Geschwister des Teufels
scanned by: Waldschrat
corrected by: Crazy2001
@ August 2003
Es sind nur noch zwei Wagen, ...
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Geschwister des Teufels
scanned by: Waldschrat
corrected by: Crazy2001
@ August 2003
Es sind nur noch zwei Wagen, die aus dem wasserlosen Land hinaus nach Westen gelangen und das erste, spärliche Grün erreichen. Und in der Feme sieht man Hügel mit Wald, dahinter Berge. Dort muß es Wasser geben. Dort in der Ferne liegt das Gelobte Land.
Oregon!
Siebzehn Wagen waren sie damals in Kansas.
Jetzt sind sie nur noch zwei. Die anderen blieben zurück, und all
jene, die nicht von den Indianern getötet wurden, verhungerten, erkrankten, verdursteten, starben an Entkräftung oder kehrten um. Und der harte Weg dieser Westwanderer nach Oregon wird zu beiden Seiten von Gräbern gesäumt, welche fast zahlreicher sind als die Maulwurfshügel. Die beiden Wagen gehören den McGyvers und den Hutchs.
Von den Hutchs sind nur noch die Geschwister Ray und Kim übrig.
Ray ist ein hagerer Junge von fünfzehn Jahren.
Seine Schwester ist ein Jahr jünger.
Und die Eltern kamen unterwegs um.
Die McGyvers bestehen aus John McGyver, seiner Frau Sally und
deren Bruder Jim Slaggar. Jeder der beiden Wagen hat nur noch zwei Zugtiere, halbtote Maultiere. Als die beiden Wagen an der Grasgrenze anhalten, beginnen die Tiere die ersten Halme zu rupfen.
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Ray Hutch, dieser große, hagere, blonde und blauäugige Junge, blickt noch einmal nach Südosten zurück, wo er die Salzwüste von Utah hinter sich weiß. Er ist alt geworden, dieser Junge in den letzten Wochen, sehr alt. Nun grinst er mit aufgesprungenen Lippen, in denen all die Tage und Nächte der vergangenen Wochen das Salz brannte. Er wendet sich an seine Schwester, welche fast teilnahmslos auf dem Bock des Planwagens sitzt. Im Wagen selbst ist nicht mehr viel. Fast die ganze Ladung warfen sie hinaus, um den beiden übrig gebliebenen Maultieren das Ziehen zu erleichtern. Ray wendet sich also an die Schwester: »Augensternchen«, spricht er heiser, »wir haben es bald geschafft. Sieh, dort im Nordwesten sind die grünen Hügel. Bis dorthin sind es keine vierzig Meilen mehr. Die schaffen wir auch noch. Freu dich, Kim, freu dich! Wach wieder richtig auf!! Morgen finden wir Wasser. Wir werden in einem See oder einem Creek baden. Und wir werden auch Wild jagen, zumindest Fische fangen. Wir haben die verdammte Salzwüste hinter uns. Freu dich, Schwesterherz!« Er spricht beschwörend, aufmunternd. Doch seine Worte machen nicht viel Eindruck auf Kim. Sie ist sicherlich ein mehr als nur hübsches Mädchen, doch jetzt ist sie ein krank und verhungert wirkendes, dünnes Ding mit großen, geröteten Augen und einem sonnenverbrannten Gesicht. »Ach, Ray«, seufzt sie nur, »wenn das alles nur bald vorbei wäre. Ich halte nicht mehr lange durch. Dann geht es mir wie Mom, die tagelang so tat, als würde sie so viel trinken wie wir. In Wirklichkeit nahm sie keinen Schluck - 2 -
aus der letzten Flasche. Vierzig Meilen, das ist sehr weit, sehr, sehr weit, zu weit für unsere beiden letzten Tiere.« Sie verstummt tonlos, fast, so schwach wurde ihre Stimme. Und dabei war sie ein vitales, sehr lebendiges Mädchen, sprühend vor Lebenslust und Tatendrang, auch schon ziemlich reif für ihr Alter. Man hatte sie vor drei Wochen noch für sechzehn halten können. Ray wendet sich um, denn John McGyver kommt herbeigeschlurft. John McGyver ist ein ziemlich übler Bursche mit einer gewiß üblen Vergangenheit. Wahrscheinlich hat er sich als Siedler und Landsucher nur getarnt, um dem Gesetz oder irgendwelchen anderen Verfolgern - Rächern zum Beispiel - zu entkommen. Denn wahrscheinlich ist er ein einstiger Spieler, ein Kartenhai, den man steckbrieflich sucht. Und niemand würde ihn bei einem Siedlertreck vermuten, auch seinen Schwager Jim Slaggar nicht, der wahrscheinlich ein Revolverheld ist. Und Sally McGyver, geborene Slaggar, die arbeitete gewiß mit ihnen zusammen in den Spielhallen und Saloons, auf den Mississippi-Dampfschiffen und überall dort, wo man zweibeinigen Hammeln das Fell scheren konnte. Sie gehörten zwar zum Wagentreck, doch sie wurden gemieden und fuhren’ wie Außenseiter mit. Aber sie erwiesen sich als härter als alle anderen. Nun, dieser John McGyver tritt nun zu dem Jungen und dessen Schwester. Seine Stimme klingt kühl und hart, als er sagt: »Junge, ich nehme eure beiden Maultiere und spanne sie vor unseren Wagen. Zu viert schaffen es die Tiere vielleicht bis dorthin, wo es Wasser gibt. Verstehst du, ich nehme dir die Tiere weg.«
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Ray Hutch starrt ihn ungläubig an mit seinen geröteten Augen. »Ohne unsere beiden Maultiere sind meine Schwester und ich verloren, Mr. McGyver. Das wissen Sie doch! Wir müßten unseren Wagen hier stehen lassen und zu Fuß gehen. Wir würden nur wenige Meilen schaffen. Und das Wasser ist noch sehr weit. Mr. McGyver, was Sie da tun wollen, macht Sie zu einem Maultierdieb. Und die hängt man wie Pferdediebe.« Er hat kaum ausgesprochen, da schlägt der große, hagere Mann zu, erbarmungslos, immer wieder. Und der Junge hat keine Chance gegen ihn. Als Ray Hutch dann am Boden liegt, spricht McGyver zu ihm nieder: »Junge, du hast mich durch deine Art schon den ganzen langen Weg von Kansas herauf geärgert. Ich mag solche rebellischen Burschen nicht. Du hast mir deutlich gezeigt, daß du uns nicht mochtest. Nun gut, wenn ihr es zu Fuß nicht schaffen solltet, dann ist das euer Problem. Ich will unseren Wagen durchbringen. Und nur das zählt. Denn meine Frau Sally kann nicht mehr laufen. Sie würde sterben. Und da ist mir schon lieber, daß ihr es nicht schafft. Komm, Jim! Spannen wir die Maultiere aus!« Jim Slaggar kommt sofort. Er grinst wortlos. Ray Hutch setzt sich langsam am Boden auf, wischt sich das Blut von Mund und Nase und verharrt dann sitzend. Bewegungslos sieht er zu, wie die beiden Männer ihren Wagen nun vierspännig machen. Dann tritt John McGyver noch einmal zu ihm. »Vielleicht habt ihr Glück«, spricht er heiser. »Eigentlich müßte ich euch tot zurücklassen. Doch das seid ihr ja schon fast.« - 4 -
Er wendet sich ab, klettert auf den nun vierspännig gewordenen Wagen und fährt wenig später an. Ray Hutch aber bleibt noch eine Weile am Boden hocken - und eigentlich möchte er gar nicht mehr aufstehen. Er fühlt sich so ausgebrannt, schlapp, entkräftet und ohne jede Hoffnung. Er möchte wegen seiner Hilflosigkeit weinen - aber er hat schon einige Jahre nicht mehr geweint. Er weiß längst, daß Weinen nichts hilft - es sei denn, man weinte aus Trauer. Doch selbst als sein Vater von den Indianern getötet wurde und später dann die Mutter an Schwäche starb, da weinte er nicht. Er hört die Schwester vom nun ausgespannten Wagen fragen: »Ray, warum nehmen sie uns nicht mit?« Er wendet am Boden hockend den Kopf und blickt zu Kim empor. Da sitzt sie nun, hilflos und fast schon am Ende. Und er wird sich darüber klar, daß sie gar nicht richtig begriffen hat, was mit ihnen geschehen ist. In diesen Minuten kommt in dem hageren Jungen Ray Hutch aus dem innersten Kern noch etwas hoch vielleicht Trotz oder nur allein Überlebenswillen. Und sein Glauben an die Menschen geht verloren ganz und gar. Langsam erhebt er sich und verspürt dabei die Schmerzen von McGyvers Fäusten und auch Fußtritten. Er tritt zum Wagen und spricht zu Kim empor: »Schwesterchen, mein Augenstern, es ist alles bestens. Sie holen Wasser. Und ich folge ihnen zu Fuß. Wenn wir Wasser gefunden haben, komme ich mit den Maultieren zurück.« Sie starrt ihn mit leerem Blick an, und er befürchtet fast, daß sie den Sinn seiner Worte gar nicht verstanden hat. - 5 -
Sie flüstert tonlos: »Ich lege mich wieder in den Wagen.« Dann bewegt sie sich langsam wie eine Greisin und verschwindet unter der Wagenplane. Er möchte ihr folgen, sich um sie kümmern. Doch er läßt es bleiben. Sie ist schon fast verdurstet, denkt er. In ihrem Fleisch ist kein Wasser mehr. Sie wird in der kommenden Nacht vielleicht schon sterben wie unsere Mutter. Und ich? Habe ich noch genug Zähigkeit, um den McGyvers zu folgen? Er erschrickt bei diesem Gedanken. Denn am liebsten würde auch er gerne aufgeben, sich hinlegen so wie die Schwester. Denn wenn er den Maultierdieben folgt, dann wird dies für ihn eine unbeschreibliche Quälerei, ein Weg durch alle Höllen werden. Und er ist noch kein Mann, sondern erst nur ein Junge. Aber er muß es versuchen. Seine Schwester ist alles, was er noch hat auf dieser Erde. Er ist Kims großer Bruder. Es ist seine verdammte Pflicht, so lange zu kämpfen, bis es wirklich nicht mehr geht. Und noch kann er sich auf den Beinen halten, laufen und alles versuchen. Doch was soll er tun, wenn er den Wagen einholt? Er hat dann zwei gefährliche Männer gegen sich. Was kann ein Junge gegen zwei solche Männer schon ausrichten? Er sieht sich noch einmal nach dem ausgespannten Wagen um, in dem er seine Schwester weiß. Und er fragt sich, ob er sie lebend wiedersehen wird. Dann macht er sich auf den Weg. Und er weiß, daß er diese Welt und ihre Menschen nie wieder wird lieben können. Das ist vorbei. Denn auch unterwegs hat er schlimme Dinge erlebt. Zuletzt waren
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sie keine Gemeinschaft mehr - nur noch einzelne Lebewesen, die überleben wollten. *** Als es Nacht wird, schleppt er sich immer noch vorwärts. Manchmal fällt er der Länge nach hin und dann möchte er liegen bleiben, gar nicht mehr aufstehen. Aber er kommt schließlich immer wieder auf die Füße, verharrt schwankend und wartet, bis die Dunkelheit vor seinen Augen wieder normal wird, also nur die Dunkelheit einer normalen Nacht ist, mit einigen Sternen am Himmel in den Wolkenlöchern und einem Sichelmond, der nur manchmal zum Vorschein kommt. Er schleppt sich weiter und weiter, quält sich vorwärts. Ein grausam gegen sich selbst gerichteter Wille beherrscht ihn. Manchmal denkt er an seine Schwester. Dann fragt er sich, ob er sie noch retten kann. Und so legt er Meile um Meile zurück und weiß nicht, wie viele es sind. Aber ganz gewiß kommt ihm sein Weg wie tausend Meilen vor. Etwa zwischen Mitternacht und Morgen - als er endgültig aufgeben will -, da sieht er das Feuer in der Nacht. Sollten das dort die McGyvers sein? Haben sie ein Camp aufgeschlagen, weil die vier Maultiere den Wagen nicht mehr ziehen konnten? Oder gibt es da vielleicht Wasser? Lagern sie deshalb dort, damit sie und die Tiere sich erholen können. War es gar nicht nötig weiterzufahren? Rays Gedanken bewegen sich mühsam, und es dauerte eine Weile, bis er das alles richtig begreift.
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Aber dann verspürt er ein heftiges Erschrecken, eine jäh aufsteigende Furcht. Denn er ist ja nur ein großer Junge. Und dort sind zwei harte Männer. Wie kann er gegen zwei so harte Burschen bestehen? Doch warum hat er sich dann auf den Weg gemacht? Da hätte er ebensogut auch bei seiner Schwester Kim bleiben können, um aufzugeben und mit ihr auf den Tod zu warten. Er setzt sich wieder in Bewegung. Nun stolpert er bald schon über dichter werdendes Gras und Dornenbüsche. Er hält sich instinktiv etwas rechts, läuft also nicht geradewegs auf das Feuer zu. Dieses Feuer leuchtet auch immer schwächer. Offenbar wird kein Holz mehr nachgelegt, weil die Kerle dort fest schlafen oder ihr gewiß mühsam gesammelter Brennstoffvorrat nicht ausreicht für eine lange Nacht. Ray sieht nun eine sich schlängelnde Baum- und Buschlinie vor sich. Er hält inne. Das muß ein Creek sein, denkt er. Ja, da vorn muß ein Creek sein. Und an solchen Creeks und ähnlichen Wasserläufen gibt es diese bewachsenen Ufer. Er geht weiter. Und als er die Bäume und Büsche erreicht, da findet er den Creek. Er befindet sich nun etwa hundert Yard vom Camp entfernt. Der Creek ist nicht tief, eigentlich um diese Jahreszeit nur ein kümmerliches Wasserrinnsal. Aber er legt sich der Länge nach in das an dieser Stelle etwa knöcheltiefe Wasser und erfrischt sich. Zuerst ist in ihm ein dankbares Gefühl, fast ein Jubeln. Er möchte sogar dem Herrn im Himmel danken - doch nur für einen Augenblick. Denn dann wird er sich bewußt, was alles geschehen ist auf dem langen Treck von Kansas her, was aus den - 8 -
Menschen wurde, wie gemein und rücksichtslos sie sein konnten - und wie wenig sie nach den Zehn Geboten lebten. Ihm wird wieder bewußt, daß er seine Schwester ohne Hilfe zurücklassen mußte und es durchaus sein kann, daß er sie nicht lebend wiedersehen wird. Und dies alles ließ der Gott im Himmel zu. Er kann an solch einen Gott nicht mehr glauben, und er ist ja erst ein Junge von fünfzehn Jahren. Eine Weile liegt er so im Wasser des Creeks. Dann und wann trinkt er einige Schlucke Wasser. Und es ist ihm, als strömte neues Leben durch seinen Körper. Er fühlt sich wieder kräftiger. Seine Gedanken eilen schneller. Als er sich erhebt, tropft das Wasser von ihm ab und quillt auch bei jedem Schritt aus seinen Stiefelschäften. Er setzt sich am Ufer nieder und zieht sich die Stiefel aus. Seine Füße sind gewiß blutig und voller Blasen. Aber er achtet nicht darauf. Diese Schmerzen sind nichts, gar nichts. Als er sich dem Camp nähert, da weiß er, daß er alles auf eine Karte setzen und das Schicksal auf seiner Seite sein muß. Denn er glaubt nicht mehr an Zufälle. Er weiß, daß er die Gunst des Schicksals auf seiner Seite haben muß - oder er wird verlieren. Seine Bewegungen sind nun leicht. Das Wasser war ein zauberhaft wirkendes Lebenselixier. Er nähert sich dem Camp fast so lautlos wie ein Schatten und erreicht das hintere Ende des Wagens. Am Feuer schlafen die beiden Männer. Er hört ihren fast schnarchenden Atem. Im Wagen hört er Sally McGyver leise stöhnen. Offenbar geht es ihr nicht gut. Aber was es auch sein mag, die beiden Schläfer hören es nicht. Sie sind zu sehr erschöpft. Gewiß hat einer von ihnen die Wache - 9 -
übernommen, ist dann jedoch ebenfalls eingeschlafen. Es kann gar nicht anders sein. Der Junge gleitet an der rechten Seite des Wagens entlang und erreicht dessen vorderes Ende. Er kennt sich aus mit den Waffen der McGyvers. Die beiden Männer tragen Colts. Sie haben auch zwei Gewehre. Und überdies besitzen sie noch eine doppelläufige Schrotflinte. An diese Schrotflinte muß Ray Hutch nun intensiv denken. Denn er weiß, er muß sie haben. Nur mit ihr kann ein Junge gegen zwei solch harte Männer bestehen. Aber wird er auch abdrücken können? Er weiß, daß er es tun muß. Sonst töten sie ihn. Wo also ist die Schrotflinte der McGyvers? Als er seitlich nach oben blickt, da sieht er sie. Sie steckt neben dem Wagensitz in der dafür vorgesehenen Halterung, so daß sie leicht zu greifen ist. Als er sie herausnimmt, hört er Sally drinnen im Wagen wieder stöhnen. Es muß ihr sehr schlecht gehen. Nun hört er sie flüstern: »John - Jim - oh, John, hörst du mich nicht? Ich glaube, ich muß sterben. Ich ...« Er hört nicht weiter zu. Denn einer der beiden Schläfer am fast schon erloschenen Feuer setzt sich auf. Gewiß hat er nicht das fast tonlose Flüstern der Frau im Wagen gehört. Wahrscheinlich wacht der Mann nur auf, weil er eigentlich Wache hat oder weil die Nacht kalt wurde und er das Feuer nicht ausgehen lassen will. Der Sichelmond kommt mal wieder für einen Moment aus den Wolken. Ray Hutch erkennt, daß es John McGyver ist, der sich aufsetzte. Und so tritt er vor und spricht mit einer ihm fremd vorkommenden Stimme heiser: »McGyver, jetzt muß du bezahlen!« - 10 -
Er legt seinen ganzen Haß in seine Stimme. Ja, er haßt diesen Mann nun so sehr, wie man einen Mann nur hassen kann. John McGyver stößt einen Fluch aus, wirft die Decke von sich und springt auf mit dem Colt in der Faust. Er muß diesen Colt griffbereit unter der Decke gehabt haben. Doch bevor er die Mündung auf den Jungen richten kann, bekommt er die volle Ladung aus einem der beiden Läufe. Es kracht fürchterlich. McGyver wird so sehr gestoßen daß er rückwärts mit dem Rucken auf das Feuer fällt. Und drüben springt sein Schwager, Jim Slaggar, brüllend hoch. Auch er hält seinen Colt in der Faust. Ja, er schießt sogar noch damit. Dann bekommt er die Ladung aus dem zweiten Lauf. Das Krachen verhallt wie ein Donner. Ray Hutch wurde von Slaggars Kugel nicht getroffen. Er verharrt noch einige Atemzüge. Dann läßt er die Schrotflinte fallen wie ein zu schwer gewordenes Eisen. Schwankend verharrt er und atmet immer wieder zitternd ein und aus. Die Erkenntnis, daß er zwei Männer getötet hat, trifft ihn gewaltig. Ihm wird einen Moment schwindlig. Dann stößt er einen schrecklichen Laut aus der ein Stöhnen, Weinen und Aufschreien zugleich ist. In dieser Minute beginnt er zu ahnen, daß sich die Welt für ihn nochmals verändert hat und es nie wieder für ihn so sein wird wie bisher. Alles wurde anders. Er hat zwei gefährliche Männer getötet und es war leicht. Er kann kaum glauben, wie leicht es war. Erst jetzt wird es schwer. - 11 -
Drinnen im Wagen stöhnt wieder Sally McGyver und ruft den Namen ihres Mannes. In Ray Hutch bricht nun endlich aus, was er bisher unterdrückte. Er brüllt in die Nacht hinein zum Wagen zugewandt: ,,Er ist tot! Mausetot ist dieser Hurensohn, der dein Mann war, Sally McGyver! Tot ist er! Auch dein Bruder ist tot! Und ich muß mit Wasser und den Maultieren zurück zu meiner Schwester. Meine Schwester steht mir näher als du. Und es ist mir verdammt gleich, was aus dir wird! Zur Hölle mit euch McGyvers!« *** Der Weg zurück zu Kim und dem Wagen kommt ihm unwahrscheinlich lang vor. Er vermag manchmal nicht zu glauben, daß er die Meilen von gestern nachmittag bis in die zweite Nachthälfte zu Fuß zurückgelegt hat. Er hat alle vier Maultiere bei sich. Die Tiere haben sich in den vergangenen Stunden bei Wasser und Weide recht gut erholt. Sie werden den Wagen mit Kim sehr leicht zu jenem Creek ziehen können. Er hat auch Wasser für Kim bei sich, und er hofft, daß er sie noch lebend vorfinden wird. Manchmal brüllt er vor hilfloser Wut, denn er weiß, auch er und Kim hätten diesen Creek gewiß mit den beiden Maultieren erreichen können, die ihnen McGyver wegnahm. Auch Kim wäre um fast zehn Stunden früher zu Wasser gekommen, als es jetzt der Fall sein wird. Diese zehn Stunden können über ihr Leben entschieden haben. Und deshalb brüllt er immer wieder in hilflosem Zorn. Er reitet auf einem sattellosen Maultier und muß die drei anderen Tiere treiben. Das fällt ihm schwer. Außer - 12 -
zwei Wasserflaschen und John McGyvers Colt hat er nichts bei sich. Und als er losritt, da hörte er aus dem Wagen Sally McGyvers heisere Stimme ihn verfluchen. So krank und elend sie auch sein mag, dem Tod vielleicht sehr nahe, sie bekam dennoch mit, was draußen passierte. Es ist fast schon Tag, als er die Stelle erreicht, von der er den Wagen in Sicht bekommen müßte. Doch dort, wo der Wagen stand, sind nur noch die verkohlten Reste. Er vermag es nicht zu glauben, aber es ist wahrhaftig so. Jemand muß den Wagen angezündet haben. Bis auf die Eisenteile - also Radreifen, Achsen und Ketten wurde alles zu Asche. Und weil alles schon vor Stunden geschah, steigt nicht der geringste Rauch mehr aus der Asche empor. Ray treibt sein Maultier noch mal an, hämmert und stößt ihm die Absätze seiner Stiefel in die Weichen. Die drei anderen Tiere läßt er einfach stehen. Er weiß ja, daß er sie nicht mehr braucht. Immer wieder ruft er den Namen seiner Schwester. Doch auch in der Nähe des Wagens bewegt sich nichts, und von nirgendwoher erhält er eine Antwort. Sollte Kim im Wagen verbrannt sein? Und wer ist gekommen und hat das getan? Nun weint Ray tatsächlich. Es ist noch nicht lange her, da hat er zwei Männer getötet. Doch nun ist er nur noch ein hilfloser Junge in tiefster Not. Nun muß er heulen, fühlt sich so hilflos und verraten in einer gnadenlosen Welt, dem Unglück ausgeliefert. Er ist einen höllischen Weg gewandert in der vergangenen Nacht. Und er mußte töten. Und alles war umsonst. - 13 -
Denn wenn Kim nicht im Wagen verbrannte, dann hat jemand sie mitgenommen. Von selbst kann sie nicht weggelaufen sein. Dazu war sie nicht mehr kräftig genug. Wer also war hier? Er wischt sich die Tränen aus den Augen und sitzt ab. Und er muß kein guter Spurenleser sein, um zu begreifen, wer gekommen war. Denn es waren Reiter auf unbeschlagenen Pferden, also wahrscheinlich Indianer oder irgendeine Bande, die sich dort nicht blicken lassen darf, wo es eine Schmiede gibt und Pferde beschlagen werden können. Eine Weile verharrt der Junge in der Hocke und starrt auf die Hufabdrücke. Er wehrt sich noch gegen die Erkenntnis, aber er muß sie dann doch akzeptieren. Kim, seine Schwester, wurde mitgenommen. Er entdeckt außer den Hufspuren auch noch andere Zeichen, nämlich die Furchen, welche indianische Schleppschlitten ziehen, auf denen die Stämme ihre Habe transportieren - zum Beispiel die Büffelhäute ihrer Zelte, den sogenannten ,Tipis’. Es muß eine größere wandernde Sippe gewesen sein, vielleicht gar ein kleines Dorf, und sie haben Kim mitgenommen. Daran glaubt er nun mit seiner ganzen Hoffnung und aller Kraft. . Er will sich nun aus der Hocke erheben, um zu seinem Maultier zu gehen. Denn er muß ja dieser Fährte folgen. Doch als er steht, da beginnt sich die Welt um ihn zu drehen. Nun endlich kommt die Reaktion auf das, was er an Anstrengung hinter sich brachte. Er ist ja total erschöpft, hat eine Menge von seiner Substanz verbraucht. Schon - 14 -
viele Stunden bekam er nichts zu essen. Nur Wasser hatte er reichlich. Er fällt um und rührt sich nicht mehr. Was ist geschehen? Drehen wir die Zeit um viele Stunden zurück bis zu jener Stunde, da Ray die kleine Schwester verläßt und sich auf den Weg macht. Kim Hutch liegt nicht lange allein im Wagen, halb bewußtlos und fast schon im Sterben begriffen, weil ihr zarter Körper fast völlig ausgetrocknet ist. Es vergeht keine Stunde, als sich die wandernde Sippe von Nez-Perce-Indianern nähert. Bald umringen sie den Wagen, halten ihn für verlassen und aufgegeben, wie so manche Wagen längs des Oregon Trails von Kansas her. Aber als einer der Krieger hineinblickt, da sieht er Kim Hutch. Sie ist wieder halbwegs bei Bewußtsein, hörte das Kommen von Menschen und auch ihre Stimmen. Nun starrt sie den Krieger mit weit aufgerissenen blauen Augen an. Sie hat allen Grund, sich vor Indianern zu fürchten, denn sie wurden unterwegs mehrmals angegriffen von Kiowas, Cheyennes und irgendwelchen Banden, die sich aus Ausgestoßenen einiger Stämme, Halbbluts und Armeedeserteuren zusammensetzten, dem ganzen Abschaum des Grenzlandes. Und nun starrt ein Indianergesicht in den Wagen und betrachtet sie mit funkelnden Augen. Kim Hutch möchte um Hilfe rufen. Doch sie bringt keinen Laut heraus. Sie verspürt auch eine zunehmende Gleichgültigkeit, denn sie ist zu schwach, um sich zu fürchten. Ihr Selbsterhaltungswille ist kaum noch vorhanden. So liegt
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sie bewegungslos da und starrt den Indianer nur mit großen Augen an. Das Indianergesicht verschwindet dann. Doch wenige Sekunden später klettert der Rote zu ihr in den Wagen, nachdem er zuvor draußen einige schnelle Worte rief, die von einem vielstimmigen ,Hooow’ erwidert wurden. Es ist ein junger Krieger, und der Blick seiner grüngrauen Augen drückt Mitleid aus. Er hält Kim eine Wasserflasche an den Mund, benetzt ihre Lippen. Doch als sie gierig trinken will, da hindert er sie daran. *** »Langsam, langsam, Mädchen«, spricht er in englischer Sprache, zwar kehlig, doch gut verständlich. Wahrscheinlich gehört er zu den Indianern, die einst als Kinder auf die Missionsschule der Jesuiten gingen oder von weißen Händlern die Sprache lernten. »Du darfst nur langsam trinken, Mädchen«, spricht er nochmals. Das tut sie nun. Sie nimmt nur wenige kleine Schlucke. Doch dann wird sie wieder bewußtlos. Erst drei Tage später kommt Kim Hutch wieder richtig zur Besinnung. Sie wird sich bewußt, daß sie auf einem indianischen Schleppschlitten liegt, der immerzu leicht auf und ab schwankt, doch alle Stöße abfedert. Wieder blicken ihre so leuchtend blauen Augen groß und staunend. Und alles, was geschah, fällt ihr nach und nach wieder ein. Furcht will in ihr aufsteigen. Doch dann erinnert sie sich an den jungen Krieger, der sie Wasser trinken ließ und Worte in ihrer Sprache zu ihr redete. - 16 -
Offenbar haben die Indianer sie mitgenommen und wie eine Kranke gepflegt. Sie fühlt sich kräftiger als vor Tagen. Also muß sie gefüttert worden sein. Sie erinnert sich auch schwach daran, obwohl sie immer wieder in Bewußtlosigkeit fiel. Eine junge Squaw - wahrscheinlich ein Mädchen wie sie - geht neben dem Schleppschlitten und blickt auf sie nieder, lächelt ihr zu, ruft dann einige Worte. Und da hält jemand das ziehende Pferd an. Um den Schleppschlitten versammeln sich fast zwei Dutzend Frauen, größere Mädchen und Kinder. Kim Hutch sieht in neugierige, doch zumeist freundliche und lächelnde Gesichter. Jene junge Indianerin, die neben dem Schleppschlitten ging, spricht nun in englischer Sprache zu ihr: »Du bald gesund, Himmelsauge. Du hier bei Freunden. Wir sind Nez Perce, friedliche Nez Perce. Wir alle sind getaufte Christen. Joseph hat dir den Namen Himmelsauge gegeben. Er war es, der dich zuerst im Wagen sah.« Kim Hutch hört es und vermag es nicht so recht zu glauben. Dennoch, sie hat schon mal gehört, daß die Jesuiten da und dort Indianer bekehrten, diese tauften und deren Kinder in Missionsschulen unterrichteten. Und die Nez Perce waren stets friedliche Indianer. Das hat sie gehört, damals, als sie von Kansas nach Oregon aufbrachen. Sie denkt plötzlich an ihren Bruder. Und sie kann nicht glauben, daß er noch lebt. »Ich danke euch«, flüstert sie. »Für mich sieht es jetzt so aus, als gäbe es auf dieser Erde doch ein paar gute Menschen. Ich danke euch.«
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*** Um diese Zeit folgt Ray Hutch bereits der Fährte. Doch er kommt nicht schnell genug vorwärts auf seinem sattellosen Maultier. Der Vorsprung der Indianer, bei denen er seine Schwester weiß, ist zu groß. Als er die verkohlten Reste des Wagens erreichte und nach seiner Schwester rief, waren etwa zwölf Stunden vergangen. Dann lag er einige Stunden lang erschöpft in einem ohnmachtsähnlichen Schlaf. Als er erwachte, war es Nacht, und er konnte der Fährte nicht folgen. Er war krank, schwach vor Hunger. Nur Wasser hatte er. Vielleicht wäre er am nächsten Tag glatt verhungert, wenn da nicht der Fuchs mit einem Präriehuhn im Fang gewesen wäre. Als Ray mit dem Revolver auf den Fuchs zu schießen begann, ließ dieser seine Beute fallen und sauste im Zickzack davon. Dieses Präriehuhn rettete Ray Hutch das Leben. In der Blechbüchse, die er in der Hosentasche trägt, waren noch einige Schwefelhölzer, und so hockte er bald an einem Feuer und aß die ersten Bissen fast roh, dann aber immer mehr gebraten mit zunehmender Beherrschung und gutem Appetit. Sein Verstand sagte ihm, daß er nicht schlingen, sondern sorgfältig kauen mußte. Und plötzlich war wieder Hoffnung in ihm, daß er seine Schwester doch noch wiederfinden wird. Gestärkt machte er sich schließlich wieder auf den Weg.
