Michael Straczynski
Geschichten aus der neuen Twilight Zone Aus dem Amerikanischen von Marcel Bieger
Knaur
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Michael Straczynski
Geschichten aus der neuen Twilight Zone Aus dem Amerikanischen von Marcel Bieger
Knaur
Deutsche Erstausgabe Juni 1991 © 1991 Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. München Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Titel der Originalausgabe »Tales from the new twilight zone« © 1989 Synthetic Worlds, Ltd. Originalverlag: Bantam Umschlaggestaltung Charlie Dengler, München Umschlagillustration Klaus Thomas Satz Ludwig Auer, Donauwörth Druck und Bindung Ebner Ulm Knaur®
Eine andere Dimension, eine Welt der Träume und der Alpträume betritt der Leser mit diesem Buch. Eine Welt, die erfüllt ist vom Zauber der Erinnerungen und von den schlimmsten Schrecken und Ängsten, die er sich vorzustellen vermag. Diese Welt kann nur an den Grenzen der menschlichen Phantasie existieren – in der Twilight Zone. »Geschichten aus der neuen Twilight Zone« enthält elf Originalstories, die J. Michael Straczynski, wichtigster Autor der berühmten Fernsehserie über unheimliche Geschehnisse, als Grundlage für seine Sendung geschrieben hat.
Für Rod Serling, in dessen Garten ich das Privileg zu spielen hatte.
Danksagung
Dank kann man nie genug abstatten, aber man sollte die Danksagung an den Anfang stellen. Meine ganz besondere Anerkennung gilt denen, ohne die diese Zusammenstellung nie möglich geworden wäre: Kathryn Drennan, Tom und Phyllis Drennan (für zusätzliche Inspirationen), Harlan Ellison, Alan Brennert, Lou Aronica, Henry Morrison, Marc Shelmerdine, Carol Serling, George R. R. Martin, Marc Scott Zicree, Doug Heyes, George Clayton Johnson, Ed Bryant, Robert Simpson und all den anderen Drehbuchautoren, Regisseuren und Darstellern, die all ihre Talente gegeben haben, um die Tür zur Twilight Zone aufzustoßen.
Vorwort
Für mich bedeutete die Arbeit an der Twilight Zone mehr, als nur einen neuen Auftrag zu erfüllen. Twilight Zone wurde mir zu einer Herzensangelegenheit. Wie ein jugendlicher Liebhaber kam ich voller Hoffnung und in aller Unschuld zu der TV-Reihe, und ich hatte keine Vorstellung, in welch kurzer Zeit und wieviel von mir erwartet werden würde. Und ich hatte keine Ahnung, zu was für einer Affäre sich diese Arbeit entwickeln würde, mit all der bei einer Herzensbeziehung üblichen Verzweiflung, den unvermeidlichen Mißgeschicken und der Erinnerung an frühere Liaisons, die so großartig begonnen und so frustrierend geendet hatten. Am 1. April des Jahres 1981, nach Jahren des Pläneschmiedens und einer Unzahl von Irrtümern, kamen meine Frau Kathryn Drennan und ich von San Diego in Los Angeles an. Unsere Augen waren groß wie die eines Waschbären, der plötzlich im Scheinwerferlicht eines viel zu schnell heranbrausenden Wagens steht. Wir hatten unsere gesamte Barschaft zusammengelegt – Kathryns Vorschuß für eine Arbeit, die sie für Carl Sagan erledigen sollte, und mein Honorar für mein erstes Buch -und einen Freund dafür gewonnen, den gemieteten Laster, der all unsere Habe transportierte, die hundertfünfundzwanzig Meilen bis zum neuen Heim zu fahren. Und einmal angekommen, ließen wir uns von dem Riesenloch in unserer Kasse nicht im mindesten abschrecken. Vielleicht war es unser unerschütterliches Vertrauen, das uns beim Start half und von dem jeder behauptet, ohne das sei ein
Durchbruch nicht möglich. Ich wollte den ganzen Tag schreiben, sei es fürs Fernsehen, sei es an Büchern, vielleicht auch an einem Filmdrehbuch. Und Kathryn wollte es mir gleichtun. Das unerschütterliche Vertrauen. Niemand sagt einem, daß dieses unerschütterliche Vertrauen auch dazu führen kann, den Klippenrand nicht wahrzunehmen und einen Schritt darüber hinaus zu gehen. Die Jahre zwischen 1981 und 1984 entwickelten sich zu einem Dauerlauf durch die neblige Landschaft von Versprechen und Angeboten, die sich schneller in Rauch auflösen, als man zugreifen kann, von Aufträgen, die es nie so recht schaffen, Gestalt anzunehmen, und von kurzen Gastspielen bei Magazinen, die mit atemberaubender Geschwindigkeit wieder eingestellt werden (darunter fällt auch das berüchtigte Projekt Cable Week, eine Publikation von Time, Inc. das mit viel Getöse gestartet wurde und ewig erscheinen sollte, um dann nach sechs Monaten und vierundzwanzig Millionen Dollar Verlust eingestellt zu werden). Das Honorar für das Buch war rasch aufgezehrt. Und die Carl-Sagan-Productions wurden geschlossen… Zum ersten Mal hatten wir das furchtbare Gefühl, daß der schmale Grat, auf dem wir standen, unter uns zerbröselte. Mit einem Mal hatte die Vorstellung, auf dem Bauch zu landen und unterzugehen, nichts Abstraktes mehr an sich. Sie gewann Form und Substanz und entwickelte ein immer bedrückenderes Gewicht. Sowohl in Kathryns als auch in meinem Leben kam der Moment der Wahl zwischen Strick und Messer. Man kann in der instabilen und bedrohlichen Situation verharren und weiter das verfolgen, was Ähnlichkeit mit dem großen Traum besitzt… oder man schneidet diesen Strick durch, bucht den
ganzen Alptraum unter Erfahrung ab und kriecht zurück in den Schoß der Geborgenheit. Wir blieben am Seil. Und Mojo, der große Gott des Billardsaals, blickte in die andere Richtung, irgendwo in der Steppe der Äußeren Mongolei wurde ein Kalb mit zwei Köpfen geboren, jemand gab zwei Paare ab und erhielt einen Royal Flush, und unser Traum wurde wahr. Ohne Vorwarnung erhielt ich einen Job bei einer TV-Serie. Ich sollte Drehbücher schreiben und die Texte anderer überarbeiten. Mein erstes konkretes Angebot, und die Stories stammten alle aus den Bereichen Science-fiction, Fantasy und Horror (na ja, Horror im Fernsehen, der »dunkel, aber nicht furchtbar« sein darf; über die genaue Bedeutung dieser Worte mögen sich die Linguisten die Köpfe zerbrechen). Von nun an führte ich ein Nomadenleben. Ich zog von Studio zu Studio, von Serie zu Reihe und von Reihe zu Serie, und ich genoß diese Arbeit, auch wenn mich von Zeit zu Zeit das eigenartige Gefühl beschlich, daß irgend etwas nicht stimmte. Schön, ich konnte Geschichten erzählen, was mir immer außerordentlichen Spaß bereitet hat. Aber es waren nicht meine Geschichten. Ich hauchte Charakteren Leben ein, aber es waren nicht meine Figuren. Ich verkaufte Träume, war aber nur Zwischenhändler, nicht Hersteller. Solange man nicht das Glück hat, seine eigene Sendung zu bekommen, schreibt man immer Dialoge für Personen, die man nicht selbst erfunden und aufgebaut hat. Man kann sich aber nicht hinsetzen und eine ganz eigene Geschichte beginnen, nur um zu sehen, wie sie sich entwickelt. Solange man selbst noch keine kleinen Universen erschaffen hat, in denen Personen, für die man Sympathie hegt, eigenartige und wunderbare Dinge zustoßen, kann man nicht verstehen, warum Menschen wie ich Schriftsteller werden. Wenn man einem Schriftsteller versagt, selbst solcherart kreativ zu werden, reduziert man ihn zu einem
»Miet-Schreiberling«. Am 1. Oktober 1987 geschahen zwei bedeutende Dinge: Ein Erdbeben mit der Stärke 5,9 auf der Richter-Skala riß Groß-Los-Angeles morgens um acht Uhr aus dem kollektiven Schlaf und scheuchte Hollywoodtypen und Normalsterbliche gleichermaßen vor die Haustür, um nachzusehen, ob das Große Beben gekommen sei. Und… … zwei Stunden später rief Mark Shelmerdine bei mir an, seines Zeichens Produzent der BBC-Serie Ich, Claudius, Kaiser und Gott und Präsident der London Films (wo er als Aufnahmeleiter unter anderem für Der Dieb von Bagdad verantwortlich gewesen war). Er plante eine Neuauflage der Reihe Twilight Zone. »Leben Sie da draußen eigentlich noch?« fragte er, und ich antwortete ihm, daß mir nichts zugestoßen sei. »Fein. Wie würde es Ihnen dann gefallen, für Twilight Zone als Drehbuchautor zu wirken?« Nach sechseinhalb Jahren… Vor sechseinhalb Jahren waren wir aus San Diego geflohen und nach Los Angeles gekommen. Und endlich kam für mich die große Chance, meine eigenen Geschichten zu erzählen. Das Buch, das Sie nun in Händen halten, ist das Resultat meiner großen Chance. Von der ersten Episode, die am 2. Oktober 1959 ausgestrahlt wurde, über das Wiederaufleben der Reihe, die CBS von 1985 bis 1987 sendete, bis hin zu den Episoden, die wir zusammenstellten und die vom 25. Oktober 1988 bis zum 16. April 1989 über den Bildschirm liefen, hat die Twilight Zone immer echte Geschichten von normalen Menschen erzählt, die in außergewöhnliche Situationen geraten sind. Reihen wie diese ermöglichen es dem Autor, über das zu schreiben, was ihn am meisten bewegt, was er immer schon einmal zu Papier bringen wollte. Es gibt keine Beschränkung über die Art der Personen oder der Story, man muß sich nur an die Begrenzung der dreißigminütigen Sendezeit halten. Und
man erwartet vom Autor eine gute Geschichte, die es wert ist, erzählt zu werden. Gar keine Frage, daß sich nach so vielen Enttäuschungen und der noch nicht gestillten Leidenschaft für mich eine Liebesbeziehung daraus entwickelte. Eine erschöpfende, aber immer lebendige Beziehung, die sich über Tage und Wochen wie ein einziger Rausch hinzog. Ja, genau so gestaltete sich die Arbeit an der Twilight Zone.
Ein paar abschließende Bemerkungen über die nun folgenden Geschichten. Eine der ewig gültigen Wahrheiten beim Fernsehmachen lautet: FERNSEHEN IST EIN KOLLABORATIVES MEDIUM. Eine andere, kürzere Wahrheit sagt: ZU LANG. Sobald ein Skript fertiggestellt ist, wird es dem Regisseur, den Schauspielern, den Bühnenbildnern und einer ganzen Armee weiterer Mitarbeiter vorgelegt. Meistens wird das gedreht, was man geschrieben hat. Aber es gibt auch die Fälle, in denen eine Szene rausgestrichen wird, um dem Diktat der Uhr Genüge zu tun; oder in denen gewisse Entwicklungen eine ganz neue Bedeutung bekommen; oder wenn die Regisseure… Aber darüber an anderer Stelle mehr. An dieser Stelle soll es genügen, zu erklären, daß das vorliegende Buch die Stories in der Originalform enthält, in der Zeitbeschränkung, Budgetbeschränkungen oder Special-Effects-Beschränkungen keine Rolle gespielt haben. Alles, was auf dem Bildschirm erschienen ist, findet sich im Text wieder; hinzu kommt das, was bei dem einen oder anderen Drehbuch rausgekürzt wurde. Mit dieser Sammlung sind die Stories also endlich komplett. Des weiteren möchte ich, daß diese Geschichten denen als Zeugnis dienen, die selbst das unerschütterliche Vertrauen in sich spüren.
Manchmal funktioniert so etwas. Und möglich ist alles. Und zu guter Letzt will ich eine Antwort auf die Frage geben, die mir bei Vorträgen und auf Veranstaltungen oft gestellt wird: »Wo bekommen Sie Ihre Ideen her?« Vor jedem Beitrag in diesem Band findet sich eine Einleitung, die auf die Entstehungsgeschichte der jeweiligen Story eingeht und auch einen Einblick hinter die Kulissen der Dreharbeiten gewährt. Denkt an die Schnappschüsse und privat gedrehten Filme, die Ihr während der Reise in das verwunschene Land zwischen Licht und Schatten, zwischen Wissenschaft und Aberglaube aufgenommen habt – in jener Dimension der Phantasie, die wir Twilight Zone nennen. J. Michael Straczynski Los Angeles, Kalifornien am 1. März 1989
Das Gedächtnis des Simon Foster
Es war im Jahre 1983, zwei Jahre nach unserem Umzug nach Los Angeles, als ich an meinem Buch arbeitete und gleichzeitig versuchte, als Drehbuchschreiber bei Film und Fernsehen einen Fuß in die Tür zu bekommen. Wahrlich keine einfachen Tage. Wir versuchten, mit fünfzig Dollar in der Woche auszukommen, Miete und andere laufende Rechnungen nicht eingerechnet. Ich ernährte mich von einer Schüssel Cornflakes am Morgen und als Hauptmahlzeit von dem Menü zu neunundneunzig Cent an der Imbißbude. Unsere Rücklagen waren so gut wie aufgebraucht, und es kam kaum neues Geld herein. An einem dieser Tage bekam ich aus heiterem Himmel einen unbändigen Appetit auf einen Schokoladenriegel. Selbstverständlich hatten wir so etwas nicht im Haus, und ich hätte es mir wahrhaftig nicht leisten können, mir im Laden an der Ecke einen zu kaufen. Ich bemühte mich also, diesen Heißhunger aus meinen Gedanken zu verdrängen. So etwas klappt natürlich nie. Dabei beschäftigte mich nicht einmal so sehr die Vorstellung, in einen Schokoladenriegel zu beißen, als vielmehr die Gewißheit, daß ich ihn mir versagen mußte… Ich wurde halb wahnsinnig. Endlich war es soweit. Ich konnte mich nicht mehr aufs Schreiben konzentrieren. Also schlich ich mich aus dem Haus und steuerte den Supermarkt an der Ecke an. Ich habe einen Schokoladenriegel gestohlen. Das war natürlich einfach blöd. Und destruktiv. Aber gleichzeitig für mich die einzige Möglichkeit, nicht den Verstand zu verlieren. Als ich wieder zu Hause war, schmeckte mir der Riegel nicht mehr. Es war,
als würde man Pappe essen. Ich glaube, ich habe nur einmal abgebissen. Drei Tage später, als das Honorar für einen kleineren Artikel eintraf, ging ich in den Supermarkt zurück, kaufte einen Schokoladenriegel derselben Marke und stellte ihn heimlich ins Regal. Dabei kam mir der Gedanke, wie verrückt es wohl wäre, wenn man mich erwischte, wie ich mit einem Riegel in der Tasche zum Regal zurückschlich. Wie hätte ich begreiflich machen können, daß ich nicht etwas stehlen, sondern zurückbringen wollte? In jener Zeit habe ich auch angefangen, aus purer Verzweiflung und Not Dinge zu verkaufen. Bücher, Schallplatten, Magazine, Cassetten… alles, was nicht niet- und nagelfest war, habe ich verkauft. Von meiner einst großen Bibliothek blieben nur kümmerliche Reste übrig. Und ich habe viele Schallplatten weggegeben, die heute gesuchte Raritäten oder sonstwie nicht mehr aufzutreiben sind. Unter diesen Gegenständen, die ich aus der Hand gab, befand sich auch einer – und ich kann es einfach nicht über mich bringen, ihn hier beim Namen zu nennen –, der sich absolut nicht mehr ersetzen ließ. Ich bin zu dem Secondhandshop zurückgekehrt, in dem ich ihn verkauft habe, aber sie konnten mir nicht helfen. Zu viele Monate waren vergangen, seit ich ihn dort gelassen hatte. Ich forschte auf eigene Faust nach dem Verbleib und fand rein gar nichts heraus. Ich muß seitdem akzeptieren, daß er, eine sehr persönliche Erinnerung, unwiederbringlich verloren ist. Und dieser Verlust brennt in mir bis zum heutigen Tage. Jetzt ein Sprung vier Jahre in die Zukunft. Ich sitze an einem kühlen Nachmittag im Studio und suche nach einer Story. Plötzlich fallen mir die schrecklichen Tage wieder ein, in denen ich Dinge unwiederbringlich verloren habe. Ich spaziere den Hollywood Boulevard entlang, vorbei an den vielen Secondhandläden, in denen Menschen Stück um Stück von
sich verkauft haben, bis ihnen nichts mehr als Leere und Schmerz geblieben sind. Ich fahre mit dem Fahrstuhl wieder nach oben, in unsere geschmackvoll eingerichteten Büros, bin jetzt Meilen und Jahre von jener furchtbaren Zeit entfernt und fange an zu schreiben. Ich bleibe lange im Büro, schreibe wie besessen und bin irgendwann der einzige, der noch im Studio ist. Als ich spät am Abend endlich Schluß gemacht habe, liegt die erste Fassung meiner Story auf dem Schreibtisch des Produzenten. Und mit ihr sind Zorn, Bitterkeit und der Schmerz über den Verlust in mir zur Ruhe gekommen.
DAS GEDÄCHTNIS DES SIMON FOSTER, Produktions-Nr. 87038, wurde in der Woche vom 17.-21. Oktober 1988 gedreht. Die Darsteller sind Bruce Weitz (Simon Foster), Geza Kovacs (Quint), Rafe MacPherson (Vermieter), Ilse von Glatz (Beraterin am Arbeitsamt) und Jennifer Griffin (Weinende Frau). Die Regie führte Douglas Jackson. Die Episode wurde am 26. Februar 1989 zum ersten Mal ausgestrahlt.
Es war kaum noch etwas zum Verkaufen übriggeblieben. Simon hockte auf dem schmalen Bett, das in einer dunklen Ecke des Einzimmerapartments stand. Seine Kleider lagen auf der Kommode, und die Gardinenstange hing diagonal nach unten. Er konnte sich nicht erinnern, wann er sich zum letzten Mal die Mühe gemacht hatte, hier aufzuräumen. Dazu bestand auch wenig Anlaß. Niemand kam ihn mehr besuchen. Niemand klingelte an seiner Tür. Er warf einen kurzen Blick auf den Vid-Schirm. Er nahm an, daß sie sich an ihm nicht die Hände schmutzig machen wollten und deshalb darauf verzichteten, ihm von Angesicht zu
Angesicht gegenüberzutreten. Nein, bloß das nicht. Er fuhr fort zu packen. Rasierapparat, Cassetten, die paar alten Münzen, die er noch besaß, das Dutzend Bücher… und die Uhr. Sie bereitete ihm das meiste Kopfzerbrechen. Sie hatte seinem Vater gehört, und dieser hatte sie sich ganz spontan gekauft, als er einmal in einer Lotterie ein paar tausend Dollar gewonnen hatte. Ein sehr teures Stück, das er sich auch damals nicht hatte leisten können. Aber er hatte sich nie anmerken lassen, ob er den Kauf je bereute. Als es anfing, Simon immer schlechter zu gehen und er so gut wie alles verkaufen mußte, war ihm Vaters Uhr als einziger Luxus geblieben. Sein letzter Strohhalm an Würde in einer Welt, die ihm alles andere genommen hatte. Vater hatte ihm auf seinem Totenbett die Uhr gegeben. Wie stolz er in jenem Moment gewesen war, trotz seines körperlichen Verfalls. Er war stolz darauf gewesen, die Uhr all die Jahre lang in seinem Besitz behalten zu haben, bis er sie an seinen Sohn weitergeben konnte. Ein grundehrliches, in jeder Weise ehrenhaftes Vermächtnis. »Ganz gleich, was sie dir nehmen, mein Junge«, hatte er gesagt, »solange du diese Uhr besitzt, können sie dir nicht alles entreißen.« Danach hatte er die Augen geschlossen und war gestorben. Der Staat hatte seine Forderungen geltend gemacht und den Betrag auf dem Konto des Vaters eingezogen. Simon blickte ein letztes Mal auf die Uhr, bevor er sie in die Schachtel legte und den Deckel zuklappte. Denk nicht darüber nach, tu es einfach. Er blieb einen langen Moment dort sitzen, strich mit den Fingern über die rauhen Kanten der Pappschachtel und hörte plötzlich das Signal des Vid-Schirms. Er ließ die Nachricht vom Anrufbeantworter aufzeichnen. Warum sollte diese Nachricht sich von den vorigen unterscheiden? »Hallo, Mr. Foster, hier spricht Jennie Kaloshevsky vom Arbeitsamt.«
Papierrascheln. »Es tut mir leid, Mr. Foster, aber wie wir früher schon besprochen haben, ist Ihr Anspruch auf Unterstützung für die Periode Zwei-Siebzehn-Neunundneunzig letzte Woche erloschen. Wenn Sie in dieser Angelegenheit eine weitere Beratung wünschen, dann können Sie mich unter der angegebenen Nummer erreichen. Ich möchte Ihnen jedoch schon jetzt mitteilen, daß, wie auch bei früheren Anlässen dieser Art, von meiner Seite nicht viel für Sie unternommen werden kann.« Ein Klick ertönte, als sie einhängte. Statische Störungen erfüllten für einen Moment den Schirm, dann wurde er wieder schwarz. Simon nahm die Schachtel unter den Arm, trat hinaus ins harte Sonnenlicht und schloß die Tür sorgfältig ab. Er lief über den schmalen Laufsteg bis zu der Treppe, die an dieser Seite des Wohnkomplexes nach unten führte. Er fragte sich, ob nachts kleine Männer aus irgendwelchen Ecken heraushuschten, um die Treppe mit noch mehr Stufen zu versehen. Mit jedem neuen Tag brauchte er länger, um nach unten zu gelangen.
WIR SCHREIBEN DAS JAHR 1999. DIE SCHACHTEL IST DER BEWEIS DAFÜR, DASS MANCHE DINGE SICH IM LAUF DER ZEITEN NIE ÄNDERN. SIE ENTHÄLT DIE GESAMMELTEN RESTE EINES VERPFUSCHTEN LEBENS, DAS SICH NUN NUR NOCH VON DEN ERBETTELTEN MÜNZEN ANDERER ERHALTEN KANN. EIN FÜR SIMON FOSTER VERTRAUTER PROZESS UND EIN IHM BEKANNTER LANGER FUSSMARSCH FÜHREN IHN HEUTE IN DAS LAND DER TWILIGHT ZONE.
Die Ladenglocke bimmelte leise, als Simon eintrat. Niemand stand hinter dem Tresen. Er sah sich in der Pfandleihe um und wartete darauf, daß sich jemand zeigte. Simon war noch nie hier gewesen. Für gewöhnlich lief er nicht so weit in die Stadt hinein. Auf den ersten Blick unterschied sich dieser Laden nicht von anderen seiner Art. Regal um Regal voller Messingund Silberstücke, und natürlich das unterschiedlichste Strandgut. Er fuhr zusammen, als hinter dem Tresen eine Tür geschlossen wurde. »Mr. Quint?« Der Name hatte auf der Schaufensterscheibe gestanden: QUINTS PFANDLEIHE – DIE BESTEN PREISE IN DER STADT. Ein großer Mann mit einem viereckigen Gesicht und Augen, die Simon nur mit mäßigem Interesse beobachteten, zeigte sich. »Ja, Sir? Womit kann ich Ihnen dienen?« »Nun, ich fürchte, ich gehöre nicht zu denen, die etwas erstehen möchten.« Quints Schultern sanken etwas. »Also, dann wollen Sie etwas verkaufen?« »Ja.« »Dann zeigen Sie mal her. Mal sehen, was Sie anzubieten haben.« Simon stellte die Schachtel auf den Tresen und trat einen Schritt zurück, während Quint darin kramte. Simon konzentrierte sich auf die Bretter voller Musikinstrumente und versuchte, nicht darauf zu achten, welche Stücke der Pfandleiher mit Schweigen quittierte und welche ihm zumindest ein Hm entlockten. Trotz seiner Vorsätze kehrte Simon schließlich an den Tresen zurück. »Alle Teile sind in gutem Zustand«, begann er, um mit Quint ein Gespräch zu führen. »Ich weiß, es ist nicht viel, aber das meiste habe ich schon verkauft. Miete und all die anderen
Rechnungen, Sie wissen ja, wie das ist. Ich mache gerade eine harte Zeit durch. Eine ganze Menge Dinge haben… sind schiefgegangen, nicht wahr? Aber ich schätze, solche Geschichten hören Sie in diesem Geschäft häufiger, oder?« »Ja, häufiger.« Simon sah ihm an, daß er im Kopf das zusammenrechnete, was er für den Inhalt der Schachtel herausrücken wollte. »Fünfzig Dollar.« »Fünfzig? Die Uhr allein ist mehr wert!« Quint runzelte die Stirn und warf noch einen Blick in die Schachtel. »Dann eben sechzig. Aber mehr ist nicht drin.« Verärgert packte Simon die Schachtel und stapfte mit ihr zum Ausgang. »Sie können es gern woanders versuchen, aber mehr bekommen Sie nirgendwo!« rief Quint ihm nach. »Und wenn Sie dann zu mir zurückkehren, kriegen Sie nur noch fünfzig.« Simons Schritte verlangsamten sich. Dann blieb er stehen und sah in die Schachtel. Das Licht der Deckenbeleuchtung spiegelte sich auf der Uhr wider. Tut mir leid, Dad. O Gott, wie tut es mir leid. Er kehrte an den Tresen zurück. »Mindestens… Könnten Sie mir fünfundsechzig geben?« Quint verzog das Gesicht und nickte dann. »Abgemacht.« Er begab sich zu seiner Registrierkasse, zählte langsam fünfundsechzig Dollar ab und fragte langsam, ohne aufzublicken: »Sind Sie sich ganz sicher, daß Sie sonst nichts zu verkaufen haben?« »Ja, ich habe nichts mehr.« »Hat man Sie zu mir geschickt? Hat jemand mich Ihnen empfohlen?« »Nein. Ich… hören Sie, wenn ich sonst noch etwas zu verkaufen hätte, fände es sich in der Schachtel hier. Mir ist nichts geblieben bis auf einen Haufen Schmerzen im Bauch. Warum fragen Sie? Wollen Sie mir für die Schmerzen etwas bieten? Kommen Sie, Mr. Beste-Preise-in-der-Stadt, wie hoch
sind heutzutage die Preise für Schmerzen?« Mr. Quint sagte nichts. Simon steckte das Geld ein und machte sich auf den Weg zur Tür. Seine Hand umschloß bereits die Klinke, als er den Ladenbesitzer sagen hörte: »Es gäbe da vielleicht etwas, worüber wir uns unterhalten könnten.« Simon zögerte und drehte sich zu ihm um. Mr. Quint sperrte die Tür wieder auf, durch die er eben gekommen war. »Kommen Sie mit«, sagte er nur und trat in den dahinter liegenden Raum. Simon war zunächst etwas unschlüssig, doch dann folgte er ihm. Teufel noch mal, dachte er, warum nicht? Ich weiß ja doch nicht, wo ich als nächstes hingehen soll. Er gelangte in einen stockfinsteren, fensterlosen Raum, in dem nichts zu erkennen war, bis der Pfandleiher das Licht anknipste, eine einzelne, nackte Birne, die von der Decke hing. Eine Wand wurde von einer Computerkonsole eingenommen. Unzählige Kabel mündeten in ebenso viele Stecker, die sich um einige wenige Steckdosen drängten. In der Mitte des Raums stand ein Stuhl, über dem ein schwarzes Laken lag. Elektronische Geräte ragten darunter heraus und verliehen dem Tuch eine eigenartige Topographie. Der Stuhl wirkte nicht sehr einladend. Quint begab sich zu dem Stuhl und umrundete ihn langsam. »Ich hoffe, der Begriff ›Gedächtnis-Dippen‹ sagt Ihnen etwas.« »Ich habe davon in der Zeitung gelesen. Scheint im Moment der große Trend zu sein, die Erinnerungen anderer Menschen zu mieten.« »Ja, ist sehr populär… bei denen, die es sich leisten können.« Er zog das schwarze Laken fort. Darunter zeigte sich die ganze
Anlage: Kabel, Meßgeräte, Scanner, Displays, ein Gebilde, das Ähnlichkeit mit einer Lasersonde hatte, und etliches Gerät, das Simon nicht kannte. Relais und Kabel führten von dem Stuhl zu der Konsole an der Wand. »Üblicherweise spürt man die Erinnerungen des Probanden auf und kopiert sie auf einen Computerchip«, erklärte der Pfandleiher. »Man kann bei der Auswahl sehr selektiv vorgehen. Man nimmt zum Beispiel einen Skispringer und kopiert seine Erinnerung an seinen besten Sprung. Wenn man sich selbst an den Chip anschließt, kann man erfahren und erleben, was dieser Sportler dabei gefühlt und erlebt hat. Seine Gedanken, seine Gefühle, der Moment, in dem seine Skier auf den Schnee aufgetroffen sind, der Jubel der Zuschauer… Man bekommt das alles so naturgetreu mit, als wäre man selbst der Skispringer. Ein faszinierendes Konzept, nicht wahr, Mr…« Er lächelte etwas zu freundlich. »Foster. Simon Foster.« »Mr. Foster. Wie ich eben sagte, liegt dieses Verfahren voll im Trend. Unglücklicherweise sind kopierte Erinnerungen nicht immer so lebensecht, wie manche sich das wünschen. Man erlebt sie wie einen zu oft überspielten Videofilm. Die Farben sind ausgewaschen und fransen an den Rändern. Dabei ist das doch gerade der Knackpunkt bei der elektronischen Unterhaltung, nicht wahr? Das Vorgeführte so lebensecht wie möglich zu machen, so daß man das Gefühl erhält, man sei selbst dabei.« »Worauf wollen Sie hinaus?« »Nun hat sich ein Markt für Kenner entwickelt, für Personen, die nach intensiveren Erfahrungen suchen. Und dazu bedarf es keiner Kopie, sondern einer direkten Transferierung.« Er lief um den Stuhl herum und strich mit den Fingern sanft, fast zärtlich über die Geräte. »Zur Befriedigung solcher Wünsche schneiden wir auf elektronischem Wege Erinnerungen heraus. Eine Minute, eine Stunde, ein Jahr, zehn Jahre… wir können
ganz spezifische Erinnerungen herausholen und sie lagern.« Er starrte Simon erwartungsvoll an und fügte rasch hinzu: »Natürlich ist das Verfahren so gut wie schmerzlos.« »Und illegal.« »Ganz und gar illegal. Aber dafür gewinnt man etwas wirklich Echtes. Keine verzerrte, verwaschene Realität, sondern ein destilliertes Stück Wirklichkeit. Für den Käufer erweist sich das Risiko als lohnend. Liebe, Sex, Haß, die kleinen Dinge des Lebens, einfach alles… unser größter Traum wird erfüllt: einen Blick in die Existenz eines anderen zu werfen. Und auf die, die ihre Erinnerungen verkaufen, wartet ein hübscher Lohn.« »Ich fürchte, ich habe in meinem Leben noch nichts Tolles erlebt…« »Darauf kommt es doch gar nicht an«, entgegnete Quint. »Sehen Sie sich nur die Seifenopern im Fernsehen an, Mr. Foster. Keine Außerirdischenspektakel, keine sonstigen Katastrophen. Aber die Drehbuchschreiber und Regisseure dieser Serien schätzen den Voyeurismus der Allgemeinheit richtig ein. Und ich selbst kenne mich damit auch aus.« Simon betrachtete den Stuhl und spürte, wie sein Mund austrocknete. Eigentlich nicht mehr als ein Möbelstück, aber er zusammen mit diesem Stuhl in einem Raum erweckte in ihm das Gefühl, etwas Schmutziges zu tun und davon befleckt zu werden. Fünfundsechzig Dollar. Dir bleiben fünfundsechzig Dollar für den Rest deines Lebens. Worüber regst du dich also auf? »Ich weiß nicht«, sagte Simon. »Ich meine, wieviel würde denn dabei für mich herausspringen?« »Das kommt auf das an, was ich bei Ihnen finde. Mit den Erinnerungen verhält es sich wie mit einer alten Münze, Mr. Foster. Sie mögen sie für wertlos halten, aber für einen Sammler stellt sie vielleicht eine Rarität, eine kleine Kostbarkeit dar.« Er schaltete die Glühbirne aus, und der
Raum wurde wieder in Dunkelheit getaucht. Er fand Simons Ellenbogen und führte ihn in den Laden zurück. Das Licht dort stach in Simons Augen. »Jeden Tag vergessen wir etwas aus der Vergangenheit«, erklärte der Pfandleiher. »Es nützt uns gar nichts, in Dingen zu schwelgen, die wir doch nicht behalten können. Warum also nicht das Vergängliche einem anderen verkaufen, damit er sich daran erfreuen kann? Wenn ich vor die Wahl gestellt würde, mich an irgend etwas zu erinnern, was sich vor fünfzehn Jahren oder so ereignet hat, oder heute in einem feinen Restaurant eine tolle Mahlzeit zu mir zu nehmen, nun, dann würde ich…« Simon näherte sich der Ladentür. »Ich muß darüber nachdenken.« »Selbstverständlich, natürlich«, erwiderte der Pfandleiher. »Anders geht es auch nicht. Denken Sie in Ruhe über alles nach. Und wenn Sie so dasitzen, Mr. Foster, dann bedenken Sie folgende Frage: Was haben Ihre Erinnerungen in der letzten Zeit für Sie getan?« Simon schloß die Tür hinter sich, warf noch einen kurzen Blick zurück, zog die Jacke fester zusammen und lief die Straße hinunter. Simon trug die kleine Tüte mit Lebensmitteln die Treppe zu seiner Wohnung hinauf. Die Tüte war erschreckend leicht. Verblüffend, wie wenig man heutzutage für fünfzehn Dollar einkaufen konnte. Er hatte die Tür fast erreicht, als er das Geräusch hörte, dem er zu entgehen gehofft hatte. Die Tür im ersten Stock öffnete sich; dort, wo der Hausverwalter wohnte. »He, Sie, Foster!« Simon blieb stehen. »Ja, Mr. Ferelli?« Ein dürrer, drahtiger Mann in einem Jogging-Anzug erschien am Fuß der Treppe. »Für den Fall, daß es Ihnen noch nicht bekannt sein sollte, die Miete ist jeweils am ersten des Monats
fällig. Heute haben wir schon den sechsten. Entweder habe ich morgen das Geld, oder ich schmeiße Sie raus, daß Sie mit Ihrem Arsch auf der Straße landen!« Simon nickte und lief die letzten Stufen hinauf. »He, haben Sie verstanden?« Simon schloß die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen. Und ob er verstanden hatte.
Die Nächte wurden kühler. Der Geruch des Eintopfs, der auf seiner Kochplatte stand, tat ihm gut; auch wenn das Verfallsdatum auf der Dose schon überschritten war. Als der Eintopf brodelte, stellte er die Platte ab und goß den Inhalt des Topfs auf einen Teller. Er ließ ihn zum Abkühlen stehen, ging zur Kommode und zog sich eine Strickjacke über. Auf dem Weg zurück in die kleine Küche knöpfte er die Jacke zu. In seinem Teller schwamm etwas. Er hob es mit einem Löffel aus dem Eintopf. Es hatte Beine. Eine Küchenschabe. Sie mußte in die dicke Suppe gefallen sein, als er sich die Strickjacke angezogen hatte. Der Gedanke kam wie aus weiter Ferne zu ihm. Küchenschabe. Die Konservendose hatte ihn zwei Dollar gekostet. »Verdammte Scheiße!« Er schlug mit der Faust so hart auf den Tisch, daß er schon befürchtete, das Holz wäre zerbrochen. Das Möbel wackelte jedoch nur kurz. »Verdammte Scheiße!« In einem Anflug von Verzweiflung trug er den Teller zum Ausguß, hob vorsichtig mit dem Löffel das Ungeziefer heraus. Er besorgte sich einen neuen Löffel, kehrte mit dem Teller zum Tisch zurück und schloß die Augen. Er versuchte, sich den Eintopf vorzustellen, wie er vor dem Küchenschabenbefall gewesen war: warm, wohlriechend und einladend. Er schob
den Löffel in die dicke Suppe und führte ihn an die Lippen… und hielt kurz davor inne. »Es ist nicht fair«, murmelte er. »Einfach nicht fair, nicht fair!« Er erhob sich und warf den Teller in das Spülbecken. Er zerbrach wie Glas. »Das war meine letzte Konservendose! DIE LETZTE DOSE! Es ist nicht fair, es ist einfach nicht fair!« Und damit hatte er nicht unrecht. Simon stand mit einem flauen Gefühl im Magen vor der Eingangstür zur Pfandleihe. Wie bereits beim letzten Mal hielt sich niemand im Laden auf. Er trat ein, schloß die Tür laut hinter sich, und einen Moment später erschien Mr. Quint hinter dem Tresen. »Es ist einfach nicht fair, nein, ganz und gar nicht«, erklärte Simon. »Das meiste im Leben ist nicht fair, Mr. Foster.« Er öffnete die Tür zum hinteren Raum und schob Simon hinein. Simon fühlte sich wie betäubt. »Ich habe eine Bestellung von einem Mann bekommen, der High-School-Graduierungen sammelt«, verkündete der Pfandleiher und schloß die Tür.
… Ein Wirbel von Farben und Gesichtern, die sich verbogen und verzerrten, während sie herausgerissen und irgendwohin in die Dunkelheit abgesaugt wurden. Alle, wie sie da waren, Ben und Mrs. Massie, seine Mutter und sein Vater… So stolz saßen sie auf den Holzbänken, und die Sonne brannte heiß vom leeren Himmel. Die Stimmen, die einander wie kleine Wellen überlappten… Die Abschlußklasse von 1966… So stolz, dazuzugehören… Die beste Punktezahl auf dem Zeugnis… Heißen Sie bitte den jungen Mann willkommen, der die
Abschlußrede halten wird… Richard Fleming, Michael Flores, Karen Ford, Simon Foster…
»Mr. Foster? Mr. Foster!« Quints Gesicht tauchte aus der Dunkelheit auf, nur wenige Zentimeter vor Simon. Er schlug Simon mit der flachen Hand ins Gesicht, mehrmals, nicht fest, aber spürbar. Simon blinzelte. Als er sich aufsetzen wollte, kam der Brechreiz wie eine Flutwelle in ihm hoch. Er ließ sich zurückfallen. »Ist mit Ihnen alles in Ordnung, Mr. Foster?« Simon leckte sich über die spröden Lippen. So trocken sie auch waren, sie reagierten sehr sensibel auf seine Zungenspitze. »Ja… doch, ich denke schon.« »Beim ersten Mal ist es immer am schlimmsten.« Er reichte Simon einen Pappbecher mit Wasser und half ihm, ihn festzuhalten. »Trinken Sie das. Aus irgendeinem Grund scheint das Verfahren den Probanden zu dehydrieren.« Simon trank das Wasser in kleinen Schlucken, während der Pfandleiher sich an der Konsole zu schaffen machte. Aus irgendeinem Grund… ging es Simon durch den Kopf, und die Bedeutung dieser Worte wurde ihm nur langsam klar. Natürlich hat er keine Ahnung, wie dieses Verfahren funktioniert. Und das braucht er ja auch nicht! Quint drückte ein paar Schalter und Knöpfe. Dann betrachtete er den Monitor. Farben spiegelten sich auf seinem Gesicht wider, tanzten auf und ab. Simon fragte sich, was der Mann auf dem Bildschirm sehen mochte? Digitalisierte Erinnerungen, eine Schwarzweißwiedergabe oder eine dreidimensionale Darstellung von seiner Abschlußfeier? Die Erinnerung, die man ihm herausgeschnitten hatte, die nun unabhängig von ihm existierte.
Er suchte in seinen Gedanken, bemühte sich ohne Erfolg, wenigstens ein Gesicht oder einen Eindruck von jenem Tag wiederzufinden. Alles war fort, wie eine Telefonnummer, die man irgendwann vergißt und die einem nie wieder einfällt. »Ein perfekter Transfer«, bemerkte Quint und schaltete die Anlage ab. »Wie fühlen Sie sich?« »Okay. Eigentlich genauso wie vorher, bis auf…« »Bis auf den Umstand, daß sich in Ihrer Erinnerung eine kleine Lücke findet. Nur so winzig.« Er hielt Daumen und Zeigefinger ein paar Millimeter auseinander. »Alles, was sich an jenem Tag zwischen acht und zwanzig Uhr ereignet hat, ist fort. Zwölf Stunden, einfach weg. Und fehlt Ihnen deshalb etwas? Nein. Ich würde sogar behaupten, der Verlust hat Sie um einiges reicher gemacht.« Mit diesen Worten überreichte er Simon einen Umschlag. Er brauchte ihn nicht zu öffnen, um zu wissen, daß sich darin sein Honorar befand. Der Umschlag fühlte sich gut an, nicht übermäßig dick, aber ausreichend. Quint half ihm aus dem Stuhl. Simon schwankte, bewegte sich dann aber allein weiter. »Ich schätze, ich schaff es jetzt allein.« »Ausgezeichnet. Nun, es war eine Freude, mit Ihnen Geschäfte zu machen, Mr. Foster. Beim nächsten Mal, wenn Sie…« »Nein«, entgegnete Simon, »es wird kein nächstes Mal geben. Ich benötigte nur etwas Bargeld zur Überbrückung. Nicht mehr und nicht weniger. Vielen Dank für Ihre… Ihre Hilfe, aber ich bin der Ansicht, einmal ist mehr als genug.« Der Pfandleiher zuckte die Achseln. »Ganz wie Sie möchten. Doch wenn Sie es sich anders überlegen sollten, wissen Sie ja, wo ich zu finden bin. Ich garantiere Ihnen, daß ich Ihnen stets einen guten Preis machen kann.«
Quint führte ihn aus dem Raum und blieb am Tresen stehen, während Simon ohne bestimmtes Ziel davonlief. Der Umschlag in der Brusttasche seines Hemds fühlte sich warm an. Zwölf Stunden. Einen halben Tag, den er wohl kaum vermissen würde, wenn er sich dafür ein paar Wochen lang keine Sorgen darüber machen mußte, wo er seine nächste Mahlzeit herbekommen sollte. Wenn er es recht bedachte, war das bestimmt nicht das schlechteste Geschäft gewesen, das er in seinem Leben abgeschlossen hatte. Wenn er nur wüßte, warum er sich so beschmutzt fühlte… Simon zählte dreihundertfünfundzwanzig Dollar aus dem Umschlag ab und reichte sie dem Hausverwalter. Der Mann nahm die Summe mit einem Blick entgegen, der Simon an den toten Fisch erinnerte, den er einmal am Strand gesehen hatte, der bereits über eine Woche dort gelegen haben mußte. Er wandte sich ab und wollte schon gehen, als der Hausverwalter ihm eine Hand auf die Schulter legte. »Plus die Miete für den nächsten Monat. Neue Vorschrift. Hier ziehen viele ebenso rasch ein wie wieder aus. Der Hausbesitzer sagt, wir brauchen da eine kleine Sicherheit.« Er legte eine Kunstpause ein, damit Simon den Sinn der Worte erfassen konnte. »Nutzt außerdem, die schrägen Vögel abzuschrecken.« »Hören Sie, Sie können doch nicht einfach…« »Nein, kann ich nicht?« entgegnete er in gespieltem Erstaunen. »Passen Sie auf, was ich Ihnen zu sagen habe: Warum laufen Sie nicht zum Wohnungsamt und beschweren sich dort? Wenn Sie dann hierher zurückkommen, stellen Sie vielleicht fest, daß Ihre Wohnung schon anderweitig vergeben ist. Aufgrund einer dieser Computerfehler, von denen man soviel hört.« Drecksack, dachte Simon, sprach es aber nicht laut aus, sondern legte dem Hausverwalter weitere Scheine in die ausgestreckte Hand.
Simon lief nervös auf und ab, fand keine Ruhe, sich hinzusetzen. Für das anstehende Vermittlungsgespräch hatte er seinen besten Anzug aus der Kommode geholt und ihn reinigen und bügeln lassen. Bloß keine Falten in den Stoff bringen! Auf dem Tisch lag der Rest seines Honorars. Etwas mehr als dreißig Dollar. Soweit war er mit seinem Geld gekommen, und jetzt erfolgte die Wende, der Durchbruch. Es mußte einfach etwas passieren! Als der Vid-Schirm klingelte, schaltete er ihn bereits beim ersten Klingeln ein. Die undurchschaubare Miene der Beraterin erschien. »Hallo«, grüßte Simon ein wenig zu freundlich, wie er sich sagte. Die Beraterin nickte nur. »Sie haben um einen Termin gebeten. Was kann ich für Sie tun?« Simon suchte nach den passenden Worten. Er hatte eigentlich erwartet, etwas anderes zu hören. »Na ja, sechs Wochen sind wieder einmal vorbei. Eine neue Überprüfung steht an.« Sie zuckte zusammen und blätterte in den Papieren, die vor ihr lagen. »Ja, die sechs Wochen sind wieder vorbei. Tut mir leid, Mr. Foster, aber für Ihre Qualifikation… da ist noch nichts eingegangen. Sie müssen sich eben noch etwas gedulden, bis eine entsprechende Stelle freigeworden ist.« »Aber ich habe mich doch schon vor zwei Wochen bei Ihnen gemeldet, und da sagten Sie mir, etwas sei im Entstehen.« »Manchmal ändern sich die Dinge ziemlich rasch, Mr. Foster. Tut mir sehr leid, aber Sie müssen weiter warten. Sobald wir etwas über eine für Sie passende, freie Stelle erfahren, geben wir Ihnen umgehend Bescheid. Mehr kann ich Ihnen im Augenblick leider nicht sagen. Guten Tag, Mr. Foster.« Ein Klicken. Das Ende des Gesprächs. Simon schaltete den VidSchirm ab. Auf dem Weg zurück fiel ihm seine Barschaft auf
dem Tisch ins Auge. Dreißig Dollar. Das reichte gerade für zwei Tage. Und dann… Nein, du wirst es nicht tun. Du hast es einmal über dich ergehen lassen, weil dir sonst wirklich nichts mehr übriggeblieben ist. Aber noch mal, niemals!
Fünf Dollar. Simon hockte nahe am Fenster auf seinem Bett und hielt das Jahrbuch seiner Abschlußklasse so auf dem Schoß, daß die letzten Sonnenstrahlen des Tages darauf fielen. Er blätterte darin, lächelte bei verschiedenen Gesichtern und bei den Aufnahmen von den Schulausflügen, Sportveranstaltungen und Festen. Fünf Dollar. Er erinnerte sich bei den meisten Gesichtern an die dazugehörigen Namen und nickte, wenn er die altvertrauten Gebäude wiedererkannte. Dann erreichte er die Doppelseite mit dem Panoramabild von der Abschlußfeier. Da saßen sie alle auf den langen Holzbänken, im Talar und mit viereckiger Mütze, und lächelten in die Kamera. Simon entdeckte sich selbst auf der Aufnahme. Er fuhr mit der Fingerspitze darüber, hoffte, daß aus irgendwelchen Tiefen eine Erinnerung an die Oberfläche dringen würde. Aber da kam nichts. Das Foto hätte genausogut einem anderen Simon Foster gehören können. »Fort«, sagte er leise, und die Stille des Raums umschloß das Wort. Fünf Dollar. Mehr war ihm nicht geblieben. Er klappte das Jahrbuch heftig zu und verließ seine Wohnung.
Als Simon die Pfandleihe betrat, kam ihm der verrückte Gedanke, Quint könnte die ganze Zeit auf ihn gewartet haben, denn der Mann stand an derselben Stelle am Tresen, an der er ihn damals verlassen hatte. »Sie haben Glück«, sagte der Ladenbesitzer, so als hätten sie nie aufgehört, sich zu unterhalten. »Ich habe gerade einen Anruf erhalten. Jemand interessiert sich für Geburtstage.« Simon schloß die Tür hinter sich. Sie fiel zu laut ins Schloß.
Er saß auf dem Stuhl. Wünsch dir etwas… Woher hast du das gewußt?… Das ist von Tante Sara, jede Wette, wieder Socken… Darf ich etwas länger ausgehen? Er saß auf dem Stuhl. Oh, sieh nur, Lieber, er macht seinen ersten Schritt! Er saß auf dem Stuhl. Und sie nahmen ihm seinen Universitätsabschluß. Und sein erstes Jahr auf dem College. »Für die Tochter eines meiner Klienten. Sie besucht bald das College. Sie möchte wissen, was sie da erwartet, und wozu benötigen Sie diese Erinnerungen noch? Ist doch bloß ein Semester, sechs Monate…« Er saß auf dem Stuhl. Sie nahmen ihm den Zirkusbesuch, als er zehn Jahre alt gewesen war. Und sein zweites Jahr auf dem College. Und sein erstes Rendezvous mit einem Mädchen. Ich wollte nur sagen, es war einfach… Du bist ein toller Tänzer. Vielen Dank. Es war sehr nett, aber ich muß jetzt hineingehen. Aber ich werde diesen Abend nie vergessen, niemals…
Er saß auf dem Stuhl. Und sie nahmen ihm Stück für Stück seine Erinnerungen. Und bezahlten ihn gut dafür.
Simon erwachte vom störenden Geräusch des Weckers an seinem Ohr. Er zwang sich dazu, sich aufzusetzen, und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Eine Stunde blieb ihm noch, bevor die Beraterin vom Arbeitsamt sich bei ihm melden würde. Solche Leute waren immer pünktlich. Immer. Er wankte ins Badezimmer und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Er mußte fit und wach sein. Sechs Wochen waren wieder vorbei. Diesmal würde es ganz bestimmt klappen, er spürte es. Eine Stunde später saß er vor dem Vid-Schirm, richtete seine Krawatte und überprüfte sich ein letztes Mal im Spiegel. Der Apparat klingelte. Er schaltete ihn sofort ein. Das Gesicht der Beraterin zeigte sich. Er lächelte sie an. Im Gesicht zuckten die Mundwinkel ein winziges bißchen nach oben. »Pünktlich, Mr. Foster. Sehr schön.« »Danke.« »Wie wir Ihnen bereits in unserem letzten Schreiben mitgeteilt haben, gibt es eine freie Stelle als Mechaniker, für die Sie möglicherweise die geeignete Qualifikation besitzen. Allerdings muß ich Ihnen ein paar Fragen stellen. An welcher High-School haben Sie Ihren Abschluß gemacht?« Abschluß? Ich? Nein, halt, das stimmt ja. »In Clifford, äh, CliffordvilleHigh-School, in Madison.« »Dort haben Sie auch zwei Jahre die Junior-High-School besucht?« »Das ist richtig.« »Welches Hauptfach hatten Sie belegt?« Simon zögerte. »Ich denke… ich glaube, es war…« »In Ihren Unterlagen steht Ingenieurwesen.«
»Ja. Geben Sie mir eine Minute, ich habe die Zeugnisse hier irgendwo liegen.« »Es tut mir leid, Mr. Foster, aber unsere Zeit ist knapp bemessen. Wenn Sie heute nicht für das Vermittlungsgespräch bereit sind, hätten Sie uns das mitteilen sollen.« Simon verkrampfte sich. Er konnte es sich nicht leisten, jetzt zu versagen. »Nein, nein, entschuldigen Sie bitte. Fahren Sie fort.« Sie blickte auf die Unterlagen, die sich vor ihr auf dem Tisch befanden. »Bitte beschreiben Sie kurz Ihre Ausbildung in diesem Fach.« Simon kämpfte um die Erinnerung, aber seine Gedanken fanden stets nur ein Loch, wie eine Zungenspitze, die gegen eine Zahnlücke stößt. »Nun, ich habe hart gearbeitet und eine sehr gründliche Ausbildung erhalten. Ich kam dabei mit den unterschiedlichsten Tätigkeitsbereichen in Berührung, und… nun ja, es ist nicht leicht zu beschreiben.« »Ich benötige etwas spezifischere Angaben, Mr. Foster.« Er öffnete den Mund, um etwas zu antworten, aber kein Ton kam über seine Lippen. Er suchte verzweifelt nach Fragmenten, nach irgend etwas, was er ihr mitteilen konnte. Aber da war nichts mehr. Gar nichts. »Ich…« Das Gesicht auf dem Schirm löste sich von den Formularen und starrte ihn an. »Es tut mir leid, Mr. Foster, aber wenn Sie sich nicht kooperativ verhalten, kann ich kaum etwas für Sie tun.« »Ich will mich kooperativ verhalten. Es ist nur… manchmal ist es so schwierig…« »Es ist für uns alle schwierig, Mr. Foster. Am heutigen Montag beträgt die Arbeitslosenquote zweiunddreißig Prozent. Ich muß wohl nicht besonders darauf hinweisen, daß wir mehrere Bewerber für diese Stelle haben.«
»Wenn Sie nur noch einen Moment warten könnten, es fällt mir gleich wieder ein… Verstehen Sie doch, es ist schon so lange her… Geben Sie mir doch eine Chance!« »Ich fürchte, Sie haben Ihre Zeit bereits überschritten, Mr. Foster. Ich betrachte Ihren Antrag als zurückgezogen…« Simon sprang auf und näherte sich dem Bildschirm. »Nein, warten Sie, nur noch eine Minute. Bitte, das können Sie mir doch nicht antun… Ich brauche den Job ganz dringend!« »Vielleicht bereiten Sie sich auf das nächste Vermittlungsgespräch etwas gründlicher vor.« »Begreifen Sie denn nicht?« schrie er, ohne sich dessen bewußt zu werden. »Ich bin so gut wie pleite! Und so kann es beim besten Willen nicht mehr weitergehen. Sie müssen mir zuhören, es ist doch nicht meine Schuld!« »Wenn Sie einen neuen Termin wünschen, geben Sie uns bitte rechtzeitig Bescheid. Bis dahin ziehen wir Ihren jüngsten Antrag aus der Bearbeitung zurück. Einen schönen Tag noch, Mr. Foster.« Sie verschwand vom Schirm. Er umklammerte die Anlage mit beiden Händen, so als könnte er auf diesem Weg zu der Bearbeiterin durchdringen, könnte an Jobs und feste Stellungen gelangen. »So kann es mit mir nicht weitergehen!« heulte er. »Verstehen Sie das denn nicht? Sie müssen mich anhören! Kommen Sie zurück! Kommen Sie zurück, verdammt noch mal!« Nach einer Weile setzte er sich müde in seinen Sessel und schaukelte langsam in den Sonnenstrahlen, die durch die Jalousien von draußen eindrangen. Erst in sechs Wochen würde er den nächsten Termin bekommen. Sechs lange Wochen. Beim nächsten Gespräch würde er es besser machen. Es blieb ihm auch kaum etwas anderes übrig.
Simon betrat die Pfandleihe. Die kleine Glocke über der Tür kündete wie üblich sein Erscheinen an. Mittlerweile hatte er einen unglaublichen Haß auf die Glocke entwickelt. Niemand erschien hinter dem Tresen. »Mr. Quint?« Simon näherte sich zögernd dem Tresen. Zum wiederholten Mal ging er in Gedanken das durch, was er dem Ladenbesitzer erklären wollte: Mr. Quint, ich kann Ihnen nichts mehr verkaufen, was meine zukünftige Anstellung beeinträchtigen könnte. Falls Sie an anderen Erinnerungen Interesse haben, können wir gern darüber reden. Natürlich würden sie reden. Simon hatte diesen Besuch so lange wie möglich aufgeschoben, bis jetzt, wo ihm nur noch einige wenige Dollar geblieben waren. Doch ganz gleich, wie verzweifelt seine Lage heute sein mochte, er würde sich nicht von seiner Entscheidung abbringen lassen. Das ging jetzt beim besten Willen nicht mehr. Nach ein paar Minuten öffnete sich die Tür hinter dem Tresen, und Quint trat heraus. Ihm folgte eine junge Frau in Simons Alter. Sie wirkte blaß und mitgenommen, als sei sie mit allem am Ende. Ihre Hand zerdrückte einen leeren Pappbecher. Als sie Simon bemerkte, wich sie seinem Blick aus. Sie schämte sich. Großer Gott, nein! dachte Simon. Der Pfandleiher öffnete die Kasse und reichte der Frau einen Umschlag. Sie steckte ihn wortlos ein und huschte zur Tür. Als sie an Simon vorbeikam, sah sie kurz hoch. Tränen standen in ihren Augen. Simon hatte den Eindruck, sie wollte etwas sagen. Aber sie eilte weiter auf die Tür zu, rannte nach draußen und war fort. Die Glocke klingelte leise, um ihren Abgang zu verkünden. »Wie schön, Sie zu sehen, Mr. Foster«, grüßte Mr. Quint, so als sei nichts geschehen.
Simon wandte den Blick von der Tür und sah den Ladenbesitzer an. »Großer Gott, wie viele? Wie viele haben Sie noch?« »Sie meinen die Dame?« Er zuckte die Achseln. »Ich betreibe hier ein Geschäft, Mr. Foster. Wie bei jedem funktionierenden Laden bedarf es dafür eines bestimmten Volumens und einer gewissen Abwechslung in der Produktpalette. Man muß auf die Strömungen und Veränderungen am Markt reagieren können. Ich kann mir kaum vorstellen, daß Sie der Ansicht waren, Sie seien mein einziger Proband.« Simon hatte das dringende Bedürfnis, nach draußen zu gehen, wo bessere Luft herrschte, bloß weg von hier. »Ersparen Sie mir bitte theatralische Gesten«, mahnte Mr. Quint. »Sie gehen ja doch nicht. Und wenn doch, sind Sie über kurz oder lang wieder hier. Menschen Ihres Schlages kommen immer wieder zurück.« Simon drehte sich zu ihm um. Er spürte, wie sein Gesicht brannte. »Ja, wir kommen immer zurück«, entgegnete er. »Denn ein Laib Brot kostet drei Dollar, und Fleisch bekommt man höchstens noch auf dem Schwarzen Markt. Wenn ich mich so umsehe, bemerke ich eigentlich nur einen, der regelmäßig ißt: Sie!« »Ich zahle Ihnen einen fairen Preis für das, was Sie anzubieten haben.« »Aber es ist nicht genug! Wer sind Sie, daß Sie darüber entscheiden, ob eine Erinnerung ein paar Cents, eine Stunde vielleicht einen Dollar und eine besonders interessante Begebenheit immerhin fünf Dollar wert sind? Wer gibt Ihnen das Recht, meine Lebens Stationen mit Preisschildchen zu versehen?« »Das tue ich nicht«, erwiderte der Pfandleiher. »Das haben Sie selbst getan.«
Simon fühlte sich, als hätte er einen Schlag ins Gesicht erhalten. Er suchte nach einer Entgegnung, aber plötzlich war ihm alles egal. Mr. Quint hatte recht. Verdammt noch mal, er hatte wirklich recht. Simon senkte den Blick, nickte und sagte schließlich versöhnlicher: »Ja, das habe ich wohl getan.« Er durchquerte den Laden und stellte sich vor den Besitzer. »Was wird denn heute gewünscht, Mr. Quint? Ein Besuch im Zoo? Eine Fahrt auf der Achterbahn? Warum nehmen Sie nicht meine erste Ehe und befreien mich damit von einer Menge Kummer?« »Kein Bedarf. Der Markt für Geburtstage und anderes konventionelles Zeugs ist abgesackt. Aber das wird sich bald wieder ändern, wenn man den Marktforschern Glauben schenken darf. Auch mit Schulerinnerungen ist im Moment nicht viel zu machen, denn schließlich haben wir große Ferien, und da denken die Leute an andere Dinge. Ich vermute, das hören Sie nicht ohne Erleichterung. Nein, Mr. Foster, heute bin ich nur an einer Sache interessiert. Wir brauchen eine Komplementärerinnerung zu dem, was die junge Dame von eben gegeben hat. Wir benötigen Ihre erste Liebesnacht.« Simons Knie drohten nachzugeben. Er schüttelte langsam den Kopf: »Nein…« »Ich kann Ihnen ein außerordentlich gutes Angebot machen.« »Nein, das geht nicht, Es muß doch noch etwas anderes geben…« »Tut mir leid, entweder akzeptieren Sie, oder Sie lassen es, aber im Augenblick bin ich nur daran interessiert. Schlagen Sie ruhig mein Angebot aus, und gehen Sie, aber ich weiß nicht, ob ich beim nächsten Mal etwas von Ihnen haben will. In meinem Geschäft bin ich auf zuverlässige Zulieferer angewiesen. Entweder machen wir beide zusammen Geschäfte, oder Sie kündigen mir die Zusammenarbeit auf. Dann würde ich Sie allerdings auffordern, mich zu verlassen.« Damit
verschwand Quint durch die Tür in den hinteren Raum, ließ sie aber einen Spalt weit offenstehen.
Sie hieß Carolyn. Sie hatte kastanienbraunes Haar, grüne Augen und eine rötliche Gesichtshaut. Dazu lange Beine wie eine Tänzerin und kleine, zierliche Brüste. Am Abend zuvor hatten sie sich gestritten, und heute kam er, um ihr Rosen zu bringen und sich zu entschuldigen. Als sie den Blumenstrauß sah, fing sie an zu weinen. »Liebe mich«, sagte sie leise, während die Tränen auf ihren Wangen trockneten. Er wollte gerade in sie eindringen, als sie sein Gesicht zwischen ihre Hände nahm. Sag mir, daß du mich liehst… Sei nicht albern, ich – Es ist nicht albern. Sag mir nur, daß du mich liebst. Ich will noch nicht einmal wissen, ob du es ehrlich meinst oder nur so daherredest…Ich liebe dich… Werde dich immer und ewig lieben… Immer und ewig und ewig und ewig und… »Das reicht.« Simon zuckte zusammen. Er starrte an die Wand und regte sich nicht, als Quint die Elektroden und Schläuche von ihm entfernte. Er versuchte, sich Carolyns Gesicht ins Gedächtnis zurückzurufen, stöberte nach einer noch so kleinen Erinnerung an jene Nacht, aber er fand nur noch Nebel. Weg, alles weg. »Ich sagte, es ist genug, Mr. Foster. Sie dürfen jetzt aufstehen. Ihr Honorar liegt auf dem Tresen.« Simon nahm den Pappbecher und leerte ihn mit einem Zug. Das Verfahren wurde nicht einfacher oder angenehmer. Er erhob sich aus dem Stuhl, bewegte sich auf den Ausgang zu und blieb sofort wieder stehen. Er betrachtete die Konsolenwand und näherte sich langsam den Monitoren, Bildschirmen und Ausdrucken. Er entdeckte nur endlose Zahlenkolonnen, die vor seinen Augen verschwammen. »Das ist sie, nicht wahr?«
»Halten Sie sich bitte von der Ausrüstung fern!« rief Quint ihm von der Tür zu. »Sie ist sehr empfindlich, und Sie, Mr. Foster, könnten leicht etwas beschädigen.« »Jemand hat mir einmal gesagt«, entgegnete Simon, »daß man sich immer an das erste und an das letzte Mal erinnert, aber nur selten an das zweite Mal. Ich schätze, ich bin jetzt die Ausnahme von der Regel.« »Gut gesagt, Mr. Foster. Wenn Sie jetzt bitte von der Ausrüstung zurücktreten möchten…« Simon drehte sich zu dem Pfandleiher um. »Ich will sie zurückhaben. Ich habe es mir anders überlegt.« »Sorry, ein Rücktrittsrecht gibt es nicht. Nun nehmen Sie Ihr Honorar und verschwinden Sie.« Simon marschierte auf den kleineren Mann zu, und der wich vor ihm zurück. »Ich sagte, ich will sie zurückhaben. Sie soll wieder in meinem Kopf wohnen, wo sie hingehört. Ich will mein ganzes Leben wieder komplett haben.« Er packte Quint am Arm, bevor der Ladenbesitzer verschwinden konnte. »Sie haben mein Leben. Geben Sie es mir zurück. Geben Sie mir mein Leben zurück!« »Lassen Sie mich los!« schimpfte Quint und mühte sich, sich aus dem Griff zu befreien. »Lassen Sie mich los!« Quint kam frei, zerriß sich dabei das Hemd und rannte aus dem Raum. Simon setzte ihm nach und entdeckte, daß der kleine Mann unter den Tresen griff… Ein Revolver! Er schlug Quint nieder, sie wälzten sich über den Boden, kämpften um die Schußwaffe. Simon umschloß die Rechte des Pfandleihers, und mit der Linken gelang es ihm schließlich, ihm den Revolver zu entreißen. Er rollte sich von dem kleineren Mann weg, sprang auf und richtete mit beiden Händen die Waffe auf den Ladenbesitzer. Quint kam langsam wieder hoch. Simon stellte sich ihm entgegen. »Ich will mein Leben zurück, verdammt noch mal!«
»Ich habe es nicht mehr! Ich habe alles verkauft! Begreifen Sie denn nicht? Hier ist nichts mehr von Ihnen!« »Dann holen Sie es zurück!« »Das geht nicht!« Simon spannte den Hahn. Er brauchte nicht in einen Spiegel zu blicken, um zu wissen, daß Wahnsinn in seinen Augen funkelte. »Dann würde ich Ihnen raten, es mit aller Kraft zu versuchen«, knurrte Simon, »denn ich habe wirklich nichts mehr zu verlieren. Ich will ein Leben, ein vollständiges Leben. Und zwar sofort!« »Also gut!« Der Pfandleiher leckte sich nervös über die Lippen. »Es… gäbe da eine Möglichkeit. Aber sie ist nicht perfekt.« »Was ist im Leben schon perfekt, haben Sie selbst einmal gesagt, Mr. Quint!« Simon Foster wartete in seinem Zimmer vor dem VidSchirm. Er trug seinen besten Anzug. Ruhig wartete er auf das Läuten des Anrufs vom Arbeitsamt. Endlich ertönte es, und er lächelte das Gesicht an, das auf dem Schirm erschien. Er fühlte sich ausgezeichnet. Er war voller Selbstvertrauen. Er war wieder komplett. Die Beraterin erwiderte sein Lächeln, doch es wirkte bei ihr falsch und aufgesetzt. »Pünktlich wie immer.« »Ja, wie immer.« »Wir haben einen neuen Antrag von Ihnen erhalten, Mr. Foster. Sehr professionell abgefaßt, das muß ich schon sagen. Haben Sie dafür einen Service in Anspruch genommen?« »Nein, Madam, ich habe ihn selbst aufgesetzt und getippt.« »Tatsächlich?« Sie blickte hinab auf die Formulare vor ihr. »Ja, da steht es ja. Sie haben unter der Rubrik Stellengesuche diesmal auch Büroangestellter/Sekretär angegeben. Und ich entdecke hier noch ein paar andere Berufe. Wo haben Sie das denn alles gelernt?«
»Ich habe drei Jahre lang Schreibmaschineschreiben auf dem Sorworth-College belegt. Steht alles im Lebenslauf.« Die Beraterin sah ihn stirnrunzelnd an. »Aber Sorworth war damals ein reines Mädchen-College.« Simon nickte. »Und ich habe dort am 12. Juni des angegebenen Jahres meinen Abschluß gemacht. Und im folgenden Jahr habe ich am 1. Juli meinen nächsten Abschluß gemacht. Danach habe ich die LennoxHigh-School besucht und dort meinen Abschluß gemacht. Schließlich auch auf der Chula-Vista-High-School. Habe ich die Matawan-Regional-High-School erwähnt?« »Mr. Foster«, begann die Beraterin streng und machte ein ernstes Gesicht. Aber Simon ließ sich nicht aufhalten. Er wußte, daß von nun alles gut für ihn laufen würde. »Das war kurz nach meiner Rückkehr aus London. Habe ich gesagt, daß ich zwei Kinder habe? Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem sie geboren wurden. Für mich ein sehr bewegender Moment, denn schließlich bin ich ein Einzelkind. Und ja, an meinem fünften Geburtstag haben mein Bruder und meine Schwester mir dabei geholfen, alles für die Party zu dekorieren…« »Mr. Foster!« »Aber natürlich sind meine Zeugnisse und Abschlüsse das, worauf es hier und jetzt ankommt. Ich sollte vielleicht noch hinzufügen, daß ich fließend Deutsch spreche. Immerhin habe ich fast ein ganzes Jahr in Wien verbracht… oder war es Spanien? Ja, es war Spanien, wo ich als Dolmetscher, Busfahrer und Privatsekretär gearbeitet habe, bevor ich zwei Jahre als Internist im dortigen Institute de Neurologica tätig war…« Simon lächelte und redete weiter. Alles würde großartig für ihn werden.
SIMON FOSTER, EIN FLICKENTEPPICH AUS VERLORENEN TRÄUMEN, ZUSAMMENGEHALTEN VON DEN GESTOHLENEN TRÄUMEN ANDERER… EIN MANN, DER AM EIGENEN LEIB ERFAHREN DURFTE, DASS WIR DIE SUMME UNSERER TEILE SIND. MR. SIMON FOSTER, EIN GANZ BESONDERER BEWOHNER DER TWILIGHT ZONE.
Der eigenartige Fall des Edgar Witherspoon (Koautor Haskell Barkin)
Ein Wort zu Haskell Barkin. Ich kenne Haskell – für seine Freunde Huck – jetzt schon seit fünf Jahren. Als wir zum ersten Mal zusammenkamen, war er Drehbuchautor bei einer TV-Serie, bei der ich im Team arbeitete. Huck gehört zu den Menschen, denen man nicht ansieht, daß sie in Hollywood als Drehbuchautoren wirken. Er ist ruhig, spricht leise und tritt bescheiden auf. Sein Talent fürs Understatement ist fast so groß wie sein literarisches Vermögen. Obwohl wir nie etwas zusammen geschaffen haben, arbeitete ich immer gern mit ihm. Als ich dann zur Twilight Zone berufen wurde, galt einer meiner ersten Anrufe Haskell Barkin. Er kam wenig später zu uns und verkaufte uns eine Story: APPOINTMENT ON ROUTE 17, eine sanfte und bewegende Geschichte über einen Mann, der dank eines transplantierten Herzens völlig unerwartet an eine unvorstellbare Erbschaft gerät. Nachdem wir daraus ein Drehbuch erarbeitet hatten, riefen wir bei Huck an und forderten ihn auf, uns eine zweite Story einzureichen. Der neue Beitrag riß uns nicht vom Hocker. Wenn ich mich recht erinnere, ging es dabei um einen alten Mann, der an alle möglichen Leute Briefe mit der Bitte um Hilfe verschickt. Irgendwelche Dämonen kamen auch vor, und am Ende stirbt der alte Mann, und die ganze Wahrheit über seine Warnungen wird denen klar, die ihm vorher nicht zuhören wollten.
Obwohl wir von dieser Geschichte nicht gerade begeistert waren, interessierte uns doch die Figur des alten Mannes mit seinen Nöten und Zwängen, die ihm niemand glauben will. In dieser Figur lag etwas ganz Besonderes, und ich arbeitete daran wie ein Hund, der an einem Knochen nagt. Als ich nachts im Bett lag, kam mir die Idee, was daraus zu machen wäre. Ich begab mich in mein Arbeitszimmer und machte mir erste Notizen. Aus denen entstand ein zehnseitiges Expose. Schließlich gab ich die Geschichte – die kaum noch Ähnlichkeit mit Hucks Original aufwies – unserem Produzenten, der sie las und dem sie gefiel. Im Büro sagte man mir, ich solle die Story schreiben und als mein geistiges Produkt betrachten, denn mit Hucks Beitrag hatte das ja nichts mehr zu tun, und niemand würde auf die Idee kommen, mich des Diebstahls geistigen Eigentums zu bezichtigen. Und streng genommen hatten sie damit recht. Und streng genommen wäre sicher nicht einmal Huck darauf gekommen, daß ich mich seiner Vorlage bedient hatte. Aber so arbeite ich nicht. Die Story hätte nie das Licht der Welt erblickt, wenn Huck nicht auf meinen Anruf hin zu uns ins Büro gekommen wäre. Was mich anging, so war es immer noch sein geistiges Eigentum. Ich rief Huck an und bestellte ihn ins Büro. Als er eine Stunde später eintraf, reichte ich ihm meine Fassung und erklärte ihm, daß ich sie nicht als mein Werk ausgeben wollte. Die Geschichte wäre nie geschrieben worden, hätte es nicht seine Originalversion gegeben. Aber so arbeitet Huck nicht. Als sich der Rauch über unserem Schlachtfeld endlich lichtete und die Verwundeten versorgt worden waren, beschlossen wir, die Geschichte unter unserer beider Namen erscheinen zu lassen. Ich beharrte allerdings darauf, daß er als Autor der Fernsehfassung im Vorspann genannt werden und alle Tantiemen erhalten sollte.
Nach knapp einer Woche kam sein Drehbuch, und daraus entstand eine der besten Episoden der Serie. Obwohl er so gut wie jedes Wort aus meinem Expose übernommen hat, ist es allein Hucks genialem Gefühl für Humor und Charakterisierung zu verdanken, daß eine solche Story dabei herausgekommen ist und Edgar Witherspoon Leben eingehaucht wurde. Einige Zeit haben wir überlegt, die Rolle des Edgar Witherspoon mit Jonathan Winters zu besetzen, aber schließlich sind wir darauf gekommen, daß Harry Morgan die Idealbesetzung wäre, der am meisten Popularität durch seine Rolle als Colonel Potter in M.A.S.H. gewonnen hat. Morgan verlieh dem Charakter des Witherspoon einen ganz eigenen Ausdruck von gelindem Wahnsinn, der durchaus die Sympathien der Zuschauer zu gewinnen wußte. Wir waren vom Ergebnis der Dreharbeiten so begeistert, daß wir spontan beschlossen, diese Geschichte zur ersten Episode der neuen Twilight-Zone-Reihe zu machen. Nach über zehn Jahren des Drehbuchschreibens habe ich nur bei einer Handvoll Texten mit einem Koautor gearbeitet. Und diese Zusammenarbeit ist diejenige, auf die ich am meisten stolz bin.
DER EIGENARTIGE FALL DES EDGAR WITHERSPOON, nach einer Geschichte von Haskell Barkin und J. Michael Straczynski, Fernsehbearbeitung Haskell Barkin, ProduktionsNr. 87019, wurde unter der Regie von Rene Bonniere in der Woche vom 16.-21. Mai 1988 gedreht. Die Darsteller sind: Harry Morgan (Edgar Witherspoon), Cedric Smith (Dr. James St. Clair), Barbara Chilcott (Mrs. Milligan), Eve Crawford (Cynthia) und Pixie Bigelow (Sekretärin). Die Folge wurde zum ersten Mal am 25. Oktober 1988 ausgestrahlt.
Die Stimme, die aus Dr. James St. Clairs Büro drang und über den in der Nachmittagssonne glänzenden Rasen am Zentrum des Snug-Harbor-Hospitals tönte, rief: »Er ist verrückt! Genau das ist er! Ein Mondsüchtiger! Ein Wahnsinniger! Ein komplett Durchgedrehter!« In seinem hübsch eingerichteten Büro nickte Dr. James St. Clair verständnisvoll. Mrs. Milligan, die Vermieterin des von ihr als Verrückten Bezeichneten, war außer sich. Dank langjähriger Berufserfahrung wußte der Arzt, daß man Aufgebrachten am meisten damit half, wenn man sie gewähren ließ und ihnen ruhig und aufmerksam zuhörte. Cynthia Gaines, die Nichte des alten Mannes, um den es hier ging, schloß sich den Ausführungen der Vermieterin an. Bei ihr klang es allerdings nicht ganz so schlimm, blieb aber besorgniserregend: »Onkel Edgar ist ständig auf der Suche nach irgendwelchen… nun, Dingen!« »Welche denn zum Beispiel?« erkundigte sich St. Clair. Er drehte sich ein wenig in seinem Sessel, um Cynthia ansehen zu können. Dabei zupfte er unmerklich an seinen Hemdsärmeln, damit sie die vorgeschriebenen Zentimeter aus dem Jackenärmel herausragten. »Nun, Dinge wie… drei Büroklammern. Oder ein verchromter Kleiderhaken.« »Oder ein Steptanzschuh aus echtem Leder!« ergänzte Mrs. Milligan. Der Arzt nickte verständnisvoll. »Er wühlt in Mülltonnen herum«, sorgte sich Cynthia. »Und man sieht ihn öfters auf Mülldeponien.« »Er belästigt unentwegt die anderen Mieter im Haus!« beschwerte sich die Vermieterin. »An einem Tag sind es Fahrradspeichen. Am nächsten Baseballsammelbilder, die er ganz dringend bis spätestens 15.30 Uhr benötigt. Und bei wem
beschweren sich die anderen Mieter? Na, dreimal dürfen Sie raten!« St. Clair nickte, obwohl er langsam einen steifen Hals davon bekam, ständig zwischen der Nichte und der Vermieterin hin und her zu blicken. Er kam sich ein wenig wie bei einem Tennismatch vor, in dem der alte Mann als Ball fungierte. »Er läßt auch niemanden in seine Wohnung!« fügte Cynthia hinzu. »Nicht einmal mich, seine eigene Nichte!« »Und all der Abfall, den er dort anhäuft!« ereiferte sich Mrs. Milligan. »Die reinste Feuerfalle!« »Er wird sich eines Tages noch selbst Schaden zufügen!« »Und anderen dazu, vor allem mir!« »Er braucht wirklich dringend Ihre Hilfe.« »Gestern wollte er unbedingt bis spätestens achtzehn Uhr ein Jo-Jo haben!« »Bitte unternehmen Sie etwas!« Der Aufschlag ging damit an Dr. St. Clair. Der Arzt blickte noch einmal auf den Schnellhefter auf seinem Schreibtisch. In großen Buchstaben stand dort der Name des alten Mannes zu lesen: EDGAR WITHERSPOON. Er nickte verständnisvoll (davon konnte man nie genug zeigen) und lächelte. »Natürlich«, erklärte er, als seine Armbanduhr piepte und damit das Ende der Sprechstunde verkündete. Zeit für den Patientenbesuch.
