur Bindung an die DNA zusätzlicher Transkriptionsfaktoren. Die Transkriptionsfaktoren vermitteln die sequenzgenaue Bindung an den Promotor, der meist aus einer TATA-Box etwa 25 Nukleotide vor dem Startcodon besteht. Es sind jedoch weitere upstream-Sequenzelemente wie die CAAT- Box oder die GC-Box erforderlich, um die richtige Initiation der RNA-Synthese zu ermöglichen.
Die RNA-Polymerase selbst hat verschiedene komplexe Funktionen zu erfüllen, die in unterschiedlichen Molekülbereichen des Enzyms ablaufen. Zunächst einmal muss sie für eine Öffnung der DNA-Doppelhelix
8.5 Regulation und Initiation eukaryotischer Genexpression
sorgen und den nichttranskribierten DNA-Strang festhalten. Mit Hilfe des transkribierten Stranges muss sie nach der Initiation der RNA-Synthese neue Nukleotide an das 3′-Ende des wachsenden RNA-Moleküls durch die Bildung neuer Phosphodiesterbindungen anfügen. Die bei der Transkription entstehende DNA-RNAHybridregion ist nur kurz und umfasst nicht mehr als 12 bis 14 Nukleotide. Schließlich müssen neusynthetisierte RNA-Bereiche von der DNA abgelöst werden, und die DNA muss wieder zur Doppelhelix zusammengefügt werden. ! Die RNA-Polymerase II besitzt verschiedene funktionelle Domänen, die bei der Initiation unterschiedliche Aufgaben wie die Öffnung der Doppelhelix, Entfernung des nichttranskribierten Stranges, Anfügen von Nukleotiden u.a. übernehmen.
Abb. 8.24. Initiation der Transkription durch RNA-Polymerase II in Eukaryoten. Im Bereich der TATA-Box bindet zunächst der Transkriptionsfaktor TFIID, der sich aus dem TATA-binding Protein (TBP) und mehreren TATA-associated factors (TAFs) zusammensetzt. Diesem Komplex lagern sich die Transkriptionsfaktoren TFIIA und TFIIB an. TFIIB dient wahrscheinlich der genauen Positionierung der RNA-Polymerase II. Der TFIIFFaktor ist zur Bindung der Polymerase erforderlich, bleibt aber auch während der Transkription mit ihr verbunden. Von den Transkriptionsfaktoren TFIIE und TFIIH vereint der Faktor TFIIH mehrere Enzymfunktionen, die zur Initiation der Transkription erforderlich sind. Eine Untereinheit des TFIIH dient zur Öffnung der DNA-Doppelhelix im Promotor, um der Polymerase den Template-Strang zugänglich zu machen. Eine andere Untereinheit, eine Protein-Kinase, sorgt für die Phosphorylierung (P) der C-terminalen Domäne (CTD) der RNA-Polymerase II. Die Phosphorylierung ist wahrscheinlich zur Ablösung der Polymerase von der TATA-Box erforderlich, d.h. zur Initiation der Transkription. Während der Transkription sind insgesamt etwa 50 Proteine mit der RNA-Polymerase II assoziiert. Dieser Proteinkomplex hat ein Molekulargewicht von über 3 Millionen. Bei der Bindung an die TATA-Box bedeckt der Initiationskomplex etwa 110 Nukleotidpaare der DNA und reicht etwa 30 Nukleotidpaare in den transkribierten DNA-Bereich hinein. (Kombiniert nach verschiedenen Autoren)
Die bisher dargestellte Folge von Ereignissen gilt für alle RNA-Polymerase-II-transkribierten eukaryotischen Gene. Es stellt sich natürlich die Frage, wie es nun zu einer differentiellen Regulation unterschiedlicher Gene kommt. Einige eukaryotische Gene stehen unter der Kontrolle von Steroidhormonen, die nach Bindung an Rezeptorproteinmoleküle an die DNA binden und dadurch die Transkription spezifischer Gene anschalten können. Der Schlüssel zur differentiellen Genregulation in Eukaryoten liegt also im Vorhandensein zusätzlicher Transkriptionsfaktoren, die imstande sind, die Spezifität der Genaktivierung zu steuern. An dieser Stelle wollen wir uns ein besonders gut untersuchtes Beispiel näher betrachten, das der Regulation von Genen durch Steroidhormone (Abb. 8.25). Das Prinzip des molekularen Mechanismus der Regulation der RNA-Synthese durch Steroidhormone kann folgendermaßen zusammengefasst werden. Die Hormone werden nach Passieren der Zellmembran durch intrazelluläre Rezeptormoleküle gebunden, die hierdurch einer Konformationsänderung unterliegen und sofort in den Zellkern transportiert werden. Der Steroidhormonkomplex ist ein Oligomer, das sequenzspezifisch an ein DNA-Element bindet,das z. B.im Falle des am besten bekannten Hormonbindungsmechanismus, dem des Glucocorticoidrezeptors, als Glucocorticoid-Response-Element (GRE) bezeichnet wird. Solche GREs findet man im Regulationsbereich aller Gene, die durch Glucocorti-
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Kapitel 8: Molekulare Struktur und Regulation eukaryotischer Gene
coide reguliert werden. Nach Bindung des Steroidhormonkomplexes an diese GREs erfolgt die Initiation der Transkription im Promotor. Vergleichbare DNASequenzelemente, die man allgemein auch als Enhancer-Elemente bezeichnet, hat man auch für andere
Steroidhormone, z. B. für Östrogen und für Ecdyson, identifizieren können, aber auch für andere Regulationsproteine (s. S. 326). Man kann deshalb davon ausgehen, dass diese Art der Regulation der Transkription einen sehr fundamentalen eukaryotischen Genregulationsmechanismus darstellt. ! Steroidhormone sind Regulatoren der Transkrip-
tion durch sequenzspezifische Bindung an die DNA mit Hilfe von spezifischen Rezeptorproteinen.
Abb. 8.25. Chromatinorganisation und Transkription. Im oberen Teil der Abbildung ist schematisch die Regulationsregion eines Gens mit Promotorregion (mit der TATA-Box und einem weiteren Regulationselement, beide grün) und einem weiter upstream gelegenen Enhancerelement dargestellt. Es handelt sich um eine vereinfachte Darstellung der Glucocorticoidbindungsregion, die die Bindungsstelle für den Glukocorticoidrezeptor (GR) (dunkelblau) und eine Bindungsstelle für den nuclear factor 1 (NF1) (hellblau) enthält. Die Verpackung im Chromatin ist darunter (Mitte) mit den Nukleotidpositionen relativ zum Transkriptionsstart (+1) (Pfeil) dargestellt. Zur Initiation der Transkription ist die Entfernung eines Nukleosoms und eine genaue Positionierung des zweiten Nukleosoms erforderlich. Hierdurch werden die erforderlichen Interaktionen zwischen Enhancer und Promotor mit den Transkriptionsfaktoren (rotes Dreieck: Komplex aus mehreren Regulationsproteinen) ermöglicht (ganz unten). Die Pfeile geben jeweils den Startpunkt und die Richtung der Transkription an. (Nach Wolffe 1994)
Transkriptionsfaktoren gehören zu verschiedenen Gruppen von Proteinen, die jeweils durch ähnliche Strukturbereiche gekennzeichnet sind. Insbesondere gehören hierzu die Helix-Turn-Helix-Proteine, die Zinkfinger-Proteine, die Homöodomänen-Proteine, die Leucin-Zipper-Proteine sowie die Helix-LoopHelix-Proteine. Einige dieser Proteine kommen immer als Dimere vor (Hetero- oder Homodimere; Abb. 8.26). • Das Helix-Turn-Helix-Motiv besteht aus etwa 20 Aminosäuren, die jeweils 7–9 Aminosäuren lang und durch eine β-Schleife getrennt sind; die zweite Helix liegt als DNA-Erkennungshelix im Bereich der großen Furche der DNA (engl. major groove; Beispiel: Lac-Repressor). • Zinkfinger bestehen aus etwa 30 Aminosäuren, von denen 4 (4 Cys- oder 2 His- und 2 Cys-Reste) koordinativ ein einzelnes Zn2+-Ion binden und damit diese Struktur stabilisieren; viele Zinkfinger-Transkriptionsfaktoren verfügen über mehrere dieser Motive (Beispiele: TFIIIa; Glucocorticoid-Rezeptoren). • Die Homöodomäne umfasst einen Bereich von 60 Aminosäuren und ist sehr stark konserviert (siehe dazu auch Kap. 13.3.6; zur Nomenklatur: die DNA-Sequenz, die diese Domäne codiert, bezeichnet man als Homöobox). Der DNA-bindende Teil der Domäne ähnelt dabei dem HelixTurn-Helix-Motiv (Beispiele: Antp, Ubx). • Die Leucin-Zipper-Proteine formen eine amphipathische α-Helix, bei der jede 7. Aminosäure ein Leucin ist. Diese Aminosäuren bilden auf der hydrophoben Oberfläche eine gerade Reihe. Die α-Helices der interagierenden Proteine winden sich umeinander und bilden eine Superhelix; dabei kommen die Leucin-Reste der beiden Proteine nebeneinander zu liegen. Diese Proteine
8.5 Regulation und Initiation eukaryotischer Genexpression
Abb. 8.26a–e. Modelle von Trankriptionsfaktoren. a HelixTurn-Helix. Die beiden α-Helices der DNA-bindenden Domäne des Helix-Turn-Helix Motivs (hier: der Lac-Repressor) sind rot und orange gestellt; die DNA-Erkennungshelix ist rot. Sie liegt in der großen Furche der DNA (blau). b Zinkfinger. Drei Zinkfinger (grau; hier: Zif268) bilden einen Komplex mit der DNA (blau und weiß). Jedes Zn2+ (dunkelrot) ist koordinativ an zwei His- und zwei Cys-Reste gebunden. c Eine Homöodomäne. Die Homöodomäne (hier: Ausschnitt von Ubx von Drosophila) ist an die DNA gebunden. Man erkennt eine α-Helix, die über zwei anderen liegt und in die große Furche ragt. d Leucin-Zipper. Die α-Helices des Leucin-Reißverschlusses (engl. zipper;
weiß und hellblau; hier Ausschnitt von GCN4 der Hefe) gehören zu verschiedenen Untereinheiten des Proteindimers; sie winden sich als Spirale umeinander. Die Leu-Reste, die in Wechselwirkung treten, sind rot wiedergegeben. e HelixLoop-Helix. Der DNA-bindende Abschnitt (rosa) eines dimeren Helix-Loop-Helix-Transkriptionsfaktors (hier: Max; eine Untereinheit ist farbig) gehört zur ersten Hälfte des HelixLoop-Helix-Motivs (rot). Die zweite Helix läuft im C-terminalen Bereich der Untereinheit (violett) aus. Durch Wechselwirkungen zwischen C-terminalen Helices der beiden Untereinheiten entsteht eine Spirale wie bei dem Leucin-Zipper. (Nelson und Cox 2001)
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Kapitel 8: Molekulare Struktur und Regulation eukaryotischer Gene
enthalten außerdem in ihrer DNA-Binderegion noch einen hohen Anteil basischer Aminosäuren (Arg oder Lys); daher werden sie oft auch als „basische Zipper“ (bZIP) bezeichnet (Beispiele: ATF-2, c-jun, Creb). • Die Helix-Loop-Helix-Proteine enthalten eine konservierte Region aus etwa 50 Aminosäuren, die für die Bildung des Proteindimers wichtig ist. Diese Region besteht aus zwei kurzen α-Helices, die durch einen Abschnitt ohne Sekundärstruktur („loop“) getrennt sind; bei Dimeren können sich diese α-Helices der beiden Untereinheiten wie beim Leucin-Zipper ineinander zu einer Superhelix verdrillen. Auch die Helix-LoopHelix-Proteine enthalten in ihrer DNA-Binderegion noch einen hohen Anteil basischer Aminosäuren (Arg oder Lys); daher werden sie oft auch als „bHLH-ZIP“ Proteine bezeichnet (Beispiele: Myc und Max als Heterodimere). Das Prinzip der spezifischen Genregulation mit Hilfe von stadien- oder zelltypspezifischen Transkriptionsfaktoren, die sequenzspezifisch an bestimmte DNAElemente binden, gibt uns einen ersten Einblick, auf welche Weise komplexe eukaryotische Zellen bestimmte Differenzierungswege einschlagen können. Dieses Prinzip eröffnet zugleich die Möglichkeit der gemeinsamen Regulation unterschiedlicher Gene, die zu einem bestimmten Differenzierungszustand einer Zelle führen. Eine interessante Theorie diskutieren Kærn et al. (2005), indem sie stochastische Prozesse in die Regulation der Genexpression einführen. Sie erklären damit Variabilität und Heterogenität innerhalb von Populationen genetisch identischer Zellen. Im Zentrum ihrer Überlegungen steht dabei die Beobachtung, dass Fluktuationen in der Konzentration regulatorischer Signale („Rauschen“) signifikante Auswirkungen auf die Genexpression haben und durch positive oder negative Rückkopplungsmechanismen weiter verstärkt werden können. Wenn man annimmt, dass von einem Transkriptionsfaktor 1000 Moleküle im Cytoplasma, aber nur 10 Moleküle im Zellkern sind, so ist der Wechsel von einem Molekül vom Cytoplasma in den Zellkern für die Konzentration im Cytoplasma unerheblich, verändert aber die Konzentration im Zellkern um 10% und hat damit sicherlich einen signifikanten Effekt auf die Transkription des betreffenden Zielgens. Derartige stochastische Prozesse haben möglicherweise ent-
scheidenden Einfluss auf Vorgänge während der Embryonalentwicklung und Differenzierung, z. B. bei der Flügelentwicklung in Drosophila in Abhängigkeit der Expression der beiden Proteine Delta und Notch (vgl. Kap. 13.3.7).
8.5.3 Enhancer „Enhancer“ (engl. Verstärker) der Transkription bei höheren Eukaryoten sind definiert als DNA-Elemente, die die Transkription verstärken, auch wenn sie in großer Entfernung zum Promotor platziert sind. Ihre Wirkung ist dabei unabhängig von ihrer Orientierung. (Der Begriff hat sich inzwischen auch im deutschen Sprachraum durchgesetzt und wird daher nicht mehr übersetzt). Das eukaryotische Genom illustriert am besten die verschiedenen Positionen, von denen aus Enhancer die Transkription aktivieren: So befindet sich z. B. der Enhancer des Drosophila-Gens cut, der im Flügelrand aktiv ist, 85 kb oberhalb des cut-Promotors. Dagegen befindet sich der Enhancer des δ-Kristallin-Gens des Huhns (das für ein Strukturprotein der Augenlinse kodiert) im dritten Intron der Transkriptionseinheit. Der Enhancer des Gens, das für die α-Kette des T-ZellRezeptors kodiert, liegt dagegen 69 kb unterhalb des Promotors. Um als Verstärker zu wirken, sind die Wechselwirkungen zwischen dem Enhancer und seinem zugehörigen Promotor essentiell. Dabei ist es nicht nur wichtig, dass der Enhancer über eine lange Entfernung „seinen“ Promotor erkennt, sondern auch, dass er nur einen von oftmals vielen Promotoren in seiner unmittelbaren Nachbarschaft aktiviert. Es gibt dabei zwei Mechanismen, wie diese EnhancerPromotor-Spezifität erreicht wird: Erstens gibt es spezifische Wechselwirkungen zwischen Enhancerbindenden Proteinen und Faktoren, die mit dem Promotor in Wechselwirkung stehen. Zweitens können auch Insulator-Elemente dazu benutzt werden, unerwünschte Enhancer-Promotor-Wechselwirkungen zu unterbinden. Beide Mechanismen werden offensichtlich in der Natur benutzt. Das autoregulatorische Element 1 (AE1) in Drosophila ist ein gutes Beispiel für die bevorzugte Wechselwirkung zwischen einem Enhancer und dem Kernbereich eines Promotors. In seinem natürlichen Kontext hat dieser Enhancer einen gleichen Abstand zu den Genen Sex combs reduced
8.5 Regulation und Initiation eukaryotischer Genexpression
(Scr) und fushi tarazu (ftz), er aktiviert aber selektiv die ftz-Expression. Die Scr- und ftz-Gene unterscheiden sich in ihren Promotor-Elementen: der ftz-Promotor enthält eine TATA-Box, wohingegen der ScrPromotor zwar über keine TATA-Box verfügt, aber dafür Initiator und DPE-Sequenzen enthält.In synthetischen Testkonstruktionen kann zwar der AE1Enhancer die Transkription von Promotoren ohne eine TATA-Box aktivieren. Wenn aber gleichzeitig ein Promotor mit einer TATA-Box angeboten wird, aktiviert er bevorzugt den Promotor mit der TATA-Box. Die einzelnen Komponenten eines Promotors sind also für die produktive und spezifische Wechselwirkung zwischen dem Enhancer und dem korrespondierenden Promotor wichtig. Die vorhandenen Daten machen allerdings deutlich, dass eine Vielzahl verschiedener Faktoren zur verstärkenden Wirkung von Enhancern beitragen. Zunächst treten sequenzspezifische DNA-Bindungsproteine in direkten Kontakt mit entsprechenden Sequenzen des Enhancers. Diese Wechselwirkungen führen schließlich (möglicherweise über einen scanning- bzw. facilitate tracking-Mechanismus) zu großen Schleifen, die den Enhancer in räumliche Nähe zum zugehörigen Promotor bringen (Abb. 8.27). Dann können kovalente Modifikationen der beteiligten Proteine die erhöhte Transkriptionsrate stabilisieren. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass der C-terminale Bereich der RNA-Polymerase II in frühen Stadien der Transkription stark phosphoryliert ist. Ebenso scheint die Acetylierung von Histonen die repressive Eigenschaft des Chromatins zu vermindern; allerdings können auch andere Transkriptionsfaktoren (z. B. p53) oder basale Transkriptionsfaktoren (TFIIE und TFIIF) acetyliert und dadurch aktiviert werden. Tatsächlich besitzen viele transkriptionelle Aktivatoren und Co-Aktivatoren eine Histonacetylase-Aktivität, wohingegen Repressoren der Transkription über Deacetylase-Aktivitäten verfügen. Zum dritten spielen Wirkungen auf die Chromatin- und Nukleosomenstruktur offensichtlich eine große Rolle. Enhancer können anscheinend zumindest teilweise der Repression der Transkription durch Chromatin entgegenwirken. Die Erhöhung der Nukleosomenmobilität und die Veränderung der superhelikalen Verdrillung sind mögliche Aspekte dieser Wirkung. Neben diesem weitgehend akzeptierten Schlaufenmodell der Enhancerwirkung gibt es aber auch Hinweise aus Untersuchungen an einzelnen, isolier-
ten Zellen, die zeigen, dass es daneben auch einen binären Mechanismus gibt. Dabei erhöht der Enhancer nicht die Transkriptionsrate direkt, sondern vielmehr die Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmtes Gen transkribiert wird und diese Eigenschaft erhalten bleibt. Damit bekommt der Effekt des Enhancers auf die Chromatinstruktur, der oben schon diskutiert wurde, eine zentrale Bedeutung. Dies ist besonders dann von Interesse, wenn die Aktivierung oder Inaktivierung von Genen dazu führt, dass bestimmte Zelltypen entstehen und damit Schlüsselentscheidungen in zellulären Differenzierungsprogrammen herbeigeführt werden. ! Enhancer verstärken die Genexpression. Es sind
Sequenzelemente, die außerhalb des Promotors liegen und unabhängig von der Orientierung ihrer Sequenz ihre aktivierende Wirkung entfalten können. Die Wechselwirkung mit dem Promotorbereich wird durch spezifische Proteine vermittelt.
Abb. 8.27. Das Modell der „erleichterten Wanderung“ zur Erklärung der Enhancerwirkung. In diesem Modell „wandert“ ein Komplex (langes Oval), der an den Enhancer gebunden hat und aus DNA-bindenden Faktoren und Co-Aktivatoren besteht, in kleinen Schritten das Chromatin entlang. Er erkennt seinen Zielpromotor, an dem eine stabile Haarnadelstruktur gebildet wird. Mögliche Veränderungen in der Struktur des Chromatins wie Acetylierung der Histone durch Co-Aktivatoren der Transkription und Entfaltung der Chromatinfasern sind durch grüne Färbung des Chromatins angedeutet. (Blackwood u. Kadonaga 1998)
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Kapitel 8: Molekulare Struktur und Regulation eukaryotischer Gene
8.5.4 Locus-Kontroll-Regionen Locus-Kontroll-Regionen (engl. locus control region, LCR) sind definiert durch ihre Fähigkeit, die Expression gekoppelter Gene auf physiologische Werte zu erhöhen, wobei diese Wirkung gewebespezifisch erfolgt und von der Zahl der Kopien abhängt. LCRs fallen oft mit Stellen im Genom zusammen, die in den aktiven Zellen sehr sensitiv gegenüber der Aktivität von DNase I sind. LCRs wurden erstmals in βGlobingenen beschrieben. Die Hinweise dazu kamen einerseits von Experimenten mit transgenen Tieren, zum anderen aus der molekularen Charakterisierung von Patienten, die an Thalassämien erkrankt waren. So waren in einigen Patienten zwar die β-Globingene
intakt, wurden aber nicht exprimiert. Der gemeinsame Defekt bei Menschen und Mäusen war eine große Deletion oberhalb des β-Globingenclusters, die dazu führt, dass der gesamte Bereich des Chromatins in einem „geschlossenen“ Zustand war und somit die Genexpression in dieser Region unterdrückt. Die bedeutendste Eigenschaft der LCRs ist ihre starke Erhöhung der Transkriptionsaktivität. Die β-Globin-LCR ist 6 bis 22 kb oberhalb des ersten, embryonal exprimierten Globingens (des ε-Globingens) lokalisiert und besteht aus 5 DNase I-übersensitiven Bereichen. Vier dieser DNase I-übersensitiven Bereiche werden nur in erythroiden Zellen angetroffen und sind offensichtlich für die Zelltyp-spezifische Expression der β-Globingene verantwortlich.
Abb. 8.28a–d. Modelle der LCR-Wirkung. Ein Globingen ist durch ein grünes Rechteck dargestellt, der dazugehörende Promotor ist hellgrün gezeichnet. Die Transkriptionsfaktoren sind bunte Ovale und Kreise. Die 4 übersensitiven Stellen (HS), die für Blutzellen spezifisch sind, sind durch kleine rote Kästchen angedeutet. Die blauen Kästchen repräsentieren die Positionen der 5’-HS5 und 3’-HS1, die wahrscheinlich als Insulatoren wirken. Die flankierenden DNA-Sequenzen der HS sind als Schlaufen zwischen den einzelnen HS-Kernbereichen dargestellt. Die welligen roten Pfeile sollen wachsende Transkripte sein. a Im „Schlaufenmodell“ binden die Transkriptionsfaktoren an die HS der LCR und den Promotor des jeweiligen Gens. Die LCR interagiert direkt mit dem Promotor; die dazwischen liegende DNA bildet eine Schlaufe. So wird direkt ein aktiver Transkriptionskomplex am Promotor gebildet. b Im „Wanderungsmodell“
binden Transkriptionsfaktoren spezifisch an die Sequenz der LCR. Der gebildete Komplex wandert die DNA-Sequenz entlang (schwarze Pfeilspitze), bis er andere Transkriptionsfaktoren erkennt, die an den jeweiligen Promotor bereits gebunden haben. Auf diese Weise startet die Transkription mit einer hohen Rate. c Wenn Aspekte der „Schlaufen“- und „Wanderungsmodelle“ kombiniert werden, so spricht man von einer „erleichterten Wanderung“. d Im „Verbindungsmodell“ lenkt die sequentielle Bindung von Transkriptionsfaktoren entlang der DNA Veränderungen der Chromatinkonformation und definiert so die Transkriptionsdomäne. Transkriptionsfaktoren werden von der LCR bis zum Promotor des entsprechenden Gens durch Proteine, die keine DNA binden und das Chromatin modifizieren (kleine farbige Kreise), aneinander gebunden. (Nach Li et al. 2002)
8.5 Regulation und Initiation eukaryotischer Genexpression
Drei dieser 4 LCRs enthalten eine hochkonservierte Sequenz, die für die Bindung des Transkriptionsfaktors Maf verantwortlich ist. An dieses Maf-Erkennungs-Element (engl. Maf recognition element, MARE) binden neben Maf allerdings auch andere,verwandte bZIP-Transkriptionsfaktoren als Homo- oder Heterodimere. Besonders wichtig erscheint dabei der Transkriptionsfaktor NF-E2, dessen Bindung mit einer über 100-fachen Erhöhung der β-GlobingenTranskription korreliert.Auch die RNA-Polymerase II kann offensichtlich an diese LCRs binden, wobei die wechselseitige Bindung an LCR und Promotor noch von weiteren Proteinen unterstützt wird. Eine zweite wichtige Eigenschaft der LCRs ist ihre Abhängigkeit von der Kopienzahl. Wenn nur einer der fünf DNase I-hypersensitiven Bereiche deletiert ist, wird die Expression der β-Globingene positionsabhängig, d. h. abhängig davon, ob sie in einem „offenen“ Chromatinbereich vorkommt oder nicht. Damit ist ein wesentlicher Unterschied zu den Enhancern dokumentiert, deren Wirkung von der Position unabhängig ist. Allerdings gibt es eine wesentliche Gemeinsamkeit der Wirkung der Enhancer und der LCRs, nämlich die Wirkung über große Strecken innerhalb des Genoms. Entsprechend werden auch ähnliche Mechanismen diskutiert: Schlaufenbildung, Entlangfahren und Verknüpfung (Abb. 8.28). Ein zentraler Aspekt ist allerdings, dass die LCR nur mit einem Promotor
eines β-Globingens zu einer bestimmten Zeit in Wechselwirkung tritt; ein „Flip-Flop“ zwischen 2 oder mehr Promotoren ist allerdings in Abhängigkeit vom Entwicklungs- und Differenzierungszustand des Gesamtorganismus möglich. Dabei ist es unerheblich, wie diese Wechselwirkung zustande kommt, also ob der Holokomplex aus LCR und gebundenen Faktoren direkt eine Schlaufe mit dem Promotorkomplex ausbildet oder ob er die DNA entlang fährt, bis er die entsprechenden Promotoren erkennt. Dabei werden mit zunehmendem Entwicklungszustand die Bindungen an die eher distal liegenden Promotoren immer stabiler. LCRs sind aber nicht nur auf das β-Globingencluster beschränkt; im Menschen sind über 20 Genfamilien beschrieben, die über LCRs kontrolliert werden. Dazu kommen noch weitere Gene bzw. Genfamilien bei der Maus, der Ratte oder anderen Organismen, so dass insgesamt bei höheren Eukaryoten mit einer großen Zahl von LCRs zu rechnen ist. ! Locus-Kontroll-Regionen erhöhen die Expression
ganzer Gencluster in Zelltyp-spezifischer Weise. Neben Bindestellen für Transkriptionsfaktoren haben sie offensichtlich auch Einfluss auf die Chromatinstruktur in dem entsprechenden Bereich.
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Kernaussagen
▬ Das eukaryotische Genom ist komplexer organisiert als das von Bakterien. ▬ Durch Verdopplung von Genabschnitten sind viele Genfamilien entstanden. ▬ Die Gene für 28S-, 18S- und 5,8 S-rRNA findet man als tandemartig wiederholte Gengruppen in der DNA. Auch die Gene für die 5S-rRNA sind in vielen tandemartig angeordneten Kopien vorhanden, liegen aber an anderer Stelle im Genom. rRNAMoleküle können aufgrund intramolekularer Basenpaarungen spezifische Sekundärstrukturen ausprägen. ▬ Auch tRNAs werden als Genfamilien kodiert. tRNAMoleküle bilden eine spezifische, evolutionär stark konservierte Sekundärstruktur (Kleeblatt) aus. ▬ Hämoglobin wird durch verschiedene Globin-Ketten aufgebaut. Die Zusammensetzung des Hämoglobins verändert sich während der Embryonalentwicklung. Die beiden Globingenfamilien liegen auf zwei verschiedenen Chromosomen. ▬ Die Histongene bilden ebenfalls Multigenfamilien. Die meisten Histongene besitzen keine Introns und bilden kein Poly-A-Ende. Durch viel-
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fältige posttranslationale Modifikationen sind sie an der Kondensation bzw. Dekondensation des Chromatins beteiligt. Die Tubulingene sind innerhalb des Genoms weit verteilt und bilden keine Cluster. Fibroin ist der Hauptbestandteil der Seide und wird durch ein einziges Gen kodiert. Die hohe Syntheseleistung wird durch ein besonders hohes Maß von Polyploidisierung der fibroinsynthetisierenden Zellen des Seidenspinners ermöglicht. Das Cytochrom-b-Gen von S. cerevisiae weist eine besonders komplexe Struktur auf, da mehrere seiner Introns für Maturasemoleküle kodieren, die beim Splicing eine wichtige Rolle spielen. Die Transkription eukaryotischer Gene wird durch komplexe Wechselwirkungen des Promotorbereiches mit Transkriptionsfaktoren reguliert. Enhancer verstärken die Genexpression und liegen außerhalb des Promotorbereichs; sie wirken unabhängig von ihrer Orientierung. Locus-Kontroll-Regionen sind an der Regulation der Expression von Genclustern beteiligt, indem sie u.a. an der Kondensation bzw. Dekondensation des Chromatins mitwirken.
Technik-Box
Technik-Box 15
DNA-Sequenzierung Anwendung: Ermittlung der Nukleotidsequenz von DNA. Methode: Zur Ermittlung der Nukleotidsequenz von DNA wurden im Wesentlichen zwei Methoden entwickelt, die Dideoxy-Kettenterminationsmethode (engl. chain termination method) von Sanger und die Maxam-GilbertMethode, die auf chemischer Degradation von DNA beruht. Heute wird vorzugsweise die Sanger-Methode (Sanger et al. 1977) für Sequenzbestimmungen gebraucht. Sanger-Methode: Sie macht von der Möglichkeit Gebrauch, mit Hilfe von DNA-Polymerase an Einzelstrang-DNA von einem Primer aus einen neuen komplementären DNA-Strang zu synthetisieren. Diese Synthese erfolgt in Gegenwart von Nukleotidtriphosphaten, denen in niedriger Konzentration Dideoxynukleotide, d. h. Nukleotide, deren 3′-Hydroxylgruppe an der Desoxyribose fehlt, beigefügt sind. Es kommt unter diesen Bedingungen zu einem Abbruch der DNA-Synthese, sobald ein Dideoxynukleotid in den neusynthetisierten Strang eingebaut wird, da wegen der fehlenden 3′-OHGruppe der Desoxyribose kein weiteres Nukleotid angefügt werden kann. Der Einbau von Dideoxynukleotiden erfolgt zufallsgemäß, so dass eine Mischung von neusynthetisierten DNASträngen unterschiedlicher Länge entsteht. Der Größenbereich liegt zwischen einem und mehreren hundert Nukleotiden, die an den Primer (etwa 15–29 Nukleotide) angefügt werden. Diese werden auf Polyacrylamidgelen nach ihrer Länge fraktioniert. Führt
man die DNA-Synthese in vier getrennten Reaktionen durch, denen jeweils ein anderes Dideoxynukleotid beigefügt wird (also ddA, ddG, ddC oder ddT), so erfolgt in jedem einzelnen Reaktionsansatz der Kettenabbruch jeweils nur nach einem spezifischen Nukleotid (also nach einem A, G, C oder T). Diese Reaktionsgemische werden getrennt und in parallelen Positionen auf ein Polyacrylamidgel aufgetragen und elektrophoretisch getrennt. Alle Reaktionsgemische enthalten neben den Dideoxynukleotiden ein radioaktiv markiertes Nukleotid (z. B. 32P- oder 35 S-markiert). Man kann daher solche Gele autoradiographisch analysieren, wodurch die verschiedenen Molekülgruppen im Film durch strahlungsinduzierte Schwärzungen sichtbar werden (s. Technik-Box 13). Solche Autoradiogramme gestatten es, die Basensequenz der DNA direkt abzulesen. Moderne Sequenzierautomaten verwenden statt der radioaktiv markierten Nukleotide solche, die mit Fluoreszenzfarbstoffen markiert sind. Es können damit Leseweiten bis knapp 1000 Basen erzielt werden (siehe Abb. a) Maxam-Gilbert-Methode (1977): Sie beruht auf einer ganz anderen experimentellen Grundlage als die SangerMethode. Durch nukleotidspezifische partielle chemische Spaltung der DNA (z. B. hinter G, C, A+G, C+T oder vorzugsweise A) werden in getrennten Reaktionen DNA-Moleküle unterschiedlicher Länge erzeugt, die jedoch am Ende jeweils das gleiche Nukleotid besitzen. Das andere Ende des Moleküls ist radioaktiv markiert, so dass wir,
vergleichbar mit der Sanger-Methode, nach einer elektrophoretischen Auftrennung der Moleküle nach ihrer Größe und anschließender Autoradiographie die Längen aller Moleküle feststellen können, die das gleiche Nukleotid am Ende besitzen. Die Längen der Moleküle in den verschiedenen Teilreaktionen gestatten es wiederum, die genaue Nukleotidsequenz aus dem Autoradiogramm abzulesen. Zum chemischen Abbau der DNA dienen verschiedene Agenzien, die die DNA entweder an spezifischen Nukleotiden methylieren (Dimethylsulfat: Methylierung von G), durch Schwächung der Glycosidbindung der Basen depurinieren (mit Piperidin: A und G) und infolgedessen die DNA an der betreffenden Stelle hydrolysieren oder Pyrimidinringe (C und T) öffnen (Hydrazin), so dass ebenfalls Hydrolyse erfolgt. Bei stark alkalischem pH (1,2 N NaOH) und hoher Temperatur (90 °C) werden die Phosphodiesterbindungen nach A, in geringerem Maße auch nach C, geöffnet. Die Maxam-Gilbert-Methode bietet Vorteile, wenn es darum geht, DNAProteininteraktionen auf ihre Sequenzspezifität zu untersuchen. Bindet nämlich ein Proteinmolekül sequenzspezifisch an die DNA, so kann in der betreffenden Region keine Spaltung der DNA erfolgen. Im Sequenzgel werden daher im Bindungsbereich des Proteins keine Moleküle sichtbar, die in diesem Sequenzbereich gespalten worden sind. Auf diese Weise lassen sich Proteinbindungsstellen an der DNA mit großer Genauigkeit ermitteln.
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Kapitel 8: Molekulare Struktur und Regulation eukaryotischer Gene
Technik-Box 15
DNA-Sequenzierung (Fortsetzung)
DNA-Sequenzierung. a Es sind die DNA-Sequenz und die in den verschiedenen Reaktionen entstehenden Einzelstränge gezeigt. Die Reaktionsgemische werden auf ein Sequenzgel aufgebracht, das nach Größentrennung der Nukleinsäureketten autoradiographiert wird (b). b Ausschnitt aus einem DNA-Sequenzgel nach Sanger (Dideoxynukleotidmethode). Die Elektrophoreserichtung ist von oben nach unten, d. h. die Größe der Nukleotidketten nimmt nach oben zu. In den vier Bahnen sind der Reihenfolge nach die Sequenzierungsgemische mit Dideoxy-T (T), Dideoxy-C (C), Dideoxy-G (G) und Dideoxy-A (A) aufgetragen. Die radioaktiven Banden (durch 32P-markiertes dC hervorgerufen) zeigen daher in dieser Reihenfolge Kettenabbrüche mit dem betreffenden Nukleotid an. Die stufenweise Folge der radioaktiven Banden gibt daher die Folge der Nukleotide in der DNA wieder (rechts). Das 5′-Ende des DNA-Stranges liegt unten.
Technik-Box
Technik-Box 16
Analyse von DNA-Protein-Wechselwirkungen Anwendung: Methoden zur Analyse der Genexpression, insbesondere zur Charakterisierung von DNA-ProteinWechselwirkungen im Promotorbereich. Voraussetzungen: Markierte DNAFragmente oder Oligonukleotide, die die Bindungsstelle repräsentieren; Proteine (Proteinextrakt aus isolierten Zellkernen, rekombinante Proteine oder gereinigte Proteine); Elektrophorese unter nicht-denaturierenden Bedingungen. Methoden: Man macht sich dabei die Tatsache zu Nutze, dass Makromoleküle unterschiedlicher Größe und Ladung in der Gelelektrophorese ein unterschiedliches Ladungsverhalten aufweisen. Nach der Gelelektrophorese eines definierten DNA-Fragments findet man dieses als eine Bande im Gel. Bindet an dieses DNA-Fragment vorher aber ein Protein, dann wandert der DNA-Protein-Komplex aufgrund seiner Größe (und veränderten Ladung) i. d. R. langsamer als die freie DNA, d. h. die Bande wird nach oben verschoben (engl. band shift; andere Bezeichnungen: gel retardation assay,
GRA; electrophoretic mobility shift assay, EMSA). Damit dieser DNA-Protein-Komplex während der Elektrophorese nicht zerfällt, dürfen keine denaturierenden Bedingungen angewendet werden. Zum Nachweis der Banden wird die DNA vor der Inkubation mit dem Protein i.d.R. radioaktiv markiert (Technik-Box 5). Eine wichtige Kontrolle zur Unterscheidung einer sequenzspezifischen DNA-Protein-Wechselwirkung von einer allgemeinen DNA-Protein-Wechselwirkung ist die Zugabe eines sehr großen Überschusses an nicht markierter, unspezifischer DNA (z. B. bakterielle DNA, oder ein synthetisches Heteropolymer, poly-dI-dC). Dadurch wird bei einer spezifischen Bindung die DNA aus dem Komplex mit dem Protein nicht verdrängt. Mit dieser Methode können Bindestellen auf der DNA auf ca. 30 bp eingegrenzt werden. Um die Identität des DNA-bindenden Proteins nachzuweisen, kann der DNA-Protein-Komplex mit spezifischen Antikörpern inkubiert werden. Je nach der relativen Größe und Ladung des neuen Komplexes ist es möglich, dass sich die Lage der Bande
im Gel noch einmal verschiebt („Supershift“). Eine andere Methode zur genaueren Sequenzbestimmung der Proteinbindestelle an der DNA gründet auf der Tatsache, dass die entsprechenden Stellen der DNA für eine Behandlung mit DNase I nicht zugänglich sind (Schutz vor DNase I-Abbau; engl. DNA protection assay). Wenn die DNA vor der Inkubation an einem Ende radioaktiv markiert und nach der Inkubation mit dem Bindeprotein und der anschließenden DNase I-Behandlung auf übliche Weise (s. Technik-Box 1) extrahiert wurde, kann sie auf einem Sequenzgel aufgetrennt werden (Sequenziermethode nach MaxamGilbert; Technik-Box 15). Im Vergleich mit DNA, die nicht mit dem Bindeprotein inkubiert wurde, erscheinen in der Sequenz mit Bindeprotein freie Stellen („Fußabdrücke“; engl. footprints), die die Sequenz der Bindestellen genau angibt. Caveat: Beide Methoden arbeiten ausschließlich in vitro und müssen daher funktionell (in Zellkulturen oder transgenen Organismen) überprüft werden.
333
Kapitel 9
Instabilität des Genoms: Transposons und Retroviren
Mosaikfarbmuster in Blüten beruhen häufig auf somatischen Transpositionen. Das Bild zeigt eine Chrysantheme. (Photo: W. Hennig, Mainz)
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Kapitel 9: Instabilität des Genoms: Transposons und Retroviren
Überblick In den Genomen aller Organismen sind genetische Elemente (Transposons) vorhanden, die ihre Positionen innerhalb des Genoms verändern können. Dabei können sie auch DNA-Stücke aus der Nachbarschaft ihrer Insertionsstellen im Genom verlagern. Transposons sind daher in der Lage, komplexere Veränderungen im Genom zu induzieren und eventuell sogar Neukombinationen funktioneller Genbereiche zu bewirken, wie es etwa durch Verlagerung und Neukombination von Exons vorstellbar ist. Verschiedene Transposons zeigen einen ganz unterschiedlichen molekularen Aufbau. Einige von ihnen weisen starke Ähnlichkeiten mit Retroviren auf. Auch Retroviren sind Bestandteile eukaryotischer Genome. Im Unterschied zu Transposons sind sie jedoch in der Lage, infektiöse Partikel zu formen und sich dadurch auch zwischen Organismen in einer Population, d. h. horizontal,
Zu den Grundbestandteilen des genetischen Materials der meisten Organismen (ausgenommen Viren) und insbesondere aller Eukaryoten gehören bewegliche genetische Elemente, sogenannte Transposons (engl. transposons oder transposable elements). Es handelt sich hierbei um mehrere verschiedene Gruppen von DNA-Sequenzen, die mit Hilfe unterschiedlicher molekularer Mechanismen in der Lage sind, ihre Positionen im Genom zu verändern. Diese DNASequenzen enthalten im Allgemeinen ein oder mehrere Protein-kodierende Gene sowie DNA-Bereiche, die für die Transpositionen (Ortsveränderungen) im Genom notwendig sind. Wir wissen heute, dass ein recht beträchtlicher Teil des eukaryotischen Genoms aus Transposons aufgebaut ist. Beispielsweise schätzt man den Anteil des Genoms, der bei Drosophila melanogaster auf solche DNA-Sequenzen entfällt, auf etwa 20% der Genom-DNA. Im menschlichen Genom könnte ebensoviel DNA auf transponierbare DNA-Sequenzen entfallen (Tabelle 9.1).
9.1 Allgemeine Eigenschaften von Transposons Trotz dieses hohen Anteils von Transposons am genetischen Material hat es relativ lange gedauert, bis die Genetiker diese genetischen Elemente entdeckten.
auszubreiten. Viele Retroviren sind pathogen und können Tumoren induzieren. Das ist darauf zurückzuführen, dass sie bisweilen defekte zelluläre Gene oder Stücke davon mit sich tragen, die die normalen Funktionen dieser Gene beeinflussen und dadurch zu zellulären Fehlleistungen oder Fehlprogrammierungen führen können. Es handelt sich vor allem um solche Gene, die allgemeine Funktionen in der Zellzyklusregulation oder in der Steuerung grundlegender zellulärer Stoffwechselvorgänge wahrnehmen. Diese Gene werden aufgrund der Tatsache, dass sie bei fehlerhafter Expression zu Tumoren führen können, insgesamt unter der Bezeichnung Oncogene zusammenfasst. Andere Retroviren induzieren allein schon durch ihre Anwesenheit und ihre Vermehrung in der Zelle Krankheiten, wodurch diese zerstört werden kann. Das bekannteste Beispiel hierfür ist das Aids-Virus (HIV).
Das liegt daran, dass man ihr Vorhandensein nur unter besonderen Umständen erkennen kann, nämlich wenn sie ihre Positionen im Genom verändern und dadurch Veränderungen, also Mutationen, verursachen, die im Phänotyp sichtbar werden. Selbst dann lässt sich die Existenz eines Transposons nur schwer erkennen oder nachweisen, da man es ja mit einer anderweitig bedingten Mutation zu tun haben kann. Genetische Hinweise auf die Anwesenheit von Transposons geben ungewöhnlich hohe Mutationsraten bestimmter Gene, bei denen zudem häufig Reversionen zum Wildtyp auftreten. Andere spezifische phänotypische Merkmale können Transposons nicht zugeordnet werden. Die ursprünglichen Hinweise auf die Existenz von Transposons ergaben sich tatsächlich aus der Beobachtung von genetischer Instabilität bestimmter Gene. Die klassischen genetischen und cytologischen Untersuchungen solcher Gene stammen von Barbara McClintock, die in den 1940er Jahren transposable Elemente als Ursache für Bereiche veränderter Pigmentierung bei Maiskörnern erkannte (Abb. 9.1); allerdings blieb die Bedeutung dieser Studien noch lange unbeachtet. Bei Bakterien wurden in den 1960er Jahren Transposons bei Untersuchungen polarer genetischer Effekte identifiziert,wie sie in bakteriellen Operons häufig beobachtet werden können. Ein Teil solcher Effekte war mit nonsense-Mutationen, die ja supprimierbar sein sollten, nicht zu erklären, son-
9.1 Allgemeine Eigenschaften von Transposons
Tabelle 9.1. Transposons Organismus
Name
Art
E. coli
Tn3 Tn10
Terminale invertierte Repeats IS10 invertiert
Mammalia
LINE-1 (L1)
Retrotransposon
Mammalia
SINEs
Retroposons
5 ×105
Maus
IAP
Retroposon
20 –1000
Zea mays
Cin4 A/Ds Spm/En
Retroposon Terminale invertierte Repeats Terminale invertierte Repeats
50 –100 35 30
Saccharomyces cerevisiae
Ty
Retroposon
35
Caenorhabditis elegans
Tc1
Terminale invertierte Repeats
30 –300
Dictyostelium discoideum
Tdd-1
Retroposon
50 –100
Trypanosoma brucei
Ingi
Retrotransposon
200
Bombyx mori
R2
Retrotransposon
25
Drosophila melanogaster
copia gypsy P-Faktor I-Faktor
Retrotransposon Retrotransposon Retroposon Retroposon
30 10 20 1 –10
dern ließ die Insertion von DNA-Stücken vermuten. Gegen Ende der 1960er Jahre wurde bei Drosophila beobachtet,dass bestimmte Gene eine besonders hohe Mutabilität aufweisen. Sehr bald festigte sich der Verdacht, dass mobile DNA-Elemente für diese Mutabilität verantwortlich sind. In den 1980er Jahren wurde schließlich das Phänomen der Hybriddysgenese (engl. hybrid dysgenesis) durch Mary Kidwell beschrieben: Bei bestimmten Kreuzungen von Drosophila-Stämmen kommt es zu hohen Mutationsraten in der Nachkommenschaft (s. S. 344). Durch die Untersuchung von DNA-Sequenzen, die durch die neuen Methoden der Gentechnologie ermöglicht wurden, konnte dann sehr bald gezeigt werden, dass alle die zuvor beobachteten genetischen Instabilitäten auf bestimmte DNA-Sequenzen, eben Transposons, zurückzuführen sind, die ihre Position im Genom verändern können. Die nähere Untersuchung solcher
Kopienzahl 11 1 – mehrere ∼ 105
Transposons hat uns grundlegende neue Einsichten in die Struktur des Genoms vermittelt – und Barbara McClintock 1983 den Nobelpreis. ! Die meisten Prokaryoten und alle Eukaryoten besitzen in ihrem Genom bewegliche genetische Elemente, sogenannte Transposons. Ihre Anwesenheit wurde zunächst durch genetische Instabilität bestimmter Gene erkannt.
Auf der molekularen Ebene ist die Identifikation von Transposons zunächst nach zufallsgemäßer Klonierung repetitiver DNA-Sequenzen von Drosophila und deren Analyse durch in-situ-Hybridisierung gelungen. Es stellte sich nämlich heraus, dass diese repetitiven DNA-Sequenzen in den Riesenchromosomen
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Kapitel 9: Instabilität des Genoms: Transposons und Retroviren
Abb. 9.1. Flecken auf Maiskörnern und Transposoneigenschaften. Die Flecken auf Maiskörnern zeigen instabile Phänotypen, die auf einem Wechselspiel zwischen transposablen Elementen (TE) und einem Gen beruhen, das für ein Enzym im Anthocyan-Stoffwechsels kodiert. Bereiche des Aleurons mit revertantem (pigmentiertem) Phänotyp entstehen durch das
Ausschneiden des TE in einer einzigen Zelle. Die Größe des Flecks spiegelt die Zeitspanne seit dem Ausschneiden des TEs in der Kornentwicklung wider. Das Verständnis der genetischen Basis dieser und ähnlicher mutierter Phänotypen führte zur Entdeckung der TE. (Nach Feschotte et al. 2002)
verschiedener Individuen des gleichen DrosophilaStammes teilweise in unterschiedlichen Lokalisationen zu finden sind. Die genauere Analyse der DNASequenz zeigte dann, dass einige solcher repetitiven DNA-Sequenzen in ihrer Struktur große Ähnlichkeit mit Retroviren besitzen, d. h. dass sie Protein-kodierende Abschnitte enthalten, deren Eigenschaften den bei Retroviren gefundenen Proteinen gleichen (s. S. 346 und 355). In der Folge zeigte es sich, dass es auch bewegliche DNA-Elemente anderen molekularen Aufbaus gibt. Da Transposons mehreren, molekular sehr verschiedenen Klassen von DNA-Elementen zugehören, können sie nicht generell aufgrund einheitlicher Strukturkriterien charakterisiert werden. Das ist nur für einige Gruppen von Transposons möglich. Es ist daher in manchen Fällen durchaus nicht einfach, den Transposoncharakter einer DNA-Sequenz nachzuweisen. Ein anschauliches Beispiel hierfür sind die Alu-Sequenzen des menschlichen Genoms, deren Transposoncharakter nur sehr indirekt zu erschließen ist (s. S. 352). Für alle Transposons, die in ihrer
Struktur nicht einem Retrovirus gleichen, lassen sich molekular praktisch nur zwei Kriterien aufstellen, die ihre Eigenschaft als mobile genetische Elemente dokumentieren: • der Besitz kurzer Duplikationen (etwa 4 bis 15 Nukleotide) der Genom-DNA auf beiden Seiten und unmittelbar im Anschluss an die Transposonsequenz. Diese Duplikationen sind bisher bei allen Transposons und Retroviren gefunden worden und sind ein Ergebnis des Tranpositionsmechanismus bei Transposons bzw. des Integrationsmechanismus ins Genom bei Viren, und • ihre disperse Verteilung im Genom, die sich durch in-situ-Hybridisierung ermitteln lässt, sowie Variabilität ihrer Lokalisation im Genom bei verschiedenen Individuen. Auch die Analyse von Restriktionsfragmenten in genomischer DNA gibt vergleichbare Hinweise auf die Mobilität einer DNA-Sequenz.
9.1 Allgemeine Eigenschaften von Transposons
! Transposons gehören verschiedenen Gruppen
unterschiedlicher Struktur und Häufigkeit an. In allen Fällen sind sie jedoch durch flankierende Duplikationen der Insertionsstelle im Genom gekennzeichnet.
Element aus dem Genom herausgeschnitten und kann an anderer Stelle wieder in die DNA eingebaut werden. In diesem Fall haben wir es mit einer nichtreplikativen Transposition zu tun (Klasse 2). Die verschiedenen Mechanismen sind in Abb. 9.2 dargestellt.
Bei den Transpositionsmechanismen muss man zwei verschiedene Möglichkeiten unterscheiden. In einigen Fällen erfolgt eine Verdoppelung eines Elements, d. h. das ursprüngliche Element verbleibt unverändert in seiner ursprünglichen Genomposition, und ein zusätzliches Element wird durch einen Replikationsprozess, der das ursprüngliche Element als Template gebraucht, an anderer Stelle ins Genom eingefügt. Man spricht hier von replikativer Transposition (Klasse 1). In anderen Fällen wird ein vorhandenes
! Es lassen sich zwei verschiedene Transpositionsmechanismen unterscheiden. Durch die replikative Verdoppelung des Elements kann es unter Beibehaltung der ursprünglichen Genomposition in eine neue Position eingefügt werden. Andere Elemente können ihre Genomposition verlassen (Exzision) und in eine andere Stelle des Genom integriert werden (Insertion).
Abb. 9.2a–c. Strukturelle Eigenschaften und Klassifikation transposabler Elemente. Eukaryotische transposable Elemente (TE) werden in zwei Klassen eingeteilt, je nachdem, ob das Zwischenprodukt der Transposition eine RNA (Klasse 1) oder eine DNA (Klasse 2) ist. Bei allen Klasse-1-Elementen bildet das Element-kodierte Transkript (mRNA) und nicht das Element selbst (wie bei Klasse-2-Elementen) das Zwischenprodukt der Transposition. Jede Gruppe von TEs enthält autonome und nicht-autonome Elemente. Autonome Elemente enthalten offene Leserahmen (ORFs, rote Kästchen) und kodieren für Proteine, die für die Transposition notwendig sind. Die Integration von fast allen TEs führt zur Duplikation kurzer genomischer Sequenzen an der Stelle der Insertion. Diese Duplikationen (Pfeile, die die Elemente flankieren) variieren in ihrer Größe und Sequenz zwischen den verschiedenen Familien der TEs. a Klasse-2-Elemente: DNA-Transposons haben invertierte Wiederholungssequenzen (schwarze Dreiecke) und Duplikationen von Zielsequenzen (Pfeile) an ihren Enden. Nicht-autonome Mitglieder dieser Klasse leiten sich i.d.R. von autonomen Mitgliedern durch interne Deletionen ab. b, c Klasse-1-Elemente können nach ihrem Transpositionsmecha-
nismus und ihrer Struktur in zwei Gruppen unterteilt werden. b LTR-Transposons haben lange Wiederholungssequenzen an ihren Enden (engl. long terminal repeats, LTRs; schwarze Dreiecke). Autonome Elemente enthalten mindestens zwei Gene, gag und pol. gag kodiert für ein Capsid-ähnliches Protein und pol für ein Poly-Protein, das verschiedene enzymatische Aktivitäten enthält (Protease, Reverse Transkriptase, RNase H, Integrase). Nicht-autonome Elemente haben die meisten oder alle kodierenden Elemente verloren. Ihre inneren Bereiche (grüne Kästchen) sind unterschiedlich groß und ohne Beziehung zu den autonomen Elementen. c Transposons ohne eine LTR enthalten stattdessen lange oder kurze Wiederholungselemente (LINEs bzw. SINEs). Die kodierenden Regionen beinhalten ORF1 (kodiert für ein gag-ähnliches Protein), EN (Endonuklease) und RT (Reverse Transkriptase). LINEs und SINEs enden mit einer einfachen Sequenzwiederholung, üblicherweise poly(A). Alle SINEs-Elemente, die bisher charakterisiert wurden, enthalten einen Promotor der RNA-Polymerase III (schwarze Streifen) in der Nähe des 5’-Endes. Im 3’-Bereich gibt es Übereinstimmungen zwischen SINEs und LINEs Elementen. (Nach Feschotte et al. 2002)
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340
Kapitel 9: Instabilität des Genoms: Transposons und Retroviren
9.2 Prokaryotische Transposons Prokaryotische mobile DNA-Elemente sind im Allgemeinen nur mit wenigen Kopien im Genom vorhanden. Ihre Transpositionshäufigkeit liegt bei etwa 10–6 je Zellgeneration. Dennoch wird der Anteil der Mutationen, die durch Insertionen oder Exzisionen von mobilen beweglichen Elementen induziert werden, auf 20% bis 40% geschätzt und umfasst damit einen beträchtlichen Teil aller Mutationen. Oft gibt es bevorzugte Insertionsstellen. Die eingefügten Elemente üben, je nach ihrem Insertionsplatz, unterschiedliche Effekte auf benachbarte Gene aus. Besonders auffallend sind polare Effekte, die auch zu ihrer Entdeckung Anlass gaben (s. S. 336). Außerdem steigen die Mutationshäufigkeiten in der direkten Nachbarschaft von beweglichen Elementen bisweilen um einen Faktor von 100 bis 1000 an. Bei E. coli lassen sich grundsätzlich zwei Arten von beweglichen Elementen unterscheiden, die • Insertionselemente und • komplexe Transposons. Die Insertionselemente (engl. insertion elements) oder IS-Elemente (Abb. 9.3) sind mit Längen zwischen 768 bp (IS1) und 2132 bp (IS21) bei einer mittleren Länge von wenig mehr als 1000 bp relativ kurz. Ihre wichtigsten Bestandteile sind ihre beiden terminalen invertierten Repeats, die bei verschiedenen Familien solcher Elemente in ihrer Länge zwischen Tn10 IS10
R
tet A C D
18 bp und 41 bp variieren. Die terminalen invertierten Repeats werden durch eine Protein-kodierende Region miteinander verbunden, die für eine Transposase, also ein Enzym kodiert, das für die Transposition des IS-Elements erforderlich ist. Neben diesen einzelnen IS-Elementen gibt es im Genom von E. coli auch komplexere transponierbare Sequenzelemente (engl. compound transposons). Diese bestehen aus zwei identischen flankierenden IS-Elementen und einem dazwischenliegenden Bereich, der beliebige Gene umfassen kann. Beispielsweise besteht das Transposon Tn10 aus zwei flankierenden IS10-Elementen und einem dazwischenliegenden Gen, das der Zelle Tetracyclinresistenz verleiht. Andere Transposons in E. coli sind aus einer größeren Anzahl von Genen aufgebaut und besitzen terminale invertierte Repeatsequenzen, die sich von den bekannten IS-Elementen unterscheiden und spezifisch für das jeweilige Element sind (Abb. 9.3). Auch solche Transposons tragen oft Gene für Antibiotikaresistenzen. Ein gut untersuchtes Beispiel ist Tn7. Dessen Gen aadA ist für die Entstehung von Spectinomycin- und Streptomycinresistenz verantwortlich. Das aadA-Gen kodiert für ein Enzym, 3''(9)-O-Nukleotidyltransferase, das Aminoglykoside durch Adenylierung modifiziert. Durch dieses Enzym werden daher auch die Aminoglykoside Spectinomycin und Streptomycin adenyliert und dadurch inaktiviert. Ein zweites Gen des Tn7,
IS10
1 kb
Tn7 dhfr
aadA
tnsE
Abb. 9.3. Bakterielle Transposons. Tn10 besteht aus zwei gegeneinander invertierten terminalen IS10-Sequenzen (1329 bp), deren linke eine defekte, deren rechte für eine funktionsfähige Transposase kodiert. Die charakteristischen invertierten terminalen Repeats jeder IS10-Sequenz sind durch kurze Pfeile gekennzeichnet. Das 9300 bp lange Transposon enthält vier Protein-kodierende Regionen (tetA bis D). tetA kodiert ein Protein der inneren Zellmembran, das für eine induzierbare Tetracyclinresistenz verantwortlich ist. tetR kodiert ein Repressorprotein, das beide Gene, tetA und tetR,
tnsD
tnsC
tnsB
tnsA
negativ reguliert. Die Funktionen der in tetC und tetD kodierten Proteine sind nicht völlig geklärt. Tn7 trägt keine ISSequenzen. Es inseriert sequenzspezifisch in einer einzigen Position des E.-coli-Genoms (attTn7). Das Transposon ist 14 kb lang und kodiert für sieben Proteine. Die Gene tnsA bis E sind zur Transposition erforderlich. aadA kodiert für eine Adenyltransferase, die Streptomycin und Spectinomycin inaktiviert und dhfr kodiert für eine Trimethoprim-resistente Dihydrofolatreduktase. (Nach Kleckner 1989, u. Craig 1989)
9.3 Eukaryotische Transposons
dhfr, kodiert den Typ I der Dihydrofolatreduktase (DHFR), ein Enzym, das im Gegensatz zur genomischen DHFR eine gesteigerte Resistenz gegen einen Inhibitor dieses Enzyms, Trimethoprim (ein Folsäureanalogon), aufweist. ! Bei Prokaryoten sind 20 bis 40% aller Mutationen
auf Transposons zurückzuführen. In E. coli sind einfache IS-Elemente bekannt, die durch terminale invertierte Repeats und ein dazwischenliegendes Gen, das für das Transpositionsenzym kodiert, charakterisiert sind sowie komplexere Transposons, die oft Gene für Antibiotikaresistenzen tragen.
9.3 Eukaryotische Transposons In Eukaryoten findet man eine große Vielfalt von Transpositionsmechanismen. Wir wollen der Übersichtlichkeit halber vier Gruppen unterscheiden, die im Folgenden, vornehmlich an Beispielen von Drosophila, besprochen werden sollen, da sie mit wenigen Ausnahmen bei diesem Organismus besonders gut untersucht sind. Es handelt sich um • Transposons mit terminalen Fold-back-Sequenzen: FB-Elemente • weitere Transposons mit terminalen invertierten Repeats • retrovirusähnliche Transposons: Retrotransposons • Transposons ohne terminale Repeats: Retroposons. Die grundlegenden Eigenschaften eukaryotischer Transposons und die Konsequenzen ihrer Anwesenheit im Genom lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Normalerweise sind sie stabil mit mehreren Kopien ins Genom integriert. Die Anzahl der Kopien im Genom sind für verschiedene Familien von Transposons jeweils charakteristisch und können zwischen weniger als 10 Kopien und mehreren hunderttausend Kopien liegen. Die verschiedenen Kopien einer Sequenzfamilie sind nicht identisch, sondern können sowohl in ihrer Nukleotidsequenz als auch in ihrer Struktur, z. B. durch interne oder terminale Deletionen, voneinander abweichen. Durch genetische oder Umwelteinflüsse (z. B. Hitze, Stress, Bestrahlung), die wir nur teilweise kennen, können
Transposons dazu veranlasst werden, ihre Genompositionen zu verändern. Danach wird wiederum eine stabile Phase der Integration erreicht. Sie sind also in dieser Hinsicht in ihrem Verhalten einem Lambda-Prophagen sehr ähnlich, wenn sie auch gewöhnlich keine definierten Integrationsstellen haben. Durch Transpositionen, die in der Regel mit zufälliger Integration in beliebige Genompositionen verbunden sind, können Mutationen induziert werden. Hierbei kann es vorkommen, dass ein Transposon benachbarte DNA-Bereiche aus seiner ursprünglichen Position in eine neue Genomposition überträgt. Neben einer – wahrscheinlich kleinen – Anzahl vollständiger Transposons enthält jedes Genom eine größere Anzahl defekter Transposons, die entweder gar nicht mehr zur Transposition in der Lage sind, oder die der Gegenwart vollständiger Elemente der gleichen Transposonfamilie bedürfen, um eine Ortsveränderung im Genom vorzunehmen. Die Ursachen hierfür sind uns durch die molekulare Analyse von Transposons verständlich geworden: Die vollständigen Transposons stellen die Genprodukte zur Verfügung, die erforderlich sind, um eine Transposition zu vollziehen. Viele partiell defekte transponierbare Elemente können hiervon zur Transposition Gebrauch machen. ! Eukaryoten besitzen viele unterschiedliche Grup-
pen von Transposons. Ihre Häufigkeit im Genom variiert in weiten Grenzen. Transpositionen können durch Umwelteinflüsse oder genetisch induziert werden und resultieren oft in Mutationen.
9.3.1 Fold-back-Elemente Wie bei allen Transposons, zeichnen sich die Insertionsstellen eines FB-Elements in das Genom durch eine Duplikation in der unmittelbaren Nachbarschaft seiner Enden aus. Die FB-Familie von Transposons ist durch eine große Heterogenität ihrer internen Sequenzen charakterisiert. Struktur und Sequenz ihrer Termini sind ähnlich. Die Termini sind aufgrund ihrer Struktur als Fold-back-(FB-)Sequenzen ausgewiesen (Abb. 9.4) (s. auch S. 241). Bei der Besprechung der Eigenschaften repetitiver DNA-Sequenzen haben wir gesehen, dass invertierte Repeats oder Fold-back-Sequenzen mit etwa 1% der genomi-
341
342
Kapitel 9: Instabilität des Genoms: Transposons und Retroviren
Abb. 9.4 a,b. Molekulare Struktur eines FB-Elements von Drosophila melanogaster. a Die terminalen invertierten Repeats sind durch Pfeile gekennzeichnet. Die Mittelregion eines FBElements ist weder in ihrer Länge noch in ihrer DNA-Sequenz festgelegt. Es können unterschiedliche Genomsequenzen in
das Transposon aufgenommen werden, die beträchtliche Längen (100 kb!) erreichen, oder die Mittelregion kann vollständig fehlen. b Aufbau einer terminalen Repeatregion. Sie besteht aus Sequenzrepeats zunehmender Länge, die auseinander entstanden sind. (Nach Bingham 1989)
schen DNA einen nicht zu übersehenden Teil des Genoms umfassen. Es handelt sich bei dieser DNAFraktion um DNA-Sequenzen, die mit der Kinetik monomolekularer Reaktionen renaturieren, da sich ihre komplementären Basenpaarungen innerhalb eines DNA-Einzelstranges ausbilden können (s. S. 241). Daraus wird deutlich, dass die beiden Enden eines FB-Elements aus gegenläufig orientierten, identischen DNA-Repeats bestehen müssen. Diese besitzen eine komplizierte innere Struktur. Die Gesamtlänge der terminalen invertierten Repeats ist bei verschiedenen FB-Elementen unterschiedlich. Sie variiert zwischen mehreren hundert Basenpaaren und mehreren kb. Diese Längenvariabilität beruht auf der unterschiedlichen Anzahl interner Repeats, aus denen sie zusammengesetzt sind. Beispielsweise enthält das FB4-Element von D. melanogaster in seinen Termini von außen her zunächst 22 Kopien eines 10 bp-Repeats, dem sich etwa 20 nicht völlig identische Kopien einer 20 bp-Repeatsequenz anschließen. Es folgen weitere etwa 500 bp mit einem 31 bp-Repeat. Die kürzeren Repeateinheiten leiten sich sequenzmäßig von den längeren Repeats ab (s. Abb. 9.4b). Unterschiede in der Gesamtlänge dieser terminalen FB-Regionen gehen hauptsächlich auf Unterschiede in der Anzahl von 31 bp-Repeats zurück. Die internen Bereiche der FB-Elemente zwischen den terminalen invertierten Repeats sind in Länge und Sequenz im Allgemeinen
sehr unterschiedlich und weisen keinerlei Verwandtschaft untereinander auf. Eine Ausnahme machen mehrere FB-Elemente mit einer identischen internen 4 kb-DNA-Region, die drei offene Leserasterbereiche enthält (engl. open reading frames, ORFs). Möglicherweise stellen diese FB-Elemente die ursprünglichen Elemente dieser repetitiven DNA-Sequenzfamilie dar, die noch die benötigten enzymatischen Mechanismen für selbständige Transpositionen beherbergen. Die übrigen FB-Elemente könnten aus ihnen durch Deletionen entstanden sein und transponieren nun aufgrund eines modifizierten Transpositionsmechanismus, der sich andere zelluläre Mechanismen zunutze macht. Solche defekten oder modifizierten FBElemente enthalten noch andere Genomsequenzen oder sogar andere Transposons. Hierdurch können im Genom beliebige größere DNA-Abschnitte in neue Positionen umgelagert werden, die für die Evolution neuer Gene oder für Veränderungen in den Regulationseigenschaften von Genen Bedeutung erlangen können. Sowohl in Prokaryoten als auch in Eukaryoten führt die Insertion von Transposons in Gene oder deren Regulationsregion nicht notwendig zur Inaktivierung, sondern kann Änderungen in deren Regulation verursachen. ! FB-Elemente sind durch terminale invertierte
Repeats komplexer Struktur gekennzeichnet. Es gibt
9.3 Eukaryotische Transposons
unterschiedliche Familien solcher Elemente, die sich in der Länge und der Struktur dieser invertierten Repeatregionen unterscheiden. In den meisten FBElementen ist der Bereich zwischen den terminalen invertierten Repeats ohne Bedeutung für die Funktion des Transposons.
9.3.2 Weitere Transposons mit terminalen invertierten Repeats Neben den FB-Elementen mit ihrer nicht festgelegten inneren Struktur gibt es andere Transposons mit terminalen invertierten Repeats (Abb. 9.5), die zusätzlich obligatorische, für Proteine kodierende DNA-Bereiche zwischen den terminalen invertierten Repeats besitzen. Das wichtigste, weil bestuntersuchte Transposon dieser Klasse ist der P-Faktor (oder P-Element) von D. melanogaster. Da dieses Transposon zudem große Bedeutung als Vektor für Transformationsexperimente in der Gentechnologie gewonnen hat (Technik-Box 18), soll es hier stellvertretend für andere Transposons mit terminalen invertierten Repeats besprochen werden. Die Entdeckung des P-Faktors geht auf populationsgenetische Untersuchungen in den 1960er Jahren zurück, die zeigten, dass in reziproken Kreuzungen zwischen bestimmten Stämmen von D. melanogaster bei den Nachkommen unterschiedliche Effekte auftreten, die später als Hybriddysgenese (engl. hybrid dysgenesis) bezeichnet wurden (s. S. 344). Durch Rubin, Kidwell und Bingham wurde 1982 gezeigt, dass für die mit Hybriddysgenese verbundenen Phänomene ein Transposon, eben der P-Faktor, verantwortlich ist. Ein P-Faktor ist 2907 bp lang (Abb. 9.5). Seine Insertionsstelle in das Genom ist durch eine flankierende 8 bp-Genomduplikation gekennzeichnet. Der P-Faktor selbst besitzt zwei kurze terminale invertierte Repeats von je 31 bp Länge, dem sich in geringem Abstand (ca. 100 bp) zwei kurze invertierte
Exon 0
Exon 1
Repeats von 11 bp anschließen. Darüber hinaus gibt es noch weitere interne direkte und invertierte Repeats, die offenbar bei Exzisionen des P-Faktors aus dem Genom eine Bedeutung gewinnen (s.u.). Der mittlere Sequenzbereich des P-Faktors enthält vier Exons, die als ORF 0, ORF 1, ORF 2 und ORF 3 bezeichnet werden. Die merkwürdige Nummerierung erklärt sich daraus, dass ORF 0 zuletzt entdeckt wurde. Die vier Exons kodieren für ein Enzym, das für die Transposition des P-Faktors erforderlich ist, die Transposase. Sie wird von einer 2,5 kb langen mRNA translatiert, die durch Splicing der Exons entsteht. Obwohl eine Transkription der P-Faktoren auch in somatischen Zellen stattfindet, ist die funktionelle mRNA ausschließlich in der Keimbahn vorhanden. In somatischen Zellen findet man ausschließlich ein größeres Transkript. Es ist dadurch gekennzeichnet, dass das dritte Intron in ihm noch enthalten ist, so dass eine funktionelle Transposase nicht synthetisiert werden kann. Dieser Unterschied zwischen Keimbahntranskripten und somatischen Transkripten der P-Faktoren findet eine Parallele in der Fähigkeit zur Transposition im Genom: Während unter bestimmten Bedingungen (denen der Hybriddysgenese (s. S. 344)) Transpositionen in der Keimbahn mit hoher Frequenz vorkommen, fehlen unter gleichen Bedingungen jegliche somatischen Transpositionen. Ursache für diesen Unterschied ist die Unfähigkeit somatischer Zellen, das dritte Intron aus dem primären Transkript zu entfernen. Führt man jedoch in somatische Zellen experimentell ein P-Element ein, dessen ORFs 2 und 3 nicht mehr durch ein Intron getrennt sind, so erfolgen auch in somatischen Zellen Transpositionen mit hoher Frequenz. Drosophila hat also einen spezifischen Mechanismus entwickelt, der Transpositionen in den Keimzellen gestattet, sie aber gleichzeitig in somatischen Zellen ausschließt. Diese Beobachtung ist bedeutungsvoll, da sie erneut dafür spricht, dass Transposons biologische Funktionen ausüben müssen. Die Inaktivierung des Transpositionsmechanismus in somatischen Zellen erscheint biologisch dann sehr
Exon 2
Exon 3
Abb. 9.5. Molekulare Struktur eines P-Elements von Drosophila melanogaster. Der 2907 bp lange P-Faktor besteht aus terminalen invertierten Repeats von 31 bp und vier Exons, die für die Transposase kodieren
343
344
Kapitel 9: Instabilität des Genoms: Transposons und Retroviren
sinnvoll, wenn dafür gesorgt werden soll, dass neue Transpositionsereignisse in den Keimzellen auf Nachkommen übertragen werden sollen. Erfolgen nämlich zugleich viele Transpositionsereignisse in somatischen Zellen, so ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass der Organismus ein Fortpflanzungsalter gar nicht erreicht: Durch hohe Transpositionsraten in somatischen Zellen steigt die Wahrscheinlichkeit,dass essentielle Gene zerstört und dadurch letale Effekte hervorgerufen werden. Die Transposition der P-Faktoren ist, wie die der FB-Elemente, mit einer Exzison aus dem Genom verbunden. Sie erfolgt mit Hilfe der Transposase, die einen P-Faktor genau aus seiner Insertionsstelle herausschneiden kann. In diesem Fall wird die ursprüngliche Genomkonstitution, wie sie vor der Insertion des P-Faktors bestand, wiederhergestellt: Man beobachtet genetisch eine Reversion der durch Insertion des P-Faktors verursachten Mutation. In vielen Fällen erfolgen Exzisionen jedoch ungenau. Das hat zur Folge, dass • Teile des P-Faktors im ursprünglichen Insertionsplatz zurückgelassen werden oder • dass Teile der flankierenden DNA – entweder an einer Seite des P-Faktors oder an beiden Seiten – zusammen mit dem P-Faktor aus dem Genom herausgeschnitten werden. Solche ungenauen Exzisionen können auf der Anwesenheit von Sequenzrepeats innerhalb des P-Faktors beruhen, die bereits erwähnt wurden. Die für eine ungenaue Exzision erforderlichen Repeats können sehr kurz sein: Es genügen bereits direkte Sequenzwiederholungen in der DNA von 2 bis 6 bp. Es leuchtet daher ein, dass die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass auch außerhalb des P-Faktors liegende Sequenzrepeats in solche Exzisionen einbezogen werden können. Obwohl die Transposase für die Exzision erforderlich ist, ist ihre genaue Funktion dabei ungeklärt. Sie könnte sich auf die Induktion von DNA-Brüchen im Transposonbereich beschränken oder auf die Paarung terminaler invertierter Repeats Einfluss nehmen. Durch die Paarung nichthomologer DNA-Bereiche in Repeatregionen könnten dann, eventuell unter der Mitwirkung von Reparaturmechanismen, Deletionen im P-Faktorbereich entstehen. Schließlich könnten durch Fehlpaarungen auch Replikationsfehler mit anschließender Exzision des P-Faktors erfolgen. Für solche
Mechanismen gibt es experimentelle Hinweise aus den Sequenzeigenschaften defekter P-Faktoren. Das Ergebnis ungenauer Exzisionsereignisse ist die Existenz zahlreicher unvollständiger P-Elemente im Genom. Diese sind selbst nicht mehr in der Lage zur Transposition, wenn ihre Transposase aufgrund der internen Deletionen defekt ist oder die invertierten Repeats durch terminale Deletionen unvollständig sind oder fehlen. Defekte in den terminalen Repeats verhindern weitere Transpositionen vollständig. In der Gegenwart von P-Elementen mit funktionsfähiger Transposase sind defekte P-Elemente hingegen dann noch zu Transpositionen imstande, wenn sie zumindest noch ihre terminalen invertierten Repeats besitzen. ! Der P-Faktor ist ein 2,9 kb langes Transposon mit
31 bp terminalen invertierten Repeats. Der mittlere Bereich der P-Faktor-DNA kodiert für eine Transposase. Die Synthese der funktionellen Transposase wird durch einen keimbahnspezifischen Splicingmechanismus gesteuert.
Bisweilen werden in der Literatur vollständige von defekten P-Elementen unterschieden. Vollständige Elemente werden als P-Faktor bezeichnet, während defekte Elemente oft P-Elemente genannt werden. Eine vergleichbare Nomenklatur besteht auch bei anderen Transposons.
Hybriddysgenese Die Erscheinung der Hybriddysgenese äußert sich in Sterilität, degenerierten Gonaden (darum auch ursprünglich engl. gonadal dysgenesis, GD, genannt), oder – bei Fertilität – in hohen Mutationsraten, die insbesondere von Chromosomenrearrangements begleitet sind, sowie in männlicher Rekombination (daher auch engl. male recombination, MR, genannt); bei Drosophila gibt es im Männchen normalerweise keine Rekombination. Die Hybriddysgenese beschränkt sich auf Kreuzungen zwischen bestimmten Stämmen, zum Beispiel zwischen sogenannten P-und M-Stämmen (Abb. 9.6). Eine Kreuzung zwischen diesen Stämmen ist nur dann dysgenisch (engl.dysgenic), wenn das Männchen aus einem sogenannten PStamm, das Weibchen aus einem sogenannten M-
9.3 Eukaryotische Transposons P-Stamm
M-Stamm
M-Stamm
P-Stamm
p
F1
normale Nachkommen
Hybriddysgenese
Abb. 9.6. Hybriddysgenese. Bei reziproken Kreuzungen von P- und M-Stämmen von Drosophila melanogaster kommt es in den Nachkommen gehäuft zu Mutationen und zu Sterilität, wenn die Männchen der Kreuzung aus einem P-Stamm kommen. Entstammen die Weibchen einem P-Stamm, so sind alle Nachkommen normal. Die Ursache für diesen Dysgenese-
effekt liegt in den P-Faktoren und P-Elementen (rote Markierungen in den Chromosomen) im Genom der P-Stämme. Gelangen solche Elemente in das Ei eines M-Stammes, so wird eine hohe Rate von Transpositionen induziert, da das Cytoplasma des Eies des M-Stammes keinen Repressor enthält
Stamm kommt. Die reziproke Kreuzung liefert völlig normale Nachkommen. Die Erklärung für diese ungewöhnlichen Kreuzungsergebnisse liegt darin, dass alle P-Stämme PFaktoren im Genom besitzen, während M-Stämme keine P-Faktoren im Genom enthalten. Gelangen PFaktoren über das männliche Genom in eine Eizelle, deren Genom keine P-Faktoren enthält, so werden die P-Faktoren aktiviert und beginnen mit hoher Frequenz zu transponieren. Hierdurch werden Mutationen und Chromosomenbrüche induziert, die zu defekten Gonaden bzw. zu hohen Mutationsraten in den Nachkommen führen. Warum aber beobachtet man dann solche Effekte nicht auch in der reziproken Kreuzung? Der Grund hierfür liegt in einer Eigenschaft des P-Faktors, die wir bisher noch nicht kennen gelernt haben: Der P-Faktor produziert einen Repressor, der in allen -Zellen vorhanden ist, deren Genom P-Faktoren besitzen (P-Cytotyp). Normalerweise wird durch ihn jegliche Transpositionsaktivität unterdrückt. Führt man jedoch in eine Zelle, die, wie das Ei eines MStammes, keinen Repressor besitzt (einen M-Cytotyp hat), P-Faktoren ein, so können diese mit Hilfe ihrer Transposase aktiviert werden. Da das Genom von M-Stämmen während der Oogenese nicht imstande ist, P-Repressor zu formen und vom Spermium kein
Cytoplasma mit P-Repressor zur Verfügung gestellt wird, beginnen die P-Faktoren aufgrund des Fehlens von Repressor zu transponieren. ! Hybriddysgenese beruht auf der Induktion von
Transpositionen in genetischen Konstitutionen, bei denen in repressorloses Eicytoplasma bei der Befruchtung Transposons (z. B. P-Faktoren) mit eigener Transposaseaktivität eingeführt werden.
Hybriddysgenese ist nicht allein an das P-M-System gebunden, sondern wird auch im I-R-System von Drosophila (s. S. 348) beobachtet. Beide Systeme sind formal vergleichbar, da sie beide auf ähnlichen Wirkungen von Transposons, dem P-Faktor auf der einen, dem I-Faktor auf der anderen Seite, beruhen. Die Erscheinung der Dysgenese der Nachkommen wird auch im I-R-System durch die Kreuzung bestimmter Stämme ausgelöst.
9.3.3 Retrotransposons Eine wichtige Klasse transponierbarer DNA-Sequenzen wird aufgrund ihrer strukturellen Ähnlichkeit zu
345
346
Kapitel 9: Instabilität des Genoms: Transposons und Retroviren
Retroviren (s. S. 355) unter der Bezeichnung Retrotransposons zusammengefasst (Abb. 9.7). Sie enthalten einen Protein-kodierenden DNA-Bereich, der für mehrere Proteine kodiert: • eine Protease, • eine reverse Transkriptase, • eine Ribonuklease H und • eine Integrase.
Bindungsstelle wie man sie auch bei Retroviren findet (s. S. 359). • Vor dem 5′-Ende des rechten LTR befindet sich die – meist purinreiche – Plusstrang-Primerbindungsstelle (engl. second oder (+)-strand primer bindings site). Die funktionelle Bedeutung dieser verschiedenen Sequenzelemente sowie der im Retrotransposon kodierten Proteine soll bei der Besprechung der Retroviren im Einzelnen diskutiert werden (s. S. 359). An dieser Stelle sei daher nur der Transpositionszyklus eines Retrotransposons kurz zusammengefasst (Abb. 9.8). Seine wesentlichen Schritte bestehen in der Transkription des Elements durch RNA-Polymerase II, die im Promotor des linken, also 5′-LTR die RNA-Synthese initiiert, und das gesamte Element in ein primäres Transkript kopiert. Die Transkription endet im rechten, also 3′-LTR. Die Transkripte dienen zunächst zur Synthese der verschiedenen bereits erwähnten Enzyme. Mittels der reversen Transkriptase können dann an weiteren primären Transkripten, über die Zwischenstufe eines DNA/RNA-Hybridmoleküls, doppelsträngige DNA-Moleküle gebildet werden. Dieses Molekül stellt eine komplette Kopie des Transposons dar und kann linear oder zirkulär sein. Unter den zirkulären Molekülen findet man auch solche, die nur noch ein LTR besitzen, ähnlich wie es bei den RNA-Molekülen beobachtet wird, die das Retrovirusgenom bilden. Mit Hilfe der Integrase können die zirkulären DNA-Moleküle mit zwei LTRs dann an beliebigen Stellen ins Genom integriert werden (Abb. 9.8). Allerdings besteht für die verschiedenen Transposons hinsichtlich der Integrationsstellen offenbar eine gewisse Präferenz für bestimmte Sequenzen. Solche Präferenzen können sich auf die allgemeine Basenzusammensetzung einer Region (meist AT-reich) oder aber auf bestimmte Nukleotidsequenzen beziehen. Ausgesprochene Sequenzspezifität der Insertion hat man beispielsweise bei einigen Insertionen des Transposon copia im white-Locus oder denen des Transposons gypsy im bithoraxLocus von Drosophila gefunden.
Der Protein-kodierende Bereich, dessen Länge aufgrund der spezifischen Sequenzstruktur der jeweiligen Gene bestimmt wird und zwischen 5 und 9 kb liegt (s. Tabelle 9.2 auf S. 351), ist am 3′- und 5′-Ende von zwei identischen terminalen Repeats flankiert, die man als lange terminale Repeats (engl. long terminal repeats, LTRs) bezeichnet. Ihre Länge liegt, je nach Sequenzfamilie, zwischen etwa 200 und 500 bp. Es gibt eine größere Anzahl Familien unterschiedlicher Retrotransposons (in Drosophila etwa 50), die sich in der Sequenz und der Länge ihrer LTRs unterscheiden und auch im kodierenden Bereich jeweils charakteristische Eigenschaften aufweisen, so dass es möglich ist, jedes dieser Elemente einer bestimmten Sequenzfamilie zuzuweisen. Die Struktur der LTRs ist sowohl für die Transkription als auch für den Transpositionsmechanismus von entscheidender Bedeutung. Funktionsfähige Retrotransposons bedürfen je zweier terminaler LTRs. Elemente mit nur einem LTR sind stets immobil. Ein LTR wird durch die folgenden Sequenzelemente charakterisiert: • Die Enden der LTRs enthalten kurze terminale invertierte Repeats. Das eine Ende ist meistens durch eine 5′-TG-3′-Sequenz, das andere durch eine 5′- CA-3′-Sequenz gekennzeichnet; • einen Transkriptionspromotor; • eine Kappe; • ein Polyadenylierungssignal; • Unmittelbar hinter dem 3′-Ende des linken LTR befindet sich die Minusstrang-Primerbindungsstelle (engl. first oder (–)-strand primer bindings site), der für die reverse Transkription der RNA erforderlich ist. Es handelt sich oft um eine tRNA-
U3
R
U5
PBS
gag
pol
env
PRR
U3
R
U5
Abb. 9.7. Molekulare Struktur eines Retrovirus. Die Regionen U3, R und U5 gehören zum LTR. PBS Primer binding site, PRR purinreiche Region, gag, pol und env Protein-kodierende Regionen
9.3 Eukaryotische Transposons Abb. 9.8. Insertionsmechanismus eines Retrovirus bzw. Retrotransposons ins Wirtszellgenom. Das gezeigte Retrovirusgenom besteht aus einer Doppelstrang-DNA (es ist nur ein Strang dargestellt, ausgenommen in den Regionen, in denen DNA-Sequenzen gezeigt werden). Nach einem Ringschluss der viralen DNA wird diese durch einen versetzten Schnitt, ebenso wie die WirtszellDNA, geöffnet (dünne Pfeile). Nach Ligation der viralen und der GenomDNA an den Bruchstellen erfolgt eine ReparaturDNA-Synthese, die beide komplementären Stränge vervollständigt. Dieser Mechanismus resultiert in der Entstehung kurzer Duplikationen der GenomDNA im unmittelbaren Insertionsbereich. Die Länge der Duplikation ist virusabhängig
U3
R
U5 PBS
PRR U3
R
U5
Zirkularisierung gag
pol
PBS U5
R
U3
C AT T C TAA
PRR
env U5
R
U3
A AT G T TAG
Öffnung der DNA gag
pol
PBS U5
R
U3
CA G TA A
env U5
PRR R
U3
AAT G AC X YZ
Wirtsgenom
Wirtsgenom
X' Y' Z'
Integration
Wirtsgenom
X
Y
Z
T G
X' Y' Z' A C
Genomduplikation
Die Struktur der primären Transkripte erklärt uns auch,auf welche Weise Retrotransposons flankierende Genomsequenzen bei Transpositionen mit sich führen können.Unterbleibt nämlich eine Termination der Transkription im rechten (3′-)LTR, so liest die RNAPolymerase die daran anschließenden Genom-DNASequenzen mit. Bei einer reversen Transkription des Primärtranskriptes werden diese dann zu Bestandteilen des Retrotransposons und können an neuen Genompositionen integriert werden. Im Gegensatz zu Retroviren sind – zumindest die meisten – Retrotransposons nicht in der Lage, infektiöse (extrazelluläre) Partikel zu produzieren. Somit scheint eine „horizontale“ Ausbreitung zwischen Individuen nicht möglich, sondern sie dürften ausschließlich durch die Keimzellen als Genombestandteile verbreitet werden. Allerdings hat die Gruppe von M. Kidwell Hinweise dafür finden können, dass Transposons bei Droso-
LTR
LTR
Provirus
C A X
Y
Z
G T X' Y' Z
Wirtsgenom
Genomduplikation
phila durch Milben übertragen werden können (Houck et al. 1991). Es dürfte sich bei dieser Übertragungsform um eine Besonderheit handeln, die mit der spezifischen Entwicklungsform von DrosophilaEmbryonen (s. Kap. 13.3.1) und der Lebensweise der Milben zusammenhängt. Die Übertragung von DNA in die Keimzellen des Embryos ist hier nämlich sehr einfach möglich, wie wir es bei der Besprechung der Technik der experimentellen Transformation von Genen sehen werden. Zumindest einige Retrotransposons werden sowohl in der Keimbahn als auch in somatischen Zellen intensiv transkribiert. Das erste bei Drosophila identifizierte Retrotransposon – copia – wurde aufgrund seines hohen Transkripttiters (Name!) als cDNA isoliert.Unter diesen Umständen ist es überraschend, dass sich Transpositionen nur mit geringer Häufigkeit ereignen (s. S. 341). Auffallend ist zudem, dass offenbar eine strikte Kontrolle der
347
348
Kapitel 9: Instabilität des Genoms: Transposons und Retroviren
Kopienanzahl für jede der Retrotransposonfamilien im Genom erfolgt, da sich diese stets in relativ engen Grenzen halten. Bei der hohen Transkriptionsrate würde man das Gegenteil,nämlich häufige Insertionen ins Genom, erwarten. Stattdessen bildet copia-RNA intrazellulär zusammen mit gag-Proteinen im Elektronenmikroskop nachweisbare, virusähnliche Partikel. ! Retrotransposons zeichnen sich durch eine genau
festgelegte Struktur mit LTRs und einer Reihe Proteinkodierender Gene, insbesondere durch eine reverse Transkriptase, aus. Trotz ihrer Ähnlichkeit zu Retroviren formen sie im Allgemeinen keine infektiösen Partikel, sondern werden als Bestandteile des Genoms vererbt.
9.3.4 Retroposons Neben den zuvor beschriebenen Gruppen von Transposons sind noch eine Vielzahl anderer Transposons bekannt, die keine auffälligen gemeinsamen Struktureigenschaften zeigen. Lediglich der zugrundeliegende Transpositionsmechanismus könnte ihnen allen gemeinsam sein. Dafür spricht, dass viele dieser beweglichen Elemente eine Poly[A]-Region an einem Ende besitzen (Abb. 9.9). Das wird als Anzeichen dafür angesehen, dass die Transposition über den Zwischenschritt von polyadenylierten Transkripten erfolgt, die mittels einer reversen Transkriptase in DNA umgewandelt werden, wie wir es bereit für Retrotransposons gesehen haben. Man hat daher diese Gruppe von Transposons auch Retroposons genannt, im Unterschied zu den Retrotransposons, die durch LTRs und die übrigen Merkmale retroviraler Elemente charakterisiert sind. Diese Bezeichnung
erscheint sehr sinnvoll, da sie eine wesentliche Eigenschaft der betreffenden Transposons herausstellt – die Transposition durch einen Mechanismus, der eine Funktion der reversen Transkriptase einschließt. Sie soll daher im Folgenden auch beibehalten werden, obwohl sie in der wissenschaftlichen Literatur nicht durchgängig verwendet wird. Im Übrigen besitzen Retroposons keine terminalen direkten oder invertierten Repeats. Ihre innere Struktur ist häufig durch ORFs gekennzeichnet, die für DNA-Bindeproteine, reverse Transkriptasen und Invertasen kodieren. Zu den Retroposons gehören auch prozessierte Pseudogene. Die bekanntesten Retroposons sind: • der I-Faktor von Drosophila, • die LINEs and SINEs (mit der Alu-Familie) von Säugern, • die IVS-Elemente der rDNA von Insekten und • das Cin4-Element von Zea mays. Im Folgenden soll der I-Faktor von D. melanogaster genauer besprochen werden, da über die biologischen Gesichtspunkte dieses Retroposons am meisten bekannt ist. Wegen der Bedeutung der LINEs and SINEs für Untersuchungen des menschlichen Genoms sollen anschließend auch diese in ihren wesentlichen Merkmalen dargestellt werden. ! Retroposons sind durch einen Transpositions-
mechanismus gekennzeichnet, der eine reverse Transkription polyadenylierter RNA einschließt.
Der I-Faktor Ähnlich wie der P-Faktor wurde auch der I-Faktor durch genetische Experimente entdeckt. Das I-RHybriddysgenesesystem ist dem P-M-System ver-
[TAAA]4
ORF 1
Abb. 9.9. Molekulare Struktur eines Retroposons: Der I-Faktor von Drosophila melanogaster. Die beiden ORFs (purpur) und ihre Transkriptionsrichtung sind durch darunterliegende Pfeile hervorgehoben. Die schwarz hervorgehobenen Regionen in den ORFs sind möglicherweise funktionell wichtige
ORF 2
Regionen der hier kodierten Proteine (von links: Nukleinsäurebindungsplatz, konservierte Proteinregion in verschiedenen Transposons, die dem I-Faktor ähnlich sind, reverse Transkriptase-Region, RNase-H-Region, Zinkfinger-Region). (Nach Finnegan 1989)
9.3 Eukaryotische Transposons
gleichbar; es beruht auf der Aktivität eines Transposons, das sich aber in seiner molekularen Struktur und in vielen funktionellen Eigenschaften vom PFaktor unterscheidet. Dieses Transposon, in seiner vollständigen Form I-Faktor, in der defekten Form I-Element genannt, hat eine Länge von 5371 bp. Im Genom wird es an beiden Seiten von einer 12 bpDuplikation genomischer DNA flankiert, die aber bei verschiedenen Insertionsstellen von I-Elementen in ihrer Länge zwischen etwa 10 und 14 bp variieren kann. Der I-Faktor besitzt zwar keine terminalen Repeats, aber sequenzmäßig stark konservierte Enden. Er ist am rechten Ende durch die Sequenz TCA(TAA)n charakterisiert, am linken durch die Sequenz CAGTACC. Kurz vor dem 3′-Ende liegt ein Polyadenylierungssignal (5′-AATAAA-3′), das eine Polyadenylierung der Transkripte ermöglicht. In seinem mittleren DNA-Bereich besitzt der I-Faktor zwei ORFs, die durch ein 471 bp-Intron (mit einem zusätzlichen internen, 228 bp langen ORF) getrennt werden. Hinweise darauf, dass die beiden ORFs zu einer mRNA zusammengefügt werden, gibt es bisher nicht. Die Aminosäuresequenz, die man aus dem ORF 2 ableiten kann, deutet auf eine reverse Transkriptasefunktion des Polypeptids hin. Der Transpositionsmechanismus lässt sich aus indirekten Beobachtungen ableiten. Wesentliches Argument für eine Transposition mit Hilfe einer reversen Transkriptase (RT) ist die erwähnte Sequenzähnlichkeit des ORF 2 zu den RTs anderer Elemente.Es ist vorgeschlagen worden, dass der Transpositionsmechanismus nach dem in Abb. 9.10 vorgestellten Modell verläuft. Ein Transkript wird mit seinem 3′-Ende (poly[A]-Ende) an das 5′-Ende eines DNA-Doppelstrangbruches ligiert.Das gegenüberliegende,versetzte 3′-Ende der DNA (engl. staggered ends) dient der reversen Transkriptase als Primer zum Auffüllen des Doppelstranges unter Verwendung des Transkriptes als Template. Nach dem Auffüllen und Ligieren kann dann der RNA-Strang nach Abbau durch RNase H mit Hilfe der DNA-Polymerase ersetzt werden. Ein solcher Mechanismus würde die erwähnte Variabilität der flankierenden Genomduplikationen erklären. Die Untersuchung verschiedener I-Elemente zeigt, dass sowohl terminale Deletionen an beiden Enden des I-Faktors als auch interne Deletionen auftreten können. Solche defekten Elemente sind ausschließlich in Regionen des Genoms beobachtet worden, die repetitive DNA enthalten, also wahrscheinlich heterochromatisch sind. Es ist nach
allen Beobachtungen unwahrscheinlich, dass defekte Elemente häufig, wenn überhaupt an Transpositionen teilnehmen können, wie es bei P-Elementen gefunden wird. Der Transpositionsmechanismus erfordert wahrscheinlich die Bildung vollständiger Transkripte. Zusätzlich sind an der Transposition vielleicht auch zelleigene Proteine beteiligt, die nicht im Transposon selbst kodiert werden. Der Zeitpunkt der Transpositionen des I-Faktors lässt den Verdacht aufkommen, dass meiotische Rekombinationsproteine eine Rolle spielen. In D. melanogaster sind verschiedene andere Retroposons bekannt, die jedoch im Einzelnen in ihren Eigenschaften viel weniger gut untersucht sind als der I-Faktor. Zu diesen Retroposons gehören das F-, G- und D-Element, jockey, Doc und die Typ-II-IVS der rDNA. ! Der I-Faktor von Drosophila ist ein Retroposon, das in ähnlicher Weise wie der P-Faktor Hybriddysgenese auszulösen vermag. Der Transpositionsmechanismus scheint über polyadenylierte Transkripte unter Mitwirkung einer reversen Transkriptase zu erfolgen, die möglicherweise im I-Faktor selbst kodiert ist.
LINEs In Säugern ist das wichtigste Retroposon das LINE-1 (L1). Seine Entdeckung geht auf die Analyse repetitiver DNA-Sequenzen des Säugergenoms zurück, die zwei auffallende Arten mittelrepetitiver DNA-Sequenzen angezeigt hat. Diese wurden als long interspersed und short interspersed nuclear elements bezeichnet. Die Bezeichnungen deuten bereits die wesentlichen allgemeinen Eigenschaften beider Retroposontypen an: Bei den long interspersed nuclear elements handelt es sich um repetitive DNA-Sequenzen von 4 bis 10 kb Länge, die sich mit 104 bis 105 Kopien über das Genom verteilt zwischen anderen DNA-Sequenzen eingestreut finden. Die short interspersed nuclear elements sind ebenfalls repetitive DNA-Sequenzen mit etwa 105 Kopien im Genom, die zwischen andere DNA-Sequenzen eingefügt, aber nur einige hundert Basenpaare (weniger als 500 bp) lang sind. Die weitere Analyse dieser beiden Sequenztypen hat gezeigt, dass es sich um Transposons handelt.
349
350
Kapitel 9: Instabilität des Genoms: Transposons und Retroviren Abb. 9.10. Transpositionsmechanismus des I-Faktors von Drosophila melanogaster. Zunächst wird ein vollständiges Transkript (roter Pfeil) des im Genom integrierten I-Faktors synthetisiert. Dieses Transkript kann sich mit Hilfe seiner 3′-UAA-Repeats an DNA-Einzelstrangbrüche binden. An dieser Bindung sind wahrscheinlich die Proteine, die vom ORF1 und ORF2 des I-Faktors kodiert werden, beteiligt (Ellipse). Die reverse Transkriptase, die vom ORF2 kodiert wird, synthetisiert danach einen zum Transkript komplementären DNAStrang (unterbrochene blaue Linie), der das 3′-Ende der Genom-DNA (rechts) als Primer verwendet. Nach Ligation des 3′-Endes des neuen DNA-Abschnittes an das 5′-Ende der Genom-DNA (links) wird die bestehende DNA/RNA-Hybridregion mittels der RNase-H-Aktivität des ORF2Proteinprodukts und normaler DNA-Polymeraseaktivität in eine DoppelstrangDNA umgewandelt, die nach Ligation ins Genom integriert ist. (Nach Finnegan 1989)
Retroposons mit DNA-Sequenzen, die den L1-Elementen sehr ähnlich sind, wurden in vielen Säugergenomen nachgewiesen (Tabelle 9.2). Offenbar leiten sie sich alle von einem ursprünglichen Element ab, das zwei ORFs besaß.Deren einer kodierte für eine reverse Transkriptase, wie wir es bereits beim I-Faktor gesehen haben. Der Charakter des vom zweiten ORF kodierten Proteins ist unklar. Innerhalb einer Art sind die verschiedenen Kopien einer L1-Sequenzfamilie weniger divergent in ihren Nukleotidsequenzen als zwischen verschiedenen Organismen. Man muss daher davon ausgehen, dass die Sequenzfamilie einer Art aus einem oder einigen wenigen ursprünglichen Elementen abzuleiten ist. Die Länge der L1-Elemente unterscheidet sich zwischen den verschiedenen Genomen. So ist die menschliche L1-Sequenz (L1Hs = L1 von Homo sapiens) 6,5 kb lang, während die der Maus (L1Md = L1 von Mus domesticus) 7 kb lang ist. Kom-
plette L1-Elemente besitzen einen poly[A]-Bereich am 3′-Ende und haben flankierende Duplikationen der Insertionsstelle im Genom, die wie beim I-Faktor für verschiedene Genomfragmente zwischen 5 und 19 bp in der Länge variieren können (Abb. 9.11). Diese strukturellen Eigenschaften deuten daraufhin, dass der Insertionsmechanismus, wie beim I-Faktor, über ein polyadenyliertes Transkript und einen reversen Transkriptasemechanismus verläuft (s.Abb. 9.10). Der überwiegende Teil der genomischen L1-Elemente (die auch die früher KpnI-Familie genannten Sequenzen einschließen) ist defekt und meist am 5′-Ende unvollständig (engl. truncated), wie man es für unvollständige Produkte der reversen Transkriptase, also für Moleküle, die von der RT nicht bis zum Ende synthetisiert worden sind, erwartet. Nur wenige Tausend der Genomelemente haben ihre vollständige Länge. Für die kürzeren Elemente beobachtet man eine zuneh[A]n
5'– UTR
ORF 1
ORF 2
3'– UTR
Abb. 9.11. Molekulare Struktur eines L1-Elements von Säugern. L1-Elemente besitzen zwei ORFs (purpur). Am 3′-Ende sind sie durch eine Poly[A]-Region gekennzeichnet, ihre Struktur ähnelt der des I-Faktors von Drosophila (Abb. 9.9). (Nach Hutchinson 1989)
9.3 Eukaryotische Transposons
Tabelle 9.2. Sequenzstruktur von Transposons Name
Gastgenom
IS1
E. coli
IS2
E. coli
IS4
E. coli
IS10
E. coli
IS50
Länge (bp)
Enden
Art
Duplikation (bp)
768
20/23
IR
9 (8 –11)
1327
32/41
IR
5
1426
16/18
IR
1329
17/22
IR
9
E. coli
1534
8/9
IR
9
Tn3
E. coli
4957
38
IR
5
Tn5
E. coli
5800
1533
IRa
9
Tn7
E. coli
14 000
160
IR
Tn9
E. coli
2638
23
IR
9 9
11 – 13
attT7 b
Tn10
E. coli
9300
1329
IRc
IS66
Agrobacterium tumefaciens
2548
18/20
IR
8
Ty1
Saccharomyces cerevisiae
5900
334
LTR
5
Cin4
Zea mays
ca. 7000
Ac
Zea mays
4600
IR
8
Tc1
Caenorhabditis elegans
1610
54
IR
2
Tdd-1
Dictyostelium discoideum
4800
313
LTR
8 – 10
Ingi
Trypanosoma brucei
5200
253
DR
R2
Bombyx mori
4200
poly[A]
P-Faktor
Drosophila melanogaster
2907
31
I-Faktor
Drosophila melanogaster
5371
3′-Ende: (TAA)4
F-Faktor
Drosophila melanogaster
4700
nicht spezifiziert
gypsy
Drosophila melanogaster
7469
482
LTR
4
gypsy
Drosophila virilis
7154
411
LTR
?
gypsy
Drosophila hydei
7154(?)d
?
LTR
?
copia
Drosophila melanogaster
5164
302
LTR
5
micropia
Drosophila hydei
5461
239
LTR
4
mariner
Drosophila mauritiana
1286
28
IR
2
Alu
Homo sapiens
ca. 75 – 7500
L1
Homo sapiens
L1
Mus musculus
poly[A] 11
3 – 16
4 14
IR
8 10 – 14 8 – 13
poly[A]
variabel
ca. 6000
poly[A]
ca. 12 (variabel)
ca. 6000
poly[A]
ca. 14 (variabel)
Daten nach verschiedenen Autoren (s. auch Berg u. Howe 1989) IR: Inverted Repeats, LTR: Long Terminal Repeats, DR: Direkte Repeats a Diese IR entsprechen dem IS50-Element b Tn7 inseriert in einem spezifischen Bereich des E.-coli-Chromosoms, dem attT7-Locus (vergleichbar dem attB-Locus für den Bakteriophagen λ). Es handelt sich jedoch bei der Insertion nicht, wie bei λ, um ein Rekombinationsereignis, das zur Insertion führt, sondern um einen Transpositionsmechanismus c Diese IR entsprechen dem IS10-Element d Hochstenbach, pers. Mitteilung
351
352
Kapitel 9: Instabilität des Genoms: Transposons und Retroviren
mende Variabilität in der DNA-Sequenz der ORFs. Das deutet auf einen evolutionär älteren Ursprung solcher defekten Elemente, die allmählich durch Mutationen degenerieren. Expression kompletter L1-Elemente in Transkripten hat man bisher nur in Ausnahmefällen beobachten können, beispielsweise in Teratocarcinomazellen. Kürzere, also defekte L1-Elemente sind in der KernRNA zu finden, stammen aber wahrscheinlich als Folge einer ungenauen Termination von der Transkription benachbarter Gene her. Die Transkription von L1-Elementen erfolgt durch RNA-Polymerase II. Abb. 9.12 gibt einen Eindruck von der Verteilung von L1Hs-Elementen im Bereich der β-Globingenfamilie des Menschen. Bei der Maus findet man innerhalb eines Bereiches von 65 kb 17 L1Hs-Elemente. Sie sind oft mit Pseudogenen (s. S. 354) oder anderen Transposons assoziiert oder in andere L1-Elemente integriert. Aktive Transpositionen hat man durch die Beobachtung von Polymorphismen in einigen Genen des Menschen und von Mäusen auffinden können. In einem Fall hat man die Insertion eines L1-Elements in ein Oncogen (s. S. 359) in menschlichen Tumorzellen auffinden können. Diese L1-Insertion war in den übrigen somatischen Zellen nicht vorhanden. Ob sie jedoch die Ursache für die Bildung des Tumors ist, konnte nicht geklärt werden, wenn es auch durchaus als möglich erscheint (vgl. Kap. 14.4.1). Insgesamt deuten alle Beobachtungen daraufhin, dass Transpositionen von L1-Elementen gelegentlich stattfinden. Der angenommene Transpositionsmechanismus gibt hingegen keine Hinweise darauf, dass – ähnlich wie bei Retrotransposons, FBElementen oder P-Faktor-ähnlichen Transposons – ein spezieller Exzisionsmechanismus existiert, der für ein Ausschneiden von Retroposons verantwortlich sein könnte. Dementsprechend gibt es für das Vorkommen von Exzisionen von Retroposons auch keine experimentellen Hinweise.
ψβ 2
ε
SINEs LINEs
Gγ
Aγ
ψβ1
δ
Die LINEs sind im Wesentlichen durch eine relativ homogene Familie repetitiver DNASequenzen, die L1-Familie, im Säugergenom repräsentiert. Hinsichtlich der Kopienanzahl vergleichbar umfangreiche andere LINE-Familien gibt es offenbar nicht. Unklar ist aber, ob es überhaupt andere LINE-Sequenzfamilien mit sehr viel niedrigeren Kopienzahlen gibt. Mit den LINEs verwandte Elemente hat man in anderen, evolutionär weit entfernt liegenden Organismengruppen gefunden. Bekannte Elemente dieses Typs sind das R2-Element des Seidenspinners Bombyx mori, das Cin4-Element von Zea mays, das IngiElement von Trypanosoma brucei, und die verschiedenen bereits zuvor erwähnten Elemente von D. melanogaster. ! Im Säugergenom gibt es Retroposons, deren vor-
herrschender Vertreter das LINE-1-Element ist. Seine Länge (4 bis 10 kb) kennzeichnet es als long interspersed nuclear element. Es kommt im menschlichen Genom mit einer Häufigkeit von bis zu 1 000 000 Kopien vor. Transkription erfolgt durch RNA-Polymerase II.
SINEs Im Gegensatz zu den zuvor besprochenen Retroposons haben SINEs keine eigenen Protein-kodierenden DNA-Sequenzen. Wie LINEs sind sie durch eine Poly[A]-Sequenz am 3′Ende und durch flankierende Genomduplikationen variabler Länge (7 bis 30 bp) gekennzeichnet. Die Gesamtlänge von kompletten SINEs liegt bei 300 bp, wie sie zum Beispiel die bestcharakterisierte SINEFamilie in Säugern, die menschliche Alu-Familie, besitzt. Identifiziert wurde diese Familie von Retroposons, wie bereits erwähnt, als repetitive DNASequenzfamilie, deren Kopien zwischen andere DNA-
β
Abb. 9.12. Verteilung von L1-Elementen und SINEs im menschlichen β-Globincluster. (Nach Singer u. Berg 1991)
9.3 Eukaryotische Transposons
Sequenzen eingefügt sind. Bei einer Kopienanzahl von einer halben Million im menschlichen Genom umfasst die Alu-Familie immerhin etwa 5 % der menschlichen DNA. Man findet im Mittel alle 5 kb ein solches Alu-Element. Alu-Elemente besitzen eine interne Repeatstruktur, die sich auf die Duplikation einer etwa 130 bp langen DNA-Sequenz zurückführen lässt (Abb. 9.13). Allerdings unterscheiden sich die linke und rechte Hälfte des Elements sowohl in ihrer allgemeinen Sequenz, da sie nur etwa 70 % Basenhomologie besitzen, als auch in der Tatsache, dass der linke Repeat einen RNA-Polymerase-III-Promotor besitzt, der im rechten Repeat fehlt. Der rechte Repeat besitzt andererseits Sequenzbereiche, die im linken Repeat nicht vorhanden sind. Die Sequenzanalyse ergab, dass die Alu-Elemente zwar keine Protein-kodierenden DNA-Sequenzen enthalten, wohl aber eine auffallende Homologie zu einer RNA, der 7SL-RNA, besitzen, die zu den kleinen cytoplasmatischen RNAs (engl. small cytoplasmic RNA, scRNA, s. Tabelle 3.3) gehört. 7SL-RNA ist ein Bestandteil des intrazellulären Transmembrantransportsystems und wird, wie auch 5S-rRNA, U6-snRNA und tRNAs, durch RNAPolymerase III transkribiert (s. S. 80). In den Alu-Elementen ist allerdings ein größerer interner Bereich der 7SL-RNA deletiert (Abb. 9.13), so dass die Entstehung komplexer als durch direkte reverse Transkription verlaufen sein muss. In anderen Säugergruppen findet man SINEs, die sich von anderen RNA-Polymerase-III-transkribierten Genen, z. B. U3snRNA, ableiten. Auffallend ist hierbei, dass die SINEs oft im 3′-Bereich der ursprünglichen RNAs deletiert (engl. truncated) sind. Eine Erklärung für ihre Entstehung durch reverse Transkription ergibt sich, wenn
7SL-RNA A
B Alu-Element
Abb. 9.13. Molekulare Struktur eines Alu-Elements. Alu-Elemente des Menschen zeigen einen Aufbau, der auf eine Abstammung von 7SL-RNA hinweist. Sie erscheinen als Duplikation einer 7SL-RNA, im rechten Teil fehlt jedoch der zweiteilige RNA-Polymerase-III-Promotor (A und B). Außerdem enthält der rechte Teil des Alu-Elements einen DNA-Bereich, der nicht aus der 7SL-RNA abzuleiten ist (rot). (Nach Deininger 1989)
man die Sekundärstruktur der RNA-Moleküle, beispielsweise der U3-snRNA, in Betracht zieht (Abb. 9.14). Nimmt man an, dass das 3′-Ende der U3-snRNA als Primer für die reverse Transkriptase dient, so sieht man, dass aufgrund der Basenpaarung innerhalb der U3-snRNA die gesamte 3′-Region im reversen Transkript fehlt. Die Alu-Familie wäre in ihrer Struktur durch die Sekundärstruktur der 7SL-RNA zu erklären. Nach der reversen Transkription muss dann eine Duplikation erfolgt sein, die mit Änderungen im Molekülbereich verbunden ist, deren Einzelheiten wir nicht kennen. Die Struktur der SINEs gibt uns einen bemerkenswerten Einblick, auf welche Weise Transposons sich aus normalen genomischen DNA-Sequenzen neu entwickeln können. Die Gegenwart eines RNA-Polymerase-IIIPromotors in den Alu-Elementen und anderen SINEs zeigt an, dass sie durch RNAPolymerase III transkribiert werden. In einzelnen Geweben, beispielsweise im menschlichen Gehirn, findet man vollständige Transkripte einzelner AluElemente. Über die Expression in Keimbahnzellen ist hingegen, wie auch bei LINEs und anderen Transposons wenig bekannt, obwohl gerade hier die für das Genom entscheidenden Transpositionsereignisse stattfinden müssen. Generell gilt für SINEs, im Gegensatz zu einigen anderen Transposons, dass ihre Transkription stark gewebespezifisch kontrolliert ist. Eine Erklärung dafür könnte darin liegen, dass auch 7SL-Gene (und tRNA-Gene) in ihrer Expression durch gewebespezifische upstream-Regulatorsequenzen kontrolliert werden, die bei der Retroposition der SINEs verlorengegangen sind. Dann wären solche Elemente nicht regulierbar und damit vermutlich transkriptionell inaktiv. Eine Transkription wäre nur dann zu erwarten, wenn solche Elemente im Regulationsbereich oder Transkriptionsbereich anderer Gene liegen. Tatsächlich findet man auch, ähnlich wie bei LINEs, in somatischen Zellen Transkripte, die Kotranskripte von benachbarten RNA-Polymerase-II-transkribierten Genen darzustellen scheinen. SINEs gleichen auch darin den LINEs, dass sie vielfach in der Umgebung von Genen liegen. Als Beispiel sei wiederum die β-Globingenfamilie gewählt (Abb. 9.12). Die Abbildung zeigt, dass im menschlichen β-Globinbereich LINEs und SINEs dicht benachbart vorkommen.
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Kapitel 9: Instabilität des Genoms: Transposons und Retroviren
9.4 Prozessierte Pseudogene
Abb. 9.14. Entstehung von SINEs durch reverse Transkription aus snRNAs. Das freie 3′-OH-Ende der U3-snRNA, das sich am Ende einer stabilen intramolekularen Doppelstrang-RNARegion befindet, kann als Primer für die reverse Transkriptase zur Bildung eines DNA-Stranges dienen. Dieser Strang wird in Position 74 (A) initiiert und wird unter Öffnung der ersten Doppelstrang-Region (auch A-Stamm genannt) bis zur cap synthetisiert. Diese Einzelstrang-DNA kann anschließend durch Rekombination ins Genom eingefügt werden. (Nach Bernstein et al. 1983)
! Das bekannteste Retroposon der SINEs (short
interspersed nuclear elements) ist die menschliche AluFamilie, die mit einer Länge von etwa 300 bp und 500 000 Kopien im Genom 5 % der DNA umfasst. Die Alu-Familie leitet sich von der Sequenz der 7SL-RNA ab, und die Nukleotidsequenz der übrigen SINEs zeigt deren Herkunft von tRNAs an. SINEs werden demgemäß auch von RNA-Polymerase III transkribiert.
Eine Gruppe von DNA-Sequenzen, die wir bereits im Zusammenhang mit der Besprechung der Globingene kennen gelernt haben (s. S. 304), sind die nichtfunktionellen prozessierten Pseudogene (engl. processed pseudogenes). Ihre strukturellen Eigenschaften, nämlich • das Fehlen von Introns und • der Besitz einer Poly[A]-Sequenz am 3′-Ende sowie • das häufige Fehlen des 5′-Endes, lassen eine deutliche Beziehung dieser Pseudogene zu Retroposons erkennen. Alle Anzeichen sprechen dafür, dass prozessierte Pseudogene durch reverse Transkription polyadenylierter Transkripte entstehen und dann ins Genom integriert werden. Der Integrationsmechanismus wäre dem vergleichbar, der bereits für Retroposons dargestellt worden ist (Abb. 9.10). Prozessierte Pseudogene sind vornehmlich bei Säugern in großer Anzahl beobachtet worden, während sie bei Invertebraten bisher nicht gefunden wurden, also wenn überhaupt, dann zumindest vergleichsweise selten vorkommen. Prozessierte Pseudogene sollten von einer anderen Klasse von Pseudogenen unterschieden werden, die durch Duplikationen von Genomsequenzen entstanden sind und durch Verlust ihrer Regulationselemente oder aufgrund von Mutationen (z. B. Deletionen) nicht funktionell sind. Beide Arten von Pseudogenen lassen sich strukturell aufgrund ihrer Entstehung leicht unterscheiden. Genomduplikationen sollten ihre Introns noch enthalten und keine 3′-terminalen Poly[A]-Regionen besitzen, da diese erst posttranskriptionell angefügt werden. Prozessierte Pseudogene hingegen enthalten häufig terminale Poly[A]-Bereiche aber keine Introns, die bereits während der Transkription entfernt werden. ! Es gibt zwei Arten von Pseudogenen. Die eine
entsteht durch reverse Transkription polyadenylierter mRNAs und darauffolgende Integration ins Genom. Die zweite Art leitet sich von duplizierten Genen ab, die aufgrund von Defekten (z. B. durch ein fehlendes 5′-Ende) nicht funktionsfähig sind.
9.6 Retroviren
Das Vorkommen unterschiedlicher Arten von DNA-Sequenzen, die durch reverse Transkription und Insertion an Doppelstrangbrüchen in das Genom eingefügt werden,zeigt,dass wir es hier mit allgemeinen Genommechanismen zu tun haben, deren primäre Bedeutung wir noch nicht verstehen.Möglicherweise haben sie sich als evolutionäre Mechanismen zur Modifikation von Genen und zur Vergrößerung der Vielfalt des genetischen Materials entwickelt, ebenso wie Mutationen für die Evolution unentbehrlich sind. Ausgangspunkt der Entwicklung solcher Transpositionsmechanismen könnten allgemeine zelluläre Mechanismen wie Reparaturprozesse und Rekombinationsmechanismen sein.
9.5 Funktionelle Bedeutung von Transposons Nachdem wir in den vorangegangenen Abschnitten einen Einblick in die Vielfalt der Struktur und der Eigenschaften von Transposons erhalten haben, bleibt zu fragen, ob Transposons funktionelle Bestandteile des Genoms sind oder ob sie, wie vielfach behauptet, lediglich Parasiten des Genoms darstellen. Betrachten wir zunächst,welche Funktionen von Transposons wir im Einzelnen kennengelernt haben. Wir können hierbei zwei Aspekte unterscheiden: • den der Hybriddysgenese und • den der Funktion in Zusammenhang mit der Erhaltung und Neubildung von Telomeren in Drosophila (s. S. 236). Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob die Erscheinung der Hybriddysgenese eine abnormale Situation darstellt, in der Transposons der Kontrolle des Genoms entglitten sind, oder ob es auch evolutionsbedingte Gründe geben könnte, dass diese Form von Genomveränderungen biologische Bedeutung besitzen. Da Hybriddysgenese nur bei einer Inkompatibilität zweier elterlicher Genome eintritt, könnte ihre Bedeutung darin liegen, die Bildung von Hybriden aus zwei genetisch nicht sehr ähnlichen Genomen zur verhindern. Durch eine solche Funktion von Transposons ließe sich verstehen, wie es zu genetischen Fortpflanzungsbarrieren zwischen (sympatrischen) Arten kommt.Verschiedene Arten besitzen im Allgemeinen unterschiedliche, arttypische Transposons, die möglicherweise mit einem artfremden Genom nicht kompatibel sind und infolge-
dessen durch Hybriddysgenese die Aufrechterhaltung der Artgrenzen sicherstellen könnten. Ein starkes Argument für die funktionelle Bedeutung von Transposons im Genom ist die Beobachtung, dass in Drosophila melanogaster die Telomeren durch regelmäßige Transpositionen des HeT-Elementes kontinuierlich erneuert werden. Erfolgreiche Transpositionen ereignen sich in etwa 1% der männlichen Keimzellen und sind damit außerordentlich häufig. In diesem speziellen Fall muss dem Transposon eindeutig eine zelluläre Funktion zugewiesen werden, die zugleich erklärt, warum in der Keimbahn Mechanismen zur Erhaltung der Transpositionsfähigkeit, wie etwa das keimbahnspezifische Processing von P-Elementtranskripten, entwickelt worden sind (s. S. 343). ! Transposons erfüllen, zumindest in der Evolution,
Aufgaben im Genom, die ihre Anwesenheit und Stabilität als Bestandteile des Genoms erklären.
9.6 Retroviren Bei den Retroviren handelt es sich um infektiöse virale Partikel, deren Genom aus Einzelstrang-RNA besteht (Abb. 9.15). Ihre Genomstruktur ist eng verwandt mit der der bereits beschriebenen Retrotransposons (s. S. 346f), und sie können, wie diese, als ins Genom integrierte Proviren als endogene Bestandteile eukaryotischer Genome angesehen werden. So besitzen sie die für die Integration ins Wirtszellgenom erforderlichen charakteristischen LTRs sowie drei Protein-kodierende Genbereiche, die für die Vermehrung des Virus erforderlich sind (Abb. 9.16). Diese enthalten die Information • für Proteine, die mit der Nukleinsäure des Virus assoziieren und diese verpacken (gag, für engl. group-specific-antigens), • für eine RNA-abhängige DNA-Polymerase, auch reverse Transkriptase genannt (pol, für engl. polymerase), und • für die Hüllproteine (env, für engl. envelope), die in der Zellmembran für die äußere Verpackung des Virus sorgen. Eine wesentliche Eigenschaft der Retroviren ist ihr Vorkommen
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Kapitel 9: Instabilität des Genoms: Transposons und Retroviren
Abb. 9.15a–c. Modell eines Retrovirus. a Dreidimensionales Modell, b, c Schemata mit den molekularen Komponenten. Die drei viruseigenen Gene gag, pol und env kodieren für jeweils mehrere Polypeptide, die nach ihrer Synthese zerschnitten werden. Das env-Polypeptid liefert das Oberflächenglykoprotein gp71 und das Transmembranprotein p15E, die durch Disulfidbrücken miteinander verbunden bleiben. Das gag-Polypeptid besteht aus dem inneren Hüllprotein (Inner Coat Protein) p15C, dem Haupt-Core-Protein p30 und dem Core-assoziierten Protein p12. (a und b: H. Frank, Tübingen)
• sowohl in einem endogenen Zustand (als Provirus) • als auch in einem exogenen Zustand, der zu infektiösen Viruspartikeln führt. Im endogenen Zustand geht von Retroviren normalerweise keine pathogene Wirkung aus, während sie im exogenen Zustand pathogen sein können.
Virussystematik Entdeckt wurden diese pathogenen Eigenschaften von Retroviren bereits sehr früh durch Experimente, bei denen Hühnern Leukämie durch zellfreie Substrate
übertragen werden konnte. Peyton Rous erkannte in der Folge (1911), dass das Rous Sarcoma Virus (RSV) in Hühnern Tumoren zu induzieren vermag. Das RSV wird daher auch Avian Sarcoma Virus (ASV) genannt. Die Fähigkeit, Tumoren zu induzieren, wurde auch für andere Retroviren nachgewiesen (Tabelle 9.3). Sie werden daher auch Oncoviren genannt. • Oncoviren unterscheiden sich in der Ultrastruktur ihrer äußeren Membranfortsätze von der zweier anderer Retrovirustypen, • den Lentiviren und • den Spumaviren. Diese Virussystematik basiert auf elektronenmikroskopischen Untersuchungen. Der heute bekannteste
9.6 Retroviren
Tabelle 9.3. Virusklassifikation Oncovirinae Oncovirus, Typ B Mouse Mammary Tumor Virus (MMTV) Oncovirus, Typ C Maus-Leukämie- und Sarkomaviren Vogel-Leukämie- und Sarkomaviren Oncovirus, Typ D Mason-Pfitzer Monkey Virus (MPMV) Lentivirinae (auch E-Typ-Virus genannt) Lentivirus Human Immunodeficiency Virus (HIV) Simian Immunodeficiency Virus (SIV) Goat Leukoencephalitis Virus (GLV) Feline T-Lymphotropic Lentivirus (FTLV) Spumavirinae (auch F-Typ-Virus) Spumavirus (Foamy Virus) Human Foamy Virus Nach Koch (1987)
pathogene Vertreter der Lentiviren ist das menschliche Immunschwächevirus HIV (von engl. human immunodeficiency virus) oder Aids-Virus (engl. acquired immunodeficiency syndrome virus). Spumaviren hingegen scheinen keine pathogenen Vertreter einzuschließen.
Vermehrungszyklus Zum Verständnis ihrer tumorinduzierenden Wirkungen ist es notwendig, den Lebenszyklus der Retroviren zu betrachten (Abb. 9.16). Die Infektion einer Wirtszelle erfolgt nach der Adsorption des Virus mit Hilfe seines Hüllproteins an Rezeptoren in der Zellmembran. Von der viralen RNA wird durch die virale reverse Transkriptase und die RNase H, u. U. noch innerhalb des Capsids, in der Zelle ein doppelsträngiges DNA-Molekül gebildet, das als Template zur Synthese von mRNA dient (Abb. 9.17). Die Replikation des Virusgenoms beginnt mit Hilfe einer tRNA als Primer durch Synthese des Minusstranges der DNA am 5′-Ende des Virusgenoms. Durch die RNase H wird anschließend der RNA-Strang des 5′-Endes
entfernt. Das 5′-Ende des neuentstandenen DNA-Einzelstranges bindet nunmehr an das 3′-Ende eines weiteren viralen RNA-Moleküls und kann über das restliche Genom hinweg durch die reverse Transkriptase repliziert werden. Die Synthese des Plus-DNAStranges beginnt an der Primerbindungsstelle des 3′-Endes des Virusgenoms. Als Primer für die Replikation dienen wahrscheinlich Oligonukleotide, die durch die RNase H gebildet werden. Nach Synthese eines etwa 300 bp langen DNA-Fragmentes am 3′Ende des Genoms im Bereich des rechten LTR kann diese Einzelstrang-DNA als Primer der Plus-DNAStrangsynthese in dem linken LTR dienen. Dieser komplexe Replikationsmechanismus erklärt die veränderte Struktur der LTRs in der doppelsträngigen viralen DNA, die sich nunmehr, möglicherweise durch Bildung eines Ringes, als Provirus ins Genom der Wirtszelle einfügen kann. Die Integration ist mit der Bildung von terminalen Duplikationen genomischer DNA verbunden, wie wir sie bereits von den Retrotransposons her kennen. Retroviren sind also den Retrotransposons sehr ähnlich.Sie unterscheiden sich im Wesentlichen durch den Besitz genetischer Information für Proteine, die es ermöglichen, extrazelluläre infektiöse Partikel zu formen. Retrotransposons und Retroviren werden wegen ihrer strukturellen Ähnlichkeit oft auch als Retroelemente bezeichnet. Nach Integration eines Retrovirus ins Genom kann es durch die wirtszelleigene RNAPolymerase II nach Initiation im Promotor des LTR transkribiert werden. Hierdurch werden die für die Virusproduktion aus Virus-kodierten Proteinen erforderlichen mRNAs hergestellt. Diese gestatten die erneute Produktion viraler Partikel, die aus der Zelle entlassen werden und damit infektiös sind. Die Virusproduktion ist oft letal für die Zelle. Besonders durch die intensive Untersuchung von HIV ist in den letzten Jahren erkannt worden, dass manche Retrovirusgenome komplexe Regulationssysteme für die Synthese der verschiedenen Virusbestandteile enthalten, die im Wesentlichen auf differenziellem Splicing verschiedener Transkripte beruhen. Es ist durchaus möglich, dass vergleichbare komplexe Regulationsmechanismen auch für andere Retroviren bestehen.
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Kapitel 9: Instabilität des Genoms: Transposons und Retroviren
env Rezeptor
Lyse und Reverse Transkription
Insertion
Abb. 9.16. Infektionszyklus eines Retrovirus. Die Hüllproteine des Virus treten in Kontakt mit Rezeptoren an der äußeren Zellmembran. Das Virus dringt anschließend in die Zelle ein, wobei es eingekapselt wird. Nach Lyse des encystierten Virus und seines Capsids wird die virale RNA durch die reverse Transkriptase in Doppelstrang-DNA umgewandelt (s. Abb. 9.17). Diese kann als Provirus ins Wirtszellgenom integriert werden. Polyadenylierte Transkripte sorgen für die Produktion neuer virusspezifischer Proteine, die anschließend zur Verpackung neusynthetisierter viraler RNA dienen. Die Zelle entlässt dann, meist unter Lyse, neue Viren
Zellkern Virus-RNA
Chromosomen gag
env pol Virusproteine Verpacken
Viruspartikel
! Retroviren gleichen in ihrer Struktur Retrotrans-
posons, kodieren jedoch zusätzlich zur reversen Transkriptase und RNase H noch weitere Proteine, die zur Bildung extrazellulärer infektiöser Partikel erforderlich sind. Retroviren können als Proviren ins Genom eingebaut und mit ihm an Nachkommen vererbt werden. Manche Retroviren können die Bildung von Tumoren induzieren.
Integration ins Wirtsgenom Die Integration des Virusgenoms ins Wirtszellgenom erfolgt im Allgemeinen zufallsgemäß, wie wir
es bereits bei der Integration von Retrotransposons gesehen haben. Jedoch können bestimmte Genomsequenzen bevorzugt als Insertionsstellen dienen. Offenbar wird die Provirus-DNA, deren Transkription am Promotor innerhalb des 5′-LTR beginnt, gelegentlich über den 3′-LTR hinweg abgelesen und bildet somit Transkripte, die flankierende Genombereiche enthalten (Abb. 9.18). Solche RNA-Sequenzen können in ein Viruspartikel eingeschlossen werden. Vermutlich durch illegitime Rekombination zwischen den zwei hierin enthaltenen RNA-Molekülen während der reversen Transkription nach erneuter Infektion einer Zelle entstehen partiell defiziente retrovirale Genome mit Sequenzen zellulärer Gene. Als Folge hiervon kann das Virus zu
9.6 Retroviren 5'
R
U5 PBS
PRR
U3
R
3'
PBS U5 PBS
PRR
U3
R
PBS
PRR
U3
R R
U5 PBS
PRR U3 PRR U3
R R
U5 PBS
PBS
PRR PRR
U3
R
U5 PBS
PBS
PRR U3 PRR U3
R R
U5 PBS U5 PBS
Minusstrang-Synthese Primer
R
PBS PBS
Plusstrang-Synthese
R
U5
R
PBS U5 PBS
PRR U3
U3
U3 U3
R R
U5 U5
PBS PBS
PRR U3 PRR U3
R R
U5 U5
LTR
LTR
Abb. 9.17. Entstehung der LTRs von Retroviren. Die im Viruspartikel enthaltene Einzelstrang-RNA (Plusstrang) gestattet nach Priming der DNA-Synthese durch Bindung einer tRNA am Primer-binding-site (PBS) den Beginn der DNA-Synthese am 5′-Ende der viralen RNA, die gleichzeitig abgebaut wird. Nach Versetzung des neusynthetisierten DNA-Einzelstranges an das 3′-Ende der viralen RNA kann die Synthese des Minus-DNAStranges vervollständigt werden. Die komplementäre RNA wird, ausgenommen die purinreiche Region (PRR), abgebaut.
Die verbleibende RNA der PRR dient als Primer zur Initiation der Plusstrang-DNA-Synthese. Erreicht diese das frühere 3′-Ende der RNA, wird das neusynthetisierte Teilstück des Plusstranges an das entgegengesetzte Ende des DNA-Minusstranges verlagert und kann somit die Synthese des Plusstranges bis zur U5-Region beenden. Auch der Minusstrang wird nun vom PBS-Bereich her aufgefüllt, so dass beide Stränge zwei vollständige und identische LTRs enthalten
einem tumorinduzierenden Virus werden. Führt der Einschluss eines zelleigenen Gens in ein Virusgenom zur Entstehung eines Tumorvirus, so wird das betreffende Gen allgemein als virales Oncogen (vonc) bezeichnet. Sein im Wirtszellgenom natürlich
noch immer vorhandenes normales zelluläres Gegenstück bezeichnet man als zelluläres Oncogen (c-onc, von engl. cellular oncogene) oder auch als Protooncogen.
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Kapitel 9: Instabilität des Genoms: Transposons und Retroviren Oncogen LTR
Provirus gag pol env
Exon 1 Exon 2 LTR Deletion im Genom und Fusion Provirus – Oncogen
LTR
gag pol
primäres Transkript
Splicing
virale mRNA
Rekombination während reverser Transkription
normales virales Transkript
LTR
gag pol
LTR
Abb. 9.18. Mögliche Entstehung eines Oncovirus. Durch eine DNA-Deletion im Bereich eines Provirus wird ein zelluläres Oncogen an die Bruchstelle im Provirus verlagert. Das primäre Transkript dieses Fusionsproduktes, das unter der Kontrolle der Regulationsregion in dem linken LTR gebildet wird, unterliegt zunächst einem normalen Processing, so dass die Introns aus dem Oncogen entfernt werden. Anschließend erfolgt die reverse Transkription. Hierbei kann es mit reversen Transkripten eines normalen Retrovirusgenoms zur Rekombination kommen. Als Folge dieser Rekombination entsteht ein Retrovirus mit zwei terminalen LTRs, das ein Oncogen ohne Introns enthält und selbst, vorwiegend im env-Bereich, partiell defekt ist. (Nach Coffin 1992)
Oncovirus
! Retroviren können zellulärer Gene in ihr Genom
aufnehmen. Dieses nunmehr virale Gen wird als virales Oncogen (v-onc) bezeichnet. Sein zelluläres Gegenstück ist das zelluläre Oncogen (c-onc) oder Protooncogen.
HIV: hohe genetische Variabilität Seit der ersten Ausbreitung von HIV unter Menschen in den 1930er Jahren in Zentralafrika sind derzeit ca. 60 Mio. Menschen weltweit durch HIV-1 infiziert. Im Gegensatz dazu ist die Infektion durch HIV-2, das ebenfalls die Immunschwächekrankheit Aids hervorrufen kann, aufgrund der geringeren Transmissionsraten wesentlich stärker regional begrenzt geblieben. Die HIV-1-Stämme haben sich in der Zwischenzeit durch Mutation und Rekombination sehr stark verändert: 24 zirkulierende Formen der wichtigsten HIV-1Gruppe wurden bis zum Jahr 2002 registriert. Darunter sind 11 Untergruppen bzw. Unter-Untergruppen und 13 zirkulierende rekombinierte Formen. Neue genetische Formen entstehen weiterhin überall auf der Welt und verändern die molekulare Epidemiologie der Infektion ständig.Diese große Unterschiedlichkeit der einzelnen HIV-1-Viren und ihre außerordentliche Fähigkeit, auch ohne Selektionsdruck ein hohes Maß
an genetischer Variabilität zu erzeugen, behindern vor allem die Entwicklung effektiver Impfstoffe. Eine gleichbleibend hohe Umsatzrate, bei der täglich Milliarden neuer Viren hergestellt werden, eine durchschnittliche Generationszeit von 2 bis 6 Tagen,verbunden mit einer hohen Mutationsrate (eine Eigenschaft, die HIV mit vielen anderen Retroviren teilt, die Replikationsfehler nicht korrigieren können) und eine Selektion durch Immunität führten zu einer schnellen genetischen Evolution. Seit dem Beginn der HIV-1Infektion durch Übertragungen von Schimpansen in Zentralafrika haben die Unterschiede in den envAminosäuresequenzen schon 25 bis 35% innerhalb der verschiedenen Untergruppen erreicht. Diese hohe Mutationsrate wird möglich, weil die Retroviren Replikationsfehler nicht korrigieren können und eine spezifische Form der Replikation haben. Dazu gehören auch alternative „Sprünge“ der reversen Transkriptase zwischen den beiden genomischen RNA-Strängen, die in jedem Viruspartikel vorliegen, wodurch wieder neue, mosaikartige Formen hergestellt werden können (Abb. 9.19). In früheren Klassifikationen wurden HIV-1-Isolate aufgrund ihrer gag- und env-Sequenzen klassifiziert, die zunächst von einem gemeinsamen Ursprung ausgingen. Die Entdeckung jeweils neuer Formen verlangte dann aber ein neues Klassifikationsschema. Derzeit unterscheidet man drei phylogenetische Gruppen (M = Hautgruppe, O = Ausrei-
9.6 Retroviren
Abb. 9.19. Mosaikartige Struktur der HIV-1-Formen. Die Buchstaben und Farben stellen die unterschiedlichen Untergruppen der HIV-1-Hauptgruppe „M“ dar. Die Buchstaben am Ende des Namens geben an, aus welchen Untergruppen die jeweilige Form zusammengesetzt ist (z. B. AE aus den Untergruppen
A und E); cpx bedeutet eine komplexe Zusammensetzung. Zwischen den flankierenden LTR-Elementen befinden sich die Gene, die für die verschiedenen HIV-Proteine kodieren. CRF: zirkulierende rekombinierte Form; A bis U: Untergruppen der HIV-1-Hauptgruppe M. (Nach Thomson et al. 2002).
ßer, N = non-M/non-O). Weltweit werden die meisten Infektionen durch die M-Gruppe hervorgerufen, zu der auch alle ursprünglich identifizierten Untergruppen gehören. Die O-Gruppe ist im Wesentlichen auf Zentralafrika (Kamerun und seine Nachbarländer) beschränkt, aber selbst dort ist die O-Gruppe eine Minderheit. Bisher wurden wenige N-Fälle bekannt, auch alle aus Kamerun. Jede dieser 3 Gruppen soll unabhängig voneinander von Schimpansen auf Menschen übertragen worden sein, da evolutionsgenetische Untersuchungen unterschiedliche Ähnlichkeiten mit dem Schimpansen-Virus (SIV) zeigen. Es gibt also nicht einen einzigen Flaschenhals, sondern ab einer bestimmten Phase der SIV-Evolution ging die Übertragung auf den Menschen offensichtlich relativ einfach und dafür gleich mehrfach. Innerhalb der Hauptgruppe M wurden bisher 9 Untergruppen identifiziert, die mit den Buchstaben A-D, F-H, J und K bezeichnet werden. Dabei können
die Untergruppen A und F nochmals in A1 und A2 bzw. F1 und F2 unterteilt werden. Innerhalb dieser Untergruppen können auch regionale Cluster identifiziert werden, z. B. die Untergruppe C aus Indien und Äthiopien, G aus Spanien und Portugal oder B aus Thailand. Die Formenvielfalt wird noch dadurch verstärkt, dass zwischen den verschiedenen Untergruppen Rekombinationen auftreten können, wenn Patienten mit verschiedenen Untergruppen infiziert wurden. Diese im Blut zirkulierenden, rekombinierten Formen (engl. circulating recombinant forms, CRFs) wurden in vielen Fällen durch vollständige Sequenzierung der Virusgenome charakterisiert und sind in Abb. 9.19 in ihrer Mosaikform dargestellt; Abb. 9.20 zeigt die geographische Verteilung der verschiedenen genetischen Formen von HIV-1.
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Kapitel 9: Instabilität des Genoms: Transposons und Retroviren
Abb. 9.20. Geographische Verteilung verschiedener genetischer Formen von HIV-1. Die überwiegenden Formen einer Region sind in größeren Buchstaben angegeben. Die kürzlich
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Kernaussagen
▬ Mobile genetische Elemente (Transposons) sind wichtige Bestandteile vieler prokaryotischer und aller eukaryotischer Organismen. ▬ Transposons unterscheiden sich in ihrer molekularen Struktur und in den Transpositionsmechanismen. ▬ Transposons sind für evolutionäre Prozesse von Bedeutung. ▬ Retroviren sind infektiöse Partikel, die in ihrer Genomstruktur einer Gruppe von Transposons gleichen.
identifizierten Formen CRF12_BF und CRF14_BG sind rot; epidemilogisch wichtige CRFs sind schwarz gerahmt. (Nach Thomson et al. 2002).
▬ Das Genom von Retroviren kann in das Genom der Wirtszelle integriert werden. ▬ Integration und Exzision von Retroviren können zur Entstehung von tumorinduzierenden Retroviren führen. Die cancerogene Wirkung beruht auf der Integration zellulärer Gene oder Teilen davon in das Virusgenom (Oncogene).
Technik-Box
Technik-Box 17
Verwendung von Balancer-Chromosomen Anwendung: Stabilisierung von Mutationen in heterozygoten Stämmen zur Vermeidung des Verlustes der Mutation durch Crossing-over. Voraussetzungen · Materialien: Die Methode beruht auf der Möglichkeit, durch heterozygote Inversionen die Entstehung von Nachkommen mit Rekombination im Inversionsbereich zu unterdrücken (s. S. 252). Eine wichtige Voraussetzung für die Anwendung dieser Methodik ist weiterhin die Verfügbarkeit von dominanten und rezessiv letalen Mutationen im Inversionschromosom. Methode: Mutationen, die man als experimentell-nützlich identifiziert hat, lassen sich bei Drosophila (und anderen diploiden Organismen) am einfachsten in homozygoter Konstitution in einer Stammkollektion halten. In vielen Fällen ist das jedoch nicht möglich, da ein homozygoter Zustand letal, semiletal oder steril ist. Eine hetero-
zygote Konstitution würde ständige Selektion zur Vermeidung eines Verlustes dieser Mutation erforderlich machen. Diese Selektion würde bei rezessiven Mutationen sehr erschwert, da diese durch Crossing-over leicht verlorengehen können, selbst wenn das ursprünglich mutierte Chromosom mit genetischen Markern versehen ist. Aus diesen Gründen sind für Drosophila eine Reihe sogenannter Balancer-Chromosomen entwickelt worden, die es gestatten, für jede gewünschte Mutation einen stabilen Stamm aufzubauen. Dieser enthält die jeweilige Mutation in heterozygotem Zustand, und die ständige Selektion erübrigt sich, ohne dass die Gefahr des Verlustes besteht. Das Prinzip der Wirkung und Konstruktion eines BalancerChromosoms ist sehr leicht zu verstehen. Im Wesentlichen enthält ein solches Chromosom drei Elemente: • eine längere einfache oder komplexe Inversion, die den größten Teil des Chromosoms abdeckt,
• einen dominanten Marker, der es gestattet, dieses Chromosom leicht zu identifizieren • einen rezessiven Letalfaktor, der verhindert, dass das Chromosom in einer homozygoten Konstitution vorkommt. Hauptelement ist die Inversion, die durch die entstehenden Chromosomenaberrationen verhindert, dass Nachkommen mit Crossing-over überlebensfähig sind. Der Letalfaktor ist wichtig, da sich durch seine Anwesenheit eine Selektion in jeder Generation erübrigt, denn es kann keine Homozygotie für das Balancer-Chromosom entstehen. Homozygotie des BalancerChromosoms ist oft auch schon durch den dominanten Marker nicht möglich, da viele dominante Mutationen homozygot letal sind. Beispiele für häufig gebrauchte Markerchromosomen von Drosophila sind: ClB, Muller 5 und TM3
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Kapitel 9: Instabilität des Genoms: Transposons und Retroviren
Technik-Box 18
P-Element-Mutagenese Anwendung: Induktion von Mutationen mit gleichzeitiger molekularer Markierung des mutierten Gens. Reversion von Mutationen durch Exzision und gerichtete Mutagenese (engl. targeted mutagenesis). Voraussetzungen · Materialien: Die Methode beruht in Drosophila auf der Möglichkeit, P-Elemente zum Transponieren zu induzieren (s. S. 343) und solche Transpositionsereignisse durch genetische Markierung des P-Elements sichtbar zu machen (vgl. auch Enhancer-Trap-Elemente, Technik-Box 19).
Methode: Voraussetzung für einen erfolgreichen Einsatz dieser Technik ist die Konstruktion zweier unterschiedlicher Drosophila-Stämme, die jeweils nur ein P-Element im Genom enthalten. Der eine Stamm besitzt ein P-Element, dessen Transposase funktionsunfähig ist und durch ein geeignetes Markergen (z. B. white oder rosy) ersetzt ist. In den heute verwendeten Stämmen ist dieses P-Element auf dem X-Chromosom lokalisiert. Es kann infolge der defekten Transposase nicht transponieren. Der zweite Stamm enthält auf einem beliebigen anderen Chromosom ein anderes de-
fektes P-Element. In ihm ist die Transposase funktionsfähig, jedoch verhindern defekte terminale Repeats die Exzision und unterbinden daher Transpositionen. Kombiniert man jedoch durch Kreuzung beide partiell defekten P-Elemente (vergleichbar den Hybriddysgeneseexperimenten, s. S. 344), so wird das Transposase-defiziente P-Element in die Lage versetzt zu transponieren, da das zweite P-Element eine funktionelle Transposase zur Verfügung stellt. Dieses P-Element mit funktioneller Transposase wird daher auch Jump-starter-Element (Js) genannt und das entsprechende
Js
P ry+
ry–
Js induziert Transposition
ry+
ry–
+ ry– – Söhne Ausnahmesöhne:
+ ry+ – Töchter
ry+
Einzelpaarzuchten und Stabilisierung mit Balancer oder homozygot
P-Element-Mutagenese. Zur Mutagenese geht man von zwei Stämmen aus, deren einer ein modifiziertes P-Element besitzt (meist im X-Chromosom), das selbst keine Transposase mehr kodiert, aber ein Markergen zu seiner Erkennung besitzt. Der andere Stamm besitzt ein P-Element, das Transposase produziert, aber selbst nicht springen kann, da es an den Enden defekt ist. Durch die Kombination beider Elemente im Genom wird das X-chromosomale P-Element aktiviert und springt in eine andere Genomposition. Durch das Markergen lässt sich die Transposition erkennen und das mutierte Chromosom ermitteln. Die besondere Konstruktion des transponierten P-Elements gestattet die direkte Isolierung des mutierten Genombereiches durch das im P-Element befindliche Bluescript-Plasmid.
Technik-Box
Technik-Box 18
P-Element-Mutagenese (Fortsetzung) Chromosom Jump-starter-Chromosom. Transpositionen sind in den folgenden Generationen dadurch sichtbar, dass der genetische Marker des Transposase-defekten P-Elements nicht mehr geschlechtsgekoppelt (X-chromosomal) vorliegt. Die neue Lokalisation des transponierten P-Elements lässt sich am einfachsten durch in-situ-Hybridisierung auf Riesenchromosomen mit den terminalen Regio-
nen des P-Elements oder einer Probe des Markergens ermitteln. Durch die Art der Kreuzung wird das Jump-starter-Chromosom aus dem Genom, das eine Transposition des Transposasedefekten Elements enthält, entfernt. Dadurch ist das transponierte P-Element in seiner neuen Position stabilisiert, denn es kann wegen seiner defekten Transposase nicht autonom transponieren. Andererseits besteht
die Möglichkeit, durch Einkreuzen eines Jump-starter-Chromosoms das transponierte P-Element aus seiner neuen Position erneut transponieren zu lassen und dadurch eine komplette Exzision, also eine genetische Reversion des betroffenen Gens zu erzeugen. Die genetische Feinstruktur von Revertanten kann für die Funktionsanalyse eines Gens von großer Bedeutung sein.
365
366
Kapitel 9: Instabilität des Genoms: Transposons und Retroviren
Technik-Box 19
Enhancer-trap-Experimente Anwendung: Induktion von Mutationen mit gleichzeitiger molekularer Markierung des mutierten Gens zur Isolierung des mutierten Gens durch molekulare Klonierung. Darstellung gewebespezifischer Expression des mutierten Gens im Organismus durch β-Galactosidaseexpression. Methode: In Enhancer-trap-Experimenten macht man, in vergleichbarer Weise wie in der P-Mutagenese (s. Technik-Box 18), Gebrauch von der Möglichkeit, Transpositionen von PElementen gerichtet zu induzieren. Das transponierende P-Element hat in dieser Versuchsanordnung jedoch eine komplexere Struktur. Seine wichtigste Komponente ist das lacZ-Gen von Escherichia coli (s. S. 145), das unmittelbar auf den 5′-terminalen invertierten Repeat (s. S. 343) des PElementes folgt. Normalerweise erfolgt daher eine schwache Expression des lacZ-Gens durch die Promotoraktivität des linken invertierten Repeats
des P-Elements. Befindet sich das P-Element nach einer Transposition innerhalb der Regulationsregion eines Gens, z. B. hinter einem Enhancerelement (s. S. 326), so wird die Expression des lacZ-Gens gesteigert. Untersucht man dann die jeweiligen Gewebe durch geeignete Farbreaktionen des Enzyms auf β-Galactosidaseaktivität, so ist diese in allen Fällen zu erwarten, in denen die Regulationsregion (bzw. das Enhancerelement) zu einem Gen gehört, das in dem betreffenden Gewebe aktiv ist. Die Methode ermöglicht es daher, solche Gene aufzuspüren, die in bestimmten Zellen oder Entwicklungsstadien aktiv sind. Durch die Zufügung weiterer genetischer Elemente zum transponierenden P-Element wird die Untersuchung solcher Gene stark vereinfacht. Innerhalb des P-Elementes kann sich nämlich ein Klonierungsvektor befinden, der es gestattet, Genom-DNA-Bereiche in der Nachbarschaft des interessierenden Genes direkt zu isolieren. Hierzu
genügt es, DNA einer einzigen Fliege zu isolieren und sie mit bestimmten Restriktionsenzymen zu schneiden. Die gewonnene Mischung von DNA-Fragmenten wird mit DNA-Ligase inkubiert und dient anschließend zur Transformation eines geeigneten Bakterienstammes. Der im P-Element enthaltene Vektor kann sich unter diesen Bedingungen unter Einschluss eines Stückes flankierender DNA zirkularisieren und die bakterielle Gastzelle transformieren. Besitzt der Vektor ein Gen für eine Antibiotikumresistenz, so kann die Kultivierung der Bakterien selektiv unter Zusatz dieses Antibiotikums erfolgen, so dass nur mit dem Vektor transformierte Bakterien wachsen. Die Transformanten, die unter selektiven Bedingungen isoliert werden, enthalten die gesuchten Genombereiche. Hat man auf diese Weise ein Stück flankierender DNA eines Gens kloniert, ist es mit konventionellen Klonierungsmethoden leicht, das betreffende Gen vollständig zu isolieren.
Technik-Box
Technik-Box 19
Enhancer-trap-Experimente (Fortsetzung)
Enhancer-trap-Experimente. (links) Schematische Darstellung der experimentellen Anordnung. Fotos: Expressionsmuster nach einem Enhancer-trap-Experiment. Im vorliegenden Fall ist das betroffene Gen in unterschiedlichen Geweben aktiv. Das Gen liegt im rechten Arm des Chromosoms 3 von Drosophila melanogaster, Region 93F1-3 (vgl. die Chromosomenkarte, Abb. 11.27). (oben) Die sieben gefärbten Streifen entsprechen den geradzahligen Parasegmenten 2 bis 14 des Stadiums 10 der Embryonalentwicklung. (Mitte) Färbungsmuster einzelner Zellen in einem larvalen Gehirn. (unten) Färbung von Zellen in der Augen-Antennen-Imaginalscheibe im Bereich der zukünftigen Ommatidien. (Photo: W. Janning, Münster)
367
Kapitel 10
Veränderungen im Genom: Mutationen
An Malaria erkranktes Mädchen an der thailändischen Grenze. Mutationen können Resistenz verleihen. (Photo: P. Charlesworth, JB Pictures, New York)
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Kapitel 10: Veränderungen im Genom: Mutationen
Überblick Ausgangspunkt aller Erkenntnisse über die Regeln und über die molekularen Mechanismen der Vererbung sowie über die Umsetzung von erblicher Information in Stoffwechselfunktionen ist die Variabilität von Merkmalen. Diese Variabilität erst gestattet es uns, bestimmte biologische Eigenschaften und Prozesse auf ihre Ursachen hin zu untersuchen. Biologische Variabilität dient nicht nur als eine Grundlage für die experimentelle Erforschung von Erbvorgängen. Sie bietet vielmehr die Voraussetzungen für die Evolution der Organismen. Sie ist somit ein grundlegender und unverzichtbarer Bestandteil der Natur. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Mechanismen, die Veränderungen des genetischen Materials verursachen, also Variabilität erzeugen, zu den fundamentalen Genomfunktionen von Organismen gehören. So werden während der Replikation des genetischen Materials mit einer bestimmten Häufigkeit Fehler induziert. Außerdem kann es zu spontanen Basenveränderungen durch die chemische Instabi-
Die Veränderung von Genen im Laufe der Evolution ist eine entscheidende Voraussetzung für die Entstehung und Evolution von Organismen. Schon bei der Betrachtung der phänotypischen Variabilität zwischen Organismen im 1. Kapitel hatten wir festgestellt, dass eine der Ursachen für phänotypische Unterschiede zwischen den Individuen einer Population die genetische Variabilität, also die Existenz unterschiedlicher Allele ist. Ohne diese genetische Variabilität wäre es unmöglich gewesen, die Existenz einzelner Gene und die Regeln der Vererbung von Merkmalen zu erkennen. In diesem Kapitel wollen wir uns mit den molekularen Ursachen der Veränderungen von Genen und mit deren Folgen näher befassen. Die Veränderung eines Gens bezeichnen wir als eine Mutation. Diese Bezeichnung wurde von Hugo de Vries 1901 eingeführt. Der Träger einer Mutation ist eine Mutante. Hat man zwei phänotypisch verschiedene Formen eines Gens vor Augen, so ist es oft nicht möglich festzustellen, bei welcher dieser Formen eine Mutation vorliegt und welche als Normaltyp, wir sprechen hier vom Wildtyp, anzusehen ist. Welche Möglichkeiten der Unterscheidung gibt es bzw. ist eine Unterscheidung überhaupt erforderlich?
lität einiger Nukleotide kommen, oder es treten Fehler in Zusammenhang mit Rekombinationsvorgängen auf. Neben solchen und anderen genomeigenen Mutationsmechanismen können Veränderungen aber auch von außen her induziert werden, so insbesondere durch natürliche energiereiche Strahlung. Da Genomveränderungen sehr oft eine schädliche Auswirkung haben, besitzen alle Zellen besondere Reparaturmechanismen, die einen erheblichen Teil neuentstandener Mutationen eliminieren können. Offenbar hat sich zwischen der Effektivität solcher Reparaturmechanismen und der Häufigkeit spontaner Mutationen ein Gleichgewicht eingestellt, das sich vom Gesichtspunkt der Evolution her als günstig erwiesen hat, um einerseits zu häufige Schäden im Genom zu vermeiden, andererseits aber Veränderungen mit einer ausreichenden Häufigkeit auszulösen, so dass Evolutionsprozesse überhaupt erst ermöglicht werden.
Eines der ersten Beispiele einer Mutation war die Augenfarbe der Fruchtfliege Drosophila: Sie kann beispielsweise rot oder weiß sein. Das gelegentliche Auftreten weißäugiger Fliegen in einem sonst rotäugigen Stamm hatte in diesem Falle die rote Augenfarbe als den Wildtyp (auch durch das Zeichen + gekennzeichnet) ausgewiesen, die weiße Augenfarbe (white) als Mutation. Für diese Anwendung des Wildtypbegriffes auf rotäugige Fliegen lässt sich das Argument anführen, dass in rotäugigen Populationen gelegentlich weißäugige Fliege auftreten, jedoch in weißäugigen Stämmen viel seltener rotäugige Fliegen. Das ist verständlich, wenn man annimmt, dass Veränderungen in der Richtung des Ausfalls einer Genfunktion, die eine rote Augenfarbe bedingt, häufiger ablaufen als in der umgekehrten Richtung, d. h. die Wiederherstellung eines funktionellen Zustandes eines defekten Gens. Wir wissen, dass die Ursache für die weiße Augenfarbe bei Drosophila tatsächlich im Ausfall der Funktion des white-Gens liegt. Ein experimenteller Test hierfür ließe sich gegebenenfalls leicht erbringen, indem man das white-Gen durch eine Deletion im Chromosom entfernt. Auf diese Weise lässt sich der Phänotyp einer Nullmutation, d. h. der Ausfall einer Genfunktion
Veränderungen im Genom: Mutationen
(engl. loss of function), leicht ermitteln. Natürlich gibt es auch Mutationen, bei denen unmittelbar ersichtlich ist, welches Allel den Wildtyp darstellt und welches eine Mutation enthalten muss. Man möge beispielsweise an Erbkrankheiten des Mensch denken, wie sie im Kapitel 14 beschrieben werden. Auch die Ausbildung eines Beines anstelle einer Antenne am Kopf von Drosophila, wie es bei der Mutante Antennapedia der Fall ist (s. S. 615), kann unmittelbar als Folge einer Mutation, also der Entstehung eines Allels mit abnormaler Funktion, verstanden werden. In diesem Falle haben wir es mit einer neomorphen Mutation zu tun, d. h. es entsteht ein neuer Phänotyp (engl. gain of function). Wir wollen uns nun zunächst den Fragen zuwenden, in welchen Zelltypen Mutationen überhaupt auftreten können und welche Konsequenzen sie für Zelle und Organismus haben. Betrachten wir die unterschiedlichen Formen der Ausprägung eines Merkmals in einer Population und deren Verteilung zwischen den Individuen dieser Population genauer, so erkennen wir, dass auch hier bestimmte Regeln gelten. Um das zu verstehen, müssen wir davon ausgehen, dass diese Veränderungen von Genen in Keimzellen entstanden sein müssen, da sie sonst nicht erblich sein können. Dass Mutationen jedoch nicht ausschließlich in Keimzellen entstehen,haben wir bereits in anderem Zusammenhang, nämlich bei der Besprechung der Entstehung somatischer Mosaike, gesehen. So entstehen Gynander bei Drosophila als eine Folge von Nondisjunction oder durch mitotisches Crossing-over (s. S. 204).Wir sprechen hier im Falle von Nondisjunction von einer somatischen Mutation, da es sich um eine Veränderung in der genetischen Konstitution somatischer Zellen handelt. Diese ist natürlich zwischen den aufeinanderfolgenden Generationen von Organismen nicht erblich. Wir können aus diesen Betrachtungen den allgemeinen Inhalt des Begriffes Mutation ableiten: Jede Veränderung der genetischen Konstitution einer Zelle, die nicht durch die normalen Fortpflanzungsmechanismen, also durch die Verschmelzung zweier haploider Gameten, hervorgerufen wird, ist eine Mutation. Der Begriff der Mutation beschränkt sich somit nicht auf Veränderungen einzelner Gene, wie wir sie am white-Locus gesehen haben, sondern schließt auch Genomveränderungen größeren Ausmaßes, etwa den Verlust eines Chromosoms durch Nondisjunction (z. B. bei der Entstehung von Gynandern) ein.
! Jede Veränderung der genetischen Konstitution einer Zelle, die nicht mit sexueller Fortpflanzung in Zusammenhang steht, ist eine Mutation. Mutationen können in Keimzellen und in somatischen Zellen in gleicher Weise auftreten.
Die biologischen Folgen von Mutationen sind unterschiedlich, je nachdem, ob sie sich in der Keimbahn oder in somatischen Zellen ereignen. Zur sichtbaren Ausprägung kommt eine Neumutation in somatischen Zellen natürlich nur, wenn sie nicht zum Tod der betreffenden Zelle führt, also wenn sie nicht zellletal ist, und wenn sie darüber hinaus phänotypisch überhaupt zu Ausprägung kommen kann, indem sie entweder dominant oder geschlechtsgekoppelt ist. Das phänotypische Ausprägungsmuster somatischer Mutationen im Organismus können wir mit dem der Inaktivierung eines Säuger-X-Chromosoms (Abb. 7.35) vergleichen: Erfolgt eine somatische Mutation in einem frühen Entwicklungsstadium des Organismus, so erwarten wir, dass sie im adulten Organismus in einer größeren Anzahl von Zellen wiederzufinden ist, als wenn sie erst in einem späteren Stadium der Ontogenese eingetreten ist. Für Keimbahnmutationen gilt selbstverständlich das Gleiche. Tritt eine Mutation in einem frühen Stadium der Keimzellentwicklung auf, also etwa in frühen Oogonien, in Spermatogonien, oder sogar in Stammzellen, so werden eine größere Anzahl von Gameten diese Mutation besitzen als wenn sich die Mutation erst postmeiotisch ereignet. In diesem Falle bleibt sie auf einen einzelnen Gameten beschränkt. In Kreuzungsexperimenten kommen frühe Mutationen in der Keimbahn im Auftreten mehrerer Nachkommenindividuen mit der gleichen Mutation zum Ausdruck (man spricht dann von einem cluster). ! Die Anzahl veränderter somatischer Zellen oder
Keimzellen lässt Rückschlüsse auf den Zeitpunkt während der Entwicklung zu, zu dem diese Mutation erfolgt ist.
Bevor wir nun die Einzelheiten der Mechanismen und Folgen von Mutationen erörtern, muss noch ein weiterer wichtiger allgemeiner Gesichtspunkt hervorgehoben werden: Da Mutationen für die Evolution
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Kapitel 10: Veränderungen im Genom: Mutationen
von Organismen als Grundlage für die Neuentstehung erblicher Eigenschaften und als Basis für Selektionsprozesse und anderer Evolutionsmechanismen unabdingbar sind, müssen wir sie zu den grundlegenden Eigenschaften lebender Organismen zählen. Das schließt aber nicht aus, dass Mutationen für einzelne Individuen sehr oft mit Nachteilen verbunden sind, da sie zufallsgemäß erfolgen und dadurch viel häufiger zur Zerstörung der Funktion genetischer Eigenschaften führen als zu nutzbringenden Veränderungen. Biologische Prozesse können also hinsichtlich ihres Nutzens von unterschiedlichen Gesichtspunkten aus bewertet werden, je nachdem, ob wir ein einzelnes Individuum oder eine ganze Population von Organismen betrachten. ! Mutationen sind ein Grundphänomen lebender
Systeme. Auf der Ebene des Einzelindividuums haben sie oft negative Folgen. Für die Evolution von Organismen sind sie unentbehrlich.
10.1 Klassifikation von Mutationen Eine Klassifikation von Mutationen ist nach verschiedenen Gesichtspunkten möglich. Oft wird eine Unterscheidung zwischen spontanen und induzierten Mutationen getroffen. Andere unterscheiden verschiedene Haupt- und Unterklassen von Mutationen, etwa Chromosomenmutationen verschiedenen Charakters oder mehrere Klassen von Genmutationen. Häufig geschieht dies unter Gesichtspunkten der praktischen Anwendung; es verdeckt aber die Tatsache, dass die Grenzen fließend sind und vergleichbare Mutationsereignisse auf mehreren Ebenen auftreten können. So kann beispielsweise eine Deletion sowohl in einem Chromosom auftreten und eine größere Gruppe von Genen einschließen, als auch innerhalb eines einzelnen Gens, wo sie nur einen Teilbereich der Nukleotidsequenz umfasst. Ein grundlegender Unterschied zwischen beiden Mutationstypen besteht nicht: In beiden Fällen ist ein (längeres oder kürzeres) Stück chromosomaler DNA verloren gegangen. Allerdings sind Chromosomenmutationen oft schon im Lichtmikroskop erkennbar, wohingegen Punktmutationen sich auf einzelne oder wenige, nebeneinanderliegende Nukleotide beziehen und molekulargenetisch festgestellt werden müssen.
Chromosomenmutationen sind also Änderungen in der Zahl oder Struktur der Chromosomen. Bei strukturellen Änderungen sind größere Abschnitte des Chromatins betroffen. Prinzipiell wird auf dieser Ebene zwischen folgenden Veränderungen unterschieden: Deletionen, Insertionen, Inversionen und Translokationen. Diese Mutationen können häufig durch verschiedene Bänderungsverfahren (siehe Kap. 7) sichtbar gemacht werden. Veränderungen der Chromosomenzahl werden auch als Genommutationen bezeichnet und betreffen entweder den gesamten Chromosomensatz oder ein einzelnes Chromosom. Bei der Reduzierung des normalen, diploiden Chromosomensatzes auf einen einfachen Chromosomensatz sprechen wir von Haploidisierung, während eine Vermehrung des Chromosomensatzes als Polyploidisierung bezeichnet wird (z. B. dreifacher Chromosomensatz: triploid). Auch das Fehlen oder zusätzliche Auftreten einzelner Chromosomen wird zu den Genommutationen gerechnet. Solch eine Veränderung wird als Aneuploidie bezeichnet und das betroffene Chromosom entsprechend benannt (z. B. Trisomie 21: das Chromosom 21 ist dreifach vorhanden). Wenn nur ein Nukleotid oder wenige, aufeinander folgende Nukleotide verändert sind, sprechen wir von Punktmutationen. Auch hier können wir verschiedene Typen unterscheiden, besonders häufig sind Substitutionen, Deletionen oder Insertionen. Wird bei einer Substitution eine Pyrimidin- bzw. eine Purinbase durch eine andere Pyrimidin- bzw. Purinbase ersetzt (AT↔GC oder GC↔AT), spricht man von einer Transition. Erfolgt statt des Einbaus einer Purinbase ein Pyrimidineinbau (oder umgekehrt), wird diese Art der Mutation auch als Transversion bezeichnet (AT ↔ TA, AT↔ CG, GC ↔ CG oder GC ↔ TA; Abb. 10.1). Die Auswirkungen von Punktmutationen können sehr verschieden sein. Wenn die Mutationen im kodierenden Bereich der Exons auftreten, finden wir häufig Veränderungen im Einbau von Aminosäuren (engl. missense mutation). Da sich aber die Codes für die einzelnen Aminosäuren (siehe Kap. 3) oft in der 3. Base unterscheiden, ist dies nicht immer der Fall; hat also eine Mutation keinen Einfluss auf die eingebaute Mutation, sprechen wir von einer stillen Mutation. Bei vielen Erbkrankheiten finden wir aber eine sehr wichtige Änderung: Es wird nämlich ein Stopp-Codon erzeugt (TAG, TAA, TGA; engl. nonsense mutation), so dass die Synthese des Proteins an der betroffenen Stelle abbricht. Das
10.1 Klassifikation von Mutationen O
Tabelle 10.1. HN H2N
Auswirkungen von Mutationen
N N H
N
Klassifikation
Leseraster
Wildtyp
CTG GGG TAC AGA A Leu Gly Tyr Arg
Missense-Mutation (Aminosäureaustausch)
CCG GGG TAC AGA A Pro Gly Tyr Arg
Stille Mutation
CTC GGG TAC AGA A Leu Gly Tyr Arg
Nonsense-Mutation (Stopp-Codon)
CTG GGG TAA AGA A Leu Gly Stopp
Insertion
CTG GGG GTA CAG AA Leu Gly Val Gln
Guanin
O
NH2
O
CH3
HN
N
O
N H
Cytosin
N H Thymin
NH2 N
N N
N H
Deletion
G CTG GGT ACA GAA Leu Gly Thr Glu
Adenin
Abb. 10.1. Bei Basensubstitutionen können Purine durch Purine bzw. Pyrimidine durch Pyrimidine ersetzt werden (rote Pfeile); hier sprechen wir von einer Transition. Wenn dagegen ein Purin durch ein Pyrimidin ausgetauscht wird (blaue Pfeile), sprechen wir von einer Transversion
umgekehrte Phänomen, dass ein vorhandenes StoppCodon in ein Aminosäure-kodierendes Codon umgewandelt und damit die Proteinkette verlängert wird, ist dagegen seltener. Auch die Veränderung des StartCodons ATG ist selten; in diesem Fall muss dann ein anderes ATG unterhalb verwendet werden, was entweder zu einem verkürzten Protein führt (wenn das neue ATG in demselben Leserahmen bleibt) oder zu einem ganz anderen Protein (wenn das zweite ATG in einem anderen Leserahmen liegt). Punktmutationen können außerdem das Spleißen betreffen (wenn sie in den entsprechenden konservierten Bereichen auftreten, siehe Kap. 3) oder die Regulation der Genexpression beeinflussen (wenn sie im Promotor auftreten, siehe Kap. 8). Durch Deletionen oder Insertionen innerhalb Protein-kodierender Regionen kann sich der Leserahmen verändern; solche RasterschubMutationen (engl. frame shift mutation) können zu einem völlig andersartigen Protein führen, auch wenn die mRNA selbst nur eine geringfügige Veränderung aufweist (z. B. Deletion von 1 oder 2 bp).
oben kodierender Strang der DNA, unten abgeleitete Aminosäuresequenz
Eine Übersicht über diese verschiedenen Formen von Punktmutationen gibt Tabelle 10.1. Mutationen können nicht nur Protein-kodierende Gene betreffen, sondern auch rRNA- und tRNAGene, so dass deren Funktion auf verschiedene Weise beeinträchtigt werden kann. Natürlich sind darüber hinaus Mutationen nicht auf kodierende Regionen des Genoms beschränkt. Vielmehr dürften die meisten Mutationen in Introns, in Spacerregionen oder in repetitiver DNA ohne phänotypisch sichtbare Folgen bleiben (siehe dazu aber auch den Abschnitt über dynamische Mutationen, 10.2.3, sowie über Epigenetik, 12.2). ! Mutationen, Veränderungen der DNA, können
spontan auftreten und durch Strahlung oder Chemikalien induziert werden. Mutationen können nach ihrer Größe oder der Art ihrer DNA- bzw. Chromosomenveränderungen unterschiedlich klassifiziert werden.
373
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Kapitel 10: Veränderungen im Genom: Mutationen
10.2 Spontane Mutationen 10.2.1 Fehler bei Replikation und Rekombination Die Ursache von Replikationsfehlern in der DNA haben wir bereits bei der Besprechung der Replikationsmechanismen kennen gelernt (Kap. 2.2). Der DNA-Polymerase unterlaufen beim Einbau von Nukleotiden aufgrund der Basenkomplementarität mit dem komplementären Strang in einem wachsenden DNA-Strang relativ häufig Fehler (∼1 in 104 Nukleotiden). Obwohl der DNA-Polymerasekomplex solche Fehler unmittelbar im Zusammenhang mit der Replikation korrigieren kann (Korrekturleseaktivität der 3′–5′-Exonuklease im Polymerasekomplex; engl. proof reading), kommt es trotzdem zum Fehleinbau von Nukleotiden. Die trotz der Reparaturvorgänge verbleibende Fehlerrate liegt noch immer in einer Größenordnung von 10 –6 bis 10 –11 Nukleotiden. Das erscheint zwar niedrig, doch in einem Genom, das wie das menschliche 2,75 × 109 Nukleotidpaare enthält, hat diese Fehleinbaurate noch immer eine Mutationshäufigkeit von 1 Nukleotid in mindestens 1 von 100 replizierenden Zellen oder sogar in jedem Replikationszyklus zur Folge. Da in einem menschlichen Individuum bis zu 106 Zellen in jeder Sekunde replizieren, ist die gesamte Mutationshäufigkeit in jedem einzelnen Individuum außerordentlich hoch. Selbst bei E. coli erwartet man noch etwa 8 Basensubstitutionen per Replikationszyklus in jeder Zelle. Auch wenn man davon ausgehen kann, dass ein Teil dieser Fehler noch durch andere, nicht an die Replikation gekoppelte Reparaturmechanismen korrigiert wird (s. Kap. 10.5), so verbleibt noch immer eine überraschend hohe basale Mutationsrate durch Replikationsfehler. Die Bedeutung der Korrekturleseaktivität wird deutlich, wenn man Mutationen des entsprechenden Gens betrachtet: mutD-Mutanten von E. coli zeigen eine 1000fach höhere Mutationsrate als Wildtyp-Bakterien. Ursache sind Mutationen in dem Gen, das für die ε-Untereinheit der DNA-Polymerase III kodiert. Eine weitere Ursache für Replikationsfehler ist das Schlittern (engl. slippage) der DNA-Polymerase über repetitive Bereiche: Häufig löst sich die DNAPolymerase kurzzeitig von dem elterlichen Strang und setzt kurz darauf wieder neu an. Besonders in Bereichen, in denen ein Nukleotid sich mehrfach
wiederholt (z. B. 7-mal Guanosin in Folge), kann dies zu einer Deletion oder auch einer Insertion führen (Folge: 6- oder 8-mal Guanosin an dieser Stelle), so dass dadurch der Leserahmen verändert wird. Eine wichtige Frage stellt sich im Zusammenhang mit Korrekturen von Replikationsfehlern: Wie ist das Korrektursystem in der Lage, den neusynthetisierten DNA-Strang vom alten Strang zu unterscheiden? Diese Unterscheidung wäre notwendig, wenn die Korrektur einer Base nicht dem Zufall unterliegen, sondern gezielt im richtigen Strang erfolgen soll, um eine Mutation zu vermeiden. Bei E. coli spielen hier methylierte Basen in der DNA eine Rolle, die mit geringer Frequenz im alten Strang, nicht jedoch im neusynthetisierten Strang vorkommen. Adenin und Cytosin werden innerhalb bestimmter DNA-Sequenzen methyliert (s.Abb. 12.13) und dienen so zur Kennzeichnung des ursprünglichen DNAStranges. Da die Methylierung postreplikativ und etwas verzögert erfolgt, sind neu replizierte DNABereiche noch unmethyliert und dadurch als korrekturbedürftige Regionen gekennzeichnet. Eine zweite häufige Mutationsursache sind spontane Basenveränderungen, die dann natürlich auch zu Fehlern in der Replikation führen, ohne dass der Replikationsmechanismus als solcher fehlerhaft arbeitet. Wir werden das im nächsten Abschnitt im Detail betrachten. ! Bei der Replikation der DNA werden mit hohen
Fehlerraten der DNA-Polymerase auch falsche Nukleotide eingebaut. Die meisten Fehler werden jedoch durch einen polymeraseeigenen Reparaturmechanismus korrigiert.
Ein anderer wesentlicher genetischer Prozess,nämlich die Rekombination (s. Kap. 6.3.3), ist störanfällig und Ursache vieler Mutationen. Auch hier sind repetitive Bereiche besonders gefährdet. Solche Sequenzwiederholungen können dazu führen, dass es während der meiotischen Homologenpaarung zu Fehlpaarungen und als Konsequenz zu Rekombinationsfehlern kommt. Das führt zu Duplikationen oder Deletionen im betroffenen DNA-Bereich. Eine besondere Rolle spielen diese Phänomene bei der Entstehung struktureller Chromsomenaberrationen (s. Kap. 10.3.3).
10.2 Spontane Mutationen NH2 ! Rekombinationsfehler aufgrund von Fehlpaarun-
gen während der meiotischen Homologenpaarungen können zu Deletionen und Duplikationen führen.
N O
O
NH2 HN
N H
O
H2O
N H
Cytosin
Uracil
10.2.2 Spontane Basenveränderungen Nukleotidveränderungen können entweder spontan durch die chemischen Eigenschaften der Nukleotide selbst auftreten, oder sie können induziert sein. Als Ursachen für spontane Nukleotidsubstitutionen kommen (neben den bereits besprochenen Substitutionen durch Replikationsfehler oder Dimerenbildung) in Betracht: • die Instabilität der N-Glycosylbindungen zwischen Basen und Desoxyribose, die bei Purinnukleotiden mit einer niedrigen Frequenz spontan gelöst werden kann. Sie ist temperaturabhängig und erfolgt bei einem pH-Wert von 7 bei 37 °C mit einer Häufigkeit von etwa 1 von 300 Purinnukleotiden täglich; • der tautomere Charakter der Basen, aufgrund dessen sie von der normalen Ketoform (Thymin, Guanin) in die seltenere Enolform übergehen können, bzw. von der normalen Aminoform (Cytosin, Adenin) in die seltene Iminoform; • spontane Desaminierung, insbesondere von Cytosin zu Uracil, seltener von Adenin zu Hypoxanthin. Cytosin und 5-Methylcytosin verlieren gelegentlich spontan ihre Aminogruppen (Desaminierung) (Abb. 10.2). Dadurch wird Cytosin in Uracil umgewandelt. Uracil kommt jedoch in der DNA als normale Komponente nicht vor. Es wird daher im Allgemeinen enzymatisch (durch die Uracil-Glycosylase) entfernt. Durch Reparaturenzyme wird nach Maßgabe des komplementären G wieder ein C in die DNA eingefügt, so dass normalerweise diese Desaminierung schließlich keine bleibende Mutation zur Folge hat. Anders sieht es jedoch aus, wenn die Umwandlung in Uracil kurz vor oder während der Replikation erfolgt, so dass zur Reparatur keine Zeit verbleibt. In diesem Falle wird als komplementäres Nukleotid im neuen DNA-Strang ein A eingefügt, so dass nach weiteren Replikationen schließlich ein AT-Basenpaar anstelle des ursprünglichen GC-Basenpaares steht. Desaminiertes 5-Methylcytosin hingegen verhält sich hin-
NH2 N O
N H
5-Methylcytosin
O
NH2
CH3
CH3
HN H2O
O
N H Thymin
Abb. 10.2. Desaminierung von Cytosin und von 5-Methylcytosin hat unterschiedliche Folgen. Das aus Cytosin entstehende Uracil wird durch die endogene Uracil-Glycosylase entfernt und Reparatursysteme korrigieren die DNA aufgrund des komplementären G. 5-Methylcytosin wird hingegen in Thymin verwandelt, so dass es als Folge der Desaminierung zu einem Basenaustausch kommt
sichtlich seiner Eigenschaften bei der Basenpaarung wie Thymin. Auch hier wird bei der Replikation ein AT-Basenpaar anstelle eines GC-Basenpaares erzeugt. Da methyliertes Thymidin durch Reparaturenzyme jedoch nicht aus der DNA entfernt wird, führt die Desaminierung von 5-Methylcytosin unabhängig von ihrem Zeitpunkt stets zu einer Basensubstitution. ! Spontane Basenveränderungen in der DNA können aufgrund der Instabilität der Aminogruppen von Cytosin und 5-Methylcytosin erfolgen.
Bei der Untersuchung der rII-Region des Bacteriophagen T4 hatte Benzer (1961) beobachtet, dass bestimmte Regionen des Gens mit besonders hoher Frequenz mutierten. Sie wurden deshalb als hot spots für Mutationen bezeichnet.Es hat sich herausgestellt, dass viele dieser Mutationen auf einer Umwandlung von 5-Methylcytosin in Thymin als Folge einer Desaminierung beruhen. 5-Methylcytosinpositionen in der DNA sind somit ein bevor-
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376
Kapitel 10: Veränderungen im Genom: Mutationen NH2
NH N
N N
N H
N
HN N
Adenin
Aminoform
Iminoform
NH2
NH
N O
HN O
N H
N H
Cytosin
O
OH CH3
HN O
O
N H
Thymin
N H
Abb. 10.4. Ungewöhnliche Basenpaarungen durch die Bildung tautomerer Formen
Enolform OH
O N
HN N
CH3
N
Ketoform
H2N
N H
N H
N
N H2N
Guanin
N
N H
Abb. 10.3. Tautomerie der Basen. Die Keto- und Aminoformen werden bevorzugt gebildet
zugter Angriffspunkt für Mutationen. Eine weitere Quelle für spontane Mutationen ist die Tautomerie (Wechsel zwischen zwei strukturell verschiedenen Formen) einiger Basen (Abb. 10.3, 10.4). Im tautomeren Zustand kommt es zu anomalen Basenpaarungen, die in den folgenden Replikationen zu permanenten Basenveränderungen und damit zu Mutationen führen können. ! Spontane Basenveränderungen können erfolgen,
wenn Basen während der Replikation in einen selteneren tautomeren Zustand übergehen.
10.2.3 Dynamische Mutationen Der Begriff dynamische Mutation wurde eingeführt, um die einzigartigen Eigenschaften von expandierenden, instabilen repetitiven DNA-Sequenzen von anderen Mutationsformen zu unterscheiden. Im Jahr 1991 berichteten Kremer und Mitarbeiter bzw. La Spada und Mitarbeiter das erste Mal von „expandierenden Triplett-Mutationen“ als Ursache verschiedener Erbkrankheiten, dem fragilen X-Syndrom und einer besonderen Form der Muskelatrophie. In beiden Fällen ist eine einfache DNA-Wiederholungssequenz (CCG bzw. CAG) bei den betroffenen Patienten erhöht. Bei Gesunden variiert zwar die Zahl dieser Tripletts ebenfalls, ist aber deutlich niedriger und liegt unter einem bestimmten Grenzwert. Seither ist die Zahl menschlicher Krankheiten und fragiler chromosomaler Bereiche ständig gestiegen, und dynamische Mutationen wurden zu einem bedeutenden Mechanismus der Humangenetik. Die bisherigen Arbeiten zur Aufklärung dieses Mechanismus ergaben folgende Eigenschaften: • die Mutation manifestiert sich als eine Veränderung (üblicherweise Erhöhung) der Kopienzahl der Wiederholungen;
10.2 Spontane Mutationen
• seltene Gründerereignisse (z. B. der Verlust der
Wiederholungsunterbrechung) führen zu Allelen mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zur Veränderung der Kopienzahl; • die Krankheit, die durch die Ausbreitung der Wiederholungen verursacht wird, zeigt eine Abhängigkeit ihres Schweregrades bzw. dem Zeitpunkt (Alter) ihres Beginns von der Kopienzahl. Diese Eigenschaften zusammengenommen führen dazu, dass die entsprechenden Krankheiten im Verlaufe von Generationen immer früher auftreten und der Schweregrad zunimmt; ein bekanntes Beispiel dafür ist die Chorea Huntington (engl. Huntington disease, HD), eine progressive neurodegenerative Erkrankung mit Störungen der Bewegungskoordination (Abb. 10.5; s. Kap. 14.3.5). Die ersten expandierenden Wiederholungssequenzen, von denen berichtet wurde, waren die Trinukleotide CCG/CGG und CAG/CTG. Ursprünglich ging man daher davon aus, dass nur TrinukleotidWiederholungen expandieren könnten. Da außerdem diese beiden Formen der Wiederholungselemente Sekundärstruktruren ausbilden können, nahm man an, dass dies eine notwendige Vorbedingung für die
Abb. 10.5 a,b. Verteilung der Kopienzahl sowie Altersabhängigkeit. a Verteilung der CAG-Kopienzahl in Chromosomen von Patienten, die an der Erkrankung Chorea Huntington leiden, und bei Gesunden. Die Häufigkeit der gesunden CAGAllelgröße (blau) und der Krankheitsallele (rot) gezeigt als Anteil an der Gesamtheit, ist gegen die Kopienzahl aufgetragen. Diese Chromosomen wurden von Individuen mit unterschiedlichem genetischem und ethnischem Hintergrund aus verschiedenen Teilen der Welt gewonnen.
genetische Instabilität sei. Allerdings wurden in der Zwischenzeit auch größere Wiederholungselemente gefunden (bis zu 42 bp). Bei vielen Erkrankungen, die auf dynamischen Mutationen beruhen, finden wir „Gründereffekte“, ein Phänomen, das wir im Abschnitt über Populationsgenetik (Kap. 11.5) noch genauer kennen lernen werden. Es bedeutet, das offensichtlich eine bestimmte Mutation sich in der Evolution durchgesetzt hat und als Gründer für viele nachfolgenden Generationen wirksam ist (ein sehr gutes Beispiel dafür ist eine Deletion von 3 Basenpaaren in einem Gen, das für einen Chloridkanal kodiert – diese Deletion [∆F508] ist in 70% aller Mukoviszidose-Patienten ursächlich für die Erkrankung). Gründereffekte sind bei dynamischen Mutationen offensichtlich häufiger als sonst, so dass man „Risiko-Allele“ annehmen muss. Allerdings sind diese Gründermutationen in verschiedenen Populationen unterschiedlich; es ist also Vorsicht angebracht, wenn man von einer Population auf die andere schließen will. Der Grenzwert der Kopienzahl, ab dem die Krankheit auftritt, hängt möglicherweise mit der Länge der Okazaki-Fragmente während der Replikation zusammen. Die Sekundärstruktur der CAG/CTG und
b Beziehung zwischen der Kopienzahl und dem Eintrittsalter der Erkrankung. Die Zahl der CAG-Wiederholungen in 1226 Patienten mit Chorea Huntington ist gegen das Eintrittsalter der Erkrankung aufgetragen. Zwar ist die Korrelation zwischen dem Eintrittsalter und der Kopienzahl hoch signifikant, aber aufgrund der großen Spannbreite des möglichen Eintrittsalters insgesamt lassen sich keine individuellen Vorhersagen treffen. Blaue Punkte: individuelle Fälle; rote Punkte: durchschnittliches Eintrittsalter bei der jeweiligen Kopienzahl. (Aus MacDonald 1998)
377
378
Kapitel 10: Veränderungen im Genom: Mutationen
CGG-Wiederholungen ist in der Lage,die Bindung und Spaltung der bakteriellen Okazaki-Flap-Endonuklease (FEN1) zu hemmen. Das eukaryotische Homolog der Hefe ist das Genprodukt von Rad27, ein Enzym, von dem man weiß, dass es eine wichtige Rolle bei der Instabilität von DNA-Wiederholungselementen spielt: Mutanten von Rad27 zeigen häufig DNA-Brüche und Instabilitäten der Kopienzahl. Deuten diese Befunde darauf hin, dass auch hier Mechanismen aus dem Bereich der DNA-Replikation eine wichtige Rolle bei der Veränderung der Kopienzahl dieser DNA-Wiederholungselemente spielen, so zeigt das gewebespezifische Auftreten von expandierenden Tripletts in replikationsarmen Geweben (wie in Teilen des Gehirns), dass es sich dabei wahrscheinlich eher um Reparaturprozesse handelt, die Elemente der Replikationsmaschinerie mitbenutzen, als um Fehler in der DNAReplikation selbst. Dieser Befund zeigt aber darüber hinaus,dass neben der ererbten Kopienzahl die weitere Erhöhung der Kopienzahl in bestimmten Geweben im Laufe des Lebens für den Zeitpunkt (und den Schweregrad) der Erkrankung essentiell sind (Abb. 10.6).
Neben den Faktoren, die die Wiederholungssequenzen direkt betreffen, gibt es auch noch äußere Faktoren, die einen Einfluss auf die Entwicklung der Krankheit haben. So spielt offensichtlich das Geschlecht eine wichtige Rolle bei der Übertragung von einer Generation auf die andere. Die meisten Fälle einer erblichen myotonen Dystrophie werden über die mütterliche Linie vererbt, wohingegen die jugendliche Form der Chorea Huntington über die Väter vererbt wird (Abb. 10.7). Die expandierenden Tripletts betreffen vor allem drei Bereiche der Gene: • nicht-kodierende Elemente (Promotor oder Enhancer-Bereiche, 3’-UTR), die dazu führen, dass das betroffene Gen abgeschaltet wird (loss of function bzw. Haploinsuffizienz, z. B. beim fragilen X-Chromosom-Syndrom) oder das Transkript in seiner Stabilität betroffen ist (Spinocerebellare Ataxie 8); • die Ausbildung von Glu-reichen Wiederholungssequenzen im translatierten Protein (CAG = Codon für Glu, z. B. Chorea Huntington). Offensichtlich sind lange Poly-Glutamin-Bereiche toxisch für die Zelle (z. B. durch die Bildung größerer Aggregate im Zellkern, engl. nuclear inclusions); • die Wiederholungssequenzen können das Spleißen der RNA beeinflussen und verändern so die Funktion des betroffenen Proteins. Obwohl der grundlegende Mechanismus (expandierende Wiederholungssequenzen) offensichtlich einzigartig und charakteristisch für diese dynamischen Mutationen ist, ergeben sich für die jeweiligen Erkrankungen unterschiedliche Pathogenesemechanismen.
Abb. 10.6. Modell der somatischen Mutationen zur Beziehung zwischen der Kopienzahl und dem Eintrittsalter der Erkrankung. Veränderungen in der Kopienzahl somatischer Zellen können zur Beziehung zwischen der Kopienzahl und dem Eintrittsalter der Erkrankung beitragen, wie es bei manchen neurodegenerativen Erkrankungen beobachtet wird. Die Zeit (t), die benötigt wird, um den Schwellenwert der kritischen Kopienzahl durch schrittweise Erhöhung der Kopienzahl zu erreichen, wird durch die über die Keimbahn ererbte Kopienzahl bei der Geburt (n) vorgegeben (grüne Pfeile). Je größer n ist, umso kürzer ist t. Die Zeit (t), die benötigt wird, um die für die Auslösung einer Krankheit notwendige Kopienzahl zu erreichen ist umgekehrt proportional zur Kopienzahl bei der Geburt (n): t = k/n (wobei die Konstante k durch den genetischen Kontext der Wiederholungseinheiten definiert wird). (Aus Richards et al. 2001)
10.3 Chromosomenmutationen Chromosomenmutationen spielen sowohl in der Natur als auch in der experimentellen Genetik eine wichtige Rolle, da sie im Gegensatz zu den meisten Genmutationen Auswirkungen auf die Verteilungsmechanismen der Chromosomen in Meiose und Mitose ausüben können oder auch bestimmte Allelenkombinationen im Genom stabilisieren können. Grundsätzlich lassen sich zwei Typen von Veränderungen auf dem Genomniveau unterscheiden: • numerische Chromosomenaberrationen und • strukturelle Chromosomenaberrationen.
10.3 Chromosomenmutationen
Abb. 10.7. Paternale Vererbung der Erkrankung Chorea Huntington. Die Zahl der CAG-Kopien zwischen verschiedenen Generationen. Die Länge der expandierenden CAG-Wiederholungen, die zu Erkrankungen führen, in Müttern (links) und in Vätern (rechts) ist jeweils gegen die Kopienzahl in den jeweiligen erkrankten Kindern aufgetragen. Die diagonale Linie (gestrichelt) zeigt die Beziehung an, wenn keine Verän-
derung in der Kopienzahl auftritt. Bei der Mehrzahl der Übertragungen (insgesamt 25 über die Mutter und 37 über den Vater) hat sich die Kopienzahl nur um einige wenige Einheiten nach oben oder unten verändert ; allerdings zeigen ca. 1/3 der Fälle, die über den Vater übertragen wurden, eine deutliche Erhöhung in der Kopienzahl. (Aus MacDonalds 1998)
Beide Typen von Chromosomenveränderungen lassen sich, je nach der speziellen Art der Veränderung, noch weiter untergliedern.
Konsequenzen, als neue Kopplungsbeziehungen zwischen Genen entstehen. Noch tiefergreifende Folgen haben Verschmelzungen eines Autosoms mit einem Geschlechtschromosom. Es kann in der Folge zur phänotypischen Expression rezessiver Allele des autosomalen Anteils des Fusionschromosoms kommen, die zuvor nur gelegentlich in seltenen homozygoten Konstitutionen sichtbar wurden. Außerdem haben solche Chromosomenaberrationen notwendigerweise Konsequenzen für die Genregulation, da die autosomalen Gene nunmehr einem Dosiskompensationsmechanismus unterstellt werden müssen. Änderungen der Genomkonstitutionen können Konsequenzen für Selektionsprozesse haben (s. S. 491). Hierfür sprechen numerische Unterschiede in den Chromosomen von Populationen der Schnecke Purpura lapillus, wie man sie in unterschiedlichen Biotopen beobachten kann (Abb. 10.8). Die Anzahl der Chromosomen liegt, je nach Biotop, zwischen 13 und 18, wobei die unterschiedlichen Chromosomenzahlen auf Verschmelzungen akrozentrischer bzw. auf den Zerfall metazentrischer Chromosomen zurückgeführt werden können. Solche Chromosomenverschmelzungen, die man im Prinzip auch als Translokationen ansehen kann (s. S. 393), haben in der Entwicklung der Säugergenome eine wichtige Rolle gespielt. Hier ist es häufig zur Verschmelzung akrozentrischer zu metazentri-
10.3.1 Numerische Chromosomenaberrationen Unter diese Kategorie von Chromosomenmutationen fallen alle Veränderungen der Anzahl von Chromosomen im Genom. Diese können verursacht sein durch • Verschmelzungen (Fusionen) von zwei Chromosomen, • Zerfall (Fissionen) einzelner Chromosomen in zwei Chromosomen oder • Vervielfachung der Chromosomenzahl (Ploidisierung).
Fusionen von Chromosomen Fusionen von Chromosomen führen nicht notwendigerweise zu phänotypischen Veränderungen, da eine Verschmelzung von zwei Chromosomen nicht mit dem Verlust oder mit Veränderungen von Genen verbunden sein muss. Für die Vererbung von Merkmalen an Nachkommen haben Fusionen jedoch insofern
379
Kapitel 10: Veränderungen im Genom: Mutationen Exponierte Gezeitenzone
Ruhige Ebbezone
30 25 Individuenanzahl
380
20 15 10 5 0
26 28 26 28 30 27 29 27 29 31
Estellen bihan
Les Bisayers
26 28 30 32 27 29 31 33
26 28 30 32 34 31 33 35 31 33 35 33 35 27 29 31 33 35 32 34 36 32 34 36 34 36 Chromosomenzahlen
Enes Vey
Trésol
Lédanet
Roche Gaurec
Roscoff
Abb. 10.8. Chromosomenzahlen und Umwelt. Bei der Meeresschnecke Purpura lapillus beobachtet man einen ausgeprägten Chromosomenzahlpolymorphismus in Abhängigkeit vom jeweiligen Lebensraum der Individuen. In ruhigeren
Zonen der französischen Atlantikküste sind die Chromosomenzahlen im Mittel höher als in den exponierten Gezeitenzonen. (Nach Staiger aus Sperlich 1988)
schen Chromosomen gekommen, einem Vorgang, der unter dem Begriff der Robertson-Translokation (engl. Robertsonian translocation) beschrieben wird. Offenbar sind mit der Verschmelzung oder dem Auseinanderfallen von Chromosomen kleine genetische Effekte verbunden, die im Einzelnen nur schwer nachweisbar sind, aber Vor- und Nachteile für Selektionsprozesse mit sich bringen.
müssen strukturelle oder zumindest funktionelle Veränderungen der Chromosomen in den Centromerenbereichen eintreten. Der Zerfall eines metazentrischen Chromosoms erfordert nicht nur die Entstehung zweier vollständiger Centromere, wenn man davon ausgeht, dass das vorhandene Centromer halbiert wird, sondern es müssen auch zwei Telomeren gebildet werden, die die Bruchstelle verschließen. Die Art der Entstehung neuer Telomeren war in der klassischen Cytologie ein kontroverser Diskussionspunkt. Heute ist sie für uns aufgrund der Kenntnisse der molekularen Eigenschaften von Telomeren leichter verständlich. Die Zelle verfügt über die Mechanismen zur Neubildung von Telomeren, und wir haben gesehen, dass, wie im Falle der HeT-Elemente, TelomerenDNA-Sequenzen auch im centromernahen Heterochromatin vorhanden sein können, die an der Neubildung eines Telomers beteiligt sind (s. S. 235). Hinsichtlich der Neuentstehung einer Centromerenregion haben wir keine konkreten Vorstellungen über die beteiligten molekularen Mechanismen. Untersuchungen an sogenannten Neocentromeren – Centromeren, die neu entstanden
! Chromosomenverschmelzungen und -zerfall sind
zwar nicht notwendigerweise mit einer Änderung der Genzusammensetzung verbunden, haben aber kleinere, schwer nachweisbare Veränderungen in der Genexpression zur Folge, die für selektive Mechanismen bedeutsam sein können.
Zerfall von Chromosomen Bei beiden Prozessen, sowohl der Verschmelzung als auch dem Zerfall (Dissoziation) von Chromosomen,
10.3 Chromosomenmutationen
sind – lassen es möglich erscheinen, dass Centromerenbildung zumindest teilweise über epigenetische Prozesse erfolgt. Bei Ausfall eines Centromers, z. B. durch eine Deletion, kann ein neues Centromer in einer neuen chromosomalen Position entstehen. Als Ursache wird vermutet, dass ein Kontakt dieser Chromosomenregion mit einem funktionellen Centromer zu einer epigenetischen Programmierung des neu entstandenen Centromers geführt hat. Der Kontakt einer geeigneten DNA-Sequenz zu den Centromerenproteinen könnte die Bildung eines Centromerenproteinkomplexes in der neuen chromosomalen Position induziert haben. Es ist aber auch nicht auszuschließen, dass gelegentlich intrachromosomale Duplikationen der Centromeren-DNA entstehen oder sogar regelmäßig gebildet werden und ohne erkennbare Funktion bleiben, bis die chromosomale Situation ihre Funktionsfähigkeit erzwingt. In der klassischen Cytologie ist die Existenz solcher inaktiven Centromerenregionen, die unter bestimmten Umständen aktiviert werden können, schon lange bekannt. Beispiele hierfür sind die polyzentrischen oder holokinetischen Chromosomen, wie sie bei Parascaris und anderen Nematoden, aber auch bei Insekten und Pflanzen beobachtet werden. In diesen Chromosomen existieren mehrere DNA-Bereiche mit fakultativer Centromerenaktivität. Die Aktivität dieser vielfachen Centromeren kann auf Meiose oder Mitose beschränkt sein. Die funktionelle Aktivierung bzw. Inaktivierung der betreffenden DNA-Bereiche könnte ähnliche Ursachen haben wie sie beispielsweise beim Phänomen der nukleolären Dominanz (s. S. 290) vorliegt, d. h. eine Aktivierung oder Inaktivierung von Chromatinbereichen in Abhängigkeit von den physiologischen Notwendigkeiten der Zellen. ! Chromosomenfusionen und -zerfall erfordern
Veränderungen bzw. Neuentstehung von Telomeren und Centromeren.
Rolle. Zudem ist Ploidisierung eine unverzichtbares Mittel in der Praxis der Pflanzenzucht. Unter der Ploidisierung versteht man eine Vermehrung der Chromosomenzahl des Genoms. Grundsätzlich kann diese gleichmäßig alle Chromosomen erfassen, etwa in Form einer Verdreifachung des Genoms, einer Triploidisierung. Man spricht dann allgemein von Polyploidie. Die Organismen bleiben in solchen Fällen euploid. Die Veränderung der Chromosomenanzahl kann sich aber auch auf einzelne Chromosomen beschränken, die in abnormaler Zahl, also vermehrt oder vermindert gegenüber den übrigen Chromosomenanzahlen, vorkommen. In diesem Fall handelt es sich um Aneuploidie. Beispielen für aneuploide Genomkonstitutionen begegnen wir in der Monosomie oder Trisomie durch Nondisjunction (s. Abb. 10.12). Aneuploidie führt nur in Ausnahmefällen zu lebensfähigen genetischen Konstitutionen. Auch in der Pflanzenzüchtung haben Aneuploidien wegen der meist zufallsgemäßen Aufspaltung in der Nachkommenschaft, die es nicht gestattet, große Populationen genetisch gleicher Individuen in Kreuzungen zu erzeugen, ihre wesentliche Bedeutung in Zusammenhang mit genetischen Analysen der Genlokalisation. Polyploidie ist in der Natur weit verbreitet, wenn sie auch nicht immer direkt erkennbar ist. So sind viele Genome von Vertebraten im Laufe der Evolution offenbar durch Ploidisierung entstanden, und bei Pflanzen ist Polyploidie in ähnlicher Weise mit dem Biotop korreliert, wie wir es bereits für Chromosomenzahlen bei der Schnecke Purpura gesehen haben. Während natürliche Polyploidie bei Tieren die Ausnahme ist, kann sie bei Pflanzen häufig beobachtet werden. Der Polyploidiegrad steigt mit der Höhenlage, in der eine Pflanzenpopulation wächst, und ebenso in weiter nördlich gelegenen Regionen der Erde. Bei Kulturpflanzen ist Polyploidie sogar die Regel (Tabelle 10.2). ! Die Vervielfachung der Chromosomenzahl be-
Vervielfachung der Chromosomenzahl (Polyploidie) Einer Ploidisierung des Genoms sind wir bereits als Eigenschaft spezialisierter Zelltypen begegnet. Sie spielt jedoch auch in der Evolution, also bei der Entwicklung neuer Genomkonstitutionen, eine große
zeichnet man als Polyploidie. Sie spielt vor allem bei der evolutionären Entstehung neuer Karyotypen eine wichtige Rolle.
381
382
Kapitel 10: Veränderungen im Genom: Mutationen
Tabelle 10.2.
Ploidie von Kulturpflanzen
Pflanze
Ausgangszahl der Chromosomen (n)
heutiger 2n-Wert
Ploidie
A. Alloploide Malus ssp. (Apfel)
17
34 oder 51
2–3×
Pyrus communis (Birne)
17
34 oder 51
2–3×
15, 24, 32, 48
2–6×
12
48
4×
Fragaria ananassa (Erdbeere)
7
56
8×
Triticum aestivum (Weizen)
7
42
6×
Solanum tuberosum (Kartoffel)
12
48
4×
Coffea arabica (Kaffee)
11
22, 44, 66, 88
2–8×
Musa sapientum (Banane)
11
22, 33
2–3×
Prunus ssp. (Pflaume) Nicotiana tabacum (Tabak)
8
B. Autoploide
Nach Leibenguth (1982)
10.3.2 Polyploidie in der Pflanzenzucht Bei Polyploidisierung ist generell die Vervielfachung des eigenen Genoms (Autopolyploidie) von der Vervielfachung der Chromosomen in der Folge von Kreuzungen verschiedener Arten (Allopolyploidie) zu unterscheiden. So ist beispielsweise der Weizen (Triticum aestivum) als ein allohexaploides Produkt der stufenweisen Kreuzung dreier Triticum-Arten entstanden (Abb. 10.13). Polyploidie hat Konsequenzen für die meiotische Paarung und Segregation der Chromosomen.In Autopolyploiden sind alle Homologen gleichwertige Paarungspartner. Das führt zum Beispiel bei Autotetraploiden in der meiotischen Prophase normalerweise zur Bildung von Quadrivalenten (Abb. 10.9). Die Segregation in der Meiose führt dann zu einer normalen Verteilung der Homologen in den Gameten in einem Verhältnis 1:1:1:1. Betrachten wir nun eine Situation, in der zwei verschiedene Allele eines Gens in beiden Eltern (Konstitution jeweils AAaa) vorhanden sind,so können,je nach deren Segregation (AA, Aa oder aa), in der Nachkommenschaft bereits fünf verschiedene Genotypen auftreten (AAAA, AAAa, AAaa, Aaaa, aaaa). Die Häufigkeit der verschie-
denen Genotypen ist abhängig vom Abstand eines Gens vom Centromer, da Crossing-over zwischen jeweils zwei Chromatiden in unterschiedlichen Kombinationen die Häufigkeiten der Allelenkombinationen verändert. Gelegentlich kommt es in Autopolyploiden nicht zur Bildung von Quadrivalenten, sondern es entstehen beispielsweise ein Trivalent und ein Univalent oder zwei Bivalente (Abb. 10.9). In diesem Fall kann es zu ungleicher Segregation während der Meiose kommen, so dass die Meioseprodukte aneuploid (hyper- oder hypoploid) werden. Solche Aneuploidien sind in einigen Prozent der Nachkommen polyploider Pflanzen regelmäßig zu beobachten (Abb. 10.10). Folge davon ist eine partielle Sterilität der Pflanzen in der Nachkommenschaft. Es stellt sich die Frage, welche phänotypischen Folgen Polyploidie hat. Generelle Effekte von Polyploidie gibt es zwar nicht, aber oft beobachtet man, dass Polyploide größer sind. Parallel hiermit geht oft eine Zunahme der Zellkern- und Zellgröße, während die Anzahl der Zellen sogar abnehmen kann. Größenzunahme von Zellen ist in der züchterischen Praxis von Bedeutung, da sie beispielsweise zu größeren Blüten oder größeren Früchten führen kann.
10.3 Chromosomenmutationen 70
% der Individuen
60 50 40 30 20 10 36
37
38
39 40 41 42 Chromosomenzahl
43
44
45
Abb. 10.10. Aneuploidie in Polyploiden. Bei den Nachkommen von autotetraploidem Mais (40 Chromosomen) schwankt die Chromosomenzahl zwischen 36 und 45. Die Aneuploiden sind steril. (Nach Redei 1982)
H N
H3C O
O C
CH3
H3C O OCH3 O
Abb. 10.9. Verschiedene meiotische Paarungsformen von Homologen in Autotetraploiden. Es können zwei Bivalente (oben), ein Quadrivalent (Mitte) oder ein Trivalent und ein Univalent (unten, links) gebildet werden, oder die Paarung kann ausbleiben (unten, rechts). (Nach Redei 1982)
! Obwohl in Autopolyploiden alle Homologen
gleichwertige Paarungspartner in der meiotischen Prophase sind, kann es in Heterozygoten durch Crossing-over zu Veränderungen in der Häufigkeit der verschiedenen Gametengenotypen kommen. Unterschiedliche Paarungsweisen in der meiotischen Prophase können zu Aneuploidien der Gameten führen.
Polyploidisierung erfolgt gelegentlich spontan und kann durch Hitze- oder Kältebehandlung mit erhöhter Frequenz induziert werden.Auch kann man in Vegetationskegeln von Pflanzen nach Dekapitation tetraploide Zellen finden (Abb. 10.12a). Polyploidie kann
Colchicin
OCH3
Abb. 10.11. Colchicin, Alkaloid der Herbstzeitlose, Colchicum autumnale. Die giftige Wirkung beruht auf einer Mitosehemmung. Die Ursachen hierfür gehen letztlich auf Interaktionen mit Tubulin zurück, das den Hauptbestandteil der mitotischen Spindel darstellt. Colchicin und verwandte Verbindungen (wie Colcemid) verhindern die Entstehung von Mikrotubuli (assembly) durch ihre Bindung an Tubulin. Zusätzlich scheint jedoch auch ein Abbau bestehender Mikrotubuli stattzufinden
experimentell gezielt durch die Verhinderung der Ausbildung der Spindel durch Colchicin, einem Alkaloid der Herbstzeitlosen (Colchicum autumnale), induziert werden (Abb. 10.11). Das Colchicin blockiert die Polymerisation von Mikrotubuli und verhindert damit die Verteilung der Chromosomen bei der Zellteilung, so dass die entstehenden Zellen tetraploid werden. In den folgenden Zellteilungen können die Chromosomen sich dann normal verteilen, wie es bereits zuvor für Autopolyploide beschrieben wurde.
383
384
Kapitel 10: Veränderungen im Genom: Mutationen
Abb. 10.12a–c. Entstehung von Autotetraploidie (a) und Allopolyploidie (b). Eine Verdoppelung der Chromosomenzahl wird durch Behandlung der Keimzellen während der Meiose mit Colchicin erreicht. Führt man einen Polyploidisierungsschritt mit Arthybriden durch, so entstehen Allopolyploide (b). Diese sind im Allgemeinen fertil, da sich die Chromosomen in der Meiose aufgrund des diploiden Zustandes jedes Genoms normal paaren können und damit auch normal
segregieren. c Entstehung von Amphidiploidie. Die Nachkommenschaft von Artkreuzungen ist gewöhnlich steril. Durch Meiosefehler (Nondisjunction) entstehen jedoch mit geringer Frequenz auch Gameten, in denen keine Reduktionsteilung stattgefunden hat. Paaren sich solche Gameten, so entstehen amphidiploide Individuen der Genomkonstitution (AA BB). (a und b: Nach Avers 1984, c: Nach Srb et al. 1952)
Allopolyploidie und Pflanzenzüchtung
jedoch oft vegetativ fortpflanzen und damit zahlenmäßig vermehren können, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich bei zufälliger Segregation der Chromosomen gelegentlich einzelne Gameten bilden, die je einen haploiden Chromosomensatz beider Elternarten besitzen. Befruchten sich zwei solcher Gameten, so entsteht eine tetraploide Zygote, die je ein diploides Genom beider Eltern enthält. Diese genetische Konstitution bezeichnet man als amphidiploid (Abb. 10.12 c). Amphidiploide Zellen können sich auch meiotisch normal teilen, da nunmehr jedes Chromosom einen homologen Paarungspartner besitzt. Die Folge ist eine normale Segregation. Man kann die Zelle also hinsichtlich ihres Segregationsverhaltens mit einer diploiden Zelle mit der doppelten Chromosomenanzahl vergleichen. Sie unterschei-
Die Entstehung allopolyploider Genotypen spielt eine wichtige Rolle in der experimentellen Pflanzenzüchtung (Abb. 10.12b). Viele Kulturpflanzen, wie Getreidesorten, Tabak, Kohlsorten u. a. sind allopolyploid. Der erste Schritt zur Allopolyploidie sind gelegentliche Fremdbefruchtungen, die zur Bildung von Hybriden führen. Arthybriden sind definitionsgemäß steril und damit nicht zur sexuellen Fortpflanzung imstande. Die Sterilität beruht vorwiegend auf der mangelnden Fähigkeit der Chromosomen, sich meiotisch richtig zu paaren. Eine Folge davon ist die ungerichtete Segregation, die zu Aneuploidie der Gameten führt und damit zur Letalität der Nachkommenschaft. Da sich solche Pflanzenhybriden
10.3 Chromosomenmutationen
det sich jedoch von einer normalen diploiden Zelle dadurch, dass die sich entsprechenden Chromosomen beider Ausgangsgenome partiell homolog sind. Man bezeichnet zwei sich entsprechende Chromosomen zweier unterschiedlicher Genome zur Unterscheidung von echten homologen Chromosomen auch als homöolog. Die Paarung – und damit auch das Crossing-over – erfolgt im Allgemeinen bevorzugt zwischen den beiden homologen Partnern eines allopolyploiden Genoms, so dass beide Genome gewissermaßen nebeneinander bestehen bleiben. Das ist auch bei Allopolyploiden höheren Grades (z. B. Hexapolyploiden) der Fall. ! Polyploidie kann in der Natur durch gelegentliche
Fremdbefruchtung entstehen. Durch zufällige Euploidie von Gameten kann es zur Bildung von amphidiploiden Konstitutionen kommen, deren Chromosomen während der Meiose normal segregieren und infolgedessen euploide Gameten bilden.
Unsere heute gebräuchlichen Weizensorten sind typische Beispiele für Allopolyploidie. Durch Chromosomenanalysen hat man festgestellt, dass die Evolution des Genoms des hexaploiden Weizens (Triticum aestivum, 2n=42), dessen Ursprünge in Babylonien und Indien liegen, in zwei
Abb. 10.13. Evolution des Weizens. Die heutige Weizensorte T. aestivum ist ein hexaploides, amphidiploides Produkt dreier verschiedener Sorten mit den Genomen A, B und D. Über mehrere Hybridisierungsschritte entstand die heutige Form. Emmerweizen und Einkornweizen werde heute gelegentlich noch gezüchtet. (Persönl. Mitteilung R. Appels, Canberra)
Einkornweizen
Ploidisierungsschritten unter Einbezug des Genoms dreier diploider Arten verlaufen sein muss (Abb. 10.13). Ausgangsarten waren vor mehr als 10 000 Jahren wahrscheinlich die diploiden Arten Triticum monococcum (2n=14) (heute als Einkorn noch kultiviert) (mit der Chromosomenkonstitution AA) und eine weitere, nicht sicher bestimmte Art, wahrscheinlich Aegilops speltoides (Synonym: Triticum speltoides) (2n=14) (mit der diploiden Konstitution BB). Ein natürliches tetraploides Hybrid beider Arten, Triticum turgidum (2n=28), das seit etwa 10 000 Jahren bekannt ist, hat die Chromosomenkonstitution AA BB. Es wird noch heute als Emmerweizen kultiviert. Nach einer Kreuzung mit der diploiden Art Aegilops squamosum (Synonym: Triticum tauschii) (2n=14) (diploide Chromosomenkonstitution DD) entstand vor etwa 8000 Jahren der hexaploide Weizen Triticum aestivum (Chromosomenkonstitution AA BB DD). Er besitzt 2n=42 Chromosomen, die aus drei verschiedenen Ursprungsgenomen mit haploid je sieben Chromosomen abgeleitet sind, wie uns seine Entstehungsgeschichte gezeigt hat. ! Die heutige hexaploide Kulturform des Weizens (Triticum aestivum) ist ein Beispiel für die Entstehung Allopolyploider durch stufenweise Hybridenbildung zwischen verschiedenen diploiden Ausgangsarten.
T. monococcum 2n = 14 AA
x
A. speltoides 2n = 14 BB
Tetraploides Hybrid
vor 10 000 Jahren A. squamosum 2n = 14 DD
x
T. turgidum 2n = 28 AA BB
Emmerweizen
Hexaploides Hybrid
vor 8 000 Jahren T. aestivum 2n = 42 AA BB DD
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Kapitel 10: Veränderungen im Genom: Mutationen
In allopolyploiden Genomen werden Verluste einzelner Chromosomen (Monosomie) oder sogar ganzer Chromosomenpaare (Nullisomie) häufig toleriert. Das ist für genetische Analysen sehr hilfreich. So hat Sears (1948) in langwierigen Kreuzungsversuchen, ausgehend von der Sorte Chinese Spring des Weizens, einen vollständigen Satz von Linien herstellen können, in denen jedes der 3 × 7 haploiden Chromosomen in unterschiedlicher Dosis, also gar nicht (Nullisomie), einmal (Monosomie), zweifach (also normale Disomie), dreifach (Trisomie) oder vierfach (Tetrasomie) vorhanden war, um die Auswirkungen auf den Phänotyp zu untersuchen (Abb. 10.14). Die Abb. 10.14 lässt die Unterschiede im Phänotyp für die verschiedenen Nullisomien sehen. Sie resultieren im Allgemeinen in geringeren Erträgen. Das kann jedoch durch Tetrasomien eines homöologen Chromosomenpaares kompensiert werden. ! In Allopolyploiden werden Aneuploidien im All-
gemeinen toleriert, da die Gendosisunterschiede von Genen aufgrund der vorhandenen Allele in den homologen bzw. homöologen Chromosomen weniger schwerwiegende Folgen haben als in Diploiden.
Der Vorteil allopolyploider Konstitutionen liegt letztlich in einem größeren Reichtum an unterschiedlichen Allelen. Hierdurch sind die Pflanzen anpassungsfähiger (Vergrößerung des Genpools: s. S. 773). ▲
Abb. 10.14 a,b. Die Phänotypen bei Nullisomie des Weizens. a Die Abbildung zeigt alle Phänotypen bei Nullisomie für jede der drei Genomkomponenten A, B oder D (s. Abb. 10.13) und für jedes der sieben Chromosomen. Zum Vergleich unten rechts der Wildtyp-Phänotyp der Varietät Chinese Spring. b Kompensation von Nullisomie durch Tetrasomie der homöologen Chromosomen. Obere Reihe: 3A Nullisomisch für 3A, die beiden folgenden Phänotypen sind kompensiert durch Tetra-3B bzw. Tetra-3D. 3B Nullisomisch für 3B, die beiden folgenden Phänotypen sind kompensiert durch Tetra-3A bzw. Tetra-3D. 3D Nullisomisch für 3D, die beiden folgenden Phänotypen sind kompensiert durch Tetra-3A bzw. Tetra-3B. Untere Reihe: N normale Ähre. Die folgenden Phänotypen sind nicht kompensiert durch die heterologen Tetra- bzw. Trisomien: Nulli-2B-Tetra-4D, Nulli4B-Tetra-5A, Nulli-5D-Tetra-4A, Nulli-6D-Tetra-1A, Nulli-7ATetra-1B, Nulli-7A-Tetra-4D, Nulli-7A-Tetra-6B, Nulli-3ATrisomisch-4A. (Aus Redei 1982)
10.3 Chromosomenmutationen
Außerdem bewirkt die Vervielfachung der Kopienzahl eines Gens oft eine Erhöhung der Menge an Genprodukt, dem entscheidenden Kriterium in der kommerziellen Pflanzenzüchtung, wenn es sich um Nahrungspflanzen handelt. Die Entstehung allopolyploider Konstitutionen ist nicht allein der natürlichen Selektion geeigneter Formen überlassen, sondern kann auch experimentell erfolgen. Ausgangsformen hierfür sind wiederum Amphidiploide, die durch Kreuzungen verschiedener Arten und anschließende Ploidisierung, beispielsweise durch Colchicinbehandlung, erhalten werden. Ein wichtiges Beispiel hierfür ist die Züchtung der Gattungshybride Triticale durch Kreuzungen von Weizen (Triticum) (2n=42) und Roggen (Secale) (2n=14) (Abb. 10.15). Durch Bestäubung von Triticum mit Pollen vom Secale wurden zunächst (unfruchtbare) Hybriden erzeugt. Die Embryonen kultivierte man in colchicinhaltigem Nährmedium und erhielt so tetraploide Pflanzen, die sich als fruchtbar erwiesen. Allerdings ist deren Fertilität noch stark reduziert, so dass gegenwärtig intensiv nach Verbesserungsmöglichkeiten für die Fertilität gesucht wird. Triticale erscheint Abb. 10.15. Erzeugung von Triticale. Nach Bestäubung von Weizen mit Pollen von Roggen entstehen Hybridpflanzen, die nach Colchicinbehandlung amphidiploid werden. Fertile Hybriden können direkt vermehrt werden. Meist sind sie jedoch infertil. In diesem Fall kann der Embryo (unten) in Gewebekultur genommen werden. Nach Colchicinbehandlung werden fertile, nunmehr amphidiploide Hybriden gezüchtet. (Nach Hulse u. Spurgeon aus Suzuki 1981)
wegen der Verbindung der günstigen Eigenschaften beider Ausgangssorten – der hohen Produktivität des Weizens bei gleichzeitig hoher Robustheit des Roggens – für einen weltweiten Anbau als besonders geeignet, so dass der Aufwand zur Verbesserung der Fruchtbarkeit gerechtfertigt ist. ! Durch die gezielte Kreuzung von Arten lassen sich experimentell neue allopolyploide Arten erzeugen, die als Kulturpflanzen für die Ernährung von großer Bedeutung sein können, da sie vorteilhafte Eigenschaften der verschiedenen Ausgangsarten in sich vereinigen.
Schließlich haben in der klassischen Pflanzenzüchtung noch zwei weitere Möglichkeiten genetischer Eingriffe in das Genom Bedeutung erlangt. Sie werden als Additions- und Substitutionsbastardisierung bezeichnet. In Additionsbastarden findet sich ein überzähliges Chromosomenpaar aus einer anderen Art (Fremdaddition, engl. alien addition). So lassen sich zum Weizen-
Pollen von Roggen
Hybride
fertile Hybride ColchicinBehandlung
amphidiploide Hybride
Weizen fertile Hybride
Embryo in im Gewebekultur Gewebekultur
ColchicinBehandlung
amphidiploide Hybride
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Kapitel 10: Veränderungen im Genom: Mutationen
genom einzelne Chromosomen des Roggens hinzufügen (Abb. 10.16a). Die allopolyploide genetische Konstitution des Weizengenoms ist in der Lage, solche „überzähligen“ Chromosomen, die ja zu Aneuploidie führen, zu akzeptieren. In diploiden Genomen würden solche Aneuploidien zur Letalität führen. In ähnlicher Weise (Abb. 10.16b) können einzelne Chromosomenpaare eines Allopolyploiden durch ein Chromosomenpaar fremden Ursprungs ersetzt werden (Fremdsubstitution, engl. alien substitution). ! Bei der Züchtung von Kulturpflanzen ist die
Möglichkeit, einzelne Chromosomen eines fremden Genoms zu einem allopolyploiden Genom hinzuzufügen von Bedeutung (Fremdaddition). Außerdem können in Allopolyploiden auch einzelne Chromosomenpaare durch die einer anderen Art ersetzt werden (Fremdsubstitution).
Die Kombination fremder Genombestandteile ist eines der wichtigsten Mittel der klassischen Pflanzenzüchtung gewesen, um gewünschte Eigenschaften bei Kulturpflanzen, in erster Linie hohen Ertrag und spezifische Resistenzen sowie Adaptation an besondere Wachstumsbedingungen, herauszuzüchten. Die aufgeführten Beispiele lassen erkennen, welch mühsamen und oft weitgehend empirischen Weg der Züchter zu gehen hatte, um die gesuchten Varietäten zu erzeugen. Die Gentechnologie lässt erwarten, dass die gezielte Herstellung bestimmter Genotypen künftig durch die direkte Einfügung entsprechender Gene ins Genom erfolgen kann und somit züchterische Schritte vereinfacht werden. Vor allem die Einführung von Resistenzgenen ist hierbei von unmittelbarem Interesse.
10.3.3 Strukturelle Chromosomenaberrationen Strukturellen Chromosomenveränderungen sind wir bereits wiederholt begegnet. Es handelt sich hierbei stets um Abweichungen, die durch – meist mehrere – Brüche im Chromosom verursacht werden. Solche Brüche können wiederverheilen, und die strukturelle Integrität des Chromosoms kann wiederhergestellt werden. Liegen gleichzeitig mehrere Brüche in einem
oder verschiedenen Chromosomen vor, so kann es zu „falschen“ Verheilungen kommen. Ohne sie würde das Chromosom sein Centromer oder Telomer verlieren und wäre damit funktionsunfähig (s. S. 226, 228). Falsche Verheilungen von Chromosomen haben eine Veränderung der Anordnung der Gene im Genom zur Folge. Die verschiedenen Möglichkeiten, die sich hierbei ergeben, sind (Abb. 10.17): • Duplikationen, • Deletionen (= Defizienzen), • Inversionen, • Translokationen und • Transpositionen. Alle Arten von Chromosomenaberrationen (oder Chromosomenrearrangements) sind nicht nur in populationsgenetischer Hinsicht von Bedeutung, sondern für die Kartierung von Genen auch in der experimentellen Genetik. Sie gestatten die gezielte Herstellung bestimmter genetischer Konstitutionen und die Stabilisierung bestimmter Allelenkombinationen.Auch in der Humangenetik spielen Chromosomenaberrationen eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Erbkrankheiten.Aberrationen können spontan entstehen oder induziert werden. Ihre Induktion erfolgt in erster Linie durch energiereiche Strahlung (Röntgenstrahlung), kann aber auch durch chemische Mutagenese erfolgen. Chromosomenaberrationen sind in vielen Fällen bereits cytologisch zu erkennen, da sie mit Veränderungen in der Form oder Länge der betroffenen Chromosomen, in den Paarungseigenschaften während der meiotischen Prophase, oder – auf einem subtileren Niveau – in den Bandierungsmustern der Chromosomen (s. S. 243) verbunden sind.