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Denn die Fährte war klar und deutlich. Er vermutet, daß es sich um etwa drei bis vier Dutzend Indianer handelt, von denen ein Dutzend zu Pferde reitet. Es müssen die Krieger dieser Schar sein. Er zählt auch ein gutes Dutzend Schleppschlittenspuren. Solch eine Fährte kann er eigentlich nicht verlieren. Das glaubt er jedenfalls. Aber schon am nächsten Tag - er hat nun etwas aufgeholt -, da wird seine Hoffnung zerstört. Er befindet sich nun in einem grünen Hügelland westlich des Snake River. Es kann aber auch der Owyhee River sein. Und die Hügel könnten zu den Cedar Mountains gehören. Überall gibt es hier Wasser. Er fängt sich einige Fische in einem Tümpel neben einem Creek, die seit dem letzten Hochwasser dort zurückblieben. Noch nie schmeckten ihm gebratene Steckenfische so gut wie an diesem Tag. Und nun spürt er auch in den nächsten Stunden, wie sich die neuen Säfte in seinem Körper in Kräfte verwandeln und wie seine verlorene Substanz wieder ein wenig ausgeglichen wird. Er ist also voller Hoffnung. Doch an diesem Tag wird diese Hoffnung total zerstört. Denn ein Unwetter zieht aus Nordosten herauf. Wahrscheinlich wird es nicht die Salzwüste zwischen Nevada, Utah und Idaho erreichen dort beim Großen Salzsee, wo die Mormonen ihr Gelobtes Land errichten wollen, aber dafür tobt es sich hier im südöstlichen Oregon aus. Es sind Wolkenbrüche, begleitet von gewaltigem Donner und Bündeln von Blitzen. Der Boden kann die Wassermassen gar nicht so schnell schlucken, und so steht das Wasser bald mehr als knöchelhoch auf dem
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Land, füllt alle Senken, verwandelt die kleinsten Creeks für wenige Stunden in reißende Flüsse. Ray Hutch hockt unter einem oben überhängenden Felsen, vor dem alte Bäume stehen, und läßt alle Hoffnung fahren. Denn selbst ein Junge von fünfzehn Jahren weiß, daß er nach dem Unwetter keine Fährte mehr finden wird. Die wandernde Indianersippe wird für ihn verschollen sein wie ein Schiff auf dem weiten Meer, das im Wasser ja auch keine Spur hinterläßt und vielfach seinen Kurs ändern kann. Wohin mögen die Indianer mit Kim ziehen? Diese Frage kann er nicht beantworten. Indes dieses gewaltige Unwetter tobt, beginnt Ray zu begreifen, daß er vorerst aufgeben muß. Erst muß er sich eine bessere Basis verschaffen. Dazu braucht er Geld, Ausrüstung, Hilfe. Denn vielleicht wird er nicht nur Wochen, sondern Monate in diesem gewaltig großen Land nach Kim suchen müssen. *** Es ist etwa eine Woche später, als Ray Hutch in Boise auftaucht. Der Ort, später die Hauptstadt von Idaho, ist noch eine kleine Siedlung. Und den Namen bekam Boise damals in den dreißiger Jahren von einem Trapper kanadischer Abstammung, der auf Erkundung durch ödes Land endlich Wald entdeckte und bei seinem Anblick ausrief: »Les Bois!«, was ja Wald bedeutete in der Sprache dieser Franko-Kanadier. Später dann wurde im Gebiet um die entstandene Siedlung da und dort reichlich Gold gefunden, und so - 20 -
wurde Boise zum Mittelpunkt, von dem aus sich die Goldgräber und später die Farmer und Siedler versorgten. Der wieder halbverhungerte Junge, Ray Hutch, reitet an einem kalten Regentag vor die Haustür einer Farm. Immer noch sitzt er auf dem sattellosen Maultier, und er ist so naß und steifgefroren, daß es ihm Mühe macht, abzusitzen. Doch bevor er das vollbringt, öffnet sich die Tür. Eine üppige Frau wird sichtbar. Sie sieht zu dem mageren Jungen hoch und hört ihn heiser fragen: »Ich suche Arbeit. Haben Sie welche? Ich bin verdammt hungrig. Aber ich bettle nicht. Ich will mit Arbeit bezahlen. Geht das?« Sie schenkt ihm einen zweiten Blick, und da wird ihr klar, daß dieser magere Junge wahrscheinlich mehr als nur ein Junge ist. Sie erkennt in seinen Augen ein hartes Licht - und auch einen Stolz, den sonst nur Männer erkennen lassen, die schon harte Wege gingen, die kämpfen und auch töten mußten. Ellinora Vancouver kennt sich aus mit Männern jeder Sorte und jeden Alters. Denn bevor Bill Vancouver sie auf diese Farm brachte, war sie eine besondere Attraktion in einigen Tingeltangels des Willlamette-Gebietes und am Columbia. Sie wußte dann genau, wo sie eines Tages landen würde, wenn sie nicht mehr so anziehend und verführerisch sein würde. Und so ließ sie sich mit Bill Vancouver ein, der nicht nur diese Farm besitzt, sondern zugleich auch der Boß einer Holzfällermannschaft ist. Sie sieht also zu dem mageren Jungen empor und erkennt in seinen Augen den Stolz und den Hunger. - 21 -
»Na, dann komm erst mal rein, mein Junge«, spricht sie lächelnd. *** Die nächsten Tage kommt sich Ray Hutch wie im Schlaraffenland vor. Denn er bekommt nicht nur gut zu essen, sondern auch ein heißes Bad, neue Kleidung, die ihm noch zu weit ist - und dann darf er ein wenig arbeiten - doch nicht zuviel, denn er soll ja Gewicht ansetzen, wieder kräftig werden Er ist ja ein großer Junge, so um die eins-achtzig etwa, also gut sechs Fuß vielleicht. Er mußte bei seinen starken Knochen weit mehr als siebzig Kilo wiegen, als Mann an die achtzig. Noch wiegt er sehr viel weniger. Aber er ißt wie ein Scheunendrescher, bekommt gar nicht genug. Und Elli Vancouver kocht gut. Das hat sie schon immer gekonnt trotz ihrer frivolen Vergangenheit. Zuerst halt Ray sie für eine Witwe. Doch allmählich erfährt er, daß ihr Mann mit seinen Leuten zum Holzfällen in die Berge ist und er an einem Zufluß des Snake River eine Sägemühle hat. »Er läßt mich um diese Jahreszeit, da es auf der Farm hier nicht mehr viel zu tun gibt, stets einige Wochen allein«, erklärt sie Ray. Die Staat ist ja nicht weit, ich kann jederzeit mit dem Pferd oder im leichten Wagen hin. Doch ich mag die Leute dort nicht. Die Frauen dort sind der Meinung, daß ich allen Männern die Köpfe verdrehe. Ist das auch bei dir der Fall, Ray? Verdrehe ich auch dir den Kopf? Hast du schon mal ein Mädchen
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gehabt - ich meine, hast du mit einem Mädchen schon mal richtig Liebe gemacht?« Sie fragt es fast gierig. Und er erschrickt. Aber er hält ihrem grünäugigen Blick stand. Er bewundert ihre üppige Figur und staunt über ihr rotes Haar. Für ihn ist sie zwar eine erwachsene Frau, aber sie verwirrt ihn schon seit Tagen. Er erwidert stolz, so als wollte er sich als Mann nicht blamieren. »Ja, hatte schon mal was mit einem Mädchen unterwegs während unseres Trecks von Kansas her. Sie war zwei Jahre älter als ich und wußte viele Sachen. Da lacht Elli Vancouver schallend »Ich wette mit dir, Ray, mein immer prächtiger werdender Junge daß ich noch sehr viel mehr Sachen weiß als jenes Mädchen. Und ich glaube, daß du erst ein richtiger Mann bist, wenn du mit einer richtigen Frau geschlafen hast. Wir werden es tun, nicht wahr? Du denkst schon eine Weile darüber nach - oder?« Er erschrickt über ihre fast brutale Offenheit. Und er muß schlucken. Dann aber fragt er »Und Ihr Mann, Mrs Vancouver?« Da lacht diese wieder schallend »Dieser Hurenbock«, spricht sie dann kehlig, »betrügt mich doch auch in jeder Stadt. Da mußt du keine Gewissensbisse haben, Ray. Nenne mich einfach Elli. Wieder muß er schlucken. Doch dann verspürt er ein heftiges Verlangen. Und er weiß, er wird die Stunden zählen bis zum Abend. ***
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Kim Hutch erholt sich schnell in diesen Tagen und Nächten und wird ein Mitglied dieser wandernden Sippe, welche von Mondbiber geführt wird, einem schon ziemlich alten, hageren Krieger. Sie sind unterwegs zu einem Tal in den Blue Mountains, in dem sie jedes Jahr den Winter verbringen. Denn der Winter steht nun dicht vor der Tür, wie man unter den Weißen sagt. Die Indianer aber nennen diese Zeit den Monat der fallenden Blätter. Kim Hutch würde sich von den anderen Indianermädchen kaum noch unterscheiden, wenn nicht ihre blonden Haare wären. Denn seit sie wieder auf den Beinen ist und mit der Sippe wandert, trägt sie die Tracht der Nez-Perce-Mädchen, weiches Leder, bestickt und befranst. Sie nimmt in diesen Tagen wieder an Gewicht zu und läßt bald schon erkennen, daß sie mehr als nur hübsch ist. Sie alle sind gut zu ihr, obwohl sie eine Weiße ist. Irgendwie bekommt Kim auch heraus, daß Mondbibers Sippe offenbar auf der Flucht ist und nicht einfach nur jetzt im Herbst in ihr geschütztes Wintertal will. Denn nach dem Unwetter, welches alle Fährten verwischte mit den vom Himmel niederfallenden Wassermassen, da wirkten sie alle irgendwie erleichtert und weniger besorgt. Und von Elster, deren christlicher Taufname Sarah ist, hört sie schließlich, daß man Mondbibers kleine Gemeinschaft oder Sippe deshalb verfolgt, weil es in ihrem Wintertal Gold geben soll. Dies hat sich in gewissen Kreisen dieses Landes herumgesprochen, weil Mondbibers Schar bei den Händlern alle Einkäufe mit Gold bezahlt, selten nur im Tauschgeschäft mit Pelzen und Fellen.
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Und nun sind einige hartgesottene Mannschaften hinter ihnen her, die hoffen, auf Mondbibers Fährte in jenes Tal gelangen zu können. Jetzt aber verwischte das Unwetter alle Fährten. Es herrscht deshalb eine gute Stimmung unter Mondbibers Schar. In diesen Tagen und Nächten der stetigen Wanderung denkt Kim Hutch manchmal an ihren Bruder Ray. Nein, sie glaubt nicht mehr, daß Ray noch lebt. Wie sollte er das geschafft haben? Sie selbst wäre ja auch fast gestorben. Und Ray wollte zu Fuß dem vierspännig gezogenen Wagen folgen und hatte dann - würde er ihn wirklich eingeholt haben - zwei harte Männer gegen sich gehabt. Nein für Kim ist Ray ohne jede Chance gewesen. Also findet sie sich damit ab, daß sie nun allein auf der Erde ist - also ohne jede Angehörige, die letzte Hutch, die noch am Leben ist. Dies alles führt dazu, daß sie sich gewissermaßen an Mondbibers Sippe klammert. Denn hier findet sie alles Schutz, menschliche Wärme, Gemeinsamkeit. Sie ist nicht mehr allein. Man hat sie freundlich aufgenommen. Und so übernimmt sie mehr und mehr Pflichten, wird zu einem Nez-Perce-Mädchen, welches zu einer Squaw heranwachsen wird. Und Joseph, jener junge Krieger, der sie damals im Wagen fand, ist besonders freundlich zu ihr, so als hätte er sich in sie verliebt. Manchmal fragt sie sich, wie das alles wohl weitergehen und enden wird. Aber sie ist ja noch ein junges Ding, welches vorerst froh ist, bei Menschen sein zu können. - 25 -
Bisher hatte sie unterwegs auf dem Treck nur feindliche Indianer kennengelernt. Diese Nez Perces aber sind gut zu ihr. Und so sammelt sie mit den anderen Frauen und Mädchen unterwegs Beeren und Pilze, gräbt eßbare Wurzeln aus, pflückt Kräuter und wird zu einem nützlichen Mitglied dieser Sippengemeinschaft. *** In diesen Tagen und Nächten - besonders in den Nächten -, glaubt der Junge, Ray Hutch, daß ein ihm wohlgesonnenes Schicksal ihn für all das Böse, all die Not und all das schreckliche Erleben der letzten Zeit entschädigen will. Denn er verfällt ganz und gar der üppigen Elli Vancouver, wird sozusagen ihr Liebessklave, dessen Verstand gewissermaßen ausgeschaltet wurde. Er ist ja noch ein Junge in den Händen einer erfahrenen, stets nach einem Mann hungrigen Frau. Und auch für die nach körperlicher Liebe gierende Elli Vancouver ist er ein Glück, ein Geschenk in jenen Wochen, da sie allein auf der Farm leben muß, weil ihr Mann mit seinen Leuten zum Holzfällen in die Berge ging, um seine Holzfällermannschaft zu verstärken. Schon zweimal hatte sie eine solch schlimme Zeit überstanden und war dabei fast verrückt geworden. Sie hatte zu trinken begonnen und war mehrmals ernsthaft versucht, nach Boise zu fahren und sich Männer zu suchen. Aber in Boise ist ihr Mann eine geachtete und respektierte Persönlichkeit. Sie wußte, daß er sie
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erschlagen hätte, hätte sie sich etwas zuschulden kommen lassen. Doch in diesem Herbst jetzt ist alles anders. Niemand wird ihr zutrauen, daß sie es mit einem Jungen treibt, den sie aus Mitleid und halbverhungert, wie er war, aufnahm und als Farmhelfer beschäftigt. Sie verwöhnt ihn sehr. Aber sie fordert auch eine Menge von ihm. Dennoch nimmt er an Gewicht zu, obwohl man ja im Volksmund sagt, daß ein guter Hahn selten fett wird. Manchmal erschrickt er über die hemmungslose Gier dieser Frau. Dann aber glaubt er in seiner Unerfahrenheit, daß solche Schamlosigkeit wohl zu jeder reifen und erfahrenen Frau gehört, und findet es ganz natürlich, daß sie sozusagen in ihren Liebesnächten den Ton angibt. Er ist ja immer noch ein dummer Junge, obwohl er schon getötet hat und in diesen Tagen und Wochen bei Elli Vancouver sehr viel schneller reifer und älter wird, als er es nach seinen Jahren normalerweise wäre. Manchmal denkt er an Elli Vancouvers Mann. Und er fragt sich, was sein wird, wenn dieser Mann heimkommt. Wird Elli ihn dann fortschicken? Und wird dieser Mann vielleicht irgendwie herausfinden, daß Elli ihn mit einem Tramp betrog, einem Jungen, der sich auf der Farm in ein gemachtes Bett fallen ließ? Einmal, als sie erschöpft nebeneinander im Bett liegen und er ihren Körper spürt, der soeben noch ihm gehörte, da fragt er heiser: »Und was wird sein, wenn dem Mann heimkommt?«
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Sie läßt ihn lange auf eine Antwort warten. Er glaubt fast schon, daß sie eingeschlafen ist, und lauscht auf ihren Atem, der dann tiefer werden müßte. Doch dann hört er sie sagen »Was dann sein wird, Ray mein wunderbarer Glücklichmacher? Was dann sein wird, fragst du? O Ray wenn er herausfindet, was wir beide während seiner Abwesenheit taten, dann. Nun, wahrscheinlich wird er uns beide töten. Er ist ein Mann, der schon mehr als einen Gegner getötet hat. Er ist ein Mann aus den Wäldern und vom Fluß. Er ist ein Holzfäller und Flößer, der es zu etwas brachte. Und seine Mannschaft besteht aus mehr als drei Dutzend Burschen, die nur ein harter Boß unter Kontrolle halten kann. Auch die Männer, die seine Sägemühle in Betrieb halten gehören zu dieser Sorte. Bill Vancouver ist der härteste Mann, den ich kenne. Er würde uns töten. Und so werde ich dich wohl bald wegschicken müssen, mein prächtiger Prinz. Er erschrickt. Denn ihm wird klar, daß er in wenigen Tagen wieder ein Tramp sein wird. Vielleicht bekommt er von ihr noch ein paar Dollars und einen Sattel für sein Maultier, doch das dürfte dann aber auch alles sein. Aber wird er diese Elli vergessen können? Kann er überhaupt ohne sie weiterleben? Es ist ihm, als stünde er am Rande einer Schlucht, in die er stürzen wird, wenn der Boden unter seinen Fußen auch nur ein wenig nachgibt. Nun wird er sich bewußt daß er die ganze Zeit nicht an die Zukunft dachte, nicht mal an den nächsten Tag. Er lebte nur im Augenblick. Elli Vancouver aber wiederholt noch einmal »Ja, er würde uns beide töten. Du hättest gegen ihn etwa die - 28 -
gleiche Chance wie ein Pinscher gegen einen Wolf. Ja, ich werde dich bald wegschicken müssen. In zwei oder drei Tagen wird er wahrscheinlich fertig sein mit der Arbeit in den Wäldern. Dann sieht er nochmals bei der Sägemühle und dem Holzplatz nach dem Rechten und kommt heim. In einer Woche wird er hier sein, hungrig nach mir wie ein Wolf nach rohem Fleisch nach einem langen Blizzard.« Ihre letzten Worte treffen Ray wie Messerstiche ins Herz. Er wird sich in diesen Minuten darüber klar, daß sie mit ihm nur ihren Spaß haben wollte, daß er gewissermaßen nur Ersatz war für den wahren Bullen im Corral. Und so beginnt er den ihm noch unbekannten Bill Vancouver zu hassen. Neben ihm murmelt Elli »Er ist ein Bär - ja, mehr ein Bär als ein Wolf. Ich weiß nicht mehr, warum ich seine Frau wurde. Wahrscheinlich wollte ich versorgt werden und raus aus den Tingeltangels am Fluß. Er hat nicht mal einen richtigen Namen. Sie gaben ihm als Jungen den Namen dieser kanadischen Stadt, weil er seinen nicht wußte. Wenn er tot wäre, würde ich eine reiche Witwe sein. Ich würde diese Farm, die Sägemühle und den Holzplatz verkaufen. Allein auf dem Holzplatz lagert Holz für gewiß fast hunderttausend Dollar. Alles Edelholz, welches bis nach Europa verschifft wird. Ich bin reich. Aber was sollen diese Gedanken? Noch lebt er, und ich werde ihm bald wieder jede Nacht gehören. Du tust mir leid, Ray. Denn du bist noch ein Junge. Du hast gegen einen Mann wie ihn kein Chance. Geh bald von hier fort. Er erwidert nichts. - 29 -
Doch er liegt die ganze Nacht wach. Und eines wird ihm klar. Er will nicht noch einmal ein Verlierer sein. *** Am andern Morgen, nach dem Frühstück, beginnt er draußen hinter dem Stall mit dem Colt zu üben. Es ist John McGyvers Colt, eine Waffe, wie nur ein Revolvermann sie besitzen kann. Er versorgte sich mit Pulver, Bleikugeln und Zündhütchen, so daß er die Trommel immer wieder nachladen kann. Als er dies wieder einmal tut, da sieht er rechts hinter sich Elli an der Stallecke lehnen. Er sieht ihr gerade in die Augen. Sie aber schüttelt den Kopf »Das schaffst du nicht, Ray, mein wunderbarer Prinz, nein, das schaffst du nicht. Geh lieber fort, am besten morgen schon. Ich werde dir einen Sattel und auch etwas Geld mitgeben. Unser Paradies ist bald geschlossen. Vielleicht werde ich um dich weinen und mich noch lange nach dir sehnen. Denn keiner auf dieser Erde kann so zärtlich sein wie du. Du bist dafür geschaffen, Frauen wie mich glücklich zu machen. Du bist wie ein Geschenk des Himmels. Und du gehst als Mann von hier fort. Du bist gegenüber Frauen kein Junge mehr, sondern erfahren wie kaum ein anderer Mann. Das verdankst du mir. Also hast du hier doch ...« »Hör auf«, unterbricht er sie. Dann wendet er sich wieder um. Auf dem Corralpfosten liegen einige faustgroße Steine. Es waren fünf. Aber er traf mit sechs Schüssen nur einen. - 30 -
Nun schießt er wieder und trifft alle vier. Und er wird weiter üben - den ganzen Tag und auch die nächsten Tage. *** Drei Tage später sagt sie nach Mitternacht zu ihm: »Jetzt mußt du weg hier. Ich spüre sein Kommen. Er ist nicht mehr weit weg von hier. Vielleicht will er mich überraschen. Ja, ich kann es ahnen. Er ist nicht mehr weit weg Also geh. Leg dich drüben im Schlafhaus hin, so wie es normalerweise bei einem Farmhelfer sein mußte. Geh!« Er will es nicht glauben, aber es ist so, daß sie ihn jetzt aus dem Ehebett jagt. Und in ihrer Stimme klingt Furcht. Er will auch nicht glauben, daß ihr Instinkt so stark ist, daß sie Bill Vancouvers kommen spüren kann, denn das wäre ja schon Hellseherei. Aber er verläßt dennoch das Bett und sucht seine Siebensachen zusammen. Als er das Farmhaus verläßt, kommt er sich irgendwie gedemütigt vor. Ihm wird klar, daß sie ihn nur benutzt hat. Aber was hat er denn anderes erwartet. Er denkt Ja, mein Verstand war total hin. Aber sie hat wahrscheinlich nur Furcht vor ihrem Mann. Wenn sie sich nicht fürchten müßte, dann... Er überquert den Hof und erreicht das Schlafhaus. Hier sind fünf Schlafstellen, von denen nur vier belegt waren. Er legt sich auf die fünfte Schlafpritsche und weiß schmerzhaft, daß er diese Nacht nicht mehr schlafen können wird.
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Immer wieder denkt er Sie hat mich aus dem Bett gejagt, weil ihr Mann kommt und sie nun wieder ihm gehören wird. Und wie ist es mit mir? Fürchte auch ich mich vor ihm? Aber habe ich nicht schon zwei harte Männer getötet? War das nicht unwahrscheinlich leicht? Warum sollte ich mich also fürchten? Ich habe einen guten Colt und kann jeden Tag besser mit ihm umgehen. Verdammt, ich bin vielleicht den Jahren nach noch ein Junge - aber ich fühle mich sehr viel älter! Er liegt Stunde um Stunde wach. Als dann draußen der Morgen graut, hört er Reiter kommen. Es müssen vier oder gar fünf sein. Und eine Stimme ruft mit kehligem Lachen, das aus der Tiefe einer gewaltigen Brust zu kommen scheint »Houiyaaa, Elli-katze’ Ich bin wieder hier’ Ich bin zurück! Gleich bin ich bei dir im warmen Bett, ohooo’» Der Besitzer dieser Stimme ist offenbar angetrunken. Wahrscheinlich machte er in der nahen Stadt für einige Drinks eine Pause. Ray kann nicht länger mehr hören, was drüben vor dem Farmhaus noch gerufen wird. Denn die Tür des Schlafhauses wird aufgestoßen. Einige Männer drangen herein. Einer zündet die Lampe an. Sie lassen ihre Sattelrollen fallen, auch Satteltaschen. Und dann sehen sie auf die fünfte Schlafstelle, entdecken den Jungen. Er aber sieht vier hartgesichtige Burschen, die gewiß nicht nur Farmhelfer sind, sondern auch Holzfäller und Flößer, bevorzugte Männer, die jetzt hier den Winter über recht angenehm leben werden in der Nähe der Stadt. Denn auf der Farm selbst gibt es bald nichts mehr zu tun, wenn der erste Schnee gefallen ist. Sie starren auf den Jungen. - 32 -
»Wen haben wir denn da«, sagt einer »Da ist ja ein Junge. He, Junge, draußen sind fünf Pferde zu versorgen. Also los, raus mit dir! Da draußen gibt es Arbeit. Und versorge die Pferde gut. Sonst reißen wir dir den Arsch auf! Der Mann hat eine rauhe Stimme, und sie alle sind mehr oder weniger angetrunken. Ray Hutch aber zittert vor Wut, und er macht keine Anstalten, sich zu erheben. Doch er sagt mit heiserer Stimme »Ich glaube nicht, daß ihr mir den Arsch aufreißen könnt. Doch ihr könnt ihn mir lecken. Versorgt eure Pferde selbst. Ich bin nicht euer Diener. Merkt euch das ein für allemal » Sie verharren staunend. Dann grollt ihr Sprecher - er ist wahrscheinlich der Vormann hier - mit drohender Stimme »Kann denn ein Junge so dumm sein? He, bist du übergeschnappt?« Aber er erwidert »Ich bin kein Junge - schon gar nicht für euch. Ich bin nicht weniger als ihr. Du hattest mir nicht damit dreien sollen, daß ihr mir den Arsch aufreißen würdet« Noch einige Sekunden lang staunen sie. Dann aber sind sie alle vier bei ihm. Sie kippen das ganze Schlafgestell um. Es ist ja nur eine Holzpritsche mit einem Strohsack darauf. Und als er aufspringt, da haben sie ihn zwischen sich. Sie verprügeln ihn wie einen ungehorsamen Hund. Sie kennen keine Gnade und wollen auf rauhe Art ein Exempel statuieren. Und selbst als er am Boden hegt und sich nicht mehr erheben kann, da treten sie ihm noch gegen die Rippen.
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Ja, sie sind eine rauhe und angetrunkene Horde, die sich darin einig ist, einen aufmucksenden Jungen zu zerbrechen. Und weil er danach nicht mehr aufstehen kann - so sehr machten sie ihn klein -, müssen sie selbst hinaus, um die müden Pferde zu versorgen. Er aber liegt keuchend und voller Schmerzen am Boden und schmeckt sein Blut im Mund. Seine Lippen wurden zerschlagen. Normalerweise wäre ein Junge in seinem Alter jetzt zerbrochen gewesen und hatte folgsam wie ein geprügelter Hund jeder Anweisung gehorcht. Er aber erhebt sich nach einer Weile und wankt hinaus zu einem der Wassertröge beim Brunnen. Er steckt den Kopf hinein. Allmählich geht es ihm besser. Sie haben ihm nichts gebrochen, nicht brechen können. Denn seine Knochen sind sehr stark. Aber er spürt überall böse Schmerzen, die ihm ihre Faustschläge und Fußtritte zufügten. Noch schlimmer als die Schmerzen aber ist die Demütigung seines Stolzes. Denn ist er nicht längst schon ein Mann? Hat er nicht schon wie ein Mann gekämpft und getötet? Und gehörte ihm nicht schon eine reife Frau? Und da kommen vier betrunkene rauhe und übelgelaunte Burschen und wollen an ihm ein Exempel statuieren, weil er nicht kuschen will. Indes er am Brunnen sein zerschlagenes Gesicht kühlt und sich erfrischt, damit die Benommenheit aus seinem Kopf weicht, steigt in ihm ein wilder Zorn auf, so wild und böse, wie er ihn noch niemals spürte.
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Er erinnert sich jäh daran, daß er einen Colt besitzt, mit dem er immer wieder übte, so daß Elli Vancouver bald über seine Schießkunst zu staunen begann. Und so läuft er in das Schlafhaus zurück und findet die Waffe schnell unter der umgekippten Schlafpritsche, dem Strohsack, den Decken und seinen wenigen Siebensachen. Als er den Colt ergreift, kommt ein triumphierendes, kehliges Knurren aus seinem Mund, dessen Lippen nun dick angeschwollen sind. Und er denkt. Jetzt sollen sie mich richtig kennenlernen, diese vier Hurensöhne. Denen zahle ich jetzt alles mit Zinsen zurück. Als er aus der Tür tritt, sieht er die vier Männer nur wenige Schritte vor sich. Sie haben inzwischen ihre Pferde abgesattelt, in den Corral gebracht und sich selbst an einem der Wassertröge erfrischt. Vielleicht wich auch ihre Trunkenheit ein wenig aus ihren Köpfen. Jedenfalls wollen sie sich hinlegen, obwohl es schon grauer Morgen wurde und im Osten bald die ersten Lichtexplosionen der noch unsichtbaren Sonne am Himmel zu sehen sein werden. Als sie ihn im Morgengrauen sehen, da halten sie inne Und einer von ihnen zischt böse »Vorsicht! Der hat einen Colt! Dieser verdammte Hosenscheißer hat einen Colt!» Ja, sie hielten an, als wären sie gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. Und nun ist es ihr Stolz, an dem von diesem Jungen mächtig gerüttelt wird Sie hören ihn heiser sagen »Ho!, ihr vier Dreckskerle, was sagt ihr jetzt? Wie gefällt euch das? Mit vier Mann - 35 -
seid ihr über mich hergefallen und wolltet mich klein machen, für immer. Ich sollte springen bei jedem Pfiff oder Wink von euch wie ein folgsamer Hund. Und was ist jetzt?« Sie verharren immer noch schweigend. Dann knirscht der Vormann - »Du wirst das nicht wagen, Junge - nein, du wirst das nicht wagen. Denn du könntest uns nicht alle schaffen, nein, nicht alle. Und dann hängen wir dich auf » “Versucht es“, erwidert Ray Hutch nur. Dabei verspürt er ein wildes Triumphgefühl. Gewiß, sie konnten ihn verprügeln. Doch jetzt, mit dem Colt in der Faust, beherrscht er sie. Plötzlich fühlt er sich riesengroß, gewaltig überlegen und wie ein stolzer Mann. Die Waffe in der Hand gibt ihm Macht. Seine böse Wut und Rachsucht verwandeln sich in Gnadenlosigkeit. »Versucht es doch«, wiederholt er herausfordernd. Sie sind vier harte Burschen, Holzfäller, Flößer und manchmal Farmhelfer. Sie tragen keine Revolver. Nur zwei von ihnen hatten Gewehre bei sich. Doch diese nahmen sie mit ins Schlafhaus. Sie befinden sich also nicht in Reichweite. Sie sind waffenlos. Und einer sagt »Wenn er schießt, dann wird er am Hals aufgeknüpft. Junge, du wirst es nicht wagen.« Nach diesen Worten geht der Mann vorwärts. Als er den zweiten Schritt macht, bekommt er eine Kugel in den Fuß. Er fällt auf ein Knie und stößt ein O mein Gott hervor. - 36 -
Die drei anderen sind auch schon vorwärts gesprungen. Nun halten sie inne. Und einer knirscht »Der schießt ja wirklich !« Eine Weile herrscht nun Schweigen. Nur der Verwundete stöhnt schmerzvoll. Das Krachen des Schusses verhallte im grauen Morgen. Dann aber tönt vom Farmhaus her die rohrende Stimme von Bill Vancouver »Was ist los dort drüben bei euch?« Der Vormann erwidert sofort mit böser Wut in der Stimme, »Boß, wir haben hier einen verrückten Jungen mit einem Colt. Er hat Benson in den Fuß oder ins Bein geschossen. Fragen Sie mal Ihre Frau was es mit diesem Jungen für eine Bewandtnis hat. Der muß verrückt sein und sich für einen Revolvermann halten.« »Das werden wir gleich haben«, erwidert Bill Vancouvers Stimme - »Dieser Junge ist ein Tramp, den meine Frau aus Mitleid halbverhungert aufnahm. Das werden wir gleich erledigt haben. Ich komme.« Es dauert nicht lange dann nähert sich Bill Vancouver. Er ist ein riesenhafter Mann, einer von der Sorte, von der ein einziger unter tausend anderen Männern sofort auffällt. Und er kommt im Unterzeug, barfuß und hat einen Colt in der Faust. Ganz ruhig kommt er Schritt für Schritt und es geht der Atem einer unaufhaltsam wirkenden Drohung von ihm aus. Ray Hutch spürt es wie einen körperlichen Anprall. Er wird sich darüber klar, daß er am ganzen Körper zittert. Denn er weiß, nun steht er etwas Unvermeidlichem gegenüber. Wenn er jetzt nicht - 37 -
durchhält und aufgibt, dann wird die Bestrafung gewaltig sein. Und so verspürt er Furcht. Ja, es ist eine heiße Furcht. Er begreift, daß er nun durchhalten und weitermachen muß, selbst wenn er sich dabei vor Furcht in die Hosen macht. Er kann jetzt nicht mehr aufgeben. Und so sieht er zwar zitternd dem näher kommenden Bill Vancouver entgegen, bekommt jedoch seine Furcht mehr und mehr unter Kontrolle. Und schließlich denkt er triumphierend: und wie es auch ausgehen wird, mir gehörte die Frau dieses Bullen mir. Und sie war mit mir sehr viel glücklicher als mit ihm. Diese Gedanken geben ihm nun ein Gefühl von Überlegenheit. Bill Vancouver hält etwa acht Schritte vor ihm an. Ray hatte sich ihm zugewandt und hat die anderen Männer rechts von sich. Aber sie verharren bewegungslos, warten. Nur der am Boden kauernde Verwundete stöhnt vor Schmerz und flüstert manchmal »Bringt ihn um, oh, bringt ihn um!« Bill Vancouver schweigt fast eine Minute und betrachtet den hageren Jungen im grauen Morgenlicht. Dann murmelt er: »Du hattest es gut hier bei meiner Frau, nicht wahr?« »Sehr gut«, erwidert Ray trotzig und herausfordernd. »Sie hat ein gutes Herz. Diese vier Drecksäcke da haben es nicht. Sie verprügelten mich wie einen räudigen Hund. Mister, ich will jetzt nur noch weg. Lassen Sie mich in Frieden ziehen. Ich habe da ein Maultier im Corral und brauche nur einen alten Sattel und etwas Proviant. Dies habe ich mir hier mit Arbeit verdient. Also, Mr. Vancouver, scheiden wir in Frieden.« - 38 -
Ray Hutch versucht seiner Stimme einen Klang von überlegener Männlichkeit zu geben, aber es gelingt ihm nicht ganz. Seine Stimme wirkt nervös, so als würde sie sich beim nächsten Wort überschlagen. Und dann macht Bill Vancouver den großen Fehler, seinen Colt zu heben. Vielleicht will er wirklich auf Ray Hutch schießen, vielleicht auch nur drohend die Mündung der Waffe auf ihn richten. Dies wird nie mehr zu erfahren sein. Denn Ray Hutch schießt nun. Es ist kein kaltblütiges Schießen, o nein, es ist eine Reflexhandlung, verursacht durch Angst. Ray will nicht noch mal verprügelt werden. Und sie haben ihm ja auch mit Hängen gedroht. Er steht wahrhaftig unter Schock. Und so schießt er blitzschnell. Sein ‘Reflex ist schneller als jeder Gedanke. Und erst, als er sehen kann, wie seine Kugel trifft, begreift er, was geschehen ist. Er hat Bill Vancouver mitten in die Brust getroffen. Der große starke Mann drückt nun ebenfalls ab, aber seine Kugel fliegt irgendwohin. Ray hört sie nicht mal vorbeipfeifen. Dann fällt Bill Vancouver auf beide Knie. »O Vater im Himmel«, ächzt er. Ray Hutch achtet nicht mehr auf ihn. Er wirbelt herum und richtet seinen rauchenden Colt auf die Männer. Sie waren schon drauf und dran loszuspringen, halten jetzt jedoch wieder inne. Einer sagt heiser: »Dich bekommen wir bestimmt.« »Versucht es«, faucht er. »Versucht es nur, ihr Armleuchter. Ihr seid daran schuld, daß alles so gekommen ist. Wenn ihr mich nicht wie einen Hund verprügelt hättet, wäre das nicht geschehen. Die Schuld liegt bei euch.« - 39 -
Er holt tief Luft. Dann verlangt er: »Sattelt mir das beste Pferd. Und das ist gewiß die rote Stute von Mr. Vancouver. Sattelt sie, damit ich von hier wegkomme. Na los!« Sie zögern. Dann aber bewegen sie sich. Denn er winkt eindeutig mit dem Colt. Sie entfernen sich in Richtung zu den Ställen und Corrals. Vom Farmhaus aber kommt nun Elli Vancouver über den Hof gelaufen. Sie trägt nur einen Morgenrock. Als sie neben dem sterbenden Bill Vancouver kniet, da öffnet sich der Morgenrock. Ray kann erkennen, daß sie darunter nichts anhat. Ihm fällt in diesem Moment ein, daß er fast bis Mitternacht bei ihr im Bett lag. Dann ahnte sie Bill Vancouvers Kommen und schickte ihn fort. Und nun ... Sie blickt zu ihm auf, als er sich einige Schritte nähert. »Ich kann dir nicht helfen«, sagt sie zu ihm. »Sieh zu, daß du tausend Meilen zwischen dich und diesen Ort hier bringst. Sie werden dich als Mörder und Pferdedieb überall suchen. Es wird Steckbriefe geben. Reite weit und stetig. Ich kann dir nicht helfen.« Er nickt und schluckt mehrmals mühsam. Und er weiß, daß er ihr einen Gefallen tat - einen mächtig großen Gefallen. Denn nun ist sie eine reiche Witwe. Er nickt, abermals langsam - und plötzlich fühlt er sich fast hundert Jahre alt.