Mrs. Milligan hatte ihm eine Adresse hinterlassen und auf einem Zettel aufgemalt, wie er dorthin gelangen konnte. St. Clair stand am nächsten Morgen pünktlich um neun Uhr vor dem Haus. Er suchte an den Briefkästen nach dem Klingelknopf und fand endlich WITHERSPOON, E. Er drückte auf den Knopf und wartete auf eine Reaktion. Nichts. Er drückte noch einmal, diesmal länger. Nichts.
»Seine Klingel ist kaputt!« Der Arzt trat vor das alte, braune Haus und blickte hinauf zu einem Fenster im ersten Stockwerk, aus dem Mrs. Milligan schaute. Sie trug Lockenwickler im Haar und hielt mit einer Hand züchtig den Morgenmantel vor ihrer Brust zusammen. »Ich schätze, er hat sie abgestellt«, fuhr sie fort. »Sie finden ihn dort unten.« Sie deutete auf eine schmale Treppe, die um das Haus herum zum Kellereingang führte. Er winkte ihr zu und stieg die zwölf Stufen hinab. Unten gelangte er in einen großen Lagerraum, ein langes und feuchtkaltes Gemäuer, in dem die Mieter seit den letzten zwanzig Jahren ihre ausrangierten Möbel und anderes überflüssiges Sperrgut abgestellt hatten. Ein Müllcontainer lehnte an einer Wand, und rechts neben dem Eingang zischte und fauchte ein Heizofen. Aber von Edgar Witherspoon war nichts zu sehen. Er lief suchend herum und entdeckte am gegenüberliegenden Ende eine Tür. Geschickt schlängelte er sich zwischen den Abfallhaufen hindurch, erreichte die Tür, straffte seine Gestalt und klopfte an… … und im selben Augenblick flog die Tür auf, und ein kleiner, zerknitterter und offensichtlich verwirrter Mann stürzte wie jemand heraus, der unbedingt noch seinen Bus erreichen will. Er schloß ab und rief über die Schulter: »Vielen Dank, Mr. Pilchick, aber ich habe schon einen Fingerhut aus Messing aufgetrieben.« St. Clair räusperte sich. Der Alte drehte sich um und musterte ihn. »Sie sind nicht Mr. Pilchick«, erklärte Edgar Witherspoon. Damit schien die Unterhaltung für ihn beendet zu sein, und er steuerte geradewegs den Müllcontainer an. Der Arzt folgte ihm. »Ich möchte mich gern mit Ihnen unterhalten, Mr. Witherspoon.«
»Ein anderes Mal vielleicht. Ich muß unbedingt einen Puppenkopf finden.« Damit machte er sich schon über einen Abfallberg her, stocherte mit einem Stock darin herum und schleuderte Schachteln, Koffer, Kisten, Kleidungsstücke, Autoreifen und kaputte Toaster nach links und rechts. Faszinierend, sagte sich St. Clair. Absolut faszinierend.
EIN ALTER MANN, DER IN SEINER EIGENEN WELT VOLLER IRRATIONALER ZWÄNGE LEBT. FÜR DR. JAMES ST. CLAIR IST DAS KEIN ÜBERMÄSSIG UNGEWÖHNLICHER ANBLICK. ABER EDGAR WITHERSPOON IST DER UNGEWÖHNLICHSTE ALTE MANN, DER EIN GEHEIMNIS BESITZT, DAS ALLE VIER WINKEL DER ERDE BETRIFFT. UND DIESES SOLL DER ARZT BALD KENNENLERNEN.
St. Clair räusperte sich erneut. Diesmal schien Edgar ihn nicht gehört zu haben oder nicht hören zu wollen. »Ihre Nichte macht sich Sorgen um Sie.« Edgar blickte über den Rand einer altertümlichen Brille zu ihm hoch. »Cynthia ist eine sehr nette Frau. Teilen Sie ihr bitte mit, daß sie sich wirklich keine Sorgen machen muß. Sehen Sie, so einfach ist das. Vielen Dank für Ihr Kommen, es hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen, aber jetzt muß ich wirklich mit meiner Arbeit weitermachen.« Und er fuhr fort, zu stöbern und zu stochern. »Was denn, bitte, für eine Arbeit?« »Ich wette, Sie wüßten es gern, was? Sie haben diesen Gesichtsausdruck.« »Ja, nun, also…«
»Die Antwort ist falsch«, sagte Edgar. Er kratzte sich am Kopf und sah sich um. »Entdecken Sie hier irgendwo einen Puppenkopf?« St. Clairs Blick wanderte herum, und plötzlich entdeckte er unter einem alten Koffer braunes Haar und ein Plastikgesicht. Er zog das Stück hervor und wischte es ab. »Wie der hier?« Der Alte bedachte das Stück nur mit einem flüchtigen Blick. »Nein, zu groß. Außerdem brünett. Ich brauche einen blonden Kopf, und ich benötige ihn in«, er warf einen Blick auf seine Armbanduhr, »in fünf Minuten.« Edgar kletterte aus dem Container und wandte sich einem Haufen an der Wand zu. »Wozu brauchen Sie ihn denn?« »Möchten Sie, daß Santa Barbara im Meer versinkt?« »Nein.« »Dann treten Sie bitte beiseite, Sir!« Edgar eilte an ihm vorbei zur nächsten Müllansammlung. »Machen Sie bitte Platz!« Edgar bückte sich und spähte hinter einen Haufen. Im nächsten Moment stieß er ein Freudengeheul aus, stürzte sich in den Berg und tauchte kurz darauf mit einem kleinen blonden Puppenkopf wieder auf. »Hurra!« rief er und hielt ihn mit unverhohlener Begeisterung und Erleichterung. »Und keinen Augenblick zu früh!« Er preßte den Puppenkopf an seine Brust und raste durch den Lagerraum zu seiner Tür zurück. St. Clair folgte ihm, kam aber aufgrund seines Slalomlaufs eine Sekunde zu spät an. Edgar war bereits in seiner Wohnung und hatte die Tür hinter sich geschlossen. Er erinnerte den Arzt an das halb verrückte Kaninchen aus ALICE IM WUNDERLAND, das hastig in seinem Bau verschwindet, um nicht zu spät zu einer Verabredung zu kommen. St. Clair zählte in Gedanken die Unzahl der Riegel und Schlösser mit, die jetzt vorgeschoben und zugesperrt wurden.
»Mr. Witherspoon?« Er lehnte sich an die Tür und lauschte. Die Tür war dick, aber er konnte ein leises, eigenartiges Schwirr-Klick-Schwirr-Boing vernehmen. »Mister Witherspoon?« Die Tür wurde plötzlich aufgerissen. Edgar stand im Eingang und versperrte dem Arzt die Sicht auf das Innere der Wohnung. »Tut mir leid. Ich sollte mich nicht so unhöflich benehmen. Sie sind den weiten Weg gekommen, um mich zu sehen.« Der Arzt lächelte. »Darf ich eintreten?« »Und das war wirklich nett von Ihnen«, fuhr der Alte fort, so als hätte er St. Clair gar nicht gehört. »Ein wirkliches Vergnügen, Sie kennenzulernen. Grüßen Sie meine Nichte bitte ganz herzlich von mir. Doch nun müssen Sie mich entschuldigen, ich habe mich um ein Erdbeben in Santa Barbara zu kümmern.« »Mr. Witherspoon!« Rumms! Kurz darauf öffnete sich die Tür erneut. Edgar reichte eine Plastiktüte mit Abfall heraus und schob sie dem Arzt in die Hände. »Könnten Sie das auf dem Weg nach draußen in eine Tonne werfen?« Rumms! Diesmal endgültig. St. Clair starrte auf die Plastiktüte und auf die Tür, die ganz den Eindruck machte, als wollte sie sich nie mehr auftun; oder zumindest so lange nicht, wie keine neuen Puppenköpfe oder Fahrradluftpumpen benötigt wurden. Er lauschte ein letztes Mal an der Tür, bevor er sich auf den Rückweg machte. Schwirr-Klick-Schwirr-Boing. Faszinierend, dachte er, ließ die Tüte in den Container fallen und verließ das Gebäude. Aus dem Radio ertönte leise im Hintergrund Mozarts La Clemenza di Tito, als Cynthia Games in St. Clairs Büro eintrat. »Nun, haben Sie Onkel Edgar gesehen?«
»Ja, heute morgen. Nur kam es zwischen uns nicht unbedingt zu dem, was man eine Konversation nennen könnte.« »Aber Sie haben lange genug mit ihm gesprochen, um festzustellen, daß er…« »Oh, absolut. Doch auf der anderen Seite macht Mr. Witherspoon auf mich den Eindruck, glücklich und recht harmlos zu sein.« »Harmlos? Er belästigt Passanten auf der Straße. Er rennt Müllwagen hinterher. Ich weiß nicht, ob man so etwas harmlos nennen kann. Man hat ihn dabei beobachtet, wie er einem Baby aus dem Kinderwagen die Flasche entwendete. Ich fürchte ernsthaft, Doktor, daß man ihn demnächst noch verhaftet. Ich unterschreibe Ihnen, was Sie wollen, und will Ihnen in jeder Weise Unterstützung gewähren.« St. Clair klopfte mit den Fingern auf dem Schreibtisch den Takt zur Musik. Nach einer Weile nickte er. »Nun… ich könnte mich ja noch einmal mit ihm unterhalten. Diesmal hoffentlich etwas länger. Ich muß Sie allerdings darauf hinweisen, daß mir ohne schriftliche Einverständniserklärung Ihrerseits die Hände weitgehend gebunden sind. Und falls es sich als notwendig erweisen sollte…« Er hielt inne, blickte auf und wurde sich dessen bewußt, daß die Musik aufgehört hatte und ein Nachrichtensprecher an ihre Stelle getreten war. Eben hatte er von neuen Gesetzen gesprochen, die zur Bekämpfung des sauren Regens beschlossen worden waren. Und dann… »In der Stadt Santa Barbara wurde heute vormittag ein leichtes Erdbeben gemessen. Verletzte sind nicht zu beklagen, und der Sachschaden ist minimal. Nun zu den Auslandsmeldungen…« »Dr. St. Clair!« Er wandte sich ihr kurz zu und starrte dann wieder auf das Radio. »Haben Sie das mitbekommen?« Sie zuckte die Achseln. »Was denn?«
»Die Meldung über das…« Er verscheuchte den Gedanken aus seinem Bewußtsein. »Vergessen Sie es, war nicht so wichtig. Ich weiß auch nicht, was mir gerade durch den Kopf gegangen ist. Also, ich werde mich so bald wie möglich um Mr. Witherspoon kümmern, Miss Gaines, und erstatte Ihnen danach Bericht.« Sie lächelte dankbar.
Exakt eine Woche später (die Belastung durch die andere Arbeit, die auf ihn wartete, war wie immer enorm und sehr einträglich, genau so, wie er es mochte) stand St. Clair erneut vor Edgar Witherspoons Tür. Sie war wie neulich mit zahllosen Schlössern und Riegeln gesichert. Er klopfte leise an. Nichts. Er klopfte stärker. Wieder nichts. Ich entsinne mich dunkel, diese Prozedur schon einmal mitgemacht zu haben, dachte der Arzt grimmig und entschied sich für einen direkteren Annäherungsversuch. »Mr. Witherspoon?« rief er. Und von innen ertönte: »Gehen Sie, ich bin nicht zu Hause.« »Hier spricht Dr. St. Clair, Mr. Witherspoon. Ich war letzte Woche schon einmal hier, wenn Sie sich daran erinnern können.« »Tut mir leid«, antwortete der Alte. »Letzte Woche war ich auch nicht zu Hause.« Der Arzt seufzte in unendlicher Geduld und lehnte sich an die Tür: »Mr. Witherspoon, ich könnte mit der Polizei zurückkehren und Sie zwingen, die Tür zu öffnen. Möchten Sie es so weit kommen lassen?« Ein Moment Stille. Dann das Klacken und Rattern von Riegeln und Schlössern. Die Tür öffnete sich einen Spalt weit, gerade weit genug, daß Edgar seine Nase herausstrecken konnte. Hinter ihm erscholl das St. Clair nicht mehr
unbekannte Schwirr-Klick-Schwirr-Boing. »Treten Sie einen Meter zurück«, befahl der Alte. St. Clair gehorchte. Behende schlüpfte Edgar durch die Tür, achtete sorgfältig darauf, daß der Besucher keinen Einblick in seine Wohnung erhielt, und schloß die Tür hinter sich. »Sie gehören wohl zu den ganz Neugierigen.« »Halten Sie mich für ein Klatschweib?« »Ich meine, Sie schnüffeln herum.« »Ich werde für das bezahlt, was Sie ›schnüffeln‹ nennen«, entfuhr es dem Arzt. »Ich meine natürlich, für meine Neugier.« »Tatsächlich? Finden Sie das nicht eigenartig? Die meisten Menschen sind neugierig, ohne dafür Geld zu bekommen. Da haben Sie aber großes Glück. Kommen Sie denn auf einen guten Schnitt?« St. Clair lächelte. Er würde sich von diesem alten Wunderling nicht vom Thema ablenken lassen. »Mr. Witherspoon, warum sammeln Sie Puppenköpfe, Schuhe und Büroklammern?« »Weil ich mir Rembrandts nicht leisten kann«, antwortete Edgar, als sei das eine sehr törichte Frage gewesen. Er wollte sich gerade abwenden und in seine Wohnung zurückkehren, als er mit einem Mal erstarrte. Er starrte an die Decke, und Besorgnis zeigte sich auf seiner Miene. »Was?« fragte er. Dann schwieg er und schien irgend etwas zu lauschen, was aus seiner Wohnung kam. »Oh, nein!« sagte er dann und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Besucher zu. »Wie immer war es sehr nett mit Ihnen. Bitte kommen Sie nicht wieder.« Er drehte sich zur Tür um. So einfach wollte sich der Arzt nicht noch einmal abspeisen lassen. Er streckte einen Arm zur Tür aus und hielt sie auf, bevor sie wieder geschlossen werden konnte. »Ich muß wiederkommen«, erklärte er. »Und unser nächstes Treffen wird vielleicht nicht mehr so angenehm. Ich hoffe, Sie
begreifen, Mr. Witherspoon. Möchten Sie mich nicht lieber freiwillig hereinbitten?« Der Alte blickte nervös auf seine Armbanduhr und war zwischen Furcht und Nervosität hin und her gerissen. »Sie sagen also, Sie wollen nicht wieder gehen?« »Genau.« Edgar nickte und sackte etwas in sich zusammen. »Meinetwegen«, brummte er, »wenn Sie unbedingt müssen, kann man eben nichts daran ändern.« Er zog die Tür weit auf und ließ St. Clair eintreten. »Aber passen Sie sehr sorgfältig darauf auf, wohin Sie treten.« Schwirr-Klick-Schwirr-Boing! Natürlich klang es hier viel lauter als draußen. St. Clairs Augen waren bemüht, sich an das trübe Licht in der Kellerwohnung zu gewöhnen. Dann sah er es und verstand die Sorgen und Nöte der Vermieterin. Edgar besaß nur spärliches Mobiliar. Dazu einen Ofen und ein Waschbecken. Dennoch war die Wohnung nicht leer, sondern wurde von dem Ding ausgefüllt. Ein Gebilde wie aus einem Alptraum, das aus Spiralen, Röhren, alten Schuhen, Büroklammern, Jo-Jos, Wollknäueln, Alufolie, Fernsehantennen, Dutzenden Uhren (von denen nur die wenigsten funktionierten), alten Zeitungen, Spielzeug, Kleidungsstücken, Holzschuhen, Zahnrädern, Babyflaschen, Suspensorien, Pendeln, Glaserkitt, Weihnachtsbaumbeleuchtung und anderem Krimskrams zusammengesetzt war. Kordel, Maschendraht, Stahlfedern und anderes Metall hielten es zusammen. Überall daran und darin bewegte sich etwas, entstand das Schwirr-Klick-SchwirrBoing-Orchester. Irgendwann wurde St. Clair bewußt, daß sein Mund aufstand. Ein solches Gebilde zusammenzubasteln, das mußte jahrelange Arbeit erfordert haben!
Er suchte durch das Getöse von metallischen Klängen, sprechenden Puppenköpfen und schwirrenden Plastikschmetterlingen nach dem Alten und entdeckte ihn auf der anderen Seite des Monstrums. Anscheinend goß er dort Wasser von einem kupfernen Teekessel in ein paar Tassen, die auf einem Tennisschläger standen. Das Racket senkte sich, und die Tassen näherten sich, und das Boing ertönte jetzt greller, wie von einer Gitarre, die vornehmlich Töne in einem Frequenzbereich erzeugt, den nur noch Hunde wahrnehmen können. Edgar goß mit unendlicher Vorsicht einen letzten Tropfen aus, trat dann einen Schritt zurück und betrachtete voller Erleichterung sein Werk. »Puh! Das war knapp!« Der Arzt näherte sich ihm behutsam und achtete sehr darauf, nichts zu berühren oder umzustoßen. »Sehr, äh, interessant, Mr. Witherspoon«, nickte er. »Wozu dient es?« Obwohl es kaum noch möglich schien, lächelte Edgar jetzt noch breiter als zuvor, reckte die Brust und antwortete voller Stolz: »Das ist der einzige Schutz der Welt davor, auseinanderzufliegen oder in die Luft zu gehen.« St. Clair nickte verständnisvoll. Nach einer Weile wurde ihm bewußt, daß er schon eine ganze Weile nickte, ohne etwas zu sagen. Er kam zu dem Schluß, daß er jetzt vielleicht etwas äußern sollte. »Damit ich Sie richtig verstehe, Mr. Witherspoon. Sie sagten, daß dieser Schutz…« Schutz? Halt dich nicht damit auf, riet er sich, im Moment sind andere Dinge wichtiger, »daß dieses Ding die Welt davor bewahrt, auseinanderzufliegen oder in die Luft zu gehen?« Edgar stellte den Teekessel ab und wischte sich die Hände an der Hose trocken. »Glauben Sie nur nicht, daß das so einfach wäre. Wo findet man heutzutage schon einen Rollschuhschlüssel?« »Ich hätte keine Ahnung, wo ich suchen sollte.«
»Ich habe einen aufgetrieben«, erklärte der Alte voller Begeisterung über sich selbst. »Halten Sie das etwa für verrückt?« »Na ja…« Edgar sah ihm direkt in die Augen und schenkte zum ersten Mal dem Besucher seine ungeteilte Aufmerksamkeit. »Sie haben nicht zufällig eine Visitenkarte dabei?« Endlich eine Äußerung, mit der St. Clair etwas anfangen konnte. »Doch, ja, natürlich.« Er griff in seine Westentasche und reichte dem Mann eine sauber bedruckte Karte. »Danke«, sagte der Alte und legte sie mit äußerster Behutsamkeit auf einen Draht, der durch das Gebilde verlief und von irgendeinem Motor gezogen wurde. St. Clair verfolgte, wie seine Visitenkarte im Bauch des Monstrums verschwand. »Das war nun wirklich nicht schwer«, erklärte der Alte. Er lief wieder um das Gebilde herum, richtete hier etwas auf, schob dort etwas hinein und tippte hier und da an ein herausragendes Teil. »Ich war früher Ingenieur«, verriet Edgar, »und habe viel Geld verdient. Dann bin ich in Rente gegangen. Der schlimmste Fehler, den ich je gemacht habe. Mann, war das ein langweiliges Leben! Bis dann eines Tages die Stimme zu mir gesprochen hat.« »Oh! Sie hören Stimmen?« Interesse funkelte in den Augen des Mannes, »Sie etwa auch?« »Nein, ich… ich fürchte, ich höre keine Stimmen. Können Sie mir etwas über diese Stimme erzählen, Mr. Witherspoon?« »Nun, es geschah an einem Sonntag, als ich auf einer Parkbank saß und die Tauben gefüttert habe. Plötzlich hörte ich sie. Die Stimme fragte mich: ›Edgar, bist du jemals in England gewesen?‹ Ich antwortete, nein, woher denn auch, und jede normal klingende Stimme, die in meinem Kopf ertönt, müßte das
eigentlich wissen. Ich fürchte, damit habe ich sie verärgert, denn eine Minute lang schwieg sie. Dann fuhr sie fort: ›Edgar, im Herzen von Big Ben befindet sich ein Pendel, das der Uhr sagt, wie schnell sie ticken muß. Am unteren Ende des Pendels hängt ein schweres Gewicht, und auf diesem Gewicht liegt ein Stapel Pennies. Hin und wieder nimmt ein Mann einen Penny von diesem Stapel. Dann läuft die Uhr etwas schneller. Oder er legt einen Penny drauf, um sie zu verlangsamen. Die Pennies verändern die Balance stets nur ein bißchen, aber dieses bißchen reicht aus, um den ganzen Mechanismus perfekt funktionieren zu lassen.‹« St. Clair betrachtete die Konstruktion und nickte. »Dann haben Sie hier also eine Art Uhr stehen.« »Papperlapapp! Keineswegs. Warum sollte ich eine Uhr bauen?« Er tippte auf die Armbanduhr an seinem Handgelenk. »Hat nur drei Dollar gekostet. Kriegt man in jedem Supermarkt. Verliert im Jahr noch keine zehn Sekunden. Wie dem auch sei, die Stimme erklärte: ›Edgar, die Welt ist ein seltsamer Ort, Kleine Kriege hier, große Kriege da, Vulkanausbrüche, schwere Stürme. Tornados und überall viel Lärm und viel Sorge. Du mußt etwas bauen, das die Welt davon abhält, sich zu stark in die eine oder andere Richtung zu bewegen oder gar in die Luft zu fliegen.‹« Edgar zeigte auf den schwirrenden und klickenden Mechanismus. »Was die Pennies für Big Ben sind, ist diese Konstruktion für die Welt.« »Äh«, begann Dr. St. Clair und ärgerte sich, daß er seinen Kassettenrecorder nicht mitgebracht hatte, »halten Sie es für möglich, Mr. Witherspoon, daß Gott höchstpersönlich zu Ihnen spricht?« Der Alte zuckte die Achseln. »Manchmal denke ich schon, es könnte Gott sein. Dann wieder sage ich mir, nein, Gott hat bestimmt eine viel tiefere Stimme. Mögen Sie eine Backpflaume, Doktor?«
»Was, nein, danke«, antwortete St. Clair und war schon auf dem Weg zur Tür. »Ich fürchte, ich muß jetzt gehen.« Der Mann folgte ihm und redete immer schneller. »Ich habe keine Ahnung, wie das Ding funktioniert. Die Stimme teilt mir mit, was benötigt wird und wo das entsprechende Teil angebracht werden soll. Ich mache mich dann auf den Weg und besorge es.« An der Tür drehte sich der Arzt zu Edgar um. Er entdeckte in seinen Zügen eine Nervosität, die vorher nicht zu sehen gewesen war. Einen Augenblick lang wirkte der kleine Mann weniger exzentrisch, eher wie ein einsamer Alter, der viel Angst hat und mit seiner Überzeugung ganz allein dasteht. St. Clair hatte kurz Mitleid mit ihm und schenkte ihm ein verständnisvolles Lächeln. »Auf Wiedersehen, Mr. Witherspoon. Und leisten Sie weiterhin so gute Arbeit.« Er trat hinaus in den Lagerraum. Edgar folgte ihm bis an die Tür. »Wir könnten das Gebilde eine Skulptur nennen«, sagte er. »Glauben Sie, das würde meine Nichte beruhigen?« St. Clair blieb nicht stehen. Plötzlich richtete der Alte seinen Blick wieder an die Decke. »Was? Oh, nein!« Das letzte, was der Arzt hörte, als er aus dem Keller ins Tageslicht trat, war Edgars Ruf: »Wenn Sie irgendwo eine alte Baßtuba entdecken, bringen Sie sie mir bitte vorbei. Ich brauche sie bis siebzehn Uhr!« Rumms!
Innerhalb ein paar Stunden waren ausgestellt und unterzeichnet, alle dreitägige Krankenhausaufenthalt Patienten war beschlossen. Einer
alle notwendigen Papiere Anrufe getätigt, und der zur Beobachtung des der Anrufe galt einem
Krankenpfleger, den St. Clair kannte. Einem sehr großen und sehr starken Mann. St. Clair befürchtete, Edgar würde nicht freiwillig mitkommen. Und erst recht nicht geräuschlos. Er behielt in beiden Punkten recht. »Cynthia, sie dürfen mir das nicht antun!« flehte Edgar, als der Krankenpfleger ihn sanft, aber bestimmt von dem Monstrum wegtrug. Die Nichte stand dicht bei dem Arzt und hielt mühsam ihre Tränen zurück. »Bitte, Onkel Edgar«, entgegnete sie, »wehr dich nicht dagegen, es ist doch nur für drei Tage.« »Das ist viel zu lange! Begreifst du denn nicht? Die Anlage muß versorgt und in der Balance gehalten werden! Ich muß mich darum kümmern!« »Mr. Witherspoon, Sie sagen, Sie hören Stimmen«, erklärte Dr. St. Clair. »So etwas ist nicht normal. Selbst Ihnen müßte das klar sein.« »Sie hören doch auch Stimmen, oder?« fuhr Edgar ihn an und wehrte sich vergeblich gegen den Griff des Krankenpflegers. »Sie hören meine Stimme, oder etwa nicht?« »Ja.« »Worin besteht dann der Unterschied zwischen einem geistig Gesunden, der eine verrückte Stimme hört, und einem Verrückten, der eine geistig gesunde Stimme hört? Ich denke, die Wahrheit liegt, wie so oft, irgendwo in der Mitte.« Das ließ sogar den stämmigen Krankenpfleger innehalten. Aber nur für einen Moment. Der Krankenpfleger packte fester zu und zerrte den kleinen Mann um das Gebilde herum zur Tür hinaus. »Sie haben ja keine Ahnung, welches Wagnis Sie da eingehen!« schimpfte Edgar und versuchte auch jetzt noch, loszukommen. Der Krankenpfleger griff nach Witherspoons freiem Arm, geriet dabei aus dem Gleichgewicht und prallte gegen den vorderen
Teil der Konstruktion. Eine Fahrradkette und zwei Jo-Jos purzelten zu Boden. »Ich wußte es ja!« rief Edgar voller Panik. »Das ist das Ende von Tatoa!« Der Krankenpfleger hatte sich wieder gefangen und schleifte den kleinen Mann nun endgültig die Stufen hinauf. »Tatoa?« wunderte sich der Arzt. »Eine kleine Insel im Südpazifik!« brüllte Edgar zur Antwort. »Wieviel Uhr ist es?« Cynthias Blick fuhr sofort auf ihre Armbanduhr. »Fünfzehn Uhr siebzehn!« »Um fünfzehn Uhr siebzehn geht Tatoa unter und gehört der Vergangenheit an. Und daran seid nur ihr schuld!« Edgar unternahm einen letzten Befreiungsversuch und sprang zurück – St. Clair konnte nicht mit absoluter Sicherheit feststellen, ob der kleine Mann ihm an die Gurgel gehen oder nur sein Gebilde schützen wollte –, doch er kam nicht weit und verschwand an Mrs. Milligan vorbei die Treppe hinauf. »Ein klassischer Fall von Psychose«, erklärte der Arzt Cynthia. »Aus dem Berufsleben ausgeschieden, fühlt er sich überflüssig und erschafft sich seine eigene Vorstellung von Wichtigkeit und Größe, die jedoch im Widerspruch zur Realität steht. Ihr Onkel bildet sich allen Ernstes ein, lebenswichtig für das Schicksal der Welt zu sein.« Mrs. Milligan erschien an der Tür und spähte in Witherspoons Wohnung. »Nun sieh sich das mal einer an!« rief sie und schüttelte heftig den Kopf. »Ich brauche Tage, um diese Unordnung zu beseitigen!« Der Krankenpfleger schob den kleinen Mann in die Ambulanz, aber Edgar gab immer noch keine Ruhe: »Laßt sie nicht an das Gebilde!« brüllte er und zeigte auf die Vermieterin. »Denkt an Tatoa! Denkt an Tatoa!«
Der Krankenwagen startete und brauste davon. Edgars Stimme verhallte.
Mahler, murmelte St. Clair zur Musik, die aus dem Radio ertönte. Er stellte gerade die Unterlagen für den Psychologen zusammen, der Edgar Witherspoon betreuen sollte. Ganz bestimmt ist das Mahler, überlegte der Arzt, aber er kam einfach nicht darauf, wie das betreffende Stück hieß. Nach einem letzten Crescendo wurde die Musik schlagartig leiser, und der Nachrichtensprecher des Senders kündete eine Sondermeldung an. St. Clair runzelte die Stirn. Jetzt hatte er doch den Namen des Werks verpaßt, vermutlich war er vorher genannt worden. Er wollte die Lautstärke herunterdrehen, beschloß dann aber, sich wenigstens anzuhören, was es denn so Wichtiges zu berichten gab. Wie üblich wurden vor Beginn der Nachrichtensendung die Schlagzeilen verlesen. »Die heutigen Meldungen im Überblick: Patt im Nahen Osten unverändert – Neue Geiselnahmen bei der Belagerung von Paris – Kongreß bestätigt neues Transportgesetz – Tatoa, eine kleine Insel im Südpazifik, ging in einer Flutwelle unter. Mehr dazu und weitere Nachrichten des Tages in sechzig Sekunden.« St. Clair starrte entsetzt auf das Radio. Tatoa? Hatte er tatsächlich von Tatoa gesprochen? Der Arzt entschied, daß er keine sechzig Sekunden warten konnte – ganz davon zu schweigen, daß die Meldungen über die SüdseeInsel vermutlich erst am Schluß erfolgen würde –, und wählte die Nummer des Heralds’ Chronicle. Es klingelte sechsmal, bevor dort jemand abnahm. »Hallo«, sagte St. Clair, »ich möchte gern mehr über eine Nachricht erfahren. Ich habe
gerade im Radio etwas über eine Insel gehört, die in einer Flutwelle untergegangen ist.« »Tatoa«, antwortete die Stimme am anderen Ende. »Ja, genau so hieß sie. Weiß man schon Genaueres darüber?« Der Arzt hörte zu und erhielt einen Eindruck vollkommener Zerstörung. »Wäre natürlich bedeutend schlimmer gewesen, wenn es eine der größeren, der bekannteren Inseln erwischt hätte. Aber Tatoa hatte eine Bevölkerung von eintausend Personen, und daher darf man den Vorfall als Katastrophe bezeichnen.« »Wissen Sie, wann die Flutwelle die Insel getroffen hat? Ich meine, um welche Uhrzeit?« Am anderen Ende raschelten Papiere, dann: »Um Punkt fünfzehn Uhr siebzehn.« St. Clair nickte, nickte endlos. »Vielen Dank«, sagte er schließlich und ließ den Hörer aus der Hand auf die Gabel gleiten. Tatoa. Fünfzehn Uhr siebzehn. »Miss Bigelow!« Seine Sekretärin erschien an der Bürotür. »Ja, Doktor?« »Miss Bigelow, Tatoa wurde heute nachmittag um Punkt fünfzehn Uhr siebzehn zerstört.« Die Sekretärin legte nachdenklich die Stirn in Falten und zuckte dann die Achseln. »Ist das schlimm?« Er erhob sich und marschierte um seinen Schreibtisch herum. »Und letzte Woche hat es in Santa Barbara ein Erdbeben gegeben! Wir dürfen nicht länger die Risiken übersehen. Wir müssen…« Dann fiel es ihm ein. Mrs. Milligan. Der Boden schien unter ihm Wellen zu schlagen, als ihm bewußt wurde, was das zu bedeuten hatte. »Allmächtiger. Die Vermieterin! Sie wird es zerstören!«
»Was? Santa Barbara?« »Nein, es… hören Sie, das spielt jetzt keine Rolle. Rufen Sie sofort in der Psychologischen Abteilung an. Mr. Witherspoon muß auf der Stelle entlassen werden. Auf meine Anordnung hin. Fahren Sie ihn sofort in seine Wohnung. Hören Sie, Sie fahren ihn! Und zwar so rasch wie möglich!« Er rannte an ihr vorbei und achtete nicht auf ihre verwirrte Miene. Er mußte jetzt schnell sein. Er mußte die Wohnung erreicht haben, bevor Mrs. Milligan dort mit dem Putzen und Aufräumen begann. Der Verkehr auf den Straßen kam nervenzerrüttend langsam voran. Endlich hielt er vor dem Wohnhaus an, sprang aus dem Wagen und eilte die Kellerstufen hinunter. Er stürmte gerade in dem Moment durch die Tür, als die Vermieterin mit einem Besen bewaffnet auf die Konstruktion losging; so als handelte es sich dabei um lästige Spinnweben, wollte sie das Gebilde aus der Welt schaffen. »Halt!« schrie er mit sich überschlagender Stimme. »Berühren Sie um Gottes willen nichts!« Sie drehte sich zu ihm um und hielt den Besen in der Hand. »Doktor?« Er sah sich nervös in der Kellerwohnung um. »Sie haben doch nicht etwa, oder? Etwas berührt? Etwas entfernt? Irgend etwas verändert?« »Noch nicht. Warum?« Ja, warum nicht? dachte er und suchte verzweifelt nach einer plausiblen Antwort. »Weil… weil das hier die Kreation eines verwirrten Geistes ist. Um ihn zu analysieren, muß ich dieses Gebilde studieren. Und zwar genau so, wie er es hinterlassen hat. Nur so kann ich mir einen tieferen Einblick in die Probleme des Edgar Witherspoon verschaffen.« Sie starrte auf ihre Füße und dachte über diese Erklärung nach. Dann schüttelte sie den Kopf. »Er ist ein Spinner. Was müssen Sie
sonst noch über ihn wissen?« Sie hob den Besen zu einem vernichtenden Rundumschlag gegen das Gebilde. »Nein!« rief er und fing den Besen ab. Sie fuhr erschrocken vor ihm zurück. »Bitte«, sagte er wesentlich freundlicher, »verstehen Sie doch, so simpel ist sein Fall nicht.« »Aber wie soll ich diese Wohnung denn vermieten, wenn soviel Abfall in ihr angesammelt ist?« »Dann nehme ich die Wohnung!« Sie beäugte ihn mißtrauisch. »Sie?« »Jawohl. Ich brauche sie für meine Studien und will sie in ihrem jetzigen Zustand erhalten. Einverstanden?« »Nun, sicher, warum nicht…« »Ausgezeichnet«, entgegnete er und schob sie mit sanfter Gewalt durch die Tür, »Ich komme später mit einem Scheck zu Ihnen.« Bevor sie etwas erwidern konnte, schloß er die Tür, lehnte sich mit dem Rücken dagegen und spürte erst jetzt, wie heftig sein Herz schlug. Damit dürfte ich sie erst einmal aus dem Feld geschlagen haben, dachte er. Im nächsten Moment schob Mrs. Milligan die Tür auf. »Er ist ausgebrochen!« keuchte sie und preßte sich an die Wand, als Edgar Witherspoon an ihr vorbeirannte. »Soll ich die Polizei verständigen?« »Nein, ich denke, das ist nicht notwendig«, antwortete St. Clair. »Alles ist soweit in Ordnung. Ich bin gleich bei Ihnen.« Er schloß vor ihr die Tür und wandte seine Aufmerksamkeit dann Edgar zu. Der kleine Mann stand auf der anderen Seite des Gebildes und flickte und drehte an irgend etwas herum. Der Arzt konnte nicht feststellen, was Witherspoon dort genau tat. Jetzt verschwand er in seinem Kleiderschrank. »Mr. Witherspoon«, begann St. Clair und näherte sich ihm. »Ich weiß nicht, wie ich mich bei Ihnen entschuldigen kann. In
meiner langjährigen Praxis bin ich nie auf einen Fall wie den Ihren gestoßen.« »Kann ich mir gut vorstellen«, entgegnete Edgar und wandte sich wieder der Konstruktion zu. Er verzog das Gesicht. »Haben Sie ein Taschentuch?« »Ein Taschentuch? Aber selbstverständlich«, sagte der Arzt rasch und suchte verzweifelt nach seinem seidenen Tüchlein, das in irgendeiner Jackentasche steckte. »Hier, bitte!« »Danke«, entgegnete Edgar, schneuzte sich tüchtig und ausgiebig und steckte dann das Taschentuch in die Hosentasche. »Die Frau im Krankenhaus hat mich so gedrängt, mich anzuziehen, daß ich mein Taschentuch vergessen habe.« Er kehrte zum Kleiderschrank zurück, und jetzt konnte St. Clair auch erkennen, was er dort trieb. Der kleine Mann packte einen Koffer. Was wollte er denn mit einem gepackten Koffer? »Es war mir wieder ein Vergnügen, Sie getroffen zu haben«, sagte Edgar, packte den Koffer und marschierte mit ihm zur Tür. »Einen Moment mal, wo wollen Sie denn hin?« »Fort. Endgültig. Nach elf Jahren ist es genug.« »Aber was wird aus dieser Konstruktion hier? Wer soll die Welt vor dem Untergang bewahren?« Edgar lächelte: »Die Stimme hat zu mir gesprochen, als ich in Ihrem Krankenhaus weilte. Sie sagte: ›Edgar, bist du je in Miami gewesen?‹ Ich antwortete: ›Nein, aber ich habe mir immer schon gedacht, das müßte ein hübsches Fleckchen sein, um dort den Lebensabend zu genießen. ‹ ›Dann begib dich dorthin‹, erklärte die Stimme, ›du hast endgültig dienstfrei‹.« »Das war alles?« fragte St. Clair und starrte auf die Stücke und Teile, die sich drehten, die schwirrten, klickten und tönten. »Soll das heißen, das alles hier ist überflüssig geworden?«
»Natürlich ist es immer noch wichtig. Absolut überlebenswichtig sogar. Die Welt muß immer noch im Gleichgewicht gehalten werden.« »Aber wer soll denn dann…« Plötzlich machte hinter ihm eine Feder, die eigentlich Pliing! machen sollte, Plooong! Der Tennisschläger hing zehn Grad nach Steuerbord hinab. »Da!« rief St. Clair. »Sehen Sie nur, es muß gerichtet werden!« Der Arzt holte den Teekessel, bewegte sich in das Gebilde hinein und goß Wasser in die beiden Tassen, bis sie wieder in perfekter Balance auf dem Racket standen. »Das wäre geschafft«, atmete St. Clair auf und nickte. »Wenn ich jetzt noch bis neunzehn Uhr dreizehn einen Ping-Pong-Ball hier anbringe…« Er hielt ruckartig inne. Ein Ping-Pong-Ball? Er wußte ganz genau, was diese Konstruktion benötigte. Und er wußte ganz genau, bis wieviel Uhr er den Gegenstand benötigte. Und er mußte nicht einmal darüber nachdenken, wo der fragliche Gegenstand angebracht werden mußte. Er sah Edgar Witherspoon an, der ihm zulächelte. »Nun, ich denke, das kleine Problem hätten wir gelöst«, sagte Edgar und blickte besorgt auf seine Armbanduhr. »Achtzehn Uhr dreißig. Wenn ich Sie wäre, würde ich allmählich in die Gänge kommen.« »Nein, ich weigere mich!« »Aber, aber, geraten Sie nicht in Panik«, erwiderte der kleine Mann. »Über kurz oder lang haben Sie sich daran gewöhnt. Ehrlich.« Er stand in der Tür und setzte sich eine Anglermütze auf den Kopf. »Alles Gute. Dr. St. Clair. Lassen Sie sich keine falschen Fuffziger andrehen.« Dann, als sei ihm gerade ein neuer Gedanke gekommen, fügte er hinzu: »Es sei denn, genau die werden gebraucht!« Rumms! »Mr. Witherspoon! Mr. Witherspoon!« Der Arzt rannte zur Tür, aber der kleine Mann war schon verschwunden. Schwirr-
Klick-Schwirr-Boing! Schwirr-Klick-Schwirr-Boioioioinnng! Dr. St. Clair schloß die Tür wieder, schloß auch die Augen und kämpfte mit aller Kraft darum, die Stimme auszusperren, die so beharrlich in seinem Hinterkopf sprach und ihm auftrug, bis einundzwanzig Uhr zweiundvierzig ein Tamburin zu besorgen, weil andernfalls Detroit untergehen würde. Sie verstanden nichts. Keiner verstand ihn. Er rannte durch den langen Flur des Mietshauses von einer Tür zur anderen. »Entschuldigen Sie bitte, können Sie mir vielleicht mit einer Kugelschreiberfeder aushelfen?« Rumms! »Es tut mir leid, Sie zu belästigen, aber ich brauche ganz dringend eine Kindertrillerpfeife. Könnten Sie vielleicht einmal bei sich nachsehen?« Rumms! Er blickte auf seine Uhr. Die Zeit lief ihm davon. Er mußte wieder hinunter zum Container und den eben noch ein weiteres Mal durchstöbern. Nur noch fünf Minuten blieben ihm. Andererseits, gab es irgendeinen Menschen, der Washington D. C. wirklich vermissen würde?
WENN IHNEN INNERHALB DER NÄCHSTEN MONATE AUFFALLEN SOLLTE, DASS ES ZU EINER MERKWÜRDIGEN ANHÄUFUNG VON KATASTROPHEN GEKOMMEN IST ODER IRGENDWIE NICHTS MEHR RICHTIG LAUFEN WILL, BEDENKEN SIE BITTE, DASS DER NACHFOLGER VON EDGAR WITHERSPOON ERST NOCH LERNEN MUSS, WIE MAN PRÄZISE FEINABSTIMMUNGEN HINBEKOMMT. ABER SORGEN SIE SICH NICHT, SEINE AUSBILDUNGSZEIT DAUERT NICHT LANGE. UND DANACH SOLLTEN SIE SICH BEI DR. JAMES ST. CLAIR BEDANKEN, EINEM ARZT, DER SICH UM DAS WOHLERGEHEN EINES GANZEN PLANETEN ZU KÜMMERN HAT. DR. ST.
CLAIR BIETET EINE EINZIGARTIGE VORBEUGEMEDIZIN, EINE, WIE MAN SIE NUR IN DER TWILIGHT ZONE FINDET.
Träum mir ein Leben
Ich habe nur selten regelmäßig wiederkehrende Träume gehabt. Wenn sie doch gekommen sind, waren sie auf zuviel Arbeit oder anderen Streß zurückzuführen. Es handelte sich dabei stets um andere wiederkehrende Träume, doch einer von ihnen suchte mich auch später noch einmal heim. Ein ungewöhnlicher Traum, denn er löste immer auch im wirklichen Leben etwas aus. Der Traum verlief im wesentlichen stets gleich: Ich befinde mich in einem dunklen Raum, der nur mäßig von Kerzenlicht erhellt wird. Der Boden unter meinen Füßen steht auf verrückte Weise schief, und über ihm ertönt von allen Seiten ein wildes, fast schon verzweifeltes Hämmern und Klopfen. Plötzlich taucht direkt vor mir eine Tür auf. Auf der anderen Seite steht etwas, das wie verrückt versucht, zu mir hereinzukommen. Es kratzt mit langen Fingernägeln an der Tür, zersplittert das Holz und läßt die Scharniere erzittern. Neben der Tür hängt ein Kalender, einer von der Art, an dem man für jeden Tag ein Blatt abreißt. In der ersten Nacht zeigte sich auf dem Kalender der Tag Nummer Zehn. Als ich diesen Traum das nächste Mal hatte, trug das oberste Blatt auf dem Kalender die Zahl Neun. Und in dieser Nacht ging die Tür ein Stückchen weiter auf. Beim nächsten Mal zeigte der Kalender eine Acht. Und die Tür ging noch ein Stück weiter auf, so weit, daß man diesmal spüren konnte, daß ein mächtiges, furchteinflößendes und grauenhaftes Etwas dahinter lauerte. Der Traum trat weiterhin auf.
Beide Male hörte der Traum auf, wenn auf dem Abreißkalender die Zwei erreicht war. Hörte gerade auf, bevor ich sehen konnte, wer oder was sich auf der anderen Seite der Tür aufhielt. Bei der ersten Traumserie wurde ich in der Nacht, in der ich die Eins auf dem Kalender hätte sehen sollen, furchtbar zusammengeschlagen und ausgeraubt. Bei der zweiten Serie starb meine Großmutter in der Nacht, in der ich die Eins hätte sehen können. Beide Ereignisse erschütterten mich sehr. Seit zehn Jahren habe ich diese Träume nicht mehr, aber ich fürchte mich immer noch, daß sie eines Nachts zurückkehren könnten. Denn jetzt weiß ich, was sich hinter der Tür befindet. Als die Zeit kam, in der ich diesen Traum in eine Story übertragen wollte, beschloß ich, sie von einem anderen Zugang aus anzugehen. Der Traum sollte das Sprungbrett zu einer positiveren Geschichte sein. Aber so sehr ich es auch versuchte, es gelang mir nicht, den richtigen Einstieg zu finden. Ich arbeitete Tag und Nacht daran und bekam die Sache doch nicht in den Griff. Bis ich mein Problem erkannte: Ich wußte, was sich hinter meiner Traumtür befand, aber was mochte hinter der meiner Figur Laurel Kincaid lauern? Erst meine Frau Kathryn hat mir geholfen, indem sie mich mit einigen der schmerzlichsten Verluste in meinem Leben konfrontierte und unbeirrt nachfragte; sie rief mir Verwandte und Freunde ins Gedächtnis zurück, die ich im Dunkel der Jahre vergessen und verloren hatte. Und endlich fand ich die Lösung für mein Problem. Diese Offenbarung, zusammen mit der Schlußszene meiner Story, brachte mich am Schreibtisch zum Weinen. Das Skript hatte auf alle, die es lasen, einen ähnlichen Effekt: von den Zuschauern im Fernsehen ganz zu schweigen. Doch damit ist diese Geschichte noch nicht zu Ende erzählt. Eddie Albert sollte die Rolle des Roger Simpson Leeds
übernehmen, eine etwas grausame Wahl, weil Alberts Frau, ähnlich wie bei der Filmfigur, einige Zeit vorher gestorben war. Er hatte sie sehr geliebt und wollte die Rolle in ihrem Angedenken anlegen. Wenn man dem Regisseur glauben darf, ist es Albert mehr als einmal sehr schwer gefallen, seine Rolle zu spielen. Es gab doch eine Menge Dinge, die Albert nicht noch einmal durchmachen wollte. Der Regisseur begleitete ihn vorbildlich, milderte seinen Schmerz und brachte das Leid seines Schauspielers dort zum Ausdruck, wo Albert es ertragen konnte. Alberts Darstellung war sehr bewegend und verlieh der Episode einen Tiefgang, der die Zuschauer anrührte, auch wenn sie nichts von den Hintergründen wußten. Diese Geschichte hatte einen weiteren positiven Effekt. Ich glaube, allein durch das Niederschreiben dieser Story habe ich die Traumtür für immer verschlossen. Ich weiß nicht, wie ich es am besten ausdrücken soll, aber ich bin der Überzeugung, daß diese Träume mich nie wieder heimsuchen werden. Zumindest hoffe ich das sehr. Und darum, verbunden mit der Fortdauer der Liebe, geht es ja eigentlich in dieser Geschichte.
TRÄUM MIR EIN LEBEN. Produktions-Nr. 87003, wurde in der Woche vom 23.-27. Mai 1988 gedreht und zum ersten Mal am 16. Oktober 1988 ausgestrahlt. Die Darsteller sind: Eddie Albert (Roger Simpson Leeds), Barry Morse (Frank), Frances Hyland (Laurel), Joseph Shaw (Ehemann), Michelle Emelle (Krankenschwester), Jack Mather (1. Rentner) und Warren Van Evera (2. Rentner). Regie führte Allan King.
Roger Simpson Leeds gehörte nicht hierher. Alles an und in diesem Zimmer war falsch. Die Wände verloren sich in grenzenloser, tiefer Nacht. Die Ecken und Winkel trafen sich an den unmöglichsten Stellen. Roger blinzelte, aber seine Augen konnten sich auf nichts konzentrieren. Sein Blick glitt von Wänden, Stühlen und dem Bett ab, als würde er von dort zurückgeworfen oder als würden die Augen sich weigern, ihm Klarheit zu verschaffen. Und überall, soweit er sehen konnte, brannten Kerzen. An den Wänden, auf dem Boden. Aufsteigende Kandelaber, die wie eine brennende Treppe wirkten. Kerzen, die eingerahmte Bilder mit einem zusätzlichen Rahmen umgaben und inmitten der nächtlichen Dunkelheit Lichtinseln schufen. Und in all den Inseln war das Gesicht, dasselbe Gesicht, vielfach wiederholt und überall… Nein, er gehörte nicht hierher. Er wäre fast hingefallen, als direkt vor ihm ein sehr heller Lichtstrahl auftauchte. Mit ihm kam ein eisiger Wind, der ihn bis ins Mark frösteln ließ. Er schirmte seine Augen mit einer Hand ab und versuchte vergeblich, die Helligkeit zu durchdringen. Und dann sah er im Schein sie. Immer wieder sie. Ich gehöre nicht hierher. Sie entdeckte ihn, und wie stets stieß sie den Schrei aus, ein langgezogenes Heulen, das aus Schmerz, Furcht und Verzweiflung entstanden war. »Bitte!« rief sie und breitete die Arme aus. »Du mußt mir helfen!« Sie war alt, zitterte vor Angst, und tiefe Schatten zeigten sich in den Falten ihres Gesichts. Ihr langes graues Haar wehte heftig im wütenden Wind. In ihren Augen stand fast greifbares Entsetzen. Sie kam an seine Seite, drückte seine Hände und Arme, versuchte, ihn zur Quelle ihrer Pein mitzuziehen. »Du mußt ihn aufhalten! Wenn er durchkommt, werde ich sterben!« »Nein!« entgegnete Roger und zog sich von ihr zurück. Er wollte nicht hinsehen, wollte nicht erfahren, was sie so sehr in
Angst und Schrecken versetzte. Doch als er von ihr zurückwich, erblickte er es doch: Eine Tür, die Quelle des blendenden Lichts, die nur noch von einer dünnen Kette geschlossen gehalten wurde. Die Tür prallte heftig gegen die dünne Kette, so als würde sich auf der anderen Seite jemand oder etwas immer wieder mit aller Kraft gegen das Holz werfen. Licht und Wind strömten durch den Spalt, der bereits zwischen Tür und Wand klaffte. Das Donnern und Hämmern wurde immer lauter, schmerzte bereits in den Ohren, erinnerte an Kanonenkugeln, die auf das Holz trafen und es zersplittern ließen. Ein rhythmisches Schlagen, das von Kratzen und Schaben begleitet wurde. Aus unerfindlichen Gründen hielt die Tür immer noch stand, aber der Zeitpunkt war abzusehen, an dem sie nachgeben mußte. Die alte Frau zerrte wieder an Roger, wollte ihn mit aller Kraft zur Tür ziehen. »Du mußt etwas unternehmen!« kreischte sie laut genug, um das Getöse zu übertönen. »Bitte! Begreifst du denn nicht? Wenn er durchbricht, muß ich sterben! Werde ich sterben!« »Laß mich los!« schrie Roger. Er befreite sich von ihr, zog sich zurück in die Dunkelheit, wo er sich in Sicherheit wähnte. »Verschwinde! Laß mich in Ruhe! Ich will nicht in diesem Raum sein! LASS MICH ENDLICH IN RUHE!« Sie schrie entsetzlich. Und plötzlich kehrte Stille ein. Aber er befand sich nicht mehr in ihrem Zimmer. Es war seine Kammer. Kein Geräusch, bis auf sein Atmen, war hier zu vernehmen. Er setzte sich auf, schob die Beine aus dem Bett und erhob sich. Er stand schwankend da und lehnte sich an den Nachttisch. Er kämpfte gegen die Panik und die Furcht in sich an, bemühte sich, seinen Herzschlag zu dämpfen, der wie ein Preßlufthammer raste. Er stolperte zum Fenster und blickte hinaus auf den dunklen Hinterhof. Er wischte sich mit dem
Handrücken übers Gesicht. Schon wieder, dachte er. Gott, steh mir bei, ich weiß nicht, wieviel ich noch ertrage. »Bitte, lieber Gott«, flüsterte er. »Laß es aufhören!«
PORTRÄT EINES MANNES, DER VON FURCHTBAREN TRÄUMEN HEIMGESUCHT WIRD. SEIN NAME: ROGER SIMPSON LEEDS. WOHNORT: EIN ALTERSHEIM. ROGER SIMPSON LEEDS, DER NACH DEM TOD SEINER FRAU VOR DREI JAHREN BESCHLOSSEN HAT, EIN LEBEN ZU FÜHREN, IN DEM ER NIEMANDEM ZU NAHE KOMMT UND NIEMAND IHM ZU NAHE KOMMT. DOCH NUN IST EIN KONTAKT HERGESTELLT, UND MR. LEEDS WIRD FESTSTELLEN, DASS IHN DOCH ETWAS BERÜHRT – DIE TWILIGHT ZONE.
»Irgend etwas Interessantes dabei?« Roger kramte in seinem Postkasten und fand die übliche Ansammlung von Rechnungen, Reklame und Rundschreiben. Er riß methodisch einen Umschlag nach dem anderen auf und marschierte zur Veranda des Altersheims zurück. Unten auf der Straße spielte eine Bande Jungens Fußball. Spielte sehr laut. Frank Weatherby blieb Roger auf den Fersen und folgte ihm ins Haus. Wie sonst auch. Und ebenso laut wie stets. »Ich nehme an, das bedeutet nein?« erkundigte sich Frank. »Ganz, wie du es sehen möchtest.« Roger kannte Frank seit über zwanzig Jahren. Mit seinen mittlerweile siebzig Jahren hatte Frank sich wohl in den Kopf gesetzt, den zwei Jahre jüngeren Roger zu adoptieren. Manchmal fragte er sich, warum Frank sich so um ihn kümmerte. Und manchmal fragte er sich, ob Frank sich überhaupt darüber im klaren war.
Ohne Rogers Gleichgültigkeit zu beachten, blätterte Frank die Post durch, die er in den Händen hielt. »Ich habe eine Postkarte von Ruth, meiner Schwester in Detroit, bekommen. Du hast sie kennengelernt, das war so um Weihnachten ‘79. Sie läßt dich grüßen und fragt, ob deine Stimmung sich inzwischen etwas gebessert hat.« »Hm.« »Hm. Sehr gut, das hört meine Schwester sicher gern. Also, wie geht’s deinem Sohn und seinen Kindern?« »Ich denke gut.« »Du denkst, daß es ihnen gutgeht? Ich dachte, sie wollten dich dieses Wochenende besuchen kommen?« Roger zuckte die Achseln. An manchen Tagen erlag er der Vermutung, Frank müsse eine Radarantenne nebst Empfangsschüssel im Kopf tragen, die ihm mit hundertprozentiger Treffsicherheit die Stunden mitteilte, an denen Roger lieber allein gewesen wäre… und ihn wohl gleichzeitig ermunterte, dem Freund seinen Wunsch nicht zu erfüllen. »Na ja, sicher, aber ich habe ihnen gesagt, daß… ach, du weißt doch, wie es ist, Frank. Ich habe einfach keine Zeit und Geduld für einen Haufen Kinder, die hier überall herumrennen und toben.« »Selbstverständlich nicht«, nickte Frank. »Ist ja auch klar, bei all den Fototerminen, Banketten und Empfängen kommt man ja zu gar nichts mehr. Ich bin mir sicher, daß deine Familie das sehr gut versteht. Und wo wir gerade dabei sind, wie geht es eigentlich Prince Charles und Lady Di? Beim letzten Mal, als ich sie gesehen habe, wirkten sie, wie soll ich es sagen, nervlich ein wenig derangiert.« »Du bist ein Plagegeist«, entgegnete Roger und marschierte über die Sonnenflecken auf der Veranda in die kühlere Diele. Jemand saß vor dem Fernseher und sah sich die Wiederholung einer alten Sit-Com an. Zumindest ließen die Geräusche, die aus dem TV-Apparat drangen, darauf schließen. Roger sagte
sich, daß es sich bald wohl nicht mehr vermeiden ließe, sich ein paar Namen der hiesigen Insassen zu merken. »Du bist grundböse, von den Zehen bis hinauf zu den Haarspitzen. Habe ich dir das je gesagt?« »Des öfteren und jedes Mal mit größerem Enthusiasmus. Allerdings bin ich von uns beiden nicht derjenige, der unter Alpträumen leidet.« Roger blieb abrupt stehen und drehte sich zu ihm um. »Du steckst deine Nase wieder in Dinge, die dich nichts angehen, Frank. Ich habe dich gewarnt, daß ich ein paar Schläger auf dich ansetze, wenn du das noch einmal tun solltest.« »Ich habe nicht meine Nase in deine Dinge gesteckt. Aber ich habe zufällig mit angehört, wie sich ein paar Krankenschwestern unterhalten haben. Sie erzählten sich, daß du letzte Nacht wieder geschrieen hättest. Das ist schon das dritte Mal in dieser Woche, Roger.« Roger setzte zu einer scharfen Antwort an, schluckte sie aber hinunter. Was hätte er auch sagen sollen? Tut mir leid, daß ich in der letzten Zeit regelmäßig alle aufwecke, aber da gibt es diese Trau, die ständig in meinen Träumen auftaucht. Und sie hat furchtbare Angst und sagt, sie müsse sterben, wenn ich ihr nicht dabei helfen würde, irgendeine Tür geschlossen zu halten. Und im Augenblick will ich weder mit diesen Träumen noch mit dir noch mit sonst jemandem etwas zu tun haben! Er schwieg. Er schüttelte nur den Kopf und marschierte dann die Stufen zu seinem Zimmer hinauf. Frank folgte ihm bis zum Treppenabsatz. »Wir wollen uns um neunzehn Uhr im Freizeitraum treffen, um eine Partie Poker zu spielen.« »Schön für euch.« »Ich könnte dir einen Platz freihalten.« Roger blieb im ersten Stock stehen und blickte in einer Weise zu dem Freund hinab, von der er hoffte, sie würde ihn abschrecken. Frank wirkte dort unten so klein, wenn man
einmal von dem überbreiten, hoffnungsvollen Lächeln absah, das er von morgens bis abends sieben Tage in der Woche aufzusetzen schien. Er haßte die Momente, in denen Frank ihn zwang, grob zu werden. »Frank, meine Antwort heißt nein. Und wenn du mehr darüber erfahren möchtest, dann frag doch eine von den Krankenschwestern. Die scheinen ja über alles, was hier vorgeht, bestens informiert zu sein.« »Ist ja schon gut«, entgegnete der Freund. Roger wartete noch einen Moment, bis er sicher war, daß Frank die Konversation nicht wieder aufleben lassen wollte, und machte sich dann auf den Weg zu seinem Zimmer. »Übrigens habe ich gehört«, rief der Freund von unten, »daß du einen neuen Nachbarn bekommst. Jemand hat das Zimmer neben deinem erhalten.« »Solange er nicht schnarcht.« Roger war sich nicht sicher – in letzter Zeit ließ sein Gehör doch etwas nach –, aber er war der Überzeugung, daß Frank noch etwas vor sich hin gemurmelt hatte, das so ähnlich klang wie: »Wer sagt denn, daß es ein Er ist?«, bevor er in den Fernsehraum verschwunden war. Roger hatte die oberste Stufe erreicht und stand kurz darauf vor der verschlossenen Tür seines Zimmers. Noch im Gehen zog er den Schlüsselbund aus der Hosentasche. Er hatte längst vergessen, wozu die meisten von ihnen dienten, aber er hütete sich davor, auch nur einen Schlüssel fortzuwerfen, weil er viel zu genau wußte, daß er ihn noch keine vierundzwanzig Stunden später dringend brauchen würde. Hinter ihm rief jemand: »Guten Morgen, Mr. Leeds!« Roger drehte sich um und nickte der Krankenschwester knapp zu. Dann erstarrte er beim Anblick der alten Frau im Rollstuhl, die von der Pflegerin über den Flur auf ihn zugeschoben wurde. Das graue Haar war so straff zurückgebunden, daß Roger dachte, die alte Frau müsse davon doch Kopfschmerzen bekommen. Sie hielt
die Hände im Schoß, und ihre Augen waren leer, so als habe sie sich in die private Domäne ihrer eigenen Gedanken zurückgezogen. Sie gab keinen Laut von sich, schien Roger überhaupt nicht zu bemerken. Aber für Roger war es die Frau, die er in der Nacht zuvor in seinem Traum gesehen hatte, wie sie an ihm zog und zerrte, wie sie um Hilfe schrie… Die Krankenschwester lächelte ihm zu, als sie den Rollstuhl an ihm vorbeischob. Er fuhr zurück und drückte sich an seine Tür, so als wäre es ihm möglich, durch das Holz hindurchzuschmelzen, bloß fort von dem Rollstuhl und der schrecklichen Frau. Die Pflegerin hielt das Gefährt vor der Tür zum Nachbarzimmer an und öffnete sie. Während sie den Rollstuhl hineinschob, warf sie Roger über die Schulter einen Blick zu. »Nun, wollen Sie unseren neuen Gast nicht begrüßen?«
Roger betrat das Fernsehzimmer und wußte, noch bevor er über die Schwelle getreten war, daß sie sich in dem Raum befinden würde. Dummerweise lag der Freizeitraum am anderen Ende des Ganges, und es gab keinen anderen Weg dorthin als durch das Fernsehzimmer. Der Apparat lief wie üblich, und ein paar Heiminsassen hatten sich hier versammelt, ohne dem Bildschirm übermäßige Beachtung zu schenken. Nur ein Augenpaar konzentrierte sich auf das Gerät, ihres. Man hatte ihren Rollstuhl direkt vor den Bildschirm geschoben. Die starren, unbeweglichen Augen der Frau bescherten Roger eine Gänsehaut. Er durchquerte rasch den Raum und sah sie nur kurz an, als er an ihr vorbei mußte. Sie hatte die Hände immer noch im Schoß verschränkt. Sie hielt sie so fest, daß er das Weiß der Knöchel
sehen konnte. Gleichzeitig blieb ihre Miene völlig ausdruckslos. Als er den Freizeitraum erreichte, fiel ihm auf, daß er seit Verlassen des Fernsehzimmers den Atem angehalten hatte. Frank saß am Pokertisch an seinem Stammplatz. Er sah auf, als Roger eintrat, und lächelte ihn an. »Hier, nimm dir einen Stuhl. Ich brauche dringend einen objektiven Zeugen. Diese Jungens mogeln, was das Zeug hält.« Der Mann zu seiner Rechten entgegnete aufgebracht: »Wir sollen mogeln?« »Schön von dir«, entgegnete Frank. »Es bedarf schon einiger Größe, um so etwas zugeben zu können.« Er nickte dem dritten Spieler zu, damit dieser weitere Karten ausgab. »Wie steht’s, Roger? Willst du ein oder zwei Partien mitmachen?« »Nein, ich glaube nicht.« Der zweite Spieler schnaubte: »Ich hab’ es dir doch gleich gesagt.« »Wer hat dich denn gefragt?« brummte Frank und betrachtete das Blatt, das er in der Hand hielt. »Gib mir zwei neue.« »Frank, wer ist das?« fragte Roger und versuchte, so gelassen wie möglich zu klingen. Er zeigte zum Fernsehzimmer. Vom Pokertisch aus war nur ein Rad des Rollstuhls zu erkennen. Frank spähte über den Rand seiner Brille und wandte sich dann wieder seinen Karten zu. »Woher soll ich das wissen? Ich erhalte meine Informationen ja bloß von den Schwestern.« Er ließ sein Blatt fallen. »Passe.« »Frank!« »Okay, ist ja schon gut.« Frank zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich zurück. »Sie heißt Laurel Kincaid. Gerüchteweise soll sie seit zehn Jahren kein Wort mehr gesprochen haben, seit ihr Mann gestorben ist.« Er schüttelte den Kopf.
»Sie ist… geistig weggetreten. Wenn man ihr in die Augen sieht, erkennt man dort nur seine eigene Widerspiegelung. Nichts gelangt durch diese Augen.« »Und was weißt du noch?« »Das ist schon alles. Seh’ ich vielleicht aus wie ein wandelndes Lexikon? Hör mal, bist du sicher, daß du nicht eine kleine Runde mitspielen willst?« »Ja, ganz sicher«, antwortete Roger etwas abwesend. »Vielen Dank.« Nur wenig später fragte er sich, ob er Franks Angebot nicht doch hätte annehmen sollen. Nachdem er etwas über die Frau erfahren hatte, bestand für ihn kaum noch ein Anlaß, hier im Freizeitraum herumzulungern. Aber den Raum zu verlassen, bedeutete, wieder an Laurel Kincaid vorbeizumüssen. Na, und wenn schon! dachte er grimmig. Was kann sie mir anhaben? Sie wird mich kaum beißen wollen! Und wenn sie mir doch etwas tut? Er verscheuchte diesen Gedanken, als er den Freizeitraum verließ.
»Roger? Alles in Ordnung?« Er sah auf und entdeckte Frank an der Tür zum Lesesaal. Es war schon spät. Roger saß in seinem Lieblingssessel neben dem Fenster und versuchte, nicht an Schlaf zu denken. »Mir geht es gut«, antwortete er leise. Die Atmosphäre dieses Raums ließ keine lauten Geräusche zu. »Es wundert mich, daß du noch nicht zu Bett gegangen bist«, bemerkte Frank und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Für gewöhnlich ist der Tag für dich um zehn Uhr abends vorbei…« Roger blickte in eine andere Richtung. »Ich fühl’ mich heute einfach noch nicht müde.«
»Möchtest du vielleicht reden?« »Nein. Hör mal, Frank, warum drehst du dich nicht einfach um, gehst woanders hin und läßt mich in Ruhe?« »Weil ich dein Freund bin, verdammt nochmal!« Frank trat in den Lesesaal und näherte sich Roger. »Früher haben wir uns viel unterhalten, erinnerst du dich? Und wir kennen uns seit zwanzig Jahren, Roger, was doch etwas über uns sagt.« Roger schwieg und starrte durch das Milchglas hinaus in die Dunkelheit. Er war furchtbar müde. War völlig erschöpft, und alles in ihm sehnte sich nach Schlaf. Aber er durfte sich nicht hinlegen. Er durfte die Augen nicht schließen. Frank nahm im Sessel gegenüber Platz und beugte sich vor, um dem Freund ins Gesicht sehen zu können. »Nichts ist mehr so, wie es einmal war, oder? Nicht seit…« Er zögerte und richtete sich dann im Sessel auf. »Roger«, erklärte er dann eindringlich, »es ist bereits drei Jahre her!« »Nein«, erwiderte Roger, »es war erst gestern.« Er mußte nicht zweimal raten, worauf der Freund anspielte. Warum muß er dieses Thema immer wieder aufwärmen? Warum kann er mich nicht einfach in Ruhe lassen? Es war alles so sinnlos und so falsch. »Weißt du«, sagte Roger dann und lächelte bei der Erinnerung leicht, »ich habe neulich erst an sie gedacht. Wir konnten uns nie darüber einigen, ob es richtig Marmelade oder Konfitüre heißt. Ich habe am Frühstückstisch zu ihr gesagt: ›Reich mir doch mal bitte die Marmelade‹, und sie hat dann gesagt: ›Hier hast du die Konfitüre, Schatz.‹ Ich vermute, das war so eine Art Spielchen zwischen uns. Eines Tages hatte ich wohl schlechte Laune, und wir bekamen furchtbaren Streit wegen dieser Frage. Kannst du dir das vorstellen? Über was für dumme und nichtige Dinge zwei Menschen doch in Streit geraten können…«
Er wandte den Blick ab. Seine Augen brannten und tränten. Wie sinnlos. Wie falsch. »Gott, Frank, ich vermisse sie so schrecklich!« »Ich weiß. Rachel war ja auch eine wunderbare Frau. Aber deswegen muß du nicht unbedingt alle anderen vergraulen und fortschieben!« Roger starrte wieder aus dem Fenster. »Ich wußte nie, wie sehr ich sie brauche, bis sie nicht mehr da war. Sie ist einfach so gestorben. Als ich meinen ersten Herzanfall hatte, hat sie meine Hand gehalten. Sie sagte, sie würde sie nicht mehr loslassen, komme was wolle, solange ich nur durchhielte. Sie hielt meine Hand im Krankenwagen und auch in der Notaufnahme. Sie hat sie keine Sekunde losgelassen. Ich glaube, sie hätte sie bis zum Ende der Welt gehalten, wenn sie das für notwendig befunden hätte.« Er wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Sie hat mir vertraut, an mich geglaubt, Frank. Wenn ich in ihre Augen gesehen habe, habe ich dort nur reine Liebe entdeckt. Das hat mich stark gemacht, mir das Gefühl gegeben, ich könnte alles erreichen.« Er schüttelte den Kopf. »Ich… ich frage mich, was sie wohl jetzt von mir denken würde.« »Warum? Was ist denn geschehen? Nun komm schon, Roger, erzähl es mir.« Roger sah ihn an, aber in seinen Gedanken erblickte er nur das dunkle Zimmer, aus dem es keinen Weg herein oder hinaus gab. Er hörte das furchtbare Hämmern an der Tür und die Stimme der Frau: Hilf mir, bitte. Wenn er durchkommt, werde ich sterben. »Nein, Frank. Du würdest mich für verrückt halten. Ich glaube ja fast selbst schon, daß ich den Verstand verliere.« Frank machte für einen Moment den Eindruck, als wollte er nachfragen. Aber er unterließ es. Er faltete nur die Hände zusammen, beugte sich vor und lächelte verlegen. »Mein alter
Vater hat nur selten etwas Weises von sich gegeben. Aber er hat mir zwei Dinge beigebracht: erstens, Liebe stirbt nie; und zweitens, wir geraten nie in eine Lage, mit der wir nicht fertig werden können.« »Du weißt doch nichts von meiner Situation.« »Da hast du recht. Aber ich kenne dich. Und ich kannte Rachel. Und du hast nichts getan, dessen du dich schämen müßtest.« Roger zuckte die Achseln, weil er nicht wußte, wie er sonst darauf reagieren sollte. Er fühlte sich immer unbehaglich, wenn Frank so mit ihm redete. Er sah auf seine Uhr. »Es wird spät.« »Roger, ich…« »Frank, mit mir ist alles in Ordnung«, unterbrach er den Freund rasch. »Mach dir mal um mich keine Sorgen, ja? Du weißt, wie sehr ich es hasse, wenn du einen solchen Aufstand entfesselst.« Er ging zur Tür, und Frank folgte ihm. »Einverstanden, Roger«, erklärte er draußen. »Aber wenn du deine Meinung änderst, wenn du mich brauchst, weißt du, wo du mich finden kannst.« Sie hielten am Fuß der Treppe an. »Weißt du was«, begann Frank, »das war die längste Unterhaltung, die wir seit einem Jahr geführt haben. Ich denke, wir sollten das in Zukunft häufiger tun.« »Gute Nacht, Frank«, sagte Roger und hoffte, damit das Gespräch beendet zu haben. »Gute Nacht«, verabschiedete sich der Freund und machte sich auf den Weg ins Fernsehzimmer. Roger trat auf die erste Stufe und blieb stehen. Sie war dort oben, im Zimmer neben dem seinen. Ich will nicht schlafen, schwor er sich. Aber die Müdigkeit war ein ernstzunehmender Gegner. Er stieg weiter nach oben und hielt nur einmal an, um
einen Blick durch die offenstehende Tür in ihr Zimmer zu werfen. Da lag Laurel Kincaid und schlief friedlich. Ihre Kammer war nur spärlich eingerichtet. Nur ein einziges Dekorationsstück war zu erkennen, eine Fotografie auf ihrem Nachttisch. Sie zeigte einen Mann, der fast keine Haare mehr auf dem Kopf hatte. Sein Gesicht war wettergegerbt. Ein sympathisches Gesicht, dachte Roger. Etwas Bekanntes, Vertrautes ging von ihm aus, das Roger jedoch nicht greifen konnte. Geh ins Bett, befahl er sich und wandte sich ab. Vielleicht würde es in dieser Nacht nicht geschehen. Vielleicht würde der Traum in dieser Nacht nicht kommen. Er hoffte es sehr. Er wußte nicht, wie oft er diesen Traum noch ertragen konnte, bevor er endgültig den Verstand verlor.
