Gewalt und Ästhetik
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Gewalt und Ästhetik
Gewalt und Ästhetik Zur Gewalt und ihrer Darstellung in der griechischen Klassik Herausgegeben von Bernd Seidensticker und Martin Vöhler
Dieses Buch entstand im Rahmen der Arbeiten des Sonderforschungsbereichs 626 der Freien Universität Berlin „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“. Gedruckt wurde es mit der freundlichen Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Sonderforschungsbereich 626 Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste Freie Universität Berlin
◯ ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. ISBN-13: 978-3-11-018432-7 ISBN-10: 3-11-018432-X Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Copyright 2006 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandentwurf: Christopher Schneider, Berlin Satzherstellung: Fotosatz-Service Köhler GmbH, Würzburg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen
Vorwort Nicht Gewalt, sondern Demokratie und Aufklärung, Literatur, bildende Kunst und Architektur, Philosophie und Wissenschaft prägen die moderne Vorstellung von der griechischen Klassik. Es ist vor allem die Goethezeit, die dieses einseitige Bild entworfen und durchgesetzt hat: Von Schiller, Humboldt, Schlegel und vielen anderen wird die Antike der Moderne als Korrektiv gegenübergestellt. In ihrer ‚edlen Einfalt‘ und ‚stillen Größe‘ bilden die Griechen einen starken Kontrast zur Zerrissenheit der Moderne. Im Rahmen dieser Konzeption werden die Griechen der Sphäre von Macht und Gewalt gänzlich enthoben. Trotz polemischer Kritik – etwa bei Nietzsche und in der ‚Wiener Moderne‘ – hat dieses Griechenbild eine erstaunliche Resistenz bewahrt und seine suggestive Kraft nicht einmal im 20. Jahrhundert völlig verloren, als dem Thema Gewalt und seiner Geschichte vor dem Hintergrund unerhörter Gewalterfahrungen eine besondere Aufmerksamkeit zukam. Dabei war das 5. Jahrhundert, in welchem Athen so strahlend hervortrat, daß es schon im darauffolgenden Jahrhundert als politisches und kulturelles Ideal empfunden und stilisiert wurde, auch und nicht zuletzt ein Jahrhundert der Gewalt. An seinem Anfang stehen die existenzbedrohenden Kriege der Griechen gegen die Perser; am Ende erlischt der Glanz der athenischen Macht im dreißigjährigen Krieg mit Sparta und seinen Bundesgenossen, einem Krieg, der in zunehmender Verrohung und Brutalisierung immer neue Exzesse von Gewalt gebiert. Aber auch zwischen den beiden ‚Weltkriegen‘ gegen die barbarischen Fremden aus dem Osten und gegen die griechischen Brüder gab es selten Frieden. Die aggressive, imperialistische Politik Athens führte zu immer neuen Kämpfen. Nur wenige der 100 Jahre des 5. Jahrhunderts waren ohne Krieg, und auch die Auseinandersetzungen im Inneren verliefen keineswegs gewaltfrei. Am Anfang der Demokratie steht die Vertreibung der Tyrannen, und es ist bezeichnend, daß nicht Kleisthenes oder seine Phylenheroen, sondern die Statuengruppe der Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton mit ihren gezückten Schwertern zur Ikone der Demokratie wird – Symbol legitimer Gewalt, aber eben auch eindrückliches Bild physischer Gewalt.
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Vorwort
Im Kampf um die Macht innerhalb der Demokratie drohte denn auch stets der Einsatz von Gewalt. Daran erinnern bereits die erbitterten Auseinandersetzungen um die Areopagreform, die Aischylos in der Orestie mit seiner Analyse des Wegs von der Vergeltungsgerechtigkeit der aristokratischen Familien zur Gerichtsbarkeit der demokratischen Polis reflektiert hat. Die Bitte, die Athene am Ende der Eumeniden an die Erinyen richtet: Laß unter meinen Bürgern den Bürgerkrieg nicht seßhaft werden, der innerhalb eines Volks den einen gegen den andern hetzt hat sich trotz aller Schutzmaßnahmen und Regelungen der athenischen Demokratie nie völlig erfüllt. Vor allem in Krisenzeiten – wie am Ende des Peloponnesischen Kriegs – kam es immer wieder zu Stasis und blutiger Gewalt. Darüber hinaus gab es wie in jeder menschlichen Gesellschaft auch im Athen des 5. Jahrhunderts alle Arten von intrafamiliärer Gewalt (von Schlägen bis zur Kindstötung) und struktureller Gewalt (etwa in den Machtverhältnissen von Mann – Frau, Vater – Sohn, Herr – Sklave, aber auch Gott – Mensch). Von Kampfsport und Jagd, Schlachtopfer und anderen Ritualen vieler Feste und Kulte waren mehr oder minder stark ritualisierte Formen legitimer Gewalt jedem Athener vertraut. Angesichts der Omnipräsenz politischer, militärischer, gesellschaftlicher und kultischer Gewalt verwundert es nicht, daß Macht und Gewalt auch in den Diskursen der Sophistik und in der Literatur und Kunst des 5. Jahrhunderts besondere Aufmerksamkeit erfahren. Mythos und Tragödie schreckten mit jeder denkbaren Form physischer Gewalt. Satyrspiel und Komödie amüsierten ihre Zuschauer mit der handfesten Prügelgewalt, wie wir sie von Comics und Slapstick-Komödie kennen. Rhapsoden trugen bei offiziellen und privaten Festen und auf Marktplätzen die homerischen Epen vor, in denen sich der Glanz heroischer Leistungen und Heldenehre mit brutaler Gewalt mischen, wie beim Rachesturmlauf Achills oder bei der Bestrafung der Schuldigen am Ende der Odyssee. Bildende Künstler integrierten mythische Gewaltszenen und Krieg in die Bildprogramme, mit denen sie Tempel, wie den Parthenon, und andere Gebäude schmückten, und verzierten das Trinkgeschirr für die Symposien mit Darstellungen mythischer Gewalt. Es ist dieser Bereich innerhalb des weiten Spektrums von Gewalt im 5. Jahrhundert, dem sich die folgenden Beiträge widmen. Sie konzentrieren sich auf das Verhältnis von Gewalt und Ästhetik und behandeln somit nur einen Aspekt des großen Themas: Es geht nicht um die Sammlung und
Vorwort
VII
Differenzierung verschiedener Formen von Gewalt oder um die Bestimmung der gesellschaftlichen Orte, an denen sie erscheint. Und es geht auch nicht um die Funktionen, die die Gewalt in den politischen, sozialen, kultischen und kulturellen Kontexten der klassischen Polis erfüllt, um die Bewertung, die sie in den politischen und philosophischen Diskursen der Zeit erfährt, oder um die Intentionen ihrer Darstellung in Literatur und Kunst. Im Zentrum steht vielmehr – nach einem historischen Auftakt – der Vorgang der Ästhetisierung: Wie wird Gewalt im Medium der Künste dargestellt? Lassen sich spezifische Formen und Techniken ihrer Darstellung bestimmen? Den gemeinsamen Ausgangspunkt der Beiträge bildet eine Besonderheit, die die Gewaltdarstellungen im 5. Jahrhundert auszeichnet: Tragödie und bildende Kunst verzichten beide auf die direkte Präsentation physisch zerstörerischer Gewalt. Der besondere Reiz lag und liegt offenbar in dem komplexen, immer neu zu bestimmenden Verhältnis von Distanz und Nähe und in den Techniken, mit denen Dichter und bildende Künstler das Furchtbare darstellen. Gerade indem sie den Akt des Vollzugs ausblenden, gelingt es ihnen, die Gewalterfahrung ästhetisch und emotional besonders eindrücklich zu präsentieren. Die beiden ersten Beiträge gehen den historischen Voraussetzungen nach, indem sie nach der Bedeutung des Gewaltdiskurses im Kontext des 5. Jahrhunderts fragen: KAI TRAMPEDACH arbeitet die Ubiquität der Macht in den politischen, rhetorischen und symbolischen Diskursen vor allem Athens heraus. Zahlreiche Zeugnisse – wie die Geschichten von Gyges im Platonischen Staat oder der Melierdialog in den Historien des Thukydides – dokumentieren, daß das individuelle und kollektive Streben nach Macht im klassischen Griechenland als anthropologische Konstante betrachtet wurde und Gewaltherrschaft folglich nicht nur als attraktiv, sondern als unausweichlich galt. Dieser Grundkonsens habe die Gewaltbereitschaft in Krieg und Bürgerkrieg maßgeblich gefördert und im Rahmen der Polis sowohl der Legitimierung demokratischer Schutzmaßnahmen als auch deren Delegitimierung gedient. EGON FLAIG untersucht die strukturbildende Funktion der Gewalt im griechischen Kulturraum der klassischen Zeit, um zu zeigen, daß die Gewalt einen stets präsenten semantischen Faktor in der Ordnung des öffentlichen Raums der Poleis und ihrer Diskurse darstellt. Nach einem Blick auf
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Vorwort
Peitsche und Gesetz als Mittel der Differenzierung zwischen Freien und Sklaven bzw. der Eingrenzung von Gewalt zwischen Freien, deutet er berühmte Stellen bei Homer, Heraklit und Pindar als Apotheose der Gewalt und behandelt dann die obsessive Furcht der Griechen vor Gewalt und Bürgerkrieg und ihre Gründe sowie – am Beispiel der Aischyleischen Hiketiden – die Opposition Bia (Gewalt) und Peitho (Überredung). Dem religionsgeschichtlichen Zusammenhang von Mythos, Kult und Gewalt wendet sich ALBERT HENRICHS zu. Er untersucht das Verhältnis von Tier- und Menschenopfer im Spannungsfeld von Religion und Gewalt und seine Bedeutung für die griechische Tragödie: Während das Blutvergießen beim Tieropfer den kultischen Normalfall darstellt, gehört das Menschenopfer in die imaginäre Welt des Mythos. In der Tragödie wird das Menschenopfer fast durchgängig in der Bildlichkeit des Tieropfers vorgestellt bzw. am Vorgang des Opferrituals orientiert. Es erscheint auf diese Weise als eine ungeheuerliche Steigerung und Perversion des Tieropfers (z. B. Iphigenie, Polyxena); gleichzeitig ermöglicht die metaphorische Verhüllung und Anlehnung an das vertraute Ritual aber auch eine gewisse Distanz zu dem Schrecklichen, das sich auf der Bühne ereignet. Den Untersuchungen zu den historischen und religionsgeschichtlichen Voraussetzungen folgen Studien zur Darstellung von Gewalt in der Literatur des 5. Jahrhunderts. In ihrem Zentrum steht die Tragödie, die sich durch eine besondere Nähe zur Gewalt auszeichnet: Sie transformiert die vielfältigen Formen physischer, psychischer und struktureller Gewalt im Medium der Kunst und bietet Modellstudien zu ihrer Genese und zerstörerischen Dynamik. BERND SEIDENSTICKER weist auf, daß das Spannungsverhältnis von Distanz und Nähe, das in vielen Theorien zum paradoxen Vergnügen an tragischen Gegenständen eine wichtige Rolle spielt, bereits von Aristoteles als konstitutiv für die Erfahrung der tragischen Lust erkannt worden ist. Der Beitrag faßt die Überlegungen der Poetik und der Rhetorik, aus denen sich dies erschließen läßt, systematisch zusammen und stellt ihnen eine literarische Analyse zur Seite, die spezifische Bauformen der Gewaltdarstellung unterscheidet und zeigt, daß die griechischen Tragiker auf die Konvention, zerstörerische physische Gewalt in die Distanz des hinterszenischen Raums zu verbannen, mit der Entwicklung von Techniken reagiert haben, mit denen sie dem Zuschauer das Distanzierte bedrängend nahe rücken können.