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Denn irgendwie hat er begriffen, daß es etwas gibt wie ein unwandelbares Schicksal, gegen das niemand ankämpfen kann. Er ist altersmäßig ein Junge - aber er wurde jetzt endgültig zu einem Mann und begreift, daß er stets ganz und gar auf sich selbst gestellt sein wird. Und so strömt in dieser Minute aus dem Kern seines Wesens ein hartes Gefühl. Und niemals wieder wird er Glauben an diese Welt und Vertrauen zu den Menschen haben. Er wird in die Hölle auf Erden geraten - aber dies lange noch nicht erkennen können. Und wahrscheinlich wird ihm etwas verloren gehen, so sehr verloren gehen, daß er diesen Mangel gar nicht mehr verspüren kann. *** Er reitet auf dem guten Pferd an diesem Morgen an Boise vorbei und erreicht bald rechts vom Wagenweg einen schmalen Reitpfad, welcher in die Salmon River Mountains hinaufführt. Er hat keine Ausrüstung, nur das Pferd mit einem Sattel und seinen Colt. Und er ist auf der Flucht. Wäre er älter und erfahrener gewesen, würde er alle Anwesenden auf der Farm in den Kühlkeller des Farmhauses gesperrt und sich Zeit genommen haben. Er hätte sich gut ausrüsten können für die lange Flucht. Aber die Nerven dazu hatte er nicht - noch nicht. Und so reitet er den ganzen Tag mit immer hungriger werdendem Magen. So ungefähr weiß er, wohin er reiten muß. Zuerst muß er den Salmon River erreichen und durchfurten. Dann geht es hinauf in die Bitter Root - 41 -
Mountains, immer weiter nach Nordosten bis nach Montana. Dort muß er im Three Forks Land dem Missouri folgen oder durch die Big Belt Mountains nach Fort Benton reiten. Von dort ist der Missouri schiffbar. Wenn er in Fort Benton sein Pferd verkaufen kann, besitzt er Geld für eine Fahrkarte nach Kansas City oder noch weiter hinunter nach Saint Louis. Und dann könnte er vielleicht entkommen sein. So weit im Süden wird es gewiß keine Steckbriefe mehr von ihm geben. Am zweiten Tag hat er dann Glück, daß er auf einen Trapper trifft, der ein mächtiges Stück Elchfleisch über der Glut eines Feuers dreht. Dieser Trapper - vielleicht ist er ebenfalls ein Geächteter und Verfolgter - betrachtet den Jungen mit wissenden Augen und nickt ihm zu. »Da ist genug Fleisch für uns beide. Du kannst essen, bis dir der Bauch platzt. Und ich frage dich nicht nach deinem Namen, will auch nicht wissen, woher du kommst und wohin du willst. Gut so?« Ray Hutch nickt. »Sie sind ein kluger Mann, Sir«, sagt er. »Und solange Sie mich nicht gönnerhaft Junge nennen, bin ich ein sehr dankbarer und höflicher Gast an Ihrem Feuer.« Er sitzt ab, setzt sich zu dem Trapper und holt das Messer hervor, um sich einen Batzen Fleisch abzuschneiden. Der Trapper deutet mit dem Messer auf Rays Colt, den dieser im Hosenbund trägt, mit dem Kolben quer vor dem Bauch. »Du hast einen schnellen Colt, nicht wahr?« So fragt er. Ray nickt nur kauend. - 42 -
»Einen zu schnellen Colt?« Und abermals nickt Ray nur. Sie sprechen dann beide lange Zeit kein Wort mehr. Nur manchmal rülpsen sie, denn sie essen jeder eine Unmenge Fleisch, so wie es manchmal Indianer nach einer Jagd tun oder während eines Festes. Erst als sie nicht mehr können und sie aus der Wasserflasche des Trappers nachspülen, da sagt dieser vorsichtig: »Ich weiß, wie das ist. Willst du einen Rat von mir?« »Nein«, erwidert Ray. »Denn ich traue keinem. Ich pfeife auf jeden Rat.« Da wiegt der Trapper seinen Kopf. »Man muß dir übel mitgespielt haben, mein junger Freund. Das passiert immer wieder unter uns Menschen. Doch ich will dir dennoch etwas sagen. Wenn du die Bitter Roots hinter dir hast, kommst du in die Goldfundgebiete. Du wirst auf Goldgräber treffen und vielleicht versucht sein, ihnen Gold abzunehmen. Denn zumindest ein paar Krümel hat jeder von ihnen. Dort im Goldland gibt es nur wenig Bargeld. Man zahlt mit Goldstaub. Es wurden in den letzten Monaten viele Goldgräber überfallen. Nun reiten Vigilantenkomitees. Sie hängen jeden Verdächtigen auf. Laß dich nie mit Gold in den Taschen erwischen, wenn du keinen Claim besitzt und nicht nachweisen kannst, woher du es hast. Im Goldland sind sie alle irgendwie verrückt geworden wegen der zweibeinigen Goldwölfe. Also Vorsicht, mein junger Freund. Auf Reiter, wie du einer bist, sind die Vigilanten besonders scharf. Vorsicht.« Ray erhebt sich und nickt nur stumm. Erst als er satt im Sattel sitzt, spricht er vom Pferd nieder: »Danke, Sir.« - 43 -
Und dann reitet er weiter. Der Trapper sieht ihm nachdenklich nach und denkt schließlich: Er hat schon getötet und ist auf der Flucht. Und er will kein Junge mehr sein, weil er dann seiner Meinung nach verloren ist. Er will ein Mann sein. Vielleicht wird er ein besonders böser Mann, eine Art Bruder des Teufels. Vielleicht hat man ihm mal großes Unrecht getan, und so ist er böse geworden. Armer Bursche. Vielleicht bist du auf dem geradesten Weg in die Hölle. Der Trapper ist selbst ein Mann, der vor dem Gesetz in die Wildnis flüchtete. Deshalb kann er diesen Jungen gut verstehen. Er hätte ihm so gerne geraten, den Haß gegen die Menschen und die ganze Welt zu besiegen. Doch er wußte, daß sein Rat wütend zurückgewiesen worden wäre. *** Als Ray Hutch drei Tage später den Salmon River erreicht, da ist er schon wieder halb verhungert und in einem Zustand wie ein hungriger Wolf, der nach Beute lechzt. An der Furt trifft er auf einen sogenannten Fahrenden Händler, der mit zwei Wagen hier lagert. Etwa zwei Dutzend Indianer und einige Trapper kamen, um hier Vorräte zu kaufen oder einzutauschen. Doch Ray hat weder Geld noch Tauschware. Als er heranreitet, da erregt er natürlich Aufmerksamkeit. Und der Händler fragt: »Nun, mein Junge, was möchtest du kaufen?«
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»Eine Menge«, erwidert Ray. »O ja, ich brauche eine ganze Menge. Mein Alter hat mich losgeschickt. Ich hatte einen weiten Weg von unserem Camp her. Ich bin hungrig wie ein Wolf. Was gibt’s zu essen?« Er deutet zum Feuer hinüber, über dem ein großer, eiserner Topf hängt. Eine Halbblutfrau - wahrscheinlich die Frau des Händlers - rührt darin herum. »Bohnen, Mehlklöße, Fleisch und eßbare Wurzeln«, erwidert der Händler. Und er ruft zum Feuer hinüber: »Gib ihm was, Nelly. Er ist zu hungrig, um schön einkaufen zu können, gib ihm was.« Und so bekommt Ray eine kräftige Bohnen- und Fleischsuppe. Für eine Weile ist er versucht, Frieden mit der Welt zu machen. Doch dann denkt er wieder daran, daß er einkaufen will, ohne zu bezahlen. Und so muß er damit rechnen, daß es abermals zu einer Schießerei kommen wird. Indes er hungrig zwei Schüsseln leert, sieht er sich um. Er wird sich darüber klar, daß zu dem Händler nicht nur die Halbblutfrau, sondern auch noch zwei Halbblutmänner gehören, die als Fahrer und Gehilfen fungieren. Es wird eine Menge gekauft an den Wagen, deren Seitenwände heruntergeklappt sind und als Verkaufstische fungieren. Und nach den Einkäufen reiten fast alle wieder davon, so als ob sie es eilig hätten, mit ihren Einkäufen zurück zu ihren Camps zu kommen, wo man vielleicht schon sehnsüchtig auf Tabak, Brandy, Kandis und Konserven wartet, abgesehen von Werkzeugen, Proviant und allen nur denkbaren anderen Dingen.
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Auch die Indianergruppen - zumeist kleine Sippen ziehen wieder ab. Und der Tag neigt sich dem Ende zu. Ray Hutch wartet geduldig, so als hätte er nun, da er satt ist, viel Zeit und die Absicht, auch die Nacht hier zu verbringen. Er ist dann der letzte Kunde. Er kauft eine Menge ein, eine Hose, Unterzeug und ein Hemd für sich, dazu eine warme Jacke. Er läßt sich Proviant in einen Sack füllen und ersteht auch eine geteerte Zeltplane, zwei Decken und Lagergerät. Es herrscht dann schon die Abenddämmerung, als der Händler die Preise zusammenzählt und dies sogar noch einmal nachrechnet, bevor er die Endsumme nennt. »Zweiundsiebzig Dollar und fünfzig Cent«, spricht er dann, und es ist ein wachsames Leuchten in seinen Augen. Denn er ist ein erfahrener Mann mit einer Menge Menschenkenntnis. Dieser offenbar verwilderte Junge irritiert ihn. Doch noch gewährt er ihm die Gunst des Zweifels. Als er nun den Endpreis von Rays Einkäufen genannt hat, da sieht er fest in die blauen Augen des Jungen und wartet. Ray nickt nur stumm und packt seine ganzen Einkäufe bis auf die Kleidungsstücke in die geteerte Zeltplane, fertigt so eine Sattelrolle, wie alle Reiter sie hinter dem Sattelzwiesel festzurren, die alles für ein Leben unter freiem Himmel mit sich führen müssen. Als er die Sattelrolle hinter dem Sattel festgezurrt hat, begibt er sich mit den erstandenen Kleidungsstücken hinter die Wagen, um sich umzuziehen. Denn die Kleidung, die er von Elli Vancouver erhielt, ist ihm immer noch zu weit, obwohl er an Gewicht zunahm.
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Als er wieder zum Vorschein kommt, wirkt er sehr viel anders. Nun kann man erkennen, wie geschmeidig und leicht er sich bewegt und wie prächtig er gewachsen ist. In einigen Jahren, als ausgewachsener Mann, wird er makellos proportioniert sein. Der Händler sagt ruhig: »Zweiundsiebzig Dollar und fünfzig Cent, das ist der Endpreis, mein Junge. Du hast noch nicht bezahlt.« »Ich weiß«, erwidert Ray Hutch. »Doch ich bin nicht Ihr Junge, Sir. Ich bin ganz bestimmt überhaupt kein Junge mehr. Und ich muß Ihnen die zweiundsiebzig Dollar und fünfzig Cent leider schuldig bleiben. Vielleicht treffen sich unsere Wege noch mal. Dann werde ich gewiß zahlen können. Gut so, Sir?« Der Händler - er heißt Sam Hawland -weicht zwei Schritte rückwärts. Und seine Hand legt sich um den Revolverkolben. Doch zugleich warnt ihn sein Instinkt vor diesem Jungen. Er spürt es wie einen kalten Lufthauch. Und plötzlich weiß er, daß dieser Junge wahrscheinlich schon getötet hat und so gefährlich ist wie eine Giftviper. Die beiden Gehilfen des Händlers verharren nun hinter Ray Hutch, und so ist dieser eigentlich eingekeilt. Aber er kümmert sich nicht um die beiden Halbblutmänner, blickt nicht mal über die Schulter. Er ist ganz und gar auf den Händler, Sam Hawland, konzentriert. Und er spricht langsam Wort für Wort: »Sir, ich möchte Ihnen das genau erklären. Ich stecke mächtig in der Klemme und glaube nicht mehr an das Gute auf dieser Erde. Denn so etwas gibt es nicht. Ich bin gewiß kein Junge mehr. Ja, ich habe schon getötet mit meinem schnellen Colt. Ich würde auch Sie noch töten können, selbst wenn ich jetzt in den Rücken geschossen würde - 47 -
von Ihren Männern. Ich will in Frieden weiter. Und ich bleibe Ihr Schuldner. Lohnt sich das Sterben für zweiundsiebzig Dollar und fünfzig Cent? Das ist die Frage, die Sie sich jetzt stellen und beantworten müssen, Sir. Diese Welt hat mich mehrmals verdammt übel reingelegt. Nun habe ich gelernt daraus. Also?« Sam Hawland hat nun die Wahl. Er weiß, daß er nur zu nicken braucht. Dann werden seine beiden Gehilfen eingreifen. Aber das würde ihm selbst wenig helfen. Denn er« spürt, wie sehr der Junge auf ihn allein konzentriert ist. O Vater im Himmel, denkt Sam Hawland, was wird aus dem einmal werden, wenn er die nächsten Jahre überlebt? Zu seiner eigenen Überraschung wird er sich bewußt, daß er zu nicken beginnt. Und dann hört er sich sagen: »Gut, Junge, gut. Du reitest fort als mein Schuldner. Und ich nehme jedes Jahr zehn Prozent Zinsen.« »Das ist fair.« Ray Hutch nickt. »Und jetzt sagen Sie Ihren beiden Gehilfen, daß sie mir den Weg zu meinem Pferd nicht verlegen sollen. Ich wünsche Ihnen ein langes Leben, Sir.« Sam Hawland schluckt ein wenig würgend und mühsam. Dann nickt er und sagt laut genug: »Laßt ihn reiten. Pete, Joe, laßt ihn reiten. Ich denke, daß er wirklich mal seine Schuld mit Zinsen begleichen wird. Ja, das traue ich ihm zu. Denn er ist stolz. Wahrscheinlich ist er der stolzeste Junge auf der Welt.« Sie weichen zur Seite, lassen ihn zu seinem Pferd. Als er aufsitzt, da werden die beiden Gehilfen noch einmal lauernd. Doch ihr Boß gibt ihnen kein Zeichen. Und so verschwindet Ray Hutch auf seinem Pferd in der Nacht. - 48 -
Sie können ihm nicht mal mit einer weitreichenden Büffelbüchse nachschießen. Denn noch ist die Dunkelheit stark. Die Gestirne am Himmel sind vom Dunst verhüllt. Erst wenn sich der Dunst aufgelöst hat, wird diese Nacht hell werden mit weiter Sicht. Die beiden Gehilfen treten zu ihrem Boß. Auch die Halbblutfrauen, welche sich am Feuer zu schaffen machten, nähern sich. Sie alle starren auf Sam Hawland - ungläubig, staunend. Denn sie kennen ihn als harten und furchtlosen Mann. Er wird auch von allen Menschen in diesem Lande respektiert, von Indianern und Weißen, von Banditen und Geächteten. Noch niemals hat Sam Hawland gekniffen. Doch jetzt ... Sie hören ihn sagen: »Dieser Junge - ich spürte es deutlich - war am Ende. Der war zum Sterben bereit. Der ging schon durch die Hölle und wurde ein Bruder des Teufels. Das alles spürte ich deutlich. Und dennoch glaube ich, daß er seine Schulden begleichen würde, ergäbe sich die Gelegenheit. Basta.« *** Indes reitet Ray Hutch durch die bald heller und klarer werdende Nacht. Er weiß nicht genau, was für ein Datum ist. Aber wüßte er es, dann würde er auch wissen, daß an diesem Tag sein sechzehnter Geburtstag ist. Aber er weiß es nicht. Und es wäre ihm auch egal. Daß er mit seiner „Beute“ vorhin so gut davonkommen konnte, ist vielleicht ein Geburtstagsgeschenk des Teufels.
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Denn vom Himmel hat er wohl nichts zu erwarten. Der ließ ihn vor einiger Zeit schon im Stich. Er reitet mit einem Gefühl von Dankbarkeit gegenüber dem Händler durch die Nacht. Und er nimmt sich tatsächlich vor, eines Tages seine Schuld mit Zinsen zu bezahlen, sollte sich ihm die Gelegenheit dazu bieten. Er ist sich jedoch darüber klar, daß der Händler ihn nur deshalb reiten ließ, weil er seine, Rays, Entschlossenheit spürte, die Sache bis in die Hölle und zurück auszukämpfen. Ray reitet also nach Nordosten. Irgendwann wird er die Bitter Roots erreichen. Und jenseits dieser gewaltigen Gebirgskette liegt das Goldland von Montana. Und von Fort Benton aus fahren die Dampfboote den Missouri abwärts. Ray ist jetzt gut ausgerüstet. Er muß nicht mehr hungern unterwegs. Und er hat nun auch passende Kleidung und eine warme Winterjacke. Daß er ganz auf sich selbst gestellt ist, dies gefällt ihm. Denn auf sich selbst kann er sich verlassen. Und so wird es immer sein. *** Kim Hutch vergißt bei Mondbibers Sippe in diesen Wochen mehr und mehr all das Schreckliche, das hinter ihr liegt. Die Erinnerung daran verblaßt, der Alltag verlangt sein Recht. Denn sie lebt in einer großen Familie. Sie alle mögen sie, und die Tage vergehen zumeist in Harmonie und im Gleichklang mit der Natur. - 50 -
Denn eines wird ihr immer bewußter und klarer: Diese Indianer achten alle Lebewesen, mögen es Blumen, Käfer oder Tiere sein. Für die Indianer ist die Erde mit allem, was darauf lebt, heilig. Sie lernt in diesen Wochen die Sprache der Nez Perce und erholt sich immer mehr. Langsam sieht man, daß sie ein schon recht gut entwickeltes Mädchen von fast fünfzehn Jahren ist. In ihrem Alter oder nur wenig älter heiraten oft schon Farmer- oder Siedlermädchen kaum sehr viel ältere Jungen, leben dann allerdings noch eine Weile im Fami lienverband. Unterwegs auf dem Treck, der so böse endete, hat Kim dies einige Male erlebt und sich gefragt, ob auch sie bald heiraten und einem Jungen als Frau gehören würde. Sie hatte sich das damals nicht so recht vorstellen können. Doch jetzt macht sie sich Gedanken darüber. Denn jener junge Krieger Joseph, der sie Himmelsauge taufte, macht ihr auf indianische Art den Hof. Ja, er wirbt um ihre Gunst. Sie spürt das täglich. Aber immer dann, wenn sie darüber nachdenkt, wird ihr bewußt, daß sie eine Weiße ist, kein Nez-PerceMädchen. Würde sie eine richtige Squaw werden und bis an ihr Lebensende mit diesem Joseph in einem Tipi aus Büffelhaut leben können? Immer noch zieht die Sippe nach Norden, rastet da und dort und bleibt manchmal längere Zeit an einem Ort. Sie jagen viel, trocknen Fleisch für den Winter, und die Frauen stellen Pemmican her, eine sonnengetrocknete, mit Talg vermischte und in Rohhautbeuteln verpackte Fleischpastete, gewürzt mit Pilzen und Kräutern. - 51 -
Die Krieger der Sippe schwärmen auch immer wieder aus und sichern ihren Weg und ihre Camps. Doch jenes Unwetter damals, welches ihre Fährte auslöschte, hat ihnen offenbar alle Verfolger vom Hals geschafft. Eines Tages kann Kim sogar wieder mit den Mädchen und Kindern der Sippe herzhaft lachen. Und jeden Tag wird sie schöner. Dennoch weint sie manchmal in den Nächten, wenn sie an die Eltern und den Bruder denkt. Und dann fragt sie sich auch, was wohl aus ihr werden soll - eine Squaw der Nez Perce oder ... Aber immer, wenn sie sich nach den anderen Alternativen fragt, versagt ihre Vorstellungskraft. Und so lebt sie sozusagen in den Tag hinein, freut sich über Sonne und Wind, Mond und Sterne, über den Regen - und über all die vielen Lebewesen dieser Erde am Boden oder in der Luft. Und immer besser versteht sie die Sprache der Nez Perce. Besonders Elster, deren christlicher Name Sarah ist, empfindet sie mehr und mehr als eine Schwester. Sie könnte also glücklich sein in dieser scheinbar heilen Welt. Denn sie weiß ja nicht, daß auch diese Welt nicht heil ist und der Nez-Perce-Sippe das Unheil schon dicht auf den Fersen ist. Es sind an die fünfzig Reiter aus einem Goldgräberund Minencamp in den Bitter Roots, die auf ihre Fährte stoßen. Dieses große Aufgebot ist nur aus einem einzigen Grunde unterwegs, nämlich um Nahrung zu beschaffen, Proviant für einen langen Winter.
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Und weil alle hier im Land wissen, daß die Indianer für solche langen Winter Vorräte anlegen, suchen sie schon nach einem Winterdorf der Roten. Es ist der junge Krieger Joseph, der angeschossen mit letzter Kraft das Camp von Mondbibers Sippe erreicht und noch rufen kann, daß Feinde kommen. Dann fällt er vom Pferd und stirbt am Boden nach wenigen Atemzügen. Aber sein Vorsprung war nicht groß. Die hungrigen Goldgräber fallen über Mondbibers Sippe her, denn es ist ihnen klar, daß sie jetzt eine Menge Trockenfleisch, Pemmican, getrocknete Pilze, Beeren und eßbare Wurzeln erbeuten können. Die Schleppschlitten von Mondbibers Schar sind stets schwer beladen. Es wird ein schreckliches und gnadenloses Gemetzel. Denn es ist eine üble Bande, für die ein guter Indianer nur ein toter Indianer sein kann - kein lebender. Mondbiber und dessen knapp ein Dutzend Krieger fallen schnell im Kugelhagel der Angreifer. Sie können nur wenige der Angreifer töten oder verwunden. Einige Weiße fallen über die Squaws her, vergewaltigen sie, und weil die Squaws wie Krieger kämpfen, werden auch sie getötet. Es ist ein Abschlachten von friedlichen Indianern, für das es schon viele Beispiele gibt und auch in den nächsten zehn Jahren noch geben wird. Diesmal aber geht es nicht um Gold oder Land, sondern allein um die Wintervorräte einer zu ihrem Wintertal wandernden größeren Sippe. Kim Hutch aber kniet die ganze Zeit, während rings um sie die Hölle tobt, neben Joseph und vermag nicht zu glauben, daß er tot ist. - 53 -
Sie hört nicht das Schreien, die Schüsse, das Weinen, das Gebrüll der weißen Mörder. Sie kniet neben Joseph, und ihr hellblondes, langes Haar leuchtet wie ein Signal und macht allen klar, daß sie eine Weiße ist. Vielleicht läßt man sie deshalb unangetastet. Lange hockt sie so bei Josephs Leiche. Und dann wird sie sich plötzlich bewußt, daß es still wurde um sie her. Sie hebt den Kopf und richtet sich langsam auf. Ein großer Mann steht vor ihr. »Die verdammten Roten haben dich sicher geraubt«, sagt der Mann. »Nicht wahr, jetzt bist du froh, daß wir dich befreit haben? Von jetzt an geht es dir besser, Kleine. Du mußt nicht länger mehr bei diesen Hundeund Läusefressern leben wie ein Squawmädchen. Wie alt bist du?« Es ist zuletzt eine gierige Frage. Sie möchte etwas erwidern, doch sie bringt keinen einzigen Laut über ihre Lippen. Sie zittert am ganzen Körper, und die Welt scheint nun noch einmal über ihr zusammenzubrechen. Der Mann aber spricht nun in einem wohlwollenden Tonfall: »Ist ja gut, ist ja gut, Kleine! Dir passiert ja nichts. Du stehst unter meinem Schutz, mein blonder, blauäugiger Engel. Ich bin Clint Powell. Sieh dich nicht um. Dies ist eine wilde Bande, ich weiß. Aber es sind ja nur Rote, keine richtigen Menschen, die wir überfielen. Indianer sind nur gut, wenn sie tot sind. Gewiß haben sie dich schlecht behandelt. Vielleicht haben sie dich sogar bestiegen - oder nicht? Warst du sogar ihnen noch zu jung? He, wie alt bist du?«
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Er fragt es mit einem Beiklang von gieriger Hoffnung. Sie findet endlich ihre Sprache wieder und kann ihm antworten. »Ich bin erst zwölf«, sagt sie, »Und die Indianer waren gut zu mir. Ihr seid eine verdammte Mörderbande.« Der Mann, der sich Clint Powell nennt, starrt sie staunend an. Dann verzieht sich sein hageres Gesicht ärgerlich. »Aaah, die haben dich wohl schon umerzogen«, grollt er. »Du fühltest dich wohl schon wie eine von ihnen. Vielleicht hast du Läuse wie sie im Haar. Nun, das alles werden wir schon wieder in die Reihe bekommen.« *** Kim Hutch nimmt alles, was in den nächsten Stunden passiert, gar nicht richtig wahr. Wahrscheinlich sträubt sich ihr Selbsterhaltungstrieb dagegen. Denn sonst müßte sie bei all dem schrecklichen Geschehen innerlich zerbrechen, den Verstand verlieren. Denn sie sind wahrhaftig eine üble Bande - nein, keine Banditen, sondern hungrige Goldgräber, die ihre Claims auch während des Winters nicht verlassen wollen und es versäumten, sich Vorräte für Monate zu beschaffen. Und so beraubten sie Mondbibers Sippe. Als sie endlich mit den schwer beladenen Pferden und Schleppschlitten aufbrechen, sind sie nicht mehr in brüllender Siegesstimmung wie bei ihrem Angriff und während ihres Massakers - nein, jetzt wirken sie ernüchtert, vielleicht sogar erschrocken über sich selbst. Und es könnte sein, daß sich manche vor sich selbst schämen, sich verachten und fragen, wie sie zu solch einer Höllenbande werden konnten. - 55 -
Irgendwie waren sie in eine wilde Ekstase geraten, weil es einige Kerle unter ihnen gab, die wie ihre Anführer zum Bösen wurden. Und weil die Nez Perce sich zur Wehr setzten, Krieger, Squaws und sogar die größeren Kinder, bekamen es nicht wenige von ihnen mit der Angst ums eigene Leben zu tun und wurden gnadenlos aus Furcht. Aber so war es schon oft, wenn Weiße über die Indianer herfielen - und so wird es auch noch öfter sein. Kim Hutch reitet dann wie geistesabwesend neben jenem Clint Powell her, als sie den Ort des Massakers verlassen und den Rückweg antreten. Sie ist wieder in jenem Zustand wie vor kurzem, als sie von den Indianern aus dem Wagen geholt wurde. Doch die Nez Perce taten ihr Gutes an. Bei den Weißen hier wird sie das wohl nicht erwarten können. Sie fürchtet sich vor ihnen. Manchmal betrachtet dieser Clint Powell sie von der Seite her. Und einmal sagt er ziemlich grob: »Ich wette, du bist älter als zwölf. Du hast mich angelogen. Wie alt bist du wirklich? Und wie ist dein Name?« Aber sie starrt geradeaus und gibt ihm keine Antwort. *** Sie reiten zwei Tage, folgen einem gewaltigen Canyon in die Täler der Bitter Roots hinein und erreichen dann das Goldfundgebiet, von dem aus die wilde Horde der hungrigen Goldgräber - angeführt von Clint Powell losgeritten ist, um ein Indianerdorf zu suchen, welches Vorräte für den langen Winter angelegt hatte. Sie fanden zwar kein Dorf, dafür aber Mondbibers wandernde Sippe. - 56 -
Nun kehren sie mit reicher Beute zurück. Die Siedlung besteht aus einem Store, in dem es kaum noch Waren zu kaufen gibt, einigen Hütten, die zugleich auch Werkstätten von Handwerkern sind, und einem langgestreckten Gebäude aus rohen Baumstämmen, in dem sich der Saloon befindet, der Ort, wo es noch Feuerwasser gibt und ein knappes Dutzend Mädchen das älteste Gewerbe der Welt betreiben. Der Saloon gehört jenem Clint Powell. Als die Schar mit ihrer Beute - es sind ja mehr als ein Dutzend schwerbeladene Schleppschlitten und zwei Dutzend Packpferde - vor dem Saloon anhält, da laufen einige Menschen herbei. Und die Mädchen kommen aus dem Saloon. Sie alle bereiten den „Heimkehrern“ einen jubelnden Empfang. Doch dann übernimmt Clint Powell das Kommando. »Es ist ganz einfach«, ruft er vom Sattel aus über alle Köpfe. »Alles, was wir mitbrachten, kommt in den Store! Wir haben eine Namensliste von allen, die mit mir ritten. Nach dieser Liste wird unser Storehalter die Anteile ausgeben. Und damit kann jeder dann machen, was er will. Und eines ist euch wohl allen klar. Nahrung wird bald wertvoller sein als Gold. Bisher konntet ihr euch alles mit Goldstaub und Nuggets kaufen - zum Beispiel diese Schönen hier vom Saloon. Doch nun bekommen wir eine andere Währung, die bis ins späte Frühjahr gelten wird. Habt ihr das kapiert?« Er bekommt vielstimmige Zustimmung von allen Seiten. Nur wenige sind unzufrieden. Da sitzt er ab und hebt Kim Hutch vom Pferd. Sie verharrt starr dabei, so als wäre sie nur eine Puppe.