»Wer immer Sie sind, bitte, Sie müssen mir helfen! Wenn er durchkommt, muß ich sterben! Sie müssen etwas unternehmen! Bitte!« Roger drückte die Augen fest zu. Es war wieder da. Es ging wieder von vorn los. Sie griff nach seinem Arm, und er fuhr vor ihr zurück. »Ich kann Ihnen nicht helfen. Verstehen Sie das denn nicht? Ich will nicht an diesem Ort sein. Ich weiß nicht einmal, was ich hier soll!« »Bitte!« Sie streckte wieder die Hände nach ihm aus, und er zog sich noch weiter zurück, doch sie bekam sein Handgelenk zu fassen. »Ich sagte nein! Lassen Sie mich endlich in Ruhe!« Er riß sich mit solcher Wucht von ihr los, daß er nach hinten fiel und gegen einen Tisch voller Fotos und Kerzen prallte. Er drehte sich im Fallen, um den Aufprall aufzufangen. Dann
zersplitterte Glas und fiel geräuschlos zu Boden. Seine Hand traf eine Kerzenflamme, und er roch verbranntes Fleisch. Schmerz schoß von der Handfläche durch den Arm. Roger schrie laut… Der Schrei war noch auf seinen Lippen, als er sich aufrecht sitzend in seinem Bett wiederfand. In seinem Kopf hallte die eben erlebte Szene wider. Völlig unerwartet spürte er den wirklichen Schmerz. Ein stechendes Brennen, das von seiner Handfläche kam. Dazu der Gestank von versengtem Fleisch. Zitternd schaltete er die Lampe auf dem Nachttisch an und bemerkte, daß die Pflegerinnen von seinem Schrei angelockt worden waren und nun an seine Tür hämmerten. Ein schwarzer Kranz, wie Ruß, umgab die Brandstelle, die sich bereits zu einer Blase wölbte. »Großer Gott«, ächzte Roger, »großer, gütiger Gott!«
Helles Sonnenlicht überflutete den Speisesaal. Dazu ertönte die Sinfonie von Geschirrklappern und allgemeinem Geplapper. Roger fragte sich, wie um alles in der Welt es ihnen möglich war, ihr Frühstück in Ruhe zu sich zu nehmen. Sahen sie ihm denn nicht an, daß er in der Nacht kaum ein Auge zugemacht hatte? Bemerkten sie denn nicht, daß er innerlich langsam starb? Nein, sagte er sich. Sie verstehen und sehen es nicht. Und wenn man es recht bedachte, war es vielleicht nicht einmal so schlecht. Er nahm mit der Linken, der nicht verbundenen Hand, die Gabel. Er war eigentlich Rechtshänder, und schon nach wenigen Minuten störte es ihn erheblich, die Linke gebrauchen zu müssen. Dann nahm er mit der Rechten die Gabel. Roger blickte kurz auf, als eine Schwester an seinem Tisch vorbeikam und ihn fragte: »Wie geht es Ihrer Hand?«
»Besser.« »Fein«, nickte sie. »Und ich bin mir sicher, daß wir solche Probleme in Zukunft nicht mehr haben werden. Ich möchte Sie jetzt und hier noch einmal an die Hausordnung erinnern, die nur unter besonderen Bedingungen das Rauchen im Bett gestattet.« Roger ließ die Gabel klappernd auf den Teller fallen. »Wenn Sie sich die Mühe machen, einen Blick in meine Personalakte zu werfen, werden Sie feststellen, daß ich Nichtraucher bin. Mir ist eben ein… ein Unfall zugestoßen, alles klar? Nun denn, gibt es noch andere Punkte in der Hausordnung, die ich verstärkt beachten soll?« Sie ließ sich nicht das mindeste anmerken. »Nein, Mr. Leeds, für den Augenblick gibt es nichts weiter zu beachten. Solange Sie sich an die Hausordnung halten. Ich sehe später noch einmal nach Ihnen.« Sie ging. Roger sah ihr nach, wie sie den Speisesaal verließ. Im selben Moment schob eine andere Pflegerin Laurel herein. Er beugte sich über sein Frühstück und hoffte insgeheim, die Pflegerin würde seine neue Nachbarin durch den Speisesaal und hinaus auf den Lichthof hinter dem Haus befördern. Vielleicht hatte Laurel ja schon gefrühstückt, und vielleicht mußte er nicht noch einmal in diese leeren Augen blicken. Die Tür zum Lichthof fiel krachend ins Schloß. Die unheimliche Frau war fort. Roger atmete erleichtert aus und bemerkte, daß seine Hände zitterten. »Na, Roger, warst du heute schon draußen?« Frank kam an seinen Tisch und rieb sich die Hände. Sein Gesicht war gerötet. »Einfach großartig in der Sonne. Was würdest du davon halten, wenn wir beide nach dem Frühstück ein wenig spazieren und Sonne tanken gehen? In der letzten Zeit warst du recht blaß, ein bißchen Farbe im Gesicht würde dir guttun.« Roger winkte gleich ab. »Nein, ich…«
»Was ist denn mit deiner Hand?« Roger schob sie rasch unter den Tisch. »Nichts.« »Ach so, nichts. Nichts kann ich nicht sehen. Dies kann ich jedoch sehen. Also muß etwas dort sein. Ich habe in den letzten Tagen wieder Sokrates gelesen. Diese Philosophie hilft einem doch wirklich weiter, nicht wahr?« Roger hieb mit der Linken auf den Tisch und sprang auf. »Verdammt, Frank, kannst du eigentlich jemals deine Klappe halten?« Er eilte an ihm vorbei, wußte nicht, wohin er sich wandte, und scherte sich auch nicht darum, bis er sich plötzlich draußen wiederfand. Ganz in ihrer Nähe. Sie saß im Schatten eines EukalyptusBaums, in der Nähe der Boccia-Bahn. Nichts an ihr bewegte sich. Sie starrte nur vor sich hin, ohne jedoch etwas zu sehen. Er drehte sich um und wollte ins Haus zurück, als ihm einfiel, wie er sich gerade benommen hatte. Frank war sicher verletzt. Er würde später einen Weg finden, bei seinem Freund wieder gut Wetter zu machen; im Augenblick wäre das weniger günstig. Er warf einen Blick auf Laurel und zögerte. Ich muß etwas unternehmen, sagte er sich, irgend etwas, sonst drehe ich noch durch. Er zwang sich auf Füßen, die schwer waren wie Beton, über den Lichthof bis zum Eukalyptus-Baum und nahm im Liegestuhl ihr gegenüber Platz. Er sah in ihre leeren Augen und sagte zunächst nichts, weil er nicht wußte, wie er anfangen sollte. Gibt wohl nur einen Weg, dachte er. »Hallo, mein Name ist… ich heiße Roger. Ich glaube, wir sind uns schon einmal begegnet.« Keine Reaktion. »Ich will Sie nicht belästigen, es ist nur so, daß ich auf gewisse Fragen Antworten suche. Ich möchte zum Beispiel wissen… bin ich dabei, den Verstand zu verlieren? Sie sind es, nicht wahr? Sie sind in meinen Träumen. Noch bevor Sie
hierhergekommen sind, noch bevor ich Ihnen begegnet bin, waren Sie gewissermaßen schon da, oder?« Keine Reaktion. »Sie müssen mich doch hören können. Irgendwie haben Sie mich ausgesucht, mich gerufen… Ich würde gern wissen, warum es gerade ich sein mußte. Man hat mir gesagt, Sie hätten seit dem Tod Ihres Mannes kein Wort mehr gesprochen. Was wollen Sie also von mir? Ich soll Sie vor irgend etwas beschützen, vor dem Ding hinter der Tür, was immer dort lauern mag. Aber ich kann nichts für Sie tun, Mrs. Kincaid. Ich kann Sie nicht beschützen. Verdammt, ich konnte ja nicht einmal meine eigene Frau schützen, als sie…« Oh, Gott, dachte er und schwieg. Der altvertraute Schmerz war wieder in seinem Herzen spürbar. Er stand auf, lief um den Stuhl herum und versuchte, den Schmerz loszuwerden, sich nicht mit ihm befassen zu müssen. Im Moment konnte er ihn nicht gebrauchen. Und er wollte sich auch nicht wieder an gewisse Momente erinnern. »Sie war eine gute Frau. Freundlich, ehrlich… und sie hat im ganzen Block jeder streunenden Katze ein Schälchen Milch hingestellt. Sie hätten sie bestimmt gemocht. Jeder hat sie gemocht. Und sonntags, wenn die Kinder zu uns gekommen sind…« Die Kinder. Wie lange war das schon her? Seine Gedanken glitten wieder weg, doch diesmal fand er für sie keine Umleitung, es gab für sie nur das eine Ziel, dem er unbedingt entgehen wollte. Er ließ sich wieder auf dem Stuhl nieder und fühlte sich plötzlich alt, unsagbar alt. Und der Schmerz war wieder da, war unerträglich stark zurückgekehrt. Er begann langsam zu erzählen. »Als es aufs Ende zuging, fing sie an… wir waren im Krankenhaus, und sie konnte kaum noch sehen, und, bei Gott, sie hatte furchtbare Schmerzen. Sie rief immerzu nach mir. Ich
war an ihrer Seite, aber sie konnte mich nicht sehen. Sie flehte mit mir zusammen Gott an, er möge ihr die Schmerzen nehmen. Sie rief wieder und wieder meinen Namen, bat mich ganz dringend um Hilfe… Und ich konnte nichts für sie tun! Ich konnte nur ihre Hand halten und ihr versichern, daß ich sie nie mehr loslassen würde. Genau so, wie sie es damals bei mir getan hat. Doch dann drückte ihre Hand einmal ganz fest die meine, und das war es… Gott steh mir bei, ich weiß bis heute nicht, ob sie gemerkt hat, daß ich die ganze Zeit an ihrer Seite war.« Er zog das Taschentuch aus der Hose und wischte sich das Gesicht ab. Die Frau vor ihm bewegte sich noch immer nicht. Sie starrte weiterhin vor sich hin, als sei Roger gar nicht vorhanden. Genau wie bei Rachel, dachte er, und seine Wangen glühten. Das war nicht fair. War nicht richtig. Warum tat sie ihm das an? Soll sie doch zur Hölle fahren, schimpfte er in Gedanken, und Ärger stieg in ihm hoch. Sie sollte in der Hölle schmoren, weil sie ihm den ganzen Schmerz zurückgebracht hatte, weil sie ihn sich wieder so alt, nutzlos und ohnmächtig fühlen ließ. »Mrs. Kincaid, dieses Ding oder Wesen hinter der Tür, wer oder was es auch sein mag, bricht bald durch, nicht wahr? Hören Sie, ich weiß nicht, wovor Sie Angst haben, aber das kann ich mir nicht zum Problem werden lassen. Ich will nur, daß mich alle in Ruhe lassen. Verschwinden Sie aus meinem Kopf! Lassen Sie mich in Ruhe!« Er sprang so ruckartig aus dem Liegestuhl, daß er ihn umwarf, und floh vom Lichthof, vor diesen schrecklichen leeren Augen. Er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, daß sie immer noch vor sich hin starrte… starrte, starrte, starrte… Laß mich in Ruhe!
Das Fernsehprogramm verschaffte ihm keine Ablenkung. Roger blickte durch halb geschlossene Lider auf den Bildschirm. Er hatte in seinem Kleiderschrank das alte Schwarzweißgerät wiederentdeckt, angeschlossen und auf die Kommode gestellt, damit er vom Bett aus fernsehen konnte. Johnny Carson hatte seine Show abgezogen, und mehrmals waren die lokalen Nachrichten ausgestrahlt worden. Er schaltete so lange hin und her, bis er einen alten Film mit Rock Hudson fand, der schon lief und an dessen Titel er sich nicht mehr erinnern konnte. Andererseits fühlte er sich zu müde, um aufzustehen und in der Programmzeitschrift nachzusehen. Er rieb sich übers Gesicht und über die Augen, um sich wachzuhalten. Das viele Grau und die Personen in Schwarz und Weiß überanstrengten seine Augen, machten sie noch müder. Da es schon recht spät war, lief der Film mit verminderter Lautstärke. Die Dialoge waren nur noch ein Murmeln und wirkten einschläfernd. Ich schlafe nicht ein, schwor er sich, ganz bestimmt nicht. Alles in ihm sagte ihm, daß heute die Nacht war, in der die Hölle über Laurel hereinbrechen würde. Und Roger hatte kein Interesse, daran teilzunehmen. Er legte die Hände auf die Augen. Sie brannten und waren entzündet. Nur noch ein Weilchen. Bis zum Anbruch des Tages. Dann hätte er es geschafft. Die Pflegerinnen würden kommen und Laurel wecken. Er würde angeben, sich eine Erkältung oder einen Virus eingefangen zu haben, und so zu seinem wohlverdienten Schlaf kommen. Das Programm säuselte aus weiter Ferne, außerhalb seiner geschlossenen Augen. Nur noch ein Weilchen… … und es war kalt und dunkel, und sie war da und schrie ihn an: »Hilf mir! Du mußt mir helfen! Wenn er durchbricht, werde ich sterben! Du mußt…«
Roger saß aufrecht im Bett, und sein Herz hämmerte wie verrückt. Er war eingeschlafen. Nur für einen Moment, aber das hatte ihr schon gereicht, ihn in ihren Traum zu zerren. Er schob die Beine über die Bettkante und tastete mit den Füßen nach dem Boden. Er durfte nicht zulassen, daß es noch einmal soweit käme. Er fand die Pantoffel und den Morgenmantel und trat hinaus auf den Flur. Alles war still. Er betete darum, nicht von den Krankenschwestern der Nachtschicht entdeckt zu werden, und schlich sich die Treppe hinunter in die Küche. Er erhitzte Wasser in einer sauberen Pfanne statt im Kessel, weil das weniger Lärm verursachte. Während das Wasser kochte, kippte er zwei große Löffel Pulverkaffee in eine Tasse. Er wärmte seine Hände über den glühenden Heizschlangen, rieb sich über die Arme, um die Wärme auszubreiten. Dann trat er in den Ruheraum. Dort stand sein Lieblingssessel, direkt neben dem von Frank. Ich habe nie gewußt, wie sehr ich sie brauche, bis sie von mir gegangen ist. Die Worte schienen in der kühlen Nachtluft zu schweben. Er konnte Frank fast vor sich in seinem Sessel sehen, wie er Roger ansah, wie gewöhnlich voller Traurigkeit. Aber Franks Traurigkeit war nichts im Vergleich zu der von Roger. Sie hat immer wieder meinen Namen gerufen, und ich konnte nichts für sie tun. Es gibt Zeiten, Frank, in denen habe ich Angst. Ich denke an sie, und ich schäme mich. Ich schäme mich für das, was sie jetzt von mir denken muß. Was denkt sie? Was muß sie von mir denken? Er hörte, wie in der Küche das Wasser heiß genug wurde. Er schlurfte an den Herd und starrte einen Moment in das brodelnde Wasser, bevor er die Platte abschaltete. Ich konnte doch nichts tun! Damals nicht. Nein, damals nicht.
Er hob die Pfanne vom Herd und goß das heiße Wasser in den Spülstein aus. Er stellte sie wieder zurück ins Regal, löschte das Licht und lief wieder nach oben. Rachel wäre es bestimmt recht, wenn er ihr jetzt zur Hilfe eilte, sagte er sich, als er die Tür hinter sich schloß. Wenigstens wollte er das bei Laurel versuchen, was ihm bei Rachel nicht möglich gewesen war. Gott steh mir bei! dachte er, als er sich aufs Bett legte und die Augen schloß.
Der Wind heulte und schrie überall um ihn herum. Er zerrte wie eine Raubkatze an Roger, und sie war da, stand inmitten dieses Chaos. Sie klammerte sich mit angstvoller, verzweifelter Miene an seinen Arm. »Hilf mir, bitte, du mußt etwas dagegen unternehmen!« Dann das grelle Licht. Und die Tür. Und das Hämmern und Donnern. Holz splitterte, und die Tür tanzte hilflos an der schmalen Kette. Doch ihre Stimme übertönte alles, das Getöse und den furchtbaren Wind. »Bitte!« Fotografien. Überall. Er konnte sie nun genauer sehen als in den Träumen zuvor. Einige zeigten Laurel mit einem Mann. Andere nur den Mann. Und das Gesicht kam Roger sehr bekannt vor. »Du mußt ihn aufhalten! Bitte, wenn er durchkommt, muß ich sterben! Verstehst du, dann muß ich sterben!« Er rannte auf die Tür zu und warf sich dagegen, stemmte sich mit der Schulter dagegen. Er drückte mit aller Kraft, drückte für Rachel und die Erinnerung an seine damalige Hilflosigkeit. Er stemmte sich mit aller Kraft dagegen, die ihm zur Verfügung
stand, doch die Tür bewegte sich nur wenige Millimeter in Richtung Schloß zurück. Das Hämmern von draußen war nun so laut, daß Roger fürchtete, davon taub zu werden. Er konnte das Wesen auf der anderen Seite spüren, wie es mit einer ungeheuren Wucht gegen das Holz anstürmte. Er warf einen Blick über die Schulter auf Laurel, die mitten im Zimmer stand und mit weit aufgerissenen Augen seine Bemühungen verfolgte. »Hilf mir! Stemm dich mit dagegen!« Laurel schüttelte den Kopf, und trat einen Schritt zurück. »Ich… das kann ich nicht! Bitte, streng dich an! Er hat es fast geschafft!« Roger warf sich gegen die Tür. Die Tür schlug gegen ihn. Die Bilder an den Wänden schwankten und hüpften mit jedem Stoß von draußen. Was immer sich dort draußen befinden mochte, es war sehr, sehr stark. Und sehr, sehr entschlossen. »Was ist dort?« rief er. »Was lauert hinter der Tür?« Sie antwortete nicht. Starrte ihn nur schweigend an, als säße sie wieder in ihrem Rollstuhl. Sie hat seit dem Tod ihres Mannes kein Wort mehr gesprochen, hatte Frank gesagt. Die Worte hallten außerhalb und innerhalb seines Kopfes wider. Sie sah sich erschrocken nach allen Richtungen um. Hatte sie diese Worte vielleicht gehört? Das Hämmern nahm an Lautstärke und Wucht zu. Dann griff der Wind seine Worte auf und wirbelte sie durch die Luft. Du hast seit dem Tod deines Mannes mit niemandem mehr gesprochen. Sie preßte die Hände an die Ohren und schloß die Augen. »Aufhören!« schrie sie. »Aufhören! AUFHÖREN!« Er drehte sich zu ihr um und stemmte sich nicht mehr gegen die Tür. Die Kerzen. Die Fotos. Die Tür. Großer Gott, dachte er. »Lieber Himmel«, sagte er. »Du sperrst nicht jemanden aus, nicht wahr, sondern du sperrst jemanden ein!« Wind und
Getöse erreichten eine Lautstärke, in der nichts anderes mehr zu vernehmen war. Das Hämmern an der Tür ging in ein einziges Dröhnen über. Sie blickte ihn an, und Roger dachte, daß er in seinem ganzen Leben nichts Bemitleidenswerteres gesehen hatte. »Bitte«, sagte sie leise und ängstlich. »Wenn er durchkommt… werde ich sterben!« »Dann bete darum, daß ich das Richtige tue«, entgegnete Roger und ließ gänzlich ab von der Tür. Er prallte zurück, griff sich einen Kerzenständer aus Messing und hieb damit die Sperrkette entzwei. »Nein!« kreischte Laurel. »Neiiiiin!« Und plötzlich war ihr Schrei das einzige Geräusch in dem Raum. Die Tür stand auf. Zuerst sah man nur das grelle Licht, dann zeichnete sich eine Silhouette ab, die sich der Tür näherte. Der Mann auf den Bildern. Ohne Roger zu beachten, trat er zu Laurel, die auf dem Bett hockte und ihm den Rücken zukehrte, um ihn nicht ansehen zu müssen. Er ließ sich neben ihr nieder. »Laurel…« »Nein«, krächzte sie, und es klang, als säße ihr ein Kloß im Hals. »Es wird für mich Zeit zu gehen.« »Nein, du darfst nicht gehen. Bitte…« »Ich bin lange genug hier geblieben. Zu lange. Und jetzt mußt du mich endlich gehen lassen. Ich bin ja gar nicht mehr ich selbst, nur noch ein Schatten, eine Erinnerung…« »Ich kann aber nicht ohne dich leben. Wenn du gehst, werde ich sterben!« »Nein, Laurel, und jetzt hör mir gut zu: Ich liebe dich. Ich möchte, daß du weiterlebst. Mir ist es sehr wichtig, daß du weiterlebst, denn nur so hätte mein Leben einen Sinn gehabt. Lebe weiter, Laurel, für mich, für die Kinder und für das, was
wir in vierzig wunderschönen Jahren zusammen getan und erreicht haben.« »Nein«, wimmerte sie, aber sie schien keine Kraft mehr zu besitzen. Nur noch Resignation und Erschöpfung waren in ihr. Sie lehnte sich an ihn, legte den Kopf auf seine Schulter. Er strich ihr die Haare aus dem Gesicht. »Du warst immer so stark und bist immer für mich dagewesen. Nun bitte ich dich ein letztes Mal, für mich stark zu sein.« Sie schluchzte an seiner Schulter, und Roger sah den brennenden Kummer in den Augen des Mannes. »Es ist alles in Ordnung«, versicherte er ihr und hielt sie fest. »Alles wird in Ordnung sein. Aber ich… ich muß jetzt gehen, und du mußt mich loslassen, Laurel. Lebe für mich weiter, bitte.« Sie sagte zuerst nichts. Dann richtete sie sich etwas auf, vermied es aber immer noch, ihm in die Augen zu blicken. »Wie könnte ich dich loslassen?« fragte sie mit bebenden Lippen. »Du hast dich nicht einmal von mir verabschiedet.« Sie versuchte, für ihn zu lächeln, wenigstens ein bißchen, doch selbst das verging, als sie ihn endlich ansah. Seine Fingerspitzen fuhren über ihre Wange. »Auf Wiedersehen, Laurel, meine große, meine wahre Liebe.« Er stand auf, berührte noch einmal ihr Haar und marschierte davon in die Finsternis jenseits ihres Zimmers. Roger machte einen Schritt auf ihn zu, hielt dann aber inne. Wohin der Mann jetzt ging, konnte Roger ihm nicht folgen. »Du warst es, der mich hierher gerufen hat, nicht sie, oder?« fragte Roger. Der Mann nickte, ohne sich nach ihm umzudrehen. »Warum? Warum gerade ich?« Er warf ihm einen kurzen Blick über die Schulter zu. »Ich denke, das weißt du.« Damit verschwand er in der Dunkelheit, die sich vor ihm auszudehnen schien. Das Zimmer wurde elastisch, so als würde es sich von ihm und nicht er sich von dem Zimmer entfernen. Die Kerzen erloschen eine nach der anderen. Das
letzte, was Roger sah, war Laurel, die ganz allein auf dem Bett saß. Sie starrte auf den Mann in der Dunkelheit, um einen letzten Blick auf ihn zu erhaschen, bevor er für immer verschwunden war. Allein, so furchtbar allein. Und dann nichts mehr… nur das erste matte Glühen der Morgendämmerung, das in sein Zimmer eindrang. Roger brauchte eine Weile, ehe er die Tränen bemerkte, die über seine Wangen liefen. Im Speisesaal herrschte das übliche Geklapper und Geplapper. Der Geruch von Rührei und gebratenem Speck drang bis in den Flur. Roger suchte Frank in der Warteschlange am Büffet. Er zupfte an seinem Revers. Es war schon lange her, seit Roger einen Anzug getragen hatte. »Frank«, rief er, als er den alten Freund an der Ausgabe entdeckte, »hast du Laurel gesehen?« »Mensch, sieh sich einer den an!« entfuhr es Frank. »Ein flotter Anzug, Roger.« »Frank…« Der Freund deutete mit der Gabel, an der ein Speckstreifen hing, nach draußen: »Ich glaube, sie ist auf dem Lichthof.« »Danke«, sagte Roger und eilte schon zur Tür. »Kein Ursache!« rief Frank ihm nach. »Übrigens starten wir heute abend um sieben wieder eine Pokerrunde. Ich halte dir einen Platz frei.« Roger gab ihm keine Antwort. Dafür war später immer noch Zeit. Bevor er durch die Tür trat, hörte er, wie einer der anderen Pokerspieler zu Frank sagte: »Wozu der Aufwand? Du weißt doch so gut wie wir alle, daß er nie mitspielt!« »Ach, kümmer du dich lieber um deine Cornflakes«, entgegnete Frank. Roger lächelte und ließ die Tür hinter sich ins Schloß fallen. Er hielt Ausschau nach dem Rollstuhl. Er entdeckte ihn, und für einen Moment schien sein Herzschlag auszusetzen. Sie saß
wieder unter dem Eukalyptus-Baum, hielt die Hände im Schoß und starrte ins Leere. Roger überquerte den Lichthof, ließ sich ihr gegenüber nieder und suchte in ihrem Gesicht nach irgendeinem Anzeichen, daß alles, was er letzte Nacht gesehen und gehört hatte, mehr als bloß ein Traum gewesen war. Aber in ihren Augen entdeckte er nur seine eigene Spiegelung. »Hallo«, sagte er schließlich. Keine Reaktion. »Ich weiß, daß Sie hier sind, und Sie können mich hören. Ich habe Zeit, ich kann warten.« Er verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. »Ich kann warten, solange ich will.« Zunächst tat sich nichts. Dann näherte sich ihr Blick langsam, blieb an seiner verbundenen Hand hängen und richtete sich endlich auf sein Gesicht. Sie schien Mühe zu haben, etwas außerhalb ihrer Gedanken erkennen zu können. Sie leckte sich über die Lippen, und als sie sprach, war kaum mehr als ein Flüstern zu vernehmen. »Sie haben sich die Hand verbrannt.« Roger beugte sich vor und betrachtete den Verband. »Ja.« »An… einer Kerze?« »Ja.« Sie sah ihm in die Augen. »Das tut mir leid.« Er wollte etwas erwidern, doch in diesem Moment läutete die Glocke zum Frühstück. Er lächelte Laurel an. »Der letzte Aufruf. Möchten Sie vielleicht etwas zu sich nehmen?« Sie zögerte kurz, dann lächelte auch sie. Ein leichtes Lächeln, aber Roger glaubte, niemals etwas so Starkes gesehen zu haben. »Frühstück, ja, ich denke, das wäre jetzt genau das richtige.« Roger rieb sich die Hände und stand auf. Er trat hinter den Rollstuhl und schob ihn über den Lichthof. »Eine gute Entscheidung. Mal sehen, was wir hier haben… Also, hier gibt es Speck, Rührei, Toast, Marmelade und Bratkartoffeln, an Ihrer Stelle würde ich mich von denen fernhalten… und wenn ich es richtig gehört habe, findet jeden Tag um neunzehn Uhr eine Pokerrunde statt…«
Er öffnete ihr die Tür und schob sie in den Speisesaal. Es würde ein toller Tag, sagte er sich, ein wirklich toller Tag.
MR. ROGER SIMPSON LEEDS IST KÜRZLICH VON EINER REISE IN DIE SCHATTEN ZURÜCKGEKEHRT. ER HAT DORT HERAUSGEFUNDEN, DASS KEINE DUNKELHEIT SO DICHT IST, UM NICHT VOM MENSCHLICHEN HERZEN DURCHDRUNGEN ZU WERDEN – ODER VON DER TWILIGHT ZONE.
Der Anruf
Es gibt eine Frau, die seit vielen Jahren meine Freundin war. Eine attraktive und liebenswerte Frau, die jedoch mit ihren Männerbeziehungen stets Pech und Schlimmeres gehabt hat. Unsere Beziehung verlief wie eine Achterbahn, mal waren wir oben, dann wieder unten und so weiter und so fort. Als Freunde haben wir uns sehr geschätzt, aber irgendwie hat es nie so recht funktioniert, daß daraus mehr entstehen konnte. Die Freundschaft blieb auch nach meiner Heirat bestehen. Hin und wieder ein Brief oder ein Telefonanruf. Hauptsächlich Anrufe. Das Eigenartige daran war, daß ich sie mir am Hörer immer genau vorstellen konnte, auch wenn wir uns jahrelang nicht gesehen hatten. Ich sah vor meinem geistigen Auge ihren Gesichtsausdruck, ihre Gesten, ihr Achselzucken und ihre Blicke, als stünde sie vor mir. So etwas entsteht vermutlich, wenn man jahrelang sehr vertraut miteinander gewesen war. Angesichts des Umstands, daß manchmal Jahre vergingen, bevor ich sie wiedersah, kann es doch eigentlich nicht verwundern, daß eines sonnigen Nachmittags in mir die Idee geboren wurde, eine Geschichte über eine Beziehung zu verfassen, die nur via Telefon existiert. Davon abgesehen sind Telefone immer schon magische Gegenstände gewesen. Orakel mit Tasten, die durch ein Nervensystem aus Draht und Fiberglas miteinander verbunden sind. Man mag Tausende von Meilen voneinander entfernt sein und ist doch durch das Telefon aufzuspüren. Und ein einziger Anruf kann, ob zum Guten oder zum Schlechten, das ganze Leben eines Menschen verändern.
Manchmal reicht auch schon eine falsche Verbindung. Sobald ich den richtigen Zugang zu dieser Story gefunden hatte, schrieb sie sich fast von allein. Die Charaktere entwickelten ein Eigenleben und übernahmen die Geschichte. Und die Worte entströmten mir mit ungewohnter Klarheit. Interessanterweise hatte sich einer derjenigen, der das Skript zuerst zu lesen bekam – unser Lektor im Büro –, selbst einmal in eine Frau verliebt, die er nur vom Telefonieren kannte, der er aber nie begegnet war. Als die Episode gedreht war, kamen viele aus dem Studio zu mir und erzählten mir ähnliche Geschichten. Also ist Normans Reaktion sicher nicht ganz übertrieben. Nur eines bedaure ich an dieser Story. Als ich erfuhr, wer die Rolle des Norman übernehmen sollte, befürchtete ich, daß daran alles scheitern könnte: William Sanderson tritt als Komiker in einem Trio auf. Ich muß ihm allerdings zugestehen, daß er sich sehr gut auf seine Rolle vorbereitet hat. Vielleicht hat er sogar des Guten ein wenig zuviel getan. Aber eine Menge Leute haben mir später erzählt, daß diese Geschichte ihre Lieblingsfolge sei; worüber will ich mich da noch beschweren. Die Episode hat eine Menge Menschen unterhalten und interessiert, und das ist ja unser eigentliches Ziel. Und wir mußten nicht einmal Gebühren für Ferngespräche entrichten.
DER ANRUF, Produktions-Nr. 87020, wurde in der Woche vom 27. Juni bis 1. Juli 1988 gedreht. Regie führte Gilbert Shilton, und die Darsteller waren William Sanderson (Norman Blair), Jill Frappier (Besucherin), Dan Redican (Richard), Julie Khaner (Mary Ann), Djanet Sears (Angestellte), Ian Northnagel (Museumswächter). Die Episode wurde erstmals am 20. November 1988 ausgestrahlt.
Norman Blair schloß die Tür zu seiner Wohnung auf und schob sich vorsichtig hinein. Er achtete darauf, die Einkaufstüten nicht fallenzulassen, nicht über die Katze zu stolpern und nicht in etwas hineinzutreten, das die Katze ihm als Willkommensgruß nach seinem langen Tag im Büro hinter lassen haben könnte. Er erreichte endlich die Küche, und Catt, die Katze, blinzelte ihm aus dem Fach über dem Kühlschrank zu. »Hi«, sagte Norman. Die Katze blickte ihn an, wie das nur Katzen können, wenn sie sich noch unschlüssig sind, wer diese Person in ihrer Küche eigentlich ist, was der Fremde hier will und ob dabei irgendwie etwas Eßbares zu erwarten wäre. Nach einer Weile gelangte Catt zu dem Schluß, daß der Aufwand nicht lohne. Sie gähnte und schloß die Augen. Die Ärmste hat sicher einen harten Tag hinter sich, dachte Norman und fing an, die Tüten auszupacken.
SOFA, COUCHTISCH, SESSEL UND KATZE – SOLITÄRE DEKORATIONSSTÜCKE IN EINEM LEBEN, DAS SICH VORNEHMLICH DURCH SEINE EINSAMKEIT UND ISOLATION AUSZEICHNETE. STARTPUNKT UND ZIEL DES NORMAN BLAIR, DESSEN TAGE UND NÄCHTE SCHON ROUTINEMÄSSIG VON UNGLÜCKLICHEM SCHWEIGEN VERSCHLUCKT WURDEN. NORMAN BLAIRS GRÖSSTE BEFÜRCHTUNG IST, DASS ER MORGEN VON DER ERDE VERSCHWINDEN KÖNNTE, UND NIEMAND WÜRDE SEIN FEHLEN BEMERKEN, GESCHWEIGE DENN, IHN BEWEINEN. UND ZU DEN TRAURIGSTEN DINGEN IN SEINEM LEBEN GEHÖRT,
DASS DIESE ENTSPRICHT.
BEFÜRCHTUNG
DER
REALITÄT
Norman wurde vom Applaus wach. Er rieb sich die schläfrigen Augen und blinzelte zum Bildschirm, auf dem der Abspann einer Serie oder sonst irgend etwas lief. Die Aluminiumschachtel seines Fertiggerichts lag noch auf dem Couchtisch, und er hatte vergessen, sein gutes Hemd auszuziehen. Er warf einen Blick auf die Uhr. Mitternacht war vorüber. Ich muß ins Bett, sagte er sich und zwang sich, aufzustehen und die Reste seines Mahls in den Abfalleimer zu werfen. Er ließ das Fernsehgerät eingeschaltet, während er auf dem Sofa Ordnung machte und dann das Bett herauszog. Er ging zur Kommode und holte dort Kissen und Bettzeug. Als aus dem TV-Gerät Big-Band-Musik ertönte, drehte er die Lautstärke etwas auf. Er erkannte sofort Glenn Millers »Sliphorn Jive« wieder. Einen Moment später verdrängte die Stimme eines Ansagers die Musik: »Tommy Dorsey! Glenn Miller! Artie Shaw! Und Benny Goodman! Endlich die Kollektion ihrer allergrößten Hits! Songs aus der Ära der Big Bands. Von ›Moonlight Serenade‹ bis ›Pennsylvania 6-500‹. Das Beste vom Swing von seinen besten Interpreten. Nur eine begrenzte Auflage dieser Edition wurde gepreßt. Rufen Sie also noch heute die 727-4221 an, und bestellen Sie dieses Sammlerstück, solange der Vorrat reicht. Unsere Telefone sind rund um die Uhr besetzt.« Norman suchte krampfhaft nach einem Stift und etwas, was sich beschriften ließe. Seit vielen Jahren schon liebte er BigBand-Musik. Das hatte bereits auf der High-School begonnen, als Swing so »out« war, daß selbst die größten Trottel in der Klasse ihn schief ansahen. Die gerade angepriesene Kollektion schien verheißungsvoll zu sein. Genau die Art von
Musikuntermalung, die man anstellen und im Hintergrund weiterlaufen lassen konnte, während man las oder etwas zu sich nahm. Er fand einen Bleistift und kritzelte hastig die Nummer auf einen Briefumschlag, dann wählte er sie. Er hörte ein Klingelzeichen. Es läutete ziemlich lange. Vermutlich bekommen sie gerade haufenweise Bestellungen, dachte er und blickte wieder auf den Bildschirm. »Eine wundervolle Zusammenstellung für all diejenigen, die sich an die Goldene Zeit des Swing erinnern können«, verkündete der Ansager gerade, »und natürlich auch für diejenigen, die ganz persönlich und für sich herausfinden möchten, was es mit den Besten der Besten auf sich hat. Die Sammlung enthält auch Harry James, Woody Herman und Kay Kyser. Sie finden Klassiker wie ›Begin the Beguine‹, ›String of Pearls‹ oder ›I’m Getting Sentimental Over You‹. Rufen Sie gleich an, und wählen Sie die Nummer 727-4221.« Als es am anderen Ende zum zehnten Mal klingelte, warf Norman einen kurzen Blick auf die Nummer, die er sich aufgeschrieben hatte. 727-4212. Oh, Mist! dachte er und wollte schon einhängen, als plötzlich abgehoben wurde. »Hallo?« meldete sich eine leise und zögernde Frauenstimme. Wahrscheinlich habe ich sie aus dem Schlaf gerissen, vermutete Norman. »Hm, äh, ja«, begann er. »Ich… es tut mir leid, ich fürchte, ich habe die falsche Nummer gewählt.« »Wie bitte?« »Hören Sie, es tut mir wirklich leid, ich habe die Ziffern durcheinandergebracht und Sie vermutlich aus dem Bett geholt.« »Nein… ist schon okay.« Sie schwieg kurz und fuhr dann mit festerer Stimme fort: »Ich habe hier nur herumgesessen, als das
Telefon klingelte. Eine Minute lang habe ich befürchtet, der Anrufer würde einhängen, bevor ich den Apparat erreicht habe.« »Ja, ich weiß, was Sie meinen. Ich hasse es, wenn mir so etwas passiert. Ist wirklich nervig.« Was bist du doch für ein charmanter Plauderer, Norman Blair, überlegte er sich. Es ging ihm immer so, wenn er mit einer Frau redete: nach spätestens zwei Minuten fiel ihm nichts mehr ein. Er überlegte immer noch, was er als nächstes erzählen könnte, als die Frau ihn fragte: »Wie heißen Sie?« »Norman. Norman Blair.« »Sie haben eine… sehr angenehme Stimme.« Sie sagte es etwas zögerlich, so als sei sie genau so schüchtern, wie er sich im Moment fühlte. Norman senkte unwillkürlich den Blick, obwohl es hier niemanden gab, den er sich nicht anzusehen getraute. »Vielen Dank. Ihre Stimme gefällt mir auch. Wie lautete denn Ihr Name? Ich meine, nur wenn Ihnen meine Frage nichts ausmacht.« »Mary Ann.« »Mary Ann, ein schöner Name.« Ganz locker sein, dachte er, sie scheint es nicht besonders eilig damit zu haben, dieses Gespräch zu beenden. »Hören Sie, hätten Sie Lust, sich ein wenig zu unterhalten? Natürlich nur, wenn Sie nicht gerade zu sehr beschäftigt sind oder so.« »Nein, überhaupt nicht, ich würde mich gern unterhalten.« Zum ersten Mal an diesem Tag lächelte Norman.
Normans Büro war fünf Meter lang und vier Meter breit und hatte am anderen Ende ein Fenster (durch das man quer über die Straße auf ein anderes Bürogebäude blicken konnte) und zwei identische Schreibtische, zwei identische
Schreibtischlampen, zwei identische Computer, auf denen zwei identische Buchführungsprogramme liefen, und zwei identische Aktenschränke. Das einzige nicht Identische in diesem Raum war Normans Kollege Richard Leeks. »Wo war ich stehengeblieben?« fragte Norman. »Sie haben sich über eine Stunde mit einer fremden Frau unterhalten.« Wenn Richard überhaupt das Wort an ihn richtete, dann eher widerwillig und ohne ihn anzusehen. Es gab Momente, in denen Norman sich fragte, ob Richard sich überhaupt der Anwesenheit seines Kollegen bewußt war. Doch heute war das ganz anders. »Anderthalb Stunden«, verbesserte Norman. »Und das war ja das Eigenartige daran: Sie kam mir überhaupt nicht wie eine Fremde vor. Es war alles… alles etwas Besonderes, ich weiß auch nicht… Ich meine, gut, am Anfang war sie etwas nervös, aber nach einer Weile fing sie an zu erzählen, und ich habe auch geredet… so als wären wir alte Freunde, und als nächstes…« »Also anderthalb Stunden später.« »Ja, genau. Sie war so nett und komisch – Gott, ich habe seit Äonen keinen solchen Spaß mehr gehabt. Und jetzt weiß ich nicht so recht, was ich als nächstes tun soll. Ich meine, sie hat gesagt, ich dürfte sie heute abend nach neunzehn Uhr gern wieder anrufen. Vermutlich muß sie so lange arbeiten. Aber ich würde sie wirklich gern einmal treffen… ich weiß nur nicht, wie ich das anstellen soll.« Mit einem Blick voller leidender Geduld legte Richard den Stift auf den Tisch und machte mit seinem Drehstuhl eine halbe Drehung. »Norman, wir teilen uns dieses Büro jetzt seit einem Jahr und zwei Monaten. Vierzehn Monate lang konnte ich dieses Büro betreten, mich an meinen Schreibtisch setzen und mir einbilden, ich sei ganz allein. Denn aus der anderen Hälfte des Büros drang nur segensreiche Stille. Ich liebe Stille.
Ich habe fünf Kinder. Und jetzt sitze ich hier und habe diesen unerklärlichen Drang, Ihnen fünf Dollar in die Hand zu drücken und Sie ins Kino zu schicken, und zwar allein. Also, wenn Sie wirklich meinen Rat wollen: bitten Sie die Frau einfach um ein Treffen. Schlagen Sie ein gemeinsames Mittagessen vor. Oder Abendessen. Eiscreme. Ein Besuch im Zoo. Was immer Ihnen in den Sinn kommt. Denn es ist ja wohl klar, daß sie sich nicht so lange mit einem Mann unterhält, den sie nicht persönlich kennenlernen möchte. Problem erkannt, Problem gebannt. Verstanden?« Norman dachte darüber nach und nickte. Richard lächelte dankbar. »Fein. Norman. Sie sind ein netter Bursche, aber Sie würden mich wirklich glücklich machen, wenn Sie in der nächsten Stunde keinen Laut von sich gäben. Sie würden mich damit wirklich zu einem glücklichen Mann machen.« Damit griff Richard seinen Stift und machte sich wieder über seine Zahlenkolonnen her. Norman drehte sich mit seinem Stuhl zur Wand und starrte sie an. »Danke«, sagte Norman. »Das war ein Laut.«
Norman blickte auf seine Uhr. Zum wiederholten Mal. 18.59 Uhr. Erst um neunzehn Uhr sollte er anrufen. Er marschierte in seinem Wohnzimmer auf und ab. Marschierte langsam und exakt, denn er hatte errechnet, daß einmal hin und her eine Minute dauerte. Mit dieser Methode ging die Zeit rascher vorbei, und außerdem konnte er dabei feststellen, wo sich in seiner Wohnung Staub angesammelt hatte. Als er die Runde hinter sich gebracht hatte, bemerkte er Catt, die vor der Küchentür hockte und ihn mit diesem Blick beobachtete. Aber mittlerweile war es 19.01, und da konnte das Tier ihn seinetwegen anstarren, als hätte er drei Köpfe und Federn statt Haare.
Er hob den Hörer ab und wählte die Nummer. Es läutete. Fünfmal. Sechsmal. Dann wurde endlich abgehoben. »Hallo«, grüßte sie. »Hi, ich bin’s«, strahlte Norman. »Ich weiß.« Als Norman das nächste Mal auf die Uhr blickte, zeigte sie 22.30 an. Er saß an einem Ende der Couch, und sein Arm hing auf der Oberlehne. Erschrocken stellte er fest, daß er dasaß, als wolle er jemanden in den Arm nehmen. Er setzte sich anders hin und hielt den Hörer jetzt ans rechte Ohr. Das linke schien bereits zu glühen. »Danach habe ich Fayetteville verlassen und bin nach Los Angeles gezogen«, beantwortete er gerade ihre eben gestellte Frage nach seiner Herkunft. Ihr war nämlich der leichte Südstaatenakzent in seiner Stimme aufgefallen. Die meisten bemerkten ihn gar nicht. Sie schon. »Das war ein Jahr, nachdem mein Bruder gestorben war. Irgendwie war nichts mehr so wie vorher. Ich glaube, meine Mutter ist nie darüber hinweggekommen. Also habe ich mir gesagt, ich gehe an die Westküste und versuche dort, mein Glück zu machen.« »Sie haben mir noch nicht erzählt, was Sie arbeiten.« »Ach, da gibt es nicht viel Interessantes zu berichten. Eben Arbeit, Sie wissen schon.« »Nein, eigentlich nicht«, entgegnete sie, und es klang ehrlich. »Ich würde gern mehr darüber erfahren. Und Zeit genug habe ich auch.« Zeit, dachte er und sah auf seine Uhr. Fast vier Stunden. »Nun, es ist schon etwas spät geworden. Ich sollte jetzt wohl besser zum Ende kommen.« »Ja gut«, antwortete sie, und Norman glaubte, so etwas wie Bedauern aus ihrer Stimme herauszuhören. »Nur eines noch. Ich möchte Sie wissen lassen, Norman, daß ich unsere Unterhaltung letzte Nacht sehr genossen habe. Und die heutige auch. Vielen Dank dafür.«
»Nun, mir geht es genauso.« Norman atmete tief durch. »Um ehrlich zu sein, ich dachte… nun, ich habe mich gefragt, ob wir beide uns nicht vielleicht einmal treffen könnten. Zum Dinner oder zum Mittagessen. Oder ins Kino gehen, was immer Sie bevorzugen.« »Oh, Norman«, sagte sie, und er hörte deutlich ihre Ablehnung. »Wir müssen nichts überstürzen«, erklärte er rasch. »Ich meine, wann immer Sie Zeit haben.« »Sie sind sehr lieb, aber… nein, es geht nicht. Wir haben doch soviel Spaß mit den Unterhaltungen am Telefon. Warum alles ändern? Ich bin so oft von Menschen enttäuscht worden… Können wir es nicht einfach bei den Telefonaten belassen?« Norman schloß die Augen. Verdammt, verdammt! Wie oft hatte er eine solche oder ähnliche Antwort schon gehört? »Natürlich«, erklärte er. »Ist sicher besser so.« »Ich habe Sie doch nicht verletzt, oder?« »Nein«, entgegnete er etwas zu schnell. »Nein, ehrlich, es ist schon okay. Es macht mir wirklich großen Spaß, mich mit Ihnen zu unterhalten. Wenn Sie es dabei belassen wollen, bin ich damit einverstanden. Ganz ehrlich.« Am anderen Ende trat eine längere Pause ein. »Versprechen Sie mir, mich morgen wieder anzurufen?« »Versprochen.« Norman zog den nächsten Schnellhefter vom Stapel auf seinem Schreibtisch. Sein Stuhl quietschte. Er lehnte sich zurück, um im Schnellhefter zu lesen. Sein Stuhl quietschte. Er wippte beim Lesen mit dem Fuß. Der Stuhl gab eine Serie von kurzen Geräuschen von sich, die sich wie Mäusequieken anhörten. Norman entdeckte, daß er sich den falschen Schnellhefter herausgegriffen hatte. Der richtige befand sich
am anderen Ende seines Schreibtisches. Er beugte sich soweit wie möglich vor. Sein Stuhl kreischte. »Also gut, Norman«, entfuhr es einem sichtlich aus der Fassung gebrachten Richard, »schießen Sie los!« »Wie bitte?« »Seit fünf Tagen hüllen Sie sich in Schweigen. Kein Ton kam über Ihre Lippen.« »Ich dachte, Sie hätten es lieber still.« »Ja, aber die Art, wie Sie still sind, geht mir auf die Nerven. Eine sehr laute Art von Stille, Norman. Ich komme mir vor, als würde ich neben einer Stimmgabel sitzen, die am Rande des Hörbereichs vibriert. Mich juckt es schon in den Ohren!« Der Kollege seufzte. Norman kam es jetzt so vor, als würde Richard genau so mit ihm reden, wie Catt ihn anzusehen pflegte. »Es geht doch sicher um diese Frau am Telefon, nicht wahr? Also, sie hat nein gesagt, richtig?« Norman nickte. »Ist ja ein echtes Desaster. Sie ist nur eine Frau, warum denn Trübsal blasen?« Norman suchte nach einer Entgegnung, entschied sich dann aber für die Wahrheit: »Halten Sie es für möglich, daß man sich in eine Stimme am Telefon verlieben kann?« Richard dachte kurz darüber nach. »Nein«, antwortete er schließlich und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Norman wartete, ob vielleicht noch etwas Genaueres zu diesem Thema folgen würde. Nach einer Weile nahm er den Schnellhefter wieder in die Hand. Sein Stuhl quietschte. Quietschte zweimal. »Okay«, gab Richard endlich auf. »Sie haben gewonnen. Mir ist klar, daß ich keine Ruhe finden werde. Nun denn, kann ich Ihnen einen Rat geben oder sonstwie behilflich sein? Sie möchten diese Frau gern treffen, wissen aber nicht, wer sie ist oder wo sie wohnt. Sie haben nur ihre Telefonnummer. Habe ich das Problem in etwa umrissen?« »Ja.«
»Gut. Es gibt Telefonverzeichnisse, schon mal gehört? Sie rufen die Vermittlung an und erklären, Sie hätten da diese Nummer, wissen aber nicht, ob die dem Gesprächspartner gehört, den Sie zu sprechen wünschen. Von mir aus könnten Sie auch sagen, es handele sich um einen dringenden Notfall oder was auch immer. Auf jeden Fall müssen Sie die Vermittlung dazu bewegen, Ihnen den Namen des Teilnehmers zu nennen. Lügen Sie meinetwegen das Blaue vom Himmel herunter. Gut. Sobald Sie ihren Namen und ihre Adresse haben, begeben Sie sich dorthin und sorgen dafür, ihr irgendwie zufällig über den Weg zu laufen. Danach sind Sie auf sich selbst gestellt, aber eigentlich müßte es klappen. Ist das verstanden worden? Ausgezeichnet, dann kann jetzt wieder Ruhe in dieses Büro einkehren.« Norman nickte und machte sich wieder über seine Arbeit. Diesmal achtete er darauf, daß sein Stuhl nicht quietschte. Dann fiel ihm ein, daß er sehr unhöflich gewesen war. Er richtete sich auf und sah seinen Kollegen an… »Bedanken Sie sich bloß nicht, Norman!« ließ Richard ihn gar nicht erst zu Wort kommen. »Ich fürchte, das könnte ich nicht mehr ertragen.« Seine Mittagspause war dabei draufgegangen, die Adresse der Frau herauszufinden. Als er nun vor dem angegebenen Haus stand, war er sich absolut nicht sicher, am richtigen Ort gelandet zu sein. Er verglich die Adresse des Gebäudes mit der auf seinem Zettel, verglich sie mehrmals. Beide waren identisch, aber irgendwie entsprach das alles nicht dem, was er erwartet hatte. Das in Schwarz und Weiß gehaltene Schild neben dem Eingang verkündete, daß sich hier das »William L. Feist Museum für Zeitgenössische Kunst« befände. Damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet. Er hatte sich ein kleines weißes
Haus vorgestellt, mit einer Veranda voller Topfpflanzen und Efeu an den Wänden. Es muß ja nicht immer alles so kommen, wie man sich das denkt, sagte er sich und schob die Glastür auf. Die Vermittlung hatte ihm erklärt, der Anschluß 727-4212 müsse sich in diesem Haus befinden. Also durfte Norman davon ausgehen, daß sich Mary Ann auch dort befände. Er sah sich in der Lobby um. Mehrere Hallen hingen voller Gemälde in Öl und Acrylfarben. Andere zeigten kinetische Kunst. Ein Gewirr von Farben und Formen umgab Norman. Nur ein paar Leute und unverkennbare Kunststudenten bewegten sich gemächlich zwischen den Ausstellungsstücken hindurch. »Kann ich Ihnen helfen?« fragte ihn eine Frau, die plötzlich neben ihm auftauchte. Er drehte sich um und erwartete schon halb, Mary Ann vor sich zu sehen. Doch die Stimme war ganz anders, und außerdem war auf dem Namensschild SHARON zu lesen. »Ja«, antwortete er, »könnten Sie mir wohl sagen, ob hier eine Mary Ann arbeitet?« Sharon wiederholte den Namen mehrmals laut und schüttelte dann den Kopf. »Ich glaube nicht, aber vielleicht ist unter unseren studentischen Hilfskräften jemand mit diesem Namen. Wir haben hier viele Studenten.« »Arbeiten die vielleicht auch nachts?« »Manchmal. Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht sagen, an wen Sie sich wenden sollen. Aber der stellvertretende Direktor müßte bald vom Mittagstisch zurück sein. Er wird Ihnen weiterhelfen können.« »Dann warte ich auf ihn«, erklärte Norman und bedankte sich bei Sharon. Er betrat die nächste Halle und spazierte an den Kunstwerken vorbei. Mit den meisten Arbeiten konnte er wenig anfangen. Moderne Gemälde waren ihm so unverständlich wie
Keilschrift. Doch als er die anderen Besucher bemerkte, die ehrfurchtsvoll von einem Bild zum anderen schritten, gab er sich Mühe, ähnlich beeindruckt zu wirken. Als er im nächsten Raum an einem Fernsprecher vorbeikam, hatte er eine Idee. Er sah sich um, ob sich außer ihm niemand hier aufhielt, trat an den Apparat und hob den Hörer ab. Das Telefon hatte die Nummer 4209. Wenn er die 4212 wählte, würde der Apparat läuten, den Mary Ann benutzte. Er brauchte dann nur noch dem Geräusch zu folgen, um in die Abteilung zu gelangen, in der man mehr über Mary Ann wissen mußte. Er drückte auf die Ziffern und hörte im selben Moment das Freizeichen. Er nahm den Hörer vom Ohr und lauschte. Aus der Ferne ertönte das Läuten. Er hängte nicht wieder ein und folgte dem Klingeln bis in einen Raum am anderen Ende des Gebäudes. Er fand den dortigen Fernsprecher und hob kurz den Hörer von der Gabel, um das Klingeln zu stoppen. Dieser Apparat hatte den Anschluß 4212. Er sah sich in dem Raum um. Hier waren nicht viele Kunstwerke ausgestellt. Zwei gegenüberliegende Wände wurden von einigen Bildern geziert. Dazwischen stand ein Gebilde aus Glas, Neon und Stein auf dem Boden, das entfernt an eine Galaxie erinnerte. An einer anderen Wand hingen Masken, die afrikanischen Ursprungs zu sein schienen. Und direkt vor Norman befand sich auf einem Podest eine Skulptur. Niemand außer ihm war hier. Das war nicht weiter tragisch. Er würde eben warten. Norman war noch nie zu spät von der Mittagspause zurückgekehrt. Da würde es ihm doch wohl heute gestattet sein. Irgendwann würde jemand in diesen Raum kommen. Vielleicht sogar Mary Ann. Er betrachtete die Statue. Sie war anscheinend in einem Stück aus Bronze gegossen. Sie stellte eine junge, attraktive Frau dar, die vorgebeugt dasaß und anscheinend über etwas Wichtiges nachdachte oder ein
Gebet sprach. Eine Hand war zur Wand hin flehentlich erhoben. Ohne daß er es sich erklären konnte, wurde sein Blick wie magisch von der Statue angezogen. Eine hypnotisch wirkende Traurigkeit ging von ihren Zügen aus. »Die Skulptur scheint Ihnen zuzusagen«, ertönte hinter ihm eine Stimme. Er drehte sich um und sah sich einer Frau gegenüber, die einen zusammengerollten Museumsführer in der Hand hielt. Er nickte und bemerkte erst jetzt, daß sie nicht ihn, sondern das Kunstwerk betrachtete. »Ja, sie ist sehr ansprechend.« »Eine furchtbare Geschichte«, sagte sie voller Bedauern. »Warum eine Frau mit einem solchen Talent den Freitod suchen mußte, wird mir wohl ewig ein Rätsel bleiben. Gleich nach ihrem Ableben tauchten natürlich die üblichen Gerüchte auf. Liebeskummer und so weiter. Eine verdammte Schande. Diese Statue ist übrigens ihre letzte Arbeit. Ein Selbstporträt. Ich habe sie leider nie persönlich kennenlernen dürfen, doch wenn dieses Werk Ausdruck ihrer Schaffenskraft ist, muß sie über ein bemerkenswertes Talent verfügt haben. Sehr traurig, wenn man bedenkt, daß wir nie wieder etwas Neues von Mary Ann Lindeby zu sehen bekommen.« Sie seufzte und schritt dann weiter in den nächsten Raum. Vielleicht sagte sie noch mehr, aber Norman bekam nichts mehr mit. Ein alles übertönendes Rauschen war in seinen Ohren, das er erst nach einer Weile als das Schlagen seines Herzens identifizierte. Er beugte sich vor, um die Messingplakette am Podest zu lesen. Dort stand: MARY ANN LINDEBY – SELBSTPORTRÄT IN BRONZE, Er folgte den Linien des Gesichts und betrachtete die ausgestreckte Hand. Die Fingerspitzen berührten fast die Wand. Die Fingerspitzen waren nur wenige Zentimeter vom Fernsprecher entfernt.
Er kehrte spät ins Büro zurück. Er kam spät von der Arbeit nach Hause. Er konnte sich nicht daran erinnern, was er heute im Büro getan hatte. Es wurde für Catt spät, als sie endlich ihr Dosenfutter erhielt. Mittlerweile war es 20.30 Uhr geworden. Eigentlich hätte er sie längst anrufen sollen. Nervös marschierte er im Wohnzimmer auf und ab. Warum mußte er sie überhaupt anrufen? Am besten würde er die ganze eigenartige Geschichte rasch vergessen. Andererseits würde er dann nie die Wahrheit erfahren. Konnte er mit dieser Ungewißheit leben? Nein, entschied er und griff nach dem Hörer. Diesmal klingelte es öfter als sonst, bevor jemand abhob. »Hallo, Norman?« »Hallo, Mary Ann.« »Ich… ich hatte schon befürchtet, du würdest nicht mehr anrufen«, begann sie so zögerlich wie damals bei ihrem ersten Kontakt. Sie schien Angst zu haben. Es verging eine Weile, bevor sie weitersprechen konnte. »Ich habe dich heute gesehen, Norman. Du bist in meinen Raum gekommen.« Damit schien ihre Selbstbeherrschung endgültig zusammenzubrechen, und sie ließ ihren Tränen freien Lauf. »Warum mußtest du das tun? Damit hast du alles zerstört!« »Dann… warst du es? Diese…« »Ja, Norman«, antwortete sie leise, »ich war die Statue.« Norman hatte das Gefühl, einen Schlag in den Magen erhalten zu haben. Der Boden unter seinen Füßen schien nachzugeben. Er hörte ein Geräusch aus dem Hörer, konnte damit aber nichts anfangen. Nichts ergab mehr einen Sinn für ihn. »Nein«, sagte er schließlich, als er seine Stimme wiedergefunden hatte. »Ich glaube, das ist zuviel für mich. Ich kann das nicht verarbeiten. Dies geschieht doch nicht wirklich, oder?« Er warf den Hörer auf die Gabel. Sprang auf. Wanderte unruhig auf und ab. Das war doch verrückt.
Aber tief in seinem Herzen wußte er, daß das für ihn noch nicht das Ende war. Er konnte sie nicht so zurücklassen. Das wäre extrem unhöflich. Er nahm allen Mut zusammen, kehrte zum Telefon zurück und wählte die Nummer. Es läutete nur einmal, dann ertönte ihre Stimme am anderen Ende. Sie weinte immer noch, und ihr Schluchzen drohte ihm das Herz zu zerreißen. »Es tut mir leid, Mary Ann«, sagte er. »Nein, es ist meine Schuld«, entgegnete sie voller Schmerz und Verzweiflung. »Ich bin diejenige, die etwas falsch gemacht hat. Ich hätte dich nicht in eine solche Lage bringen dürfen. Und ich hätte bei deinem ersten Anruf nicht abheben dürfen. Aber es ist so lange her, Norman, so furchtbar lange, seit ich zum letzten Mal mit einem Menschen geredet habe. Es war so dunkel in jener Nacht. Ich war so allein und fühlte mich so einsam.« »Ich weiß«, sagte Norman leise. »Mir erging es an jenem Abend genauso.« Für einen Moment trat Schweigen zwischen sie. »Ich… ich sollte dich jetzt in Ruhe lassen«, erklärte Mary Ann. »Nein, warte… ich meine… du kannst nicht einfach so aus meinem Leben verschwinden.« »Es wäre aber besser für dich, Norman. Vergiß mich. Das alles hat nie stattgefunden.« Er spürte, wie sie die Kontrolle über sich verlor. Mit tränenerstickter Stimme sagte sie kaum hörbar. »Es tut mir so leid, Norman. Alles Gute.« Bevor er darauf reagieren konnte, ertönte ein Klick und die Verbindung war unterbrochen. Er wählte erneut ihre Nummer. Niemand hob ab. Er ließ es endlos lange klingeln. Schließlich hängte er ein, lehnte sich auf der Couch zurück und starrte ins Leere.
Sie war fort. Um siebzehn Uhr fünf schaltete Richard seinen Computer ab, griff sich sein Jackett, verabschiedete sich mit einem Lächeln und einem Nicken von Norman und eilte hinaus in den kalten Abend. Seit drei Tagen herrschte im Büro eine himmlische Stille.
Norman kam mit den üblichen zwei Einkaufstüten nach Hause. Er stellte sie auf der Küchenanrichte ab. Er öffnete eine Dose Katzenfutter und stellte sie auf den Boden. Catt sauste an ihm vorbei und fraß die Dose leer. Norman betrachtete kurz das Tier – es schien Catt nicht das mindeste auszumachen – und begab sich dann ins Wohnzimmer. Er setzte sich aufs Sofa und schaltete das Fernsehgerät ein, drehte aber den Ton ab. Die Stimmen aus dem Apparat gingen ihm auf die Nerven. Die Personen redeten von Dingen, an die er nicht erinnert werden und an die er nicht denken wollte. Davon abgesehen genoß Catt die Stille.
Norman lag im Bett und fand keinen Schlaf. Die Leuchtziffern der Digitaluhr auf dem Nachttisch zeigten 2.37 Uhr an. Das matte Licht wurde von der Broschüre reflektiert, die heute mit der Post gekommen war, nachdem er sie vor zwei Tagen telefonisch bestellt hatte. Es handelte sich dabei um einen Museumsführer, der alle Veranstaltungen und laufenden Ausstellungen auflistete. Das grüne Licht der Leuchtziffern glänzte auf der Abbildung einer Skulptur. Auf dem Selbstporträt von Mary Ann Lindeby. In diesem Licht wirkte die Statue düster und gar nicht mehr so warm und lebensnah, wie er sie in Erinnerung hatte. Fotografien werden ihrem Werk nicht gerecht, dachte er.
Bevor ihm klar wurde, was er eigentlich tat, hatte er schon den Hörer abgenommen und die Nummer 727-4212 gewählt. Nachdem es über zwei dutzend Male geläutet hatte, legte er den Hörer wieder auf die Gabel. Dann streckte er die Hand aus und schob die Broschüre aus dem Lichtschein der Digitaluhr. »Verdammt…«, flüsterte er, und die Nacht verschluckte seine Worte. Richard stand von seinem Schreibtisch auf und streckte sich. »Ich gehe zum Essen. Bin in einer Stunde wieder da.« Norman nickte und wurde kurz aus seinen Grübeleien gerissen. Als er sich wieder den Akten zuwandte, starrte er auf eine Zeichnung, die er unbewußt auf das oberste Blatt gekritzelt hatte: Eine sitzende Frau, vorgebeugt, eine Hand ausgestreckt, die Augen niedergeschlagen. Ich ertrage das einfach nicht länger, dachte er, erhob sich und schloß hinter sich die Tür des Büros ab. Eine halbe Stunde später befand er sich wieder im Museum, in ihrem Raum. Er wartete, bis der Museumsdiener gegangen war, und ließ sich dann auf der gepolsterten Bank vor dem Selbstporträt nieder. Und was nun? fragte er sich. Was willst du tun? Sie ansprechen oder was? – Warum eigentlich nicht? »Ich vermisse dich«, begann er zögernd, und obwohl er geflüstert hatte, dröhnte seine Stimme furchtbar laut und hart durch den Raum. »Unsere Gespräche fehlen mir sehr. Sie waren das einzige, auf das ich mich beim Nachhausekommen freuen konnte. Nach einer Weile waren sie für mich der einzige Grund, überhaupt nach Hause zu gehen.« Er studierte das Bronzegesicht, aber dort regte sich nichts. Was hast du denn erwartet, du Trottel? sagte er sich. Er zwang sich zum Weitersprechen. »Du warst die einzige, die mir je das Gefühl gegeben hat, gemocht und gebraucht zu werden… daß ich kein vollkommener Idiot bin. Und jetzt…«
Er hielt abrupt inne, als zwei neue Besucher den Raum betraten. Sie widmeten den hier ausgestellten Werken nur flüchtige Blicke und waren rasch wieder verschwunden. Norman fragte sich, ob sie ihn gehört hatten. Nach kurzem Nachdenken kam er zu dem Schluß, daß ihn das nicht weiter störte. »Verstehst du, was ich meine?« fragte er jetzt. »Ich hatte immer das Gefühl, ein Nichts zu sein. Und dann… dann bist du in mein Leben getreten, und von dem Moment an hat sich alles bei mir geändert. Ich dachte, mein Gott, was bin ich verliebt. Zum ersten Mal in meinem Leben liebe ich wirklich und aufrichtig. Und dann, mit einem Mal, war alles vorbei…« Er konnte sie nicht mehr ansehen. »Ohne dich bleibt mir nichts mehr. Nichts hat mehr Wert oder Sinn für mich. Es tut mir leid, Mary Ann, aber für mich geht es so nicht mehr weiter.« Er sah ihr ins Gesicht. Tränen liefen über die Bronzewangen. Ein dünner, flüssiger Strom drang aus ihrem Augenwinkel und rann die Wange hinunter. Wie betäubt erhob sich Norman und trat näher heran. Da liefen wirklich Tränen. Es entsprang nicht seiner Einbildung. Er streckte eine Hand aus, um das Bronzegesicht zu berühren. »Bitte, mein Herr!« Norman fuhr herum und entdeckte hinter sich einen Museumswächter. »Ich muß Sie bitten, Sir, die Ausstellungsstücke nicht zu berühren«, sagte der Uniformierte. »Natürlich«, antwortete Norman rasch, »selbstverständlich.« Der Wächter blieb noch einen Moment bei ihm, vermutlich um sicherzustellen, daß der Besucher sich auch an seine Anweisung hielt. Dann verließ er den Raum. Sobald der Mann gegangen war, blickte Norman wieder zum Gesicht hinauf. Die Tränenspuren waren verschwunden, falls es sie je gegeben hatte.
Du bist wirklich kurz davor, den Verstand zu verlieren, dachte er und eilte fast fluchtartig aus dem Museum.
Norman erwachte vom schrillen Telefonläuten neben seinem Kopf. Er schob sich schlaftrunken an den Bettrand und tastete nach dem Hörer. Die Uhr zeigte 3.45 an. Beim dritten Läuten hatte er den Hörer gefunden, und irgendwie gelang es ihm, das richtige Ende ans Ohr zu halten. »Hallo?« »Norman?« Sie klang leise und etwas verzerrt, so als riefe sie von weit weg an. »Ach, Norman, es war so schwierig, dich anzurufen… hat mich fast meine ganze Kraft gekostet… Es ist dunkel hier, so dunkel… Ich weiß nicht, wie lange ich mit dir reden kann…« Statische Störungen machten einen Moment lang jede Verständigung unmöglich, dann war die Leitung wieder frei. »Ich habe deine Worte gehört«, fuhr Mary Ann fort. »All das, was in dir vorgeht, was du vermißt. Das macht mir angst. Genau das habe ich nämlich auch gesagt, als…« Nun heulte sie heftig, und die alte Verletztheit kam wieder durch. »Er hat mich verlassen, Norman. Er hat mich verlassen, und mein Leben ist auseinandergebrochen. Nichts ist mir geblieben, nichts hatte für mich noch einen Wert. Ich fühlte mich so einsam und verletzt, und ich konnte den Schmerz nicht verdrängen. Er blieb in mir, hielt sich in mir fest, bis ich es nicht mehr aushalten konnte und etwas unternehmen mußte. Ich… Oh, bitte, Norman, bitte sag mir, daß du es nicht so gemeint hast!« Er kämpfte um Worte, wollte das Richtige sagen und hatte keine Vorstellung, was das Richtige wäre. Endlich flüsterte er: »Ich liebe dich, Mary Ann.« »Nein, bitte…«
»Ich liebe dich, und es tut mir leid, ich hätte nie gedacht, daß mir so etwas passieren könnte, hätte nie damit gerechnet… und ich kann nichts dagegen tun: Ich liebe dich.« Erneute statische Störungen, wie das Brechen einer Welle an einem fernen Ufer. Dann hörte er sie wieder, aber so leise, daß er nur mit Mühe etwas verstehen konnte: »Komm zu mir, Norman. Komm noch heute nacht zu mir.« »Aber das Museum ist doch geschlossen.« »Mach dir darüber keine Gedanken, ich kümmere mich schon darum. Aber komm so rasch wie möglich, Norman, ehe ich mich besinne. Beeil dich!« Die Verbindung wurde unterbrochen. Norman hörte nur noch das Freizeichen. Er legte den Hörer auf die Gabel, warf die Decke beiseite und stand in der kühlen Dunkelheit, die sein Zimmer erfüllte.
Norman lief über den Bürgersteig vor dem Museum und sah sich immer wieder nervös um. In drei Stunden würde der Tag anbrechen, und dann würde es hier von Menschen wimmeln. Doch jetzt gab es nur Nacht und Kälte… und das Museum. Flutlichter bestrahlten das Gebäude von allen Seiten. Man konnte es einfach nicht übersehen. Er umrundete das Museum, bis er an die Rückseite gelangte, fand die metallene Feuertür und drückte den Griff hinunter. Aber sie ließ sich nicht öffnen, war von innen abgesperrt. Er entdeckte eine weitere Tür und lief auf sie zu… und hörte ein Klicken an der Feuertür. Er kehrte zu ihr zurück und drückte wieder die Klinke. Diesmal schwang die Tür auf. Er warf noch einen Blick über die Schulter und trat ein. Er tastete sich durch die Dunkelheit und versuchte, sich zu orientieren. Ein Teil seines Bewußtseins mahnte, daß die unverschlossene Feuertür früher oder später bemerkt werden
würde, daß Museen ähnlich Banken über ganze Trupps von Wachmännern verfügten, aber das alles machte Norman im Moment wenig aus. Er mußte Mary Ann finden, nur das war wichtig. Er gelangte endlich in die Haupthalle. Hier mußte er nur noch ans andere Ende gehen, darauf achten, nichts an- oder umzustoßen, dann nach links… Und schon stand er in ihrem Raum. Das trübe Licht in der Halle reichte nicht bis hierher. Es war stockfinster und irgendwie anders als bei seinem Besuch am Tag. Es kam ihm so vor wie beim Verlassen eines Flugzeugs. Draußen herrscht ein anderer Luftdruck als drinnen. Aber hier war noch etwas anderes. Etwas bewegte sich durch die Finsternis. »Mary Ann?« Aus der Dunkelheit kam die Antwort: »Ich bin hier.« Und eine Hand berührte sein Gesicht. Irgendwo am anderen Ende der Halle ging eine Tür auf und wurde wieder geschlossen. In dem kurzen Moment dazwischen ertönte ein Transistorradio. Der Nachtwächter trat seinen nächsten Kontrollgang an. Natürlich würde er Norman entdecken. Aber das war ihm egal. Nichts war mehr wichtig, was von außen kam. »Sag mir, daß du mich liebst, Norman«, wollte Mary Ann von ihm hören. »Großer Gott, wie lange ist es her, seit mir jemand zum letzten Mal etwas so Schönes gesagt hat?« »Ich liebe dich.« »Dann bleib bei mir. Bitte. Ich will nie mehr allein sein.« Schritte hallten durch den großen Raum und kamen näher, der Lichtstrahl einer Taschenlampe, der sich über die Gemälde tastete. Norman zögerte. »Ich…« »Bitte.« Er nickte rasch und heftig in die Dunkelheit. Dann spürte er, wie Mary Ann ihn festhielt, eine kalte, aber starke Berührung, so als wollte sie ihn nie mehr loslassen… Der Wächter
erreichte das Ende der Halle und ließ den Taschenlampenstrahl durch den angrenzenden Raum gleiten. Er hatte dort etwas gehört, da war er sich ganz sicher. Außerdem war die Feuertür offen gewesen. Doch bis jetzt hatte er nichts Ungewöhnliches oder Verdächtiges bemerkt. Er richtete den Lichtschein für einen Moment auf die Skulptur. Eine beeindruckende Arbeit, die selbst in der Dunkelheit noch faszinierend wirkte. Ein Mann und eine Frau, die einander umschlungen hielten, ihre Gesichter nur Zentimeter voneinander entfernt, und beide sahen sich tief in die Augen. Seine Hand berührte vorsichtig und zärtlich wie in großer Liebe ihre Wange. Der Wächter beschloß, sich dieses wunderbare Kunstwerk bei Gelegenheit gründlicher anzusehen, und setzte seine Runde fort.
AUF DEM PODEST EIN GANZ BESONDERES AUSSTELLUNGSSTÜCK, GESCHAFFEN AUS STEIN UND EINSAMKEIT. EINE ZÄRTLICHE SYMMETRIE VON LINIE, FORM UND ENDLICH GEFUNDENER LIEBE, WIE MAN ES NUR SIEHT… IN DER TWILIGHT ZONE.
Gewaltakte
Zwei Geschichten aus der Wirklichkeit stehen hinter dieser Episode. Die eine ist eher komisch, die andere ganz und gar nicht. Zuerst die komische Geschichte. Die Twilight-ZoneFolgen wurden in der Regel im kanadischen Toronto gedreht. Ich war in Toronto. Ich mag diese Stadt. Ich wurde dort sogar einmal für den Gemini-Award für das beste Drehbuch nominiert (der Gemini ist das kanadische Äquivalent des amerikanischen Fernseh-Preises Emmy und wird von der Canadian Academy of Cinema and Television vergeben). Und ich mag die Menschen, die dort leben. Doch Toronto war gleichzeitig der Austragungsort des großen Twilight-ZoneTierkrieges und der Drehpausenrevolte. Für ungefähr ein halbes Dutzend unserer Skripte waren Tiere erforderlich. Für mein Drehbuch zu DER ANRUF brauchten wir zum Beispiel eine Katze. Für eine andere, nicht von mir geschriebene Episode benötigten wir ebenfalls eine Katze. Diese Geschichte wurde unmittelbar vor der meinen ausgestrahlt. Eines Tages läutete in meinem Büro das Telefon. »Wir haben die Katze bereits in der anderen Episode eingesetzt«, informierte mich der Anrufer aus Toronto. Die Katze? Wie ich kurz darauf feststellen mußte, gibt es anscheinend nur zwei Katzendarsteller oder Darstellerkatzen (oder wie immer man sie auch nennen mag) in ganz Kanada. Ganze zwei Katzen. Und das andere Tier sei gerade krank geworden. Irgendwie gewann ich den Eindruck, daß wir aufgeschmissen waren. Um es kurz zu machen, wir kamen nicht weiter, und ich konnte es einfach nicht fassen. Ein Land, das noch etwas größer ist als die Vereinigten Staaten von Nordamerika, bringt
nicht mehr als zwei Filmkatzen auf die Beine? Wir machten aus der Katze einen Wellensittich. Etwas später standen wir vor dem WALL, und dafür benötigten wir Lamas, Pferde, Schafe… und einen Wasserbüffel. Ich möchte kein Wort über den Wasserbüffel verlieren. Machen Sie sich gar nicht erst die Mühe, mich danach zu fragen. Vielleicht bin ich in ein paar Jahren soweit. Vielleicht auch nicht. Für DAS GEDÄCHTNIS DES SIMON FOSTER brauchten wir eine Küchenschabe, die im richtigen Moment vom Küchenschrank in Simons Suppe fallen würde. Für diese Szene kamen sechs Küchenschaben zum Einsatz. Und ein Küchenschaben-Dompteur. Da es sich bei dieser Episode um eine meiner Lieblingsgeschichten handelte, flog ich selbst nach Toronto, um mir die Dreharbeiten anzusehen. Und wir alle lernten etwas Erstaunliches. Wenn man eine Küchenschabe auf einen Schrank setzt, fühlt sie sich scheinbar von der Studiobeleuchtung geblendet (und der Schrankhöhe gelähmt), so daß sie ihren Standort unter gar keinen Umständen verläßt, mag man ihr gut zureden oder ihr drohen. Das Insekt bleibt stur dort hocken, und nichts scheint ihm zu unangenehm, um diese Position zu verändern. Wir versuchten, die Küchenschabe anzuschubsen. Kein Erfolg. Wir versuchten, sie mit einem Fön von dort zu verscheuchen. Ohne Erfolg. Jemand kam auf die Idee, das Tier so zu langweilen, daß es einschlief. Aber dafür stand erstens nicht genügend Zeit zur Verfügung, und zweitens befürchteten die meisten, daß das Insekt sich im Schlaf noch fester am Schrank festklammern würde. Einmal fragte mich ein Mitarbeiter, ob wir statt einer Küchen schabe nicht eine Fliege nehmen könnten. »Mit einer Fliege gibt es keine solchen Probleme«, erklärte er. »Man legt sie so lange in den Kühlschrank, bis sie alles mit sich machen läßt.
Eine Küchenschabe muß man dagegen auf den Kopf schlagen, bevor sie nachgibt.« Schließlich entschieden wir uns für einen Luftkompressor und haben das kleine Tier mit dieser Art Sturm vom Küchenschrank gefegt. Rein technisch gesehen hat das funktioniert… nur wenn man ganz genau hinsieht, wird man feststellen, daß die Küchenschabe nicht gerade vom Küchenschrank fällt. Vielmehr scheint es so, als würde mitten in Simon Fosters Apartment urplötzlich ein Wirbelsturm entstehen, der das Insekt packt, herumwirbelt und in das Küchenschabenland Oz irgendwo hinter dem Ungezieferregenbogen davonträgt. Und wir hatten die Episode GEWALTAKTE. Für die war ein Dobermann erforderlich. Wir benötigten einen Dobermann, der auf Kommando unglaublich wild und bissig werden konnte. Als ich am Drehbuch für diese Folge schrieb, kam mir nie in den Sinn, daß das bei den Dreharbeiten ein Problem werden könnte. Mir ist noch nie ein Dobermann begegnet, der nicht gierig darauf gewesen wäre, sich einen Happen für zwischendurch zu verschaffen, das heißt, jemandem einen Arm oder so abzubeißen. Man informierte uns, daß ein kanadisches Dobermann-Pärchen aufgetrieben worden sei und für die Dreharbeiten zur Verfügung stünde. Von da an geschah jeden Tag etwas Neues. Offenbar gab es in jener Woche in Toronto außerordentlich sonniges Wetter. Als kanadische Hunde zeigten die Dobermänner bei Hitze wenig Neigung zu irgendwelchen Aktivitäten. Um es präziser auszudrücken, sie hielten unablässig nach einer schönen Wand Ausschau, gegen die sie sich lehnen konnten. Der Produzent soll einmal gefragt haben: »Ist es irgendwie möglich, die Hunde davon zu überzeugen, nicht so stark zu hecheln, wenn sie sich mitten in einer Kampfszene befinden?«
Die Telefonanrufe aus Kanada wurden zunehmend schlimmer. Düstere Verwünschungen wurden gegen die ausgestoßen, denen es eingefallen war, noch ein Skript zu schreiben, in dem ein Tier eine Rolle spielte. An einem Donnerstagmorgen betrat ich unser Büro und fand dort Mary Ann Barton, unsere Besetzungschefin von der Westküste, im Zustand fast völliger Erschöpfung vor. Sie hing halb auf dem Schreibtisch und hielt mit zwei Fingern einen Becher Kaffee vor ihr Gesicht. Sie begrüßte mich mit einem bösen Blick aus blutunterlaufenen, schwarzumrandeten Augen. »Wegen Ihnen«, begann sie und betonte das Ihnen, als sei es ein Schimpfwort, »wegen Ihnen bin ich bis drei Uhr morgens mit einem großen Mann und einem Dobermann auf dem Flughafen von Los Angeles geblieben.« Ich entgegnete, daß ihre sexuellen Vorlieben mich nichts angingen und daß sie so etwas auch nicht erzählen sollte. Daß sie mir nicht jeden Knochen im Leib einzeln gebrochen hat, spricht für ihre unglaubliche Professionalität und ihre noch größere Geduld. Wie ich dann erfuhr, gab es nur eine Möglichkeit, die Episode zu retten. Und dafür mußte ein Dobermann aus Los Angeles her, ein hitzeerprobtes Tier. Zusammen mit seinem Besitzer wurde er schnellstmöglich nach Toronto befördert. »Das ist der Laurence Olivier unter den Dobermännern«, strahlte der Aufnahmeleiter am nächsten Tag bei seinem Anruf aus Toronto durchs Telefon. Er wirkte glücklich und erleichtert. Er war so selig, daß er ganz vergessen hatte, daß in zwei Wochen eine kleine Geschichte mit dem Titel KATZE UND MAUS von Christy Marx gedreht werden sollte. Es würde eine Katze erforderlich sein, die in einer einzigen Sequenz laufen, springen, grimassieren und sich in einen Menschen verwandeln können mußte. Aber das ist wieder eine ganz andere Geschichte. Und für hier habe ich Ihnen ja die zweite
Geschichte im Hintergrund dieser Episode versprochen. Aus mir unbekannten Gründen habe ich einige Frauen kennengelernt, die Opfer von Gewaltakten oder sexuellem Mißbrauch geworden sind, meist von ihren Freunden oder Ehemännern, manchmal auch von ihren Vätern. Ich habe ihre Geschichten gehört, habe sie aufgeschrieben, habe versucht, ihnen zu helfen, habe mit ihnen zusammen geweint und habe mit ihnen zusammen allen Zorn hinausgebrüllt. Ich habe für sie alles getan, was ich tun konnte, aber in den meisten Fällen bleibt einem nicht viel zu tun, solange die Frau nicht bereit ist, sich selbst aus diesen Situationen zu befreien, diese unwürdigen Zustände zu beenden. Die mißbrauchten Frauen hatten stets eine sehr schlechte Meinung von sich selbst. Sie konnten und wollten nur ihr eigenes Versagen und ihre eigene Schuld als Ursache für die erlittene Gewalt oder den Mißbrauch gelten lassen. Diese Frauen waren felsenfest davon überzeugt, aus tiefstem Herzen davon überzeugt, daß ihre Freunde oder Ehemänner sie wirklich liebten, und die blauen Flecke, gebrochenen Knochen und anderen Demütigungen zählten dabei nicht. Am schlimmsten aber war für mich, daß diese Frauen sich vor ihrem eigenen Zorn fürchteten, ihn auf gar keinen Fall zulassen wollten. Ich glaube, nichts ist verachtenswerter, als eine Frau zu verprügeln. Ich halte das für eine Krankheit, die die Schwäche des anderen ausnützt, Gefühle manipuliert und auf die Kraft der Faust, des Gürtels oder des Stocks setzt. Ein Mann, der eine Frau verprügelt, ist in meinen Augen ein Feigling, der sich nicht traut, es mit einem ebenbürtigen Gegner aufzunehmen. Dieses Thema brennt schon seit Jahren in mir und sucht einen Weg, Form und Ausdruck zu bekommen. Als ich dann im Rahmen meiner Tätigkeit bei der Twilight Zone die Gelegenheit erhielt, über dieses Thema zu schreiben, brach
sich all der Zorn Bahn, den ich solange verspürt hatte. Zwei Geschichten erwuchsen aus diesem Thema. Die erste, GEWALTAKTE, wurde trotz der deutlichen Nervosität einiger Verantwortlicher gedreht, die der Ansicht waren, daß man so etwas nicht zeigen könne. (Ich glaubte schon, ich sei derjenige, der in der Twilight Zone lebt.) Die zweite, SAG GUTEN TAG, MR. QUIGLEY, eine Geschichte um Inzest und dessen übernatürliche Folgen, wurde nicht einmal annähernd eine Drehbuchfassung. Dieser Text machte alle nervös. Vielleicht kommt einmal der Tag, an dem auch diese Geschichte einer größeren Öffentlichkeit präsentiert werden kann. Bis dahin steht GEWALTAKTE allein da. Während ich diese Einleitung schreibe, kann ich vermelden, daß meine Story bereits in Therapiesitzungen Verwendung findet, die Psychologen für die Opfer von Gewalt in der Ehe durchführen. Vielleicht bewirkt GEWALTAKTE ja etwas Gutes. Ich hoffe es sehr.
