RAMSEY CAMPBELL
GESPENSTERSUCHE
Roman
Aus dem Englischen von
IRENE BONHORST
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE...
8 downloads
387 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
RAMSEY CAMPBELL
GESPENSTERSUCHE
Roman
Aus dem Englischen von
IRENE BONHORST
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/5932
Besuchen Sie uns im Internet: http: //www.heyne.de
Titel der englischen Originalausgabe
NEEDING GHOSTS
Deutsche Übersetzung von Irene Bonhorst
Redaktion: Wolfgang Jeschke
Copyright © 1990 by Ramsey Campbell
Englische Erstausgabe: A Legend Novella published by
Random Century Group, London
Mit freundlicher Genehmigung des Autors
Copyright © 1998 der deutschen Übersetzung
by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München
Printed in Germany Januar 1998
Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München
Technische Betreuung: M. Spinola
Satz: Schaber Satz- und Datentechnik, Wels
Druck und Bindung: Presse-Druck, Augsburg
ISBN 3-453-13328-5
Er muß immer das Schlimmste annehmen – sonst ist er verloren. Aber das ist er ohnehin schon, dieser Simon Mottershead, wie er auf der Suche nach seiner Familie durch seine Heimatstadt stolpert. Dabei ist er ein höchst talentierter Autor, nur mit der Wirklichkeit kommt er nicht zurecht, denn die spielt tückische Spielchen mit ihm. Ramsey Campbell gewann zweimal den begehrten World Fantasy Award und nicht weniger als fünfmal den British Fantasy Award für seine Romane und Erzählungen.
DANKSAGUNG
Meine Frau Jenny war wie immer von unschätzbarem Wert, obwohl sie dieses Buch nicht so komisch fand wie ich. Ich danke John Mottershead von der Buchhandlung Chapter One in Liverpool dafür, daß er mir seinen Nachnamen lieh, und mein ganz besonderer Dank gilt Deborah Beale, meiner Lektorin beim Legend-Verlag, ohne deren Ermutigung Gespenstersuche niemals geschrieben worden wäre.
Für Penny und Alan
und Jimmy und Robin
– etwas von meiner Dunkelheit,
damit ihr euch hindurchtastet
E
r kennt diese Dunkelheit. Obwohl sie sich an den Augen samtweich anfühlt, bedeutet das nicht, daß er blind ist. Er braucht nur auf der Stelle liegen zu bleiben, bis ihm bewußt wird, wo er ist. Sobald sein körperliches Empfinden zurückgekehrt ist, wird er wissen, in welche Richtung er liegt. Ihm ist, als hätte er vergessen, wie es geht, die Augen zu schließen und zu atmen. Vielleicht könnte er rufen und eine Vorstellung vom Ausmaß seiner Umgebung dadurch bekommen, was mit seiner Stimme geschieht, doch ihm fällt nichts zu sagen ein. Der Gedanke, wortlos zu rufen, behagt ihm nicht, ebenso wie die Möglichkeit, daß er vielleicht nicht weiß, was er zu rufen beabsichtigt hat, bevor er sich selbst hört. Jedenfalls verdichtet sich sein Empfinden für sich selbst allmählich. Seine Arme liegen ausgestreckt parallel zu beiden Seiten seines Körpers, die Hände mit den Innenflächen nach unten. Wie dünn sie sind! Er hat nicht die Absicht, sie vor die Augen zu heben, für den Fall, daß er unfähig ist, sie zu sehen. Die Dunkelheit muß langsam weichen, und unterdessen besteht für ihn keine Veranlassung, sich zu bewegen; hat er nicht allerhand Aufwand getrieben, um zu diesem Frieden zu gelangen? Jetzt, da er sich des Restes seines Körpers bewußt ist – der ausgestreckten Beine, der nach oben gerichteten Zehen, der straffen Haut über den Rippen – müßte es ihm eigentlich gelingen, das Stilliegen zu genießen. Doch die Dunkelheit ist nun nicht mehr absolut. Sie gibt nach und nach Andeutungen von Formen preis, die hoch und unbeweglich dastehen, als warteten sie darauf, gesehen zu werden. Diejenigen, die sich direkt vor ihm erheben, sind anscheinend von Gewändern umwallt. Und hört er nicht flüsternde Stimmen? Er denkt an Richter, die ihn mit Augen, die die Dunkelheit durchbohren, beobachten, Richter, die auf
die Morgendämmerung warten, damit sie sie selbst und ihn enthülle. Zu seiner Rechten kann er mit Mühe die Umrisse eines offenen Kartons ausmachen, der mindestens so groß ist wie er selbst. Darin schwebt ein Gegenstand, der so seltsam proportioniert wirkt, daß er nicht vollständig zu sein scheint. Zu seiner Linken steht ein geöffneter waagerechter Karton, aus dem Gestalten baumeln, als hätte sie die Anstrengung des Herauskletterns auf halbem Wege erschöpft. Er hofft inbrünstig, daß das Flüstern nicht aus einem der Kartons kommt. Seine geballten Fäuste öffnen sich, er spreizt die Finger und greift bebend nach beiden Seiten neben sich. Als er die Arme bis zur äußersten Reichweite ausstreckt, gelingt es ihm, die Kanten der unförmigen, quietschenden Matratze zu packen, und diese Handlung verschafft ihm ein gewisses Bewußtsein für den Raum. Das da vor ihm sind keine Gestalten in wallenden Gewändern, es sind schwere Vorhänge, und er ist sich ziemlich sicher, daß er, wenn er sie auseinanderzöge, um mehr Licht hereinzulassen, erkennen würde, daß die Gestalt, die mit hochgezogenen Beinstümpfen und handlosen Affenarmen im Schrank schwebt, nichts dergleichen ist. Er fährt mühsam mit den Händen über die Matratze, und das Schwingen sowie Kontur und Schrägstellung jeder einzelnen verdeckten Sprungfeder beleben seine Erinnerung aufs neue. Er gräbt die Fingerknöchel in den zerschlissenen Bezugstoff und drückt sich in eine sitzende Stellung hoch, dann schwenkt er die Beine in die Dunkelheit und schiebt sie Stück für Stück nach unten, bis seine Füße den Boden berühren. Der Teppich ist abgewetzt, und er kann die Struktur der Bodenbretter erfühlen. Er stößt sich vom Bett ab und tapst zu den Vorhängen, hinter denen er das Flüstern hört. Er schiebt die
Hand in den Schlitz in dem muffigen Samt und zieht die Vorhänge auseinander. Die Nacht tanzt direkt vor den verschmierten Fenstern. Pappeln, deren Laub von der Dunkelheit in Kohle verwandelt worden ist, werfen die langen Köpfe im Wind hin und her. Einige Meter unter ihm pflügt der Wind durch das Gras eines verwilderten Gartens, der von Bäumen gesäumt ist. Auf der Innenseite des Fensters, an der unteren linken Ecke der unteren Scheibe, zupft ein Luftzug an einem abtrünnigen Blatt, das sich im glitzernden Netz einer Spinne verfangen hat. Soviel also zu dem Flüstern, so täuschend artikuliert es auch klingt. Er wendet sich wieder dem Raum zu. Sein Anzug hängt auf einem einsamen Kleiderbügel im Schrank, andere Kleidungsstücke von ihm quellen aus den Schubladen einer Kommode. Er ist es einfach nicht gewöhnt, allein im Dunkeln aufzuwachen, das ist alles. Nun, nachdem er einmal aufgestanden ist, wird er auf bleiben und bei Anbruch der Morgendämmerung bereits unterwegs sein. Er tapst aus dem Raum und durch den verschrammten Korridor, ohne das Licht über der Treppe anzuschalten. Als er im Bad an der Lampenschnur zieht, grüßt die Glühbirne ihren Widerschein in dem Spiegel voller weißer Kacheln, und etwas verschwindet im Abflußloch der angeschlagenen Badewanne. Es muß ein Tropfen aus einem der Wasserhähne sein, deren marmorne Augäpfel sich über ihrer Messingschnute wölben; er sieht eine glitzernde Bewegung, als er verschwindet. Er überquert den unebenen Boden und stellt sich vor den Spiegel. »Da bist du also, alte Magerfratze. Dir fehlt gar nichts, das nicht mit einem Messer wieder in Ordnung gebracht werden könnte.« Er ist absichtlich fröhlich, denn er hat sich noch nie etwas daraus gemacht, wie elektrisches Licht um diese Tageszeit wirkt – zu grell, als ob sein Schein sich alle Mühe gäbe, die Dunkelheit zu vertreiben, obwohl er zu schwach
dafür ist. Sein Gesicht gleicht einer Papiermaske; seine Haut ist fast glatt, mit Ausnahme der Falten, die die dürftigen Strähnen grauen Haars unterstreichen, und fast weiß, abgesehen von einem rosafarbenen Hauch in den beiden Zwillingskuhlen der eingefallenen Wangen, in den großen Nüstern der langen Nase, auf den gekräuselten Lippen. Die Stoppeln auf dem spitzen Kinn vermitteln ihm ein Gefühl der Unsauberkeit, und er durchstöbert das Durcheinander neben dem Waschbecken nach Rasierzeug. Die meisten Gegenstände dort haben offenbar nichts mit ihm zu tun. Schließlich findet er zwischen den verklebten Gläsern ein Rasiermesser, dessen Klinge in den Griff eingeklappt ist. Er gräbt den Daumennagel in die halbmondförmige Vertiefung in der Klinge, die so bereitwillig herausspringt, daß er ein Zusammenzucken nicht vermeiden kann. Was ist aus seinem elektrischen Rasierapparat geworden? Er hat sich unauffällig zwischen den Gläsern eingereiht, sein Doppelkopf ist mit einer Schicht Talcumpuder verkleistert. Nachdem er sich die Sache noch einmal überlegt hat, bleibt sein Kinn, wie es ist. Er beugt sich über das Waschbecken und benetzt sich das Gesicht mit Wasser aus dem rechten Hahn, der wie ein schlafendes Tier knurrt; dann trocknet er sich mit einem Handtuch ab, das ein Loch von der Größe seines Gesichts hat. Er läßt mittels der Lampenschnur die Dunkelheit wieder herabsinken und hastet in sein Zimmer. Diesmal schaltet er das Licht über dem Bett ein. Die Wände verschlucken einen großen Teil des Scheins, den die düstere, unbedeckte Glühbirne verbreitet, und ihre verschwommene Oberfläche scheint bereits das Muster und die Farben der Tapete aufgesogen zu haben. Obwohl das Zimmer geräumig ist, enthält es wenig Mobiliar: den offenen Schrank, die überquellende Schubladenkommode, das Doppelbett mit der nackten Matratze, deren Streifen auf den Spuren der
ausbeulenden Sprungfedern verlaufen – gerade ausreichend, so denkt er, um zu demonstrieren, daß es sich um ein Schlafzimmer handelt. Er streift den Anzug vom Kleiderbügel und hebt die Schuhe auf, die darunter stehen, als wären sie von den Beinen abgefallen. Als er angezogen ist, macht er einen Rundgang durchs Haus. Er schließt den Deckel der wuchtigen Toilette und wischt sich die Hände mit einem zerschlissenen Handtuch ab, dann schlägt er die Badtür zu. Zwischen diesem und seinem Raum liegen zwei Schlafzimmer, jedes mit einem ungemachten Einzelbett bestückt. Licht, das durch Lampenschirme fällt, taucht seine Hände in Rot, während er die Wandhalterung abtastet, um sich zu vergewissern, daß die Leuchten ausgeschaltet sind. Während er die beiden Räume jeweils rückwärts verläßt, schaltet er das Licht aus und schließt die Tür, indem er den Türknauf so lange festhält, bis er fühlt, wie das Schloß einrastet. Das Klacken seiner Schuhe auf der Treppe ohne Teppich verrät ihm, wie leer das große Haus ist, und erinnert ihn daran, daß er nicht die Absicht hat, es noch lange leer bleiben zu lassen. Wenn er erst seine Buchhandlung eröffnet hat und die Kunden sowohl Bücher an ihn verkaufen als ihm abkaufen, dann wird er einen Teil seines Lagers in diesen unbenutzten Zimmern unterbringen. Er wandelt durch den L-förmigen Flur zur Küche, wo das Licht einer Leuchtstofflampe in seiner Röhre glimmt, während er die Birnen der Gaslampen festschraubt und anschließend bäuchlings auf den Steinfliesen des Bodens liegt, um die elektrischen Steckdosen in den schwitzenden braunen Wänden zu untersuchen. Den Raum neben der Küche braucht er nicht zu überprüfen, da er verschlossen ist. Er wirft einen Blick in die Räume, in denen nach Entfernung der Zwischenwand der Laden untergebracht werden soll. Stühle lehnen an einem Eßtisch unter der einzigen
intakten Glühbirne eines Kandelabers; ein gewaltiges Möbelstück kauert vor einem Fernsehapparat mit angeschlossenem Videorecorder. Er schließt die Türen und nimmt seinen Rucksack von dem Pfosten am Fuß der Treppe. Er wirft sich den Rucksack über die Schulter und verläßt das Haus. Der Wind hat nachgelassen. Die Pappeln sind von einem teerfarbenen Himmel eingehüllt. Bevor er das Ende des überwucherten Pfads erreicht hat und in die Allee einbiegt, sind seine grünlichen Schuhe schwarz von Tau. Die Straße führt bergab, zwischen Häusern hindurch, die jenseits der Bäume weiß leuchten. Als er zurückblickt, um sich zu vergewissern, daß er nicht versehentlich ein Licht hat brennen lassen, sieht er, daß alle Fenster seines Hauses dunkel sind; alle Vorhänge sind geöffnet mit Ausnahme derer des verschlossenen Raums. Es überrascht ihn nicht, daß er allein auf der Straße ist; vermutlich steht niemand so früh auf. Er kann sich nicht daran erinnern, daß er jemals seinen Nachbarn begegnet ist, doch wenn sie ihm aus dem Weg gehen wollen, soll ihm das nur recht sein. »Er ist wieder unterwegs«, verkündet er in voller Lautstärke. »Verschließen Sie alle Türen, verstecken Sie sich hinter den Möbeln und ziehen Sie sich die Decke über den Kopf, sonst weiß er, daß Sie da sind.« Die einzige Reaktion, wenn man es als Reaktion auffassen will, ist das Auffliegen eines Vogels, der sich aus den Bäumen erhebt und über ihm dahinzieht, unsichtbar schwarz, und dabei ein Geräusch verursacht wie das Rauschen einer Sense. Als das vorbei ist und er in Schweigen versinkt, hört er, wie der Tau von den Bäumen neben der Straße tropft. Spinnfäden liebkosen sein Gesicht, und er stellt sich die Nacht vor als ein im Entstehen begriffenes Netz. Er bleibt auf dem Bankett der
Teerstraße stehen und fragt sich, ob er wohl, wenn er leise genug ist, das Raunen der Fäden hören kann. Voller Unbehagen über diesen Gedanken – nicht so sehr wegen der Möglichkeit, es zu hören, als wegen des Drangs, es zu versuchen –, eilt er weiter die Allee entlang und hofft, daß seine Schritte es übertönen mögen. Er ist froh, als am Ende der Straße der Anlegesteg sichtbar wird. Vielleicht ist er zu früh dran. Obwohl hier eine Fähre vertäut ist, ist sie unbeleuchtet. Als er seinen Weg hügelabwärts fortsetzt, hat es den Anschein, als ob die Lichter auf der anderen Seite der Bucht im schwarzen Wasser versinken würden. Genau in dem Moment, als er zwischen den beiden letzten Pappeln hervortritt, verschwindet das Licht, und er hat ein Gefühl, als ob alles – der Himmel, die Bäume, das Land, das Meer – zu einem einzigen lichtlosen Medium verschmolzen wäre. Der Anker quietscht, als er über die Laufplanke schreitet und den Fuß auf das Deck setzt. Alle Treppen zum oberen Deck sind mit Seilen versperrt, und die Türen der Salons sind verschlossen. Er durcheilt den schmalen Decksstreifen neben dem vorderen Aufenthaltsraum, als die Laufplanke mit lautem Kettenrasseln hochgezogen wird und die Fähre ein Tuten ausstößt, das die Bohlen unter seinen Füßen zum Beben bringt. Sofort, als ob der Ton Bewegung in die Wellen gebracht hätte, schlägt Wasser gegen den Schiffsrumpf, während der Kahn vom Steg wegtreibt. Wenn das gelegentliche Quietschen nicht wäre, das ihn an die Geräusche erinnert, die nachts von einem Haus ausgehen, könnte er kaum glauben, daß er sich auf einem Schiff befindet. Als die Maschine schließlich anfängt zu dröhnen, ist die Fähre bereits ein ganzes Stück weit vom Ufer entfernt. Vom oberen Deck aus könnte er wahrscheinlich die Lichter seines Ziels sehen. Er greift nach den Seiten des Bugs und lehnt sich nach vorn wie eine Galionsfigur, doch er kann nicht unterscheiden,
ob der schwankende Schimmer, der die Schwärze vor ihm zu teilen scheint, wirklich ist oder ob es sich nur um das Flackern handelt, das so oft unter seinen Augenlidern auftritt, wenn er nicht schlafen kann. Er verkeilt die Schenkel im V des Bugs und beobachtet, wie der Wald die Gebäude entlang der Allee schluckt. Er empfindet den Anblick auf seltsame Weise als befriedigend, und deshalb wendet er den Blick nicht mehr nach vorn, bis die Fähre fast die gegenüberliegende Seite der Bucht erreicht hat. Als der Steuermann – ein durch die Instrumente des Steuerhauses beleuchtetes Brustbild wie eine Wachsfigur – die Maschine drosselt, schlüpft er aus seiner Nische am Bug, dreht sich um und sieht ihm zu. Die Anlegerampe ist breiter als die unter den Pappeln. Mehrere Gestalten erheben sich von Bänken unter einem Schutzdach am anderen Ende des Stegs. Flutlichter tauchen die Holzbohlen in einen bleichen Schein und zeigen ihm die Gesichter der Wartenden – das Fleisch so weiß wie Kerzen, die Augen wie Glas –, die sich zusammendrängen und ihm am Ende des Stegs begegnen werden. Er zwängt sich an dem Obermaat vorbei, der die Laufplanke heruntergelassen hat, einem bulligen Mann, dessen schwarzer Bart so sehr dem Material seiner Wollmütze gleicht, daß seine Augen und seine Nase unecht aussehen; dann eilt er unter dem Schutzdach hindurch zum Ausgang. Nur eine der vielen Zahlkabinen ist besetzt. Die Frau darin ist in ein dickes Taschenbuch mit vielen Eselsohren vertieft; der Einband des Buches hängt lose herum und trägt einen SecondHand-Stempel. Sie wartet, bis er eine Münze unter dem Glasfenster der Kabine hindurchschiebt, bevor sie das flache, verschlafene Gesicht hebt, und er denkt an die Automaten mit den Münzschlitzen, die es in seiner Kindheit an der Seepromenade gegeben hat, Glaskästen mit Marionetten, die taumelnd zum Leben erwachten, wenn man sie mit einer
Münze fütterte. Er geht auf den Ausgang zu, als sie auf ihrem Hocker herumwirbelt und mit dem größten Ehering, den er je gesehen hat, gegen das Glas trommelt. »He da!« Wenn die Gebühr erhöht worden ist, dann könnte sie ihm zumindest sagen, um wieviel. Doch sie starrt ihn nur an und schiebt die Hand unter dem Glas hindurch, und er meint, sie deutet auf ihn, bis er die Münze unter ihrer Hand bemerkt. »Haben Sie es nicht nötig, Ihr Wechselgeld mitzunehmen?« sagt sie. »Sie haben nur für mich allein kassiert.« »Das hat auch seine Richtigkeit, es sei denn, Sie verstecken jemanden in der Tasche.« »Ich habe ein Fahrrad dabei.« Sie mustert ihn, als ob sie sich weigerte, einen Scherz zur Kenntnis zu nehmen, obwohl sie ganz genau versteht, was er meint. Er deutet zur Schranke, wo er die Maschine angelehnt hat, als sie ihn zurückrief, und dann wird ihm mit Entsetzen klar, daß er das Fahrrad zu Hause gelassen hat. Als er sich entschuldigt und nach den Münzen greift, krümmen sich ihre Finger wie Raupen, und sie drückt den Rücken des Taschenbuchs mit solcher Kraft flach, daß die Seiten, die sie bereits gelesen hat, aus dem Bund brechen und auf den Kabinenboden fallen. Er hebt die Schranke mit dem Knie hoch und marschiert durch den Ausgangstunnel, wobei er sich fragt, was er wohl noch alles vergessen hat, und ein Gefühl hat, als zöge es ihm den Boden unter den Füßen weg. Auf der anderen Seite der breiten, verlassenen Straße fangen Bürogebäude aus Beton Bruchstücke des weißen Lichtscheins der Laternen in ihren zahlreichen Fenstern auf. Das Innere der doppelstöckigen Busse, die auf dem Platz einer Omnibusstation gegenüber des Anlegestegs der Fähre abgestellt sind, wirkt mondhell. An allen sechs Haltestellen wartet jemand.
Während er den blassen Teerbelag überquert, beobachten ihn die sechs Männer schweigend. Sie alle tragen dunkle Anzüge – schwarz, es sei denn, die Lichtverhältnisse verfälschen die Farbe ihrer Kleidung ebenso, wie sie ihre Gesichter bleichen. Sie reagieren nicht, als er ihnen zunickt, und deshalb bemüht er sich, einfach keine Notiz von ihnen zu nehmen, während er sich nach einer Informationstafel umsieht. Die Fahrpläne an den Haltestellen sind abgerissen worden; selbst die Nummern auf den Metallfahnen sind durch Schmierereien unleserlich gemacht worden, wodurch Siebener zu Neunern, Neuner zu Achtern, ganze Zahlenreihen zu einem wilden Muster geworden sind. Computergesteuerte Anzeigen vorn an den Fahrzeugen geben die Ziele an, doch sie verwirren ihn. Haben die Computer eine Störung? Rumpelstilz, Blindlingen, Schädelplatte, Schwabbel-babbel, Kuddelmuddel, Heiligenblick, Himmelsau – er kann nicht glauben, daß es solche Orte gibt; vielleicht haben sich die Fahrer mit diesen Namen Scherze erlaubt, nachdem die Busse nicht mehr im Einsatz sind. Die Männer an den Bushaltestellen warten offenbar darauf, daß er sich irgendwie verhält, und er kann sich nicht des Verdachtes erwehren, daß es Fahrer sind. Er lehnt sich an ein Gebäude, um zu warten, bis jemand in einen Bus einsteigt. Die Männer wenden sich von ihm ab und tauschen Blicke; sie rufen einander etwas zu. »Ich bin weg, sobald ich den Kopf hinlege.« »Ich hab meinen unter der Decke, bevor die Sonne am Himmel steht.« »Es gibt nichts Schöneres, als zu schlafen, wenn die Welt weit weg ist.« »Es gibt nichts Schlimmeres als die Unfähigkeit abzuschalten.«
»Du meinst das arme Schwein, das das nicht geschafft hat, obwohl er sich zur Ruhe hätte begeben sollen?« »Und der es auch niemand anderem erlaubte.« Das hört sich wie eine einstudierte Routine an, wobei das Wort systematisch in der Reihenfolge von links nach rechts weitergegeben wird, und er hat das Gefühl, als würden sie eigentlich zu ihm sprechen. Er spürt Wut in sich aufsteigen, die so schwarz ist, daß sie ihm die Kehle zuschnürt, als ein weiterer Mann aus einem Untergrund-Ausstieg neben ihm, einer schmalen Gasse zwischen den Gebäuden, herauskommt. Dieser muß ein Fahrer sein, obwohl er fast ein Zwerg ist; er trägt die entsprechende Uniform. Er trippelt zum zweiten Bus von links und dreht an einem Knopf, der die Falttür öffnet, und es kann kein Zweifel daran bestehen, daß er derjenige ist, an den man sich wenden muß. »Entschuldigen Sie…« Der Fahrer schiebt einen Finger unter den Rand seiner Mütze. Dicke Brillengläser erwecken den Anschein, als ob seine Augen die obere Hälfte seines verschrumpelten Gesichts einnähmen. »Es ist noch nicht geöffnet. Sie sehen doch, daß sich von den anderen noch niemand bewegt.« Und tatsächlich, all die dunkelgekleideten Gestalten haben sich in Richtung ihrer Unterhaltung gewandt und sind in einer Haltung des Lauschens erstarrt; einige haben die Hände zu den Ohren erhoben. »Ich wollte nur fragen, welcher Bus nach…« Er kann sich nicht erinnern. Mit dem Verlust der Worte ist offenbar auch sein Gehirn eingeschrumpft und hat sich verdunkelt. Der Fahrer wartet, als ob nur dieses Wort ihn erlesen könnte, und er zieht die Augenbrauen hoch, bis die Augen die Gläser seiner Brille ausfüllen. Endlich taucht ein Name aus der Dunkelheit auf. »Nach Mottershead. Welcher Bus fährt nach Mottershead?« »Hab noch nie davon gehört«, sagt der Fahrer triumphierend und klettert in den Bus. »So heißt hier in der Gegend nichts.«
»Doch, natürlich, das gibt es.« Die Falttür breitet sich flach in ihrem Rahmen aus, und er ist gerade im Begriff, mit dem Daumen gegen das von Fingerabdrücken verschmierte Glas zu pochen, als ihm klar wird, daß der Ort nicht Mottershead heißt; er selbst heißt so. Er weicht zurück und drückt das Rückgrat gegen die Fassade eines Bürogebäudes, in dem Schreibmaschinen abgedeckt sind wie Reihen von Köpfen unter Kapuzen. Er beherrscht sich, um den Kopf nicht dem Beton zuzuwenden, als der Fahrer, der sich in den Sitz hinterm Steuer gehievt hat, die Tür erneut öffnet und ihm den Rumpf entgegenbeugt. »Haben Sie vielleicht noch einen anderen Namen, den Sie mir nennen können?« Mottershead glaubt, einen Ausweg aus der Falle zu sehen. »Wohin fahren Sie?« »Steht drauf.«
Vielleicht gibt es wirklich eine Gegend, die Augenende heißt. Wenn Mottershead nicht in das Fahrzeug einsteigt, ist er allein mit fünf der sechs Männer, die seine peinliche Ungeschicklichkeit miterlebt haben, nachdem der sechste dem Fahrer ein Plastikkärtchen vor die Nase gehalten und auf dem vorderen Sitz im unteren Teil Platz genommen hat. Er beobachtet Mottershead mit Interesse und bohrt hingebungsvoll mit dem Zeigefinger im Nasenloch. »Das ist mir recht«, sagt Mottershead zu dem Fahrer und steigt die Stufen zur Plattform hoch. In der Tasche hat er nur eine Zwanzigpfundnote und das Wechselgeld von der Fähre. Der Fahrer streckt den Arm aus seiner metallenen Einfriedung und pflückt die Münze aus Mottersheads Hand. »Ich werde es ausrufen, wenn Sie Ihr Geld abgefahren haben«, sagt er und läßt den Motor an.