Vorwort
IX
FELIX BUDELMANN konzentriert seine Untersuchung auf die Darstellung von Schmerzen, die in der Tragödie – wie etwa die ausgeprägten Darstellungen in den Trachinierinnen und im Philoktet zeigen – ein ungleich größeres Gewicht als im Epos gewinnt. Unter Berücksichtigung der medizinischen Schmerz-Forschung bestimmt er zunächst den Schmerz als ein psychophysisches Phänomen, dessen körperliche Dimension durch ein breites Repertoire von Ausrufen, Klagelauten, Gesten und Bewegungen stilisiert dargestellt wird. In einem zweiten Teil widmet er sich den Deutungsmöglichkeiten und dem emotionalen Potential der Schmerz-Szenen. Die Stilisierung wird dabei als Strategie der ästhetischen Distanzierung und der Aktivierung des Vorstellungsvermögens verstanden. SIMON GOLDHILL analysiert – auf dem Hintergrund des modernen Theaters, in dem Gewaltakte auf der Bühne selbstverständlich sind, und nach einem Blick auf die Komödie, die weitaus geringere Bedenken gegen die direkte Darstellung von Gewalt hat als die Tragödie – die besonderen dramatischen, dramaturgischen und selbstreflexiven Formen, in denen die griechischen Tragiker Gewalt sichtbar machen. Am Beispiel der Sophokleischen Elektra entfaltet er seine These von der Dialektik des Verbergens, das zugleich ein Akt des Enthüllens sei: Gerade indem der Gewaltakt des Muttermordes auf der Bühne nicht dargestellt wird, erschließe sich dem Publikum die Einsicht in die Gewaltbereitschaft Elektras und das überraschende Ende vor der Ermordung Aigisths diene dazu, alle Fragen nach der Tat und ihren Folgen an das Publikum weiterzugeben. Auch KARL HEINZ BOHRER konzentriert sich auf die sprachliche Vermittlung der Gewalt und untersucht, wie das Gewaltereignis durch die Sprache vorstellbar gemacht wird und wie es sich in der Sprache niederschlägt. Als Untersuchungsbeispiele dienen ihm die Täterin Klytaimestra und das Gewaltopfer Antigone. Seine Analyse hebt die Darstellungsmittel hervor, mit deren Hilfe es den Tragikern gelingt, in beiden Fällen das mythische Gewaltmoment eindringlich zur Erscheinung zu bringen. Erst durch die ästhetische Transformation werde die Gewaltdarstellung zum poetischen Ereignis. PATRICK PRIMAVESI geht von der Darstellung der Gewalt in der antiken Tragödie zu einer Gewalt der Darstellung über, die viele (post)moderne Inszenierungen der klassischen Texte zu entfesseln versuchen. Als ein gemeinsames Interesse solcher Inszenierungen beschreibt er die Arbeit an Darstellungsformen, die sich nicht bloß den heutigen, von technischen
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Vorwort
Medien geprägten Wahrnehmungsgewohnheiten anpassen, sondern die dem Theater eigene Gewalt der Darstellung bewußt machen. Dabei wird Primavesi zufolge vor allem die Rolle des Zuschauers vorgeführt, der Anteil des Betrachters an der Hervorbringung und Deutung von Gewalt. Diese These wird anhand exemplarischer Tragödien-Inszenierungen (von Klaus Michael Grüber, Einar Schleef und Wanda Golonka) expliziert und an aktuellen Produktionen von Euripides’ Bakchen (Sebastian Nübling, Christof Nel und Jossi Wieler) vertieft. Die abschließenden beiden archäologischen Beiträge gehen von der Literatur zur bildenden Kunst über: Sie konzentrieren sich auf die Darstellung von Gewalt in der griechischen Vasenmalerei. BARBARA BORG setzt bei dem von der neueren Archäologie weithin anerkannten Umbruch in der Gewaltdarstellung auf attischer Keramik zwischen ca. 490 und 470 v. Chr. ein, indem sie die Abschaffung der Tyrannis, die sukzessive Einrichtung der athenischen Demokratie und eine damit einhergehende Sorge um die Gefahren übermäßiger Leidenschaften als maßgebliche Ursachen für ein neues Verhältnis zur Gewalt darstellt. Das archaische Bildprogramm, das dem Ideal von physischer Stärke, Mut, Kampfbereitschaft und Durchsetzungskraft entspricht, werde abgelöst durch ein neues ‚klassisches‘ Ideal, welches das Individuum stärker in die Gemeinschaft integriere und in der Vasenmalerei zu einem markanten Rückgang an Formen von Gewaltdarstellungen führe. SUSANNE MUTH widmet sich ebenfalls dieser Umbruchszeit, die sie zwischen dem späten 6. und frühen 5. Jahrhundert ansetzt, um sie in anderer Weise zu begründen. Ihre Bildanalyse leitet den Übergang aus der Entwicklung neuer Darstellungsstrategien her: Die Gewaltdarstellung wird pathetisiert, indem es gelingt, Leiden, Sterben, Angst und Verzweiflung mit Hilfe von Nahansichten genauer zu erfassen; andererseits kann die Gewalt aber auch implizit dargestellt werden, indem die Wucht des bevorstehenden Angriffs an der Reaktion des Besiegten gespiegelt wird. In diesem Zusammenhang stellt die Autorin eine markante Wahrnehmungsdifferenz heraus: Während der moderne Betrachter dazu neige, sich mit dem Angreifer oder dem Opfer zu identifizieren und dementsprechend den Gewalteinsatz für akzeptabel bzw. inakzeptabel zu halten, gehe es dem griechischen Betrachter nicht um eine Bewertung der vorgeführten Gewalt, sondern um die Bestimmung des Kräfteverhältnisses sowie der Machtkonstellation.
Vorwort
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Die Konzeption des Bandes geht auf das Symposium „Gewalt und Ästhetik. Gewalt und Formen der Gewaltdarstellung in der griechischen Klassik“ zurück, das im Juli 2005 an der Freien Universität Berlin im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 626 der Deutschen Forschungsgemeinschaft „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ abgehalten wurde. Besonderer Dank gilt Dr. Peter Kahrs für die umsichtige Redaktion der Beiträge, Jörn Mixdorf für die Durchsicht des Griechischen, Dr. Sabine Vogt und dem de Gruyter Verlag für die ausgezeichnete Zusammenarbeit sowie schließlich der DFG, die die Drucklegung des Bandes und das vorbereitende Berliner Symposium mit ihrer großzügigen finanziellen Unterstützung des SFB Projekts „Antike Konzepte ästhetischer Erfahrung und ihre moderne Rezeption“ ermöglicht hat. Berlin im September 2006
Bernd Seidensticker und Martin Vöhler
Inhaltsverzeichnis Bernd Seidensticker und Martin Vöhler: Vorwort . . . . . . . . . .
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Geschichte Kai Trampedach (Konstanz) Die Tyrannis als Wunsch- und Schreckbild . . . . . . . . . . . . . .
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Egon Flaig (Greifswald) Gewalt als präsente und als diskursive Obsession in der griechischen Klassik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Mythos und Kult Albert Henrichs (Cambridge, Mass.) Blutvergießen am Altar: Zur Ritualisierung der Gewalt im griechischen Opferkult . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literatur Bernd Seidensticker (Berlin) Distanz und Nähe: Zur Darstellung von Gewalt in der griechischen Tragödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Felix Budelmann (Milton Keynes) Körper und Geist in tragischen Schmerz-Szenen . . . . . . . . . . 123 Simon Goldhill (Cambridge) Der Ort der Gewalt: Was sehen wir auf der Bühne? . . . . . . . . . 149 Karl Heinz Bohrer (Stanford) Zur ästhetischen Funktion von Gewalt-Darstellung in der Griechischen Tragödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
XIV
Inhaltsverzeichnis
Patrick Primavesi (Frankfurt am Main) Gewalt der Darstellung: Zur Inszenierung antiker Tragödien im (post)modernen Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
Bildende Kunst Barbara E. Borg (Exeter) Gefährliche Bilder? Gewalt und Leidenschaft in der archaischen und klassischen Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Susanne Muth (München) Als die Gewaltbilder zu ihrem Wirkungspotential fanden . . . . . . 259 Abbildungsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299
Geschichte
Kai Trampedach (Konstanz)
Die Tyrannis als Wunsch- und Schreckbild Zur Grammatik der Rede über Gewaltherrschaft im Griechenland des 5. Jahrhunderts v. Chr.1 Unter der Überschrift „Was ich den Alten verdanke“ schrieb Friedrich Nietzsche im Herbst 1888, kurz vor seinem Zusammenbruch: In den Griechen „schöne Seelen“, „goldene Mitten“ und andre Vollkommenheiten auszuwittern, etwa an ihnen die Ruhe in der Grösse, die ideale Gesinnung, die hohe Einfalt bewundern – vor dieser „hohen Einfalt“, einer niaiserie allemande zuguterletzt, war ich durch den Psychologen behütet, den ich in mir trug. Ich sah ihren stärksten Instinkt, den Willen zur Macht, ich sah sie zittern vor der unbändigen Gewalt dieses Triebs, – ich sah alle ihre Institutionen wachsen aus Schutzmaassregeln, um sich vor einander gegen ihren inwendigen Explosivstoff sicher zu stellen. Die ungeheure Spannung im Innern entlud sich dann in furchtbarer und rücksichtsloser Feindschaft nach Aussen: die Stadtgemeinden zerfleischten sich unter einander, damit die Stadtbürger jeder vor sich selber Ruhe fänden.2
Die Erfindung institutioneller Schutzmaßregeln, für die die Griechen bis heute immer wieder bewundert werden, hat allerdings ebenso wenig wie die Ableitung der Spannung nach außen verhindern können, daß die inneren Verhältnisse der meisten Poleis in Griechenland spätestens seit dem letzten Drittel des 5. Jahrhunderts v. Chr. durch eine besonders ausgeprägte Konflikthaltigkeit gekennzeichnet waren.3 Hemmungslose, exzessive Gewaltausübung in Krieg und Bürgerkrieg, die auch vor der Mißachtung religiös 1 Für Hinweise, Anregungen und Kritik danke ich Markus Asper, Norbert Kramer und besonders Ulrich Gotter. 2 Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung. In: Kritische Studienausgabe (KSA), hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1988, Bd. 6, S. 157. 3 Vgl. Hans-Joachim Gehrke: Stasis. Untersuchungen zu den inneren Kriegen in den griechischen Staaten des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr., München 1985; zum zeitlichen Horizont vgl. bes. ebd. S. 258–60.