GEWALTAKTE, Produktions-Nr. 87011, wurde unter der Regie von Brad Turner gedreht. Die Darsteller waren Melanie Mayron (Louise Simonton), Kenneth Welsh (Jack Simonton), Kate Lynch (Claire), Lee J. Campbell (Phil), Trevor Bain (Polizist) und James Barron (Briefträger). Die Dreharbeiten begannen am 8. August 1988. Die Episode wurde erstmals am 4. Dezember 1988 ausgestrahlt.
Samstag Louise Simonton lief über die Veranda dem Briefträger entgegen, der sich auf dem Bürgersteig näherte. Er begrüßte sie mit einem Nicken und schob die Umschläge in den Briefkasten. »Guten Morgen, Mrs. Simonton.«
Sie erwiderte flüchtig und nervös sein Lächeln. »Guten Morgen.« Er blätterte die restliche Post in seiner Tasche durch und gab ihr die an sie adressierten Sendungen. »Man weiß immer genau, wann es wieder Samstag ist. Da stapeln sich Prospekte, Reklame- und Postwurfsendungen, Rechnungen und all das andere überflüssige Zeug zu wahren Bergen.« »Ich vermute, dann ist Ihre Tasche sehr schwer.« »Nach einer Weile hat man sich daran gewöhnt«, antwortete er. »So, ich denke, das wär’s. Ach, Moment, das hätte ich ja fast vergessen. Ich habe noch etwas für Sie.« Er griff in seine Tasche und reichte ihr eine Pappschachtel, auf der in einer vertrauten Handschrift ihr Name stand. »Bitte.« Sie hielt die vielen Briefe in der einen Hand und griff mit der anderen nach dem Päckchen. Dabei verrutschte ihr Kleid und legte ihre Schulter weit genug frei, um einen blauen Fleck zu zeigen. Eine dunkel angelaufene Stelle, die sich verfärbt hatte und sich deutlich von Louises blasser Haut abhob. Der Briefträger legte die Stirn in Falten und sah ihr in die Augen. »Sieht aus, als hätte es weh getan.« Sie warf einen kurzen Blick auf die Prellung und schob rasch den Stoff darüber. »Ach, eigentlich ist es nichts. Ich habe die Küchenschränke geputzt, habe mich zu schnell aufgerichtet und bin dabei gegen eine offenstehende Tür geprallt. War dumm von mir, nicht besser aufzupassen.« Sie sah ihn vorsichtig an, bemerkte Zweifel in seiner Miene und wandte den Blick ab. »Kann jedem von uns passieren, Mrs. Simonton. Nur…« Wieder das Stirnrunzeln, ein Zeichen dafür, daß manche Dinge besser unausgesprochen blieben. »Versuchen Sie, beim nächsten Mal etwas vorsichtiger zu sein.« »Das werde ich. Vielen Dank.«
Als der Briefträger weiterging, betrachtete Louise das Päckchen in ihrer Hand. Sie lief zum Haus zurück, und ein zögerndes Lächeln erschien auf ihren Lippen, als sie die Pappschachtel schüttelte. Was mochte sie wohl enthalten?
WENN MAN LOUISE SIMONTON HEUTE SIEHT, ÜBERRASCHT ES EINEN, ZU HÖREN, DASS SIE EINMAL, UND DAS IST NOCH GAR NICHT SOLANGE HER, EINE SCHÖNHEIT GEWESEN WAR – BEVOR IHR DIE VIELEN STREITEREIEN, DIE LANGEN EHEJAHRE UND DER STOCK ALLE ATTRAKTIVITÄT GENOMMEN HATTEN. LOUISE SIMONTON IST, WIE SO VIELE, UNTER DER LAST IHRES LEBENS ZERBROCHEN. MIT EINEM KLEINEN UNTERSCHIED. IHRE LAST HAT EINEN NAMEN.
»Jack?« rief sie, als sie die Veranda erreicht hatte und zur Tür schritt. Wenn man vom hellen Tageslicht ins Wohnzimmer trat, kam es einem erstaunlich düster vor. Jack saß da und wurde vom bläulichen Licht des Fernsehapparats beschienen. Er schaute sich ein Football-Spiel an und bekam nichts anderes mehr mit. »Jack?« sprach sie ihn erneut an, setzte sich auf die Couch und legte die Post neben sich. »Da ist etwas von meiner Schwester gekommen.« Sie fing an, das Päckchen auszupacken. Die Schwester hatte es mit durchsichtigem Klebeband verschlossen; mit jenem Material, das man kaum zerreißen kann. »Ich frage mich, was…« Aus dem Sessel kam ein knappes, aber deutliches: »Nein.« Louise zuckte zusammen, obwohl er es in ruhigem Tonfall gesagt hatte. Er hatte sich nicht einmal zu ihr umgedreht, so als
wollte er keine Sekunde des Spiels versäumen. »Aber ich wollte doch gar nicht… Ich möchte nur sehen, was drin ist. Das Päckchen kommt doch von meiner Schwester, und wir beide haben uns so lange nicht mehr gesehen…« Sein Blick wandte sich keinen Moment von dem Bildschirm ab, als er mit ihr wie mit einem verstockten Kind sprach. »Es ist fünf Minuten nach eins, Louise. Um ein Uhr gibt es Mittagessen. Mittagessen um eins, Louise, du kennst die Regeln. Also, geh in die Küche und mach etwas zu essen.« Sie biß sich auf die Unterlippe, legte die ungeöffnete Pappschachtel zu der anderen Post und eilte in die Küche. »Ist was Wichtiges dabei?« rief er ihr zu. »Nur eine Rechnung von den Elektrizitätswerken. Sie drohen, uns den Strom abzusperren, wenn wir nicht bald bezahlen. Könnten wir ihnen denn nicht wenigstens einen Teilbetrag…« Jetzt drehte er sich zu ihr um und starrte sie an. Etwas Dunkles, Wildes funkelte in seinen Augen; etwas, das auf einen drohenden Gewaltausbruch schließen ließ. Sie hatte bei ihm einen wunden Punkt getroffen, ihn in seiner Ruhe gestört, obwohl das das letzte war, was sie wollte. »Willst du damit etwa andeuten, ich würde meine Arbeit schlecht machen, Louise? Willst du damit sagen, ich wäre ein schlechter Ehemann und Haushaltsvorstand? Behandle ich dich etwa schlecht?« »Nein, Jack, nein, das will ich ganz bestimmt nicht sagen. Das habe ich damit ganz sicher nicht gemeint.« »Nun, es ist ja auch einfach, sich zu beschweren, wenn ich den ganzen Tag außer Haus bin und schwer schufte, während du hier nur herumsitzt und gar nichts tust.« Sie verkrampfte sich. »Ich tue eine…« Die Worte erstarben auf ihren Lippen, als sie seinen Blick sah.
Dieser Blick, den sie so gut kannte. Den sie gerade eben gesehen hatte… Vor wenigen Momenten. »Was tust du, Louise?« Sie senkte die Augen, »Nichts, Jack.« In diesem Moment erscholl aus dem TV-Gerät das Brüllen der Menge. Jack wandte sich wieder dem Bildschirm zu. »Hast du es also wieder einmal geschafft! Wegen dir habe ich eine wichtige Szene verpaßt!« »Tut mir sehr leid.« Er ließ sich nicht anmerken, ob er ihre Entschuldigung gehört hatte, konzentrierte sich voll und ganz auf die FootballÜbertragung. So als wäre Louise gar nicht im Zimmer. »Nun mach endlich, Louise. Mittlerweile sind es zehn Minuten nach eins. Du weißt doch, was um eins ist, oder?« »Um ein Uhr gibt es Mittagessen«, antwortete sie, wischte sich die Hände an der Schürze ab und betrat die Küche. Sie aßen, ohne eine Wort miteinander zu wechseln. Es gab Suppe, Sandwiches mit gebratenem Speck (schön knusprig, wie Jack es liebte) und ein Bier für ihn und Orangensaft für sie. Beim Essen blickte sie immer wieder einmal kurz an Jack vorbei aufs Sofa, wo das Päckchen ungeöffnet auf der Post thronte. Jack schaute auf und bemerkte einen ihrer Blicke, bevor sie woanders hinsehen konnte. »Wo stierst du denn immer hin?« »Was?« Sie tat so, als würde sie sich nur für ihr Essen interessieren. »Alle zwei Minuten starrst du irgendwohin. Also darf man doch wohl annehmen, daß es dort etwas wirklich Interessantes zu sehen gibt.« »Nein, es ist… ich habe mich nur gefragt, ob ich jetzt das Päckchen öffnen kann. Es könnte ja etwas Zerbrechliches oder
leicht Verderbliches darin enthalten sein. Du weißt doch, wie Lynn ist. Immer schickt sie Selbstgebackenes und so.« Ihre Worte waren immer leiser geworden. Nach einer Weile räusperte sie sich. »Kann ich die Pappschachtel jetzt aufmachen?« Er grunzte etwas, das wie eine Zustimmung klang, und beschäftigte sich wieder mit seinem Sandwich. Louise ließ ihren Teller stehen und lief ins Wohnzimmer. Die Vorfreude zauberte wieder ein leichtes Lächeln auf ihre Lippen. Sie ließ sich auf der Couch nieder und schälte die Sendung sorgfältig und methodisch aus der Verpackung, verlängerte damit das köstliche Gefühl der Vorfreude. »Selbstgebackenes, was?« rief er. »Sie glaubt wohl, wir könnten uns keinen Kuchen leisten. Wenn wirklich Selbstgebackenes in dem Päckchen ist, schickst du es auf der Stelle wieder zurück, hast du verstanden? Wir sind bis jetzt immer noch aus eigener Kraft satt geworden.« Ihre Hände tauchten in die Styroporflocken ein und fanden etwas Kühles und Festes. Sie zog es heraus und wischte die Flocken ab. Ein Porzellanhund, ein schlanker Dobermann mit weitaufgerissenen Augen, eine exquisit detaillierte Figurine, die wundervoll bemalt war und im Licht der Mittagssonne glänzte. Sie drehte das Stück in ihren Händen, und ein leiser Begeisterungsruf löste sich von ihren Lippen. »Oh, Lynn, daß du daran gedacht hast!« »An was hat sie gedacht?« Sie drehte sich um und entdeckte Jack in der Tür. Instinktiv preßte sie den Hund an sich. »An… nun, am Freitag hatte ich Geburtstag.« »So, so.« Er trat zum Sofa und streckte die Hand nach der Figurine aus. »Zeig mal her.« Sie zögerte. »Ach, es ist nichts, wirklich, nur ein kleiner Hund, den sie mir geschickt hat. Bitte…«
»Hab’ ich vielleicht gesagt, ich wollte ihn kaputtmachen oder was?« fuhr er sie an. »Jetzt zeig ihn her, sonst kriegst du von mir etwas, vor dem du dich wirklich fürchten kannst!« Sie reichte ihm die Figurine. Er drehte sie in der Hand und sah dem Hund kurz ins Gesicht. »Wuff, wuff!« bellte er dann und lachte. Er schien darauf zu warten, daß der Hund zurückbellen würde. »Wuff!« Sie wollte das Stück zurückhaben, aber sie wußte genau, daß sie ihn damit erschrecken würde. Und wenn er sich erschrak, würde er die Figurine fallenlassen, und das wäre dann Louises Schuld. Es war ja immer ihre Schuld. Also saß sie nur da und wartete. Sie verhielt sich ganz still, bis er ihr den Hund nachlässig zurückgab und in die Küche ging, um sein Sandwich aufzuessen. Sie hielt den Porzellanhund an ihre Wange. Das Material fühlte sich auf ihrer Haut angenehm kühl an. Der Hund gehörte jetzt ihr. Ihr allein.
Sonntag Ihr Gesicht brannte. Louise hörte Jack, wie er draußen im kalten Dämmerlicht den kleinen Transporter mit seinem Angelzeug belud. Er pfiff eine Melodie vor sich hin, die sie nicht kannte. Sie kniete auf dem Boden und sammelte das zerbrochene Geschirr ein. Sie achtete darauf, sich nicht an den scharfen Glas- oder Porzellanrändern zu schneiden. Danach würde sie den Boden aufwischen und von den Resten des nicht beendeten Frühstücks säubern. Sie durfte keinen Krümel übersehen, sonst wimmelte es in der Küche bald von Ameisen. Jack konnte Ameisen nicht ausstehen.
Die Fliegengittertür, die aus der Küche hinausführte, ging auf, und Jack trat ein. Sie sah nicht zu ihm hoch, sondern fuhr fort, die Scherben einzusammeln. »Ich fahre jetzt«, erklärte er. Sie nickte. Er trat neben sie. »Laß mal sehen.« Sie stand auf und drehte sich so, daß das Licht der Deckenlampe auf ihre Wange fiel, wo sich eine Stelle purpurn verfärbte. Sie spürte, wie die Schwellung von unten gegen ihr Auge drückte. Sie versuchte, nicht zu blinzeln. Ihr Auge tränte. Beide Augen tränten. »Ach, das ist doch nichts«, meinte Jack. »Mach bloß keinen Aufstand deswegen. Heult hier rum wie ein kleines Mädchen.« Louise wandte das Gesicht von ihm ab. »Es tut mir leid, daß ich die Eier hab’ anbrennen lassen.« »Na, dann laß es dir eine Lehre sein, okay?« entgegnete er. »Nun muß ich aber los. Die Fische warten nicht den ganzen Tag auf mich.« Sie stand reglos da. »Mach schon, gib mir einen Kuß.« Sie hob das Gesicht und gab ihm einen Kuß, auch wenn dabei ihre Wange noch stärker brannte. Nachdem er ihre Lippen berührt hatte, drehte er sich um und ging zur Tür. »Wann kommst du zurück?« rief sie ihm nach. Er blieb stehen und zuckte die Achseln. »Wenn ich wieder hier bin, bin ich wieder hier. Was erwartest du denn von mir, soll ich punkt soundsoviel Uhr alles einpacken?« Er grunzte unwillig und trat nach draußen. Die Fliegengittertür fiel krachend und klappernd ins Schloß. Sie hörte das Knirschen seiner Stiefel auf dem Kieselweg. Sie schob sich eine Strähne aus dem Gesicht und ging zum Ausguß, in den sie die größeren Geschirrteile gelegt hatte. Ein Teller war in zwei Hälften zerbrochen. Sie hoffte, er ließe sich reparieren. Sie drückte die beiden Hälften aneinander, aber sie rutschten ihr immer wieder ab. Sie drückte fester, so als wollte
sie die Teile zwingen, wieder zusammenzuwachsen. Es half nichts, sie glitten ständig voneinander ab, und dabei lösten sich kleine Teilchen von den Bruchkanten. Lousie fing an zu weinen, weil es nicht funktionierte und ihr Gesicht brannte. Und sie weinte, weil nichts mehr zusammenpassen wollte, weil nichts mehr funktionierte. Sie schluchzte, und ihr Brustkorb hob und senkte sich. Sie schleuderte die Hälften in den Spülstein, nahm die Stücke wieder in die Hand und warf sie erneut in den Ausguß. Wieder und wieder und wieder, bis nichts mehr zu zerstören war. Sie kniete auf dem Boden und lehnte die heiße Stirn an den kühlen Spülstein. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, und als sie sie öffnete, sah sie als erstes den Porzellanhund, den sie auf die Anrichte gestellt hatte, bevor sie das Frühstück zubereitete. Sie konnte sich nicht daran erinnern, ihn so hingestellt zu haben, daß er auf den Ausguß und jetzt auch auf sie blickte. Sie griff nach dem Hund, legte ihn in ihren Schoß und schaukelte auf den Knien vor und zurück. »Verdammter Kerl«, flüsterte sie sehr leise, so als fürchtete sie, Jack könnte sie hören. »Verflucht soll er sein.« Draußen wollte der Kleintransporter einfach nicht anspringen.
Jack drehte zum wiederholten Mal den Zündschlüssel um. Der Motor hustete, würgte, hustete noch einmal und starb ab. »Was ist denn los?« fragte sich Jack. Dann bemerkte er aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Etwas Schwarzes in der Dämmerung, hinter dem Haus am Waldrand. Tauchte auf und war wieder verschwunden. Er hielt danach Ausschau, konnte im Halbdunkel aber nichts Genaues erkennen. Er drehte den Zündschlüssel. Knattern und Stottern. Plötzlich wackelte der ganze Wagen, als ein Dobermann dagegen
sprang. Ein riesiges schwarzes Tier, dem der Wahnsinn in den Augen stand. Er hatte die Lefzen zurückgezogen und lange Zähne entblößt, mit denen er wütend nach Jack schnappte und in die Luft biß. Die Zähne fuhren über die Windschutzscheibe, die Krallen kratzten darüber. Der Hund bellte und heulte und stürmte wie von Sinnen immer wieder gegen die Tür an. Jack brüllte den Dobermann an, schrie unverständliches Zeugs, ohne den Hund davon abzubringen, weiterhin und mit immer größerer Wucht gegen die Tür zu springen. In den Augen des Tiers brannten Wut, Haß und Zerstörungsdrang, während es mit Zähnen und Krallen versuchte, ins Wageninnere zu gelangen. Jack schlug auf die Hupe, ließ sie nicht mehr los. Jemand mußte ihm zu Hilfe kommen. Jemand mußte es doch hören. Das Licht auf der Veranda ging an. Er drehte sich zur Tür um, die sich in diesem Moment öffnete. »Louise!« Plötzlich wieder Stille. Sie stand in der Tür und hielt mit einer Hand den Morgenmantel vor ihrer Brust zusammen. »Was ist denn los?« Jack sah sich nach allen Seiten um. Der Dobermann war verschwunden. Vorsichtig, denn das Tier konnte sich ja irgendwo versteckt haben und auf ihn lauern, öffnete er die Fahrertür einen Spalt weit. »Lieber Himmel, hast du diesen… diesen Killer gesehen?« »Wen bitte?« »Was soll das heißen? Den Riesenhund natürlich! Er war hier, direkt neben mir. Ich dachte schon, er wollte den Wagen aufreißen.« »Ich kann keinen Hund sehen.« »Das Vieh muß abgehauen sein«, brummte er, es klang aber nicht erleichtert. »Vermutlich hat die Hupe ihn verjagt. Was für ein Glück… wenn ich doch nur mein Gewehr dabeigehabt
hätte.« Er schüttelte den Kopf und stieg wieder in den Wagen. »Geh du jetzt ins Haus zurück. Gleich am Montag rufst du bei der Polizei an und fragst nach, wer hier in der Gegend einen Riesenhund frei herumlaufen läßt.« »Ja, gut«, antwortete sie und blieb in der Tür stehen. Sie sah ihm nach, wie er davonfuhr. Er warf einen Blick in den Rückspiegel und glaubte zu sehen, daß sie etwas in den Händen hielt. Aber ganz sicher war er sich nicht.
»Und es war das hübscheste Kleid, das ich je gesehen habe«, sagte Louise. »Ich wünschte, du wärst dabeigewesen, es hätte dir bestimmt auch gut gefallen. Alles an dem Kleid, selbst die Farbe, war perfekt.« Claire nahm einen kleinen Schluck Kaffee. »Ich vermute, es paßte farblich hervorragend zu deinem neuen Teint.« Louise blickte in eine andere Richtung und tat so, als würde sie ihre gesamte Aufmerksamkeit benötigen, um sich ein Stück von dem Teekuchen abzuschneiden. Sie kannte Claire seit drei Jahren, und eigentlich konnte man sie als ihre beste Freundin bezeichnen. Aber auch unter Freundinnen gab es gewisse Tabus, Themen, die besser nicht angesprochen wurden. Gewisse Dinge hätten nie erörtert zu werden brauchen, wenn Claire nicht immer wieder damit angefangen hätte. »Ich möchte jetzt nicht darüber reden.« »Ich weiß, ich weiß, aber du darfst es ihm nicht durchgehen lassen, daß er dich so behandelt.« »Im Grunde genommen ist es ja gar nicht seine Schuld, sondern es liegt allein an mir. Ich mache so vieles falsch, und ich kann furchtbar langsam sein. Ich bemühe mich natürlich, aber manchmal gelingt es mir nicht.« »Das ist Unsinn, und das weißt du auch. Es gibt keine Entschuldigung für die Dinge, die er dir antut. Und wie steht’s
mit dir? Ärgerst du dich nie über die Dinge, die er dir antut?« Louise legte das Stück Kuchen auf ihren Teller und hielt mitten in der Bewegung inne. Ärgerst du dich nie? Louise nickte. »Doch, manchmal. Wie heute morgen, da war ich furchtbar wütend auf ihn… es hat richtig in mir drin gebrannt, so als würde mein Körper jeden Moment explodieren und in Feuer und Rauch aufgehen. Ach, ich hasse mich dafür, so böse zu sein.« »Und statt dessen machst du eine Faust in der Tasche und vergräbst deinen Zorn. Bei allem, was recht ist, Louise, laß deinen Ärger endlich heraus!« Louise lächelte. »So hat meine Mutter mich aber nicht erzogen«, entgegnete sie und tätschelte geistesabwesend die Figurine. »Und meine Schwester auch nicht. Ich weiß zwar nicht, wie sie die Dinge handhabt, aber es gibt bei mir Zeiten, da habe ich große Angst.« »Angst wovor? Vor ihm?« »Nein«, antwortete Louise und kehrte zum Tisch zurück. »Ich fürchte mich vor dem, was mein Zorn anrichten könnte, wenn ich ihn einmal rauslassen würde.«
Dienstag Louise war fast fertig mit dem Decken des großen Tisches im Eßzimmer. Vier Gedecke. Das beste Geschirr. Stoffservietten. Ein hübsches Bouquet in der Mitte, genau wie das, das sie in dem Magazin gesehen hatte. Sie zündete gerade die Kerzen an, als sie hörte, wie die Haustür aufging und wieder ins Schloß fiel. »Bin wieder da.« »Ich bin im Eßzimmer!« antwortete sie. Er stand in der Tür und hielt seine Thermoskanne in der Hand. »Für wen hast du denn alles gedeckt?«
»Phil und Claire kommen zum Dinner. Wir haben das letzte Woche ausgemacht, erinnerst du dich?« Seiner Miene nach zu schließen, erinnerte er sich nicht. »Ach so, ja. Und warum all der Firlefanz?« »Na ja, ich dachte, es wäre doch einmal nett… Sieht es nicht hübsch aus? Ich habe einiges davon auf dem Speicher entdeckt. Wir haben es seit Jahren nicht mehr benutzt. Ich dachte mir, du hättest es gern einmal ein wenig festlich. Du arbeitest immer so hart. Ein hübsches Dinner könnte dich doch entspannen und auf andere Gedanken bringen.« Die Türglocke läutete. »Das müssen sie sein.« Sie warf noch einen letzten kritischen Blick auf den Tisch und eilte an Jack vorbei ins Wohnzimmer. Sie blickte durch das Seitenfenster und sah Claire und Phil. »Pünktlich auf die Minute«, begrüßte sie die Freunde. »Sind wir doch immer«, entgegnete Claire. Sie hielt eine große Salatschüssel in den Händen. »Wo kann ich die hinstellen?« »Am besten erst einmal in die Küche. Warte, ich hole Salatbesteck.« Jack schloß die Tür, nachdem Phil eingetreten war. »Wie läuft’s, Jack?« »Alles bestens. Hör mal, kann ich dich für eine Minute in der Garage sprechen? Ich muß dir was zeigen.« »Klar.« »Bleibt nicht zu lange!« rief Claire ihnen nach, als sie zur Garage gingen. »Ich glaube, Louise hat sich heute selbst übertroffen.« »Gefällt es dir?« wollte Louise wissen und deutete auf den Tisch, während sie nach dem passenden Salatbesteck suchte. »Sehr hübsch. Gibt es vielleicht einen besonderen Anlaß?« »Nein, ich habe mir nur gedacht, wenn ich mich ein bißchen mehr anstrenge und zusammenreiße, wird Jack vielleicht… na, du weißt schon.«
Claire nickte. Sie wußte. Sie lächelte, aber Louise kam es so vor, als drücke dieses Lächeln Claires Resignation und Enttäuschung aus. Sie breitete die Arme aus und umarmte Louise. »Du wunderbare, alles vergebende Närrin. Er hat dich überhaupt nicht verdient.« Louise war von dieser Geste völlig überrascht. Sie wandte sich rasch ab, um weiter nach den Salatlöffeln zu suchen. Die Umarmung hatte ihr Unbehagen bereitet, aber gleichzeitig fühlte sie sich gut. Sie kramte in der Schublade und entdeckte endlich das fehlende Besteck hinter dem Kasten, der das TafelSilber enthielt. »Da sind sie ja«, rief sie und reichte sie der Freundin. »Danke.« Louise blickte auf ihre Armbanduhr. »Der Braten müßte gleich durch sein. Ich denke, ich gehe Jack holen. Du weißt doch, wie die beiden sind, wenn sie sich einmal festquatschen.« Louise eilte durch die Diele zur Garage. Vor der Tür blieb sie stehen. Sie hörte, wie die beiden miteinander redeten. Phil schien über irgend etwas besorgt zu sein. Louise zögerte, weil sie nicht wußte, ob sie jetzt stören durfte. »Hör mal, Jack«, sagte Phil gerade, »was du in deiner Freizeit tust, ist allein deine Angelegenheit, aber zieh mich da nicht mit hinein.« »Nun mach mal halblang. Ich verlange doch nichts Unmögliches von dir!« Ich sollte nicht hier stehen und lauschen, schämte sich Louise. Sie schob die Tür ein Stück weiter auf und sah hinein. Phil stand unter der Deckenlampe, während Jack seine Motorsäge ins Regal legte und dabei unablässig redete. »Du mußt doch nicht mehr tun, als zu sagen, Frank hätte dich am Samstag angerufen und dir gesagt, du sollst am Sonntag mit zum Angeln gehen«, erklärte Jack jetzt. »Aber du könntest nicht mit, weil du noch zuviel Arbeit zu erledigen hättest, oder
was auch immer. Deshalb müßte ich allein mit Frank los. Das ist doch wohl nicht zuviel verlangt, oder?« »Nicht zuviel? Für dich lügen, nenne ich das.« »Ach, zum Teufel, Phil, die Sache kommt doch sowieso nie heraus. Ich möchte mir nur den Rücken freihalten, falls etwas schiefläuft, klar?« Phil schüttelte fassungslos den Kopf. »Ist ja schon gut. Meinetwegen. Was glaubst du denn, wie lange du so weitermachen kannst? Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie dir auf die Schliche kommt.« »Sie wird nie etwas herausfinden. Ist dir noch nie aufgefallen, Phil, wie beschränkt sie ist? Sie glaubt alles, was sie erzählt bekommt. Sag ihr, die Sonne scheint in der Nacht, dann zieht sie sich um Mitternacht die Sonnenbrille an. Als Frau ist sie das Pulver nicht wert, um sie damit in die Luft zu jagen.« »Und bei Denise ist das anders?« Louise mußte sich an die Wand lehnen. Sie bemerkte kaum, wie sehr ihre Hände zitterten. Sie ließ den Türgriff los, weil sie fürchtete, durch ihr Zittern Lärm zu machen. Obwohl sie Jack nicht sehen konnte, wußte sie um das hämische Grinsen auf seinem Gesicht. »Oh, Phil, Denises Beine reichen bis zum Himmel, und was sich dazwischen befindet… Oh, Mann, das muß man erlebt haben!« Die Welt brach Stück für Stück unter Louise zusammen. Für ein paar Momente glaubte sie, sich auf der Stelle übergeben zu müssen. Wie aus großer Entfernung hörte sie ihre eigenen Gedanken. Schließ die Garagentür. Vergiß nicht, die Tür zu schließen, sonst wissen sie, daß du gelauscht hast. Sie schloß leise die Tür. Glaubte, sie geschlossen zu haben, denn eigentlich war es ihr egal. Nichts war mehr wichtig für sie. Wie betäubt kehrte sie durch die Diele in die Küche zurück. O Gott, dachte sie. O Gott, o Gott, o Gott… Automatisch trat sie an den Spülstein, wo die frischen Karotten lagen, die geschält werden mußten. Die Karotten, die
sie heute nachmittag so sorgfältig im Lebensmittelladen ausgesucht hatte. Sie sah die Mohrrüben, wußte, daß sie aus einem bestimmten Grund hier lagen, und konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern. »Louise?« Claire stand plötzlich neben ihr. »Louise, ist alles in Ordnung?« Sie nickte. »Mir… mir geht es gut.« »Ganz bestimmt? Du siehst…« »Ich sagte, mir geht es gut, alles klar?« Sie griff sich eine Karotte und fing an, sie zu schälen und in halbzentimeterdicke Scheiben zu schneiden, ganz so, wie sie es gelernt hatte. Phil kam in die Küche und sagte zu Claire irgend etwas. Vielleicht, daß Jack jetzt gleich kommen würde. Louise verstand kein Wort, denn sie war viel zu sehr damit beschäftigt, die Mohrrüben zu schneiden. Das war das einzige, was im Moment für sie zählte. Sonst nichts. Und sie konnte auch an nichts anderes mehr denken, wollte mit nichts anderem mehr etwas zu tun haben. Nur noch Karotten so schneiden, wie man es ihr beigebracht hatte. Sie tat immer das, was man ihr sagte; kümmerte sich um den Haushalt, wie man es ihr gesagt hatte; briet die Eier, wie man es ihr gesagt hatte. O – Gott – im – Himmel – wie – ich – ihn – hasse – wie – konnte – er – mir – das – nur – antun – mich – hat – er – geschlagen – und – mit – denselben – Händen – die – mich – prügeln – hat – er – ihren – Leib – gestreichelt – während – er – mich – mit – ihnen – schlägt – und – schlägt – und – schlägt – und – schlägt – und – ich – hasse – ihn – wie – konnte – er – mir…
In der Garage legte Jack das letzte Werkzeug ins Regal zurück. Plötzlich hörte er ein Geräusch. Ein tiefes Grollen hinter seinem Rücken. Er drehte sich langsam um und wußte sofort, wer sich dort befand.
Der Dobermann stand an der gegenüberliegenden Wand, bewegte sich nicht von der Stelle, starrte ihn nur an. Seine Brust hob sich beim Knurren, das tief aus ihm zu kommen schien. Ein solcher Haß stand in den Hundeaugen, daß Jack den Blick abwenden mußte. Wieder hatte das Tier die Zahnreihen entblößt. Er kam langsam auf Jack zu. Jack zog sich an der Werkbank entlang zurück, ließ das Tier nicht aus den Augen und griff hinter sich. Seine Hände suchten nach der Schrotflinte, die hier an der Wand hängen sollte. Verdammt, wo war sie? Sie mußte doch hier irgendwo sein… Schneiden und Hacken, Schneiden und Hacken und Köpfen und Schlitzen. Eine Hand auf ihrem Arm. »Louise?« Hacken…
Der Dobermann hatte die halbe Strecke zu ihm hinter sich gebracht, als Jacks Finger an die Patronenschachtel stießen. Jack fürchtete, das Tier könnte sich jetzt jeden Moment auf ihn stürzen. Aber es machte weiterhin Schritt für Schritt auf ihn zu, langsam, aber entschlossen. Wandte nie seine Augen von dem Menschen. Wußte, daß dieser ihm nicht entkommen konnte. Jack hob die Schrotflinte an die Schulter…
… und Schneiden und Köpfen und Schlitzen und… »Louise!« Eine Hand legte sich auf die ihre, fest und beharrlich. Nahm ihr das Messer ab. Drehte Louise herum. Nach einem Moment konnte sie Claire erkennen. »Was ist mit dir? Du bist weiß wie eine Wand!« Louise nickte, ohne sich dessen wirklich bewußt zu werden. Claire bedachte sie wieder mit diesem Blick, einer Mischung
aus Sorge und Mitleid. Und in diesem Moment verpuffte Louises Wut. Nichts war mehr in ihr, außer einer großen, gähnenden Leere in ihrer Seele, die sie bis ins Mark frösteln ließ. … und drückte ab. Jack zuckte zurück. Er schoß aus beiden Läufen, und der Rückstoß warf ihn fast um. Er blinzelte, um etwas sehen zu können. Dann starrte er auf die Stelle, an der sich gerade noch der Dobermann befunden hatte. Doch da war nichts mehr. Nur ein großes Loch in dem Gewehrständer, den er im letzten Sommer gezimmert hatte. Dann hörte Jack, wie die anderen zur Garage liefen und seinen Namen riefen. Sie fragten ihn, ob er in Ordnung sei, und er öffnete die Läufe und entfernte die leeren Patronenhülsen. Es war einfach unmöglich, daß der Riesenhund so schnell an ihm vorbeigerannt sein konnte. Aber er war dagewesen. Verdammt, Jack hatte ihn doch gesehen.
Die zwei Polizisten, die wenige Minuten nach dem Doppelschuß an der Tür standen, wirkten wenig überzeugt. »Ich wünschte, wir könnten Ihnen helfen, Mr. Simonton, aber wir haben bereits mit Ihren Nachbarn gesprochen, und keiner von ihnen hat einen Hund bemerkt, auf den Ihre Beschreibung zuträfe. Und soweit wir feststellen konnten, besitzt auch niemand hier in der Gegend einen solchen Riesenhund.« »Dann kommt er eben von weiter weg«, entgegnete Jack. »Vielleicht ist er aus einem Zwinger aufgebrochen. Vielleicht hat er Tollwut, wer weiß das schon? Ich erkläre Ihnen noch einmal, daß er mir bereits zweimal begegnet ist, und die Polizei sollte endlich anfangen, etwas zu unternehmen. Dieses Vieh könnte einen Menschen töten. Ich meine, wozu, zum Donnerwetter, bezahle ich eigentlich Steuern?« Der größere
der beiden Beamten sah Louise an: »Ma’am, sind Sie sich ganz sicher, den Dobermann nicht bemerkt zu haben?« Louise richtete sich gerade auf. »Ja, tut mir leid, aber ich habe keinen solchen Hund gesehen.« Der Polizist runzelte die Stirn. »Dann fürchte ich, daß wir im Moment wenig ausrichten können. Wir können nur warten, bis das Tier sich wieder zeigt. Aber wir haben eine entsprechende Meldung herausgegeben. Wenn Sie den Dobermann noch einmal bemerken sollten, geben Sie uns bitte unverzüglich Bescheid. Andererseits ist es meine Pflicht, Sie, Mr. Simonton, darauf hinzuweisen, daß das Gesetz den Schußwaffengebrauch innerhalb der Stadtgrenzen untersagt. Wenn Sie noch einmal von Ihrem Gewehr Gebrauch machen, würde ich Ihnen dringend anraten, sich sorgfältig zu vergewissern, auf was Sie feuern.« Damit verließen die Polizisten das Haus. Claire und Phil verabschiedeten sich wenige Minuten später. Allen war der Appetit vergangen. Ob die Freunde bemerkt hatten, wie es Louise ging, war ihr egal. Es kümmerte sie nicht mehr. Mit für sie untypischem Desinteresse verabschiedete sie sich von Claire und Phil. Die ganze Zeit über hielt sie den Porzellanhund fest an sich gepreßt. Sobald die beiden verschwunden waren, brach es aus Jack heraus. »Du bist mir eine schöne Hilfe!« fuhr er sie an. »Warum kannst du nicht wenigstens einmal zu mir halten? Warum kannst du nicht einmal etwas anderes tun, als mit diesem blöden Kitschding herumspielen?« Sie hielt die Figurine im Schoß. »Ich habe den Hund nicht gesehen, Jack. Und du weißt, daß man die Polizei nicht belügen darf.«
»Na großartig! Noch etwas, was du nicht kannst!« Er marschierte zum TV-Gerät und schaltete es ein. Louise stellte den Porzellanhund auf den Tisch. »Jack?« »Hm?« »Wie war es am Sonntag beim Angeln? Du hast mir gar nichts davon erzählt.« Er zuckte nur die Achseln und drehte sich nicht zu ihr um. »Wie immer. Du kennst doch Frank. Er schwatzt und schwatzt und schwatzt. Verscheucht auch noch den letzten Fisch. Wundert mich, daß er überhaupt etwas gefangen hat.« »Und bei dir hat den ganzen Tag lang keiner angebissen?« »Ja, genau.« Jetzt drehte er sich um und sah sie an. »Was ist los? Spielst du Quiz mit mir, oder was?« Sie gab ihm keine Antwort. Er erhob sich. »Weißt du was, ich denke, dein Tonfall gefällt mir nicht. Wenn du nicht mißtrauisch sein kannst, bist du unglücklich, nicht wahr? Oder willst du mir jetzt auch noch verbieten, mit einem Freund angeln zu gehen?« »Nein, Jack, ich wollte nur…« Er kam auf sie zu, und sein Gesicht war vor Wut dunkelrot angelaufen. Sie fuhr hoch und wich vor ihm zurück. »Du hast nein gesagt, Louise. Du weißt, daß ich es nicht mag, wenn du nein sagst. Also, heraus mit der Sprache, was ist dein Problem?« »Jack…« »Du denkst, du hast ein Problem? Na warte, ich werde dir ein Problem geben!« Jetzt brach es aus ihr heraus. Sie kreischte ihn an, wie sie es von sich selbst nicht erwartet hätte: »Ich habe dich gehört, Jack! Ich habe dein Gespräch mit Phil gehört! Verdammt noch mal, ich habe alles gehört!«
Er blieb stehen. Zum ersten Mal hatte sie ihn gestoppt. Doch dieser Moment währte nicht lange. Schon näherte er sich ihr wieder. Er grinste breit. »Na und?« »Jack…« Er ging immer noch auf sie zu. »Also, was willst du dagegen unternehmen?« »Jack, nein, bitte!« Ihr Kopf dröhnte wie eine Glocke, als sie den Schlag quer über ihr Gesicht erhielt. Ein zweiter Hieb folgte. Sie riß abwehrend die Arme hoch, aber er war zu stark für sie. Er war viel zu stark. Der nächste Schlag warf ihren Kopf gegen die Wand. Sie schrie mit aller Kraft: »Hör auf, Jack! Hör auf, hör auf, HÖR AUF!« Er hörte auf. Plötzlich und unvermittelt hielt er inne. Und unter den hochgehaltenen Armen hindurch sah sie es. Ein Flimmern entstand zwischen ihnen in der Luft. Ein Wirbel. Und dann war der Dobermann da. Ein zähnefletschender, schnappender und knurrender Killer. Er biß Jack ins Bein. Jack schrie auf und stolperte zurück, fiel fast über den Couchtisch. Der Hund setzte ihm nach. »Steh nicht so blöde herum!« brüllte er. »Unternimm etwas!« Sie regte sich nicht von der Stelle. Sie lehnte an der Wand und preßte die Hände an den Mund. Sie wußte, daß sie um Hilfe rufen mußte oder hysterisch kreischen oder davonlaufen. Aber sie blieb einfach stehen. Der Dobermann sprang. Jack erreichte die Tür und riß sie auf. Der Dobermann wartete schon auf der Veranda. Jack warf die Tür zu. Der Hund stand hinter ihm. »Großer Gott!« rief er und rannte in die Küche, er wollte nur noch weg von dem Killerhund. Louise wartete darauf, daß der Dobermann ihn verfolgte. Er folgte ihm nicht.
Der Hund blieb stehen und drehte sich zu ihr um. Sah sie an. Sie sah ihm für einen Moment in die Augen. Nur kurz, aber lange genug, um die Wut in seinen Augen zu erkennen. »O mein Gott«, stöhnte sie und starrte auf den Porzellanhund, den sie so lange gehalten und an sich gedrückt und mit ihren Tränen benetzt hatte. »Gott, nein, das kann nicht sein!« Der Dobermann drehte sich um und rannte in die Küche, setzte Jack nach, schnappte nach ihm. »Nein!« rief Louise und nahm die Figurine in beide Hände. »Halt! Ich will nicht, daß du das tust!« Jack erreichte die Tür nach draußen auf den Hof. Riß sie auf. Der Dobermann erwartete ihn dort. Kein Fluchtweg. Er rannte ins Wohnzimmer zurück und zog Louise hinter sich her. »Komm schon, wir müssen hier raus! Der gottverdammte Köter ist nicht normal! Ist irgend etwas anderes… weiß auch nicht!« Sie wehrte sich gegen seinen Griff. »Nein, Jack, tut mir leid, aber ich kann ihn nicht aufhalten. Er kam einfach irgendwo her, und nun kann ich ihn nicht aufhalten. Ich kann ihn nicht aufhalten!« Er packte sie mit beiden Händen und schüttelte sie. »Wovon redest du eigentlich?« »Ich bin es, verdammt noch mal, es kommt von mir! Verstehst du denn nicht? Der Hund ist hier, weil ich wollte, daß du aufhörst, mich zu schlagen. Und jetzt geht er nicht mehr fort!« Er packte sie an den Schultern und schüttelte sie noch heftiger. Ein leises, drohendes Knurren ertönte hinter ihm. Er wirbelte herum. Zu spät. Der Dobermann sprang gegen ihn, warf ihn zu Boden. Er landete auf dem Teppich, über ihm schnappende Zähne, die nach seinen Handgelenken, seinem Gesicht und seiner Kehle suchten; nach allem, das weich war und Jack gehörte. Er
brüllte, versuchte, den Hund wegzuschieben, wollte ihn mit den Händen erwürgen. Doch der Hund war zu flink und wendig. Wohin Jack auch griff, er faßte in Zähne, als würde er in ein Dutzend Rasierklingen fassen. Sie wollte, daß der Hund aufhörte. Dann wollte sie, daß er weitermachte. Großer Gott, wie schmerzten die Schläge in ihrem Gesicht. Blut lief über Jacks Arme, über sein Hemd. »Nein«, sagte sie, und es kam ihr so vor, als hätte nicht ihre Stimme gesprochen. »Nein.« Der Dobermann hielt inne. Jack rappelte sich auf und stolperte durch die Diele zur Garage. Louise blickte zum Dobermann, aber der war nicht mehr da. Sie lief Jack hinterher. »Wo ist das Biest?« brüllte Jack. Er starrte sie an. Dann fiel sein Blick auf den Gewehrständer. »Die Schrotflinte!« Der Ständer war leer. »Wo ist die verdammte Knarre?« Hinter ihm ein Knurren. Er drehte sich langsam um. Der Dobermann stand mitten in der Garage und zerbiß die Überreste der Schrotflinte. Jack ging zur Werkbank und griff sich ein Stemmeisen. »Also gut«, erklärte er dem Hund. »Du willst also ein Stück von mir haben? Dann komm und hol es dir! Komm, mach schon!« Der Dobermann warf sich auf Jack, und sie fielen zu Boden. Beide versuchten, dem anderen eine schwere Verletzung beizubringen. Der Hund fand als erster ein Ziel. Seine Kiefer schlossen sich um Jacks Arm und ließen nicht mehr los. Jack sprang auf und schüttelte den Arm, bis der Hund sich nicht mehr halten konnte. Aber er riß ein Stück Fleisch mit, als er sich auf dem Boden überschlug. Er setzte sofort zum nächsten Sprung an.
Jack hielt das Stemmeisen in der anderen Hand und war nicht mehr davon überzeugt, sich für die richtige Waffe entschieden zu haben. Der Dobermann kam auf ihn zu. »Louise«, sagte Jack. »Bitte, um Gottes willen, ruf ihn zurück! Er soll aufhören!« Sie hielt die Figurine in den zitternden Händen. »Das kann ich nicht, Jack! Verstehst du denn nicht? Vielleicht konnte ich es früher einmal. Früher, als ich dich noch geliebt habe. Aber, Jack, Gott steh mir bei, ich Hebe dich nicht mehr. Und deshalb kann ich jetzt nichts mehr für dich tun. Vor allem kann ich nicht den Hund aufhalten!« Jack leckte sich über die Lippen und schlich sich an der Werkbank entlang, während der Dobermann immer näher kam. »Paß auf«, begann er, und sie erkannte seinen Tonfall des Verhandelns. Auf seinem Gesicht zeigte sich die plötzlich gewonnene Erkenntnis. »Ruf ihn zurück, und… und ich verspreche dir, mich zu ändern! Gib mir nur eine Chance, okay? Nur eine Chance!« Dann sprang er vor. Aber nicht auf den Hund. Sondern auf Louise. Auf die Figurine in ihrer Hand. Er traf den Porzellanhund mit dem Stemmeisen und schleuderte das Stück quer durch die Garage, Es schlug gegen eine Wand und zerbrach. Aber der lebende Dobermann verschwand nicht. Er befand sich nun zwischen Jack und Louise. Louise bekam von allem nichts mehr mit. Sie lief wie in Trance an ihrem Mann vorbei auf die glänzenden Scherben am hinteren Garagenende zu. Der Dobermann griff an. Jack wollte sich in Sicherheit bringen und prallte gegen die Wand. »Es hat nicht funktioniert«, entfuhr es ihm in einer Mischung aus Panik und Verblüffung. »Es hat nicht… Louise? Louise, schaff ihn fort! Schaff ihn mir vom Hals!«
Sie bückte sich über die Porzellanscherben, und in diesem Moment war der Mann hinten an der Wand für sie ein Fremder. Der Dobermann blieb stehen und wartete. »Du hast es zerbrochen«, sagte sie und fing an zu weinen. »Du hast es kaputtgemacht. Es war das einzige, was mir allein gehört hat, und du hast es zerbrochen, und dafür hasse ich dich! ICH HASSE DICH! Ich wünschte, du wärst tot!« Als wenn er nur auf ein solches Signal gewartet hätte, setzte der Dobermann jetzt zum tödlichen Sprung auf Jacks Kehle an. Sein Knurren klang wie aus einem Alptraum, und die Kiefer schnappten unentwegt nach dem Menschenhals. Der Wahnsinn, die blanke Mordgier, die Angriffswut des Tieres ließen sich nicht mehr steigern. Louise wollte Jack weh tun, wollte ihn leiden sehen, wollte… Sie preßte die Hände an die Ohren, um seine Schreie nicht mehr hören zu müssen. Knurren. Beißen. Reißen. In wenigen Sekunden würde alles vorüber sein. Louise schloß die Augen. »Nein«, sagte sie plötzlich, und es klang kaum lauter als ein Flüstern. »Aufhören. Hör auf! HÖR AUF!« Ihr Schrei ließ die Garage vibrieren. Der Dobermann hielt inne, drehte sich zu ihr um und sah sie an. Jack wimmerte, aber leise, um die Aufmerksamkeit des Hundes nicht wieder auf sich zu lenken. Er kroch über den Boden, so weit wie möglich fort von der Bestie. Louise schüttelte den Kopf und schluchzte. »Ich kann es nicht. Ich kann es einfach nicht.« Sie starrte auf die Porzellanscherben und dann auf den Killerhund. »Ich kann es nicht… aber die Figur ist zerbrochen. Ich weiß nicht, wohin ich dich schicken
soll, woher du…« Sie beendete den Satz nicht. Denn plötzlich wußte sie es. Obwohl sie es sich nie eingestehen wollte, hatte sie es die ganze Zeit über gewußt. Sie kniete sich hin und breitete die Arme aus. »Komm her«, forderte sie den Dobermann auf. »Komm zu mir. Komm… heim!« Der große Hund trottete zu ihr, und je näher er kam, desto stärker schimmerte er, so als verlöre er seine Substanz. Als er nur noch einen halben Meter von ihr entfernt war, konnte sie durch ihn hindurch auf die gegenüberliegende Wand sehen. Sie streckte die Hände weiter aus. Wollte den Hund berühren. Nur einmal, bevor er endgültig verschwunden war. Ihn nur einmal berühren. Aber er war nicht mehr da.
Als sie am nächsten Morgen zurückkehrte, um ihre restlichen Sachen zu holen, hoffte sie, er wäre nicht da, würde sich mit seiner Diane oder Debbie, oder wie immer das Luder hieß, vergnügen. Als sie ankam, war er tatsächlich nicht da. Aber gerade, als sie den letzten Koffer packte, hörte sie seinen Kleintransporter. Als sie zu dem Wagen ging, den sie heute morgen gemietet hatte, stieg er gerade aus. Sein Gesicht war voller Schrammen, und er trug einen Arm in einer Schlinge. Offenbar hatte ihn ein Arzt bandagiert. Jack schien viel nachgedacht zu haben, denn als sie ihn sah, erkannte sie den besonderen Ausdruck in seinem Gesicht wieder. Sie hatte ihren »Spaß« gehabt. Nun war er an der Reihe. Er stellte sich an den Mietwagen, als sie den letzten Koffer auf den Rücksitz warf. »Was glaubst du denn, wo du hinfährst?« Sie warf die Wagentür zu. »Fort, Jack. Fort von dir.«
»Aha, einfach so? Du glaubst doch wohl nicht etwa, daß ich dich einfach so ziehen lasse, nach all dem, was du mir angetan hast, was? Du hast deinen Freund und Beschützer fortgeschickt, oder hast du das schon vergessen? Und nun möchte ich gern die Rechnung mit dir begleichen, kleine Lady!« Sie gab ihm keine Antwort, sondern ging zur Fahrertür. Er legte eine Hand auf den Griff und blockierte ihren Weg. »Wenn du fortwillst, muß ich dir wohl hinterherkommen.« Sie sah ihm ins Gesicht und hatte zum ersten Mal keine Angst. »Nein. Das wirst du nicht.« Und aus dem Wageninnern ertönte ein tiefes Knurren. Der Dobermann hockte auf dem Beifahrersitz und folgte jeder Bewegung Jacks mit seinen pechschwarzen, glühenden Augen. Jack zog hastig die Hand vom Türgriff und trat einige Schritte zurück. Louise stieg in das Auto, ließ den Motor an, setzte zurück, bis sie die Straße erreicht hatte, und fuhr los an einen Ort, der nicht Jacks Ort war. Sie drehte sich nicht ein einziges Mal um.
LOUISE SIMONTON WURDE VOM SCHMERZ IN DIE REGIONEN DES VERZWEIFELTEN MENSCHLICHEN HERZENS GETRIEBEN – UND ENTDECKTE ERST DORT DIE KRAFT, DIE IN IHR STECKTE. EINE ERKENNTNIS, DIE IN DER TWILIGHT ZONE WIDERHALLT UND AUS IHR HERAUSSTRÖMT.
Spezialservice
In den letzten zwei Jahrzehnten ist in der amerikanischen Öffentlichkeit eine eigenartige Veränderung zu beobachten. Wenn man sich Nachrichtensendungen aus den Sechzigern oder Anfang der Siebziger ansieht, fällt einem auf, daß der durchschnittliche Mann auf der Straße etwas nervös wird, sobald man ihm ein Mikrofon vors Gesicht hält. Er versteift und verkrampft sich, ein merkwürdiges Flackern tritt in seine Augen. Er beugt sich über das Mikrofon und errötet im Licht der Scheinwerfer und fühlt sich unbehaglich. Wenn man heute eine Nachrichtensendung einschaltet und dabei ein auf der Straße geführtes Interview sieht, bemerkt man, daß der durchschnittliche Mann auf der Straße viel lockerer und selbstbewußter agiert. Er sieht direkt in die Kamera, lächelt gelassen, steht gerade da… man kann das Gefühl bekommen, er fühle sich vor der Kamera wie zu Hause. Umschalten auf eine andere Sendung. Ein Reporter berichtet live vom Tatort eines Verbrechens. Im Hintergrund drängen sich Kinder und Erwachsene gleichermaßen, wollen unbedingt in den Aufnahmewinkel der Kamera kommen. Sie winken und schreien und gestikulieren, als wenn es etwas zu gewinnen gäbe. Und sie scheren sich nicht im mindesten um die fünf ineinander verkeilten Fahrzeuge auf der anderen Straßenseite. Man betrete einen Supermarkt, in dem ein ganzes Netz von Überwachungskameras installiert ist. Jeder, der an so einer Videokamera vorbeikommt, posiert vor ihr, lächelt kurz in sie hinein. Oder man betrete eines dieser neuen Studios, wie es zum Beispiel in New Orleans in einer Seitenstraße der Bourbon Street aufgemacht hat, und wo man für zwanzig
Dollar der Star in seinem eigenen Musik-Video sein kann und seinen Lieblingshit lippensynchronisiert bekommt. Kameras finden sich auf Dächern, in Flughäfen, Banken, Supermärkten, Kaufhäusern, bei Hochzeiten, Picknicks und Schulabschlußfeiern… Stoßfeste und wasserdichte Minikameras kann man überall als Geschenk für Kinder erwerben… Videokameraanlagen werden in Privathäusern als wesentlicher Bestandteil der Sicherheit eingesetzt… Wohin man sich auch wendet, überall trifft man auf das Auge. Wir sind nicht länger die Mediengeneration. Wir selbst sind zu Medien geworden. Wenn man noch in Betracht zieht, zu was für einer Popularität es die sogenannten »Realitätsprogramme« gebracht haben, taucht die Frage auf, ob wir nicht für irgend etwas oder irgend jemanden posieren, nicht wahr? Daher jetzt eine Geschichte um einen ganz speziellen Spezialservice, den Sie sicher bald auch in Ihrem Kabelprogramm genießen können.
SPEZIALSERVICE, Produktions-Nr. 87042, zeigt die Darsteller David Naughton (John Selig), Keith Knight (Archie), Susan Roman (Leslie), Elias Zarou (Spence), Maron McGann (Empfangsdame), Tedd Dillon (großer Mann) und Barbara von Radicki (hübsche Frau). Die Dreharbeiten begannen am 5. Dezember 1988, und die Regie führte Randy Bradshaw. Die Erstausstrahlung der Episode erfolgte am 9. April 1989.
Der Radiowecker schrillte um 8.30 Uhr und schaltete dann auf den eingestellten Radiosender um. Der wie gewöhnlich gut gelaunte Diskjockey spielte das übliche Vivaldi-Stück ab. John
Selig streckte sich und setzte sich dann auf. Leslie war bereits aufgestanden und bereitete unten in der Küche das Frühstück zu. Der Duft von gebratenem Speck und frisch aufgebrühtem Kaffee drang die Treppe hinauf ins Schlafzimmer. Ein neuer Tag und neue hundertfünfundzwanzig Dollar und fünfzig Cents, dachte John und begab sich leicht schwankend ins Badezimmer. »Ein Ei oder zwei?« rief Leslie von unten. »Zwei.« Er würde es eben darauf ankommen lassen, etwas mehr Cholesterin zu essen. Denn heute morgen fühlte er sich ganz besonders gut. Er hatte die Präsentation fertiggestellt, die Farbkopien waren ausgezeichnet geworden, und die ganze Werbekampagne stand jetzt wie aus einem Guß da… Alles in ihm sagte, daß dies ein großartiger Tag werden würde.
MR. JOHN SELIG IST EIN DURCHSCHNITTLICHER, VERNÜNFTIGER MANN, DER MIT OFFENEN AUGEN DURCHS LEBEN GEHT UND MIT BEIDEN BEINEN FEST AUF DEM BODEN DER TATSACHEN STEHT. JOHN SELIG, DER GEFESTIGTE UND NORMALE – DEM IN DER TWILIGHT ZONE HÖREN UND SEHEN VERGEHEN SOLLEN.
Als er mit dem Rasieren begann, fiel ihm auf, daß der Spiegel etwas schief hing. John runzelte die Stirn. Er hatte ihn doch selbst dort angebracht, weil der Spiegel am Medizinschrank etwas zu niedrig war. John mochte es nicht, wenn Dinge, die er selbst erledigt hatte, aus den Fugen gerieten. Irgendwie war es ihm lieber, wenn er einem anderen die Schuld dafür geben konnte.
Er schob den Spiegel wieder gerade, so daß er parallel zu Decke und Fußboden verlief. Einen kurzen Moment blieb der Spiegel in dieser Stellung, dann rutschte er wieder in die alte Schieflage zurück. John schob ihn wieder gerade, suchte nach dem Nagel, von dem er wußte, daß er sich irgendwo befinden mußte. Schließlich hatte er ihn selbst in die Wand geschlagen, Aufhängung und Nagel wollten nicht ineinandergreifen. John versuchte es mit Gewalt, und der Spiegel löste sich endgültig aus der Aufhängung, entglitt seinen Händen und fiel auf den Boden. John sprang zurück, um nicht von dem Scherbenregen getroffen zu werden. Seine Sorge, in keine Scherbe zu treten, war, wie ihm später klar wurde, der Hauptgrund für ihn, daß sein Verstand erst etwas später das große Loch in der Wand registrierte, das hinter dem Spiegel gähnte. Und ein weiterer Moment verging, bis er das Objekt erkannte, das in dem Loch hinter dem Spiegel installiert war: eine Fernsehkamera. In diesem Moment begann an der Kamera ein kleines rotes Licht zu blinken, und John glaubte auch, ein eigenartiges Summen aus dem Loch zu vernehmen, das vorher noch nicht zu hören gewesen war. »Was zum Teufel…«, entfuhr es ihm. Er trat näher heran, um die Kamera zu inspizieren. Ja, einmütig eine Fernsehkamera, und das Blinken des roten Lichts war beunruhigend, und das Summen klang wirklich eigenartig. John bückte sich und hob vorsichtig eine größere Spiegelscherbe auf. Auf der einen Seite sah er immer noch sein Gesicht. Doch die andere Seite war durchsichtiges Glas. Er konnte einwandfrei hindurchsehen… genauso unbeschwert, wie das der Kamera möglich gewesen war. »Was zum Teufel…«, entfuhr es ihm wieder, und er beschloß, eine wichtige und gute Frage so lange nicht zu
vergessen, bis er eine ebenso wichtige und gute Antwort darauf erhalten hatte. Unten ging die Haustür auf und wieder zu. »Leslie?« rief John, »Leslie, komm herauf!« Er hörte Schritte, die die Treppe heraufstampften und sich dem Badezimmer näherten. Er ging zur Tür, aber da kam nicht Leslie. Dort stand ein schwer atmender Mechaniker in einem Arbeitsoverall Er hielt eine Werkzeugkiste in der Hand, trug eine Kappe und machte eine sehr geschäftsmäßige Miene. »Das geht schon in Ordnung, Sir«, erklärte er, drängte sich an John vorbei und stellte sich vor das Loch in der Wand. »Sie brauchen sich um nichts Sorgen zu machen. In Nullkommanichts ist alles wieder so wie früher.« Er sprach mit einem angenehmen britischen Akzent. Routiniert und mit sicherem Griff tauschte er den Spiegel aus. »Ein wirklicher Skandal, eine saumäßige Arbeit. Der betreffende ›Handwerker‹ scheint keine Ahnung gehabt zu haben. Tut mir wirklich sehr leid, Sir, aber so weit ist es mittlerweile mit uns gekommen, nicht wahr? Alles muß nur noch schnellschnell gehen, und niemand kümmert sich mehr um saubere Qualitätsarbeit. Tja, früher, in den alten Tagen, war das noch ganz anders…« Der Mechaniker befestigte den neuen Spiegel. Die ganze Arbeit hatte tatsächlich nur ein paar Sekunden in Anspruch genommen. Anscheinend verstand der Mann etwas von seinem Fach. Doch dann kamen John ganz langsam Bedenken. Erstens, er hatte keinen Handwerker oder Mechaniker bestellt. Und zweitens, kein Handwerker oder Mechaniker hätte so schnell hier sein können, auch wenn John einen bestellt hätte. »Einen Moment mal«, sagte John. »Was machen Sie hier eigentlich?«
»Ich ersetze einen zerbrochenen Spiegel, oder wofür halten Sie das?« »Aber hinter dem Spiegel ist eine Kamera installiert!« Der Mechaniker sah sich um und wirkte ehrlich verblüfft. »Wo denn? Ich sehe hier keine Kamera.« »Natürlich nicht! Sie haben sie ja gerade mit dem neuen Spiegel verdeckt!« »Tatsächlich? Tja, zumindest habe ich diese Arbeit erledigt. Einen schönen Tag noch.« Er tippte mit zwei Fingern an seine Kappe, packte die Werkzeugkiste und eilte aus dem Badezimmer. John starrte ihm nach, starrte dann auf den neuen Spiegel und wieder zu dem Mechaniker. »He!« rief er. »He, Sie! Kommen Sie zurück!« John spurtete die Treppe hinunter, überholte den Mechaniker und versperrte ihm die Haustür. »Was glauben Sie denn, wohin Sie abhauen können?« »Ich habe noch mehr Aufträge zu erledigen«, antwortete der Mann, »und ich würde Ihnen raten, sich an Ihre Arbeit zu begeben. Wir haben jetzt kurz vor neun Uhr, und Sie wissen selbst, wie Mr. Fetheringall reagiert, wenn…« Er verschluckte rasch den restlichen Satz und schüttelte den Kopf. »Ist schon in Ordnung. Vergessen Sie meine letzte Bemerkung. Ich habe nichts gesagt. Einen schönen Tag noch.« Er streckte die Hand nach dem Türknauf aus. John trat ihm in den Weg. »O nein, nicht bis ich… Moment mal! Woher kennen Sie den Namen von meinem Boß?« »Kenne ich doch überhaupt nicht.« »O doch! Sie haben ihn gerade gesagt!« »Nein, habe ich nicht. Da müssen Sie etwas mißverstanden haben. Schönen Tag noch.« Er streckte wieder die Hand aus und bewegte sich auf die Tür zu. John wich nicht zur Seite.
»Hören Sie, Sie wollen doch wohl nicht den ganzen Tag hier stehenbleiben, oder?« »Doch. Ich will von Ihnen erfahren, was Sie dort oben gemacht haben.« »Wo oben?« »IM ERSTEN STOCK! DER SPIEGEL! DIE FERNSEHKAMERA! SCHON VERGESSEN?« Der Mechaniker sah John verständnislos an. Dann nickte er. Nickte wie jemand, dem gerade einfällt, wo er seine Schlüssel liegengelassen hat. »Ach so. Das. War nichts Besonderes. Reine Routineangelegenheit.« »Das ist eine FERNSEHKAMERA! Sie oder sonst jemand observieren mich!« Der Mechaniker – John kam erst jetzt dazu, das Namensschild auf der Brust des Mannes zu lesen: Archie, unter dem unverständlichen Kürzel JSTV – wirkte beleidigt. »Ich observiere Sie nicht, Sir! Spiegelaustausch gehört zu meinem Job, nicht mehr und nicht weniger. Sie tun Ihre Arbeit, ich die meine. Warum kommen Sie jetzt nicht wieder zur Vernunft und lassen mich hinaus?« »Nein. Ich werde die Polizei rufen.« »Oh, ich glaube, das werden Sie nicht tun. Nein, ganz bestimmt nicht.« »Und was sollte mich daran hindern?« »Falsche Anschuldigung. Fehlalarm. Kennen Sie einen Paragraphen, der das Anbringen einer Kamera verbietet?« John öffnete den Mund, aber kein Wort kam ihm über die Lippen. Archie hatte recht. Es war tatsächlich nicht illegal, eine Kamera anzubringen. Auf was läßt du dich hier ein? schrie ihn eine innere Stimme an. Er erwachte gerade noch rechtzeitig aus seinen Gedanken, um Archies Hand daran zu hindern, an den Türknauf zu fassen.
»Darum geht es hier nicht! Ich habe die Kamera dort nicht angebracht! Das ist schon einmal der erste Punkt! Und es ist nicht meine Kamera! Und ich habe keine Ahnung, wie sie dorthin gekommen ist!« Der Mechaniker sah ihn gelassen und mit plötzlichem Verstehen an. »Ach so, Sie möchten eine Kamera installiert haben. Tut mir leid, aber dafür bin ich nicht zuständig. Einen schönen Tag noch.« Seine Hand umschloß den Knauf, und er bekam die Tür einen Spalt weit auf, bevor John sich dagegen stemmte und sie wieder zudrückte. »Wissen Sie, in Wirklichkeit sind Sie lange nicht so nett wie auf dem Bildschirm«, beschwerte sich Archie. »Das reicht jetzt. Ich rufe die Polizei!« Er packte den Mechaniker am Arm und zerrte ihn zum Telefon. Archie wehrte sich und wand sich, aber Johns Griff war fest wie ein Schraubstock. »Hören Sie«, begann der Mann, »es besteht wirklich kein Anlaß, hier einen solchen…« Er sah sich nervös um und sagte dann ganz leise: »John, ich darf Sie doch John nennen, oder? Ich würde Ihnen raten, kein so großes Aufhebens darum zu machen, denn damit würden die Dinge sich, äh, komplizieren. Ich würde Ihnen ja alles erklären, ehrlich, nur…« Er sah sich noch einmal nervös um. John begann sich zu fragen, ob das vielleicht eine Marotte des Mechanikers war. »Also gut, einverstanden, ich werde Ihnen alles sagen, aber dazu müßten wir uns dort hinein begeben.« John drehte sich um und blickte in die Richtung, in die Archies Finger wies. Der Mann zeigte auf den begehbaren Kleiderschrank in der Diele. »Sie müssen den Verstand verloren haben«, erklärte John, »Das ist leider der einzige Ort.« »Im Wandschrank? Warum gerade dort?«
»Weil das der einzige Ort ist, der nicht von den Kameras erfaßt wird«, flüsterte Archie und zog ihn zum Schrank. »Aber die Kamera befindet sich doch im Badezimmer.« »Nein, nein, hier gibt es noch viel mehr.« John dachte noch darüber nach, als der Mechaniker mit einem raschen Schritt in dem kleinen Raum verschwand. »Was für weitere Kameras?« Keine Antwort. »Kommen Sie sofort aus meinem Kleiderschrank heraus!« »Nein!« ertönte es aus dem Schrank. »Ich werde nicht zu Ihnen hineinkommen.« »Dann werden Sie nie erfahren, was hier eigentlich gespielt wird.« John seufzte. Er wartete einen Moment und seufzte dann noch einmal. Unter diesen Umständen schien ihm Seufzen das Vernünftigste zu sein. Ich muß mich in einer Art Delirium befinden, dachte er. Dann trat er in den Kleiderschrank und schloß die Tür hinter sich. In der kleinen Kammer war es finster. Er fand die Schnur, mit der sich die Lampe an der Decke einschalten ließ, und zog daran. Nichts. Er hatte ganz vergessen, daß die Birne in der letzten Woche durchgebrannt war. Er suchte in der dunklen Enge nach seiner Taschenlampe. Er bekam etwas zu fassen. »Das ist nicht die Taschenlampe«, erklärte der andere. »Halten Sie die Klappe«, entgegnete John. Endlich fand er sie und schaltete sie ein. Als er den Lichtkegel zwischen sich und den Mechaniker hielt, kam ihm Archies Gesicht besonders bedrohlich und unheimlich vor. Er hoffte, sein Gesicht erschiene dem Handwerker ebenso. »Wissen Sie, Sie hätten längst die Birne auswechseln sollen«, erklärte Archie. »Vergessen Sie die Birne. Reden Sie!« Der Mechaniker zögerte. »Ich möchte Sie wissen lassen, daß ich meinen Job riskiere, wenn ich Sie aufkläre. Verstehen Sie, bitte, Sie dürfen
offiziell nichts davon wissen. Ich meine, damit wäre der ganze Spaß vorbei, nicht wahr?« »Der ganze Spaß woran?« Jetzt seufzte Archie. »Sehen Sie auf meine Brust.« »Wie bitte?« Der Mechaniker zeigte auf sein Namensschild. »Hier. Sehen Sie die Buchstaben? JSTV, in großen, hübschen Lettern?« »Ja und? Wofür stehen sie?« »Für JOHN SELIG TELEVISION. Sie sind… nun, Sie sind im Fernsehen.« John legte den Kopf schief. »Ehrlich?« »Jawohl. Vierundzwanzig Stunden am Tag. Man könnte Sie als Knüller bezeichnen. Haben Sie eine Vorstellung, wie viele Menschen Sie mitten in der Nacht einschalten, nur um zuzusehen, wie Sie schlafen? Eine unfaßbar große Zuschauerzahl. Jawohl, unfaßbar.« John nickte und fühlte sich plötzlich so, als habe man ihm den Kopf vom Rumpf getrennt. »Wer… wer sieht mir zu?« »Och, eigentlich alle. Naja, zumindest jeder, der diesen Kanal bestellt. Ein spezieller Kabelkanal, den es erst seit fünf Jahren oder so gibt. Wie ich höre, sind die Einschaltquoten phantastisch, ganz besonders hier in der Gegend. Aber das ist ja verständlich, nicht wahr, wenn man bedenkt, daß man Sie hier in der Nachbarschaft gut kennt und so.« »Alle?« fragte John. »Sie meinen… die Nachbarn… alle die ich kenne… sehen…« »Die Leute waren recht hilfreich, doch, doch. Haben uns dabei geholfen, überall Kameras zu installieren, damit wir Sie immer im Bild haben. An Ihrem Arbeitsplatz, in Ihrem Wagen, in Ihrem Wohnzimmer, Arbeitszimmer, Badezimmer – na ja, da hatten wir eine kleine Panne, was? – Schlafzimmer…« »In meinem Schlafzimmer?«
Archie sah ihn mit großen Augen an. »Nun, es ist ein Kabelprogramm und nur für Erwachsene, wenn Sie verstehen. Aber jetzt wissen Sie Bescheid und könnten mich doch wohl gehen lassen…« Der Mechaniker tippte sich noch einmal an die Kappe, sprang aus dem Schrank und rannte durch die Diele. »Ich glaube Ihnen nicht«, sagte John und folgte ihm aus dem Kleiderschrank. »Wie konnte das alles eingerichtet werden, ohne daß man mir auch nur die geringste Mitteilung davon machte?« »Pst!« machte der Mann und sah sich wieder einmal nervös um. »Das ist doch der Trick dabei! Wenn Sie wüßten, daß Sie im Fernsehen sind, würden Sie sich ganz anders verhalten. Und damit wäre der ganze Spaß vorbei, wie ich eben schon erklärt habe. Deshalb muß jeder Sendermitarbeiter eine Erklärung unterschreiben, daß er Ihnen kein Sterbenswörtchen erzählt. Davon abgesehen bekommen so alle Ihre Freunde und Bekannten die Chance, auch einmal im Fernsehen zu sein. Glauben Sie mir, in meinem Job habe ich die Erfahrung gemacht, daß die meisten Menschen alles tun würden, um ins Fernsehen zu kommen, Sie…« Er unterbrach sich, als das Funkgerät an seinem Gürtel ertönte. Er schaltete es ab und öffnete die Haustür. »Tut mir leid, ich muß gehen. Seien Sie brav und erzählen Sie niemandem, was ich Ihnen erklärt habe, einverstanden?« Damit hatte er das Haus verlassen und befand sich auf dem Weg zu seinem Lieferwagen. John brauchte eine Weile, um wieder klar denken zu können. Als er vor die Tür getreten war, steuerte der Lieferwagen bereits auf die Straße zu. Archie saß in ihm und winkte ihm noch einmal zu, bevor er davonbrauste. Bevor der Wagen außer Sicht war, bemerkte John, daß auf seiner Heckklappe in großen roten Buchstaben JSTV zu lesen war.