Mottershead steht auf der Treppe, als das Fahrzeug ruckartig beschleunigt und auf die Straße prescht, und er macht sofort einen Satz nach vorn. Er umfaßt das röhrenförmige Geländer und zieht sich zum oberen Deck hinauf, wo er auf den linken Vordersitz zutaumelt und sich darauffallen läßt, wobei er sich mit den Absätzen gegen die Verschalung hinter der Fahrtzielanzeige abstützt. Die Aussicht nach vorn hat sich verändert. Gebäude, die er zunächst für leerstehende Büros gehalten hat, mit zerbrochenen Fensterscheiben und vom Alter dunkel gewordenen Fassaden, spiegeln sich über die Straße hinweg ineinander. Es sind Lagerhäuser, die von den immer selteneren Straßenlaternen beleuchtet werden. Zu seiner Rechten glitzert schwarzes Wasser durch die Lücken zwischen den Gebäuden, während auf der ansteigenden Straße, kaum breiter als der Bus, sein Blick nach links auf unbeleuchtete Häuser fällt, die dicht aneinandergedrängt zu beiden Seiten der Fahrbahn stehen, die immer schmaler zu werden scheint, je höher sie kommen. Er wird bei der ersten Second-Hand-Buchhandlung aussteigen, die geöffnet ist. Er wird bestimmt nicht aus dem Bus geworfen werden, bevor er ihn in eine Gegend mit Geschäften gebracht hat. Als der Bus langsamer wird, drückt er die Füße fester gegen das nachgiebige Material. Zwei Männer stehen unter einem mit mannigfaltigen Aufschriften versehenen Betonunterstand an der Ecke einer breiten Straße; der vordere hat einen weißen Stab wie eine Antenne ausgestreckt, um das herannahende Fahrzeug zu ertasten. Der Bus kommt quietschend zum Stehen, und Mottershead hört, wie sich die Tür auffaltet und der Stock allmählich nach oben tappt. Er geht davon aus, daß der Fahrer seinen Fahrstil etwas mäßigen wird, doch der Wagen macht einen Satz nach vorn wie ein Rennhund beim Start. Er macht sich zum Helfen bereit,
als er hört, daß der Begleiter des Mannes ebenfalls die Stufen heraufkommt. Er beobachtet ihre Spiegelbilder in der Glasscheibe vor sich, während der Mann mit dem Stock nach dem nächsten Sitzplatz tastet und sich darauf niederläßt. Mottershead ist erschüttert, als er sieht, daß dessen Begleiter ihn genau nachahmt, und das um so mehr, als ihm klar wird, warum er sich so verhält. Beide Männer sind blind. Wenn sie den Bus nicht vor Mottershead verlassen, werden sie erfahren, daß er ihnen keine Hilfe angeboten hat. Der Wagen wird wieder langsamer, und er hat Angst, daß der Fahrer ihn ausrufen wird. Nein, jemand winkt, damit der Bus anhält, ein Mann mit einem Stock, der neben dem Wartehäuschen einer Haltestelle gestanden hatte, humpelt auf die Straße. Die Tür rastet ein, der Bus braust zwischen den Lagerhäusern davon. Der neue Fahrgast braucht eine ganze Weile, bis er die Stufen erklommen hat. Oben bleibt er stehen, umfaßt das Geländer, krümmt die Schultern und wendet den Kopf wie eine Schildkröte hin und her. »Wer ist hier?« fragt er. Auch er ist blind. Mottershead kämpft noch gegen den schuldbewußten Drang an, ihm zu antworten, als der Mann mit dem Stock sagt: »Wir sind’s.« »Das habe ich mir gedacht. Niemand mit einem Funken Verstand ist so früh schon unterwegs.« Er taumelt durch den Gang und legt jedem der beiden Männer die Hand auf den Schädel, um sich abzustützen; dann setzt er sich vor sie. Den dreien ist es gleichgültig, wie dunkel es ist, überlegt Mottershead und fragt sich, welche Berufe sie wohl ausgeübt haben mochten. Von welchem Beruf hat er selbst sich eigentlich zur Ruhe gesetzt? Bevor er sich darum bemühen kann, sich zu erinnern, lenkt ihn die dünne Stimme des Neuhinzugekommenen ab. »Hat er sich um den Strom gekümmert?«
»Der doch nicht«, sagt der Mann mit dem Stock. »Der hat doch viel zuviel damit zu tun, an sich selbst zu denken.« »Hat keinen Gedanken für seine Leute übrig«, fügt sein Begleiter hinzu. »Man könnte meinen, daß er aufhorcht, wenn man versucht, ihm mitzuteilen, daß seine Lichter ausgehen werden.« »Wir werden unseren Spaß haben, wenn sie erloschen sind.« »Es wird ihm leid tun, daß er seine Augen braucht.« Inzwischen ist Mottersheads Verlegenheit überlagert von Nervosität. Bestimmt würden sie nicht über solche Dinge sprechen, wenn sie wüßten, daß ihnen jemand zuhört. Er späht hinaus in die vorbeirauschenden Gassen in der Hoffnung, etwas zu sehen, das ihm einen besseren Grund liefern würde, den Bus zu verlassen, als nur seine versagenden Nerven. »Ich erinner mich daran, wie die Lichter mal durchbrannten und ich meinem Vater die Hölle heiß gemacht habe«, sagt der Mann mit dem Stock im selben Moment lachend, als Mottershead einen Blick auf eine beleuchtete Gegend hinter zwei Parallelgassen erhascht, die wie der Anfang einer breiten, von Geschäften gesäumten Straße aussieht. Selbst wenn er dort warten müßte, bis irgendeine Buchhandlung aufmachte, wäre das immer noch entschieden angenehmer, als sich in diesem Omnibussitz zu verstecken. Er setzt die Füße auf den geriffelten Boden und umklammert die Rückenlehne des Vordersitzes; er zieht sich hoch und schiebt sich in den Gang. In dem Fahrzeug gibt es keine Einrichtung, um sich mit dem Fahrer zu verständigen. Mottershead hätte rufen oder sich geräuschvoll bewegen können, doch er wollte die drei Männer nicht aufschrecken. Er schleicht auf Zehenspitzen zur Treppe und klettert behutsam hinunter, als die drei die blassen, glatten Gesichter in seine Richtung wenden. Alle haben die Augenlider geschlossen, und sie sind so flach, als wären keine
Augen dahinter. Als er auf den Stufen stolpert, bricht das Trio in schallendes Gelächter aus. Sie haben die ganze Zeit über von seiner Anwesenheit gewußt. Wütend und verwirrt trampelt er nach unten und ruft: »Anhalten!« Der Fahrer bremst, als Mottershead das untere Deck erreicht, und Mottershead muß nach dem einzigen Halt in seiner Reichweite grapschen – der Schulter des Mannes im dunklen Anzug. »Was soll der Aufstand?« schimpft der Fahrer. »Wollen Sie, daß wir alle einen Herzinfarkt bekommen?« »Verzeihung«, sagt Mottershead zu dem Fahrgast, womit er sich nicht nur dafür entschuldigt, daß er ihn angefaßt hat, sondern auch, daß er sein Geheimnis gelüftet hat. Der Oberarm des Mannes ist unnachgiebig wie Plastik, es muß sich um eine künstliche Gliedmaße handeln. Während der Bus wieder an Geschwindigkeit zulegt, wankt Mottershead zur Tür und sieht die beleuchtete Gegend nur eine Straße weit entfernt. Er schreit: »Lassen Sie mich hier aussteigen.« »Sie sind bei weitem noch nicht dort, bis wohin Sie bezahlt haben.« »Hierher möchte ich«, preßt Mottershead zwischen den Zähnen hervor. »Das bezweifle ich.« Vielleicht liegt es an seiner Statur, jedenfalls ähnelt der Fahrer inzwischen einem schlechtgelaunten Kind, das bei einem Spiel seinen Kopf nicht hat durchsetzen können. »Sie bekommen kein Wechselgeld heraus«, sagt er. »Behalten Sie das Wechselgeld, wenn es Sie glücklich macht. Aber öffnen Sie die Tür, sonst mache ich es selbst.« Der Fahrer läßt die Tür mit Schwung auffliegen, und der Wind heult durch den Bus. Mottershead versucht sich darauf einzustellen, die offensichtliche Herausforderung anzunehmen, als der Fahrer mit Wucht auf die Bremse tritt, so daß er fast
von der Plattform gefallen wäre. »Danke«, sagt Mottershead mühsam und hält sich am Bus fest, während er die Stufen hinunterklettert. Die Tür flattert wie ein verkrüppelter Flügel, und er hört, wie der Fahrer den Fahrgästen verkündet: »Er bildet sich ein, Wechselgeld macht uns glücklich.« Das Fahrzeug donnert davon, einen Schweif von Abgasen hinter sich herziehend. Als sich der Auspuffqualm verzieht, ist der Bus noch immer zu sehen, ein Miniaturspielzeug weit unten in der langen, geraden Straße, unter einem tiefen schwarzen Himmel. Dort unten sehen die Gebäude fensterlos aus, was an der Entfernung liegen kann. Er blickt dem Bus nach, bis er außer Sicht verschwindet, als ob die Perspektive ihn zu einem Nichts hätte schrumpfen lassen. Dann blickt er sich um, wo er ihn abgesetzt hat. Die nächste Seitengasse führt offenbar in einen lichtlosen Durchgang. Er ist im Begriff, in eine breitere Öffnung einzubiegen, wo er Licht sieht, doch dann erlaubt ihm die obenhängende Straßenlaterne, den Inhalt eines Schaufensters einige Meter im Innern der Passage zu erahnen – Stapel von alten Büchern. Er schwenkt in die schmale Gasse ein und hört, wie der Rucksack an den Mauern entlangscharrt. Während die Dunkelheit zu seinen Füßen immer dichter wird, türmen sich die Seiten der Lagerhäuser hoch über ihn. Wo die Gasse einen Bogen beschreibt, gelingt es einem Fenster des ersten Gebäudes, eine Spur des düsteren Lichtes einzufangen, das die ausgestellten Bücher beleuchtet. Er taumelt durch die Gasse bis zu dem Fenster, wobei sein Rucksack wie ein behinderter Verfolger gegen die Mauern prallt. Er zurrt die Schulterriemen des Rucksacks fest und neigt den Kopf in dem Versuch, die Rückentitel der Bücher zu entziffern, als ihm bewußt wird, daß das Fenster zu einem
Wohnhaus gehört. Es könnten darin zwar Bücher zum Verkauf angeboten sein, doch das erscheint ihm in zunehmendem Maße unwahrscheinlich, je deutlicher er den Raum hinter den Büchern erkennt. Es ist ein Schlafzimmer, und obwohl die Unordnung auf dem Bett vor allem aus Decken besteht, kann er mit Mühe eine Gestalt ausmachen, die aus ihnen hervorragt und deren kahler Schädel glänzt. Bevor er Zeit hat, sich zurückzuziehen, öffnen sich die Augen flatternd, und der im Bett Liegende erhebt sich wie eine Maske auf einem Pfahl, eingehüllt in Decken und einen Schrei ausstoßend, der Mottersheads Entsetzen wiederzugeben scheint. Warum hat der Bewohner des Zimmers Bücher ins Fenster gestellt, wenn er keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen will? Vielleicht sollen sie dem Zweck dienen, ihn zu verbergen, sozusagen als Schutzwall, um der Welt den Zugang zu versperren. Es ist wohl ziemlich gleichgültig, in welche Richtung Mottershead davonläuft, Hauptsache, die Gestalt, die er gestört hat, sieht ihn nicht. Als er endlich die Beherrschung einigermaßen wiedergewonnen hat, befindet er sich außer Sichtweite und weg von der Hauptstraße. Terrassenhäuser drängen sich dicht an dicht zu beiden Seiten neben ihm; ihre geschwärzten Vorhänge vereinen sich mit dem schwarzen Glas der Fenster. Die Spur eines Lichtscheins zwischen den Häusern lockt ihn weiter. Er sickert aus der Mündung einer Gasse, die wohl zu den Geschäften führt, die er vom Bus aus gesehen hat. Die hohen, durch nichts unterbrochenen Mauern der Gasse verlaufen in Kurven einige hundert Meter weit in Richtung der Lichtquelle. Er huscht in die Gasse, wobei er sich umsieht, aus Angst, daß derjenige, wer immer es sein mochte, den er gestört hat, ihm folgen könnte. Er wird ermutigt durch den Anblick, der sich ihm nach der Kurve bietet. Vor ihm kreuzt die Gasse eine Straße mit
unbeleuchteten Terrassenhäusern, jenseits derer sie geradewegs in eine weitläufige gepflasterte Fußgängerzone mit hell erleuchteten Geschäften führt. Er überquert die Kreuzung und merkt, daß der nach rechts abgehende Teil der schmalen Straße mit einer Unzahl von zerfledderten Büchern und Fetzen von Büchern übersät ist. Diesmal besteht kein Zweifel daran, daß er eine Buchhandlung gefunden hat. Die unteren Fenster der beiden aneinandergrenzenden Häuser erlauben ihm einen Blick in einen riesigen Raum voller Regale, die mit Büchern vollgestopft sind. Irgendwo in dem Raum muß es ein Licht geben, doch es ist zu schwach, um seinen Ursprung lokalisieren zu können. Offensichtlich ist der Eingang an der hinteren Wand. Er eilt in die Passage, die den Laden von den Nachbarhäusern trennt, und die Mauern zerren an seinem Rucksack, als ob jemand versuchte, ihn zurückzuziehen. Die Passage führt ihn nicht auf eine Straße, sondern in eine Hintergasse, die entlang der Hinterhöfe der Häuser verläuft. Er muß sich seitlich zwischen den Mauern hindurchquetschen, um in die Gasse zu gelangen, der er anfänglich gefolgt ist. In dem gemeinsamen Hof der Häuser, in denen die Buchhandlung untergebracht ist, muß es einen Hund geben, er hört, wie seine Krallen über Beton scharren und auf der anderen Seite der Schutzmauer entlangkratzen, da er mehrfach daran hochspringt. Er kann nur vermuten, daß das Tier seine Stimme eingebüßt hat. Ein Gurt seines Rucksacks verfängt sich an etwas Vorstehendem am Tor des Hinterhofs, und er zerreißt fast den Stoff, so ungestüm befreit er sich. In der Hintergasse angekommen, wendet er sich nach links, entschlossen, den Eingang der Buchhandlung zu finden. Als er die Kreuzung erreicht, stößt er vor Überraschung ein Grunzen aus. Der Lichtschein, der aus dem Laden fällt, ist heller geworden, beleuchtet die Straße, von der die zerrupften Bücher
verschwunden sind. Die Einfahrt zwischen den Fenstern ist zugemauert, doch der Lichtstrahl zeichnet die Linien eines Glaseinsatzes in der Tür links davon nach. Den Glaseinsatz ziert ein GEÖFFNET-Schild, und die Tür ist nur angelehnt. Da es kein Anzeichen eines Inhabers oder auch nur eines Schreibtisches gibt, an dem eine solcher sitzen könnte, ruft Mottershead »Hallo!«, als er die Schwelle überschreitet. Nur das Echo seiner eigenen Stimme antwortet ihm, und gleich darauf wird es verschluckt von Tonnen morschen Papiers; doch die Gegenwart so vieler Bücher ist Antwort genug. Sie bedecken alle vier Wände bis an die Decke, und ein halbes Dutzend doppelseitige Bücherschränke erstrecken sich fast durch die ganze Länge des Ladens und bieten ihm seine Seiten dar. Es ist kaum Platz genug, daß er sich zwischen den Bänden hindurchquetscht, die in den dämmerigen Gang herausragen. Er streift sich den Rucksack von den Schultern und läßt ihn neben der Tür zu Boden fallen. Er hat sich zum Experten gemausert, denkt er. Ein einziger Blick versetzt ihn in die Lage, Titel zu erkennen, die er in jedem Second-Hand-Buchladen gesehen hat, den er bis jetzt aufgesucht hat: Nahaufnahme, Der Mord am Flußufer, Vögel fallen vom Himmel, Sammelbände der Werke von Dickens, Dutzende Exemplare von National Geographic, PoeAusgaben. Die Sachen, die ihn reizen, werden vermutlich etwas weiter vom Eingang entfernt zu finden sein – Bücher von unzähligen vergessenen Autoren, deren Arbeiten er mit Genuß für sich selbst wieder aufleben lassen kann, während er in seinem eigenen Laden sitzt und auf Kundschaft wartet. Das Bewußtsein, daß er, obwohl diese Autoren tot oder so gut wie tot sind, nach Lust und Laune wiedererwecken kann, was sie geschaffen haben, vermittelt ihm das Gefühl, als hätte er in sich selbst eine Kraft entdeckt, die zu besitzen für ihn eine ganz neue Erfahrung ist.
Er schreitet an den Bücherschränken entlang, um sich zu entscheiden, welcher Gang am vielversprechendsten aussieht, als die Rücken einiger Bände am anderen Ende, auf den obersten Regalbrettern an der hinteren Wand, seinen Blick auf sich ziehen. Von den breiten Buchrücken, wie alte Baumrinde gemustert und mit goldenen Blattmotiven geprägt, scheint das Licht auszugehen, das den Laden ausleuchtet; vermutlich ist sein Ursprung hinter dem Bücherschrank verborgen. Ohne die Titel gelesen zu haben, weiß er, daß er das dreibändige Werk begehrt. Da diese Bücher so wuchtig sind, daß er sie nicht einmal mit dem Rucksack wegschaffen könnte, wird er vereinbaren, daß sie ihm zugesandt werden, sobald er den Inhaber zu Gesicht bekommt. Ihm fällt nicht gleich auf, daß er zögert. Worauf ist sein Blick gefallen, als er sich von der Tür entfernte? Er dreht sich um und blinzelt zu den Regalen hinauf, die ihm anfangs uninteressant erschienen sind und die Bücher enthalten, deren Titel er in dem Dämmerlicht nicht entziffern könnte, wenn sie ihm nicht bereits so vertraut wären. Er sieht das Buch sofort und hat den beunruhigenden Eindruck, daß sich dessen Nachbarn neu angeordnet haben, um seine Aufmerksamkeit noch mehr darauf zu lenken. Er versteht nicht, warum dieser nichtssagende, schäbige Buchrücken für ihn irgendeine Bedeutung haben sollte. Er hakt den Finger in die Kuhle, die durch eine Verformung am oberen Rand des Buchrückens entstanden ist, und zieht das Buch aus dem Regal. Die Illustration auf dem folienkaschierten Umschlag zeigt das Gesicht eines Mannes, das sich aus einem Wirrwarr von unwahrscheinlichen Gegenständen zusammensetzt. Er hat keine Zeit, es genau zu betrachten, obwohl ihm das Gesicht bekannt vorkommt, weil die Worte ihn scheinbar anspringen. Der Titel des Romans ist Kadenz, und der Name des Autors ist Simon Mottershead.
Es gelingt ihm, das für einen bloßen Zufall zu halten, bis er den hinteren Buchdeckel aufschlägt. Obwohl das Foto viele Jahre oder sogar Jahrzehnte jünger sein könnte als er selbst, ist das Gesicht, das ihm von der Innenlasche des Umschlags entgegenblickt, dasselbe Gesicht, das er im Badezimmerspiegel gesehen hat. Er schlägt den Buchdeckel zu, als ob er eine Spinne zermalmen wollte. In seinem Innern herrscht Dunkelheit und Aufgewühltsein; er weiß sofort, daß er mehr vergessen hat als das Buch. Er fühlt sich in Versuchung, es ins Regal zurückzustellen und aus dem Laden zu rennen, doch er darf sich nicht von seiner Panik überwältigen lassen. »Ist hier noch jemand außer mir?« ruft er. Diesmal antwortet ihm nicht einmal das Echo, obwohl vor gar nicht langer Zeit jemand die Tür aufgeschlossen und die Bücher von der Straße aufgelesen haben muß. Vielleicht hält sich derjenige im oberen Stock auf; doch plötzlich kommt ihm der Gedanke, daß der Buchhändler vielleicht die Person sein könnte, die er belästigt hat, als er in das Schlafzimmer gaffte. Wenn er es sich recht überlegt, wollte er dem Inhaber lieber nicht von Angesicht zu Angesicht begegnen. Er wird das Buch, das er jetzt in der Hand hält, bezahlen, und eine Notiz hinterlassen, mit der Bitte, ihm die anderen zu reservieren, bis ein Preis dafür vereinbart ist. Er erblickt mit Erleichterung eine Kreditkartenmaschine und einen staubigen Haufen von Blankobelegen auf dem Regalbrett links neben der Tür. Er stöbert in seiner Tasche nach seiner Kreditkarte und einem Zettel. Er findet ein einsames zusammengefaltetes Blatt. Er verstaut das Buch im Rucksack und entfaltet das Blatt. Zwei Drittel davon sind mit Notizen für einen Vortrag bedeckt. Oben, eingerahmt von einer Girlande von Kritzeleien, hat er das Wort BÜCHEREI und ein Datum hingeschrieben. »Heute«, japst er.
Er soll vor einer Schriftstellervereinigung einen Vortrag halten. Sein Gehirn fühlt sich an, als wolle es aus dem Schädel platzen. Er gräbt sich die Fingernägel in die Kopfhaut und versucht, sein Gedächtnis zusammenzuhalten, bis er sich an alles erinnert hat, doch ihm fällt nichts mehr ein: weder der Name der Bücherei, noch der Ort, wo sie sich befindet; auch nicht der Name der Person, die ihn eingeladen haben mochte, noch der der Gruppe an sich. Am schlimmsten ist, daß er sich nicht erinnern kann, für welche Zeit er sein Erscheinen vereinbart hat. Er ist sicher, daß er zu spät kommen wird. Er nimmt den Bleistift zur Hand, der neben der Kreditkartenmaschine liegt. Er legt das Blatt an der Seite des Bücherschrankes an und streicht es glatt, dann schreibt er in Druckbuchstaben die kürzeste Nachricht darauf, die ihm einfällt: BITTE SETZEN SIE SICH WEGEN DIESER BÜCHER MIT MIR IN VERBINDUNG. Er fügt die näheren Angaben hinzu und eilt durch den nächsten Gang, wobei er im Weggehen das Blatt mit der Botschaft mitnimmt. Bodenbretter geben unter ihm nach, Bücher schwanken um ihn herum und über ihm; er hat Angst, die Bücherschränke könnten umkippen und ihn unter sich begraben. Er reckt sich zu den dicken Wälzern hoch, und so gelingt es ihm, den Zettel in den Spalt zwischen der Zierliste und dem oberen Rand des eichenblattverzierten Buchrückens zu schieben. Er läßt ihn baumelnd herausragen, eine durch seinen Namen geschwärzte Lasche, und zieht sich zur Tür zurück. Er muß noch sein eigenes Buch kaufen. Er hält einen Kreditkarten-Blankobeleg mit Zeigefinger und Daumen gegen die Tür, die bei jeder Bewegung des Bleistifts wackelt, als ob jemand, der irgendwo außer Sichtweite kauert, versuchte, sie aufzustemmen. Eine Mischung aus Verlegenheit wegen des geringen Betrags und der Entschlossenheit, seinen Namen deutlich erkennbar zu schreiben, veranlaßt ihn, die Mine des
Bleistifts so fest aufzudrücken, daß der Beleg zerreißt, als er ihn unterschreibt, und der Stift abbricht. Er legt den Beleg in die Metallhalterung und schiebt seine Karte in den dafür vorgesehenen Schlitz, dann zieht er an dem Griff darüber, um den Beleg mit dem notwendigen Prägestempel zu versehen. Als er mit dem Griff über seine Karte fährt, entsteht ein Geräusch wie von knirschenden Zähnen, und er spürt, wie die Karte auseinanderknackt. Er reißt den Griff zurück in die Ausgangsstellung und greift nach der Karte, die diagonal in zwei Hälften zerbrochen ist. Er öffnet den Mund, um nach dem Inhaber zu brüllen, da er seine Verlegenheit völlig vergessen hat, doch dann sieht er, daß die Bleimine, die von dem Stift abgebrochen ist, unter der Karte gelegen hat, als er den Prägeschieber benutzte. Er versenkt die Kopie des Belegs zusammen mit den spitzen Messerklingen, zu denen die Hälften seiner Karte geworden sind, in die Tasche, schiebt die Arme durch die Gurte des Rucksacks und stürzt hinaus, wobei ihm sein Buch gegen die Wirbelsäule schlägt, als ob es versuchte, diese knorpelige Leiter hinaufzuklettern und die Geschichte wieder seinem Gehirn einzugeben. Die Straße ist in graues Zwielicht getaucht, das aus den Mauersteinen und dem Straßenpflaster zu sickern scheint, so wie Dunst anscheinend vom Boden aufsteigt. Einige wenige Fenster sind beleuchtet, doch alle Vorhänge sind vorgezogen. Er rennt zu der Stelle, wo sich die Gasse und der schmale Durchgang kreuzen, und lauscht auf irgendwelchen Verkehr. Die einzigen Geräusche sind das Zuknallen einer Tür und das Hasten von Füßen, das sich so anhört, als würden sie über sich selbst stolpern. Selbst wenn sie in zu großen Pantoffeln stecken sollten, reicht ihr Herannahen aus, um Mottershead zur Flucht in Richtung des Lichts zu veranlassen, das ohnehin sein ursprüngliches Ziel gewesen ist – er flieht mit solcher Eile, daß
er von seinem Ziel erst dann einen veränderten Eindruck bekommt, als er es fast erreicht hat. Die Gegend ist von Flutlicht erhellt, obwohl einige der Lampen zu den Kopfsteinen heruntergedreht sind, mit denen die Straße gepflastert ist. Zerzauste Pflanzenschößlinge, von denen teilweise nur noch nackte Stengel übrig sind, hängen schlaff in Betonkübeln, die entlang der Straßenmitte aufgestellt sind. Alle Geschäfte sind in einem unvollständigen Zustand, doch er vermag nicht zu sagen, ob sie sich noch im Bau befinden oder zerstört worden sind. Die Gestalten, die über die bloßliegenden Stützbalken und Mauern spähen, sind keine Arbeiter, sondern Plastikpuppen, deren Fleischfarbe überzeugender wirkt, als es üblicherweise der Fall ist. Vandalen haben sich offenbar einen Spaß mit ihnen erlaubt, denn sie alle winken Mottershead zu sich her – oder bedeuten sie ihm, daß er weitergehen soll? Ihre Augen sind unnatürlich rot. Als er die ihm am nächsten stehende Figur anblinzelt, sieht er, daß jemand widerlicherweise die aufgemalten Augäpfel mit knallroten Adern verunstaltet hat. Der Wind, der von der Bucht herüberweht, läßt die Plastikfolien flattern, die als Ersatz für Dächer dienen, und die verkrüppelten Baumschößlinge knarren, während ihre verlängerten Schatten über die Pflastersteine huschen; und unter dem Flattern glaubt er das Quietschen von Plastikgliedmaßen zu hören. Zu seiner Linken verschwindet der gepflasterte Bereich in einer Biegung in Richtung Bucht außer Sicht. Zu seiner Rechten, vielleicht einen knappen Kilometer weit entfernt, stehen einige geparkte Wagen. Müßten sie nicht auf oder in der Nähe einer Straße sein? Beflügelt von dem Wunsch, die Wagen möchten Taxis sein, rennt er auf sie zu. Die Dächer bewegen sich, als ob die Skelette der Gebäude versuchten, zum Leben zu erwachen. Dabei winken ihm die Arme der Puppen jedesmal steif zu.