Duplikationen und Deletionen Bei der Entstehung von Duplikationen und Deletionen führen partielle Homologien in der DNA-Sequenz zu einer Verschiebung in der meiotischen Paarung und zu nichthomologem Crossing-over. Vergleichbare Ereignisse können sich natürlich auch über größere Abstände im Chromosom hinweg abspielen, so dass längere Chromosomenabschnitte dupliziert werden. Allerdings stellen alle Duplikationen genetisch gesehen Aneuploidien dar, und wir wissen, dass diese meist letal sind. Daher werden im Genom – nach Maßgabe der beteiligten Gene – meist nur kürzere Deletionen vorgefunden.
10.3 Chromosomenmutationen
Abb. 10.16 a,b. Fremdaddition und Fremdsubstitution. a Entstehung von Fremdadditionslinien. Durch Kreuzung zweier Arten werden zunächst Hybriden erzeugt, die im Allgemeinen steril sind (vgl. Abb. 10.12c). Durch Diploidisierung erhält man Amphiploide. Eine Rückkreuzung mit der Rezipientenart ergibt doppelmonosomische Nachkommen, deren erneute Rückkreuzung mit der Rezipientenart zu unterschiedlichen „Additionschromosomenlinien“ führt, deren jede ein anderes Chromosom monosom enthält. b Entstehung von Fremdsubstitutionslinien (vereinfachtes Kreuzungsschema). Ein null-
isomer Empfänger wird mit einem euploiden Donorindividuum gekreuzt. In den Nachkommen entstehen monosome Individuen, die mit der nullisomen Elternlinie gekreuzt werden. Diese Rückkreuzung wird so lange wiederholt, bis alle Donorchromosomen, ausgenommen das monosome Chromosom, entfernt sind. Durch Selbstbefruchtung entstehen Nachkommen unterschiedlicher Konstitutionen: (a) Disome Linien, (b) monosome Linien und (c) Linien ohne Donorchromosom, die genetisch der Rezipientenlinie entsprechen. (Nach Sears aus Redei 1982)
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390
Kapitel 10: Veränderungen im Genom: Mutationen
Abb. 10.17. Verschiedene Formen der Chromosomenmutation (Rearrangements)
Ein klassisches Beispiel für eine solche Duplikation ist die Bar-Mutation im X-Chromosom von Drosophila melanogaster (s. Abb. 10.18). An ihr können wir die Folgen für die Paarung homologer Chromosomen besonders anschaulich erkennen, da uns die polytänen Chromosomen bei Heterozygotie im Weibchen in der Region 16A des XChromosoms die Duplikation einer Gruppe von Banden deutlich erkennen lässt (Abb. 10.18a). Die duplizierte Region kann mit dem homologen Chromosom nicht mehr vollständig paaren und bildet daher eine Paarungslücke aus. Entsprechende Erscheinungen findet man bei heterozygoten Deletionen in Riesenchromosomen. Mit deren Hilfe wurde in vielen Fällen eine sehr genaue Kartierung einzelner Loci ermöglicht (s.Abb. 7.24). ! Duplikationen und Deletionen entstehen durch
Paarungsfehler und anschließendes Crossing-over in nichthomologen Positionen oder durch mehrfache Chromosomenbrüche.
Abb. 10.18a–c. Chromosomale Ursache der Bar-Mutation von Drosophila melanogaster. a Es wird die Region 16A des X-Chromosoms dargestellt, innerhalb der eine Duplikation zur Bar-Mutation führt. b, c Komplexauge von Drosophila melanogaster, Wildtyp (b) und Bar (c), im Scanningelektronenmikroskop. b Die regelmäßige Struktur der Augenoberfläche im Wildtyp ist gut zu erkennen. Sie kann in Mutanten gestört sein und äußert sich phänotypisch dann in einer rauhen, weniger glänzenden Augenoberfläche. Jedes Ommatidium entwickelt eine sensorische Borste. c Die Anzahl der Ommatidien in der Bar-Mutante ist deutlich reduziert. (Photos: M. Hanske, Nijmegen) (a: Nach Zubay 1987)
10.3 Chromosomenmutationen
Inversionen Inversionen erscheinen auf den ersten Blick als genetisch nicht sehr interessant, da man erwarten würde, dass hier die genetische Information unverändert erhalten geblieben ist. Das ist insofern nicht ganz richtig, als im Bruchstellenbereich Defekte induziert werden können, die Konsequenzen des Bruchereignisses selbst sind (z. B. fehlerhafte Reparatur) und deren Folgen daher nicht auf der Tatsache der Invertierung eines Chromosomenbereiches beruhen. Andererseits kommt es durch die Inversion eines Chromosomenbereiches jedoch zu Verlagerungen von Genen in andere Bereiche des Chromosoms. Hieraus können aufgrund einer veränderten Chromatinkonstitution Veränderungen in der Aktivität der Gene entstehen. Solche Effekte sind vor allem dann zu beobachten, wenn ein euchromatischer Chromosomenbereich durch eine Inversion (oder auch Translokation) in einen heterochromatischen Chromosomenabschnitt verlagert wird (Abb. 10.19). Wie wir bereits gelernt haben, unterscheiden sich heterochromatische Chromosomenbereiche sowohl durch ihre strukturelle Organisation als auch durch speziell mit ihnen assoziierte chromosomale Proteine von euchromatischen Chromosomenabschnitten. Wird ein Gen in solche Regionen verlagert, so kann es in die strukturelle Organisation des heterochromatischen Chromosomenbereiches einbezogen werden, so dass es zu einer Kondensation des Chromosoms auch in diesem gentragenden Bereich kommt. Das wiederum kann die Inaktivierung der einbezogenen Gene zur Folge haben. Offenbar wird durch die Bruchstellen die Untergliederung der strukturellen Domänen eines Chromosoms teilweise zerstört, so dass deren Grenzen nicht mehr eindeutig definiert werden. Das führt zu einer Variabilität in den Grenzen des heterochromatischen Chromosomenbereiches in verschiedenen Zellen und damit zu Unterschieden in der Ausprägung der Gene im diesem Grenzbereich. ! Bei der Verlagerung von Genen in heterochroma-
tische Chromosomenbereiche durch Inversionen oder Translokationen kann die andere Chromatinkonstitution der neuen chromosomalen Umgebung die normale Expression von Genen beeinflussen.
Abb. 10.19. Chromosomale Grundlage von Positionseffekten. Grundsätzlich wird dieses Phänomen der unterschiedlichen Ausprägung eines Gens in Situationen beobachtet, in denen Gene durch ein Chromosomenrearrangement in die Nähe einer Bruchstelle von Heterochromatin verlagert werden. Eine solche Situation ist hier am Beispiel einer reziproken Translokation zwischen dem X-Chromosom und dem Chromosom 4 von Drosophila melanogaster dargestellt. Heterochromatin ist schwarz dargestellt. Euchromatische Bereiche des X-Chromosoms sind weiß, solche des Chromosoms 4 rot dargestellt. Als Markergen wird white (w) gebraucht, dessen Orientierung in der Translokation mit Hilfe des Gens roughest (rst) dargestellt ist. Die Bruchstellen der Translokation sind durch einen Doppelpfeil gekennzeichnet (oben) und die Konstitution der Chromosomen nach dem Translokationsereignis ist darunter wiedergegeben. Unten ist der Genotyp einer Fliege zu sehen, bei der ein Positionseffekt beobachtet werden kann. Das Wildtypallel des white-Locus ist durch die Translokation an die Grenze zum Heterochromatin verlagert. Das hat eine Inaktivierung dieses Allels in einigen Zellen zur Folge, während es in anderen aktiv bleibt. Da das normale X-Chromosom eine white-Mutation trägt, kann in Ommatidien festgestellt werden, ob das white-Allel des Translokationschromosoms aktiv (rote Ommatidien) oder inaktiv (weiße Ommatidien) ist. Vgl. Abb. 6.35. (Nach Becker 1978)
Besonders einprägsam lässt sich das an einem klassischen Beispiel, der Funktion des white-Gens von Drosophila, demonstrieren. Ist dieses Gen ins 4. Chromosom (Abb. 10.19) oder ins proximale Heterochromatin des X-Chromosoms verlagert, so findet man in den Komplexaugen meist unterschiedliche Muster der Genexpression (Abb. 6.35). Diese Muster gleichen denen von Mosaiken, wie wir sie bereits kennen gelernt haben (s. S. 265). Die
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392
Kapitel 10: Veränderungen im Genom: Mutationen
individuelle Ausbildung solcher Mosaikmuster mit ihren unterschiedlich großen und verschieden angeordneten Expressionsbereichen eines Gens ist durch den Zeitpunkt der Inaktivierung eines Gens während der Ontogenese bedingt (s. S. 256).Wir können aus der Ähnlichkeit der Muster der Expression des white-Gens schließen, dass auch in diesem Fall eine Entscheidung über die Aktivität oder Inaktivität des Gens im Laufe der Ontogenese getroffen wird, die dann klonal erhalten bleibt. Das führt zur Ausbildung von Zellgruppen (Klonen), die durch einen gleichen Funktionszustand des betreffenden Gens gekennzeichnet sind. Der zuvor beschriebene Vorgang der zellspezifischen Inaktivierung eines Gen durch Verlagerung in andere strukturelle Domänen eines Chromosoms wird als Positionseffekt bezeichnet. Das Auftreten von Mustern zellspezifischer Unterschiede der Genexpression ist im Übrigen nicht auf einzelne Gene beschränkt, sondern kann im Grenzbereich einer Verlagerung von Eu- in Heterochromatin sehr weit in euchromatische Chromosomenbereiche übergreifen. So sind Positionseffekte in Riesenchromosomen von Drosophila bei Genen beobachtet worden, die bis zu 80 Querscheiben vom Bruchpunkt der Inversion entfernt liegen. Ein wesentlicher Befund hierbei ist, dass in solchen Fällen jeweils alle dazwischenliegenden Gene in gleicher Weise betroffen sind. Ein Positionseffekt erstreckt sich also vom ursprünglichen Bruchpunkt kontinuierlich ins Euchromatin hinein. Man kann wohl davon ausgehen, dass die Verpackung der betreffenden Chromosomenregion hierbei eine maßgebliche Rolle spielt, wobei diese in verschiedenen Zellen unterschiedlich verlaufen kann. Sie bleibt jedoch, nachdem sie einmal festgelegt ist, in nachfolgenden Zellgenerationen erhalten, ähnlich wie wir es bereits im Zusammenhang mit der Inaktivierung eines der beiden Säuger-X-Chromosomen gesehen haben (s. S. 266). Die betreffende Chromosomenregion muss mithin ein Imprinting erfahren haben,das ihre Inaktivität über folgende Zellteilungen hinweg festlegt. ! Bei der Verlagerung von Genen in heterochroma-
tische Chromosomenbereiche kann es zu Positionseffekten kommen, die wahrscheinlich auf Veränderungen in der Chromatinstruktur des verlagerten Chromosomenbereiches beruhen. Positionseffekte sind mit einem Imprinting des betreffenden Chromosomenbereiches verbunden, das während der Onto-
genese stattfindet. Positionseffekte können daher in einzelnen Zellklonen auftreten, während die Genexpression in anderen Gewebebereichen normal verläuft.
Das Auftreten derartiger Positionseffekte wirft interessante Fragen über die Art der strukturellen Organisation der Chromosomen auf (vgl. S. 281). Wodurch erfolgt die Untergliederung in Domänen? Gibt es hierzu eine chromosomale, DNA-sequenzbedingte „Interpunktion“? Dass die Definition einer chromosomalen Domäne aufgrund der darin enthaltenen repetitiven DNASequenztypen erfolgt, kann durch die Erscheinung von Positionseffekten ausgeschlossen werden. Würde der Charakter konstitutiven Heterochromatins allein durch repetitive DNA-Sequenzen (s. S. 237) bestimmt, dürften benachbarte Regionen an der Bindung heterochromatinspezifischer Proteine nicht teilnehmen. Andererseits sind, insbesondere im Bereich von Telomeren, DNA-Sequenzen entdeckt worden, die die Funktion von chromosomalen Grenzpunkten (engl. borders) haben. Ihre Gegenwart begrenzt z. B. die Ausbreitung von Inaktivierungseffekten der Telomerregionen (Heterochromatisierung angrenzender Chromosomenbereiche). Insgesamt lässt sich aus der Tatsache, dass Positionseffekte überhaupt auftreten, ableiten, dass die Existenz diskreter Chromosomendomänen nicht nur strukturell, sondern auch funktionell bedeutsam ist (s. Kap. 7.3.4). Die Anwesenheit heterozygoter Inversionen in einem diploiden Organismus kann schwerwiegende Folgen während der Meiose haben, wenn es im Inversionsbereich zu Crossing-over kommt. Da die Lage der Inversion relativ zur Lage des Centromers in dieser Hinsicht von großer Bedeutung ist, unterscheidet man zwischen Inversionen, die sich auf einen Chromosomenarm beschränken (genannt parazentrischen Inversionen) und solchen, die den Centromerenbereich einschließen (genannt perizentrische Inversionen). Die Folgen eines Crossing-overs für beide Fälle sind in Abb. 10.20 dargestellt. Im Falle eines Crossing-overs innerhalb einer perizentrischen Inversion entstehen Chromatiden mit partiellen Duplikationen und Deletionen, die in den Nachkommen zu Aneuploidien führen und damit im Allgemeinen eine letale Wirkung haben. Erfolgt ein Crossing-over innerhalb einer parazentrischen Inversion, so kommt es bereits während der ersten meiotischen
10.3 Chromosomenmutationen Prophase I B
C
C D
B
A C A
B D
B
A A
D
D
Anaphase I A
D C
D B
C
D
B
C C
A
A
A D
D
B
C
D
B
C
D
A
C
A
B
C
B A B B
A D
Abb. 10.20. Die Folgen von Crossing-over im Bereich von parazentrischen (links) und perizentrischen (rechts) Inversionen bei Heterozygoten. Bei parazentrischen Inversionen entstehen unvollständige azentrische Chromatidenfragmente und Chromatidenbrücken durch Bildung dizentrischer Chromosomen, die zum Bruch der Chromatide in der Anaphase führen. Crossing-over im Bereich perizentrischer Inversionen führt zu partiellen Deletionen und Duplikationen in einzelnen Chromatiden
Anaphase zu Störungen, da die entstehenden Chromatiden entweder ihr Centromer verloren haben oder zwei Centromeren besitzen. Cytologisch ist das in der Anaphase durch die Ausbildung von Chromatidenbrücken erkennbar, wie sie charakteristischerweise durch Chromatiden mit zwei Centromeren gebildet werden. Chromatidenbrücken zerbrechen gegen Ende der Anaphase. Da Chromatidenstücke ohne Centromer während der Zellteilung verlorengehen, entstehen sowohl bei Verlust des Centromers (azentrisches Fragment) als auch bei der Anwesenheit zweier Centromere (dizentrisches Fragment) aneuploide Gameten, die ebenfalls zur embryonalen Letalität führen, wenn sie nicht bereits als Keimzellen eliminiert werden. Unter den Nachkommen sind damit nur solche Individuen zu finden, die im Inversionsbereich kein Crossing-over aufweisen. Alle Chromosomen mit Crossing-over innerhalb der Inversion werden hingegen aus der lebensfähigen Nachkommenschaft eliminiert. Daher sind heterozygote Inversionen, insbesondere, wenn sie längere Chromosomenbereiche einschließen, zur Stabilisierung bestimmter Allelenkombinationen geeignet (s.
Technik-Box 1). Solche Chromosomenkonstitutionen kann man in der Natur bei bestimmten Organismen häufig finden. Zum Beispiel sind ChironomidenPopulationen (Diptera) oft durch eine sehr ausgiebige und populationsspezifische Inversionsheterozygotie gekennzeichnet (Abb. 7.23). Offenbar sind bestimmte Allelenkombinationen von selektivem Vorteil und werden daher in der jeweiligen Population durch Inversionsheterozygotie stabilisiert. In der experimentellen Genetik werden Inversionen mit dem gleichen Ziel, der Verhinderung von Rekombination in bestimmten Chromosomenbereichen, verwendet. Sie sind daher ein wesentlicher Bestandteil eines Balancerchromosoms (TechnikBox 17). Cytologisch sind heterozygote Inversionen in polytänen Chromosomen ebensogut wie heterozygote Deletionen oder Inversionen zu erkennen (s. Abb. 7.23). Da Chromatiden stets eine starke Tendenz zur Paarung haben, ist auch der Inversionsbereich weitgehend gepaart. Um diese Paarung überhaupt zu gestatten, bildet sich zwischen den homologen Chromosomen eine Inversionsschleife aus, die lediglich im Bereich der ursprünglichen Bruchpunkte kurze ungepaarte Abschnitte zeigt. In Drosophila ist die exakte Kartierung von Inversionen auf diese Weise sehr einfach. ! Heterozygote Inversionen führen zu Chromosomenaberrationen, wenn Crossing-over innerhalb des invertierten Chromosomenabschnittes erfolgt. Die hierdurch bedingte Letalität der Nachkommen solcher Rekombinationschromatiden hat zur Folge, dass Allelenkombinationen innerhalb einer heterozygoten Konstitution durch Crossing-over nicht verändert werden. Diese Möglichkeit zur Stabilisierung bestimmter Allelenkombinationen ist sowohl in natürlichen Populationen als auch experimentell in Balancerchromosomen von Bedeutung.
Translokationen Translokationen entstehen durch Brüche in zwei oder mehr verschiedenen Chromosomen.Es folgt eine Verheilung der chromosomalen Bruchstücke in neuen Kombinationen. Hierbei können auch multiple Translokationen entstehen, die komplexe meiotische
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394
Kapitel 10: Veränderungen im Genom: Mutationen
Prophasepaarungsfiguren zur Folge haben. Erfolgt eine Translokation in Form eines Austausches von Chromosomenteilen zwischen zwei Chromosomen, so sprechen wir von einer reziproken Translokation. In Drosophila und anderen Insekten sind auch Translokationen, wie schon für Deletionen, Duplikationen oder Inversionen gezeigt,an den Riesenchromosomen leicht zu erkennen, da sich hier komplexe Chromosomenpaarungen ergeben. ! Die Verlagerung von (terminalen) Chromosomen-
bereichen oder ganzen Chromosomenarmen an ein anderes Chromosom bezeichnet man als Translokation.
Ein bekanntes Beispiel für eine reziproke Translokation ist der Austausch zwischen den menschlichen Chromosomen 14 und 21, der zu einer erblichen Form des Down Syndroms (s. S. 669) führt (Abb. 10.21). Wie wir sehen, entstehen bei der Anwesenheit solcher Translokationen aneuploide Gameten, die in der Nachkommenschaft teilweise zur Letalität führen. Andererseits können in Familien mit einer solchen reziproken T(14;21)-Translokation auch Nachkommen mit vollständig normaler Chromosomenkonstitution auftreten. Die Tatsache, dass sich Translokationen oft wiederholt zwischen den gleichen Chromosomenabschnitten ereignen, spricht dafür, dass zwischen solchen Chromosomenbereichen DNA-Sequenzhomologien bestehen.
▲
Abb. 10.21 a,b. Genetisch vererbbares Down Syndrom. a Durch Translokationen (hier eine Fusion zwischen Chromosom 14 und 21), die den distalen Bereich des langen Arms von Chromosom 21 des Menschen einschließen, entstehen in den Nachkommen unterschiedliche Genotypen (b), die teils letal sind oder zu dem charakteristischen Phänotyp (s. Abb. 14.8) einer Trisomie 21 (Down Syndrom) führen. Es können aber auch genetisch normale Nachkommen auftreten und Genotypen mit einer balancierten Translokation, die Überträger sind, selbst aber einen normalen Phänotyp aufweisen. Links sind die möglichen Gameten-Konstitutionen des Überträgers angegeben, oben die des (gesunden) Elternteils
10.4 Induzierte Mutationen
Transpositionen
der anderer Strahlungsformen, da UV-Strahlung nicht über genügend Energie verfügt, um tiefer in Gewebe einzudringen. Die Effekte von UV-Strahlung werden daher praktisch ausschließlich bei Einzellern und in Zellen an der Oberfläche multizellulärer Organismen beobachtet. Am intensivsten ist die Wirkung von UV-Strahlung in einem Wellenlängenbereich um 254 nm, da hier die höchste Eigenabsorption von Nukleinsäuren liegt. Die Wirkung ultravioletter Strahlung besteht in der Induktion von anomalen Pyrimidindimeren, insbesondere Thymindimeren, zwischen benachbarten Basen in der DNA. Durch Kohlenstoff-KohlenstoffBindungen werden Cyclobutanringe gebildet, die zu einer Aufhebung der Basenpaarungen mit dem komplementären Strang der DNA führen (Abb. 10.23). Darüber hinaus spielen auch 6–4-Photoreaktionsprodukte eine wesentliche Rolle bei der Dimerenbildung. Dimere führen zu Störungen bei der Replikation der DNA, da die DNA-Polymerase durch Dimere in ihrer Funktion blockiert wird. Die Dimere verursachen eine Veränderung in der Konformation der Doppelhelix, die nach Einbau von Adenin gegenüber dem ersten Thymin des Dimers während der Replikation durch das replikationsgebundene Reparatursystem (s. S. 40) erkannt wird und zur Exzision des Adenins führt. Da hiernach wiederum ein Adenin durch die DNA-Polymerase eingefügt wird, kommt es zu einer Unterbrechung der weiteren DNA-Synthese, da die Polymerase das Dimer nicht passieren kann.
Unter einer Transposition versteht man die Verlagerungen von Chromosomenstücken in andere Chromosomenbereiche des gleichen oder anderer Chromosomen. Vermutlich spielen auch hierbei DNA-Sequenzhomologien in den Bruchstellenbereichen eine Rolle.An der Verlagerung von Chromosomenbereichen können jedoch auch transponierbare genetische Elemente (Transposons) beteiligt sein (Kap.9.5).Der Begriff steht nicht in einem ursprünglichen Zusammenhang mit dem Vorkommen von transponierbaren genetischen Elementen. Transpositionen können auch das Ergebnis mehrfacher Chromosomenbrüche und falscher Wiederverheilung der verschiedenen Fragmente sein. ! Als Transposition bezeichnet man die Verlage-
rung eines Chromosomenbereiches in eine andere Region des Genoms.
10.4
Induzierte Mutationen
10.4.1 Mutationen durch ultraviolette Strahlung Ultraviolette Strahlung (Abb. 10.22) wirkt direkt auf die DNA ein. Allerdings ist ihr Einfluss begrenzter als
Mutagener Bereich Wellenlänge (cm)
10-11
10
-9
10
-7
10
Gammastrahlung
-5
10
UV
-3
10
-1
Infrarot
10
0
10
1
Langwelliger Bereich
Radio/TV Mikrowellen
Röntgenstrahlung
Sichtbares Licht viol. (nm)
400
blau
grün 500
gelb
orange 600
rot 700
800
Abb. 10.22. Das Spektrum elektromagnetischer Wellen. Der mutagene Bereich liegt im kurzwelligen Bereich und beginnt im Bereich des UV-Lichtes
395
396
Kapitel 10: Veränderungen im Genom: Mutationen
Abb. 10.23 a,b. Mutagener Einfluss von UV-Strahlung. Es werden Cyclobutanringe (a) oder 6–4-Photoreaktionsprodukte zwischen nebeneinanderliegen Basen, insbesondere zwischen Thy-
! UV-Strahlung induziert die Entstehung von Cyclo-
butanringen zwischen benachbarten Basen in der DNA. Die Bildung von Dimeren verhindert die Replikation der DNA im betreffenden Bereich des Moleküls.
Die Schäden, die durch UV-Licht in der DNA gesetzt werden, können durch zelleigene Reparaturmechanismen (vgl. Kap. 10.5) wieder behoben werden. Die Effizienz dieses Reparatursystems wird deutlich, wenn man die dramatischen Folgen seines Ausfalls betrachtet: Menschen mit der Krankheit Xeroderma pigmentosum (XP) erleiden schon bei geringster Sonneneinstrahlung schwere Schädigungen ihrer Haut und müssen früh in ihrem Leben mit der Entwicklung von Hautkrebs rechnen.
10.4.2 Mutagenität ionisierender Strahlung Im Gegensatz zu UV-Licht vermag kürzerwellige Strahlung in Gewebe einzudringen und dort Muta-
min-Basen, gebildet (b). Sie verhindern die Replikation im Bereich der Dimeren
tionen zu induzieren. Die molekularen Mechanismen sind hierbei heterogen, da nur ein geringer Anteil der Mutationen durch die direkte Wirkung kurzwelliger Strahlung auf die DNA zustande kommt, während der Hauptteil solcher Mutationen auf den ionisierenden Effekten energiereicher Strahlung beruht. Ionisierende Effekte üben sowohl Röntgenstrahlung (engl. X-ray) als auch Protonen-, Neutronenstrahlung und a-, b- und g-Strahlung, wie sie von Radioisotopen emittiert wird, aus. Die durch Ionisierung entstehenden Radikale sind in der Lage, Einzel- und Doppelstrangbrüche in der DNA, aber auch Veränderungen einzelner Basen hervorzurufen. Während Einzelstrangbrüche repariert werden können und seltener zu Mutationen führen, führen Doppelstrangbrüche entweder zu Chromosomenrearrangements oder sind durch daraus folgende Chromosomenbrüche spätestens nach der Mitose für die betroffene Zelle durch Verlust von Chromosomenstücken letal. Auch Rearrangements führen oft zu Aneuploidie und damit zum Zelltod (s. S. 381). Doppelstrangbrüche sollten im Prinzip durch Reparaturprozesse entfernt werden können, da die Kontinuität des Chromosoms durch einen Bruch
10.4 Induzierte Mutationen
in der DNA nicht notwendigerweise sofort völlig zerstört wird. Vielmehr werden Chromosomen durch chromosomale Proteine in ihrer Struktur in einem ausreichendem Maß zusammengehalten, um eine Wiederverheilung von DNA-Doppelstrangbrüchen zu gestatten. Dafür sprechen auch Befunde, die zeigen, dass Doppelstrangbrüche das primäre Ereignis bei somatischer Rekombination in Hefe sein können und wahrscheinlich eine wichtige Bedeutung bei (meiotischer) Rekombination haben. ! Energiereiche Strahlung bewirkt vorwiegend
Chromosomenbrüche. Diese Wirkung der Strahlung beruht vor allem auf ihrer ionisierenden Eigenschaft.
Basenveränderungen als Folge energiereicher Strahlung erfolgen auf unterschiedliche Weise vor allem in Gegenwart von Sauerstoff durch die durch Ionisierung entstehenden freien Radikale. Sie können auch durch andere chemische Zwischenprodukte, die durch die Wechselwirkung der Strahlung mit benachbarten Molekülen entstehen, zu Stande kommen. Die Folgen und Reparaturmöglichkeiten solcher Mutationen sollen im Zusammenhang mit chemisch induzierten Basenveränderungen besprochen werden (s. Kap. 10.4.3). Ihre Häufigkeit kann durch die in den Zellen vorhandenen Enyzme reduziert werden, deren spezielle Aufgabe es ist, freie Radikale oder entsprechende Oxidationsprodukte (z. B. H2O2) zu entgiften. Die Mutationsfrequenz ist hierbei stark abhängig vom physiologischen Zustand einer Zelle. Aktive Gene sind offenbar mutagenen Effekten besonders stark ausgesetzt. Das ist verständlich, da hier ja die DNA nicht durch eine Verpackung in chromosomale Proteine geschützt ist und somit der Radikal-Einwirkung unmittelbar zugänglich ist. Umgekehrt sind Zellen, deren Genom sich in einem Ruhezustand befindet, wie etwa ruhende Pflanzensamen, weniger anfällig für mutagene Einflüsse. ! Durch Strahlung entstehen freie Radikale und
andere Oxidationsprodukte in der Zelle. Sie haben eine starke mutagene Wirkung.
Röntgenstrahlung Die mutagene Wirkung von Röntgenstrahlung war durch H. J. Muller 1930 in genetischen Studien an Drosophila erkannt worden. In seinen Analysen machte er von der Ermittlung geschlechtsgebundener letaler Mutationen mittels der in Abb. 10.24 dargestellte Kreuzungstechnik Gebrauch. Die Arbeiten von Muller an Drosophila melanogaster hatten zwei grundlegende Parameter der mutagenen Wirkungen von Röntgenstrahlung erkennen lassen: • Die Anzahl von geschlechtsgebundenen letalen Mutationen steigt, zumindest im niedrigen Strahlungsbereich, linear mit der verabreichten Strahlungsdosis, und
Abb. 10.24. Die ClB-Methode von H.J. Muller. Das ClB-Chromosom (X-Chromosom) (grün) trägt eine Inversion zur Verhinderung von Rekombination im Weibchen (C), ein dominantes Markergen (Bar, B) zur Identifizierung der Anwesenheit des ClB-Chromosoms auch in Heterozygoten und eine rezessive Letalmutation (l), die Homozygotie des ClB-Chromosoms verhindert. Der Nachweis der mutagenen Wirkung von Röntgenstrahlung (1930) beruht auf der Induktion von letalen Mutationen im bestrahlten X-Chromosom (von Männchen) (rot). Die Neumutation bleibt an das bestrahlte Chromosom gebunden, da eine Verlagerung des Allels durch Rekombination mit dem ClB-Chromosom aufgrund der Inversion nicht stattfinden kann
397
Kapitel 10: Veränderungen im Genom: Mutationen
• die Anzahl von Mutationen ist kumulativ, d. h.
es ist nicht von Bedeutung, ob eine bestimmte Strahlungsmenge in einer einzigen Dosis (akute Bestrahlung) oder in mehreren geringen Dosen (chronische Bestrahlung) verabreicht wird (Abb. 10.25).
Für höhere Strahlungsdosen verändert sich diese Relation, da hierbei einerseits nicht ohne weiteres erkennbare Doppelmutationen auftreten können, die zu einer scheinbaren geringeren Zunahme der Mutationshäufigkeit führen. Vor allem aber verfälscht die mit der Strahlungsdosis zunehmende Häufigkeit von Zelltod durch die physiologische Auswirkungen der Strahlung die Messung der Mutationsrate. Diese Arbeiten wurden später an der Maus als Modellorganismus fortgesetzt. Die grundlegenden Arbeiten von Hertwig (1935), Brennecke (1937) und Schäfer (1939) an bestrahlten männlichen Mäusen
24 20
% Mutationen
398
16 12 8 4
zeigten, dass die Wurfgröße der Mäuse nach Verpaarung zunächst deutlich verkleinert ist, und danach in eine vorübergehende sterile Phase übergeht. Da kein Effekt auf die Beweglichkeit der Spermien zu beobachten und die Zahl der befruchteten Eizellen unverändert war, musste man annehmen, dass die verminderte Wurfgröße auf den Tod der Embryonen nach der Befruchtung zurückzuführen war. In der Tat zeigten spätere Experimente, dass die Ursache dafür chromosomale Veränderungen waren, die durch die Bestrahlung an reifen Spermatozoen erzeugt wurden. In früheren Stadien der Spermatogenese werden überwiegend kleinere Deletionen erzeugt. Das Risiko für die Verdopplung der Erbkrankheiten wird heute mit 1 Gy angegeben (UNSCEAR 2000). Basis dafür sind die verschiedenen Experimente an Mäusen, die in einer speziellen genetischen Anordnung auf die Induktion rezessiver Mutationen untersucht wurden. Diese „spezifische Locus-Methode“ ist in Abb. 10.26 erläutert. Allerdings haben sich nicht alle Ergebnisse der Muller’schen Experimente an Säugetieren bestätigt. So ist es beispielsweise durchaus ein Unterschied, ob dieselbe Strahlenbelastung mit hoher oder niedriger Dosisleistung aufgenommen wird; ein klassisches Beispiel dazu ist in Abb. 10.27 dargestellt. Für eine menschliche Bevölkerungsgruppe, die kleinen Strahlungsdosen mit geringer Dosisleistung ausgesetzt ist, kann man pro Gy ca. 3000 bis 4700 zusätzliche angeborene Erkrankungen pro 1 Mio. Geburten erwarten. Das bedeutet etwa 0,4 bis 0,6% der Spontanrate und beinhaltet die Erkenntnis, dass etwa 65% der Bevölkerung an chronischen, multifaktoriellen Erkrankungen leidet (Sankaranarayanan 2000).
Strahlenbelastung des Menschen 2000
4000 6000 Dosis in R
8000
Abb. 10.25. Beziehung zwischen Strahlendosis und Mutationsraten. Die verschiedenen Symbole geben die Daten verschiedener Autoren an (rote Kreise: Mittelwert). Gemessen wurde die Induktion von geschlechtsgebundener Letalität durch Röntgenstrahlung bei Drosophila. Im höheren Dosisbereich geht die Linearität verloren, da zunehmend mehrfache Mutationen im gleichen Chromosom induziert werden. Die obere Gerade ergibt sich aus den Messdaten bei niedriger Dosis. In der unteren Gerade sind mögliche Mehrfachmutationen berücksichtigt. (Aus Srb et al. 1952)
Die Bestimmung von Chromosomenaberrationen kann auch zur Bestimmung der personenbezogenen Strahlendosis von Menschen verwendet werden. Es werden dazu die Lymphocyten des peripheren Blutes herangezogen. Im Gegensatz zu den physikalischen Verfahren, die die Strahlung an einem Ort bestimmen, wird dieses Verfahren als Biologische Dosimetrie bezeichnet. Es erkennt eine Ganzkörperdosis von 0,1 Gy von Röntgen- oder γ-Strahlen und kann immer dann eingesetzt werden, wenn der Verdacht besteht, dass eine Person einer erhöhten Strahlenbelastung ausgesetzt war. Beispiele für die nicht immer
10.4 Induzierte Mutationen Abb. 10.26. Paarungsschema zur Erfassung rezessiver Mutationen in der F1-Generation behandelter Mäuse. Das Teststock-Weibchen ist rezessiv für sieben Gene (agouti: a/a; brown: b/b; chinchilla: cch/cch; dilute: d/d; pink-eyed: p/p; short ear: se/se; spotting: s/s; dargestellt sind nur drei). Die behandelte Maus der Parentalgeneration (P) hat die entsprechenden Wildtyp-Allele. Induzierte Mutationen in einem der sieben Marker-Gene (hier: c) führen in der heterozygoten F1-Generation zum Verlust des Wildtyp-Allels und damit zur Ausprägung des rezessiven Merkmals (hier veränderte Fellfarbe: chinchilla; i.d.R. als compound heterozygote). Ist keines der sieben Marker-Gene durch eine Mutation betroffen, bleibt phänotypisch der Wildtyp erhalten. (Nach Ehling 1991; Quelle: GSF)
Abb. 10.27. Mutationsraten bei verschiedener Dosisleistung. Die Mutationsraten für Maus-Spermatogonien (aus verschiedenen Spezifisch-Locus-Ergebnissen; Abb. 10.26) sind offensichtlich nicht nur von der Gesamtdosis (angegeben in R) abhängig, sondern auch von der dabei verwendeten Dosisleistung (blaue Punkte: hohe Dosisleistung: 72-90 R/min = „akute Belastung“; rote Punkte: niedrige Dosisleistung: 0,8 R/min und niedriger = „chronische Belastung“). Die Daten sind mit ihren 90%-Vertrauensgrenzen angegeben. (Nach Russell u. Kelly 1982)
linearen Dosis-Wirkungs-Beziehungen verschiedener Strahlenarten gibt dazu Abb. 10.28. Zwei Ereignisse haben uns die Wirkung von radioaktiver Strahlung in grausamer Weise vor Augen geführt: die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki am Ende des 2.Weltkrieges (im August 1945) und der Unfall im Kernkraftwerk Tschernobyl (im April 1986 in der früheren Sowjetunion); der Störfall im amerikanischen Kernkraftwerk Harrisburg (1979) blieb dagegen weitgehend folgenlos. Die Folgen der beiden Atombombenabwürfe wurden sehr intensiv untersucht. Neben den Todesfällen gleich danach wurde in den Folgejahren eine massive Zunahme an Krebserkrankungen festgestellt, besonders an Leukämie und Dickdarmkrebs. Dabei fällt auf, dass im Bereich der niedrigen Dosis keine besondere Zunahme zu beobachten war (Abb. 10.29). Die Zunahme der Krebserkrankungen bei den betroffenen Patienten ist auf Zunahme der Mutationen in den Körperzellen (somatische Zellen) zurückzuführen. Die Untersuchungen an etwa 50% der Nachkommen überlebender Atombombenopfer zeigten keine signifikanten Unterschiede cytologisch messbarer chromosomaler Veränderungen (Übersicht in Verger 1997). Die Belastung durch den radioaktiven Niederschlag nach dem Tschernobyl-Unfall war dagegen
399
400
Kapitel 10: Veränderungen im Genom: Mutationen
Abb. 10.28 a,b. Biologische Dosimetrie. Dargestellt ist die Ausbeute an dizentrischen Chromosomen in Lymphocyten des peripheren Blutes bei Menschen in Abhängigkeit von der absorbierten Strahlungsdosis. Es fällt dabei auf, dass im Bereich
niedriger Dosen nicht immer eine lineare Dosis-WirkungsBeziehung besteht. a für Neutronen und Röntgen- bzw. γStrahlung; b für geladene Partikel (die Energie ist jeweils in MeV in Klammern angegeben). (Nach Edwards 1997)
Abb. 10.29. Sterblichkeitsrisiko für solide Tumoren und für Leukämie bei den Überlebenden des Atombombenabwurfs auf Hiroshima und Nagasaki. Die Werte sind mit den zugehörigen Standardabweichungen für jeden Dosispunkt angegeben (oben: Sterblichkeit aufgrund solider Tumore; unten: Sterblich-
keit aufgrund von Leukämie). Die Diagramme auf der rechten Seite zeigen in höherer Auflösung den Bereich niedriger Organdosen (bis 200 mSv). Es sind dabei die Untersuchungen von 1950 bis 1990 berücksichtigt. (Nach Kellerer 2000).
10.4 Induzierte Mutationen
Abb. 10.30. Strahlenbelastung nach dem Tschernobyl-Unfall. Die Verteilung des radioaktiven Niederschlages im Boden ist am Beispiel des 131J gezeigt; das ausgewählte Gebiet berück-
sichtigt nur den engeren Bereich im Dreiländereck Ukraine, Russland und Weißrussland. (Nach UNSCEAR 2000)
offensichtlich anders. Hier wurden vor allem 137Cs, 90Sr und 131J, aber auch 239Plutonium und 240Plutonium freigesetzt. Die radioaktive Wolke breitete sich bis nach Skandinavien und Mitteleuropa aus; einen Überblick über die Belastung der Böden mit 131J im Kerngebiet des Unfalls, im Dreiländereck von Russland, Weißrussland und der Ukraine, gibt Abb.10.30. Besonders die Belastung mit radioaktivem Jod führte in den folgenden Jahren zu einer massiven Zunahme der Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen an Schilddrüsenkrebs, wobei die Häufigkeit mit der aufgenommenen Schilddrüsendosis korreliert (Abb. 10.31). Die nächsten Jahre werden zeigen, mit welchen weiteren Krankheitsbildern wir noch rechnen müssen.
10.4.3 Chemische Mutagenese Nukleotidveränderungen können durch eine große Zahl chemischer Agenzien induziert werden, wobei eine Reihe unterschiedlicher chemischer Mechanismen eine Rolle spielen. Solche chemisch induzierten Mutationen hatten eine große Bedeutung für die Aufklärung des genetischen Codes und haben damit wesentliche Beiträge zur Aufklärung der molekularen Grundlagen der Vererbung und Genfunktion geliefert und liefern sie auch heute noch. In zunehmendem Maß gewinnen sie heute eine praktische Bedeutung durch die weite Verbreitung mutagener Substanzen in unserer Umwelt, vor allem in unserer Nahrung. Die mutagenen Effekte solcher Substanzen übertreffen in ihrem Ausmaß gegenwärtig
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402
Kapitel 10: Veränderungen im Genom: Mutationen
– alkylierende Agenzien, – depurinierende Agenzien, – desaminierende Agenzien, – hydroxylierende Agenzien, u. a.; • interkalierende Agenzien; • Crosslinking-verursachende Agenzien.
Abb. 10.31. Risiko für Schilddrüsenkrebs aufgrund der Strahlenbelastung nach dem Tschernobyl-Unfall. Das Risiko zusätzlicher Erkrankungen an Schildrüsenkrebs ist angegeben in Personen-Jahren. Es berücksichtigt dabei die Erkrankungen, die in den Jahren 1991 bis 1995 bei Patienten auftraten, die zwischen 1971 und 1986 geboren wurden. Die Punkte zeigen die Werte in den jeweiligen Städten der betroffenen Region und die Kästchen zeigen Ergebnisse in Städten mit hoher Kollektivdosis; die gestrichelten Linien deuten die 95 %-Vertrauensgrenze an. (Nach Jacob et al. 1998)
wahrscheinlich bei weitem die der energiereichen Strahlung. Hierbei darf nicht unerwähnt bleiben, dass chemische Mutagene auch in normalen, d. h. natürlichen Nahrungsmitteln enthalten sind, ohne dass sie – etwa zur Stabilisierung, Färbung oder aus Geschmacksgründen – absichtlich hinzugefügt wurden oder unbeabsichtigt aus der Verpackung in Nahrungsmittel gelangen. Sie sind entweder natürliche Bestandteile der Nahrungsstoffe oder entstehen durch Stoffwechselprozesse im Körper. Zu solchen Nahrungsbestandteilen können z. B. Glykoside gehören. Diese können sich, nach Abspaltung des Zuckers, die im Darm bakteriell erfolgt, in reaktive und damit mutagene Verbindungen verwandeln. Solche Stoffwechselprozesse können z. B. zur Entstehung von Darmkrebs führen. Nach der Art ihres Wirkungsmechanismus unterscheiden wir als chemische Mutagene die folgenden Gruppen mutagener Agenzien (Tabelle 10.3): • Basenanaloga; • basenmodifizierende Agenzien, die sich grob unterteilen lassen in
Die Wirkungsweise chemischer Mutagene unterscheidet sich nicht nur von der vorher besprochenen strahleninduzierten Mutagenese, sondern jede Gruppe von Chemikalien hat auch ihr eigenes Wirkungsspektrum. Innerhalb der einzelnen Gruppen sind natürlich auch noch Unterschiede zu beachten, so zum Beispiel in Bezug auf die Reaktionsgeschwindigkeit oder die Basenspezifität innerhalb der Gruppe der alkylierenden Agenzien. Allerdings kommt es auch immer auf den betrachteten Endpunkt an. So ist Ethylnitrosoharnstoff (engl. ethylnitrosourea, ENU) ein relativ schwaches Mutagen, wenn man seine Wirkung auf die Häufigkeit der Induktion von SchwesterchromatidAustausche betrachtet (vgl. Abb. 10.47). Allerdings hat es sich in den letzten Jahren als besonders wirksam bei der Erzeugung von Punktmutationen in Keimzellen erwiesen. Es wird daher in der experimentellen Mutationsforschung bei Drosophila, Pflanzen und Mäusen gerne eingesetzt, um eine große Zahl Nachkommen mit erblichen Defekten zu erhalten (siehe dazu z. B. Hrabé et al. 2000). In Tabelle 10.4 ist zunächst der Unterschied im Mutationsspektrum zwischen spontan auftretenden, strahlen- und ENU-induzierten Mutationen am Beispiel des „spezifischen LocusTests“ der Maus dargestellt (vgl. Abb. 10. 26), der sieben rezessive Gene umfasst, die als sichtbare Marker leicht erfasst werden können (die Gene betreffen vor allem Fellfarben). Die Belastung mit chemischen Mutagenen ist für den Menschen von ähnlicher Bedeutung wie die Belastung mit Strahlung. Daher wurde auch die kombinierte Wirkung dieser beiden Klassen mutagener Agenzien untersucht. Dabei zeigte es sich, dass in vielen Fällen eine überadditive Wirkung auftritt, wenn man es mit der jeweiligen individuellen Wirkung unter den entsprechenden Testbedingungen vergleicht (z. B. bei der Kombination von Röntgenstrahlen und alkylierenden Agenzien auf die Ausbildung einer Leukämie; UNSCEAR 2000). Aufgrund vieler experimenteller Hinweise wurde im Rahmen des 1981 erlassenen Chemikaliengesetzes vorgeschrieben,dass alle Chemikalien,die neu auf den Markt kommen, auch auf ihre mutagene Wirkung
10.4 Induzierte Mutationen
Tabelle 10.3.
Mutagene und ihre Wirkung
Trivialname
Chemische Bezeichnung
Wirkung, Besonderheiten
Alkylierende Agenzien Senfgas EMS EES ENU MNNG
Di-(2-chlorethyl)sulfid Ethylmethansulfonat Ethylethansulfonat Ethylnitrosoharnstoff N-Methyl-N′-nitro-N-nitrosoguanidin
Transitionen u.a. Ethylierung von Basen, aktiviert fehlerhafte Reparatur Ethylierung von Basen, aktiviert fehlerhafte Reparatur Ethylierung von Basen, aktiviert fehlerhafte Reparatur Desaminierung. Besonders wirksam während der Replikation
Basenanaloga 5-BU 5-BrdU 2-AP
5-Bromouracil 5-Bromodeoxyuridin 2-Aminopurin
Transitionen durch Tautomerie Transitionen durch Tautomerie Transitionen durch Tautomerie
Acridinfarbstoffe Proflavin Acridinorange
2,9-Diamino-acridin Dimethyl-2,8-diamino-acridin
Leserasterverschiebungen durch Interkalation Leserasterverschiebungen durch Interkalation
Desaminierende Verbindungen Schweflige Säure Salpetrige Säure Andere HA Benzo(a)pyren
Oxidative Desaminierung von A, G und C, ergibt Transitionen
Hydroxylamin 3,4-Benzpyren (reaktive Verbindung: 7,8-Diol,9,10-oxid)
Vinylchlorid Aflatoxin B1
Tabelle 10.4.
GC → AT-Transitionen durch Hydroxylierung der NH2-Gruppe von C Entstehung reaktiver Diol-epoxid-Radikale im Stoffwechsel indirekt durch Stoffwechselzwischenprodukte indirekt durch Stoffwechselzwischenprodukte
Relative Mutationshäufigkeiten
Behandlung
Gene agouti (a)
brown (b)
chinchilla (c)
dilute (d)
Kontrolle
0
7 (46 %)
3 (20 %)
1 (7 %)
Strahlung
2 (1 %)
34 (20 %)
18 (10 %)
25 (14 %)
2 (1 %)
22 (13%)
71 (41 %)
10 (6 %)
21 (12 %)
25 (14 %)
37 (21 %)
10 (6 %)
61 (35%)
9 (5 %)
ENU
short ear (se) 0
pink-eyed (ps) 4 (27%)
spotting (s) 0
Häufigkeitsverteilung der betroffenen Gene im spezifischen Locus-Test der Maus (vgl. Abb. 10.26) nach Behandlung der Tiere mit unterschiedlichen Mutagenen (Strahlung: Röntgen- oder γ-Strahlung) im Vergleich zu dem wichtigsten experimentellen Mutagen, Ethylnitrosoharnstoff (engl. ethylnitrosourea, ENU) und mit spontanen Mutationen. (Nach Favor 1994)
403
404
Kapitel 10: Veränderungen im Genom: Mutationen
getestet werden müssen; für Stoffe, die schon länger am Markt waren, wurde diese Überprüfung nachträglich durchgeführt (dies geschah natürlich nicht in einem deutschen Alleingang, sondern war innerhalb der OECD und der EU eng abgestimmt; andere Staaten haben daher ähnliche Gesetze). Im Abschnitt 10.6 werden einige Testsysteme dazu vorgestellt.
Basenverluste Der Verlust von Basen kann spontan oder durch chemische Agenzien erfolgen. Er wird durch die APEndonuklease (engl. apurinic acid endonuclease) erkannt, die die Phosphodiesterbindung neben der fehlenden Base löst und damit der DNA-Polymerase I ein freies 3′-Ende zur DNA-Neusynthese vorbereitet. Nach Einbau einer begrenzten Anzahl von Nukleotiden wird der reparierte DNA-Einzelstrang durch eine Ligase geschlossen. Normalerweise sollte hier also aufgrund des gewöhnlichen DNA-Synthesemechanismus automatisch das richtige Nukleotid eingebaut werden und keine Mutation resultieren. Ein Basenverlust kann jedoch auch durch Desaminierung eines Cytosins erfolgen, da die N-glycosidische Bindung dieser Base weniger stabil ist als die der übrigen Basen und insbesondere bei höheren Temperaturen destabilisiert wird. Wie wir bereits gesehen haben (s. Abb. 10.2), wird hier eine Basensubstitution von GC nach AT induziert. ! Basenveränderungen können sich spontan auf-
grund der chemischen Eigenschaften (Instabilität und Tautomerie) von Nukleinsäurekomponenten ereignen oder durch chemische Einflüsse von außen induziert werden.
Basensubstitutionen durch Tautomerie und Basenanaloga Obwohl die tautomeren Formen der Basen sehr instabil sind und daher selten vorkommen, können sie gelegentlich während der Replikation zu Basenaustauschen führen. So kann beispielsweise die Iminoform des Adenins mit Cytosin Wasserstoffbrücken ausbilden und damit zum Fehleinbau eines Nukleotids führen (Abb. 10.3, 10.4).
Eine größere Rolle bei Mutationen spielen jedoch tautomere Formen von Basenanaloga, also Verbindungen, die anstelle einer bestimmten normalen Base in die DNA eingefügt werden können. Es handelt sich hierbei um geringfügig modifizierte Formen von Basen, die eine stärkere Tendenz zur Ausbildung ihrer tautomeren Formen besitzen als die normalen Basen. Experimentell häufig verwendete Basenanaloga sind: • 5-Bromouracil (5-BU) oder 5-Bromodeoxyuridin (5-BrdU), die in ihrer stabileren Ketoform mit Adenin paaren, in der instabileren Enolform mit Guanin (Abb. 10.32). • 2-Aminopurin (2-AP), das in seiner stabilen Aminoform mit Thymin paart, in der instabileren Iminoform mit Cytosin (Abb. 10.32). Die Auswirkungen solcher Mutationen sind in Abb. 10.33 am Beispiel des 5-BU dargestellt. Wir können an diesem Schema erkennen, dass der Einbau eines solchen Basenanalogons unterschiedliche Auswirkungen haben kann, je nachdem, ob es in seiner stabilen Form, also im Falle von Paarung von 5-BU mit Adenin, oder, in seiner selteneren Enolform, durch Paarung mit Guanin eingebaut wird. Da die Enolform instabil ist, wird während der folgenden Replikation mit großer Wahrscheinlichkeit ein Adenin mit dem 5BU paaren, so dass in allen folgenden Replikationen nunmehr ein CG-Basenpaar durch ein TA-Basenpaar ersetzt ist. Lediglich das in einem DNA-Strang verbleibende 5-BU wird gelegentlich bei der Replikation zum Einbau eines CG-Basenpaares führen, wie es ursprünglich vorhanden war. Umgekehrt führt der Einbau eines 5-BU durch Paarung mit Adenin gelegentlich zu einer Umwandlung des 5-BU in die Enolform und damit zum Einbau eines GC-Basenpaares anstelle eines AT-Basenpaares. Es erfolgen somit mit einer konstanten Wahrscheinlichkeit Mutationen in späteren Zellgenerationen. Basenanaloga üben ihre mutagene Wirkung demnach im Zusammenhang mit der Replikation der DNA aus. ! Die Ausbildung der seltenen tautomeren (Imino-
bzw. Enol-)Formen der Basen in der DNA oder die Substitution von Basen durch Basenanaloga (z. B. 2Aminopurin oder 5-Bromouracil) führt zu Veränderungen von Basenpaaren in Zusammenhang mit der Replikation.
10.4 Induzierte Mutationen
Die Wirkung alkylierender Agenzien
Abb. 10.32. Basenpaarungen mit Basenanaloga. Die selteneren tautomeren Formen der Basenanaloga bilden sich mit größerer Häufigkeit als die der normalen Basen
Das erste bekannte chemische Mutagen, Senfgas [engl. mustard gas; chemische Bezeichnung: Bis(2-chlorethyl)sulfid oder 2,2’-Dichlordiethylsulfid], wurde während des 2.Weltkriegs von Charlotte Auerbach in Edinburgh unter militärischer Geheimhaltung untersucht. Die Ergebnisse wurden nach Kriegsende veröffentlicht (eine Zusammenfassung findet sich bei Auerbach 1978). Alkylierende Agenzien gehören zu den effektivsten mutagenen Verbindungen. Agenzien wie Ethylmethansulfonat (engl. ethylmethane sulfonate, EMS) und Ethylnitrosoharnstoff (engl. ethylnitrosourea, ENU) werden daher, und aufgrund ihres großen Wirkungsspektrums,in der experimentellen Mutagenese bevorzugt verwendet (Abb. 10.34). Sie können, wie alle übrigen basenmodifizierenden Verbindungen, die DNA auch ohne Replikation verändern, da sie vorhandene Basen in der DNA modifizieren. Angriffspunkte für Alkylierung sind – neben den an der Wasserstoffbrückenbildung beteiligten Molekülpositionen – insbesondere der N7 des Guanin und der N3 des Adenin. Alkylierung dieser Positionen destabilisiert die NGlykosidbindungen der betreffenden Basen und führen daher zu Depurinierung mit ihren bereits besprochenen Konsequenzen. Eine weitere besonders anfällige Position ist der O6 des Guanosin (Abb. 10.34), der leicht methyliert wird und dadurch O6-Methylguanosin formt. Diese modifizierte Base paart während folgender Replikationen häufig mit Thymin statt mit Cytosin. E. coli hat als Schutzmechanimus gegen diese Methylierung eine O6-Methylguanosin-Methyltransferase verfügbar, die vom ada-Gen kodiert wird. Sie kann bei Methylierungen des Zucker-PhosphatRückgrates diese Methylgruppen aus der DNA entfernen. Das ada-Gen vermittelt der Zelle einen etwas ungewöhnlichen Adaptationsmechanismus (engl. adaptive response): Zellen, die man unter Zusatz einer niedrigen Dosis eines methylierenden Agens (z. B. Nitrosoguanidin, s. Abb. 10.34) kultiviert hat, besitzen eine stark erhöhte Resistenz gegen methylierende Verbindungen, die auf einer stark erhöhten zellulären Konzentration des von ada kodierten Enzyms beruht. Vergleichbare Mechanismen der Entfernung von Methylgruppen durch Methyltransferasen wurden auch bei Eukaryoten gefunden. DNA-ReparaturMethyltransferasen sind als Enzyme etwas unge-
405
406
Kapitel 10: Veränderungen im Genom: Mutationen
Abb. 10.33 a,b. Folgen des Einbaus von Basenanaloga in die DNA für die Replikation. a Während der Einbau von BU im Allgemeinen eine normale Replikation erlaubt, kommt es zu gelegentlichem Fehleinbau durch die seltenere Enolform, die
wöhnlich, weil sie durch die Übernahme der Methylgruppe von der DNA inaktiviert werden, also keine wiederholbare katalytische Aktivität besitzen. Man bezeichnet sie auch als Suicide-Enzyme. Andere alkylierte Basen werden mit der Hilfe von Glykosylasen aus der DNA entfernt (s. Abb. 10.42) (s. S. 412). Durch Alkylierungen wird auch das Gleichgewicht der tautomeren Formen der Basen in Richtung der selteneren tautomeren Formen verschoben. Solche Basenmodifikationen führen zu • Basenpaarsubstitutionen während der Replikation; • Fehlern in der RNA-Synthese mit allen Konsequenzen falscher Codons für die Proteinsynthese; • Crosslinking innerhalb der DNA oder der DNA mit Proteinen; • DNA-Brüchen, und als Folge davon Chromosomenaberrationen.
mit G paart. b Der Einbau von BU in der Enolform, die mit G paart, führt hingegen sofort zu Basenveränderungen, da es meist in der Ketoform vorliegt und somit während der Replikation den Einbau von A verursacht
! Alkylierung von Nukleinsäuren führt zu Depuri-
nierung von Nukleotiden, Fehlpaarungen methylierter Basen, zu Verschiebungen im Gleichgewicht tautomerer Formen oder zu Crosslinking. Folgen davon sind Fehlpaarungen von Basen während der Replikation, Hemmung der Replikation, Fehler bei der RNASynthese und Chromosomenaberrationen.
Die Wirkung desaminierender und hydroxylierender Verbindungen Wie der Name anzeigt, werden durch desaminierende Verbindungen die Aminogruppen der Basen Adenin, Guanin und Cytosin abgespalten, so dass Hypoxanthin, Xanthin oder Uracil entstehen. Das Hypoxanthin paart mit Cytosin, so dass hierdurch eine Basenpaarsubstitution von AT nach GC erfolgt. Xanthin paart unverändert, wenn auch mit einer Wasserstoffbrückenbindung weniger, mit Cytosin, so dass eine Desaminierung von Guanosin ohne Folgen bleibt, wäh-
10.4 Induzierte Mutationen Abb. 10.34 a,b. Mutagene Wirkung alkylierender Agenzien. a Das an der Position O6 alkylierte Guanin kann nicht mehr 3, sondern nur noch 2 Wasserstoffbrücken ausbilden (rote Striche). Es paart daher bei der Replikation nicht mehr mit Cytosin, sondern mit Thymin unter Ausbildung von 2 Wasserstoffbrücken. Bei der nächsten Replikationsrunde wird die Mutation dann dadurch fixiert, dass das Thymin sich wie üblich mit einem Adenin paart – aus einem G/C-Paar wird dann ein A/T-Paar. b Einige wichtige alkylierende Verbindungen
rend die Substitution von Cytosin zu Uracil, und schließlich (durch Exzisionsreparatur) zu Thymin führt. Die wichtigste desaminierende Verbindung ist salpetrige Säure (Tabelle 10.3, Abb. 10.35). Hydroxylamin (HA) induziert, wahrscheinlich durch Hydroxylierung der Aminogruppe des Cytosins, während der Replikation eine Paarung von Cytosin mit Adenin, so dass es zu einer Substitution von GC-Basenpaaren durch AT-Basenpaare kommt. Man bezeichnet solche Veränderungen von einer Purinbase in die andere (A in G oder G in A) oder von einer Pyri-
midinbase in eine andere als Transitionen, während der Austausch von Purinbasen gegen Pyrimidinbasen (oder umgekehrt) Tranversionen sind (Abb. 10.1). ! Desaminierende und hydroxylierende Agenzien induzieren Basenveränderungen.
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408
Kapitel 10: Veränderungen im Genom: Mutationen NH2
Die Wirkung interkalierender Verbindungen
O N
N
N
HN HNO2
N
N H
N Hypoxanthin
Adenin
O
O N
HN H2N
N
HNO2
N H
N
HN O
N H
N H
Xanthin
Guanin
O
NH2 N
HN
O
HNO2
N H
O
N H
Uracil
Cytosin
NH2
HN– OH
N
N
O
Hydroxylamin
N H
O
N H
Hydroxylaminocytosin
Cytosin
O CH3
HN O
N EMS
N H
O
N H
O
O – CH2 – CH3 N
HN N
Guanin
O – CH2 – CH3 CH3
O4-Ethylthymin
Thymin
H2N
N H
Interkalierende Verbindungen haben ihren Namen daher erhalten, dass sie sich zwischen die Basen der DNA-Doppelhelix einfügen (Tabelle 10.3, Abb. 10.36 und 10.37). Es handelt sich meist um polycyclische Verbindungen wie Acridinfarbstoffe (z. B. 2,8-Diamino-Acridin = Proflavin, oder Acridinorange), die sich aufgrund ihrer flachen Konformation zwischen die Basenpaare einschieben können. Sie erzeugen daher eine lokale Deformation der Doppelhelix, die zu Replikationsfehlern führt. Als Folge hiervon kann es zu Deletionen oder zum zusätzlichen Einbau von Basenpaaren kommen. Interkalierende Verbindun-
N H
N
N EMS
H2N
N
N H
O8-Ethylguanin
Abb. 10.35. Die Wirkung verschiedener Mutagene (vgl. Tabelle 10.3)
Abb. 10.36. Interkalierende Verbindungen. Die flachen Ringe schieben sich zwischen die Basenpaare in der DNA-Doppelhelix und verursachen dadurch Deformationen der Doppelhelix. Hierdurch kommt es zu Replikationsfehlern, insbesondere zu Leserahmenverschiebungen
10.4 Induzierte Mutationen Abb. 10.37. Modell der Interkalation durch Ethidiumbromid (rot) zwischen zwei Basenpaaren (grün). (Nach Tsai aus Voet und Voet 1992)
gen können daher gezielt zur Erzeugung von Veränderungen des Leserasters (engl. frameshift mutations) eingesetzt werden.
4
4'
3
5'
O ! Interkalierende Agenzien fügen sich zwischen die
Basenpaare in der DNA-Doppelhelix ein und verursachen dadurch Replikationsfehler (Leserasterverschiebungen).
Crosslinking Verschiedene chemische Verbindungen können kovalente Bindungen mit den Basen einer DNA-Doppelhelix eingehen. Eine für experimentelles Crosslinking gebrauchte Verbindung ist das Psoralen (Abb. 10.38), das zunächst in der DNA interkaliert, und dann unter Lichteinfluss (360 nm) sowohl mit einzelnen als auch mit zwei Basen kovalente Bindungen eingehen kann. Sind zwei Basen komplementärer DNA-Stränge eine Bindung mit einem Psoralenmolekül eingegangen, so wird die Replikation und Transkription der Doppelhelix unterbunden. Auch einige Antibiotika, wie Mitomycin C, verursachen solches Crosslinking innerhalb der DNA. Sowohl pro- als auch eukaryotische Zellen können Crosslinks mittels ihrer Reparaturmechanis-
O
O
Psoralen
Abb. 10.38. Psoralen. Dieses Furocumarin (und seine Derivate) kann DNA nach Interkalieren vernetzen. Die 4′,5′- oder 3,4-Doppelbindung (rot) des Psoralen reagiert in einer Photoreaktion bei langwelligem UV-Licht mit den 5,6-Bindungen von Pyrimidinen in der DNA unter der Bildung eines Cyclobutanringes (s. Abb. 10.23). Liegt eine weitere Pyrimidinbase im komplementären Strang der DNA vor, so vermag die noch freie der beiden reaktiven Doppelbindungen des Psoralens mit dieser in einer weiteren Photoreaktion einen weiteren Cyclobutanring auszubilden, so dass nunmehr ein kovalentes Crosslinking der DNA vorliegt. Psoralen kann auf dieser Grundlage auch zur Demonstration von Doppelstrangregionen in RNA dienen. Außerdem kann es Nukleinsäuren auch kovalent an Proteine binden, so dass die Bindungsstellen von Proteinen an DNA ermittelt werden können. (Nach Wiesehahn u. Hearst 1978)
men entfernen. Hierbei ist jedoch oft eine direkte Exzision der betroffenen Basen und eine anschließende DNA-Neusynthese durch DNA-Polymerase nicht möglich, da das komplementäre Nukleotid aufgrund des Crosslinking nicht als Template dienen kann. In einem solchem Fall werden zur Reparatur der Nukleotid-Exzisionsmechanismus (NER) oder
409
Kapitel 10: Veränderungen im Genom: Mutationen
der Rekombinationsreparaturmechanismen aktiviert (s. S. 413). An beiden Mechanismen ist in diesem Fall eine spezielle DNA-Polymerase, die E. coli-DNAPolymerase II (polB) beteiligt. ! Crosslinking führt zu Replikationsfehlern.
Andere Mutagene Es gibt eine große Anzahl anderer chemischer Mutagene, deren Wirkungsmechanismen oft nicht bekannt sind, bzw. auf unterschiedlichen Wegen ablaufen können. Überraschenderweise gehören dazu auch viele organische Verbindungen, von denen man eine mutagene Wirkung wegen ihrer relativen chemischen Inaktivität und ihrer geringen Wasserlöslichkeit zunächst gar nicht erwarten würde. Solche Verbindung entstehen unter anderem bei der Verbrennung organischer Materie. Ein Beispiel für ein solches Mutagen mit hoher krebserzeugender (cancerogener) Wirkung ist das Benzpyren, u. a. ein Bestandteil des Zigarettenrauches (Abb. 10.39). Als polycyclischer aromatischer Kohlenwasserstoff ist seine chemische Reaktivität nicht sehr hoch. Im Organismus werden derartige inerte Kohlenwasserstoffe jedoch zu wasserlöslichen Verbindungen umgesetzt, die dann ausgeschieden werden können. Bei solchen Umsetzungen werden häufig Zwischenprodukte gebildet, die eine hohe mutagene Wirkung ausüben können. So werden Oxidationsprodukte geformt (z. B. stark reaktive Diol-Epoxid-Derivate), die beispielsweise mit der Aminogruppe des Guanin reagieren können.
▼
410
Abb. 10.39 a,b. Mutagene Wirkung von Benzolderivaten. a Chemische Umsetzung von Benzapyren im Stoffwechsel. Das an sich inerte Molekül wird zunächst oxidiert und hydroxyliert. Hierdurch wird es löslich. In der weiteren Umsetzung zum 7,8-Diol-9,10-Epoxid wird es stark reaktiv und vermag mit Guaninbasen Komplexe zu bilden. Diese Komplexe führen zur Deformation der Doppelhelix, die Reparaturmechanismen, insbesondere auch SOS-Reparaturmechanismen, in Gang setzt. b Durch Benz[a]pyren induzierter Tumor bei einer Maus. (a: Aus Weinberg et al. 1976; b: Aus Redei 1982)
10.5 Reparaturmechanismen
! Viele chemische Mutagene üben ihre Wirkung
durch Intermediärprodukte ihres Stoffwechsels im Organismus aus, die wasserlöslich und oft besonders reaktiv sind. Insbesondere Oxidationsprodukte spielen hierbei eine wichtige Rolle.
10.5 Reparaturmechanismen Zellen verfügen über verschiedene Reparaturmechanismen, die Schäden an der DNA entfernen können. Die Mechanismen dafür sind z.T. auch von der Art des Schadens abhängig (z. B. die Photoreaktivierung zur Entfernung der Thymidindimere). Sie haben unterschiedliche Genauigkeitsgrade, mit der die Reparatur durchgeführt wird: So ist zwar die SOSReparatur sehr störanfällig, erlaubt aber der Zelle trotz eines großen Schadens überhaupt zu überleben. Dagegen sind Reparaturmechanismen genauer, die eher über Rekombinationsmechanismen ablaufen. Die Überprüfung der DNA auf mögliche Schäden und deren erfolgreiche Reparatur ist übrigens Voraussetzung für den Eintritt der DNA in die Mitose. Die Überprüfung an geeigneten „Checkpoints“ (s. Kap. 6.3.6) verlangsamt u.U. den Fortschritt im Zellzyklus solange, bis die Reparatur stattgefunden hat. Oftmals spielen veränderte Struktureigenschaften der geschädigten DNA eine wichtige Rolle bei ihrer Erkennung. Wir können dabei unterscheiden zwischen Schäden, die vor der DNA-Replikation entstanden sind und repariert werden (z. B. Doppelstrangbrüche), oder solchen, die während der Replikation erkannt werden und die Replikation stoppen. Wichtige Untersuchungen dazu wurden nach Bestrahlung bei Hefen durchgeführt; daher tragen viele Gene aufgrund ihrer strahlenbiologischen Geschichte die Bezeichnung „RAD“ im Namen. Im Folgenden sollen einige der wichtigsten Reparaturmechanismen vorgestellt werden.
10.5.1 Photoreaktivierung Einer der wichtigsten UV-induzierten DNA-Schäden ist die Bildung von Cyclobutan-Pyrimidin-Dimeren. Dadurch wird die Form der DNA-Helix gestört. Die Reparatur dieser Dimeren durch Photoreaktivierung erfordert die Mitwirkung eines Enzyms, der Photo-
lyase, das sowohl in Prokaryoten- als auch in Eukaryotenzellen bis zu Marsupialiern, jedoch nicht bei Säugern gefunden wurde. Allerdings ist die Schadensstelle nicht an allen Stellen im Chromatin in gleicher Weise zugänglich; durch die Dynamik der einzelnen Komponenten des Nukleosoms kann sich die relative Lage der Schadensstelle verändern (Abb. 10.40). Wenn die Photolyase an das Dimere gebunden hat, wird die Lichtenergie (bevorzugte Wellenlänge 350–450 nm) durch einen Cofaktor, ein Chromophor, gespeichert und dann auf ein weiteres Chromophor übertragen, das sie zur Spaltung der Cyclobutanbindung verwendet. Dadurch werden die normalen Basenpaarungen wieder hergestellt (Abb. 10.41). ! UV-induzierte Dimere können mit Hilfe von Repa-
raturmechanismen aus der DNA entfernt werden. Bei der Photoreaktivierung wird die Cyclobutanbindung enzymatisch unter Lichteinwirkung entfernt.
Abb. 10.40. Die Zugänglichkeit von DNA-Schäden im Chromatin. DNA-Schäden (rot) sind zugänglich in der Linker-DNA und auf der Nukleosomenoberfläche; sie sind geschützt, wenn sie den Histonen zugewandt sind. Verschiedene Mechanismen können allerdings die Zugänglichkeit der DNASchäden beeinflussen (Dissoziation und Re-Assoziation, Entfaltung/Neufaltung und die Bewegung des Histon-Oktamers entlang der DNA). Die Veränderung der Nukleosomenposition um 5 bp dreht die innere Oberfläche der DNA nach außen (blau: Histon-Oktamer; schwarz: DNA; gelb: Erkennungsprotein des DNA-Schadens; die Pfeile deuten ein dynamisches Gleichgewicht an). (Nach Thoma 1999)
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Kapitel 10: Veränderungen im Genom: Mutationen
Abb. 10.41. Schematische Darstellung der Photoreaktivierung im Chromatin. Die Photolyase bindet an CyclobutanDimere, schneidet die Pyrimidin-Dimere aus und stellt die nativen Pyrimidine in einer lichtabhängigen Reaktion wieder her. Die Photolyase arbeitet bevorzugt an Cyclobutan-Dimeren in der Linker-DNA. Die Reparatur erfolgt nur langsam, da die Schadensstelle der DNA durch die dynamischen Eigenschaften des Nukleosoms zunächst in den Linker-Bereich kommen muss (vgl. dazu Abb. 10.40). (blau: Histon-Oktamer; schwarz: DNA; rot: Schadensstelle; grün: Photolyase) (Nach Thoma 1999)
10.5.2 Exzisionsreparaturen Fehlpaarungen in der DNA können durch Exzisionsmechanismen repariert werden. Wir unterscheiden dabei zwei Wege, die Basen-Exzisionsreparatur (BER; Abb. 10.42a) und die Nukleotid-Exzisionsreparatur (NER; Abb. 10.42b). An der BER sind unterschiedliche DNA-Glykosylasen beteiligt. Ein solches Enzym schneidet zunächst die Glykosylbindung zwischen der Base und dem Zucker-Phosphat-Rückgrat der DNA. Nach dem Ausschneiden der Base schneidet eine AP-Endonuklease die zugehörige ZuckerPhosphat-Bindung. Das freigesetzte Desoxyribosemolekül wird durch eine Desoxyphosphodiesterase herausgeschnitten, und die Lücke in der DNA wird durch eine DNA-Polymerase aufgefüllt und durch eine Ligase geschlossen. Dieser Reparaturmechanismus wird durch Glykosylasen mit jeweils unterschiedlichen Eigenschaften kontrolliert. Auf diese Weise können viele, jedoch keineswegs alle Arten von Mutationen einzelner Nukleotide repariert werden.
Abb. 10.42 a,b. Die Exzisionsreparatur. a Die beschädigte Base wird durch eine spezifische Glykosylase herausgeschnitten: Die DNA wird aufgeschnitten und die entstehende Lücke durch eine DNA-Polymerase wieder aufgefüllt (Basen-Exzisionsreparatur, BER). b Ein größerer DNA-Schaden wird entfernt; die ausgeschnittene Stelle umfasst in menschlichen Zellen etwa 30 bp. Die Neusynthese benutzt den Gegenstrang als Matrize. (Nach UNSCEAR 2000)
Die Existenz eines wesentlich allgemeineren Reparaturmechanismus, des Nukleotid-Exzisionsreparaturmechanismus, wurde bei E. coli durch den Befund nachgewiesen, dass eine Reparatur von Dimeren auch ohne Lichteinfluss erfolgen kann. In UV-empfindlichen Mutanten von E. coli wurde das hierzu erforderliche Uvr-System (engl. UV repair) entdeckt, das vier Gene (uvrA, uvrB, uvrC und uvrD) umfasst. Die Gene uvrA und uvrB kodieren für Enzyme, die einen Proteinkomplex mit endonukleolytischer Aktivität
10.5 Reparaturmechanismen
(Ultraviolett-endo I) bilden. Dieser Proteinkomplex sucht in der DNA nach Fehlern oder wird an Stellen,an denen es zur Unterbrechung der Replikation kommt, an die DNA angelagert. Das UvrB-Protein bildet dann einen stabilen Komplex mit der DNA (UvrB-DNA),der vom UvrC-Protein erkannt wird. Der daraufhin gebildete UvrBC-Komplex induziert zunächst einen endonukleolytischen Einzelstrangschnitt an der 3’-Seite, dann einen Einzelstrangschnitt an der 5’-Seite der defekten DNA (Abb. 10.42b). Die Einzelstrangbrüche werden durch eine Exonuklease erkannt und haben die Entfernung von sechs Nukleotiden zur Folge. Danach ist die DNA-Polymerase I in der Lage, durch Neusynthese die entstandene Einzelstrangregion in der DNA aufzufüllen. Eine Ligase stellt abschließend, wie bei der normalen DNA-Replikation, die kovalente Bindung der neusynthetisierten Nukleotide mit dem DNA-Strang wieder her. An den Exzisionsprozessen können jedoch auch verschiedene andere Enzyme, sowohl 3′-Endonukleasen als auch 5′-Endonukleasen und die entsprechenden 3′ → 5′- und 5′ → 3′-Exonukleasen, beteiligt sein. Die Schäden können, je nach beteiligtem Enzym, von einer der beiden Seiten (upstream oder downstream) oder auch von beiden Seiten endonukleolytisch herausgeschnitten werden. Vergleichbare Reparatursysteme, jedoch von höherer genetischer Komplexität, sind auch in höheren Zellen – bis hin zu Säugerzellen – gefunden worden. Beim Menschen kodieren anstelle der vier Uvr-Gene viele andere für entsprechende Reparatursysteme. Speziell für die NER sind sieben Gene (XPA bis XPG) verantwortlich; Mutationen führen zu Erbkrankheiten wie z. B. Xeroderma pigmentosum (XP; vgl. dazu auch das Kapitel 14 über Humangenetik). Eine faszinierende Eigenschaft von DNAReparaturenzymen ist es, aus einem Meer von Basen die wenigen herauszufinden, die modifiziert sind und somit in der nächsten Replikationsrunde zu einer „falschen“ Basenpaarung führen. Banerjee und Mitarbeiter (2005) haben dazu am Beispiel des Enzyms 8-Oxoguanin-Glykosylase einen interessanten Mechanismus vorgeschlagen: Dieses Enzym erkennt eine oxidierte Form des Guanins (oxoG), die ein zusätzliches Sauerstoffatom trägt (wenn diese Base nicht entfernt wird, führt das in der nächsten Replikationsrunde zum Einbau eines „T“ im neu synthetisierten Gegenstrang). Offensichtlich besteht die Erkennung von oxoG durch das Reparaturenzym in der Ausbildung einer Wasserstoffbrücke
zu dem zusätzlichen Sauerstoffatom. Außerdem verfügt das Enzym über zwei „Taschen“ – eine spezifisch für oxoG und eine für das „normale“ G. Andererseits braucht die Glykosylase auch den Kontakt zu dem „richtigen“ C im Gegenstrang. Eine Reparatur erfolgt also nur im üblichen Basenpaar-Kontext und nach der Bindung in der oxoG-spezifischen Tasche. Die Wasserstoffbrückenbindung zu dem Sauerstoff ist offensichtlich notwendig, um in einem Zwischenschritt eine erneute Kontrolle zu ermöglichen und so den Ausbau einer „richtigen“ Basen zu verhindern. ! Die Exzisionsreparatur verläuft ohne Lichteinwirkung durch endonukleolytische Einzelstrangschnitte neben dem Schaden und durch die anschließende Entfernung der defekten Nukleotide, die dann durch DNA-Polymerase I neu eingefügt werden.
10.5.3 Rekombinationsreparatur oder postreplikative Reparatur Die bisher besprochenen Mechanismen führen zu einer vollständigen Reparatur von Dimeren und auch von anderen Defekten, ohne dass gleichzeitig eine Replikation der DNA erfolgt. Reparatur kann jedoch auch in Zusammenhang mit der Replikation erfolgen. In diesem Fall wird die DNA zunächst repliziert, wobei an der Schadenstelle (z. B. Doppelstrangbruch) aufgrund der bereits erwähnten Blockierung der Replikation lokale Einzelstrangregionen entstehen. Diese Einzelstrangregionen werden anschließend durch Rekombination aufgefüllt (Abb. 10.43). Man spricht daher auch von Rekombinationsreparatur oder postreplikativer Reparatur. Die DNA-Synthese wird bei postreplikativer Reparatur zunächst an der Stelle unterbrochen, an der sich der Schaden befindet (Abb. 10.43). Die DNAPolymerase ist aber in der Lage, in einigem Abstand von der Schadenstelle die Neusynthese von DNA zu initiieren und von dort aus weiter zu replizieren. Durch Schwesterstrangaustausch werden anschließend die entstandenen Einzelstrangbereiche aufgefüllt. Die neu entstandene Einzelstrangregion kann auch durch normale Reparatursynthese aufgefüllt werden. Offensichtlich gleicht diese Art der Reparatur den molekularen Mechanismen von Rekombinationsereignissen. Der Reparaturmechanismus wird
413
414
Kapitel 10: Veränderungen im Genom: Mutationen
Abb. 10.43. Die Reparatur von Doppelstrangbrüchen über homologe Rekombination. Nach einem Doppelstrangbruch werden die einzelnen Stränge jeweils über einen kurzen Bereich in 5’→3’-Richtung abgebaut. Die freien 3’-Enden werden benutzt, um in den Doppelstrang-Bereich der homologen DNA einzuwandern (die dicken und dünnen Linien erlauben die Unterscheidung der beiden Chromosomen; Pfeilspitzen am Ende der DNA-Linien symbolisieren die 3’Enden). Die freien Pfeilspitzen an der Holliday-Struktur deuten mögliche Schnittstellen an, die in der untersten Zeile dargestellt sind. Die offenen Pfeilspitzen führen z. B. zu dem linken Produkt, das scheinbar ohne Crossing-over entstanden ist. (Nach Cox 2002)
daher auch als homologe Rekombinationsreparatur (engl. homologous recombination repair, HRR) bezeichnet. Eine Übersicht über die Enzyme, die an der HRR bei verschiedenen Organismen beteiligt sind, gibt Tabelle 10.5.
10.5.4 SOS-Reparatur Bakterien verfügen schließlich noch über weitere Reparatursysteme, die allerdings oft nicht zu einer Korrektur des Fehlers in der DNA führen, sondern deren Aktivität im Gegenteil zusätzliche Fehler in der DNA zur Folge haben kann. Die Funktion dieser sogenannten SOS-Reparatursysteme beruht im Prinzip
auf einer Reduktion der Genauigkeit der Replikation. Dabei schließt der molekulare Mechanismus eine Funktion des RecA-Proteins ein. Das RecA-Protein ist nicht nur für die Nukleinsäureinteraktionen bei Rekombinationsvorgängen erforderlich (s. S. 198), sondern es besitzt auch eine Proteaseaktivität, der wir bereits bei der UV-Induktion des lytischen Zyklus des Bakteriophagen λ begegnet sind. Diese Proteasefunktion wird durch UV-Bestrahlung aktiviert (s. S. 156). Außerdem kann RecA-Protein auch an Einzelstrang-DNA binden (s. S. 195). Normalerweise wird das SOS-Reparatursystem durch das LexA-Protein, ein Produkt des LexA-Gens, reprimiert. Wird das LexA-Protein jedoch durch die Aktivität der RecA-Protease, die nur auf bestimmte Proteine proteolytisch wirkt und nur durch Störungen in der DNA-Replikation induziert wird, abgebaut, kommt es zur Induktion des SOS-Reparatursystems. Dieses System schließt die Funktion der Gene umuC, umuD und dinB ein. Das nach der Induktion des SOS-Reparaturmechanismus synthetisierte UmuDProtein wird durch das RecA-Protein dazu veranlasst, die 24 N-terminalen Aminosäuren abzuspalten; das verkürzte Protein wird als UmuD’ bezeichnet. Das UmuC-Protein ist eine DNA-Polymerase (E.coli-DNAPolymerase V), die jedoch alleine nur sehr geringe Polymerase-Aktivität besitzt. Erst in Kombination mit UmuD’, RecA und SSB erlangt diese Polymerase ihre volle Aktivität, die 10 bis 100fach höher ist als die der E.-coli-DNA-Polymerasen I, II oder III (Holoenzym). Allerdings verfügen die UmuC/UmuD’Komplexe über keine 3’→5’-proofreading-Exonuklease-Aktivität. Neben dieser eigenen Polymerase-Aktivität üben UmuC und UmuD auch eine Kontrollfunktion auf die DNA-Polymerase III von E. coli aus, die dazu führt, dass die Replikationsgeschwindigkeit des normalen Replikationsenzyms im Falle von DNA-Defekten vermindert wird. Die Gene des umuDC-Operons nehmen damit zugleich eine Kontrollfunktion (engl. checkpoint) für DNA-Schäden wahr.Vergleichbare Gene für DNA-Polymerasen hat man auch bei Hefen (REV1, REV3, REV7) und beim Menschen gefunden. Diese Polymerasen haben möglicherweise auch eine Bedeutung bei der Rekombination der Immunglobulingene. Die Sequenzierung des menschlichen Genoms und vieler Modellorganismen führte in jüngerer Zeit zur Entdeckung vieler konservierter prokaryotischer und eukaryotischer Gene,die ortholog oder paralog zu den E. coli-Genen dinB, umuC und umuD sind. Diese Pro-
10.6 Mutagenität und Mutationsraten
Tabelle 10.5.
Beteiligte Enzyme bei der postreplikativen Reparatur Bakteriophage T4
E. coli
Eukaryoten
Rekombinase
UvsX
RecA
Rad51/Rad54, Dmc1
Einzelstrang-Bindungsprotein
Gen 32
SSB
RPA
RMPa
UvsY
RecOR, RecBCD
Rad52, Rad55 / Rad57
Helikase an der Replikationsgabel
UvsW
RecG, RuvAB
Abbau der Enden (5’→3’-Exonuklease)
gp46/gp47
SbcCD, RecBCD
Auflösung der Holliday-Strukturen
Endonuklease VII
RuvC/Rus
Replikations-Neustart RMP
gp59
PriA, Restart-Primosom
Replikative Helikase
gp41
DnaB
DNA-Polymerase
T4 Polymerase
DNA-Polymerasen II/III
Rad50, Mre11, Xrs2/Nbs1
DNA-Polymerasen α, δ, ε, RFC, PCNA etc.
a
RMP: an der Replikation beteiligte Proteine (engl. replication-mediated proteins). Nach Cox (2002)
teine gehören zu einer ausgedehnten Superfamilie der Y-DNA-Polymerasen, die sich von den bisher bekannten Polymerasen in 4 Punkten unterscheiden: • sie haben eine 2 bis 4fach höhere Fehlerrate, wenn sie an unbeschädigter DNA arbeiten; • sie haben keine 3’→5’-proofreading-ExonukleaseAktivität; • ihre Aktivität ist auf einige wenige Basen beschränkt; • sie unterstützen einen Prozess, der die Verlängerung eines DNA-Stranges über eine Schadenstelle hinaus ermöglicht und daher als TransläsionsSynthese (TLS) bezeichnet wird. Eine Übersicht über die daran beteiligten menschlichen DNA-Polymerasen gibt Tabelle 10.6.
! Das induzierbare SOS-Reparatur-System von E.
coli ist die physiologische Antwort auf eine Reihe verschiedener Agenzien, die die Integrität der DNA beeinträchtigen. Im Mittelpunkt steht dabei die UmuDC-Polymerasen-Aktivität. Durch ausgedehnte Speziesvergleiche ist bekannt, dass dieses System in vielen Organismen incl. dem Menschen vorkommt. Es wird allgemein als Transläsions-Synthese bezeichnet.
10.6 Mutagenität und Mutationsraten Betrachtet man die unterschiedlichen relativen Mutationshäufigkeiten in der Maus nach Bestrahlung oder Behandlung mit ENU (Tabelle 10.4), ist es verständlich, dass wohl jedes Gen sein eigenes Mutationsspektrum besitzt, das noch dazu für unterschiedliche Mutagene variiert. In der Tat können sich die Mutationsraten verschiedener Gene über zwei Größen-
415
416
Kapitel 10: Veränderungen im Genom: Mutationen
Tabelle 10.6.
Die UmuC/DinB-Superfamilie von DNA-Polymerasen
Name
Alternative Bezeichnung
Organismus
Pol V
UmuD′2C/UmuC
Bakterien
Pol IV
DinB
Bakterien
Pol η
Rad30
Hefe
XP-V
Pol η/ Rad30A
Mensch
Pol ι
Rad30B
Mensch, Maus
Pol κ
DinB1
Mensch, Maus
Rev1
Deoxycytidil-Transferase
Hefe, Mensch
Pol ζa
Rev3-Rev7
Hefe
Pol ζ gehört nicht direkt zur UmuC/DinB-Superfamilie; sie spielt aber eine wichtige Rolle in der TLS bei Hefen und Menschen und wurde deshalb in die Tabelle aufgenommen. (Nach Sutton et al. 2000)
a Die
ordnungen voneinander unterscheiden (10–5 bis 10–7 Mutationen je Zellgeneration; Tabelle 10.7). ! Mutationsraten sind nicht einheitlich, sondern
variieren stark.
10.6.1 Mutagenitätstests Eine wichtige Aufgabe der angewandten Genetik ist es, die Mutagenität chemischer Verbindungen zu testen. Man hat hierfür eine Reihe von Testmöglichkeiten entwickelt, die ein abgestuftes Verfahren ermöglichen und die bakterielle Testsysteme, Zellkulturen und verschiedene Tierversuche einschließen. Diese gestuften Verfahren ermöglichen eine gute Abschätzung der Eigenschaften von Verbindungen, die möglicherweise mutagen sind.
Ames-Test Der gegenwärtig wichtigste mikrobiologische Test ist der Ames-Test, der durch Bruce Ames 1973 eingeführt wurde (Abb. 10.44). Man gebraucht in ihm mehrere genetisch verschiedene Stämme von Salmonella thyphimurium. Diese besitzen: • unterschiedliche Mutationen im his-Gen (Histidingen) und sind zugleich durch eine uvrB-Mutation (s. S. 413) in ihrem Reparatursystem defekt und daher besonders empfindlich gegen Mutagene; • zusätzliche erbliche Defekte in der Zellwand der Bakterien, die diese besonders permeabel für Chemikalien machen, und • ein Plasmid, das die mutagene Wirkung durch Plasmidgene verstärkt, die dem umu-Gensystem verwandte Funktionen ausüben (s. S. 414). Der Test beruht auf einer Suche nach Revertanten von einer his–-Konstitution zur his+-Konstitution der Zellen. Da man in verschiedenen Salmonella-Stämmen unterschiedliche his-Mutationen verfügbar hat, die entweder Basensubstitutionen oder Leserastermutationen innerhalb der Protein-kodierenden Region des his-Gens besitzen, kann man unterschiedliche Arten
10.6 Mutagenität und Mutationsraten
Tabelle 10.7.
Mutationsraten
Organismus
Gen
Rate
Bakteriophage T2
r nach r+ (Reversion) h+ nach h
1 × 10–8 3 × 10–9
je Replikation je Replikation
E. coli
lac- nach lac+ (Reversion) his+ nach hisStreptomycinresistenz try- nach try+
2 × 10–7 2 × 10–6 4 × 10–4 6 × 10–8
je Zellteilung je Zellteilung je Zellteilung je Zellteilung
Chlamydomonas reinhardtii
pens nach penr
1 × 10–7
je Zellteilung
Neurospora crassa
ad- nach ad+ (Reversion)
4 × 10–8
in asexuellen Sporen
Saccharomyces cerevisiae
his- nach his+ Histidinunabhängigkeit (Reversion) ad- nach ad+ Argininunabhängigkeit (Reversion)
3 × 10–9 9 × 10–7
in asexuellen Sporen in asexuellen Sporen
Zea mays
Sh nach sh Su nach su
1 × 10–6 2 × 10–6
je Generation je Generation
Drosophila melanogaster
y+ nach y bw+ nach bw
1 × 10–4 3 × 10–5
je Keimzelle je Keimzelle
Mus musculus
D nach d
3 × 10–5
je Keimzelle
Homo sapiens
+ nach Hämophilie A + nach albino + nach Duchennesche Muskeldystrophie + nach Achondroplasie + nach Chorea Huntington + nach Retinoblastom + nach Neurofibromastose
3 × 10–5 3 × 10–5 1 × 10–4 7 × 10–5 1 × 10–6 2 × 10–5 3–25 × 105
je Keimzelle je Keimzelle je Keimzelle je Keimzelle je Keimzelle je Keimzelle je Keimzelle
Gene in der Reihenfolge der Nennung: r rapid lysis, h host range, lac β-Galactosidase, his histidine auxotrophy, try Tryptophansynthetase, pen Penicillin resistence, ad adenine independence, Sh Shrunken, su sugary, y yellow, bw brown eyes, D Dilution. +: von Wildtyp (gesund)
der mutagenen Wirkung erfassen. Hierzu plattiert man die Bakterienzellen auf Agarplatten mit einem niedrigen Titer von Histidin zusammen mit einer Mikrosomenfraktion aus Rattenleber aus, um ein limitiertes (auxotrophes) Wachstum und die Replikation der Zellen zu ermöglichen. Viele Mutagene werden erst durch die Replikation effektiv, wie wir zuvor gesehen haben (s. S. 406). Die Mikrosomen (bei der Zellfraktionierung aus dem endoplasmatischen Retikulum entstehende Membranfragmente, die sich
zu Vesikeln zusammenschließen) enthalten Enzymfraktionen (z. B. Oxidasen), die imstande sind, potentielle Mutagene umzusetzen (s. S. 418). Dadurch ist es möglich, zugleich auch die mutagene Wirkung von zumindest einigen der Stoffwechselprodukte der getesteten Verbindung zu erfassen. Man bestimmt anschließend die Anzahl von Revertanten zu his+, also zu prototrophem Wachstum, auf normalen Agarplatten ohne Zusatz und auf solchen, denen die Testverbindung zugefügt wird.
417
Kapitel 10: Veränderungen im Genom: Mutationen
! Die mutagene Wirkung von chemischen Verbin-
dungen kann durch Testsysteme abgeschätzt werden, wenn auch die spezifischen Auswirkungen auf bestimmte Organismen daraus nicht mit Sicherheit ermittelt werden können. Das gegenwärtig wichtigste Testsystem wurde von Ames entwickelt.
Umfangreiche Daten lassen heute erkennen, dass man größenordnungsmäßig etwa 80–90% der krebserregenden Verbindungen mit Hilfe dieses Tests als mutagen identifizieren kann. Ein ebenso hoher Prozentsatz nichtcarcinogener Verbindungen weist keine mutagene Wirkungen in diesem Test auf. Damit hat dieser relativ billige und einfach durchzuführende Test eine Schlüsselrolle als Mutagenitäts- und Carcinogenitätstest erlangt (Abb. 10.45). Durch den Einschluss von Säugerzellbestandteilen in Form der Lebermikrosomenfraktion schließt das Testsystem eine säugerspezifische Komponente ein. Die hohe 2000
Leserastermutante Revertanten
418
1000
Basensubstitutionsmutante 0
Abb. 10.44. Ames-Test. Verschiedene Histidinmutanten von Salmonella typhimurium werden mit einer Mikrosomenfraktion aus Rattenleber (S9-Mix) und einem potentiellen Mutagen kultiviert. Der Stoffwechsel von Ratten wird zuvor durch Injektion von Chemikalien aktiviert, so dass besonders hohe Enzymtiter in den Lebermikrosomen vorliegen. Die Verwendung unterschiedlicher Histidinmutanten gestattet die Analyse der Art der mutagenen Wirkung (Basensubstitutionen oder Leserasterverschiebungen, vgl. Tabelle 10.1). (Nach Weaver u. Hedrick 1992)
20
40
60 80 100 ng Aflatoxin B1
120
140
Abb. 10.45. Mutagene Wirkung von Aflatoxin B1 im AmesTest. Zwei Salmonella-Histidinmutanten (eine Leserastermutante und eine Basensubstitutionsmutante) wurden in der in Abb. 10.44 beschriebenen Weise getestet. Aflatoxin B1 erweist sich im Ames-Test als starkes Mutagen, das vor allem Leserasterverschiebungen induziert, wie aus seiner interkalierenden Wirkung (s. Abb. 10.36) zu erwarten ist. Hiervon unterscheidet sich seine Wirkung auf Salmonella-Stämme, die Basensubstitutionen im Histidingen tragen, die nur vergleichweise gering ist. (Nach Ames et al. 1973, u. Weaver u. Hedrick 1992)
10.6 Mutagenität und Mutationsraten
Sensitivität des Tests wird deutlich, wenn man sich vor Augen hält, dass man mit ihm bereits nachweisen kann, dass Kondensate des Rauches von 1/100 einer Zigarette deutliche mutagene Effekte anzeigen. Für manche Mutagene ist jedoch die direkte Verwendung von Säugerzellkulturen als Testsystem wichtig, bevor man auf direkte Tierversuche an Ratten oder Mäusen übergeht, die nach wie vor unentbehrlich sind. In Zellkulturen kann die mutagene Wirkung durch die Häufigkeit der Induktion von Schwesterchromatidaustauschen (engl. sister chromatid exchange, SCE) ermittelt werden. Deren Nachweis beruht auf der Eigenschaft von Chromosomen, die über einen von zwei Zellzyklen in BrdUhaltigem Medium gewachsen sind, nach Giemsafärbung eine unterschiedlich starke Färbung der beiden Chromatiden zu zeigen. Die schwächere Färbung wird durch den Gehalt an BrdU in der einen
Abb. 10.46 a,b. Schwesterchromatidenmarkierung durch BrdU-Einbau in menschlichen Lymphocytenchromosomen. Die Unterscheidung der beiden Schwesterchromatiden ermöglicht die Darstellung von Schwesterchromatidenaustauschereignissen (SCEs). a In normalen Individuen sind solche Austauschereignisse selten. b In einem Patienten mit Bloom’s Syndrom ist die Rate der SCEs etwa 10fach höher. (Photos: C. Grond, Heidelberg)
Chromatide verursacht. Da die Zellen über einen Zellzyklus ohne BrdU gewachsen sind, besitzt die zweite Chromatide nur einen BrdU-markierten DNA-Strang (Abb. 10.46a). Die Abbildung lässt uns erkennen, dass bereits in normalen Zellen eine begrenzte Anzahl von Schwesterchromatidaustauschen vorkommt. Lässt man die Zellen nun in Gegenwart von Mutagenen wachsen,so wird die Anzahl der SCEs drastisch erhöht (Abb. 10.46b). Man hat zeigen können, dass die Häufigkeit von SCEs eine direkte Korrelation zur Mutagenität der betreffenden Induktorsubstanzen aufweist (Abb. 10.47). Natürlich kann man auf diesem Wege nur Substanzen identifizieren, die Chromosomenbrüche verursachen, während Basensubstitutionen und andere Mutationen unentdeckt bleiben. ! Mutagenitätstests an Säugerzellkulturen können durch die Ermittlung der Häufigkeit der Induktion eines Schwesterchromatidenaustausches erfolgen. Damit wird die Häufigkeit von Chromosomenaberrationen ermittelt.
Abb. 10.47. Zwischen der Häufigkeit der Induktion von Genmutationen und der Induktion von Schwesterchromatidenaustauschen (SCEs) in ovarialen Zellen des chinesischen Hamsters besteht eine lineare Beziehung. Das gilt für so unterschiedliche Mutagene wie Mitomycin C, Proflavin, Ethylmethansulfonat (EMS) und N-Ethyl-N-nitroso-Harnstoff (ENU). (Nach Carrano et al. 1978)
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420
Kapitel 10: Veränderungen im Genom: Mutationen
Test auf Aneuploidie Aneuploidien führen bei Menschen oft zu Fehlbildungen oder – häufiger – zu Fehlgeburten. Es ist daher wichtig zu wissen, ob Chemikalien diese Mutationsereignisse auslösen können. Als Testsystem eignen sich dafür natürlich Mäuse; es bedarf aber auch einer sehr sensitiven und spezifischen Methode, Fehlverteilungen einzelner Chromosomen nachzuweisen. Wie wir bereits an früherer Stelle gesehen haben (Abb. 7.12), können chromosomenspezifische DNA-Proben eingesetzt werden, um einzelne Chromosomen spezifisch anzufärben. Verbunden mit einer guten Bildverarbeitung ist es leicht möglich, Diploidien als eine besondere Form der Aneuploidie in Spermien behandelter Mäuse zu erkennen.Voraussetzung für diese Untersuchung ist allerdings, dass es in den Reifeprozessen der Spermien zu keinen Verzögerungen in den Meiosen kommt, was durch den spezifischen Einbau von BrdU überprüft wird (Abb. 10.48a). Das Beispiel in Abb. 10.48b zeigt fünf disome Spermien und ein diploides Spermium nach Behandlung der Maus mit Chemikalien. In diesen Versuchen zeigte sich, dass Diazepam (Valium®) und Griseofulvin (ein Fungizid) Disomien und Diploidien induzieren können, wohingegen andere Stoffe nur Diploidien (z. B. Carbendazim [Pestizid], Thiobendazol [Wurmmittel]) oder nur Disomien (z. B. Colchizin [Spindelgift], Trichlorfon [Pestizid]) induzieren. Ein quantitativer Vergleich der Mausdaten nach Valiumbehandlung mit entsprechenden Proben männlicher Patienten mit chronischem Valium-Missbrauch deutet allerdings darauf hin, dass die Keimzellentwicklung bei Männern 10 bis 100-mal empfindlicher ist als die der Maus (Adler et al. 2002).
Transgene Mäuse in der Mutagenitätstestung Um quantitative Risikoabschätzungen am Tier durchzuführen, standen der schon beschriebene CIB-Test an Drosophila (Abb. 10.24) sowie der spezifische Locus-Test bei der Maus (Abb. 10.26) zur Verfügung. Allerdings versuchte man schon bald, auf der Basis transgener Mäuse empfindlichere Testsysteme zu etablieren. Diese sind unter der Bezeichnung „MutaMouse“ und „Big Blue Mouse“ bekannt geworden. Sie verwenden das bakterielle lacZ bzw. lacI als Reportergen für die Mutationen (Abb. 10.49a). Die Repor-
Abb. 10.48 a,b. Aneuploidie-Test mit Mausspermien. a Darstellung BrdU-positiver und negativer Spermien der Maus. Die Spermien wurden mit einem fluoreszierenden Anti-BrdUAntikörper markiert (grün) und mit Propidiumiodid gegengefärbt (rot). b Beispiel für 5 Disomien (X88, Y88, YY8, XX8 und XY8) und eine Diploidie (XX88) in Mausspermien. Es wurden die Geschlechtschromosomen (X, Y) und das Chromosom 8 untersucht. (Nach Adler et al. 2002)
tergene sind jeweils in das Mausgenom als Teil eines λ-„Shuttle“-Vektors integriert, der leicht als Phagenpartikel aus der genomischen Maus-DNA durch invitro-Verpackung erhalten werden kann. Die transgenen Mäuse, die den λ-Vektor tragen, werden mit der Testsubstanz behandelt, und die mutierten Phagen werden auf Grund der Farbe der Plaques bei der Anwesenheit von X-Gal erkannt. Im lacZ-System werden farblose oder hellblaue Plaques vor einem blauen Hintergrund als Mutanten bewertet, wohingegen im lacI-System blaue Plaques vor einem farblosen Hintergrund Mutationen anzeigen. Obwohl die Entwicklung dieses transgenen Assays zur Entdeckung von Mutationen in jedem Gewebe eines lebenden Tieres ein epochales Ereignis war, ist die Methode doch
10.6 Mutagenität und Mutationsraten Abb. 10.49 a,b. Mutationstest mit transgenen Mäusen. a Schema des Mutationsassays mit lacZ-, cII- und lacIGenen der MutaMouse oder der Big Blue Maus. b Schema des gpt-deltaMutagenitätstests: Zwei verschiedene E.coli-Wirtszellen werden mit einem λEG10-Phagen infiziert. Der eine E. coliStamm (YG6020) exprimiert CreRekombinase für die 6-Thioguanin (6-TG)-Selektion und der andere ist lysogen für die Spi –-Selektion. In den Zellen, die Cre-Rekombinase exprimieren, wird die λEG10-DNA in ein Plasmid umgeformt, das die Gene gpt und cat (kodiert für Chloramphenicol-Acetyltransferase) trägt. Die E.coli-Zellen, die Plasmide tragen, die im gpt-Gen mutiert sind, können auf Platten mit 6-TG und Chloramphenicol positiv selektioniert werden. Mutierte λEG10Phagen, denen die red/gam-Genfunktion fehlt, können als Spi –-Plaques in P2-lysogenen E. coli-Zellen positiv selektioniert werden. Dadurch können die Mutationsraten von Punktmutationen und Deletionen in der gleichen DNA-Probe verglichen werden
sehr zeitaufwendig und teuer. Daher wurde bald das cII-Gen als Reportergen eingesetzt, das eine PositivSelektion ermöglicht und mit seiner geringen Größe (300 bp) auch schnell sequenziert werden kann (es kann in beiden Maussystemen – MutaMaus und Big Blue Maus – eingesetzt werden). Das λ-CII-Protein ist eine essentielle Komponente in der Entscheidung über vegetative Vermehrung oder Lysogenisierung, die ein Bakteriophage nach der Infektion einer Wirtszelle trifft. Das CII-Protein tritt in viele Wechselwirkungen mit Promotoren von Genen,die die Expression des CI-
Gens des Phagen beeinflussen. Der CI-Repressor ist für den Übergang zur Lysogenie erforderlich. Dieses System ist ein exzellentes Beispiel einer fruchtbaren Zusammenarbeit verschiedener genetischer Teildisziplinen zur eleganten Lösung eines gemeinsamen Problems, nämlich der Abschätzung von Mutationsraten. Alle 3 Reportergene (lacZ, lacI, cII) haben in allen Geweben etwa die gleiche spontane Mutationsrate (10–5). Man geht davon aus, dass die spontanen Mutationen im Wesentlichen durch Deamidierung des 5Methylcytosin in dem Dinukleotid CpG hervorgeru-
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Kapitel 10: Veränderungen im Genom: Mutationen
fen werden, da bakterielle Transgene in Säugerzellen sehr stark methyliert sind. Wegen diesem starken Hintergrund von Basenpaaraustauschen sind seltene Mutationen wie Deletionen nur schwer zu erkennen. Es gibt auch Hinweise, dass dieses System gegenüber der genotoxischen Wirkung von γ-Strahlen unempfindlich ist. Daher wurde die Spi –-Selektion in das System eingeführt (engl. sensitive to P2 interference, Abb. 10.49b). Die Besonderheit dieser Form der Spi–-Selektion besteht darin, dass sie bevorzugt Deletionen im λ-Phagen erkennt und positiv selektioniert. Allerdings ist die Größe der Deletion wegen der Größenbeschränkung der Verpackung des λ-Genoms auf etwa 10 kb begrenzt (die lineare λ-DNA benötigt zwei cos-sites, die durch 38 bis 51 kb DNA getrennt sein müssen; vgl. S. 120). Um jetzt das System noch weiter zu optimieren, wurde das gpt-Gen als zusätzliches Reportergen für Punktmutationen eingeführt: Das Produkt des gpt-Gens modifiziert 6-Thioguanin (6-TG) in eine Substanz, die für E.coli toxisch ist, so dass nur Mutanten überleben können, bei denen das gpt-Gen entweder durch Deletionen oder Punktmutationen zerstört ist. Da das gpt-Gen nur 456 bp groß ist, kann die Punktmutation auch schnell durch Sequenzierung charakterisiert werden; dieses System ist als „gpt delta“ bekannt.
10.6.2 Mutationsraten und Evolution Vor etwa 70 Jahren postulierte Haldane (1935), dass die männliche Mutationsrate bei Menschen deutlich höher sei als die weibliche, da die männlichen Keimzellen wesentlich mehr Zellteilungen und damit DNA-Replikationsrunden pro Generation erleben, als dies bei weiblichen Keimzellen der Fall ist (siehe Abb. 13.65). Diese Hypothese ist in der Zwischenzeit zwar weitgehend akzeptiert, allerdings war die Größenordnung des Verhältnisses der männlichen zur weiblichen Mutationsrate (ausgedrückt als Faktor α) lange Zeit umstritten. Die Kenntnis dieser Größenordnung ist wichtig, um zu wissen, ob die Mutationsrate im Wesentlichen durch Fehler während der DNA-Replikation verursacht wird, und trägt damit viel zum Verständnis der Mutationsmechanismen insgesamt bei. Darüber hinaus besteht die Frage, ob es eine schnellere „molekulare Uhr“ für solche Organismen gibt, die eine kürzere Generationszeit haben als solche mit einer langen Generationszeit („Generationszeit-Hypothese“).
Frühere Arbeiten benutzten eine direkte Methode, um Mutationsraten zu bestimmen (wobei sich die nachfolgenden Betrachtungen im Wesentlichen auf Punktmutationen beziehen). Am Beispiel der Xgekoppelten Bluterkrankheit Hämophilie A (s. S. 684) wurde bei 119 Patienten ein Wert für α von 15 berechnet; dieser Wert deckte sich zunächst mit vielen Beobachtungen an anderen Krankheiten. Allerdings treten die beobachteten Mutationen an wenigen Stellen gehäuft auf, die als CpG-Dinukleotide charakterisiert werden können. In Säugerzellen wird nämlich das C in einem CpG-Dinukleotid relativ häufig methyliert; Deamidierung verändert das Methyl-Cytosin zu einem Thymin, das damit eine C→T-Transition bewirkt (wenn diese C→T-Transition im Gegenstrang vorkommt, manifestiert sie sich als G→A-Transition im Sinn-Strang). Da Methylierung in der DNA der Spermien häufiger vorkommt als in Oocyten, scheint dies zunächst die höhere Mutationsrate zu erklären. Da allerdings auch C→G-Transversionen beobachtet werden, kann man die Methylierung dafür nicht verantwortlich machen. Zusammen gesehen wird deutlich, dass die unterschiedliche Methylierung und nachfolgende Transitionen nicht die Hauptursachen dafür sind, dass man bei Menschen einen relativ hohen Wert für α findet. So zeigen vergleichende Untersuchungen an ausgewählten Genen bei höheren Primaten, Katzen, Nagern und Vögeln, dass es offensichtlich einen deutlichen „Generationszeit-Effekt“ gibt – der Wert für α ist bei höheren Primaten etwa 3mal so hoch wie bei Nagern und wird mit etwa 5 bis 6 angegeben (Li et al. 2002). Weitere Daten zeigen, dass offensichtlich darüber hinaus auch die chromosomale Region die Mutationsrate beeinflusst. So haben benachbarte Gene ähnlich hohe (oder auch ähnlich niedrige) Mutationsraten. Dies gilt auch über Speziesgrenzen hinweg im Vergleich Maus – Mensch – Schimpanse. Dabei korrelieren Regionen mit einem hohen GCGehalt auch mit einer höheren Mutationsrate; allerdings kann dies nicht die einzige Erklärung sein. Es deutet viel darauf hin, dass dabei Rekombinationsereignisse die Entstehung von Mutationen wesentlich beeinflussen. So korreliert die hohe Mutationsrate in der pseudoautosomalen Region des Y-Chromosoms deutlich mit ihrer hohen Rekombinationsrate. Warum Mutationsraten mit Rekombinationsraten verknüpft werden können, lässt sich nach Untersuchungen an Hefe und Säugetieren erklären. Offensichtlich ist die Reparatur von Doppelstrangbrüchen während
10.6 Mutagenität und Mutationsraten
der Rekombination ein mutagener Prozess. Es gibt Arbeiten, die darauf hindeuten, dass ein hoher GCGehalt die Rekombinationshäufigkeit erhöht. Neben der Deamidisierung des C wäre dies eine weitere Erklärung dafür, dass Mutationen bevorzugt an CpGDinukleotiden auftreten. Ein dritter wichtiger mutagener Mechanismus in der Evolution ist die Verdopplung von Genomfragmenten. Die Analyse des menschlichen Genoms hat gezeigt, dass es zu etwa 5% aus verstreuten Verdopplungen besteht, die in den vergangenen 35 Mio. Jahren entstanden sind. Es können dabei zwei Kategorien unterschieden werden: segmentale Duplikationen zwischen nicht-homologen Chromosomen einerseits und andererseits Duplikationen, die im Wesentlichen auf ein Chromosom beschränkt bleiben. Letztere entstehen vor allem durch ungleiche Crossover und führen zur Bildung von Clustern eng verwandter Gene (z. B. Globin-Gene, Hox-Gene, einige Kristallin-Gene). Ein weiterer möglicher Mechanismus der Genduplikation besteht in der Wirkung von Transposons, wobei hier beide Möglichkeiten (intra- und inter-chromosomale Duplikation) in der Evolution realisiert wurden. Diese „Segmentale Evolution“ ist von Vorteil, denn durch sie können vielfach neue Funktionen ausprobiert werden, ohne alte zu verlieren, wie das normalerweise bei Mutationen der Fall ist (Abb. 10.50). Das menschliche Y-Chromosom liefert auch dafür ein gutes Beispiel. Denn der Bereich, der nicht zur pseudoautosomalen Region gehört (und das sind immerhin ca. 57 Mb der insgesamt 60 Mb!), liegt als haploide Region in männlichen Zellen vor. Damit fehlt ihm der natürliche Rekombinationspartner, und so bleiben die Kombinationen der verschiedenen Allele auf dem Y-Chromosom in der Regel über Generationen männlicher Verwandter hinweg unverändert. Chromosomale Rearrangements sind also selten, so dass die überwiegende Zahl der Mutationen einfach verfolgt werden kann. Studien an Y-Chromosomen sind daher besonders interessant, weil sie überwiegend nur solche Mutationen zeigen, die das Ergebnis intra-alleler Prozesse sind; andere Faktoren, die in anderen Chromosomen hinzukommen, entfallen hier. Daher kann man in populationsgenetischen Untersuchungen erwarten, dass im Y-Chromosom eine geringere Häufigkeit von Sequenzunterschieden als im übrigen Genom zu finden ist, was auch tatsächlich beobachtet wurde. Auf der Basis dieser
Untersuchungen ist es auch möglich, verwandtschaftliche Zusammenhänge verschiedener menschlicher Populationen im evolutionären Zusammenhang darzustellen. Auch die Forschung am Y-Chromosom stützt die These, dass Vorfahren der
Abb. 10.50. Folgen segmentaler Duplikation. Der „paraloge Weg“ der Evolution eines Gens ist einem Genomabschnitt gegenübergestellt, der nur ein einziges Gen enthält, dessen Verschiedenheit aufgrund von Mutationen durch Selektionsdruck eingeschränkt ist – der „orthologe Weg“. Ein dupliziertes Fragment, das für ein Gen kodiert, kann zu einer erhöhten Dosis des entsprechenden Produkts führen oder aufgrund weiterer Mutationen zu einer zunehmenden Vielfalt in einer Genfamilie und schließlich zur Herausbildung neuer Funktionen. Eine andere Möglichkeit besteht aber auch darin, dass sich das duplizierte Fragment zu einem „Pseudogen“ entwickelt. Auf jeden Fall fördert aber die Anwesenheit duplizierter Elemente strukturelle Rearrangements durch paraloge Rekombination und/oder die Zusammenfügung verschiedener Moleküle, die zur Herausbildung fusionierter Transkripte führt. Da auch die flankierenden Sequenzen des duplizierten Segments ebenso dupliziert werden können, kann dieser Prozess zu dynamischen strukturellen Rearrangements bei erhöhten Frequenzen innerhalb dieser Regionen führen. Diese Regionen mit einem erhöhten evolutionären Turnover stehen im Gegensatz zu den Regionen mit Genen, die nur einmal im Genom vorhanden sind. Deren Mutationsrate ist aufgrund des Selektionsdruckes deutlich niedriger, so dass duplizierte Gensequenzen mehr Möglichkeiten für den evolutionären Fortschritt bereitstellen. (Nach Eichler 2001)
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Kapitel 10: Veränderungen im Genom: Mutationen
Abb. 10.51 a
10.6 Mutagenität und Mutationsraten
heutigen Menschen vor etwa 50–70 000 Jahren aus Afrika ausgewandert sind, und dass offensichtlich zwei verschiedene Untergruppen den Rest der Welt besiedelten: eine Südostasien und Australien, und die andere Nordwestasien und Europa (Nord- und Südamerika wurden erst wesentlich später besiedelt; Abb. 10.51). Diese Beobachtungen ergänzen sich gut mit den Untersuchungen an mitochondrialer DNA (die über
die mütterliche Linie vererbt wird) sowie mit den archäologischen Befunden. Auch neuere Entwicklungen können über die Analyse der Haplotypen des YChromosoms nachgezeichnet werden; so verlaufen in Indien die Grenzen der Haplotypen weitgehend entlang der sozialen Kasten. Derartige molekulare populationsgenetische Untersuchungen führen zu vielen neuen Fragen im Spannungsfeld der Evolutionsbiologie, Anthropologie und Archäologie.
Abb. 10.51 a,b. Evolution des Y-Chromosoms und geographische Verteilung seiner Haplotypen. a Der Stammbaum des Y-Chromosoms ist als Funktion seiner Haplotypen A bis R dargestellt. Untergruppen, die nicht durch die Existenz von Markern belegt werden können, sind durch ein Sternchen* hervorgehoben (z. B. P*). Das Nomenklatursystem erlaubt auch die Vereinigung zweier Haplotypen wie D und E (= DE). b Die weltweite Verteilung der Y-chromosomalen Haplotypen ist durch die bunten Kreise angedeutet; jeder Kreis entspricht einer Bevölkerungsgruppe mit einem definierten Haplotyp (siehe a). Es ist auffallend, dass zwischen direkt benachbarten Bevölkerungsgruppen große Ähnlichkeiten herrschen, dass aber große Unterschiede zu weiter entfernt wohnenden Populationen bestehen. Die Populationen sind folgender-
maßen bezeichnet: 1 !Kung; 2 Pygmäen; 3 engl. Bamileke; 4 engl. Fali; 5 Senegalesen; 6 Berber; 7 Äthiopier; 8 Sudanesen; 9 Basken; 10 Griechen; 11 Polen; 12 Samländer (engl. Saami); 13 Russen; 14 Libanesen; 15 Iraner; 16 Georgier; 17 Kasachen; 18 engl. Punjabis; 19 Usbeken; 20 engl. Forest Nentsi; 21 engl. Khants; 22 engl. Eastern Evenks; 23 Burjaken; 24 engl. Evens; 25 Eskimos; 26 Mongolen; 27 engl. Evenks; 28 engl. Northern Han; 29 Tibeter; 30 Taiwanesen; 31 Japaner; 32 Koreaner; 33 Philipinos; 34 Javanesen; 35 Malayen; 36 Neu-Guineaner (Hochland); 37 Neu-Guineaner (Küste); 38 Australier (Arnhem); 39 Australier (Sandwüste); 40 engl. Cook Islanders; 41 Tahitianer; 42 engl. Maori; 43 Navajo-Indianer; 44 Cheyenne-Indianer; 45 Mixteken; 46 engl. Makiritare; 47 engl. Cayapa; 48 Grönländische Inuit. (Nach Jobling u. Tyler-Smith 2003)
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Kapitel 10: Veränderungen im Genom: Mutationen
Durch Vergleich der mitochondrialen DNA konnte nicht nur die Ur-Heimat des Menschen in Afrika lokalisiert werden, sondern auch der Weg nachgezeichnet werden, den die Menschen bei ihrem Auszug aus Afrika wohl genommen haben. Die Analyse isolierter Bevölkerungsgruppen in Südostasien unterstützt die Hypothese, dass es nur eine Route gegeben hat, und zwar über die südliche Küstenlinie der arabischen Halbinsel nach Indien und von dort nach Südostasien und Australien. Modellrechnungen zeigten außerdem, dass ursprünglich etwa 500 bis 2000 Frauen an diesem Auszug aus Afrika beteiligt waren. Die Detailanalyse der mitochondrialen Genome ergab auch, dass die Besiedelung des Nahen Ostens und Europas von Indien aus erfolgte; allerdings ging die Hauptrichtung vor ca. 65 000 Jahren von Indien nach Australien und dauerte wohl nur wenige tausend Jahre bei einer Wanderungsgeschwindigkeit von 0,7–4 km pro Jahr (Macaulay et al. 2005; Thangaray et al. 2005; Forster und Matsumara 2005). Aber schon zeichnet sich ab, dass die Evolution des Menschen nicht nur anhand einzelner Marker nachgezeichnet werden kann, sondern dass dazu auch das gesamte Genom urzeitlicher Menschen und Tiere herangezogen werden kann. So haben die Paläogenetiker Svente Pääbo und Edward Rubin das Genom des vor 40 000 Jahren ausgestorbenen Höhlenbären teilweise sequenziert, nachdem aus einem Zahn und einem Stück versteinerten Knochens DNA isoliert werden konnte (Noonan et al. 2005). Auf ähnliche Weise kann das Genom des Neandertalers bestimmt werden, um so das Ausmaß seiner Verwandtschaft mit dem modernen Menschen zu erfassen. Für noch wesentlich weiter
zurückliegende Zeiten lässt sich diese Methode jedoch nicht mehr anwenden. Um trotzdem eine Vorstellung von unseren Ur-Vorfahren zu erhalten, hat David Haussler und seine Gruppe einen „Stammbaum“ für das CFTR-Gen (dessen Mutationen zu Mukoviszidose führen; s. Kap. 14.3.1) aus 19 bekannten Sequenzen verschiedener Säugetiere erstellt. Damit konnten sie ~1,1 Mb des Säugetier-Urgenoms um das CFTR-Gen rekonstruieren (Blanchette et al. 2004). Mit Hilfe dieser Computer-gestützten Analyse wird es möglich werden, die Evolution der Säugetiere besser zu verstehen und damit auch die genetische Basis der Besonderheit des Menschen in dieser Entwicklung erkennen.
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Kernaussagen
▬ Mutationen sind ein Grundphänomen von Lebewesen. Sie sind die Grundlage für evolutionäre Prozesse. ▬ Mutationen können sich in Keimzellen und in somatischen Zellen in gleicher Weise ereignen. ▬ Verschiedenartige molekulare Mechanismen sind für spontane Mutationen verantwortlich. ▬ Reparaturmechanismen sorgen für eine teilweise Korrektur von Mutationen. Spontane Mutationsraten und die Effektivität von Reparaturmechanismen stehen in einem Gleichgewicht, das durch die Erfordernisse der Evolution bestimmt wird. ▬ Mutagenitätstests gestatten eine allgemeine Abschätzung der mutagenen Wirkung von chemischen Verbindungen.
Technik-Box
Technik-Box 20
SSCP-Analyse (Single Strand Conformation Polymorphism-Analyse) Eine der wichtigsten Aufgaben der Molekularbiologie in der Medizin ist die Identifikation von Punktmutationen und von Polymorphismen in der DNA einzelner Gene. Eine geeignete Möglichkeit hierfür bietet sich in der Gelelektrophorese von EinzelstrangDNA unter nicht-denaturierenden Gelbedingungen. Einzelstrang-DNA erhält man durch Denaturierung der DNA (s. S. 28). Die Einzelstränge formen, abhängig von den Temperatur- und Salzbedingungen, eine komplexe Sekundärstruktur, die spezifisch für die Nukleotidsequenz ist und sich daher bei beiden Strängen unterscheidet. Als Folge unterschiedlicher Sekun-
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2* 3 4
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därstrukturen wandern DNA-Stränge gleicher Länge aber unterschiedlicher Basensequenzen unterschiedlich schnell im elektrischen Feld, da sie durch die Gelporen in unterschiedlichem Maße in ihrer Bewegung behindert werden. Die Gelzusammensetzung ist entscheidend für die Auflösung bei der Trennung. Man kann durch diese Methode unter geeigneten Bedingungen Mutationen einzelner Basen erkennen. Sie hat daher in der Humangenetik eine wichtige Bedeutung für diagnostische Zwecke erlangt. Allerdings ist ihre Anwendung auf relativ kurze DNAStränge begrenzt (bis zu etwa 400 nt),
9* 10 11* 12 13 14* 15
1a 2a 2a 3a 3a 3a 3b3b 3b 3c 4a
5a 5a 2b 2b
16*17 18
21 22 23 19* 20* mc wc nc
6a 6a
4b 3d
6a
für längere Moleküle erzielt man keine ausreichende Auflösung der elektrophoretischen Mobilität. In der Praxis führt man SSCP-Experimente in Kombination mit der PCRTechnik aus. Es hat sich herausgestellt, dass bei bestimmten Genen spezifische Mutationen besonders häufig zu bestimmten Krankheitsbildern führen. Man amplifiziert einen Genbereich, der in dieser Hinsicht interessant ist, mittels geeigneter Primer durch PCR an genomischer DNA eines Patienten und analysiert die PCR-Produkte auf geeigneten Gelen. Im folgenden Beispiel ist das für das p53-Protein (s. S. 706) dargestellt. Die Abbildung zeigt SSCPMuster verschiedener Gewebeproben von Tumorpatienten. Abweichungen im Fragmentmuster gegenüber dem Wildtyp (wc) sind bei den Proben, die mit * gekennzeichnet sind (2, 5, 9, 11, 14, 16, 19, 20), zu beobachten. Die Spur mc enthält eine Kontrolle mit einem mutierten p53-Gen. Die Spuren 2 und 3 zeigen die Muster verschiedener Gewebeproben des gleichen Patienten. Das p53-Gen ist hier nur in der Probe 2 verändert! (Nees et al. 1993)
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Kapitel 11
Formalgenetik
Das Untersuchungsmaterial Gregor Mendels: Pisum sativum. (Tuschezeichnung: S. Erni, Luzern)
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Kapitel 11: Formalgenetik
Überblick Die Ausprägung einzelner Merkmale ist über mehrere Generationen hinweg genetisch eindeutig festgelegt. Bestimmte Eigenschaften treten daher in Individuen aufeinander folgender Generationen immer wieder in gleicher Art und Weise auf. Gregor Mendel (1822–1884) hat sich diese Beobachtung zunutze gemacht und durch konsequente Kreuzungsanalyse von Pflanzen mit ausgewählten Merkmalen die Grundregeln der Vererbung erkannt. Der erste Schritt für das Verständnis von Vererbungsvorgängen war die Erkenntnis, dass es konkrete erbliche Einheiten, die Gene, gibt (Mendel selbst sprach noch von „Merkmalen“). Für das Verständnis der Vererbung in höheren Organismen (Pflanzen und Tieren) war als zweiter Schritt die Erkenntnis entscheidend, dass jedes Gen in jeder Zelle zweifach vorhanden ist (Diploidie). Schließlich folgte als dritter Schritt die Feststellung, dass die in Körperzellen doppelt vorhandenen Gene sich in den Keimzellen voneinander trennen müssen, um in den Gameten in einer einfachen Ausführung (haploid) an die Nachkommen übergeben werden zu können. Eine wichtige Voraussetzung für Mendels Experimente war, dass es für Gene unterschiedliche Ausprägungsformen (Allele) gibt. In den diploiden Zellen eines Organismus können entweder zwei identische (homozygote) oder zwei unterschiedliche (heterozygote) Allele vorhanden sein. Im heterozygoten Zustand ist häufig nur das eine Allel erkennbar, wenn man das Erscheinungsbild (den Phänotyp) des betreffenden Organismus betrachtet. Mendel hat diese Eigenart als Dominanz einer Merkmalsform bezeichnet. Die nicht sichtbare Form des Gens nannte er rezessiv. Die rezessive Form eines Gens ist nur dann sichtbar, wenn sie in einem Individuum homozygot auftritt. Aufgrund dieser Erkenntnisse lässt sich die relative Anzahl unterschiedlicher Phänotypen der Nachkommen
11.1 Grundregeln der Vererbung: Die Mendel’schen Regeln Der Augustinerpater Gregor Mendel (1822–1884) gilt wegen der Auswertung und Interpretation seiner in großer Zahl angelegten Kreuzungsexperimente als Gründer der Genetik als wissenschaftlicher Disziplin. Er beschrieb diese Versuche und deren Ergebnisse in seiner Arbeit Versuche über Pflanzenhybriden, die 1866 veröffentlicht wurde. Diese Veröffentlichung des
errechnen. Diese Vorhersage gilt auf statistischer Grundlage, da die Vereinigung von zwei Gameten in der Zygote dem Zufall unterliegt und man nur Aussagen über die mittleren Häufigkeiten bestimmter Kombinationen machen kann. Mendel hatte jedoch nur einen kleinen Ausschnitt aus der Vielfalt der Eigenschaften des Erbmaterials erfasst. So besitzen verschiedene Allele eines Gens nicht immer klare Dominanz-Rezessivitäts-Beziehungen. Durch die Kombination zweier unterschiedlicher Allele können beispielsweise neue Phänotypen entstehen (unvollständige Dominanz), oder beide Allele können unabhängig voneinander zum Ausdruck kommen (Codominanz). Viele phänotypische Merkmale werden nicht nur durch ein einziges Gen bestimmt, sondern durch das Zusammenspiel mehrerer Gene (polygene Vererbung). Auch können einzelne Gene mehrere Merkmale in ihrer Ausprägung beeinflussen (Pleiotropie). Alle diese Eigenschaften von Genen führen zu Phänotypen, die sich nach den Mendel’schen Gesetzen allein nicht ohne weiteres vorhersagen lassen, sondern komplizierterer genetischer Analysen bedürfen. Die Verteilung von Allelen kann nicht nur auf der Ebene von Individuen, sondern auch innerhalb von Populationen betrachtet werden. Die quantitative und qualitative Zusammenstellung der Gesamtheit der Gene innerhalb einer Generation (Genpool) ist abhängig von einer Reihe von Faktoren, z. B. Selektion, Gründereffekt (bei kleinen Gruppen von Individuen) und Zu- oder Abwanderung von Individuen. Populationen von Organismen unterliegen also im Laufe der Zeit Veränderungen, die schließlich dazu führen können, dass eine Population sich genetisch von anderen, zunächst gleichartigen Populationen entfernt und zu einer neuen Art weiterentwickelt hat.
naturforschenden Vereins zu Brünn folgte auf einen Vortrag seiner Ergebnisse in einer der wissenschaftlichen Sitzungen derselben Vereinigung. Mendel bewies hier, dass erbliche Information in diskreten Einheiten, die er als Merkmale bezeichnete, an die Nachkommen weitergegeben werden: Er hatte damit die Existenz der Gene entdeckt. Zugleich aber konnte er durch seine Kreuzungsversuche die Grundregeln aufklären, die der Verteilung und der Wechselwirkung der Gene bei der Weitergabe an die nächste
11.1 Grundregeln der Vererbung: Die Mendel’schen Regeln
Generation zugrunde liegen. Die Versuche wurden hauptsächlich an der Erbse, Pisum sativum, durchgeführt, jedoch zum Teil an verschiedenen PhaseolusArten wiederholt, so dass Mendel von ihrer allgemeinen Gültigkeit überzeugt war. Mendel hat seine Entdeckung zwei wichtigen methodischen Ansätzen zu verdanken, die er ganz bewusst zur Grundlage seiner Versuche gewählt hatte: • Zum einen war es die Wahl eindeutig und klar gegeneinander abgrenzbarer Merkmale, die er durch die Kreuzungen hinweg leicht verfolgen konnte, die dem Erfolg seiner Analyse zu Grunde lag. Die klare Abgrenzbarkeit des Charakters eines Merkmals ist bis heute eine der wichtigsten Forderungen für seine Verwendung in genetischen Versuchen geblieben. • Ein zweites, bis dahin in der Biologie ganz ungebräuchliches Mittel war die Verwendung statistischer Methoden für die Auswertung seiner Kreuzungsexperimente. Mendel war als Physiker ausgebildet, so dass ihm die Anwendung mathematischer Methoden und die Forderung nach klarer Abgrenzung experimenteller Parameter in naturwissenschaftlichen Versuchen vertraut waren. Die Beobachtungen Mendels sind zunächst völlig unverstanden geblieben und bis zur Jahrhundertwende nicht weiter beachtet worden. Das ist um so überraschender, als Darwins Deszendenztheorie 1859, also kurz vor der Veröffentlichung von Mendels Schrift Versuche über Pflanzenhybriden, der Öffentlichkeit vorgelegt worden war. Hätte Charles Darwin (1809–1882) die Mendel’schen Arbeiten in ihrer Bedeutung wahrgenommen, wäre er vielleicht zu Erkenntnissen über den Verlauf der Evolution der Organismen gekommen, die erst im 20. Jahrhundert von anderen Wissenschaftlern formuliert wurden. Genau zur Jahrhundertwende, im Jahre 1900, begann sich die Genetik endgültig als eine eigene biologische Disziplin zu profilieren. Drei Wissenschaftler – Hugo de Vries (1848–1935), Erich von TschermakSeysenegg (1871–1962) und Carl Erich Correns (1864–1933) – erkannten aufgrund eigener neuer Experimente die Bedeutung der Arbeiten Mendels gleichzeitig. In den folgenden Abschnitten wollen wir zunächst Mendels Experimenten und deren Ergebnissen, in den wichtigsten Abschnitten mit seinen eigenen Worten, nachgehen.
Mendel wählte für seine Versuchsserien an Erbsen sieben Merkmale aus Unterschieden „in der Länge und Färbung der Stengel,in der Grösse und Gestalt der Blätter, in der Stellung, Farbe und Grösse der Blüthen, in der Lage der Blüthenstiele, in der Farbe, Gestalt und Grösse der Hülsen, in der Gestalt und Grösse der Samen, in der Färbung der Samenschale und des Albumens“. Er begründet diese Auswahl damit, dass ein Teil der vorhandenen Merkmale „eine sichere und scharfe Trennung nicht“ zulässt, „indem der Unterschied auf einem oft schwierig zu bestimmenden ,mehr oder weniger’ beruht ... Solche Merkmale waren für die Einzelversuche nicht verwendbar, diese konnten sich nur auf Charactere beschränken, die an den Pflanzen deutlich und entschieden hervortreten.“ Die von Mendel gewählten Merkmale und ihre alternativen Formen sind in Abb. 11.1 und Tabelle 11.1 zusammengefasst. Mendel kombinierte in seinen Versuchen jeweils zwei alternative Formen eines Merkmals und führte reziproke Kreuzungen damit durch. Als reziproke Kreuzungen bezeichnet man Kreuzungen, bei denen Individuen einer bestimmten genetischen Konstitution einmal als weiblicher Partner (bei Pflanzen also als Pollenempfänger), das andere Mal als männlicher Partner (bei Pflanzen als Pollenspender) dienen. Pflanzen bieten für solche Versuche besondere Vorteile, wenn sie einhäusig (monözisch) sind, da in diesem Falle die männlichen und weiblichen Blüten auf einer Pflanze zu finden sind. Man kann in diesem Falle Selbstbefruchtungen durchführen, so dass die genetische Konstitution der Gameten einheitlich ist. Erzeugt man durch wiederholte Selbstbefruchtung reine Linien, d. h. Pflanzen, die in allen Nachkommengenerationen ein Merkmal stets nur in derselben Ausprägungsform aufweisen, sind die Ausgangsbedingungen der mit diesen Linien durchgeführten Versuche eindeutig festgelegt. Neue Merkmalsformen oder Merkmalskombinationen in der Nachkommenschaft können dann ausschließlich ein Ergebnis der Kreuzungsbedingungen sein. Als erstes Ergebnis solcher Kreuzungen zeigte es sich, dass stets nur eine der beiden alternativen Merkmalsformen in den Hybriden (wir sprechen heute von der F1-Generation oder 1. Filialgeneration) zur Ausprägung kommt, während die alternative Form eines Merkmals nicht sichtbar ist (Abb. 11.2). Diese Beobachtung, dass reziproke Kreuzungen reiner Linien stets gleiche Nachkommen ergeben, ist heute unter der Bezeichnung 1. Mendel’sche Regel
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Kapitel 11: Formalgenetik
Tabelle 11.1.
Mendels sieben Merkmale
Merkmal
Ausprägungsform dominant
Ausprägungsform rezessiv
(1) Gestalt der reifen Samen
kugelrund bis rundlich
unregelmäßig kantig, tief runzelig
(2) Farbe des Endosperms
blassgelb, hellgelb, orange
mehr oder weniger intensiv grün
(3) Färbung der Samenschale
grau, graubraun oder lederbraun mit oder ohne violette Punktierung bei violetter Fahne und purpurnen Flügeln der Blüten und rötlichen Stengeln an den Blattachsen
weiß bei gleichzeitig weißer Blüte
(4) Form der reifen Hülse
einfach gewölbt
eingeschnürt und mehr oder weniger runzelig
(5) Farbe der unreifen Früchte
licht- bis dunkelgrün
lebhaft gelb
(6) Stellung der Blüten
achsenständig
endständig
(7) Achsenlänge
lang
kurz
Nach Mendel (1866)
oder als Uniformitäts- oder Reziprozitätsregel eine der Grundregeln der Genetik. Die Interpretation dieser Beobachtungen ist in Abb. 11.3 gegeben. Mendel nahm an, dass der Organismus zwei Ausführungen eines jedes Merkmals (im Beispiel also für die Parentalgeneration P: AA oder aa) besitzt. In den Nachkommen (F1) sind ebenfalls zwei Ausführungen zu finden, nun jedoch in veränderter Kombination: Es ist je eine Ausführung des väterlichen und des mütterlichen Merkmals vorhanden. Wie erklärt sich diese Neukombination und wie kommt sie zustande? Die Erklärung finden wird in Abb. 11.4a. Während gewöhnliche Zellen eines Organismus jeweils zwei Ausführungen des Merkmals besitzen, enthalten Gameten (Keimzellen) nur eine dieser beiden Ausführungen, d. h. diese werden während der Keimzellentwicklung auf verschiedene Zellen verteilt. Bei der Befruchtung verschmelzen eine väterliche und eine mütterliche Keimzelle zur Zygote, und es entsteht so wieder eine Zelle mit zwei Ausführungen des Merkmals. Zur leichten Analyse von Kreuzungsexperimenten und den zu erwartenden Ergebnissen führte R.C. Punnett zu Beginn des 20. Jahrhunderts (1911) die in Abb. 11.4b gezeigte Darstellung ein, das heute als Punnett-Viereck bezeichnete Schema. In diesem
Schema werden in den äußeren horizontalen und vertikalen Positionen alle möglichen genetischen Konstitutionen der väterlichen und mütterlichen Keimzellen eingetragen. In den inneren Feldern des Vierecks ergeben sich dann aus den Kombinationen beider Gametenkonstitutionen alle genetischen Konstitutionen der Nachkommen. Diese Art der Auswertung hat sich als besonders übersichtlich erwiesen, und wir werden noch sehen, dass sie auch bei komplexeren genetischen Konstitutionen der Gameten und bei der Untersuchung der Häufigkeiten der unterschiedlichen F2-Konstitutionen sehr übersichtlich ist. Sie ist daher anderen Kreuzungsschemata vorzuziehen. Mendel führte zur Kennzeichnung der in den Hybriden sichtbaren Merkmalsform den Begriff dominant, für die unsichtbare Form des Merkmals die Bezeichnung rezessiv ein. „Der Ausdruck ,recessiv‘ wurde deshalb gewählt, weil die damit benannten Merkmale in den Hybriden zurücktreten oder ganz verschwinden, jedoch unter den Nachkommen derselben, wie später gezeigt wird, wieder unverändert zum Vorschein kommen“ (Mendel 1866). Dieses Ergebnis bedeutete zugleich, dass alle Hybride das gleiche Erscheinungsbild aufweisen. Es ist hierbei ohne Bedeutung, aus welcher der beiden reziproken
11.1 Grundregeln der Vererbung: Die Mendel’schen Regeln
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Abb. 11.1. Die von Gregor Mendel untersuchten sieben Merkmale von Pisum sativum (Nummerierung wie in Tabelle 11.1). (Originalzeichnung: S. Erni, Luzern)
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Kapitel 11: Formalgenetik weiß
Abb. 11.2. 1. Mendel’sche Regel. Monohybride Kreuzung zweier reiner Linien unterschiedlicher Blütenfarbe von Pisum sativum. Die Staubfäden des weiblichen Kreuzungspartners (links) sind entfernt worden, um Selbstbefruchtung zu verhindern. Der Pollen wird mit einem Pinsel auf die Narbe der Samenpflanze übertragen. Die Nachkommen (F1-Generation) zeigen alle einheitlich die dominante Blütenfarbe (purpur), unabhängig davon, welche Linie als Pollen- oder Samenpflanze für die Kreuzung verwendet wurde
purpur
P
F1
purpur
Kreuzungen die dominante Form des Merkmals kommt. Mendel verweist übrigens auch darauf, dass diese Beobachtung bereits zuvor von anderen Beobachtern beschrieben worden war und von ihm praktisch nur bestätigt wird. Für die Darstellung dominanter und rezessiver Merkmale in Kreuzungen ist es üblich, dominante Merkmale mit großen, rezessive mit kleinen Buchstaben anzugeben. Die Buchstaben sind Abkürzungen der Bezeichnungen der Merkmale. ! 1. Mendel’sche Regel: Nachkommen reziproker
Kreuzungen reiner Linien besitzen einen einheitlichen Phänotyp.
P
F1
aa
Aa
Aa
Aa
Abb. 11.3. Mendels Interpretation der Ergebnisse der monohybriden Kreuzung: Schema der Verteilung der Merkmale auf zellulärer Ebene. Die dominanten Merkmale (Blütenfarbe purpur) sind mit großen Buchstaben, die rezessiven Merkmale (Blütenfarbe weiß) mit kleinen Buchstaben charakterisiert. Mendel nahm an, dass jede gewöhnliche Zelle der Pflanze
Es soll noch erwähnt werden, dass bei dem letzten der in Tabelle 11.1 verzeichneten Merkmale (Achsenlänge) die Hybriden größer sind als beide Homozygoten. Mendel selbst schreibt hierzu: „Was das letzte Merkmal anbelangt, muss bemerkt werden, dass die längere der beiden Stamm-Achsen von der Hybride gewöhnlich noch übertroffen wird, was vielleicht nur der großen Ueppigkeit zuzuschreiben ist, welche in allen Pflanzentheilen auftritt, wenn Axen von sehr verschiedener Länge verbunden sind.“ Man bezeichnet diese Erscheinung, dass ein Hybrid in seiner Erscheinungsform die Homozygoten übertrifft, heute als Heterosis oder Überdominanz (Shull 1908). Wir werden hierauf in anderem Zusammenhang zurückkommen (s. S. 495). Die in den zuvor beschriebenen Experimenten erhaltenen Hybriden wurden nun von Mendel unter-
x
Aa
AA
Aa
Aa
Aa
zwei Ausführungen jedes Merkmals enthält, die sich nur bei der Keimzellentwicklung voneinander trennen und auf einzelne Gameten verteilen (Haploidie). Bei der Befruchtung wird der Zustand mit zwei Merkmalen wiederhergestellt (Diploidie)
11.1 Grundregeln der Vererbung: Die Mendel’schen Regeln
Abb. 11.4. a Genetische Konstitution der in Abb. 11.2 gezeigten Individuen. Das Schema in Abb. 11.3 gestattet es, die genetische Konstitution dieser Individuen zu erklären. Die reinen Linien der Parentalgeneration (P) besitzen jeweils homozygot das dominante (AA) oder das rezessive (aa) Merkmal. Durch Aufspaltung in den Gameten kommt es zur heterozygoten Konstitution (Aa) in der Filialgeneration (F1). Nur die domi-
nante Merkmalsform (Allel) A kommt zur Ausprägung im Phänotyp. b Die geeignete Darstellung der Kreuzung und ihrer Ergebnisse ist das Viereck nach Punnett. In den horizontalen und vertikalen Außenreihen werden alle jeweils möglichen Gametenkonstitutionen der Eltern eingetragen. Die genetischen Konstitutionen der Nachkommen und ihre Häufigkeiten können dann im Inneren des Vierecks direkt abgelesen werden
einander weitergekreuzt. Es zeigte sich, dass in der Nachkommenschaft (von uns F2-Generation oder 2. Filialgeneration genannt) beide ursprünglichen Merkmale wieder sichtbar werden. Allerdings treten diese nicht mit gleicher Häufigkeit auf, sondern das rezessive Merkmal wird nur in 25% aller Nachkommen gefunden. Das gleiche gilt auch für die reziproke Kreuzung (Abb. 11.5). Wir wollen uns diese Ergebnisse anhand der von Mendel selbst beobachteten Zahlenverhältnisse vor Augen führen. In Tabelle 11.2 sind die Ergebnisse Mendels für die sieben zuvor beschriebenen Merkmale zusammengestellt. Das 3:1-Verhältnis wird in diesen Versuchen innerhalb gewisser Grenzen recht gut erreicht. Wir erkennen aber auch, von welcher Bedeutung es ist, dass eine ausreichende Anzahl von Nachkommen untersucht wird, um dem theoretischen Wert möglichst nahezukommen. Kreuzt man die verschiedenen Individuen der F2Generation durch Selbstbefruchtung weiter, so stellt sich heraus, dass die Individuen mit der rezessiven Form eines Merkmals diese Form in allen weiteren Generationen konstant zur Ausprägung bringen (Abb. 11.5). Bei den F2-Individuen mit dominanten Merkmalsformen zeigt jedoch in den folgenden Generationen nur 1/3 unverändert die dominante Merkmalsausprägung, während die übrigen 2/3 wiederum bei 25%
ihrer Nachkommen die rezessive Merkmalsform sichtbar werden lassen. 75% der Individuen der folgenden Generation tragen die dominante Merkmalsform. Auch in den folgenden Generationen verhalten sie sich bei Kreuzungen untereinander jeweils wie es für die Individuen der F2-Generation beschrieben wurde. „Das Verhältnis 3:1, nach welchem die Vertheilung des dominanten und recessiven Charakters in der ersten Generation erfolgt, löst sich demnach für alle Versuche in die Verhältnisse 2:1:1 auf, wenn man zugleich das dominirende Merkmal in seiner Bedeutung als hybrides Merkmal und als Stamm-Character unterscheidet“ (Mendel 1866). Mendel zieht nun auf der Grundlage dieser Versuche den folgenden Schluss: „Bezeichnet man A das eine der beiden constanten Merkmale, z. B. das dominirende, a das recessive, und Aa die Hybridform, in welcher beide vereinigt sind, so ergibt der Ausdruck: A + 2 Aa + a die Entwicklungsreihe für die Nachkommen der Hybriden je zweier differirender Merkmale.“ In Abb. 11.6 ist dieses Ergebnis in Anlehnung an Abb. 11.3 durch Darstellung der genetischen Konstitutionen der verschiedenen Individuen wiedergegeben. Diese Beobachtungen Mendels, dass Kreuzungen der F1 untereinander zur Aufspaltung in verschiedene
435
436
Kapitel 11: Formalgenetik Kreuzung der F1 F1
x
F2 purpur 3 1/3
2/3
F3
Aufspaltung (3 : 1)
purpur
weiß
purpur 1/3
purpur
weiß 1
purpur
Tabelle 11.2.
2/3 Aufspaltung (3 : 1)
weiß
weiß
Abb. 11.5. 2. Mendel’sche Regel. Kreuzung der F1-Individuen der in Abb. 11.2 dargestellten Kreuzung durch Selbstbefruchtung. Die Nachkommen (F2) spalten im Verhältnis 3:1 auf und zeigen in 25 % der Individuen das rezessive Merkmal der P-Generation (weiße Blüten). Diese Individuen behalten ihren rezessiven Phänotyp bei Kreuzungen mit anderen Individuen rezessiven Phänotyps bei. Sie sind also reinrassig für das rezessive Merkmal. Kreuzt man hingegen die Individuen mit dominantem Phänotyp (purpurfarbige Blüten) durch Selbstbefruchtung weiter, so erhält man in der folgenden Generation (F3) bei 2/3 der Individuen erneut eine Aufspaltung in Pflanzen mit rezessivem oder dominantem Phänotyp im Zahlenverhältnis 1:3. Das restliche Drittel der Individuen mit dominantem Phänotyp behält diesen unverändert auch in den folgenden Generationen bei. Die genetische Konstitution der F2-Individuen ist somit zu 25% reinrassig (homozygot) für das rezessive Merkmal (weiß: aa), 25 % reinrassig (homozygot) für das dominante Merkmal (purpur: AA) und 50 % heterozygot (Aa) (s. Abb. 11.6)
F2-Generation einer monohybriden Kreuzung
Merkmal
Phänotyp F1
Phänotypen F2
Anzahl F2-Individuen
Verhältnis der F2-Phänotypen
(1) Samenform
rundlich
rundlich kantig
5474 1850
2,96 : 1
blassgelb grün
6022 2001
3,01 : 1
violett weiß
705 224
3,15 : 1
gewölbt eingeschnürt
882 299
2,95 : 1
dunkelgrün gelb
428 152
2,82 : 1
achsenständig endständig
651 207
3,14 : 1
lang kurz
787 277
2,84 : 1
(2) Endosperm (3) Samenschale (4) Hülse (5) Früchte (6) Blüten (7) Achse
Nach Mendel (1866)
blassgelb violett gewölbt dunkelgrün achsenständig lang
11.1 Grundregeln der Vererbung: Die Mendel’schen Regeln Abb. 11.6. Mendels Interpretation der Ergebnisse der monohybriden Kreuzung: Schema der Verteilung der Merkmale in der in Abb. 11.5 dargestellten Kreuzung auf zellulärer Ebene. Einzelheiten der Abbildung sind in der Legende von Abb. 11.3 erklärt
Aa
F1
AA
F2
Aa
x
Aa
Aa
purpur 3 1/3
aa weiß 1
2/3 Aufspaltung (3 : 1)
F3 AA
AA
purpur
Phänotypen genau definierter Häufigkeiten führt, sind in der 2. Mendel’schen Regel, der Spaltungsregel, zusammengefasst.
Aa
aa
purpur
aa weiß
purpur 1/3
purpur
Aa
2/3 Aufspaltung (3 : 1)
weiß
weiß
– zur Unterscheidung von seinem Erscheinungsbild (Phänotyp) – als seinen Genotyp. ! Gene liegen im Soma eines Individuums jeweils
! 2. Mendel’sche Regel: Kreuzungen der heterozy-
goten Nachkommen (F1) zweier reinrassiger Elternlinien untereinander führen zur Aufspaltung der Phänotypen nach bestimmten Zahlenverhältnissen.
Durch diese Versuche beweist Mendel, dass es Merkmale in verschiedenen Ausführungsformen gibt, die Varianten desselben genetischen Elementes (oder, wie wir heute sagen: Gens) sind. Man bezeichnet diese alternativen Formen als verschiedene Allele eines Gens. In jedem Individuum sind jeweils zwei Allele desselben Gens vorhanden. Diese beiden Allele innerhalb eines Organismus können identisch oder verschieden sein. Sind beide Allele in einem Organismus identisch, so nennt man die genetische Konstitution des Organismus homozygot, es liegt Homozygotie vor. Sind die beiden Allele verschieden, so ist die genetische Konstitution heterozygot, es liegt Heterozygotie vor. Die genetische Konstitution eines Organismus bezeichnet man
zweifach vor: Jede Zelle besitzt zwei Allele. Diese beiden Allele können identische oder verschiedene Ausprägungsformen besitzen. Der rezessive Phänotyp kommt nur in solchen Individuen zum Ausdruck, die homozygot für das rezessive Allel sind. Sind beide Allele unterschiedlich, kommt nur der dominante Phänotyp zur Ausprägung.
In den bisher beschriebenen Experimenten wurde die Vererbung jeweils eines Merkmalspaares untersucht. Man bezeichnet solche Kreuzungen daher auch als monohybride Kreuzungen. Als einen konsequenten weiteren Schritt führte Mendel Kreuzungen mit Pflanzen durch, die sich in mehreren Merkmalspaaren unterschieden. Je nach der Anzahl der untersuchten Merkmalspaare spricht man dann von dihybriden Kreuzungen, trihybriden Kreuzungen usw. Für solche polyhybride Kreuzungen erwiesen sich insbesondere Samenmerkmale als besonders geeignet, da sie am leichtesten zu analysieren sind (s. Abb. 11.1). Mendels
437
438
Kapitel 11: Formalgenetik
Beispiel für eine dihybride Kreuzung ist in Abb. 11.7 dargestellt. Das Wesentliche der Ergebnisse dihybrider Kreuzungen lässt sich wie folgt zusammenfassen: Unter neun verschiedenen Gruppen von Nachkommen, die sich aufgrund ihrer Merkmalskombinationen unterscheiden lassen, findet man bei weiteren Kreuzungen in den folgenden Generationen, dass sie hinsichtlich ihrer Merkmalsausprägung drei Hauptgruppen zuzuordnen sind (Kombinationen I + IV, II, III: Tabelle 11.3). Die erste Gruppe (I + IV) zeigt nur eine Form der Merkmale, und diese kommt auch in allen folgenden Generationen unverändert zum Ausdruck. In einer zweite Gruppe (II) ist jeweils eines der Merkmalspaare in den folgenden Generationen unverändert, während das andere in beiden alternativen Formen vorkommen kann.In der dritten Gruppe (III) treten für beide Merkmale beide alternative Formen in den Nachkommen auf (Tabelle 11.3, Analyse der F1-Phänotypen). Mendel schreibt: „Daher entwickeln sich die Nachkommen der Hybriden, wenn in denselben zweierlei differirende Merkmale verbunden sind, nach dem Ausdrucke:
Diese Entwicklungsreihe ist unbestritten eine Combinationsreihe, in welcher die beiden Entwicklungsreihen für die Merkmale A und a, B und b gliedweise verbunden sind. Man erhält die Glieder der Reihe vollzählig durch Combinirung der Ausdrücke: A + 2 Aa + a B + 2 Bb + b.“ Ein gleicher Versuch wurde mit drei Merkmalen durchgeführt und ergab ein dementsprechendes Ergebnis. Mendel schloss daraus, dass alle Merkmalsformen in allen denkbaren Kombinationen auftreten können, wenn man eine ausreichende Anzahl künstlicher Befruchtungen ausführt. Mendel hatte damit erkannt, dass Merkmale im Prinzip unabhängig voneinander auf die Nachkommen übertragen werden. Dieser Befund wird allgemein als 3. Mendel’sche Regel oder als Prinzip der unabhängigen Segregation von Merkmalen (engl. independent assortment) bezeichnet. ! 3. Mendel’sche Regel: Allele verteilen sich im
AB + Ab + aB + ab + 2 ABb + 2 aBb + 2 AaB + 2 Aab + 4 AaBb
Prinzip unabhängig voneinander und unabhängig von den Allelen anderer Gene auf die Nachkommen. (Unabhängigkeitsregel)
Abb. 11.7 a,b. 3. Mendel’sche Regel. Dihybride Kreuzung (vgl. Tabelle 11.3). Die Eltern sind für zwei verschiedene Merkmale (A und B) heterozygot. a Die Abbildung zeigt, entsprechend den Abb. 11.3, 11.4 und 11.6, den Erbgang auf zellulärer Ebene. Die Konstitution der Gameten der P-Generation repräsentiert alle möglichen Kombinationen der in den
diploiden Zellen vorhandenen Allele. Durch die zufällige Kombination der Gameten in der Zygote können neun verschiedene Genotypen entstehen. b Darstellung der Kreuzung im Punnett-Viereck. Hieraus ist das für eine dihybride Kreuzung zweier heterozygoter Eltern charakteristische Zahlenverhältnis der Phänotypen von 9:3:3:1 leicht abzuleiten
11.2 Statistische Methoden
Fragestellung: Besteht Koppelung?
Kreuzung: homozygote Doppelmutante mit Wildtyp
F1: Analyse der Phänotypen
Kreuzung: F1 untereinander
Tabelle 11.3. Verlauf, Ergebnisse und Interpretation von Mendels dihybrider Kreuzung Kreuzung: P: Verwendet werden Merkmale (1) und (2) aus Tabelle 11.1. Die Samenpflanze der P-Generation enthält die dominanten Formen der Merkmale (A und B), die Pollenpflanze die rezessiven (a und b). Genotypen: Phänotypen:
A/a B/b rund und gelb
Kreuzung der F1 untereinander: A/a B/b
×
F3: Analyse der Phänotypen
A/a B/b
Analyse der F2-Phänotypen:
Interpretation
Selbstbefruchtung F2
a/a b/b kantig und grün
F1: Analyse und Phänotypen: Genotypen: Phänotypen:
F2: Analyse der Phänotypen
Kreuzung:
×
A/A B/B rund und gelb
Merkmalskombination
Anzahl
I. rund und gelb II. kantig und gelb III. rund und grün IV. kantig und grün insgesamt
315 101 108 32 556
Kreuzung der F2 in Einzeltests: Merkmalskombination I: rund und gelb
×
rund und gelb
F3: Merkmale
Anzahl
Allele in Eltern
rund und gelb rund und gelb oder grün rund oder kantig und gelb rund oder kantig und gelb oder grün
38 65 60 138
AB ABb AaB AaBb
Merkmalskombination II: kantig und gelb
×
kantig und gelb
F3: Merkmale
Anzahl
Allele in Eltern
kantig und gelb kantig und gelb oder grün
28 68
aB aBb
Merkmalskombination III: rund und grün
×
rund und grün
439
440
Kapitel 11: Formalgenetik
Tabelle 11.3. Verlauf, Ergebnisse und Interpretation von Mendels dihybrider Kreuzung (Fortsetzung) F3: Merkmale
Anzahl
Allele in Eltern
rund und grün rund oder kantig und grün
35 67
Ab Aab
Merkmalskombination IV: kantig und grün
Interpretation
×
kantig und grün
F3: Merkmale
Anzahl
Allele in Eltern
kantig und grün
30
ab
Interpretation: Mendel teilt die Nachkommen aus Selbstbefruchtung aller Merkmalskombinationen in drei Gruppen ein. Deren erste ist dadurch gekennzeichnet, dass die jeweiligen Merkmale in allen folgenden Generationen unverändert auftreten. Diese Gruppe muss also homozygot für jedes der Merkmale sein. Gruppe 1: Merkmale Pflanzen Konstitution AB Ab aB ab gemittelt:
38 35 28 30 33
A/A B/B A/A b/b a/a B/B a/a b/b
Die zweite Gruppe ist nur für eines der beiden Merkmale homozygot, spaltet aber bei Selbstbefruchtung für das andere in der folgenden Generation auf. Gruppe 2: Merkmale Pflanzen Konstitution ABb aBb AaB Aab gemittelt:
65 68 60 67 65
A/A B/b a/a B/b A/A b/B A/a b/b
Die dritte Gruppe spaltet für beide Merkmale in der folgenden Generation auf, ist also für beide Merkmale heterozygot. Gruppe 3: Merkmale Pflanzen Konstitution AaBb
138
A/a B/b
Ergebnis: Das Zahlenverhältnis der Pflanzen in den Gruppen 1 bis 3 ist: 33 : 65 : 138 = 1 : 2,12 : 4,18 also etwa 1 : 2 : 4
Resultat: unabhängige Vererbung oder nicht
Resultat: Mendel erkannte, dass sich alle Genotypen und ihre Häufigkeiten durch die folgende mathematische Formulierung ermitteln lassen: (A + 2Aa + a) (B + 2Bb + b) = AB + 2ABb + Ab + 2AaB + 4AaBb + 2Aab + aB + 2aBb + ab Häufigkeiten im 38 65 35 60 138 67 28 68 30 Experiment: gerundet: 1 2 1 2 4 2 1 2 1 Diese Feststellung besagt, dass sich alle Merkmale in den Nachkommen untereinander frei miteinander kombinieren können, d.h. dass sie unabhängig voneinander auf die Keimzellen verteilt werden. Daten nach Mendel (1866)
11.2 Statistische Methoden
Eine weitere Versuchsreihe Mendels war nun der Frage gewidmet, wie die „Keim- und Pollenzellen der Hybriden“ (Mendel 1866) beschaffen sein müssen, um die Ergebnisse seiner Kreuzungen zu erklären. Die Erklärung gibt Mendel mit den folgenden Worten: „Da die verschiedenen constanten Formen ja in einer Blüthe derselben“ (d. h. Hybridpflanze) „erzeugt werden, erscheint die Annahme folgerichtig, dass in den Fruchtknoten der Hybriden so vielerlei Keimzellen (Keimbläschen) und in den Antheren so vielerlei Pollenzellen gebildet werden, als constante Combinationsformen möglich sind, und dass diese Keim- und Pollenzellen ihrer inneren Beschaffenheit nach den einzelnen Formen entsprechen. In der That lässt sich auf theoretischem Wege zeigen, dass diese Annahme vollständig ausreichen würde, um die Entwicklung der Hybriden in den einzelnen Generationen zu erklären, wenn man zugleich voraussetzen dürfte, dass die verschiedenen Arten von Keim- und Pollenzellen an der Hybride durchschnittlich in gleicher Anzahl gebildet werden.“ Mendel führt auf der Grundlage dieser Überlegungen Kreuzungsversuche durch, die diese Annahmen bestätigen sollten. Auch sie wurden in reziproken Ansätzen ausgeführt, um die Gleichwertigkeit von Samen- und Pollenzellen zu prüfen. Die Ergebnisse bestätigten die Annahmen vollständig, und Mendel hat damit erkannt, dass während der Bildung der Geschlechtszellen eine Verteilung der Allele erfolgt. Bei der Befruchtung wird je ein Allel eines jeden Gens durch die beiden Gameten in der Zygote vereinigt. Wir sprechen daher von einem haploiden Zustand (Haploidie) der reifen Keimzellen und einem diploiden Zustand (Diploidie) der übrigen (= somatischen) Zellen eines Organismus. ! In höheren Organismen erfolgt ein Wechsel zwi-
schen Diploidie in somatischen Zellen und Haploidie in Geschlechtszellen. Bei der Verschmelzung zweier haploider Geschlechtszellen entsteht eine diploide Zygote, deren Tochterzellen ebenfalls diploid sind.
11.2 Statistische Methoden Es ist wiederholt darauf hingewiesen worden, dass der Erfolg der Mendel’schen Versuchsanordnung auf der Verwendung statistischer Methoden beruht. Das
wird aus seinen Versuchsdaten deutlich, wenn wir uns die Tabelle 11.2 ansehen. Für alle Merkmale sind relativ große Anzahlen von Nachkommen auf ihren Phänotyp hin untersucht worden. Es ist deutlich, dass die Abweichung vom theoretischen Wert 3:1, der nach den Mendel’schen Vorstellungen erwartet werden muss, umso größer ist, je geringer die Anzahl der ausgezählten Phänotypen ist (Merkmale 3, 5, 6 und 7). Das ist auch nach den Regeln der Statistik verständlich, denn bei kleineren Mengen sind Zufallsschwankungen stets stärker ausgeprägt. Hiernach stellt sich die Frage, wann eine genügende Anzahl von Phänotypen untersucht worden ist, um sicher zu sein, dass das Ergebnis richtig interpretiert wird und man nicht durch Zufallsschwankungen falsche Rückschlüsse über einen Vererbungsgang zieht. Dieses Problem stellt sich vor allem dann, wenn man in Mehrfaktorenkreuzungen eine große Anzahl unterschiedlicher Phänotypen erhält und man sicherstellen muss, dass diese nicht falsch interpretiert werden. Für die Kartierung von Genen durch Crossing-over ist es besonders wichtig zu entscheiden, wie groß die Genauigkeit eines ermittelten Wertes ist.
11.2.1 Mathematische Grundlagen Bei einer statistischen Behandlung von Kreuzungsergebnissen geht man davon aus, dass ein experimentell ermittelter Wert im Rahmen einer Zufallsverteilung (Normalverteilung) schwankt. Eine solche Normalverteilung wird durch den Mittelwert µ und die Varianz σ charakterisiert. Die Varianz σ lässt erkennen, ob eine Gauss-Verteilungskurve schmal (σ klein) oder sehr breit (σ groß) ist. Unter Einbezug des Wertes der Varianz kann man die Verteilungskurve normieren und erhält dann eine normierte Normalverteilung. Diese normierte Normalverteilung ist eine Verteilung mit dem Mittelwert µ = 0 und der Varianz σ = 1. Beschreibt man die Fläche unter einer Normalverteilungskurve als Funktion von x (also: Φ(x)), so gibt der Flächenanteil jedes einzelnen Teilelementes dieser Fläche dΦ(x) = ϕ(x) dx die Wahrscheinlichkeit wieder, in einem Experiment einen xWert zu erhalten, der zwischen den Grenzwerten x und x + dx dieses Flächenelementes liegt (Abb. 11.8). Je kleiner ein Flächenelement ist, das durch zwei experimentell erhaltene x-Werte begrenzt wird, desto geringer wird die Wahrscheinlichkeit, dass ein expe-
441
442
Kapitel 11: Formalgenetik
y
Φ (x)
ϕ (x)
dΦ (x) = ϕ (x) dx
x x
x+dx
Abb. 11.8. Normalverteilung. Die Kurve zeigt die Wahrscheinlichkeit einer Zufallsabweichung von Beobachtungsdaten vom theoretischen Mittelwert. Die Fläche unter der Normalkurve (Gesamtfläche gleich 1) gibt die relative Häufigkeiten der verschiedenen Abweichungswerte der Daten an. Die Fläche φ(x) dx zwischen x und (x+dx) gibt die Wahrscheinlichkeit an, mit der ein experimenteller Wert, der zwischen x und (x+dx) liegt, erhalten wird. Je weiter ein Wert vom Mittelwert entfernt liegt, desto kleiner wird die Fläche, d. h. desto unwahrscheinlicher wird es, dass man diesen Wert erhält. (Aus Weber 1972)
rimentell erhaltener Wert dem Mittelwert µ zugeordnet werden kann. Diese mathematischen Grundlagen gestatten es also, Aussagen über die Wahrscheinlichkeit zu machen, dass ein experimenteller Wert innerhalb eines Schwankungsbereiches liegt, der noch als zulässig angesehen wird. Die Größe dieses Bereiches kann vom Experimentator festgelegt werden. Natürlich wird man die Ergebnisse als desto zuverlässiger betrachten,je kleiner die zugestandene Schwankungsbreite ist. Diese Überlegungen machen deutlich, dass es kein eindeutiges Maß dafür gibt, ob ein experimenteller Wert tatsächlich dem theoretisch erwarteten Wert entspricht. Vielmehr lassen uns statistische Behandlungen nur sehen, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein experimentell ermittelter Wert der Erwartung entspricht. Wir erkennen aus dieser Diskussion ein weiteres wichtiges Element der statistischen Behandlung von Daten: Es muss zunächst eine theoretische Grundlage
dessen formuliert werden, was geprüft werden soll. Die statistische Behandlung besteht dann darin, mathematisch zu testen, ob ein experimentelles Ergebnis dieser theoretischen Vorgabe wahrscheinlich entspricht oder nicht. Man bezeichnet einen solchen Vorgang der Formulierung einer theoretischen Grundlage, die mit dem Ergebnis übereinstimmen soll, als Hypothesentest. Es ist ein Prüfverfahren, das Auskunft darüber gibt, ob die Hypothese richtig oder falsch ist, d. h. ob sie „angenommen“ oder „verworfen“ werden soll. Sind die Abweichungen von der Hypothese klein, d. h. sind sie rein zufallsbedingt, dann wird die Hypothese angenommen. Sind die Abweichungen hingegen durch den Zufall allein nicht erklärbar – handelt es sich also um sog. signifikante Abweichungen – dann wird die Hypothese abgelehnt. Die Hypothese, dass Abweichungen dem Zufall zuzuschreiben sind, nennt man die Nullhypothese (H0). Die Gegen- oder Alternativhypothese wird in der Statistik mit H1 bezeichnet. Es sei nur nebenbei bemerkt, dass dieses Vorgehen ganz generell der Methodik empirischer naturwissenschaftlicher Forschung entspricht: Wir formulieren Arbeitshypothesen, die wir dann durch geeignete Experimente zu bestätigen versuchen. Gelingt das in ausreichendem Maße, so akzeptieren wir eine Hypothese als richtig und bezeichnen sie dann als eine Theorie (z. B. Chromosomentheorie der Vererbung). Ist es jedoch nicht möglich, diese Hypothese zu bestätigen und widersprechen die Ergebnisse unserer Experimente, die zur Bestätigung gedacht waren, ihren Annahmen, so müssen wir diese Hypothese als unrichtig verwerfen (s. S. 643). Eine Methode zur Bestätigung oder Ablehnung von Hypothesen kann übrigens auch in dem Versuch bestehen, Möglichkeiten zur Widerlegung (Falsifizierung) der Aussage zu prüfen. Gelingt es trotz aller Bemühungen nicht, eine Hypothese zu widerlegen, so wird meistens auch das als ein Argument für ihre Richtigkeit akzeptiert. ! Statistische Methoden dienen dazu, die Wahr-
scheinlichkeit zu ermitteln, mit der experimentell ermittelte Daten den theoretisch geforderten Ergebnissen eines Experiments entsprechen. Die theoretischen Werte erhält man durch Formulierung einer Nullhypothese.
11.2 Statistische Methoden
11.2.2 Die c2-Methode
χ2 =
∑
[lB − El − 12 ]2 E
wobei B der Beobachtungswert und E der erwartete Wert ist. Die Verminderung um 1⁄2 vom Absolutwert der Abweichung (beobachtet – erwartet) ist die sog. Yates-Korrektur. Sie erhöht die Genauigkeit der χ2Bestimmung, wenn die Zahlen in beiden erwarteten Klassen klein sind. Die Yates-Korrektur entfällt jedoch immer, wenn die Freiheitsgrade größer als 1 sind (d. h. bei der Auswertung dihybrider Kreuzungen mit der Erwartung einer 9:3:3:1-Aufspaltung). Ein weiterer Parameter ist zur Berechnung noch zu berücksichtigen. Wollen wir nämlich mehrere Werte, die miteinander zusammenhängen wie etwa die 9:3:3:1-Verteilung einer dihybriden Kreuzung, auf ihre Signifikanz beurteilen, so müssen wir die Anzahl der Freiheitsgrade berücksichtigen. Die Anzahl der Freiheitsgrade ist im Allgemeinen um 1 geringer als die Gesamtzahl der Möglichkeiten. Das ist leicht einzusehen, wenn wir uns die 9:3:3:1-Verteilung betrachten. Von den vier Möglichkeiten verschiedener Phänotypen hat man, von einem Phänotyp aus gesehen, nur noch drei alternative Möglichkeiten, d. h. die Anzahl seiner Freiheitsgrade ist 4–1=3. Die Korrelation zwischen dem experimentell ermittelten χ2-Wert, der Anzahl der Freiheitsgrade und der Wahrscheinlichkeit (p) (engl. probability) ist komplex (Abb. 11.9) und wird daher in Tabellen zusammengefasst (Tabelle 11.4). Je höher die Wahrscheinlichkeit, je größer also der Wert von p, desto verlässlicher entsprechen die experimentellen Daten der aufgestellten Nullhypothese. Nach allgemeiner Übereinkunft wird ein Wert von p ≥ 0,05 als statistisch signifikant angesehen, d. h. Werte, die in einen solchen p-Wertbereich fallen (s. Abb. 11.9) sprechen mit großer Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit der
10
4
40
30
3
2 1
0,0001 20
0,001 Wahrscheinlichkeit (p)
Experimentelle Daten kann man als verschiedene xWerte unserer normierten Zufallsverteilung ansehen. Um den Grad der Wahrscheinlichkeit zu prüfen, dass sie einem erwarteten Mittelwert µ zugeordnet werden dürften, hat man durch mathematische Anwendung der Kurvenfunktion ϕ(x) einen Wert χ2 („chi-Quadrat“, engl. chi-square) eingeführt, mit dessen Hilfe die Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit einer bestimmten Hypothese leicht abgeschätzt werden kann. Dieser Wert χ2 errechnet sich nach der Gleichung:
Freiheitsgrade
0,01 30
0,03 0,05 0,1 0,2
0,4 p = 0,48 0,7 1,0
20 15 10 7 5 4 3 2 1
0,1
χ2 = 0,53
Abb. 11.9. Aus dieser Graphik lassen sich die zu bestimmten χ2-Werten gehörenden p-Werte für unterschiedliche Freiheitgrade ermitteln. Der Bereich von p-Werten, der eine Signifikanz der experimentellen Resultate im Hinblick auf die Nullhypothese anzeigt, ist farbig hervorgehoben. Die Pfeile in der Abbildung geben als ein Beispiel den Wert p=0,48 für χ2=0,53 und dem Freiheitsgrad 1 an. (Aus Klug u. Cummings 1983)
Hypothese. Es steht natürlich jedem frei, das Kriterium für die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen und erst höhere Werte von p als statistisch signifikant anzusehen. In unserer normierten Normalverteilung (Abb. 11.8) würde damit der vom Mittelwert µ als zufällige Abweichung zulässige Bereich der Verteilungskurve stärker eingeengt. Zur Veranschaulichung wollen wir diese Berechnungen am praktischen Beispiel der Mendel’schen Experimente für die F2-Generation einer monohybriden Kreuzung durchführen (Tabelle 11.2). Zum Vergleich wurden die Resultate der Kreuzung mit der niedrigsten und der höchsten Anzahl ermittelter Phänotypen (Merkmale 5 und 2) ausgewählt und dem χ2-Test unterworfen (Tabelle 11.5). Die Berechnung lässt uns erkennen, dass beide Datensätze einen p-Wert von deutlich über 0,05 haben, also mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit dafür sprechen, dass die Nullhypothese einer 1:3-Verteilung richtig ist. Wir können aus dem Beispiel auch erkennen, dass die größere Anzahl ausgewerteter Phänotypen (Merkmal 2) eine größere Wahrschein-
443
444
Kapitel 11: Formalgenetik
Tabelle 11.4.
Die χ2-Verteilung. Kritische Werte χ2 (p, f) Irrtumswahrscheinlichkeit p .70 .50 .30
f
.99
.975
.95
.90
1
.00016
.001
.004
.0158
.148
2
.0201
.0506
.103
.211
.713
3
.115
.216
.352
4
.297
.484
.711
5
.554
6
.872
.831
.584
.455
.10
.05
.025
.01
.001
1,07
2,71
3,84
5,02
6,62
10,8
1,39
2,41
4,61
5,99
7,38
9,21
13,8
1,42
2,37
3,67
6,25
7,81
1,06
2,19
3,36
4,88
7,78
9,49
9,24
11,3
16,3
11,1
9,35
13,3
18,5
1,15
1,61
3,00
4,35
6,06
11,1
12,8
15,1
20,5
1,24
1,64
2,20
3,83
5,35
7,23
10,6
12,6
14,4
16,8
22,5
7
1,24
1,69
2,17
2,83
4,67
6,35
8,38
12,0
14,1
16,0
18,5
24,3
8
1,65
2,18
2,73
3,49
5,53
7,34
9,52
13,4
15,5
17,5
20,1
26,1
9
2,09
2,70
3,33
4,17
6,39
8,34
10,7
14,7
16,9
19,0
21,7
27,9
10
2,56
3,25
3,94
4,87
7,27
9,34
11,8
16,0
18,3
20,5
23,2
29,6
11
3,05
3,82
4,57
5,58
8,15
10,3
12,9
17,3
19,7
21,9
24,7
31,3
12
3,57
4,40
5,23
6,30
9,03
11,3
14,0
18,5
21,0
23,3
26,2
32,9
13
4,11
5,01
5,89
7,04
9,93
12,3
15,1
19,8
22,4
24,7
27,7
34,5
14
4,66
5,63
6,57
7,79
10,8
13,3
16,2
21,1
23,7
26,1
29,1
36,1
15
5,23
6,26
7,26
8,55
11,7
14,3
17,3
22,3
25,0
27,5
30,6
37,7
16
5,81
6,91
7,96
9,31
12,6
15,3
18,4
23,5
26,3
28,8
32,0
39,3
17
6,41
7,56
8,67
10,1
13,5
16,3
19,5
24,8
27,6
30,2
33,4
40,8
18
7,01
8,23
9,39
10,9
14,4
17,3
20,6
26,0
28,9
31,5
34,8
42,3
19
7,63
8,91
10,1
11,7
15,4
18,3
21,7
27,2
30,1
32,9
36,2
43,8
20
8,26
9,59
10,9
12,4
16,3
19,3
22,8
28,4
31,4
34,2
37,6
45,3
30
15,0
16,8
18,5
20,6
25,5
29,3
33,5
40,3
43,8
47,0
50,9
59,7
40
22,2
24,4
26,5
29,1
34,9
39,3
44,2
51,8
55,8
59,3
63,7
73,4
50
29,7
32,4
34,8
37,7
44,3
49,3
54,7
63,2
67,5
71,4
76,2
86,7
60
37,5
40,5
43,2
46,5
53,8
59,3
65,2
74,4
79,1
83,3
88,4
99,6
70
45,4
48,8
51,7
55,3
63,3
69,3
75,1
85,5
90,5
95,0
100,4
112,3
80
53,5
57,2
60,4
64,3
72,9
79,3
86,1
96,6
101,9
106,6
112,3
124,8
90
61,8
65,6
69,1
73,3
82,5
89,3
96,5
107,6
113,1
118,1
124,1
137,2
100
70,1
74,2
77,9
82,4
92,1
99,3
106,9
118,5
124,3
129,6
135,8
149,4
Der Punkt vor einer Zahl steht für 0; f: Anzahl der Freiheitsgrade
lichkeit für die Richtigkeit der Nullhypothese mit sich bringt. Beurteilungen von Kreuzungsdaten können auch mit anderen statistischen Mitteln, z. B. mit Hilfe der Varianz erfolgen. Die χ2-Methode ist jedoch am gebräuchlichsten.
! Die am häufigsten verwendete statistische Methode zur Prüfung von Kreuzungsergebnissen ist die χ2-Methode. Sie dient dazu, die Wahrscheinlichkeit zu ermitteln, mit der ein experimentell ermittelter Wert dem erwarteten Mittelwert einer normierten Zufallsverteilung entspricht.
11.3 Mendel aus heutiger Sicht – Ergänzungen seiner Regeln
Tabelle 11.5.
Berechnung des χ2-Wertes für ausgewählte F2-Generationen der Experimente in Tabelle 11.2
Merkmal (2) Hypothese
Merkmal
Beobachtet B
Erwartet E
|B-E|-1/2 = A
3/4 1/4
blassgelb grün
6022 2001
6017 2006
4,5 4,5
A2/E = χ2 0,00337 0,01009 Σ χ2 = 0,01346
p liegt nach Tabelle 11.4 zwischen 0,95 und 0,90
Merkmal (5) Hypothese
Merkmal
Beobachtet B
Erwartet E
|B-E|-1/2 = A
3/4 1/4
dunkelgrün gelb
428 151
434 145
5,5 5,5
A2/E = χ2 0,0697 0,2086 Σ χ2 = 0,2783
p liegt nach Tabelle 11.4 zwischen 0,7 und 0,5
11.3 Mendel aus heutiger Sicht – Ergänzungen seiner Regeln Mendel hat durch seine Versuche das Prinzip der Vererbung verstehen gelernt und es in beeindruckender Weise wissenschaftlich dokumentiert. Obwohl vielerlei Einzelbeobachtungen über die Vererbung von Eigenschaften bereits vor ihm beschrieben worden waren, haben diese einen rein deskriptiven Charakter behalten, und es ist erst ihm gelungen, seine Beobachtungen durch eine sorgfältige Wahl des Versuchsmaterials und durch die Anwendung statistischer Methoden in einem theoretischen Konzept zusammenzufassen und in einen kausalen Zusammenhang zu bringen. In den letzten Jahren ist in der wissenschaftlichen Literatur wiederholt Kritik an Mendel geübt worden, und man hat die Korrektheit seiner Daten aus statistischer Sicht angezweifelt. Die quantitativen Analysen der Kreuzungsdaten geben eine von der Zufallserwartung abweichende Verteilung, die wohl nur damit erklärt werden kann, dass Mendel stark abweichende Ergebnisse in seine publizierten Datensammlungen nicht eingeschlossen hat. Der Vorwurf besteht also letztlich darin, dass Mendel seine Ergebnisse manipuliert hat, um seine Schlüsse deutlicher herauszustellen. Es erscheint durchaus denkbar, dass Mendel in der Tat
extrem abweichende Kreuzungsdaten nicht in seine Dokumentation einbezogen hat. Nach unseren heutigen Vorstellungen muss das als Manipulation angesehen werden. Ganz unabhängig von der Frage, ob die Behauptung der Manipulation gerechtfertigt ist, geht die Kritik an der Tatsache vorbei, dass Mendel auf der Grundlage seiner Beobachtungen Erkenntnisse formulieren konnte, die völliges Neuland in der Biologie darstellten und die sich als sachlich richtig erwiesen haben. Es lässt sich heute kaum ermessen, welchen Stellenwert biologische Experimente, und zudem die Auswertung quantitativer Daten, zu einer Zeit hatten, in der die Biologie als rein deskriptive Wissenschaft betrieben wurde. Es ist zudem ein fragwürdiger Versuch, die wissenschaftliche Aufrichtigkeit Mendels mit den Augen moderner Wissenschaftler zu beurteilen. Uns kommt aufgrund der sich in den letzten Jahren stets zunehmenden Häufigkeit versuchter Manipulation von Daten ein solcher Verdacht nur allzu leicht auf, zumindest, wenn es sich um Ergebnisse von grundlegender Bedeutung handelt. Wir müssen uns jedoch vor Augen halten, dass der Stellenwert der Wissenschaft zu Mendels Zeit zu gering war, als dass die Manipulation von Daten von irgendeinem Vorteil gewesen wäre oder praktische Bedeutung gehabt hätte. Die Bedeutungslosigkeit der Mendel’schen Befunde für nahezu ein halbes Jahrhundert spricht für sich selbst.
445
446
Kapitel 11: Formalgenetik
Obwohl sich Mendels Interpretationen seiner Versuchsergebnisse auch von unserer heutigen Kenntnis der molekularen Grundlagen der Vererbung her als richtig erwiesen haben, lassen sich einige Beobachtungen über die Vererbung bestimmter Merkmale nicht ohne zusätzliches Wissen verstehen. Man hat daher bisweilen von „Ausnahmen von den Mendel’schen Regeln“ gesprochen, um anscheinend abweichende Erbgänge zu erklären. Die Bezeichnung „Ausnahme“ wird jedoch den Tatsachen nicht gerecht: Die Grundannahme Mendels, dass ein Wechsel zwischen Diploidie und Haploidie besteht und dass Merkmale bei der Bildung der Gameten im Prinzip unabhängig voneinander verteilt werden, behält auch für scheinbar abweichende Vererbungsphänomene ihre prinzipielle Geltung. Die vermeintlichen Ausnahmen sind dadurch bedingt, dass zusätzliche Eigenschaften im Charakter und in der Art der Verteilung des genetischen Materials vorliegen, die Mendels Regeln nicht erfassen. Diese Regeln bedürfen daher der Ergänzung.
11.3.1 Unvollständige Dominanz und Codominanz Ein Beispiel für eine scheinbare Ausnahme von den Mendel’schen Regeln bietet die Blütenfarbe der Wunderblume Mirabilis jalapa,
P
F1
F2
wenn man eine reine weiße und eine reine rote Rasse kreuzt (Abb. 11.10). Die F1-Hybriden sind weder weiß noch rot, wie nach Mendel zu erwarten wäre, sondern rosa. Sie zeigen also eine Merkmalsausprägung, die wie eine Mischung der Elternmerkmale aussieht. Man hat diese Art der Vererbung daher früher auch als intermediär bezeichnet. Kreuzt man solche F1-Hybriden untereinander, so findet man unter den Nachkommen solche mit weißer, mit roter und mit rosa Blütenfarbe. Die relativen Anzahlen dieser drei Merkmalstypen entsprechen denen, die nach den Mendel’schen Regeln für eine Aufspaltung erwartet werden (1:2:1, s. Abb. 11.5). Allerdings bedürfen alle neu beobachteten Phänotypen einer sorgfältigen Überprüfung der 1:2:1Aufspaltung hinsichtlich ihres monogenen Charakters, um sie von ähnlichen Aufspaltungen zu unterscheiden, die durch Interaktionen zwischen mehreren Genpaaren hervorgerufen werden können. Dies ist anhand einer Analyse der F3-Nachkommen in einfacher Weise möglich: Die als homozygot beurteilten F2-Individuen dürfen nach einer inter-se-Kreuzung in der F3-Generation niemals eine Aufspaltung zeigen, während die als heterozygot eingestuften Individuen stets erneut eine 1:2:1-Aufspaltung zeigen. Zurück zur Wunderblume: Die Pflanzen mit weißen und roten Blüten erweisen sich in weiteren Kreuzungen als homozygot, während Pflanzen mit rosa
Abb. 11.10. Unvollständige Dominanz. Bei Kreuzung einer roten und einer weißen Rasse der Wunderblume Mirabilis jalapa zeigt die F1 eine rosa Blütenfarbe. Kreuzungen der F1 untereinander führt in der F2 zur Aufspaltung in Pflanzen mit roten, rosa und weißen Blüten im Verhältnis 1:2:1. Die heterozygoten und die homozygoten Konstitutionen sind also zu unterscheiden und lassen im Gegensatz zu Kreuzungen von Heterozygoten mit einem dominanten und einem rezessiven Allel die Zahlenverhältnisse der verschiedenen Genotypen direkt erkennen (vgl. Abb. 11.5). (Nach Kühn 1965)
11.3 Mendel aus heutiger Sicht – Ergänzungen seiner Regeln
Blüten stets wieder in gleicher Weise in Nachkommen mit weißer, roter und rosa Blütenfarbe aufspalten (s. Abb. 11.5). Das zeigt uns, dass die rosa Farbe durch das Zusammenspiel beider Allele, dem für weiße und dem für rote Blütenfarbe, zustande kommt. Von unserem heutigen Wissen lässt sich diese Erscheinung relativ leicht verstehen: Das Allel für weiße Farbe ist nicht in der Lage, überhaupt Pigment zu erzeugen, während das für rote Farbe in heterozygotem Zustand nicht genügend roten Farbstoff zu bilden vermag, so dass eine Zwischenfarbe als Merkmal entsteht. Für diesen Fall erscheint die Bezeichnung intermediäre Vererbung durchaus als angemessen. Wir werden jedoch noch sehen, dass die Vererbungsverhältnisse nicht immer so leicht zu überblicken sind. Beispielsweise führt die Kreuzung von weißäugigen und rotäugigen D. melanogaster durchaus nicht zu Nachkommen mit rosa Augen (s. S. 455). Außerdem lässt sich eine „gemischte“ Ausprägung eines Merkmals oft nicht ohne weiteres erkennen. Man bezeichnet daher diese Art eines Erbganges heute etwas neutraler als unvollständig dominant. In unserem Beispiel hat sowohl das Allel für rote Blütenfarbe als auch das für weiße Blütenfarbe den Charakter einer unvollständigen Dominanz: Keines von beiden herrscht in der Ausprägung vollständig vor. Übrigens hat Mendel in seinen Experimenten bereits beobachtet, dass eine solche Mischung von Merkmalscharakteren vorkommt, allerdings nicht bei Pisum sativum, sondern bei Phaseolus-Arten. „Aber auch diese räthselhafte Erscheinungen würden sich wahrscheinlich nach den für Pisum geltenden Gesetzen erklären lassen, wenn man voraussetzen dürfte, dass die Blumen- und Samenfarbe des Ph. multiflorus aus zwei oder mehreren ganz selbständigen Farben zusammengesetzt sei, die sich einzeln ebenso verhalten, wie jedes andere constante Merkmal an der Pflanze“ (Mendel 1866). Mendel neigt also dazu, seine abweichenden Beobachtungen nicht mit Mischung (unvollständiger Dominanz) der Merkmale, sondern durch eine multifaktorielle Vererbung zu erklären. Eine Überraschung erlebten allerdings Lolle und Mitarbeiter (2005), als sie eine Mutante bei Arabidopsis untersuchten, die Fusionen der Blüte zeigt (engl. HOTHEAD, Gensymbol HTH). Die Autoren haben insgesamt 11 Mutationen an diesem Genort entdeckt. Wenn sie nun homozygote Mutanten durch Selbstbestäubung weiterzüchten wollten, traten unter den Nachkommen WildtypPflanzen auf, und zwar mit einer Häufigkeit von
10–1 bis 10–2. Die molekulare Analyse zeigte in allen Fällen, dass diese Wildtyp-Nachkommen heterozygote HTH-Gene tragen. Noch komplizierter wird die Sache durch den Befund, dass dieses Phänomen wohl im Wesentlichen über die männliche Keimbahn (den Pollen) hervorgerufen wird. Die weitere Analyse zeigte, dass die Reversion zum Wildtyp mit gängigen Hypothesen (verminderte Penetranz, Epistasie, Genkonversion) nicht erklärbar ist. Die Autoren spekulieren deshalb über einen „Speicher“, in dem die genetische Information früherer Generationen aufbewahrt wird. ! Bestimmte Allele erzeugen bei Heterozygotie einen neuen Phänotyp, der als eine Mischung der Eigenschaften beider Allele angesehen werden kann. Man bezeichnet eine solche Merkmalsausprägung als unvollständige Dominanz der Allele.
Wir haben nun gesehen, dass die klassische Einteilung von Merkmalsformen in solche mit rezessiven und dominanten Eigenschaften der tatsächlichen Vielfalt der Merkmalsausprägung nicht genüge tut. Unser Beispiel von unvollständiger Dominanz haben wir zunächst mit der Möglichkeit erklärt, dass eines der beiden Allele nicht wirksam ist und dass das andere Allel nicht im Stande ist, den Ausfall dieses Allels funktionell völlig zu kompensieren. Nun könnte man aber auch annehmen, dass jedes von zwei Allelen funktionell, jedoch jeweils für eine etwas anders geartete Merkmalsausprägung verantwortlich ist. In diesem Fall könnten stets beide Allele voll zur Ausprägung kommen, unabhängig davon, ob sie homozygot oder heterozygot vorliegen. Eine solche Situation lässt sich aus dem Bereich der Humangenetik besonders gut veranschaulichen. Wir wollen dazu das Beispiel der verschiedenen Blutgruppenallele des AB0Blutgruppensystems betrachten. Die unterschiedlichen Blutgruppenarten A, B, AB und 0 werden mit Hilfe immunologischer Methoden identifiziert. Wir wissen heute, dass man auf diese Weise verschiedene Modifikationen durch komplexe Kohlenhydrate an Oberflächenproteinen der Erythrocytenmembran erkennt. Diese unterscheiden sich bei den Blutgruppenallelen A, B und 0 (Abb. 11.11). Während das Allel (IA), welches die Blutgruppe A bestimmt, ein Enzym kodiert, das einen α-N-Acetyl-D-glucosamin-Rest an
447
448
Kapitel 11: Formalgenetik P
F1
P
F1
Abb. 11.11. Molekulare Struktur der Oberflächenantigene des AB0-Blutgruppensystems. Die Blutgruppenspezifität liegt in dem hier dargestellten Bereich von Glykoproteinmolekülen. An der Erythrocytenmembran formen die hier gezeigten Gruppen Teile von Glykosphingolipoiden. Das A-Antigen unterscheidet sich vom B-Antigen lediglich in einer N-Acetylgruppe. (Nach Löffler u. Petrides 2003)
das Zelloberflächenprotein anheftet, wird von dem Allel (IB), das die Blutgruppe B bestimmt, ein Enzym hervorgebracht, das einen α-D-Glucose-Rest anheftet. Das Allel 0 (I0) ruft keine solche Modifikationen der Membranoberflächenproteine hervor. Glykosidgruppen sind sehr immunogen und induzieren, z. B. nach Injektion in Kaninchen, eine intensive Antikörperproduktion. Mit Hilfe solcher Antikörper sind Glykosidgruppen an den Erythrocytenmembranen leicht nachweisbar, da sie eine Agglutination der Erythrocyten bewirken. Das ist auch die Ursache, warum Bluttransfusionen beim Menschen in Fällen unterschiedlicher Blutgruppencharaktere gegebenenfalls zu Unverträglichkeiten führen: Werden beispielsweise in ein Individuum mit der Blutgruppeneigenschaft A Erythrocyten mit dem Blutgruppenantigen B transfusiert, so beginnt das
HH I A IB
x
HH I 0 I 0
AB
0
HH I A I 0
HH I B I 0
A
B
hh I A I B
x
HH I 0 I 0
0
0
Hh I A I 0
Hh I B I 0
A
B
Abb. 11.12. Erbgang der Blutgruppenallele AB0 und des Blutgruppenantigens H. Dieses Schema zeigt zur Ergänzung und Erweiterung von Tabelle 11.6 die Genetik des Antigens H (H), eines Glykoproteins, das als Träger der A- und B-Antigene (s. Abb. 11.11) dient. Bei einer Blutgruppenkonstitution 0 ist das HAntigen vorhanden, trägt aber keine A- oder B-Antigene, da diese wegen des Fehlens funktionsfähiger Gene nicht gebildet werden. Erwartungsgemäß gibt es auch defekte H-Antigenallele (h). Sind diese homozygot (hh), können die A- oder B-Antigene nicht an das H-Antigen gebunden werden, so dass das betreffende Individuum einen Blutgruppentyp 0 besitzt, obwohl es funktionsfähige A- oder B-Antigene (oder beide) besitzt! Es treten hierdurch nicht erwartete Blutgruppe-0-Phänotypen (rot) auf. Es können also bei Eltern, die beide einen Blutgruppe0-Phänotyp besitzen, oder bei Eltern, bei denen ein Partner die Blutgruppe 0 besitzt, unerwartete Blutgruppenkonstitutionen bei den Nachkommen auftreten, die ihre Ursache in einem homozygot defekten H-Antigengen (hh) bei den Eltern haben
Immunsystem mit einer Antikörperproduktion (s. S. 545) gegen diese organismusfremden Erythrocyten: Die entstehenden Antikörper verursachen eine Agglutination der Erythrocyten. Betrachten wir uns nun die Genetik des AB0-Blutgruppensystems, so ist diese aus dem zuvor Gesagten leicht zu verstehen (Abb. 11.12): Im diploiden Zustand sind jeweils zwei der drei Allele, IA, IB oder I0, vorhanden. Möglich sind also die in Tabelle 11.6 enthaltenen Genotypen IA/IA, IB/IB, IA/IB, I0/IA, I0/IB und I0/I0. Diese werden durch die ebenfalls in der Tabelle angegebenen speziellen Zelloberflächenantigene charakterisiert. So reagieren die Erythrocyten homozygoter IA/IA- oder heterozygoter I0/IA-Individuen mit Anti-AAntiserum, die Erythrocyten homozygoter IB/IB- und heterozygoter I0/IB-Individuen mit Anti-B-Antiserum und die Erythrocyten heterozygoter IA/IB-Individuen
11.3 Mendel aus heutiger Sicht – Ergänzungen seiner Regeln
Tabelle 11.6. Blutgruppenkonstitutionen und Immunreaktionen Genotyp
Oberflächenantigen
Antikörperbildung
IA/IA oder IA/I0
A
Anti-B
IB/IB oder IB/I0
B
Anti-A
IA/IB
A und B
keine
I0/I0
keine
Anti-A und Anti-B
sowohl mit Anti-A- als auch mit Anti-B-Antiserum. Homozygote I0/I0-Erythrocyten hingegen agglutinieren mit keinem der Antikörper. Es muss hier noch darauf hingewiesen werden, dass der Begriff Antigen nicht mit dem Genbegriff der Genetik verwechselt werden darf, sondern ein Begriff aus der Immunologie ist (s. S. 543). Dieses Beispiel lehrt uns, dass bestimmte Merkmale, wie hier die Blutgruppenantigene, gleichwertig im Phänotyp zur Ausprägung kommen, also keine Beziehungen zueinander zeigen,die durch die Begriffe „rezessiv“ oder „dominant“ beschrieben werden können. Vielmehr sind beide dominant, d. h. sie kommen bei ihrer Anwesenheit im Genom unabhängig von der Konstitution des zweiten Allels auch voll zur Ausprägung. Man bezeichnet solche Merkmale als codominant. ! In Fällen, in denen zwei Allele ihren jeweiligen
Charakter nebeneinander im Phänotyp ausprägen, sprechen wir von Codominanz der Allele.
11.3.2 Multiple Allelie Aus den vorangegangenen Beispielen für die unterschiedliche Ausprägung von verschiedenen Allelen bestimmter Merkmale können wir ableiten, dass es nicht nur zwei Ausführungen eines Merkmals gibt, sondern sehr unterschiedliche Formen von Allelen. Man kann nach der Art der Ausprägung verschiedene Arten von Allelen unterscheiden (Muller 1932), wobei
diese Arten der Ausprägung nicht immer ganz eindeutig sind. So gibt es Allele, • die nicht funktionsfähig sind (Nullallele). Sie werden vielfach auch als amorphe Allele bezeichnet, da durch den Ausfall einer Funktion der Phänotyp oft zerstört wird; • die nur partiell funktionell sind (hypomorphe Allele, s. S. 675). Sie zeigen einen variablen Phänotyp; • die über das normale Maß hinaus aktiv sind (hypermorphe Allele); • die als Antagonisten zu den Wildtypallelen wirken (antimorphe Allele); • die voll funktionell, aber für eine veränderte Eigenschaft verantwortlich sind (neomorphe Allele, s. S.450).Sie zeigen einen neuen Phänotyp,der sich qualitativ von dem des Wildtyps unterscheidet. Die verschiedenen Arten von Allelen können im Prinzip bei jedem Gen vorkommen; es gibt also eine sehr große mögliche Anzahl unterschiedlicher Allele für jedes Merkmal. Wir fassen die Erscheinung der Möglichkeit zur Ausbildung so verschiedenartiger Allele nach der Definition von T.H. Morgan unter dem Begriff der multiplen Allelie zusammen. So sind beispielsweise für das wichtige Kontrollgen der Augenentwicklung, PAX6, bis jetzt über 300 verschiedene Allele bekannt, und für das F8-Gen, dessen Mutationen für die Ausprägung der Bluterkrankheit (Hämophilie A) verantwortlich sind, über 700 verschiedene Allele. Diese verschiedenen Allele sind in öffentlichen Datenbanken allgemein zugänglich (http://pax6. hgu.mrc. ac.uk; http://europium.csc. mrc. ac.uk. Es ist an dieser Stelle allerdings hilfreich, sich noch etwas genauer über die Wirkungsmöglichkeiten verschiedener Allele Gedanken zu machen. So lassen sich die o. g. Kategorien der amorphen und hypomorphen Allele auch unter dem Gesichtspunkt des Funktionsverlusts (engl. loss of function) zusammenfassen. Wenn das verbleibende, funktionsfähige Allel aber nicht ausreicht, die Genfunktion aufrecht zu erhalten, sprechen wir auch von Haploinsuffizienz. Allele, die Haploinsuffizienz zeigen, fallen in zwei Kategorien: Einige wenige kodieren für große Mengen gewebespezifischer Proteine (z. B. Typ-I-Collagen, Globin), andere betreffen regulatorische Proteine, die nahe an ihrem Schwellenwert arbeiten. Dies betrifft eine Reihe von Transkriptionsfaktoren wie Pax3 oder Pax6. Einen Überblick über die Zusammenhänge
449
450
Kapitel 11: Formalgenetik
der älteren Nomenklatur nach Muller und neueren molekularen Mechanismen gibt Abb. 11.13. Die anderen Kategorien (hypermorph, antimorph und neomorph) sind mit einer Änderung der Funktion verbunden (engl. gain of function). Ein Spezialfall dieses Mutationstyps wird auch als „dominant negativ“ bezeichnet: So kann es beispielsweise für die Aktivität eines Proteins notwendig sein, dass es dimerisiert. Die Mischung der Proteine des Wildtypund Mutantenallels im Verhältnis von 1:1 (wie es bei Heterozygoten der Fall ist) führt aber dann nur zu 25% normalen Dimeren, während 75% eine veränderte Funktion aufweisen. Für monomere Proteine können dominant-negative Effekte auftreten, wenn die Verfügbarkeit eines Substrats der geschwindigkeitsbestimmende Schritt in einer Reaktionskette ist: Eine Mutation führt beispielsweise dazu, dass ein Enzym das Substrat zwar noch binden, aber nicht mehr umsetzen kann. Dies gilt nicht nur für komplexe Stoffwechselwege, sondern auch für Signal-
kaskaden und Funktionen in der Transkriptionskontrolle. Es ist für das Verständnis von Erbvorgängen und die richtige Interpretation von Merkmalsanalysen entscheidend, sich zu vergegenwärtigen, dass nicht das Vorkommen zweier unterschiedlicher Allele, wie es vielleicht durch die Erscheinung der Diploidie impliziert werden könnte, sondern die multiple Allelie in einer Population der Normalfall ist. Das Vorkommen verschiedener Allele mit unterschiedlichen Konsequenzen für den Phänotyp (beim Menschen oftmals verbunden mit unterschiedlichen Formen oder Schweregraden der Erkrankung) ist auch für das funktionelle Verständnis der betroffenen Domänen des jeweiligen Proteins von besonderer Bedeutung. Tabelle 11.7 verdeutlicht das am Beispiel des Gens, das für den „Mikrophthalmie-assoziierten Transkriptionsfaktor“ (Mitf) kodiert. Wie der Name andeutet, führen Mutationen oft zu kleinen Augen (bei Mäusen, Hamstern, Menschen); es wird aber deutlich, dass
Abb. 11.13. Zusammenhang zwischen genetischen und molekularen Mechanismen von Dominanz. (Nach Wilkie 1994)
11.3 Mendel aus heutiger Sicht – Ergänzungen seiner Regeln
Tabelle 11.7.
Multiple Allelie des Mitf-Gens der Maus
Allel
Phänotyp
Unvollständige Dominanz:
Heterozygot
Molekularer Defekt Homozygot
Mitf or (Oak Ridge)
leichte Abschwächung der Haarfarbe, blasse Ohren und Schwanz, Bauchstreifen oder Kopfflecken.
weiße Haut, kleine oder abwesende Augen, Probleme beim Durchbruch der Schneidezähne, Osteopetrosis
Arg216Lys
Mitf wh (white)
Abschwächung der Haarfarbe, verminderte Pigmentierung am Auge, Flecken an Zehen, Schwanz und Bauch, Innenohrdefekte, keine Melanocyten in der Haut
weiße Haut, kleine Augen, innere Iris schwach pigmentiert, Spinalganglien kleiner als normal, Innenohrdefekte, Mastzell-Defizienz
Ile212Asn
Mitf ws (white spot)
weißer Bauchfleck; Zehen und Schwanz oft weiß
weiße Haut, rote Augen von annähernd normaler Größe
Deletion am N-Terminus
Mitf ew (eyeless-white)
ohne Befund
weiße Haut, Augen meist nicht gebildet, Augenlider geschlossen
Deletion
Mitf ce (cloudy-eyed)
ohne Befund
weiße Haut, blasse und kleine Augen (neblig weiß), Innenohrdefekte
Arg263Stop
Mitf rw (red-eyed white)
ohne Befund
weiße Haut mit einem oder mehreren pigmentierten Flecken am Kopf und /oder Schwanz, kleine rote Augen
Deletion im 5’-Bereich
Mitf vit (vitiligo)
ohne Befund
die ersten Haare haben noch Flecken am Brust und Bauch; späte graduelle Depigmentierung; retinale Degeneration
Asp222Asn
ohne Befund
ohne besonderen Befund; verminderte Tyrosinase-Aktivität in der Haut
Insertion von C; Spleißing-Effekt: 18 bp alternatives Exon
Rezessiv:
Kein Phänotyp: Mitf sp (spotted)
Nach Steingrimsson et al. (1994)
451
452
Kapitel 11: Formalgenetik
die Auswirkungen der verschiedenen Allele ein sehr breites Spektrum aufweisen.Nicht jede Mutation führt zu einem veränderten Phänotyp (bzw. zum Ausbruch einer Krankheit). Inwieweit solche Polymorphismen aber empfindlicher gegenüber bestimmten Erkrankungen machen, wird derzeit von der genetischen Epidemiologie bei der Analyse multifaktorieller Krankheiten, wie Asthma, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Allergien, untersucht. Das Vorkommen unterschiedlicher Allele eines Merkmals erfordert eine klare Nomenklatur zu ihrer Kennzeichnung. Man hat sich darauf geeinigt, das am häufigsten vorkommende Allel als Wildtypallel zu bezeichnen. Es wird in genetischer Schreibweise durch den Zusatz eines „+“-Zeichens zur Genbezeichnung (z. B. w+) oder einfach durch ein „+“ in der genetischen Formel gekennzeichnet (z. B. w/+ statt w/w+). Mutante Allele, d. h. vom Wildtyp abweichende Allele, werden durch die Genbezeichnung (z. B. w) und gegebenenfalls durch eine nähere Bezeichnung des Allels (z. B. wa für white apricot) gekennzeichnet. Generell werden Gene und ihre Symbole kursiv gesetzt; die entsprechenden Abkürzungen für die Proteine bleiben aber zur Unterscheidung unverändert (z. B. Mitf – Gen; Mitf – Protein). Rezessive Gene werden durch einen kleinen Anfangsbuchstaben gekennzeichnet, dominante Gene haben eine großen Anfangsbuchstaben. Menschliche Gensymbole erscheinen im Unterschied zu denen der Maus in der Regel immer mit Großbuchstaben. Es gibt aber zunehmend auch den Versuch, dasselbe Gensymbol mit dem Zusatz „h“ (für human),„m“ (für mouse),„d“ (für Drosophila),„x“ (für Xenopus) oder „z“ (für Zebrafisch) zu kennzeichnen. ! Wir sprechen von multipler Allelie, wenn mehrere Allele eines Merkmals vorhanden sind. Grundsätzlich muss multiple Allelie für alle Merkmale als gegeben angesehen werden, da jede Veränderung im Gen ein eigenes Allel hervorbringt, unabhängig davon, ob man es in seiner phänotypischen Ausprägung von anderen Allelen unterscheiden kann oder nicht.
11.3.3 Der Ausprägungsgrad von Merkmalen Vergleichen wir verschiedene Individuen hinsichtlich der Ausprägung bestimmter Merkmale miteinander,
so können wir bisweilen feststellen, dass sie sich in der Intensität der Ausprägung unterscheiden. Zeigt ein Teil der Individuen gleichen Genotyps die erwartete Merkmalsform nicht, spricht man von unvollständiger Penetranz (geringer als 100%). Sind alle Individuen des gleichen Genotyps identisch, ist die Penetranz vollständig (oder 100%). Diese Kennzeichnung kann sowohl auf dominante als auch auf rezessive oder unvollständig dominante Allele angewendet werden. Man beachte aber, dass die Penetranz ein „Alles-oder-Nichts-Phänomen“ ist: Individuen zeigen den Phänotyp oder nicht. Als Beispiel für eine unvollständige Penetranz können wir die Myoclonus-Dystonie beim Menschen betrachten. Diese Krankheit ist eine Bewegungsstörung, die durch eine Kombination von schnellen, kurzen Muskelkontraktionen (Myoclonus) und anhaltendem Verdrehen und wiederholten Bewegungen charakterisiert ist, was zu ungewöhnlichen Körperhaltungen führt. Die Krankheit wird durch Mutationen im ε-Sarcoglykan-Gen verursacht. Kürzlich wurde berichtet, dass bei einem paternalen Erbgang die Penetranz der Erkrankung vermindert ist: Der Vater war klinisch unauffällig,aber der Träger der Mutation. Die Erklärung dafür ist maternales Imprinting, das das mutierte Gen im Vater offensichtlich stillgelegt hat und einen autosomalrezessiven Erbgang vortäuschte (Müller et al. 2002). Die Autoren vermuten, dass die Großmutter (die für die Analyse nicht mehr zur Verfügung stand) das mutierte, aber durch Imprinting stillgelegte Gen auf ihren Sohn übertragen haben könnte. In der männlichen Keimbahn wird das Imprinting aufgelöst, und bei den Kindern wird dadurch die Mutation wieder wirksam.Vermutlich liefert die Analyse solcher nichtmendelnder Erbgänge unter epigenetischen Gesichtspunkten (vgl. Kap. 12.2) in vielen Fällen eine Erklärung für zunächst nicht erklärbare Phänomene wie verminderte Penetranz, wobei die klinische Erkrankung eine oder mehrere Generationen überspringt. Dies erschwert dann die genetische Beratung (Abb. 11.14). Unter der Expressivität verstehen wir dagegen den Grad der Ausprägung eines Merkmals. Auch hier kann die unvollständige Expression auf Faktoren im Genom oder der Umwelt zurückzuführen sein. Als Beispiel kann eine Form der Mikrophthalmie der Maus dienen, die als „Small Eye“ in die Literatur eingegangen ist und durch eine Mutation in dem Hauptkontrollgen der
11.3 Mendel aus heutiger Sicht – Ergänzungen seiner Regeln
Experimente sind Merkmale mit wechselnder Expressivität und unvollständiger Penetranz meist wenig geeignet.
Abb. 11.14. Fehlende Penetranz in einem Stammbaum für ein dominantes Gen. Das Individuum II.1 muss das Gen (ausgefülltes Symbol) tragen, weil es an die Nachkommen III.2 und III.3 weitergegeben wurde, obwohl es phänotypisch nicht zum Ausdruck kommt. Aufgrund dieser verringerten Penetranz kann man nicht sicher sein, ob andere Mitglieder der Familie das Gen auch enthalten oder nicht
Augenentwicklung, Pax6, verursacht wird. Selbst wenn wir nur jeweils ein Allel betrachten, fällt auf, dass heterozygote Tiere verschiedene Schweregrade zeigen (z. B. unterschiedliche Augengröße, Hornhautund/oder Linsentrübung, Verbindung zwischen Hornhaut und Linse). Oftmals ist die beobachtete Variabilität noch größer, wenn die Mutation in verschiedene Laborstämme eingekreuzt wird (homozygote Tiere sind nicht lebensfähig). Wir haben also gesehen, dass sich gleiche Allele unter bestimmten Bedingungen nicht immer in gleicher Form auswirken. Man hat dafür auch den Begriff der Reaktionsnorm geprägt, der zum Ausdruck bringt, wie Umwelteinflüsse (z. B. Licht, Temperatur, Nährstoffangebot, Standort) die Ausprägung der Phänotypen bei einem gegebenen, konstanten Genotyp beeinflussen. Ein klassisches Beispiel dafür ist die Augengröße von Drosophila (ausgedrückt in der Anzahl der Ommatiden), die mit der Temperatur abnimmt. Das Allel Bi (infrabar) bedingt im Prinzip schmalere Augen mit einer verringerten Anzahl an Ommatiden; eine Erhöhung der Temperatur führt hier jedoch zu einer leichten Vergrößerung der Augen. Die Mutation Ultrabar hat zwar bei 15 oC etwa gleich große Augen wie infrabar, bei Erhöhung der Temperatur verringert sich allerdings die Augengröße noch schneller als im Wildtyp. Penetranz und Expressivität werden also sowohl von anderen genetischen Faktoren als auch von der Umwelt beeinflusst und bereiten einer genetischen Analyse daher oft große Probleme. Für genetische
! Allele können in allen oder nur in einzelnen Individuen zur Ausprägung kommen, je nachdem, ob ihre Penetranz vollständig oder reduziert ist. Auch der Grad der Ausprägung eines Merkmals kann variieren. Dieser Grad der Ausprägung wird als Grad der Expressivität eines Allels bezeichnet.
In unseren bisherigen Beispielen für die verschiedenen Arten von Genfunktionen sind wir davon ausgegangen, dass die Wirkung eines Gens auf ein oder mehrere Merkmale unabhängig von der Funktion anderer Gene ist. Diese Annahme ist jedoch fragwürdig. Vielmehr müssen wir davon ausgehen, dass viele Merkmale durch Wechselwirkungen mehrerer Gene hervorgerufen werden können. Für diese Wechselwirkung verschiedener Gene zur Ausprägung eines Phänotyps wurde von Bateson (1909) der Begriff Epistasie geprägt. Im engeren Sinn versteht man darunter allerdings die Wechselwirkung zweier nicht-alleler Gene, wobei das eine Gen die Wirkung des anderen unterdrückt. Dadurch verändert sich die in der F2-Generation beobachtete Aufspaltung gegenüber den nach den Mendel’schen Gesetzen erwarteten Werten von 9:3:3:1 (dihybride Kreuzungen) zu 15:1, 9:7, 12:3:1 oder 13:3. Die Kreuzung von Linien mit klaren parentalen Phänotypen und erwarteten Aufspaltungen erlaubt daher, Hierarchien in Genwirkungsketten aufzubauen. Oftmals legen derartige genetische Experimente die Grundlagen für die spätere biochemische Aufklärung der entsprechenden Mechanismen. Die Analyse epistatischer Phänomene hat in den letzten Jahren besonders bei der Erforschung komplexer Erkrankungen des Menschen an Bedeutung gewonnen (Cordell 2002; s. Kap.14.4). Die Folgen eines relativ einfachen Zusammenspiels mehrerer Gene können wir uns an einem Stoffwechselprozess verdeutlichen, der bereits relativ frühzeitig in der Geschichte der Drosophila-Genetik aufgeklärt wurde.In Abb.11.15 ist der Stoffwechselweg für eine Farbstoffklasse dargestellt, die Ommochrome genannt wird. Diese Farbstoffe formen die Hauptpigmente der Augen und einiger innerer Organe von Insekten. Sie kommen jedoch auch in vielen
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454
Kapitel 11: Formalgenetik Abb. 11.15 a,b. Augenfarbstoffe (Xanthommatin) von Drosophila melanogaster und die Augenfarbenmutanten vermilion (v) und cinnabar (cn). a Stoffwechselweg des Tryptophans mit den zugehörigen Enzymen, ihren Genen und der phänotypischen Ausprägung von Mutationen. b Umsetzung von L-Tryptophan in Xanthommatin
11.3 Mendel aus heutiger Sicht – Ergänzungen seiner Regeln
anderen Arthropoden sowie in Mollusken vor, hier hauptsächlich im Pigment des Integuments. In den Metamorphosesekreten vieler Arthropoden sind sie möglicherweise als biologische Endprodukte des Tryptophanstoffwechsels bei Tryptophanüberschuss vorhanden. Das gilt insbesondere für Insekten, die eine geringere Auswahl zwischen verschiedenen Tryptophanstoffwechselwegen haben als andere Organismen. Es gibt in den Komplexaugen der Insekten noch eine zweite Gruppe von Augenfarbstoffen, die Drosopterine (Pteridinfarbstoffe). Sie verleihen den Augen einen roten Farbanteil,während Ommochrome bräunliche Pigmenttöne verursachen. Der Ausfall von Drosopterin führt bei normaler Ausbildung von Ommochromen daher zu bräunlichen Augentönen. Beide Pigmentsorten sind für die Augenfunktion wichtig, da sie die Abschirmung des Lichteinfalls zwischen den Ommatidien herstellen. Die Abb. 11.15 zeigt,dass die Ommochrome,ausgehend von der Aminosäure Tryptophan, durch mehrere enzymatisch katalysierte Schritte geformt werden. Aus der Drosophila-Genetik sind uns verschiedene Augenfarbenmutanten bekannt, deren Untersuchung ergeben hat, dass sie auf Defekten im Stoffwechselprozess der Ommochrome beruhen. Der Ausfall eines Enzyms führt zu einem Block in diesem Stoffwechselweg. Werden überhaupt keine Ommochrome gebildet, kommen nur noch die durch die Drosopterine verursachten Farben zur Geltung. Die Augen sind dann leuchtend rot, wie es bei der Mutation vermilion (v) der Fall ist, wenn sie homozygot (v/v) vorliegt. Hier ist das Enzym Tryptophanpyrrolase (oder Tryptophanoxygenase) nicht mehr funktionell (Abb. 11.15), und alle späteren Schritte des Stoffwechselweges sind damit blockiert. In der Mutante cinnabar (cn), die homozygot hellrote Augen zeigt, ist das Enzym Kynurenin-3Hydroxylase, das die Umsetzung von Kynurenin in 3-Hydroxykynurenin katalysiert, nicht funktionsfähig. Wie man leicht erkennen kann, wirkt sich eine Mutation in cinnabar (cn/cn) aber dann nicht mehr aus, wenn bereits eine homozygot mutante Konstitution in vermilion (v/v) vorliegt (Genotyp also: cn/cn; v/v. Phänotyp: vermilion). Der Phänotyp der Doppelmutante unterscheidet sich nicht von dem der Einfachmutante (Genotyp: cn+/cn+; v/v. Phänotyp: vermilion). Hingegen ist aus dem Stoffwechselschema leicht zu verstehen, dass die alternative Einfachmutante (cn/cn; v+/v+) sehr wohl einen anderen Phänotyp (nämlich cinnabar) aufweist (Tabelle
11.8). Entscheidend ist also, an welcher Stelle in der Hierarchie des Stoffwechselweges die Mutation liegt. Mutationen in frühen, übergeordneten Stufen überdecken solche auf späteren, nachgeordneten Stufen. Die Mutation vermilion ist also funktionell epistatisch über cinnabar. Die Erscheinung der Epistasie von Mutationen ist für alle Stoffwechselwege zu erwarten, wenn nicht Teile davon auf Nebenwegen umgangen werden können. Am Beispiel der Augenfarbe von Drosophila lässt sich noch ein weiterer Fall von Epistasie darstellen, der uns einen zusätzlichen Einblick in das funktionelle Zusammenwirken von Genen verschafft. Für die Augenfarbe ist es nicht allein erforderlich, dass die Pigmente gebildet werden, sondern diese müssen auch an ihre zellulären Positionen gebracht und dort fixiert werden. Eine Rolle in diesem Lokalisationsprozess der Augenfarbstoffe spielt das uns bereits bekannte Gen white (w), das im X-Chromosom von Drosophila liegt (s. S. 205). Sein Produkt ist ein Membranprotein, das die Pigmente in den Zellmembranen der Pigmentzellen des Auges festhält. Wird es nicht synthetisiert, können die Pigmente nicht in den Ommatidien festgehalten werden, und das Komplexauge bleibt ungefärbt, also weiß, wie der Name des Gens anzeigt. Diese Ausprägung des white-Genes selbst ist unabhängig davon, ob die Augenpigmente gebildet werden oder nicht. Ein w/w-Genotyp führt also stets zu weißen Augen, unabhängig von der genetischen Konstitution der übrigen Augenfarbengene. Das Gen white wirkt mithin epistatisch über die Gene, die zur Bildung der Ommochrome und Drosopterine beitragen. ! Unterdrückt ein Gen die Ausprägung anderer, nicht-alleler Gene, so sprechen wir von Epistasie.
11.3.4 Polygene Vererbung – Genetik quantitativer Merkmale Wir sind bisher davon ausgegangen, dass Merkmale durch jeweils ein Gen bestimmt werden, wie es aufgrund der Mendel’schen Kreuzungsversuche zunächst als richtig erscheinen könnte. Aber Mendel selbst hatte bereits darauf hingewiesen, dass Merkmale auch durch mehrere Gene beeinflusst sein können (s. S. 447). Sehr bald nach der Wiederentdeckung der
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456
Kapitel 11: Formalgenetik
Tabelle 11.8.
Augenfarbenmutanten von Drosophila
Konstitution white
vermilion
cinnabar
scarlet
+/+
+/+
+/+
+/+
rot (wildtyp)
w/w
+/+
+/+
+/+
white
+/+
+/+
+/+
white-apricot
+/+
+/+
+/+
white-eosin
w ch/w ch
+/+
+/+
+/+
white-cherry
w co/w co
+/+
+/+
+/+
white-coral
w/+
+/+
+/+
+/+
rot (wildtyp)
+/+
v/+
+/+
+/+
rot (wildtyp)
+/+
+/+
cn/+
+/+
rot (wildtyp)
+/+
+/+
+/+
st/+
rot (wildtyp)
+/+
v/v
+/+
+/+
vermilion
+/+
+/+
cn/cn
+/+
cinnabar
+/+
+/+
+/+
st/st
scarlet
+/+
v/v
cn/cn
+/+
vermilion
+/+
v/v
cn/cn
st/st
vermilion
+/+
+/+
cn/cn
st/st
cinnabar
+/+
v/v
+/+
st/st
vermilion
w a/w a e
w /w
e
Augenfarbe
Die Tabelle fasst verschiedene Augenfarbenmutanten von Drosophila zusammen, die in den verschiedenen Kapiteln genannt werden. Die Mutanten des white-Gens sind in der Reihenfolge der Intensität der Augenfärbung (ansteigend) angeordnet. Die Intensität ist durch die Menge an Pigment im Auge bestimmt. Die Mutation wa beruht auf der Insertion eines Transposons (copia) in den white-Locus, der hierdurch nicht vollständig inaktiviert wird. Die Gene vermilion, cinnabar und scarlet kodieren für Enzyme des Ommochromstoffwechselweges (s. Abb. 11.15). Sie sind in der Reihenfolge ihrer katalytischen Wirkung im Xanthommatinsyntheseweg angegeben. Hieraus wird ihre jeweilige epistatische Funktion im Vergleich zu den übrigen Enzymen des gleichen Stoffwechselweges deutlich. Die generelle epistatische Wirkung von white-Mutationen ist ebenfalls dargestellt.