Er kehrte ins Haus zurück und schloß die Tür hinter sich. Ich bin auf dem besten Weg, den Verstand zu verlieren, sagte er sich und begab sich in die Küche. Leslie eilte an ihm vorbei, sie war bereits für die Arbeit angezogen. »Das Frühstück steht auf dem Tisch. Du ißt es besser gleich, bevor es ganz kalt geworden ist.« Sie gab ihm einen Kuß auf die Wange und lächelte dann. »Du solltest dich besser fertig rasieren, bevor du ins Büro fährst.« »Wo bist du die ganze Zeit gewesen?« wollte er wissen. »Ich habe das Frühstück zubereitet«, antwortete sie, scheinbar ehrlich, wie er zugeben mußte. »Aber… aber hast du denn nicht den Mann gesehen?« »Was für einen Mann?« »Den Mann, der auf direktem Weg ins Badezimmer marschiert ist. Ich habe gerade zehn Minuten mit ihm im Wandschrank verbracht.« Sie verzog das Gesicht und betrachtete ihn sehr kritisch. »Hast du vielleicht schlecht geschlafen?« »Ich habe ausgezeichnet geschlafen. Nur heute morgen hatte ich ein kleines Problem.« Sie schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber ich habe keine Ahnung, wovon du eigentlich redest. Aber das ist nicht das erste Mal, daß es mir so geht.« Sie warf einen Blick auf ihre Uhr und ihre Lippen bildeten ein O. »Himmel, es ist später, als ich dachte. Ich muß jetzt wirklich los.« Sie umarmte ihn. »Ich wünsche dir einen schönen Tag, Schatz.« Dann flüsterte sie in sein Ohr: »Mach nicht alles kaputt. Tu es uns zuliebe. Die Einschaltquoten sind der blanke Wahnsinn!« Sie gab ihm noch einen flüchtigen Kuß auf die Wange und eilte hinaus. Volle dreißig Sekunden lang rührte John Selig sich nicht vom Fleck, weil er fürchtete, jeden Moment würde sich der Boden
unter seinen Füßen auftun und ihn in einen irrsinnigen, kreischenden Abgrund reißen. Aber der Boden unter seinen Füßen blieb fest. Und er verlor nicht den Verstand. Wie betäubt wankte er in die Diele und sah sich mit großen Augen um, so als erblicke er alles zum ersten Mal. Es gibt noch mehr Kameras, hatte Archie gesagt. Er schlich sich zur Wand und hob vorsichtig das Bild an. Nein, dahinter war nichts. Er bemühte sich, so lässig wie möglich zu wirken. Er spazierte zum Sofa und hob eines der Kissen hoch. Nichts. Natürlich nicht, dachte er. Da brauchte doch bloß ein Dicker zu Besuch zu kommen, und schon wäre das Aus für die Kamera unter dem Kissen gekommen. »Wohlan«, sagte er laut und wurde sich seiner Stimme bewußt. Er hoffte, er klang jetzt nicht zu gekünstelt. »Wollen wir doch mal gründlich nachsehen. Irgendwo hier muß ich meine Autoschlüssel verlegt haben, ich Dummer. Ich glaube, ich werde nach ihnen suchen.« Und genau das tat er dann. In jedem einzelnen Raum im Haus. So um die Mittagszeit kam John zu dem Schluß, im Büro anzurufen und dort mitzuteilen, daß er heute nicht mehr kommen könnte. Er fühle sich einfach zu schlecht, sagte er. Und das war, streng genommen, zwar nicht die reine Wahrheit, aber direkt gelogen war es auch nicht. Er legte den Hörer wieder auf und betrachtete den Berg von Kameras, die er überall im Haus abmontiert hatte. Große Kameras, kleine Kameras. Kameras mit eingebautem Mikrofon und Kameras ohne Mikrofon (die wahrscheinlich als Ersatz für die anderen dienten). Kameras im Schlafzimmer hinter dem großen Spiegel. Kameras im Wohnzimmer hinter dem Bücherregal. Kameras in der Garage, im Werkraum, im Gästezimmer, im Badezimmer, im zweiten Badezimmer… Minikameras im Handschuhfach des Wagens und im Kofferraum. Sogar fest installiert auf dem
Bürgersteig vor dem Haus. Er nahm einen von den kleinen Apparaten in die Hand. Er war schwarz und ohne irgendwelche Firmennamen oder Registriernummern. Er fand eine Klappe und fing gerade an, auf der Suche nach einer Seriennummer das Gehäuse aufzuschrauben, als das Telefon läutete. »Ja?« Eine Frauenstimme am anderen Ende. »Ich rufe an, um Sie darüber zu informieren, daß die Beschädigung oder Vernichtung von Firmeneigentum unter allen Umständen vermieden werden muß. Bitte rufen Sie den Instandsetzungsdienst und fassen Sie keines der Geräte mehr an. Vielen Dank.« Klicken und Ende der Verbindung. John sah sich um. Offenbar hatte er eine Kamera übersehen. Oder auch zwei. »Versucht doch, mich aufzuhalten!« rief er und warf den Hörer auf die Gabel. Er nahm die Minikamera wieder in die Hand und schleuderte sie voller Wucht gegen die Wand. Sie wurde zufriedenstellend zerschmettert. Das Gehäuse und alle Transistoren schienen zerstört. Wieder läutete das Telefon. »Hallo?« meldete er sich. Dieselbe Frauenstimme: »Sie wurden gewarnt.« Klicken und aus. John hatte kaum eingehängt, als es an der Haustür klingelte. Und jetzt? fragte er sich, als er die Tür öffnete. Draußen standen zwei sehr große Männer. John fiel auf, daß sie nicht gerade glücklich wirkten. »Mr. Selig?« fragte der eine. »Ja?« »Sie möchten uns begleiten, Sir.« Die beiden nahmen ihn am Arm und führten ihn nach draußen. Der zweite große Mann schloß die Haustür und sperrte sie ab. »He, Moment mal! Lassen Sie mich los!« John wehrte sich gegen die Griffe, aber ein Blick in die Gesichter der Riesen
belehrte ihn, daß das nicht sehr klug von ihm war. »Wo bringen Sie mich hin?« Sie gaben ihm keine Antwort, sondern zogen ihn zu einer Luxuslimousine, die am Straßenrand parkte. An der Tür prangten die Buchstaben JSTV. »Hören Sie«, begann John, »ich weiß nicht, wer Sie sind, aber so können Sie mit mir nicht umspringen!« Die beiden großen Männer blieben an der Wagentür stehen und sahen sich überrascht an. »Sie hätten uns früher informieren sollen«, erklärte der hünenhaftere von beiden und schob John auf den Rücksitz. Archie hockte im Wagen und wirkte überhaupt nicht begeistert darüber, in einem solchen Traumgefährt mitfahren zu dürfen. »Aha, Sie sind also losmarschiert und haben es getan, nicht wahr?« Der Motor erwachte kraftvoll zum Leben, und der Wagen fuhr los. »Getan? Was getan? Wo bringen die mich hin?« »Zu einem Haufen Ärger, würde ich meinen. Ja, zu einem mächtig großen Haufen wirklichen Ärgers.« Er zeigte auf die Rückseite des Fahrersitzes. »Lächeln Sie für das Vögelchen, Mr. Selig.« Natürlich war auch hier eine Kamera installiert.
Der Wagen hielt schließlich an einer Schranke vor einem gewaltigen Gebäude aus Stahl und Glas. Während sie vorfuhren, fielen John zwei Dinge auf. Erstens, eine ungewöhnlich große Schar extrem gutaussehender junger Frauen im besten heiratsfähigen Alter drängte sich um das Tor und machte Miene, die Limousine gewaltsam zu stürmen. Zweitens, über dem Tor mit der Schranke war in schmiedeeisernen Buchstaben das Firmen-Logo angebracht: JSTV. Die Frauen stießen sich gegenseitig weg. Jede wollte so
nah wie möglich an die Rauchglasscheiben kommen, um einen Blick ins Wageninnere zu werfen. Alle schrien und gestikulierten und stellten sich auch sonst etwas hysterisch an. Solche Verhaltensweisen hätte John eher bei Pop- oder Filmstars erwartet. »Was wollen die hier?« fragte er. Archie schien sie kaum wahrzunehmen. Er starrte finster auf das gewaltige Gebäude. Der Anblick des Senders schien bei ihm den gleichen Enthusiasmus wie ein Besuch beim Zahnarzt auszulösen. »Fans«, brummte er. »Das sehe ich auch. Auf wen warten die denn?« »Auf Sie. Nun, da das Geheimnis aufgedeckt ist, dürfen sie sich Ihnen endlich zeigen.« Er blickte kurz auf die Körper, die gegen die Limousine preßten, auf das Gewirr von Haaren, vielfarbigem Lippenstift und buntlackierten Nägeln, und schüttelte den Kopf. »All die Hormone, die fünf Jahre lang unterdrückt werden mußten… abstoßend, nicht wahr? Vermutlich würden sie sich auf einen bloßen Fingerzeig von Ihnen sofort die Kleider vom Leib reißen. Ohne zu zögern.« John ließ den Blick über die Ansammlung weiblicher Fans schweifen. Ein Teil von ihm fand diese Vorstellung nicht unangenehm. »Halten Sie das wirklich für“ wahrscheinlich?« Archie gab keine Antwort. Seine düstere Stimmung verschlechterte sich noch mehr, als sie die Menge hinter sich gelassen hatten und auf den Studioparkplatz gelangten. Wahrscheinlich ist er nur eifersüchtig, dachte John und winkte den Frauen zum Abschied zu. Er hätte schwören können, daß eine von ihnen aufgrund dieser Zuwendung in Ohnmacht fiel.
Ein gewaltiger Raum. Die Wände in weichem Grau gehalten, dazu kastanienbraune Rahmen, ein Schreibtisch mit schwarzer Granitplatte, auf der sich nicht mehr als ein Telefon befand, und eine Empfangsdame, die ihr schönstes Lächeln aufsetzte, als Archie und John den Raum betraten. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, als man John in den Raum stieß und hinter ihm die Tür versperrte. In solchen Fragen war penible Genauigkeit oberstes Gebot. »Mr. Selig? Mr. Spence wird sich sofort mit Ihnen beschäftigen. Machen Sie es sich bitte solange bequem.« Archie ließ sich auf dem erstbesten Sessel nieder, der vor einem laufenden Fernsehgerät stand. John hatte den Eindruck, als sei die Stimmung des Mechanikers nicht mehr weit vom absoluten Tiefpunkt entfernt. »Vielen Dank«, erklärte er der Empfangsdame. »Gibt es hier auch einen Erfrischungsraum?« »Durch die Tür dort rechts.« Sie zeigte auf die Tür. Er lächelte und begab sich dorthin. Er befand sich bereits mitten in der Toilettenhalle, als ihm plötzlich der Gedanke kam. Er blieb unvermittelt stehen, kehrte zu Archie zurück und ließ sich neben ihm nieder. Der Mechaniker drückte Knöpfe auf einer Fernbedienung. »Was ist los?« fragte Archie. »Mir ist der Gedanke gekommen, daß sie auch auf der Toilette Kameras installiert haben könnten.« »So, so.« Erst in diesem Moment entdeckte John, was auf dem Bildschirm gezeigt wurde. Er, John Selig. In dem gewaltig großen Raum. Wie er auf einen Bildschirm starrte. Und sich selbst sah. Archie klapperte die Kanäle ab, und alle hatten dasselbe Programm. »Wieder mal typisch, nicht wahr?« sagte er. »Dutzende von Kanälen,
aber auf keinem gibt es etwas Vernünftiges.« John überlegte noch, ob es mit seiner Würde zu vereinbaren wäre, den Mechaniker für diese Bemerkung zu schlagen, als das Telefon an der Rezeption klingelte. Die Dame hob den Hörer ab, hörte schweigend zu, antwortete etwas in gedämpftem Tonfall und hängte wieder ein. Sie stand auf und lächelte John an. »Wenn Sie bitte hier entlang mitkommen würden, Mr. Selig.« Er folgte ihr durch eine Tür am anderen Ende der Halle und ließ sie sich von der Empfangsdame öffnen. Nachdem er hindurchgetreten war, schloß sie die Tür wieder. John stand in einem Raum von ähnlichen Ausmaßen. Nein, er war noch riesiger, besaß einen noch größeren Schreibtisch und wies statt Fernsehgeräten gefüllte Bücherregale auf. Ein leicht übergewichtiger Mann mit angegrautem Haar saß hinter dem Schreibtisch. Er trug einen konservativen dunkelblauen Anzug und eine Collegekrawatte. Er erinnerte John ein wenig an seinen Großvater. Und wahrscheinlich wollte der Mann auch genau diesen Eindruck erwecken, vermutete John. »Nehmen Sie doch Platz, Mr. Selig«, forderte er ihn auf. »Machen Sie es sich so bequem wie möglich.« »Danke.« John ließ sich in einem der Ledersessel mit den hohen Rückenlehnen nieder und versank einige Zentimeter tief darin. »Darf ich Ihnen eine Zigarre anbieten?« fragte Spence, der Boß des Senders. »Oder etwas zu trinken?« »Nein, vielen Dank.« »Dann haben Sie im Moment keine Wünsche?« »Nein, vielen Dank.« »Fein, ausgezeichnet«, sagte Spence, lehnte sich in seinem Sessel zurück und starrte an die Decke. »Nun, Mr. Selig… Was um alles in der Welt haben Sie sich dabei gedacht?« Dieser unerwartete Ausbruch hätte John fast aus dem Sessel
gehoben. Er kam jedoch rasch wieder zu sich. »Was soll das heißen? Was ich mir dabei gedacht habe? Viel wichtiger dürfte doch wohl die Frage sein, was Sie sich dabei gedacht haben!« »Mein lieber Mr. Selig, sehen Sie sich doch einmal um. Es geht hier um viele Millionen Dollar. Auch wir haben, als Sie vor fünf Jahren zum ersten Mal auf Sendung gingen, nur mit Mühe für einen dreißig Sekunden langen Werbespot hundert Dollar einnehmen können. Heute bekommen wir hunderttausend für dreißig Sekunden. Lange und sorgfältige Arbeit hat uns das ermöglicht. Wir geraten gerade etwas in die schwarzen Zahlen, haben endlich unsere Verluste ausgeglichen, und da kommen Sie und ziehen Ihren Aufstand ab.« »Dann sind Sie also derjenige, der entschieden hat, diese Geschichte ins Leben zu rufen?« erkundigte sich John. »Nein, ich war das nicht.« »Wer dann?« Spence zuckte die Achseln. »Wer hat entschieden, daß Sie Steuern zahlen müssen? Wer hat entschieden, daß Sie schon um acht Uhr zur Arbeit müssen, statt erst um zehn? Wer hat entschieden, welche Geldscheine Sie benutzen, welche Mode Sie tragen?« »Keine Ahnung.« Wieder zuckte Spence mit den Achseln. »Derselbe hat Sie ausgewählt.« »Das können Sie doch wohl kaum miteinander vergleichen«, widersprach John. »Sie können nicht einfach mein Leben zu einem TV-Programm machen. Schließlich habe ich auch Rechte!« »Tatsächlich?« Spence griff in seine Schublade und zog ein voluminöses Werk hervor. »Hier. Die Verfassung und die Deklaration der Menschenrechte. Jetzt zeigen Sie mir bitte die
Stelle, in der es heißt, daß wir Sie nicht im Fernsehen bringen dürfen.« »Das ist mir zu spitzfindig.« »Ganze Imperien sind auf Spitzfindigkeiten aufgebaut worden«, entgegnete der Boß. »Wie zum Beispiel dieses hier.« Er atmete tief ein und ganz langsam wieder aus. »Mr. Selig, ich habe nicht vor, mich mit Ihnen auf ein Streitgespräch einzulassen. Ich möchte jetzt zum Kern des Problems kommen. Im Verlauf der letzten fünf Jahre sind Sie im amerikanischen Fernsehen zu einer wichtigen Institution geworden. Die Menschen lieben Sie. Ich liebe Sie auch. Verdammt, ich sehe Ihnen jeden Freitagabend beim Bridge-Spiel mit den Clearsons zu. Ach, was ich Ihnen noch sagen wollte, Mr. Clearson mogelt. Wir können sein Blatt natürlich besser sehen als Sie.« »So etwas habe ich mir schon gedacht«, erklärte John. »Es ist doch eigenartig, daß er immer…« Was redest du denn da? »Hören Sie, ich begreife es einfach nicht. Warum bringen Sie mich auf den Bildschirm? Was ist an mir denn schon so interessant?« »Sie kennen doch Marilyn Carstairs«, antwortete Spence, »die Frau, die man in jeder Show sieht, die mit dem schwarzen Haar und der unmöglichen Brille? Was hat sie eigentlich so berühmt gemacht?« John setzte zu einer Antwort an, erkannte aber, daß er nicht die geringste Vorstellung hatte, was die Frau berühmt gemacht hatte. Also schloß er den Mund wieder. »Fällt Ihnen nichts dazu ein, was? Nun, daraus kann man Ihnen keinen Vorwurf machen, denn das weiß niemand. Aber sie ist im Fernsehen. Manche Menschen sind berühmt, weil sie berühmt sind. Man zeigt ihre Gesichter lange genug im Fernsehen, und eines Tages sind sie gefeierte Stars. Wir haben das gleiche mit Ihnen gemacht… und hatten Erfolg damit. Anfangs und auch noch
etwas später ließ es sich etwas mühsam an, aber damit muß man immer rechnen. Wie damals, vor zwei Jahren, als Sie Ihren Job verloren haben. Zuerst gingen die Zuschauerzahlen steil nach oben. Jeder wollte wissen, wie es nun weiterginge. Sie sind aber ‘ne ziemliche Weile arbeitslos geblieben, und die Zuschauerzahlen sackten immer mehr ab. Also waren wir gefordert. Wir haben uns eingeschaltet und Ihnen den Job bei Info-Tech besorgt.« »Sie stecken dahinter?« »Aber natürlich, Mr. Selig«, antwortete er mit der Miene unendlicher Geduld. »Glauben Sie etwa, in dieser Welt würde irgend etwas aus purem Zufall geschehen? Ist Ihnen noch nie aufgefallen, daß manchmal alles scheinbar wie von selbst gut für Sie verläuft? Aus heiterem Himmel ergibt sich für Sie irgendeine positive Wendung, und Sie denken: ›Wie eigenartig, ich muß ein echter Glückspilz sein!‹ Mr. Selig, in solchen Fällen waren wir dafür verantwortlich. Wir unterhalten eine ganze Abteilung, die sich um glückliche Zufälle in Ihrem Leben kümmert. Was denken Sie denn, wie Sie an Leslie geraten sind?« »Meine Frau?« »Wir haben sie angestellt. Wir haben über hundert junge Frauen antreten und vorsprechen lassen, bis wir die geeignete Kandidatin gefunden hatten. Allerdings steht nun zu befürchten, daß wir Leslie anderweitig beschäftigen müssen, falls Sie nicht davon absehen, diese Geschichte an die große Glocke zu hängen.« Der Boß erhob sich und trat ans Fenster. Er zeigte auf den Parkplatz und auf die vielen Menschen, die unablässig in das Gebäude des Senders strömten oder es verließen. »Tausende Arbeitsplätze und viele Millionen Dollar hängen von Ihnen ab, Mr. Selig. Ist Ihre sogenannte Privatsphäre mehr wert als das? Könnten Sie nicht einfach… vergessen, was Sie entdeckt
haben? Einfach wieder zurückkehren und Ihr Leben so weiterführen wie bisher?« »Nein«, entgegnete John. Zu seiner Verwunderung war er jetzt weniger resolut als zuvor. Aber er hätte nie gedacht, daß soviel an dieser Geschichte hing, daß so viele Jobs von ihm abhängig waren, daß… Halt! Schluß damit! »Das ist nicht fair«, erklärte John. »Ich habe diese Sache nicht ins Leben gerufen, und Sie haben kein Recht, mir irgendeinen Schuldkomplex einzujagen. Ich will meine Privatsphäre zurückhaben, und damit Schluß der Debatte.« Spence seufzte. »Ganz wie Sie wünschen, Mr. Selig. Ich lasse einen Wagen kommen, der Sie nach Hause bringt.« Er drückte auf einen Knopf an seinem Schreibtisch und marschierte zur Tür. Bevor er hinaustrat, drehte er sich noch einmal um und sah John kopfschüttelnd an. »Sie hätten unser größter Star werden können, Mr. Selig.« Damit ließ er John allein. Das war’s? dachte er. So einfach? So kurz und schmerzlos? Irgendwie fühlte er sich jetzt leer. Er hatte eine heftige Auseinandersetzung erwartet, Klopf, Klopf, einen hitzigen Streit um die Frage, wem sein Leben gehörte, eine… Klopf, Klopf ein Klopfen? Er suchte nach der Ursache des Geräuschs. Eine Frau – eine außerordentlich attraktive Frau, wie der wache Teil seines Bewußtseins registrierte – stand auf dem Fenstersims. Ein Windstoß zerzauste ihr Haar, und es schien ihr wichtig zu sein, schnell ins Zimmer zu gelangen. Vielleicht hatte dieser dringende Wunsch etwas mit dem Umstand zu tun, dachte John, daß man sich hier im fünften Stock befand. Er trat ans Fenster, öffnete es und half der Frau herein. Als sie vor ihm stand, glaubte er, sie draußen vor dem Tor gesehen zu haben, als die Limousine in der Menge eingekeilt gewesen war.
»Sie sind es wirklich, nicht wahr?« fragte sie. »Mr. Selig, ich bin Ihr größter Fan. Ich sehe mir Sie an, wann immer es mir möglich ist. Ich finde Sie einfach wunderbar.« »Äh, vielen Dank, aber ich…« Sie zog einen Block aus ihrer Handtasche. »Dürfte ich Sie wohl um ein Autogramm bitten?« »Nein, ich…« Er unterbrach sich. Warum denn nicht? »Ich schätze, ich tue damit niemandem weh. Die ganze Sache ist ja jetzt sowieso vorbei.« Während er ihr seinen Namen auf den Block schrieb, beugte sie sich zu ihm, »Ich möchte von Ihnen ein Kind haben«, flüsterte sie. »Wie bitte?« »Und eine Haarlocke. Und eines von Ihren Jacketts.« »Kommt ja gar nicht in Frage!« »Irgend etwas von Ihnen!« »NEIN!« »Bitte!« flüsterte sie, hielt sich an seinem Arm fest und zog ihn gleichzeitig zur Tür. »Mr. Selig, ich habe all die Mühe auf mich genommen, um zu Ihnen zu kommen! BITTE!« Er schob sie fort. »Ich habe nein gesagt. Es tut mir sehr leid, aber Sie müssen jetzt gehen.« Er ignorierte ihre Proteste und führte sie am Ellenbogen zu der Tür, durch die eben Spence verschwunden war. Als er sie öffnete, hatten sich davor schon all die anderen Frauen versammelt, die vorhin am Tor gestanden hatten. »Da ist er!« schrie eine von ihnen und rannte los. John warf rasch die Tür ins Schloß und schob von innen die Verriegelung vor. Die Tür bebte und schwankte von dem Massenangriff von draußen. Dann flog die andere Tür auf. John fuhr erschrocken herum und stellte zu seiner Erleichterung fest, daß es nur Archie war. »Ich soll Sie nach Hause fahren«, erklärte der Mechaniker. Die attraktive Frau zog einen Schmollmund und schob John einen bekritzelten Zettel in die Hand. »Rufen Sie mich an«,
zischte sie und eilte zum Fenster. »Ich finde allein den Weg nach draußen.« Bevor sie auf den Sims stieg, warf sie ihm eine Kußhand zu. »Erstaunlich«, bemerkte John, »Einfach erstaunlich.« Archie wirkte nicht im mindesten beeindruckt. »Nun, wir sollten uns jetzt auf den Weg machen. Sie sollen erfahren, daß man mich wegen dieser Geschichte gefeuert hat. Zwei Wochen Abfindung und aus!« »Tut mir leid«, sagte John, und es war ihm ernst damit. Es kam ihm so vor, als hätten Archie und er eine Menge gemeinsam durchgemacht. Und wer wollte dem Mechaniker einen Vorwurf daraus machen, daß er nur seine Arbeit getan hatte. »Ich wollte Sie nicht in Schwierigkeiten bringen. Ich wünschte, ich könnte etwas für Sie tun.« Archie blickte auf den bekritzelten Zettel mit der Telefonnummer in Johns Hand, nahm ihn an sich, steckte ihn in die Brusttasche und klopfte darauf. »Danke, das haben Sie gerade getan.« Die Heimfahrt in Archies Lieferwagen war nicht halb so aufregend wie die Hinfahrt.
Drei Tage später, nachdem der letzte Mechaniker das Haus verlassen hatte, inspizierte John die Zimmer. Alle Schäden waren behoben, alle Kameras endgültig entfernt. Und für alle Kosten war JSTV aufgekommen. Er beendete seinen Rundgang im Wohnzimmer, wo säckeweise Post lag. Er hatte kaum ein Drittel davon bewältigt, und täglich kamen neue Briefe hinzu. Nun, da Leslie gegangen war (sie hatte ihm ein Telegramm geschickt, in dem sie sich für seine Mühe bedankte und ihn einlud, den Sommer bei ihr in San Diego zu verbringen) und Info-Tech ihm eine Woche freigegeben hatte (er fragte sich, wie lange er den Job noch behalten würde, die Firma hatte durch ihn viele Kunden
bekommen, doch damit war es nun wohl vorbei), verfügte er über reichlich freie Zeit. Er zog irgendeinen Brief aus dem Stapel. Lieber John, ich wollte Ihnen nur mitteilen, daß ich einer Ihrer größten Fans bin, und ich halte Sie für einen der nettesten Männer, die es gibt, vor allem im Fernsehen. Es macht mich furchtbar traurig, daß Ihre Show ein Ende finden mußte. Ich schätze, das war für viele von uns ein harter Schlag. John überlegte noch, was er darauf antworten sollte, als es an der Tür klingelte. Er öffnete die Tür und entdeckte Archie auf der Veranda. »Oh, hallo«, grüßte er. »Treten Sie doch ein. Ich gehe gerade die Fanpost durch. Ich hätte nie gedacht, daß soviel zusammenkommen würde. Und die vielen Geschenke, und die Heiratsanträge… einfach erstaunlich!« »Hm«, machte Archie und war wie gewöhnlich nicht beeindruckt. John fragte sich, ob er für dieses Hm Sprachunterricht genommen hatte, bis er damit genau das auszudrücken vermochte, was er gerade sagen wollte. »Ich komme nur vorbei, um Ihnen das hier zu bringen. Damit die Sache nun ein für allemal und endgültig aus der Welt geschaffen ist.« John nahm einen Umschlag entgegen und riß ihn auf. »Ihr Scheck«, erklärte der Mechaniker. »Ihr Honorar für die fünf Jahre. Sie hatten immer vor, Sie dafür zu bezahlen. Sie haben Ihr Honorar in einen Fonds eingezahlt, um es Ihnen zu übergeben, sobald Sie hinter die Sache gekommen wären oder die Show eingestellt würde.« John starrte auf die Zahl vor dem Komma. Er hatte noch nie so viele Nullen auf einmal gesehen. »Das«, begann er und hatte Mühe, seine Stimme unter Kontrolle zu bringen, »ist eine enorme Summe.« »Hm.« Da war es wieder. »Ich schätze, dem ist so.« Dann trat er mitten ins Wohnzimmer, wo all die Kameras für den Abtransport gestapelt waren. Archie sammelte sie ein.
»Äh, was machen Sie denn da?« erkundigte sich John freundlich. »Das gehört alles dem Sender. Und hier wird es ja nicht mehr gebraucht, oder? Ihre Show ist abgesetzt. Jetzt, wo Sie Bescheid wissen, ist der Spaß irgendwie vorüber, nicht wahr?« »Tja, schätze, dem ist so«, sagte John und konnte den Blick einfach nicht von den vielen Nullen wenden. »Aber das viele Geld… die Frauen… und alles!« »Tut mir leid«, entgegnete der Mechaniker, »bin ich nicht für zuständig.« »Dann ist es also endgültig vorbei? Einfach so?« Archie schob sich Kabel und Geräte unter einen Arm und sah John an. »Sie wollten doch Ihr Leben zurückhaben, wollten es allein leben, nicht wahr? Nun, jetzt haben Sie, was Sie wollen. Und ich hoffe, Sie werden glücklich und zufrieden damit.« Er machte sich auf den Weg zur Haustür. »Es tut mir leid, daß Sie Ihren Job verloren haben«, rief John ihm nach. »Ehrlich leid.« »Tja, so ist nun einmal der Lauf der Welt. Vielen Dank für Ihr Mitgefühl. Damit wären wir schon zwei.« »Ja… nur… irgendwie fing ich gerade an, mich daran zu gewöhnen.« Archie nickte und verlagerte seine Last. »Aber da läßt sich jetzt nichts mehr daran ändern, denke ich mir.« »Nein, vermutlich nicht.« Der Mechaniker warf ihm einen verstohlenen Blick zu, las vielleicht seine Gedanken, stellte plötzlich die Sachen ab und marschierte zum Wohnzimmer hinaus. »Kommen Sie mal mit.« »Wohin?« »In den Kleiderschrank.« John folgte dem Mechaniker hinein und schloß die Tür. Er schaltete die Taschenlampe ein.
Archie deutete an die Decke. »Noch immer die Birne nicht ausgewechselt?« »Ich war zu beschäftigt.« Archie nickte und erklärte dann mit gedämpfter Stimme: »Damit es klar ist, von mir haben Sie es nicht, aber ich habe mir so meine Gedanken gemacht. Wenn Sie der Boß des Senders wären, was würden Sie dann tun? Vielleicht würden Sie, wenn Sie ich wären, mich ja wirklich aus dem Programm nehmen, genau so wie der richtige Boß es erklärt hat.« Er kam John noch näher und wirkte jetzt im Schein der Taschenlampe noch gespenstischer. »Auf der anderen Seite könnten Sie als Boß mir einfach nur erzählen, die Show sei abgesetzt, so daß ich glauben würde, mein Leben gehöre wieder mir allein; doch in Wahrheit könnte man mich wieder vierundzwanzig Stunden am Tag auf dem Bildschirm bewundern, ohne daß ich je etwas davon erfahren würde. Auf diese Weise wäre sichergestellt, daß ich vor der Kamera normal und alltäglich agiere, und das ist es doch schließlich, was alle wollen, nicht wahr?« Er klopfte John auf die Schulter und öffnete die Schranktür. »Viel Glück«, wünschte er noch und: »Hals- und Beinbruch.« Damit packte er allen Senderbesitz zusammen und verließ das Haus. John trat sehr vorsichtig aus dem begehbaren Kleiderschrank. Er stand mitten in seinem Wohnzimmer. Er sah sich um. Betrachtete jede Ecke und jeden Winkel. Alles sah genau so aus wie vorher. Alles wirkte ganz normal. So als gäbe es hier nirgendwo Fernsehkameras. Was natürlich nicht bedeuten mußte, daß keine vorhanden waren. Was aber auch nicht bedeuten mußte, daß welche vorhanden waren. Er könnte natürlich gründlich suchen, aber wenn er keine Kameras entdeckte, würde er sich töricht vorkommen. Und wenn er welche entdeckte…
Er blickte auf die Berge an Fanpost, auf Leslies Telegramm und auf den Scheck, Er räusperte sich. »Ist das nicht ein wunderschöner Tag heute?« Seine Stimme klang in dem leeren Raum unnatürlich laut. Schweigen. Was natürlich nicht zwangsläufig bedeutete, daß ihn keine Linse verfolgte. Was allerdings auch nicht zwangsläufig bedeutete, daß ihn eine Linse verfolgte. Die erste Regel im Showbusineß lautet, sagte sich John, du darfst dein Publikum niemals langweilen. Er setzte zu einer recht professionellen, wie er glaubte, Tanzversion von »Me and My Shadow« an. Zwei, drei, vier und Schritt… Und lächeln…
WENN SIE DAS NÄCHSTE MAL DEN EINDRUCK HABEN, LEUTE TUSCHELN HINTER IHREM RÜCKEN ÜBER SIE, ODER WENN ES IN IHREM LEBEN ZU EINER GLÜCKLICHEN FÜGUNG KOMMT, DIE EINFACH ETWAS ZU SCHÖN IST, UM WAHR SEIN ZU KÖNNEN – DANN SEHEN SIE HINTER DEM BADEZIMMERSPIEGEL NACH UND KONTROLLIEREN SIE, OB IHR FERNSEHGERÄT BESTIMMTE KANÄLE NICHT EMPFANGEN KANN. ES KÖNNTE DOCH SEIN, DASS DIE JOHN-SELIG-SHOW IN DER ZUSCHAUERGUNST DEN BACH HINUNTERGEGANGEN IST – UND DASS MAN SIE ZUM NEUEN STAR ERKOREN HAT… IN DER WUNDERBAREN WELT DER TWILIGHT ZONE.
Der Wall
Es geschieht mir recht häufig, wenn ich mitten in den Vorbereitungen zu einem Drehbuch, einer Kurzgeschichte oder einem Roman stecke, daß ich an einem gewissen Punkt feststelle, daß ich nicht die Geschichte schreibe, von der ich geglaubt habe, daß ich sie verfasse. Anscheinend erhebt der Text sein Haupt und erklärt mir, wovon er handelt. DER WALL gehört zu diesen Texten. Die Story entstand aufgrund einer Bitte unseres Produzenten, mehr Episoden als bisher auf einige wenige Drehorte zu begrenzen. Dahinter steckte natürlich das Ziel, die Produktionskosten zu senken, damit wir ausreichend Reserven für etwas aufwendigere Folgen zur Verfügung hätten. Für mich war das kein Problem, denn ich mag Geschichten, die sich an möglichst wenig Orten abspielen. Und in der Regel bin ich es, der den betreffenden Produzenten davon zu überzeugen versucht, sich eher für eine Story mit wenigen Drehorten zu entscheiden, statt eine größere Geschichte in Angriff zu nehmen. Als dann die Aufforderung kam, griff ich sofort zu. Konsequenterweise begann DER WALL dann weniger mit einer bestimmten Figur oder einer besonderen Situation als vielmehr mit einem Ort. Mir war klar, daß ich den gesamten ersten Akt an einem Ort ansiedeln mußte, besser noch in einem Raum. Der Rest der Geschichte durfte dann nur ein oder zwei weitere Drehorte aufweisen und sollte bei passender Gelegenheit zum ersten Ort zurückkehren, damit das Budget nicht an einem einzigen Drehort ausgegeben werden mußte. Es war klar, daß der erste Ort eine besondere Rolle spielen mußte. Dort mußte sich etwas Wichtiges ereignen, etwas so Bedeutsames, daß die Charaktere davon
direkt betroffen wurden. Der zweite Ort mußte, soviel stand fest, auf irgendeine Weise mit dem ersten verbunden sein. Die logische Folge dieser Überlegungen war, daß irgendeine Reise von Ort eins nach Ort zwei stattfinden mußte. Als ich dann die Story zu schreiben begann, wurde mir rasch klar, daß sie nur im Militärmilieu funktionieren konnte. Und das war mir nicht unlieb, denn bislang hatte es in unseren Episoden noch kein Militär gegeben. Nachdem das Grundgerüst der Story stand, begann ich, über eine höchst ungewöhnliche Reise zu schreiben. Und mittendrin kam wieder diese gewisse Stelle, an der der Text mir mitteilte, daß ich in Wahrheit gar nicht über eine Reise schrieb. Ich schrieb über den Mann, der diese Reise unternahm. Die Story drehte sich nicht um den Ort, an den er kam und den ich zum Kernpunkt des Interesses machen wollte. Die Story befaßte sich vielmehr mit dem Mann, wer er war und warum er so handelte, wie er handelte, und was aus ihm werden würde oder könnte. Und ich begriff, daß nicht DER WALL, den er in diesem fremden und einsamen Raum vor sich sah, das Wesentliche in dieser Geschichte war. Der Wall, den er in sich selbst entdeckte, war viel entscheidender. Aus diesen Gründen ist DER WALL für mich eine viel persönlichere Geschichte geworden, als ich das anfangs erwartet hatte. Ich kann nur hoffen, daß ich, sollte ich mich je mit einem solchen Wall konfrontiert sehen, ebenso richtig und ehrenhaft handle wie Major Alexander McKay.
DER WALL, Produktions-Nr. 87037, wurde vom 26. bis 30. September 1988 im Studio gedreht. Die Regie führte Atom Egoyan, und die Darsteller waren: John Beck (Alexander McKay), Patricia Collins (Berenn), George R. Robertson (Gregory Phillips), Steven Atkinson (erster Militärberater),
Sharon Corder (Technikerin), Jack Bloom (zweiter Militärberater), Eugene Clark (Kincaid) und Robert Collins (Perez). Die Erstausstrahlung erfolgte am 2. Februar 19S9.
Der Korridor roch streng nach frischer Farbe, Motoröl, verbranntem Gummi und frisch gegossenem Beton. Der Korridor enthielt keine Fenster. Sechzig Meter unter der Erde gab es hier weder Tag noch Nacht, keine Jahreszeiten, keine Sonne und keine Sterne. Er hörte nichts anderes als seine eigenen gedämpften Schritte und die der beiden Wachsoldaten an seiner Seite. Sie blickten starr geradeaus, und ihre Uniformen waren gestärkt und wie neu. Sie sprachen so gut wie nie mit ihm, bemerkten höchstens einmal »Hier entlang, bitte, Sir«. Er hatte ihnen seinen Militärausweis vorgelegt: Major Alexander McKay, AF117B59, Geheimnisstufe Blau-5, Ausstellungsdatum: 17/7/92, Laufzeit bis: 17/7/93. In regelmäßigen Abständen kamen sie an Kontrollstellen vorbei und mußten sich immer wieder der gleichen Prozedur unterziehen (Ausweiskontrolle, Netzhautabtastung und Kontrollanruf bei der übergeordneten Dienststelle), bevor sie ihren Weg fortsetzen konnten. Eine Konversation kam nie in Gang. McKay hatte schon manche Sicherheitskontrolle mitgemacht, aber noch nie etwas, was sich mit dem hier vergleichen ließ. Irgend etwas sehr Wichtiges mußte vorgefallen sein. Sie erreichten den letzten Checkpoint, der sich vor einer massiven Stahltür befand, die McKay an einen Banktresor erinnerte. Er ließ sich ein weiteres Mal überprüfen und betrachtete seine Abbildung auf dem Bildschirm, wo seine Netzhaut und sein Profil abgetastet wurden. Das Gesicht, das er dort erblickte, war nicht mehr so jung, wie er es immer noch in seinen Träumen sah. Sonne und All hatten Linien und Falten eingegraben. Die Sensoren förderten die weißen und grauen
Stellen in seinem Haar zutage. Anscheinend vermehrten sie sich von Tag zu Tag. Der Bildschirm gab einen Piepton von sich und erlosch. Einer der Wachsoldaten zog eine magnetische Scheibe aus seinem Hemd, die er an einer Kette am Hals trug, und schob sie in einen Schlitz in der Stahltür. Ein pneumatisches Zischen ertönte, Luft entwich, und langsam öffnete sich die Tür. Die beiden Männer, die ihn bis hierher begleitet hatten, führten ihn in einen großen Raum, der mit Computern, Monitoren und ganzen Arealen von Geräten, die er nicht kannte, vollgestellt war. Von drei Seiten ertönte Summen, Klicken und Piepen, eine Geräuschkulisse, wie sie entsteht, wenn Maschinen denken. Kabel und elektrische Leitungen verliefen in jede erdenkliche Richtung. Aber insgesamt wirkte die ganze Anlage hastig installiert. Die vierte, der Tür direkt gegenüberliegenden Wand war nicht mit Geräten vollgestellt. Sie bestand aus Glas oder einem transparenten Kunststoff und war mindestens fünf Zentimeter dick. Jenseits dieser Glaswand erstreckte sich über die gesamte Länge eine Stahlwand. Man hatte Löcher in die anderen Wände geschlagen, um Platz für die Stahl- und Glasbarriere zu schaffen. Das alles wirkt so, als sei es in großer Eile errichtet worden, dachte Alex. Sie mußten also schnell handeln. Aber warum? Er brauchte einen Moment, um Gregory Phillips zu entdecken, der an einer der Konsolen saß. Erst als Gregory aufstand und auf ihn zukam, bemerkte ihn Alex. Er vermutete gleich, daß Gregory entweder unter Schlafstörungen litt oder längere Zeit kein Bett mehr gesehen hatte. Seine Augen waren rot unterlaufen und von schwarzen Rändern umgeben. Sein graues Haar lag an einer Seite flach an, so als habe er eben mit einer Hand den Kopf gestützt. Als er den Freund entdeckte, zeigte sich Erleichterung auf seinem Gesicht, und er streckte die Hand aus. »Alex.«
»General.« Gregory verzog schmerzlich das Gesicht, wie er es immer tat, wenn Alex auf den Rangunterschied zwischen ihnen aufmerksam machte. Obwohl Gregory etwas älter war, hatten sie gemeinsam in der Luftwaffe Karriere gemacht, bis ihre Wege sich eines Tages getrennt hatten und jeder seinem Spezialgebiet nachging. »Zu den Rängen kommen wir später, einverstanden?« Alex nickte. Als er die Hand des Freundes losließ, erschlaffte dessen Gesicht, so als hätte ihn dieser bloße Höflichkeitsakt bereits enorm angestrengt. Er zeigte jetzt wieder die besorgte, gequälte Miene von vorher. »Worum geht’s?« fragte Alex. »Bei soviel Geheimniskrämerei könnte man annehmen, es ginge um ein neues Manhattan-Projekt.« Der General wollte eine Antwort geben, bemerkte dann jedoch die beiden Wachsoldaten, die immer noch am Eingang standen. Er gab ihnen ein Zeichen. Sie salutierten und marschierten hinaus auf den Korridor. Die Stahltür schloß sich seufzend hinter ihnen. Gregory steckte sich eine Zigarette in den Mund und zündete sie an. Während er Alex eine Erklärung gab, lief er durch den Raum und zeigte auf die einzelnen Geräte. »Vor zwei Monaten war das hier noch ein Forschungslabor. Man betrieb im Regierungsauftrag Teilchenforschung und so. Also nichts Besonderes, bis es eines Tages passierte. Entweder sind sie auf etwas ganz Tolles oder auf etwas entsetzlich Grauenhaftes gestoßen.« Er blieb vor der Glaswand stehen und starrte auf den Stahlwall auf der anderen Seite. Alex hatte den Eindruck, als würde Gregory durch den Stahl hindurch auf etwas starren, was dahinterlag. »Aber ich greife vor«, fuhr der General fort. »Bevor es zu diesem Ereignis kam, unternahm das Labor
einige sogenannte Wurmlochexperimente, theoretische Subkorridore im All, so ähnlich wie Schwarze Löcher, durch die man in Sekundenschnelle an jeden gewünschten Punkt in der Galaxis gelangen kann. Aber an irgendeinem Punkt während der Experimente ging wohl etwas schief, oder sagen wir, von da an verlief alles in eine andere Richtung. Es kam zu einer großen Explosion, und als der Rauch sich gelegt hatte, entdeckte man das, was sich nun jenseits dieses Walls befindet.« Gregory nahm zwei Schutzbrillen aus einem Fach und reichte dem Freund eine. Sehr dunkle Gläser und ungewöhnlich dicke Linsen. »Die ziehst du besser an«, erklärte der General. »Sie helfen, wenigstens ein bißchen. Vor allem solltest du nicht direkt draufsehen.« Als beide die Brillen aufgesetzt hatten^ drehte Gregory einen Schalter um. Mit dem Schleifen und Quietschen einer Mechanik, die eine schwere Last zu ziehen hat, hob sich die Stahlwand hinter der Scheibe und verschwand in einer Versenkung in der Decke. Sofort strömte grellweißes Licht in den Raum, schoß gierig durch die Lücke zwischen Wand und Boden. Trotz der Schutzbrillen brannte es in den Augen. Furchtbares, pures weißes Licht, das alles bleichte, doch eigenartigerweise auf der Haut kalt blieb. Jetzt hörte Alex auch das Rauschen, ein furchtbares Tosen, das wie ein Wintersturm gegen die Glasscheibe schlug. Während seine Augen sich quälend langsam an das Licht gewöhnten, konnte er bald dessen Quelle ausmachen. Der Raum endete jenseits der Barriere drei Meter weiter in einer Ziegelsteinmauer. Licht, Wind und Lärm drangen aus einem zwei Meter breiten Loch in der Wand. Das allein wäre schon ungewöhnlich genug gewesen – Alex hatte noch nie ein solches Licht gesehen –, aber da war noch mehr…
… nämlich daß die Mauer wie auch das gesamte Labor sechzig Meter tief unter der Erde lagen. Wo also kamen Wind und Licht her? »Mein Gott!« stöhnte der Major. Gregory nickte. »Das habe ich auch gesagt. Sobald wir das hier entdeckt haben, haben wir von überall her Wissenschaftler zusammengetrommelt. Vom Cornell, von der NASA, JPL und so weiter. Sie haben gebohrt, durchleuchtet, gestochert. Die Intelligenzbestien von der CalTech erklärten, dafür gebe es keine Erklärung. Irgendwie würde dieses Phänomen die Grenzen unserer Sprachmöglichkeiten überschreiten. Ich habe das Ding ›Tor‹ genannt. Sie haben mir nicht widersprochen.« »Und wohin führt das Tor?« »Das wissen wir nicht. Alle Daten des Experiments wurden durch die Explosion vernichtet. Wir wissen nur, daß die Apparatur hier das Tor irgendwie erzeugt und offenhält. Irgendwann finden wir sicher mehr heraus, aber bis dahin haben wir nicht die entfernteste Vorstellung, was hier eigentlich passiert. Wir kommen uns so vor, als hätten wir eine Tür geöffnet, aber die Kombination vergessen, so daß wir befürchten müssen, sie nie wieder öffnen zu können, sobald wir sie einmal geschlossen haben.« Er schüttelte den Kopf und drückte die Zigarette aus. »Wir wollen aber wissen, was sich auf der anderen Seite befindet, Alex. Und aus diesem Grund haben wir dich kommen lassen. Uncle Sam braucht dich… du sollst durch das Loch steigen.«
MAJOR ALEXANDER MCKAY. EHEMALIGER TESTPILOT MIT EINER ENDLOSEN ANZAHL VON BELOBIGUNGEN, BEFÖRDERUNGEN UND AUSZEICHNUNGEN UND MIT EINEM SCHRANK VOLLER ÜBERBOTENER REKORDE. EIN MANN, DER DAS UNBEKANNTE SUCHT, ABER NICHT FÜRCHTET;
DER ES ÜBERWINDET UND SICH VON IHM NICHT UNTERKRIEGEN LÄSST. ALEXANDER MCKAY, DER NUN VOR EINEM NEUEN UNBEKANNTEN STEHT – EINEM UNBEKANNTEN, DAS SICH VON ALLEM BISHERIGEN UNTERSCHEIDET. DENN DIESES UNBEKANNTE BRENNT IM HERZEN DER TWILIGHT ZONE.
Alex rieb sich die Augen. Die Stahlwand war zwar wieder herabgelassen worden, doch wenn er die Augen schloß, sah er immer noch das Loch und das gräßliche Licht vor sich. »Woher wollen wir wissen«, fragte er mit trockenem Mund, »ob es sich dabei wirklich um ein Tor handelt?« »Wir waren uns anfangs natürlich auch nicht sicher«, entgegnete der General. »Dann haben wir herausgefunden, daß von der anderen Seite Wind zu uns hereinströmte. Deshalb haben wir ja auch die Barriere errichtet. Gott allein weiß, was für Bakterien von jenem unbekannten Ort zu uns gelangen können. Und etwas später haben wir angefangen, Objekte durch das Loch zu schicken.« »Was?« Gregory marschierte zu einem Schrank und zog einen dicken Ordner heraus. Er legte ihn vor Alex auf einen Tisch. »Hier steht alles drin. Zuerst war es ein Stein von ein paar Gramm Gewicht. Wir haben ihn mitten ins Loch geworfen. Er verschwand augenblicklich.« »Wurde er verdampft oder zerstrahlt?« »Das haben wir uns auch überlegt. Als nächstes schickten wir einen Leitstrahl hindurch. Knapp eine Minute behielten wir Kontakt mit ihm. Das gleiche widerfuhr uns mit einer Videokamera auf einem motorisierten Transporter. Vielleicht wurde sie vernichtet, sobald sie die andere Seite erreichte.
Vielleicht fand sie den Weg zurück nicht mehr. Oder aber die Signale können uns nicht erreichen. Wir wissen es nicht. Aber ganz ohne Frage muß sich auf der anderen Seite etwas befinden. Und wir müssen herausfinden, was da ist.« Alex nickte. »Und warum ich?« Gregory schlug den Ordner auf. An Computerausdrucken, Memos und Akten mit dem Aufdruck STRENG VERTRAULICH waren mit Büroklammern fünf Fotografien befestigt. »Du warst nicht der erste Name auf unserer Liste, Alex«, erklärte der General. »Diese hier waren vor dir: Colonel Jeff Massie, Second Lieutenant Emilio Perez, die beiden Sergeants Ed Marks und Len Sinclair und Captain Henry Kincaid. Sie haben sich alle freiwillig gemeldet. Und sie alle bekamen die beste Ausrüstung, die wir ihnen bieten konnten. Alle gingen durch das Loch dort. Und keiner von ihnen ist zurückgekehrt.« »Und ihr habt keinen Kontakt zu ihnen herstellen können?« Zur Antwort trat Gregory an ein Tonbandgerät, das in einer Konsole eingelassen war, und drückte den Startknopf. Statische Geräusche aus unsichtbaren Lautsprechern erfüllten den Raum. Dann eine menschliche Stimme: »Ich bin durch, könnt Ihr mich empfangen, Com-Con! Es… irgend etwas ist hier… kann kaum… Großer Gott!… Könnt Ihr es auch sehen?… Kann…« Dann ging die Stimme in den statischen Geräuschen unter. Gregory ließ das Band noch einen Moment laufen und schaltete es dann ab. »Das war Kincaid. Kontaktzeit: zehn Sekunden. Danach nur noch Statik. Fünf Männer, Alex, fünf gute Männer. Das State Department verlangt, daß wir hier alles dichtmachen, daß wir sozusagen den Stecker rausziehen, das Loch verschwinden lassen und tunlichst vergessen, daß es so etwas je gegeben hat. Das Pentagon ist dagegen, pocht auf seine Zuständigkeit für Fragen der Nationalen Sicherheit. Wir
sollen es wenigstens noch einmal versuchen. Was mich persönlich angeht… falls es eine Möglichkeit gibt, die fünf Männer zu retten, vorausgesetzt, sie sind noch am Leben…« Alex nickte. »Verstanden.« Der General betrachtete ihn kurz mit zusammengepreßten Lippen. »Ich denke, ich sollte dir fairerweise mitteilen, daß ich dich nicht angefordert habe. Du hast mehr getan, als von dir verlangt werden konnte. Aber die ›hohen Tiere‹ entschieden, daß wir jemand mit deiner Erfahrung brauchen. Trotzdem, du mußt nicht gehen, wenn du nicht willst. Brauchst nur ein Wort zu sagen.« Alex stellte sich vor die Glaswand. Er bemerkte Gregorys Widerspiegelung im Glas. »Ich weiß nicht, ob du schon davon gehört hast«, sagte er leise. »Letzte Woche habe ich die Benachrichtigung erhalten. Anscheinend bin ich mittlerweile für einen Raketenpiloten etwas zu alt. Sie wollen mich hinter einen Schreibtisch setzen, Gregory. Das überlebe ich nicht. Und die Chance, die du mir heute bietest…«, er warf dem alten Freund über die Schulter einen Blick zu, »wäre doch ein verdammt guter Abgang, oder?« »Du kommst zurück. Wenn überhaupt jemand den Weg zurückfindet, dann du. Du bist ein sehr guter Soldat, Alex.« Alex starrte auf den Wall. »Ja, genau das hat Sarah auch gesagt an dem Tag, an dem sie mich verlassen hat. Du bist ein sehr guter Soldat. Stets einsatzbereit wartest du auf Befehle, die du ausführen kannst.« Gregory entgegnete nichts darauf. Er wartete. Endlich drehte Alex sich um und lächelte. »Also, wo kann ich mich neu einkleiden lassen?«
Vierundzwanzig Stunden später, als eine halbe Armee von Technikern Alex durch den Korridor zum Labor begleitete, mußte er an Bilder vom Einstieg einer Astronauten-Crew in ein Space Shuttle denken. Überall Videokameras, die jede einzelne seiner Bewegungen aufzeichneten, während er sich durch die enge Tür mühte. »Über jeden Versuch wird eine komplette Aufzeichnung angefertigt«, hatte ein Techniker erklärt, der ihm mit einigen anderen in den Druckanzug half. »Wollen wir hoffen, daß dies der letzte Versuch wird«, hatte Alex geantwortet. Der Techniker hatte gelächelt, allerdings wenig optimistisch. Der Anzug, in den sie ihn gesteckt hatten, war nur ein wenig komfortabler als ein normaler Raumanzug. Doch er wies alle üblichen Meßgeräte und Anzeigen auf, die das Labor für die Aufzeichnungen brauchte. Zumindest so lange, wie es mit ihm den Kontakt aufrechterhalten konnte. Zehn Sekunden, dachte Alex. Der Rekord steht zur Zeit bei zehn Sekunden. In zehn Sekunden kann eine Menge passieren. Im Labor, in dem meistens wenig los war, ging es jetzt zu wie in einem Bienenstock. Ein Dutzend Techniker saß an den Konsolen, führte letzte Tests und Checks durch und zählte rückwärts bis null. Alex hörte einige Bruchstücke ihrer Gespräche, die für ihn allerdings nur wenig Sinn ergaben. Über allem wachte Gregory. Er wirkte nervös. Als er Alex entdeckte, trat er über Kabel und Leitungen auf ihn zu. Die anderen merkten nun, daß der Major anwesend war. Sie warfen ihm eigentümliche Blicke zu, bevor sie sich wieder an ihre Arbeit machten. Er kannte diese Blicke seit dem ersten Mal, als er zu einem Testflug in einem Düsenjäger gestartet war. In einem Flugzeug, von dem niemand mit Sicherheit sagen konnte, welche Schwächen und andere unbekannte Eigenschaften es aufweisen würde. Dieser Blick sagte: Der kommt nicht zurück! Es bedrückte ihn weniger, als er
befürchtet hatte, diesen Blick nach so vielen Jahren auch bei Gregory zu entdecken. »Es wird Zeit«, erklärte der General und sah zur Wand. Die Stahlplatte war immer noch herabgelassen. »Nur für den Fall, ich meine, wirklich nur für den Fall… gibt es noch irgend etwas, das ich für dich erledigen kann?« Alex schüttelte rasch den Kopf und ersparte dem alten Freund damit den Kummer, näher auf dieses Thema eingehen zu müssen. Er reichte ihm die Hand. Gregory ergriff sie. Alex’ Händedruck war selbst durch den dicken Handschuh hindurch fest. »Bis dann«, sagte der Major. Er trat auf den Ausgang zu, eine doppelte dicke Glastür, die gleichzeitig als Luftschleuse diente. Er beugte sich vor, damit ein Techniker ihm den Helm aufsetzen und verschließen konnte. Irgend etwas an seinem Rücken klinkte ein, und schon strömte kühler Sauerstoff in seinen Helm. Er hörte Gregorys Stimme. Sie klang gefiltert und blechern. »Kannst du mich verstehen, Alex?« »Laut und deutlich.« »Dann weiter.« Alex trat in die Schleuse. Die eine Tür schloß sich hinter ihm. Augenblicklich verstummten alle Geräusche aus dem Labor. Für einen Moment fühlte er sich wie unter Wasser. Dann öffnete sich zischend die andere Tür. Sofort brach das Tosen über ihn herein. Der Major schwankte, als die Windstöße ihn trafen. Er beugte sich nach vorn und stapfte los, während hinter ihm die Stahlwand hochgezogen wurde. Alex stellte fest, daß die Techniker ihn genau beobachteten. Er konnte nun aus der Nähe in Augenschein nehmen, was die Explosion bewirkt hatte. Konsolen waren geschwärzt und verrußt. Drähte waren geschmolzen, ganze Teile herausgeflogen und Abdeckungen zerfetzt. Zusammen bildeten sie eine futuristische,
undefinierbare Konfiguration. Auf einer Konsole entdeckte er Blutflecke. Und überall die gleißende Helligkeit. Selbst die Helmklappenfilter waren diesen Strahlen nicht gewachsen. Alex zog die Halteleine aus der Buchse an der Seite seines Anzugs, befestigte das eine Ende an einem Haken am Boden und zeigte dem General den hochgestreckten Daumen. Gregory nickte und wandte sich dann an die Techniker. »Laufen die Aufzeichnungsgeräte?« Einer der Männer nickte und sprach in ein Mikrofon. »Alles klar, Alex«, sagte Gregory. »Wir sind bereit. Vergiß nicht, wir können keine Heldentaten gebrauchen. Uns ist vielmehr an einer Analyse gelegen. Du gehst hindurch, siehst dich auf der anderen Seite rasch um und kehrst wieder zurück. Verstanden?« »Verstanden, General. Ich betrete das Tor– jetzt!« Er marschierte in das Zentrum des Lichts. Je weiter er vordrang, desto geringer wurde der Sturm. Bald gewann er den Eindruck, er würde nicht mehr fortgeweht, sondern angezogen. Ob hier Gravitationskräfte wirken? fragte er sich. Dann packte es ihn. Es kam ihm so vor, als würde er von einer Riesenfaust ergriffen und gegen eine Wand geschleudert. Die Luft wurde ihm aus den Lungen gepreßt, die Helligkeit nahm ab, und in dem plötzlichen Getöse konnte er eine von statischen Geräuschen verzerrte Stimme hören, die in seinem Kopfhörer sprach. Gregorys Stimme. »Gott sei mit dir, Alex!« Licht. Wind. Getöse. Alex kämpfte darum, etwas sagen zu können. Mach schon, verdammt noch mal, rede! Er war desorientiert. Er spürte, daß er fiel, aber er wußte nicht, ob es nach oben oder nach unten ging. Die Geschwindigkeit der Bewegung preßte ihn gegen die Rückseite seines Anzugs. Beschleunigung?
»… bewege mich rasch, immer schneller«, bekam der Major schließlich heraus. Seine Zähne klapperten so stark, daß er fürchtete, sie würden ihm aus dem Mund fliegen. »Kommt mir so vor, als wollte es mich zerreißen. Die Beschleunigung ist unfaßbar. Kann nichts erkennen… nur Weiß… nur…« Weiß. Und die plötzliche Schwärze, die hinter seinen Augen entstand. Kämpfe dagegen an, verdammt noch mall Werde jetzt bloß nicht ohnmächtig! Nicht ohnmächtig werden! Das letzte, was er hörte, oder zu hören glaubte, war die Stimme des Generals, der wieder und wieder seinen Namen rief. Die Stimme Mang unendlich weit fort. Und dann verschwand das Weiß. Genauso wie Alex.
Meine Nase juckt. Er hatte die Augen geschlossen, und seine Hände fühlten sich schwer wie Blei an, als er versuchte, sich an der Nase zu kratzen. Aus irgendeinem Grund kam er nicht an sie heran. Er öffnete die Augen. Eine Scheibe befand sich zwischen der Hand und der Nase, Der Helm. Dann blickte er an seiner Hand vorbei und entdeckte einen violetten Himmel, der sich über seinem Kopf drehte. Scheiße! dachte er. Verdammte, verfluchte Scheiße! Er drehte an dem Sendeknopf. »McKay an Com-Con. Könnt Ihr mich empfangen? Ich wiederhole: Hier McKay. Hört Ihr mich, Com-Con?« Schweigen. Wie lange bin ich ohnmächtig gewesen? Er stellte sich auf die Füße, was bei dem klobigen Anzug gar nicht so einfach war. Er stand auf einer Wiese. Grüne Blätter klebten an seinem Anzug. Er wischte sie ab. Er befand sich auf einer Lichtung, die von Bäumen umgeben war. Wenn er nicht
zu genau hinsah, hätte er glauben können, die gleichen Bäume vor sich zu haben, die er sein Leben lang erblickt hatte. Doch die weißen, pulsierenden Adern, die durch die dicken Stämme liefen, die unnatürlich geraden Äste und der fremde Himmel ließen eine solche Illusion nicht zu. Er hob ein Bein und hielt nur mit Mühe das Gleichgewicht. Fast wäre er nach hinten umgefallen. Eine andere Schwerkraft, sagte er sich. Und tatsächlich, er fühlte sich einige Kilogramm leichter als vorher. Er griff nach der Halteleine an seiner Seite und mußte feststellen, daß sie sauber durchtrennt war. Nein, das Ende wirkte eher abgebrannt. Er sah sich um und bemerkte den Handschuh, der ein paar Schritte vor ihm auf dem Boden lag. Er hob ihn auf und achtete darauf, daß der kopflastige Anzug ihn nicht umriß. Er verglich den Handschuh mit seinen. Das gleiche Modell. Er drückte wieder auf die Sendetaste. Er bemerkte, daß der kleine Recorder in seiner Brustkonsole zu surren begann, daß er alles für die Nachwelt aufzeichnete, falls er je zu so etwas wie einer Nachwelt zurückfinden würde. »Ich weiß nicht, ob Ihr mich empfangt, Com-Con, aber ich werde weiterhin alles aufzeichnen. Vielleicht stößt nach mir jemand auf den Recorder und kann ihn bergen. Ich habe ein Stück von einem anderen Raumanzug gefunden. General, mindestens einer deiner Männer hat es demnach bis hierher geschafft. Sieht so aus, als sei ich hier auf mich allein gestellt. Bislang habe ich keine Kampfspuren oder ähnliches entdeckt.« Er drehte sich, um den Atmosphärensensor ablesen zu können. Der vorherrschende Sauerstoffgehalt war ein wenig höher als auf der Erde, und in der Luft befanden sich einige Spurenelemente, die der Sensor nicht identifizieren konnte. »Atmosphäre und Umgebung sind der Erde vergleichbar. Ich werde es versuchen. Wenn ich in dieser Luft überleben kann, entledige ich mich des Raumanzugs. Wenn nicht, nun, dann bleibt mir noch eine
halbe Stunde Luft im Anzug.« Vorsichtig öffnete er den Helm. Er hielt einen Moment den Atem an und schnüffelte dann vorsichtig die Luft, die in seinen offenen Helm drang. Gute, reine Luft, die nach Blättern und Blüten roch. »Eine atembare Sauerstoffatmosphäre«, sprach er der Vollständigkeit halber in den Recorder. »Eine kühle, reine Luft.« Er ließ den Blick über die Lichtung schweifen und konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. »Von meinem Standpunkt aus sehe ich kein Tor. Vielleicht liegt es auf dieser Seite außerhalb des sichtbaren Spektrums.« Vielleicht war er nach der Landung ein Stück weiter weggerollt, oder etwas oder jemand hatte ihn woanders hingebracht. Und waren das nicht wirklich beruhigende Vorstellungen? »Ich gehe jetzt auf Erkundung. Spreche alle fünf Minuten in den Recorder.« Eine gute halbe Stunde später stand Alex auf dem Höhenzug und blickte hinab – auf das Dorf. Du mußt träumen, sagte er sich. Eine Szene wie auf einem Brueghel-Gemälde. Selbst aus dieser Entfernung spürte man die Ruhe und den Frieden in dem Ort. Männer und Frauen – anscheinend den Erdmenschen durchaus ähnlich – trugen irdene Krüge und ernteten Getreide. Kinder spielten mit Stecken und trieben damit einen runden Stein vor sich her. Sie lachten und schrien durcheinander, als die einen versuchten, den Stein in eine andere Richtung zu dirigieren. Vieh graste im Umfeld der strohgedeckten Hütten, die rund um eine Art Gemeindehaus errichtet waren. »Willkommen, Major«, ertönte hinter ihm eine Stimme. Alex fuhr herum und griff instinktiv nach der Pistole an seinem Gürtel. Etwa drei Meter von ihm entfernt stand eine Frau in einem langen Bauernkittel. Ihr Gesicht wurde fast vollständig von einem breiten Strohhut verdeckt. Aber sie hatte ihn nicht
angesprochen, sondern der Mann, der sich neben ihr befand. Er trug eine Air-Force-Uniform, genau wie die, die Alex unter seinem Schutzanzug trug. Das Gesicht des Mannes kam ihm bekannt vor, und Alex mußte nur einen kurzen Moment nachdenken, um sich daran zu erinnern, daß er in Gregorys Ordner eine Fotografie des Offiziers gesehen hatte, »Kincaid? Sind Sie Captain Henry Kincaid?« Der Mann lächelte und salutierte vorschriftsmäßig. »Zur Stelle und zu Ihren Diensten. Wir haben auf Sie gewartet. Na ja, nicht unbedingt direkt auf Sie, aber auf einen Mann Ihres Kalibers. Ich muß jedoch gestehen, daß ich sehr glücklich darüber bin, daß die Wahl auf Sie gefallen ist. Ich kann mir keinen Besseren vorstellen, weder für deren Wünsche noch für unsere Belange.« Der Major wollte die Waffe noch nicht wieder einstecken. »Ich weiß nicht, ob ich Sie richtig verstanden habe.« Diesmal sprach die Frau zu ihm. Sie hob das Gesicht, damit er mehr von ihr zu sehen bekam. Ein normales Gesicht, von dem jedoch eine eigenartige Faszination ausging. Auf den ersten Blick wirkte sie ein paar Jahre älter als Alex. Als sie lächelte, hielt Alex das für das reinste und selbstbewußteste Lächeln, das er je gesehen hatte. »Alles zu seiner Zeit, Major«, erklärte sie mit leiser, beschwingter Stimme. »Bis dahin folgen Sie uns bitte.« Die beiden spazierten den Hang hinunter auf das Dorf zu. Alex rührte sich nicht von der Stelle. »Wohin soll ich Ihnen folgen? Was ist das für ein Ort?« Kincaid warf Alex über die Schulter einen Blick zu und lachte. »Sie können ihn ›Himmel‹ nennen.« Damit lief er weiter auf die größte Hütte zu. Alex zögerte noch einen Moment, dann folgte er den beiden In angemessener Entfernung, versteht sich. Und für den Augenblick hatte er ohnedies keine Ahnung, wohin er sich sonst hätte wenden können.
»Noch immer keine Verbindung, General.« Gregory marschierte im Labor auf und ab und starrte immer wieder auf seine Uhr. Vor fünf Stunden hatten sie den Kontakt zu Alex verloren. »Senden Sie das Signal aus!« »Haben wir schon versucht. Wir erhalten keine Antwort.« »Dann stellen Sie es eben stärker ein!« Er trat vor die Glaswand und spähte durch zusammengekniffene Augen auf das grelle, weiße Loch in der Mauer. Hatte es Alex verschlungen, wie all die anderen? Er legte eine Handfläche auf das Glas. Er spürte Vibrationen. »Komm schon, Alex!« flüsterte er. »Wo zum Teufel steckst du? Rede mit mir!«
»Bitte, versuchen Sie sich zu beruhigen, Major«, sagte Berenn. Er hatte inzwischen erfahren, daß die Frau so hieß, die er an Kincaids Seite gesehen hatte. »Das werde ich«, versprach der Major, »sobald mir jemand auf eine einfache Frage eine ausreichende Antwort gibt. Wo sind wir? Was ist das für ein Ort?« Er sah der Reihe nach die Menschen an, die ihn hier am Tisch umgaben. Alle waren sie da: Massie, Perez, Marks, Sinclair und natürlich Kincaid. Sie saßen an einem großen Tisch im Gemeindehaus. Der Boden war mit Stroh ausgelegt, und auf dem groben, handgezimmerten Tisch standen Schüsseln mit eigenartigen Früchten. Die Männer sahen sich an, dann beugte sich einer vor. »Ich bin Lieutenant Perez, Sir. Navigationsspezialist. Ich halte mich seit ungefähr einer Woche an diesem Ort auf, und die Sterne, na ja, Sir, die Sterne stehen alle falsch. Ich weiß nicht, wo wir uns befinden, aber ganz bestimmt nicht auf der Erde. Ganz offen gesagt, ich fürchte, wir sind nicht einmal mehr in der Nähe der Erde.«
»Warum haben Sie keinen Versuch unternommen, zur Erde zurückzukehren?« Diesmal antwortete Kincaid. Die anderen schienen ihn zu einer Art Wortführer bestimmt zu haben. »Die knallharte Wahrheit lautet, daß wir nicht zurückkehren können. Wir haben die ganze Gegend abgesucht, aber auf dieser Seite scheint kein Tor zu existieren. Anscheinend wirkt es nur in eine Richtung, von der Erde hierher. Ob es Ihnen nun gefällt oder nicht, Sir, wir sitzen hier fest. Und zwar für immer.« Alex glaubte, eine eiskalte Faust würde seinen Magen umklammert halten. Er sah die anderen Anwesenden an, aber sie wichen seinem Blick aus. Vermutlich wollten sie nicht mitansehen müssen, wie ähnlich auch sie selbst auf diese Nachricht reagiert hatten. Vielleicht… Jetzt reagiere nicht panisch, dafür besteht kein Anlaß, noch nicht. »Wäre das denn wirklich ein so furchtbares Schicksal, Major?« fragte Berenn. Er drehte sich herum, um sie besser sehen zu können. Sie saß etwas außerhalb des Kreises, den die Männer gebildet hatten und beobachtete sie wie ein Lehrer eine besonders interessante Klasse. »Das ist nicht das Problem«, entgegnete der Major. »Für mich sind immer noch ein paar Fragen offengeblieben. Eine davon betrifft Sie. An diesem Ort. Wie kommt es, daß Sie meine Sprache verstehen?« »Hört sich jetzt vielleicht seltsam an«, antwortete Kincaid, »aber das ist allein eine Frage der Ökonomie. Anscheinend hat hier jeder Ort seine eigene Sprache oder zumindest einen eigenen Dialekt. Da wir uns hier in einer Wirtschaftsform des Tauschhandels befinden, hat jedes Dorf die Person mit der größten Sprachbegabung zum Führer gemacht.« »Und warum kann sie nicht für sich selbst sprechen?« wollte Alex wissen.
»Es verhält sich so, wie man es Ihnen gerade mitgeteilt hat«, erklärte Berenn. »Wir führen ein einfaches Leben. Was wir nicht brauchen, tauschen wir gegen Dinge ein, an denen bei uns Mangel herrscht. Und das ist nicht viel, denn wir sind recht genügsam. Aber wir glauben fest daran, daß der Erhalt des Friedens das Wichtigste ist, und ohne Kommunikation kann es keinen wirklichen Frieden geben. Das umreißt in etwa meine Aufgabe.« »Sie ist eine echte Naturbegabung«, ergänzte Sinclair. »Binnen einer Woche konnte sie fließend Englisch sprechen. Sie braucht ein Wort nur einmal zu hören, schon prägt es sich ihr ein, und sie weiß genau, wie sie es anzuwenden hat. Die anderen hier sind etwas langsamer, aber sie holen immer mehr auf.« »Und was diese unglaubliche Erdähnlichkeit angeht«, bemerkte Massie, »so tappen wir da genauso im dunkeln wie Sie, Sir. Wenn ich eine Vermutung äußern dürfte, so würde ich sagen, daß dieses Experiment, das sie auf der Erde durchführten, das Ziel hatte, bewohnbare, erdähnliche Planeten zu finden. Als alles hochging, löste dieses Programm möglicherweise den stärksten Impuls aus… Und wenn dem nicht so war, nun, dann halten Sie es einfach einem unglaublichen Zufall zugute – so ähnlich wie bei einem Betrunkenen, dem es auf geheimnisvolle Weise gelingt, sein Auto nach Hause zu fahren, ohne es unterwegs um einen Baum zu wickeln.« Alex sah Berenn an. Sie reagierte ruhig und gelassen auf seinen Blick, schien, wie er registrierte, sogar ein wenig amüsiert über die Ungläubigkeit des Neuankömmlings zu sein. »Und Sie heißen jeden willkommen. Einfach so, ohne nachzufragen.« »Das ist meine Aufgabe als Führerin unserer Gemeinschaft. Wir sind ein friedliebendes Volk und begegnen niemandem mit Mißtrauen. Wir verfügen über mehr als genug
Nahrungsmittel und können daher mit jedem teilen. Wenn unsere Gemeinschaft Ihnen wie ein Gefängnis vorkommt, so bedauern wir dies und versichern Ihnen, jede erdenkliche Anstrengung zu unternehmen, Ihnen den Aufenthalt hier so angenehm wie möglich zu machen. Und glauben Sie mir bitte, wir haben in dieser Hinsicht eine Menge anzubieten.« Sie betrachtete für einen Moment seine Miene. Dann machte sie ein ernstes Gesicht. »Die Männer haben mir von Ihrer Heimatwelt erzählt. Eine Welt voller Haß, so viel Haß, daß ich zuerst nicht glauben wollte, daß ein solcher Ort existieren kann. Ein furchtbares, dunkles Land, wo immer mehr Menschen um immer weniger ringen. Hier, Major, kennen wir keinen Krieg. Worüber sollten wir auch in Streit geraten? Hier leidet niemand Hunger, hier hat jeder ein Dach über dem Kopf, hier muß niemand allein sein. Wir haben keinen Besitz, den man stehlen könnte. Wir haben keine Religion, bis auf den Glauben, daß alles Leben heilig ist. Und wir kennen nur ein Gesetz: seid nett zueinander. Aus diesem Grund haben wir uns auch gefreut, als Sie zu uns stießen. Die anderen sagen, Sie seien ein Mann von großer Ehrenhaftigkeit. In unseren Reihen ist immer Platz für einen Mann mit soviel Charakter.« »Wir befinden uns hier an einem Ort, den wir nur aus unseren Träumen kannten, Major«, sagte Massie. »Ich schätze, ich hebe mir mein Urteil darüber bis zu dem Zeitpunkt auf, an dem ich mir ein genaueres Bild von diesem Ort gemacht habe«, erklärte Alex. »Bis dahin stört es Sie hoffentlich nicht, wenn ich hier ein wenig herumschnüffle und selbst nachsehe, ob es einen Weg zurück gibt oder nicht.« »Überhaupt nicht«, erwiderte die Frau. »Wir möchten Sie sogar ermutigen, sich hier so gründlich umzusehen, wie es Ihnen beliebt. Genau wie den anderen werden wir auch Ihnen alle erdenkliche Hilfe zukommen lassen. Ich möchte Ihnen unsere Welt zeigen, Major. Ich bin mir sicher, daß Sie diesen
Ort in absehbarer Zeit schätzen und heben lernen.« Wieder betrachtete sie ihn intensiv, so als hoffte sie, den richtigen Winkel zu finden, von dem aus sie ihm direkt in die Seele blicken konnte. »Ich spüre, daß es sich bei Ihnen um einen Menschen handelt, der seit langer Zeit nach innerem Frieden sucht, ihn bisher aber noch nicht gefunden hat. Sie sind am Ziel angelangt. Hier werden Sie Ihren Frieden finden.« Sie klang so überzeugend, daß er ihr für einen kurzen Moment glaubte. Aber er wußte, daß diese Hoffnung rasch vergehen würde. Jede Hoffnung hatte sich bisher rasch verflüchtigt. Das Labor war leer. Und dunkel. Das Loch mit dem wirbelnden weißen Wahnsinn lag sicher hinter der Stahlwand verborgen. Gregory konnte sich sogar der Selbsttäuschung hingeben, das Loch sei gar nicht vorhanden, es gäbe keinen elektronischen Sturm, und kein Freund von ihm würde an einem unbekannten Ort festgehalten werden, von dem es keinen Weg zurück gab. Ich hätte nie auf sie hören dürfen, sagte er sich. Nehmt, wen Ihr wollt, aber nicht Alex. Genau das hätte ich ihnen erklären müssen. Er ist zu alt für so etwas. Er soll sich aufs Altenteil zurückziehen, solange ihm noch Gelegenheit dazu bleibt. Dann dachte er: Mach endlich weiter! Er schaltete das Diktiergerät wieder ein. Die Cassette drehte sich leise. »Drei Tage und zwölf Stunden sind vergangen, seit Major Alexander McKay durch das Tor gegangen ist. Wenn er innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden nicht zurückkehrt, erklären wir ihn für verloren.« Er beugte sich über den Schreibtisch und nahm einen Schnellhefter in die Hand. Noch ein Schnellhefter. Noch ein Name. »Ich habe angeraten, die Operation abzuschließen und keine weiteren Männer durch das Tor zu schicken, solange wir über keine detaillierte Analyse verfügen. Die Generalität will einige
weitere Versuche starten. ›Bei bloßen Trainingsprogrammen verlieren wir mehr Männer als bei dieser Operation‹, habe ich zu hören bekommen. Sie haben bereits die nächsten Freiwilligen ausgesucht. Als nächster Mann kommt jemand mit den besten Empfehlungen.« Er schlug den Schnellhefter auf und betrachtete das Foto. Ein ernstes, intelligentes Gesicht. Der Sohn von jemandem. Der Mann einer Frau. »Ich kenne ihn nicht. Dem Himmel sei Dank für diese kleinen Erleichterungen.« Er schaltete den Recorder ab, löschte das Licht und verließ den Raum.
Die Sonne war zwar kleiner und weißer als die, die er kannte, aber sie schien Alex warm aufs Gesicht. Er hockte auf einem Hügel, und etwa ein Dutzend Meter von ihm entfernt am Fuß der Anhöhe spielten Kinder. Ihr Lachen enthielt das seltsame Trällern, das er bei allen Menschen hier festgestellt hatte. Die Worte, die sie einander zuriefen, klangen fremd, bedurften jedoch keiner Übersetzung. Er lächelte, als er ihnen zuschaute, und er war von sich selbst überrascht, wie leicht ihm dieses Lächeln auf den Lippen lag. Er fühlte sich wohl. Entspannt wie schon lange nicht mehr. Vielleicht war die etwas geringere Schwerkraft dafür verantwortlich; oder der erhöhte Sauerstoffanteil in der Luft. Oder lag es daran, daß er zum ersten Mal nicht irgendwem Bericht erstatten, nicht irgend etwas erledigen mußte, sondern einfach hier sitzen und die Sonne genießen konnte. Diese ungewohnte Haltung verblüffte ihn, aber in den letzten Tagen hatte er sich immer mehr daran gewöhnt. In dieser knappen Woche hatte er eine Menge Dinge zu akzeptieren gelernt.