Der Zustand der Figuren erweist sich als schlechter, je näher er ihnen kommt: einigen fehlen die Hände, und wackelige rostige Zinken ragen aus ihren Handgelenken. Die meisten sind kahl, und diejenigen, die es nicht sind, tragen ihre Perücken schief auf dem Kopf – Perücken, die grau und stumpf vor Staub sind. Eine ist so weit nach vorn gerutscht, daß sie das ganze Gesicht verdeckt. Alle Gestalten sind nackt und strotzen mit den unwahrscheinlichsten Genitalienkombinationen, vermutlich ebenfalls eine Ausgeburt des Vandalismus. Einige Köpfe sitzen umgedreht auf den Hälsen, die fleckig wie seniles Fleisch sind. Als er an einer dieser Figuren vorbeigeht, fällt sie nach vorn und rüttelt an den Streben des verschlungenen Gitters, hinter dem sie wie in einem Käfig eingesperrt ist. Mottershead schlägt sich die Hände vor die Brust und rennt weiter. Inzwischen erkennt er, daß jeder der drei Wagen besetzt ist; aber angenommen, ein Autohändler hat auf jeden Fahrersitz eine Puppe geklemmt? Die Dächer schwanken, und eine kahlköpfige Gestalt hechtet auf ihn zu, wobei sie die Hand zurückläßt, mit der sie sich an der Rückenlehne eines einsamen Eßstuhls festgehalten hat. Der Kopf ist hohl und entleert, nachdem der Inhalt hinter einem Gitter verspritzt ist. Er würde laut schreien, wenn er genügend Atem dafür hätte, doch offenbar ist das nicht nötig, da die Gestalten in den Autos sich aufgerichtet und ihm zugewandt haben. Er ist nicht mehr allein mit den Schritten seines Verfolgers, die sich tapsend, aber nicht direkt barfuß anhören. Er strebt dem nächsten Fahrzeug zu; sein Blick ist so getrübt vor Erschöpfung, daß er kaum die Tür sehen kann. Er ist der Panik nahe, bevor seine Fingerspitzen den Griff ertasten. Er hebt ihn an, bricht auf dem Rücksitz zusammen und schlägt die Tür zu.
So groß die Erleichterung auch ist, einfach nur mit geschlossenen Augen auf der Rückbank zu sitzen, er muß weiter. »Zur Bücherei«, haucht er. Entweder ist der Fahrer von Natur aus ein zaudernder Mensch, oder er ist im Stimmbruch. »Zu welcher?« Es ist zumindest unwahrscheinlich, daß er Mottershead mit überflüssigem Geplapper behelligt, wie es sonst bei seiner Sorte üblich ist, doch seine Antwort hört sich verdächtig wie eine Nachahmung von Mottersheads schwachem Hauchen an. »Zu der, wo die Versammlung der Schriftstellervereinigung stattfindet«, sagt Mottershead, wobei er zweimal innehält, um erneut Luft zu schöpfen. Er hofft, daß seine Worte zu einer weiteren Frage herausfordern, die ihm vielleicht helfen könnte, seine Gedanken zu ordnen. Zu seiner Überraschung läßt der Fahrer den Wagen an, und Mottershead sinkt in den Sitz zurück, wobei er spürt, wie seinen Händen durch die zerschlissene Polsterung Schaumstoff entgegenquillt. Als er sich nicht mehr bewußt ums Atmen bemühen muß, blickt er hinaus, um zu sehen, wohin er fährt. Sie haben die unfertigen Gebäude hinter sich gelassen. Der Wagen fährt an einem Betongebilde vorbei, das durch ein Geländer geschützt ist und aussieht wie versteinerte Äste und Zweige. Trotz der buntgesprenkelten Scheiben in den Fenstern und den Inschriften, die in Form von Spruchbändern über seinem breiten Eingang eingemeißelt sind, handelt es sich zweifelsohne eher um eine Fabrik als um eine Kirche. Omnibusse, deren Fenster so schwarz sind, daß man nicht hindurchsehen kann, sind hinter den Toren abgestellt, und Tausende von Leuten, die alle etwas bei sich haben, das Werkzeugkästen oder Aktentaschen ähnelt, und die grellfarbene Overalls tragen, in denen sie wie zu groß gewordene Babies aussehen, marschieren schweigend in das
Gebäude. Er versucht, die Inschriften in den eingemeißelten Spruchbändern zu entziffern, als er merkt, daß der Fahrer in beobachtet. Sobald Mottersheads Blick dem seinen begegnet, wendet der Mann seine Aufmerksamkeit wieder der Straße zu. Mottershead ist ziemlich sicher, daß er eine Perücke trägt, eine lockige rote Perücke, die doppelt so breit ist wie sein Hals, über dem sie thront wie ein Parasit, der alle Farbe aus den schlaffen Fleischringen gesaugt hat. Der Rückspiegel scheint seinen Augen etwas von seiner Glasigkeit verliehen zu haben, denn obwohl sie blutunterlaufen sind, sehen sie wie Puppenaugen aus – tatsächlich läßt eine Macke im Spiegel das linke Augen aussehen, als wäre das Innere nach außen gekehrt. Mottershead wirft sich auf dem Rücksitz herum, um den Rucksack abzusetzen und sein Buch herauszuholen. Er erwartet von ihm, daß es ihm hilft, sowohl seine Aufmerksamkeit von dem Fahrer abzulenken, als auch seine Gedanken für den Vortrag neu zu beleben, doch sobald er den ersten Satz gelesen hat – »Er kennt diese Dunkelheit« –, fühlt er sich durch eine allzu starke Erinnerung bedroht. Er überfliegt die langen Absätze, in denen der namenlose Protagonist dem Chor der Morgendämmerung lauscht und mit den anderen Sinnen seine Umgebung genießt, die der Sonnenschein und das Bewußtsein für seine eigene Sterblichkeit allmählich erneuern. Mottershead hat nur einen flüchtigen Blick auf die ersten paar Seiten geworfen, da formt sich in ihm bereits die Erinnerung daran, wie er an dem Roman gearbeitet hat, und liegt ihm wie ein Stück Holzkohle im Gehirn. Er blättert zu der Widmung zurück, doch dann schlägt er das Buch zu, als er merkt, daß das Taxi zum Bordstein fährt. Er verstaut das Buch im Rucksack und sieht sich um. Er befindet sich vor dem Eingang eines Einkaufzentrums, einer doppelten Glastür, eingerahmt von mehreren Neonröhren,
deren Licht so grell ist, daß man fast nichts sieht. »Ich wollte zur Bücherei gefahren werden«, beschwert er sich. »Sie haben bekommen, was Sie wollten.« Es besteht kein Zweifel daran, daß der Fahrer ihn nachahmt, indem er die Stimme genauso erhebt, wie es Mottershead tut. »Ich sehe sie nicht«, sagt Mottershead aufgebracht. »Sie werden sie sehen.« Mottershead stellt sich vor, wie sich seine Stimme zwangsweise weiter erhebt, wenn der Streit fortgesetzt wird, immer noch um eine Lage höher als die Mimikri des Fahrers, bis sie zu einem Kreischen wird. Er stürzt aus dem Fahrzeug, wobei er beinah über den Rucksack stolpert, und wirft die Wagentür mit einem Stoß seiner Hinterbacken zu. »Wieviel bekommen Sie?« »Zwei und einen großen Spitzen.« Mottershead fördert eine Zwanzigpfundnote zutage. Er hätte gern das Gesicht des Fahrers gesehen, doch das Neonlicht am Eingang des Einkaufszentrums blendet ihn. »Anders habe ich es nicht.« »Sie entzücken mich«, entgegnet der Fahrer in beinah demselben Tonfall. Er nimmt den Geldschein und reicht Mottershead einen kleineren zurück. Mottershead hält die Hand weiterhin ausgestreckt, obwohl er keinen Wert auf eine Wiederholung der Berührung mit dem Fahrer legt; den fleischigen Fingern des Mannes scheinen die Nägel zu fehlen. Er wartet immer noch auf Wechselgeld, als er hört, wie der Fahrer die Handbremse löst und das Taxi davonprescht. »Halt!« wiehert Mottershead und bemüht sich, durch den Schleier, der seine Augen verhüllt, etwas zu sehen. Er schlägt sich die leere Hand vors Gesicht, steht da und schreit: »Haltet den Dieb!« Das Geräusch des Wagens verzieht sich schneller als der Schleier, bis er nur noch um eine bessere Sicht fleht. Nichts ist wichtiger, als zu sehen. Er wird den Fahrer
ungeschoren davonkommen lassen, wenn er nur seine Sehfähigkeit zurückerhält. Endlich klärt sich seine Sicht. Er befindet sich neben einer doppelten Fahrbahn; der langen kahlen Betonfront des Einkaufszentrums liegt auf der anderen Straßenseite eine ausgedehnte Fläche gegenüber, auf der ein paar verkümmerte Büsche mit Abfall geschmückt sind. Über der Fahrbahn verblassen rote Lampen, während das Licht einer glasigen Sonne auf die öde Fläche scheint. Es gibt kein Anzeichen eines Taxis in dem Verkehr, der auf beiden Seiten der Straße dahinjagt und von dem Staub in der Luft in Grau getaucht ist. »Gott sei Dank, daß er weg ist«, murmelt Mottershead und wirft einen Blick auf den Geldschein in seiner Hand. Es ist seine eigene Zwanzigpfundnote, nur daß ein Teil davon – etwa ein Achtel – abgerissen ist. Er stößt einen wütenden Schrei aus und fuchtelt heftig mit den Armen. Seine Bewegung führt sofort dazu, daß die Seiten der Tür zum Einkaufszentrum aufgleiten, und er eilt zu ihr hin, durch einen Bogen von massiven Betonblöcken, der an den Eingang eines antiken Grabmals erinnert. Sobald er durch die Tür getreten ist, schließen sich die Seiten hinter ihm flüsternd. Das Einkaufszentrum ist drei Stockwerke hoch. Geschäfte und mit Brettern vernagelte Räume umgeben eine weiträumige geflieste Fläche, auf der mehr als ein Dutzend Betonkübel mit Blumen und Büschen in einem Muster angeordnet sind, das er nicht durchschaut. Die Luft ist angefüllt mit einem dünnen Klang, entweder Flötenmusik oder dem Zwitschern der Vögel, die unter den verglasten Balken des Daches hin und her fliegen. Rolltreppen führen von der Mitte der freien Fläche nach oben und transportieren Gestalten in so steifer Pose, daß sie unecht aussehen. Er nimmt von all dem kaum Notiz, während er in den nächsten Laden stürzt.
Es ist eine Videothek mit dem Namen ›Sammy’s Hut‹. Zerfledderte Kassettenrücken stehen unordentlich in Regalen an den Wänden zu beiden Seiten der Theke, hinter der ein großer Mann in einen Fernsehapparat von zwergenhaften Ausmaßen schaut, WENN SIE MIT UNSERER DIENSTLEISTUNG NICHT ZUFRIEDEN SIND ist auf der Vorderseite seines T-Shirts aufgedruckt, das nahe daran ist, seine feisten Arme und den dicken Hals unter dem rotgefleckten Gesicht zu erdrosseln. Hinter ihm stellen Kassettenhüllen ihre Titelseiten zur Schau: Sieh nicht in den Ofen, Der Stecher, Nackt und Niederträchtig, völlig von Sinnen… Er würdigt Mottersheads Anwesenheit lediglich dadurch, daß er sich weiter zu dem Fernsehgerät hinbeugt, dem die Gunst eines Films mit dem Titel Häßlich, Roh und Gemein zuteil wird. »Ist es möglich, von hier aus zu telefonieren?« fragt Mottershead, das Summen von Trommelpfeifen übertönend. Die kleinen Augen des Geschäftsinhabers verengen sich. »Hier ist alles möglich.« »Ich meine, darf ich Ihr Telefon benutzen?« Der Mann stößt einen Seufzer aus, der die Kassettenhüllen auf den Regalen zum Wanken bringt. »Worum geht es denn?« »Ich bin bestohlen worden«, erklärt Mottershead und schwenkt den Rest seines Geldscheins in der Hand. »Ich habe soeben meine Taxigebühr hiermit bezahlt, und das hat mir der Fahrer zurückgegeben.« Auf dem winzigen Bildschirm stößt ein Possenreißer, der anscheinend eine affenhafte Perücke trägt, einem anderen zwei Finger in die Augen. Der Geschäftsinhaber wirft sich in seinem hohen Lehnstuhl nach hinten und frohlockt so saftig, daß Tröpfchen seiner Spucke auf den Bildschirm spritzen. »Das muß man gesehen haben!« ruft er.
Eine Frau, die von Hals bis Fuß von billigem Baumwollstoff umwallt ist, quetscht sich durch die Tür hinter ihm. Ihr gerötetes Gesicht ist noch großflächiger als seins, ihre Augen sind noch kleiner. Mottershead vermutet, daß der Geschäftsinhaber sie gerufen hat, damit sie sich den Film ansieht, bis der Mann auf die zerrissene Banknote deutet. »Das hat er zurückbekommen, als er versuchte, sein Taxi damit zu bezahlen«, sprudelt er hervor. Mottershead spürt, wie sich in ihm ein neuer Wutanfall zusammenbraut, doch damit würde er nur Zeit verschwenden; er wird nicht lange ohne Geld dastehen – er wird für den Vortrag bezahlt. »Vergessen Sie es«, sagt er, während das Grölen und Johlen des hinter der Theke zusammengedrängten Paars allmählich nachläßt. »Sagen Sie mir nur, wo die Bibliothek ist.« Die Frau hebt ihr Kleid hoch, wobei sie Schenkel wie die eines rosaroten Elefanten enthüllt, um sich die Augen abzuwischen. »Sie befinden sich bereits darin, Sie armer Irrer.« »Ich meine keine Videothek, eine Bibliothek. Mit Büchern.« Mottershead hat beabsichtigt, seinen Ton neutral klingen zu lassen, doch der Geschäftsinhaber wirft sich wie ein Klumpen Rindfleisch über die Theke und versucht, ihn an den Revers zu packen. »Paß auf, was du zu meiner Tochter sagst! Hier gibt es nichts, dessen man sich schämen müßte. Es sind alles nur Geschichten, nichts anderes.« Mottershead weicht außer Reichweite zurück, seine Fußknöchel schaben aneinander. »Sie verdienen nicht, Augen zu haben, wenn Ihnen nichts anderes einfällt, was Sie damit tun können«, sagt er von der Tür her. Er hofft, von einem Sicherheitswächter Hilfe zu bekommen, aber es ist weit und breit keiner zu sehen. Wenigsten folgt ihm das Paar nicht; sie sind dazu übergegangen, sich gegenseitig zu
knuffen, entweder weil sie vor Lachen halb ersticken oder aus irgendeinem anderen undurchsichtigen Grund, der ihm verborgen bleibt. Er stürzt in das nächste Geschäft, einen Tabakladen voller Rauch. »Können Sie mir sagen, wo ich die Bibliothek finde?« »Am Ende.« Vielleicht ist der Tabakhändler zerstreut, da er sich offensichtlich soeben beim Einstellen der Flamme eines Feuerzeugs die Augenbrauen versengt hat. Als Mottershead zum entgegengesetzten Ende des Einkaufszentrums rennt, sieht er nur eine Bäckerei. »Bibliothek?« keucht er. »Wer sagt das?« Der Bäcker macht den Eindruck, als hätte er vor, wesentlich unangenehmer als nur nicht hilfreich zu sein. Er vergräbt die Hände in einem schädelgroßen Klumpen Teig, der bereits geformt worden ist; ein Schwarm Rosinen entweicht aus den Vertiefungen, in die er die Daumen gebohrt hat. »Trotzdem vielen Dank«, stößt Mottershead hervor und macht auf dem Absatz kehrt. Einer der Verkäufer in dem danebenliegenden Spielzeugladen unterbricht sein Spielen eben so lang, um ihm den Weg zu weisen. »Rauf und durch«, sagt er und richtet eine tropfende Wasserpistole auf ihn. Mottershead hat Angst, daß die Waffe losgeht und seine Notizen für den Vortrag verdirbt, und deshalb hastet er zur Rolltreppe, während die Verkäufer ihre gegenseitige Jagd durch das Chaos von Spielzeug, das ihm eher wie ein Kinderzimmer und nicht wie ein Laden vorkommt, wiederaufnehmen. Die ausgefallenen Drohungen, die sie mit Falsettstimmen von sich geben, verhallen, während ihn die menschenleere Rolltreppe in Richtung Dach hinaufhebt. Genauso wie die Bepflanzung in den Betonbottichen erweisen sich die Vögel unter dem Dach bei näherer Betrachtung als künstlich. Einige Vögel vollführen ihren
ständig wiederholten Flug mit dem Kopf nach unten, vermutlich wegen eines Fehlers im Mechanismus, und ihre Schöpfer haben es offenbar nicht für nötig befunden, auch nur einen einzigen von ihnen mit Augen auszustatten. Mottershead findet das Schauspiel so faszinierend abscheulich, daß er fast ganz oben angekommen ist, bevor er merkt, daß ihm jemand entgegengekommen ist. Es ist eine Frau etwa Mitte der Sechzig, deren Haar genau im gleichen Ton gefärbt ist wie das Hellblau ihres Kittels. Auf der flachen Brust schiebt sie ein Tablett vor sich her, auf dem sich eine Sammelbüchse und ein Haufen Abzeichen wie das, das sie am Revers trägt, befinden. »Gibt es hier eine Bücherei, wissen Sie das?« fragt er flehend. Die Frau starrt ihn an. Vielleicht hat sie ihn wegen des Gezwitschers der mechanischen Vögel nicht gehört. Die Rolltreppe hebt ihn höher, bis er einen Kopf größer ist als sie, und er wiederholt die Frage. Diesmal hebt sie die Sammelbüchse aus ihrem Nest von Abzeichen, auf denen steht: PENSIONISTEN IN GEFAHR, und zwar in blutroten Buchstaben, und klappert damit vor ihm herum. »Es tut mir leid, ich habe kein Geld«, jammert er. Natürlich ist ihr Starren vorwurfsvoll geworden, denn er hält noch immer die Überreste der Zwanzigpfundnote in der Hand. »Das hier wird Ihnen nichts nützen. Können Sie mir sagen, wo die Bücherei ist?« Ihre Antwort besteht lediglich aus einem verächtlichen Blick, und er verliert die Beherrschung. »Nehmen Sie es, wenn Sie damit etwas anfangen können!« schreit er. »Vielleicht bringt es Sie dazu, eine einfache Frage zu beantworten.« Als er anfängt zu brüllen, tritt ein Sicherheitswächter aus einem Glückwunschkartenladen und trabt auf ihn zu. »Belästigt er Sie?« fragt der Wächter.
»Ich suche nur die Bibliothek«, winselt Mottershead und sieht sich selbst jetzt mit den Augen des Wächters: die Pensionistin um einen Kopf überragend und sie anbrüllend. Schlimmer noch, sie hat die zerrissene Banknote von ihm genommen, und jetzt hat sie ihre Stimme wiedergefunden. »Er hat versucht, mir das hier anzudrehen.« »Weil Sie darauf bestanden haben«, verteidigt sich Mottershead, doch der Wächter untersucht den Geldschein, bevor er sich an Mottershead wendet und im Schatten seiner spitzen Mütze die Stirn runzelt. »Ich würde sagen, Sie schulden dieser Dame mehr als die Bitte um Verzeihung.« »Ich habe versucht, ihr zu erklären, daß ich kein Geld habe.« Da er von den beiden nur starre Blicke erntet, sprudelt es weiter aus Mottershead heraus: »Ich bin Schriftsteller. Ich werde in der Bibliothek erwartet. Man hat mich aufgefordert zu sprechen.« »Wir auch«, sagt der Wächter schwerfällig. Daraufhin stopft die Frau den Geldschein in ihre Büchse und wedelt mit der Hand, um Mottershead wie ein lästiges Insekt zu verscheuchen, bei dem sie sich nicht die Mühe machen will, es zu zermalmen. Der Wächter packt ihn an der Schulter. »Dann wollen wir dafür sorgen, daß Sie dort landen, wo Sie erwartet werden.« Bevor Mottershead ganz begreift, wie ihm geschieht, wird er zum Ende des Einkaufszentrums geführt, das über der Bäckerei liegt. Hier befindet sich, von unten nicht sichtbar, eine unbeschriftete Tür. Als sich der Wächter gegen einen Klingelknopf daneben lehnt, wird es Mottershead allmählich mulmig zumute, besonders als die Tür von einem zweiten Mann in Uniform geöffnet wird. Er kann nicht abschätzen, wie groß die Kammer hinter der Tür sein mag; sie ist vollgepackt mit aufgestapelten Kartons, und der Durchgang dazwischen hat kaum die Breite von zwei Menschen. Der Wächter, der ihn
festhält, sagt zu dem anderen: »Er behauptet, ihr hättet ihn aufgefordert zu sprechen.« »Zeig ihm den Weg, mein Guter. Er gehört in den schalldichten Raum.« Er drückt sich flach gegen die Kartons, um den Weg freizugeben, und der Wächter klatscht ihm im Vorbeigehen mit einer Hand auf die drallen Hinterbacken, während er Mottershead in den Gang schiebt. Der Uniformierte schnurrt wie eine große Katze und reibt sich an den Kartons. »Moment mal«, protestiert Mottershead, »wohin bringen Sie…« Der Wächter streckt den Arm an ihm vorbei und öffnet eine Tür, und Mottershead Stimme erschallt jenseits davon mit gewaltiger Lautstärke, was ihm so viele mißbilligende Blicke einträgt, daß er in die Kammer zurückgewichen wäre, wenn der Wächter es nicht verhindert hätte. Er hat sein Ziel durch eine Hintertür erreicht. Die Bibliothek ist so groß wie das Einkaufszentrum und ähnelt ihm auf befremdliche Weise, nur daß die Wände, die in Richtung Rolltreppe gehen, Bücher beherbergen und keine Geschäfte. Vor der Vielzahl von Büchern stehen mehr Lesetische, als er zählen kann, und alle Lesenden gaffen ihn an. »Wohin soll ich gehen?« murmelt er. »Ich bringe Sie hin«, sagt der Wächter und steuert ihn nach links. »Wie war noch mal der Name?« »Simon Mottershead.« Er hebt die Stimme in der Hoffnung, daß einige der Lesenden seinen Namen erkennen werden, doch sie blicken ihn nur feindselig an. Er läßt sich an den Tischen vorbeiziehen und versucht, sich etwas einfallen zu lassen, um die Lesenden davon zu überzeugen, daß er kein Bösewicht ist. Er hat noch keinen einzigen klaren Gedanken fassen können, als der Wächter ihn wieder nach links lenkt, durch eine Tür zwischen Regalen mit Bibeln und anderen religiösen Schriften, in einen weiteren Raum.