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Aber er stellt sie vorsichtig auf den Boden und wendet sich an die Mädchen des Saloons. »Ich fand sie bei den Indianern«, sagt er. »Sie ist noch sehr verstört. Seid gut zu ihr, so als wäret ihr Schwestern. Sie ist wunderschön, nicht wahr? Eines Tages wird sie eine der schönsten Frauen auf dieser Erde sein.« Nach diesen Worten gibt er Kim Hutch einen kleinen Stoß. Sie stolpert nach vorn. Und dann umringen sie die Mädchen, betrachten sie staunend. Eine greift sogar prüfend in Kims goldenes Haar. Und eine andere sagt: »Wenn ich damals so schön gewesen wäre, hätte ich mir den reichsten Kerl der Welt angeln können. Dann bräuchte ich mich hier nicht für eine Unce Goldstaub mit diesen Stinkern abzugeben, verdammt.« Sie bringen Kim in das lang gestreckte Gebäude. Kim blickt stumm in verlebte Gesichter, und wenn sie erfahrener wäre, würde sie diese Frauen bedauern. Denn sie befinden sich hier mitten in der Wildnis, gewissermaßen auf ihrer letzten Station. Keine ist auch nur noch einigermaßen hübsch. Nur hier in der Wildnis finden sie noch Kunden für das, was sie verkaufen. Ja, sie sind zu bedauern. Und nun ist ein blutjunges, wunderschönes Mädchen gekommen. Was wird sein? Werden sie die junge und schöne Kim vor Neid zu hassen beginnen? Oder wird sich in ihnen eine Art Schwester- oder Mutterinstinkt regen, durch den sie geradezu gezwungen werden, die Kleine zu beschützen? Sie führen Kim in eine Kammer. - 58 -
»Hier kannst du wohnen«, spricht eine, die sie Molly nennen. »Hast du Hunger? Möchtest du ein warmes Bad? Wir haben eine richtige Badewanne mit Blumenemaille. Kleine, wir sind immer für dich da.« Aber Kim bringt keinen einzigen Laut über die Lippen. Sie geht leicht schwankend zum Bett und läßt sich bäuchlings darauf fallen. Denn sie macht sich keine Illusionen. So dumm ist sie nicht mehr, daß sie nicht begreifen könnte, wo sie hier hineingeraten ist. Wie gut und heil war es doch bei Mondbibers Sippe. Und jetzt ... *** Es vergehen sechs Jahre. Und noch immer wissen die Geschwister nicht voneinander, daß sie noch leben. Sechs Jahre können für einen heranwachsenden Jungen, der viel zu schnell zum Mann wurde, eine lange oder eine sehr kurze Zeit sein. Ray Hutch macht in diesen sechs Jahren Riesenschritte. Es ist, als zählte bei ihm jedes Jahr doppelt oder gar dreifach. In Zusammenhang mit der erworbenen Lebenserfahrung. Aber das hat es wohl schon immer gegeben. Es gab schon immer sehr junge Eroberer, Generäle und herausragende Männer auf allen Gebieten. Das war niemals eine Frage des Alters. Ray Hutch wird ein rücksichtsloser Abenteurer, ein Spieler und Revolvermann, der sich geschickt tarnen kann. Und er hat Glück bei den Frauen. Er ist ein Bild - 59 -
von einem Mann, und er vermag eine Männlichkeit auszustrahlen, die alle Frauen geradezu in Atem hält. Und dabei ist er kalt, rücksichtslos, böse und gemein. Er benutzt die Frauen, ist zu keiner wirklichen Liebe fähig. Sein Jagdrevier reicht von New Orleans über Saint Louis, Kansas City bis hinauf nach Fort Benton. Und er macht überall auf verschiedenen Gebieten Gewinn. Vielleicht könnte man ihn am besten mit einem Hai vergleichen, der ja auch stets auf der Jagd nach Beute ist und alles gierig verschlingt. Nur einmal in jenen Jahren macht er eine Ausnahme. Das ist in Fort Benton, wo er auf jenen Händler, Sam Hawland, trifft, als dieser an der Schiffslandestelle neue Waren in seine beiden Wagen lädt. Ray Hutch wurde inzwischen drei Jahre älter, und der Händler erkennt ihn nicht sofort. Deshalb sagt Ray Hutch: »Zweiundsiebzig Dollar und fünfzig Cent, Sir. Und für drei Jahre zehn Prozent Zinsen. Das macht mit Zinseszins etwas mehr als sechsundneunzig Dollar aus, fast siebenundneunzig. Ich gebe hundert Dollar. Sind wir nun quitt, Sir?« Der Händler starrt ihn an. Dann endlich erkennt er ihn und erinnert sich. Er reicht Ray Hutch die Hand. »Ich habe nie daran gezweifelt, daß ich das Geld mit Zinsen zurückbekommen würde«, spricht er schließlich. »Es war so ein Gefühl, welches ich nicht erklären kann. Nun sind Sie wahrhaftig kein Junge mehr. Glück gehabt?«
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Ray Hutch nickt nur. Er legt dem Händler fünf Zwanzigdollarstücke in die Hand und geht wieder. Sam Hawland starrt ihm nach. »Oha«, seufzt er dann, »was ist aus ihm geworden!« Doch so sehr er auch ein guter Menschenkenner ist, er ist sich nicht sicher, ob er diesen jungen, zweibeinigen Tiger richtig einzuschätzen vermochte. Nochmals vergehen drei Jahre nach dieser Begegnung. *** Es ist an einem Abend, als Ray Hutch in Saint Louis an Bord der Missouri Queen geht und wenig später beim Abendessen im Speiseraum der Luxuskabinenpassagiere eine Frau zu sehen bekommt, die vom ersten Augenblick an ein merkwürdiges Gefühl in ihm aufkommen läßt. Er denkt: Wenn sie keine schwarzen Haare hätte, dann würde ich glauben, daß es meine kleine Schwester ist. Denn so müßte Kim jetzt aussehen. Aber Kim ist gewiß tot. Und überdies hatte Kim goldblondes Haar. Aber ... Er denkt nicht weiter. Dennoch ist er zum ersten Mal seit Jahren verwirrt. Es bleibt dieses merkwürdige Gefühl in ihm - und es wird sogar noch stärker. Und weil ihn diese junge und wunderschöne Frau so sehr interessiert, betrachtet er auch deren Begleiter, mit dem sie am Tisch sitzt. Sind sie ein Paar - vielleicht sogar ein Paar auf der Hochzeitsreise? Noch hat die junge Frau ihn nicht angesehen. Doch dann, als sie ihren Blick hebt und voll in seine Augen sieht - die Entfernung zu ihm am Nebentisch beträgt ja nur wenig mehr als zwei Yard -, da kann er erkennen, daß sie mehr innerlich als äußerlich
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zusammenzuckt. Und ihre Augen werden groß und staunend. Ja, er nahm seinen Blick wieder von ihrem Begleiter, als sie ihn anzusehen begann. Nun verharren sie so einige Sekunden, und ihre Blicke tauchen ineinander. Sie halten dabei den Atem an. Das erkennen sie beide. Er denkt: Wenn es Kim ist, dann hat sie mich jetzt als ihren Bruder erkannt. Aber ist es Kim? Er kann es nicht glauben, aber es ist dennoch eine vage Hoffnung in ihm, so etwa; wie wenn man auf ein Wunder wartet. Das schwarze Haar irritiert ihn nicht sehr, denn er weiß, Haar kann man färben. Und es gibt auch erstklassige Perückenmacher, die aus echten Haaren täuschend ähnliche Ersatzkopfbedeckungen herstellen. Die schöne Frau am übernächsten Tisch sieht ihm, Ray Hutch, so ähnlich, wie eine Schwester einem Bruder nur ähnlich sehen kann. Sie haben die gleichen blauen Augen, und auch ihr Gesichtsschnitt ist fast gleich. Bei ihr wirkt nur alles weiblicher, zarter, eben femininer, bei ihm männlicher, härter. Ihre Haut ist heller, nicht so sonnengebräunt. Aber sonst ... Er erinnert sich, daß seine Schwester an der linken Gesäßbacke eine kleine Narbe haben muß, verursacht von einem Dorn. Ein Pferd warf sie als kleines Mädchen ab. Sie fiel in einen Dornenbusch. Jener Dorn damals begann zu eitern, und so mußte man ihn herausschneiden. Er erinnert sich noch daran, wie ihre Mutter damals scherzend sagte: »Nun, diese Narbe wird später nur dein dir angetrauter Mann zu sehen bekommen, Kimberly.« - 62 -
Und an diese Narbe denkt er nun. Aber wie könnte er diese Schöne da so weit bekommen, daß sie ihm ihren gewiß sehr sehenswerten Hintern zeigt, es sei denn, sie hätte ihn als ihren Bruder erkannt? Er betrachtet wieder den Mann, in dessen Gesellschaft sie sich befindet. Dieser Mann ist älter, und er ist gewiß ein harter und gefährlicher Bursche, einer von der Sorte, unter deren Oberfläche sehr viel verborgen sein kann - im guten oder im bösen Sinn. Der Mann ist groß, hager, gut proportioniert und wahrscheinlich zäh und hart mit einem reichen Schatz von Erfahrungen. Solche Typen wie er haben sich zumeist von ganz unten heraufgearbeitet und gelten als Selfmademen, die alles, was sie sind, ganz allein geschafft haben. Im Lampenschein erkennt Ray im Gesicht dieses Mannes nicht nur einige tiefe Linien, sondern auch Narben. Er mag an die fünfzehn Jahre älter sein als Kim, wenn es überhaupt Kim sein sollte. Immer wieder treffen sich seine und der Schönen Blicke. Und dann denkt er immer wieder: Das kann doch nicht sein. Nein, es wäre ein zu großes Wunder. Aber wenn es Kim ist, warum gibt sie mir dann kein Zeichen, warum steht sie nicht auf und ruft meinen Namen? Warum kommt sie nicht, um sich in meine Arme zu werfen? Ich kann nicht so sicher sein, daß wir Geschwister sind, wie sie. Denn ich habe keine schwarzen Haare. Mich kann eine Schwester leichter erkennen, obwohl auch ich mich in den vergangenen sechs Jahren verändert habe. Ich bin in meinem dreiundzwanzigsten Lebensjahr. Sie ist nur ein Jahr jünger. Was mag sie alles erlebt - 63 -
haben? Gehört sie diesem Burschen mit Haut und Haar? Wer ist dieser Kerl? Nur ein Glücksjäger, ein Abenteurer und Spieler - oder ein großer Boß, der es auf irgendeinem Gebiet geschafft hat? Verdammt, ich werde es herausfinden! Wir werden sehen. Er gewinnt wieder seine kühle Kontrolle über sich. Er ist ja ein Mann geworden, der an Lebenserfahrung sehr viel reifer ist, als er an Jahren zählt. Er kennt sich aus auf dieser Erde und mit den Menschen. Seine Wege waren rauchig. Er hat sich gut getarnt, reist als ein junger Mann, der die Welt kennen lernen will, bevor er als Juniorchef in die Firma seines Vaters eintritt. So etwas läßt er bei allen Bekanntschaften durchblicken. Und dann macht er überall seine Beute. So soll es auch hier an Bord der Missouri Queen sein, die jetzt stromaufwärts dampft und hinauf nach Fort Benton im Oberen Missouri will, von wo aus man mit den Postlinien leicht zu den Goldfundgebieten von Montana gelangen kann, ins Gallatin Valley zum Beispiel oder nach Last Chance City in der Last Chance Gulch, und zu einem weiteren Dutzend solcher Goldgräber- und Minenstädte. Es wird eine lange Fahrt werden, genau zweitausendsechshundertdreiundsechzig Flußmeilen, in Zahlen ausgedrückt 2663. Und da die Flußdampfer etwa sechs Meilen die Stunde gegen die starke Strömung schaffen, ist das eine sehr lange Reise, selbst wenn sie in den hellen Nächten Tag und Nacht fahren und nur anlegen, um Holz zu übernehmen oder Postgut abzuliefern. Die Missouri Queen ist kein Frachtdampfer, auf dem auch Passagiere mitfahren können. Diese Missouri Queen ist ein Luxus - 64 -
Steamer für Passagiere, die sich eine angenehme Reise etwas kosten lassen. Hier an Bord wird gespielt mit hohen Einsätzen. Auch gibt es Theatervorstellungen. Eine Kapelle ist an Bord. Sänger und Sängerinnen treten auf, Zauberkünstler zeigen ihre Tricks. Die Missouri Queen ist ein nobler Vergnügungsdampfer, eine schwimmende Amüsierhalle mit hohem Niveau. Und es gibt auch einige als Ladies getarnte Edelhuren, die mit ihren Bekanntschaften in ihre Luxuskabinen gehen. An Bord sind zumeist wohlhabende und erfolgreiche Geschäftsleute, aber auch Minenbesitzer aus dem Goldland, die sich eine Reise nach Saint Louis gönnen. Ray Hutch beendet als einer der ersten Passagiere das Abendessen. Er weiß, daß der Speiseraum nach dem Essen zum Spielsaloon umfunktioniert wird. Bald wird man die Roulettekugeln klirren hören. Man wird Poker, Black Jack und Faro spielen, auch würfeln. Und die schönen Frauen, mögen sie auch oft zur halbseidenen Gilde gehören, werden ihren Männern Glück wünschen oder selbst ihr Glück versuchen. Es ist eine Menge Geld an Bord. Auf solchen Schiffen macht Ray Hutch stets großen Gewinn. Er tritt nach dem Essen hinaus auf das Kabinendeck und steckt sich eine Zigarre an, wandert umher, läßt sich den Wind um die Nase wehen. Und fortwährend denkt er an diese schwarzhaarige Schöne, die seiner blondhaarigen Schwester so ähnlich sieht.
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Er weiß, wenn es Kim ist, dann wird sie kommen. Denn sie wird ihn als ihren Bruder erkannt haben. Es kommen noch weitere Passagiere heraus auf das Kabinendeck, über dem sich nur noch das Sturmdeck befindet, von dem aus es zum Ruderhaus geht. Die Nacht ist klar und hell geworden. Die Sterne funkeln. Und der Mond wirft Silberlicht auf den Strom, läßt ihn wie Silber glänzen. Das mächtige Heckschaufelrad der Missouri Queen dreht sich mit einem ständigen Rattern und Platschen, übertönt das Fauchen der Auslaßventile der mächtigen Kolben. Der Fahrtwind wird noch vom Flußwind verstärkt. Auf den großen Strömen weht immer ein Wind. Ray Hutch wartet geduldig. Die anderen Passagiere tun das nicht. Einer von ihnen spricht zu Ray: »Das dauert immer so lange, bis sie den Speiseraum zum Spielsaloon umgewandelt haben. Auf den sehr größeren MississippiSteamern ist man nicht so beengt. Da gibt es Speise- und Spielsaloons nebeneinander, richtige Theatersäle zum Vergnügen. Diese Missouri-Steamer sind verdammt klein.« »So ist es, Sir«, erwidert Ray höflich. »Aber der Big Muddy ist ein gefährlicher Strom. Nur Steamer mit geringem Tiefgang können ihn befahren. Ab Westport bei Kansas City wird es gefährlich. Wir haben hier an Bord den bestmöglichen Luxus.« »Sicher, sicher«, erwidert der Passagier. Dann hören sie eine Glocke bimmeln. Einer der Stewards kommt auf dem Kabinendeck in die Kabine gewandert und ruft immer wieder: »Der Spielsaloon ist geöffnet! Ladies und Gentlemen, es kann gespielt - 66 -
werden. Unten im Hauptdecksaloon aber treten die Künstler auf.« Bald steht Ray allein an der Reling und wartet. Und immer wieder fragt er sich: Wird Kim kommen? Ist es Kim überhaupt? Und warum hat sie mich dann nicht während des Abendessens begrüßt wie sonst jede Schwester einen verloren geglaubten und wieder gefundenen Bruder? Warum hat sie mich dann nicht mit ihrem Begleiter bekannt gemacht? Wenn es Kim ist, dann muß sie einen verdammt guten Grund gehabt haben. Geduldig wartet er. Denn sein Gefühl sagt ihm, daß sie kommen wird. Sie wird einen Grund finden, ihn für einige Minuten zu verlassen. Ladies sagen dann ja immer, daß sie sich die Nasen pudern müßten. Er grinst bei diesem Gedanken. Und er erinnert sich wieder an die Zeit, da Kim und er noch Kinder waren. Er ist nun schon längere Zeit allein auf dem Kabinendeck. Vom unteren Deck hört er die Musik. Drinnen im Spielsaloon geht es ruhiger zu. Er hält sich ständig in der Nähe jener Tür auf, durch welche Kim an Deck kommen müßte. Und tatsächlich, sie kommt heraus. Als sich die Tür zum Außendeck öffnet, erkennt er sie sofort im herausfallenden Lichtschein. »Hier bin ich«, sagt er laut genug, so daß seine Worte von ihr verstanden werden. Sie kommt sofort, und als sie vor ihm steht, da sagt sie: »Du bist es, Ray, nicht wahr? Du lebst noch, Bruder. Oh, Ray ...« Und dann wirft sie sich in seine Arme. - 67 -
Er hält sie fest - und zum ersten Mal seit vielen Jahren verspürt er ein Gefühl der Zuneigung und Liebe. Ja, es ist die alte, brüderliche Liebe, so wie damals, als sie noch Kinder und dann später Heranwachsende waren. Es ist die Schwester, für die er damals jenen Weg durch die Hölle wanderte, um am Ziel zwei Männer zu töten. Doch als er dann mit dem Wasser kam, war sie verschwunden. Sie verharren lange so, halten sich fest. Dann gehen sie, umschlungen wie ein Liebespaar, nach vorn und finden dort, wo rechts und links die beiden Schornsteine durch die Decks ragen, einen geschützten Winkel, in den sie treten. Er fragt dann sofort: »Wer ist dieser Mann? Gehörst du zu ihm? Warum hast du dich nicht sofort als meine Schwester zu erkennen gegeben? Warum sind deine Haare schwarz? Warum müssen wir uns hier draußen in einem Winkel wiedersehen und in die Arme nehmen? Was ist ...« Sie legt ihm die Fingerspitzen auf die Lippen. »Das ist eine lange Geschichte«, flüstert sie dicht an seinem Ohr. »Damals nahmen mich Indianer mit. Dann wurden diese Indianer von einer Horde Weißer ermordet. Alle. Nur mich ließen sie am Leben wegen meiner blonden Haare. Und von dieser Stunde an gehörte ich Clint Powell. So heißt er. Ich bin sein Besitz ganz und gar. Ich konnte ihm nie entkommen. Dreimal lief ich weg. Aber stets holten seine Männer mich wieder zu ihm zurück. Er ist ein mächtiger Bursche auf dem Strom. Dieses Dampfboot gehört ihm, ebenso wie eine ganze Reederei, einige Minen im Goldland, Erzmühlen, Schmelzen, eine Frachtlinie - und noch weitere - 68 -
Dampfboote. Er ist mit meiner Hilfe ein mächtiger Mann geworden zwischen Saint Louis und Fort Benton. Und ständig sind wir unterwegs, um alles unter Kontrolle zu halten. Wir tarnen uns an Bord als Hochzeitsreisende. Ich trage eine Perücke, weil ich blond weiter unten im Süden Steckbrieflich gesucht werde. Denn, Bruder, ich habe für Clint Powell gestohlen und getötet. Er hat mich zu seinem Werkzeug gemacht. Und nicht nur äußerlich an meinem Körper sind Narben.« Dies alles flüsterte sie ihm hastig ins Ohr. Dann löst sie sich von ihm. »Ich muß wieder hinein«, spricht sie härter. »Wenn er um große Summen spielt, muß ich als Glücksbringer hinter ihm stehen und meine Hände auf seine Schultern legen. Nur dann gewinnt er.« Sie haucht Ray einen Kuß auf die Wange und entfernt sich schnell. Er aber verharrt noch eine Weile und überdenkt das alles. Und immer dann, wenn er sich diesen Clint Powell vorstellt, glaubt er, daß er Kim beherrscht und deren Schönheit schon oft ausgenutzt hat. *** Einige Tage und Nächte vergehen. Und stets treffen sich die Geschwister nur wenige Minuten in den Nächten auf dem Kabinendeck. Ray Hutch erfährt, daß Clint Powell seine Schwester richtig geheiratet hat und es darüber Urkunden gibt und die Eheschließung auch in Saint Louis im Register eingetragen ist. Und so weiß er, daß Kim eine reiche Erbin ist, wenn Clint Powell etwas zustoßen sollte. In Ray Hutch ist ja - 69 -
nichts Gutes mehr. Wie sollte es auch? Er wurde tatsächlich so etwas wie ein Bruder des Teufels. Nur seine Schwester erzeugt in ihm noch ein menschliches Gefühl. Und was er inzwischen von seiner Schwester über diesen Clint Powell erfahren hat, kann keine Gewissensbisse in ihm erzeugen, selbst wenn er deren noch fähig wäre. Doch seine Wege waren zu rauh, zu böse. Schon als Junge verlor er jeden Glauben an die Welt, die Menschen und Gerechtigkeit. Und so reift ein Plan in ihm. Clint Powell hat böse an seiner Schwester gehandelt. Nun soll er dafür bezahlen. In dieser Nacht, als sie sich wieder einmal an Deck für wenige Minuten treffen, da fragte er Kim: »Sag es mir endlich, Schwester. Hat er dich zur Hure gemacht?« Da nickt sie in seinem Arm. »O ja, ich mußte mit einigen Männern ins Bett«, spricht sie klirrend. »Ich mußte sie ausspionieren. Einmal mußte ich wichtige Verträge stehlen. Und einen mußte ich töten mit einem Gift. Dieser Mann war sein Partner an seiner Goldmine. Sie hatten sich gegenseitig als Erben eingesetzt. Bruder, er ist ein Teufel - und er hat mich gewissermaßen zu einer Schwester des Teufels gemacht, so wie er ein Bruder des Teufels ist.« »Auch ich bin solch ein Bruder«, erwidert Ray. »Weißt du, der Urteufel in der Hölle hat viele Brüder und Schwestern auf dieser Erde. Viele haben sich gut getarnt und gelten als gute Menschen. Ich werde ihn umbringen.« ***
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Es geschieht in einer Nacht wenige Meilen vor Kansas City, dessen Flußhafen ja Westport heißt, also nach genau vierhundertdreiundsechzig Flußmeilen von Saint Louis entfernt, als Clint Powell kurz vor Morgengrauen aus dem Spielsaloon auf das Kabinendeck tritt, um frische Luft zu atmen und den Kopf freizubekommen. Als sie an der Reling lehnen, da spricht er böse: »Ich glaube, du bringst mir kein Glück mehr. Verdammt, du bringst es nicht mehr fertig, meine Gegenspieler durch deine Anwesenheit zu verwirren. Du hast keine Ausstrahlung mehr. In deinen Augen erkennen sie wahrscheinlich nicht mehr das, was sie verrückt macht. Du weißt doch, daß ich nicht verlieren kann und immer nur gewinnen will. Also streng dich an. Ich hab dir doch beigebracht, wie man die Männer verwirren kann. Dieser Dickwanst, der mir gegenübersaß und den du ansehen konntest mit deinen strahlenden Blauaugen, der bekam von dir keine Signale. Der spürte nichts. Warum hast du jetzt schon die dritte Nacht versagt? Macht es dir keinen Spaß mehr, diesen Hammeln das Fell über die Ohren zu ziehen? Gewiß, wir haben das nicht mehr nötig, schon lange nicht mehr. Wir sind reich. Aber ich will sie immer noch beim Poker besiegen. Ich will immer noch von all diesen Hammeln das verdammte Fell. Gib dir also wieder Mühe. Sonst kannst du was erleben.« Es ist zuletzt eine brutale Drohung, und sie weiß, daß er sie bald wieder einmal verprügeln wird, wenn sie ihn noch länger enttäuschen sollte. Bisher hat sie immer gekuscht, sich unterworfen. Doch jetzt wurde alles anders, denn ihr Bruder ist bei ihr. Sie sieht ihn nun kommen, so als machte auch er
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einen Rundgang um die Kabinen, um sich auszulüften. Denn auch er spielte und saß am Nebentisch. Als er sie erreicht, verharrt er und sagt: »Sir, haben Sie Feuer für meine Zigarre?« »Nein«, grollt Clint Powell über die Schulter nach hinten, denn er lehnt ja immer noch über der Reling, hat beide Unterarme dort aufgestützt. Und weil er denkbar übelster Laune ist - denn er hat mehr als zweitausend Dollar verloren -, fügt er hinzu: »Schleich dich, Mann, schleich dich. Du störst hier.« Aber da bekommt er auch schon das Messer in den Rücken. Und Sekunden später fliegt er kopfüber über Bord. Die Geschwister verharren. »So leicht ist das«, spricht Ray hart. »Jetzt bist du eine reiche Witwe, Schwester. Und mit meiner Hilfe wirst du das auch bleiben.« Sie wirft sich in seine Arme. »Oh, Bruder, wie gut, daß wir wieder beisammen sind!« *** »Jetzt müssen wir weitermachen«, flüstert Ray ins Ohr seiner Schwester. »Du mußt jetzt zu schreien beginnen. Sie müssen es oben im Ruderhaus und auch unten auf dem Hauptdeck hören. Mann über Bord, dies mußt du rufen, so laut du kannst! Na los, Schwesterchen!« Sie zögert keine zehn Sekunden, aber es ist ja auch alles, was nun geschehen muß, leicht zu begreifen. Und so beginnt sie mit gellender, sich überschlagender Stimme laut zu schreien: »Mann über Bord! Passagier
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über Bord! Er ist über Bord gefallen! Oh, Vater im Himmel, hilf! Er ist über die Reling gefallen!« Auch Ray Hutch ruft ähnliche Worte. Dabei stürmt er die Treppe zum Sturmdeck empor und erreicht den Aufgang zum Ruderhaus. »Hoiii, verdammt, stoppt die Fahrt! - Mann über Bord!« Oben ertönt ein Fluch. Aber dann hört das mächtige Schaufelrad mit seiner Arbeit auf. Es steht still. Und zugleich tönt das Dampf hörn, beginnt auch die Alarmglocke zu schlagen. An Bord wird es lebendig. Die Decksmannschaft wurde alarmiert. Und auch der Kapitän stürzt aus seiner Kajüte, die sich vorn auf Steuerbordseite neben der Eignerkajüte befindet. Kim und Ray Hutch tauchen bei Kapitän Jason Orwell auf. Kim ruft ihm gellend ins Gesicht: »Nun tun Sie doch was, Orwell! Mein Mann stürzte über Bord! Er muß jetzt fast schon eine Meile abgetrieben sein. Wir müssen mit diesem Boot jetzt stromabwärts! Tun Sie etwas, Orwell!« In Ihrer Stimme klingt täuschend echt die Angst um den Ehemann. Und wenig später ist auch Kapitän Orwell oben im Ruderhaus bei seinem Steuermann und dem Rudergänger. Die Missouri Queen fährt nun mit sich wieder drehendem Heckschaufelrad rückwärts den Strom hinunter. Und oben auf dem Sturmdeck geht nun der Karbidscheinwerfer an. Doch diese Nacht ist hell. Mond und Sterne tauchen die Erde in Silberlicht. Es herrscht gute Sicht, die der Karbidscheinwerfer kaum verbessern kann. Aber obwohl sie an die drei Meilen achteraus den Strom abwärts dampfen, sichten sie keinen treibenden Körper. - 73 -
Der Kapitän wendet sich oben im Ruderhaus an Kim Hutch, die ja jetzt Kim Powell heißt, und fragt: »Kann er denn schwimmen? Ma’am, kann Mr. Powell schwimmen?« »Nein«, erwidert sie. »Das weiß ich genau. Er kann nicht schwimmen. Er wurde in den Bergen geboren und wuchs dort auf, wo es keine Gewässer zum Schwimmen gibt. Er kann nicht schwimmen.« »Dann wird er wahrscheinlich ertrunken sein«, murmelt Kapitän Jason Orwell. »Wo ging er über Bord? Und wie konnte das geschehen, Mrs. Powell?« »Er hatte wahrscheinlich zuviel getrunken diese Nacht am Spieltisch«, erwidert Kim. »Er ging mit mir noch mal hinaus, um frische Luft zu atmen. Dann mußte er sich übergeben und beugte sich dabei weit über die Reling. Als er sein Gleichgewicht verlor, bekam ich ihn nicht rasch genug zu fassen. Er entglitt meinen Händen. Und auch dieser Gentleman kam zu spät.« Sie deutet bei ihren letzten Worten auf Ray, der mit ihnen oben im Ruderhaus steht. Denn von hier oben hat man den besten Blick über den silbern glitzernden Strom. Kapitän Orwell wirft einen Blick auf Ray. »Sie haben es gesehen, Mister?« »Ich war nur wenige Schritte entfernt, weil auch ich an der Reling stand und auslüften wollte. Ja, es war so, wie Mrs. Powell es darstellte, Kapitän.« »Dann werden Sie als Zeuge das Protokoll unterschreiben müssen, Mister«, spricht der Kapitän. Er wendet sich an Kim. »Es ist zwecklos, weiter nach Ihrem Mann zu suchen hier auf diesem Strom. Der Missouri gibt Ertrunkene zumeist nicht mehr frei. Sie verhaken sich am Grunde durch die starke Strömung an - 74 -
irgendwelchen Hindernissen, abgestorbenen Bäumen zum Beispiel, zwischen Klippen oder in tiefen Strudellöchern. Sie werden vielleicht auch in das Ufergestrüpp geschwemmt. Nur ganz wenige treiben den ganzen Strom abwärts in den Mississippi hinein. Ma’am, ich befürchte, daß Sie Ihren Mann niemals mehr wiedersehen werden. Denn selbst ein guter Schwimmer hat es nicht leicht in dieser Strömung. Vielleicht geriet er in das Schaufelrad. Dann ...« Er spricht nicht weiter, sondern zuckt resigniert mit den Achseln, hebt auch wie hilflos seine Hände. Kimberly Powell, geborene Hutch, spielt ihre Rolle gut. Sie verharrt eine Weile wie erstarrt. Nach einer Weile spricht sie: »Nun gut, Kapitän Orwell. Dann sollten wir wohl die Suche aufgeben. Sie wissen, daß ich als die Witwe und Erbin meines Mannes nun an seine Stelle trete?« »Sicher, Ma’am«, erwidert der Kapitän. »Sie sind nun meine Arbeitgeberin, meine Chefin. Bitte schenken Sie mir Ihr trauen, so wie es ja auch Ihr Mann getan hat. Sie werden jetzt ein mächtiges Unternehmen zu leiten haben. Welches man mit einer Art Imperium vergleichen könnte, einem Reich, das sich aus verschiedenen Unternehmen zusammensetzt. Sie werden tüchtige Berater nötig haben. Bitte zählen Sie auf mich, was die Schiffsreederei der Powell-Line betrifft.« Sie nickt nur stumm. Dann wendet sie sich. Ray Hutch spricht. »Lady, darf ich Sie zu Ihrer Kabine bringen? Ich glaube, Ihnen ist nicht gut. Sie werden hoffentlich nicht ohnmächtig? Es ist wohl etwas zuviel für Sie.«
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»Ja, geben Sie mir Ihren Arm. Helfen Sie mir den Niedergang hinunter und zu meiner Kabine. Es ist die Eignerkabine vorn auf der Backbordseite. Gehen wir. Ich bin im Kopf ganz schwindlig.« Ray reicht ihr seinen Arm. Und der Kapitän wendet sich an seinen Steuermann. »Also, wir dampfen wieder stromauf, Jenkins. Und wir haben einen neuen Boß. Wie schnell kann man doch eine reiche Witwe werden? Dies haben wir jetzt miterleben können, Jenkins. Sogar einen Zeugen hat sie. Ich wette, der macht sich nun an sie ran wie ein Wolf an eine fette Beute. Ob dieser Powell wirklich nur über Bord fiel - und wenn, ob er tatsächlich nicht schwimmen konnte?« »Wie wollen Sie das Gegenteil beweisen, Kapitän?« So fragt der Steuermann grinsend zurück. Indes sind Kim und Ray Hutch unten auf dem Kabinendeck angelangt. Zwei Männer erwarten sie dort. Der eine ist groß und mutet bärenhaft an. Gewiß war er einmal ein erfolgreicher Preiskämpfer. Der andere Mann wirkt fast schmächtig, jedenfalls hager und asketisch, ein Mann mit gelben, schrägen Wolfsaugen und einem schmalen, harten Mund. Dieser Mann sagt mit präziser Stimme: »Ma’am, wie konnte das geschehen?« »Er verlor das Gleichgewicht, als er sich erbrach und zu weit über die Reling beugte«, erwidert sie klirrend. Dann wendet sie sich an Ray und spricht erklärend: »Mister, diese Männer sind - nein, waren - die getreuen Begleiter meines Mannes, sozusagen seine Leibwächter, auf die er sich verlassen konnte. Nun muß ich sie wohl fragen, ob sie die Treue zu meinem Mann auf mich zu - 76 -
übertragen bereit sind. Denn ich werde an die Stelle meines Mannes treten. Habt ihr das verstanden, Chet Leone und Bug Banner?« Ray hört die Namen, und da Kim beim Nennen dieser Namen auf den Namensbesitzer deutet, weiß er, daß Chet Leone dieser zweibeinige und schrägäugige Wolf und Bug Banner der bärenhafte Bursche ist. Sie müssen vom Hauptdeck heraufgekommen sein, wo sie ihre Quartiere in den billigeren Kabinen haben, die auf diesem Dampfboot aber auch noch recht komfortabel sind und gedacht für eine immer noch wohlhabende Mittelschicht. Die beiden Männer nicken zögernd. »Und wer ist das?« So fragt Chet Leone, wobei er auf Ray deutet. »Das weiß ich selbst noch nicht, Chet«, erwidert Kim. »Das wird sich finden. Auf jeden Fall habe ich jetzt mir ergebene Getreue nötig. Euer Boß ist wahrscheinlich tot. Das ist ziemlich sicher. Und nur ich kann das große Unternehmen auf all den vielen Gebieten weiter in Gang und unter Kontrolle halten. Denn Clint hat mich stets mitgenommen, in alles eingeweiht. Ich war nicht nur seine Frau, sondern auch seine Partnerin. Ich will eure Treue.« Sie nicken beide. Chet Leone sagt: »Sie können sich auf uns verlassen, Ma’am.« Da geht sie allein weiter, läßt Ray bei ihnen zurück. Sie treten an die Reling. Die Missouri Queen nimmt wieder ihre Fahrt auf, dampft nun wieder stromaufwärts. Sie nehmen Ray in ihre Mitte. Eine Weile verharren sie so. Dann sagt Chet Leone bissig: »Und du mochtest dich bei ihr unentbehrlich machen, nicht wahr? Für dich ist sie - 77 -
eine reiche Witwe, bei der man sich einschleichen kann, nicht wahr?« »Und wenn?« So fragt Ray zurück. »Was würde es euch schaden? Wollt ihr gegen oder für mich sein? Wo liegen für euch die Vorteile? Sie wird es schwer genug haben, als Boß an die Stelle ihres Mannes zu treten. Das schafft sie gewiß nur mit Hilfe von getreuen Rittern, die ihr wie einer Königin dienen. Begreift ihr das?« Sie schweigen lange. Nur der Wind umweht sie. Und das mächtige Schaufelrad am Heck übertönt platschend und ratternd alle anderen Geräusche. »Wir werden ja sehen«, spricht Chet Leone schließlich. »Ja, wir werden sehen, ob du nur ein großmäuliger Bluffer bist oder wirklich was taugst.« »Ihr werdet schon noch herausfinden, wer ich bin.« Ray Hutch grinst. »Auch umgekehrt wird das der Fall sein. Und jetzt geht wieder nach unten.« »He, gibst du uns schon Befehle?« So grollt der bärenhafte Bug Banner, der bisher beharrlich schwieg. »Ja, gibst du uns schon Befehle?« So fragt auch Chet Leone. »So ist es«, erwidert Ray Hutch. Sie schweigen eine Weile. Und immer noch lehnen sie rechts und links von Ray über der Reling und blicken auf das Wasser nieder. Dann spuckt der bärenhafte Banner in die Strömung und murrt: »Wir sollten ihn einfach über Bord werfen, denke ich. Sollen wir, Chet?« Aber der schüttelt den Kopf. »Nein, denn er hat irgendwo ein As versteckt«, spricht er heiser. »Der ist mehr als nur ein getarnter, aalglatter Glücksjäger. He, was hast du im Ärmel?« »Nur eure Vernunft«, erwidert Ray Hutch, »nur eure Vernunft. Denn ich denke, es wird schwer genug sein für - 78 -
uns. Wenn ein König stirbt, wird fast immer in seinem Reich rebelliert. Die ganze Weltgeschichte ist voll von solchen Beispielen. Haut ab!« Immer noch zögern sie. Dann sagt Chet Leone. »Vielleicht bin ich schneller mit dem Colt als du - und vielleicht finden wir das bald heraus. Aber noch gewähren wir dir die Gunst der Bewährung. Wir finden schon noch heraus, was mit dir wirklich los ist. Gehen wir, Bug.« Sie treten von der Reling zurück, aber er läßt sich nicht täuschen von ihrer scheinbaren Friedlichkeit. Als Bug Banner ihm mit einem linken Haken - einem sogenannten ,Heumacher’ - den Kopf von den Schultern zu schlagen versucht, da duckt er unter der Faust weg und tritt dem Bullen im nächsten Sekundenbruchteil auch schon mit aller Kraft zwischen die Beine und setzt ihn so außer Gefecht. Und als Chet Leone seinen Revolver aus dem Schulterholster holt, da sticht er ihm die eigene Waffe in die Magengegend. Leone erstarrt und saugt nur noch die Luft ein. »Ich glaube, ihr beide seid wirklich zwei Nummern zu klein für mich«, sagt er ganz ruhig. »Vielleicht solltet ihr das endlich einsehen. Haut ab!« Bug Banner kann das noch nicht. Er verharrt kniend auf den Decksplanken und stöhnt erbärmlich. Dann ächzt er bitter: »Oooh, dadadas war gemein hinterhältig. Wiewie koko-konntest du mich so gegegemein dadahin treten? Wawawas ist, wenn ich nie mehr wieder eine Frau besteigen kann? Was ist, wenn ...« Er bricht stöhnend ab.