Nur die Pistole, die hatte er behalten. Er wußte allerdings, daß sich das in absehbarer Zeit auch ändern würde. »Guten Morgen, Major.« Er sah zu den Hütten. Berenn winkte ihm zu. Sie kam gemächlich den Hang herauf, auf dessen Kuppe er saß. Er genoß es immer wieder, die Anmut zu sehen, mit der sie sich bewegte. Und ihm gefiel die lockere und unkomplizierte Art, mit der sie ihm und den anderen begegnete. Sie warf einen kurzen Blick auf die Kinder, die auf der Lichtung mit einem Reifen spielten. »Sie spielen wohl nicht, Major.« Es klang eher wie eine Feststellung als wie eine Frage. Er zuckte die Achseln und zog einen langen Grashalm aus dem Boden. »Vermutlich bin ich etwas zu alt dazu.« »Das wird sich ändern. Sie sind nämlich beileibe nicht so alt, wie Sie denken.« Sie lächelte und betrachtete für einen Moment die fröhlichen Kinder, bevor sie sich wieder an ihn wandte. »Hatten Sie Erfolg bei Ihren Bemühungen, den Weg zurück zu finden?« »Absolut keinen. Sie haben offenbar recht. Von morgens bis abends haben wir jeden Quadratzentimeter in dem Gebiet abgesucht, in dem ich gelandet bin. Nichts, überhaupt nichts. Das Eigenartige ist nur: je länger ich hier bin, desto gleichgültiger wird es mir.« »Tatsächlich.« Wieder eine Feststellung, keine Frage. Er nickte langsam. »Wissen Sie, ich bin mein Leben lang Soldat gewesen. Auch mein Vater und dessen Vater waren Soldat. Man hat mir beigebracht, für das zu kämpfen, woran man glaubt. Man hat mir beigebracht, Befehlen zu gehorchen, aber ich habe nie erfahren, warum ich ihnen gehorchen muß. Wenn man nur immer beschäftigt wird, bleibt einem keine Zeit mehr, sich über dieses oder jenes Gedanken zu machen. Und vermutlich habe ich genau das in all den Jahren getan.« Er lachte. »Ein Freund von mir hat diese Haltung einmal
Wasserski genannt. Damals wußte ich nicht, was er damit meinte. Er meinte, man bewege sich sehr rasch und würde nie langsamer, weil man genau wisse, daß der Boden, auf dem man sich bewegt, nicht fest genug ist, einen zu tragen, sobald man stehenbleibt.« »Die anderen haben erzählt, Sie seien Testpilot gewesen?« Sie sprach das Wort so aus, als gebrauche sie es zum ersten Mal und wisse noch nicht so recht, wie sie es anwenden sollte. Dann nickte sie, so als bestätige sie sich selbst, es richtig ausgesprochen und plaziert zu haben. »Ist so etwas denn nicht gefährlich?« »Vermutlich ja. Ich habe eine ganze Menge riskiert. Wenn man im Cockpit sitzt, bleibt einem keine Zeit mehr, Fragen zu stellen. Man ist eingefangen zwischen Blau und Schwarz, und der Tod blickt einem ständig über die Schulter. Auf solchen Flügen habe ich mich sehr lebendig gefühlt. Und ich war furchtbar enttäuscht, wenn ich wieder landen mußte. Oft habe ich daran gedacht, wie ich einmal enden wollte… in der Hitze des Feuers und im Glanz der Ehre, weil ich etwas versucht hatte, was keiner vor mir gewagt haben würde. Aber dazu ist es nie gekommen. Heute frage ich mich, ob ich nicht die ganze Zeit nach etwas gesucht habe, wofür es sich zu sterben lohnt, weil ich nichts besaß, wofür es sich zu leben lohnte.« Sie sagte zunächst nichts. Dann: »Haben Sie denn keine Familie?« Er wandte den Blick ab. Über dieses Thema sprach er nicht gern. »Eigentlich nicht. Meine Frau hat mich vor einem Jahr verlassen. Sagte, sie könne nicht mit einem Bigamisten zusammenleben. Ich habe lange darüber nachdenken müssen, bis ich begriff, wie recht sie damit hatte. Wie sollte sie gegen Ehre und Pflicht, gegen Befehle und all das andere ankommen? Es war nur so…«
Er suchte nach den richtigen Worten, mußte dann aber feststellen, daß die Begeisterung in ihm erloschen war. Der Schmerz war weg. Nur die Traurigkeit über die nie gesagten Worte war geblieben; und über die Worte, die er gesagt hatte und heute bedauerte. Er fühlte sich müde, doch es war die Art Müdigkeit, die einen befällt, wenn man sich einer großen Last entledigt hat und begreift, wie schwer sie gewesen war. Er sah wieder zu ihr und entdeckte, daß sie ihn mit großer Sanftheit betrachtete. Sie legte ihre Hand auf die seine und drückte sie. »Ich bin froh, daß Sie bei uns sind, Alex. Sehr froh sogar.« Er lächelte. Zum ersten Mal hatte sie ihn nicht Major, sondern Alex genannt.
Es war schon dunkel geworden, als Alex ins Dorf zurückkehrte. Vor einigen Stunden war er eine Meile tief in den Wald hineingelaufen, bis er sich sicher war, allein zu sein. Er mußte sich einfach irgendwo hinsetzen und nachdenken… über diesen Ort, seine Heimat und die Unmöglichkeit, einen Weg zurück zu finden. Kincaid hatte recht gehabt. Dieser Ort war in gewisser Weise der Himmel. Wenn es tatsächlich kein Tor gab, durch das man auf die Erde zurückkommen konnte, sollte er vielleicht einmal gründlich darüber nachdenken, welche Möglichkeiten sich ihm hier boten. Er wollte Berenn finden. Er und sie hätten eine Menge zu bereden, falls er sich hier wirklich niederlassen wollte; zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an dem eine Rettungsmannschaft von der Erde käme. Falls sie überhaupt jemals kommen würde, und falls er wirklich von hier abgeholt werden wollte. Er betrat das Gemeindehaus. Perez, der die große Hütte gerade verließ, kam ihm entgegen. »‘n Abend, Major.«
Alex klopfte ihm auf die Schulter. »Ich denke, wir sollten es von nun an bei den Vornamen belassen und uns duzen. Hast du Berenn irgendwo gesehen?« »Vor einer Weile ist sie mit Kincaid losgezogen, um Wasser zu holen. Sie müßten jeden Augenblick zurück sein.« Alex nickte und betrat die große Halle. Niemand hielt sich hier auf. Die einen hatten sich in ihre eigenen Hütten zurückgezogen, und die anderen genossen die warme Abendluft. Alex ging in die Ecke, in der er und die anderen ihre Sachen abgelegt hatten. Als er erfahren hatte, daß es hier weder Schränke noch Schlösser gab, war er sehr besorgt gewesen, man könnte ihm etwas stehlen. Als er jetzt davor stand, stellte er fest, daß alles noch genau so dalag, wie er es vor fünf Tagen dort deponiert hatte. Im dämmrigen Licht der Öllampen an der Wand betrachtete er kurz seinen Schutzanzug. Er kam ihm fremd und wie ein kurioser Gegenstand vor, der nichts mit ihm oder diesem Ort gemein hatte. Die anderen Schutzanzüge lagen auch hier. Einer trug das Namensschild KINCAID. In dem Fach in der Brustplatte steckte ein Recorder, ähnlich dem seinen. Er zog ihn heraus. Das Gerät fühlte sich eigenartig leicht an. Alex drückte auf die Auswurftaste. Nichts kam aus dem Recorder. Jemand hatte die Cassette bereits herausgenommen. Er überprüfte den Recorder im Anzug mit dem Namensschild MASSIE. Auch hier fehlte die Cassette. Er sah bei den anderen nach. Nirgends eine Cassette. Er runzelte die Stirn. Wer sollte sie entfernt haben? Und zu welchem Zweck? Er stöberte zwischen den Geräten und Apparaten herum. Vielleicht lagen die Cassetten hier irgendwo, vielleicht hatte jemand sie hier irgendwo abgelegt, dann würde er sie finden. Und schließlich fand er sie.
Schritte näherten sich dem Gemeindehaus, begleitet von Gelächter. Lautes Lachen in der Stille der Nacht, aber nicht laut genug, um Kincaids Stimme auf dem Band zu übertönen. »… dieser Ort ist ein wahres Paradies. Wir können nicht zurück. Soviel haben wir herausgefunden. Wir wollen es auch nicht. Wir haben Berenn unsere Entscheidung mitgeteilt und sie gebeten, nachts die Kinder aus dem Gebiet rund um das Tor fernzuhalten, damit keines von ihnen durch einen dummen Zufall hindurchläuft. Sie sagte, ihre Leute werden dort eine Wache aufstellen, die auch ein Auge darauf haben soll, ob sonst noch jemand von der Erde kommt…« Auf den anderen vier Cassetten fand sich ein ähnlicher Text. Die Tür ging auf, und Berenn, gefolgt von Kincaid, trat ein. »Da sind Sie ja!« rief die Frau, als sie Alex entdeckte. »Ich habe mich schon gefragt, wo Sie abgeblieben sein könnten. Wir haben gerade…« Beide blieben stehen, als sie hörten, was aus dem Recorder drang. Alex schaltete das Gerät ab und hielt die vier anderen Cassetten hoch. »Sie haben mich belogen.« Berenn erbleichte. »Alex, Major, bitte, wir können alles erklären…« Er warf die Cassetten auf den festgestampften Boden, wo sie scheppernd aufschlugen. »Nein! Sie haben mich belogen! Sie haben mir gesagt, es gäbe keinen Weg zurück! Aber es gibt ihn! Man kann das Tor auch von dieser Seite durchschreiten. Doch aufgrund der Strahlenbrechung wird das Licht gebrochen und eingesaugt. Deshalb kann man das Tor nur in der Nacht sehen.« Er starrte Kincaid wütend an. »So ist es zu erklären, daß Sie mich nur tagsüber herumgeführt haben. Sie wußten schließlich,
daß ich am Tag rein gar nichts entdecken würde. ›Die knallharte Wahrheit lautet, daß wir nicht zurück können‹, haben Sie mir erklärt. Aber nein, Captain, die knallharte Wahrheit ist, daß Sie beschlossen haben, hierzubleiben und sicherzustellen, daß kein anderer auf die Erde zurück kann.« »Wir haben Ihnen die Wahrheit gesagt«, entgegnete Kincaid, »zumindest so weit, wie uns das möglich war. Verstehen Sie uns doch, Major: Wenn wir zur Erde zurückkehren und dort berichten, was wir hier vorgefunden haben, wimmelt es über kurz oder lang auf dieser Welt von Soldaten, Experten und Gott weiß, was sonst noch. Sie würden alles zerstören.« »Unsinn.« »Tatsächlich? Sie wissen doch selbst, wie die Militärs denken. Was würde denn Ihrer Ansicht nach geschehen, sobald die ›hohen Tiere‹ diese Welt unter ihre Kontrolle bringen?« Alex dachte einen Moment darüber nach. Dann schüttelte er den Kopf. »Sie hätten ja nicht alles mitteilen müssen.« Kincaid schnaubte verächtlich. »Das funktioniert doch nicht. Sie würden uns so lange befragen und verhören, bis sie auch das letzte Detail erfahren hätten. Sie kennen viele Möglichkeiten, uns zum Reden zu bringen. Psychologische Manöver, Wahrheitsserum, was immer Sie wollen. Wir wollten Sie nicht belügen, wirklich nicht. Und wenn wir eine andere Möglichkeit gehabt hätten, hatten wir keinen Moment gezögert. Und irgendwann hätten wir Ihnen alles erzählt. Aber bis dahin durften wir Sie einfach nicht fortlassen. Erst hätten Sie selbst feststellen müssen, was diese Welt Ihnen geben kann. Bei der Perfektion handelt es sich um eine fragile Angelegenheit. Sie überlebt keine Mikroskope und Laborversuche, Major. Als wir dann erkannt hatten, an was für einem Ort wir uns befinden, haben wir abgestimmt. Das Ergebnis fiel einstimmig aus. Wir kehren nicht zurück. Wir sind hier glücklich, zum ersten Mal in unserem Leben
glücklich. Diese Welt ist Eden, Major. Wollen Sie derjenige sein, der die Schlange ins Paradies bringt?« »Sie haben dabei eines übersehen«, entgegnete Alex. »Ich habe an der Abstimmung nicht teilgenommen. Sie sind noch jung. Vielleicht können Sie Ihre Pflichten und Ihre Verantwortung vergessen. Ich kann das nicht. Und ich gehe durch das Tor zurück.« Er schritt auf den Ausgang zu. Kincaid stellte sich ihm in den Weg. »Ich fürchte, wir können Ihnen das nicht erlauben, Major.« »Ich kann mich nicht daran erinnern, Sie um eine entsprechende Erlaubnis gebeten zu haben, Captain.« Zum ersten Mal seit seiner Ankunft hielt Alex die Pistole in der Hand. Welch eine Ironie, Er war ursprünglich heute abend ins Gemeindehaus gekommen, um Berenn als Zeichen seines Vertrauens die Dienstwaffe zu überreichen. Nun war er froh, daß er nicht voreilig gehandelt hatte. Kincaid blickte auf die Waffe, wich dem Major aber nicht aus. »Sehen Sie jetzt, Sir, was ich eben gemeint habe? Gewalt als erste Lösung, die einem in den Sinn kommt. Wie viele Waffen wollen Sie in diese Welt bringen?« »Ich will Sie nicht verletzen, Kincaid. Aber ich befehle Ihnen, mir den Weg freizumachen.« »Dann müssen Sie mich erschießen, Alex.« Er sah dem Captain ins Gesicht. Kincaids Miene ließ keinen Zweifel daran zu, wie ernst es ihm damit war. Alex senkte die Pistole. Dann riß er sie plötzlich hoch und schlug sie dem Captain gegen das Kinn. Kincaid brach zusammen, und der Major eilte an ihm vorbei zur Tür. »Alex!« schrie Berenn. »Nein!« Er ließ das Dorf hinter sich, überquerte die Lichtung und rannte dorthin, wo er bei Tageslicht vergeblich gesucht hatte. Er kannte den Weg so gut, daß er sich auch in der Dunkelheit
nicht verirrte. Er hörte Berenns Rufe hinter sich. Sie wollte ihn aufhalten und rief gleichzeitig die anderen zusammen. »Hilfe! Jemand muß ihn stoppen!« Dann folgte sie ihm. Andere stürmten aus ihren Hütten und eilten hinter dem Major her in den Wald. Er rannte. Wozu? Seine Lungen brannten, und er wagte es nicht, sich noch einmal umzudrehen. Wohin? Er rannte zu der Stelle, wo das Loch auf ihn wartete, wohin er sich wenden mußte, ganz gleich, was ihn aufzuhalten versuchte. Warum? Weil ich Befehle befolgen muß, verdammt noch mal! Den nächsten Hügel hinunter, über die Steine, und dann sah er es: ein anderthalb Meter breites Rechteck, das etwas über dem Boden in der Luft schwebte. Es glühte matt, und während er ihm näherkam, entdeckte er, daß es nur von vorn zu sehen war. Er setzte zum Spurt auf das Tor an. Er hörte, wie sie ihn verfolgten. Fast hatte er es geschafft… »Alex! Warte bitte!« Er blieb einen Schritt vor dem Tor stehen. Er spürte schon die Kraft, die an ihm zog. Er riskierte einen Blick über die Schulter. Berenn lief auf ihn zu. »Bitte«, sagte sie, »du darfst nicht gehen!« »Es tut mir leid, aber mir bleibt keine andere Wahl!« »Warum? Du hast mir selbst erzählt, daß dort nichts auf dich wartet.« Warum? »Weil ich ein sehr guter Soldat bin«, entgegnete er und hörte den bitteren Unterton in seiner Stimme. »Nicht mehr und nicht weniger bin ich mein ganzes Leben lang gewesen. Wahrscheinlich kann auch nie etwas anderes aus mir werden. Wenn man mir das nimmt, was bleibt dann noch von mir übrig? Du hast gesagt, ich sei ein Ehrenmann. Bitte, laß mir wenigstens das. Es ist… ist alles, was ich habe. Lebwohl, Berenn.«
Als sie die Hand nach ihm ausstreckte, sprang er durch das Tor. Und die gleißende Helligkeit umfing ihn.
»Sie sind also davon überzeugt, daß es sich um eine rein agrarische Zivilisation handelt?« Alex nickte. »Nach allem, was ich zu sehen bekommen habe, glaube ich das.« Die anderen tauschten Blicke aus. Sobald Alex durch das Tor gekommen war, die Sirenen und Alarmanlagen angesprungen waren und sich auf Gregorys Miene Überraschung und Freude abwechselten, waren zahlreiche Telefonate mit einer Unzahl von Regierungsstellen geführt worden. Ein halbes Dutzend Beamter war bereits eingetroffen. Die anderen würden bald folgen. Alex kannte die meisten Männer nicht, die hier am Tisch Fragen stellten und auf ihn einredeten. Er wußte, daß er ihre Namen nicht erfahren würde, und wenn er sich noch so oft danach erkundigte. Sie stellten ihm Fragen. Er gab ihnen Antworten. So spielte man das Spiel, das er so gut kannte. Seit zwei Stunden bearbeiteten sie ihn nun schon. »Wie schätzen Sie die Möglichkeit ein, daß die dortigen Bewohner eine Bedrohung unserer nationalen Sicherheit darstellen könnten?« »Null. Sie verfügen über keinerlei Offensivwaffen.« »Was haben sie denn für Waffen? Und auf welchem technologischen Standard stehen sie?« »Ich habe weder Waffen noch irgendwelche Technik entdeckt, Sir.« »Und wie steht es mit ihren Verteidigungseinrichtungen?« »Nicht vorhanden.«
Wieder sahen die Männer sich an. Alex gefiel es nicht, was er in ihren Augen las. »Vielen Dank, Major. Entschuldigen Sie uns jetzt bitte für einen Moment.« Alex erhob sich, salutierte und marschierte zum anderen Ende des Labors. Gregory stand dort und rauchte. Aber er wirkte glücklich. Er wußte, daß die Männer, die ihn befragt hatten, in der Hierarchie ganz weit oben standen, daß sich über ihnen nur noch der Präsident befand. Ihre Anwesenheit ließ auf eine enorme Bedeutungssteigerung dieser Operation schließen. Niemand konnte voraussehen, welche Ausmaße diese Geschichte annehmen würde. Gregory war jedenfalls entschlossen, daran teilzuhaben. »Irgendwelche Anmerkungen?« fragte einer der Männer am Tisch. Die anderen steckten die Köpfe zusammen. Sie unterhielten sich leise, aber das Summen ihrer Stimmen erfüllte den ganzen Raum. »Ich denke, wir befinden uns in einer ausgezeichneten Position«, erklärte einer von ihnen. »Die Medien haben noch keinen Wind davon bekommen. Eine ganz neue Dimension tut sich für uns auf.« »Wie steht es mit Handelsabkommen? Für den Anfang auf Tauschhandelsbasis. Technologie, Berater und vielleicht sogar Waffen, um ihre Regierungsform, wie immer die auch aussehen mag, abzusichern.« Die anderen lachten verächtlich. »Ich denke, wir sollten die Waffen in den eigenen Händen behalten, zumindest für die erste Zeit. So bleiben die Dinge in der Symmetrie, die uns vorschwebt.« Der General bedeutete Alex, zu ihm zu kommen. Er klopfte ihm auf die Schulter. »Gute Arbeit, Alex.« Er schüttelte den Kopf. »Ich komme mir vor wie ein Schwein.«
»Nein. Gut, es war nicht einfach. Aber du hast getan, was du tun mußtest. Du hast die Befehle hervorragend in die Tat umgesetzt.« »Ja«, brummte Alex. »Ja, das habe ich getan, genau das, nicht wahr?« Er blickte zu den Regierungsvertretern, die sich intensiv berieten. »Sag mir, Gregory, hättest du die Schlange in den Garten Eden gelassen?« Der General zuckte die Achseln und zündete sich die nächste Zigarette an. »Zu meinem Glück bin ich nicht derjenige gewesen, der diese Entscheidung zu treffen hatte.« Am Tisch winkte einer der Berater Gregory zu. »Ich bin gleich zurück«, erklärte er Alex und ging zu den Männern. Der Berater und der General tauschten sich flüsternd aus, während die anderen mit ihrer Situationsanalyse fortfuhren. »Ich denke, Sie übersehen den strategischen Wert dieser Geschichte«, erklärte ein Berater. »Stellen Sie sich vor, wir könnten weitere Tore auf jener Welt finden, die sich zu anderen Punkten auf der Erde öffnen. Ein effektives Transportsystem für Truppen und Material stünde uns damit zur Verfügung.« »Das ist richtig. Ein enormes Erstschlagspotential wäre uns damit in die Hand gegeben. Binnen Sekunden könnten wir überall auf der Welt mit Truppen angreifen oder taktische Atomwaffen zum Einsatz bringen. Himmel, wir könnten unsere Nuklearwaffen da oben lagern, und niemand hätte eine Chance, sie zu vernichten.« Alex griff sich an die Schulter und riß sich die Majorssterne von den Epauletten. Er legte sie auf eine Konsole. Keiner bemerkte es. »Aber was, wenn die Russen auch auf dieses Verfahren stoßen und die gleiche Technik entwickeln?« Alex trat durch den Raum, schritt an dem Militärpolizisten vorbei und erreichte die Schleuse, die zum Wall führte. Seine Finger glitten über das kühle Metall. Niemand bemerkte es.
»Darauf müssen wir es eben ankommen lassen. Und aus diesem Grunde müssen wir auch schnell handeln, damit die Vorteile möglichst lange auf unserer Seite liegen. Das Pentagon…« Alex brachte die Schleuse hinter sich, bevor ihn jemand aufhalten konnte. Rote Alarmlichter flammten sofort auf, und er hörte gedämpft das Heulen von Sirenen. Alex riß ein Metallrohr aus der Verankerung und verklemmte damit die Luftschleuse. Er achtete nicht auf die Gesten und Versuche der Männer, sie zu öffnen. Jetzt nicht aufhören! dachte er. Nicht aufhören, sonst kommst du nie ans Zielt Wasserski. Er trat durch die zweite Schleusentür und gelangte in den Hauptraum. Die Stahlwand fuhr automatisch nach oben. Er sah ihre Gesichter jenseits der Glasscheibe. Einige zeigten auf ihn. Andere fluchten offenbar lautstark. Einer sprach aufgeregt in einen Telefonhörer hinein. Wahrscheinlich alarmiert er den Sicherheitsdienst. Die Scheibe war so dick, daß er nichts hören konnte. Er fand ein weiteres Stück Rohr, das lose von der Wand hing. Er riß es ab, als Gregory endlich die Sprechanlage einschaltete. »… um alles in der Welt hast du eigentlich vor?« Ein Militärpolizist trat mit einer Feueraxt an die Glasscheibe. Sie würden mindestens eine Minute brauchen, um das dicke Glas zu durchbrechen. Eine Minute war genug für ihn. Alex trat an die Gegensprechanlage. »Höre, General! Ich habe eine wichtige Nachricht für dich. Sag deinen Vorgesetzten… mach ihnen klar, daß Perfektion eine sehr fragile Angelegenheit ist! Sag ihnen, daß ich meine Arbeit erledigt habe. Und teile ihnen mit, daß ich kündige!« Er schaltete ab und trat mit dem Stück Rohr an die nächste Konsole. Er schlug darauf ein. Funken stoben hoch, und
Schaltkreise zerplatzten. Er schlug wieder und wieder zu, hörte nicht mehr, was die anderen ihm zuriefen. Aber er behielt das Tor im Auge, achtete genau darauf…… und als es anfing zu flackern, als es matter wurde und einer Glühbirne glich, die jeden Moment durchbrennt… Jetzt! dachte er, schlug noch einmal mit aller Kraft zu und sprang durch das Tor. Als das Weiß ihn umfing, hörte er die Explosion, die den beschädigten Konsolen endgültig den Rest gab. Er betete darum, daß das Tor noch lange genug stabil blieb, um ihn an sein Ziel zu befördern, bevor es endgültig erlosch.
Sie blieben neben einem der Bäume stehen, der sich mit seinen eigenartig geraden Ästen zum Himmel emporreckte. Weit unten lag kaum noch sichtbar das Dorf. Sie hatten den ganzen Morgen gebraucht, um hierher zu gelangen. Der Panoramablick war so beeindruckend, wie sie es ihm angekündigt hatte. Nach einer Weile sah Berenn ihn an. Noch bevor sie den Mund öffnete, wußte er, was sie ihn fragen wollte; wußte, daß sie damit gewartet hatte, bis feststand, daß niemand mehr kommen konnte und das Tor für immer zerstört blieb. »Bist du sicher, daß sie kein neues Tor errichten können?« Er nickte fest. »Vor allem sind sie ja nur durch einen ganz unglaublichen Zufall darauf gestoßen. Wenn das Tor noch bestehen würde, könnten sie es studieren und irgendwann ein zweites errichten. Aber nun, da das Tor verschwunden ist, werden sie nie mehr in der Lage sein, etwas Entsprechendes zu entwickeln.« Sie lächelte und nahm seine Hand. »Und was hast du nun vor?« »Im Augenblick«, antwortete er und betrachtete die wunderbare, reine Welt, die sich vor ihm ausbreitete, »will ich absolut gar nichts tun.«
MAJOR ALEXANDER MCKAY, AUS DEM DIENST AUSGESCHIEDEN, HAT GELERNT, DASS ES EINE BESSERE WELT GIBT UND DASS DER HIMMEL EIN ORT IST, VON DEM MENSCHEN BESSER DIE FINGER LASSEN SOLLTEN. DOCH DER MAJOR ERHÄLT WAHRSCHEINLICH NOCH EINE BELOBIGUNG, UND DIE BESAGT: »FÜR BESONDERE DIENSTE… IN DER TWILIGHT ZONE.«
Die Trance (Koautor Jeff Stuart)
Als ich mich daran machte, die Drehbuchübersicht für die neue Staffel der Twilight Zone zu verfassen, wurde dabei auch die Themenwunschliste für die Episoden aufgeführt: Identitätsverlust… Heimatlosigkeit beziehungsweise Desorientiertheit… Terrorismus… Alkoholismus… und so weiter und so fort. Ich fügte unter anderem noch das Thema »Kontaktaufnahme zu Verstorbenen« hinzu. Damals war so etwas gerade der letzte Schrei. Seitdem hat es noch an Popularität hinzugewonnen. Damals wie heute hielt ich das Ganze für kompletten Unsinn, für eine übersteigerte Form von Seancen. Als wir zum ersten Mal über eine solche Geschichte sprachen, wußte unser Produzent, Mark Shelmerdine, nicht so recht, was es mit dieser Kontaktaufnahme, »Trance Channeling«, wie es genannt wurde, auf sich hatte. Ich beschrieb ihm den Auftritt eines der populärsten Spiritisten, der angeblich Kontakt zu einem »Krieger mit zehntausend Jahren auf dem Buckel« aufnehmen konnte. Shelmerdine nickte und runzelte die Stirn. Erst etwas später erfuhr ich, daß er verstanden hatte »Krieger mit zehntausend Haaren auf dem Buckel«. Andere hatten mich ebenfalls mißverstanden, und über einige dieser Mißverständnisse mußte ich sehr lachen. Ich stellte mir vor, wie ein Weiser der Antike grübelnd vor einem Toaster steht: »Woher soll ich wissen, ob das Ding nicht hochgeht, wenn ich es einschalte. Also schieb den Stecker nicht in die Steckdose. Faß das Gerät nicht an. Du weißt nicht, wo es vorher gewesen ist. Und wer versteht schon etwas von diesen
Dingen?« Ich fand die Vorstellung köstlich, dies aus dem Munde eines Spiritisten zu hören. Jedenfalls entschieden wir, unbedingt eine Geschichte über Geisterbeschwörung zu machen, und es entstand die folgende Story. DIE TRANCE wurde zu einer der ersten Episoden, die wir drehten. Die Dreharbeiten zu DIE TRANCE waren einerseits recht einfach, erforderten gleichzeitig aber eine außerordentliche Vielfalt. Was die Bauten und Special Effects angeht, drehten wir eine geradezu minimalistische Folge. Aber wir brauchten einen Hauptdarsteller mit unglaublichen Fähigkeiten, denn er mußte in einem Kurzfilm drei verschiedene Rollen spielen: die des Leonard Randall, die des Kriegers Delos und die der Stimme. Leonard mußte überzeugend auftreten, durfte aber nicht zur Karikatur abgleiten. Der Krieger mußte noch überzeugender sein, so daß selbst die Zuschauer glauben würden, hier spräche eine andere Person zu ihnen. Spiritisten sind für ihre Zwecke sehr gute Schauspieler. Der Krieger mußte also überzeugend ausfallen, durfte aber nicht die Intelligenz der anderen Darsteller lächerlich machen. Und die Stimme… nun, da mußte der Hauptdarsteller geradezu über sich selbst hinauswachsen. Der betreffende Schauspieler mußte zwischen den drei Rollen hin und her springen; in manchen Szenen war der Übergang von einer Person zur anderen nur einen Satz lang. In dieser kurzen Spanne mußte der Darsteller sich völlig verwandeln: seine Körpersprache, seine Stimme und Aussprache, Mimik und so weiter… und diese »neue« Person mußte beim nächsten Auftritt wieder erkennbar sein. In allen unseren dreißig Drehbüchern fand sich wohl kaum eine schwierigere Rolle.
Und Peter Scolari löste diese Aufgabe perfekt. Seine Darstellung ist überragend und absolut überzeugend. Man kennt ihn bislang nur aus der TV-Serie Newhart, und seine Darbietung in DIE TRANCE ist, wenn es noch so etwas wie Gerechtigkeit gibt, einen Preis wert.
DIE TRANCE, Produktions-Nr. 87007. Regie führte Randy Bradshaw, und die Darsteller waren Peter Scolari (Leonard Randall), Ted Simonett (Gerry), Neil Munro (Don), Grant Alianak (Dr. Greenberg), Jeannie Becker (Kilgore), Glynis Davies (erste Gläubige) und Mona Matteo (zweite Gläubige). Das Drehbuch stammt von Jeff Stuart und J. Michael Straczynski. Die Dreharbeiten begannen am 11. August 1988, und die Erstausstrahlung der Episode erfolgte am 12. November 1988.
Sie kamen von allen vier Seiten, um die Sitzreihen im Saal zu füllen – die Gläubigen, die Neugierigen, die, die davon überzeugt waren, und die, die sich davon überzeugen lassen wollten. Sie unterhielten sich leise miteinander, flüsterten und warfen immer wieder Blicke auf die Tür am anderen Ende des gedämpft beleuchteten, schalldichten Raums und warteten. Punkt neunzehn Uhr – obwohl im Saal keine Uhr war, wußten alle, daß es jetzt neunzehn Uhr sein mußte, denn er war stets pünktlich – öffnete sich die Tür, und er erschien. Er hielt den Blick gesenkt und wirkte etwas zerfahren. Ein scheuer Mann, den die absolute Aufmerksamkeit des zahlreich erschienenen Publikums nervös zu machen schien. Er stieg auf die kleine Bühne, die bis auf einen Sessel leer war. Leonard Randall, Alter zwischen dreißig und fünfunddreißig Jahren, zögerte neben dem Sessel und ließ den Blick kurz über
die Versammlung schweifen. »Ich brauche vollkommene Ruhe«, erklärte er mit kaum hörbarer Stimme. Damit ließ er sich in dem gepolsterten Sessel nieder, schloß die Augen und atmete langsam und tief… Die Verwandlung begann.
LICHTER, EIN PUBLIKUM, DIE GEEIGNETE ATMOSPHÄRE UND DAS NÖTIGE QUENTCHEN VERZWEIFELTER GLAUBENSBEREITSCHAFT – DIESE ZUTATEN SIND NOTWENDIG FÜR DAS LEBEN UND DIE ARBEIT DES LEONARD RANDALL, IN DEM MÖGLICHERWEISE, ODER AUCH NICHT, NOCH EIN ANDERER WOHNT.
Die Zuschauer in der ersten Reihe konnten sehen, wie sich seine Knöchel an den Händen weiß färbten. Die in der dritten Reihe bekamen mit, wie die Adern an seinem Hals hervortraten und wie er in unregelmäßigen Intervallen atmete. Die in der fünften Reihe verfolgten, wie sein Kopf ruckartig hochfuhr, bis er sich in königlicher Haltung erhoben hatte. Er hielt die Augen noch geschlossen und hob einen Fuß, dann stieß er ihn nach unten. Der dumpfe Aufprall wirkte in dem geräuschlosen Saal unnatürlich laut. Er wiederholte das mit dem zweiten Fuß. Sein Atem ging jetzt keuchend und bebend. Er atmete wie ein Mann am Nordpol, ein und aus, langsam… Dann wurde er starr. Er drehte den Kopf, so als höre er von irgendwo Musik, ohne die Melodie erkennen zu können. Er drehte den Kopf von links nach rechts, so als könnte er die Anwesenden durch die geschlossenen Lider sehen.
Plötzlich und abrupt öffnete er die Augen… und die versammelten Auserwählten, die Zeuge dieses Wunders wurden, stöhnten auf. »Ich bin Delos«, verkündete er und schien jeden einzelnen im Publikum zu betrachten, »und ich bin gekommen.« Er schob sich aus dem Sessel und stand auf. Der Mann, der auf die Bühne getreten war, war nervös, still und schüchtern gewesen. Der Mann, der jetzt vor ihnen stand, schien unerschütterliches Selbstvertrauen zu besitzen und zeigte eine königliche Haltung. Aller Augen waren auf ihn gerichtet, als er wieder sprach, mit einem Akzent, den niemand von ihnen einordnen konnte, denn er war so alt, daß sich keiner mehr an diese Sprache erinnern konnte. »Vor zehntausend Jahren wurde ich geboren, und vor neuntausendfünfhundert Jahren bin ich gestorben. Ich bin über das Kopfsteinpflaster der Straßen der Stadt gelaufen, die die Menschen Atlantis nennen. Wir nannten dieses Land zu meiner Zeit Schumma Zamoria. Ich habe auch den vergänglichen Ruhm des alten Griechenland gesehen. Mein Lehrmeister war Eli Ben-Zamoran, der zu den Füßen des Unsterblichen selbst studierte und dessen Namen auszusprechen ich zu gering und unwürdig bin. Von diesen beiden will ich Euch das wenige bringen, was ich vermag, um Eure Dunkelheit ein wenig zu erhellen.« Er hielt inne und betrachtete wieder die, die gekommen waren, ihn zu sehen und von ihm Rat zu erhalten. »Ich bin Delos. Und ich bin zu Euch gekommen. Sprecht, und Ihr sollt gehört werden.« Eine Hand nach der anderen flog hoch. Und Delos lächelte. Die Frau in der dritten Reihe sprudelte ihre Frage hastig hervor, weil sie wußte, daß die Zeit der Versammlung fast abgelaufen war, weil sie wußte, mit wem sie sprach, und weil
sie wußte, daß ihr diese Gelegenheit vielleicht nie wieder geboten würde. »… und David ist wirklich nett. Ich glaube, zwischen uns könnte eine Seelenverwandtschaft entstehen, aber ich bin mir nicht ganz sicher. Und ich will nicht noch einmal heiraten, solange ich keinen Mann gefunden habe, der mich liebt und Verständnis für mich hat.« Sie lächelte, ein kurzes, nervöses Zucken der Lippen. »Und das macht mich von Tag zu Tag verzweifelter.« Delos ging ein paar Schritte; als er ihr seine Antwort gab, schwang ein leicht amüsierter Unterton in seiner Stimme mit. Keinesfalls Belustigung über ihre Frage, sondern mehr das Schmunzeln des Vaters, dessen Tochter die offensichtlichste Frage der Welt gestellt hat. »Meine Tochter, in Schumma Zamoria gab es eine sehr seltene Schmetterlingsart. Ihre Flügel waren golden wie die Morgensonne, und sie bewegte sich sehr flink und behende. Wenn man sie so zu fangen versuchte…«, er griff mit der Hand durch die Luft, »… hatte man nie Erfolg. Und je angestrengter man sich bemühte, je zorniger und verzweifelter einen jeder neue Mißerfolg machte, desto aussichtsloser wurde dieses Unterfangen. Die Kinder beobachteten gern die Fremden, die auf diese Weise den Schmetterling zu fangen versuchten. Die Kinder lachten den Fremden aus und erklärten ihm schließlich: ›Seht her!‹ Die Kinder legten sich also hin, wurden ganz ruhig und leerten alle Gedanken aus ihrem Kopf. Und bald darauf landete der goldflügelige Schmetterling von Schumma Zamoria direkt hier.« Er schloß kurz die Augen und tippte sich mit dem Zeigefinger auf die Nasenspitze. Und Delos lächelte. Und alle lächelten mit ihm. Dann öffnete er erst das eine und schließlich das andere Auge und sah die Frau mit grenzenloser Geduld an. »Habt Ihr verstanden?«
»Ja, ich glaube schon. Vielen Dank, Delos«, sagte sie und verbeugte sich vor ihm, bevor sie sich wieder hinsetzte. Delos erwiderte die Verbeugung, bevor er seine Aufmerksamkeit dem Publikum zuwandte. Nur noch wenige Hände waren oben. »Dieser Gastkörper wird müde. Wir dürfen den guten Willen dieses Mannes nicht überstrapazieren. Ich werde nur noch eine letzte Frage beantworten.« Er zeigte auf eine Frau in der zweiten Reihe. »Ihre.« Sie erhob sich, zupfte nervös ihr Kleid gerade und verbeugte sich. »Vielen Dank, Delos. Ich möchte eine Frage stellen, die jedoch nicht direkt etwas mit mir zu tun hat. Ihr habt so lange geschwiegen, warum seid Ihr gerade jetzt zurückgekehrt?« Er drehte sich um, hielt die beiden Zeigefinger an die Lippen und schritt über die Bühne. »Ihr stellt zwei Fragen. Ich komme zu Euch durch den, den man Leonard nennt, denn er wurde auserwählt, Weisheit zu empfangen. Das Universum hat ihn dazu bestimmt, und er soll große Weisheit erhalten. Was die zweite Frage angeht…« Er sah die Frau direkt an, und auf seiner Miene zeigten sich soviel Sorge und Kummer, wie seine Anhänger es noch nie bei ihm erlebt hatten. »Vor zehntausend Jahren wurde ich in eine Welt geboren, die gerade eine große Veränderung durchgemacht hatte. Etwas Gewaltiges war geschehen, von dem ich vielleicht bei einer anderen Gelegenheit künden werde. Dieses Ereignis hatte die Welt verändert, sowohl zum Guten als auch zum Schlechten. Vor fünftausend Jahren geschah eine weitere Veränderung, in deren Verlauf Schumma Zamoria zerstört wurde und als Opfer seiner eigenen Verderbtheit in den Fluten unterging. Und nun schließt sich der Kreis ein drittes Mal. Eine dritte Veränderung kündigt sich an. Sie mag Gutes oder Schlechtes bringen, und Ihr alle, jeder einzelne von Euch, wird den Ausschlag geben.«
Er stand nun vor dem Sessel und bedachte die Zuhörer zum letzten Mal mit seinem Blick. »Meine Zeit hier geht zu Ende. Er, dessen Körper ich benutzte, ist an seinen Grenzen angelangt, und so muß ich gehen. Erinnert Euch der Botschaften, die ich Euch heute mitteilte, und sucht beständig das Licht in Euch selbst. Ich bin Delos, und ich wünsche Euch alles Gute.« Dann ließ er sich, von Erschöpfung übermannt, langsam im Sessel nieder. Niemand im Saal gab einen Ton von sich, als alle Zeuge der Verwandlung wurden, die sich vor ihren Augen vollzog. Nachdem das Zittern und Schütteln vergangen waren, öffnete ein kraftloser und schwitzender Leonard Randall die Augen. Er blinzelte, weil die Beleuchtung ihm zu grell erschien. In nervöser Erwartung sah er die Anwesenden an. »Ist… ist Delos erschienen?« Sie beantworteten seine Frage mit starkem Applaus. Während sie noch klatschten, betrat Don Huntley, Randalls Assistent, die Bühne. Er lief auf das Medium zu, legte ihm seinen starken Arm um die Schultern und winkte den Beifall ab. »Vielen Dank für Ihr zahlreiches Erscheinen«, erklärte er. »Ich fürchte, Leonard muß sich nun für eine Weile ausruhen. Wir laden Sie herzlich ein, nächste Woche wiederzukommen. Und ich darf Sie noch einmal darauf hinweisen, daß in etwa einer Stunde in der Lobby eine Cassette der heutigen Sitzung käuflich zu erwerben sein wird.« Auf dem Weg nach draußen näherten sich einige dem Sessel, um Leonards Hände zu berühren. Er lächelte ihnen zu. Lächelte scheu. Er hatte nichts dagegen, sich von ihnen berühren zu lassen.
Als Don alle Anfragen und Verkäufe erledigt hatte, warteten noch ein paar Unentwegte in der Lobby, um einen letzten Blick auf Leonard werfen zu können. Ihre Gesichter wurden
lang, als nur Don sich ihnen präsentierte. »Tut mir leid«, sagte er, »aber so sehr Leonard Ihre Anteilnahme zu schätzen weiß, so muß er doch jetzt dringend im Meditationsraum zur Ruhe kommen. Es ist sehr anstrengend, die Verbindung zu Delos herzustellen. Seien Sie in seinem Namen bedankt.« Er wartete, bis auch der letzte von ihnen gegangen war. Dann zog er seine Krawatte gerade, machte auf dem Absatz kehrt und eilte auf die Doppeltür am Ende des Ganges zu, die die Aufschrift MEDITATIONSRAUM trug. Der Raum war sauber, aber spärlich eingerichtet. Ein zweisitziges Sofa stand vor der kreisrunden Wand, die nur von der Tür und einem hohen Spiegel unterbrochen wurde. Ansonsten enthielt das Zimmer einen kreisförmigen Schreibtisch aus Marmor, der für viel Geld aus Indien eingeflogen worden war. Das hier herrschende gedämpfte Licht verbreitete die gewünschte Atmosphäre und stammte von verborgenen Lampen. Der Meditationsraum war Leonards Allerheiligstes, und nur wenigen Personen wurde Zugang gewährt. Und weil diese wenigen Auserwählten bereit waren, für private Sitzungen größere Zuwendungen zu erteilen, mußte die Atmosphäre in diesem Zimmer zu jeder Stunde in geeigneter und ansprechender Weise geheimnisvoll und metaphysisch sein. Leonard saß hinter dem Schreibtisch und kehrte der Tür den Rücken zu. Don konnte in dieser Beleuchtung nur mit Mühe Leonards Hinterkopf ausmachen. Der Meister schien zu meditieren. »Sie sind fort«, erklärte er, erhielt aber keine Antwort. »Leonard?« Nach einer kleinen Weile fuhr der Drehstuhl herum und zeigte den Meister, der die Kopfhörer seines Walkmans trug. »Ob du es glaubst oder nicht, die Clippers gewinnen zur Abwechslung einmal!« grinste er breit. »Wir leben in einer Zeit der Wunder.« Er nahm den Kopfhörer ab und legte den Walkman auf den Schreibtisch. »Wie waren die Einnahmen?«
»Das übliche. Heute war mehr in der Kasse als gestern, und gestern war mehr drin als vorgestern.« Leonard grinste immer noch. Manchmal, vor allem beim Kassensturz, war er wie ein kleines Kind, das die Münzen aus seiner Spardose vor sich aufstapelt, um festzustellen, wie hoch es den Turm bauen kann, ohne daß er umkippt und auf den Teppich fällt. »Gib mir die genauen Zahlen.« Don zog den Notizblock aus der Tasche und las die Eintragungen vor. Leonard bestand auf einer gründlichen Buchführung. »Wir sind auf Monate hinaus ausgebucht. Die Verkäufe von Kristallen, Cassetten und Amuletten sind um fünf Prozent gestiegen. Die Buchverkäufe gar um zehn. Die Druckerei steht schon bereit für eine weitere Auflage, die wir nach deinem morgigen Fernsehauftritt spielend leicht loswerden dürften. Oh, das erinnert mich daran, daß du das Interview mit den Fernsehleuten um drei Uhr nicht vergessen darfst.« »Geht klar«, sagte der Meister. »Dürfte wohl eine mittlere Sensation auslösen, wenn Delos von der Ost- bis an die Westküste zu sehen und zu hören ist.« »Macht bestimmt Fernsehgeschichte! Sobald uns im Fernsehen der Durchbruch geglückt ist, können wir uns alles erlauben. Dann braucht es nur noch einen Wink hier und einen Fingerzeig da, und schon haben wir unsere eigene Show.« Leonard hob warnend einen Finger. »Eines nach dem anderen. Wie unser lieber Freund Delos sagen würde«, er runzelte die Stirn, reckte sich und verwandelte sich in den antiken Krieger, »im Prophetengewerbe sollte man nichts als gegeben ansehen.« Dann wandte Leonard das Gesicht ab und fügte mit leicht veränderter Stimme hinzu: »Damit hat er die Wahrheit stärker getroffen, als er wissen dürfte.« »He, das war gut!« freute sich Don.
»Hä?« Leonard schien wie aus einem Traum zu erwachen. »Danke, ja, ich denke auch, daß ich das weiterverwerten kann. Hör zu, bevor ich mich in die Höhle des Löwen begebe, möchte ich, daß du mir alles Wissenswerte über diese TV-Frau Kilgore besorgst. Je besser ich vorbereitet bin, desto überzeugender kann ich Delos auftreten lassen.« Don klappte den Notizblock zu und schob ihn in die Westentasche. »Geht klar. Soll ich ihr auch eine Kurzbiographie von dir zukommen lassen?« »Wäre nicht das schlechteste«, antwortete der Meister. »Aber nichts Spektakuläres oder so. Weise sie nur darauf hin, daß ich das demütige Werkzeug des großen Delos bin.« In diesem Moment wandte er wieder das Gesicht ab. »Ein brauchbares Werkzeug läßt sich selbst aus dem einfachsten Metall schmieden.« »Stimmt genau«, grinste Don und verließ den Meditationsraum. Dieser Leonard hatte ständig einen passenden Spruch auf den Lippen. Im Studio war es kalt, und es ging geschäftig und laut zu. Mikrofonproben lösten sich mit dem Zusammenzimmern der Kulissen ab. Bühnenarbeiter schoben Dekorationsstücke von einer Ecke in die andere und traten leichtfüßig über die, wie Don schätzte, vielen Meilen Kabelstränge. Fünf verschiedene Shows wurden in diesem Studio aufgezeichnet, darunter auch eine Sendung mit Koch- und Küchentips und ein Gesundheitsmagazin. Doch nur die Ann-Kilgore-Talkshow war auf dem TV-Markt ein echter Hit. Zusammen mit Leonard, der sich in der gebührenden Weise vom Fernsehbetrieb überwältigt zeigte, folgte Don dem Produktionsassistenten durch den Irrgarten von Kabeln und Kameras in den hinteren Teil des Studios. »Nur eine Formsache«, erklärte Gerry, der Assistent. »Mrs. Kilgore möchte Gäste, die zum ersten Mal bei uns auftreten, vorher
gern persönlich begrüßen, damit sie ein Gefühl für das Studio bekommen und uns wissen lassen, über welche Dinge sie gern reden möchten. Hier entlang bitte.« Sie traten durch eine Tür und gelangten in einen wesentlich kleineren, dafür aber wärmeren Raum. Poster von Ann Kilgore hingen an beiden Wänden, dazwischen Fotos von Gästen, die bereits bei ihr aufgetreten waren. »Nehmen Sie doch Platz«, forderte Gerry die beiden auf, zog einen Recorder aus einer Schublade und stellte ihn auf den Tisch. »Ich hoffe, der Kasten macht Ihnen nichts aus. Jedenfalls erspart er mir die Mühe, haufenweise Notizen zu machen. Sobald wir das hinter uns haben, gebe ich das Band meiner Sekretärin, und die stellt dann die Fragen zusammen, die Mrs. Kilgore Ihnen in der Sendung stellen wird.« »Das geht klar.« »Fein«, sagte der Assistent und schaltete das Aufnahmegerät ein. Dann wandte er sich an Leonard. »Mr. Randall, habe ich das richtig verstanden, Sie sind Gedankenleser?« »Nicht direkt«, antwortete Don an seiner Stelle. Leonard liebte es, wenn sein Mitarbeiter solche grundsätzlichen Erklärungen abgab. »Mr. Randall ist Geisterbeschwörer und Medium. Ein Geist namens Delos spricht durch ihn.« Leonard drehte wie auf ein Stichwort das Gesicht zur Seite. »Aha, verstehe«, erwiderte Gerry. »Also, gibt es irgendwelche besonderen Themen, die Sie während des Interviews zur Sprache bringen möchten?« Leonard öffnete den Mund, um etwas zu sagen, brachte aber nichts über die Lippen, sondern starrte in die Ferne. Was treibt er denn jetzt schon wieder? dachte Don. Dann beugte der Meister sich vor und betrachtete Gerry mit eigenartigem Interesse. »Ich möchte eigentlich nur darauf hinweisen, daß die wahre Bedeutung des Lebens in dem Sinn besteht, den wir ihm geben – denn das Universum kennt Gnade und Erbarmen, aber
nicht die Eifersucht, so daß es eine Vielzahl von Ansichten zuzulassen bereit ist. Alle Wahrheiten haben ihre Bedeutung und Berechtigung, alle Glaubensrichtungen sind wertvoll, und das einzige Geheimnis besagt, daß es keine Geheimnisse gibt.« Leonard blinzelte, lehnte sich zurück und erklärte: »Und am vierzehnten treten wir im Pacific Art Stadium während der dortigen Rallye auf.« Gerry ließ den Stift fallen und starrte Don an. Der Mitarbeiter zuckte nur die Achseln. Leonard sah die beiden nacheinander an und räusperte sich. »Na ja, ich dachte, das sollten wir erwähnen, weil das für uns eine wichtige Veranstaltung wird. Mrs. Kilgore könnte ja kurz darauf eingehen.« »Auf was?« »Wie bitte?« »Sie müssen Mr. Randall entschuldigen«, erklärte Don rasch und lächelte. Wenn Leonard hier irgendeine Show abziehen wollte, ohne das vorher mit seinem Assistenten abgesprochen zu haben, dann würde es später aber ein Donnerwetter setzen. »Er hat in der letzten Zeit sehr hart gearbeitet, härter als ihm gutgetan hat.« Der Meister schüttelte den Kopf. Saß plötzlich kerzengerade da. »Ich habe keine Schwierigkeiten und sehe alle Dinge so, wie sie sind. Gerade das ist ja der Fluch, der auf mir lastet. Ich erkenne auch, daß dieses sogenannte Fernsehen die mit Abstand größte Zeitverschwendung in der Geschichte der Menschheit ist.« Er betrachtete Gerry mit düsterer Miene. Als er fortfuhr, klang seine Stimme noch tiefer und zwingender als zuvor. »Ihr macht Euch ein Vergnügen aus den Schmerzen der Menschen. Ihr stellt Menschen öffentlich bloß, um Menschen, die sich das eigentlich nicht leisten können, zum Kauf von unnützem Tand zu bewegen. Und das alles dient vornehmlich dem Zweck, Euren Reichtum zu mehren. Ja, ich sehe alle Dinge so, wie sie
sind. Denn ich sehe auch, daß die Frau, für die Ihr arbeitet, eine Betrügerin und Fälscherin ist, die außerdem noch gefährliche Drogen einnimmt…« Abrupt und mit hochrotem Gesicht sprang Gerry auf. Schaltete dabei hastig die Recorder ab. »Ich denke, das reicht. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen möchten.« Er stürmte aus dem Zimmer und warf die Tür hinter sich ins Schloß. Don drehte sich zu Leonard um. »Was um alles in der Welt ist in dich gefahren?« »Wie?« entfuhr es dem Meister. »Wo ist der Mann denn hin?« »Weg. Und ich könnte ihm nicht einmal einen Vorwurf machen, wenn er nach dem, was du gerade von dir gegeben hast, Kilgore dazu rät, dich aus der Show zu nehmen!« »Nachdem ich was… Don, ich habe doch überhaupt nichts gesagt!« »Halte mich nicht zum Narren, Leonard!« »Das tue ich ganz bestimmt nicht, ehrlich!« »Nein?« Don ließ das Band im Recorder zurücklaufen und drückte dann auf PLAY Die Stimme, die kaum noch Ähnlichkeit mit der von Leonard hatte, erfüllte den Raum. Der Meister lauschte und schüttelte den Kopf. »Wer spricht denn da?« wollte Leonard wissen. »Du, Leonard. Du sprichst da!«
Don erklärte der Telefonistin, keine Anrufe durchzustellen, und eilte in den Meditationsraum. Ein paar indiskrete Fragen hatten ihn den Namen herausfinden lassen, den er brauchte. Die einzige Schwierigkeit bestand jetzt darin, Leonard zum Mitspielen zu bewegen. Doch er kannte ihn lange genug, um auch dafür eine Lösung zu finden. Der Meister erhob sich, als der Mitarbeiter den Raum betrat. »Hast du den Produzenten erreicht?« Don nickte.
»Und… wie stehen unsere Chancen?« »Ich bin reichlich ins Schwitzen geraten, Leonard, und bin jetzt einer Menge Leuten einen Gefallen schuldig. Aber wir sind immer noch in der Show.« Der Meister rieb sich erleichtert übers Gesicht. »Na, wenigstens einmal eine gute Nachricht.« »Sicher, Leonard, aber so kann es einfach nicht weitergehen. Du mußt etwas unternehmen, bevor du bei der Kilgore in der Sendung sitzt. Du mußt es… mußt diese Stimme oder was auch immer unter Kontrolle bringen.« »Na ja, Delos kann es nicht sein, denn ein solches Wesen gibt es nicht. Verdammt noch mal, Don, wir haben diesen Delos erfunden. Kannst du dich noch daran erinnern, wie ich zum ersten Mal von einem ›alten Krieger mit zehntausend Jahren auf dem Buckel‹ gesprochen habe. Und du hast damals verstanden ›alter Krieger mit zehntausend Haaren auf dem Buckel‹! Himmel noch mal, ich glaubte an jenem Tag, du würdest nie mehr aufhören zu lachen.« »Ja, war lustig, aber heute ist es mit dem Spaß vorbei, Leonard. All das Geld, all die guten Zeiten sind schlagartig zu Ende, wenn du diese komische Stimme nicht zum Schweigen bringst.« Er griff in seine Tasche und zog ein Formular heraus. »Aus diesem Grund habe ich auch einen Termin mit jemandem vereinbart, der sich dich einmal ansehen will. Ein Spezialist, der dir sicher helfen kann.« Leonard starrte das Formular nur an, nahm es aber nicht entgegen. Seine Lippen wurden zu schmalen Strichen. »Ein Psychiater? Nichts da. Ich gehe zu keinem Psychiater.« »Leonard, ich habe keine Ahnung, was hier vor sich geht, und du weißt es anscheinend auch nicht. Aber ich bin mir durchaus bewußt, daß unsere Existenz von dieser Talk-Show morgen abhängt. Wenn du die versaust, können wir einpacken.«
»Ich habe nein gesagt. Ich werde damit schon fertig.« Don sah ihn lange an. »Leonard«, begann er langsam, »erinnerst du dich an Atlanta? Hast du noch im Gedächtnis, wie es damals war, von Zelt zu Zelt zu ziehen, Kleingeld aus Dreck zu machen, den Leuten Bibeln und was weiß ich noch aufzuschwatzen…« Der Meister riß ihm den Zettel aus der Hand. »Ist ja schon gut. Ich gehe zu dem Mann.« Er kehrte Don den Rücken zu, griff nach seinem Mantel und erstarrte. Richtete sich gerade auf. Scheiße, nein! dachte Don, als der Meister ihm über die Schulter einen Blick zuwarf. Dieses Lächeln gehörte nicht Leonard. »Es dürfte ein… erhellendes Erlebnis werden.« Don stöhnte. Leonard zuckte zusammen und sah seinen Mitarbeiter erschrocken an. »Es ist schon wieder passiert, nicht wahr?« »Ja, es ist schon wieder passiert.« »Sieh zu, daß du den Arztbesuch ein paar Stunden vorverlegen kannst!« sagte der Meister und verließ fluchtartig das Zimmer.
Dr. Greenberg legte die Stirn in Falten und zündete sich die nächste Zigarette an. »Tut mir leid«, erklärte er dann. »Können wir noch einmal ein Stück zurück? Ich fürchte, da war etwas, was ich nicht ganz verstanden habe.« »Natürlich«, sagte der Mann auf der Couch. Der Termin war in letzter Minute zustande gekommen. Schon nach fünf Minuten von Leonards Erzählung kam der Psychiater nicht mehr mit. »Sie sagen, Sie hören Stimmen?« »Nein, nicht ganz. Ich bin vermutlich der einzige, der sie nicht hört, wenn ich auch nicht weiß, warum das so ist. Aber
alle um mich herum hören die Stimme. Ich trete sozusagen ab, und dann spricht die Stimme aus mir und sagt Dinge, über die ich keinerlei Kontrolle habe.« »Habe ich es also doch richtig verstanden.« Er las in den Notizen, die er sich gemacht hatte. »Sie sind ein Medium, nicht wahr? Ein Trance-Channel, jemand, der Kontakt zu Geistern aufnimmt.« »Ja.« »Nicht daß ich ein Urteil darüber abgeben möchte, aber ist es da nicht Sinn und Zweck der Sache, daß Sie Stimmen hören?« »Ja.« »Wo hegt dann Ihr Problem?« »Nun, es… verstehen Sie bitte, Dr. Greenberg, ich empfange diese Stimme wirklich, und morgen trete ich im Fernsehen auf. Wenn ich da…« »Ah ja, Fernsehen«, nickte Dr. Greenberg. »Jetzt kommt langsam Licht in die Geschichte, falls der Vergleich erlaubt ist.« Er drückte die Zigarette aus und steckte sich die nächste in den Mund. »Mr. Randall, ich arbeite nunmehr seit zwanzig Jahren als Psychotherapeut. Ich bin stolz auf das, was mir in dieser Zeit gelungen und möglich gewesen ist. Wenn auch Sie stolz auf Ihre Arbeit sind, dann würde ich an Ihrer Stelle solche kleinen Publicity-Gags nicht nötig haben. Von mir aus können Sie erzählen, so viele Stimmen wie nur irgend möglich zu hören, Mr. Randall. Meinetwegen den gesamten TabernakelChor der Mormonen, der Ihnen mitten in der Nacht Brahms vorträgt. Aber mißbrauchen Sie bitte nicht mich, um Ihrer kleinen Show Glaubwürdigkeit zu verleihen.« Er zündete sich die Zigarette an und wartete geduldig auf den Protest, der aller Erfahrung nach jetzt folgen mußte. Doch Leonard widersprach nicht. Er richtete sich nur etwas gerader auf, betrachtete den Psychiater wie ein Forscher ein kurioses Studienobjekt und
nickte dann: »Ja, Ihr seid ein guter Mensch. Einer der wenigen, die mir hier begegnet sind.« »Das stimmt, und ich…« Er fuhr in seinem Sessel zurück, als ihm deutlich wurde, wie sehr die Stimme seines Patienten sich verändert hatte. Er ist wirklich gut, dachte der Arzt. Körperhaltung, Gestik und Tonfall alles hat sich subtil, aber wirkungsvoll verändert. »Das war jetzt wohl diese Stimme, oder? Sehr nett. Und was können Sie sonst noch?« »Ich spreche die Wahrheit, nicht mehr und nicht weniger. Ich schätze, ich unterscheide mich da nicht von Ihnen.« »Verstehe. Und wer seid Ihr, bitte?« erkundigte sich der Psychiater und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. »Napoleon vielleicht? Oder Aristoteles?« »Napoleon ist tot. Aristoteles ist tot. Und Ihr macht mir auch nicht den gesündesten Eindruck. Warum tut Ihr Euch das selbst an?« »Was?« fragte Greenberg verblüfft und bemerkte dann, daß Leonard auf seine Zigarette blickte. Das verärgerte den Arzt. »Ich denke, das war genug für heute, Mr. Randall.« »Ihr vermißt sie sehr, nicht wahr?« »Wie bitte?« »Ich sehe großen Schmerz in Euch. Dabei konntet Ihr nichts tun, um es zu verhindern. Selbst wenn Ihr früher dort angekommen wärt, Ihr hättet nichts mehr daran ändern können.« Er erhob sich und machte einen Schritt auf den Schreibtisch zu. »Euer Weib vermißt Euch ebenso sehr wie Ihr sie. Aber sie würde es begrüßen, wenn Ihr nicht alle Kraft dafür einsetzen würdet, die Wiedervereinigung zu beschleunigen.« Greenberg schlug mit der Faust auf den Tisch. »Raus!« Leonard fuhr erschrocken zusammen. »Was? Wie? Was habe ich getan?« »Sie wissen sehr gut, was Sie getan haben!« Der Arzt zeigte mit der Zigarette auf ihn. »Wie können Sie… wie können Sie
die Unverfrorenheit besitzen, meine Frau für die vorgebliche Authentizität Ihrer Show zu mißbrauchen? Von allen billigen und miesen… Hören Sie, verlassen Sie auf der Stelle meine Praxis. Vergessen Sie mein Honorar! Vergessen Sie alles, mich und diese Begegnung! Verschwinden Sie!« Leonard zog sich rasch zur Tür zurück, griff sich unterwegs den Mantel und verschwand nach draußen. Verfluchter Kerl! dachte Greenberg, als der Schmerz in ihm zu neuem Leben erwachte. Verfluchter Mistkerl! Er öffnete die Schreibtischschublade, in dem er ihr Bild aufbewahrte. Sie lächelte ihn von der verblaßten Aufnahme an. Das letzte Bild, das er von ihr gemacht hatte. Sie hatte ihm immerzu Vorwürfe gemacht und von ihm verlangt, das Rauchen einzustellen; auch wenn er damals nur ein halbes Päckchen am Tag geraucht hatte… bevor es mehr als zwei Päckchen am Tag geworden waren, bevor sie… Er schloß die Augen. Als er sie wieder öffnete, drückte er die brennende Zigarette aus.
Don betrat zehn Minuten vor dem Auftritt den Schminkraum. Mit dem Publikum im Studio ging alles klar. Der Sender hatte ein paar Mitarbeiter des Hauses darunter gemischt, die an der richtigen Stelle applaudieren sollten und den Beifall bei Bedarf verstärken würden. Vor allem, wenn Ann Kilgore Leonard vorstellte. Alles war bestens vorbereitet. Hoffte Don wenigstens. Leonard trug immer noch den Schminklatz, während er nervös im Zimmer auf und ab lief. »Wie sieht’s draußen aus?« »Mach dir darum keine Sorgen. Viel wichtiger ist, wie es dir geht.« »Ich denke, ich bin okay. Ich habe mir gestern einen dieser Stimmaktivierungs-Recorder besorgt und ihn neben meinem
Bett aufgestellt. Die Stimme hat sich die ganze Nacht hindurch nicht gemeldet. Ich hoffe, sie ist von mir gegangen.« »Das hoffe ich auch«, antwortete der Mitarbeiter und drehte sich um, als an die Tür geklopft wurde. Gerry, mit Schreibbrett und Kopfhörer, schaute herein um mitzuteilen: »Noch drei Minuten, Mr. Randall.« Dann verschwand er wieder. Don nahm dem Meister den Latz ab und half ihm in die Jacke. »Sag dir nur die ganze Zeit, ich mache Delos zu einem Star, und damit habe ich bis an mein Lebensende ausgesorgt.« Er atmete tief durch, suchte Leonards Gesicht nach verschmiertem Make-up ab und klopfte ihm dann auf die Schulter. »Bist du bereit?« »Ja, bereit.« Die Bühne war klein. Lediglich ein paar gut gepolsterte Sessel standen im Halbkreis vor drei Kameras. Don trat hinter die Kameras und verfolgte auf dem Monitor die Eröffnung der Ann-Kilgore-Show, die live von fünfundsiebzig Sendern an der Ostküste ausgestrahlt wurde. Ein Videorecorder mit ZweiZentimeter-Band nahm die Show auf, damit sie zeitversetzt an der Westküste gesendet werden konnte. Mrs. Kilgore begann wie üblich: Briefe von Zuschauern, dann ein paar Worte zu den Gästen, die sie heute abend erwartete, und schließlich die erste Unterbrechung für die Werbung. Nach einer kleinen Ewigkeit hob der Aufnahmeleiter eine Hand, zeigte drei Finger, dann zwei, dann einen und deutete auf Ann Kilgore, als das rote Licht auf einer der Kameras aufleuchtete. Es geht los, dachte Don. »Nun, da sind wir wieder«, lächelte Ann in die Kamera. »Unser nächster Gast hat in der letzten Zeit für einiges Aufsehen gesorgt, und wir freuen uns sehr, ihn in der heutigen Show begrüßen zu dürfen. Er nennt sich selbst ›TranceChannel‹, eine faszinierende Tätigkeit, über die wir in den nächsten Minuten mehr erfahren werden. Doch zuerst möchte
ich, daß Sie ihn mit einem herzlichen Applaus bei seinem ersten Fernsehauftritt empfangen. Hier ist Mr. Leonard Randall!« Der Meister betrat mit einem schüchternen Lächeln die Bühne. Er schüttelte Ann die Hand und nahm dann auf dem für ihn vorgesehenen Sessel am rechten Bühnenrand Platz. »Nun, Leonard«, sagte die Talk-Masterin, »warum fangen Sie nicht einfach damit an, uns zu erzählen, worum es beim Trance-Channel geht? Ich meine, wie würden Sie selbst Ihr Wirken beschreiben?« Leonard tat so, als würde er kurz nachdenken. Er öffnete den Mund und sagte nichts. Aber er straffte seine Gestalt. Don hob instinktiv beide Hände vors Gesicht. »Oh, nein!« Der Mann, der auf der Bühne saß, war nicht mehr Leonard. Ann Kilgore, die nie Zeuge dieser Verwandlung geworden war, würde den Unterschied nicht bemerken. Don machte sich auf das Schlimmste gefaßt. »Wir leben in traurigen Zeiten, Ann Kilgore. Alle Geheimnisse, alle Magie ist uns genommen, ist uns gestohlen worden. Die Menschen, die die Magie in sich selbst nicht zu erkennen vermögen, suchen sie in anderen Dingen. Sie suchen so verzweifelt nach dem Mythischen, nach etwas, an das sie glauben können, daß sie, ohne zu fragen, selbst dem himmelschreiendsten Unsinn folgen.« »Wie zum Beispiel?« »Dem Mann zu folgen, der in diesem Stuhl sitzt.« Don flehte darum, ein Blitz möge ins Studio fahren. Oder es sollte ein Stromausfall eintreten. Alles, was ihn nur aus dieser Situation befreien würde. Aber die sonderbare Stimme fuhr ungehindert fort. »Und für die zweifelhafte Ehre, wie Schafe behandelt zu werden, für die Auszeichnung, sich wie leichtgläubige Kinder Märchen auftischen zu lassen, sind diese Menschen bereit, Geld zu bezahlen und das zu geben, was ihnen heilig und wert ist. Sie opfern ihr Vermögen, ihre Beziehung, ihre Liebe…
würden alles geben für einen Hauch von Magie.« Die TalkMasterin nickte mechanisch. Sie hatte eine ganz andere Antwort erwartet. »Vielleicht könnten Sie uns mit Delos reden lassen, Mr. Randall«, sagte sie in dem Versuch, das Gespräch in einfachere Bahnen zu lenken. »So heißt doch der zehntausend Jahre alte Krieger, mit dem Sie Kontakt aufnehmen, nicht wahr?« »Es gibt keinen Delos, hat ihn nie gegeben.« Wir sind hingerichtet, dachte Don. Selbst Gerry starrte mit offenem Mund auf die Bühne. Er hörte aus Gerrys Kopfhörer die Stimme des Regisseurs. »Lieber Himmel! Achtung, Kamera zwei, Großaufnahme, Los, zwei!« Leonards Gesicht füllte den Bildschirm aus. Er blickte in aller Ruhe, als wäre nichts geschehen. »Man möge das als Investition in die Leichtgläubigkeit der Menschen ansehen, die einen hohen Profit abwarf und abwirft. Doch nun ist das Spiel aus, ist die Maskerade vorüber. Der Gefolgschaft von Delos kann ich im Namen von Leonard Randall nur die aufrichtigsten Entschuldigungen anbieten und eine noch nicht überstrapazierte Weisheit mit auf den Weg geben: Sucht nicht Erhellung in den eitlen und selbstgefälligen Behauptungen von denen, die erklären, Ihr müßtet für das Glück Eurer Seelen bezahlen. Sucht Euer Heil nicht in diesem Fernsehkasten oder bei den Meinungen und Ansichten anderer. Sucht es vielmehr in Eurem eigenen Bewußtsein, stellt Euch Eurem Bewußtsein. Vielen Dank.« Damit lehnte er sich zurück und lächelte. Er hatte alles gesagt, was er sagen wollte. Was blieb jetzt noch übrig? Wahnsinn, dachte Don, als Anns Gesicht auf dem Bildschirm erschien. Sie lächelte. Kein Wunder. Wie oft bekam man mitten in einer TV-Show ein solches Geständnis zu hören? »Meine Damen und Herren, Sie haben es zuerst gehört«,
erklärte sie. »Wir sind in ein paar Minuten nach der Werbung zurück.«
Leonard wankte in den Meditationsraum und ließ sich hinter seinem Schreibtisch nieder. Er fühlte sich betäubt, schwerelos und bewegungsunfähig. Er hatte eben die Aufzeichnung der Kilgore-Show gesehen und die Worte gehört, die aus seinem Mund gekommen waren, ohne daß er etwas davon geahnt hatte. Er hatte nicht lange überlegen müssen, um zu wissen, daß damit alles aus war. Einem Impuls folgend wollte er gleich in die Stadt und sich irgendwo erbarmungslos betrinken. Aber da sein Gesicht immer noch auf allen Bildschirmen zu sehen war, in jeder Bar und in jedem Nachtclub, war ihm diese Fluchtmöglichkeit versperrt. Er wollte auch nicht die Telefonanrufe entgegennehmen, die jetzt massenhaft in seinem Hauptquartier eingingen. So hatte er sich in einem Hotelzimmer eingemietet, um dort die Nacht zu verbringen. Und heute war die Mission, das Hauptquartier der Delos Inc. leer. Binnen vierundzwanzig Stunden hatte es sich von einem Bienenstock in ein totes Haus verwandelt. Die fünftausend Exemplare der Neuauflage von DAS BUCH VON DELOS verstaubten im Konferenzsaal. Leonard hatte den zehn Zentimeter hohen Stapel mit Memos und Nachrichten auf dem Schreibtisch der Rezeption keines Blickes gewürdigt. Alles vorbei. Und dabei war es doch eine so vielversprechende Idee gewesen. Als die Tür sich öffnete, rechnete er schon damit, gleich verhaftet zu werden. Aber es war nur Don, der so aussah, als hätte er nicht mehr als Leonard geschlafen, also überhaupt nicht.
»Ich wage es kaum, zu fragen«, begann der Meister. Don marschierte zum Schreibtisch und warf einen Umschlag voller Zettel darauf. Er ordnete sie, ohne sie anzusehen, und sagte: »Der Skandal macht uns fertig. Jeder, der uns irgendwann einmal einen Dollar gegeben hat, will ihn jetzt zurückhaben. Zweihundert teils sehr wütende Anrufe haben wir verzeichnet. Unsere Sponsoren fliehen nach links und rechts, nach vorn und nach hinten. Das Finanzamt fängt an zu schnüffeln – unsere Buchhaltung stand auf etwas wackligen Füßen –, und wenn du Glück hast, bleibt dir gerade so viel, um dir heute nacht ein Hotelzimmer leisten zu können. Wenn nicht…« Er zuckte die Achseln. Die Bedeutung der Geste war unmißverständlich. »Und was wird aus dir?« Don lachte rauh und humorlos. »Aus mir? Mann, ich bin raus aus der Geschichte! Eigentlich sehr schade. Ich hatte wirklich geglaubt, aus dir wird etwas ganz Großes. Ich dachte, du hättest das Zeug dazu. Aber ich habe mich wohl geirrt.« Er packte die Blätter zusammen und schob sie wieder in den Umschlag. »Ich habe eine Verabredung mit einem Wunderheiler unten in Panama. Die Leute dort sagen, er sei der Beste. Vielleicht kommt er in ein paar Jahren ganz groß raus. Natürlich nur mit dem richtigen Manager.« Leonard nickte dumpf. Don beugte sich vor und stützte sich auf den Schreibtisch. Seine Miene war so ernst, wie Leonard sie noch nie bei ihm gesehen hatte. »Such dir Hilfe von einem Profi, Leonard. Und wenn wir uns irgendwo einmal über den Weg laufen sollten, dann tu so, als würdest du mich nicht kennen. Ich werde es jedenfalls so handhaben.« Er wartete noch einen Moment, rechnete vielleicht mit einer Antwort. Doch als keine kam, wandte er sich vom Meister ab, nahm den Umschlag unter den Arm, verließ den Meditationsraum und schloß die Tür hinter sich.
Leonard saß noch immer wie gelähmt da. Er betrachtete sein Allerheiligstes mit Augen, die plötzlich uralt waren. »Tja, Leonard«, sagte er leise, »sieht so aus, als hättest du alles hinter dir.« Dann hörte er die Stimme. »Ganz im Gegenteil. Jetzt fängt es erst richtig an.« Er sprang auf die Füße. Das war die Stimme! Die, die er auf dem Recorder und später bei der Aufzeichnung der Show vernommen hatte. Nur ertönte sie nun von überall und aus seinem Innern. »Du?« entfuhr es Leonard. »Ja, du bist es!« »Ja. Ich bin froh, daß du mich doch noch hören kannst. So vieles stand zwischen uns. Deswegen mußte ich erst alles loswerden, verstehst du? Und jetzt endlich kannst du mich hören.« Leonard eilte durch den Raum, riß die Sofakissen hoch und suchte in den verschiedensten Ecken nach einem Lautsprecher, einem Mikrofon oder sonst etwas in der Art. Als er nichts fand, trat er vor Wut gegen die Couch und brach ein hölzernes Bein ab. »Böse, Mr. Randall? Kommt mir irgendwie sinnlos vor, oder? Hast du nicht in dieser Hinsicht etwas vom angeblichen Delos zitiert? Unterdrücke den Ärger, finde das Zentrum?« Leonard hieb mit voller Wucht auf den Schreibtisch und schleuderte alle möglichen Unterlagen auf den Boden. »WO BIST DU? ICH BRING DICH UM, ICH… ZEIG DICH!« »Ich bin hier, Mr. Randall, bei dir.« »Warum tust du mir das an?« brüllte er die Wände an. »WARUM?« »Sieh hierher, Mr. Randall.« Leonard blickte in den Spiegel, und der schien sich plötzlich zu bewölken. Farben wirbelten darüber, die hinter der
Oberfläche pulsierten. Allmählich schälten sich Umrisse heraus. Nur der Hauch eines Gesichts. »Ich bin auf deinen Wunsch hier. Du hast selbst gesagt, daß das Universum dich auserwählt hat, um dir große Weisheit zuteil werden zu lassen. Erinnerst du dich? Und von allen Menschen solltest du am ehesten wissen, daß das Universum dir zuhört, wenn du zu ihm sprichst.« Das kann doch alles gar nicht wahr sein, dachte Leonard. »Du hast um Weisheit gebeten, nun sollst du sie erhalten. Der Prozeß wird langwierig und mühevoll, aber ich will dein getreuer Gefährte sein, solange sich das als nötig erweist.« Damit verschwanden Silhouette, Farben und Nebel. Leonard sah sich wieder selbst im Spiegel Er drehte sich verzweifelt herum. »Wie lange?« Schweigen. »WIE LANGE DAUERT DER PROZESS?« Plötzlich spürte er, wie sein Rücken gerade wurde, wie sich seine Arme entkrampften und wie seine Lippen sich zu einem sanften Lächeln verzogen. Und er hörte aus seinem Munde: »Zwanzig, dreißig Jahre, aber bestimmt nicht mehr.« Dann war es fort. Er schlug sich die Hand vor den Mund. Aber das nützte ihm nicht viel, denn nun kam die Stimme von überall. »Und jetzt, wie Ihr so schön in Eurer modernen Welt sagt: Ärmel aufkrempeln und los!«
MR. LEONARD RANDALL, DEM GEGENÜBER KRITIK GEÄUSSERT WURDE, DIE ER WIDERSTREBEND AKZEPTIERTE, IST EINE FALLSTUDIE AUS DEM
SHOWBUSINESS, UND ER FINDET SICH IM LETZTEN AKT WIEDER… AUF DER BÜHNE DER TWILIGHT ZONE.