Der Raum ist weiß und fensterlos. Mehrere Reihen mit Sitzen aus Plastikplatten und Metallrohren stehen in die von der Tür abgewandte Richtung, zu einem einsamen Stuhl hinter einem Tisch hin ausgerichtet, auf dem eine Karaffe und ein Glas stehen. Ungefähr zwanzig Leute sitzen verstreut auf den Plätzen ziemlich vorn bei dem Tisch. Bevor Mottershead etwas dagegen tun kann, drückt ihn der Wächter auf die Schulter und zwingt ihn, auf dem Sitz, der der Tür am nächsten ist, Platz zu nehmen. »Simon Mottershead«, verkündet der Wächter. Aller Augen richten sich nach hinten und wenden sich dann wieder ab. »Nicht anwesend«, sagt jemand. Die Hand des Wächters rutscht unheilvoll über Mottersheads Schulter. »Ich bin Simon Mottershead«, stammelt Mottershead. »Ist das hier die Schriftstellervereinigung?« Diesmal reagieren nur einige Köpfe, und jemand murmelt: »Wer?« Schließlich mault eine Frau: »Sollen wir vielleicht unsere Sitze zu Ihnen umdrehen?« »Das ist nicht nötig, wenn mir gestattet wird, mich zu bewegen.« Mottershead erhebt sich, entzieht sich dem Griff des Wächters mit einem Drehen der Schulter und wirft dem Uniformierten einen eindringlichen Blick zu, mit dem er ihn zum Weggehen veranlassen will. Das Gesicht des Mannes drückt so viel Enttäuschung und Sehnsucht aus, daß es ihm zu Herzen geht, und er tappt linkisch zum Tisch, wobei er an den Gurten seines Rucksacks herumnestelt, um ihn abzunehmen. Er hört, wie der Wächter hinausstapft und die Tür schließt, allerdings nicht, ohne vorher noch jemanden hereingelassen zu haben. Der Zuspätkommende trägt entweder Hausschuhe oder Sandalen. Der Klang von Schritten, die hinter ihm herschlurfen, erweckt in Mottershead das Gefühl, verfolgt zu werden, und er hat keine Lust, sich umzudrehen. Als er hinter dem Tisch angekommen ist, hat der Zuspätgekommene bereits Platz genommen. Mottershead zieht den Stuhl unter dem Tisch
hervor, läßt den Rucksack zu Boden plumpsen, setzt sich, hebt das über den Hals der Karaffe gestülpte Glas hoch und dreht es um. Als niemand vortritt, um ihn vorzustellen, blickt er auf. Er kann nicht erkennen, welches die zu spät gekommene Person ist. Er glaubt nicht, daß es eine der älteren Frauen ist, die dasitzen und Handtaschen oder Manuskripte umklammert auf dem Schoß halten und von denen die meisten gestrickte Kleidung tragen. Es könnte eine der jüngeren Frauen sein, die ihn eindringlich mustern und Bleistifte anmutig über Notizblöcke tanzen lassen, oder es könnte einer der Männer sein – nicht von denen, die wie Armeeoffiziere aussehen, rotgesichtig vor schwerwiegenden Gedanken, sondern vielleicht der schlaksige Mann, der Mottershead an ein Pferd erinnert, das auf seinem Schwanz sitzt, die Schultern fast auf einer Höhe mit den Ohren, mit den Händen die Knie umfassend und tief in den Sitz gesunken, oder jener Mann dort, dessen kahler Kopf hinter einem Büschel von Frauen mit Hüten leuchtet. Aller Augen sind nun auf Mottershead gerichtet, in dem das Bewußtsein, daß er eigentlich etwas sagen sollte, immer dringlicher wird. Er neigt die Karaffe und merkt, daß sie kein Wasser enthält, sondern mit einer Staubschicht bedeckt ist. »Wie gesagt, ich bin Simon Mottershead«, sagt er und wühlt nach seinen Notizen. Sein Publikum wirkt ungerührt, vielleicht weil es sich wundert, warum er beide Hände in den Taschen vergraben hat. Er muß seine Notizen in der Buchhandlung verloren haben; seine Taschen sind leer, abgesehen von dem Beleg und den Stücken seiner Kreditkarte. »Worüber soll ich Ihrem Wunsche nach sprechen?« fragt er verzweifelt. Die Gesichter vor ihm werden ausdruckslos, als ob ihnen der Strom abgeschaltet worden wäre. »Erzählen Sie uns etwas über
sich selbst«, sagt eine Stimme, von der er nicht erkennen kann, woher sie kommt oder zu welchem Geschlecht sie gehört. Er fühlt sich durch diese Bemerkung in eine Falle gelockt, ihm fehlen die Worte. »Sind Sie verheiratet, haben Sie Kinder?« fragt die Stimme. »Nicht mehr.« »Hat das Ihre schriftstellerische Arbeit begünstigt?« Wenigstens hat Mottershead Antworten parat, auch wenn das Ganze für seinen Geschmack zu schnell geht. »Niemand erwartet von einem Schriftsteller, daß er weiß, was für ein Gefühl es ist, Schriftsteller zu sein.« »Hrmp, hrmp, ährmp«, äußert darauf ein rotgesichtiger Mann in der ersten Reihe. »Ich werde Ihnen sagen, welches Gefühl ich dabei habe«, sagt Mottershead in etwas schärferem Ton. »Jeden Tag werde ich von einer Geschichte geweckt, die danach lechzt, vermittelt zu werden. Schreiben ist ein Zwang. Wenn man einmal soweit ist, daß man es einigermaßen gut beherrscht, hat man nicht mehr die Wahl, ob man weitermachen oder es aufgeben will. Es läßt einen nicht in Ruhe, selbst dann nicht, wenn man mit anderen Menschen zusammen ist oder verzweifelt um Schlaf ringt.« Inzwischen sind die Gesichter so ausdruckslos, daß er sich vorstellen kann, wie sie zerfließen wie Masken, die aus Teig geformt sind. »Wenn es ums eigentliche Leben geht«, fährt er fort, darum bemüht, seine eigene Laune ebenso wie des Publikums zu heben, »dann ist es, als ob man alles mit neuen Augen sähe. Es ist wie Träumen im Wachzustand. Es ist, als ob das Denken eine Spinne wäre, die versucht, die Realität einzufangen und sie in Muster zu verweben.« »Hrmp, hrmp, hrmp«, bemerkt der rotgesichtige Mann gemächlich und beläßt es dabei. Während Mottershead in seinem Gedächtnis nach Erinnerung stöbert, bei denen sein
Inneres nicht zusammenzuckt, hebt die Stimme, die die Frage nach seiner Familie aufgebracht hat, wieder zu sprechen an. »Was für ein Gefühl ist es, veröffentlicht zu werden?« »Es unterscheidet sich nicht so sehr von dem, nicht veröffentlicht zu werden, wie Sie vielleicht denken mögen. Ich pflege immer zu sagen, daß ich erwarte, der Geistliche würde bei meiner Beerdigung fragen: ›Hat er unter seinem richtigen Namen geschrieben?‹ und ›Müßte ich von ihm gehört haben?‹ und ›Wieviel Romane hat er im Jahr geschrieben?‹« Er hofft, wenigstens ein Kichern aus ihnen herauszulocken, doch kein Gesicht rührt sich. »Sind Sie nicht mal im Fernsehen aufgetreten?« fragt die Stimme, die von dem Glatzkopf hinter den Hüten kommt. »Genau«, bestätigt Mottershead lachend. Dann drängt sich der Fragende ins Blickfeld, und Mottershead sieht, daß er keine weitere vorgefertigte Frage zur Sprache bringen wollte, sondern versuchte, ihn an etwas zu erinnern. »Wie Sie sagen«, fährt Mottershead voller Unbehagen fort. »Ich habe einmal eine Geschichte erzählt von jemandem, der dachte, es gäbe ihn.« Er ist mehr denn je der Panik nahe, und der Anblick des Fragenden ist alles andere als eine Hilfe. Er vermutet, daß es sich um einen Mann handelt, obwohl sich herausstellt, daß die scheinbare Kahlheit durch ein fleischfarbenes Haarnetz oder eine Schädelkappe erzielt worden ist. Obwohl sich fast alles Fleisch des langen, fleckigen Gesichts in den Kehllappen abgesetzt hat, ist diese Person nicht so mager, wie sie wirkte, als nur die Schädeldecke sichtbar war; es ist, als ob er sich selbst irgendwie so ansehnlich wie möglich darbieten wollte, bevor er sich Mottershead ganz zeigte. Seine großen dunklen Augen glänzen wie Blasen, die herauszuhüpfen drohen, und sein unverwandtes Starren gibt Mottershead das Gefühl, in der Gefahr zu schweben, sich zum Sprechen gezwungen zu sehen,
ohne zu wissen, was er sagen will. »Alles ist verwertbares Material, alles kann dazu führen, daß eine Geschichte im Kopf wächst. Vielleicht ist das der Ausgleich dafür, daß wir beim Schreiben so viel von uns selbst einbringen müssen, daß uns niemand kennenlernen will.« Der Mann mit der fragwürdigen Glatze sieht argwöhnisch drein, aber insgeheim auch vergnügt. Als sich sein scheckiger Mund öffnet, versteift sich Mottershead innerlich, obwohl die Frage reichlich harmlos klingt. »Schreiben Sie immer noch?« »Ich überlasse es inzwischen Leuten wie Ihnen.« Wenn das noch irgend etwas anderes anklingen ließ, als daß Mottershead das Gefühl haben durfte, die Sache einigermaßen im Griff zu haben, dann müßte es das Publikum ermutigen, doch der Fragende lächelt, als ob Mottershead sich selbst betrogen hätte. Das Lächeln führt dazu, daß die obere Reihe von Zähnen, die er trägt, herunterfällt und einen schwarzen Gaumen wie den eines Hundes enthüllt; er streckt die Zunge heraus und hebt die Zähne wieder an ihren Platz zurück. »Würde man Ihnen keine Chance mehr geben?« »Wer?« »Die Mächtigen, die entscheiden, was die Leute zu lesen bekommen.« Alle nicken zustimmend. »Ich glaube, wir brauchen nicht nach Verschwörungen Ausschau zu halten«, sagt Mottershead und hat das Gefühl, daß seine Zähne ebenfalls bloßliegen. »Warum haben Sie dann aufgehört?« Er meint, aufgehört zu schreiben, versichert sich Mottershead selbst. Der Blick des Mannes dringt wie ein Suchstrahl in die geheimsten Winkel seines Gehirns. »Weil es die Sache nicht wert war. Es war nicht wert, daß ich soviel von mir selbst einbrachte, um das absolut Beste zu schaffen, zu dem ich fähig war, wenn niemand einen Deut darum gab.«
»Glauben Sie nicht, daß Sie Glück gehabt haben, überhaupt einen Verleger zu finden?« Die weißliche Zunge des Mannes fährt die Linie der Lippen nach; allmählich sieht er so seelisch unstabil aus, wie er nach Mottershead Einschätzung ist. Genie und Wahnsinn mögen dicht beisammen liegen, denkt Mottershead, aber das gleiche gilt für Mittelmäßigkeit und Schlimmeres, was die schöpferische Kraft betrifft. »Ich bin der Ansicht, das zu beurteilen, ist Sache meiner Leser, meinen Sie nicht? Was denkt jeder einzelne, der meine Bücher gelesen hat?« Er läßt seine Aufmerksamkeit himmelwärts davongleiten, oder zumindest in Richtung der verästelten Risse und der laubartig abblätternden Farbe an der Decke. Als seine vorgetäuschte Gleichgültigkeit keine Reaktion hervorruft, läßt er einen verstohlenen Blick zum Publikum schleichen. Wie ist es möglich, daß sich jeder von ihm abgewandt hat? »Irgend jemand, der irgend etwas gelesen hat«, sagt er und versucht, ein sorgloses Lachen zustande zu bringen. »Irgend jemand muß doch etwas von mir gelesen haben, sonst wären Sie alle doch nicht hier.« Der Mann mit der rosaroten Schädeldecke springt auf, wobei er den Gürtel seines abgewetzten und ausgeblichenen Mantels, der fast ein Morgenrock hätte sein können, zuknotet. »Sie erinnern uns an etwas«, sagt er. Endlich sieht das Publikum Mottershead an, doch ohne jede Wärme. »Ich nehme an, Sie alle haben von Kadenz gehört. Das war mein bestes Buch.« »Wer sagt das?« will der Frager wissen. »Ich.« Es hat bestimmt Rezensionen gegeben, und sicher hat Mottershead Freunde, die ihm seine Meinung darüber gesagt haben, doch wo diese Erinnerungen sein sollten, ist nichts als Dunkelheit. »Ich habe alles in dieses Buch eingebracht, alles von mir selbst, das es wert war. Es geht um die letzten Tages
eines Mannes, der weiß, daß er stirbt, und wie das allen Dingen ein neues Leben gibt, die wir so selbstverständlich hinnehmen.« »Wie geht es aus?« »Ich werde es Ihnen erzählen«, sagt Mottershead, nur um festzustellen, daß die Dunkelheit auch diese Information verschluckt hat. »Oder vielleicht«, berichtigt er sich eilends, »sollte das jemand tun, der es gelesen hat.« Die teigigen Gesichter fallen in sich zusammen. Niemand hat das Buch gelesen. Der Blick des Glatzköpfigen mustert seine Gedanken, und er hat das Gefühl, als würde er gefragt: »Warum schreiben Sie?« Und dann wäre er gezwungen zu antworten: »Weil das Leben Scheiße ist, deshalb habe ich soviel Papier verbraucht.« Er öffnet den Mund – jede Äußerung ist gut, die diese atemlose Stille unterbricht –, als ihm einfällt, daß er sich an den Schluß des Buches gar nicht zu erinnern braucht. Er greift nach dem Rucksack und legt ihn vor sich auf den Tisch, löst die Schnallen, schlägt die Klappe wie ein Zauberer in Richtung des Publikums auf und bringt das Buch zum Vorschein. »Das bin ich.« Ihm wird sofort klar, daß er irgendeinen Fehler gemacht hat. »Ich bitte um Verzeihung. Das ist ich«, sagt er, und als ihre Mienen noch weniger überzeugt wirken: »Ich bin das.« Der Glatzköpfige feixt. »Ich würde es an Ihrer Stelle auf sich beruhen lassen.« Sie brauchen sich nicht über Mottersheads Grammatik lustig zu machen; einige von ihnen haben mit Sicherheit schon Schlimmeres von sich gegeben. Er verliert die Geduld und zieht das Buch vollends aus dem Rucksack; dann sieht er, warum keiner beeindruckt ist. Sein Name steht nicht mehr auf dem Titel. Er hat wahrscheinlich ein Stück vom Schutzumschlag weggerissen, als er das Buch in den Rucksack schob; aber er
fehlt auch auf der vorderen Titelseite und auf dem Rücken, der vollkommen leer ist. Er zieht den Rucksack weit auf, dreht mit Gewalt die Innenseite nach außen, doch nichts fällt heraus außer einigen Dreckkrümeln. »Hrmprmp«, läßt sich der Rotgesichtige vernehmen, und mehrere Köpfe nicken lebhaft. Der Mann mit dem rosaroten Schädel, dessen Kappe so dicht anliegt, daß sie sowohl das Fleisch als auch die Haare flachdrückt, die unter der Kopfbedeckung verborgen sein mögen, starrt Mottershead mit weit aufgerissenen Augen an. Bei Gott, er wird ihnen beweisen, daß er den Roman geschrieben hat. Er schlägt das Buch mit Schwung auf, wobei der Einband beim Aufknallen auf dem Tisch ein Geräusch erzeugt, als ob der Deckel von einer Schachtel geworfen würde, und entdeckt, daß die Seiten mit dem Copyright und der Titelei herausgerissen worden sind. Es findet sich keine Spur seines Namens in dem ganzen Buch. Er kann immer noch das Bild auf der hinteren Umschlaglasche des Buches vorzeigen, die ungeduldig darauf zu warten scheint, aufgeschlagen zu werden; er spürt förmlich, wie sich das Buch rührt. Er hebt es behutsam an, und der Tisch darunter ist leer. Er drückt den Band zwischen den Händen und läßt ihn an einer willkürlichen Stelle aufklappen. Vielleicht ist sein Gesicht auf der Lasche abgebildet, aber jedenfalls ist dort ein Gegenstand, der zwischen dem Umschlag und dem Vorsatz zerquetscht worden ist. Das Ding ist dort, wo seiner Erinnerung nach das Bild sein müßte, und das Muster auf der Innenseite des Umschlagrückens ähnelt sehr stark einem Gesicht. Obwohl es plattgedrückt worden ist, hat es sich noch etwas Leben erhalten. Er hat es kaum angesehen, da erhebt es sich auch schon, taumelt hastig aus dem Buch und läßt sich in seinen Schoß fallen. Er stößt einen Schrei aus und springt auf, wobei er das Buch von sich wegschleudert. Das Ding, dessen Gewirr von Beinen
es doppelt groß erscheinen läßt, fällt hinunter und huscht in eine Ritze unter der Fußbodenleiste. Das Publikum beobachtet die Szene, als ob es sich fragte, was Mottershead ihnen wohl noch an Absurditäten vorzusetzen gedenke, in dem vergeblichen Versuch, sie so zu schockieren, daß sie sich zu einer Reaktion hinreißen lassen. »Ich werde es Ihnen zeigen«, murmelt er. »Unterhalten Sie sich bitte miteinander, während ich ein anderes Buch hole.« Alle drehen sich um und beobachten ihn, wie er zur Tür geht, wobei er sich zu einem Schritt zwingt, der nicht verrät, daß er am liebsten aus dem Raum gerannt wäre. Niemand sagt ein Wort, während er sich mit dem Mechanismus der Tür abmüht, indem er einen Knopf über dem Griff vor und zurückdreht, bis er ein Klicken hört und die Tür aufschwingt. Er tritt hinaus und zieht sie hinter sich zu. Entweder sind die Lesenden an den Tischen in ihre Arbeit vertieft, oder sie nehmen bewußt keine Notiz von ihm. Er versucht, sich leise zu bewegen, während er von Regal zu Regal eilt. Wenn er erst einmal die Belletristik entdeckt hat, wird er bestimmt eins oder mehrere seiner Bücher finden. Alle Regale auf dieser Seite der obersten Galerie enthalten jedoch nur Bände über Psychologie und Religion und sind nach einem System geordnet, das er nicht durchschaut. Er zwängt sich zwischen zwei Tischen hindurch, achtsam bemüht, die Bibelleser nicht zu streifen, doch er stößt mit den Hinterbacken gegen den Kopf einer Frau. Sie trägt einen Regenhut, der einer Duschkappe ähnelt, und es muß wohl diese Kopfbedeckung gewesen sein, die bei der Berührung zusammenschrumpfte, doch es fühlt sich an, als wäre aus ihrem Kopf die Luft entwichen wie aus einem angestochenen Ballon, was eine so unangenehme Empfindung auslöst, daß die Entschuldigung, die er beabsichtigt auszusprechen, als ›gern geschehen‹ herauskommt. Da er sich seinen eigenen Worten ausgeliefert
sieht, schwankt er an den Rand der Galerie und umklammert das Geländer. Wenn die Romane in Regalen gesondert von den anderen Büchern untergebracht sind, dann kann er nicht sehen, wo das sein soll; jedes Regal in seiner Sichtweite enthält Bücher, die größer sind als je ein Roman; einige sind so dick und ausladend wie ausgewachsene Zweige. Als er auf Zehenspitzen zu der nach unten führenden Rolltreppe rennt, ein Spurt, bei dem er den halben Umkreis der Etage zurücklegt, werfen ihm ein paar Lesende finstere Blicke zu. Sie würden besser daran tun, denkt er, sich über die gedämpften Rufe und das Hämmern, vermutlich von Handwerkern, zu beschweren, das irgendwo hinter den Kulissen eingesetzt hat. Eine Stufe der Rolltreppe taucht aus dem Verborgenen auf und schlägt gegen seinen Absatz, was ein Klappern verursacht, das durch die ganze Bibliothek schallt, und er schwebt hinunter zur Eingangstheke. Diese ist wie ein Symbol der Hoffnung geformt, gebogen und mit ausgestreckten Armen in Richtung der Fluchtwege. Zwei Bibliotheksangestellte mit breiten, flachen Gesichtern sitzen dahinter Schulter an Schulter an einem Tisch und sind in einen dicken Band versunken, der Mottersheads Vermutung nach eine Enzyklopädie wilder Tiere sein muß. Er scharrt mit den Füßen, räuspert sich, klopft auf die Theke. »Hallo?« sagt er flehend. Die Frau von den beiden Bibliotheksangestellten nimmt ihre Metallrahmenbrille ab und reicht sie ihrem Kollegen, der sie dazu benutzt, eine Illustration noch eingehender zu betrachten. »Du solltest mal nachsehen, wer da soviel Krawall macht«, schlägt er vor. Mottershead legt sich gerade eine gepfefferte Bemerkung zurecht, als er merkt, daß sie ihn noch nicht einmal jetzt zur Kenntnis nehmen. Beide heben den Kopf zu dem Schreien und
Poltern im obersten Stock. Sie könnten eineiige Zwillinge sein, und ihre stoppeligen Schädel, dazu die Nadelstreifenanzüge und die Hemden und Krawatten, die sie tragen, scheinen dafür gemacht zu sein, ihn zu verwirren. »Können Sie mir sagen, wo ich bei Ihnen die Romane finde?« fragt er drängend. »So etwas werden Sie hier nirgends finden«, sagt der Mann, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. »Wie bitte, nirgends in der ganzen Bibliothek?« »Nur Bücher darüber«, sagt die Frau und beobachtet dabei jemanden, der sich hinter und über ihm bewegt. »Hier besteht kein Bedarf an Romanen.« Der Mann reicht ihr die Brille zurück und deutet mit einem Nicken zu dem Buch auf dem Tisch. Es handelt nicht von Tieren, wie Mottershead jetzt sieht; es ist ein Lehrbuch über mißgestaltete Babies, und die aufgeschlagene Seite zeigt ein Bild mit einem, dessen Inneres offenbar bei der Geburt nach außen gekrempelt worden ist. Er ist froh, daß er durch einen Aufruhr im oberen Stock abgelenkt wird; aus einer Tür quellen stampfende Schritte und ein protestierendes Gekeife – das heißt, er ist so lange froh, bis er nach oben blickt. Der Uniformierte, der ihn hereingeführt hat, hat die Schriftsteller aus dem Raum herausgelassen, der tatsächlich fast schalldicht ist. Sie sehen sich auf der Galerie um, achten nicht auf das Zischen und Nörgeln der Lesenden, und dann entdecken einige der Frauen, Handtaschen und Manuskripte schwingend, Mottershead. Sie rennen an den Rand der Galerie, deuten auf ihn und schreien: »Er hat uns eingeschlossen!« »Das war nicht meine Absicht«, ruft Mottershead, doch die gesamte Bibliothek antwortet mit einem Geräusch, das sich anhört, als ob ein riesiges Feuer mit Wasser gelöscht würde. »Das war nicht meine Absicht«, vertraut er den Bibliotheksangestellten an, die gleichzeitig und gleichförmig
die Achseln zucken, während die Schriftsteller entlang der Galerie davonmarschieren. »Wohin gehen sie?« »Dorthin, woher sie gekommen sind, nehme ich an«, sagt der männliche Bibliotheksangestellte mit Befriedigung. »Aber ich bin noch nicht fertig!« Mottershead fuchtelt mit den Armen und setzt zum Schreien an, doch die Blicke aller Lesenden lassen ihn innehalten. Vielleicht sollte er die Schriftsteller gehen lassen, vor allem, weil er kein Buch gefunden hat, das er ihnen zeigen könnte – doch dann fällt ihm ein, was er vergessen hat. »Ich habe noch kein Honorar bekommen.« Die weibliche Bibliotheksangestellte schleudert den Kopf nach hinten, um zu verhindern, daß ihr die Brille von der verkümmerten Nase rutscht. »Uns brauchen Sie das nicht zu erzählen.« »Wissen Sie nicht, wer dafür zuständig ist?« fleht Mottershead sie an. »Sie brauchen dafür Seine Heiligkeit.« »Hochwürden«, erläutert ihr Kollege. Er deutet auf den rotgesichtigen Mann, dessen gesamter Wortschatz aus einem falschen Hüsteln zu bestehen scheint und der sich auf dem Weg um die Galerie herum zur Rolltreppe nach unten befindet. Mottershead trabt zum Fuß der Rolltreppe und versucht dabei, sich eine Formulierung zurechtzulegen, die seinen Anspruch höflich, aber entschlossen zum Ausdruck bringt. »Ich glaube, jetzt ist es an der Zeit, daß ich bezahlt werde«, probt er, als der Rotgesichtige auf der Rolltreppe auf gleicher Höhe mit ihm ist. Der Mann marschiert an ihm vorbei, ohne diese oder ihn eines Blickes zu würdigen. Gibt es noch einen anderen öffentlichen Ausgang als den hinter der Theke? Mottershead stöhnt laut auf und rennt zu der Rolltreppe gegenüber, wobei er Lesende anrempelt, die auf ihren Stühlen zornig herumwirbeln und versuchen, ihn
festzuhalten. Er packt das Griffband, das wackelnd nach oben gleitet, und rennt über die rumpelnden Stufen hinauf. Als er sich nur noch drei Stufen unter der Galerie befindet, gelingt es ihm, sich hinaufzuschwingen, wobei er die Griffbänder wie die Parallelstangen eines Barren benutzt. Die einzige Tür, die er ausmachen kann, führt in die Abstellkammer, in die der Wächter ihn gebracht hat, doch er darf sich jetzt nicht damit aufhalten, eine Tür zu suchen. Der Rotgesichtige kehrt zur Abwärts-Rolltreppe zurück, nachdem er ein Buch mit Kirchenliedern ins Regal zurückgestellt hat. Mottershead faßt sich an den schmerzenden Schädel. Er würde eine ganze Weile brauchen, um rund um die Galerie bis zu dieser Rolltreppe zu laufen, und in dieser Zeit könnte sein Gegenspieler längst das Gebäude verlassen haben. »Hochwürden!« ruft er verzweifelt. »Hochwürden! Hochwürden!« Der Mann hört ihn offenbar nicht. Entweder hat er gerade eine Vision, durch die er seine Umgebung nicht wahrnimmt, während er ins Erdgeschoß hinunterfährt, oder dieser Titel ist nur sein Spitzname, den sich die Bibliotheksangestellten für ihn ausgedacht haben. Mottershead macht einen Satz auf die Stufen der Rolltreppe, die ihm hartnäckig entgegensteigen, und hastet mit Gepolter nach unten, wobei er ruft: »He! He! He!« Selbst jetzt sieht ihn der Rotgesichtige nicht an, obwohl es alle Lesenden tun; einige stoßen Buhrufe aus oder grölen anfeuernd. Während es Mottershead gelingt, die Rolltreppe zu überrennen, fährt sein Gegenspieler schneller als mit doppelter Geschwindigkeit nach unten. Er hat erst die Hälfte der Strecke nach unten zurückgelegt, als der Rotgesichtige festen Boden betritt und an der Theke vorbeischreitet. »Mein Honorar!« schreit Mottershead. Er hebt die Füße und gleitet nach unten, wobei seine Absätze auf den Kanten der Stufen klappern. Unten angekommen, stößt er sich zwischen
den Tischen ab, wo ihm mindestens einer der Lesenden einen Fuß in den Weg stellt, so daß er darüberhüpfen muß. Die Ausgangsschranke schaukelt noch etwas nach, doch der Rotgesichtige ist bereits durch die Tür jenseits davon. Mottershead ist beinahe an der Theke angekommen, als ihm der Mann mit dem rosaroten Schädel in den Weg tritt. »Lassen Sie mich durch!« schreit Mottershead, doch der Mann reißt die glänzenden Augen weit auf und streckt die Arme nach beiden Seiten aus. Die Bibliotheksangestellten stellen Gleichgültigkeit zur Schau und blicken zum Dach hoch. »Verschwinden Sie, oder ich werde Sie wegstoßen und verprügeln«, schnaubt Mottershead, was ihm bewundernde Blicke von den Bibliotheksangestellten einbringt. Er stellt sich in Position, um seinen Peiniger zu schubsen, da tritt der Mann mit klackenden Schuhsohlen auf ihn zu. »Hochwürden Tiefbürden hat gesagt, ich soll Ihnen das hier geben.« Weitete er den Scherz noch aus, den die Bibliotheksangestellten mit Mottershead getrieben haben? Doch er schwenkt einen Umschlag, so braun wie der Einband eines Buches, das etwas zu verbergen hat. Mottershead argwöhnt, daß er ein Manuskript enthält, das zu lesen er kein Verlangen hat. »Hat er nicht einmal soviel Anstand, sich selbst damit zu mir zu bemühen?« sagt Mottershead so laut, daß es die Lesenden hören, und schnappt nach dem Umschlag. Er merkt sofort, daß er voller Münzen und Geldscheine ist. Die Schriftsteller haben offenbar eine Sammlung für ihn veranstaltet. Er kommt sich bloßgestellt und lächerlich vor und schiebt den Umschlag in die Tasche, auf die er von außen klopft, um sicherzugehen, daß er den Umschlag nicht danebengesteckt hat, und wünscht sich, daß die Lesenden den Vorfall vergessen mögen. Als er versucht, an der Theke vorbeizuschleichen, hält ihn der Überbringer des Umschlags fest, indem er ihn mit zappeligen Händen, deren Fingernägel