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Kai Trampedach
fundamentierter Normen (wie der Verletzung von Heiligtümern4 oder dem Meineid5) nicht zurückschreckte, kam relativ häufig vor. Nietzsches Beobachtung enthält bereits eine Erklärung für diese Tatsache – die Erklärung eines „Psychologen“, der von Instinkt und Trieb spricht, von einem „inwendigen Explosivstoff“: dem „Willen zur Macht“. Bei seinem Rückgang auf die Ebene kollektiver Psychologie steht Nietzsche auf den Schultern von Platon. Schon Platon hat das Problem der politischen Instabilität und Gewalt in den Seelen, d. h. in der moralischen Wahrnehmung, der am politischen Prozeß Beteiligten verortet. Da ich mich im Grundsatz dieser Auffassung anschließen möchte, wenn ich im folgenden die Gründe für die faktische Ubiquität politischer Gewalt erörtere, rückt ihre Deutung durch die politischen Akteure in den Mittelpunkt meiner Überlegungen. Ich komme daher zwar nicht darum herum, mich vor allem mit dem Diskurs über Macht und Gewalt zu beschäftigen, tue dies aber mit dem Ziel, Handeln zu erklären. Da der angesprochene Diskurs zu seiner Zeit eine so gut wie alternativlose Interpretation von Gewalttaten darstellte, gehe ich davon aus, daß er die Praxis maßgeblich beeinflußt hat.6 An Platon und Nietzsche anschließend möchte ich im folgenden zeigen, daß der griechische Machtdiskurs an sich keine sophistische Übersteigerung ist, sondern in der „popular morality“ wurzelt und als Ausdruck einer konventionellen Einstellung verstanden werden muß.7 Als solcher prägt er die Wahrnehmung und das Bewußtsein der politischen Akteure, bestimmt 4 Vgl. Kai Trampedach: Hierosylia. Gewalt in Heiligtümern. In: Die andere Seite der Klassik. Gewalt im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr., hrsg. von Günter Fischer und Susanne Moraw, Stuttgart 2005, S. 143–65. 5 Vgl. Jacob Burckhardt: Griechische Culturgeschichte, Bd. II. Aus dem Nachlaß hrsg. von Leonhard Burckhardt, Barbara von Reibnitz und Jürgen von UngernSternberg. In: Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von der Jacob BurckhardtStiftung, München/Basel 2005, Bd. 20, S. 328–31. 6 Vgl. Ulrich Gotter: Cultural Differences and Cross-cultural Contact – Greek and Roman Concepts of ‚Power‘ (erscheint 2007 in: Harvard Studies in Classical Philology). 7 Zum Begriff „popular morality“ vgl. Kenneth J. Dover: Greek Popular Morality in the Time of Plato and Aristotle, Berkeley 1974, S. 1–8. Dover setzt die „popular morality“ als vorreflexiven, unsystematischen und nicht widerspruchsfreien Horizont von Wertmaßstäben und Verhaltensnormen der „moral philosophy“ entgegen. Die Debatte über „popular morality“ in Platons Dialogen behandelt Kai Trampedach: Platon, die Akademie und die zeitgenössische Politik, Stuttgart 1994, S. 155–75. Vgl. jetzt auch Ivan Jordovic: Anfänge der Jüngeren Tyrannis. Vorläufer und erste Repräsentanten von Gewaltherrschaft im späten 5. Jahrhundert v. Chr., Frankfurt a. M. 2005, S. 70–116.
Die Tyrannis als Wunsch- und Schreckbild
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auf diesem Wege ihr Handeln und stellt ein analytisches Instrumentarium von universaler Reichweite zur Verfügung. So hat sich im Laufe des 5. Jahrhunderts in Griechenland die Kategorie der Macht als zentraler Maßstab durchgesetzt, mit dessen Hilfe sämtliche menschlichen Beziehungen klassifiziert werden können. Der Maßstab wurde sowohl auf die Verhältnisse im oikos (Herr – Sklave, Mann – Frau, Vater – Kind) als auch in der Polis (Monarchie, Oligarchie, Demokratie) als auch außerhalb der Polis (ebenso zwischen den Poleis wie zwischen Griechen und ‚Barbaren‘) angewendet.8 Gleichzeitig findet sich eine Fülle von Äußerungen, die das (individuelle und kollektive) Streben nach Macht in der menschlichen Natur verankern. Wenn aber alle politischen Subjekte (seien es nun Individuen oder Gruppen) herrschen wollen, folgt daraus im Umkehrschluß, daß niemand beherrscht werden will. Unter diesen Umständen muß jede Herrschaft außerhalb eines institutionellen Rahmens, also jede Herrschaft über oder durch die Polis, auf Gewaltherrschaft (tyrannis) hinauslaufen. Aber auch jede Überlegenheit im Rahmen der Polis kann dann leicht als Gewaltherrschaft verstanden werden. Um diese Zusammenhänge zu veranschaulichen, möchte ich nacheinander die Attraktivität der Tyrannis (I), die Unvermeidlichkeit der Gewalt und die daraus resultierenden rhetorischen und symbolischen Aktualisierungen (II) sowie die Wahrnehmung von Gewaltherrschaft im Rahmen der Polis (III) erörtern, bevor ich meine Überlegungen mit einem kurzen Fazit (IV) abschließe.
I. Die Attraktivität der Gewaltherrschaft Zu Beginn des zweiten Buchs von Platons Politeia (359c–360b) erzählt Glaukon die Geschichte vom Ring des Gyges. Gyges sei Hirt im Dienste des Königs von Lydien gewesen. Als sich einmal in der Gegend, wo er hütete, durch Unwetter und Erdbeben ein Erdspalt aufgetan habe, sei er mutig hinabgestiegen und habe dort viel Wunderbares gesehen, darunter 8 Vgl. Christian Meier: Der Wandel der politisch-sozialen Begriffswelt im 5. Jahrhundert v. Chr. In: Ders.: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt a. M. 1980, S. 275–325; Jochen Bleicken: Die athenische Demokratie, Paderborn/München/Wien/Zürich 41995, S. 64–72. S. 536–42; ders.: Zur Entstehung der Verfassungstypologie im 5. Jahrhundert v. Chr. (Monarchie, Aristokratie, Demokratie). In: Historia 28 (1979), S. 148–72; Gotter (2007) [Anm. 6]. Als zentrales und selbstverständliches Instrument der Analyse aller menschlichen Beziehungen benutzt Aristoteles die Machtkategorie in seiner politica, wie schon zu Beginn seiner Abhandlung deutlich wird: Aristot. pol. 1252a8–b9. 1253b1–14.
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Kai Trampedach
einen riesenhaften Leichnam, der nichts anderes getragen habe als einen goldenen Ring an der Hand. Gyges habe den Ring an sich genommen, auf den Finger gesteckt und bald bemerkt, daß der Ring ihm eine ungewöhnliche Eigenschaft verlieh; denn sobald er den Stein nach innen drehte, sei er unsichtbar geworden. Gyges konnte nun tun, was er wollte. Was aber wollte er? Wie benutzte er den neuen, über alle Maßen erweiterten Handlungsspielraum? Glaukons Antwort ist kurz und klar: Er sei zum König gekommen, habe dessen Frau verführt, sodann im Bunde mit dieser den König selbst getötet und die Herrschaft an sich gerissen. Dieses Ende der Geschichte erscheint dem Erzähler evident, ja unausweichlich. Jedermann würde, so behauptet Glaukon, seine Möglichkeiten ausschöpfen, „wenn er vom Markt ohne alle Besorgnis nehmen könnte, was er nur wollte, wenn er in die Häuser gehen und beiwohnen könnte, wem er wollte, wenn er töten oder aus Banden befreien könnte, wen er wollte, und wenn er auch alles übrige tun könnte recht wie ein Gott unter den Menschen“.9 Zunächst ist der historische Ort dieser Haltung zu ermitteln. Platons Glaukon beansprucht im Namen der „Vielen“ zu sprechen. Die Berechtigung dieses Anspruchs wird von Sokrates ohne weiteres eingeräumt. Im Gesprächskontext verfolgt Glaukon (in der Folge von seinem Bruder Adeimantos mit weiteren Argumenten unterstützt) das Ziel, Sokrates zu einer umfassenden Apologie der Gerechtigkeit zu animieren. Dieser soll die Gerechtigkeit als an und für sich gut erweisen, d. h. auch abgesehen von ihren Folgen, und auf diese Weise die Schlüssigkeit von Gyges’ Vorgehen widerlegen. Sokrates benötigt dann bekanntlich den Rest der Politeia, also fast neun Bücher, und außerdem ein Jenseits, um dieser Aufgabe gerecht zu werden.10 Die Dialoggestaltung läßt mithin keinen Zweifel, daß Platon die Gyges-Geschichte und ihre Interpretation durch Glaukon für repräsentativ hielt. Repräsentativ für wen, ist die Frage: für die Athener, die Griechen, die Lyder oder alle Menschen? Der exotische Rahmen der Geschichte und die allgemeinen Formulierungen des Kontextes deuten darauf hin, daß Glaukon das Verhalten des Gyges als allgemein-menschliches 9 Plat. rep. 360 bc. Zu der Figur des Glaukon und zum Gyges-Mythos vgl.: Platone. La Repubblica, Vol. II: Libri II e III, hrsg. von Mario Vegetti, Pavia 1998, S. 151–72 (M. Vegetti). S. 173–88 (F. Calabi); Kent F. Moors: Glaucon and Adeimantus on Justice. The Structure of Argument in Book 2 of Plato’s Republic, Washington D. C. 1998, S. 3–77. 10 Am Ende der Politeia meldet Sokrates die Erfüllung der von Glaukon gestellten Aufgabe: „[…] wir fanden in der Gerechtigkeit an sich das höchste Gut für die Seele, sie muß daher das Gerechte tun, ob sie nun den Ring des Gyges besitzt oder nicht – und zu diesem Ring auch noch die Hadeskappe“ (612b).
Die Tyrannis als Wunsch- und Schreckbild
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Handlungsmuster begreift. Wie wir sehen werden, ist dieser Anspruch auf universale Geltung nicht überzeugend, wie übrigens fast immer, wenn wir in der griechischen Literatur auf anthropologische Fundamentalaussagen treffen. Was Glaukons Darlegung repräsentiert, ist vielmehr eine in Griechenland und speziell in Athen weitverbreitete und einflußreiche Auffassung über die geheimen Wünsche und instinktiven Reflexe der politischen Akteure. Die politischen Konsequenzen einer solchen Einstellung können sich verheerend auswirken. Dies gilt natürlich insbesondere dann, wenn es, wie im Falle des Gyges, gelingt, die institutionellen „Schutzmaßregeln“ (um mit Nietzsche zu sprechen) außer Kraft zu setzen. Gyges strebt nach direkter und unbeschränkter Macht auf allen Gebieten. Seine Machtergreifung geschieht gewalttätig und ohne Rücksicht auf geltende Normen. Seine Machtausübung wird, wie Glaukons Kommentar zeigt, ebenso gewalttätig und rücksichtslos ausfallen. Es erübrigt sich wohl heutzutage, die kulturelle Bedingtheit dieser Reaktion eigens hervorzuheben. Das Märchenmotiv, bei dem ein magischer Gegenstand seinem einfachen Finder ungeahnte Macht verleiht, gibt es in vielen Kulturen.11 Vor diesem Hintergrund erscheint der Gebrauch, den Gyges von seinem Ring macht, ungewöhnlich, wenn nicht einzigartig. Gyges könnte ja die Kraft des Ringes (wie etwa Aladin den Geist seiner Wunderlampe) auch verwenden, um seinem Handeln Akzeptanz zu sichern oder zumindest den Anschein von Legitimität zu verleihen. Doch gehört es gerade zu den Bedingungen der von Gyges repräsentierten Einstellung, daß ein solches Vorgehen in seiner Lage als unnötige und sozusagen überflüssige Einschränkung der eigenen Handlungsmöglichkeiten empfunden würde. Die Fähigkeit, jederzeit Gewalt einzusetzen, wird vielmehr als Teil der vollendeten Freiheit im Sinne des „Tunkönnen-was-man-will“ verstanden. Dieser Zusammenhang wird vielleicht nirgends so klar ausgesprochen wie von dem Sophisten Polos in Platons Gorgias. Auf eine berühmte Formel des Sokrates reagiert Polos mit ungläubigem Staunen: „Du wolltest also lieber Unrecht erleiden als Unrecht begehen? […] Du würdest es also nicht annehmen, als Tyrann zu herrschen?“ Auf die Nachfrage, was er mit „als-Tyrann-herrschen“ (tyrannein) meine, erklärt Polos: „Ich meine damit […], in der Polis das tun zu können, was einem gut zu sein scheint, zu töten und zu vertreiben und alles nach seinem Gutdünken zu tun.“12 11 Vgl. Antti Aarne: The Types of Folktale, Helsinki 41987, Nr. 560; Stith Thompson: Motif-Index of Folk-Literature, Vol. II, Kopenhagen 1956, Nr. D 1361. D 1470. 12 Plat. Gorg. 469c.