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Mit Chet Leones Hilfe kommt er endlich wieder auf die Füße. Leone muß ihn stützen und wegführen. Sie verschwinden den Niedergang zum Hauptdeck hinunter. Ray Hutch sieht ihnen eine Weile nach. Und er weiß, daß es jetzt zwischen ihm und ihnen zwei Möglichkeiten gibt. Entweder erkennen sie ihn als den Mann an, der ihnen Befehle gibt - oder sie werden ihn bei der nächsten Gelegenheit umzubringen versuchen. Er glaubt, daß sie beide auf verschiedene Weise Killer sind - Banner mit seinen Fäusten - und Leone mit seinem Revolver. Aber vielleicht ist ihre Vernunft stärker als ihr Wunsch nach Rache. Ray setzt sich nun ebenfalls in Bewegung. Als er an die Kabinentür klopft, öffnet Kimberly, seine Schwester, aus der eine äußerlich so wunderschöne Frau wurde, daß alle Männer bei ihrem Anblick Unwillkürlich den Atem anhalten. Er tritt ein. Und wieder kommt sie in seine Arme. In ihrer an seinem Ohr flüsternden Stimme ist ein jubelnder Klang. »Oh, Ray, mein großer Brüder Ray, du kannst ja noch gar nicht ermessen, was wir gewonnen haben in diesem großen Spiel. Wir müssen nur alles fest in den Griff bekommen und behalten. Und ich bin endlich frei von Clint Powell, endlich frei. Du glaubst ja gar nicht ...« Sie bricht ab und löst sich von Ray, tritt an den Tisch und füllt aus einer Karaffe aus wertvollem geschliffenem Bleikristall goldgelben Whiskey in zwei Gläser, so wie sie es oft für Clint Powell hat tun müssen. Denn er trank gern mit ihr und machte sie betrunken. - 80 -
Dann tat sie williger, was er wollte, ließ ihn nicht so stark spüren, daß sie sich überwinden mußte, weil sie keine Wahl hatte. Denn sie gehörte ihm ganz und gar. Doch dieses Schicksal teilte sie gewiß mit vielen Ehefrauen auf dieser Erde. Sie heben nun die Gläser und trinken sich zu, leeren die Gläser in einem Zug. Sie setzt das Glas hart auf den Tisch. »Er ist tot, und ich bin frei«, spricht sie kalt. »Und ich habe dich wieder gefunden, Bruder.« Sie geht zu einem der beiden Sessel und läßt sich hineinsinken, streckt die Beine aus und entledigt sich ihrer zierlichen Schuhe, schüttelt diese einfach von den Füßen. Ray nimmt ihr gegenüber Platz. »Er war nicht deine große Liebe«, murmelt er. »Nicht wahr?« Sie hebt ihre Hand und wischt sich über das so schöne Gesicht. Dann streift sie ihre schwarze Perücke vom Kopf und schüttelt ihr goldblondes Haar aus. »Er hat mir eine Menge beigebracht«, spricht sie dann. »Doch als ich dreizehn war, da mußte ich ihm zu Willen sein. Ja, er war verrückt nach mir und wußte stets, daß ich ihn nicht lieben konnte. Dreimal lief ich ihm fort. Stets brachten mich seine ausgesandten Häscher wieder zu ihm. Und dann gab es Prügel. Und dennoch erzog er mich so, daß ich äußerlich wie eine wirkliche Lady wirkte, mit der er bluffen konnte. Wir machten überall gewaltigen Eindruck. Ein reicher Mann, ein erfolgreicher Geschäftsmann und Unternehmer mit einer jungen, wunderschönen Frau. Aber ich konnte ihm nie vergessen, daß er mich damals als Mädchen gegen meinen Willen nahm - und - 81 -
daß er mich schlug. Und einige Male schickte er mich zu anderen Männern. Ich war immer wieder Seine folgsame Sklavin. »Er hat dich also zu einer Hure gemacht, wenn das für ihn von Nutzen war?« Ray fragt es hart. Aber da schüttelt Kim den Kopf und murmelt: »Nicht die ist eine Hure, die es mit allen treibt - oh, nein, sondern die, welche das Herz einer Hure hat. Basta!« Er nickt langsam. Dann fragt er: »Und was für ein Herz hast du, Schwester?« Sie starrt ihn an und zuckt mit den Schultern. »Wahrscheinlich gar keines«, murmelt sie dann. »Er hat es in mir absterben lassen. Doch jetzt ist alles anders. Ich bin frei. Und ich habe meinen großen Bruder wieder gefunden. Ray, jetzt zeigen wir es der ganzen Welt. Ich habe viel von Powell gelernt, lernen müssen. Und was ist mit dir?« »Auch ich habe kein Herz mehr«, erwidert er. »Nur noch für dich, kleine Schwester. Ja, zeigen wir es der ganzen Welt. Doch ich glaube, es wird ziemlich hart werden. Aber ich habe einen schnellen Colt - und ich ritt mit Banditen. Ich kenne mich aus in der schmutzigen Gilde auf dieser Erde. Wir werden sehen.« Er erhebt sich und zieht aus seiner Westentasche eine wertvolle Uhr. »Siehst du«, sagt er und lächelt, »auf dieses Stück bin ich besonders stolz. Die hat mal in Boston dreitausend Dollar gekostet. Ja, auch da war ich schon. Für dreitausend Dollar müssen gute Handwerker, ein Cowboy oder Flußschiffer mehr als zehn Jahre arbeiten. Aber ich kaufte diese Uhr wie nichts. Und der Brillant an meinem Finger ist echt. Dein Bruder ist kein Versager,
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Schwesterlein. Doch ich denke, es gibt noch sehr viel mehr zu holen.« Er wendet sich zur Tür, lächelt noch einmal über die Schulter zurück und tritt dann hinaus. Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hat, da verharrt Kimberly noch eine Weile im Sessel. Und in ihren Gedanken erinnert sie sich noch einmal an all die Jahre seit jenem Tag, da man sie von den Indianern wegholte. Von jenem Tage an gehörte sie Clint Powell. Wenn sie doch diese Jahre vergessen könnte! Doch das kann sie nicht. *** Als die Missouri Queen in Westport an der Landebrücke der Powell-Reederei festmacht, da steht Ray Hutch neben seiner Schwester an der Reling. Sie deutet zu den Gebäuden der Reederei hinüber und sagt: »Unser Agent hier ist ein besonders harter Bursche. Vielleicht wird er von mir keine Befehle annehmen wollen.« »Er wird«, sägt Ray und lächelt zur Seite auf seine Schwester nieder, die er um einen ganzen Kopf überragt. Kim trägt wieder ihre schwarze Perücke. Sie wirkt schöner denn je, und vielleicht hat es mit ihrer neu gewonnenen Freiheit zu tun, die alle Last und alle Sorgen von ihr abfallen ließ. Als die Gangway hinübergeschoben wird, gehen sie an Land, gefolgt von Chet Leone und Bug Banner. Pat Skinner, der Agent, erwartet sie unter dem Vordach auf der Veranda. Ein leichter Regen fällt. Es ist ein trüber Morgen am Fluß. - 83 -
Und es stinkt gewaltig in weiter Runde. Der Gestank wird von Tausenden von Büffelhäuten verursacht, die hier überall bei den Landebrücken längs der Uferstraße gestapelt wurden und auf die Verladung warten. Und ständig rollen Frachtwagen herbei und laden Büffelhäute ab, wahrscheinlich Tag und Nacht. Draußen auf der Kansas-Prärie muß das große Büffelmorden im Gange sein. Man knallt die friedlichen Tiere, welche bisher keine Feinde hatten und deshalb so arglos blieben, zu Hunderttausenden ab, nimmt nur ihre Häute und läßt die Kadaver liegen. Ganz Westport, der Flußhafen von Kansas City, stinkt zum Himmel. Pat Skinner greift vor Kim an den Hut. Doch dann fragt er: »Wo ist denn Mr. Powell, Ma’am?« Kim lächelt blitzend. Ihre sonst so vollen Lippen werden schmal dabei. Dann zuckt sie mit ihren geraden Schultern und erwidert: »Vielleicht ist er in der Hölle, Skinner. Auf jeden Fall ist er ertrunken, weil er über Bord fiel und nicht schwimmen konnte, wie ich sicher weiß. Das alles steht im Protokoll des Schiffstagebuchs. Nun haben Sie es mit mir zu tun, Skinner. Denn wie Sie wissen, bin ich Mr. Clint Powells rechtsmäßig angetraute Ehefrau.« Die Augen des Agenten Pat Skinner werden schmal. Dann richtet sich sein harter Blick auf Ray Hutch, hinter dem Leone und Banner verharren. »Und wer ist dieser Mann?« So fragt er und deutet auf Ray. Wieder lächelt Kim. Dann erwidert sie mit trügerischer Freundlichkeit: »Das ist mein Berater. Wissen Sie, Skinner, eine schwache Frau, die an die Stelle ihres verschollenen Mannes treten muß, benötigt - 84 -
gewiß einen Berater. Dies ist Mr. Ray Hutch. Und Leone und Banner kennen Sie ja, Skinner. Also, gehen wir hinein, denn ich möchte alle Bücher und Unterlagen sehen. Ich möchte mich sachkundig machen. Gehen wir hinein, Skinner.« Sie setzt sich in Bewegung, und fast hätte sie ihm auf die Zehen getreten, weil er zu spät Platz machte. Ray folgt ihr. Leone und Banner verharren draußen, stellen sich rechts und links neben die Tür. Mit geradezu komisch wirkender Einmütigkeit stecken sie sich gleichzeitig Zigarren an und beginnen zu paffen. Drinnen geht Kim schnurstracks zum Schreibtisch des Agenten und nimmt auf dessen Armstuhl Platz. Dann sieht sie Skinner fest an und spricht kalt: »Ich bin jetzt Ihr Boß, Skinner. Und wenn Sie das nicht akzeptieren können, dann müssen Sie gehen. Also?« Pat Skinner ist ein eisgrauer Bursche, ledern und gewiß sehr zäh. Er läßt an einen altgewordenen Falken denken, der das Jagen längst noch nicht verlernt hat. Er sagt: »Ma’am, ich habe hier alles fest im Griff. Kansas City und dieser Hafen sind zusammen das große Ausfalltor zum weiten Westen. Es gibt Monopolbestrebungen der gesamten Schiffsfahrt. Es bildet sich eine Vereinigung, ein Syndikat oder wie man es auch sonst noch nennen mag. Mr. Powell ließ mir hier stets freie Hand. Er wollte nur über alles informiert werden. Sie sollten mich nicht wie einen kleinen Angestellten und Untergebenen, sondern wie einen Partner behandeln, Ma’am. Sie brauchen mich viel zu sehr hier in Kansas City. Also ändern Sie bitte Ihren Ton mir gegenüber. Und dieser Berater da hat wahrscheinlich nicht die geringste - 85 -
Ahnung. Ich will nicht klarer reden, Ma’am. Sie mögen für Powell im Bett gewiß ungeheuer wertvoll gewesen sein, doch in was Sie sich jetzt einkaufen wollen, ist ein hartes Männergeschäft. Und nun raus aus meinem Sessel, Lady. Ich bin der Boß hier. Sie werden einen Anteil an den Gewinnen dieser Agentur erhalten. Aber Sie reden mir nicht in meine Angelegenheiten als hiesiger Agent hinein. Und vielleicht ist Powell nicht ertrunken, taucht wieder auf und ist mir dankbar.« Als er endet, öffnet sich eine Tür. Ein geschmeidiger Bursche gleitet in den Raum, ein dunkler Typ mit zwei Revolvern im Kreuzgurt. »Boß, werde ich hier benötigt?« So fragt er mit blinkendem Grinsen. »Vielleicht, Ringo, vielleicht«, erwidert Skinner. »Powell soll ertrunken sein. Und nun glaubt seine Witwe, daß sie der Boß wäre.« »Ist sie das, Chef?« Wieder läßt der geschmeidige Revolverschwinger seine weißen Zahnreihen blinken, und es ist, als zeigte ein schwarzer Panther seine Zähne. Er richtet seinen Blick auf Ray und fragt: »Ist das der Beschützer der schönen Witwe?« »Machen wir es kurz.« Ray Hutch grinst. »Skinner, Sie haben da einen hübschen schwarzen Panther. Soll der uns rauswerfen?« Aber Skinner, dessen Augen noch schmaler und dessen Gesicht noch härter wurden, gibt ihm keine Antwort. Skinner sieht seinen Revolvermann an und sagt kalt: »Ringo, jage ihn raus hier! Er stört!« Da grinst jener Ringo abermals blinkend und macht einige tänzerisch wirkende Schritte nach vorn, nähert sich so Ray bis auf etwa fünf Yard.
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Als er anhält, grinst er immer noch. Dabei sagt er: »Willst du es ausprobieren, mein Freund?« In seiner Stimme ist ein Klang von triefendem Hohn, und es ist sofort klar, daß er eine wilde Freude verspürt, endlich mal wieder seine Revolverschnelligkeit demonstrieren zu können. Denn auf dieses Können ist er stolz wie ein echter Künstler oder Artist, der für solch ein Erfolgserlebnis lange üben mußte. »O ja, mein Freund«, erwidert Ray Hutch freundlich, »wenn es dich so danach juckt, probiere ich es gern gegen dich.« Da stellt sich der so verwegen wirkende Ringo breitbeinig hin und hält seine Hände griffbereit hinter seine Revolverkolben. »Dann los«, spricht er. »Du kannst anfangen. Ich warte.« Ray Hutch nickt langsam. Dann murmelt er: »Ich glaube, du bist ein verdammter Narr, ein totaler Dummkopf.« Nach diesen Worten schleudert er von unten herauf das schwere Wurfmesser aus dem Ärmel, jagt es diesem Ringo eine Handbreit über der Gürtelschnalle in die Magenpartie. Die geschmeidigen Hände des Revolerschwingers hatten schon die Kolben umklammert und die Waffen leicht angelüftet in den Holstern des Kreuzgurtes. Nun lassen sie los. Und ein Staunen tritt in Ringos schwarze Augen. Dann stöhnt er vor Schmerz und stößt ein ,O Vater im Himmel’ hervor. Er senkt sein Gesicht und blickt auf den Messergriff, der aus seinem Körper ragt. »Oooh«, stöhnt er. »Was hast du mit mir gemacht?« - 87 -
»Was du verlangt hast, Ringo«, erwidert Ray Hutch. »Du sagtest, ich solle anfangen und du würdest warten. Warum sollte ich unnötigen Lärm machen? Vielleicht solltest du jetzt zu einem Doc gehen. Es gibt sicherlich einen in der Nähe. Zieh nur nicht selbst das Messer heraus. Ich schenke es dir. Und nun beiß die Zähne zusammen und geh! Oder bist du nicht hart genug? Ich bekam mal einen Indianerpfeil dorthin, wo jetzt bei dir das Messer steckt, und mußte damit noch mehr als zwanzig Meilen reiten. Lauf, mein Freund. Du hast es gewiß näher.« Ringo starrt ihn einige Sekunden wortlos an. »Was bist du für einer?« So fragt er stöhnend. »Du mußt ein Bruder des Teufels sein - ja, wahrhaftig, ein Bruder des Teufels.« Er setzt sich in Bewegung zur Vordertür, öffnet diese und tritt hinaus auf die Veranda. Chet Leone und Bug Banner sehen ihn von der Seite her an. Sie entdecken den herausragenden Messergriff über Ringos Gürtelschnalle und hören ihn auch stöhnen. Chet Leone fragt: »Nun, wirst du es schaffen, bis zum Doc, Ringo?« Aber Ringo erwidert nichts, sondern setzt sich in Bewegung. Er geht vorsichtig und hält nun den Messergriff umklammert. Ein grausam gegen sich selbst gerichteter Wille hält ihn trotz seiner Schmerzen auf den Beinen. Er will Hilfe, Rettung. Sie sehen ihm nach. Dann knurrt Chet Leone: »Das muß man diesem Ray lassen, er ist wirklich kein Pinscher, sondern ein Wolf.« Aber Bug Banner schüttelt den Kopf: »Nein, er ist kein Wolf, sondern eine Giftviper, die nicht mal mit dem Schwanz rasselt wie eine Klapperschlange, bevor er - 88 -
angreift. Er ist eine Giftviper. Vielleicht werde ich ihn bald erschlagen. Ich bin sonst immer hier in Kansas City in ein Hurenhaus gegangen. Doch jetzt ist mir nicht danach. Er hat mich zu schlimm getreten. Das vergesse ich ihm nie.« *** Indes sehen sich drinnen Pat Skinner und Kim Powell an. »Nun, Skinner?« So fragt sie kühl. Er nimmt seinen Blick von ihr und starrt auf Ray Hutch. Als er wieder auf Kim blickt, hebt er leicht seine Hände und zeigt ihr die Handflächen. »Also gut«, spricht er heiser, »ich unterwerfe mich. Sie treten an die Stelle Ihres Mannes. Ich werde Sie über alles genau informieren und stets auf dem laufenden halten.« Sie nickt. »Machen Sie nur keinen Fehler mehr, Skinner«, sagt sie und lächelt. »Selbst wenn ich nicht mehr hier bin, werden Sie stets unter Beobachtung bleiben. Und nun informieren Sie mich. Dann will ich alle Leute sprechen, die hier auf der Lohnliste stehen auch den geringsten Helfer. Sie werden herausfinden, Skinner, daß ich sehr schnell lerne.« Ray Hutch wendet sich ab und geht hinaus, überläßt nun alles seiner Schwester. Als er auf die Veranda tritt, regnet es immer noch. Chet Leone sagt: »Das ist kein guter Tag für Ringo Seattle.«
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»Nein«, erwidert Ray Hutch knapp und geht davon. »Ihr bleibt bei Mrs. Powell«, ruft er nach einigen Schritten aus dem Regen zurück. »Wohin mag er gehen?« fragt Bug Banner. »Vielleicht kauft er sich ein neues Messer«, knurrt Chet Leone. »Denn sein bisheriges Messer hat er ja wohl Ringo geschenkt - oder?« *** Ray Hutch weiß zu gut, was jetzt vor allem notwendig ist. Zwar haben sich Chet Leone und Bug Banner scheinbar unterworfen und erkennen ihn als den Mann an, der ihnen Befehle gibt und für Kim Powell zum Ratgeber und Beschützer wurde, doch er weiß zu gut, daß er sich nicht wirklich auf sie verlassen kann. Er hat sie zu hart zurechtgestutzt. Also muß er für sich und Kim eine kleine Mannschaft zusammensuchen, auf die sie sich wirklich verlassen können, ganz besonders dann, wenn sie weiter den Strom hinaufdampfen und dorthin kommen, wo es kein Gesetz mehr gibt. Er weiß auch, daß hier auf dem großen Strom immerzu um Monopole gekämpft wird. Ray Hutch war schon oft in Westport, auch drüben in der City. Er, kennt hier einige harte Burschen, auf die er sich verlassen können wird, wenn er ihnen gute Dollars zahlt. Aber das ist noch nicht alles. Er muß einige Männer anwerben, die wie die Detektive der PinkertonAgentur für ihn im Verborgenen arbeiten, sich nicht zu erkennen geben und dennoch alles erfahren und berichten.
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Kim, seine ehrgeizige Schwester, mag eine Menge von Powells Unternehmungen wissen und auch die Zusammenhänge des Powell-Imperiums einigermaßen begriffen haben. Doch es fehlt sehr viel mehr. Auch andere Männer werden sich, wie der Agent Pat Skinner, erst einmal gegen Kim auflehnen. Sie alle müssen sozusagen im Auge behalten werden. Sie könnten betrügen, in die eigene Tasche wirtschaften oder sich mit jener Gilde verbünden, die das ganz große Monopol auf allen Strömen zwischen New Orleans und Fort Benton anstrebt, also auf dem Mississippi, dem Ohio, dem Missouri und den anderen Strömen, wo man die Fracht- und Passagierpreise bestimmen kann, wenn es keine Konkurrenz mehr gibt. Eine Pferdedroschke kommt im Regen vorbei. Ray Hutch hält sie an und steigt ein. Er muß sich in der Stadt auf die Suche machen nach alten Kumpanen und geeigneten Leuten. Ja, er muß für Kim und sich eine eigene und sehr effektive Organisation aufbauen. Er denkt immer wieder: Oho, kleine Schwester, wir werden gut zusammenarbeiten. Du erledigst die geschäftlichen Angelegenheiten - und ich mache Druck, räume alle Hindernisse weg, mache dir den Weg frei. Wir schaffen noch Großes. *** Es ist am späten Abend des Tages - und der Regen fällt immer noch vom Himmel -, als sich die Geschwister in der großen Eignerkabine vom schwarzen Steward George das Abendessen auftischen lassen. Kim Powell
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fragt plötzlich: »George, nun bin ich die Chefin über alles. Was sagst du dazu? Laß es mich hören.« Der riesige Schwarze hat ihr soeben das Fleisch aufgelegt und ist dabei, roten Wein zum Rehbraten einzugießen. Nun hält er inne. »Lady«, spricht er mit seiner sonoren Stimme. »Sie wissen doch längst, daß George für Sie durch das Feuer gehen würde. Ich bin nur ein Nigger, ein verdammter Nigger aus dem Süden, der als Sklave fortlief, um für die Union zu kämpfen. Aber auch ein verdammter Nigger weiß die Schönheit zu verehren. Ich bin Ihr ergebener Diener, Lady.« Sie nickt dankend. Nun fragt Ray: »George, hast du viele Sklavenhalter getötet während des Krieges, als du Soldat der Union warst?« George sieht ihn fest an. »Viele«, verrät er. »Und - hat es sich gelohnt, George?« Ray fragt es mit einem Klang von Sarkasmus in der Stimme. Da schüttelt George den Kopf. »Nein«, spricht er, »der verdammte Nigger ist immer noch ein verdammter Nigger. Und der ganze Krieg war von den Nordstaaten eine Heuchelei. Der wurde sehr viel mehr aus wirtschaftlichen Gründen geführt. Ein Sklavenhalter mit zweihundert Sklaven wurde schneller reich als ein armer Farmer mit sieben Kindern.« Er füllt nun endlich die Gläser. Kim sieht den Bruder an. »Siehst du«, sagt sie, »so ist das auf der Erde. Jeder denkt an die eigenen Vorteile und heuchelt den anderen Ideale vor. Ich kann mich also auf dich verlassen, George?« Da hebt dieser wie zum Schwur die Rechte. »Ich schwöre es«, spricht er. - 92 -
Er verläßt nun die große Kabine. Kim und Ray sind allein. »Wir schaffen es, Schwester«, verspricht Ray. »Ich habe jetzt eine kleine Mannschaft zusammen. Sie werden sich stets zurückhalten. Hier an Bord fahren einige als Passagiere getarnt. Andere werden wie PinkertonDetektive agieren. Bald haben wir überall welche stationiert. Sie fahren auch auf anderen Schiffen der Powell Linie. Wir werden ein gutes Nachrichtensystem bekommen und stets informiert sein. Zum Glück haben wir genug Geld. Ich habe eine Menge Vorschüsse zahlen müssen. Mein Geldgürtel ist fast leer, ganz zu schweigen von meinen Taschen.« Er deutet auf den Geldschrank in der Ecke der Kabine. »Mach ihn auf - oder weißt du nicht, wie man ihn aufbekommt?« Da lächelt Kim. »Es ist ein Zahlenschloß«, erwidert sie dann. »Ich habe immer gewußt, welche Zahlen Powell einstellte. Es ist eine Menge Geld drin. Und wir nehmen ja auch ständig was ein. Aus Skinners Geldschrank in der Agentur nahm ich dreißigtausend Dollar mit an Bord. Und in diesem Geldschrank lagen schon fünfzigtausend. Geld ist Macht. Wir sind mächtig, Bruder. Und wenn ich nicht deine Schwester wäre, würde ich mit dir ins Bett gehen. Wie hältst du es mit den Frauen?« Sein Blick wirkt plötzlich wie verhangen, nach innen gerichtet. Dann murmelt er: »Als ich noch ein Junge war, brachte mir eine Hure alles bei. Sie war mit einem Mann verheiratet, der sie aus einem Hurenhaus geholt hatte. Doch sie dankte es ihm nicht. Ich mußte ihn dann töten, weil er sonst mich getötet hätte. Dadurch wurde sie eine - 93 -
reiche Witwe, so wie du, Schwester. Manchmal wiederholt sich alles im Leben. Ich würde niemals wieder einer Frau vertrauen, Schwester.« »Auch mir nicht?« »Du bist für mich keine Frau, du bist meine Schwester. Und du könntest ebensogut auch mein Bruder sein. Das würde nichts ändern.« Sie sieht ihn staunend an. Dann murmelt sie: »Diese Frau, die eine Hure war und dennoch geheiratet wurde, muß dir damals sehr weh getan haben, Bruder. Ich könnte dir niemals weh tun. Aber ist dir klar, daß wir beide nicht nur Geschwister sind, sondern auch Geschwister des Teufels wurden?« Er nickt langsam. »Ja, so ist es wohl. Ein uns böse gestimmtes Schicksal hat uns verdorben.« *** Als Clint Powell von Ray Hutch mit einem Messerstich im Rücken über Bord geworfen wurde, da hatte er eigentlich nicht die geringste Chance. Denn er kann tatsächlich nicht schwimmen. Er ist gewissermaßen zum Ertrinken verurteilt. Der Schmerz seiner Wunde und auch das kalte Wasser des Stromes verhindern bei ihm eine Bewußtlosigkeit. Und noch etwas kommt hinzu. In seiner Kleidung sind noch einige Luftpolster, die ihn tragen, so daß er wieder an die Oberfläche kommt und noch nicht absackt. Natürlich kämpft er auch verzweifelt. Denn wer will schon ohne jede Gegenwehr in einem Fluß ertrinken? Die Wellen sind ziemlich hoch, besonders im Heckwasser, welches vom Schaufelrad aufgewirbelt - 94 -
wird. Clint Powell schluckt eine Menge Missouriwasser. Die Strömung hat ihn voll erfaßt und trägt ihn talwärts. Seine Gedanken sind unwahrscheinlich klar. Er denkt immer wieder: Ich werde absaufen. Verdammt, wie lange kann ich mich noch halten? Er spürt, wie seine Kleidung naß und schwer wird. Gewiß schwinden auch die Luftpolster. Er weiß, daß er in den nächsten Sekunden untertauchen und nicht mehr hochkommen wird. Wäre er ein einigermaßen guter Schwimmer, so könnte er sich seiner Jacke und gewiß auch seiner Stiefel entledigen. Doch auf diese Idee kommt er gar nicht. Und nun geschieht in diesen Sekunden das Wunder. Ja, es ist wie ein Wunder, vielleicht auch eine gnädige Laune des Schicksals, das ja so oft mit den Menschen spielt. Es ist ein Baumstamm, der in der Strömung treibt. Clint Powell bekommt ihn blindlings zu fassen. Es ist ein Baumstamm, der sich gewiß irgendwo von einem Floß löste, das vielleicht viele Meilen stromauf auf eine Untiefe rammte. Treibende Baumstämme sind zu jeder Sekunde auf diesem Strom eine große Gefahr für alle Schiffe. Und solch einen Stamm bekommt Clint Powell zu fassen. Es gelingt ihm, sich mit dem Oberkörper über den Stamm zu ziehen. Dann muß er sich erbrechen. Eine Menge Missouriwasser gibt er von sich mit dem anderen Inhalt seines Magens. Einige Male wollen ihm die Sinne schwinden, doch er kämpft erfolgreich dagegen an. Der Schmerz seiner Messerwunde hilft ihm dabei.