mit Tusche verkrustet sind, am Ellbogen packt. »Kann ich mit Ihnen reden?« »Das haben Sie bereits getan.« »Das war im Auftrag der anderen. Ich möchte über uns beide sprechen. Wir haben viel gemeinsam, das merke ich deutlich.« »Ein andermal«, sagt Mottershead unwirsch und versucht, sich ihm zu entziehen, ohne ihn anzusehen. »Es wird kein anderes Mal geben.« »Dann eben nicht.« Mottershead versucht, ihn durch eindringliches Anstarren dazu zu bewegen, ihn loszulassen, doch er kann dem Blick des anderen nicht lange standhalten; seine Augen machen den Eindruck, als ob der Zwang, so vieles sehen zu müssen, sie so stark hat anschwellen lassen, daß sie fast nicht mehr in die Höhlen passen. »Ich möchte in Ruhe gelassen werden«, murmelt er. »Sie wissen, daß das nicht möglich ist.« Mottershead spürt, wie sich schwarze Hilflosigkeit immer enger um sein Denken schließt. Er möchte mit Schwung ausholen und auf die Schädeldecke des Mannes einschlagen, bei der es sich seiner Überzeugung nach um Plastik handelt, das nicht sehr erfolgreich vortäuscht, Fleisch zu sein. Wie mochte es sich wohl anhören? Die Versuchung entsetzt ihn. »Würden Sie bitte diese Person aufklären?« sagt er in seiner lautesten Stimmlage. Die Bibliotheksangestellten sehen ihn stirnrunzelnd an. »Worüber?« fragt die Frau. »Über Ihre Bekleidungsvorschriften, möchte ich meinen.« Der Mann mit der Ersatzschädeldecke trägt Hausschuhe an den knochigen Füßen, und wenn sein ungeknöpftes Gewand, das mit einem alten Seil zugebunden ist, kein Morgenmantel ist, dann könnte es gut einer sein; bestimmt trägt er nichts darunter außer einer gestreiften Hose wie von einem Schlafanzug oder von Sträflingskleidung. Die
Bibliotheksangestellten sehen Mottershead immer noch stirnrunzelnd an, doch er macht sich nichts daraus, denn sein Ausbruch hat bewirkt, daß sein Peiniger zusammengezuckt ist und seinen Spinnengriff gelockert hat. Er befreit sich vollends und stößt die Schranke mit dem Knie aus dem Weg, wobei er ruft: »Ich glaube, Sie müssen einiges erklären«, um den Mann erstarren zu lassen, falls er in Erwägung zieht, ihm zu folgen. Er umfaßt den schweren Messingknopf der Tür mit beiden Händen, und nachdem er sie gerade so weit geöffnet hat, daß er hindurchschlüpfen kann, zieht er sie mit Wucht hinter sich zu. Er ist auf eine breite Straße hinausgetreten, die von Geschäften gesäumt ist und unter einem mit dichten Wolken verhangenen Himmel liegt. Schaufenster schimmern zwischen Baumstämmen, soweit das Auge reicht. Obwohl die oberen Stockwerke hinter Laub verborgen sind, hat er den Eindruck, daß die Geschäfte in einer Vielfalt von verschiedenen Gebäuden untergebracht sind; durch die Blätter erspäht er Gestalten, die so unbeweglich an einer Stelle verharren, daß es sich um Wasserspeier handeln muß; es gibt gemauerte Türme wie Bäume, die bis zum Stamm abgeholzt sind, Kuppeln so grün wie Mooshügel. Zu seiner Rechten, in der Ferne, wo sich die Bäume zu berühren scheinen, ist der Himmel klar. Er schreitet auf das Licht zu, in der Hoffnung, daß es sein Denkvermögen fördern wird. Es dauert nicht lange, da sieht er, daß er sich einer Buchhandlung nähert, deren Schaufenster vollgepackt ist mit Taschenbüchern, so bunt und vielfältig wie Packungen in einem Supermarkt. Ist Kadenz nicht als Taschenbuchausgabe erschienen? Bei dem Gedanken an das Buch zischt er durch die Zähne; er hat das zerstörte Exemplar und seinen Rucksack in der Bibliothek zurückgelassen. Er kann sich nicht vorstellen, daß er dorthin zurückkehrt, aber vielleicht besteht diese
Notwendigkeit auch gar nicht. Er huscht zwischen den Fahrrädern hindurch, die den einzigen Verkehr bilden, und überquert die Straße zu der Buchhandlung auf der anderen Seite. Die Glastür ist zugepflastert mit Plakaten für ein Buch mit dem Titel Froschprinzessin. Der Anblick von Glupschaugen, die sich ihm unter einem Brautschleier mit Krönchen hervor entgegenwölben, verwirrt ihn, so daß er eine Zeitlang an der Tür herumhantiert, bis er merkt, daß der rechte Flügel mit einem Riegel in seiner Position festgestellt ist. Er drückt mit der Schulter sein Gegenstück auf und befürchtet, daß er das Glas zerbrochen hat. Nein, er hat nur ein Plakat abgerissen, das die Tür zusammenknüllt und zerreißt. Er macht einen Schritt darüber und geht schnell in den Laden, wobei er so tut, als wäre er gerade erst eingetroffen und hätte mit dem Geschehen an der Tür nichts zu schaffen. Romane sind ringsum an den Wänden aufgereiht. Irgend etwas von Mottershead müßte sich in den Regalen im hinteren Bereich des Ladens finden. Er geht an den Autoren mit dem Anfangsbuchstaben I vorbei, als ihn jemand von hinten einholt. »Kann ich Ihnen helfen?« »Ich sehe mich nur um…«, setzt Mottershead an, doch dann versagt ihm die Stimme. Er ist von einem Frosch im Hochzeitsgewand angesprochen worden. Gleich darauf erkennt er, daß es sich bei dem Frosch um eine ältere Frau handelt, deren lederige Haut grün angemalt ist, und zwar mit der gleichen Schminke, die sie benutzt hat, um ihren Mund breiter erscheinen zu lassen. Sie hält das Plakat in der Hand, das er zerknüllt hat. »Ich finde mich schon selbst zurecht, vielen Dank«, sagt er mit einer derart beherrschten Stimme, daß es sich anhört, als würde er ein Rülpsen unterdrücken. »Vergessen Sie nicht, daß wir da sind.«
Ob das als Warnung gemeint ist oder als Angebot zur Hilfe, es gibt jedenfalls der Hysterie neue Nahrung, die er zu unterdrücken versucht. Sie hat seine Aufmerksamkeit auf ihre Kollegen gelenkt, die sich überall im Laden verteilt haben und die allesamt, einschließlich mindestens eines Mannes, als Froschbräute aufgemacht sind. Das gehört offenbar zu der Werbekampagne für das Buch, das auf den Plakaten angepriesen wird – ein Stapel von Exemplaren davon steht neben dem Kassentisch, dekoriert mit Wasserpflanzen. Er hält sich die Hand vor den Mund, da er anfängt zu spucken, und flieht tiefer in den Laden. Der Buchstabe M füllt die ganze Rückseite. Er hat den Eindruck, daß die Muster, die durch den Aufdruck auf den Buchrücken entstehen, verschiedene riesige Versionen des Buchstabens darstellen. Sein Name befindet sich ziemlich weit unten am Boden – Mottershead, in mehreren verschiedenen Schrifttypen. Er schiebt die Finger zwischen die oberen Ränder der Seiten und zerrt an den Büchern. Kein Wunder, daß sie niemand gekauft hat, wenn sie so fest in das Regal gepreßt sind. Es gelingt ihm, sie ein wenig herauszukippen und die Kanten der Buchrücken zu fassen zu bekommen. Er ruckelt daran, und ohne Vorwarnung fliegen sie aus dem Regal und ergießen sich über den Boden. Bevor er sie aufheben kann, kommt die Froschbraut, die ihm anfangs hinterhergelaufen ist, eilends herbei. »Nichts passiert«, beschwichtigt Mottershead sie, und er spürt, daß seine Fröhlichkeit wieder hochsprudelt, als er sich bückt, um die Bücher aufzusammeln. »Ich werde sie kaufen, wenn Sie mir eine Tragetasche geben. Ich habe sie geschrieben.« Glaubt sie, daß er lügt? Ihre Mißbilligung verzerrt ihren Mund so sehr in die Breite, daß sie auf die Schminke verzichten könnte. »Hören Sie«, sagt er, und ihm ist nicht mehr zum Lachen zumute, »ich versichere Ihnen…« Dann sieht er
die Einbände der Bücher, von denen er behauptet hat, sie geschrieben zu haben, und sein Kinn klafft herunter. Der Name des Autors ist eindeutig Mottershead, er verläuft in gesperrten, erhabenen Großbuchstaben quer über die Titelseiten. Der Vorname ist jedoch ganz klein gedruckt, damit er zwischen die Schenkel der Mädchen paßt, deren nackte Hinterteile auf den Umschlägen abgebildet sind. Die Bücher sind betitelt mit Achtzehn, Siebzehn, Sechzehn und Fünfzehn, und anhand der Gesichter, die sich über die Schultern umblicken, wird klar, daß es sich dabei um das jeweilige Alter der Mädchen handelt. Er braucht den Blick gar nicht auf den Vornamen des Autors zu konzentrieren, um sicher zu sein, daß er niemals solche Gedanken gehegt hat, ganz zu schweigen davon, daß er sie auch noch zu Papier gebracht hätte – aber wie konnte er die Froschprinzessin davon überzeugen? »Sie nehmen sie mir besser ab, bevor ich noch mehr Schaden anrichte«, murmelt er. Wenn sie sie nur nehmen würde, dann könnte er aus dem Laden rennen; es ist ihm inzwischen egal, was sie über ihn denkt. Doch sie schüttelt heftig den Kopf und ballt die grünlichen Hände zu Fäusten, wobei sie das Plakat noch mehr zerknüllt, und zwei ihrer Froschkollegen nähern sich Mottershead von hinten. »Ärger?« krächzt die männliche Braut. »Der Autor dieser Bände behauptet, sie im Regal gefunden zu haben. Man fragt sich, wer sie dort hineingestellt hat.« »Ich habe mich geirrt. Ich habe keins dieser Bücher geschrieben.« Der Frosch mit dem Plakat mustert Mottershead ungläubig. »Er scheint nicht zu wissen, wann er aufhören muß, Märchen zu erzählen«, bemerkt der dickste der Frösche. »Sehe ich so aus, als könnte ich für solches Zeug verantwortlich sein?« schreit Mottershead. »Warum sollte ich
versuchen, Bücher zu kaufen, die ich selbst geschrieben habe?« Die Frösche kichern. »Einige Leute schrecken vor nichts zurück, um für sich selbst Reklame zu machen«, sagt der mit dem Plakat. Mottershead ist überwältigt von Wut, die sich auf bedrückende Weise wie Angst anfühlt. Er wirft die Bücher in die Luft und ist auf dem Weg zum Ausgang, bevor sie wieder herunterfallen. Er rennt an dem Laden vorbei, als drei Buchverkäuferinnen am Fenster erscheinen, auf und ab hüpfend und Unverständliches quakend, während sie ihm mit den Büchern zuwinken. Alle vorbeikommenden Radfahrer betätigen ihre Klingeln, als wollten sie die Aufmerksamkeit auf ihn lenken, und er huscht hinter einen Kastanienbaum und schlägt den Kragen hoch, um die Teile seines Gesichts zu verbergen, die er nicht gegen den Baumstamm drücken kann. Sobald das Klingeln nachläßt, stürzt er hinter dem Baum hervor, rennt die breite Straße entlang und versucht, einem Lärm zu entfliehen, der, wie er allmählich den Verdacht hat, durch den Radau der Klingeln überdeckt wird. Er ist jedoch erst an ein paar Gebäuden vorbeigekommen, da gelangt er zu einer weiteren Buchhandlung, die in einem ehemaligen Kino eingerichtet worden ist. Der Drang, sich selbst in den Regalen zu finden, ist stärker denn je. Er wirft einen Blick über den verlassenen Gehsteig, dann flitzt er in den Laden. Einige lebensgroße ausgeschnittene Pappfiguren, vermutlich eher von Schriftstellern als von Filmstars, lungern im Eingang herum. Regale wie freistehende Trägerbalken verzweigen sich entlang der Wände des geplünderten ehemaligen Zuschauersaales, und der Boden ist vollgestellt mit Tischen, die wiederum vollgepackt sind mit Büchern: Die Intelligenz des automatischen Anrufbeantworters, 1001 Großartige Werbeslogans, So steigere ich meine Gehirnkapazität… Außer
den aufgestellten Figuren lümmeln sich noch zwei Blondinen am Kassentisch, tief in ein Gespräch versunken. »Sie hat die gleichen Haare wie ich«, sagt die eine mit einer Stimme so leicht wie feinstes Gewebe, und ihre Freundin antwortet: »Ich muß es auch mal ausprobieren.« Es geht etwas Abschreckendes aus von der Vollkommenheit ihrer jungen Gesichter, den langen Wimpern und blauen Augen und rosafarbenen Lippen, ihrem makellosen Fleisch; er kann nicht umhin, an das älteste der Fotomodelle auf den Büchern zu denken, die er gerade noch so entschieden abgelehnt hat. Der Gedanke läßt die Worte aus seinem Mund sprudeln. »Ist eine von Ihnen für mich frei?« Sie wenden sich mit einem so einheitlich höflichen Gesichtsausdruck zu ihm um, daß ihm ihr aufgesetztes Verhalten Unbehagen bereitet. »Ich meine, kann mir eine von Ihnen zeigen, wo Simon Mottershead steht? Nicht jener Mottershead, der sich in Phantasien über Mädchen Ihres Alters und jünger ergeht«, fügt er hastig hinzu. »Derjenige, der Kadenz geschrieben hat.« Nichts von dem, was er gesagt hat, macht einen sichtbaren Eindruck auf sie. Er hat das Gefühl, daß ihr vollkommenes Äußeres Schranken errichtet, die er nicht erreichen und schon gar nicht überwinden kann. »Ich spreche von Büchern, verstehen Sie«, fährt er fort. »Ich möchte, daß Sie mir einige Bücher zeigen.« Die Verkäuferin zu seiner Linken wirft ihrer Kollegin einen Blick zu. »Wir rufen besser die Geschäftsführerin.« »Ist das nötig?« fragt Mottershead. Offensichtlich ist es das; bevor er zu Ende gesprochen hat, drückt das andere Mädchen auf einen Knopf auf dem Tisch. Irgendwo hinter einer Wand läutet schrill eine Klingel, und eine Frau, um etliche Jahre älter als die Mädchen an der Theke, aber so aufgemacht, daß sie genauso jung wirken soll, schnellt wie eine Gestalt aus einem
Springauf-Buch hinter einem Schreibtisch hoch. »Was kann ich für Sie tun?« fragt sie Mottershead. »Ich warte auf die Geschäftsführerin.« »Die bin ich.« »Dann können Sie mir helfen«, sagt Mottershead und versucht, sich freundlich und um Verzeihung bittend und über seinen Fauxpas erheitert anzuhören. »Ich suche Simon Mottershead.« »Wir haben hier niemanden dieses Namens.« »Seine Bücher, meine ich.« »Haben wir nicht.« »Könnten Sie mir zeigen, wo ich danach suchen könnte? Ich glaube Ihnen selbstverständlich«, lügt Mottershead, »aber Sie sind so üppig bestückt…« Die Frau gibt ein Grunzen von sich, als ob er das als zweideutige Beleidigung gemeint hätte. »Sie würden nur Ihre Zeit verschwenden. Ich kenne jedes Buch in diesem Laden.« Warum versucht sie, ihn loszuwerden? Er hat das Gefühl, als würde die Schwärze, die seinen Verstand bedroht, den Laden verdunkeln, sich wie Rauch unter dem Dach sammeln. Seine Umgebung, einschließlich der Gesichter der Frauen, scheint immer mehr an Tiefe einzubüßen. »Zumindest«, sagt er verzweifelt, »müssen Sie doch schon mal von Simon Mottershead gehört haben.« »Ich werde nicht so tun, als hätte ich das.« Die Schwärze ist im Begriff, alles um ihn herum zu schlucken, mit Ausnahme ihres ausgeschnittenen Gesichts und das ihrer Verkäuferinnen. »Nun, jetzt haben Sie ihn kennengelernt«, kreischt er fast und stolpert zum Ausgang, den er kaum erkennen kann. Als er nach der Tür greift, tritt jemand, der im Eingang gewartet hat, in den Laden. Es ist der Mann mit der falschen Schädeldecke.
Er stellt sich Mottershead in den Weg und hält eine Hand hoch, woraufhin Mottershead die Beherrschung verliert. Er packt die Schultern des Mannes, die sich wabbelig und aufgedunsen anfühlen, und schleudert ihn zur Seite. Der Mann fällt der Länge nach hin, wobei er zwei der aufgestellten Figuren mitreißt, und Mottershead ist überzeugt davon, daß er seinen Sturz übertreibt, den Zuschauern ein Schauspiel bietet, die empörte Schreie ausstoßen und zur Hilfe geeilt kommen. Mottershead schmeißt die übrigen Pappfiguren um, um eine Verfolgung zu erschweren, und stößt die Tür mit einem Fußtritt hinter sich zu. Er ist kaum im Freien, als er eine weitere Buchhandlung durch die Bäume sieht. Ihr Geschäftsschild – ›Alles Lesenswerte‹ stellt eine solche Herausforderung dar, daß er ihm nicht widerstehen kann. Die Fahrräder sind weniger geworden, und sie und ihre Klingeln scheinen in ihrem Elan etwas nachgelassen zu haben. Er rennt zwischen ihnen hindurch und versteckt sich hinter einem Baumstamm, hinter dem er hervorspäht. Als er niemanden sieht, der ihn verfolgt, huscht er in die dritte Buchhandlung. Die Ladenfront erscheint insgesamt zu schmal für ein derartiges Warenlager, wie es das Schild verheißt. Andererseits, wenn das Niveau des Buchhändlers höher ist, als es beim vorigen Laden offenbar der Fall war, dann müßte dieser hier doch Mottersheads Werke vorrätig haben, oder nicht? Er schiebt die schwarze Tür neben dem düsteren Schaufenster auf, das mit ein paar wenigen Lederbänden ohne Schutzumschlag bestückt ist. Eine Glocke über der Tür erzeugt einen tiefen, dumpfen Ton, und der Geschäftsinhaber hebt den Kopf. Sein schwarzes Haar wirkt schwammartig und feucht wie Flechten. Die Enden seines Schnauzbarts stehen borstig zu beiden Seiten seines spitzen Gesichts ab. Er sitzt hinter einem
verkratzten Schreibtisch, auf dem sich eine uralte Registrierkasse und ein Buchkatalog befinden, dessen Seiten an den Ecken hochgebogen sind wie tote Blätter. Seine verschrumpelten Augenlider heben sich träge, als er Mottershead ansieht; dieser tritt vor und streckt die Hand aus. »Simon Mottershead. Simon«, betont er, um jeden Irrtum auszuschließen. Der Mann betrachtet die Hand mit einem entmutigenden Blick, und er scheint sich innerlich zu wappnen, weil ihm sein Instinkt offenbar eingibt, daß er vor diesem Besucher am besten auf der Hut ist. »Wen vertreten sie?« »Mich selbst«, sagt Mottershead mit einem Lachen, das selbstironisch klingen soll, das jedoch auf eine Art herauskommt, daß es gefährlich klingt. »Ich bin der Schriftsteller.« »Welcher Schriftsteller?« »Simon Mottershead.« »Herzlichen Glückwunsch«, sagt der Buchhändler mit einem deutlichen Mangel an Begeisterung. »Welchem Umstand verdanke ich diese Ehre?« »Ich habe mich gefragt, welche meiner Bücher Sie wohl führen mögen.« »Das kann ich Ihnen kaum sagen, wenn sie nicht veröffentlicht worden sind.« »Das sind sie aber«, winselt Mottershead kläglich und bemüht sich krampfhaft, sich an die Titel zu erinnern, die ihm helfen würden, die Schwärze abzuwehren, die offenbar im Begriff ist, ihn zu verschlingen; er hat das Gefühl, daß er gar nicht mehr existiert. »Kadenz. Selbst wenn es vergriffen ist, müssen Sie doch davon gehört haben.« »Von ›müssen‹ kann keine Rede sein, fürchte ich.« Der Laden ist viel länger, als es von außen den Anschein gehabt hat: so lang, daß er in der Tiefe fast lichtlos ist. Die
wachsende Dunkelheit ist vielleicht die Sichtbarwerdung des Nicht-Vorhandenseins seines Buches. »Darf ich Ihnen die Geschichte erzählen?« fleht er. »Dann wird es Ihnen bestimmt wieder einfallen.« Der Buchhändler steht auf und blickt an ihm vorbei. »Sie müssen mich entschuldigen. Ich habe einen Kunden.« Einen Augenblick später läutet die Glocke. Sollte Mottershead sich die Ablenkung zunutze machen und in den Regalen nach seinem Namen suchen? Wenn er ihn angesichts des ablehnenden Verhaltens des Buchhändlers finden würde, wäre das der größte Triumph, den er sich vorstellen kann. Er drückt sich an dem Schreibtisch vorbei und mustert den Neuankömmling. Dunkelheit überflutet ihn. »Das ist kein Kunde«, sagt er mit gedrosselter Stimme. »Wenn er mich auf dieselbe Weise behelligt wie Sie«, sagt der Buchhändler, »muß ich Sie beide bitten zu gehen.« »Natürlich wird er das nicht«, bringt Mottershead mit Mühe und Not heraus, anstatt seinen Verfolger anzugreifen. »Wie könnte er?« Der Buchhändler öffnet eine Schublade des Schreibtischs und greift hinein. »Bitte verlassen Sie den Laden, sonst sorge ich dafür, daß Sie hinausgeworfen werden.« »Das haben Sie bereits getan«, sagt Mottershead voll Bitterkeit und schleppt sich zum Ausgang, weg von dem schwarzen Tunnel, als den er den Laden empfindet. Der glatzköpfige Mann steht ihm im Weg. Die obere Rundung seiner Schädeldecke ist jetzt eingedellt, verbeult durch den Sturz; seine Augen haben einen gespenstischen Glanz, vielleicht eine Folge des Drucks auf sein Gehirn. »Sie sind Zeuge«, ruft Mottershead den Buchhändler auf, dessen Hand immer noch in der Schublade ist und nach einer Waffe oder einem Telefon tastet. »Ich habe diesem Wesen gesagt, es soll
mich in Ruhe lassen, sonst trage ich keine Verantwortung für meine Handlungen.« Der Buchhändler schüttelt den Kopf. »Bitte tragen Sie Ihren Streit draußen aus.« Mottershead sieht sich und seinen Peiniger mit den Augen des Buchhändlers: als zwei nicht veröffentlichte und vermutlich nicht veröffentlichungswürdige Schriftsteller, eifersüchtig aufeinander wegen ihres mangelnden Erfolgs. Die Ungerechtigkeit macht ihn wütend, und er ist im Begriff, einen letzten Versuch zu unternehmen, um den Buchhändler von seiner Echtheit zu überzeugen, als er von dem Glatzköpfigen abgelenkt wird. »Ich habe etwas, das Ihnen gehört«, sagt er mit einem geheimnisvollen Grinsen. »Was immer das sein mag, es sei Ihnen gegönnt. Behalten Sie es als Gegenleistung dafür, daß Sie mich in Ruhe lassen«, erklärt ihm Mottershead und vermutet, daß es sich um das beschädigte Exemplar von Kadenz handelt. Da sich der andere nicht bewegt, stürzt Mottershead auf ihn zu und sieht mit Genugtuung, wie er zusammenzuckt und beide Hände schützend über den Schädel hält. »Halten Sie sich zurück, oder es wird Ihnen noch schlechter ergehen«, faucht Mottershead und marschiert aus dem Laden. Dann verläßt ihn sein Selbstvertrauen, und er flieht zu dem freien Platz jenseits der breiten Straße. Er wird sich jetzt durch nichts mehr aufhalten lassen, das schwört er sich. Die Aussicht, auch in einer weiteren Buchhandlung erfolglos nach sich selbst zu suchen – die schwarze Depression zu verlängern, die durch ihn hindurchsickert wie Gift –, erschreckt ihn, und doch gelingt es ihm nicht, sich davon abzuhalten, die Ladenfront nach einer weiteren Buchhandlung abzusuchen, einem weiteren Vorwand zum Hoffen. Hat er sich nicht genauso gefühlt, als Kadenz veröffentlicht wurde? War das nicht der Tag, an dem er
aufgeregt von einer Buchhandlung zur nächsten wanderte und das Gefühl hatte, daß nur ein einziges Exemplar des Buches ihn von seiner Existenz überzeugen würde, bis er bereit war, alles zu tun, nur damit er dieses Gefühl los wurde? Er ist schrecklich dankbar dafür, daß es’ offenbar keine weiteren Buchhandlungen an der Straße gibt. Dennoch stutzt er an einem Schaufenster – dem Schaufenster eines Bekleidungsgeschäftes. Er ist bereits daran vorbei – vorbei an dem sich über die ganze Länge erstreckenden Spiegel zwischen den mit Hemden bekleideten Rümpfen und körperlosen Beinen, die mit Röcken oder Hosen bekleidet sind – bevor ihm klar wird, was er gesehen hat. Er zögert, schwankt, taumelt weiter, geht zurück. Er sieht sich selbst wieder im Spiegel erscheinen, rückwärts laufend wie eine Gestalt in einem Videofilm, der zurückgespult wird. Unter seinem Anzug, der so fadenscheinig ist, daß man sein Muster nicht mehr erkennen kann, trägt er nur ein Unterhemd, gespickt mit Luftlöchern, durch die seine grauen Brusthaare sprießen: weder Hemd noch Socken. Das ist also das Bild, das er seiner Umgebung geboten hat. Kein Wunder, daß ihm jeder mit Argwohn begegnet ist. Sein Spiegelbild beginnt vor seinen Augen zu zittern; seine hilflose Wut läßt ihn erbeben. Er starrt in den Spiegel, als wolle er sich selbst hypnotisieren – er kann den Blick nicht von sich abwenden, wie er da so zwischen den verschiedenen Körperfragmenten steht, die wie ein Kunstwerk, Zerstückelung darstellend, angeordnet sind – als der Mann mit der eingedellten Schädeldecke hinter ihm erscheint. Das Spiegelbild bebt wie aufgewühltes Wasser. Die Bewegung scheint sich über den Spiegel hinaus fortzupflanzen und versetzt die Rümpfe und abgetrennten Gliedmaßen in Schwingungen, als ob sie oder der einzelne staubige Kopf, der in einer Ecke des Fenster lauert, davon träumten, wieder
zusammengesetzt zu werden. Vielleicht wird er eines Tages in der Lage sein, all dieses zu einer Geschichte zu verarbeiten, denkt Mottershead verzweifelt. Aber hat er nicht schon etwas in der Art geschrieben? Seine Beine drücken sich ohne sein Zutun zusammen, seine überkreuzten Hände legen sich vor seine Brust in dem Versuch, das farblose Fleisch zu verbergen. Der andere reckt sich über seine Schulter, und Mottershead hat das Gefühl, als sei ihm ein zweiter Kopf gewachsen. »Nur ein paar Worte«, flüstert ihm der Mann ins Öhr, so nahe, daß er Feuchtigkeit spürt. »Leck mich doch am Arsch«, heult Mottershead auf und taumelt aus der Reichweite des anderen, wobei er gegen das Schaufenster prallt, als er sich umdreht, um seinem Verfolger ins Gesicht zu sehen. »Reicht das jetzt? Befriedigt Sie das?« Der Mann verdreht die Augen und leckt sich die Lippen. Vielleicht versucht er, seine Zähne an die richtige Stelle zu schieben, aber er sieht so aus, als verlange er nach mehr. Mottershead brüllt jede Beleidigung und alle unanständigen Worte und jede Kombination aus beiden, die ihm einfällt, heraus, ein endlos erscheinender Monolog, für den er offenbar nicht einmal Luft zu holen braucht. Als ihm schließlich die Worte ausgehen, hat sein Opfer noch nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Er hebt eine Hand zum Mund und schiebt die Zähne an ihren Platz, dann sieht er Mottershead enttäuscht an. »Das hat sich nicht sehr nach einem Schriftsteller angehört.« »Dann kann ich also auch keiner sein, nicht wahr?« sagt Mottershead mit einer Art von hysterischem Triumph. »Jetzt zufrieden?« Der andere greift wieder nach seinen Zähnen, als Auftakt für eine Erwiderung, doch Mottershead will kein Wort mehr hören. Er schlägt die Hand zur Seite und fährt mit den Fingern in den Mund des Mannes, packt die obere Zahnreihe. Die Zunge stößt gegen seine Finger, kann sie jedoch nicht
vertreiben, bevor er die Zähne erwischt hat; er schleudert sie über die Straße und verfehlt um Haaresbreite einen einsamen Radfahrer. »Fang!« zischt er. Sein Opfer gafft ihn mit offenem Mund an, so als ob das Gewicht seiner Kehllappen mehr sei, als sein Kiefer verkraften kann. Obwohl ihm der Gedanke widerstrebt, noch einmal mit der Zunge in Berührung zu kommen, schiebt er die Hand in den offenen Mund und packt die untere Zahnreihe. Er reißt sie von dem geschwärzten Zahnfleisch und wirft sie so hoch in die Luft, wie er kann. Sie landet in den Zweigen eines Kastanienbaums und schreckt einen Vogel auf, der mit aufgeregten Flügelschlägen die Straße entlangflattert. »Damit dürften Sie eine Weile beschäftigt sein. Lassen Sie sich nicht einmal im Traum einfallen, mich zu verfolgen«, warnt er und rennt hinter dem Vogel her. Vor ihm, an einer Kreuzung, wo die Geschäfte aufhören, erstreckt sich eine Grünfläche bis zum Horizont. Der Himmel über dem Park ist wolkenlos, wie von einer Ausdünstung aus dem kurzgeschnittenen Gras gereinigt. Hier und da spenden Baumgruppen Schatten für Bänke, die alle unbesetzt sind. Als Mottershead am letzten Laden vorbeikommt, steigt der Vogel in die Höhe und scheint sich auszudehnen, während er auf den Zenit zuflattert. Dann schrumpft er und verschwindet, bevor Mottershead es erwartet hat, und er drängt sich zwischen zwei der rostigen Autos, die am Rand des Parks abgestellt sind. Die Torflügel werden mittels Bolzen offen gehalten, die tief in den Weg getrieben sind und den Beton spalten. Jeder der steinernen Torpfosten ist mit einer lebensgroßen gemeißelten Figur geschmückt, die den Pfosten umarmt und das Gesicht in dem Stein vergräbt, als ob sie sich verstecken wolle oder versuche, in sein Inneres zu sehen. Über den hageren Gliedmaßen und Rümpfen sind die kahlen Köpfe narbig und von Moos überwuchert. Nachdem er durch das Tor gegangen