Mendel’schen Regeln wurde deutlich, dass in sehr vielen Fällen Merkmale nicht durch einzelne Gene, sondern durch das Zusammenwirken mehrere Gene bestimmt werden. Man spricht in einem solchen Fall von Polygenie oder multifaktorieller Vererbung. Dieses Zusammenspiel mehrerer Gene bei der Merkmalsausprägung macht es oft sehr schwierig, die erblichen Komponenten eines Phänotyps zu identifizieren und zu analysieren. In vielen Fällen helfen hier nur quantitative Analysen weiter. Eine besondere
Bedeutung gewinnt die quantitative Analyse in der Praxis der Tier- und Pflanzenzüchtung, wenn es darum geht, günstige erbliche Eigenschaften wirtschaftlich nutzbar zu machen. Hierzu ist oft zunächst die Kenntnis des Anteils der erblichen Komponenten am Phänotyp eines Tieres oder einer Pflanze entscheidend für eine praktische Nutzung. Ein gut untersuchtes Beispiel für die Wirkung mehrerer Gene ist die Körnerfarbe von Weizen, die 1909 durch den Pflanzengeneti-
11.3 Mendel aus heutiger Sicht – Ergänzungen seiner Regeln
Abb. 11.16 a,b. Polygenie der Farbentwicklung von Weizenkörnern. Im Kreuzungsschema wird der Erbgang der Färbung dargestellt, wie er von Nilssohn-Ehle (1909) ermittelt wurde. a Es sind zwei Gene (A und B) an der Ausbildung der Farbpigmente beteiligt. Kreuzt man zwei homozygote Linien unterschiedlicher genetischer Konstitution (P), so entwickelt die F1 einen mittleren Farbton der Körner, da sie für beide Gene heterozygot ist (Aa Bb). b In der F2 spalten die Nachkommen der F1 jedoch in fünf verschiedene Phänotypen auf. Deren
experimentell gefundenes Zahlenverhältnis lässt sich aus der Betrachtung der verschiedenen Genotypen ableiten, wenn man davon ausgeht, dass zwei Gene in gleicher Weise zur Ausfärbung der Körner beitragen und nur die dominanten Allele (A und B) in der Lage sind, zur Pigmentbildung beizutragen (s. Abb. 11.17). Offenbar ist der Beitrag der Allele additiv, da die Färbung mit der Anzahl dominanter Allele zunimmt. (Nach Nilssohn-Ehle (1909) aus Baker u. Allen 1981 u. Srb, Owen u. Edgar 1965)
ker Hermann Nilssohn-Ehle (1873–1949) untersucht wurde. Kreuzt man eine Weizensorte mit einheitlich dunkelroter Körnerfarbe mit einer anderen Sorte, die eine sehr helle Körnerfarbe hat, so findet man in der F1 eine einheitliche Körnerfarbe, die zwischen der der beiden Elternsorten liegt (Abb. 11.16). Nach unseren bisherigen Kenntnissen würden wir daraus schließen, dass es sich um eine unvollständige Dominanz handelt. Kreuzen wir jedoch die F1 untereinander weiter, so finden wir in der F2-Generation Ähren mit fünf verschiedenen Körnerfarben, die mit einer relativen Häufigkeit von 1:4:6:4:1 zu beobachten sind. Eine dihybride Kreuzung scheint wegen der größeren Anzahl verschiedener Phänotypen (dihybrid: 4) und aufgrund der dafür charakteristischen Zahlenverhältnisse (dihybrid: 9:3:3:1) nicht in Betracht zu kommen. Wir hatten die Ergebnisse dihybrider Kreuzungen zunächst unter dem Gesichtspunkt einer voneinander unabhängigen Vererbung zweier verschiedener Merkmale betrachtet. Nilssohn-Ehle hat jedoch seine Ergebnisse auf einen dihybriden Vererbungsgang zurückführen können, bei dem beide Gene auf dasselbe Merkmal – die Körnerfarbe – einwirken und zudem noch multiple Allelie eine Rolle spielt (Abb.
11.17). Außerdem liegen keine alternativen Rezessivitäts-/Dominanzverhältnisse vor, sondern wir haben es mit unvollständiger Dominanz zu tun. Noch komplexere Ergebnisse erhält man, wenn man die Einwirkung dreier Gene auf die Weizenfarbe untersucht (Abb. 11.18). Hierbei entstehen – bei jeweils 2 Allelen – insgesamt 7 verschiedene Körnerfarben im Verhältnis 1:6:15:20:15:6:1. Beide Beispiele verdeutlichen, dass eine quantitative Analyse von Kreuzungsergebnissen entscheidend dafür sein kann, ob es gelingt, die Anzahl erblicher Komponenten zu ermitteln, die zur Ausprägung eines Merkmals beitragen. ! Wirken mehrere Gene auf ein Merkmal ein, so
spricht man von Polygenie. Polygenie kann für viele Merkmale als Regelfall angesehen werden.
Die besprochenen quantitativen Beispiele für Vererbungsgänge lassen erkennen, welche Schwierigkeiten sich bei einer genetischen Analyse von Merkmalen ergeben müssen, die multifaktoriell beeinflusst wer-
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458
Kapitel 11: Formalgenetik
F2
dunkelrot
rot
hellrot
schwach rot
weiß
1x AABB
2x AABb 2x AaBB
4x AaBb 1x AAbb 1x aaBB
2x Aabb 2x aaBb
1x aabb
Anteil an den Phänotypen
1/16
4/16
6/16
4/16
1/16
Anzahl der Farbeinheiten
4
3
2
1
0
Genotypen
Abb. 11.17. Interpretation von Abb. 11.16
den und vielleicht in ihrer Ausprägung sogar noch starken Umwelteinflüssen unterworfen sind. Mit Hilfe moderner Methoden aus der Humangenomforschung wird es jedoch immer mehr möglich, auch solche komplexen Krankheiten (z. B.Asthma,Bluthochdruck) genetisch zu analysieren (vgl. dazu auch Kap. 11.4.6). Neben diesen genetischen Wechselwirkungen, die zu quantitativen Unterschieden von Merkmalen führen, gibt es auch modifizierende Wechselwirkungen; wir sprechen von Modifikation, wenn das Produkt eines Gens durch ein nicht-alleles Gen verändert wird. Als Beispiel dafür kann die Fellfarbe der Maus dienen, die durch mehrere Gene kontrolliert wird. Durch verschiedene enzymatische Schritte wird aus Tyrosin dabei Melanin synthetisiert; das Gensymbol für das erste Enzym dieser Kette, die Tyrosinase, ist C. Wildtyp-Mäuse besitzen ein graues Fell, das als „agouti“ (Gensymbol: A) bezeichnet wird und durch eine Mischung gelber und schwarzer Segmente in den einzelnen Haaren entsteht. Schwarze Mutanten (aa) bilden kein gelbes Pigment mehr aus, albino-Mutanten (cc) haben die Fähigkeit zur Pigmentbildung insgesamt verloren. Die Kreuzung zwischen schwarzen (CCaa) und albino-Tieren (ccAA) führt zu einer agouti F1 (CcAa) und in der F2 zu der für eine Modifikation charakteristischen Aufspaltung von 9 agouti : 3 schwarz : 4 albino:
• Alle Mäuse, die mindestens ein C- und ein A-Allel haben, sind agouti;
• Homozygotie für aa führt zu schwarzen Mäusen, wenn mindestens ein C-Allel vorhanden ist;
• Homozygotie für cc führt immer zu albino-Mäusen, unabhängig von der Allelkonfiguration am agouti-Locus.
Es gibt aber auch Modifikatoren für mutierte Gene. In solchen Fällen unterdrücken sie die phänotypische Ausprägung der mutierten Gene völlig, obwohl diese immer noch vorhanden sind. Solche Gene bezeichnet man als Suppressorgene. Ihre Aktivitäten wurden in vielen Organismen untersucht, besonders aber bei Drosophila. So unterdrückt beispielsweise ein Gen mit der Bezeichnung su-Hw den Phänotyp, der durch das Mutantenallel Hairy-wing (behaarte Flügel; Gensymbol: Hw) verursacht wird. In der Tier- und Pflanzenzüchtung ist die Kenntnis der genauen genetischen Einflüsse von großer Bedeutung für die Isolierung optimaler genetischer Konstitutionen. Jedoch lassen sich diese oft nicht eindeutig analysieren. Man ist daher vielfach auf rein empirische Verfahren zur Erzeugung von Rassen mit gewünschten Eigenschaften angewiesen. Man beginnt mit Kreuzungen zweier hinsichtlich eines Merkmals reiner Linien und isoliert aus der F1 phänotypisch besonders vorteilhafte Pflanzen. Diese werden, soweit möglich, durch Selbstbefruchtung weiter gezüchtet,
11.3 Mendel aus heutiger Sicht – Ergänzungen seiner Regeln
Abb. 11.18a–c. Polygenie der Farbentwicklung von Weizenkörnern bei Beteiligung dreier Gene (A, B und C) an der Farbausprägung. a In einer Kreuzung zweier verschiedener, für alle drei Gene homozygoter Linien (P) erhält man eine einheitliche Nachkommenschaft, deren Körnerfarbe eine unvollständige Dominanz anzuzeigen scheint (F1). b In der F2 werden jedoch sieben verschiedene Phänotypen der Körnerfarbe sichtbar, die sich zwischen dunkelrot in Abstufungen bis zu weiß verteilen. Diese Ergebnisse lassen sich durch die
Annahme dreier Gene, die in gleicher Weise zur Farbausprägung beitragen, verstehen. c Im Punnett-Viereck sind die verschiedenen Genotypen der Gameten der F1 zusammen mit Symbolen angegeben, die die jeweilige Anzahl der Allele wiedergeben, die zur Rotfärbung beitragen. Im diploiden Zustand kann die Anzahl der Farbeinheiten daher alle Stufen von Null bis Sechs annehmen, so dass sieben unterschiedliche Farbabstufungen im Phänotyp sichtbar werden. (Nach Nilssohn-Ehle 1909 u. Zubay 1987)
und in den folgenden Generationen werden wiederum die geeignetsten Phänotypen zur weiteren Vermehrung ausgewählt. Hierbei kann es entweder gelingen, neue reine Linien zu gewinnen oder man findet Phänotypen,die durch bestimmte,genau definierte Kreuzungen reproduzierbar erzeugt werden können (s. S. 386). Ein wichtiger Gesichtspunkt hierbei ist es, dass sich Heterozygote häufig als besonders vorteilhaft hinsichtlich ihrer Eigenschaften erweisen. Man bezeichnet diese Eigenschaft, der wir bereits in Zusammenhang mit den Mendel’schen Experimenten begegnet sind (Größe der Hybride, s. S. 434) als Heterosis oder Überdominanz. Solche Heterosiseffekte sind auch populationsgenetisch besonders interessant,da sie eine Selektion auf Beibehaltung verschiedener Allele zur Folge haben (s. S. 496).
Beispiele, die uns den Erfolg solcher züchterischen Praxis veranschaulichen, sind in den Abb. 11.19 und 11.20 dargestellt. Zu unseren wichtigsten Nahrungspflanzen gehören Weizen und Reis – rund 80% der Erdbevölkerung sind davon abhängig. Diese Arten haben daher – mehr als andere Pflanzenarten – die Aufmerksamkeit der Züchter auf sich gezogen. Sie sind Gegenstand intensiver Versuche, den Ertrag sowie andere wichtige Merkmale, wie Resistenz gegen Schädlinge oder auch die Eignung für maschinelle Ernte und Verarbeitung, zu verbessern. Ein anschauliches Beispiel für den Erfolg solcher Bemühungen liefert uns die heutige Kulturform des Mais, wenn wir sie mit ihrem mutmaßlichen natürlichen Ausgangsstadium, der Teosinte, vergleichen (Abb. 11.20).
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Kapitel 11: Formalgenetik
Abb. 11.19 a,b. Wildformen des Weizens und verwandter Arten sowie einige von deren Hybridformen. a Die hier gezeigten Arten lassen sich mit Kulturweizen kreuzen, wie es in b an einem Beispiel gezeigt ist. Die verschiedenen Arten, die in a gezeigt werden, sind (mit der haploiden Anzahl der Chromosomen in Klammern): 1 Agropyrum junceum (21), 2 Agropyrum elongatum (7), 3 Triticum ventricosum (14), 4 T. ovatum (14), 5 T. variabile (14), 6 T. triunciale (14), 7 T. bicorne (7), 8 T. speltoides (7), 9 T. turgidum dicoccoides (14), 10 Secale montanum (7). Mehrere dieser Arten zeigen also bereits einen ver-
doppelten Chromosomensatz. b Fremdchromosomen-Additionslinien (Fremdaddition: s. Abb. 10.16), die durch Kreuzung des hexaploiden chinesischen Sommerweizens (T. aestivum) mit diploidem Wildweizen (T. longissimum) entstanden sind. Jede der gezeigten Linien 1 bis 7 enthält ein Chromosomenpaar des wilden Weizens neben den normalen 21 Chromosomenpaaren des chinesischen Sommerweizens. Die Bedeutung der Selektion geeigneter Genomkonstitutionen für Kulturpflanzen wird aus diesem Beispiel besonders gut sichtbar. (Aus Feldman u. Sears 1981)
11.3 Mendel aus heutiger Sicht – Ergänzungen seiner Regeln Abb. 11.20a–d. Die Kultivierung des Mais. Es wird allgemein angenommen, dass der Vorfahr des modernen Mais (Zea mays mays) ein mexikanisches Gras ist, Teosinte (Z. mays parviglumis). Die zwei Unterarten sind untereinander fruchtbar, zeigen aber viele morphologische Unterschiede: a Teosinte hat viele lange, seitliche Verästelungen. b Die Verästelungen des Mais sind kurz. c Homozygoter Träger der Mutation teosinte branched-1 (tb1); es war der erste QTL, der aufgrund seiner Position kloniert werden konnte. d Die verschiedenen Formen der Fruchtstände lassen die Erfolge von Züchtungsverfahren erkennen. Links Teosinte, daneben die Maisrasse Pollo, gefolgt von den Maisrassen Reventador und Chapelote, sowie rechts einer U. S.-Elitevarietät des Maises. (a–c: Aus Barton u. Keightley 2002; d: Aus Doebley 1993)
Die Züchtung von Kulturpflanzen bietet auch die Möglichkeit, verschiedene Arten miteinander zu kreuzen und dadurch neue wertvolle Hybriden zu isolieren. Ein wichtiges Beispiel für die Nutzbarmachung der genetischen Eigenschaften zweier Arten ist das Züchtungsprodukt Triticale, das aus Triticum (Weizen) (weiblich) und Secale (Roggen) (männlich) durch Kreuzung erhalten wurde. Obwohl solche Hybriden nur geringe Fertilität aufweisen, gibt es Möglichkeiten, die Fruchtbarkeit durch gezielte Veränderung des Genoms wesentlich zu verbessern und die Hybriden damit als Kulturpflanzen nutzbringend zu verwenden.
! Die Komplexität der Interaktionen erblicher
Eigenschaften setzt in der züchterischen Praxis der gezielten Erzeugung neuer Zuchtrassen oft Grenzen. Daher spielt die empirische Auswahl bestimmter Phänotypen, die aus Art- oder Rassenkreuzungen (bisweilen auch aus Kreuzungen von Arten verschiedener Gattungen) hervorgehen, eine bedeutende Rolle für die Züchtungsforschung.
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Kapitel 11: Formalgenetik
11.3.5 Pleiotropie Haben wir im vorangegangenen Abschnitt gelernt, dass in vielen Fällen ein Merkmal durch eine Vielzahl von Genen beeinflusst werden kann, so muss unser Bild von der Komplexität genetischer Mechanismen noch dadurch erweitert werden, dass umgekehrt ein Gen auch auf mehrere Merkmale einwirken kann. Man bezeichnet solche genetischen Effekte als Pleiotropie (Plate 1910). Als Beispiele für pleiotrope Genwirkungen wollen wir im Folgenden eine Gruppe von Genen betrachten, die uns auch in anderen Zusammenhängen noch wiederholt beschäftigen wird. Es handelt sich um die Globingene, deren Produkte in Form des Hämoglobins für den Sauerstofftransport im Organismus verantwortlich sind. Eine Erbkrankheit des Menschen ist die Sichelzellanämie. Diese Blutkrankheit ist in bestimmten Regionen der Erde sehr weit verbreitet und spielt daher medizinisch eine wichtige Rolle (s. auch S. 495). Wie schon der Name Anämie besagt, leiden Patienten an Blutarmut oder genauer gesagt an einem Mangel an funktionsfähigen Erythrocyten. Dieser Mangel wird durch ein defektes (d. h. molekular verändertes) Proteinmolekül innerhalb des Hämoglobinkomplexes verursacht. Durch veränderte physikochemische Eigenschaften dieses Proteins kommt es in einem Teil der Erythrocyten zu einer Kristallisation von Hämoglobin, das dadurch seine Funktion nicht mehr wahrnehmen kann. Hämoglobin ist für die Bindung und den Transport von Sauerstoff sowie für den Abtransport von CO2 im Blut verantwortlich. In der defekten Form sind seine Bindungsaffinitäten stark verändert, und in kristalliner Form kann das Hämoglobin überhaupt keinen Sauerstoff mehr binden. Die Kristallisation des Hämoglobins führt zu einer Formveränderung der Erythrocyten, da diese durch die Hämoglobinkristalle eine sichelförmige Gestalt annehmen (Abb. 11.21). Sichelzellerythrocyten sind nicht mehr funktionsfähig und werden dem Blut durch Phagocytose entzogen. Die Folge ist ein Mangel an Erythrocyten, also Anämie. Das Krankheitsbild äußert sich für uns sichtbar im Wesentlichen in Heterozygoten, da homozygote Individuen meist kurz nach der Geburt sterben. Das ist nicht überraschend, da wir davon ausgehen müssen, dass in homozygotem Zustand kein funktionsfähiges Hämoglobin gebildet werden kann. Lediglich noch vorhandene mütterliche Erythrocy-
Abb. 11.21 a,b. Normale Erythrocyten (a) und Sichelzellerythrocyten (b) im Scanningelektronenmikroskop. (Aus Bessis 1974)
ten, die die plazentale Blutbarriere durchschritten haben, sind neben fötalem Hämoglobin für kurze Zeit (einige Wochen) verfügbar und ermöglichen ein begrenztes Überleben. Die molekulare Ursache dieser Krankheit ist bekannt (Kap. 14.3.6). An dieser Stelle wollen wir nur die Folgen der Krankheit in Heterozygoten näher betrachten. Vergegenwärtigen wir uns die biologische Bedeutung der Versorgung der Zellen mit Sauerstoff, so lässt sich ein sehr komplexes Krankheitsbild erwarten. In Tabelle 11.9 finden wir eine Zusammenstellung der Symptome, die an einem Sichelzellanämiepatienten zu beobachten sind: Tatsächlich ist eine Vielzahl körperlicher Funktionen betroffen, und es gelingt nicht einmal, dem genetischen Defekt auch nur ein einziges Merkmal, abgesehen von dem der Sichelzellbildung, als besonders charakteristisch zuzuordnen. Dieses Beispiel macht deutlich, in welchem unerwarteten Ausmaß komplexe Phänotypen auf die Wirkung eines einzelnen in seiner Funktion gestörten Allels zurückführbar sein können. Wahrscheinlich muss man für sehr viele Gene solche pleiotropen Wirkungen annehmen. Wir erkennen mit der fortschreitenden Erörterung von Genfunktionen in zunehmendem Maße, dass es
11.4 Kopplung, Rekombination und Kartierung von Genen
Tabelle 11.9.
Krankheitssymptome bei Sichelzellanämie
Ursache
Effekt
A. Primäre Effekte im Blut Bildung von Sichelzellen, deren Abbau
Anämie, allgemeine schlechte physische Konstitution
B. Sekundäre Effekte im Blutkreislauf Sauerstoffmangel
C. Weitere Effekte Akkumulation von Sichelzellen
Herzfehler, Schäden im Gehirn, Schäden an verschiedenen Organen, Lungenentzündung, Nierenfehler
Milzschäden
erst deren funktionelle Verknüpfung ist, die die Organismen existenzfähig macht. Bei näherer Betrachtung ist das aber auch nicht verwunderlich, da die verschiedenen Bauteile eines Individuums letztlich keine voneinander getrennten Aufgaben haben, sondern nur im Zusammenwirken ihre richtige Funktion finden. Das spiegelt sich bereits im Zusammenspiel der Gene wider. ! Viele Gene beeinflussen verschiedene Merkmale zugleich. Diesen Einfluss eines Gens auf mehrere Merkmale bezeichnet man als Pleiotropie.
11.4 Kopplung, Rekombination und Kartierung von Genen Die Mendel’schen Regeln besagen, dass Merkmale unabhängig voneinander vererbt werden. Dieses zentrale Dogma hat sich in 150 Jahren moderner Genetik im Wesentlichen bestätigt, wenngleich wir in den letzten Abschnitten einige Modifikationen im Detail anbringen mussten. Wir haben aber andererseits auch gesehen, dass die Chromosomen Träger der genetischen Information sind. Es scheint nun ein offensichtlicher Widerspruch zwischen den Mendel’schen Regeln und den cytologischen Beobachtungen zu bestehen: Die Anzahl der Chromosomen erscheint zu niedrig, um mit der Vorstellung vereinbar zu sein, dass jedes Chromosom einer Erbeigenschaft zuzuordnen ist. Obwohl die tatsächliche Anzahl der Gene verschiedener Organismen noch immer nicht genau bekannt ist (man schätzt bei Säugetieren etwa
30.000), wurde doch sehr bald erkannt, dass jedes Chromosom Hunderte oder sogar Tausende von Genen tragen muss. Dieser Schluss widerspricht aber der Regel Mendels, wonach sich Merkmale unabhängig auf die Nachkommen verteilen, da alle in einem Chromosom gelegenen Gene gekoppelt bleiben, also nicht unabhängig voneinander verteilt werden. Dieser scheinbare Widerspruch zu Mendels experimentellen Ergebnissen konnte durch die Genetiker gelöst werden, als sie erkannten, dass die in Mendels Untersuchungen beobachteten Merkmale auf unterschiedlichen Chromosomen liegen oder in einigen Fällen im Chromosom soweit entfernt liegen, dass stets Rekombinationsereignisse (s. Kap. 6.3.3) zwischen den gekoppelten Genen stattfinden. Daher verteilen sie sich während der Meiose tatsächlich scheinbar unabhängig voneinander auf die Keimzellen. ! Gene, die so nahe beieinander auf einem Chro-
mosom liegen, dass Rekombinationsereignisse selten stattfinden, bezeichnet man als „gekoppelt“.
11.4.1 Geschlechtsgebundene Vererbung Ein besonderer Fall von Kopplung tritt auf, wenn Gene gemeinsam auf dem Geschlechtschromosom liegen. Bereits ein einfaches Schema des Erbganges von Genen, die in den Geschlechtschromosomen von Drosophila liegen, zeigt, dass dieser sich in zwei Punkten deutlich von den Erwartungen nach den Mendel’schen Regeln unterscheidet (Abb. 11.22):
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Kapitel 11: Formalgenetik
Abb. 11.22 a,b. Der Erbgang eines geschlechtsgekoppelten Merkmals bei Drosophila, dargestellt am Beispiel des whiteGens (w) im X-Chromosom. Geschlechtsgekoppelte Merkmale sind daran zu erkennen, dass die Phänotypen der Nachkommen (F1) zweier für unterschiedliche Allele homozygoter Eltern in Abweichung von der 1. Mendel’schen Regel in reziproken Kreuzungen nicht gleich sind. a In der oben dargestellten Kreuzung trägt das Männchen das rezessive mutante Allele von white, in der unten dargestellten, reziproken Kreu-
zung das Weibchen. Während im ersten Fall die F1 durchweg das dominante Wildtypallel (also rote Augen) zeigt, ist in der F1 der reziproken Kreuzung bei 50% der Tiere (im Männchen) der white-Phänotyp ausgeprägt. b Dieses Ergebnis wird bei der Betrachtung des Erbganges X-chromosomaler Gene an Hand eines Punnett-Vierecks verständlich. Da das Y-Chromosom kein white-Allel trägt, kann das einzelne, hemizygote Xchromosomale Allel voll zur Ausprägung kommen
11.4 Kopplung, Rekombination und Kartierung von Genen
• Die Nachkommen einer Kreuzung haben im Hin-
blick auf geschlechtsgekoppelt vererbte Allele nicht unbedingt alle den gleichen Phänotyp. • Die Ergebnisse reziproker Kreuzungen sind nicht identisch. Die Ursachen für diese scheinbare Unstimmigkeit mit den Mendel’schen Regeln sind im Punnet-Viereck leicht zu erkennen (Abb. 11.22b). Der hemizygote (also haploide) Zustand des X-Chromosoms im Männchen lässt rezessive Allele sichtbar werden, die im heterozygoten Weibchen durch ein dominantes Allel verborgen bleiben. Diese Parallelität in der Merkmalsexpression geschlechtsgekoppelter Gene und der cytologisch sichtbaren meiotischen Verteilung von Geschlechtschromosomen ließ auch die letzten Zweifel an der Richtigkeit der Chromosomentheorie der Vererbung, d. h. der Annahme, dass die Chromosomen die Träger der erblichen Information sind, verstummen. Calvin Blackman Bridges (1889–1939) erzielte durch seine genetischen Experimente mit geschlechtsgekoppelten Merkmalen von Drosophila weitere wichtige Einsichten. Er beobachtete nämlich, dass in Kreuzungen von Weibchen, die für das X-chromosomale Gen white homozygot das Wildtypallel besaßen (+/+), mit weißäugigen Männchen (w/Y) entgegen der Erwartung gelegentlich weißäugige Männchen auftraten, die steril waren. Umgekehrt fand er in der F1 einer Kreuzung homozygot weißäugiger Weibchen (w/w) mit rotäugigen Männchen (+/Y) Weibchen mit weißen Augen, die sich als fertil erwiesen. Die Ergebnisse seiner genetischen Analyse dieser Ausnahmetiere sind in Abb. 11.23 zusammengefasst. Sie führten zu der Erkenntnis, dass mit geringer Häufigkeit Fehler in der Verteilung der Geschlechtschromosomen während der Meiose auftreten können (Abb. 11.24), und zwar sowohl in der ersten als auch in der zweiten Reifeteilung (Abb. 11.25). Im einen Fall werden die homologen Chromosomen (ersten Reifeteilung) nicht voneinander getrennt, sondern wandern zusammen zum gleichen Spindelpol. In der zweiten meiotischen Teilung werden dann die Chromatiden normal getrennt, so dass einerseits X/X- oder X/YGameten entstehen, andererseits aber auch Gameten, denen beide Geschlechtschromosomen fehlen. Man spricht dann von einer primären Nondisjunction, d. h. einer Nichttrennung der Homologen während der ersten Reifeteilung. Ein gleicher Fehler kann aber
auch erst während der zweiten meiotischen Teilung auftreten. In diesem Fall werden in einer der sekundären Meiocyten die Chromatiden nicht getrennt und wandern zum gleichen Spindelpol. Es entstehen dann ebenfalls X/X- oder Y/Y-Gameten und Gameten ohne Geschlechtschromosom. Man nennt diesen Fall sekundäre Nondisjunction, d. h. eine Nichttrennung der Chromatiden während der zweiten Reifeteilung (Abb. 11.25). Bridges hat damit einen – relativ häufigen – Fehler bei der Chromosomenverteilung entdeckt, der generell bei allen Chromosomen auftreten kann, und der nicht nur während der Meiose auftritt, sondern auch während der Mitose beobachtet werden kann (s. S. 181). Die Interpretation des Vererbungsganges bei Nondisjunctionereignissen ist in Abb. 11.24 zusammengefasst. ! Geschlechtsgekoppelte Vererbung äußert sich durch nichtidentische Phänotypen in reziproken Kreuzungen: Rezessive Allele werden im heterogametischen Geschlecht aufgrund der Hemizygotie stets sichtbar. Die Untersuchung des Erbganges geschlechtsgekoppelter Allele hat zur Entdeckung der Nondisjunction geführt. Nondisjunction ist ein Verteilungsfehler homologer Chromosomen. Er kann während der ersten Reifeteilung auftreten und wird dann als primäre Nondisjunction bezeichnet. Alternativ ist die zweite meiotische Teilung betroffen, wodurch sekundäre Nondisjunction durch Nichttrennung der Chromatiden entsteht. Nondisjunction ist auch in mitotischen Teilungen zu beobachten.
11.4.2 Kopplung von Merkmalen auf autosomalen Chromosomen In den Grundzügen ist die Zuordnung von Genen zu einem bestimmten Chromosom (Koppplung; engl. linkage) bei einem autosomalen Erbgang gleich wie bei der geschlechtsgebundenen Vererbung. Allerdings entfällt natürlich der genetische Marker „Geschlecht“, so dass man zusätzliche genetische Informationen benötigt. Daher muss bei einer autosomalen Kopplungsanalyse die F2-Generation betrachtet werden (Rückkreuzung; engl. back-cross); bei X-gekoppelten Erbgängen wird der Zusammenhang schon in der F1 sichtbar.
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Kapitel 11: Formalgenetik
Abb. 11.23 a,b. Erbgang eines geschlechtsgekoppelten Merkmals mit Nondisjunction. a Gelegentlich findet man in Kreuzungen Nachkommen, deren Phänotyp von den nach dem normalen Erbgang zu erwartenden Phänotypen abweicht. Bei den Nachkommen der in Abb. 11.22 gezeigten Kreuzung zwischen Wildtyp- (+) und white-Fliegen (w) treten mit geringer Frequenz (ungefähr 1 in 1000) Ausnahmephänotypen auf. Von diesen erweisen sich die Männchen als steril. b Bridges vermu-
tete, dass es sich bei den Ausnahmetieren um Individuen handelt, die durch fehlerhafte Geschlechtschromosomenverteilung während der elterlichen Meiose entstehen. Er führte daher eine Testkreuzung durch, in der er die weißäugigen Ausnahmeweibchen mit Wildtypmännchen auskreuzte. Die Phänotypen der Nachkommenschaft scheinen seine Annahme zu bestätigen: Alle Nachkommen dieser Kreuzung zeigen einen Wildtyp-Phänotyp (Y0-Zygoten sind letal)
11.4 Kopplung, Rekombination und Kartierung von Genen
Abb. 11.24a–c. Interpretation der Ergebnisse der in Abb. 11.23 dargestellten Kreuzung. a und b Während der Meiose der P-Generation kommt es zu fehlerhafter Verteilung (Nondisjunction) der Geschlechtschromosomen. Als Folge davon entstehen Keimzellen mit zwei Geschlechtschromosomen (XX oder XY) oder ohne jedes Geschlechtschromosom (0). Daher findet man in der Nachkommenschaft Weibchen mit drei
X-Chromosomen (XXX) und Männchen ohne Y-Chromosom (X0) (s. Abb. 11.23b). Diese Chromosomenkonstitutionen lassen sich genetisch durch weitere Testkreuzungen bestätigen. c Phänotypen der verschiedenen aus Testkreuzungen resultierenden Nachkommen. X0-Männchen sind steril, 0Y-Zygoten letal und Weibchen mit drei X-Chromosomen reduziert vital. XXY-Tiere sind fertile Weibchen
Die wichtigsten Erkenntnisse hierzu wurden von den Drosophila-Genetikern bereits in den Frühzeiten genetischer Studien an diesem Modellorganismus der klassischen Genetik gewonnen. Thomas Hunt Morgan (1866-1945) zeigte in einem klassischen Experiment als erster die Kopplung von Genen, die dadurch nachweisbar wird, dass bestimmte Merkmale in den Nachkommen stets zusammenbleiben (gekoppelt sind). Chromosomen werden daher in der genetischen Nomenklatur auch als Kopplungsgruppen (engl. linkage groups) bezeichnet. Morgan verwendete in
seinem Experiment Merkmale für die Augenfarbe (pr = violett/purple, und pr+ = rot) und die Flügelform (vg = stummelflügelig/vestigial, und vg+ = normal). Dabei ist das Wildtypallel (rote Augen und normale Flügel) jeweils dominant über das Mutantenallel. Er kreuzte dabei als Elterntiere (Parental-Generation P) Wildtyp-Fliegen mit solchen, die sowohl Stummelflügel als auch violette Augen hatten. Die erste Generation von Nachkommen (Filialgeneration 1; F1) ist heterozygot für beide Marker und zeigt damit den Phänotyp der Wildtyp-Tiere. Bei der Kreuzung dieser
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Kapitel 11: Formalgenetik
primäre Meiocyten (2n)
Meiose I
sekundäre Meiocyten
Abb. 11.25. Primäre und sekundäre Nondisjunction eines Chromosomenpaares. Die Fehlverteilung von Chromosomen kann während der ersten oder der zweiten Reifeteilung (oder auch bei Mitosen) auftreten. Die jeweils entstehenden Gameten sind dargestellt
Meiose II
Gameten (n)
F1-Tiere untereinander hätte man nun entsprechend der Unabhängigkeitsregel für dihybride Kreuzungen eine 9:3:3:1-Aufspaltung der Phänotypen erwartet (s. S. 453). Morgan hatte aber 1339 Wildtypen, 1195 Stummelflügler mit violetten Augen, 151 Tiere mit violetten Augen und normalen Flügeln sowie 154 Fliegen mit Stummelflügeln und normalen, roten Augen beobachtet. Man braucht in diesem Fall keinen χ2Test, um zu erkennen, dass das beobachtete Ergebnis deutlich vom Erwartungswert abweicht. Die jeweiligen Allele von pr und vg werden offensichtlich überwiegend gemeinsam (gekoppelt) vererbt, und andere Kombinationen als die in den beiden Elternstämmen sind eher die Ausnahme. Morgan (1911) erklärte dies damit, dass die Gene in einer linearen Anordnung vorliegen. Ein Austausch kann offensichtlich nur in seltenen Fällen durch Rekombinationen zwischen den homologen Chromosomen väterlicher und mütterlicher Allele erfolgen (Abb. 11.26). Die entsprechenden Merkmale werden damit in der Nachkommenschaft voneinander getrennt. Morgan schlug vor, dass die bereits früher beobachteten Chiasmata während der meiotischen Prophase eine Folge von Rekombinationsereignissen sind. Weitere detaillierte Untersuchungen ließen bald erkennen, dass die Rekombinationshäufigkeiten proportional zum Abstand zweier Merkmale auf dem Chromosom zunehmen: Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Rekombination zwischen zwei Markergenen innerhalb eines Chromosoms stattfindet, ist umso größer, je weiter sie voneinander entfernt liegen. Morgans Schüler Alfred
Harry Sturtevant (1891–1970) erkannte, dass man hierdurch genetische Chromosomenkarten erstellen kann, in denen alle zugänglichen Merkmale eingetragen sind (Abb. 11.27). Für die relativen Abstände der Merkmale wurden deren relative Rekombinationshäufigkeiten zugrunde gelegt. Der Abstand zweier Merkmale in einer solchen Karte gibt die relative Anzahl von Rekombinationsereignissen zwischen diesen Merkmalen während einer Meiose an. Für diese relativen Abstände führte John Burdon Sanderson Haldane (1892-1964) als Maß die Morgan-Einheit (1919) ein. Eine Morgan-Einheit (cM, Centi-Morgan) ist als 1% Rekombination definiert. In unserem Beispiel sind die 151 Fliegen mit violetten Augen und normalen Flügeln und die 154 Tiere mit Stummelflügeln und normalen Augen Folgen von Rekombinationsereignissen. Da die Gesamtzahl der untersuchten Tiere 2839 beträgt, errechnet sich die Rekombinationsfrequenz R zu 0,107 (beobachtete Rekombinanten:Gesamtzahl der F2-Tiere = 305:2839). Anders formuliert, die Rekombinanten haben einen Anteil von 10,7% an den F2-Nachkomen, d. h., der genetische Abstand beträgt 10,7 cM. Es muss an dieser Stelle allerdings betont werden, dass die genetischen Abstände, die in cM angegeben werden,keine physikalisch exakten Abstände sind,wie sie in den modernen Sequenz-Datenbanken zu finden sind und in Mb (Mega-Basen) angegeben werden. Sie sind vielmehr das rechnerische Ergebnis eines Zufallsereignisses, der Rekombination, dessen Häufigkeit vor allem auch von der Sequenzumgebung abhängt. Rekombinationen sind während der Meiose
11.4 Kopplung, Rekombination und Kartierung von Genen
in Weibchen meist häufiger als in Männchen, und an den Telomeren i.d.R. häufiger als in der Nähe der Centromeren. Daher wird der genetische Abstand zweier Gene, insofern er in einem Experiment bestimmt wurde,auch i.d.R.mit einer Standardabweichung (SD) für eine Wahrscheinlichkeit von 95% angegeben. Wie bei Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen üblich, wird die Standardabweichung umso kleiner, je größer die Zahl der beobachteten Tiere oder Pflanzen (n) ist. Es gilt daher für die Berechnung der Standardabweichung SD die Formel:
P:
pr
vg
pr
pr
vg
pr
+ vg
+
+ vg
+
+ vg
Keimzellen pr
vg
SD=100 (1-R)R /n Wir können nun an Morgan’s Beispiel weiterrechnen und erhalten als SD des Abstandes von pr und vg 0,6 cM. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 95% beträgt also der Abstand von pr und vg 10,7 ± 0,6 cM. In der Chromosomenkarte von Drosophila von 1992 (Abb. 11.27; Chromosom 2) finden wir einen Abstand dieser beiden Gene von 12,5 cM – also kein großer Unterschied zwischen den beiden Werten. In die Berechnung von Chromosomenkarten gehen jedoch viele Kartierungsdaten ein. Haldane hat dafür die Kartierungsfunktion eingeführt:
+
pr
pr+ vg+
F 1:
pr
vg
Rekombination in Keimzellen pr
vg
ω = 1⁄2 ln(1–2R); dabei ist ω der Abstand auf der Genkarte und R die Rekombinationsfrequenz. Im Unterschied zu dem genetischen Abstand, der durch die Rekombinationshäufigkeit bestimmt wird, kann man den physikalischen Abstand heute nach Abschluss der großen Sequenzierprojekte messen und in bp (bzw. Mb) ausdrücken. Er beträgt in unserem Beispiel 12,2 Mb (ENSEMBL Datenbank 2003). Eine Komplikation in solchen Kartierungen ist das Auftreten von mehreren Rekombinationsereignissen zwischen zwei Merkmalen. Für kurze Abstände ist die Wahrscheinlichkeit von Doppel-Rekombinationen gering und kann daher vernachlässigt werden. Mehrfache Rekombinationen sind jedoch desto häufiger zu erwarten, je weiter entfernt zwei Merkmale auf dem Chromosom liegen. Bei der Erstellung von Chromosomenkarten müssen hierfür geeignete Korrekturen eingeführt werden. Bei der experimentellen Durchführung solcher Kartierungsversuche mit Hilfe zweier Merkmale stellt sich das Problem, dass DoppelRekombinationen in den Nachkommen nicht sichtbar werden und das dreifache Rekombinationen nicht von einfachen Rekombinationen zu unterscheiden sind. Dreifach-Rekombinationen können jedoch
pr+ vg+
Keimzellen pr
vg+
pr+ vg
pr
vg
pr+ vg+
Abb. 11.26. Schematische Darstellung der Experimente Morgans zum Nachweis von Kopplung von Genen in Drosophila melanogaster. Im oberen Teil der Abbildung wird der Erbgang der zwei Merkmale purple (pr) und vestigial (vg) dargestellt, wie er ohne Rekombination erfolgt. Im unteren Teil der Abbildung ist eine einfache Rekombination dargestellt. Während der meiotischen Prophase werden Stücke homologer Chromatiden ausgetauscht. Die Folge ist eine Neuverteilung der elterlichen Allele. Im Mittel erfolgt eine Rekombination in jedem Chromosom in jeder meiotischen Prophase. Zur Lokalisation der Gene vergleiche auch die genetische Chromosomenkarte von Drosophila melanogaster in Abb. 11.27
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470
Kapitel 11: Formalgenetik
Abb. 11.27. Genetische Karte von Drosophila melanogaster. Chromosom 1 ist das X-Chromosom. Die Lokalisation der Fertilitätsgene im Y-Chromosom (kl-1 bis kl-5 und ks-1 und ks-2) ist nur näherungsweise angegeben, da die Genauigkeit der genetischen Kartierung wegen fehlender Markergene begrenzt ist. In der Karte sind vorzugsweise Loci verzeichnet, die im Rahmen dieses Lehrbuches erwähnt werden. Einige der Loci (tRNA-Loci) sind ohne genaue Identifikation des Gens ver-
zeichnet und stellen nur eine Auswahl von Loci der betreffenden Genfamilie dar. Aus Platzmangel wurden folgende Abkürzungen verwendet: ac-sc achaete–scute-Komplex (auch ASC), enthält u. a. die Loci sis-b und sc, CP18 und CP36 Chorionproteingene, da daughterless, emc extra macrochaetae, E(spl) Enhancer of split, msl male-sex-lethal, mwh multiple wing hairs, run runt, sim single minded, Su(Ste) Suppressor-of-Stellate, Top2 Topoisomerase 2. (Nach Lindsley u. Zimm 1992)
11.4 Kopplung, Rekombination und Kartierung von Genen
meist wegen ihrer geringen Wahrscheinlichkeit vernachlässigt werden und sollen daher nicht weiter betrachtet werden. In der Praxis umgeht man diese Kartierungsprobleme dadurch, dass man aus dem Vergleich aller Rekombinationsfrequenzen, die man zwischen mehr als zwei Merkmalen experimentell ermittelt, die Häufigkeit von Mehrfachrekombinationen errechnet. Das ist rechnerisch leicht möglich, da sie sich aus dem Produkt der beobachteten Rekombinationshäufigkeiten der verschiedenen Markergene ergibt.
11.4.3 Klassische Dreipunkt-Kreuzung In Tabelle 11.10 sind die Kreuzungsergebnisse zusammengestellt, die man bei einer Kreuzung von Mais zwischen drei gekoppelten rezessiven Markergenen erhält: virescent (v), glossy (gl) und variable sterile (va). Ausgangsmaterial der Kreuzung waren zwei reine Linien, die eine homozygot mutant für alle drei Markergene, die andere Wildtyp für alle drei Markergene. Die heterozygote Nachkommenschaft ist nach der 1. Mendel’schen Regel erwartungsgemäß phänotypisch reiner Wildtyp. Kreuzt man diese Pflanzen in einer Testkreuzung mit dem rezessiv homozygoten Elter zurück (s. S. 480), so können wir die genetische Konstitution der Gameten in den Nachkommen dieser Kreuzung direkt erkennen (letzte Spalte in Tabelle 11.10). Wir erkennen, dass erwartungsgemäß die ursprünglichen genetischen Konstitutionen (also + + + und gl va v) wieder auftreten, dass zusätzlich aber auch Konstitutionen auftreten, die nur durch Rekombination zu verstehen sind (gl va +, + va +, + va v, gl + +, gl + v, und + + v). Zugleich sehen wir, dass die Häufigkeiten dieser Konstitutionen sehr unterschiedlich sind. Man kann zunächst einmal davon ausgehen, dass DoppelRekombinationen durch die Phänotypen mit der geringsten Häufigkeit repräsentiert werden (obwohl das dann nicht unbedingt der Fall zu sein braucht, wenn zwei Marker einen sehr großen Abstand haben, zwei andere aber einen sehr geringen). Wir stellen daher zunächst eine hypothetische Folge der drei Markergene auf. Die niedrigste Austauschfrequenz besteht für die beiden (komplementären) Konstitutionen + va v und gl + +. Um solche Konstitutionen durch Doppel-Rekombination zu erhalten, muss gl zwischen den beiden anderen Markergenen liegen: v gl va. Einzelaustausche können also zwischen v und
gl (wobei va mit gl gekoppelt bleibt) oder zwischen gl und va (wobei v mit gl gekoppelt bleibt) erfolgen (Abb. 11.28). Die Errechnung der Genabstände ergibt für v – gl einen Abstand von (62+4+7+60)/726 = 133/726 = 18,3 cM und für gl – va einen Abstand von (40+ 4+7+48)/726 = 99/ 726 = 13,6 cM. (Hierbei müssen natürlich die Doppel-Rekombinationen mitgezählt werden, da sie jeweils eine Rekombination zwischen den Markern durchlaufen haben!) Die Folgen der Doppel-Rekombination für die Ermittlung von Abständen werden deutlich, indem wir aus Tabelle 11.10 errechnen, welchen Abstand wir zwischen den äußeren Markern erhalten, wenn wir diesen direkt aus einer Zweifaktorenkreuzung ermitteln. In Tabelle 11.10 ist die Gesamthäufigkeit der Austausche zwischen v und va (62+40+48+60)/726 = 210/726 = 0,289 oder 28,9%. Aus unserer Kartierung mit Hilfe der Dreifaktorenkreuzung errechnet sich der Gesamtabstand zwischen v und va auf 18,3 cM + 13,6 cM = 31,9 cM. Wir sehen, dass der Abstand zu klein wird, wenn wir zu
Tabelle 11.10.
Drei-Punkte-Kreuzung beim Mais
Phänotypen der Nachkommen aus der Testkreuzung
Anzahl der Individuen
Genotyp der Gameten des hybriden Elters
normal
235
+
+
+
variable sterile, glossy
62
+
gl
va
variable sterile
40
+
+
va
virescent, variable sterile
4
v
+
va
virescent, variable sterile, glossy
270
v
gl
va
7
+
gl
+
virescent, glossy
48
v
gl
+
virescent
60
v
+
+
glossy
Die Merkmale sind: virescent lichtgrüne Samen, variable sterile unregelmäßige Verteilung der Chromsomen in der Meiose führt zu Aneuploidie und partieller Sterilität, glossy besonders glänzende Blätter der Triebe. Aus Srb et al. (1965)
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Kapitel 11: Formalgenetik
P
v
gl
va
v+
gl+
va+
v
gl
va
v+
gl+
va+
v+
gl+
va+
Keimzellen v
gl
va
+
F1
v
+ gl
va
v
gl
va
+
große Abstände für die Kartierung wählen, da die Doppel-Rekombinationen nicht zu erkennen sind. Durch umfangreiche Kartierungsexperimente hat man, vor allem bei Drosophila, dennoch sehr genaue Chromosomenkarten erstellen können. Ihre Auflösung wurde in den bestuntersuchten Chromosomenabschnitten am rosy-Locus von D. melanogaster bis nahezu zum Nukleotidniveau vorangetrieben.
Rekombination in Keimzellen v
gl
va
v+
+ gl
+ va
Abb. 11.28. Folgen einer doppelten Rekombination in einem Chromosom zwischen drei Markergenen (vgl. Tabelle 11.10). In den Keimzellen einer heterozygoten F1-Nachkommenschaft der Kreuzung zweier verschiedener homozygoter Linien des Mais können auf Grund von Rekombination und DoppelRekombination neben den normalen, nichtrekombinierten Chromosomen sechs weitere Kombinationen von Allelen der heterozygoten Markergene (virescent (v), variable sterile (va), glossy (gl)) auftreten. Die ursprünglichen Chromosomenbereiche der beiden elterlichen Chromosomen sind rot bzw. schwarz gekennzeichnet, so dass der rekombinante Charakter der Chromosomen leicht erkennbar ist. Die Häufigkeit, mit der die verschiedenen Kombinationen auftreten, ergeben sich aus den Abständen der Markergene (s. Tabelle 11.10) ▲
472
! Jedes Chromosom enthält Hunderte von Genen,
die linear angeordnet sind. Man bezeichnet ein Chromosom daher auch als Kopplungsgruppe. Die Lage von Genen relativ zueinander und ihr Abstand im Chromosom lassen sich durch die Ermittlung der Rekombinationshäufigkeiten zwischen ihnen festlegen.
Keimzellen v+
gl
va+
v+
gl
va
v
gl+
va
v
gl+
va+
v
gl
va
v+
gl+
va+
v
gl
va+
v+
gl+
va
Eine zusätzliche Schwierigkeit für die genaue Genlokalisation im Chromosom wirft die Beobachtung von Herman Joseph Muller (1890–1967) auf, dass eine Rekombination die Wahrscheinlichkeit einer zweiten Rekombination in seiner unmittelbaren Nachbarschaft entweder erhöhen oder erniedrigen kann. Man spricht demgemäß von negativer oder positiver Interferenz. Auch in unserem Beispiel in Tabelle 11.10 können wir diese Erscheinung wiederfinden. Nach einer allgemeinen Regel ergibt sich die Häufigkeit, mit der zwei voneinander unabhängige Ereignisse gleichzeitig eintreffen, aus dem Produkt der Häufigkeiten, mit dem jedes der beiden Ereignisse allein auftritt. Es gibt verschiedene erweiterte Kartierungsfunktionen die Interferenzen berücksichtigen.
11.4 Kopplung, Rekombination und Kartierung von Genen
Hiernach erwarten wir für Doppel-Rekombination zwischen v und va eine Häufigkeit von 0,183 × 0,136 = 0,025 oder 2,5%. In Tabelle 11.10 finden wir jedoch nur 11/726 = 0,0149 oder 1,49% Doppel-Rekombinationen. Die Frequenz ist demnach niedriger als für zwei voneinander unabhängige Ereignisse zu erwarten ist. Es muss also eine gegenseitige Beeinflussung zweier Rekombinationsereignisse bestehen. Diese Erscheinung wird als intrachromosomale Interferenz bezeichnet. Der Quotient zwischen der beobachteten und der erwarteten Häufigkeit beträgt in unserem Beispiel 1,49/2,5 = 0,6. Diesen Wert bezeichnet man auch als Coincidenz-Koeffizienten. Besteht keinerlei Interferenz, so ist sein Wert 1. Liegt sein Wert niedriger als 1, ist also die beobachtete Häufigkeit von DoppelRekombinationen niedriger als erwartet, spricht man von positiver Interferenz. Ist der Wert größer als 1, so liegt negative Interferenz, also eine erhöhte Frequenz von Doppel-Rekombinationen vor. Erklären lässt sich diese Erscheinung nach unseren heutigen Vorstellungen am besten damit, dass der molekulare Mechanismus, der für eine Rekombination verantwortlich ist, mit erhöhter Wahrscheinlichkeit in der unmittelbaren Umgebung dieser Rekombination eine weitere verursachen kann, da hier besondere Paarungsverhältnisse der Chromatiden vorgegeben sind, die diese wiederholte Aktivität der beteiligten Rekombinationsenzyme unterstützen. Positive Interferenz (d. h. gegenüber der Erwartung verminderte Wahrscheinlichkeit von Rekombination) hingegen könnte man durch die besondere Struktur der Chromatiden in der weiteren Umgebung eines bereits eingetretenen Rekombinationsereignisses verstehen, die die Induktion weiterer Rekombination erschwert oder verhindert. ! Besonderheiten der molekularen Mechanismen
bei der Rekombination führen zu Veränderungen in den bei Zufallsverteilung erwarteten Häufigkeiten bei dicht benachbarten Genen. Es kann hierbei zu einer Erhöhung oder Erniedrigung der Rekombinationsfrequenz kommen. Diese Erscheinung wird als negative oder positive Interferenz bezeichnet. Sie lässt sich quantitativ durch den Quotienten aus beobachteter und erwarteter Austauschhäufigkeit (CoincidenzKoeffizient) beschreiben.
Interferenz beobachtet man nicht nur auf dem Niveau der generellen intrachromosomalen Rekombination, sondern auch auf einer höheren Ebene, nämlich sowohl auf dem Chromatiden- als auch auf dem Chromosomenniveau. Generell ist zu erwarten, dass die Häufigkeit, mit der die vier verschiedenen Chromatiden eines Chromosomenpaares an Rekombination teilnehmen, für alle Chromatiden im Mittel gleich ist. Es können jedoch Abweichungen von den erwarteten Zufallshäufigkeiten auftreten, die als Chromatideninterferenz bezeichnet werden.Liegt Chromatideninterferenz vor, sind bestimmte Chromatiden eines Bivalentes häufiger oder zu selten an Rekombinationsereignissen beteiligt. Man erwartet auch, dass alle Chromosomen eines Chromosomensatzes Rekombinationshäufigkeiten aufweisen, die zu ihrer Länge proportional sind. Vor allem bei strukturellen Chromosomenaberrationen beobachtet man aber Verschiebungen in den relativen Rekombinationshäufigkeiten. In heterozygoten Chromosomenbereichen, in denen eine Paarung teilweise gestört ist, kann es zu verminderter Rekombinationshäufigkeit kommen. Eine solche Reduktion der Rekombinationsfrequenz in einzelnen Chromosomenabschnitten wird stets begleitet von einer erhöhten Rekombinationsfrequenz in anderen Chromosomenbereichen. In solchen Fällen spricht man von interchromosomaler Interferenz. ! Interferenz wird auch hinsichtlich der Häufigkeiten der Beteiligung von Chromatiden und Chromosomen an Rekombination beobachtet. Das ist insbesondere bei Chromosomenaberrationen der Fall, bei denen reduzierte Rekombinationshäufigkeiten in einer Region durch erhöhte Rekombinationsfrequenzen in anderen Chromosomenbereichen kompensiert werden. Man spricht dann von Chromatiden-Interferenz und interchromosomaler Interferenz.
11.4.4 Kartierung von Genen durch Tetradenanalyse Die Beobachtung von Chiasmata während der meiotischen Prophase hatte Morgan zu der Annahme veranlasst, dass Rekombination in direktem Zusammenhang mit der meiotischen Paarung der Chromo-
473
474
Kapitel 11: Formalgenetik
somen während der frühen Prophase steht. Rekombination wäre in diesem Fall eindeutig dem 4-StrangStadium (4C) zuzuordnen. Man kann sich aber die Frage stellen, ob Rekombination nicht bereits vor der S-Phase, also im 2-Strang-Stadium (2C) erfolgen kann. Diese Frage erscheint zunächst als rein formalistisch. Wie wir aber sehen werden, hat ihre Beantwortung Konsequenzen für die quantitative Verteilung der Rekombinanten in der Nachkommenschaft. Zudem werden wir später noch sehen, dass trivial und rein formalistisch erscheinende Fragestellungen durch ihre Beantwortung oft interessante Einblicke in molekulare Mechanismen der Zelle gestatten. Die Frage des Zeitpunktes meiotischer Rekombination lässt sich am einfachsten an Untersuchungsmaterial beantworten, bei dem wir die Produkte einer Meiose vollständig analysieren können. Hierzu hat sich in der klassischen Genetik der Ascomycet Neurospora crassa als besonders geeignet erwiesen. Bei der Besprechung der Lebenszyklen verschiedener Eukaryoten haben wir gelernt, dass die Meioseprodukte (Ascosporen) dieses Organismus in einem Fruchtkörper (Ascus) in der gleichen räumlichen Anordnung zu finden sind, wie sie aus den beiden meiotischen Teilungen hervorgehen (Abb. 6.44). Man nennt die haploiden Meioseprodukte Tetraden (dieser Begriff darf nicht mit der Bezeichnung Tetrade für die gepaarten Bivalente in der meiotischen Prophase verwechselt werden: s. S. 186). Der Schimmelpilz Neurospora unterscheidet sich von vielen anderen Organismen außerdem dadurch, dass sich der Meiose noch eine mitotische Teilung anschließt, so dass ein Ascus insgesamt acht haploide Ascosporen in genau der räumlichen Orientierung enthält, in der sie entstanden sind (Abb. 11.29). Die Ascosporen lassen sich manuell leicht voneinander trennen und daher auch getrennt auf ihre genetische Konstitution untersuchen. Im einfachsten Fall kann jedoch bereits die Farbe der Ascosporen dazu dienen, Rekombinationsereignisse zu erkennen. In Abb. 11.29 sind die Ergebnisse eines solchen Versuches dargestellt. Es lassen sich sechs verschiedene Ascitypen hinsichtlich der Ascosporenfarbe und ihrer Anordnung im Ascus unterscheiden. In der quantitativen Auswertung überwiegen deutlich zwei Typen (I und II). Ein Vergleich mit Abb. 11.29 erklärt dieses Ergebnis: Es handelt sich um die Segregationsprodukte der beiden elterlichen Homologen, ohne dass im Bereich zwischen Centromer und dem Markergen Rekombination stattgefunden hat.
Hingegen repräsentieren die Typen III-VI verschiedene Rekombinationstypen zwischen den Chromatiden, die in der Abbildung erklärt werden. Aus Abb. 11.30 ist ersichtlich, dass im Falle der Rekombination im 2-Strang-Stadium, also vor der Replikation, nur zwei Typen von Asci zu erwarten sind, die sich nicht von der Konstitution der Asci unterscheiden lassen, in denen gar keine Rekombination erfolgt ist. Die Beobachtung von sechs verschiedenen Ascustypen ist also allein damit zu erklären, dass die Rekombination im 4-Strang-Stadium, also nach vollendeter Replikation, erfolgt. Carl C. Lindegren (1932) machte sich die Möglichkeit der genetischen Ascosporenanalyse von Neurospora zunutze und untersuchte die Segregation von Merkmalen zum Zwecke der Erstellung genetischer Karten des Schimmelpilzes. Die Kartierung erfolgt in diesem experimentellen System übrigens – im Gegensatz zu den bereits früher besprochenen Kartierungen bei Drosophila – oft durch Ermittlung des Abstandes zum Centromer, obwohl prinzipiell die Ermittlung relativer Markerabstände, vergleichbar der Methodik, wie sie bei Drosophila verwendet wird, ebenso möglich ist. Eine Tetradenanalyse in höheren Eukaryoten ist nur in Ausnahmefällen möglich. Eine solche Ausnahme finden wir in besonderen genetischen Konstitutionen von Drosophila. Wir werden noch sehen, dass es X-Chromosomen gibt, die im Centromer miteinander verschmolzen sind und sich daher wie ein einziges Chromosom verhalten, obwohl sie genetisch eine diploide Konstitution repräsentieren. Man bezeichnet ein solches Chromosom als ein Attached-X-Chromosom (s. S. 477). Da beide Arme eines Attached-X-Chromosoms unterschiedliche Allele eines Merkmals besitzen können, kann durch Rekombination eine Segregation dieser Allele erfolgen, wie es in Abb. 11.31 dargestellt ist. Formal können wir diese rekombinierten Attached-X-Chromosomen als Halbtetraden analog denen in einem Neurospora-Ascus betrachten. Es gibt noch eine weitere Möglichkeit der Analyse der Produkte von Rekombinationsereignissen, die wir aber erst im Zusammenhang mit entwicklungsgenetischen Aspekten des Zebrafisches besprechen wollen (s. S. 629).
11.4 Kopplung, Rekombination und Kartierung von Genen Abb. 11.29. Tetradenanalyse zur Feststellung der Segregation von Markergenen nach Rekombination bei Neurospora. Links sind die verschiedenen Austauschmöglichkeiten zwischen den Chromatiden der homologen Chromosomen dargestellt. Je nachdem, welche Chromatiden an der Rekombination beteiligt sind und wie ihre Positionen in der Anaphase sind, resultieren unterschiedliche Ascosporenanordnungen nach der Meiose (rechts). Da nach der meiotischen Teilungen eine weitere mitotische Teilung erfolgt (s. Abb. 6.44), finden sich acht Ascosporen in den Asci. Die Lagebeziehungen der Chromatiden im Ascus bleiben vom Beginn der ersten meiotischen Anaphase an erhalten. Dadurch können sämtliche aus einem Rekombinationsereignis abstammenden Rekombinationsprodukte in ihren ursprünglichen Lagebeziehungen erhalten werden. Da alle Ascosporen einzeln isoliert werden können, ist es möglich, am Phänotyp der Ascosporen nicht erkennbare Markergene, wenn erforderlich, durch Analyse der einzelnen Ascosporen zu ermitteln. Hat keine Rekombination stattgefunden, sind die jeweils vier Sporen, die aus der Verteilung der Chromatiden eines Elternchromosoms entstehen, von denen des anderen Elters getrennt. Die Häufigkeit der verschiedenen Anordnungen ist durch den Abstand der Marker vom Centromer bestimmt. (Nach Lindegren 1932)
Meiotische Prophase I
Ascus A
A
A
a
A
A
A
Genotyp a
a
a
Anzahl
a
105
a
4:4
a a
a
A
a
a
a
A
wie Eltern A
A A
A
129 4:4
A A
A
a
A
a
a
A
A
a a
a
9
a
a
A
A
a
a
A A
a
a
A
A
5
Rekombinanten A A
A
a
A
a
a
a
a
A A
a
11
a a
a A
a
A
A
A
A
a a
A
14
475
476
Kapitel 11: Formalgenetik
Abb. 11.30. Tetradenanalyse bei Neurospora zum Nachweis der Rekombination im 4-Strang-Stadium. Während Rekombination im 4-Strang-Stadium (d.h. nach der Replikation) zu unterschiedlichen Anordnungen der genetisch markierten Ascosporen im Ascus führt (III und IV), kann Rekombination im 2-Strang-Stadium (d.h. vor der Replikation) nur Verteilungs-
muster (II) der Ascosporen ergeben, die sich von der Anordnung von Ascosporen ohne Rekombination (I) nicht unterscheiden lassen. Die Abbildung zeigt Chromosomen in verschiedenen Stadien der meiotischen Prophase I und nach der Meiose bzw. nach einer weiteren mitotischen Teilung der Ascosporen sowie die daraus entstehenden Asci
11.4 Kopplung, Rekombination und Kartierung von Genen
Abb. 11.31 a,b. Segregation von Markern im Attached-XChromosom von Drosophila. a Normale Verteilung von Markern (ohne Rekombination). Die Markerverteilung entspricht dem bei Nondisjunction. b Rekombination in einem (heterozygoten) Attached-X-Chromosom bietet eine der wenigen Gelegenheiten bei höheren Eukaryoten, Meioseprodukte direkt zu untersuchen. Ein für die ursprünglich heterozygoten
Markerallele A und a homozygoter Zustand kann nur bei Rekombination im 4-Strang-Stadium erreicht werden (vgl. Abb. 11.30)! Die Beobachtung homozygoter Attached-X-Chromosomen gab einen der ersten Hinweise darauf, dass Rekombination im 4-Strang-Stadium stattfinden kann. (Nach Shult u. Lindegren 1959)
477
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Kapitel 11: Formalgenetik
Wir haben gesehen, dass in der Frühphase der Genetik Abstände zwischen den Genen aufgrund äußerlich sichtbarer Marker bestimmt wurden (z. B. Flügelform und Augenfarbe bei Drosophila; Blatt- und Samenfarbe beim Mais); ähnlich war die Situation in der Mausgenetik (Augen- und Fellfarben). Daher war es zunächst notwendig, für die Untersuchung von Kopplungsgruppen (d. h. zur Analyse, auf welchem Chromosom eine neue Mutation lokalisiert ist), jeweils eine eigene Kreuzung mit Trägern von Markergenen durchzuführen. Besondere Test-Stämme erlaubten später die Möglichkeit, die Kopplung mit mehreren Genen in einer Kreuzung zu erfassen.
Diese Situation blieb im Prinzip unverändert bis in die 1980er Jahre. Mit dem Beginn des internationalen Humangenomprojekts wurden dann allerdings zunehmend molekulare Marker entwickelt, die sich leicht durch PCR-Methoden analysieren lassen. Besonders geeignet sind dafür sog. Mikrosatelliten, die kurze repetitive Elemente enthalten, die von spezifischen Sequenzen flankiert sind und dadurch eindeutige chromosomale Zuordnungen erlauben. Für viele genetische Modellsysteme (z. B. Drosophila, Zebrafisch, Maus, Ratte) und für den Menschen gibt es inzwischen mehrere Tausend solcher Mikrosatelliten-Marker, so dass eine sehr hohe Markerdichte auf den einzelnen Chromosomen vorhanden ist. Charakteristisch für diese Marker ist neben ihrer Lage auf dem Chromosom die Länge ihres jeweiligen repetitiven Elements, die sich zwischen verschiedenen Stämmen einer Art unterscheiden kann. Abb. 11.32 gibt dafür ein Beispiel für den Marker D11Mit36 (dabei bezeichnet „D11“ das Chromosom 11 der Maus, „Mit“ den Hersteller – hier das Massachusetts Institute of Technology, und „36“ ist die laufende Nummer des Herstellers). Für eine genomweite Kopplungsanalyse einer unbekannten Mutation ist es notwendig, die Aufspaltung in der F2-Generation zu betrachten (vgl. Kap. 11.4.2); eine geschlechtsgebundene Vererbung wird
Abb. 11.32. Beispiel für einen Mikrosatelliten-Marker: D11Mit36. Das Beispiel zeigt die Sequenz eines typischen Mikrosatelliten-Markers der Maus. Mit den grünen Primern wird in der PCR ein Fragment amplifiziert, dessen Größe in den unterschiedlichen Maus-Stämmen verschieden ist (zwischen 220 bp und 326 bp). Ursache sind unterschiedliche
Längen der Wiederholungssequenzen (rot). Dieser Marker ist auf dem Chromosom 11 lokalisiert, und zwar in einer Entfernung von 48 cM vom Centromer. Die Stämme C57BL, C3H, DBA, BALB und AKR gehören zu Mus musculus und repräsentieren gängige Laborstämme. (Quelle: http://www.informatics.jax.org/)
! Durch Analyse aller haploiden Meioseprodukte
(Tetradenanalyse) können in einigen Organismen Rekombinationsereignisse direkt sichtbar gemacht werden. Das gestattet die Analyse der Rekombinationsmechanismen. Sie zeigt, dass Rekombination im 4-Strang-Stadium erfolgt. Eine Tetradenanalyse kann auch zur Kartierung von Merkmalen verwendet werden.
11.4.5 Moderne genomweite Kartierung mit Mikrosatelliten-Markern
11.4 Kopplung, Rekombination und Kartierung von Genen
in der Regel schon bei der Zucht einer Mutante offensichtlich. Wir wollen uns das Vorgehen am Beispiel einer fortschreitenden Trübung der Augenlinse bei der Maus betrachten, die dominant vererbt wird (dieser Phänotyp der Maus ist ein gutes Modell für den „Grauen Star“ des Menschen). Die Mutation ist im Mausstamm C3H (braune Fellfarbe) aufgetreten; für die Kopplungsanalyse hat es sich bewährt, eine Auskreuzung nach dem Stamm C57BL6 (schwarzes Fell) durchzuführen. Für die Auswahl der Mikrosatelliten-Marker bedeutet das, dass sich die Länge ihrer Wiederholungselemente zwischen den Stämmen C3H und C57BL6 so unterscheiden müssen, dass diese Unterschiede in Agarose-Gelen nach der PCR eindeutig und leicht identifizierbar sind – andernfalls sind diese Marker nicht informativ. Abb. 11.33a gibt nun das Kreuzungsschema einer solchen Analyse wieder. Da es sich um ein dominantes Merkmal handelt, bleibt der Phänotyp in allen Generationen erhalten. Bei Verwendung von homozygoten Mutanten ist die F1-Generation uniform heterozygot. Die Rückkreuzung zu dem Wildtyp-Stamm ergibt dann in der F2-Generation eine 1:1-Aufspaltung der Phänotypen; die Analyse der F2-Generation erlaubt damit die Bestimmung der Kopplung mit einem Chromosom mit Hilfe der Mikrosatelliten-Marker. Tabelle 11.11 zeigt das Ergebnis, dabei wurden nur Merkmalsträger verwendet. Obwohl in die Analyse nur wenige Tiere der F2-Generation einbezogen wurden, ist das Ergebnis eindeutig: Die Mutation liegt auf dem Chromosom 11. Eine genauere Analyse des Chromosoms, das die Mutation trägt („Haplotyp-Analyse“; Abb. 11.33 c) erlaubt die Bestimmung der Reihenfolge der verwendeten 5 Marker und ihrer relativen Abstände; die Genkarte für diese 5 Marker zeigt Abb. 11.33d. Aufgrund der Lage auf dem Chromosom können in den vorhandenen Datenbanken nun diejenigen Gene herausgesucht werden, die innerhalb des kritischen Intervalls zwischen den flankierenden Markern liegen und damit als Kandidaten für diesen Phänotyp (hier: Grauer Star) in Frage kommen. Dieser Ansatz wird als positionelle Kandidatengenanalyse bezeichnet. Ein wichtiges Zusatzkriterium ist natürlich, dass das Kandidatengen auch in den entsprechenden Geweben (hier: Augenlinse) exprimiert wird. In diesem Fall wurde eine Punktmutation im Cryba1-Gen als Ursache identifiziert; das Cryba1-Gen kodiert für ein Strukturprotein (βA1/A3-Kristallin) der Augenlinse. Bei der Kartierung rezessiver Merkmale wird im Prinzip ähnlich verfahren (Abb. 11.33b). Dabei
Tabelle 11.11. Genom-weite Kopplungsanalyse für eine unbekannte Mutation, (Progressive Linsentrübung; Gensymbol: Po)
a
Marker
Zahl der getesteten Tiere
% Homozygote
Kopplunga
D1Mit211 D1Mit216 D2Mit148 D2Mit206 D3Mit307 D3Mit44 D3Mit77 D4Mit203 D5Mit138 D6Mit102 D7Mit31 D8Mit121 D8Mit242 D9Mit12 D9Mit95 D10Mit42 D10Mit86 D11Mit36 D11Mit224 D11Mit242 D11Mit263 D11Mit271 D12Mit221 D12Mit259 D13Mit14 D13Mit53 D13Mit64 D13Mit67 D15Mit171 D15Mit85 D16Mit146 D16Mit189 D17Mit185 D18Mit60 D19Mit10
46 46 46 43 46 46 46 46 46 46 46 45 46 45 45 46 41 46 39 45 46 44 46 46 46 45 46 46 44 46 45 44 46 42 46
37 50 57 63 50 41 39 47 39 48 57 53 83 58 60 63 66 2 21 11 9 20 57 52 54 47 54 57 50 57 44 41 54 62 52
nein nein nein nein nein nein nein nein nein nein nein nein nein nein nein nein nein ja ja ja ja ja nein nein nein nein nein nein nein nein nein nein nein nein nein
Kopplung wird angenommen, wenn die Zahl der homozygoten Tiere für den jeweiligen C57BL/6-Marker kleiner als 25 % ist.
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Kapitel 11: Formalgenetik
Abb. 11.33a–d. Kartierung einer unbekannten Mutation bei der Maus. a Kartierungsschema für Kopplungsanalyse. Eine dominante Mutation (fortschreitende Linsentrübung, engl. Progressive opacity, Po) liegt homozygot vor (Merkmalsträger schwarze Symbole, auf dem Hintergrund des Laborstammes C3H) und wird mit einer Wildtyp-Maus (leere Symbole) des Stammes C57BL/6 gekreuzt. Die Nachkommen in der F1-Generation sind in allen Genen heterozygot. Ein Tier dieser F1-Generation wird mit einem Wildtyp der Parentalgeneration zurückgekreuzt. Die Nachkommen in der F2-Generation spalten entsprechend den Mendel’schen Regeln auf und können auf Kopplung des Phänotyps mit verschiedenen Markern untersucht werden. (Wenn keine homozygoten Mutanten zur Verfügung stehen, kann man den Ansatz mit heterozygoten Eltern durchführen: Man erhält in der F1-Generation 50% Träger und muss für die Aufspaltung in der F2-Generation einen Träger mit einem Wildtyp zurückkreuzen.) b Eine rezessive Mutation
(ohne Augenlinse, engl. aphakia, ak) liegt auf dem Hintergrund des Stammes C57BL/6 vor und wird mit Wildtypen des Laborstammes AKR gekreuzt. In der F1-Generation zeigt kein Tier das Merkmal; alle Nachkommen sind heterozygot. Ein Tier dieser F1-Generation wird mit einer homozygoten Mutante der Parentalgeneration zurückgekreuzt. Die Nachkommen in der F2Generation spalten entsprechend den Mendel’schen Regeln auf und können jetzt auf Kopplung des Phänotyps mit verschiedenen Markern untersucht werden. c Haplotyp-Analyse der unbekannten Mutation Po. 43 Merkmalsträger einer F2Rückkreuzungsgeneration werden auf Kopplung mit verschiedenen Markern des Chromosoms 11 untersucht. Dabei sind 30 Tiere heterozygot für alle Marker und damit nicht informativ. Die schwarzen Kästchen deuten jedoch an, in welchen Tieren offensichtlich Rekombinationen stattgefunden haben, da die Kataraktträger homozygot für die jeweiligen Marker sind. Die Mutation befindet sich also zwischen den Markern D11Mit242 (5 Rekombinationen zwischen diesem Marker und der unbekannten Mutation) und D11Mit36 (1 Rekombination). Der generische Abstand berechnet sich zu 11,6 bzw. 2,3 cM; mit Hilfe der Formel auf S. 469 kann auch die 95%-Vertrauensgrenze angegeben werden. d Die Daten der Haplotyp-Analyse werden in eine Karte des Maus-Chromosoms 11 eingetragen; rechts sind die Abstände aus der Haplotyp-Analyse angegeben. Das Kandidatengen Cryba1 (grün; 45 cM vom Centromer entfernt) kodiert für ein Strukturprotein der Augenlinse (βA1/A3Kristallin); die für die Linsentrübung (Po; rot) kausale Mutation wurde tatsächlich in diesem Gen identifiziert. (a, c, d: Nach Graw et al. 1999; b: Nach Grimm et al. 1998)
11.4 Kopplung, Rekombination und Kartierung von Genen
muss in der Elterngeneration der Mutantenphänotyp homozygot vorliegen, da rezessive Merkmale nur in der homozygoten Situation ausgeprägt werden. Nach der Auskreuzung zu einem homozygoten WildtypStamm entspricht die F1-Generation phänotypisch dem Wildtyp, ist aber genotypisch heterozygot. Die Rückkreuzung wird nun immer zu dem homozygoten Mutantenstamm erfolgen, da nur so in der F2Generation der Mutantenphänotyp erscheint (50% der Nachkommen sind homozygot für das rezessive Merkmal; die anderen 50% sind heterozygot und zeigen daher den Phänotyp des Wildtyps). Genauso wie für einen dominanten Erbgang kann damit die Kopplung mit entsprechenden Markern untersucht und eine positionelle Kandidatengenanalyse durchgeführt werden.
11.4.6 Kartierung von quantitativen Merkmalen und Modifikator-Genen Wie wir bereits oben gesehen haben (Kap.11.3.4),werden quantitative Merkmale durch mehrere Gene vererbt. Wenn man nun die einzelnen Gene dazu (engl. quantitative trait locus, QTL) kartieren möchte, steht man vor Problemen, da eine Kartierung in der Regel ungenaue Ergebnisse bringt und im besten Fall
Kopplung mit verschiedenen Chromosomen deutlich wird. Verschärft wird das Problem möglicherweise durch Phänomene, die wir als Epistasis, Codominanz etc.bereits kennen gelernt haben.Es ist daher sinnvoll, von vorneherein eine möglichst große Zahl von Individuen zu sammeln, um die Population möglichst vollständig abzubilden. Außerdem ist es sinnvoll, einen komplexen Phänotyp in einfachere Merkmale zu unterteilen (z. B. Beschränkung bei der „Größe“ auf nur 10% aller Werte an den jeweiligen Enden der Skala). Der erste Schritt in einer QTL-Kartierung ist üblicherweise, solche Populationen zu gewinnen, die von homozygoten Inzuchtlinien abstammen. Die daraus hervorgehenden F1-Populationen werden in der Regel heterozygot für alle Marker und auch die QTLs sein. Ausgehend von der F1-Population werden Kreuzungen angesetzt (z. B. Rückkreuzungen, F2-“interse“-Kreuzung und Kreuzungen, um reine Inzuchtlinien zu erhalten), und die Aufspaltungen der Marker und QTLs werden statistisch modelliert. Im Allgemeinen nimmt man natürlich an, dass die Marker unabhängig aufspalten, aber häufig ist das Ergebnis verzerrt (verursacht beispielsweise durch eine falsche Klassifikation eines Trägers). Wenn die einzelnen Daten vorhanden sind, werden statistische Beziehungen zwischen den Markern und den quantitativen
Abb. 11.34. Experimentelles Design einer Kartierung quantitativer Merkmale. Es ist eine Standard-Rückkreuzung gezeigt für die Marker M (mit den Allelen M1 und M2) und R (mit den Allelen R1 und R2) und dem quantitativen Merkmal Q und dessen Allelen Q1 und Q2. Die Haplotypen sind durch einen Schrägstrich getrennt. Für den Merkmals-Wert (Y) wird eine Normalverteilung angenommen (N) mit einem Mittelwert µ und einer Varianz σ2 in den elterlichen Populationen P1 und P2. B1 und B2 stellen die Nachkommen der reziproken Rückkreuzung dar. Der Merkmals-Wert in den Nachkommen der Rückkreuzung hat eine Verteilung, die das Gemisch der F1-WertVerteilung und der jeweiligen Eltern-Population repräsentiert. Mit Hilfe statistischer Verfahren kann nun entschieden werden, ob es eine Beziehung zwischen den genotypischen Daten (Markern) und den Informationen aus der Rückkreuzung gibt. (Nach Doerge 2002)
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Kapitel 11: Formalgenetik
Merkmalen hergestellt; dabei können einfache Techniken (Varianz-Analyse, engl. analysis of variance, ANOVA) oder komplexere Verfahren herangezogen werden. Die Lokalisation des QTLs benötigt aber auf alle Fälle wenigstens eine grobe genetische Karte mit bekannten Abständen der Marker und Berechnungen einer maximierten Wahrscheinlichkeitsfunktion. Im einfachen Fall wird man zunächst Einzel-Marker-Tests durchführen und dabei die entsprechenden statistischen Testverfahren anwenden (t-Test, Varianz-Analyse, einfache Regressionsanalyse); ein allgemeines Beispiel dafür ist in Abb. 11.34 angegeben. Die Intervall-Kartierung wurde von Eric Lander und David Botstein 1989 in die Literatur eingeführt und benutzt die vorhandenen genetischen Karten als Rahmen für die Kartierung von QTLs. Die Intervalle, die durch eine geordnete Serie von Marker-Paaren vorgegeben sind, werden schrittweise abgesucht (z. B. in 2 cM-Schritten), und mit Hilfe statistischer Verfahren wird überprüft, ob ein QTL innerhalb eines Intervalls vorhanden ist oder nicht. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass die Intervall-Kartierung statistisch die Kopplung mit einem einzigen Gen innerhalb jedes Intervalls überprüft. Das Ergebnis wird üblicherweise als „LOD-Score“ angegeben (engl. logarithm of the odds). Dabei wird die Wahrscheinlichkeitsfunktion unter der Nullhypothese (kein QTL) mit der alternativen Hypothese (QTL an der TestPosition) verglichen, um so wahrscheinliche Orte für einen QTL zu ermitteln. Die Intervall-Kartierung durchsucht die geordneten genetischen Marker in einer systematischen und linearen Form. Es wird bei jedem Schritt immer dieselbe Nullhypothese überprüft und dieselbe Wahrscheinlichkeit angenommen. Wenn schließlich alle LOD-Scores zusammengenommen werden, erhält man ein Profil über die genetische Karte (Abb. 11.35). Überprüft man, welches der verschiedenen Maxima einem einzigen QTL entspricht, muss man fragen, wann Ergebnisse als statistisch signifikant zu bezeichnen sind. Es ist nicht einfach, einen QTL sicher zu definieren: einmal, weil die Wahrscheinlichkeit üblicherweise eine Funktion von Mischungen von Normalverteilungen ist, und zum anderen, weil die Teststatistik nicht mehr einer Standardverteilung der Statistik folgt, wenn vorher die Daten unter der Null- und der Alternativhypothese maximiert wurden. Es sind daher die Ergebnisse von entsprechenden Computerprogrammen mit einer gewissen Vorsicht zu interpretieren; eine Übersicht
Abb. 11.35. Analyse einer Kartierung quantitativer Merkmale. Die dargestellten Daten stammen ursprünglich aus einer Untersuchung am Chromosom 11 der Maus zur Kartierung des Schweregrades einer experimentellen, allergischen Encephalomyelitis (Entzündungen im Gehirn und Rückenmark). Diese Erkrankung der Maus wird als Modell für Multiple Sklerose beim Menschen verwendet. Verschiedene MikrosatellitenMarker wurden in 633 F2-Mäusen genotypisiert; die Schwere der Erkrankung wurde über mehrere Messungen des Hängenlassens ihrer Schwänze bestimmt. Die Analyse wurde mit Hilfe des Programms „QTL-Cartographer“ (http://statgen.ncsu.edu/ qtlcart/WQTLCart.htm) und verschiedener Ansätze durchgeführt; die rote Linie repräsentiert das 95 %-Signifikanz-Niveau: • die Einzelmarker-Analyse mit Hilfe des t-Tests (schwarze Punkte) erkennt einen signifikanten Marker (D11Mit36; s. Abb. 11.32); • die Intervall-Kartierung (blaue Linie) identifiziert 4 Maxima und damit mögliche Lokalisationen für die QTLs; • zusammengesetzte Intervall-Kartierung (grüne Linie) findet zwei signifikante QTLs. Der wesentliche Unterschied zwischen den verwendeten Verfahren liegt darin, dass die zusammengesetzte Intervall-Kartierung „Fenster“ definiert und damit mögliche Assoziationen mit dem Merkmal, die außerhalb dieses Fensters liegen, ausschließt. (Nach Doerge 2002)
über gängige Kartierungsprogramme enthält die Web-Seite http://linkage.rockefeller.edu/soft (Stand: Juli 2005).
11.5 Populationsgenetik Die Beobachtung phänotypischer Variabilität innerhalb von Populationen hat zu der Erkenntnis geführt, dass auch für die Vererbung von Genen innerhalb von Populationen Regeln bestehen. Eine besondere
11.5 Populationsgenetik
Teilwissenschaft der Genetik, die Populationsgenetik, entstand. Zu den Aufgaben der Populationsgenetik gehört das Studium der Variabilität der Organismen in Raum und Zeit und die Aufklärung der hierauf einwirkenden Faktoren. Ziel der Populationsgenetik ist es, auf diese Weise die Wege und Parameter evolutionärer Prozesse zu verstehen. Wir können die Gesamtbeziehungen, die zwischen den lebenden Organismen auf dem Niveau des Individuums und der Population bestehen, in einem Schema veranschaulichen (Abb. 11.36)
Definition des Populationsbegriffes Die Bezeichnung Populationsgenetik besagt, dass sich dieses Wissensgebiet mit Populationen von Organismen beschäftigt. Was aber verstehen wir unter einer Population? Wäre es nicht angemessener, von Arten (Species) zu sprechen, da diese oft als Grundelemente der Evolution angesehen werden? Die genauere Betrachtung des Begriffes Art lässt uns erkennen, dass unter diesem Begriff eine Vielzahl von Individuengruppen zusammengefasst ist, die sich in manchen Fällen über die gesamte Erde verteilen können. Jede dieser Gruppen wird als Population bezeichnet. Obwohl der Artbegriff so definiert ist, dass alle Organismen, die sich untereinander fortpflanzen können, zu einer gemeinsamen Art zu zählen sind, hat eine solche Definition bei weltweit verstreuten Populationen wenig praktische Bedeutung. Tatsächlich erfolgt die Vermehrung von Organismen – und damit auch ihre Evolution – innerhalb meist recht kleiner Gruppen oder Fortpflanzungsgemeinschaften, die weitgehend oder vollständig voneinander getrennt existieren. Da die Eigenschaften eines Biotops im Allgemeinen selbst in kleinen Arealen schnell wechseln, genügen solche Biotopunterschiede häufig zur Abtrennung einer Organismengruppe von der nächsten Population der gleichen Art. Beispielsweise kann ein Berg oder ein Fluss zur Trennung einzelner Populationen voneinander führen. In der Genetik sind es diese Fortpflanzungsgemeinschaften, die im Mittelpunkt des Interesses stehen und denen wir den Begriff Population zuweisen (Johannsen 1903). Wenn künftig von Population gesprochen wird, ist daher eine geschlossene Fortpflanzungsgemeinschaft gemeint, die meist nur einen
Gameten Paarungsverhalten Rekombination Mutation
Zygoten Selektion
Individuen
Abb. 11.36. Einige Ansatzpunkte populationsgenetischer Fragestellungen. Diese beinhalten nicht nur Fragen der Zusammenstellung und Veränderungen von Populationen in Raum und Zeit, sondern es werden zur Klärung dieser Fragen auch Prozesse untersucht, die auf der Ebene des Individuums ablaufen. Einige solcher Prozesse sind hier angedeutet
kleinen Teil der Organismen umfasst, die einer Art zugehören. ! Grundelemente der Evolution sind Fortpflan-
zungsgemeinschaften oder Populationen.
11.5.1 Die Hardy-Weinberg-Regel Bereits kurz nach der Wiederentdeckung der Mendel’schen Regeln hatten 1908 zwei Wissenschaftler, Godfrey Harold Hardy (1877–1947) und Wilhelm Robert Weinberg (1862–1937), unabhängig voneinander erkannt, dass bestimmte Regeln für die quantitative und qualitative Verteilung von Allelen unter den Individuen einer Population zwischen aufeinanderfolgenden Generationen von Organismen bestehen, sofern bestimmte Randbedingungen über die Generationen hinweg unveränderlich bleiben. Zu diesen Randbedingungen gehört, • dass alle Organismen diploid sind und • sich sexuell fortpflanzen, • dass keine Beschränkungen in der Fortpflanzungsfähigkeit zwischen den verschiedenen Individuen der Population – ausgenommen das Geschlecht – bestehen (sogenannte Panmixie herrscht), • dass die Mendel’schen Regeln gelten und • dass es sich um eine genügend große Population handelt (ideal um eine unendlich große Population), um zufällige Verteilungsabweichungen auszuschließen.
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484
Kapitel 11: Formalgenetik
Diese Randbedingungen definieren eine solche Population als Mendel-Population. Zu den Randbedingungen kommt die Forderung hinzu, • dass auf die Zusammensetzung der Population keine Einflüsse von außen (z. B. Selektion oder Zuwanderung von Individuen aus anderen Populationen) ausgeübt werden.
0,4 A
0,6 a
0,4 A
0,4 x 0,4 AA (=0,16)
0,4 x 0,6 Aa (=0,24)
0,6 a
0,4 x 0,6 Aa (=0,24)
0,6 x 0,6 aa (=0,36)
Wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, sprechen wir davon, dass sich die Population in einem Gleichgewicht befindet. ! Für Mendel-Populationen gelten Regeln, die die
Zusammenstellung der Allele innerhalb der Population beschreiben (Hardy-Weinberg-Regel).
Die Verteilung der Allele lässt sich nach Hardy und Weinberg durch eine einfache Beziehung darstellen, die sich direkt aus den Mendel’schen Regeln ableiten lässt: Beschreibt man die Häufigkeiten zweier Allele A und B in einer Population mit p und q, wobei deren Summe natürlich 100% ergeben muss (also p + q = 1), so lässt sich die Verteilung dieser Allele in einer Population, die den zuvor beschriebenen Kriterien entspricht, wie folgt beschreiben: pA2 + 2 (pA qB) + qB2 = 1 Diese mathematische Formulierung lässt sich unmittelbar aus einem Punnett-Viereck verstehen, wenn wir diesem die Häufigkeiten der Allele hinzufügen (Abb. 11.37). Dieses Kreuzungsschema veranschaulicht, dass die Allelfrequenzen und Allelverteilung in aufeinanderfolgenden Generationen unverändert bleiben müssen. ! Die Hardy-Weinberg-Regel besagt, dass in einer
Mendel-Population Allelfrequenzen und Allelverteilungen in aufeinanderfolgenden Generationen gleich bleiben.
Ein solcher Schluss erscheint uns bei genauerer Betrachtung als wenig überraschend. Er verbirgt jedoch verschiedene interessante Einzelheiten über den Aufbau von Populationen. Unabhängig davon leistet die Hardy-Weinberg-Regel wertvolle Dienste
Abb. 11.37. Die Ermittlung von Allelfrequenzen innerhalb einer Population ist leicht möglich, wenn man alle möglichen Gametenkombinationen mit ihren jeweiligen Frequenzen in einem Punnet-Viereck analysiert. Die Produkte aus den jeweiligen Allelfrequenzen zeigen ihre Frequenz in den verschiedenen Genotypen bei den Nachkommen an. Es ergibt sich für Homozygote der Konstitution AA die Häufigkeit 0,4 2 = 0,16, für Heterozygote (Aa) die Häufigkeit 2 × 0,4 × 0,6 = 0,48 und für Homozygote der Konstitution aa die Häufigkeit 0,6 2 = 0, 36. Diese Verteilung bleibt in den folgenden Generationen erhalten, sofern nicht die freie Kombinierbarkeit der Gameten gestört oder die Häufigkeit einzelner Genotypen durch Selektion, Migration oder andere Eingriffe verändert werden
bei der Analyse von Populationen, da sie beispielsweise Hinweise zu geben vermag, ob bestimmte Allele möglicherweise unter Selektionsdruck stehen, und sie gibt uns die Möglichkeit,Veränderungen in den Allelfrequenzen unter Selektionsdruck zu errechnen. Die Anwendungsmöglichkeiten für die Hardy-Weinberg-Regel sollen zunächst an einem Beispiel dargestellt werden (Tabelle 11.12). Die Blutgruppenallele M und N des Menschen sind codominant und werden immunologisch aufgrund ihrer Antigene auf den Erythrocytenmembranen ermittelt. Die Tabelle zeigt uns, dass beide Blutgruppenallele in allen untersuchten menschlichen Populationen vertreten, aber in ihren Häufigkeiten sehr unterschiedlich verteilt sind. Dennoch lässt sich ihre Verteilung in allen Fällen recht genau durch die Hardy-Weinberg-Formel beschreiben. Das spricht zunächst einmal dafür, dass sich die betreffenden
11.5 Populationsgenetik
Tabelle 11.12. Population
Prüfung eines Populationsgleichgewichts für die Blutgruppen MN Genetische Konstitution (M und N) und Allelfrequenzen (p und q) Beobachtet
Errechnet
Erwartet nach Hardy-Weinberg
MM
MN
NN
p(M)
q(N)
2pq(MN)
p2(NN)
Eskimos
0,835
0,150
0,009
0,914
0,086
0,157
0,0074
Australische Aborigines
0,024
0,304
0,672
0,176
0,824
0,290
0,679
Ägypter
0,278
0,489
0,233
0,523
0,477
0,499
0,228
Deutsche
0,297
0,507
0,196
0,545
0,455
0,496
0,207
Chinesen
0,332
0,486
0,182
0,575
0,425
0,489
0,181
Nigerianer
0,301
0,495
0,204
0,549
0,451
0,495
0,245
Die beobachteten Häufigkeiten der verschiedenen genetischen Konstitutionen sind in den betreffenden Spalten (MM, MN und NN) angegeben. Die beobachteten Werte sind normal gesetzt, der zunächst errechnete Wert für p(M) ist halbfett hervorgehoben und dient zur rechnerischen Ermittlung der übrigen Werte (kursiv). Aus der Häufigkeit von homozygoten M-Individuen (Spalte: MM) wurde die Allelfrequenz von M zunächst nach Hardy-Weinberg errechnet (Spalte: p(M)). Die Allelfrequenz von N (Spalte: q(N)) wurde dann nach der Formel q = 1–p errechnet. Die erwarteten Häufigkeiten der Heterozygoten (Spalte: erwartet 2pq(MN)) und der Individuen homozygot für N (Spalte: erwartet p2(NN)) wurden aus den errechneten Allelfrequenzen von M und N ermittelt. Die verschiedenen Populationen zeigen eine gute Übereinstimmung der Frequenzen der verschiedenen Genotypen mit der Erwartung aufgrund der Hardy-Weinberg-Regel. Es ist anzunehmen, dass in diesen Populationen ein Gleichgewicht hinsichtlich der Blutgruppenallele M und N besteht. Die Tabelle veranschaulicht, dass ein Gleichgewicht für sehr unterschiedliche Allelfrequenz eingestellt werden kann. Verändert nach Boyd WC (1950)
Allele in der Population in einem Gleichgewichtszustand befinden. Diese Annahme könnte dann falsch sein, wenn sich die Population in einem Zustand schneller Veränderungen befindet und sich die Allelverteilung, obwohl sie unter Selektionsdruck steht, zufällig annähernd in einem Zustand befindet, der einem Gleichgewichtszustand entspricht. Hierüber müssten Untersuchungen in folgenden Generationen Aufschluss geben, bei denen man Veränderungen erkennen würde. Natürlich sind solche Analysen bei menschlichen Populationen durch die lange Generationsdauer starken Einschränkungen unterworfen. Die Verteilung der M- und N-Blutgruppen lehrt uns, dass unterschiedliche Gleichgewichtszustände innerhalb verschiedener Populationen bestehen können (Abb. 11.38). Die Beziehungen zwischen der Verteilung zweier Allele in Homo- und Heterozygoten im Gleichgewichtszustand lassen sich am besten durch Graphiken veranschaulichen (Abb. 11.39).
Diese Graphiken zeigen uns, dass in vielen Fällen ein relativ großer Anteil eines Allels in den Heterozygoten vorliegt. Handelt es sich um ein rezessives Allel, tritt es in dieser Form nicht in Erscheinung. Als Folge davon erscheint uns die Population phänotypisch relativ gleichförmig, obwohl sie genotypisch aus Individuen dreier verschiedener Konstitutionen besteht (Abb. 11.38). Dieser Gesichtspunkt wird uns in Zusammenhang mit humangenetischen Aspekten der Populationsgenetik noch näher beschäftigen (s. S. 679). An dieser Stelle soll zur Verdeutlichung der Anwendungsweise der Hardy-Weinberg-Regel diesen Betrachtungen bereits etwas vorgegriffen und ein weiteres Beispiel aus der Humangenetik besprochen werden. Eine wichtige autosomal-rezessive Erbkrankheit ist die Phenylketonurie (PKU). Diese Krankheit, die auf einem Enzymdefekt im Phenylalaninstoffwechsel beruht, tritt in europäi-
485
Kapitel 11: Formalgenetik
Abb. 11.38. Verteilung von homo- und heterozygoten Individuen in einer Population. Als Beispiel ist die Häufigkeit der Allelfrequenz M (blau) und N (rot) aus Tabelle 11.12 für die Blutgruppenverteilung bei Deutschen gewählt. Ein großer Anteil der Allele befindet sich in Heterozygoten (dunkelblau und -rot). Im Falle rezessiver und dominanter Allele sind die Heterozygoten im Phänotyp nicht direkt sichtbar, so dass die Population einheitlicher erscheint als sie ist
schen Populationen mit einer Häufigkeit von etwa 1 Homozygoten in 10 000 Individuen auf. Die Häufigkeit des PKU-Allels in Homozygoten ist mithin qPKU2 = 2/20 000 10–4. oder qPKU = 冪苶 Die Allelfrequenzen sind also qPKU = 0,01 und p = 0,99. Die Häufigkeit des PKU-Allels in Heterozygoten ist damit 2 × 0,01 × 0,99 = 0,0198. Das veranschaulicht uns die Bedeutung der in Abb. 11.39 dargestellten Allelverteilung. Bei einer geringen Allelfrequenz befindet sich der größere Anteil dieses Allels in Heterozygoten (in unserem Beispiel: 2% Heterozygote gegenüber 0,01% Homozygote!). ! Bei geringer Allelfrequenz befindet sich der grö-
ßere Anteil des Allels in Heterozygoten.
In unseren bisher besprochenen Beispielen haben wir uns mit der Frequenzverteilung unterschiedlicher Allele autosomaler Gene befasst, d. h. von Genen, die stets mit zwei Allelen im Genom vertreten sind. Die quantitiven Verhältnisse ändern sich jedoch, wenn wir die Allelverteilung geschlechtsgekoppelter Gene betrachten. Es ist offen-
Häufigkeiten der Genotypen
486
aa
AA Aa
0
20
40
60
80
100
Häufigkeit des Allels A (%)
Abb. 11.39. Beziehungen der Häufigkeiten der verschiedenen Genotypen zueinander. Das Feld ist in Rasterflächen in Stufen von 20% unterteilt. Jeweils senkrecht untereinanderliegende Kurvenpunkte gehören zusammen
sichtlich, dass in einem solchem Fall die genetische Konstitution des Individuums des hemizygoten Geschlechts stets direkt im Phänotyp zum Ausdruck kommt. Das hat zur Folge, dass wir die Frequenzen beider Allele eines geschlechtsgekoppelten Gens direkt aus den relativen Häufigkeiten beider Allele im hemizygoten Geschlecht ablesen können (Abb. 11.40). Ein Beispiel für ein Merkmal des Menschen, das X-chromosomal vererbt wird, ist die Rot-GrünFarbenblindheit. Die Häufigkeit des Allels für Protanopie (Rotblindheit) bei europäischen Männern beträgt 2%, die des Allels für Deuteranopie (Grünblindheit) 6%. Demgemäß sind die Häufigkeiten homozygoter Ausprägung von Protanopie bei Frauen 0,04%, die von Deuteranopie 0,36%. Diese Zahlen veranschaulichen uns die großen Unterschiede in der Gefährdung beider Geschlechter bezüglich der Ausprägung X-chromosomaler Erbkrankheiten. ! Die Frequenz geschlechtsgekoppelter Allele lässt
sich im hemizygoten Geschlecht direkt erkennen.
Die Betrachtung von zwei Allelen an einem Locus ist nur ein Beispiel. Für Gene, von denen es mehr als
11.5 Populationsgenetik
Abb. 11.40. Häufigkeit von Allelen bei geschlechtsgekoppelter Vererbung im hemizygoten Geschlecht. Die Häufigkeiten der Phänotypen reflektieren hier direkt die Häufigkeit der Allele in der Population
zwei Allele gibt (und das ist im Allgemeinen der Fall!), kann man verschiedene Ansätze wählen (nach Strickberger 1988): • Wenn wir uns für die genotypischen Häufigkeiten interessieren, die nur durch eines der Allele (z. B. A) bestimmt werden, dann können wir die Häufigkeit von A1 als p bezeichnen und die Häufigkeiten aller anderen Allele an diesem Locus (A2, A3, ...An) zur Häufigkeit q zusammenfassen. Die Gleichgewichtshäufigkeit wird dann wie für zwei Allele berechnet: p2(A1A1) + 2p(A1)q(A2...An) + q2 (A2...An) = 1 Das letzte Glied besteht aus zahlreichen Heterozygoten. Da uns aber nur die Genotypen von A1 im Verhältnis zu allen anderen interessieren, ist die genaue Zusammensetzung dieses Gliedes für unsere Betrachtung nicht wichtig. • Wenn es unser Ziel ist, Gleichgewichtswerte für die Genotypen von drei oder mehr Allelen zu finden, müssen wir jede Allelhäufigkeit als ein Element in einer polynomischen Entwicklung betrachten. Wenn es beispielsweise nur 3 mögliche Allele (A1, A2, A3) eines Gens gibt, die die jeweiligen Häufigkeiten p, q und r aufweisen, gilt im Gleichgewicht zunächst die Hardy-Weinberg-Formel analog: p+q+r=1 Die genotypischen Gleichgewichtshäufigkeiten werden durch die trinomische Entwicklung (p+q+r)2 bestimmt. Die Werte für die Genotypen sind dann: p2(A1A1) + 2pq(A1A2) + 2pr(A1A3) + q2(A2A2) + 2qr(A2A3) + r2(A3A3) = 1
Dass das Gleichgewicht in einer Generation erreicht wird, gilt so lange, wie wir unsere Betrachtung auf ein einziges Gen beschränken, ohne uns darum zu kümmern, was bei anderen Genen geschieht. Ein Beispiel ist in Tabelle 11.13 dargestellt: Dabei wird an der Schnecke Cepaea nemoralis die Häufigkeit der Farbe der Gehäusebänderung untersucht. Es sind daran 3 Allele eines Gens beteiligt (Dominanzreihe B>b’>b). Wenn wir jedoch die Produkte von zwei unabhängig aufspaltenden Genpaaren gleichzeitig betrachten (z. B. Aa und Bb), dann steigt die Zahl möglicher Genotypen auf 32 (d. h. AABB, AABb, AaBB, AaBb usw.). Es nehmen nun noch mehr Glieder an der polynomischen Entwicklung teil: Wenn wir die Genhäufigkeiten von A, a, B und b mit p, q, r und s bezeichnen, dann werden die Gleichgewichtsverhältnisse ausgedrückt als (pr + ps + qr + qs)2 = 1 oder p2r2(AABB) + 2p2rs (AABb) + 2p2s2 (AAbb) + 2pqr2 (AaBB) + .... + q2s2 (aabb) = 1 Wir können nun kurz überlegen, wie lange es wohl dauert, bis in einer Population diese Gleichgewichtsbedingung erfüllt ist. Wenn wir nur von den Heterozygoten ausgehen (AaBb × AaBb), bei denen die Häufigkeit aller Gene gleich sind (z. B. p = q = r = s = 0,5), dann werden alle vier Gametentypen (AB, Ab, aB und ab) sofort mit den Gleichgewichtshäufigkeiten (0,25) gebildet und das genotypische Gleichgewicht wird in einer Generation erreicht. Dies ist aber die einzige Situation, in der das Gleichgewicht so schnell erreicht wird. Wenn wir uns die andere Extremsituation vorstellen, nämlich eine Population, die mit den beiden homozygoten Genotypen beginnt (AABB × aabb), dann werden nur zwei Gametentypen (AB und ab) gebildet und das Gleichgewicht kann in der F1-Generation noch nicht erreicht werden, da noch zahlreiche Genotypen fehlen (z. B. AAbb, aaBB usw.). Erst über die doppelt Heterozygoten (AaBb) können Gameten des Typs ab und AB gebildet werden. Bei freier Spaltung erfolgt diese Umkombination mit der Wahrscheinlichkeit von 0,5; sie ist aber seltener, wenn die beiden Gene gekoppelt sind. Die Annäherung an das Gleichgewicht ist in diesem Fall von der Rekombinationsfrequenz abhängig und ist umso langsamer, je geringer die Rekombinationshäufigkeit (d. h. je enger
487
488
Kapitel 11: Formalgenetik
Tabelle 11.13.
Häufigkeit dreier Phänotypen in einer natürlichen Population der Schlange Cepaea nemoralis Phänotypen
Farbe
Anzahl
Genotypen
Erwartungswerte bei Panmixie
Anteil
braun
88
0,413
BB, Bb’, Bb
p2 + 2pq + 2pr
rosa
83
0,390
b’b’, b’b
q2 + 2qr
gelb
42
0,197
bb
r2
Summe
213
1,0
1,0
In der Population sind drei multiple Allelen vorhanden (B, b’ und b); die zugehörigen Allelfrequenzen sind p, q und r. Auswertung: 1. Schritt: r = 兹苶 r2 = 兹苶 0,1 苶97 苶 = 0,444 2. Schritt: rosa + gelb: q + 2qr +r2 = (q + r)2 = 0,587 (Wurzel ziehen) q + r = 0,766 (Ergebnis für r einsetzen) q + 0,444 = 0,766 → q = 0,322 3. Schritt: Gleichgewichtsansatz: p+q+r=1→q+r=1–p Einsetzen und Auflösen nach p → p = 0,234 Nach Cain et al. (1960)
die Kopplung) ist. Im Gegensatz zu diesen theoretischen Überlegungen erreichen nicht alle Gameten mit gekoppelten Genen in natürlichen Populationen die Gleichgewichtshäufigkeiten. Eine mögliche Erklärung ist, dass gewisse Kombinationen gekoppelter Allele vorteilhafter sind. Dieses Phänomen wird als Kopplungsungleichgewicht bezeichnet und spielt bei der Kartierung in der Humangenetik eine wichtige Rolle.
11.5.2 Genetische Zufallsveränderungen (Random Drift) Die Kriterien für die Gültigkeit der HardyWeinberg-Regel schließen einen Parameter ein, den wir uns im Folgenden näher betrachten wollen: Die Hardy-Weinberg-Regel ist strenggenommen nur für Populationen unendlicher Größe gültig. Natürlich gibt es derartige Populationen gar nicht. Im Allgemeinen kann man davon ausgehen, dass Individuenzahlen über 1000 einer solchen Forderung nach unendlicher Größe weitgehend genügen können. Immerhin sollte dabei nicht übersehen werden, dass solche Individuenanzahlen in vielen Popu-
lationen gar nicht vorhanden sind. Vielmehr sind lokale Populationen häufig durch viel geringere Individuenzahlen gekennzeichnet, insbesondere, wenn ihre Areale sehr eng begrenzt sind. Bei vielen größeren Tieren sind hohe Individuenzahlen eher die Ausnahme. Oft hat man es gerade bei großen Tieren mit extrem kleinen Populationen zu tun, da einzelne Individuen häufig große Gebiete beanspruchen. Ein eindringliches Beispiel dieser Art ist der große Panda (Airulopoda melanoleuca), bei dem jedes einzelne Individuum einen Lebensraum von 2 bis 4 km2 beansprucht. In solchen Fällen ist die Anwendung der Hardy-Weinberg-Regel wegen der geringen Individuenanzahlen nicht mehr zulässig. Welche Folgen hat eine geringe Populationsgröße auf die Allelverteilung? Betrachten wir die Abb. 11.37, so ist nicht ersichtlich, warum die Hardy-Weinberg-Regel nicht auch für solche kleinen Populationen gelten sollte. Ein wichtiger Grund für die Ungültigkeit dieser Regel liegt jedoch darin, dass in allen Populationen zufällige Fluktuationen in der Allelverteilung vorkommen. Solche Fluktuationen verlaufen in kleinen Populationen besonders auffallend, und sie können bei kleinen Individuenzahlen leicht zum Verschwinden eines Allels aus der
11.5 Populationsgenetik
Population führen. Die Ursache lässt sich leicht veranschaulichen, wenn wir uns vorstellen, dass wir eine Münze werfen und nach der Häufigkeitsverteilung von „Zahl“ oder „Bild“ sehen. Wirft man die Münzen sehr häufig, etwa 10 000 mal, so würde man erwarten, dass man im Mittel in 50% der Fälle das Bild und in den übrigen 50% die Zahl findet. Allerdings würde man dieses Mittel normalerweise nicht genau erzielen, sondern die Häufigkeiten würden sich nach Maßgabe einer Gauß-Kurve um diesen Mittelwert verteilen. Letztlich wäre es, mit allerdings außerordentlich geringer Wahrscheinlichkeit, sogar möglich, dass alle Würfe dieselbe Seite der Münze zeigen. Werfen wir die Münze hingegen nur wenige Male, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir stets nur die Zahl oder nur das Bild erhalten wesentlich größer. Dieses Beispiel lässt sich auf die Gametenverteilung bei der Fortpflanzung anwenden. Bei einer großen Population ist die Wahrscheinlichkeit, dass zwei verschiedene Allele mit der ihrer Häufigkeit in der Population entsprechenden Frequenz zur Fortpflanzung beitragen, viel größer als in einer kleinen Population. In kleinen Populationen sind daher große Schwankungen in der Allelverteilung unter den Nachkommen zu erwarten. Die Konsequenzen von kleinen Populationsgrößen auf die Allelverteilung lassen sich in populationsgenetischen Experimenten veranschaulichen (Abb. 11.41). In solchen Experimenten macht man Gebrauch von Populationskäfigen, in denen bestimmte Anzahlen von Individuen mit anfangs genau festgelegter genetischer Konstitution, in unserem Beispiel Heterozygotie für das Gen brown (bw) von Drosophila, gehalten werden. Entnimmt man jeder neuen Generation eine kleine Anzahl von Individuen zur Ermittlung ihrer genetischen Konstitution, so kann man den Verlauf zufälliger Veränderungen in der Allelzusammenstellung verfolgen. Das Schema zeigt, dass nach anfänglicher Heterozygotie aller Individuen sehr bald große Unterschiede in der Allelfrequenz zwischen den verschiedenen Populationen entstehen. Bereits nach relativ wenigen Generationen (im Bild in der 7. Generation) gibt es einzelne Populationen, in denen nur noch eines der ursprünglichen zwei Allele vorhanden ist. Die Anzahl solcher homozygoter Populationen nimmt sehr schnell zu. Hierbei werden beide möglichen homozygoten Konstitutionen mit gleicher Wahrscheinlichkeit erreicht. Würde der Verlauf der Veränderungen in unserem Beispiel über weitere Generationen verfolgt, so würden wir beobach-
Abb. 11.41. Experiment zur Demonstration der Folgen von Zufallsveränderungen der Allelzusammenstellung bei kleinen Populationen bei Drosophila melanogaster. In Populationskäfigen werden in aufeinanderfolgenden Generationen jeweils 16 Individuen nach zufälliger Auswahl weitergekreuzt. Die ursprüngliche Häufigkeit des Allels bw (brown) von 0,5 verschiebt sich mit gleicher Wahrscheinlichkeit allmählich nach 0 oder 1, so dass im Endzustand entweder ausschließlich das Wildtypallel (bw+) oder das mutante Allel (bw) vorhanden ist. (Nach Buri 1956)
489
Kapitel 11: Formalgenetik
ten, dass schließlich alle Populationen für das eine oder das andere Allel homozygot sind. Man nennt diesen Vorgang Fixierung (engl. fixation) eines Allels. Verantwortlich hierfür ist allein die zufällige Veränderung der Allelzusammenstellung, die man insbesondere in kleinen Populationen leicht verfolgen kann. Der Prozess wird als genetische Zufallsdrift (engl.random drift) bezeichnet. ! Zufällige Veränderungen (Zufallsdrift) in den Allel-
frequenzen haben insbesondere in kleinen Populationen einen großen Einfluss. Zufallsdrift führt zu unvorhersehbaren Veränderungen im Genpool, die zur Fixierung des einen oder anderen Allels führen können.
Es muss nochmals betont werden, dass sich derartige genetische Zufallsdriftphänomene in allen Populationen ereignen. Wie schnell sie allerdings die Allelzusammensetzung in einer Population beeinflussen, hängt von der Größe der Population, also der Anzahl der Individuen ab (Abb. 11.42). Die durch genetische Zufallsdrift verursachten Veränderungen in einer Population werden in Abb. 11.43 in einer allgemeinen Form für zwei unterschiedliche Anfangsfrequenzen eines Allels (0,5 in Abb. 11.43a und 0,1 in Abb. 11.43b) graphisch veranschaulicht. Aus dieser Graphik lässt n=1000
100
n=250 % Heterozygotie
490
n=200 n=150 50
n=100
n=20 n=10
0 0
20
40
60
80
100
sich gut entnehmen, inwieweit Veränderungen der Allelverteilung mit der Populationsgröße korrelieren: Die Art und Weise der Allelveränderung verläuft, unabhängig von der Individuenzahl (N), stets gleich. Der erforderliche Zeitraum (in Generationen, symbolisiert durch t) ist jedoch stark von der Individuenanzahl abhängig. Beispielsweise wird eine weitgehende Fixierung eines Allels bei einer anfänglichen Allelfrequenz von 0,1 (Abb. 11.43b) nach t = 4 N Generationen erreicht. Das bedeutet, dass es bei einer anfänglichen Populationsgröße von 5 Individuen 20 Generationen dauert, bis dieser Zustand erreicht ist, bei einer anfänglichen Generationsgröße von 1000 Individuen hingegen 4000 Generationen. Vergleicht man unterschiedliche Populationen mit den gleichen Ausgangsbedingungen, so haben zu diesem Zeitpunkt nur noch 10% der Populationen beide Allele, während in den übrigen Populationen eines der beiden Allele fixiert (also homozygot) ist.
11.5.3 Natürliche Selektion Mit der genetischen Zufallsveränderung haben wir einen Mechanismus kennen gelernt, der die genetische Zusammenstellung von Populationen verändert. Hinsichtlich der von Darwin (1872) erkannten Evolutionsprozesse erscheint aber dieser Prozess in seiner rein zufallsorientierten Wirkung wenig geeignet, die Entwicklung von Organismen in Richtung auf eine zunehmende Komplexität zu unterstützen, wie sie im Verlauf der Evolution entstanden ist. Das kann nur heißen, dass andere, wirksamere Evolutionsmechanismen die Weiterentwicklung des genetischen Materials beeinflussen müssen. Von Darwin selbst wurde hierfür der Prozess der natürlichen Selektion als wesentliches Hilfsmittel der Evolution erkannt. Da über die Begriffe der Evolution und der natürlichen Selektion oft Missverständnisse herrschen, ist es wichtig, die Vorstellung der Evolution der Organismen durch Abstammung voneinander, also nach der Deszendenztheorie, und die Vorstellungen über die dabei wirksamen evolutionären Mechanismen auseinanderzuhalten.
Generationen
Abb. 11.42. Abhängigkeit der Schnelligkeit genetischer Drift von der Populationsgröße (n: Anzahl der Individuen). Bei kleinen Populationen (z. B. n=10) setzen Veränderungen der Allelfrequenzen sehr schnell ein und führen schnell zu einer Fixierung eines Allels. (Aus Sperlich 1988)
! Natürliche Selektion ist ein wichtiger Evolutions-
mechanismus.
11.5 Populationsgenetik
▲
Abb. 11.43 a,b. Verteilung der Allele im Verlaufe von mehreren Generationen (t) unter Einfluss von genetischer Drift. Es sind nur Populationen mit zwei Allelen gezeigt, die homozygoten sind nicht im Schema zu sehen. In a ist die Ausgangshäufigkeit beider Allele gleich, in b ist die Anfangshäufigkeit des rezessiven Allels 0,9. In beiden Beispielen ändert sich die Häufigkeit unter Zufallsdrift sehr schnell. Die absolute Zeitskala ist von der Populationsgröße (n, Anzahl der Individuen) abhängig. (Aus Sperlich 1988)
Im Gegensatz zur allgemeinen Akzeptanz der Deszendenztheorie durch die Biologen herrschen über die dafür verantwortlichen Mechanismen und ihre relative Bedeutung für die Evolution durchaus unterschiedliche Auffassungen. In der Geschichte des 20. Jahrhunderts hat die Selektionstheorie Darwins als Erklärung für evolutionäre Prozesse vielerlei Kontroversen ausgelöst. Dennoch kann es jedoch keine Zweifel darüber geben, dass natürliche Selektion einen der wesentlichen Evolutionsmechanismen darstellt. Selektion wird als Hilfsmittel für die Erzeugung aus der Sicht des Menschen besonders vorteilhafter Individuen (Kulturpflanzen oder Haustiere) verwendet. Unsere wichtigsten Nahrungspflanzen sind auf diese Weise ebenso entstanden, wie etwa die vielerlei Rassen von Hunden, denen wir täglich begegnen können und deren nahe genetische Verwandtschaft nicht immer direkt einsichtig ist. Gerade dieses Beispiel vermittelt uns einen guten Eindruck von den Möglichkeiten, Organismen durch Selektion auf bestimmte Eigentümlichkeiten gezielt zu verändern. Wir wollen nun die Erfolge von Züchtungsprozessen anhand einiger quantitativer Beispiele noch etwas genauer darstellen. In Tabelle 11.14 sind die Ergebnisse von gezielten Züchtungsversuchen an Tieren und Pflanzen dargestellt, die den Ertrag an bestimmten Produkten, die aus den betreffenden Organismen gewonnen werden, steigern sollen. Die in dieser Tabelle zusammengestellten Daten lassen deutlich erkennen, dass die Eigenschaften der Versuchsorganismen unter selektivem Druck in die gewünschte Richtung verändert werden können. Es ist hierbei wichtig herauszustellen, dass diese Selektionseffekte nicht auf der Selektion einzelner Gene aufgrund ihrer besondere Wirkungen beruhen, sondern dass sie den Genotyp aufgrund meist komplexer genetischer Interaktionen in eine bestimmte Richtung treiben.
491
492
Kapitel 11: Formalgenetik
Tabelle 11.14. Züchtungserfolge an Hühnern und Mais a. Erhöhung der Eierproduktion bei Hühnern der Rasse White Leghorn flock unter Selektionsdruck Jahr
Zahl Eier / Jahr
1933
125,6
1965
249,6
Nach Lerner (1958) und (1968)
b. Öl- und Proteingehalt von Mais als Selektionskriterien Generation
Ölgehalt (%)
Proteingehalt (%)
Selektion auf hohen Öl- bzw. Proteingehalt: 1 50
4,7 15,4
10,9 19,4
Selektion auf niedrigen Öl- bzw. Proteingehalt: 1 4,7 10,9 50 1,0 4,9 Nach Woodworth et al. (1952)
Die Art der in unserem Beispiel vorgenommen Selektion lässt sich auch graphisch veranschaulichen (Abb. 11.44). Gehen wir von einer Verteilung einer bestimmten Eigenschaft eines Organismus, im Beispiel also dem Proteingehalt, innerhalb einer Population aus, so ist natürlich nicht zu erwarten, dass alle Individuen dieser Population einen genau identischen Proteingehalt aufweisen, sondern es herrscht eine gewisse Variabilität. Diese lässt sich gewöhnlich in einer Verteilungskurve darstellen, die der einer Gauß-Verteilung gleicht. Der Prozess der Selektion lässt sich nun dadurch veranschaulichen, dass sich aus dieser Verteilung bevorzugt (oder ausschließlich) die Individuen fortpflanzen (bzw. weitergezüchtet werden), deren Eigenschaften besonderes ausgeprägt in der gewünschten Richtung liegen. Man hat also eine gerichtete Selektion für einen der Extremtypen vorliegen (Abb. 11.44a). Die Folge solcher gerichteter Selektion ist eine allmähliche Weiterentwicklung in der Richtung des einen Extrems.
Abb. 11.44a–e. Arten der Selektion. Links ist die jeweilige Ausgangssituation der Allelverteilung als Gauß-Kurve dargestellt. Die abgeknickten Pfeile zeigen an, welche Individuen selektiert werden und markieren mit ihrem vertikalen Teil die Grenzen. Rechts ist das jeweilige Ergebnis der Selektion gezeigt. Der senkrechte Strich markiert den Mittelpunkt der Gauß-Kurve in der Ausgangssituation. a gerichtete Selektion; b stabilisierende Selektion; c–e disruptive Selektion: c Zufallspaarung, d sortengleiche Paarung, e sortenungleiche Paarung
11.5 Populationsgenetik
! Bei gerichteter Selektion werden bestimmte Phä-
notypen in der Fortpflanzung bevorzugt.
Natürlich kann es auch wünschenswert sein, nicht für Extremtypen zu selektieren, sondern für einen Mittelwert. In diesem Fall wird der Anteil der Extremtypen in der Population, letztlich also auch die genetische Variabilität, verringert und man spricht von einer stabilisierenden Selektion (Abb. 11.44b). Diese Selektion resultiert in einer Verringerung der Breite phänotypischer Unterschiede, also in einer Vereinheitlichung des Phänotyps. ! Selektion für mittlere Phänotypen führt zu stabi-
Folge der Industrialisierung ist, begründet sich darauf, dass in älteren Sammlungen ausschließlich die hellere, gefleckte Variante vorkommt, die den Farbschutzanforderungen ihres ursprünglichen Lebensraumes (Name!), der durch den Flechtenbewuchs der Bäume gekennzeichnet ist, viel mehr entspricht. In Industriegebieten findet man bevorzugt kahle, dunklere Baumstämme, an denen eine gefleckte Form leichter zu entdecken ist als eine gleichmäßig dunkle Form. Diese Anpassung bezeichnet man als Industriemelanismus. ! Ein bekanntes Beispiel für natürliche Selektion ist Industriemelanismus, d.h. eine Anpassung an durch Industrieverschmutzungen veränderte Umweltgegebenheiten.
lisierender Selektion mit der Folge geringerer genetischer und phänotypischer Variabilität.
Schließlich kann es in anderen Fällen geschehen, dass in Richtung auf beide extreme Phänotypen selektiert wird (Abb. 11.44 c–e). Das Spektrum vorhandener Phänotypen wird in diesem Fall vergrößert. Wir sprechen darum auch von einer disruptiven Selektion. ! Werden die extremen Phänotypen selektiv bevor-
zugt, so handelt es sich um disruptive Selektion.
Die Tatsache, dass Selektion in der Tier- und Pflanzenzüchtung erfolgreich angewandt werden kann, beweist natürlich noch nicht, dass Selektion auch in der Natur eine wesentliche Rolle spielt. Beweise hierfür haben jedoch populationsgenetische Experimente geliefert. Das wohl bekannteste Beispiel dieser Art sind Populationsstudien mit dem Birkenspanner Biston betularia, die in den 1950er Jahren in Großbritannien durchgeführt wurden. Der Birkenspanner kommt in der Natur in zwei Formen, einer schwarz-weißen Form – bezeichnet als „typica“ – und einer dunklen Form – bezeichnet als„carbonaria“ – vor (Abb.11.45a).Die dunkle carbonaria-Form ist an die Industriegebiete Großbritanniens gebunden, während die gefleckte, hellere Form in den Wäldern nichtindustrieller Regionen vorkommt (Abb. 11.45b). Der Verdacht, dass die Verbreitung der dunkleren Variante von B. betularia eine
Zur Prüfung der Frage, ob hier in den Industriegebieten tatsächlich eine Selektion zugunsten der dunklen carbonaria-Form stattgefunden hat, wurden in verschiedenen Biotopen gleiche Anzahlen von typicaund carbonaria-Formen freigelassen, die zuvor gekennzeichnet worden waren (Abb. 11.46). Die Verteilung beider Typen gekennzeichneter Tiere nach einiger Zeit wird in der Abbildung mit der Verteilung beider Typen in den natürlichen Populationen beider Biotope verglichen. Wir erkennen, dass eine Angleichung der Frequenzen beider Typen an die Verteilung in den natürlichen Populationen erfolgt ist. Die hier beschriebene Erscheinung des Industriemelanismus ist ein generelles Phänomen, das insbesondere bei Schmetterlingen weit verbreitet ist. Das Experiment zeigt uns, dass Selektion nicht allein in der Domestikation von Pflanzen und Tieren durch den Menschen stattfindet, sondern ein natürlicher Vorgang ist, der die Anpassung natürlicher Populationen an ihre Biotope steuert. Es muss noch betont werden, dass nicht alle populationsspezifischen Unterschiede notwendigerweise auf Selektionsprozessen beruhen müssen. Beispielsweise sind die bereits mehrfach erörterten Blutgruppenunterschiede menschlicher Populationen (s. S. 448) höchstwahrscheinlich auf natürlichen Zufallsdrift, nicht aber auf Selektion zurückzuführen. Menschliche Populationen haben sich im Allgemeinen aus sehr kleinen Gruppen von Individuen entwickelt, so dass unterschiedliche Allelfrequenzen in erster Linie als Folge von Gründereffekten (s. S. 499)
493
494
Kapitel 11: Formalgenetik
Abb. 11.45 a,b. Der Birkenspanner Biston betularia in Aussehen und Verteilung. a Biston betularia. oben: Form typica, unten: Form carbonaria. b Verteilung von Biston betularia in natürlichen Populationen in Großbritannien. Die dunklen Formen
(carbonaria und insularia) herrschen in Industriegebieten vor, während die helle Form (typica) in nicht-industrialisierten Gebieten überwiegt. (Aus Sperlich 1988)
anzusehen sind, wenn nicht direkte Hinweise auf Selektionsprozesse bestehen. Wir haben gesehen, dass sich aufgrund von Selektionsmechanismen bestimmte Individuen einer Population besser fortpflanzen als andere Individuen derselben Population. Man kann diesen Unterschied in der Fortpflanzungsfähigkeit quantitativ erfassen, indem man die relativen Beiträge der verschiedenen Genotypen der Individuen zur Nachkommenschaft zueinander in Beziehung setzt. Man erhält dann ein relatives Maß für den Fortpflanzungserfolg der verschiedenen Genotypen innerhalb einer Population, das als Fitness (W) des betreffenden Genotyps bezeichnet wird. Individuen mit der relativ höchsten Fortpflanzungsrate erhalten dabei definitionsgemäß die Fitness W = 1 (also 100%), während alle übrigen Genotypen eine dazu in Bezug gesetzte niedrigere Fit-
ness besitzen. Hieraus wird deutlich, dass es sich bei der Fitness um einen Relativwert handelt, der nur innerhalb einer Population von Bedeutung ist. Die Fitness von Individuen in unterschiedlichen Populationen ist daher nicht vergleichbar. ! Fitness ist ein Maß für den relativen Fortpflan-
zungserfolg eines bestimmten Genotyps in einer bestimmten Umwelt.
Es ist möglich, die relative Fitness auf ein einziges Allelpaar zu beziehen und einen Vergleich der verschiedenen möglichen Genotypen (also A/A, A/a und a/a) hinsichtlich ihrer Fitness durchzuführen. Im Allgemeinen wird man jedoch die Gesamtheit der
11.5 Populationsgenetik
Abb. 11.46. Populationsgenetisches Experiment mit Biston betularia. Markierte typica- und carbonaria-Formen wurden im gleichen Verhältnis in einer industrialisierten und einer nicht-industrialisierten Umgebung freigelassen. Die TestPopulationen wurden später auf den Anteil noch vorhandener, ursprünglich freigelassener Individuen untersucht. Es zeigte sich, dass in den industrialisierten Gebieten vor allem die dunkle Form überlebt hatte, während in der nicht-industrialisierten Region die helle Form selektiv bevorteilt ist. (Aus Sperlich 1988)
Eigenschaften in Hinblick auf die Fortpflanzungsfähigkeit vergleichen, da Fortpflanzungsfähigkeit durch eine Vielzahl komplexer Parameter bestimmt wird. So kommt es nicht nur auf die Lebensfähigkeit und physische Vitalität eines Individuums an, sondern auch auf die Fertilität, die niedrig sein oder sogar fehlen kann (in diesem Fall ist die Fitness W=0), oder auf das Paarungsverhalten und andere individuelle Eigenschaften. Wir wollen im Folgenden dieses Konzept der Fitness an einem Beispiel darstellen, das wir bereits in anderen Zusammenhängen aus
unterschiedlichen Gesichtspunkten betrachtet haben, dem der erblichen Krankheit Sichelzellanämie (s. S. 462). Diese Krankheit nimmt in der Medizin insofern eine Sonderstellung ein, als sie trotz ihrer schwerwiegenden Folgen unter bestimmten Lebensumständen, zumindest für Heterozygote von Vorteil sein kann. Solche Heterozygoten sind in diesem Fall sogar besser fortpflanzungsfähig als homozygote Individuen, d. h. die genetische Konstitution HbS/HbA führt zu einer relativ höheren Fitness als beide homozygote Konstitutionen (also HbA/HbA und HbS/HbS). Man kennzeichnet eine solche Situation auch mit dem Begriff Heterozygotenvorteil (oder Heterosis). Wie lässt sich der Heterozygotenvorteil erklären? Zum Verständnis des Vorteils der Heterozygoten müssen wir zunächst untersuchen, an welche äußeren Bedingungen dieser Vorteil geknüpft ist. Bei der Betrachtung der Verbreitung von Sichelzellanämie fällt auf, dass die Verbreitung eine recht gute Übereinstimmung mit Regionen aufweist, in denen Malaria herrscht (Abb. 11.47). Malaria ist eine Blutkrankheit, die durch Parasiten verursacht wird, die Erythrocyten als Nahrungsquelle gebrauchen und dadurch Anämie und andere Krankheitserscheinungen verursachen. Die Krankheit kann, je nach dem Erregertyp, tödlich verlaufen. Sie wird durch Mückenstiche (Gattung Anopheles) übertragen. Die Analyse der Übereinstimmung zwischen der Verbreitung von Malaria und einer erhöhten Frequenz von HbS-Allelen in der Population der betreffenden Gebiete hat gezeigt, dass Heterozygote für HbS eine erhöhte Resistenz gegen die Infektion aufweisen. Offenbar werden die Parasiten bevorzugt zusammen mit den Sichelzellen, die auch bei Heterozygoten auftreten, phagocytiert. Wenden wir auf dieses Beispiel die Hardy-Weinberg-Regel an, so sehen wir in Tabelle 11.15, dass die Heterozygoten überrepräsentiert sind. Wir können hieraus die relative Fitness der verschiedenen Genotypen errechnen. Ein zur Fitness in Bezug stehender Parameter der Populationsgenetik ist der Selektionskoeffizient (s). Er ergibt sich aus der Fitness W nach der Gleichung s = 1 – W. Dieser Wert gibt mithin den selektiven Nachteil eines Genotyps an: Ist die Fitness W = 1, so ist s = 0, d. h. der betreffende Genotyp hat in der betreffenden Population keinen selektiven Nachteil.
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496
Kapitel 11: Formalgenetik
unterscheidet sich demnach für alle drei möglichen genetischen Konstitutionen, HbA/HbA, HbA/HbS und HbS/HbS. Zugleich können wir die Situation dieser Genotypen hinsichtlich ihrer Fitness in malariagefährdeten Regionen der Erde und in malariafreien Gebieten vergleichen.Während in Malariagebieten die Heterozygoten die höchste Fitness besitzen, also einen Heterozygotenvorteil aufweisen oder überdominant sind, nehmen sie in Nichtmalariagebieten die für unvollständige Dominanz charakteristische Position ein: Die Fitness liegt zwischen der der beiden Homozygoten. Das würde zugleich bedeuten, dass eine Population, die aus einem malariagefährdeten Gebiet in eine nichtgefährdete Region versetzt wird, einen Wechsel ihrer Allelzusammenstellung durch Selektion zugunsten des HbA-Allels durchlaufen muss. In der Tat hat man bei Gruppen amerikanischer Farbiger, die vor Jahrhunderten als Sklaven aus Afrika geholt wurden, festgestellt, dass sich die Häufigkeit des HbSAllels der der übrigen amerikanischen Bevölkerungsgruppen weitgehend angeglichen hat. ! Unter bestimmten Umweltbedingungen haben
Heterozygote die höchste Fitness. Man spricht dann von Heterozygotenvorteil, Überdominanz oder Heterosis.
Abb. 11.47. Vergleich der Verbreitung von Sichelzellhämoglobin (HbS) und Malaria (P. falciparum). Die teilweise Überlagerung beider Verbreitungsgebiete wurde zuerst von Haldane erkannt und in ihrer genetischen Grundlage interpretiert. (Aus Weaver u. Hedrick 1992)
Wir sehen an diesem Beispiel deutlich, dass Fitness eine relative Größe ist: Während heterozygote (HbS/HbA) Individuen in malariaverseuchten Gebieten einen Fitnessvorteil gegenüber allen anderen Konstitutionen haben, ist ihre Fitness in anderen Regionen, die nicht durch Malariainfektionen belastet sind, deutlich niedriger als die der Homozygoten HbA/HbA-Individuen: Fitnesswerte aus verschiedenen Populationen sind nicht vergleichbar. Ein Vergleich der Fitness der verschiedenen HbGenotypen ist geeignet, uns den Begriff des Heterozygotenvorteils zu verdeutlichen. Hierzu können wir die Fitness einfach als ein Merkmal betrachten, auch wenn es polygen bedingt ist. Der „Phänotyp Fitness“
Der zuvor besprochene Vergleich wirft die Frage auf, ob es auch einen Heterozygotennachteil gibt. Tatsächlich findet man auch solche Situationen. Ein Beispiel ist die Inkompatibilität des Rhesusfaktors beim Menschen. Der Rhesus-Faktor ist ein Blutgruppenantigen, vergleichbar denen des AB0- oder MN-Blutgruppensystems. Erkannt wurde er durch K. Landsteiner und A. S. Wiener 1940. Seine wichtigste Bedeutung in der Humanmedizin lässt sich vereinfacht dadurch veranschaulichen, dass Rh–-Mütter nach der Geburt eines Rh+-Kindes Antikörper gegen den Rhesusfaktor entwickelt haben. Während einer weiteren Schwangerschaft mit einem Rh+-Kind kommt es zu Abwehrreaktionen und infolgedessen zu schweren Hämolyseerscheinungen, die oft noch vor der Geburt zum Tode des Kindes führen. Genetisch lässt sich diese Situation wie folgt erklären: Der Rhesusfaktor wird vom Rh–-Allel nicht gebildet. Das Rh+-Kind eines Rh+-Vaters induziert daher in einer homozygoten Rh–-Mutter die Immunabwehr, da sich der Rhesusfaktor aufgrund seiner heterozygoten
11.5 Populationsgenetik
Tabelle 11.15. Verteilung von HbA-, HbS-Allelen und Fitness-Werte der verschiedenen Genotpyen Population
Genetische Konstitution (A und S) und Allelfrequenzen (p und q) Beobachtet
Kinder Erwachsene
Errechnet
Erwartet nach Hardy-Weinberg
AA
AS
SS
p(A)
q(S)
2pq(AS)
p2(SS)
0,6585 0,6116
0,3101 0,3807
0,0314 0,0076
0,8114 0,7820
0,1886 0,2180
0,3060 0,3410
0,0356 0,0475
Relative Fitnessa 0,9288 1,2277 Fitnessb 0,7570 1 Selektionskoeffizient sAA= 0,2430
0,2420 0,1971 sSS= 0,8029
a Die
relative Fitness ergibt sich aus dem Verhältnis der Häufigkeit eines Genotyps bei Kindern und der Häufigkeit des betreffenden Genotyps bei Erwachsenen. Hierbei wird angenommen, dass bei Kindern eine Selektion noch nicht stattgefunden hat. b Die höchste Fitness ist definitionsgemäß 1. Die hervorgehobenen Daten in der Tabelle zeigen, dass bei Erwachsenen die relative Anzahl von SS-Individuen stark abgenommen hat, während der Anteil von Heterozygoten (AS) an der Gesamtpopulation der untersuchten Individuen (654 Erwachsene) deutlich gestiegen ist. Der selektive Nachteil der SS-Individuen kommt in einer geringen Fitness bzw. einem hohen Selektionskoeffizienten zum Ausdruck. Für A homozygote Individuen hingegen haben eine relativ hohe Fitness und demgemäß einen niedrigen Selektionskoeffizienten. Daten nach Allison (1956)
Konstitution dem mütterlichen Immunsystem gegenüber als körperfremdes Antigen verhält. Wir haben es also hier mit einem bedingten Heterozygotennachteil zu tun, wie zuerst S. Haldane erkannt hat. In vereinfachter Form wollen wir hier davon ausgehen, dass er durch ein Allelpaar D und d bestimmt wird, dessen rezessive Form (d) kein Antigen produziert. Man erhält dann die in Tabelle 11.16 dargestellten Möglichkeiten der genetischen Konstitutionen von Eltern und Kindern. Der Selektionskoeffizient von D/d-Kindern homozygot Rhesus-negativer Frauen ist relativ gering (kleiner als 0,05), so dass die Selektion gegen das dAllel sehr langsam verläuft. ! Heterozygote können unter bestimmten Bedin-
Tabelle 11.16. Genetische Konstitution des Rhesus-Faktors Konstitution des Vaters: D/D
D/d
d/d
D/D
D/D D/d
D/d
D/d
D/D D/d
D/D D/d d/d
D/d d/d
d/d
d/D
d/D d/d
d/d
Konstitution der Mutter: D/D
gungen gegenüber den Homozygoten auch benachteiligt sein. Man spricht dann von Heterozygotennachteil.
Gefährdete Eltern/Kind-Konstitutionen sind hervorgehoben. Nach Vogel u. Motulsky (1982)
Die Festellung, dass bestimmte Allelkombinationen einen Selektionsvor- oder -nachteil mit sich bringen, wirft die Frage nach der Schnelligkeit der Auswirkung von höherer oder niedrigerer Fitness auf die Allelzusammensetzung einer Population auf. Es ist leicht zu
sehen, dass die Schnelligkeit der Selektion für oder gegen ein Allel in starkem Maße davon abhängig ist,ob es dominant oder rezessiv ist. Rezessive Allele ändern ihre Frequenz nur langsam, solange sie einen relativ niedrigen Anteil ausmachen, während dominante
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Kapitel 11: Formalgenetik
11.5.4 Migration und Isolation
10 -3
10 -4 Häufigkeit in %
498
10 -5
0 0
10 Generationen 100
500
100 3000
Jahre
Abb. 11.48. Entwicklung der Allelfrequenzen ohne Selektion. Die rote Kurve zeigte die Zunahme für dominant letale Allele, die blaue die Zunahme der Häufigkeit dominant semiletaler Allele und die grüne Kurve die Zunahme rezessiv letaler Allele in der Population
Allele im gleichen Fall schnell in ihrer Frequenz ansteigen (Abb. 11.48). Es erübrigt sich beinahe, darauf hinzuweisen, dass im Falle eines Heterozygotenvorteils, wie etwa bei der Sichelzellanämie, die Selektion stabilisierende Wirkung auf die Anwesenheit beider Allele in der Population hat, da sie ein Gleichgewicht zwischen Vor- und Nachteilen der verschiedenen genetischen Konstitutionen auf die Fitness der Gesamtpopulation anstrebt. Man kann dieses Gleichgewicht dadurch rechnerisch ermitteln, dass man aus der Fitness der einzelnen genetischen Konstitutionen deren relative Frequenzen innerhalb der Gesamtpopulation ermittelt, die zum höchstmöglichen Fitnessgrad der Gesamtpopulation führt.
Bei der Definition des Begriffes einer Mendel-Population hatten wir als eines der Kriterien erwähnt, dass keine äußeren Einflüsse auf eine solche Population einwirken dürfen, um der Hardy-Weinberg-Regel Gültigkeit zu verleihen. Ein solcher unzulässiger Einfluss ist, wie wir bereits gesehen haben, die natürliche Selektion. Es gibt aber noch weitere Gründe, warum sich der Genpool einer Population verändern kann. Eines der einfachsten Ereignisse, das zu Genpoolveränderungen führen muss, ist der Zustrom von Individuen aus anderen Populationen mit einem anderem Genpool. Man kennzeichnet diese Art von Veränderungen einer Population mit dem Begriff Migration. Durch Migration kann es nicht nur zu Verschiebungen in den Allelfrequenzen in der Population kommen, sondern, wie auch bei Mutationen, zum Erwerb gänzlich neuer Allele. Der Zeitraum, der erforderlich ist, bis sich wesentliche Veränderungen im Genpool einer Population durch Zuwanderung von Individuen ergeben, ist von der Anzahl hinzugewanderter Individuen und von deren genetischer Konstitution abhängig. Relativ schnelle Veränderungen sind durchaus möglich, wenn eine regelmäßige Zuwanderung erfolgt. Anderenfalls sind neue Allele natürlich den gleichen Selektionsmechanismen aufgrund ihrer Fitness in der neuen Population unterworfen, die wir bereits besprochen haben. Strömen hingegen regelmäßig Individuen ein, so kann es, insbesondere bei kleinen Populationen, zu relativ schnellen Veränderungen des Genpols kommen. Migrationseffekte können im Übrigen nicht allein auf dem Zustrom von Individuen beruhen, sondern auch auf deren Auswanderung, denn einwandernde Individuen gehen naturgemäß einer anderen Population verloren. Solche Wanderungsbewegungen, die zwischen benachbarten Populationen eine erhebliche Rolle spielen können, führen zur Ausbildung von Gradienten in der Häufigkeit bestimmter Allele zwischen benachbarten Populationen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Verteilung der Allele des menschlichen AB0-Blutgruppen-Systems (s. S. 448) bei europäischen Populationen (Abb. 11.49). Das B-Allel ist in osteuropäischen Populationen mit viel größerer Häufigkeit anzutreffen als im Westen Europas. Zwischen diesen Regionen großer und geringer Häufigkeit ist ein Gradient in der Allelfrequenz zu finden, der sicher eine Konsequenz von Migrationsprozessen ist. Die Populatio-
11.5 Populationsgenetik
nen der ursprünglichen Siedlungsgebiete in Europa und Asien haben sich bei deren allmählicher Ausdehnung zu vermischen begonnen. Eine Folge davon ist die Ausbildung geographischer Häufigkeitsgradienten. ! Migration, d.h. der Zustrom oder die Auswande-
rung von Individuen, kann zu Änderungen im Genpool einer Population führen.
Eine wichtige Frage ist, wie es überhaupt zur Entstehung völlig getrennter Populationen kommen kann, wie wir sie z. B. für die Entstehung unterschiedlicher Blutgruppenallelfrequenzen, sowohl im AB0- als auch im MN-System des Menschen, angenommen haben (s. S. 485). Man vermutet, dass hierfür vornehmlich Gründereffekte (engl. founder effects) durch geographische Isolation von Organismengruppen eine Bedeutung haben. Solche Gründereffekte führen praktisch stets zur Entstehung neuer Populationen mit einem charakteristischen eigenen Genpool. Das ist einfach zu verstehen, da ja eine geringe Anzahl von Individuen, die gewöhnlich den Anstoß zur Entstehung einer solchen neuen Population geben, genetisch kaum jemals repräsentativ für den Genpool ihrer
Abb. 11.49. Häufigkeitsgradient in der Verteilung der Blutgruppe B in Europa. Sie zeigt möglicherweise frühere Migrationen von Ost nach West an. Die Zahlen zeigen die Frequenz des IB-Allels (Nach Bodmer u. Cavalli-Sforza 1976)
Ursprungspopulation sein dürften. Zudem spielt in solchen neuen, zunächst meist sehr kleinen Populationen die Zufallsveränderung des Genpools (Zufallsdrift oder random drift) eine erhebliche Rolle. Daher kann es auch nach der Gründung einer neuen Population in einer geographischen Isolation noch zu erheblichen Verschiebungen im Genpool kommen. ! Durch die Isolation einiger Individuen einer Popu-
lation kann es zur Neugründung von Populationen mit verändertem Genpool kommen. Man bezeichnet die genetischen Konsequenzen der durch Isolation neu entstandenen Populationen als Gründereffekte.
Der Neugründung von geographisch isolierten Populationen sehr ähnlich sind übrigens Situationen, in denen lokale Populationen plötzlich zusammenbrechen und danach aus wenigen Individuen neu aufgebaut werden. Solche zeitlichen Einschränkungen in der Individuenzahl einer Population, wie sie z. B. bei Kleinsäugern (z. B. Mäusen) häufig auftreten können, bezeichnet man in ihrer Auswirkung auf die Populationsstruktur auch als Flaschenhalseffekt. Ein Flaschenhalseffekt kann durch die starke Auswirkung von Zufallsdrift, Mutation und der nichtrepräsenta-
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Kapitel 11: Formalgenetik
tiven Auswahl weniger überlebender Individuen kurzfristig zu drastischen Veränderungen in der Zusammensetzung des Genpools einzelner Populationen führen. Viele populationsgenetische Hinweise sprechen dafür, dass die Entwicklung des Menschen auf der Erde sehr stark durch Gründereffekte bestimmt worden ist. Der Art Homo sapiens werden drei ethnische Gruppen zugeordnet, die Afrikanische, die Kaukasische und die Orientalische. Obwohl sich die genetischen Eigenheiten dieser ethnischen Gruppen noch unterscheiden lassen, sind sie heute über alle Kontinente verteilt und unterliegen in zunehmendem Maße der Vermischung. Genetische Studien haben gezeigt, dass der Grundbestand an Genen und Allelen in allen ethnischen Gruppen praktisch identisch ist, dass aber die Allelfrequenzen zwischen den ethnischen Gruppen deutliche Unterschiede zeigen. Das lässt sich aus der getrennten Evolution der ethnischen Gruppen verstehen. Ursprünglich bestanden nur kleine menschliche Populationen, deren Individuenzahl durch die natürlichen Lebensbedingungen beschränkt wurde. Hierdurch konnten sich sehr unterschiedliche Genpools entwickeln, wie sie sich noch heute in der Allelfrequenz mancher menschlicher Populationen reflektieren. Wir haben beispielsweise gesehen, dass Eskimos in ihren MN-Blutgruppenallelen eine von anderen Populationen stark abweichende Allelfrequenz zeigen (Tabelle 11.12), obwohl sie eigentlich den Orientalen zuzuordnen sind, also in der MN-Allelfrequenz den asiatischen Populationen vergleichbar sein sollten. Die ursprünglichen Eskimopopulationen sind jedoch als kleine Gruppen von Asien nach Nordamerika eingewandert und zeigen somit alle Kennzeichen einer durch einen Gründereffekt entstandenen Population. Die quantitativen Folgen eines Gründereffektes lassen sich an einem Beispiel vor Augen führen, an welchem man die Ausbreitung einer dominanten Form der Porphyrie in Afrika untersuchen konnte. Diese Stoffwechselkrankheit ist neben anderen Symptomen durch eine bestimmte Art der Hautentzündung, die besonders an Fleckungen der Hände sichtbar wird, gekennzeichnet. Sie erhielt daher die Bezeichnung „van Rooyen-Hände“. Ihren Ausgang nahm diese Krankheit von einem Ehepaar Ariaantje und Gerrit Janz in Kapstadt. Das Ehepaar ließ sich 1688 zur Zeit der holländischen Kolonisierung Südafrikas durch die Niederländische Ostasien-Kompanie in Kapstadt auf neuerworbenem
Farmland nieder. Die Frau war ein Waisenkind, das man mit sieben anderen Waisenmädchen aus Holland nach Südafrika gesandt hatte, um den Frauenmangel im neubesiedelten Gebiet zu beheben. Das Ehepaar Janz hatte nach 300 Jahren etwa 7000 lebende Nachkommen, die durch das Merkmal der „van Rooyen-Hände“ leicht identifizierbar waren. In dem gleichen Zeitraum hätte ein Ehepaar in den Niederlanden im Mittel nicht mehr als zwölf lebende Nachkommen. Die Möglichkeit zur Ausbreitung in unbesiedeltem Land bei im Übrigen günstigen Lebensbedingungen gestattete also die Entstehung einer so großen neuen Population mit spezifischen genetischen Eigenschaften. ! Bei der Evolution des Menschen haben Gründer-
effekte eine große Rolle gespielt.
Wir haben bisher den Gründereffekt zu einer geographischen Trennung von Populationen in Beziehung gebracht. Sicher ist das die offensichtlichste Möglichkeit einer Neuentstehung von Populationen. Es gibt jedoch auch Mechanismen, die innerhalb einer Population zu Gründereffekten, d. h. zur Entstehung neuer Subpopulationen führen. Als Isolationsmechanismen kommen z. B. in Betracht • Inkompatibilität von Gameten, auch durch Neumutationen (s. S. 174), • abnormale Chromosomenverteilung in Gameten (meiotic drive), • sexuelle Isolation, die auf Unterschieden im Paarungsverhalten beruht, • die Besetzung unterschiedlicher ökologischer Nischen oder Isolation durch Rhythmusverschiebungen sexueller Vorgänge (Blütezeit, Paarungsfähigkeit), • Hybriddysgenese (s. S. 337) und andere biologische Parameter. Solche Subpopulationen können sich schließlich zu neuen Arten entwickeln.
11.5 Populationsgenetik
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Kernaussagen
▬ Die 1. Mendel’sche Regel (Uniformitäts- oder Reziprozitätsregel) besagt, dass reziproke Kreuzungen reiner Linien stets Nachkommen mit gleichen Merkmalen ergeben. ▬ Die 2. Mendel’sche Regel (Spaltungsregel) besagt, dass Kreuzungen der zuvor beschriebenen F1Generation untereinander zur Aufspaltung in verschiedene Phänotypen mit genau festgelegter Häufigkeitsverteilung führen. ▬ Die 3. Mendel’sche Regel (Prinzip der unabhängigen Segregation von Merkmalen) besagt, dass Merkmale im Prinzip unabhängig voneinander auf die Nachkommen übertragen werden. ▬ Das genetische Verhalten von Merkmalen ist, vor allem bei komplexen Kombinationen, oft nur durch statistische Analysen von Kreuzungsergebnissen interpretierbar. ▬ Aus den Mendel’schen Beobachtungen ist zu schließen, dass die Vererbung durch die Weitergabe von Genen erfolgt. Diese sind bei höheren Organismen in jeder somatischen Zelle in zwei Kopien (Allele) vorhanden (Diploidie), die bei der Bildung der Geschlechtszellen verteilt und somit einzeln (Haploidie) an die Nachkommen weitergegeben werden. ▬ Für alle Gene gibt es unterschiedliche Formen der Ausprägung (verschiedene Allele), die dominant oder rezessiv sein können. ▬ Die Erscheinung der unvollständigen Dominanz lässt sich so verstehen, dass keines zweier Allele imstande ist, sich im Phänotyp voll gegen das andere durchzusetzen. Hierdurch entsteht ein neuer Phänotyp, der sich vom Phänotyp der homozygoten genetischen Konstitutionen unterscheidet. ▬ Die Erscheinung der Codominanz beruht darauf, dass zwei Allele sich unabhängig voneinander voll manifestieren und sich an ihrer jeweils spezifischen Ausprägung erkennen lassen. ▬ Merkmale sind oft durch die Existenz mehrerer verschiedener Allele in einer Gruppe von Organismen gekennzeichnet. Man spricht dann von multipler Allelie.
▬ Ein Merkmal kann durch mehrere Gene beeinflusst werden. Man bezeichnet das als Polygenie. ▬ Ein Gen kann Einflüsse auf mehrere phänotypische Merkmale ausüben. Man bezeichnet eine solche Genwirkung als Pleiotropie. ▬ Merkmale können in unterschiedlichem Maß oder gar nicht zur Ausprägung kommen. Man spricht dann von unterschiedlicher Expressivität und Penetranz eines Merkmals. ▬ Manche Gene können in mutanter Form die Ausprägung anderer Gene unterdrücken. Man spricht dann von Epistasie. ▬ Populationen sind der Angriffspunkt für evolutionäre Prozesse. ▬ In Mendel-Populationen bestehen Regeln für die Verteilung von Allelen in der Population. Sie beschreiben auch die Verteilung der Allele in aufeinanderfolgenden Generationen. ▬ Die Allelzusammenstellung einer Population wird durch Zufallsveränderungen beeinflusst (Zufallsdrift, random drift). ▬ Selektion ist ein wichtiger Mechanismus der Evolution. Es gibt verschiedene Arten der Selektion (gerichtete, stabilisierende und disruptive). ▬ Zur Charakterisierung des relativen Fortpflanzungserfolges bestimmter Genotypen innerhalb einer Population dient der Begriff Fitness. Die Häufigkeiten der verschiedenen Genotypen stellen sich so ein, dass die Population die größtmögliche Gesamtfitness erzielt. ▬ Fitnesswerte gelten nur innerhalb einer Population und können zwischen verschiedenen Populationen nicht verglichen werden. ▬ Das genetische Gleichgewicht, das in einer Population durch die unterschiedliche Fitness der verschiedenen Genotypen eingestellt wird, ist unvermeidlich mit genetischer Bürde verbunden. ▬ Neben der Selektion und Zufallsdrift gibt es noch eine Vielzahl weiterer Evolutionsmechanismen wie Migration, Isolation und Gründereffekte, die Auswirkungen auf den Genpool von Populationen haben.
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Kapitel 11: Formalgenetik
Technik-Box 21
Kartierung genetischer Merkmale Anwendung: Methode zur Lokalisation genetischer Merkmale auf einem Chromosom. Voraussetzungen: Einfache Erkennung des genetischen Merkmals; Vielzahl von Polymorphismen zwischen verwandten Stämmen des jeweiligen Modellorganismus. Methode: Die klassische Kartierung durch Rückkreuzung ist die wichtigste Methode zur Lokalisierung genetischer Merkmale (i. d. R. Mutationen) bei höheren Organismen (Pflanzen und Tieren). Voraussetzung dafür ist, dass zwei Stämme nicht nur für das zu lokalisierende Gen bzw. Merkmal polymorph sind, sondern sich auch noch in einer Vielzahl von genetischen Markern (i.d.R. Mikrosatelliten oder Polymorphismen einzelner Basen – engl. single nucleotide polymorphism, SNP) unterscheiden. Die Markerdichte
entscheidet über die Genauigkeit der Kartierung. Bei der Maus gibt es derzeit ca. 10 000 Mikrosatelliten und mehr als 10-mal so viele SNPs (http:// mousesnp.roche.com). Zunächst werden Tiere der beiden ausgewählten Elternlinien (P: parental) gekreuzt; danach werden die erhaltenen Tiere der F1-Nachkommen (F: filial) mit einem der Elternstämme zurückgekreuzt; die Analyse der Rekombinationshäufigkeit kann dann in den Nachkommen dieser Kreuzung durchgeführt werden (F2). Waren die Elternstämme in Bezug auf das zu untersuchende Merkmal beide homozygot (homozygot für die Mutation bzw. homozygot Wildtyp), sind alle Tiere der F1-Generation heterozygot. Waren die mutanten Elterntiere heterozygot, ist auch nur die Hälfte der F1-Tiere heterozygot. Bei einem rezessiven Merkmal erfolgt die Rückkreuzung der heterozygoten F1-Tiere immer zu der Linie,
die das Merkmal trägt (sonst wird in der F2-Generation das zu untersuchende Merkmal nicht sichtbar); bei dominanten Mutationen wird dagegen zu dem parentalen WildtypStamm zurückgekreuzt, da im anderen Fall die F2-Tiere keine phänotypischen Unterschiede aufweisen (hetero- bzw. homozygot für die Mutation). Der Abstand R der Mutation von den untersuchten Markern (in cM) hängt ab von der Zahl der beobachteten Rekombinanten (a) bezogen auf die Zahl (n) der untersuchten F2-Nachkommen: R [cM] = (a/n) 100 Die Standardabweichung ist abhängig von der Zahl der untersuchten F2Nachkommen: [(1-R)R]/n SD [cM] = 100 冪苶 Ein praktisches Beispiel ist in Abb. 11.33 und Tab. 11.11 gegeben.
Kapitel 12
Genetische Kontrolle zellulärer Differenzierung
Dieses sterische molekulare Modell zeigt die Bindung eines Antigens (oben) an einen Antikörper (unten). Die Kontaktzonen beider Moleküle sind sterisch genau aufeinander abgestimmt (Mitte). (Photo: P. Colman, Melbourne)
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Kapitel 12: Genetische Kontrolle zellulärer Differenzierung
Überblick Bereits seit langem war man der Meinung, dass die verschiedenen Zelltypen eines multizellulären Organismus im Prinzip alle die gleichen genetischen Fähigkeiten besitzen und letztlich in der Lage sind, einen vollständigen Organismus neu entstehen zu lassen. Diese Fähigkeit hat man als Totipotenz von Zellen bezeichnet. Hierfür gab es vor allem Argumente, die sich aus embryologischen Experimenten ableiten. In letzter Zeit haben die Versuche zur Klonierung mit Hilfe somatischer Zellen gezeigt, dass viele somatische Zellen multipotent sind. Das Klonschaf „Dolly“ war dafür das bekannteste Beispiel, bevor es unerwartet jung starb. Über die Klonierung von Organismen aus Körperzellen wird ebenso diskutiert wie über den Nutzen von Stammzellen. Seien es embryonale Stammzellen aus der Blastocyste oder adulte Stammzellen aus dem Knochenmark oder anderen Geweben – in Kultur können sie zu Zellen vieler unterschiedlicher Gewebe heranwachsen. Viele erhoffen sich hiervon, ein präzise steuerbares Ersatzteillager für Patienten aufzubauen. Die Kerntransplantationsergebnisse haben aber auch gezeigt, dass offensichtlich in bestimmten Bereichen das mütterliche und väterliche Genom unterschiedlich ist. Bevor man dieses Phänomen molekular bearbeiten konnte, wurde dafür der Begriff „genetische Prägung“
12.1 Stammzellen 12.1.1 Totipotenz von Zellkernen Wir wissen, dass es möglich ist, genetisch identische Pflanzen durch vegetative Vermehrung zu erzeugen. Hierzu zerteilt man z. B. Wurzelstöcke. Eine alternative Möglichkeit der vegetativen Vermehrung ist die der in-vitro-Kultur von Protoplasten, die es erlaubt, genetisch identische Individuen aus Einzelzellen zu gewinnen. Zwei in diesem Zusammenhang wichtige Fragen haben wir jedoch bisher noch nicht gestellt: Sind alle Zellen eines Individuums genetisch völlig identisch? Besitzen sie die gleiche genetische Information, die die Zygote besessen hat, von der sie abstammen? Beide Fragen gehören zu den Grundfragen der Entwicklungsbiologie und haben demgemäß die Biologen bereits in den Frühzeiten der experimentellen Forschung interessiert. Beobachtungen der
(engl. imprinting) eingeführt. Wir wissen heute, dass Imprinting im Wesentlichen auf Methylierung beruht und in den frühen Phasen der Embryonalentwicklung gelöscht und später dann geschlechtsspezifisch erneuert wird. Neben dem Imprinting ist in den letzten Jahren ein zweites epigenetisches Phänomen sehr interessant geworden, das als „RNA-Interferenz“ bezeichnet wird. Kleine RNA-Fragmente sind in der Lage, die Translation homologer mRNA zu blockieren. In dieser noch jungen Richtung steckt sicherlich auch ein großes gentherapeutisches Potential. In früheren Jahren ist man immer davon ausgegangen, dass durch die Differenzierung zwar die Entwicklungsmöglichkeit und das Expressionsmuster einer Zelle festgelegt wird, dass aber dennoch die DNA jeder Zelle das gesamte Genom des jeweiligen Organismus enthält. Es gibt allerdings einige Einschränkungen, da sich in bestimmten Zellen irreversible Veränderungen der GenomDNA vollziehen, die mit der Funktion des betroffenen Zelltyps zusammenhängen. Beispiele für die Veränderungen von DNA im Zusammenhang mit zellulärer Differenzierung bieten uns nicht nur Einzeller wie Hefen oder Ciliaten, sondern auch Gene, die eine zentrale Rolle im Säugerimmunsystem spielen: die Immunoglobuline.
klassischen Cytologen zeigen, dass man bei geeigneten Organismen im Mikroskop Unterschiede im Karyotyp zwischen Keimbahn- und Somazellen erkennen kann (s. S. 258 und 535). Solche Befunde lassen es nicht als abwegig erscheinen zu vermuten, dass zelluläre Differenzierung mit dem teilweisen Verlust – oder zumindest mit Veränderungen – genetischer Information verbunden ist. Versuche von H. Driesch (1867–1941) gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatten jedoch andererseits gezeigt, dass die verschiedenen Blastomeren von Seeigelembryonen in der Lage sind, einen vollständigen Organismus entstehen zu lassen (Driesch 1900). Gleiche Schlüsse wurden auch später hinsichtlich der Zellen in der inneren zellulären Masse in Säugerblastulae gezogen, deren jede einzelne in der Lage ist, einen vollständigen Embryo entstehen zu lassen (s. S. 631). Experimente Hans Spemanns (1868–1941) ließen auch erkennen, dass Säugerzellen ganz allgemein in einem hohem Maße zu Regenerationsprozessen befähigt
12.1 Stammzellen
sind und daher, wenn überhaupt, nur geringe Restriktionen hinsichtlich ihrer genetisch programmierten Fähigkeiten aufzuweisen scheinen (Spemann 1938). Allerdings zeigen die gleichen embryologischen Experimente auch Einschränkungen der Differenzierungsfähigkeit an. Vor allem Experimente an Seeigeln hatten erkennen lassen, dass die Differenzierungskapazität von Seeigelblastomeren bereits vom 32-Zellstadium an begrenzt ist. Auch solche Einschränkungen der Entwicklungsfähigkeiten von Zellen erweisen sich bei genauerer Untersuchung als eine allgemeine Erscheinung, die mit zellulärer Differenzierung verbunden ist. Diese Feststellung wirft erneut die Frage auf, inwiefern solche Einschränkungen auf Veränderungen im genetischen Material zurückzuführen sind. Sie könnten auch rein epigenetisch bedingt sein, d. h. durch sekundäre Faktoren, die auf die Expression des genetischen Materials einwirken. Um diese Problemstellung besser beurteilen zu können, wollen wir uns zunächst auf die Beantwortung der Frage nach der Unveränderlichkeit des genetischen Materials in somatischen Zellen konzentrieren. Eine geeignete experimentelle Technik zur Beantwortung der Frage nach der Gleichheit des genetischen Materials in differenzierten Zellen eines Organismus ist die der Kerntransplantation. Führt man beispielsweise den Zellkern einer ausdifferenzierten Zelle eines adulten Individuums nach Entfernung der beiden Pronuklei in eine befruchtete Eizelle ein, so sollte man erwarten, dass diese nunmehr mit einem Zellkern einer differenzierten Zelle ausgestattete Eizelle in der Lage ist, sich zu einem vollständigen Individuum zu entwickeln, wenn tatsächlich alle Informationen des Genoms unverändert vorhanden sind (Abb. 12.1). Solche Versuche wurden von T.J. King und R. Briggs (1956) an Rana pipiens unternommen. Sie zeigten, dass Zellkerne aus Blastulae die Entwicklung bis hin zur Kaulquappe gestatten. In Versuchen, in denen sie Zellkerne späterer Entwicklungsstadien, etwa aus späten Gastrulae oder sogar von somatischen Zellen aus Kaulquappen, verwendeten, nahm die Entwicklungsfähigkeit in den Transplantationsexperimenten jedoch mit fortschreitender Differenzierung der Donorzellen drastisch ab, so dass schließlich keine entwicklungsfähigen Embryonen mehr erzeugt wurden. Lediglich bei der Verwendung von Keimzellkernen aus Kaulquappen
blieb die Differenzierungsfähigkeit erhalten. Diese Versuche scheinen daher eine zunehmende Restriktion der funktionellen Fähigkeiten des Genoms somatischer Zellen mit zunehmendem Differenzierungsgrad der Zelle anzuzeigen. Die Frage, ob es sich um irreversible Veränderungen des genetischen Materials, oder lediglich um sekundäre Restriktionen der Expressionsfähigkeit bestimmter Gene handelt, konnte jedoch durch diese Experimente nicht beantwortet werden. Ähnliche Versuche wurden von John Gurdon (1968) an Xenopus durchgeführt. Seine Ergebnisse wichen von denen der Experimente an Rana ab. Gurdon gelang es in einigen Fällen, wenn auch mit geringer Häufigkeit, durch Kerntransplantationen von Darmzellkernen fertile Xenopus-Individuen zu erhalten. Übereinstimmend sprechen somit embryologische Experimente, insbesondere an Tieren, für eine gewisse Beschränkung der Differenzierungsfähigkeit somatischer Zellen. Diese Klonierungsversuche sprechen dafür, dass solche Beschränkungen experimenteller Natur sind, und dass vielen somatischen Zellen eine Pluripotenz oder sogar Totipotenz ihrer Differenzierungsfähigkeit erhalten bleibt. Auch in einer Reihe von Säugerarten war der Kerntransfer in Eizellen erfolgreich. So konnten zunächst embryonale Zellkerne von Schafen, Rindern, Kaninchen und einigen anderen Säugerspezies die Embryonalentwicklung in Gang setzen. Mittlerweile ist es gelungen, durch Kerntransfer aus einer Zelle ein lebensfähiges Schaf („Dolly“) zu erzeugen (Abb. 12.2). Dabei stammte der Spenderkern aus einer Zelllinie, die aus adultem Eutergewebe gewonnen wurde (Wilmut et al. 1997). Ebenso gelang es, Mäuse aus ausdifferenzierten adulten Ovarienzellen zu klonen. Zudem waren sowohl besagtes Schaf als auch die Mäuse, die aus den Kerntransplantationen entstanden, fertil. Folglich sind somatische Zellkerne prinzipiell fähig, die Ontogenese sogar bis zur Fortpflanzungsfähigkeit zu steuern. Dennoch scheinen dazu auch bei Säugern nicht alle differenzierten Zellkerne gleichermaßen geeignet. Bei den Mausexperimenten konnten sich etwa bei der Verwendung von Kernen aus Nervenzellen keine Tiere entwickeln. In allen Experimenten war die Erfolgsquote äußerst niedrig. Nur ein kleiner Prozentsatz der jeweiligen behandelten Oocyten entwickelte sich über Frühstadien hinaus. Das berühmte Schaf „Dolly“ war das einzige lebende Lamm unter 277 Versuchen. In der Regel gilt: Je fortgeschrittener das Entwick-
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Kapitel 12: Genetische Kontrolle zellulärer Differenzierung
unbefruchtetes Ei Kaulquappe Darm der Kaulquappe UltraviolettBestrahlung
Darmzellen
Mikropipette Darmkern
Empfängerei
Blastula
Kaulquappe
Darmepithel-Kern
Blastula
Abb. 12.1. Kerntransplantationen bei Xenopus. Der Kern eines unbefruchteten Eies lässt sich manuell entfernen oder durch UV-Bestrahlung funktionsunfähig machen. In das entkernte Ei kann dann ein beliebiger (diploider) Kern transplantiert werden. Solche Kerntransplantationen gestatten es, das Entwicklungspotential verschiedener Kerntypen zu ermitteln. Die meisten Transplantationen führen zu einer frühen Degeneration der Rezipienten. Nur in Ausnahmefällen entwickelten sich fertile adulte Krallenfrösche. (Aus Gurdon 1968)
keine Teilung
abnormaler Embryo
reifer Xenopus
lungsstadium einer Zelle ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Kern die Embryonalentwicklung vollständig unterstützen kann. Dieses Experiment revolutionierte die Biowissenschaften und wird sich voraussichtlich stark auf die Gesundheitsversorgung auswirken. Insbesondere zwei Anwendungsgebiete zeichnen sich ab: Zum einen sind derartige Klonierungsverfahren ideal, um genetische Modifikationen an landwirtschaftlichen Nutztieren vorzu-
nehmen, vorausgesetzt, dass somatische Zellen aus erwachsenen Tieren leicht gewonnen, im Labor kultiviert und genetisch modifiziert werden können. Neben den „klassischen“ Fragestellungen zu biologischen Prozessen und Krankheiten dieser Tiere können solche genetisch veränderten Nutztiere auch als „Bioreaktoren“ biologische Produkte (z. B. in der Milch) oder Spenderorgane herstellen (Edwards et al. 2003).
12.1 Stammzellen
12.1.2 Embryonale Stammzellen
Abb. 12.2. Das Schaf Dolly. Das Lamm Nr. 6LL3 (später als „Dolly“ bekannt geworden) entstand aus dem Zellkern einer Brustdrüsenzelle eines finnischen „Dorset“-Muttertieres und einer schottischen „Blackface“ als Empfängerin. (Aus Wilmut et al. 1997)
Zum anderen hat die Herstellung von „Dolly“ durch den Transfer eines Zellkerns aus einer erwachsenen Zelle auch das Interesse an der Klonierung von Menschen wiedergeweckt. Was lange undenkbar schien, bekommt auf einmal realistischere Züge. Die gesellschaftliche Diskussion ist kontrovers, wenn auf der einen Seite der Kinderwunsch unfruchtbarer Paare oder das Bedürfnis nach maßgeschneiderten Spenderorganen und auf der anderen Seite grundsätzliche ethische und religiöse Überzeugungen stehen (McKinnall 2002; Schramm 1999). ! Obwohl tierische Zellen im Allgemeinen noch
einen hohen Grad an Differenzierungsfähigkeit besitzen (sie sind pluripotent), ist ein Teil der Zellen nicht mehr zur Entwicklung eines ganzen Organismus fähig (sie sind nicht totipotent). Bei Pflanzen sind mehr Zellen totipotent, jedoch kann auch hier nicht von einer allgemeinen Totipotenz gesprochen werden.
Wir haben gesehen, dass Zellen und ihre Zellkerne offensichtlich in unterschiedlichem Ausmaß in der Möglichkeit ihrer weiteren Entwicklung festgelegt sind: So zeigen beispielsweise die mesenchymalen Vorläufer der Muskelzellen (s. S. 632) noch keine Anzeichen für die komplexe Anordnung der kontraktilen Filamente, die sie in ihrem Inneren später entwickeln werden. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Zellen bestehen wahrscheinlich in kleinen Veränderungen, die durch Aktivitätsänderungen einiger weniger Gene (Transkriptionsfaktoren) verursacht werden. In diesem Zustand werden die Zellen hinsichtlich ihrer weiteren Entwicklungsmöglichkeiten determiniert. Zum Beispiel können aus mesodermalen Zellen der Somiten (s. S. 632) noch Muskel-, Knorpel-, Unterhaut- und Gefäßgewebe entstehen, aber keine anderen Gewebe. Ist die Entwicklungsrichtung einer Zelle einmal festgelegt, so „vererbt“ sie diesen Determinierungszustand auf alle ihre Nachkommen. Die Frage ist daher, worauf diese Unterschiede in der Differenzierungskapazität zurückzuführen sind: auf Veränderungen in der Genomstruktur oder auf epigenetische Mechanismen. Wir werden sehen, dass Differenzierungsprozesse auf beiden Ebenen bestimmt werden können. Zunächst aber wollen wir uns die Zellen etwas genauer betrachten, die als Stammzellen bezeichnet werden. Diese sind in der Lage, in verschiedene Zelltypen zu differenzieren und sich an der Entwicklung aller embryonaler Gewebe einschließlich der späteren Keimzellen zu beteiligen. Diese Definition gilt in besonderem Maß für die embryonalen Stammzellen, die die Blastocysten von Säugetieren bilden (s. S. 509). In eingeschränktem Maß gilt dies aber auch noch für Zellen adulter Gewebe, die die Fähigkeit zur wiederholten differentiellen Zellteilung haben, wobei die Mutterzelle eine Stammzelle bleibt und sich die Tochterzelle differenziert. So leiten sich sämtliche Blutzellen in erwachsenen Säugetieren aus einer Population pluripotenter Stammzellen im Knochenmark ab. Ähnliches gilt für männliche Keimzellen, die fortwährend Spermatogonien produzieren. Weiterhin kennen wir retinale Stammzellen oder neuronale Stammzellen. In den frühen Embryonalstadien besitzen Wirbeltiere ein beachtliches Regulationspotential, wenn Teile des Embryos entfernt oder anders angeordnet
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Kapitel 12: Genetische Kontrolle zellulärer Differenzierung
werden. Allerdings haben dabei verschiedene Organismen an unterschiedlichen Stellen ihre jeweiligen Grenzen gezogen. Isoliert man die animalen und vegetativen Hälften eines 8-Zell-Embryos des Krallenfrosches Xenopus, so entwickeln sich diese nicht mehr normal. Anders dagegen bei der Maus: Hier sind die Zellen der inneren Zellmasse (Morula-Stadium mit insgesamt 32 Zellen; s. S. 631) noch nicht determiniert. Die Zellen der inneren Zellmasse der Maus sind bis zu 4 1⁄2 Tage nach der Befruchtung noch pluripotent und können daher in dieser Zeit in viele verschiedene Zelltypen differenzieren. Schleust man sie in die innere Zellmasse einer anderen Blastocyste vergleichbaren Alters ein, können sie an der Bildung aller embryonaler Gewebe einschließlich der zukünftigen Keimzellen beteiligt sein. Diese Eigenschaft ermöglicht die Erzeugung von chimären Mäusen, die Zellen mit zwei verschiedenen Genotypen besitzen. Man kann dazu Zellen der inneren Zellmasse eines Tieres entnehmen und sie in einen Wirtsembryo injizieren, wo sie sich wie die übrigen Zellen der inneren Zellmasse verhalten. Sowohl der Verlust als auch das Hinzufügen von Zellen kann durch den Mausembryo ausgeglichen werden.Verschiedene Embryonen der Maus können auch im Morula-Stadium durch Anlagerung verschmelzen (Morula-Aggregation). Daraus entsteht dann ebenfalls eine Chimäre. Bilden sich aus der hinzugefügten Zelle Keimzellen, so stammen alle Nachkommen des erwachsenen Tieres von der hinzugefügten Zelle ab. 1981 gelang es Evans und Kaufman, Zellen aus der inneren Zellmasse der Maus zu isolieren und in vitro zu kultivieren. Diese Zellen werden als embryonale Stammzellen (ES-Zellen) bezeichnet. Unter geeigneten Kulturbedingungen wachsen solche ES-Zellen unbegrenzt, ohne ihre Pluripotenz zu verlieren. So wie sich durch die Übertragung von Zellen aus der inneren Zellmasse eines Mausembryos in einen anderen Mausembryo Chimären herstellen lassen, so lassen sich auch einzelne ES-Zellen nach einer invitro-Kultur wieder mit frühen Mausembryonen kombinieren. Nach der Injektion von ES-Zellen in „Empfänger-Blastocysten“ können sie sich in den entwickelnden Embryo integrieren und bilden so eine Chimäre. Dieses System eröffnete die Möglichkeit, genetisch veränderte DNA zunächst in ES-Zellen zu transfizieren und nach geeigneter Selektion auch stabil zu integrieren. Die anschließende Einschleusung dieser veränderten ES-Zellen in Embryonen und die Pro-
duktion von Chimären haben den Grundstein für die enorm gestiegene Bedeutung der Maus als Tiermodell für genetische Untersuchungen gelegt. Es können im Prinzip Mausmutanten mit Mutationen in praktisch jedem Gen auf diese Weise gezielt hergestellt werden (s. Technik-Box 27) Analog zu den ES-Zellen der Maus wurden auch ES-Zellkulturen von menschlichen Embryonen hergestellt (Thomson et al.1998). Diese menschlichen Embryonen aus der Prä-Implantationsphase stammten i.d.R. aus „überzähligen“ Embryonen von in-vitro-Fertilisationen. Die Frage, wie mit solchen „überzähligen“ Embryonen und daraus entwickelten ES-Zellen umgegangen werden soll, ist während der Entstehung dieser Buchauflage Gegenstand heftiger Kontroversen zwischen Wissenschaftlern, aber in noch stärkerem Maße innerhalb der Gesellschaft. Offensichtlich handelt es sich doch um menschliche Embryonen, die nur zu Menschen werden können. Da sie sich aber noch nicht eingenistet haben, sprechen ihnen viele Befürworter der neuen Technologie die volle Menschenwürde ab. Dieser Standpunkt ist allerdings mit der „Unantastbarkeit der Menschenwürde“ nicht zu vereinbaren. ES-Zellen der Maus – und in etwas eingeschränkterem Umfang auch ES-Zellen des Menschen – können unter definierten Bedingungen wie „normale“ Zellkulturen gehandhabt werden (Passier u. Mummery 2003). In Suspensionskulturen von ES-Zellen der Maus führt Zellaggregation zu einer Differenzierung in mehrschichtige Strukturen, die als „embryoide Körper“ (engl. embroid bodies) bezeichnet werden. Zwar fehlt eine Körperachse, doch die Differenzierung schreitet wie bei einem frühen Mausembryo fort (siehe Kap. 13 „Entwicklungsgenetik“) und führt zu einer Reihe differenzierter Gewebe wie Dottersack, Herz- und Skelettmuskelzellen, embryonalen und definitiven hämatopoietischen Zellen, Endothelzellen, Nerven- und Gliazellen (Abb. 12.3). Es ist möglich, diese Differenzierung von ES-Zellen der Maus durch Wachstumsfaktoren und/oder Retinsäure oder durch die Hemmung spezifischer Signalwege zu steuern. So führt die ektopische Expression der Transkriptionsfaktoren GATA-4 oder GATA-6 in ES-Zellen der Maus zur Differenzierung in viszerales Entoderm. Während ES-Zellen der Maus die wesentlichen Differenzierungsschritte in den embryoiden Körpern ablaufen, differenzieren ES-Zellen des Menschen auch in der Zellkultur z. B. zu Neuronen, Pankreaszellen,
12.1 Stammzellen Abb. 12.3. Von der Blastocyste zu embryonalen Stammzellen und Körperzellen. Zellen werden aus der Blastocyste entnommen und können als embryonale Stammzellen in Kultur gehalten werden. Unter geeigneten Bedingungen können sie weiter ausdifferenzieren. Als Beispiele sind neuronale Abkömmlinge, Endoderm-ähnliche Zellen und schlagende Muskelzellen gezeigt. (Aus Passier u. Mummery 2003)
Herzmuskelzellen, hämatopoietischen Zellen oder Endothelzellen. Es ist klar, dass für diese Differenzierungsschritte hohe lokale Zelldichten notwendig sind, und die zusätzliche Anwesenheit von Wachstumsfaktoren beeinflusst das Differenzierungsprogramm. Es ist beabsichtigt, diese Technologien in der Transplantationsmedizin anzuwenden, insbesondere für Herzinfarktpatienten und Patienten mit neurodegenerativen Erkrankungen. Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind in der westlichen Welt die häufigste Todesursache; die mangelhafte Funktion der Herzmuskelzellen ist dabei einer der Gründe, der zu einer verringerten Pumpleistung des Herzens führt. In vielen fortgeschrittenen Fällen ist eine Herztransplantation daher die Methode der Wahl. Ihre Verwendung wird aber einerseits durch die Verfügbarkeit der Spenderorgane einerseits und die Immunantwort des Empfängers andererseits begrenzt. Um diese Begrenzungen zu umgehen, sollen ES-Zellen eingesetzt werden. So ist es in Mäusen bereits gelungen, Herzmuskelzellen, die aus ES-Zellen der Maus abgeleitet wurden, in das Herz einer mdx-Mutante (muskuläre Dystrophie, X-gekoppelt) zu transplantieren. Die so behandelten Mäuse überlebten offensichtlich deut-
lich besser als die Kontrollen, wobei die Wirkung noch gesteigert werden konnte, wenn die transplantierten Zellen genetisch so verändert waren, dass sie den vaskulo-endothelialen Wachstumsfaktor (engl. vascular endothelial growth factor, VEGF) überexprimieren. Aktuell überlegt man allerdings, ob diese Herzmuskelzellen aus embryonalen Stammzellen oder aus adulten Stammzellen gewonnen werden können (Nir et al. 2003; Passier u. Mummery 2003). Die Parkinson’sche Krankheit ist eine neurodegenerative Erkrankung, die in erster Linie durch einen Verlust dopaminerger Neurone im Mittelhirn charakterisiert ist. Dementsprechend setzt eine Therapie auch primär an der Substitution des Neurotransmitters Dopamin an. Alternativ zur symptomatischen Therapie wird die Transplantation von fötalen dopaminergen Neuronen diskutiert. Trotz vielfacher ethischer und technischer Probleme haben weltweit über 300 Patienten Transplantate von embryonalen Neuronen erhalten (Gerlach et al. 2002). In Experimenten an Mäusen wurden dafür Zellen verwendet, die aus ES-Zellen gewonnen wurden (Passier u. Mummery 2003). Diese Ergebnisse zeigen ein mögliches Potential von ES-Zellen auch für die medizinische Therapie.
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Kapitel 12: Genetische Kontrolle zellulärer Differenzierung
! Embryonale Stammzellen werden aus der inne-
ren Zellmasse von Blastocysten vor der Implantation in den Uterus gewonnen. Stammzellen haben die Fähigkeit zur wiederholten differentiellen Teilung, wobei die Mutterzelle eine Stammzelle bleibt und die Tochterzelle differenzieren kann. Totipotente Stammzellen haben dabei die Möglichkeit, wieder einen vollständigen Organismen zu generieren. Pluripotente Stammzellen können viele Gewebe eines Organismus aufbauen (zu dieser Gruppe gehören die embryonalen Stammzellen). Multipotente Stammzellen können zu einigen spezialisierten Geweben oder Zelltypen differenzieren; so können hämatopoietische Stammzellen Erythrocyten, Leukocyten und Thrombocyten bilden, aber keine Zellen außerhalb des Blutsystems.
12.1.3 Somatische Stammzellen Stammzellen wurden nicht nur aus embryonalem Gewebe gewonnen, sondern kommen auch in vielen Geweben eines erwachsenen Organismus vor (sie werden daher oft auch als „adulte“ Stammzellen bezeichnet). Solche Gewebe sind z. B. Haut, Knochenmark, Gehirn, Leber, Pankreas oder Darm. Obwohl üblicherweise angenommen wird, dass sich diese somatischen Stammzellen nur zu den Geweben weiterentwickeln können, aus denen sie entnommen wurden, haben verschiedene neuere Untersuchungen gezeigt, dass somatische Stammzellen auch in völlig andere Zelltypen differenzieren können. Dieser phänotypische Sprung wird von einem veränderten Expressionsprofil begleitet und wird als Transdifferenzierung bezeichnet. Eine Übersicht über diese Möglichkeiten gibt Abb. 12.4. Betrachtet werden dabei vor allem die verschiedenen Stammzellen des Knochenmarks, die als mesenchymale und als hämatopoietische Stammzellen bezeichnet werden. Erwartungsgemäß entwickeln sich aus den hämatopoietischen die entsprechenden Zellen des Blutes (z. B. Erythrocyten, Leukocyten und Thrombocyten),wohingegen aus den mesenchymalen Stammzellen z. B. Knochen- oder Knorpelgewebe,aber auch neuronale Zellen,Leberzellen, Herz- und Skelettmuskelzellen entstehen können. Die verschiedenen Zelltypen, die aus diesen somatischen Stammzellen abgeleitet werden, zeigen dann gewebespezifische Funktionen (Pfendler u.Kawase 2003).
Im Mausmodell eines Herzinfarktes wanderten Zellen, die von Knochenmark-Stammzellen abgeleitet waren, nach der Injektion in die ischämische Herzregion und differenzierten dort zu Herzmuskelzellen und neuen Blutgefäßen, was zu einer verminderten Apoptose von Herzmuskelzellen und zu einer verbesserten Herzfunktion führte (Orlic et al. 2001). Neuronale Stammzellen kommen im Hippocampus und der subventrikulären Zone vor. Sie können unter der Wirkung des epidermalen Wachstumsfaktors (engl. epidermal growth factor, EGF) oder des Fibroblastenwachstumsfaktors (engl. fibroblast growth factor, FGF) in verschiedene neuronale Zelltypen differenzieren, vor allem in Neurone, Oligodendrocyten und Astrocyten. Die gleichen Zelltypen können aber auch aus den oben erwähnten (und gereinigten) mesenchymalen Stammzellen des Knochenmarks gewonnen werden. Werden solche Zellen nach einem (simulierten) Gehirnschlag in den Kortex eines Rattengehirns injiziert, so wandern diese Zellen entlang des corpus callosum, exprimieren neuronale Marker und führen zu einer deutlichen verbesserten Funktion der Extremitäten (die ja oft nach einem Schlaganfall gelähmt sind; Zhao et al. 2002). ! Somatische (oder adulte) Stammzellen kommen
in Menschen und Tieren in verschiedenen Organen vor, z. B. im Knochenmark. Über ein komplexes Steuerungssystem machen es diese somatischen Stammzellen möglich, dass sich hochspezialisierte Gewebe kontinuierlich erneuern.
12.2 Epigenetik und genetische Prägung Der Begriff „Epigenetik“ meint „außerhalb der konventionellen Genetik“. Er wird heute üblicherweise verwendet, um stabile Veränderungen in der Regulation der Genexpression zu beschreiben, die während der Entwicklung und Zellproliferation entstehen und festgeschrieben werden (Jaenisch u. Bird 2003). Diese Verwendung des Begriffs hat eine frühere Bedeutung erfolgreich verdrängt, wobei unter „Epigenetik“ die Interpretation des Genotyps während der Entwicklung zu einem bestimmten Phänotyp verstanden wurde (Waddington 1940).
12.2 Epigenetik und genetische Prägung Abb. 12.4. Abkömmlinge aus Stammzellen des Knochenmarks. Stammzellen des Knochenmarks können nicht nur zu Blut-, Knochen- und Gefäßzellen differenzieren, sondern ebenso zu Zellen einer Vielzahl anderer Gewebe, z. B. Nerven-, Leber-, Pankreas-, Niere-, Herz- und Muskelzellen. (Aus Holden u. Vogel 2002)
12.2.1 Was ist genetische Prägung? Aus den Beobachtungen der Entwicklungsfähigkeit von Säugerembryonen lassen sich Hinweise auf spezifische Regulationsmöglichkeiten von Genen ableiten, die als epigenetische Veränderungen des Genoms bezeichnet werden. Insbesondere Kerntransplantationsversuche von James McGrath und Davor Solter (1983) an Eizellen von Mäusen haben bewiesen, dass für die Entwicklung eines normalen Embryos sowohl der väterliche als auch der mütterliche Pronukleus erforderlich sind. Injiziert man nach der Entfernung des väterlichen Pronukleus aus einer befruchteten Eizelle entweder einen zweiten mütterlichen Pronukleus oder injiziert umgekehrt nach Entfernung des mütterlichen Pronukleus einen zweiten väterlichen Pronukleus in die befruchtete Eizelle, so bleibt die embryonale Entwicklung auf frühe Präimplantationsstadien beschränkt. Diese Versuche beweisen, dass beide Genome der Eltern für die Embryonalentwicklung spezifisch und unterschiedlich programmiert sein müssen, und dass nur in ihrem Zusammenwirken ein neuer Organismus entstehen kann. Es kann sich also nicht um irreversible Veränderungen des Genoms (z. B. Verlust oder Veränderung von DNA-Sequenzen) handeln, da sich die Entwicklungsstörungen bereits zeigen, bevor die
künftigen Keimzellen determiniert sind. Bis zu diesem Zeitpunkt müssen noch totipotente Zellen vorhanden sein. Es handelt sich also um einen epigenetischen Regulationsprozess, der das väterliche und mütterliche Genom unterscheidet. Dieser Prozess wird als genetische Prägung bezeichnet; häufig wird auch im Deutschen der angelsächsische Begriff „Imprinting“ verwendet. „Imprinting“ bedeutet, dass es eine auf chromosomaler Ebene niedergelegte Information geben muss, die sich in folgenden Differenzierungsprozessen in der Regulation differenzieller Genaktivität auswirkt. Er sagt jedoch weder etwas darüber aus, ob nur bestimmte Gene oder ob das gesamte Genom betroffen sind, noch gibt er Auskunft darüber, auf welchen molekularen Mechanismen diese chromosomale Information beruht. In den letzten Jahren hat unser Wissen über die molekularen Grundlagen des Imprinting jedoch deutlich zugenommen, zumal es auch eine wesentliche Ursache verschiedener Erbkrankheiten des Menschen ist (Prader-Willi-Syndrom, Angelman-Syndrom, Beckwith-WiedemannSyndrom; vgl. Kap. 14 über Humangenetik). Eine wichtige Frage betrifft die Größe der Chromosomenbereiche, die einem Imprintingeffekt unterliegen. Sind es einzelne Gene oder umfasst das Imprinting größere kontinuierliche
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Kapitel 12: Genetische Kontrolle zellulärer Differenzierung
Genomabschnitte? Hierauf geben uns genetische Experimente an Mäusemutanten eine Antwort. Untersucht man die Keimzellen von Mäusen, die hinsichtlich bestimmter Translokationen heterozygot sind, so findet man eine erhöhte Rate von Segregationsstörungen während der Meiose, die durch Nondisjunction zu aneuploiden Keimzellen führen (Abb. 12.5). Durch eine systematische genetische Analyse von Translokationen haben Cattanach und Jones (1994) spezifische Regionen im Mäusegenom kartieren können, die Imprintingeffekte zeigen. Danach ist ein Imprinting für in der Embryogenese wichtige Gene nur für einige begrenzte Abschnitte des Genoms nachweisbar (Abb. 12.6). In großen anderen Bereichen ist es hingegen für die Embryonalentwicklung bedeutungslos, ob Gene väterlichen oder mütterlichen Ursprungs sind. Eine genauere Analyse von Chro-
mosomenregionen, die Imprinting zeigen, deutet darauf hin, dass es (bei der Maus) über 60 Gene sind, die entsprechend ihrem Ursprung aus der Eizelle oder den Spermatozoen unterschiedlich exprimiert werden (http://www.mgu. har.mrc. ac.uk/ research/imprinting/index. html). Eines der zuerst identifizierten Gene, die Imprinting zeigen, ist das Igf2-Gen (engl. insulin-like growth factor 2) im Chromosom 7 der Maus (De Chiara et al. 1991). Im Embryo ist das väterliche Allel exprimiert, während das mütterliche Allel inaktiv bleibt (Abb. 12.7). Das Igf2-Gen wird u. a. in der Plazenta exprimiert und fördert das Wachstum des Embryos. Die Hemmung des väterlichen Allels führt zu Mäusen, die nur noch 60% des üblichen Geburtsgewichts haben. Besonders interessant ist, dass damit ein funktionell zusammenhän-
Abb. 12.5 a,b. Mit der Hilfe von Translokationschromosomen (hier eine Robertson-Fusion zwischen Chromosom 11 und 13 der Maus) können disomisch paternale (blau) oder maternale (rot) Nachkommen erzeugt werden (a), die es gestatten, väterliches oder mütterliches Imprinting zu erkennen. Diese genetischen Konstitutionen ergeben sich aus der Segregation des Translokationschromosoms in der Meiose, wie es in Abb. 10.21 für das erbliche Down Syndrom gezeigt wurde. b Beispiel für maternales und paternales Imprinting im Chromosom 11 (vgl. Abb. 12.6). Mütterliche (links) und väterliche (rechts) Disomie sind in diesem Chromosom nicht letal, sondern führen zu geringerem (links) oder stärkerem (rechts) Wachstum der Nachkommen im Vergleich zu normalen (Mitte) Nachkommen. (Nach Cattanach u. Beechey 1990; b: Photo B. M. Cattanach)
12.2 Epigenetik und genetische Prägung
Abb. 12.6. Geprägte Gene der Maus: chromosomale Imprinting-Regionen und Phänotypen. Es sind die chromosomalen Regionen der Maus angegeben, deren Gene durch Imprinting
reguliert werden. Die Chromosomen, auf denen keine Imprinting-Regionen liegen, sind in der Abbildung aus Gründen der Klarheit weggelassen. (Nach Peters u. Beechey 2004)
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Kapitel 12: Genetische Kontrolle zellulärer Differenzierung
IGF 2+
F1:
IGF 2–
IGF 2–
IGF 2+
7
7
klein
normal
Abb. 12.7. Maternales Imprinting des Igf2-Gens der Maus. In heterozygoten Konstitutionen für eine Nullmutation des Igf2Gens erhält man normale Nachkommen, wenn das Chromosom mit dem Nullallel von der Mutter abstammt. Nachkommen, die das mutierte Allel vom Vater erhalten haben, sind kleiner. Das bedeutet, dass das mütterliche Allel gewöhnlich nicht oder nur wenig aktiv ist. Die Inaktivierung beruht auf Imprinting in der mütterlichen Keimbahn, da sie in der folgenden Generation nicht mehr zu beobachten ist, wenn das Chromosom über die väterliche Keimbahn vererbt wird. (Nach Reik 1992)
gendes Gen, das für den entsprechenden Rezeptor kodiert (engl. insulin-like growth factor 2 receptor, Igf2r) und auf dem Chromosom 17 liegt, ebenfalls Imprinting zeigt (Barlow et al. 1991). Allerdings ist hier das mütterliche Allel im Embryo aktiv, während das väterliche Gen inaktiv bleibt. Das Igf2r-Gen wird erwartungsgemäß auch in der Plazenta exprimiert und ist für eine Hemmung des embryonalen Wachstums verantwortlich; seine Inaktivierung führt zu Mäusen mit etwa 140% des normalen Geburtsgewichts. Dabei kodiert Igf2r eigentlich ursprünglich gar nicht für einen Igf2-Rezeptor, sondern für einen Mannose-6-Phosphat-Rezeptor. Die Bindung für Igf2 hat dieser Rezeptor erst später in der Evolution erworben – und zwar nur bei Beuteltieren und Säugetieren mit einer Plazenta, aber nicht bei Vögeln, Fröschen und Kloakentieren. Der von Igf2r kodierte Rezeptor fängt das Igf2 an der Zelloberfläche ab, führt es in die Zelle und dort zu den Lysosomen, in denen Igf2 abgebaut wird (der „normale“ Rezeptor für Igf2 wird durch Igf1r kodiert und vermittelt dagegen die wachstumsfördernden Eigenschaften). Wenn wir uns nun die Imprinting-Muster in der Evolution betrachten, so stellen wir fest, dass Igf2 in Beuteltieren, Nagern, Paarhufern und Primaten einem Imprinting unterliegt, aber nicht in Kloakentieren und Vögeln. Umgekehrt wird Igf2r in Beuteltieren, Nagern und Paarhufern genetisch geprägt, aber nicht
in Kloakentieren, Vögeln, Primaten und ihren nächsten Verwandten – den Spitzhörnchen (Tupaia) und den fliegenden Lemuren (Abb. 12.8). Diese phylogenetische Verteilung wird am einfachsten durch ein gleichzeitiges Entstehen von Imprinting an beiden Genen erklärt. Dem Erwerb der Igf2-Bindestelle durch den Mannose-6-Phosophat-Rezeptor in Vorläufern der heutigen Beuteltiere und Säugetiere (mit Plazenta) folgte später der Verlust der genetischen Prägung in Primaten. Diese phylogenetischen Daten zeigen einen Zusammenhang von Imprinting mit Lebendgeburten, wohingegen ein Imprinting bei eierlegenden Wirbeltieren fehlt. Allerdings wurde kürzlich auch Imprinting bei C. elegans beschrieben (Sha und Fire 2005). Es werden derzeit drei Theorien diskutiert, die versuchen, den selektiven Vorteil des genomischen Imprinting in der Evolution zu erklären (Wilkins u. Haig 2003): • die Evolutionsmodelle schlagen vor, dass Imprinting einer Population erlaubt, sich verändernden Umweltbedingungen schneller anzupassen, da sie einen Teil ihrer Allele (nämlich die abgeschalteten) in jeder Generation vor der natürlichen Selektion bewahrt. Während dieser Zeit könnten Mutationen akkumulieren, die nach Beendigung der Abschaltung einen selektiven Vorteil bringen. Diese Hypothese erscheint allerdings nicht sehr plausibel. • die „Eierstock-Zeitbomben“-Theorie schlägt vor, dass Imprinting entstand, um die weiblichen Organismen einer Spezies vor der Entstehung von Teratomen in der Gebärmutter durch unbefruchtete Oocyten zu schützen. Entsprechend dieser Hypothese sollen dann paternale Gene für die normale Entwicklung des Trophoblasten verantwortlich sein. Eine Schwäche dieser Hypothese ist, dass sie Imprinting von solchen Genen nicht erklären kann, die nicht an der Entwicklung des Trophoblasten beteiligt sind. • die „Verwandtschafts“-Hypothese (auch als „Konflikt-Theorie“ bekannt) besagt, dass Imprinting wegen eines evolutionären Konflikts in Individuen zwischen Allelen maternalen und paternalen Ursprungs entstand. In ihrer einfachsten Form beschreibt diese Theorie den Konflikt zwischen Genen, die im Embryo stark exprimiert werden, aber dafür zusätzliche Ressourcen der Mutter auf deren Kosten oder ihrer anderen Nachkommen in Anspruch nehmen.
12.2 Epigenetik und genetische Prägung Abb. 12.8. Evolution der genetischen Prägung am Igf2-Genort. In Kloakentieren unterliegen weder Igf2 noch das Gen des Igf2-Rezeptors einem Imprinting. Bei Beuteltieren, Paarhufern und Nagern sind beide Gene durch genetische Prägung reguliert, wohingegen bei Primaten das Imprinting des Igf2r wieder verloren ging. (Aus Wilkins u. Haig 2003)
! Das väterliche und das mütterliche Genom von
Pronuklei von Mäusen zeigen unterschiedliche funktionelle Programmierung, was als Imprinting (genetische Prägung) bezeichnet wird. Imprinting betrifft nur eine begrenzte Anzahl von Genen. Imprinting von Genen, das bereits in der Zygote erfolgt ist, ist in der Regel auch im adulten Organismus noch vorhanden. In Einzelfällen können aber Gene, die während der Embryogenese inaktiviert wurden, in adulten Stadien wieder exprimiert werden.
12.2.2 Methylierung als epigenetische Markierung Fragt man nach dem molekularen Mechanismus des Imprinting, so bieten sich zwei mögliche Antworten an: • Modifikationen von DNA-Sequenzen; • Modifikation chromosomaler Proteine. Während es experimentelle Hinweise auf die Beteiligung spezieller Proteine am Imprinting bisher nicht gibt (beachte aber: Histonmodifikationen bei der Genregulation, Stichwort „Histoncode“, Kap. 8), deutet einiges auf die Möglichkeit hin, dass DNA-Modifikationen bei der differenziellen Regulation von Genen eine wichtige Rolle spielen.
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Kapitel 12: Genetische Kontrolle zellulärer Differenzierung
Methylierung von Basen in der DNA ist generell ein geeignetes Markierungsmittel für einen bestimmten Funktionszustand der DNA, da es der Zelle leicht möglich ist, methylierte DNA-Abschnitte über die Replikation hinweg zu erhalten. Obwohl ein neu synthetisierter DNA-Strang nach der Replikation zunächst unmethyliert ist, kann eine Identifizierung methylierter Basen im komplementären,aufgrund der semikonservativen Replikation also ursprünglichen Strang, durch Methylasen leicht erfolgen. Da Methylgruppen offenbar bevorzugt in CpG-Inseln (engl. CpG islands) vorliegen, ist die Erhaltung der Methylierung aufgrund der Symmetrie der Anordnung methylierten Cytosins über beliebig viele Zellgenerationen leicht möglich (Abb. 12.9). Solche CpG-Inseln findet man häufig oberhalb vieler Säugergene. Etwa 88% der Maus-Gene, die durch Imprinting geregelt werden, haben CpG-Inseln, verglichen mit einem Durchschnitt von 47% aller Gene. Ebenso wie eine gewisse Häufigkeit direkter Wiederholungssequenzen in der Nachbarschaft dieser CpG-Inseln reicht das aber als einziges Charakteristikum für Imprinting-Regionen nicht aus. Allerdings zeigt die große Mehrheit der geprägten Gene Unterschiede im Methylierungsmuster zwischen den elterlichen Alle– A T A T A C* G A T T A A – – TATAT GCTAAT T –
*
Replikation – A T A T A C* G A T T A A – – TATAT GCTAAT T – – ATA T A C GAT TAA – – TATAT GCTAAT T –
*
Methylierung – A T A T A C* G A T T A A – – TATAT GCTAAT T –
*
– A T A T A C* G A T T A A – – TATAT GCTAAT T –
*
Abb. 12.9. Methylierungsmechanismus in CpG-Inseln während der Replikation. In den alten DNA-Strängen (schwarz) bleibt die Methylierung des C erhalten (Stern), während die Methylgruppe am neusynthetisierten Strang (rot) erst nachträglich an das C angefügt wird. Die Methylgruppe am ursprünglichen C dient hierbei als Signal für die Methylase, dass das C am neuen DNA-Strang methyliert werden muss
len, wobei die Methylierung unterschiedliche Bedeutung haben kann (sowohl Aktivierung als auch Repression). Weiterhin fällt auf, dass Gene, die über Imprinting reguliert werden, oft in Clustern oder Domänen zusammengefasst sind (siehe Abb. 12.6 und 12.10), die dann auch während der Replikation asynchron replizieren, d. h. die paternalen Kopien replizieren früher als die maternalen. Außerdem haben genetische Experimente gezeigt, dass diese Cluster eine höhere Rekombinationsrate während der männlichen Meiose zeigen. Wenn nun Imprinting (als Methylierung) eingeführt ist, muss es „gelesen“ werden, d. h. es muss in differenzielle Genexpression „übersetzt“ werden. Wir haben oben schon gesehen, dass viele dieser Gene in Clustern vorliegen, so dass nicht nur Wechselwirkungen mit Transkriptionsfaktoren vorstellbar sind, sondern auch Wechselwirkungen dieser benachbarten Gene und ihrer Kontroll-Regionen (Promotoren, Silencer und Insulator- oder Begrenzungselemente [engl. boundary elements; siehe auch Kap. 7]), aber auch durch überlappende anti-senseTranskripte: • Ein gewöhnlicher Weg, um ein Gen abzuschalten, ist die starke Methylierung seines Promotors. In vielen getesteten Genen sind die paternal methylierten Promotoren für DNase I nicht mehr zugänglich. Es ist daher davon auszugehen, dass die methylierten Stellen durch Proteine blockiert sind, die methylierte DNA-Abschnitte spezifisch erkennen (vgl. Abb. 12.11a). Diese „geschlossenen“ Chromatinkonformationen verhindern natürlich auch, dass der Promotor für Transkriptionsfaktoren zugänglich wird. • Eine beachtliche Anzahl von geprägten Genen (ca. 15%) sind mit Gegenstrang-Transkripten (engl. antisense transcripts) assoziiert. Überraschenderweise sind bisher alle entdeckten Gegenstrang-Transkripte selbst durch Imprinting reguliert und paternal exprimiert (Ausnahme: TsiX, das Gegenstrang-Transkript zu Xist; siehe Inaktivierung des X-Chromosoms, Kap. 7.2.3). Durch Wechselwirkung mit dem Sinn-Strang der mRNA können sie die Translation erschweren oder sogar blockieren (Abb. 12.11b; siehe auch Kap. 12.3) Dabei haben die Gegenstrang-Transkripte oft ihren Ursprung in einem Intron und sind colinear mit der DNA; sie können auch bis in den Promotor reichen und auf diese Weise das Gen ausschalten.
12.2 Epigenetik und genetische Prägung
Abb. 12.10 a,b. Cluster genetischer Prägung bei Mensch und Maus. Es sind Ausschnitte der menschlichen Chromosomen 11p15.5 (a: Beckwith-Wiedemann-Cluster; ~1 Mb) und 15q11q13 (b: Prader-Willi-Syndrom/Angelman-Syndrom [siehe Kapitel 14]; ~2 Mb) sowie der homologen Regionen auf dem distalen (a) bzw. zentralen (b) Bereich des Chromosoms 7 der Maus gezeigt. Die relative Lage und die Richtung der Transkription sind durch Pfeile angedeutet. Der Zustand der genetischen Prägung ist durch verschiedene Farben gekennzeich-
net: rot (maternal exprimiert), blau (paternal exprimiert), schwarz (beide Allele sind exprimiert) und grün (Imprinting nicht bekannt oder nicht genau definiert); Fragezeichen (?) deuten an, dass die orthologen Gene der Maus oder des Menschen zur Zeit (2003) noch nicht bekannt sind. Zentren der genetischen Prägung (engl. imprinting centers, IC) sind durch Kreise in der jeweiligen Farbe des elterlichen Ursprungs der Prägung markiert. (Aus Reik u. Walter 2001)
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Kapitel 12: Genetische Kontrolle zellulärer Differenzierung
• Wie man aus Abb. 12.10 ersieht, liegen die beiden
Gene Igf2 und H19 sehr dicht beisammen. Aus der Beobachtung, dass sowohl das paternal exprimierte Igf2 als auch das maternal exprimierte H19 einen gemeinsamen Enhancer benutzen, entstand die Vermutung, dass Chromatin-Grenzstrukturen an der Regulation beteiligt sein könnten (Abb. 12.11 c). Das Modell besagt, dass H19 im unmethylierten Zustand einen „geschlossenen“ Zustand darstellt. Das maternale, unmethylierte H19-Allel zeigt auch eine besondere Chromatinstruktur mit mehreren DNase-I-sensitiven Bereichen. Wenn die Region oberhalb von H19 deletiert wird, geht auch das Imprinting weitgehend verloren. • Bei vielen Genen, die über Imprinting reguliert werden, ist das aktive Allel methyliert. Dies führte zu der Vermutung, dass diese Sequenzen Silencer enthalten, die durch Methylierung stillgelegt werden (vgl. Abb. 12.11d) Diese Beobachtungen von Gegenstrang-Transkripten, Chromatinstrukturen und Silencern stützen die Idee, dass verschiedene Elemente zusammenkommen, damit genetische Prägung wirksam wird. Ein besonderes Element ist dabei das Prägungszentrum (engl. imprinting center, IC), das für die Ausbreitung der genetischen Prägung über einen größeren Chromatinabschnitt verantwortlich ist. Hinweise auf die Existenz solcher Prägungszentren kamen von verschiedenen Deletionsmutationen aus unterschiedlichen chromosomalen Bereichen, in denen zunächst Imprinting beobachtet wurde; sind jedoch einzelne Bereiche deletiert, wird die Prägung des ganzen Abschnitts aufgehoben ! Imprinting beruht im Wesentlichen auf der
Methylierung von DNA als Erkennungsmechanismus für Geninaktivierung. Es wird ergänzt durch weitere Mechanismen (Expression von Gegenstrang-Transkripten, Chromatin-Strukturen, Silencer). Die genetische Prägung eines chromosomalen Abschnitts wird oft von einem Prägungszentrum gesteuert (imprinting center).
Abb. 12.11a–d. Lese-Mechanismen bei geprägten Genen. a Unterschiedliche Abschaltung durch Methylierung von CpGInseln bzw. des Promotors. b Regulation durch GegenstrangTranskripte in Verbindung mit Methylierung von CpG-Inseln bzw. der Promotoren. c Allel-spezifische Regulation benachbarter Gene durch unterschiedliche Methylierung von Begrenzungs-Elementen innerhalb einer CpG-Insel. Faktoren wie der CCCTC-bindende Faktor (CTCF; rote Scheibe) binden an das unmethylierte Allel und blockieren damit den Zugang des oberhalb liegenden Promotors an den unterhalb liegenden Enhancer (grün), was zur Abschaltung des oberen Gens führt. d Verschiedene Methylierung führt zu unterschiedlicher Bindung von Abschaltungsfaktoren (rot; hier empfindlich gegenüber Methylierung), was den Promotor in cis blockiert. (Aus Reik u. Walter 2001)
12.3 RNA-Interferenz
12.2.3 Wann erfolgt genetische Prägung? Genomisches Imprinting verändert sich in charakteristischer Weise während des Lebenszyklus eines Organismus (Abb. 12.12). Während der Entwicklung der Keimzellen zu reifen Spermien bzw. Eizellen wird genetische Prägung etabliert. Nach der Befruchtung wird die genetische Prägung zunächst aufrechterhalten und in dem sich entwickelnden Organismus weitergegeben. In den frühen Entwicklungsstadien der Keimzellen des neuen Organismus wird das Imprinting dann gelöscht und in einem späteren Zeitpunkt der Keimzellentwicklung re-programmiert. Damit hat sich der Kreislauf wieder geschlossen. In Körperzellen wird das Imprinting-Muster im Prinzip aufrechterhalten; es kann aber auch während der Entwicklung und Differenzierung modifiziert werden. Der Entwicklung der Geschlechtszellen kommt also für die Programmierung der genetischen Prägung eine entscheidende Rolle zu. Durch das Löschen des vorhandenen Imprints in der frühen Entwicklung wird eine Reprogrammierung ermöglicht, die das aktuelle Geschlecht widerspiegelt. Während dieses vollständigen Löschvorgangs (engl. erasure) wird das gesamte Genom der Keimzellen demethyliert. Dieser Löschvorgang beeinflusst auch die asynchrone Replikation; in der Maus ist er etwa am 13. bis 14. Tag der Embryonalentwicklung abgeschlossen.
Abb. 12.12. Reprogrammierung der Methylierung während der Embryonalentwicklung. In der Maus werden VorläuferKeimzellen (engl. primordial germ cells, PGCs) während der frühen Embryonalentwicklung demethyliert. Die erneute Methylierung beginnt in den männlichen Keimzellen im Stadium der Pro-Spermatogonien am Tag 16 der Embryonalentwicklung, und in den Oocyten nach der Geburt bei der Reifung. (Aus Reik et al. 2001)
Nach dem Löschen beginnt die de-novo-Methylierung in der Spätphase der Entwicklung sowohl der Ei- als auch der Samenzellen, allerdings aufgrund der unterschiedlichen Entwicklungs- und Differenzierungsschritte in unterschiedlichen Stadien. Sie erfolgt in den männlichen Keimzellen früher (im Stadium der Prospermatogonien; in der Maus ab dem Tag 15 bis 16 der Embryonalentwicklung und später). Damit geht die Re-Methylierung dem Wiedereintritt der Zellen in die Mitose und Meiose voraus. ReMethylierung in der weiblichen Keimzelle erfolgt später, nämlich nach der Geburt während der Reifephase der Oocyten. Die Enzyme, die an diesen Prozessen beteiligt sind, sind DNA-Methyltransferasen (Dnmt), insbesondere Dnmt1, Dnmt3a und Dnmt3b (Abb. 12.13). ! Die genetische Prägung wird in der frühen Phase der Keimzellentwicklung gelöscht und in den späteren Phasen geschlechtsspezifisch re-programmiert. Beteiligte Enzyme sind im Wesentlichen DNA-Methyltransferasen.
12.3 RNA-Interferenz Ein wesentliches Moment in der funktionellen Analyse von Genen besteht immer darin, Mutationen zu untersuchen, die zu einem Funktionsverlust oder Funktionsgewinn führen (siehe dazu auch Kap. 10). In der experimentellen Genetik gibt man sich aber nicht damit zufrieden, nur die Mutationen zu untersuchen, die wir quasi in der Natur vorfinden (oder durch ungerichtete Mutagenese zufällig erzeugen), sondern man will oft bestimmte Gene ausschalten oder hinzufügen. Die Herstellung von knock-outMäusen bzw. von transgenen Mäusen (siehe TechnikBox 27) sind dafür aktuelle Beispiele. Manchmal gibt es aber auch einfachere Wege, um Gene auszuschalten. Guo und Kemphues (1995) haben es bei dem Fadenwurm C. elegans durch die Zugabe von Gegenstrang-RNA versucht. Überraschenderweise stellten sie dabei fest, dass der Sinn-Strang genauso aktiv ist wie der Gegenstrang; die gleichzeitige Injektion eines Sinn- und eines Gegenstranges in einen C. elegans-Embryo erhöhte jedoch die Effizienz des Ausschaltens um den Faktor 10. Es stellte sich dann heraus, dass die aktiv
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Kapitel 12: Genetische Kontrolle zellulärer Differenzierung
Abb. 12.13. DNA-Methylierung und Demethylierung. DNAMethylierung in Säugern vollzieht sich an CpG-Dinukleotiden. Methylgruppen können an unmethylierter DNA durch de-novoMethylierung durch die DNA-Methyltransferase 3a (Dnmt3a) angefügt werden. Wenn die DNA repliziert wird, wird die Methylierung an dem alten Strang erkannt, und im Tochterstrang wird durch Dnmt1 ebenfalls eine Methylgruppe einge-
fügt. In Anwesenheit von Dnmt1 wird so die halb-methylierte DNA wieder vollständig methyliert, so dass das Methylierungsmuster erhalten bleibt. Eine DNA wird in Abwesenheit von Dnmt1 bei jeder Replikationsrunde passiv demethyliert, da keine neue Methylgruppe in die DNA eingefügt wird; durch Demethylasen erfolgt dagegen eine aktive Demethylierung. (Aus Reik u. Walter 2001)
inhibitorische Spezies die Doppelstrang-RNA ist (dsRNA; Fire et al. 1998). Es ergab sich ferner, dass dieses Ausschalten von Genen durch RNA (RNAInterferenz; auch als RNAi abgekürzt) über mehrere Zellteilungen hinweg aufrechterhalten wurde – ein typisch epigenetisches Phänomen. In dieser Zeit häuften sich auch ähnliche Berichte aus anderen Organismen, z. B. bei Neurospora crassa (Cogoni u. Macino 1997) oder in Pflanzen (Napoli et al. 1990). Heute gehen wir davon aus, dass das Ausschalten von Genen über RNA-Interferenz ein alter Selbstverteidigungsmechanismus von Eukaryoten ist, um Infektionen durch RNA-Viren oder Transposons abzuwehren. Während der Replikation des viralen Genoms wird ja dsRNA produziert, die von der Zelle erkannt und abgebaut werden kann. Ein zweiter evolutionärer Ursprung der enzymatischen Maschinerie liegt im Abbau von defekter mRNA.
12.3.1 Mechanismus der RNA-Interferenz RNA-Interferenz ist noch ein relativ junges Forschungsgebiet, und wir werden abwarten müssen, ob sich tatsächlich alle Arten der RNA-vermittelten Genabschaltung unter diesen gemeinsamen Mechanismus subsummieren lassen. Dennoch können einige allgemeine Aussagen getroffen werden. Es ist klar, dass die dsRNA-induzierte Abschaltung von Genen eine breite Palette verschiedener Proteine benötigt; dazu gehören Helikasen, RNasen und RNAabhängige RNA-Polymerasen. Ein gemeinsames Charakteristikum aller RNA-induzierten Abschaltwege in Nematoden, Trypanosomen, Fliegen, Pflanzen und Säugern ist aber die Spaltung einer langen dsRNA durch eine Doppelstrang-spezifische RNase, die als „Dicer“ bezeichnet wird. Dicer spaltet dsRNA in Fragmente von 21 bis 25 Nukleotiden, die dann für die Interferenz mit der mRNA verantwortlich sind (engl. small interfering RNA, siRNA); sie enthalten am 3’-Ende jeweils einen Überhang von 2 Nukleotiden.
12.3 RNA-Interferenz
Diese kleinen dsRNA-Fragmente wurden zunächst in Pflanzen beobachtet und später in vielen anderen Spezies entdeckt. siRNA bildet mit einigen Proteinen Ribonukleotid-Protein-Komplexe, die in Abhängigkeit von ATP den RNA-Doppelstrang aufschmelzen und in seine aktive Form überführen (engl. RNAinduced silencing complex, RISC). Dieser Komplex präsentiert den Gegenstrang der siRNA seiner Zielsequenz und leitet den mRNA-Abbau; einen Überblick über diesen Mechanismus gibt Abb. 12.14.
Abb. 12.14. Mechanismus der RNA-Interferenz. Die anfänglich doppelsträngige RNA (dsRNA) wird durch die Nuklease Dicer in kleine, interferierende RNA-Fragmente (siRNA) gespalten. Dicer bildet dabei über seine PAZ-Domäne einen aktiven Komplex mit anderen Proteinen. Diese so gebildete doppelsträngige siRNA bildet mit Proteinen einen Ribonukleotid-Protein-Komplex (RNP); durch Entspiralisierung der siRNA und Hinzufügen weiterer Proteine bildet sich der RNA-induzierte Abschalt-Komplex (engl. RNA-induced silencing complex, RISC). Die einzelsträngige siRNA kann dann spezifisch an ihre Ziel-mRNA binden. (Aus Arenz u. Schepers 2003)
Wie wir oben gesehen haben spielt Dicer eine zentrale Rolle bei der RNA-Interferenz. Dicer ist eine dsRNA-spezifische Nuklease der RNaseIII-Familie; sie enthält ein dsRNA-bindendes Motiv und am NTerminus eine DexH/DEAH RNA-Helikase/ATPaseDomäne sowie ein Motiv, das als „PAZ“-Domäne bezeichnet wird (PAZ aus Piwi-Argonaute-Zwille – das sind verwandte Proteine aus Drosophila; Abb. 12.15a). RNaseIII produziert aus langer dsRNA sequenzunabhängig einheitlich kleine RNA-Fragmente, wovon die Bezeichnung Dicer abgeleitet wurde (aus dem amerikanischen: Würfelschneidemaschine). Dicer ist evolutionär stark konserviert; homologe Proteine wurden in Hefen,Würmern, Pflanzen und Säugern gefunden. Außerdem besitzt Dicer mehrere Kern-Lokalisations-Sequenzen, was darauf hindeutet, dass es weitere Aufgaben neben der Spaltung von dsRNA hat. Dicer spaltet nämlich als Teil eines Protein-Komplexes während der Entwicklung der Keimzellen bei C. elegans Haarnadelstrukturen von Vorläufer-RNA (Größe ca. 70 Nukleotide) in einzelsträngige RNA der bekannten Größe von 21 bis 23 Nukleotide mit einer
Abb. 12.15 a,b. Dicer. a Dicer enthält mehrere funktionelle Domänen: Am N-Terminus eine Helikase-Aktivität, der in der Mitte des Proteins die charakteristische PAZ-Domäne folgt (so benannt nach den ersten 3 Mitgliedern dieser Familie: Piwi, Argonaut und Zwille). Unterhalb davon folgen zwei katalytische RNaseIII-Domänen. Am C-Terminus enthält das Enzym ein Motiv für die Bindung doppelsträngiger RNA (engl. double-stranded RNA-binding motif, DSRM). b Dicer spaltet eine Haarsnadelstruktur (ca. 70 Nukleotide) in kleine temporäre RNAs (engl. small temporal RNA, stRNA) (auch mikro-RNA genannt: miRNA). Die reife stRNA (miRNA) wirkt als Repressor der Translation am 5’- oder 3’-Ende der mRNA. Die HaarnadelVorläufer-Strukturen sind in C.elegans und Säugern bekannt, kommen aber in dieser Form in Drosophila nicht vor. (Aus Arenz u. Schepers 2003)
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Kapitel 12: Genetische Kontrolle zellulärer Differenzierung
für RNaseIII-Produkte charakteristischen 5’-Monophosphat- und einer 3’-Hydroxylgruppe. Diese kurze einzelsträngige RNA wird als mikro-RNA (miRNA) bezeichnet (Abb. 12.15b). Sie bindet an die 3’-untranslatierte Region ihrer Ziel-mRNA und hemmt damit die Translation. miRNA wurde inzwischen in Drosophila und auch in Säugerzellen gefunden. Der oben angesprochene Mechanismus der RNAInterferenz kann allerdings ein Phänomen noch nicht erklären, nämlich die sub-stöchiometrische Menge von dsRNA, die notwendig ist, um innerhalb von 2 bis 3 Stunden die homologe mRNA drastisch zu vermindern. In diesem Zusammenhang wurden RNAabhängige RNA-Polymerasen entdeckt,die offensicht-
Abb. 12.16. RNA-abhängige RNA-Polymerasen und transitive RNA-Interferenz. Die Abschaltung einer mRNA, die 3 Exons (E1, E2 und E3) enthält, wird durch eine dsRNA eingeleitet, die gegen das Exon 2 gerichtet ist. Die Gegenstränge der siRNAs dienen als Startstellen für eine PCR-ähnliche Reaktion, an der RNA-abhängige RNA-Polymerasen beteiligt sind (engl. RNA-dependent RNA polymerase, RdRp). Die entstehenden neuen dsRNAs werden erneut durch Dicer gespalten, so dass sekundäre siRNAs entstehen, die aber auch Homologien zu den Sequenzen oberhalb im Exon 1 enthalten. So wird durch die sekundären siRNAs auch ein alternatives Spleiß-Produkt abgeschaltet, das nur aus den Exons 1 und 3 besteht. (Aus Arenz u. Schepers 2003)
lich in der Lage sind, die kurzen (einzelsträngigen) 21 bis 23 siRNA-Fragmente als Primer zu verwenden, um dann an der mRNA als Vorlage neue doppelsträngige RNA zu synthetisieren. Diese kann dann von Dicer erneut gespalten werden, so dass damit sekundäre siRNA entsteht, die die ursprüngliche Wirkung verstärkt (Abb. 12.16). Mutationen in Genen, die für RNA-abhängige RNA-Polymerasen kodieren, verhindern umgekehrt das Abschalten von Genen über den angesprochenen dsRNA/siRNA-Mechanismus.
12.3.2 RNA-Interferenz in verschiedenen Organismen 1990 versuchte eine Gruppe von Wissenschaftlern um C. Napoli, die Blütenfarbe von Petunien zu verstärken, indem die Integration eines Transgens die Expression der Chalkon-Synthase verstärken sollte (Chalkon-Synthase ist wesentlich an der Pigmentierung bei Petunien beteiligt). Überraschenderweise hatten die veränderten Pflanzen aber keine verstärkten Farben, sondern waren vielfarbig oder sogar weiß. Das deutet an, dass nicht nur das Transgen, sondern auch die endogenen Pigmentgene ausgeschaltet wurden. Eine weitere Überraschung war, dass die weiße Blütenfarbe auch noch auf die nächsten Generationen übertragen wurde. Spätere Experimente ergaben, dass dieses Abschalten des Transgens mit dem endogenen Abwehrsystem der Pflanze gegen Viren verknüpft war. Moderne Pflanzen haben also offensichtlich ein gut funktionierendes Abwehrsystem gegenüber Virusangriffen, das auf der Ebene der RNA-Erkennung wirkt. Allerdings haben die Viren wiederum in einem klassischen evolutionären Wettbewerb Gegenproteine entwickelt, z. B. HC-Pro (engl. helper component proteinase). Dieses setzt offensichtlich oberhalb der siRNA-Bildung an und aktiviert ein pflanzliches Gen, das für ein Calmodulin-ähnliches Protein kodiert und den Abschalt-Mechanismus insgesamt reguliert (engl. regulator of gene silencing – Calmodulin-related protein, rgs-CaM). Ausgehend von HC-Pro werden jetzt gentechnologische Strategien erarbeitet, um das Abschalten von Transgenen in Pflanzen zu verhindern und so ihre effiziente Expression zu ermöglichen. Wie wir oben bereits gesehen haben, wurde RNAInterferenz zuerst in C. elegans entdeckt. Dieser Wurm hat für solche Experimente einige methodische Vorteile, da er quasi in dsRNA-Lösungen gebadet oder mit
12.4 Umlagerung von DNA-Fragmenten
Bakterien gefüttert werden kann, die dsRNA produzieren. Außerdem ist von C. elegans das gesamte Genom bekannt. Dadurch konnte in diesem Organismus der erste genomweite RNA-Interferenz-Screen durchgeführt werden, wobei mehr als 16 000 der bekannten 19 427 Gene von C. elegans untersucht wurden. Dabei wurden 1.722 Mutanten phänotypisch identifiziert. Überraschend dabei war, dass Gene mit ähnlicher Funktion in bestimmten Regionen als Cluster auftreten. Diese Regionen umfassen mehrere Mega-Basen, und die darin vorkommenden Gene neigen zu ähnlichen Expressionsmustern (Kamath et al. 2003). Die Beobachtung von RNA-Interferenz in Kulturen von Säugerzellen war nicht trivial, da die Einführung von dsRNA zunächst in eine Interferon-ähnliche Abwehrantwort mit Apoptose mündete. Erst die direkte Einführung der schon bekannten 21 bis 23 Nukleotide kurzen siRNA „triggerte“ die RNA-Interferenz-Maschinerie auch in Säugerzellen – allerdings mit geringer Effizienz. Neuere Arbeiten beschreiben die Konstruktion von Vektoren, die über invertierte Wiederholungssequenzen Haarnadelstrukturen ausbilden und damit zu einer stabilen und effizienten Bildung von siRNA führen. Die bisherigen Arbeiten haben dazu geführt, auch über ein mögliches therapeutisches Potential der RNA-Interferenz und siRNA nachzudenken – quasi als Alternative oder Ergänzung zu einer Impfung. So haben McCaffrey und Mitarbeiter (2002) erwachsenen Mäusen synthetische siRNA oder siRNA-produzierende Plasmide intravenös injiziert und damit die Konzentration von humanen Hepatitis-C-Proteinen um 75% vermindert. Nun bedeutet natürlich eine Verminderung von Virus-Proteinen um 75% noch lange keine Heilung, aber es zeigt das Potential auf, das in einer therapeutischen Anwendung von RNA-Interferenz steckt. ! RNA-Interferenz ist eine evolutionär sehr alte
Methode vieler Organismen, um sich gegen virale Infektionen zu schützen. Dabei wird dsRNA durch eine Typ-III RNase (Dicer) in kleine Fragmente (21 bis 23 Nukleotide) gespalten, die sich an ihre Zielregion in der mRNA anlagern. Die Wirkung der einzelnen siRNA-Moleküle wird durch Amplifikation mithilfe einer RNA-abhängigen RNA-Polymerase vervielfacht.