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Er denkt triumphierend: Noch bin ich nicht erledigt. Und eine Messerwunde blutet niemals so stark wie Kugellöcher. Ich schaffe es, oho, ich schaffe es gewiß! Doch wo wird mich dieser verdammte Strom an Land spucken, wo werde ich angetrieben? Er weiß ja, daß er aus eigener Kraft das Ufer nicht erreichen kann. Sobald er den Stamm losläßt, wird er ertrinken. Er kann diesen Baumstamm auch nicht dirigieren. Dies könnte nur ein Schwimmer mit kräftigen Beinstößen. Und so fragt er sich, wie viele Meilen er noch abgetrieben werden wird. Es kommen in ihm nun andere Gedanken. Immer wieder denkt er böse: Dieses verdammte Miststück. Nun glaubt sie, daß sie mich losgeworden ist. Dreimal lief sie mir weg. Diesmal versuchte sie es auf andere Weise. Sie hat sich einen Killer besorgt. Nun glaubt sie, frei zu sein, ganz und gar eine Gewinnerin. Aber sie soll sich noch wundern, gewaltig wundern. Denn ich werde nicht ersaufen in diesem verdammten Big Muddy. Nein, ich schaffe es. Und dann beginnt die Jagd. Kimberly, ich werde dich furchtbar bestrafen! Immer dann, wenn er den letzten Satz in seinen Gedanken wiederholt, ist es wie ein innerlicher Schrei. Doch bald überdecken die Sorgen seine Rachegedanken. Denn er spürt, wie er schwächer wird. Immer noch treibt er im Strom, liegt mit dem Oberkörper quer über dem Stamm, läßt die Beine und den Unterkörper schleifen und stabilisiert so den Stamm, verhindert ein Rollen. Ihm wird übel. Und die Wunde im Rücken schmerzt. Manchmal verliert er das Gefühl der Zeit.
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Und dann wieder fragt er sich, wie lange er schon im Strom treibt, wie viele Meilen er schon talwärts sauste mit etwa sechs Meilen in der Stunde. Denn so stark ist die Strömung hier. Dort, wo die Ufer näher zusammentreten, ist die Strömung sogar noch stärker und schneller. Der gewaltige Druck von oben - er kommt ja von Montana her - preßt den Missouri durch sein sich windendes Bett. Und dann endlich - Clint Powell weiß nicht, wie lange er trieb - gerät der treibende Stamm vor einer Landzunge mit ihm in das ruhige Wasser einer Bucht. Hier dreht der Strom, und vielleicht hätte ihn das Gegenwasser in der Bucht wieder in die Strömung getrieben, wenn er nicht versucht haben würde, Grund unter die Füße zu bekommen. Und er findet Grund. Das Wasser reicht ihm nur bis unter die Achselhöhlen. Er watet an Land und bricht vor den dichten Büschen zusammen. Sein Rücken brennt und schmerzt. Die Messerwunde muß wahrhaftig böse sein. Doch er kann sie nicht erreichen, geschweige denn sehen. Er kann nur auf dem Bauch liegen und Kräfte sammeln. Bald fällt er in einen tiefen Schlaf der Erschöpfung. Vielleicht ist es sogar eine Ohnmacht. Er war stets ein harter Bursche. Viele Nichtschwimmer wären an seiner Stelle ertrunken. Aber er liegt jetzt auf sicherem Land. Und er weiß noch nicht, daß sein Leiden länger dauern wird. Als er erwacht, geschieht dies nur für einen Augenblick, und er begreift noch nichts, hat auch keine Erinnerungen. Er spürt nur eins: Jemand gibt ihm etwas zu trinken. Und eine Stimme sagt: »Jetzt ist er da.« - 97 -
Die Stimme sagt noch mehr, aber er kann es nicht verstehen. Er schluckt einige Löffel eines Getränkes und weiß nicht, ob es Tee, Wasser oder eine Suppe ist. Er fällt wieder in tiefe Bewußtlosigkeit, versinkt sozusagen in bodenlose Tiefen. Doch irgendwie in seinem Unterbewußtsein ist die Gewißheit, daß jemand sich um ihn kümmert. Vielleicht hilft ihm dieses Gefühl. Er erwacht in den nächsten Tagen noch mehrmals kurz, aber er begreift nicht viel davon. Denn er liegt im schweren Wundfieber. Die Messerwunde hatte sich böse entzündet und sein Blut vergiftet. Irgendwann aber ist er wach mit klarer werdendem Verstand. Er ist fieberfrei, doch sehr schwach. Wieder sagt jene Stimme neben ihm: »Jetzt ist er da.« Ja, es sind die gleichen Worte, und die Stimme ist fistelnd. Es ist die Stimme einer alten Frau. Als sein Blick klarer wird und er die Sprecherin erkennen kann, da glaubt er wahrhaftig, daß er nun doch in der Hölle ist und des Teufels Großmutter sieht. Die Alte lächelt auf ihn nieder und zeigt dabei einen einzigen Zahn zwischen ihren Lippen. Er starrt in die Augen der Alten. Es sind gute, himmelblaue Augen. Nun tauchen zu seinen Seiten noch mehr Köpfe auf. Er begreift, daß eine ganze Sippe um ihn versammelt ist. Sie hocken um ihn herum wie Raben jeden Alters um einen halbtoten Fisch. Aber sie werden nicht auf ihm herumhacken - nein, sie haben sich um ihn gekümmert. Ein Männergesicht beugt sich zu ihm nieder. Es ist ein Halbblutmann, dies wird ihm sofort klar. Dieser Mann mag etwa in seinem Alter sein. Er sagt: »Mister, du hast - 98 -
mächtig Glück gehabt. Und weil du eine so wunderschöne Taschenuhr mit einer dicken Goldkette bei dir hattest, haben wir uns um dich gekümmert. Rosebud hat dich gesund gemacht mit guten Heilkräutern. Jetzt gehört die Uhr uns. Aber sie geht nicht. Es kam Wasser rein. Dennoch ist sie gewiß wertvoll genug.« Der Sprecher grinst breit. »Und da wären auch noch deine beiden Ringe«, spricht er weiter. »Die nehmen wir dafür, daß wir dich pflegen, bis du wieder selbst für dich sorgen kannst. Gut so? Oder hast du Einwände?« »Nein«, erwidert Clint Powell. »Auch das Geld in meinen Taschen könnt ihr behalten. Oder war das Papiergeld zu aufgeweicht?« »War es«, grinst der Mann. »Das ganze Papiergeld war Pampe. Nur die paar Dollars Hartgeld konnten wir gebrauchen. Wo sollen wir dich hinbringen, Mister? Du bist gewiß ein wichtiger Bursche. Deine Kleidung war teuer. Sie müssen dich von einem Dampfboot geworfen haben. Bist du ein Spieler, den sie beim Falschspiel erwischt haben?« Clint Powell denkt eine Weile nach, versucht sich vorzustellen, was Kim mit diesem blonden Killer, der ihm so übel mitspielte, in Gang gebracht haben könnte. Und da wird ihm klar, daß sie von Kansas City an stromaufwärts alles unter Kontrolle haben könnten. Ja, er glaubt Kim gut genug zu kennen, um sich vorstellen zu können, wie sie ihr ,Erbe’ in Besitz genommen hat. Und so sagt er nach einer langen Weile des Nachdenkens: »Wenn ihr mich nach Saint Louis hinunterbringen könnt, dann bekommt ihr tausend Dollar.«
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»Zweitausend«, sagt der Halbblutmann. »Ich habe für eine große Sippe zu sorgen. Wir sind nur arme Fischer am Strom. Zweitausend. Wir haben ein Kielboot und könnten uns in etwa zwei Tagen und Nächten nach Saint Louis abwärtstreiben lassen. Doch wie kommen wir wieder stromauf zu unseren Hütten hier?« *** Als der Mann dies sagt, da wird Clint Powell sich erst bewußt, daß er auf einem recht weichen Lager in einer Hütte liegt. »Ich zahle zweitausend Dollar«, spricht er. »Und weil ich eine Reederei besitze in Saint Louis, lasse ich euer Kielboot von einer Dampfbarkasse wieder bis hierher schleppen. Ihr könnt das Kielboot auch vollbeladen mit Waren aus meinen Magazinen. Deshalb werdet ihr gut durch den Winter kommen. Aber ich muß so schnell wie möglich nach Saint Louis. Habt ihr nicht endlich was zu essen für mich? Ich habe einen Wolf im Magen. Wie lange bin ich schon in eurer Pflege?« »Länger als eine Woche«, erwidert der Halbblutmann. »Und natürlich gibt es etwas zu essen. Großmutter Rosebud hat extra für dich eine besondere Fleischsuppe mit Kräutern gekocht. Wir schaffen dich nach Saint Louis.« Es ist drei Tage später an einem späten Nachmittag, als Clint Powell das Office der Hauptagentur der PowellReederei betritt. Sein hiesiger Manager und die beiden Angestellten im Office springen hoch von ihren Sitzen, als wären sie gestochen worden. Und dann staunen sie. - 100 -
Dann spricht der Agent: »Sir, Sie sollen doch ertrunken sein. Es kam Nachricht mit einem Dampfboot aus Kansas City. Sie sollen über Bord gefallen und ertrunken sein. Und Ihre Frau führt jetzt alle Geschäfte. Hier, ich erhielt ihre schriftlichen Anweisungen mit dem letzten Postdampfer.« Der Agent hebt ein Blatt Papier von seinem Schreibtisch und hält es in die Höhe. Clint Powell grinst. Er bewegt sich noch recht müde und schwach. Und er hat gewiß einige Kilo an Gewicht verloren. Seine arg ramponierte Kleidung schlottert ihm um den Körper. Man sieht ihm an, daß er krank war und Schlimmes hinter sich brachte. Doch in seinen Augen ist die Härte eines gelbgrauen Flintsteins. »Es gibt Arbeit«, spricht er. Er deutet mit dem Daumen zurück über seine Schulter. Denn hinter ihm trat der Halbblutmarm ein. »Dies ist Catfish Pete«, sagt Clint Powell. »Er bekommt zweitausend Dollar. Morgen kann er in unseren Magazinen aussuchen, was sein Kielboot tragen kann. Und dann wird dieses Kielboot von einer unseren Dampfbarkassen stromauf geschleppt bis zu einem Platz, den Catfish Pete bestimmt. Ich lege mich jetzt in meinem Arbeitszimmer eine Weile hin. Aus dem Restaurant des River Hotels soll man mir ein Abendbrot herüberbringen. Alles klar?« »Yes, Sir«, erwidert der Manager. Powell wendet sich noch einmal Catfish Pete zu. »Du kannst immer zu mir kommen, Pete«, spricht er, »wenn du irgendwelche Probleme hier am Strom hast.«
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Nach diesen Worten geht er auf eine Tür zu, hinter der sich sein Arbeitszimmer und anschließend das Wohnund Schlafzimmer befinden. Er verschwindet durch die Tür. Die drei Männer im Office starren auf den Halbblutmann Catfish Pete. »Du hast dir die Dankbarkeit eines mächtigen Mannes erworben«, spricht der Manager. »Wenn du klug bist, dann überstrapazierst du das nicht. Bleib stets fair. Dann kannst du auf Mr. Powell zählen.« »Ich weiß.« Catfish Pete grinst. »Ich weiß. Er ist ein nobler Mann. Aber das bin ich auch.« *** Es ist zwei Tage später, als die Eagle -ein kleines, aber sehr starkes Dampfboot der Powell Linie - aus der Werft zur Landebrücke der Reederei verholt wird. Die Eagle ist total überholt worden, und eigentlich ist sie ein kleines Kriegsschiff mit zwei Kanonen. Auch damit ist sie in der Werft ausgerüstet worden. Sie soll die Dampfboote der Powell-Reederei auf dem Oberen Missouri schützen, wo noch Indianerland ist und es auch Flußpiraten gibt, die sich aus den Geächteten vieler Stämme, aber auch weißen Renegaten und Deserteuren zusammensetzen. Dort oben in Montana ist der Strom nicht nur wegen seiner Untiefen und der treibenden Hindernisse gefährlich. Am Oberen Missouri herrscht Krieg. Besonders die Dampfboote aus den Goldfundgebieten werden oft angegriffen, weil sie fast immer Gold transportieren, auch heimkehrende Goldgräber mit ihrer Ausbeute.
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Clint Powell geht mit einem Dutzend sorgfältig ausgewählter Männer an Bord. Er hat sich auch während der beiden Tage und Nächte recht gut erholt. Seine Gesundung macht nun fast stündlich Fortschritte. In seinem Kern spürt er ständig ein heißes Feuer, und manchmal kann er seine Ungeduld kaum noch beherrschen. Ja, er will Rache. Er will Kim bestrafen. Und er will diesen blonden Killer haben, der ihn mit dem Messer fast umbrachte und auch noch über Bord warf. Immer dann, wenn ihm die Ungeduld zu sehr zusetzt, sagt er sich in seinen Gedanken: Nur ruhig, Clint Powell, nur ruhig bleiben, mein Junge! Ich bekomme sie. Oh, ja, ich bekomme sie beide ganz gewiß. Denn obwohl sie nun mehr als zwei Wochen Vorsprung haben und gewiß eine Menge in Gang bringen konnten, können sie mir nicht entkommen. Denn bei Fort Benton geht es nicht mehr weiter. Irgendwo müssen sie sich stellen. Wahrscheinlich haben sie eine gute Mannschaft. Doch meine wird besser sein. Und noch einen Vorteil habe ich. Kim und dieser blonde Hurensohn halten mich für tot. Die werden sich wundern. Dies also sind seine Gedanken. Aber als die Eagle dann ablegt, da sorgt er dafür, daß sie stets mit voller Kraft den Strom hinaufjagt. Und irgendwie kommt er sich wie ein Racheteufel aus der Hölle vor. Manchmal, wenn er in den Strom spuckt, denkt er daran, daß er fast darin ertrunken wäre. Und dann spuckt er zumeist noch mal hinein, so als könnte er so seine Verachtung deutlicher machen. Und dann fragt er sich auch, ob er nicht doch bei der nächsten Gelegenheit das Schwimmen lernen sollte.
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Denn er wurde ja ein Reeder, lebt am Strom, fährt auf eigenen Schiffen. Ja, er sollte wirklich schwimmen lernen. *** Es passiert dann etwa achtzig Stunden später, keine zehn Meilen mehr von Kansas City und dem Flußhafen Westport entfernt, daß die Eagle im Morgengrauen gegen einen treibenden Baumstamm rammt und ein großes Loch bekommt. Sie müssen das Dampfboot zum sandigen Ufer lenken und dort aufsetzen lassen. Clint Powell möchte brüllen, toben, sich irgendwie Luft machen. Doch dann begreift er, daß er gegen die Launen des Schicksals machtlos ist. Ein Baumstamm rettete ihm vor fast drei Wochen das Leben, bewahrte ihn vor dem Ertrinken - und jetzt sorgt solch ein treibender Stamm dafür, daß er aufgehalten wird und der Vorsprurig von Kim und dem blonden Killer noch größer wird. Natürlich kann man das Leck reparieren. Er wird von einer Werft in Westport Hilfe kommen lassen. Aber das alles kann eine ganze Woche dauern. Man muß ja mit Hebebäumen das Vorschiff der Eagle aus dem Wasser heben. Das kann sie mit ihrer eigenen Dampfwinde tun. Doch die Reparatur dauert gewiß. Man muß aus Westport Zimmerleute und Material herschaffen, und das wird Zeit brauchen. Clint Powell bezwingt also seine wilde Ungeduld und schickt Männer an Land. Denn es muß hier Farmen in der
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Nähe geben, wo man zumindest ein Pferd bekommen kann. Und dann wird er selbst die zehn Meilen nach Westport reiten und dort eine Menge in Gang bringen. Etwa zwei Stunden später ist er unterwegs. Und da seine ausgesandten Männer drei Pferde brachten, hat er noch zwei Begleiter mit dabei, zwei schnelle Revol verschwinger, auf die er sich verlassen kann, weil er sie gut bezahlt. Es ist dann Abend, als sie die Lichter des Flußhafens sichten. Wenig später halten sie vor der Agentur an. Pat Skinner, der Agent, will soeben das Haupthaus verlassen, um zum Abendbrot zu gehen. Als er Clint Powell im Laternenschein absitzen sieht, da zuckt er zusammen. »Heiliger Rauch«, keucht er, »sind Sie das, Sir! Aber Sie wurden doch für tot erklärt. Was ist das für ein Spiel, das Ihre Frau ...« »Ein böses Spiel«, unterbricht ihn Powell. »Doch ich spiele wieder mit, Skinner. Berichten Sie mir alles bis auf die kleinsten Kleinigkeiten. Und eine Werft müssen wir einschalten. Ich sitze mit der Eagle zehn Meilen stromabwärts fest mit einem Leck. Skinner, es gibt Arbeit.« Pat Skinner grinst mit seinen langen, gelben Zähnen. Dann spricht er. »Sie hat einen Burschen bei sich, der Ringo mit dem Messer erledigt hat. Aber er ist gewiß auch ein sehr schneller Revolvermann, ein richtiger Killer. Er warf Ringo das Messer in den Leib und sagte dann kalt zu ihm, er solle zum Doc gehen und sich von diesem
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das Messer herausnehmen lassen. Denn er würde ihm das Messer schenken. Er ist ein eiskalter Killer.« »Ich erwische ihn«, erwidert Clint Powell. »Und nun erzählen Sie alles noch mal ganz genau, Skinner.« Er geht an Skinner vorbei ins Office, setzt sich hinter Skinners Schreibtisch und faltet auf der Platte die Hände. Und indes Skinner ihm nochmals alles haarklein berichtet, wandern Powells Gedanken Jahre zurück. Damals führte er eine Bande von Deserteuren, Geächteten und Banditen, welche sich als Goldgräber versuchten. Und weil ihnen die Vorräte ausgingen, überfielen sie eine Indianersippe, erbeuteten so deren Wintervorräte. Und er, Clint Powell, erbeutete damals gewissermaßen dieses blonde Mädchen. Von Anfang an war er wie verzaubert von ihr, besonders von ihren blauen Augen. Sie wurde sein Besitz, ja, er zwang sie, beherrschte sie und brachte ihr eine Menge bei. Und sein Glück hielt an, denn er und seine Bande fanden damals in jenem Tal eine Menge Gold. Später dann, im Frühling, kämpften sie untereinander um dieses Gold wie hungrige Wölfe um einen Elch. Er und einige Getreue blieben Sieger. Sie nahmen das Gold und gingen ihrer Wege. Der Krieg brach aus. Er, Clint Powell, blieb am Missouri und schuf sich ein kleines Imperium. Und jetzt will ihm dieses verdammte Miststück, welches es bei ihm so gut hatte, alles wegnehmen - als seine Witwe. All dies geht ihm durch den Kopf, indes er Skinners Bericht hört. Immer wieder denkt er: Ich werde sie überraschen wie ein Teufel aus der Hölle. - 106 -
*** Um diese Zeit weilen Kim und Ray schon eine ganze Weile gar nicht so weit von Kansas City weg in Omaha. Der Ort ist noch ein kleines Nest, und der Name stammt aus dem Sioux-Wortschatz und bedeutet so viel wie ,Jene die gegen den Wind gehen’. In Omaha weiß zu dieser Zeit noch niemand, daß diesem kleinen Ort Großes bevorsteht. Von Kansas City sind es nur zweihundertvierzig Meilen bis nach Omaha. Es ist etwa zweieinhalb Wochen her, daß die Missouri Queen in Omaha anlegte und die Geschwister mit ihren ständigen Begleitern, Chet Leone und Bug Banner, an Land gingen. Die Missouri Queen soll hier nicht lange festmachen. Es will auch von den Passagieren sonst niemand an Land. Sie blicken vom Schiff aus ziemlich verächtlich auf das Nest am großen Strom. Es ist ein Ort der Büffeljäger, Trapper und Händler. Und eine Fähre führt über den Strom. Diese Fähre gehört zur Powell Line, wie auch der Holzplatz und der große Generalstore. Und noch etwas gehört der Powell Line, nämlich der Saloon, in dem es ein halbes Dutzend Mädchen gibt, mit denen die Trapper und Büffeljäger für fünf Dollar auf die Zimmer gehen können. Der Saloon wird von Mrs. Bulldog geleitet, einer Riesin von sechs Fuß Größe und dreihundert Pfund Lebendgewicht. Als sie wenig später von Kim Powell-Hutch hört, daß diese nun Witwe ist und die Leitung der Powell Line übernommen hat, da verstehen sich die beiden Frauen - 107 -
sofort auf Anhieb. Sie kannten sich ja zuvor schon. Doch jetzt ist sofort eine schwesterliche Übereinstimmung zwischen ihnen. »Es freut mich, Chefin, daß Sie es als Frau den Männern zeigen wollen«, spricht Mrs. Bulldog mit ihrer seltsam hohen Stimme, die so gar nicht zu ihrer gewaltigen Erscheinung paßt. Und sie fügt hinzu: »Irre ich mich, oder sind Sie gar nicht so sehr traurig als Witwe?« »Sie irren sich nicht, Daisy«, erwidert Kim. »Aber jetzt möchte ich die Bücher sehen und die Einnahmen mit den Ausgaben vergleichen können.« »Sicher, Chefin, sicher.« Mrs. Bulldog lacht. »Sie werden zufrieden sein. Denn in diesem traurigen Nest gibt es nur in diesem Hause Zerstreuung für all die Stinker, die hierherkommen, um etwas zu erleben. Unsere Mädchen sind sehr tüchtig. Und auch das Feuerwasser fließt. In der Spielhalle machen wir guten Gewinn. Ich war bis jetzt mit zehn Prozent beteiligt.« »Jetzt sind Sie es mit zwanzig Prozent, Daisy. Und das hier ist Mr. Ray Hutch, mein persönlicher Berater.« Die massige Mrs. Bulldog grinst breit. Dann hebt sie den Daumen und spricht langsam Wort für Wort: »Ich habe Ihnen etwas zu berichten, Chefin, was Sie gewiß veranlassen wird, meine Beteiligung noch etwas zu erhöhen.« »Dann lassen Sie hören, Daisy.« Diese blickt auf Ray Hutch. »Es ist noch ein Geheimnis«, spricht sie dann leise. »Sind Sie sich dieses Beraters völlig sicher, Chefin?« »Als wäre er mein eigener Bruder«, erwidert Kimberly Powell-Hutch. »Ja, als wäre er mein Bruder.« »Dann kommen Sie mit hinauf.« - 108 -
Die massige Frau wendet sich, und als sie nach oben gehen, da ächzt und knarrt die Treppe unter ihrem Gewicht. Sie betreten eines der Zimmer, in denen die Mädchen das verkaufen, was sie Liebe nennen. Ein Mädchen sitzt auf dem Bettrand, und auf dem Bett liegt ein Mann im roten Unterzeug. »Der wird nicht mehr«, spricht das Mädchen und erhebt sich. »Der hat sich bei mir so sehr angestrengt und verausgabt, dass etwas in ihm kaputtgegangen sein muß. Vielleicht sind ihm irgendwelche wichtigen Adern geplatzt. Wir werden ihn bald beerdigen müssen.« Das Mädchen ist rothaarig und hat grüne Augen. Früher mag sie einmal recht hübsch gewesen sein, doch jetzt wirkt sie verbraucht und älter, als sie wahrscheinlich an Jahren wirklich ist. Mrs. Bulldog deutet auf den stöhnenden Mann. »Der da ist ein Vermessungsingenieur. Er hat eine Ledertasche mit Plänen bei sich. Und in seiner Trunkenheit hat er auch noch mit dem Mädchen geredet. Chefin, für mich steht fest, daß dieser Mann da ein sehr wichtiger Mann ist, der seinen Job getan hat - einen wichtigen Job! - und nun so richtig feiern wollte. Ich verstehe nicht sehr viel von Vermessungsplänen. Diese da in der Tasche sind zweifellos Zweitschriften - oder wie man das nennen mag. Und überdies führte er ein Tagebuch. In diesem Tagebuch steht, daß er nun die Trasse der Pacific Railway festgelegt hätte und die Originalpläne mit allen Ergänzungen und Berichten unterwegs nach dem Hauptquartier der Planungsabteilung wären. Und nun - so steht weiter in diesem Tagebuch - könnten sie ihn alle mal, denn er
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würde die nächsten Tage und Nächte mit einer Hure im Bett verbringen.« Mrs. Daisy Bulldog macht nach diesen Worten nur eine kleine Pause, holt dann tief Luft und spricht gewichtig Wort für Wort: »Omaha wird Eisenbahnstadt. Die Union Pacific wird ihre Trasse von Omaha über Cheyenne und Fort Laramie nach Westen treiben. Dieses verdammte Drecksnest hier wird aufgehen wie Hefeteig. Bald haben wir hier nicht nur Büffeljäger, Trapper, Indianer und manchmal auch Soldaten und Siedler, nein, wir werden hier ein Gewimmel haben wie beim Bau der Pyramiden oder beim Wiederaufbau von Babylon. Omaha wird platzen. Und ich könnte bald ein halbes Hundert Mädchen und ein sehr viel größeres Haus in Gang halten.« Nach diesen Worten hat sie alles gesagt und deutet auf den stöhnend atmenden Mann auf dem Bett. »Der ist ein Glück für Omaha, Chefin.« Kim Powell-Hutch staunt - und sie staunt auch über Mrs. Bulldogs Bildung. Denn was diese soeben über Babylon sagte, ist zumindest ein Zeichen von Belesenheit. Dann aber fragt Kim: »Ist dieser Mann allein in Omaha?« Mrs. Bulldog schüttelt den Kopf. »Da war eine ganze Mannschaft hier. Alles Landvermesser. Und sie wurden von Soldaten begleitet. Sie kamen vor drei Monaten hier durch, verschwanden nach Westen in der Prärie - und vor zwei Tagen kamen sie zurück. Nur dieser da blieb dann hier. Die anderen verschwanden mit den Soldaten über den Fluß nach Osten. Er aber wollte sich erst amüsieren. Sein Name ist
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Zebuion Zecke. Lily erfüllte ihm alle Wünsche, und er hatte ganz ausgefallene Wünsche. Nicht wahr, Lily?« Das Mädchen nickt heftig. »Der war fast verhungert nach Frauen. Der war verrückt und hat sich so sehr verausgabt, daß er nun gewiß nicht mehr auf die Beine kommen wird.« Lily verstummt mit einem Klang von Erleichterung und Bedauern zugleich in ihrer Stimme. Kim und Ray aber sehen sich an. Sie verstehen sich ohne Worte. Dann spricht Kim ganz ruhig: »Daisy. Sie werden das große Hurenhaus mit einem halben Hundert Mädchen bekommen. Denn wir bleiben hier in Omaha und übernehmen diese Stadt. Die Missouri Queen fährt ohne uns weiter.« Sie wendet sich an Ray und fragt: »Wie wird das laufen mit dem Bahnbau?« Er grinst blinkend und hat ein Funkeln in seinen Augen. »Zuerst kommen die Kolonnen der Bahndamm- und Brückenbauer. Hunderte von Frachtwagen sind unterwegs, denn es müssen Erdmassen bewegt werden. Nach den Damm- und Brückenbauern kommen die Schwellenleger. Man wird Millionen von Bahnschwellen benötigen für die Schienen. Diese Schienenleger werden nach Westen stürmen, und hinter ihnen kommen die Frachtzüge und schaffen Material heran aus dem Osten. Dieser Schienenstrang wird eine neue Lebensader des Kontinentes, ist vielleicht bald wichtiger als die Ströme. Man wird hier eine mächtige Eisenbahnbrücke über den Strom errichten müssen. Omaha wird eine Perle an dieser Lebensader. Wir sollten dieses Nest ganz und gar übernehmen.« - 111 -
Nachdem er dies gesprochen hat, wobei er den Eindruck machte, als könnte er Visionen der Zukunft vor seinen Augen sehen, da herrscht Stille im Zimmer. Nur der sterbende Zebuion Zecke stöhnt bei jedem Atemzug. Lily, das Mädchen am Bett, sagt bedauernd: »Eigentlich war er ein ganz prächtiger Bursche. Er wollte nur in drei Tagen und Nächten alles nachholen, was er verdammt lange nicht haben konnte. Er tut mir leid.« Als sie es gesagt hat, atmet der Sterbende zum letzten Mal aus. Und aus seinem Mund quillt Blut. Ja, es müssen irgendwelche Adern in ihm geplatzt sein bei seinen Anstrengungen in Lilys Bett. Die vier Menschen an seinem Bett blicken auf ihn nieder. Mrs. Bulldog flüstert: »Ich glaube, wir müssen ihm sehr dankbar sein. Denn wir hier im Westen wissen jetzt so viel wie die großen Planer und Macher im Osten. Wir sollten ihn nobel beerdigen.« *** Als die Missouri Queen eine Stunde später ablegt, hat Kapitän Jason Orwell genaue Anweisungen. Er wird nun an Kim Powells Stelle alle Niederlassungen und Agenturen der Powell Line inspizieren und dort bekannt machen, daß nun die Witwe von Clint Powell die gesamte Geschäftsführung übernommen hat und alles so weiterlaufen soll wie bisher. Die Missouri Queen wird die Passagiere bis hinauf nach Fort Benton bringen und wie immer den Passagierdienst aufrechterhalten. Als sie ablegt, stehen Kim und Ray noch auf der Landebrücke. - 112 -
Bei ihnen sind der Revolvermann Chet Leone und der riesige Bug Banner, der einen Mann mit einem einzigen Faustschlag töten kann. Und noch zwei weitere hartgesichtige Burschen sind dabei, die Ray in Kansas City anwarb, die jedoch als scheinbar harmlose Passagiere mitfuhren. Ray tauscht mit Kimberly, seiner so wunderschönen Schwester, einen kurzen Blick aus. Dann wendet er sich an die vier Männer. »Nehmt unser Gepäck«, spricht er. »Und dann seht euch dieses Nest an. Bald wird es nicht mehr wiederzuerkennen sein. Wir übernehmen es jetzt ganz und gar. Also los, gehen wir.« Sie setzten sich in Bewegung, angeführt von Kim und Ray. Und in Omaha ahnt noch niemand - außer Mrs. Bulldog und deren Mädchen -, was alles sich vom heutigen Tag an verändern wird. Es gibt in dem kleinen Nest auch ein Hotel. Als sie in die Empfangsdiele treten, erscheint der Besitzer selbst hinter dem Anmeldepult und dienert höflich, wobei er scheinbar vor Freude spricht: »Oh, Mrs. Powell, was für eine Ehre, Sie in meinem Hause begrüßen zu dürfen. Sie haben Gepäck bei sich, wie ich sehe. Darf ich Sie als meine Gäste betrachten? Wir haben zur Zeit einige Zimmer frei. Es trifft sich gut, Mrs. Powell.« Diese tauscht wieder mit ihrem Bruder Ray einen kurzen Blick aus. Dann sagt Kim lächelnd: »Ray, dies ist Mr. Jeremia Ketshum, der bisherige Besitzer dieses Hotels.« Sie alle können erkennen, wie der Mann plötzlich zusammenzuckt. Denn ihm wird die Bedeutung des einen Wortes klar. Aber er will es nicht glauben. Und so spricht - 113 -
er: »Ich bin immer noch der Besitzer, Mrs. Powell, nicht der bisherige, wie Sie soeben sich auszudrücken beliebten. Sie haben sich gewiß versprochen, nicht wahr?« Er fragt es mit einem freundlichen Lächeln. Doch sein Instinkt warnt ihn bereits, und so erkennt man die Sorge in seinen Augen. Ray hebt seinen Zeigefinger. »Heute ist Ihr Glückstag, Mr. Ketshum«, spricht er. »Weil Sie uns soeben Ihr Hotel verkauft haben, wurden Sie ein richtiger Glückspilz.« »Ichichich hahahabe nicht verkauft«, stottert Jeremia Ketshum, »dadadas ist eieine Lüge. Wie können Sie so etwas behaupten?« Da wendet sich Ray Hutch an die vier Männer hinter ihm und Kim. »Habt ihr das gehört?« »Er lügt«, grinst Chet Leone. »Wir alle sind Zeugen, daß er an Mrs. Powell verkauft hat. Wir sollten ihn einfach rauswerfen.« Nun herrscht Stille. Aber es weht der Atem von Gefahr für Jeremia Ketshum. Er spürt ihn deutlich. Und er kann es nicht glauben, wenn er diese schöne Frau ansieht. Doch immer dann, wenn er in ihre Augen sieht, erschrickt er tief in seinem Kern. In den so wunderschönen blauen Augen erkennt er einen Ausdruck der Gnadenlosigkeit. Er ist ein mittelgroßer, glatzköpfiger Mann, der früher einmal Barkeeper war und spät geheiratet hat. Mit seinen ganzen Ersparnissen und denen seiner Frau bauten sie dieses Hotel, setzten gewissermaßen wie in einem Spiel - 114 -
um alles oder nichts ihre sämtlichen Chips auf eine gute Zukunft dieser kleinen Stadt an einer Fähre über den Strom. »Für dreitausend Dollar haben Sie an mich verkauft«, spricht Kim Powell. »Fünf Zeugen sind gegen Sie.« Jeremia Ketshum wirft einen Blick auf die Männer. Und weil er einmal Barkeeper in den Saloons von wilden Städten war, wo viele Hartgesottene verkehrten, da wird er sich binnen weniger Sekunden darüber klar, zu welcher Sorte diese fünf Männer gehören, die mit Mrs. Powell kamen. Er spricht heiser: »Ma’am, dies hätte Mr. Powell mir niemals angetan.« »Mr. Powell ist tot«, erwidert sie. »Er ertrank im Big Muddy, weil er nicht mal schwimmen konnte. Mr. Ketshum, ich übernehme diese Stadt. Sie haben die Wahl. Sie können die dreitausend Dollar nehmen und hier mit Ihrer Frau als meine Angestellten arbeiten - oder Sie müssen gehen.« Jeremia Ketshum versteht nun alles. »Die Landvermesser ...«, murmelt er. »Sie übernachteten hier. Diese Landvermesser ...« »Richtig«, unterbricht ihn Ray Hutch. »Ich sagte Ihnen, daß dies Ihr Glückstag ist heute. Sie bekommen dreitausend Dollar und mit Ihrer Frau einen guten Job. Wir sind nobel zu Ihnen, weil wir gute Mitarbeiter erwarten. Es könnte auch anders gemacht werden.« Da nickt Jeremia Ketshum. Er ist ein erfahrener Bursche. Er weiß, daß er auch vom Marshal keine Hilfe erhalten würde. Denn dieser Town Marshal ist zugleich auch der Schmied und Besitzer des Mietstalls und
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Wagenhofes. Aber er übt das Amt nur nebenbei aus für den symbolischen Sold von einem Dollar im Monat. Jeremia Ketshum begreift, daß ihm und seiner Frau leicht etwas zustoßen könnte. Auch könnte das Hotel abbrennen. Er erinnert sich wieder daran, wie damals die Powell Line hier Fuß fasste und ihre Agentur errichtete, den Saloon, den Holzplatz, die Fähre und den Generalstore’ übernahm. Damals baute er noch das Hotel. Und jetzt ... »Was werden Sie mir und meiner Frau für ein Gehalt zahlen?« So fragt er, und innerlich zerbricht etwas in ihm, denn er weiß, daß er sich unterwirft, weil es keinen Sinn hätte, kämpfen zu wollen - jedenfalls nicht jetzt. »Nach Leistung«, lächelt Kim Powell. »Denn dieses Hotel wird vergrößert. Es werden noch mehrere errichtet, auch Restaurants, Tingeltangels, Speiseküchen. Sie sind ein erfahrener Mann, Ketshum. Sie können Manager werden. Ihre Einkünfte sind dann höher als jetzt. Omaha wird bald Tag und Nacht mehr als tausend Gäste haben. Wenn Sie tüchtig und uns treu ergeben sind, geht es Ihnen und Ihrer Frau gut. Wenn Sie mich betrügen, hintergehen, nicht voll hinter mir stehen, dann ...« Sie bricht ab und hebt ihre Hand. »Nein, ich will Ihnen nicht drohen. Das wäre dumm. Ich will Sie aufnehmen in die mächtige Powell Line, als wichtigen Mitarbeiter. Gut so, Mr. Ketshum?« Er muß erst mehrmals mühsam schlucken. Dann nickt er und spricht: »Ich habe verstanden und weiß Bescheid. Ich werde meine Frau mit der veränderten Sachlage bekannt machen.« »Sehen Sie, mein lieber Mr. Ketshum, jetzt sind wir uns einig. Wir werden einen richtigen City Marshal - 116 -
bekommen, auch eine Bürgerschaftsvertretung und aus Omaha eine wunderbare Stadt machen. Verlassen Sie sich darauf. Und jetzt wollen wir unsere Zimmer beziehen. Dieses Hotel wird nun unser Hauptquartier. Die Agentur der Powell Line ist zu klein. Doch auch sie wird vergrößert werden.« *** In den nächsten zwei Wochen verändert sich das kleine Nest, welches sich Omaha nennt. Die Powell Line bringt auch neuen Wind in den Ort, der noch nicht mal als eine Stadt vierter Ordnung gilt. Und wer sich gegen diesen Wind stellt, wird klein gemacht. Denn Ray Hutch ist jetzt der City Marshal. Es gibt drei Stadträte und einen Richter. Und sie alle stehen insgeheim auf der Lohnliste der Powell Line. Es kommen jeden Tag viele Fremde aus dem Osten in die Stadt. Entweder kommen sie als Handwerker - oder als Geschäftegründer. Sie kaufen Bauland und erwerben Lizenzen, also die Erlaubnis für vielerlei Aktivitäten. Noch gilt es als Geheimnis, und jeder, der es weiß, behält es für sich. Denn wenn es erst amtlich bekannt werden sollte, daß die Eisenbahn über Omaha laufen wird und hier am Strom die große Brücke entstehen soll, wird alles explodieren - von den Baulandpreisen angefangen. Die kleine Stadt hat ihre Stadtgrenzen längst ausgedehnt und überall um ihren Kern Bauplätze und Straßen abgesteckt.