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Obwohl Polos als Schüler des Gorgias eingeführt wird, ist das keine spezifisch sophistische Aussage, wie Platon wiederum durch seine Gesprächsführung erkennen läßt. Vielmehr beansprucht Polos hier lediglich, unbezweifelbaren und unstrittigen Wahrheiten Ausdruck zu verleihen, weshalb ihn Sokrates’ Weigerung, den gesunden Menschenverstand als Maßstab zu akzeptieren, aus der Fassung bringt und schließlich resignieren läßt.13 Das „Tun-können-was-man-will“ zielt also äußerstenfalls auf die Herrschaft über Leben und Tod. Davor nennt Glaukon, der die Figur des Gyges mit den typischen Merkmalen eines Tyrannen ausstattet, das Eigentum und die Frauen der Unterworfenen, womit zwei weitere Vorzüge des Tyrannenlebens genannt sind: Reichtum und Lust. Ähnliche Ziele spricht in der berühmten Verfassungsdebatte bei Herodot der Perser Otanes dem Alleinherrscher zu: „Er rührt an den altüberlieferten Ordnungen, er vergewaltigt Frauen und tötet ohne Gerichtsverfahren.“14 Warum nimmt die Vergewaltigung von Frauen (bzw. Jünglingen) unter den Tyrannentopoi eine so prominente Position ein? Das Motiv veranschaulicht zum einen die durch keinen (und sei es noch so heiligen oder universalen) Brauch beschränkte Grenzenlosigkeit der tyrannischen Triebbefriedigung. Es macht zum anderen aus der Perspektive der Untertanen klar, daß nicht nur das Vermögen, die Freiheit und das Leben dem willkürlichen und gewalttätigen Zugriff des Tyrannen ausgesetzt sind, sondern auch die Ehre, die in der Unantastbarkeit der Frauen einen besonders sinnfälligen Ausdruck findet. Die Lust an der Gewaltausübung auf der Seite des Tyrannen korrespondiert mit Erniedrigung und Scham auf der Seite der Unterworfenen.15 So erscheint die Alleinherrschaft als Wunsch- und Schreckbild zugleich. Leo Strauss hat diese Ambivalenz, die in der griechischen Literatur des 5. und 4. Jahrhunderts allgegenwärtig ist, sich aber im Grunde schon bei Homer findet, in seinem Buch „On Tyranny“ auf die Formel gebracht: „Tyranny is bad for the city but good for the tyrant, for the tyrannical life is the most enjoyable and desirable way of life“.16
13 Vgl. Plat. Gorg. 471a–d mit Joachim Dalfen: Platon Gorgias, Übersetzung und Kommentar, Göttingen 2004, S. 276. 14 Hdt. 3,80,5. 15 Vgl. bes. Eur. Suppl. 445–454. 16 Leo Strauss: On Tyranny. A Interpretation of Xenophon’s Hiero, New York 1948, S. 20; vgl. Walter R. Connor: Tyrannis Polis. In: Ancient and Modern: Essays in Honor of Gerald F. Else, hrsg. von John H. D’Arms und John W. Eadie, Ann Arbor 1977, S. 95–109.
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Die praktischen Folgen dieser Haltung sind, wie Kurt Raaflaub betont hat, „bereits in der Auseinandersetzung des zeitgenössischen Adels mit dem Phänomen der ‚älteren Tyrannis‘ im frühen 6. Jahrhundert zu fassen: Wer unter der Tyrannis zu leiden hatte, haßte sie aus tiefstem Herzen; wem sie sich anbot, der griff mit beiden Händen danach“.17 Im 5. Jahrhundert jedoch, besonders in dessen zweiter Hälfte, ließ sich eine solche Haltung mangels Gelegenheit nicht mehr einnehmen; als Verfassungsform hatte die Tyrannis in Griechenland vorerst ausgedient. Wie erklärt sich unter diesen Umständen die fortdauernde Präsenz des ambivalenten Tyrannenbildes in der politischen Debatte?18 Das Bild war offenbar so plausibel, daß es ohne Abstriche auf andere politische Kontexte übertragen werden konnte. Ob ‚barbarischer‘ Monarch, insbesondere persischer Großkönig, ob eine ganze Polis wie Athen, ob Demos oder Demagogen – es läßt sich beobachten, daß jegliche Herrschaft nach dem Muster der Tyrannis konstruiert wurde.19 Selbst Zeus, der Herrscher im Himmel, wurde auf der Bühne als Tyrann dargestellt.20 Von Zeus und den fremden Monarchen abgesehen, haben 17 Kurt A. Raaflaub: Athens „Ideologie der Macht“ und die Freiheit des Tyrannen. In: Studien zum Attischen Seebund, hrsg. von Jack M. Balcer u. a., Konstanz 1984, S. 45–86, hier: S. 74; vgl. Archil. fr. 23, 20–21 (West); Sol. fr. 33 (West). Raaflaub hat inzwischen seine Auffassung revidiert und glaubt nicht mehr an die Ambivalenz des Tyrannis-Konzeptes in Athen, sondern betont das überwältigende Vorherrschen negativer Reaktionen: Stick and Glue. The Function of Tyranny in Fifth-Century Athenian Democracy. In: Popular Tyranny. Sovereignty and Its Discontents in Ancient Greece, hrsg. von Kathryn A. Morgan, Austin 2003, S. 59–93, bes. 70–84. Er tut dies, indem er die entgegenstehenden Zeugnisse jetzt entweder als Privatmeinungen von Durchschnittsbürgern banalisiert (bes. ebd. S. 74) oder auf kleine antidemokratische Kreise (bes. ebd. S. 76 f.) zurückführt. Der Einfluß der „popular morality“ auf das politische Selbstverständnis der Athener bleibt bei diesem Ansatz allerdings ebenso unterbelichtet wie die Bedeutung des TyrannisKonzeptes für den Machtdiskurs. Kritik an Raaflaubs neuerer Ansicht übt im gleichen Band auch Lisa Kallet: Demos Tyrannos: Wealth, Power, and Economic Patronage. In: Morgan (2003) [s. o.], S. 117–53, bes. S. 118–21. 18 Eine Frage, die von der Komödienbühne aus schon den Athenern selbst gestellt worden ist: Aristoph. Vesp. 488–511. Vgl. auch Raaflaub (2003) [Anm. 17], S. 71 – freilich mit zum Teil anderen Antworten als den hier gegebenen. 19 Hdt. 3,31,4 (vgl. 3,80,3 und passim) zitiert ein persisches „Gesetz“, wonach dem Perserkönig erlaubt sei zu tun, was er wolle. Auch Aischyl. Pers. charakterisiert die Könige Dareios und Xerxes als Tyrannen. Über die Polis, den Demos und die Demagogen als Tyrannen: siehe unten. Isokrates 8,91 beklagt zurecht, daß die Verben archein und tyrannein in landläufiger Meinung gleichgesetzt werden. 20 Aischyl. Prom. passim; Soph. fr. 345 (Radt); Eur. Herc. 1314–1319; Aristoph. Plut. 124. Vgl. Helmut Berve: Die Tyrannis bei den Griechen, München 1968, S. 193.
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sich die genannten Akteure häufig auch selbst dem Muster entsprechend verstanden. Die Plausibilität der tyrannischen Haltung offenbart sich in einer urtümlichen Freude, die in ganz verschiedenen Kontexten der griechischen Literatur häufig mit dem Gewalthaben und Gewaltüben verbunden wird – etwa in der unübertroffenen Glückseligkeit, die dem (als Tyrann vorgestellten) Perserkönig zugesprochen wird,21 – oder in dem ungetrübten Stolz, den der athenische Demos, ungeachtet aller Widerstände, über die herrschende Stellung seiner Stadt empfindet.22 Auf besonders rüde Weise kommt das Behagen an der Gewaltherrschaft in einem Lied zum Ausdruck, das während des Symposions der kretischen Oberschicht gesungen wurde – es soll von einem Kreter namens Hybrias und aus der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts stammen: Mein großer Reichtum sind Speer und Schwert und der schöne Schild, der Schutz des Leibes. Damit nämlich pflüge ich, damit ernte ich, damit keltere ich den süßen Wein von der Rebe, damit heiße ich Herr der Sklavenschaft. Die aber Speer und Schwert nicht zu halten wagen und den schönen Schild, den Schutz des Leibes, die fallen alle zu meinen Füßen nieder und küssen meine Knie, indem sie mich ihren Herrn und Großkönig nennen.23
II. Die Unvermeidlichkeit der Gewaltherrschaft Im Jahre 432, noch vor Kriegsausbruch, veranlassen während einer Versammlung der spartanischen Bundesgenossen in Sparta vielfältige Vorwürfe eine zufällig in anderer Sache anwesende Gesandtschaft der Athener, die Herrschaft ihrer Stadt im Seebund zu rechtfertigen. Nach Thukydides ver21 Beispielsweise bei Aischyl. Pers. 709–712; Eur. Herc. 642–648; Plat. Gorg. 470e. apol. 40d. Euthyd. 274a. 22 Vgl. nur den Chor bei Aristoph. Equ. 1111–1114, der den personifizierten Demos mit folgenden Worten anredet: „Demos, du hast eine feine Herrschaft, weil alle Menschen dich fürchten wie einen tyrannischen Mann.“ 23 Hybrias bei Athen. 15, 695f–696a (Übersetzung von Fritz Gschnitzer: Griechische Sozialgeschichte. Von der mykenischen bis zum Ausgang der klassischen Zeit, Wiesbaden 1981, S. 59); vgl., auch zur Frage der Authentizität und Datierung, Hans-Joachim Gehrke: Gewalt und Gesetz. Die soziale und politische Ordnung Kretas in der Archaischen und Klassischen Zeit. In: Klio (79) 1997, S. 29 mit Anm. 25. Eine individuelle Bewunderung oder Verherrlichung der Tyrannis kommt auch wiederholt bei Euripides zum Ausdruck, und sei es in negativer Spiegelung: Phoen. 503–524. Tro. 1168–1170. Alc. 653–655. Hipp. 1013– 1020. Herc. 63–66. Suppl. 166. Ion 621–632. fr. 8. 15. 250. 332,7. 426. 605. 1048 (Kannicht); vgl. Soph. Ant. 506 f.