12.4 Umlagerung von DNA-Fragmenten 12.4.1 Kerndualismus: Mikro- und Makronuclei in einer Zelle Einzellige Organismen können auf unterschiedliche Anforderungen ihrer Umgebung nicht durch die differenzielle Funktion einzelner Zellgruppen reagieren, wie das bei multizellulären Organismen möglich ist. Dennoch können sie durch spezialisierte Mechanismen den wechselnden Anforderungen des Lebensraumes gerecht werden. Hierzu ist auch die Entstehung von Mechanismen zu rechnen, die es den Zellen gestatten, zwischen einem vegetativen und einem sexuellen Fortpflanzungsmodus zu wechseln. Ciliaten zeichnen sich durch besonders komplizierte Mechanismen aus, die für einen Wechsel zwischen einem generativen und einem vegetativen Zustand der Zelle verantwortlich sind. Grundlage dieser Schaltmöglichkeit ist der Besitz zweier Zellkerne, der mit dem Begriff Kerndualismus beschrieben wird. Einer der beiden Zellkerne steht im Dienst generativer, also sexueller Prozesse, während der andere Zellkern für die vegetativen Funktionen der Zelle verantwortlich ist (Abb. 12.17). Die Kontinuität der genetischen Konstitution ist, wie bei mehrzelligen Organismen, dadurch garantiert, dass der vegetative Kern aus dem generativen durch eine Kernteilung entsteht, der jedoch keine Zellteilung folgt. Bevor der vegetative Kern seine Funktion erfüllen kann, sind seine Chromosomen komplexen Veränderungen unterworfen. Der Kerndualismus mit einem generativen und einem vegetativen Kern ist ein allgemeines Kennzeichen aller Ciliaten. Der generative Mikronukleus durchläuft vor dem sexuellen Paarungsprozess, der Konjugation, einen Meiosezyklus, der zur Bildung von vier haploiden Mikronuklei führt. Drei dieser Kerne degenerieren, während der vierte eine mitotische Teilung durchläuft, die zwei haploide Pronuklei ergibt. Während der Paarung zweier Zellen (die von entgegengesetzten Paarungstypen abstammen) wird jeweils ein haploider Mikronukleus ausgetauscht und bildet mit dem zelleigenen haploiden Pronukleus ein Synkaryon. Der nunmehr diploide generative Kern der Exkonjuganten teilt sich mitotisch. Einer der Tochterkerne bildet den neuen generativen Mikronukleus der Zelle, der andere entwickelt sich zum vegetativen Makronukleus. Der alte Makronukleus der Exkonjuganten ist während der Konjugation degeneriert, so
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Kapitel 12: Genetische Kontrolle zellulärer Differenzierung diploide Mikronuklei
haploide Meioseprodukte
postmeiotische Mitose
Makronuklei
Pronuklei
Bildung von Synkaria
degenerierende Meioseprodukte
Mitosen der Synkaria
degenerierender Makronukleus
neuer Mikronukleus
neuer Mikronukleus
Anlagen neuer Makronukleus
Abb. 12.17. Konjugationszyklus (sexuelle Fortpflanzung) des Ciliaten Stylonychia mytilus. Zwei Zellen unterschiedlichen Paarungstyps konjugieren, nachdem ihre Mikronuklei eine Meiose durchlaufen und vier haploide Kerne geformt haben. Die Makronuklei degenerieren in diesem Stadium. Je eines der haploiden Meioseprodukte wird während der Konjugation zwischen beiden Zellen ausgewechselt. In den Exkonjuganten
verschmilzt der von der zweiten Zelle abstammende Kern mit einem der zelleigenen haploiden Kerne und formt über ein Synkaryonstadium einen diploiden Kern. Dieser teilt sich mitotisch. Einer der entstehenden diploiden Kerne entwickelt sich zu einem neuen Makronukleus (s. Abb. 12.19). (Aus Steinbrück 1986)
12.4 Umlagerung von DNA-Fragmenten
dass die Zelle nunmehr wieder aus zwei Kernen mit prinzipiell identischer genetischer Information besteht. Wie der Name Makronukleus besagt, zeichnet sich dieser vegetative Kern durch seine Größe aus. Da Kerngrößen im Allgemeinen mit dem DNA-Gehalt korreliert sind, deutet die gegenüber dem Mikronukleus angewachsene Größe auf eine erhöhte Ploidie des Makronukleus hin. Ein Vergleich zwischen der DNA eines Makronukleus und der eines Mikronukleus zeigt jedoch, dass bei der Entwicklung des Makronukleus das generative Genom nur partiell ploidisiert wird. Dieser differenzielle Vermehrungsprozess des Mikronukleusgenoms ist mit ungewöhnlichen Entwicklungsschritten verbunden, die am Beispiel des hypotrichen Ciliaten Stylonychia dargestellt werden sollen (Abb. 12.18). ! Ciliaten zeichnen sich durch einen Kerndualismus
aus: Sie besitzen einen Mikronukleus, der im Dienste der generativen Prozesse steht, und einen Makronukleus, der für die vegetativen Funktionen der Zelle verantwortlich ist.
Der Karyotyp des Mikronukleus besteht aus 2 n ≈ 300 etwa 5 µm langen Chromosomen. Wie Ammermann und Kollegen 1974 zeigen konnten, nimmt nur etwa ein Drittel dieser Chromosomen an den Genomveränderungen teil, die zur
Abb. 12.18. Der Ciliat Stylonychia mytilus (Protozoa). Einzelzelle, im Rasterelektronenmikroskop aufgenommen. Der Balken entspricht 30 µm. (Photo: G. Steinbrück, Tübingen)
Bildung des Makronukleus erforderlich sind. Die übrigen Chromosomen werden pyknotisch und werden eliminiert. Eine solche Chromosomenelimination wird jedoch nicht in allen Ciliaten beobachtet und ist daher eine spezielle Eigenart von Stylonychia, einer Ciliatenart, die wir näher betrachten wollen (Abb. 12.19). Die im Kern verbleibenden Chromosomen werden zunächst fünf Mal repliziert, ohne dass die Chromatiden getrennt und auf Tochterkerne verteilt werden. Es formen sich demgemäß Riesenchromosomen (Abb. 12.20) (s. S. 250). In ihrer Gestalt unterscheiden sie sich jedoch von typischen Insektenriesenchromosomen durch große Heterochromatinblöcke, die offenbar überreplizierte Chromosomenabschnitte enthalten. Auch gibt es keinerlei Hinweise auf eine Transkription in diesem Entwicklungsstadium der Makronukleusanlage. In einem nächsten Entwicklungsschritt zerfallen die Riesenchromosomen und formen Vesikel, die die Bruchstücke der Chromosomen enthalten. Je nach Spezies werden 80 bis 93% der DNA der Riesenchromosomen aus dem Kern eliminiert, so dass die Genomgröße in der Makronukleusanlage von Stylonychia nunmehr auf weniger als 2% des ursprünglichen Genoms im Mikronukleus reduziert ist, wie von Ammermann und Kollegen gezeigt wurde. In einer letzten Folge von mehreren Replikationen wird der Rest des Genoms zum 100fachen des DNA-Gehaltes des Mikronukleus ploidisiert. Nunmehr setzt auch die Transkription ein, und der Kern übernimmt die vegetativen Funktionen der Zelle. In diesem Zustand können die Ciliatenzellen sich über viele Generationen (1 bis 2 Jahre) hinweg vegetativ durch Längsteilung vermehren. Nach einer solchen Periode muss jedoch eine Konjugation erfolgen, da die Zellpopulation sonst abstirbt. Sexuelle Prozesse können aber im Prinzip jederzeit einsetzen, da sie durch Änderung der Milieubedingungen induziert werden können. Diese ungewöhnlichen Vorgänge auf dem Kernniveau werden von ebenso ungewöhnlichen Vorgängen auf der DNA-Ebene begleitet. Vergleicht man die DNA von Mikro- und Makronukleus in Renaturierungsexperimenten (s. S. 30), so fällt auf, dass im Mikronukleus ein erheblicher Anteil der DNA zur repetitiven DNA-Fraktion gehört (in Stylonychia etwa 55%). Im Makronukleus kann man hingegen durch Renaturierungsexperimente keine repetitiven Sequenzen mehr nachweisen. Gleichzeitig mit der Verminderung der Genomgröße nimmt erwartungsgemäß die kinetische Komplexität des Genoms ab.
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Kapitel 12: Genetische Kontrolle zellulärer Differenzierung
Abb. 12.19. Entwicklung des Makronukleus von Stylonychia mytilus. Oben ist der relative DNA-Gehalt des Kernes (Absorptionseinheiten) angegeben, unten die Bezeichnung der Stadien der Makronukleusentwicklung. Die Entwicklung beginnt nach der Konjugation mit einem diploiden Mikronukleus. Etwa ein Drittel der ungefähr 300 Chromosomen beginnt, sich zu polytänisieren und erreicht nach etwa 40 Stunden ein Riesenchromosomenstadium. Diese Chromosomen zerfallen jedoch in ihre Einzelbanden und die DNA wird zum größten Teil abgebaut. Nur ein kleiner Anteil der ursprünglichen DNA-
Sequenzen (etwa 1,5 %) durchlaufen eine weitere Serie von fünf Replikationen, nach der die Entwicklung des Makronukleus abgeschlossen ist. Die DNA verbleibt hierbei in der Form von Gen-großen Fragmenten, die mit besonderen Telomerensequenzen versehen sind. Bei den folgenden Zellteilungen wird der Makronukleus durch Längsteilung auf die Tochterzellen verteilt. Die DNA wird hierbei zufallsgemäß ohne Mitwirkung eines spezifischen Teilungsmechanismus verteilt. (Aus Ammermann et al. 1974)
Die Größe des Makronukleusgenoms von Stylonychia wird um einen Faktor von nahezu 100 gegenüber der Größe des Mikronukleusgenoms reduziert, wie man bei einer Elimination aller repetitiven DNA-Sequenzen erwarten sollte. Das Genom des Makronukleus enthält nur etwa 1,5% der DNA-Sequenzen des generativen Genoms. Die Veränderungen des Genoms während der Bildung des Makronukleus sind aber noch viel tiefgreifender als die Eliminations- und Ploidisierungsvorgänge erwarten lassen. Es kommt zu einer völligen
Umgestaltung des Genoms. Diese wird wahrscheinlich mit dem Zerfall der Riesenchromosomen in der wachsenden Makronukleusanlage eingeleitet, obwohl nicht auszuschließen ist, dass bereits die Replikationen und Überreplikationen vor dem Riesenchromosomenstadium zu Veränderungen der Genstruktur geführt haben. Der Charakter des Makronukleusgenoms ist von allen übrigen eukaryotischen Genomstrukturen dadurch abgehoben, dass die DNA hier in etwa Gen-großen Fragmenten vorliegt, also nicht mehr in Chromosomen organisiert ist. Das bedeutet,
12.4 Umlagerung von DNA-Fragmenten
kulare Struktur scheint für unterschiedliche Gene einheitlich zu sein. ! Während der Makronukleusentwicklung wird der
größte Teil der Genom-DNA eliminiert. Die Gene verbleiben im Makronukleus in der Form von Gen-großen DNA-Fragmenten, die eigene Replikationsstartpunkte und Telomeren besitzen.
Abb. 12.20. Riesenchromosomen aus der Makronukleusanlage von Stylonychia mytilus. Die Chromosomen mit ihren z. T. blockartigen Querscheiben zerfallen wenig später, wobei die Querscheiben in Vesikel eingeschlossen werden. Nur ein geringer Anteil der DNA-Sequenzen verbleibt in der Form kurzer DNA-Fragmente im reifen Makronukleus erhalten. Durch in-situ-Hybridisierung lässt sich zeigen, dass die stark kondensierten Blöcke vorwiegend repetitive DNA enthalten. (Aus Ammermann et al. 1974)
dass man Gene im Prinzip einfach dadurch voneinander trennen kann, dass man sie elektrophoretisch in Agarosegelen nach Größe auftrennt. Das erlaubt eine einfache Isolierung bestimmter Gene. Vergleicht man diese nun mit ihren Äquivalenten im generativen Genom des Mikronukleus (also gewissermaßen die somatische Form des Gens mit der der Keimbahn), so zeigt sich, dass die Veränderungen nicht nur auf einem Zerfall der Chromosomen beruhen, sondern dass zusätzliche Veränderungen an den Genen erfolgt sind. Die Gen-großen Fragmente bestehen selbstverständlich nicht allein aus den Protein-kodierenden DNA-Abschnitten, sondern enthalten auch die DNA-Sequenzen im 5′- und 3′-Ende der kodierenden Region, die zur Regulation der Transkription und zur Replikation erforderlich sind. Zusätzlich enthalten die DNA-Fragmente aber auch Telomerenbereiche, die für ihre Replikation ebenfalls unerlässlich sind (s. S. 51). Diese Telomeren werden erst im Laufe der Umgestaltung des Genoms während der Makronukleusentwicklung angefügt. Ihre mole-
Noch tiefergreifendere Veränderungen erfahren die Gene für rDNA während der Makronukleusentstehung. In der Ciliatenspezies Tetrahymena thermophila gibt es im haploiden generativen Genom des Mikronukleus nur ein einziges Gen, das für ribosomale RNA kodiert. Im Makronukleus werden jedoch 10 000 DNA-Fragmente gefunden, die für rRNA kodieren. Sie sind, wie zuvor beschrieben, nicht mehr in Chromosomen integriert. Jedes dieser 10 000 DNAFragmente besteht aus zwei rDNA-Genen, die in einander gegenläufiger Orientierung kovalent aneinandergekoppelt sind. Auch an diese rDNA-Fragmente werden Telomeren angefügt, die eine Haarnadelstruktur am Ende der Chromosomenfragmente einführen. Sie ermöglichen damit eine komplette Replikation der linearen Moleküle. ! Die Gene für rRNA im Makronukleus entstehen aus einem einzigen Gen im Mikronukleus. Sie liegen im Makronukleus in der Form von DNA-Molekülen vor, die jeweils zwei rDNA-Gene in einander entgegengesetzter Orientierung tragen.
Das Differenzierungssystem der Zellkerne in Ciliaten stellt somit eine ganz ungewöhnliche Art der Anpassung an besondere zelluläre Eigenschaften dar, wie wir sie in dieser Form weder von anderen Einzellern noch von vielzelligen Organismen her kennen. Für unsere Betrachtung der Flexibilität der molekularen Struktur des Eukaryotengenoms hat die Aufklärung der Makronukleusentwicklung von Ciliaten wichtige Einsichten in die Möglichkeiten der Genommanipulation durch den Organismus selbst gegeben.
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12.4.2 DNA-Amplifikation In anderem Zusammenhang haben wir gesehen, dass Zellen zu Veränderungen ihres DNA-Gehaltes in der Lage sind: Im einfachsten Fall erfolgt eine Vervielfachung oder Ploidisierung des gesamten Genoms (s. S. 382). Komplizierter verlaufen partielle Vermehrungen des Genoms, wie wir sie bei der Bildung von Riesenchromosomen durch Polytänisierung kennengelernt haben (s. S. 249). Dass Polyploidisierung dazu dient, einen besonders hohen Bedarf an bestimmten Genprodukten durch zellspezifische Vermehrung ihrer Gene sicherzustellen, haben wir bei der Besprechung der Polyploidisierung des Genoms des Seidenspinners in den hinteren Seidendrüsen gesehen (s. S. 315). Auch die Ausbildung polytäner Chromosomen bei Insekten steht im Dienste besonders hoher Stoffwechselproduktivität von solchen Zellen, die zellspezifische Genprodukte in großer Menge bereitstellen müssen. Allen Zellen, die eine Vermehrung ihres Genoms durch Polyploidisierung oder Polytänisierung erreichen, ist gemeinsam, dass diese Vermehrung erst nach der letzten Zellteilung der betreffenden Zellen erfolgt. Dadurch ergeben sich auch aus solchen zellspezifischen Veränderungen in DNA-Gehalt und Zusammenstellung keine Probleme für die gleichmäßige Verteilung des genetischen Materials auf die Tochterzellen während späterer Zellteilungen. Einen anderen Weg zu zellspezifischer DNA-Vermehrung haben die Oocyten verschiedener Organismen durch die Bildung extrachromosomaler ribosomaler DNA-Kopien beschritten, um den großen Bedarf des Embryos an Ribosomen decken zu können (s. S. 295). Die extrachromosomale Vermehrung von rRNA-Genen in den Extranukleolen ist mit keinen Veränderungen im Genom selbst verbunden. Sie führt daher auch nicht zu langanhaltenden Verschiebungen der DNAZusammensetzung der Zelle: Die rDNA in den extrachromosomalen Nukleolen besitzt kein Centromer und geht daher bei den folgenden Zellteilungen verloren. Es liegt auf der Hand zu fragen, ob extrachromosomale Vermehrung der DNA einen allgemeinen Mechanismus zellspezifischer Genexpression widerspiegelt, oder ob es sich bei der DNAVermehrung in Oocyten um Ausnahmeerscheinungen, vielleicht speziell auf die vorübergehende Vermehrung von rDNA gerichtet, handelt. Einen Schlüssel zur Antwort auf diese Frage haben cytologische Untersuchungen an Zellen aus
Tumoren oder solche aus Zellkulturen gegeben, die unter dem Einfluss von Cytostatika gezüchtet wurden. Cytostatika sind Agenzien, die Zellteilungen durch die Blockierung der DNA-Replikation verhindern. Nach mehreren Zellgenerationen der Behandlung mit einem solchen Replikationshemmer beobachtet man, dass die Zellen gegen das Cytostatikum resistent werden und sich wieder mitotisch zu vermehren beginnen. Vergleicht man diese resistenten Zellen mit den ursprünglichen Zellen, so findet man zwei auffällige cytologische Unterschiede. Es treten in ihnen größere Anzahlen kleiner, punktförmiger, überzähliger Chromosomen (engl. supernumeraries) auf, die wegen ihrer cytologisch sichtbaren Form auch Double-minutes genannt werden (Abb. 12.21a). Überzählig bedeutet hier, dass sie zusätzlich zur diploiden Chromosomenzahl auftreten. Eine genauere cytologische Analyse der Chromosomen der gleichen Zellen nach Erzeugung von Bandenmustern (s. S. 243) zeigt häufig, dass in einzelnen Chromosomen neue Banden, oft von erheblicher Größe, auftreten können. Wegen ihrer Färbungseigenschaften bezeichnet man diese neu hinzugekommenen Banden als homogeneously staining regions (oder HSRs) (Abb. 12.21b). Obwohl beide Erscheinungen, Double-minutes und HSRs, oft als alternative Erscheinungen zu beobachten sind, können sie auch zusammen in einer Zelle gefunden werden. Die molekulare Analyse beider chromosomaler Elemente beweist, dass sie auf die gleiche Grundlage zurückgeführt werden müssen: Es handelt sich um die Produkte einer genspezifischen DNAVermehrung (Amplifikation). In dem einen Fall (Double-minutes) erfolgt diese Amplifikation extrachromosomal und führt zur Entstehung mehrerer kleiner Chromosomen, ähnlich wie die Amplifikation der rDNA in Oocyten die Entstehung von Extranukleolen verursacht. Die Double-minutes besitzen zwar einen Replikationsstartpunkt, sind aber mitotisch instabil, da das Fehlen eines eigenen Centromers ihrer geregelten Verteilung während der Mitose im Wege steht. Auch darin sind sie den extrachromosomalen Nukleolen vergleichbar. Double-minutes werden daher, ähnlich wie häufig auch die keimbahnlimitierten B-Chromosomen (s. S. 257), zufallsgemäß auf die Tochterzellen verteilt. Ihre Doppelstruktur ist eine Folge der Replikation ohne darauffolgende Trennung der Chromatiden. Diese bleiben über die Mitosen hinweg gepaart. Anders verhält es sich bei den HSRs. Bei
12.4 Umlagerung von DNA-Fragmenten
Abb. 12.21a–c.Genamplifikation. a Extrachromosomal: Doubleminute. Elektronenmikroskopische Aufnahme, die den doppelten Charakter erkennen lässt und zugleich zeigt, dass keine Centromerenregion vorhanden ist. b Metaphasechromosomen von Mus musculus mit HSRs. Obere Reihe: G-Banden im normalen Chromosom 1 (links) und in zwei Chromosomen 1 mit HSRs (Mitte: M. m. domesticus und rechts: M. m. musculus).
Im rechten Chromosomenpaar ist die HSR durch eine Inversion in zwei Teile untergliedert (siehe c). Untere Reihe: Die C-Banden lassen die HSRs neben dem Centromerenheterochromatin deutlich hervortreten. c Schema der in b gezeigten Chromosomen. Die Pfeile geben die Insertionsstelle der HSR und die Inversion an. (a: Photo: B. Hamkalo, Irvine; b: Aus Winking et al. 1991)
ihnen haben wir es mit intrachromosomalen Amplifikationen zu tun, die natürlich als feste Bestandteile des Chromosoms mit dem betreffenden Chromosom ganz normal mitotisch verteilt werden, auch wenn sie, wie gewöhnlich, heterozygot vorliegen.
Beide Arten von Amplifikation findet man normalerweise in somatischen Zellen, insbesondere in Tumorzellen und in Zellkulturen. HSRs sind aber auch in Keimzellen beobachtet worden, so dass sie vererbt werden können.
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! Unter bestimmten physiologischen Bedingungen
kann es zur extrachromosomalen oder intrachromosomalen Vermehrung (Amplifikation) bestimmter Gene in der Zelle kommen. Extrachromosomale Genkopien erscheinen als kleine punktförmige Chromosomen (Double-minutes) ohne Centromer. Intrachromosomale Genvermehrung zeigt sich durch die Entstehung von HSRs.
Die Beobachtung, dass Amplifikation in Tumorzellen und in Zellkulturen auftritt, in denen Zellen unter selektivem Druck stehen, wirft verschiedene Fragen auf, deren wichtigste ist, ob solche Amplifikationsschritte bestimmter Gene eine allgemeine Erscheinung sind oder ob es sich um Sonderfälle handelt. Sollte es sich um einen allgemeinen zellulären Mechanismus handeln, so möchten wir wissen, wie oft und unter welchen Bedingungen es zur Entstehung solcher Amplifikationsprodukte kommt und inwieweit die Bildung von Double-minutes und HSRs die gleiche molekulare Grundlage hat. Die Entstehung von Double-minutes oder HSRs wird ausschließlich unter besonderen Umständen beobachtet, vor allem als Folge der Behandlung mit Replikationsinhibitoren. Es spricht aber vieles dafür, dass Amplifikationsereignisse in eukaryotischen Zellen regelmäßig, wenn auch nur mit geringer Häufigkeit, vorkommen. Unter Einfluss von Cytostatika kann es dann zur Selektion auf Zellen mit solchen Amplifikationsereignissen kommen, die geeignet sind, die Resistenz der Zellen gegen den Inhibitor zu erhöhen. Das klassische und bestuntersuchte Beispiel für die Entstehung zellulärer Resistenz ist die Amplifikation der Gene für Dihydrofolatreduktase (DHFR) unter Methotrexatbehandlung. Methotrexat (= Amethopterin) ist ein Analogon von Dihydrofolat, einer Vorstufe in der Synthese von Thymin aus Uracil. Als solches Analogon inhibiert es sehr effizient das Enzym Dihydrofolatreduktase, das die Umsetzung von Dihydrofolat in Tetrahydrofolat katalysiert (Abb. 12.22). Behandelt man Zellkulturen mit niedrigen Konzentrationen Methotrexat (10–8 M), so blockiert man in den meisten Zellen die Replikation. Eine Minderheit von Zellen (etwa eine von 107) erweist sich als resistent gegen diese Konzentration des Inhibitors. Diese Zellen können ihre DNA replizieren und sich somit mitotisch weiter vermehren.
Der Grund für die Resistenz ist eine zunächst geringfügige Vermehrung der Anzahl von Genkopien für die Dihydrofolatreduktase in der Zelle. Hierdurch können die Zellen die Blockierung ihrer Replikation durch eine erhöhte Produktion des Enzyms überwinden, das nunmehr eine geringe, aber ausreichende Menge Desoxythymidinmonophosphat zur Verfügung stellt. Kultiviert man diese Zellen unter langsam zunehmenden Konzentrationen von Methotrexat, die schließlich bis zum 105-fachen der Anfangskonzentration gesteigert werden können, so erfolgt eine allmähliche weitere Vermehrung der Dihydrofolatreduktasegene. Das hat eine weitere Erhöhung der Resistenz gegen den Inhibitor zu Folge. Die erhöhte Resistenz wird in den steigenden Anzahlen von Double-minutes reflektiert. Offenbar selektiert man auf diejenigen Zellen, die bei der Zellteilung durch Zufallsverteilung die größeren Anzahlen an Doubleminutes erhalten und dadurch besonders effizient replizieren können. Ein einzelnes Double-minute besitzt im Mittel zwei bis vier Kopien des Dihydrofolatreduktasegens, so dass die Zellen schließlich mehr als 100 zusätzliche Genkopien enthalten können. Vermehrt man diese Zellen unter abnehmenden Methotrexatkonzentrationen weiterhin, so nimmt die Anzahl der Double-minutes erwartungsgemäß wieder ab. Die Beibehaltung ihrer großen Anzahl wird allein durch die Selektion auf einen funktionsfähigen Zustand der DNA-Replikation der Zelle, nicht aber durch gezielte Verteilungsmechanismen in der Mitose erreicht. Entfällt der Selektionsdruck, so gehen die überzähligen Chromosomen verloren, da sich Zellen mit Double-minutes unter normalen Wachstumsbedingungen langsamer vermehren und damit selektiv benachteiligt sind. Auch HSRs können bei nachlassendem selektivem Druck allmählich verloren gehen, obgleich das nicht regelmäßig beobachtet wird. Die Analyse verschiedener Enzyme hat erkennen lassen, dass die Amplifikation der Dihydrofolatreduktase kein Sonderfall ist, sondern dass vergleichbare Ereignisse auch bei anderen Genen auftreten (Tabelle 12.1). Das scheint darauf hinzudeuten, dass Genamplifikation offenbar eine normale Eigenschaft des Genoms ist und, wahrscheinlich zufallsgemäß, im gesamten Genom erfolgen kann. Die Frequenz von Amplifikationsereignissen liegt schätzungsweise zwischen 10–3 und 10–5 je Zellzyklus. Die Größe der Grundeinheit eines amplifizierten Genombereiches umfasst etwa 105 bis
12.4 Umlagerung von DNA-Fragmenten Abb. 12.22 a,b. Mechanismus der Hemmung der DNA-Replikation durch Methotrexat (Amethopterin). a Stoffwechselprozesse bei der Umwandlung von Desoxyuridinmonophosphat (dUMP) in Desoxythymidinmonophosphat (dTMP). Die Umsetzung von dUMP in dTMP durch Methylierung wird von der Thymidylatsynthetase katalysiert. Als Kohlenstoffquelle dient ein Tetrahydrofolatderivat. Tetrahydrofolat wird mit Hilfe der Dihydrofolatreduktase (DHFR) aus Dihydrofolat regeneriert. Blockiert man die DHFR, so kann kein Tetrahydrofolat mehr gebildet werden und die Neusynthese von dTMP unterbleibt. Als Folge des Mangels an dTMP wird die Replikation gehemmt. Die Blockierung der DHFR erfolgt durch das Cytostatikum Methotrexat (= Amethopterin). Seine Wirkung erklärt sich aus seiner Eigenschaft als Dihydrofolatanalogon. In dieser Eigenschaft bindet es mit hoher Affinität an das Enzym, das damit dem Stoffwechsel entzogen wird. b Die Thymidylatsynthetase überträgt eine Methylgruppe auf das dUMP und wandelt dieses damit in dTMP um. Der Ursprung der Methylgruppe, die dem dUMP angelagert wird, ist im N5,N10Methylentetrahydrofolat rot hervorgehoben. Methotrexat unterscheidet sich von Dihydrofolat lediglich in einer Amino- und einer Methylgruppe (grün)
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Kapitel 12: Genetische Kontrolle zellulärer Differenzierung
Tabelle 12.1.
Amplifikation von Enzymen unter selektivem Druck
Enzym
Art
Induzierbar durch
Dihydrofolatreduktase (DHFR)
Maus
Methotrexat (MTX)
Aspartattranscarbamylase
Syrischer Hamster
N-(phosphonacetyl)-L-Aspartat (PALA)
ADH4
Hefe
Antimycin A
Metallothionein
Maus, Affe
Cd2+
Daten aus Singer u. Berg (1991)
106 bp. Bei einer Genomgröße von 109 bis 1010 bp (das entspricht 104 bis 105 potentiellen Amplifikationseinheiten) bedeutet das, dass mindestens jede zehnte, möglicherweise aber sogar jede einzelne Zelle einen amplifizierten Genbereich enthalten kann. Das bietet eine ausreichende Basis für sehr effektive Selektionsprozesse, wie sie unter dem Einfluss von Stoffwechselinhibitoren beobachtet werden. Die im Laufe der Behandlungszeit zunehmende Resistenz von Krebspatienten, die sich einer Chemotherapie durch Cytostatika unterziehen, ist somit leicht verständlich. Wir müssen uns nunmehr der Frage zuwenden, welche molekularen Mechanismen für die Amplifikationsprozesse verantwortlich sind. Hinweise hierauf sollte uns die molekulare Struktur der amplifizierten Genbereiche geben können. Allerdings bereitet deren Analyse beträchtliche Schwierigkeiten. Die amplifizierten DNA-Bereiche gehen nämlich in ihrer Länge weit über die Länge einzelner Gene hinaus. Ein amplifizierter DNA-Abschnitt umfasst Hunderttausende von Basenpaaren – es sind amplifizierte Abschnitte zwischen 102 kb und mehr als 103 kb DNALänge beschrieben worden. Im Falle des DHFR-Gens, dessen Länge etwa 31 kb beträgt, werden gewöhnlich etwa 500 bis 1000 kb DNA amplifiziert. Die amplifizierten Kopien sind jedoch keinesfalls gleich. Zu ihren Eigenheiten gehört, • dass sie sich in ihrer Länge voneinander unterscheiden, • dass sie DNA-Stücke aus ganz anderen Genombereichen enthalten können, • dass innerhalb von tandemartig wiederholten Regionen einzelne Kopien des Repeats auch in invertierter Richtung vorkommen können,
• dass HSRs im Allgemeinen in anderen chromo-
somalen Positionen zu finden sind als das ursprüngliche chromosomale Gen, das amplifiziert ist.
Alle diese Befunde deuten darauf hin, dass mit der Entstehung einer HSR ein extrachromosomaler Schritt verbunden ist. Wahrscheinlich muss man davon ausgehen, dass zunächst Double-minutes entstehen, deren DNA dann sekundär in ein Chromosom integriert werden kann. In Zusammenhang mit der Struktur der rDNARepeats haben wir bereits erörtert, dass die Zelle über Mechanismen verfügen muss, die für eine Homogenisation von tandemartig angeordneten, identischen Genkopien sorgen (s. S. 293). Als mögliche Mechanismen für eine solche Homogenisierung von Sequenzrepeats waren • die Korrektur durch ungleiches Crossing-over innerhalb der Gencluster oder • die neue Amplifikation der Genfamilie, beginnend mit einer Kopie, einmal in jeder Generation in Betracht gezogen worden. Das Verhalten amplifizierter Gene hat aufschlussreiche Hinweise darauf gegeben, welche molekularen Mechanismen an solchen Vereinheitlichungsprozessen beteiligt sind. Die an amplifizierten Genen gemachten Beobachtungen sprechen – etwas unerwartet – gegen einen einfachen Korrekturmechanismus durch ungleiches Crossingover, das lange Zeit von vielen als hinreichender Mechanismus angesehen wurde, um die Angleichung vielfacher Genkopien aneinander zu erklären. Vielmehr muss die Möglichkeit einer Deletion eines Satzes multipler Genkopien mit einer nachfolgenden
12.4 Umlagerung von DNA-Fragmenten
Vervielfältigung einer Einzelkopie zumindest als gelegentlicher Korrekturmechanismus ernsthaft in Betracht gezogen werden. Experimente, die für einen solchen Mechanismus sprechen,wurden an Mäusezellkulturen durchgeführt,die durch eine Mutation im Gen für Thymidinkinase (tk) und eine weitere Mutation im Gen für Adeninphosphoribosyl-Transferase (aptr) genetisch markiert waren (genetische Konstitution also: tk– aprt–). Nach Transfektion dieser Zellen mit DNA aus Zellen der Konstitution tk+ aprt+ gelang es, transformierte Zellen der Konstitution tk+ aprt+ zu selektieren. Die molekulare Analyse dieser Zellen ergab, dass sie neben den ursprünglich vorhandenen Genen (tk– aprt–) eine intrachromosomale Tandemamplifikation von 20 Kopien beider funktioneller Gene (tk+ aprt+) enthielten. Ein geeignetes Kulturmedium gestattet es, in einem weiteren Selektionsschritt, zugleich für eine tk+- und eine aprt–-Konstitution der Zellen zu selektieren. Überlebende Zellen sollten das amplifizierte tk+-Gen enthalten, gleichzeitig aber aprt–-Mutationen, die mit normaler Häufigkeit auftreten. Die molekulare Analyse von Zellen nach dieser Selektion zeigte, dass zwei verschiedene genetische Konstitutionen unter der Selektion lebensfähig blieben. In einem Zelltyp waren die 20 aprt+-Genkopien aus dem Tandemrepeat entfernt, und zwar durchgehend durch Deletionen in den gleichen Nukleotidpositionen. Da nunmehr nur noch das ursprüngliche zelleigene aprt–-Gen vorhanden war, erhielten die Zellen einen aprt–-Phänotyp. Im anderen Zelltyp waren alle aprt+-Kopien im Tandemrepeat durch ein mutiertes, funktionsunfähiges aprt–-Gen ersetzt. Ein Verständnis dieser Befunde ist nur möglich, wenn man eine Deletion aller Tandemkopien des Genclusters bis auf eine einzige Kopie und eine anschließende Amplifikation der verbleibenden mutierten Genkopie annimmt. Eine Amplifikation von Genen ist nicht auf extrachromosomale Kopien wie bei der rDNA oder die zufällige Integration und Amplifikation von DNA unter stoffwechselphysiologischen Ausnahmesituationen beschränkt. Im Gegenteil, lokale intrachromosomale Amplifikationsereignisse sind den Cytologen schon lange bekannt. Die ersten Fälle von DNA-Amplifikation wurden an Polytänchromosomen von Dipteren beobachtet. In verschiedenen Arten der Gattungen Rhynchosciara und Sciara wurden durch M.E. Breuer und C. Pavan (1955) gewebespezifische DNA-Puffs entdeckt (Abb. 7.27).
Mikrospektrophotometrie solcher Puffs durch G.T. Rudkin und S.L. Corlette (1957) bewies eine überproportionale DNA-Replikation. Diese Amplifikation betrifft Gene, die für die Produktion großer Mengen speicheldrüsenspezifischer Proteine sorgen. Die Größenordung der Amplifikation liegt hier bei dem 16fachen des normalen Polytäniegrades. Während des Puffstadiums erfolgt eine intensive Transkription. Die Puffs werden jedoch im Laufe der fortschreitenden larvalen Entwicklung inaktiviert, und sie bilden sich zu normalen Querscheiben zurück. Diese Querscheiben erscheinen nun jedoch aufgrund des höheren DNA-Gehaltes dicker als vor dem DNA-Puffstadium. Das bedeutet, dass die amplifizierte DNA im Chromosom verbleibt. In den molekularen Mechanismus einer solchen begrenzten intrachromosomalen Amplifikation haben uns die Choriongene von Drosophila melanogaster Einblicke ermöglicht. Diese Gene, die im Chromosom 3 und im X-Chromosom liegen, also in zwei getrennten Gruppen angeordnet sind, sind für die Synthese großer Mengen von Strukturproteinen der Eihülle verantwortlich. Diese werden in den Stadien 11 bis 14 der Oogenese (vgl. S. 589) zur Entwicklung des Chorions benötigt, und sie werden in den Follikelzellen des Ovariums gebildet (s. Abb. 13.19b). Beide Gruppen von Genen beginnen bereits während des Stadium 8 der Oogenese mit einer intrachromosomalen Amplifikation, die im Falle der Xchromosomalen Gene zu einer etwa 16fachen Vermehrung, im Falle der Gene im dritten Chromosom zu einer 64fachen Vermehrung der Gene führt. Durch Untersuchung der DNA-Sequenzen, die die Choriongencluster flankieren, konnte nachgewiesen werden, dass die intrachromosomale Amplifikation der Choriongengruppe deren eigentlichen Genbereich zu beiden Seiten um etwa 40 bis 50 kb überschreitet. Insgesamt umfasst der amplifizierte Bereich knapp 100 kb DNA. Allerdings ist in diesen flankierenden Bereichen der Grad der Amplifikation nicht identisch mit dem der darin eingeschlossenen Choriongene, sondern nimmt mit wachsendem Abstand vom Gencluster ab. Diese Befunde haben zu einem molekularen Modell des amplifizierten Genbereiches geführt, wie er in Abb. 12.23 dargestellt ist. Es kommt zu einer lateralen Vermehrung der Anzahl der Genkopien, die formal einer lokalen Polytänie des Chromosoms vergleichbar ist.Vermutlich erfolgt die Amplifikation der DNA in den DNA-Puffs in Riesenchromosomen in ähnlicher Weise.
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Abb. 12.23. Intramolekulare Amplifikation des Choriongenbereiches in den Follikelzellen der Eikammern im Ovar von Drosophila melanogaster. In diesen Zellen kommt es in begrenzten Chromosomenbereichen zu einer lateralen Amplifikation der DNA durch wiederholte Replikation. Die Amplifikation verläuft stufenweise, wie hier schematisch angedeutet und erreicht für die zwei Choriongenbereiche unterschiedliche Niveaus. (Nach Spradling 1987)
fizierten Chromosomenbereiche über mehrere Querscheiben in den Polytänchromosomen der betreffenden Organismen. Auch gleichzeitig replizierende Riesenchromosomenabschnitte schließen im Allgemeinen mehrere Querscheiben ein. Diese Beobachtungen deuten wiederum darauf hin, dass mehrere Querscheiben zu Domänen auf einem höheren chromosomalen Organisationsniveau zusammengeschlossen sind. Entsprechen diese Domänen den in Metaphasechromosomen nachweisbaren Banden (s. S.243)? Eine solche Korrelation erscheint denkbar, wenn man die Ähnlichkeiten im Replikations- und Amplifikationsverhalten von DNA berücksichtigt. ! Eukaryotische Zellen sind auf unterschiedliche
In diesem Fall der intrachromosomalen Amplifikation der DNA ist die Chromosomenstruktur notwendigerweise durch eine Diskontinuität in der Doppelhelix gekennzeichnet, da die Bildung von Verzweigungsstellen nur durch eine Unterbrechung eines der DNA-Stränge der Doppelhelix möglich ist. Das Verständnis der Kontrolle der Initiation der Replikation (s. S. 46) in den Replikationsstartpunkten lässt uns auch den Mechanismus der Überreplikation leichter verständlich erscheinen: Es gibt relativ einfache Möglichkeiten, weitere Replikatonsrunden am Replikationsursprung einzuleiten, indem der funktionelle Zustand des ORC-Komplexes erhalten bleibt. Das könnte in polytänen Zellen, die keinen normalen Zellzyklus mehr durchlaufen, z. B. durch ein niedriges Cyclin E-Niveau erreicht werden, da dann neue PreReplikationskomplexe entstehen könnten. Funktionell ist die abnormale Chromosomenstruktur im Choriongenbereich nicht problematisch, da sich die Follikelzellen nicht mehr teilen, sondern nach dem Stadium 14 der Oogenese degenerieren (s. S. 589). Die Struktur eines lateral amplifizierten Bereiches könnte es übrigens gestatten, einzelne amplifizierte DNA-Stücke aus dem Chromosom herauszuschneiden und als extrachromosomale Kopien in der Zelle beizubehalten. Vielleicht liegt in solchen Mechanismen die Erklärung für die Entstehung zur Bildung von Double-minutes und zur ursprünglichen Bildung extrachromosomaler Kopien von rDNA. Sowohl im Falle der meisten DNA-Puffs von Rhynchosciara oder Sciara als auch im Falle der Choriongene erstrecken sich die ampli-
Weise in der Lage, die im Genom vorhandene Zahl bestimmter Gene zu vermehren. Solche zellspezifische Vermehrung von Genen erfolgt dann, wenn der Bedarf an einem bestimmten Genprodukt die Kapazität des Genoms der betreffenden Zelle übersteigt. Zusätzliche Genkopien können entweder durch Polyploidisierung oder Polytänisierung des gesamten Genoms bereitgestellt werden. Alternativ kann es zur Vervielfachung begrenzter Genbereiche, entweder intra- oder extrachromosomal, kommen.
12.4.3 Chromatinelimination und -diminution Die Cytologie der Chromosomen in Keimzellen lässt uns Unterschiede in deren Konstitution im Vergleich zu somatischen Zellen erkennen. In manchen Organismen gibt es keimbahnlimitierte Chromosomen, die entweder aufgrund des Fehlens eines Centromers, ähnlich wie Double-minutes, mitotisch instabil sind und in somatischen Zellen während der Zellteilungen verlorengehen, oder durch besondere Verteilungsmechanismen aus somatischen Zellen eliminiert werden (s. S. 260). Auf welchem Wege die Anwesenheit mitotisch instabiler Chromosomen in den Keimzellen gesichert bleibt, ist nicht bekannt. In der Keimbahn ist die Anzahl mitotischer Teilungen jedoch oft begrenzt, so dass Verluste durch mitotische Instabilität weniger zur Auswirkung kommen. Es könnte jedoch auch eine Selektion zugunsten einer bestimmten Anzahl solcher limitierter Chromosomen in den Keimzellen stattfinden, die aus unbekannten
12.4 Umlagerung von DNA-Fragmenten
Gründen besonders günstige Fortpflanzungsraten garantiert. Neben diesem durch den Verlust von Extrachromosomen gekennzeichneten Unterschied zwischen Keimbahn und Soma hat man in einigen Organismen auch Unterschiede in der Größe von keimbahnlimitierten und somatischen Chromosomen beobachtet. Sie beruhen darauf, dass bei Teilungen, die zur Entstehung somatischer Zellen führen, Stücke der Chromosomen herausgeschnitten werden und verloren gehen. Man bezeichnet diesen Vorgang als Chromatindiminution oder Chromatinelimination. Das klassische Beispiel für solche Diminutionsprozesse ist die Elimination von Teilen der Chromosomen im Pferdespulwurm Parascaris equorum (Abb. 12.24). Entdeckt wurde sie bereits 1887 durch T. Boveri, der sie anschließend auch cytologisch genau untersuchte. Der Pferdespulwurm Parascaris equorum var. univalens besitzt in den Keimbahnzellen ein einziges Chromosomenpaar. Bereits während der zweiten Zellteilung nach der Befruchtung beobachtet man, dass die Chromosomen in einem Teil der neu entstandenen Zellkerne zerfallen. Es verbleiben kleine Chromosomen (40 bis 70), die in
Abb. 12.24. a Keimbahn-Soma-Differenzierung im Pferdespulwurm Parascaris equorum (Nematoda). Während der ersten vier Teilungen nach der Befruchtung erfolgt eine Trennung von Keimbahn- und Somazellen durch Elimination eines Teiles des Chromatins (blau) aus den künftigen somatischen Zellen (Chromatindiminution). Ab der fünften Zellteilung sind Keimbahn und Soma endgültig getrennt. Die P4-Zelle formt die primordialen Keimzellen, die durch klonale Teilungen die
allen somatischen Zellen in gleicher Form zu finden sind. Dieser Prozess setzt sich über die ersten vier Zellteilungszyklen nach der Befruchtung fort. Zellkerne, die noch unveränderte Chromosomen enthalten, vergleichbar denen der Zygote, findet man danach nur noch in Zellen, die der Keimbahn angehören (Abb. 12.25). ! In manchen Organismen beobachtet man den
Verlust von Chromosomenstücken während der embryonalen Frühentwicklung (Chromatindiminution). Dieser Verlust erfolgt ausschließlich in Zellen, die sich zu somatischen Zellen entwickeln.
Eine weitere Besonderheit dieses Prozesses ist es, dass ein einziges Chromosom in mehrere Einzelchromosomen zerfällt, deren jedes ein Centromer besitzt. Man bezeichnet daher das ursprüngliche Chromosom auch als Sammelchromosom. Ultrastrukturelle Untersuchungen sprechen dafür, dass die Spindelfasern über die gesamte Länge dieses Chromosoms hinweg angreifen können. Es wird daher
Keimzellen bilden. Die somatischen Zellen werden frühzeitig für bestimmte Differenzierungswge determiniert. So bildet die S1-Zelle nur Ektoderm, während Entoderm nur aus einem Teil der S2-Nachkommen entsteht. Im Extremfall führt dies zu Organismen mit konstanter Zellzahl. Das bekannteste Beispiel ist ein anderer Nematode, Caenorhabditis elegans. (Nach Boveri, verändert aus Tobler 1986).
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auch als holokinetisch bezeichnet. Offenbar sind viele centromerenähnliche Regionen über das gesamte Chromosom verteilt, die nach einem Zerfall in viele kleinere Chromosomen dafür sorgen, dass jedes der neuentstandenen Chromosomen sein eigenes Centromer erhält. ! Chromatindiminution kann durch den Zerfall
holokinetischer Chromosomen in Stücke erfolgen. Stücke, die erhalten bleiben, besitzen ein eigenes Centromer und werden daher mitotisch normal verteilt.
Abb. 12.24. b Sammelchromosomen in einem 2-Zellenstadium von Parascaris univalens. Die Chromosomenkomplemente von Keimbahnzelle P1 (unten) und präsomatischer Schwesterblastomere S1 (oben) bestehen übereinstimmend aus zwei vollständigen Chromosomen und einem überzähligen Fragment (f). Die Chromosomen setzen sich aus einem euchromatischen interkalaren Abschnitt (blau, DAPI) und, diesen beidseitig flankierend, heterochromatischen (HET-)Blöcken zusammen. Aus dem interkalaren Abschnitt werden im Zuge der Disintegration der Sammelchromosomen in den Gründerzellen der somatischen Bahnen die zahlreichen somatischen Chromosomen freigesetzt; die damit verbundene Abkopplung der HETBlöcke führt zu deren Elimination im Soma (Chromatindiminution). Das Heterochromatin besteht fast ausschließlich aus zwei hoch repetitiven DNA-Sequenzen, einem Penta- und einem Dekanukleotid. Wie die in-situ-Hybridisierung mit fluoreszenzmarkierten Oligonukleotid-Sonden zeigt, konstituieren die repetitiven Einheiten stets getrennte Segmente in den HET-Blöcken. In der Regel unterscheiden sich die HETBlöcke in Größe, Zahl und/oder Anordnung der Segmente. In den hier dargestellten Metaphaseplatten bestehen vier HETBlöcke, drei chromosomal und einer im Fragment, aus jeweils einem proximalen Pentanukleotid- (gelb, FITC) und einem distalen Dekanukleotid-Segment (violett, Cumarin, 2) bezeichnet. Im fünften HET-Block mit nur einem Segment (1) ist dieses, ein Pentanukleotid-Segment, erheblich kürzer als dasjenige am anderen Chromosomenende, besonders demonstrativ in S1 aufgrund der parallelen Ausrichtung der HET-Blöcke. Die Existenz des überzähligen Fragments in beiden Schwesterzellen zeigt, dass Fragmente von Sammelchromosomen mit interkalarem Chromatin in der Lage sind, mitotisch zu segregieren. (siehe Niedermaier u. Moritz 2000)
Vergleichbare Eliminationsprozesse hat man nicht nur in anderen Nematoden, sondern auch bei anderen Tierstämmen, beobachtet. Sehr ausführlich untersucht wurde die Chromatindiminution bei einer Reihe von Crustaceenarten der Gattung Cyclops. In manchen Wasserfloharten werden lange terminale Blöcke der Chromosomen zwischen der 5. und 7. Zellteilung nach der Befruchtung aus allen künftigen somatischen Zellen eliminiert, bei anderen Arten erfasst die Elimination auch interkalare Regionen der Chromosomen. Es werden in solchen Fällen Stücke der DNA entfernt, die zwischen Chromosomenbereichen liegen, die somatisch erhalten bleiben. Hierbei handelt es sich stets um Chromosomenabschnitte, die vor ihrer Elimination als Heterochromatin erscheinen (Abb. 12.26). MillerSpreitungsexperimente deuten darauf hin, dass die Elimination der DNA in der Form von DNA-Ringen erfolgt. Die Chromatindiminution in Cyclops ist nicht, wie bei Parascaris, mit einem Zerfall der Chromosomen verbunden, sondern verläuft durch die Exzision von Teilbereichen der Chromosomen wahrscheinlich unter Ringbildung der eliminierten DNA. Die Kontinuität der Chromatiden wird nach dem Verlust eines Chromosomenbereiches offenbar wiederhergestellt. ! Chromatindiminution kann auch durch den Ver-
lust interkalarer Chromosomenbereiche unter Beibehaltung der Integrität des (verkürzten) Chromosoms erfolgen.
An dieser Stelle wollen wir die Frage stellen, ob Unterschiede in der DNA ausschließlich zwischen
12.4 Umlagerung von DNA-Fragmenten Abb. 12.25 a,b. Konzept der Keimbahn-Soma-Differenzierung. Kontinuität der Keimbahn über Generationen
Abb. 12.26. Chromatinelimination während der 5. Furchungsteilung von Cyclops divulsus. Das in künftigen somatischen Zellen aus den Chromosomen eliminierte Heterochromatin bleibt in der Anaphase in der Äquatorialebene zurück und geht dadurch aus dem Kern verloren. (Photo: S. Beermann)
Keimbahn- und Somazellen zu finden sind, oder ob sie auch zwischen verschiedenen somatischen Zellen auftreten können. Bevor wir versuchen, hierauf eine Antwort zu erhalten, muss jedoch ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Genamplifikation und einer möglichen Genelimination herausgestellt werden. Im Falle der Genamplifikation handelt es sich stets um stoffwechselphysiologische Situationen, in denen die Zelle mit den normalerweise vom Genom bereitgestellten Genkopien die Anforderungen des Stoffwechsels nicht mehr erfüllen kann. Man sollte zwar erwarten, dass eine so geringfügige Erhöhung der Anzahl der Genkopien, wie sie bei den Choriongenen beobachtet wird, auch durch eine permanente Vermehrung der Zahl dieser Gene erzielt werden könnte. Dieses Argument ist aber zumindest bei der Amplifikation der rDNA in Oocyten nicht haltbar, da hier die Menge der amplifizierten DNA die Menge genomischer DNA um drei Größenordnungen übersteigt. Umgekehrt wäre eine Notwendigkeit zur Elimination einzelner Gene aus bestimmten Zellen zu Zwecken zellulärer Differenzierung nicht leicht verständlich. Ohne Zweifel verfügen die Zellen ja über Regulationsmechanismen, die die Aktivität eines Gens gewebespezifisch unterbinden können. Dennoch kennen wir inzwischen eine Reihe von Fällen, in denen DNA-Sequenzen gewebespezifisch
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Kapitel 12: Genetische Kontrolle zellulärer Differenzierung
irreversibel verändert werden. Im Gegensatz zur Amplifikation von Genen ist die Exzision von DNA jedoch selten und trägt jeweils sehr spezielle Züge. In allen bisher bekannten Fällen ist sie stets mit komplizierten DNA-Reorganisationsprozessen, nicht aber mit einer einfachen Elimination eines Gens aus Zellen eines bestimmten Gewebes verbunden. Diese Vorgänge der DNA-Reorganisation werden an anderer Stelle besprochen, da sie direkt mit zellulären Differenzierungsprozessen in Zusammenhang stehen (s. S. 536). Neben dem generellen Ausschluss von DNASequenzen aus somatischen Zellen muss aber noch eine andere Möglichkeit der Veränderung des Genoms in bestimmten somatischen Zellen erwähnt werden. Bei der Besprechung der Entstehung von Polytänchromosomen wurde bereits darauf hingewiesen, dass heterochromatische Chromosomen oder Chromosomenbereiche von der Polytänisierung im Allgemeinen ausgeschlossen sind (s. S. 253). Es handelt sich hierbei vorwiegend um repetitive DNA-Sequenzen. Von der Polytänisierung sind jedoch nicht allein DNA-Sequenzen ausgeschlossen, deren biologische Funktion bisher unklar ist. Vielmehr wurde bereits erwähnt, dass rDNA in Polytänchromosomen nur partiell repliziert wird und damit proportional unterrepräsentiert bleibt. Ähnliche Befunde wurden auch für einige andere Gene, u. a. die Histongene in Drosophila, gemacht. Differenzielle Replikation in Polytänchromosomen könnte Diskontinuitäten der Chromatiden im Riesenchromosom zur Folge haben, ähnlich wie wir sie bereits im Zusammenhang mit der Überreplikation der Choriongene während der Drosophila-Oogenese kennengelernt haben (s. Abb. 12.23). In beiden Fällen handelt es sich um Zellen, die keine weiteren Mitosen durchlaufen, so dass Diskontinuitäten in den Chromatiden zu keinen Störungen bei ihrer Verteilung auf Tochterzellen führen können. ! In manchen Zellen kommt es zur differenziellen
Replikation einzelner Chromosomenbereiche. Vor allem bei der Polytänisierung des Chromosoms bleiben Heterochromatin und einige andere Chromosomenbereiche unterrepliziert oder fehlen ganz.
12.4.4 Veränderungen des Paarungstyps bei Hefen Veränderungen von Genen im Zusammenhang mit differenzieller Genexpression ereignen sich auch bei Hefen. In diesen Einzellern erfolgen DNA-Rearrangements in Zusammenhang mit der Geschlechtsbestimmung der Zellen. Man unterscheidet bei Hefe Zellen unterschiedlicher Paarungstypen, die in der haploiden Phase auftreten (s. S. 215). Hefezellen können haploid oder diploid sein (s. Abb. 6.42). Der Generationswechsel zwischen dem haploiden und diploiden Zustand ist mit der Konjugation, also der Fusion, zweier haploider Zellen verbunden. Deren Fusionsprodukt kann sich entweder als diploide Zelle vermehren, oder – unter ungünstigen Umweltbedingungen (z. B. Nahrungsmangel) – einen Meiosezyklus durchlaufen und unter Sporenbildung wieder in den haploiden Zustand übergehen. Die Konjugation zweier haploider Zellen kann nur zwischen Zellen eines unterschiedlichen Paarungstyps (engl. mating type), also entgegengesetzten Geschlechts, erfolgen. Bei Saccharomyces cerevisiae, der Bäckerhefe, werden diese beiden Zelltypen unterschiedlichen Paarungstyps als a- und α-Zellen bezeichnet. Der Paarungstyp der Zelle wird durch den matingtype-Locus (MAT) bestimmt, der in der Form von zwei (in diploiden Zellen) codominanten Allelen, MATa und MATα, vorkommen kann. Konjugieren können nur haploide Zellen mit verschiedenen Allelen (also: MATa × MATα). Diploide Zellen sind demgemäß bezüglich des MAT-Locus grundsätzlich heterozygot. Haploide S.-cerevisiae-Stämme können sich in der Konstitution eines Genes (homothallic, HO) unterscheiden, das als funktionelles Allel (HO) oder als mutantes, nichtfunktionelles Allel (ho) vorliegen kann. ho-Stämme, die auch heterothallisch genannt werden, haben einen stabilen Paarungstyp (a oder α). Bei homothallischen HO-Stämme hingegen verändert sich der Paarungstyp der haploiden Zellen nach jeder Zellteilung (ausgenommen der ersten nach der Meiose) mit großer Häufigkeit spontan. Eine Zelle, deren ursprünglicher Paarungstyp a war, kann Tochterzellen hervorbringen, die dem α-Paarungstyp zugehören und umgekehrt. Es entsteht somit eine Zellpopulation, die aus sich selbst heraus zur Konjugation (also eigentlich Selbstbefruchtung) befähigt wird, indem sie selbst Zellen des entgegengesetzten Geschlechts liefert (sie ist homo-
12.4 Umlagerung von DNA-Fragmenten
thallisch). Heterothallische Zellpopulationen benötigen hingegen zur Konjugation eine Population von Zellen entgegengesetzten Paarungstyps, da sie diese nicht selbst produzieren können. Wir werden sehen, dass der Unterschied auf einem defektem Enzym beruht, dessen Funktionsunfähigkeit die grundsätzlich vorhandene Fähigkeit der Zellen zur Entstehung entgegengesetzter Paarungstypen außer Kraft setzt. ! Hefen sind als Haplonten oder Diplonten lebens-
fähig. Haploide Zellen unterschiedlicher Paarungstypen können fusionieren und diploide Zellen bilden. Der Paarungstyp einer haploiden Zelle kann sich unter dem Einfluss eines Gens spontan verändern.
Die Grundlage des Wechsels zwischen zwei Paarungstypen wird durch eine Veränderung der für den Paarungstyp verantwortlichen DNA-Sequenz im MAT-Locus gelegt. Der MAT-Locus liegt in Chromosom 3 und besteht aus fünf verschiedenen DNAAbschnitten, die als W, X, Ya (oder Yα), Z1 und Z2 bezeichnet werden (Abb. 12.27). Im Allel mit der Konstitution Ya wird ein Transkript (a1) gebildet, dessen Synthese in der Region Ya initiiert wird und über Z1 Abb. 12.27. Der MAT-Locus von Saccharomyces cerevisiae und die für seine Funktion erforderlichen genetischen Elemente. Die Feinstruktur des MAT-Locus ist unter dem Chromosom dargestellt, ebenso die für den jeweiligen MAT-Locus (a oder α) charakteristischen Transkripte (blaue Pfeile). Die Abbildung lässt erkennen, dass der Unterschied im Y-Bereich den Paarungstyp festlegt. Die inaktiven Loci HMLα und HMRa, die bis zu 180 kb vom MAT-Locus entfernt liegen, enthalten die für beide Paarungstypen charakteristischen Y-Sequenzbereich α bzw. a. Die Initiation der Transkripte a1 und α1 beginnt etwas gegeneinander versetzt
bis in die Z2-Region erfolgt. Im Yα-Allel hingegen wird ein etwas zuvor im Yα-Segment beginnendes α1-Transkript und ein zweites, α2, gebildet, das ebenfalls in Yα beginnt, jedoch gegenläufig in die XRegion hinein transkribiert wird (Abb. 12.27). Alle drei RNAs kodieren für regulatorische Proteine (Transkriptionsfaktoren), die an die DNA von ihnen regulierter Gene binden (s. S. 322). Das α1-Protein ist ein positives Regulationsmolekül, das α-spezifische Genfunktionen induziert. Zu diesen induzierten Genen gehört ein kleines, 13 Aminosäuren langes Peptid, MFα1, das als Pheromon wirkt. Dieses Pheromon wird von α-Zellen sezerniert und von einem MFα1-spezifischen Rezeptor in der Zellmembran von Paarungstyp-a-Zellen als Ligand gebunden. Es induziert durch eine Konformationsänderung des Rezeptors eine Signaltransduktion in die Zelle. Diese Konformationsänderung aktiviert ein intrazelluäres, an den Rezeptor gebundenes G-Protein (guaninnukleotidbindendes Protein), das seinerseits eine Kaskade intrazellularer Stoffwechselprozesse induziert und u. a. durch Phosphorylierung des pcdc28 (s. S. 212) zur Blockierung der Zelle in der G1Phase führt. Das Proteinprodukt des α2-Transkripts hingegen wirkt als negativer Regulator (also Repressor) auf a-zellspezifische Gene, die damit in α-Zellen inaktiv bleiben.
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Kapitel 12: Genetische Kontrolle zellulärer Differenzierung
Abb. 12.28. Die Proteine des MAT-Locus in den beiden haploiden Paarungstypen und im diploiden Zustand und ihre Funktionen. Offensichtlich ist der Paarungstyp a der konstitu-
tive Zustand, während das Produkt des MATα-Locus die Expression der für den Paarungstyp a spezifischen Genen unterdrückt
Das a1-Produkt wird auch in diploiden (a/α) Zellen geformt (Abb. 12.28). Hier inhibiert es, zusammen mit dem α2-Peptid, die Expression des Gens HO, des α1-Proteins und einer Serie von Genen, deren Funktionen zur Konjugation erforderlich sind. Diploide HO-Zellen ändern daher ihren Paarungstyp nicht (d. h. können nicht homozygot a/a oder α/α) werden und konjugieren selbstverständlich auch nicht.
rungstyps durch eine Interaktion des eigentlichen MAT-Locus mit zwei anderen DNA-Abschnitten HMLα und HMRa, die den MAT-Locus links (HML) und rechts (HMR) flankieren. HML liegt 180 kb links, HMR 120 kb rechts vom MAT-Locus. Beide DNABereiche sind Kopien des MAT-Locus selbst, und zwar einmal des MATα-Allels (als HML), das andere Mal des MATa-Allels (als HMR). Im Gegensatz zum MAT-Locus selbst werden die HML- und HMRRegionen nicht transkribiert. Dafür sorgen die vier SIR-Gene (SIR ist die Abkürzung für engl. silent information repressor), die auf die Transkriptionskontrollelemente von a1, α1 und α2 in den HML- und HMR-Regionen einwirken und deren Transkription reprimieren. Diese Kontrollregionen üben eine Funktion aus, die der einer Enhancerregion (s. S. 326) entgegengesetzt ist. Sie reprimieren die Transkription; dadurch wird sichergestellt, dass nur das jeweils im
! Der Paarungstyp von Saccharomyces cerevisiae
wird durch die genetische Konstitution des MATLocus bestimmt.
An der Veränderung des Paarungstyps in haploiden HO-Zellen sind drei Loci beteiligt (Abb. 12.29). Wie wir heute wissen, erfolgt die Umschaltung des Paa-
Abb. 12.29. Funktionen weiterer Gene in der Regulation des Paarungstyps von Saccharomyces cerevisiae. Das HO-Gen kodiert für die Endonuklease, die die Änderung des Paarungstyps initiiert. Bei Ausfall dieser Genfunktion bleibt der Paarungstyp des jeweiligen MAT-Locus unveränderlich. Die SIR-Gene unterdrücken die Transkription der HM-Regionen durch Interaktion mit deren Silencerelementen
12.4 Umlagerung von DNA-Fragmenten
eigentlichen MAT-Locus vorhandene Allel transkribiert wird, obwohl im Genom prinzipiell beide Allele verfügbar sind. Der Wechsel zwischen a- und α-Konstitution im MAT-Locus erfolgt durch replikatives Einlesen der jeweils entgegengesetzten Allelkonstitution in den MAT-Locus (Abb. 12.27 und 12.30). Hierzu wird zunächst ein versetzter Doppelstrangschnitt in die Z1Region des MAT-Locus durch das Genprodukt des HO-Locus eingeführt. Es handelt sich bei diesem Protein also um eine Endonuklease (Abb. 12.29 und 12.30). Danach erfolgt eine Paarung der HML- oder HMR-Region mit dem MAT-Locus. Dieser Paarung
folgt ein Einlesen der DNA-Sequenz eines Teiles der HML- bzw. HMR-Region mittels eines Mechanismus, der wahrscheinlich dem einer Genkonversion gleicht. Offenbar ist die Chromatinstruktur sowohl des MAT-Locus als auch der HML- bzw. HMR-Regionen von Bedeutung für eine korrekte Einfügung der richtigen DNA-Abschnitte in den MAT-Locus und insbesondere für die Richtung der DNA-Veränderung, denn die Donor-DNA-Region (also HML oder HMR) erfährt keine DNA-Substitution während des Einlesens ihrer Sequenz in den MAT-Locus. Die Chromatinkonstitution ist anscheinend auch für die Wahl der HML- oder HMR-Region,
Abb. 12.30. Molekularer Mechanismus des Paarungstypwechsels. Durch Paarung des MAT-Locus mit einem der HMGene wird in den MAT-Locus das Y-Element eingelesen, das den ihm entgegengesetzten Paarungstyp repräsentiert. Dieser Prozess wird durch die Aktivität der im HO-Gen kodierten Endonuklease eingeleitet, die zunächst einen Doppelstrangschnitt im MAT-Locus verursacht. Einer der freien DNA-Stränge dient dann, ähnlich wie bei der normalen Rekombination,
durch strand invasion der intakten DNA des HM-Locus als Primer für begrenzte DNA-Neusynthese. Wahrscheinlich bildet sich dann, ähnlich wie bei der Replikation (s. Abb. 6.27 und 6.28) eine Holliday-Struktur. Nach branch migration erfolgt dann die Isomerisation und Auflösung. Als Resultat ist die YRegion des HM-Bereiches in den aktiven MAT-Locus kopiert, ohne dass der HM-Bereich verändert wird. (Nach Haber 1992)
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Kapitel 12: Genetische Kontrolle zellulärer Differenzierung
je nach Konstitution des MAT-Locus selbst, verantwortlich. Es wird nämlich jeweils die der genetischen Konstitution des MAT-Locus entgegengesetzte HMRegion mit dem MAT-Locus gepaart, so dass die Richtung der Veränderung des Matingtyps kontrolliert festgelegt ist. Der molekulare Mechanismus des Silencing der HM-Regionen ist in den letzten Jahren relativ gut aufgeklärt worden. Es sind hierbei Multiproteinkomplexe beteiligt, wie sie auch in anderen chromosomalen Regionen mit inaktivem Chromatin (Telomeren, Centromeren) und einzelnen inaktivierten Genen (rDNA u. a) gefunden werden. Die Abgrenzung der Region, die durch Chromatinkondensation einem Silencing unterliegt, erfolgt durch spezifische DNAElemente. Das Silencing von Chromatin im MATLocus reflektiert damit offenbar einen generellen Mechanismus der Chromatininaktivierung, an dem auch eine differenzielle Acetylierung von Histonen beteiligt ist. Ähnliche Mechanismen der Veränderung des MAT-Locus findet man auch in anderen Hefen. Obwohl das Prinzip des molekularen Mechanismus der Umschaltung des Paarungstyps dem von S. cerevisiae ähnelt, findet man doch bemerkenswerte Unterschiede. Beispielsweise wird die Veränderung des Paarungstyps in Schizosaccharomyces pombe durch ein Imprinting eines der DNA-Stränge im Paarungstyp-Locus (hier mat1 genannt) kontrolliert. Das hat zur Folge, dass bei S. pombe im Gegensatz zur Bäckerhefe jeweils nur eine der Tochterzellen einen veränderten Paarungstyp aufweist, während in Saccharomyces cerevisiae jeweils beide Tochterzellen im Paarungstyp verändert sind. Es zeigt uns erneut, welche Bedeutung Signalen auf der DNA-Ebene im Hinblick auf zelluläre Differenzierungsprozesse zukommen kann. ! Spontane Veränderungen des Paarungstyps beru-
hen auf einer endonukleasekontrollierten DNA-Veränderung im MAT-Locus. Im Genom sind stets zwei zusätzliche Kopien des MAT-Locus vorhanden, je eins für den a- und den α-Paarungstyp. Durch replikatives Einfügen des zum vorhandenen funktionellen MATLocus entgegengesetzten Allels kommt es zur Veränderung der genetischen Konstitution des aktiven Gens und damit zur Wechsel des Paarungstyps.
12.4.5 Die Oberflächenantigene von Trypanosoma Das Einlesen von DNA-Sequenzen, die im Genom bereitgestellt werden,in funktionelle Genloci ist nicht auf den Paarungstyp-Locus von Hefen beschränkt. Ähnliche molekulare Prozesse laufen in Zusammenhang mit Veränderungen der Gene für Oberflächenantigene bei Trypanosoma,dem Erreger der Schlafkrankheit ab. Diese Veränderung der exprimierten Oberflächenantigene haben hier die Aufgabe, den Parasiten der Vernichtung durch das Immunsystem des Wirtes durch häufigen Wechsel der Antigene zu entziehen. Der Erreger der Schlafkrankheit, der Flagellat Trypanosoma brucei, wird durch die Tsetsefliege Glossina palpalis (Muscidae) übertragen. Der Flagellat (Protozoa) vermehrt sich nach der Übertragung durch die Stechfliege im Blut des Menschen über einige Monate, bis er in die Cerebralflüssigkeit übergeht und einen tödlichen Krankheitsverlauf auslöst. Zu Beginn der Infektion ist das Immunsystem zur Abwehr in der Lage. Eine kleine verbleibende Population des Flagellaten entkommt der Erkennung durch die Immunabwehr durch die Ausbildung eines neuen Oberflächenantigens. Die Antigendeterminanten sind Glykoproteine (engl. variable surface glycoproteins, VSGs), die mit etwa 107 Molekülen in der Plasmamembran integriert sind. Jedes Individuum von Trypanosoma brucei hat ein Repertoir von etwa 100 solchen Glykoproteinen mit unterschiedlichen Antigenvarianten (engl. variant antigen types,VATs) verfügbar, die im Laufe des Infektionszyklus in einer bestimmten, wenn auch nicht ganz festgelegten Folge zur Ausprägung kommen. Ihr häufiger Wechsel (etwa 1–10 in 106 Individuen zeigen ein verändertes VAT) gestattet es dem Parasiten, der Immunabwehr zu entrinnen. VSGs sind glykosilierte Polypeptide einer Länge von etwa 500 Aminosäuren, die als Homodimeren auftreten. Sie werden von einer Multigenfamilie von etwa 1000 Genen im Genom des Parasiten kodiert. Jedes Gen besteht aus einer variablen und einer konstanten Region. Konstante Bereiche, die in der Plasmamembran fixiert sind, sind nicht vollständig identisch sondern nur ähnlich. Hingegen enthält das aminoterminale Ende die voneinander verschiedenen Antigendeterminanten. Lediglich eins dieser Gene ist jeweils aktiv und befindet sich im Telomerenbereich eines der vielen Chromosomen des Parasiten. Der Austausch funk-
12.5 Das Immunsystem
tioneller Gene erfolgt mittels eines noch nicht vollständig aufgeklärten Mechanismus, der dem des Paarungstyp-Wechsels ähnlich ist. Inwieweit in den komplexen Genomen der Eukaryoten anderen Veränderungen von DNA-Sequenzen eine Bedeutung für die Differenzierung des Organismus zukommt, lässt sich gegenwärtig nur schwer ermessen. Im Rückblick lässt sich jedoch feststellen, dass die ursprüngliche Sicht einer hochgradigen Stabilität der genetischen Information innerhalb einzelner Organismen nicht den tatsächlichen Gegebenheiten entspricht. ! Trypanosoma, der Erreger der Schlafkrankheit, zeichnet sich durch variable Oberflächenantigene an seiner Plasmamembran aus. Durch den Wechsel dieser Antigene nach der Infektion vermag der Parasit der Immunabwehr zu entrinnen. Der Wechsel des exprimierten Antigens ist mit DNA-Veränderungen verbunden.
12.5 Das Immunsystem 12.5.1 Funktion des Immunsystems der Säuger Durch Anwendung der Methoden der Gentechnologie sind verschiedene Differenzierungsprozesse aufgedeckt worden, bei denen eine Veränderung der molekularen Struktur von Genen die Grundlage für zellspezifische Genfunktionen bildet. Den komplexesten Genveränderungen unterliegen in diesen bisher bekannten Fällen die Immunoglobulingene (Ig-Gene) der Säugetiere. Diese Gene sind für die Produktion derjenigen Proteine (Antikörperketten) verantwortlich, auf denen die Funktion unseres immunologischen Abwehrsystemes beruht, die Immunoglobuline (Antikörper). Mehrere Antikörperketten formen einen Antikörper. Dieser ist imstande, körperfremde Stoffe, genannt Antigene, zu erkennen und sich daran anzulagern.Diese Anlagerung führt zur Bildung eines Antikörper-Antigen-Komplexes, der anschließend durch andere Zellen des Immunsystems vernichtet werden kann.
! Antikörper sind Proteinmoleküle, die spezifisch
Antigene erkennen können und an diese binden. Hierdurch können körperfremde Stoffe erkannt und vernichtet werden.
Die Synthese von Antikörpern erfolgt ausschließlich in speziellen Zellen des Immunsystems, den Lymphocyten. Hauptklassen dieser Zellen sind die B-und die T-Lymphocyten. Sie erfüllen jeweils charakteristische Aufgaben im Bereich der Immunabwehr. Beide Lymphocytentypen gehören, wie auch die übrigen Zellen des Immunsystems und die Erythrocyten, dem hämatopoietischen (blutbildenden) System an. Sie entstehen, wie alle Blutzellen, aus Stammzellen im Knochenmark (Abb. 12.31). Die Immunabwehr der Säuger erfordert als ersten Schritt die Erkennung eines körperfremden Stoffes. Diese erfolgt mit Hilfe der an die Lymphocytenmembran gebundenen Immunoglobulinmoleküle (Ig-Moleküle). Nach der Erkennung eines körperfremden Stoffes durch einen B-Lymphocyten beginnt dieser zu proliferieren und formt eine große Anzahl von Plasmazellen. Alle von ihm abgeleiteten Plasmazellen (also alle Plasmazellen gleichen klonalen Ursprungs) produzieren den gleichen spezifischen Antikörper gegen ein bestimmtes Antigen. Dieser Antikörper wird nun jedoch nicht mehr vorwiegend als membrangebundene Form synthetisiert, sondern wird in einer löslichen Form ins Blut abgegeben. T-Lymphocyten (auch T-Zellen genannt) werden ebenfalls im Knochenmark gebildet, müssen jedoch zunächst im Thymus eine Reifungsphase durchlaufen, um funktionsfähig zu werden. T-Zellen unterstützen die B-Lymphocyten in ihrer Funktion, indem sie mit ihrem an der Zellmembran gebundenen T-Zellrezeptor an B-Lymphocyten gebundene Antigene erkennen und an diese binden. Im Gegensatz zu B-Lymphocyten erkennen T-Zellen nur gebundene Antigene. Hierfür ist ein Erkennungssignal an der antigentragenden Zelle, das Histokompatibilitätsantigen, erforderlich. Aufgabe der T-Zellen ist es nun, einerseits dieses Histokompatibilitätsantigen, andererseits den Antigen-Antikörper-Komplex am BLymphocyten mittels des T-Zellrezeptors zu erkennen. T-Zellen sind selbst nicht imstande, Antikörper zu sezernieren. Es werden mehrere Typen von T-Zellen unterschieden, die cytotoxischen T-Lymphocyten (CTL)
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Kapitel 12: Genetische Kontrolle zellulärer Differenzierung
Abb. 12.31. Das hämatopoietische System. Aus den hämatopoietischen Stammzellen im Knochenmark entstehen einerseits die erythroiden Stammzellen, die sich über Reticulocyten in (kernlose) Erythrocyten entwickeln, andererseits die Zellen
des Immunsystems. Hierzu gehören die Leukocyten und die Makrophagen sowie die Lymphocyten, die für die Antikörperproduktion verantwortlich sind
(auch Killer-T-Zellen genannt), Helfer-T-Zellen (THZellen) und Suppressor-T-Zellen (TS-Zellen). Wie der Name andeutet, haben CTLs die Aufgabe, Zellen mit körperfremden Antigenen an ihrer Zelloberfläche zu vernichten. TH-Zellen sezernieren Proteinfaktoren, die die Immunreaktion anderer Zellen, beispielsweise von B-Lymphocyten, stimulieren. Sie sind ein unentbehrlicher Bestandteil des Immunsystems. Das wird
besonders deutlich daran, dass sie die Wirtszellen des Aids-Virus (HIV) (s. S. 360 ff.) sind, die durch das Virus letztlich zerstört werden. Hierauf beruht die Zerstörung der Funktionen des Immunsystems durch das Aids-Virus.
12.5 Das Immunsystem
! Antikörper werden in Lymphocyten synthetisiert.
Ein Lymphocyt vermag nur ein bestimmtes Antigen zu erkennen. Nach der Erkennung eines körperfremden Antigens durch die Antikörper an der Zellmembran eines Lymphocyten beginnt dieser zu proliferieren und dadurch Plasmazellen zu erzeugen, die Antikörper gegen das gleiche Antigen erzeugen können.
Die Erkennungssignale, die von Antikörpern erkannt werden, umfassen oft nur wenige (fünf bis zehn) Aminosäuren eines Proteins, sind also im Allgemeinen recht klein, verglichen mit der Größe eines Proteinmoleküls. Man bezeichnet den Molekülbereich, der durch einen bestimmten Antikörper erkannt wird, als Antigendeterminante (oder Epitop). Ein einzelnes Protein besteht demnach aus einer Vielzahl von Antigendeterminanten. Hierbei lässt sich zwischen stärker immunogenen, d. h. die Proliferation der B-Lymphocyten stärker induzierenden Epitopen und schwächer oder gar nicht immunogenen Epitopen unterscheiden. Da ein Lymphocyt nur jeweils einen bestimmten Antikörpertyp produzieren kann, sind zur Erkennung der unterschiedlichen Antigendeterminanten die Antikörper vieler verschiedener Lymphocyten erforderlich. Die Immunabwehr bedarf jedoch nur eines einzigen Lymphocytentyps, um ihre Aufgabe zu erfüllen. ! Das von einem Antikörper erkannte Antigen
(Antigendeterminante, Epitop) kann sehr klein sein und 5 bis 10 Aminosäuren umfassen.
Die geringe Ausdehnung eines durch einen Antikörper erkannten Epitops lässt erwarten, dass man gleiche oder sehr ähnliche Epitope in unterschiedlichen Proteinen wiederfindet, da kurze identische Aminosäuresequenzen in vielen Proteinen vorkommen. Dadurch wird die Anzahl möglicher unterschiedlicher Antigendeterminanten reduziert. Dennoch ist die Anzahl unterschiedlicher Epitope, die insgesamt durch Antikörper erkannt werden müssen, beträchtlich. Die Schätzungen der Anzahl unterschiedlicher Antigendeterminanten, auf die das Immunsystem funktionell vorbereitet sein muss, um einen vollständigen immunologischen Schutz zu
bieten, liegen zwischen 106 und 107. Man könnte allerdings argumentieren, dass nicht alle Epitope eines Proteins durch einen Antikörper erkannt werden müssen, um dieses als körperfremd zu erkennen und zu inaktivieren. Die Anzahl der erforderlichen unterschiedlichen Antikörper wäre dann erheblich niedriger. Das wirft sehr schwerwiegende Fragen hinsichtlich der genetischen Kodierung des Immunsystems auf, wie sich aus der folgenden Abschätzung leicht erkennen lässt: Die genetische Information, die erforderlich ist, um einen bestimmten Antikörper zu kodieren, liegt bei 6000 bp DNA (s.u.). Zur Kodierung aller möglichen Antikörper wären daher mindestens 6 × 109 bp DNA (106 × 6000 bp) erforderlich. Diese DNA-Menge würde bereits die Größe des menschlichen Genoms (2 × 109 bp) überschreiten. Die Vielfalt der Reaktionen des Immunsystems muss daher auf einem anderen genetischen Mechanismus beruhen als auf der getrennten Kodierung vieler unterschiedlicher Gene. Die Eigenschaften des Säugerimmunsystems werfen daher schon bei oberflächlicher Betrachtung zwei grundlegende Fragen auf: • Wodurch können so viele unterschiedliche Antikörper bereitgestellt werden, dass sie imstande sind, eine Diversität von über 106 Erkennungsstrukturen für unterschiedliche Antigendeterminanten abzudecken? • Wie unterscheidet das Immunsystem zwischen körpereigenen Stoffen, die ja von der Immunabwehr nicht angegriffen werden dürfen, und körperfremden Antigenen, die zuverlässig entfernt werden müssen? Auf beide Fragen können wir heute zumindest in prinzipieller Form Antworten geben. Zusammenfassend lauten die Antworten: • Die große Vielfalt der verschiedenen Antikörper wird durch Veränderungen in der DNA-Struktur der betreffenden Gene im Laufe der Lymphocytendifferenzierung hervorgebracht. • Der Schutz des Organismus gegenüber Angriffen durch das eigene Immunsystem erfolgt dadurch, dass Lymphocytenklone, die gegen körpereigene Antigene gerichtet wären, deletiert oder anergisiert (ruhiggestellt) werden. Auf beide Antworten soll im Verlauf unserer weiteren Betrachtung etwas genauer eingegangen werden.
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Kapitel 12: Genetische Kontrolle zellulärer Differenzierung
Zuvor werden jedoch die zentralen molekularen Gesichtspunkte, die zum Verständnis der Antikörperreaktionen erforderlich sind, zusammengefasst. Die große Anzahl der benötigten Immunoglobulinmoleküle schließt die Möglichkeit (als Keimbahnhypothese bezeichnet) aus, dass sie alle unabhängig voneinander im Genom kodiert werden. Auf welche Weise die Bildung einer Vielzahl verschiedener Antikörper erreicht wird und wie die zellspezifische Produktion jeweils nur eines dieser Antikörper gesteuert wird, wurde durch die Aufklärung der molekularen Struktur der Immunoglobulingene deutlich. Ausgangspunkt dieser Erkenntnis war der Vergleich der Ig-Genstruktur in antikörperproduzierenden Zelllinien (Mausmyelomazellen) mit der entsprechenden Ig-Genstruktur in beliebigen somatischen oder Keimbahnzellen von Mäusen. Hierbei stellte sich heraus, dass die Gene im Laufe der Differenzierung der Zellen zu Lymphocyten ihre DNAStruktur verändern.
• Ein Antikörper besteht aus einem Komplex von
•
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•
•
12.5.2 Entwicklung und Struktur der Immunoglobulingene Die Grundzüge dieses Entwicklungsprozesses und der Struktureigenschaften der Immunoglobuline lassen sich in den folgenden Punkten zusammenfassen (Abb. 12.32):
NH2
NH2 S
S
S H-Kette
S
H-Kette S
S S
S
S
S S
L-Kette
NH2
Variable Region
H 2N
•
zwei identischen schweren (H-Ketten, engl. heavy chain) und zwei identischen leichten (L-Ketten, engl. light chain) Proteinketten, die über Disulfidbrücken untereinander verbunden sind. Jede leichte Kette ist aus einer variablen (V für engl. variable) und einer konstanten (C für engl. constant) Region aufgebaut. Beide Regionen sind über eine J-Region (für engl. joining) miteinander verbunden. Jede schwere Kette besteht aus einer variablen und drei tandemartig hintereinander liegenden, nahezu identischen konstanten Regionen. Die variablen und die konstanten Regionen sind über eine D- (für engl. diversity) und eine J-Region miteinander verbunden. Die variablen Regionen einschließlich der D- und J-Region beider Ig-Ketten sind für jeden Antikörpertyp individuell charakteristisch und vermitteln die Antigenspezifität. Die variable, die D-, die J- und die konstante Region werden in unterschiedlichen Bereichen der DNA kodiert. Während der Entwicklung eines B-Lymphocyten werden diese Bereiche durch Rekombinationsereignisse in der DNA aneinandergesetzt. Auf diese Weise entstehen die unterschiedlichen Antigenspezifitäten. Nach der Konstruktion eines funktionellen Hoder L-Kettengens im Lymphocyten erfolgen zu-
S S
S S
S S
S
S
S
S
S
S
COOH
S
S
L-Kette
S COOH
COOH
Konstante Region
COOH
S S S S
Abb. 12.32. Struktur eines Antikörpers. Ein Antikörper (oder Immunoglobulinmolekül) besteht aus vier Ketten: zwei identischen L-Ketten und zwei identischen H-Ketten. Die einzelnen Polypeptidketten sind intramolekular durch die Bildung von Disulfidbrücken gekennzeichnet, die die Tertiärstruktur mitbestimmen. Disulfidbrücken verbinden auch die Ketten miteinander. Das N-terminale Ende der variablen Ketten formt die Region, die für die Erkennung der Antigendeterminanten entscheidend ist. Das carboxyterminale Ende der H-Ketten dient z. B. zur Verankerung in der Lymphocytenmembran. gelb: J-Region, grün: D-Region
12.5 Das Immunsystem
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•
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sätzliche (somatische) Mutationen, insbesondere auch in den hypervariablen Bereichen der variablen Kettenregion, die zur Erhöhung der Antigenspezifität beitragen. Die DNA-Rearrangements, die zur Bildung eines funktionellen Ig-Gens erforderlich sind, erfolgen nur in einem der beiden homologen Chromosomen, das Homologe bleibt genetisch inaktiv. Diese Erscheinung bezeichnet man als allele Exclusion (Allelausschluss) (engl. allelic exclusion). Es gibt zumindest zwei verschiedene Genloci für leichte Ketten, die auf unterschiedlichen Chromosomen liegen (beim Menschen in den Chromosomen 2 und 22, bei der Maus in den Chromosomen 6 und 16). Sie werden als κ- und λ-Ketten (Lκ und Lλ) bezeichnet. Beide Genloci kommen ausschließlich alternativ, nie gleichzeitig zur Expression. In den schweren Ketten, die beim Menschen in Chromosom 14, bei der Maus in Chromosom 12 kodiert werden, können unterschiedliche konstante Regionen vorkommen, die nicht die Antigenspezifität, sondern andere spezifische Funktionen der Antikörper (Membranbindung, Aktivierung des Komplementsystems [bestehend aus Proteinen, die Zellen abtöten, an die Antikörper gebunden sind], Aktivierung und Bindung von Makrophagen, Induktion von Phagocytose, Induktion von Histaminausschüttung der Mastzellen u. a.) bestimmen. Die Erkennungsspezifität des Antikörpers wird hierdurch nicht verändert. Die Änderung einer konstanten Region bezeichnet man als Klassenwechsel (engl. class switch). Evolutionär sind die verschiedenen V- und CRegionen durch Duplikationen auseinander entstanden. ! Die funktionellen Gene für Antikörper werden
während der Differenzierung von Lymphocyten im Knochenmark durch komplexe intrachromosomale Rekombinationsereignisse aus Teilstücken zusammengesetzt. Durch Kombination unterschiedlicher Teilstücke vermag jeder Lymphocyt ein für ihn spezifisches Immunoglobulingen zusammenzustellen.
Dieser allgemeinen Zusammenfassung der wesentlichen Eigenschaften der Ig-Gene folgt nun eine tiefergehende Besprechung der verschiedenen Phäno-
mene, die die zusätzliche Komplexität dieses Gensystems deutlich werden lässt, aber in den meisten Punkten noch eine starke Vereinfachung der wirklichen, oft in ihren molekularen und biologischen Mechanismen noch ganz unverstandenen Situation einschließt. Zunächst gilt es, noch einige gebräuchliche Begriffe zu erörtern, die zum Verständnis der Wirkungsweise von Antikörpern von Bedeutung sind. Sie gehen meist auf frühere immunologische Terminologie zurück. Verschiedene Allele desselben Immunoglobulins (also z. B. die beiden Allele einer Lκ-Kette) werden als verschiedene Allotypen bezeichnet. Antikörper mit verschieden variablen Regionen werden als verschiedene Idiotypen bezeichnet. Antikörper mit unterschiedlichen konstanten Regionen, also mit IgM, IgD oder IgG usw. (s.u.), werden als verschiedene Isotypen bezeichnet. Verschiedene Allotypen können also unter Umständen das gleiche Antigen erkennen, ebenso wie verschiedene Isotypen gegebenenfalls das gleiche Antigen erkennen können. Die Struktur eines Ig-Komplexes ist in Abb. 12.33 wiedergegeben. Einzelheiten der molekularen Grundstruktur erkennen wir besser am molekularen Modell einer Einzelkette (Abb. 12.34). Dieses Modell lässt uns die evolutionäre Verwandtschaft der variablen und der konstanten Regionen unmittelbar erkennen. Es wird auch besonders deutlich, dass die hypervariablen Abschnitte der variablen Region direkt im Bereich der Antigenerkennungsstelle, also am Ende der beiden Arme des Antikörpers, liegen. Ihre Veränderlichkeit trägt somit direkt zur Spezifizierung der Erkennungssequenz bei. Sowohl die variable als auch die konstante Region sind aus zwei molekularen Strukturkomponenten zusammengesetzt, die wir als β-Faltblattstruktur bereits als Bausteine fibrillärer Proteinmoleküle am Beispiel des Seidenfadens kennen gelernt haben (s. S. 315). Jede der Regionen besteht aus zwei solchen β-Faltblattstrukturen, die aus zwei bzw. drei Aminosäuresträngen geformt werden. Beide β-Faltblätter sind durch Disulfidbrücken miteinander verknüpft. Die Proteinbereiche zwischen den beiden β-Faltblättern sind in ihrer sterischen Anordnung nach der Außenseite des Antikörpers gerichtet und formen den Antigenerkennungsbereich.
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Kapitel 12: Genetische Kontrolle zellulärer Differenzierung Abb. 12.33. Raumfüllendes Modell eines Immunoglobulinmoleküls. (Nach Silverton et al. 1977). Die schweren Ketten sind rot und blau dargestellt, die leichten Ketten grün und gelb. Der graue Bereich stellt eine Kohlenwasserstoffkette dar, die am CH2-Bereich der schweren Kette gebunden ist
L-Kette
NH2 Disulfidbrücke
COO–
Antigenerkennungsregion
Abb. 12.34. Schematische Darstellung der Strukturdomänen einer L-Kette. Der gemeinsame evolutionäre Ursprung beider Domänen lässt sich gut erkennen. (Aus Perutz 1992)
β-Faltblatt Variable Region (VL)
! Ein Immunoglobulinkomplex besteht aus zwei
leichten und zwei schweren Proteinketten. Diese untergliedern sich in einen konstanten und einen variablen Abschnitt. Der variable Bereich vermittelt die Erkennung des Antigens.
12.5.3 Molekularer Aufbau der L-Ketten Zum Verständnis der Entstehung funktioneller IgGene müssen wir die molekulare Feinstruktur der Gene in der Keimbahn (bzw. in beliebigen somati-
Konstante Region (CL)
schen Zellen, ausgenommen Lymphocyten) mit der in differenzierten Lymphocyten vergleichen (Abb. 12.35). Der molekulare Aufbau eines funktionellen Ig-Gens für die L-Kette in einem Lymphocyten unterscheidet sich nicht von dem charakteristischer anderer eukaryotischer Gene. Die Protein-kodierende DNA-Sequenz beginnt mit einer kurzen, 18 Aminosäuren langen Signalpeptidsequenz (auch Leadersequenz genannt), die zum Transport des Polypeptids durch Membranen erforderlich ist, unmittelbar danach aber proteolytisch vom übrigen Polypeptid entfernt wird. Nach einer kurzen nichttranslatierten DNA-Sequenz (Intron 1) folgt die V-Region, der sich ein Intron 2 anschließt. Diesem folgt die konstante
12.5 Das Immunsystem Abb. 12.35. Entstehung der aktiven Gene für die L-Kette während der Lymphocytendifferenzierung. Durch DNA-Rearrangements entstehen willkürliche Kombinationen von Vund J-Segmenten mit der C-Region. Verbleibende Introns werden wie gewöhnlich durch Splicing aus dem primären Transkript entfernt. Die Struktur der Keimbahn-Ig-Gene ist vereinfacht und nicht in den richtigen Proportionen dargestellt. Es ist außerdem nur der Beginn des DNA-Bereiches mit C-Regionen gezeigt
Region (CL). Die gesamte Länge der leichten Ig-Ketten der Maus beträgt etwa 220 Aminosäuren. In der Keimbahn unterscheidet sich die Struktur der entsprechenden Genregion ganz erheblich von der eines Lymphocyten. Als erstes fiel bei der Analyse auf, dass die V-Region nicht mehr von einem Exon kodiert wird, sondern dass die letzten 13 Aminosäuren durch ein Intron als zusätzliches Exon abgetrennt werden. Diese Region wurde später als J-Region bezeichnet. Ein weiterer wichtiger Befund war, dass verschiedene antikörperproduzierende Zellinien sich nicht nur in der Sequenz dieser letzten 13 Aminosäuren, sondern auch in der des vorangehenden, 95 Aminosäuren umfassenden Abschnittes unterscheiden. Diese Beobachtungen führten schließlich zu der Entdeckung, dass in der Keimbahn-DNA der Maus 5 verschiedene J-Regionen tandemartig hintereinander angeordnet sind, von denen in der DNA funktioneller Gene in antikörperproduzierenden Zellen jeweils eine am Beginn der V-Region zu finden ist. (Genau genommen, kommen nur 4 dieser J-Regionen in funktionellen Genen vor, da die J-Region J3 aufgrund einer falschen Exon-Intron-Verknüpfung am 3′-Ende, d. h. einer CT- anstelle einer GT-Sequenz, s. S. 83, nicht funktionell ist.) Auch die V-Region kommt in der Keimbahn-DNA in einer größeren Anzahl (200 – 300) von Kopien vor. Während der frühen Differenzierung des B-Lymphocyten im Knochenmark wird eine dieser vielen V-Regionen durch ein Rekombinationsereignis mit einer der J-Regionen verknüpft. Die dazwischenliegenden DNA-Bereiche gehen hierbei verloren. Dieser Rekombinationsmechanismus wird durch invertierte Repeats in der DNA unterstützt, die
zu beiden Seiten aller V-Regionen und J-Regionen liegen (Abb. 12.36). Mit Hilfe dieser invertierten DNASequenzen können intramolekulare Basenpaarungen in der DNA zwischen einer der V-Regionen und einer der J-Regionen entstehen, die – ähnlich wie wir es von den Exzisionsmechanismen von Lambda-Phagen und Transposons bereits kennen – eine Verknüpfung einer V-Region mit einer J-Region unter Ausschluss der dazwischenliegenden Sequenzen ermöglichen. Damit wird jedoch erst ein Teil der Diversität der Antikörpervariabilität erklärt. Es hat sich nämlich gezeigt, dass die mit solchen Rekombinationsereignissen verbundenen DNA-Brüche innerhalb eines bestimmten Toleranzbereiches erfolgen, nicht jedoch auf ein bestimmtes Nukleotid genau. Das hat zur Folge, dass selbst bei der Auswahl der gleichen Vund J-Regionen in einem Antikörper innerhalb der Übergangsbereiche kleine Unterschiede in der Aminosäuresequenz gebildet werden (Abb. 12.36). Es kann hierbei sowohl zur Entstehung unterschiedlicher Codons (also auch unterschiedlicher Aminosäuren) als auch zu Unterschieden in der Anzahl von Codons (also zu Deletionen von Codons) kommen. Außerdem können sich Leserasterverschiebungen ereignen, die zur Entstehung nichtfunktioneller Gene führen. Bei der Besprechung von Rekombinationsmechanismen haben wir gesehen, dass ein Strangaustausch im Bruchbereich Veränderungen der DNA-Sequenzen verursachen kann (s. S. 198). Solche Veränderungen durch Hinzufügen von Nukleotiden können auch während der DNA-Rearrangements, die die Vund J-Region aneinanderfügen, vorkommen. Sie sind eine weitere Quelle für Antikörpervariabilität.
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Kapitel 12: Genetische Kontrolle zellulärer Differenzierung
Abb. 12.36. Vereinfachte Darstellung der molekularen Ereignisse bei der Entstehung der V-D-J-DNA-Rearrangements während der Lymphocytendifferenzierung. Die DNA-Bereiche zwischen den einzelnen variablen, D- und J-Regionen enthalten kurze, teilweise gegenläufig orientierte Repeats (Nonamere und Heptamere) (Sequenz ist angegeben), die durch Spacer genau festgelegter Länge (12 bzw. 23 Nukleotide) voneinander getrennt werden. Durch Paarung dieser Repeatregionen zwischen zwei DNA-Segmenten, die aneinanderge-
! Antikörperspezifität in den leichten Immuno-
globulinketten wird durch die Kombination unterschiedlicher V- und J-Regionen im aktiven Gen erreicht. Zusätzlich entsteht Aminosäurevariabilität durch Unterschiede im Schnittpunkt, der zum Zusammensetzen der verschiedenen Genbereiche bei der Entstehung des funktionellen Gens entstehen muss.
Die Entstehung nichtfunktioneller Gene durch Rekombinationsfehler während der Lymphocytendifferenzierung ist offensichtlich keine Ausnahme, wie die Untersuchung der Genstruktur der Ig-Gene verschiedener antikörperproduzierender Zellinien bewiesen hat (Abb. 12.37). Es zeigt sich nämlich, dass in verschiedenen Plasmazellen unterschiedliche L-Ketten exprimiert werden. Wird eine der λ-Ketten im funktionellen Antikörper gefunden, so ist das Allel entweder im ursprünglichen, d. h. den Keimbahnzellen entsprechenden Zustand,oder es ist durch ein falsches Rekombinationsereignis defekt.Wird eine κ-Kette exprimiert, so sind beide λ-Allele meist in der ursprünglichen Konfiguration, während das zweite κ-Allel entweder im Keimbahnzustand oder defekt sein kann. Wahrscheinlich beginnt eine Zelle beim Rearrangement der Ig-Gene zufallsgemäß mit einem der L-Gen-
fügt werden sollen, entsteht eine DNA-Schleife, die herausgeschnitten werden kann. Bei diesem Prozess spielen wahrscheinlich die Repeats CAC-GTG im Heptamer sowie einige der A-Nukleotide im Nonamer eine entscheidende Rolle. Die Zahlen unter den Repeats geben die Häufigkeit (in %) des betreffenden Nukleotids im Endprodukt des Rearrangements (Coding Joint) an. Das eliminierte DNA-Stück wird als Signal Joint bezeichnet. (Nach Watson et al. 1987, u. Gellert 1992)
bereiche. Führt die Rekombination zu einem funktionellen Gen, so entwickelt sich die Zelle ohne weitere Rekombinationsereignisse in den L-Ketten zu einem Lymphocyten. Verläuft die Rekombination fehlerhaft, so erfolgt ein weiterer Rekombinationsversuch. Verläuft auch dieser fehlerhaft, so werden weitere Versuche zur Konstruktion eines funktionellen Gens an den übrigen Genloci unternommen. Sind auch diese erfolglos, so ist eine weitere Differenzierung der Zelle nicht möglich. Wenn auch nach neueren Ansichten die Wahl des Genlocus für ein Rearrangement zufallsgemäß erfolgt, so scheint doch eine gewisse Präferenz für Lκ-Rearrangements zu bestehen. ! Bei den Rekombinationsereignissen, die zur Ent-
stehung der in Lymphocyten funktionellen Ig-Gene führen, kommt es gelegentlich zu Fehlern. In diesem Fall erfolgen weitere Rekombinationsversuche, bis ein funktionsfähiges Gen entstanden ist.
Durch die bisher vorgestellten Mechanismen zur Bildung funktioneller Ig-L-Ketten wird bereits eine erhebliche Diversität an variablen Regionen und damit unterschiedlichen Antigenspezifitäten geschaffen. Diese Vielfalt an Erkennungs-
12.5 Das Immunsystem κ L -Gen
H-Gen
λ
L -Gen
2
2
14 14
22 22
2
2
Stammzelle
2
2
14 14
B-Lymphocyt
14 14
22 22
2
2
B-Lymphocyt
22 22
2
2
14 14
B-Lymphocyt
Abb. 12.37. Allelausschluss (allele Exklusion). Das Schema zeigt die gentragenden Chromosomen 2 (Lλ-Kette), 14 (HKette) und 22 (Lκ-Kette) des Menschen. In der Stammzelle sind die Gene noch in ihrer Keimbahnkonstitution und zunächst inaktiv. Nach der Entwicklung zum funktionellen Lymphocyten hat jeweils eines der Gene ein erfolgreiches DNA-Rearrangement durchlaufen und ist zur Produktion der
14 14
22 22
B-Lymphocyt
22 22
2
2
14 14
22 22
B-Lymphocyt
betreffenden Immunoglobulinkette bereit. Das Gen im homologen Chromosom ist entweder durch ein erfolglos verlaufenes, weil fehlerhaftes DNA-Rearrangement defekt oder es befindet sich noch im ursprünglichen Zustand und bleibt inaktiv. Das Schema zeigt, dass in verschiedenen Lymphocyten unterschiedliche Kombinationen der Gene vom väterlichen oder mütterlichen Chromosom aktiv (rot) sind
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Kapitel 12: Genetische Kontrolle zellulärer Differenzierung
spezifitäten wird zusätzlich durch die drei hypervariablen Bereiche erhöht, die in jeder V-Region vorhanden sind. Im gesamten Bereich eines funktionellen Immunoglobulingens, mit einer leichten Präferenz der hypervariablen Regionen, erfolgen nach der Entstehung des funktionellen Ig-Gens durch bisher unbekannte Mechanismen mit erhöhter Frequenz somatische Mutationen, die Anlass zu zusätzlicher Aminosäurevariabilität im Bereich der Antigenerkennungsregion geben können. Diese somatischen Mutationen spielen eine große Rolle für die Immunreaktionen, da sie durch bisher ebenfalls ungeklärte Selektionsmechanismen zu einer Verbesserung der Antigenerkennung beitragen. Aus einer B-Lymphocytenpopulation, die sich nach der Erkennung eines Antigens durch einen B-Lymphocyten von diesem Lymphocyten herleitet, werden solche Zellen selektiert, deren Antigenspezifität durch somatische Mutationen in den hypervariablen Regionen erhöht ist. Solche B-Lymphocyten werden als B-Gedächtniszellen (engl. memory cells) bezeichnet. Diese Zellen können im Falle später erforderlicher Immunreaktionen besonders schnell aktiviert werden und die sekundäre Immunreaktion einleiten. Der überwiegende Teil der peripheren Lymphocytenpopulation unseres Immunsystems gehört solchen Gedächtniszellpopulationen an.
Immunreaktion), sondern die gleichzeitige Bereitstellung von Gedächtniszellen. Im Falle einer wiederholten Infektion setzt die Immunreaktion (sekundäre Immunreaktion) sehr viel schneller ein, da nunmehr die Gedächtniszellen zur Verfügung stehen. Diese Gedächtniszellen proliferieren wesentlich schneller als die B-Lymphocyten während der primären Antikörperreaktion. Das hat zur Folge, dass die Immunabwehr bei wiederholter Reizung durch das gleiche Antigen wesentlich schneller einsetzt und damit einen besseren Schutz bietet. Impft man fertige Antikörper (Passivimpfung), so wird das Immunsystem selbst nicht aktiviert und der Impfschutz ist zeitlich sehr begrenzt, da die Spenderimmunoglobuline innerhalb weniger Wochen abgebaut werden. ! Der Nutzen von Schutzimpfungen beruht auf der
Eigenschaften von Lymphocyten, bei einem ersten Kontakt mit einem Antigen mitotisch Zellen zu erzeugen, die eine langfristige Funktion als Gedächtniszellen besitzen. Bei erneuter Infektion mit einem Antigen ermöglichen sie eine sehr schnelle sekundäre Immunreaktion.
12.5.4 Molekularer Aufbau der H-Ketten ! Häufige somatische Mutationen in den hyper-
variablen Regionen der V-Bereiche der Ig-Gene vergrößern die Antikörpervariabilität.
Auf der Existenz von Gedächtniszellen im Immunsystem beruht der erhöhte immunologische Schutz gegen Infektionen, der einem Organismus durch Impfung vermittelt werden kann. Durch die Injektion von Antigenen (Aktivimpfung) in Form eines bestimmten Krankheitserregers wird die primäre Immunreaktion eingeleitet.Als Antigene können entweder inaktivierte Erreger, oder dem Erreger verwandte, aber nichtpathogene Organismen oder auch einzelne Antigene eines Erregers dienen. Die Immunreaktion verläuft mit einer gewissen Verzögerung, da zunächst B-Lymphocyten zur Proliferation aktiviert werden müssen (Abb. 12.38). Erst nach deren Vermehrung kann die Immunabwehr voll zur Geltung kommen. Der entscheidende Effekt einer Schutzimpfung ist jedoch nicht das Einsetzen dieser Abwehrreaktion (primäre
Die Struktur der schweren Ig-Ketten unterscheidet sich in zweierlei Hinsicht von der der L-Ketten (Abb. 12.39). Für die Antigenspezifität ist es von Bedeutung, dass dem variablen Teil des Moleküls noch eine D-Region hinzugefügt wird, die zwischen der V- und der J-Region liegt. Sie erweitert die Vielfalt der Erkennungsspezifität zusätzlich. Für die Antikörperfunktion ist weiter von Wichtigkeit, dass die schweren Ketten eine Erweiterung ihrer konstanten Regionen erfahren haben. Sie besitzen nicht nur einen CAbschnitt wie die L-Ketten, sondern drei solcher Regionen, die CH1-, die CH2- und die CH3-Region. Zwischen den Regionen CH1 und CH2 liegt eine Gelenkregion (engl. hinge region), die den drei Hauptregionen des Antikörperkomplexes eine Beweglichkeit gegeneinander verleiht. Das unterstützt sterisch die Möglichkeiten zur gleichzeitigen Bindung mehrerer Antigene. Der Antigenkomplex ist imstande, mit jedem seiner zwei Enden mit variablen Regionen (s. Abb. 12.33) ein Antigen zu erkennen.
12.5 Das Immunsystem
Abb. 12.38 a,b. Verlauf der Immunreaktion. a Immunreaktion auf zellulärem Niveau. B-Lymphocyten (grün) werden durch den Kontakt ihrer extrazellulären Antikörper mit einem Antigen (rot) stimuliert, beginnen zu wachsen und sich zu teilen. Die entstehende Plasmazellpopulation lässt sich in zwei Zelltypen untergliedern, langlebige Gedächtniszellen (rot), die bei späteren Infektionen kurzfristig aktiviert werden, und
! Die schweren Ig-Ketten gleichen strukturell im
Prinzip den Ig-L-Ketten, zeichnen sich jedoch im V-Bereich durch eine zusätzliche D-Region aus, die zur Vergrößerung der möglichen Antikörperdiversität beiträgt. Außerdem ist ihre konstante (C-) Region aus drei sehr ähnlichen, tandemartig angeordneten Abschnitten aufgebaut.
aktive Plasmazellen (grün), die Antikörper produzieren. b Zeitlicher Verlauf der Immunreaktion. Nach einer ersten Infektion setzt die Primärreaktion verzögert ein. Bei einer wiederholten Infektion kann die Immunreaktion sehr viel schneller erfolgen, da die Gedächtniszellen gegen die betreffenden Antikörper sofort verfügbar sind und zur Antikörperproduktion übergehen können
Die konstanten Regionen der schweren Ketten übernehmen eine besondere Funktion bei der Bestimmung des Wirkungsortes eines Antikörpers im Organismus (s. Tabelle 12.2). Die Bezeichnung konstante Region ist nur begrenzt richtig, da sich auch in ihr Variabilität zeigt, die allerdings für die Antigenspezifität des Antikörpers nicht von Bedeutung ist. Das Aneinandersetzen der V- und der D-Region und der D- und der J-Region erfolgt nach dem glei-
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Kapitel 12: Genetische Kontrolle zellulärer Differenzierung
Abb. 12.39. Entstehung und Transkription eines aktiven Gens der H-Kette. Neben der bei der L-Kette vorhandenen J-Region trägt noch eine weitere Region, die als D-Region bezeichnet wird, zur Diversität der Antikörper bei
chen Prinzip, das wir bereits für die Verbindung von V- und J-Region der L-Ketten kennen gelernt haben. Bei der Maus hat man zwölf D-Regionen gefunden, so dass die durch das DNA-Rearrangement erzeugte Antikörpervariabilität der H-Ketten wesentlich größer ist als die der L-Ketten. Wie schon für die L-Ketten erwähnt, sind auch für die Rekombination zwischen den D- und V- oder J-Regionen der H-Ketten invertierte Repeats zwischen den einzelnen kodierenden Abschnitten verantwortlich (Abb. 12.36). Hinsichtlich der somatischen Rekombinationsereignisse bei der Bildung der funktionellen IgGene ist es bemerkenswert, dass die Konstruktion
Tabelle 12.2.
eines funktionellen Gens nur innerhalb einer kontinuierlichen DNA-Sequenz erfolgt (also nur in cis). Eine Rekombination mit dem Allel des homologen Chromosoms oder gar mit den Genen einer anderen Kette, wie man es aus den Beobachtungen der Effekte meiotischer Rekombination bei den Globingenen erwarten könnte, erfolgt nicht. Innerhalb eines Lymphocyten werden übrigens auch die variablen Regionen der L- und H-Ketten nicht aufeinander abgestimmt, sondern völlig unabhängig voneinander geformt. Das hat zur Folge, dass alle denkbaren Kombinationen zwischen L- und H-Ketten vorkommen können.
Antikörperklassen und ihre Funktion
Antikörperklasse
Eigenschaften
Funktion
IgM
Initiiert Komplementreaktion, stimuliert Phagocytose
umgibt Mikroorganismen, lysiert Mikroorganismen
IgG
Passiert Plazentabarriere, stimuliert Phagocyten, initiiert Komplementreaktion
Schutz des Fötus und Neugeborenen, umgibt und zerstört Mikroorganismen, lysiert Mikroorganismen
IgA
In Sekreten (Tränen, Speichel, Darm, Milch)
Schutzfunktion außerhalb des Körpers
IgD
Auf der Membran von B-Zellen
Stimuliert Antikörperproduktion der B-Zellen
IgE
Induziert Histaminausschüttung
Inhibiert Parasiten
12.5 Das Immunsystem
12.5.5 Antikörperklassenwechsel (class switching) Die H-Ketten der Antikörper lassen sich in verschiedene Antikörperklassen einteilen, die durch ihre jeweiligen unterschiedlichen konstanten Regionen charakterisiert werden. Man unterscheidet die fünf Klassen IgM, IgG, IgA, IgD und IgE. Von einigen dieser Klassen wiederum gibt es mehrere Unterklassen, die sich durch geringfügige Unterschiede in der Aminosäuresequenz der betreffenden konstanten Region unterscheiden. Die verschiedenen Klassen sind durch jeweils eigene DNA-Bereiche bestimmt, die in der zuvor genannten Folge im Genlocus der schweren Kette angeordnet sind (Abb. 12.40). Zellen eines bestimmten B-Lymphocytenklons erkennen stets nur ein bestimmtes Antigen. Unterschiedliche Lymphocytenklone hingegen sind im
VDJ
Cµ
Allgemeinen gegen unterschiedliche Antigene gerichtet. Das macht es notwendig, dass ein Lymphocytenidiotyp (s. S. 547) zugleich verschiedene Funktionen bei der Antikörperproduktion wahrnehmen kann. So muss er z. B. sowohl membrangebundene als auch frei in Blut bzw. Lymphe sezernierbare Antikörper herstellen können. Vielfach werden die Antikörper auch gewebespezifisch sezerniert (s. Tabelle 12.2). Diese verschiedenen Aufgaben werden durch die jeweils vorhandene konstante Region (CH) gesteuert. Jeder B-Lymphocyt kann Antikörper gleicher Antigenspezifität mit unterschiedlichen CH-Regionen synthetisieren. Die Immunoglobulinklassen IgM, IgD, IgG, IgA und IgE sind durch den Besitz der konstanten Proteinregionen Cµ, Cδ, Cγ, Cα und Cε charakterisiert. Die Produktion der verschiedenen Immunoglobulinklassen wird dadurch möglich, dass alle diese verschie-
Cδ
Cγ 3
Cγ 1
Cγ 2b
Transkription VDJ
Cµ
oder weitere DNA-Rearrangements: VDJ
Cµ
Cδ
VDJ
Cγ 3
Cγ 1
Splicing VDJ mRNA
Cµ
Cγ 3 DNA-Rearrangement Cγ 2b
Protein IgM Transkription Cγ 3
VDJ
Splicing VDJ
Cγ 3 mRNA Protein
IgG
Abb. 12.40. Klassenwechsel der Antikörper durch die Synthese verschiedener H-Ketten. Ein Lymphocyt ist imstande, unterschiedliche Antikörperklassen zu produzieren. Die Synthese beginnt stets mit IgM (links). Das Schema zeigt, dass in einem Lymphocyten zunächst ein IgM-Molekül gebildet wird, das aus dem aktiven Gen über Splicing des primären Transkriptes entsteht. Immunoglobuline mit den in der Abbildung gezeigten weiteren C-Regionen werden daran anschließend
synthetisiert. Der Schritt zur Synthese von IgG erfordert ein weiteres DNA-Rearrangement. Für das erneute Rearrangement sind S-Regionen (switch regions) verantwortlich, die vor jeder C-Region (ausgenommen Cδ ) liegen. Das IgD mit Cδ als konstanter Region wird durch RNA-Splicing geformt. Die roten Dreiecke geben die Positionen von Enhancerelementen an, die für die Transkription der darauffolgenden C-Region notwendig sind
555
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Kapitel 12: Genetische Kontrolle zellulärer Differenzierung
denen CH-Regionen im Genlocus der schweren Kette kodiert werden. Sie schließen sich in der DNA in einer tandemartigen Anordung der funktionellen VD-J-Region an. Von dieser sind sie, ebenso wie untereinander, durch Introns bzw. nicht Protein-kodierende DNA-Abschnitte abgetrennt (Abb. 12.40). Die Synthese der verschiedenen H-Ketten in einer antikörperproduzierenden Zelle erfolgt in der durch ihre Folge in der DNA festgelegten Sequenz. Die Umschaltung der Zelle zur Produktion einer neuen Antikörperklasse bezeichnet man als Klassenwechsel (engl. class switching). ! Verschiedene Antikörper können sich auch in den konstanten Regionen der H-Ketten unterscheiden. Die fünf verschiedenen Antikörperklassen (IgM, IgG, IgA, IgD und IgE), die durch eine jeweils charakteristische konstante Region gekennzeichnet sind, vermitteln unterschiedliche funktionelle Aufgaben, ohne die Antigenspezifität zu verändern.
Zur Ausprägung der verschiedenen CH-Regionen bedient sich die Zelle zweier unterschiedlicher molekularer Mechanismen, dem der DNA-Rearrangements und dem des alternativen RNA-Splicings. Eine antikörperproduzierende Zelle beginnt zunächst stets mit der Synthese von IgM. Nach einem kurzen Zwischenstadium kommt als zweiter Isotyp in derselben Zelle auch IgD zur Ausprägung. Dieser erste Klassenwechsel wird durch alternatives RNA-Splicing erreicht. Durch Änderungen im Terminationsverhalten bei der RNA-Synthese werden primäre Transkripte geformt, die auch die weiter downstream von Cµ liegende Cδ-Region umfassen. Durch RNA-Splicing wird die Cδ-Region an die V-D-J-Region angefügt. Hierdurch wird die Synthese von IgD ermöglicht. In der gleichen Zelle wird jedoch auch noch IgM gebildet. ! Zur Entstehung der verschiedenen Antikörper-
klassen tragen sowohl DNA-Rearrangements als auch RNA-Splicing bei.
Die Umschaltung zwischen verschiedenen Antikörperklassen ist wahrscheinlich in Zusammenhang mit dem Differenzierungs-
prozess eines B-Lymphocyten zu sehen, der vor der Erreichung eines funktionellen Zustandes durchlaufen wird. Antikörperproduzierende Zellen müssen nämlich nach der Entstehung ihrer funktionellen Ig-Gene einer intensiven Selektion im Organismus unterliegen. Würden alle nur möglichen Antigene durch Antikörper erkannt und unschädlich gemacht, müssten notwendig auch die Antigene des Organismus selbst betroffen sein. B-Lymphocyten mit Antigenspezifitäten, die Antigendeterminanten des Organismus selbst betreffen würden, werden jedoch von der weiteren Entwicklung ausgeschlossen. Fehler in diesem Selektionsprozess führen zu Autoimmunkrankheiten. Die Produktion von IgM und IgD in einem B-Lymphocyten zeigt offenbar an, dass diese Selektionsprozesse beendet sind. Von dem Zeitpunkt an, zu welchem beide Isotypen membrangebunden an einem B-Lymphocyten vorhanden sind, kann er unter Bildung von Plasmazellen und Gedächtniszellen proliferieren und damit seine immunologische Aufgabe im Rahmen des Immunsystems wahrnehmen. ! Klonale Selektion sorgt dafür, dass Lymphocyten,
deren Antikörper gegen körpereigene Antigene gerichtet sind, aus dem Immunsystem eliminiert werden.
Die Synthese von IgM scheint von grundlegender Bedeutung in der Lymphocytendifferenzierung zu sein, da Mäusestämme, deren Cµ-DNA mutiert und daher nichtfunktionell ist, schwerwiegende Immundefekte zeigen. Die Ausprägung des IgM auf der Membran von frühen Prä-B-Lymphocyten erfolgt anscheinend bereits vor der Bildung normaler Immunoglobulinkomplexe aus L- und H-Ketten. Sie steht offenbar in Zusammenhang mit der Synthese unvollständiger Transkripte der Ig-Gene im Laufe des Differenzierungsprozesses (s.u.). Erst nach der Expression von IgM und IgD in BLymphocyten wird die Zelle zur Produktion anderer Ig-Klassen umprogrammiert, obwohl das kein obligatorisches Ereignis ist. Auf jeden Fall ist aber eine Umprogrammierung stets mit weiteren Veränderungen der Ig-Gene auf der DNA-Ebene verbunden. Es erfolgen weitere Rekombinationsereignisse innerhalb der Gene für die H-Ketten. Sie führen zur Ausschaltung bestimmter C-Regionen durch Elimination ihrer DNA aus dem Gen. Im Gegensatz zu den Rear-
12.5 Das Immunsystem
rangements, die zur Bildung der V-D-J-Regionen führen, ist nicht auszuschließen, dass Veränderungen in der DNA der C-Regionen nicht nur intrachromosomal, sondern auch zwischen homologen Chromosomen ablaufen können. Die dazu erforderlichen DNARearrangements erfolgen durch eine Rekombination zwischen repetitiven DNA-Abschnitten, die zwischen den verschiedenen C-Regionen liegen (Abb. 12.41). Hierbei spielen die sogenannten S-Sequenzen (S für engl. switch) eine Rolle, wie von M. M. Davies und Mitarbeitern (1980) erkannt worden ist. Solche SSequenzen haben im Gegensatz zu den für die V-, Dund J-Rekombination wichtigen invertierten Repeats keinen Palindromcharakter und sind auch nicht durch einen besonders hohen Grad von Sequenzhomologie ausgezeichnet. Die Erkennung solcher
Regionen erfolgt durch nichthomologe Paarung ähnlicher Sequenzen innerhalb der tandemartigen CHRepeats (unequal crossing-over). Sie ist damit den fälschlichen Paarungen einander ähnlicher Nukleotidsequenzen innerhalb der Globingenfamilie vergleichbar, wie wir sie auch bei mutanten Globinketten kennen lernen werden (s. S. 697), wenn es sich auch bei den Ig-Genen um somatische Rekombinationsereignisse handelt. Auch die Konsequenzen sind die gleichen wie bei den ungleichen Crossing-overEreignissen in den Globingenen: Die Rekombination führt zur Deletion von CH-Sequenzabschnitten. Es können aber auch noch andere Austauschereignisse oder auch einfach alternatives RNA-Splicing aus großen primären Transkripten für den Klassenwechsel der Ig-Komplexe mit verantwortlich sein.
Abb. 12.41. Entstehung der membrangebundenen und der freien Form der H-Kette des Immunoglobulins. B-Lymphocyten tragen zunächst Antikörper auf der Außenseite ihrer Zellmembran. Die Antikörper sind mit dem carboxyterminalen Ende der H-Ketten in der Membran verankert. Verantwortlich hierfür ist ein Bereich von 41 Aminosäuren, der aus den Exons M1 und M2 besteht. Sie enthalten einen Abschnitt hydrophoben Charakters, der dadurch zur Verankerung in der Membran
geeignet ist. Diese M-Exons werden durch alternatives Splicing des primären Transkripts an die mRNA angefügt (µMKette). Nach Stimulation des B-Lymphocyten zur Ig-Produktion durch ein Antigen wird durch Splicing die alternative µS-Kette gebildet, bei der die M-Exons fehlen, an deren Stelle aber ein S-Segment an das Ende der mRNA angefügt wird, das für einen sauren hydrophilen Proteinbereich kodiert
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Kapitel 12: Genetische Kontrolle zellulärer Differenzierung
12.5.6 Transkription der Immunoglobulingene Die molekulare Struktur der funktionellen Ig-Gene gleicht der anderer eukaryotischer Gene. Sie zeichnen sich durch den Besitz von Exons und Introns aus und besitzen ein Signalpeptid, wie es generell für Proteine erforderlich ist, die durch Membranen des endoplasmatischen Retikulums transportiert werden müssen. Die Transkription der Ig-Gene unterscheidet sich daher auch nicht von der anderer eukaryotischer Gene (Abb.12.39).Es wird zunächst ein primäres Transkript gebildet, aus dem die Introns herausgeschnitten werden. Das mRNA-Molekül wird mit einer Cap und einem Poly[A]-Schwanz versehen, bevor es ins Cytoplasma transportiert und im endoplasmatischen Retikulum translatiert wird.Wie bei anderen differenzierten Zelltypen mit einer hoher Rate an zellspezifischer Proteinproduktion, so ist auch bei den Immunoglobulinen der Anteil der Ig-spezifischen mRNA an der gesamten RNA der Zelle sehr hoch. So umfasst die mRNA der H-Ketten in einer aktiv Ig-produzierenden Plasmazelle etwa 10% der gesamten mRNA. Eine wichtige Rolle spielt alternatives RNA-Splicing für die Produktion unterschiedlicher Formen von IgM. Membrangebundenes IgM unterscheidet sich nämlich von sezerniertem IgM durch den Besitz eines besonderen M-Segmentes, das der Cµ-Kette des sekretierten IgM (auch µS-Kette genannt) angefügt wird und zur Bildung der µM-Kette führt. Dieses M-Segment besteht bei der Maus aus einem 41 Aminosäuren langen Peptidbereich, der sich durch einen hydrophoben Charakter auszeichnet und dadurch seine besondere Eigenschaft als Transmembranabschnitt der IgM-H-Kette erlangt (Abb. 12.41). Bis zur Aktivierung der Proliferation von B-Lymphocyten durch ein Antigen wird lediglich die Transmembranform des IgM produziert. Danach beginnt die Synthese sezernierter IgM-Ketten durch frühzeitige Termination der Transkription hinter dem Cµ4-Exon. Welcher Regulationsmechanismus für diese Änderung in der Termination der Transkription verantwortlich ist, ist bisher unbekannt. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass die Transkription der Ig-Gene und deren Regulation in ihren Einzelheiten noch weit von unserem vollem Verständnis entfernt ist. So werden Transkripte gefunden, die bereits vor Abschluss der DNA-Rearrangements (also in Pro-B-Lymphocyten) geformt werden und nur Teile der Ig-Gene
umfassen. Zwischen den D- und V-Regionen liegen Promotorsequenzen, die eine Transkription bereits für nur teilweise zusammengefügte Ig-Gene während der B-Lymphocytenentwicklung ermöglichen. Man vermutet, dass solche Transkriptionsprodukte (und möglicherweise ihre Translationsprodukte) in der Regulation der DNA-Rearrangements eine Rolle spielen. Sie könnten für die Entscheidung darüber verantwortlich sein, ob ein Gen erfolgreich zusammengefügt wurde oder ob noch weitere DNA-Rearrangements erforderlich sind (s.Abb. 12.36). Die Struktur der Ig-Gene ist auch von Interesse für die Diskussion der möglichen Bedeutung von Introns. In ihnen trennen die Introns besonders deutlich verschiedene strukturelle Domänen der Proteinmoleküle voneinander (Abb. 12.40).Man kann das als eine Unterstützung der Hypothese ansehen, dass Introns für die Evolution von Proteinmolekülen mit neuartigen Funktionen durch neue Zusammenstellungen funktioneller Domänen wichtig sind.Die durch Introns bewirkte Trennung funktioneller Domänen erleichtert deren Neukombination ohne eine große Gefahr der Zerstörung funktionell entscheidender Exonbereiche.Solche Neukombination kann in Keimzellen durch ungleiches Crossing-over, durch Genkonversion oder durch Transpositionen erfolgen.
12.5.7 Die Unterscheidung von Selbst und Nicht-Selbst Sich differenzierende B-Lymphocyten (je nach Entwicklungsstadium auch als Pround Prä-Lymphocyten bezeichnet) müssen sich einer strengen Selektion hinsichtlich ihrer Antigenspezifität unterziehen, da es sonst zu Autoimmunkrankheiten als Folge der Zerstörung körpereigener Antigene kommen würde. Man bezeichnet Selektionsprozesse, die während der frühen Lymphocytendifferenzierung im Knochenmark ablaufen, als klonale Selektion (engl. clonal selection). Die Vorstellung von klonaler Selektion wurde zuerst von Burnett (1959) formuliert. Die Mechanismen, die an dieser Art der Selektion beteiligt sind, sind gegenwärtig Gegenstand intensiver Forschungsarbeiten. Bisherige Ergebnisse deuten an, dass die Expression noch unvollständig rekombinierter Ig-Gene, wie sie bereits in Zusammenhang mit der Transkription der Ig-Gene erwähnt wurde, eine wichtige Rolle in diesem Selektionsprozess spielt. Es wurde gezeigt, dass solche
12.5 Das Immunsystem
unvollständigen Ig-Proteine schon auf der Zellmembran von frühen Differenzierungsstadien von Lymphocyten zu finden sind. Mit Hilfe dieser unvollständigen Ig-Moleküle kann offenbar eine Selektion gegen unerwünschte Antikörperkonstitutionen erfolgen. Nur Zellen, die dieses Teststadium erfolgreich durchlaufen haben, entwickeln sich zu funktionellen, Ig-produzierenden Plasma- und Gedächtniszellen weiter. Klonale Selektionsprozesse laufen im Knochenmark ständig in großem Maßstab ab. Bei Menschen entstehen durch Proliferation von Stammzellen täglich an die 109 oder 1010 potentielle neue B-Zellen. Neu entstandene B-Lymphocyten beanspruchen jedoch nur geringere Anteile an den Zellen der peripheren Lymphocytenpopulation, die zu einem großen Teil aus langlebigen (Monate bis Jahre) Zellen besteht. Es wird vermutet, dass der Zugang einer Zelle zu dieser peripheren Lymphocytenpopulation auf einem positiven Selektionsprozess beruht. Wahrscheinlich gibt es mehrere Typen von Selektionsprozessen, je nachdem, ob die Selektion während der frühen Ontogenese des Organismus stattfindet, wo eine Art Grundmuster immunologischer Konstitution festlegt wird, oder in späteren Lebensphasen des Organismus. ! Lymphocyten durchlaufen strenge selektive Pro-
zesse, bis sie dem Körper zur Immunabwehr zur Verfügung stehen. Diese Selektion ist erforderlich, um Autoimmunreaktionen zu verhindern.
12.5.8 Allgemeine Gesichtspunkte des Säugerimmunsystems Wir haben in unserer Erörterung des Säugerimmunsystems nur einen sehr begrenzten Ausschnitt dieses hochkomplexen Systems kennengelernt, soweit er in Zusammenhang mit unserem Verständnis genetischer Mechanismen der Zelldifferenzierung von Bedeutung ist. Selbst die Darstellung der Entwicklung funktionsfähiger Ig-Gene und der damit unmittelbar verbundenen Fragen der Zelldifferenzierung ist an dieser Stelle nur in groben Zügen möglich. Auf viele interessante Einzelheiten dieses Prozesses kann nicht eingegangen werden. Dennoch hat uns die Betrachtung der Immunoglobulingene der Säugetiere verschiedene sehr
grundlegend neue Gesichtspunkte der Mechanismen zellulärer Differenzierung vor Augen geführt. Vielleicht am wenigsten zu erwarten war die Tatsache,dass im Immunsystem Zelldifferenzierung mit tiefgreifenden Genomveränderungen derjenigen Gene verbunden ist, die die zentrale Funktion in den Zellen des Immunsystems ausüben: B-Lymphocyten, die ihre Differenzierungsphase im Knochenmark durchlaufen haben, sind nicht mehr im Besitz eines kompletten Genoms, wie es in der Keimbahn vorhanden ist. In Kerntransplantationsexperimenten (s. S. 506) wären sie also nicht mehr in der Lage, alle für die Entwicklung eines vollständigen Organismus benötigte Genominformation zur Verfügung zu stellen. Natürlich leitet das unmittelbar zu der Frage über, ob vergleichbare DNA-Rearrangements auch bei der Aktivierung anderer Gene ablaufen. Insgesamt muss jedoch festgestellt werden, dass DNA-Veränderungen in Zusammenhang mit zellulärer Differenzierung offenbar die Ausnahme sind, denn sie wurden nur bei einer kleinen Anzahl von Fällen beobachtet. Die außerordentlichen Anforderungen, wie sie beispielsweise die komplexen Funktionen des Säugerimmunsystems an die Zellen stellen, sind offensichtlich auch mit außerordentlichen Mechanismen verbunden. Bemerkenswert ist es, dass bei diesen Genomveränderungen der Ig-Gene molekulare Mechanismen eingesetzt werden, die wir bisher nur als Mechanismen kennengelernt haben, die von Bedeutung für Evolutionsprozesse sind: Mutation und Rekombination. Ganz offensichtlich machen multizelluläre Organismen zur Entwicklung ihrer hohen funktionellen Komplexität von allen verfügbaren molekularen Mechanismen oft mehrfachen unterschiedlichen Gebrauch, um die Vielfalt ihrer Funktionen auszuweiten. Die Besprechung der Immunoglobulingene hat uns auf unserem Weg der Erörterung genetischer Grundlagen der Genexpression zu einem Höhepunkt struktureller und funktioneller Komplexität geführt, die der Komplexität der Funktion des Immunsystems entspricht. ! Wesentliche Funktionen des Säugerimmunsystems sind nur aufgrund komplexer Genomveränderungen in den Ig-Genen möglich. Diese Genomveränderungen werden mit Hilfe grundlegender biologischer Mechanismen, Rekombination und Mutation, erreicht.
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Kapitel 12: Genetische Kontrolle zellulärer Differenzierung
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Kernaussagen
▬ Pflanzliche Zellen sind im Allgemeinen totipotent. ▬ Die meisten tierischen Zellen sind nicht totipotent, behalten jedoch eine relativ große Plastizität ihrer Entwicklungsfähigkeit (sie sind pluripotent). Dazu gehören auch embryonale Stammzellen. ▬ Viele tierische Zellen werden während der Frühentwicklung eines Organismus für ihre spätere Funktion determiniert. Die Differenzierung tritt erst später ein. Stammzellen haben die Fähigkeit zur wiederholten Teilung, wobei die Mutterzelle eine Stammzelle bleibt und die Tochterzelle differenzieren kann. ▬ Die Differenzierung von Zellen wird durch spezielle Signale ausgelöst (z. B. Hormone). Dies kann unter Kulturbedingungen mit embryonalen und adulten Stammzellen nachgeahmt werden. ▬ Bei Keimzellen kann elterliches Imprinting (genetische Prägung) die Expression von Genen im Embryo bestimmen. Imprinting beruht im Wesentlichen auf der Methylierung von DNA als Erkennungssignal. ▬ Die genetische Prägung wird in der frühen Phase der Keimzellentwicklung gelöscht und in den spä-
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ten Phasen geschlechtsspezifisch re-programmiert. RNA-Interferenz ist eine evolutionär sehr alte Methode zur Abwehr viraler Infektionen. Sie beruht auf der Herstellung sehr kurzer RNA-Moleküle, die mit der mRNA in Wechselwirkung treten und so die Translation der homologen mRNA blockieren können. Ciliaten zeichnen sich durch einen Kerndualismus aus: ein Mikronukleus im Dienst generativer Prozesse und ein Makronukleus für die vegetativen Funktionen. Bei der Bildung des Makronukleus wird der größte Teil der Genom-DNA eliminiert. Bei der zellulären Differenzierung kann gezielte Vermehrung bestimmter Gene erfolgen. Im Laufe der Differenzierung kann es zur Elimination von Teilen des in Keimzellen vorhandenen Genoms kommen. Zelluläre Differenzierung kann mit der Reorganisation von DNA zum Zweck der Bildung funktioneller Gene verbunden sein. Die höchste bekannte Komplexität solcher DNA-Veränderungen finden sich im Zusammenhang mit der Funktion des Säugerimmunsystems.
Technik-Box
Technik-Box 22
RNAi: Spezifische Inaktivierung von Transkripten Anwendung: Methode zur gezielten Ausschaltung eines Gens durch antisense-RNA. Voraussetzungen: Klonierung des zu inaktivierenden Gens. Methoden: Die Ausschaltung von Genaktivitäten (engl. silencing) durch RNAi (engl. RNA-mediated interference) basiert auf den Befunden, das dsRNA durch spezielle Enzyme in kurze (~21 – 25 nt) Fragmente zerlegt wird, die Proteine aktivieren, die dann die Ziel-mRNA spalten und damit inaktivieren (vgl. Kap. 12.3). Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die gewünschten kurzen, inaktivierenden RNA-Moleküle zu erhalten: • Das zu inaktivierende Gen wird in doppelter Kopie, aber in inverser
Orientierung hinter starke Promotoren geschaltet. Die dabei entstehende RNA bildet doppelsträngige RNA-Moleküle aus, die durch eine Haarnadelstruktur gekennzeichnet sind. Durch die Ausbildung dieser Strukturen kann die ds-RNA durch Dicer geschnitten werden. • Man kloniert ein Doppelstrang-Oligonukleotid von ca. 50 bp in einen Expressionsvektor. Das Oligonukleotid enthält links und rechts je 19 – 29 nt der Zielsequenz und ist durch 4 –11 Nukleotide verbunden. Eine RNA-Polymerase synthetisiert das kurze Fragment, das aufgrund seiner Sequenz eine Haarnadelschleife formt und damit als kurze inhibitorische RNA wirken kann (engl. short interfering RNA, siRNA).
Die Herstellung der kurzen RNA-Moleküle erfolgt in vitro; mit Hilfe gängiger Methoden können sie in die Zellen transfiziert und mit jeweils geeigneten Assays ihre hemmende Wirkung überprüft werden. Entsprechende Klonbibliotheken sind erhältlich; so bietet das Deutsche Ressourcenzentrum für Genomforschung (http://www.rzpd.de) entsprechende Produkte an. Es ist beabsichtigt, dass bei Erscheinen dieser Auflage (Herbst 2005) alle transkribierten menschlichen Gene erfasst sind (36 000). Die Methode ist auch geeignet, transgene Organismen herzustellen, so dass mit der Wahl geeigneter Promotoren das gewünschte Zielgen zeit- und gewebespezifisch ausgeschaltet werden kann.
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Technik-Box 23
Immunologische Nachweismethoden Anwendung: Nachweis und Lokalisation von Antigenen (Proteine, andere Makromoleküle, auch DNA oder DNA/RNA-Hybride usw.) in Chromosomen, Zellen oder Geweben oder an elektrophoretisch fraktionierten und auf Membranfilter übertragenen Proteinen. Voraussetzungen · Materialien: Der Nachweis beruht auf Antigen-Antikörper-Reaktionen mit Antiseren, die durch Immunofluoreszenz, Färbung oder Autoradiographie sichtbar gemacht werden. Methode: Zunächst wird durch Immunisierung eines geeigneten Tieres (Kaninchen, Maus, Ratte, Ziege, Huhn) mit dem zu untersuchenden Antigen ein Antiserum erzeugt, das dieses Antigen spezifisch erkennt (s. S. 545). Dieses Antiserum lässt man dann mit dem Untersuchungsmaterial reagieren. Da die Antikörper dieses Antiserums im Allgemeinen nicht markiert sind, also auch nicht sichtbar werden, verwendet man zu ihrer Erkennung ein sekundäres Antiserum, das gegen die konstante Region der primären Antikörper (s. S. 546) gerichtet ist. Die
sekundären Antikörper binden daher an die primären Antikörper. Sie sind in geeigneter Weise markiert, d. h. sie werden mit Fluoreszenzfarbstoffen (FITC, Rhodamin usw.), mit Enzymen (Peroxidase, alkalische Phosphatase), die eine Erkennung durch die Produktion von Farbstoffen bei Reaktion mit geeigneten Substraten gestatten, oder – für die Verwendung in der Elektronenmikroskopie – mit Goldpartikeln gekoppelt. Die Fluoreszenzfarbstoffe sind direkt sichtbar. Enzyme lassen sich durch eine Substratreaktion, die zur Färbung führt, nachweisen. Die Verwendung markierter sekundärer Antikörper hat den großen Vorteil, dass man diese Koppelung mit geeigneten Markermolekülen nur einmal durchzuführen braucht, den gleichen Antikörper dann aber zur Erkennung vieler unterschiedlicher primärer Antikörper einsetzen kann. So erkennt z. B. ein in einer Ziege gegen die konstante Region einer IgG-Kette des Kaninchens erzeugter Antikörper (bezeichnet als Ziege-anti-Kaninchen-IgG, engl. goatanti-rabbit-IgG) alle IgG-Antikörper des Kaninchens. Er kann daher zum Nachweis sehr vieler unterschiedlicher primärer Antikörper eingesetzt werden,
ohne dass es jedes Mal erforderlich ist, eine neue Koppelungsreaktion mit einem Markermolekül auszuführen. Immunreaktionen sind nicht nur auf dem histologischen bzw. cytologischen und ultrastrukturellen Niveau möglich, sondern können auch mit Proteinen durchgeführt werden, die an Membranfilter gebunden sind. In solchen Versuchen werden Proteingemische zunächst durch geeignete elektrophoretische Methoden in Polyacrylamidgelen nach Ladung oder Größe aufgetrennt (Technik-Box 3) und anschließend elektrophoretisch auf eine Membran (Nitrocellulose o. a.) übertragen, an der sie irreversibel fixiert bleiben. Auf dieser Membran ist der immunologische Nachweis möglich, so dass man ein bestimmtes Protein identifizieren und damit seine elektrophoretischen Eigenschaften erkennen kann. Diese Methode wird als Western-Blotting bezeichnet. Verwandte Techniken: Northern-Blotting (Technik-Box 11), Southern-Blotting (Technik-Box 10), Autoradiographie (Technik-Box 13).
Technik-Box
Technik-Box 23
Immunologische Nachweismethoden (Fortsetzung) Immunisierung
Isolierung des Antiserums
Immunreaktion
Immunoreaktion mit sekundärem Antikörper
Erkennung durch Enzymreaktion oder Fluoreszenz
Immunologie. Zur zellulären Lokalisation eines Antigens (Proteins) bindet man zunächst primäre Antikörper, die gegen dieses Protein gerichtet sind, an das Antigen. In einem zweiten Schritt werden dann sekundäre Antikörper, die gegen den konstanten Teil der primären Antikörper gerichtet und damit universell verwendbar sind, gebunden. Diese sind mit fluoreszierenden Gruppen oder Enzymen gekoppelt, die den Nachweis dieser sekundären Antikörper gestatten.
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Kapitel 13
Entwicklungsgenetik
Scanningelektronenmikroskopische Aufnahme eines Blütenstandes von Antirrhinum majus. Das Photo zeigt das apikale Meristem während der ersten Blütenentwicklung. Es ist erkennbar, wie sich die verschiedenen Organe in konzentrischen Wirteln entwickeln. (Photo: P. Huijser, Köln)
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Kapitel 13: Entwicklungsgenetik
Überblick Die Genetik hat in den letzten Jahren zu großen Fortschritten im Verständnis der molekularen Grundlagen von Entwicklungsprozessen beigetragen. So ist es bei Arabidopsis, Drosophila, Caenorhabditis und einigen anderen Organismen gelungen, durch die Untersuchung von Mutanten den Mechanismus der Embryonalentwicklung zumindest in seiner allgemeinen Grundlage zu verstehen: Sie wird durch ein hierarchisches System von Genen gesteuert. Für die Anfangsschritte sind an frühen Differenzierungsschritten des Drosophila-Embryos DNA-bindende Transkriptionsfaktoren und RNA-bindende Regulationsproteine beteiligt, die die Aktivität nachgeordneter Gene regulieren. Nukleinsäurebindende Proteine spielen als molekulare Signale (Morphogene) für die Determination der Achsen des Embryos eine wichtige Rolle. So wird die Grundlage für die beiden embryonalen Achsen (anterior – posterior und dorsal – ventral) bereits während der Oogenese gelegt. Das sich entwickelnde Ei erhält eine positionelle Information in seinem Cytoplasma. Diese Information besteht aus mRNAMolekülen, die nach der Befruchtung im frühen Embryo translatiert werden und Proteine bilden, die durch ihre asymmetrische Lokalisation im Eiperiplasma und durch Diffusion Gradienten ausbilden. Durch unterschiedliche Konzentrationen solcher Proteine in verschiedenen Bereichen des Embryos kommt es zur unterschiedlichen Regula-
Die Entwicklung zu einem vielzelligen Organismus ist der komplizierteste Vorgang, den eine Zelle erfahren kann. Darauf beruht auch die Faszination und Herausforderung der Entwicklungsbiologie im Allgemeinen. Eine Vielzahl genetischer Netzwerke steuert diese komplexen Prozesse. Mithilfe von Mutanten können wir entwicklungsbiologische Vorgänge bei Pflanzen und Tieren viel besser verstehen. In der Entwicklungsbiologie werden im Wesentlichen fünf Entwicklungsprozesse unterschieden, die sich natürlich in der Realität teilweise überlagern und wechselseitig beeinflussen. Wir finden sie sowohl im Pflanzen- als auch im Tierreich: • Die Furchungsteilungen folgen als Periode schneller Zellteilungen unmittelbar auf die Befruchtung. Dabei kommt es zu keinem Zellwachstum; es gibt nur die Phasen der DNA-Replikation und Mitose mit Zellteilung. • Bei der Musterbildung wird innerhalb des Embryos ein räumliches und zeitliches Muster von
tion der Aktivität funktionell untergeordneter Proteine. In vereinfachter Form können wir also sagen, dass lokalisiert auftretende Transkriptionsfaktoren eine differenzielle Genaktivität in unterschiedlichen Bereichen des Embryos induzieren, die zu weiterer zellulärer Differenzierung führt. Die Unterordnung von Genregulationsprozessen und von Genfunktionen im Embryo unter gemeinsame Kontrollmechanismen, die durch lokalisierte Verteilung von Regulationsmolekülen bereits während der Oogenese festgelegt werden, zeigt an, dass eine morphologische Kontinuität der Organismen über die Generationen hinweg besteht. Die Untersuchungen von Entwicklungsprozessen an Tieren und Pflanzen deuten darauf hin, dass die molekularen Grundprinzipien von Determinations- und Differenzierungsprozessen evolutionär sehr alt sind. Es zeichnet sich damit nach der Erkenntnis, dass Vererbungsprozesse bei allen Organismen nach den gleichen Grundprinzipien erfolgen, auch ab, dass zelluläre Differenzierung bei allen lebenden Organismen auf ähnlichen molekularen Grundlagen erfolgt. Es gehört zu den überraschenden Befunden der molekularen Genetik, dass eine ganz unerwartet große Anzahl von Genen mit grundlegenden Funktionen in der Zelldifferenzierung und Zellfunktion evolutionär über alle höheren Organismen hinweg erhalten geblieben sind.
Zellaktivitäten aufgebaut, so dass eine erste wohlgeordnete Struktur entsteht. Dabei werden zunächst die Achsen des Embryos definiert. Dabei entspricht die anterior ↔ posteriore Achse bei Tieren der Kopf-Schwanz-Orientierung und bei Pflanzen der von der Wachstumsspitze zu den Wurzeln (auch als apikal ↔ basale Achse bezeichnet). Die dorsal ↔ ventrale Achse beschreibt bei Tieren die Achse,die zur Bildung einer Vorder- und Rückseite führt. Auch die daran anschließende Ausbildung der unterschiedlichen Keimblätter (Ektoderm, Mesoderm, Entoderm) gehört noch zur Phase der Musterbildung. • Der dritte wichtige Schritt ist die Morphogenese (Formentstehung). Embryonen ändern dabei in charakteristischer Weise ihre dreidimensionale Form; die erste Phase wird im Tierreich als Gastrulation bezeichnet. Hier zeichnet sich schon der Bauplan in seinen Grundzügen ab. Wir werden als weitere morphologische Vorgänge gerichtete
13.1 Entwicklungsgenetik der Pflanze
Zellteilungen, räumlich verschiedene Mitoseraten oder gerichtete Zellstreckungen kennen lernen. • Der vierte Schritt ist die Zelldifferenzierung; dies war im Wesentlichen Gegenstand des vorangehenden Kapitels. • Der letzte Schritt ist das Wachstum, das auf verschiedenen Wegen erfolgen kann (Zellvermehrung, Zunahme der Zellgröße, Ablagerung extrazellulären Materials wie Knochen oder Schale). Das Wachstum kann auch gestaltbildend wirken. In diesem Kapitel wollen wir uns aber im Wesentlichen auf die ersten 3 Punkte konzentrieren und kennen lernen, welche Gene hier steuernd eingreifen. Wir können dabei natürlich nicht alle Details der Morphologie ansprechen; interessierte Leser mögen an dieser Stelle auf grundlegende Werke der Entwicklungsbiologie und Embryologie zurückgreifen. Es werden im Zusammenhang mit der Entwicklungsgenetik vor allem die Aspekte besprochen, die zur funktionellen Charakterisierung beteiligter Gene beitragen.
13.1 Entwicklungsgenetik der Pflanze Wichtige Untersuchungsobjekte der Genetik von Entwicklungs- und Differenzierungsvorgängen bei Pflanzen sind die Ackerschmalwand Arabidopsis thaliana (Brassicaceae; Abb. 13.1) und das Löwenmäulchen Antirrhinum majus (Scrophulariaceae; Abb. 13.2). Ungeachtet ihrer deutlichen Unterschiede in Größe und Morphologie erwiesen sich die genetischen Grundlagen ihrer Entwicklungs- und Differenzierungsvorgänge als sehr ähnlich. War früher eher Antirrhinum das klassische Modellsystem der Pflanzengenetiker (für eine Übersicht siehe SchwarzSommer et al. 2003), so hat sich in neuerer Zeit Arabidopsis etabliert (Sommerville u. Koornneef 2002). Zu den vorteilhaften Eigenschaften von Arabidopsis zählen eine kurze Generationszeit, geringe Größe und viele Nachkommen. Arabidopsis hat das kleinste bekannte Pflanzengenom (ca. 125 Mb; The Arabidopsis Genome Initiative 2000); es enthält ca. 26.000 Gene. Überraschend war das Vorkommen von etwa 60% duplizierten Genomabschnitten (die aktuellen Informationen können im Internet unter den Adressen http://www. arabidopsis.org bzw. http:// mips.gsf.de/proj/thal/db/main. html abgerufen werden). Man vermutet, dass das Arabidopsis-Genom aus
Abb. 13.1a–c. Arabidopsis thaliana, ein Modell für molekulargenetische Studien in höheren Pflanzen. a Eine reife Arabidopsis-thaliana-Pflanze. b Reife Blüte des Arabidopsis-Wildtyps. c Die homöotische Blütenmutante agamous-1 wurde in einem der ersten genetischen Screens auf Entwicklungsmutanten gefunden. (Nach Page u. Grossniklaus 2002)
einem Vorläufer durch Duplikation und anschließender Eliminierung eines Teils dieser Sequenzen hervorgegangen ist. Bei Arabidopsis hat sich eine von der üblichen genetischen Nomenklatur teilweise abweichende Schreibweise entwickelt: So werden Wildtyp-Allele durchgehend mit Großbuchstaben und kursiv geschrieben (z. B. KNOX), ihre mutierten Allele dagegen klein und kursiv (kn1). Dominante Mutationen werden mit dem Zusatz „d“ versehen. Gensymbole umfassen i. d. R. 3 Buchstaben (manche nur 2); bei Transgenen werden Promotor und cDNA-Konstrukte durch zwei Doppelpunkte getrennt (z. B. 35S::KNAT1). Morphologisch lassen sich bei einer Pflanze drei Grundorgane unterscheiden: die Sprossachse, die Wurzel und die Blätter. Den aus Sprossachse, Vege-
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Kapitel 13: Entwicklungsgenetik
Abb. 13.2a–c. Natürliche Variation bei Antirrhinum. a Antirrhinum majus ist an den Küsten des Mittelmeers (bes. Spanien und Frankreich) weit verbreitet. Es wächst aufrecht, hat nur geringe seitliche Verzweigungen, große Blätter und rote Blüten. b Antirrhinum charidemi kommt nur in Südost-Spanien vor, einer der trockensten Gegenden auf dem europäischen
Festland. Es hat viele seitliche Verzweigungen, kleine Blätter und rosa Blüten. c Antirrhinum molle wird an Klippen und Geröllhalden in den Pyrenäen gefunden. Es ist stark verzweigt, wuchernde Halme und Organe mittlerer Größe, die mit vielen Haaren bedeckt sind, elfenbeinfarbene Blüten und ein rotes Muster der Blattadern. (Nach Schwarz-Sommer et al. 2003)
tationskegel (Meristem) und Blättern gebildeten Bereich, in dem das Wachstum der Pflanze durch Zellteilungen im Meristem erfolgt, bezeichnet man als Spross. Die Entwicklung der Organe erfolgt durch die Proliferation von Meristemen (Bildungsgewebe). Der Lebenszyklus einer Blütenpflanze lässt sich grob in drei große Abschnitte gliedern: Embryogenese, postembryonale (vegetative) Entwicklung und generative Entwicklung. Der Embryo entwickelt sich in einer Samenanlage; anschließend reifen beide und gehen in einen Ruhezustand über, in dem der trockene Samen mit dem vollentwickelten Embryo ungünstigen Bedingungen widersteht und zugleich verbreitet werden kann. Mit der Keimung des Samens wird der Embryo zum Keimling, der an den Enden der apikal-basalen Körperachse primäre Meristeme trägt, aus denen Spross und Wurzel hervorgehen. Das Sprossmeristem bildet während der vegetativen Entwicklungsphase vor allem Blätter. Physiologische Veränderungen, als Blühinduktion bezeichnet, leiten die generative Phase ein. Das Sprossmeristem bringt nun Blüten hervor, in denen männliche und weibliche Organe durch Meiose haploide Sporen bilden. Die
Sporen entwickeln sich zu Gametophyten, die die Gameten enthalten. Einen wichtigen Einfluss auf die Entwicklung hat die Organisation der Pflanzenzelle. Die Zellwand sorgt dafür, dass die Zellen ihre Nachbarschaft nicht verlassen können. Gestaltveränderungen (Morphogenesen) in der Entwicklung einer Pflanze werden daher durch lokale Aktivitäten von Zellen ausgeführt. Zur Koordination von Entwicklungsvorgängen sind andererseits langreichende Signale (z. B. Phytohormone) notwendig. Für die Kommunikation zwischen den Zellen einer Pflanze können die Plasmodesmen eine zusätzliche Rolle spielen, da sie Zellen miteinander verbinden.
13.1.1 Musterbildung in der frühen Embryogenese Der Embryo entwickelt sich an der Mutterpflanze in einer Samenanlage, die zum Zeitpunkt der Befruchtung einen weiblichen Gametophyten (den Embryosack) enthält, der in seiner reifen Form aus 7 Zellen
13.1 Entwicklungsgenetik der Pflanze
besteht. Von diesen Zellen werden zwei befruchtet, die haploide Eizelle und die diploide Zentralzelle. Dadurch entstehen die Zygote und eine triploide Zelle, aus der das Endosperm hervorgeht. Blütenpflanzen unterscheiden sich danach bei der Bildung der Keimlinge: Die Keimlinge von Monokotylen entwickeln eine Keimblattanlage, die das Sprossmeristem überwächst und in eine seitliche Lage drängt. Dikotyle (wie Arabidopsis) entwickeln dagegen zwei Keimblattanlagen, die das Sprossmeristem symmetrisch flankieren. Bei Arabidopsis dauert die Entwicklung von der Befruchtung zum fertigen Embryo etwa 9 Tage, die anschließende Reifung noch einmal einige Tage. In dieser Zeit wächst der Embryo auf fast 20 000 Zellen und etwa 500 µm Größe heran. Die Embryogenese von Arabidopsis (Abb. 13.3) wird anhand morphologischer Kriterien in 20 Stadien eingeteilt; die frühen
Stadien werden nach der Zellzahl des Pro-Embryos (Quadrant, Oktant) bezeichnet. Die darauf folgenden verschiedenen Stadien der Morphogenese sind entsprechend ihrer charakteristischen Formen benannt: Kugel, Herz und Torpedo. Die frühembryonale Phase der Musterbildung, bei der die Körpergrundgestalt entsteht, endet mit dem Herzstadium. Die apikal-basale Polaritätsachse ist die Hauptachse der Pflanze. Sie wird bereits nach der Befruchtung etabliert, wenn sich die Zygote auf die etwa 3fache Länge streckt und dann asymmetrisch in eine kleine apikale und eine große basale Zelle teilt (Abb. 13.3a). Die basale Zelle teilt sich wiederholt horizontal, wodurch ein Zellstrang aus 7 bis 9 Zellen entsteht. Von diesen Zellen bilden alle bis auf die oberste den embryonalen Suspensor, der den Embryo mit der Samenanlage verbindet; die oberste Zelle nimmt sekundär ein embryonales Schicksal an und trägt zur
Abb. 13.3a–f. Entwicklung des apikal-basalen Musters während der Embryonalentwicklung von Arabidopsis thaliana. Die obere Reihe zeigt eine schematische Darstellung der Embryonalentwicklung von Arabidopsis, die untere Reihe zeigt die entsprechenden mikroskopischen Darstellungen im Interferenz-Kontrast. a Zwei-Zell-Stadium: Die Zygote hat sich asymmetrisch in eine apikale (ac) und basale (bc) Tochterzelle geteilt. b Oktantstadium: Der Pro-Embryo, der sich aus der apikalen Zelle entwickelt hat, besteht aus zwei Lagen von je vier Zellen (ut: obere Lage – grau; lt: untere Lage – hellgrau). Die basale Zelle hat eine Reihe von Zellen produziert, darunter die Hypophyse (hy: schwarz) und den Suspensor (su). c Dermatogenstadium: Perikline Teilungen haben 8 epidermale Zellen und 8 innere Zellen hervorgebracht. d Kugelsta-
dium: Die inneren Zellen der unteren Lage haben sich periklin geteilt und werden zu Vorläufern des Grundgewebes und des Leitgewebes. Die Hypophyse teilt sich assymmetrisch in eine obere linsenförmige Zelle (das spätere Ruhezentrum, engl. quiescent center, QC) und eine untere trapezförmige Zelle (die spätere zentrale Wurzelhaube, engl. central root cap, crc). e Herzstadium: Die Körpergrundgestalt des Keimlings ist angelegt: apikales Sprossmeristem (SAM), Vorläufer der Kotyledonen (cot); die zentrale Region aus der unteren Lage des Oktantstadiums hat sich noch einmal in eine obere (ult) und untere (llt) Lage unterteilt. f Keimling: apikales Sprossmeristem (SAM), Vorläufer der Kotyledonen (cot); Hypokotyl (hc), Wurzel (engl. root, rt), Ruhezentrum (QC), zentrale Wurzelhaube (crc). (Nach Vroemen u. de Vries 1999)
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Kapitel 13: Entwicklungsgenetik
Bildung des Wurzelmeristems bei (Abb. 13.3b-e). Die apikale Zelle dagegen durchläuft zwei Runden vertikaler Zellteilungen und dann eine Runde horizontaler Zellteilungen und erreicht damit das Oktantstadium. In diesem Stadium besteht der Pro-Embryo aus zwei Lagen von je 4 Zellen und kann insgesamt in drei Regionen unterteilt werden: Die apikale Region besteht aus der oberen Lage und entwickelt sich später zum Sprossmeristem und den Keimblättern. Die untere Lage repräsentiert die zentrale Region und wird zu den Schulterregionen der Keimblätter, dem Hypokotyl, der Wurzel und den Stammzellen des Wurzelmeristems. Die basale Region entspricht der obersten Zelle des 7 bis 9-zelligen Zellstrangs und geht somit auf die basale Tochterzelle der Zygote zurück. Sie wird zur Hypophyse, die das Ruhezentrum und die untere Lage der Stammzellen des Wurzelmeristems hervorbringt. Neben dem apikal-basalen Muster wird auch ein radiales Muster aufgebaut. Die acht Zellen des Oktant-Pro-Embryos teilen sich parallel zur Oberfläche (perikline Zellteilungen), so dass außen liegende Epidermiszellen und innen liegende subepidermale Zellen entstehen. Die weitere Entwicklung der Epidermis erfolgt durch Zellteilungen, deren Teilungsebene senkrecht zur Oberfläche liegt (antikline Teilungen); die periklinen Zellteilungen bleiben auf die zentrale Region des jungen Embryos beschränkt. Das Ergebnis der radialen Musterbildung ist eine konzentrische Anordnung von Gewebeschichten. Die bedeutendsten Mutationen, die die stabile Festlegung der apikal-basalen Achse des Embryos beeinflussen, betreffen das Gen GNOM (GN). Die mutanten Keimlinge sind klein und verdickt; es fehlt die Wurzel, und sie zeigen verdickte, fusionierte Keimblätter. Der früheste Defekt ist eine variable Teilung der Zygote. Das GN-Gen kodiert für einen Guaninnukleotid-Austauschfaktor für kleine G-Proteine der Familie Auxin-sensitiver Gene, die eine wichtige Rolle beim intrazellulären Membranfluss spielen (Transport von Membranproteinen zur Plasmamembran). Das Gnom-Protein wird für die koordinierte polare Lokalisierung des Auxinefflux-Carriers PINFORMED1 (PIN1) in der basalen Plasmamembran benötigt. Weitere Mutationen in der apikal-basalen Musterbildung betreffen die Gene MONOPTEROS (MP) und BODENLOS (BDL). Sie verändern die Zellteilungsebene der apikalen Tochterzelle der Zygote und verhindern später die Entstehung der Hypophyse. MP ist
ein Transkriptionsfaktor und bindet an Auxin-Bindestellen im Promotorbereich solcher Gene, die durch Auxin aktiviert werden. BDL ist ein Protein, das als negativer Regulator der Auxin-Antwort wirkt. Auxin, das wichtigste Phytohormon der Pflanze, hat also auch schon in der frühesten Phase der Pflanzenentwicklung eine zentrale Rolle. ! Bei der frühen Embryonalentwicklung von Arabi-
dopsis wird zunächst die apikal-basale Polaritätsachse und danach ein radiales Muster aufgebaut. Mutationen in den beteiligten Genen führen zu massiven Störungen in der frühen Musterbildung. Das Pflanzenhormon Auxin ist bereits an vielen frühen Entwicklungsprozessen beteiligt.
13.1.2 Wurzel-, Spross- und Blattentwicklung Vom Herzstadium bis zum reifen Embryo werden die frühembryonal angelegten Regionen und Gewebe weiter untergliedert. Aus dem apikal-basalen Muster bilden sich Meristeme mit den dazwischen liegenden Keimlingsstrukturen (Keimblätter, Hypokotyl und embryonaler Wurzel). Aus dem zweiten, radialen Muster werden die hauptsächlichen Gewebetypen (von außen nach innen Epidermis, Grundgewebe und Leitgefäße) aufgebaut. Das nun aktive primäre Wurzelmeristem bildet den größten Teil der embryonalen Wurzel. Es setzt sich aus zwei Teilen zusammen, die von verschiedenen Regionen des jungen Embryos abstammen: Das Ruhezentrum des Wurzelmeristems und die Initialen (Stammzellen) für die zentrale Wurzelhaube sind Abkömmlinge der Hypophyse und gehen somit auf die basale Tochterzelle der Zygote zurück. Die Initialen des Wurzelmeristems, die Zellstränge nach oben abgeben und so zur embryonalen Wurzel beitragen, sind dagegen von der unteren Lage des Oktant-Pro-Embryos abgeleitet und damit Nachkommen der apikalen Tochterzelle der Zygote (Abb. 13.4). Das Wurzelmeristem wird im Herzstadium aktiv; es weist eine charakteristische radiale Organisation auf, die sich in der konzentrischen Anordnung der Wurzelgewebe widerspiegelt. Je 8 Zellstränge sind in den Schichten von Cortex und Endodermis zu finden; in der Epidermis gibt es etwa 16 Zellstränge und
13.1 Entwicklungsgenetik der Pflanze
Abb. 13.4 a,b. Herkunft des primären Wurzelmeristems in der Embryonalentwicklung. a Dermatogenstadium: Ein Signal aus dem Pro-Embryo (roter Pfeil) induziert wahrscheinlich die Entwicklung der Hypophyse (orange). b Untere Hälfte eines Embryos im Herzstadium: Das Ruhezentrum (rot) induziert wahrscheinlich die Entwicklung der umliegenden Zellen zu Stammzellen. Die untere Lage der Stammzellen (grau) wird später zur zentralen Wurzelhaube. Die Verbindungslinien zeigen die Abstammung des Ruhezentrums und der unteren Lage der Stammzellen von der Hypophyse. (Nach Jürgens 2001)
doppelt so viele in der lateralen Wurzelhaube. Um das Ruhezentrum, das aus 4 teilungsinaktiven Zellen besteht, gruppieren sich die Initialen. Nach unten hin bildet eine Lage von Initialen immer wieder Zellen für den zentralen Teil der Wurzelhaube, die sich beim Eindringen in den Boden abnutzt und von den neu gebildeten Zellschichten ersetzt wird. Nach oben hin bildet eine Lage von Initialen Zellen, die sich zu Strängen anordnen und so die bestehende Wurzel verlängern. Die Primärwurzel wächst vor allem durch Zellteilung in der meristematischen Zone. Die neu entstandenen Zellen verlängern die embryonal gebildete Wurzel. Wenn die Zellen das Meristem verlassen, kommen sie in die Streckungszone, wo sie sich in der Längsachse der Wurzel strecken; auch diese Zellstreckung trägt zum Wurzelwachstum bei. Schließlich gelangen die Zellen in die Differenzierungszone, in der sie ihre charakteristischen Merkmale ausbilden (z. B. Wurzelhaare, Caspari’sche Streifen, Seitenwurzel, Leitgewebe Phloem und Xylem). Arabidopsis-Mutanten, die die Wurzelbildung betreffen (Abb. 13.5), zeigen im Wesentlichen einen Einfluss auf das radiale Muster und deuten damit darauf hin, dass es während der Wurzelbildung vor allem auf den radialen Informationsfluss ankommt. Vor allem zwei Mutanten (scarecrow, scr, und shortroot, shr) haben dieses Bild geprägt. Beide sind Funk-
tionsverlustmutationen. Die initialen Tochterzellen in der Epidemis bzw. des Cortex teilen sich nicht in der üblichen asymmetrischen Weise, so dass nur eine einzige Schicht des Grundgewebes gebildet wird, wo sonst die zwei Schichten von Cortex und Endodermis entstehen. Die beiden Mutanten unterscheiden sich allerdings in einem wichtigen Detail: So hat die eine Grundgewebsschicht in scr-Mutanten differenzierte Anteile des Cortex und der Endodermis, wohingegen die shr-Mutanten nur Cortex-Eigenschaften aufweisen. Mutationen im WOODEN-LEG (WOG)-Gen führen zu einer verringerten Zahl an Zellen im Leitgewebe der Wurzel, und alle Zellen des Leitgewebes differenzieren in Xylemgewebe. WOG kontrolliert Zellteilungen, aber nicht die Differenzierung. Die molekulare Analyse hat gezeigt, dass das Gen für eine Histidin-Kinase kodiert, die auch als Cytokin-Rezeptor bekannt ist (CRE1) und offensichtlich für die Übertragung des Cytokin-Signals von der Oberfläche der Zellen des Leitgewebes zu deren Zellkern verantwortlich ist. Die oberirdischen Teile der vegetativen Pflanze, Spross und Blätter, entwickeln sich aus dem primären Sprossmeristem des Keimlings (Abb. 13.3), das im reifen Embryo aus annähernd 100 Zellen besteht und im Durchmesser etwa 50 µm groß ist. Das Sprossmeristem ist charakteristisch in Schichten und Zonen organisiert: Die äußere der 3 Schichten ist aus der Epidermis des Embryos hervorgegangen; sie bildet später die epidermalen Abschlussgewebe von Spross, Blättern und Blütenorganen. Die Zellen der inneren Schichten sind aus subepidermalen Zellen des Embryos hervorgegangen und bringen u. a. die sporogenen Gewebe der Blüten hervor, die die Keimzellen bilden. Die Expressionsmuster der wichtigsten Gene, die an der Sprossentwicklung beteiligt sind, zeigt Abb. 13.6. Das Sprossmeristem ist außerdem in Zonen gegliedert, die verschiedene Funktionen erfüllen. Eine zentrale Zone an der Spitze ist für die Integrität des Sprossmeristems wichtig und enthält teilungsaktive Zellen, die das Meristem laufend erneuern, aber auch Tochterzellen zur Seite und nach unten abgeben. Die zentrale Zone wird flankiert von der peripheren Zone, in der Blätter mit den dazugehörigen Achselmeristemen angelegt werden. Die Blattanlagen werden durch neue Zellen, die aus der zentralen Zone stammen, verdrängt und verlassen das Meristem. Durch perikline Teilungen der subepidermalen Zellen werden die Anlagen dann in Blattprimordien
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Kapitel 13: Entwicklungsgenetik
Abb. 13.5a–c. Schematische Darstellung von Wildtyp und von Wurzelmutanten bei Arabidopsis. a Wildtyp-Wurzel: Die verschiedenen Zelltypen sind durch einen Farbcode erläutert. b Das Ruhezentrum wirkt durch die Hemmung der Differenzierung der umliegenden Initialzellen als Organisationszentrum des Wurzelmeristems. c Unvollstängie radiale Muster der drei Arabidopsis-Mutanten scr, shr und wol. (Nach Nakajima u. Benfey 2002)
umgewandelt. Die darin enthaltenen Achselmeristeme bleiben inaktiv, solange die zentrale Zone des primären Sprossmeristems inhibierend wirkt (apikale Dominanz). Unterhalb der zentralen Zone ist die Rippenzone angesiedelt, deren Zellen zum Wachstum des Sprosses beitragen. Blätter entstehen aus Gruppen von Gründerzellen, die die periphere Zone des Sprossmeristems verlassen. Die Blattanlage umfasst Zellen aus allen 3 Schichten des Meristems. Erkennbar wird die Blattanlage als seitlicher Höcker; offensichtlich ändert sich mit der Ausgliederung der Blattanlage die Orientierung der Zellen.Das neu gebildete Blattprimordium besteht aus etwa 100 Zellen, während die Zellzahl in einem fertig ausgebildeten Primärblatt von Arabidopsis auf annähernd 130 000 Zellen geschätzt wurde. Das Blatt wird in drei Regionen gegliedert: die Spreite, die Mittelrippe und den Stiel (Petiole). In der Spreite können wir weiterhin die Epidermis, das Palisadenparenchym, das Schwammparenchym und die Leitbündel unterscheiden. Die Abfolge dieser Gewebe in der Spreite spiegelt die dorsoventrale Achse des Blattes wider. Als dorsal wird die Oberfläche zum Spross hin (adaxial), als ventral die vom Spross wegzeigende (abaxiale) Unterseite bezeichnet. Die von
der Basis zur Spitze des Blattes verlaufende Längsachse wird proximo-distal genannt. Die Entwicklung der Blatthaare (Trichome) ist als genetisches System ideal, da aufgrund ihrer charakteristischen Verzweigungen und ihrer regelmäßigen Verteilung auf der Blattfläche mutante Phänotypen leicht erkannt werden können. Trichome entwickeln sich aus einzelnen Epidermiszellen junger Blattprimordien mit einem Abstand von etwa 4 Zellen. Die Verzweigung der Trichome orientiert sich an der Längsachse des Blattprimordiums: Der zuerst gebildete Ast zeigt zur Blattbasis, der sich erneut verzweigende Hauptast zur Spitze. Die Auswahl einer Trichomzelle erfolgt durch laterale Inhibition. Mutationen in zwei Genen, GLABRA1 (GL1) und TRANSPARENT TESTA GLABRA (TTG), führen zu einem Ausfall der Trichomentwicklung. GL1 kodiert für einen Transkriptionsfaktor mit Myb-Domäne, TTG für ein Protein mit WD40-Wiederholungseinheiten (konservierter Bestandteil von G-Proteinen: 40 Aminosäuren mit einem zentralen Trp-Asp-Motiv; diese beiden Aminosäuren werden im Ein-BuchstabenCode mit W bzw. D abgekürzt). Die Prozesse bei der Trichomentwicklung sind ähnlich der bei der Bildung von Wurzelhaarzellen. Mehr als 40 Mutationen sind
13.1 Entwicklungsgenetik der Pflanze
Abb. 13.6a–c. Herkunft des primären Sprossmeristems und die apikale Sprossorganisation. a Globulärer Embryo: Das Epidermis-spezifische Gen AtML1 ist sowohl in der zentralen als auch in der apikalen Region exprimiert (gelb; nicht gezeigt in b und c). Der weiße Pfeil deutet an, wo die Zentralregion den Vorläufer des Sprossmeristems positioniert. b Übergangsstadium des Embryos, der im Prinzip dasselbe Muster der Genexpression aufweist wie der globuläre Embryo. c Obere Hälfte
eines Embryos im Herzstadium: Die Expressionsdomänen der Gene, die für das radiale Muster verantwortlich sind, sind nicht angegeben (SCR, SHR, ZLL/PNH). Im Vorläufer des Sprossmeristems überlappen die Domänen der CLV3- und CLV1Expression. Man beachte auch die adaxiale (REV) und abaxiale (FIL, YAB3) Expressionsdomänen in den Vorläufern der Kotyledonen. (Nach Jürgens 2001)
beschrieben, die die Morphogenese der Trichome betreffen. Die Analyse von Mutanten hat auch viel zum Verständnis der Sprossentwicklung beigetragen. Im Zentrum steht dabei die Beschränkung der Zellzahl im Sprossmeristem durch ein einfaches Rückkopplungssystem und damit die Aufrechterhaltung seiner Integrität im zentralen Bereich. Verlustmutationen in diesem Rückkopplungssignalweg haben entsprechend unterschiedliche Auswirkungen: Mutationen in einem der drei CLAVATA (CLV)-Gene führen zu einem 1000fachen Anstieg der Zellzahlen im apikalen Sprossmeristem, wohingegen Mutationen in dem Homöoboxgen WUSCHEL (WUS) dazu führen, dass das apikale Sprossmeristem nicht erhalten bleibt. CLV-Proteine schränken die Aktivität von WUS ein, wohingegen WUS die Aktivität von CLV3 erhöht – damit wird ein Rückkopplungsmechanismus aufgebaut,der die Größe des Meristems erhält.Allerdings ist darüber hinaus noch die Aktivität des Transkriptionsfaktors KNOX wichtig. Die entsprechende Mutation knotted-1 (kn1) wurde zuerst in Mais entdeckt und verursacht dort Knoten in den Blättern, die durch undeterminiertes Gewebe gebildet werden. In Arabidopsis eng verwandt damit ist das Gen STM (engl. SHOOTMERISTEMLESS), dessen Funktionsverlust dazu führt, dass das Sprossmeristem nicht erhalten bleiben kann.Zu dieser Genfamilie gehören insgesamt
4 Gene, STM, KNAT1, KNAT2 und KNAT6 (engl. KN1like in Arabidopsis thaliana). Die Abb. 13.7 zeigt Modelle, wie diese verschiedenen Gene bei der Bildung von Blättern mit dem Sprossmeristem in Wechselwirkung treten können. Auch die Blattform (einförmiges oder gezacktes Blatt) wird wesentlich durch KNOX reguliert; allerdings sind hier noch mehr Gene beteiligt, z. B. UFO (engl. UNUSUAL FLORAL ORGANS), AS1 (engl. ASYMMETRIC LEAVES) oder das Gibberellin-Biosynthesegen GA20ox1. Ein Modell dieser Interaktionen im Arabidopsis-Wildtyp (einfaches Blatt), einer Mutante (buchtiges Blatt) und in Tomaten (gefiederte Blätter) ist in Abb. 13.8 gezeigt. ! Das Wurzelmeristem wird im Herzstadium aktiv und weist eine radiale Organisation auf. Mutationen, die die Wurzelbildung betreffen, beeinflussen im Wesentlichen das radiale Muster. Das Sprossmeristem ist dagegen in Schichten und Zonen gegliedert. Diese Gliederung wird durch eine Rückkopplung aufrechterhalten, an der die Genprodukte von CLV und WUS beteiligt sind. Die Form der Blätter wird durch verschiedene aktivierende und reprimierende Prozesse unter wesentlicher Beteiligung des Transkriptionsfaktors KNOX gesteuert.
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Kapitel 13: Entwicklungsgenetik Abb. 13.7a–c. Signale zwischen Meristem und Blättern. a Signalweg im Meristem – longitudinaler Blick auf eine Spross-Spitze: CLAVATA 3 (CLV3) ist in der zentralen Domäne des apikalen Sprossmeristems exprimiert. Es wird vermutet, dass CLV3 als Ligand der CVL1-Rezeptor-Kinase wirkt und dabei als Teil eines großen Proteinkomplexes die Aktivität des Homöobox-enthaltenden Transkriptionsfaktors WUSCHEL (WUS) hemmt. WUS wird für die Meristemaktivität benötigt. Umgekehrt aktiviert WUS CLV3 – damit verstärkt WUS die Aktivität seines eigenen Repressors und etabliert eine Rückkopplungsschleife. b Signalwege zwischen Meristem und Blatt – transversaler Blick auf eine Spross-Spitze: SHOOTMERISTEMLESS (STM) kodiert für einen KNOX-Homöodomän-Transkriptionsfaktor, der im ganzen apikalen Sprossmeristem exprimiert wird (purpur), nicht aber in den Gründerzellen des Blattes (angedeutet durch den grünen Bereich im apikalen Sprossmeristem). ASYMMETRIC LEAVES1 (AS1) kodiert für einen MYB-Transkriptionsfaktor, und AS2 ist ein Mitglied der Familie von Transkriptionsfaktoren, die laterale Organgrenzen definieren. Diese beiden Gene werden in den Vorläuferzellen des Blatts (grün) exprimiert. Genetische Analysen deuten darauf hin, dass STM im apikalen Sprossmeristem AS1 und AS2 negativ reguliert; die Hemmung der STM-Expression in den Blättern ermöglicht umgekehrt die Expression von AS1 und AS2. Im Gegenzug regulieren AS1 und AS2 in negativer Weise andere KNOX-Gene, so dass in den Blättern von as1- und as2-Mutanten KNAT1, KNAT2 und KNAT6 in den Blättern ektopisch exprimiert wird. Der zusätzliche Verlust der KNAT1-Funktion in stm;as1-Doppelmutanten führt zum Verlust des apikalen Sprossmeristems, was darauf hindeutet, dass die KNAT1- und STM-Funktionen im Hinblick auf die Aufrechterhaltung des apikalen Sprossmeristems offensichtlich redundant angelegt sind. c Signalwege zwischen Blatt und Meristem – transversaler Blick auf eine Spross-Spitze: PHABULOSA (PHB) und PHAVOLUTA (PHV) kodieren Transkriptionsfaktoren der Klasse III mit Homöodomäne und Zipper, die im gesamten apikalen Sprossmeristem exprimiert werden (purpur). Die YABBY (YAB)und KANADI (KAN)-Genfamilien kodieren für weitere Transkriptionsfaktoren. Sie sind beide im abaxialen Bereich der Blattvorläufer zu sehen, und Mitglieder der YAB-Genfamilie hemmen die Expression der Gene STM und KNAT1 in den Blättern. (Nach Tsiantis u. Hay 2003) ▲
13.1.3 Blütenentwicklung Blüten entsprechen einem modifizierten Spross, in dem das Längenwachstum in den Internodien unterbleibt und dadurch mehrere Blattrosetten dicht übereinander zu liegen kommen. Diese Blattrosetten (Wirtel, engl. whorl) formen bei Arabidopsis und Antirrhinum die unterschiedlichen Bestandteile der Blüte, die Blütenhülle (Perianth) aus den Kelchblättern (Sepalen, engl. sepals) und den Kronblättern
(Petalen, engl. petals) sowie den reproduktiven Organen, d. h. den Staubblättern (engl. stamens) und den Fruchtblättern (Karpelle, engl. carpels). Die jeweils charakteristische Morphologie der verschiedenen Blütenbestandteile bietet die Möglichkeit, nach Mutationen dieser verschiedenen Strukturen zu suchen und ihre funktionelle Hierarchie zu bestimmen. Als eine zusätzliche Methode der experimentellen Analyse bietet es sich bei Pflanzen an, somatische Mutationen durch Transposons zu untersuchen.
13.1 Entwicklungsgenetik der Pflanze
Abb. 13.8a–c. KNOX-Genexpression und Blattformen. Der Rand eines einfachen Blattes kann glatt (a, links), buchtig (b, links) oder gefiedert (c, links) sein. Es ist ein hypothetisches Modell gezeigt, wie die Rekrutierung der KNOX-Funktion in Blättern zur unterteilten Form führt. a In Arabidopsis sind die Gene SHOOTMERISTEMLESS (STM), KNAT1 und UNUSUAL FLORAL ORGANS (UFO) im apikalen Sprossmeristem exprimiert (purpurn in a), wohingegen ASYMMETRIC LEAVES1 (AS1), AS2 und das Giberellin-Biosynthesegen GA20ox1 in den Blättern exprimiert wird (grün). STM hemmt AS1, AS2 und GA20ox1 und stimuliert aber UFO, wohingegen AS1 und AS2 KNAT1 hemmen. Diese Wechselwirkungen begrenzen die nicht-determinierenden Faktoren auf das apikale Sprossmeristem und umgekehrt die determinierenden Faktoren auf das Blatt, was
zu einer einfachen Blattform führt. b Die ektopische Expression von KNAT1 oder STM in Arabidopsis durch einen CAMV35S-Promotor hemmt die Expression von GA20ox1 in den Blättern, was zur buchtigen Blattform beiträgt. Ebenso führt die ektopische Expression von UFO zu buchtigen Blättern. c Dieses Modell postuliert, dass an der Bildung der gefiederten Blattform, wie wir sie von der Tomate (Mitte) kennen, die Überexpression von KNOX-Genen in den Blättern beteiligt ist und so einerseits zur Hemmung mancher Gene (z. B. GA20ox1) und andererseits auch zur Aktivierung von KNOX-Zielgenen in den Blättern führt (z. B. UFO). Allerdings führen in anderen Spezies (z. B. Erbse, rechts) KNOX-unabhängige Signalwege zu gefiederten Blättern. (Nach Tsiantis u. Hay 2003)
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Auf diese Weise können aufgrund von Mutationen Mosaikbereiche in den Organen analysiert werden. Mutationen, die Blütenbildung betreffen, lassen sich in zwei Hauptgruppen einordnen: • Mutationen in der Blüteninduktion (engl. floral evocation) und • Entwicklungsveränderungen der Blüten.
sie auch in der Embryogenese von Drosophila kennen lernen (Kap. 13.3). Unterstützt wird eine solche Annahme durch den Befund, dass zumindest einige der bisher untersuchten Gene für Transkriptionsfaktoren kodieren. In der Embryogenese von Drosophila sind es Transkriptionsfaktoren, die als Morphogene die positionelle Information bereitstellen, die zur
Die Induktion der Blütenbildung erfolgt durch ein internes und umweltbedingtes Signal im apikalen Meristem der Sprossachse, das zur Entstehung eines Blütenmeristems führt und die Ausbildung der blütenspezifischen Strukturen zur Folge hat. Mutationen, die die strukturelle Differenzierung der Blüte betreffen, lassen sich mehreren Klassen zuordnen: • Eine erste Gruppe von Mutationen betrifft die frühen Ereignisse nach der Blüteninduktion: Sie verhindern die Ausbildung der eigentlichen Blüten (des Blütenprimordiums). So werden bei manchen Mutanten nur Hochblätter gebildet, bei anderen unterbleibt die normale Differenzierung der Blüte völlig, und es werden stattdessen nur sprossartige Gebilde anstelle der Blüte geformt. • Eine zweite Gruppe von Mutationen führt zu Symmetrieveränderungen der Blüte. • Eine dritte Gruppe von Mutationen ist homöotischen Mutationen vergleichbar. Sie bewirken die Veränderungen der Identität der Wirtel innerhalb der Blüte. ! Mutationen in Pflanzen, die die Blütenbildung
beeinflussen, lassen sich auf der Grundlage ihres Phänotyps in Gruppen einteilen, wie es in ähnlicher Form bei Drosophila-Entwicklungsmutanten möglich ist. Insbesondere treten auch bei Pflanzen homöotische Mutationen auf.
Wir wollen uns auf ein Beispiel dieses letzten Mutantentyps beschränken, um die Grundzüge der morphogenetischen Analyse zu verdeutlichen. Abb. 13.9 fasst die Ergebnisse von Mutantenanalysen bei Antirrhinum und Arabidopsis zusammen, die homöotische Effekte in der Blütenentwicklung ergeben. Auffallend bei diesen Veränderungen ist, dass immer zwei benachbarte Wirtel betroffen sind. Es liegt nahe, hier Wirkungen auf der Ebene veränderter positioneller Information zu suchen, wie wir
Abb. 13.9. Schema der Blütenmutationen von Antirrhinum. ovu, ple und def sind homöotische Mutationen, die den Wildtyp (Wt) in der angegebenen Weise verändern (s. auch Abb. 13.10). Die Art der Veränderungen könnte in vereinfachter Weise durch die Gegenwart zweier hypothetischer Regulationsmoleküle A und B erklärt werden, die in der im Schema angedeuteten Weise zusammenwirken. (Schema: P. Huijser, Köln)
13.1 Entwicklungsgenetik der Pflanze Abb. 13.10a–g. Antirrhinum majus, Wildtyp und homöotische Mutationen. a Wildtyp (Sippe 50) mit weißen Blüten als Folge gestörter Pigmentsynthese durch langjährige Selbstbefruchtung. b und c Einzelblüte des Wildtyps. d und e Blüte einer Nullmutante für das Plena-Gen (ple). Die äußeren zwei Kreise sind normal entwickelt. Die Stamina (Staubblätter) des dritten Kreises sind in Petalen (Kelchblätter), die Karpelle (Fruchtblatter) des vierten Kreises in Sepalen (Kronblätter) umgewandelt. Es wird also im Inneren eine zweite Blüte gebildet. Das Gen Plena kodiert für ein MADS-Box-Protein. f und g Blüte einer Deficiens-Mutante (def). (Photos: P. Huijser, Köln)
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Determination der Hauptregionen des Embryos erforderlich sind. Ein Beispiel für ein solches Gen von Antirrhinum ist deficiens (def), dessen Mutation bei Antirrhinum zur Veränderung der beiden mittleren Wirtel 2 und 3 führt (Abb. 13.10) und statt Staubblättern Fruchtblätter, statt Petalen Sepalen entstehen lässt. Dieses Gen kodiert für das DEF-A-Protein, das eine Domäne mit DNA-bindenden Eigenschaften enthält. Es gleicht strukturell Transkriptionsregulationsfaktoren von Hefen (Gen MCM1) und Säugern (Gen SRF). Ein sequenzverwandtes Protein (AG) hat man auch als Genprodukt des Genes agamous (ag) von Arabidopsis gefunden. Alle diese Proteine gehören zu einer Gruppe von Transkriptionsfaktoren, die – ähnlich wie die Homöoboxproteine (Abb. 8.26) – eine DNA-bindende Region besitzen und damit vergleichbare Funktionen in der Regulation der Transkription von Genen ausüben. Auch sie formen Dimere. Die DNA-bindende Domäne dieser Gruppe von Proteinen wird daher als MADS-Box bezeichnet (abgeleitet von den Proteinbezeichnungen MCM1, AG, DEF A, SRF). ! Homöotische Gene, die bei Pflanzen bisher iden-
tifiziert wurden, kodieren für Transkriptionsfaktoren, die Regionen mit Ähnlichkeit zur Homöoboxdomäne aufweisen. Diese DNA-bindende Domäne wird als MADS-Box bezeichnet.
13.2 Entwicklungsgenetik des Fadenwurms Caenorhabditis elegans Bereits im vorletzten Jahrhundert studierten Biologen, unter ihnen Theodor Boveri, die Frühentwicklung der Nematoden. Damals waren parasitische Vertreter wie die Spulwürmer bevorzugte Untersuchungsobjekte. Mitte der 1960er Jahre führte Sidney Brenner, ursprünglich ein Phagengenetiker, den Fadenwurm Caenorhabditis elegans als Modellsystem in die Genetik ein. Eine erste wichtige Zusammenfassung wurde von ihm 1974 publiziert. Die ersten Untersuchungen in Sidney Brenners Labor wurden an Kulturen von C. elegans durchgeführt, die mit Ethylmethansulfonat (EMS, Kap. 10.4.3) als mutagenem Agens behandelt wurden. So wurden in den Jahren ab 1967 bis
in die Mitte der 1970er Jahre über 300 EMS-induzierte Mutationen identifiziert, die meisten davon mit einem rezessiven Erbgang. Die Hauptklasse der Mutanten betraf die Fortbewegung der Würmer – ihre unkoordinierten Bewegungen führten zu dem entsprechenden Gensymbol „unc“ (engl. uncoordinated); andere Mutationen betrafen die Größe und Form des Wurms (z. B. dumpy; Gensymbol dpy-1). C. elegans wurde seither zu einem System entwickelt, das sich in vielerlei Hinsicht für genetische Studien eignet (für weitere Details siehe Übersichten bei Ankeny 2001 und Jorgensen u. Mango 2002). Der Wurm kommt in zwei Geschlechtsformen vor, als Männchen oder als Zwitter (Hermaphrodit; Abb. 13.11). Die Entscheidung, ob ein Wurm zum Männchen oder zum Zwitter wird, hängt von der Anzahl der X-Chromosomen ab: Neben den fünf autosomalen Chromosomenpaaren besitzen Männchen ein, Zwitter zwei X-Chromosomen. Die Zwitter produzieren zu Beginn ihres Lebens Samen, später nur noch Eier. Mit dem gespeicherten Samen können sie die Eier selbst befruchten. Selbstbefruchtung vereinfacht die Untersuchung homozygoter Nachkommen, da neuinduzierte Mutationen homozygotisiert werden können, ohne dass Geschwister untereinander gekreuzt werden müssen. Die Zwitter können aber auch von Männchen befruchtet werden, so dass auch Mutationen kartiert und Komplementationstests durchgeführt werden können. Die Haltung der Tiere ist einfach: C. elegans wird auf einem Bakterienrasen plattiert, der als Nahrungsquelle dient. Sowohl die Ei- als auch die Körperhülle des Wurms sind durchsichtig. Mutanten können daher mit Hilfe eines Mikroskops oder eines Binokulars einfach identifiziert werden. C. elegans ist als erwachsenes Tier nur ca. 1 mm groß, hat einen Durchmesser von 70 µm und besteht aus einer definierten Anzahl von Zellen: Das Männchen enthält 1031 somatische Zellen, der Zwitter dagegen nur 959 somatische Zellen; dazu kommt noch eine variable Zahl von Keimzellen. C. elegans kann eingefroren lange Zeit aufbewahrt werden, so dass es leicht möglich ist, viele Mutantenlinien im Labor zu halten. Mehr als 1000 Gene von C. elegans wurden durch Analyse von Mutanten charakterisiert und kartiert. Das Genom von C. elegans wurde bereits 1998 publiziert (die aktuelle Version kann im Internet unter der Adresse http:// www.ensembl.org/Caenorhabditis_elegans abgerufen werden). Es ist mit etwa 100 Mb nur etwa 20-mal so
13.2 Entwicklungsgenetik des Fadenwurms Caenorhabditis elegans Abb. 13.11 a,b. Morphologie und Lebenszyklus von C. elegans. a Der Wurm Caenorhabditis elegans kommt in zwei Geschlechtern vor: als Hermaphrodit (oben) und als männliches Tier (unten). Hermaphroditen sind cytogenetisch durch zwei X-Chromosomen (X/X) charakterisiert, wohingegen die Männchen nur ein X-Chromosom besitzen (X/0). Morphologisch zeigen Hermaphrodite eine Vulva (Pfeilspitze); männliche Tiere verfügen über einen fächerartigen Schwanz (Pfeil). b Die ersten 14 Stunden des Lebensyzyklus des Wurms umfassen die Embryonalentwicklung, danach schlüpfen die Larven aus der Eihülle und durchlaufen die vier Larvenstadien L1-L4. Unter besonderen Umständen und eingeschränktem Nahrungsangebot kann die L1-Larve einen alternativen Entwicklungsweg einschlagen (Dauerzustand, engl. dauer stage), bei dem die Larve über Monate hinweg unter widrigen Umständen überleben kann. (Nach Jorgensen u. Mango 2002)
groß wie das von E. coli und etwa 6-mal so groß wie das der Hefe. Es enthält ca. 19 000 Gene und damit ca. 50% mehr als Drosophila. Eine der hervorstechendsten Eigenschaften von C. elegans ist die Konstanz der Zahl seiner somatischen Zellen. C. elegans hat eine vollständig definierte und weitgehend unveränderliche Zellgenealogie; die Entwicklung der einzelnen Zellen kann in lebenden Tieren beobachtet werden. Obwohl der erwachsene Zwitter nur 959 Zellen besitzt, werden
ursprünglich 1.090 Zellen gebildet – 131 Zellen sterben ab. Die Untersuchung dieses Phänomens hat zum Konzept des „programmierten Zelltods” (Apoptose) geführt: In fast allen Fällen sterben die Zellen kurz nach ihrer Entstehung und erfüllen keine Funktion. Dabei zeigte es sich überraschenderweise, dass sterbende Zellen in C. elegans große morphologische Ähnlichkeiten zu Wirbeltierzellen aufweisen, die unter bestimmten Umständen absterben. Die genetische Analyse von Mutanten führte schließlich zur
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Kapitel 13: Entwicklungsgenetik
Entdeckung einer Signalkaskade, die diesen programmierten Zelltod reguliert. Heute wissen wir, dass der Apoptoseweg in der Evolution hochkonserviert ist und sich in ähnlicher Weise bei Drosophila, Mäusen und Menschen findet.
13.2.1 Embryonalentwicklung von C. elegans Die Embryonalentwicklung von C. elegans (Abb.13.12) verläuft sehr schnell – die Larve schlüpft bei einer Inkubationstemperatur von 20 oC nach ca. 15 Stunden. Allerdings erfordert die Reifung der verschiedenen Larvenstadien bis zum erwachsenen Tier dann noch einmal etwa 50 Stunden. Die Eizelle von C. elegans hat einen Durchmesser von 50 µm; die Polkörper bilden sich nach der Befruchtung. Bevor der männliche und weibliche Zellkern verschmelzen, kommt es schon zu einer unvollständigen Furchung; sie wird aber erst nach der Fusion vollendet. Diese erste Furchung ver-
läuft asymmetrisch; dabei entstehen eine größere anteriore AB-Zelle und eine kleinere posteriore P1Zelle (Abb. 13.13). Bei der zweiten Teilung entsteht aus der AB-Zelle die anteriore ABa- und die posteriore ABp-Zelle, während aus der P1-Zelle die P2- und die EMS-Zelle entsteht. Die EMS-Zelle entwickelt sich zu Epidermis, Muskel- und sensorischen Zellen weiter. In diesem Stadium kann man bereits die Hauptachsen erkennen, da P2 posterior und ABp dorsal liegt. Durch weitere Furchungen der AB-Zellen entstehen vor allem Hypodermis (die Außenschichten des Wurms) und zu einem geringeren Anteil auch Muskulatur. EMS teilt sich in E (entwickelt sich später zum Darm) und MS (entwickelt sich zu Muskeln, Drüsen und zu einem geringen Anteil auch zu Neuronen). Aus P2 gehen P3 und C hervor: C bildet Muskeln, Hypodermis und Neuronen, und P3 teilt sich in P4 und D. Während sich die D-Zelle ebenfalls zu Muskulatur weiterentwickelt, entstehen aus P4 die Keimzellen. Eine Übersicht über die Zellgenealogie in der frühen Phase von C. elegans gibt Abb. 13.14.
Erste Teilung (Zeit = 0)
Gastrulation
Verschluss der ventralen Spalte
Dorsale epidermale Interkalation Ventraler epidermaler Einschluss
Längenwachstum
Abb. 13.12a–e. Übersicht über die Embryonalentwicklung von C. elegans. Es sind die wichtigsten morphogenetischen Veränderungen in der Embryonalentwicklung von C. elegans dargestellt [links in differenziellem Interferenz-Kontrast („Nomarski-Optik“), rechts schematisch]. Die Ansicht auf den Embryo ist von lateral oder ventral; die anteriore Seite ist immer links. Der Startpunkt ist die erste Furchungsteilung; die Zeitangaben beziehen sich auf eine Kultur bei 20 °C. a Gastrulation: Die ersten Zellen, die von der Bauchseite nach innen wandern, sind Vorläufer der Eingeweidezellen, gefolgt von Vorläuferzellen des Mesoderms und der Keimbahn. b Der Verschluss der ventralen Spalte erfolgt durch kleinräumige Bewegungen der ventralen ektodermalen Zellen. c Bildung der Epidermis und der dorsalen Interkalation: Die zwei Reihen der dorsalen epidermalen Zellen verschieben sich zu einer einzigen dorsalen Zellreihe, was zu einer Verlängerung der dorsalen Epidermis im Verhältnis zur ventralen führt. d Ventraler epidermaler Einschluss durch Ausbreitung der epidermalen Zellschichten. e Vierfaches Längenwachstum des Embryos; die Bildung der Cuticula beginnt ca. 650 Min. nach der ersten Furchungsteilung. Das Längenwachstum ändert die Form des Embryos nicht mehr wesentlich. (Nach Chin-Sang u. Chisholm 2000)
13.2 Entwicklungsgenetik des Fadenwurms Caenorhabditis elegans
Abb. 13.13. Die ersten beiden mitotischen Teilungen des C. elegans-Embryos. Die maternalen und paternalen Vorkerne erscheinen üblicherweise an den entgegengesetzten Polen der befruchteten Eizelle und wandern dann so, dass sie sich am posterioren Pol treffen. Danach drehen sie sich und bewegen sich in die Mitte, wobei die ersten mitotischen Spindelfasern entlang der anterior-posterioren Achse gebildet werden. Die kleinere, posteriore Zelle teilt sich nach der größeren, anterior gelegenen Tochterzelle. Die Spindel der ABZelle bleibt transversal, während sich die P1-Spindel dreht, um mit der anterior-posterioren Achse übereinzustimmen. Die Blastomeren des 4-Zellstadiums definieren damit die dorsoventrale Achse (dorsal: ABp, ventral: EMS). (anterior links, ventral unten; nach Lyczak et al. 2002)
Wenn wir uns nun die molekularen Spieler in diesen Prozessen ansehen wollen, so können wir bei C. elegans auf eine Reihe von Mutanten mit charakteristischen Phänotypen zurückgreifen (siehe Übersicht bei Rose u. Kemphues 1998). Die erste Gruppe umfasst Mutationen, die für den Embryo letal sind, und die
Gene betreffen, die in der Eizelle bereits exprimiert werden (maternale Gene). Eine Gruppe davon wird als Par-Gene bezeichnet (engl. partitions defective) und beeinflusst die Polarität der ersten Furchungsteilung. Mutationen in einem der sechs Par-Gene führen zu Änderungen in den frühen Teilungsmustern und zu einem Stopp der Embryonalentwicklung, ohne dass sich die Gesamtzellzahl ändert. Durch die PAR-Proteine wird offensichtlich die Verteilung von solchen Faktoren reguliert, die für die Etablierung der Zellstammbäume notwendig sind [z. B. SKN-1 (engl. skin in exzess), GLP-1 (engl. germline proliferation defective), PIE-1 (engl. pharynx and intestine in excess) und MEX-3 (engl. muscle in excess)]. Die PARProteine enthalten wichtige Motive für die intrazelluläre Signalgebung (z. B. Kinase-Aktivitäten, ATPBindungsstellen, PDZ-Domänen), sie sind außerdem meistens an der Peripherie solcher Zellen asymmetrisch verteilt, die sich asymmetrisch teilen. Sie definieren damit nicht-überlappende anterior-posteriore Domänen in der Zygote und in der P1-Zelle sowie dorsoventrale Domänen in den P2- und P3-Zellen. Ein zweiter wichtiger Schritt ist der Aufbau der Zell-Linien, die aus der EMS-Zelle hervorgehen. In genetischen Screens wurden unter anderem Gene identifiziert, die zu verstärkter Mesodermbildung führen (engl. more mesoderm; Gensymbol: mom). Drei mom-Gene kodieren für Mitglieder des WntSignalweges: mom-2 ist homolog zu Wnt-2, mom-5 entspricht Mitgliedern der frizzled-Rezeptor-Genfamilie und mom-1 entspricht porcupine, das in anderen Systemen eine Rolle bei der Wnt-Sekretion spielt. In mom-Mutanten hat die E-Zelle dieselben hohen Konzentrationen des Proteins POP-1 (engl. posterior pharynx defective) wie die MS-Zelle. Das POP-1-Protein zeigt Homologie zu den LEF-1/TCF-1-Transkriptionsfaktoren, die im Wnt-Signalweg wichtig sind. Eine weitere Auswirkung der mom-Mutationen betrifft die Orientierung der Spindelapparate und hat damit ebenfalls Konsequenzen für die Orientierung der Tochterzellen. Ein dritter Signalweg, der uns auch später noch (Vulva-Entwicklung) und in anderen Organismen immer wieder begegnen wird, ist der Delta/NotchSignalweg. In apx-1-Mutanten (engl. anterior pharynx in excess) bilden die Nachkommen der ABpZellen nicht ihren üblichen Phänotyp aus und produzieren stattdessen Pharynxzellen mit anderen ABaähnlichen Zellen. Die molekulare Analyse dieses Gens hat gezeigt, dass es für ein Protein kodiert, das
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Kapitel 13: Entwicklungsgenetik Abb. 13.14. Zellgenealogie von C. elegans. (Nach Müller u. Hassel 1999)
dem Delta-Protein bei Drosophila ähnlich ist. Delta ist ein Ligand des Notch-Rezeptors, und das homologe Gen für Notch ist Glp-1; das GLP-1-Protein ist an der Oberfläche beider AB-Zellen lokalisiert. Daher arbeiten die beiden Proteine, APX-1 und GLP-1, vermutlich als Signal und Rezeptor bei der Wechselwirkung der P2- mit der ABp-Zelle, und die Spezifität der Wechselwirkung wird durch die Lokalisation von APX-1 kontrolliert. Auch im Weiteren ist das Geschick einer Zelle genau vorherbestimmt. Im 28-Zell-Stadium setzt die Gastrulation ein, sobald die Nachkommen der E-Zelle, die den Darm bilden, nach innen wandern. Die Embryonalentwicklung gilt mit dem Erreichen des „Brezelstadiums“ und des daran anschließenden Schlüpfens der Larve als beendet. Die frischgeschlüpfte Larve hat jetzt 558 Zellkerne. ! Die frühe Embryonalentwicklung von C. elegans
läuft nach einem genau festgelegten Teilungsschema seiner Zellen ab. Faktoren der Wnt- und Delta/NotchSignalwege spielen dabei eine wichtige Rolle.
13.2.2 Organentwicklung bei C. elegans Die frischgeschlüpfte Larve ähnelt in ihrem Aufbau dem erwachsenen Tier; sie ist jedoch noch nicht geschlechtsreif. Die postembryonale Entwicklung
vollzieht sich im Laufe von vier aufeinanderfolgenden Häutungen. Die Zellen, die jetzt beim reifenden Tier dazukommen, stammen im Wesentlichen von der posterioren P-Zelle ab. Diese Nachkommen sind als Vorläuferzellen entlang der Körperachse verteilt. Jede dieser Vorläuferzellen gründet eine eigene ZellLinie, die bis zu acht Zellteilungen durchläuft. Als Beispiel für diese weitere Differenzierung wird hier die Entwicklung der Vulva vorgestellt, die für die Reproduktion erforderlich ist. Sie entsteht aus den Vorläuferzellen P5p, P6p und P7p (Abb. 13.15). Diese 3 Zellen gehören zu einer Gruppe von 6 hypodermalen Vorläuferzellen, aus denen primär P6p ausgewählt wird, den Entwicklungsweg zu einer Vulva einzuschlagen. Aus dieser Zelle gehen 8 Tochterzellen hervor, die zum Vulva-Gewebe beitragen. Die flankierenden Zellen P5p und P7p schlagen den sekundären Entwicklungsweg ein und bringen nur 7 Tochterzellen hervor. Aus diesen insgesamt 22 Abkömmlingen wird schließlich die Vulva gebildet. Die weiter außen liegenden Zellen P3p, P4p und P8p schlagen den sog. tertiären Weg der Vulva-Entwicklung ein: Aus ihnen gehen je zwei Tochterzellen hervor, die zu einer mehrkernigen hypodermalen Zelle verschmelzen, die als hyp7 bezeichnet wird. Obwohl üblicherweise die Entwicklungswege dieser 6 Vorläuferzellen P3p – P8p nicht verändert werden, haben eine Reihe genetischer und zellbiologischer Experimente (vor allem gezieltes Abtöten einzelner Vorläuferzellen) gezeigt, dass alle 6 Zellen prinzipiell jeden der 3 Wege einschlagen können. Diese Zellen
13.3 Entwicklungsgenetik von Drosophila melanogaster
(engl. epidermal growth factor, EGF) in der P6p-Zelle eine RAS-MAP-Kinase-Signalkette, so dass diese Zelle den primären Entwicklungsweg einschlägt. Im nächsten Schritt zwingt die P6p-Zelle die benachbarten Zellen P5p und P7p über die Aktivierung eines Notch-ähnlichen Rezeptors in den sekundären Entwicklungsweg und verhindert damit die Ausbildung mehrerer Initiationszentren (laterale Inhibition). Störungen in diesem Signalweg führen zur Ausbildung von Phänotypen, die entweder keine Vulva besitzen (vulvaless; Verlust des aktivierenden Signals der Ankerzelle) oder zusätzliche Vulvae ausbilden (multivulva; Verlust der lateralen Inhibition). ! Die Vulva entsteht durch schrittweise Differen-
zierung von Vorläuferzellen, die zunächst das gleiche entwicklungsbiologische Potential haben. Dieser Prozess wird durch den Epidermalen Wachstumsfaktor (EGF) und eine RAS-MAP-Kinase-Signalkette einerseits und laterale Inhibition andererseits gesteuert.
Abb. 13.15a–c. Die Vulva-Entwicklung bei C. elegans. a In der seitlichen Ansicht ist ein Hermaphrodit im 3. Larvenstadium gezeigt (anterior ist links und ventral unten). Die Ankerzelle (engl. anchor cell; AC) befindet sich als Teil der Gonaden oberhalb von P6.p. b Die Stammbäume der Zellen P3.p – P8.p wurden aus direkten Beobachtungen der Zellteilungen in lebenden Würmern ermittelt; die primären, sekundären und tertiären Zellen sind mit den entsprechenden Ziffern gekennzeichnet und wurden aufgrund der Eigenschaften ihrer Abkömmlinge charakterisiert. S: Fusion mit Hyp7; L: Längsteilung und Anheftung an die ventrale Cuticula; T: Transversalteilung und Ablösung von der ventralen Cuticula; N: keine Teilung. Die gestrichelte Linie bei P3p deutet an, dass diese Teilung nur selten stattfindet. c Seitliche Ansichten ausgewachsener Hermaphroditen des Wildtyps sowie der Mutanten Multivulva und Vulvaless. Die Stammbäume der einzelnen ZellLinien sind unter b angegeben. (Nach Kornfeld 1997)
haben also dasselbe entwicklungsbiologische Potential. Das initiierende und auch über das weitere Zellschicksal entscheidende Signal zur Vulva-Entwicklung geht von einer Zelle aus, die als Ankerzelle bezeichnet wird und über der Zelle P6p liegt. Sie aktiviert durch den Epidermalen Wachstumsfaktor
13.3 Entwicklungsgenetik von Drosophila melanogaster Die Taufliege Drosophila melanogaster entwickelte sich in den letzten hundert Jahren zu dem StandardModellorganismus der Genetiker: Waren es zunächst die klassischen Mutations- und Kartierungsexperimente (T.H. Morgan in den 1930er und 1940er Jahren, s. Kap. 10 und 11), so kam es in den 1970er und 1980er zu einer Drosophila-Renaissance unter dem Stichwort Entwicklungsgenetik. Die Geschwindigkeit der Generationsfolge macht Drosophila so beliebt: Der gesamte Entwicklungszyklus von Eiablage zu Eiablage dauert bei 25 oC ca. 2 Wochen. Nur einen Tag beansprucht die Embryonalentwicklung, in vier Tagen werden die durch Häutungen getrennten Larvenstadien durchlaufen, 5 Tage dauert die Metamorphose zur Fliege in der Puppenkutikula (Abb. 13.16). So ist es auch nicht verwunderlich, dass das Genom von Drosophila zu den ersten gehörte, dessen vollständige Sequenz veröffentlich wurde (Adams et al. 2000; aktualisierte Versionen gibt es auf der ENSEMBL-Datenbank: http://www.ensembl.org/Drosophila_melanogaster). Das Genom umfasst 160 Mb (davon ca. 117 Mb Euchromatin) und ist damit eine Größenordnung kleiner als ein Säugergenom. Die ca. 14 000 Gene sind in 3
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Kapitel 13: Entwicklungsgenetik
während der Oogenese festgelegt werden. Hierbei handelt es sich nicht nur um die Hauptachsen des bilateralsymmetrischen Körpers des Embryos (also die anterior-posteriore und die dorso-ventrale Achse), sondern es werden gleichzeitig mit den Achsen auch die Hauptabschnitte der Längsgliederung der Embryonen (Kopf, Thorax, Abdomen) in ihrer relativen Position im Embryo vorprogrammiert. Erreicht wird das durch eine lokalisierte Positionierung von Molekülen im Cytoplasma des (unbefruchteten) Eies (s. S. 601). Die Frage nach den Mechanismen, die solchen Induktionsvorgängen zugrunde liegen, richtet sich im Wesentlichen auf zwei Aspekte: • Wie wird eine differenzielle räumliche Verteilung von Molekülen während der Oogenese erreicht? • Um was für Moleküle handelt es sich und wie sind diese Moleküle in der Lage, unterschiedliche Entwicklungswege von Zellen zu induzieren? Antworten auf diese Fragen ergaben die entwicklungsgenetischen Untersuchungen an Drosophila, die von Christiane Nüsslein-Volhard und Eric Wieschaus in den 1970er Jahren begonnen worden waren. Der wesentliche Ansatzpunkt dieser Arbeiten war die Feststellung, dass es möglich ist, frühembryonal wirksame Mutationen, die Veränderungen des Entwicklungsmusters des Embryos zur Folge haben, in eine hierarchische funktionelle Beziehung zueinander zu bringen. Auf diesem Wege gelang es, mehrere Gruppen von Genen zu charakterisieren, die für die Regulation aufeinanderfolgender Schritte der Differenzierung des Embryos verantwortlich sind. Für diese Arbeiten erhielten C. Nüsslein-Volhard und E. Wieschaus 1995 den Nobelpreis für Medizin. ! Es gibt cytoplasmatische Determinanten, die die
spätere Differenzierung von Zellen festlegen. Abb. 13.16. Lebenslauf von D. melanogaster. (Nach Müller u. Hassel 1999)
autosomalen Chromosomenpaaren und 1 Geschlechtschromosomenpaar organisiert (Adams et mult. al. 2002; http://www.flybase.org). Cytogenetische Untersuchungen werden durch das Auftreten von Riesenchromosomen in den Speicheldrüsen erleichtert. Die Forschung der letzten Jahre hat uns gezeigt, dass die wichtigsten grundlegenden morphologischen Eigenschaften eines Embryos bei Drosophila bereits
13.3.1 Keimbahnentwicklung und Geschlechtsdetermination bei Drosophila Die ersten Zellen, deren künftiges Schicksal in einem Drosophila-Embryo festgelegt wird, sind die Keimzellen. Nach der Befruchtung beginnt der Zygotenkern sich in schneller Folge in Abständen von etwa acht Minuten zu teilen und durchläuft zunächst sieben
13.3 Entwicklungsgenetik von Drosophila melanogaster
synchrone Kernteilungszyklen, ohne in diesem Entwicklungsabschnitt jedoch Zellen zu formen. Die hierdurch entstandenen 128 Zellkerne (auch Energiden genannt) liegen, von einer dünnen Lage Cytoplasma umgeben, im Dotter im Inneren des Eies. Sie teilen sich ein weiteres Mal (Teilung 8), und anschließend beginnen zwei bis sechs der Tochterkerne dieser Teilung ins posteriore Cytoplasma des Eies (auch Polplasma genannt) einzuwandern. Sie formen dort die Polzellen als Vorläufer der künftigen Keimzellen (Abb. 13.17 und Abb. 13.18). Das Polplasma ist durch granuläre Partikel (engl. polar granules) vom übrigen Cytoplasma unterschieden. Diese Granula enthalten die für die Keimzellinduktion verantwortlichen Moleküle (Keimbahndeterminanten). ! Die ersten in ihrem späteren Schicksal determi-
nierten Zellen sind bei Drosophila-Embryonen die späteren Keimzellen.
Alle übrigen, noch im Dotter liegenden Energiden entwickeln sich zu somatischen Zellen. Sie durchlaufen zunächst zwei weitere Kernteilungen (Teilungen 9 und 10) und wandern dann, ausgenommen etwa 25 Kerne, die die Dotterzellen bilden, ins periphere Cytoplasma. Hier formen sie das aus einer Lage von Kernen bestehende syncytiale Blastoderm, innerhalb dessen sie durch aktinhaltige Mikrofilamente und tubulinhaltige Mikrotubuli gegeneinander abgegrenzte Bereiche des Periplasmas besetzen. Es formen sich jedoch noch immer keine Zellen, sondern es werden in diesem syncytialen Zustand zunächst drei weitere nahezu synchrone Kernteilungen (Teilungen 11 bis 13) durchlaufen, die an den Polen des Embryos einsetzen und von hier aus wellenförmig zur Mitte hin fortschreiten. Sie ergeben schließlich eine einschichtige Lage von 5000 bis 6000 Kernen in der Peripherie des Eies. Erst zu diesem Zeitpunkt beginnt die Zellularisierung des Blastoderms durch die Ausbildung von Kernmembranen von der Peripherie des Eies her. Obwohl die Zellen zunächst noch zum Dotter hin offen bleiben, spricht man nun vom zellulären Blastoderm. Es folgt eine weitere Zellteilung (Teilung 14), der sich schließlich die Gastrulation anschließt. Erst mit Beginn der Gastrulation werden die inneren cytoplasmatischen Brücken zwischen den Zellen endgültig geschlossen, und die Zellen erlangen ihre volle Individualität.
! Nach einer Serie von Kernteilungen bildet sich im
Drosophila-Embryo zunächst ein syncytiales, dann ein zelluläres Blastoderm mit einer einschichtigen peripheren Lage von Zellkernen bzw. Zellen.
Die Polzellen (engl. pole cells oder polar buds) haben, nach zwei Zellteilungen, die synchron mit den Teilungen 9 und 10 der somatischen Zellkerne verlaufen und bereits zu diesem Zeitpunkt vollständig geschlossene Zellen ergeben, ihre weitere Entwicklung unterbrochen. Nach der Gastrulation wandern sie ins Mesoderm ein und treten mit dem hinteren Mitteldarm (engl. posterior midgut) in Kontakt. Im Laufe der weiteren Embryonalentwicklung werden sie zusammen mit mesodermalen Zellen der Abdominalsegmente 5 bis 8 (vielleicht auch ausschließlich mit solchen des 5. Abdominalsegmentes) in die Gonaden integriert. Allerdings geht der größte Teil der Polzellen im Ablauf dieser Entwicklungsprozesse verloren und degeneriert, so dass höchstens 10 bis 15 ehemalige Polzellderivate in den Gonaden zu finden sind. Hier bilden sie – oder wahrscheinlicher sogar nur einige von ihnen – die Stammzellen, die schließlich in mitotischen Teilungen goniale Zellen abspalten. Die mesodermalen Zellen der Gonadenanlagen formen die Hülle der Gonaden sowie interstitielle Zellen, vermögen jedoch keine Keimzellen zu bilden. Umgekehrt können auch einmal als Polzellen determinierte Zellen keine somatischen Zellen mehr ausbilden. ! Gonaden entwickeln sich aus Polzellen und aus
mesodermalen Zellen des Abdomens.
Die Differenzierung der männlichen Keimzellen von Drosophila unterscheidet sich im Prinzip nicht von der anderer Organismen (s. S. 647). Als eine Ausnahme ist jedoch zu erwähnen, dass im männlichen Geschlecht kein Crossing-over stattfindet und dass, wie zu erwarten, auch keine synaptonemalen Komplexe (s. S. 189) ausgebildet werden. Im Gegensatz zu den männlichen Keimzellen weist die Entwicklung der weiblichen Gameten von Drosophila, wie die einiger anderer Insekten, Besonderheiten auf. Die Oogonien entwickeln sich nämlich nicht ausschließlich zu Oocyten, sondern ein Teil von ihnen formt Nährzellen (engl. nurse cells), die das Wachstum
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Kapitel 13: Entwicklungsgenetik Stadium:
Gastrulation
1
6
2
7
3
8
syncytiales Blastoderm 4
9
zelluläres Blastoderm
5
Abb. 13.17. Die frühe Embryonalentwicklung von Drosophila. 1 Stadium 1: Befruchtetes Ei. 2 Stadium 2: Kernteilungen innerhalb des Dotters (ca. 1 Stunde nach der Befruchtung). 3 Stadium 3: Syncytiales Blastoderm. Polar buds sind zu diesem Zeitpunkt zu erkennen (ca. 90 Minuten n. B.). 4 Stadium 4: Syncytiales Blastoderm. Die Polzellen werden ausgebildet (ca. 150 Minuten n. B.). Die vergrößerten Ausschnitte der Kernregion zeigen verschiedene aufeinanderfolgende Stadien der Zellularisierung, die sich bis ins späte Stadium 5 hinziehen. 5 Stadium 5: Zelluläres Blastoderm mit den posterior gelegenen Polzellen (ca. 200 Minuten n. B.). 6 Stadium 6: Beginn der Gastrulation. Diese erfolgt unmittelbar nach Abschluss der Zellularisierung. Der Pfeil zeigt die Region der Mesodermein-
stülpung an (ca. 210 Minuten n. B.). 7 Stadium 7: Gastrulation. Verlagerung der Polzellen nach dorsal. Verlängerung des Keimstreifens (germ band extension). Ausbildung der Kopffurche (ca. 215 Minuten n. B.). 8 Stadium 8: Invagination des Entoderms und Einwanderung der Polzellen. Invagination des vorderen Mitteldarms (ca. 255 Minuten n. B.). 9 Stadium 9: Der Keimstreifen wird verdickt und verlängert sich weiter. Eine schwache mesodermale Segmentierung wird sichtbar. Die Entodermbildung setzt sich fort (ca. 285 Minuten n. B.). Die Segmentierung wird erst in den folgenden Stadien deutlich sichtbar. (Nach Wieschaus u. Nüsslein-Volhard 1986, CamposOrtega u. Hartenstein 1985 u. Lawrence 1992)
13.3 Entwicklungsgenetik von Drosophila melanogaster
Abb. 13.18a–h. Die Kernteilungen während der frühen Embryonalentwicklung von Drosophila. a Kernteilungszyklus 4, b Kernteilungszyklus 6, c Kernteilungszyklus 9 (etwa Stadium 3 in Abb. 13.17). Am posterioren Ende (rechts) beginnen sich die Polzellausstülpungen zu formen. d Zellzyklus 13 (etwa Stadium 4 in Abb. 13.17). Die Kerne befinden sich im Periplasma, ausgenommen nur wenige Dotterzellkerne. Die Polzellen sind deutlich zu erkennen. e Zellzyklus 14, Beginn der Zellularisierung, der unmittelbar (f) die Gastrulation folgt.
g Ana- und Telophasezellen aus f lassen den hohen Grad von Synchronisation benachbarter Zellen erkennen. Die Kerne sind an ihrer blauen Farbe zu erkennen. Die rote Färbung stammt von einem maternalen zellzyklusregulierenden Protein, Cyclin, das bis zur Gastrulation die Zellteilungen reguliert, mit der Gastrulation jedoch abgebaut wird (dunkle Bereiche in f) und durch zygotisch synthetisierte Proteine ersetzt wird. (Photos: Gabriela Maldonado-Codina aus Glover 1991)
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Kapitel 13: Entwicklungsgenetik
der Oocyten unterstützen, wie ihr Name andeutet. Außerdem tragen zur Entwicklung der Oocyten noch die somatischen Follikelzellen bei, die ihren Ursprung in den somatischen mesodermalen Zellen der Gonadenanlagen haben. Die Ovarien bestehen somit aus unterschiedlichen Zelltypen und werden auch als meroistische Ovarien bezeichnet. Sie unterscheiden sich von den holistischen Ovarien anderer Insekten, in denen sich alle Oogonien zu Oocyten weiterentwickeln und das Ovarium somit überwiegend aus wachsenden Keimzellen besteht. ! Stammzellen entwickeln sich bei Insekten mit
meroistischen Ovarien zu Oocyten und Nährzellen, die in der Eikammer von somatischen mesodermalen Follikelzellen umgeben werden.