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Ray Hutchs Truppe besteht nun aus mehr als zwei Dutzend harter Burschen. Chet Leone und Bug Banner wurden Deputy Marshals. Und alles wartet darauf, daß der riesengroße Ansturm kommt, wenn es erst amtlich ist, wo die Route der Union Pacific Railway verlaufen wird. Es kommen fast jeden Tag Dampfboote den Strom hinauf oder auch herunter. Fast alle legen an, um Holz zu übernehmen. Auch Flöße kommen stromabwärts. Einige haben hier beim Holzplatz und der Sägemühle ihr Ziel erreicht. Auf dem Holzplatz und bei der Sägemühle wird Tag und Nacht gearbeitet. Und besonders Bahnschwellen werden hergestellt. Die Geschwister Kim und Ray fühlen sich im Glück. Jeden Abend nehmen sie gemeinsam das Abendessen ein und unterrichten sich gegenseitig über alles. Einmal sagt Ray grimmig: »Diese Stadt wird bald mächtig wild sein. Wir müssen immer härter durchgreifen. Hier will eine hartgesottene Meute eindringen. Spieler, Revolverschwinger - aaah, alle bösen Sorten sammeln sich. Und sie warten. Unsere Fähre verkehrt nun ständig und ist fast immer überfüllt. Einige hundert Mann warten in der Stadt, daß es mit dem Dammbau für die Trasse losgeht und sie Arbeit finden. Noch ist es nicht amtlich, aber sie alle wissen schon Bescheid und werden immer ungeduldiger. Manchen geht bereits das Geld aus. Beim Wagenhof stehen schon mehr als ein halbes hundert Wagen mit Achtergespannen. Sie wollen für den Bahnbau fahren. Omaha wird bald ein Hexenkessel sein.«
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»Und er gehört uns.« Kim lächelt. »Es ist unsere Stadt. Und je größer sie wird, um so größer wird auch unsere Macht.« Sie wendet unwillig ihren Kopf, als jemand in das Nebenzimmer des Restaurants eintritt, in dem sie ihre Mahlzeiten einnehmen. Der Mann atmet etwas heftig, so als wäre er schnell gelaufen. Und er klopfte vorher nur kurz an die ohnehin offene Tür. Ray Hutch kennt den Mann und fragt scharf: ,Mike Scott, was machen Sie hier? Ihr Platz ist doch Kansas City. Sie sind dort mein Mann, auf den ich mich verlasse. Was ist geschehen?« Der Ankömmling tritt zur Anrichte und schenkt sich dort aus der Flasche einen Whiskey ein. Erst als er sich diesen in den Hals gekippt hat, wendet er sich den Geschwistern zu. »Powell ...«, beginnt er und wischt sich dann über das Gesicht. »Clint Powell ... Aaah, Clint Powell kam nach Kansas City. Er lebt. Er ist nicht ertrunken, so wie Sie es sagten, Ma’am. Er ist verdammt lebendig. Sein kleines Dampfboot bekam ein Leck und mußte in die Werft gerholt werden. Deshalb bin ich gewiß zwei Tage vor ihm hier. Ich nahm das nächste Dampfboot stromauf. Er lebt. Ich mußte Sie doch warnen, nicht wahr?« Die Geschwister hören es und wollen es nicht glauben. Wie erstarrt sitzen sie da. Kim läßt sogar die Gabel auf den Teller fallen. Es klirrt. Der Mann spricht nun weiter: »Pat Skinner, der Agent dort in Kansas City, ist sofort wieder zu Clint Powell übergelaufen. Bald ist er hier. An Bord der kleinen Eagle hat er zwei Kanonen und zwei Dutzend Revolvermänner. Sicher weiß er inzwischen schon, daß er Sie hier finden wird - kaum mehr als zweihundertvierzig Meilen von - 119 -
Kansas City entfernt. Vielleicht kommt er morgen schon.« Der Mann wendet sich wieder zur kleinen Anrichte und gießt sich nochmals einen Drink ein. Als er ihn hinuntergekippt hat, sagt Ray Hutch hinter ihm: »Machen Sie sich nur nicht in die Hosen, Mike Scott. Wenn er kommt, dann werden wir ihn hier empfangen. Omaha gehört uns. Dies hier ist unsere Burg. Er soll nur kommen. Und diesmal werfen wir ihn tot in den Fluß.« Der Mann wendet sich den beiden Geschwistern zu. »Ich habe getan, für was Sie mich angeworben hatten, Mr. Hutch. Ich hielt Augen und Ohren offen und überwachte Ihren Agenten Pat Skinner. Aber nur das war mein Job. Bitte zahlen Sie mir den Rest meines Lohnes. Ich bleibe nicht hier. Ich bin kein Revolverschwinger, nur ein kleiner Spitzel.« Ray Hutch nickt. »Sicher, Mike, sicher«, murmelt er und greift in die Tasche. »Ihre Warnung kam noch rechtzeitig«, spricht er weiter. »Das ist seinen Lohn wert, auch wenn Sie mir nicht mehr nützen wollen. Hier sind dreihundert Dollar. Wo wollen Sie hin damit?« »Die Elanora liegt noch an der Landebrücke. Ich fahre weiter mit ihr den Strom hinauf.« Mike Scott holt sich das Geld und verschwindet schnell. Er ist ein kleiner, unscheinbar wieselhafter Mann. Als er fort ist, sehen sich die Geschwister wieder an. Und Kim sagt klirrend: »Diesmal werde ich ihn töten, damit er auch wirklich tot ist, Bruder. Du hast keine gute Arbeit geleistet mit deinem Messer. Wir werden Krieg führen müssen.« - 120 -
»So ist es«, erwidert Ray und erhebt sich. Denn es gibt jetzt viel zu tun für ihn. *** Mike Scott, dieser kleine, wieselhaft anmutende Bursche, der die Nachricht von Clint Powells ‚Wiederauferstehen’ brachte, geht, nachdem er das Hotel verlassen hat, schnurstracks zu Daisy Bulldog und deren Töchtern der Sünde. Als er an die Bar tritt, hinter der jetzt drei Barmänner bedienen, taucht die mächtige Mrs. Bulldog aus den hinteren Räumen auf und verharrt neben ihm. Er blickt grinsend zu ihr empor. Gegen diese riesenhafte Frau wirkt er noch unscheinbarer, denn sie wiegt ja fast dreimal soviel wie er. »Hey, schöne Daisy«, sagt er. »Du weißt ja, wie sehr ich dich verehre. Mit dir würde ich zu gerne eine Nacht im Bett verbringen. Ich bin verrückt nach Frauen deiner Sorte. Und glaub nur nicht, daß alles bei mir so klein ist.« Sie lächelt ebenfalls, denn sie sind alte Bekannte. Sie kennt seine Scherze längst. Und so spricht sie zu ihm nieder. »Ich kann die dicke Esther für dich freihalten, wenn sie mit ihrem jetzigen Gast fertig ist. Das dauert keine halbe Stunde mehr. Es warten schon drei bedürftige Jungs auf sie - aber ich setze dich vor ihnen auf die Warteliste. Gut so, Mike? Was tust du überhaupt hier in Omaha? Du wieselst doch sonst in Kansas City umher. Also, was führte dich hierher?« Irgendwie wittert Daisy Bulldog etwas. Und sie weiß zu gut, daß Mike Scott ein besonders raffinierter Spitzel ist, der während des Krieges für beide Seiten arbeitet. - 121 -
Mike Scott grinst stolz und macht dann ein wichtiges Gesicht, so als besäße er einen geheimen Goldschatz oder ein anderes unschätzbar wertvolles Geheimnis. »Wenn ich hier bis morgen alles frei habe - die dicke Esther mit eingeschlossen natürlich -, da erzähle ich dir alles«, spricht er schließlich. Daisy Bulldog blickt grimmig auf ihn nieder. Doch sie kann irgendwie wittern, daß dieser Mike Scott ihr wirklich etwas mitteilen kann, was den verlangten Preis wert ist. Und so nickt sie und sagt knapp: »Gut!« Dann winkt er mit dem gekrümmten Zeigefinger, damit sie sich zu ihm niederbeugt und er ihr ins Ohr flüstern kann: »Clint Powell ist wiederauferstanden. Die schöne Kimberly ist gar keine Witwe. Ich habe ihr das soeben mitgeteilt, und ich konnte sehen, wie sie und der blonde Kerl, der bei ihr ist, mächtig erschraken. Clint Powell wird bald hier eintreffen. Er kommt mit einem kleinen, doch sehr starken Dampfboot, mit der Eagle. Und auf diesem Boot sind zwei Kanonen. Er wurde in Kansas City nur etwas aufgehalten, kam von Saint Louis herauf. Und alle, die von der schönen, scheinbar trauernden Witwe so beeindruckt waren, daß sie ihr die Treue schworen, liefen wieder zu Clint Powell über. Wunderbare Daisy, es ist Krieg zwischen der schönen Kimberly und ihrem Mann, dem harten Clint Powell.« Er verstummt und greift dann zum gefüllten Whiskeyglas, das einer der Barmänner ihm hinschob. Nun kippt er schon das dritte Glas, denn zwei leerte er ja bei Kim und Ray. Daisy Bulldog richtet sich wieder auf. Ihr Blick geht ins Leere.
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O ja, sie kennt diesen Clint Powell gut genug. Und wenn dieser Clint Powell, der für tot erklärt wurde, nun mit einem Kanonenboot den Strom hinaufgedampft kommt, dann steht ihnen hier in Omaha noch einiges bevor. »Danke, Mike«, spricht sie zu ihm nieder. »Du hast bis morgen alles frei. Doch wenn du dich jetzt so sehr betrinkst, dann wirst du verdammt wenig von der dicken Esther haben.« Sie geht davon. Und wenig später schickt sie einen jungen Burschen zu einigen Leuten in dieser Stadt. Es sind Geschäftsleute wie sie. Denn sie alle müssen zusammenhalten. Auch die drei Stadträte und die beiden Deputy Marshals, Leone und Banner, läßt sie durch den jungen Burschen informieren. Und so verbreitet sich unter allen maßgebenden Bürgern von Omaha schnell die Nachricht, daß die schöne Kimberly keine Witwe ist und der Boß der Powell Line, Clint Powell, lebt und unterwegs nach Omaha ist. Auch Chet Leone und Bug Banner hören die Neuigkeit. Banner knurrt: »Ich habe ihr nie so richtig getraut. Und diesem Hurensohn, der mich mit seinem Tritt fast entmannt hätte, dem würde ich es so gerne zurückzahlen. Wir werden allen harten Jungs, die er angeworben hat, Bescheid geben, daß sie lieber überlaufen sollen, wenn Clint Powell kommt.« »Aber das werden sie nicht - oder nur wenige«, erwidert Chet Leone. »Er hat sie alle zu sehr auf sich und die schöne Tigerkatze eingeschworen. Auch bezahlen sie die Revolverschwinger gut. Es wird einen Kampf um Omaha geben.« - 123 -
*** Es ist am nächsten Morgen nach einer sehr bewegten, lebendigen Nacht, als die Eagle in der Bucht auftaucht, in der die Landebrücken und der Holzplatz liegen und auch einige Flöße in dem fast stehenden Wasser festgemacht haben. Die Eagle ist wieder repariert. Das Leck, welches der treibende Baum verursacht hatte, hielt Powell nicht allzulange auf. Und natürlich weiß er längst schon, wo er seine Frau und deren Partner, Beschützer, Liebhaber - oder was dieser Bursche auch sonst sein mag - finden kann. Clint Powells Nachrichtensystem kam schnell wieder in Ordnung, und es kamen ja auch genug Boote von Norden her den Strom abwärts, deren Kapitäne und Besatzungen von den Veränderungen in Omaha erzählten - und stets staunten, daß Clint Powell gar nicht tot ist und die schöne Witwe zwar schön, doch keine Witwe ist. Nun, die Eagle taucht also am Morgen in der OmahaBucht auf und verharrt dort etwa zwei Steinwürfe weit vom Ufer entfernt. Der Missouri ist hier an die dreihundert Yard breit, die Bucht hinter der Landzunge hat einen Bauch, der an die hundert Yard landeinwärts reicht, und ist selbst fast eine halbe Meile lang. Das Heckschaufelrad der Eagle dreht nur manchmal ein wenig, um das Dampfboot im fast stehenden Wasser der Bucht auf der Stelle zu halten. Am Ufer sammeln sich einige Menschen. Es kommen immer mehr hinzu.
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Auch weiter oben, wo die Häuserreihen stehen, werden Fenster geöffnet. Und so wird Clint Powell im Ruderhaus der Eagle klar, daß man auf die Eagle und somit auch auf sein Kommen gewartet hat. Die Nachricht eilte ihm voraus, da er ja fast drei Tage wegen der Havarie festlag. Er beugt sich aus dem Ruderhaus und ruft auf das Deck nieder: »Also los, setzt den alten Shorty ins Kanu. Er soll hinüber und es ihnen sagen. Na los!« Und so geschieht es auch. Ein Kanu wird ins Wasser gelassen, und ein alter, kleiner und krummbeiniger Bursche klettert hinein. Sie haben ihn unterwegs aufgegriffen mit seinem Kanu, als er in einer Bucht fischte. Shorty ist ein Flußfischer, der in den Strudellöchern der Buchten nach Edelfischen fischt. Er wirft einen schrägen Blick nach oben zum Ruderhaus empor. Dort ruft Powell nieder: »Sie werden dir schon nicht die Haut abziehen, Alter. Und wenn ja, dann rächen wir dich.« Die Männer an Bord lachen über die letzten Worte. Sie alle sind eine hartgesottene Mannschaft. Shorty paddelt hinüber. Am Ufer erwarten sie ihn. Chet Leone ist es dann, welcher fragt: »Oldman, sollst du uns was ausrichten?« »So ist es«, erwidert Shorty und zeigt dabei seine braunen Zahnstummel. »Ich soll den Leuten von Omaha sagen, daß sie Mrs. Kimberly Powell und deren blonden Liebhaber, oder was auch immer er sonst sein mag, aus der Stadt jagen sollen. Denn wenn sie das nicht tun, wird die Eagle mit beiden Kanonen zu schießen beginnen. Es ist also alles klar, nicht wahr? Wenn die Bürger von - 125 -
Omaha dieses Paar nicht bis heute mittag aus der Stadt weisen, dann wird mit Kanonen geschossen. Ich gehöre nicht zur Besatzung, Leute. Man hat mich unterwegs, drei Meilen von hier, mit meinem Kanu an Bord geholt, um mich als Boten zu euch zu schicken. Ich laß’ mich jetzt wieder stromabwärts treiben. Viel Glück, Leute.« Shorty stößt mit seinem Paddel das Kanu wieder vom Ufer ab und paddelt davon. Sie alle sehen ihm nach. Dann wenden sie sich einander zu. Sie sind mehr als ein halbes Hundert Menschen, Bürger der Stadt Handwerker, Geschäftsleute. Auch die drei Stadträte und die beiden Deputies sind unter ihnen. Und aus dem Tingeltangel kam Mrs. Bulldog und überragt sie alle. Noch wirken sie allesamt etwas ratlos und verwirrt. Doch dann keift die Frau des ehemaligen Hotelbesitzers los: »Ja, wir müssen sie aus der Stadt jagen! Die schöne Hexe ist ein Teufelsweib. Sie ist nur äußerlich so schön. In ihrem Kern ist sie böse, hart und gnadenlos. Sie ist die Schwester des Teufels. Ihr wißt ja selbst, wie sehr wir uns alle unterwerfen mußten. Und ihr blonder Beschützer - wahrscheinlich auch ihr Liebhaber ist der Bruder des Teufels. Er ist von ihrer Sorte. Also gehen wir! Sagen wir ihnen, daß sie aus unserer Stadt verschwinden sollen. Los, ihr Stadträte und auch ihr Deputies, tut eure Pflicht als Vertreter der Bürgerschaft! Sollen wir uns unsere Stadt in Klumpen schießen lassen, bevor wir sie überhaupt richtig aufgebaut und zu einer Stadt gemacht haben?« Als sie verstummt, da erhält sie Zustimmung und Beifall. Doch da sehen sie Ray Hutch kommen. - 126 -
Und er kommt nicht allein. Er hat ein halbes Dutzend Revolverschwinger hinter sich, denen man unschwer ansehen kann, daß sie von ihren schnellen Colts leben, diese also gewissermaßen vermieten. Die Versammlung öffnet sich, bildet einen ihm zugewandten Halbkreis. Und er fragt barsch: »Was ist hier los? Leone, berichten Sie mir!« »Das mache ich gerne, Mr. Hutch«, erwidert Leone. »Es kam ein Bote von der Eagle. Mr. Clint Powell ließ der Bürgerschaft von Omaha ausrichten, daß man Sie und Mrs. Powell zum Teufel jagen soll. Sonst beginnt die Eagle um zwölf Uhr mittags auf diese Stadt zu schießen, die eigentlich erst noch eine Stadt werden will. Sie wird alles in Klumpen schießen.« »Bestimmt nicht.!« Ray Hutch grinst. »Denn er will ja zurückerobern, was seine Frau ihm abnahm. Und da wird er gewiß nicht in Klumpen schießen, was er haben will. Ihm gehörte ja mal die halbe Stadt - oder? Und jetzt gehört sie seiner Frau. Er soll nur kommen mit seinen Revolverschwingern - ja, er soll nur an Land kommen. Dann geben wir es ihm. Dieser Narr ist zwar von den Toten wieder auferstanden, aber bald wird er richtig tot sein. Also kommt nur nicht auf dumme Gedanken, Leute. Kümmert euch einfach nicht um Powell, um seine Drohungen und dieses kleine Kanonenboot dort. Geht wieder an eure Arbeit. Ich erledige das schon mit meinen Männern. Also, geht heim!« Er klatscht in die Hände, so als wollte er einen Hühnerhaufen verjagen. Und die Revolverschwinger hinter ihm grinsen breit. Manche lachen verächtlich. Ja, sie wirken wahrhaftig so, - 127 -
als würden sie bereit sein, mit diesem Ray Hutch bis zur letzten Konsequenz zu gehen. Er sieht Chet Leone und Bug Banner an. »Na los, Deputies. vertreibt sie, vorwärts!« Nun hat er Chet Leone und Bug Banner in der Klemme. Sie begreifen es in diesen Sekunden. Und obwohl sie bisher auf seiner Seite waren, beginnen sie ihn nun zu hassen. Er hatte ja ohnehin etwas bei ihnen ,im Salz liegen’. Und nun zwingt er sie, sich öffentlich zu ihm zu bekennen. Denn er ist der Marshal dieser Stadt, sie seine Deputies. Nein, sie wagen keinen Widerspruch. Chet Leone wendet sich zuerst den Leuten zu: »Ihr habt es gehört, nicht wahr, Leute? Geht heim! Die Versammlung ist beendet. Ihr habt gehört, was euer Marshal sagte. Also los, vorwärts! Kümmert euch nicht um das verdammte Kanonenboot.« Und sie gehorchen alle, wenn auch zögernd und insgeheim murrend. Aber sie gehorchen. Noch. *** Kim liegt nach einer langen Nacht an diesem Morgen noch im Bett, als der Bruder eintritt, ohne anzuklopfen. Sie zischt wütend: »Verdammt, komm nicht einfach so in mein Schlafzimmer geplatzt! Ich hätte jemanden bei mir haben können. Du weißt ja, mir machen viele Männer den Hof. Und vielleicht möchte ich dann und wann einen bei mir haben. Komm nie wieder so in mein Schlafzimmer gestürmt, verdammt!« Er verharrt am Fußende des Bettes und umklammert die Messingkugeln des Gestells. - 128 -
Grimmig grinsend wartet er, bis sie sich beruhigt hat. Dann spricht er langsam Wort für Wort: »Powell ist da. Mit einem Kanonenboot. Und er will diesen Ort in Klumpen schießen, wenn die Bürgerschaft uns nicht davonjagt. Und wenn dies geschehen sollte, dann wird er uns jagen. Hast du kapiert, Schwester? Er kam mit einem Kanonenboot, nicht einfach nur mit einer rauen Mannschaft, der wir uns mit unseren Männern entgegenstellen würden, um es mit ihm auszukämpfen. Er zwingt die ganze Stadt dazu, gegen uns zu sein. Und du liegst noch im Bett und regst dich darüber auf, daß ich nicht anklopfe, bevor ich reinkomme. Verdammt, Schwester, er kam mit einem Kanonenboot!« Sie sitzt jetzt aufrecht im Bett und hält sich die Bettdecke bis unter das Kinn. Mit ihren blauen Augen starrt sie den Bruder an. »Diesen Mist hast du gemacht«, faucht sie schließlich. »Du hast ihn nicht richtig abgestochen, bevor du ihn über die Reling kipptest. Ich frage mich, wie konnte er bloß am Leben bleiben. Ich weiß, daß er nicht schwimmen kann, ich weiß es genau, verdammt noch mal! Was können wir tun, Bruder?« »Abwarten«, erwidert dieser nur und geht wieder hinaus. Sie springt nun aus dem Bett, und sie ist nackt. Als sie sich vor dem Spiegel betrachtet, da fragt sie sich, ob Clint Powell ihr vergeben würde beim Anblick ihrer Schönheit. Er war immer verrückt nach ihr. Für ihn besaß sie immer einen Zauber. Nur sie mochte ihn nicht, weil er ihr gegen ihren Willen die Unschuld nahm und sie zu seiner Sklavin machte. - 129 -
Für ihn mußte sie mit anderen Männern ins Bett gehen und diese auch noch bestehlen oder ausspionieren. Mit ihrer Hilfe machte er schmutzige Geschäfte. Dennoch heiratete er sie, denn er wollte sie niemals freigeben. Jetzt steht sie also nackt vor dem Spiegel und fragt sich, ob ihr Zauber noch auf ihn wirken würde. Sie könnte ihm ja sagen, daß Ray ihr Bruder wäre und daß er sie gezwungen hätte ... Aber als sie mit ihren Gedanken so weit ist, da hält sie inne und erschrickt. Denn sie wird sich bewußt, daß sie mit dem Gedanken spielt, den Bruder zu opfern. Sie beginnt sich anzukleiden. Und immer wieder denkt sie erschreckt: Clint Powell ist gekommen. *** Die ganze Stadt wartet. Aber viele Gäste dieser Stadt verlassen Omaha. Es herrscht an solchen Vormittagen sonst mehr Leben und Betrieb. Und je näher die Mittagsstunde kommt, um so mehr scheint der kleine Ort, der einmal so groß und wichtig werden soll, seinen Atem anzuhalten. Und dann passiert etwas Schwerwiegendes. Von der Powell-Agentur, wo die Landebrücke ist, begeben sich drei Männer zum Ufer hinunter. Es sind der hiesige Agent und die beiden Deputies, Chet Leone und Bug Banner. Sie klettern in ein kleines Ruderboot und rudern auf die Eagle zu, die immer noch in der Bucht dicht neben der Stromkante verharrt, also zwei Steinwürfe weit vom
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Ufer entfernt ist, und deren Schaufelrad sich dann und wann ein wenig dreht. Von der Stadt her wird das Ruderboot sofort gesichtet. Denn man beobachtet das Kanonenboot ja ständig. Und so macht bald die Nachricht die Runde, daß die beiden Deputies und auch der Powell-Agent an Bord gegangen seien. Sie sind die ersten Überläufer. Dies begreift man in Omaha schnell. Chet Leone klettert zuerst an Bord und steht wenig später vor Clint Powell. »Chef«, sagt er, »wir haben Ihrer Frau geglaubt. Wir mußten annehmen, Sie wären wirklich tot. Und so halfen wir der vermeintlichen Witwe. War das falsch?« »Nein, Leone.« Clint Powell lächelt schmal. »Ich weiß ja selbst, wie überzeugend die schöne Kimberly sein kann. Und überdies seid ihr jetzt hier an Bord und wieder bei mir. Wie steht es in der Stadt? Ich möchte jetzt alles genau berichtet haben. Dieser blonde Kerl ... Wie steht er zu meiner Frau? Wie heißt er überhaupt?« »Hutch, Raymond Hutch«, erwidert Chet Leone. Da zuckt Clint Powell leicht zusammen. »Hutch?« So fragt er. Leone nickt. »Meine Frau ist eine geborene Hutch«, spricht Clint Powell da. »Könnte er ihr Bruder sein?« »Sie haben die gleichen Augen«, erwidert Chet Leone. »Ja, es kann sein, daß er ihr Bruder ist. Doch er ist blond und ...« »Auch sie ist blond und trägt nur eine schwarze Perücke, unterbricht ihn Clint Powell. »Dann könnte er ihr Bruder sein«, sagt Chet Leone staunend.