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wies der Sprecher der Athener zunächst auf die historischen Verdienste seiner Stadt im Kampf gegen die Perser, um dann folgende Überlegung vorzubringen: Wir haben nichts Verwunderliches getan, nichts wider menschliche Art, wenn wir eine uns angebotene Herrschaft annahmen und nicht aufgeben wollen, von den drei stärksten Beweggründen getrieben: Ehre, Furcht und Nutzen. Wir haben auch nicht als erste damit angefangen, es gilt vielmehr seit jeher, daß der Schwächere vom Mächtigeren niedergehalten wird; und wir glaubten, der Herrschaft wert zu sein, auch in euren Augen – bis ihr jetzt, auf euren Vorteil bedacht, von Gerechtigkeit redet; die hat noch nie jemand, wenn sich die Gelegenheit zu gewaltsamem Erwerb bot, höher gestellt und sich eines Vorteils begeben. Lob verdient, wer entsprechend der menschlichen Natur zwar über andere herrscht, dabei aber gerechter vorgeht, als er aufgrund seiner Machtstellung müßte.24
Wenn die Athener eben dies im weiteren Verlauf der Rede für sich in Anspruch nehmen: daß sie zurückhaltender von ihrer Macht Gebrauch machen und die Verbündeten ‚gleicher‘ behandeln, als sie eigentlich müßten, daß sie ihre Herrschaft auf der Basis von Verträgen und gleichen Gesetzen ausüben, dann sprechen sie von jederzeit widerrufbaren Zugeständnissen, die nichts am gewaltsamen Fundament der Herrschaft ändern. Mit fortschreitendem Kriegsverlauf haben die Athener bekanntlich zunehmend darauf verzichtet, sich auf eine wenn auch nur relative Gerechtigkeit zu berufen. Was sich dagegen nicht geändert hat, ist die anthropologische Letztbegründung der Gewaltherrschaft. Mit dem Rückgang auf die Natur des Menschen vertreten Thukydides und die Athener eine verbreitete Ansicht. Das Argument, das beispielsweise auch bei Herodot und bei Platon fällt, betont die Unausweichlichkeit der Gewaltherrschaft. In der bereits zitierten Verfassungsdebatte stellt Herodots Otanes fest: Auch wenn man den Allerbesten zur Alleinherrschaft erhebt, würde er seiner früheren Gesinnung untreu werden. Selbstüberhebung (hybris) befällt ihn aus der Fülle von Macht und Reichtum, und Mißgunst (phthonos) ist dem Menschen von Anfang an schon angeboren.25
Zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommt Platons Glaukon bei seinem Gedankenspiel, mit dem er die Gyges-Geschichte einleitet: Wir geben beiden, dem Gerechten wie dem Ungerechten, volle Freiheit zu tun, was sie nur wollen, und dann gehen wir ihnen nach, um zu sehen, wohin die Begierde (epithymia) sie führen wird. Da würden wir dann den Gerechten auf frischer Tat ertappen, 24 Thuk. 1,76,2–3. 25 Hdt. 3,80,3.
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wie er aus Habgier (dia pleonexian) auf das nämliche Ziel losmarschiert wie der Ungerechte, das jedes Wesen von Natur erstrebt als etwas Gutes und von dem es nur gewaltsam durch das Gesetz abgelenkt wird zur Hochhaltung des Gleichen.26
Die Parallelität der Aussagen bei Herodot, Platon und Thukydides liegt auf der Hand: Die gleiche Ausgangslage, nämlich in den Schoß gefallene Herrschaft, führt notwendig zum gleichen Ergebnis, nämlich Gewaltherrschaft, und dies mit der gleichen Begründung, nämlich mit dem Verweis auf die menschliche Natur. Auch werden die Eigenschaften des Menschen, die angeblich im Herrschaftsfalle zwangsläufig Gewalt auslösen, ähnlich aufgefaßt: Während bei Herodot eher der Trieb zur Selbsterhöhung und zur Erniedrigung Anderer (hybris, phthonos) hervorgehoben wird, rückt bei Platon die schlichte Begierde zur Expansion auf Kosten der Anderen (pleonexia) in den Vordergrund – ein Unterschied nur in der Emphase, nicht in der Substanz. Es erscheint im Gegenteil bemerkenswert, daß die Struktur der Argumentation bei den verschiedenen Autoren trotz der unterschiedlichen Textgattungen und Beweisziele kongruent ist. Am differenziertesten und präzisesten kommt die Herrschaftsmotivation in der zitierten Rede von 432 zum Ausdruck, in der sich der Sprecher der athenischen Gesandtschaft vor den Spartanern und ihren Verbündeten auf 1. Nutzen, 2. Ehre und 3. Furcht beruft. Diese drei ‚natürlichen‘ Beweggründe werden in der thukydideischen Darstellung von den Athenern implizit oder explizit immer wieder angeführt, um (nicht nur ihr eigenes) Handeln zu erklären bzw. zu rechtfertigen.27 Auch die Spartaner denken, so der athenische Sprecher, zuerst an ihren eigenen Vorteil, mögen sie auch noch so viel von Gerechtigkeit reden. Es bietet sich an, die drei Motive nacheinander durchzugehen. 1. Herrschaft (arche) wird angestrebt und aufrechterhalten, weil sie für den oder die Herrschenden Nutzen (ophelia) bringt und Vorteile (xympheronta) abwirft. Zu diesem Zweck ist unvermeidlich, daß das jeweilige politische Subjekt über seinen ursprünglichen Verfügungsrahmen hinausgreift (pleonektein). Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um ein Individuum, eine Gruppe oder eine Polis handelt – die Bereicherung auf Kosten der Untertanen ist ein integraler Bestandteil des griechischen Herrschaftskonzeptes. Die wirtschaftlichen und anderen Vorteile, die den Athenern aus ihrer 26 Plat. rep. 359c (Übersetzung O. Apelt). 27 Die überragende Bedeutung dieser Motive als Kriegsursachen, nicht nur in Athen, betont Hans van Wees: Greek Warfare. Myths and Realities, London 2004, S. 22–43.
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Herrschaft im Seebund erwuchsen, werden von Thukydides, wie Simon Hornblower in seinem Kommentar zur Stelle bemerkt, nicht im einzelnen ausbuchstabiert.28 Wenn Perikles in der Gefallenenrede die Athener auf die dank der Größe ihrer Stadt aus aller Welt nach Athen strömenden Güter hinweist und die daraus resultierenden Genüsse hervorhebt, dann ist der Zusammenhang mit der arche allerdings offenkundig.29 Noch plastischer und detaillierter schildert der ‚Alte Oligarch‘ die Einnahmen und Dienstleistungen, welche dem Volk von Athen aus seiner Herrschaft im Seebund zuflossen.30 2. Ehre (time) erwächst aus dem erfolgreichen pleonektein und steigt proportional mit dem Wert der erbeuteten Güter – ein Zusammenhang, der schon in den homerischen Epen voll ausgebildet ist und im Hinblick auf Herrschaft besonders deutlich von Thrasymachos im ersten Buch von Platons Politeia zum Ausdruck gebracht wird. Wer große Vorteile zu gewinnen (pleonektein) versteht, folgt nach Thrasymachos dem Pfad der Ehre, der seinen Gipfel in der Gestalt des Tyrannen findet. „Wenn aber einer außer dem Vermögen seiner Mitbürger auch noch sie selbst in seine Gewalt bringt und zu Knechten macht, so wird er […] glückselig und preiswürdig genannt, nicht nur von seinen Mitbürgern, sondern auch von den anderen, sobald sie nur hören, daß er die ganze Ungerechtigkeit begangen hat“.31 Diese Bewunderung, die zweifellos den Kern des aus der Ehre hervorgehenden Glücks ausmacht, äußert sich in entsprechenden Handlungen gegenüber dem Tyrannen: daß jedermann seine Anordnungen ohne Zögern ausführt, daß die Augen aller auf ihm ruhen, daß sich alle von ihren Plätzen erheben und ihm aus dem Weg gehen, daß er in seiner Gegenwart mit Wort und Tat verherrlicht wird. „Denn“, wie der Dichter Simonides in Xenophons Dialog Hieron ausführt, „kein menschlicher Genuß scheint näher am Göttlichen zu sein als die Freude über die Ehrungen“.32 Die Freude, von der hier die Rede ist, haben die Athener jedenfalls auch empfunden. Es genügt, wiederum auf Aristophanes und den ,Alten Oligarchen‘ zu verweisen, die aus unterschiedlichem Blickwinkel z. B. vorführen, wie der Demos die Ehrerbietungen der Verbündeten bei den obligaten Gerichtsverhandlungen in 28 Simon Hornblower: A Commentary on Thucydides. Vol. I: Books I–III, Oxford 1991, S. 120. 29 Thuk. 3,38,2; vgl. Kallet (2003) [Anm. 17], S. 131–37. 30 Ps.-Xen. Ath. pol. 1,14–18; vgl. Aristoph. Vesp. 666–679. 698–712. 31 Plat. rep. 344a–c. 32 Xen. Hier. 7,1–4.