Rendezvous an einem dunklen Ort
Selbst die vernunftbetontesten und wenig makabren Zeitgenossen entwickeln eine eigenartige Neugier dem Tod gegenüber. Und diese zieht uns in Horrorfilme und auf die Achterbahn, wo wir stellvertretend unseren eigenen Tod erleben können. Diese Neugier beschäftigt auf Beerdigungen unsere Gedanken, wo wir unsere unausweichliche Zukunft, eingebettet in Satin und Hartholz, betrachten. Und sie kommt zu uns in der Stunde, die man als die des Wolfs kennt: die Zeit zwischen Mitternacht und Morgengrauen, wenn wir dem Schlag unseres eigenen Herzens lauschen und uns die unfair kurze Zeit, die uns vergönnt ist, doppelt schwerfällt. Der Tod erschreckt – und fasziniert – uns. Er stößt uns ab und zieht uns magisch an. Wie ein Rätsel, auf dessen Lösung wir einfach nicht kommen, an die wir aber dauernd denken müssen, ist der Tod immerzu in unserer Nähe, blickt uns über die Schulter und wartet. So verrückt sich das auch anhören mag, der Tod ist die Basis unseres Gleichgewichts. Wenn wir bei einer Sache die Möglichkeit eines tödlichen Ausgangs negieren oder ignorieren, werden wir tollkühn und unvorsichtig. Ein Leben zu führen, als wären wir unsterblich, bringt uns am schnellsten in die tödliche Umarmung. Aber ein Leben zu führen, in dem man beständig seine eigene Sterblichkeit vor Augen hat, führt uns in tiefere und auch dunklere Wasser. Vielleicht hat es etwas mit der Tradition der Weißrussen zu tun, jedenfalls ist in meiner Familie der Tod stets eine unsichtbare Ikone gewesen. Als ich noch ein Kind war, mußte ich häufiger an Beerdigungen teilnehmen, von Freunden der Familie, von Untermietern meiner Großmutter und gelegentlich auch von
Kindern, die einem schrecklichen Unfall zum Opfer gefallen waren. Und deren Schicksal wurde mir oft genug als warnendes Beispiel vor Augen gehalten, damit es mir nicht ähnlich erginge. Mein Stiefgroßvater war Verwalter auf einem Friedhof und hat mich manchmal auf seinen Runden mitgenommen. Gelegentlich sprach er zu denen unter der Erde. Wenn es sich um einen Polen handelte, redete er Polnisch. Und mit Russen sprach er Russisch, und so weiter. Ich fragte ihn, in welcher Sprache er denn reden würde, wenn ihm die Nationalität des Toten nicht bekannt sei oder er dessen Sprache nicht beherrsche. Er zuckte die Achseln, lächelte und erklärte in seinem gebrochenen Englisch: »Dann ich hinlegen mehr Blumen.« Recht oft hörte ich die Geschichte, wie mein richtiger Großvater volltrunken und elendig auf der Straße zugrunde gegangen sei. Und wann immer das Telefon klingelte, es wurde sofort angenommen, daß am anderen Ende ein Verwandter sei, der uns vom Tod eines Familienmitglieds in Kenntnis setzen wollte. Relativ häufig war es auch so, und dann wurden ausführlich alle damit verbundenen Details bis hin zum letzten Atemzug des Betreffenden diskutiert. Und meine Großmutter väterlicherseits… Nun, sie hatte die Angewohnheit, an Beerdigungen von Leuten teilzunehmen, die sie nicht gekannt hatte, um sich dann später über den Leichenschmaus zu beschweren. Ich habe sie nie gefragt, warum sie das tat oder was ihr das brachte. Ich habe nur früh angefangen zu vermuten, daß es etwas mit der Zeremonie, dem Ritual und den Gefühlsaufwallungen zu tun hatte, wie zum Beispiel auf Flughäfen, wo der Abschied meist tränenreich und rasch erfolgt, auch wenn er nicht von Dauer ist wie der Tod. Die alte Dame starb zwanzig Jahre lang. Ihre Gesundheit war normal, genauso wie man das bei Frauen ihres Alters erwarten durfte. Aber sie war zwanzig Jahre lang davon überzeugt, kurz
vor dem Tod zu stehen und das Ende der jeweiligen Jahreszeit nicht mehr zu erleben. Zwanzig Jahre lang trug sie beständig den Tod auf den Lippen. Sie war darauf gefaßt, jeden Moment abtreten zu müssen. Nach einer Weile wuchs der Tod für sie von einer Teilzeitobsession zu einer Vollzeitbeschäftigung. Als sie dann endlich tatsächlich starb, gab es in meiner Familie mehr als einen, der einen hieb- und stichfesten Beweis verlangte, daß der Moment wirklich gekommen war. Aber es war wirklich vorbei mit ihr. Als ich die Reihen der Trauernden betrachtete, die gekommen waren, ihr das letzte Geleit zu geben, fragte ich mich, ob sich darunter auch der eine oder andere befinden mochte, der sie nie gekannt hatte, aber von einer eigenartigen Todesfaszination zu Beerdigungen von Fremden hingezogen wurde. Solche Gedanken und andere, die zu privat sind, um sie hier zu erzählen, denn sie haben mit Todesfällen von Menschen zu tun, die mir sehr nahestanden – und auch mit meinem eigenen Verhältnis zum Tod –, führten zu der Geschichte, die nun folgen soll. Es wurde eine dieser Stories, die sich wie von selbst schreiben. Und warum auch nicht? Zwanzig Jahre habe ich mit ihr gelebt. Als unser Regisseur Rene Bonniere das Skript erhielt, trafen wir uns in den Studios von Atlantis Films in Toronto, um darüber zu reden. Er erklärte mir, daß er den Text für ein sehr wichtiges Thema hielte und daß er ihn unbedingt drehen wollte. Und er sagte mir etwas Eigenartiges. »Was mir an dieser Story am besten gefällt«, erklärte er mit seinem wunderbaren unüberhörbaren französischen Akzent, »ist, daß es sich dabei um eine Romanze handelt, oder etwa nicht?« Ich starrte ihn quer über den Tisch an. »Eine Romanze?« Er zwinkerte mir zu. »Es geht um eine Verführung, nicht wahr? Ich bin mir nur noch nicht im klaren darüber, wer hier wen verführt.«
Und ich mußte ihm recht geben, er hatte eine sehr gute Frage gestellt.
RENDEZVOUS AN EINEM DUNKLEN ORT, ProduktionsNr. 87039, wurde in der Woche vom 14.-18. November 1988 gedreht. Die Regie führte Rene Bonniere, und die Darsteller waren Janet Leigh (Barbara), Stephan McHattie (dunkle Gestalt), Todd Duckworth (Trent), Malcolm Stewart (Jason), Eric House (sterbender Mann), Lome Cossette (Priester), Lori Waller Benson (Krankenschwester), Michael Millar (Polizist) und Jeff Grantham (Arzt). Die Episode wurde am 12. März 1989 erstmals ausgestrahlt.
Die Kapelle war klein und schlicht, aber angefüllt mit Blumen und Menschen, und diskret spielte im Hintergrund eine Orgel. Sonnenlicht strömte durch die bemalten Fenster herein und warf sich bewegende Schatten auf die polierte Oberfläche des Sargs. Einer nach dem anderen schritten sie an dem Sarg vorbei, entrichteten ihren letzten Gruß und gingen dann weiter. Einige strichen mit der Hand über das Holz, so als wollten sie durch die Berührung des Sarges den Verstorbenen ein letztes Mal anfassen. Andere brachten es nicht über sich, den Sarg zu berühren, doch auch an der verzweifelten und stillen Liebe dieser Menschen für den Verstorbenen konnte kein Zweifel bestehen. Barbara LeMay, die sich am Ende der Reihe befand, blieb länger als die meisten am Sarg stehen. Ihre behandschuhte Rechte fuhr knapp einen Zentimeter über dem Eichenholz entlang. Sie schloß die Augen, und als sie sie wieder öffnete,
blickte sie direkt auf das ruhende Gesicht im Sarg. Ihre eigene Stille reflektierte die unendliche Ruhe, die sie dort wahrnahm. Jemand sprach sie von der Seite an. »Ein großer Verlust.« Sie drehte sich um und entdeckte den Priester neben sich. Dann blickte sie wieder in den Sarg. »Ja, so ist es.« »Sind Sie eine Verwandte?« »Hmm?« antwortete sie gedankenverloren. »Oh. Nein, ganz bestimmt nicht.« »Dann sind Sie eine Freundin der Familie?« Sie drehte sich wieder zu ihm um, und ihre Hand ließ nur widerwillig vom Eichenholz ab, so als müsse sie sich von einem Geliebten trennen. »Nein, ich fürchte nicht. Ehrlich gesagt, ich kenne niemanden hier. Die Menschen hier sind mir alle fremd.« Sie lächelte ihn an und stützte sich mit einer Hand an seinem Ellenbogen. »Aber es war eine schöne Andacht, Reverend. Eine sehr schöne Totenmesse.« Sie drückte sanft seinen Arm und verließ ihn dann, um sich zu den anderen zu gesellen, die sich vor der Kapelle versammelten. Sie drehte sich noch einmal nach dem Sarg um, um dieses Bild in ihrem Gedächtnis einzuprägen. Perfekt. So furchtbar, furchtbar perfekt.
BARBARA LEMAY, DIE FRAU IN SCHWARZ, FEHL AM PLATZ IN EINER WELT VOLLER FARBEN, GERÄUSCHE UND LEBEN; EINE FRAU, DIE HIN UND HER GERISSEN IST ZWISCHEN FASZINATION UND ETWAS TIEFERGEHENDEM UND WENIGER IRDISCHEM; EINER BESONDEREN ART VON LIEBE, WIE MAN SIE NUR FINDET… IN DER TWILIGHT ZONE.
Jason LeMay zog die drei schweren Tüten aus dem Mietwagen und mühte sich mit ihnen über den Bürgersteig, ohne dabei irgend etwas anzustoßen oder kaputtzumachen. Er bekam den Schlüssel nicht gleich ins Schloß und mußte dann feststellen, daß seine Mutter, trotz seiner wiederholten Mahnungen, wieder einmal die Haustür nicht abgesperrt hatte. Er schob sie auf und trat sie hinter sich mit dem Fuß zu. Warum waren diese elenden Nahrungsmittel bloß so schwer? Warum schien sich jedes Mal, wenn er etwas Schweres in dieses Haus trug, die Küche noch weiter von der Haustür entfernt zu haben? Warum war es in diesem Haus immer so düster? Und wo steckte seine Mutter?
»Mom?« Von irgendwo im ersten Stock rief sie: »Ich ziehe mich gerade um. Komme gleich. Stell die Sachen doch schon in die Küche.« »In Ordnung.« Seine Hand, die die zweite und mit zwei Fingern auch die dritte Tüte hielt, wurde langsam taub. Ihm fiel auf, daß ein langer Riß durch die erste Tüte verlief. Das schaffe ich nie bis zur Küche, sagte er sich. Zu seiner großen Verblüffung erreichte er aber die Küche ohne nennenswerte Ausfälle. Als er sich danach ins Wohnzimmer begab und die Arme kaum noch bewegen konnte, kam seine Mutter gerade die Treppe herunter. Wie gewöhnlich trug sie ein schwarzes Kleid und schwarze Schuhe. Dicke Vorhänge an den Fenstern sperrten das meiste Tageslicht aus. »Ich fürchte, ich muß dich davon in Kenntnis setzen, daß die von dir gewünschten zwölf Eier sich auf magische Weise in zehn verwandelt haben.« Er schüttelte und streckte die Arme
und spürte, wie das Blut wieder zu zirkulieren begann. »Ich schätze, das hat irgend etwas mit der Schwerkraft zu tun.« »Du siehst erschöpft aus, Jason«, sagte sie. »Setz dich doch. Ich packe die Sachen aus.« »Eine ausgezeichnete Idee«, antwortete er und marschierte auf das überladene Sofa in der Mitte des Zimmers zu. »Vielen Dank, daß du die Sachen für mich besorgt hast!« rief sie aus der Küche, »Ich hatte heute soviel zu erledigen!« »Gern geschehen.« Bevor er sich auf die Couch fallen ließ, betrachtete er die schweren Vorhänge. Hier drin war es so dunkel wie in einer Höhle. Nach kurzer Suche fand er die Schnur. Er zog die Vorhänge zurück und ließ das Sonnenlicht herein. »Hast du Hunger, Jason? Du mußt doch wieder zu Kräften kommen!« »Ich könnte schon etwas vertragen!« rief er zurück und setzte sich endlich auf das Sofa. Erstaunlich, wie sehr sich der Raum im Tageslicht veränderte. Sonnenstrahlen funkelten über kleine Porzellanfiguren und Teller in den Vitrinen und verscheuchten die Schatten aus den Ecken. Barbara kam mit einem Tablett aus der Küche, auf dem sich ein Glas Milch und ein Teller voller kleingeschnittener Sandwiches befand. »Bitte, mein Lieben.« »Danke.« Sie umrundete die Couch. Als er sich vorbeugte, um das erste Brot zu nehmen, verschwand das Sonnenlicht. Dunkelheit erfüllte wieder den Raum, und die Schatten kehrten eiligst in ihre angestammten Ecken zurück. Jason warf einen Blick über die Schulter. Mutter hatte auf dem Weg hinaus die Vorhänge wieder geschlossen. Er überlegte kurz, ob er aufstehen und sie wieder aufziehen sollte. Aber dafür war er zu erschöpft und zu hungrig, und sie war entschlossen, in ihrem Haus Finsternis
walten zu lassen. Er biß ein Stück ab, und direkt danach ein zweites. »Die Sandwiches sind prima, Mom.« »Danke!« rief sie aus der Küche. »Was hast du denn heute alles getan? Du hast gesagt, du hättest soviel zu erledigen gehabt.« Hin und wieder sah er sie in der Küche herumlaufen, während sie die Tüten auspackte und die Nahrungsmittel verstaute. »Also, zuerst bin ich deinen Vater besuchen gegangen. Wir müssen unbedingt ein Wörtchen mit dem Friedhofsgärtner reden. Ich habe wieder Papierabfälle auf dem Weg gefunden. Die Leute könnten wirklich ein bißchen mehr aufpassen.« »Ich rede mit ihm«, antwortete er und fügte dann leise hinzu: »Noch einmal.« Sie kam ins Wohnzimmer und brachte ihm eine sorgfältig gefaltete Papierserviette. »Und auf dem Weg nach Hause habe ich noch kurz im Forestview hineingeschaut. Ach, es war eine wunderbare Messe.« Nicht schon wieder, dachte Jason und schluckte den letzten Bissen hinunter. »Mom, Forestview liegt am anderen Ende der Stadt. Du mußtest um die halbe Welt reisen, um auf dem Weg nach Hause am Forestview vorbeizukommen.« Ihr Gesicht verriet ihm, daß sie seinen Einwand nicht gehört hatte. »Du machst Krümel auf den Teppich«, mahnte sie und schob ihm die Serviette in die Hand, bevor sie in die Küche zurückeilte. »Wie ich schon sagte«, fuhr sie fort, »es war eine wunderbare Messe. Ich schätze, mindestens hundert, wenn nicht hundertfünfzig Personen sind gekommen, um dem Toten die letzte Ehre zu erweisen. Anschließend gab es einen Empfang, und dort haben sie die köstlichsten kleingeschnittenen, mundgerechten Sandwiches gereicht.« Jason hielt mitten in der Bewegung inne. Er starrte auf den Brotstreifen in seinen Fingern. Kann doch wohl nicht sein,
oder? Aber er legte trotzdem das Sandwich auf den Teller zurück und sah auf, als sie zurückkehrte und sich in dem Sessel ihm gegenüber niederließ. »Wer wurde denn dort zur letzten Ruhe gebracht? Soweit ich weiß, ist doch niemand aus unserem Freundes- und Bekanntenkreis gestorben.« »Keine Ahnung«, antwortete sie. »Naja, seinen Namen habe ich schon ein paarmal gehört. Aber du weißt ja, wie das bei mir mit Namen ist.« »Du hast doch nicht etwa…« Er brauchte einen Moment, um seine Fassung wiederzufinden. »Mom, ich dachte, wir hätten diesen Punkt schon vor einiger Zeit geklärt. Du sollst nicht mehr zu Beerdigungen von Leuten gehen, die du nicht kennst!« »Und warum nicht?« »Weil… weil es falsch ist, deswegen!« »Weiße Rosen hatten sie dort«, erklärte sie. »Du hättest die Gebinde sehen sollen. Weiße Rosen, mit kleinen roten Schleifchen gebunden. Seide, ja, sie müssen aus Seide gewesen sein. Eine Rose für jedes Jahr. Sie standen in einer großen Vase. Ich glaube, sie war aus bemaltem Glas, so daß sie vom hereinströmenden Sonnenlicht bunt bestrahlt wurde. Ich habe noch nie etwas so Wunderschönes gesehen. Und erst die Musik, und dann die Predigt… soviel Liebe und Frieden herrschten an dem Ort.« Ihr Blick war in die Ferne gerichtet, und sie hing ihren Gedanken nach. Ein leises, wissendes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Wenn ich einmal abtrete, würde ich auch gern so etwas Schönes bekommen. Würdest du das für mich tun, Lieber?« »Mom…« »Ich glaube, auf dem Speicher steht eine Vase, die dafür einfach ideal wäre.«
»Mom, würdest du bitte damit aufhören! Du weißt ganz genau, daß ich es nicht mag, wenn du so redest.« »Ich weiß, daß es dir nicht recht ist, aber wir müssen auf solche Dinge vorbereitet sein.« »Vorbereitet? Mom, bei der Invasion in der Normandie haben sie nicht so viele Vorbereitungen getroffen! Davon abgesehen habe ich letzte Woche mit deinem Hausarzt gesprochen. Er meinte, du wärst gesund wie ein Ochse.« Sie nickte, war aber immer noch tief in Gedanken versunken. »Habe ich dir eigentlich von Mrs. Rosenbloom erzählt? Von ihr hat man auch gesagt, sie sei gesund wie ein Pferd. Und letzte Woche ist sie ins Bett gegangen und nicht wieder aufgestanden. Es hieß, sie hätte eine Pulsadergeschwulst oder etwas in der Art gehabt. Solche Dinge kommen vor, Jason. Wir denken zwar nicht gern daran, aber…« »Nein, hier werden wir nie einer Meinung, Mom. Du denkst nämlich keinesfalls nicht gern daran. Du denkst besonders gern daran!« Er stand auf und lief hinter dem Sofa hin und her. »Wie kommt es, daß jedes zweite Wort aus deinem Mund ›Tod‹ ist? Zumindest höre ich das jedesmal, wenn ich bei dir bin. Als ich dich an die Küste eingeladen habe, damit du Margie und die Kinder sehen kannst, hattest du keine Zeit. Hast gesagt, du könntest keine längerfristigen Pläne machen. Was glaubst du denn, wie ich das den Kindern begreiflich machen sollte? ›Tut mir leid, aber Oma kann am Thanksgiving Day nicht kommen. Sie mag keine Zukunftspläne machen, weil sie nicht weiß, wie lange sie noch am Leben ist?‹ Ist dir klar, daß du die Kinder enttäuscht hast?« Sie blickte auf ihre Hände. Sie waren weiß, fast durchsichtig. »Tut mir leid. Ehrlich.« »Ich weiß. Ich wünschte nur, du würdest endlich damit aufhören. Trag doch mal eine andere Farbe als immer nur Schwarz. Geh doch einmal aus einem anderen Grund aus dem
Haus, als eine Beerdigung zu besuchen. Und laß etwas Licht in dieses Zimmer!« Er riß die Vorhänge auf, Sie kniff bei dem plötzlichen Lichteinfall die Augen zusammen, stand aber nicht auf, um sie wieder zuzuziehen. »Du pflegst eine Art Besessenheit, und das ist nicht gut für dich. Ist krank und ungesund. Morbide. Ich liebe dich, Mom. Und ich möchte, daß du siehst, wie deine Enkel heranwachsen.« »Gut, ich will es versuchen. Wirklich.« »Was gibt es da zu versuchen, Mom. Du brauchst doch bloß…« Er unterbrach sich, als seine Armbanduhr piepte. Er schaltete das Signal ab und sah seine Mutter an, als sie aufstand und sich ihm näherte. »Mist. Ich muß gehen, Mom. Das Flugzeug wartet nicht.« »Dann beeil dich«, sagte sie und strich ihm über das Gesicht. »Und richte Margie und Ben und Susan meine besten Grüße aus. Ich komme schon zurecht, mach dir keine Gedanken.« »Einverstanden. Mir gefällt nur nicht, daß du hier draußen in der Wildnis lebst. Und versprich mir bitte, daß du von jetzt an immer die Türen abschließt, okay? Ich würde mich dann ein wenig besser fühlen.« »Ich verspreche es.« »Tut mir leid, daß ich eben etwas laut geworden bin«, sagte er und betrachtete ihr Gesicht. Dann küßte er sie auf die Wange. »Ich ruf dich an, sobald ich zu Hause angekommen bin. In ein paar Wochen komme ich wieder vorbei, Mom.« »Alles Gute, Jason.« Sie sagte immer Alles Gute, dachte er, als er in die kühle Nachmittagsluft hinaustrat. Nie Auf Wiedersehen oder Bis bald. Nur immer Alles Gute. Denk nicht mehr dran, sagte er sich, stieg in den Leihwagen und fuhr zum Flughafen.
Auf halbem Weg stellte er fest, daß er sich nicht daran erinnern konnte, ob sie hinter ihm die Tür abgeschlossen hatte oder nicht.
Barbara erwachte von einem plötzlichen Donnerschlag, aber sie wußte, daß kein Gewitter sie geweckt hatte. Sie richtete sich ein wenig auf und spähte in die Dunkelheit, die ihr Schlafzimmer ausfüllte. Sie lauschte dem Geräusch nach, das immer noch in ihrem Ohr widerhallte. Nach einem Moment hörte sie es wieder. Ein Knarren der Holzdielen und ein dumpfes Schleifen, das von unten kam. Sie glitt aus dem Bett, stieg in ihre Pantoffel, fand den Morgenmantel am Haken und tastete sich aus dem Zimmer auf den Flur. Unten im Erdgeschoß war alles finster. Aber sie spürte durch den dicken Morgenmantel den Luftzug. »Hallo?« sagte sie. Schweigen. Sie schaltete oben an der Treppe das Licht an. Unten stand die Haustür auf. Ein frischer, feuchtkalter Wind zerrte an den Vorhängen. Pfützen zeigten sich auf dem Boden. Sie stieg vorsichtig die Stufen hinunter und sah sich die ganze Zeit über sorgfältig um. Dann erreichte sie die Haustür und schloß sie. Sie streckte die Hand nach dem Lichtschalter im Wohnzimmer aus. »Unterlassen Sie das!« Sie drehte sich langsam um, um festzustellen, wer da gesprochen hatte. Ein junger Mann stand im Wohnzimmer. Er stützte sich auf die Couch. Sein anderer Arm hing schlaff herab. Selbst von der halbdunklen Diele aus erkannte sie den dunklen Blutfleck auf seinem Hemd. Er hielt eine Waffe in der schlaffen Hand. Der junge Mann war vom Sturm bis auf die Haut durchnäßt. Er zitterte und litt offenbar große Schmerzen. »Also gut, Lady, rühren Sie sich nicht vom Fleck. Bewegen Sie sich nicht und rufen Sie nicht die Polizei, sonst…«, er verzog in einem plötzlichen Schmerzanfall das Gesicht, »sonst,
bei Gott, werde ich Sie töten, das schwöre ich, ich werde Sie…« Er konnte den Satz nicht mehr beenden. Er schwankte und kippte dann ohnmächtig um. Barbara ging zu ihm und legte sanft eine Hand auf seine Brust. Sein Atem ging ruckartig und flach. Als sie die Hand zurückzog, war sie blutverschmiert. Der Junge stirbt, dachte sie, und mit diesem Gedanken kam ein anderer: Er wird kommen. Er wird heute nacht hierher kommen! Ohne es eigentlich zu wollen, ging sie ans Telefon, um einen Krankenwagen zu rufen. Als sie den Hörer ans Ohr hielt, hörte sie nur statische Störungen. Das Gewitter mußte die Leitung unterbrochen haben, wie das immer wieder einmal vorkam. Aber das Radio funktionierte noch. Sie suchte einen lokalen Sender. Sie wagte es nicht, ihn auf die Couch zu heben. Also suchte sie eine Decke und legte sie über den jungen Mann. Sie hoffte, ihn damit ausreichend vor der Kälte zu schützen. Dann zog sie ein Kissen vom Sofa und schob es ihm vorsichtig unter den Kopf. Aus dem Erste-Hilfe-Kasten im Badezimmer versorgte sie sich mit Mullbinden und verband die Wunde so gut es ihr möglich war. Doch die Wunde war tief, und ohne Zweifel tödlich. Danach machte sie hier und da im Zimmer Licht, gerade genug, um den jungen Mann zu sehen, von dem sie kein Auge lassen wollte. Wenn sie nur einen Moment wegsah, würde sie es verpassen. Würde sie Ihn verpassen. Sie fuhr zusammen, als der Junge sich regte. Sie kniete sich neben ihn. Seine Lider flatterten, öffneten sich langsam. Im ersten Moment schien er nichts erkennen zu können, dann entdeckte er die alte Frau. Er leckte sich mehrmals über die Lippen, und endlich brachte er ein »Wer…« zustande. »Pst!« antwortete sie. »Versuchen Sie, nicht zu sprechen. Ich habe alles getan,
was in meinen Kräften liegt, aber es steht schlecht um Sie, sehr schlecht. Ich habe versucht, das Krankenhaus anzurufen, aber die Leitung ist tot. Das kommt vor, wenn wir hier so furchtbare Stürme haben. Wenn Sie möchten, versuche ich es gern noch einmal.« Er schüttelte den Kopf. »Nein… Will nicht sterben… nicht ins Krankenhaus…« »Ich habe nicht gesagt, daß Sie sterben müssen.« Sein Blick traf den ihren. »Doch, das haben Sie damit gemeint«, sagte er und sah weg. »Ich wußte es in dem Moment, in dem die Kugel mich getroffen hat. Komisch, nicht wahr, daß man das so genau weiß…« Er hielt inne, als ein neuer Schmerzanfall ihn durchschüttelte. Er biß sich fest auf die Lippen, um nicht wieder das Bewußtsein zu verlieren. Als er die Augen wieder öffnete, brauchte er länger als vorhin, um die alte Frau zu erkennen. »Ich sterbe, nicht wahr? Sagen Sie es mir bitte ganz ehrlich, okay? Niemand sagt einem so etwas direkt ins Gesicht.« Sie zögerte einen Moment, dann nickte sie. »Ich bin zwar keine Expertin, aber ja, ich glaube, Sie liegen im Sterben.« Er starrte sie noch ein paar Momente an. Sie meinte, hinter seinen Augen ein Licht verlöschen zu sehen, nachdem er ihre ehrlichen Worte gehört hatte. Trotz seiner Verwundung hatte er sich wohl immer noch an die winzige Hoffnung geklammert, sie könnte zu einem anderen Urteil gelangen. Dann rollte sein Kopf zur Seite. »Während Sie bewußtlos waren«, erklärte sie, »habe ich das Radio eingeschaltet. In den Nachrichten wurde ein Raubüberfall gemeldet. Auf eine Schnapshandlung, die die ganze Nacht über geöffnet hatte.« »Siebenundzwanzig Dollar in Scheinen und ein paar Münzen«, sagte er leise, »ist das nicht eine tolle Beute?« Er leckte sich wieder über die Lippen. Sie waren spröde und rissig. »Ich hole Ihnen ein Glas Wasser«, sagte sie und erhob
sich. Aber er griff nach ihr, auch wenn er nur Luft zu fassen bekam. »Warten Sie… gehen Sie nicht!« Sie kniete sich wieder neben ihn und legte ihm eine Hand auf die Brust. Seine Haut war kalt, und er schien die Wärme von ihrer Hand zu genießen. »Keine Angst, ich lasse Sie nicht allein. Ich verstehe Sie, wahrscheinlich besser, als Sie sich das vorstellen können. Ich warte mit Ihnen. Wir warten zusammen.« Er nickte, schloß die Augen und verlor wieder die Besinnung. Barbara regte sich nicht. Sie würde mit ihm warten, wie sie es versprochen hatte.
Eine halbe Stunde war vergangen, als sie plötzlich die Kälte verspürte. Im selben Moment wurde der Atem des Jungen noch flacher und unregelmäßiger. Ein kalter Hauch fuhr über ihren Nacken. Sie drehte sich um und sah, daß die Vorhänge flatterten, obwohl die Fenster geschlossen waren. Sie hob den Kopf und versuchte, in dem Halbdunkel etwas zu erkennen. Und sie lauschte auf jedes Geräusch. Ein eigenartiges Rauschen senkte sich über das Zimmer. Das Ticken der Uhr an der Wand wurde leiser, so als habe jemand Stoff darum gewickelt. Etwas hatte diesen Raum verändert. Sie war sich ganz sicher. »Du bist es, nicht wahr?« sprach sie in die Nacht. Ihre Stimme klang leise und ruhig. »Du bist hier, oder?« Zuerst erhielt sie keine Antwort. Dann löste sich etwas aus den Schatten, eine lichtlose Gestalt, die dunkler war als die Nacht. Das Gesicht war nicht zu erkennen, es schien von Dunkelheit bedeckt zu sein. »Ich bin hier«, erklärte Er. Sie erhob sich und bewegte sich langsam, denn sie wollte Ihn nicht verschrecken, auch wenn sie sich so etwas kaum vorstellen konnte. »Bist du überrascht?« fragte sie. »Weil ich dich sehen kann?«
»Nein.« »Nun, das hätte ich auch nicht vermutet. Wir beide, du und ich, haben soviel Zeit miteinander verbracht. Ich schätze, davon wird man etwas sensibler als die anderen.« »Ja.« »Ich lag einmal im Krankenhaus. Die Frau im Nachbarzimmer ist in der Nacht gestorben. Als es soweit war, habe ich dich gespürt. Du warst ganz in der Nähe. Damals dachte ich, daß ich das nur geträumt hätte. Aber du warst wirklich da.« Ein Geräusch vom Boden lenkte sie ab. Der Junge zwang seine Augen auf, versuchte, sie zu erkennen. Doch diesmal mißlang es ihm. »Mit… mit wem reden Sie da?« Sie beugte sich über ihn. »Mit niemandem. Niemand ist hier. Alles ist in Ordnung.« Er nickte schwach. »So… kalt hier.« Sie wickelte ihn fester in die Decke ein und stand dann wieder auf. »Er kann dich nicht sehen.« Ein Zittern oder Vibrieren ging durch die dunkle Gestalt, dann stand sie plötzlich näher an dem jungen Mann. »Für ihn existiere ich nicht, bis seine Zeit gekommen ist.« »Wo bringst du ihn hin? An einen besseren Ort?« »Manchmal bringe ich sie an einen besseren Ort.« »Es muß dort wunderschön sein.« »Es ist ein Ort wie andere auch.« Er kniete sich neben den Jungen. Nein, Er sank zu ihm hinab. »Warte!« sagte sie. Er hielt inne. »Warum nimmst du nicht mich, an seiner Stelle?« »Was bedeutet er dir?« »Nichts«, antwortete sie. »Er ist niemand für mich. Aber er kann deine Schönheit nicht erkennen. Ich kann es. Ich habe es viele Male gesehen: Frieden, Freiheit, Ruhe. Die brennende, zerbrechliche Schönheit des letzten Atemzuges, das Loslösen der Seele. Die Totenmesse. Und so vieles mehr.« »Seine Zeit ist gekommen.«
»Aber er weiß das nicht so zu würdigen, wie ich das tue. Ich habe hier niemanden mehr. Eigentlich niemanden. Nicht seit…« Wieder das Zittern, diesmal mehr ein Schimmern, und Er tauchte am anderen Ende des Zimmers wieder auf. Als Er sprach, klang seine Stimme kälter als alles, was sie je zuvor gehört hatte. »Nein.« »Warum denn nicht? Ich dachte, so etwas sei möglich.« »Ich kann nicht Leben nehmen, wo keines ist.« Er schwebte langsam durch den Raum. Auch wenn sie Seine Augen nicht sehen konnte, spürte sie Seinen Blick auf sich ruhen. »Ich habe dich an vielen Orten gesehen«, erklärte Er ihr aus den Schatten. »Du hast so oft meinen Namen gerufen. Du hast mich an meinem Altar verehrt, bist in meinem Schatten gewandelt, hast meinen Widerschein auf den Gesichtern anderer gesehen, und immer noch hast du nicht genug. Du fliehst nicht vor meiner Berührung, nein, du suchst meine Umarmung… und dennoch kann ich dich genauso wenig mitnehmen wie jenen Tisch dort, denn in beiden von Euch steckt gleich wenig Leben.« »Das… das verstehe ich nicht.« Er kam auf den jungen Mann zu, schwebte über ihm und ließ dann den Schatten Seiner Hand auf das Gesicht des Sterbenden fallen. Einen Moment lang schien der Schatten den Jungen zu umhüllen, doch dann wehrte er sich mit aller verbliebenen Kraft dagegen, kämpfte gegen die Berührung an, die noch nicht erfolgt war. Die dunkle Gestalt trieb ein wenig fort von ihm, aber nicht viel. »Siehst du, wie er sich gegen mich wehrt, selbst in seinem Zustand des Nicht-Wachseins? Er sehnt sich nach dem Leben, auch wenn es ihm im Moment furchtbare Schmerzen bringt. Er hängt an jeder Sekunde, denn in jedem verbleibenden Moment steckt die Möglichkeit des Glücks, auch wenn viele
Augenblicke leer bleiben. Selbst jetzt, da er mir so nahe ist, steckt in ihm mehr Leben als in dir. Ich bin zum einzigen Inhalt deines Lebens geworden. Deine Tage wie deine Nächte sind angefüllt mit dem Gedanken an mich, so daß für nichts anderes mehr Platz bleibt. Du hast den Tod zu deinem Leben gemacht. Ich aber komme nur, um die Lebenden zu holen.« Und damit machte Er sich ans Werk. Er kniete wieder neben dem Jungen und hielt Seine Hand einen Zentimeter über dem schwitzenden, verängstigten Gesicht. »Ich bringe dir Frieden und Schlaf«, erklärte die Gestalt. »Hab keine Furcht, denn ich als einziger werde dich nie im Stich lassen.« Für einen winzigen Moment sah der Junge Ihn. Als die Erkenntnis den Jungen erreichte, war keine Angst mehr in seinem Blick. Nur Friede und Hingabe. Dann schloß er die Augen, um sie nie wieder zu öffnen. Barbara trat zu dem jungen Mann und berührte sein Handgelenk. Kein Puls schlug unter seiner Haut. Als sie wieder aufblickte, war Er fort. »Das darfst du nicht«, sagte sie und nahm kaum ihre Tränen wahr. »Bitte, du kannst mich nicht einfach hier zurücklassen. Wir haben soviel Zeit miteinander verbracht. Das wäre einfach unhöflich!« Schweigen. »Was soll ich denn für dich tun? Im Park die Tauben füttern? Verstehst du das unter lebendig sein? Ich habe niemanden mehr, begreifst du das denn nicht? Mein Sohn braucht mich nicht länger. Jeder, den ich gekannt habe, ist fortgegangen, ist bei dir. Du hast mir alle genommen, und jetzt willst du mich hier zurücklassen! Bin ich dir vielleicht nicht gut genug? Nicht hübsch genug? Liegt es daran?« Die Kälte im Zimmer löste sich auf. Barbara bemerkte, daß die normalen Geräusche zurückkehrten. Der Nachtwind stürmte wieder gegen das Haus an. Sie schlug die Hände vors Gesicht und drehte sich wie verrückt um, suchte vergeblich nach dem Schatten in der
Dunkelheit. Nichts. »Ich… es tut mir leid, daß ich dich angefahren habe. Bitte, bleib noch einen Moment bei mir, nur einen Moment. Mehr verlange ich nicht.« Aber die Nacht gab ihr keine Antwort, und Barbara blieb allein. Barbara sah teilnahmslos zu, wie zwei Polizisten die Bahre nach draußen rollten. Sie hörte dem Sergeant kaum zu, der neben ihr auf der Couch saß. Er hat den Jungen berührt, aber nicht mich. Er wollte mich nicht berühren. Er wollte mich nicht berühren. Sie sah den Polizisten an und fragte sich, was er eigentlich erzählte und warum er immer noch hier war. »Ich muß Ihnen eine sehr große Portion Mut bescheinigen, Mrs. LeMay«, sagte der Mann gerade. »Und dann noch das gestörte Telefon. Die meisten wären in einer solchen Situation schreiend aus dem Haus gelaufen.« Sie zuckte die Achseln. »Er war doch völlig harmlos. Und er hatte furchtbare Schmerzen.« »Nun, die hat er nicht mehr. Wie heißt doch das schöne Sprichwort? Die beiden einzigen Dinge, auf die man sich im Leben verlassen kann, sind der Tod und die Steuern.« Sie lächelte, und dieses Lächeln bereitete ihr das Gefühl, ihr Gesicht würde zerbrechen. »Nicht immer«, entgegnete sie. »Mich hat er nicht berührt, nicht einmal!« Der Sergeant blickte sie eigentümlich an, bevor er sein Notizbuch zuklappte und sich erhob. »Sind Sie sicher, daß Sie keine Hilfe benötigen, Ma’am? Vielleicht könnte eine Bekannte hierher kommen…« »Mit mir ist alles in Ordnung. Danke.« Obwohl er nicht überzeugt wirkte, nickte er, begab sich zur Haustür und bat Barbara, sofort anzurufen, wenn ihr etwas Neues einfallen würde. Sie schloß hinter ihm die Tür, und die Stille, die gierig in den Schatten gewartet hatte, kroch wieder hervor, um ihren Besitz erneut zu übernehmen.
Jason wirkte am Telefon sehr besorgt. Sie zerstreute seine Ängste, erklärte ihm, daß bei ihr alles in Ordnung sei, und nein, es sei nichts gestohlen worden. Sie hätte ihn nicht mit dieser Geschichte behelligen wollen, weil sie doch wisse, wie beschäftigt er sei. Und natürlich bestünde nicht der geringste Anlaß für ihn, extra wegen dieser Sache wieder herzufliegen. Schließlich seien Flugtickets ziemlich teuer. Ja, sie würde in Zukunft noch stärker darauf achten, immer die Haustür verschlossen zu halten. Und morgen würde sie ihn wieder anrufen. »Mach’s…«, begann sie und hielt sich dann zurück. »Gute Nacht, Jason«, verabschiedete sie sich dann und legte den Hörer auf die Gabel. Bei ihr war alles in Ordnung. Alles…in Ordnung, dachte sie. Und weinte weiter.
Sie verließ das Schlafzimmer und trug eine Lüge. Sie trat vor den Spiegel, um sich zu betrachten. Das Kleid war grün und mit Silberfäden durchwirkt. Es wirkte übertrieben und fehl am Platz. Steifbeinig, so als stecke sie in einem unbequemen Kostüm, ging sie zum Nachtschränkchen und fand dort ihre Make-up-Kiste. Die Cremes und Puder waren trocken geworden. Sie mußte sie mit Wasser anfeuchten, bevor sie sie auftragen konnte. Sie nahm Wimperntusche für die Augen, Rouge für die Wangen und Puder für den Rest des Gesichts. Nun trug sie die Lüge auch im Gesicht. Je mehr Make-up sie auflegte, desto größer wurde die Lüge. Sie kam sich lächerlich und aufgedonnert vor. Sie sah aus wie ein Mannequin von Woolworth, und die Wimperntusche verschmierte bereits wegen den Tränen, von denen sie sich geschworen hatte, sie nicht mehr strömen zu lassen. Sie packte die Schminkkiste,
schleuderte sie zu Boden und zerschmetterte die Töpfchen und Fläschchen. Lange hockte sie auf dem Boden und heulte, bevor ihr das Medizinschränkchen einfiel. Die Tabletten ließen sich leicht finden. Das Verfallsdatum auf dem Etikett war verblichen, aber das machte in diesem Fall nichts aus. Nicht im mindesten, entschied sie und schloß die Tür. Barbara saß allein im Wohnzimmer und schaute fern. Sie hatte den Ton abgedreht, denn so kam es ihr irgendwie besser vor. Die Flasche mit den Tabletten stand ungeöffnet vor ihr auf dem Tisch. Sie saß noch immer so da – waren es Stunden oder bloß Minuten später, fragte sie sich müßig –, als es im Raum merklich kühler wurde und die Bilder im Fernseher hinter einem schwarzen Vorhang zu verschwinden schienen. Dann ertönte Seine Stimme aus den Schatten. »Ich habe dir weh getan.« »Nein.« Noch eine Lüge. »Ja.« Nun aus einer anderen Ecke: »Das lag nicht in meiner Absicht.« »Das tut es ja nie.« »Wodurch habe ich dich verletzt?« »Diese Frage habe ich mir in den letzten Tagen selbst sehr oft gestellt«, antwortete sie. »Es ist nur so, daß einer nach dem anderen, alle die mich verlassen haben, die ich gekannt habe… sie sind mit dir gegangen. Ich nehme an, in gewisser Weise bin ich eifersüchtig auf sie. Du hast sie mir genommen, und wenn ich sie schon nicht zurückhaben kann, dann will ich dich auch haben. Vor langer Zeit habe ich schon damit begonnen, alles über dich in Erfahrung zu bringen.« Sie suchte die Schatten ab, und für einen flüchtigen Augenblick nahm sie eine Bewegung wahr. »Und ich begann zu begreifen, warum sie mit dir gegangen sind.«
»Ihre Zeit war gekommen.« »Tatsächlich?« fragte sie und nickte dann. »Ja, vermutlich war es so. Aber es bedeutet viel mehr, als daß nur die Uhr abgelaufen ist. Ich habe es in ihren Gesichtern gemerkt, nachdem sie dich gesehen hatten. Keine Schmerzen mehr, keine Sorgen, keine Traurigkeit, kein Verlustgefühl. Nur Friede. Ich erkannte, daß sie von dir etwas erhalten, was ich ihnen nie geben konnte. Ich bin häufiger in Krankenhäuser gegangen und habe dort die Schreie der Todkranken gehört. Sie schrien nach Hilfe, und sie schrien nach dir. Am Ende bist du alles, was wir haben, nicht wahr?« Er gab ihr keine Antwort, aber sie spürte, wie Er jetzt in der Dunkelheit hinter ihr war und näher und näher schwebte. »Mein Mann hat sich immer um mich bemüht, hat alles getan, um mich glücklich zu machen«, sagte sie. »Dafür habe ich ihn geliebt, aber ich hätte ihn auch geliebt, wenn er weniger getan hätte, nur um seiner selbst willen. Und dann, als es mit ihm zu Ende ging, als er so furchtbar litt, konnte ich nichts für ihn tun, konnte ihn nicht von den Schmerzen befreien. Erst du hast das vermocht. Für ihn. Und für mich.« Das Geräusch einer Bewegung, ein Nicken der Schatten. »Ich entsinne mich.« »Ich war froh darüber, froh für ihn und froh, daß es endlich vorüber war… so froh, daß ich heute glaube, daß damals meine Liebe zu dir begonnen hat.« »So etwas ist nicht gestattet.« »Nein, sicher nicht.« Sie blickte auf die Medizinflasche auf dem Tisch. »Nachdem du gegangen bist, habe ich… nun im Schränkchen fanden sich eine ganze Menge Schmerzmittel von einem Problem mit meinem Rücken, das ich vor einigen Jahren hatte. Ich dachte daran, sie alle zu nehmen. Was immer du sagst und vermagst, du kannst mich nicht daran hindern, meine Todesstunde selbst zu bestimmen, nicht wahr?« Schweigen.
»Also habe ich recht. Ich konnte es aber nicht tun. Ich rede mir ein, es wäre vielleicht etwas zu abrupt, aber die Wahrheit ist, daß ich zu feige bin, daß ich dafür viel zu feige bin. Es würde so aussehen, als könnte ich noch nicht einmal mein Sterben richtig machen, nicht wahr?« Sie blickte auf ihre Hände, und die Feuchtigkeit auf ihren Wangen verriet ihr, daß sie schon wieder das sich selbst gegebene Versprechen nicht hatte einhalten können. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, und als sie wieder klar sehen konnte, entdeckte sie, daß das Dunkle nähergekommen war, sich direkt vor ihr befand und fast berührt werden konnte. Seine Stimme klang leise und sanft: »Mir ist ein Ausspruch der Menschen im Gedächtnis geblieben: Es gibt immer Wege und Möglichkeiten.« Sie sah Ihn an, suchte in den Schatten nach einem Gesicht. »Was für Möglichkeiten?« Er bewegte sich um sie herum, umschloß sie. »Liebst du mich wirklich?« »Ja, vorher war ich mir nicht ganz sicher, aber jetzt weiß ich es genau. Ich liebe dich mit meiner ganzen Seele.« »Dann gibt es einen Weg.« Die Dunkelheit teilte sich, und Er hielt ihr eine Hand entgegen. Sie griff danach, zögerte aber im letzten Moment. »Wie, hast du nun plötzlich doch noch Angst vor mir?« »Nein«, antwortete sie und nahm Seine Hand. Eine warme, angenehm zu berührende Hand. »Ich habe keine Angst vor dir.« Dann sah sie hoch und entdeckte zum ersten Mal Sein Gesicht. Ein schönes Gesicht. Er bewegte sich und zog sie an der Hand mit sich. »Wohin gehen wir?« fragte Barbara. »Dorthin, wo wir am meisten gebraucht werden.« Und die Welt schmolz unter ihr weg.
Licht war überall um sie herum. Sie hatte das Gefühl zu stehen, obwohl sie unter ihren Füßen keinen Boden fühlte. Dann nahm sie etwas wahr, Stimmen. Ich fürchte, ihm bleibt nicht mehr viel Zeit. Der Krebs hat ihn buchstäblich aufgefressen. Haben Sie noch einmal am Empfang nachgefragt? Ja, Doktor. Und man hat immer noch keinen Verwandten von ihm ausfindig gemacht? Sie suchen und forschen weiter. Obwohl es im Moment nicht danach aussieht, werden sie schon jemanden finden, bevor es für ihn zu spät ist. Allmählich ließ das grelle Licht etwas nach, so daß man Formen und Bewegung ausmachen konnte. Der Arzt schüttelte den Kopf und zog sich zurück. Die Krankenschwester trat an ein Bett, das unter einem Sauerstoffzelt stand. Ein Mann lag in dem Bett. Barbara hätte ihn auf sechzig Jahre geschätzt, aber von irgendwoher wußte sie, daß er erst zweiundfünfzig war. Der Krebs hatte mit schrecklicher Effizienz sein Leben aufgefressen. Die Schwester strich ihm über die Stirn. Er war blaß und wirkte ängstlich. Er leckte sich über die Lippen. »Es…es ist so kalt hier.« »Ja, das stimmt. Kälter als es eigentlich sein sollte. Ich kümmere mich gleich darum.« Sie verließ ihn. Er streckte eine Hand nach ihr aus. »Nein… bitte nicht… lassen Sie mich nicht allein… so schlimm ist die Kälte nicht.« Die Schwester lächelte traurig und setzte zu einer Entgegnung an, als eine Stimme aus dem Lautsprecher an der Decke scharf ins Zimmer einschnitt. Kode Blau, Onkologische Station, Kode Blau. Ihr Gesicht wurde ernst, und sie entfernte sich vom Bett. »Ich muß jetzt wirklich gehen.« »Nein, bitte…«
»Ich komme zurück, sobald ich kann, ehrlich.« Sie strich ihm kurz über die Hand, eilte dann zur Tür und zog ihr Funkgerät aus der Tasche. »Warten Sie!« krächzte er kaum hörbar, doch die Schwester war schon fort. Er schloß die Augen, und sein Atem verwandelte sich in einen langen und tiefen Seufzer. »Ich möchte… einen Schluck Wasser«, sagte er leise. »Nur einen Schluck. Bitte, irgendwer soll mir Wasser geben.« Er sah auf, als er am Arm eine warme Berührung spürte. »Hier, bitte.« Er nahm den Pappbecher, und sie hielt seine Hand, während er langsam und vorsichtig trank. »Fühlen Sie sich jetzt besser?« erkundigte sich Barbara. Er nickte, und seine Unterlippe fing an zu zittern. Er wandte das Gesicht von ihr ab, damit sie seine Tränen nicht sehen konnte. »Es tut mir leid«, sagte er. »Das muß es nicht.« »Es ist nur… ich habe solche Angst. Und die Schmerzen… O Gott, sie sind einfach unerträglich.« »Ich weiß. Aber alles wird gut. Ich bin hier, und ich werde Sie nicht alleinlassen.« Er drehte das Gesicht zu ihr, und das Licht der Neonröhren an der Decke spiegelte sich in den nassen Flecken auf seinen Wangen wider. Sie streichelte sanft und beruhigend sein bleiches Gesicht. »Ich bringe Ihnen Frieden und Schlaf. Haben Sie keine Angst, denn ich bin der einzige, der Sie nie verlassen wird.« Er sah ihr in die Augen, und in diesem Moment erkannte sie, daß er ihr glaubte. Dann fuhr Barbara ihm mit der Hand übers Gesicht und spürte, wie er den Körper verließ, wie er sie durchströmte, um an einen anderen Ort zu gelangen. Wie hatte Er es genannt? Ein Ort wie jeder andere auch. Vielleicht später, wenn sie sich bewahrt hatte, würde Er ihn ihr einmal zeigen.
Das würde sehr schon werden, dachte sie. Sie zog sich vom Krankenbett zurück, als die Bildschirme und Oszillographen in diesem Raum anfingen zu blitzen, zu summen und zu piepen. Ärzte und Pflegepersonal eilten über den Korridor herbei, ohne Barbara zu sehen. Doch auch sie vergingen vor ihren Augen, wurden verschluckt von dem Licht, das aus jeder Richtung strömte, sie umschmeichelte und von diesem Ort forttrug. Schließlich war nur noch Licht da. Und Er, »Habe ich es gut gemacht?« fragte sie. Er lächelte und streichelte sanft ihr Haar. »Du hast es gut gemacht.« Dann nahm Er ihre Hand, und zusammen schwebten sie durch das Weiß zu dem Ort, wo sie jetzt dringend gebraucht wurden.
KALTE WINDE UND WARME HÄNDE, ZUSAMMEN EINE GABE, DIE GRÖSSER IST ALS DIE SUMME IHRER TEILE. EINE PARTNERSCHAFT DES FRIEDENS, DIE DEN LEIDENDEN ZUGÄNGLICH GEMACHT WIRD. MAN KÖNNTE ES EINE EHE NENNEN, DIE IM HIMMEL GESCHLOSSEN WURDE – UND IHREN ANFANG FAND IN DER TWILIGHT ZONE.
Da ist etwas in den Wänden
Ist mir ganz gleich, was Sie dazu sagen, aber ich finde, von dem Linoleum geht etwas Unheimliches aus. Klar, Sie denken, das ist doch nichts weiter als ein gewöhnlicher Bodenbelag. Und ich wette, Sie sind noch nicht darauf gekommen, daß die Körner in der Rauhfasertapete Sie beobachten, wenn Sie gerade nicht hinsehen, oder? Das habe ich mir gedacht. Sie sind dem Untergang geweiht. Andernfalls gehören Sie zu IHNEN. Eigentlich sollte ich jetzt kein Wort mehr über die folgende Geschichte verlieren. SIE könnten nämlich zuhören. Ich möchte nur noch die Bemerkung hinzufügen, daß es sich bei dieser Story um eine der ersten fürs Fernsehen geschriebenen Episoden handelt, in der es um eine kleine optische Eigenheit geht, die praktisch jeder schon einmal gesehen hat. Sie haben es auch gesehen. O ja, ich weiß es. Und SIE haben Sie gesehen.
DA IST ETWAS IN DEN WÄNDEN, Produktions-Nr. 87040, wurde in der Woche vom 24.-29. Oktober 1988 unter der Regie von Allan Kroeker gedreht. Die Darsteller sind Deborah Raffin (Sharon), Damir Andri (Robert Craig), Lally Cadeau (Becky), Kate Parr (Hausmädchen), Douglas Carrigan (Tänzer), Janice Green (Tänzerin), Aaron Foss Fraser (Tänzer) und Martha Cronyn (Tänzerin). Mit Tänzer sind hier Bewegungskünstler gemeint, die hinter einer bemalten, biegsamen Wand agieren. In dieser Episode stellen sie die Wesen dar, die man normalerweise nur aus den Augenwinkeln
wahrnimmt, oder in Wänden. Die Folge wurde am 29. Januar 1989 erstmals ausgestrahlt.
»Das macht zehn Dollar.« Dr. Robert Craig suchte in seiner Brieftasche, bis er einen entsprechenden Schein fand, um damit den Taxifahrer zu bezahlen. Das paßte ja wieder haargenau, daß der Wagen ausgerechnet an seinem ersten Arbeitstag den Geist aufgab. Da war doch so ein wissenschaftliches Prinzip, nach dem alles, was schiefgehen kann, auch schiefgehen wird, oder? Er nahm seine Aktentasche, verließ das Taxi und ging über den Rasen zum Eingang des Oak-Park-Sanatoriums. Ein älteres Bauwerk aus roten Ziegelsteinen und mit weißgestrichenen Fensterrahmen. Darüber ein grauer Himmel. Ein kühler, feuchter Wind wehte und kündete Regen an. Als Dr. Craig stehenblieb und alles auf sich wirken Heß – immerhin seine erste nennenswerte Position, fünf Schwestern in seinem Team und eine ganze Abteilung, die ihm unterstand –, glaubte er kurz, hinter einem der oberen Fenster ein Gesicht zu sehen. Doch als er genauer hinschaute, war nichts mehr zu erkennen. Vermutlich einer der Heiminsassen, der rasch mal einen Blick auf den neuen Arzt werfen wollte, sagte sich Craig und schritt auf den Eingang zu.
WIR RICHTEN UNSERE AUFMERKSAMKEIT AUF DEN MANN MIT DER MODERNEN AKTENTASCHE AUS LEDER. SEIN NAME: DR. ROBERT CRAIG. SEIN BERUF: PSYCHOLOGE, NEU ANGESTELLT IM OAK-PARKSANATORIUM. WÄHREND DER LETZTEN ZWEI WOCHEN HAT ER SICH AUF DEN ERSTEN ARBEITSTAG VORBEREITET, SICH DARAUF
GEFREUT, IHN KAUM ERWARTEN KÖNNEN. DOCH IRGENDWO HINTER DIESEN GERADEZU UNERTRÄGLICH HEITER GESTALTETEN WÄNDEN LAUERT ETWAS AUF IHN, AUF DAS ER IN SEINER AUSBILDUNG NICHT VORBEREITET WORDEN WAR.
An seiner Bürotür hatte man bereits ein Messingschild angebracht, auf dem DR. R. CRAIG zu lesen stand. Er strich mit den Fingerspitzen darüber und betrat dann sein Büro. Es war einfach eingerichtet: ein Schreibtisch, zwei Stühle, eine Couch, in die Wand eingelassene Bücherregale und ein Fenster, das die ganze Breite der gegenüberliegenden Wand einnahm und Ausblick auf den Rasen vor dem Haupteingang bot. Die Kisten, die er vorausgeschickt hatte, hatte jemand bereits in der Mitte des Zimmers aufgetürmt, obenauf lag der indianische Teppich, den er schon in seinen vier letzten Büros ausgelegt hatte. Er stellte den Aktenkoffer auf den Schreibtisch und drehte sich dann um, da jemand an der Tür geklopft hatte. Eine Krankenschwester, die Berge von Papieren und Umschlägen in den Armen hielt, stand im Eingang. »Dr. Craig?« »Ja?« Sie trat ein und reichte ihm eine Hand. »Rebecca Simms. Aber fast alle hier nennen mich Becky. Ich bin hier die Oberschwester, das Mädchen für alles und der grimmige Bluthund, wenn ein Scheck nicht rechtzeitig eintrifft. Schön, daß Sie jetzt bei uns an Bord gekommen sind.« »Vielen Dank. Ich bin wirklich froh, endlich hier zu sein. Dieses Haus hat einen ausgezeichneten Ruf, und ich hoffe nur, ich erweise mich diesem als würdig.« »Sie werden rasch feststellen, daß wir hier ein verschwiegener Haufen sind, der wie Pech und Schwefel
zusammenhält. All unsere Aufmerksamkeit gilt den Patienten, und ich schätze, den meisten von ihnen ist das durchaus bewußt. Das Oak Park ist ein angenehmer Ort mit guten und brauchbaren Menschen. Und wo ich gerade beim Thema bin, ich besorge Ihnen sofort die Krankenberichte Ihrer Patienten. Sie übernehmen die Gruppe von Dr. Parnett. Sechs oder sieben Fälle.« Sie blieb an der Tür stehen und lächelte ihm zu: »Ich bin mir sicher, daß Sie alle von ihnen, nun, faszinierend finden werden.«
Gegen siebzehn Uhr dreißig, als die Tagesputzkolonne das Haus verließ, hatte Craig fast alle Krankenberichte studiert. Er wollte morgen richtig mit der Arbeit beginnen, jeden einzelnen seiner Patienten besuchen und sich von ihnen ihre Geschichte erzählen lassen. Wenn mitten in der Therapie der Therapeut gewechselt wurde, konnte das unter Umständen alle bisherigen Erfolge zunichte machen. Am besten ging man als Neuer behutsam vor und schuf erst einmal eine angstfreie Umgebung, in der die Patienten sich beruhigen und ihn kennenlernen konnten, um ihn dann zu akzeptieren. Damit konnte er sich ruhig bis morgen Zeit lassen. Bis auf… Er entdeckte die Oberschwester, als sie an seiner Tür vorbeilief. »Becky? Könnten Sie eine Sekunde Ihrer Zeit erübrigen?« Sie steckte den Kopf herein. »Klar. Was gibt’s denn?« Er tippte mit einem Finger auf das Foto, das vor ihm lag. Becky trat ein und blickte dem Arzt über die Schulter. »Was können Sie mir über diese Patientin sagen?« fragte er. »Über Sharon Miles?« »Ja. Aus den Unterlagen geht hervor, daß sie freiwillig hier um Aufnahme gebeten hat.«
»Das stimmt. Doch Dr. Parnett vermutete, daß ihre Familie damit etwas zu tun hatte. Vielleicht hat man sie so lange unter Druck gesetzt, bis sie sich freiwillig einweisen ließ.« Craig blätterte die Akte durch, die zahlreichen Berichte, medikamentösen Therapien und die Protokolle der Sitzungen. »Hier steht auch, daß sie sich weigert, das Sanatorium zu verlassen… daß sie ständig die Möbel zu eigenartigen Konfigurationen umgruppiert… daß sie nur in einem ganz einfachen und vor allem weißgestrichenen Raum schlafen will…« »Ja, so ist sie«, bestätigte Becky. »Seit wir sie hier bei uns haben, hat sie ihr Zimmer mindestens ein halbes Dutzend Mal neu gestrichen. Dr. Parnett meinte, wir sollten sie gewähren lassen, daß das vielleicht die geeignete Beschäftigungstherapie für sie sei. Sie zieht sich nur einfarbige Kleidung an und verläßt so gut wie nie ihr Zimmer – außer zu den Mahlzeiten und zu den Sitzungen, und auch dann nur widerwillig.« Craig nickte. Das stand auch im Bericht seines Vorgängers. »Ich habe noch nie von einem solchen Fall gehört. Ist sie ansprechbar und kooperativ?« »Absolut. Sie ist still, tut alles, was man ihr sagt und bleibt am liebsten allein. Wenn sie ihr schriftliches Einverständnis gäbe, könnte sie morgen schon nach Hause entlassen werden. Aber sie will nicht weg.« »Haben Sie eine Vorstellung, warum sie nicht gehen will?« »Nein. Ich weiß nur, daß sie jedes Mal, wenn wir mit ihr darüber gesprochen haben, sie zu entlassen, nun… also, Doktor, ich habe keine Ahnung, was ihr fehlt, aber sie hat vor irgend etwas eine entsetzliche Angst. Ich habe in meinem ganzen Berufsleben noch nie eine Patientin gesehen, die eine so unvorstellbare Furcht vor etwas hat. Die meiste Zeit über läßt sie sich nichts davon anmerken. Aber dann kommen Momente, in denen man ihr die Angst so überdeutlich anmerkt,
daß man glaubt, sie körperlich greifen zu können. Was immer es sein mag, es jagt ihr gräßliche Furcht ein.« »Und Sie wissen nicht, worum es sich dabei handeln könnte?« »Keine Ahnung. Sogar Dr. Parnett hat das nicht herausfinden können. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Doktor?« »Nein, danke, Becky.« Sie nickte ihm routinemäßig zu, verließ das Büro und kehrte an ihre Arbeit zurück. Robert betrachtete das Foto. Selbst in Schwarzweiß wirkte die Frau sehr verletzlich und einsam. Vielleicht wäre es nicht die schlechteste Idee, seinen Zeitplan etwas vorzuziehen.
Sharon Miles Zimmer wirkte ungemütlich und war so gut wie nicht eingerichtet. Keine Tapete war an den Wänden, die grell weiß gestrichen waren. Offenbar hatte sie sie auch abgewaschen. Sogar die Decke war frisch gestrichen und nahezu makellos glatt. An Mobiliar enthielt der Raum einen einfachen braunen Stuhl, ein Bett mit weißem Bezug und grauen Decken, einen weißgestrichenen Schrank, einen kleinen Tisch und einen Schaukelstuhl der einfachsten Machart, in dem sie saß. Anscheinend hatte sie noch nicht bemerkt, daß der neue Arzt an der Tür stand. Ihr Haar war sandfarben, die Augen waren groß und grün. Sie trug ein graues Sweatshirt und eine blaue Hose. Im ganzen Zimmer fanden sich weder Muster noch Verzierungen; das gleiche traf auf ihre Kleidung zu. Der Raum erinnerte an eine Seite aus einem phantasielosen Malbuch für Kinder, die nur wenige Buntstifte besaßen. Er klopfte zweimal an die Tür, sie blickte von dem Buch auf, in dem sie gerade las. »Hallo, ich weiß, die offiziellen Bürostunden sind schon vorüber, aber ich dachte mir, ich schau mal herein und stelle
mich vor. Ich hoffe, ich störe Sie nicht.« Sie schloß das Buch und legte es auf den kleinen Tisch. »Überhaupt nicht. Treten Sie doch bitte ein, Dr. Craig.« Sie bemerkte die Verblüffung auf seinem Gesicht und lächelte matt. »Hier verbreiten sich Neuigkeiten schnell. Ist aber selten mehr darunter als ein Gerücht. Und ich war noch nie besonders gut im Korbflechten.« »Handwerkliche Künste sind mir auch versagt geblieben«, erklärte der Arzt und nahm auf dem einfachen braunen Stuhl vor ihr Platz. »Schon in der Schule wurde mir das klar. Im Werkunterricht sollten wir ein Bücherregal anfertigen. Und was kam bei mir dabei heraus – ein Geschirrtuchhalter.« Er sah sich in dem Zimmer um. »Sehr nett. Etwas spartanisch, aber ganz nett.« »Vielen Dank«, entgegnete sie. Sie schwieg einen Moment und sagte dann: »Ich muß gestehen, ich bin etwas überrascht. Ihr erster Arbeitstag ist offiziell doch erst morgen, oder?« »Ja, aber ich habe mir bereits die Krankenberichte angesehen, und der Ihre kam mir sehr interessant vor. Mir ist vor allem aufgefallen, daß Sie sich freiwillig zur Behandlung in unser Haus begeben haben.« »Das stimmt.« Ihm entging nicht, daß ihr Tonfall jetzt merklich kühler geworden war. »Nun ja, seitdem geht es mir nicht schlecht, und Dr. Parnett wollte nichts überstürzen. Wenn mir nach reden zumute wäre, sollte ich mich melden.« »Aber bislang war Ihnen noch nicht danach. Seit fast zwei Monaten haben Sie keine Sitzung mehr besucht. Ich bin mir sicher, wenn Sie die wieder aufnehmen würden…« »Nein, das ist keine gute Idee. Noch nicht. Erst wenn ich dazu bereit bin… vielleicht.« Sie nahm das Buch vom Tisch, legte es auf ihren Schoß und schlug es bei der Seite auf, die sie eben gelesen hatte. Ende der Audienz.
Craig erhob sich und ging zur Tür. »Also gut. Aber wenn Sie jemals das Bedürfnis zu reden verspüren sollten, wissen Sie, wo Sie mich finden können. Einen schönen Abend noch.« Er wartete einen Moment, ob sie ihm antworten würde, aber er vernahm nichts weiter als ihr Blättern. Er eilte über den Flur in sein Büro. Seine erste Begegnung mit Sharon Wiles hatte seine Neugier ganz und gar nicht befriedigen können. Die Frau wirkte absolut normal, auch wenn sie einen etwas nervösen Eindruck machte und sich ein wenig zu sehr dagegen gewehrt hatte, über ihr Problem zu reden – wie immer das auch aussehen mochte. Na gut, im Lauf der Zeit würde er alles über sie herausfinden, da war er sich sehr sicher. Er nickte den Putzfrauen zu und entdeckte plötzlich Becky, die gerade um eine Ecke bog. »Gut, daß ich Sie treffe«, begann sie sofort. »Ich habe schon überall nach Ihnen gesucht. Bevor alle von der Tagschicht nach Hause gehen, möchte ich Sie dem Personal vorstellen und Sie gleichzeitig mit unserem Einsatzplan vertraut machen.« »Gut, ich denke, das…« Sharons Schrei hallte durch den Flur. Er lief zu ihrem Zimmer und stieß fast mit einem Hausmädchen zusammen, die halb herauseilte und halb gestoßen wurde. Der Frau folgte kurz darauf eine Decke. »Raus mit dem Zeug!« schrie Sharon von drinnen. »Ich habe Ihnen oft genug gesagt, daß ich so etwas nicht haben will! Schaffen Sie es fort von mir!« Die Angestellte entdeckte Craig und sah ihn flehentlich an. »Ich habe ihr erklärt, wir hätten keine anderen Decken. Nachts wird es jetzt kühler, und…« »Ich will eine einfarbige Decke. Keine Muster, ist das denn so schwer zu begreifen?« Sharon näherte sich drohend dem Hausmädchen.
Craig schob sich zwischen die beiden Frauen und hielt beide Hände hoch. »Okay, nur die Ruhe. Wir kümmern uns darum.« Er wandte sich an die Angestellte. »Hören Sie, wir wollen keine große Affäre daraus machen. Sie gehen jetzt bitte zum Schrank und bringen zwei oder drei einfarbige Decken, okay?« Er sah Sharon an. »Wären Sie damit zufrieden?« Sie wandte den Blick ab, biß sich auf die Unterlippe und nickte dann. »Solange sie nur unifarben sind«, erklärte sie und hatte sich wieder unter Kontrolle. »Einfarbig. Keine Muster.« »Keine Muster«, versprach Craig. »Ich sorge dafür.« Er winkte dem Hausmädchen zu. »Sie können jetzt weitermachen. Es ist alles in Ordnung.« Die junge Frau traute dem Frieden noch nicht so recht, machte sich aber gehorsam an die Arbeit. Als Craig sich wieder umdrehte, schloß Sharon gerade ihre Tür. Er konnte nur noch einen flüchtigen Blick auf sie werfen, aber der reichte aus. Sharon schluchzte und preßte eine zitternde Hand an ihr Gesicht. An das ängstliche Gesicht, das furchtbar ängstliche Gesicht. Wovor hatte sie solche Angst?
Robert Craig nahm sein Mittagessen am Schreibtisch ein – gekochter Schinken und Schweizer Käse auf einem Sandwich –, als an seine Tür geklopft wurde. »Ja?« Sharon kam herein, zögerte aber, sich allzuweit von der Tür zu entfernen. Sie lächelte nervös und schob sich unentwegt Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Ich fürchte, ich habe gestern abend nicht den allerbesten Eindruck hinterlassen.« Er zuckte die Achseln. »Jeder rastet mal aus.« »Ich weiß, aber ich wollte Ihnen trotzdem für das danken, was Sie für mich getan haben. Das Personal verliert immer mal wieder die Geduld mit mir.«
»Schwamm darüber. Allerdings würde es mir in Zukunft enorm weiterhelfen, wenn ich Ihre Beweggründe kennen würde.« »Aber, Doc!« entgegnete sie, etwas zu rasch für sein Psychologenohr. »Hat Ihnen noch keiner mitgeteilt, daß hier Geistesgestörte untergebracht sind? Wir brauchen keine Beweggründe für das, was wir tun.« »Da stimme ich Ihnen nicht zu. Und was Sie betrifft, so halte ich Sie nicht für geistesgestört. Aber ich würde mich wirklich gern etwas ausführlicher mit Ihnen unterhalten.« Sie starrte auf den Boden und bewegte sich nicht. Dann nickte sie kaum wahrnehmbar. »Einverstanden«, sagte sie und zeigte auf den indianischen Teppich, der vor dem Sofa lag, »aber nur… auch wenn ich mich jetzt wirklich wie eine Schwachsinnige anhöre… aber nur, wenn Sie während meines Aufenthalts in diesem Raum den Läufer dort entfernen könnten.« »Kein Problem«, antwortete der Arzt und rollte das Stück zusammen.
»… und das muß wohl ein Jahr nach meinem CollegeAbschluß gewesen sein. Ich traf also Jeff, und ein Jahr später haben wir geheiratet. Wir bekamen einen Sohn, Eric. Er ist jetzt fünf.« Sie sah den Arzt an. »Ich hasse weder meinen Vater noch meine Mutter. Ich wollte nie mit meinem Bruder schlafen, und als kleines Mädchen hatte ich nie ein furchtbares Erlebnis mit einer Steppdecke.« »Aber gestern nacht hatten Sie Angst davor, nicht wahr? Ich habe es Ihnen deutlich angemerkt. Sie fürchteten sich vor der Bettdecke…« »Nein, nein, nicht vor der Decke! Vor dem Muster darauf.« »Warum?«
Sie öffnete schon den Mund, schloß ihn dann aber wieder und wandte den Blick ab. »Möchten Sie dieses Sanatorium denn nicht wieder verlassen?« fragte der Arzt, »Ich kann mir nicht vorstellen, daß jemand hier nicht wieder raus will. Vermissen Sie Ihre Familie nicht?« »Natürlich vermisse ich sie, Wofür halten Sie mich denn?« »Dann möchte ich aber wirklich gern erfahren, warum…« »Weil ich so furchtbare Angst habe! Und Sie… lassen Sie gefälligst meine Familie aus dem Spiel! Begreifen Sie denn nicht, daß ich das alles nur für meine Familie tue? Zu ihrem Schutz?« »Schutz vor was? Schutz wozu?« Sie lächelte voller Bitternis. »Sie würden es mir ja doch nicht glauben, wenn ich es Ihnen erzählen würde. Nein, Sie würden mich dann wirklich für geistesgestört halten.« »Geben Sie mir wenigstens eine Chance.« Sie nagte an ihrer Unterlippe, und er konnte spüren, wie sie innerlich mit sich rang. Dann richtete sie sich plötzlich etwas gerader auf, ein Anzeichen dafür, daß sie zu einer Entscheidung gefunden hatte. Als sie zu sprechen begann und dabei dem Arzt immer wieder flüchtige, nervöse Blicke zuwarf, wurde ihm bewußt, daß sie diesen Moment wieder und wieder geprobt hatte – doch bislang hatte sie nie den nötigen Mut aufgebracht, mit jemandem darüber zu reden. »Haben Sie je ein Muster genauer betrachtet, Doktor? Ich meine die Muster in einer Tapete, in Sprüngen an der Decke, auf Linoleumböden und so weiter?« »Ich denke schon, warum?« »Haben Sie in solchen Mustern je Gesichter entdeckt? Flecken und Risse ergeben zusammen ein Gebilde, von dem Sie schwören könnten, es sei ein Gesicht, nicht wahr?« Robert lächelte. »Natürlich. Im Haus meiner Mutter hatten wir Linoleum auf dem Boden. Ich habe manchmal den ganzen Tag
auf dem Boden gesessen und im Muster Gesichter gesucht. So arbeitet das menschliche Gehirn. Es sucht im Chaos nach Ordnung. Solange man ihn läßt, spielt der Verstand eine Art Spiel, bei dem er Punkte, Flecke und so weiter, auf die man gerade blickt, so miteinander verknüpft, daß etwas Wiedererkennbares daraus entsteht.« Sie rutschte auf ihrem Stuhl nach vorn, und er erkannte in ihren Augen den verzweifelten Wunsch, verstanden zu werden. »Ja, aber haben Sie sich schon einmal Gedanken darüber gemacht, warum man dort hauptsächlich Gesichter sieht? Nicht Pflanzen oder Tiere oder Häuser, sondern Gesichter?« »Hm, ehrlich gesagt, bis jetzt, da Sie es ausgesprochen haben, ist mir das noch nicht aufgefallen.« »Mir ist es auch nicht gleich aufgefallen«, sagt sie rasch. »Zumindest in der ersten Zeit nicht.« Sie sank zurück, schien gegen die Lehne zu fallen und schwieg für eine Weile. Als sie schließlich fortfuhr, sprach sie leise, und ihre Augen starrten am Fenster vorbei ins Leere. »Es geschah an einem Sonntag, morgens so um neun oder halb zehn Uhr. Ich wachte auf, die Sonne schien durch mein Fenster, und es war angenehm warm. Jeff bereitete unten in der Küche das Frühstück zu, und der Duft von Speck und Eiern drang mir in die Nase. Er hatte mich schlafen lassen. Wissen Sie, wenn man einen fünfjährigen Sohn hat, ist man gelegentlich sehr angestrengt. Ich fühlte mich gut und war mit mir und der Welt zufrieden. Ich lag gemütlich im Bett und starrte träge an die Decke. Der Anstrich war voller kleiner brauner Altersflecke, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Craig nickte. »Nun, ich betrachtete also diese Flecke an der Decke, und plötzlich sah ich… das Gesicht. Doktor, ich schwöre bei Gott, es starrte mich an! Sah mir direkt ins Gesicht. Vermutlich habe ich es im rechten Moment erwischt, als es gerade nicht
aufgepaßt hatte. Denn irgendwie beschlich mich das gräßliche Gefühl, es wisse, daß ich es sehen konnte! Dann hat Eric an die Tür geklopft, und ich ließ mich für eine Sekunde oder so ablenken. Als ich wieder an die Decke starrte, war das Gesicht verschwunden.« Craig nickte. »Ich möchte Ihnen eine Frage stellen. Wäre es denkbar, daß Sie nur geglaubt haben, dort ein Gesicht zu sehen, das Sie anstarrte? So wie bei einem Gemälde, das man zu lange betrachtet hat und in dem sich plötzlich etwas zu bewegen scheint?« »Absolut nicht. Wenn man eine Straße überquert und mit dem Fahrer eines näherkommenden Autos in Augenkontakt tritt, wie einem das beigebracht wird, dann muß man ihn nicht unbedingt deutlich erkennen, manchmal spürt man auch nur, daß er einen gesehen hat. Man weiß irgendwie, daß die Augen des Fahrers einen gesehen haben. Nun, dieses Gesicht an der Decke hat mich gesehen, ebenso wie der Fahrer. Aber wenn es etwas Greifbares, etwas Natürliches gewesen wäre, warum ist es dann so plötzlich verschwunden?« »Sie haben selbst erklärt, daß Sie für eine Sekunde weggesehen haben. In dieser Zeit hat Ihr Verstand die Flecken und Punkte umgruppiert, zu einem anderen Muster, in dem sich kein Gesicht verbarg.« »Nein«, widersprach sie mit kalter Entschiedenheit. »Sie wollen von mir wissen, was mir Angst macht, und ich sage es Ihnen gerade. Ich sage Ihnen die Wahrheit, dort war etwas, Doktor. Ich habe es gesehen, und es hat mich gesehen.« Sie hielt plötzlich inne und verkrampfte sich, so als hielte sie eine letzte wesentliche Information zurück. Dann schien sie zu der Einsicht zu gelangen, jetzt so weit gekommen zu sein, daß sie nicht mehr zurück konnte. Leise erklärte sie: »Ich… ich glaube, es will mich umbringen.«
Craig ließ die Cassette zurücklaufen. Er schaltete bei jeder Sitzung den Recorder ein, ohne daß sein Patient etwas davon wußte. Es bewahrte ihn davor, während des Gesprächs Notizen machen zu müssen. Einige Patienten hatten etwas dagegen. Sharons Stimme erklang im Büro. »Dort war etwas, Doktor. Ich habe es gesehen…« Sie wirkte sehr überzeugt. »Dr. Craig?« Er hielt das Band an und blickte von seinen Notizen auf. Becky stand in der Tür und knöpfte ihren dicken Mantel zu. »Ja?« »Machen Sie Überstunden?« »Nein, eigentlich nicht. Bin so gut wie im Aufbruch begriffen.« »Hoffentlich haben Sie Ihren Mantel mitgebracht. Die Regenzeit setzt ein.« Sie spähte auf den Schnellhefter auf dem Schreibtisch. »Kommen Sie mit der Patientin voran?« »Ja, gut, sehr gut sogar.« »Viel Glück«, wünschte sie, verabschiedete sich mit einem kurzen Lächeln und war weg. Als sie gegangen war, ließ er das Band weiterlaufen. »Ich… ich glaube, es will mich umbringen.« Er hörte sich die Aufnahme bis zu Ende an, als sie ihm versprach, morgen wieder zu ihm zur Sitzung zu kommen. Als er den Recorder ausschaltete, fiel sein Blick zufällig auf den Notizblock. Während der letzten Minuten hatte er geistesabwesend darauf herumgekritzelt, hatte einen Kaffeefleck, einen Riß im Papier und zwei Tintenkleckse miteinander verbunden. Ohne zu wissen, was er tat, hatte er ein Gesicht geschaffen.