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Es wird zwölf Uhr mittags, als Ray Hutch mit seinen Männern das Ufer der Bucht und auch die Landebrücken besetzt. Er zeigt damit deutlich an, daß er ein Landen von Clint Powell und dessen Männern verhindern will. Und so wird klar, daß er immer noch diese Stadt beherrscht und unter Kontrolle hält. Aber Was heißt ‚Stadt’. Omaha will erst noch eine Stadt werden. Noch ist es ein kleines Nest mit vielen Bauplätzen. Nur der große Holzplatz ist imposant. Auch Kim Powell-Hutch trat aus dem Hotel, in dem sie gewissermaßen residierte. Sie trägt nun einen geteilten Hosenrock aus Wildleder, zierliche Cowboystiefel, eine grüne Flanellbluse und darüber eine Lederjacke. Sie wirkt sehr energisch - also zielbewußt, entschlossen, zum Kampf bereit. Um die Hüften trägt sie einen Revolvergurt mit einem Colt im Holster. Und in den Händen hält sie ein Gewehr. Auch die meisten von Ray Hutch am Ufer verteilten Männer haben Gewehre. Jenseits des Uferwegs, dort wo die Häuser des Ortes stehen, da sammeln sich die Bürger von Omaha und all jene, die hier zu Gast sind, weil sie herkamen wegen des bevorstehenden Bahnbaus. Und alle warten sie. Sie alle kennen das Ultimatum. Allen ist klar, daß man von der Eagle aus gut erkennen kann, daß man hier an Land auf einen Angriff wartet und die Bürgerschaft von Omaha nicht imstande war, Mrs. Kimberly Powell und deren blonden Beschützer aus der
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Stadt zu jagen. Denn beide sind von der Eagle aus gut zu erkennen. Das Kanonenboot hält sich dicht an der Stromgrenze noch knapp innerhalb der Bucht. Bis zum Ufer sind es etwa hundert Yard. Man könnte vom Ufer aus das Dampfboot mit Gewehren beschießen. Doch noch tut man es nicht. Als es zwölf Uhr mittag ist, beginnt sich das Schaufelrad der Eagle zu drehen. Sie überfährt die Stromkante und gerät aus dem fast stehenden Wasser der Bucht wieder in die Strömung hinein, entfernt sich weiter zur Strommitte hin und hält nun einen Abstand von mehr als zweihundert Yard. Trotz dieser Entfernung kann man von Land aus gut erkennen, daß die beiden Geschütze an Bord ihre Mündungen auf den kleinen Ort richten. Eine Stimme gellt von einem der Hausdächer: »Die schießen, verdammt, die werden gleich schießen!« Und plötzlich beginnen die Schaulustigen zu laufen. Aber dann krachen auch schon die Geschütze des Kanonenbootes. Fast im selben Moment schlägt es im Hotel ein. Es ist ein gewaltiger Schlag mit einem Doppelkrach. Das Hotel stürzt ein wie ein Kartenhaus. Es war ja nicht besonders solide gebaut. Für die Leute an Land ist klar, daß dieses Kanonenboot die ganze Stadt auf gleiche Art in Klumpen schießen kann. Aus dem zusammenfallenden Hotel quillt nun Rauch, die Trümmer beginnen zu brennen. Und noch etwas wird allen klar: An Bord der Eagle wußte man genau, wo sich das Hauptquartier von Kimberly Powell befindet. - 133 -
Nun ist es plattgemacht. Die Trümmer stehen in Flammen. Auf der .Eagle aber werden die beiden Kanonen neu geladen. Man kann es gut erkennen. Ray Hutch und dessen Männer aber beginnen mit den Gewehren auf das Schiff zu feuern. Doch sie besitzen zumeist nur Winchester, Spencer- oder Springfield-Gewehre. Für diese Waffen ist eine Entfernung von mehr als zweihundert Yard schon recht weit. Auf dem Dampfboot aber beginnen drei schwere Sharp-Büffelgewehre zu feuern, und für diese Gewehre sind zweihundert Yard Entfernung kein Problem. Kim Powell-Hutch wendet sich um und verharrt nun starr, hält ihren Blick fest auf die brennenden Trümmer des Hotels gerichtet. Die Flammen dort werden immer größer. Man muß nun damit rechnen, daß das Feuer auch auf die benachbarten Häuser übergreift, denn es weht ein ziemlich starker Wind. Bald werden die Funken fliegen. Besonders die Holzschindeln des zusammengefallenen Daches brennen wie Zunder. Die Bürger von Omaha beginnen zu begreifen, daß ihr kleiner Ort sehr schnell zu Asche werden kann, wenn sie jetzt nicht zu handeln beginnen. Die Frage ist nun in ihnen allen: Wird das Kanonenboot weiter feuern, oder gibt ihnen Clint Powell, den sie ja alle kennen, noch einmal die Gelegenheit, sich auf seine Seite zu stellen? Sie müssen zwei Dinge tun, wollen sie ihre werdende Stadt retten, der ja eine große Zukunft mit einem schnellen Aufschwung bevorsteht, wenn die Eisenbahn hier die große Brücke baut und Omaha einen wichtigen Bahnhof erhält.
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Sie müssen das Feuer löschen, bevor es übergreifen kann. Und sie müssen dieses Paar, Kimberly Powell und Ray Hutch, aus der Stadt jagen, so wie Clint Powell es verlangte. Inzwischen wurden die beiden Geschütze der Eagle erneut geladen. Nun feuern sie wieder, diesmal mit Schrapnells. Es sind Artilleriegeschosse mit Kugelfüllung, Sprengladung und Zeitzünder. Sie schlagen dort am Ufer ein, wo die Mündungsfeuer der Gewehrschützen besonders zahlreich aufleuchten zwischen Büschen, Holzstapeln und an Land gezogenen Booten. Diese Schrapnells richten sofort einen höllischen Schaden an, denn sie wirken wie die Bleisaat von gewaltigen Schrotflinten. Es ist ein richtiger Krieg, den Clint Powell begonnen hat. Man sieht die Gewehrschützen aus ihren Deckungen flüchten. Einige sind verwundet oder bleiben gar liegen, weil sie zu böse getroffen wurden. Und die Bürger von Omaha sammeln sich. Sie umringen Kim Powell und Ray Hutch, denn letzterer kam zu seiner Schwester, die ihn sofort anfauchte: »Verdammt, Ray, du bist ein Versager! Sieh, wie sie laufen, deine Revolverschwinger! Sie halten nicht stand, niemals! Noch zwei oder drei Doppelsalven von der Eagle, und er kann mit seiner Mannschaft an Land kommen, ohne Gegenwehr vorzufinden. Verdammt, Bruder, warum hast du ihn damals nicht richtig getötet?« Er kann ihr keine Antwort mehr geben. Die Bürger von Omaha nähern sich und bilden einen immer dichteren Kreis um sie. Einer der drei gewissermaßen von ihnen eingesetzten Stadträte tritt vor - 135 -
und macht mit beiden Händen eine hilflose Handbewegung: »Er will euch, nicht uns«, spricht er heiser. »Er will, daß wir euch aus der Stadt jagen. Aber wie können wir das? Also geht freiwillig! Verlaßt Omaha, bevor er mit den beiden Kanonen alles zusammenschießen läßt. Geht doch! Seht, eure Deputies liefen schon über. Auch alle anderen Männer laufen weg. Wir geben euch gute Pferde und Ausrüstung. Oder wollt ihr einen leichten Wagen mit einem schnellen Doppelgespann? Wir geben euch alles, was ihr für eine Flucht benötigt. Aber geht endlich, bevor die Kanonen weiter schießen!« Als er verstummt, da rufen viele Stimmen: »Ja, haut endlich ab! Verschwindet! Wir wollen nicht mit unserer Stadt plattgemacht werden! Er will euch, nicht uns! Haut ab, verdammt!« So etwa rufen Dutzende Stimmen durcheinander. Und der Kreis schließt sich noch enger um die Geschwister zusammen. Ray Hutch hält Ausschau nach seinen Männern, die er am Ufer verteilt hatte. Doch es kommt keiner, um ihnen zu helfen. Im Gegenteil, einige Reiter verlassen auf galoppierenden Pferden die Stadt, jagen landeinwärts davon. Vom Fluß herüber tutet nun das Dampfhorn des Dampfbootes, und es klingt wie eine Drohung. So jedenfalls empfinden sie es alle. Ray Hutch beginnt endlich zu begreifen, daß sie verloren haben. Als er seine Schwester anblickt, da erkennt diese es in seinen Augen. Ja, er will aufgeben, nur noch seine Haut retten. Er ist gewiß nicht feige, nein, das glaubt sie nicht. Doch er sieht keine Chance mehr. - 136 -
Seine beiden Deputies liefen über. Und die angeworbenen Revolverschwinger wurden von den beiden Kanonen der Eagle demoralisiert. Sie begriffen, daß der Kampf zu schlimm und böse enden würde. Überdies begriffen sie auch, daß sie die Bürger der kleinen Stadt und die vielen Fremden darin gegen sich haben würden. Niemand kommt Ray Hutch zu Hilfe. Und da hört er die Schwester neben sich heiser sagen: »Ja, Bürger von Omaha, wir verschwinden. Wir geben auf. Wir wollen zwei Pferde und Ausrüstung. Schnell, helft uns schnell! Um so eher werdet ihr uns los!« Ihre Stimme überschlägt sich zuletzt, klingt mißtönig. Denn auch in ihr ist nun die Furcht. Sie weiß zu gut, wie Clint Powell sie bestrafen wird. Das hat er damals auch getan, als sie ihm dreimal fortzulaufen versuchte. Diesmal wird es viel schlimmer sein. Ja, sie traut ihm zu, daß er sie töten würde, fiele sie in seine Hand. *** Auf der Eagle beobachtet Clint Powell alles durch ein Fernglas. Er hat das Bombardement eingestellt. Denn letztlich wurde er ja etwas in Klumpen schießen oder in Schutt und Asche legen lassen, was er besitzen will, die Stadt Omaha. Längst weiß auch er vom geplanten Bahnbau und der Brücke hier über den mächtigen Strom. Ja, er will Omaha besitzen und nicht vernichten.
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Und so wartet die Eagle mitten im Strom und läßt das Schaufelrad nur so schnell drehen, daß sie nicht abgetrieben wird. Die Kanonen sind schußbereit, aber sie feuern vorerst nicht. Es dauert keine zehn Minuten, da sieht er, daß zwei Sattelpferde vom Wagenhof und Mietstall zur Schmiede gebracht werden. Aus dem Store bringt man gefüllte Satteltaschen und dicke Sattelrollen, die man hinter den Zwieseln der Sättel anschnallt. Und dann sieht er Kim und Ray aufsitzen und anreiten. Eine Menschentraube von mehr als fünfzig Bürgern der Stadt johlt ihnen hinterher. Er setzt sein Glas ab und wendet sich an seinen Steuermann. »Wir legen an. Ich will an Land.« Die Eagle fährt also wieder in die Bucht hinein und geht an der Landebrücke der Powell Line längsseits. Als Clint Powell mit dem Agenten und den beiden Deputies, Chet Leone und Bug Banner, an Land kommt, da werden sie von den drei Stadträten erwartet. Ihr Sprecher sagt ein wenig nervös: »Sir, wir können nur hoffen, daß Sie uns ...« Er brach ab und macht eine hilflose Handbewegung. Sein Nachbar aber spricht heiser: »Mr. Powell, Sir, wir glaubten doch alle hier in Omaha, daß sie tot wären und Ihre Frau die erbberechtigte Witwe wäre.« »Schon gut, Leute«, erwidert Clint Powell. »Ich werfe euch nichts vor. Doch nun will ich auf die Jagd gehen. Ich brauche schnelle Pferde.« *** - 138 -
Kim und Ray reiten nach Westen. Omaha befindet sich ja zu dieser Zeit am Westufer des Missouri. Drüben ist nur die Niederlassung der Dampffähre mit einigen Hütten. Sie reiten also nach Westen. Es gibt hier einen Wagenweg, den sogenannten Oregon Trail am North Platte River entlang, auch Medicine Road genannt, weil es von Cheyenne über Fort Laramie durch die Medicine Bow Berge geht. Weiter im Westen teilt sich der Trail. Eine Route führt zum California Trail hinüber, die andere Route nach Oregon. Die erste Meile reiten die Geschwister schnell. Dann endlich begreifen sie, daß sie ihre Tiere nicht so jagen dürfen, sondern schonen müssen. Nur so haben sie eine Chance. Denn wenn Verfolger sie einholen sollten, dann werden deren Pferde erschöpfter sein. Kim fragt: »Wie groß wird unser Vorsprung sein, Bruder? »Etwa eine Stunde, denke ich«, erwidert Ray Hutch. Und dann beginnt er wild zu schimpfen: »Diese verdammten Hurensöhne! Ich zahlte ihnen einen guten Revolverlohn und war mir ihrer Treue sicher. Doch zwei Kanonen ...« »Aaah, halt doch dein großes Maul, Bruder!« So keift sie aus dem Sattel zu ihm hinüber. »Du bist von Anfang an der große Versager gewesen. Du hast Powell nicht richtig abgestochen, du hast ihn nur verwundet. Und nun wird er uns bis an das Ende der Welt jagen. Verlaß dich darauf! Ich habe vielleicht noch eine Chance, weil ich schön und begehrenswert bin, weil er mich immer wieder
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haben will wie ein süßes Gift. Doch dir läßt er die Haut abziehen. Du wirst für deine Fehler büßen, Bruder!« Sie heult die Worte zuletzt wie eine Furie heraus, und für einen Moment wirkt sie gar nicht mehr so schön und reizvoll. Ihr Gesicht ist vor Wut und Haß zu sehr verzerrt. Nachdem sie einige Male Luft schnappte, da kreischt sie noch mal los: »Verdammt, hätten wir uns doch nur nicht wiedergefunden! Wären wir füreinander doch verschollen und tot geblieben! Es war ein schlechter Tag, als wir uns nach den langen Jahren wieder begegneten. Oh, verdammt, verdammt!« Sie ist völlig außer sich, denn es ist ihr immer wieder, als würde sie aus dem Himmel in die Hölle abgestürzt sein. Ray Hutch erwidert nichts mehr. Er schluckt alles herunter, was da in ihm aufsteigen will. Und er muß sich eingestehen, daß ihr Unglück damals begann, als er Clint Powell über Bord in den Fluß warf. Damals fühlte er sich als der große Sieger. Doch das Schicksal - oder ist es die ausgleichende Gerechtigkeit? - bestraft nun ihn und die Schwester. Alles, was so großartig für sie begann, endet nun in einer Jagd. Sie erreichen am Abend die Stelle, wo der Elkhorn in den Platte mündet, und durchfurten den Platte, dessen Wasser den Pferden kaum bis zu den Knien reicht. Das Land ist flach wie eine See. Nur manchmal gibt es einige Hügel, die wie eine braune Dünung anmuten in einem braunen See. Denn das Büffelgras wurde braun und bedeckt überall das Land. Da und dort sichten sie kleine Büffelherden.
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Und einmal hören sie in der Ferne das Krachen von schweren Sharpsgewehren. Es muß eine starke Büffeljägermannschaft dort beim Büffelmorden sein. Aber dieses Büffelschlachten findet einige Meilen weiter im Süden statt. In diesem Land hört man Schüsse meilenweit. Immer wieder blicken sich die Geschwister um. Doch bisher sichteten sie noch keine Verfolger. Der Wagenweg scheint ausgestorben zu sein. Sie sichten in weiter Runde keinen Reiter - auch keine Wagenzüge. Das Land wirkt leer. Der Nachmittag geht in den Abend über. Einmal fragt Kim: »Und wohin reiten wir?« »Nach Süden«, erwidert er, »immer nach Süden. Und in der Nacht ändern wir unsere Richtung. Wenn er uns bis Nachtanbruch nicht eingeholt hat, dann haben wir eine lange Nacht Vorsprung. Dann entkommen wir ihm.« *** Irgendwann in der Nacht erreichen sie einen Prärie Creek. Und hier sagt Kimberly spröde: »Jetzt kann ich nicht mehr. Mein Hintern und die Innenseiten meiner Schenkel sind wund. Ich bin doch kein Cowgirl. Und wenn ich mal ritt, dann kaum länger als zwei Stunden. Ich bin erledigt, Bruder. Ich werde mich mit dem nackten Hintern in diesen Creek setzen. Oh, verdammt, ich hätte nie gedacht, daß ich mir einmal den Hintern wundreiten müßte!« Normalerweise würde Ray nun gegrinst und irgendwelche spöttische Bemerkungen gemacht haben. Doch er läßt es bleiben.
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Sie sind weit geritten und nicht eingeholt worden. Auch er spürt eine Sattelsteifheit. Denn auch er ist schon lange nicht stundenlang geritten wie ein Cowboy. Die Pferde müssen ebenfalls ausruhen. Und hier ist ein Creek. »Ja, halten wir an, rasten wir. Ich versorge die Plerde. Tut mir leid um deinen schönen Hintern, Schwester.« »Dir sollte vor allen Dingen deine Dummheit leid tun«, faucht sie. Dann entledigt sie sich in der Dunkelheit ihrer Röcke und Unterröcke. Dann steigt sie in das Wasser des etwa einen halben Yard tiefen Creeks. Das Wasser ist recht kalt, aber sie setzt sich mit ihren wundgerittenen Körperteilen seufzend hinein und verspürt Linderung. Dabei denkt sie sorgenvoll: Wie werde ich morgen reiten können? Was für Schmerzen werde ich haben? Und wenn ich krank bin und meine weibliche Ausstrahlung verliere, wenn ich ungepflegt und reizlos aussehe, was wird dann sein, wenn Powell uns einholt? Denn wenn er mich nicht mehr begehrenswert findet, wird er mir nie verzeihen. Dann wird er mich umbringen, nicht nur bestrafen. Warum kann ich gegen Powell nie gewinnen? Warum hat mich ein Schicksal völlig an ihn gebunden, immer wieder und wieder von jenem Tag an, da er und seine Bande die Indianer töteten und er mich mitnahm, weil ihm meine blonden Locken und blauen Augen so gefielen? Er hat es mir ja immer wieder gesagt, wenn er mich in seinen Armen hielt und ich mich wie seine Sklavin fühlte. Immer wieder stellt sie sich diese Fragen, indes sie die wunden Stellen an ihrem Körper kühlt, die sie sich wundgeritten hat. Und sie fürchtet sich vor dem Weiterreiten. Ihr schmerzen auch alle Muskeln und - 142 -
irgendwelche inneren Organe. Solch einen langen Ritt hat sie noch niemals durchhalten müssen. Dabei war das in den vergangenen Stunden erst der Anfang. Es ist ja noch so weit bis nach Oregon; und sie müssen auch noch durch das ganze Indianerland. Können sie das überhaupt schaffen? Vielleicht wäre es besser, wenn Clint Powell sie einholt und sie sich ihm wieder ganz und gar unterwerfen könnte. Oh verdammt! Ray versorgt indes ihre Pferde. Sie machen kein Feuer, denn es könnte sie verraten. Das Land ist flach. Man hat meilenweite Sicht trotz der Nacht. Denn am Himmel sind Mond und Sterne. Sie hört Ray dann sagen: »Komm aus dem Creek, Schwester. Ich habe für uns das Lager bereitet und vom kalten Proviant etwas zurechtgemacht. Brot, Bratfleisch und Trockenobst. Die Leute im Store haben uns genug mitgegeben. Komm heraus, kleine Schwester. Du kannst nicht ewig in dem kalten Creek hocken.« Sie fragt: »Haben wir auch Speck dabei, ich meine, fetten Speck?« »Haben wir«, erwidert er. »Dann komme ich, denn da kann ich mir mit dem fetten Speck die wunden Stellen einreihen. Oh, ich brauchte eine gute Wundsalbe.« Sie kommt nun aus dem Creek, ist nackt bis hinauf zum Bauchnabel. »Du bist wunderbar gewachsen, Schwester«, spricht er. »Ich glaube, dir könnte er alles vergeben und ...« »Er soll zur Hölle gehen«, unterbricht sie ihn. »Ich lebte damals glücklich bei den Indianern. Sie nannten mich Himmelsauge, und ich hatte eine Familie. Es war alles gut. Jeder Tag war ein Geschenk. Sie lehrten mich die Natur zu verstehen und alle Tiere und Pflanzen zu - 143 -
achten. Dann kamen diese Mörder und Banditen. Powell war der Anführer. Gewiß, er rettete mich gewissermaßen vor den anderen, denn diese hätten auch ein so junges Ding, wie ich damals eins war, nicht geschont. Aber ich war seine Beute. Er soll zur Hölle gehen, denn er zwang mich zu bösen Dingen. Irgendwie war sein Wesen stets gespalten. Einerseits war ich sein Besitz, und andererseits schickte er mich zu ändern Männern, um diese auszuspionieren oder gar mit Gift zu töten. Er machte mich zu einer Hure und Mörderin. Ich war ihm hörig, ganz und gar seine Sklavin. Dreimal fand ich die Kraft, um wegzulaufen. Doch seine Männer fingen mich wieder ein. Und dann fand ich dich, meinen Bruder, wieder. Aber dann versagtest du, warst zu dumm, um ihn mit dem Messer richtig umzubringen - zu dumm - zu dumm zu dumm ...« Sie beginnt nun tatsächlich zu weinen. Er aber zieht sie zu sich herunter auf das Lager und hüllt sie in die Decken, behält sie im Arm. Seit seinem Erlebnis mit der Farmerfrau, jener Ellinora Vancouver, deren Mann Bill er schließlich töten mußte, hat er nie wieder gute Gefühle für eine Frau verspüren können. Doch jetzt verspürt er tatsächlich so etwas wie brüderliche Liebe. Kim beruhigt sich allmählich in seinem Arm, hört auf zu weinen. Nach einer Weile flüstert sie: »Bruder, warum war das Schicksal stets gegen uns? Warum erhielten wir niemals eine Chance? Aber unser größter Fehler war gewiß, daß wir Powell töten wollten, damit ich als seine Witwe das Erbe antreten konnte. Das machte uns zu Geschwistern des Teufels. Und dafür erhalten wir nun die Strafe.«
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Er geht nicht auf ihre Worte ein, sondern murmelt: »Du mußt jetzt etwas essen, Schwester. Und dann will ich deine wundgerittenen Stellen mit dem fetten Speck einreihen. Denn bald müssen wir weiter - noch vor Tagesanbruch.« *** Es ist am späten Vormittag, als Clint Powell die beiden Flüchtlinge sichtet. Allein hätte er sie gewiß nicht eingeholt, sondern längst in der Nacht die Fährte verloren. Doch er hat einen Scout bei sich, einen Halbblutmann, von dem man sagt, daß er einer Mäusefährte über harten Fels folgen könne. Natürlich ist das übertrieben ausgedrückt, aber es ist wirklich so, daß dieser Blue Pete Walla einer der besten Fährtensucher und Jäger auf gewiß tausend Meilen in der Runde ist. Sie kommen über eine Bodenwelle, die auf der Prärie wie der Kamm einer erstarrten Dünung anmutet, und halten an. Sie sehen die beiden Verfolgten keine halbe Meile vor sich in der Tiefe einer meilenweiten Senke. Clint Powell wendet sich an Blue Pete Walla. »Gute Arbeit, Pete«, spricht er. »Ja, das war gute Arbeit. Doch jetzt brauche ich deine Hilfe nicht mehr. Den Rest mache ich allein. Hier, das ist dein Lohn!« Er wirft ihm einen Lederbeutel zu, in dem Golddollars klingeln. Pete schnappt das Ding mit raschem Griff. Dann zögert er.
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Aber Clint Powell sagt: »Ich brauche dich wirklich nicht mehr, Pete. Reite heim nach Omaha zu deiner Frau und den Kindern.« Da nickt der Halbblutmann, zieht sein Pferd herum und reitet auf der Fährte zurück, ohne sich noch einmal umzusehen. Clint Powell aber treibt sein Tier an. Wenig später sehen ihn die Geschwister, Kim und Ray, kommen. Sie treiben ebenfalls ihre Pferde an, doch dann bleibt Kimberly mehr und mehr zurück. Sie ist nur eine durchschnittliche Reiterin, und die Stunden im Sattel haben sie ziemlich zerbrochen. Da stößt Ray Hutch einen wilden Fluch aus, reißt sein Pferd herum und reitet Clint Powell entgegen. Als er an seiner Schwester vorbei muß, die ja zurückgeblieben ist, da sagt er heiser: »Er ist allein. Diesmal töte ich ihn richtig! Und dann reiten wir in Ruhe weiter.« Sie erwidert nichts, aber sie wendet ihr Pferd und sieht ihm nach. Ray Hutch und Clint Powell nähern sich im Trab auf ihren ziemlich erschöpften Tieren. Als sie nur noch zwei Dutzend Yard voneinander entfernt sind, halten sie an und sitzen ab. Alles geschieht jetzt nach einem unwandelbaren Ritual zwischen Revolvermännern. Sie nähern sich bis auf knapp zehn Schritte, halten an und nicken sich zu. »Ihr seid Geschwister, nicht wahr?« So fragt Clint Powell. Ray Hutch nickt nur. »Dann seid ihr auch die Geschwister des Teufels«, spricht Clint Powell und schnappt nach dem Colt. - 146 -
Auch Ray Hutch zieht, und er zieht so schnell wie noch nie zuvor in seinem Leben. Doch er ist nicht schnell genug. Als er am Boden liegt, da steht Clint Powell immer noch auf den Füßen, den rauchenden Colt in der Faust. Doch mit der anderen Hand winkt er Kimberly zu. Sie soll kommen. Und sie kommt. Ja, sie gehorcht, so wie sie früher stets gehorcht hat. Als sie bei ihm ist, da sitzt er schon wieder im Sattel. »Komm«, spricht er. »Wir reiten zurück. Und alles wird wieder so sein wie vorher. Vielleicht werde ich dich in Omaha verprügeln. So daß du eine Woche lang im Bett bleiben mußt. Aber nicht jetzt. Du könntest nicht mehr reiten. Also komm, Kimberly.« Sie trägt immer noch ihren Revolver. Und sie möchte die Waffe nun ziehen und um ihre Freiheit kämpfen. Doch sie wagt es nicht. Sie wirft einen traurigen Blick auf den Bruder und weiß, daß Ray tot ist. Nun laufen ihr die Tränen über die Wangen. Und sie fragt sich, warum das Schicksal nur immerzu gegen sie ist. Folgsam reitet sie an. *** Es ist am Nachmittag, als sie nicht mehr kann. Und es ist wieder jener Creek, den Ray und sie gestern in der ersten Nachthälfte erreichten und in welchem sie ihre wundgerittenen Stellen kühlte.
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Sie hält an und spricht fast tonlos: »Ich kann nicht mehr im Sattel sitzen. Ich bin so wundgeritten, daß ich blute. Ich spüre es.« Sie sitzt ab und geht mit ihrer Kleidung in den Creek, hockt sich hinein. In der Nacht entblößte sie sich, doch jetzt behält sie die Kleidung an. Clint Powell verharrt noch im Sattel. Als auch er absitzen will, da sieht er einige Reiter kommen. Er wird sich sofort darüber klar, daß da eine üble Bande angeritten kommt. Es sind fünf. Da sitzt er ab und blickt ihnen entgegen. Kimberly erhebt sich im Creek. Und da kommen sie herangeritten, abgerissen, bärtig, grinsend. Wahrscheinlich sind es Geächtete, Deserteure, steckbrieflich Verfolgte, die in beständigem Haß gegen die menschliche Gemeinschaft leben, weil sie von dieser gehaßt und gejagt werden. Sie blicken gierig auf Kimberly. Einer sagt: ,.He, Mann, es trifft sich gut! Wir haben schon lange keine Frau gehabt. Gib sie uns für eine Weile. Wir werden untereinander würfeln. Und du wirst sie dann wiederbekommen. Denn wir reiten nachher weiter. Also ...« Ja, sie sind der Abschaum dieser Erde. Clint Powell begreift es. Und so handelt er wortlos. Er schnappt den Revolver heraus und beginnt zu schießen. Als er den dritten Reiter aus dem Sattel schießt, da trifft es ihn. Er konnte gegen fünf Mann gar nicht gewinnen. Er hatte Kimberly opfern können und wäre am Leben geblieben. Sie hätten ihn fortreiten lassen. - 148 -
Doch er zog den Kampf vor. Als er am Boden liegt, da staunen die beiden überlebenden Kerle. Einer sagt: »Der muß verrückt gewesen sein, völlig verrückt.« Aber der andere murmelt: »Er war wohl ein stolzer Mann. Und diese Frau dort war es ihm wert.« Sie blicken nun auf Kimberly Powell-Hutch, die noch bis zu den Knien im Creek steht, den nassen geteilten Rehlederrock an den Beinen klebend. Und da sehen sie, daß sie ihre kleine Waffe in der Faust hält. Sie beginnt nun zu schießen, doch sie schießen zurück. *** Blue-Pete Walla hört die Schüsse in der weiten Nebraska-Prärie. Sie klingen meilenweit. Er hält an und kehrt dann um. Wenig später stößt er auf die Fährte der fünf Banditen. Und nun kann er sich einiges ausrechnen. Als er den Creek erreicht, da stößt er auf die Toten. Nur Kimberly lebt noch, aber es kann nicht mehr lange dauern mit ihr. Als er bei ihr kniet, da hört er sie flüstern: »Wer du auch bist, Mann, beerdige mich neben meinem Bruder. Ich will mit ihm zusammen im Grab liegen, so wie unsere Seelen gemeinsam in der Hölle sind.« Nach diesen Worten stirbt sie. Es gab bald keine Powell Line mehr. Ihre Agenten teilten dieses riesige Unternehmen untereinander auf. Und es entspann sich zwischen ihnen noch ein heißer Kampf. - 149 -
Omaha aber wuchs und wuchs, und ein Jahr später war es schon eine riesige Stadt. Denn die Eisenbahn wurde errichtet, die große Brücke gebaut und ... Aber das wäre eine andere Geschichte. Denn der Kampf um die wichtigen Lebensadern des Kontinents hörte nicht auf, mochte es sich um die großen Ströme oder die Bahnlinie handeln, immer ging es um Monopole und Macht.
ENDE
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