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Athen genoß.33 Die Gefallenenrede des Perikles bei Thukydides, die wie kein anderer Text dem stolzen, auf Leistung gegründeten Selbstbewußtsein der Athener Ausdruck verleiht, ergänzt dieses Bild. Unter Hinweis auf ihren Einsatz in den Perserkriegen und den Glanz ihrer Stadt beanspruchten die Athener, der Herrschaft würdig zu sein, und sie wollten von den anderen, gerade von den Rivalen wie den Spartanern oder ihren Untertanen, für wert befunden werden.34 3. Furcht (deos) ist sozusagen die Kehrseite der beiden anderen Motive. ‚Vorteil‘ und ‚Ehre‘ gehören im griechischen Machtdiskurs zu einem Nullsummenspiel. Mit der Bereicherung und Erhöhung der einen korrespondiert die Beraubung und Erniedrigung der anderen. Der Abstand zwischen Herrschenden und Beherrschten, der von den Athenern bei Thukydides mit dem ungleichen Kräfteverhältnis gerechtfertigt wird, kollidiert mit der sich im Gesetz manifestierenden Norm der Gleichheit. Das Ergebnis dieser Kollision sind Haß und Neid der Beherrschten – ein Affekt, mit dem die Athener bei Thukydides ebenso selbstverständlich rechnen wie jeder Tyrann.35 In der Athenaion Politeia stellt der ‚Alte Oligarch‘ kurz, aber nicht weniger eindrücklich und grundsätzlich fest, daß „mit Notwendigkeit der Herrschende von dem Beherrschten gehaßt wird“.36 Haß und 33 Aristoph. Vesp. 548–630; Ps.-Xen. Ath. pol. 1,18: „ […] Überdies würden die Bündner, wenn sie nicht zu den Gerichtsverhandlungen herzukommen hätten, von den Athenern nur die in Ehren halten, die zu Schiff ausfahren, die Strategen, die Schiffskommandanten und die Gesandten; tatsächlich aber ist es das Gesamtvolk von Athen, dem jeder einzelne der Bündner schmeicheln muß, […] und er ist gezwungen, in den Gerichtshöfen sich auf die Knie zu werfen und, sobald einer eintritt, ihn bei der Hand zu fassen. Deshalb also stehen die Bündner eher als Sklaven des Volkes von Athen dar.“ Es bedarf keiner großen Phantasie, um sich tiefe Aversionen der Betroffenen gegenüber diesem Verfahren vorzustellen, besonders wenn diese über ein aristokratisches Selbstbewußtsein verfügten. 34 Dieses Argument bemühen die Athener bei Thukydides immer wieder, um ihre arche zu begründen: Thuk. 1,73,1–75,1. 2,39,4. 2,41,3. 2,64,3–5. 6,83,1 etc. 35 Vgl. Thuk. 1,75,1. 1,75,4. 1,77,3–5. 2,63,1. 5,95. Daß die meisten Hellenen bei Kriegsausbruch Haß gegen die Athener empfanden, stellt Thuk. 2,8,5 ausdrücklich fest: „die einen mit dem Wunsch, die Herrschaft abzuschütteln, die anderen aus Furcht vor der Herrschaft“. 36 Ps.-Xen. Ath. pol. 1,14. Die gleiche Ansicht vertritt Perikles bei Thukydides 2,64,5 in der athenischen Volksversammlung im Sommer 430: „Haß und Anfeindung pflegen zunächst allen zu widerfahren, die den Anspruch erheben, über andere zu herrschen. Wer sich um höchster Ziele willen Neid zuzieht, ist wohlberaten; denn Haß hält nicht lange an, der Glanz des Augenblicks und der künftige Ruhm bleiben ewig erhalten.“
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Neid der Beherrschten aber rufen zwangsläufig die Furcht der Herrschenden hervor. Daß die Logik dieser Konstellation tatsächlich zu Gewaltexzessen führen kann, demonstriert die sogenannte „Tyrannis der Dreißig“, die in den Jahren 404–403 ihr berüchtigtes Schreckensregiment in Athen ausübte. Auf Kritik an den präventiven Hinrichtungen reagierte der Anführer Kritias laut Xenophon mit folgenden Worten: „[…] es gebe nun einmal keinen anderen Weg für diejenigen, die den größeren Anteil für sich zu erlangen wünschten (to‹j pleonekte‹n boulomšnoij), als alle, welche am ehesten in der Lage seien, ihnen den zu verwehren, aus dem Wege zu schaffen.“37 Mit dieser Strategie, an der er bekanntlich gegen alle Widerstände bis zum bitteren Ende festgehalten hat, zog Kritias die Konsequenz aus der kollektiven Tyrannis, die er mit seinen Genossen errichtet hatte. Nach dieser Logik ist jeder Versuch, Akzeptanz außerhalb der herrschenden Gruppe zu gewinnen, von vornherein zum Scheitern verurteilt und würde unweigerlich die Destabilisierung der Herrschaft bewirken. Schon an dieser Stelle wird die Dynamik der Gewaltherrschaft sichtbar: Die antizipierte Vergeltung der Unterworfenen versetzt die Regierenden in eine Furcht, auf die diese wiederum mit verschärfter Gewalt reagieren, bis der Terror die gesamte Gesellschaft erfaßt hat. Diese Dynamik blieb keineswegs auf die Tyrannis beschränkt, sondern zeigte sich auch in vielen anderen politischen Konflikten. Ein Musterbeispiel führt Thukydides ausführlich mit der Stasis von Kerkyra vor; in seiner Analyse nennt er als Ursache für die Gewaltexzesse „die Herrschsucht, die sich in pleonexia und philotimia äußert“.38 Wer im innerstädischen Machtkampf mit illegalen Mitteln einmal einen Vorteil errungen hat, muß sich schon aus Gründen der eigenen Sicherheit weiter bemühen, der Rache potentieller Feinde zuvorzukommen. Weil die Feinde dies wissen, müssen sie allein um der Selbsterhaltung willen ebenfalls so schnell wie möglich zuschlagen. Die Gewaltspirale, die auf diese Weise in Gang kommt, prägte viele griechische Bürgerkriege des 5. und 4. Jahrhunderts.39 Auch im zwischenstaatlichen Krieg wurde das Muster immer wieder wirksam. So begründen die Athener die Unterwerfung bzw. Vernichtung von Melos im Jahre 416 nicht nur mit dem in ihren Augen selbstverständ37 Xen. hell. 2,3,16. Daß Kritias mit diesem Argument einer illustren Reihe von Vorbildern folgt, zeigt Jordovic (2005) [Anm. 7], S. 197 f. (mit zahlreichen Belegen). 38 Thuk. 3,82,8. 39 Vgl. Gehrke (1985) [Anm. 3], bes. S. 252–54, 266 f.
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lichen Interesse an der Vergrößerung ihrer Herrschaft, sondern auch mit der Sorge um ihre Sicherheit.40 Nicht von Lakedaimoniern gehe für sie die schrecklichste Gefahr aus, behaupten die Athener in dem berüchtigten Melier-Dialog, „wohl aber, wenn die Untertanen selber einmal aufstehen und ihre bisherigen Herren unterwerfen“.41 Hier schimmert kaum verhüllt die Furcht derer durch, die den Haß der Untertanen für das Zeichen ihrer eigenen Stärke halten.42 Immerhin läßt sich im Fall von Melos das strategische Kalkül der Athener noch nachvollziehen. Befremdlicher nimmt sich das Sicherheitsargument im Hinblick auf Sizilien aus. Und doch ließen sich die Athener, wenn wir Thukydides Glauben schenken dürfen, bei ihrem Feldzug gegen Syrakus davon leiten. In einer der vorausgehenden Debatten erklärte Alkibiades vor der athenischen Volksversammlung: Gegen den Mächtigen wehrt man sich nämlich nicht nur, wenn er angreift, sondern damit er nicht angreift, kommt man ihm zuvor. Wir können es uns nicht einteilen, wie weit wir herrschen wollen, sondern sind gezwungen, da wir nun einmal auf diesen Stand angelangt sind, gegen die einen Anschläge zu sinnen, die anderen nicht hochkommen zu lassen, da uns droht, von anderen beherrscht zu werden, wenn wir nicht selbst über andere herrschen.43
Mit diesen Worten verschärfte Alkibiades die Position des Perikles, der die Athener kurz vor seinem Tod erinnert hatte, daß sie die kollektive Tyrannis, die sie über andere Griechen ausübten, nicht aufgeben könnten, ohne lebensgefährlichen Schaden zu nehmen.44 Nach der Logik des Machtdiskurses verlangt die Herrschaft um der Selbsterhaltung willen, wie Alkibiades feststellt, nach immer weiterer Ausdehnung. Die „Mächtigen“, auf die Alkibiades jetzt abzielte, waren die Syrakusier. Seine Argumente überzeugten die Athener und sollten in adressatengerechter Abschwächung auch potentielle sizilische Bundesgenossen überzeugen. Nach Thukydides scheute sich der athenische Gesandte Euphemos im Winter 415/14 nämlich nicht, vor den Kamarinaiern sowohl die Herrschaft in Griechenland als auch den Sizilienfeldzug mit der (nachvollziehbaren und daher im Medium des 40 Thuk. 5,97. 41 Thuk. 5,91,1. 42 Thuk. 5,95: „Eure Feindschaft schadet uns nicht so sehr, wie Freundschaft als Beweis (unserer) Schwäche, Haß dagegen als (Zeichen unserer) Stärke bei unseren Untertanen gilt.“ 43 Thuk. 6,18,2–3. 44 Thuk. 2,63,2–3; ähnlich Kleon bei Thuk. 3,37,2. Daß Athen auch in der Fremdwahrnehmung als polis tyrannos galt, behauptet Thukydides in 1,122,3. 1,124,3 und 2,8,4. Vgl. Wolfgang Schuller: Die Stadt als Tyrann – Athens Herrschaft über seine Bundesgenossen, Konstanz 1978 (Konstanzer Universitätsreden).
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Machtdiskurses sozusagen legitimen) Furcht der Athener zu motivieren.45 Unverkennbar ist gleichzeitig, daß sich die Furcht vor der Beherrschung gegen jeden potentiellen Gegner richten konnte, und sei er auch noch so weit entfernt. Die inhärente Grenzenlosigkeit verbindet das Sicherheitsargument mit dem Autarkie- und Freiheitsbegriff der Athener, wie ihn vor allem Kurt Raaflaub herausgearbeitet hat: Möglichst vollkommene Sicherheit, Autarkie und Freiheit verlangt nach möglichst umfassender und weiträumiger Herrschaft.46 Ist der mit dem Machtdiskurs verknüpfte Herrschaftswille eine athenische Eigenart oder prägt er auch das Vorgehen anderer politischer Akteure? Die Antwort der Athener, die ihr Handeln zuletzt stets aus anthropologischen Notwendigkeiten ableiten, wäre klar; und Thukydides selbst deutet durch seine Kommentare gelegentlich an, daß auch die Spartaner – um von minderen Akteuren wie den Thebanern (vor allem im Verhältnis zu den übrigen Boiotern) zu schweigen – im Zweifelsfall ihren Machtinteressen den Vorrang geben vor religiösen Rücksichten und den Argumenten der Billigkeit und Gerechtigkeit. Schon in der bereits zitierten Rede von 432 prophezeit der athenische Gesandte den Spartanern, daß sie im Fall eines Sieges und der daraus folgenden Herrschaftsübernahme das Wohlwollen, das ihnen jetzt wegen der Furcht vor den Athenern zuteil würde, rasch verlieren und daß sie auch wegen ihres bekannt harschen Auftretens bald in eine ähnliche Lage wie die Athener kommen würden.47 Dann aber, so muß man das Argument verlängern, könnten die Spartaner ebensowenig auf Gewaltakte verzichten, um die Folgsamkeit der Untertanen zu erzwingen. Ob Thukydides diese Bemerkung in kluger Voraussicht aussprechen ließ oder aus gegenwärtiger Erfahrung zurückprojizierte, ist hier nicht wichtig, sondern daß sie sich als zutreffend erwies. Tatsächlich gerieten die Spartaner nach ihrem Sieg 404 auf eine ähnliche Bahn wie die Athener, so daß nur wenige Jahre nach dem Ende des Peloponnesischen Krieges aus ähnlichen Gründen der nächste große Krieg (der sogenannte „Korinthische“) folgte. Was mit größerem Recht als athenische Spezialität gelten kann, ist die Art und Weise, mit der sie ihre Herrschaft rhetorisch und symbolisch begründeten. Die offene Proklamation der Gewaltherrschaft, die im ständigen Verweis auf die militärische Überlegenheit und das angebliche Recht des Stärkeren zum Ausdruck kam, erweist sich dabei als Teil der Herr45 Thuk. 6,83,2–4. 6,85,3. 46 Raaflaub (1984) [Anm. 17], S. 47–68. 47 Thuk. 1,77,6.