Ein Drosophila-Ovarium ist in ein Bündel von Ovariolen gegliedert. In jeder Ovariole finden wir eine Reihe von Oocyten in unterschiedlichen Entwicklungsstadien, die sich in jeweils getrennten Eikammern befinden (Abb. 13.19a). Distal in jeder Ovariole findet sich zunächst ein nicht weiter untergliederter Bereich, der als Germarium bezeichnet wird.Am distalen Ende des Germariums liegen die Stammzellen, die durch eine mitotische Zellteilung eine primäre Oogonie und eine neue Stammzelle bilden. Jede dieser Oogonien teilt sich weitere vier Mal. Damit ist das Ende der mitotischen Aktivität der weiblichen Keimzellen erreicht. Zu diesem Zeitpunkt beginnen sich einzelne Eikammern auszubilden. Jede dieser Eikammern enthält alle 16 Zellen, die sich von einer gemeinsamen primären Oogonie herleiten, also klonalen Ursprungs sind. Eine dieser Zellen entwickelt sich als Oocyte weiter, während die übrigen 15 Nährzellen bilden. Innerhalb jeder Eikammer entwickelt sich mithin nur eine einzige Oocyte zum Ei. Da die Nährzellen sich von Oogonien ableiten, sind sie (im Gegensatz zu den Follikelzellen) ihrer Herkunft nach als Keimzellen anzusehen. Dieser ontogenetische Ursprung ist vielleicht deshalb von Bedeutung, weil von diesen Zellen der überwiegende Teil der genetischen Information für die Entwicklung der Oocyte geliefert wird (s. S. 598). Das Oocytengenom selbst vollbringt nur eine geringfügige eigene RNA-Syntheseleistung. Die 15 Nährzellen sind untereinander und mit der Oocyte durch cytoplasmatische Brücken verbunden. Die Lage der Oocyte in
Bezug zu den Nährzellen wird durch ihre Entstehung während der Zellteilungen festgelegt und bleibt im Laufe der Entwicklung erhalten. Sie liegt im proximalen Teil der Eikammer (Abb. 13.19b), dehnt sich jedoch im Laufe der Entwicklung immer mehr in distaler Richtung aus und füllt am Ende ihrer Entwicklung die gesamte Eikammer, während die Nährzellen degenerieren. Die insgesamt etwa 1000 Follikelzellen umschließen anfänglich die gesamte Eikammer (Abb. 13.19b). Ab Stadium 8/9 der Oogenese beschränken sie sich jedoch darauf, die wachsende Oocyte zu umgeben, um am Ende der Oogenese ebenfalls zu degenerieren. Einer der wichtigen Beiträge der Follikelzellen zur Entwicklung des Eies ist die Sekretion des Chorions, die mit einer Amplifikation der Choriongene in diesen Zellen verbunden ist, wie bereits früher dargestellt wurde (s. S. 533). Außerdem liefern sie wichtige Informationen für die Polarität des Embryos (s. S. 599). ! Die Nährzellen stehen über cytoplasmatische
Brücken untereinander und mit der Oocyte in Verbindung. Sie liefern den überwiegenden Teil der genetischen Information, die zur Entwicklung der Oocyte benötigt wird.
Eine wichtige Frage in diesem Zusammenhang ist, wie die Festlegung des Geschlechts bei Drosophila und damit die Entwicklung der Ei- und Samenzellen reguliert wird. T.H. Morgan hatte bei seinen Kreuzungsversuchen festgestellt, dass das Y-Chromosom von Drosophila keinen Einfluss auf das Geschlecht ausübt. Später erkannte man, dass das Geschlecht bei Drosophila durch das Verhältnis zwischen der Anzahl von X-Chromosomen und Autosomen bestimmt wird (Tabelle 13.1). Zugleich hatte es sich gezeigt, dass die Geschlechtsbestimmung bei Drosophila – im Gegensatz zum Menschen – ein zellautonomer Vorgang ist, der in jeder Zelle getrennt erfolgt. Diese Erkenntnis ließ sich aus der Untersuchung von genetischen Mosaiken gewinnen, deren Zellen sich in der Anzahl ihrer X-Chromosomen unterschieden. Aus der Analyse geschlechtsspezifischer phänotypischer Merkmale von Zellen ging hervor, dass das Geschlecht nicht nur eines Individuums, sondern auch das jeder einzelnen Zelle durch das Verhältnis (X:A) der Anzahl von X-Chromosomen zu Autosomensätzen bedingt wird. Mosaikfliegen, in denen bei einem diploiden Satz von
13.3 Entwicklungsgenetik von Drosophila melanogaster
Abb. 13.19 a,b. Grundzüge der weiblichen Gonaden und Entwicklung der Oocyte. a Schematische Darstellung der weiblichen Gonaden und der Eientwicklung von Drosophila melanogaster. Links unten: Ovar. Zwei Ovariolen sind abgelöst dargestellt. Rechts: einzelne Ovariole. Im distalen Bereich (anterior) befindet sich das Germarium mit den Stammzellen, den Oogonien, Cysten mit Oocyten, Nährzellen und Follikelzellen. An das Germarium schließt sich das Vitellarium mit den Eikammern an (ab Stadium S2). Die Differenzierung der Zellen in den Eikammern ist in b dargestellt. Die Orientierung der Oocyten relativ zur Ovariole ist aufgrund des Teilungsmechanismus stets gleich. b Entwicklung der Oocyte, Nährzellen und Follikelzellen in den Eikammern. S7: Nährzellen und Oocyte sind noch annähernd gleich groß, sie werden von einer Lage Follikelzellen umgeben. Pfeile deuten auf die interzellulären Brücken. S8: In der Oocyte beginnt die Dotterbildung und sie
nimmt an Größe zu. S9: Die anterioren Follikelzellen degenerieren, einige (Pfeil) wandern in Richtung auf das anteriore Ende der Oocyte. S10: Die Grenzzellen (border cells) haben ihre Lage am anterioren Ende der Oocyte erreicht. S11: (Frontalschnitt) Die Oocyte ist weiter gewachsen, während die Nährzellen beginnen zu degenerieren. Pfeil: Sich entwickelnder dorsaler Anhang. S12: (Frontalschnitt) Die Oocyte hat beinahe ihre endgültige Größe erreicht. Die dorsalen Anhänge entwickeln sich beiderseits der Nährzellkammer. Die Vitellinmembran wird von den Follikelzellen durch den perivitellaren Raum getrennt, der mit Flüssigkeit gefüllt ist. S13: (Frontalschnitt) Die Oocyte hat ihr endgültiges Volumen erreicht und wird durch die Vitellinmembran vollständig umgeben. S14: Die Kernmembran der Oocyte hat sich aufgelöst und das Chromatin liegt als Karyosphere in einem dotterfreien Bereich des Ooplasmas (Pfeil). (a,b: Nach King 1970)
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590
Kapitel 13: Entwicklungsgenetik
Tabelle 13.1.
Geschlechtsbestimmung bei Drosophila
Anzahl X-Chromosomen
a b
Anzahl Autosomensätze
X/A-Verhältnis
Phänotyp
3
2
1,5
Abnormale Weibchenb
4
4
1,0
Weibchen
3
3
1,0
Weibchen
2
2
1,0
Weibchen
3
4
0,75
Intersexa
2
3
0,67
Intersexa
2
4
0,5
Männchen
1
2
0,5
Männchen
1
3
0,33
abnormale Männchen
Intersexe sind Mosaike aus männlichen und weiblichen Zellen geringe Lebensfähigkeit
Autosomen (A/A) einzelne Zellen (oder Zellgruppen) ein X-Chromosom (X/0), andere Zellen (oder Zellgruppen) aber zwei X-Chromosomen (X/X) enthalten, bestehen daher aus männlichen und weiblichen Zellen. Sie werden als Gynander bezeichnet. Aus der Tabelle 13.1 ist ersichtlich, dass männliche Tiere durch ein X:A-Verhältnis 0,5, weibliche Tiere aber durch ein X:A-Verhältnis ≥ 1 charakterisiert sind. Liegt das Verhältnis zwischen 0,5 und 1, so erhält man Intersexe, deren einzelne Zellen entweder männlich oder weiblich sind. Es handelt sich bei diesen Intersexen um physiologische Mosaike, bei denen die unterschiedliche Geschlechtskonstitution der Zellen nicht durch ihre unterschiedliche genetische Konstitution bedingt wird. ! Die Geschlechtsbestimmung erfolgt bei Droso-
phila zellautonom auf der Grundlage des Verhältnisses der Anzahlen von X-Chromosomen relativ zu Autosomensätzen.
Diese Beobachtungen lassen erkennen, dass sich eine zentrale Frage der Geschlechtsbestimmung bei Drosophila darauf bezieht, welche molekularen Mechanismen es der Zelle ermöglichen, die Anzahl der vor-
handenen X-Chromosomen relativ zur Anzahl der Autosomenpaare zu ermitteln, und wie auf dieser Grundlage im anschließenden Differenzierungsprozess ein bestimmtes Geschlecht zur Ausprägung kommen kann.
Genetik der Geschlechtsbestimmung Den Schlüssel zur Aufklärung der Genetik der Geschlechtsbestimmung bei Drosophila haben eine Reihe von Mutationen geliefert, die entweder zu einer anderen Geschlechtsausprägung führen, als nach dem X:A-Verhältnis zu erwarten wäre, oder aber die Abwesenheit eines Geschlechtes in der Nachkommenschaft verursachen. Beispiele hierfür sind • das Gen Sex-lethal (Sxl), dessen Mutation entweder zum Fehlen weiblicher (loss-of-functionMutationen) oder männlicher Nachkommen (konstitutive Expression von Sxl) führen kann, • das Gen transformer (tra), dessen Mutation alle Nachkommen unabhängig von der X-Konstitution in Männchen verwandeln kann ebenso wie • das Gen transformer2 (tra-2), • das Gen double-sex (dsx), dessen Mutationen entweder zu Intersexen (bei Verlust des Gens) oder zu ausschließlich männlichen (Allel dsxM) oder
13.3 Entwicklungsgenetik von Drosophila melanogaster
ausschließlich weiblichen (Allel dsxF) Nachkommen führen können, und • das Gen intersex (ix). Die Analyse der epistatischen Eigenschaften dieser Gene relativ zueinander (s. S. 453) gestattete es, die hierarchische Abfolge ihrer Funktion im Geschlechtsbestimmungsprozess zu bestimmen: Sx → tra → dsx → Realisatorgene tra-2 ix Die Mutation eines vorgeschalteten Gens beeinflusst im Allgemeinen die Funktion eines in der Funktionskette nachfolgenden mutierten Gens nicht. Vielmehr wird der Phänotyp durch den Funktionszustand des jeweils niedrigsten Gens in der Regulationshierarchie bestimmt (dieses ist epistatisch über die Gene höherer Hierarchiestufen). Beispielsweise ist eine Doppelmutante X/X; tra/tra; dsxF/dsxF weiblich, obwohl eine homozygote tra-Konstitution eigentlich einen männlichen Phänotyp ergeben sollte. Umgekehrt ist ein Tier der Konstitution X/X; tra+/tra+; dsxM/dsxM männlich. Wenden wir uns nun der Frage zu, welches dieser Gene für die Festlegung des Geschlechtes einer Zygote verantwortlich ist. Als entscheidendes regulatorisches Schlüsselgen wurde das X-chromosomale Gen Sex-lethal identifiziert. Sein regulatorischer Einfluss erstreckt sich auf • die somatische Geschlechtsbestimmung, • die Geschlechtsbestimmung in der Keimbahn, und • die Dosiskompensation. Die entscheidende Funktion von Sxl ist die Regulation der Expression der entsprechenden nachgeordneten Gene (Abb. 13.20). Funktionell gesehen entspricht Sxl somit dem MAT-Locus der Hefe, der ja ebenfalls die für den Paarungstyp spezifischen Gene reguliert (s. S. 538). Allerdings sind die molekularen Mechanismen der Funktion beider Gene sehr verschieden. Nullmutationen von Sxl führen zum Absterben aller weiblichen Embryonen, und eine konstitutive Ausprägung des Gens im Embryo hat die ausschließliche Entwicklung von Weibchen zur Folge. Die Funktion dieses Gens im Embryo muss daher zur Ausprägung des weiblichen Phänotyps erforderlich sein. Durch mitotische Rekombination wurde gezeigt, dass Sxl im Blastodermstadium (s. S. 586) aktiviert wird
Abb. 13.20. Die Genetik der Geschlechtsdeterminierung bei Drosophila. Das auslösende Signal der Geschlechtsbestimmung ist das Verhältnis X:A. Im Weibchen wird das Sxl-Gen bei einem hohen X:A-Verhältnis in Zusammenwirkung (s. Abb. 13.22) mit dem maternalen Produkt des Genes da aktiviert. Das Sxl-Genprodukt sorgt für eine Induktion untergeordneter Schlüsselgene (tra, tra-2 und dsx). Als Folge dieser hierarchischen Kaskade von Genaktivitäten werden die geschlechtsspezifischen weiblichen Differenzierungsgene angeschaltet und die männlichen reprimiert (vgl. auch Säuger, Abb. 13.68)
591
592
Kapitel 13: Entwicklungsgenetik
und im Weibchen über die gesamte Entwicklung hinweg funktionell aktiv bleibt, während es im Männchen funktionell (aber nicht transkriptionell) inaktiv ist. Die funktionelle Aktivität von Sxl wird vom Geschlecht der Zelle bestimmt. Für die Festlegung des Geschlechts muss es einen molekularen Zählmechanismus geben, der das relative Verhältnis zwischen X-Chromosomen und den übrigen Chromosomen bestimmt. Wie aber ermittelt die Zelle dieses Zahlenverhältnis? Genetische Experimente haben gezeigt, dass es im hierzu erforderlichen Zählmechanismus zwei Arten von Genprodukten als Elemente gibt, die durch die Art ihrer Interaktion zu einer Aktivität oder Inaktivität des Sxl-Gens führen. Es handelt sich um sogenannte • Numeratorelemente (Zählerelemente) (engl. numerator) und • Denominatorelemente (Nennerelemente) (engl. denominator), vergleichbar den beiden entsprechenden Elementen eines mathematischen Bruches. Die Gene für Numeratorelemente (Zähler) sind im X-Chromosom lokalisiert, während die für Denominatorelemente autosomal sind und damit den Bezugswert (Nenner) für Numeratorelemente festlegen. Verringert sich die Anzahl der Numeratormoleküle in der Zelle relativ zu der Anzahl der Denominatormoleküle, so wird ein männlicher Phänotyp induziert, im entgegengesetzten Fall ein weiblicher.Als X-chromosomale Numeratorelemente haben genetische Untersuchungen, vor allem von T. Cline (1978) die Gene sisterless-a (sis-a), sisterless-b (sis-b) (nach neuen Einsichten identisch mit dem Gen scute-α (sc-α)) und runt (run) identifiziert. Ihre Funktion ist zumindest partiell additiv, denn eine erhöhte Dosis eines Gens kann eine reduzierte Aktivität eines der anderen Gene teilweise kompensieren. Das Auffinden von Denominatorelementen ist schwieriger, und ihre Existenz war lange Zeit hypothetisch, bis 1992 S. Younger-Shepherd und Kollegen das autosomale Gen deadpan (dpn) erkannten. Die genetische Komplexität des Zählmechanismus ist damit noch nicht erschöpft. Zur Funktion aller zuvor genannten Gene im Embryo (zygotische Funktion, s. S. 597) tritt noch die weiterer Gene hinzu, die bereits während der Oogenese exprimiert werden und somit eine maternale Funktion (s. S. 598) zeigen. Bereits lange bekannt ist das autosomale Gen daughterless (da), das mit sis-a und sis-b zusammen zur Aktivierung von Sxl im Embryo notwendig ist. Die Proteine DA und SISB bilden Heterodimere und
sind zur transkriptionellen Aktivierung von Sxl erforderlich. Eine Mutation von da zur Funktionslosigkeit (engl. loss-of-function) führt bei Homozygotie (da/da) in der Mutter zum Tode der Töchter (Name!), da Sxl nicht aktiv werden kann. Neuerdings hat man erkannt, dass in ähnlicher Weise das Produkt des Gens extramacrochaetae (emc) zusammen mit dpn als negativer Regulator von Sxl wirkt und zur Inaktivierung von Sxl im Männchen erforderlich ist, indem es inaktive Heterodimere mit DA oder SISB bildet. Außerdem liefert das Gen groucho (gro) einen negativen Regulator, der als Korepressor an das Denominatorprotein DPN binden kann und damit die Lebensfähigkeit der Männchen reduziert. ! Die Ermittlung des X:A-Verhältnisses bei der
Geschlechtsbestimmung erfolgt über X-chromosomale Numerator- (Zähler-) und autosomale Denominator-(Nenner-)elemente in Zusammenwirkung mit maternalen Genprodukten.
Damit haben wir zunächst auf der Basis genetischer Experimente die wichtigsten Gene beschrieben, die für die Geschlechtsbestimmung der Zygote notwendig sind. Wir wollen nunmehr die zugrundeliegenden molekularen Mechanismen der Geschlechtsbestimmung näher betrachten.
Molekulare Mechanismen der Geschlechtsbestimmung Der molekulare Mechanismus der Geschlechtsbestimmung in Drosophila ist in Abb. 13.21 dargestellt. Wie bereits aus den genetischen Experimenten deutlich wurde, nimmt das Gen Sxl eine zentrale Stellung ein. Die Aufklärung seiner molekularen Struktur hat gezeigt, dass es für ein weibchenspezifisches Protein mit RNA-bindenden Eigenschaften kodiert. Die Funktion dieses Proteins liegt in • der Autoregulation seiner Expression nach einer ersten Aktivierung im syncytialen Blastoderm und • in der Regulation untergeordneter Gene, die für die Geschlechtsdifferenzierung erforderlich sind (s. Abb. 13.20) durch Kontrolle des weibchenspezifischen Splicing von deren Transkripten.
13.3 Entwicklungsgenetik von Drosophila melanogaster
Für das Verständnis der Funktion von Sxl ist die Erkenntnis entscheidend, dass das Gen zwei Promotorelemente besitzt, einen frühen (PE) und einen späten (PL) Promotor (Abb. 13.21). Der frühe Promotor PE wird ausschließlich im weiblichen syncytialen Blastoderm gebraucht. Er ermöglicht die Produktion eines weibchenspezifischen Proteins. Nach dieser anfänglichen Aktivierung des frühen Promotors im frühen Blastoderm erfolgt zum Zeitpunkt der Zellularisierung (s. S. 586) eine Umschaltung in der Expression des Sxl-Gens, und es wird in allen späteren Entwicklungsstadien (wie auch im Männchen) ausschließlich vom späten Promotor PL aus transkribiert.
Abb. 13.21. Der Regulationsmechanismus der Geschlechtsbestimmung bei Drosophila. Feinstruktur und Funktion des Sxl-Gens als zentralem Schlüsselgen der Geschlechtsbestimmung in Drosophila. Das Gen besteht aus einem „frühen“ Exon (E1), drei „späten“ Exons (L1 bis L3) und weiteren Exons (4 bis 8). Als Regulationselemente sind zwei Promotorregionen (PL und PE) vorhanden. Im Weibchen induziert das X:A-Signal eine Initiation der Transkription während der frühen Entwicklung in PE, während dieser Promotor im Männchen nicht aktiviert wird. Das gebildet Sxl-Protein kontrolliert durch einen autoregulativen Splicingmechanismus die weitere Bildung von funktionellem Sxl-Protein, sobald der späte Promotor PL aktiviert wird. Im Männchen entfällt diese Splicingkontrolle durch das frühe Sxl-Protein. Als Folge davon findet sich im Männchen das Exon L3 in der mRNA. Da dieses Exon ein internes Translations-Stop-Codon besitzt, bricht die Proteinsynthese ab, und es wird kein funktionelles SxlProtein gebildet. (Nach Belote 1992 u. Bopp et al. 1991)
Die Transkription vom frühen Promotor PE von Sxl wird durch das weibchenspezifische X:A-Signal induziert. Die Genetik der Geschlechtsbestimmung hat erkennen lassen, dass dieses Signal durch ein Zusammenwirken von zygotischen Numerator- und Denominatormolekülen mit mütterlicherseits bereitgestellten Proteinmolekülen des daughterless-Gens vermittelt wird. Sowohl das da-Protein als auch das sis-b-Protein sind Mitglieder der HLH-Proteinfamilie (HLH: Helix-loop-Helix oder Helix-turn-Helix, Abb. 8.26). Solche Proteine sind uns bereits bei Bakterien und Phagen als DNA-bindende Regulationsmoleküle für die Kontrolle der Transkription begegnet. Ist der Titer der Numeratorproteine (sis-a, sis-b,
Im Weibchen:
P L L1 P E E1L2 L3 4
5
6
7
8
primäres Transkript Splicing frühe mRNA E1 4 5 6 7 8
Poly[A] SxI-Protein
primäres Transkript Splicing späte mRNA L1 L2 4 5 6 7 8
Autoregulatives Splicing
Poly[A] SxI-Protein
Im Männchen: TGA
P L L1 P E E1L2 L3 4
5
6
7
8
primäres Transkript Splicing späte mRNA L1 L2 L3 4 5 6 7 8
Poly[A] Defektes SxI-Protein
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Kapitel 13: Entwicklungsgenetik
run) deutlich höher als der der Denominatorproteine (u. a. dpn) (für X:A ≥ 1), so formen sich vorwiegend Heterodimere zwischen den Numeratorproteinen und dem da-Protein, die zur Aktivierung des frühen Sxl-Promotors PE imstande sind. Ist der Titer der Numeratorproteine relativ zum Titer der Denominatorproteine niedrig (für X:A ≤ 0,5), so formen sich vorwiegend Heterodimere zwischen den Numeratorund den Denominatorproteinen. Hierdurch werden die Numeratorproteine dem Initiationskomplex mit dem da-Protein entzogen und eine Initiation der Transkription am frühen Promotor PE kann nicht stattfinden. Die Aktivierung des frühen Promotors erfolgt ausschließlich in der frühen Embryonalentwicklung des Weibchens. Ist eine Initiation des Sxl-Gens am frühen Promotor PE erfolgt, so wird eine mRNA erzeugt, die für das weibchenspezifische Sxl-Protein kodiert (Abb. 13.22). Unabhängig von einer Transkription vom frühen Promotor aus wird etwa zum Zeitpunkt der Gastrulation der späte Sxl-Promotor PL aktiviert. Von ihm aus erfolgt über die gesamte Entwicklung hinweg und unabhängig vom Geschlecht der Zelle die Transkription von Sxl. Bei Anwesenheit des weibchenspezifischen Sxl-Proteins findet mit Hilfe dieses Proteins ein weibchenspezifisches Splicing der späten Transkripte statt. Hierzu ist außerdem das Gen sans fille (snf) erforderlich, das einen Splicingfaktor kodiert, der den Säuger-Splicingfaktoren U1A und U2B entspricht. Durch Entfernung des männchenspezifischen Exons 3 wird funktionelle mRNA für weiteres Sxl-Protein gebildet. Im Weibchen erfolgt daher nach einer anfänglichen geschlechtsspezifischen Initiation der Synthese des SxlProteins eine Autoregulation der Expression dieses Proteins, das zur Aufrechterhaltung des weiblichen Geschlechtscharakters notwendig ist. In Abwesenheit des Sxl-Proteins (im Männchen) hingegen bleibt das Exon 3 im Transkript erhalten. Da dieses Exon ein internes Stop-Codon (UGA) besitzt, kann im Männchen kein funktionelles Sxl-Protein gebildet werden. Der Autoregulationsmechanismus erfordert noch die Funktionsfähigkeit zweier weiterer Gene, femalelethal(2)d (fl(2)d) und virilizer (vir).
! Die Aktivierung der weibchenspezifischen Funk-
tion des Sex-lethal-Gens erfolgt an seinem frühen Promotor durch Bindung von Heterodimeren zwischen Numeratorproteinen und Proteinen des Gens daughterless. Ist die Menge an Numeratorproteinen im Verhältnis zu Denominatorproteinen (im Männchen) zu niedrig, so titrieren diese die Numeratorproteine durch die Bildung von Heterodimeren und verhindern dadurch die Bildung von Heterodimeren der Numerator- und daughterless-Proteine. Die Transkription vom frühen Promotor von Sxl ist damit nicht möglich.
Die Notwendigkeit einer Untergliederung der Aktivität des Sxl-Gens in zwei unterschiedliche Phasen, die durch unterschiedliche Regulationsmechanismen gekennzeichnet sind, wird unmittelbar verständlich, wenn wir uns in Erinnerung rufen, dass Sex-lethal nicht nur für die Geschlechtsbestimmung, sondern auch für die Dosiskompensation als Schlüsselregulationsgen erkannt worden ist. Der Dosiskompensationsmechanismus bewirkt bei Drosophila-Männchen eine Erhöhung der Aktivität X-chromosomaler Gene auf das Niveau der Expression der doppelten Gendosis im Weibchen. Dieser Mechanismus darf jedoch in der frühen Embryogenese (Blastoderm) noch nicht wirksam sein, da ja anderenfalls eine Festlegung des Geschlechts des Embryos durch das X:A-Verhältnis unmöglich wäre. Die Numeratorproteine wären dann in beiden Geschlechtern in gleicher Menge vorhanden. Würde andererseits der primäre Mechanismus der Aktivierung des Sxl-Gens über die gesamte Entwicklung bestehen bleiben, wäre bei Einsetzen einer Dosiskompensation ebenfalls die Ermittlung bzw. Aufrechterhaltung des männlichen Geschlechts durch die Dosiskompensation der Numeratorgenaktivität unmöglich. Die Umschaltung der Sxl-Expression von einem frühen zu einem späten Promotor in Zusammenhang mit der Autoregulation der Synthese von Sxl-Protein überwindet diese Schwierigkeit. Nach einer anfänglichen weibchenspezifischen SxlProteinsynthese sorgt das nunmehr vorhandene SxlProtein durch autoregulatives Splicing neusynthetisierter primärer Transkripte für seine kontinuierliche Synthese im Weibchen, und zwar unabhängig von der Menge an Numerator- oder Denominatorproteinmolekülen. Im Männchen ist durch das Fehlen der früh synthetisierten Sxl-Proteinmoleküle das Splicing der
13.3 Entwicklungsgenetik von Drosophila melanogaster Abb. 13.22. Molekularer Zählmechanismus zur Ermittlung des X:A-Verhältnisses. Hauptzählelemente sind die (autosomalen) Denominatormoleküle und die X-chromosomalen Numeratormoleküle. Beide werden zygotisch gebildet, während das da-Protein maternalen Ursprungs ist. Einzige Variable in diesem System sind die X-chromosomalen Numeratormoleküle. Befinden sie sich im Überschuss (bei X:A = 1) gegenüber den Denominatormolekülen, so können sie mit dem da-Protein Initiationskomplexe am frühen Promotor PE des Sxl-Gens bilden und die Transkription von Sxl induzieren. Sind sie nur in halber Menge vorhanden (X:A = 0,5), so werden sie von den Denominatormolekülen gebunden und Sxl bleibt inaktiv. Das Schema ist stark vereinfacht. (Nach Belote 1992)
primären Sxl-Transkripte, die vom PL-Promotor aus synthetisiert werden, unmöglich, so dass in der weiteren Entwicklung trotz Transkription des Sxl-Locus kein Sxl-Protein hergestellt wird. Die durch Sxl induzierte Dosiskompensation kann hingegen erfolgen. Die Regulation der Expression von Sex-lethal durch
HLH-Proteine weist eine auffallende Ähnlichkeit mit dem Schaltmechanismus von λ-Phagen zwischen einem lysogenen und lytischen Zyklus auf (s. S. 117). Es zeigt sich erneut, dass grundlegende Regulationsmechanismen von Eukaryoten evolutionär sehr alt sein können.
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Kapitel 13: Entwicklungsgenetik
! Nach anfänglicher Transkription von Sxl im Weib-
chen vom frühen Promotor aus, die durch den Zählmechanismus für das X:A-Verhältnis gesteuert wird, erfolgt eine Umschaltung des Transkriptionsbeginns auf den späten Sxl-Promotor. Die Transkription von Sxl wird damit vom X:A-Verhältnis unabhängig, da bei Anwesenheit von Sxl-Protein (im Weibchen) eine Autoregulation der Sxl-Proteinsynthese stattfindet. Bei Fehlen des Sxl-Proteins (im Männchen) wird kein Sxl-Protein synthetisiert. Hingegen setzt Sxl die Dosiskompensation durch Hyperaktivierung des männlichen X-Chromosoms in Gang.
Nachdem wir damit die Grundzüge des Geschlechtsbestimmungsmechanismus umrissen haben, wollen wir den Differenzierungsprozess männlicher und weiblicher Zellen weiter verfolgen. Wie die Abb. 13.23 zeigt, stehen eine Reihe sekundärer Kontrollgene unter der Regulationskontrolle des primären Schlüsselgens Sxl. Diese Kontrollgene regulieren ihrerseits diejenigen Gene (Realisatorgene), deren Funktion für den eigentlichen männlichen oder weiblichen sexuellen Differenzierungsprozess erforderlich ist. Das erste der unter der Kontrolle von Sxl stehenden Gene, transformer, zeigt auffallende funktionelle Parallelen in seiner geschlechtsspezifischen Expression mit der des Sxl-Gens. Aus dem primären Transkript des tra-Gens entsteht im Weibchen nach einer sequenzspezifischen Bindung des Sxl-Proteins am 3′-Ende des Exons 1 eine mRNA, die für das traProtein kodiert. Im Männchen fehlt das Sxl-Protein, so dass das primäre Transkript unter Verwendung der im Weibchen blockierten Schnittstelle in eine mRNA umgewandelt wird, die nur ein kurzes offenes Leseraster besitzt und kein tra-Protein bilden kann. Das traProtein wiederum ist im Weibchen zusammen mit dem tra-2-Protein erforderlich, um ein ordnungsgemäßes Splicing des double-sex-Transkriptes in eine weibchenspezifische mRNA zu gestatten. Fehlt das tra- oder das tra-2-Protein, wird das primäre doublesex-Transkript in eine männchenspezifische mRNA zerschnitten. Das tra-2-Protein wird zwar bei beiden Geschlechtern gefunden, ist aber allein nicht im Stande, die Geschlechtsentwicklung zu beeinflussen. Beide Proteine, tra und tra-2, sind Regulatorelemente für das Splicing und sind für die Bildung der Splicosomen verantwortlich,die für die Bildung der funktionsfähigen Form von Sxl im Weibchen sorgen.
Double-sex-Transkripte werden in männchenbzw. weibchenspezifische Proteine translatiert, die sich voneinander in ihren carboxyterminalen Bereichen unterscheiden. Diese Proteine spielen in der Regulation der Transkription der Gene (Realisatorgene) der männlichen oder weiblichen Geschlechtsdifferenzierung eine Rolle. Die dsx-Proteine sind anscheinend an der Repression der männlichen oder weiblichen Realisatorgene beteiligt. Das wird durch die Beobachtung angedeutet, dass Loss-of-functionMutationen von dsx (oder Deletionen des Locus) die Entstehung von Intersexen, die Mosaike männlicher und weiblicher Zellen sind, verursacht. Wahrscheinlich sind in den Zellen solcher Individuen Gene beider terminaler Geschlechtsdifferenzierungwege, des männlichen und des weiblichen, aktiv. Die Entscheidung über den sexuellen Charakter der einzelnen Zelle wird durch zufällige Unterschiede in der Expressionsintensität männlicher oder weiblicher Gene gefällt. Das im Geschlechtsbestimmungsmechanismus noch vertretene Gen intersex wird im Männchen nicht benötigt, wirkt aber im Weibchen offenbar an der Repression männlicher Realisatorgene mit. ! Sxl reguliert über eine Reihe weiterer Kontroll-
gene die Expression der geschlechtsspezifischen terminalen Realisatorgene. Bei dieser Regulation spielt geschlechtsspezifisches Splicing primärer Transkripte eine zentrale Rolle.
13.3.2 Maternale Gene Die Synthese von RNA, die während der Oogenese zur Entwicklung der Oocyte erforderlich ist, erfolgt in den polytänen Nährzellen und sie wird von den Nährzellen in die wachsende Oocyte transportiert. Das Oocytengenom weist nur geringfügige RNASyntheseaktivität auf und trägt daher selbst kaum Information zur Entwicklung der Oocyte bei. In den Nährzellen werden daher vermutlich maternale Gene transkribiert. Entscheidend für ihre Funktion ist es, dass sie zwar während der Oogenese transkribiert werden, ihre eigentliche Wirkung aber erst im Embryo, also in den Nachkommen, ausüben. Für diese Wirkung ist daher ausschließlich die mütterliche genetische Konstitution entscheidend, während
13.3 Entwicklungsgenetik von Drosophila melanogaster
Abb. 13.23. Kontrolle sekundärer Kontrollgene durch Sxl. Das Sxl-Protein gestattet im Weibchen ein Splicing der primären tra-Transkripte zu funktioneller mRNA. Das hiervon kodierte tra-Protein kontrolliert, zusammen mit dem tra-2-Protein, seinerseits das Splicing der primären Transkripte des dsx-Gens zum weibchenspezifischen dsxF-Protein. Dieses reprimiert die männchenspezifischen Geschlechtsdifferenzierungsgene und induziert die weibchenspezifischen Gene. Im Männchen formt
weder das Sxl- noch das tra-Gen ein funktionelles Protein, so dass auch das weibchenspezifische Splicing des dsx-Gens unterbleibt. Als Folge davon wird ein männchenspezifisches dsxM-Protein synthetisiert. Dieses reprimiert – analog zum weibchenspezifischen Genprodukt – die weibchenspezifischen Gene und induziert die männliche Geschlechtsdifferenzierung. (Nach Belote 1992)
die genetische Konstitution dieser Gene im Embryo für dessen eigene Entwicklung ohne Bedeutung bleibt.
Die wichtigsten maternalen Gene üben ihre Funktion im Embryo durch die ortsspezifische Lokalisation ihrer Genprodukte im Periplasma des Eies aus. Diese Genprodukte haben die Aufgabe, jeweils spezifische zygotische Gene in ihrer embryonalen Expression zu steuern. In der klassischen Embryologie hat man solche Genprodukte auch als morphogene Substanzen (oder einfach Morphogene) bezeichnet, da sie die Entwicklung bestimmter morphologischer Muster
! Bei den Genen, die für die Entwicklung des
Embryos erforderlich sind, unterscheidet man zwischen maternalen und zygotischen Genen.
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Kapitel 13: Entwicklungsgenetik
regulieren. Genen, die Moleküle mit der Funktion eines Morphogens kodieren, sind weitere (maternale) Gene zugeordnet, die für die korrekte Lokalisation des Morphogens im Ei sorgen. Die genetische Information der maternalen Gene wird, wie oben schon gesagt, in der Form von RNA durch die cytoplasmatischen Brücken, die diese Zellen untereinander verbinden, in die Oocyte überführt und dort in spezifischen Positionen des Cytoplasmas der Oocyte niedergelegt (s. Abb. 13.25). Einige andere maternale Gene sind in den Follikelzellen exprimiert, wie wir bei der Besprechung der Funktionen maternaler Gene noch sehen werden (s. S. 607). In diesem Fall gelangt die mRNA jedoch nicht in die Oocyte, sondern ihre Translationsprodukte dienen in anderer Weise der Differenzierung des Embryos. Der Transport der mRNA aus den Nährzellen in die Oocyte erfolgt offenbar mit Hilfe des Cytoskelettes der Nährzellen unter der Beteiligung von Myofibrillen und anderen Mikrofibrillen des Nährzellcytoplasmas. Dieser Transport bedarf der Mitwirkung bestimmter Gene, zu denen unter anderem das Gen chickadee gehört. L. Cooley zeigte 1992, dass bei dem Ausfall der Genfunktion von chickadee die Ausbildung des cytoplasmatischen Aktinnetzwerkes unterbleibt, das unter anderem die Nährzellkerne in einer festen Position verankert. Das Gen chickadee kodiert für Profilin, ein Protein, das für die Polymerisation von Aktin erforderlich ist. Durch die Störungen im Cytoskelett der Nährzellen wird der Materialtransport in die Oocyte weitgehend verhindert. ! Die maternalen Gene kommen vorwiegend in
den Nährzellen zur Expression und importieren ihre Produkte über ein cytoplasmatisches Transportsystem in die Oocyte. Die Konstruktion des Cytoskelettes bedarf der Mitwirkung spezifischer Gene.
Die Frage nach der Natur der maternalen Genprodukte, die in die Oocyte importiert werden, konnte durch die Untersuchungen beantwortet werden, die von W. Driever und C. Nüsslein-Volhard (1989) am Gen bicoid von D. melanogaster durchgeführt wurden. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen lassen den Schluss zu, dass ein Teil der maternalen Gene Moleküle (Morphogene) produzieren, die für die Organisation der anterior-posterioren und der dorso-ventralen Längsachse des
Embryos verantwortlich sind. Einige andere maternale Gene haben unterstützende Funktionen im Transport der mRNA der Morphogene oder liefern das Substrat, an dem die verschiedenen Morphogene in ihren jeweils charakteristischen Positionen im Cytoplasma des Eies verankert werden. ! Einige maternale Gene produzieren Morphogene,
deren Positionen im Eicytoplasma die Entwicklung des embryonalen Entwicklungsmusters bestimmen.
In Tabelle 13.2 ist eine Übersicht maternaler Gene mit einigen ihnen zugeordneten Genfunktionen zusammengestellt. Die Tabelle lässt erkennen, dass für die strukturelle Längsgliederung des Embryos drei verschiedene Gruppen von Genen erforderlich sind, zu denen jeweils ein Morphogen gehört. Diese drei Gruppen von Genen bestimmen (Abb. 13.24). • die anteriore Region, • die posteriore Region und • den Acron- und Telsonbereich (oder die Termini des Embryos). Eine weitere, vierte Gruppe von Genen ist für die Ausbildung • der dorso-ventralen Achse des Embryos verantwortlich. Die Anzahl der beteiligten Gene in jeder dieser vier Gruppen ist recht unterschiedlich. Die Genetik der posterioren Region ist komplexer als die des anterioren Körperabschnittes.Auch die dorso-ventrale Achse ist durch ein kompliziertes Zusammenspiel einer größeren Zahl von Genen gekennzeichnet. In beiden Fällen ist die Funktion mehrerer der beteiligten Gene noch unklar. Bemerkenswert ist aber, dass diese Gengruppen unterschiedliche Mechanismen zur Erfüllung ihrer Aufgaben gebrauchen, so dass wir sie getrennt betrachten müssen. ! Die Längsgliederung des Embryos erfolgt durch
Gengruppen, die eine anteriore, eine posteriore Region und die terminalen Regionen festlegen. Eine vierte Gruppe von Genen bestimmt die dorso-ventrale Achse.
13.3 Entwicklungsgenetik von Drosophila melanogaster anterior
posterior
terminal
bicoid
nanos
torso
APT
–PT
A–T
AP–
–––
A––
–P–
––T
Ac He Th Ab Te
Abb. 13.24. Morphologie embryonaler Mutanten von Drosophila melanogaster. Die obere Reihe von Schemata zeigt die im Wildtyp (links) aufgrund des Ausfalls in Mutanten identifizierten Regionen. Bei den Schemata der Mutanten ist die jeweils ausgefallene Region des Embryos hervorgehoben: anterior (links) mit Kopf (He) und Thorax (Th), posterior mit Teilen des Abdomens (Ab) und terminal mit Acron (Ac) und Telson (Te). Die mittlere Reihe der Schemata zeigt die bei den jeweiligen Mutanten gefundenen Phänotypen der Embryonen. Links: Wildtyp, zweite von links: anteriore Mutation (hier: bicoid), zweite von rechts: posteriore Mutation (hier: nanos) und rechts: terminale Mutation (hier: torso). Die untere Reihe von Schemata zeigt die embryonalen Phänotypen einer dreifachen Mutante (links) und von Doppelmutanten (alle übrigen), bei denen Gene, die in den angezeigten Regionen normalerweise aktiv sind, mutiert sind. Der Strich zeigt jeweils den Ausfall eines Gens an, das für die betreffende Region des Embryos erforderlich ist. A: anterior, P: posterior, T: terminal. (Aus Johnston u. Nüsslein-Volhard 1992)
Als Morphogene für die verschiedenen Regionen wurden aufgrund von Mutantenanalysen (Abb. 13.24) die Produkte der Gene bicoid für die anteriore Region und nanos für die posteriore Region identifiziert. Die terminalen Bereiche, also Acron und Telson, und die dorso-ventrale Achse werden durch andere Stoffwechselprozesse bestimmt, die über Signaltransduktionsmechanismen gesteuert werden. Zentrale Aufgaben in dieser Hinsicht hat das Genprodukt von dorsal als Morphogen der dorso-ventralen Achse und das Produkt des capicua-Gens (cic) als Morphogen für die terminalen Abschnitte des Embryos. Ein Vergleich dieser verschiedenen Morphogene wird uns erkennen lassen, dass einem Morphogen kein einheitlicher chemischer Charakter und keine einheitliche Funktion zugeschrieben werden kann. Verschiedene Morphogene haben vielmehr unterschiedliche Wirkungsweisen, so dass auch ihre unterschiedliche molekulare Natur verständlich wird. Die Definition des Begriffes Morphogen ist daher rein funktionell und bezieht sich auf die Fähigkeit einer Substanz, ein Spektrum von Reaktionen zu induzieren, die zur Entwicklung spezifischer Strukturen führen. Alle übrigen beteiligten Gene unterstützen die morphogenetischen Funktionen eines Morphogens. ! Vier Morphogene sind an der Festlegung der
Grundstruktur des Embryos beteiligt. Es handelt sich um die Produkte der Gene bicoid, nanos, dorsal und capicua.
Das zuvor skizzierte Modell der morphologischen Organisation eines Embryos geht davon aus, dass es im Eicytoplasma positionelle Information gibt, die für eine differenzielle Regulation zygotischer Gene sorgt und dadurch die unterschiedliche Differenzierung der Zellen in verschiedenen Bereichen des Embryos steuert. Wir wollen nun betrachten, um was für Moleküle es sich bei dieser positionellen Information handelt und wie sie die Regulation zygotischer Gene bewirken. Zunächst soll die Organisation des anterioren Abschnittes des Embryos, der Kopfund Thoraxregion, untersucht werden.
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Kapitel 13: Entwicklungsgenetik
Tabelle 13.2.
Genetik der Eientwicklung in Drosophila: Determinanten embryonaler Musterbildung
Genexpression in
Embryonales Muster: Termini Anterior
Follikelzellen (Somazellen)
torsolike
Nährzellen oder Oocyte
trunk fs(1)Nasrat fs(1)pole hole
(Keimbahnzellen)
Posterior
pipe nudel windbeutel exuperantia swallow staufen
(cappuccino) (spire) staufen oskar vasa
torsoa pumilio l(1)pole hole c
capicua
Dorsoventral
bicoid
b
hunchbackb nanos b
gastrulation defective snake easter spätzle valois tudor mago nashi Toll a tube pelle cactus dorsal b
Nach Johnston u. Nüsslein-Volhard (1992); Jiménez et al. (2000) a Gene der dorso-ventralen Achsendetermination und der Termini, die das zum Signaltransduktionsweg gehörende Transmembranprotein kodieren b Morphogene c Wirkung durch tor-vermittelte Hemmung der Repression (vgl. 13.3.5)
13.3.3 Anteriore Determinanten des Drosophila-Embryos Der maternale Ursprung der genetischen Information für die Organisation des anterioren Bereiches bedingt, dass der mütterliche Genotyp für die Entwicklung dieser Region im Embryo ausschlaggebend ist, nicht jedoch der des Embryos. Das lässt sich experimentell dadurch belegen,dass Mutationen in maternal aktiven Genen bei Homozygotie (im Falle rezessiver Mutationen) der Mutter (nicht jedoch des Vaters!) eine defekte Entwicklung des Embryos verursachen (Tabelle 13.3). Solche Effekte zeigen zum Beispiel Mutationen im Gen bicoid von D. melanogaster. Im Falle maternaler Homozygotie von Nullmutationen dieses Gens (bcd/bcd) fehlt dem Embryo der gesamte anteriore Bereich, der Kopf und Thorax umfasst. Es differenziert sich allein das Abdomen zusammen mit den Termini (Abb. 13.24). Ein solcher
Befund besagt zunächst natürlich noch sehr wenig über die tatsächliche Funktion des bicoid-Genes, da der Ausfall der anterioren Region auch ein indirekter Effekt sein könnte. Diese Möglichkeit einer indirekten Wirkung scheint dadurch unterstrichen zu werden, dass auch durch Mutationen in drei anderen Genen, swallow (swa), exuperantia (exu) und staufen (stau), in den entsprechenden homozygot mutanten mütterlichen Konstitutionen ganz ähnliche Defekte hervorgerufen werden wie durch bicoid. Zugleich wird uns aber durch die Identifikation mehrerer Gene des gleichen embryonalen Phänotyps deutlich, dass es durch die Analyse von Phänotypen möglich ist, Gruppen von Genen zu erkennen, die eine Rolle bei der Entwicklung bestimmter morphologischer Strukturen spielen (Tabelle 13.2). In unserem Beispiel lässt sich aufgrund der vergleichbaren Effekte der verschiedenen Mutationen annehmen, dass insgesamt vier Gene (bicoid, swallow, exuperantia, stau-
13.3 Entwicklungsgenetik von Drosophila melanogaster
Tabelle 13.3.
Folgen von Mutationen in maternal und embryonal aktiven Genen
Gentyp: Funktion:
maternale Gene (rezessiv) in der Mutter
im Embryo
Konstitution:
heterozygot
homozygot
heterozygot
homozygot
heterozygot
homozygot
Phänotyp:
normal
abnormal
normal
normal
normal
abnormal
fen) an der Organisation der anterioren Region des Embryos beteiligt sind.
zygotische Gene (rezessiv) im Embryo
Injektion von Cytoplasma aus der anterioren Region eines Wildtypembryos gerettet werden, in der das bicoid-Genprodukt vorhanden ist.
! Die Mutantenanalyse zeigt, dass an der Organi-
sation des Kopf- und Thoraxbereiches des Embryos eine Gruppe von vier Genen beteiligt ist, die bei Veränderungen ihrer Funktion gleiche phänotypische Auswirkungen zeigen.
Die funktionelle Abfolge der Funktionen der verschiedenen Gene einer solchen Gengruppe lässt sich durch die Überlegung ermitteln, dass beim Vergleich zweier mutierter Gene das jeweils übergeordnete Gen einen epistatischen Effekt über den Funktionszustand des untergeordneten Gens ausübt (vgl. S. 453). Wird ein Genprodukt durch Mutation so verändert, dass es seine normale Funktion auf Genprodukte, die in nachfolgenden Schritten erforderlich sind, nicht mehr ausüben kann, so ist eine Reversion dieser Mutation entweder durch Hinzufügen des funktionellen Genproduktes selbst oder durch geeignete Genprodukte, die nachgeordnet funktionell sind, nicht aber durch zuvor benötigte Genprodukte möglich. Bei der Untersuchung der Embryonalentwicklung von Drosophila haben wir besonders günstige Voraussetzungen für derartige Experimente vorliegen. Da während der gesamten Frühentwicklung ein Syncytium ohne diffusionshemmende Zellmembranen vorliegt, können Transplantationsexperimente durch Injektion von Cytoplasma mit dem gewünschten Genprodukt durchgeführt werden. Sind diese Genprodukte in der Lage, den Effekt einer Mutation zu kompensieren, sprechen wir von einer Rettung (engl. rescue) des Embryos. So kann im Falle eines bei der Mutter defekten bicoid-Gens der Embryo durch
! Die Hierarchie in der Funktion von Genen lässt sich aufgrund ihrer epistatischen Effekte ermitteln. Eine ausgefallene Genfunktion kann durch Zugabe des betreffenden Genproduktes, z. B. durch Injektion (Cytoplasmatransplantation), gerettet werden.
Solche Injektionsexperimente sind für den Nachweis entscheidend, dass ein Genprodukt mit morphogenem Charakter vorliegt. Im Falle der anterioren Region des Embryos war es für dessen Identifikation entscheidend, dass die Injektion von anteriorem Cytoplasma aus unbefruchteten Wildtypeiern in das anteriore Ende eines Eies einer homozygot mutanten bicoid-Mutter den Ausfall der anterioren Region im Embryo weitgehend kompensieren kann, nicht jedoch die Injektion von Cytoplasma aus swallow-, exuperantia- oder staufen-Mutanten. Die Annahme einer morphogenen Wirkung des bicoid-Genproduktes im Eicytoplasma wird zusätzlich dadurch gestützt, dass eine Injektion von anteriorem Cytoplasma aus Eiern von Wildtypweibchen auch in anderen Eiregionen eine Bildung von Kopfstrukturen induziert. Weiterführende Informationen über den Charakter des bicoid-Genproduktes und seine Funktion ergab die Isolierung dieses Genes und seine Nukleotidsequenzanalyse. Aus der Nukleotidsequenz des Gens war abzuleiten, dass es sich um ein Proteinkodierendes Gen handelt. Das Protein wurde aufgrund seiner Struktur als Transkriptionsfaktor der Homöoboxfamilie identifiziert (Abb. 8.26). Die Synthese von Proteinen dieses Gens in Bakterien ermöglichte die Herstellung eines Antiserums. Durch die
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602
Kapitel 13: Entwicklungsgenetik
Verfügbarkeit der DNA des bicoid-Gens und von Antiserum gegen das von ihm kodierte Protein konnten die Synthese und Lokalisation der Genprodukte während der Oogenese und im Embryo sowohl auf der mRNA-Ebene als auch auf der Proteinebene analysiert werden (Abb. 13.25). Diese Experimente bewiesen, dass die mRNA des bicoid-Proteins vom Stadium 6 bis 9 der Oogenese in den Nährzellen der Eikammer synthetisiert und von hier in den anterioren Bereich der Oocyte importiert wird. In der Oocyte bleibt die mRNA bis in die Embryonalentwicklung hinein nachweisbar. Das bicoid-Protein hingegen lässt sich immunologisch erst vom Zeitpunkt der Ablage des befruchteten Eies an nachweisen. Besonders auffallend ist seine Verteilung im Ei: Im syncytialen Blastoderm bildet dieses Protein einen deutlichen Gradienten über etwa 2/3 der Eilänge mit seiner höchsten Konzentration im anterioren Bereich des Embryos. Bemerkenswert ist auch die Lokalisation des bicoidProteins: Bis zum syncytialen Blastoderm befindet es sich im Cytoplasma, wandert dann aber in die Zellkerne ein. Hier übt es seine eigentliche Wirkung als Transkriptionsfaktor aus, indem es zygotische Gene reguliert, die zur Ausbildung der anterioren Region des Embryos erforderlich sind. Wichtige Aufschlüsse über die Funktion der verschiedenen Gene, die an der Organisation des anterioren Bereiches des Embryos beteiligt sind, hat die Analyse der Verteilung des bicoidAntigens in Embryonen aus homozygot mutanten exuperantia-, staufen- oder swallow-Müttern gegeben. In allen drei Fällen ist das bicoid-Protein nicht mehr im anterioren Bereich des Eies lokalisiert, sondern findet sich im gesamten Periplasma verteilt. Es hat sich zeigen lassen, dass diese drei Gene für die anteriore Lokalisation der bicoid-mRNA verantwortlich sind. Wodurch lässt sich beweisen, dass tatsächlich das bicoid-Gen das für die Ausbildung der anterioren Region verantwortliche Morphogen ist, nicht aber eines der Gene swallow, exuperantia oder staufen? Die zuvor beschriebenen Injektionsversuche mit anteriorem Cytoplasma zeigen ja nur, dass in diesem Bereich des Eies Substanzen lokalisiert sind, die die Induktion anteriorer Strukturen verursachen, ohne diese Substanzen selbst zu identifizieren. Die Antwort wurde durch die Injektionen von bicoid-mRNA in Embryonen gegeben. Sie zeigten, dass bicoid-mRNA ausreicht, um die Ausbildung anteriorer Strukturen zu induzieren.
Abb. 13.25a–c. Lokalisation des Morphogens bicoid im Drosophila-Ei. a Verteilung der maternalen bicoid-mRNA im syncytialen Blastoderm (in-situ-Hybridisierung). b Verteilung des bicoid-Proteins im zellulären Blastoderm (anti-bicoid-Protein-Antikörperfärbung). c Verteilung von hunchback-mRNA im zellulären Blastoderm (in-situ-Hybridisierung). Das hunchback-Gen wird durch das bicoid-Protein in seiner Transkription kontrolliert. (Aus Johnston et al. 1989)
Diese Induktion erfolgt nicht nur in der anterioren Region, sondern kann ektopisch beispielsweise auch in posterioren Embryobereichen erfolgen, wenn die Injektion hier erfolgt. Warum aber werden dann in swallow-, exuperantia- und staufen-Mutanten keine anterioren Strukturen im gesamten Eibereich ausgebildet, obwohl hier die bicoid-mRNA ja über das gesamte Ei verteilt ist? Die Antwort liegt in der Art der Verteilung des bicoid-Proteins: Seine Konzentration muss einen bestimmten Mindestwert erreichen, um eine induktive Wirkung zu erzielen.
13.3 Entwicklungsgenetik von Drosophila melanogaster
Mithin ist die Wirkung des Morphogens konzentrationsabhängig. Aufgrund dieser (und anderer hier nicht erörterter) Befunde lässt sich die Morphogenese der anterioren (also Kopf- und Thorax-)Region des Embryos zusammenfassend folgendermaßen beschreiben. Während der Oogenese wird mRNA der swallow-, staufen- und exuperantia-Gene in den Nährzellen synthetisiert. Die Produkte dieser Gene sorgen für einen Transport der bicoid-mRNA durch die interzellulären Brücken in die Oocyte und für deren Verankerung im Cytoplasma des anterioren Bereiches des Eies. Diese Verankerung im Cytoplasma verhindert eine Diffusion der bicoid-mRNA im Ei. Erst nach der Fertilisation des Eies beginnt die Translation der bicoid-mRNA. Das hierbei produzierte bicoid-Protein diffundiert nunmehr frei im Cytoplasma und verbreitet sich dadurch in einem Gradienten mit abnehmender Proteinkonzentration nach dem posterioren Pol des Embryos zu.
hinsichtlich seiner Lokalisation ganz analog dem bicoid-Gen: Die mRNA wird während der Oogenese in den Nährzellen synthetisiert und im posterioren Abschnitt des Eies deponiert.Wie die bicoid-mRNA,so wird auch die nanos-mRNA im Cytoplasma der posterioren Eiregion verankert. Hierfür sind noch die Produkte weiterer Gene (s. Tabelle 13.2) notwendig, die auch die Bildung der Polzellen induzieren. nanos kodiert für ein Protein, das nach seiner Synthese einen Gradienten in anteriorer Richtung bildet. Diese Verteilung scheint durch das pumilio-Genprodukt unterstützt zu werden. Im Gegensatz zum bicoid-Protein ist das nanos-Protein jedoch kein Transkriptionsfaktor. Seine Wirkung ist vielmehr die eines Repressors, der die Translation bestimmter mRNAs in der posterioren Region des Embryos verhindert. ! Am posterioren Pol des Eies bildet sich ein Proteingradient des nanos-Genproduktes aus, der ebenfalls von maternalen Genen während der Oogenese vorprogrammiert wird.
! Das Morphogen der anterioren Region eines Dro-
sophila-Embryos ist das bicoid-Protein, ein Transkriptionsfaktor der Homöoboxfamilie. Die mRNA von bicoid wird mit Hilfe der Genprodukte anderer maternaler Gene im anterioren Periplasma des Eies verankert. Nach ihrer Translation im Blastoderm bildet sich durch Diffusion ein Gradient des bicoid-Proteins.
Die Verteilung in Form eines Gradienten ist für die Funktion des bicoid-Proteins entscheidend. Bevor wir diese weiter verfolgen, wollen wir jedoch zunächst näher besehen,wie die Entwicklung in der posterioren Region der Oocyte und des Embryos bis zum Blastoderm verläuft.
13.3.4 Posteriore Determinanten und Ausbildung der anteriorposterioren Achse Aus Tabelle 13.2 ist ersichtlich, dass die Anzahl der maternalen Gene, die auf die Entwicklung des posterioren Teiles des Embryos Einfluss nehmen, größer ist als die Zahl der maternalen Gene in der anterioren Region. Eine dem bicoid-Protein vergleichbare Funktion als Morphogen hat das Gen nanos (nos). Dieses Gen ist das posteriore Morphogen und verhält sich
Nach der Ermittlung der genetischen Elemente, die an der Entstehung der embryonalen Längsachse beteiligt sind, müssen wir uns der Frage zuwenden, auf welchem Wege die beteiligten Gene die Regionalisierung des Embryos bewirken. Betrachten wir zunächst die Funktion des bicoid-Proteins. Die Funktion dieses Proteins als Morphogen für die anteriore Region des Embryos lässt sich dadurch demonstrieren, dass man die Anzahl der Genkopien von bicoid in der Mutter erhöht: Der vom bicoid-Protein erzeugte anteriorposteriore Gradient verschiebt sich in Richtung auf das posteriore Ende des Embryos (Abb. 13.26). Das resultiert im Embryo in einer Verschiebung der anterioren Region nach hinten, wie sich durch die Expressionsmuster zygotischer Gene, die in der anterioren Region transkribiert werden (s. Tabelle 13.2) zeigen lässt. Zumindest zwei zygotische Gene stehen direkt unter der Transkriptionskontrolle des bicoid-Proteins (Abb. 13.27). Eines dieser Gene ist das Gen hunchback (hb). Sein zygotisches Transkriptionsmuster entspricht dem des bicoid-Proteingradienten: Es wird nur im anterioren Bereich des Embryos aktiviert. Bei Fehlen des bicoid-Gradienten (z. B. in bcd/bcd-Mutanten) wird das Gen zygotisch im anterioren Bereich des Embryos nicht transkribiert. Die
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Kapitel 13: Entwicklungsgenetik bicoid+ -Dosis
Abb. 13.26. Die Ausdehnung des bicoid-Proteingradienten im Ei ist von der Gendosis von bicoid abhängig. (Aus Johnston u. Nüsslein-Volhard 1992)
bcd/bcd
0
bcd/+
bicoid-Konzentration
604
1
+/+
2
+/+ (2x)
4 100
0 % Eilänge
Länge der anterioren Domäne
Untersuchung des hunchback-Gens hat erwiesen, dass das Gen mehrere bicoid-Proteinbindungsstellen (Promotorregionen) in seiner 5′-upstream-Region besitzt. Diese Promotorregionen haben jeweils unterschiedliche Bindungsaffinitäten für das bicoid-Protein (Abb. 13.28). Die Bindung von bicoid-Protein an die verschiedenen Promotorregionen ist stark konzentrationsabhängig. Damit wird eine prinzipielle Funktion des bicoid-Proteingradienten im Embryo deutlich: Bindungsstellen niedriger Affinität für ein regulatorisches Protein erfordern eine hohe Konzentration des betreffenden Proteins, Bindungsstellen hoher Aktivität eine niedrigere Konzentration für dessen Bindung. Geht man davon aus, dass es mehrere Gene mit Bindungsstellen unterschiedlicher Affinität für das bicoid-Protein gibt, so wird verständlich, dass diese durch die unterschiedlichen bicoid-Proteinkonzentrationen entlang dem Gradienten differenziell reguliert werden können. Mithin wird die kontinuierliche Verteilung des bicoid-Proteins in einem diffusionsbedingten Gradienten in ein diskretes Muster unterschiedlicher Genaktivitäten umgesetzt. Der Gradient dient also dazu, eine bestimmte positionelle Information im Embryo zu schaffen, die in differenzielle Genaktivität umgesetzt wird. Wenn eine solche positionelle Information, die in einem Gradienten niedergelegt ist, tatsächlich eine
Bedeutung für die Entwicklung des Embryos hat, müssen wir annehmen, dass nicht allein hunchback durch das bicoid-Protein reguliert wird, sondern noch weitere Gene mit zumindest teilweise unterschiedlicher Affinität ihrer Promotorregionen zum bicoid-Protein. In Tabelle 13.2 sind weitere Gene aufgeführt, die für die Entwicklung der anterioren Region bedeutsam sind. Das zuvor beschriebene Modell der differenziellen Genregulation durch eine Kombination unterschiedlicher Konzentrationen von Transkriptionsfaktoren mit Promotorregionen unterschiedlicher Affinität lässt sich auch auf die Entwicklung der posterioren Region des Embryos anwenden. Wir hatten bereits gesehen, dass das nanos-Protein, das posteriore Morphogen, ebenfalls einen Gradienten, nun aber vom posterioren Ende des Embryos in anteriore Richtung, ausbildet (Abb. 13.27). Die Funktion des nanos-Proteins unterscheidet sich allerdings grundsätzlich von der des bicoid-Proteins. Das nanos-Protein wirkt als Repressor auf die Translation von mRNA; Ziel dieser Translationskontrolle ist insbesondere die mRNA des Gens hunchback (Struhl et al 1992; Schulz u. Tautz 1994). Die Transkription dieses Gens wird nämlich nicht allein durch den bicoid-Gradienten im anterioren Bereich des Embryos induziert, sondern hunchback wird bereits während des
13.3 Entwicklungsgenetik von Drosophila melanogaster
Abb. 13.27 a,b. Interaktion zwischen bicoid, nanos und hunchback. a Während bicoid die Transkription von hunchback induziert, reprimiert nanos die Translation der hunchback-mRNA. b Schematische Darstellung der Induktion und Repression. (Nach Gilbert 1991)
Oogenese transkribiert und man findet diese maternale mRNA gleichförmig über den gesamten Embryo verteilt. nanos-Protein dient offenbar dazu, die Translation von hunchback-mRNA im posterioren Bereich des Embryos zu reprimieren. Hierdurch wird wiederum die Transkription zweier zygotischer Gene, knirps und giant, ermöglicht, die für die Differenzierung der posterioren Region erforderlich sind (Abb. 13.32). Die Entwicklung der posterioren Region des Embryos verläuft nun im Prinzip vergleichbar der der anterioren Region: Durch Bildung eines Gradienten in der Verteilung eines Morphogens (posterior: nanos-Protein, anterior: bicoid-Protein) wird eine positionelle Information erzeugt, die anschließend
zur differenziellen Aktivierung von Genen ausgewertet wird. ! Der nach posterior abfallende Konzentrationsgra-
dient des bicoid-Proteins und der nach anterior abnehmende Gradient des nanos-Proteins bestimmen die räumliche Expression des hunchback-Gens im Embryo durch Induktion und Repression. Die Konzentrationsgradienten der Morphogene werden auf diese Weise in Genexpressionsmuster umgesetzt.
Bei dem Vergleich der molekularen Mechanismen, die bei der Ausbildung des anterioren und posterio-
605
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Kapitel 13: Entwicklungsgenetik Abb. 13.28. Einfluss der verschiedenen hunchback-Promotorregionen auf den anterioren Gradienten. bicoid ist jeweils homozygot mit dem Wildtypallel vorhanden. (Nach Johnston u. Nüsslein-Volhard 1992)
ren Gradienten wirksam sind, hat es sich herausgestellt, dass die Funktion der Morphogene in unterschiedlicher Weise verlaufen kann: • Das bicoid-Protein ist ein Transkriptionsfaktor, der in den Zellkernen des anterioren Blastodermbereiches an die Promotorregionen zygotischer Gene bindet und dadurch deren Transkription induziert. • Das nanos-Protein wirkt im Cytoplasma des posterioren Blastoderms als Repressor der Translation durch Bindung an spezifische mRNAs. Ein biologisch sehr interessanter Gesichtspunkt der Interaktion von nanos und hunchback soll hier nicht unerwähnt bleiben. Durch die Induktion von mütterlichen Keimbahnmosaiken, in denen die Funktion von hunchback ausgeschaltet ist, lassen sich Nachkommen erzeugen, in denen zugleich auch nanos nicht funktionell ist. Solche Embryonen entwickeln sich völlig normal zu fertilen Fliegen. Wir müssen daraus schließen, dass die Entwicklung des Abdomens und der Keimzellen der Gene hunchback und nanos eigentlich gar nicht bedarf. Vermutlich handelt es sich bei der hunchback-nanos-Interaktion um eine evolutionär bedingte Duplikation der Musterbildungsmechanismen des Embryos.
13.3.5 Die dorso-ventrale Körperachse Einem vollständig anderen Prinzip der Funktion eines Morphogens begegnen wir bei der Entwicklung der Termini des Embryos (Acron und Telson) und bei der Festlegung der dorso-ventralen Achse. Beide Differenzierungsprozesse machen von vergleichbaren molekularen Mechanismen Gebrauch. Diese sollen im Folgenden am Beispiel der Entwicklung der dorso-ventralen Achse dargestellt werden. Durch Veränderungen des Musters der dorsoventralen Morphologie in Mutanten konnten eine Reihe von Genen identifiziert werden, die an der Entwicklung der dorso-ventralen Symmetrie beteiligt sind (Tabelle 13.2). Ihre Mutation führt entweder • zu einer Dorsalisierung oder • zu einer Ventralisierung des Embryos. Morphologisch lassen sich diese Effekte besonders gut durch die Untersuchung der ventralen Kutikula erkennen, da hier normalerweise Reihen von Dentikeln (Härchen) gebildet werden. Diese Kutikularborstenreihen sind in dorsalisierten Embryonen verkürzt oder fehlen ganz.Anders als bei der Körperlängsachse lassen sich solche Mutationen nicht durch die lokalisierte Transplantation von Cytoplasma (oder durch
13.3 Entwicklungsgenetik von Drosophila melanogaster
Entfernen von Cytoplasma) kompensieren (retten). Das weist darauf hin, dass die Festlegung der dorsoventralen Achse im Gegensatz zur anterior-posterioren Körperachse nicht durch cytoplasmatische lokalisierte Determinanten im unbefruchteten Ei erfolgt. Als wichtige genetische Elemente des dorsoventralen Systems haben sich die Gene Toll und dorsal erwiesen. Beides sind maternal in der Keimbahn exprimierte Gene. Ihre Funktion bedarf weiterer maternaler Gene, von denen einige in den somatischen Zellen der Ovarien, den Follikelzellen aktiv sind. Das Genprodukt von Toll hat sich als ein Transmembranprotein erwiesen, das als Rezeptor für ein lokalisiertes externes Signal in der Eimembran vorhanden ist. Dieses Signal wird mittels des Transmembranproteins ins Zellinnere übertragen und leitet die spezifischen Genfunktionen ein, die zur Ausbildung der dorsoventralen Achse erforderlich sind. Die Lokalisation des Zielbereiches dieses Signals im Ei lässt sich aus dem Effekt von Mutationen von Toll ableiten. Loss-of-function-Mutationen führen zu dorsalisierten Embryonen, Gain-of-functionMutationen zu ventralisierten Embryonen. Die Gainof-function-Mutation bedarf also keines externen Signals, um die Übertragungsfunktion des Transmembranproteins auszuführen, sondern der Signaltransduktionweg ist konstitutiv aktiviert. Das normal wirksame Signal muss somit die ventrale Seite des Embryos definieren. Damit stimmt der Effekt der Loss-of-function-Mutation von Toll überein. Hier entstehen dorsalisierte Embryonen, d. h. das zur Entstehung der ventralen Seite notwendige Signal kann durch das Fehlen des Toll-Transmembranproteins nicht mehr ins Zellinnere übertragen werden. Ligand des Toll-Rezeptors ist ein Fragment des Genprodukts von spätzle. Auch das Gen dorsal wird während der Oogenese transkribiert und in ein Protein translatiert, das im gesamten Eicytoplasma bis zum syncytialen Blastoderm gleichförmig verteilt ist. Dann erfährt es eine auffallenden Veränderung seiner Lokalisation. Im ventralen Bereich des Embryos wandert es in die Kerne ein, während es im dorsalen Bereich im Cytoplasma verbleibt. Der molekulare Mechanismus für diesen Übergang vom Cytoplasma in den Zellkern ist in seinen Grundzügen bekannt: Die Bindung des extrazellulären Liganden (das Spätzle-Fragment) aktiviert den Transmembran-Rezeptor Toll, was dazu führt, dass das Tube-Protein die cytoplasmatische Serin/Threonin-Kinase Pelle aktiviert. Die Pelle-Akti-
vität wiederum kontrolliert den Abbau des CactusProteins, das mit dem dorsal-Protein einen Komplex im Cytoplasma bildet. Wenn Cactus in der Folge der Signalkette abgebaut wird, wird das dorsal-Protein frei und kann in den Zellkern eindringen, wo es die Transkription spezifischer Zielgene reguliert. Hierzu gehören die Gene twist und snail (Abb. 13.29). Wie bicoid kann dorsal daher als Morphogen angesehen werden. ! Die dorso-ventrale Achse des Embryos wird mit Hilfe eines Transmembranproteins und eines lokalisierten extrazellulären Signals in der Perivitellinflüssigkeit über einen Signaltransduktionsmechanismus festgelegt. Das Signal wird in den ventralen Follikelzellen der Eikammer gebildet. Signalempfänger als Morphogen ist das (maternale) dorsal-Protein im Eiperiplasma.
Der Lokalisationsmechanismus für das dorsal-Protein unterscheidet sich jedoch grundlegend von dem
Abb. 13.29. Differenzierung der dorsoventralen Achse des Drosophila-Embryos. Querschnitt durch ein frühes Gastrulationsstadium. Die ventralen Zellen sind mit einem Antikörper gegen das twist-Protein gefärbt. twist kodiert einen Transkriptionsfaktor mit einem Helix-loop-Helix-Motiv, der für die Mesodermentwicklung notwendig ist. Dieses zygotische Gen wird, wie auch snail, seinerseits durch das dorsal-Protein (ebenfalls ein Transkriptionsfaktor) aktiviert. (Aus Leptin u. Grunewald 1990)
607
608
Kapitel 13: Entwicklungsgenetik
des bicoid- und des nanos-Proteins. Während die anterior-posterioren Determinanten während der Oogenese in denjenigen cytoplasmatischen Regionen niedergelegt werden, die ihrer Funktion im Embryo bedürfen, erfolgt die endgültige Lokalisation von dorsal-Protein am Ort seiner Wirkung erst im Blastoderm unter Vermittlung eines Signaltransduktionsmechanismus. Nur die dorsal-Proteinmoleküle, die das Signal am Ende dieser Signaltransduktion empfangen, sind fähig, ihre intranukleäre Position zu erreichen. Für die Funktion dieses Mechanismus sind nicht nur die Keimbahnkomponenten der Oogenese entscheidend wie bei bicoid und nanos, sondern auch die somatischen Follikelzellen. Auch die Follikelzellen weisen eine topologische Differenzierung auf, die es ihnen gestattet, je nach ihrer Position relativ zur Oocyte den ventralen Bereich des Embryos festzulegen. Das verdeutlicht, welche entscheidende Bedeutung die topologische Organisation des Ovars für die Entwicklung des Embryos hat. Es ist auf dieser Grundlage einfach, die Entstehung der Termini der longitudinalen Achse des Embryos (Acron und Telson) zu verstehen. Sie unterliegen einem vergleichbaren Signaltransduktionsmechanismus wie die dorsoventrale Differenzierung. Im Falle der Termini funktioniert das Produkt des Gens torso als Transmembranrezeptorprotein. Auch torso wird während der Oogenese transkribiert. Das Genprodukt von torso-like hat sich als der Ligand des torso-Rezeptorproteins erwiesen. Es wird von einer kleinen Gruppe von Follikelzellen an den Polen der Oocyte synthetisiert, in die Perivitellinflüssigkeit ausgeschieden und aktiviert an den Polenden den Rezeptor Torso, der gleichmäßig in der Plasmamembran verteilt ist. Der Ligand wird nach seiner Freisetzung nur über eine kurze Distanz diffundieren, da er durch die Bindung an die extrazelluläre Domäne des Rezeptors schnell weggefangen wird. Durch diesen Mechanismus wird die RezeptorTyrosinkinase-Aktivität von Torso nur an den beiden Eipolen stimuliert, die daraufhin eine Ras-Raf-Signalkaskade in Gang setzt. Die Mitglieder dieser evolutionär stark konservierten Signalkette sind wiederum Kinasen, die hier das Genprodukt von capicua (Gensymbol cic), einen Transkriptionsrepressor, so modifizieren, dass die zygotischen Gene tailless und huckebein an den terminalen Bereichen des Embryos exprimiert werden können. Cic wird überall im Embryo exprimiert und wirkt, wenn er nicht wie an den Enden durch das Torso-Signal
gehemmt wird, zusammen mit Groucho (Gro) als Repressor von tailless und huckebein (Jiménez et al. 2000). ! Auch die Termini des Embryos werden mit Hilfe
eines Signaltransduktionsmechanismus festgelegt, der von dem Transmembranprotein des Gens torso und seinem Liganden (Gen: torso-like) Gebrauch macht. Der Ligand wird in Follikelzellen gebildet, die an den Eipolen liegen. Durch Torso, eine RezeptorTyrosin-Kinase, wird ein Trankriptionsrepressor, capicua (Gen: cic), gehemmt, so dass die zygotischen Gene tailless und huckebein spezifisch an den Termini exprimiert werden können.
Die Darstellung der Achsenentwicklung des Drosophila-Embryos hat uns gelehrt, wie eine kleine Gruppe von etwa 30 Genen eine positionelle Information im Ei aufbauen kann, die die Entwicklung des Embryos in seinen Grundcharakteren festlegt. Die Interaktion dieser Gene resultiert in der Bereitstellung spezieller Transkriptionsfaktoren, die spezifische Muster von Genaktivitäten im Embryo induzieren und damit seine weitere Entwicklung festlegen. Die Aufklärung dieser grundlegenden Vorgänge biologischer Entwicklungsprozesse wurde durch die beeindruckende Kombination genetischer, morphologischer, cytologischer und molekularer Techniken möglich. Obwohl die hier dargestellten Mechanismen speziell den Drosophila-Embryo betreffen, können wir annehmen, dass vergleichbare Mechanismen auch bei der Embryogenese anderer Organismen eine grundlegende Rolle spielen.
13.3.6 Segmentierung bei Drosophila In den vorangegangenen Abschnitten haben wir uns mit der Entstehung der positionellen Information für die embryonalen Achsen beschäftigt. Nun wollen wir uns der Frage zuwenden, welche Aufgaben diese positionelle Information im Embryo im Einzelnen erfüllt. Wir haben gesehen, dass die Verteilung des bicoidund des nanos-Proteins im syncytialen Blastoderm (Abb. 13.27), durch ihre jeweiligen Konzentrationen drei Regionen des Embryos definieren: • eine anteriore, die durch eine hohe Konzentration des bicoid-Proteins gekennzeichnet wird,
13.3 Entwicklungsgenetik von Drosophila melanogaster
• eine posteriore mit einer hohe Konzentration des nanos-Proteins und
• eine mittlere Region, die durch niedrige Konzen-
trationen (oder Abwesenheit) dieser beiden Proteine charakterisiert ist. Welche Bedeutung hat diese Verteilung?
Der Embryo von Drosophila wird stufenweise in kleinere Längseinheiten unterteilt, deren niedrigstes Niveau die Segmente sind (Abb. 13.30). Segmente sind die charakteristischen Bauelemente des Grundbauplanes der Articulata. In der hierarchischen Folge der verschiedenen Gengruppen, die für diese Längsgliederung des Embryos verantwortlich sind (Abb. 13.31), sind • Genen, die die Segmentstruktur festlegen und daher auch Segmentpolaritätsgene heißen (engl. segment polarity genes), • Regulationsgene übergeordnet, die Längseinheiten in der Größe von Doppelsegmenten definieren. Diesen Genen, auch Paarregelgene (engl. pair rule genes) genannt, • sind wiederum andere regulative Gene funktionell übergeordnet. Sie sind für die grobe Untergliederung des Embryos zuständig. Diese Gene werden als Gapgene (engl. gap, Lücke) bezeichnet, da ihr Ausfall zu jeweils spezifischen strukturellen Lücken in der anterior-posterioren Organisation des Embryos führt. ! Der Drosophila-Embryo wird unter der Kontrolle
verschiedener Gruppen von Genen allmählich in Segmente unterteilt. Diese bilden die Grundstruktur des Körpers für die weitere Differenzierung.
Gapgene Gapgene haben ihre Bezeichnung daher erhalten, dass bei Ausfall dieser Gene (Loss-of-function-Mutationen) bestimmte Regionen des Embryos nicht ausgebildet werden. Zu ihnen gehören die folgenden sechs Gene, deren Mutation zum Fehlen oder der abnormalen Entwicklung der dabei vermerkten Regionen des Embryos führt: • hunchback (hb): Deletion von Kopf und Thorax; • Krüppel (Kr): Deletion von Thorax und vorderen Abdominalsegmenten;
14 1 2 13 3 4 5 6 7 8 9 10 1112
Ma Mx Lb T1 T2 T3 A1 A2 A3 A4 A5 A6 A7 A8
Abb. 13.30. Die Segmentstruktur von Drosophila. Bereits im Blastoderm (oben) sind die Segmentpositionen festgelegt. Abhängig von der gewählten Terminologie unterscheidet man im Allgemeinen 14 Parasegmente oder 14 Segmente. Die Segmente sind in der Larve (Mitte) wie auch in der Fliege (unten) deutlich sichtbar. Die Parasegmentgrenzen (blaue Linien), die entwicklungsphysiologisch definiert sind, liegen nicht ganz in der Mitte zwischen den Segmentgrenzen (punktierte rote Linien). Es werden drei Kopfsegmente (Ma Mandibel, Mx Maxillen, Lb Labium), drei Thoraxsegmente (T1 Prothorax, T2 Mesothorax, T3 Metathorax) und acht Abdominalsegmente unterschieden. Im Grundplan der Insektensegmentierung kommen noch zusätzliche Kopfsegmente und terminale Bereiche hinzu. (Nach Lawrence 1992)
• • • •
knirps (kni): Deletion des Abdomens; giant (gt): Kopf und Abdomendefekte; tailless (tll): Defekte der Termini; huckebein (hkb): Defekte der Termini.
Alle diese Gene kodieren für Transkriptionsfaktoren. Das von kni kodierte Protein trägt eine Leucin-Zipper-Region, die von anderen Transkriptionsfaktoren her bekannt ist. Die übrigen fünf Gene gleichen
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Kapitel 13: Entwicklungsgenetik
Parasegmente
14 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 111213
Gapgene eve ftz en
Paarregelgene Segmentpolaritätsgene
Abb. 13.31. Genetische Grundlage der Segmentierung von Drosophila. In einer hierarchischen Folge werden zunächst die Gapgene, dann die Paarregelgene und schließlich die Segmentpolaritätsgene aktiv. Sie untergliedern den Embryo in stets kleinere Untereinheiten. Als Beispiele für Gapgene sind die Aktivitätszonen von hunchback (hbk) (magenta), Krüppel (Kr) (blau) und knirps (kni) (grün) angegeben. Paarregelgene sind even-skipped (eve) (grün) und fushi tarazu (ftz) (rosa), die in einem gegeneinander versetzten Muster zur Ausprägung kommen (vgl. Abb. 13.35). Als Segmentpolaritätsgen ist die Aktivität von engrailed (en) dargestellt
dem Transkriptionsfaktor TFIIIA und besitzen als DNA-bindende Region einen Zink-Finger-Bereich (Abb. 8.26). Die Analyse der Funktion der Gapgene beruht vor allem auf der Untersuchung der Auswirkungen von Mutationen in den betreffenden Genen und auf der Transplantation von Cytoplasma. Sie hat das folgende, hier nur grob umrissene Bild ihrer Wirkung im frühen Embryo ergeben. Es soll am Beispiel von hunchback und Krüppel dargestellt werden, wie es vor allem von H. Jäckle und Mitarbeitern erarbeitet wurde (Übersicht in Rivera-Pomar u. Jäckle 1996). Die Expression von hunchback wird nach dem 10. Kernteilungszyklus im Embryo durch das bicoid-Protein induziert, wie man es vom bicoid-Protein in seiner Eigenschaft als Transkriptionsfaktor erwartet. Die Transkription erfolgt nur in dem vorderen Bereich des Embryos, der dem Bereich des anterioren bicoid-Gradienten entspricht (Abb. 13.28). Zusätzlich erfolgt noch eine Transkription im posterioren Bereich des Embryos, die durch das Gen torso (s. S. 608) induziert wird. Die Expression von Krüppel hingegen ist auf einen mittleren Bereich des Embryos beschränkt. Diese Region entspricht der Region des Embryos mit den niedrigsten Konzentrationen von bicoid- und nanos-Protein (s. S. 605), so
dass diese beide Proteine offenbar als Repressor von Krüppel wirken: Die Expression von Krüppel wird sowohl durch das bicoid-Protein als auch durch das nanos-Protein unterdrückt. Die Aktivierung und Repression von Krüppel steht zudem unter der Kontrolle des vom hunchback-Protein geformten Gradienten. Die hunchback-Proteinkonzentration nimmt auch Einfluss auf andere Gapgene. Damit wird das hunchback-Protein selbst zum Morphogen, das die Expression anderer Gene konzentrationsabhängig reguliert. ! Gapgene kodieren Transkriptionsfaktoren, deren
Lokalisation und Aktivität durch die Konzentration der anterior-posterioren Achsendeterminanten (Morphogene) und durch gegenseitige Repression bestimmt wird. Sie erzeugen eine grobe Untergliederung der Längsachse des Embryos.
Wir erkennen aus diesem vereinfacht wiedergegebenen Regulationsmodell, dass im Embryo eine intensive Verknüpfung verschiedener regulativer Genfunktionen erfolgt. Wie schon bei den primären maternalen Achsendeterminanten, so ist auch bei den zygotischen Gapgenen festzustellen, dass die Proteinkomponenten, die von ihnen kodiert werden, einer gewissen Diffusion im Cytoplasma des syncytialen Blastoderms unterliegen. Die Abgrenzung der verschiedenen, von ihnen kontrollierten Regionen des Embryos ist daher nicht sehr scharf. In diesen Grenzregionen kommt es zu Interaktionen zwischen den verschiedenen Transkriptionsfaktoren mit den durch sie regulierten Genen. Diese Interaktionen sind für die endgültige Festlegung der Grenzen der verschiedenen strukturellen Bereiche des Embryos wichtig. Es soll noch erwähnt werden, dass für die Organisation der Abdominalsegmente, die nicht unter der Kontrolle des Krüppel-Gens stehen, das Gen knirps (kni) verantwortlich ist, das die Abdominalsegmente 7 bis 12 unter seiner Kontrolle hat (s. auch S. 611). Abb. 13.32 und 13.33 geben eine Zusammenfassung der Funktionen der verschiedenen Gapgene. Aufgabe der verschiedenen Gapgene ist, wie wir aus dieser Darstellung erkennen, eine grobe Untergliederung der anterior-posterioren Achse auf der Grundlage der von den maternalen Morphogenen bicoid und nanos vorgegebenen Gradienten.
13.3 Entwicklungsgenetik von Drosophila melanogaster
T
A
P
T
1 2 13 14 3 4 5 6 7 8 9 101112
Kopf
Thorax
Md Mx La
T1
T2
Abdomen
T3 A1 A2
A3 A4 A5
Telson A6
A7 A8
hb
gt
hb Kr
hkb
kni hb*
gt*
gt
Aktivität
Abb. 13.32. Wirkungsbereiche der Gapgene im Embryo. In der Grobgliederung des Embryos werden die terminalen Bereiche (T) vom anterioren (A) und vom posterioren (P) Bereich unterschieden. Die Aktivitätsbereiche der verschiedenen Gene verschieben sich z.T. im Laufe der Entwicklung. Spätere Muster sind durch ein * gekennzeichnet. Als Gapgene sind als zygotische Gene angegeben: giant (gt), hunchback (hb), Krüppel (Kr), knirps (kni), tailless (tll) und huckebein (hkb) sowie das maternale Gen bicoid (bcd). Zusätzlich sind die Expressionsbereiche der Paarregelgene hairy (h) (rot) und even-skipped (eve) (grün) dargestellt. (Nach Pankratz u. Jäckle 1990)
tII bcd
% Eilänge
60
40
20
0 h eve
Abb. 13.33a–c. Expression verschiedener zygotischer Gapgene im frühen Drosophila-Embryo. Die Expression der Gene im Wildtyp-Embryo ist durch in-situ-Hybridisierung dargestellt. a Das Gen hunchback ist im anterioren Bereich und in
einer begrenzten posterioren Region des Embryos aktiv. b Das Gen Krüppel ist in einer mittleren Region des Embryos aktiv. c Das Gen knirps ist in einem mittleren Bereich, etwas posterior von Krüppel, aktiv. (Photos: D. Tautz, Köln)
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Kapitel 13: Entwicklungsgenetik
Interaktion zwischen Gap- und Paarregelgenen Mutationen in Paarregelgenen führen zum Verlust der Hälfte aller Segmente. Das bedeutet, dass Paarregelgene die Ausbildung jedes zweiten Segmentes kontrollieren. Hierbei fehlen in Mutanten jeweils die Segmente, in denen das mutierte Paarregelgen normalerweise zur Ausprägung kommt. Die meisten, wenn nicht alle Paarregelgene kodieren wie die ihnen übergeordneten Gapgene wiederum Transkriptionsfaktoren. Jedes der Paarregelgene wird durch bestimmte Gapgene in seiner Transkription kontrolliert. Ihr embryonales Genaktivitätsmuster lässt sich durch insitu-Hybridisierung am Embryo besonders schön darstellen (Abb. 13.35), da die Aktivität durch die Ausbildung von transversalen Streifen angezeigt wird. Diese Genaktivität der verschiedenen Paarregelgene erfolgt für unterschiedliche Paarregelgene phasenverschoben relativ zum Segmentmuster, so dass ihre Wirkungsbereiche insgesamt 15 solcher embryonalen Regionen definieren. Primäre Zielgene der von den Gapgenen kodierten Transkriptionsfaktoren sind die Paarregelgene hairy (h), even-skipped (eve) und runt (run). Deren Promotoren können durch unterschiedliche Konzentrationen der Transkriptionsfaktoren differenziell reguliert werden, so dass hierdurch eine regionale Feinregulation der Genexpression möglich wird. Die Bildung von Diffusionsgradienten der Transkriptionsfaktoren im Cytoplasma ermöglicht also bei unterschiedlichen relativen Konzentrationen der verschiedenen Proteine unterschiedliche Induktionsmuster der Gene. Verschiedene Zellen sind durch ihre jeweils spezifische Kombination von Regulationssignalen individuell gekennzeichnet. Die Art der Interaktion zwischen Gapgenen und Paarregelgenen lässt sich am Beispiel der drei Gene Krüppel, knirps (Gapgene) und hairy (Paarregelgen) darstellen (Abb. 13.34). Der sechste der durch h verursachten Expressionsstreifen wird durch ein bestimmtes Verhältnis der Kr- und kni-Proteine hervorgebracht (Abb. 13.32 und Abb. 13.34a). In kni-Mutanten, die keine Expression von kni zeigen, bildet sich der sechste h-Streifen gar nicht (Abb. 13.34b), in Kr-Mutanten erstreckt sich der h-Streifen über einen viel weiteren Bereich des Embryos als im Wildtyp (Abb. 13.34c). Verschiebt man experimentell das Kr-Epressionsmuster nach
posterior, z. B. durch ektopische Expression, die durch einen anderen Promotor erzielt wird, so entfällt die h-Expression wiederum (Abb. 13.34d). Aus diesen Versuchen lässt sich ableiten, dass das KrProtein als Repressor auf das h-Gen wirkt, das kniProtein aber als Aktivator. Wie bereits am Beispiel der bicoid-hunchback-Interaktion gezeigt, spielen hierbei Bindungsaffinitäten der multiplen Promotorbereiche eine entscheidende Rolle. Das Kr-Protein bindet trotz seiner niedrigen Konzentration mit hoher Affinität an ein h-Regulationselement, während das kni-Protein zu seinem zugehörigen Kontrollelement im h-Gen nur mit niedriger Affinität bindet. Die Transkription wird daher nur bei hoher kni-Proteinkonzentration initiiert. Steigende Kr-Proteinkonzentration (Abb. 13.34d) hingegen blockiert diese Transkription. Vergleichbare Mechanismen lassen sich für andere h-Streifen feststellen. Beispielsweise werden die Streifen 3 und 4 durch hohe Kr-Proteinkonzentrationen induziert. Diese Darstellung der Interaktionen von Gap- und Paarregelgenen ist zwar stark vereinfacht, lässt uns aber das Prinzip der regulativen Interaktionen deutlich werden. Die Ausbildung der Expressionsstreifen wird nicht allein durch die Konzentration der Gapgenprodukte gesteuert, sondern gleichzeitig auch durch gegenseitige Repression der Paarregelgenprodukte. So regulieren die primären Paarregelgene hairy, even-skipped und runt die Paarregelgene paired und fushi tarazu (ftz). Das evenskipped-Protein kontrolliert die Expression von fushi tarazu. Aktivierungsund Inhibitionseffekte der Paarregelgene und der Gapgene zusammen ermöglichen also die Bildung von Zonen alternierender Genexpression der Paarregelgene und führen gleichzeitig zu einer Verschärfung der gegenseitigen Abgrenzungen der Wirkungsbereiche dieser Gene. Einen Eindruck von der Präzision dieses Regulationsmechanismus vermittelt die longitudinale Ausdehnung der verschiedenen Expressionsbereiche. So umfasst der endgültige Aktivitätsbereich der Gene even-skipped und fushi tarazu nur jeweils etwa 3 Zellen in longitudinaler Richtung bei einer gesamten Segmentlänge von 5 Zellen (Abb. 13.35).
13.3 Entwicklungsgenetik von Drosophila melanogaster Abb. 13.34a–d. Streifenbildung des Paarregelgens hairy unter regulativer Kontrolle von Krüppel als Repressor und knirps als Induktor der h-Expression. Expression von hairy ist nur bei Aktivität ausreichender knirps-Aktivität und Inaktivität von Krüppel möglich. a–d Durch Veränderungen des Titers einer der Komponenten kann es zu Veränderungen in der Ausdehnung und der Position der hairyExpression kommen. (Nach Pankratz u. Jäckle 1990)
Abb. 13.35a–c. Expressionsmuster des Paarregelgens fushi tarazu in verschiedenen Embryonalstadien von Drosophila melanogaster. a Stadium 6 (frühe Gastrulation). Es haben sich 7 Streifen ausgebildet (vgl. Abb. 13.31). b Spätes Stadium 8. Die Metamerie beginnt sichtbar zu werden. Die dorsale Verla-
gerung der posterioren Segmente wird erkennbar. c Stadium 10. Durch die Verlängerung des Keimstreifens sind die posterioren Segmente noch weiter dorsal verlagert als im Stadium 8. (Photos: W. Janning, Münster)
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Kapitel 13: Entwicklungsgenetik
! Die unter der Transkriptionskontrolle der Gap-
gene stehenden Paarregelgene erzeugen das segmentale Muster des Embryos. Hierbei spielen Interaktionen dieser Gene untereinander und mit Gapgenen eine Rolle und führen zur Präzisierung des Segmentierungsmusters.
Der Prozess der Streifenbildung ist mit dem Teilungszyklus 14 abgeschlossen.Zu diesem Zeitpunkt beginnt die Zellularisierung des Embryos. Das bedeutet, dass die bisher leicht mögliche Diffusion von Molekülen nunmehr durch die Zellmembranen unterbunden wird, so dass andere Mechanismen der Kommunikation innerhalb des Embryos wirksam werden müssen. Hierzu gehören vor allem Zellinteraktionen und Zellwanderungen, die mit dem Beginn der Gastrulation entscheidende Bedeutung gewinnen. Mit der Funktion der Paarregelgene wird somit die Entstehung des Grundplanes eines segmentierten Embryos abgeschlossen. Die Entstehung dieses Grund-
musters beruht auf der Interaktion verschiedener Transkriptionsfaktoren mit den komplexen Regulationselementen der unter ihrer Kontrolle stehenden Gene.
Segmentpolaritätsgene Die Segmentpolaritätsgene haben die Aufgabe, das Zellmuster innerhalb eines Segmentes zu kontrollieren. Demgemäß führen Mutationen in diesen Genen auch zu Deletionen, Duplikationen oder zu veränderten Polaritätsmustern der Zellen innerhalb eines Segmentes. Die Segmentspolaritätsgene stehen unter der Regulationskontrolle der Paarregelgene. In Abb. 13.36 ist ersichtlich, welchen Kriterien dieser Kontrollmechanismus unterliegt. Die Konzentration des Genproduktes bestimmter Paarregelgene bestimmt jeweils die Expression bestimmter Segmentpolaritätsgene. So wird bei hoher Konzentration von even-skippedoder fushi tarazu-Proteinen das Segmentspolaritäts-
Segment Ma Mx Lb T1 T2 T3 A1 A2 A3 A4 A5 A6 A7 A8 A9 Parasegment 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 ftz-Expression
Segment Parasegment
Zellen
en
wg en
wg en
wg en
wg
Aktivität
614
eve
opa
ftz
eve Paarregelgene
opa
ftz
Abb. 13.36 Ausprägung der Segmentpolaritätsgene und ihre Funktion bei der Segmentbildung. Die Paarregelgene even-skipped (eve), fushi tarazu (ftz) und odd-paired (opa) sind alternierend exprimiert. Das Segmentpolaritätsgen engrailed (en) wird durch hohe Expression beider Gene induziert und in den jeweils anterioren Zellen eines Parasegmentes (posteriore Zellen eines Segmentes), das Segmentpolaritätsgen wingless (wg) in den posterioren Zellen eines Parasegmentes exprimiert. Die Ausprägung erfolgt jeweils nur in ein bis zwei Zellen in longitudinaler Richtung. (Nach Gilbert 1991)
13.3 Entwicklungsgenetik von Drosophila melanogaster
gen engrailed (en) aktiviert. Da das engrailed-Gen unter der Kontrolle zweier Paarregelgene mit alternierender Aktivität steht, kommt es seinerseits in jedem einzelnen Segment zur Expression. Innerhalb des Segmentes definiert das engrailed-Produkt die Zellen an der posterioren Segmentgrenze. In ähnlicher Weise stehen andere Segmentpolaritätsgene unter der Kontrolle unterschiedlicher Paarregelgene, so dass die Individualität aller Zellen innerhalb jedes Segmentes genau festgelegt wird. Es soll noch darauf hingewiesen werden, dass die genetische Analyse der Funktion von engrailed dazu geführt hat, eine zur klassischen Aufteilung des Insektenkörpers in Segmente, die im Wesentlichen auf morphologischen Kriterien beruht, alternative Untergliederung als Grundprinzip der Längsgliederung vorzustellen. Die Parasegmente bestehen aus dem posterioren Teil eines Segmentes und dem anschließenden anterioren Teil des folgenden Segmentes. ! Eine Unterteilung in Parasegmente ist eine alter-
native Untergliederung des Insektenkörpers. Parasegmente bestehen jeweils aus dem posterioren Teil eines Segmentes und dem anterioren Teil des folgenden Segmentes.
Homöotische Gene Nach Festlegung der Segmentgrenzen und der innersegmentalen Organisation verbleibt als letzter Schritt die Identifikation jedes Segmentes in seiner jeweils spezifischen Identität: Am leichtesten lässt sich das am Thorax aufzeigen. Jedes Thoraxsegment besitzt seine besonderen Eigenheiten neben anderen, die es mit den anderen Thoraxsegmenten teilt. So besitzt einerseits jedes Thoraxsegment ein Beinpaar. Andererseits gibt es Flügel bei Dipteren nur im zweiten Thorakalsegment (Mesothorax), im dritten (Metathorax) hingegen Halteren, während das erste (Prothorax) keine von beiden Strukturen besitzt. Jedem Segment muss also seine eigene spezifische Identität vermittelt werden. Es ist bereits lange bekannt, dass man Veränderungen dieser Segmentidentität durch Mutationen erhalten kann. Mutationen im bithorax-Genkomplex (BX-C) können zur Umwandlung des Meta- in einen (zweiten) Mesothorax führen. Als Folge davon besitzt die Fliege zwei Paar Flügel.
Da durch solche Mutationen ein Segment den Charakter eines anderen Segmentes annimmt, hat man sie als homöotische Mutationen bezeichnet (Goldschmidt 1945). Die betroffenen Gene heißen dementsprechend homöotische Gene (oder homöotische Selektorgene). Die meisten homöotischen Gene lassen sich zwei Genkomplexen im Chromosom 3 von D. melanogaster zuordnen, dem Antennapedia-Komplex (ANT-C) und dem bithorax-Komplex (BX-C). Zum BX-C gehören die Gene Ultrabithorax (Ubx), abdominal-A (abd A) und Abdominal-B (Abd B). Ultrabithorax ist für die Ausbildung des dritten thorakalen Segmentes verantwortlich. Sein Ausfall führt zur Umbildung des dritten in ein zusätzliches zweites Thoraxsegment, wie es in der Ausbildung eines zweiten Flügelpaares zum Ausdruck kommt. Die beiden anderen Gene, abd A und Abd B, kontrollieren die Eigenschaften der Segmente des Abdomens. BX-C enthält zusätzlich zu diesen Protein-kodierenden Genen eine komplexe Zusammenstellung von Regulationselementen, die über die gesamte 300 kb lange Region dieses Genbereiches verteilt sind. Diese Regulationselemente kontrollieren die Segmentspezifität der Abdominalsegmente. Der ANT-Komplex besteht aus fünf Genen, labial (lab), Antennapedia (Antp), Sex comb reduced (Scr), Deformed (Dfd) und Proboscipedia (pb). Unter die Kontrolle dieses Genkomplexes fallen die Kopf- und Thoraxsegmente. Ein klassisches Beispiel für die Auswirkung einer homöotischen Mutation zeigt Abb. 13.37, nämlich die Ausbildung eines Beins anstelle einer Antenne aufgrund einer Mutation im Antp-Gen. Alle homöotischen Gene haben ein Sequenzelement, das als Homöobox bezeichnet wird. Es handelt sich um eine 180 bp lange DNA-Sequenz, die ein 60 Aminosäuren langes Proteinfragment, die Homöodomäne, kodiert. Diese Proteinregion besitzt die charakteristische Struktur eines Helix-turn-HelixMotivs (Abb. 8.26), wie sie von prokaryotischen Regulationsproteinen, z. B. dem λ- und dem lac-Repressor bekannt ist. Aber auch eine Reihe anderer Transkriptionsfaktoren besitzen eine Homöodomäne (z. B. auch die, die durch das maternale Gen bicoid oder das zygotische Gen engrailed kodiert werden). Man beachte daher, dass nicht jedes Gen mit einer Homöobox auch ein homöotisches Gen ist. Die klassische Homöodomäne besteht aus drei αHelices, deren erste und zweite eine antiparallele Richtung gegeneinander einnehmen, während die dritte Helix im rechten Winkel gegen die beiden
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Abb. 13.37 a,b. Homöotische Mutation. a Wildtyp-Kopf von Drosophila melanogaster. b Durch die homöotische Mutation Antennapedia wird die Antenne in ein (phylogenetisch homologes) Bein verwandelt. (Photo: W. Gehring, Basel)
ersten Helices angeordnet ist. Die dritte Helix greift sequenzspezifisch in die große Furche der DNA ein. Proteine, die diese Homöodomäne besitzen, sind durchweg Transkriptionsfaktoren, die mit ihrer Hilfe sequenzspezifisch an DNA binden. Die Homöodomänen anderer homöotischer Gene haben prinzipiell vergleichbare Strukturen, obwohl ihre Aminosäuresequenzen und damit ihre Bindungsspezifitäten unterschiedlich sind. Vergleichbare Cluster von Homöoboxgenen finden wir auch bei Säugern. Bei Mäusen und Menschen wurde das Cluster bestehend aus dem ANT- und BXKomplexes vervierfacht (Abb. 13.38) und wird heute als HoxA, HoxB, HoxC und HoxD-Cluster bezeichnet. Wir kennen insgesamt 39 Hox-Gene bei der Maus; Hox-Gene werden aufgrund ihrer Sequenzähnlichkeiten und der Position im Cluster in 13 paraloge Gruppen eingeteilt (beachte, dass nicht jedes Cluster vollständig ist!). Ein charakteristisches Merkmal der Hox-Cluster ist, dass die Anordnung der Gene auf dem Chromosom der relativen Position ihrer Expression entlang der anterior-posterioren Achse entspricht, wobei sich die jeweilige Expressionsdomäne der Gene am 3’-Ende des Clusters am vorderen Körperende befindet.
! Homöotische Gene bestimmen zusammen mit
Gap-, Paarregel- und Segmentpolaritätsgenen die Segmentidentitäten. Mutationen in homöotischen Genen („Homöotische Mutationen“) verschieben die Identität eines Segments. Alle homöotischen Gene haben eine Homöobox (aber nicht alle Gene mit einer Homöobox sind homöotische Gene!).
13.3.7 Imaginalscheiben, Metamorphose und Organentwicklung bei Drosophila Die Funktion der homöotischen Selektorgene wird durch ein Zusammenspiel von Gap-, Paarregel- und Segementpolaritätsgenen zum Zeitpunkt der Zellularisierung, also nach Festlegung der segmentalen Organisation bestimmt. Zu diesem Zeitpunkt werden auch die Anlagen der Imaginalscheiben festgelegt, aus denen sich während der Metamorphose die meisten Strukturen der Imago entwickeln (Abb. 13.39). Die Vorläuferzellen der Imaginalscheiben proliferieren im Laufe der Imaginalentwicklung zu Zellgruppen von etwa 50 Zellen. Die Imaginalscheiben entstammen dem embryonalen Ektoderm und stülpen
13.3 Entwicklungsgenetik von Drosophila melanogaster
Beinen und Genitalplatten. Die Differenzierung von larvalen Imaginalscheiben in Strukturen der Fliege wird durch das Metamorphosehormon Ecdyson ausgelöst. ! Unter der Kontrolle homöotischer Gene bilden
sich während der Differenzierung der Imaginalscheiben Kompartimente aus, die bestimmte Bereiche der Strukturen der Imago umfassen.
Abb. 13.38. Organisation des Hox-Clusters und seine Konservierung in der Evolution. Der Hox-Gencluster bei Drosophila [bestehend aus dem Antennapedia-Komplex (Ant-C) und dem Bithorax-Komplex (BX-C)] findet sich im Prinzip bei den Säugetieren in vierfacher Form (Hox-A bis Hox-D). Einander entsprechende Nummern bzw. Farben kennzeichnen orthologe Gene, die eine besonders hohe Sequenzübereinstimmung haben. Beachte auch, dass die 3’→5’-Anordnung auf dem Chromosom dem anterior-posterioren Expressionsmuster entspricht – bei der Fliege und bei der Maus. (Nach Müller u. Hassel 1999)
sich als einfache epitheliale Säckchen ins Körperinnere ein. Sie bleiben als solche bis zur Metamorphose erhalten. Die Entwicklung der adulten Strukturen aus den Imaginalscheiben verläuft unter Bildung von Kompartimenten. Die Grenzen zwischen den verschiedenen Kompartimenten entsprechen den Grenzen der Funktion von homöotischen Genen oder von Segmentpolaritätsgenen. Während der Metamorphose zur Fliege proliferieren die Zellen der Imaginalscheiben weiter und differenzieren schließlich zu verschiedenen Organen wie Labialanhängen, Antennen, Augen, Flügeln oder Halteren,
Durch Transplantationen von Imaginalscheiben, etwa einer Flügelimaginalscheibe oder von Teilen davon, in das Abdomen einer Fliege kann man die Zellen der Imaginalscheiben kultivieren, ohne dass eine Differenzierung ausgelöst wird. Die Zellen verbleiben vielmehr in einer Phase mitotischer Teilungsaktivität, da noch nicht genügend Ecdyson zur Auslösung der Differenzierung verfügbar ist. Man kann solche Transplantationen seriell durchführen, d. h. man kann einen Teil der transplantierten Zellen wiederum in eine neue Fliege transplantieren und auf diese Weise Zellen nicht nur über viele Zellgenerationen hinweg am Leben erhalten, sondern auch die Anzahl der Zellen, die aus einer einzigen Imaginalscheibe hervorgegangen sind, beträchtlich erhöhen (Abb. 13.40). Transplantiert man nun aber einen Teil solcher Zellen in eine Larve des dritten Larvalstadiums und lässt sie auf diese Weise die Metamorphose durchlaufen, so differenzieren sich die transplantierten Zellen während der Metamorphose in die Strukturen einer Fliege, wie sie nach dem Ursprung der Imaginalscheibenzellen zu erwarten sind.In unserem Beispiel würden also Teile des Flügels entstehen. Wir lernen hieraus, dass der Determinationszustand der Zellen über viele Zellgenerationen hinweg, und zwar weit über die normale Entwicklungsdauer der Zellen, erhalten bleiben kann, dass aber die endgültige Differenzierung durch bestimmte Signale jederzeit ausgelöst werden kann. Eine bedeutsame Beobachtung in solchen Experimenten war es,dass nach der Metamorphose gelegentlich auch andere Strukturen zu finden sind als sie nach dem Ursprung der transplantierten Zellen zu erwarten waren.Zum Beispiel beobachtete man,dass Zellen, die eigentlich Teile eines Beines hätten ausdifferenzieren sollen, plötzlich Teile einer Antenne differenzieren. Führt man diese Experimente so aus, dass
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Labium Clypeo-Labrum Humerus
Abb. 13.39. Imaginalscheiben von Drosophila melanogaster. Lokalisation der Imaginalscheiben in der Larve und die zugehörigen Strukturen in der Imago. (Nach Nöthiger 1972)
Auge-Antenne Flügel-Thorax 1. Bein 2. Bein 3. Bein Haltere
Abdomen
Genitalapparat
man nur einen Teil der Zellen in eine Larve transplantiert, die übrigen jedoch erneut im Abdomen einer Fliege vermehrt, bevor man weitere Tests auf Differenzierungfähigkeit durchführt, so erweist sich der neu erworbene Determinationszustand nunmehr als ebenso stabil wie zuvor der der ursprünglich transplantierten Zellen. Hadorn hat die Veränderung des Determinationszustandes einer Zelle in solchen Experimenten als Transdetermination bezeichnet. Besieht man sich die möglichen Transdeterminationsschritte genauer, so fällt auf, dass sie teilweise mit den phänotypischen Effekten von Mutationen übereinstimmen,die als homöotische Mutationen bekannt sind. Zwischen Transdetermination und homöotischen Mutationen bestehen direkte Verbindungen. Wir wollen jetzt die Organentwicklung an zwei Beispielen diskutieren: Entwicklung der Flügel und der Augen.
Flügelentwicklung bei Drosophila Im Falle der Flügelimaginalscheiben wird die Bildung eines Flügels und seines ersten Grundmusters noch im embryonalen Epithel festgelegt, also zu einer Zeit, in der auch das Segmentmuster entsteht und die einzelnen Segmente ihre Identität erhalten. In den einzelnen Larvalstadien (instars: die Stadien zwischen zwei Larvenhäutungen) wachsen die Imaginalscheiben durch Zellteilung weiter. Die Flügelimaginalscheiben sind durch eine Kompartimentgrenze in eine anteriore und eine posteriore Entwicklungsregion unterteilt (Abb. 13.41). In der Flügelimaginalscheibe bilden Zellen an der Grenze zwischen anteriorem und posteriorem Kompartiment eine Signalregion, die die Musterbildung entlang der anterior-posterioren Flügelachse steuert. Dieses Signalzentrum entsteht aufgrund einer Folge von Ereignissen, die hier kurz skizziert werden sollen. Es beginnt mit der Expression des Gens engrailed (en) im posterioren Kompartiment der Imagi-
13.3 Entwicklungsgenetik von Drosophila melanogaster
Transplantation 3. Larvalstadium
Augenimaginalscheibe
determiniert, undifferenziert differenziert nach Metamorphose
Augenstrukturen
METAMORPHOSE
Abb. 13.40. Transplantationen von Imaginalscheiben. Serielle Transplantationen gestatten es, Imaginalscheiben über viele Generationen zu vermehren und die Entwicklung der zugehörigen imaginalen Strukturen (s. Abb. 13.39) durch gezielte Passage durch die Metamorphose zu induzieren. Solange die Imaginalscheiben im Abdomen von Fliegen gehalten werden, erfolgt wegen des niedrigen Ecdysontiters keine Differenzierung der Zellen, obwohl diese sich mitotisch vermehren. Sie behalten ihren Determinationszustand durch diese in-vivo-Kulturmethode bei. (Nach Gehring 1972)
Augenstrukturen
Augenstrukturen
Stammlinie wird weiter erhalten
nalscheibe – entsprechend dem Expressionsmuster in dem embryonalen Parasegment, von dem sich die Imaginalscheibe ableitet. In den Zellen, in denen das en-Gen aktiv ist, ist auch das Segmentpolaritätsgen hedgehog (hh) aktiv,
das ein sezerniertes Protein kodiert. Das HedgehogProtein sorgt für die Expression des decapentaplegic (dpp)-Gens in der benachbarten Zelle auf der anderen Seite der Grenze, indem es die Wirkung von Proteinen hemmt, die normalerweise dpp reprimieren.
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Abb. 13.41a–c. Kompartimente im Flügel von Drosophila melanogaster. a Flügelimaginalscheiben mit Kompartimentgrenzen. b Flügel mit anterior-posteriorer Kompartimentgrenze (rot) c Ein Flügelmosaik zeigt die Kompartimentgrenze durch den Übergang von normalen Borsten in mwh-Borsten. (Nach Williams u. Carroll 1993, u. Lawrence u. Morata 1976; c: Photo: P. Lawrence, Cambridge)
Das Dpp-Protein, ein Signalprotein aus der TGF-βFamilie, wird nunmehr an der Kompartimentgrenze sezerniert und dient sowohl im anterioren als auch im posterioren Kompartiment als Positionssignal zur Musterbildung längs der anterior-posterioren Achse. Eines der Zielgene der weitreichenden Wirkung des Dpp-Proteins ist spalt (sal). Das sal-Gen wird in einem Bereich exprimiert, der sich mit dem von dpp nur teilweise deckt; die sal-Expression setzt vielmehr in einer Region ein, wo die Konzentration des Dpp-
Proteins gerade bestimmte obere bzw. untere Schwellenwerte überschreitet. Eine zweite Orientierungsachse bildet sich zwischen der Flügelober- und -unterseite aus. Wir haben es hier mit einem dorsalen bzw. ventralen Kompartiment zu tun. Die beiden Kompartimente entstehen im zweiten Larvalstadium, nachdem sich die Flügelscheibe gebildet hat. Sie unterscheiden sich in der Expression des homöotischen Selektorgens apterous (ap), das nur im dorsalen Kompartiment aktiv ist. Die ap-Expression führt zur Sekretion von Proteinen, die von den Genen fringe und serrate kodiert werden. An der Kompartimentgrenze treten dorsale Zellen mit ventralen Zellen in Wechselwirkung: Die dorsalen Zellen bilden das Serrate-Protein, ein Transmembranprotein, das als Ligand an einen Rezeptor (Notch) in der Nachbarzelle bindet. Das fringe-Gen kodiert für eine UDP-Glykosyltransferase, die bestimmte Motive des Notch-Rezeptors so modifiziert, dass er mit dem Liganden Serrate nicht mehr so gut in Wechselwirkung treten kann, aber umgekehrt die durch Delta (einen anderen Transmembranliganden von Notch aus dem ventralen Kompartiment) verstärkt (vgl. Abb. 13.42). So sind diejenigen Zellen, die die höchsten Konzentrationen von Notch aufweisen, genau die Zellen an der dorsal-ventralen Grenze, wo Serrate auf ventrale Zellen einwirken kann (die kein fringe exprimieren) und wo das ventrale Delta sein Signal stärker an die dorsalen Zellen vermitteln kann, die fringe exprimieren. Neben diesen Signalen, die über kurze Distanzen ausgetauscht werden, gibt es auch ein weiter reichendes Signalsystem. Damit fungiert auch die Grenze zwischen dem dorsalen und ventralen Kompartiment als Organisationszentrum (wie wir das an der Grenze zwischen anteriorem und posteriorem Kompartiment bereits gesehen haben). Als Signalmolekül dient hier das wingless-Protein, ein sezerniertes Glykoprotein. Wingless ist vor allem für die Ausbildung der Borsten am Rand der Flügel verantwortlich. ! Die Flügel von Drosophila entwickeln sich aus den
entsprechenden Imaginalscheiben, die bereits früh in ein anteriores und posteriores Kompartiment unterteilt sind. Der Grenzbereich fungiert als Organisator; dort wird das Gen decapentaplegic aktiviert. Eine zweite Organisationsachse entwickelt sich an der Grenze zwischen dem dorsalen und ventralen Kompartiment; hier wird wingless exprimiert.
13.3 Entwicklungsgenetik von Drosophila melanogaster
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Abb. 13.42a–d. Genexpression an der dorsoventralen Grenze der Flügelentwicklung bei D. melanogaster. a Die Gene vg, sd und Dll werden in einem breiten Gradienten um die dorsoventrale Achse exprimiert. wg, cut und einige Mitglieder des E(spl)Komplexes sind in einer schmalen Domäne an den Randbereichen der dorsoventralen Grenze exprimiert. Die Vorläufer der Bürstenhaare befinden sich außerhalb der dorsoventralen Achse. b Die dorsale Expression von ap (gestrichelt) treibt die dorsale Expression von Serrate und fringe. Das Serrate-Protein initiiert ein Signal in den ventralen Zellen, wohingegen das Fringe-Protein ein Signal in den dorsalen Zellen unterdrückt. Delta ist überwiegend ventral exprimiert; das Delta-Signal erreicht in hohen Dosen wegen Fringe aber nur dorsale Zellen. c Das WG-Protein ist notwendig und hinreichend für die Entstehung der Vorläufer-Bürstenhaare am Saum und ist auch für die vg-Expression wichtig. d Eine späte Rückkopplungsschleife zwischen den Zellen des Randbereichs, die wg exprimieren, und den benachbarten Zellen, die Delta exprimieren: Das WG-Protein stimuliert die Delta- und Serrrate-Expression in den benachbarten Zellen, und Delta- und Serrate-Proteine stimulieren wiederum die wg-Expression in den Zellen des Randbereichs. (Nach Blair 1999)
Augenentwicklung bei Drosophila Die Augen von Drosophila sind Facetten- oder Komplexaugen, die aus vielen morphologisch identischen Untereinheiten, den Ommatiden, bestehen (Abb. 13.43). Die Anzahl der Ommatiden innerhalb eines Auges schwankt und liegt bei einer Zuchttemperatur von 25 °C zwischen 940 und 1020. Zusätzlich besteht noch eine Temperaturabhängigkeit der Anzahl gebildeter Ommatiden, denn innerhalb des normalen Temperaturbereichs, in dem Drosophila normalerweise fortpflanzungsfähig ist (18–25 °C), werden je nach Temperatur zwischen 750 und 1020 Ommatiden gebildet. Jedes Ommatidium besteht aus 8 Photorezeptorneuronen (R1 bis R8), vier darüber liegenden transparenten Kegelzellen, die einen lichtbündelnden Kristallkegel bilden, und zusätzlichen (roten) Pigmentzellen. Das Auge entwickelt sich ab der Mitte des 3. Larvenstadiums aus dem einlagigen Epithelblatt der Augenimaginalscheibe, die sich im Kopf befindet. Eines der frühesten Ereignisse der Augendifferenzierung ist die Bildung einer Rinne in der Imaginalscheibe, der morphogenetischen Furche (engl. morphogenetic furrow), die von posterior über das Scheibenepithel nach anterior wandert. Die Furche bewegt sich langsam und braucht etwa 2 Tage, um die gesamte Imaginalscheibe zu überqueren. Sie hinter-
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Kapitel 13: Entwicklungsgenetik
Abb. 13.43 a,b. Aufbau des Komplexauges (neuronales Superpositionsauge) und eines einzelnen Ommatidiums von Drosophila. a Ausschnitt aus einem Komplexauge, der die Anordnung der Ommatidien und die Verbindung zum Gehirn darstellt. Die Neurone der Photorezeptorzellen R1 bis R6 führen in die Lamina ganglionaris (Lamina) und werden dort mit den jeweils entsprechenden Neuronen der benachbarten Rezeptorzellen vernetzt, bevor sie ins Gehirn führen. Die Neurone der Rezeptorzellen R7 und R8 führen direkt in die Medulla des Gehirns. Von dort führen Nervenzellen in andere Teile des optischen Lobus oder ins Zentralhirn. Die Photorezeptoren R1 bis R6 sind mit dem gleichen Sehpigment ausgestattet und sorgen für die hohe Empfindlichkeit auch bei schwachen Lichtverhältnissen. Die Photorezeptoren R7 (UVempfindlich) und R8 (grünempfindlich) sind für das Farbsehen wichtig. Die sensorischen Haare, die an jedem Ommatidium
sitzen (vgl. Abb. 10.18b) sind nicht dargestellt. b Ein Ommatidium. Die Pigmentzellen verhindern durch die in ihnen enthaltenen Augenfarbstoffe, dass Licht durch die Zellen in die umgebenden Ommatidien gelangt. Die Photorezeptorzellen erhalten das Licht durch die Linse (Cornea) und den von den Kristallzellen abgesonderten Conus. Die Photorezeptorzellen bilden im Inneren des Auges Rhabdomere (s. Querschnitt!). Die Rhabdomere bestehen aus membranösen Gebilden, die die Photopigmente binden. Die Positionen der Rhabdomere der Photorezeptorzellen sind zur Verdeutlichung in b (rechts) schematisch angegeben. Der Zwischenraum zwischen den Rhabdomeren wird vom Fortsatz der Kristallzellen ausgefüllt. Die Photorezeptorzellen sind von den Pigmentzellen umgeben, die jedes Ommatidium als getrennte optische Einheit funktionieren lassen. Die Verschaltung der Signale im Gehirn ergibt das punktförmige Bild. (Nach Weber u. Weidner 1974)
13.3 Entwicklungsgenetik von Drosophila melanogaster
lässt dabei alle zwei Stunden eine Reihe zukünftiger Ommatiden. Während sie sich vorwärtsbewegt, beginnen sich die Zellen hinter ihr zu differenzieren und in Reihen angeordnete sechseckige Ommatiden zu bilden. Jede Reihe ist gegenüber der vorherigen um ein halbes Ommatidium versetzt, so dass ein charakteristisches Wabenmuster entsteht. Zuerst entstehen die R8-Photorezeptorneuronen. Sie erscheinen in regelmäßigen Abständen in jeder Ommatidenreihe und sind durch etwa 8 Zellen getrennt. Jede R8-Zelle leitet eine Reihe von Signalen ein, die dazu führen, dass um R8 herum eine Gruppe von 20 Zellen ein Ommatidium bildet: Zunächst differenzieren R2 und R5 auf einander entgegengesetzten Seiten zu zwei funktionell identischen Neuronen; zwischen R2 und R5 entstehen auf einer Seite R3 und R4. Nachdem sich so ein Halbkreis um R8 gebildet hat, kommen R1 und R6 hinzu; mit der Differenzierung von R7 wird dann der Kreis geschlossen. Im reifen Ommatidium wird diese Anordnung dann später weiter modifiziert. Der entscheidende Schritt in der Augenentwicklung von Drosophila ist die Wanderung der morphogenetischen Furche: Da die Augenimaginalscheiben im Gegensatz zur oben besprochenen Flügelimaginalscheibe nicht von vorneherein in ein anteriores und posteriores Kompartiment unterteilt ist, kommt diese Unterteilung hier der Furche zu. Das lässt sich auch an unterschiedlichen Expressionsmustern deutlich machen. Anterior der Furche wird das Gen eyeless (ey) exprimiert, das für die Entwicklung der Augen essentiell ist. Mutationen in diesem Gen führen bei betroffenen Fliegen zur Verkümmerung oder zum völligen Fehlen der Komplexaugen. Eine Reihe von Experimenten hat gezeigt, dass seine ektopische Expression in anderen Imaginalscheiben dort ebenfalls eine Augenentwicklung in Gang setzt (z. B. in Flügeln, an Beinen, oder Antennen). Daher wird eyeless auch als Schlüsselgen (engl. master control gene) der Augenentwicklung bezeichnet. Eyeless gehört zur Klasse der Pax-Gene (so genannt nach ihrem charakteristischen Merkmal, der paired-Box, die zuerst bei dem Drosophila-Gen paired definiert wurde und für eine DNA-bindende Domäne kodiert). Entsprechende Gene finden sich auch bei Säugern, und Mutationen in dem homologen Gen Pax6 führen ebenfalls zu schweren Störungen in der frühen Augenentwicklung. Walter Gehring und seinen Kollegen gelang 1995 ein klassisches Experiment (Halder et al. 1995), in dem sie zeigten, dass das Pax6-Gen der
Maus in der Lage ist, in Drosophila ektopisch die Entwicklung funktioneller Ommatiden-Augen zu induzieren (Abb. 13.44). Damit wurde von genetischer Seite ein zentrales Dogma der Evolutionsbiologie aufgehoben, dass nämlich die Entwicklung der Komplexaugen bei Fliegen und der Linsenaugen bei Säugern unabhängig verlaufen sei. Offensichtlich sind die genetischen Signalketten in der Evolution zwischen diesen verschiedenen Spezies konserviert, so dass wir von einem gemeinsamen Entwicklungsweg ausgehen müssen (siehe auch den Abschnitt über die Augenentwicklung bei Säugern, Kap. 13.5.4). Allerdings ist das Konzept eines einzigen Schlüsselgens durch weitere Untersuchungen ins Wanken geraten. Denn bevor die morphogenetische Furche startet, wird im gesamten Augenfeld dpp exprimiert (noch unter der Kontrolle des maternalen dorsal-Gradienten). Dpp ist offensichtlich notwendig, um die erste Welle der morphogenetischen Furche auszulösen. Dazu gehört dann auch die Expression von ey, aber auch anderer Gene wie sine oculis (so) und eyes absent (eya; Abb.13.45).Diese Gene sind nach entsprechenden Mutanten bei Drosophila benannt, die über keine Augenstrukturen verfügen. Auch für diese Gene gibt es entsprechende homologe Gene bei Säugern. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang aber noch das Gen twin of eyeless (toy), das über eine Genduplikation mit ey eng verwandt ist. Wie oft in solchen Fällen, überlappen die Funktionen von ey und toy teilweise; für toy gibt es interessanterweise kein homologes Gen bei Vertebraten. Die Zellen hinter der morphogenetische Furche von Drosophila kann man auch als posteriore Zellen auffassen, da sie das hedgehog (hh)-Gen exprimieren. Durch die Sekretion dieses Signalproteins wird decapentaplegic (dpp) wieder in den Zellen der Furche aktiviert und die Differenzierung der R8-Zellen eingeleitet. Das System ist dynamisch, denn nach einer Weile schalten die Zellen in der Furche dpp wieder ab und beginnen dafür hh zu exprimieren, dessen Genprodukt wiederum die dpp-Expression in den weiter anterioren Zellen aktiviert – so schiebt sich die Furche vorwärts. Der dritte Spieler, den wir ebenso bereits bei der Flügelentwicklung kennen gelernt haben, ist wingless.Dieses Gen wird an den Seitenrändern exprimiert und verhindert, dass die Furche dort ihren Anfang nimmt. Ein weiterer interessanter Prozess führt zur regelmäßigen Anordnung der R8-Photorezeptorzellen. Zunächst haben alle nach der Furche entstehenden
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Kapitel 13: Entwicklungsgenetik
Abb. 13.44 a,b Ektopische Bildung von Ommatidien an der Antenne (a) und im Bein (b) von Drosophila. Einzelheiten siehe Text (Photos: W.J. Gehring, Basel)
Zellen das gleiche Potential.Allerdings beginnen nach der Furchenwanderung die einen Zellen etwas früher und die anderen etwas später mit ihrer Differenzierung. Zum Differenzierungsprogramm gehört auch, dass eine R8-Zelle im Umkreis von etwa 3 Zellen keine weitere R8-Zelle duldet. Daher werden Signalketten aktiviert, die die Differenzierung zu R8-Zellen in den benachbarten Zellen unterdrücken („laterale Inhibition“). An diesem Prozess ist das scabrous-Gen (sca) beteiligt, das für ein Fibrinogen-ähnliches, sezerniertes Protein kodiert, der Notch/Delta-Signalweg, dem wir auch schon bei der Flügelentwicklung begegnet sind, sowie das einen Inhibitor kodierende Gen hairless (H). Zu den wichtigen Genen, die an der Differenzierung der R8-Zellen beteiligt sind, gehört auch atonal (ato), das durch eya, so und hh reguliert wird. Die ato-positiven Zellen werden auch als larvale „Augengründerzellen“ bezeichnet. Sie senden das Signalprotein aus, das durch das Gen spitz (spi) kodiert wird. Es
bewirkt in den Nachbarzellen von R8 über den EGFRezeptor-Signalweg die Spezialisierung der Zellen zu den Photorezeptoren R2-R7. Unter den verschiedenen Drosophila-Mutanten mit Störungen in der Augenentwicklung sollen an dieser Stelle noch zwei weitere erwähnt werden: sevenless (sev) und bridge-of-sevenless (boss). In beiden Fällen entwickelt sich keine R7-Zelle, sondern eine zusätzliche Kegelzelle. Detaillierte genetische Experimente zeigten nun, dass sev für einen Transmembranrezeptor mit Tyrosinkinase-Aktivität kodiert; dieses Gen wird normalerweise in den zukünftigen R7Zellen exprimiert. Umgekehrt kodiert boss für einen membrangebundenen Liganden, der in den R8-Zellen exprimiert wird. Die Bindung des boss-Proteins an den sev-Rezeptor setzt nun eine intrazelluläre Signalkette in Gang, die zur Aktivierung verschiedener Transkriptionsfaktoren und zur endgültigen Differenzierung der R7-Photorezeptorzelle führt.
13.4 Entwicklungsgenetik bei Fischen
Abb. 13.45. Geninteraktionen beim Aufbau des Komplexauges. Zusammenfassende Darstellung von Geninteraktionen, die die Entwicklung des Auges während der Embryonalentwicklung (2. und 3. Larvenstadium) steuern. Pfeile deuten aktivierende Einflüsse an, Balken hemmende. Gensymbole: ato: atonal, Dl: Delta, dpp: decapentaplegic, EGF: epidermaler Wachstumsfaktor, ey: eyeless, eya: eyes absent, H: hairless, hh: hedgehog, N: Notch, so: sine oculis; R1-8: Photorezeptorzellen 1–8. (Nach Hartenstein u. Reh 2002)
! Das Komplexauge von Drosophila besteht aus ca.
800 wabenmusterförmig angeordneten Ommatiden. Sie entwickeln sich aus der Augenimaginalscheibe. Durch die wandernde morphogenetische Furche wird die Imaginalscheibe vorübergehend in ein anteriores und in ein posteriores Kompartiment unterteilt. Hinter der Furche beginnt die Differenzierung der Photorezeptorzellen R1 bis R8. Das Gen eyeless ist das Schlüsselgen für die Augenentwicklung; es kann in anderen Imaginalscheiben ektopisch funktionelle Ommatiden induzieren. Es ist verwandt mit dem Säugergen Pax6, das in Drosophila vergleichbare Effekte zeigt. Die Grundprinzipien der Augenentwicklung sind offensichtlich zwischen Fliegen und Säugern stark konserviert.
13.4 Entwicklungsgenetik bei Fischen Der bei Aquarienliebhabern schon lange bekannte Zebrafisch Danio rerio ist seit Beginn der 1980er Jahre durch die Arbeiten von Streisinger für Entwicklungsgenetiker immer interessanter geworden.
Seine Entwicklung verläuft wie die eines typischen Teleostiers und ist als Modell auch für die Entwicklung anderer Vertebraten geeignet. Seine Zucht in Aquarien ist problemlos. Ein weiterer wesentlicher Vorteil des Zebrafisches ist die Transparenz seiner Embryonen. Diese erlaubt es, ihre Entwicklung genau zu verfolgen. Das Genom des Zebrafisches ist in 25 Chromosomen organisiert; es gibt keine Geschlechtschromosomen. Das Genom umfasst etwa 1.700 Mb und ist damit etwa halb so groß wie das menschliche Genom (die Sequenzierung war zum Zeitpunkt des Drucks noch nicht abgeschlossen; die jeweils aktuelle Fassung der Sequenz kann man aber im Internet unter http://www.ensembl.org/Danio_rerio einsehen).
13.4.1 Embryonalentwicklung des Zebrafischs Im Gegensatz zu dem frühzeitig festgelegten Schicksal der Blastodermzellen in Drosophila, die eine als Mosaikentwicklung gekennzeichnete frühembryonale Entwicklung durchlaufen, ist die Entwicklung des Zebrafischs regulativ. Das bedeutet, dass frühembryonale Zellen relativ lange undeterminiert bleiben oder lange die Fähigkeit zur Änderung ihrer Determination behalten. Die abgelaichten Eier sind transparent und messen ca. 0,6 bis 0,7 mm, die Embryonalentwicklung ist, je nach Temperatur, in 2 bis 4 Tagen abgeschlossen. Der erwachsene Zebrafisch ist etwa 2 bis 3 cm groß und braucht ungefähr 12 Wochen, um fortpflanzungsfähig zu werden. Nach der Befruchtung bildet sich im Ei durch cytoplasmatische Strömungen und Umschichtung der Komponenten eine animale Kappe mit klarem Plasma, in dem sich der Eikern befindet; darunter (im vegetativen Bereich) ist das Ei reich mit Dottermaterialien angefüllt (Abb.13.46). Die ersten Zellen, die sich am animalen Pol der Eikugel bilden, sind anfänglich nach unten hin zum dottergefüllten Restei offen. Es wird also nicht die ganze Eizelle vollständig in Tochterzellen zerlegt (partiell discoidale Furchung). Wenn 16 und mehr Zellen vorliegen, bilden sie einen scheibenförmigen Verband, der dem Restei aufliegt. Dieser Zellverband wird durch Zellteilungen zu einer mehrschichtigen Keimscheibe (Blastoderm). Sie nimmt durch anhaltende Zellteilungen und durch Abflachung an Umfang zu und umwächst die Dotterkugel. Nach etwa fünfeinhalb Stunden erstrecken sie sich schon über die halbe
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Kapitel 13: Entwicklungsgenetik Abb. 13.46. Entwicklung des Zebrafisches. Die Durchsichtigkeit der Embryonen gestattet die Beobachtung der Entwicklung am lebenden Tier. (Photos: C. NüssleinVolhard, Tübingen)
Strecke (man spricht je nach Position des Umwachsungsrandes von z. B. 40, 70 oder 100% Epibolie). Jetzt setzt die Gastrulation ein: Die zukünftigen Entoderm- und Mesodermzellen der tieferen Schicht am Rande des Blastoderms wechseln die Richtung und wenden sich nach innen; sie wandern zur zukünftigen Dorsalseite. Dabei strebt das Gewebe von allen Seiten auf die Mittellinie des Embryos zu und dehnt sich gleichzeitig aus, während sich der Embryo in anterior-posteriorer Richtung in die Länge zieht. Das Mesoderm und Entoderm kommen schließlich unter das Ektoderm zu liegen. Nach neun Stunden kann man die Chorda erkennen, und nach 10 Stunden ist mit der Bildung der ersten Somiten anterior die Gastrulation abgeschlossen. Als nächstes folgen die Neurulation und die Bildung der Somiten. Dabei streckt sich der Embryo in die Länge und die Anlagen der primären Organsysteme sind zu erkennen. Das Nervensystem entwickelt sich schnell. Die optischen Bläschen, aus denen sich die Augen entwickeln, kann man nach 12 Stunden als Ausstülpungen des Gehirns erkennen. Die Somiten bilden sich in Intervallen von 2 bis 3 Stunden; nach insgesamt 18 Stunden sind 18 Somiten vorhanden. In diesem Alter beginnt der Körper zu zucken, nach 48 Stunden schlüpft der Embryo,
und der junge Fisch beginnt zu schwimmen und zu fressen. ! Der Zebrafisch ist noch ein relativ neues, aber
sehr interessantes Objekt zur entwicklungsgenetischen Untersuchung von Wirbeltieren. Seine Vorteile sind die hohe Geschwindigkeit der Embryonalentwicklung und die Durchsichtigkeit der Embryonen.
13.4.2 Genetische Experimente mit Zebrafischen Für genetische Experimente, insbesondere auch zur Isolation und Charakterisierung von Mutanten (Abb. 13.47), bietet der Zebrafisch einen bemerkenswerten Vorteil gegenüber anderen Wirbeltieren. Die Embryonen vermögen einen Teil ihrer Entwicklung in einem haploiden Zustand zu durchlaufen. Eine solche haploide Konstitution ist experimentell leicht zu induzieren, indem man die Eier mit UV-bestrahltem Sperma fertilisiert. Durch die UV-Bestrahlung wird das paternale Genom praktisch vollständig zerstört, so dass die Eier auch nach der Befruchtung nur
13.4 Entwicklungsgenetik bei Fischen Abb. 13.47. Mutantenscreen beim Zebrafisch. (Aus Mullins u. Nüsslein-Volhard 1993)
den mütterlichen Chromosomensatz in funktionellem Zustand enthalten. Die genetisch durch Chromosomenbrüche und andere Mutationen inaktivierten väterlichen Chromosomen gehen bei der Zellteilung verloren. Man kann die haploide Konstitution der Embryonen durch geeignete Markergene im mütterlichen Genom sehr einfach kontrollieren. Eine rezessive Mutation (gol-1) im Gen golden, die homozygot eine gelbliche Körperfarbe verursacht, führt im homozygoten Zustand zu einer Verzögerung der Pigmentierung der Retinazellen.Während im Wildtyp die Retinazellen nach 48 Stunden pigmentiert sind, sind gol-1/gol-1-Retinazellen noch nach 72 Stunden unpigmentiert. Das lässt sich durch mikroskopische Untersuchung des intakten Embryos leicht erkennen. Fertilisiert man gol-1/gol-1-Weibchen mit dem UVinaktivierten Sperma von Wildtypmännchen, so erwartet man für haploide Nachkommen mit einem ausschließlich maternalen Genom eine verzögerte
Pigmentierung der Retina. Diese Erwartung bestätigt sich, so dass man davon ausgehen kann, dass es ohne Einschränkungen möglich ist, eine durchgehend haploide Nachkommenschaft zu erhalten. Die Embryonen entwickeln sich für einige Tage normal, sterben dann jedoch ab. Trotz dieser Einschränkung ist die Möglichkeit, experimentell haploide Embryonen zu erzeugen, für Mutagenisierungsexperimente und die anschließende Charakterisierung der gewonnen frühembryonalen Mutanten von Vorteil. Man kann nämlich hierdurch Weibchen, die möglicherweise heterozygot für eine neue embryonale Mutation sind, direkt testen, ohne langwierige Kreuzungen zur Erzeugung homozygoter Individuen durchführen zu müssen (Abb. 13.48). Stellt man von einem Weibchen haploide Embryonen her, so sollte die Hälfte dieser Embryonen die Neumutation zeigen. Zugleich kann man an den betreffenden Embryonen diese Mutation in ihrer mor-
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Kapitel 13: Entwicklungsgenetik Abb. 13.48a–d. Mutantenscreen mit haploiden und parthenogenetisch diploiden Embryonen. Die Eier werden mit UV-bestrahlten Spermien befruchtet, so dass das väterliche Genom zerstört wird. Normalerweise entwickeln sich dann haploide Embryonen. Unter erhöhtem Druck zu einem frühen (c) oder späteren Zeitpunkt (d) während bzw. nach der Meiose erfolgt eine Diploidisierung durch Nondisjunction. Die Abbildung zeigt, dass bei später Diploidisierung (d) stets homozygote Embryonen entstehen, während bei früher Diploidisierung durch Crossing-over auch heterozygote Embryonen entstehen können. (Nach Weinberg 1992)
13.5 Entwicklungsgenetik bei Säugern
phologischen Auswirkung im Embryo charakterisieren. Man spart hierdurch nicht nur mehrere Monate bei der Charakterisierung von Mutanten, sondern auch den Aufwand, der für die Herstellung homozygoter Individuen durch Kreuzungen erforderlich wäre. Die Möglichkeit, haploide Embryonen zu erzeugen, hat noch einen weiteren experimentellen Vorteil. Man kann haploide Embryonen nämlich als einen ersten Schritt für die Herstellung homozygoter Linien gebrauchen. Hierzu macht man sich zunutze, dass durch experimentelle Manipulationen die haploiden Embryonen diploidisiert werden können. In der Praxis ist das entweder durch hydrostatischen Druck möglich, dem die haploiden Embryonen ausgesetzt werden, oder durch Hitzeschocks. Setzt man einen haploiden Embryo etwa 22 Minuten nach der Fertilisation hohem Druck aus, so unterbleibt die erste Zellteilung und die beiden Chromatiden verbleiben in einer einzigen Zelle. Hierdurch ist ein diploider Zustand erreicht. Die weiteren Zellteilungen verlaufen dann normal (Abb. 13.48). Man bezeichnete diese Methode der Diploidisierung auch als späte Diploidisierung. Die gleiche Methode der Diploidisierung lässt sich auch zur Kartierung von Markern verwenden, wenn man die Diploidisierung als frühe Diploidisierung, also unmittelbar (1,5 bis 6 Minuten) nach der Fertilisation ausführt. In diesem Falle unterdrückt man die zweite meiotische Teilung und die Chromatidentrennung unterbleibt ebenso wie die Abschnürung des zweiten Polkörperchens (s. S. 648). Auch hierdurch haben wir eine diploide Zelle erhalten, die sich nunmehr normal weiterentwickelt. Im Unterschied zu der zuvor beschriebenen Methode der späten Diploidisierung sind nach dieser Methode erzeugte Linien jedoch heterozygot. Das ist auf meiotisches Crossing-over zurückzuführen, das zur Folge hat, dass ein Teil der in der zweiten meiotischen Teilung erhaltenen Halbtetraden ein Crossing-over durchlaufen hat und somit heterozygot ist (Abb. 13.48). Da man in der Nachkommenschaft eines Weibchens sowohl Halbtetraden mit als auch ohne Crossing-over bezüglich eines bestimmten Markergens erhält, lässt sich aus der Anzahl der diploiden mutanten Nachkommen der Abstand einer Mutation vom Centromer errechnen. Je größer der Abstand einer Mutation vom Centromer ist, desto größer ist auch die Wahrscheinlichkeit eines Crossing-overs. Je häufiger Crossing-over stattgefunden hat, desto geringer wird die Anzahl der Nachkommen, die die
Mutation homozygot zeigen. Der Zebrafisch bietet übrigens somit zugleich eine weitere Möglichkeit der Tetradenanalyse (s. Kap. 11.4.4). ! Im Zebrafisch wurde eine Reihe von Screens auf dominante und rezessive Mutationen durchgeführt. Die Möglichkeit, durch UV-Bestrahlung von Spermien das paternale Genom zu zerstören, ermöglicht die schnelle Charakterisierung der Mutationen.
13.5 Entwicklungsgenetik bei Säugern In diesem Kapitel sollen kurz einige entwicklungsgenetische Aspekte des Menschen und des wichtigsten genetischen Modells für Säugetiere, der Maus, zusammen angesprochen werden. Für Details der Entwicklungsbiologie und der Embryologie sei aber auf die einschlägige zoologische bzw. medizinische Fachliteratur verwiesen. Die Maus hat sich in den letzten Jahren zu einem der wichtigsten Modellorganismen in der Genetik überhaupt, aber auch speziell in der Entwicklungsgenetik, entwickelt. Das liegt vor allem daran, dass es von der Maus vielfältige Inzuchtstämme gibt und moderne Routinemethoden zur Veränderung oder zum Ausschalten von Genen angewendet werden können. Das Mausgenom ist seit 2001 vollständig sequenziert (ca. 2.500 Mb, 30 000 bis 35 000 Gene; http://www.ensembl.org/mus_musculus) und entspricht weitgehend dem des Menschen (ca. 2.900 Mb, 36.000 Gene; http://www.ensembl.org/homo_sapiens; Venter et al. 2001; International Human Genom Sequencing Consortium 2001). Auch die chromosomale Organisationsform ist sehr ähnlich: Die Geschlechtschromosomen X und Y entsprechen sich funktionell, und den 23 Paaren autosomaler Chromosomen des Menschen stehen 19 Chromosomenpaare der Maus gegenüber. Über 90% des Genoms von Maus und Mensch können in entsprechende Abschnitte konservierter Syntenie unterteilt werden.Dies entspricht den Regionen, in denen die Reihenfolge der Gene in beiden Spezies in der Evolution erhalten blieb. Die Maus hat aber in solchen Genfamilien eigenständige Entwicklungen durchlaufen, die für die Reproduktion, die Immunität und die Entwicklung des Geruchssinns verantwortlich sind. Das deutet darauf hin, dass diese physiologischen Systeme für die Maus besonders
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Kapitel 13: Entwicklungsgenetik
wichtig sind. In den frühen Abschnitten der Embryonalentwicklung sind Maus und Mensch allerdings kaum zu unterscheiden. Prinzipielle Abläufe wie Oogenese, Spermatogenese, Befruchtung und Organentwicklung sind vergleichbar. Auch biochemische und physiologische Abläufe sind in vielen Fällen bei Mensch und Maus ähnlich. Mäuse haben unter optimalen Lebensbedingungen eine Lebenserwartung von 2 bis 3 Jahren.
13.5.1 Embryonalentwicklung von Säugern Der Lebensyzyklus der Maus von der Befruchtung bis zum geschlechtsreifen Tier dauert neun Wochen – für einen Säuger eine relativ kurze Zeitspanne (vgl. dazu einen Teil des entsprechenden Zyklus des Menschen in Abb. 13.49). Das Ei wird noch im Eileiter befruchtet; hier erfolgt auch die erste Furchungsteilung nach
2-Zellstadium
Spermium (n)
22 Tage 24 Tage Zygote (2n)
Morula 3-4 Tage
28 Tage
Ei (n)
32 Tage
6,5 Wochen
9 Wochen 24 Wochen
13 Wochen 17 Wochen
Abb. 13.49. Lebenszyklus des Menschen. Die haploide Phase ist durch rote Pfeile hervorgehoben. (Embryonalstadien nach England 1990)
13.5 Entwicklungsgenetik bei Säugern
etwa 24 Stunden. In diesem Stadium ist das befruchtete Ei bzw. der sich entwickelnde Embryo von einer äußeren Schutzhülle umgeben, der Zona pellucida, die aus Mucopolysacchariden und Glykoproteinen besteht. Alle weiteren Furchungsteilungen folgen in Intervallen von 12 Stunden. Auf diese Weise entsteht eine kompakte Zellkugel, die Morula. Im 8-Zell-Stadium vergrößern die Blastomere die Kontaktflächen, über die sie sich berühren (Verdichtung). Danach sind die Zellen polarisiert: Auf ihren äußeren Oberflächen befinden sich Mikrovilli, die inneren sind dagegen glatt. Die weiteren Furchungsteilungen verlaufen in unterschiedlichen Orientierungen, so dass eine Morula im 32-Zell-Stadium 10 innere und 22 äußere Zellen enthält. Eine Eigenheit der Säugerentwicklung ist, dass aus den schon im Morulastadium angelegten zwei Zellgruppen zwei unterschiedliche Gewebe hervorgehen: Die inneren Zellen bilden die innere Zellmasse, aus der sich der eigentliche Embryo entwickelt, und die äußeren Zellen bilden das Trophectoderm, das sich zu extraembryonalen Strukturen wie der Plazenta entwickelt. In diesem Stadium (dreieinhalb Tage nach der Befruchtung) bezeichnet man den Embryo als Blastocyste. Das Trophectoderm pumpt jetzt Flüssigkeit in das Innere der Blastocyste, so dass sie sich zu einem Vesikel weitet (Abb. 13.50) Nun teilt sich die innere Zellmasse: Aus der Schicht an der Oberfläche wird das primitive Entoderm, das an der Bildung der extraembryonalen Membranen beteiligt ist, und aus den übrigen Zellen der inneren Zellmasse entwickelt sich das primitive Ektoderm (auch Epiblast genannt). Erst nach viereinhalb Tagen nistet sich der Embryo in der Gebärmutterwand ein, nachdem er die Zona pellucida verlassen hat. In dieser Phase sind dann auch die anterior-posteriore und dorsal-ventrale Achse des Embryos endgültig festgelegt. Es gibt aber deutliche Hinweise darauf, dass schon die Eintrittsstelle des Spermiums und die Position des zweiten Polkörperchens an der Definition der Achsen beteiligt sind. Einen Überblick über die wichtigsten Differenzierungsschritte in der Embryonalentwicklung und die sich entwickelnden embryonalen und extraembryonalen Gewebe gibt Abb. 13.51. Wir haben im Kapitel über Stammzellen (Kap. 12.1) gesehen, dass embryonale Stammzellen aus dem frühen Morulastadium totipotent sind. Ein wichtiges Gen zur Aufrechterhaltung der Totipotenz in diesem Stadium ist Oct4. Während noch alle Blas-
Blastocyste
innere Zellmasse
Embryo Trophoblast
Trophoblast
Dottersack
Blastocoel
Abb. 13.50. Frühentwicklung der Säuger (vgl. Abb. 13.51). Nach den ersten Furchungen bildet sich zunächst eine Morula, die sich nach weiteren Zellteilungen zur Blastocyste weiterentwickelt. Die Blastocyste enthält die innere Zellmasse, die sich zum eigentlichen Embryo weiterentwickelt, und die äußersten Trophoblasten, die das extraembryonale Gewebe bilden
tomeren bis hin zur Morula Oct4 exprimieren, findet sich nach der Differenzierung in innere Zellmasse und Trophectoderm Oct4-Expression nur noch in der inneren Zellmasse und wird später auf das primitive Ektoderm und die Vorläuferzellen der Keimzellen beschränkt. Ein Verlust der Oct4-Genaktivität ist für den Embryo letal, da er dann die Fähigkeit verliert, das primitive Ektoderm auszubilden. Die Gastrulation findet während der nächsten Tage statt. 6 Tage nach der Befruchtung hat sich im Epiblasten eine innere Höhle mit der Form eines Bechers mit einem U-förmigen Querschnitt gebildet. Aus dieser gekrümmten Epithelzellschicht (in diesem Stadium ca. 1000 Zellen) entwickelt sich der eigentliche Embryo. Seine Körperachse wird nach etwa sechseinhalb Tagen erstmals sichtbar, wenn mit der Bildung des Primitivstreifens (engl. primitive streak) die Gastrulation einsetzt. Der Streifen beginnt als eine lokale Verdickung an einer Stelle außen am Becher; hier befindet sich das spätere Hinterende des
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Kapitel 13: Entwicklungsgenetik
Abb. 13.51. Hauptschritte der Zelldifferenzierung in der Frühentwicklung der Säuger. Zellinien, die zur Bildung des Embryos selbst beitragen, sind rot hervorgehoben, während
Zellinien, die Hilfsfunktionen ausüben, aber nicht Teile des Embryos selbst ausbilden, blaugrau dargestellt sind (vgl. Abb. 13.50)
Embryos. Die Innenseite wird dann zur Dorsalseite des Embryos. Proliferierende Epiblastenzellen wandern durch den Primitivstreifen hindurch, breiten sich zur Seite und nach vorne hin zwischen dem Ektoderm und dem viszeralen Entoderm aus und bilden so das Mesoderm. Der Primitivstreifen verlängert sich zunächst in Richtung des späteren Vorderendes des Embryos. Dort bildet sich ein Bereich, in dem die Zellen dicht gepackt sind und der als Primitivknoten (engl. Hensen’s node) bezeichnet wird. Aus Zellen, die durch den Primitivknoten nach vorne wandern, entsteht direkt in der Mittellinie die Chorda dorsalis (engl. notochord). Auf beiden Seiten bildet sich in zwei Streifen das paraxiale Mesoderm, das die Zellpopulationen für das somitische Mesoderm liefert, aus dem durch Abknospung die ersten segmentierten Strukturen des Embryos, die Somiten
(engl. somites), entstehen. Eine schematische Darstellung eines Mausembryos in diesem Stadium (zwischen den Tagen 7,5 und 8,5 der Embryonalentwicklung) gibt Abb. 13.52. Somiten differenzieren unter dem Einfluss des Notochords und des darüber liegenden Oberflächenektoderms in Sklerotom (später entwickelt sich daraus das Skelett), Myotom (später entwickelt sich daraus das Muskelgewebe) und Dermatom (später entwickelt sich daraus das Hautgewebe). Eine zentrale Rolle in dieser Phase der Gastrulation spielt das Gen sonic hedgehog (Shh), das mit dem hedgehog-Gen von Drosophila eng verwandt ist. Es wird im Notochord exprimiert und beeinflusst als Morphogen alle umliegenden Gewebe. Mutationen im Shh-Gen führen bei der Maus zu massiven Defekten bei der Ausbildung der Mittellinie; es findet keine
13.5 Entwicklungsgenetik bei Säugern
Abb. 13.52a–d. Bildung der Neuralplatte. Blick auf einen Mausembryo von der linken Seite (a, b) und von oben (c, d) an den Tagen 7,5–8,0 (a, c) bzw. 8,5 (b, d) der Embryonalentwicklung. Am Tag 7,5–8,0 der Embryonalentwicklung befindet sich der Primitivknoten anterior des Primitivstreifens; durch konvergente Zellbewegungen auf die Mittellinie hin verlängert sich der Embryo in dem Bereich, der anterior des Primitivknotens liegt. Am Tag 8,5 der Embryonalentwicklung bedeckt der Primitivstreifen nur den caudalen Bereich des Embryos mit der Neuralplatte, die beidseitig von je fünf Somiten flankiert wird. Die Neuralleisten, die sich auf der Höhe des 3. Somiten befinden, nähern sich in der Mitte an, um die erste Verschluss-Stelle zu bilden. (Nach Copp et al. 2003)
Bildung der Somiten statt und die spätere Induktion der Neuralplatte unterbleibt. Eine Übersicht über den Einfluss von Shh gibt Abb. 13.53. Es wurden noch eine Reihe weiterer Mausmutanten mit Defekten in der Gastrulation identifiziert und molekular charakterisiert. Es würde allerdings den Rahmen dieses Buches sprengen, dies im Detail zu erörtern. Ein Aspekt soll aber dennoch angesprochen werden, der bereits bei der homöotischen Transformation von Drosophila erwähnt wurde. Wir haben dort gesehen, dass die segmentale Identität durch die Gene des Antp- bzw. Bx-Komplexes vermittelt werden. Dieses sog. Hox-Cluster ist bei Säugetieren durch zweifache Duplikation vervierfacht (s. Abb. 13.38). Die Reihenfolge der Gene auf dem Chromosom entspricht der Reihenfolge, in der die Gene entlang der anterior-posterioren Körperachse
aktiviert werden (Colinearität zwischen der Position der Gene auf dem Chromosom und den Orten ihrer Expression). Das bedeutet, das die Gene am 3’-Ende des Clusters früh und anterior, und die Gene am 5’Ende später und weiter hinten im Embryo exprimiert werden. Man sieht dabei wechselnde Expressionsmuster, die sich wellenförmig über große Bereiche des Embryos ausbreiten. Bei Ausbildung der longitudinalen Körperachse werden alle Vertreter der vier HoxCluster mit scharfen anterioren Grenzen exprimiert, doch sind die Vordergrenzen nicht für alle entsprechenden Gene gleich. Daraus ergibt sich für die Definition bestimmter Segmentbereiche eine Zuordnung zur Expression der jeweiligen Hox-Gene – dies wird auch als Hox-Code bezeichnet (Kessel u. Gruss 1991). Gesteuert wird die Expression der Hox-Gene u. a. durch einen Gradienten von Retinsäure (engl. retinoic acid; Oxidationsprodukt des Vitamin A). In hohen Dosen hat Vitamin A daher teratogene Effekte, die sich in der Verkrüppelung der Extremitäten darstellen. Am Ende der Gastrulation beginnt die Entwicklung des Nervensystems, ein Prozess, der auch als Neurulation bezeichnet wird. Durch Induktion des sich bildenden Mesoderms entsteht in dem darüber liegenden Oberflächenektoderm die Neuralplatte. Durch Proliferation wächst die Neuralplatte und faltet sich dabei zunächst nach innen (Neuralfalte), bevor sich die Neuralfalten annähern und verbinden. Damit schnüren sie sich vom Oberflächenektoderm ab und schließen sich zum Neuralrohr (engl. neural tube). Eine Übersicht über diesen Prozess gibt Abb. 13.54. Im Kopfbereich des Neuralrohrs entsteht die Anlage des Gehirns, während sich die eher posterioren Teile zum Rückenmark ausbilden. An den Rändern der sich auffaltenden Neuralplatte entsteht eine Population von Zellen, die als Neuralleistenzellen (engl. neural crest cells) bezeichnet werden. Sie zeichnen sich durch hohe Mobilität aus und bilden die Stammzellen für viele verschiedene Zelltypen (z. B. Pigmentzellen, Spinalganglien, Ganglien des vegetativen Nervensystems, Nervenzellen des Gastrointestinaltrakts oder Zellen des Nebennierenmarks). Ein entscheidender Schritt in diesem Prozess ist das Schließen des Neuralrohrs, das offensichtlich an drei verschiedenen Bereichen unabhängig initiiert wird: Zunächst im Bereich des Übergangs des Hinterhirns zur (späteren) Wirbelsäule im Stadium von 6 bis 7 Somiten (E 8,5); von hier breitet sich der Verschluss des Neuralrohr nach rostral und caudal weiter aus. Der zweite Initiationspunkt liegt an der
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Kapitel 13: Entwicklungsgenetik
Abb. 13.53a–d. Sonic-hedgehog-Signale im Wirbeltierembryo. Das vom Gen sonic hedgehog (Shh) kodierte Protein kann in einer membranassoziierten Form exprimiert werden oder in einer Form, die sich von der Oberfläche der produzierenden Zelle ablöst und in die Zellzwischenräume diffundiert, wo es entfernte Ziele erreichen kann. a Shh, das von der Chorda direkt dem darüberliegenden Neuralrohr präsentiert wird, induziert die Bildung der Bodenplatte (engl. floor plate) im Neuralrohr.
b Anschließend produziert die Bodenplatte selbst ein Shh-Signal, das die Neuroblasten stimuliert, zu Motoneuronen zu werden (c, d). Shh, das von der Chorda in die umgebenden Räume entlassen wird, stimuliert die Zellen des Sklerotoms, aus den Somiten auszuwandern (b) und sich um die Chorda zu scharen. Hier bilden sie einen Teil der Wirbelkörper (d). (Nach Müller u. Hassel 1999)
Abb. 13.54a–d. Morphologische Veränderungen während der Neurulation entlang der sich entwickelnden Körperachse. Während der Tage 8,5-10 der Embryonalentwicklung verschiebt sich der posteriore Neuroporus unter die Körperachse. Nach der einleitenden Faltung der Neuralleiste (a) variiert ihre
Morphologie entlang der Körperachse, wobei im oberen Körperbereich die Faltung nur an dem medianen Scharnierpunkt zu finden ist (b), im mittleren Körperabschnitt beide Scharnierpunkte (c) und im unteren Körperabschnitt nur der dorsolaterale Scharnierpunkt (d). (Nach Copp et al. 2003)
13.5 Entwicklungsgenetik bei Säugern
Grenze zwischen Vorder- und Mittelhirn, und der dritte Initiationspunkt befindet sich an der äußerst rostralen Seite des Vorderhirns. Abb. 13.55 zeigt zwei verschiedene Mausmutanten am Tag 15,5 der Embryonalentwicklung mit klassischen Neuralrohrdefekten, die auf Fehler im Schluss des Neuralrohrs basieren. Nach achteinhalb Tagen, im Endstadium der Gastrulation, kommt es im Embryo auch zu umfassenden Faltungen, in deren Verlauf sich das Entoderm, das zunächst die ventrale Oberfläche des Embryos bedeckt, nach innen verlagert und den Darm bildet. Herz und Leber nehmen ihre endgültige Stellung im Verhältnis zum Darm ein, und der Kopf beginnt sich abzuzeichnen. Der Embryo dreht sich dann so, dass er von seinen extraembryonalen Membranen eingehüllt ist. Nach 9 Tagen ist die Gastrulation beendet: Der Kopf des Embryos ist deutlich zu erkennen und die Vorderextremitäten beginnen sich zu entwickeln. Am 10. Tag nach der Befruchtung hat bereits die Entwicklung aller Organe eingesetzt.
Abb. 13.55 a,b. Mausmutanten mit Neuralrohrdefekten. Mäuseembryonen nach 15,5 Tagen der Embryonalentwicklung zeigen das Auftreten von a Craniorachischisis in der Celsr1-Mutante und b Exenzephalie und eine offene Spina bifida in einer curly tail (ct)-Mutante. Bei der Craniorachischisis ist das Neuralrohr vom Mittelhirn bis zum unteren Bereich der Wirbelsäule offen (a: zwischen den dünnen Pfeilen). In dem in b gezeigten Embryo ist die Exenzephalie auf das Mittelhirn beschränkt (b: dünner Pfeil), wohingegen die Spina bifida die lumbo-sacrale Region betrifft (b: Pfeilspitze). Beachte den geringelten Schwanz in beiden Embryonen (a, b: dicke Pfeile). (Nach Copp et al. 2003)
13.5.2 Entwicklung von Zwillingen beim Menschen Genetische Einflüsse auf die menschliche Entwicklung lassen sich in der Humangenetik durch die Zwillingsforschung erkennen. Wie wir oben in der Zusammenstellung gesehen haben, ist die Ausbildung der Embryonalhäute (Amnion und Chorion) ein wichtiger Schritt in der frühen Embryonalentwicklung. Diese Embryonalhäute üben einerseits Schutzfunktionen, andererseits aber auch Ernährungsfunktionen aus. Für uns ist an dieser Stelle die Ausbildung der äußeren Embryonalhaut, des Chorions, von besonderem Interesse. Bei der Entwicklung von Zwillingen können zwei Arten des Chorions entstehen, entweder ein einheitliches, das beide Embryonen umschließt (Abb. 13.56b) oder zwei getrennte Embryonalhäute, jede für einen der Embryonen (Abb. 13.56 c). Dizygote Zwillinge haben stets getrennte Embryonalhäute (Abb. 13.56a), während bei mehr als zwei Drittel der monozygoten Zwillingen ein gemeinsames Chorion gebildet wird. Bei diesen Zwillingen ist die Entstehung der beiden Individuen erst nach der Bildung des Blastocysten durch Teilung der Inneren Zellmasse erfolgt, da die äußere Zellage des Blastocysten (das Trophectoderm) das Chorion bildet (Abb. 13.50). Ist die Teilung der Individuen bereits im Zweizellenstadium oder spätestens bis zum Morulastadium (etwa 16 Zellen) erfolgt, bilden sich zwei Blastulae und damit zwei getrennte Chorions. Ob sich monozygote Zwillinge in einem Chorion oder in getrennten Embryonalhäuten entwickelt haben, ist deshalb von Bedeutung, weil Individuen in einem einzigen Chorion ein viel einheitlicheres Milieu während der gesamten pränatalen Entwicklung vorfinden als im Falle getrennter Embryonalhäute. Der Vergleich monozygoter Zwillinge monochorionischen Ursprungs mit solchen dichorionischen Ursprungs sollte uns Aufschlüsse über das Ausmaß entwicklungsbedingter (also umweltbedingter) Einflüsse auf die Ausprägung erblicher Eigenschaften gestatten, da ja die erblichen Eigenschaften identisch sind.
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Kapitel 13: Entwicklungsgenetik
Abb. 13.56a–c. Zwillinge im Uterus. a Dizygote Zwillinge haben stets zwei getrennte Plazenten und getrennte Amnions. b und c Monozygote Zwillinge haben eine gemeinsame Pla-
! Zwillinge können eineiig (monozygot) oder zwei-
eiig (dizygot) sein. Dizygote Zwillinge entstehen durch gleichzeitige Befruchtung zweier Eizellen durch zwei Spermien. Die genetische Konstitution entspricht daher der beliebiger Geschwisterpaare. Monozygote Zwillinge gehen auf ein einziges befruchtetes Ei zurück. Sie entstehen durch Teilung der sich entwickelnden inneren Zellmasse zu einem früheren Zeitpunkt in der Embryonalentwicklung. Die weitere Embryogenese kann, abhängig vom Zeitpunkt der Teilung, in einem einzigen Chorion oder in zwei getrennten Chorions verlaufen. Die Untersuchung der Ausprägung von Merkmalen bei eineiigen Zwillingen vermag durch einen diskordanten oder konkordanten Phänotyp Hinweise über die erblichen Komponenten eines bestimmten Merkmals zu geben.
13.5.3 Teratogene Effekte Wir haben in den früheren Abschnitten über Modellorganismen der Entwicklungsgenetik gesehen, dass die molekulare Charakterisierung von Mutanten
zenta, können aber, je nach dem Zeitpunkt der Teilung der inneren Zellmasse, ein (b) oder zwei (c) Amnions besitzen
wesentlich dazu beiträgt, die jeweiligen Mechanismen zu verstehen. Dies gilt auch in besonderer Weise für die Säugetiere und insbesondere für den Menschen, wie wir im nächsten Kapitel über Humangenetik noch sehen werden. Allerdings gibt es in der Medizin immer wieder Krankheitsformen, die durch Schädigungen des Embryos von außen hervorgerufen werden. Solche Erkrankungen nennen wir teratogen. Oftmals muss aber das schädigende Agens auf eine ganz spezielle Entwicklungssituation treffen, um seine Wirkung zu entfalten. In der experimentellen Biologie kann man natürlich auch die Wirkung bestimmter Stoffe auf die Embryonalentwicklung systematisch untersuchen. Ein besonders erschütterndes Beispiel ist mit dem Namen Contergan® verbunden.Um 1960 wurde das Medikament Thalidomid (Firmenproduktbezeichnung: Contergan®) (Abb. 13.57a) bei Schlafstörungen häufig verschrieben. Allmählich fiel es auf, dass nach Einnahme dieses Schlafmittels während früher Phasen einer Schwangerschaft häufig Kinder geboren wurden,die unvollständig entwickelte Gliedmaßen besaßen, also eine Entwicklungsstörung aufwiesen, die als Phocomelie bezeichnet wird (Abb. 13.57b). Die nähere Untersuchung dieses Phänomens zeigte, dass Thalidomid in der Tat während einer eng
13.5 Entwicklungsgenetik bei Säugern
Tabelle 13.4.
Contergan®-Schäden
Entwicklungstag
Missbildung
21
Gehörlosigkeit, Facialislähmung, Augenmuskellähmung
23
Missbildung des Daumens
24 – 26
Fehlen oder weitgehender Verlust der Arme
27–29
Nierenmissbildungen, Analatresie
29 – 31
Armmissbildungen, Fehlen der Beine, Herzmissbildungen, Duodenalmissbildungen
30 – 33
Beinmissbildungen, Herzmissbildungen
36
Triphalangie des Daumens, Analstenose
Tage nach Konzeption, berechnet unter der Annahme, dass diese 14 Tage nach der Menstruation erfolgte. Es können Abweichungen bis zu 5 Tagen erfolgen. Aus Lenz (1970) Abb. 13.57 a,b. a Chemische Struktur von Thalidomid, b Thalidomidembryopathie. Phänotyp eines Kindes mit Entwicklungsstörungen aufgrund der Einnahme von Thalidomid durch die Mutter während der Schwangerschaft. Das Medikament wurde während der Entwicklung der Gliedmaßen eingenommen (s. Tabelle 13.4) und verhinderte deren normale Entwicklung. (Aus Tariverdian u. Buselmaier 2004)
begrenzten Periode der Embryonalentwicklung eine Anzahl unterschiedlicher Entwicklungsstörungen hervorzurufen vermag (Tabelle 13.4). Diese teratogene Wirkung des Medikamentes wird ausschließlich zwischen dem 21. und 36. Tag der Embryonalentwicklung beobachtet (s. Abb. 13.49). Das frühe und zudem zeitlich sehr begrenzte Wirkungsspektrum machte es natürlich zunächst schwierig, die Wirkung des Medikamentes zu erkennen und genauer zu analysieren, bis nach der Geburt von etwa 7000 betroffenen Kindern in den frühen 1960er Jahren die Ursache von W. Lenz erkannt wurde: Eine einzige Tablette mit Thalidomid im kritischen Entwicklungszeitraum genügte, eine Missbildung beider Arme und Beine hervorzurufen. Die Untersuchung der Thalidomidembryopathie macht uns auf ein weiteres praktisches Problem aufmerksam. Der teratogene Effekt ist nämlich in Tierexperimenten mit Mäusen
und Ratten nicht nachweisbar. Allein bei Primaten sind begrenzte Effekte beobachtet worden, die im Wesentlichen in einer reduzierten Anzahl von Neuronen in den Spinalganglien bestanden. Möglicherweise ist das sogar der primäre Effekt des Thalidomids. Es könnte sekundär einen Effekt auf die Induktionsprozesse ausüben, die zur Entwicklung der Gliedmaßen erforderlich sind. Wir wissen, dass die korrekte Innervation entscheidenden Einfluss auf die Differenzierung von Organen ausüben kann. Auf jeden Fall wird an diesem Beispiel die Problematik von Tierexperimenten und ihrer Interpretation hinsichtlich der Auswirkungen von Medikamenten auf den Menschen deutlich sichtbar. Uns interessiert in diesem Zusammenhang aber auch die Tatsache, dass einige der in Tabelle 13.4 beschriebenen Missbildungen in gleicher Form auch als angeborene erbliche Defekte beobachtet werden können (Tabelle 13.5). Sie gleichen stark den Phänotypen des (dominanten) Oram-Holt-Syndroms und des Fanconi-Syndroms. Wir haben es also bei der Thalidomidembryopathie mit dem Beispiel einer Phänokopie einer Erbkrankheit zu tun, die durch das Medikament Thalidomid verursacht wird.
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Kapitel 13: Entwicklungsgenetik
Tabelle 13.5. Thalidomidembryopathie als Phänokopie genetischer Defekte. Vergleich zwischen der phänotypischen Ausprägung der Thalidomidembryopathie und zwei Erbkrankheiten, dem dominanten Oram-Holt-Syndrom und dem rezessiven autosomalen Fanconi-Syndrom Missbildung
Thalidomidembryopathie
Oram-Holt-Syndrom
Fanconi-Syndrom
Augenmuskellähmung
++
+
+
Phokomelie (3 Finger)
++
++
–
Radiusaplasie
++
++
++
Triphalangie Daumen
++
+
–
Herzfehler
++
++
+
Nierenmissbildungen
++
–
++
Duodenalatresie
++
–
+
Facialislähmung
++
–
+
Gehörgangatresie
++
–
+
++ häufig, + selten, – nicht beobachtet Nach Lenz (1970)
Wenn wir die Ursachen für die Entstehung von Phänokopien verstehen wollen, müssen wir uns darüber bewusst sein, dass diese durchaus identisch mit den genetischen Ursachen für einen bestimmten Phänotyp sein können. Stellen wir uns einerseits vor, dass ein (erblicher) Phänotyp durch die permanente Inaktivierung eines Gens (also dessen Ausfall) verursacht wird, so ist es ebensogut auch vorstellbar, dass dasselbe Gen, obwohl in voll funktioneller Form im Genom vorhanden, durch äußere Einflüsse, etwa durch eine spezifisch darauf einwirkende chemische Verbindung, während des maßgeblichen Zeitraumes in seiner Funktion gestört wird. Das würde zu dem gleichen Phänotyp führen, wie er bei einem defekten Gen entsteht. Der einzige Unterschied ist, dass die umweltbedingte Inaktivität nicht erblich ist, so dass also alle Nachkommen einen normalen Phänotyp besitzen. Unter Thalidomideinfluss konnte in Einzelfällen eine diskordante Ausprägung von Entwicklungsdefekten bei Zwillingen beobachtet werden. Diese Beobachtung ist in Zusammenhang mit unseren vorangehenden Beobachtungen über Differenzen in den Ommatidienzahlen in Komplexaugen von Drosophila
interessant. Wie bereits dort erörtert (s. S. 621), können während der Entwicklung geringfügige Differenzen in der Entwicklungsgeschwindigkeit der Embryonen auftreten, die wiederum Folgen für die Ausprägung von Merkmalen haben können. Offenbar treten bei Zwillingen bisweilen Unterschiede von mehreren Tagen in der Entwicklungsgeschwindigkeit auf, die zur Folge haben, dass bei Thalidomidgabe einer der Embryonen medikamentös geschädigt wird, der andere aber nicht, da er sich nicht mehr oder noch nicht im kritischen Entwicklungsstadium befand. Vergleichbare teratogene Wirkungen können durch die unterschiedlichsten Medikamente, durch Nikotingenuss und andere umweltbedingte Einflüsse während der Schwangerschaft verursacht werden. In vielen Fällen sind Embryopathien in ihren Ursachen noch viel schwieriger zu ermitteln als beim Thalidomid, das wegen seines charakteristischen Wirkungsspektrums noch relativ schnell als Ursache erkannt worden war. Zu den schwerwiegenden Embryopathien gehört die Alkoholembryopathie, die durch Alkoholgenuss während der Schwangerschaft ausgelöst wird (Abb. 13.58). Sie äußert sich in schwer-
13.5 Entwicklungsgenetik bei Säugern
! Die Milieuempfindlichkeit der Merkmalsausprä-
gung im Phänotyp hat zur Folge, dass die Einwirkung bestimmter Substanzen wie Medikamente, Alkohol, Nikotin u. a. während der Embryonalentwicklung schwere irreversible, aber nicht-erbliche Schäden hervorrufen kann. Diese Schäden gleichen oft Phänotypen, die auch erblich bedingt sein können, da sie auf der Störung normaler Genfunktionen beruhen können, wie sie auch durch Mutationen induziert werden.
13.5.4 Organentwicklung bei Säugern
Abb. 13.58. Kind mit Alkoholembryopathie. Alkoholkonsum während der Schwangerschaft führt zu schweren Entwicklungsstörungen des Kindes, die geistige Retardation, aber auch Organmissbildungen einschließen. (Aus Tariverdian u. Buselmaier 2004)
wiegender Retardation der geistigen Entwicklung (mittlerer Intelligenzquotient (IQ) von 68) und in allgemeinen Entwicklungsstörungen. Beispielsweise haben Alkoholembryopathiepatienten bei einem mittleren Lebensalter von 16 1⁄2 Jahren nur das Vokabular von 6 1⁄2jährigen. Man nimmt an, dass 1/3 bis die Hälfte der Kinder von Alkoholikerinnen, die während der Schwangerschaft regelmäßig Alkohol zu sich nehmen, von Entwicklungsstörungen betroffen sind. In Deutschland und den USA rechnet man mit einer Häufigkeit solcher Defekte von etwa 1 in 500 bis 750 Neugeborenen. In der Häufigkeit congenitaler mentaler Defekte liegen sie damit unmittelbar hinter dem Down Syndrom (s. S. 669) und der Spina bifida. Das Beispiel der Thalidomidembryopathie lehrt uns aber auch, dass bereits eine einmalige Einnahme einer schadenverursachenden Substanz während der Schwangerschaft schwerwiegende Folgen für das Kind mit sich bringen kann. Ebenso kann natürlich bereits ein einmaliger Alkoholgenuss zu Fehlentwicklungen führen. Es kann hier ein ähnlicher Wirkungsmechanismus zu Grunde liegen, wie er für die Thalidomidwirkungen erörtert wurde.
Nach der endgültigen Festlegung der Körperachse entsteht im Verlauf der weiteren Embryonalentwicklung eine Vielzahl von Organen. Die Entscheidung, an welcher Stelle und zu welchem Zeitpunkt Organe ausgebildet werden, wird durch verschiedene Induktionsprozesse gesteuert, deren detaillierte molekulare Untersuchung derzeit Gegenstand vieler experimenteller Arbeiten ist. Eine Reihe von Genfamilien taucht dabei in Variationen immer wieder auf; wir haben auch einige Vertreter schon bei Drosophila und Caenorhabditis kennengelernt: Es sind die Hox-, Pax-, BMP-, hedgehog-, Fgf- und Wnt-Gene, die wichtige Funktionen in diesen Prozessen ausüben. Wir wollen uns im Rahmen dieses Buches auf die Entwicklung der Augen und der Gliedmaßen beschränken. Beide Aspekte wurden auch bei Drosophila bereits behandelt (Kap. 13.3.7), so dass interessante Querbeziehungen hergestellt werden können.
Augenentwicklung bei Säugern Während der Gastrulation ist das sich entwickelnde Auge noch als ein zentrales Augenfeld im vorderen Kopfbereich lokalisiert (Abb. 13.59a). Unter dem Einfluss von Genen, die für die Ausbildung der Mittellinie verantwortlich sind (also vor allem Shh), teilt sich das Augenfeld auf und wandert seitwärts. Der Ausfall von Shh in einer entsprechenden knockout-Mutante der Maus führt zur Ausbildung einer zentralen Augenanlage („Zyklopenauge“), die sich aber nicht weiter entwickelt. Die Auswirkungen auf die Entwicklung des Gehirns und des gesamten Kopfbereichs sind jedoch so massiv, dass diese Mausmutante nicht lebensfähig ist. Eine vergleich-
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Kapitel 13: Entwicklungsgenetik
Abb. 13.59a–d. Schema der Augenentwicklung bei Säugern. a In den frühen Phasen der Embryonalentwicklung teilt sich das zentrale Augenfeld in zwei Augenanlagen. Die Linsenplakoden stülpen sich ein und bilden nach dem Abschnüren vom Oberflächenektoderm das Linsenbläschen. Aus dem Linsen-
bläschen entwickelt sich die Linse (b), aus dem Oberflächenektoderm bildet sich die Hornhaut (c) und die Retina entsteht aus den beiden Schichten des Augenbechers (d; RPE: retinales Pigmentepithel). (Nach Graw 2003)
13.5 Entwicklungsgenetik bei Säugern
bare Erbkrankheit des Menschen ist die Holoprosenzephalie. Üblicherweise beginnt die Darstellung der Augenentwicklung mit der paarigen Entstehung der Linsenplakode als Verdickung des Oberflächenektoderms (bei der Maus am Tag 9,5 der Embryonalentwicklung). Die Plakoden können allgemein als Anlagen der Sinnesfelder im Ektoderm des Embryos aufgefasst werden. Die Linsenplakode steht in engem Kontakt mit dem darunter liegenden Neuroektoderm des Dienzephalons.Dadurch wird die Einstülpung der Linsenplakode induziert. Die gebildete Linsengrube schließt sich zu einem Linsenbläschen zusammen (E11,5) und schnürt sich vom Oberflächenektoderm ab. Das neugebildete Oberflächenektoderm entwickelt sich weiter zur Hornhaut (Cornea), während das doppelwandige Neuroektoderm zur Netzhaut (Retina) wird: Der äußere Teil bildet das Pigmentepithel und der innere Teil die Neuroretina. An der Spitze des doppelwandigen Augenbechers entwickeln sich Iris und Ciliarkörper, wohingegen die Verbindung des Augenbechers zum Zwischenhirn (der Augenbecherstil) den Platz bereitstellt, in dem der Sehnerv retrograd zum Gehirn auswächst. Die Linse (Abb. 13.59b) entwickelt sich aus dem Linsenbläschen, indem von posterior zunächst die primären Linsenfasern in das Lumen des Linsenbläschens einwachsen und es ausfüllen. In einem zweiten Schritt lagern sich die sekundären Linsenfaserzellen appositionell auf die primären Faserzellen auf. Dieser Prozess der Bildung sekundärer Faserzellen aus der germinativen Zone des anterioren Linsenepithels hält ein Leben lang an. Da aber umgekehrt keine Zellen in der Linse absterben, enthält der zentrale Linsenkern Zellen, die so alt sind wie der Organismus selbst. Um beim Lichteinfall durch die Linse keine störenden Streulichteffekte zu bewirken, werden im Zuge der terminalen Faserzelldifferenzierung im Zentrum der Linse alle Zellorganellen (Zellkerne und Mitochondrien) abgebaut. Die inneren Zellen werden über kleine Membrankanäle (engl. gap junctions) mit Metaboliten aus den anterioren Epithelzellen versorgt. Die Augenentwicklung beim Menschen verläuft im Prinzip ähnlich. Das Augenbläschen bildet sich in der 4. Schwangerschaftswoche, und 1 Woche später das Linsenbläschen. Am Ende der 5. Woche ist die Linse mit den primären Linsenfasern gefüllt und der Differenzierungsprozess kann beginnen. Die Hornhaut bildet sich als Ergebnis verschiedener Induktionsprozesse während der Augenentwick-
lung, wobei am Ende ein typisches Oberflächenektoderm in ein transparentes, vielschichtiges Gewebe transformiert wird (Abb. 13.59 c). Dazu tragen Zellen verschiedenen Ursprungs bei, vor allem Neuralleistenzellen. Unter dem Einfluss von Thyroxin und Hyaluronidase wird das Stroma der Hornhaut dehydratisiert und seine kollagenhaltige Matrix wird transparent. Die Retina bildet sich aus den zwei Schichten des Augenbechers (Abb. 13.59d). Die Zellen der äußeren Schicht bilden das Pigmentepithel. An den Rändern, wo die innere und die äußere Schicht ineinander übergehen, entwickelt sich die Iris und das Epithel des Ziliarkörpers (der Ziliarmuskel wird durch einwandernde Mesenchymzellen gebildet). Aus den Zellen der inneren Schicht entwickelt sich das vielschichtige Netzhautgewebe mit Gliazellen, Ganglienzellen und den lichtempfindlichen Photorezeptorzellen. Ein erster systematischer Ansatz zur Sammlung von Augenmutanen in der Maus wurde Ende der 1970er Jahre von Kratochvilova und Ehling begonnen, als sie männliche Keimzellen mit Röntgenstrahlen behandelten und die Nachkommen auf induzierte, erbliche Katarakte und äußerlich sichtbare Veränderungen der Augen (z. B. kleine Augen = Mikrophthalmie; engl.small eye) untersuchten.Die Methode wurde später auf die Induktion von Mutationen durch das chemische Mutagen Ethylnitrosoharnstoff (ENU) ausgeweitet und wird heute in vielen großen Labors in genetischen Screens angewendet.Aus den Experimenten der letzten 25 Jahre sind über 200 unabhängige Linien dominanter Augenmutanten der Maus hervorgegangen und in der Neuherberger Sammlung vorhanden (Favor und Neuhäuser-Klaus, 2000). Eine Übersicht über die wichtigsten Gene gibt Tabelle 13.6. Dabei zeigte sich, dass eine große Gruppe von Mutanten mit Mikrophthalmie auf Veränderungen im Pax6-Gen zurückgeführt werden können. Wir haben schon bei der Besprechung der Drosophila-Augenentwicklung gesehen, dass das Pax6-Gen der Säuger dem eyeless-Gen von Drosophila entspricht und dass es oft als Schlüsselgen (engl. master control gene) der Augenentwicklung bezeichnet wird. Heterozygote Mutanten der Maus zeichnen sich durch kleine Augen aus, homozygote Mutanten haben keine Augen und sind oft wegen weiterer Missbildungen nicht lebensfähig. Heterozygote Merkmalsträger des Menschen leiden an Aniridie, Katarakten (Linsentrübung) oder Peter’s Anomalie.Die ektopische Expression des Pax6Gens der Maus in Drosophila setzt die Kaskade der
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Kapitel 13: Entwicklungsgenetik
Tabelle 13.6. Wichtige Gene der Augenentwicklung bei Säugern Gen
Chromosom Mensch Maus
Phänotyp bei Mutationen Maus
Mensch
Transkriptionsfaktoren: Pax6
11p13
2 (58)
Aniridie, Peter’s Anomalie, einige mit Katarakt und Glaukom
Rx Sox2
18q21 3q26
18 (38) 3 (15)
Anophthalmie, Mikrophthalmie Anophthalmie, Mikrophthalmie
Pitx2
4q25
3 58)
Rieger-Syndrom
Pitx3
10q25
19 (47)
FoxC1
6p25
13 (20)
FoxE3
1p32
4 (50)
Eya1
8q13
1 (10)
Maf
16q23
8 (61)
Katarakt; Fehlbildungen im vorderen Augenabschnitt Fehlbildungen im vorderen Augenabschnitt Fehlbildungen im vorderen Augenabschnitt Peter’s Anomalie, Katarakt, Nystagmus; Erkrankungen des Ohrs und der Niere Katarakt, Mikrophthalmie, Fehlbildungen im vorderen Augenabschnitt
Chx10 Mitf
14q24 3q14
12 (38) 6 (40)
Mikrophthalmie und Katarakt Waardenburg-Syndrom
Pax2
10q22
19 (43)
Msx2
5q34
13 (32)
Anomalien am Auge (Kolobom) und an der Niere Missbildungen des Gesichtsschädels incl. des Auges
Mikrophthalmie, Katarakt, Hornhauttrübung; homozygot: keine Augen und nicht lebensfähig homozygot: Anophthalmie heterozygot: kein Phänotyp; homozygot: letal heterozygot: Rieger-Syndrom; homozygot: letal homozygot: keine Linse heterozygot: Fehlbildungen im vorderen Augenabschnitt; homozygot: letal heterozygot: milde Linsenanomalien; homozygot: keine Linse viele Symptome außerhalb des Auges; homozygot: letal heterozygot: Katarakt; homozygot: Mikrophthalmie, Katarakt und Erkrankungen in anderen Organen (z. B. Niere) Mikrophthalmie Mikrophthalmie; verschiedene rezessive und dominante Allele Anomalien am Auge (Kolobom) und an der Niere bei Überexpression Apoptose im Augenbläschen
Signalmoleküle: Shh
7q36
5 (16)
BMP4
14q22
14 (15)
?
BMP7
20q13
2 (102)
?
Nach Graw (2003)
Holoprosenzephalie
Zyklopenauge; schwere allg. Entwicklungsstörungen heterozygot: Fehlbildungen im vorderen Augenabschnitt; homozygot: keine Linseninduktion bei Überexpression Schädigung der Retina und der Linse
13.5 Entwicklungsgenetik bei Säugern
Augenentwicklung in Gang: In einem bahnbrechenden Experiment (Halder et al. 1995) konnten Walter Gehring und seine Mitarbeiter 1995 zeigen, dass dadurch an Antennen oder Gliedmaßen von Drosophila elektrophysiologisch aktive Ommatiden-Augen gebildet werden.Damit hat sich die Hypothese der getrennten Evolution der Ommatiden-Augen und Linsenaugen als falsch herausgestellt (siehe auch Kap. 13.3.7; Abb. 13.44). Ein weiteres interessantes Gen ist Pitx3. Es ist ein Transkriptionsfaktor mit dem charakteristischen Merkmal einer Homöobox, der während der frühen Linsenentwicklung exprimiert wird. Mutationen dieses Gens zeigen bei Menschen in verschiedenen Familien Fehlentwicklungen des vorderen Augenabschnitts, die mit Katarakten verbunden sind; das humane PITX3-Gen liegt auf dem Chromosom 10q24. Bei der Maus liegt es auf dem Chromosom 19 und wird bei der Mutante aphakia nicht exprimiert. Die homozygote Mutante aphakia (ak) wurde als beidseitig aphak („ohne Linse”) beschrieben; auch eine Pupille wird nicht gebildet. Die anomale Augenentwicklung homozygoter ak-Mäuse wird zuerst im Stadium des Linsenbläschens beobachtet und führt zu einem Stillstand der Linsenentwicklung auf der Stufe des Linsenstils; dieses Stadium ist üblicherweise nur ein Zwischenschritt bei der Abschnürung des Linsenbläschens. Die späteren Veränderungen betreffen die Entwicklung des gesamten Auges und führen schließlich zu einem vollständigen Zusammenbruch der morphologischen Augenstrukturen. Das Gen Pax2 ist für die Entwicklung des posterioren Augenabschnitts und die Entwicklung des Sehnervs verantwortlich. Heterozygote Pax2-Mutanten der Maus zeichnen sich durch ein Kolobom des Sehnervs aus (Erhalt der embryonalen Augenbecherspalte); entsprechende Erbkrankheiten des Menschen sind ebenso beschrieben. Sowohl bei der Maus wie auch beim Menschen treten zusätzlich zu den Störungen der Augenentwicklung auch Nieren- und Gehirnschäden auf. Innerhalb der Sammlungen von Augenmutanten der Maus nimmt die Gruppe der γ-Kristallin-Mutanten den größten Platz ein. Die γ-Kristalline gehören zur Familie der β/γ-Kristalline. Das sind Strukturproteine der Augenlinse mit charakteristischen Faltungsmotiven (4 sog. Griechische Schlüsselmotive), die von insgesamt 13 Genen kodiert werden (Abb. 13.60). Die Gene für die γ-Kristalline sind in einem Cluster von 6 Genen (Cryga → Crygf) auf dem Chro-
Abb. 13.60. Die β/γ-Kristallin-Genfamilie. Die charakteristischen Faltungsmuster der β/γ-Kristalline sind die sog. „Griechischen Schlüsselmotive“ (orange). Sie sind für die optimale Packungsdichte in der Linse verantwortlich. In den CrybGenen wird jedes einzelne Motiv von einem Exon kodiert, bei den Cryg-Genen sind jeweils 2 Motive in einem Exon zusammengefasst. (Nach Graw u. Löster 2003)
mosom 1 der Maus lokalisiert. Diese eng verwandten Gene kodieren mit 3 Exons jeweils ein Protein mit einem Molekulargewicht von 20 kDa. Die Cryg-Gene werden bei Säugetieren spezifisch in der Linse exprimiert. Allerdings kommen beim Menschen nur noch 4 der 6 CRYG-Gene vor; zwei sind nur noch als Pseudogene aufgrund ihrer Sequenzähnlichkeit erkennbar. Alle bekannten Cryg-Mutationen bewirken ausschließlich Veränderungen der Linsenfaserzellen und betreffen kein anderes Gewebe; die Katarakt-Augen sind allerdings insgesamt immer kleiner als die Augen des Wildtyps (Abb. 13.61). Die wesentlichen Effekte der Mutationen in den Cryg-Genen sind Veränderungen im Differenzierungzustand der Linsenfaserzellen, die bereits am Tag 15 der Embryonalentwicklung einsetzen. Auch beim Menschen sind Mutationen in den CRYG-Genen als Ursache für angeborene Katarakte beschrieben. Überraschenderweise findet man in den Cryg-Genen der Maus und den CRYG-Genen des Menschen eine ganze Reihe von Polymorphismen, die aber nicht mit den angeborenen Linsentrübungen zusammenhängen. Es könnte aber sein, dass sie einen Einfluss auf die Ausbildung der sog. Alterskatarakt beim Menschen haben.
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Kapitel 13: Entwicklungsgenetik
Abb. 13.62. Stadien der Gliedmaßenentwicklung bei Mäusen. Die vorderen Gliedmaßen der Maus in verschiedenen Stadien der Embryonalentwicklung (von oben nach unten: Tag 11, 13, 14 und 15). Die Gliedmaßen sind mit Alcian-Grün gefärbt, um das Skelettmuster zu zeigen, das zunächst als Knorpel angelegt wird. (Nach Tickle 2002) Abb.13.61a–i. Linsen von Mäusen mit angeborenen dominanten Katarakten. Die Linsen wurden von Mäusen im Alter von 3 Wochen präpariert. In a ist eine Wildtyp-Linse zum Vergleich gezeigt. Obwohl alle 8 Mutationen Gene betreffen, die für γ-Kristalline kodieren (Gensymbol Cryga→Crygf), ist die Stärke der Schädigung unterschiedlich. Eine Korrelation mit der Art der Mutation ist nicht möglich. In vielen Fällen ist ein semi-dominanter Effekt zu beobachten (d.h., in homozygoten Trägern ist das Merkmal stärker ausgeprägt; links heterozygote Träger, rechts homozygote Träger). Die Mutationen betreffen die Gene Cryga (b, c), Crygc (d, e), Crygd (f, g), Crygd (h, i). (Nach Graw et al. 2004)
buds), die an den entsprechenden Stellen entlang der Kopf-Schwanz-Achse des Embryos entstehen und im Kern aus undifferenzierten Mesenchymzellen bestehen. Die Gliedmaßenknospe hat 3 Polaritätsachsen (Abb. 13.63): • die proximo-distale Achse (Schulter zur Fingerspitze); • die anterio-posteriore Achse (Daumen zu kleinem Finger); • die dorso-ventrale Achse (Knöchel zur inneren Handfläche).
Gliedmaßenentwicklung bei der Maus Eine Übersicht über die Entwicklung der Gliedmaßen der Maus gibt Abb. 13.62; sie ist der Entwicklung bei Menschen und Hühnern sehr ähnlich. Die Gliedmaßen entwickeln sich aus kleinen Knospen (engl. limb
Als besonders wichtige Areale in der Gliedmaßenentwicklung sind die Polaritätszone (engl. zone of polarizing activity, ZPA) und der apikale epidermale Kamm (engl. apical epidermal ridge, AER) zu nennen. In der zuletzt genannten Region sind insbeson-
13.5 Entwicklungsgenetik bei Säugern
Abb. 13.64 a,b. Expressionsmuster einiger Transkriptionsfaktoren bei der Gliedmaßenentwicklung. Als Antwort auf Signale (vgl. Abb. 13.63) werden einige Transkriptionsfaktoren in der Gliedmaßenknospe exprimiert: a Überlappende Muster der Expression der 5’-Hoxa-Gene. b Überlappende Muster der Hoxd-Gene. Zur Vereinfachung sind nicht alle Gene der 5’Region des Clusters angegeben, und nur die mesenchymalen Zellen am posterior-distalen Ende der Gliedmaßen exprimieren Hoxd13 und Hoxa13. (Nach Tickle 2002) Abb. 13.63. Zell-Zell-Interaktionen bei der Gliedmaßenentwicklung. Die obere Reihe zeigt die signalgebenden Regionen aus einer dorsalen Ansicht; in der Mitte ist ein Schnitt durch eine Gliedmaßenknospe gezeigt. Die Achsen sind in einem Diagramm angegeben: p: proximal, di: distal, d: dorsal. Die untere Reihe zeigt die Expression von Genen, die für Signalmoleküle kodieren: links im apikalen ektodermalen Kamm verschiedene Fibroblastenwachstumfaktoren, im dorsalen Ektoderm Wnt7a, und Shh und Bmp2 in der Region polarisierender Aktivität, die auch hohe Konzentrationen an Retinsäure enthält. (Nach Tickle 2002)
dere verschiedene Fibroblasten-Wachstumsfaktoren (engl. fibroblast growth factor, Fgf) aktiv. Einer der Schlüsselfaktoren ist dabei Fgf10; Fgf10-Mutanten (Fgf10-/-) haben keine Arme und Beine.Entsprechende Phänotypen findet man auch, wenn der Rezeptor im Ektoderm nicht aktiv ist. Neben den Fgf ’s spielen Mitglieder der WntFamilie eine wichtige Rolle: Wnt7a ist für die dorsoventrale Musterbildung verantwortlich. Es wird im dorsalen Ektodem exprimiert, aber nicht im AER oder im ventralen Ektoderm. Neben Wnt7a wird Wnt5a in einem Gradienten im Mesenchym der Gliedmaßenknospe exprimiert. Wnt5a-knock-outMäuse haben stark verkürzte Gliedmaßen, wobei die eher distalen Regionen stärker betroffen sind. Die Signalmoleküle in der ZPA sind vor allem Retinsäure (ein Vitamin-A-Derivat; vgl. dazu auch das vorige Kapitel über teratogene Effekte), Sonic Hedgehog (Shh) und BMPs (engl. bone morphogene-
tic proteins). Die wichtigsten BMPs der Säuger (BMP2 und BMP4) entsprechen dabei dem Drosophila-Protein Decapentaplegic (Dpp), und Shh gehört zur Familie der Hedgehog-Proteine, die wir ebenfalls von Drosophila her bereits kennen (siehe dort den Abschnitt über Flügelentwicklung, S. 618). Dabei kontrolliert Shh die Breite der Gliedmaßen, und die BMPs determinieren den Fingertyp. Endogene Retinoide sind wahrscheinlich dafür verantwortlich, dass die ZPA etabliert und der proximale Teil der Gliedmaßen ausgebildet wird (Schultergürtel und Oberarm), wohingegen Shh und BMPs zusammenwirken, um die mittleren (Elle und Speiche) und distalen Segmente (Finger) zu bilden. Dies erklärt auch die teratogene Wirkung von Vitamin A (vgl. dazu den Abschnitt 13.5.3). Eine dritte Gruppe von Genen umfasst zwei Mitglieder des Hox-Genclusters, Hoxa (Hoxa9-Hoxa13) und Hoxd (Hoxd9-Hoxd13), die in überlappenden Domänen in den frühen Gliedmaßenknospen exprimiert werden. Dabei werden die 5’-liegenden Gene später und eher distal exprimiert (Abb. 13.64). Die Analyse einiger Mutanten der Maus zeigt, dass die Hoxa11 und Hoxd11-Gene beispielsweise das mittlere Segment der Gliedmaßen betreffen und Hoxa13 und Hoxd13 eher die Entwicklung der Finger. Wie aber auch bei den schon früher besprochenen Beispielen gilt auch hier, dass die erwähnten Gene nur einige wenige ausgewählte Beispiele reprä-
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Kapitel 13: Entwicklungsgenetik
sentieren und die Entwicklung der Gliedmaßen ein wesentlich komplexerer Prozess ist, der in einem allgemeinen Lehrbuch der Genetik nur angedeutet werden kann. Eine Übersicht über die wichtigen Gene in der Entwicklung der Extremitäten gibt Tabelle 13.7.
Tabelle 13.7.
13.5.5 Keimzellentwicklung und Geschlechtsdeterminierung bei Säugern Die Keimzellen des Menschen können während der frühembryonalen Entwicklung bereits 27 Tage nach der Zygotenbildung erkannt werden, wenn sie aus dem Dottersack auswandern und den Keimstreifen (engl. gonadal ridge) besiedeln. Am 46. Tage nach der
Molekulare Basis der Musterbildung während der Extremitätenentwicklung
Gene für Wachstumfaktoren
Gene für Rezeptoren
Phänotyp bei Mutationen
Fibroblasten-Wachstumsfaktor (Fgf ): Fgf8 Fgf4
Fgfr1 Fgfr2
Pfeiffer-Syndrom Apert-Syndrom, Pfeiffer-Syndrom, Jackson-Weiss-Syndrom Achondroplasia
Fgf9 Fgf10 Wnt-Signale: Wnt7a Wnt3a Wnt5a Hedgehog-Signale: Shh Ihh (Knorpel)
Fgfr3
frizzleds
Patched, Smoothened Hip (Hedgehog interacting protein) Gli3
Greig-Cephalosyndactylie, Pallister-Hall-Syndrom
Morphogenetische Knochenproteine (BMPs): Bmp2 Bmp Rezeptoren Bmp4 Bmp7 Gene, die als Antwort auf Signale exprimiert werden: Hoxa9 – Hoxa13 Hoxd9 – Hoxd13 Spalt Meis Lmx1 Tbx3 Tbx4 Tbx5 Nach Tickle (2002)
Hand-Fuß-Genital-Syndrom Polysyndaktylie Townes-Brockes-Syndrom Erkrankungen an Finger- und Zehennägel sowie der Kniescheibe Erkrankungen an der Elle und der Brustdrüsen Holt-Oram-Syndrom
13.5 Entwicklungsgenetik bei Säugern
Gestation beginnt die sexuelle Differenzierung der Keimzellen. Männliche Keimbahn. Die männliche Keimzellentwicklung beginnt mit mitotischen Teilungen der primordialen Keimzellen (Abb. 13.65). Ihre Teilungsprodukte werden Gonozyten genannt. Bereits während der Embryonalentwicklung entstehen durch weitere Mitosen in einem Zellzyklus von 16 Tagen Spermatogonien, die sich jedoch cytologisch von den Spermatogonien des geschlechtsreifen Mannes unterscheiden und Ad-Spermatogonien genannt werden. Nach Erlangung der Geschlechtsreife teilen sich diese AdSpermatogonien weiterhin, bilden aber nunmehr als Tochterzellen eine neue Ad-Spermatogonie und eine B-Spermatogonie. Die B-Spermatogonien teilen sich weiter und bilden primäre Spermatocyten. Diese durchlaufen die Reifeteilungen, und jede primäre Spermatocyte bildet im Laufe der Meiose nach einem sekundärem Spermatocytenstadium vier haploide Spermatiden, die sich dann zu Spermatozoen ausdifferenzieren. Die Gesamtzahl an Zellteilungen, die bis zur endgültigen Differenzierung eines Spermato-
Abb. 13.65. Schema der menschlichen Gametogenese. Das Schema verdeutlicht, dass männliche Keimzellen während ihrer Entwicklung eine große Anzahl von Mitosen durchlaufen, während die Zahl der Teilungen der weiblichen Keimzellen nur sehr gering ist. Die Spermatogenese erfolgt in zwei Proliferationsphasen (I und II). PGC Primordiale Keimzellen. Oog Oogonia, Ooc Oocyten, Mpsg M-Prospermatogonien, Tpsg T-Prospermatogonien, As Spermatogonien, die über viele Zellteilungen proliferieren und große Anzahlen von weiteren undifferenzierten Spermatogonien (udSg) liefern. Diese differenzieren sich (dSg) und bilden schließlich primäre Spermatocyten (Spc). Nach den Reifeteilungen sind große Anzahlen von Spermatiden (Spt) vorhanden, die sich zu Spermatozoen entwickeln. (Aus Hilscher u. Hilscher 1990)
zoons durchlaufen werden, ist demnach abhängig vom Lebensalter und beträgt bis zu mehreren Hundert. In der Keimbahn eines 35jährigen Mannes werden über 500 Zellteilungen durchlaufen, bevor eine primäre Spermatocyte gebildet wird. Die Entwicklung der Keimzellen verläuft in schlauchförmigen Strukturen – Tubuli genannt –, die sich aufgerollt in großer Anzahl in den Testikeln befinden (Abb. 13.66). Die Stammzellen und Spermatogonien befinden sich randlich nahe den Epithelzellen. Spermatocyten proliferieren in Richtung auf das innere Lumen der Tubuli. Noch weiter zentral in den Tubuli finden sich meiotische Teilungsstadien. Die Spermatiden werden mit zunehmendem Entwicklungsalter in das freie innere Lumen der Tubuli verlagert. Hier werden sie in Richtung auf die Ausführgänge transportiert und erreichen den Beginn der Epididymis als ausdifferenzierte Spermatozoen. Insgesamt werden beim Mann etwa 50 000 Spermien pro Sekunde, also mehr als 4 Milliarden Spermien pro Tag gebildet. Sinkt die tägliche Produktion unter 500 Millionen, ist die Fertilität des betreffenden Mannes bereits beträchtlich gestört.
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Kapitel 13: Entwicklungsgenetik
Abb. 13.66a–c. Spermatogenese des Menschen. Die Abbildung zeigt die Organisation der Samentubuli (b) im Testis (a) und die Proliferation und Differenzierung der männlichen Keimzellen (c) in den Samentubuli. (Nach Baker u. Allen 1981)
! Die während der Embryonalentwicklung begin-
nende Entwicklung männlicher Keimzellen führt zu einer Population von „Ad-Spermatogonien”, deren weitere Entwicklung durch Teilung in eine Ad- und eine B-Spermatogonie erst zu Beginn der Geschlechtsreife erfolgt. B-Spermatogonien bilden durch Teilung primäre Spermatogonien, die durch Teilung primäre Spermatocyten formen. Jede primäre Spermatocyte durchläuft die zwei Reifeteilungen und bildet vier haploide Spermatiden, die sich zu reifen Spermien differenzieren.
Weibliche Keimbahn. Die Entwicklung weiblicher Keimzellen des Menschen unterscheidet sich von der männlicher Keimzellen ganz prinzipiell dadurch, dass weibliche Keimzellen sich nur während der Embryonalentwicklung vermehren (Abb. 13.65). Aus den Stammzellen entstehen durch Mitosen Oogonien, die
sich ebenfalls mitotisch vermehren. Nach einigen weiteren Mitosen gehen sie ins Oocytenstadium über, das schließlich in die Reifeteilungen einmündet. Mit dem 7. Monat der Entwicklung des Fötus degenerieren alle noch vorhandenen Oogonien, so dass sich zum Zeitpunkt der Geburt alle künftigen Eizellen bereits im Oocytenstadium befinden (Abb. 13.67). Die etwa 2,6 Millionen Oocyten gehen nach Erreichen der Diakinese der meiotischen Prophase I in ein Ruhestadium (Dictyotän) über, in dem sie bereits bei der Geburt vorliegen. Dieses Stadium wird erst mit der Induktion der Ovulation einzelner Eizellen während der Zeit der Geschlechtsreife durch Geschlechtshormone beendet. Durch die Ovulation wird der Abschluss der Reifeteilungen induziert, die nach dem allgemeinen Schema der Meiose verlaufen (Abb. 6.18). Die Oocyte vollendet während des Eisprunges die Reifeteilung I und beginnt mit der Reifeteilung II, so dass ein haploider Pronukleus entsteht. Eine reife Eizelle hat seit der Teilung der Stammzelle insgesamt nicht mehr als 24 Zellteilungen durchlaufen. Von den verfügbaren Oocyten in den Ovarien einer Frau reifen insgesamt nur etwa 400 zu befruchtungsfähigen Eizellen heran. Die meiotischen Prozesse in der weiblichen Keimbahn unterscheiden sich generell von denen der männlichen Keimzellenentwicklung darin, dass nur eines der vier haploiden Meioseprodukte zu einer Eizelle differenziert wird, während die drei übrigen haploiden Kerne als Polkörper degenerieren (vgl. jedoch die Entwicklung von Pflanzenembryonen! Abb. 6.45). ! Im Gegensatz zu männlichen Keimzellen teilen
sich weibliche Keimzellen nur während der embryonalen und fötalen Entwicklung. Die Stammzellen formen Oogonien und primäre Oocyten. Zum Zeitpunkt der Geburt haben sich auf diese Weise etwa 2,6 Millionen Oocyten gebildet, die im Diakinesestadium der ersten Reifeteilung in eine Ruhephase eintreten, während gleichzeitig alle verbleibenden Oogonien degenerieren. Die Ruhephase der Oocyten wird nach Erlangung der Geschlechtsreife durch Geschlechtshormone beendet, die den Eintritt jeweils einzelner Oocyten in die weiteren Meiosen stimulieren. Wie auch in anderen Organismen entwickelt sich nur jeweils eins der vier haploiden Meioseprodukte zum Ei, während die drei übrigen haploiden Zellen als Polkörper degenerieren.
13.5 Entwicklungsgenetik bei Säugern Abb. 13.67a–c. Oogenese des Menschen. Die Abbildung zeigt die Entwicklung eines Eis (c) über eine sekundäre Oocyte (b) aus einer primären Oocyte (im Dictyotän) (a) nach der hormonellen Induktion der meiotischen Teilungen. (Nach Baker u. Allen 1981)
Eine wichtige Frage in diesem Zusammenhang ist aber natürlich auch, durch welche genetischen Faktoren das Geschlecht festgelegt wird. Ein zentraler Genschalter befindet sich bei Säugern im Y-Chromosom. Ist ein Y-Chromosom vorhanden, so wird der Embryo zum Männchen; fehlt es, so entsteht ein Weibchen. Durch genetische Analysen von Individuen mit partiell defizienten Y-Chromosomen hat man das Gen, das für die Induktion des männlichen Geschlechts verantwortlich ist (TDF für engl. testisdetermining factor), einem begrenzten Abschnitt des kurzen Armes des menschlichen Y-Chromosoms zuweisen können. Der TDF wird in dem von Sinclair und Mitarbeitern (1990) isolierten SRY-Gen (engl. sex determining region Y) kodiert. Das SRY-Gen ist ausschließlich während der frühen Embryonalentwicklung aktiv und wird nur in Sertolizellen exprimiert (Abb. 13.68). Seine Aufgabe ist es, während der frühen Embryonalentwicklung (etwa in der 7. Woche, vgl. Abb. 13.49) die geschlechtlich zunächst nicht differenzierten primordialen Gonaden zu veranlassen, sich zu Testes zu entwickeln. Untersuchungen an Maus-Chimären haben gezeigt, dass das SRY in mesodermalen Sertolizellen aktiv ist und für die Produktion eines Hormons (AMH, abgeleitet vom engl. anti-Müllerian duct hormone) verantwortlich ist, das für die Degeneration der (weiblichen) Müller’schen Gänge sorgt. Möglicherweise ist es zudem für die
Repression von Genen verantwortlich, die die Differenzierung der Ovarien induzieren. In Abwesenheit eines funktionsfähigen SRY entwickeln sich die Gonadenanlagen zu Ovarien und induzieren damit die weibliche Geschlechtsentwicklung. In beiden Geschlechtern sorgen die von den Gonaden produzierten geschlechtsspezifischen Sexualhormone für die weitere Entwicklung des jeweiligen Geschlechts. Hierzu gehört im Männchen vor allem das von den Leydig-Zellen sezernierte Testosteron. Diese Hormone steuern zunächst die vollständige Ausbildung der Gonaden mit den zugehörigen Ausführgängen, sorgen aber weiterhin auch für die Ausbildung der sekundären Geschlechtsmerkmale. Somit ist bei Säugern die Geschlechtsbestimmung kein zellautonomer Prozess wie bei Drosophila, sondern wird durch die Gonaden über eine hormonelle Steuerung auf den gesamten Organismus ausgeübt. Besonders deutlich kommt diese allgemeine, zellübergreifende Funktion der männlichen Geschlechtshormone bei einer Erbkrankheit, der testikulären Feminisierung (engl. testicular feminization syndrome, OMIM 300 068), zum Ausdruck. Diese Krankheit beruht auf dem Ausfall des cytoplasmatischen Testosteronrezeptors durch eine Mutation im TFM-Locus. Als Folge davon können die Zellen bei männlichem (X/Y-)Genotyp, trotz normaler Testosteronproduktion in den Testes, nicht mehr
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Kapitel 13: Entwicklungsgenetik
XX
XY undifferenzierte Gonade
SRY (=TDF)
Differenzierung der Ovarien
Differenzierung der Testes
Östrogen
weibliche geschlechtsspezifische Gene Differenzierung der weiblichen Genitalien
Testosteron
AMH = MIS
e ert ion uzi nerat d In ge De
Frau Abb. 13.68. Geschlechtsdetermination beim Menschen. Auf die undifferenzierten Gonadenprimordien wirkt in Anwesenheit des Y-Chromosoms das Genprodukt des SRY-Gens ein und induziert die Ausbildung von Testes. Diese produzieren das männliche Geschlechtshormon Testosteron, das seinerseits die männlichen geschlechtsspezifischen Gene induziert und die Differenzierung der männlichen Genitalien (Penis, Skrotum) bewirkt. Das in den frühen Testes zudem noch synthetisierte AMH (oder MIS) verursacht die Degeneration der Müller’schen
auf das Hormon ansprechen, und es wird demzufolge ein weiblicher Phänotyp ausgebildet. Die betroffenen Individuen entwickeln sich zu (sterilen) Frauen, da ihre Zellen auf das in der Nebenniere produzierte Östrogen normal zu reagieren vermögen.
männliche geschlechtsspezifische Gene Differenzierung der männlichen Genitalien
Mann Gänge, die sich im weiblichen Organismus zum Eileiter ausdifferenzieren. In Abwesenheit des Y-Chromosoms steht das SRYGenprodukt nicht zur Verfügung. Die Gonadenprimordien entwickeln sich unter diesen Bedingungen zu Ovarien, die durch die Produktion des weiblichen Geschlechtshormons Östrogen die Induktion der weiblichen geschlechtsspezifischen Gene verursachen und die Differenzierung der weiblichen Geschlechtsmerkmale (Uterus, Vagina, Brüste) auslösen
! Bei Säugern erfolgt die Geschlechtsbestimmung
durch ein Y-chromosomales Gen, das die embryonalen Gonadenanlagen als Testes determiniert. Bei Abwesenheit dieses Gens differenzieren sich die Gonadenanlagen zu Ovarien. Die Ausprägung der geschlechtsspezifischen Merkmale erfolgt unter hormonaler Kontrolle.
13.5 Entwicklungsgenetik bei Säugern
>
Kernaussagen
▬ Zentrale Differenzierungsprozesse, insbesondere in der Frühentwicklung von Tieren, aber auch bei der Organdifferenzierung von Pflanzen, werden auf dem Niveau der Transkription reguliert. Hierbei spielen sowohl DNA-bindende Transkriptionsfaktoren als auch differenzielles Splicing von primären Transkripten eine Rolle. ▬ Geschlechtsbestimmung erfolgt bei Drosophila durch die Aktivierung eines Schlüsselregulationsgens und nachgeordneter Regulationsgene mittels eines molekularen Zählmechanismus, der das Zahlenverhältnis zwischen autosomalen und X-chromosomalen Proteinmolekülen ermittelt. Das relative Verhältnis der Menge beider Molekülklassen bestimmt, ob das Schlüsselregulationsgen aktiv oder inaktiv ist und legt so den Geschlechtsdifferenzierungsweg fest. ▬ Bei Säugern erfolgt die Geschlechtsdifferenzierung ebenfalls durch ein, hier im Y-Chromosom gelegenes, zentrales Regulationsgen (SRY). Das männliche Geschlecht wird als Folge der Aktivierung dieses Gens (bei Anwesenheit des Y-Chromosoms) durch männliche Geschlechtshormone festgelegt. Inaktivität des Schlüsselgens führt zur Ausprägung des weiblichen Geschlechts durch die Wirkung weiblicher Geschlechtshormone. ▬ Die frühe embryonale Entwicklung von Drosophila wird durch Gene, die während der Ooge-
▬
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nese in der Mutter aktiv sind (maternale Gene), und durch Gene, die im Embryo aktiviert werden (zygotische Gene), bestimmt. Maternale Gene sorgen für die gezielte Lokalisation von Molekülen (Morphogenen) im Ei, die im Embryo als Transkriptionsfaktoren die Transkription zygotischer Gene differenziell regulieren. Während der Embryogenese werden durch die Lokalisation von Morphogenen insbesondere die beiden Achsen des Embryos festgelegt. Außerdem bedingt die Lokalisation der Achsendeterminanten zugleich auch eine Untergliederung der Körperlängsachse. Morphogene sind Moleküle, die verschiedene Differenzierungsprozesse steuern. Sie können durch unterschiedliche Mechanismen wirksam werden. Die Determination von Körperregionen in Drosophila erfolgt durch Lokalisation von Molekülen in bestimmten Regionen des Eicytoplasmas oder durch Signaltransduktion, deren Initiation von somatischen Zellen des Ovars ausgeht. Regulationsgene, die in ihrer Funktion den Regulationsgenen bestimmter Entwicklungswege von Drosophila entsprechen (homöotische Gene), werden auch bei Vertebraten und Pflanzen gefunden. Die in der Frühentwicklung von Drosophila aufgefundenen Regulationsmechanismen sind daher von allgemeiner biologischer Bedeutung.
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Kapitel 13: Entwicklungsgenetik
Technik-Box 24
in-situ-Hybridisierung von Nukleinsäuren Anwendung: Nachweis von DNAoder RNA-Molekülen in ihrer natürlichen zellulären Lokalisation durch mikroskopische Analyse.
Je nach den unterschiedlichen Eigenschaften dieser verschiedenen Nukleinsäuremoleküle sind Modifikationen der Grundtechnik erforderlich.
Voraussetzungen · Materialien: Die in-situ-Hybridisierungsmethodik umfasst eine Reihe unterschiedlicher Techniken, die sich auf verschiedene Fragestellungen zur Lokalisation einer Nukleinsäuresequenz beziehen. Es lassen sich • chromosomale DNA, • wachsende Transkripte in ihrer Position am Chromosom, • RNA-Fraktionen im Cytoplasma und • DNA von Viren oder Bakteriophagen nachweisen.
Methode: Die Grundtechnik der insitu-Hybridisierung besteht in der Inkubation cytologischer (histologischer) Präparate mit einer markierten Nukleinsäureprobe. Nach der Inkubation werden überschüssige, nichthybridisierte, markierte Nukleinsäuren durch Waschen entfernt. Anschließend wird eine zur mikroskopischen Untersuchung der Lokalisation der gebildeten Hybride geeignete Nachweisreaktion ausgeführt. Markierung von Nukleinsäuren kann durch radioaktive Nukleo-
tide erfolgen, wobei infolge der niedrigen Strahlungsenergie und der daher geringen Reichweite der Strahlung (βStrahlung) vor allem Tritium geeignet ist (s. Technik-Box 13). Gelegentlich wird auch 35S verwendet, wenn an die Genauigkeit der Lokalisation der Hybride in der Zelle geringere Anforderungen gestellt werden. Neuerdings werden jedoch vorwiegend nichtradioaktive Markierungsmethoden, wie die durch Biotin oder Digoxigenin, verwendet. In beiden Fällen kann der Nachweis entweder durch Farbreaktionen oder durch Fluoreszenz erfolgen.
DIG - Markierung RNA
Hybridisierung RNA DNA Antikörperreaktion
RNA DNA Erkennung durch Enzymreaktion oder Fluoreszenz
in-situ-Hybridisierung. Auf Chromosomen- oder Gewebepräparaten wird zunächst eine normale Hybridisierungsreaktion mit markierten Nukleinsäuren ausgeführt. Die markierten Hybride können durch Autoradiographie oder mit Hilfe von Antikörpern (je nach Markierungsverfahren) nachgewiesen werden.
in-situ-Hybridisierung mit einer Crygd-Probe am Auge. Dargestellt ist das Auge eines 15,5 Tage alten Embryos der Maus; der Schnitt wurde mit einer RNA-Sonde hybridisiert, die dem Gegenstrang des Crygd-Transkripts entspricht (kodiert für das γD-Kristallin). Die RNA ist mit Digoxigenin markiert, das über eine Enzym-gekoppelte Antikörperreaktion erkannt wird. Die Blaufärbung tritt nur im vorderen Bereich der Linse auf und markiert damit den Bereich, in dem die Crygd-mRNA vorhanden ist. (Bild: Jochen Graw, Neuherberg)
Technik-Box
Technik-Box 25
Morpholinos Anwendung: Methode zur gezielten Ausschaltung eines Gens durch antisense-RNA. Voraussetzungen: Kenntnis der DNASequenz des zu inaktivierenden Gens. Methoden: Antisense-Oligonukleotide sind Nukleotide, die an eine kurze komplementäre Sequenz einer mRNA binden und dadurch deren Translation verhindern. Sie sind gut geeignet, die Funktion eines Gens zu untersuchen, weil sie sehr schnell eingesetzt werden können, schnell wirken und ihr Einsatz sehr billig ist. Kurze mRNA wird aber rasch von Nukleasen abgebaut (siehe dazu auch Technik-Box 22 – RNAi und siRNA). Durch den Einsatz
von „Morpholinos“ werden nun diese Schwierigkeiten überwunden. Dabei handelt es sich um kurze Oligonukleotide, in denen die Ribose in der mRNA durch einen Morpholinring ersetzt ist (s. Abbildung). Diese „Morpholinos“ werden so konstruiert, dass sie an der Initiationsstelle für die Translation binden. Sie haben darüber hinaus wesentlich bessere antisenseEigenschaften als mRNA-Oligonukleotide. Sie können leicht in kultivierte Zellen eingebracht werden. Ein weiteres umfangreiches Anwendungsgebiet in der Entwicklungsgenetik ist die Ausschaltung von Genen beim Zebrafisch: Durch Injektion von „Morpholinos“ auf der einen Seite des Fischembryos wird das zu untersu-
Schematische Darstellung des Rückgrats eines Morpholin-Oligonukleotids. Anstelle der Vernetzung der Basen über ein Ribosemolekül (wie in der RNA) und Phosphatreste sind die „Morpholinos“ über einen Morpholinring und Phosphoamid-Gruppen verbunden. Die Basen, die mit dem Morpholinring verbunden sind, bleiben allerdings dieselben, so dass die üblichen Basenpaar-Reaktionen ablaufen können.
chende Gen ausgeschaltet, während die andere Seite eine endogene Kontrolle darstellt (ein Beispiel dazu ist in der anderen Abbildung dargestellt). Weitere Vorteile von „Morpholinos“ sind: • Sie werden nicht durch Nukleasen abgebaut, • sie binden sehr effektiv an den komplementären mRNA-Teil, • sie zeigen eine äußerst geringe Tendenz sich an nichtkomplementäre Sequenzen zu binden, • sie verteilen sich schnell im Cytosol und im Kern. Dadurch werden sie zu idealen Instrumenten für die Untersuchung der Funktion eines Gens.