ist, sieht Mottershead sich nach hinten um, doch die Gesichter treten auf der parkwärtigen Seite der Pfosten nicht hervor, auch wenn das Moos auf ihnen dem Ansatz eines Gesichts ähnelt. Er entdeckt auch niemanden, der ihn verfolgt. Jenseits des Tors verzweigen sich die Wege. Die meisten verlaufen in Biegungen zwischen den Bänken hindurch, doch einer führt geradewegs zum Horizont, der einen Pelz von Bäumen aufweist. Während Mottershead über diesen Weg spaziert, hat er das Gefühl, daß die Stadt und alles, was ihm an Umbilden widerfahren ist, sich zumindest bis zur Grenze des Parks zurückgezogen hat. Das Gras ist grün wie der Frühling und glitzert vor Regen oder Tau, deren Tropfen wie Fenster zu einer mikroskopischen Welt aufblitzen. Er wird nicht aufhören zu laufen, bevor er die Bäume am Horizont erreicht hat, und vielleicht auch dann noch nicht, es sei denn, ihm ist ein Licht aufgegangen, warum ihm der Park so bekannt vorkommt. Er befindet sich jenseits der letzten Bänke, als ihm langsam die Erinnerung dämmert. Er ging mit seiner Familie spazieren, seine Frau hielt seine Hand und die ihres Sohnes; ihre Tochter hielt Mottersheads andere Hand. Strahlen von dunstigem Sonnenlicht, die durch das Laubwerk fielen, brachten die Bäume zum Singen. Er hatte das Gefühl, daß seine Familie ihn führte, für seine Sicherheit sorgte, während seine Träume vom Wald Besitz ergriffen. Er spürte, daß er der Erfüllung eines Traums entgegengeführt wurde, aber gar nicht wußte, daß er träumte. Vielleicht war er unfähig, daran zu glauben oder ihn auch nur wahrzunehmen, während er wach war. Wenn das der Fall war, wie kann er ihn dann jetzt erspähen? Zu viele Eindrücke drängen ihn aus seinem Kopf. Ist es eine Erinnerung, oder könnte es etwas sein, das er geschrieben hat oder zu schreiben beabsichtigt? Wie auch immer, er ist sich sicher, daß er die Kulisse kennt – daß er mit seiner Familie durch den Wald am anderen Ende des Parks spaziert ist. Ist es
nicht möglich, daß seine Frau und seine Kinder immer noch dort leben? Das würde bedeuten, daß er eine Chance hatte, es bis zu ihnen zu schaffen. Es fällt ihm nicht ein, was er noch in Ordnung bringen muß, aber er wird sich daran erinnern, wenn er ihnen von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht. Hat er sie auf eine Weise in einer Geschichte verwendet, die sie traurig gemacht hat? Er beschleunigt seine Schritte und trabt auf die Bäume zu, und dann, als sie beharrlich in der Ferne bleiben, beginnt er zu rennen. Er ist scheinbar kaum weitergekommen, als er entsetzt innehält, da er eine zahnlose Stimme seinen Namen rufen gehört hat. Er wendet sich keuchend um. Der Himmel über ihm scheint zu schrumpfen und sich zu verdunkeln, die Baumgruppen scheinen zu erstarren und die Zweige zu Fäusten zu ballen. Er kann niemanden sehen außer einer Frau, die durch das Tor hetzt, gezogen von drei unartigen Pudeln mit rosa und grün und purpurrot gefärbtem Fell; jeder Hund trägt eine Mütze und Glöckchen. Dann ruft die Stimme erneut, mit verzerrter Aussprache wegen der fehlenden Zähne. »Da sind Sie also.« Sein Peiniger versteckt sich offenbar in der nahen Baumgruppe; Mottersheads Rucksack liegt schlaff auf der Bank, der sie Schatten spenden. Er hätte liebend gern auf ihn verzichtet, doch wenn er seinem Verfolger nicht entgegentritt, dann wird er mit Sicherheit bis zum Haus seiner Familie verfolgt. Er schreitet auf die Bank zu. Der Mann ist nicht zwischen den Bäumen, die darum herum stehen. Mottershead kann lediglich vermuten, daß der Anblick des Rucksacks seine Aufmerksamkeit auf die falsche Baumgruppe lenken sollte. Er packt den Rucksack, schlängelt die Arme durch die Riemen und spürt ein Gewicht auf dem Rücken, das das beschädigte Exemplar von Kadenz sein muß. »Danke. Jetzt gehen Sie bitte«, ruft er.
Es bewegt sich nichts außer der Pudel, die so ausgelassen in der Nähe des Tors im Gras herumtollen, daß sie ihre Besitzerin mit zu Boden gerissen haben. Als Mottershead sich umsieht, fällt ihm auf, daß alle Häuser, die den Park säumen, mit stolzen Fernsehantennen ausgestattet sind. Ist er mal im Fernsehen erschienen? Er glaubt sich zu erinnern, daß Kameras auf ihn gerichtet waren, grelle Lichter ihn blendeten, Techniker um ihn herum wimmelten. Wie viele Menschen haben ihn auf ihren Bildschirmen gesehen, und was haben sie gesehen? Sein Nichtwissen macht seine Umgebung zu einer hinterhältigen Bedrohung. »Lassen Sie meine Familie in Ruhe, Sie Wahnsinniger«, schreit er und rennt zurück zu dem geraden Weg. Er hat das Gefühl, daß der Inhalt des Rucksacks auf ihm reitet, ihn in Richtung des Waldes lenkt. Jedesmal, wenn er zu einer weiteren Baumgruppe, die eine Bank umgibt, kommt, untersucht er sie genau, doch während er das tut, scheint sie sich zusammenzuziehen und mit der vorigen identisch zu werden. Als er ans Ende des Weges gelangt, ist ihm schwindelig vor lauter Umsichsehen und Zurückblicken. Zwei Pfade führen von hier in den Wald. Einer ist breit und geriffelt, als ob eine halb im Boden vergrabene Leiter ihm die Struktur verleihen würde. Die andere windet sich durch ein Dickicht, und diesen schlägt er ohne zu zögern ein, da er darauf vertraut, daß die Bäume und das Gestrüpp jeden Versuch, ihn zu verfolgen, vereiteln. Das Dickicht ist weitläufiger, als er erwartet hat. Die Äste der Bäume, die den Himmel abschirmen, sind so ineinander verschlungen, daß es unmöglich ist zu sagen, welches Laub zu welchem Baum gehört. Die Blätter der Büsche, die dicht zwischen den Bäumen stehen und den Pfad verschmälern, sehen aus, als mangele es ihnen an Sonnenschein; einige sind so fahl wie die Pilze, die zwischen den Wurzeln aus der Erde
sprießen. Wurzeln kriechen über den düsteren Pfad, so daß er den Blick ständig zu Boden richten muß, während er sich durch das Dickicht arbeitet und nur ab und zu nach vorn bis zum Ende schaut. Anfangs schafft er es, nicht darauf zu achten, daß die Dunkelheit immer näher auf ihn zukriecht, wenn er den Pfad prüfend betrachtet, und dann redet er sich ein, daß es gar nicht anders sein kann, als daß es dunkler wird, je weiter er fortschreitet. Doch er empfindet die Dunkelheit als ein Zeichen von Verfolgung wie einen Sack, den ihm jemand über den Kopf stülpt. Als er sich umblickt, sieht er, daß sich das Dickicht hinter ihm geschlossen hat und die Sicht darüber hinaus so gründlich verhindert, als ob der Park und die Stadt niemals existiert hätten. Obwohl er weder jemanden sieht noch hört, der ihn verfolgt, bestätigt der Wald sein Empfinden, daß ihm jemand folgt. Das Laubwerk schließt sich über seinem Kopf wie die ewige Nacht, Pilze glotzen ihn aus dem Unterholz heraus an. Er glotzt zurück; ein Großteil des Gestrüpps, zwischen dem sich der Pfad hindurchwindet, ist voller Dornen, an denen er Gefahr läuft sich zu kratzen. Als er seine Aufmerksamkeit jedoch auf den Weg vor sich richtet, hat er den Eindruck, daß er einem Verfolger die Möglichkeit gibt, ihn einzuholen – daß der eingedellte Kopf ihm gleich über die Schulter spähen wird, mit den vorstehenden Augen und der ausgeblichenen Zunge. »Halt dich aus meinem Denken raus!« flüstert er, während er nach Zweigen greift und sie hinter sich heftig zurückpeitschen läßt. Er hat das Gefühl, daß er in ein Labyrinth von Dornen geraten ist, deren Spitzen sich in seine Seele bohren. Er ist versucht, auf dem Weg, den er gekommen ist, umzukehren, doch als er sich umdreht, sieht er, daß die Zweige, die er zurückschnellen lassen hat, den Pfad blockieren und er ihn in dem düsteren Licht nicht erkennen kann. Wenigstens muß der
Weg vor ihm begehbar sein, da Initialen und ganze Worte in die Bäume neben dem Pfad eingeritzt sind. Er ist weniger geneigt, diese Zeichen von Leben zu begrüßen, als es ihm gelingt, Worte zu entziffern. Ein Baum zu seiner Linken trägt als senkrechte Inschrift das eine Wort: VERSENKUNG. Am nächsten Baum wurde ein Fetzen Rinde hängen gelassen, als sollte er die Worte TRAUM ODER BAUM unterstreichen. Überaus beunruhigend ist die Botschaft, die auf einem Baumstamm auf der anderen Seite des Pfads übermittelt wird – BEINAHE EIN BAUM –, denn als er den Wald dahinter in Augenschein nimmt, erscheinen ihm einige der Bäume fragwürdig, eher wie geschnitztes und zusammengefügtes Holz, das Bäume darstellen soll. Er huscht so schnell zwischen den Dornen hindurch, wie er es in der zunehmenden Dunkelheit zu tun wagt. Der Pfad verläuft in einem scharfen Knick, und als er der Biegung näher kommt, fällt ihm auf, daß die Bäume direkt vor ihm von den Wurzeln bis zur Krone mit eingeritzten Worten bedeckt sind. Es kommt ihm so vor, als ob die dornige Düsternis genügend Worte enthalten müßte, um mindestens ein Buch zu füllen. Soll er sich einen Weg durch das Buschwerk bahnen, um sie zu lesen? Vielleicht würden ihn die Dornen nicht verletzen, denn allmählich fühlt er sich eins mit ihnen und glaubt, daß womöglich die Dornen selbst die Worte in die Baumstämme geritzt haben; er kann sich nicht vorstellen, daß sich jemand durch ihr Gewirr hindurcharbeitet, um so etwas zu tun. Er gelangt zu der Ansicht, daß die Dornen letztendlich doch nicht nach seiner Seele grapschen, sondern aus ihr heraus. Er versucht, sich an dieser Vorstellung festzuhalten, doch sie ähnelt zu sehr einer Verkörperung der Dunkelheit, als daß sie ein Trost für ihn sein könnte. Er zwingt sich, den Blick von den Bäumen mit den Inschriften abzuwenden, und schleppt sich auf dem Pfad weiter.
Dem Wald paßte es nicht, ihn freizugeben. Dornen rutschen über seinen Rucksack und die Schultern; er hat das Gefühl, daß der Inhalt des Rucksacks versucht, ihn zurückzuhalten. Wie lange stolpert er schon durch den Wald? Wird er jemals aus der Dunkelheit herauskommen? Er verdrängt die Angst, daß der Pfad vielleicht auf sich selbst zurückführt, denn wohin er auch schaut, um sich für eine Richtung zu entscheiden, sieht er in Holz eingeritzte Schriftzeichen. Er hat Angst, seinen Blick auch nur für einen Moment auf ihnen ruhen zu lassen, da er weiß, er würde gezwungen sein, stehenzubleiben und sie zu lesen, während die Dunkelheit um ihn herum immer dichter würde. Jetzt ragen die Dornen vor ihm hoch über ihn auf, als wollten sie ihn zurücktreiben. Der Rucksack zerrt an seiner Schulter, die Dornen über ihm scheinen zu schwanken. Er springt schreckhaft von einer Seite des Pfades zur anderen, überzeugt davon, daß er spürt, wie die Dornen sich nach seinen Augen recken. Sein linkes Auge zuckt, als ob die Spitze eines Dorns die Oberfläche seines Augapfels berührt hätte, und er schlägt sich eine Hand vor die Augen und tastet sich mit der anderen vorwärts. Die Haut unter seinen Fingernägeln krabbelt vor einer bösen Ahnung. Allerdings haben sich keine Dornen in seine Fingerspitzen gebohrt, als ihm der Rucksack ins Rückgrat schlägt und er ins Freie tappt. Außerhalb des Waldes ist es fast so dunkel, wie es unter den Bäumen gewesen ist. Als er sich nach hinten umblickt, sieht er, daß er durch eine Lücke in einer Hecke gekommen ist, die in der Dunkelheit undurchdringlich aussieht. Der Pfad, oder vielmehr der Abzweig davon, hat ihn in einen Garten hinter einem großen, zweigeschossigen Haus geführt. Licht, das durch das Küchenfenster und zwischen den Vorhängen des angrenzenden Raums im Erdgeschoß herausscheint, fällt auf das abgetretene Gras und lockt ihn in
die Falle der Dunkelheit dazwischen. Er macht sich gerade bereit, durch den schmaleren Strahl zu huschen und um das Gebäude herum bis zur Straße zu schleichen, da erkennt er das Haus. Kann sein, daß ihm die Vorhänge nicht bekannt sind, doch das zahnlückige Aussehen des Bogens über den Fenstern mit den zugezogenen Vorhängen ist es, ebenso wie die Schräge des gemauerten Kamins und das schlaffe Hängen des Griffs an der Hintertür. Dies war einmal sein Haus. Die Lücke in der Hecke war sein Werk. Kein Wunder, daß ihm der Wald nicht fremd war; er war immer sein Zufluchtsort gewesen, wenn er das Gefühl hatte, daß er zu Hause nicht nachdenken konnte. Er erinnert sich daran, wie er sich darum bemüht hatte, die dornigen Zweige unversehrt zu lassen, um jedem, der ihn verfolgen wollte, sein Vorhaben zu erschweren. Er erinnert sich, daß er eines Tages nach Hause kam und seine Kinder dabei erwischte, wie sie ihre Initialen in den Türpfosten der Küchentür schnitzten und ihm angstvoll entgegensahen, als die Hecke raschelte. Seine Frau kam durch die Küche gerannt, um sie zu tadeln, bevor er die Beherrschung verlor, doch ihr zuzuhören, wie sie mit Vernunftgründen auf sie einredete, war mehr, als er ertragen konnte. »Gib mir das Messer«, sagte er zu ihr und sah die Klinge in ihrer aller Augen aufblitzen. »Vielleicht werden die Menschen eines Tages erfahren, daß wir hier gewohnt haben.« Die Initialen sind dort auf dem Türpfosten, von allen vieren. Die Reihe von unvergänglichen Buchstaben scheint ein beständiges Summen von sich zu geben, ein Schlaflied, das er beinahe hören kann und das ihm ein Gefühl von Traum und Sicherheit vermittelt, des Endlich-daheim-Seins. Die Situation ist nicht ganz so einfach – er kann nicht davon ausgehen, daß er mit offenen Armen empfangen wird –, doch sicher wird er sich, sobald er seine Familie sieht, daran erinnern, was sich in der Zwischenzeit zugetragen hat. Er schleppt sich den Pfad der
Dunkelheit entlang, grinsend bei der Vorstellung ihrer Mienen, wenn sie ihn zu Gesicht bekommen. Er hat die Hälfte der Strecke über den Rasen zurückgelegt, als ein Mann in dem Spalt zwischen den Vorhängen des Raums im Erdgeschoß erscheint. Mottershead wirft sich flach zu Boden. Der Rasen fühlt sich an wie eine Matratze, die das Alter hart gemacht hat, pieksend und voller Knubbel. Ist der Mann ein Einbrecher oder sogar ein noch gefährlicherer Eindringling? Mottershead läßt den Blick auf der Suche nach einer Waffe über seine nähere Umgebung wandern und findet einen Rechen, dessen Zinken ein paar Zentimeter von ihm entfernt nach oben ragen. Wenn er noch einen Schritt weiter gegangen wäre, bevor er sich zu Boden warf, dann hätten sie sich ihm in die Augen gebohrt. Er zieht den Rechen zwischen den Streifen des Lichts zu sich her und hebt ihn allmählich im Schatten hoch, um ihn am Stiel zu fassen zu kriegen. Der Rechen steht senkrecht vor ihm, als er sich überlegt, ob der Mann, der an dem Spalt zwischen den Vorhängen vorbeigegangen ist, sich womöglich auf eine Einladung hin in dem Haus befindet. Er kann jedoch nicht von dieser Annahme ausgehen, sondern muß sich davon überzeugen, daß seine Familie unversehrt und nicht in Gefahr ist. Er hat mit beiden Händen auf die Zinken des Rechens gedrückt, um den Stiel hochzuheben; jetzt läßt er mit einer Hand los, um den Stiel zu packen. Seine eine Hand kann das Gewicht nicht halten, und der Rechen schwankt. Als er versucht, ihn mit beiden Händen zu schnappen, fällt er mit einem Plumps und Peng ins Licht. Er vergräbt die Hände und das Gesicht in der Erde und bleibt vollkommen still liegen. Die Vorhänge wackeln, das Licht fällt auf ihn, und dann wird der Schieberahmen des Fensters mit Schwung hochgezogen. »Alles okay, alter Junge?« ruft der Mann. »Bleib, wo du bist, wir holen dich.«
Mottershead greift nach dem Rechen und zieht sich auf die Füße hoch. Der Mann, der ein langes Gesicht und einen Wust von rötlichem Haar hat, macht einen besorgten Eindruck, bis er Mottershead deutlich sieht; dann runzelt er die Stirn. »Ich habe mal hier gewohnt«, stammelt Mottershead. »Ich bin schon wieder im Weggehen.« »Keine Eile, alter Freund. Vielleicht wohnen Sie immer noch hier. Kommen Sie an die vordere Tür, dann sehen wir nach, ob wir Ihr Zimmer finden können. Sollen wir den Rechen hinlegen? Es ist schon ein bißchen spät, um im Garten zu arbeiten, meinen Sie nicht? Wenn es hell ist, werden wir ein Plätzchen ganz für Sie allein finden, um das Sie sich kümmern können.« Mottershead läßt den Rechen fallen. Seine Verlegenheit und sein Unbehagen werden von Angst abgelöst, aber er muß sich vergewissern, daß es richtig ist, wenn er weggeht. »Meine Frau und meine Kinder sind wohl nicht mehr hier, oder?« fragt er so ruhig, wie er kann. »Die Mottersheads.« »Ich bin sicher, daß sie zur Besuchszeit hier sein werden. Lassen Sie uns jetzt nach vorn gehen, dann werde ich Sie hereinlassen.« Mottershead zwingt sich, zur Ecke des Hauses zu spazieren. Sobald er dahinter verborgen ist, fängt er an zu laufen, in der festen Absicht, das Tor hinter sich gelassen zu haben, bis der Mann die Eingangstür öffnet. Doch er verlangsamt seine Schritte, um durch die Fenster an der Seite des Hauses zu blicken. Jenseits der Fenster befindet sich das Speisezimmer. Alle Möbel sind durch andere ersetzt worden. Etwa ein Dutzend alter Menschen, angetan mit Plastiklätzchen, die die ganze Brust bedecken, sitzen an einer auf Holzblöcken aufgelegten Tischplatte, die mit Zellophan verkleidet ist. Stämmiges Pflegepersonal beiderlei Geschlechts steht hinter ihnen und
löffelt einen grünlichen Brei in ihre zahnlosen Münder beziehungsweise entfernt Brotscheiben, die sich zwei der Tafelnden auf den Kopf gepackt haben. Eine der Pflegerinnen zeigt Anzeichen, als wolle sie mit den Fingerknöcheln auf den Kopf einer fast kahlen Frau klopfen, sie hält sich jedoch zurück und lächelt einfältig, als sie Mottersheads Anwesenheit gewahr wird. Er legt wieder an Geschwindigkeit zu, allerdings zu spät. Als er um das Haus herumkommt, öffnet der männliche Pfleger gerade die vordere Tür. Er hebt das lange Gesicht in Richtung Mottershead, wie ein Jagdhund bei der Witterung. »Entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie gestört habe«, ruft Mottershead ihm zu, während er sich zum Tor zurückzieht. »Ich müßte längst ganz woanders sein. Ich mache mich jetzt auf den Weg.« Das Gesicht des Mannes scheint noch länger zu werden, als er den Mund öffnet. »Wir haben hier jemanden, der ein bißchen verwirrt ist. Ich meine, wir wollen doch nicht, daß er einfach so davonspaziert.« Er spricht mit zwei seiner Kollegen, die gerade auf den Weg zum Haus getreten sind. Ihre Augen glitzern im Lichtschein der Straßenlaterne vor dem Tor; im übrigen sind ihre Gesichter hinter Chirurgenmasken verborgen. Sie bewegen sich jeweils auf einer Seite des Weges und nähern sich Mottershead wie Spiegelbilder, wobei jeder eine Hand ausstreckt, um ihn an einem Arm zu packen. Er wartet, bis sie fast auf seiner Höhe sind, und es juckt ihn im Genick, während er ihnen über die Schulter entgegensieht. Im letzten Moment macht er einen Satz um sie herum, rennt los und wäre fast über die Überreste des Steingartens seiner Frau gestolpert; dann flitzt er über den Parkplatz, in den der größte Teil des Vorgartens verwandelt worden ist. Er macht einen Sprung über einen Pfosten mit einem Schild, auf dem der Name ›Natur-Sanatorium‹ steht, und schafft es, den rechten
Flügel des Tors aufzuziehen, bis der Riegel über den Beton scharrt. Er zwängt sich durch den Spalt, schlägt das Tor zu und blickt zurück. Die Pfleger haben ihn bereits eingeholt. Obwohl er nicht gehört hat, daß sie ihm gefolgt sind, sind alle drei nah genug, um ihn zu berühren. Die Augen der maskierten Pfleger sind entschieden zu lang; ihre Masken sind so flach, daß es unmöglich erscheint, daß dahinter irgendwelche Gesichtsformen verborgen sind. Der Kopf ihres Begleiters deutet wie der eines Jagdhundes in Mottersheads Richtung, und er zappelt unruhig auf und ab, begierig auf die Verfolgung, während die anderen je einen Flügel des Tors packen. »Stehenbleiben!« ruft Mottershead und flieht in die Dunkelheit jenseits der Straßenlaterne. Ist er wieder in den Wald geraten? Sicher führt die Vorortstraße irgendwo auf eine Hauptstraße, doch er muß Bäumen ausweichen, die üppig aus dem Gehsteig und sogar, wie es scheint, aus der Fahrbahn sprießen. Es muß hier Häuser geben; er sieht das Flackern von Fernsehapparaten, obwohl ihre Bildschirme sich dem Anschein nach eher zwischen den Bäumen als in irgendwelchen Räumen befinden. Wenn er am Tor den falschen Weg eingeschlagen hat, dann ist es jetzt zu spät, seinen Fehler zu berichtigen. Die einzige Lampe ist bereits durch Bäume, die vor Nebel tropfen, verdeckt, doch er weiß, daß seine Verfolger noch hinter ihm sind. Er rennt in Richtung des Lärms eines Motors, der irgendwo vor ihm aufheult. Es ist ein Bus, und ihm ist es gleichgültig, wohin er fährt, solang er ihm hilft zu entkommen. Als er sich umblickt, sieht er, daß die Pfleger immer noch hinter ihm her sind; die Nase des langgesichtigen Mannes bebt über den entblößten Zähnen. Die anderen beiden rahmen ihn ein, ihre nicht vorhandenen Gesichter schimmern. Das Motorengeräusch bewegt sich
allmählich zu Mottersheads linker Seite, und er sprintet in diese Richtung, wobei er versucht, den Flecken unbeständigen Lichts auszuweichen, wo er fernsehende Gestalten erspäht, sofern die Formen nicht monumentartige Statuen sind, die vor Marmorbrocken zusammengebrochen sind. Dann holt ihn der langgesichtige Pfleger vollends ein, indem er mit einem weiten Satz über eine Quelle des flackernden Lichts springt; in seinem Schein erstarrt er für einen Moment, so daß Mottershead ihn deutlich sehen kann: ein Gesicht wie der Schädel eines Jagdhundes, einen blassen, wabbeligen Bauch, Gliedmaßen so weiß und dürr wie Knochen. Er läßt sich auf alle viere fallen und springt nach vorn, dann schaukelt er vor und zurück, während er wartet, in welche Richtung Mottershead lospreschen wird. Mottershead rennt geradewegs auf ihn zu und betet dabei, daß ihn das umwerfen wird. Doch statt dessen stürzt sich der Mann auf ihn zu; seine Augen treten so weißlich hervor wie seine Zähne. Mottershead weicht zur Seite aus und legt einen verzweifelten Endspurt ein, der ihn von dem Geräusch des Busses entfernt. Es gibt kein Licht dort, wo er hinrennt, nur Bäume, die vor ihm aufragen, in welche Richtung er auch stolpert. Ich werde nicht umkehren, sagt er zu sich selbst, unfähig, es laut auszusprechen, so sehr klappern seine Kiefer. Er hat das Gefühl, daß ihn sogar die Stimme verlassen hat. Er schwenkt um einen weiteren Baum herum und noch mal um einen, und plötzlich befindet er sich in einem schmalen Durchgang, wo Unkraut und Zweige über die hohen Wände hängen. Er flitzt hindurch, hüpft über Mauersteine, die aus den Wänden gefallen sind, und schließlich entkommt er ins Freie. Er ist auf einer Straße, die sich zwischen dunklen, klotzigen Häusern hindurchwindet. Alle Häuser befinden sich in einem verkommenen Zustand, wie auch die Autos, die unter zerschmetterten Lampen an beiden Seiten der Straße abgestellt
sind. Dennoch ist die Straße nicht vollkommen ausgestorben; er hört das Quietschen rostiger Federn, und mehrere Köpfe tauchen auf, um ihn durch die glaslosen Fensterrahmen hindurch zu beobachten; die winzigen Augen glitzern wie Regentropfen. Er wirft einen Blick durch den gemauerten Durchgang, der im Moment leer ist, und versucht verzweifelt zu entscheiden, welchen Weg er einschlagen soll. Das Dröhnen des Motors ist erneut zu hören, und der Bus kommt zwischen den Häusern zu seiner Rechten wieder knirschend in Sicht. Das Fahrzeug ist dunkel, abgesehen von den verschmutzten Scheinwerfern. Er blickt wieder in den Durchgang und sieht die drei Gestalten, die zu ihm hergerannt kommen, wobei sie die Arme weit ausstrecken, bis es aussieht, als könnten sie den Boden berühren, ohne sich zu bücken. Er zwängt sich zwischen zwei Autos hindurch und spürt, wie sie wackeln, als er ihre Insassen stört. Er taumelt auf die Straße und winkt mit wild fuchtelnden Armen dem Bus zu. Ist das Ziel seiner Fahrt tatsächlich ein Ort mit dem Namen Frosty Biceps? Er hat keine Zeit, den Bestimmungsort noch einmal zu lesen, er ist viel zu sehr damit beschäftigt, die Aufmerksamkeit des Fahrers auf sich zu lenken, der sich so tief über das Steuerrad beugt, daß seine Stirn über die Augen zu hängen scheint. Der Fahrer sieht ihn und hebt das ausdruckslose Gesicht, dessen Züge in einer Senke zwischen der gewölbten Stirn und dem vorspringenden Kinn eingequetscht sind. Das Fahrzeug wird langsamer, und Mottershead wühlt in seiner Tasche nach dem Umschlag mit dem Geld. Der Bus hält ein paar Meter von ihm entfernt, und die Tür faltet sich ruckartig auf. Er ist noch nicht auf der Einstiegsplattform angekommen, da rollt der Bus schon wieder los. Als er sich umblickt, sieht er Hände, die mit den Fingern gegen die Mauern am Ende des
Durchgangs klopfen, drei Hände an jeder Mauer, als ob seine Verfolger nur darauf warteten, daß der Bus ihn hinauswerfen würde, damit sie ihn fertigmachen können. »Helfen Sie mir!« fleht er. Der Fahrer bremst nicht und wendet den Blick auch nicht von der Fahrbahn ab, doch seine Stirn und sein Kinn entspannen sich immerhin ausreichend, damit er den Mund öffnen kann. »Gib, so wird dir gegeben«, murmelt er. Mottershead umklammert die Metallstange an der Innenseite der Tür und zieht sich auf die Plattform hinauf. Im gleichen Moment schwenkt der Bus um die nächste Ecke, wobei er nur knapp zwei Autowracks verfehlt und beinahe Mottershead abgeworfen hätte. Dieser klammert sich an der Stange fest, bis sich die Tür träge schließt, wie ein Vorhang, der nach langem Nichtgebrauch eingerostet ist; dann nimmt er eine Hand von der Stange und greift nach dem Umschlag. »Zur Fähre?« sagt er hoffnungsvoll. »Sie werden dort ankommen, wo Sie ankommen müssen.« Der Fahrer scheint ihm sogar diese Auskunft zu verweigern. Mottershead schlingt ein Bein um die Stange, wobei er sich wie ein Affe fühlt, und versucht, den Umschlag gerade zu halten, während er mit einem Finger unter die Klappe fährt. »Wieviel kostet es?« Der Fahrer schleudert den Kopf nach hinten und deutet unbestimmt ins Innere des Busses. »Das müssen Sie mit dem da aushandeln.« Wahrscheinlich bezieht er sich auf einen Schaffner, doch das Fahrzeug ist zu dunkel, als daß Mottershead ihn ausmachen könnte. Zweifellos wird er herkommen, denkt Mottershead, während er die Stufen hinaufklettert und der Bus weiterschaukelt. Als er auf dem Oberdeck angekommen ist, hält er sich am Geländer fest und späht durch die verschmierten Scheiben hinaus.