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schaftspraxis. Die rhetorische Vergegenwärtigung der Macht lief auf eine permanente Gewaltandrohung hinaus, diente damit der eigenen Mobilisierung ebenso wie der Einschüchterung der Unterworfenen und ergänzte auf diese Weise die militärischen und administrativen Herrschaftsmittel.48 Ähnliche Schlußfolgerungen ergeben sich auf dem Feld der symbolischen Repräsentation. Dabei ist es überaus bezeichnend, daß die Athener ihre Beziehungen zur Außenwelt nicht nur mittels der Kategorie der Macht erfassen und beschreiben, sondern daß sie auch keinerlei Anstrengungen unternehmen, diese Tatsache in der Öffentlichkeit zu verschleiern oder metaphorisch zu überbrücken. Vielmehr haben sie die Gewaltherrschaft gelegentlich auch durch symbolische Handlungen ungeschminkt zum Ausdruck gebracht. Aus Platzgründen beschränke ich mich auf zwei Beispiele, die in der Forschung über den attischen Seebund selten thematisiert werden: 1. Zahlreiche auf den Seebund bezogene Inschriften sind als Dokumente der athenischen Herrschaftspraxis vielfach ausgewertet worden.49 Weitaus seltener hat man sie in ihrem monumentalen Aspekt gewürdigt. Als Monumente riefen diese Inschriften durch ihre demonstrative Aufstellung den Charakter der athenischen Herrschaft zu jeder Zeit in Erinnerung, sei es in den ‚verbündeten‘ bzw. untertänigen Städten selbst oder in Athen auf der 48 Die Bündner hießen offiziell, wie verschiedene, spätestens ab etwa 430 zu datierende Inschriften beweisen, „Städte, über die die Athener die Gewalt haben“ bzw. „herrschen“. In dem Vertrag zwischen Athen und Argos vom Sommer 420 ist gar von den Bundesgenossen, über die die Athener herrschen (toÝj xumm£couj ïn ¥rcousin 'Aqhna‹oi) die Rede (Thuk. 5,47,2; s. auch 5,18,7). Inoffiziell findet sich die einfachere Bezeichnung „Untertanen“ (hypekooi): vgl. Wolfgang Schuller: Die Herrschaft der Athener im Ersten Attischen Seebund, Berlin 1974, S. 120–22 (mit Belegen); Karl-Wilhelm Welwei: Das Klassische Athen. Demokratie und Machtpolitik im 5. und 4. Jahrhundert, Darmstadt 1999, S. 126– 28 (trotz der ausgeprägten Tendenz dieses Autors, die athenische Herrschaft mit anachronistischen Überlegungen zu rechtfertigen [s. bes. S. 245 f.]). Wichtige inschriftliche Befunde präsentiert jetzt auch Polly Low: Looking for the Language of Athenian Imperialism. In: Journal of Hellenic Studies 125 (2005), S. 93–111, bes. S. 95 f., 100 f.; die angestrengten Versuche der Autorin, in der athenischen Sprache der Macht auf den epigraphischen Monumenten subtile „diplomatische“ Untertöne wahrzunehmen, haben mich nicht überzeugt. 49 Vgl. Christian Koch: Volksbeschlüsse in Seebundsangelegenheiten. Das Verfahrensrecht im Ersten Attischen Seebund, Frankfurt a. M./Bern/New York/Paris 1990; Welwei (1999) [Anm. 48], S. 129–31, S. 143 (allerdings teilweise beschönigend); Loren J. Samons II: Empire of the Owl. Athenian Imperial Finance, Stuttgart 2000.
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Akropolis. Aus all diesen Monumenten ragen die sogenannten ‚Tributlisten‘ hervor. Die riesigen Marmorstelen, auf denen Jahr für Jahr die Untertanen mit ihren Tributen (bzw. dem Anteil von einem Sechzigstel für die Göttin Athena) aufgelistet wurden, führten den Athenern, aber auch jedem fremden Besucher der Akropolis die Tatsache der Herrschaft über viele griechische Städte und die Ausdehnung des Reiches unübersehbar und eindrücklich vor Augen.50 Einen ähnlichen Zweck verfolgten die sogenannten ‚Urkundenreliefs‘, die seit den zwanziger Jahren des 5. Jahrhunderts häufig die epigraphische Repräsentation seebundsbezogener Volksbeschlüsse in Athen bekrönten; sie dienten in erster Linie nicht der bloßen Ausschmückung und Verschönerung, sondern brachten vor allem – und gelegentlich auf drastische Weise – die Botschaft der Inschrift zum Ausdruck.51 2. Jedes Jahr zu den Großen Dionysien im Frühjahr mußten die Bündner ihren phoros in Athen abliefern. Die Tribute wurden gesammelt und, wie Isokrates berichtet, bei der Eröffnung des Festes, nach Talenten sortiert, von Tagelöhnern mit Säcken oder Krügen in die Orchestra des vollbesetzten und auch von zahlreichen auswärtigen Gästen besuchten Theaters gebracht.52 Isokrates zufolge hat insbesondere dieses Ritual, das den Besitz der Verbündeten zur Beute herabwürdigte, den Athenern viel Haß eingetragen. Was haben sich die Athener dabei gedacht? Die unverhüllte Demonstration der Verfügungsgewalt über das Vermögen der ‚Verbündeten‘ sowie die Verherrlichung der eigenen Macht und militärisch-politischen Erfolge erfüllte einerseits integrative Funktionen nach innen. Andererseits war den Athenern aber auch an einer Außenwirkung gelegen, wie die Durchführung des Spektakels an den Großen Dionysien zeigt: Die Abgesandten der Verbündeten bzw. Untertanen sowie möglichst viele andere 50 Russell Meiggs, The Athenian Empire, Oxford 1972, S. 237, stellt fest, daß den Listen eine offensichtliche Ordnung der Namen (etwa wie in der Reihenfolge der Veranlagung oder geographisch oder alphabetisch) fehlt: „An inquisitive Athenian would have wasted much time in trying to find out whether an Ionian town with which he had trading associations had paid its tribute for the current year. The most natural inference is that the order of names is the order in which payment was received.“ Die Ordnung der Namen auf den ‚Tributlisten‘ spielte keine Rolle, weil deren Aufstellung keine dokumentarische Funktionen erfüllte (dafür gab es andere Medien), sondern ausschließlich demonstrativen bzw. ‚propagandistischen‘ Zwecken diente. 51 Vgl. Marion Meyer: Die griechischen Urkundenreliefs, Berlin 1989, bes. S. 246–51. 52 Isokr. 8,82–83.
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Griechen sollten zusehen und mit Bewunderung und Furcht reagieren.53 Bewunderung und Furcht aber, so läßt sich gemäß der griechischen Affektlehre folgern, führen bei Gleichen oder bei Unterlegenen, die sich für gleich halten, fast automatisch zu Neid und Haß und stimulieren daher die Mechanik der Gewalt.
III. Gewaltherrschaft im Rahmen der Polis Meine bisherigen Ausführungen haben, so hoffe ich, gezeigt, daß der griechische Machtdiskurs die Gewaltbereitschaft in Krieg und Bürgerkrieg maßgeblich gefördert hat. Welche Rolle aber spielt er in der Polis, sozusagen im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung? Spielt er in diesem Raum, der doch durch Freiheit und Gleichheit der Bürger bestimmt war, überhaupt eine Rolle? Für die nachdrückliche Bejahung dieser Frage möchte ich drei Aspekte anführen: 1. Demokratie, 2. Nomokratie, 3. Demagogie. 1. Ein Topos der demokratiefeindlichen Literatur des 5. und 4. Jahrhunderts besagt, daß Demokratie nicht die Herrschaft des Volkes als Bürgerschaft im Interesse der ganzen Polis ist, sondern die selbstherrliche Herrschaft einer sozialen Gruppe, nämlich des einfachen Volks oder Pöbels, über den Rest (ein Argument, das analog natürlich auch die Oligarchie und die Monarchie charakterisiert).54 Es genügt an dieser Stelle, die Athenaion Politeia des ,Alten Oligarchen‘ heranzuziehen. Der Autor begreift die Demokratie als Herrschaft der Schlechten bzw. Armen über die Guten bzw. Reichen. Die Ziele dieser Herrschaft sind vor allem materieller Natur, d. h. es geht dem Demos im wesentlichen um Geld, Unterhalt und Vergnügungen (Feste, Gymnasien, Bäder). Gemessen an dieser unedlen und niedrigen Gesinnung, kommt der Autor nicht umhin, 53 Vgl. Bernhard Smarczyk: Untersuchungen zur Religionspolitik und politischen Propaganda Athens im Delisch-Attischen Seebund, München 1990, S. 155–67. Die Polemik von Simon Goldhill: The Great Dionysia and Civic Ideology. In: Nothing to Do with Dionysos. Athenian Drama in Its Social Context, hrsg. von John J. Winkler und Froma I. Zeitlin, Princeton 1990, S. 97–129, hier: S. 102 gegen Isokrates’ Interpretation ist nicht überzeugend; Goldhill ignoriert die kränkende Wirkung dieser Art von „Machtdemonstration“ auf Nicht-Athener. 54 Vgl. Nicole Loraux: La cité divisée. L’oubli dans la mémoire d’Athènes, Paris 1997, S. 65–68; Josiah Ober: Political Dissent in Democratic Athens. Intellectual Critics of Popular Rule, Princeton 1998, S. 16–20. 43; Kallet (2003) [Anm. 17], bes. S. 121 f. 126–31. 142–44.
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der athenischen Verfassung ein hohes Maß an Folgerichtigkeit zu konzedieren. Als Opfer der politischen Prioritäten, d. h. insbesondere der Flottenpolitik, werden die wohlhabenden Landbesitzer Attikas namhaft gemacht, die jeder feindlichen Invasion schutzlos ausgeliefert sind.55 Die Leute, die der ,Alte Oligarch‘ repräsentiert, betrachteten die Demokratie als eine kakonomia ohne jegliche Legitimität56, und dies galt selbst dann, wenn sie wie Alkibiades und viele andere Aristokraten führende Positionen in der athenischen Politik übernommen hatten. Aber auch der Demos selbst sah sich als Herr. Aristophanes hat dafür die anschaulichsten und trotz aller genrebedingten Übersteigerung zutreffenden Bilder gefunden.57 Und sogar Perikles erklärt in der Gefallenenrede bei Thukydides den Namen ‚Demokratie‘ dementsprechend: „weil die Staatsverwaltung nicht auf wenige, sondern auf die Mehrheit (™j ple…onaj) ausgerichtet ist“.58 Mit anderen Worten: Selbst in der Demokratie herrscht eine Gruppe der Bürgerschaft über eine andere Gruppe, die diese Herrschaft als ungerecht empfindet. Welche Folgen diese Wahrnehmung im Krisenfall hatte, demonstriert die Geschichte Athens im späten 5. Jahrhundert, um von anderen, weniger erfolgreichen Poleis zu schweigen. 2. Zum griechischen Machtdiskurs gehört die implizite oder explizite Abwertung des nomos als einer willkürlichen Übereinkunft. Glaukon verleiht in dem bereits erwähnten Abschnitt von Platons Politeia der Überzeugung Ausdruck, daß die sich in Gesetzen und Verträgen manifestierende Gerechtigkeit ein Kompromiß sei, bei dem der Schutz vor dem Unrechtleiden durch den Verzicht auf das Unrechttun erkauft werden müsse. Die Gerechtigkeit sei daher kein Selbstzweck, sondern nur durch das Unvermögen, Unrecht zu tun, ohne Strafe zu leiden, zu Ehren gekommen. Nur durch das Gesetz werde der Mensch mit Gewalt zur Anerkennung der Gleichheit gezwungen, fährt Glaukon fort, bevor er zur Illustration die schon besprochene Geschichte vom Ring des Gyges erzählt.59 Der Zwangscharakter des Gesetzes wird hier auf höchst aufschlußreiche Weise mit dem Problem der Gleichheit verbunden. Jochen Bleicken hat darauf hingewiesen, daß der 55 Ps.-Xen. Ath. pol. 2,14. 56 Ps.-Xen. Ath. pol. 1,8; vgl. schon Hdt. 3,81. 57 Vgl. Jeffrey Henderson: Demos, Demagogue, Tyrant in Attic Old Comedy. In: Morgan (2003) [Anm. 17], S. 155–79, bes. 156–60; Kallet (2003) [Anm. 17], S. 137– 42. 58 Thuk. 2,37,1.