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Kapitel 13: Entwicklungsgenetik
Technik-Box 25
Morpholinos (Fortsetzung)
Vergleich von genetischem und Morpholino-induziertem Funktionsverlust von Fgf8 im Zebrafisch. Gezeigt sind Geschwister von Zebrafischembryonen im Alter von 24 Std. (a, c: Wildtyp; b: homozygote ace-Mutation). Die aceMutanten exprimieren kein Fgf8, was zum Verlust der Bildung des Kleinhirns (Cerebellum) führt (Pfeilspitzen in a deuten auf das Kleinhirn; der Stern in b zeigt den Verlust des Kleinhirns). In d ist allerdings ein Zebrafischembryo gezeigt, dem im Ein-Zell-Stadium ein Moropholino injiziert wurde, der für den Gegenstrang von Fgf8 kodiert und die Translation von Fgf8-mRNA verhindert. Man beachte, dass der Phänotyp des Fgf8-Morpoholino-induzierten Fischembryos sich nicht von der homozygoten ace-Mutante (b) unterscheidet. Die Embryonen sind von der Seite fotografiert, die anteriore Seite ist oben, die dorsale Seite unten) (Bild: Laure Bally-Cuif, Neuherberg)
Kapitel 14
Das menschliche Genom – Grundlagen menschlicher Vererbung
Gleichheit und Individualität (hier ein Tibeter) – diese beiden Charakteristika des Menschen werden durch das Human Genome Project noch deutlicher. (Photo: W. Hennig, Mainz)
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Kapitel 14: Das menschliche Genom – Grundlagen menschlicher Vererbung
Überblick Obgleich sich die Vererbung von Eigenschaften des Menschen in ihren Grundprinzipien und Regeln nicht von denen anderer Organismen unterscheidet, stellt sie den Genetiker vor besondere Probleme. Die Erforschung der genetischen Grundlage menschlicher Krankheiten wird oft durch die Familiengröße limitiert. In der klassischen Humangenetik waren Familienstammbäume das wichtigste Werkzeug. Manche grundsätzlichen Fragen ließen sich zudem durch die vergleichende Untersuchung von Zwillingen lösen. In der Praxis boten diese Analysen aber meistens nur die Möglichkeit, Wahrscheinlichkeitsaussagen über das Vorkommen von Erbkrankheiten bei Kindern betroffener Eltern zu machen. Durch die Entwicklung gentechnologischer Methoden hat die Humangenetik einen revolutionären Wandel erlebt. Es war gelungen, eine Anzahl von Genen zu isolieren, deren Mutation schwere Erbkrankheiten zur Folge hat. Die molekulare Analyse dieser Gene hat dabei in vielen Fällen neue Einsichten in die molekulare Struktur und Funktion von Genen vermittelt. Dies wird nach der nunmehr vollständigen Sequenzierung des menschlichen Genoms mit noch höherer Geschwindigkeit voranschreiten. Dabei werden aber durch die Einbeziehung von
14.1 Methoden der Humangenetik Obgleich die Vererbung von Eigenschaften beim Menschen sich in keiner Weise von der anderer Organismen unterscheidet, hat die Humangenetik eine besondere Stellung in der Genetik erlangt. Diese wird einerseits durch ihre Bedeutung für die Medizin bedingt, andererseits aber auch durch das allgemeine Bedürfnis des Menschen, die biologischen Grundlagen seiner Existenz zu verstehen. Der Erforschung dieses Hintergrundes steht, wie in allen auf den Menschen direkt bezogenen Wissenschaften, das ethische Verbot gegenüber, Experimente am Menschen auszuführen. Um zu einer Einsicht zu gelangen, mussten wir in der Vergangenheit in erster Linie auf Experimente zurückgreifen, die uns die Natur selbst zur Verfügung stellt, d. h. es wurde versucht, aus Veränderungen in der Nachkommenschaft auf erbliche Eigenschaften und deren Erbgänge zu schließen. Das wichtigste Mittel der klassischen Humangenetik hierfür war die Analyse von Familienstammbäumen. Sie ermöglichte es in günstigen Fällen, eine Veränderung
immer mehr Menschen in gendiagnostische Verfahren auch die individuellen Unterschiede stärker zum Vorschein kommen. Die größten Fortschritte wurden bisher bei den monogenen Erkrankungen gemacht, die in klaren Formen den Mendel’schen Regeln folgen. Hier gibt es in vielen Fällen eine ausgefeilte molekulare Diagnostik und eine sichere Therapie auf gentechnischer Grundlage. Durch die Kombination pränataler Diagnostik mit den Techniken der Molekulargenetik ist es heute möglich, eindeutige Aussagen über die genetische Konstitution selbst von heterozygoten rezessiven Krankheiten bei Eltern und ihren Kindern zu erhalten. Hierdurch wird die genetische Familienberatung erleichtert, ohne dass sich damit jedoch ethische Fragen lösen, die der Humangenetik durch diese neuen Methoden zunehmend gestellt werden. Die Untersuchung menschlicher Krankheiten lässt aber auch erkennen, dass viele Erbkrankheiten auf komplexen genetischen Konstitutionen beruhen (z. B. Asthma, Diabetes). Dabei spielen oft Umweltfaktoren eine so große Rolle, dass präventive Diagnosen sehr schwer sind. Das bedeutet aber zugleich, dass für diese Krankheiten Therapien in naher Zukunft noch nicht wahrscheinlich sind.
als erblich zu erkennen und sie in ihren spezifischen Eigenheiten zu verstehen. Die zweite klassische Methode der Humangenetik, die Zwillingsforschung (s. Abb. 14.1), vergleicht die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen genetisch identischen und nichtidentischen Individuen. Wir haben bereits bei der Besprechung der Meiose gesehen, dass allein die Kombinationsmöglichkeiten zwischen väterlichen und mütterlichen Chromosomen bei der Gametenbildung so groß sind (s. S. 185), dass zufällig identische genetische Konstitutionen bei den Nachkommen praktisch ausgeschlossen werden können. Das gilt selbst dann, wenn man von möglichen Rekombinationsereignissen ganz absieht. So scheint es, dass es genetisch identische Individuen gar nicht gibt. Dieser Schluss ist jedoch nicht ganz richtig. Es wurde bereits gezeigt, dass biologische Mechanismen niemals fehlerfrei sind, sondern dass gelegentlich Abweichungen vom Normalzustand auftreten (ein Beispiel ist Nondisjunction, s. S. 465). Biologische Abweichungen können bereits während
14.1 Methoden der Humangenetik
Abb. 14.1a–c. Zwillinge. a Ähnliche monozygote Zwillinge, b ähnliche dizygote Zwillinge,
der frühen Entwicklung eines Organismus auftreten, natürlich auch beim Menschen. Eine Abweichung, die relativ häufig zu beobachten ist, ist die Aufteilung embryonaler Zellen, die aus der Zygote durch mitotische Teilungen entstanden sind, zu einem sehr frühen Zeitpunkt in der Embryonalentwicklung. Sie können sich in zwei (oder mehr) Zellgruppen organisieren, die sich unabhängig voneinander zu einem vollständigen Organismus entwickeln. Da diese beiden (oder mehr) Organismen von der gleichen befruchteten Zygote abstammen, sind sie genetisch identisch. Beim Menschen kennen wir solche genetisch identischen Individuen als eineiige (= monozygote) Zwillinge. Es ist einleuchtend, dass eineiige Zwillinge im Allgemeinen das gleiche Geschlecht haben. Im Gegensatz hierzu sind zweieiige (= dizygote) Zwillinge durch eine gleichzeitige Befruchtung zweier reifer Eizellen durch zwei verschiedene Spermatozoen entstanden (vgl. Abb. 13.56). Sie sind also
c unähnliche monozygote Zwillinge. (Aus Tariverdian u. Buselmaier 2004)
genetisch nicht identisch und können daher auch ein unterschiedliches Geschlecht haben. Die vergleichende Untersuchung von mono- und dizygoten Zwillingen hat der Humangenetik in einer eigenen Forschungsrichtung, die man als Zwillingsforschung bezeichnet, wichtige Einsichten vermittelt.Auch heute hat sie für verhaltensgenetische Fragestellungen Bedeutung. Durch die Methoden der Molekularbiologie und insbesondere durch die gentechnologische Methodik sind der Humangenetik völlig neue Möglichkeiten eröffnet worden. Die vollständige Sequenzierung des menschlichen Genoms und vieler Modellorganismen (z. B. Maus, Drosophila, Hefe) gibt uns nicht nur Informationen über die Lokalisation und Eigenschaften von Genen, sondern auch Ansätze zur Therapie
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Kapitel 14: Das menschliche Genom – Grundlagen menschlicher Vererbung
genetischer Defekte. Therapiemöglichkeiten bieten sich einerseits durch geeignete Eingriffe in den Stoffwechsel, die bestehende erbliche Defekte kompensieren. Andererseits besteht im Prinzip aber auch die Möglichkeit der Korrektur des Erbmaterials. Gegenwärtig stehen wir erst am Beginn eines neuen Zeitalters der Humangenetik, dessen Möglichkeiten und Grenzen erst allmählich deutlich werden. Besonders wichtige Konsequenzen ergeben sich gegenüber den moralischen und ethischen, aber auch den rechtlichen Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen. ! In der klassischen Humangenetik waren die
Stammbaumforschung und die Zwillingsforschung die wichtigsten Methoden zur Analyse menschlicher Gene. Die Genomforschung hat das Methodenspektrum wesentlich erweitert.
14.1.1 Zwillingsforschung Die mittels der Zwillingsforschung erzielten Ergebnisse liegen auf zwei Ebenen der genetischen Forschung. Zunächst gestattet es die genetische Identität monozygoter Zwillinge, durch direkten Vergleich Hinweise auf die erbliche Grundlage morphologischer oder anderer Merkmale zu erhalten, da phänotypische Identität in diesem Falle mit hoher Wahrscheinlichkeit zugleich auch Identität der Erbeigenschaften anzeigt. Vielleicht wichtiger noch aber sind Schlüsse über die Variabilität erblicher Ausprägungsformen, die wir aus der vergleichenden Untersuchung monozygoter Zwillinge ziehen können. Der Phänotyp eines Organismus ist stets das Ergebnis der Funktion der erblichen Anlagen in ihrer Zusammenwirkung mit den Umweltgegebenheiten. Betrachten wir diese Feststellung im Hinblick auf Zwillinge etwas genauer, so werden wir erkennen, dass sowohl monozygote als auch dizygote Zwillinge uns kaum anderweitig zu erlangende Informationen über die Einflüsse der Umwelt auf die Ausprägung menschlicher Erbanlagen im Phänotyp verfügbar machen können. Umweltfaktoren. Eine interessante Beobachtung ist es, dass die Entstehung monozygoter Zwillinge selbst offenbar vorwiegend entwicklungsphysiologisch (also durch Umwelteinflüsse) bedingt ist, wenn auch erb-
liche Faktoren nicht ganz ohne Bedeutung sind. Die Häufigkeit dizygoter Zwillinge hingegen ist sowohl durch äußere Faktoren als auch genetisch beeinflusst. Als äußere Faktoren sind hierbei Außentemperaturen und das Lebensalter der Mutter zu nennen: Bei niedrigeren Außentemperaturen steigt der Anteil dizygoter Zwillinge ebenso wie mit dem Lebensalter der Mutter. Häufigkeit. In den Vereinigten Staaten liegt die Häufigkeit dizygoter Zwillinge von Müttern, die jünger als 30 Jahre alt sind, bei 0,6%. Von Müttern, deren Lebensalter bei Ende 30 liegt, werden etwa 1,3% dizygote Zwillinge geboren. Genetische Faktoren, die die Häufigkeit von Zwillingen beeinflussen, werden bei Familien sichtbar, bei denen vorwiegend Mehrfachgeburten vorkommen. In manchen Populationen ist die Häufigkeit dizygoter Zwillinge offenbar aufgrund genetischer Faktoren beträchtlich erhöht. Beispielsweise liegt der Anteil von Zwillingen bei Nigerianern bei etwa 4% aller Geburten. Die Häufigkeit monozygoter Zwillinge hingegen ist nicht altersabhängig. Ihr mittlerer Anteil liegt bei etwa 0,4% aller Geburten. Ausprägung von Merkmalen. Die Zwillingsforschung hat in der Geschichte der Humangenetik eine wichtige Aufgabe bei der Erforschung eines möglicherweise genetisch bedingten Charakters von Merkmalen, insbesondere von Erbkrankheiten, gespielt. Für die Untersuchung von Verhaltensmerkmalen wird die Zwillingsforschung auch künftig nicht ohne Bedeutung sein. Der Vergleich bestimmter Merkmale bei monozygoten Zwillingen kann uns Aufschluss darüber verschaffen, ob ein Merkmal stark umweltbeeinflusst oder in seiner Ausprägung weitgehend genetisch festgelegt ist.Man untersucht hierzu monozygote und dizygote Zwillinge und stellt den Prozentsatz an übereinstimmender (Konkordanz) und abweichender Ausprägung (Diskordanz) fest. In Tabelle 14.1 sind einige Merkmale zusammengestellt, an denen solche Untersuchungen ausgeführt wurden. Vergleicht man konkordante und diskordante Ausprägung bei monozygoten und dizygoten Zwillingen, so kann man den Anteil der erblichen Komponente und der Umwelteinflüsse auf die Ausprägung eines Merkmals abschätzen. Wir erkennen,dass viele der untersuchten Eigenschaften auch bei monozygoten Zwillingen ein großes Maß von Diskordanz aufweisen, also in einem hohen Maß durch die Umwelt beeinflusst sind. Eine Ausnahmestellung nehmen manche Erbkrankheiten, z. B. der
14.1 Methoden der Humangenetik
Tabelle 14.1. Konkordanz und Diskordanz in Merkmalsausprägung bei Zwillingen Eigenschaft
Konkordanz in monozygoten Zwillingen %
Konkordanz in dizygoten Zwillingen %
Augenfarbe
100
52
Gewicht
66
48
Kopflänge
91
58
Schizophrenie
34
12
Bronchialasthma
63
38
Manisch depressive Psychosen
67
5
Mentale Retardation
67
0
Epilepsie
54
24
Tuberkulose
54
27
Diabetes mellitus
60
13
Krebserkrankungen
16
13
8
9
Tod durch akute Infektionen
Aus Hartl (1985) und Lenz (1970)
Albinismus, ein, für die bei monozygoten Zwillingen stets eine 100% konkordante Ausprägung zu beobachten ist. Solche Krankheiten sind rein genetisch bedingt, wie es aufgrund der Ursache (z. B. Ausfall eines Genproduktes) auch zu erwarten ist. Viele Krankheiten, beispielsweise manische Depressivität, haben zwar eine beträchtliche erbliche Komponente in ihrer Expression, ihre Ausprägung wird aber auch durch einen nicht unerheblichen Beitrag der Umwelt gesteuert. Expressivitäts- und Penetranzunterschiede machen es in solchen Fällen besonders schwierig, den Anteil des genetischen Beitrages genauer zu bestimmen. Das gilt insbesondere für alle Verhaltensmerkmale.Aussagen über angeblich erblich bedingte abnormale Verhaltensweisen (z. B. Kriminalität) sind daher mit größter Zurückhaltung zu bewerten.
Siamesische Zwillinge. Als ein Sonderfall monozygoter Zwillinge sind die Siamesischen Zwillinge bekannt, die mit einer Häufigkeit von etwa einer in 500 aller Zwillingsgeburten auftreten. Sie entstehen durch eine unvollständige Trennung der Inneren Zellmasse (Abb. 13.50) in der Blastocyste. Das führt zur (teilweisen) Entwicklung zweier Individuen, die nicht vollständig getrennt sind. Daher sind, wie beim ersten – aus Siam (dem heutigen Thailand) („Siamesische“ Zwillinge) – beschriebenen Fall,die beiden Individuen in einer mehr oder weniger begrenzten Körperregion miteinander verbunden. Sie lassen sich bei begrenzter Verschmelzung chirurgisch voneinander trennen, da jedes Individuum alle Organe besitzt. Im Falle einer weniger vollständigen Trennung haben die miteinander verwachsenen Individuen beispielsweise zwei Köpfe, teilen sich aber im Übrigen in einen gemeinsamen Körper. In wieder anderen Fällen haben sie nur einen Kopf und sind im unteren Körperbereich verdoppelt. Solche partiellen Zwillinge sterben oft noch vor ihrer Geburt oder kurz danach. Die Häufigkeit Siamesischer Zwillinge, bezogen auf alle Geburten, ist mit 5 × 10–4 niedrig im Vergleich zu anderen genetischen oder „epigenetischen“ Defekten. Vergleichbare Entwicklungsdefekte werden natürlich auch bei Tieren beobachtet.
14.1.2 Stammbaumforschung Für das Verständnis erblicher Krankheiten beim Menschen hat die Analyse von Familienstammbäumen, teilweise zusammen mit cytologischen Chromosomenuntersuchungen, eine zentrale Rolle gespielt. Erst die Molekularbiologie gibt uns in letzter Zeit die experimentellen Mittel in die Hand, die es gestatten, die Schwierigkeiten der Stammbaumanalyse teilweise zu umgehen. Auch heute sind cytogenetische Analysen wichtige Werkzeuge der Humangenetik. Mit Hilfe der Stammbaumforschung hat man eine Reihe der wichtigsten Erbkrankheiten des Menschen erkennen und wenigstens teilweise bestimmten Chromosomen oder sogar Chromosomenregionen zuordnen können. Durch Ermittlung der Häufigkeit von Rekombinationsereignissen zwischen Genen, die zu Erbkrankheiten führen, und geeigneten Markergenen war es zunächst gelungen, genetische Chromosomenkarten des menschlichen Genoms zu erstellen. Aus praktischen Gründen – auch rezessive Allele sind im männlichen Geschlecht aufgrund der
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Kapitel 14: Das menschliche Genom – Grundlagen menschlicher Vererbung
Hemizygotie leicht zu erkennen – waren geschlechtsgekoppelte Krankheiten oder morphologische Merkmale besonders einfach zu kartieren, so dass die Genkarte des X-Chromosoms besonders gut untersucht ist (s. Abb. 14.25). Im Folgenden werden einige Beispiele für Erbkrankheiten des Menschen dargestellt, die die Unterschiede zwischen dominanten und rezessiven sowie geschlechtskoppelten Merkmalen und ihre Konsequenzen in der Humangenetik veranschaulichen sollen. Die besonderen Erfordernisse der Humangenetik, deren fast ausschließliche Grundlage bis vor kurzem Familienstammbäume waren, haben zu einer besonderen genetischen Symbolik geführt, die in Abb. 14.2 zusammengefasst ist. Diese Symbolik gestattet es, den Erbgang von Krankheiten (oder anderen Merkmalen) in einem Familienstammbaum leicht zu übersehen.
Abb. 14.2. Symbole in der Humangenetik
14.1.3 Das Human Genome Project Das Human Genome Project geht in seiner Grundidee in die Zeit zurück, in der die DNA-Sequenzierungstechniken von Sanger und Maxam und Gilbert entwickelt wurden (s. Technik-Box 15). Öffentliche Diskussionen begannen um 1986, als Renato Dulbecco den Bezug zwischen Krebsforschung und der Sequenzierung des menschlichen Genoms herausgestellt hatte. Ein solches Programm einzuführen, war keine triviale Frage der Organisation von Forschungsprojekten, denn seine Durchführung musste notwendig mit einem erheblichen finanziellen Aufwand verbunden sein. Man hat die Kosten für die Sequenzierung der 3 × 109 Basenpaare DNA des menschlichen Genoms auf etwa 3 Milliarden Dollar geschätzt. Dieser Betrag liegt in der Größenordnung von Projekten der Hochenergiephysik, und ein solcher Betrag an Forschungsgeldern wurde in vergleichbarer Weise noch nie für ein biologisches Projekt verfügbar gemacht. Dennoch wurde das Projekt
14.1 Methoden der Humangenetik
von vielen Wissenschaftlern unterstützt, darunter den Nobelpreisträgern W. Gilbert und J. D. Watson, so dass seine Realisierung schließlich möglich wurde. Die Durchführung des Humangenom-Projektes in einer sinnvollen und koordinierten Weise verlangte erhebliche technische Vorbereitungen. Es war nicht nur erforderlich, die Aufgaben der DNA-Sequenzierung über die beteiligten Laboratorien zu verteilen, sondern es musste z. B. auch neue Computer-Software zur Auswertung der erhaltenen Sequenzdaten geschaffen werden, oder es waren Entscheidungen darüber zu treffen, in welcher Weise die Klonierung des menschlichen Genoms erfolgen sollte. Sollten die erhaltenen Klone in zentralen Sammlungen aufbewahrt werden? Wie und von wem dürfen die Daten verwendet werden? Die Frage der Aufbewahrung klonierter DNA-Bereiche hat sich mittlerweile durch die technischen Möglichkeiten der PCR-Technik (Technik-Box 4) erübrigt, da es bei der Kenntnis einer DNA-Sequenz mit Hilfe geeigneter Primer leicht möglich ist, diese Sequenz jederzeit erneut aus genomischer DNA zu erhalten. Die durch die Sequenzierung des menschlichen Genoms aufgeworfenen ethischen und sozialen Probleme sowie die rechtlichen Aspekte konnten ebenfalls nicht unbeachtet gelassen werden, obgleich sie sich kaum von den Problemen unterscheiden, die durch die Verwendung gentechnologischer Methoden ganz allgemein entstehen. Inzwischen ist das menschliche Genom vollständig sequenziert und in Datenbanken der weiteren Untersuchung zugänglich, vgl. Sonderhefte von „Nature“ (Vol. 409, Feb. 2001) und „Science“ (Vol. 291, Feb. 2001). Der Eindruck jedoch, der durch Presseveröffentlichungen oft erweckt wurde und noch immer erweckt wird, dass damit die Probleme von Erbkrankheiten gelöst seien und der Mensch zu jeder Manipulation verfügbar ist, reflektiert den Mangel an Information über die tatsächliche Bedeutung des Human Genome Projects und seiner Konsequenzen in der Öffentlichkeit: Durch die Kenntnis der DNASequenz des menschlichen Genoms ist noch nicht mehr über seine Funktion bekannt als wir ohne die Kenntnis der DNA-Sequenz gewusst haben. Die Sequenz versetzt uns jedoch in die Lage, die kodierten Proteinsequenzen zu entschlüsseln und die betreffenden Gene auf ihre Regulation und Funktion hin zu untersuchen. Die DNA-Sequenz hat somit eine Schlüsselfunktion, die uns die Tür öffnet, um weitere Erkenntnisse zu sammeln, hat aber ohne weitere For-
schung ebensowenig Konsequenzen wie der Besitz eines Schlüssels allein. Die Sequenzierung kompletter Genome hat sich naturgemäß nicht auf das menschliche Genom beschränkt, sondern es sind derzeit bereits eine Reihe anderer Genomprojekte beendet, die das E. coli-Genom und andere Mikroorganismen ebenso einschließen wie das Genom von Saccharomyces cerevisiae, Caenorhabditis elegans, Drosophila melanogaster, der Maus, der Ratte, des Huhns und einiger Pflanzen (z. B. Arabidopsis thaliana). Weitere Genomsequenzierungsprojekte sind in Arbeit. Das menschliche Genom umfasst 3 × 109 Basenpaare DNA in (haploid) 23 Chromosomen (diploid 44 Autosomen und ein Geschlechtschromosomenpaar: XX bei der Frau, XY beim Mann). Die genetische Karte umfasst etwa 3000 Centimorgan (cM) und die Anzahl der Gene wird heute auf 30 000 geschätzt. Das bedeutet, dass nur wenige Prozent der DNA auf Protein-kodierende Genombereiche entfallen: Nehmen wir die mittlere Größe eines Gens mit 1500 Basenpaaren (500 Aminosäuren) an, so umfassen 30 000 Gene nur 5 × 107 Basenpaare oder 1,5% der gesamten Genom-DNA. Diese Schätzung muss jedoch aufgrund der Kenntnisse, die aus den bisherigen DNA-Sequenzdaten des menschlichen Genoms gewonnen wurden, modifiziert werden. So ist inzwischen bekannt, dass viele eukaryotische Gene multiple Promotorregionen besitzen, die in verschiedenen Geweben unterschiedlich aktiv werden. Hinzu kommt die Kenntnis von alternativem Splicing, bei dem in unterschiedlichen Zellen unterschiedliche Exons zu Proteinen kombiniert werden können. Durch solche funktionelle Unterschiede im Gebrauch von Gensequenzen wird das Ausmaß der im Genom tatsächlich enthaltenen Informationen für Proteinsequenzen gegenüber der Anzahl von Genen erhöht, die aus einer vereinfachten Genomanalyse sichtbar werden, bei der lediglich die Anzahl Protein-kodierender Einheiten ermittelt wird. Wir wissen von der Besprechung der Genstruktur (s. Kap. 8), dass eukaryotische Gene in der Form von Introns DNA-Sequenzbereiche enthalten, die keine Proteine kodieren und im Genprodukt nicht mehr wiederzufinden sind. Der Anteil von Introns ist bei menschlichen Genen besonders groß und kann mehr als das 10fache der eigentlichen Proteinkodierenden Sequenz betragen. Unter der Annahme, dass das generell für alle Gene gilt, ließen sich etwa 20% der Größe des menschlichen Genoms durch die Anwesenheit großer Intronabschnitte in den Genen
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Kapitel 14: Das menschliche Genom – Grundlagen menschlicher Vererbung
erklären. Etwa 60% des Genoms sind EinzelkopieDNA oder niedrig repetitiv. Die restlichen 30–40% des menschlichen Genoms entfallen zum größten Teil auf repetitive DNA-Sequenzen. Hiervon sind etwa 10% hochrepetitive Sequenzen, und 20% des Genoms werden durch mittelrepetitive Sequenzen repräsentiert. Zur hochrepetitiven DNA im menschlichen Genom zählen neben Mikrosatellitensequenzen auch Telomerensequenzen (TTAGG-Repeats, s. auch S. 51) und Centromeren-DNA. Mittelrepetitive DNASequenzen umfassen zu einem erheblichen Teil Transposons, zu denen u. a. LINEs und SINEs zählen (s. S. 239), aber auch Pseudogene (s. S. 304), die im menschlichen Genom relativ häufig vorkommen. Als eine wichtige Komponente des menschlichen Genoms haben sich Di- und Trinukleotidrepeats erwiesen, die bereits in anderem Zusammenhang erörtert wurden (s. S. 376). Entdeckt wurden solche Trinukleotidrepeats als Bestandteile menschlicher Gene, deren Mutation zu einigen der wichtigsten Erbkrankheiten oder zu Tumoren führt (s. Tabelle 14.4). Zu den Erbkrankheiten, die auf Mutationen von Repeatregionen zurückgehen, gehören Chorea Huntington (s. S. 695), die Duchenne’sche Muskeldystrophie (DMD) (s. S. 689) und das Fragile-X-Syndrom (s. S. 692).
14.1.4 Kartierung von Erbkrankheiten Im Kapitel 11.4 haben wir ja bereits einiges über das Kartieren von Genen erfahren; wir haben uns dort allerdings auf die experimentellen Systeme beschränkt. Dabei stand im Vordergrund, wie man das experimentelle System optimieren kann, um möglichst präzise Kartierungsinformationen zu erhalten (z. B. über Erhöhung der Zahl untersuchter Nachkommen in der F2-Generation oder Auskreuzungen zu anderen Stämmen etc). In der Humangenetik ist die Ausgangssituation im Allgemeinen umgekehrt: Hier haben wir vorgegebene Familien und müssen die Methoden so optimieren, dass auch für kleine Familien die maximalen Informationen möglich sind. Dabei hat uns das Humangenomprojekt riesige Schritte vorangebracht, denn jetzt steht nicht nur die vollständige Sequenz des Genoms (und damit eine exakte „physikalische Karte“) zur Verfügung, sondern auch ein umfangreiches molekulares Methodenspektrum. Dazu gehört neben der Möglichkeit der schnellen Sequenzierung mit großer Reichweite
die hohe Dichte an Mikrosatelliten-Markern, die Möglichkeit, Polymorphismen auf der Ebene einzelner Basen zu erkennen (engl. single nucleotide polymorphism, Abk. SNP – sprich: „snip“) und als Marker einzusetzen, sowie die PCR-Technologie (siehe TechnikBox 4). Die genetische Kartierung menschlicher Krankheitsgene funktioniert also im Prinzip genauso wie die genetische Kartierung eines jeden anderen diploiden Organismus, der sich sexuell fortpflanzt. Das Ziel besteht darin, herauszufinden, wie häufig zwei Genorte durch meiotische Rekombination getrennt werden, um auf diese Weise den genetischen Abstand (ausgedrückt in cM, s. S. 468) sowie die Lage des gesuchten Krankheitsgens in Bezug auf die ausgewählten Marker bestimmen zu können. Eine Rekombination ist aber, wie wir bereits früher gesehen haben, umso wahrscheinlicher, je weiter entfernt die betrachteten Gene oder Marker sind. Umgekehrt werden Allele um so eher gemeinsam vererbt, je dichter sie beieinander liegen. Solch ein Block von Allelen wird auch als Haplotyp bezeichnet. Haplotypen markieren also chromosomale Bereiche, die sich durch Stammbäume und Bevölkerungsgruppen verfolgen lassen. Die Analyse der Haplotypen in einer Familie ist in der Regel sehr informativ, um innerhalb eines gegebenen kritischen Intervalls einzelne Rekombinationsereignisse zu erkennen, die dann die Region der möglichen Kandidatengene weiter einengen können (Abb. 14.3). Wenn es nun zwischen den betrachteten Genorten in der Meiose zu einem Crossing-over kommt, entstehen zwei rekombinierte Chromatiden mit neuen Allelkombinationen. In der Prophase I der Meiose (s. S. 186) liegen zwar vier Chromatiden vor, aber an einem Rekombinationsereignis sind immer nur jeweils zwei Chromatiden beteiligt – die anderen beiden bleiben unverändert. Daher erzeugt ein Crossing-over immer zwei rekombinierte und zwei nichtrekombinierte Chromatiden, was einer Rekombinationshäufigkeit von 50 % (oder 0,5) entspricht. Die Rekombinationshäufigkeit ist also nie größer als 50 %, unabhängig von der Länge des physikalischen Abstandes. Der Zusammenhang zwischen der Rekombinationshäufigkeit und dem genetischen Abstand gehorcht unter mathematisch-statistischen Gesichtspunkten dabei einer Normalverteilung und unterstellt ein rein zufälliges Auftreten von Rekombinationen, die sich außerdem nicht beeinflussen. Aufgrund dieser Überlegungen hat Haldane (1919) die nach ihm be-
14.1 Methoden der Humangenetik
Abb. 14.3. Haplotyp-Analyse. Eine große Familie, in der viele Mitglieder an angeborener Taubheit leiden, wurde mit 160 polymorphen Mikrosatelliten-Markern genomweit untersucht. Alle betroffenen Mitglieder waren homozygot für die Allele 6 bzw. 2 der Marker AFMa052yb5 und D2S158 (hellblau). Dadurch
wird klar, dass sich das entsprechende Gen (DFNB9) zwischen den beiden flankierenden Markern AFMb346ye5 und D2S174 befinden muss; die beiden Marker haben einen genetischen Abstand von 2 cM. (Nach Strachan u. Read 1999)
nannte Kartierungsfunktion aufgestellt (vgl. Kap. 11.4.2). Allerdings hat sich im Laufe der Jahre gezeigt, dass die oben genannten Voraussetzungen nicht immer zutreffen. Insbesondere sind die Crossing-over nicht zufällig verteilt, sondern hängen auch vom Vorkommen ähnlicher Sequenzen und von der chromosomalen Region ab (im Allgemeinen finden wir besonders in männlichen Meiosen Rekombinationen häufiger an den Telomeren, wohingegen die Regionen nahe am Centromer nur in weiblichen Meiosen Rekombinationen zeigen).Generell treten in der weiblichen Meiose Rekombinationen häufiger auf als in männlichen, und außerdem behindert natürlich die Entstehung eines Crossing-overs das Entstehen eines
zweiten in seiner Umgebung; dieser Vorgang wird als Interferenz bezeichnet. Moderne Computerprogramme können diese Phänomene berücksichtigen. Die Zahl an Chiasmata in einer männlichen Meiose wird mit durchschnittlich 49 pro Zelle angegeben. Da jedes Crossing-over 50% Rekombinanten ergibt, errechnet sich daraus eine genetische Länge des männlichen Genoms von 2450 cM. Dieser Wert stimmt gut überein mit der experimentell bestimmten genetischen Länge. Das weibliche Genom umfasst dagegen (ohne das X-Chromosom) 4296 cM (Collins et al. 1996). Wenn man nun die physikalische Länge des menschlichen Genoms mit 3.000 Mb annimmt, so ergibt sich, dass im Durchschnitt 1 männliches cM etwa 1,05 Mb entspricht und 1 weibliches cM
663
664
Kapitel 14: Das menschliche Genom – Grundlagen menschlicher Vererbung
0,70 Mb; als Faustregel kann man sich daher merken, dass beim Menschen der genetische Abstand von 1 cM einen physikalischen Abstand von etwa 1 Mb bedeutet. Das wesentliche Interesse der Humangenetik richtet sich heute nach Abschluss der Sequenzierung des menschlichen Genoms darauf, Krankheitsgene zunächst zu kartieren und dann zu charakterisieren. Dazu bedarf es einer großen Zahl von Markern, die in hoher Dichte über das gesamte Genom verteilt sind und die außerdem schnell zu analysieren sind. Die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Marker verwendeten Blutgruppen umfassen nur etwa 20 Genorte, und auch die später entwickelten biochemischen Verfahren haben keine wesentliche Verbesserung gebracht. Es sind heute insbesondere 3 Kategorien von Markern, die diesen Ansprüchen genügen: • Restriktionslängenpolymorphismen (engl. restriction fragment length polymorphism, RFLP): erforderte früher Southern Blot, kann heute aber vielfach durch PCR-basierte Verfahren ersetzt werden; • Mikrosatelliten (Di-, Tri- und Tetrarepeats) mit hohem Informationsgehalt; • SNPs können in automatischen Verfahren schnell nachgewiesen werden. Für alle 3 Kategorien liegt die Zahl der bekannten Marker über 105, bei SNPs sogar noch einmal eine Größenordnung darüber. Der Informationsgehalt der RFLP-Vefahren ist allerdings in der Humangenetik begrenzt, da es maximal 2 Allele gibt: Restriktionsschnittstelle vorhanden oder nicht. Bei den Mikrosatelliten gilt diese Einschränkung nicht – hier sind
natürlich durch die Vielzahl der Wiederholungsmöglichkeiten auch eine entsprechend hohe Zahl an Allelen möglich, womit die Wahrscheinlichkeit steigt, auch in kleinen Familien informative Marker verwenden zu können. Hat man nun eine Familie mit klarem Mendel’schen Erbgang und informativen Markern gefunden, stellt sich die Frage, wie man Kopplung statistisch sichern kann. In Abb. 14.4 sind zwei Varianten einer Familie gezeigt mit unterschiedlichem Informationsgehalt. In Abb.14.4a ist klar, dass die Krankheit zunächst mit dem Allel A1 assoziiert ist: von der Großmutter (I-2) über die Mutter (II-1) zu den Kindern III-1, III-3, III-4; bei III-6 liegt offensichtlich eine Rekombination vor. In der Situation Abb. 14.4b ist das nicht mehr klar: Da über die Generation der Großeltern keine Informationen vorliegen, kann bei der Mutter (II-1) die Krankheit mit beiden Allelen, A1 oder A2, assoziiert sein. Allerdings lässt das Verhältnis in der 3. Generation eine Assoziation mit A1 wahrscheinlicher erscheinen als mit A2. In dem Stammbaum b ist es also nicht möglich, zweifelsfrei die Rekombinationsereignisse zu bestimmen. Es ist aber möglich, die Wahrscheinlichkeit der beiden Alternativen zu berechnen, ob die beiden Genorte (Krankheit und Marker A1) gekoppelt sind (Rekombinationshäufigkeit = Θ) oder nicht (Rekombinationshäufigkeit = 0,5). Das Verhältnis dieser beiden Wahrscheinlichkeiten zeigt an, welche Wahrscheinlichkeit überwiegt (engl. odds), und der Logarithmus daraus wird als LOD-Score bezeichnet (engl. logarithm of the odds). Morton hat 1955 gezeigt, dass die Berechnung der LOD-Scores die effizienteste
Abb. 14.4 a,b. Erkennung von Rekombinationen. Es sind zwei Versionen einer Familie mit einer autosomal-dominanten Erkrankung angegeben, die mit dem Marker A assoziiert ist. Dieser Marker kommt in verschiedenen Allelen (A1 bis A6) vor. a Wir können zweifelsfrei erkennen, dass bei den Familienmitgliedern III1-III5 keine Rekombinationen vorliegen; bei III6 hat dagegen eine Rekombination stattgefunden. b Wenn in derselben Familie allerdings Informationen über die Groß-
eltern (Gen. I) fehlen, erscheint die Situation nicht mehr so eindeutig: Bei der Mutter (II1) könnte die Krankheit mit dem Allel A1 oder A2 assoziiert sein. Entsprechend könnten formal entweder die Kinder III1-5 rekombinant sein und III6 nicht rekombinant oder umgekehrt (III1-5 nicht rekombinant und III6 rekombinant). Da aber Rekombinationsereignisse selten sind, erscheint die zweite Interpretation wahrscheinlicher. (Nach Strachan u. Read 1999)
14.1 Methoden der Humangenetik
statistische Methode darstellt, um Stammbäume auf Kopplung zu untersuchen, und er entwickelte Formeln, um den LOD-Score für bestimmte Standardsituationen als Funktion von Θ zu erhalten. Die entsprechenden Daten für unsere 2 Standardfamilien aus Abb. 14.4 sind in Tabelle 14.2 angegeben. Positive LOD-Scores lassen eine Kopplung wahrscheinlicher erscheinen, wohingegen negative LOD-Scores eher für eine Ablehnung dieser Hypothese sprechen (man beachte aber, dass nur Rekombinationshäufigkeiten Θ zwischen 0 und 0,5 aussagekräftig sind; bei Θ = 0,5 lässt sich aber Kopplung und Nicht-Kopplung nicht mehr unterscheiden (beide Möglichkeiten sind gleich wahrscheinlich), so dass der Quotient 1 und damit
der entsprechende Logarithmus 0 wird). Computerprogramme können die entsprechenden Kurven graphisch darstellen (Abb. 14.5). Die nächste Frage betrifft den Schwellenwert, ab dem wir einen LOD-Score als signifikant betrachten können. Es hat sich allgemein durchgesetzt, dafür einen Wert von 3 anzunehmen. Das beruht darauf, dass dann die Wahrscheinlichkeit der Kopplung 1000fach über der Wahrscheinlichkeit der NichtKopplung liegt (der Logarithmus von 1000 ist 3). Mathematische Überlegungen können zeigen, dass dieser 1000fache Überschuss der Wahrscheinlichkeit dem allgemein üblichen Grenzwert von p< 0,05 entspricht, den man in der Statistik als Signifikanz-
Tabelle 14.2. Berechnung der LOD-Werte der Familien in Abb. 14.4 Familie Aa Θ
0
0,1
0,2
0,3
0,4
0,5
Z
–∞
0,58
0,62
0,51
0,30
0
Familie Bb Θ
0
0,1
0,2
0,3
0,4
0,5
Z
–∞
0,28
0,32
0,22
0,08
0
Vorbemerkungen: Unter der Annahme, dass die Gene wirklich gekoppelt sind (Rekombinationshäufigkeit Θ), beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass eine Meiose nicht rekombinant ist, 1 – Θ, und die Wahrscheinlichkeit für eine Rekombination ist Θ. Wenn die Gene tatsächlich aber nicht gekoppelt sind, beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass eine Meiose rekombinant oder nicht rekombinant ist, in gleicher Weise 1⁄2. a Es gibt fünf Nicht-Rekombinante und eine Rekombinante. Die Gesamtwahrscheinlichkeit für Kopplung ist (1–Θ)5 Θ. Die Wahrscheinlichkeit für keine Kopplung ist (1/2)6. Das Verhältnis der Wahrscheinlichkeiten ist (1– Θ)5 Θ/(1/2)6. Der LOD-Wert (Z) ist der Logarithmus des Verhältnisses beider Wahrscheinlichkeiten; bei verschiedenen beobachteten Rekombinationshäufigkeiten ergeben sich obige LOD-Werte. b Wenn A1 mit der Erkrankung gekoppelt ist, gibt es 5 NichtRekombinante und 1 Rekombinante; wenn A2 mit der Erkrankung gekoppelt ist, gibt es 5 Rekombinante und 1 Nicht-Rekombinante. Die Gesamtwahrscheinlich ist 1 ⁄2 [(1– Θ)5 Θ/(1/2)6] + 1/2 [(1– Θ) Θ 5 /(1/2)6]. Der LOD-Wert (Z) ist der Logarithmus des Verhältnisses beider Wahrscheinlichkeiten; bei verschiedenen beobachteten Rekombinationshäufigkeiten ergeben sich obige LOD-Werte.
Abb. 14.5. Kurven von LOD-Werten. Aufgetragen sind die LOD-Werte gegen die Rekombinationshäufigkeit bei einem Satz hypothetischer Kopplungsexperimente. Kurve 1: Nachweis einer Kopplung (Z > 3) ohne Rekombination; Kurve 2: Hinweis auf eine Kopplung (Z > 3), wobei die wahrscheinlichste Rekombinationshäufigkeit einen Wert von 0,23 erreicht; Kurve 3: Ausschluss einer Kopplung (Z < –2) für Rekombinationshäufigkeiten von unter 0,12; über größere Rekombinationshäufigkeiten sind keine Aussagen möglich; Kurve 4: für keine der Rekombinationshäufigkeiten lässt sich eine Aussage machen. (Nach Strachan u. Read 1999)
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Kapitel 14: Das menschliche Genom – Grundlagen menschlicher Vererbung
schwelle für eine Irrtumswahrscheinlichkeit von 5% wählt. Umgekehrt wird eine Kopplung mit einem LOD-Wert kleiner als –2 ausgeschlossen; LOD-Werte zwischen –2 und +3 lassen keine klaren Aussagen zu. Wir haben uns aus Gründen der Einfachheit nur auf die Kopplung mit einem Marker beschränkt; die Aussagekraft der Methode wird jedoch deutlich verbessert, wenn mehr Marker in die Untersuchung einbezogen werden. Die Auswertung über entsprechende Computerprogramme ergibt dann ein „kritisches Intervall“, innerhalb dessen das gesuchte Gen zu finden sein sollte – ein Beispiel dafür zeigt die Abb. 14.6. Es sei abschließend darauf hingewiesen, dass die Aussagekraft der Methode sehr davon abhängt, dass der Phänotyp eindeutig bestimmt werden kann (krank/nicht krank) und dass die Marker klar voneinander unterschieden werden können. Falsche Klassifizierungen auf der einen oder anderen Seite können leicht zu unklaren Ergebnissen führen. Wir werden später sehen (Abschnitt 14.4), wie diese Methode auch bei komplexen Erkrankungen angewendet werden kann. Die Notwendigkeit, sich auf ein vollständiges genetisches Modell festlegen zu müssen, erweist sich bei einer Kopplungsanalyse von nur eingeschränkt mendelnden Merkmalen als ernst-
haftes Problem. Modellfreie Kopplungsanalysen bieten eine Möglichkeit zur Lösung. Dabei lässt man nicht-betroffene Personen außer acht und sucht statt dessen nach chromosomalen Abschnitten, die bei betroffenen Personen übereinstimmen. Dabei ist es wichtig, zwischen Abschnitten zu unterscheiden, die aufgrund der Abstammung übereinstimmen (engl. identical by descent), und solchen, bei denen der Zustand rein zufällig identisch ist (engl. identical by state). Verfahren, die übereinstimmende Abschnitte untersuchen, lassen sich innerhalb von Kernfamilien (Geschwisterpaar-Analysen, engl. sib-pair analysis), bei ausgedehnten Familien oder bei Bevölkerungsgruppen anwenden, die sich auf eine kleine Ursprungsgruppe zurückführen lassen. Betrachtet man bei der Geschwisterpaar-Analyse einen beliebigen Chromosomenabschnitt, so ist zu erwarten, dass Geschwisterpaare mit einer Häufigkeitsverteilung von 1 ⁄4, 1⁄2 oder 1⁄4 entweder in Bezug auf keinen, einen oder beide elterlichen Haplotypen übereinstimmen. Wenn beide Geschwister an einer genetisch bedingten Krankheit leiden,besitzen sie beide den chromosomalen Bereich, der den Krankheitslocus enthält. Ist die Krankheit dominant, so haben sie mindestens einen der elterlichen Haplotypen gemeinsam, und bei einer rezessiven Erkrankung verfügen sie jeweils über beide
Abb. 14.6. Kartierung unter Verwendung mehrerer Marker. Die waagrechte Achse gibt die genetischen Abstände in cM an, die senkrechte Achse die LOD-Werte. Das Programm LINKMAP hat das noch nicht zugeordnete Krankheitsgen entlang der xAchse verschoben und für jede Position einen LOD-Wert errechnet. In der Nähe von Markern, die mit dem Krankheits-
gen rekombinieren, werden die Werte stark negativ. Der höchste Wert der Kurve zeigt die wahrscheinlichste Position für das Krankheitsgen an. Die Wahrscheinlichkeit für diese Position wird durch das Maß bestimmt, um das der höchste Wert der Kurve den nächstniedrigeren überragt. (Nach Strachan u. Read 1999)
14.2 Chromosomenanomalien
Haplotypen. Man sucht also bei erkrankten Geschwisterpaaren mit geeigneten Markern (Mikrosatelliten, SNPs) nach solchen chromosomalen Bereichen, die bei beiden Geschwisterteilen dieselben Haplotypen häufiger enthalten als aufgrund einer zufälligen Verteilung zu erwarten wäre. Wie wir sehen, ist die Suche nach statistischen Assoziationen zwischen der Krankheit und einem Markergenotyp in der allgemeinen Bevölkerung eine Alternative zur Kopplungskartierung in Familien. Kopplungen und Assoziation sind unterschiedliche Phänomene, wobei der wesentliche Unterschied darin besteht, dass Kopplung eine Beziehung zwischen zwei Genorten und Assoziation eine Beziehung zwischen Allelen darstellt. Für die Aussagekraft von Assoziationsstudien auf Populationsbasis ist die Auswahl der Kontrollen von ganz entscheidender Bedeutung. Es reicht oft nicht aus, Studenten oder Personal der Universität als Kontrollen zu verwenden, da sie möglicherweise nicht typisch für die Population sind, aus der die Patienten stammen. Durch die Verwendung „interner“ Kontrollen lassen sich diese Probleme umgehen, wenn aus jeder Familie drei Mitglieder (der Proband und beide Eltern) typisiert werden. Solche Tests machen zwar mehr Arbeit,liefern dafür aber verlässlichere Daten als die üblichen Fall-Kontroll-Studien. Das Hauptproblem besteht in der Praxis darin, dass Eltern zur Verfügung stehen müssen – was bei spät einsetzenden Krankheiten schwierig sein kann. Aus derartigen Überlegungen heraus hat sich langsam ein neues Feld entwickelt – die genetische Epidemiologie. Der Begriff wurde von Neel und Schull 1954 geprägt, um dass Zusammenwirken zweier Disziplinen zu beschreiben, die zur Erklärung verbreiteter Krankheiten ihre Ursache und die Verbreitung in der Bevölkerung analysieren wollen. Aufgrund ihrer „Hybrid-Natur“ zehrt die genetische Epidemiologie von verschiedenen, benachbarten Arbeitsrichtungen: Populationsgenetik (s. Kap. 11.5), quantitativer Genetik, Epidemiologie und Biostatistik. Im Zentrum der genetischen Epidemiologie steht der Versuch, genetische und umweltbedingte Einflüsse auf die Krankheitsentstehung zu unterscheiden. Dazu wurden in den letzten Jahren viele verschiedene Verfahren herausgebildet, die alle einen großen statistischen Aufwand betreiben, um Genorte zu identifizieren, die mit komplexen Krankheiten assoziiert sind. Wir werden später einige Ergebnisse dazu vorstellen (siehe Kapitel 14.4 über komplexe Erbkrankheiten).
! Die Kartierung von Erbkrankheiten in größeren
Familien erfolgt durch die Verwendung von Mikrosatelliten-Markern, die die Bestimmung von LODWerten erlaubt. Bei LOD-Werten, die größer sind als 3, wird eine Kopplung als sehr wahrscheinlich angenommen. Bei kleinen Familien lässt sich das Verfahren nicht anwenden.
14.2 Chromosomenanomalien In einem früheren Kapitel (7.2) haben wir schon viel über die Struktur und den Aufbau menschlicher Chromosomen erfahren. Insbesondere wurden dort auch die verschiedenen Färbetechniken vorgestellt, mit denen in der humanen Cytogenetik gearbeitet werden kann (Abb. 7.12 und 7.13). Ein klassisches Karyogramm (Abb. 7.12a) zeigt einen haploiden menschlichen Chromosomensatz mit 22 Autosomen und ein Geschlechts-Chromosom (X oder Y). Menschliche Chromosomen sind metazentrisch mit einem kurzen (p = petit) und einem langen (q = queue) Arm. Numerische und strukturelle Veränderungen der Chromosomen standen wegen ihrer leichten Analyse im Mikroskop lange Zeit im Zentrum humangenetischer Untersuchungen und Beratungen. Sie sollen im Folgenden kurz dargestellt werden.
14.2.1 Numerische Chromosomenanomalien Bei den numerischen Chromosomenanomalien kann der basale Chromosomensatz (Euploidie) vervielfacht sein, wir sprechen dann von Polyploidie (Beispiel: 3 n = Triploidie). Andererseits kann auch ein einzelnes Chromosom in seiner Zahl erhöht (Hyperploidie; Beispiel: 2 n+1 = Trisomie) oder erniedrigt sein (Hypoploidie; Beispiel: 2 n–1 = Monosomie). Da hierbei das Gleichgewicht der Chromosomenzahl gestört ist, sprechen wir von Aneuploidien. Diese wichtige Klasse von Krankheiten wird durch einen Fehler in den meiotischen Teilungen verursacht, den wir bereits kennen gelernt haben: durch Nondisjunction, also eine unvollständige Verteilung der Chromosomen oder Chromatiden während einer der Reifeteilungen (Abb. 14.7). Solche Verteilungsfehler führen zur Aneuploidie (Täckholm 1922) der Toch-
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Kapitel 14: Das menschliche Genom – Grundlagen menschlicher Vererbung
terzellen. Das bedeutet, dass diese nicht mehr ein vollständiges diploides Komplement des Genoms besitzen (Euploidie), sondern dass ihnen ein Chromosom fehlt oder dass eines der Chromosomen überzählig vorhanden ist (Abb. 7.12b). Nondisjunction wird aber nicht nur für Geschlechtschromosomen beobachtet, sondern kann alle Chromosomen eines Genoms betreffen, und zwar mit ungefähr gleicher Wahrscheinlichkeit. In den meisten Fällen sind Aneuploidien letal, d. h. die Organismen mit abnormalen Anzahlen von Chromosomen sind nicht lebensfähig. Nur in Ausnahmefällen werden beim Menschen Kinder geboren, die abweichende Chromosomenzahlen besitzen. Im Allgemeinen sind auch diese Individuen mehr oder weniger schwer behindert. Dabei sind Monosomien, d. h. Konstitutionen, bei denen eines der zwei homologen Chromosomen fehlt, mit Ausnahme des X-Chromosoms (X/0) grundsätzlich letal. Trisomien, also eine Triplikation eines der Chromosomen, können hingegen offenbar zumindest in
einigen wenigen Fällen besser kompensiert werden. Kinder mit aneuploiden Chromosomenzahlen werden nur dann lebend geboren, wenn diese die Geschlechtschromosomen oder die Autosomen 13, 18 oder 21 betreffen. Dass aneuploide Anzahlen der übrigen Autosomen nicht gefunden werden, besagt nicht, dass für diese Chromosomen keine Nondisjunction vorkommt. Aber derartige Abweichungen haben so schwerwiegende Entwicklungsstörungen in der Embryonal- und Fötalentwicklung zur Folge, dass es bereits frühzeitig zum Abort kommt, oft bereits in den ersten Wochen der Schwangerschaft. Die Geburt von Kindern mit Aneuploidien (Trisomien) der Chromosomen 13 (Pätau Syndrom, D1-Trisomie; 47,XY,+13) und 18 (Edwards Syndrom, Trisomie E; 47,XY,+18) besagt jedoch nichts über die Lebensfähigkeit solcher Kinder (Tabelle 14.3). Entwicklungsstörungen, wie sie durch diese Chromosomenkonstitutionen verursacht werden, manifestieren sich bisweilen erst so spät, dass ein Teil der Kinder
Abb. 14.7 a,b. Mögliche Entstehungsmechanismen einer gonosomalen Aneuploidie. a Nondisjunction in der 1. bzw. 2. Meiose der Oogenese, b Nondisjunction in der 1. bzw. 2. Meiose der Spermatogenese. (Nach Tariverdian u. Buselmaier 2004)
14.2 Chromosomenanomalien
noch lebend geboren wird, dann aber innerhalb kurzer Zeit stirbt. Lediglich Individuen mit Aneuploidien von Chromosom 21 oder der Geschlechtschromosomen sind in einem gewissen Prozentsatz der Fälle lebensfähig. Offenbar spielt hierfür die übrige genetische Konstitution eine Rolle, denn auch Individuen mit Aneuploidien des Chromosoms 21 und der Geschlechtschromosomen sterben zu einem erheblichen Anteil bereits während der Frühentwicklung. Nur Organismen mit einem hierfür geeigneten genetischen Hintergrund scheinen zu überleben. Die tatsächliche Häufigkeit fehlerhafter Chromosomenverteilung während der Meiose ist wahrscheinlich noch höher als in Tabelle 14.3 angegeben ist. In vielen Fällen ist die Ursache eines Aborts früh in der Schwangerschaft nicht bekannt, kann aber auf einer Aneuploidie des Embryos beruhen. ! Neben vererbbaren Krankheiten hat sich die Humangenetik auch mit Krankheiten zu beschäftigen, die zwar auf bestimmte genetische Fehler zurückzuführen sind, jedoch nicht vererbt werden, da die Träger sich nicht fortpflanzen oder ihre Keimzellen nicht betroffen sind.
Das Down Syndrom Die wohl bekannteste Chromosomenaberration des Menschen ist eine triploide Konstitution des Chromosoms 21, auch Trisomie 21 oder Down Syndrom (Morbus Langdon-Down) genannt (Abb. 14.8). Die früher gebräuchliche Bezeichnung Mongolismus weist auf eine oberflächliche phänotypische Ähnlichkeit der Augenform der Symptomträger mit denen von Individuen mongolider Abstammung hin, sollte aber heute sowohl zur Vermeidung der Entstehung von Diskriminationsgefühlen als auch wegen der Unrichtigkeit der Bezeichnung nicht mehr gebraucht werden. Die Ähnlichkeit mit Individuen der asiatischen Population beruht auf einer schmalen Falte am inneren Augenwinkel. Symptome. Patienten mit Trisomie 21 zeichnen sich generell durch eine mentale Retardation aus. Hinzu kommen physische Gebrechen wie eine verzögerte Entwicklung des Skeletts, und eine generelle Verminderung des Tonus der Muskulatur. Das verursacht auch den für ein Down Syndrom typischen Gesichtsausdruck (Abb. 14.8). Dieser entwickelt sich häufig erst bei älteren Kindern, so dass es oft schwierig ist, eine Trisomie 21 bereits nach der Geburt zu erkennen. Ein relativ zuverlässiges Indiz für das Vorliegen eines Down Syndroms beim Neugeborenen ist der abnormale Verlauf der Falten in den Handinnenflächen (Abb. 14.9). Ein großer Prozentsatz der betrof-
Tabelle 14.3. Häufigkeit der verschiedenen Chromosomenstörungen bei Neugeborenen Chromosomenstörung
Häufigkeit bei der Geburt
Trisomie 21
1/ 700
Trisomie 18
1/ 3000
Trisomie 13
1/ 5000
47,XXY
1/1000 웧
47,XYY
1/1000 웧
47,XXX
1/1000 웨
45,X0
1/ 2000 – 5000 웨
Nach Tariverdian u. Buselmaier (2004)
Abb. 14.8. Phänotyp eines Kindes mit Down Syndrom. (Photo: J. v.d. Burgt, Nijmegen)
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Kapitel 14: Das menschliche Genom – Grundlagen menschlicher Vererbung
fenen Individuen hat zudem Herzanomalien und Störungen des Immunsystems, die früher meist zum Tode der Kinder um das 9. Lebensjahr herum führten. Die Lebenserwartung hat sich heute durch die Verfügbarkeit von Antibiotika zur Abwehr von Infektionen trotz der allgemeinen Schwäche des Immunsystems erheblich erhöht, so dass die mittlere Lebenserwartung von Patienten mit Trisomie 21 nunmehr bei 50 Jahren liegt. Häufigkeit und Lebensalter der Mutter. Die Häufigkeit des Down Syndroms ist mit einer von 700 Geburten (also 1,25 × 10–3) relativ hoch und unterscheidet sich zwischen verschiedenen menschlichen Populationen kaum. Allerdings korreliert die Häufigkeit der Erkrankung des Kindes stark mit dem Lebensalter der Mutter: Die Wahrscheinlichkeit, ein Kind mit einer Trisomie 21 zu gebären, steigt ab dem 30. Lebensjahr von etwa 0,5% (bei einem Lebensalter zwischen 20 und 30 Jahren) auf 6% bei einem Mutterschaftsalter von 45 und mehr (Abb. 14.10). Das weist darauf hin, dass die Mehrzahl der Trisomien 21 durch eine aberrante Meiose in der Mutter verursacht
wird, obwohl auch väterliche Trisomien 21 nachgewiesen sind. Die Ursache dürfte darin zu suchen sein, dass der lange Zeitraum, den Oocyten in der meiotischen Prophase I verbleiben, mit einer zunehmenden Fehlerhaftigkeit der meiotischen Teilungsmechanismen einhergeht. Diese Annahme wird dadurch unterstützt, dass auch andere Aneuploidien mit steigendem Lebensalter der Mutter zunehmend häufiger auftreten, wenn auch nicht durchweg im gleichen Ausmaß wie die Trisomie 21. Allerdings muss hier die Frage offenbleiben, ob es nicht bei zunehmendem Alter der Mutter zu einer erhöhten Häufigkeit früherer Aborte für andere Chromosomenaberrationen kommt, so dass die Zunahme der Häufigkeit chromosomaler Aberrationen dadurch teilweise verdeckt wird. Diese Einschränkung ist auch hinsichtlich der Feststellung zu machen, dass Trisomien 13 und 18 in ihrer Häufigkeit generell geringer sind als Trisomien von Chromosom 21. Alle diese Angaben beziehen sich auf Lebendgeburten. Trisomien 13 und 18 werden offensichtlich viel häufiger pränatal abortiert als eine Trisomie 21. Das kommt auch in der geringen postnatalen Lebensfähigkeit der Kinder zum Ausdruck: bei Trisomie 18 im Mittel drei (Jungen) bis neun Monate (Mädchen), bei Trisomie 13 drei bis vier Monate. Man kann also annehmen, dass alle Chromosomen im Mittel etwa gleich häufig in der Meiose fehlverteilt werden. ! Fehlerhafte Chromosomenverteilungen während
der meiotischen Teilungen sind häufig und betreffen alle Chromosomen mit etwa gleicher Wahrscheinlichkeit. Die daraus resultierenden Aneuploidien der Nachkommen sind jedoch mit Ausnahme der Trisomie des Chromosoms 21 und der Monosomie des XChromosoms nicht lebensfähig.
Geschlechtschromosomenaberrationen
Abb. 14.9. Charakteristische Handfurchen bei Trisomie 21. Der Winkel der Hauptlinien der Hand (Winkel in der Abbildung) ist bei Down-Syndrom-Patienten flacher als bei den gesunden Eltern (oben). (Aus Stern 1949)
Die Häufigkeit von Anomalien der Geschlechtschromosomen gleicht etwa der von Autosomen. Das ist nach unseren Überlegungen im vorangehenden Abschnitt auch zu erwarten. Die phänotypischen Effekte von Geschlechtschromosomenaberrationen sind jedoch insgesamt weniger schwerwiegend als bei autosomalen Trisomien. Im Gegensatz zu autosomalen Aneuploidien sind auch Individuen mit Monosomie
14.2 Chromosomenanomalien
Abb. 14.10 a,b. Entstehung verschiedener NondisjunctionGenotypen in Abhängigkeit vom Lebensalter der Mutter bei der Konzeption. a Im oberen Abbildungsteil sind die Häufigkeitsverteilungen von Turner-Syndrom (XO), Klinefelter-Syndrom (XXY) und Down Syndrom (Trisomie 21) dargestellt. Im unteren Abbildungsteil ist für das Klinefelter-Syndrom gezeigt,
dass die Nondisjunction der X-Chromosomen bei höherem Lebensalter der Mutter meist auf Fehlern in der Meiose während der Oogenese beruht, da beide X-Chromosomen mütterlichen Ursprungs sind (Xm) b Häufigkeit des Down Syndroms in Abhängigkeit vom Lebensalter der Mutter. (a: Nach FergusonSmith 1966; b: Nach Hook u. Lindsjö 1978)
des X-Chromosoms lebensfähig (korrekte Schreibweise: 45, X0; abgekürzt: X0-Konstitution). Zu erklären ist diese offenbar geringere Empfindlichkeit des Organismus gegen Veränderungen der Geschlechtschromosomenzahl durch deren besondere Stellung im Genom: Das heterogametische Geschlecht besitzt ja ebenfalls nur eine Dosis des X-Chromosoms. Auch Triploidien des X-Chromosoms haben weniger schwerwiegende Effekte als die von Autosomen. Das ist auf einen Mechanismus zurückzuführen, der dafür sorgt, dass die im homo- und heterogametischen Geschlecht ungleiche Anzahl von Allelen durch eine Veränderung ihrer Stoffwechselaktivität kompensiert wird: den Dosiskompensationsmechanismus (s. Kap. 7.2.3). Dieser Mechanismus wirkt nicht nur geschlechtsabhängig, sondern ist in der Lage, die Anzahl an Geschlechtschromosomen in jeder genetischen Konstitution zu zählen und für eine funktionelle Angleichung der betreffenden Genaktivitäten an einen haploiden Zustand des X-
Chromosoms durch Inaktivierung überzähliger XChromosomen zu sorgen. Aneuploidien des Y-Chromosoms haben insgesamt weniger schwerwiegende phänotypische Folgen als die anderer Chromosomen. Das dürfte nicht zuletzt auf die geringere Anzahl von Genen zurückzuführen sein, die im Y-Chromosom liegen (s. Kap. 14.3.4). So ist die Anwesenheit eines zusätzlichen Y-Chromosoms im männlichen Geschlecht (korrekte Schreibweise: 47, XYY; Kurzform: XYY) nicht besonders auffällig und bleibt oft unerkannt. Die Männer sind fertil. Es wird gelegentlich behauptet, dass Männer dieses Genotyps in erhöhtem Maße zu Kriminalität neigen. Diese Behauptung ist experimentell nicht belegbar. Hingegen scheinen XYY-Männer in Intelligenztests schlechter abzuschneiden als XY-Männer. Trisomie des X-Chromosoms. Vergleichbar zur XYYKonstitution ist eine Trisomie des X-Chromosoms:
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Sie führt zu physisch weitgehend normalen, fertilen Frauen mit gelegentlich auftretender Veranlagung zu mentaler Retardation. Auch bei diesem Phänotyp dürfte, wie im Falle von XXY-Konstitutionen, der bereits erwähnte Dosiskompensationsmechanismus eine wichtige Rolle spielen. Die Häufigkeit der X-Trisomien der Kinder nimmt mit dem Lebensalter der Mutter zu. Man könnte erwarten, dass Frauen mit X-Trisomie oder Männer mit XYY-Konstitution in ihren Nachkommen eine erhöhte Anzahl von Geschlechtschromosomenaneuploidien aufweisen. Das ist jedoch nicht der Fall. Offenbar unterliegen aneuploide Keimzellen bevorzugt dem Zelltod während ihrer Entwicklung und werden wohl schon während prämeiotischer Mitosen eliminiert. Klinefelter-Syndrom. Hingegen hat die Anwesenheit eines Y-Chromosoms zusätzlich zu einem normalen weiblichen X-Chromosomensatz (XXY) schwerwiegende Auswirkungen, da das Y-Chromosom Träger männlicher geschlechtsbestimmender Gene ist. Demzufolge sind XXY-Individuen männlich, mit Penis, Skrotum und Testes, diese allerdings in verminderter Größe. Da die Spermatogenese anomal verläuft, sind sie steril, und sie erscheinen oft mental retardiert. Man bezeichnet diese Konstitution als KlinefelterSyndrom. Die Häufigkeit des Klinefelter-Syndroms nimmt, ähnlich wie die des Down-Syndroms, mit dem Alter der Mutter zu (Abb. 14.10). Turner-Syndrom. Ähnlich schwerwiegende Konsequenzen hat das Fehlen eines X-Chromosoms bei der Frau: Ein X0-Genotyp, der postnatal seltener zu finden ist (eine unter 5000 Geburten: Frequenz 2 × 10–4) als ein XXY-Genotyp (eine unter 1000 Geburten: Frequenz 10–3), führt zwar zu einem weitgehend normalen weiblichen Phänotyp, hat aber das Ausbleiben sexueller Reifung und damit Sterilität zur Folge. Diese genetische Konstitution ist als Turner-Syndrom bekannt. Der Genotyp tritt mit 1% bei einem relativ hohen Prozentsatz aller Schwangerschaften auf und ist zu 75% auf die Befruchtung mit Spermien ohne Geschlechtschromosom zurückzuführen, ist also väterlichen Ursprungs. Der geringe Anteil von X0Genotypen bei der Geburt ist auf den frühzeitigen spontanen Abort der meisten X0-Embryonen zurückzuführen, die einen erheblichen Anteil (nahezu 20%) der chromosomalen Aberrationen bei spontanen Aborten beanspruchen.
Fehlt das X-Chromosom völlig, so entsteht eine frühembryonal letale Nullosomie. Ebenso ist ein YChromosom als alleiniges Geschlechtschromosom (Konstitution 0Y) funktionell nicht ausreichend. Die 0Y-Konstitution ist letal.
Häufigkeit von Aborten Bei der Berechnung von Häufigkeiten chromosomal bedingter spontaner Aborte ist ein erheblicher Unsicherheitsfaktor dadurch gegeben, dass spontane Aborte innerhalb der ersten beiden Schwangerschaftsmonate meist gar nicht als solche erkannt werden. In vielen Fällen werden solche Schwangerschaften sogar überhaupt nicht wahrgenommen. Es wird vermutet, dass die Anzahl spontaner Aborte innerhalb dieser ersten zwei Monate wenigstens ebenso hoch ist wie während der gesamten darauffolgenden Schwangerschaftsperiode. Da der Anteil spontaner Abbrüche von Schwangerschaften bei etwa 15% liegt, muss man davon ausgehen, dass insgesamt wenigstens 30% aller Schwangerschaften vorzeitig beendet werden, meist vor dem 5. Schwangerschaftsmonat. Es ist sogar nicht auszuschließen, dass bis zur Hälfte aller Schwangerschaften spontan abbrechen. Ein nicht unerheblicher Anteil spontaner Aborte beruht auf Chromosomenaberrationen. Nehmen wir noch eine – unbekannte – Anzahl anderer, nicht leicht sichtbarer genetischer Defekte wie Homozygotien letaler Allele oder Neumutationen hinzu, so wird offensichtlich, dass ein hoher Prozentsatz der spontanen Schwangerschaftsabbrüche genetische Ursachen hat. Viele der nicht primär genetisch bedingten Schwangerschaftsabbrüche beruhen auf Fehlentwicklungen, die durch eine Vielzahl, meist unkontrollierbarer Umwelteinflüsse im weitesten Sinn induziert werden können, so dass man auch hier von einer natürlichen Kontrolle biologischer Prozesse sprechen kann. ! Geschlechtschromosomenaberrationen führen zu
unterschiedlichen phänotypischen Defekten. Überzählige Chromosomen (XXX oder XYY) zeigen geringere Effekte, während das Fehlen des zweiten X-Chromosoms (X0) oder ein Y-Chromosom im Genom (XXY) zu schweren Störungen führen. Spontane Aborte sind häufig durch Chromosomenaberrationen verursacht .
14.2 Chromosomenanomalien
14.2.2 Strukturelle Chromosomenanomalien Veränderungen in der Struktur der Chromosomen gibt es in vielfältiger Weise. Man bezeichnet sie je nach ihrer Art als • Deletionen, • Duplikationen, • Insertionen, • Inversionen oder • Translokationen. Grundsätzlich können diese Strukturveränderungen an jeder Stelle im Chromosom auftreten und ein unterschiedliches Ausmaß erreichen. Wir sprechen aber nur dann von Chromosomenanomalien, wenn sie sich mit cytogenetischen Methoden, d. h. mit den verschiedenen Methoden der Chromosomenanalytik im Mikroskop nachweisen lassen. Können die Mutationen nicht mehr mit dem Mikroskop erkannt werden, werden sie eher dem Bereich der Molekulargenetik zugeordnet. Obwohl die Grenze natürlich im Einzelfall fließend sein mag, hat sie dennoch aufgrund des unterschiedlichen methodischen Repertoirs weiterhin Bestand. Bei Deletionen (Verlust eines Teils des Chromosoms; Abb. 14.11a) können wir unterscheiden zwischen terminalen Deletionen, bei denen Endfragmente entstehen, und interstitiellen Deletionen, bei denen das Fragment aus einem mittleren Chromosomenbereich stammt. Geht ein Telomerfragment verloren, so wird das Chromosom instabil und in den meisten Fällen abgebaut. Wenn der Bruchbereich bei interstitiellen Deletionen auch das Centromer einschließt, entsteht ein zentrisches und ein azentrisches Chromosomenfragment. Das azentrische Fragment geht im Verlauf der Mitose oder Meiose jedoch verloren, da es keine Ansatzstelle für die Spindelfaser besitzt. Dieser Verlust von genetischem Material ist die Ursache, dass größere Deletionen häufig bereits im heterozygoten Zustand letal sind. Translokationen (Abb. 14.11b) sind chromosomale Strukturveränderungen, in deren Verlauf entweder ein Chromosomenfragment in eine neue Lage im gleichen Chromosom eingebaut wird oder auf ein anderes Chromosom übertragen wird. Auch können zwei Fragmente zwischen Chromosomen wechselseitig ausgetauscht werden. Dabei müssen zwei verschiedene Chromosomenstücke abbrechen, die dann wechselseitig ausgetauscht werden (reziproke Trans-
lokation); von einer nicht-reziproken Translokation spricht man, wenn ein Chromsomenfragment direkt auf ein anderes Chromosom übertragen wird. Bei stabilen reziproken Translokationen besitzt nach dem Austausch der Fragmente jedes der beiden beteiligten Chromosomen ein Centromer; weitere mitotische Zellteilungen können ungestört ablaufen. Es wurde weder genetisches Material hinzugefügt noch entfernt, „nur“ die Anordnung der Kopplungsgruppen wurde verändert. Allerdings kommen dadurch in vielen Fällen Gene in eine andere chromosomale Umgebung, deren Expressionsmuster verändert sind. Wir werden sehen, dass damit oft Krankheiten verbunden sind (bes.Krebserkrankungen; Kap.14.4.1). Wird jedoch auch das Centromer durch die Translokation erfasst, entsteht ein azentrisches und ein dizentrisches Chromosom. Wie bereits oben erwähnt, wird das azentrische Chromosom in der Mitose bzw. Meiose verloren gehen; aber auch das dizentrische Chromosom wird durch die zwei Ansatzpunkte für die Spindelfasern zerrissen und damit zerstört. Ein Spezialfall ist die Robertson’sche Translokation (auch als „zentrische Fusion“ bekannt; Abb. 14.11 c); davon spricht man, wenn bei zwei akrozentrischen Chromosomen (die Chromosomen 13-15, 21 und 22) die kurzen Arme in der Nähe des Centromers abbrechen und die beiden langen Chromosomenarme in der Gegend des Centromers verschmelzen. Dabei entsteht ein Translokationschromosom, das die beiden langen Arme der beteiligten Chromosomen enthält. Das reziproke Translokationsprodukt, bestehend aus den beiden kurzen Armen, geht verloren. Die Träger solcher Translokationen haben nur 45 Chromosomen, wobei ihnen das genetische Material der kurzen Arme zweier akrozentrischer Chromosomen fehlt, was aber in der Regel ohne besondere Auswirkungen bleibt. Allerdings treten in der ersten meiotischen Teilung Probleme bei der Paarung mit den homologen Chromosomen und vor allem bei der anschließenden Verteilung auf die Tochterzellen auf, die zur Weitergabe der Translokation sowohl in balancierter als auch in nicht-balancierter Form führen kann (wobei balanciert heißt, dass kein Verlust oder Zugewinn von Chromosomensegmenten stattfindet). Unter einer Duplikation (Abb. 14.11d) versteht man ein zweimaliges Auftreten desselben Chromosomenfragments im haploiden Chromosomensatz. Als Ursache wird im Allgemeinen ein illegitimes Crossover angenommen. Dabei kommt es zu einem Kontakt zwischen zwei homologen Chromosomen an
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Abb. 14.11a–e. Strukturelle Chromosomenaberrationen. a Schema zur Entstehung und Folgen von Deletionen: (1) Terminale Deletion mit Verlust des Fragments gh; (2) interstitielle Deletion mit Verlust des Fragments bc; (3) interstitielle Deletion mit Bildung eines Ringchromosoms und Verlust der Fragmente abc und gh. b Schema zur Entstehung einer reziproken Translokation: Die Fragmente nopqr und gh werden ausge-
tauscht. c Schema zur Entstehung einer zentrischen Fusion: Die genaue Bruch- und Vereinigungsstelle im Centromerbereich ist nicht bekannt; die kleinen Fragmente gehen verloren. d Schema zur Entstehung einer Duplikation: Das Fragment bc wird verdoppelt. e Schema zur Entstehung einer Inversion: Das Fragment cd verändert seine Orientierung im Chromosom. (Nach Tariverdian u. Buselmaier 2004)
nicht-homologen Stellen und ein Chromatidenstück des einen Chromosoms wird mit dem des anderen Chromosoms vereinigt. Duplikationen spielen in der Evolution eine wichtige Rolle (vgl. dazu die Evolution der Hox-Gencluster von Drosophila zu den Säugern, Abb. 13.38). Bei einer Inversion (Abb. 14.11e) liegt eine Drehung eines Chromosonenstücks um 180o vor. Hierzu sind zwei Bruchereignisse innerhalb des Chromosoms notwendig. Das herausgebrochene Stück dreht sich und wird umgekehrt in die Bruchstelle wieder eingebaut. Oftmals sind an den Bruch- und Wiedervereinigungsreaktionen ähnliche Sequenzelemente
beteiligt (als Beispiel siehe die schwere Form der Hämophilie A, Abb. 14.22).
14.3 Monogene Erbkrankheiten Mutagenese-Studien in vielen Organismen haben gezeigt, dass die Mehrzahl (über 90%) der Mutationen rezessiv gegenüber dem Wildtyp ist. Entsprechend sind auch die meisten erblichen Krankheiten des Menschen autosomal-rezessiv. Dominanz und Rezessivität sind keine Eigenschaften von Genen per se. Ein dominantes Allel bestimmt bei Heterozygoten den
14.3 Monogene Erbkrankheiten
Phänotyp. Es gibt unterschiedliche Dominanzgrade; Semidominanz bezeichnet einen intermediären Phänotyp. Dominante Mutationen betreffen meist Struktur- oder regulatorische Proteine. Für die verschiedenen Auswirkungen dominanter Mutationen beschreiben die Begriffe amorph, hypomorph und hypermorph qualitative Veränderungen gegenüber dem Wildtyp; antimorph bezeichnet antagonistische Wechselwirkungen mit dem Wildtyp (dominantnegativ), und neomorph einen neuen Phänotyp (toxisches bzw. neues Protein oder die ektopische Expression eines Gens). Die Begriffe amorph und hypomorph entsprechen der molekularen Klassifikation von Haploinsuffizienz (Verlust einer Genfunktion: loss of function); hypermorph beruht auf einer Erhöhung der Gendosis bzw. der konstitutiven Proteinaktivität. Rezessivität bedeutet, dass nur homozygote Allelträger das Krankheitsmerkmal klinisch ausprägen, während Heterozygote sich nicht von Gesunden mit zwei Wildtyp-Allelen unterscheiden. Rezessive Mutationen betreffen meist Gene, die für Enzyme kodieren. Defekte Gene führen meist zum Ausfall des Genprodukts; oft reicht aber ein WildtypAllel zur Aufrechterhaltung der Funktion aus. Wenn wir nun im Folgenden jeweils einzelne Krankheiten beispielhaft ansprechen, so wird dazu immer die sog. OMIM-Nummer angegeben. Dies ist eine ständig aktualisierte Datenbank menschlicher Erbkrankheiten; für aktuelle Entwicklungen sei der interessierte Leser daher dorthin verwiesen (Online Mendelian Inheritance in Man; http://www. ncbi.nih.gov/Omim).
14.3.1 Autosomal-rezessive Erkrankungen Die meisten rezessiven Allele haben Häufigkeiten zwischen 1:100 und 1:1000; entsprechend kommen die Erkrankungen mit Häufigkeiten zwischen 1:10 000 und 1:1 000 000 vor; allerdings ist die Häufigkeit bei Verwandtenehen größer. Im Allgemeinen ist aber der Erbgang oft schwierig zu ermitteln, denn rezessive Erkrankungen kommen innerhalb einer Familie nur gelegentlich zur Ausprägung (Abb. 14.12). Der Kranke stammt nämlich von gesunden (aber heterozygoten) Eltern ab; beide Geschlechter sind von der Krankheit in gleicher Weise betroffen. Oft ist es daher nicht ohne weiteres möglich, den erblichen Charakter einer Krankheit nachzuweisen, vor allem in Fällen, in denen die Frequenz des betreffenden Allels niedrig ist.
Abb. 14.12. Autosomal-rezessiver Familienstammbaum. Erbkrankheiten werden nur gelegentlich sichtbar und heterozygote Träger sind phänotypisch nicht ohne weiteres erkennbar. In vielen Fällen gestatten jedoch bereits heute molekulare Analysen der DNA die Erkennung einer Heterozygotie. Das Schema zeigt auch die erhöhte Gefährdung durch Homozygotie von Kindern aus Verwandtenehen
Albinismus. Zu den am längsten bekannten Beispielen für einen autosomal-rezessiven erblichen Stoffwechseldefekt gehört der Oculocutane Albinismus (OCA, OMIM 203100). Diese häufigste Form von Albinismus (Häufigkeit ca. 3 × 10–5) wird durch die Unfähigkeit von Epidermiszellen verursacht, die funktionelle Form des Enzyms Tyrosinase, von einem Gen im Chromosom 11 kodiert (11q14–21), zu synthetisieren und mit dessen Hilfe den Farbstoff Melanin zu bilden (Abb. 14.13). Der Enzymdefekt führt zu einer blassen Haut, nichtpigmentiertem, fast weißem Haar und schwach blauen oder rötlichen Augen, da durch die fehlenden Pigmente die Blutkapillaren in der Iris durchscheinen. Hieraus resultieren Sehstörungen und eine hohe Empfindlichkeit für Sonnenbrand und, damit verbunden, ein hohes Risiko für Hautkrebs (s.Kap. 14.4.1). Albinismus ist ein Merkmal, bei dem man auch somatische Mutationen nachweisen konnte. Kommt es während der Embryonalentwicklung bei Heterozygoten zu einer Neumutation des zweiten (Wildtyp-)Allels, so können an geeigneten Stellen des Körpers Albinismusflecken sichtbar werden, die durch Gruppen von homozygot mutanten Zellen verursacht werden, die keine Tyrosinase synthetisieren können (Mosaike). Albinismus ist auch bei Tieren häufig zu finden. Auch das Tay-Sachs-Syndrom (GM2-Gangliosidose, OMIM 272800) beruht auf einem nichtfunktionellen Enzym, Hexosaminidase A, das im Zentralnervensystem für den Abbau des Gangliosids GM2 erforderlich ist (Abb. 14.14). Das Enzym ist ein Hexamer aus zwei verschiedenen Proteinen: den α- und β-Ketten. Die α-Kette wird auf
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Abb. 14.13. Stoffwechsel des Phenylalanins. Im normalen Stoffwechsel wird Phenylalanin durch Hydroxylierung in Tyrosin umgewandelt. Tyrosin wird entweder über mehrere Schritte zu CO2 und Wasser abgebaut oder in andere organische Verbindungen umgewandelt. Durch Ausfall von an diesen Stoffwechselschritten beteiligten Enzymen kann es zu Blockierungen des betreffenden Stoffwechselweges kommen. Solche Enzymdefekte führen entweder zu Erbkrankheiten wie PKU, Tyrosinose oder Alkaptanurie oder, im Falle der Blockierung der Umsetzung von Tyrosin in Melanin, zum Ausfall von Pigmenten, die Albinismus zur Folge haben
Chromosom 15 kodiert (15q22-q25), die β-Kette auf Chromosom 5 (5q13). Das Fehlen des Enzyms führt zur Anreicherung des Gangliosids GM2 im Zentralnervensystem und führt zu Blindheit und geistiger und motorischer Degeneration der Patienten. Diese Entwicklung beginnt bereits wenige Monate nach der Geburt und führt innerhalb der ersten fünf Lebensjahre zum Tod. Eine Therapie ist bis heute nicht möglich. Phenylketonurie (PKU, OMIM 261600). Eine ganz ähnliche, aber für die Betroffenen günstigere Aussicht auf eine erfolgreiche Therapie bei rechtzeitiger Erkennung, besteht für eine weitere häufige, autosomal-rezessive Erbkrankheit, die Phenylketonurie (PKU). Die Ursache dieser Krankheit – Fehlen des Enzyms PhenylalaninHydroxylase – ist bereits lange bekannt. Aufgrund der Kenntnis der Enzymfunktion konnte eine relativ effektive Therapie entwickelt werden. Das Enzym wird auf Chromosom 12 (Genort: 12q22-q24.1) kodiert. Es ist im Katabolismus der Aminosäure Phenylalanin erforderlich, um eine Umwandlung von Phenylalanin in Tyrosin zu katalysieren (Abb. 14.13). Unterbleibt diese Umsetzung, wird ein Nebenstoffwechselweg eingeschlagen, der über Phenylpyruvat zu einer Reihe von Stoffwechselprodukten führt, die nicht effektiv ausgeschieden werden, sondern sich im Blut anreichern. Auf diesem Wege wirken sie hemmend auf die postnatale Entwicklung des kindlichen Gehirns (Abb. 14.15), so dass eine irreversible mentale Retardation auftritt, die schließlich zum frühen Tod des Individuums führt. Die Kenntnis der Stoffwechselfunktion des betroffenen Enzyms hat es ermöglicht, eine Therapie zu entwickeln, die zu einer relativ normalen Entwicklung der homozygoten PKU-Patienten führt, wenn sie rechtzeitig, d. h. von der Geburt an bis mindestens ins 6. Lebensjahr, durchgeführt wird. Sie besteht aus einer phenylalaninarmen Diät, die so abgestimmt wird, dass die Aminosäure, die ja für den Organismus als Bestandteil vieler Proteine unentbehrlich ist, in gerade ausreichender Menge vorhanden ist. Auf diesem Wege können die schädlichen hohen Konzentrationen der Abbauprodukte vermieden werden, so dass es zu einer normalen Entwicklung des Gehirns kommt. Diese Therapie setzt eine frühzeitige Erkennung der Homozygoten voraus, da eine Behandlung nach dem Auftreten deutlicher Symptome zu spät wäre. Hierzu ist ein einfacher Test (Guthrie-Test) entwickelt worden, der heute routinemäßig bei Neu-
14.3 Monogene Erbkrankheiten Gangliosid GM1 GM1-β-Galactosidase
1 Gangliosid GM2
Hexosaminidase A
2 Gangliosid GM3
Gangliosid-Neuraminidase Lactosylceramid
Globosid Hexosaminidase A Hexosaminidase B 8
7 Trihexosylceramid
β-Galactosidase Glucocerebrosid Glucocerebrosidase
α-Galactosidase A
3 Ceramid
Ceramidase
4
Sphingomyelinase
Sphingomyelin
Sulfatid Arylsulfatase
9
Galactocerebrosidase
Fettsäure 5
Galactocerebrosid 6
Abb. 14.14. Stoffwechsel der Sphingoglykolipide mit den beteiligten Enzymen. Die farbigen Punkte geben Enzymschritte an, die bei Ausfall des Enzyms durch Mutation bekannte Erbkrankheiten verursachen. Die roten Ziffern identifizieren die betreffende Krankheit wie folgt: 1 GM1-Gangliosidose, 2 TaySachs-Syndrom (= GM2-Gangliodose), 3 Gaucher-Krankheit (adulte Form), 4 Fabersche Lipogranulomatose, 5 NiemannPick-Krankheit (Sphingomyelin-Lipidose), 6 Krabbe-Syndrom, 7 Sandhoff-Syndrom, 8 Fabry-Syndrom, 9 Metachromatische Leukodystrophie. Die meisten dieser Krankheiten des Sphingoglykolipid-Abbaues führen zu einem frühen Tod der betroffenen Individuen (innerhalb der ersten zehn Lebensjahre) und
zu geistiger Retardation, wie es bei ihrer zellulären Lokalisation als Membranbestandteile von Nervenzellen nicht überrascht. Die obengenannten Enzymdefekte führen zu Störungen im Abbau der Sphingoglykolipide und als Folge davon zur Akkumulation von Intermediärprodukten des Abbauweges. Die Krankheiten 2, 3 und 5 sind bekannte Beipiele für Erbkrankheiten, die stark gehäuft in menschlichen Populationen (aschkenasische Juden in Ost-Europa) auftreten, die lange Zeit in Isolation lebten und in denen wahrscheinlich genetische Drift zu einer Anreicherung dieser Allele geführt hat, wenn es sich nicht um Allele handelt, die Selektionsvorteile bieten (s. Kap. 11.5.2)
geborenen zur Früherkennung eingesetzt wird. Der Test beruht auf der Verwendung von Bakterienstämmen, die kein eigenes Phenylalanin synthetisieren können. Phenylalanin muss im Kulturmedium enthalten sein, damit die Bakterien wachsen können. Man kann also eine Blutprobe mit Kulturmedium versetzen und dann testen, ob die Bakterien auf diesem Medium wachsen können oder nicht. Der Test ist so aufgebaut, dass die Bakterienstämme mit der
Phenylalaninmenge, die im normalen Blut vorhanden ist, nicht wachsen, da der Titer zu niedrig ist. Bei homozygoten PKU-Individuen hingegen reicht die erhöhte Konzentration an Phenylalanin im Blut aus, um ein Wachstum der Bakterien zu ermöglichen. Die Diagnose ist von erheblicher Bedeutung, da die Häufigkeit der Krankheit mit einem Homozygoten in 10 000 Individuen (also 10–4) relativ hoch ist und eine Therapie, ganz abgesehen von den humanitären
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Abb. 14.15. PKU-Patient. (Aus Tariverdian u. Buselmaier 2004)
Gesichtspunkten, erhebliche Kosten für die Patientenversorgung vermeiden hilft. PKU ist auch ein Beispiel für Pleiotropie. In diesem Fall wird die Fehlfunktion durch die Anreicherung von Stoffwechselprodukten verursacht, die normalerweise nicht oder nur in sehr geringen Mengen auftreten. Diese wirken dann auf unterschiedliche Merkmale ein. Die Mukoviszidose, auch als Zystische Fibrose bezeichnet (OMIM 219700), ist die häufigste autosomal-rezessive Erbkrankheit. Sie tritt fast nur unter der kaukasischen Bevölkerung auf, also wesentlich seltener unter Farbigen oder Asiaten. Bis in die 1950er und frühen 1960er Jahren starben die meisten Erkrankten bereits im Säuglingsoder Kindesalter. Durch eine erhebliche Verbesserung der Therapie liegt die mittlere Lebenserwartung heute geborener Patienten bei über 40 Jahren. Die Wahrscheinlichkeit, an Mukoviszidose zu erkranken, beträgt in Europa und den USA etwa 1:2500; in Deutschland leben 6000 bis 8000 an Mukoviszidose Erkrankte. Die Krankheit wird meist aufgrund häufig wiederkehrender Erkältungskrankheiten im Kindesalter diagnostiziert. Damit ist die Zystische Fibrose bei der weißen Bevölkerung die häufigste autosomal-rezessive Erbkrankheit.
Ursache der Erkrankung ist eine Mutation in einem Gen, das für ein Membranprotein kodiert (engl. cystic fibrosis transmembrane conductance regulator, Gensymbol: CFTR; Chr. 7q31.2; OMIM 219700). Bei etwa 70% der Patienten fehlt in diesem Protein an der Position 508 die Aminosäure Phenylalanin (∆F508; Abb. 14.16). Ursache dieser hohen Allelfrequenz ist ein Gründereffekt; es wird vermutet,dass die ∆F508-Mutation zur Zeit des Neolithikums in der Umgebung Dänemarks ihren Ursprung gefunden hat. Das CFTR-Protein reguliert den Chloridtransport durch die Zellmembran; bei dem mutierten Protein ist dieser Transport gestört. Die Mutation beeinflusst damit die Sekretion in der Lunge, der Bauchspeicheldrüse, der Leber, dem Dünndarm, der Haut sowie den Geschlechtsorganen. In der Lunge entsteht aufgrund des gestörten Chloridaustauschs ein zähflüssiger Schleim, der die Bronchien, die Bronchiolen und Alveolen verstopft. Ihre mit Flimmerhärchen ausgestattete Wand ist normalerweise mit einer dünnen Schleimschicht überzogen, auf der eingeatmete Partikel haften bleiben und ausgehustet werden können. Der zähe, dicke Schleim der erkrankten Person führt dagegen zur Verengung der Luftwege und behindert das Atmen. Zugleich entwickeln sich Infektionen, da Bakterien ebenfalls nicht entfernt werden und in den Atemwegen verbleiben. Solche immer wiederkehrenden Infektionen schädigen das Lungengewebe. Die Zerstörung und Verengung der Bronchien schreitet mit der Zeit so weit fort, bis schließlich die Lunge versagt. Infolge der nicht normal funktionierenden Schweißdrüsen enthält der Schweiß erheblich mehr Kochsalz (NaCl) als der von gesunden Personen. Das hauptsächlich aus Wasser bestehende Sekret wird bei gesunden Menschen am Grund der Drüsen gebildet und fließt dann durch einen Gang zur Hautoberfläche. Anfangs ist es reich an Natrium- und ChloridIonen; aber während seiner Passage werden diese wieder resorbiert, so dass die ausgeschwitzte Flüssigkeit nur noch schwach salzhaltig ist. Bei Patienten mit Mukoviszidose hingegen nimmt das Epithel keine Chlorid-Ionen (und damit auch schlechter NatriumIonen) auf, so dass der Schweiß ungewöhnlich salzig bleibt. Auf dieser veränderten Schweißzusammensetzung beruht auch der „Schweißtest“, der bei Mukoviszidose-Verdacht durchgeführt wird. Bei rund 90% der Erkrankten verhindert ein durch zähen Schleim ausgelöster Verschluss der entsprechenden Kanäle den Abfluss der in der Bauch-
14.3 Monogene Erbkrankheiten Abb. 14.16 a,b. CFTR-Protein. a Das Membranperotein CFTR (engl. cystic fibrosis transmembrane conduction regulator) besteht aus zwei Transmembrandomänen (MSD), zwei Nukleotidbindenden Domänen (NBD) und einer regulatorischen Domäne (R). Die Deletion ∆F508 betrifft die NBD1. (Nach http://www.genet.sickkids.on.ca) b Die regionale Verteilung der ∆F508Mutation in Europa weist auf einen Ursprung in Nordeuropa hin (vermutlich Dänemark). Die Häufigkeit nimmt nach Süden deutlich ab; erstaunlich ist die große Häufigkeit in der Ukraine. (Nach Estivill et al. 1997)
speicheldrüse gebildeten Verdauungsenzyme. Durch fibrös verändertes Gewebe kann weiterhin die Produktion des Hormons Insulin gestört werden, so dass ein Diabetes die Folge sein kann. Zurzeit gibt es noch keine kausale Therapie. Bis jetzt lassen sich nur bestimmte Symptome verbessern, mildern oder sogar zum Verschwinden bringen. Die Problematik des Verdauungsapparats ist mittlerweile gut behandelbar. Gegen das Versagen der Bauchspeicheldrüse werden den Patienten Kapseln mit entsprechenden Verdauungsenzymen eingegeben. Dazu werden eine kalorien- und vitaminreiche Nahrung und fettlösliche Vitamine empfohlen. In über 90% ist der Tod oder die Invalidität auf Manifestationen in der Lunge zurückzuführen. Im Zentrum entsprechender Behandlungen steht die Antibiotikatherapie sowie physiotherapeutische Übungen. Ein neuerer Therapieansatz besteht im Inhalieren des Enzyms DNase. Dieses Enzym trägt zur Verflüssigung des Schleims dadurch bei, dass es die langen,
verklebenden Stränge der DNA zerlegt, die aus abgestorbenen Zellen frei werden. An den Möglichkeiten einer Gentherapie wird seit Jahren gearbeitet. Dabei soll ein gesundes Gen in die betroffenen Zellen (vor allem der Lunge) eingeschleust werden und zur Synthese von normalen CFTR führen. Eine Möglichkeit, das Gen in die Zellen einzuschließen, besteht darin, Adenoviren als Träger zu verwenden. Diese Viren dringen in die Zellen ein und infizieren die Zelle. Bei dieser Methode haben sich jedoch eine Menge von Problemen ergeben, so z. B. Abstoßungsreaktionen. Bisher sind derartige Therapieansätze noch nicht über experimentelle Studien herausgekommen. Ausgedehnte populationsgenetische Untersuchungen haben nicht nur große Unterschiede in der regionalen Häufung der Zystischen Fibrose gezeigt, sondern auch eine hohe Zahl heterozygoter Träger in den betroffenen Populationen, die bei etwa 1:20 bis 1:25 liegt. Die Häufigkeit der Erkrankten beträgt in
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Mitteleuropa etwa 1:2000 bis 1:2500. Obwohl die Krankheit für die betroffenen Kinder in früheren Jahrhunderten tödlich war, hat sich die Zahl der Heterozygoten auf hohem Niveau gehalten. Daraus können wir schließen, dass die Heterozygoten gegenüber beiden homozygoten Formen einen deutlichen Selektionsvorteil hatten (Heterosis-Effekt, s. S. 434). Gabriel und seine Mitarbeiter berichteten 1994, dass im Mausmodell Heterozygote im Vergleich mit Wildtypen einen deutlichen Resistenzvorteil gegenüber dem Choleratoxin haben, was dieses Phänomen erklären kann. Die hohe Zahl von Erkrankungen und die deutlich verbesserten Therapiemöglichkeiten haben in den letzten Jahren eine alte Diskussion neu entfacht: Soll man Neugeborene auch auf Zystische Fibrose testen? Erfolgreiche Screening-Programme in einigen Staaten in den USA sprechen ebenso dafür wie auch neue Technologien, die ein ausgedehntes Testprogramm für verschiedene genetische Bedingungen erlauben (Wagener et al. 2003). Ein wichtiges Gegenargument, nämlich die fehlende Therapiemöglichkeit, ist durch den medizinischen Fortschritt weitgehend entfallen – und für die Betroffenen eröffneten sich durch eine frühere Diagnose eine bessere Therapie, wie wir das bei den PKU-Patienten bereits gesehen haben. ! Die meisten Erbkrankheiten sind autosomal-
rezessiv und damit schwierig zu diagnostizieren. Der Anteil an Trägern kann auch bei geringer Häufigkeit von Homozygoten hoch sein. Die Gefahr der Homozygotie ist bei Verwandtenehen besonders groß. In Mitteleuropa ist die Zystische Fibrose (Mukoviszidose) die häufigste autosomal-rezessive Erkrankung.
14.3.2 Autosomal-dominante Erkrankungen Seltener als mit rezessiven Erkrankungen haben wir es mit dominanten Erbkrankheiten zu tun. Dabei tritt die Erkrankung schon bei Heterozygoten auf. Es genügt also eine einfache Dosis des veränderten Allels, damit eine Krankheit ausbricht. Ein Beispiel für einen autosomal-dominanten Erbgang gibt Abb. 14.4. Von autosomal-dominanter Erkrankung spricht man, wenn das betroffene Gen auf einem Autosom
und nicht auf einem Geschlechtschromosom liegt. Im klassischen Sinn spricht man von Dominanz nur, wenn der Phänotyp eines Heterozygoten dem Phänotyp des homozygoten Trägers entspricht. In der klinischen Praxis sind aber Homozygote öfters stärker erkrankt (Codominanz). Die Übertragung eines autosomal-dominanten Merkmals erfolgt in der Regel von einem erkrankten Elterteil auf die Hälfte der Kinder, wobei das Geschlecht keinerlei Rolle spielt. Aber auch Neumutationen treten sofort in Erscheinung, da schon die Veränderung eines Allels das entsprechende Krankheitsbild hervorruft. Verringerte Penetranz und Expressivität (s. S. 453) erschweren manchmal eine klare genetische Analyse in einer Familie. Viele autosomal-dominante Erkrankungen haben Häufigkeiten in der Größenordnung von 1:10.000. Das Marfan-Syndrom (OMIM 154700; Abb. 14.17) bezeichnet eine Störung im Aufbau des Bindegewebes, die sich auf das Skelettsystem, die Augen und auf das kardio-vaskuläre System auswirkt. Charakteristische Symptome sind lange und schmale Extremitäten (Spinnenfinger), überstreckbare Gelenke und Herzfehler, die meist zum Tode führen. Die Krankheit hat eine Häufigkeit von etwa 1:5000; ungefähr ein Viertel aller Fälle wird durch Neumutationen hervorgerufen. Obwohl es eine Reihe klarer Merkmale für diese Krankheit gibt, ist eine Diagnose nicht immer ganz einfach, da sie auch in verschiedenen Schweregraden auftreten kann. Das verantwortliche Gen Fibrillin (FBN1, Chr. 15q21; OMIM 134797) umfasst etwa 235 kb genomischer DNA und besteht aus 65 Exons (Abb. 14.18). Die mRNA ist knapp 10 kb lang und kodiert für ein Glykoprotein (MW ~320 kDa), das aus vielen Domänen besteht. Diese lassen sich in drei Klassen Cysteinreicher Wiederholungsmotive unterteilen; die wichtigste weist starke Homologien zum epidermalen Wachstumsfaktor (EGF) auf. Die Fibrillinproteine (ein weiteres Fibrillin-Gen, FBN2, ist auf dem Chromosom 5 lokalisiert; Mutationen im FBN2-Gen führen zu ähnlichen, aber nicht identischen Symptomen) sind die Hauptkomponenten der extrazellulären Mikrofibrillen (Durchmesser etwa 10–12 nm), die in vielen Geweben vorkommen. Die Mikrofibrillen treten entweder alleine auf (wie in den Zonulafasern des Ziliarkörpers im Auge) oder zusammen mit Elastin in elastischen Fasern (z. B. der Aorta). Bisher war man davon ausgegangen, dass die Wirkung der Mutationen im Wesentlichen auf einem dominant-negativen
14.3 Monogene Erbkrankheiten Abb. 14.17 a,b. Marfan-Syndrom. a Phänotyp eines Patienten, b Spinnenfingrigkeit bei MarfanSyndrom. (Nach Tariverdian u. Buselmaier 2004)
Abb. 14.18 a,b. Das Fibrillin-1-Gen und wichtige Mutationen. a Das Fibrillin-1-Protein ist schematisch mit seinen verschiedenen Modulen dargestellt. Besonders auffällig sind die vielen Calcium-bindenden Motive, die dem epidermalen Wachstumsfaktor ähnlich sind (cbEGF). b Die häufigsten missense-Mutatio-
nen, die das Calcium-bindende, EGF-ähnliche Motiv (cbEGF) betreffen, führen zu Aminosäure-Austauschen bei einem der 6 konservierten Cystein-Reste oder der Consensussequenz der Calcium-Bindungsstelle. (a: Nach Ramirez u. Pereira 1999; b: Nach Robinson et al. 2002)
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Effekt beruht, wobei die veränderten Fibrillin-Monomere den geordneten Aufbau der reifen Mikrofibrillen stören. Als ein weiterer Aspekt wird allerdings auch ein erhöhter proteolytischer Abbau des veränderten Fibrillinproteins diskutiert. Die funktionelle Analyse der über 560 verschiedenen Mutationen (Collod-Bérou et al. 2003) wird in naher Zukunft das Wissen über den Mechanismus der Krankheitsentstehung verbessern. Zwar ist im Prinzip das gesamte Gen Ziel von Mutationen, es ist aber auffallend, dass die Mutationen in den Exons 26-28 überrepräsentiert sind.Dies mag damit zusammenhängen, dass diese Fälle schwerwiegender sind als andere und damit leichter erkannt werden. Außerdem zeigt Abb. 14.18a sehr deutlich, dass ein Calcium-bindendes, EGF-ähnliches Motiv ein charakteristisches Merkmal des Fibrillin-1-Proteins ist. Mutationen, die zur Ausprägung des Marfan-Syndroms führen, betreffen vor allem die hoch konservierten Cystein-Reste sowie diejenigen Aminosäuren, die an der Calcium-Bindung beteiligt sind (Abb. 14.18b) Umgekehrt ist bemerkenswert, dass trotz der Größe des Gens größere strukturelle Veränderungen fast nicht vorkommen (vgl. dagegen Mutationen im F8-Gen, die für schwere Formen der Hämophilie A verantwortlich sind, Abb. 14.22). Unter den über 560 Mutationen konnten 398 in Bezug auf den Übertragungsweg untersucht werden. Dabei zeigte es sich,dass nur 210 (knapp 53%) familiär übertragen wurden – 188 (über 47%) waren dagegen offensichtlich Neumutationen. Die familiäre Hypercholesterinämie (OMIM 143890) ist die häufigste autosomal-dominante Erkrankung mit einer weltweiten Häufigkeit von 1:500. Allerdings tritt sie aufgrund von Gründereffekten in einigen Populationen häufiger auf (Afrikaaner in Transvaal, christliche Libanesen, Finnen, Schotten und Franco-Kanadier). Bei Heterozygoten ist die Konzentration von Serum-Cholesterin, das an eine bestimmte Klasse von Lipoproteine (low density lipoprotein, LDL) gebunden ist, auf das 2-3fache der Norm erhöht (200–450 mg LDL-Cholesterin/dl statt 75–250 mg/dl bei Gesunden). Herzanfälle treten aufgrund coronarer Arteriosklerose (im englischsprachigen Raum auch als Atherosklerose bezeichnet; Ablagerung von Cholesterin-Plaques in den Herzkranzgefäßen) bereits im 3. Lebensjahrzehnt auf. Bei Homozygoten (Häufigkeit 1:250 000) sind diese Werte noch einmal deutlich erhöht (auf 600–1200 mg/dl,und zwar unabhängig von Diät und Lebensstil!), so dass Herzanfälle bereits im frühen Kindesalter auftreten
können. Neben den Herzerkrankungen treten in unterschiedlichem Ausmaß auch Cholesterin-Ablagerungen unter der Haut und im Auge auf. Ursachen sind Mutationen im Gen, das für den LDL-Rezeptor kodiert (Chr. 19p13; 45 kb, 18 Exons; OMIM 606945; Abb. 14.19). Homozygote Patienten werden aufgrund unterschiedlicher Schweregrade in zwei Gruppen eingeteilt (weniger als 2% Restaktivität des LDL-Rezeptors und 2–25% Restaktivität); die Restaktivität des LDL-Rezeptors verhält sich umgekehrt proportional zu den Plasmaspiegeln des LDLCholesterins. Dabei vermittelt der LDL-Rezeptor die Endocytose von LDL und des daran gebundenen
Abb. 14.19 a,b. Der LDL-Rezeptor. a Das LDLR-Gen besteht aus 18 Exons. b Der LDL-Rezeptor besteht aus 5 Domänen: Die Liganden-Bindungsdomäne (kodiert durch die Exons 2-6), die EGF-ähnliche Domäne (kodiert durch die Exons 7-14), und die Ser/Thr-reiche Domäne (kodiert durch das Exon 15) befinden sich außerhalb der Zelle; die Transmembrandomäne wird durch die Exons 16 und 17 kodiert, und die cytoplasmatische Domäne durch die Exons 17-18. (Nach Hopkins 2003)
14.3 Monogene Erbkrankheiten
Cholesterins. In der Zelle wird das gebundene Cholesterin wieder freigesetzt und hemmt das Enzym 3-Hydroxy-3-Methylglutaryl-Coenzym A-Reduktase (HMG-CoA-Reduktase), das Schlüsselenzym der endogenen Cholesterin-Biosynthese. Auf diese Weise wird bei Gesunden ein Gleichgewicht zwischen Cholesterin-Aufnahme über die Nahrung und eigener Cholesterin-Synthese eingestellt. Dieses hemmende Signal fehlt, wenn der LDL-Rezeptor durch Mutationen verändert ist. Wie von vielen häufigen Erbkrankheiten steigen auch die Informationen über Mutationen im LDLRGen ständig an; zum Zeitpunkt des Drucks waren über 800 Einträge in Datenbanken verzeichnet und in der Literatur dokumentiert (Villéger et al. 2002; Hopkins 2003; http://www.ucl.ac.uk/fh). Die Listen beinhalten Punktmutationen und große Deletionen. Unter funktionellen Gesichtspunkten können fünf Gruppen unterschieden werden: • Die Mutationen führen dazu, dass kein immunpräzipitierbares Protein gebildet wird (Null-Allel); Ursache dafür können Mutationen im Promotor, an Spleißstellen, Veränderungen im Leserahmen oder große Deletionen sein. • Die kodierten Proteine sind – zumindest teilweise – in Bezug auf ihren Transport zwischen dem Endoplasmatischen Retikulum und dem GolgiKomplex blockiert. Die meisten Transportdefekte betreffen die Bindungsdomäne und die EGF-ähnliche Domäne. • Die Proteine werden zwar synthetisiert und transportiert, können aber LDL nicht binden (Defekte in der Liganden-Bindedomäne). • Die Proteine werden synthetisiert, transportiert und binden LDL, können sich aber in der Zellmembran nicht zu Clustern zusammenschließen, so dass keine Endocytose stattfindet (Internalisierungsdefekt). Die Ursachen dafür liegen in Veränderungen der cytoplasmatischen Domäne. • Die Proteine werden synthetisiert, transportiert, binden LDL und transportieren es in die Zelle, können dort aber das LDL nicht entladen und damit auch nicht an die Zelloberfläche zurückkehren. Diese Recycling-Defekte werden durch Veränderungen in der Vorläuferdomäne verursacht. Allerdings muss in diesem Zusammenhang auch erwähnt werden, dass das Erscheinungsbild der familiären Hypercholesterinämie nicht nur durch Muta-
tionen am LDL-Rezeptor-Gen, sondern auch durch Mutationen verursacht werden kann, die das Gen für seinen Liganden, das Apolipoprotein B100 (ApoB100) betreffen. Diese Form betrifft etwa 2 bis 6% der Patienten mit der klinischen Diagnose einer familiären Hypercholesterinämie. Das Gen für das ApoB100 (Gensymbol: APOB) befindet sich auf dem Chromosom 2p23-24; die häufigste Mutation führt zu einem Gln→Arg-Austausch an der Position 3500 des Proteins und verändert damit entscheidend die Domäne, mit der das ApoB100-Protein an den LDL-Rezeptor binden kann. In Mitteleuropa hat der familiäre Defekt des APOB-Gens eine Häufigkeit von ca. 1:1000; in anderen Regionen der Welt ist es aber seltener. Abschließend sei darauf hingewiesen, dass nach intensiver Forschung auf diesem Gebiet wahrscheinlich weitere Gene an der Erhöhung der CholesterinKonzentration im Blut beteiligt sind. Damit wird deutlich (wie wir das auch aus den biochemischen Abläufen schließen können), dass die Erhöhung der Cholesterin-Konzentration im Blut und damit das Risiko für Atherosklerose, Herzinfarkt und Schlaganfall einem komplizierten Regelmechanismus unterliegt. ! Bei autosomal-dominanten Erbkrankheiten entspricht der Phänotyp der heterozygoten Genträger weitgehend dem der homozygoten; beide Geschlechter sind gleichmäßig betroffen. Die Übertragung erfolgt in der Regel von einem der Eltern auf die Hälfte der Kinder; sporadische Fälle beruhen meistens auf Neumutationen. Viele autosomal-dominante Erkrankungen haben Häufigkeiten von 1:10 000. Die häufigste autosomal-dominante Erkrankung ist die familiäre Hypercholesterinämie.
14.3.3 X-chromosomale Krankheiten Genauso wie bei autosomalen Erkrankungen können wir auch bei Erkrankungen, deren Mutationen in Genen auf dem X-Chromosom liegen, dominante und rezessive Allele unterscheiden. Der wesentliche Unterschied bei den X-chromosomal vererbten Erkrankungen liegt darin, dass die beiden Geschlechter in unterschiedlichem Ausmaß betroffen sind. Da die Männer nur ein X-Chromosom haben, die Frauen aber zwei, gibt es im Falle einer X-gekoppelten Muta-
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tion für Männer und Frauen unterschiedliche Möglichkeiten. Die Männer können jeweils hemizygot für das mutierte oder Wildtyp-Allel sein (Hemizygotie: Gen kommt nur einmal im Genotyp vor), während die Frauen entweder heterozygot oder homozygot für jedes Allel sein können. Das spielt bei dominanten Allelen in der Regel keine Rolle (Ausnahme: semidominante Allele), ein rezessives Allel dagegen wird sich beim Mann unmittelbar manifestieren, da er im Gegensatz zum weiblichen Geschlecht kein zweites (Wildtyp-)Allel besitzt. X-chromosomal-dominante Allele können ohne umfangreiche Familiendaten relativ schwer als solche identifiziert werden, da sich der Erbgang nur dann von einem autosomal-dominanten Erbgang unterscheiden lässt, wenn Kinder von väterlichen Trägern vorhanden sind. In diesem Fall sind nur weibliche Nachkommen von der Krankheit betroffen, diese aber ohne Ausnahme. Generell sind Männer von X-chromosomalen dominanten Erbkrankheiten oft stärker betroffen als Frauen, wenn sie nicht sogar letal verlaufen. Eine solche verstärkte Expression in einem Geschlecht scheint mit der Definition eines dominanten Allels nicht im Einklang zu stehen. Die Ursache hierfür liegt jedoch darin, dass das defekte Allel als Folge der Inaktivierung eines der beiden X-Chromosomen nicht in allen Zellen des weiblichen Organismus zur Ausprägung kommt (s. Abb. 7.33–7.35). Diese Inaktivierung des zweiten X-Chromosoms in weiblichen Säugern dient zur Dosiskompensation, die erforderlich ist, um die Dosisunterschiede X-chromosomaler Gene im männlichen und weiblichen Geschlecht auszugleichen. Der Dosiskompensationsmechanismus wurde bereits an anderer Stelle ausführlich besprochen (s. Kap. 7.2.3). Folge dieses Mechanismus ist es, dass in der Hälfte der Zellen einer heterozygoten Frau das funktionelle X-chromosomale Gen aktiv ist und somit für einen Ausgleich der Fehlfunktion des zweiten Allels in anderen Zellen sorgen kann. Auch für einen solchen Kompensationseffekt sei eine Krankheit als Beispiel angeführt, die Vitamin-D-Resistenz (OMIM 307800). Sie äußert sich als Rachitis und führt zu Skelettdefekten und geringerem Wuchs des betroffenen Individuums. Weibliche Patienten sind meist weniger betroffen als männliche, die oft schon vor der Geburt sterben.
! X-chromosomal-dominante Erbkrankheiten sind
selten. Bei der Stammbaumanalyse fallen sie dadurch auf, dass die männlichen Nachkommen betroffener Männer stets gesund sind. Frauen erkranken erwartungsgemäß doppelt so häufig wie Männer, jedoch ist der Ausprägungsgrad der Krankheit aufgrund der Inaktivierung eines X-Chromosoms in Zusammenhang mit der Dosiskompensation oft geringer als beim Mann.
Im Gegensatz zu den X-chromosomal-dominanten Erkrankungen kommen X-chromosomal-rezessive Erkrankungen häufiger vor. Dabei erfolgt die Übertragung über alle gesunden Töchter kranker Väter bzw. über die Hälfte der gesunden Schwestern kranker Männer. Die phänotypisch gesunden, aber genotypisch heterozygoten Überträgerinnen werden auch als Konduktorinnen bezeichnet. Umgekehrt können Söhne erkrankter Väter das Krankheits-Allel nicht von ihrem Vater erben (das eine X-Chromosom des Mannes kommt immer von seiner Mutter).Wir wollen uns hier auf zwei wichtige und bekannte Beispiele beschränken (Hämophilie A und Duchenne’sche Muskeldystrophie). Ein klassischer Stammbaum für X-chromosomal-rezessive Krankheiten ist in Abb. 14.21 am Beispiel der Bluterkrankheit (Hämophilie A) in europäischen Fürstenhäusern dargestellt. Hämophilie. Eine der wohl bekanntesten Erbkrankheiten des Menschen ist die Hämophilie A (OMIM 306700), eine X-gekoppelte rezessive Krankheit, die auf einem Blutgerinnungsdefekt beruht. Dieser wird durch die fehlende Aktivität eines Proteins, des Blutgerinnungsfaktor VIII, verursacht. Dieses Protein ist als einer der vielen zur Blutgerinnung erforderlichen Faktoren unentbehrlich. Als Folge eines defekten Gens bringen bereits geringe Verletzungen die Gefahr des Verblutens mit sich. Aber auch spontane innere Blutungen können neben der Bildung von großen Hämatomen zu gefährlichen Blutverlusten führen (Abb. 14.20). Die Bekanntheit dieser Krankheit, obwohl ihre Häufigkeit mit einem unter 7000 bis 10 000 Männern (Frequenz des Allels ist also 10–4) geringer ist als die vieler anderer erblicher Defekte, beruht zum Teil darauf, dass sie als Erbkrankheit in den europäischen Königsfamilien weit verbreitet ist. Ihr Ursprung konnte bis zu Königin Victoria von England (1819–1901) zurückverfolgt werden, deren Sohn
14.3 Monogene Erbkrankheiten
Abb. 14.20. Hämophilie-A-Patient. Bei diesem Kind hat sich ein großes Hämatom entwickelt. (Aus Tariverdian u. Buselmaier 2004)
Leopold als erster Familienangehöriger an Hämophilie A litt (Abb. 14.21). Durch ihre Enkeltöchter, die als heterozygote Träger (engl. carrier) das rezessive Allel weitervererbten, gelangte es in das spanische und russische Königshaus. Der Ursprung des für die Hämophilie A verantwortlichen defekten Gens in dieser Familie ist nicht bekannt,da es zuvor in der Familie nie aufgetreten war. Es ist also wahrscheinlich auf eine Veränderung (Mutation) des Erbmaterials entweder in einer der elterlichen Keimzellen oder, weniger wahrscheinlich, sehr früh in der Entwicklung der Keimzellen von Königin Victoria zurückzuführen. Zwischen diesen beiden Möglichkeiten kann nicht unterschieden werden, da nicht bekannt ist, ob Königin Victoria selbst heterozygote Trägerin des Allels war. Jedenfalls haben mindestens drei ihrer neun Kinder das Allel geerbt. In den folgenden Generationen starben zehn ihrer männlichen Nachkommen innerhalb von 5 Generationen an dieser Krankheit. Das
Abb. 14.21. Stammbaum der Nachkommen von Königin Victoria. Der Stammbaum zeigt das charakteristische Muster einer geschlechtsgekoppelten rezessiven Erbkrankheit, der Hämophilie A. Männliche Nachkommen zeigen die Krankheit, während weibliche Nachkommen Träger sind. Der Stammbaum bringt auch das erhöhte Risiko von Verwandtenehen deutlich zum Ausdruck, da hier auch das Risiko der Homozy-
gotie für Frauen stark erhöht ist. Die ersten Erkrankungen in diesem Familienstammbaum wurden in den Nachkommen von Königin Victoria beobachtet. Die Mutation muss daher entweder in der Keimbahn der Mutter von Königin Victoria erfolgt sein oder in (frühen) mitotischen Zellen der Keimbahn von Königin Victoria, da mehrere ihrer Kinder erkrankten bzw. Träger waren
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berühmteste Beispiel ist der Zarewitsch Aleksej, der Sohn Zar Nikolaus II von Russland und Alix von Hessen-Darmstadt (Alexandra von Russland), der die Krankheit von seiner Mutter erbte. Sein Schicksal hat möglicherweise schwerwiegende Konsequenzen für die Geschichte seines Landes gehabt, dessen ohnehin schwache Monarchie durch das Ausfallen des Nachfolgers von Nikolaus II den vielleicht entscheidenden letzten Stoß erlitt. Wie wir aus dem Stammbaum ablesen können, kommen rezessive X-gekoppelte Allele bei der Frau definitionsgemäß nicht sichtbar zur Ausprägung, wenn das X-Chromosom heterozygot ist (Abb. 14.21). Hingegen spielt der rezessive Charakter in der hemizygoten Konstitution des Mannes keine Rolle, da sich das Allel hier voll manifestieren kann. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau homozygot ist, wird durch die Häufigkeit des Allels in Männern angezeigt (s. auch S. 484): Ist die Häufigkeit 1/10 000 (10–4), so ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau heterozygote Trägerin ist, 1/5000 (2 × 10–4). Unterstellt man, dass das Allel durch zufällige Heiraten weitervererbt wird, so ist nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit (s. S. 487) die Häufigkeit, mit der Träger der Krankheit heiraten, 10–4 × 2 × 10–4. Homozygote Frauen sind also mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,5 × 2 × 10–8 = 10–8 zu erwarten, da nur die Hälfte der Töchter aus einer solchen Ehe das Hämophilie A-Allel der Mutter erhält. Das gesamte F8-Gen ist mit über 2.000 kb sehr groß; aus 26 Exons entsteht eine mRNA von knapp 10 kb, die für ein Protein von 2332 Aminosäuren kodiert (Abb. 14.22a). Durch Spaltung mit Thrombin wird der inaktive Vorläufer in die aktive Form überführt; die sog. „B-Domäne“ geht dabei verloren. Mutationen, die zu Hämophilie A führen, können überall im Gen vorkommen. Sie haben aber unterschiedlich starke Konsequenzen für die Restaktivität des Faktor VIII und damit für den Schweregrad der Erkrankung (0–2%: schwer; 2–5%: mittel; 5–25%: leicht). Der F8 bildet mit weiteren Komponenten der Blutgerinnungskaskade einen Komplex (Abb. 14.22b). Etwa die Hälfte aller schweren Fälle wird durch Inversionen verursacht, wobei aufgrund von Sequenzhomologien Teile des Introns 1 bzw. des Intron 22 mit Bereichen außerhalb des F8-Gens in Wechselwirkung treten (Abb. 14.22 c und d). Durch die Inversion zwischen den jeweiligen Bruchpunkten werden funktionell inaktive Proteine gebildet.
Diese sog.„Intron-22-Inversion“ (Abb.14.22b) weist auf ein interessantes Phänomen hin, nämlich auf die Anwesenheit von 2 längeren Sequenzelementen am telomeren Ende des X-Chromosoms, die offensichtlich deutliche Homologien zu einer Region im Intron 22 des F8-Gens aufweisen. Diese Region innerhalb des großen Introns 22 enthält selbst noch zwei weitere Gene, die als F8A und F8B bezeichnet werden. Das F8A-Gen besteht aus 3 Exons; es ist in anti-sense-Orientierung zum F8-Gen angeordnet. Im Gegensatz dazu hat das F8B-Gen dieselbe Orientierung wie das F8-Gen selbst und benutzt die nachfolgenden Exons 23-26 des F8-Gens. Diese Anordnung ist spezifisch für den Menschen; bei der Maus gibt es keine Gene im Intron 22. Die Expression des F8B-Gens in transgenen Mäusen führt zu massiven Entwicklungsstörungen, besonders im Auge (Valleix et al. 1999). Die Therapie der Hämophilie A bestand in früheren Jahren zunächst in Bluttransfusionen. Mit fortschreitender Kenntnis der Biochemie gelang es, den Faktor VIII über verschiedene säulenchromatographische Verfahren soweit zu reinigen, dass er gefriergetrocknet gelagert und in medizinisch überwachter Heimselbstbehandlung in kleinen Volumina intravenös appliziert werden kann. Wegen der kurzen Halbwertszeit (ca. 13 Stunden) muss dies daher bei schweren Fällen zur Vorbeugung von Blutungen etwa alle 2 bis 3 Tage wiederholt werden. Allerdings haben der Ausbruch von HIV und unzureichende Kontrollen bei der Verwendung von Blutplasma bei der Herstellung der Präparate Ende der 1980er Jahre des 20. Jahrhunderts zu massiven HIV-Infektionen bei Bluterkranken und damit zu einer dramatischen Erhöhung der Todesrate geführt. Heute werden viele Präparate gentechnologisch hergestellt, wobei sowohl bei den Zellkulturen (keine Wachstumsfaktoren aus Rinderserum) als auch bei der Stabilisierung des gereinigten Faktors (kein Albumin aus Rinderserum) auf Komponenten aus Rinderblut wegen einer möglichen BSE-Kontamination verzichtet wird. Insgesamt hat jedoch die Einführung der Heimselbstbehandlung zu einer deutlichen Verbesserung der Lebensqualität und Verlängerung der Lebensdauer der Hämophilie-A-Patienten geführt. Eine weitere wesentliche Komplikation bei der Hämophilie-Behandlung,die vor allem bei den schweren Fällen auftritt, ist die Entwicklung von Antikörpern gegen den therapeutisch gegebenen Faktor VIII, womit dessen Wirkung zunächst zunichte gemacht
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Abb.14.22a–b. Faktor VIII und Hämophilie A. a Vom Gen zum aktiven Protein: Die 26 Exons des F8-Gens werden in eine ca. 9 kb große mRNA übersetzt; das reife Protein wird durch Thrombin in 4 Fragmente gespalten (Pfeile an den Arg-Resten). Dabei wird die B-Domäne entfernt und die drei verbleibenden Fragmente (A1, A2 und A3-C1-C2) werden über Cu2+ komplexiert. b Eigenschaften und Wechselwirkungen des F8Proteins: Es ist das gesamte F8-Protein einschließlich des Signal-Peptides (SP) am N-Terminus dargestellt; die Ziffern geben die jeweiligen Positionen der Aminosäuren an. Die Stellen für die Wechselwirkungen mit anderen Faktoren der Gerinnungs-
kaskade sind angegeben (PL: Phospholipide, VWF: von-Willebrand-Faktor; F9/F9a [aktivierter] Faktor 9; F10/F10a [aktivierter] Faktor 10). Das Muster der glykosylierten Asn-Reste ist für den Transport des F8 Proteins aus dem Endoplasmatischen Retikulum wichtig (Quadrate: schwarz: glykosyliertes Asn; weiß: nicht-glykosyliertes Asn; schwarz/weiß: teilweise glykosyliertes Asn; grau: potentiell glykosyliertes Asn). Die sulphatierten Tyr-Reste (weiße Kreise) sind für die effiziente Aktivierung durch Thrombin an den benachbarten Schnittstellen wichtig; die Bildung der Disulfid-Brücken (S-S) trägt zur richtigen Faltung des Proteins bei.
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Abb.14.22c–d. c Intron-1 Inversion: Im Intron 1 befindet sich ein Sequenzabschnitt (Int1h1, grün), der außerhalb des Gens (Int1h2, rot) wiederholt ist; die Pfeilspitzen deuten die Orientierung der Elemente an. Die folgenden Schritte in der Abbildung erläutern, wie es durch homologe Rekombination zu der beobachteten Inversion kommt. Diese Inversion ist für etwa 1% der schweren Fälle von Hämophilie A verantwortlich. d Intron-22 Inversion: Im Intron 22 befindet sich eine Region
(Int22h1), die starke Sequenzhomologien zu zwei Regionen (In22h2 und Int22h3) außerhalb des F8 Gens aufweist. Durch homologe Rekombinationen kommt es zur Anlagerung von In22h1 an In22h2 oder In22h3; nach Bruch und Re-Ligation ist der Bereich zwischen Exon 1 und Exon 22 des F8-Gens invertiert. Diese Inversion ist für etwa 35–45% der schweren Fälle von Hämophilie A verantwortlich. (nach Graw et al. 2005)
14.3 Monogene Erbkrankheiten
wird. Durch eine lang dauernde Therapie mit stark erhöhter Gabe von FVIII kann der Körper in vielen Fällen allerdings dazu gebracht werden, den exogenen Faktor VIII quasi als „körpereigenes Protein“ zu erkennen. Zur Verbesserung der Therapie wird heute auch an Verfahren einer somatischen Gentherapie gearbeitet; die bisherigen Ergebnisse der ersten klinischen Studien müssen noch etwas zurückhaltend beurteilt werden, da sie oft nur mit sehr hohem Aufwand für einige Monate eine relativ geringe Erhöhung der Faktor-VIII-Restaktivität bewirken. Die Entwicklung einer robusten Gentherapie für Hämophilie A wird Auswirkungen auf das gesamte Gebiet der somatischen Gentherapie haben (Walsh 2002; Manno 2002). Die Muskeldystrophien vom Typ Becker bzw. Duchenne sind klassische Beispiele für Pioniertaten in der Molekulargenetik einerseits und allelische Heterogenität andererseits. Die Duchenne’sche Form (OMIM 310200) ist durch eine Muskelschwäche gekennzeichnet, die von den Beinmuskeln ausgehend auf Rumpf und Schultergürtel übergreift. Es entwickelt sich schließlich eine Muskelatrophie, die dazu führt, dass die Kinder um das 10.Lebensjahr gehunfähig werden; im finalen Stadium leiden die Patienten an muskulärer Ateminsuffizienz. Trotz verbesserter Therapieverfahren liegt die Lebenserwartung um 20 Jahre. Die Duchenne’sche Muskeldystrophie hat eine Häufigkeit von etwa 1:3.500 neugeborenen Jungen und gehört damit zu den häufigsten schweren Erbkrankheiten (Abb. 14.23). Der Becker’sche Typ (OMIM 300376) hat etwa das gleiche Erscheinungsbild, jedoch einen gutartigen und langsam fortschreitenden Verlauf; dieser Typ ist wesentlich seltener (1:20.000). Die Krankheit beginnt in der Regel jenseits des 10. Lebensjahres, und Invalidität tritt erst im Alter von 40 oder 50 Jahren auf. Die Lebenserwartung ist nur wenig verkürzt. Von medizinischer Seite wird aber betont, dass es sich hier nicht um eine gutartige Verlaufsform der Muskeldystrophie vom Typ Duchenne, sondern um ein eigenständiges Krankheitsbild handelt (Tariverdian u. Buselmaier 2004). Beide Krankheiten wurden auf dem X-Chromosom lokalisiert (Xp21.2). Das Dystrophingen ist das mit Abstand größte Gen, das im Menschen für ein Protein kodiert: Seine 79 Exons bedecken etwa 2,6 Mio. bp (Abb. 14.24a). Diese Größe macht es anfällig für Rearrangements und Rekombinationen, die zu Mutationen führen. In den meisten Fällen sind die Mutationen Deletionen von einem oder mehreren Exons (60%); daneben werden auch Duplikationen (6%),Transloka-
Abb. 14.23. Patient mit Duchenne’scher Muskeldystrophie im finalen Stadium. (Nach Tariverdian u. Buselmaier 2004)
tionen und Punktmutationen gefunden. Im Allgemeinen kann man sagen,dass Mutationen,die den offenen Leserahmen unterbrechen und die zu einem vorzeitigen Abbruch der Dystrophinsynthese führen, eine Duchenne’sche Muskeldystrophie verursachen. Mutationen, die den Leserahmen nicht verändern, resultieren eher in der milderen Form der Becker’schen Muskeldystrophie. Das Dystrophin ist ein bedeutendes Strukturelement in den Muskelzellen, das die Proteine des internen Cytoskeletts mit denen in der Zellmembran verbindet (Abb. 14.24b). Ein Verlust dieser Funktion führt zur Zerstörung der Muskelfasern, zu Lecken in der Zellmembran und zu Veränderungen in Signalkaskaden. ! X-chromosomale rezessive Erbkrankheiten kommen im männlichen Geschlecht stets zur Ausprägung, im weiblichen nur bei Homozygotie und daher mit wesentlich geringerer Häufigkeit. Allele, deren Ausprägung vor dem Erreichen der Geschlechtsreife zum Tod des Individuums führen, können nur im heterozygoten Zustand weitervererbt werden und sind stets rezessiv.
14.3.4 Y-chromosomale Gene Zu den geschlechtsgekoppelten Merkmalen zählen natürlich auch solche auf dem Y-Chromosom.Obwohl
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Abb. 14.24 a,b. Dystrophin: Gen und Protein. a Das Dystrophingen wird in verschiedenen Geweben durch unterschiedliche Promotoren gesteuert (z. B. Gehirn, Muskel, Purkinje-Zellen). Das jeweils erste Exon ist gelb, gemeinsame Exons sind blau und nicht-translatierte Exons sind grün dargestellt. Die Pfeile deuten den Transkriptionsstart an und die rote Box markiert einen charakterisierten Enhancer. b Schematische Darstellung des Dystrophin-Glykoprotein-Komplexes (DGC) und Etiologie der Muskeldystrophie: Dystrophin steht im Ske-
lettmuskel in Wechselwirkung mit cytoplasmatischen, Transmembran- und extrazellulären Proteinen. Mutationen im Dystrophingen und in Genen, die für andere Komponenten des DGCs kodieren, verursachen Muskeldystrophien: BMD: Becker’sche Muskeldystrophie; CMD: congenitale Muskeldystrophie; CYS: Cystein; DG: Dystroglykan; DMD: Duchenne’sche Muskeldystrophie; LGMD: Muskeldystrophie des Schulterund Beckengürtels (engl. limb-girdle muscular dystrpophy); NOS: Stickoxid-Synthase. (Nach Khurana u. Davies 2003)
14.3 Monogene Erbkrankheiten
Y-chromosomale Merkmale leicht zu erkennen sind, spielen sie keine große Rolle in der Humangenetik. Ursache hierfür ist die relativ geringe Anzahl von Genen, die auf dem Y-Chromosom liegen. Hinzu kommt, dass das Y-Chromosom eine Region mit Homologie zum X-Chromosom beherbergt (pseudoautosomale Regionen, PAR) (Abb. 14.25), deren gene-
tisches Material sich infolge der regionalen Diploidie in seiner phänotypischen Expression nicht von der Situation autosomaler Merkmale unterscheidet, also nicht geschlechtsgekoppelt zur Ausprägung kommt.
Abb. 14.25 a,b. Die menschlichen Geschlechtschromosomen. Einige genetische Loci sind angegeben (a), ebenso die begrenzte Homologie zwischen X- und Y-Chromosom (b). b zeigt vier Regionen im X-Chromosom, die Verwandtschaft zum Y-Chromosom aufweisen. Die Regionen I und II (gestrichelte Balken) sind zwei pseudoautosomale Regionen, also Bereiche, die genetisch ähnlich sind (homologe MIC2X- und MIC2YGene!). Der mit III gekennzeichnete Bereich enthält einige Homologien zwischen X- und Y-Chromosom, die aber nur oberflächlich bekannt sind. Der Bereich IV enthält eine X-YHomologie, die sich über etwa 5 Mbp erstreckt und möglicherweise durch eine perizentrische Inversion im Y-Chromosom entstanden ist. X-chromosomale Gene: MIC2X: Zelloberflächenantigen (CD99 Antigen); MIC2 wird von der X-Inaktivie-
rung nicht betroffen; BMD/DMD oder Becker’- und Duchenne’sche Muskeldystrophie (beide Krankheiten beruhen auf Defekten im gleichen Gen); OTC: Ornithincarbamyltransferase; XIST: Gen im X-Inactivation Center (XIC); PGK1: Phosphoglyceratkinase; F8: Hämophilie A, Faktor VIII: Blutgerinnungsfaktor; F9: Hämophilie B, Faktor IX: Blutgerinnungfaktor; G6PD: Glucose-6Phosphatdehydrogenase; SCID: severe combined immunodeficiency; HPRT: Hypoxanthin-Guanin-Phosphoribosyltransferase. Y-chromosomale Gene: SRY: Sex-determining Region Y; AZF: Azoospermie; ZFX/ZFY: Zinkfinger-Protein im X- oder YChromosom; MIC2Y: siehe MIC2X. p und q kennzeichnen den kurzen und langen Arm der Chromosomen. (b: Nach W. Schempp, Freiburg, persönl. Mitteilung)
Y-chromosomale Merkmale erkennt man dadurch, dass stets nur männliche Nachkommen Träger dieses
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692
Kapitel 14: Das menschliche Genom – Grundlagen menschlicher Vererbung
Merkmals sind und es stets auch zur Ausprägung bringen. X-chromosomale Merkmale können im Gegensatz dazu nicht von einem männlichen Träger auf die folgende männliche Generation übertragen werden (vgl. Duchenne’sche Muskeldystrophie!). Die Anzahl der bekannten Y-chromosomalen Merkmale beim Menschen ist gering. Eines der bestuntersuchten Y-chromosomalen Gene ist das ursprünglich als TDF (engl. testis determining factor) bezeichnete, jetzt SRY genannte Gen (engl. sex determining region on Y). Es hat eine entscheidende Bedeutung für die männliche Geschlechtsbestimmung (s. S. 649). Es wirkt offenbar mit einer Reihe autosomaler Gene (z. B. SOX9 und DAX1) zusammen. Mehrere weitere Y-chromosomale Gene, die AZF-Gene (engl. azoospermic factor), sind für die männliche Fertilität von Bedeutung. Zu ihnen gehört RBM (abgeleitet von engl. RNA-binding motif) und DAZ (engl. deleted in azoospermia). Beide Gene enthalten Sequenzmotive in den abgeleiteten Proteinsequenzen, wie sie für Proteine charakteristisch sind, die an RNA binden. In den pseudoautosomalen Regionen wurden bisher 12 Gene identifiziert. Zu ihnen gehört zunächst das Gen SRY, dessen X-chromosomales Gegenstück das Gen SOX3 ist. Weiterhin liegt hier das Gen SHOX, das für die Osteogenese erforderlich ist. Ein weiteres Gen (RPS4Y) kodiert ein ribosomales Protein. Oft ist eine Eigenschaft, die Bildung von Haaren am äußeren Rand der Ohrmuschel von Männern („hairy pinnae“), als Y-chromosomal angesehen worden, aber diese Kartierung war falsch. Es handelt sich um ein X-chromosomales Gen, das nur im Mann zur Ausprägung kommt. Hingegen scheint es sich zu bestätigen, dass das Y-Chromosom ein Tumorgen trägt, das bei der Anwesenheit bestimmter Allele eine Prädisposition für Gonadoblastom verursacht. Generell muss jedoch festgestellt werden, dass das Y-Chromosom nur eine sehr geringe Anzahl von Genen trägt. ! Die Anzahl Y-chromosomaler Merkmale ist ge-
ring. Sie treten nur im männlichen Geschlecht auf. Die wichtigsten Gene im Y-Chromosom determinieren das männliche Geschlecht, einige weitere sind für die Fertilität der Spermien notwendig.
14.3.5 Besonderheit: Expandierende Triplettwiederholungen Eine Gruppe von Krankheiten weist die Besonderheit auf, dass ihr Schweregrad oft von Generation zu Generation zunimmt und immer früher einsetzt. Als Ursache hat sich in diesen Fällen herausgestellt, dass vorhandene Tripletts (besonders häufig CAG) innerhalb oder außerhalb der kodierenden Region eines Gens von einer Generation zur nächsten in ihrer Zahl stark zunehmen und damit entweder die Struktur der Proteine oder die Expression der entsprechenden Gene verändern. Wir hatten diese Thematik im Kap. 10.2.3. bereits als „Dynamische Mutationen“ kurz angesprochen. Tabelle 14.4 gibt einen Überblick über einige bekannte Krankheiten, die durch expandierende Triplettwiederholungen verursacht werden, und Abb. 14.26 zeigt den inversen Zusammenhang zwischen der Zahl der Wiederholungseinheiten und dem Eintrittsalter der Krankheit. Zwei Krankheiten sollen hier etwas ausführlicher dargestellt werden, das Fragile-X-Syndrom und die Chorea Huntington. Bei dem Fragilen-X-Syndrom (Martin-BellSyndrom, OMIM 309550) handelt es sich um eine X-gebundene, rezessive Krankheit, die neben verschiedenen morphologischen Anomalien wie verlängertem Gesicht, abnormal großen Ohren und großen Testes vor allem mit geistiger Retardierung verbunden ist. Die Häufigkeit liegt bei Männern bei ca. 1:5000. Der Defekt ist in der Region Xq27.3 lokalisiert, die sich – wie auch der Name anzeigt – durch eine hohe Bruchempfindlichkeit des X-Chromosoms der Betroffenen auszeichnet. Auffallend ist der Erbgang dieser Krankheit: Als Besonderheit ist das Vorkommen von männlichen Überträgern zu bezeichnen. Bei diesen Männern kommt die Krankheit trotz ihrer hemizygoten Konstitution nicht zur Ausprägung. In deren Töchtern zeigen sich ebenfalls keine Anzeichen der Krankheit. In den männlichen Nachkommen der folgenden Generation kommt sie aber mit einer Häufigkeit von 40%, in Männern der übernächsten Generation mit der normalerweise zu erwartenden Häufigkeit von 50% zum Ausbruch. Die Erklärung dieses ungewöhnlichen Erbganges besteht darin, dass im ersten Exon des fraglichen Genbereiches eine (CGG)n-Repeatregion vorhanden ist. Die Anzahl der (CGG)-Repeats variiert und ist bei Patienten mit Fragilem-X-Syndrom durch über
14.3 Monogene Erbkrankheiten
Abb. 14.26. Zusammenhang zwischen Anzahl der Triplettwiederholungen und Eintrittsalter der Erkrankung. Verschiedene Daten der Literatur wurden zusammengetragen, um die Abhängigkeit des Eintrittsalters der Erkrankung von der Anzahl der Triplettwiederholungen darzustellen. Die Kurven wurden an ein einfaches exponentielles Modell angepasst. Für einige Erkran-
kungen ist auch das Eintrittsalter der homozygoten Träger angegeben (gefüllte Symbole). DRPLA: Dentatorubralpallidoluysische Atrophie; HD: Chorea Huntington; MUD: Machado-Joseph Erkrankung (= SCA 3); SBMA: Spino-bulbare Muskelatrophie; SCA: Spino-cerebellare Ataxie. (Nach Gusella u. MacDonald 2000)
700 bp lange DNA-Insertionen, die aus zusätzlichen (CGG)-Repeats bestehen, gekennzeichnet, während normalerweise nur 6 bis 53 Kopien des (CGG)-Repeats vorhanden sind.Kennzeichnend ist die Instabilität der Repeathäufigkeiten dieser Region (Abb. 14.27). In Überträgern ist eine Vergrößerung des fraglichen DNA-Bereiches auf 180 bis 600 bp festzustellen, der in den folgenden Generationen weiter ausgedehnt wird und dann erst zur Ausprägung der Krankheit führt. Das Anwachsen der Länge des DNA-Bereiches auf eine Länge, die noch keine pathologischen Effekte zur Folge hat, bezeichnet man als Prämutation (engl. premutation). In betroffenen Männern wird zusätzlich eine Methylierung des (CGG)-Bereiches beobachtet, die in normalen Männern fehlt. Verbunden ist diese offenbar mit einer Inaktivierung des betroffenen Gens. Das betreffende FMR1-Gen (Abb. 14.28a) ist in vielen Geweben des Embryos und des erwachsenen Menschen exprimiert; seine höchste Konzentration erreicht es im Gehirn. Das FMR-1-Genprodukt FMRP (FMR-Protein) ist ein selektiv RNA-bindendes Protein,das zwei RNA-bindende Domänen enthält,die als
KH- bzw. RGG-Domäne bezeichnet werden; es zirkuliert zwischen dem Zellkern und Cytoplasma. Im Cytoplasma ist das FMRP an mRNA gebunden (Ribonukleoprotein-Komplex) und mit Polyribosomen oder Ribosomen des Endoplasmatischen Reticulums assoziiert. FMRP bindet an ca. 4% der mRNA des Gehirns und ist an dem Transport der mRNA an die entsprechenden Ribosomen beteiligt (Abb. 14.28b). In Neuronen ist das FMRP mit der Translationsmaschinerie in den Dendriten assoziiert. Es ist bekannt, dass die räumliche Regulation der Proteinsynthese für das Zellwachstum, die Zellpolarität und das Management der synaptischen Plastizität verantwortlich ist (wichtig für Lern- und Gedächtnisleistungen). Die Mutationen im Fragilen-X-Syndrom führen zu einem Funktionsverlust des FMRP, da die pathologisch expandierten Tripletts mit einer verminderten Transkription des FMR1-Gens und einem Verlust des Genprodukts verbunden sind. Die pleiotropen Effekte des Fragilen-X-Syndroms lassen sich über den gestörten mRNA-Metabolismus erklären, wenn das FMRP nicht oder nicht in genügendem Maß zu Verfügung steht (Cummings u. Zoghbi 2000).
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694
Kapitel 14: Das menschliche Genom – Grundlagen menschlicher Vererbung
Tabelle 14.4.
Erkrankungen durch Trinukleotidwiederholungen
Krankheit
Gen
Fragiles-X-Syndrom
Protein
Trinukleotid
Wiederholungshäufigkeit Gesund Krank
FMR1 Xq27.3 (FRAXA)
FMR-1 Protein
CGG
6–53
60–200 (Prä) 5’-UTR >230 (Voll)
Fragiles-XE-Syndrom
FMR2 Xq28 (FRAXE)
FMR-2 Protein
GCC
6–35
61–200 (Prä) 5’-UTR >200 (Voll)
Friedreich’sche Ataxie
X25
9q1321.1
Frataxin
GAA
7–34
34–80 (Prä) >100 (Voll)
Intrin 1
Myotone Dystrophie
DMPK
19q13
MyotoneDystrophieProtein Kinase (DMPK)
CTG
5–37
50–1000
3’-UTR
Spino-bulbare MuskelAtrophie (Kennedy)
AR
Xq13-21
AndrogenRezeptor (AR)
CAG
9–36
38–62
Codierend (N-terminal)
Chorea Huntington
HD
4p16.3
Huntingtin
CAG
6–35
36–121
Codierend (N-terminal)
Dentatorubralpallidoluysische Atrophie
DRPLA
12p13.31 Atrophin-1
CAG
6–35
49–88
Codierend (N-terminal)
Spino-cerebellare Ataxie 1
SCA1
6p23
Ataxin-1
CAG
6–44
39–82
Codierend (N-terminal)
Spino-cerebellare Ataxie 2
SCA2
12q24.1
Ataxin-2
CAG
15–31
36–63
Codierend (N-terminal)
Spino-cerebellare Ataxie 3 (Machado-JosephErkrankung)
SCA3
14q32.1
Ataxin-3
CAG
12–40
55–84
Codierend (N-terminal)
Spino-cerebellare Ataxie 6
SCA6
19p13
Calcium-Kanal
CAG
4–18
21–33
Codierend (N-terminal)
Spino-cerebellare Ataxie 7
SCA7
3p12-13
Ataxin-1
CAG
4–35
37–306
Codierend (N-terminal)
Spino-cerebellare Ataxie 8
SCA8
13q21
_
CTG
16–37
110– <250
3’-terminales Exon
Spino-cerebellare Ataxie 12
SCA12
5q31-33
PP2a-PR55
CAG
7–28
66–78
5’-UTR
Nach Cummings u. Zoghbi (2000)
Locus
Lokalisation
14.3 Monogene Erbkrankheiten
! Die Ausprägung des Fragilen-X-Syndroms beruht
auf einer funktionellen Inaktivität eines X-chromosomalen Gens, die auf der Vermehrung von CGGTripletts innerhalb des Gens beruht. Die Inaktivität dieses Gens ist stets mit Methylierung des CGGTripletts verbunden.
Die Chorea Huntington (auch Veitstanz genannt, OMIM 143100) äußert sich im fortgeschrittenen Zustand in motorischen Defekten, die durch eine allmähliche Degeneration der Neurone in den Basalganglien des Gehirns bedingt
Abb. 14.27 a,b. Fragiles-X-Syndrom. a In-situ-Hybridisierung auf Metaphasechromosomen. Es wurde eine Doppelhybridisierung mit einer DNA-Probe, die spezifisch für das X-Centromer ist (starkes Signal) und mit einer DNA-Probe spezifisch für die FRAX-Region (schwaches Signal) ausgeführt. b Analyse eines Familienstammbaumes durch Restriktionsanalyse von genomischer DNA verschiedener Familienmitglieder. Im oberen Teil ist der Familienstammbaum einer Familie dargestellt, die ein Fragiles-X-Syndrom aufweist. Unten sind die Restriktionsanalysen der genomischen DNA verschiedener Familienangehöriger gezeigt. Bei Individuen ohne das defekte Gen (N) sind nur die Restriktionsfragmente vorhanden, die im funktionellen Allel vorkommen (a und n). In betroffenen Individuen (schwarz) ist eine diffuse Verteilung höhermolekularer DNA-Fragmente zu beobachten, die die normalen Restriktionsfragmente a und n ersetzen. Erwartungsgemäß sind bei Heterozygoten (halbgefüllt) beide Signale nebeneinander ausgeprägt. (Aus Oostra 1992)
werden. Verbunden sind damit Gedächtnisstörungen, Abnahme der kognitiven Fähigkeiten, Gefühlsstörungen und Persönlichkeitsveränderungen. Die Patienten sterben etwa 10 bis 20 Jahre nach dem Ausbruch der Erkrankung an Herz- oder Lungenerkrankungen. Die Neuropathologie zeigt eine Atrophie des Nucleus caudatus und des Putamen; eine diffuse Degeneration des Neostriatums ist pathologisch besonders charakteristisch. Die Krankheit wird erst relativ spät sichtbar, meist um das 40. Lebensjahr. Die Häufigkeit der Chorea Huntington beträgt etwa 1:10 000; das entsprechende Gen liegt auf dem Chromosom 4 (4p16.3). Formal folgt die Erkrankung einem klassischen auto-
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696
Kapitel 14: Das menschliche Genom – Grundlagen menschlicher Vererbung
Abb. 14.28 a,b. Das FMR1-Gen und die zelluläre Funktion des Proteins. a Die Positionen verschiedener Domänen im FMR1Gen sind angegeben; die CGG-Wiederholung befindet sich im 1. Exon. NLS: Kern-Lokalisationssignal; NES: Kern-Exportsignal; KH und RGG sind RNA-bindende Domänen; cc: superspiralisierte (engl. coiled-coil) Region. b Modell des intrazellulären Weges des FMR-Proteins. Das neugebildete FMR-Protein
gelangt über sein Kern-Lokalisationssignal (NLS) in den Zellkern und dort in den Nukleolus, wo es an die 60S-Untereinheit der sich formierenden Ribosomen bindet. Gemeinsam mit anderen Proteinen wird dieser Komplex (über das KernExportsignal; NES) wieder in das Cytoplasma entlassen. (Nach Kooy et al. 1998)
somal-dominanten Erbgang mit vollständiger Penetranz. Da es sich hierbei um eine spät manifest werdende Krankheit handelt, sind oft schon Kinder geboren, wenn die ersten Symptome auftreten. Für die Nachkommen besteht somit ein Risiko von 50%, daran zu erkranken. Das betroffene Gen (Gensymbol: HD) umfasst etwa 185 kb und enthält 67 Exons. Es gibt zwei Spleißprodukte; die entsprechenden mRNAs sind 10,5 und 13,5 kb lang. Beide Transkripte kodieren für dasselbe Protein („Huntingtin“) mit 3142 Aminosäuren und einem Molekulargewicht von ca. 350 kDa. Genetische Hinweise machen klar, dass der Verlust der Huntingtin-Funktion nicht für den Ausbruch der Krankheit verantwortlich ist; allerdings sterben die entsprechenden homozygoten Nullmutanten der Maus be-
reits während der Embryonalentwicklung (heterozygote zeigen keine Krankheitsbilder). Ursache für den Ausbruch der Chorea Huntington ist vielmehr eine CAG-Triplettwiederholung im ersten Exon, die stark polymorph ist und für eine unterschiedliche Anzahl von Glutamin-Resten kodiert. In Gesunden variiert die Anzahl der Triplettwiederholungen zwischen 6 und 35; bei Kranken beträgt sie typischerweise etwa 40 bis 50 (Abb. 10.5); liegen allerdings mehr als 70 Wiederholungen vor, tritt die Krankheit bereits im Jugendalter auf. Homozygote Patienten unterscheiden sich dagegen in ihrem Schweregrad fast nicht von den heterozygoten Geschwistern, was den dominanten Charakter der Erkrankung unterstreicht. Allerdings ist eine Übertragung über die männliche Keimbahn oft mit einer
14.3 Monogene Erbkrankheiten
deutlichen Zunahme der Anzahl von Triplettwiederholungen verbunden (Abb. 10.7). Dies wird in der weiblichen Keimbahn nicht beobachtet. Vielmehr findet die Verlängerung der Triplettwiederholungen während der Spermatogenese statt und kann als Unterschied in der Länge der Triplettwiederholungen in der DNA von Spermien nachgewiesen werden. Auch die Tatsache, dass eineiige Zwillinge dieselbe Anzahl von Triplettwiederholungen aufweisen, deuten darauf hin, dass es sich hierbei nicht um einen somatischen Vorgang handelt, sondern dass die Expansion der Tripletts offensichtlich während der Entwicklung der Keimzellen stattfindet (siehe auch Kap. 10.2.3). Transgene Mäuse, die die CAG-Triplettwiederholungen stabil in das Huntingtin-Gen integriert haben, sind hervorragende Modelle für diese schwerwiegende Erkrankung. Sie erlauben nicht nur, den Krankheitsverlauf im Detail zu untersuchen (Abb. 14.29), sondern auch verschiedene andere genetische Einflüsse (z. B. des Glutamat-Rezeptors 6) und Umweltfaktoren (z. B. eine Stimulierung der Umgebung) zu variieren. Erste Untersuchungen deuten darauf hin, dass eine abwechslungsreiche Umgebung das Eintrittsalter herausschieben kann (van Dellen u. Hannan 2004). ! Triplettwiederholungen sind ein charakteristischer
Bestandteil des menschlichen Genoms. Sie formen auch Teile von Genen. Da sie einer gelegentlichen Expansion unterliegen, kann es zu Veränderungen der Anzahl von Wiederholungseinheiten kommen. Liegen solche Veränderungen innerhalb von Genen, beeinflussen sie die Expression der betroffene Gene und können zu Erbkrankheiten führen.
14.3.6 Vielfalt: Mutationen in den Globingenen Im Kapitel 8.2.1 haben wir die Familie der Globingene bereits ausführlich kennen gelernt. Die große Bedeutung von Defekten in den Globingenen für die Medizin hat viel zu ihrer intensiven Untersuchung beigetragen. In der Folge hat man eine Vielzahl von Gendefekten identifizieren können, die uns die unterschiedlichen Arten von Genmutationen besonders verdeutlichen. Sehr viele Aminosäureveränderungen
Abb. 14.29 a,b. Mausmodell für die Erkrankung Chorea Huntington. a Eine transgene Maus mit einer stabilen CAGWiederholungseinheit im Huntingtin-Gen ist ein präzises Modell für die Chorea Huntington („HD-Maus“). Eine zusätzliche TAA-Wiederholung in der Nähe des Gens für den Glutamat-Rezeptor 6 verändert das Eintrittsalter. Die Maus zeigt ein charakteristisches Klammern mit den Hinterpfoten, wenn sie am Schwanz gehalten wird. Das ist ein robustes und reproduzierbares Anzeichen für den Beginn der Erkrankung. b Die Elektronenmikroskopie zeigt zwei einzelne, homogene Einschlüsse in den Zellkernen (Pfeil auf ni; engl. nuclear inclusions) des Striatum einer HD-Maus im Alter von 11 Monaten. Die Zellkerne (nuc) haben tiefe Einstülpungen. (Nach van Dellen u. Hannan 2004)
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698
Kapitel 14: Das menschliche Genom – Grundlagen menschlicher Vererbung
sind mit Veränderungen der Erythrocyten im Sauerstofftransport verbunden (Abb. 14.30). Eines der bekanntesten anomalen Hämoglobine ist das Sichelzellenhämoglobin (Hämoglobin S). E.A. Beet und J.V. Neel entdeckten 1949 gleichzeitig, dass es sich bei der Sichelzellenanämie um eine erbliche Krankheit handelt. Linus Pauling und seine Mitarbeiter legten 1949 die Grundlage für die folgende Periode der biochemischen Analyse des Hämoglobins. Sie fanden, dass die Sichelzellenanämie an das Auftreten eines elektrophoretisch anomalen Hämoglobins (HbS) im Blut gebunden ist, das in Homozygoten anstelle des Hämoglobins A (HbA) gefunden wird und in Heterozygoten neben dem HbA in gleicher Menge wie dieses gebildet wird. Schließlich konnte V.M. Ingram 1956 zeigen, dass der Unterschied zwischen HbA und HbS in der Veränderung einer einzigen Aminosäure liegt: Anstelle der Glutaminsäure an der Position 6 der β-Kette des HbA ist bei HbS ein Valin vorhanden (Abb. 14.31). Die
Abb. 14.30. Physikalische Unterschiede von Hämoglobin. Bei einigen Hämoglobinmutationen (insbesondere in der β-Kette) ist die Sauerstoffaffinität des Hämoglobins im Vergleich zum normalen Hämoglobin (HbA) stark erhöht. Als Beispiel ist das Hb Rainier gezeigt. Die festere Sauerstoffbindung durch Konformationsänderungen aufgrund der Aminosäuresubstitutionen resultiert in Hypoxie (Mangel in der Sauerstoffversorgung). Hierdurch wird die Proliferation der Erythrocyten durch Erythropoetin stimuliert, so dass die relative Anzahl der Erythrocyten stark zunimmt. (Nach Vogel u. Motulsky 1996)
daraus resultierende veränderte Konformation des HbS zeigt Abb. 14.32. Neben Aminosäuresubstitutionen, die im Allgemeinen auf einzelne Basensubstitutionen zurückzuführen sind,kann man eine Reihe genetisch besonders aufschlussreicher Genmutationen beobachten, die uns Aufschlüsse über Rekombinationsmechanismen geben. Eine interessante Mutation ist das Gun-HillHämoglobin (Abb. 14.33). Diesem defekten β-Globingen fehlen als Folge einer Deletion durch ungleiches Crossing-over die Codons 91 bis 95. Die Abbildung lässt uns erkennen, dass die Ursache für die Deletion in einer kurzen internen Sequenzwiederholung (AG CTG CAC) im β-Globingen liegt, die die Codons 90 bis 92 und 95 bis 97 umfasst. Bei der Paarung der homologen Chromosomen in der meiotischen Prophase ist es offenbar zu einer Fehlpaarung dieser Regionen gekommen, der sich ein Crossing-over angeschlossen hat. Hierdurch sind die Codons 91 bis 95 entfallen, so dass eine verkürzte β-Globinkette entsteht. Diese Globinvariante ist instabil, so dass es zu einem HbMangel kommt und eine Anämie resultiert. Ähnliche Fehlpaarungen in der Meiose mit anschließendem nichthomologem Crossing-over führen zu weiteren Globindefekten (Abb. 14.34). So kann es durch Fehlpaarung zwischen dem δ-Globingen eines Chromosoms und dem β-Globingen des Homologen nach Crossing-over zur Bildung von Fusionsproteinen kommen, deren einer Teil aus β-Globin, der andere aus der δ-Globinkette besteht. Die Abbildung zeigt uns, dass mit diesem ungleichen Crossing-over eine Deletion des β-Gens in einem der Crossing-overProdukte verbunden ist. Die entstehenden Fusionsproteine werden als Anti-Lepore- und Lepore-Gene bezeichnet (Abb. 14.34a). In ganz ähnlicher Weise kommt es zur Bildung von Fusionsproteinen nach einer nichthomologen Rekombination durch Fehlpaarung von β- und Aγ-Globingenen (Abb. 14.34b). Die Genprodukte werden als Anti-Kenya- und KenyaGene bezeichnet.Alle diese Genveränderungen führen zu Anämien. Durch nichthomologes Crossing-over können auch vollständige Deletionen von Hb-Genen entstehen.Wie wir gesehen haben,gibt es zwei α-Globingene (Abb. 8.12), die für identische Proteine kodieren. Durch eine nichthomologe Paarung kann es zu einer Deletion eines der α-Gene kommen. Ein Individuum mit einer solchen Deletion besitzt nur noch drei funktionelle α-Globingene.Das führt zu einer leichten Anämie ohne schwerwiegende Folgen. Wird eine
14.3 Monogene Erbkrankheiten Abb. 14.31. Vergleich der N-terminalen Aminosäuresequenz der β-Globinkette und des Sichelzellhämoglobins. R sind die Seitenketten der identischen Aminosäuren. Die Aminosäure 6 im Sichelzellhämoglobin ist hervorgehoben. Die hydrophile saure Glutaminsäure ist in ein neutrales apolares Valin verändert. Dadurch werden die Eigenschaften des Globins verändert
H
H
O
+
H
H
O
H
+
H
O
H
+
H
O
+
H
H
O
+
H
H
O
+
H
H
O
+
H–N–C–C– N–C–C– N–C–C– N–C–C– N–C–C– N–C–C–N–C–C– H
R
H
R
H
R
H
R
H
R
H
H
CH2
CH2
CH2
Normales-β-Globin
CH2
C –
O
Val H
H
His O
+
H
Leu
H
O
H
+
H
Thr O
H
+
H
+
H
H
+
–
O
Glu Val
Pro O
C O
O
H
H
O
Glu O
+
H
H
O
+
H–N–C–C– N–C–C– N–C–C– N–C–C– N–C–C– N–C–C–N–C–C– H
R
H
R
H
R
H
R
H
R
H
CH2
H3C
Sichelzell-β-Globin
H
CH2 CH2
CH3
C –
O
Abb. 14.32. Im Desoxyzustand des Sichelzellhämoglobins wird durch die veränderte Aminosäure in Position 6 des β-Globins eine abnormale Interaktion zwischen den β-Ketten möglich, da die Seitenkette des Valins in eine im desoxygenierten Zustand vom Phenylalanin-85 und vom Leucin-88 geformte hydrophobe Tasche (links) passt. Die normalerweise vorhandene Glutaminsäure kann diese Position durch die größere hydrophile Seitenkette (rechts) nicht einnehmen, so dass beim normalen Hämoglobin keine Aggregation erfolgt. (Nach Schechter et al. 1987, Perutz 1992, Voet u. Voet 1992)
Sichelzell-HämoglobinKristall
Pro
Pro
5 78
5
77 73
74
79
6
Val
81 80
Phe
6
Glu
Leu 82
85 83 88 86
87
Sichelzell-β-Globin
Normales-β-Globin
O
699
700
Kapitel 14: Das menschliche Genom – Grundlagen menschlicher Vererbung Crossing-over im β-Globin nach nicht-homologer Paarung: 89
...CAC 92
90
91
92
93
94
95
96
...AGT
GAG
CTG
CAC
TGT
GAC
AAG
CTG
TGT
GAC
AAG
CTG
CAC
GTG...
93
94
95
96
97
97 CAC...
98
Resultat des Crossing-overs: Hb Gun Hill (Deletion von Codon 91 bis 95): ...AGT 89
GAG
CTG
CAC
90
96
97
GTG... 98
Abb. 14.33. Die Entstehung interner Deletionen in Genen durch ungleiches Crossing-over. Im β-Globin folgt in kurzem Abstand zweimal die gleiche Nukleotidsequenz (hervorgehoben). Es kommt während der Meiose dadurch zu einer
versetzten Paarung der Chromatiden. Im Falle eines Crossingovers in diesem Bereich werden die Codons 91 bis 95 deletiert, so dass eine unvollständige β-Globinkette (Hb Gun Hill) entsteht
Abb. 14.34 a,b. Ungleiches Crossing-over kann auch zwischen den verschiedenen Globingenen einer Gruppe erfolgen, da die Nukleotidsequenzen sehr ähnlich sind. Als Folge solcher Crossing-over-Ereignisse in fehlgepaarten Chromatiden entstehen Deletionen und Fusionsproteine. Man hat sol-
che Fusionsproteine in Anämiepatienten gefunden. Fusionen zwischen der β- und der δ-Kette sind z. B. das Lepore und AntiLepore Hämoglobin (a), Fusionen zwischen dem β- und dem A γ-Gen das Kenya- und das Antikenya-Globin (b)
14.3 Monogene Erbkrankheiten
solche genetische Konstitution jedoch homozygot, d. h. tragen beide Homologen nur eine α-Globinkopie, äußert sich diese reduzierte Anzahl der α-Globingene bereits in einer deutlichen Erkrankung (a-Thalassämie). Bei weiterer Reduktion der Anzahl funktionsfähiger α-Globingene, etwa durch Mutation einzelner Aminosäuren, folgt eine schwerwiegende Blutarmut. Basensubstitutionen in einem Gen können nicht nur zu Aminosäureveränderungen, sondern auch zu einem Abbruch der Proteinsynthese innerhalb des Gens führen, wenn durch die Basensubstitution ein Stopp-Codon erzeugt wird (Tabelle 3.1), oder zu einer Verlängerung der Proteinkette über das eigentliche Ende hinaus, wenn ein Stopp-Codon in ein aminosäurekodierendes Codon verändert wird. Auch für solche Basenveränderungen gibt es Beispiele bei den Globingenen (Abb. 14.35). So führt eine Mutation des Codons 17 (AAG) im α-Globingen zum vorzeitigen Kettenabbruch, da sie ein Stopp-Codon (UAG) erzeugt hat. Zwei Beispiele für Kettenverlängerungen sind das Hb-Constant-Spring-Allel (Abb. 14.35b) und das Hb-Wayne-Allel (Abb. 14.35c). Bei beiden verursacht eine Basensubstitution eine falsche Termination der Proteinsynthese des α-Globingens. Im HbConstant-Spring-Allel führt eine Veränderung von T nach C im Codon 142 (Stopp-Codon) zur Umwand-
lung des Stopp-Codons in ein Codon für Gln und resultiert dadurch in einer Kettenverlängerung auf 178 Codons. Im Hb-Wayne-Allel induziert eine Nukleotiddeletion im Codon 139 eine Rasterverschiebung, die zusätzliche 5 Aminosäurecodons für die Translation erzeugt, bis ein Stopp-Codon auftritt. Das verlängerte primäre Hb-Constant-Spring-Transkript ist instabil und wird schnell abgebaut, so dass ein Mangel an α-Globin entsteht. Schließlich können auch Mutationen in Intronbereichen ein verändertes Processing des primären Transkripts zur Folge haben oder das Processing überhaupt unterbinden. Mutationen im 5′-Bereich des primären Transkripts können eine falsche oder schlechte Initiation der Translation verursachen.
Abb. 14.35a–c. Beispiele für Veränderungen in den Globingenen durch Basenveränderungen. a Ende des normalen αGlobins auf DNA-Niveau. b Im Hb Constant Spring kommt es zu einer Basenveränderung im Codon 142, die das Stoppcodon in ein Codon für Glutamin umwandelt (T nach C). Hierdurch wird der aminosäurekodierende Globingenbereich verlängert, bevor nach 40 Codons ein neues Stoppcodon erreicht
wird. Das verlängerte α-Gen ist nicht normal funktionsfähig. c Im Hb Wayne ist eine Leserahmenverschiebung durch die Deletion eines Nukleotides im Codon 139 erfolgt. Sie führt ebenfalls zu einer Verlängerung des α-Globingens. Ein neues Stoppcodon ist jedoch bereits 5 Codons nach dem ursprünglichen Stoppcodon vorhanden, so dass die Kettenverlängerung relativ gering ist
! Die Globingene veranschaulichen unterschiedliche Genmutationen wie die Bildung von Fusionsproteinen durch ungleiches Crossing-over durch falsche Chromosomenpaarungen, vorzeitigen Kettenabbruch oder Kettenverlängerungen durch Punktmutationen oder Leserasterverschiebungen oder auch einfache Nukleotidsubstitutionen, die zum Austausch von Aminosäuren führen.
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Kapitel 14: Das menschliche Genom – Grundlagen menschlicher Vererbung
14.4 Komplexe Erkrankungen
Oncogene
Viele Krankheiten lassen sich nicht dem klassischen Muster „mendelnder“ Erbgänge zuordnen. Man beobachtet zwar eine familiäre Häufung, die aber nicht den Erwartungen einfacher rezessiver oder dominanter Erbgänge entspricht. Diese komplexen Erkrankungen umfassen multifaktorielle Merkmale (Interaktion zwischen Genen und Umwelt, z. B. Körperhöhe, Gewicht, Intelligenz, Hautfarbe, Fruchtbarkeit) und polygene Merkmale (Zusammenspiel vieler Gene, z. B. Brustkrebs, Asthma, Hypertonie (15–20%), Diabetes mellitus (4–5%), Alkoholismus). Diese Erkrankungen zeigen eine kontinuierliche Variabilität. Die genetische Prädisposition bildet den Rahmen für ein Gesamtbild, das durch Umwelteinflüsse mitgestaltet wird. Pathologische Abweichungen vom Normbereich werden durch Festlegung empirischer Grenzwerte definiert. Wir haben in dem Kapitel über die formalen Aspekte der Genetik (Kap. 11.3) bereits einen Eindruck von der Schwierigkeit erhalten, die Einzelkomponenten solcher Krankheiten zu charakterisieren. In diesem Abschnitt wollen wir von der Krankheitsseite her einige Beispiele vorstellen (Krebs, Asthma und Diabetes). Dabei wird deutlich, dass ihre genetischen Aspekte nur in wenigen Fällen schon klar herausgearbeitet worden sind. Der Abschluss der ersten Phase des Humangenomprojekts erleichtert jetzt aber doch in vielen Fällen den genetischen Zugang.
Oncogene sind Gene, die die Zellproliferation aktiv fördern. Ein einziges mutiertes Allel kann den Phänotyp der Zellen beeinträchtigen (dominant). Oncogene wurden in Viren entdeckt, die Tumore induzieren, und als mutierte Versionen von Genen klassifiziert, die an der Regulation zellulärer Funktionen beteiligt sind: Wachstumsfaktoren (z. B. SIS), Zelloberflächenrezeptoren (z. B. ERBB, FMS), Teile von Signalkaskaden (RAS-Familie), DNA-bindende Kernproteine (Transkriptionsfaktoren, z. B. MYC, JUN), Regulatoren des Zellzyklus (Cycline, Cyclin-abhängige Kinasen und ihre Inhibitoren).Protooncogene können durch Mutationen aktiviert werden: Eine Amplifikation von Genen wie ERBB und MYC wird in vielen Brustkrebsformen gefunden und führt zu einer Erhöhung der Genexpression. Punktmutationen führen zu Aktivierungen von Genen in Signalkaskaden, z. B. RAS, wie es bei einer Reihe von Tumoren (Dickdarmkrebs, Lungenkrebs, Brustkrebs, Blasenkrebs) gefunden wird. Translokationen können neuartige, chimäre Gene schaffen,z. B.das ABL-BCR-Produkt,das zu einer konstitutionell aktiven Tyrosinkinase führt. Ein bekanntes Beispiel dafür ist das sog. „Philadelphia-Chromosom“, das bei einer chronisch-myeloischen Leukämie gefunden wurde. Einige Oncogene sind in Tabelle 14.5 aufgeführt. Ein wichtiges Beispiel für Oncogene ist RAS. In Säugern sind drei verschiedene Typen des RAS-Gens bekannt (H-ras, Ki-ras und N-ras). Insgesamt werden vier verschiedene Ras-Proteine gebildet, da durch differenzielles Splicing zwei Transkripte des Ki-rasGens entstehen, die für zwei unterschiedliche Proteine kodieren. Das H-ras-Oncogen kodiert ein 189 Aminosäuren langes Protein mit einem Molekulargewicht von Mr= 21 000, das p21ras-Protein. In Blasencarzinomzellen ist dieses Protein in einer einzigen Aminosäure in der Position 12 verändert: An der Stelle eines Glycin ist ein Valin zu finden. Diese Aminosäureveränderung wird durch eine Basenveränderung (Transversion) im Codon 12 von GGC nach GTC verursacht. Durch die Expression zellulärer Gene aus Carzinomzellen in Zellkulturen (von sogenannten präneoblastischen Zellen, also Zellen, die nicht von einem Tumor abstammen) konnten Robert Weinberg und Mitarbeiter zeigen, dass das zelluläre ras-Oncogen (mit einem Valin in der Aminosäureposition 12) eine carcinogene Wirkung besitzt (McCoy et al. 1984). Erwartungsgemäß war das proto-ras-Gen,
14.4.1 Gene und Krebs Eine Krebszelle unterscheidet sich von einer „normalen“ Zelle durch ihre unbegrenzte Teilungsfähigkeit (unabhängig von Wachstumsfaktoren; Fehlen von Wachstumsbegrenzungen wie z. B. Kontaktinhibition). Krebsgewebe hat die Fähigkeit, in gesundes Gewebe einzuwandern und eine neue Kolonie außerhalb des ursprünglichen Gewebeverbandes zu gründen (Metastasierung). Ursachen dafür sind Mutationen, die bestimmte Signalwege an- oder ausschalten. Mutationen können die Körperzellen und die Keimzellen betreffen; die entsprechenden Tumore unterscheiden sich im Zeitpunkt ihres Auftretens. Es können drei Gruppen von Genen unterschieden werden: Oncogene, Tumorsuppressorgene und Mutatorgene.
14.4 Komplexe Erkrankungen
Tabelle 14.5.
Beispiele für Oncogene
ProtoOncogen
Retrovirus
Tumor
Protein
Zelluläre Lokalisation
src abl ros erb-B1 erb-B2 (=neu) trk mos ret
Chicken sarcoma Mouse Leukemia Chicken Sarcoma Chicken Leukemia
Colon-Carcinom Menschl. myelogene Leukämie Astrocytoma Menschl. Squamosazellcarcinom Menschl. Adenocarcinom, Brust, Ovar, Darm Thyreoidea-Carcinom Leukämie (Maus) Thyreoidea-Carcinom
Tyrosinkinase Tyrosinkinase Tyrosinkinase Tyrosinkinase Tyrosinkinase
Transmembranprotein membranassoziiert Transmembranprotein Transmembranprotein Transmembranprotein
Tyrosinkinase Serin/Threoninkinase Tyrosinkinase
Transmembranprotein Cytoplasma Transmembranprotein
sis
Monkey Sarcoma
Leukämie, Lymphom
Wachstumsfaktor/ Rezeptorligand PDGF B-Kette Wachstumsfaktor? FGF-verwandter Wachstumsfaktor FGF-verwandter Wachstumsfaktor
Mouse Sarcoma
int-1 int-2 hst (KS3)
Mamma-Carcinom (Maus)
Magenkrebs
Ha-ras
Rat Sarcoma
Ki-ras
Rat Sarcoma
N-ras gsp gip
Menschl. Carcinom Lunge, Pankreas, Melanom Menschl. Thyreoidea-Carcinom, Melanom Akute myelo. Leukämie, Sarcom Carcinom Genitaltrakt, Thyrea, Melanom Thyreoidea-Carcinom, Adenom Zirbeldrüse Carcinom Ovar und Nebennierenrinde
fos
Mouse Sarcoma
Osteosarkom
myc
Chicken Leukemia
Menschl. Lymphoma Lunge, Brust, Cervix Menschl. Lungencarcinom
L-myc N-myc myb erb-A
Chicken Leukemia Chicken Leukemia
Nach Bishop (1991)
Menschl. Neuroblastom, Lungencarcinom Menschl. Leukämie Hypophysenadenom
Sekret
G-Protein-ähnlich
Plasmamembran
G-Protein-ähnlich
Plasmamembran
G-Protein-ähnlich
Plasmamembran
Gs α Gi α Transkriptionsfaktor AP-1 mit c-jun Zn-Finger, Leucine-Zipper Transkriptionsfaktor HLH Zn-Finger, Leucine-Zipper Transkriptionsfaktor HLH Zn-Finger, Leucine-Zipper Transkriptionsfaktor HLH Zn-Finger, Leucine-Zipper Transkriptionsfaktor Thyroidhormonrezeptor (T3)
Zellkern Zellkern Zellkern Zellkern
Zellkern Zellkern Zellkern
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Kapitel 14: Das menschliche Genom – Grundlagen menschlicher Vererbung
welches in den normalen Zellen desselben Krebspatienten vorhanden war, in einem solchen Test nicht carcinogen. Wir müssen daraus schließen, dass zelluläre Oncogene, d. h. mutierte Allele der Protooncogene, zur Entstehung bösartiger (maligner) Tumoren beitragen. Das normale Ras-Protein ist membrangebunden und besitzt sowohl GTP-/GDP-Bindungsaktivität als auch GTPase-Aktivität. Seine Aufgabe ist es, durch Wachstumsfaktoren an der Zelloberfläche ausgelöste Proliferationssignale in das Zellinnere zu übertragen. Dabei wird es durch extrazelluläre Signale von einer GDP-bindenden inaktiven Konformation in eine signalübertragende GTP-bindende Konformation überführt. Die aktive Konformation wird durch die im Ras-Protein enthaltene GTPase-Aktivität wieder in die inaktive Form umgewandelt. Diese Autotermination der Signaltransduktion wird durch die Mutation der Aminosäure 12 gestört, so dass Ras-Onkoproteine (mit Valin in Aminosäureposition 12) eine gesteigerte Signaltransduktions-Eigenschaft aufweisen. Das erklärt die hohe Proliferationsrate der betroffenen Zellen. Mutiertes p21ras-Protein hat man nicht nur im Falle des Blasencarcinoms, das besonders häufig bei Arbeitern in Asbestfabriken auftrat, gefunden. Auch in anderen Tumorzellen, beispielsweise von Lungen- oder Darmcarcinomen (Coloncarcinom) wird es beobachtet. Eine cancerogene Wirkung übt nicht nur das mutierte zelluläre Oncogen aus. Vielmehr ist diese krebsinduzierende Wirkung schon seit langem von den entsprechenden viralen ras-Oncogenen im Harvey-Murine-SarcomaVirus (Harvey MSV) und im Kirsten-Murine-Sarcoma-Virus (Kirsten MSV) bekannt. Auch in diesen beiden Fällen ist das virale ras-Oncogen in der Aminosäureposition 12 mutiert (im H-ras von Glycin zu Arginin, im Ki-ras von Glycin zu Serin). In anderen Carcinomen hat man auch Mutationen in anderen Proteindomänen gefunden, die sich jedoch jeweils auf die Aminosäurepositionen 12–16, 59–63 und 116–119 beschränken. Offenbar handelt es sich hierbei um funktionell besonders wichtige Domänen des p21rasProteins.
haben die mutierten Allele diese Funktion verloren. Es müssen in der Regel beide Allele inaktiviert sein, um das Verhalten der Zelle zu verändern (rezessiv). Ein wichtiges Charakteristikum für die Funktion von Tumorsuppressorgenen ist der Verlust der Heterozygotie im Krebsgewebe (meist durch Deletion eines größeren DNA-Abschnitts einschließlich des Tumorsuppressorgens selbst). Ein sehr gut untersuchtes Beispiel hierfür ist das Retinoblastom (OMIM 180200), ein Tumor der Retina des menschlichen Auges (Abb. 14.36). Es handelt sich um eine autosomale Erbkrankheit mit einer Häufigkeit von 2 × 10–4. Das Retinoblastomagen (engl. retinoblastoma gene, RB1) wurde im Chromosom 13 des Menschen in der Bande
Tumorsuppressorgene Die Produkte von Tumorsuppressorgenen hemmen die Zellproliferation.Bei manchen Krebserkrankungen
Abb. 14.36 a,b. Retinoblastom. a Auge eines Patienten. b Die Retina zeigt den sich ausbreitenden Tumor. (Aus Tariverdian u. Buselmaier 2004)
14.4 Komplexe Erkrankungen
13q14 lokalisiert. Der Erbgang des Retinoblastoms wird zwar als dominant bezeichnet, jedoch kommt es nur bei einer Mutation in beiden Allelen des Gens in derselben Zelle zur Tumorbildung, so dass der Dominanzbegriff hier eigentlich nicht korrekt angewendet wird. In Wirklichkeit handelt es sich um eine rezessive Mutation. Da dennoch bei etwa 90% der Träger Tumoren entstehen, lässt sich die Anwendung des Dominanzbegriffes aus der medizinischen Praxis rechtfertigen. Die Ursache für diese hohe Ausprägungsrate einer eigentlich rezessiven Mutation liegt darin, dass die Mutationsrate des zweiten, ursprünglich normalen Allels sehr hoch ist, so dass der größte Teil der Träger der Erbkrankheit diese schließlich auch zur Ausprägung bringt. Das RB1-Gen kodiert ein Protein (p110RB1) eines Molekulargewichtes von Mr= 110 000 (928 Aminosäuren). Es handelt sich um ein besonders großes Gen, das sich über 150 kb der DNA erstreckt und 27 Exons enthält. Wie bereits beschrieben, ist bei Individuen, die Träger einer heterozygoten Mutation dieses Proteins sind, mit einer Wahrscheinlichkeit von über 90% zu erwarten, dass in einigen somatischen Zellen eine weitere Mutation im noch funktionsfähigen Allel auftritt, die dann zur Ausbildung eines Tumors führt. Solche Tumoren sind nicht, wie der Name der Erbkrankheit suggeriert, auf das Auge beschränkt, sondern können sich auch in anderen Geweben bilden. Beispielsweise sind oft sekundär Osteosarcome (Knochentumore) oder Fibrosarcome zu beobachten. Ganz allgemein muss daher die Heterozygotie des RB1-Gens als eine Prädisposition für Tumoren angesehen werden. Wie aber ist die Funktion des p110RB1-Proteins im Zusammenhang mit der Tumorentstehung zu verstehen? Ganz offensichtlich bilden sich Tumoren erst bei Ausfall des funktionsfähigen Genproduktes (Abb. 14.37). Das RB1-Gen wurde daher auch als Tumorsuppressorgen bezeichnet, obgleich dieser Name seiner Funktion nicht gerecht wird (Tabelle 14.6). Die Untersuchung der Eigenschaften und der Expression des p110RB1-Proteins zeigten, dass es sich um ein nukleäres Phosphoprotein handelt, das in allen normal proliferierenden Zellen synthetisiert wird. Der Phosphorylierungszustand des Proteins ist während der G1-Phase und in G0-Zellen niedrig, in der späten G1- und der S-Phase dagegen erhöht. Dieses Verhalten erinnert uns stark an das zellzyklusregulierender Proteine (s. S. 209). Wie bereits zuvor besprochen, spielt in der Regulation
Tabelle 14.6. Tumorsupressorgene Ataxia teleangiectasia (Luis-Bahr-Syndrom)
11q22-q23
ATM
Brust- und Ovarialkrebs
13q12-q13
BRCA1
Brustkrebs
17q13
BRCA2
Wilm’s Tumor
11p13
WT1
Li-Fraumeni-Syndrom
17p13
TP53
Neurofibromatose I (v. Recklinhausensche Krankheit)
17q12-q22
NF1
Neurofibromatose II
22q12.2
NF2
Polyposis intestinalis I (Familiäre Adenomatöse Polypose, FAP)
5q21
APS
Melanom, malignes
9p21
CDKN2
des Zellzyklus insbesondere der Übergang zur SPhase (s. Abb. 6.14) eine Rolle. Dieser Zeitpunkt wird durch eine Phosphokinase, das p34cdc2-Protein, kontrolliert (Abb. 6.40). Eine Möglichkeit der Funktion des p110RB1-Proteins besteht in der Kontrolle des Überganges zwischen G1- (oder G0-) Phase und SPhase. Durch die Phosphorylierung könnte das p110RB1-Protein inaktiviert und dadurch der Übergang in die S-Phase induziert werden. Außerdem sind Funktionen in der Regulation der Transkription von Genen in Erwägung gezogen worden, deren Produkte beim Überschreiten des Restriktionspunktes, und damit beim Übergang zur S-Phase, erforderlich sind. Hierfür spricht nicht nur die beobachtete Interaktion des p110RB1-Proteins mit Transkriptionsfaktoren, sondern auch mit Proteinen transformierender Viren wie Adenovirus, Polyomavirus oder SV40. Die zellzyklusregulierende Funktion von p110RB1 ist plausibel, wenn man annimmt, dass dieses Protein im funktionellen Zustand ein Festhalten der Zelle in der G1- (oder G0-) Phase zur Aufgabe hat. Eine Mutation zur Funktionsunfähigkeit würde damit den Übergang in die S-Phase und damit die Proliferationsfähigkeit der Zelle freigeben und zur Tumorentstehung führen. Diese Interpretation muss jedoch sicherlich verfeinert werden,da
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Kapitel 14: Das menschliche Genom – Grundlagen menschlicher Vererbung
man bei einer so allgemeinen zellulären Funktion des RB1-Gens eine generelle Disposition für Tumoren in allen Geweben erwarten würden. Im Gegensatz hierzu sind jedoch Tumoren gerade in schnellproliferierenden Zellen wie denen des hämatopoietischen Systems, die eine normale Expression des RB1-Gens zeigen, nicht beobachtet worden. Man muss daher annehmen, dass zusätzliche gewebespezifische Faktoren die Funktion des p110RB1-Proteins beeinflussen. ! Tumoren können genetisch prädisponiert sein und durch somatische Mutation zur Ausbildung kommen. Ein Beispiel ist die heterozygote Konstitution des Retinoblastomgens. Weitere (somatische) Mutationen im normalen Allel erfolgen mit so großer Häufigkeit, dass 90 % der Heterozygoten ein Retinoblastom entwickeln.
Ein zweites wichtiges Beispiel eines Tumorsuppressorgens kodiert für das p53-Protein. Das zugehörige Gen, TP53, liegt in der Genomposition 17p13. Homozygote Mutationen führen zum Li-Fraumeni-Syndrom (OMIM 151623). In den betroffenen Familien treten bereits in einem niedrigen Lebensalter mehrfache primäre Tumoren auf, so unter anderem Brustkrebs, Gehirntumoren, Osteosarkoma und Leukämie. Die molekulare Analyse hat gezeigt, dass bereits eine Veränderung der
Dosis von p53-Protein zur Tumorbildung führen kann. In diesem Fall manifestiert sich eine Mutation als dominant, obgleich das Li-Fraumeni-Syndrom allgemein als rezessiv angesehen wird. Bei dem p53-Protein handelt es sich um einen Transkriptionsfaktor, der als Homotetramer an DNA bindet und die Transkription von Genen induzieren kann, die unter seiner Kontrolle stehen. Das 393 Aminosäuren lange Protein hat aber – ähnlich wie RB1 (Abb. 6.40, Kap. 6.3.7) – eine Schlüsselfunktion in der Zellzykluskontrolle am Übergang von der G1 zur SPhase. Eine der Funktionen des p53-Proteins liegt in der Aufgabe, die DNA-Replikation zu verhindern, wenn die DNA Schäden aufweist. Die Replikation wird erst nach Reparatur dieser Schäden freigegeben oder es kommt – bei zu großen Schäden – zur Apoptose. Bei Deletion des TP53-Gens (oder einer loss-offunction-Mutation) wird die DNA jedoch ungehindert repliziert. Als Folge davon kommt es zu Mutationen, die unter anderem wiederum oncogenen Charakter haben können. Die Funktion von p53 ist also sehr komplex. Studien des Proteins an knockout-Mäusen waren nur begrenzt informativ. Die Therapie von p53-induzierten Tumoren erweist sich als besonders problematisch, da herkömmliche Chemotherapien im Allgemeinen hochmutagene Effekte haben. Durch Ausfall der DNA-Reparaturkontrolle bei p53-Mutation werden daher die Auswirkungen von Mutationen noch verstärkt und können damit erst recht zu tumorinduzierenden Neumutatio-
Chromosomen der Eltern: +
Rb
+
Rb +
F1 (heterozygot) Rb somatische Mitosen Rb somatische Mutation: Homozygotie Rb
Abb. 14.37. Genetik des Retinoblastoms. Das Gen (Rb) liegt im langen Arm von Chromosom 13 des Menschen. (Das Symbol ist jeweils nur bei einer Chromatide angegeben). In heterozygoten Nachkommen von Eltern, bei denen ein Partner ein defektes Allel trägt, kommt es in somatischen Zellen zu Mutationen des normalen Allels, so dass in den Tochterzellen der mutierten Zelle das Retinoblastomgen homozygot defekt ist. Diese Zellen entwickeln sich zu Tumoren. Der Tumor wird somit im Allgemeinen nicht direkt vererbt, sondern lediglich die Veranlagung zur Ausbildung eines Tumors
14.4 Komplexe Erkrankungen
nen führen. Es zeigt sich in diesem Fall, dass schon die Kenntnis der molekularen Bedeutung eines Genproduktes Hinweise auf die Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßigkeit von Therapieansätzen geben kann. Beim Li-Fraumeni-Syndrom ist der Einsatz einer Chemotherapie offensichtlich unzweckmäßig. Auch präventive Röntgenuntersuchungen (z. B. durch Mammographie) sollten vermieden werden, da sie durch die hohe Mutationsfähigkeit durch Ausfall des DNA-Reparatursystems leicht zu tumorinduzierenden Mutationen führen können. Es ist in den letzten Jahren erkannt worden, dass genetisch programmierter Zelltod (Apoptosis) eine wichtige Rolle beim Schutz des Organismus vor Tumorerkrankungen spielt. Das p53-Protein ist eines der wichtigen Kontrollproteine, die normalerweise dafür sorgen, dass defekte Zellen einem kontrollierten Zelltod unterliegen. Bei seiner Abwesenheit entfällt dieser Kontrollmechnismus, und die Zellen können sich durch den Ausfall der Replikationskontrolle zu Tumorzellen entwickeln. ! Das Tumorsuppressorgen TP53 ist an der Kontrolle des Zellzyklus beteiligt. Bei Ausfall der normalen Funktion unterbleibt die Kontrolle auf DNA-Schäden und es wird keine Apoptose eingeleitet, so dass es zur unkontrollierten Proliferation von Zellen und zur Tumorbildung kommt.
Ein weiteres Beispiel hierfür sind die Gene, deren Defekte mit Brustkrebs (OMIM 114480) korreliert sind, BRCA1 und BRCA2. Es war bereits länger bekannt, dass in einigen Familien eine Häufung abnormal früher Brustkrebsfälle auftrat. Die statistische Untersuchung einer großen Anzahl solcher Familien hat ergeben, dass insgesamt nicht viel mehr als 5% aller Fälle von Brustkrebs durch genetische Faktoren bestimmt sind. Es gelang, eines der verantwortlichen Gene, BRCA1, in 17q21 zu lokalisieren. Etwa die Hälfte der Familien mit monogenischem frühen Brustkrebs haben ein defektes BRCA1Gen. Allerdings scheint dieses Gen für etwa 80–90% der Fälle verantwortlich zu sein, in denen gleichzeitig frühe Ovarialtumoren und früher Brustkrebs familiär gehäuft auftreten. Im Chromosom 13 wurde etwa gleichzeitig ein zweites Gen, BRCA2 (Lokalisation 13q12) entdeckt, dessen Mutation zu frühem Brustkrebs führt.
Mutatorgene Als Mutatorgene bezeichnet man solche Gene, die zu Veränderungen in der DNA-Replikation (Kap. 2.2) oder der Reparatur der DNA (Kap. 10.5) führen können. Mutationen in Mutatorgenen sind rezessiv erblich, und es besteht ebenfalls ein „Zwei-TrefferMechanismus“. Eine seltene erbliche Krankheit, das Xeroderma pigmentosum, beruht auf erblichen Defekten im UV-Reparatursystem (Abb. 14.38). Sie ist autosomal-rezessiv. Patienten mit dieser Krankheit sind hochgradig empfindlich gegen Sonnenlicht oder andere Formen von UV-Bestrahlung. Es entstehen bei ihnen mit hoher Frequenz Hauttumoren an exponierten Körperregionen wie Gesicht oder Händen. Außerdem zeigen sie neben abnormaler Pigmentierung weitere Krankheitssymptome wie etwa neurale Degeneration und mentale Retardation, deren Bezug zu Defekten in den DNA-Reparatursystemen weniger offensichtlich ist. Diese Krankheit ist bei verschiedenen Individuen nicht notwendigerweise auf den gleichen Defekt im UV-Reparatursystem zurückzuführen. Vielmehr sind mittlerweile bereits acht verschiedene Gene (bezeichnet als Komplementa-
Abb. 14.38. Patient mit Xeroderma pigmentosum. (Aus Vogel u. Motulsky 1996)
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tionsgruppen XP-A bis XP-G sowie Komplementationsgruppe XP-V) bekannt, deren Mutation zu einem Xerodermaphänotyp führen kann. Der Xerodermaphänotyp lässt sich Mutationen in zwei unterschiedlichen Reparaturwegen zuordnen, der Nukleotid-Exzisionsreparatur (GG-NER) (Abb. 10.42) (Gene XP-A bis XP-G) und der transkriptionsabhängigen Nukleotid-Exzisionsreparatur (TC-NER) (Gen XP-V). Die Gene der Gruppe XP-A bis XP-G kodieren für Komponenten des GG-NER und schließen eine Gruppe von Helikasen ein, die für Einzelstrangschnitte in der DNA erforderlich sind, die schließlich zur Entfernung von Thymindimeren führt. Außer XP-C sind sie sowohl bei der GG-NER als auch bei der TC-NER erforderlich. Das Gen XP-V kodiert die DNA-Polymerase η. Es gibt darüber hinaus noch andere Erbkrankheiten, die ihre Ursache ebenfalls in Defekten in DNA-Reparatursystemen haben, beispielsweise das seltene Cockayne’s Syndrom. Diese Krankheit zeigt einige Symptome, die auch bei Xeroderma sichtbar werden, z. B. Defekte im Nervensystem und mentale Retardation, aber auch Tremor, Augenlinsentrübungen und Gehörstörungen. Für diese Krankheit hat man zwei Komplementationsgruppen, CS-A und CS-B identifiziert, die ebenfalls für Proteine mit Helikasefunktionen kodieren. Diese Enzyme zeigen enge Verwandtschaft zu den von E. coli bekannten Reparaturenzymen des Uvr-Systems. Es wird angenommen, dass sie Funktionen in der Zelle wahrnehmen, die über die in der NER hinausgehen. ! Genetische Defekte in den UV-Reparatursyste-
men führen unter anderem zur Entstehung von Hauttumoren in Körperregionen, die einer UV-Bestrahlung ausgesetzt werden.
Diese Beispiele lassen uns einige wesentliche Gesichtspunkte der Tumorbildung zusammenfassen: • Tumoren sind auf die Fehlfunktion von Genen zurückzuführen, die wichtige zentrale Aufgaben im Zellstoffwechsel haben. Oft handelt es sich um Gene, deren Produkte für die Regulation des Zellzyklus, der Proliferationsfähigkeit oder der Differenzierung von Zellen erforderlich sind. • Fehlfunktionen in Oncogenen oder Tumorsuppressorgenen entstehen durch Mutation. • Als tumorverursachende Mutationen sind nicht nur der Ausfall oder die strukturelle Veränderung
eines Proteins anzusehen, sondern sie können auch durch fehlerhafte Regulation (Überproduktion, konstitutive Proteinsynthese in Zellen, in denen ein Gen normalerweise inaktiv ist), durch überzählige Genkopien, die durch Retroviren in die Zelle eingeführt werden, oder auch durch Translokation in den Funktionsbereich anderer Gene verursacht werden. Generell kommen somit alle Arten von Mutationen als mögliche Ursachen für die Tumorinduktion in Betracht. Die hohen spontanen Mutationsraten, denen jede einzelne Zelle unterworfen ist, erklären auch, warum mit steigendem Lebensalter die Gefahr der Tumorentstehung größer wird: Die Effektivität der Reperatursysteme sinkt mit steigendem Lebensalter, so dass damit die Gefahr einer unkorrigiert verbleibenden Mutation essentieller Gene erhöht wird. ! Es sind eine Anzahl von Genen identifiziert wor-
den, deren Deletion oder Mutation zur Tumorbildung führt. Als Folge kann es zu erblicher Prädisposition für die Ausbildung bestimmter Tumoren kommen. Diese entstehen jedoch in vielen Fällen erst in Kombination mit auslösenden Umweltfaktoren.
14.4.2 Asthma Asthma (OMIM 600807) ist eine chronische Entzündung und Überempfindlichkeit der (oberen) Atemwege mit wiederholten Anfällen von Atemnot, Husten und Kurzatmigkeit. Ursache ist eine krankhafte Reaktion der Atemwegsschleimhaut auf verschiedene Reize. Asthma bronchiale betrifft alle Altersklassen. Mit zehn Prozent sind jedoch Kinder unter zehn Jahren – vorwiegend Jungen – besonders stark vertreten. Es ist die häufigste chronische Erkrankung im Kindesalter. Bei erwachsenen Asthmakranken sind Frauen in der Überzahl. Die Gesamthäufigkeit in der Bevölkerung beträgt etwa 3,8%; die Häufigkeit unter Verwandten 1. Grades ist höher (9,8%). Bei einem Asthmaanfall schwillt die schon entzündlich gereizte Bronchialschleimhaut an. Eine oftmals vermehrte, zähe Schleimproduktion verengt die Atemwege weiter. Zudem zieht sich die Muskulatur der kleineren Atemwege (Bronchien und Bronchiolen) krampfartig zusammen. Durch diese Vorgänge wird
14.4 Komplexe Erkrankungen
die Atmung, vor allem die Ausatmung, erschwert und damit die Sauerstoffversorgung der Lunge verschlechtert. Viele Asthmafälle werden durch spezifische äußere Reize wie Pollen, Staub, Tierhaare, Schimmel und einige Lebensmittel (Allergene) hervorgerufen. Auch Infektionen der Atemwege führen unter Umständen zu Asthma. Ein großer Teil der Patienten leidet unter Belastungsasthma, das nach körperlicher Anstrengung auftritt und zusätzlich durch unspezifische Reize (zum Beispiel kalte, trockene Atemluft, Rauch, Parfüms, Staub, Abgase) ausgelöst werden kann. Asthma ist damit ein klassisches Beispiel für eine komplexe Erkrankung (Abb. 14.39). Die Entzündung ist durch die Freisetzung von Mediatoren gekennzeichnet (u. a. Histamine, Proteasen, Leukotriene und Cytokine) und mit Verletzungen des Epithels, Veränderungen der Permeabilität und Übersekretion von Schleim verbunden. Sie führen schließlich zu einer erhöhten bronchospastischen Antwort auf verschiedene chemische (Staub, Allergene) oder physikalische Reize (Kälte). Asthma ist oft verbunden mit erhöhtem IgE-Spiegel im Serum und der Prädisposition für andere atopische Erkrankungen (Heuschnupfen, Neurodermitis). Die ersten systematischen Untersuchungen zur Genetik von Asthmaerkrankungen wurden schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts publiziert (Cooke u. van der Veer 1916). Die Erblichkeit wird nur innerhalb einer gewissen Bandbreite zwischen 36 und 72% angegeben; auch die Konkordanz zwischen eineiigen Zwillingen ist nicht 100%. Dennoch haben genomweite Untersuchungen für Asthmagene Kopplungen
mit bestimmten Bereichen auf einigen Chromosomen ergeben (Abb. 14.40). In einer Asthmastudie mit 460 Kaukasiern in Großbritannien und den USA wurde das erste Gen direkt mit Asthma und bronchialer Überreaktion assoziiert (van Eerdewegh et al. 2002). Dazu wurden zunächst Geschwisterpaare untersucht, die neben Asthma auch an bronchialer Überreaktion leiden oder erhöhten Serum-Spiegel von IgE aufweisen. LOD-Werte von knapp 4 deuteten auf die Region 20p13 – die kritische Region umfasst aber immerhin 4,3 cM. Durch eine Analyse von 135 Basenaustauschen (engl. single nucleotide polymorphisms, SNPs) in 23 Genen (was 90% der kritischen Region entsprach) wurde ADAM33 als das Gen mit dem höchsten Assoziationsgrad identifiziert. Da möglicherweise eine Kombination bestimmter SNPs das Risiko für eine Asthma-Erkrankung erhöht, wurden entsprechende Haplotypen erstellt und mit einer Kontrolle von 2000 Gesunden verglichen. Insgesamt 14 Haplotypen ergaben dabei eine hohe oder sehr hohe Signifikanz. Das ADAM33-Gen und seine SNPs sind in Abb. 14.41 dargestellt. ADAM33 gehört zur Familie von membrangebundenen Metalloproteasen (engl. a disintegrin and metalloprotease domain). Die ADAM-Proteine waren zunächst als Zelloberflächenproteine identifiziert worden. Sie haben aber auch Funktionen in der Zelladhäsion, in der Weitergabe zellulärer Signale und in der Proteolyse. Die Expression von ADAM33 in Fibroblasten der Lunge und Muskelzellen der Bronchien (aber nicht in Epithelzellen der Bronchien) unterstützen ebenfalls seine Rolle bei Asthma. Insbesondere die Kombination einzelner Basenaustausche ist mit Asthma hoch signifikant assoziiert. Weitere positive Assoziationen zwischen Asthma und anderen Kandidatengenen sind in der Tabelle 14.7 aufgelistet. ! Asthma ist eine chronische Entzündung und
Abb. 14.39. Asthma als komplexe Erkrankung. Asthma ist eine komplexe Erkrankung, die das Ergebnis eines Wechselspiels zwischen verschiedenen Suszeptibilitätsgenen und umweltbedingten Auslösefaktoren darstellt. Es ist eine aktuelle Aufgabe der Genetik, die Suszeptibilitätsgene zu identifizieren, um so das Asthmarisiko verschiedener Genotypen zu erkennen. (Nach Whittaker 2003)
Überempfindlichkeit der oberen Atemwege, die häufig durch äußere Reize hervorgerufen wird. Wie für komplexe Erkrankungen typisch, werden mehrere chromosomale Regionen für beteiligte Gene diskutiert. Ein erstes Asthmagen ist ADAM33, das für eine membrangebundene Metalloprotease kodiert.
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Kapitel 14: Das menschliche Genom – Grundlagen menschlicher Vererbung Abb. 14.40 a,b. Kandidatenregionen für Asthmagene. Es werden genomweite Untersuchungen durchgeführt, um die chromosomalen Regionen zu identifizieren, die Suszeptibilitätsgene enthalten. a In dem dargestellten Beispiel erben alle Patienten (schwarze Symbole) denselben DNA-Marker (rote Bande) vom Großvater (Familienmitglied 2). Das bedeutet, dass der Marker genetisch mit dem Suszeptibilitätsgen gekoppelt ist. Da die chromosomale Position des Markers bekannt ist, ist damit auch das Suszeptibilitätsgen innerhalb einer spezifischen chromosomalen Region lokalisiert. b In 16 genomweiten Reihenuntersuchungen auf Suszeptibilitätsgene für Asthma (oder verwandte Erkrankungen) wurden in 12 verschiedenen Populationen hunderte verschiedener Marker verwendet, die gleichmäßig über alle Chromosomen verteilt sind. Dabei wurden etwa 20 verschiedene chromosomale Regionen identifiziert (rote Kreise). (Nach Whittaker 2003)
Tabelle 14.7.
Asthma-assoziierte Gene
Chromosom
Gen
Genetische Variation
5q23
IL-4
–590C/T
5q31
b2AR
Arg16Gly
6p21.3
HLA-DRB1
HLA-DRB1*0
8p22
NAT2
NAT2*5
12q24.22
NNOS
NNOS-Exon2
16p12.1
IL-4Ra
Ile50Val;Gln576Arg
Nach Hakonarson u. Halapi (2002)
14.4.3 Diabetes Unter normalen physiologischen Bedingungen führt der Eintritt von Glukose in die β-Zellen des Pankreas zur Sekretion von Insulin. Das abgegebene Insulin wird über das Blut zu den peripheren Geweben transportiert, wo es an die Insulin-Rezeptoren bindet. Die Insulin-Rezeptoren gehören zur Klasse der Tyrosinkinasen und setzen eine Kaskade biochemischer Prozesse in Gang, die am Ende die Aufnahme von Glukose durch die Zelle bewirken und seine Umwandlung in Energie oder in die Speicherform Glykogen (Abb. 14.42). Die dauerhafte Erhöhung des Blutzuckerspiegels ist dagegen eine Krankheitsform und wird als Diabetes bezeichnet. Sie ist in der Bevölkerung der westlichen Welt eine wichtige Ursache
14.4 Komplexe Erkrankungen
Abb. 14.41a–c. Das Asthmagen ADAM33. a Es sind die genomischen Strukturen gezeigt, die das ADAM33-Gen flankieren (Balken: 15 kb). b Die Intron-Exon-Strukturen des Gens ADAM33 sind gezeigt; oberhalb des Gens sind die identifizierten SNPs angegeben. Die Kombinationen ST + 4/ V-3 und ST + 4/ V-2 zeigen die höchste Signifikanz für eine Assoziation
mit Asthma (P = 0,00004; Balken: 1 kb). c Die Domänen-Struktur des ADAM33-Proteins sowie die Lokalisation von SNPs in der kodierenden Region und der 3’-UTR der mRNA sind gezeigt; die Größe der Exons ist in Basenpaaren (bp) angegeben. (Nach Van Eerdewegh et al. 2002)
von Herzinfarkt, Schlaganfall, Nierenversagen, Gefäßschäden und Blindheit. Klinisch unterscheidet man verschiedene Formen (OMIM zeigt über 370 Einträge zu diesem Stichwort!), die aber im Wesentlichen zwei Grundtypen zugeordnet werden können: • Typ I ist insulinabhängig und tritt meist im Adoleszenzalter auf (0,2–0,3% der Gesamtbevölkerung, 5–10% aller Diabetesformen, OMIM 222100); • Typ II (2–5% der Gesamtbevölkerung, 90–95% aller Diabetesfälle, OMIM 125853) ist nicht von Insulin abhängig und tritt meist in späterem Alter auf (leichtere Verlaufsform).
dominanten Erbgang und ist für etwa 1–2% der Fälle von Diabetes verantwortlich. Die andere Form kann als „Schwangerschaftsdiabetes“ bezeichnet werden: Etwa 1–3% der Frauen zeigen während der Schwangerschaft eine Glukoseintoleranz; die meisten davon (90%) entwickeln später Diabetes mellitus. Typ-I-Diabetes wird durch eine Unfähigkeit zur Insulinproduktion aufgrund der Zerstörung der β-Zellen des Pankreas verursacht. Die genetische Analyse dieses Typs gestaltete sich lange Zeit sehr schwierig und hat viel dazu beigetragen, Diabetes als den „Alptraum der Genetiker“ zu bezeichnen; sogar die Konkordanz unter eineiigen Zwillingen ist mit 40–50% relativ gering. In den letzten Jahren haben sich allerdings die Hinweise verdichtet, dass es sich beim Diabetes Typ I im Wesentlichen um eine Autoimmunerkrankung handelt (Abb. 14.43). Die Hinweise dazu kamen aus drei Quellen: Die Anwesenheit entzündlicher Infiltrate in den Langerhans’schen Inseln, der Kopplung an den Haupthistokompatibili-
Weiterhin können von diesen beiden Grundtypen noch zwei weitere Formen abgegrenzt werden. Die eine wird als „MODY-Diabetes“ bezeichnet (engl. maturity-onset diabetes of youth; OMIM 125850), weil diese Form meist vor Anfang des 20. Lebensjahres auftritt. MODY folgt übrigens einem autosomal-
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Kapitel 14: Das menschliche Genom – Grundlagen menschlicher Vererbung
täts-Komplex (engl. major histocompatibility complex, MHC) und der Anwesenheit von Autoantikörpern, die mit Autoantigenen der Langerhans’schen Inseln reagieren. Der Haupthistokompatibilitätskomplex wird bei Menschen als humaner Leukocyten-Antigen-Komplex bezeichnet (engl. human leucocyte antigen complex, HLA). Der Genort auf dem Chromosom 6 enthält über 200 Gene, die die Proteine der HLA-Klassen I und II kodieren. Die Hauptaufgabe der HLA-Proteine ist die Präsentation von Peptiden als Antigene für die entsprechenden Rezeptoren auf CD4+- und CD8+-T-Zellen. Die Moleküle der Klasse I werden in den meisten kernhaltigen Zellen exprimiert und von den Genorten HLA-A, -B oder -C kodiert. Die KlasseII-Proteine werden meistens in Antigen-präsentierenden Zellen gefunden (z. B. Makrophagen und dendritische Zellen) und von den Genorten HLA-DP, -DQ und -DR kodiert. Die Gene für beide Klassen zeigen einen hohen Grad an Polymorphismen und entsprechend viele Allele. Im Typ-I-Diabetes konnten
nun ganz deutlich Risiko-Patienten von NichtrisikoPatienten aufgrund spezifischer HLA-Allel-Kombinationen (Haplotypen) unterschieden werden. Die deutlichste Kopplung ergab sich dabei zu den DQ und DR-Gruppen der HLA-II-Klasse. Unter den Autoantigenen ragen drei in besonderer Weise heraus: Das erste ist eine Isoform der Glutaminsäure-Decarboxylase (GAD65). Dieses Enzym besteht aus 585 Aminosäuren und hat ein Molekulargewicht von 65 kDa; das entsprechende Gen ist auf dem Chromosom 10 (10p11) lokalisiert. Etwa 60–80 % der neu diagnostizierten Typ-I-Diabetiker besitzen Autoantikörper gegen dieses Enzym, die überwiegend gegen bestimmte Oberflächenstrukturen (Epitope) des mittleren und C-terminalen Bereichs des Enzyms gerichtet sind. Das zweite wichtige Autoantigen gehört zur Familie der membrangebundenen Protein-Tyrosin-Phosphatasen und wird als IA-2 oder ICA512 bezeichnet. Es besteht aus 979 Aminosäuren, die zu einem Molekulargewicht von 106 kDa führen; das Gen ist auf
Abb. 14.42. Die Insulin-Wirkung. Durch den Glukosetransporter (GLUT2) wird Glukose in die β-Zellen eingeschleust und durch die Glykolyse ATP generiert. Dies bewirkt das Schließen des ATP-sensitiven K+-Kanals, eine Depolarisation der Plasmamembran und die Öffnung des spannungsabhängigen Ca2+Kanals. Der Einstrom von Ca2+ führt zur Freisetzung von Insulin, das durch den Blutstrom zu den verschiedenen Zellen des gesamten Körpers transportiert wird, wo es an den InsulinRezeptor bindet. Dies bewirkt eine Autophosphorylierung des Insulin-Rezeptors und die Phosphorylierung von TyrosinResten einer Vielzahl von zellulären Proteinen einschließlich
der Substrate des Insulin-Rezeptors (engl. insulin receptor substrates, IRS). Die phosphorylierten Proteine besitzen Bindestellen für andere Proteine (z. B. Phosphatidylinositol-3-Kinase [PI(3)K], Grb2, SHP2 und Crk), die verschiedene Signalwege aktivieren (gestrichelte Linie). Dies bewirkt eine Verschiebung des Glukosetransporters (GLUT4) und die Aufnahme von Glukose in die Zelle; damit verbunden sind auch Veränderungen im Glukose-, Lipid- und Protein-Metabolismus sowie Änderungen in der Genexpression und im Zellwachstum. (Nach Notkins 2002)
14.4 Komplexe Erkrankungen
dem Chromosom 2 (2q35) lokalisiert. Das Protein kommt in sekretorischen Vesikeln endokriner und neuronaler Zellen vor; Untersuchungen an knockout-Mäusen deuten darauf hin, dass es für die Sekretion von Insulin wichtig ist. Auch gegen dieses Enzym haben eine große Anzahl neu diagnostizierter Diabetiker (60–70%) Antikörper, die exklusiv die intrazelluläre Domäne von IA-2 erkennen.
Das dritte wichtige Autoantigen ist das Insulin selbst. Es ist nur aus 51 Aminosäuren aufgebaut; das Gen ist auf dem Chromosom 11 (11p15) lokalisiert. Die Mehrzahl der Autoantikörper erkennt Oberflächenstrukturen der B-Kette. Autoantikörper gegen Insulin findet man schon bei sehr jungen Kindern in vor-diabetischen Stadien; allerdings ist die Zahl der jugendlichen Typ-I-Diabetiker mit Autoantikörpern
Abb. 14.43 a,b. Immunabhängige Zerstörung der β-Zellen des Pankreas. a Direktes Abtöten der β-Zellen: Autoantigene, die prozessiert und als Peptide in einem Komplex mit MHCKlasse-I-Molekülen an der Oberfläche von β-Zellen präsentiert werden, werden von Antigen-spezifischen CD8+-cytotoxischen T-Lymphocyten erkannt. Dies führt zu einer Hochregulierung einiger co-stimulierender Moleküle (z. B. FAS/FASL); eine Kaskade von Signalketten führt schließlich zum Tod der β-Zellen durch Apoptose. b Indirektes Abtöten der β-Zellen:
Autoantigene, die in die Zelle aufgenommen, dort gespalten und als Peptide in einem Komplex mit MHC-Klasse-II-Molekülen an der Zelloberfläche präsentiert werden, werden von Antigen-spezifischen CD4+-Helferzellen erkannt. Dies führt zu einer Hochregulierung einiger co-stimulierender Moleküle (z. B. CD28/CD80) und bewirkt die Freisetzung einer Reihe von Cytokinen (z. B. Interferon-γ, Tumor-Nekrose-Faktor-α), was schließlich zum Tod benachbarter β-Zellen durch Apoptose führt. (Nach Notkins 2002)
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Kapitel 14: Das menschliche Genom – Grundlagen menschlicher Vererbung
gegen Insulin geringer (nur 30–50%) als bei den oben genannten Gruppen. Der Nachweis dieser Autoantikörper ist schon lange vor dem Ausbruch der Erkrankung möglich,was deutlich macht, dass Typ-I-Diabetes eine chronische Erkrankung darstellt. Andererseits hat diese Untersuchung auch gewisse Vorhersagekraft hinsichtlich der Ausbruchswahrscheinlichkeit. Bei Anwesenheit aller drei Autoantikörper besteht eine Wahrscheinlichkeit von 60–80%, dass die Krankheit auch ausbricht. Eine genetische Ursache für die Bildung der Autoantikörper, das heißt der Erkennung von körpereigenen Stoffen als „fremd“, liegt wahrscheinlich in verschiedenen Kombinationen von HLA-Haplotypen, die unter bestimmten Umweltbedingungen zu einer Autoimmunreaktion führen.Führende Kandidaten für die Herstellung dieser Bedingungen sind Virusinfektionen. Im Gegensatz zum Typ-I-Diabetes hat der Typ II eine wesentlich klarere genetische Komponente; die Konkordanzrate bei eineiigen Zwillingen liegt hier bei 80–100%. Typ-II-Diabetes hat einen klaren Bezug zu Fettleibigkeit, und die klinischen Bilder zeigen ein vermindertes Ansprechen in den peripheren Geweben auf Insulin („Insulin-Resistenz“). Wie bei vielen komplexen Krankheiten ist auch das Auftreten von Diabetes Typ II von Umweltfaktoren abhängig. So nimmt dieses Krankheitsbild zu, wenn bäuerliche Gesellschaften sich mehr an städtische Gewohnheiten und einen westlichen Lebensstil anpassen. Allerdings haben die Untersuchungen der (relativ) wenigen Fälle des MODY-Diabetes dazu geführt, die genetischen Komponenten besser zu verstehen, weil
Abb. 14.44. Kandidatenregionen für Diabetes-Typ-II-Gene. Eine Übersicht über die chromosomalen Regionen, die mögliche Kandidatengene für Diabetes Typ II enthalten. (Nach Gloyn 2003)
Tabelle 14.8.
Gene für MODY-Diabetes
Krankheit
Protein / Gen (OMIM)
Chromosom
MODY 1
Hepatocyten-Kernfaktor 4α (HNF4A)
MODY 2
Glucokinase (GCK)
MODY 3
Hepatocyten-Kernfaktor 1α (TCF1)
12
MODY 4
Insulin Promotor Faktor 1 (IPF1)
13
MODY 5
Hepatocyten-Kernfaktor 2 (TCF2)
17
MODY 6
Neurogene Differenzierung (NeuroD1)
20
7
2
Nach Gloyn (2003) und OMIM 606391
diese klar abgrenzbaren Krankheitsbilder auch genetisch einheitlicher sind; Tabelle 14.8 gibt einige Beispiele dazu. Aber auch die Anwendung der schon mehrfach erwähnten SNP-Technologie bei systematischen, genomweiten Reihenuntersuchungen hat erste Hinweise auf bestimmte Chromosomenabschnitte gebracht (Abb. 14.44). Schließlich wurde aus einer dieser Regionen (auf dem Chromosom 2) ein Gen identifiziert, dessen
14.4 Komplexe Erkrankungen
Polymorphismen in Amerikanern mexikanischer Abstammung zunächst mit dem Typ-II-Diabetes assoziiert wurde (Horikawa et al. 2000). Es handelte sich dabei um Calpain-10 (Gensymbol CAPN10, OMIM 605286), das zur Familie der Cystein-Proteasen gehört und ubiquitär exprimiert wird. Allerdings haben Folgestudien diese Assoziation in anderen Populationen nicht nachweisen können (Song et al.2004),so dass die Rolle von CAPN10 beim Typ-II-Diabetes wieder offen ist. Man sieht, dass die Auswahl der richtigen Kontrollen bei der Anwendung statistischer Auswertungsverfahren essentiell ist, um eine Hypothese belastbar zu bestätigen oder zurückzuweisen.
▬
▬
▬ ! Diabetes führt zu einer dauerhaften Erhöhung
des Blutglukose-Spiegels. Diabetes Typ I ist insulinabhängig und ist im Wesentlichen eine Autoimmunerkrankung. Diabetes Typ II ist insulinunabhängig und beruht auf verschiedenen Störungen in der InsulinSignalkette.
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▬
▬
Kernaussagen
▬ Die Methoden der klassischen Humangenetik beruhten im Wesentlichen auf der Stammbaumund Zwillingsforschung. Dieser Ansatz wird heute ergänzt durch Geschwisterpaar-Analysen und Methoden der genetischen Epidemiologie. ▬ Für Kopplungsanalysen steht eine Vielzahl von Mikrosatelliten-Markern und von SNPs zur Verfügung; computergestützte Auswerteverfahren erlauben die Berechnung von LOD-Werten. Kartierungen mit LOD-Werten >3 sind statistisch signifikant. ▬ Fehlerhafte Chromosomenverteilungen während der meiotischen Teilungen sind häufig. Von den möglichen Aneuploidien sind jedoch nur wenige lebensfähig (vor allem Trisomie 21 und Monoso-
▬
▬
mie X). Chromosomenaberrationen führen häufig zu spontanen Aborten. Die meisten Erbkrankheiten sind autosomalrezessiv und damit schwer zu diagnostizieren; die Gefahr der Homozygotie ist bei Verwandtenehen besonders hoch. Die häufigste autosomal-rezessive Erkrankung in Mitteleuropa ist die Zystische Fibrose (Mukoviszidose). Autosomal-dominante Erkrankungen haben eine Häufigkeit von ca. 1:10.000; die häufigste autosomal-dominante Erkrankung ist die familiäre Hypercholesterinämie. X-chromosomal-dominante Erbkrankheiten sind selten; häufiger sind X-chromosomal-rezessive Erkrankungen, die bei Männern immer zum Ausbruch kommen (Hemizygotie). Eine besondere Gruppe von Krankheiten zeichnet sich durch Triplettwiederholungen aus, die von einer Generation zur nächsten massiv zunehmen können. Die Zunahme der Triplettwiederholungen führt in vielen Fällen zu einem früheren Eintrittsalter und einer schwereren Erkrankung. Beispiele sind die Chorea Huntington und das Fragile-X-Syndrom. Die Familie der Globingene veranschaulicht die Vielfalt von Mutationsereignissen (Punktmutationen mit Aminosäure-Substitutionen, Verschiebung des Leserahmens, vorzeitiger Kettenabbruch oder Chromosomenmutationen mit großen Deletionen und der Bildung von Fusionsproteinen). Eine Vielzahl von Krebserkrankungen beruht auf Mutationen in Keim- und Somazellen. Wir unterscheiden Oncogene (z. B. ras, fos, myc), Tumorsuppressorgene (z. B. TP53, RB) und Mutatorgene (z. B. XP-A bis XP-G). Viele Krankheiten haben „komplexe“ Ursachen; d.h. an ihrer Entstehung sind mehrere Gene und/ oder Gen-Umwelt-Wechselwirkungen beteiligt. Sie gehorchen nicht den Mendel’schen Regeln für monogene Erkrankungen. Beispiele sind Asthma, Diabetes oder Bluthochdruck.
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Kapitel 14: Das menschliche Genom – Grundlagen menschlicher Vererbung
Technik-Box 26
Differenzielle Genexpression Anwendung: Methode zur Untersuchung der Genexpression in unterschiedlichen Geweben, zu unterschiedlichen Zeiten oder zwischen Wildtypen und Mutanten. Voraussetzungen: Quantitativ und qualitativ reproduzierbare RNA-Isolierung. Methoden: Die erste einfache Technik zur Analyse von Genexpressionsprofilen war das differential display. Dieses Verfahren vergleicht die Genexpression von zwei oder mehreren Experimenten miteinander, die sich aus den Basistechniken der reversen Transkription (Technik-Box 6) und PCR (Technik-Box 4) zusammensetzen: Durch die Auswahl der Primer wird festgelegt, welche Untermenge der
mRNA-Proben in cDNA-Kopien überführt wird. Zufällige Fragmente dieser cDNA-Sequenzen (i. d. R. so viele, wie auf einem Polyacrylamidgel nebeneinander charakterisiert werden können) mit einer Größe von einigen hundert Basenpaaren werden in einer PCR-Reaktion mit der Hilfe von Zufallsprimern amplifiziert. Die Bandenmuster werden ausgewertet, indem die relativen Intensitäten von Banden aus verschiedenen experimentellen Proben verglichen werden. Nur in einer Probe existierende Banden oder mit unterschiedlicher relativer Intensität in mehreren Proben existierende Banden repräsentieren potentiell unterschiedlich synthetisierte mRNA-Sequenzen. Um diese zu identifizieren, werden die entsprechenden Gelstücke ausgeschnittenen, gereinigt und
die erhaltenen cDNA-Fragmente mittels PCR erneut amplifiziert und sequenziert. Durch den Vergleich der Bandenintensität der verschiedenen Proben können solche Gene erkannt werden, die unterschiedlich stark exprimiert werden. Die differential-display-Methode neigt allerdings zu einem großen Anteil falsch-positiver Kandidaten, so dass diese Ergebnisse durch unabhängige Experimente, etwa Hybridisierung mit Northern-Blot (Technik-Box 11) oder Real-Time-PCR (Technik-Box 4) bestätigt werden müssen.
Kapitel 15
Neurogenetik und die Genetik des Verhaltens
Mönchsgrasmücken dienen zur Untersuchung der genetischen Grundlagen des Zugverhaltens der Vögel. (Photo: Peter Berthold, Radolfszell)
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Kapitel 15: Neurogenetik und die Genetik des Verhaltens
Überblick Verhaltensgenetische Experimente, die in den letzten Jahren systematisch an verschiedenen Modellorganismen durchgeführt wurden, zeigen, dass wesentliche Teile tierischen und menschlichen Verhaltens genetisch bestimmt werden. Das gilt für verschiedene rhythmische Verhaltensweisen bei Pflanzen, Pilzen, Insekten und Säugern genauso wie für so schwer verständliche und scheinbar komplexe Verhaltensweisen wie z. B. das Zugverhalten von Vögeln. Verhalten ist vielfach genetisch in polygenen Regulationssystemen festgelegt; die individuelle Ausprägung von Verhaltensweisen wird jedoch in unterschiedlichem Ausmaß durch Umwelteinflüsse mitbestimmt. Das macht es zunächst schwierig festzustellen, wie hoch die erblichen Komponenten solcher Verhaltensweisen sind. Vergleichende Untersuchungen an den verschiedenen Modellorganismen und dem Menschen haben aber auch gezeigt, dass viele genetische Elemente auch beim Menschen konserviert sind und so beispielsweise Einfluss auf unseren Schlaf haben („innere Uhr“ und „zirkadiane Rhythmik“) oder unser Gedächtnis und Lernverhalten beeinflussen. Die Komplexität dieser Regelsysteme gestattet
Eine der interessantesten, aber zugleich meist umstrittenen Fragen in der Biologie ist diejenige nach den genetischen Grundlagen des Verhaltens: Wird Verhalten überhaupt – und wenn ja, in welchem Ausmaß – genetisch gesteuert? Die Beantwortung dieser Frage hat nicht allein Konsequenzen auf rein biologischer Ebene, sondern berührt zugleich viele Gesichtspunkte unserer eigenen Existenz, deren vielleicht bedeutsamste mit den Fragen „Gibt es einen freien Willen?“ oder „Sind bestimmte – so z. B. kriminelle – Verhaltensweisen genetisch programmiert?“ umschrieben werden können. Offensichtlich kann die Beantwortung solcher Fragen auch für den menschlichen Alltag, z. B. in der Rechtsprechung, schwerwiegende Konsequenzen haben. Auf der Grundlage der Untersuchungen von Verhaltensforschern kann es keinen Zweifel geben, dass tierisches (und natürlich somit auch menschliches) Verhalten auf einer genetischen Grundlage beruht. Man kann sich hierbei die Tatsache des artspezifischen Paarungsverhaltens von Tieren ebenso vor Augen halten wie das universelle Verständnis menschlicher Gestik in verschiedenen Kulturkreisen – beides
eine schnelle mikroevolutive Anpassung an geänderte Umweltbedingungen. Besonders der Vergleich von Mausmutanten mit ähnlichen Erkrankungen des Menschen hat viel zum neuen Verständnis der genetischen Komponenten bei noch komplexeren Verhaltensweisen beigetragen. Dazu gehören Angst und Depression genauso wie das Suchtverhalten, z. B. gegenüber Alkohol. Die eher im Alter auftretenden neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson waren zwar als Krankheit schon lange akzeptiert (im Gegensatz etwa zu Suchtverhalten), allerdings hat auch hier erst die Genetik wesentlich dazu beigetragen, die Entstehung der jeweiligen Krankheit zu verstehen. Bei psychiatrischen Erkrankungen wie der Schizophrenie steht man dagegen in diesem Punkt noch am Anfang. Aber auch hier ist es so, dass es nicht nur bestimmte chromosomale Kandidatenregionen gibt, in denen wir Empfindlichkeitsgene für Schizophrenie vermuten können, sondern dass bereits erste Gene mit ihren Mutationen identifiziert wurden – ähnlich wie wir das bei anderen komplexen Erkrankungen (Diabetes, Asthma) bereits kennen gelernt haben.