Der Durchgang, durch den er gerannt ist, ist bereits außer Sicht, und die Straße ist verlassen. Ansonsten ist der Anblick, der sich ihm hinten und vorn bietet, weniger angenehm. In den Lücken zwischen den Häusern türmen sich hohe Schrottberge: zerknautsche Autos, verbogene Supermarktwagen, zeigerlose Großvateruhren, hohl wie Särge, riesige grünspanüberzogene Glocken, Fernsehapparate, vollgestopft mit puppengroßen Figuren, deren Gesichter und Hände sich an den gesprungenen Bildschirmen plattdrücken. Er kann nicht unterscheiden, ob die Klötze hinter den Häusern, die direkt an der Straße stehen, Gebäude oder verlassene Omnibusse sind. Er schwankt zum vorderen Sitz und läßt sich darauf fallen, wobei er sich nach vorn lehnt, damit sich der Inhalt des Rucksacks setzen kann; dann sinkt er zurück. Über sich nimmt er eine Bewegung wahr. Ein runder Spiegel ist in die Decke der Fahrgastkabine eingelassen, der dem Fahrer erlaubt, das Oberdeck mittels eines Spions zu überwachen. Nachdem er Mottershead ausspioniert hat, widmet der Fahrer seine Aufmerksamkeit wieder der kurvigen Straße, und Mottershead blickt nach hinten. Soweit er das in der dichten Düsternis erkennen kann, befindet er sich allein auf dem Oberdeck. Er sieht nach vorn und hofft, daß es nicht allzuweit ist bis zum Anlegeplatz der Fähre. Ihm wäre fast lieber, er hätte den Spiegel nicht bemerkt. Seine Wölbung streckt die Stirn und das Kinn des Fahrers auf eine Weise, daß seine zwergenhaften Augen und die Nase und der Mund wie in einen Halbmond aus Fleisch eingebettet erscheinen, gekrönt von einem Wust weißlicher Haare. Die schwachen Scheinwerfer flackern über den heruntergekommen Vorort, und Mottershead hat den Eindruck, daß die Häuser ebenfalls bis unters Dach mit Schrott angefüllt sind; sicher werden die Gestalten in den kahlen Fensterlöchern von der Masse Müll hinter ihnen gegen die Fensterbank gedrückt. Als
der Bus um eine Ecke schwenkt, wobei er mehrere Autos streift, glaubt er zu sehen, wie eine Gestalt im zweiten Stock den Halt am Fensterbrett verliert, wo sie gehockt hat, und mit dem Kopf zuerst auf den Beton stürzt. Es kann nicht sein, daß er all das sieht, redet er sich ein, es ist nur so, daß er sich von den Eindrücken des Tages noch nicht erholt hat, von der Wirkung, die der Mann mit der künstlichen Schädeldecke auf sein Gemüt ausgeübt hat. Eine weitere Gestalt plumpst aus einem Fenster, bei dem Aufprall werden ihr Kopf und alle Gliedmaßen in verschiedene Richtungen geschleudert, und er stellt fest, daß die Gestalten Attrappen sind. Er dürfte eigentlich gar nicht hinsehen, er weiß ja noch gar nicht, wie hoch sein Fahrpreis ist. Er reißt den Umschlag auf und hält ihn sich vor die Augen. Er enthält ein halbes Dutzend Münzen und mehrere zusammengefaltete Geldscheine. Als er die Scheine herauszieht und sie in der Handfläche glättet, klappern die Münzen. Sicher hat er falsch gehört. Er blättert die Scheine durch und starrt sie so angestrengt an, daß seine Sicht verschwommen wird, dann betrachtet er die Münzen. Sie sind alle aus Plastik, und mit Ausnahme einer Banknote in einer unerkennbar ausländischen Währung stammen die Scheine ebenfalls von einem Brettspiel. In hilflosem Zorn ballt er die Hände zu Fäusten, zerknüllt die Scheine, zerbricht die Münzen. Also hat die Schriftstellervereinigung keineswegs eine Sammlung für ihn veranstaltet. Der Mann, der ihm den Umschlag ausgehändigt hat, muß für den Inhalt verantwortlich gewesen sein, und Mottershead ist jetzt davon überzeugt, daß dieser Mann sich alle Mühe gegeben hat, ihn in den Wahnsinn zu treiben. Wann hat er damit angefangen? Er ist Mottershead in den Bibliotheksraum gefolgt, doch von wo? Vielleicht von der Buchhandlung aus, in der Mottershead ein Exemplar von
Kadenz gefunden hat – vielleicht von dem Schlafzimmer aus, das Mottershead für eine Buchhandlung gehalten hat. Je weiter zurück er sich zu erinnern versucht, desto weiter und tiefer scheint der Wahnsinn zu reichen; er ist wie eine schwarze Grube, in die er mit zunehmender Geschwindigkeit stürzt. Dann erhascht er einen Blick auf eine Bewegung, und das wirft ihn ins volle Bewußtsein für seine gegenwärtige Situation zurück; er sieht in den Spiegel. Zunächst bildet er sich ein, daß es nur der Fahrer gewesen ist, der sich bewegt hat. Das Gesicht des Mannes sieht mehr denn je verunstaltet aus, da die Stirn durch die Verzerrung des Spiegels noch weiter vorgezogen ist als das Kinn. Hinter ihm jedoch kann Mottershead mit Mühe das Spiegelbild des Unterdecks erkennen, und das ist nicht mehr leer. Irgendwo nach der halben Strecke des Gangs ist die Spur eines Gesichts in der Luft, ein Schimmern von Augen und Zähnen. Die Augen und das Grinsen müssen abscheulich groß sein, um überhaupt auf diese Entfernung im Dunkeln sichtbar zu sein. Sie sehen losgelöst von jeglichem Fleisch aus. Er kann nichts von dem Kopf erkennen, zu dem sie gehören, außer einem fahlen, knochigen, verschwommenen Etwas, doch darunter sieht er eine Bewegung, ebenso davor. Es hat zwei Hände nach der Treppe ausgestreckt. Der Spiegel ist wie ein durchsichtiges Ei, in dem sich ein Embryo bildet. Dieses Bild scheint seine Sicht zu klären, und er meint, daß die Augen im Ausbrüten begriffen sind oder sich sonstwie umbilden. Obwohl sich weder der Kopf noch das verschwommene Etwas, das vermutlich der dazugehörige Körper ist, genähert hat, sind die dürren weiße Hände viel dichter an die Treppe herangekommen. Er vermag nicht zu sagen, ob sich die mageren Arme oder die Hände tatsächlich verlängern, aber er hat das Gefühl, daß er durch sein Hinsehen der Gestalt ermöglicht, sich auszustrecken – als ob seine
Unfähigkeit, den Blick abzuwenden oder sie wahrzunehmen, sie zu ihm herzieht. Seine Fäuste umklammern krampfhaft unbrauchbares Papier und Plastik. Er wirft alles, was er in der Hand hält, zu dem Spiegel hoch und stöbert in seinen Taschen. Als der letzte Geldschein zu Boden flattert, findet er die scharfkantigen Stücke seiner zerbrochenen Kreditkarte. Er holt sie heraus und hält sie zwischen Zeigefingern und Daumen. Damit hat er je eine Klinge für seine beiden Augen. Im Spiegel beobachten ihn diese riesigen Augen über dem wissenden Grinsen, ohne mit der Wimper zu zucken. Er hebt sich die Spitzen vors Gesicht und versucht zu zielen, trotz des Zitterns, das sich von seinen Händen in den übrigen Teil seines Körpers fortsetzt. Er muß die Klingen eine nach der anderen anwenden, denkt er. Er reißt den Blick vom Spiegel weg, weg vom Anblick des Fahrers, der tief über das Lenkrad gekauert ist, als ob er fest entschlossen sei, die Anwesenheit des Etwas in dem Gang, der Hände, die den Rest davon zur Treppe hinzuziehen scheinen, nicht zur Kenntnis zu nehmen, Mottershead greift nach seinem Hinterkopf, damit er nicht aus der Stoßrichtung zucken kann, und läßt die erste Klinge vor seinem linken Auge schweben. Der Bus ist auf einem Hügelkamm angekommen, wo die Häuser aufhören. Jenseits der letzten Ruinen, deren Mauern fast völlig unter Müll begraben sind, schlängelt sich die Straße entlang eines kahlen Hangs hinunter in die Schwärze. Am Fuß des Hügels liegt eine düstere Masse, die nur durch ein paar beleuchtete Fenster aufgelockert wird. Sein Denkvermögen ist so eingeschränkt, daß er anfangs nicht versteht, warum die beiden Linien der Fenster, eins über dem anderen, identisch sind. Die untere Reihe ist eine Spiegelung im Wasser, die Fenster sind die eines Schiffes. Wagt er es, das Risiko einzugehen, sich zur Treppe zu begeben, wenn das bedeutet, daß die Gestalt im Gang ihn
berühren könnte? Anders wird er die Fähre niemals erreichen. Die Spitze schwankt vor seinen Augen, mit der Hand greift er sich an den Hinterkopf. Der Bus legt bergabwärts an Geschwindigkeit zu, und die plötzliche Beschleunigung wirft seinen Kopf auf die Klinge zu. Mit einem unterdrückten Schrei öffnet er die Hand gerade noch rechtzeitig, so daß sie ihm nur über den Wangenknochen kratzt. Das Plastik rutscht über den Boden und klappert die Stufen hinunter. Er hat immer noch eine Waffe, sofern eine solche Verteidungsmaßnahme irgendeinen Nutzen haben sollte. Er darf sich nicht das Schlimmste vorstellen, sonst ist er verloren. Der Bus hat schon mehr als die halbe Strecke den Hang hinunter zurückgelegt. Er schiebt sich aus dem Sitz und wendet sich der Treppe zu, während er sich dafür wappnet, was ihn unten erwarten mochte. Aber es ist nicht dort, es ist im Gang hinter ihm. Das verstümmelte Gesicht grinst vor Entzücken. Die dürren weißen Finger werden sichtbar länger, und er ist fast in ihren Griff gestolpert. Sie bewegen sich nicht so sehr wie Finger, sondern vielmehr wie Spinnenbeine, die in der Düsternis baumeln. Wenn er nicht in dem Moment aufgestanden wäre, als er es getan hat, hätten sie sich um seine Augen geschlossen. Dieser Gedanke und ihr Anblick lähmen ihn, doch ein erneuter Schwenk des Fahrzeugs wirft ihn nach vorn. Eine krampfartige Panik veranlaßt ihn, zur Seite auszuweichen, wo es ihm gelingt, sich unter ihnen durchzuducken und auf die Treppe zu treten. Er ist bereits zwei Stufen tiefer, als sie über das Geländer grapschen und ihn berühren. Sie fahren ihm über die Augen. Sie fühlen sich an wie Zungen, die aus einem Material bestehen, das weicher ist als Fleisch. Er schnellt zurück und prallt gegen die Metallwand, hackt mit der Klinge auf sie ein. Kurz bevor sie unter seinem Angriff zurückweichen, hat er das Gefühl, als würde sich ihm
jeweils eine Fingerspitze in die Augäpfel bohren. Heftig blinzelnd schlägt er nach den Händen, während diese sich zurückziehen. Ihre Substanz löst sich in Fetzen auf wie nasses Papier, und er fragt sich, ob irgend etwas von dem Zeug in seinen Augen zurückgeblieben ist. Während die Reste der Hände über das Geländer zurückschrumpfen, taumelt er die Treppe hinunter; ein Stöhnen entringt sich seiner Kehle. »Halt!« schreit er. Falls sein Begehren auf den Fahrer überhaupt irgendeinen Eindruck macht, so bewirkt es nur, daß er Gleichgültigkeit zur Schau stellt. Wie er sich so über das Lenkrad beugt, scheinen seine Gesichtszüge in der Kuhle zwischen Stirn und Kinn vollends zu versinken. Mottershead macht einen Satz zur Tür und rüttelt an dem Griff. Entweder infolge seiner Gewaltanwendung oder weil der Fahrer den Sperrmechanismus gelöst hat, faltet sich die Tür nach innen, doch das Fahrzeug behält seine Geschwindigkeit bei. Er rast auf den Landesteg zu, der aus nichts anderem besteht als ein paar Brettern, die in schillernden Schlamm eingebettet sind. Der Bus fährt so schnell, daß er beinah auf die Bretter rutscht. Der Fahrer bremst, und Mottershead nimmt die Gelegenheit wahr. Als der Bus für einen Augenblick langsamer wird, springt er auf den Steg. Sein Schwung stößt ihn mit einer Wucht, der er hilflos ausgesetzt ist, über die Bretter. Sie wackeln bedrohlich, rutschen zur Seite. Einige von ihnen sind nicht einmal fest in der Erde verankert, sie schwimmen auf dem Wasser, das dick wie Schlamm aussieht. Bevor ihm irgend etwas von diesen Dingen ins Bewußtsein gedrungen ist, stolpert er Hals über Kopf auf die Fähre, die gerade gegen die Bretter prallt. Indem er nach dem Geländer der Treppe, die zum Oberdeck führt, greift, schafft er es, sich Halt zu verschaffen. Er klammert sich an das rostige Metall und blickt zurück.