Sharon erschien fast eine halbe Stunde zu spät zur nächsten Sitzung. Eine Weile hatte er schon befürchtet, sie würde gar nicht mehr kommen. Als sie dann da war, wollte sie über alles
reden, nur nicht über das Thema der gestrigen Sitzung. Er nickte und wartete, damit sie für sich den richtigen Zeitpunkt finden konnte. Er hatte Geduld und Zeit. Weder er noch sie hatten heute etwas anderes vor. Nach einiger Zeit nahm sie dann tatsächlich das Thema dort wieder auf, wo sie gestern abgebrochen hatte. Bei den Gesichtern. »Nach der Begegnung mit der Fratze an der Decke sah ich immer häufiger Gesichter. Und sie haben mich alle angestarrt. Ich weiß nicht, warum es so war, vielleicht lag es an dem Umstand, daß ich das erste gesehen hatte und nun mehr darauf achtete. So wie man einen Ton oder ähnliches lange Zeit nicht bemerkt, und wenn er einem dann bewußt geworden ist, will er einem nicht mehr aus dem Kopf. Ich habe überall Gesichter gesehen. In den Rissen in den Wänden – die habe ich überstrichen, aber etwas später waren sie wieder da. Oder im Blätterhaufen draußen neben der Tür. In Baumstümpfen, Ziegelsteinmauern… sogar in den Falten im Gesicht meines Kindes, wenn es die Stirn runzelte. Und in meinen Kleidern. Ich konnte nichts mehr mit einem Muster tragen. Aus diesem Grund erlaube ich auch in meinem Zimmer keine Muster. Die Gesichter können sich in jedem beliebigen Muster verbergen. Alles, was nicht einfarbig ist, gewährt ihnen Zutritt. Eine Zeitlang habe ich versucht, mir einzureden, das sei nur ein Streich, den mir mein Kopf spielte. Aber die Gesichter wollten einfach nicht verschwinden. Und je mehr ich sie bemerkte, desto mehr bemerkten sie mich. Manchmal glaubte ich sogar, sie miteinander reden zu hören, wie sie über mich tuschelten, wie sie darüber diskutierten, was sie mit mir anstellen sollten.« »Sie sprechen von ihnen als ›sie‹, so als handele es sich dabei um Personen. Wer oder was sind sie Ihrer Meinung nach?« »Das weiß ich nicht«, entgegnete sie, obwohl ihr Tonfall darauf schließen ließ, daß sie eine ziemlich genaue Vorstellung
davon hatte. »Hin und wieder habe ich das Gefühl, sie blicken von einem anderen Ort auf mich. Von einer Welt, die sich parallel zu der unseren befindet, und die beide nur an bestimmten Punkten zusammentreffen. Und ich vermute, daß sie alt sind, sehr alt sogar.« Sie schüttelte den Kopf. »Meine Mutter hat mir einmal erklärt, daß es in diesem Leben viele Dinge gibt, die man nur im Augenwinkel wahrnehmen kann. Wenn sie nur wüßte, wie recht sie damit gehabt hat.« »Was würden ›sie‹ denn Ihrer Meinung nach mit Ihnen anstellen, wenn sie Sie erwischen würden?« »Auch das weiß ich nicht.« Wieder hatte Craig das Gefühl, daß Sharon ihm etwas verschwieg. Sie lächelte matt. »Ich versuche, so wenig wie möglich darüber nachzudenken. Und ich habe nicht vor, sie zu mir durchzulassen, damit ich es erfahre.« »Bis jetzt haben Sie Ihren Mann noch nicht erwähnt. Haben Sie ihm denn Ihre Beobachtungen nicht mitgeteilt?« »Nein. Bis jetzt noch nicht. Ich wollte es immer, aber…« Sie schloß abrupt den Mund. Hielt sich gerade noch zurück, bevor sie etwas aussprechen konnte… Etwas. Was? »Was wollten Sie gerade sagen, Sharon?« »Nichts.« »Sind Sie sich da sicher? Hat es vielleicht etwas damit zu tun, daß Sie freiwillig zu uns gekommen sind?« Sie stand auf und strich ihren Rock gerade. »Ich bin furchtbar müde, Doktor. Können wir für heute Schluß machen und morgen weiterreden?« »Selbstverständlich«, antwortete er und brachte sie zur Tür. Als sie hinaustrat, legte er ihr eine Hand auf die Schulter. »Werden Sie mir morgen erzählen, was danach passiert ist?« Sie warf ihm über die Schulter einen Blick zu und schien mit sich zu kämpfen. Dann ging ein Ruck durch ihren Oberkörper,
und sie schüttelte den Kopf. Ihre Augen schimmerten feucht, und sie lief geradezu fluchtartig weg. Eilte fort von seinem Büro, über den Flur zu ihrem Zimmer. Ihre Schritte hallten noch lange nach.
Es war dunkel Sie schloß die Augen und zwang sich, nicht daran zu denken. Haben Sie ihm denn nichts von Ihren Beobachtungen mitgeteilt? Sie klammerte sich an die Dunkelheit, die hinter ihren Augen hing und sie zum Schlaf des Vergessens einlud. Nein. Bis jetzt noch nicht. Ich wollte es immer, aber… Sie würde nicht mehr daran denken. Warum nicht? Weil man es freiläßt, wenn man daran denkt, und das wollte sie unter gar keinen Umständen zulassen. Die Stimme am Telefon, so weit fort in der Dunkelheit des Schlafzimmers, ihres Schlafzimmers, ihres Hauses, ihres Lebens, jetzt so weit entfernt. »Ich bin morgen nachmittag um drei wieder zu Hause, Sharon. Das Flugzeug landet mittags.« Stille in der Nacht, das vertraute Zögern. »Gut, ich… es gibt da etwas, worüber ich mit dir reden muß. Aber nicht am Telefon. Wenn du wieder hier bist.« Dann die üblichen Gutenachtküsse, die Liebesbeteuerungen und die Wünsche für einen sicheren Flug. Und dann die Dunkelheit, viel dunkler, nachdem die Lichter ausgegangen sind. Mondlichtstrahlen bahnen sich ihren Weg durch das Fenster und platzen gegen die Wand. Die Wand mit ihren komplexen Mustern, die durch den Überstrich dringen und verstärkt werden durch die Schatten von den Ästen und den Fenstern. Schatten und Muster verschmelzen und formen sich zu neuen Gebilden, die unter der Farbe zu atmen scheinen, die unter der Haut der Tapete
Adern, Venen und Kapillargefäße bilden, sich zu kohärenten Figurationen formen. Sie erhob sich, und Geräusche erfüllten das Zimmer. Rascheln und Gleiten, ein Wispern hinter der Wand, wie wenn trockene Blätter über Beton geweht werden. Trockenheit und Tod. Das Geräuschgebilde bewegte sich wie ein Lebewesen durch den Raum, und Sharon kam es so vor, als stecke sie im Bauch des Wesens. Und überall das Mondlicht, das wie vergilbte Schrift auf braun gewordenem Papier wirkte. Und sie konnte die Wörter und Buchstaben nicht entziffern. Sie näherte sich der Wand mit dem leisen Murmeln, und dieses Mal gab es, wie so oft zuvor, keinen Zweifel, daß das Gesicht, das sich da im Licht drehte, sie, auch wenn es keine Augen besitzt, anstarrte. Und plötzlich warf es sich nach vorn, kämpfte mit aller Kraft gegen das Gewebe der Wand an, um Sharons Hand zu packen. Das Gesicht war jetzt direkt vor ihrem. Sie fuhr instinktiv zurück und preßte die Hände an den Mund, während sie zusah, wie das Gesicht sich langsam von der einen zur anderen Seite bewegte, wie es sich erst in der neugewonnenen Freiheit zurechtfinden mußte. Und dann glitt es flink wie Öl auf Wasser unter der Wandoberfläche entlang, rutschte in eine Ecke, von dort wieder hoch, zur nächsten Ecke, immer näher an die Tür heran… und raschelte und rauschte. Als es die Tür erreichte, fürchtete Sharon schon, es würde von dort den Weg zu ihr finden, direkt vor ihr stehen, frei von den Fesseln der weißen Farbe. Aber statt dessen verschwand es. Sie lauschte, hörte aber nichts mehr. Das Gesicht hatte so entschlossen gewirkt, hatte so entschieden die Tür angesteuert, und dann… was? Sie erinnerte sich. Um die Tür herum. Hinab in die Ecke. Dann nach links. In Erics Zimmer. »Eric!« Sie rannte los, achtete nicht auf die anderen Gesichter um sie herum, lief über den Flur zu Erics Zimmer, zu der
offenstehenden Tür seines Zimmers. Er lag in seinem Bett und schlief. Atmete ganz normal in der Stille der Nacht neben der Wand, an die sie eine so hübsche Tapete für ihn geklebt hatten… mit Wolken und Flugzeugen, Sternen und Planeten. Sie stürmte in das Zimmer. Und schon hörte sie die Wesen, wie sie an der Wand zerrten und rissen. Wie sie die Wand von innen heraus aufbrachen. Sie lief zu ihrem Sohn, nahm ihn in die Arme und drehte sein Gesicht weg, während die Risse in der Tapete erschienen, die sich zu Buchstaben formten, jeder neue Schnitt erfolgte schärfer und klarer als der vorangegangene. Zornige Wunden, die von einem seltsamen Licht bestrahlt wurden. Und schließlich konnte sie es lesen: ZU NIEMANDEM EIN WORT. Und der letzte Buchstabe lief in einem Zickzackschnitt aus, der über die ganze Wand fuhr und erst unmittelbar vor Eric haltmachte. »Nein«, flüsterte sie, ohne zu wissen, ob man sie hören konnte, ob die, die hinter der Wand waren, sie hörten. »Nein, nein, nein, nein…« NEIN!
Craig wollte gerade ins Bett gehen, als das Telefon zum drittenmal in zwei Stunden läutete. Der Sturm, der am Haus rüttelte und zerrte, brachte die Telefonleitungen der Gegend durcheinander. Jedesmal, wenn er abhob, hörte er nur statische Geräusche und das Murmeln weit entfernter Stimmen. Doch diesmal bekam er eine Verbindung. Er erkannte Sharons Stimme sofort wieder. »Ich wollte Ihnen nur mitteilen«, sagte sie, »daß ich es mir anders überlegt habe. So kann es einfach nicht weitergehen. Jemand muß es erfahren. Morgen, ja, morgen werde ich Ihnen alles erzählen.« »Ich bin froh, das zu hören, Sharon.« Sie zögerte. »Äh, Doktor, ich… ich habe Sie belogen. Ich glaube, ich weiß, wer
diese Gesichter sind und was sie beabsichtigen. Sie wollen es nicht nur mir, sondern jedem antun. Ich mußte ihnen versprechen, kein Wort über sie zu erzählen, aber je länger ich darüber nachdenke, desto stärker reift in mir die Überzeugung, daß man ihnen nicht trauen darf. Jedenfalls sollte ich ihnen nicht trauen. Und bitte, wenn mir etwas zustoßen sollte, dann kümmern Sie sich um meine beiden… um Jeff und Eric. Versprechen Sie mir, daß Sie sich um sie kümmern werden!« »Einverstanden, ich verspreche es«, erklärte der Arzt. Dann machte es am anderen Ende klick, und Craig hörte nur noch den Freiton. Er legte auf und trat ans Fenster. Der Regen legte sich wie eine nasse zweite Haut auf die Fenster. Er spürte fast körperlich, wie der kalte Wind nach Ritzen suchte, durch die er eindringen konnte. Morgen, Morgen würde er alles erfahren. Und dann endlich konnte er anfangen, ihr zu helfen.
Craig zog den Regenmantel aus und hängte ihn an den Haken an der Tür. Im Büro herrschten arktische Temperaturen, und die Fenster waren beschlagen. Er wollte gerade nachsehen, was es mit dem Tropfgeräusch hinter seinem Schreibtisch auf sich hatte, als Becky erschien. »Morgen, Doktor«, sagte sie und deutete auf den halb gefüllten Eimer hinter seinem Schreibtisch, der die Tropfen auffing, die sich einer nach dem anderen an einem Wasserfleck an der Decke sammelten. »Sie müssen schon entschuldigen. Wir haben das Dach erst letzten Winter reparieren lassen, aber ein paar Löcher sind dabei wohl übersehen worden. Tja, überall stehen Eimer herum.« Er verschob seinen Sessel und beschloß, den Eimer nicht zu beachten. »War ja ein furchtbarer Sturm letzte Nacht, was?«
»O ja«, entgegnete sie und grinste schief. »Wir sind keinen Moment zur Ruhe gekommen. Ein solch schwerer Sturm beunruhigt unsere Schützlinge, und letzte Nacht war hier einfach die Hölle los. Erst nach Mitternacht hatten wir sie ruhiggestellt. Aber, nun wie soll ich mich ausdrücken? Die ganze Geschichte hatte ihre besondere Wirkung auf Ihre Lieblingspatientin.« Robert fuhr hoch. »Sharon? Was ist passiert?« »Sie fing furchtbar an zu schreien. Irgendwann mitten in der Nacht. Sie schrie sich die Lunge aus dem Leib und hämmerte gegen die Tür, wollte unbedingt raus! Sagte dauernd, sie wollte ein anderes Zimmer und müsse dieses unbedingt verlassen.« Craig war schon aus dem Büro hinaus und auf dem Flur. Becky hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. »Hat sie gesagt, warum sie in ein anderes Zimmer wollte?« »Hat für mich alles keinen rechten Sinn ergeben. Sie war hysterisch. Wir hätten ihr unter Umständen ein anderes Zimmer geben können, aber Sie wissen ja selbst, wie überfüllt wir im Augenblick sind. Tja, es gab einfach keinen anderen Raum, in den wir sie hätten stecken können. Außerdem machte sie einen viel zu verwirrten Eindruck, da konnten wir sie nicht einfach auf den Gängen herumspazieren lassen. So blieb uns nichts weiter übrig, als sie in ihrem Zimmer einzuschließen. Mit Hilfe einer anderen Krankenschwester habe ich ihr ein Sedativum verpaßt. Sie hat sich gewehrt wie eine Wilde.« Craig lief noch schneller, spürte in sich eine schreckliche Vorahnung. »Warum haben Sie mich nicht angerufen?« »Hätten wir sicher, aber gegen zwei Uhr nachts wurde sie ruhig. Und da wollten wir Sie nicht mehr stören.« Er rannte. Becky kam nicht mehr mit. Sie hätten ihm Bescheid geben müssen, verdammt noch mal! Wenn etwas geschehen war, was bei ihr einen Rückfall ausgelöst hatte…
Er rannte um die Ecke und bremste mit beiden Händen an der Wand ab, weil er sonst mit Sharon zusammengestoßen wäre, die ihm entgegenkam. Sie lächelte ihn an. »Guten Morgen, Doktor. Ich war gerade auf dem Weg zu Ihnen.« »Zu mir?« entfuhr es ihm, während er versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Dann lächelte er. »Ich habe gehört, Sie haben unsere Schwestern ganz schön auf Trab gehalten.« »Ja, nun, ich fürchte, ich habe mich etwas töricht angestellt. Das ist mir heute klar. Aber Stürme machen mir immer solche Angst. Dank Ihrer Bemühungen ist mir klargeworden, daß ich mich bei vielen Gelegenheiten töricht benommen habe.« »Was meinen Sie damit?« »Nun, zum Beispiel, daß ich hier bin. Daß ich mich hierher zurückgezogen und damit meinen Mann und meinen Sohn im Stich gelassen habe, Und das bloß wegen ein paar dummer, irrationaler Ängste. War wirklich blöd von mir. Und falsch. Das weiß ich jetzt. Größtenteils habe ich diese Erkenntnis Ihnen zu verdanken. Ich schätze, alles was mir fehlte, war jemand, mit dem ich reden konnte, Und der waren Sie für mich. Ich bin Ihnen dafür dankbarer, als ich das mit Worten ausdrücken kann.« »Und ich vermute, daß…« Er sprach den Satz nicht zu Ende. Er war wieder zu Atem gekommen und hatte sich von der Überraschung erholt, fast in sie hineingelaufen zu sein. Erst jetzt kam er dazu, sie genauer anzusehen. Ihre Kleider. Sie trug eine bedruckte Bluse mit einem Muster aus ineinanderlaufenden Farben und Formen, Linien und Schatten. Um den Hals hatte sie sich einen dazu passenden Seidenschal gebunden. »Was ist denn, Doktor?« »Ich vermute, daß Sie mir einen zu großen Anteil daran zumessen.« Er streckte eine Hand aus und berührte den Schal.
»Sie haben sich hübsch zurechtgemacht. Ein recht ausgefallenes Muster. Ich dachte…« »Wieso? Ein weiteres Anzeichen dafür, daß es mir wieder besser geht. Ich habe in der Verwaltung angerufen und dort Bescheid gegeben. Ich habe meine Sachen gepackt und alle Formulare und Erklärungen ausgefüllt und unterzeichnet. Mit etwas Glück bin ich schon heute nachmittag hier raus. Ist das nicht wunderbar?« Das Sanatorium verlassen? »Ja, sicher, ich dachte nur, wir könnten wenigstens die Sitzungen abschließen.« »Die sind vorbei«, erklärte sie ernst, aber sofort kehrte das Lächeln auf ihre Lippen zurück. »Sie haben mir unermeßlich viel Gutes angetan, Doktor. Noch einmal vielen Dank dafür.« Sie verabschiedete sich mit einem Nicken, machte auf dem Absatz kehrt und ging in ihr Zimmer zurück. Robert sah ihr nach, dann begab er sich wieder in sein Büro. Wenn Sharon gehen wollte, dann war das ihre Entscheidung und ihr gutes Recht. Immerhin hatte sie sich ja freiwillig hierher begeben. Und war es nicht sein Ziel, daß sie sich wieder gut fühlte? Hatte er nicht gewünscht, daß sie nach Hause zu ihrer Familie zurückkehren sollte, frei von all den irrationalen Ängsten, die sie verfolgten? Natürlich hatte er das. Unbedingt wollte er das. Warum also spürte er dann diesen Klumpen in seinem Magen?
Sharon packte ihre letzten Sachen ein, als Craig an die Tür klopfte. Ähnlich wie in seinem Büro standen zwei Eimer in ihrem Zimmer, um die durchsickernden Regentropfen aufzufangen. Sie drehte sich um und lächelte. Alles andere als ein Verlegenheitslächeln, dachte er. »Ihr Taxi wartet unten«, erklärte der Arzt. »Ich dachte, ich helfe Ihnen, das Gepäck hinunterzutragen. Davon abgesehen
konnte ich Sie ja nicht gehen lassen, ohne mich von Ihnen verabschiedet zu haben, nicht wahr?« »Nein, natürlich nicht«, entgegnete sie und hakte den letzten Gurt am Koffer ein. Sie zeigte auf das Stück. »Danke, Hilfe ist stets willkommen.« Sie nahm die kleinste Tasche und verließ das Zimmer. Craig griff sich die beiden anderen Gepäckstücke und folgte ihr, als er an der Tür stehenblieb. Er lauschte. Für einen Moment hatte er geglaubt, etwas gehört zu haben. Eine Stimme, die ihn rief. Muß wohl der Wind gewesen sein, sagte er sich schließlich, kam aber nur einen Schritt weit… Hilf mir… bitte, irgend jemand… helft mir! Er stellte die Koffer ab und schaute sich gründlicher um. Er schien die Stimme mehr in seinem Kopf als mit den Ohren zu hören. Aber niemand hielt sich in dem Zimmer auf, und Versteckmöglichkeiten gab es hier auch keine. Nur das Bett, der Tisch, der Spiegel und der offene Schrank. Und die beiden Eimer. Sein Blick wanderte über die Wände und die Decke. Gestern noch makellos weiß, waren sie jetzt vom Regen fleckig geworden. Die Wasserflecke zeigten sich als Kreise in Kreisen. Muster. Und zwei dieser Flecke wie dunkle Ringe, wie Augen, und dazwischen ein langgezogener Fleck wie eine Nase, der in einen Mund auslief. Er starrte auf diese Stelle. Und der Fleck starrte ihn an. Das bin nicht ich! Bitte, Sie müssen etwas unternehmen… ich bin nicht die Frau, so begreifen Sie doch… SIE IST EINE VON IHNEN! Sharons Gesicht. Sharons Stimme. »Kommen Sie, Doktor?« Er drehte sich um, um Sharon zu suchen, eine von ihnen die stand an der Tür und lächelte geduldig. Er blickte wieder an die Decke, aber das Gesicht war jetzt nur noch eine
Ansammlung von Flecken. »Ja, natürlich«, erklärte er und nahm die Koffer. Auf dem Weg zum Taxi fiel ihm auf, daß seine Hände zitterten, daß sie gar nicht mehr aufhören wollten zu zittern. Es würde viel, viel Zeit vergehen, bevor sie sich wieder beruhigten.
WENN SIE DAS NÄCHSTE MAL ALLEIN SIND, BLICKEN SIE SCHNELL UND UNVERMITTELT AUF DIE TAPETE, AN DIE DECKE UND AUF DIE RISSE UND SPALTEN AUF DEM BÜRGERSTEIG. HALTEN SIE MÖGLICHST AUSSCHAU NACH SHARON MILES. IHR GEHÖRT DAS GESICHT LINKS, DIE SYMMETRIE DER FURCHT, DAS MAN NUR IM AUGENWINKEL WAHRNEHMEN KANN… ODER IN DER TWILIGHT ZONE.
Unsere Selena stirbt (von Rod Serling)
In der zweiten Januarwoche kam Produzent Mark Shelmerdine in mein Büro und präsentierte mir etwas, was meine Welt für die nächsten drei Wochen auf den Kopf stellen sollte. Er gab mir einen einfachen Umschlag, in dem sich sechs maschinenbeschriftete Blätter befanden. Oben auf der ersten Seite stand zu lesen: UNSERE SELENA STIRBT von Rod Serling Das Dokument, das ich in Händen hielt, war das Expose für eine nie gedrehte Episode der Original Twilight-Zone-Serie und war kurz vor dem Ende der Serie am 28. Februar 1964 verfaßt worden. Seitdem hatten die sechs Blätter in Schubladen herumgelegen, waren vierundzwanzig Jahre lang der Öffentlichkeit verborgen geblieben. Nun war die Story wieder aufgetaucht. Die Filmgesellschaft hatte sich die Rechte daran besorgt und brauchte nun jemanden, der aus dem sechsseitigen Expose ein Drehbuch für eine halbstündige Folge schrieb. Man war auf mich verfallen. Es war die Krönung meiner Laufbahn. Eine echte Herausforderung. Und eine Geschichte, für die man Nerven wie Drahtseile brauchte. Mir war klar, daß diese Folge besondere Aufmerksamkeit erhalten würde, sobald sie zur Ausstrahlung kam. Die erste Rod-Serling-Geschichte seit vierundzwanzig Jahren. Das war mehr als nur eine Meldung aus der Welt der Medien, das war eine echte Schlagzeile. Und so kam es dann auch. Kaum war die Meldung heraus, fiel die Presse wie ein Heuschreckenschwarm über uns her. Die Nachricht von der
wiedergefundenen Serling-Story erschien in allen großen Zeitungen der USA und wurde im Radio und im Fernsehen verkündet. Fernsehteams gaben sich bei uns die Klinke in die Hand. Ein Team kam sogar zu mir nach Hause, um ein Interview mit mir zu führen, das weltweit ausgestrahlt wurde. Wenn ich mich nicht würdig erweisen und meine Fassung als schlechter Abklatsch von Rod Serling angesehen würde, könnte ich mich aufhängen und für lange Zeit in der Hängematte schaukeln. Obwohl mich die Reaktion der Kritiker und des Publikums auf meine Fassung sehr beschäftigten – sagen wir lieber, mich sehr, sehr beschäftigten –, war das eigenartigerweise nicht meine Hauptsorge. Dieser Platz gebührte der Person, deren Meinung mir am allermeisten bedeutete. Carol Serling. Durch den Schöpfungsakt, den Rod Serling vor vielen Jahren unternommen hatte, erhielt ich die Gelegenheit, endlich das zu tun, was ich immer schon tun wollte: Geschichten erzählen. Ich war es ihm also schuldig, mein Allerbestes zu geben, als kleine Rückzahlung einer großen Schuld. Und da er nicht mehr unter uns weilte, stand ich bei seiner Frau Carol in der Schuld. Nun ja, ich habe schon vieles verfaßt. Während ich diese Einleitung schreibe, blicke ich zurück auf Beiträge für drei große Magazine, auf die Arbeit an über zweihundert Fernsehfolgen, auf etwa einhundert selbstverfaßte Skripts, auf zwölf Fernsehproduktionen, auf fünfhundert Artikel, auf zwölf Radiohörspiele, zwei Romane, ein Sachbuch und die vorliegende Sammlung. Aber nie habe ich härter an einem Text gearbeitet als an UNSERE SELENA STIRBT. Das Drehbuch wurde am 22. Februar 1988 fertig. Mehr als bei jeder anderen Episode wollte ich bei den Dreharbeiten zu SELENA dabeisein.
Am 7. März 1988 trat die amerikanische Autorengewerkschaft in einen Streik. Jeder sagte, der Streik würde allerhöchstens einen Monat dauern. Der Streik endete am 7. August 1988. Und SELENA wurde vom 11.-15. Juli 1988 gedreht. Ich bedaure zutiefst, daß ich aufgrund des Streiks nicht bei den Dreharbeiten dabeisein konnte, nicht einmal in die Nähe des Drehortes durfte. Nur der Umstand, daß der Streik notwendig und wichtig war, tröstet mich etwas. Und noch etwas spendet mir Trost, ein Gegenstand, den ich bei meinen anderen Sachen aufbewahre, die mir persönlich sehr wichtig sind. Es handelt sich dabei um einen Brief von Carol Serling, der am 19. September 1988 abgeschickt worden war. Eine Passage darin lautet: »Vielen Dank für die Übersendung des fertigen Drehbuchs von UNSERE SELENA STIRBT. Ich empfand die Lektüre als außerordentlich anregend, und ich bin der festen Überzeugung, daß Sie sich getreu an den Originaltext gehalten und ihm alle Ehre erwiesen haben. Wenn die Folge demnächst ausgestrahlt wird, werde ich sie mir ansehen.« In jener Nacht schlief ich zum erstenmal seit langer Zeit wieder tief und fest. Manchmal geben die Götter einem eine Chance, und noch einen kleinen Extrabonus dazu. Konsequenterweise steht SELENA am Ende dieser StorySammlung. Sie gilt als eine der am meisten verschobenen Produktionen in der Fernsehgeschichte. Von den Jahren 1964 bis 1989, von manueller Schreibmaschine bis zum vierzig Megabyte-Word-Processor, von Seiten über Schubladen über Probeaufnahmen bis zum fertigen Film und wieder zurück zum beschrifteten Papier, hier ist UNSERE SELENA STIRBT.
UNSERE SELENA STIRBT, Produktions-Nr. 87018, Drehbuch von J. Michael Straczynski, nach einer Geschichte von Rod Serling. Regie führte Bruce Pittmann, und die Darsteller sind: Terri Garber (Deborah Brockman), Jennifer Dale (Diane Brockman), Charmion King (Selena Brockman), R. H. Thompson (Dr. Burrell), Paul Bertis (Orville), Patricia Idette (Susan), Aileen Taylor-Smith (Martha Brockman), Jackie McLeod (erste Krankenschwester), Ann Turnbull (zweite Krankenschwester), Rob McClure (Arzt) und Tim Koetting (Spezialist). Die Folge wurde vom 11.-15. Juli 1988 gedreht und am 13. November 1988 erstmals ausgestrahlt.
Das Brockman-Anwesen war ein freudloses und dunkles Ziegelsteingebäude mit vierundzwanzig Zimmern in der Beekman Street und gehörte zum letzten seiner Art. Eingerahmt von Eisenstangen und hohen Hecken waren die Räume ein ungeordnetes Museum mit unbequemen Sesseln, überladenen Sofas und dunkler Holzvertäfelung, auf der sich die finsteren Schatten des Hauses widerspiegelten. Jeden Tag, von neun Uhr morgens an, wenn man sie zu ihrem Sessel am hohen Fenster trug, von dem aus man einen Blick auf die Beekman Street hatte, bis acht Uhr abends, wenn man sie wieder auf ihr Zimmer brachte, starrte Martha Brockman auf die Straße hinunter. Kleine, müde Augen blickten aus einem ledrigen, uralten Gesicht. Ob sie nachdachte oder ob sie tagträumte, die leeren Augen und der schweigsame Mund gaben keinen Hinweis auf Marthas Tun, Und nur ein gelegentliches Blinzeln oder ein Zucken im Gesicht zeigten an, daß sie noch lebte, durch eine Glasscheibe von der Welt draußen getrennt lebte.
RICHTEN SIE IHRE AUFMERKSAMKEIT AUF DAS HAUS ZUR LINKEN: DIE RESIDENZ DER BROCKMANFAMILIE. EIN ALTES BRAUNES GEBÄUDE, DESSEN HOLZVERTÄFELTE WÄNDE MIT DUNKELHEIT POLIERT SIND. EIN LICHT- UND GERÄUSCHLOSER ORT, ÜBER DEN NOCH GRÖSSERE DUNKELHEIT GEKOMMEN IST. DAS OBJEKT DER TODESWACHE: SELENA BROCKMAN, DIE GRAND DAME DIESER MENAGERIE, DIE IN ERBITTERTEM RINGEN MIT DEM TOD IN IHREM BETT LIEGT UND NACH EINEM KOMPROMISS MIT IHM SUCHT, UM NICHT VOR IHM KAPITULIEREN ZU MÜSSEN. (Nach einer Geschichte von Rod Serling, die von J. Michael Straczynski bearbeitet wurde.)
Ein dunkler Raum, in dem die Fensterläden vor dem grauen Himmel verschlossen wurden, in dem sich eine bedrückende Sammlung von antiken Stühlen und Kissen findet und in dem das große Bett auf den vier stämmigen Beinen im Zentrum des Zimmers dominiert. Selena Brockman, nur ein paar Jahre älter als ihre Schwester Martha, lag reglos in dem Bett. Sie hatte die Augen geschlossen, und ihre Brust hob und senkte sich in einem flachen Rhythmus, der nur hin und wieder von einem Zögern oder einem abgehackten Erzittern unterbrochen wurde. Mit jedem neuen Tag mußte Selena härter drücken und pressen, um noch ein Quentchen Kraft aus dem zerbrechlichen und verbrauchten fünfundsiebzigjährigen Körper, den ausgelaugten Lungen und dem einst noblen und befehlsgewohnten Geist herauszupressen, der sie zum Schluß im Stich gelassen hatte. Diane Brockman betrat das Schlafzimmer, als Dr. Burrell dort gerade sein Stethoskop wegpackte und alte, wirkungslos
gewordene Medizin gegen neue austauschte, die auch nicht viel mehr bewirken konnte. »Wie lautet Ihre Prognose, Doktor?« Er blickte nur kurz zu Diane auf und wechselte weiter die Fläschchen aus. Er kannte sie nur im Minirock, selbst an einem so kühlen Tag wie heute trug sie einen, und es kam dem Arzt so vor, als würde sie sich ständig im Takt zu irgendeiner exotischen Musik bewegen, die nur sie vernahm. Ihre Sorge war gespielt, und ein leichter Unterton der Belustigung über sein Wirken schwang in ihrer Frage mit. Deshalb sah er keinen Anlaß, sich mit der Antwort zu beeilen. Er berührte Selenas Hand. Sie fühlte sich an wie Pergament. Ihre Augen öffneten sich ein wenig, und nach einer Weile hatte sie ihn entdeckt. »Zwei von diesen alle vier Stunden, um den Schmerz zu lindern«, erklärte der Arzt. »Wenn der Zustand sich verschlimmert, rufen Sie mich sofort an.« Er wollte gehen, aber sie legte ihm eine dürre, skelettähnliche Hand auf den Arm. »Sie kommen doch morgen wieder«, sagte sie, und es klang wie ein rauhes Flüstern. Sie bat ihn nicht zu kommen, sie verlangte es. »Aber natürlich«, antwortete Burrell, obwohl er sich nichts mehr wünschte, als hier hinauszukommen und möglichst weit von diesem Ort des Verfalls und der stickigen Luft entfernt zu bleiben. Irgend etwas war an diesem Brockman-Haus, etwas, das störte, das unfertig wirkte. Er schloß seine Tasche und ging an Diane vorbei aus dem Schlafzimmer. Die junge Frau betrachtete Selena mit einem Anflug von Lächeln. Ganz gewiß gab es hier eine ordentliche Erbschaft zu holen. In Fällen wie diesen war immer ein großes Erbe im Spiel. Und was sonst hätte Diane von der bislang letzten ihrer ausgedehnten Europareisen hierher zurücklocken sollen? In den zehn Jahren, seit sie zum erstenmal im Anwesen aufgetaucht war, eine Verwandte aus einem anderen Bundesstaat, die kurz nach dem Zeitpunkt gekommen war, an
dem Burrells Vater sich aufs Altenteil zurückgezogen und dem Sohn die Praxis überlassen hatte, hatte der Arzt sie erst zweimal gesehen, und nie als Patientin. Er war die Treppe hinabgegangen und zog sich gerade seinen Mantel über. »Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet.« Diane kam hinter ihm die Stufen herunter. »Wie steht es um meine teure Tante Selena?« Er warf ihr über die Schulter einen Blick zu. »Sie stirbt, Mrs. Brockman. Sie stirbt schon seit geraumer Zeit. Der einzige Unterschied zu vorher besteht darin, daß der Tod nun seine Markierung gezogen hat und man entdecken kann, daß er ihren Namen auf den Lippen hat. Ist das die Antwort, die Sie von mir erwartet haben?« Sie ging auf diese Anspielung nicht ein und lächelte weiter. »Ich bin nur besorgt, Doktor.« Sie stellte sich neben ihn. »Mir kam eben etwas in den Sinn. Morgen, nach Ihrer Visite, könnten wir doch zusammen etwas unternehmen, irgendwo einen Drink nehmen oder so.« Er schüttelte heftig den Kopf. »Großer Gott«, entfuhr es ihm, und schon eilte er hinaus auf die Veranda. Saubere, frische Luft. Er atmete tief und dankbar ein. Hier gab es etwas, das schlimmer als der Tod wirkte. Diane folgte ihm nach draußen. »Soll das heißen, daß Sie morgen nicht kommen werden?« »Für den Fall, daß Ihre Tante Sie nicht eingeweiht hat«, erwiderte er, »ich habe Ihre Familie von meinem Vater geerbt, und der hat sie von seinem. Das bringt gewisse Verpflichtungen mit sich – ein Begriff, von dem ich nicht vermute, daß er Ihnen allzu vertraut sein dürfte. Nun denn, ich werde morgen kommen. Die Frage bleibt nur, ob Selena morgen noch da ist.« Er erreichte den Bürgersteig. »Dr. Burrell!«
Er blieb stehen und drehte sich noch einmal um. »Selena wird heute nacht nicht sterben«, erklärte Diane. »Sie hält durch. So lange wie sie muß.« Damit machte sie kehrt und tänzelte zum Haus. Wie immer hatte es den Anschein, als würde sie vor einem unsichtbaren Publikum auftreten. Burrell schob die Hände in die Taschen und lief schnell zu seinem Auto. Im Auto war es kalt, aber das war ihm immer noch lieber als dieses Haus.
Deborah Brockman stellte ihre Sachen zusammen – die beiden blumenbedruckten Koffer und die Heizplatte, die ihr Vater ihr hinterlassen hatte – und überprüfte ein letztes Mal den Herd, den Heizkörper und das Licht, um festzustellen, ob sie auch wirklich alles ausgeschaltet hatte. Wieder packte die Erregung sie. Endlich, im reifen Alter von zwanzig Jahren, sollte sie doch noch ein Abenteuer erleben. Am Abend zuvor war der Anruf von Cousine Diane gekommen. Sie hätten Wochen gebraucht, um sie ausfindig zu machen, hatte Diane erklärt. Die Suche sei um so schwieriger gewesen, weil Deborahs Eltern vor fünf Jahren gestorben waren und Deborah sich eine Geheimnummer hatte geben lassen. Doch sie hätten sie über die Schwesternschule gefunden, an der sie vor einem Jahr ihren Abschluß gemacht habe. Ein wirkliches Abenteuer. Eine Reise an die Ostküste. Der bevorstehende Tod einer Tante, von der sie bislang nur gehört hatte und der sie jetzt endlich gegenübertreten durfte. Diane hatte Erbansprüche, die Kosten fürs Pflegepersonal und anderes in der Art ins Gespräch einfließen lassen. Aber das interessierte Deborah erst in zweiter Linie. Viel wichtiger war
das Abenteuer. Und die Arbeit, die sie dort erwartete. Sie würde etwas leisten für Kost und Logis. Es klopfte, und sie öffnete die Tür. Suzy stand draußen. Sie klimperte mit ihren Wagenschlüsseln. »Ihre Kutsche steht bereit, Madame.« »Okay, nur noch ein letzter Rundgang.« Sie checkte ihr Einzimmerapartment, in dem Suzy bis zu ihrer Rückkehr wohnen würde. Suzy war während ihrer gesamten Ausbildungszeit von einer vorübergehend freigewordenen Wohnung in die nächste gezogen. Ihren Ersparnissen war das trotzdem nicht gut bekommen. »Bist du dir auch ganz sicher?« rief Suzy von der Tür. »Ein Anruf, und du änderst dein ganzes Leben.« »Immerhin ist sie meine Tante. Diane hat gesagt, sie braucht mich.« »Dabei bist du ihr noch nie begegnet.« »Nein, aber ich habe schon viel von ihr gehört. Mein Vater hat von ihr stets in dem Tonfall gesprochen, den man bei ungewöhnlichen, exotischen oder schlicht andersartigen Dingen gebraucht.« »Hört sich unheimlich an.« Deborah kehrte zu der Freundin zurück. »Sie liegt im Sterben.« »Gibt’s denn etwas zu erben?« »Ja, etwas«, antwortete sie kurz angebunden. »Hängt von meinem Erscheinen und meiner Pflegearbeit ab. Aber eigentlich bin ich unglaublich neugierig.« Sie nahm ihre beiden Koffer auf. »Okay, das wär’s.« Suzy sah sie an. »Deine letzte Chance.« »Suzy, ich habe mein ganzes Leben an diesem Ort verbracht und bin nie richtig rausgekommen. Ich schätze, es wird höchste Zeit, einmal etwas anderes zu sehen, oder?« Suzy nickte. Das Abenteuer begann.
»Und das hier ist dein Zimmer.« Cousine Diane öffnete im Westflügel des Hauses die Tür zu einem kleinen Raum. Deborah blickte hinein. Es roch darin, als sei seit Jahren nicht mehr gelüftet worden. Aber andererseits roch es im ganzen Haus etwas muffig. Deborah mußte an das Haus Usher denken, verdrängte diesen Gedanken aber sofort wieder. »Und hier geht’s zur Küche«, fuhr Diane fort. »Du kannst dich überall im Haus frei bewegen. Und wenn du etwas nicht finden kannst, dann frag mich ruhig.« Als sie um die Ecke bogen, sah Deborah den Hausdiener wieder, dem sie vorhin schon kurz begegnet war, als das Taxi sie hier abgesetzt hatte. Der Mann hatte gerade die Koffer ins Haus getragen. Er hatte ein weiches, rundes Gesicht und lange Arme. Als er die beiden Frauen bemerkte, tippte er zum Gruß mit zwei Fingern an die Kappe. »Das ist Orville«, erklärte Diane und wandte dann Deborah das Gesicht zu. »Unsere Spezialausgabe von Hausdiener und Dorftrottel.« Sie lachte, als sie Deborahs schockierten Gesichtsausdruck sah. »Keine Bange, er ist so gut wie taub. Oh, er versteht sich aufs Lippenlesen, aber wenn er einen nicht ansehen kann, kann man sagen, was man will, ohne daß er einen Ton davon mitbekommt.« Diane sah Orville an, »Das stimmt doch, Orville, oder?« Der Mann nickte schüchtern und senkte dann rasch den Blick. »Du kannst jetzt gehen, Orville«, sagte Diane und sah ihm zu, wie er die Koffer wieder aufnahm und ins Gästezimmer brachte. Er schien froh zu sein, von hier fortzukommen. »Er ist ein Waisenkind. Tante Selena hat ihn vor einigen Jahren aufgenommen. Sie hat ein sehr mitfühlendes Herz.« Aus Dianas Mund klang das so wie bei jemandem, der eine Vase oder ein Bild von sehr geringem Wert erhält. Während sie über den Flur schritten, fiel Deborah plötzlich die Frau auf, die oben
an einem Fenster saß und nach draußen starrte. »Wer ist das denn?« Diane warf der Frau nur einen flüchtigen Blick zu und grinste. »Meine Mutter. Martha. Sie ist harmlos. Ich schätze, sie weiß nicht einmal, daß wir hier sind.« Das Grinsen wurde breiter. »Man sagte mir, es soll eine gewisse Familienähnlichkeit geben.« Diane ging weiter. Deborah folgte ihr und fragte sich, was die Cousine denn eben so komisch gefunden hatte. Diane blieb vor der Tür am Ende des Ganges stehen und legte einen langen, sorgfältig manikürten Finger an ihre Lippen. »Das Zimmer von Tante Selena«, erklärte sie und öffnete die Tür. Im Zimmer gab ein großer, konzentriert arbeitender Mann gerade einer verfallenen, eingesunkenen Gestalt eine Spritze. Nach dem, was Diane erzählt hatte, mußte das Dr. Burrell sein. Er sah kurz auf, als die beiden jungen Frauen eintraten. »Ihnen bleibt eine Minute«, sagte er leise. »Ich habe ihr gerade etwas zum Einschlafen gegeben.« Deborah näherte sich dem Bett Selenas und ließ sich vorsichtig auf der Bettkante nieder. »Tante Selena? Ich bin’s, Deborah. Deborah Brockman. Du hast mich gerufen.« Es dauerte einen Moment, bis sich die Lider der alten Frau öffneten. Sie streckte den Arm aus und legte eine Hand auf die von Deborah, Die alte Hand war erschreckend und unangenehm leicht. »Ich werde von nun an Diane dabei helfen, dich zu pflegen«, verkündete sie. »Wenn du etwas brauchst, sei es am Tag oder in der Nacht…« Sie hielt abrupt inne und verzog schmerzhaft das Gesicht. Selenas Hand hatte sich fest um die ihre geschlossen. Die Alte drückte immer fester zu. »Tante Selena?« Sie versuchte, ihre Hand fortzuziehen, aber der Griff war verblüffend fest. Und der Druck wurde immer noch stärker. »Tante Selena, du tust
mir weh. Bitte, laß meine Hand los.« Selena reagierte nicht darauf. Deborah hätte annehmen können, daß die sterbende Frau nichts von ihrer Anwesenheit merkte, wenn da nicht der feste Griff gewesen wäre. Deborah nahm alle Kraft zusammen und riß ihre Hand los. Im nächsten Moment entspannte sich Selenas Gesicht, und ihr Kopf rollte zur Seite. »Doktor!« rief Deborah. Burrell war bereits an ihrer Seite und maß den Puls der alten Frau. »Sie ist in Ordnung, ist bloß eingeschlafen«, erklärte der Arzt. »Kommen Sie bitte mit nach draußen.« Deborah rieb sich die schmerzende Hand und folgte Diane und dem Doktor auf den Flur. Sie stellte fest, daß sie etwas freier atmen konnte, nachdem die Tür zum Zimmer der Tante geschlossen worden war. »Sind Sie okay?« fragte Burrell sie. »Ich denke schon. Sie hat mich wohl nur unbeabsichtigt gekniffen.« »Das tut mir leid«, sagte er. »Eines der Probleme des Alters. Manchmal fallen die Tastnerven aus. Ich vermute, Selena wußte nicht einmal, wie fest sie Ihre Hand drückte.« »Ist alles in Ordnung, ehrlich.« »Ich scheine meine guten Manieren vergessen zu haben«, erklärte Diane ohne echtes Bedauern. »Deborah Brockman. Dr. Henry Burrell, unser Medizinmann in Person.« Er schüttelte Deborahs andere Hand. Seine Hand war groß, warm und trocken. »Ich habe schon gehört, daß Sie kommen würden. Selena kann eine ausgebildete Pflegerin gut gebrauchen. Ich gebe mein Bestes, aber ich kann nicht Tag und Nacht hiersein.« Unvermittelt klopfte er sich an die Westentasche. »Mein Thermometer…« »Ich hole es Ihnen«, sagte Diane und begab sich ins Schlafzimmer.
Als sie weg war, eilte der Arzt die Stufen hinunter. Deborah folgte ihm nach unten. »Steht es wirklich so schlimm um sie, wie man mir gesagt hat?« »Schlimmer. Und trotzdem hält sie zäh durch. Erstaunlich.« »Sie ist eine starke Frau. Das kann ich aus eigener Erfahrung bezeugen.« Sie traten auf die Veranda, und der Doktor zog sich den Mantel über. »Ich würde es nicht unbedingt Stärke nennen«, erklärte er. »Mehr eine besondere Art von Gier, ein verzweifeltes, unheiliges Festhalten am Leben. Ein innerer Trieb, der sich weder durch Wissenschaft noch Religion erklären läßt. Es kommt einem so vor, als würde sie auf etwas Bestimmtes warten.« Er zuckte die Achseln. »Tut mir leid, ich wollte nicht morbide klingen.« »Das macht nichts. Dieses Haus versetzt jeden in eine morbide Stimmung.« Er lächelte ihr zu, und sie lächelte zurück. »Viel Glück, Sie können es sicher brauchen«, sagte er, als er die Wagentür öffnete. »Ich hoffe allerdings, Sie brauchen es nicht zu sehr.« »Halt!« rief sie, als er einstieg. »Was ist mit Ihrem Thermometer?« »Vergessen Sie’s!« rief er und ließ den Motor an. »Ich habe es nicht liegenlassen. Aber hier gibt es etwas, was mir noch unheimlicher ist als das Haus: Diane. Bis morgen.« Sie sah dem Wagen nach, bis er außer Sicht war. Dann kehrte sie ins Haus zurück. Selbst von hier konnte sie die alte Frau sehen – Martha hatte Diane sie genannt –, die dort am Fenster saß und unentwegt auf den Verkehr starrte und auf die Passanten, die mehr aus Fleisch und Blut waren als sie. Deborah zog die Strickjacke fester zusammen und eilte ins Haus.
Sie überlegte den ganzen Tag, ob sie soviel Aufwand darum machen sollte oder nicht, aber dann saß sie doch im Wohnzimmer und ließ Dr. Burrell im vergehenden Licht des Nachmittags ihre Hand untersuchen. »Ich komme mir sehr töricht vor, Sie damit zu behelligen. Schließlich ist es ja nur ein kleiner Fleck. Und vor Tante Selena wollte ich das nicht erwähnen.« »Nein, das ist schon richtig so«, antwortete er und drehte ihre Hand. Der Fleck war über Nacht aufgetaucht. Eine braune Stelle mitten auf ihrem Handrücken. »Mit solchen Dingen soll man nicht spaßen. Allerdings ist dieser Fleck harmlos, mag er auch eigenartig wirken. Ein Leberfleck.« »Ein Leberfleck?« »Ja.« Er schloß seine Tasche und ließ die Schnappverschlüsse zuspringen. »Bei Menschen, die noch so jung sind wie Sie, findet man sie nicht oft, aber es kommt eben vor. Vermutlich haben Sie sich zu lange der Sonne ausgesetzt.« Sie studierte ihren Handrücken. »Wie kann so etwas denn so unvermittelt auftreten?« »Vermutlich hat sich die Stelle schon seit längerem immer mehr verdunkelt, und erst jetzt ist es sichtbar geworden. Da Sie nur den einen Leberfleck haben, würde ich Ihnen eine gute Bleichcreme empfehlen, die Sie zwei- bis dreimal am Tag auftragen. Wenn der Fleck nicht innerhalb einer Woche verschwunden ist, mache ich ein paar Tests mit Ihnen. Und treiben Sie sich nicht mehr so oft am Strand herum.« »Aber ich komme aus Ohio«, widersprach Deborah und lächelte. »Doktor?« rief Diane von oben. »Wenn Ihre Zeit es erlaubt, würde Ihr richtiger Patient Sie gern sehen.« Burrell zwinkerte Deborah zu und eilte die Treppe hinauf. »Na ja«, erklärte er Diane, »wenn sich ihr Zustand so entwickelt hat, wie ich das
fest annehme, bin ich überrascht, daß sie überhaupt noch etwas sehen kann.« Er öffnete die Tür. Selena saß aufrecht im Bett und lehnte gegen einen Kissenberg. Die Vorhänge waren zurückgezogen, und das letzte Sonnenlicht drang herein. Sie lächelte dem Arzt zu, als er ihr Zimmer betrat. »Guten Tag, Doktor«, grüßte sie. »Ist das nicht ein wunderbarer Tag heute?«
Eine halbe Stunde später packte Burrell seine Sachen zusammen. Diane stand wie üblich an der Tür und sah ihm mit einem belustigten Lächeln zu. »Nun, Doktor?« fragte Selena. »Der Puls ist stärker geworden, und der Herzschlag scheint sich etwas stabilisiert zu haben.« »Sie hören sich überrascht an«, sagte Selena. »Offen gesagt, das bin ich auch. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, aber als ich eben die Tür öffnete, habe ich schon fast erwartet…« »Eine Leiche vorzufinden?« Er zuckte zusammen. »Ich hätte es nicht so direkt ausgedrückt, aber ja, so etwas hatte ich fast erwartet.« »Vielleicht sind Sie ein besserer Arzt, als Sie selbst glauben.« Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin ein guter Arzt, aber so gut nun auch wieder nicht.« »Tante Selena hat einen übermäßig starken Lebenswillen, Doktor«, bemerkte Diane. »Ja, es hat ganz den Anschein.« Er wandte sich an die Patientin. »Ich möchte nicht, daß Sie sich überanstrengen. Es könnte sich um eine temporäre Besserung handeln, und wir müssen unbedingt einen Rückfall vermeiden.« Die alte Frau nickte. »Ich achte schon auf mich, Doktor.« Burrell verabschiedete sich, eilte nach unten und ließ sich von Orville den Mantel reichen. »Danke, Orville«, sagte der Arzt und zog
den Mantel an. »Bis morgen.« Als er sich zur Tür wandte, stand der Hausdiener, der sich sonst rasch zu entfernen pflegte, sobald er eine Aufgabe erledigt hatte, immer noch neben ihm. Es kam dem Arzt so vor, als wollte Orville ihm etwas mitteilen. Doch dann warf er einen vorsichtigen Blick nach oben und huschte davon, nachdem er sich auf die übliche Weise mit einem Fingertippen an die Kappe verabschiedet hatte. Burrell blickte ebenfalls nach oben und entdeckte Diane am Treppenabsatz. Sie lächelte den beiden Männer zu. »Vielen Dank für Ihre Mühe, Doktor«, rief sie, machte dann auf dem Absatz kehrt und verschwand. Als Deborah das Tablett mit dem Geschirr und den Speiseresten aus Tante Selenas Schlafzimmer trug, fühlte sie sich müde und erschöpft wie nie zuvor. Und das erschien ihr widersinnig. Sie bekam hier ausreichend Schlaf, schlief eigentlich sogar länger als gewöhnlich. Aber sie fühlte sich ausgelaugt und kaputt, als wäre sie die ganze Nacht weggewesen. Die Treppe hinauf hatte sie zweimal anhalten und verschnaufen müssen. Und jetzt spürte sie eine Beklemmung in der Brust. Wahrscheinlich der Streß vom Umzug, gar nicht zu reden von all den Aufregungen in der letzten Woche, beruhigte sie sich und machte sich auf den Weg zur Tür. Sie bewegte sich leise, um die Tante nicht aufzuwecken. Aber sie war erst ein paar kurze Schritte weit gekommen, als die Mattigkeit sie übermannte, Ihre Arme fühlten sich bleischwer an, und das Tablett schien mit einemmal ein unglaubliches Gewicht zu haben. Ihre linke Hand fing an zu zittern, konnte die Last kaum noch halten. Deborah kämpfte gegen das Zittern an, schien es damit aber nur zu verstärken. Bald wackelte das Tablett bedenklich, und ein Messer und eine Gabel rutschten ab und fielen klappernd auf den Boden. Mist, dachte sie. Sie bückte
sich, um die Silberteile wieder aufzuheben. Während sie auf dem Boden hockte, ließ die Erschöpfung etwas nach. Du mußt dich nur ein wenig ausruhen, nur einen Moment. »Fühlst du dich nicht gut, Deborah?« Sie blickte hoch und entdeckte Diane in der Tür. »Doch, eigentlich schon, bin nur ein bißchen müde. Das geht wieder vorbei. Vielleicht sollte ich auch etwas essen.« »Warum gehst du nicht nach oben und legst dich hin? Ich bringe dir dann später eine Erfrischung.« Deborah erhob sich und nahm das Tablett. »Danke, ich glaube, das werde ich tun.« Sie ging an Diane vorbei und blieb vor dem Hinausgehen noch einen Moment stehen. Die Cousine stand an Selenas Bett und betrachtete die Tante. Selena öffnete die Augen, erkannte Diane und lächelte. Wenigstens eine von uns fühlt sich besser, sagte sich Deborah, bevor sie sich auf den Weg zur Küche machte. Burrell fuhr erschrocken aus dem Schlaf. Das Telefon auf dem Nachttisch zerriß schrill die Nacht. Er stützte sich auf einen Ellenbogen auf, räusperte sich und hob ab. »Ja?« »Dr. Burrell? Hier spricht Deborah Brockman. Können Sie bitte kommen? Ich weiß, es ist schon recht spät, aber…« Er setzte sich aufrecht hin und war völlig wach. Mit diesem Anruf rechnete er schon seit Tagen. Er hielt Selenas Besserung nur für vorübergehend, der bald ein Rückfall folgen würde. »Was ist mit Selena?« »Nein, es geht um mich, Doktor. Bitte beeilen Sie sich!« Sie hängte ein. Der Arzt wartete dreißig Sekunden, damit sein Kreislauf sich stabilisieren konnte. Dann sprang er aus dem Bett und versuchte sich zu erinnern, wo er seine Hose hingelegt hatte. Fünfundvierzig Minuten später stand er vor dem Haus der Brockmans und fand die Haustür unverschlossen vor. Er schob sie auf und rief leise: »Deborah?« Aus der Richtung des
Wohnzimmers ertönte ihre Antwort: »Hier drüben.« Ihre Stimme klang leise und unnatürlich fern. Er schlich durch die trübe beleuchtete Halle und folgte ihrer Stimme. Hier waren alle Lichter gelöscht, und er brauchte einen Moment, um Deborahs Silhouette im Mondschein zu erkennen, der durch das große Fenster eindrang. Sie saß in einem Sessel und hielt den Kopf gesenkt. »Deborah? Warum sitzen Sie denn hier im Dunkeln herum?« fragte er und streckte eine Hand nach dem Lichtschalter aus. »Nein«, sagte sie zu spät, denn neben ihr war schon die Lampe eingeschaltet. »Lieber Himmel!« keuchte Burrell und beugte sich über sie. Ihr Gesicht war blaß, war erschreckend bleich und blutleer. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen und waren von breiten schwarzen Ringen umgeben. Die Gesichtshaut spannte sich über den Schädel. Ihre Hände zitterten wie nach einem Schlaganfall. Es kam ihm so vor, als seien alle Jugend und Vitalität, die ihm bei seiner ersten Begegnung mit ihr so angenehm aufgefallen waren, aus ihren Körper gesaugt worden. Sie sah zu ihm hoch, und Tränen standen in ihren Augen. »Bitte, helfen Sie mir… Ich weiß nicht, was mit mir vorgeht.« Er nahm ihre Hand und versuchte, sich seinen Schreck nicht anmerken zu lassen. Was um alles in der Welt konnte einen so plötzlichen und verheerenden Effekt auf einen Menschen haben? »Ist ja schon gut, alles wird wieder in Ordnung kommen.« »Haben Sie mich denn nicht angesehen?« »Ich weiß, ich weiß«, erklärte er und griff zum Telefon. »Ich lasse Sie ins Krankenhaus bringen, damit man dort ein paar Tests an Ihnen vornimmt. Bitte versuchen Sie jetzt, sich zu beruhigen.«
Sie nickte stumm. Sie war eine starke junge Frau. Stärker jedenfalls als ich, dachte er grimmig, als er beim Wählen der Nummer bemerkte, wie sehr seine eigenen Finger zitterten. »Nun komm schon, Jack, es muß doch etwas geben, was du tun kannst!« Der Spezialist, den Burrell aus dem Bett geholt hatte, trank einen Schluck des dringend benötigten Kaffees. »Was denn noch? Hör mal, wir haben jeden nur erdenklichen Test an ihr vorgenommen. Blutkörper gezählt, Zellstruktur analysiert, alles, was du willst, und wir sind auf nichts gestoßen, was bei ihr nicht in Ordnung sein könnte.« »Mensch, du hast doch Augen im Kopf. Du hast sie gesehen. Ich würde das für vorzeitiges Altern halten. Was meinst du dazu?« »Da würde ich dir grundsätzlich zustimmen. Ein einleuchtender Terminus für das, was zu sehen ist. Aber solange wir die Ursache dafür nicht kennen, ist dieser Terminus so ziemlich alles, worauf wir uns stützen können. Paß auf, ich arrangiere eine CAT-Durchleuchtung und seh mich um, was die Radiologen sonst noch zu bieten haben. Sobald ich etwas in Erfahrung gebracht habe, lasse ich es dich sofort wissen. Und jetzt geh gefälligst nach Hause und leg dich schlafen.« »Noch nicht«, entgegnete Burrell, »vorher muß ich noch eine Visite machen.«
Diane seufzte jetzt schon zum drittenmal, während er ihren Blutdruck maß. »Ich bin mir sicher, daß Sie sich hier völlig umsonst bemühen, Doktor.« »Das lassen Sie im Augenblick mal meine Sorge sein, Diane. Was immer Deborah befallen haben mag, ich muß wissen, ob es ansteckend ist.«
»Ich habe mich noch nie besser gefühlt. Und auch Tante Selena geht es prächtig.« »Was ist mit Ihrer Mutter?« »Martha?« Diane lächelte. »Die ändert sich nie. Sie hockt nur in ihrem Sessel am Fenster und beobachtet, wie unten auf der Straße die Welt an ihr vorüberzieht.« Er murmelte etwas Unverständliches als Antwort und beobachtete die Anzeige des Blutdruckmeßgeräts. Alles normal. Er löste die Binde von ihrem Arm, hielt aber inne, als er etwas höher am Arm einen Fleck bemerkte. Er schob ihren Ärmel hinauf und entdeckte eine Brandnarbe, die beinahe so groß wie seine Handfläche war. Eine alte, längst vernarbte Wunde. »Sieht gemein aus«, bemerkte er. Sie riß ihren Arm los und bedeckte die Narbe rasch wieder. »Ein Souvenir aus der Kindheit. Wenn Sie nichts dagegen haben, Doktor, würde ich jetzt gern meinen Pflichten nachgehen. Glauben Sie mir, Doktor, uns allen hier geht es gut.« »Meine Nichte hat vollkommen recht.« ‘ Der Arzt fuhr herum und entdeckte zu seiner großen Verwunderung Selena, Sie hatte das Bett verlassen und war in ihrem Rollstuhl bis zum Treppenabsatz gefahren. Sie hielt sich sehr gerade und trug eine gebieterische Miene zur Schau. Es kam Burrell so vor, als würde sie geringschätzig auf ihn herabblicken. Was zum Teufel geht hier vor? Eigentlich dürfte sie sich kaum bewegen können, ganz zu schweigen davon, im Rollstuhl herumzufahren! »Wir wissen Ihr Interesse an unserer Gesundheit zu schätzen«, erklärte sie jetzt, »aber wie Sie eben feststellen konnten, fehlt uns nichts.« »Ja, das habe ich feststellen können. Aber ist das nicht ein eigenartiger Zufall? Während Deborah deutliche Anzeichen eines vorzeitigen Alterns zeigt, geht es Ihnen…«
»Ich sagte, daß es genug ist«, schnitt sie ihm das Wort ab. »Ich bin außerdem der Ansicht, daß wir nicht länger auf Ihre Dienste angewiesen sind. Ihr Honorar wird in Ihre Praxis geschickt.« Burrell erstarrte. »Und was ist mit Deborah?« Diane erschien an seiner Seite. »Wir sorgen schon dafür, daß Deborah die bestmögliche Behandlung erhält. Sie brauchen sich in Zukunft keine Gedanken mehr um sie zu machen.« Er sah die beiden Frauen kurz an und erkannte, daß alle weiteren Worte sinnlos waren. »Einverstanden. Aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, werde ich selbst entscheiden, worüber ich mir Sorgen mache und worüber nicht. Einen schönen Tag noch.« Er ging aus dem Haus und warf die Tür hinter sich ins Schloß. Früher war ihm nie aufgefallen, wie ähnlich sich Diane und Selena waren. Erst heute abend hatte er das erkannt, als er mitbekommen hatte, wie sie ihn angesehen hatten. In ihren Blicken hatte er lesen können, daß er nicht mehr der einmal dringend benötigte Arzt war, sondern ein Störenfried, jemand, der nicht dazugehörte und deshalb schnellstmöglich aus dem geschlossenen Orbit, in dem sich Selena um Diane und Diane um Selena drehten, ausgestoßen werden mußte. Aber Deborah lag ihm immer noch am Herzen, und für sie wollte er alles tun, was in seiner Macht stand. Er war nicht mehr weit von seinem Wagen entfernt, als er am Gitterzaun eine kauernde Gestalt bemerkte. Als Burrell nahe genug heran war, schlich Orville aus dem Schatten. Er trug ein in Stoff eingewickeltes Bündel unter dem Arm. »Orville?« Der Hausdiener legte einen Finger an die Lippen und sah sich nervös um. Dann huschte er davon und verschwand in der Lücke zwischen dem Brockman-Anwesen und dem Nachbargebäude. Burrell zögerte nur einen Moment, dann folgte er dem Mann. »Was gibt’s, Orville?«
Der Hausdiener sah sich nach allen Seiten um, und als er sich versichert hatte, daß niemand sie beobachtete, wickelte er das Bündel aus. Dabei kam ein altes Fotoalbum zum Vorschein, das er dem Arzt reichte. Das Papier war stellenweise brüchig, die Bilder waren vergilbt, und an einigen Stellen zeigten sich Lücken. Einige Aufnahmen stammten vom Anfang des Jahrhunderts. Orville forderte ihn durch Blicke und Nicken zum Weiterblättern auf. »Ich verstehe nicht recht«, bemerkte der Arzt. Plötzlich zeigte der Hausdiener auf ein bestimmtes Bild. Er tippte unentwegt mit einem seiner klobigen Finger darauf. Ein altes Schwarzweißfoto, das eine junge Frau mit dunklem Haar, zu einem Pferdeschwanz gebunden, zeigte. Sie trug einen Flechtkorb in den Armen. Dabei wurde sichtbar, daß ihr rechter Arm mit einem dicken Verband bedeckt war. Burrell drehte das Album, um es ins Licht zu halten und das zu lesen, was darunter notiert war. 12. Juli 1940. Unser Picknick wurde von einem Feuer ruiniert, als ein Pferd die Kerosinlampe umstieß. Die Flammen breiteten sich im Wagen aus, und die Kinder mußten rasch davonrennen. Die arme Martha hat es erwischt. Der Arzt hat gesagt, daß sie keine bleibenden Schäden davontragen würde. Nur eine Narbe bliebe zeitlebens an ihrem Arm zurück. Burrell betrachtete das Foto genauer. Der Verband befand sich genau an der Stelle, an der er bei Diane die Narbe entdeckt hatte. Auch Diane trug eine Brandnarbe, die ebenso groß war. Wie war es möglich, daß Mutter und Tochter genau die gleiche Narbe an genau der gleichen Stelle und durch genau die gleiche Ursache aufwiesen? Er sah Orville an, und der Mann nickte, so als könnte er die Gedanken des Arztes lesen. »Können Sie mich heute nacht ins Haus lassen?« Orville nickte heftig.
Eine Stunde nach Schließung der Verwaltung saß Burrell in Deborahs Zimmer in der Isolationsstation. Er lauschte mit einem Ohr dem Piepen und Klicken der Geräte, die Pulsschlag und Atmung der Patientin maßen. Im Moment registrierten sie nur, aber die Zeit war abzusehen, von der an sie Deborah am Leben erhalten würden. Draußen wurde es dunkel. Am Rande seines Bewußtseins tauchte der Gedanke auf, daß er nach Hause fahren, sich umziehen und duschen sollte. Er hatte das dringende Bedürfnis, sich wieder sauber zu fühlen. Es saß vorgebeugt da und stützte das Gesicht mit den Händen. Das, was er in der Verwaltung in den Akten entdeckt hatte, zwang zu unmöglichen Schlüssen, die aller Logik, aller Realität und auch dem gesunden Menschenverstand Hohn sprachen. Aber die Wahrheit – zumindest eine Hälfte der möglichen Wahrheit – lag hier vor ihm im Krankenbett. Eine Frau von zwanzig Jahren, die an Altersschwäche starb. Die andere Hälfte der möglichen Wahrheit befand sich im Brockman-Haus. Aber die mußte noch eine Weile warten. Und dann? Er spürte, wie sein Magen sich zusammenkrampfte. Und wenn er tatsächlich mit seiner Vermutung recht haben sollte? Was konnte er dann schon dagegen unternehmen? Oder präziser ausgedrückt, was würden sie ihn dagegen unternehmen lassen? Vermutlich nichts, sagte er sich. Sein Blick ruhte wieder auf Deborah Brockman. Sie hatte die Augen geschlossen. Ihre Wangen waren eingefallen, und ihre Haut war fast durchsichtig. Wie bei einer Greisin. Gott steh mir bei, flehte er in Gedanken. Gott steh uns beiden bei!
Burrell fand die Hintertür unverschlossen vor, wie der Hausdiener es ihm versprochen hatte. Er öffnete sie vorsichtig und hielt nach Diane und Selena Ausschau. Unbemerkt gelangte er in die Küche. Er durchquerte sie, kam in die Halle und zuckte bei jedem Quietschen oder Knarren der Bodendielen zusammen. Behutsam schlich er die Treppe hinauf und sah sich oben angekommen gründlich um. Licht drang durch die Türritzen der Zimmer von Diane und Selena. Er ging zum Fenster, wo Martha immer noch saß. Als er die Sturmlampe vor ihr Gesicht hielt, zeigte sich keine Regung. Er legte ihr vorsichtig eine Hand auf die Schulter. Sie schien unter der Berührung ein Stück zusammenzusacken, so als besäße ihr Körper nicht mehr die Kraft, selbst einem leichten Druck Widerstand entgegenzusetzen. Er versuchte, ihr direkt in die Augen zu sehen, aber ihr Blick war auf irgendeinen Punkt draußen gerichtet. Er rollte ihren Ärmel auf, bis er den Oberarm freigelegt hatte. Er beleuchtete ihn mit der Lampe. Keine Narbe. Weder ein Fleck noch ein Kratzer. Er sah ihr wieder in die Augen, suchte nach einem Anzeichen des Verstehens. »Sie sind nicht Martha Brockman, oder?« flüsterte er. »Sie sind vielmehr Diane Brockman, Marthas Tochter.« Er hielt die Lampe noch näher an ihr Gesicht. Für einen Moment glaubte er, hinter diesen müden und trüben Augen eine Reaktion zu erkennen. Aber vermutlich handelte es sich dabei nur um eine Reflektion des Lichts. »Was haben Sie hier zu suchen?« Er fuhr zusammen, als er hinter sich Dianes Stimme hörte, und hätte fast die Sturmlampe fallenlassen. Die Frau, die sich als Diane ausgab, näherte sich ihm, kam rasch auf ihn zu und schaltete unterwegs die Lichter an. Ihr Gesicht war eine einzige Fratze der Wut. »Zuerst konnte ich es nicht glauben«, erklärte der Arzt. »Besser gesagt, ich wollte es nicht glauben.«
»Was faseln Sie da?« »Ich war heute im Krankenhaus und habe einige Nachforschungen angestellt. Gemäß den dortigen Unterlagen, die jüngsten sind zwölf Jahre alt, hat Diane Brockman grüne Augen. Und keine Narbe am Oberarm. Die Frau, die hier am Fenster sitzt, hat grüne Augen. Welche Farbe haben Ihre Augen? Und woher haben Sie die Narbe? Wie alt sind Sie wirklich… Martha?« Dianes Augen wurden groß, und zum erstenmal entdeckte er Panik in ihrem Blick, die Angst davor, enttarnt zu werden. »Machen Sie, daß Sie rauskommen!« Aber er trat auf sie zu. »Eine geradezu ideale Maßnahme, nicht wahr? Besonders, wenn man eine Tochter hat, oder eine Cousine wie Deborah. Jemand mit dem gleichen Namen, jemand, der ein Haus erben kann, ohne daß viele Fragen gestellt werden.« »Hauen Sie ab!« kreischte sie. »Raus aus diesem Haus!« »Erst will ich noch mit Selena sprechen.« Er ging an ihr vorbei. »Nein!« schrie sie und eilte hinter ihm her. Sie hatte ihn fast erreicht, als er vor der Tür zum Schlafzimmer der Tante stand und sie öffnete. Alles, was er sich vorher gründlich überlegt hatte, hatte ihn nicht auf das vorbereiten können, was er jetzt zu sehen bekam. Selena stand vor dem Spiegel und drehte sich um, als der Arzt hereinplatzte. Alle Falten und tiefen Linien in ihrem Gesicht waren geglättet, ihre Haut wirkte frisch und rosig. Das Haar war wieder pechschwarz und hatte den alten Glanz zurückgewonnen. Ihre Augen sahen ihn lebendig, aber hart an, und ihre Haltung war die einer vornehmen Lady. »Mein Gott!« stöhnte Burrell. »Selena! Er weiß Bescheid!«
Der Arzt näherte sich der Tante. »Geben Sie sie zurück, Selena. Geben Sie Deborah die Jahre zurück, die Sie ihr gestohlen haben. Was Sie getan haben, ist nicht recht!« »Nicht recht?« wiederholte sie. »Was wissen Sie denn schon? Mein Spiel heißt Leben, Doktor. Oh, Sie haben mitgespielt und Ihre Medizinen und Ihr Stethoskop eingesetzt, aber wir haben gesiegt. Es gibt aber in diesem Spiel nur eine Regel, Doktor, und die hat nichts zu tun mit Moral oder Familienliebe. Wenn Tod oder Krankheit einen bedrängen, tritt der Handel, der Austausch ein. So ist es immer schon gewesen. Und so wird es auch in Zukunft sein.« Er öffnete den Mund zu einer scharfen Entgegnung, als ihn ein harter Schlag am Kopf traf. Er ging in die Knie. Lichter flackerten hinter seinen Augen, als er sah, wie Diane zum zweitenmal mit dem Schürhaken ausholte, den sie vom Kamin geholt hatte. »Mami?« Diane hielt mitten in der Bewegung inne und starrte Martha an – auch wenn er jetzt ihre wahren Namen kannte, waren sie in seinen Gedanken noch immer diejenigen, als die man sie ihm vorgestellt hatte –, die ins Zimmer trat und die Sturmlampe festhielt. Ihre Augen waren nicht mehr leer, sondern zeigten Schmerz, Begreifen und Erinnerung. »Mami?« Diane fuhr vor ihr zurück. »Geh weg! Geh weg von mir!« »Mami?« »NEIN!« schrie Diane und holte mit dem Schürhaken nach der alten Frau aus. Die Sturmlampe flog aus Marthas Hand und krachte gegen einen Vorhang an der Wand. Der alte Stoff fing sofort Feuer, als hätte er seit Jahren auf eine solche Gelegenheit gewartet. Binnen Sekunden war das ganze Schlafzimmer von Rauch und Flammen erfüllt. Funken fanden ihren Weg zu Selenas Nachthemd und leckten auch nach Burrells Kleidung. Er erreichte irgendwie die Tür und sprang hinaus auf den Flur. Die Schreie und flehentlichen Bitten derjenigen, die sich noch
im Raum befanden, folgten ihm. Er hielt sich ein Handtuch vor den Mund, um den heißen und brennenden Rauch aus seinen Lungen zu halten. Er warf einen letzten Blick zurück. Selena stand wie ein flammender Turm inmitten des Zimmers. Und dann bemerkte er noch etwas, einen Anblick, den er sein Leben lang nicht mehr vergessen sollte: Martha und Diane rangen miteinander. Eine Feuerwand versperrte ihnen den Weg zur Tür. Die alte Frau klammerte sich voller Panik an die jüngere, hielt sie trotz der Flammen fest, die immer näher rückten, kümmerte sich nicht um Dianes verzweifelte Schreie. »Mami… Mami…« Burrell stolperte zur Treppe und hoffte, er würde durch den dichten Rauch, der ihn umgab, den Weg nach draußen finden. Er fiel die Stufen hinunter, erreichte die Haustür und stürzte sich hinaus in die kühle Nachtluft. Der Rauch hatte ihn halb blind gemacht, und er hustete sich fast die Lunge aus dem Leib. Weit weg hörte er, wie im Haus Glas zerplatzte… und den schrillen Schrei. Dann drehte sich die Welt um ihn, und er brach zusammen.
Er wollte nicht mit der Ambulanz ins Krankenhaus fahren. Statt dessen sah er zu, wie das Brockman-Anwesen niederbrannte. Das Feuer entwickelte eine solche Hitze, daß die Feuerwehr, die mit fünf Löschzügen erschienen war, nicht mehr tun konnte, als das Inferno daran zu hindern, auf die Nachbargebäude überzugreifen. Die Sonne ging bereits auf, als die Hausruine so weit abgekühlt war, daß die Polizisten hineingehen und nach Opfern suchen konnten. Kurz darauf wurden die Bahren herausgerollt. Ein Taxi hielt vor dem Grundstück. Obwohl seine Augen immer noch brannten, erkannte Burrell sofort Deborah, die aus dem Wagen
stieg. Sie stand gerade und aufrecht, und die Alterslinien waren aus ihrem Gesicht verschwunden. So wie das Teuflische in den Flammen untergegangen war, waren auch seine Taten zunichte gemacht. Deborah kam zu ihm, und für einen Moment umarmten sie sich. Keiner von beiden wollte zuerst darüber sprechen, was vorgefallen war, und schließlich kam jeder zu dem Schluß, überhaupt nicht darüber zu reden. Nicht hier. Und nicht jetzt. Sie trat einen Schritt von ihm zurück, als er auf die Bahren sah, die nun in die Krankenwagen geschoben wurden. Nach ein paar Augenblicken gesellte er sich zu Deborah und wischte sich Ruß von den Händen, »Und?« Er zeigte auf die erste Bahre. »Orville. Möge Gott seiner Seele gnädig sein.« Er deutete auf die zweite und dritte. »Selena. Ich habe sie an den Resten ihres Nachthemds identifiziert. Und Martha. Hoffentlich findet sie jetzt endlich ihren Frieden.« »Aber da fehlt doch noch jemand.« Der Arzt nickte. »Diane. Sie suchen noch nach ihr. Ein Zeuge hat ausgesagt, er habe eine laut schreiende Frau gesehen, die mit brennenden Kleidern aus einem Fenster gesprungen sei. Er ist sofort zu ihr gerannt, hat sie aber nicht mehr finden können.« »Glauben Sie, sie könnte…« »Keine Ahnung«, antwortete Burrell, und in diesem Moment wurde ihm bewußt, wie wenig Schlaf er in der letzten Zeit gehabt hatte. »Ich wünschte, ich wüßte es.«
Schwester Carlson brachte den medizinischen Befund in Zimmer 319. Während sie Dr. Leeks den Schnellhefter reichte, warf sie einen flüchtigen Blick auf das Bett. Die Patientin hatte
das Bewußtsein noch nicht wiedererlangt und war von Kopf bis Fuß bandagiert. »Was denken Sie?« flüsterte die Krankenschwester, obwohl sie wußte, daß die Patientin sie sowieso nicht hören konnte. Der Arzt zuckte die Achseln. »Sie ist alt und klapprig. Sie hat schwere Brandverletzungen, im Gesicht und am ganzen Körper. Ich mache mir keine großen Hoffnungen… Wir können kaum mehr tun, als ihr die letzten Stunden so schmerzfrei wie möglich zu gestalten.« Die Schwester nickte und verließ das Zimmer. Nach einem Moment folgte ihr Dr. Leeks. »Ist Ihnen auch aufgefallen, daß ihr linkes Bein bereits verheilt?« »Ja«, antwortete er erschöpft, »aber ob ihr das noch viel nutzt?« Sie kehrte ins Schwesternzimmer zurück, wo Kathy und Lynn sich gerade unterhielten. »Und das Eigenartige daran ist«, sagte Kathy gerade, »daß es weder schmerzt noch juckt noch sonst etwas tut. Aber ich meine, sieh es dir an!« Sie stellte einen Fuß auf einen Stuhl und zog ihre Tracht weit genug hoch, um eine Brandnarbe an ihrem linken Bein zu präsentieren. »Ich könnte schwören, daß ich mich in der letzten Zeit nirgends verbrannt habe. Und trotzdem ist die Wunde da. Heute morgen beim Aufstehen habe ich sie entdeckt. Ich frage mich, ob es etwas Psychosomatisches ist. Vielleicht arbeite ich schon zu lange auf dieser Station.« Etwas weiter den Flur hinunter bewegte sich die Patientin in Zimmer 319.
EINE UNBEKANNTE FRAU, VON DER MAN NICHT WEISS, WIE ALT SIE IST. DIE EINZIGE ÜBERLEBENDE EINER FEUERSBRUNST, DIE BALD AUF WUNDERBARE WEISE GENESEN WIRD. EINE LEBENDIGE WARNUNG AN ALL DIEJENIGEN, DIE
NICHT SORGFÄLTIG ZU UNTERSCHEIDEN WISSEN ZWISCHEN TODESFURCHT UND LEBENSLUST… GANZ BESONDERS IN DER TWILIGHT ZONE.