Verhaltensweisen, die offenbar genetisch weitgehend festgelegt sind. Bestimmte Verhaltensweisen, wie etwa das von Lorenz untersuchte Verhalten von Graugänsen – sie werden nach dem Schlüpfen auf ein bestimmtes Bild als „Muttertier“ festgelegt – sind zwar genetisch streng festgelegt,sind aber in begrenzter Weise in ihrer spezifischen Ausprägung durch eine Interaktion mit einer (variablen) Umwelt bestimmbar. Diese Situation gleicht damit dem,was wir z. B.in Zusammenhang mit der genetischen Komponente der Tumorentstehung bereits in der Humangenetik (Kap. 14.4.1) oder bei den Versuchen an Achillea (Abb. 1.2) kennen gelernt haben: Genetisch sind bestimmte Gegebenheiten programmiert, die aber erst durch das Einwirken von spezifischen Umwelteinflüssen in der einen oder anderen Form zur Ausprägung kommen.Verhalten kann daher als ein den gleichen genetischen Regeln unterworfener Phänotyp von Tieren angesehen werden wie alle übrigen biologischen Funktionen. Wenn es feststeht, dass wesentliche Teile tierischen Verhaltens genetisch programmiert sind, ist die zentrale Frage, in welchem Ausmaß Verhaltensweisen un-
15.1 Endogene Rhythmik
widerruflich festgelegt bzw. in ihrer Ausprägung von Umwelteinflüssen abhängig sind. Die Frage muss ähnlich beantwortet werden wie die nach der genetischen Grundlage von Krankheiten: Für unterschiedliche Verhaltensweisen ist das Ausmaß der genetisch festgelegten Programmierung unterschiedlich. In vielleicht noch größerem Ausmaß als Krankheiten sind Verhaltensweisen polygen beeinflusst und daher bezüglich ihres genetischen und ihres umweltbedingten Anteils im Detail sehr schwer analysierbar. Dazu kommt: Die Analyse von Verhalten und seiner genetischen Komponenten macht die Zusammenarbeit auf Gebieten notwendig, die bisher wenig miteinander zu tun hatten. Die Zusammenarbeit von Genetikern mit Biochemikern, mit Mathematikern, mit Anatomen und mit klinischen Medizinern aller Spezialgebiete ist etabliert. Kooperationen im Bereich der Verhaltensbiologie, Psychologie und gar Psychiatrie sind noch eher etwas ungewohnt, finden sich aber immer mehr, wobei die Maus als zentrales Modellsystem große Bedeutung gewinnt. Mit der Maus lassen
sich nämlich viele Verhaltenstests, die man früher an Ratten unternommen hatte, ähnlich durchführen. Andererseits können in der Maus die Ressourcen optimal genutzt werden, die in der Genomforschung entwickelt wurden. Damit ist eine (relativ) schnelle Identifizierung von Genen möglich, die mutiert sind und zu einem unterscheidbaren Phänotyp führen. Im Vordergrund steht dabei, den Phänotyp so genau zu definieren, dass eine genetische Charakterisierung möglich wird. Ergänzt wird diese genetische Analyse durch einen enormen Fortschritt in der Auflösung der morphologischen Analyse der Genexpression. Die regionale und Zelltyp-spezifische Expression von Genen im Gehirn – während der Embryonalentwicklung und später – haben dazu geführt, dass bestimmte Verhaltensgruppen einzelnen Regionen zugeordnet werden können (z. B. Angst und Furcht der Amygdala, zirkadiane Rhythmik dem Hippocampus usw., siehe Abb. 15.1). Im Folgenden sollen nun einzelne Beispiele aus der Neuro- und Verhaltensgenetik im Detail betrach-
Abb. 15.1. Regionale Zuordnung von Verhalten im Gehirn. Studien an Gehirnverletzungen, pharmakologische Ansätze und die Analyse genetisch veränderter Mäuse sowie von Patienten mit Gehirnerkrankungen haben zur funktionellen Definition verschiedener Gehirnareale in Bezug auf Verhalten geführt: Der Hippocampus ist wichtig für räumliches und kontextabhängiges Lernen, wohingegen die Amygdala (Mandelkern) bei Furcht
und Angst eine wichtige Rolle spielt. Der Hypothalamus ist für die zirkadiane Rhythmik verantwortlich und reguliert SchlafWach-Zyklen sowie die physiologische Homeostase. Das Cerebellum (Kleinhirn) ist für das Lernen von Bewegungsabläufen und ihre Koordination bedeutsam. Durch geeignete Verhaltenstests kann die Funktion einzelner neuraler Systeme in mutanten Mäusen getestet werden. (Nach Bu´can u. Abel 2002)
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Kapitel 15: Neurogenetik und die Genetik des Verhaltens
tet werden. Dabei werden auch Hinweise aus dem Vergleich verschiedener Spezies herangezogen. ! Verhaltensweisen sind komplex und damit expe-
rimentell schwieriger zu analysieren als monogene Phänotypen. Sie gehorchen aber prinzipiell den gleichen Gesetzen wie andere komplexe Phänotypen. Die aktuelle Kombination präziser phänotypischer Charakterisierung mit genomorientierten Methoden der Genetik ermöglicht eine rasante Zunahme unseres Wissens über genetische Grundlagen von Verhalten.
15.1 Endogene Rhythmik
gern (Abb. 13.44) gezeigt hatte, scheint das Zugverhalten der Vögel evolutionär sehr alt und daher monophyletischen Ursprungs zu sein. Für das Vogelzugverhalten sind mindestens zwei genetische Merkmalskomplexe getrennt zu betrachten: • Zum einen sind es die sich jährlich wiederholenden Zugrhythmen, die genetisch programmiert sind. Dass es eine genetisch festgelegte Verhaltensperiodizität gibt, ist für den Tagesrhythmus bereits seit langem bekannt. Man bezeichnet sie als Tagesperiodizität (engl. circadian rhythm). Beim Vogelzug zeigt sich nun eine genetisch bedingte Jahresperiodizität oder zirkannuale Rhythmik (engl. circannual rhythm). Bestimmend sind in beiden Fällen die Lichtperiodik (Tageslichtdauer). • Ein zweites genetisch festgelegtes Element des Vogelzuges ist die Wanderungsrichtung und -dauer.
15.1.1 Zugverhalten bei Vögeln Es gibt Verhaltensweisen, bei denen wir zunächst eher an einen starken Umwelteinfluss denken würden, die aber tatsächlich strikt genetisch festgelegt sind. Als ein eindrucksvolles Beispiel für eine solche Situation hat sich in letzter Zeit die genetische Programmierung des Vogelzuges herausgestellt. Die Genetik dieses Verhaltens soll im Folgenden in einigen Grundaspekten zusammengefasst werden, da sie bemerkenswerte Parallelen zu anderen Erkenntnissen der Biologie aufweist und zudem unter Genetikern wenig bekannt ist, obgleich sie in vieler Hinsicht interessante Forschungsmöglichkeiten bietet und neue Einsichten in bisher ganz unverstandene biologische Mechanismen verspricht. Die Existenz von Zugvögeln und Standvögeln ist ein biologisches Phänomen, das bereits seit Jahrtausenden Interesse gefunden hat. Nach heutiger Sicht ist ein wesentliches Kriterium, das die Entscheidung zwischen Verbleib am Brutort und der Wanderung in Winterquartiere bestimmt, die verfügbare Futtermenge. Bisher wurde es als nahezu selbstverständlich angesehen, dass das Zugverhalten ein abgeleitetes, d. h. sekundäres erworbenes Verhalten ist. Das würde zugleich auf eine polyphyletische (d. h. mehrfache und voneinander unabhängige) Entstehung deuten. Diese Annahme wird durch die neuere genetische Analyse des Zugverhaltens und damit verbundener anderer Merkmale in Frage gestellt. Ähnlich wie es sich bereits für die entwicklungsgenetischen Vorgänge der Augenentstehung von Insekten und Säu-
Beide Parameter sind in einem – in seiner sinnesphysiologischen Basis unbekannten – Navigationssystem genetisch festgelegt. Die Genetik beider Merkmalkomplexe, die wahrscheinlich eng miteinander verknüpft sind, wurde durch P. Berthold und Mitarbeiter (Pulido et al. 1996) vor allem am Zugverhalten der Mönchsgrasmücke (Sylvia atricapilla) und des Garten- und Hausrotschwanzes (Phoenicurus phoenicurus und P. ochruros) (Abb. 15.2) untersucht. Während die Mönchsgrasmücke sowohl als Zugvogel als auch als Standvogel und mit unterschiedlichen Zugrichtungen in Eurasien und Afrika vorkommt, ist der Gartenrotschwanz ein Langstreckenzugvogel (Zugziel: Afrika südlich der Sahara), der Hausrotschwanz jedoch ein Kurzstreckenzieher (in den Mittelmeerraum). Die Rotschwanzarten sind miteinander kreuzbar, so dass Hybride untersucht werden können. Die Versuche zur Erblichkeit des Zugverhaltens wurden an südfranzösischen Mönchsgrasmücken durchgeführt, deren Population etwa 25% Standvögel enthielt. Die Ermittlung des Charakters (d. h. Standoder Zugvogel) kann durch Messung der Migrationsaktivität der Individuen während der Zugperioden erfolgen, d. h. es werden die Bewegungshäufigkeiten des Vogels im Käfig registriert. Kreuzt man Individuen mit hoher Migrationsaktivität, so erhält man bereits in der F3 praktisch ausschließlich Individuen, die sich wie Zugvögel verhalten. Kreuzt man hingegen Individuen mit Standvogelcharakter (keine Migrationsaktivität), so besteht die F3 zu 80% aus
15.1 Endogene Rhythmik
Abb. 15.2. Rotschwänze eignen sich für Artkreuzungen, so dass die genetischen Grundlagen des Zugverhaltens untersucht werden können: Der Gartenrotschwanz (links) ist ein Langstreckenzieher, der Hausrotschwanz (2. von links) ein
Kurzstreckenzieher. Hybride (3. und 4. von links) und der Rückkreuzungshybrid mit einem Hausrotschwanz (rechts) gestatten ein detailliertes Studium der genetischen Komponenten des Zugverhaltens. (Photo: Peter Berthold, Radolfszell)
Standvögeln und nach 6 Generationen sind ausschließlich Nichtzieher vorhanden (Abb. 15.3). Dieses Ergebnis belegt einerseits, dass das Zugverhalten genetisch festgelegt ist. Andererseits zeigt es, dass genetisch bedingte Verhaltensänderungen in einer Population sehr schnell erfolgen können, d. h. dass eine Adaption an Milieuveränderungen durch Selektion mit großer Effektivität erreicht werden kann. In ähnlichen Versuchen lässt sich die Richtungspräferenz des Zugverhaltens ermitteln. Durch Messung der Richtungspräferenz im Orientierungskäfig wurde gezeigt, dass sie ebenfalls genetisch fixiert ist. In den Experimenten wurden Mönchsgrasmücken aus Süddeutschland einerseits (Zugrichtung: Südwesten) oder Österreich (Zugrichtung: Südosten) gepaart. Die Nachkommen zeigten eine Orientierung ihrer Zugpräferenz, die etwa in der Mitte der Elternindividuen liegt (Abb. 15.4). In anderen Versuchen wurden Mönchsgrasmücken von den Kapverdischen Inseln, die reine Standvögel sind, mit mitteleuropäischen Mönchsgrasmücken gepaart. Hybride weisen ein Zugverhalten mit einer Richtungspräferenz auf, wie sie für die mitteleuropäischen Eltern charakteristisch ist. Weitere Daten beweisen, dass nicht nur die Zugrichtung, sondern auch die Länge der Wanderung genetisch determiniert wird. Offenbar spielt in diesem Zusammenhang die Menge der Zugaktivität eine
Rolle: Ist diese hoch, so erfolgt ein weiterer Zug, da sie länger anhält; ist die Zugaktivität hingegen geringer, ist auch die Wanderungsweite begrenzt. Durch dieses genetisch festgelegte Programm aus Richtungsvektoren und Zugaktivität ist zugleich der Ort des Winterquartiers recht genau festgelegt. Dass sich die genetisch festgelegte Zugrichtung in kurzer Zeit ändern kann, wurde an Mönchsgrasmücken festgestellt. Vögel aus Österreich ziehen gewöhnlich in den Mittelmeerraum. In den letzten 30 Jahren hat sich jedoch eine Teilpopulation entwickelt, die nach Irland zieht. Der populationsgenetische Vorteil, d. h. eine höhere Fitness, dürfte darin liegen, dass der Abstand zum Winterquartier (Irland) kürzer ist, die Konkurrenz um Futter geringer, und dass der kürzere Abstand eine frühere Rückkehr ermöglicht, die einen zeitigen Brutbeginn zur Folge hat und dadurch günstigere Brutpflegebedingungen ergibt. Die zuvor dargestellten Experimente zum Vogelzugverhalten geben uns, abgesehen von der Einsicht in die genetische Steuerung komplexer Verhaltensvorgänge, auch Vorstellungen darüber, wie schnell und effektiv mikroevolutive Vorgänge ablaufen können. Solche Erkenntnisse sind nicht zuletzt von Bedeutung für unsere Beurteilung der Folgen klimatischer Veränderungen auf der Erde.
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Kapitel 15: Neurogenetik und die Genetik des Verhaltens
Abb. 15.3. In Orientierungskäfigen können die Richtungspräferenzen bei Startversuchen von Mönchsgrasmücken und deren Hybriden durch Messungen zur Zugzeit ermittelt werden. Der linke Kreis zeigt im Inneren die Richtungspräferenzen von Mönchsgrasmücken aus Süddeutschland (SW) und Österreich (SO) sowie außen die Richtungspräferenz von Hybriden aus beiden Populationen. Der mittlere Kreis zeigt die Rich-
tungspräferenz von Mönchsgrasmücken, die in England gefangen und in Süddeutschland getestet wurden: Ihre Richtungspräferenz ist nicht standortgebunden, sondern bleibt erhalten. Das bestätigt sich auch bei den Nachkommen (rechter Kreis). Jedes Dreieck stellt ein Individuum dar. (Mit freundlicher Genehmigung von Peter Berthold, Radolfszell)
Abb. 15.4. Durch Selektion gelingt es, aus teilziehenden Mönchsgrasmückengenerationen aus Südfrankreich innerhalb weniger Generationen, entweder ein Verhalten zum Nichtzieher oder zum ausschließlichen Zugverhalten zu erreichen. Die Mikroevolution verläuft mit einer überraschenden Geschwindigkeit. (Mit freundlicher Genehmigung von Peter Berthold, Radolfszell)
! Durch mikroevolutive Veränderungen können
sich Verhaltensweisen schnell an geänderte Umweltbedingungen anpassen.
15.1.2 Zirkadiane Rhythmik Zirkadiane Rhythmik ist in vielerlei Hinsicht ein gutes Beispiel, um die Verbindung zwischen Genen und Verhalten zu verdeutlichen. Außerdem wird hier
auch klar, wie Umwelteinflüsse die Expression von Genen beeinflussen, so dass wir am Ende sehen können, wie das Wechselspiel zwischen Genen und äußeren Einflüssen das sichtbare Verhalten beeinflusst. Zirkadiane Rhythmik ist vielen Organismen eigen – von Bakterien bis hin zu Menschen. Sie ist wahrscheinlich zunächst als eine Konsequenz des ständigen Wechsels zwischen Tag und Nacht entstanden. Allerdings folgen die endogenen Rhythmen einer 24-Stunden-Periodizität auch in Abwesenheit fluktuierender äußerer Einflüsse. Für Pflanzen wurde
15.1 Endogene Rhythmik
von Bünning schon 1935 dafür eine genetische Grundlage beschrieben (für eine neuere Übersichtsarbeit siehe McWatters et al. 2001). Bei Tieren wurde die „innere Uhr“ erst Ende der 1960er Jahre entdeckt (Pittendrigh 1967). Pioniermodell war hier – wie oft in der Genetik – die Fliege Drosophila, deren rhythmisches Verhalten ab Beginn der 1970er Jahre (Konopka u. Benzer 1971) systematisch untersucht wurde. Diese Arbeiten wurden durch Experimente an Algen (Bruce 1972), Pilzen (Feldman u. Hoyle 1973; neuere Übersicht in Morgan u. Feldman 2001) und schließlich an Mäusen ergänzt (Vitaterna et al. 1994). Bei Drosophila wurden vor allem zwei Parameter untersucht: die Laufaktivität und die Periodizität des Schlüpfens der reifen Fliegen. Letzteres erfolgt in der Regel in den frühen Morgenstunden (daher auch der Name „Taufliege“). Beide Verhaltensweisen werden in einem Hell-Dunkelrhythmus (12:12 Stunden) untersucht und anschließend unter konstanten Bedingungen (Dauerdunkel) weitergeführt, um so den Einfluss eines exogenen Zeitgebers auszuschalten. Hierbei erhielt man zunächst 3 Grundtypen von Mutanten: solche mit verkürzter oder verlängerter endogener Periodendauer und solche ohne erkennbare Rhythmik. Ein Beispiel für eine Drosophila-Mutante mit schweren Rhythmusstörungen ist in Abb. 15.5 dargestellt. Die X-gekoppelte Mutation verhindert, dass die Axone der adulten Photorezeptorzellen ihr Zielgewebe innervieren, so dass die Fliegen nur über rudimentäre optische Ganglien verfügen. Aufgrund dieses morpohologischen Phänotyps wurde die Mutante als disconnected bezeichnet (Gensymbol: disco; Steller et al. 1987). Daher wurde zunächst auch angenommen, dass die beobachteten Rhythmusstörungen durch Probleme bei der Wahrnehmung von Licht überhaupt oder bei der Reizweiterleitung verursacht seien. Detaillierte Untersuchungen machten aber deutlich, dass die disco-Mutanten sowohl Lichtreize wahrnehmen können als auch über ein intaktes Rhythmussystem verfügen. Sie können aber diese Rhythmusinformationen offensichtlich nicht weitergeben, so dass das tatsächliche Verhalten arhythmisch erscheint (Hardin et al. 1992). Weitere Arbeiten zeigten, dass disco für einen ZinkfingerTranskriptionsfaktor kodiert (Mahaffey et al. 2001). Die Arbeiten der vergangenen 30 Jahre machen deutlich, dass das Herzstück der „inneren Uhr“ aus mehreren Rückkopplungsschleifen besteht, wobei die Aktivierung der Uhr-Gene durch Proteine gehemmt
Abb. 15.5 a,b. Häutungen und zirkadiane Rhythmik bei Fliegen. Das Gen disconnected (disco) kodiert für einen Transkriptionsfaktor, der im Falle einer Mutation die Rhythmen der Häutungen als auch von Bewegungsabläufen ähnlich wie Mutationen in per und tim beeinflusst. a Die Häutungsaktivität von Wildtypen und disco1-Mutanten ist unter Bedingungen vollkommener Dunkelheit dargestellt. Wie bei per -/--Mutanten zeigen die mutierten disco-Fliegen arhythmische Häutungsmuster; die Wildtyp-Fliegen schlüpfen dagegen etwa alle 24 Stunden. b Die Rhythmen der Bewegungsaktivität sind im Wildtyp (oben) und in disco-Mutanten (unten) unter Bedingungen vollständiger Dunkelheit dargestellt. Die Bewegungsaktivität der disco-Mutanten ist vollkommen arhythmisch im Gegensatz zu dem 24-Stunden-Rhythmus der Wildtyp-Fliegen. Die dunklen Balken deuten die Dauer der Aktivität an. (Nach Sokolowski 2001)
wird, die durch eben diese Gene kodiert werden – so entsteht eine rhythmische Genexpression. In Drosophila sind es sechs Gene, die zu der zentralen Funktion der „inneren Uhr“ beitragen: period (per), timeless (tim), Clock (Clk), cycle (cyc), cryptochrome (cry) und double-time (dbt). Die Proteine, die von Clk und cyc kodiert werden, gehören zur Familie der basischen Helix-Loop-Helix (bHLH)-Transkriptionsfaktoren und binden als Heterodimere an spezifische Bindestellen in den Promotoren der per- und tim-Gene,
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Kapitel 15: Neurogenetik und die Genetik des Verhaltens
um deren Transkription zu aktivieren (Abb. 15.6a). Die Akkumulation der Proteine PER und TIM und ihre Translokation in den Zellkern wird durch die Funktion der durch dbt kodierten Proteinkinase verzögert. Als Ergebnis können CLK und CYC deren Transkription weiterhin aktivieren, während PER und TIM zunächst im Cytoplasma weiter akkumulieren. Erst wenn sie in den Zellkern gelangen, stoppen sie die Transkription ihrer Gene dadurch, dass sie als
Heterodimere direkt an die CLK-CYC-Heterodimere binden. Diese Abschaltung bleibt solange bestehen, bis PER und TIM wiederum selbst abgebaut werden, woran die oben schon einmal erwähnte Proteinkinase DBT beteiligt ist. Damit wird eine neue Runde der Transkription von per und tim ermöglicht. Dieser Rückkopplungsmechanismus wird durch einen zweiten verstärkt, der die Expression von Clk rhythmisch reprimiert; an diesem zweiten Mechanismus
Abb. 15.6 a,b. Zeitliche Abfolge der Genexpression der „inneren Uhr“. a Mittags in Drosophila: Die Proteine CLK und CYC (farbige Kreise) induzieren die Expression von per und tim über E-BoxElemente in den Promotoren, aber das PER-Protein bleibt instabil durch die Wirkung der DBT-Kinase. Zur gleichen Zeit reprimiert der CLK:CYC-Komplex den Clk-Promotor (gestrichelte Linie). Bei Eintritt der Dunkelheit kann sich TIM anhäufen und die Wirkung von DBT unterbrechen. Um Mitternacht gelangen dann PER:TIMDimere in den Zellkern (oval) und hemmen die Funktion von CLK:CYC. Das bewirkt einen Stillstand der per- und tim-mRNA-Produktion und einen gleichzeitigen Anstieg der Clk-Expression. Die Wahrnehmung von Licht in der Morgendämmerung führt zum Abbau von TIM. Diese späteren Ereignisse bewirken eine Verschiebung von einem Überschuss des PER:TIM-Komplexes im Zellkern zu einem Überschuss von CLK:CYC, was dazu führt, dass Drosophila einen neuen Tag beginnt. b Die „innere Uhr“ der Maus besteht aus ähnlichen Komponenten wie die der Fliege. Allerdings ist Cry direkt(er) an die Rückkopplungsschleife angebunden. Dbt phosphoryliert und destabilisiert Per. Per, Cry und wahrscheinlich auch Tim regulieren die CLK:CYC-vermittelte Expression von Per. Licht setzt die innere Uhr durch Stimulierung von Per wieder auf den Ausgangspunkt zurück. (Nach Wager-Smith u. Kay 2000)
15.1 Endogene Rhythmik
ist vri (vrille) beteiligt, das für einen bZip-Transkriptionsfaktor kodiert. In Säugetieren ist das dasselbe Prinzip verwirklicht, und auch die beteiligten Gene sind homolog (Abb. 15.6b). In der entscheidenden morphologischen Struktur, den Suprachiasmatischen Kernen des Hypothalamus, sind acht Gene an der Wirkung der „inneren Uhr“ beteiligt: mPer1, mPer2, mPer3, die Chryptochromgene mCry1 und mCry2, mClk, Bmal1 (oder Mop3 als das Homologon zu cyc) sowie Csnk1e (homolog zu dbt, kodiert für Caseinkinase 1ε). Das Gen, das als mtim bezeichnet wird, zeigt allerdings die höchste Homologie zu dem Drosophila-Gen timeout (oder tim2). Dabei erfüllen die mCRY-Proteine die repressive Funktion von tim: Wie bei Drosophila aktivieren die Genprodukte von mClk und Bmal1 die mPer-Promotoren, aber auch (im Gegensatz zu Drosophila) die mCry-Promotoren selbst. Die Caseinkinase Iε (CKIε) wird durch CKIδ unterstützt und destabilisiert die PER-Proteine der Maus. Dadurch verzögert sich die Akkumulation dieser reprimierenden Proteine und ihre Translokation in den Zellkern. Nach
Tabelle 15.1.
dem Eintritt des mCRY-mPER-CKIε-CKIδ-Komplexes in den Zellkern wird die Transkription durch die direkte Bindung an die mCLK-BMAL1-Heterodimeren unterbunden.Wie bei den Fliegen existiert auch in der Maus ein zweiter, verstärkender Rückkopplungsmechanismus, wobei mPER2 die Bmal1-Transkription positiv beeinflusst. Dabei spielt auch ein vri-Homologon eine Rolle, das bei der Maus als E4BP4 bezeichnet wird und zur Gruppe der basischen Leuzin-ZipperTranskriptionsfaktoren gehört. Außerdem aktiviert der rhythmisch exprimierte Transkriptionsfaktor DBP (Albumin-D-Element bindendes Protein) mPer1, wohingegen E4BP4 (ebenso rhythmisch exprimiert, aber in der gegenläufigen Phase) um die DBP-Bindestelle konkurriert, um die mPer-Transkription zu unterdrücken. Wesentlichen Einblick in die Funktion der Gene haben wir durch die Untersuchung entsprechender Mutanten erhalten; einige davon werden in der Tabelle 15.1 vorgestellt. Auch wenn die Zusammenfassung insgesamt den Eindruck vermitteln mag, dass die zentralen Bereiche der „inneren Uhr“ klar und einfach geregelt sind, muss aber
Rhythmus-Mutationen bei Säugern
Gen
Organismus
Molekulare Veränderung
Phänotyp
Clock
Maus
Basenaustausch an einer spliceStelle (Verlust eines Exons und Deletion von 51 Aminosäuren)
Perioden von 26- bis 29-stündigen Bewegungen folgt ein vollständiger Verlust der zirkadianen Rhythmik nach 14 Tagen
Clock
Mensch
C/T-Polymorphismus an Pos. 3111 in der 3’-UTR der Clk cDNA
Verzögerung der morgendlichen Aktivitäten bzw. des abendlichen Schlafbeginns
Csnk1e
Hamster
Arg178Cys
20-h-Rhythmus des Verhaltens
Per1
Maus
Null-Mutante (knock-out)
Verkürzung der Rhythmen um 0,6–1 Stunde
Per2
Maus
Null-Mutante (knock-out)
Arhythmie nach einigen Tagen im Dauerdunkel
Per2
Mensch
Ser662Gly
CKIε-Bindestelle; verlängerte Schlafphasen
Per3
Maus
Null-Mutante (knock-out)
Verkürzung der Rhythmen um 1/2 Stunde
Per3
Mensch
Val647Gly
Schwache Kopplung mit verlängerten Schlafphasen
Bmal1 (Mop3)
Maus
Null-Mutante (knock-out)
Arhythmie nach einigen Tagen im Dauerdunkel
Cry1
Maus
Null-Mutante (knock-out)
Verkürzung der Rhythmen um 0,8 –1,3 Stunden
Cry2
Maus
Null-Mutante (knock-out)
Verlängerung der Rhythmen um 0,6 – 0,9 Stunden
dbp
Maus
Null-Mutante (knock-out)
Verkürzung der Rhythmen um 1/2 Stunde
Nach Stanewsky (2003)
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Kapitel 15: Neurogenetik und die Genetik des Verhaltens
abschließend darauf hingewiesen werden, dass das Gesamtsystem wesentlich komplexer ist. So wirkt z. B. auch die Rhythmik der Nahrungsaufnahme als Zeitgeber und beeinflusst entsprechend die Rhythmik der Leber und damit der Körpertemperatur. ! Zirkadiane Rhythmen werden bei Drosophila und
der Maus durch autoregulatorische Rückkopplungsschleifen gesteuert. Daran sind Transkriptionsfaktoren, Proteinkinasen und Repressoren von Transkriptionsfaktoren essentiell beteiligt. Die zentrale morphologische Struktur der Säugetiere sind die Suprachiasmatischen Kerne des Hypothalamus.
15.1.3 Schlafstörungen des Menschen Ebenso wie bei Drosophila und der Maus sind bei Menschen eine Reihe physiologischer Funktionen durch endogene zirkadiane Rhythmik gesteuert. Dazu gehören nicht nur der Schlaf-Wach-Rhythmus, sondern auch kognitive Funktionen, die Körpertemperatur und die Sekretion von Hormonen. Als Zeitgeber fungieren dabei verschiedene Umweltreize, vor allem Licht. Patienten mit Störungen ihrer zirkadianen Rhythmik sind nicht in der Lage, ihren Schlaf-WachRhythmus an diese Umweltsignale anzupassen. Jeder 3. Erwachsene leidet gelegentlich unter Einund/oder Durchschlafstörungen, allerdings liegt etwa bei jedem 10. Erwachsenen bereits eine chronische Schlafstörung vor, die die Stimmung und Leistungsfähigkeit am Tage erheblich beeinträchtigt. Schlafstörungen zählen damit (neben Kopfschmerzen) zu den häufigsten psychosomatischen Beschwerden. Offensichtlich nimmt die Häufigkeit dieser Symptome mit dem Alter zu, denn etwa 40% der über 65jährigen klagt über unzureichenden Schlaf bzw. Schlafprobleme. Wir können verschiedene Formen der Schlafstörungen unterscheiden: • Ein- und Durchschlafstörungen (Insomnien); • Störungen mit vermehrter Tagesschläfrigkeit (Hypersomnien); • Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus (wesentlich frühere oder spätere Einschlafrhythmen); • Schlafstörungen (Parasomnien, z. B. Schlafwandeln).
Einige der Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus treten familiär gehäuft auf; Abb 15.7 zeigt Beispiele für eine derartige Situation bei einzelnen Probanden. Dabei leiden die Patienten daran, dass sie bereits am frühen Abend einschlafen (engl. advanced sleep phase syndrome). Modelle in bestimmten Hamster- bzw. Mausmutanten zeigen ähnliche Verhaltensmerkmale, so dass auch hier auf vergleichbare Funktionen der beteiligten Gene geschlossen werden kann. Größere epidemiologische Untersuchungen konnten für zwei Polymorphismen eine Assoziation mit Veränderungen im Schlaf-WachRhythmus zeigen: In der 3’-flankierenden Region des menschlichen Clock-Gens CLK gibt es einen Polymorphismus (T3111C; Tabelle 15.1), der offensichtlich mit verschiedenen Schlaf-Wach-Rhythmen assoziiert ist. Homozygote Träger des C-Allels schlafen demnach später ein bzw. haben ein geringeres Schlafbedürfnis. Dabei sind diese Daten offensichtlich unabhängig von demographischen Größen wie Alter, Geschlecht und ethnischer Herkunft (Serretti et al. 2003). Ein zweiter Polymorphismus ist im menschlichen PER3-Gen beschrieben. Dieses Gen besteht aus 21 Exons; Exon 18 enthält eine repetitive Sequenz von 54 bp, die entweder 4- oder 5-mal hintereinander vorkommt. Dabei ist offensichtlich das längere Allel mit einem „Morgentyp“ und das kürzere mit einem „Abendtyp“ assoziiert; Homozygotie für das kürzere Allel ist darüber hinaus bei Patienten mit Einschlafstörungen (engl. delayed sleep phase syndrome) deutlich überrepräsentiert (s. Archer et al. 2003). Diese Beispiele zeigen, dass die moderne Genetik schrittweise durch die Kombination verschiedener methodischer Ansätze (Populationsgenetik bzw. genetische Epidemiologie, funktionelle Speziesvergleiche, Hochdurchsatzverfahren in der Sequenzanalyse) in der Lage ist, auch komplexe Verhaltensweisen wie Schlaf-Wach-Rhythmen beim Menschen aufzuklären und die Einzelkomponenten zu identifizieren und zu charakterisieren. Eine weitere Mutation, die zu familiär gehäuftem frühen Einschlafen führt, wurde im Gen für die Caseinkinase Iδ beschrieben. Der Aminosäureaustausch T44A führt in vitro zu einer verminderten enzymatischen Aktivität. Transgene Drosophila-Fliegen, die diese Mutation tragen, zeigen eine verlängerte zirkadiane Rhythmik. Im Gegensatz dazu zeigen transgene Mäuse mit derselben Mutation eine verkürzte Periode, was eher der Situation beim Menschen entspricht. Dieses Ergebnis
15.2 Lernen und Gedächtnis
Abb. 15.7. Schlafstörungen des Menschen und ein entsprechendes Tiermodell. Die Phase des Tagesrhythmus wird durch Schlafunterbrechungen beim Menschen und durch Aktivitäten im Laufrad bei Nagern bestimmt. Die Episoden des Schlafes bzw. der Laufrad-Aktivitäten sind jeweils im Abstand von Mitternacht angegeben. Die aufeinander folgenden Tage sind von oben nach unten in jedem Bild dargestellt. Im mittleren Bild wird die anomale Frühphase einer Schlafstörung mit vorgezogener Einschlafphase (engl. advanced sleep phase syndrome, ASPS) bei einem 62-jährigen Patienten gezeigt (im Verhältnis
zu einer gleichaltrigen Kontrolle, oben). Das untere Bild zeigt eine 69-jährige Probandin ohne zeitliche Orientierungspunkte („im Freilauf“). Die Drift zu immer früheren Zeiten deutet auf eine verkürzte intrinsische zirkadiane Rhythmik hin. Im rechten Abbildungsteil sind entsprechende Nagermodelle dargestellt. In der Mitte eine Hamstermutante mit Mutationen im doubletime (dbt)-Gen (oben Geschwistertiere zur Kontrolle). Das untere Bild zeigt eine Per2-Mausmutante. Beide Tiermodelle entsprechen dem menschlichen Verhalten. (Nach Wager-Smith u. Kay 2000).
zeigt nicht nur, das die Caseinkinase I eine zentrale Komponente der „inneren Uhr“ ist – offensichtlich haben wir hier aber ein interessantes Beispiel für unterschiedliche regulatorische Mechanismen bei den verschiedenen Klassen des Tierreiches vor uns (Xu et al. 2005).
(Langzeitgedächtnis). Unser Gehirn ist in der Lage, verschiedene Arten von Informationen zu speichern und verschiedene Formen von Gedächtnis zu bilden, die in zwei grundsätzliche Kategorien fallen: implizit und deklarativ. Das implizite Gedächtnis beinhaltet die einfache klassische Konditionierung, nicht-assoziatives Lernen, Wahrnehmungsvermögen und motorische Geschicklichkeit. Fahrradfahren und Klavierspielen erfordern die Entwicklung eines impliziten Gedächtnisses. Das deklarative Gedächtnis dagegen speichert Informationen über spezielle Ereignisse und dazugehörende zeitliche und persönliche Assoziationen. Diese Art von Gedächtnis benutzen wir täglich, um Leute, Gesichter und Plätze wieder zu erkennen und um uns an Geschehnisse aus unserer Vergangenheit zu erinnern. Diese Art von Erinnerung beinhaltet auch unsere sensorische Wahrnehmung, unsere Gefühle und Motivationen. Wenn wir uns an eine Erfahrung erinnern, rufen wir auch alles ab, was wir gesehen, gehört, gerochen, geschmeckt, gefühlt und erfühlt haben. In diesem Abschnitt werden in groben Zügen die genetischen Grundlagen
! Zirkadiane Rhythmen des Menschen sind in ähn-
licher Weise wie bei anderen Säugetieren genetisch kontrolliert. Polymorphismen in CLK- oder PER-Genen können mit unterschiedlichen Schlaf-Wach-Rhythmen assoziiert werden.
15.2 Lernen und Gedächtnis Erinnerung ist ein Prozess, durch den aufgenommene Informationen verarbeitet und gespeichert werden. Das kann nur für Minuten (Kurzzeitgedächtnis) oder für Stunden, Tage, Monate oder ein ganzes Leben sein
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Kapitel 15: Neurogenetik und die Genetik des Verhaltens
unserer Erinnerung, des Gedächtnisses und auch des Lernens dargestellt. Auch hier kommen die grundlegenden Erkenntnisse zunächst von niederen Tieren wie der Schnecke Aplysia oder der Fliege Drosophila, und erst später konnten entsprechende Mausmutanten identifiziert und charakterisiert werden. Damit lassen sich jetzt auch kognitive Störungen bei Menschen besser verstehen.
Systematische Untersuchungen zum Lernverhalten an Drosophila begannen zu Beginn der 1970er Jahre, als Seymour Benzer mit seiner Gruppe (Quinn et al. 1974) Fliegen mit Hilfe eines Elektroschocks trainierte, bestimmte Gerüche zu meiden (klassische Konditionierung; Abb. 15.8). Eine andere Gruppe (Lofdahl et al. 1992) züchtete aus einer homogen erscheinenden Population von Fliegen nach über 20 Generationen zwei Gruppen heraus, die sich in ihrer Antwort auf konditionales Lernen signifikant unterscheiden: Hatte die Ausgangspopulation etwa 19% Fliegen, die gut konditioniert werden konnten, so hatte die Gruppe der „guten Lerner“ am Ende 77%, die der „schlechten Lerner“ dagegen nur 0–4%. Die
lange Dauer, bis diese Züchtungsergebnisse erreicht wurden, deutet darauf hin, dass hier keine einfache Mendel’schen Zusammenhänge vorliegen, sondern komplexe Gen-Gen-Wechselwirkungen für den Phänotyp verantwortlich sind (Epistasie, Abb. 15.9). Allerdings führten Benzers Experimente mit der klassischen Konditionierung schnell zur Identifikation und Charakterisierung von Genen, die zu einem erfolgreichen Lernverhalten beitragen. Die ersten Mutanten, die nicht in der Lage waren zu lernen, dass dem Wohlgeruch ein Elektroschock folgt, wurden als dunce (das Gen wurde später auf dem X-Chromosom von Drosophila lokalisiert) bzw. als rutabaga bezeichnet. Weitere biochemische und molekulare Analysen zeigten, dass dunce für eine cAMP-abhängige Phosphodiesterase und rutabaga für eine Adenylatcyclase kodieren. In der Folgezeit wurden mit diesem System noch weitere Drosophila-Mutanten mit Lerndefekten isoliert (z. B. radish, amnesiac, cabbage und turnip). Ihre molekulare Charakterisierung zeigte ein gemeinsames Grundmuster: Sie alle betreffen – auf unterschiedliche Weise – die cAMP-Signalkaskade. Auch Mutationen in der cAMP-abhängigen Proteinkinase A stören die olfaktorischen Lernerfolge. Ein Substrat der PKA-abhängigen Phosphorylierung ist CREB, ein Transkriptionsfaktor, der an sogenannte „cAMP-Ant-
Abb. 15.8 a,b. Geruchsvermeidungslernen bei Drosophila. a Während des Training erfahren die Fliegen einen Geruch im Zusammenhang mit einer Bestrafung durch einen elektrischen Schock. Durch wiederholtes Testen vermeiden die Fliegen vorzugsweise den mit Schock verbundenen Geruch. Eine Gruppe von ~100 Fliegen wird in der Kammer trainiert, wobei die innere Oberfläche mit einem elektrifizierbaren Metallgitter ausgekleidet ist. Die Gerüche werden mit dem Luftstrom eingeblasen, wobei die Tiere zunächst einem Geruch (z. B. OCT: 3-Oktanol) und einem Elektroschock ausgesetzt werden. Danach erfahren sie einen zweiten Geruch (z. B. MCH: 4-
Methylcyclohexanol) ohne Schock. b Die Fliegen werden dann auf ihre Lern- oder Gedächtnisleistung getestet. Dazu werden sie in eine Position gebracht, an der sie zwischen den beiden einströmenden Gerüchen wählen können. Nach zwei Minuten werden die Fliegen gefangen und gezählt, die zu dem jeweiligen Geruch gelaufen sind. Die jeweiligen Quotienten entsprechen der Lernleistung, wenn der Abstand zwischen Training und Test kurz war (2 Minuten). Gedächtnisleistungen können im Prinzip auf die gleiche Weise gemessen werden, nur wird dabei der zeitliche Abstand zum Training verlängert. (Nach Waddell u. Quinn 2001)
15.2.1 Lernverhalten von Drosophila
15.2 Lernen und Gedächtnis
▲
Abb. 15.9 a,b. Bidirektionale Züchtung von Lernverhalten bei Drosophila. a Hungrige Fliegen wurden 15 Versuchen einer klassischen Konditionierung unterzogen, wobei einer von zwei chemosensorischen Reizen (Wasser oder Salzlösung; konditionierter Reiz) am Fuß mit einem Zucker-Reiz (unkonditioniertem Reiz) an den Rüssel verbunden wurde. Normalerweise bewirkt der Zucker-Reiz eine deutliche Verlängerung des Rüssels. Nach einigen paarweisen konditionierten/unkonditionierten Versuchen begann der konditionierte Reiz allein eine entsprechende Verlängerung des Rüssels hervorzulocken. Der Lerneffekt („Lernwert“) bestimmt sich aus der Zahl der Rüsselverlängerungen, die in den letzten 8 Trainingseinheiten durch den konditionierten Reiz hervorgerufen wurde. Acht Paare mit den höchsten bzw. niedrigsten Lernwerten wurden verpaart. Nach etwa 12 Generationen nähern sich die Lernwerte einer Asymptote, und die Mittelwerte der lebhaften und trägen Tiere unterscheiden sich signifikant voneinander sowie jeweils von der Ausgangspopulation. Diese lange Dauer spricht für eine polygene Grundlage der Verhaltensunterschiede. b Hungrige Fliegen (aber mit ausreichend Wasser) wurden am Fuß zunächst mit Wasser vorgetestet und unmittelbar darauf mit Zucker stimuliert. Nach 15, 30, 45 oder 60 Sekunden wurden sie erneut mit Wasser getestet und die Rüsselverlängerung bestimmt („Empfindlichkeitswert“). Jede Fliege wurde insgesamt 3 Mal getestet. Acht Paare mit den höchsten bzw. niedrigsten Empfindlichkeitswerten wurden verpaart. Nach nur einer Generation nähern sich die Lernwerte einer Asymptote, und die Mittelwerte der hoch und niedrig empfindlichen Tiere unterscheiden sich signifikant voneinander sowie jeweils von der Ausgangspopulation. Diese kurze Dauer spricht für die Beteiligung nur eines einzigen Gens. (Nach Tully 1996)
wortelemente“ (engl. cAMP-responsive elements) bindet, die in Promotoren entsprechender Zielgene vorhanden sind. Eine Übersicht über die biochemische Signalkaskade, die durch die verschiedenen Lernmutanten definiert wird, gibt Abb. 15.10. Die anatomische Lokalisation des olfaktorischen Lernverhaltens führte aufgrund verschiedener Experimente, nicht nur genetischer Untersuchungen, zu den Pilzkörpern (engl. mushroom bodies) im Gehirn von Drosophila (Abb. 15.10b). Die Pilzkörper haben eine enge Verbindung zu den Riechorganen, und so ist es nicht verwunderlich, dass die Pilzkörper für das olfaktorische Kurzzeitgedächtnis verantwortlich sind. Umgekehrt sind die Pilzkörper nicht notwendig, wenn Fliegen lernen, auf einfache visuelle, Berührungs- oder Bewegungsreize zu reagieren. Allerdings gibt es auch Hinweise, dass komplexeres Lernverhalten die Beteiligung der Pilzkörper auch bei visuellen
Stimuli erforderlich macht (z. B. beim Ausfiltern von Hintergrundrauschen) Offensichtlich sind die Pilzkörper nicht nur für die Integration des olfaktorischen Lernens wichtig, sondern auch für integratives Lernverhalten insgesamt. Dies wird deutlich, wenn bei Drosophila ein anderes Lernsystem verwendet wird, das einen Hitzeschock ohne zusätzlichen vorherigen äußeren Reiz verwendet (operante Konditionierung): Dabei sitzt die Fliege in einer Kammer, deren zweite Hälfte beim Betreten erhitzt wird (Abb. 15.10c). Nach kurzer Zeit hat die Fliege gelernt, diese Hälfte der Kammer zu meiden. Die Mutanten, die wir oben mit Defekten in den Genen der cAMP-Signalkaskade bereits kennen gelernt haben, zeigen auch in der Hitzekammer deutliche Lerndefizite. Von besonderem Interesse waren in diesem Testsystem aber verschiedene ignorantAllele, da sie unterschiedliche Phänotypen aufwiesen
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Kapitel 15: Neurogenetik und die Genetik des Verhaltens
Abb. 15.10a–d. Operante Konditionierung und cAMP-Kaskade bei Drosophila. a Die Fruchtfliege Drosophila auf einer britischen Penny-Münze. b 3D-Rekonstruktion des DrosophilaGehirns. Die paarigen grünen Strukturen stellen die Pilzkörper dar. c Schematische Darstellung des Lernens in der Hitzekammer. 15 bis 30 solcher Kammern können gleichzeitig und parallel betrieben werden. Die Fliegen laufen dabei in einer kleinen, rechteckigen, geschlossenen Kammer in vollständiger Dunkelheit hin und her. Die obere und untere Oberfläche sind mit Peltier-Elementen zur schnellen Heizung und Kühlung ausgestattet. Die Position der Fliege wird automatisch bestimmt, und ein Thermosensor hält die Temperatur auf dem gewünschten Stand. Wenn die Fliege die „verbotene Zone“ erreicht, wird die ganze Kammer auf 40 oC aufgeheizt; wenn die Fliege diesen Bereich verlässt, wird die Kammer wieder auf 20 oC herabgekühlt. Innerhalb von Minuten lernen die Fliegen, die verbotene Zone zu meiden. Sie behalten die Präferenz für die erlaubte Zone sogar dann bei, wenn die Bestrafung durch Hitze abgeschaltet wird. d Modell der postsynaptischen cAMP-Kaskade.
Einige ausgewählte Drosophila-Mutanten sind dabei herausgegriffen. Ein Rezeptor-gekoppeltes, cGMP-bindendes Protein („G-Protein“) und der Einstrom von Ca2+ aktivieren die rutabagaAdenylatcyclase, die cAMP produziert. Das Ca2+- und cAMPSignal vereinigen sich möglicherweise bei Raf, das durch das leonardo-kodierte 14-3-3-Protein moduliert wird. Nach einem weiteren Phosphorylierungsschritt aktiviert die Mitogenaktivierte Proteinkinase (MAPK) das CREB-Protein (engl. cAMPresponsive element binding protein) über P90, die ribosomale S6Kinase (RSK), die durch ignorant kodiert wird. Durch die Bindung von CREB an Promotoren verschiedener Gene werden neue Proteine synthetisiert, die für das Langzeitgedächtnis wichtig sind (LTM; engl. long-term memory). Die dunce- Phosphodiesterase vermindert dann die cAMP-Konzentration wieder. Diese Kaskade führt zu Veränderungen an vielen zellulären Strukturen wie z. B. den Zelladhäsionsmolekülen (CAM) oder an Ionenkanälen (wie dem K+-Kanal, der durch ether-a-go-go kodiert wird). (Nach Brembs 2003)
15.2 Lernen und Gedächtnis
(das ignorant-Gen kodiert für eine phosphorylierbare, ribosomale S6-Kinase mit Molekulargewicht 90 kD – daher „p90“): Die ursprüngliche Mutante (ignP1) enthält ein transposables P-Element im 1. Exon des Gens und zeigt in der Hitzekammer geschlechtsabhängige Veränderungen, denn unter diesen Bedingungen können nur die Männchen nicht lernen. Allerdings sind im klassischen olfaktorischen Konditionierungsexperiment beide Geschlechter dieser Linie von den Kontrollen nicht zu unterscheiden. Die zweite Mutante ist eine Null-Mutante (ign58/1),der die KinaseDomäne fehlt. Dieses Allel führt zu Lerndefiziten in der klassischen Konditionierung, nicht aber in der Hitzekammer. Daraus lässt sich schließen, dass die Kinase-Aktivität und andere Domänen des Proteins für unterschiedliche Prozesse im Lernverhalten benötigt werden. ! Genetische Untersuchungen zum Lernverhalten
an Drosophila haben eine Reihe von Genen identifiziert, deren mutierte Allele die Lernfähigkeit deutlich vermindern. Diese Gene kodieren in vielen Fällen für Enzyme, Rezeptoren oder Transkriptionsfaktoren in der cAMP-Signalkaskade.
15.2.2 Lernverhalten bei Mäusen Wie wir in früheren Kapiteln immer wieder gesehen haben, entwickelt sich die Maus in vielen Teilgebieten der modernen Genetik zu einem der wichtigsten Modellorganismen. Dies gilt auch für die Neurogenetik, wo sie zwischen Erkenntnissen an Invertebraten und den Fragestellungen vermittelt, die wir im Hinblick auf die Humangenetik haben. Die für Lernen und Gedächtnis wichtige morphologische Struktur im Mausgehirn ist der Hippocampus (hier insbesondere der gyrus dentatus und die Regionen CA1-CA4). Der Hippocampus gehört zu den entwicklungsgeschichtlich alten Teilen des Säugergehirns, den es auch im menschlichen Gehirn gibt. Um bei der Maus den am Lernvorgang beteiligten Mechanismen auf die Spur zu kommen, werden verschiedene Verhaltenstests angewendet; in Abb. 15.11 werden dazu Beispiele vorgestellt. Bei dem „Wasser-Versteck“ muss die Maus beispielsweise lernen, in einem großen Wasserbehälter eine Unter-
wasserplattform wieder zu finden. Derartige Untersuchungen werden bei der Maus noch nicht sehr lange systematisch durchgeführt, deshalb steht zunächst einmal die Erhebung von Basisdaten im Vordergrund, z. B. der Vergleich verschiedener Inzuchtstämme der Maus. Dabei zeigen sich interessante Unterschiede: Beispielsweise sind C57BL/6J-Mäuse offensichtlich „gute Lerner“, wohingegen CBA/J-Mäuse eher zu den „schlechteren Lernern“ gehören (Nguyen u. Gerlai 2002). Da es bisher nur sehr wenige spontane oder ENUinduzierte Lernmutanten der Maus gibt (zur chemischen Mutagenese vgl. Kap. 10.4.3), hat man sich im Wesentlichen zunächst einmal darauf beschränkt, einige Gene auszuschalten, deren Produkte aufgrund von pharmakologischen oder elektrophysiologischen Untersuchungen als wichtige Kandidaten in Frage kamen. Dabei ergab sich auch schon eine gewisse Übereinstimmung mit den Untersuchungen an Drosophila, so dass auch die genetische Lernforschung an der Maus das cAMP-System in den Mittelpunkt stellt. Allerdings zeigt sich hierbei ein wesentlicher Unterschied zu Drosophila in der Komplexität des Säugerorganismus: Das cAMP-System ist ja an vielen zellulären Antworten auf verschiedene Reize als Signalüberträger beteiligt. So sind zunächst einmal viele Mutanten überhaupt nicht lebensfähig, bei denen ein beteiligtes Gen ausgeschaltet wurde. Oder sie zeigen keinen auffälligen Phänotyp, weil ein anderes, ähnliches Gen die Funktion übernommen hat. Daher kommt bei diesen Untersuchungen in besonderem Maße die gewebespezifische Form der knock-outTechnologie zum Einsatz (Cre/lox-System oder induzierbare Mutationen über das tTA-System; s. Technik-Boxen 27 und 28). Die aktuelle Datenbank des Jackson-Labors enthält zur Zeit der Drucklegung dieses Buches (Sommer 2005) Hinweise auf 134 verschiedene Phänotypen. Ein Teil davon ist in der Tabelle 15.2 aufgeführt. Im Folgenden werden einige Beispiele vorgestellt werden, wobei zunächst von den Signalrezeptoren (im Wesentlichen ein Glutamat-Rezeptor – NMDA) die Rede sein soll, dann von der Umschaltung des Signals via αCaMKII und PKA auf CREB und die Synthese der Transkriptionsfaktoren Zif268 und C/EBP. Die wichtige Rolle des NMDA-Rezeptors (NMethyl-D-Aspartat) ist in der Lern- und Gedächtnisforschung schon lange bekannt, vor allem durch Untersuchungen seiner Inhibitoren. Er ist ein Ionenkanal für Na+, K+ und Ca2+, der allerdings bei norma-
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Kapitel 15: Neurogenetik und die Genetik des Verhaltens
Abb. 15.11 a,b. Lern- und Gedächtnistraining bei Mäusen. a Die Versteck-Version eines Wasser-Labyrinths wird verwendet, um das Hippocampus-abhängige räumliche Lernen zu testen. b Kontextabhängiges Angsttraining wird verwendet, um
assoziatives Lernen zu untersuchen. Dabei wird ein Elektroschock am Fuß appliziert und es muss gelernt werden, in welchem Zusammenhang der Elektroschock eintritt. (Nach Matynia et al. 2002)
lem Membranpotential durch Mg2+-Ionen „verstopft“ ist. Erst bei leichter Depolarisation verlassen mehr und mehr Mg2+-Ionen den Kanal, und er kann durch die Agonisten Glutamat und Glycin geöffnet werden. Die potentialabhängige Funktionsweise des NMDARezeptors entspricht damit einer logischen „UND“Verknüpfung und verleiht der Informationsübertragung durch NMDA-Rezeptoren die Plastizität, die für Lernen und Gedächtnis wichtig ist. Glutamat wirkt dabei als Neurotransmitter, da es von den präsynaptischen Membranen aktivitätsabhängig ausgeschüttet wird. Glycin dagegen ist ständig in geringen Konzentrationen in der extrazellulären und cerebrospinalen Flüssigkeit anwesend; diese Konzentration reicht zur Sättigung des Rezeptors im Prinzip aus. Allerdings können Glycin-Transporter diese Konzentration lokal verändern. Der NMDA-Rezeptor besteht aus 4 bis 5 Untereinheiten (Gensymbole NR1, NR2A-D), die zu unterschiedlichen Zeiten exprimiert werden. Das Ausschalten eines dieser Gene führt in der Regel zur Letalität der Maus. Um dennoch bestimmte Effekte des NMDARezeptors untersuchen zu können, haben Kew und seine Mitarbeiter (2000) eine Punktmutation eingefügt, die die Aminosäure Asn (N) an der Position 481 des NR1 anstelle von Asp (D) in
der Glycin-Bindestelle enthält. Die entsprechenden Mutanten sind lebensfähig; biochemisch bewirkt diese Mutation eine leichte Abnahme der Bindung von Glycin an diese Untereinheit (aber nicht von Glutamat). Diese Mutanten zeigten keine Unterschiede in ihren Reflexen und in ihrer Antwort auf Licht-DunkelReize. Allerdings konnte in diesen Mäusen elektrophysiologisch keine Langzeitpotenzierung erzeugt werden – und der Verhaltenstest mit der Unterwasserplattform ergab deutliche Lerndefizite dieser Mutanten. Es gibt eine ganze Reihe verschiedener Proteine, die mit dem NMDA-Rezeptor in Wechselwirkung treten können. Eine große Familie sind die RezeptorTyrosinkinasen – Membran-assoziierte Proteine, die sich selbst phosphorylieren, wenn ihr jeweiliger Ligand gebunden hat. Wichtige Mitglieder dieser Familien, die im Hippocampus zusammen mit dem NMDA-Rezeptor exprimiert werden, sind EphrinRezeptoren A und B sowie TrkB, das durch die Protease Presenilin 1 prozessiert wird (wir werden die wichtige Rolle der Preseniline bei der Alzheimer’schen Erkrankung später noch kennen lernen, Kap. 15.4.1). Mutationen in den Genen, die für diese Proteine kodieren, ergeben in verschiedenen Tests Defizite im Lernverhalten.
15.2 Lernen und Gedächtnis
Tabelle 15.2.
Auswahl einiger Lernmutanten bei der Maus
Allel
Konstruktion und biochemische Folge
Phänotyp
Aal
Spontan (Gen unbekannt; Chr. 1)
Lerndefekt bei aktivem Vermeidungsverhalten
Camkk2 tm1Kpg
Entfernung von Exon 5 durch Cre/lox; Verlust der katalytischen Domäne in allen β-Isoformen der CaM-Kinase-Kinase
Verlust von LPT und Langzeitgedächtnis
Creb1tm1Gsc
Knock-out durch Neomycin-Kassette in Exon 2; Verlust der α- oder δ-Isoform von CREB, aber Kompensation durch Erhöhung der β-Isoform
Verlust von Lernfähigkeit und Langzeitgedächtnis
Creb1tm2Gsc
Knock-out durch Neomycin-Kassette in Exon 10; Verlust der DNA-Bindedomäne und des Leucin-Zippers
Verlust von Lernfähigkeit und Langzeitgedächtnis
CrebbpGt(U-san)112Imeg
Genfallen-Mutation; Expression eines verkürzten CREB-Bindeproteins
Verlust des Langzeitgedächtnisses (heterozygot)
Egr1tmLch
Knock-out durch Neomycin-Kassette zwischen Promotor und Exon 1; Abwesenheit des Genprodukts
Stimulation der Genexpression durch LTP; Verlust des Langzeitgedächtnisses
Pde1btm1Cvv
Knock-out durch PGK-HPRT-Kassette anstelle der Exons 6 – 9
Lerndefizit und Hyperaktivität
tmgc31
ENU-induziert, Gen unbekannt (Chr. 7)
Lern- und Gedächtnisanomalie
CaMKK: Ca2+/Calmodulin-Kinase-Kinase-β; CREB: cAMP responsive Element binding protein; CREBBP: CREB-bindendes Protein; Egr: early growth response; LTP: hippocampale Langzeitpotenzierung; tmgc: Tennessee Mouse Genome Consortium Nach The Jackson-Laboratory: Mouse Genome Informatics (Datenbank Learning/memory; Stand 17.7. 2005)
Ein weiteres Enzym, das mit dem NMDA-Rezeptor interagiert, ist die aCaMKII, eine Ca2+/Calmodulinabhängige Kinase, die im Hippocampus und im Cortex des Gehirns stark exprimiert ist. Diese Kinase nimmt eine weitere zentrale Position beim Lernen ein. Der durch die Aktivierung des NMDA-Rezeptor hervorgerufene Ca2+-Einstrom bewirkt auch eine Autophosphorylierung der αCaMKII am Threonin der Position 286 – damit wird diese Kinase Ca2+/Calmodulin unabhängig und aktiv. Heterozygote NullMutanten (also αCaMKII+/-) zeigen unter verschiedenen Testbedingungen normales Lernverhalten im Hippocampus. Allerdings sind diese Mäuse nicht in der Lage, sich das Gelernte über einen längeren Zeitraum (hier 3 Tage) zu merken. An diesem Langzeitgedächtnis sind offensichtlich noch zusätzliche Struktu-
ren im Neocortex beteiligt; hier ist die Expression von aCamKII geringer als im Hippocampus, und die Verminderung um ca. 50% in den heterozygoten NullMutanten ist offensichtlich nicht mehr ausreichend, um die Funktion im Neocortex aufrecht zu erhalten. Homozygote aCaMKII-Null-Mutanten dagegen hatten auch deutliche Defizite in kurzzeitigen Lerntests: Sie versagten völlig, die Unterwasserplattform (Abb. 15.11a) wieder zu finden (wenn die Plattform allerdings sichtbar blieb, hatten sie auch keine Probleme). Einen interessanten Ansatz zur Untersuchung der aCaMKII-Funktion wählten Ohno und Mitarbeiter (2001): Eine Maus, heterozygot für die T286A-Mutation im aCaMKII, unterscheidet sich im kurzzeitigen Lerntraining nur geringfügig von den Wildtyp-Geschwistern. Der Austausch von
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Kapitel 15: Neurogenetik und die Genetik des Verhaltens
Threonin durch Alanin verhindert die Autophosphorylierung an der Position 286.Wird dieser heterozygoten Maus nun vor dem Lerntraining ein Antagonist des NMDA-Rezeptors in einer Konzentration verabreicht, der bei Wildtypen keine veränderte Lernreaktion hervorruft, so ist bei den heterozygoten aCaMKIIMutanten eine deutliche Verschlechterung der Lernund Gedächtnisleistung zu beobachten. Dies ist nicht der Fall, wenn der Antagonist später zugegeben wird. Diese Kombination von pharmakologischen und genetischen Ansätzen erlaubt nicht nur, Einzelaspekte des Lern- und Gedächtnismechanismus voneinander zu trennen, sondern erklärt auch unterschiedliche Reaktionsprofile auf gleiche Umwelteinflüsse. Der Einstrom von Ca2+-Ionen über den NMDARezeptor kann aber auch die Signalkette aktivieren, in der die Proteinkinase A (PKA) eine zentrale Rolle einnimmt. Hohe cAMP-Konzentrationen (hervorgerufen beispielsweise durch Ca2+-abhängige Adenylatcyclasen, AC) aktivieren die PKA, die dann wiederum verschiedene Substrate phosphorylieren kann (z. B. den NMDA-Rezeptor oder CREB); verschiedene Phosphatasen (z. B. Protein-Phosphatase 1A oder Calcineurin) arbeiten entgegengesetzt, da sie die PKA-Substrate wieder dephosphorylieren können. Calcineurin ist eine Ca2+-sensitive Ser/Thr-Phosphatase und in hohen Konzentrationen im Hippocampus vorhanden. Wir kennen etwa 10 verschiedene Adenylatcyclasen, die in vielen Geweben gleichzeitig exprimiert werden; im Hippocampus sind 9 ACs vorhanden. Zwei davon, AC1 und AC8, werden durch Ca2+/Calmodulin stimuliert. Deletionen eines der beiden AC1- bzw. AC8kodierenden Gene haben keinen Einfluss auf das Lernverhalten der Mäuse; werden aber beide Gene gemeinsam ausgeschaltet, so zeigen sich deutliche Auswirkung auf die späte Phase der Langzeitpotenzierung. Der Unterschied zu den Wildtypen wird noch deutlicher, wenn das Langzeitgedächtnis nach 8 Tagen untersucht wird.Durch Gabe von Forskolin,einem chemischen Aktivator aller Adenylatcyclasen, kann das Defizit der Ca2+-abhängigen ACs ausgeglichen werden. Wie Abb. 15.12 zeigt, münden alle Signalketten in eine Aktivierung von CREB, einem Transkriptionsfaktor, dessen phosphorylierte Form spezifisch an Promotoren bindet, die über sog. cAMP-AntwortElemente verfügen (engl. cAMP responsive elements, CRE). CREs sind in den Promotoren einer Vielzahl von Genen enthalten und spiegeln damit die Funktionsvielfalt des cAMP-Systems, das nicht nur auf Lernen und Gedächtnis beschränkt ist. Allerdings
zeigen die Deletionen der α- und δ-Isoformen von Creb in der Maus deutliche Effekte auf das Langzeitgedächtnis, jedoch nicht auf das Kurzzeitgedächtnis. Gleichzeitig versucht der Organismus offensichtlich, den Ausfall dieser beiden Isoformen durch eine verstärkte Expression der β-Isoform und anderer splice-Varianten zu kompensieren, so dass Unterschiede der Wirkung dieser Deletionen in verschiedenen Mausstämmen beobachtet werden können. Umgekehrt erleichtert eine Erhöhung der CREBKonzentrationen durch virale Expressionssysteme die Trainingsbedingungen für die Bildung des Langzeitgedächtnisses. Verfeinerte experimentelle Bedingungen deuten darauf hin, dass CREB insbesondere dafür benötigt wird, Wissen zu verfestigen. Die Zielgene von CREB können, wie schon erwähnt, sehr vielfältig sein. In Bezug auf Lernen und Gedächtnis spielen offensichtlich zwei Gene eine wichtige Rolle, die als Zif268 und C/EBP bezeichnet werden und ebenso für Transkriptionsfaktoren kodieren. Da das C/EBP-Protein an dieselben CREs bindet wie CREB selbst, wird hier ein negativer Rückkopplungsmechanismus vermutet. Diese Interpretation wird durch Untersuchungen an C/EBP -/--Mäusen gestützt, die räumliche Informationen offensichtlich schneller verarbeiten können als Wildtyp-Mäuse. Das zweite Gen, dessen Expression durch CREB hochreguliert wird, kodiert für den Transkriptionsfaktor Zif268 (auch bekannt unter den Abkürzungen Egr-1, Krox24, NGFI-A oder Zenk) und wurde ursprünglich als frühe Antwort auf einen Nervenwachstumsfaktor in Zellkulturen identifiziert.Dieser Transkriptionsfaktor enthält drei Zinkfingermotive und erkennt GC-reiche Elemente in den Promotoren seiner Zielgene. Zif268 wird in verschiedenen Arealen des Neocortex, des Hippocampus, der Amygdala, des Striatum und des Cerebellums exprimiert. Deletionen von Zif268 führen in der Maus nicht zu offensichtlichen histologischen Veränderungen, aber diese Deletionsmutanten zeigen Defizite im Langzeitgedächtnis, ohne dass das Kurzzeitgedächtnis betroffen ist. Wenn allerdings das Trainingsverhalten in längere Intervalle unterteilt wird, führt diese Lernform bei den Zif268 -/-Mutanten zu Ergebnissen, wie wir sie vom Wildtyp her kennen. Insgesamt deuten diese Ergebnisse darauf hin, dass Zif268 Teil der Signalkette ist, die das Langzeitgedächtnis in Abhängigkeit von Proteinsynthese ausbildet. Zif268 ist offensichtlich wichtig, um Erinnerungen zu festigen und re-aktivierte Erinnerungen erneut zu speichern (Bozon et al. 2003).
15.2 Lernen und Gedächtnis
Abb. 15.12a–c. CREB als zentraler Transkriptionsfaktor für Lernen und Gedächtnis bei Mäusen. Ausgehend von verschiedenen Rezeptoren (NMDAR, AMPAR, EphB2, TrkB) werden über Ca2+-abhängige oder über G-Protein-abhängige Signalwege eine Reihe von Kinasen aktiviert (CaMKII, CaMKIV, CaMKK, MEK, MAPK), die schließlich alle zur Phosphorylierung und damit Aktivierung des Transkriptionsfaktors CREB führen. Die anschließende Expression von C/EBP leitet eine negative Rückkopplungsschleife ein, wohingegen die Aktivierung des Zinkfinger-Transkriptionsfaktors Zif268 für die Verfestigung des Gelernten wichtig ist. Für die Proteine in Kästchen ist eine Funktion bei Lernen und Gedächtnis beschrieben. AC1/8: Adenylatcyclase-1 oder -8; AMPAR: α-Amino-3-Hydroxy-5Methyl-Isoxazol-Propionsäure-Rezeptor; CaMKII/IV: Ca2+/Calmodulin-abhängige Kinase II bzw. IV; CaMKK: Ca2+/Calmodulin-abhängige Kinase-Kinase; CN: Calcineurin; CREB: cAMP-responsive element binding protein; PKA: Proteinkinase A (C: katalytische Untereinheit; R: regulatorische Untereinheit); MAPK: Mitogen-aktivierte Proteinkinase; MEK: MAP-Kinase-Kinase; Nf1: Neurofibromin–1; NMDAR: N-Methyl-D-Aspartat-Rezeptor. a Calcium spielt eine wichtige Rolle bei der Plastizität der Synapsen und der Gedächtnisfunktion. b Der PKASignalweg wird für das Langzeitgedächtnis benötigt. c Die Beteiligung des Ras/MAPK-Signalwegs bei Lernund Gedächtnisvorgängen. Der Ras-Signalweg wird nicht nur über den NMDA-Rezeptor aktiviert, sondern auch über die Rezeptor-Tyrosinkinase TrkB und den Ephrin-B2-Rezeptor (EphB2). (Nach Matynia et al. 2002)
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Kapitel 15: Neurogenetik und die Genetik des Verhaltens
! Lernen und Gedächtnis sind vielschichtige Phä-
nomene, die zunehmend auf der genetischen Ebene untersucht werden können. Ergebnisse mit knock-outMutanten der Maus machen deutlich, dass die cAMPSignalkette im Hippocampus dabei eine zentrale Rolle spielt. Wesentliche Komponenten dabei sind der NMDA-Rezeptor, αCaMKII, PKA und CREB und schließlich die Synthese von Transkriptionsfaktoren wie Zif268 und C/EBPs. Damit wurde bei der Maus ein ähnliches System charakterisiert wie bei Drosophila.
15.2.3 Kognitive Störungen bei Menschen Lernunfähigkeit bei Menschen ist ein deskriptives Konzept, mit dem Ursachen und Bedingungen menschlicher Lernschwierigkeit beschrieben werden. Schwere Lernunfähigkeit wurde schon länger als pathologisch beschrieben, wohingegen milde Formen der Lernunfähigkeit weitgehend als soziokulturell und multifaktoriell bedingt betrachtet wurden. Im Gegensatz dazu mehren sich Berichte, die zeigen, dass auch Veränderungen bei einzelnen Genen und kleinere chromosomale Rearrangements für Lernunfähigkeiten verantwortlich sind. Die Tatsache, dass mehr Männer als Frauen von Lernunfähigkeiten betroffen sind, ist seit über 100 Jahren bekannt und hat viel damit zu tun, dass auf dem X-Chromosom eine Reihe von Genen liegt, deren Mutationen zu mentaler Retardierung führen (z. B. das Fragile-XSyndrom; s. S. 692). Ein Beispiel für Lernunfähigkeit, die durch ein einzelnes Gen verursacht wird, ist die Neurofibromatose I (NF1; früher auch als „von-Recklinghausen-Erkrankung“ bezeichnet). NF1 ist eine dominante Erkrankung (OMIM 162200, Chr. 17q11, Häufigkeit 1:3000 – 4000), die zunächst durch gutartige und bösartige Tumore des Nervensystems gekennzeichnet war. Es zeigte sich aber bald, dass der Phänotyp sehr variabel ist; weitere häufige Merkmale sind Lisch-Knötchen in der Iris und Café-au-lauitFlecken auf der Haut, seltener dagegen verschiedene Skelettanomalien. In unserem Zusammenhang hier ist aber hervorzuheben, dass etwa 30 – 65% der Kinder mit NF1-Mutationen auch an Lerndefiziten leiden. Die im Kindesalter beobachteten Einschränkungen werden in qualitativ identischer Form ins Erwachsenenalter tradiert (Uttner et al. 2003). Ver-
ständlicherweise konzentrierten sich die früheren Arbeiten vor allem auf das Verständnis der Tumorerkrankung. Neuere Arbeiten zeigen aber, dass derselbe Signalweg, der zur Bildung von Nerventumoren führt, auch bei Lernprozessen benötigt wird: Es ist der Ras-Signalweg (Abb. 15.12 c). Neurofibromin, das Protein, das durch NF1 kodiert wird, ist für eine Reihe biochemischer Funktionen verantwortlich (z. B. GTPase-Aktivierung, Modulation der Adenylatcyclase und Bindung an Mikrotubuli) und in diesen Funktionen hochkonserviert bei Drosophila, der Maus und dem Menschen. Der vollständige Verlust des NF1-Gens in Homozygoten ist sowohl bei der Maus als auch beim Menschen letal, und ältere, heterozygote Nf1+/–-Mäuse zeigen klinische Symptome, die wir von NF1-Patienten kennen. Es zeigte sich nun, dass eine der verschiedenen Funktionen des Nf1-Genprodukts für das Lernverhalten der Mäuse wichtig ist. Es handelt sich dabei um die Regulation der GTPase aktivierende Funktion von Nf1 durch die Wechselwirkung zwischen Nf1 und Ras. Der Verlust dieser Nf1-Funktion führt zur Überaktivierung von Ras und in seiner Konsequenz zu einer unangemessenen Aktivierung der Erk-Kaskade (Abb. 15.12 c). Costa et al. (2002) konnten in einem eleganten Experiment zeigen, dass durch Gabe eines pharmakologisch wirksamen Ras-Inhibitors in den heterozygoten Nf1+/–-Mäusen die Lerndefizite erfolgreich behandelt werden konnten. Der Ras-Signalweg ist übrigens noch für weitere Erbkrankheiten wichtig, die mit Syndromen geistiger Retardierung beim Menschen verbunden sind. Es handelt sich dabei um das Coffin-Lowry-Syndrom und das Rubinstein-Taybi-Syndrom. Im ersten Fall ist das RSK2-Gen mutiert (dessen Genprodukt CREB phosphoryliert) und im zweiten das CREBBP-Gen, dessen Genprodukt an CREB bindet und mit CREB die Expression der Zielgene steuert (Sweatt u. Weeber 2003). In den letzten Jahren ist aber nicht nur unser Wissen über monogenische Erkrankungen gewachsen, sondern komplexe genetische Zusammenhänge werden auch immer klarer. So wurden im Rahmen mehrerer QTL-Analysen (siehe Kap. 14.4) mögliche relevante Genorte für Leseschwächen auf den Chromosomen 6 und 15 identifiziert. In einer 3-Generationen-Familie wurde ein Gen für Sprachschwächen (engl. language impairment; developmental verbal dyspraxia; OMIM 602081) auf dem langen Arm des Chromosoms 7 lokalisiert. Genauere molekulare Ana-
15.3 Angst und Sucht
lysen machten eine Punktmutation im FOXP2-Gen dafür verantwortlich. FOXP2 ist ein Transkriptionsfaktor mit einem Polyglutamin-Bereich (Trinukleotid-Repeat!) und einer „Forkhead“-DNA-Bindedomäne (benannt nach dem Drosophila-Gen forkhead; siehe Kap. 13.3 und 16.3.3). Weitere QTL-Analysen für Sprachdefizite fanden Kopplungen mit den Chromosomen 16 und 19 (Plomin u.Walker 2003). ! Genetische Untersuchungen von Krankheiten, die
mit Lernstörungen und kognitiven Defiziten bei Menschen verbunden sind, zeigen deutliche Parallelen zu den molekularen Mechanismen, die von der Maus bekannt sind. Detaillierte Analysen zeigen die Beteiligung des Ras-Signalweges.
15.3 Angst und Sucht Wir haben bis jetzt einige genetische Komponenten kennen gelernt, die für rhythmisches Verhalten, für Lernen und Gedächtnis (mit)verantwortlich sind. Wie sieht das aber mit noch komplexeren Verhaltensweisen aus, mit Stimmungen und Gefühlen? Beispielsweise macht man die Erfahrung, dass jeder mit Stress anders umgeht oder dass verschiedene Menschen in vergleichbaren Situationen ganz unterschiedlich reagieren. Es soll im Folgenden versucht werden, an einigen Beispielen herauszufinden, welche genetischen Aspekte bei derart komplexen Verhaltensweisen eine Rolle spielen können. Damit soll natürlich nicht einer genetischen Determination das Wort geredet werden – aber es kann ein wenig der Rahmen deutlicher aufgezeigt werden, innerhalb dessen sich jeder bewegt – und welche Möglichkeiten (aber auch Unmöglichkeiten) sich daraus für eine Therapie abzeichnen.
15.3.1 Angst und Depression Angst ist ein Gefühl der Bedrängtheit, das von der Vorstellung zukünftigen Übels verursacht wird. Im Gegensatz zur Furcht ist die Angst auf keinen bestimmten Gegenstand bezogen und damit anonym und unbestimmbar. Weil Angst auch in Situationen auftritt, in denen keine konkrete, objektive Bedrohung feststellbar ist, wird sie von der Psychologie als
krankhafte Störung aufgefasst (Angststörung), bei der körperliche Symptome wie Beschleunigung von Atmung und Herzfrequenz, Schweißausbruch usw. mit einer Beeinträchtigung des problemlösenden Denkens einhergehen. Als Depression bezeichnet man eine Krankheit, die mit Niedergeschlagenheit und vielen weiteren körperlichen und psychischen Störungen einhergeht. Derzeit sind schätzungsweise 5% der Bevölkerung in Deutschland an einer behandlungsbedürftigen Depression erkrankt. Etwa dreimal so groß ist die Zahl derjenigen, die irgendwann im Laufe ihres Lebens an einer Depression erkranken. Hat man bereits einmal eine Depression durchlebt, so besteht ein erhöhtes Risiko für das erneute Auftreten dieser Krankheit. Wenn sich depressive Phasen mit Phasen gehobener Stimmung, Aggression, Reizbarkeit, gesteigerter Impulsivität und Spontaneität abwechseln, spricht man von einer manischen Depression (auch bipolare affektive Störung). Diese Krankheit hat eine Häufigkeit von etwa 1% in allen untersuchten Kulturkreisen. Beiden Krankheitsformen (Angst und Depression) ist gemeinsam, dass sie sich durch Medikamente behandeln lassen, die mit der Funktion des Neurotransmitters Serotonin zusammenhängen. Aufgrund früherer neuroanatomischer Untersuchungen und Reizungen bestimmter Gehirnareale mit Stromstößen bei Tierversuchen konnte man davon ausgehen, dass „Angst“ in der Amygdala (Mandelkern), einer Gehirnregion unterhalb des Schläfenlappens, lokalisiert ist. Weitere Hinweise kamen aus pharmakologischen Erfahrungen, die zeigten, dass man mit Hemmstoffen der Wiederaufnahme des Neurotransmitters Serotonin wirkungsvoll Ängste und Depression behandeln kann. In Abb. 15.13 sind einige Komponenten des serotonergen Systems dargestellt, dabei spielt der Biosyntheseweg des Serotonins (auch als 5-Hydroxytryptophan bezeichnet, Abk.: 5-HT) aus Tryptophan eine wichtige Rolle. Ergänzt wird das System durch Rezeptoren (5-HT1, 5HT2 und 5-HT3), die postsynaptisch das Serotonin wieder aufnehmen, und die Transporter und Autorezeptoren, die es aus der Synapse wieder wegfangen. Serotonerge Neurone entspringen den Raphe-Kernen in Mesencephalon, Pons und Medulla oblongata. Aszendierende Bahnen verlaufen zum Hypothalamus, Thalamus, Neostriatum, den Strukturen des limbischen Systems und dem Neocortex. Eine cerebellare Bahn versorgt Kerne und den Cortex cerebelli. Deszendierende Bahnen versorgen die pontine und
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Kapitel 15: Neurogenetik und die Genetik des Verhaltens
15.13. Serotonerge Transmission an Synapsen. Die serotonerge Synapse zeigt einige Komponenten, deren genetische Variation eine wahrscheinliche Ursache psychiatrischer Erkrankungen ist. Der erste wichtige Schritt in der Serotonin (5HT)-Biosynthese ist die Aufnahme von Tryptophan (Trp) in die präsynaptische Zelle. Die Umwandlung von Trp in 5-Hydroxytryptophan (5-HTP) wird durch die Tryptophanhydroxylase (TPH) katalysiert. Die Aromatische-Aminosäure-Decarboxylase (AADC) wandelt 5-HTP schließlich in 5-HT um, das anschließend in den synaptischen Spalt freigesetzt wird. Nach der Frei-
medulläre Formatio reticularis sowie den Locus coeruleus. Bulbospinale deszendierende Bahnen laufen zu den Vorder- und Hinterhörnern des Rückenmarks sowie zum Nucleus intermediolateralis. Serotonin wird außerdem in der Retina als Transmittersubstanz verwendet. Wir haben uns bei unseren vorherigen Überlegungen oft von Mutanten bei Drosophila und Mäusen leiten lassen, wenn wir etwas über die genetischen Hintergründe von Krankheiten wissen wollten. Auch in diesem Fall hilft das weiter, da die moderne Verhaltensbiologie durchaus in der Lage ist, bei Tieren – z. B. bei der Maus – Angstverhalten nachzuweisen. Ein Testverfahren beruht auf dem Vermeidungsverhalten der Maus gegenüber unbekannten und ungeschützten Arealen. In der Hell-Dunkel-Box (Abb. 15.14a) kann die Maus zwischen einem hellen, größeren und einem dunklen, kleineren Areal wählen, wobei die Aufenthaltsdauer des Tieres in dem jeweiligen Bereich Rückschlüsse über dessen emotionalen
setzung kann 5-HT an die postsynaptischen Rezeptoren (z. B. 5-HT2A, 5-HT2C) oder an die präsynaptischen Autorezeptoren (5-HT1B, 5-HT1A) binden oder aus der Synapse durch Serotonintransporter (SERT) entfernt werden. Nach der Wiederaufnahme kann 5-HT durch die Monoaminoxidase (MAO) inaktiviert und dann zu 5-Hydroxyindolessigsäure (5-HIAA) oxidiert werden. Messungen von 5-HIAA in der cerebrospinalen Flüssigkeit (CSF) werden oft als Index der Serotoninfunktion verwendet. (Nach Stoltenberg u. Burmeister 2000)
15.14 a,b. Test auf Angstverhalten bei der Maus. a In der HellDunkel-Box kann die Maus zwischen einem hellen, größeren und einem dunklen, kleineren Areal wählen. Die Aufenthaltsdauer in dem jeweiligen Kompartiment erlaubt Rückschlüsse über den jeweiligen emotionalen Zustand. b Bei dem erhöhten Kreuz besteht ebenfalls die Wahl zwischen geschützten und ungeschützten Arealen. (Photo: M.E. Keck, MPI für Psychiatrie, München)
15.3 Angst und Sucht
Zustand erlaubt. Ähnlich verhält es sich bei dem Test auf erhöhten, kreuzweise angeordneten schmalen Plattformen (engl. elevated plus maze; Abb. 15.14b). Aus klinischen Untersuchungen ist bekannt, dass Agonisten des Serontonin-1A-Rezeptors Angst auflösen können. René Hen und seine Mitarbeiter (Gross et al. 2002) haben nun das Gen für den Serotonin-Rezeptor 1A in der Maus ausgeschaltet mit dem Ergebnis, dass die entsprechenden knock-out-Mäuse erhöhtes Angstverhalten zeigten. Durch gewebespezifisches Wiedereinschalten des Gens (über das induzierbare ttA/tetO-System) konnten Hen und seine Mitarbeiter zeigen, dass das Ausschalten des Serontin-1A-Rezeptors nur im Hippocampus und im Cortex, nicht aber in den RapheKerne für das Angstverhalten verantwortlich ist. Außerdem deuten die Ergebnisse darauf hin, dass eine kritische Phase (in der Maus zwischen dem 5. und 21. Tag nach der Geburt) darüber entscheidet, ob eine Maus als erwachsenes Tier ängstlich ist oder nicht. Wurde der Serotonin-Rezeptor hingegen erst
bei erwachsenen Tieren inaktiviert, schien sich das nicht auf das Verhalten auszuwirken. Dies widerspricht dem herrschenden Paradigma, dem zufolge niedrige Serotoninspiegel (oder kein Rezeptor) im Gehirn zu Ängsten führen. Die Ergebnisse legen vielmehr die Interpretation nahe, dass gängige Medikamente nicht unbedingt die Ursache der Störung behandeln, sondern die Symptome eines Ereignisses lindern, das vor langer Zeit eingetreten ist. Wie oben bereits angedeutet, ist eine wichtige Informationsquelle der Neurogenetik die Wirkung bestimmter Wirkstoffe, die in der Klinik verwendet werden. Eine Möglichkeit, die Aktivität von Signalketten zu verändern, besteht natürlich aus genetischer Sicht auch darin, dass verschiedene Promotoren zu unterschiedlichen Genaktivitäten führen. Ein solcher funktioneller Polymorphismus wurde auch im Falle eines Serotonin-Transporter-Gens (Abb. 15.15a) festgestellt. Bei Menschen gibt es zwei Allele, die sich in ihrer Länge unterscheiden. Frühere Studien deuten darauf hin, dass Menschen mit der kürzeren Version
15.15 a,b. Allelspezifische Häufigkeit von Depressionen. a Polymorphismus im Promotor des humanen 5HT-Transportergens. Eine 44-bp-Insertion bzw. -Deletion repetitiver Sequenzen im Promotor des Gens, das für den humanen 5-HT-Transporter kodiert (5-HTT), kennzeichnet das lange bzw. kurze Allel. Im Reportergenassay mit menschlichen Lymphoblastenzellen wurde gezeigt, dass das lange Allel etwa doppelt so aktiv ist wie das kurze. b Allelspezifische Häufigkeit von Depressionen. Es
ist die prozentuale Häufigkeit dargestellt, mit der Patienten im Alter von 26 Jahren als „depressiv“ diagnostiziert wurden. Es ist dabei auch die Anzahl der Lebensereignisse im Alter zwischen 21 und 26 Jahren angegeben, die als „Stress“ empfunden wurden. Links sind Individuen angegeben, die hetero- oder homozygot für das kurze Allel des Promotors des 5-HTT-Gens waren; rechts dagegen die Homozygoten für das lange Allel. (a : nach Lesch et al. 1996 ; b : nach Caspi et al. 2003)
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Kapitel 15: Neurogenetik und die Genetik des Verhaltens
ängstlicher sind. David Weinberger und seine Mitarbeiter (Hariri et al. 2002) zeigten nun Probanden Bilder von erschreckten Gesichtern. Dies gilt als Standardmethode, um im Gehirn eine Reaktion auf eine Angstsituation auszulösen. Mittels funktioneller Magnet-Resonanz-Tomographie wurde untersucht, wie energisch die Amygdala auf die verängstigten Gesichter reagiert. Es zeigte sich, dass Probanden, die für den kurzen Promotor hetero- oder homozygot waren, eine „hyperaktive“ Amygdala hatten. Eine ähnliche Untersuchung hatten Psychologen und Genetiker an 847 Neuseeländern durchgeführt. Auch diese prospektive Langzeitstudie zeigte, dass Individuen, die heterozygot oder homozygot für die kurze Version des 5-HTT-Promotors waren, in StressSituationen eher depressive Symptome entwickelten als die Homozygoten der Langform (Abb. 15.15b). Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass auch beim Menschen eine genetische Variation innerhalb des Serotoninsystems mit Angst und Depressionen in Zusammenhang steht. Die Studien weisen aber darüber hinaus auch darauf hin, dass es offensichtlich Gen-Umwelt-Wechselwirkungen gibt, wobei die Möglichkeiten der individuellen Reaktion durch die genetische Konstitution des Individuums festgelegt werden. Ein ähnliches Ergebnis ergaben die Untersuchungen zur Expression der G-Protein-Rezeptor-Kinase 3. Dieses Enzym ist im Gehirn weit verbreitet und kann im Tiermodell durch Amphetamine induziert werden. Es spielt offensichtlich eine wichtige Rolle bei der Interpretation stimmungsregulierender Neurotransmitter im Gehirn (z. B. Dopamin; vgl. dazu auch Abb. 15.16). Das entsprechende Gen GRK3 ist auf dem Chromosom 22q12 lokalisiert – einer chromosomalen Region, in der ein Gen für manische Depression vermutet wird. In einer Studie wurden 400 Patienten mit manischer Depression auf Mutationen im GRK3-Gen untersucht. Dabei wurden keine Mutationen oder Polymorphismen in den kodierenden Regionen entdeckt, sondern nur im Promotor. Eine Variante kam in etwa 3% der Patienten vor und bewirkt, dass GRK3 offenbar zum falschen Zeitpunkt aktiviert und umgekehrt dann inaktiv ist, wenn es funktionieren sollte. Die Konsequenz ist eine Übersensibilität auf den Neurotransmitter Dopamin. Aufgrund solcher Untersuchungen wird erwartet, dass sich Präparate entwickeln lassen, die auf den jeweiligen Krankheitsmechanismus tatsächlich ansprechen.
Größere Studien, die weitere Genorte für die Empfindlichkeit manisch-depressiver Erkrankungen suchten, wurden mit signifikanten LOD-Werten (siehe Kap. 14.1.4) auf den Chromosomen 8q24 und 10q25-26 fündig. Auf Chromosom 10q24-26 liegen Gene, die schon früher mit manischer Depression in Zusammenhang gebracht wurden. Außerdem brachte diese Studie Hinweise auf paternal geprägte Gene auf den chromosomalen Regionen 2p24-21 und 2q31-32 und auf maternal geprägte Gene in den Regionen 14q32 und 16q21-23 (Cichon et al. 2001). Aus den bisher vorliegenden Untersuchungen an knock-out-Mäusen zeichnet sich aber neben dem Serotoninsystem noch ein ganz anderer Bereich ab, der mit Angstverhalten in Zusammenhang steht, und zwar die Rezeptoren von Peptidhormonen. Einer davon ist der Rezeptor für das Gastrin-freisetzende Peptid (engl. gastrin-releasing peptide, Grp). Grp ist sowohl stark im Seitenkern der Amygdala exprimiert, wo die Assoziationen für das erlernte Angstverhalten gebildet werden, als auch in den Regionen, die angstbesetzte akustische Informationen an den Seitenkern weiterleiten. Grp wirkt über die Bindung an seinem Rezeptor; dieser Grp-Rezeptor (Grpr) wird in Neuronen exprimiert, die GABA (γ-Aminobuttersäure) als Transmittersubstanz verwenden (man spricht daher auch von GABAergen Neuronen; siehe Abb. 15.17). Grpr -/--Mäuse erinnern sich länger an ihre erlernte Angst. Die Wissenschaftler brachten den Tieren bei, Angst vor einem bestimmten Ton zu bekommen. Dazu spielten sie den Tieren einen Ton vor und ärgerten sie darauf mit einem unangenehmen Elektroschock. Danach beobachteten sie, wie die Nager auf den Ton allein reagierten. Die knock-outMäuse reagierten deutlich ängstlicher auf den Ton als die Wildtyp-Tiere. Der Defekt betraf nur die erlernte Angst; weder die instinktive Angst noch die Schmerzfähigkeit der Tiere sind durch die Mutation beeinflusst. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass es einen negativen Rückkopplungsmechanismus gibt, der Angst reguliert, und bei dem der Rezeptor für Grp eine wichtige Rolle spielt (Abb. 15.18). Das zweite Beispiel betrifft einen Rezeptor für das Corticotropin-freisetzende Hormon (engl. corticotropin-releasing hormon, CRH). Das CRH ist zentral an der Koordination von Antworten auf Stressreize beteiligt. Konditionale knock-out-Mäuse, die den CRH-Rezeptor 1 (Crhr1) zwar in der Zirbeldrüse (engl. pituitary) exprimieren, aber nicht mehr postnatal im Vorderhirn und im limbischen System, zeigen
15.3 Angst und Sucht 15.16 a,b. Dopaminerge Transmission an Synapsen. a Synaptische Übertragung durch Dopamin. Aus Tyrosin entsteht zunächst Dihydroxyphenylalanin (Dopa) und dann Dopamin (DA). Im Bild besitzt die postsynaptische Zelle D1- und D2Rezeptoren. D1-Rezeptoren stimulieren über Gs die Adenylatcyclase (AC). D2-Rezeptoren hemmen über G-Proteine die Adenylatcyclase oder öffnen K+-Kanäle. Dopamin kann seine eigene Freisetzung über präsynaptische D2-Autorezeptoren hemmen (A). Dopamin wird zu Dihydroxyphenylessigsäure (DOPAC), Methoxytyramin (MT) und Homovanillinsäure (HVA) metabolisiert. b Synaptischer Abbau von Dopamin. Der Hauptweg des synaptischen Abbaus von Dopamin beginnt mit der oxidativen Desaminierung zum 3,4-Dihydroxyphenylacetaldehyd. Dank der Eigenschaften der Aldehyd-oxidierenden und -reduzierenden Enzyme überwiegt im nächsten Schritt die Oxidation zu 3,4-Dihydroxyphenylessigsäure (DOPAC) weit die Reduktion zu 3,4-Dihydroxyphenylethanol (DOPET). Diese Reaktionen spielen sich vorwiegend in den dopaminergen Axonendigungen ab. In anderen Zellen, besonders der Glia, kann Dopamin zu 3-Methoxytyramin (MT) und DOPAC zu Homovanillinsäure (HVA) methyliert werden. DOPAC und HVA sind die Hauptprodukte des Dopaminabbaus. Pfeile bedeuten Stoffbewegungen, Stoffumwandlungen oder Beeinflussungen; +: Aktivierung; –: Hemmung. (Nach Starke u. Palm 1992)
vermindertes Angstverhalten. Im Gegensatz zu den Crh1-Nullmutanten sind die konditionalen Mutanten überempfindlich gegenüber Stress, und die Corticosteronspiegel bleiben nach Stressreizen signifikant erhöht (Müller et al. 2003). Wir werden im nächsten Abschnitt noch eine weitere wichtige Funktion des Crh-Rezeptors im Zusammenhang mit Alkoholismus kennen lernen.
! Angststörungen und Depressionen lassen sich
beide mit Medikamenten behandeln, die mit der Funktion des Neurotransmitters Serotonin zusammenhängen. Ursachen sind u. a. Mutationen in Genen, die für Rezeptoren bzw. Transporter des Serotonins und des Corticotropin-freisetzenden Hormons kodieren.
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Kapitel 15: Neurogenetik und die Genetik des Verhaltens 15.17. Synaptische Übertragung durch GABA. Transmitter GABA (γ-Aminobuttersäure): Vorläufer von GABA ist Glutamat (Glu), für das zwei Quellen gezeigt sind: α-Ketoglutarat (α-KG) und Glutamin (Gln). Im Bild hat die postsynaptische Zelle GABAA- und GABAB-Rezeptoren, die letzteren über G-Proteine an Ca2+- und K+-Kanäle gekoppelt. GABA kann seine eigene Freisetzung über präsynaptische Autorezeptoren hemmen (A). GABA wird zu Succinatsemialdehyd (SSA) desaminiert, aus dem Bernsteinsäure (SC) entsteht. Pfeile bedeuten Stoffbewegungen, Stoffumwandlungen oder Beeinflussungen; +: Aktivierung; –: Hemmung. (Nach Starke u. Palm 1992)
15.18. Grpr-abhängige negative Rückkopplung für gelernte Angst. Modell der Grpr-abhängigen negativen Rückkopplung zu den Hauptneuronen in der Amygdala im Wildtyp (links) und in Grpr-knock-outMäusen (rechts). (Nach Shumyatsky et al. 2002)
15.3.2 Suchtkrankheiten, z. B. Alkoholismus Alkoholismus (OMIM 103780) kann man definieren als Konsum von Alkohol, der über das sozial tolerierte, für Individuum und/oder Gesellschaft ungefährliche Maß hinausgeht. Dabei wird sowohl der gewohnheitsmäßige, übermäßige Alkoholkonsum ohne Abhängigkeitsentwicklung als auch die echte Alko-
holabhängigkeit unter dem Begriff Alkoholismus zusammengefasst. In Deutschland schätzt man die Zahl der Alkoholiker auf etwa 2 Millionen; Alkoholmissbrauch ist der Grund für etwa 30% der Einweisungen in psychiatrische Kliniken. Während vor 50 Jahren Männer noch achtmal so häufig betroffen waren wie Frauen, steigt der Anteil der alkoholabhängigen Frauen seither ständig an.
15.3 Angst und Sucht
Die Diagnose Alkoholismus ist oft nicht leicht zu stellen, da auch verschiedene Formen des Alkoholismus unterschieden werden. Bei abhängigen Alkoholikern treten bei einem erzwungenen Alkoholverzicht (z. B. durch einen Krankenhausaufenthalt wegen einer anderen Erkrankung) sehr bald Entzugserscheinungen auf. Der Grenzwert, ab dem mit schädlichen Wirkungen zu rechnen ist, liegt für Männer bei 60 bis 80 Gramm Alkohol (etwa drei Flaschen Bier) und für Frauen bei 40 bis 60 Gramm Alkohol täglich. Als Folge des chronischen Alkoholmissbrauches können neben der Sucht zahlreiche Komplikationen auftreten: So zeigen Alkoholiker im psychischen Bereich nicht selten zugleich Depressionen, eine übermäßige Aggressivität und eine allgemeine Veränderung ihrer Persönlichkeit; es kann zu optischen und akustischen Halluzinationen kommen. Sehr ernste Komplikationen des Alkoholismus sind das Korsakow-Syndrom und die Wernicke-Enzephalopathie, die mit einem Verlust von Raum- und Zeitgefühl sowie Gedächtnislücken verbunden sind. Daneben kommt es außerdem zu Nervenschädigungen, die sich in Gangunsicherheit (Ataxie), Empfindungsstörungen an Armen und Beinen sowie Zittern und epileptischen Anfällen zeigen können. Außerdem sind oft Schädigungen der inneren Organe Folge des Alkoholismus: Neben Fettleber oder Leberzirrhose kann es auch zu Magen- und Darmgeschwüren, einer Entzündung der Bauchspeicheldrüse (Pankreatitis) sowie zu Erkrankungen des Herzmuskels kommen. Wenn wir uns den genetischen Aspekten des Alkoholismus zuwenden, ist es zunächst wieder hilfreich, Modellorganismen wie Drosophila und die Maus zu betrachten. Zu den natürlichen Habitaten von Drosophila gehören fermentierende Pflanzen, die oft einen gewissen Alkoholgehalt (~3%) aufweisen. Daher ist die Fruchtfliege resistent gegenüber den toxischen Wirkungen des Alkohols und kann Alkohol effizient zur Energiegewinnung oder als Ausgangssubstanz zur Herstellung von Lipiden nutzen. Unter verschiedenen experimentellen Bedingungen hat sich die Exposition von Drosophila gegenüber Alkoholdampf (Abb. 15.19) als diejenige erwiesen, die der akuten Alkoholvergiftung von Säugetieren (z. B. Verlust der motorischen Kontrolle oder sedierende Wirkung) am nächsten kommt. Auf diese Weise konnten verschiedene Mutanten isoliert werden, die sich deutlich in der Menge Alhokol unterscheiden, die für eine sedierende Wirkung nötig ist: So brauchen barflyMutanten größere und tipsy-Mutanten geringere
Mengen an Alkohol als eine Wildtyp-Fliege. Eine interessante Mutante ist cheap date: Diese Mutanten haben eine erhöhte Sensitivität gegenüber Alkohol und die Detailanalyse zeigte, dass dem Verhalten eine Mutation in dem Gen amnesiac zugrunde liegt. Amnesiac kodiert für ein Neuropeptid, das die Adenylatcyclase aktiviert: Dieses System ist uns von der Genetik der Lernvorgänge bereits bekannt. Weitere Untersuchungen bestätigten den Zusammenhang zwischen dem cAMP-System und einer erhöhten Sensitivität gegenüber Alkohol. Aber auch Nager zeigen genetische Unterschiede in ihrem Verhalten gegenüber Alkohol. Wenn man verschiedene Mausstämme hinsichtlich ihrer Alko-
15.19. Alkoholtests bei Drosophila. Der Alkohol wird mit Luft gemischt, um einen Ethanoldampf zu erzeugen (Kanister links). Das Ethanolgemisch wird durch die Säule und über die Plastikablenkplatte geschickt. Unbehandelte Fliegen werden oben in die Säule hinein gegeben und können auf den Platten bleiben, bis sie betäubt sind. Wenn sie betäubt sind, fallen sie die Säule hinunter und auf den Boden. Die Zeit, die die Fliegen brauchen, um aus der Säule heraus zu fallen, kann gemessen werden und variiert erheblich zwischen Wildtypen und Mutanten (z. B. cheapdate). (Nach Browman u. Crabbe 1999)
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Kapitel 15: Neurogenetik und die Genetik des Verhaltens
holpräferenz betrachtet, findet man große Unterschiede zwischen verschiedenen Inzuchtstämmen: So mögen DBA/2-Stämme keinen Alkohol, wohingegen C57BL-Stämme Alkohol gegenüber Wasser deutlich bevorzugen (Abb. 15.20a). Auch bei Ratten kann man aus einer homogenen Population von Ratten durch bidirektionale Selektion „starke“ (HAD) und „schwache Trinker“ (LAD) herauszuzüchten (Abb. 15.20b), was zunächst nur auf das Vorhandensein genetischer Komponenten hindeutete. Die weitere Untersuchung der HAD-Ratten führte auf die Spur des Neuropeptids Y (NPY). Dabei handelt es sich um ein kleines Protein, das aus 36 Aminosäuren besteht und offensichtlich neurobiologische Antworten auf Alkohol moduliert. Seine Wirkung entfaltet es über die Bindung an verschiedene Rezeptoren, die alle mit G-Proteinen gekoppelt sind und über das cAMP-System wirken. Die HAD-Ratten zeigen geringere Spiegel des NPY in der Amygdala; wird aber NPY zentral infundiert, sinkt die Alkoholaufnahme dieser Ratten
(bei den LAD-Ratten zeigt sich dagegen kein Effekt). Ergänzende Untersuchungen wurden an Mäusen durchgeführt, bei denen die NPY-Rezeptoren ausgeschaltet wurden. Dabei führte das Ausschalten des NPY-Rezeptors 1 zu einer Erhöhung, das Ausschalten des Rezeptors 2 dagegen zu einer Verminderung der Ethanolaufnahme der Mäuse. Untersuchungen an Polymorphismen des NPY-Gens bei Menschen ergänzen die Ergebnisse aus den Tiermodellen zur Beteiligung von NPY und seinen Rezeptoren zur Modulation der Alkoholantworten und deuten an, dass eine Substitution von Leucin an der Position 7 durch Prolin (Leu7Pro) mit einer deutlich höheren durchschnittlichen Alkoholaufnahme korreliert ist (OMIM 162640). Untersuchungen, die an Rattenstämmen gewonnen wurden, die dem oben erwähnten HAD/LAD-System ähnlich sind (alcohol-preferring: P und alcohol non-preferring: NP), führten zu der Entdeckung eines weiteren Gens und seines Proteins, a-Synuclein (Gen-
15.20 a,b. Unterschiede in der Alkoholpräferenz verschiedener Maus- und Rattenstämme. a Es ist das Verhältnis der aufgenommenen Alkoholmenge im Verhältnis zur aufgenommen Wassermenge über 14 Tage bei verschiedenen Mausstämmen dargestellt. Die horizontalen Linien geben die Standardabweichung an. b Bidirektionale Selektion über 12 (unten) bzw. 14
(oben) Generationen für starke (HAD) und schwache (LAD) Alkoholaufnahme ausgehend von einer offensichtlich heterogenen Rattenzucht (HAD: haevy alcohol drinking; LAD: low alcohol drinking). (a: Nach Vogel u. Motulsky 1997; b: Nach Lumeng et al. 1995)
15.3 Angst und Sucht
symbol: Snca), das im Hippocampus der P-Ratten stärker exprimiert war als bei den NP-Ratten. Die molekulare Analyse ergab einen A679G-Polymorphismus in der 3’-UTR des Snca-Gens, der in Reportergenassays mit einer höheren Reportergenaktivität und höheren Proteinkonzentration verbunden ist (verursacht möglicherweise durch die verlängerte Stabilität der mRNA; Liang et al. 2003). In der Ratte und in der Maus liegt das Snca-Gen nicht weit entfernt vom Npy-Gen auf demselben Chromosom (Ratte: Chromosom 4, Maus: Chromosom 6). Beim Menschen sind diese beiden Gene zwar getrennt (NPY: Chromosom 7p15; SNCA: Chr. 4q21), genomweite Untersuchungen haben aber gezeigt, dass die chromosomale Region um 4q21 auch ein Cluster von Alkoholdehydrogenase-Genen (Gensymbol: ADH) beherbergt. Polymorphismen in den ADH-Genen sind ebenfalls mit der Verminderung des Risikos für Alkoholismus verbunden, so dass die Region um 4q21 in diesem Zusammenhang äußerst interessant sein dürfte. Alkoholismus entwickelt sich oft als Reaktion auf bestimmte Lebenssituationen, z. B. Stress. Um den Zusammenhang zwischen Stress und der Entwicklung von Suchtverhalten zu untersuchen, haben Inge Sillaber und ihre Mitarbeiter (2002) bei Mäusen ein Gen aus der zentralen Schaltstelle für die Stressreaktion ausgeschaltet: Das Corticotropin-freisetzende Hormon (engl. corticotropin-releasing hormon, CRH) steuert normalerweise nicht nur die hormonelle Stressantwort, sondern koordiniert auch eine ganze Reihe von Verhaltensweisen, die geeignet sind, eine Stress-Situation zu bewältigen. Es beeinflusst auch Regionen, die für emotionales Verhalten wie Angst relevant sind. Damit CRH wirken kann, muss es an einen Rezeptor gebunden werden. Wenn man nun Mäusen, bei denen das Gen für den CRH-Rezeptor-1 ausgeschaltet wurde, Alkohol anbietet, so unterscheiden sie sich in ihrem Trinkverhalten nicht von den Wildtyp-Mäusen. Wurden die knock-out-Mäuse jedoch durch die Anwesenheit einer fremden Maus im Käfig oder durch Schwimmen in einem Becken gestresst, so reagierten die Tiere nach 3 Wochen mit einer vermehrten Aufnahme von Alkohol, die auch fünf Monate nach der Stresseinwirkung noch erhalten blieb (Abb. 15.21). Im Gehirn dieser Crhr1 -/--Mäuse ist der Nr2bRezeptor überexprimiert, und zwar vor allem im Nucleus accumbens, einem Teil des Hippocampus, der für das Belohnungssystem beim Lernen verantwortlich ist. Dadurch wird offensichtlich das Verlangen
der Mäuse nach Alkohol gesteigert. Dieser neurogenetische Mechanismus erklärt ein spezifisches Erscheinungsbild von alkoholkranken Patienten, die besonders anfällig für Stress sind und darauf mit dem Trinken von Alkohol reagieren. Therapien zur Bewältigung von Stress-Situationen könnten eine Hilfe sein, Alkoholismus in dieser Form zu vermeiden. Weitere konkrete Hinweise über die Beteiligung bestimmter Gene kommen aus Untersuchungen von knock-out-Mäusen, bei denen Gene für DopaminRezeptoren bzw. für den GABAA-Rezeptor ausgeschaltet wurden (vgl. Tabelle 15.3). Diese Daten werden im Übrigen auch von Kopplungsanalysen in betroffenen Familien durch Zwillingsstudien und Geschwisterpaar-Analysen gestützt, die darauf hindeuten, dass Alkoholabhängigkeit mit Regionen auf dem Chromosom 11p und 4p gekoppelt ist. Dort kartieren auch die Gene für einen Dopamin-Rezeptor (DRD4) und für die Tyrosin-Hydroxylase (TH) bzw. für den GABA β1-Rezeptor. Insgesamt machen diese Untersuchungen deutlich, dass Alkoholismus einer Vielzahl von genetischen Einflüssen unterliegt. Dabei muss man sich aber auch klar machen, dass die jeweils betroffenen
15.21. Stressinduzierter Alkoholkonsum bei Crhr -/--Mäusen. In einer Langzeituntersuchung wurde die freiwillige Alkoholaufnahme von Crhr -/- (blaue Balken, n = 9) und Wildtyp-Mäusen (rote Balken, n=11) gemessen. Den Tieren wurde Wasser und eine Alkohollösung (8 % v/v) in zwei Flaschen zur freien Auswahl angeboten. Die Daten geben die durchschnittliche Alkoholaufnahme in einem Monat an. Die Stressereignisse sind durch Pfeile angedeutet. Die Alkoholaufnahme steigt einen Monat nach dem wiederholten Stressereignis signifikant an (*p<0,01). (Nach Sillaber et al. 2002)
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Kapitel 15: Neurogenetik und die Genetik des Verhaltens
Tabelle 15.3.
Eigenschaften genetisch veränderter Mäuse und Fliegen in der Alkoholismusforschung
Gen
Protein
Eigenschaften
Pkcc
PKC-γ
Verringerte Sensitivität gegenüber den hypnotischen und hypothermischen Effekten des Alkohol
Htr1b
5-HT1b-Rezeptor
Erhöhter Alkoholgenuss, verminderte Sensitivität gegenüber Alkohol-induzierter Ataxie
Drd2
Dopamin-Rezeptor 2
Verminderter Alkoholkonsum, Unempfindlichkeit gegenüber den bewegungshemmenden Effekten von Alkohol, verminderte Sensitivität gegenüber Alkohol-induzierter Ataxie
Drd4
Dopamin-Rezeptor 4
Gesteigerte Empfindlichkeit gegenüber den bewegungs-stimulierenden Effekten von Alkohol
Fyn
Tyrosinkinase
Verstärkte Sensitivität gegenüber dem Alkohol-induzierten Reflex des Liegenbleibens (engl. loss of righting)
Npy
Neuropetid Y
In Null-Mutanten erhöhte Alkoholaufnahme; bei transgener Überexpression: verminderte Alkoholaufnahme
Amnesiac (cheap date)
Neuropeptid
Erhöhte Sensitivität gegenüber Alkohol-induziertem Verlust der posturalen Kontrolle
Tgfa
TGF-α
Bei transgener Überexpression: Erhöhte Empfindlichkeit gegenüber der sedierenden Wirkung von Alkohol
Nach Browmann u. Crabbe (1999)
Gene und ihre Translationsprodukte nicht nur in einem einzigen Signalweg tätig sind, sondern oft an verschiedenen Stellen ihre Wirkungen entfalten, so dass in der Summe die bekannten komplexen Verhaltensmuster zu beobachten sind. Die hier dargestellten Zusammenhänge sind insoweit natürlich eine (notwendige) Vereinfachung. ! Alkoholismus ist eine komplexe Erkrankung mit
hoher Prävalenz. Genetische Untersuchungen an Drosophila, Mäusen und Ratten deuten darauf hin, dass neben dem cAMP-System auch Polymorphismen in den Npy- und Snca-Genen für eine Alkoholbevorzugung verantwortlich sind. Alkoholabhängigkeit steht im Zusammenhang mit den dopaminergen und GABAergen Neurotransmittersystemen. Genomweite Untersuchungen am Menschen stimmen gut mit den Daten der Tiermodelle überein.
15.4 Neurodegenerative und psychiatrische Erkrankungen Neurodegenerative Erkrankungen zeichnen sich durch einen schleichenden Verlust zentraler Funktionen des Gehirns aus, wobei das Eintrittsalter der Erkrankung stark schwankt (oft auch unter eineiigen Zwillingen), so dass man lange Zeit nicht wusste, welche genetischen Komponenten hier eine Rolle spielen könnten. Dazu kommt, dass aufgrund des vielschichtigen Krankheitsbildes einheitliche diagnostische Kriterien nicht immer klar waren. Nach der vollständigen Analyse des menschlichen Genoms und vieler Modellorganismen hat jedoch die molekulare Analyse neurodegenerativer Erkrankungen einen Aufschwung erfahren, und es zeichnet sich ab, dass wir auch diese Erkrankungstypen bald verstehen können und damit auch eine kausale Therapie möglich wird. Zu diesem Mosaikbild, das sich zurzeit vor unseren Augen entwi-
15.4 Neurodegenerative und psychiatrische Erkrankungen
ckelt und in seinen Details immer klarer wird, gehört aber auch, dass es nicht ein Gen gibt, das für die jeweilige neurodegenerativer Erkrankung verantwortlich ist, sondern dass Mutationen in verschiedenen Genen dazu beitragen und damit die klinische Heterogenität begründen. Das kann mittelfristig auch dazu führen, dass die Krankheiten dann von den betroffenen Genen her definiert werden und nicht mehr über ihr klinisches Erscheinungsbild. Wir wollen aber zunächst einmal der „alten“ Nomenklatur folgen und einige Aspekte der Alzheimer’schen und Parkinson’schen Krankheiten als klassische Beispiele neurodegenerativer Erkrankungen vorstellen. In diesem Zusammenhang muss natürlich auch die Chorea Huntington als progressive neurodegenerative Erkrankung erwähnt werden. Sie wurde allerdings aufgrund ihres molekularen Mutationsmechanismus (expandierende Tripletts im HD-Gen) im Zusammenhang mit diesen Krankheiten besprochen (vgl. Kap. 14.3.5).
15.4.1 Die Alzheimer’sche Erkrankung Ein Jahrhundert ist vergangen, seit der bayerische Nervenarzt Alois Alzheimer 1906 die Beschreibung seiner Patientin „Auguste“ publizierte und damit die Grundlage für die Alzheimer’sche Erkrankung (OMIM 104300) schuf:„Eine Frau von 51 Jahren zeigte als erste auffällige Krankheitserscheinung Eifersuchtsideen gegen den Mann. Bald machte sich eine rasch zunehmende Gedächtnisschwäche bemerkbar, sie fand sich in ihrer Wohnung nicht mehr zurecht, schleppte Gegenstände hin und her, versteckte sie, zuweilen glaubte sie, man wolle sie umbringen und begann, laut zu schreien.” Heute ist „Alzheimer“ die häufigste neurodegenerative Erkrankung. Die Häufigkeit nimmt mit dem Alter zu (Abb. 15.22), und die früh einsetzenden Formen unterscheiden sich nicht von denen, die erst bei höherem Alter auftreten. Es wird angenommen, dass in der Gruppe der 60- bis 64-Jährigen etwa 1% erkrankt sind. Die Häufigkeit nimmt dann bei steigendem Alter gleichmäßig zu und bei den über 85jährigen sind etwa 35–40% betroffen. Die alltägliche klinische Praxis zeigt, dass in etwa 40-60% der Fälle eine positive Familiengeschichte mit einer ähnlichen Demenz in Verwandten ersten Grades beobachtet werden kann. Da allerdings nur in wenigen Fällen eine Bestätigung der Diagnose über eine Autopsie vorliegt, kann man nur in etwa 10–15% der Fälle von
einem bestätigten autosomal-dominanten Erbgang sprechen (Selkoe u. Podlisny 2002). Die ersten klinischen Anzeichen sind Defizite im Kurzzeitgedächtnis, die sich zu Sprachproblemen ausweiten und den Rückzug von sozialen Kontakten sowie Verfall leitender Funktionen zur Folge haben. Obwohl die Demenz im Allgemeinen erst ab einem Alter von 65 Jahren einsetzt, gibt es eine Untergruppe von Patienten, deren Erkrankung deutlich früher beginnt. Zwar schließt eine definitive Diagnose die neuropathologische Diagnose post mortem ein (Abb. 15.23 zeigt ein typisches Bild), aber Neurologen und Neuropsychologen haben heute klinische Kriterien entwickelt, die zu einer Trefferquote von ca. 90% in der Diagnose führen. Dazu tragen auch massive Verbesserungen nicht-invasiver, bildgebender diagnostischer in-vivo-Verfahren bei. Die Genetik der Alzheimer’schen Erkrankung erscheint zunächst nicht ganz klar. Wie oben bereits angedeutet, unterscheiden viele Autoren zwischen „familiären“ Formen von Alzheimer und „spontanen“ Formen. Wenn eine Autopsie vorgenommen wird, unterscheiden sich die beiden Typen allerdings nicht hinsichtlich ihrer pathologischen Befunde. Dazu kommt: Wenn wir wie in den früheren Kapiteln zunächst einmal nach Drosophila- oder Mausmutanten für dieses Krankheitsbild suchen, so werden wir ent-
15.22. Altersabhängigkeit der Alzheimer’schen Erkrankung. Die Abbildung zeigt die Prevalenz der Alzheimer’schen Erkrankung als Funktion des Alters bei Frauen und Männern. (Nach Nussbaum u. Ellis 2003)
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Kapitel 15: Neurogenetik und die Genetik des Verhaltens
täuscht – Mäuse entwickeln spontan keine Erkrankungen, deren neuropathologisches Bild mit der klassischen Alzheimer-Diagnostik übereinstimmt. Wir werden daher in diesem Fall einen anderen Weg beschreiten und zunächst einmal feststellen, welche Erkenntnisse die Humangenetik zusammengetragen hat, um dann zu sehen, dass sich über die Herstellung von transgenen und knock-out-Mäusen hervorragende Modelle züchten lassen. Die ersten biochemischen Beobachtungen bei der Alzheimer’schen Erkrankungen zeigten einen Verlust cholinerger Neurone (Abb. 15.24) im basalen Vorderhirn, der mit veränderter Prozessierung des amyloiden Vorläuferproteins (engl. amyloid precursor protein, APP) verbunden ist. Entsprechend konzentrierten sich die therapeutischen Interventionen auf die Verlängerung der Lebenszeit des freigesetzten Acetylcholins als zentralem Transmitter cholinerger Neuronen durch Applikation von Hemmstoffen der Acetylcholinesterase. Das zweite biochemische Charakteristikum ist die Bildung der amyloiden Fibrillen. Die auffälligen stern-
15.23. Klassischer neuropathologischer Befund bei der Alzheimer’schen Erkrankung. Die hochauflösende Mikrophotographie zeigt einen Schnitt durch die Amygdala eines Patienten, der an der Alzheimer’schen Erkrankung verstarb. Es sind die klassischen neuropathologischen Schädigungen der Krankheit zu sehen: zwei senile (neuritische) Ablagerungen, bestehend aus zusammengepressten, sphärischen Ablagerungen des extrazellulären Amyloids und umgeben von einem „Halo“ dystrophischer Neuriten, der sowohl die Enden der Axone als auch die Dendriten einschließt. Einige der pyramidalen Neurone in der Abbildung enthalten neurofibrilläre Knäuel, dunkel gefärbte anomale Filamente, die einen großen Teil des perinukleären Cytoplasmas einnehmen. (Nach Selkoe u. Podlinsky 2002)
förmigen amyloiden Fibrillen in den extrazellulären Ablagerungen und die intrazellulären neurofibrillären Knäuel (engl. neurofibrillary tangles, NFT) in den Gehirnen der Patienten enthielten offensichtlich den Schlüssel zum Verständnis des pathogenen Mechanismus. In den amyloiden Fibrillen wurde vor allem das amyloide Vorläuferprotein (engl. amyloid precursor protein, Gensymbol: APP) identifiziert und die neurofibrillären Knäuel enthalten vor allem ein Mikrotubulin-assoziiertes Protein (genannt tau). Humangenetische Untersuchungen konzentrierten sich zunächst auf die früh einsetzenden Formen der Alzheimer’schen Erkrankungen. Außer im Zeitpunkt des Erkrankungsalters unterscheidet sich der neuropathologischer Befund nicht von dem klassischen Bild. In einigen dieser Fälle wurden Punktmutationen im APP-Gen identifiziert und in einigen großen Familien konnte gezeigt werden, dass diese Mutationen mit dem Krankheitsbild kosegregieren. Es ist überraschend, dass diese Mutationen überwiegend in den Exons 16 und 17 des APP-Gens auftreten und durch Basenpaaraustausche charakterisiert sind. Das APP-Gen ist auf dem Chromosom 21q21 lokalisiert (OMIM 104760) und kodiert für 3 Spleißvarianten des APP-Proteins von jeweils ~700 Aminosäuren. In diesem Zusammenhang soll auch darauf hingewiesen werden, dass schon seit der Mitte des 20. Jahrhunderts bekannt war, dass Patienten mit Down-Syndrom (Trisomie 21; s. Kap. 14.2.1) unabwendbar die klassischen neuropathologischen Befunde der Alzheimer’schen Erkrankung entwickeln, so dass schon damals das Chromosom 21 als ein Kandidat für die genetische Lokalisation dieser Erkrankung diskutiert wurde. Heute wird das Auftreten der Alzheimer’schen Erkrankung bei Patienten mit Down-Syndrom über einen „Gendosis-Effekt“ erklärt. Mutationen in dem Gen, das für das Mikrotubulinassoziierte Protein tau kodiert und das auf dem Chromosom 17 lokalisiert ist, sind ebenfalls beschrieben. Sie führen aber nicht zu Alzheimer’schen Erkrankungen, sondern zu einer weniger häufigen Demenz, die allerdings einige klinische und neuropathologische Gemeinsamkeiten mit Alzheimer hat. Sie wird aber als frontotemporale Demenz mit Parkinsonismus (FTDP17) bezeichnet. Ein weiterer Durchbruch gelang mit den Charakterisierungen von Mutationen in den Presenilin-Genen PS1 und PS2 auf den Chromosomen 14 und 1. Mutationen in diesen Genen, die für Membranproteine mit mehreren Transmembrandomänen kodieren,sind
15.4 Neurodegenerative und psychiatrische Erkrankungen 15.24. Cholinerge Transmission an Synapsen. Acetylcholin (Ach) wird aus Cholin und Acetyl-Coenzym A (AcCoA) synthetisiert. Im Bild besitzt die postsynaptische Zelle Nicotinrezeptoren (N) und Muscarinrezeptoren vom Typ M1, M2 und M3. Die M1- und M3-Rezeptoren stimulieren über ein G-Protein die Phospholipase C (PLC) und stoßen so den PIP2-Weg an. M2-Rezeptoren hemmen über G-Proteine die Adenylatcyclase (AC) oder öffnen K+-Kanäle. Acetylcholin kann seine eigene Freisetzung über präsynaptische Autorezeptoren hemmen (Muscarinrezeptoren an postganglionär-parasympathischen Neuronen) oder steigern (Nicotinrezeptoren an den Motoneuronen zu den Muskelendplatten). Pfeile bedeuten Stoffbewegungen, Stoffumwandlungen oder Beeinflussungen; +: Aktivierung; –: Hemmung. (Nach Starke u. Palm 1992)
für etwa 90% der Fälle der früh einsetzenden Alzheimer-Erkrankungen verantwortlich.Die PresenilinProteine interagieren mit verschiedenen Proteinen und Enzymen, die an der Membran assoziiert sind. Dazu gehören vor allem Proteasen, die entsprechend ihren mit α, β und γ bezeichneten Schnittstellen im APP-Protein als a-, b- oder g-Sekretase bezeichnet werden.Mutationen im PS1-Gen hemmen die γ-Sekretase-Aktivität, so dass APP nicht mehr richtig prozessiert werden kann und das Amyloidβ42-Protein (Aβ42) gegenüber dem Amyloidβ40-Protein (Aβ40) überrepräsentiert ist – eine der biochemischen Charakteristika der Alzheimer’schen Erkrankung.Aufgrund der höheren Hydrophobizität des Aβ42-Peptids kommt es damit schneller zur Bildung der amyloiden Fibrillen. Wenn wir nun die oben erwähnte, auffällige Konzentration der Mutationen in den Exons 16 und 17 des APP-Gens genauer betrachten, so stellen wir fest,
dass sie die Schnittstellen der β- oder γ-Sekretase entweder genau treffen oder zumindest dicht in der Nähe liegen. So führt eine Doppelmutation, die die β-Sekretase-Schnittstelle des APP-Proteins betrifft, zu einer effizienteren Spaltung, so dass die beiden kleinen Fragmente Aβ40 und Aβ42 verstärkt gebildet werden. Andere Mutationen, die das C-terminale Ende des APP-Proteins betreffen, erhöhen das Verhältnis von Aβ42:Aβ40. Eine Zusammenfassung der wichtigsten biochemischen Mechanismen im Verlauf der Alzheimer’schen Erkrankung zeigt Abb. 15.25. Die biochemischen Untersuchungen der amyloiden Ablagerungen hatte zeigten, dass das Apolipoprotein E (ApoE) an das β-amyloide Protein gebunden ist. Weitere genetische Untersuchungen machten dann deutlich, dass insbesondere die Allelvariante ε4 zum Ausbruch der Alzheimer’schen Erkrankung prädisponiert, wohingegen das Allel ε2 eher einen
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Kapitel 15: Neurogenetik und die Genetik des Verhaltens
Schutzeffekt hat. Das Gen für ApoE ist auf dem Chromosom 19 lokalisiert. Weitere Regionen, die Kandidatengene für die Alzheimer’sche Erkrankung enthalten, befinden sich auf den Chromosomen 6, 9, 10 und 12. Aufgrund der Sequenzierung ganzer Genome verschiedener Modellorganismen einschließlich Drosophila und C. elegans wurden auch in diesen Spezies Gene gefunden, die den „Alzheimer-Genen“ des Menschen entsprechen – einschließlich ihrer mutierten Allele. So kodieren die Genome von Drosophila und C.elegans einzelne Gene, die mit dem menschlichen APP verwandt sind (apl-1 bzw. Appl). Ähnlich wie bei Menschen sind die invertebraten Mitglieder
der APP-Familie Transmembranproteine, die mit einer Domäne in der Membran verankert sind, und deren lange C-terminale Domäne sich im Cytoplasma befindet. Die kürzere N-terminale Domäne reicht in den intrazellulären Bereich, und durch Proteasen werden Fragmente in den intrazellulären und extrazellulären Bereich freigesetzt. Da die APP-ähnlichen Proteine der Invertebraten kein cytotoxisches Fragment wie Amyloidβ42 enthalten, können sie nicht direkt als Modell für die Alzheimer’sche Erkrankung verwendet werden. Dennoch kann die Analyse des neuronal exprimierten Appl-Gens in Fliegen dazu dienen, die zugrunde liegenden Mechanismen besser zu verstehen. Drosophila-Mutanten, denen das Appl-
15.25 a. Einfluss von Aminosäuresubstitutionen im APP-Protein auf die Spaltung durch Sekretasen. a Es ist ein Abschnitt des β-Amyloid-Vorläuferproteins (APP) gezeigt, der sich nahe der Transmembrandomäne befindet. Die β- und γ-Sekretase-Schnittstellen sind durch rote Pfeilspitzen gekennzeichnet. Die Aminosäuresequenz ist im Ein-Buchstaben-Code angegeben. Die Positionen, an denen Aminosäureaustausche zu einer früh einsetzende Form der Alzheimer’schen Erkrankung führen können, sind grün markiert; die mit den pathologischen Zuständen assoziierten Aminosäuren sind gelb.
15.4 Neurodegenerative und psychiatrische Erkrankungen
Gen fehlt, zeigen Verhaltensänderungen gegenüber Schock, die durch die transgene Expression des humanen APP-Gens wieder normalisiert werden können. Drosophila-Appl-Mutanten zeigen außerdem Defekte, die offensichtlich auf der Störung des axonalen Transports beruhen, an dem das Appl-Protein beteiligt ist. Auch für das oben erwähnte tau-Protein, das in den neurofibrillären Knäueln gefunden wurde, gibt es entsprechende Drosophila-Gene. Sowohl C.elegans als auch Drosophila kodieren außerdem Homologe zu Presenilin, die dazu beitragen, dass Mitglieder der LIN-12/Notch-Transmembran-Rezeptorfamilie proteolytisch gespalten und so Informationen der Zell-Zell-Kommunikation weiter-
geben können. Umgekehrt können die invertebraten Preseniline die Amyloidβ42-Herstellung in Säugerzellen beeinflussen. Ähnliches gilt auch für das C.elegans-Gen sel-12, dessen Funktion durch Säuger-Preseniline komplementiert werden kann. Und weiterhin konnten durch genaue Analyse der beteiligte Proteine in Drosophila neue Kandidaten für die humane Alzheimer’sche Erkrankung identifiziert werden. Den Zusammenhang zwischen den Spaltungen des APPProteins und des Notch-Proteins zeigt Abb. 15.26. Unter den üblichen Modellsystemen ist die Maus normalerweise dem Menschen am ähnlichsten. Allerdings entwickelt sie spontan keine Neuropathie, die der Alzheimer’schen Erkrankung vergleichbar ist.
15.25 b. Es ist die proteolytische Spaltung des APP in der Wildtyp-Situation (links) und in den veränderten Formen des APP (Mitte und rechts) dargestellt. Die ausgetauschten Aminosäuren (gelbe Balken) interferieren dabei mit der Spaltung durch
die α-Sekretase oder erhöhen die Spaltung durch die β- oder γSekretase, was zur (verstärkten) Bildung des toxischen Aβ42Proteins führt. Die Stärke der Pfeile entspricht der relativen Menge der gebildeten Proteine. (Nach Nussbaum u. Ellis 2003)
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Kapitel 15: Neurogenetik und die Genetik des Verhaltens
Durch die Konstruktion von transgenen und knockout-Mäusen konnten interessante Modelle in der Maus hergestellt werden, die dieselben neuropathologischen Charakteristika aufweisen wie betroffene Patienten. Amyloiden Ablagerungen waren – je nach der Art des Transgens – nach 3 bis 13 Monaten zu sehen. Die Untersuchungen dieser Mausmodelle ergaben dann auch noch einen weiteren wichtigen Mechanismus, nämlich die Beteiligung des APP an der Aufrechterhaltung der Cu2+-Homeostase im Körper. Offensichtlich besteht eine inverse Beziehung zwischen den Cu2+-Spiegeln und den amyloiden Ablagerungen.
15.26. Komplexe Funktion von Proteinen und Enzymen bei der Alzheimer’schen Erkrankung. Das amyloide Vorläuferprotein (APP) kann durch mehrere Sekretasen geschnitten werden: α-Sekretase (TACE) schneidet außerhalb der Zellmembran und entlässt ein großes, lösliches Fragment (α-APP) in den extrazellulären Raum. Der in der Membran zurückbleibende Stumpf (C83) wird durch γ-Sekretase innerhalb der Zellmembran geschnitten, so dass das p3-Protein entsteht. Alternativ kann das APP aber auch durch die β-Sekretase (BACE) geschnitten werden, was zu einem kürzeren Fragment (β-APP) im extrazellulären Raum führt. Wenn das zurückbleibende Fragment C99 durch γ-Sekretase nachgeschnitten wird, ent-
! Die Alzheimer’sche Erkrankung ist eine progressive
Neurodegeneration, die über Defizite im Kurzzeitgedächtnis schließlich zu Demenz führt. Neuropathologisch zeichnet sie sich durch amyloide Ablagerungen und neurofibrilläre Knäuel im Gehirn ab. Die amyloiden Ablagerungen enthalten in hoher Konzentration das Fragment Aβ42 des amyloiden Vorläuferproteins APP. Ursache dafür sind entweder Mutationen im APP-Gen selbst oder in den Presenilin-kodierenden Genen PS1 bzw. PS2, die mit den Proteasen in Wechselwirkung treten, die APP prozessieren. Bei Drosophila sind diese Proteasen am Notch-Signalweg beteiligt.
stehen zwei Fragmente (Aβ) mit 40 bzw. 42 Aminosäuren. Das letztere ist die Hauptkomponente der amyloiden Ablagerungen. Die Weiterbearbeitung durch α- und γ-Sekretasen ist ebenso für das Signalprotein Notch notwendig (rechts). Das dadurch aus der Membran heraus gelöste Protein NICD (Notch intracellular domain) gelangt zum Zellkern und reguliert dort die Expression seiner Zielgene. Preseniline sind die wesentlichen Bestandteile des γ-Sekretase-Komplexes; sie werden ergänzt durch das Transmembranprotein APH-2 (auch als Nicastrin bezeichnet). Bei Nematoden und Fliegen wurden noch weitere Proteine im γ-Sekretase-Komplex identifiziert, nämlich APH-1 und PEN-2. (Nach Driscoll u. Gerstbrein 2003)
15.4 Neurodegenerative und psychiatrische Erkrankungen
15.4.2 Die Parkinson’sche Erkrankung Die Parkinson’sche Erkrankung (OMIM 168 600; benannt nach ihrem Entdecker Parkinson 1817) ist nach der Alzheimerkrankheit die zweithäufigste progressive neurodegenerative Erkrankung und betrifft etwa 1–2% der über 65-jährigen Bevölkerung. Sie zeichnet sich durch eine Degeneration der dopaminergen Neuronen (Abb. 15.16) aus und betrifft überwiegend die Substantia nigra. Das klinische Charakteristikum ist eine Trias aus Zittern, Gesichtsstarre und einer Verlangsamung der Bewegungen. Neuropathologische Befunde zeigen charakteristische cytoplasmatische Einschlüsse (Lewis-Körperchen) in den Neuronen der Substantia nigra, die überwiegend durch Fibrillen aus α-Synuklein (Gensymbol: SNCA) und Ubiquitin angefüllt sind (Abb. 15.27). Bis vor wenigen Jahren galt die Parkinson’sche Erkrankung als der Archetyp einer nicht-genetischen Erkrankung. Allerdings hat die Suche nach den umweltbedingten Faktoren keine konkreten Hinweise erbracht. Umgekehrt hat aber die Genetik drei Gene identifiziert, deren Mutationen für den Ausbruch der Erkrankung verantwortlich sind. Mindestens vier 15.27a–f. Immunhistochemische Analyse der Lewis-Körperchen. Lewis-Körperchen sind mit Antikörpern gegen Ubiquitin (a, grün) bzw. α-Synuklein (b, rot) angefärbt; die Überlagerung der beiden Aufnahmen (c) zeigt, dass die LewisRinge im Zentrum überwiegend ubiquitinierte Proteine enthalten, wohingegen die Peripherie überwiegend α-Synuklein enthält (Vergrößerung 3000-fach). Die unteren Bilder (d–f) zeigen Neurone aus der Substantia nigra eines Parkinson-Patienten, in dem die Neuriten aufgebläht erscheinen und mit Antikörpern gegen αSynuklein (hier schwarz) angefärbt werden können; der weiße Balken entspricht 10 µm. (Nach Nussbaum u. Ellis 2003)
weitere Kandidatenregionen sind bereits identifiziert. Die Charakterisierung verschiedener Gene und Kandidatenregionen erklärt auch in gewisser Weise die klinische Heterogenität der Erkrankung, insbesondere in Bezug auf den Zeitpunkt des Beginns der Erkrankung als auch in Bezug auf die Geschwindigkeit ihres Fortschreitens. Die erste genetische Kopplung der Parkinson’schen Erkrankung wurde von Polymeropoulos und Mitarbeitern 1996 für das Chromosom 4q berichtet und zunächst als PARK-1 bezeichnet,eine dominante Form der Parkinson’schen Erkrankung. Diese Region enthält das oben schon erwähnte Gen SNCA, das für a-Synuklein kodiert. In den beiden Folgejahren wurden dann die ersten beiden Mutationen als Punktmutationen im SNCA-Gen molekular charakterisiert (A53T und A30P). Es gibt außerdem Hinweise, das Mutationen im Promotor des SNCA-Gens, die eine Erhöhung seiner Genexpression bewirken, ebenfalls für die Parkinson’sche Erkrankung verantwortlich sind. In diesem Zusammenhang soll ein transgenes Mausmodell vorgestellt werden, das die humane A53T-α-Synuklein-Mutation trägt. Wenn in Neuro-
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nen des Zentralnervensystems nur die mutierte Form exprimiert wird, entwickeln die Mäuse schwere und komplexe motorische Störungen, die zu Paralyse und Tod führen. Altersabhängig und parallel mit dem Einsetzen der Erkrankung entwickeln diese Mäuse außerdem Einschlusskörperchen von α-Synuklein im Cytoplasma von Neuronen, die Fibrillen bilden, wie wir sie von der Situation bei Patienten kennen. Diese Mausmutanten zeigen, dass die A53T-Mutation im αSynuklein-Gen zur Bildung „toxischer“ Filamente führt, die eine neuronale Degeneration verursacht. PARK-2, der zweite Genort, der für die Parkinson’sche Erkrankung verantwortlich ist, befindet sich auf dem Chromosom 6q. Dieser Genort enthält das Parkin-Gen, dessen Mutationen zu juvenilen, rezessiven Formen des Parkinsonismus führen. Die Beziehung zwischen den Mutationen im Parkin-Gen und Parkinsonismus sind allerdings etwas komplexer: Der Parkin-Promotor (ähnlich dem des SNCA-Gens) enthält funktionelle Varianten, und die, die zu einer verminderten Trankriptionsaktivität führen, sind mit einem erhöhten Risiko verbunden, an Parkinsonismus zu erkranken. Parkin selbst ist ein großes Gen (> 1Mb) und enthält 12 Exons, die in ein 52 kDa-Protein translatiert werden. In Patienten mit rezessivem juvenilem Parkinsonismus wurden große Deletionen gefunden; viele Patienten sind entweder hemizygot oder repräsentieren Null-Mutationen und damit klassische Funktionsverlust-Mutationen. Andererseits gibt es auch eine Reihe von Punktmutationen,
die zu Aminosäureaustauschen und dominanten Krankheitsbildern führen – sie werden als „dominant negative“ Formen angesehen. Wir haben es hier also mit einer Allelserie zu tun, die zu unterschiedlichen Schweregraden der Erkrankung führen kann (ähnliches haben wir ja auch bereits bei anderen Krankheitsbildern gesehen, z. B. den Thalassämien, siehe Kap. 14.3.6). Die biochemische Charakterisierung des ParkinGenprodukts als einer Ubiquitin-Ligase verbindet PARK-2 funktionell mit PARK-5, die mit einer Mutation im Gen der carboxyterminalen UbiquitinHydrolase L1 (Gensymbol: UCHL1, Chromosom 4p14) assoziiert ist. Offensichtlich ist also eine Störung der Proteasom-Funktion für die Akkumulation toxischer Proteine in bestimmten Gehirnregionen (hier die Substantia nigra) von entscheidender Bedeutung (vgl. Abb. 15.28). Eine weitere rezessive, früh einsetzende Form des Parkinsonismus (PARK-7) ist auf dem Chromosom 1p36 lokalisiert und mit Mutationen im Gen DJ-1 verbunden, das ursprünglich als Oncogen charakterisiert wurde. Die genetischen Defekte, die mit den familiären Formen der Parkinson’schen Erkrankung verbunden sind, erlauben uns, einige Aspekte der biochemischen Zusammenhänge zu verstehen, die zum Absterben der Neurone führen: • SNCA-Mutationen führen zu einer Anhäufung toxischer Proteine mit pleiotropen Effekten, die auch die Hemmung der Proteasom-Funktion und
15.28. Proteinwechselwirkungen bei der Parkinson’schen Erkrankung. Die Abbildung zeigt das Zusammenwirken von zwei Stoffwechselwegen, die bei der Parkinson’schen Erkrankung durch Mutationen betroffen sind: Mutationen im Gen für
α-Synuklein (SNCA) und im Gen für die carboxyterminale Ubiquitin Hydrolase L1 (UCHL1) führen zu einer Abnahme der Proteasomen-Funktion und damit zur Anhäufung toxischer Proteine und neuronaler Dysfunktion. (Nach Hardy et al. 2003)
15.4 Neurodegenerative und psychiatrische Erkrankungen
die Permeabilisierung von Vesikeln einschließen. Dabei sind offensichtlich 2 Mechanismen betroffen: einmal die Entleerung der ATP-Vorräte, die die Fehlfunktion der Proteasomen verstärken, und die Freisetzung von Dopamin in das Cytosol, womit weitere Oligomerisierungen gefördert werden. • Parkin-Mutationen vermindern die Fähigkeit der Neuronen der Substantia nigra, zellulärem Stress zu widerstehen, vermutlich bedingt durch den Verlust der Parkin-Funktion als Protein-Ubiquitin-Ligase. Damit ist die Bildung der fibrillären α-Synuklein-Einschlüsse nicht das hauptsächliche pathogene Ereignis, obwohl die Bildung dieser Lewis-Körperchen im Verlauf der Krankheit erfolgt. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Beobachtung von post-mortem-Veränderungen in der Substantia nigra, die als Anzeichen eines oxidativen Stress gedeutet werden können wie die Erhöhung der Konzentrationen von Eisen, Ferritin und Stickoxid (NO) sowie Markern allgemeiner oxidativer Schäden an Proteinen, Lipiden und DNA (so liegt z. B. das αSynuklein in den Lewis-Körperchen in nitrierter Form vor). Umgekehrt sind die Konzentrationen der Marker eines Oxidationsschutzes vermindert (z. B. reduziertes Glutathion, der mitochondriale Komplex I, Calbindin oder Transferrin). Offensichtlich wird so der Apoptose-Weg initiiert. Im Gegensatz zur Alzheimer’schen Erkrankung gibt es spontane Mausmutanten, die Symptome aufweisen, die mit Parkinsonismus vergleichbar sind. Das ist einmal die weaver-Maus, deren Mutation ein Gen betrifft, das für einen Kaliumkanal kodiert (Gensymbol Kcnj6). Weaver-Mäuse zeigen in der Substantia nigra einen deutlichen Verlust von DopaminD2-Rezeptoren, weniger Dendriten und Synapsen sowie degenerative Veränderungen. Damit wird die funktionelle Wirksamkeit der Basalganglien beeinflusst – und ist damit für die Parkinson-ähnlichen Symptome dieser Mutante verantwortlich (Xu et al. 1999). Die zweite Mutante wird als gad-Maus bezeichnet (engl. gracile axonal dystrophy) und zeigt in frühen Stadien eine sensorische Ataxie, der in späteren Stadien eine motorische Ataxie folgt. Pathologische Charakteristika sind axonale Degenerationen und spherische Körperchen an den Nervenendigungen. Biochemische Untersuchungen zeigten eine retrogradprogressive Anhäufung ubiquitinierter Proteinkonjugate und von β-Amyloid-Proteinen entlang den sen-
sorischen und motorischen Nervenbahnen. Ursache dafür ist eine Deletion im Gen, das für die carboxyterminale Ubiquitin-Hydrolase L1 kodiert (Gensymbol Uchl1) – wir haben oben gesehen, dass Mutationen im homologen Gen des Menschen für Parkinsonismus verantwortlich sind. ! Die Parkinson’sche Erkrankung ist eine progressive, neurodegenerative Erkrankung mit unterschiedlichen Verlaufsformen. Aus genetischen Untersuchungen ist bekannt, dass Mutationen in mehreren Genen die Krankheit verursachen, z. B. im SNCA-, Parkin-, UCHL1- und DJ-1-Gen. Eine Beteiligung von Umweltfaktoren (z. B. Pestizide) wird diskutiert. Parkinsonismus kann durch Dopamin-Agonisten behandelt werden.
15.4.3 Psychiatrische Erkrankungen, z. B. Schizophrenie Psychiatrische Erkrankungen wurden lange Zeit nicht unter genetischen Gesichtspunkten betrachtet. Allerdings gab es am Ende des 20. Jahrhunderts zunehmend Berichte über familiäre Häufungen psychiatrischer Erkrankungen, so dass eine starke genetische Komponente offensichtlich war. Die Erblichkeit (Heritabilität) der Schizophrenie wird heute mit 80% angegeben. Allerdings zeigte es sich auch, dass diese genetische Komponente nicht den klassischen Mendel’schen Gesetzen folgt, sondern eher den Gesetzen komplexer Erkrankungen, wie wir es vorher bereits bei Asthma und ähnlichen Erkrankungen mit vielfältigen genetischen Ursachen kennen gelernt haben. Ähnlich wie bei diesen Erkrankungen kommen hier verschiedene Faktoren erschwerend zusammen, wie z. B. eine Vielzahl von Empfindlichkeitsgenen mit jeweils kleinen Effekten, die aber zusammen mit epigenetischen Mechanismen wirksam werden. Im Gegensatz zu den oben besprochenen Krankheiten wie Alzheimer oder Parkinson kommt bei der Schizophrenie eine weitere Schwierigkeit dazu, nämlich das Fehlen einer diagnostischen Neuropathologie oder anderer biologischer Marker des Syndroms. Schizophrenie ist aber dennoch heute ein gutes Beispiel dafür, dass auch viele Aspekte psychiatrischer Erkrankungen mit einem genetischen Ansatz weitgehend erklärt werden können.
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Kapitel 15: Neurogenetik und die Genetik des Verhaltens 15.29. Glutaminerge Transmission an Synapsen. Glutamat (Glu) wird aus αKetoglutarat (α-KG), einem Glied des Citratcyclus, und Glutamin (Gln) gebildet. Im Bild besitzt die postsynaptische Zelle NMethyl-D-Aspartat-Rezeptoren (NMDA-Rezeptoren) und zwei Nicht-NMDARezeptoren, nämlich Kainat-Rezeptoren und Quisqualat-Rezeptoren; alle sind nach Prototyp-Agonisten benannt. Glutamat kann seine eigene Freisetzung über präsynaptische Autorezeptoren hemmen (A). Pfeile bedeuten Stoffbewegungen, Stoffumwandlungen oder Beeinflussungen; +: Aktivierung; –: Hemmung. (Nach Starke u. Palm 1992)
Emil Kraepelin beschrieb schon 1899 ein Symptom, das er dementia praecox nannte und das heute als Schizophrenie (Gensymbol: SCZD, OMIM 181 500) bezeichnet wird. Es ist durch Halluzinationen, Wahnvorstellungen, unorganisierte Sprache, Affekt- und Antriebsstörungen sowie kognitiven Störungen (z. B. der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses, allgemeiner intellektuellen Fähigkeiten) gekennzeichnet. Die Häufigkeit in der Bevölkerung wird mit etwa 1% angegeben. Die Konkordanzrate bei eineiigen Zwillingen liegt bei etwa 50% und ist bei zweieiigen Zwillingen bereits auf ~15% vermindert. Die genetisch-epidemiologischen Untersuchungen mit GeschwisterpaarAnalysen zeigen eine Vielzahl möglicher Genorte an, oft allerdings mit niedrigen LOD-Werten (siehe Kap. 14.1.4), und viele Studien fügen der langen Liste neue Kandidatenregionen hinzu, ohne dass frühere Arbeiten bestätigt werden können. Unter der Vielzahl dieser Kandidatenregionen ragen aber zwei heraus, die fol-
genden Kriterien genügen: Die Ergebnisse stimmen mit früheren Kartierungsdaten überein, sind wiederholbar, biologisch plausibel und es gibt dazu einen vergleichbaren Phänotyp in einer transgenen Maus. Große, isolierte Bevölkerungsgruppen sind für Humangenetiker häufig eine wahre Fundgrube. Das trifft beispielsweise für die Bevölkerung Islands zu, deren Gene in vielerlei Hinsicht durch die Islandic deCODE Genetics Group analysiert werden (siehe dazu auch Kap.16).Diese Gruppe führte zunächst eine genomweite Übersicht durch und fand das Chromosom 8p als eine Kandidatenregion für Schizophrenie. Sie identifizierten daraufhin mehrere Marker im Gen Neuregulin-1 (NRG1), die den harten Kern eines Haplotyps aufbauen, der mit Schizophrenie assoziiert ist und das Risiko für Nachkommen, an Schizophrenie zu erkranken,um den Faktor 2,1 erhöht (Stefansson et al. 2002). Die gleiche Gruppe hat dann übrigens diese Ergebnisse später an schottischen
15.4 Neurodegenerative und psychiatrische Erkrankungen
15.30. Schizophrenie: Empfindlichkeitsgene und synaptische Plastizität. Die Abbildung zeigt ein mögliches Szenario, in dem Gene (kursiv) gemeinsam auf Synapsen einwirken: Durch Einflüsse auf ihre Bildung, Plastizität oder Signaleigenschaften. Es ist zwar im Bild nur eine glutaminerge Synapse gezeigt, aber es sind wahrscheinlich auch GABAerge, cholinerge und dopaminerge (im Text: monoaminerge) Synapsen (besonders
bedeutsam für COMT) beteiligt. Durchgehende Pfeile: direkte Wechselwirkungen; gestrichelte Pfeile: indirekte Wechselwirkungen; Gq: Untergruppe GTP-bindender Proteine; KAR: Kainat-Rezeptor; mGluR: metabotropischer Glutamat-Rezeptor; NMDAR: N-Methyl-D-Aspartat Rezeptor; P5C: ∆2-Pyrrolin-5Carboxylat; PSD: postsynaptische Proteine. (Nach Harrison u. Owen 2003)
(Stefansson et al.2003) und chinesischen (Li et al.2004) Patienten bestätigt. Neuregulin kommt in glutaminergen synaptischen Vesikeln vor (Abb. 15.29) und wirkt auf die Expression der NMDA-Rezeptoren über ErbBRezeptoren. Eine Neuregulin-hypomorphe Maus zeigt außerdem Verhaltensweisen, die der Schizophrenie ähnlich sind. Das zweite Gen, das den oben genannten Kriterien genügt, kodiert für die Catechol-O-Methyltransferase (Gensymbol: COMT, Chromosom 22q11). Das Enzym ist am Abbau von Catecholaminen beteiligt und spielt insofern im Dopamin-Stoffwechsel eine wichtige Rolle (Abb. 16.16) Ein SNP im COMT-Gen (Val158Met) beeinflusst die Aktivität des Enzyms und die präsynaptische Dopaminwirkung. Weitere Gene, für die eine Beteiligung an Schizophrenie diskutiert wird, sind Dysbindin (Chromosom 6p, Gensymbol: DTNBP1), G72 auf dem Chromsom 13q22-34, das mit der D-Aminosäure-Oxidase
(DAAO) interagiert. Eine Kombination der beiden Risikogruppen hat synergistische Effekte in Bezug auf das Risiko, an Schizophrenie zu erkranken. Weiterhin gibt es Hinweise darauf, dass ein G-Protein an der Ausprägung von Schizophrenie beteiligt ist (Gensymbol RGS4, auf Chromosom 1q21-22) sowie eine Prolin-Dehydrogenase (Gensymbol PRODH, Chromosom 22q11). Wenn man die genannten Daten betrachtet, kommt man zu einem Konzept, das die glutaminergen Synapsen (Abb. 15.29) als einen gemeinsamen Ansatzpunkt betrachtet. Ein vereinfachtes Konzept ist in Abb. 15.30 dargestellt, das aber in der Zukunft aufgrund neuer und zusätzlicher Daten sicherlich noch modifiziert und erhärtet werden muss.
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! Schizophrenie ist eine psychische Erkrankung, die
durch Halluzinationen, Wahnvorstellungen, Störungen in der sozialen Interaktion und kognitiven Störungen gekennzeichnet ist. Es gibt keine klare neuropathologische Diagnostik. Kopplungsanalysen bei Familien von Patienten sowie transgene bzw. knock-out-Mutanten der Maus deuten darauf hin, dass Mutationen in den Genen für Neuregulin-1 und die Catechol-OMethyltransferase das Risiko erhöhen, an Schizophrenie zu erkranken. Es sind aber sicherlich noch eine Reihe weiterer Gene an dieser Erkrankung beteiligt; Umweltfaktoren haben einen modulierenden Einfluss.
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Kernaussagen
▬ Verhaltensweisen sind komplex und damit experimentell schwieriger zu analysieren als monogene Phänotypen. Sie gehorchen aber prinzipiell den gleichen Gesetzen wie andere komplexe Phänotypen. ▬ Mikroevolutive Prozesse können zu schnellen Verhaltensänderungen ganzer Populationen führen. ▬ Zirkadiane Rhythmen werden bei Drosophila, der Maus und dem Menschen durch autoregulatorische Rückkopplungschleifen gesteuert. Daran sind Transkriptionsfaktoren, Proteinkinasen und Repressoren von Transkriptionsfaktoren essentiell beteiligt. ▬ Gedächtnisleistungen lassen sich auf cAMP-abhängige Signaltransduktionskaskaden zurückführen, die über Transkriptionsfaktoren spezifische, an den Speichervorgängen beteiligte Gene aktivieren. ▬ Angststörungen und Depressionen ist gemeinsam, dass sie sich mit Medikamenten behandeln lassen, die mit der Funktion des Neurotransmit-
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ters Serotonin zusammenhängen. Ursachen sind u. a. Mutationen in Genen, die für Rezeptoren bzw. Transporter des Serotonins und des Corticotropin-freisetzenden Hormons kodieren. Alkoholismus ist eine komplexe Erkrankung mit hoher Prävalenz. Genetische Untersuchungen an Modellorganismen und dem Menschen zeigen, dass Alkoholbevorzugung im Wesentlichen auf Mutationen zurückzuführen ist, die die cAMP-Signalkette beeinflussen, während die Alkoholabhängigkeit mit genetischen Veränderungen der dopaminergen und GABAergen Signaltransduktion assoziiert ist. Die Alzheimer’sche Erkrankung ist eine progressive Neurodegeneration, die sich neuropathologisch durch amyloide Ablagerungen und neurofibrilläre Knäuel im Gehirn auszeichnet. Ursachen sind entweder Mutationen im APP-Gen oder in den Presenilin-kodierenden Genen PS1 bzw. PS2, die bei Drosophila am Notch-Signalweg beteiligt sind. Die Parkinson’sche Erkrankung ist eine progressive, neurodegenerative Erkrankung mit unterschiedlichen Verlaufsformen. Aus genetischen Untersuchungen ist bekannt, dass Mutationen in mehreren Genen die Krankheit verursachen. Eine Beteiligung von Umweltfaktoren wird diskutiert. Schizophrenie ist eine psychische Erkrankung, die durch Halluzinationen, Wahnvorstellungen, Störungen in der sozialen Interaktion und durch kognitive Störungen gekennzeichnet ist. Kopplungsanalysen bei Familien von Patienten sowie Untersuchungen an Mausmodellen deuten darauf hin, dass Mutationen in den Genen für Neuregulin-1 und die Catechol-O-Methyltransferase ein erhöhtes Risiko darstellen, an Schizophrenie zu erkranken; Umweltfaktoren haben einen modulierenden Einfluss.
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Transgene Mäuse Anwendung: Dauerhafter Transfer von fremdem Erbmaterial zur Herstellung neuer Eigenschaften in Tieren. Voraussetzungen: Mikroinjektionsanlagen, Tierhaltungskapazitäten. Methoden: Durch direkte DNA-Mikroinjektion in den Vorkern einer befruchteten Eizelle kann neue genetische Information in das Genom eines Tieres eingeführt werden; die Methode ist insbesondere für Mäuse etabliert. In etwa 30 % der Fälle wird die von außen zugeführte DNA stabil in das Mausgenom integriert; die Wahl des Integrationsortes ist weitgehend zufällig. Die Eizelle mit der fremden DNA wird chirurgisch in den Uterus von scheinschwangeren Ammenmüt-
tern übertragen. Es werden transgene Mäuse geboren, die die veränderte Erbinformation an die nächste Generation weitergeben. Die Herstellung transgener Tiere kann zu verschiedenen Zwecken verwendet werden: • Zusätzliches Einführen von WildtypSequenzen eines Gens zur Korrektur von Mutationen; dabei wird allerdings die ursprüngliche Mutation nicht entfernt; • Einführung eines neuen Gens zur Funktionsanalyse oder zur Herstellung spezifischer Produkte (z. B. Arzneistoffe in der Milch); dabei ist allerdings auf die Wahl eines geeigneten Promotors zu achten, um eine zeitlich / räumlich spezifische Expression zu erhalten;
• Expressionsanalyse: Durch Kopplung von Promotorfragmenten mit einem Reportergen (z. B. lacZ) ist es möglich, die zeitliche und räumliche Aktivitätsmuster von Promotorfragmenten in vivo zu untersuchen. Spezialfall: Induzierbare Systeme Oft ist die Expression eines Transgens nur zu bestimmten Entwicklungsabschnitten oder zu bestimmten Zeitpunkten erwünscht. Diese Feinregulation ist mit der traditionellen Methode eines einzelnen Promotors i.d.R. nicht möglich, so dass hierzu binäre Systeme verwendet werden. Am bekanntesten ist das Tet-on/Tet-off-System (Baron u. Bujard 2000; s. Abbildung), das auf der Tetracyclin („Tet“)-abhängigen Wirkung eines Transaktivators beruht
Herstellung von transgenen Mäusen. a Die schematische Darstellung zeigt, dass die fremde DNA mit Hilfe einer Injektionsnadel in einen Vorkern (üblicherweise der größere männliche) einer befruchteten Eizelle überführt wird. Diese behandelten Eizellen werden entweder noch am gleichen Tag oder nach kurzer Kultivierung (über Nacht; im Zweistellstadium) in die Eileiter von scheinschwangeren Weibchen übertragen; es werden etwa 20 bis 30 befruchtete Eizellen übertragen, um transgene Nachkommen zu erhalten. b Bei der Mikroinjektion von DNA in eine befruchtete Eizelle einer Maus wird die Eizelle durch eine Pipette angesaugt und festgehalten (links), während die Injektionsnadel auf die Eizelle zugeführt wird (rechts oben). Der Vorkern ist in der Mitte der Eizelle gut sichtbar. Das untere Bild zeigt den etwas vergrößerten Vorkern nach der Übertragung der Fremd-DNA. (Nach Sedivy u. Joyner 1994)
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Transgene Mäuse (Fortsetzung) (üblicherweise wird das Derivat Doxycyclin verwendet, das über das Trinkwasser verabreicht werden kann). Dieser Tet-abhängige Transaktivator (tTA) besteht aus einem gewebespezifischen Promotor, dem tetR-Gen (aus E. coli) und Sequenzen für die Aktivierungsdomäne des Proteins VP16 des Herpes-simplex-Virus. Der zweite, unabhängige Bestandteil enthält das zu
exprimierende Gen unter einem Promotor, der Bindestellen für den Transaktivator enthält („tetO“). Beide Komponenten können zunächst als unabhängige Transgene in Mauslinien etabliert werden; durch Kreuzung werden die Komponenten in einer Maus zusammengebracht. In Abwesenheit von Doxycyclin können tTA-Dimere spezifisch an die tetO-Se-
quenzen binden, wodurch die Expression des Zielgens induziert wird. Durch Gabe von Doxycyclin im Trinkwasser kann diese Expression gestoppt werden. – Es wurde auch das umgekehrte System entwickelt (reverses Tet-on/Tetoff-System). Dabei wurde das tetR-Gen so mutiert, dass eine Bindung von tetR an tetO nur in Anwesenheit von Doxycyclin stattfinden kann.
Das Tet-on/Tet-off-System. a Im klassischen System bindet tTA mit seiner DNA-Bindedomäne (rot) in Abwesenheit von Doxycyclin (gelb) an die tet-Operatoren stromaufwärts der TATA-Box und aktiviert die Transkription des Zielgens. Ist Doxycyclin vorhanden, so bindet dieses an tTA. Es kommt zu einer Konformationsänderung (rotes Viereck), so dass tTA von tetO dissoziiert; die Aktivierung des Zielgens wird damit aufgehoben. b Im reversen System kann rtTA nicht an die tet-Operatoren binden, so dass die Transkription des Zielgens nicht aktiviert wird. Ist Doxycyclin vorhanden, so bindet dieses an rtTA. Es kommt zu einer Konformationsänderung, so dass rtTA jetzt an die tet-Operatoren stromaufwärts der TATA-Box binden kann; damit wird die Transkription des Zielgens aktiviert. (Nach Hillen u. Berens 2002)
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Geninaktivierung bei Mäusen Anwendung: Funktionelle Genanalyse durch Ausschalten von Genen in Mäusen (knock-out). Voraussetzungen: Zellkultur von embryonalen Stammzellen der Maus, Tierhaltungskapazitäten. Methoden: Eine der wichtigsten Methoden zur funktionellen Genanalyse ist die Untersuchung der Auswirkungen von Mutationen auf den Phänotyp des betroffenen Organismus. Die Analyse spontaner oder durch ein mutagenes Agens induzierter Mutationen erfordert jedoch immer als ersten Schritt die Kartierung und Identifikation des betroffenen Gens. Die Ausschaltung eines definierten Gens aufgrund homologer Rekombination in embryonalen Stammzellen (Cappecchi 1989) erlaubt dagegen die präzise Analyse des Phänotyps, der durch den Verlust der jeweiligen Genaktivität entsteht (engl. loss-of function; knock-out; gene targeting). Allerdings kann die Funktion des ausgeschalteten Gens auch von anderen Genen übernommen werden, so dass keine besonde-
ren Auffälligkeiten beobachtet werden. Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass die Funktion des untersuchten Gens so wichtig ist, dass die Maus bestimmte Phasen in der Embryonalentwicklung nicht überlebt. Besonders für solche Fälle bieten sich konditionale Systeme an (s. u.). Es wird auch häufig beobachtet, dass sich knockout-Allele von anderen Allelen des jeweiligen Gens in Bezug auf den ausgebildeten Phänotyp unterscheiden, so dass zum vollen Verständnis einer Genfunktion immer mehrere Allele eines Gens betrachtet werden sollten („allelische Reihe“). Die gezielte Ausschaltung eines Gens beruht auf der Induktion homologer Rekombination zwischen einem geeigneten Vektorkonstrukt mit der gewünschten Mutation und dem endogenen, homologen Gen in Zellkulturzellen (s. Abbildung). Durch Verwendung von Markern im Vektorkonstrukt (z. B. Neomycin-Resistenz) können nach Einführung des Vektorkonstrukts in die Zelle (z. B. durch Elektroporation) transformierte Zellen durch Hinzufügung des Neomycin-
Derivates G418 zum Medium selektiert werden (nicht-transformierte Zellen sterben in Gegenwart von G418). Durch PCR (Technik-Box 4) oder Southern Blot (Technik-Box 10) kann experimentell überprüft werden, ob die gewünschte homologe Rekombination stattgefunden hat, d. h., ob die Mutation sich nunmehr anstelle des ursprünglichen Allels im Genom befindet. Als Zellen für solche Transformationsexperimente werden embryonale Stammzellen verwendet (ESZellen), die man aus der inneren Zellmasse früher Mausembryonen erhält (s. S. 631) und die sich leicht in Zellkultur halten lassen. Erfolgreich transformierte ES-Zellen kann man anschließend in Mäuse-Blastocysten injizieren, um auf diese Weise transformierte Mäuse zu erhalten. Diese Mäuse sind Mosaike (Chimären), da nur ein Teil von der transformierten Zelle abstammt. Wenn auch Keimbahnzellen von einer transformierten Zelle abgeleitet sind, erhält man unter den Nachkommen heterozygote, stabile Transformanten.
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Geninaktivierung bei Mäusen (Fortsetzung) Spezialfall: Konditionale Systeme Um das zu untersuchende Gen nur ab einem bestimmen Zeitpunkt oder in einem bestimmten Gewebe auszuschalten, wurde ein binäres System entwickelt, das die Deletion eines Gens nur dann zulässt, wenn zwei Genkodierte Komponenten gleichzeitig exprimiert werden (Lewandowski 2001). Das zu inaktivierende Gen wird dazu in einem Vektor von Schnittstellen für erkennungsspezifische Rekombinasen (engl. site-specific recombinases) flankiert; breite Verwendung findet dabei das Cre/loxP-System. Dabei schneidet die Cre-Rekombinase (aus Drosophila) eine DNA-Sequenz aus, die zwischen zwei antiparallelen loxP-Stellen liegt; dabei bleibt eine der beiden loxPStellen zurück (loxP-Stellen sind kurze DNA-Fragmente mit 34 bp aus Drosophila; die Core-Sequenz 8bp bestimmt die Orientierung der jeweiligen loxPStelle). Durch die regulierte Expression der Cre-Rekombinase (durch die geeignete Wahl eines Promotors) kann man das Zielgen gewebespezifisch ausschalten. Dies geschieht i. d. R. durch die Herstellung eines zweiten Mausstammes, der den RekombinaseExpressionsvektor unter der Kontrolle eines gewebespzifischen oder induzierbaren (siehe Technik-Box 27) Promotors trägt. Nach Kreuzung der zwei Mausstämme wird in den F1-Tieren Cre-Rekombinase nur zu einem gewünschten Zeitpunkt (induzierbares System) oder in einem gewünschten Gewebe (gewebespezifischer Promotor) exprimiert; nur unter diesen Bedingungen wird das Zielgen deletiert. Ein anderes, aber ähnliches System verwendet die Flp-Rekombinase und ihre FR T-Erkennungsstellen.
Kapitel 16
Die Zukunft der Genetik – zwischen Gentechnik und Genomforschung
Die Natur verbessern? Ein Pärchen von Attacus atlas, einer Schmetterlingsart, die früher auch für die Seidenerzeugung Interesse fand. (Photo: C. Ming, Shanghai)
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Kapitel 16: Die Zukunft der Genetik – zwischen Gentechnik und Genomforschung
Überblick Auf der Grundlage der Bakterien- und Phagengenetik der 1960er Jahre hat sich in den darauf folgenden Jahren zunächst die Gentechnologie entwickelt: Plasmide oder Phagen können als Vektoren für eukaryotische DNA dienen, die isoliert und vermehrt werden soll. Mit geeigneten Vektoren kann man (teilweise unter Nutzung homologer Rekombinationsereignisse) Genome höherer Organismen gezielt modifizieren und dabei Gene (gewebespezifisch) ein- und ausschalten. Das hat nicht nur unsere Kenntnisse in der Grundlagenforschung enorm vertieft und erweitert, sondern auch zu wichtigen Anwendungen in der Landwirtschaft, Tierzucht und der Medizin geführt. Wichtige Anwendungen in der Medizin sind die gentechnische Herstellung von Medikamenten, die damit heute unter konstanten Bedingungen und frei von viralen (z. B. HIV) oder anderen Kontaminationen (z. B. BSE-Erregern) hergestellt werden können. Die technologische Revolution, die mit der Sequenzierung ganzer Genome begann – zunächst „nur“ von Viren
Die vorangegangenen Kapitel dieses Buches haben uns gezeigt, dass die Genetik als Wissensgebiet ihre gesamte Entwicklung in nur etwas mehr als 100 Jahren durchlaufen hat: Am Ende des 19. Jahrhunderts standen die „Mendel’schen Gesetze“, die den Beginn der modernen Genetik markieren – und zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Entschlüsselung des menschlichen Genoms als bisheriger Höhepunkt. In dieser Zeit hat die Genetik einen Weg der Erkenntnis zurückgelegt, mit dessen Länge sich der Weg kaum einer anderen naturwissenschaftlichen Disziplin im 20. Jahrhundert vergleichen lässt. Stand in den ersten 30 bis 40 Jahren die Ausarbeitung der genetischen Gesetzmäßigkeiten und der cytogenetischen Grundlagen der Genetik im Mittelpunkt des Interesses, so gelang es bereits nach einem halben Jahrhundert Forschung, die molekularen Grundlagen der Vererbung aufzuklären. Die folgenden 20 Jahre standen im Zeichen der Untersuchung des genetischen Codes und der wesentlichen molekularen Mechanismen der Genstruktur und -funktion. Danach erforschte man intensiv Entwicklungs- und Differenzierungsmechanismen, bis dann in den letzten 15 bis 20 Jahren die Genomforschung immer interessanter wurde. Die überraschend niedrige Zahl von nur 30 000 Genen bei Säugetieren und Menschen schärft allerdings den
und Bakterien, später von Drosophila und schließlich des Menschen –, treibt die weitere systematische und großflächige genetische Analyse aller Lebensbereiche immer weiter voran. Viele monogenische Erbkrankheiten sind entschlüsselt und die Charakterisierung der komplexen Erbkrankheiten hat bereits begonnen. Dazu gehören auch viele „Volkskrankheiten“ wie Asthma und Bluthochdruck, aber auch psychische Erkrankungen. Dies bleibt nicht ohne Konsequenzen für die humangenetische Diagnostik und Beratung. Verbunden mit neuen Entwicklungen der Reproduktionsmedizin und der Forschung an humanen embryonalen Stammzellen verändert die Genetik damit unser Menschenbild: Die Würde des Menschen wird an ihrem Anfang und Ende in Frage gestellt, und in zentralen Bereichen scheint die Kombination der Polymorphismen die Individualität und Freiheit eines Menschen zu bestimmen. Ist der Mensch mehr als das Ensemble seiner genetischen Bedingungen?
Blick wieder für andere genetische Mechanismen, die auch den Komplexitätsgrad erhöhen können. Aktuell wird heute deshalb vor allem an der „funktionellen“ Genomanalyse geforscht, da allein aus der Sequenz die jeweilige Funktion nicht ohne weiteres ableitbar ist. Dabei gewinnen auch epigenetische Überlegungen sowie Fragen nach der Rolle inhibitorischer Funktionen von RNA zunehmend an Bedeutung. Die Genetik befasst sich jedenfalls heute mit den naturwissenschaftlich fassbaren Grundphänomenen des Lebens und spielt damit eine zentrale Rolle in der allgemeinen Biologie.
16.1 Gentechnik und Biotechnologie Die gezielte Züchtung von Pflanzen und Tieren zum Nutzen des Menschen sowie die Verwendung von in der Natur vorgefundenen Kräutern zur Heilung von Krankheiten gehen bis in die Frühzeit menschlicher Existenz zurück. Die Erkenntnisse der molekularen Genetik, vor allem die Identifikation der DNA als Träger der genetischen Information und die vielfältige Charakterisierung von Rekombinations-, Regulations- und Differenzierungsprozessen, ermöglichen es uns, gerichtete genetische Veränderungen
16.1 Gentechnik und Biotechnologie
in Mikroorganismen, Pflanzen und Tieren nicht mehr über langwierige und unsichere Kreuzungsexperimente, sondern häufig unter Umgehung von Art- und Speziesgrenzen gezielt und direkt am genetischen Material eines beliebigen Organismus auszuführen. Im Folgenden sollen dazu einige Beispiele kurz vorgestellt werden, wobei jeweils auch das Potential für zukünftige Entwicklungen mit bedacht wird.
16.1.1 Gentechnische Modifikationen von Pflanzen Die pflanzliche Gentechnik beruht auf der Möglichkeit, fremde DNA in das Genom von Pflanzenzellen einzubringen. In Analogie zu entsprechenden Modifikationen bei Tieren nennt man derartig veränderte Pflanzen transgen. Entsprechend den Begriffen im deutschen Gentechnikrecht bezeichnet man solche Organismen auch als „gentechnisch veränderte Organismen“ (GVOs). Einer der Schwerpunkte der Genetik der Zukunft wird sicherlich auf diesen Gebieten liegen; deshalb soll die Entwicklung der letzten 20 Jahre noch einmal kurz skizziert werden, um daraus die Trends für die Zukunft ablesen zu können. In der pflanzlichen Gentechnik wurde als Überträger der DNA das Bodenbakterium Agrobacterium tumefaciens (Kap. 4.1) verwendet, das bei Pflanzen Tumore verursacht. Dieses Bakterium besitzt ein TiPlasmid, auf dem die tumorerzeugenden Eigenschaften kodiert werden. Ein kleiner Teil des Ti-Plasmids kann von Agrobacterium in zweikeimblättrige Pflanzen übertragen werden. Die ersten Arbeiten zur Übertragung einer fremden DNA (hier: Transposon Tn7) mittels A. tumefaciens wurden 1980 publiziert, aber schon 3 Jahre später wurden in grundlegenden Arbeiten von mehreren Forschergruppen Resistenzen gegen Antibiotika übertragen. Dabei wurde das Ti-Plasmid soweit modifiziert, dass es seine tumorinduzierende Wirkung verloren hat. Seither wurde eine stetig wachsende Zahl von Pflanzen nahezu aller systematischen Gruppen erfolgreich transformiert. Zur genetischen Veränderung stehen noch weitere Methoden zur Verfügung: 1984 wurde die Transformation von Maisprotoplasten beschrieben. Dabei wird die Zellwand enzymatisch abgebaut,wodurch die zellwandlosen Protoplasten entstehen, in die man über Polyethylenglykol oder elektrische Depolarisierung DNA einbringen kann. Seit 1987 wird außerdem
die biolistische Transformation verwendet, bei der pflanzliche Zellen mit DNA-beschichteten Gold- oder Wolframpartikeln beschossen werden. Mit dieser Methode gelang die Transformation wichtiger einkeimblättriger Pflanzen (Reis 1988, Mais 1990, Weizen 1992). 1985 wurden erstmals transgene Pflanzen beschrieben, denen Resistenzen gegen ein Herbizid verliehen worden waren. Mit der Generierung insektenresistenter Tabak- und Tomatenpflanzen wurde 1987 ein weiterer wichtiger Schritt in der pflanzlichen Gentechnik gemacht. Ein anderes wichtiges Ereignis war 1988 die Kontrolle der Fruchtreife bei Tomaten, die ab 1994 als erstes gentechnisch verändertes Nahrungsmittel kommerziell erhältlich war; diese Tomate konnte sich aber am Markt nicht durchsetzen. Pflanzen können auch zur gezielten Herstellung von Bioprodukten verwendet werden. Dazu können nicht nur die Kohlenhydrat- oder Fettsäurenzusammensetzungen geändert werden (z. B. Raps als „Biodiesel“). Es wurde auch bei der Tollkirsche die Alkaloidzusammensetzung verändert (1992), so dass Pflanzen auch für die Gewinnung von Arzneimitteln herangezogen werden können. Weitere Überlegungen sind, Pflanzen mit ganz neuen Eigenschaften als Bioreaktoren zur Herstellung nachwachsender Rohstoffe zu verwenden, nachdem bereits 1992 Pflanzen vorgestellt wurden, die bioabbaubaren Kunststoff synthetisieren. Der kommerzielle Anbau von transgenen Nutzpflanzen in der Landwirtschaft betrug weltweit im Jahr 2002 etwa 58,7 Mio. Hektar. Darin enthalten sind 34% der Mais-, 76% der Sojabohnen und 80% der Baumwollanbauflächen der USA. Außerdem bestehen mehr als 65% der Rapsanbaufläche in Kanada aus transgenen Pflanzen. 90% der verwendeten transgenen Pflanzen tragen eine Herbizid- oder Schädlingsresistenz. Berücksichtigt man den Umstand, dass Sojaprodukte aus den USA in mehr als 20 000 verschiedenen Nahrungsmitteln enthalten sind, zeigt dies den großen Einfluss, den die „grüne Gentechnik“ bereits jetzt auf unsere Nahrungsmittelherstellung hat. Inwieweit dies durch die Kennzeichnungspflicht für gentechnische Produkte in Nahrungsmitteln, die 2004 eingeführt wurde, beeinflusst wird, wird erst die Zukunft zeigen. In Deutschland ist die Freisetzung von transgenen Pflanzen seit 1990 im Gentechnik-Gesetz geregelt, das eine frühere „Richtlinie“ der Bundesregierung ablöste, die nur für den Geschäftsbereich des Bun-
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desforschungsministeriums galt. Mit dem Gentechnik-Gesetz hatte sich Deutschland entsprechenden Empfehlungen der OECD und Richtlinien der EU angeschlossen, so dass in den wichtigsten Industrienationen vergleichbare Regelungen existieren (da das Gentechnikrecht immer wieder geändert wird, sei der interessierte Leser auf die einschlägigen aktuellen Gesetzestexte verwiesen). Freisetzungsexperimente sind demnach genehmigungspflichtig; in Deutschland wurden bis 2002 135 derartige Experimente genehmigt (in der EU insgesamt 1.830); weltweit waren es mehr als 9000 Freisetzungsexperimente (davon 98,6% mit Pflanzen und 78,2% in den USA). Es ist zu erwarten, dass diese Zahlen insgesamt in der Zukunft stark ansteigen werden (Kempken u. Kempken 2004). Ein Problem beim Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen ist ihre Interaktion mit der Umwelt. Pollen werden von Wind und Insekten weiter verbreitet, so dass eine vollständige Beschränkung auf die Anbaufläche nicht möglich ist. Bei einer Untersuchung einer transgenen, herbizidresistenten Winterraps-Sorte wurden transgene Pollen trotz eines 8 m breiten Streifens von nicht-transgenen Rapspflanzen um das betroffene Feld noch im Umkreis von 200 m nachgewiesen; in Einzelfällen sogar bis in einer Entfernung von 4 km. Durch diese Ausbreitung kann es auch zu Kreuzungen mit verwandten Wild-Arten kommen und dabei auch zu einer Übertragung der Herbizidresistenz, was die Handhabung deutlich erschwert. In Untersuchungen zur Pollenverbreitung von transgenen Rapssamen und ihren Auskreuzungen wurden überraschend hohe Auskreuzungsraten von 0,26 % in Sareptasenf gefunden. Die Bastarde entwickelten sich gut, bildeten aber keine vermehrungsfähigen Samen. Aber auch das Ausfallen von Samen der transgenen Pflanzen selbst bei der Ernte kann zum Überdauern der Pflanzen beitragen. Das Überdauerungsvermögen ist vom Genotyp der Pflanze und der Art der Bodenbearbeitung abhängig (Abb. 16.1; www.biosicherheit.de). Diese Fragen werden uns sicherlich in den nächsten Jahren weiter beschäftigen, wenn immer mehr transgene Pflanzen kommerziell eingesetzt werden.
16.1.2 Gentechnik in der Tierzucht Die ersten gentechnisch veränderten Tiere waren Mäuse. Inzwischen wird versucht, bei Schafen, Rin-
Abb. 16.1. Ausfallraps in Winterweizen. Labor- und Feldversuche haben gezeigt, dass das Überdauerungsvermögen von Rapssamen von der Sorte und der Bodenbearbeitung abhängt. Eine verzögerte Stoppelbearbeitung nach der Rapsernte und das tiefe Vergraben der ausgefallenen Samen führen im Folgejahr zu wenig Unkrautraps („Ausfallraps“) in der Folgefrucht Winterweizen. (Quelle: www.biosicherheit.de [BMBF])
dern und Schweinen mit Hilfe der Gentechnik neue Zuchtziele zu erreichen bzw. die Ursachen für die Anfälligkeit für bestimmte Krankheiten (z. B. Scrapie beim Schaf und BSE bei Rindern) zu charakterisieren, um sie schließlich vermeiden zu können. Zu diesem Zweck wurde 2004 auch ein Förderprogramm der Bundesregierung initiiert, das bis 2008 laufen soll und die funktionelle Genomanalyse von Nutztieren zum Ziel hat (FUGATO). Dabei sollen die Genome von Schweinen, Rindern, Schafen, Geflügel und Honigbienen analysiert werden. Im Vordergrund steht dabei die Entwicklung von Gentests zur schnellen Untersuchung von Erbkrankheiten. Allein beim Schwein verursachen genetisch bedingte Erkrankungen einen Verlust von etwa 30 Mio. € pro Jahr. Eine wichtige Motivation für eine genbasierte Zucht ist auch
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der Tierschutzgedanke, der nicht nur „Qualzuchten“ verbietet, sondern auch über die Erkennung von Genvarianten, die die Widerstandskraft gegenüber Infektionen beeinflussen, die Züchtung resistenter oder weniger anfälliger Tiere ermöglichen will. Langfristig wird allerdings die Suche nach wirtschaftlich interessanten Genen immer mehr an Bedeutung gewinnen: Dabei wird es darum gehen,Gene zu identifizieren,die mit einer verbesserten Fleisch-,Fett und Milchqualität
in Zusammenhang stehen. Solche Leistungsmerkmale werden i.d.R. als „quantitative Merkmale“ vererbt (siehe Kap. 11.3.4 und 11.4.6; Abb. 16.2). Ein frühes Beispiel für die Verbesserung der Zucht ist die Erkennung des Stress-Syndroms bei Schweinen (malignes Hyperthermie-Syndrom, MHS). In Belastungssituationen können betroffene Tiere an Kreislaufversagen verenden. Zur Diagnose dieser autosomal-rezessiven
Abb. 16.2. Das IGF2-Gen und quantitative Merkmale beim Schwein. Die beobachteten Unterschiede zwischen den verschiedenen Schweinen (höhere Muskularität, weniger Rückenfett und ein größeres Herz bei den Hausschweinen) können auf einen Nukleotidaustausch (G→A) im Intron 3 des IGF2-Gens zurückgeführt werden: Diese Mutation hat keinen Einfluss auf die genetische Prägung des IGF2-Gens (siehe Abb. 12.8) und verändert auch nicht die Methylierung dieser Region, die im Skelettmuskel untermethyliert ist. Die Wildtyp-Sequenz bindet einen Kernfaktor; diese Wechselwirkung wird durch die Mutation und durch Methylierung beseitigt. Aus Transfektionsanalysen ist bekannt, dass diese Intron-Sequenz als Silencer wirkt,
wohingegen diese Wirkung der mutierten Sequenz signifikant schwächer ist. Schließlich ist die Expression von IGF2 postnatal im Skelett- und Herzmuskel etwa dreimal höher; bleibt dagegen unverändert in der Leber und in den pränatalen Stadien der Muskel. Diese Ergebnisse erklären die phänotypischen Befunde: Das IGF2*Q-Allel ist mit hohem Muskelwachstum und einem vergrößerten Herzen verbunden, hat aber keinen Einfluss auf das Geburtsgewicht oder die Leber. Damit ist der IGF2-QTL für die Schweinezucht besonders interessant, da er nur das Muskelwachstum nach der Geburt beeinflusst, nicht aber das Geburtsgewicht. (Nach Andersson u. Georges 2004)
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Erkrankung mit variabler Penetranz wurden früher betroffene Tiere als Ferkel mit Halothan narkotisiert: Gesunde Tiere sacken dabei schlaff zusammen, während betroffene Tiere verkrampfen. Das verantwortliche Gen kodiert für einen Ryanodin-Rezeptor (Gensymbol RYR1), dessen Defekt (Aminosäureaustausch Arg614Cys) den Transport von Calcium-Ionen durch die Zellmembran und damit die Muskelkontraktion beeinflusst (Fujii et al. 1991). Tiere mit diesem Gendefekt setzen allerdings auch überdurchschnittlich viel mageres Fleisch an, so dass durch die Selektion auf eine höhere Fleischleistung die Anfälligkeit für MHS mitgezüchtet wurde. Es gibt eine Reihe weiterer Beispiele dafür, dass bestimmte Allele mit Vergrößerungen einzelner Muskeln gekoppelt sind. Abb. 16.3 zeigt das Beispiel eines belgischen Bullen; Ursache in diesem Fall ist der homozygote Funktionsverlust des Myostatin-Gens. Die Tierzucht bewegt sich darauf hin, zur Zucht eine Vielzahl genetischer Tests heranzuziehen. Es wird sicherlich auch nicht mehr lange dauern, bis die vollständigen Sequenzen der für die Landwirtschaft wichtigsten Tiergenome komplett vorliegen. Zu den neuen Zuchtzielen gehört es neben einer verbesserten Produktivität auch, Medikamente zu erzeugen. Das Schaf „Tracy“ produzierte in seiner Milch das für die Lungenfunktion wichtige Protein α1-Antitrypsin (AAT), das zur Behandlung von Zystischer Fibrose und von Lungenemphysemen eingesetzt werden kann (50% des Proteingehalts der Milch von „Tracy“ war humanes AAT!). Zwar war der Integrationsort des humanen AAT-Gens nicht stabil, so dass es nicht in gewünschter Form auf die Nachkommen von „Tracy“ übertragen werden konnte. Allerdings wurde dieses Phänomen bei einem anderen Tier nicht beobachtet, so dass schließlich daraus eine Herde mit über 600 Tieren aufgebaut werden konnte, die AAT jeweils in einer Konzentration von 13–16 g/l Milch lieferten. Das führte zu einer Produktion von über 1 kg klinisch-reinem AAT pro Woche (Reinheitsgrad > 99,999%; Colman 1999). Bei Schweinen wird daran gearbeitet, die Zelloberflächen so zu verändern, dass sie vom menschlichen Immunsystem nicht als fremd erkannt werden. Sollte dies gelingen, könnten Schweine als Organspender in Frage kommen. Ansatzpunkte dazu sind die Expression menschlicher Komplementinhibitoren (wie CD29) und die verminderte Bindung von Antikörpern durch die Expression der menschlichen α1,2-Fucosyltransferase. Die kombinierte Expression
Abb. 16.3. Doppelmuskel in Rindern. Vergleich eines Blauen Belgiers (oben) mit dem Doppellender-Phänotyp mit einem Charolais-Bullen (unten), der dieses Merkmal nicht aufweist. Der Doppellender-Phänotyp wird durch eine homozygote Funktionsverlustmutation im Myostatin-Gen hervorgerufen. Die weiße Farbe des Weiß-Blauen Belgiers wird durch eine Mutation im Gen für den Mastzellwachstumsfaktor (MGF) hervorgerufen, der ein Ligand für den Kit-Rezeptor ist. (Nach Andersson 2001)
dieser beiden Komponenten in transgenen Schweinen zeigte schon einen deutlichen Fortschritt in der Resistenz peripherer Blutzellen dieser Schweine gegenüber einer Lysis durch humanes Serum (Costa et al. 2002). Aufgrund des zunehmenden Bedarfs an Transplantationsmaterial steckt in derartigen Entwicklungen großes medizinisches Potential.
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16.1.3 Gentechnische Aspekte bei der Behandlung von Krankheiten In den vergangenen Jahren wurden viele gentechnische Prozesse in Gang gesetzt, die zunächst nur als Verheißung gesehen worden waren. Wie diese biotechnischen Herausforderungen realisiert werden könnten, war zunächst oft unklar. Meilensteine in der biotechnischen Herstellung von Medikamenten waren einmal die Herstellung von Insulin zur Diabetesbehandlung (Diabetes, s. Kap. 14.4.3) und zum anderen des Blutgerinnungsfaktors VIII zur Behandlung der Hämophilie A (Hämophilie A, s. Kap. 14.3.3). Durch regelmäßige Injektion von Insulin können viele Komplikationen der Diabetes vermieden werden. Insulin zur Therapie wurde lange aus dem Pankreas von Rindern oder Schweinen gewonnen, was jedoch mit mehreren Problemen verbunden war. Erstens unterscheiden sich Schweine- und Rinderinsulin in einer bzw. drei Aminosäuren vom menschlichen Protein. Zweitens war die Reinheit der Präparate nicht immer gesichert, so dass sich bei langfristiger Applikation durch die mehrfache tägliche Injektion oft Komplikationen durch Immunreaktionen ergaben. Außerdem können Kontaminationen des aus Tieren gewonnenen Insulins, beispielsweise durch Viren, weitere Gesundheitsprobleme auslösen. Die gentechnologische Herstellung von Insulin in Bakterien oder Hefen vermeidet solche Probleme und gewährleistet prinzipiell, dass menschliches Insulin mit großer Reinheit in ausreichender Menge zur Verfügung steht. Einen ähnlichen Weg hat die Bluterbehandlung genommen: Zunächst wurden in den 1970er Jahren Präparate entwickelt, die darauf basierten, dass aus menschlichem Blut der Gerinnungsfaktor VIII in relativ guten Ausbeuten und Reinheit isoliert werden konnte. Allerdings deutete sich Ende der 1980er Jahre eine Katastrophe an, als immer mehr Bluter an HIV erkrankten, weil die Kontamination des Spenderblutes mit HIV zunächst nicht erkannt und später nicht ausreichend überwacht wurde. Dies hatte zur Folge, dass fast eine ganze Generation von Hämophilie-Patienten gestorben ist. Die gentechnische Alternative beruht auf der Nutzung von tierischen Zellkulturen, die allerdings zunächst Rinderserum zum optimalen Wachstum benötigten. Aufgrund der BSE-Krise am Ende des 20. Jahrhunderts wurde dann die Herstellung rekombinanter Faktor VIII-Präparate weitgehend auf eine serumfreie Produktion umgestellt. Dieses Beispiel zeigt deutlich, wie die gen-
technischen Verfahren die Herstellung von Medikamenten nicht nur vereinfachen und standardisieren, sondern auch von äußeren Risikofaktoren abkoppeln können. Die Arbeiten bei vielen gentechnischen Präparaten gehen jetzt dazu über, die Produkte in ihren Eigenschaften zu verbessern (z. B. die Wirkungsdauer zu verlängern oder ihr antigenes Potential zu vermindern). Die Entwicklung monoklonaler Antikörper war in der Mitte der 1970er Jahre enthusiastisch begrüßt worden, weil man sich davon deutliche Fortschritte in der Therapie versprochen hatte. Es stellte sich aber sehr schnell heraus, dass monoklonale Antikörper zwar in der Grundlagenforschung sehr effizient eingesetzt werden können, aber in der Therapie war es zunächst schwierig,die richtigen Angriffsziele zu definieren. Ein gelungenes Beispiel ist die Entwicklung von Antikörpern gegen den Tumornekrosefaktor TNFα, um so Autoimmunsymptome in Krankheiten wie rheumatischer Arthritis oder der Crohn’schen Erkrankung vermindern zu können. Eine wesentliche Voraussetzung für die Durchsetzung derartiger biologischer Produkte am Markt bestand in der zunehmenden Verbesserung ihrer Produktionstechnologien: Reinheit des Produkts, keine viralen Erreger (vor allem HIV und Hepatitits C), aber auch serumfreie Zellkulturen, um eine Übertragung von BSE zu vermeiden. Eine weitere wichtige treibende Kraft besteht in der „Humanisierung“ der Antikörper, die ja in Mauszellen hergestellt werden und damit selbst ein eigenes, immunogenes Potential aufweisen. Ein großes Entwicklungspotential haben auch Antikörper-gestützte Therapieverfahren gegen bestimmte Krebserkrankungen: Gegen die T-Zell-Leukämie wird ein IL-2R-Antikörper eingesetzt, da bei diesem Krankheitstyp über den IL-2-Rezeptor eine Signalkette initiiert wird, die für diese Form der Krebserkrankung spezifisch ist. Die Entwicklung derartiger Antikörper nimmt ständig zu; im Jahre 2003 befanden sich bereits mehr als 200 verschiedene Antikörper in klinischen Untersuchungen. Wie bei allen Arzneimitteln müssen aber auch bei diesen Präparaten vor der Zulassung die Wirkungsmechanismen genau untersucht werden, um Komplikationen und Nebenwirkungen richtig einschätzen zu können. Impfstoffe repräsentieren historisch gesehen die etabliertesten und kosteneffizientesten Behandlungsmethoden in der Medizin. So haben die Impfstoffe gegen Pocken die Infektionen von Menschen durch das Variola-Virus eliminiert und die natürliche Über-
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tragung dieses Virus ausgerottet, dessen Beitrag zur Sterblichkeit allein im letzten Jahrhundert 300 Mio. Menschenleben überstieg. Die jüngsten Entwicklungen in vielen Gebieten der Biologie, vor allem aber auch in der Genetik, führten zu einer Renaissance der Impfstoff-Forschung (Abb. 16.4). Zweifellos wird dabei das Gebiet der Impfstofftechnologie von den Fortschritten in der Genomforschung und Bioinformatik profitieren. Insbesondere die Möglichkeiten der individuellen Genotypisierung werden es ermöglichen, die Immunantwort von Patientengruppen im Vorfeld abzuschätzen, um die Impfstoffe entsprechend zu optimieren. Waren Impfstoffe ursprünglich dazu gedacht, das Ausbrechen von Krankheiten durch
Prävention zu vermeiden (hier liegt auch nach wie vor der Forschungsschwerpunkt für Infektionen durch HIV, Ebola-Virus, Influenza-Viren u. a.), so kommen auch neue Möglichkeiten in Betracht, wie die Modulation der Immunantwort auf andere pathologische Situationen, wie z. B. bei neurodegenerativen Erkrankungen (z. B. Alzheimer’sche Erkrankung, s. Kap. 15.4.1). Dabei besteht die Möglichkeit, dass Antikörper die Bildung neurologischer Schäden vermeiden. Andere Anwendungsmöglichkeiten zeichnen sich in der Behandlung der Atherosklerose (Antikörper gegen das Cholesterin-bindende Transportprotein), von Allergien und Autoimmunerkrankungen sowie bei der Krebstherapie ab. Abb. 16.4. Technik zur Übertragung von Genen und ihre Anwendung zur Herstellung von Impfstoffen. Die Fortschritte in der molekularen Virologie haben die Herstellung verschiedener viraler und nicht-viraler Techniken zum Gentransfer ermöglicht, die zur Entwicklung von Impfstoffen gegen Aids, Ebola, humane Papillomviren, Rotaviren, schwere akute Atemwegssyndrome und andere Infektionserkrankungen dienen. (Nach Nabel 2004)
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Das Kernstück zukünftiger Genetik liegt aber in der somatischen Gentherapie. Obwohl das Konzept einfach erscheint, zeigte sich bald, dass die Übertragung in die klinische Praxis wesentlich schwieriger ist als zunächst angenommen wurde. Bisher scheiterten viele Ansätze daran, dass man entweder das Zielgewebe nicht erreicht hat, dort die Expression der rekombinanten Gene nicht regulieren oder die Immunantwort auf den Vektor nicht kontrollieren konnte. Der erste Versuch einer Gentherapie wurde 1990 mit der Heilung der Adenosindeaminase-Defizienz (OMIM 102 700) unternommen. Dabei führt die Unfähigkeit der Patienten, Adenosin abzubauen, letztlich zu einer Immunschwäche. Allerdings wurde trotz der Anwesenheit des reparierten Gens keine Verbesserung der Symptome erreicht, was nicht nur an der schwachen Expression des rekombinierten Gens und dem fehlenden Durchsetzungsvermögen der reparierten T-Zellen liegt, sondern auch an einer Immunantwort gegen das bakterielle Resistenzgen Neomyzin, das ursprünglich zur Selektion eingefügt wurde (Muul et al. 2003). Andere Beispiele zeigen aber die prinzipiellen Möglichkeiten einer Gentherapie auf. Dazu gehören auch die Bluterkrankheiten (Hämophilie A und Hämophilie B; s. Kap. 14.3.3). Diese Erkrankungen sind unter gentherapeutischen Gesichtspunkten besonders erfolgversprechend, da die fehlenden (bzw. in ihrer Aktivität verminderten) Proteine im Blut zirkulieren und dadurch (wenigstens in der Theorie) viele Zellen genutzt werden können, um die rekombinanten Gene zu exprimieren. Erste Versuche waren hier durchaus vielversprechend; allerdings ist die Expressionsrate noch deutlich zu niedrig (vor allem für das F8-Gen) und die Stabilität der transfizierten Zellen zu gering, d. h., das rekombinante Gen geht innerhalb weniger Monate wieder verloren. Der vielversprechendste Ansatz einer somatischen Gentherapie gelang bisher bei der Behandlung der X-gekoppelten, angeborenen, schweren kombinierten Immunschwäche (engl. severe combined immunodeficiency, SCID; OMIM 300400). Diese Krankheit wird durch eine Mutation in der γ-Kette des Interleukin-2-Rezeptors hervorgerufen. Hacein-Bey-Abina und Mitarbeiter (2002) entnahmen bei 5 betroffenen Kindern Knochenmark und behandelten die Knochenmarkszellen ex vivo mit einem replikationsdefizienten retroviralen Vektor, der die funktionelle γ-Kette exprimiert. Die so behandelten Knochenmarkszellen wurden wieder
re-implantiert und besiedelten das lympoide System und stellten die Funktion des Immunsystems wieder her. Allerdings hatte diese Methode eine unerwartete Nebenwirkung, nämlich eine unkontrollierte Proliferation der rekombinanten T-Zellen (vermutlich ausgelöst durch eine Insertion in ein Oncogen in den behandelten Zellen). Diese Arbeiten unterstreichen die Notwendigkeit, die Expression der rekombinanten Gene präzise zu regulieren und die Integrationsorte genau zu überwachen, um solche Nebenreaktionen zu vermeiden (Nabel 2004). Die Gentherapie-Forschung ist in den vergangenen Jahren rapide angewachsen, und es ist zu erwarten, dass sie weiter zunimmt. Die ursprünglichen retroviralen Vektoren wurden durch eine Reihe anderer Vektoren ergänzt, und jedes System hat seine spezifischen Vor- und Nachteile, die auch von der jeweiligen Krankheit abhängen, die behandelt werden soll. So sind beispielsweise Vektoren auf der Basis von Lentiviren sehr gut geeignet, um einen stabilen Gentransfer in Zellen zu erzielen, die sich nicht mehr teilen, aber ihre Integrationsstellen im Genom sind nicht spezifisch, und es besteht der Verdacht, dass unbeabsichtigte Inaktivierungen benachbarter Gene vorkommen. Auf der anderen Seite sind Adeno-assoziierte Viren relativ sicher und werden als weniger immunogen betrachtet – sie sind aber bei der Infektion von Zellen, die sich nicht mehr teilen, weniger effizient und können nur kurze therapeutische Gene tragen. Zur Zeit (2005) wurden mehr als 800 klinische Untersuchungen zur somatischen Gentherapie bereits begonnen oder sind abgeschlossen (für aktuelle Angaben siehe http:// www.wiley.co.uk/genmed/clinical). Obwohl in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht wurden, bleiben die bisherigen Ansätze zur Gentherapie noch weit hinter ihren Versprechungen zurück. Die Technologie entwickelt sich aber weiter und man verspricht sich besonders viel von allen Ansätzen, in denen RNAi (s. Kap. 12.3) transferiert werden kann, da man davon ausgeht, dass dadurch langfristig die Genexpression reguliert und die Genotoxizität minimiert werden kann. Im Unterschied zur somatischen Gentherapie ist die Keimbahntherapie auf eine Veränderung der genetischen Konstitution der Keimzellen gerichtet und beabsichtigt damit die Veränderung der Erbeigenschaften der zukünftigen Generationen. Experimente in dieser Richtung sind derzeit unter Wissenschaftlern geächtet und in Deutschland verboten.
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Allerdings sind Tendenzen im Zusammenhang mit der modernen Reproduktionsmedizin zu beobachten, die Veränderungen im allgemeinen ethischen Konsens andeuten.
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Genomforschung
16.2.1 Pharmakogenomik und individualisierte Medizin Wir haben in früheren Abschnitten immer wieder auf die Entwicklung neuer Medikamente hingewiesen, die durch die Genomforschung ermöglicht wird. Eine Perspektive beinhaltet darüber hinaus auch die sog. „personalisierte“ Medizin, d. h. dass Medikamente entwickelt werden, die nicht nur auf eine bestimmte Krankheit abgestellt sind, sondern darüber hinaus auch noch weitere Polymorphismen des Patienten berücksichtigen und damit mögliche Nebenwirkungen vermeiden. Dazu muss die zukünftige Entwicklung von Pharmaka folgende Punkte berücksichtigen: • Die Wechselwirkung des Medikaments mit seinen entsprechenden „Rezeptoren“ bzw. Interaktionspartnern: Durch Mutationen der entsprechenden Bindestellen können diese Wechselwirkungen von der Medikamentenseite her verstärkt werden; umgekehrt können Patienten bei der Anwesenheit von Polymorphismen bei den Reaktionspartner unterschiedlich reagieren. Die Entwicklung leistungsfähiger SNP-Hochdurchsatzverfahren kann diesen Anforderungen gerecht werden. • Die Aufnahme und Verteilung des Medikaments im Körper: Daran sind in vielfacher Weise Transportprozesse beteiligt, die von entsprechenden Proteinen gesteuert werden. Es ist denkbar, dass SNPs in Transportergenen die pharmakokinetischen Eigenschaften von Stoffen entscheidend beeinflussen und müssen daher mit untersucht werden bzw. schon bei der Herstellung der Medikamente berücksichtigt werden. • Die Ausscheidung des Medikaments aus dem Körper: Dazu gehören aktive und passive Prozesse. Die vielfache Arzneimittelresistenz (engl. multiple drug resistance, MDS) ist ein Phänomen, das bei Krebspatienten bekannt ist und das nicht nur bei der Therapie berücksichtigt werden muss, sondern auch schon bei der Entwicklung neuer Medikamente. Pharmakogenetische Unterschiede von
Patienten haben oft ihre Ursache in populationsbedingten Unterschieden in fremdstoffmetabolisierenden Enzymen. Daher werden zukünftig Medikamente nicht nur auf ihre möglichen Einflüsse auf den Metabolismus im Computer getestet werden (solche Vorhersage-Programme gibt es bereits), sondern auch mit ihren zum jeweiligen Zeitpunkt vorhanden Varianten verglichen werden. Umgekehrt wird sich auf der Patientenseite eine genomische Voruntersuchung entwickeln, wobei bestimmte Allele routinemäßig überprüft werden, von denen bekannt ist, dass sie bei der Antwort des Körpers auf ein Medikament die Wirkung beeinflussen (siehe oben: Aufnahme, Transport und Elimination). Damit wird sich das Bild der pharmazeutischen Industrie in den nächsten Jahren deutlich ändern. Es scheint allerdings, dass dieser Prozess nicht so schnell abläuft wie von vielen erwartet, da sich oft Erkenntnisse in den Labors der Grundlagenwissenschaften nur langsam umsetzen lassen (Valdes et al. 2003). Ein Beispiel ist das nichtkleinzellige Lungenkarzinom. Daran erkranken in Deutschland jährlich 32 000 Menschen. Die meisten Patienten sterben trotz Chemotherapie innerhalb eines Jahres. In ca. 10% der Fälle wird aber der Krebs mit dem Mittel Iressa in Schach gehalten. Iressa blockiert die Kinaseaktivität des epidermalen Wachstumsfaktors (EGFR). In den klinischen Studien wurde beobachtet, dass der Lungenkrebs bei Japanern besser auf Iressa ansprach als bei Amerikanern. Es wurden daraufhin 58 Japaner und 61 Amerikaner auf somatische Mutationen im EGFR-Gen untersucht. In 15 japanischen und in einem amerikanischen Patienten wurden Mutationen in der Kinasedomäne identifiziert, die zu einer erhöhten Aktivität führen. Die weiteren Untersuchungen zeigten, dass nur die Patienten mit einer Mutation, die die EGFRKinasedomäne betrifft, auf Iressa ansprechen, und erklären damit die geringen Therapieerfolge. Umgekehrt können jetzt Untersuchungen auf Mutationen im EGFR-Gen den Sinn einer Iressa-Therapie begründen (Lynch et al. 2004; Paez et al. 2004).
16.2.2 Populationsgenetik Die Entwicklung der modernen Medizin insgesamt hat Folgen für die Evolution des Menschen, da wir
16.2 Genomforschung
nicht nur unsere durchschnittliche Lebenserwartung erhöht haben, sondern auch viele Mitmenschen heute lange überleben (und Kinder haben), die ohne diese Entwicklung ihre eigene Kindheit nicht überlebt hätten. Oft wird dadurch eine Veränderung des Genpools befürchtet, womit dann eugenische Maßnahmen (s. Kap. 1) begründet werden. Aufgrund populationsgenetischer Überlegungen (s. Kap. 11.5) sehen wir jedoch (Abb. 16.5), dass die Anhäufung eines rezessiven Allels, das sich früher letal ausgewirkt hat und heute weitervererbt werden kann, sehr langsam verläuft. Bei einer angenommenen derzeitigen Frequenz von 10–6 bedarf es zu einer Verdoppelung seiner Häufigkeit mehr als 100 Generationen (bei einer angenommenen Generationszeit von 30 Jahre entspricht das dann einem Zeitrahmen von etwa 3000 Jahren). Selbst für dominante Allele würde die Zunahme der Allelhäufigkeit von 10–6 auf 10–5 etwa 10 Generationen oder 300 Jahre in Anspruch nehmen. Es soll in diesem Zusammenhang auch erwähnt werden, dass es für verschiedene Erbkrankheiten Hinweise darauf gibt, dass das Vorkommen und die Häufigkeit innerhalb einer Population mit anderen genetischen Faktoren im Gleichgewicht stehen. Das wird z. B. für die Phenylketonurie (PKU) vermutet. Ganz auffallend ist auch die unterschiedliche Häufigkeit von Zystischer Fibrose (s. Kap. 14.3.1) in unterschiedlichen Populationen. Die Frequenz dieser autosomal-rezessiven Krankheit ist in
Mitteleuropa mit 1:2000 sehr hoch (die Heterozygotenhäufigkeit liegt bei etwa 5%). In China ist hingegen noch kein Fall diagnostiziert worden. Auch das Beispiel der Sichelzellenanämie in Malariagebieten zeigt uns, dass schwerwiegende genetische Defekte Vorteile für einzelne Individuen mit sich bringen können und daher im Genpool so balanciert werden, dass die Frequenz des Allels den größtmöglichen Nutzen für die Gesamtpopulation erzielt. Man möchte an dieser Stelle natürlich einwenden, dass sich die Umweltbedingungen (und das ist in diesem Fall der durch medizinische Maßnahmen verringerte Selektionsdruck) geändert haben und insofern auch die Notwendigkeit dieser Kopplung nicht mehr unbedingt gegeben ist. Andererseits wird in den nächsten Jahren das Wissen um unsere Krankheiten auch enorm zunehmen. Im Zusammenhang mit Schizophrenie-Erkrankungen (s. Kap. 15.4.3) haben wir schon das deCODEKonsortium kennengelernt (http://www.decode.com). Dieses Konsortium wird von einer Reihe großer Firmen (z. B. IBM, Merck, Roche) getragen und hat sich zum Ziel gesetzt, in Island mehr als 50 der weitverbreiteten Erbkrankheiten (z. B. Schlaganfall, HerzKreislauferkrankungen, neurodegenerative Erkrankungen, Augenerkrankungen) zu identifizieren und zu charakterisieren, um diese Informationen dann dazu zu verwenden, neue diagnostische Verfahren und therapeutische Präparate zu entwickeln.
Abb. 16.5 a,b. Häufigkeit von Allelen unter Selektionsdruck. a Zunahme der Allelenfrequenz unter Selektion für ein dominantes (rot) Allel A (Fitness WAA und WAa = 1, Waa = 0,5) oder ein rezessives (grün) Allel a (Fitness WAA und WAa = 0,5, Waa = 1). b Abnahme der Allelenfrequenz bei Selektion gegen ein
rezessives Allel (blau). Die verschiedenen Kurven zeigen die Folgen unterschiedlich hohen Selektionsdruckes auf die Häufigkeit eines rezessiven Allels in aufeinanderfolgenden Generationen. s Selektionskoeffizient. (Aus Sperlich 1988)
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Um diese komplexen Krankheiten zu analysieren, bedarf es der Möglichkeit, so viele und so detaillierte Informationen wie möglich zu erhalten, und diese Informationen bei möglichst vielen Menschen in gleicher Weise abzufragen. Dazu bedarf es außerdem einer klaren Aufzeichnung der Abstammungsverhältnisse. Island erfüllt die Anforderungen an eine solche Studie in hervorragender Weise. Bisher (Juli 2005) hat deCODE in Island Gene für eine ganze Reihe verschiedener Erkrankungen isoliert (z. B. für Asthma, Bluthochdruck, Herzinfarkt, periphere Gefäßerkrankungen, Prostatakrebs, Schizophrenie, nicht-insulinabhängiger Diabetes, Dickleibigkeit, Osteoarthritis und Osteopetrose).Dieser Ansatz ist offensichtlich sehr fruchtbar, und es ist zu erwarten, dass in nächster Zukunft weitere Erkrankungen aufgeklärt sein werden. Populationsgenetische Ansätze werden aber nicht nur dazu genutzt werden, Krankheiten aufzuklären, sondern auch zunehmend dazu, zusätzliche Argumente über die Menschheitsgeschichte zu erhalten, frühere Wanderungsbewegungen aufzuklären und Populationsstrukturen zu analysieren. So konnte die Wanderungsroute des modernen Menschen aus Afrika heraus nachgezeichnet werden: Sie führte zunächst durch Nord- und Ostafrika, an der Küste entlang durch Saudi-Arabien, den Irak und Iran nach Pakistan, dann entlang der indischen Küste hinüber nach Ostasien und schließlich auf die südostasiatischen Inseln. Diese Route korreliert mit Verteilungen von Polymorphismen im Genom der Mitochondrien und mit verschiedenen Haplotypen des Y-Chromosoms. Es wird in den nächsten Jahren möglich sein, einen vollständigen, globalen Gesamteindruck der menschlichen Unterschiedlichkeit zu erhalten: Das schließt aber auch ein, dass wir erfahren, was allen Menschen gemeinsam ist – und zumindest auf der Ebene der mitochondrialen DNA ist die Gemeinsamkeit unter allen Menschen größer als innerhalb einer sozialen Gruppe von Schimpansen (Cann 2001).
16.2.3 Vergleichende Genomforschung – Evolution der Entwicklung Die Geschichte des Lebens zeigt, dass die Evolution komplexer Organismen wie Tiere und Pflanzen grundlegende Veränderungen in der Morphologie und das Auftreten neuer Erscheinungsformen beinhaltet. Dennoch sind die evolutionären Veränderungen nicht eine
direkte Transformation der erwachsenen Vorgängerformen in die erwachsenen Formen der Nachfahren. Evolution kann nur verstanden werden, wenn gleichzeitig die Evolution der Entwicklung selbst verstanden wird, und wie Veränderungen der Entwicklung selbst zu Evolution beitragen. Dazu bildete sich in den letzten Jahren eine neue Subdisziplin heraus, die an frühere Überlegungen der vergleichenden Biologie anknüpft und sich unter dem Schlagwort „Evo-Devo“ (zusammengezogen aus evolution und development) zusammenfassen lässt (Raff 2000) So wird die Evolution der Augen seit Darwins Veröffentlichung „Über den Ursprung der Arten” immer noch diskutiert. Morphologische Vergleiche der Anatomie der Augen insgesamt und der Photorezeptoren im Besonderen führten zunächst zu der Annahme, dass sich die tierischen Augen mehrfach und unabhängig voneinander entwickelt hätten. Neuere genetische Untersuchungen machten aber im Gegensatz dazu deutlich, dass die durch Pax6 eingeleitete Signalkette (Abb. 13.44) der Augenentwicklung im gesamten Tierreich konserviert ist und dass die tierischen Augen von einem gemeinsamen, einfachen Vorläufer abstammen – dem „UrAuge“. Dieses Ur-Auge kann einfach aus zwei Zellen bestanden haben – einer Photorezeptorzelle und einer Pigmentzelle. Solch ein primitives „Auge“ kann die Richtung erkennen, aus der Licht kommt. Es erlaubt somit Phototaxis und kann auch eine einfache zirkadiane Rhythmik begründen. Wenn man nun die verschiedenen Differenzierungsprogramme vergleicht, die kombinatorischen „Codes“ der einzelnen Zelltypen dabei einbezieht, die Regulation der Expression spezifischer Gene (z. B. des Opsin-Gens in den Photorezeptoren) beachtet und den Metabolismus von Neurotransmittern berücksichtigt, kann man die evolutionäre Geschichte des Auges rekonstruieren. Am Beispiel der Retina bedeutet das, dass die Ganglienzellen, die amakrinen Zellen und die horizontalen Zellen unter evolutionären Gesichtspunkten Geschwister sind, die sich aus einer gemeinsamen Vorläuferzelle herausentwickelt haben, die wohl als Photorezeptorzelle fungierte (Arendt 2003).
16.3 Humangenetik und Anthropologie
16.3
Humangenetik und Anthropologie
Zellkultur
16.3.1 Molekulare Diagnostik, Familienberatung und Reihenuntersuchungen Die vorangegangene Besprechung erblicher Krankheiten (vor allem Kap. 14) und im weiteren Sinne genetisch bedingter Fehlentwicklungen (im Mittel zeigen etwa 2% aller Neugeborenen solche Abweichungen) macht deutlich, welchen wichtigen Stellenwert die Kenntnis von diesen Erkrankungen hat, um so rechtzeitig die angemessene medizinische Hilfe anbieten zu können. Erbkrankheiten werden auf absehbare Zeit ein schwerwiegendes medizinisches Problem bleiben – daran werden auch alle Fortschritte der Gentechnologie in nächster Zeit noch nichts Grundsätzliches ändern. Die an sie gestellten Erwartungen werden häufig durch unangemessene Übertreibungen zu hoch angesetzt. Ein wesentliches Kriterium für eine genetische Diagnostik ist die Frage, ob bestimmte Krankheitsbilder in einer Familie gehäuft auftreten. Stammbäume dienen dabei nicht nur der theoretischen Analyse möglicher erblicher Erkrankungen, sondern sind entscheidend für die Erkenntnis, dass in einer Familie eine bestimmte Erbkrankheit vorhanden ist. Da die heutigen molekularen Marker (Mikrosatelliten und SNPs) einfach zu handhaben sind, werden sicherlich in der nächsten Zeit Familienanalysen zunehmen. Außerdem können durch eine Optimierung der statistischen Analysen auch eher Aussagen für kleine Familien gemacht werden. Bei Vorliegen einer positiven Stammbaumanalyse wird sicherlich auch in der Zukunft zu einer pränatalen Diagnostik geraten (Abb. 16.6). Dabei können nicht nur Untersuchungen auf Chromosomenaberrationen durchgeführt werden. Die einfache, schnelle und präzise Durchführung der Polymerasenkettenreaktion (engl. polymerase chain reaction, PCR, siehe Technik-Box 4) hat das Anwendungsspektrum deutlich erweitert und damit zu einer rasanten Zunahme gendiagnostischer Verfahren geführt. In der humangenetischen Beratung spielt die PCR-basierte Gendiagnostik eine immer größere Rolle, da sie in vielen Fällen andere diagnostische Verfahren ergänzt und auch Voraussetzung für eine effiziente Therapie ist. So ist z. B. in manchen Fällen eine Abgrenzung der
Chromosomenanalyse Fruchtwasserentnahme (mit embryonalen Zellen)
Abb. 16.6. Amniocentese. Das Fruchtwasser enthält embryonale Zellen. Zu deren Analyse werden etwa 30 ml Fruchtwasser entnommen, die Zellen werden durch Zentrifugation gesammelt und in vitro kultiviert. Nach etwa 2 Wochen können Zellen auf ihren Karyotyp (s. Abb. 7.12 und 7.13) und mit biochemischen Methoden analysiert werden
Hämophilie A von bestimmten Formen der vonWillebrand-Jürgens-Erkrankungen nur über eine entsprechende molekulare Diagnostik möglich. Technisch ist es dabei unerheblich, ob die PCR an Präimplantationsembryonen, pränatal, an Kleinkindern oder Erwachsenen durchgeführt wird, da die Empfindlichkeit der analytischen Methodik außerordentlich hoch ist. Eingesetzt wird diese Technik nicht nur in der Diagnostik von familiären Erbkrankheiten, sondern auch in der forensischen Medizin und Kriminalistik. Hier nutzte man schon bisher die hohe Empfindlichkeit der PCR-Reaktionen, da einzelne Haare, Blutflecken auf der Kleidung oder auch Schleimhautabstriche im Mund ausreichen, um genügend DNA
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für eine molekularbiologische Analyse zu gewinnen. Beim genetischen Fingerabdruck führt eine Spur zu einem unter 100 Milliarden Menschen. Es gibt keine zwei gleichen genetischen Fingerabdrücke (Ausnahme: eineiige Zwillinge). Es besteht insofern kein Zweifel daran, dass beim Vergleich verschiedener Marker eine eindeutige Zuordnung zu einer individuellen Person möglich ist (Vec 2001). Die Verfeinerung dieser Methoden wird in der nahen Zukunft die Aufklärungsraten von Verbrechen deutlich erhöhen. Die Methode des „genetischen Fingerabdrucks“ verwendet im Wesentlichen Mikrosatelliten (engl. short tandem repeats, STR), die über PCR amplifiziert und danach in einem Electropherogramm analysiert werden. Die STRs enthalten dabei im Allgemeinen bis zu 50-mal kurze DNA-Wiederholungseinheiten, die aus 2 bis 6 Basen bestehen. Um ein „Stottern“ der DNA-Polymerase während der PCR-Reaktion zu vermeiden, werden gerne STRs mit 4er-Wiederholungssequenzen verwendet (z. B. GATA). Die unterschiedliche Häufigkeit der Wiederholungssequenz führt zu unterschiedlichen Längen der Fragmente (s. auch Abb. 11.32). Dieser Fragmentlängenpolymorphismus von STRs zeigt ein hohes Maß an Heterozygotie. Dennoch müssen, um eine hohe Spezifität zu erzielen, in einer Probe mehrere solcher STRs oder Mikrosatelliten untersucht werden (in Deutschland derzeit [= 2004] 8 Marker). Die chromosomale Verteilung dieser Marker zeigt Abb. 16.7. Die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Menschen bei diesen 8 verschiedenen STRs das gleiche Muster haben, liegt bei etwa 1:1013. Zur Bestimmung des männlichen Geschlechts wird eine kleine Deletion im 1. Intron der Y-spezifischen Form des Amelogeningens verwendet (Gensymbol AMELY). Der Marker D21S11 kann auch verwendet werden, um eine Trisomie 21 (s. Kap. 10.3.1) zu identifizieren. In Abb. 16.8 wird ein Beispiel eines automatischen STR-Profils gezeigt. Der Übergang sowohl von der humangenetischen Beratung als auch der gruppenweisen Untersuchung bei Gewaltverbrechen bis hin zu einem bevölkerungsweiten Screening ist fließend. Schon seit langer Zeit wird von jedem Neugeborenen in Deutschland innerhalb weniger Tage nach der Geburt ein Tropfen Blut aus der Ferse abgenommen und in einem enzymatischen Test auf das Vorliegen von Phenylketonurie (s. Kap. 14.3.1) getestet. Durch das Einleiten einer frühen Diät können Schäden durch diese Erbkrankheit ver-
mieden werden. Es gibt Überlegungen, solche Reihenuntersuchungen auch auf andere Erkrankungen auszuweiten; so ist beispielsweise die Allelhäufigkeit für die ∆508-Mutation bei der Zystischen Fibrose (Mukoviszidose) mit ca. 1:25 in der deutschen Bevölkerung extrem hoch. Da die therapeutischen Verfahren natürlich umso besser wirken, je früher sie angewendet werden, kann eine derartige Reihenuntersuchung durchaus gerechtfertigt werden. Dagegen wird immer wieder auch das „Recht auf Nicht-Wissen“ über die genetische Konstitution eines Individuums ins Feld geführt. Allerdings sollte bei diesem Argument im Zusammenhang von Reihenuntersuchungen an Neugeborenen immer wieder auch bedacht werden, dass dem Kind auch ein möglicher Vorteil durch eine frühe Diagnose verloren gehen kann, wenn man sich gegen eine Reihenuntersuchung entscheidet. Dieser Punkt wird sicherlich noch für viele weitere Erbkrankheiten zu diskutieren sein, und zwar in dem Maße, wie die Möglichkeiten der Diagnostik und der Therapie verbessert werden.
16.3.2 Genetik und Reproduktionsmedizin Neben der Genetik hat in den letzten Jahren ein anderes Forschungsgebiet immer wieder für großes öffentliches Interesse gesorgt, nämlich die Fortschritte in der Reproduktionsbiologie bzw. -medizin. Künstliche Befruchtungen für Paare, die sonst keine Kinder bekommen können, sind heute schon Routinemaßnahmen geworden. Dabei stellt sich immer wieder neu die Frage, wann nämlich individuelles menschliches Leben beginnt (und damit dem Schutz der allgemeinen Menschenwürde unterliegt): mit der Befruchtung oder erst mit der Einnistung in die Gebärmutter einige Tage später? Diese Frage ist nicht rein akademischer, sondern von eminenter praktischer Bedeutung, weil nämlich für die künstliche Befruchtung durch Superovulation eine größere Zahl von Eizellen gewonnen und auch befruchtet werden – es wird aber nur ein Embryo jeweils wieder zurückübertragen. Hier setzt dann auch die zweite Frage an: Soll man den Embryo vor der Rückübertragung auf mögliche Erbkrankheiten untersuchen und gegebenenfalls nur gesunde Embryonen übertragen, oder soll man mit dieser Untersuchung einige Monate warten und dann den größeren Embryo aufgrund einer medizinischen Indikation abtreiben? Wenn man die Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens
16.3 Humangenetik und Anthropologie
Abb. 16.7. Quellen menschlicher DNA für die forensische Analytik. Die aus den Zellkernen von Blutstropfen (oder von anderen Körperflüssigkeiten bzw. Geweben) isolierte DNA wird mit Hilfe verschiedener Marker untersucht, die über das ganze Genom verteilt sind. Verschiedene Kombinationen sind angedeutet (FBI CODIS: Combined DNA-Index System des FBI der USA; Y-STR: spezifische Marker für das Y-Chromosom aus
dessen pseudoautosomaler Region). Die ringförmige mitochondriale DNA kommt in hoher Kopienzahl im Organismus vor und zeigt besonders in alten oder beschädigten Proben eine gute Stabilität; hier werden vor allem Variationen in den Kontrollregionen untersucht (HVS: hypervariable Sequenz). (Nach Jobling u. Gill 2004)
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Abb. 16.8 a,b. DNA-Fingerabdruck. a Der DNA-Fingerabdruck einer Multiplex-Analyse mit der Markerkombination „SGM-Plus“ (s. Abb. 16.7) identifiziert einen Mann anhand der beiden X- und Y-spezifischen Markerlängen für das Amalogeningen (106 bzw. 112bp). Die meisten übrigen STRs sind heterozygot und zeigen etwa eine 1:1-Verteilung (charakterisiert durch die Peakhöhe); der Marker D19S433 ist dagegen homozygot. Die Zahlen unterhalb des Peaks bezeichnen die Nummer des jeweiligen Alles, wie es sich aus seiner Länge
bestimmen lässt. Es sind drei Fluoreszenz-Kanäle angegeben (grün, blau und gelb). Die rote Markerspur ist nicht gezeigt. b Die Mischung zweier männlicher DNA-Proben (nur der grüne Kanal ist gezeigt) wird deutlich am Auftreten von mehr als zwei Allelen in unterschiedlichem Mischungsverhältnis: vier Allele von D21S11 in einem 1:1:1:1-Verhältnis sind dafür der deutlichste Hinweis; die Marker D8S1179 und D18S51 zeigen davon abweichende Verhältnisse (2:1:1 bzw. 3:1). (Nach Jobling u. Gill 2004)
erst ab Einnistung definiert, gäbe es natürlich auch keinen Hinderungsgrund, die Verwendung „überzähliger Embryonen“ für Forschungszwecke zu verbieten und daraus z. B. embryonale Stammzellen herzustellen (das ist derzeit in Deutschland aufgrund des Embryonenschutzgesetzes verboten und die überzähligen Embryonen müssen aufbewahrt werden). Dazu kommt eine weitere neue Entwicklung, die wir im Kapitel 12.1.1 über die Totipotenz von Zellen bereits angesprochen haben: das Klonen von Organismen über somatische Zellen bzw. über entkernte Eizellen. Kürzlich hat nun ein japanisch-koreanisches Forscherteam (Kono et al. 2004) eine Eizelle der Maus hergestellt, in die zwei weibliche Chromosomensätze implantiert wurden. Darüber hinaus wurden in den verwendeten weiblichen Zellkernen die paternal bzw. maternal geprägten Gene Igf2 und H19 (s. Abb. 12.10) so verändert, dass der Eizelle und dem gesamten Entwicklungsapparat die übliche Anwesenheit eines väterlichen und eines mütterlichen Chromosomen-
satzes vorgegaukelt wurde. Das Experiment ist geglückt – es wurden Mäuse geboren, die sich normal entwickelten und auch auf „klassischem“ Weg Nachwuchs erhalten haben. Die zukünftigen Ergebnisse solcher Forschungsarbeiten werden zeigen, dass ähnliche technische Möglichkeiten natürlich auch beim Menschen bestehen. Und man wird mit Sicherheit davon ausgehen können, dass dieses „Experiment“ irgendwo auf der Welt auch durchgeführt werden wird.