Der Bus hat gewendet und fährt den Hügel hinauf. Nichts scheint ihn zu verfolgen oder im Begriff zu sein, ihm hinterherzukommen. Obwohl er weder hört noch spürt, daß der Motor in Betrieb ist, gleitet das Schiff von der Anlegestelle weg, wobei einige deren Bretter in seinem Kielwasser mittreiben. Sein Kopf fühlt sich hohl an vor Erleichterung, und deshalb ist das Schiff schon ein ganzes Stück weit draußen, bevor ihm auffällt, daß es keine Lichter mehr zeigt. Hat die Mannschaft es möglicherweise verlassen, während er auf dem Hügel war? Selbst ein willkürliches Dahintreiben war seiner Begegnung in dem Bus vorzuziehen. Trotzdem wüßte er gern, wohin er fährt. Er klettert hinauf zum obersten Deck. Auf beiden Seiten des Decks stehen mehrere Bänke am Geländer. Belüftungsrohre ragen hoch darüber hinaus, breite Schächte, deren aufgerissene Mäuler dem Geländer zugewandt sind. Zwei doppelflügelige Türen führen zu einem Salon unterhalb des Steuerhauses. Der Himmel und das Wasser wirken wie ein einziges Element, eine stillstehende Dunkelheit, die die Oberfläche des Schiffs überzieht und den Salon und das Steuerhaus füllt. Er sitzt auf einer Bank und beobachtet, wie sich der zu Ruinen verkommene Vorort auf dem Hügel zurückzieht wie eine Kulisse und versinkt, als ob die Schwärze ihn verschlänge; und dann sitzt er da und wartet. Er ist sich nicht sicher, worauf er wartet: Vielleicht aufs Tageslicht oder das Auftauchen einer anderen Küste oder – das wäre am besten – auf ein anderes Schiff mit einer Mannschaft, das ihn an Bord nehmen könnte. Er hofft, daß er nicht allzulang warten muß, denn allmählich zerrt das Ganze an seinen Nerven; er hat so ein Gefühl, als wäre er doch nicht allein auf dem Schiff. Die Türflügel zum Salon wackeln andauernd auf hinterhältige Weise, als ob jemand durch den Spalt spähte. Das könnte an der Bewegung des Schiffs liegen, obwohl sein Schaukeln nicht wahrnehmbar ist, doch was ist
das, auf das er in den Mäulern der Belüftungsrohre einen Blick zu erhaschen glaubt und das jedesmal außer Sicht taucht, wenn er hinsieht? Was immer es sein mag, das ihm Gesellschaft leistet, es scheint durch alles verborgen zu werden; selbst die Bänke erinnern ihn zunehmend an Kisten, unter deren Deckel etwas versteckt ist. Vielleicht sind die Deckel im Begriff, sich zu verschieben. Zweifellos spürt er eine Bewegung in seiner Nähe. Er greift nach der Reling und zieht sich hoch. Während er den Blick über das Deck schweifen läßt, mitten im uferlosen Wasser, merkt er, daß hinter ihm etwas herumhüpft. Er drückt das Rückgrat gegen die Reling. Das Deck ist leer, doch etwas ist hinter ihm. Er ist im Begriff, sich mit Schwung nach allen Seiten umzudrehen, bis er es zu Gesicht bekommt, doch sein Instinkt sagt ihm, daß er damit keinen Erfolg haben wird, daß er statt dessen hilflos um die eigene Achse wirbeln wird und nicht mehr aufhören kann. Also zwingt er sich, so stehen zu bleiben, wie bisher, und umklammert die Reling, um sich stillzuhalten. Es dauert nicht lang, da spürt er eine Bewegung hinter seinem Rücken. Er weiß, wo das ist. Er hätte es früher wissen müssen, denkt er, wenn es seine Wahrnehmung nicht beeinträchtigt hätte. Er stößt sich von der Reling ab und schreitet zur Mitte des Decks; auf seinem Gesicht macht sich ein Ausdruck breit, der sich wie ein Grinsen anfühlt. Mit weitgespreizten Beinen, um einen festen Stand zu haben, streift er den Rucksack von den Schultern und läßt ihn auf die Kante einer Bank fallen. Als er die Schnallen löst, zappelt der Inhalt unruhig. Er zieht die Öffnung weit auf und bückt sich, um hineinzuspähen. Es befindet sich kein Buch darin. Der einzige Inhalt ist eine nackte Puppe von etwa sechzig Zentimeter Höhe. Obwohl sie aus gesprenkeltem weißlichen Plastik besteht, sieht sie verhungert und verblichen aus. Er stülpt den Rucksack um,
und die Puppe fällt klappernd in zwei Teilen auf das Deck; der abgeschraubte obere Schädelteil kullert unter die Bänke, die Gliedmaßen zucken, während der Rest der Puppe sich spreizt. Das, was aus dem Kopf herausgekommen ist, verdrückt sich ins Innere des Rucksacks und versucht, sich in einer Ecke zu verkriechen. Mottershead knallt den Rucksack auf den Decksboden und trampelt darauf herum, bis das Zappeln darin schwächer wird und schließlich ganz aufhört, dann stößt er ihn und die Puppe mit einem Fußtritt über Bord. Er beugt sich über die Reling und schaut ins Wasser. Etwas zögert, ihn loszulassen. Es fühlt sich an wie Zähne, die sich in seinem Gehirn verbissen haben und wie Ratten an dessen Masse herumnagen. Als sich kleine Kräuselwellen auf der Wasseroberfläche ausbreiten, scheinen sich die Zähne tiefer zu graben und ihre Schärfe zu verlieren. Die Kräuselwellen schwinden immer mehr, während die Puppe und der Rucksack versinken, und er hat ein Gefühl, als ob sich ein zahnloses Maul in seinem Schädel eingenistet hätte, dessen geschwächte Zunge in den fleischigen Blütenblättern seines Gehirns herumstochert. Die Wellen vergehen ganz, ebenso der Kuß in seinem Gehirn, als ob der Mund seinen Hunger an Gehirnmasse gestillt hätte. Jetzt, da sein Kopf klar ist, dreht er sich um und versucht zu erkunden, wohin das Schiff fährt. Es ist eine Insel, die mit Bäumen bestanden und von einem Halbmond schwach beleuchtet ist. Ist das der Ort, der ebenso wie ein Traum als auch wie eine Erinnerung anmutet? Er hat geträumt, daß er durch den Wald geführt worden ist, Sonnenstrahlen folgend, die ihm sowohl den Weg zu weisen als auch die Geheimnisse des Waldes zu hüten scheinen: Bäume, die Inschriften von Botschaften aus Flechten tragen; eine Lichtung, eingerahmt von Erhebungen, die aus Moos und winzigen Blüten bestehen, als ob der Vorgang des Wachsens ein geheimnisvolles Ritual darstellte; eine Allee von Pinien,
deren Baumstämme, so gerade wie Telefonmasten, die von goldenen Flocken umgeben sind, als ob das Licht der Sonne in der Kühle der Pinien fest geworden wäre und sich auf der Erde abgesetzt hätte. Bestimmt ist dies alles mehr als ein Traum, trotz seines Eindrucks, daß der Wald niemals aufhört – und dann sieht er, daß die Fähre ihn nach Hause gebracht hat. Der Bug schießt auf den Steg zu, wo er vor Morgengrauen an Bord gegangen ist. Er erkennt mit Mühe die Pappelallee, die zu seinem Haus führt. Könnte nicht der Wald, der offenbar den größten Teil der Insel bedeckt, der Ursprung seiner Vision sein? Das läßt sich im Dunkeln nicht beurteilen. Jedenfalls treibt das Schiff nicht führerlos dahin; es ist schließlich doch jemand im Steuerhaus, der das Schiff zum Ufer lenkt. Als die Fähre gegen den Steg stößt, steigt Mottershead die Stufen hinunter. Da niemand da ist, um das Schiff zu vertäuen, wartet er, bis der Rumpf an den Reifen am Rand der Anlegemauer entlangstreift, dann rennt er zu der Öffnung, wo der Landesteg ausgeklappt werden müßte, und springt. Die Fähre schaukelt sofort zurück und treibt in die Schwärze, doch ihm bleibt Zeit genug, einen Blick auf den Rudergänger zu werfen. Ist es der bärtige Seemann von der vorigen Fähre? Er trägt eine Wollmütze, die er allerdings über das ganze Gesicht heruntergezogen hat. Wenn ihre dunkle Silhouette die Umrisse seines Schädels darstellt, dann hätte Mottershead eigentlich merken müssen, wie seltsam diese Form ist. Es ist der Dunkelheit zuzuschreiben, denkt er, oder sein Wahrnehmungsvermögen ist doch nicht so unbeeinträchtigt, wie er sich zu hoffen gestattet. Es wird ihm besser gehen, wenn er erst einmal zu Hause ist. Er wendet sich vom Wasser ab und schreitet auf das Haus zu. Die Pappeln quietschen und schwanken, als ob sie kurz davor wären, unter dem Gewicht des niedrigen, dichten Himmels zusammenzubrechen. Alle Häuser zwischen den Bäumen sind
unbeleuchtet, und er erkennt keins davon im schwachen Schein des Mondes, in dessen Rundungen er die Andeutung von Gesichtszügen er zu erblicken glaubt. Er hat das Gefühl, daß er das Wachsen des Waldes um sich herum spüren kann; er hält den Blick starr auf den Straßenbelag gerichtet, aus Angst, wieder in den Wald abzuschweifen. Als er die Lichter seines Hauses vor sich sieht, rennt er auf sie zu. Es macht nichts, daß er sich nicht daran erinnern kann, die Lichter angelassen zu haben. Er läuft über den zugewucherten Weg, gräbt in der Tasche nach seinen Schlüsseln und zieht sie mit einem Rasseln heraus, das an die Kette eines Miniaturankers erinnert. Er hat beinah die Eingangstür erreicht, als er eine Stimme hinter den Vorhängen des Wohnzimmers hört: seine eigene Stimme. Schlimmer noch, sie hört sich verängstigt an. Er hat das Gefühl, nicht wirklich außerhalb des Hauses zu sein – so, als ob nur seine Angst und sein Schrecken dort wären. Er ist versucht, in den Wald zu fliehen, anstatt zu erfahren, was die Stimme ihm zu sagen haben mag, doch wenn er jetzt die Flucht ergreift, wird er nie mehr anhalten können, das weiß er. Er zielt mit dem Schlüssel nach dem Schlüsselloch und umfaßt mit der anderen Hand das Handgelenk, um es ruhig zu halten. Endlich findet der Schlüssel das Loch, und er öffnet die Tür mit Leichtigkeit. Die Glühbirne über dem L-förmigen Flur ist angeschaltet. Der Flur und die Treppe ohne Teppich sehen unbenutzt und verblichen aus. Hinter der Tür zum Wohnzimmer brabbelt seine Stimme unverständliches Zeug, als ob sie nicht aufhören könnte. Er zieht den Schlüssel heraus, schleicht in den Flur und schiebt die Tür behutsam in Richtung Schloß. Er ist jedoch nicht leise genug. Die Stimme bricht plötzlich ab, und er hört das Rauschen eines schnellaufenden
Videobandes. Er knallt die Tür vollends zu, stürzt durch den Flur und reißt die Tür zum Wohnzimmer auf. Drei Leute sitzen in den durchhängenden Sesseln: eine Frau, die etwa in seinem Alter sein könnte, eine jüngere Frau und ein Mann in ihrem Alter oder vielleicht etwas älter. Sie alle haben angegrautes Haar, was zumindest bei zwei von ihnen verfrüht zu sein scheint, und so breite Gesichter, daß ihre Stirnpartien unangemessen niedrig aussehen. Als Mottershead den Raum betritt, springt der Mann auf und reißt eine Kassette aus dem Videorecorder, während seine Schwester ein Spielbrett abräumt, auf dem Plastikmünzen und Spielzeuggeld verstreut herumliegen. »Liebling«, sagt die Frau, »wir wollten uns gerade auf den Weg machen, um dich zu holen.« »Wir haben uns gefragt, wo du abgeblieben sein mochtest«, sagt ihre Tochter. »Hast du die ganze Zeit über gearbeitet, Pa?« fragt der Mann sanft, als ob Mottershead nicht bereits mit genügend eigenen Fragen in Anspruch genommen wäre. Sind sie bei ihm zu Besuch, oder wohnen sie bei ihm, ungeachtet dessen, was er vor der Schriftstellervereinigung behauptet hat? Befanden sie sich irgendwo im Haus, als er es verließ, oder sind sie später uneingeladen erschienen? »Ich habe meinen Kopf gebraucht, das steht fest«, antwortet er seinem Sohn, um zumindest diese Frage vom Hals zu haben. »Dann würde ich jetzt an deiner Stelle die Füße hochlegen«, rät ihm seine Frau. »Ruh dich aus«, sagt seine Tochter, »du hast es verdient.« »Versuch, ein bißchen zu schlafen«, sagt sein Sohn. »Wir sind da.« Warum beruhigt das alles Mottershead nicht? Ein Teil von ihm sehnt sich danach, sie zu umarmen, und vielleicht wird er dazu in der Lage sein, wenn er erst einmal die Videokassette zu sehen bekommen hat – wenn er erst einmal das Gefühl los
ist, daß sie etwas vor ihm geheim halten. Er weiß, daß sie versuchen werden, es ihm auszureden, wenn sie merken, daß er das vorhat. »Gibt’s nichts zu essen?« regt er an. »Wenn du bereit bist, dir ein bißchen Fleisch auf die Knochen zu futtern«, sagt seine Frau. »Ich helfe dir«, verkündet seine Tochter, und die beiden gehen hinaus. Sein Sohn hat die Videokassette in die Hülle rutschen lassen und versucht so zu tun, als hielte er sie nicht in der Hand. »Ich räume das weg«, läßt Mottershead ihn wissen, und sieht ihn eindringlich an, bis er ihm die Kassette reicht und aus dem Raum schlurft. »Mach die Tür zu«, ruft Mottershead ihm nach. »Ich möchte eine Zeitlang allein sein.« Die Videokassette ist die Aufnahme einer Fernsehsendung. Mit Hand geschrieben steht auf dem Etikett Völlig von Sinnen. Bezieht sich das auf den kreativen Vorgang? Hat er vielleicht gerade eben gehört, wie er selbst eine Geschichte vorgelesen hat? Wieder glaubt er sich zu erinnern, daß Kameras und Scheinwerfer ihn umgeben, doch jetzt hat er die beunruhigende Ahnung, daß nicht etwa die Erinnerung verschwommen ist – sondern daß er sich vielmehr direkt in der Situation unsicher war, ob das Aufnahmeteam und seine Ausrüstung tatsächlich gegenwärtig waren. Er schiebt die Kassette in das nichtssagende schwarze Maul des Videogeräts und dreht den Ton des Fernsehapparats leise, während die Bilder zitternd auf dem Schirm erscheinen. Die Kassette ist nicht ganz zurückgespult worden; das Programm läuft schon. Eins seiner Bücher schwebt durch den Raum. Verrücktes Stück – natürlich, das war einer seiner Titel; warum ist er ihm nicht eingefallen, als er ihn brauchte. Ein Kameratrick wirft das Buch wie eine Spielkarte hoch und dreht es um und verwandelt es in einen anderen seiner Romane, Bis auf die Knochen, und dann in Kadenz. Er ist im Begriff, das Band zurückzuspulen, damit er sich ausführlich an seine
Werke erinnern kann, als er hört, was der Kommentator über ihn sagt. »… grüblerische Gedanken von einer Intensität, die am besten als neurotisch beschrieben werden kann«, sagt eine schmierig klingende männliche Stimme. »In einer seiner Geschichten überzeugt ein Mann, der besessen ist von der Unmöglichkeit zu erfahren, ob er im Schlaf gestorben ist oder nicht, sich selbst davon, daß er es ist, und träumt. Eine andere handelt von einem Mann, der glaubt, verfolgt zu werden von einem Schizophrenen, dessen Halluzinationen seine eigenen Wahrnehmungen beeinflussen, doch die Halluzinationen erweisen sich als die Realität, vor der er die Augen verschlossen hat. Der Leser wird mit der Vermutung allein gelassen, daß der Schizophrene tatsächlich in Wirklichkeit eine Projektion des Mannes selbst ist.« Hat Mottershead das geschrieben? Er streckt die Hand aus, um das Band zu stoppen, damit er Zeit zum Nachdenken hat, als er sich selbst auf dem Bildschirm erscheinen sieht. Der Anblick läßt ihn erstarren, seine Hände bleiben ausgestreckt. Er wandert auf einer Lichtung hin und her – ob im Wald auf der Insel oder hinter seinem früheren Zuhause, wird nicht deutlich und murmelt etwas vor sich hin, und zwar mit einer Geschwindigkeit, die der seiner Schritte entspricht. Hin und wieder springt er auf einen Baum zu, um die Rinde zu untersuchen oder sich hinzukauern und das Gras zu durchstöbern, und gleich darauf ist er wieder unterwegs, vor sich hinmurmeln und vorwärtshastend. Sein Grinsen ist so eingefroren und seine Augen sind so weit aufgerissen, daß er aussieht, als hätte er Angst, etwas anderes zu tun als zu grinsen. Alle paar Sekunden vergräbt er die Hände in dem wilden Haarwust auf seinem Kopf, als hätte er das Gefühl, seine Schädeldecke würde wegrutschen.
Während seines erfolglosen Bemühens, seine eigenen Worte zu erkennen, hat Mottershead den Kommentar nicht mehr gehört, doch jetzt dringt er ihm wieder ins Bewußtsein: »…im letzten seiner seltenen Interviews«, sagt die Stimme gerade. »Eine derartig hingebungsvolle Aufopferung für seine Arbeit mag die Unfähigkeit zum Aufhören gewesen sein, Anfangs nahm das die Form des zwanghaften Drangs an, jedem seine Geschichten zu erzählen, den er dafür gewinnen konnte, ihm zuzuhören. Später, kurz vor seinem Zusammenbruch, schien er die Realität nur noch als Rohmaterial ansehen zu können, das geformt werden muß. Dem Zusammenbruch war vielleicht der schöpferische Drang vorausgegangen, der immer noch Ansprüche an ihn stellte, nachdem er die Kraft zum Schreiben längst verloren hatte.« Er kann sich beinah daran erinnern, wie er den Leuten auf der Straße seine Geschichten erzählt hat; jedem, der nicht schnell genug war, ihm zu entgehen. Er hat den Eindruck, daß die letzte derartige Begebenheit noch gar nicht lange zurückliegt. Bevor er den Eindruck festhalten kann, betritt seine Familie die Lichtung. Sie alle sehen jünger aus, obwohl ihre Haare schon grau werden. Sie versuchen, ihn aus dem Wald herauszulocken, doch er entwischt ihnen immer wieder, und sowohl sein Gang als auch seine Stimme werden schneller und schneller. Sein Gebrabbel gleicht immer mehr der Stimme, die er beim Hereinkommen gehört hat. Es gelingt ihm immer noch nicht, seine Worte zu verstehen, als sich seine Familie vor dem Zimmer flüsternd unterhält. Er zieht die Kassette aus dem Gerät. Er hat sich an gar nichts erinnert; er befindet sich am Rand einer noch tieferen Schwärze. Er will seiner Familie nicht gegenübertreten, bevor er sich erinnern kann. Er drückt sich die Kassette mit beiden Händen vor die Brust, als ob sie ihm jemand wegnehmen wollte. Als das Plastikgehäuse zu splittern beginnt, hat er
Angst, daß der Inhalt entfliehen könnte. Er steckt die Kassette in die Hülle und verstaut die Hülle in seiner Tasche, während er auf Zehenspitzen zur Tür schleicht, um zu hören, was seine Familie über ihn murmelt. Bevor er dort ankommt, verstummen die Stimmen. Er umfaßt den Türknopf und legt das Ohr an das Holz, doch er kann nichts hören. Er reißt die Tür auf, und die beiden Frauen wenden sich um und starren ihn von der Küche am anderen Ende des Flurs aus an, während sein Sohn aus der Tür des Eßzimmers kommt. »Können wir etwas für dich tun, Pa?« sagt er. »Möchtest du, daß dir jemand Gesellschaft leistet?« »Ich habe alles, was ich brauche«, entgegnet Mottershead und fragt sich im stillen, wie sie sich alle so schnell hatten zerstreuen können, da sie sich doch vor der Wohnzimmertür über ihn unterhalten hatten. Er geht auf seinen Sohn zu und erwartet, ihm auf die Schliche zu kommen, daß er nur so getan hat, als wäre er beschäftigt. Doch der Tisch ist gedeckt; alle vier Gedecke auf dem dunklen Tischtuch sind vollständig, mit Ausnahme eines, bei dem das Steakmesser fehlt. Er weiß instinktiv, daß das sein Platz ist. »Du bist noch nicht fertig«, stottert er und wendet sich in Richtung Treppe. Die beiden Frauen beobachten ihn weiterhin. Unter der Leuchtstofflampe sehen ihre Haare grau vor Staub aus, ihre Stirnen erscheinen von Schatten eingedrückt. Für Mottershead hat es den Anschein, als stünden sie im Begriff, sich zu verwandeln, ihre wahre Natur zu enthüllen, auf die diese Einzelheiten lediglich Hinweise sind. Sein Kopf ist noch nicht wieder ganz klar, denkt er. Er darf das nicht geschehen lassen, nicht diesen beiden. »Ich gehe nach oben«, ruft er. »Ihr braucht euch nicht um mich zu kümmern.« »Das ist gut, leg die Beine ein bißchen hoch«, sagt seine Tochter. »Du hast es verdient«, fügt sein Sohn hinzu.
»Ruh dich eine Weile aus«, sagt seine Frau. Selbst diese Bemerkungen machen ihn nervös; sie wecken Erinnerungen an das Leben mit ihnen, wie es sich durch qualvolle Augenblickszustände hindurch als eintöniger Abstieg in eine Banalität gestaltete, mit der sie sich seinem Empfinden nach mit allen Kräften bemühten, ihn zu beruhigen. Oder war das etwas, das er versucht hat zu schreiben? Er hastet hinauf in sein Zimmer. Er liegt auf der Matratze und schaut zur Decke mit ihren verzweigten Rissen und der abblätternden Farbe hinauf. Der Anblick erfüllt ihn mit Unbehagen, doch das tut der übrige Raum ebenso: der aus den Schubladen quellende Inhalt der Kommode, der ewig offen stehende Kleiderschrank, die verschwommenen Formen auf der Tapete, wo er Figuren wie plattgedrückte Insekten erkennen kann, wenn er es sich gestattet. Er schließt die Augen, doch sofort entstehen hinter den Lidern Formen. Ob er vielleicht das Licht ausschalten sollte? Er hat das Gefühl, daß der einzige Weg, Frieden zu finden, für ihn darin besteht, sich in die Dunkelheit zurückzuziehen. Er hat die Augen nicht geöffnet, als seine Familie das Zimmer betritt. Sie müssen durch die Tür vom Flur hereingekommen sein. Auch wenn er sie jetzt an der Wand stehen sieht, die der Tür gegenüberliegt, so können sie doch nicht aus dem Schrank hervorgetreten sein. »Machst du ein Nickerchen?« sagt sein Sohn. »Das ist richtig. Wir haben nur gerade überlegt, ob du vielleicht ein Messer gesehen hast?« »Warum sollte ich wissen, wo es ist?« »Wir sagen nicht, daß du es weißt«, beruhigt ihn seine Tochter. »Halte du nur dein Nickerchen, während wir nachsehen, ob wir es irgendwo finden.«
Er hätte nicht eingestehen dürfen, daß er wußte, wonach sie suchen: er hat den Eindruck, daß sie ihn nach diesem Eingeständnis belauern. Während sie im Schrank stöbern und die Schubladen mit den ungewaschenen Kleidungsstücken durchwühlen und an den schweren Vorhängen herumschütteln, beobachten sie ihn unaufhörlich, davon ist er überzeugt. Er streckt die Hände nach beiden Seiten aus und faßt unter die Matratze, aber das Messer ist nicht dort. Plötzlich hat er Angst, es zu finden, und springt aus dem Bett. Die drei wenden sich ruckartig zu ihm um, obwohl sie sich benehmen, als hätten sie sich nicht bewegt. »Wir werden nicht lange bleiben«, murmelt seine Frau. »Tu so, als seien wir gar nicht da.« »Ins Bad«, ruft Mottershead und denkt, daß er dort allein ist, wenn überhaupt irgendwo. Er rennt durch den Flur, vorbei an den Zimmern, deren mit Lampenschirmen verkleidete Glühbirnen die Einzelbetten in ein karmesinrotes Licht tauchen, und dann ins Badezimmer, wo er an dem Riegel herumhantiert, bis dieser in die entsprechende Vertiefung findet. Er überkreuzt die Arme und umfaßt seine Schultern, während er sich umsieht. Der Raum erweist sich als weniger ideale Zuflucht, als er gehofft hatte, doch anfangs versteht er nicht, warum das so ist. Ist es das Geräusch eines schwachen, erstickten Gurgelns, nicht fähig, richtige Worte zu bilden, das ihn zögern läßt, sich auf den Toilettendeckel zu setzen oder sich in die rostige Badewanne zu legen? Obwohl das nur irgendwo in den Rohren sein kann, kommt es ihm wie eine Erinnerung vor oder zumindest wie die Erinnerung an eine Erinnerung. Sein Blick schweift durch das Bad und fällt auf etwas Glänzendes neben dem Waschbecken: sein offenes Rasiermesser. Wenn er erst das Gefühl hat, in diesem Raum in der Falle zu sitzen, dann weiß er nicht, was er anstellen wird. Er reißt an
dem Riegel herum, um die Tür zu öffnen, bevor seine Familie anfängt, sich davor flüsternd zu unterhalten. Die Tür knallt gegen die Wand, und die Köpfe recken sich aus dem Nebenraum herein. Seine Kinder wirken durch das rote Licht hinter ihnen wie abgehäutet, das Haar seiner Frau scheint stumpf vor Staub; sie alle sehen aus, als hätten sie kaum eine Stirn. Der Anblick reizt ihn, und er rennt an ihnen vorbei, flüchtet außer Reichweite. Es gibt immer noch einen Ort, an dem er glaubt, vielleicht sicher zu sein – das abgeschlossene Zimmer. Früher steckte der Schlüssel im Schlüsselloch, aber angenommen, er ist während seiner Abwesenheit entfernt worden? Während er nach unten und durch den Korridor rennt, hat er das Gefühl, daß er nur noch aus Nerven besteht. Er wirft einen Blick ins Eßzimmer, für den Fall, daß das Messer wieder aufgetaucht ist, aber jetzt fehlen auch die anderen Messer. Selbst als er den Schlüssel in der zugesperrten Tür stecken sieht, hilft ihm das nicht; nein, er möchte aus dem Haus laufen und niemals zurückkehren. Doch seine Hand streckt sich mit unbeherrschter Geschmeidigkeit nach dem Schlüssel aus. Er dreht ihn um und stößt die Tür auf, dann schaltet er das Licht in dem Zimmer an. Ein Gedanke fesselt ihn an die Schwelle des kahlen Raums, der von einer nackten Glühbirne so grell beleuchtet ist, daß er nichts als Helligkeit zu enthalten scheint. Hat er die Absicht, die Tür abzuschließen, um seine Familie auszusperren oder sich selbst einzusperren? Haben sie die anderen Messer vor ihm versteckt? Seine Augen gewöhnen sich allmählich an das Licht, und er sieht die Wände so weiß wie leere Papierseiten, blendend wie die Wände einer Verhörzelle. Gestalten liegen unter der Glühbirne auf den Bodendielen. Er kann nicht sofort erkennen, wer es ist, aber er denkt, daß diejenigen, wer immer ihn und seine Wahrnehmungen
heimgesucht hat, es geschafft haben, sich in diesem Raum zu verstecken. Da sie doch an der Stelle liegen, wo das Licht am hellsten scheint, warum kann er sie nicht deutlich erkennen? Es dämmert ihm, daß er sie vielleicht gar nicht sehen will. Mit einemmal, bevor er Zeit hat, sich die Augen zu bedecken, sieht er. Seine Familie ist im Raum. Seine Frau, die Kinder, sie alle liegen mit dem Gesicht nach oben auf den Bodenbrettern, die Hände vor der Brust gefaltet. Die Köpfe der Kinder sind der Tür am nächsten, die Füße seiner Frau liegen dazwischen. Auf jeder ihrer Kehlen liegt ein aufgeschlagenes Buch, festgesteckt mit einem Messer, das tief hineingestoßen worden ist. Ihre Gesichter sehen aus, als ob jemand erfolglos versucht hätte, sie durchzukneten und ihnen den Anschein von Ruhe zu verpassen. Einen Moment lang glaubt er, daß sie ihn beobachten, obwohl ihre Augen matt von Staub sind. Doch es gelingt ihm nicht, eine Spur von Leben in ihren Augen zu erwecken, nicht einmal, als er die Lichtleitung packt und die Glühbirne hin und her schwenkt, wodurch ihre Augen leuchten und erlöschen, leuchten und erlöschen. Auch als er auf die Knie sinkt, erreicht er damit nichts; alles, was er sieht, ist das Buch auf der Kehle seiner Frau. Er ertappt sich dabei, daß er einen Satz liest und immer wieder liest. »Als Kind hoffte er, daß das Leben niemals enden möge; als er erwachsen wurde, hatte er Angst, es könnte niemals enden.« Er ist ziemlich stolz auf diese Formulierung. Hat er einmal darüber geschrieben, seine Familie aus dem Weg zu räumen, oder war er unfähig, darüber zu schreiben? Wie auch immer, nachdem er sich den Vorgang und seine nachfolgende Trauer bereits vorgestellt hat, könnte das der Grund dafür sein, daß er sich jetzt leer fühlt und immer leerer. Er hat den Eindruck, daß er kurz vor einem Ende steht. Alles ist der Leblosigkeit in
diesem Raum vorzuziehen, selbst so ein Tag wie der, den er gerade durchgemacht hat. Er erhebt sich schwankend und taumelt zur Tür, wo er das Licht ausschaltet. Das verschafft ihm irgendwie Erleichterung, genauso wie das Abschließen der Tür von außen. »Jetzt geht es mir besser«, brummt er, und dann brüllt er es durchs ganze Haus. Es kommt keine Antwort. Er kann es ihnen nicht verübeln, daß sie sich vor ihm verstecken, solang das vierte Messer noch vermißt wird, doch wenn sie nur bei ihm bleiben würden, dann könnten sie sichergehen, daß er es nicht als erster findet. Er rennt durchs Erdgeschoß, hofft sie in jedem Raum anzutreffen, schaltet jedesmal das Licht aus, damit er sich merken kann, wo er schon gesucht hat. Er verdunkelt das Treppenhaus und eilt hinauf, er schaltet die Lichter im Bad aus, im Zimmer seines Sohns und in dem seiner Tochter. Jetzt bleibt nur noch das Zimmer von ihm und seiner Frau übrig, und hat er nicht allen Grund, es sich bis zuletzt aufzuheben? »Überraschung!« ruft er und bricht in schallendes Gelächter und Schluchzen aus, während er die Tür aufstößt. Doch niemand ist in dem Zimmer. Er starrt in die Leere, eine Hand am Lichtschalter. Selbst das dürftige Mobiliar scheint kaum vorhanden zu sein. Wenn er das Messer findet, wird er es an sich selbst anwenden. Warum ist in diesem Gedanken offenbar eine Enthüllung enthalten? Er drückt sich die freie Hand vor die Augen, als ob er damit sein Sehvermögen anpassen könnte; dann blickt er nach vorn, ohne viel von dem Raum zu sehen, ohne etwas sehen zu müssen. Er wird das Messer niemals finden, das wird ihm jetzt klar, weil er es bereits gegen sich selbst gerichtet hat. Vielleicht ist nur er allein tot. Vielleicht war alles andere nur eine Geschichte, die er sich erzählt hat, um sich selbst in der Dunkelheit Gesellschaft zu leisten oder um sich davon zu überzeugen, daß er die Welt immer noch einigermaßen im
Griff hat. Er muß das zumindest vom Inhalt des verschlossenen Raums annehmen. Kein Wunder, daß er bei der Suche nach seiner Familie auf leere Zimmer gestoßen ist; man kann Träume nicht erzwingen. Jedenfalls hat ihn sein Instinkt nicht getäuscht, da er das Haus verdunkelt hat. Er braucht die Dunkelheit, damit seine Geschichte Gestalt annehmen kann. Er schaltet das letzte Licht aus, tappt blindlings zum Bett und läßt sich auf die Matratze fallen. Der Raum verliert für ihn bereits an Substanz. Er legt sich zurück und verschränkt die Hände auf der Brust; er schließt die Augen und wartet darauf, daß sie sich mit kahler Schwärze füllen. Wenn er ganz still daliegt, wird seine Familie vielleicht zu ihm kommen. Hat er das nicht schon mal versucht, mehr als einmal, viele Male? Vielleicht wird diesmal Licht sein, um sie in den endlosen, sonnenbeschienenen Wald zu führen. Es nützt nichts, sich zu wünschen, er könnte in eine Zeit zurückkehren, als er möglicherweise von seinen Visionen hätte geheilt werden können – als er nur wahnsinnig war.