16.3.3 Quo vadis, homo sapiens? Die Aufklärung der DNA-Struktur und die Entschlüsselung des menschlichen Erbgutes haben es möglich gemacht, auch die Evolution des Menschen genauer nachzeichnen zu können. Das erste grundlegende Verständnis vom Ursprung des Menschen kommt aus dem Vergleich von DNA-Fragmenten mit denen der großen Affen. Diese Analysen zeigen bei-
16.3 Humangenetik und Anthropologie Abb. 16.9. Gemeinsamer Stammbaum des Menschen und der großen Affen. Der gemeinsame Stammbaum der Evolution von großen Affen und Menschen zeigt auch den ungefähren Zeitrahmen an, ab wann von einer getrennten Entwicklung der verschiedenen Spezies ausgegangen werden kann. Von links nach rechts Orang-Utan, Gorilla, Mensch, Bonobo und Schimpanse. (Nach Pääbo 2003)
spielsweise, dass die afrikanischen Affen, besonders die Schimpansen und Bonobos (Zwergschimpanse, Pan paniscus), aber auch die Gorillas, mit dem Menschen näher verwandt sind als die Orang-Utans in Asien (Abb. 16.9). Von einem genetischen Standpunkt aus kann man daher den Menschen als einen afrikanischen Affen bezeichnen (Pääbo 2003). Eine genaue Analyse der Verwandtschaftsgrade einzelner DNAAbschnitte zeigt allerdings, dass im Detail aber offensichtlich Unterschiede bestehen: Obwohl die Mehrheit unserer chromosomalen Regionen die größte Ähnlichkeit zu denen von Schimpansen und Bonobos aufweist, gibt es doch eine beachtliche Anzahl, die eher mit denen der Gorillas übereinstimmt. Offensichtlich erfolgten die einzelnen Schritte in der Gestaltung der einzelnen Spezies so dicht hintereinander, dass die genetische Variation in der ersten Vorgängerspezies, von der sich die Gorillalinie abgespalten hat, bis in die Trennung der menschlichen Linie und der des Schimpansen überlebte. So gibt es also nicht nur eine Geschichte, die unsere Beziehung zu den afrikanischen Affen beschreibt, sondern mehrere – eben für jede chromosomale Region. Insofern kann man auch unser Genom als ein Mosaik bezeichnen. Die zukünftige genetische Forschung kann auf der Basis dieser Analysen auch genauer klären, was – unter genetischen Gesichtspunkten – uns vom Affen
unterscheidet und welche Gene unterschiedlich sind. Im Durchschnitt unterscheiden sich die DNA-Elemente, die in nur einer Kopie vorliegen, nur in 1,2% von denen des Schimpansen (die DNA-Sequenzen der Menschen sind dagegen zu 99,9% identisch – d. h. die Individualität hat ihre genetische Ursache in 0,1% der DNA). Dabei deutet sich an, dass die Unterschiede zu den Affen eher graduell sind als grundsätzlich – denn neuere Untersuchungen zeigen, dass auch Affen eine Sprache und die Fähigkeit zur Kultur besitzen (Tomascillo u. Call 1997; Whiten et al. 1999). Es zeichnet sich ab, dass diese Unterschiede unter formalgenetischen Gesichtspunkten eher als quantitative oder komplexe Merkmale zu beschreiben sind, denn als Merkmale, die einem einzigen Gen zugeordnet werden können. Dazu wird es dann aber auch gehören, dass wir etwas präziser definieren, was „Menschsein“ bedeutet – z. B. wie wir lernen, wie wir kommunizieren, wie wir alt werden – und worin unsere individuellen Unterschiede liegen bzw. welche Bereiche des Genoms so konserviert sind, dass sie allen Menschen gemeinsam sind. Interessante Kandidatengene für spezifische Entwickungen im Menschen sind natürlich auch solche Gene, die spezifisch beim Mensch dupliziert oder deletiert (bzw. als Pseudogene inaktiviert) sind, Gene, deren Expressionsmuster bei Menschen gegenüber den Affen verändert
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sind, und solche Gene, die Eigenschaften betreffen, die wir trotz der oben angesprochenen graduellen Unterschiede doch als „spezifisch menschlich“ bezeichnen, wie Sprache oder eine gewisse Größe des Gehirns. Wie in vielen anderen Situationen auch, schlägt ab einem bestimmten Punkt der Evolution die Quantität der Veränderungen in eine andere Qualität um und definiert damit eine neue Eigenschaft. Die vergleichende Genomforschung bietet dafür jetzt Ansatzpunkte. Auf dem Chromosom 16, das beim Menschen zu einem Teil dupliziert wurde, befindet sich eine interessante Genfamilie: morpheus. Diese Genfamilie hat sich offensichtlich über die Duplikation hinaus weiter ausgebreitet, allerdings offensichtlich bei Menschen mehr (15-fach) und anders als bei manchen Affen (OrangUtan 9-fach, Gorilla 17-fach und Schimpansen 25–30fach). Allerdings liegen die Kopien bei Gorilla und Schimpansen in einem chromosomalen Umfeld, das nicht dem des menschlichen Chromosoms 16 entspricht (keine konservierte Syntenie). Man geht in erster Näherung davon aus, dass es sich hier um eine Genfamilie handelt, die für Menschen eine besondere Bedeutung hat (Johnson et al. 2001). Neben dem Vergleich kodierender Regionen und ihrer adaptiven Veränderungen durch Selektionsmechanismen (vor allem für die Gene des Immunsystems und der Reproduktion) ist die Veränderung der Genexpression ein schneller Weg, den die Evolution einschlagen kann, um zu relativ großen Veränderungen zu kommen. Allerdings sind Untersuchungen der Genexpression immer relativ, d. h. die Frage nach Ursache und Wirkung bleibt oft unklar. Dennoch bleibt es interessant festzuhalten, dass im menschlichen Gehirn relative Veränderungen der Genexpression sowohl auf der mRNA-Ebene als auch auf Proteinebene bei etwa 30% der exprimierten Gene anzutreffen sind (Carroll et al. 2003). Einer der aufregendsten Berichte der jüngeren Zeit beschreibt die Identifikation des Forkhead-Gens (s. Kap. 15.2.3) FOXP2 und den Beitrag seiner Mutationen zu Sprech- und Sprachkrankheiten bei Menschen (Lai et al. 2001). Die betroffenen Patienten haben schwere Artikula-
tionsstörungen, die von weiteren sprachlichen und grammatikalischen Beeinträchtigungen begleitet werden. Das FOXP2-Gen ist auf dem Chromosom 7q31 lokalisiert und kodiert für einen Transkriptionsfaktor, so dass davon ausgegangen werden kann, dass es auf eine ganze Reihe von Zielgenen einwirken kann. Wie viele Gene für Transkriptionsfaktoren kommt auch das FOXP2-Gen in anderen Spezies vor. Wenn man von dem variablen Poly-GlutaminBereich absieht, unterscheidet sich das menschliche Protein von dem des Gorillas oder des Schimpansen nur an zwei Aminosäuren – der Abstand zum OrangUtan und zur Maus beträgt 3 Aminosäuren. Damit gehört das FOXP2-Gen zu den 5% von Genen, die am höchsten konserviert sind. Allerdings könnte es sein, dass der Unterschied in den zwei Aminosäuren der menschlichen Linie gegenüber den Affen für die Ausbildung der Sprache von funktioneller Bedeutung ist, da eine zusätzliche Phosphorylierungsstelle eingeführt wird. Eine Abschätzung der Zeitspanne, wann der Unterschied im FOXP2-Gen zwischen Affen und Menschen fixiert wurde, ergibt eine Größenordnung von ca. 100 000 bis 200 000 Jahre und hat damit möglicherweise die kulturelle Explosion ausgelöst, die vor etwa 50 000 Jahren begann (Enard et al. 2002; Holden 2003) Umgekehrt wird es aber auch notwendig sein, die Entwicklung der Affen besser zu verstehen. Eine Voraussetzung dafür wäre erfüllt, wenn das Genom des Schimpansen ermittelt sein wird (war zum Zeitpunkt des Erscheinens dieser Auflage noch nicht abgeschlossen) und zusätzlich das Genom des Gorillas sequenziert wird, der sich ja etwas früher von der gemeinsamen Entwicklungslinie des Menschen und des Schimpansen verabschiedet hat. Alles in allem wird die Genetik aber in den nächsten Jahren in herausragender Weise dazu beitragen, das Wesen des Menschen zu beschreiben – die conditio humana, über die Generationen von Philosophen sich den Kopf zerbrochen haben. Es könnte sein, dass wir dabei einige Illusionen verlieren über unsere Individualität und über unsere Möglichkeiten, bewusst und frei zu entscheiden. War die „Freiheit eines Christenmenschen“ nur ein Traum?
Technik-Box
Technik-Box 29
in-vivo-Reportergen: das grün-fluoreszierende Protein (GFP) Anwendung: Das grün-fluoreszierende Protein (GFP) wird als Markermolekül verwendet. Das Protein ist von Kofaktoren zur Induktion von Fluoreszenz unabhängig, da es autokatalytisch ein Chromatophor bildet, das in beliebigen Zellen als fluoreszierender Marker dienen kann. Daher wird es als Marker (Reportergen) für Genexpression nach Transformationsexperimenten (s. S. 134), als Marker in Zelldifferenzierungsprozessen oder als Marker für die Lokalisation von Proteinen in der Zelle verwendet. Ein Beispiel gibt die Abbildung. Voraussetzungen · Materialien: Durch posttranslationelle Modifikation, Zyklisierung und Oxidation eines Tripeptids aus Ser-Tyr-Gly wird das Chromatophor im Inneren des Proteins autokatalytisch gebildet. Diese Reaktion ist temperaturabhängig, und das Protein ist in seiner gefalteten Form sehr stabil. Es hat Anregungswellenlängen von 395 und 475 nm und
Das grün-fluoreszierende Protein wird im Auge einer 15 Tage alten Maus exprimiert. (Nach Krestel et al. 2001)
emittiert grünes Licht bei 509 nm (Name!). Das Protein stammt von der Qualle Aequoria victoria. In letzter Zeit wurden Varianten von anderen Organismen isoliert, und das ursprüngliche GFP wurde gentechnologisch umgeformt, so dass alternative Emissionswellenlängen bzw. erhöhte Fluoreszenz erzielt werden können (z. B. rote oder gelbe Fluoreszenz). Methode: GFP kann in unterschiedlicher Weise verwendet werden: • Es kann als Reportergen dienen, um Promotorregionen von Genen auf ihre Funktion und Gewebespezifität zu testen. So lässt sich z. B. ermitteln, zu welchem Zeitpunkt in der Entwicklung ein Gen angeschaltet wird. In gleicher Weise können Enhancer und andere Regulationselemente untersucht werden, indem man das GFP-Gen mit den zu untersuchenden DNA-Sequenzen kombiniert und transformiert. Fluoreszenz der transformierten Zellen
zeigt die Funktion der Regulationselemente an, da diese nunmehr – statt der ursprünglichen Gene – das GFP-Gen regulieren. • Viele Proteine bleiben funktionsfähig, wenn man den GFP-ORF an das C-terminale Ende eines Proteins anfügt. Auf diese Weise lässt sich die intrazelluläre Lokalisation eines Proteins ermitteln, da sie nun durch das angehängte GFP sichtbar wird. Durch Kontrollen muss sichergestellt werden, dass das GFP die Lokalisation eines anderen Proteins nicht beeinflusst. • Das GFP kann auch als reines Markergen für Transformationen dienen, wenn es z. B. anstelle des white-Gens (s. S. 205) in einen P-Element-Transformationsvektor eingefügt wird. Man selektiert dann Fliegen unter dem FluoreszenzStereomikroskop auf grüne Fluoreszenz.
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Technik-Box 30
Mikroarrays und DNA-Chips Anwendung: Mutationsanalyse (SNPAnalyse); Untersuchung der Genexpression. Voraussetzungen: Auftrag von sehr vielen DNA-Proben (Oligonukleotide oder cDNA) auf Trägermaterial (Glas, Nylon); Bildanalyse. Methoden: Auf Trägermaterialien wie Glas oder Nylon wird DNA (10 –150 pMol) punktförmig (Radius 50–250 µm) aufgetragen (engl. to spot; Laborslang: „gespottet“; verwendeter Laborroboter: Spotter). Durch diese kleine Auftragsfläche ist es möglich, auf einem Objektträger („Chip“) 5000 bis zu mehr als 1 Mio. Proben unterzubringen. Diese DNA kann für Hybridisierungsexperimente verwendet werden. Chips mit Oligonukleotiden können auch durch direkte Synthese der benötigten Sequenzen auf der Glasmatrix hergestellt werden. Die Synthese erfolgt dabei über ortspezifische Photoreaktivierung des zuletzt eingebauten Nukleotids unter Verwendung von Masken, die festlegen,
welche Positionen in der Matrix beim nächsten Syntheseschritt aktiviert werden. Die Hybridisierungsproben werden meist mit fluoreszierenden Farbstoffen (z. B. CY5-dUTP oder CY3-dUTP) markiert. Die Auswertung erfolgt photometrisch und gestattet die Quantifizierung der Signale. Als Beispiel sind zwei Einsatzbereiche dargestellt: • Mutationsanalyse (Analyse einzelner Basenpaaraustausche; engl. single nucleotide polymorphism, SNP); • Genexpressionsstudien. Die SNP-Analyse (s. Abbildung) beruht darauf, dass Hybridisierungseigenschaften von Oligonukleotiden anders sind als die längerer Nukleinsäuremoleküle. Unter geeigneten stringenten Hybridisierungsbedingungen (Salzkonzentration, Temperatur) kann nur ein vollständig komplementäres Molekül hybridisieren, wobei insbesondere die Positionen in der Mitte des Moleküls hierfür kritisch sind. Durch geeignete Serien von Oligonukleo-
tiden lassen sich daher auch längere DNA-Sequenzen testen (Abb. a der SNP-Analyse). – In der routinemäßigen Diagnostik von Erbkrankheiten ist es dagegen wichtig, bestimmte (bereits bekannte) Mutationen festzustellen; die jeweiligen Allele sind durch entsprechende Oligonukleotide auf dem Chip repräsentiert. Abb. b zeigt ein Beispiel für eine heterozygote DNASequenz. Zur Untersuchung quantitativer Unterschiede in der Genexpression verwendet man DNA-Chips, auf denen sich Proben vieler oder aller Gene eines Genoms befinden (s. Abbildung DNA-Chips). Hybridisiert man diese Chips mit fluoreszenzmarkierter RNA, so lässt sich ermitteln, welche Gene aktiv sind. Bei Verwendung unterschiedlich markierter RNA (z. B. grün und rot) aus verschiedenen Geweben (z. B. Leber vs. Niere; Krebsgewebe vs. gesundes Gewebe; Mutante vs. Wildtyp) lässt sich die Expressionsrate von Genen in beiden Zelltypen direkt vergleichen.
Technik-Box
Technik-Box 30
Mikroarrays und DNA-Chips (Fortsetzung)
SNP-Analyse: a Auf dem Mikroarray befinden sich untereinander angeordnet kurze Oligonukleotide, die sich in jeweils einer Base unterscheiden. Bei Hybridisierung unter geeigneten Bedingungen mit einem fluoreszenzmarkierten Ziel-Genom kann dieses aufgrund der besonderen Hybridisierungseigenschaften von kurzen Oligonukleotiden nur an das vollständig komplementäre Oligonukleotid binden, im oberen Beispiel also an das T-enthaltende Oligonukleotid. Ordnet man nebeneinander verschiedene Oligonukleotidserien an, die jeweils ein anderes Nukleotid einer bekannten Sequenz betreffen (orange in der Abbildung), so lässt sich eine gegebene Sequenz verifizieren. b Auf der gleichen experimentellen Grundlage lassen sich Homozygotien von Heterozygotien unterscheiden.
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Technik-Box 30
Mikroarrays und DNA-Chips (Fortsetzung)
Expressionsanalyse mit DNA-Chips. a Überblick über die Schritte bei der Expressionsanalyse durch DNA-Chips. (Nach Beckers 2003) b So sieht ein DNA-Chip aus: Auf einer Glasplatte (5,5 × 1,8 cm) befinden sich 21.168 DNA-Proben: Jeder Auftragspunkt hat einen Durchmesser von ~100 µm. Jeweils 21 × 21 Punkte sind in einem Block zusammengefasst; insgesamt befinden sich auf dem Chip 4 × 12 solcher Blöcke. (Photo: Johannes Beckers, Neuherberg)
Literaturverzeichnis
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Glossar
Aberration: aberratio lat. – Ablenkung, Abirren; z. B. Chromosomenaberration (s. S. 378), Chromosomenveränderung. Abortus: abortus lat. – Fehlgeburt. Akron: κρος [akros] gr. – die Spitze (auch: am Ende befindlich); Vorderende eines Insektenembryos bzw. mehr allgemein im Articulatengrundbauplan. akrozentrisch: κρος [akros] gr. – Spitze (auch: am Ende befindlich), κντρον [kentron] gr. – die Mitte; z. B. akrozentrisches Chromosom (s. S. 226). Allel: λλη [alle] gr. – auf andere Weise; eine bestimmte Ausführung eines Gens (s. S. 14). allopolyploid: λλος [allos] gr. – anders beschaffen, verschieden, πολυπλος [polyplous] gr. – vielfältig; Polyploidie, bei der sich Genome verschiedener Pflanzenarten vereinigt haben (z. B. beim Weizen (s. S. 190). Amniocentese: µνον [amnion] gr. – Opferschale, Gefäß zum Auffangen von Opferblut, κεντεν [kentein] gr. – stechen; Fruchtwasseruntersuchung (s. S. 775). amorph: µορφος [amorphos] gr. – missgestaltet, formlos; z. B. die Ausprägung bestimmter Allele (s. S. 449). amphidiploid: µφ [amphi] gr. – auf beiden Seiten, πολυπλος [polyplous] gr. – vielfältig; allotetraploide Arthybride mit je einem diploiden Genom jeder Elternart. amphiploid: µφ [amphi] gr. – auf beiden Seiten, πολυπλος [polyplous] gr. – vielfältig; allo(poly-)ploide Individuen mit einzelnen oder mehreren Chromosomen(bereichen) einer anderen Art. Amplifikation: amplificatio lat. – Vermehrung; z. B. Vermehrung bestimmter Gene (intra- oder extrachromosomal) (s. S. 257). Anämie: µος [hemos] gr. – das Blut, ν- [an-] gr. – „ohne“, d. h. Verneinung; Blutarmut (s. S. 462). Anaphase: ν [ana] gr. – nach, φσις [phasis] gr. – Anzeige; bestimmtes Stadium während der Zellteilung (Mitose und Meiose) (s. S. 180). androgynon: νδρς [andros] gr. – Mann, γυν [gyne] gr. – Frau; Embryonen, die aus zwei väterlichen Pronuklei entstehen (s. S. 511). aneuploid: ν- [an-] gr. – „ohne“, d. h. Verneinung, πολυπλος [polyplous] gr. – vielfältig; die von der normalen Ploidie abweichende genetische Konstitution eines Genoms (s. S. 372). anterior: lat. – der vordere, der frühere; Vorderende des Organismus.
Antigen: ντι [anti] gr. – gegen, γνεσις [genesis] gr. – Entstehung; immunogener Bereich eines Moleküls (s. S. 543), der durch Antikörper erkannt wird bzw. deren Produktion stimuliert. Ascus: ascus lat. – Schlauch. (s. S. 214); Mutterzelle von Pilzen, enthält Ascosporen. Attached-X-Chromosom: zwei im Centromer fusionierte XChromosomen (s. S. 477). Attenuation: attenuare lat. – schwächen, vermindern; Genregulationsmechanismus (s. S. 149). Autoallopolyploidie: Polyploidie verschiedener Genome in Arthybriden, vereinigt die Merkmale normaler Polyplodie und von Alloploidie. autokatalytisch: ατος [autos] gr. – hier: selbst, κατλυσις [katalysis] gr. – Auflösung, Vernichtung; Art der Wirkung von Regulationsprozessen. z. B. Regulation der Cytochromb-Synthese (s. S. 319) oder der Sex-lethal-Expression (s. S. 594). Autoregulation: ατος [autos] gr. – hier: selbst; also: Selbstregulation (s. S. 210). Autosom: ατος [autos] gr. – hier: selbst, eigen, σµα [soma] gr. – Körper; alle Chromosomen, ausgenommen Geschlechtschromosomen (Heterosomen). auxotroph: auxilium lat. – Hilfe, τροφεν [trophein] gr. – nähren; bestimmte Wachstumseigenschaft z. B. von Bakterien (benötigen bestimmte Stoffe im Wachstumsmedium (s. S. 107). Bakteriophage: φγος [phagos] gr. – Fresser; virusähnliches Partikel, das Bakterien infiziert (s. S. 115). Balbiani-Ring: besonders große Verdickung in Riesenchromosomen (s. S. 251). Barr-Body: inaktives X-Chromosom in Säugern (s. S. 264). Biotop: βος [bios] gr. – Leben, τπος [topos] gr. – Platz, Ort; Lebensbereich von Organismen. Bivalent: bi- lat. – zwei-, valens lat. – mächtig; gepaarte homologe meiotische Prophasechromosomen (s. S. 186). Blastoderm: βλστη [blaste] gr. – der Keim, δρµα [derma] gr. – die Haut (auch: Schlauch, verarbeitete Haut); frühes Entwicklungsstadium eines Embryos (s. S. 586). Bukettstadium: meiotisches Prophasestadium der Chromosomen (Leptotän bis Pachytän), während dessen die Chromosomen mit den Enden an der Kernmembran fixiert sind (nicht in allen Organismen) (s. S. 236).
gr.: griechisch, lat.: lateinisch
Centriol: zylinderförmiges Element aus Mikrotubuli an jedem Ende der Teilungsspindel (s. S. 179).
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Glossar Centromer: κντρον [kentron] gr. – der Mittelpunkt, µρος [meros] gr. – Teil; Spindelansatzstelle eines Chromosoms (s. S. 226). Chiasma: χασµα [chiasma] gr. – das Kreuz; Chromosomenkonstitution in der meiotischen Prophase I als Folge eines Crossing-over (s. S. 187). Chimäre: χµαιρα [chimaira] gr. – ein sagenhaftes Untier aus Lydien (Griechenland). Aus unterschiedlichen Zelltypen künstlich zusammengesetzter Organismus (s. S. 203). Chlorophyll: χλωρς [chloros] gr. – grünlich, φ!λλον [phyllon] gr. – Blatt; grüner Blattfarbstoff der Pflanzen. Wird zur Photosynthese benötigt. Chorion: χριον [chorion] gr. – Haut (um die Eingeweide); Embryonalhülle, bei Insekten Eihülle (s. S. 533 und 636). Chromatide: elementare, in der Zelle nicht unterteilbare Längseinheit des Chromosoms (enhält eine DNA-Doppelhelix) (s. S. 35). Chromatin: χρµα [chroma] gr. – die Farbe; färbbares Material im Inneren des Zellkernes, besteht aus DNA, RNA und Proteinen. Repräsentiert die dekondensierten Chromosomen. Chromomer: χρµα [chroma] gr. – die Farbe, µρος [meros] gr. – der Teil; Verdickung auf der Achse des meiotischen Prophasechromosoms (s. S. 186). Chromosom: χρµα [chroma] gr. – die Farbe, σµα [soma] gr. – der Körper; Träger der Erbanlagen (s. S. 225 und 245). cis-Konstitution: zwei oder mehr gekoppelte Allele, die in einer heterozygoten Konstitution auf demselben Chromosom liegen, sind in einer cis-Konstitution. cis-trans-Test: ermittelt, ob zwei Mutationen im gleichen Cistron liegen oder nicht (s. S. 128). Cistron: Definition Benzers für eine genetische Funktionseinheit (Gen). Stimmt meistens überein mit einer für ein Protein kodierenden Region der DNA (s. S. 128). Codominant: zwei unabhängig voneinander im Phänotyp zur Ausprägung kommende Allele, die keine rezessiv-dominant-Beziehung aufweisen (s. S. 446). Coincidenz-Koeffizient: coincidentia lat. – das Zusammenfallen; mathematischer Parameter in der Wahrscheinlichkeitsrechnung (s. S. 473). Crossing-over: Genetischer Austausch zwischen (homologen) Chromosomen (s. S. 164). Cytoplasma: κ!τος [kytos] gr. – Höhlung (lat.: cytus), πλσµα [plasma] gr. – Gebilde; wässerige Substanz im Inneren der Zelle (s. S. 167). Deletion: deletio lat. – Vernichtung; Chromosomen- oder Genmutation (s. S. 388). Denominator: denominare lat. – benennen; molekulare Elemente des Zählmechanismus bei der Geschlechtsbestimmung von Drosophila (s. S. 592). Deszendenz: descendere lat. – abstammen; Abstammungslehre Darwins (s. S. 16). Determination: determinare lat. – abgrenzen; Festlegung des künftigen Schicksals einer Zelle während der Ontogenese (s. S. 566).
Diagnose: διγνωσις [diagnosis] gr. – Unterscheidung. Diakinese: διακινεν [diakinein] gr. – heftig bewegen; Chromosomenstadium während der meiotischen Prophase I (s. S. 187). Dictyotän: von δκτυον [diktyon] gr. – Netz, ταινα [teinia] gr. – das Band; Ruhestadium während der meiotischen Prophase I bei weiblichen Keimzellen von Säugern (s. S. 648). Differenzierung: differre lat. – trennen, scheiden; Entwicklung des endgültigen Phänotyps einer Zelle (s. S. 504). Dikaryon: δι- [di] gr. – zweifach, doppelt, κρυον [karyon] gr. – die Nuss; Stadium der Zygote nach der Befruchtung, vor der völligen Verschmelzung der Gametenkerne. Diminution: diminuere lat. – vermindern; z. B. Chromatindiminution, Ausschluss von chromosomalem Material aus somatischen Zellen (s. S. 534). diözisch: δι- [di-] gr. – zweifach, doppelt, ο"κος [oikos] gr. – Haus; Pflanzen mit männlichen und weiblichen Blüten auf getrennten Individuen. diploid: διπλος [diploos] oder : διπλος [diplous] gr. – zweifach, doppelt; normaler genetischer Zustand höherer Organismen (s. S. 183). Kennzeichnet die Anzahl der Chromosomensätze in der Zelle. Diplotän: διπλος [diploos] gr. – zweifach, doppelt, ταινα [teinia] gr. – das Band; Chromosomenstadium während der meiotischen Prophase I (s. S. 184). diskordant: discordare lat. – nicht übereinstimmen; unterschiedliche Phänotypen bei Zwillingen (s. S. 658). dizentrisches Chromosom: Chromosom mit zwei Centromeren. Entsteht durch Crossing-over innerhalb einer Inversion (s. S. 393). dominant: dominare lat. – herrschen über; Art der phänotypischen Ausprägung eines Allels; der Phänotyp wird in Heterozygoten sichtbar (Gegensatz: → rezessiv) (s. S. 432). Dosiskompensation: Ausgleich der Aktivität von Genen auf Geschlechtschromosomen, so dass deren Produktmenge in beiden Geschlechtern gleich ist (s. S. 242). Drosophila: δρσος [drosos] gr. – Tau, φλος [philos] gr. – Freund; Fruchtfliege (Taufliege). Klassisches Untersuchungsobjekt der Genetik. Duplikation: duplicare lat. – verdoppeln; Chromosomenveränderung (s. S. 388). Dysgenese: δυσγνεσις [dysgenesis] gr. – unedle Entstehung; Fehlentwicklung der Nachkommen bei bestimmten Kreuzungen (s. S. 345). Dystrophie: δ!στροφος [dystrophos] gr. – schwer zu ernähren; Fehlentwicklung. ektopisch: #κτοπος [ektopos] gr. – fremd, außergewöhnlich; abnormale Position, z. B. in Transplantationsversuchen (s. S. 623). Elimination: eliminare lat. – vertreiben; z. B. Ausschluss von Chromosomen aus bestimmten Zellen während der Ontogenese (s. S. 537). Elongation: elongare lat. – verlängern; Verlängerung der wachsenden RNA- oder Polypeptidkette.
Glossar Embryo: frühes Entwicklungsstadium eines Individuums. Beim Menschen von der zweiten bis siebenten Woche der Entwicklung, danach Fötus. Endosperm: #νδον [endon] gr. – innerhalb, σπρµα [sperma] gr. – Same; triploides Gewebe im Pflanzensamen (s. S. 219). Epigenetik: *π [epi] gr. – auf, γενετ [genete] gr. – Geburt. Epigenetik (s. Kap. 12.2) beschäftigt sich mit der Frage, welche Mechanismen den regulatorischen Zustand der Gene bzw. den Expressionsgrad der Gene aufrechterhalten und wie dieser Zustand von Zelle zu Zelle weitergegeben wird (z. B. während der Embryonalentwicklung; genetische Prägung). Epistasis: *πστασις [epistasis] gr. – Hemmung; Form der Genwechselwirkung, wobei ein Gen (A) mit der phänotypischen Expression eines anderen, nicht-allelen Gens (B) in Wechselwirkung tritt und der Phänotyp im Wesentlichen durch das Gen B bestimmt wird (s. Kap. 11.3.3). Epitop: *π [epi] gr. – auf, τπος [topos] gr. – Stelle; z. B. Region eines Antigens, die von einem Antikörper erkannt wird (s. S. 545). Eugenik: ε+γνεια [eugeneia] gr. – edle Herkunft; unter Eugenik (s. Kap. 1.1.1) versteht man Eingriffe des Menschen in sein eigenes Erbgut mit dem Ziel, es im derzeitigen Zustand zu erhalten (negative Eugenik) oder diesen zu verbessern (positive Eugenik). Dies gilt sowohl für Gene von Individuen (z. B. Abtreibung, Gentherapie) als auch für den Genpool einer Population (z. B. Sterilisationsprogramme, Selektion von Samenspendern). Eukaryoten: ε [eu] gr. – gut, κρυον [karyon] gr. – die Nuss. (Der oft gebrauchte Begriff Eukaryonten ist sprachlich falsch). Organismen mit einem Zellkern (s. S. 166). Evolution: evolutio lat. – Entwicklung; biologisch: Entwicklung der Organismen im Laufe der Erdgeschichte. Exon: #κ- (#ξ) [ek-, (ex-)] gr. – aus, von etwas weg; Proteinkodierende DNA-Teilsequenz eines Gens (s. S. 74). Expressivität: exprimere lat. – ausdrücken, wiedergeben; Art der Ausprägung eines Gens (s. S. 452). filia: lat. – Tochter; Filialgeneration oder F1. Fitness: relative Überlebenswahrscheinlichkeit und Fortpflanzungsrate eines Phäno- oder Genotyps; das Allel mit der größeren durchschnittlichen Fitness breitet sich in einer Population aus. Fötus: fetus lat. – Leibesfrucht, Junges; frühes Entwicklungsstadium eines Organismus. Beim Menschen ab der 7. Woche als Fötus bezeichnet, vorher Embryo. Gameten: γαµτης [gametes] gr. – der Gatte, γµος [gamos] gr. – die Hochzeit; i.d. Biologie: Keimzellen. Gastrula: γαστρ [gaster] gr. – Bauch, Magen, gastrum lat. – bauchiges Tongefäß; frühes Entwicklungsstadium eines Organismus, bei dem der Urdarm eingestülpt wird (Entodermbildung). Generation: generatio lat. – Familie. Genetik: γενετικ τχνη [genetike techne] gr. – Wissenschaft von der Erzeugung, Entstehen; der Gegenstand der Genetik (s. Kap. 1.1) sind die Mechanismen der Vererbung (wie
das genetische Material die Kontrolle über den Stoffwechsel und die Entwicklung eines Organismus erlangt und wie es das Wiedererscheinen elterlicher Eigenschaften in den Nachkommen bestimmt), die Natur des genetischen Materials und die Speicherung genetischer Information (einschließlich seiner Replikation, Mutation, Transmission, Rekombination und Translation). Genkonversion: convertere lat. – umwandeln, übertragen, austauschen; nichtreziproker Austausch von DNA im Genom (s. S. 200). Genom: Gesamtheit der genetischen Information einer Zelle (s. S. 6). Genotyp: γνος [genos] gr. – Abstammung, τ!πος [typos] gr. – Form; Konstitution eines Gens bzw. Gesamtheit der erblichen Eigenschaften eines Organismus (seine genetische Konstitution) (s. S. 10). Gonocyt: γνος [gonos] gr. – Abkunft, Erzeugendes, κ!τος [kytos] gr. – Höhlung; Keimzellstadium nach Abschluss der mitotischen Vermehrung. Diese Zellen befinden sich vorwiegend in der (im Zellzyklus relativ langen) meiotischen Prophase I (Spermato- oder Oocyten) (s. S. 647). hämatopoietisch: α$µα [haima] gr. – Blut, ποειν [poiein] gr. – machen; blutbildendes Stammzellsystem im Knochenmark von Säugern (s. Abb. 12.31). haploid: %πλος [haploos] oder %πλος [haplous] gr. – einzig einmalig; normaler genetischer Zustand von Prokaryoten und von eukaryotischen Keimzellen nach der Meiose (s. S. 183). Die Zelle besitzt nur einen Chromosomensatz (bzw. ein Chromosom bei Prokaryoten). Helix: &λιξ [helix] gr. – Spirale; z. B. sterische Konformation von Nukleinsäure- oder Proteinmolekülen (s. S. 21 und 325). hemizygot: (µι- [hemi] gr. – halb, ζυγωτς [zygotos] gr. – wohlbespannt; genetische Konstitution der Geschlechtschromosomen im heterogametischen Geschlecht (s. S. 246), die weder als homozygot noch als heterozygot bezeichnet werden können, da sie haploid vorhanden sind. Heterochromatin: &τερος [heteros] gr. – anders, χρµα [chroma] gr. – die Farbe; kondensierter Zustand von Chromatin in Perioden des Zellzyklus, in denen Chromatin normalerweise dekondensiert ist. Zeigt sich durch intensivere Färbung dieser Genomanteile an (Name!) (s. S. 167 und 229). heteropyknotisch: &τερος [heteros] gr. – anders, πυκνς [pyknos] gr. – dicht; Begriff beschreibt Färbungszustand von Heterochromatin (s. S. 229). Heterosis: &τερος (heteros] gr. – anders beschaffen; Heterosis (s. Kap. 11.1) bezeichnet die Überlegenheit von Heterozygoten (→ Hybride) in Bezug auf eine oder mehrere Eigenschaften im Vergleich zu den entsprechenden Homozygoten. Heterosom: &τερος [heteros] gr. – anders, σµα [soma] gr. – der Körper; Geschlechtschromosom. Zeichnet sich durch voneinander abweichende Morphologie der Homologen von den übrigen Chromosomen (→ Autosomen) aus (s. S. 246).
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Glossar heterothallisch: &τερος [heteros] gr. – anders, .αλλς [thallos] gr. – Spross, Schössling; genetischer Zustand bestimmter Hefezellen. Zellen sind durch defektes Gen (ho) nicht zur spontanen Bildung beider Paarungstypen im Stande (s. homothallisch und s. S. 538). heterozygot: &τερος [heteros] gr. – verschieden, anders, ζυγωτς [zygotos] gr. – wohlbespannt; genetischer Zustand eines diploiden Organismus bezüglich eines Gens mit zwei verschiedenen Allelen (s. S. 436). holandrisch: /λος [holos] gr. – ganz, νδρς [andros] gr. – der Mann; Vererbungsgang eines Y-chromosomalen Merkmals. holistisch: /λος [holos] gr. – ganz; Ovarientyp bei Insekten. Ovar besteht neben somatischen Hüllzellen fast vollständig aus Keimzellen (s. S. 588). holokinetisches Chromosom: /λος [holos] gr. – ganz, κινεν [kinein] gr. – bewegen; Chromosom mit vielen Centromeren über die gesamte Länge (s. S. 536). homologe Gene oder Chromosomen: 0µοος [homoios], gr. – gleich/ähnlich beschaffen, λγος [logos] gr. – Rede, Wort; (1) homologe Chromosomen sind in Bezug auf ihre Zusammensetzung und ihre sichtbare Struktur identisch (Gegensatz: nicht-homologe Chr.); (2) homologe Gene sind in verschiedenen Organismen ähnlich (Gegensatz: → orthologe bzw. → paraloge G.) homöotische Gene: 0µοωσις [homoiosis], gr. – Abbild; homöotische Gene (s. Kap. 13.3.6) bewirken (bei segmentierten Organismen) eine räumliche Identität von Zellgruppen in Bezug auf ihre morphogenetische Bestimmung; Mutationen in h.G. bewirken Umwandlungen von Strukturen eines Körpersegmentes in die entsprechenden Strukturen eines anderen Körpersegmentes. homothallisch: 1µος [homos] gr. – der gleiche, .αλλς [thallos] gr. – Spross, Schössling; genetischer Zustand bestimmter Hefezellen. Zellen sind durch die Funktion des Allels HO (Homothallic) zur spontanen Bildung beider Paarungstypen im Stande (s. heterothallisch und s. S. 538). homozygot: 1µος [homos] gr. – der gleiche; ζυγωτς [zygotos] gr. – wohlbespannt; genetischer Zustand eines diploiden Organismus bei der Anwesenheit zweier gleicher Allele. Hybrid: 2βρις [hybris] gr. – Übermaß; durch Kreuzung zweier genetisch verschiedener Eltern entstandenes Individuum. hypomorph: 3π4 [hypo] gr. – unter, µορφ [morphe] gr. – Gestalt; verminderte Ausprägungsform eines Gens (s. S. 675). Hypothese: 3π.εσις [hypothesis] gr. – Grundlage, Annahme; in der Wissenschaft Formulierung eines allgemeinen Sachverhaltes (s. S. 16). Immunoglobulin: Antikörpermolekül. Imprinting: imprimere lat. – aufdrücken, eindrücken (über das Englische); epigenetische Information im genetischen Material. Ist nur zeitlich begrenzt wirksam, kann aber Generationsgrenzen überschreiten (s. S. 511). Induktor: inducere lat. – einführen; Regulationsmolekül, das eine Genfunktion aktiviert (s. S. 143).
Initiation: initium lat. – Anfang; z. B. Beginn der Transkription oder Translation (s. S. 37 und 93). Interferenz: interferre lat. – unterbrechen; die Erscheinung eines von der Erwartung zufälliger Rekombinationshäufigkeiten abweichenden Markeraustauschs (s. S. 472). Interphase: inter lat. – zwischen, φσις [phasis] gr. – Anzeige; Periode im Zellzyklus (s. S. 164). Intron: Bereich in der DNA oder im primären Transkript zwischen zwei → Exons. Wird im Allgemeinen nicht in ein Protein übersetzt (s. S. 74). Inversion: invertere lat. – umdrehen; bestimmte Form einer chromosomalen Veränderung (s. S. 391). Karyogamie: κρυον [karyon] gr. – die Nuss, γµος [gamos] gr. – die Hochzeit; Verschmelzung der beiden Gametenkerne in der Zygote. Karyoplasma: κρυον [karyon] gr. – die Nuss, πλσµα [plasma] gr. – das Gebilde; nichtchromosomaler flüssiger Inhalt des Zellkerns (s. S. 167). Karyotyp: Chromosomenkonstitution einer Zelle (s. S. 243). Keimbahn: Zellinien, die ausschließlich Keimzellen produzieren. Im Gegensatz zu somatischen Zellen (→ Soma). Kinetochor: κινεν [kinein] gr. – sich bewegen, χορς [choros] gr. – der Tanzplatz, die versammelte Schar von Tänzern; Ansatzstelle der Spindelfasern am Chromosom, formt besondere Proteinstrukturen (s. S. 179). Klon: κλ5ν [klohn] gr. – Zweig; Gruppe von Zellen (oder Individuen), die sich von einer ursprünglichen Zelle ableiten. Kompartiment: compartire, lat. – abteilen; (1) membranumschlossener Reaktionsraum eukaryotischer Zellen (z. B. endoplasmatisches Reticulum); (2) begrenztes Areal in einem vielzelligen Organismus, das von mehreren Gründerzellen gebildet wird. Komplementation: complementum, lat. – Ergänzung; die Entstehung eines Wildtyp-Phänotyps, wenn in einem diploiden Organismus zwei verschiedene Mutationen miteinander kombiniert werden (cis-trans-Test, s. S. 128). konditional: conditio lat. – Bedingung; Mutation, die nur unter bestimmten Bedingungen zur Ausprägung kommt (s. S. 762). konkordant: concordare lat. – übereinstimmen; gleiche Merkmalsausprägung bei Zwillingen (s. S. 658). konstitutiv: constituere lat. – errichten, einrichten; kontinuierliche Aktivität (oder Inaktivität) eines Gens (s. S. 144). Leptotän: λπτος [leptos] gr. – dünn, fein, ταινα [teinia] gr. – das Band; Chromosomenstadium in der meiotischen Prophase I (s. S. 186). letal: letalis lat. – tödlich; Art der Genwirkung. Ein Allel wird als letal bezeichnet, wenn der Tod des Individuums vor Erreichen der Geschlechtsreife eintritt. Ligand: ligare lat. – verbinden; Molekül, das an einen Rezeptor binden muss, um ein Signal zu übertragen (s. S. 539). Lyse: λ!σις [lysis] gr. – Lösung, Auflösung; z. B. Folgen (Zellzerstörung) einer Bakteriophagen- oder Virusinfektion für eine Zelle (s. S. 117).
Glossar lysogen: λ!σις [lysis] gr. – Auflösung; ein lysogenes Bakterium enthält die DNA eines reprimierten Prophagen im Genom; durch Induktion kann der Prophage auch nach vielen Teilungszyklen wieder einen lytischen Zyklus initiieren.
Mutagen: mutare lat. – verändern, γνεσις [genesis] gr. – Entstehung; chemische Verbindung, die Mutationen induziert (s. S. 405). Mutation: mutare lat. – verändern; die Veränderung von Genen (s. S. 371).
Makronukleus: µακρς [makros] gr. – groß, nucleus lat. – Kern; vegetativer Kern der Ciliata (s. S. 524). Makrosporen: µακρς [makros] gr. – groß, σπρος [sporos] gr. – Saat, Samen; weibliche Geschlechtszellen der Pflanzen (s. S. 219). maternaler Effekt: mater, lat. – Mutter; Einfluss des mütterlichen Genoms auf den Phänotyp der Nachkommen. Meiose: µεων [meion] gr. – verringern; Zellteilungen, die zur Bildung haploider Keimzellen führen (s. S. 183). melanogaster: µλανος [melanos] gr. – schwarz; γαστρ [gaster] gr. – Magen, Bauch; Artname in der Gattung Drosophila. Meristem: µερζειν [merizein] gr. – (sich) teilen; Zellbereiche in Pflanzen, die zur kontinuierlichen Zellteilung befähigt sind. merodiploid: µρος [meros] gr. – der Teil, διπλος [diploos] gr. – zweifach, doppelt; partiell diploider genetischer Zustand von Bakterien (s. S. 115). meroistisch: µρος [meros] gr. – der Teil; bestimmter Typ von Insektenovarien. Besteht aus Keimzellen und davon abgeleiteten Nährzellen (s. S. 588). Metaphase: µετ [meta] gr. – zwischen, φσις [phasis] gr. – Anzeige; bestimmter Zeitpunkt im Zellzyklus (s. S. 179). Migration: migrare lat. – wandern; populationsgenetischer Begriff. Austausch von Individuen zwischen zwei Populationen (s. S. 498). Mikronukleus: µικρς [mikros] gr. – klein, nucleus lat. – Kern; vegetativer Kern der Ciliata (s. S. 523). Mikrosporen: µικρς [mikros] gr. – klein, σπρος [sporos] gr. – Saat, Samen; männliche Keimzellen der Pflanzen (s. S. 219). Mitochondrium: χνδρος [chondros] gr. – das Korn; cytoplasmatische Organellen mit eigener genetischer Information. Verantwortlich für den Stoffwechsel der Atmungskette. Mitose: µιτς [mitos] gr. – der Faden; Zellteilungsperiode im Zellzyklus (s. S. 178). Modifikation: modificare lat. – verändern; umweltbedingte Veränderung im Phänotyp. Monosomie: µνος [monos] gr. – einzig, σµα [soma] gr. – Körper; haploider Zustand eines Chromosomes in einem diploiden (polyploiden) Genom (s. S. 381). monözisch: µνος [monos] gr. – allein, einzig; ο"κος [oikos] gr. – Haus; Pflanzen mit männlichen und weiblichen Blüten auf einem Individuum (s. S. 431). Morphogen: µορφ [morphe] gr. – Gestalt, γνεσις [genesis] gr. – Entstehung; Moleküle, die morphologische Musterbildung induzieren (s. S. 597). multiple Allelie: mehr als zwei Allele eines Gens, die in einer Population vorkommen (s. S. 449).
neomorph: νος [neos] gr. – neu, µορφ [morphe] gr. – Gestalt; Allel, dessen Wirkung sich qualitativ von der des Wildtyps unterscheidet (s. Kap. 11.3.2); Heterozygote zeigen üblicherweise die Produkte beider Allele. Nondisjunction: disjunctio lat. – Verteilung (über das Englische); Nichttrennung von Chromatiden oder homologen Chromosomen während Mitose oder Meiose (s. S. 465) Nukleosom: nucleus lat. – Kern, σµα [soma] gr. – Körper; elementare Struktureinheit der Chromatide, in der zwei DNA-Windungen um ein Histonoktamer gewunden sind (s. S. 272). Nukleus: nucleus lat. – Kern; Zellkern. Numerator: numerare lat. – zählen; Moleküle des Zählmechanismus bei der Geschlechtsbestimmung von Drosophila (s. S. 592). Ommatidium: 6µµα [omma] gr. – Auge; Einheit der Komplexaugen von Insekten. omnipotent: omnis lat. – alles, potens lat. – mächtig; Fähigkeit eines Zellkern (einer Zelle), alle unterschiedlichen Zelltypen zu bilden. Oncogene: 6νκος [onkos] gr. – Schwellung, γνεσις [genesis] gr. – Entstehung; Gene, die potentiell (bei Mutation) Tumoren verursachen können (s. S. 702). Operator: operari lat. – arbeiten, wirken; cis-wirksames Regulationselement von Genen (s. S. 146). Operon: operari, lat. – arbeiten, wirken; Gruppe zusammenhängender, funktionell verwandter Gene (in Bakterien), die in einer einzigen Transkriptionseinheit organisiert sind und die durch eine einzelne, benachbarte regulatorische Region (→ Operator) reguliert wird (s. Kap. 5.2.2). orthologe Gene: 7ρθς [orthos] gr. – richtig, λγος [logos] gr. – Rede, Wort; Gene sind ortholog, wenn sie sich zur selben Zeit auseinander entwickelten wie die betrachteten Organismen. Pachytän: παχ!ς [pachys] gr. – dick, ταινα [teinia] gr. – das Band; chromosomaler Strukturzustand während der meiotischen Prophase I (s. S. 186). paraloge Gene: παρ [para] gr. – neben, λγος [logos] gr. – Rede, Wort; duplizierte Gene in einem Organismus (→ homologe Gene, → orthologe Gene). parazentrisch: παρ [para] gr. – neben; Inversion, die kein Centromer einschließt (s. S. 392). paternaler Effekt: pater lat. – Vater; Einfluss des väterlichen Genoms auf den Phänotyp der Nachkommen. Penetranz: penetrare lat. – durchdringen; Ausprägungsweise eines Allels (s. S. 452). Der Grad der Penetranz gibt an, in welchem Anteil der Individuen mit der betreffenden genetischen Konstitution der Phänotyp eines Allels zur Ausprägung kommt.
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Glossar perizentrisch: περ [peri] gr. – um ... herum; Inversion, die ein Centromer einschließt (s. S. 392). Phänokopie: φανειν [phainein] gr. – zeigen, erscheinen, κπος [kopos] gr. – Schlag (d. h. also eigentlich: Scheindefekt); Simulation eines Gendefektes durch Umwelteinflüsse (s. S. 14). Phänotyp: φανειν [phainein] gr. – erscheinen, ans Tageslicht kommen, τ!πος [typos] gr. – Form; Ausprägung eines bestimmten Gens bzw. die Gesamtheit der sichtbaren Merkmale eines Organismus (s. S. 10). Plasma: πλσµα [plasma] gr. – das Gebilde; wasserhaltige Substanz, die Zellinneres oder Zellkern füllt. Plastid: πλαστς [plastos] gr. – gebildet; Organell im Cytoplasma von Pflanzenzellen. Steht im Dienste der Photosynthese. Plastom: Genom von Plastiden. In Anlehnung an Genom. pleiotrop: πλεων [pleion] gr. – mehr; τρπος [tropos] gr. – Richtung; offensichtlich vielfältige, aber nicht zusammenhängende Auswirkungen von Genen oder Allelen auf den Phänotyp (s. Kap. 11.3.5). Ploidie: Bezeichnung der Chromosomenzahl pro Zelle (→ haploid, → diploid, → polyploid). pluripotent: plures lat. – mehrere, potens lat. – mächtig; die Fähigkeit eines Zellkerns (einer Zelle), unterschiedliche Zelltypen zu formen (jedoch nicht alle!, s. omnipotent) (s. S. 507). polygen: πολ!ς [polys] gr. – viel; phänotypische Eigenschaften, die durch mehrere Gene hervorgerufen werden, wobei die Wirkung eines einzelnen Gens bzw. Alleles auf den Phänotyp nur gering ist. Polymorphismus: πολ!ς [polys] gr. – viel, µορφ [morphe] gr. – Gestalt; das gleichzeitige Vorkommen von zwei oder mehreren Allelen in einer Population mit Häufigkeiten, die nicht allein durch wiederholte Mutationen erklärt werden können. polyploid: πολ!ς [polys] gr. – viel, πολυπλος [polyplous] gr. – vielfältig; mehrfache Ausführung des haploiden Genoms in einem Zellkern (s. S. 372). polytän: πολ!ς [polys] gr. – viel, ταινα [teinia] gr. – das Band; Zustand von Riesenchromosomen in bestimmten Organen vor allem von Insekten: bestehen aus mehreren bis vielen Chromatiden (s. S. 249). Population: populus lat. – Volk; Gemeinschaft von Individuen, die sich innerhalb einer Region untereinander paaren können und einen gemeinsamen Genpool besitzen (s. Kap. 11.5); Begriff der Populationsgenetik. posterior: posterior lat. – letzte, hintere. Primordium: primordium lat. – Anfang; Ursprungszellen eines Organs während der Ontogenese (s. S. 572). Prokaryoten: προ [pro] gr. – vorher, κρυον [karyon] gr. – die Nuss; einzellige Organismen ohne Zellkern. Promotor: promovere lat. – vorrücken, (be)fördern; Regulationselement eines Gens, initiiert Funktion der RNA-Polymerase. Pronukleus: προ [pro] gr. – vor, nucleus lat. – Kern; väterlicher oder mütterlicher Gametenkern in der Zygote vor der Karyogamie.
Prophase: προ [pro] gr. – vorher, φσις [phasis] gr. – Anzeige; bestimmte Periode des Zellzyklus (s. S. 179). Pseudogen: ψεδος [pseudos] gr. – Lüge; DNA-Sequenz mit einer signifikanten Homologie (75–80%) zu einem funktionellen Gen, die aber so verändert ist, dass jede normale Funktion verhindert ist (s. Kap. 8.2.1). Rekombination: recombinare lat. – neu verteilen; Austausch von Allelen zwischen homologen Chromosomen (s. S. 185). Replikation: replicatio lat. – Kreisbewegung; Verdoppelung der DNA (s. S. 31). Repressor: reprimere lat. – dämpfen, zurückdrängen; Regulationsmolekül der Genexpression (s. S. 146). Reversion: revertere lat. – zurückwenden; Rückmutation eines Allels zum Wildtyp (s. S. 336). Rezeptor: recipere lat. – aufnehmen, zurücknehmen; z. B. Molekül, welches ein Signalmolekül (Ligand) binden kann und so zur Signaltransduktion beiträgt. rezessiv: recedere lat. – zurückweichen; Art der phänotypischen Ausprägung eines Allels; der Phänotyp wird nur in Homozygoten sichtbar (Gegensatz → dominant) (s. S. 432). Schwesterchromatiden: durch Replikation auseinander hervorgegangene Chromatiden eines Chromosoms. Sind genetisch identisch, ausgenommen für Neumutationen. Segregation: segregare lat. – absondern; die Trennung von Allelen in der Meiose (gelegentlich, bei mitotischem Crossing-over, auch während der Mitose). Sekundärstruktur: dreidimensionale Struktur von Nukleinsäuremolekülen. Selektion: selectio lat. – Auswahl; Begriff der Populationsgenetik (s. S. 490). Soma: σµα [soma] gr. – der Körper; alle Zellen eines Organismus, ausgenommen Zellen der Keimbahn. Synapsis: συνπτειν [synaptein] gr. – verknüpfen; Paarung zweier homologer Chromosomen während der meiotischen Prophase I. synaptonemaler Komplex: συνπτειν [synaptein] gr. – verknüpfen, ν:µα [nema] gr. – der Faden; Struktur, die in Zusammenhang mit Rekombination zwischen zwei homologen Chromosomen während der meiotischen Prophase I gebildet wird (s. S. 189). synchron: σ!ν [syn] gr. – zusammen, χρνος [chronos] gr. – die Zeit; gleichzeitig. Syncytium: σ!ν [syn] gr. – zusammen, κ!τος [kytos] gr. – Höhlung; Cytoplasma mit mehreren Zellkernen ohne abtrennende Zellmembranen (s. S. 601). Syndrom: συνδρµη [syndrome] gr. – Zusammenlauf, Anhäufung; medizinischer Begriff, Gesamtheit der Merkmale einer Krankheit. Synkaryon: σ!ν [syn] gr. – zusammen, κρυον [karyon] gr. – die Nuss; gepaarte Gametenkerne in der Zygote nach der Befruchtung. Syntenie: σ!ν [syn] gr. – zusammen, tenere lat. – halten; Kopplung von Genen auf demselben Chromosom. Von konser-
Glossar vierter Syntenie spricht man, wenn die Reihenfolge von Genen auf den orthologen Chromosomen in der Evolution erhalten geblieben ist. Tautomerie: ταυτ4 [tauto] gr. – dasselbe, µρος [meros] gr. – der Teil; alternative Konformationen chemischer Verbindungen (s. S. 376). Telomer: τλος [telos] gr. – das Ende, µρος [meros] gr. – der Teil; Ende eines Chromosoms (s. S. 228). Telophase: τλος [telos] gr. – das Ende, φσις [phasis] gr. – Anzeige; Periode des Zellzyklus (s. S. 182). telozentrisch: τλος [telos] gr. – das Ende, κντρον [kentron] gr. – die Mitte; Chromosomenform mit terminalen Centromeren (s. S. 226). Teratogenität: τρας [teras] gr. – (Vor)zeichen, (Schreckens-) zeichen, Missgeburt; giftige Wirkung einer Substanz auf Embryonen (Embryotoxizität), wodurch Missbildungen beim Embryo ausgelöst werden. Termination: terminare lat. – beenden; Abschluss der Transkription oder Translation (s. S. 69). Tetrade: ττρας [tetras] gr. – Vierzahl; Ergebnis der meiotischen Teilungen einer Gonocyte (s. S. 186). Aber auch: Paarung zweier homologer Chromosomen in der meiotischen Prophase (s. S. 187). tetraploid: ττρα [tetra] gr. – vier, πολυπλος [polyplous] gr. – vielfältig; Genomzustand mit vier Chromosomensätzen. Therapie: .εραπεα [therapeia] gr. – Pflege. totipotent: toti lat. – alle, potens lat. – mächtig; Kerne (Zellen) mit der Fähigkeit, einen gesamten Organismus entstehen zu lassen (s. S. 510). Transgene Organismen: trans lat. – über; gentechnisch veränderte Organismen, die in ihrem Genom zusätzlich arteigene oder artfremde Gene integriert haben. Transkription: transcriptio lat. – Abschrift, Übertragung; Übertragung der genetischen Information von der DNA auf ein RNA-Molekül (s. S. 65).
trans-Konstitution: Zwei oder mehr Allele gekoppelter Gene, die in einer heterozygoten Konstitution auf unterschiedlichen homologen Chromosom liegen, befinden sich in einer trans-Konstitution. Translation: translatio lat. – Übertragung; Übertragung der genetischen Information von der Messenger-RNA in eine Polypeptidstruktur (s. S. 89). Translokation: translocatio lat. – Versetzung; bestimmte chromosomale Veränderung (s. S. 393). Transposition: transpositio lat. – Versetzung, Verlagerung; Verlagerung genetischer Information im Genom (s. S. 395). Trisomie: τρι- [tri-] gr. – drei-, σµα [soma] gr. – Körper; triploider Zustand eines Chromosoms in einer nicht-triploiden genetischen Konstitution (s. S. 667). Univalent: unus lat. – ein einzelner, valens lat. – mächtig; Einzelchromosom bei der meiotischen Paarung (s. S. 191). Variabilität: varius lat. – verschieden. Häufigkeitsverteilung bestimmter Genotypen in einer Population; Maß der Variabilität ist der Betrag der Heterozygotie in einer Population; Ursache der Variabilität sind Mutationen. Xeroderma: ξηρς [xeros] gr. – trocken, dürr, δρµα [derma] gr. – Haut; Krankheit. zellautonom: α+τνοµος [autonomos] gr. – unabhängig, nach eigenen Gesetze; Art der Genwirkung: bleibt auf die Zelle beschränkt, in der ein Gen aktiv ist (s. S. 590). Zygotän: ζυγς [zygos] gr. – eigentlich: Joch, aber auch Paar, ταινα [teinia] gr. – das Band; chromosomaler Strukturzustand während der meiotischen Prophase I (s. S. 186).
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Quellenverzeichnis Abb. 13.38: Copyright © Springer-Verlag (1999); Müller WA, Hassel M (1999) Entwicklungsbiologie, 2. Aufl., Springer Berlin Heidelberg New York Abb. 13.42: Copyright © Springer-Verlag (1999); Blair SS (1999) Drosophila imaginal disc development: patterning the adult fly. In: Russo VEA, Cove DJ, Edgar LG, Jaenisch R, Salamini (Eds.): Development. Springer Berlin Heidelberg New York, pp. 347–370 Abb. 13.45: Copyright © Springer-Verlag (2002); Hartenstein V, Reh TA (2002) Homologies between vertebrate and invertebrate eyes. In: Moses K (Ed.) Drosophila Eye Development (Results and Problems in Cell Differentiation, Vol 37), pp. 220–255 Abb. 13.52: Copyright © Nature Publishing Group (2003); Copp AJ, Greene NDE, Murdoch JN (2003) The genetic basis of mammalian neurulation. Nat Rev Genet 4: 784–793 Abb. 13.53: Copyright © Springer-Verlag (1999); Müller WA, Hassel M (1999) Entwicklungsbiologie, 2. Aufl., Springer Berlin Heidelberg New York Abb. 13.54: Copyright © Nature Publishing Group (2003); Copp AJ, Greene NDE, Murdoch JN (2003) The genetic basis of mammalian neurulation. Nat Rev Genet 4: 784–793 Abb. 13.55: Copyright © Nature Publishing Group (2003); Copp AJ, Greene NDE, Murdoch JN (2003) The genetic basis of mammalian neurulation. Nat Rev Genet 4: 784–793 Abb. 13.59: Copyright © Nature Publishing Group (2003); Graw J (2003) The genetic and molecular basis of congenital eye defects. Nat Rev Genet 4: 876–888 Abb. 13.60: Copyright © Taylor & Francis Group Ltd. (2003); Graw J, Löster J (2003) Developmental genetics in ophthalmology. Ophthal Genet 24: 1–33 Abb. 13.61: Copyright © Association for Research in Vision and Ophthalmology (2004); Graw J, Neuhäuser-Klaus A, Klopp N, Selby PB, Löster J, Favor J (2004) Genetic and allelic heterogeneity of Cryg mutations in eight distinct forms of dominant cataract in the mouse. Invest Ophthalmol Vis Sci 45: 2004, 1202–1213 Abb. 13.62: Copyright © John Wiley & Sons, Inc. (2002); Tickle C (2002) Molecular basis of vertebrate limb patterning. Am J Med Genet 112: 250–255 Abb. 13.63: Copyright © John Wiley & Sons, Inc. (2002); Tickle C (2002) Molecular basis of vertebrate limb patterning. Am J Med Genet 112: 250–255 Abb. 13.64: Copyright © John Wiley & Sons, Inc. (2002); Tickle C (2002) Molecular basis of vertebrate limb patterning. Am J Med Genet 112: 250–255 Abb. 14.3: Copyright © John Wiley & Sons, Inc. (1999); Strachan T, Read AP (1999) Human Molecular Genetics, 2. Aufl., John Wiley & Sons Inc, New York Abb. 14.4: Copyright © John Wiley & Sons, Inc. (1999); Strachan T, Read AP (1999) Human Molecular Genetics, 2. Aufl., John Wiley & Sons Inc, New York Abb. 14.5: Copyright © John Wiley & Sons, Inc. (1999); Strachan T, Read AP (1999) Human Molecular Genetics, 2. Aufl., John Wiley & Sons Inc, New York
Abb. 14.6: Copyright © John Wiley & Sons, Inc. (1999); Strachan T, Read AP (1999) Human Molecular Genetics, 2. Aufl., John Wiley & Sons Inc, New York Abb. 14.7: Copyright © Springer-Verlag (2004); Tariverdian G, Buselmaier W (2004) Humangenetik, 3. Aufl., Springer Berlin Heidelberg New York Abb. 14.11: Copyright © Springer-Verlag (2004); Tariverdian G, Buselmaier W (2004) Humangenetik, 3. Aufl., Springer Berlin Heidelberg New York Abb. 14.17: Copyright © Springer-Verlag (2004); Tariverdian G, Buselmaier W (2004) Humangenetik, 3. Aufl., Springer Berlin Heidelberg New York Abb. 14.23: Copyright © Springer-Verlag (2004); Tariverdian G, Buselmaier W (2004) Humangenetik, 3. Aufl., Springer Berlin Heidelberg New York Abb. 14.16b: Copyright © John Wiley & Sons, Inc. (1997); Estivill X, Bancells C, Ramos C, Biomed CF Mutation Analysis Consortium (1997) Geographic distribution and regional origin of 272 Cystic Fibrosis mutations in European populations. Hum Mutat 10: 135–154 Abb. 14.18a: Reprinted from Intern J Biochem Cell Biol 31. Ramirez F, Pereira L: The fibrillins, pp. 255–259, Copyright © (1999), with permission from Elsevier Abb. 14.18b: Copyright © John Wiley & Sons, Inc. (2002); Robinson PN, Booms P, Katzke S, Ladewig M, Neumann L, Palz M , Pregla R, Tiecke F, Rosenberg T. (2002) Mutations of FBN1 and genotype-phenotype correlations in Marfan Syndrome and related fibrillinopathies. Hum Mutat 20: 153–161 Abb. 14.19: Reprinted from Intern J Cardiol 89. Hopkins PN: Familial hypercholesterolemia – improving treatment and meeting guidelines, pp. 13-23, Copyright © (2003), with permission from Elsevier Abb. 14.22a: Copyright © Nature Publishing Group (2005); reproduced with permission from Nature Reviews Genetics (Graw et al. (2005) Haemophilia A: from mutation analysis to new therapies. Nat Rev Genet 6: 488–501) Copyright © (2005) Macmillan Magazines Ltd. Abb. 14.24: Copyright © Nature Publishing Group (2003); Khurana TS, Davies KE (2003) Pharmacological strategies for muscular dystrophy. Nat Rev Drug Discov. 2: 379–390 Abb. 14.26: Copyright © Nature Publishing Group (2000); Gusella JF, MacDonald ME (2000) Molecular genetics: unmasking polyglutamine triggers in neurodegenerative disease. Nat Rev Neurosci 1: 109–115 Abb. 14.28: Copyright © Springer-Verlag (1998); Kooy RF, Oostra BA, Willems PJ (1998) The Fragile X Syndrome and other fragile site disorders. In: Ostra BA (Ed.): Trinucleotide diseases and Instability. Springer Berlin Heidelberg New York, pp. 1–46 Abb. 14.29: Copyright © Springer-Verlag (2004); van Dellen A, Hannan AJ (2004) Genetic and environmental factors in the pathogenesis of Huntington’s disease. Neurogenetics 5: 9–17 Abb. 14.39: Reprinted from Curr Opin Pharmacol 3. Whittaker PA: Genes for asthma: much ado about nothing?, pp.
Quellenverzeichnis 212–219, Copyright © (2003), with permission from Elsevier Abb. 14.40: Reprinted from Curr Opin Pharmacol 3. Whittaker PA: Genes for asthma: much ado about nothing?, pp. 212–219, Copyright © (2003), with permission from Elsevier Abb. 14.41: Copyright © Nature Publishing Group (2002); Van Eerdewegh P et mult. al. (2002) Association of the ADAM33 gene with asthma and bronchial hyperresponsiveness. Nature 418: 426–430 Abb. 14.42: Copyright © The American Society for Biochemistry and Molecular Biology (2002); Notkins AL (2002) Immunologic and genetic factors in type 1 diabetes. J Biol Chem 277: 43545–43548 Abb. 14.43: Copyright © The American Society for Biochemistry and Molecular Biology (2002); Notkins AL (2002) Immunologic and genetic factors in type 1 diabetes. J Biol Chem 277: 43545–43548 Abb. 14.44: Reprinted from Ageing Res Rev 2. Gloyn AL: The search for type 2 diabetes genes, pp. 111–127, Copyright © (2003), with permission from Elsevier Abb. 15.1: Copyright © Nature Publishing Group (2002); Bu´can M, Abel T (2002) The mouse: genetics meets behaviour. Nat Rev Genet 3: 114–123 Abb. 15.5: Copyright © Nature Publishing Group (2001); Sokolowski MB (2001) Drosophila: genetics meets behaviour. Nat Rev Genet 2: 879–890 Abb. 15.6: Copyright © Nature Publishing Group (2000); Wager-Smith K, Kay SA (2000) Circadian rhythm genetics: from flies to mice to humans. Nat Genet 26: 23–27 Abb. 15.7: Copyright © Nature Publishing Group (2000); Wager-Smith K, Kay SA (2000) Circadian rhythm genetics: from flies to mice to humans. Nat Genet 26: 23–27 Abb. 15.8: Reprinted from Trends Genet 17. Waddel S, Quinn WG: What can we teach Drosophila? What can they teach us?, pp. 719–726, Copyright © (2001), with permission from Elsevier Abb. 15.9: Copyright © National Academy of Sciences, U. S.A. (1996); Tully T (1996) Discovery of genes involved with learning and memory: an experimental synthesis of Hirschian and Benzerian perspectives. Proc Natl Acad Sci USA 93: 13460–13467 Abb. 15.10: Reprinted from Curr Opin Neurobiol. 13. Brembs B: Operant conditioning in vertebrates, pp. 710–717, Copyright © (2003), with permission from Elsevier Abb. 15.11: Copyright © Annual Reviews (2002); Matynia A, Kushner SA, Silva AJ (2002) Genetic approaches to molecular and cellular cognition: a focus on LTP and learning and memory. Annu Rev Genet 36: 687–720 Abb. 15.12: Copyright © Annual Reviews (2002); Matynia A, Kushner SA, Silva AJ (2002) Genetic approaches to molecular and cellular cognition: a focus on LTP and learning and memory. Annu Rev Genet 36: 687–720 Abb. 15.13: Copyright © Oxford University Press (2000); Stoltenberg SF, Burmeister M (2000) Recent progress in psychiatric genetics – some hope but no hype. Hum Mol Genet 9: 927–935
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Quellenverzeichnis Pharmakologie und Toxikologie (Hrsg.: Forth W, Henschler D, Rummel W, Starke K) BI Wissenschaftsverlag Mannheim Leipzig Wien Zürich, S. 96–147 Abb. 15.25: Copyright © Massachusetts Medical Society (2003); Nussbaum RL, Ellis CE (2003) Alzheimer’s Disease and Parkinson’s Disease. N Engl J Med 348: 1356–1364 Abb. 15.26: Copyright © Nature Publishing Group (2003); Driscoll M, Gerstbrein B (2003) Dying for a cause: invertebrate genetics takes on human neurodegeneration. Nat Rev Genet 4: 181–194 Abb. 15.27: Copyright © Massachusetts Medical Society (2003); Nussbaum RL, Ellis CE (2003) Alzheimer’s Disease and Parkinson’s Disease. N Engl J Med 348: 1356–1364 Abb. 15.28: Reprinted from Lancet Neurology 2. Hardy J, Cookson MR, Singleton A: Genes and parkinsonism, pp. 221228, Copyright © (2003), with permission from Elsevier Abb. 15.29: Copyright © Spektrum Akademischer Verlag (1992); Starke K, Palm D (1992) Grundlagen der Pharmakologie des Nervensystems. In: Allgemeine und Spezielle Pharmakologie und Toxikologie (Hrsg.: Forth W, Henschler D, Rummel W, Starke K) BI Wissenschaftsverlag Mannheim Leipzig Wien Zürich, S. 96–147 Abb. 15.30: Reprinted from Lancet 361. Harrisson PJ, Owen MJ: Genes for schizophrenia? Recent findings and their pathophysiological implications, pp. 417–419, Copyright © (2003), with permission from Elsevier Abb. 16.2: Copyright © Nature Publishing Group (2004); Andersson L, Georges M (2004) Domestic-animal genomics: deciphering the genetics of complex traits. Nat Rev Genet 5: 202–212 Abb. 16.3: Copyright © Nature Publishing Group (2001); Anderssen L (2001) Genetic dissection of phenotypic diversity in farm animals. Nat Rev Genet 2: 130–138 Abb. 16.4: Copyright © Nature Publishing Group (2004); Nabel GJ (2004) Genetic, cellular and immune approaches to disease therapy: past and future. Nat Med 10: 135–141 Abb. 16.7: Copyright © Nature Publishing Group (2004); Jobling MA, Gill P (2004) Encoded evidence: DNA in forensic analysis. Nat Rev Genet 2004; 5: 739–751 Abb. 16.8: Copyright © Nature Publishing Group (2004); Jobling MA, Gill P (2004) Encoded evidence: DNA in forensic analysis. Nat Rev Genet 2004; 5: 739–751 Abb. 16.9: Copyright © Nature Publishing Group (2003); Pääbo S (2003) The mosaic that is our genome. Nature 423: 409–412
Abb. TB 4-1: Copyright © Fonds der Chemischen Industrie (1996); Abbildung aus der Informationsserie des Fonds der Chemischen Industrie Nummer: 20 Biotechnologie/Gentechnik, 2. Aufl., Frankfurt Abb TB 8-1: Copyright © Springer-Verlag (2004); Kempken F, Kempken R (2004) Gentechnik bei Pflanzen – Chancen und Risiken, 2. Aufl., Springer Berlin Heidelberg New York Abb TB 8-2: Copyright © Springer-Verlag (2004); Kempken F, Kempken R (2004) Gentechnik bei Pflanzen – Chancen und Risiken, 2. Aufl., Springer Berlin Heidelberg New York Abb. TB 10-2: Copyright © Springer-Verlag (2000); Surzycki S (2000) Basic Techniques in Molecular Biology, Springer Berlin Heidelberg New York Abb. TB 24: Copyright © Graw J (2005), GSF – Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit, Neuherberg Abb. TB 25: Copyright © Bally-Cuif L (2005), GSF – Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit, Neuherberg Abb. TB 26-1: Copyright © National Academy of Sciences, U. S.A. (2000); Sutcliffe JG, Foye PE, Erlander MG, Hilbush BS, Bodzin LJ, Durham JT, Hasel KW (2000) TOGA: An automated parsing technology for analyzing expression of nearly all genes. Proc Natl Acad Sci USA 97: 1976–1981 Abb. TB 27-1: Copyright © Oxford University Press (1992); Sedivy JM, Joyner AL (1992) Gene Targeting.WH Freeman & Company, New York Abb. TB 27-2: Reprinted from BIOspektrum 4. Hillen W, Berens C: Tetracyclin-gesteuerte Genregulation: Vom bakteriellen Ursprung zum eukaryotischen Werkzeug, S. 355–358, Copyright © (2002), with permission from Elsevier Abb. TB 28-1: Copyright © Springer-Verlag (1999); Müller WA, Hassel M (1999) Entwicklungsbiologie, 2. Aufl., Springer Berlin Heidelberg New York Abb. TB 29-1: Reprinted from Nucl Acids Res 29. Krestel HE, Mayford MR, Seeburg PH, Sprengel, R: A GFP-equipped bidirectional expression module well suited for monitoring tetracycline-regulated gene expression in mouse, e39 (online), Copyright © (2001), with permission from Elsevier Abb. TB 30-2a: Copyright © GSF – Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit (2003); Beckers J (2003) Von der Sequenz zur Funktion. In: Was verraten unsere Gene? (Hrsg.: GSF – Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit, Neuherberg); Mensch + Umwelt Spezial 16: 11–20 Abb TB 30-2b: Copyright © Beckers J (2005), GSF – Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit, Neuherberg
Personenverzeichnis
A Allis, C.D. 312 Alzheimer, Alois 747 Ames, Bruce 416 Arber, Werner 5 Auerbach, Charlotte 405 Avery, Oswald T. 3, 5, 20f, 31, 132
B Balbiani, E.G. 96, 251f Barnett, L. 63 Barr, M.L. 264, 267, 270, 284 Bateson, William 2, 453 Bauer, Hans 226, 258 Beadle, G.W. 59 Beermann, Wolfgang 249f, 255, 262 Beet, E.A. 698 Belote, J.M. 262f Benzer, Seymour 126ff, 142, 375, 723, 728 Bernstein, H. 312 Berthold, Peter 720 Biessmann, Harald 235 Bingham, P.M. 343 Birnstiel, Max 288 Bolton, E.T. 62 Botstein, David 482 Boveri, Theodor 3, 5, 165f, 225, 535, 578 Brennecke, H. 398 Brenner, Sidney 60, 63, 578 Breuer, M.E. 256, 533 Bridges, Calvin B. 465f Briggs, R. 505 Brown, Donald 77, 288, 290, 315 Brown, Robert 165 Burnett, F.M. 558 Bünning, E. 723
B Cattanach, Bruce M. 512 Cech, Thomas 76 Chargaff, Erwin 21 Chase, M. 31 Clausen, Jens 11 Cline, Thomas 262, 592 Cooley, L. 598 Corlette, S.L. 533 Correns, Carl-Erich 3, 5, 171f, 431 Creighton, Harriet B. 192 Crick, Francis 2ff, 21, 23f, 31ff, 52, 60f, 63f Crouse, Helen 256
D Dalgarno, L. 93ff Darwin, Charles 15f, 431, 490 de Vries, Hugo 3, 370, 431 Driesch, Hans 504 Driever, Wolfgang 598 Dulbecco, Renato 660
E Ehling, Udo H, 641 Evans, M.J. 508 Earnshaw, William C. 231,
Galton, Francis 4f Garcia-Bellido, Antonio 256 Gehring, Walter 623, 643 Gilbert, W. 331, 333, 660f Goldstein, Lester 59 Goodman, M.F. 39 Grew, Nehemiah 165 Griffith, Frederick 20 Grosjean, F. 65 Grunberg-Manago, Marianne 63 Guo, S. 519 Gurdon, John 505
H Hadorn, Ernst 618 Haldane, John B. S. 422, 468f, 496f, 662 Hardy, Godfrey H. 3, 5, 483ff, 487f, 495, 497f Haussler, David 426 Heitz, Emil 226, 228f, 254 Hen, René 739 Hennig, Wolfgang 294 Hershey, Alfred D. 31, 106, 125 Hertwig, Paula 398 Hess, O. 249 Hoagland, Mahlon B. 60 Holley, R.W. 61 Holliday, Robin 192, 196ff, 200f, 414f, 541 Hooke, Robert 165
I F Ingram, Vernon M. 698 Farmer, J. B. 165 Fiers, W. 65 Flemming, Walther 165, 182, 212, 272
G Gabrusewicz-Garcia, N. 256 Gall, Joseph G. 249
J Jäckle, Herbert 610 Jacob, Francois 60, 145ff Johannsen, W. 483 Jones, J. 512
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Personenverzeichnis
K Kaufman, Thomas 508 Kemphues, K.J. 519 Kerr, J.F.R. 212 Kew, J.N.C. 732 Keyl, H.G. 256 Khorana, Gobind 64 Kidwell, Mary 337, 343, 347 King, T.J. 505 Kleckner, Nancy 202 Kraepelin, Emil 756 Kratochvilova, Jana 641 Kremer, E.J. 376 Kossel, Albrecht 272 Kuhn, T. S. 16
L Lamarck, Jean-Baptiste 6 Lander, Eric 482 La Spada, A.R. 376 Leder, P. 5, 63 Lederberg, Joshua 106f, 111, 122 Lenz, W. 637 Lewis, Edwin, B. 127 Lima-de-Faria, Antonio 43 Lindegren, Carl C. 474 Lolle, S.J. 447 Lorenz, Konrad 718 Lucchesi, John 262f Lyon, Mary F. 264, 268 Lysenko, Trofim D. 5
M MacLeod, Colin 20 Matthaei, J. Heinrich 5, 63 Maxam, A.M. 331, 333, 660 McCaffrey, A.P. 523 McCarthy, Brian 62 McCarthy, Maclyn 20 McClintock, Barbara 192, 336f McGrath, James 511 Mendel, Gregor 2ff, 8, 128, 213, 430ff, 440f, 445ff, 459, 461, 463, 484, 498, 501, 664 Meselson, Matthew 3, 5, 32ff, 60, 193, 198 Meyer, G.F. 249 Miescher, Friedrich 2f, 5, 21, 58, 166, 272 Mitchell, Herschel 317 Mitchell, Mary 317
Monod, Jacques 145ff Montgomery, Thomas H. 165 Moore, E. 165 Morgan, Thomas H. 3, 5, 449, 467f, 473, 583, 588 Mukherjee, A. S. 262 Muller, Herman J. 3, 5, 262, 397, 450, 472 Müller-Hill, Benno 156
N Napoli, C. 522 Neel, J.V. 667, 698 Nicolas, Alain 202 Nilssohn-Ehle, Hermann 457 Nirenberg, Marshall W. 5, 63 Nomura, M. 290 Nüsslein-Volhard, Christiane 584, 598
O Ochoa, Severo 5, 63 Okazaki, R. 36, 38, 45, 49f, 235, 377
S Sanger, Frederick 5, 131, 331f, 660 Schäfer, H. 398 Scheer, U. 177 Schleiden, Matthias J. 165 Schrader, Franz 179 Schwann, Theodor 165f Shine, J. 93ff Sillaber, Inge 745 Sinclair, A.H. 649 Solter, David 511 Southern, Edwin M. 160f, 237f, 664 Spiegelman, Sol 62 Stahl, Franklin W. 3, 5, 32ff Steitz, Joan 76, 84 Stern, Curt 207 Strahl, B.D. 312 Sturtevant, Alfred H. 468 Sutton, Walter S. 3, 5, 166, 225 Suzuki, Yoshiaki 315 Svedberg, Theodor 70 Swift 256 Szostak, Jack 202
T P Pääbo, Svente 426 Painter, Theophilus S. 226 Palade, Georg 60 Pardue, Mary L. 235 Parkinson, J. 747, 753f Pauling, Linus 698 Pavan, C. 256, 533 Plaut, Walter 59 Ptashne, Marc 156 Punnett, R.C. 432, 435, 438, 459, 464, 484 Puvion-Dutilleul, F. 177
Q, R Rabl, Carl 165, 226 Radding, Charles 193, 198 Reeder, Ronald H. 290 Rich, A. 62 Ritossa, F. 294 Roeder, Ronald G. 77 Rotman, Raquel 125 Rous, Peyton 356 Rubin, Edward 343, 426 Rudkin, George T. 533
Täckholm, G. 667 Tatum, E.L. 59, 1067, 111 Taylor, Herbert 32ff, 193 Traub, Peter 290 Trendelenburg, Michael 70,
U, V van Beneden, Eduard 165 van Leeuwenhoek, Antoni 165 Virchow, Rudolf L. 165 von Nägeli, Karl W. 165 von Tschermak-Seysenegg, Erich 3, 431 von Waldeyer-Hartz, Wilhelm 2, 165, 179
W Walker, Peter M. B. 238 Wallace, Alfred R. 15 Wallace, H. 288 Watson, James 2ff, 21, 23f, 31ff, 52, 661 Watts-Tobin, R.J. 63 Weinberg, Robert 702
Personenverzeichnis Weinberg, Wilhelm R. 3, 5, 483ff, 495, 497f Weinberger, David 740 Weismann, August 165 Wieschaus, Eric 584 Wilkins, Maurice 3, 5, 6 Wilson, Edmund B. 166 Wilsons, E. B. 58 Wittmann, H.G. 290
X, Y Yanofsky, Charles 64, 142 Younger-Shepherd, S. 592
Z Zinder, Norton, D. 122
819
Stichwortverzeichnis
A A (agouti) 399, 403, 458 aadA-Gen (Tn7) 340 Aal (active avoidance learning) 733 AB0-Blutgruppensystem 447ff, 484 – Genetik 448, 664 – Migrationseffekte 485f, 493, 498 Abdomen 294, 584, 600, 611, 617ff abdominal-A (abd A) 615 abdominal-B (abd B) 615 Abdominalsegment 585, 609f – Segmentspezifität 615 Aberration 252, 260, 363, 374, 378f, 388, 393, 398, 406, 419, 473, 669ff, 715, 775 ABL (Abelson murine leukemia viral oncogene) 702f Abort 668, 672 – Chromosomenanomalien 670 Abstammungslehre 15 AB-Zelle 580, 582 ace (Acetylcholinesterase) 654, 748 Acetabularia mediterranea 294 Acetocytidin (ac4C) 300 Acetylcholin 749 Acetylierung 276, 282ff, 311ff, 327, 542 Achaeta domesticus 295 Achillea lanulosa 11 – Biotop-Abhängigkeit 12 – umweltbedingte Größenvariation 12 Achillea millefolium 11 Achondroplasie 417 Achse 598, 603, 608 – anterior-posterior 566, 581, 610, 616, 620, 644 – apikal-basal 566, 570 – Determination 600 – dorso-ventral 566, 572, 584, 598f, 606f, 621, 631, 644 – Drosophila 599, 603, 606 Ackerschmalwand 567 Acridinfarnstoffe 403, 408 – Acridinorgange 243, 403, 408 Acron 598f, 606, 608 Actinomycin 59, 81
ad (adenosin independence) 417 ADA (Adenosindeaminase) 405, 771 ADAM33 (Metalloprotease) 709, 711 Adaptation 388 – Mechanismus 405 Adapter-Molekül 213 – Caspase 212f adaptive response 405 ADAR (adenosine deaminase acting on RNA) 88 Additionsbastardisierung 387 Additionschromosomen 389 Adenin 20ff, 32, 40, 88, 92, 118, 321, 373f, 395, 404f Adeninphosphoribosyl-Transferase (aprt) 533 Adenosindeaminase (ADA) 405, 771 Adenovirus 679, 705 ADH (Alkoholdehydrogenase) 532, 745 ADP-Ribosylierung 276, 311 Ad-Spermatogonien 647 Aegilops speltoides = Triticum speltoides 385 Aegilops squamosum = Triticum tauschii 385 AER (apical epidermal ridge) 644f Aflatoxin (Mutagenität) 403, 418 agamous (ag) 567, 578 Agglutination 448 Aggressivität 743 a-Globin 698, 701 agouti (A) 399, 403, 458 Agrobacterium tumefaciens 109f, 115, 351, 765 Agropyrum 460 AIDS 336, 357, 360, 544, 770 – Virus, 361f, 686, 769 – Wirtszellen 544 ak (aphakia) 480, 643 akrozentrisch 226, 228, 379, 673 Aktivierungsdomäne 138, 760 Aktivimpfung 552 Alanin 61f, 315, 317, 734 Albinismus 659, 675f – oculocutaner 675 – Albinismusflecken 675
albino (c; s. Tyrosinase) 417, 458, 675 Alkaloid 383, 765 Alkoholdehydrogenase (ADH) 532, 745 Alkoholismus 702, 741ff, 758 – Alkoholembryopathie 638f alkylierende Agentien 402, 405, 407 – (s. a. Nukleotidveränderungen) Alkylierung 405f Allel 14, 246, 371, 430, 435, 452, 726 – Arten von 449 – Ausprägung bei Hemizygotie 684 – Ausschluss 547, 551 – dominant 465, 674 – Erhaltung durch Selektion 498 – Expressivität 453 – Fixierung 490 – Frequenz 484f, 500, 678 – Häufigkeit 164, 487, 773, 776 – Kennzeichnung 452 – Kombination 497, 662 – Neukombination durch Rekombination 185 – rezessiv 437, 446, 465, 485, 497, 659, 683 – Verteilung 441, 484ff, 492 Allergen 709 Allium cepa 225 Allopolyploidie 190, 382, 384ff Allotyp 457 Altersabhängigkeit 377, 671, 747 Alterung 237 Alu-Element 239, 353 Alzheimer’sche Erkrankung 747ff Amanita phalloides 81 a-Amanitin 81 amber-Mutation 61 Amelogenin (AMELY) 776 Ames-Test 416ff Amethopterin 530f AMH (anti-Müllerian duct hormone) 649 Ammenmütter (s. transgene Mäuse) 759 Aminoacylbindungsstelle 94 Aminoacyl-tRNA 63, 90f, 95ff Aminoacyl-tRNA-Synthetase 91ff
822
Stichwortverzeichnis Aminoform, Basen 375f, 404 2-Aminopurin (AP) 403f Aminosäure 61ff, 91ff, 138, 297, 455, 676, 699, 715 amnesiac (amn) 728, 743, 746 Amniocentese 775 Amnion 635 Amoeba proteus 59 Amorph 449, 675 Amphibien 226, 248, 295, 301 Amphidiploidie 384 Amphiploidie 389 Amphiuma spec. 7 Ampicillin 115, 135 Amplifikation 528ff – Gene 99, 315, 530, 702 – intrachromosomale 533 – rRNA 295ff Amygdala 719, 734, 737, 740, 742, 744, 748 amyloides Vorläuferprotein (APP) 748ff, 752 Anämie 462, 495, 698, 700 Anaphase 166, 180f, 210, 227, 231 – Homologentrennung 191, 227 – meiotische 187, 230, 393, 475 Androgen-Rezeptor (AR) 694 Aneuploidie 245, 372, 381ff, 388, 396, 420, 471, 667ff, 715 Angelman-Syndrom 511, 517 Angst 718f, 737, 739ff animale Kappe 625 Aniridie 641f Ankerzelle 583 Anlagen 569, 571, 585, 588, 616, 626, 640, 649f, 658 Annulus 168 Anopheles 495 ANOVA (analysis of variance) 482 Antennapedia (Antp) 371, 615f Antennapedia-Komplex (ANT-C) 615, 617 anterior 566, 580ff, 584, 589, 598ff, 614ff, 620ff, 633, 641, 654 Antheren 219, 441 Anthranilsynthetase 149 Antibiotikaresistenzgene 136, 340f Anticodon 58, 61, 63, 91, 96, 299 Antigen 449, 497, 543, 545, 547, 552f, 557f, 562f, 691, 712f – Erkennungsstelle 547 – Determinante 542, 545f, 556 – Oberflächenantigen 448, 542f, 691 – Spezifität 546f, 550, 552f, 555f, 558 Antikörper 84, 285, 448f, 496, 503, 543, 545ff, 549f, 552ff, 562f, 607, 713, 769f – Funktion 552
– H-Kette 546, 554, 557f – Klassen 554ff – Klassenwechsel 547, 555ff – L-Kette 546, 548ff, 552ff – monoklonaler 769 – Struktur 549, 552f, 558 – Variabilität 549, 552ff antimorph 449f, 675 Antimycin A 532 Antirrhinum majus 7, 225, 567f, 574, 576ff anti-sense RNA 66f, 104, 135, 267, 516, 561, 653, 686 – in-situ Hybridisierung 602, 611, 652 – Genregulation 267, 516, 561, 653 Antitrypsin (a1-A., AAT) 282, 768 2-AP (2-Aminopurin) 403f APC (anaphase promoting complex) 181f AP-Endonuklease 412 Apfel 3, 382 aphakia (ak) 480, 643 Apis mellifica 225 Aplysia californica 7, 728 ApoB (Apoliporotein B) 90, 282 – RNA-Editierung 88 apobec-1 (apolipoprotein B mRNA-editing enzyme, catalytic polypeptide) 89 Apoptose 212f, 221, 510, 523, 579, 642, 706f, 713 – Embryonalentwicklung 212f, 580 – neurodegenerative Erkrankung 755 APP (amyloides Vorläuferprotein) 748ff, 752 A-Protein 45, 142 apterous (ap) 620 aptr (Adeninphosphoribosyl-Transferase) 533 apx-1 (anterior pharynx in excess) 581f Äquationsteilung 183, 188, 220 Äquatorialebene 179ff, 187, 231, 537 Arabidopsis thaliana 7, 225, 288, 447, 566f, 569ff, 661 Archaebakterien 106 Arginin 61f, 65, 704 ARS (autonom-replizierende Sequenz) 46f, 236 Art 3, 7, 225, 483, 500, 765 – Hybriden 387 Arteriosklerose 682 Arthritis 769 artifizielles Chromosom 233 Arylsulfatase 677 Arzneimittelresistenz 772 Asbest 704
Ascaris 225, 535f Ascomycet 190, 474 Ascosporen 200f, 214f, 217, 219, 474f – Neurospora crassa 201, 217 – Tetradenanalyse 201 Ascus 200, 202, 214f, 217, 219, 474ff Asparagin 61f, 172, 298, 687, 732 Asparaginsäure 61f, 172, 572, 732 Aspartattranscarbamylase 532 Aspergillus nidulans 225 Assoziationsstudie 667 Asthma 452, 458, 656, 659, 702, 708ff, 715, 718, 755, 764, 774 Astrocyt 510, 703 ASYMMETRIC LEAVES (AS1) 573ff Ataxie 378, 693f, 743, 746, 755 Ataxin 694 Atherosklerose 682f, 770 Atmungskette 318 Atombombe 399f atonal (ato) 624f ATPase 37, 47, 171f, 521 Atrophin 694 attB 120f, 351 Attenuation 69, 149, 151f – E. coli 69, 149, 151f – trp-Operon 69, 149, 151f Augen 207, 451, 456, 618, 652, 680, 686, 704, 781 – Entwicklung 449, 453, 621, 623ff, 639ff, 774 – Evolution 643, 774 – Farbe 205, 370, 454ff, 467, 478, 659 – Formen 669 – Linse 102, 317, 326, 479f, 643, 708 – Mutanten 641, 643, 682 AUG-Triplett 65 Autopolyploidie 382 Autoimmunkrankheit 84, 231, 556, 558 autokatalytisch 76f, 83f, 298, 319, 781 autonom-replizierende Sequenz 46f, 236 Autoploidie 382 Autoradiographie 33, 160f, 232, 285, 331, 562, 652 – DNA-Replikation 34, 44 – Replikation in Riesenchromosomen 249, 251f Autosom 258, 680 Autotetraploidie 384 Auxin 570 Auxotroph 107, 417 Avian Sarcoma Virus (ASV) 356 – s. a. Rous Sarcoma Virus (RSV) Avidin 101, 279, 285
Stichwortverzeichnis Axon 723, 741, 748, 751, 755 AZF (Azoospermie-Faktor) 691f
B BAC (bacterial artificial chromosome) 135 Bacillus antracis 110 Bacillus cereus 110 Bacillus subtilis 110 Bäckerhefe 171, 209, 214f, 234, 319f, 538, 542 Bakteriophage 31, 104, 106, 115ff, 193, 295, 421, 652 – FX174 42, 116, 131f – Lambda (l) 7, 116ff, 119ff, 152, 155, 351 – M13 116 – P1 121ff – P22 122 – Rekombination 126 – T2 60, 124, 417 – T4 64, 116ff, 124ff, 132, 415 – Vektor in Gentechnologie 135 – Wirtsbereich 118f Balancer-Chromosom 363 Balbiani-Ring 96, 251f Banane 3, 382 Bänderungstechniken 243 band-shift assay 333 Bar (B) 390, 397 barfly (brf) 743 Barr-Körper 264, 270, 284 Basen 23, 40, 58, 64, 68, 90, 372, 404f, 412, 783 – Basenanaloga 402ff – Exzisionsreparatur (BER) 412 – Paarung 9, 23f, 28f, 32, 35, 51, 61, 63, 76, 91, 96, 164, 290, 299, 353, 375, 413 – seltene B. in tRNA 299f – Substitution 375, 404, 701 – Veränderung 701f – Verlust 404 basische Zipper (bZIP) 326 Bastard 387, 766 Bauchspeicheldrüse 678f, 743 Baumwolle 3, 109 bb (bobbed) 294 bcd (bicoid) 598ff, 610ff, 615 bcl-2 213 B-Chromosom 230, 257ff, 528 BCR (breakpoint cluster region) 702 BDL (BODENLOS) 570 Beckwith-Wiedemann-Syndrom 511, 517
Befruchtung 45, 165, 172, 185, 220, 345, 432, 434, 441, 568, 630, 636, 657, 672, 776, 776 Bellevalia romana 33f Benz(a)pyren 403, 410 Benzolderivate 410 BER (Basen-Exzisionsreparatur) 412 Bestrahlung 120, 156, 195, 341, 398, 411, 414f, 506, 626, 629, 707f Beuteltier 246, 268, 270, 514f b-Faltblatt 157, 315ff, 547f b-Galactosidase 136, 144ff, 417, 677 bicoid (bcd) 598ff, 610ff, 615 Big blue Mouse 420f bio-Gen 119, 121 Bioinformatik 770 Bioreaktor 506, 765 Biostatistik 667 Biotechnologie 2, 99, 110, 764f, 767, 769, 771 Biotin 101, 107, 279, 285, 652 Biotop 11ff, 379, 381, 483, 493 Birkenspanner 493f Birne 3, 382 Biston betularia 493ff – Populationen 493 – Selektion durch Industrie 494 Bithorax-Komplex (BX-C) 615, 617 Bivalent 186f, 191, 247f, 382f, 473f B-Konformation (DNA) 23f, 197 Blasenkrebs 702 Blastocyst 203, 269, 507ff, 631, 635, 659, 761 Blastoderm 37, 204, 223, 263, 585f, 591ff, 602f, 606ff, 625f Blastomer 504f, 536, 581, 631 Blastula 504ff, 635 Blattrosette 574 Blindheit 486, 676, 711 Bloom’s Syndrom 419 Blutarmut 462, 701 Blüte 172, 432, 447, 567, 574, 576f – Blütenhülle 574 – Entwicklung 565, 574, 576 – Induktion 576 – Mutation 576 – Primordium 576 – Rispen 220 – Symmetrie 576 Bluterkrankheit 422, 449, 684, 771 Blutgerinnung 684 – Faktoren 684, 686, 691, 769 – Defekt 684 Blutgruppe 447f, 499 – Allele 447f, 484f, 500 – Antigen 448f, 496 – Populationsstudien 485f, 493, 499f
Bluthochdruck 458, 715, 764, 774 Blutkrankheit 301, 462, 495 Bluttransfusion 448, 686 Bmal1 (brain and muscle Arnt-like protein 1; = Mop3: morphine preference 3) 725 BMP (bone morphogenetic protein) 639, 642, 645f bobbed (bb) 294 BODENLOS (BDL) 570 Bodenplatte 634 Bombyx mori 225, 314, 337, 351f Bonobo 779 Borrelia burgdorferi 110 Borrelia garinii 110 boss (bridge-of-sevenless) 624 Bos taurus 225 Bradyrhizobium japonicum 106 brain X-linked (Brx) 268 Brassica oleracea 225 BRCA (breast cancer) 705, 707 5-BrdU (5-Bromodeoxyuridin) 211, 403f, 419f brf (barfly) 743 BRE (transcription factor IIB recognition element) 320ff bridge-of-sevenless (boss) 624 5-Bromodeoxyuridin (BrdU) 211, 403f, 419f brown eyes (br, Drosophila) 417, 489 Brustkrebs 702, 705ff Brx (brain X-linked) 268 5-BU (Bromouracil) 403f Bufo 295 Bukettstadium 236 Bulle 768 bw (brown eyes) 417, 489 bZIP (basische Zipper) 326, 328, 725
C CAAT-Box 94, 322 cabbage (cab) 728 cactus (cact) 600, 607 Caenorhabditis elegans 7, 212, 225, 337, 351, 535, 566, 578f, 581, 639, 661 CAI (codon adaptation index) 108 Calbindin 755 Calcium 681f, 694, 735, 768 Calpain 715 Camkk2 (calcium/calmodulin-dependent protein kinase kinase 2) 733 cAMP 148, 209, 728ff, 733ff, 743f, 746, 758 Canamycin 115
823
824
Stichwortverzeichnis Canis domesticus 229 cap (Kappe s. mRNA) 82ff, 103, 307, 309, 346, 354, 558 CAP (catabolite activator protein) 148 capicua (cic) 599, 608 cappuccino (capu) 600 Capsid 116, 339 Carbendazim 420 Carcinogenitätstest 418 Carrier 60, 570, 685 Caseinkinase Ie (CKIe; Csnk1e) 725ff Caspari’sche Streifen 571 Caspase 212f Catechol-O-Methyltransferase (COMT) 757 Caulobacter crescentus 110 Cavia porcellus 225 CDAR (cytosine deaminase acting on RNA) 88 CDC 43, 212 – Cdc2 181, 213, 705 – Cdc6 38, 47, 49 – Cdc13 236 – Cdc28 539 – Cdc45 48 CDK (cyclin-dependent kinase) 43, 47f, 209f – Cyclin-Komplex 209, 213 – Inhibitoren 211 cDNA (copy DNA) 99, 102f, 138, 306, 347, 567, 716, 725, 782 C/EBP (CCAAT/enhancer binding protein) 731, 734ff ced 212f CEN3 233, 236 CENP (centromere proteins) s. Centromer 232f, 311f centi-Morgan (cM) 468, 471, 478, 480, 482, 502, 661ff, 666, 709 Centriol 180 Centromer 179, 227, 284, 380ff, 474, 530, 536 – Fehlen in B-Chromosomen 230 – Funktion 229ff, 381, 393, 673 – Hefe 234f – Kartierungsmarker 474f, 478, 528, 629, 663 – Lage 227f – Mensch 281 – Proteine 232f, 311f – repetitive DNA 662 – Satelliten-DNA 232, 234 Centrosom 179, 181 Ceramid 677 Ceramidase 677 Cerebellum 654, 719, 734 CF (cleavage factor) 86
CFTR (cystic fibrosis transmembrane conductance regulator) 426, 678f Chalkon-Synthase 522 cheap date (chpd) 743, 746 Checkpoint 181, 208, 411, 414 Chemikaliengesetz 402 Chemotherapie 532, 706f, 772 chickadee (chic) 598 Chi-Quadrat-Test (c2-Test) 443, 468 Chi-Sequenz 199 Chiasma 186ff, 192, 197, 200, 247, 468, 473, 663 chickadee 598 Chimäre 203, 508, 649, 702, 761 Chironomus 96, 252 – Nukleolus 177 – Riesenchromosom 177, 251 Chlamydophila pneumoniae 110 Chlamydomonas reinhardii 215f, 219, 225, 417 CLAVATA (CLV) 573f Chlorophyll 10, 172ff Chloroplast 171, 173 CLV (CLAVATA) 573f Cholesterin 682f, 715, 770 Chorda dorsalis 626, 632, 634 Chorea Huntington 377ff, 417, 662, 692ff, 715, 747 Chorion 635f chpd (cheap date) 743, 746 Chromatide 20, 33f, 186, 188, 193, 201, 227, 248, 256, 260, 284, 419, 706 – Aufbau 35 – Crossover 164, 205, 393 – Interferenz 473 – Modell 277 – Trennung 164, 181ff, 186, 465, 528, 629 – Verteilung 183, 187 Chromatin 80f, 164, 272, 327, 589 – Bestandteile 80, 276 – Diminution 535f – Domänen 281 – Elimination 534f, 537 – inaktiv 167, 224, 542 – Interphase 169, 179 – Kondensation 180, 220, 282f – Organisation 277 – Reparatur (DNA) 411f – Replikation 47f, 279f – Struktur 80, 518 Chromomer 186 – Genlocus 249 – Lampenbürstenchromosom 248 – Prophasechromosom 247, 249f Chromomycin 286 Chromosom 9, 16, 23, 35, 40, 284f, 363
– Aberration 260, 388, 398, 406, 669ff, 674 – Analyse 243, 385, 775 – Anomalie 667, 669, 671, 673 – Bänderung 286, 304, 667 – Bestandteile 272, 276 – C-Banden 243, 279, 529 – Centromer 179, 227, 234, 284, 380ff, 474, 530, 536 – Crossing-over 86, 164, 185, 192, 201f, 204ff, 220, 293, 363, 371, 382f, 388, 392f, 414, 441, 532, 557f, 585, 628f, 662f, 698, 700f – Elimination 259, 525 – Färbung 243, 245, 252, 286 – Domänen 73, 230, 392 – eukaryotisches 225, 235ff – Fission 379 – Fusion 381 – Gestalt 226, 242f – holokinetisches 381, 536 – homöologe Chromosomen 191, 385f – HSR (homogenously staining region) 529, 532 – Interphase 282 – Karte 107f, 114, 126, 254, 367, 463, 469 – Kondensation 186, 227, 232 – Meiose 224, 227, 233, 284, 469, 670 – Metaphase 34, 180,ff 232, 245, 284, 286 – Modelle 277 – Morphologie 226 – Mutation 372, 378f, 390 – Nomenklatur 226, 667 – Painting 243, 245, 286 – Ploidie 315, 372, 382, 525 – polytän 252, 254ff, 280, 283, 294, 315, 390, 393, 526, 528, 533f, 538, 596 – polyzentrisch 381 – prokaryotisches 106, 119 – Protein 276 – Rekombination 107, 185, 188 – ringförmiges 106 – Scaffold 281 – Segregation 183, 200ff, 382, 384, 512 – Struktur 164, 184, 186f, 189, 228, 236, 247, 271, 276, 301, 534 – Territorium 224, 278f, 281, 284 – Translokation 256, 268, 380, 391, 394, 673f, 708 – Trisomie 372, 381, 386, 394, 667ff, 715, 748, 776 – Ultrastruktur 230 – Verteilung 186, 247, 465, 500, 669 – Zahl 183, 372, 379, 381, 383f, 528, 667
Stichwortverzeichnis CHX10 (ceh-10 homeo domain containing homolog) 642 cI-Gen (l-Phage) 120f, 142 cic (capicua) 599, 608 Ciliaten 28, 50, 59, 65, 235f, 243, 292, 504, 523ff, 560 Cin4-Element (Mais) 337, 348, 351f cinnabar (cn) 454ff Cip/Kip-Familie 211 cis-Konstitution 128 Cis-Trans-Test 128f, 144, 309, 319 Cistron 9, 128ff, 134, 144, 147ff, 158, 319 CKI (CDK-Inhibitor) 211 CKIl (Caseinkinase Il; Csnk1e) 725, 727 CIB-Methode 420 Clock (Clk) 723, 725f cM (centi Morgan) 468, 471, 478, 480, 482, 502, 661ff, 666, 709 cms (cytoplasmic male sterility) 174f s. Pollensterilität 174 c-myc (Onkogen) 210, 312 cn (cinnabar) 454ff Cockayne’s Syndrom 708 Code (s. genetischer Code) 61, 171 codominant 449, 484, 538 Codon 61, 63, 65, 88, 91, 93, 95f, 108, 151, 173, 299, 317, 372f, 378, 593f, 700ff Coffin-Lowry-Syndrom 736 Cohesin 181f Coincidenz 473 Colcemid 383 Colchicin 34, 383f, 387 Colinearität (s. genetischer Code) 64f, 142 Coloncarcinom 704 Colizinogen 115 Col-Plasmid 115 Colubridae 295 Columba livia 225 COMT (Catechol-O-Methyltransferase) 757f c-onc (Oncogen) 359f Conidien 216ff Consensus-Sequenz 46 Contergan 636f Conus 622 copia 337, 346ff, 351, 456 Core-Enzym 39, 67ff Core-Histon (s. Histon) 284 Cornea 179, 622, 641 Corpus callosum 510 Corticotropin 740f, 745, 758 Cosmid 56, 123f, 135 cos-site (cohesive sites) 120, 152, 422
cot 1⁄2-Wert 29 CpG-Insel 322, 516, 518 c-ras (Onkogen) 210 CREB (cAMP responsive element binding) 326, 728, 730f, 734ff Cre/loxP System 731, 733, 762 CREST-Protein Æ Centromer 231 CRH (corticotropin-releasing hormon) 740f, 745 Cricetulus griseus 225 cro (l-Phage) 152ff Crohn’sche Erkrankung 769 Crossing-over 86, 164, 185, 192, 201f, 204ff, 220, 293, 363, 371, 382f, 388, 392f, 414, 441, 532, 557f, 585, 628f, 662f, 698, 700f – Interferenz 472f, 663 – Mitose 188, 204, 207, 591 – Chromosomenaberration 260, 388, 398, 406, 669ff, 674 Crosslinking 402, 406, 409f CRP (cAMP receptor protein) 148 Cryba1 (bA1-Kristallin) 479f Cryg (g-Kristalline) 643 CS (s. Cockayne’s-Syndrom) 708 C-Wert 186, 227 cryptochrome (cry) 723 Csnk1e (Caseinkinase Ie; CKIe) 725 ct (curly tail) 635 Culex pipiens 225 Cuticula 580, 583 cycle (cyc) 723 Cyclin 43, 164, 209ff, 213 – Induktion in der S-Phase 211 Cyclin-abhängige Kinase 164, 209, 211, 702 Cyclobutanring 395f, 409 Cyclops divulsus 536f curly tail (ct) 635 Cystein 61f, 78, 212, 680ff, 690, 715 Cystein-Protease (s. Caspase) 715 Cystische Fibrose 377, 426, 678, 680, 715, 776 Cytochrom b 9, 318ff, 330 Cytochromoxidase 319 Cytogenetik 6, 667 Cytoglobin 305f Cytokinese 182, 231 Cytoplasma 65, 166ff, 584f, 754 – Erbeigenschaften 171 Cytosin 21ff, 32, 69, 92, 373ff, 404ff, 422 – Deaminase 88 Cytoskelett 168, 220, 314, 598 – Aufbau 168 – Nährzellen 598
– Tubulin 313 Cytostatika 528, 530, 532
D D. hydei 229, 249, 253f, 293, 309, 313, 351 D. melanogaster 7, 30, 37, 75,179, 204, 206f, 225, 235f, 246, 249f, 252ff, 263, 289, 293f, 297, 309, 313, 336f, 342ff, 348ff, 355, 367, 390f, 397, 417, 447, 454, 469f, 489, 533f, 583-624, 661 Danio rerio 225, 625ff DAPI (4’,6-Diamino-2-phenylindol) 243, 279, 286, 536 daughterless (da) 470, 592ff DAX1 (orphan nuclear receptor) 692 DAZ (deleted in azospermia) 692 dbt (double-time) 723ff, 727 Deacetylierung 270, 311 deadpan (dpn) 592, 594 death Domäne 213 dbp (Albumin-D-Element bindendes Protein) 50, 725 decapentaplegic (dpp) 619f, 623, 625, 645 deficiens (def) 576ff deformed (Dfd) 615 Degeneration (d. genet. Codes) 64, 92f Deletion 78, 87, 119130, 136, 232, 236, 252, 254, 267, 293f, 328, 360, 370, 372ff, 377, 381, 422, 451, 532f, 557, 609, 674, 679, 698, 700f, 704, 706, 708, 725, 739, 755, 762, 776 Deletionskartierung 132 Delta (Dl) 326, 421f, 582, 620f, 624f Delta/Notch-Signalweg 581f Demethylase 520 Denaturierung 18, 28, 53, 100, 160, 427 Dendrit 693, 712, 748, 755 Denominator 592 Dephosphorylierung 49, 159 Depression 718, 737, 740 Depurinierung 405f Dermatogenstadium 569, 571 Dermatom 632 DES (Diethylsulfonat) 407 Desaminierung 375, 403ff, 741 Desmin 168 Desoxyribonuklease (DNase) 101f, 328, 333, 516, 518, 679 Desoxyribonukleinsäure (DNA) 4ff, 8, 20ff, 57ff, 99ff Desoxyribose 20, 23f, 66, 331, 375 Deszendenztheorie 15f, 431, 490f Determinanten 600, 607
825
826
Stichwortverzeichnis – anteriore 600 – cytoplasmatische 584 – posteriore 603, 608, 610 Determination 566, 578, 584, 600, 617ff, 625, 650f, 737 Deuteranopie 486 Dfd (deformed) 615 Glucose 143f, 148, 155, 448 Dhfr (Dihydrofolatreduktase) 340f, 530ff Di-(2-chloroethyl)sulfid (s. Senfgas) 403 Diabetes 656, 659, 679, 702, 710ff, 714f, 769, 774 D-Aminosäure-Oxidase (DAAO) 757 Diabetes 710ff Diacylglycerol 209 Diagnose 677, 680, 683, 743, 747, 767, 776 Diakinese 187, 648 Diazepam 420 Dicer 520ff, 561 Dichtegradient 32, 70, 238 Dickdarmkrebs 399, 702 Dictyostelium discoideum 337, 351 Dictyotän 648f Dideoxy-Methode 331f Diethylsulfonat (DES) 407 Differenzierung 266, 326, 503-560, 565-646 Digoxigenin (DIG) 101, 279, 285, 652 dihybride Kreuzung 438, 457 Dihydrofolatreduktase (Dhfr) 340f, 530ff Dihydrouridin 300 Dimethylguanosin 300 Diminution 534ff Diol-Epoxid-Derivate 403, 410 Diploid 115, 186f, 191, 246, 294, 441, 483, 538, 661 Diplophase 213, 215ff Diplotän 186, 296 disconnected (disco) 723 Diskordanz 636, 638, 658f Disomie 386, 420, 512 Disposition 692, 702, 705f, 708f dizentrisches Chromosom 673 Dl (Delta) 326, 421f, 582, 620f, 624f dl (dorsal) 599, 607f D-loop 195, 299 DMC1 196, 415 DMPK (myotone Dystrophie) 694 DNA 4ff, 8, 20ff, 57ff, 99ff – Basenpaarung 9, 23f, 28f, 32, 35, 51, 53, 61, 63, 76, 91, 96, 137, 164, 290, 299, 353, 375, 413 – bidirektionale Replikation 38f, 44
– – – – – – – –
Bindungsdomäne 138 Brüche164, 195, 344, 378, 406, 549 chemische Struktur 22 Chip 782 cot 1⁄2-Wert 29 curved DNA 26 Doppelhelix 3, 5ff, 20f, 23ff Duplikation 33, 122, 188, 254, 339, 349, 353, 390, 423, 567, 606, 633, 673f, 780 – Erbinformation 20ff – Funktion 58ff – Glykosylasen 406, 412f – Isolierung 18 – Konformation 23ff, 52, 197f, 262, 276, 321, 395 – Körperchen 295 – Klonierung 5, 18, 100, 135ff, 159, 366 – Ligase 6, 38, 41, 49, 102, 159, 366, 404, 412 – Menge im Genom 7 – Phosphat-Zucker-Rückgrat 24, 58, 66, 299, 405, 412 – Phosphodiesterbrücken 23, 27, 41, 159, 331, 404, 412 – physikochemische Eigenschaften 27f – Polymerase 36ff, 40, 45, 47, 49f, 66f, 99, 101f, 138, 192, 235, 331, 355, 374, 395, 404, 409f, 412f, 414f, 708, 776 – Reaktionskinetik 29f – Rearrangement 551, 554f – Reparatur 40, 50, 109, 220, 405 – repetitive DNA 190, 233ff, 349, 392, 527, 538, 662 – Replikation 31ff – Schäden 40, 212, 411f, 414, 706f – Schmelzpunkt 28 – Schwimmdichte 32f, 193f, 237ff – Sequenzierung 331f – Stabilität 24, 28 – supercoiling 40ff – Synthese 35f, 38, 46f, 65f, 101, 103, 192, 194, 235, 243, 280, 331, 359, 413 – Transfer in Zellen 112 – zirkuläre DNA 171 dnaA-Protein 36ff DNase 101f, 328, 333, 516, 518, 679 dnc (dunce) 728, 730 Dnmt (DNA-Methyltransferase) 519f DNS (Desoxyribonukleinsäure) Æ DNA Dolly 504ff dominant 246, 371, 432, 447, 449f, 467, 479, 497f, 666, 680, 702, 705f, 754 dominant-negativ 450, 680, 754 Dominanzreihe 487 Dopa 741
Dopamin 509, 740f, 745f, 755, 757 Dopamin-Rezeptor (Drd) 745f Doppelhelix 3, 5f, 21, 23ff Doppel-Rekombination 469, 471ff Doppelstrangbruch 41, 49, 120, 189, 193, 195, 202, 213, 349, 355, 396f, 411, 413f, 422 dorsal (dl) 599, 607f Dorsalisierung 606 Dosiskompensation 261ff, 264ff Dottersack 303, 508, 631, 646 double minutes 528, 530, 532, 534 double sex (dsx) 590, 596 double-time (dbt) 723 Down-Syndrom394, 512, 639, 669ff, 748 Doxycyclin 760 DPE (downstream promoter element) 320ff, 327 dpp (decapentaplegic) 619f, 623, 625, 645 dpy-1 (dumpy) 578 Drd (Dopamin-Rezeptor) 745f D-Region (Æ Immunoglobuline) 546, 552ff Dreipunktkreuzung 471 Drosophila 7, 30, 37, 75,179, 204, 206f, 225, 235f, 246, 249f, 252ff, 263, 289, 293f, 297, 309, 313, 336f, 342ff, 348ff, 355, 367, 390f, 397, 417, 447, 454, 469f, 489, 533f, 583-624, 661 – Achsendetermination 600 – Anzahl der Gene 583 – attached-X Chromosom 474, 477 – Chromosomen 3, 234f – Dosiskompensation 261ff – genetische Karte 254, 470 – Geschlechtsbestimmung 584ff – Geschlechtschromosomen 261ff – Heterochromatin 236 – Hybriddysgenese 175, 337, 343ff, 348f, 355, 364, 500 – Imaginalscheibe 367, 616ff – Kompartimente 281ff, 618, 620, 623, 738 – Lampenbürstenchromosom 247ff – Mutationen 3, 59, 397f – Paarregelgene 609ff, 614f – Segmentierung 608ff – Segmentpolaritätsgene 609f, 614ff – Telomer 235 – Transposon 342ff Drosopterine 455 DSRM (double-stranded RNA binding motif) 521 DTNBP1 (Dysbindin) 757 Duchenne’sche Muskeldystrophie (DMD) 417, 662, 684, 689ff
Stichwortverzeichnis dumpy (dpy-1) 578 dunce (dnc) 728, 730 Duplikation 33, 122, 188, 254, 339, 349, 353, 390, 423, 567, 606, 633, 673f, 780 Dyadenachse 273ff Dynein 181, 249 Dysbindin (DTNBP1) 757 Dysgenese 175, 337, 343ff, 348f, 355, 364, 500 Dystroglykan 690 Dystrophie 378, 417, 509, 662, 677, 684, 689ff Dystrophin 689f
E E2F (Transkriptionsfaktor) 164, 210f, 213 easter (ea) 600 Ebola-Virus 770 Ecdyson 251, 324, 617, 619 E-Chromosomen 257, 260 EcoB-Nuklease 118 E. coli 30, 35ff, 45, 63ff, 69, 73, 93, 108ff, 141ff, 340ff, 374, 405, 414f, 417, 421f, 760 Editieren (von RNA) 82, 88, 90 Edwards-Syndrom 668 EES (Ethylethansulfonat) 403, 407 EF-G (Elongationsfaktor) 96f EF-Ts (Elongationsfaktor) 96f EF-Tu (Elongationsfaktor) 96f EGF (epidermaler Wachstumsfaktor) 510, 583, 625, 680ff EGFR (EGF-Rezeptor) 772 EGR (early growth response 1) 733f Eikammer 588, 602, 607 Einkorn-Weizen 385 Einzelstrang – DNA 28, 37, 40, 50, 53, 101, 116, 131, 161, 195f, 199, 235, 331, 354, 357, 414, 427 – RNA 64, 116, 355, 359 Einzelstrangbruch 112 Eizelle 169, 219, 295, 345, 505, 511f, 569, 580f, 625, 648, 759, 778 Ektoderm 535, 566, 616, 626, 631f, 641, 645 ektopisch 574, 602, 623, 625 Elektrophorese 21, 54ff, 161, 333 Elongation 49, 69, 93, 96, 98 – Elongationsfaktoren 90f, 96f Embryogenese 512, 515, 568, 569 Embryonalentwicklung – Arabidopsis 569ff – C. elegans 578ff
– Drosophila 583ff – Säuger 266, 303, 519, 636 – Stammzelle 504ff, 507 – teratogene Effekte 633, 636ff, 645 – Zebrafisch 625ff, 653 Embryonalhäute 635 Embryonenschutzgesetz 778 Embryosack 218f, 568 Emmerweizen 385 EMS (Ethylmethansulfonat) 403f, 407f, 419, 578 EMSA (electrophoretic mobility shift assay) 333 EMS-Zelle 580f Encephalomyelitis 482 Endocytose 682f Endonuklease 40, 74, 86, 87, 339, 378, 404, 540f – Rekombination 198f – Reparatur 412f, 415 – Restriktionsenzym 119, 159 Endoplasmatisches Reticulum (ER) 166f Endosperm 219, 432, 436, 569 Endothel 508f Energiden 585 engrailed (en) 610, 614f, 618 Enhancer 282, 322, 324, 326ff, 364, 378, 470, 518, 690, 781 enhancer-trap 366f Enolform 375f, 404, 406 Entoderm 535, 566, 626, 626, 631f, 635 Entwicklung – Embryonalentwicklung 567ff, 578ff, 583ff, 625ff, 630ff – Evolution 15f, 170, 185, 226, 268, 283, 305ff, 316, 355, 361, 370ff, 381, 385, 422f, 425f, 483, 490f, 500f, 514f, 558, 580, 617, 629, 643, 674, 772ff Entwicklungsgenetik 565ff Entwicklungsstörung 511, 636ff, 642, 668, 686 ENU (Ethylnitrosoharnstoff) 402f, 405, 407, 415, 419, 641, 733 envelope (env) 346f, 355f, 358, 360 Epibolie 626 Epiblast 631 Epidemiologie 360, 452, 667, 715, 726 Epidermis 570ff, 580 Epigenetik 373, 510f, 513, 515, 517, 519 Epilepsie 88, 659 Episom 111, 123, 134 Epistasie 447, 453, 455, 501, 728 Epithelzelle 179, 314, 641, 647, 709 Epitop 545, 712 Epoxid 403, 410 Equus asinus 225
Equus caballus 225 ERBA (erythroblastic leukemia viral oncogene; Æ thyroid hormone receptor) 703 ERBB (avian erythroblastic leukemia viral oncogene; Æ EGFR) 702 Erbkrankheiten 5, 655ff, 662ff, 776 – autosomale 675ff – Diagnostik 748, 775f, 782 – dominante 680ff – rezessive 675ff, 684ff – X-gekoppelte 683ff Erbse 3, 225, 431, 575 Erdbeere 382 Ertrag 175, 388, 459, 491 Erythrocyt 301, 303, 448f, 462, 510 – Membran 447f, 484 – Sichelzellen 462, 698 Escherichia coli 30, 35ff, 45, 63ff, 69, 73, 93, 108ff, 141ff, 340ff, 374, 405, 414f, 417, 421f, 760 – Anzahl der Gene 107 – Chi-Sequenz 199 – genetische Karte 108, 114 – Replikation 32ff, 35ff – DNA-Polymerase 37ff – RNA-Polymerase 67ff – Transposon 340 Esel 225 EST (expressed sequence tag) 306 ES-Zelle 266, 268f, 508f, 761 Ethidiumbromid 160, 409 Ethylethansulfonat (EES) 403, 407 Ethylguanin 408 Ethylmethansulfonat (EMS) 403f, 407f, 419, 578 Ethylnitrosoharnstoff (ENU) 402f, 405, 407, 415, 419, 641, 733 Ethylthymin 408 Eubakterien 106 Euchromatin 232, 254f, 392, 583 Eugenik 4f Eukaryoten 81ff, 166ff, 225ff, 288ff, 341 – DNA-Polymerase 35ff, 38, 48, 50, 411 – Lebenszyklen 213ff – RNA-Polymerasen 75, 77, 81, 84, 276, 296ff, 320ff, 328, 353f, 520, 522 Euploidie 385, 667f even-skipped (eve) 610ff Evolution 6, 15f, 87, 111, 483, 490, 617, 643 – Bedeutung von Rekombination 192, – Chromosomen 185, 226 – Mais 461 – Mensch 426, 500, 778ff
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Stichwortverzeichnis – Mitochondrien 170 – Mutation 240, 370ff, 422ff – Polyploidisierung 381 – RNA-Editing 87 – Theorie 15f – Transposons 355 – Weizen 385 Exon 9, 83ff, 309 exon shuffling 86 Exonuklease 37f, 40, 50, 102, 133, 199, 374, 413ff, 415 expandierende Tripletts 692, 747 Expression 8, 142ff, 287ff, 782 Expressivität 452f, 501, 680 Extrachromosomen 257, 535 – extrachromosomale DNA 106, 111, 239, 295 extramacrochaetae (emc) 470, 592 Extrusion (s. Phagen) 118 exuperantia (exu) 600 Exzision 114, 117, 120ff, 339, 344, 409, 536 Exzisionsreparatur 292, 407, 412, 708 eyeless (ey) 623, 625, 641 eyes absent (eya) 623, 625
F F1-Generation 266, 434, 436ff, 446, 469 F8 (Faktor VIII) 449, 682, 686ff, 691, 771 Fabry-Syndrom 677 Faktor VIII (s. Hämophilie) 449, 682, 686ff, 691, 771 Faktor IX (s. Hämophilie) 687, 691 V-Faktor (s. RNA-Polymerase) 69 fakultativ 260, 264, 381 Falsifizierung 442 Familie 664ff – Beratung 243, 656, 775 – Stammbaum 660, 675, 685, 695 Fanconi-Syndrom 638 Farbenblindheit 486 FB-Element (s. Transposon) 341ff FBN1 (Fibrillin) 680 F-Duktion (s. Plasmid) 108, 114f, 122 Felis domesticus 225 Fellfarbe 265, 399, 402, 458, 478f female-lethal(2)d [fl(2)d] 594 female sterile 1 (fs(1)pole hole, fs(1)ph 600 female sterile (1) Nasrat (fs(1)N) 600 FEN1 (flap endonuclease) 378 Ferritin 755 Fertilität 174, 249, 495 – Chromosom 258
– Drosophila 249 – Mann 470, 647, 692 – Zuchtformen 174, 387, 461 Fettleber 743 Fgf (Fibroblastenwachstumsfaktor) 510, 639, 645f, 703 Fibrillarin 176 Fibrillin (FBN1) 680ff Fibroin 290, 314ff, 330 Fibrosarcom 705 Filialgeneration 431, 435, 467 Fingerabdruck, genetischer 238, 776, 778 Fingerkraut 11, 14 FISH (flurorescent in-situ hybridisation 245, 266, 269 FITC (Fluoreszeinisothiocyanat) 279, 536, 562 Fitness 494ff, 501, 721, 773 Fixierung 490 fkh (forkhead) 737, 780 fl(2)d (female-lethal(2)d) 594 Flagelle 313 Flap-Endonuklease 378 Flaschenhalseffekt 361, 499 Flemming-Körper 182 Flügel – Entwicklung 326, 618, 621, 623f, 645 – Imaginalscheiben 618, 620 – zweites Paar 615 Fluoreszenzfarbstoffe (s. Chromosomenfärbung) 230, 243, 279, 286, 331, 562 fMet-tRNA 93f, 97 FMR1 (fragile X mental retardation 1) 693f, 696 FMS (feline sarcoma viral oncogene; s. CSF1R) 702 fng (fringe) 620f Foci (s. DNA-Replikation) 280 fold-back Elemente (s. Transposon) 341ff Follikelzellen 256f, 533f, 538, 588f, 598, 600, 607f forkhead (fkh) 737, 780 Formyl-Methionin 93 Fortpflanzungsgemeinschaft 483 fos (FBJ murine osteosarcoma viral oncogene) 312, 703, 715 Fötus 303, 554, 648 FOX-Gene (forkhead-Box) 737, 780 – FoxC1 642 – FoxE1 642 – FOXP2 737, 780 F-Plasmid 111ff fragiles X-Chromosom (FMR1, FRAXA) 693f, 696
Fragment (s. Chromosomen) 673 – azentrisches 393, 673 – dizentrisches 393, 400, 673 frameshift (s. Mutation) 409 Frataxin 694 Freiheitsgrad 443f Freisetzungsexperiment 766 Fremdaddition 387ff, 460 Fremdbefruchtung 384f Fremdsubstitution 388f Friedreich’sche Ataxie 694 fringe (fng) 620f frizzled (fzd) 581, 646 Frosch 225, 288f, 506, 508, 514 Fruchtblätter 574, 577f Fruchtfliege 225, 370, 730, 743 Fruchtknoten 219, 441 Fruchtkörper 219, 474 Fruchtwasseruntersuchung 775 frühe Gene 153ff Frühentwicklung 44f, 203, 258f, 535, 560, 578, 601, 631f, 651, 669 fs(1)N (female sterile (1) Nasrat) 600 fs(1)pole hole (fs(1)ph, female sterile 1) 600 FTLV (feline T-lymphotropic lentivirus) 357 ftz (fushi tarazu) 327, 610, 612, 614 Fucosyltransferase (a1,2-F.) 768 FUGATO 766 Fugu 7f Fungizid 420 Funktionsverlust (loss of function) 449, 519, 571, 573, 654, 693, 754, 768 Furchungsteilung 258, 537, 566, 580f, 630f fushi tarazu (ftz) 327, 610, 612, 614 Fusion 216, 226, 236, 360, 394, 512 – Chromosomenaberrationen 394, 512 – Telomere 236 – Proteine 138, 698, 700f, 715 – zentrische 226, 673f Fyn (Oncogen) 746 fzd (frizzled) 581, 646
G G1-Phase 43, 164 G2-Phase 164 G6PD (Glucose-6-Phosphat Dehydrogenase) 691 GABA (g-Aminobuttersäure) 740, 742, 745ff gad (gracile axonal dystrophy) 755 gag (group-specific antigens) 339, 346ff, 355f, 358, 360
Stichwortverzeichnis gain-of-function Mutation 607 GAL4/UAS-System 138f, 211 Galactocerebrosid 677 Galactose 143f, 148 b-Galactosidase (b-Gal) 136, 144ff, 366, 417, 677 Gallus domesticus 225 gal-Operon 121 gal-Repressor 156 Gameten 31, 169, 183, 208, 216, 246, 371, 382ff, 393f, 430ff, 438, 441, 446, 459, 465, 468, 471, 483f, 487f, 500, 568, 585 Gametogenese 647 Gametophyt 219f Gammastrahlung 395 Ganglienzelle 641, 774 Gangliosid 675ff Gap-Gene 609ff, 614 Gartenrotschwanz 720f Gastrin 740 Gastrula 82 Gastrulation 212, 566, 580, 582, 585ff, 594, 600, 613, 614, 626, 631ff, 635 gastrulation defective (gd) 600 Gaucher-Krankheit 677 G-Banden (s. Chromosomenfärbung) 243, 279, 286, 529 GC-Box 322 GCK (Glucokinase) 714 gd (gastrulation defective) 600 Gedächtnis 718, 727, 729, 731ff Gedächtniszelle 552, 556, 559 Gehirn 353, 367, 463, 482, 510, 622, 641, 690, 693, 719, 727, 729, 731, 739f, 745, 752, 758, 780 Gelbrandkäfer 295 Gelelektrophorese 21, 54ff, 161, 333 Gelenkregion (s. Immunoglobuline) 552 Gen(e) – Abstände 471 – aktives 91 – Amplifikation 529f, 537 – Anzahl 463, 661 – Begriff 8f, 127f, 134, 143, 249, 319, 449 – cis-trans Test 128f, 144, 319 – Duplikation 305, 313f, 423, 623 – eukaryotische 287ff – Expression 108, 141ff, 202, 256, 265, 270, 280, 283f, 287ff, 716, 723, 782 – Familien 77, 213, 296, 305ff, 574, 581, 643 – frühe 153 – Funktion 143, 314, 370, 401, 421, 449, 540, 598, 601, 675, 761
– homöotische 578, 615f, 651 – Karte 107, 125, 469, 479, 660 – Konversion 164, 200, 202, 220, 222, 447, 541, 558 – maternale 581, 596, 598, 601, 651 – mitochondriale 170ff, 220, 313 – Mutation 372, 378, 419, 697f, 701 – prokaryotische 106ff, 141ff – Regulation 86, 109, 143ff, 262, 280f, 323, 326, 379, 515, 604 – überlappende 134 Generationszeit 212, 360, 422, 567, 773 Genetik – Geschichte 3ff, 8, 119, 124, 453, 658 genetische Prägung 504, 510f, 513, 515, 517ff, 560, 767 genetischer Code 61, 171 – Abweichungen 26, 65, 171 – Colinearität 64f, 142 – Degeneration 64, 92f – Entschlüsselung 5f, 63 – Mitochondrien 171 Genexpression 108, 141ff, 202, 256, 265, 270, 280, 283f, 287ff, 716, 723, 782 Genkonversion 164, 200, 202, 220, 222, 447, 541, 558 Genom – Anzahl von Genen 463, 661 – Arabidopsis 567 – Bakterien 105ff – Bakteriophage 119, 122, 131 – C. elegans 578f – Drosophila 583f – Forschung 2, 288, 458, 763ff – Fugu 8 – Huhn 288 – Maus 629 – Mensch 8, 288 – mitochondriales 172 – Mutation 372 – procaryotisches 105ff – Ratte 288 Genotyp 10, 14, 17 Genpool 430, 490, 498ff, 773 Gentechnologie 764ff Gentechnik-Gesetz 4, 765f gentechnisch veränderte Organismen (GVOs)765 Gentherapie 5, 679, 689, 771 Gentransfer 108f, 770f Germarium 589 Gerste 3, 225 Geschlechtsbestimmung 204, 246, 262f, 538, 588, 590ff, 649ff, 692 – Drosophila 588, 590ff – Keimbahn 591 – Mensch 649ff
Geschlechtschromatin 264 Geschlechtschromosom 246f, 261, 293, 379, 463, 465, 467, 672, 680 – Aberrationen 671 – Aneuploidie 672 – Dosiskompensation 261ff, 264ff – Erbgang 463 geschlechtsgekoppelte – Merkmale 465, 660, 689 – Vererbung 172, 463ff,486f Geschlechtszellen 169, 183, 441, 501, 519 Geschwisterpaar-Analyse 666, 715, 745, 756 Getreide 384 GFP (grünes fluoreszierendes Protein) 781 giant (gt) 605, 609, 611 Giardina bodies 295f Giemsa-Färbung 243, 279, 286, 419 GIP (gastric inhibitory polypeptide) 703 gl (glossy) 471f GLABRA1 (GL1) 572 Gleichgewichtszentrifugation 32f, 238, 289 Gli3 (GLI-Krüppel family member) 646 Gliazellen 508, 641 Gliedmaßen 636ff, 643ff Globin 301ff – Anti-Lepore-Globin 698, 700 – Antikenya-Globin 700 – Genfamilie 306 – Genstruktur 307 – Evolution 305f, 308 – Locus-Kontroll-Region 328 – Mensch 304, 308 – Mutation 698 – Regulation 303 – Struktureigenschaften 302, 305 – Transkription 303, 307 Glossina palpalis 542 glossy (gl) 471f GLP-1 (germline proliferation defective) 581f Glucocerebrosid 677 Glucocorticoid-Antwort-Element 323 Glucocorticoid-Rezeptor 323 Glucose – Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenase (G6PD) 691 – Stoffwechsel 148 Glukokinase (GCK) 714 Glutamat-Rezeptor 697, 731, 757 Glutamin 61f, 150, 378, 696, 701, 742, 756, 780 Glutaminsäure 61f, 698f, 712 Glutathion 755
829
830
Stichwortverzeichnis GLV (goat leucoencephalitis virus) 357 Glycin 61f, 315, 317, 702, 704, 732 Glykoprotein 620, 680, 690 Glykosidgruppen 448 Glykosylase 406, 412f GNOM (GN) 570 golden (gol-1) 627 Goldhamster 225 Golgi-Apparat 167 Gonade 214, 344f, 583, 585, 588f, 649f Gorilla 225, 779f G-Protein 209, 539, 570, 572, 703, 730, 735, 740ff, 744, 749, 757 G-Protein-Rezeptor-Kinase (GRK3) 740 GRA (gel retardation assay) 333 Grauer Star 479 GRE (glucocorticoid response element) 323 Griseofulvin 420 GRK3 (G-Protein-Rezeptor-Kinase) 740 Größenwachstum 13f groucho (gro) 592, 608 Grp (gastrin releasing peptide) 740 Grünalgen 215f grünes fluoreszierendes Protein (GFP) 781 Gründereffekt 377, 430, 493, 499ff, 678, 682 gt (giant) 605, 609, 611 GTPase 704, 736 Guanin 21, 23f, 32, 373, 375f, 404ff, 407f, 410, 413, 691 Guanosintriphosphat 90 Guthrie-Test 676 GVOs (gentechnisch veränderte Organismen) 765 Gynander 204f, 371, 590 gypsy 280, 282, 337, 346, 351 Gyrase 38, 41f
H H (hairless) 624f h (hairy) 458, 611ff H19 518, 778 Haarnadel-Schleife 69, 89, 109, 150, 310, 327, 521, 523, 527, 561 hairless (H) 624f hairy pinnae 692 hairy (h) 458, 611ff Halbtetraden 474, 629 hämatopoietisches System 303, 543f, 706 Hämoglobin 301ff
– Anti-Lepore-Globin 698, 700 – Antikenya-Globin 700 – Genfamilie 306 – Genstruktur 307 – Evolution 305f, 308 – Locus-Kontroll-Region 328 – Mensch 304, 308 – Mutation 698 – Regulation 303 – Struktureigenschaften 302, 305 – Transkription 303, 307 Hämolyse 496 Hämophilie 417, 422, 449, 674, 682, 684ff, 691, 769, 771, 775 Haemophilus influenzae 110 Halothan 768 Haltere 615, 617f Hamster 179, 225, 419, 450, 532, 725ff Haploid 29ff, 44, 183ff Haploinsuffizienz 378, 449, 675 Haplophase 213ff Haplotyp 425, 479ff, 662f, 666f, 709, 712, 714, 756, 774 Hardy-Weinberg-Regel/Gesetz 483ff, 487f, 495, 497 HAT (Histon-Acetyltransferase) 263, 270 Hausfliege 225 Hausrotschwanz 720f Hautkrebs 396, 675 Häutung 251, 582f, 618, 723 Häutungshormon 251 hb (hunchback) 600, 602ff, 609ff HD (Chorea Huntington) 377ff, 417, 662, 692f, 715, 747 hedgehog (hh) 619, 623, 625, 632, 634, 639, 645f Hefe 171, 209, 214f, 234, 319f, 538, 542 Helfer-T-Zellen 544 Helicobacter pylori 110 a-Helix 23ff, 316, 325ff Helikase 35ff, 47, 263, 415, 520f, 708 helix-loop-helix-Motiv (HLH) 156ff, 321, 324ff, 593, 607, 723 helix-turn-helix-Motiv 156, 324f, 593, 615 hemizygot 224, 246, 261, 464f, 486f, 660, 684, 686, 692, 715, 754 Hensen’s node (s. Primitivknoten) 632 Hepatitis 523 Herbizid-Resistenz 765f Herbstzeitlose 383 Hermaphrodit 212, 578f, 583 Herzfrequenz 737 Herz-Kreislauf-Erkrankungen 452, 509, 773 Herzmuskel 509f, 743, 767
Herzstadium 569ff, 573 HeT-A Sequenzfamilie 235f Heterochromatin 167, 226, 228f, 232, 282 – Centromer 279ff, 529 – Cyclops 536f – Drosophila 236 – Elimination 234, 536f – fakultatives 260 – Geschlechtschromatin 264, 391 – konstitutives 279, 392 – Positionseffekt 391f – Polytänisierung 254f, 538 – repetitive DNA 242, 536 – Sammelchromozentrum 255 – Spätreplikation 264 – Telomer 380 – Unterreplikation 257, 294 – väterliche Chromosomen 260 Heteroduplex 28f, 53, 198, 200f heterogametisch 246f, 465, 671 heteromorph 246 Heterosis 175, 434, 459, 495f, 680 Heterosom 246f heterothallisch 538f heterozygot 219, 265, 436ff, 440, 446f, 457, 479ff, 502 – Nachteil von Heterozygoten 496f – Vorteil von Heterozygoten 495f, 498 Heuschnupfen 709 Hexosaminidase 675, 677 Hfr-Stamm (high frequency of recombination) 108, 113ff, 122 hh (hedgehog) 619, 623, 625, 632, 634, 639, 645f hinge Region (s. Immunoglobuline) 552 Hippocampus 510, 719, 731ff, 745 Hiroshima (Strahlungseffekte) 399f his Gen 416 Histamin 547, 554, 709 Histidin 61f, 78, 102, 138, 149, 152, 416ff, 571 Histokompatibilitätsantigen 543 Histon – Acetylierung 267, 276, 282f, 311f, 327, 542 – Acetyltransferase (HAT) 263, 270, 311 – ADP-Ribosylierung 276, 311 – Code 312 – Core-Histon 284 – Dimerisierung 273 – Eigenschaften 273 – Falte 273, 275 – Funktion 272ff, 311 – Gene 309ff – H1 80f, 264, 273, 277, 282, 311
Stichwortverzeichnis – H2A 273 – H2B 273 – H3 47, 161, 232f, 273, 282 – H4 263, 268, 273 – Methylierung 276, 282f, 311 – Modifikationen 312 – Phosphorylierung 276, 311f – Ubiquitinierung 276, 311 – Varianten 273, 310 Hitzeschock 68, 219, 321, 629, 729 HIV (Humanes Immundefizienz-Virus) 357, 360ff, 544. 686, 764, 769f H-Kette (s. Immunoglobuline) 546, 552, 554ff hkb (huckebein) 608f, 611 HLH (s. helix-loop-helix Motiv) 156ff, 321, 324ff, 593, 607, 723 HMG-CoA-Reduktase 683 HMG-Protein (high mobility group) 276 HML (s. Paarungstypwechsel) 540f HMR (s. Paarungstypwechsel) 540f HO (homothallisch) 538 Hochblätter 576 hochrepetitive DNA 237ff, 284, 289 Höhlenbär 426 holistisch 588 Holliday-Modell 196ff, 200f, 414f, 541 holokinetisches Chromosom 381, 536 homogametisch 246f Homologenpaarung 186, 189, 191, 234, 252, 374 Homöobox 324, 573f, 578, 601, 603, 615f, 643 Homöodomäne 324f, 574, 615f homöolog 191, 385f homöotisch 567, 576ff, 615ff, 633, 651 Homo sapiens 7, 225, 294, 297, 350f, 417, 500, 629, 778 homothallisch (HO) 538 homozygot 435ff, 440, 446f, 451, 455, 465, 471, 480f, 485, 490 Honigbiene 225 Hordeum vulgaris 225 horizontale Ausbreitung 347 Hornhaut 453, 640f HOTHEAD (HTH) 447 Hox-Cluster 616, 633 Hox-Gene 423, 616, 633 H-ras (s. Oncogen; s. RAS) 702, 704 HST (heparin secretory transforming protein 1) 703 HTH (HOTHEAD) 447 5-HT (5-Hydroxytryptophan) 737ff 5-HTR1b (5-HT-Rezeptor; Htr1b) 746 5-HTT (5-HT Transporter) 739f huckebein (hkb) 608f, 611
Hüllprotein – Phagen 64f – Retroviren 356 Huhn 308f, 562 Humangenomprojekt 4f, 8, 288, 478, 660, 662, 702 Humangenetik 6, 245, 286, 655ff hunchback (hb) 600, 602ff, 609ff Hund 225 Huntingtin 694, 696f Hyacinthus romanus 33 Hyazinthe 33f Hybride 49, 160, 175, 387, 432ff, 441, 459 Hybriddysgenese 175, 337, 343ff, 349, 355 Hybridisierung 27ff, 54, 101, 176, 232, 237, 242f, 245, 266, 279, 286, 337f, 365, 602, 611f, 652, 695, 716, 783 Hydroxylamin 403, 407f Hydroxylaminocytosin 408 5-Hydroxytryptophan (5-HT) 737ff Hyperacetylierung 268 Hyperaktivität 262ff, 733 Hypercholesterinämie 682f, 715 Hypermorph 450, 675 Hyperploidie 667 Hypersomnie 726 Hyperthermiesyndrom 767 Hypertonie 702 Hypervariabel 547, 552, 777 Hypomorph 449, 675, 757 Hypoacetylierung 267, 270 Hypokotyl 569f Hypophyse 569ff, 571, 703 Hypoploidie 667 Hypothalamus 719, 725f, 737 Hypothese 8, 16, 59, 64, 88, 171, 264, 312, 422, 426, 442ff, 447, 482, 514, 546, 643, 665, 715 Hypoxanthin 222, 375, 406, 408, 691
I IAP (s. Retroposon) 337 IC (imprinting center; s. Prägungszentrum) 517f Idiotyp 547, 555 I-Element (s. Transposon) 349 Ig (s. Immunoglobuline) 543ff IgA 554ff IgD 547, 554ff IgE 554ff, 709 Igf2 (insulin-like growth factor 2) 512, 514f, 518, 767, 778 Igf2r (insulin-like growth factor 2 receptor) 514f
IgG 547, 554ff, 562 IgM 547, 554ff, 558 IHF (integration host factor) 120 Ihh (Indian hedgehog) 646 Imaginalscheiben 616ff, 623, 625 Imago 616ff Iminoform 375f, 404 Immunabwehr 496, 542f, 545, 552, 559 Immunoglobulin 543, 546ff, 550ff, 555ff – Antikörperklassen 554ff – Gene 543, 546, 558f – H-Kette 552ff – L-Kette 548ff – Molekülmodell 548 – spleißen 555, 557 – Struktur 546ff – Transkription 554 – V-D-J-Rearrangement 550, 556f Immunologie 449, 563 immunologische Nachweismethoden 285, 562f Immunreaktion 263, 449, 544, 552f, 559, 562f, 714, 769 Immunsystem 448, 497, 542ff, 670, 768, 771 Impfung 523, 552 Imprinting (s. genetische Prägung) 511ff Inaktivierung des X-Chromosoms 264ff INCENPs (inner centromer proteins) 231 Indian hedgehog (Ihh) 646 Induktion 109, 119, 145, 189, 211, 398, 568, 602 – Entwicklungsgenetik 568, 584, 602, 605, 633, 639, 641f – IPTG 136, 144f, 147 – Induktor 136, 142ff, 158, 419, 613 Industriemelanismus 493 Information – positionelle 576, 599, 604f, 608 – Übertragung 58f, 61, 63, 732 infrabar (Allel von Bar) 453 Ingi-Element (s. Trypanosoma; s. Transposon) 337, 351f Initiation – Codon 70, 93ff, 148, 322 – Komplex37, 39, 47, 94, 97, 322f, 594f – Transkription 66ff – Translation 93ff Initiationsfaktor 93ff, 291 Initiator 47, 321f, 327 Inkompatibilität 355, 496, 500 innere Uhr 718, 723f innere Zellmasse (s. Morula) 269, 508, 631
831
832
Stichwortverzeichnis Inosin 88 Inositoltriphosphat 209 Insertion – Element 340 – Mechanismus 347, 350 – Retrovirus 358 in-situ Hybridisierung 176, 245, 279, 286, 536, 602, 611, 652, 695 Insomnie 726 Instabilität – chemische 375 – genetische Loci 377 – mitotische 204, 534 – Transposon 336ff Insulator 224, 280ff, 322, 326, 329, 516 Insulin 710ff, 769 – Insulinähnlicher-Wachstumsfaktor 512, 514f, 518, 767, 778 – Insulinähnlicher-WachstumsfaktorRezeptor 514f – rekombinantes Insulin 769 – Resistenz 714 Integrase 120, 276, 339, 346 Integration – Plasmid 112ff – l-Phage 117ff – Retrovirus 358f – Transposon 339ff Interbanden 250f, 255, 280 Interferenz 473 Interferon 88, 282, 523, 713 Intergenregionen 171, 297 Interleukinrezeptor 771 interkalierende Agenzien 402, 409 Intermediärfilamente 168 Interphase 169, 176, 178, 180 – Chromosomen 176, 179f – Riesenchromosomen 251 – Zellkern 260, 264f, 271 intersex (ix) 591, 596 IPTG (Isopropyl-bD-Thiogalactopyranosid) 136, 144f, 147 Intron 9, 74, 83 – Funktion 86, 558, 326 – Grenze 83ff – Lariat 77, 85 Inversion 391f – heterozygote 363, 393 – parazentrisch 392f – perizentrisch 392f, 691 – Riesenchromosom 394 in-vitro Fertilisation 508 in-vitro RNA-Synthese 104 Ionenkanäle 730f ionisierende Strahlung 396f I-R-Hybriddysgenesesystem 348f IS-Element 340f
Isoakzeptor-t-RNA 93 Isolation 498ff, 667 Isoleucin 61f, 65, 149, 152 Isomerisation 198, 200, 541 Isopropylthiogalactosid (IPTG) 136, 144f, 147 Isotyp 547, 556 IVS (intervening sequence) 74f, 83, 296, 307f, 348f ix (intersex) 591, 596
J Jahresperiodizität 720 Jockey 349 J-Region (s. Immunoglobuline) 546, 549, 552ff, 556 JUN (s. Oncogen; s. AP1) 312, 326, 702f
K Kainat-Rezeptor 756f Kaliumkanal (Kcnj6) 755 KANADI (KAN) 574 Kaninchen 225, 448, 505, 562 Karpelle 574, 577 Kartierung – Bakterien 107f – Chromosomenbänderung 286 – Funktion 469, 472, 663 – Intervall-Kartierung 482 – Rekombinationshäufigkeit 126, 131, 468f, 471f, 487, 664f – Riesenchromosomen 254 – Tetradenanalyse 473 Kartoffel 3, 225, 382 Karyoplasma 167f, 182, 220, 295 Karyotyp243, 245, 381, 504, 525, 775 Katarakt 480, 641ff Katze 225, 422 Kaulquappe 82, 288, 505f Kcnj6 (Kaliumkanal) 755 Keimbahn 169f – Chromosomenelimination 259 – Determinanten 585 – Gentherapie 5, 771 – männliche 174, 259, 447, 647, 696 – Mosaik 207, 606 – Mutation 371 – Ontogenese 169, 371 – weibliche 247, 648, 697 Keimbläschen 441 Keimblatt 566, 569f, 765 Keimling 172, 218, 568ff Keimplasma 165
Keimscheibe 625 Keimstreifen 586, 613, 646 Keimzellen – Chromosomenzahl 165 – Drosophila 584ff – Entwicklung 646ff – primordiale 647 Kenya-Globin 698, 700 Keratin 168, 314 Kerndualismus (s. Ciliaten) 523, 525, 560 Kern-Lokalisationssignal 696 Kernmatrix 282 Kernmembran 166ff, 179f, 182, 187 – Telomer-Anheftung 186, 190, 234, 236 – Meiose 187, 190 Kernphasenwechsel 214 Kernporen 167f, 182, 280, 282 Kernproteine 249, 702 Kernskelett 167f, 182, 220, 282 Kernteilung 45, 166, 205, 250, 523, 585ff, 610 Kerntransplantation 59, 504ff, 511, 559 Ketoform 23, 375f, 404, 406 Kettenabbruch 331f, 701, 715 Kettenverlängerung 43, 701 Killer-T-Zellen 544 Kinetochor 179, 181f, 227, 229f, 232, 284 Ki-ras (s. Oncogene) 702ff Kit-Rezeptor 768 Klammerlader 38, 47 Klassenwechsel 547, 555ff Kleinhirn 654, 719 Klenow-Enzym 101 Klinefelter-Syndrom 264, 671f Kloakentier 514f klonale Selektion 556, 558f Klonierung (DNA) 5, 18, 100, 135ff, 366, 661 kn1 (knotted-1) 561, 573 KNAT1 (KN1-like in Arabidopsis thaliana) 567, 573ff knirps (kni) 605, 609ff Knochenmark 303, 511 – Stammzellen 303, 504, 507, 510f – Immunsystem 543f Knochentumore 705 knock-out Mäuse 213, 237, 267, 519, 645, 725, 731, 733, 736, 739f, 742, 745, 748, 758, 761 Knollenblätterpilz 81 Knospung 214, 632 knotted-1 (kn1) 561, 573 KNOX 567, 573ff Kohl 3, 225
Stichwortverzeichnis Kokon (s. Seidenspinner) 257, 314f Kompartiment 281ff, 618, 620, 623, 738 – Flügel 620 – Grenze 205, 618, 620 – Kern 178 Komplementation 128ff, 136, 143, 145 – Cytochrom b 319 – Merodiploide 115, 121, 144 Komplementsystem 547 Komplexauge 205, 207, 390f, 455, 621ff, 625, 638 komplexe Krankheiten 458, 666f, 702f, 707, 709, 711, 714, 718, 746, 758, 764 Komplexe, synaptonemale 189ff, 199f, 234, 585 Kondensation 179, 186f, 224, 227, 251, 282, 330, 391 konditionale Mutagenese 740f, 761f Konditionierung 727ff Konjugation – Bakterien 111ff – Ciliaten 523ff Konkordanz 636, 658f, 709, 711, 714, 756 konstante Region (s. Immunoglobuline) 546ff, 553, 555f, 562 konstitutive Expression 590 Konstriktion 176, 227f, 230, 293 – primäre 227 – SAT-Chromosom 228 – sekundäre 176, 228, 293 Kontrollgene 596f Kontrollpunkte 164, 208, 212f Kopplung 463, 465, 467, 478 – Kartierung 463ff – Rekombination 665ff Kopplungsgruppe 107, 467, 472, 478, 673 Kopplungsungleichgewicht 488 Körnerfarbe (s. Weizen) 456f, 459 Korrektur – Rekombination 198, 200f, 532 – Replikation 40, 164, 374, 414 Korsakow-Syndrom 743 KpnI-Familie (s. Transposon) 240, 350 Krabbe-Syndrom 677 Krallenfrosch 225, 288f, 506, 508 Krebs (s. Tumorbildung) 355ff, 702ff, 772 Kreuzung – reziproke 172, 345, 431, 435, 501 – Schema 389, 432, 457, 479, 484 Kriminalistik 775 Kristalline 326, 423, 479f, 643f, 652 Kristallzelle 622 Krüppel (Kr) 609ff
Kugelstadium 569 Kulturpflanzen 3 – Hybride 174, 387, 460f – Polyploidie 381f, 384 – Selektion 460, 491 – Zucht 174, 388, 461 Kurzzeitgedächtnis 727, 729, 734, 747, 752 Kynurenin 455 Kynurenin-3-Hydroxylase 455
L L1-Element (s. Transposon) 350, 352 l(1)pole hole (ph1) 600 labial (lab) 615 Labium 609, 618 lacA-Gen (Transacetylase) 145f, 148 Lachssperma 272 lacI-Gen (Inhibitor) 145ff, 420f lac-Operon 144ff Lactococcus lactis 110 Lactose 143ff Lactosylceramid 677 lacY-Gen (Permease) 145f, 148 lacZ-Gen (b-Galactosidase) 104, 135ff, 145ff, 366, 420f, 759 lagging strand (Æ Replikation) 36, 51 l (s. Phage) 119ff l-Repressor 120f Lamin 249 Lampenbürsten-Chromosom 247f – Drosophila 249 – Pleurodeles 247 – RNA-Synthese 248f – Chromosomere 247 – Schema 248, 251 – Y-chromosomale 249 Längsachse 571f, 598, 603, 606, 610, 651 Langzeitgedächtnis 727, 730, 733ff Lariat 76f, 84f Larve 96, 205, 207, 257, 263, 295, 315, 579f, 582f, 609, 617f, 621, 625 laterale Inhibition 572, 583, 624 L-Chromosomen 258ff LCR (locus control region) 328f LDL (low density lipoprotein) 682f LeaderSequenz 149f, 158, 548 leading Strang 36, 234 Leberzirrhose 743 Leghämoglobin 305, 308 Legionella pneumophilia 110 leichte Kette (s. Immunoglobulin) 546f Leitgewebe 569, 571
Lemur 308, 514 Lentivirus 357 Lepore-Globin 698, 700 Leptospira interrogans 110 Leptotän 186, 191 Lernen 719, 727ff, 745, 779 Leserasterverschiebung 322, 403, 409, 418, 701 Leseschwäche 736 Letalfaktor 363 Letalmutation 397 Leucin 61f, 65, 138, 149, 152, 324f, 699, 744 Leucin-Zipper 324ff, 609, 733 Leukämie 399f – Hühner 356 – Retrovirus 703 – strahlungsinduziert 400, 402 – Translokation 702 Leukocyten 510, 544, 712 Lewis-Körperchen 753, 755 LexA-Protein 414 Leydig’sche Zellen 649 Li-Fraumeni-Syndrom 705ff Lilium longiforum 7 limbisches System 737, 740 limitierte Chromosomen 258, 261, 534 LINEs (long interspersed nuclear elements; s. Transposon) 240, 268, 339, 348f, 352f, 662 Linie, reine 431, 459, 471 Linsenauge 623, 643 Linsenplakode 640f Lipoprotein 682 Listeria monocytogenes 110 l-Ketten 547, 550 L-Kette (s. Immunoglobuline) 546, 548ff, 552ff Lmx1 (LIM homeobox transcription factor 1) 646 Locus-Kontroll-Region 328f LOD-Score (logarithm of the odds) 482, 664f Löwenmäulchen 225, 567 LTR (long terminal repeat; s. Retroviren; s. Transposon) 339, 346, 351, 361 – Entstehung 359f – Primerbindungsstelle 357 – Promotoraktivität 358 – Retrovirus 346 Lungenemphysem 768 Lungenkrebs 702, 772 Lupus erythematosus 84 Lycopersicum esculentum 225 Lymphocyt 398, 400, 543ff, 713 Lyon-Hypothese 264
833
834
Stichwortverzeichnis Lysandra atlantica 225 Lysin 61f, 149, 272, 276, 311f lysogener Zyklus (s. Bakteriophage) 116ff, 153ff, 421, 595 Lysozym 282 lytischer Zyklus (s. Bakteriophage) 117f
M M13 (s. Bakteriophage) 7, 116, 118, 135 Macaca mulatta 225 Machado-Joseph-Erkrankung (MUD; = SCA3) 693f Maf (s. Transkriptionsfaktor) 328, 642 Magnifikation 294 mago nashi (mago) 600 Mais 3, 109, 174, 218ff, 492, 765 – Dreipunktkreuzung 471f – Kartierung 471 – Polyploidie 383 – Transposon 338 – Varietäten 459, 461 Makronucleus 28, 294, 523ff Makrophage 544, 547, 712 Makrosporen 218f Malaria 495f, 773 male specific lethal (msl) 262f, 470 maleless (mle) 263 males-absent-on-the-first (mof) 263 male-specific-lethal 3 (msl3) 263 Mandelkern 719, 737 Mandibel 609 MAO (Monoamin-Oxidase) 738 MAPK (mitogen-aktivierte Proteinkinase) 730, 735 MARE (Maf recognition element) 328 Marfan-Syndrom 680ff Marker-Gen 399 Marsupialia 176 Martin-Bell-Syndrom 692 Mas (s. Proteinkinasen) 232 Mastzellwachstumsfaktor (MGF) 768 maternale Effekte 587, 592, 602, 610, 623 maternale Gene 592, 596ff, 601, 603, 607, 611, 651 maternales Imprinting (genetische Prägung) 259f, 452, 512, 514, 518 MAR (matrix attachment region) 281f Mariner 351 MAT-Locus (s. Hefe; s. Paarungstyp) 538ff matrokline Vererbung 173
Maturase 318f Maus – Chimäre 203, 649 – Genom 420, 629, 759 – Imprinting 512f – Modellorganismus 398 – Mosaike 203, 265, 761 – transgene 5, 267, 420f, 686, 697, 726, 748, 752f, 756, 758ff – X-Inaktivierung 267 Maxam-Gilbert-Methode 331, 333 Maxille 609 MCM (minichromosome maintenance complex) 38, 47ff, 578 M-Cytotyp 345 Medulla oblongata 622, 737 Meerschweinchen 225 Megaspore 219 Mehrfaktorenkreuzung 441 Meiocyten 185ff, 465, 468 Meiose 183ff – Abweichungen 384, 466 – achiasmatische 189 – Chromatidentrennung 629 – Chromosomenverteilung 186, 247, 465f, 500, 669f – Homologentrennung 191 – Nondisjunction 384, 465, 466, 468, 668 – Paarung von Autotetraploiden 382f – Segregation 382, 475, 477 Meis (myeloid ecotropic viral integration site) 646 Melanin 458, 675f Melanom 703, 705 Membranproteine 455, 678 memory-Zellen 552f Mendel’sche Regeln 430ff, 501 – Dihybride Kreuzung 438, 453, 457, 468 – Erweiterungen 445ff – Punnett’sches Quadrat 432, 435, 438, 459, 464, 484 – Statistik 441ff – Wiederentdeckungen 166, 225, 455, 483 Mensch 225, 655ff, 780 – Chromosomen 232, 243f, 667ff – Embryonalentwicklung, 508, 629ff – Evolution 306, 426, 500, 772, 774, 778f – Genom 44 – Genpool 5, 773 – Lebenszyklus 630 Menschenwürde 508, 776 mentale Retardation 659, 669, 676, 707f Meristem 565, 568, 571, 574, 576
Merkmal, genetisches – Abgrenzbarkeit 431 – Expressivität 452f, 501, 680 – Penetranz 447, 452f, 501, 659, 680, 696, 768 merodiploid 115, 121, 144 meroistisch 588 Mesenchym 507, 510, 641, 644f Mesocricetus aureatus 225 Mesoderm 566, 581, 585, 626, 632 Mesothorax 609, 615 Metalloprotease 709 Metallothionein 532 Metamorphose 583, 616f, 619 Metaphase 34, 163, 166, 179ff, 187, 210, 220, 227, 231f, 245, 258, 279, 284, 286 Metathorax 609, 615 Metazentrisch 226f, 246, 253, 667 Methionin 61f, 65, 93, 107, 149, 173 Methotrexat 530ff Methyladenosin (m1A) 84, 300 Methylase 40, 516 Methylcytidin (m3C) 300 Methylcytosin 375, 421 Methylguanosin (m1G) 300 Methylguanosin (O6G) 405 Methylierung 74, 405 – Abwehrmechanismus 118 – DNA 260, 405 – Epigenetik 515f, 518ff, 767 – fragiles X-Syndrom 693 – Replikation 374, 531 – X-Inaktivierung 269 Methylinosin (m1I) 300 Methylmethansulfonat (MMS) 407 Methyltransferase 405, 520, 757f Met-tRNA 94 MEX-3 (muscle in excess) 581 MGF (Mastzellwachstumsfaktor) 768 MHC – major histocompatibility complex 712f – muscular heavy chain myosin 314 Migration 484, 498f, 501, 720 Mikroarray 782ff Mikrofibrillen 168, 598, 680, 682 Mikronukleus 292, 294, 523ff, 560 Mikrophthalmie 450, 452, 641f Micropia 351 Mikrosatelliten 238, 478f, 482, 502, 662ff, 667, 715, 775 Mikrosomen 417f Mikrosporen 219 Mikrosporozyten 220 Mikrotubuli1 63, 168, 224, 227, 229, 231, 313, 383, 585, 736, 748
Stichwortverzeichnis Mikrowellen 395 Milben 347 Milch 506, 554, 759, 767f Miller-Spreitung 70, 72, 83, 91, 176f, 287, 293ff, 536 Minichromosom 236, 243 Minimalmedium 106f, 149 Mirabilis jalapa 171, 173, 446 miRNA (microRNA) 521f mismatch Reparatur 40 Missbildungen 637f, 639, 641f missense Mutation 372f, 681 Mitf (microphthalmia-associated transcription factor) 450ff, 642 Mithramycin 243, 286 Mitochondrium 7, 167, 170f – genetischer Code 65 – Genom 7, 171f Mitogene 209, 211, 730, 735 Mitomycin 409, 419 Mitose 178ff – Chromatidencohesion 181 – Chromatidentrennung 181f, 629 – Hemmung 383 – Kontrollpunkte 280, 212f – monozentrische 259 – Nondisjunction 371 – postmeiotische 524 – Rekombination 188, 204, 207, 591 Mitteldarm 585f mle (maleless) 263 MMS (Methylmethansulfonat) 407 MMTV (mouse mammary tumor virus) 357 MNNG (N-Methyl-N’-nitro-N-nitrosoguanidin) 403, 407 Modifikation – posttranskriptionell 299 – posttranslational 311, 313, 330, 781 MODY (maturity onset diabetes of the young) 711, 714 mof (males-absent-on-the-first) 263 mom (more mesoderm) 581 Monoamin-Oxidase (MAO) 738 Mönchsgrasmücke 717, 720ff Mongolismus 669 monohybride Kreuzung 434, 437 MONOPTEROS (MP) 570 Monosomie 245, 381, 386, 667f, 670 monözisch 431 Morgan-Einheit (cM) 468 morpheus 780 Morphogen 598f, 602ff, 607, 610, 632 Morphogenese 127, 566, 569, 573, 603 morphogenetische Furche 623, 625 Morpholinos 653f Morula 203, 269, 508, 630f, 635
MOS (Moloney murine sarcoma viral oncogene) 703 Mosaik 202ff, 220, 265, 779 MP (MONOPTEROS) 570 M-Phase 43, 178, 208, 220f mRNA 65ff, 81ff, 144ff, 300ff msl (male specific lethal) 262f, 470 msl3 (male-specific-lethal 3) 263 Msx2 (msh homeo box homolog 2) 642 Mücke 225 MUD (Machado-Joseph-Erkrankung (= SCA3) 693f Mukoviszidose 377, 426, 678, 680, 715, 776 Müller’sche Gänge 649f multifaktorielle Vererbung 447, 456 Multigenfamilien 300, 309f, 313f, 542 – Evolution 306, 423 – Globin-Gene 301ff – Hox-Gene 616f, 633 – Kristallin-Gene 643 – Pax-Gene 623 – Tubulin-Gene 313ff – VSGs (variable surface plycoproteins) 542 multiple Allelie 449ff, 457 Multiple Sklerose 482 multiple wing hairs (mwh) 470, 620 multipotent 504, 510 Multiproteinkomplex 86, 181, 263, 542 Mumps 89 Musa sapientum 382 Mus domesticus 350 Mus musculus 7, 30, 225, 232, 237f, 351, 417, 478, 529 Mus spretus 232 Musca domestica 225 Muscarinrezeptor 749 Muskeldystrophie – Becker 689ff – Duchenne (DMD) 417, 662, 689ff – Gen 689f Muskelmyosin 314 Muskelzellen 314, 507ff, 689, 709 Musterbildung 566, 568f, 570, 600, 606, 618, 620, 645f Mutabilität 337 Mutagen – chemische 120, 156, 388, 401f, 405, 407, 411, 641 – krebserzeugend 410, 418 – Strahlenwirkung 3, 5, 59, 398f, 401f, 411, 422, 641 – Testsysteme 416, 418ff – Transposon 337f Muta-Mouse 420 Mutation
– Basensubstitution 373ff, 404, 416, 418f, 698, 701 – dynamische 376, 692 – Häufigkeit 340, 374, 398, 403, 415 – homöotische 576f, 615f, 618 – hot spots 132 – Klassifikation 372f – konditionale 740f, 761f – letale 363, 397, 672 – missense 372f, 681 – mitochondriale 317 – nonsense 336, 372f – Rasterschub (frame shift) 373 – Rate 360, 374, 398, 421ff, 705 – somatische 371, 547, 552, 574, 675, 706, 772 – Spektrum 402, 415 – spontane 374ff, 421, 426 – stille 373 – strahleninduzierte 397ff – Translokation 372, 393f – Transposon 336ff Mutator-Gene 702, 707, 715 mutD 374 mwh (multiple wing hairs) 470, 620 MYB (myeloblastosis viral oncogene) 572, 574, 703 MYC (myelocytomatosis viral oncogene) 210, 312, 326, 702f, 715 Mycel 217f Mycobacterium leprae 110 Mycobacterium tuberculosis 110 Mycoplasma genitalium 106, 110 Mycoplasma pneumoniae 109f Mycoplasma pulmonis 110 Myoclonus-Dystonie 452 Myoglobin 305f Myosin 168, 314 Myostatin 768 Myotom 632 myotone Dystrophie (DMPK) 694
N N (Notch) 326, 581ff, 620, 624f, 736, 751f, 758 N-Acetyl-D-glucosamin 447 N-Acetyltransferase 88, 263, 270, 311, 421 Naevi vasculares 208 Nagasaki (Strahlungseffekte) 399f Nahrungspflanzen 387, 459, 491 Nährzellen 585, 588f, 596, 598, 600, 602f nanos (nos) 599f, 603ff, 608f NAT1 (N-Acetyltransferase 1) 88
835
836
Stichwortverzeichnis Naturfaser 314 Neisseria meningitidis 110 Nematoceren 258f Neocentromer 234, 380 neomorph 371, 449f, 675 NER (Nukleotid-Exzisionsreparatur) 409, 412f, 708 Nervenwachstumsfaktor 734 Netzhaut 641 Nervenzellen 306, 505, 622, 633, 677 Neuralleiste 633f, 641 Neuralplatte 633 Neuralrohr 633ff Neuraminidase 677 Neuregulin-1 (NRG1) 756 neurodegenerative Erkrankung 746ff Neurodermitis 709 Neurofibromatose 88, 705, 736 Neurofibromin (NF1) 735f Neuroglobin 305f Neuropeptid Y (NPY) 744 Neurospora crassa 7, 59, 216, 225, 474 – Lebenszyklus 217 – Mitochondrien 171, 317 – Mutationen 417 – Ascosporenanalyse 200f, 474ff Neurotransmitter 509, 732, 737, 740f, 746, 758, 774 Neurulation 626, 633f Neutronenstrahlung 396 NF1 (Neurofibromatose Typ I; Neurofibromin) 88, 705, 735f N-Gen (s. l-Phage) 153 NGF (Nervenwachstumsfaktor) 209 N-Glycosidbindung 331, 404 N-Glykosylverbindung 375 nichthomologe Paarung 557, 698 Nicastrin 752 Nick Translation 101 Nicotiana tabacum 225, 382 Niemann-Pick-Krankheit 677 Nikotin 638f Nitrosoguanidin 403, 405, 407 NLS (Kern-Lokalisationssignal) 696 NMDA (N-Methyl-D-Aspartat) 731ff, 757 N-Methyl-N’-nitro-N-nitrosoguanidin (MNNG) 403, 405, 407 Nondisjunction384, 465, 466, 468, 668 nonsense Mutation 336, 372f NOR (nucleolus organizer region) 176, 228, 293f, 307 Normalverteilung 441ff, 481f, 662 Northern-Blot 161, 562, 716 Notch (N) 326, 581ff, 620, 624f, 736, 751f, 758 Notophthalmus 248f,309f
notochord (s. Chorda dorsalis) 632 NPY (Neuropeptid Y) 744ff N-ras (s. Oncogene) 702f NRG1 (Neuregulin-1) 756 NTS (non-transcribed spacer) 70, 72, 75, 289ff Nucleus caudatus 695 nudel (ndl) 600 Nuklein 21 Nukleinsäure 21, 23, 58, 60, 63, 65, 93, 134, 161, 237, 285, 355 nukleoläre Dominanz 290, 381 Nukleolus 84, 167, 176f – extrachromosomaler 295, 528 – Organisator 228 – rDNA 176 – Riesenchromosom 177 – snRNAs 74 Nukleoproteinfibrillen 195f, 271, 277 Nukleosid 22f, 63, 66 Nukleosom 272ff – Atomstruktur 274f – Core 80, 272ff – Kette 276f – Organisation im Chromosom 276 – Positionierung 273 – Röntgenstruktur 273, 276 – Struktur 80, 276, 327 – Verkürzung der DNA 276 Nukleotid 22f, 66, 322, 331f, 372, 374, 404, 409, 412, 549, 708, 783 Nukleus (s. Zellkern) 167, 280 Nullallel 449, 514 Nullhypothese 442ff, 482 Nullisomie 386 Numerator 592ff
O Oberflächenglykoprotein 356 OCA (oculocutaner Albinismus) 675 ochre Mutationen 61 Oc Mutanten 147f Oct4 (s. Transkriptionsfaktor) 631 offener Leserahmen 107, 109, 339 Okazaki-Fragment 36, 38, 45, 49ff, 235, 377 Oktantstadium 569f Oligonukleotid 49, 102, 536, 561, 783 Olivomycin 286 OMIM (online Mendelian Inheritance in Man) 50, 675 Ommatiden 453, 621, 623, 625, 643 Ommochrome 453, 455 Oncogene 336, 359f, 702ff – Carcinombildung 703f
– Dysfunktion 708 – Tumorentstehung 212, 705, 708, 718 – virale 359f Oncovirus 357, 360 Ontogenese 169, 265, 292, 302, 304f, 308, 314, 371, 392, 505, 559 Oocyte – Drosophila 588f, 596, 598, 600, 602f, 608 – Maus 269 – Mensch 648f – Xenopus 82, 295, 297 Oogenese 584, 588, 630f, 671 Oogonie 269, 588 opal Mutationen 61 Operator 136, 142, 146ff, 152, 155ff Operon 121, 142, 144ff, 152, 155 Opsin 774 Oram-Holt-Syndrom 637f Orang-Utan 225, 779f ORC (origin recognition complex) 38, 47, 49, 534 ORF (open reading frame) 107, 136, 343, 348ff, 781 Organellen 16, 164, 167, 170f, 173, 175, 313, 317, 319f Ornithincarbamyltransferase (OTC) 691 ortholog 414, 423, 517, 617 Oryctolagus cuniculus 225 Oryza sativa 225 oskar (osk) 600 Osteosarcome 705 OTC (Ornithincarbamyltransferase) 691 Ovar 534, 589, 703 Ovariolen 588f Ovis aries 225 Ovulation 648, 776 oxidativer Stress 109 Oxigenase 318 8-Oxoguanin 413
P p15 p16 p18 p19 p21 p27 p34 p53 p57 p110
211 211 211 211 211, 213, 702, 704 211 705 213, 221, 327, 427, 706f 211 705f
Stichwortverzeichnis P1-Phage 124, 135 Paarregelgene 609ff, 614f Paarung – meiotische 164, 189, 382f – somatische 191, 252 Paarungslücke 252f, 390 Paarungstyp 538f, 540ff, 591 Pachytän 186, 189, 191, 234 paired (pd) 211, 612, 623 Palindrom 69, 86f, 159, 241, 557 Panda 488 Pankreas 508, 510f, 703, 710f, 713, 769 Panmixie 483, 488 Pan troglodytes 225 par (partitions defective) 581 PAR (pseudoautosomale Region) 691 Paradigma 16, 739 Paralog 414, 423, 616 Paramyxoviren 89 Parascaris equorum 381, 535f Parasegmente 367, 609f, 614f Parasiten 109, 133, 220, 355, 495, 542ff, 578 Parasomnie 726 Parentalgeneration 399, 432, 435, 480 Parkin (PARK) 753ff Parkinson’sche Krankheit (PARK) 509, 718, 747f, 753ff, 758 Parsinomie 306 Pasteurella multocida 110 passenger Proteine 231, 249 Pätau-Syndrom 668 patched (ptch) 646 paternal 259f, 379, 452, 512, 514, 516ff, 581, 626, 629, 740, 778 Pax-Gene (paired-box) – Pax2 642f – Pax3 449 – Pax6 449, 453, 623, 625, 641f, 774 PAZ-Domäne (Piwi-Argonat-Zwille) 521 pb (proboscipedia) 615 PCNA (proliferating cell nuclear antigen) 38, 47ff, 50, 415 PCR (polymerase chain reaction) 18, 99f, 102f, 135, 137, 288, 427, 478f, 522, 661f, 664, 716, 761, 775f pd (paired) 211, 612, 623 PDGF (platelet-derived growth factor) 209, 703 pebf (pre-B cell enhancing factor) 109 P-Element (s. Transposon) 139, 343ff, 349, 355, 364ff, 731, 781 pelle (pll) 600, 607 pen (Penicillin resistance) 417 Penetranz 447, 452f, 501, 659, 680, 696, 768
Peptidylbindestelle 94 Peptidyltransferase 90f, 95f Peptidyl-tRNA 96 Perianth 574 period (per) 124, 723ff, 727 Perithecium 217, 219 Perivitellinflüssigkeit 607f perizentrisch 392f, 691 Permease 145ff Peroxidase 562 personalisierte Medizin 772 Pestizid 420, 755 Petalen 574, 577f Peter’s Anomalie 641f Petunie 522 P-Faktor (s. Transposon) 337, 343ff, 348f, 351f Pferd 225 Pferdespulwurm 535 Pflanzen – Alloploidie 382 – Arabidopsis 7, 225, 288, 447, 566ff – B-Chromosomen 258 – Differenzierung 568ff – Entwicklung 567ff – Hybrid 5, 190, 384, 430f – Schädlinge 459, 765 – Zucht 6, 174, 381f, 384, 387f, 456, 458, 493 Pflaume 3, 382 PGK1 (Phosphoglyceratkinase) 691 ph1 (l(1)pole hole) 600 PHABULOSA (PHB) 574 Phagen 115ff – filamentöse 116, 118 – Genom 42, 45, 64, 116ff, 125, 130, 152, 154, 170, 193 – ikosaedrische 116 – Kopf 42, 45, 117, 123ff, 152, 154 – l (Lambda) 7, 30, 119ff, 156f, 341, 595 – M13 7, 116, 118, 135 – P1 73, 117, 121ff, 135, 267f, 581 – fX174 7, 42, 45, 116, 118, 131 – T2 7, 31, 60, 116, 124f, 141, 417 – T4 7, 42, 30, 64, 103, 116, 118f, 124ff, 129ff, 142, 375, 415 – T6 7, 124 – temperente 116, 117 – virulente 116 Phagocytose 462, 547, 554 Phänokopie 14, 17, 637f Phänotyp 10, 13f, 129, 145, 172f, 204, 336, 436f, 451, 467, 736, 768 Pharynx 581 Phaseolus multiflorus 431, 447 PHAVOLUTA (PHV) 574
PHB (PHABULOSA) 574 Phenylalanin 61f, 63, 149,152, 299, 485, 676f, 699, 741 Phenylalanin-Hydroxylase 676 Phenylketonurie (PKU) 485, 676, 773, 776 Phenylpyruvat 676 Pheromon 539 Philadelphia-Chromosom 702 Phloem 571 Phocomelie 636 Phoenicurus phoenicurus 720 Phosphat-Zucker-Rückgrat 27 Phosphodiesterbindung 23, 41, 66, 76f, 92, 159, 323, 331, 404 Phospholipase C (PLC) 749 Phosphoribosyl-Anthranilat-Isomerase 149 Phosphoribosyl-Anthranilat-Transferase 149, 533 Phosphorylierung 209f, 221, 276, 311ff, 323, 539, 705, 712, 728, 735 Photobacterium profundum 110 Photolyase 411f Photoreaktion 395f, 409 Photoreaktivierung 411f, 782 Photorezeptor 621ff, 641, 723, 774 Photosynthese 173f PHV (PHAVOLUTA) 574 Physarum 87, 179 Phytohormon 109, 568, 570 PIE-1 (pharynx and intestine in excess) 581 Pigmentierung 336, 451, 522, 627, 707 Pigmentzellen 455, 621f, 633 Pilin 111 Pilus 111, 114 Pilzkörper 729f PIN1 (PINFORMED) 570 Pinus ponderosa 225 pipe (pip) 600 Pisum sativum 225, 431, 433f, 447 PITX-Gene (paired-like homeodomain transcription factor) – PITX2 642 – PITX3 642f PKA (protein kinase A) 728, 731, 734ff PKCC (Protein Kinase Cg) 746 PKU (Phenylketonurie) 485, 676, 773, 776 Planaria torva 225 Plasmazelle 543, 545, 550, 553, 556, 558 Plasmid 111ff – F-Plasmid 111ff, 122 – Ti Plasmid 115, 765 Plastid 7, 16, 164, 167, 170f, 173ff, 220
837
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Stichwortverzeichnis Plastom 170, 175 Plazenta 268, 462, 512, 514, 554, 631, 636 PLC (Phospholipase C) 749 Pleiotropie 430, 462f, 501, 678 Pleurodeles waltlii 247, 272 pll (pelle) 600, 607 Ploidisierung 379, 381, 387, 528 pluripotent 507f, 560 Pneumococcus pneumoniae 20 poky (s. Mitochondrium) 317 pol (polymerase; s. Transoposon) 339, 355ff polarer Effekt 148f, 336, 340 Polarfibrillen 181f, 227 Polarität 581, 588 Polaritätszone 644 Polfaser 181 Polkörper 580, 629, 631, 648 Pollen 172, 174f, 219f, 387, 434, 447, 709, 766 – Entwicklung 218 – Kern 219 – Schlauch 174, 218f – Sterilität 174 Pollo 461 Polplasma 585 Poly[A]-Schwanz (s. Transkription) 82f, 86, 161, 307, 309f, 558 Polyadenylierung82, 86, 171, 346, 349 Polycistronisch 9, 147ff polycyclische Verbindungen 408 Polygenie 456f, 459, 501 polyhybride Kreuzung 437 Polymerasen – DNA 36ff, 40, 45, 47, 49f, 66f, 99, 101f, 138, 192, 235, 288, 331, 349, 355, 374, 395, 404, 409f, 412ff, 708, 776 – RNA 65ff, 69f, 73, 75, 77ff, 81, 84, 86,98, 104, 118, 146ff, 150ff, 154f, 276, 290f, 296f, 320ff, 327f, 339, 346, 352ff, 522f, 561 Polymerasen-Ketten-Reaktion (PCR) 18, 99f, 102f, 135, 137, 288, 427, 478f, 522, 661f, 664, 716, 761, 775f polynomische Entwicklung 487 Polynukleotidphosphorylase 63 Polypeptid 61, 315, 356, 548 Polyploidie 381ff, 385, 667 Polyposis 705 Poly(ribo)somen 95f, 693 polytän 249f, 255ff, 280, 283, 295, 390, 393, 528, 534, 596 Polzellen 585ff, 603 Pongo pygmaeus 225 POP-1 (posterior pharynx defective) 581 Populationsgenetik 482ff Porphyrie 500
Positionseffekt 255f, 280, 391f positionelle Information 566, 576, 599, 604f, 608 postreplikative Reparatur 413 Potentilla 11, 14f pr (purple) 120, 467ff, 487 Prader-Willi-Syndrom 511, 517 Prädisposition 692, 702, 705, 708f Prägungszentrum 518 Präimplantationsphase 511, 775 Prämutation 693 pränukleolärer Körper 176 Presenilin (PS) 732, 748f, 751f, 758 Primase 36ff, 48ff PriA 415 Primitivknoten 632f Primitivsteifen 631ff Primordium 572, 576 Primosom 415 proboscipedia (pb) 615 Profilin 598 Proflavin 403, 408, 419 Prokaryoten 67ff, 106ff, 141ff Prolin 61f, 107, 312, 744, 757 Prometaphase 180, 229 Promotor 142ff, 320ff Pronukleus 511, 523, 648 proof reading (s. Korrektur) 374 Prophage 116ff, 152, 156 Prophase – Chromosom 186, 227 – Meiose 185, 188f, 192, 249 – Mitose 180 Protamin 272 Protanopie 486 Protease 40, 181f, 732 – Alzheimer’sche Erkrankung 749f, 752 – Apoptose 212f – Entzündung 709 – Transposon 339, 346 – RecA-Protein 156, 414 – Zellzykluskontrolle 208 Protein – a-Helix-Struktur 156ff, 275, 302, 316, 321, 324f – b-Faltblattstruktur 316f – fibrilläre Proteine 314, 317, 547, 748, 751f, 755 – ribosomale 70, 73, 171, 290, 692, 730f – Struktur 86, 138, 232f, 317 – Synthese 58ff, 65, 89ff, 93f, 97, 152, 228, 317, 406, 593f, 596, 693, 701, 708, 734 Proteinkinasen – Protein Kinase A (PKA) 728, 734ff
– Protein Kinase Cg (PKCC) 746 – Signalkette 724, 728, 730, 734ff – Zellzyklus 209, 212 Prothorax 609, 615 Protonen-Strahlung 396 Protoplasma 165 Protoplasten 11, 504, 765 Protopterus aethiopicus 7 prototroph 107, 417 Protozoen 6, 8, 87 Provirus 347, 356ff, 360 prozessierte Pseudogene 348, 354 PS (Presenilin) 732, 748f, 751f, 758 pseudoautosomale Region 422f, 691f, 777 Pseudogen 268, 304ff, 310, 348, 352, 354, 423, 643, 662, 779 Pseudomonas putida 110 Pseudouridin 74, 84, 299f Psoralen 409 Psychose 659 ptch (patched) 646 Pteridinfarbstoffe 455 Puffs 251f, 255ff, 533f Pulsfeld-Elektrophorese 54, 56 Pulsmarkierung 249 pumilio (pum) 600, 603 Punktmutation 130, 222, 372f, 402, 421f, 427, 479, 683, 689, 701f, 715, 732, 737, 748, 753f Punnett’sches Viereck 432, 435, 438, 459, 464, 484 Puppe 257, 583 Purkinje-Zellen 690 purple (pr) 467, 469 Purpura lupillus 379f, 381 Putamen 695 Pyrimidin-Dimere 411f
Q Q-Banden 243, 286 QTL (quantitative trait loci) 461, 481f, 736f, 767 Quadrivalent 382f quantitative Merkmale 481, 767 Querscheiben 249ff, 252, 254ff, 392, 527, 533f Quinacrinfärbung 243
R RACE (rapid amplification of cDNA ends) 102f Rachitis 684
Stichwortverzeichnis RAD-Gene (Hefe) 196, 411 – RAD1 195 – RAD27 378 Radikal 396f, 403 Radioisotope 285, 396 radish (rad; Drosophila) 728 Rana pipiens 225, 505 Raps 765 RAS (rat sarcoma viral oncogene) 210, 702ff, 715 Ras-Map-Kinase-Signalkette 583, 735 Ras-Raf-Signalkaskade 608 Rasse 446, 492 Rasterverschiebung 701 Ratte 8, 75, 179, 225, 288, 306, 310, 328, 478, 562, 661, 745 Rattus norvegicus 225, 297 RB1 (Retinoblastom-Gen) 704ff R-Banden (s. Chromosomen) 243, 279, 286 RBM (RNA-binding motif) 692 rDNA 70ff, 288ff, 296ff RdRp (RNA-dependent RNA polymerase) 522 Reaktionskinetik 29ff, 237, 240 – 1. Ordnung 240f – 2. Ordnung 29, 240f – bimolekular 29 – DNA-Renaturierung 27ff, 53, 241, 525 – monomolekular 241, 342 – Reaktionskonstante 29 Reaktionsnorm 14, 453 Realisatorgene 591, 596 real-time PCR 100, 716 Reassoziation 27 RecA 40, 112, 133, 156, 195f, 198f, 414f RecB 199, 415 RecC 199, 415 Reduktionsteilung 183, 185, 187f, 220, 261, 384 Regeneration 504 Regressionsanalyse 482 Reifefaktor 49 Reifeteilung 183, 185ff, 249, 465, 468, 648 Reifung (von mRNA) 82, 278, 310 reine Linie 431, 459, 471 Reis 3, 225, 288, 459, 765 Rekombination 107, 192ff, 374ff, 463ff, 662ff Renaturierung (s. Reaktionskinetik) 27ff, 53, 241 Reparatur 39f, 49f, 109, 188f, 220, 281, 347, 375, 391, 403, 405, 409, 411ff, 422, 706f
repetitive DNA 8, 17, 29ff, 53, 71, 108, 190, 224, 232ff, 242, 249, 258, 268, 284, 286, 288f, 292, 294, 337f, 341f, 349, 352, 373f, 376, 392, 478, 525ff, 536, 538, 557, 662, 726, 739 Replichor 107f Replikation 31ff, 374 – Basenanaloga 402ff – bidirektionale 35, 38f, 44, 47, 729, 744 – differenzielle 538 – Faktor 47ff, 280 – Fehlerrate 36, 374, 415 – Geschwindigkeit 38, 45, 414 – Hemmung 406, 531 – Histonsynthese 309 – Initiation 36, 46, 534 – interkalierende Verbindungen 408 – Kontrolle 707 – Mechanismus 35, 42, 125, 224, 295, 357, 374 – origin 35 – Replikationsauge 36f, 41, 47 – Replikationsblase 36f, 54 – Replikationsgabel 36ff, 41ff, 46, 49, 54, 415 – rolling circle Mechanismus 42, 45, 111f, 114, 117, 122, 125, 295f – semikonservative R. 3, 5, 20, 32, 34f, 193, 516 – Startpunkt 35, 38f, 39, 46f, 49, 109, 112, 293, 528 – Telomer 49ff Replikon 280 Replisom 37, 39 Reportergen 138, 420ff, 739, 745, 759, 781 Reproduktionsmedizin 764, 772, 776 Repulsion 187 Resistenz 115, 341, 369, 405, 459, 495, 530, 532, 684, 714, 761, 768 Restriktionsanalyse 159f, 695 Restriktionsenzym 102, 104, 137, 240 Restriktionsfragmentlängenpolymorphismus (RFLP) 664 Restriktionspunkt 178, 208f, 211ff RET (receptor tyrosine kinase) 703 Retikulocyten 544 Retina 451, 507, 627, 640ff, 704, 738, 774 Retinoblastom (RB1) 209, 221, 417, 704ff Retroelemente 240, 357 Retroposon 236, 337, 341, 348ff, 352, 354 Retrotransposon 337, 341, 345ff, 352, 355, 357f Retroviren 355ff
REV1 414, 416 REV3 414, 416 REV7 414, 416 reverse Transkriptase 65, 102f, 118, 236, 240, 339, 346, 348ff, 353ff, 357f Reversion 129, 336, 344, 364f, 417, 447, 601 Revertanten 365, 416ff rezessiv 246, 363, 399, 430, 432, 449, 451, 471, 497f, 501, 601, 674, 689, 704, 706f reziproke Kreuzung 345, 435 Reziprozitätsregel 432, 501 Rf (restore fertility) 174f RFLP (RestriktionsfragmentlängenPolymorphismus) 664 Rhabdomer 622 Rhesusaffe 225 Rhesusfaktor 496 Rhynchosciara angelae 257, 533f Ribonuklease – Ribonuklease H 346 – Ribonuklease III 73, 299 – Ribonuklease P 298 Ribonukleinsäure (RNA) 21, 23, 52, 59 Ribonukleoproteinpartikel (RNP) 66, 80, 263, 521 Ribose 23, 66, 74, 76, 82, 92, 653 Ribosom 9, 63, 73, 76, 91ff, 150, 189, 290f ribosomale DNA (rDNA) 288ff, 296ff ribosomale RNA (rRNA) 70ff Ribosylierung 276, 311 Ribothymin 300 Riesenchromosomen 251f, 254f, 538 Rifampizin 68 rII Gen (s. Bakteriophage) 9, 127, 129ff, 142, 254, 375 Ringchromosom 131, 674 Ringklemme 47 RISC (RNA-induced silencing complex) 521 RMP (replication-mediated proteins) 415 RNA (Ribonukleinsäure) – chemische Instabilität 66, 370 – Editing 87, 89 – Interferenz (RNAi) 520ff, 561, 653, 771 – Maturase 318f, 330 – Spleißen 82, 88, 280f, 373, 378 – Transkription 65ff, 144ff, 320ff – Viren 355ff RNA-Polymerase – Core-Enzym 67 – RNA-Polymerase I 70, 73, 81, 293
839
840
Stichwortverzeichnis – RNA-Polymerase II 75, 79, 81, 84, 86, 320ff, 327f, 346, 352f – RNA-Polymerase III 75, 77ff, 84, 296f, 339, 353f RNase H 38, 49, 102, 339, 348ff, 357f RNP (Ribonukleoproteinpartikel) 66, 80, 263, 521 Robertson’sche Translokation380, 512 Roggen 3, 225, 387, 461 rolling-circle Mechanismus (s. Replikation) 42, 45, 111f, 114, 117, 122, 125, 295f Röntgenstrahlung 388, 395ff Rosaceae 11 rosy (ry) 364, 472 Rot-Grün-Farbenblindheit 486 Rotschwänze 720f Rous Sarcoma Virus (RSV) 356 roX (RNA-Gen) 263 R-Plasmid 115 R-Punkt 209f rRNA – 5 S 8, 73, 76ff, 93, 240, 289, 296f, 300, 311, 330, 353 – 5,8 S 70, 74, 289, 296 – 16 S 73, 95, 292 – 18 S 70, 74, 289, 292 – 23 S 70, 73, 76, 292 – 28 S 9, 70, 74ff, 289, 292, 296f – autokatalytische Eigenschaften 76f, 83f, 298, 319, 781 real-time PCR 100, 716 RTS1 (replication termination site) 49 Rubinstein-Taybi-Syndrom 736 Rückkopplung 314, 318f, 326, 573f, 621, 723ff, 734f, 740, 742, 758 Ruhekern 178 Ruhezentrum 569ff runt (run) 470, 592, 612 RuvC 415 Rus 415 rutabaga (rut) 728, 730 rx (retinal homeobox) 642 Ryanodin-Rezeptor (RYR1) 768
S S1-Protein 177 S9-Mix 418 Saccharomyces cerevisiae – Aktin-Gen 314 – Cytochrom b 318 – HO-Gen 538 – Lebenszyklus 215 – RNA-Polymerase II 81 – SIR-Gene 540
Salamander 225 sal (spalt) 620 Salmonella typhimurium 7, 110, 122, 152, 416, 418 Samenpflanze 434, 439 Sammelchromosom 535 Sandhoff-Syndrom 677 Sanger-Methode 136, 331 SAR (scaffold attachment region) 281f Sarkomaviren 357 Satelliten-DNA 30, 228, 232, 234, 237, 238f, 242 Saubohne 225 Säugetier – Dosiskompensation 264 – Evolution 268, 305, 426, 500, 515, 617, 629, 643, 772, 779 – Globin-Gene 301ff – Immunsystem 543ff SBMA (spino-bulbare Muskelatrophie) 693 SC (synaptonemaler Komplex) 189ff SCA (spino-cerebellare Ataxie) 693 scabrous (sca) 624 scarecrow (scr) 571ff scarlet (st) 456 SCE (Schwesterchromatid-Austausch) 419 Schaf 225, 505, 507, 766, 768 Schafgarbe 11, 13 Schilddrüsenkrebs 401f Schildlaus 259, 261 Schimmelpilz 59, 164, 200, 216f, 474 Schimpanse 225, 360f, 422, 774, 779f Schistosaccharomyces pombe 75, 236 Schizophrenie (SCZD) 659, 718, 755ff, 773f Schlafkrankheit 87, 542f Schlafstörung 636, 726f Schmelzkurve 28, 53 Schmetterling 225, 246, 314, 493, 763 Schweißdrüse 265, 678 Schwesterchromatiden 164, 188, 200, 204, 227, 232, 284, 292, 419 Schwimmdichte 32f, 193f, 237ff, 289 Sciara coprophila 257ff, 533f SCID (severe combined immunodeficiency) 691, 771 Scr (sex combs reduced) 327, 615 scr (scarecrow) 571ff scute-a 592 Secale cereale 225, 387, 460f Securin 181f Seeigel 75 Segmentierung 586, 608, 610 Segmentpolaritätsgene 609f, 614ff, 619
Segregation 73, 181, 183, 200ff, 304, 382, 384, 438, 474, 475, 477, 501, 512 Sehnerv 641 Seidenspinner 225, 314f Sekretase 749ff Sekundärstruktur 84f, 88, 90, 298ff, 326, 330, 353, 377, 427 Selbstbefruchtung 174f, 389, 431, 434ff, 439f, 458, 538, 577f Selektion – Allelfrequenz 491 – disruptive 492f – gerichtete 492 – Koeffizient 495, 497, 773 – natürliche 490f, 493, 498 – stabilisierende 492 – Vorteil 677, 680 Selektorgene 615f Senfgas 403, 405 Separin 181f Serin 61f, 65, 150, 276, 311f, 315, 317, 607, 703f Serizin-Gene 315 Serotonin 88, 737ff, 741, 758 Serotonintransporter (SERT) 738 Serrate (Ser) 620f Sertolizellen 649 Sequenzierung (DNA) 5, 107, 109, 306, 331f, 414, 660ff, 750 sevenless (sev) 624 Sex-combs-reduced (Scr) 327, 615 sex lethal (sxl) 262f, 590ff Sex-Plasmid 112 Sexualhormone 649 Sexvesikel 226 Sh (shrunken) 417 Shh (sonic hedgehog) 632ff, 639, 642, 645f Shigella flexneri 110 Shine-Dalgarno-Sequenz 93ff SHOOTMERISTEMLESS (STM) 573ff shortroot (shr) 571f SINEs (short interspersed nuclear elements; s. Transposons) 239, 337, 339, 348, 352ff, 662 SHOX (short stature homeobox) 692 Siamesische Zwillinge 659 Sichelzellenanämie 698, 773 s-Faktor 67f, 69 Signalpeptid 548, 558 Silencer 322, 516, 518, 540, 767 Signifikanz 443, 482, 665, 709, 711 sine oculis (so) 623, 625 singed (sn) 205f SIR (silent information repressor) 540 siRNA (small interfering RNA) 520ff, 561, 653
Stichwortverzeichnis SIS (simian sarcoma viral oncogene; s. PDGF) 702f sisterless (sis; Drosophila)470, 592f SIV (simian immunodeficiency virus) 357, 361 Sklerotom 632 SKN-1 (skin in excess) 581 smoothened (smo) 646 sn (singed) 205f snail (sna) 607 snake (snk) 600 SNCA (a-Synuclein) 745f, 753ff snf (sans fille) 594 SNP (single nucleotide polymorphism) 502, 662, 714, 757, 772, 782f snRNA (small nuclear RNA) 74, 81, 84f, 87, 177, 297, 309, 353f so (sine oculis) 623, 625 Sojabohne 3, 109 Solanum tuberosum 225, 382 Solenoid 277 Soma 169, 258f, 269, 437, 535ff Somazelle 81, 169, 258, 504, 535, 537, 600, 715 Somit 507, 626, 632ff sonic hedgehog (Shh) 632ff, 639, 642, 645f Sordaria brevicollis 200 SOS-Reparatur 410, 414f Southern-Blot 159ff, 562 SOX-Gene (SRY-box) – SOX2 642 – SOX3 692 – SOX9 692 spalt (sal) 620, 646 Spaltungsregel 437, 501 spätzle (spz) 600, 607 Spectinomycin 340 Speicheldrüsen 45, 96, 251ff, 257, 262, 294, 533, 584 Spermatocyten 247, 249, 259, 647f Spermatogonien 208, 258, 371, 399, 507, 519, 647f Spermatozoen 184, 258, 398, 512, 647, 657 S-Phase 164, 171, 178f, 183, 186, 209, 211f, 220, 227, 280, 310, 474, 705 Sphingolipoid-Stoffwechsel 448 Sphingomyelin 677 Spina bifida 635, 639 Spindel – Ansatz 187 – Apparat 181f, 220, 224, 229, 232, 313, 581 – Fasern 179, 181, 227, 284, 535, 581, 673 – Gift 420
– Kontrolle durch APC 181f – monopolare 260 – Pol 164, 166, 179ff, 187, 226f, 229, 231, 260, 465 Spinnen 314f, 680 spinocerebellare Ataxie 378 spire (spir) 600 spitz (spi) 624 Spleißen – autokatalytisches 76f, 83f, 319 – Cytochrom-b 318f – Globin-Gene 307 – Immunglobulin-Gene 558 – Mechanismen 77, 83, 320 Spliceosom 77, 83ff, 88 splicing (s. Spleißen) Sporen 200, 202, 216f, 417, 475, 568 Sporophyt 218 Sprachschwäche 736 Spross 568, 570ff, 574 – Achse 567 – Meristem 568ff, 573ff Spulwurm 225 Spumaviren 356f spz (spätzle) 600, 607 SRC (sarcoma viral oncogene) 703 SRF (serum response factor) 578 SRY (sex-determing region Y chromosome) 649ff, 691f SSB (single strand binding) 37f, 40, 45, 414f SSCP (single strand conformation polymorphism) 427 S-Sequenzen (s. Immunoglobuline) 557 st (scarlet) 456 Stammbaum – Analyse 659, 684, 775 – Familie 660, 675, 685, 695 – Forschung 659f – Kartierung 662ff – Symbole 660 Stammzellen 504ff – adulte 504, 510 – embryonale (ES-Zelle) 266, 504, 507ff, 560, 631, 761, 778 – erythroide 544 – hämatopoietische 544 – mesenchymale 510 – neuronale 507, 510 – retinale 507 – Ethik 507 Staphylococcus aureus 110 Startcodon 65, 149, 322, 373 Statistik 441f, 482, 665, 667 Staubblätter 574, 577f staufen (stau) 600ff
Sterblichkeitsrisiko (Atombombe) 400 Sterilität 174, 344f, 382, 384, 471, 672 Sternorrhynchi 259 Steroidhormone 323f Stickoxid (NO) 690, 755 Stier 225 STM (SHOOTMERISTEMLESS) 573ff Stoppcodon 98, 150f, 319, 373, 593f, 701 Strahlenbelastung 398ff – Dosis 398 – Harrisburg 399 – Hiroshima 399f – Mutationsrate 360, 374, 398, 421ff, 705 – Tschernobyl 399, 401f Streptavidin 101, 279, 285 Streptococcus agalactiae 110 Streptococcus pneumoniae 110 Streptolydigin 68 Streptomycin 340, 417 Stress 68, 109, 121, 156, 341, 737, 739ff, 745, 755, 767 Strongylocentrotus purpuratus 7 Stylonychia mytilus 28, 30, 225, 524ff su (sugary) 417 submetazentrisch 227 Substantia nigra 753ff subtelozentrisch 227 Sucht 737ff, 743 Suicide-Enzyme 406 supercoiling 40ff Suppressor 458, 470, 544, 704ff Suspensor 569 Suszeptibilitätsgen 709f SV40-Virus 7, 321, 705 swallow (swa) 600ff Sylvia atricapilla 720 Synapse 735, 737f, 741, 749, 755ff Synapsis 183, 186 Synaptonemaler Komplex 189ff, 199f, 234, 585 synchron 217f, 223, 585, 587 syncitiales Blastoderm (Drosophila) 223, 263, 585f, 592f, 602, 607f, 610 Syncytium 601 Synergide 218 Synkaryon 523 Syntenie 629, 780 a-Synuclein (SNCA) 753ff
T Tabak 3, 103, 225, 382, 384, 765 Tabakmosaikvirus 64 TAF (TATA-box associated factor) 321 Tagesperiodizität 720
841
842
Stichwortverzeichnis tailless (tll) 608f, 611 TART-Sequenzen 235f TATA-Box 320ff, 327, 760 tau-Protein (Tubulin-assoziertes Protein) 751 Taube 225 Tautomerie 376, 403f Tay-Sachs-Syndrom 675, 677 TAZ1 (Telomerenprotein) 236 T-Bande 279 TBP (TATA-box binding protein) 320f, 323 TDF (testis determining factor) 649f, 692 Teilung – meiotische 186ff, 200, 214ff, 219, 230, 247, 259f, 295, 465, 474, 629, 649, 670 – mitotische 169, 183f, 205, 216, 218f, 465, 474ff, 523, 534, 581, 585, 617, 647, 657, 673, 685 – Spindel 200, 217, 219 Telomer 51, 190, 228, 234f, 388 Telomerase 51, 235ff Telophase 176, 180, 182, 187, 226, 229, 271 telozentrisch 226 Telson 599, 606, 608, 611 Teosinte 459, 461 Teratogen 636 Terminase 42 Termination – Codon 148, 151 – Faktor 69, 96 – Signal 66f, 69f, 150f – Sequenz 78 – Transkription 73, 77, 150f – Translation 65, 93, 96, 701 Tertiärstruktur 56, 78, 546 testis X-linked (Tsx) 268 Testkreuzung 466, 471 Testosteron 649f tet-on/tet-off System 759f tetR (Tetracyclin-Resistenz) 340, 760 Tetracyclin 115, 759 Tetrade 186f, 474 Tetradenanalyse 188, 200f, 473ff, 478, 629 Tetrahydrofolat 530f Tetrahymena 50f, 76, 83, 236, 294, 297f, 527 tetraploid 383 Tetrasomie 386 TFIII (s. Transkriptionsfaktoren) 77ff, 311, 324, 610 TFM (testicular feminization syndrome) 649
TGF (transforming growth factor) 620, 746 Thalamus 737 Thalassämie 328, 701, 754 Thalidomid 636ff Thermococcus kodakarensis 110 Thermus aquaticus 99 Thiobendazol 420 Thioguanin 222, 421f Thiouridin (s4U) 300 Thorax 584, 599f, 603, 609, 611, 615, 618 Threonin 61, 65, 107, 152, 312, 607, 733f Thrombocyt 510 Thymidinkinase (tk) 222, 533 Thymidylatsynthetase 531 Thymin 20f, 23f, 32, 373, 375f, 395f, 404f, 407f, 422, 530 Thymindimere 40 Thymus 543 Thyroidhormonrezeptor 703 Tierschutz 767 Tierzucht 764, 766, 768 timeless (tm) 723 Ti-Plasmid 765 tipsy (tps) 743 tk (Thymidinkinase) 222, 533 tl (toll) 607 tll (tailless) 608f, 611 TLS (Transläsions-Synthese) 415f T-Lymphocyten 543, 713 TMV (Tabak-Mosaik-Virus) 64 Tn3 (s. Transposon) 337, 351 Tn7 (s. Transposon) 340, 351, 765 Tn10 (s.Transposon) 337, 340, 351 TNFa (Tumornekrosefaktor a) 769 toll (tl) 607 Tollkirsche 765 Tomate 3, 225, 573, 575, 765 Topoisomerase 40 – Topoisomerase I 40ff, 44 – Topoisomerase II 40ff, 120, 191f, 232, 282 torso (tor) 599f, 608, 610 torsolike (tsl) 600, 608 Totipotenz 170, 504f, 507, 631, 778 toy (twin of eyeless) 623 TP53 (tumor protein p53) 705ff, 715 tra (transformer) 113, 590f, 596f Tracy 768 trailer-Sequenz 83 Transacetylase 145, 147f Transdetermination 618 Transdifferenzierung 510 Transduktion 121ff, 132, 143f, 288 Transferrin 755
transfer-RNA (tRNA) 58, 60f, 90f, 98, 297 Transformation 20 – Bakterien 132ff, 135f, 139, 199 – biolistische T. 765 – Säugerzellen 222 transformer (tra) 113, 590f, 596f transgene Mäuse 420, 697, 726, 759f Transition 372f, 422 trans-Konstitution 129 Transkription 66, 67ff, 70ff, 81ff – Einheit 70, 72f, 249, 326 – Elongation 69 – Initiation 66, 68, 70, 72, 78ff, 146, 148f, 152, 156, 291, 320, 323ff, 539, 593f – Mechanismus 66 – Termination 69f, 72f, 77f, 81, 150 Transkriptionsfaktor 322ff – Bindung an DNA 322ff, 327, 566, 578, 610, 702, 733, 737 – Homöobox 324, 573f, 578, 601, 603, 615f, 643 – MADS-Box 577f – Paarregel-Gene 609ff, 614f – TFIIB 82, 320ff – TFIIF 82, 327 – TFIIIA 77ff, 311, 324, 610 – TFIIIB, 77, 79 – TFIIIC 77, 79 Transläsions-Synthese (TLS) 415 Translation 89ff – Elongation 93, 96 – Initiation 93ff – Mechanismus 97 – Peptidbindung 92, 94f, 316 – Startcodon 65, 322 – Termination 65, 96f Translokation – balancierte 394, 673 – reziproke 391, 394, 673f TRANSPARENT TESTA GLABRA (TTG) 572 Transplantation 509, 606, 610, 619 Transposase 236, 340, 343ff, 364 Transposition 339ff, 343f, 348f, 364ff, 395 Transposon 336f – Bakterien 340 – Eukaryoten 341ff – Exzision 339, 344, 362, 364f – Funktion 355 – Integration 339, 341, 347, 358 – repetitive Sequenzen 343, 352ff – Struktur 339 Transversion 372f, 702 TRF (Telomerenprotein) 236 Trichlorfon 420
Stichwortverzeichnis trihybride Kreuzung 437 Trimethoprim 340f Trinukleotid-Wiederholungen 376f, 662, 694, 737 Tripelhelix 29 Triplett 58, 64f, 376 Triple-X-Syndrom (=Trisomie des XChromosoms) 671f Triplettcode 58, 63f, 93 Triploidie 191, 667, 671 Trisomie 372, 381, 386, 394, 667ff, 715, 748, 776 Triticale 387, 461 Triticum – aestivum (Weizen) 225, 382, 385 – monococcum 385 – speltoides 385 – tauschii 385 – turgidum 385 – ventricosum 460 Triturus 225, 239 Trivalent 191, 382f trk (trunk; Drosophila) 600 tRNA – Anticodon 58, 61, 63, 91, 96, 299 – Gene 107f, 297f, 353 – Methylierung 299 – Sekundärstruktur 299f – sterisches Modell 91 – TyC-loop 299 Trophectoderm 631, 635 Tropheryma whipplei 110 Trophoblast 514, 631 trpA (Tryptophan-Synthetase a) 149f trpB (Tryptophan-Synthetase b) 149f trpC (Phosphoribosyl-Anthranilat Isomerase und Indol-GlycerolphosphatSynthetase) 149f trpD (Phosphoribosyl-AnthranilatTransferase) 149f trpE (Anthranilatsynthetase) 149ff trpL (leader sequence) 149 trp-Operon 149ff, 155 trp-Repressor 156 trunk (trk) 600 Try (tryptophansynthetase) 417 Trypanosoma brucei 87, 337, 351f, 542f Tryptophan 61f – Biosynthese 149f – Repressor 149 – Stoffwechsel 150, 455 Tryptophanhydroxylase 738 Tryptophanoxygenase 455 Tryptophanpyrrolase 455 Tryptophansynthetase 64, 142, 149, 417 Tschernobyl 399, 401f Tsetsefliege 542
TsiX (Gegenstrang Transkript zu Xist) 266f, 516 tsl (torsolike) 608 Tsx (testis X-linked) 268 tTA-System 731, 739, 760 t-Test 482 TTG (TRANSPARENT TESTA GLABRA) 572 tube (tub) 600, 607, 633 Tuberkulose 659 Tubulin 182, 210, 313f, 383 tudor (tud) 600 Tumor – Bildung 211f, 705ff – familiäre Häufung 702 – Gene 359f, 362, 692, 702ff, 715 – Induktion 109, 708 – Oncogen 359f, 362, 692, 702ff, 715 – Prädisposition 692, 705, 708 – Suppressor-Gene 210, 213, 221, 237, 702, 704ff, 715 – Zelle 74, 237, 352, 529f, 704, 707 Tumornekrosefaktor a (TNFa) 769 Turgor 167 Turner-Syndrom 671f turnip (tur) 728 twin of eyeless (toy) 623 twist (twi) 110, 607 two-hybrid-System 138f Ty (Retroposon) 337 Tyrosin 61, 316, 458, 676, 712, 741, 745 – Albinismus 659, 675f – Kinase 608, 624, 702f, 735, 746 – Tyrosinase 451, 458, 675 T-Zelle 543f, 712, 771 T-Zell-Rezeptor 326
U U1-snRNA 84f U3-snRNA 74, 177, 353f U6-snRNA 84, 297, 353 U7-snRNA 87 U8-snRNA 74, 177 U13-snRNA 74, 177 UAS 139, 211 Überdominanz 434, 459, 496 Überreplikation 256f, 534, 538 Ubiquitinierung 311 Ubiquitin-Hydrolase 1 (UCHL1) 754f UDP-Glykosyltransferase 620 UFO (UNUSUAL FLORAL ORGANS) 573, 575 ultrabar (Allel von Bar) 453 Ultrabithorax (Ubx) 324f, 615 ultraviolette Strahlung (UV) 395
umuC 40, 414, 416 umuD 40, 414, 416 Umwelt – Anpassung an Umwelt 10, 14, 493f – Einfluss auf Phänotyp 452f – Zwillingsforschung 658f Unabhängigkeitsregel 438 uncoordinated (unc) 578 Uniformitätsregel 431f Univalent 191, 382f Unterreplikation 256f, 294f UNUSUAL FLORAL ORGANS (UFO) 573, 575 unvollständige Dominanz 430, 446f, 457, 459, 496 Uracil 21, 23, 66, 88, 375, 406ff, 530 Uracil-Glycosylase 375 Uridin 59, 63, 66f, 74, 249, 252, 262 UTR (untranslated region) 350, 378, 694, 711, 725, 745 Uvr (UV Reparatur) 412f, 416, 708 UvsY 415
V v (vermilion; Drosophila) 454ff v (virescent; Mais) 471f va (variable sterile) 471f Vakuolen 167 Valin 61f, 149, 152, 699, 702, 704 Valium 420 valois (vls) 600 variable Region (Immunoglobuline) 546, 548 variable sterile (va) 471f Varianz 441, 444, 481f Varianz-Analyse (ANOVA) 482 vasa (vas) 600 V-D-J-DNA-Rearrangement 550 Vegetationskegel 383 vegetative Fortpflanzung (Vermehrung) 10f, 13, 17,169f, 421, 504 vegetative Phase 215, 568 Veitstanz (s. Chorea Huntington) 695 Vektoren 56, 100, 104, 119, 135ff, 139, 159, 222, 343, 366, 420, 523, 561, 721, 761f, 764, 771, 781 Ventralisierung 606 Vererbung – cytoplasmatische 173 – erworbener Eigenschaften 6 – Grundregeln 430ff – intermediäre 447 – menschliche 655ff – molekulare Grundlage 20ff – multifaktorielle 447, 456
843
844
Stichwortverzeichnis Verhaltensgenetik 717ff Vermehrungszyklen 116, 118 vermilion (v) 454ff Verpuppung 314 Verwandtenehen 675, 680, 685, 715 Verzweigungsstelle 84, 197f, 534 vg (vestigal) 467ff, 621 Vibrio cholerae 110 Vicia faba 179, 225, 294 Vimentin 168 Viren (auch: Virus) 4, 6, 35, 87, 89, 105f, 115, 237, 276, 321, 336, 338, 355ff, 358f, 360f, 520, 522f, 544, 652, 679, 702, 704f, 760, 764, 769f, 771 virescent (v) 471ff virilizer (vir) 594 Vitamin A 633, 645 Vitamin-D-Resistenz 684 vls (valois) 600 Vögel 243, 357, 720f Vogelzug 720 v-onc (s. Oncogene) 360 von Willebrand-Jürgens-Erkrankung 687, 775 VP16 138, 760 V-Region 548f, 552, 558 vrille (vri) 725 Vulva 579, 581ff
W w (white) 391f, 451f, 455f, 464ff, 492, 781 Wachstumsfaktoren 107, 209, 211, 508ff, 583, 625, 645f, 6801, 686, 702ff, 734, 768, 772 Wahrscheinlichkeit 443, 469, 487, 665 Wasserfloh 536 Wasserstoffbrücken 20, 23f, 315f, 404ff, 413 Watson-Crick-Modell 23, 31f, 33ff, 52 wbl (windbeutel) 600 W-Chromosom 246f weaver (s. Kcnj6) 755 Weißbuntheit 172 Weizen 3, 225 – Evolution 385 – Hybride 387, 461 – Körner 456f, 459 – Polygenie 459 – Wildformen 460 – Zucht 382 Wernicke-Enzephalopathie 743 WD40-Domäne 572 wg (wingless) 614, 620, 623
white (w) 391f, 451f, 455f, 464ff, 492, 781 white-apricot 456 Wildtyp (Definition) 370 windbeutel (wbl) 600 Windungszahl 40f wingless (wg) 614, 620, 623 Wirtel 574, 576, 578 Wirtsrestriktion 118 Wnt (wingless-related MMTV integration) 581, 639, 645f Wnt-Signalweg 518, 581f wobble-Hypothese 64, 93, 297 WOODENLEG (WOG) 571 Wunderblume 171, 173, 446 Wurmmittel 420 Wurzel 10, 567f, 569ff – Haare 571 – Haube 569f, 571 – Meristem 179, 570f, 573 Wurzelhalsgalle 109 WUSCHEL (WUS) 573f
X Xanthin 300, 406, 408 Xanthommatin 454 X-Chromosom 646ff, 683ff – attached-X 474, 477 – Dosiskompensation (Säuger) 264ff – Drosophila 261ff – genetische Karte 691 – Hyperaktivität 262ff – Inaktivierung 264ff – Monosomie X 672 – pseudoautosomale Region (PAR) 691 – Trisomie X 671f Xenopus borealis 75, 290 Xenopus laevis 225, 294 – Mutanten 288 – Oozyten 295 – rDNA 71, 289, 296f Xeroderma pigmentosum (XP) 50, 396, 413, 707f X-Gal (5-Brom-4-Chlor-3-Indolyl-bDGalactopyranosid) 136, 138, 420 Xic (X-Inaktivierungszentrum) 266ff, 691 Xist (X-inactivation specific transcript) 266ff, 516, 691 Xylem 571 X0-Genotyp 246, 264, 467, 669, 671f XXY-Genotyp 264, 467, 669, 671f
Y y (yellow) 205f, 417 YABBY (YAB) 574 YAC (yeast artificial chromosome) 56, 123f, 135, 233, 236 Yates-Korrektur 443 Y-Chromosom 246, 423, 425, 774, 777 – Aneuploidie 671f – Gene 649f, 689, 691f – Geschlechtsbestimmung 584, 646 – Lampenbürstenschleife 249 – pseudoautosomale Region 422, 691 yellow (y) 205f, 417 Yersinia pestis 110
Z Zählmechanismus (s. Geschlechtsbestimmung) 263, 294, 592, 595f, 651 Z-Chromosom 246f Z-DNA 25f, 88 Zea mays 7, 225, 417, 461 – Lebenszyklus 218f – Transposition 337f, 348, 351f Zebrafisch 225, 625ff, 653f – Frühentwicklung 625ff – Mutanten 627, 654 Zellautonomie 202f, 204, 265, 267, 588, 590, 649 Zelldifferenzierung 6, 17, 265, 283, 304, 559, 566f, 632, 641, 781 Zelle 163ff – eukaryotische 166ff – Interaktionen 614 – Kern 59, 165ff, 505 – Membran 167f – Oberfläche 213, 514, 544, 683, 704, 713 – präneoblastische 702 – Proliferation 210f, 221, 510, 702, 704 – Teilung 178ff, 183ff – Tod 212f – Wanderung 614 Zellgenealogie 579f, 582 Zellklon 207, 265, 392 Zellularisierung 585ff, 593, 614, 616 Zellzyklus 178ff – Blockierung durch APC 181f – Dauer 208 – Histonsynthese 309 – Kontrolle 49, 182, 212, 706 – Kontrollpunkte 208 – Regulation 49, 209, 236, 336 Zigarettenrauch 410
Stichwortverzeichnis Zinkfinger 78, 321, 324, 325, 348, 691, 723, 734f Zink-Metalloprotein 78 Zirbeldrüse 703, 740 zirkadiane Rhythmik 718f, 722f, 726f, 774 zirkuläre Permutation 125 Z-Konformation 24f, 262 Zona pellucida 631 ZPA (zone of polarizing activity) 644f Züchtungserfolge 461, 492 Zucker-Phosphat-Rückgrat 24, 58, 66, 405, 412 Zuckmücken 251f, 258
Zufallsdrift 490f, 493, 499, 501 Zufallspaarung 191, 492 Zufallsschwankungen 441 Zufallsverteilung 186, 230, 258, 441, 443f, 473, 530 Zugvögel 720ff – Erblichkeit des Zugverhaltens 720ff – Richtungspräferenz 722 Zwiebel 3, 225 Zwillinge 635f, 658f – dizygote 635f, 657ff – Forschung 658 – Merkmalsausprägung 659, 709, 711, 714, 746, 756
– monozygote 635f, 657ff – siamesische 659 – Verschiedenheit 658 Zwillingsfleck 206ff Zwitter 578f Zygospore 216 Zygotän 186, 189, 234 Zygote 169, 183ff, 584ff, 646ff – bewegliche 216 – Kern 219, 584 Zyklopenauge 639, 642 zystische Fibrose 678, 680, 715
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Autor [email protected] http://www.gsf.de/idg/groups/molecular_eye/start.html
Arbeitshilfen HUSAR-Bioinformatics
http://genome.dkfz-heidelberg.de/
Such- und Analysedienstleistungen (Restriktionsschnittstellen, Gen-Eigenschaften, reverse complement einer DNA-Sequenz etc)
http://searchlauncher.bcm.tmc.edu/
Primer generieren
http://frodo.wi.mit.edu/cgi-bin/primer3/primer3_www.cgi
Promotoranalysen, Suche nach Transkriptionsfaktorbindestellen etc.
http://www.genomatix.de
Wörterbuch (Deutsch-Englisch Wörterbuch) „Leo“
http://www.leo.org/
Genetik und Genomforschung in Deutschland Gesellschaft für Genetik
http://www.gfgenetik.de
Nationales Genomforschungsnetz (NGFN):
http://www.ngfn.de
Max-Planck-Gesellschaft (MPG)
http://www.mpg.de
Helmholtz-Gesellschaft (HGF)
http://www.helmholtz.de
Deutsches Ressourcenzentrum für Genomforschung:
http://www.rzpd.de
Wichtige Institutionen Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)
http://www.dfg.de
Deutscher Akademischer Austauschjdienst (DAAD):
http://www.daad.de
Europäisches Molekularbiologisches Labor (EMBL) mit Niederlassungen in Grenoble, Hamburg, Heidelberg, EBI Hinxton, Monterotondo:
http://www.embl.org