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griechische Gleichheitsbegriff nicht vom Naturrecht geprägt ist.60 Ich denke, man muß diese Aussage noch verschärfen: Die Griechen haben fast überall nur (zumindest relative) Ungleichheit wahrgenommen, d. h. Bessere und Schlechtere, Stärkere und Schwächere etc.; fast allen naturrechtlichen Aussagen liegt daher bereits die Annahme einer (zumindest relativen) Ungleichheit voraus; eine selbstverständliche Ungleichheit erscheint in den Texten geradezu als Gemeinplatz. Glaukons Analyse ist also zutreffend: Die Gleichheit, die allenfalls eine regulative Idee, nicht jedoch einen Wert an sich darstellt, muß herbeigezwungen werden. Instrument dieses Zwanges ist das Gesetz, dem folgerichtig nicht selten ein gewalttätiger Charakter zugeschrieben wird. So behauptet der Sophist Hippias in Platons Dialog Protagoras, daß der nomos ein Tyrann ist und vieles (vor allem eben Gleichheit) gegen die Natur erzwingt.61 Solche Sprüche, die sich einer hohen Plausibilität erfreuten, enthalten tatsächlich „Explosivstoff“ (um noch einmal mit Nietzsche zu sprechen), denn sie liefern Argumente für den Umsturz der politischen Ordnung. 3. Herrschen in einer demokratisch verfaßten Polis wirklich der Demos oder nicht viel mehr die Demagogen?62 Die Frage ließe sich je nach Kontext unterschiedlich beantworten; klar ist jedenfalls, daß auch die Demagogie als Gewaltherrschaft in der Polis aufgefaßt werden konnte. Wiederum hilft Platon, das Phänomen schärfer zu umreißen. Im Dialog Gorgias erklärt der gleichnamige Sophist, daß die Rhetorik als Fähigkeit mit Worten zu überzeugen das größte Gut verschaffe, „dem die Menschen einerseits persönlich ihre Freiheit verdanken und dem zugleich der Einzelne verdankt, daß er in seiner Polis über die anderen herrscht“. Nach der Widerlegung durch Sokrates greift Gorgias’ Schüler Polos das Argument seines Meisters 59 Plat. rep. 358e–359c. Daß diese Behauptung im zeitgenössischen Kontext eher negativen athenischen Vorstellungen von spartanischem Gesetzesgehorsam entspricht, zeigt Ellen Greenstein Millender: Nomos Despotes: Spartan Obedience and Athenian Lawfulness in Fifth-Century Thought. In: Oikistes. Studies in Constitutions, Colonies, and Military Power in the Ancient World Offered in Honor of A. J. Graham, hrsg. von Vanessa B. Gorman und Eric W. Robinson, Leiden/ Boston/Köln 2002, S. 33–59 im Ausgang von Hdt. 7,104,4–5. 60 Bleicken (1995) [Anm. 8], S. 340. 61 Plat. Prot. 337d. In eine ähnliche Richtung weist das berühmte Pindar-Fragment nomos basileus (169 Snell), das Kallikles bei Plat. Gorg. 484b–c, wie Egon Flaig in seinem Beitrag zu diesem Band zeigt, auf zeitgemäße Weise interpretiert. 62 Auch dies ist eine Frage, die Aristophanes vor allem in den Komödien Ritter und Wespen inszeniert. Vgl. Henderson (2003) [Anm. 57], S. 160–67.
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wieder auf und weist auf das Ansehen und die Macht hin, die die hervorragenden Redner in den Städten genießen. Auf den Zweifel des Sokrates reagiert Polos mit der rhetorischen Frage: „Töten sie nicht wie die Tyrannen, wen sie wollen, und nehmen sie nicht den Besitz weg und vertreiben sie nicht aus den Städten, wen es ihnen beliebt?“63 Diese Meinung über die Macht der Demagogen erscheint im zeitgenössischen Kontext zugespitzt, aber nicht abwegig. Tatsächlich wurden führende Politiker Athens als Tyrannen bezeichnet – nicht so sehr, weil man ihnen konkrete Umsturzpläne unterstellte als vielmehr um ihren systembedrohenden Einfluß zu charakterisieren. Als systembedrohend kann die Macht der Demagogen erscheinen, weil sie mit der systemnotwendigen Gleichheit kollidiert. An dieser Stelle wird die generelle Funktion sichtbar, die der (scheinbar anachronistischen) Allgegenwart der Tyrannis im politischen Diskurs Athens anhaftet: Das Schreckbild der Tyrannis dient als Substitut für eine direkte Propagierung der Gleichheit; es war offenbar einfacher und überzeugender, die Schrecknisse der Gewaltherrschaft zu evozieren und die Ordnung negativ mit den Gefahren der äußersten Ungleichheit zu begründen als positiv den Eigenwert der Gleichheit hervorzuheben. Nicht zufällig haben die Athener im 5. Jahrhundert die Tyrannentöter zu den symbolischen Repräsentanten ihrer politischen Ordnung stilisiert.64 Themistokles, Kimon und Alkibiades sind athenische Politiker, die in ihrer politischen Karriere zumindest zeitweise dem Tyrannis-Vorwurf zum Opfer fielen; sie bezahlten damit nicht zuletzt für die mehr oder weniger provokative Inszenierung ihres Abstands zum Volk. Aber auch Perikles wurde seit den vierziger Jahren des 5. Jahrhunderts von den Komödiendichtern immer wieder als Tyrann karikiert65, und Thukydides bleibt in 63 Plat. Gorg. 452d (Gorgias; vgl. Eur. fr. 335 Nauck). 466bc (Polos). In diesem Sinne (daß Tyrannis und Demagogie sich im individuellen Machtstreben der politischen Subjekte verbinden) behauptet Jacob Burckhardt: Griechische Culturgeschichte, Bd. I. Aus dem Nachlaß hrsg. von Leonhard Burckhardt, Barbara von Reibnitz und Jürgen von Ungern-Sternberg. In: Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von der Jacob Burckhardt-Stiftung, Basel, München/Basel 2002, Bd. 19, S. 140: „[…] in jedem begabten und ehrgeizigen Griechen wohnte ein Tyrann und ein Demagog“. 64 Vgl. Raaflaub (2003) [Anm. 17], S. 63–70. 65 Plut. Perikles 3,4. 16,1 (Kratinos fr. 258; Telekleides fr. 45; adespoton VIII fr. 703 PCG); vgl. Joachim Schwarze: Die Beurteilung des Perikles durch die attische Komödie und ihre historische und historiographische Bedeutung, München 1971, bes. S. 170–72 (mit weiteren Belegen); Henderson (2003) [Anm. 57], S. 162 f. Eine überzeugende Untersuchung der „Fälle“ Perikles und vor allem Alkibiades, auch im Vergleich, hat jetzt Jordovic (2005) [Anm. 7], S. 131–68 vorgelegt.
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seiner berühmten Würdigung ebenfalls nicht weit dahinter zurück, auch wenn er den Gewaltaspekt der „Herrschaft des ersten Mannes“ nicht eigens profiliert.66 Anders im Falle Kleons: Dieser hatte 427 in der Debatte um das Schicksal der besiegten Mytilener die Hinrichtung aller erwachsenen männlichen Bürger durchgesetzt und schickte sich an, diese Entscheidung auch am nächsten Tag, als das Thema ein zweites Mal auf die Tagesordnung der Volksversammlung gesetzt wurde, zu verteidigen. In diesem Zusammenhang kennzeichnet Thukydides Kleon als einen Politiker, „der auch sonst der gewalttätigste (biaiotatos) aller Bürger war und damals dem Volk am weitaus überzeugendsten (pithanotatos) galt“.67 In welcher Hinsicht ist Kleon biaiotatos? Er ist „gewalttätig“, weil er die Hinrichtung der Mytilener durchsetzen wollte und eine entsprechend schonungslose Politik gegenüber den ‚Verbündeten‘ befürwortete, und er ist „gewaltig“ im Volk durch die Überzeugungskraft seiner Rede, wie die syntaktische Verknüpfung von biaiotatos und pithanotatos wahrscheinlich macht.68 Zusammengenommen folgt daraus: Er ist biaiotatos, weil er mit der Gewalt seiner Rede das Volk überwältigte, seinen Willen durchsetzte und seine Macht durch eine Politik der Gewalt erlebbar machte. Damit erfüllte dieser Kleon exakt die Kriterien, mit denen Polos, an Gorgias anknüpfend, in Platons Dialog die Macht des Demagogen verherrlichte – wenn man davon absieht, daß sich dessen Gewalttätigkeit bei Polos eher gegen innerstädtische Feinde als gegen äußere Gegner der Polis richtet. Natürlich gehörten gerichtliche Verfolgungen mißliebiger Konkurrenten und ostrakismos auch zum Instrumentarium demagogischer Politik. Zusammenfassend möchte ich für diesen Abschnitt zwei Punkte hervorheben: 1. Die Rede über die Tyrannis in der Polis ist ambivalent. Sie kann dazu dienen, die Herrschaft einer Gruppe oder von Führungspersönlichkeiten sowohl zu verdammen als auch zu verherrlichen. 2. Als Schreckbild erfüllt die Evokation der Tyrannis in der Polis zwei Funktionen: Sie erinnert zum einen an den Freiheitsverlust als notwen66 Thuk. 2,65,1–10. 67 Thuk. 3,36,6. 68 Hornblower (1991) [Anm. 28], S. 420 übersetzt biaiotatos mit „the most forceful [lit. violent]“ und begründet dies wie folgt: „Th. is thinking of rhetorical effectiveness, as the following word ‚persuasive‘ makes clear.“ Diese Interpretation darf freilich nicht exklusiv verstanden werden; biaiotatos wird von Thukydides hier m. E. mehrdeutig, d. h. sowohl im Sinne von ‚am gewalttätigsten‘ bzw. ‚am gewaltbereitesten‘ als auch von ‚am gewaltigsten‘, gebraucht.
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dige Folge der Alleinherrschaft; ex negativo führt die Tyrannis den Wert der isonomia vor und repräsentiert damit etwas, was sich positiv im 5. Jahrhundert angesichts der ubiquitären Wahrnehmung von Ungleichheit nicht ähnlich überzeugend begründen ließ. Zum anderen kann der Begriff der Gewaltherrschaft als Metapher zur Charakterisierung und Demaskierung der tatsächlichen Machtverhältnisse in der demokratisch verfaßten Polis eingesetzt und als Instrument im politischen Machtkampf gebraucht werden; in diesem Fall dient er zur Delegitimierung des politischen Systems.
IV. Fazit Max Weber verdanken wir die Unterscheidung von Herrschaft und Macht. „Herrschaft“, so stellt er fest, „soll […] die Chance heißen, für spezifische (oder: für alle) Befehle bei einer angebbaren Gruppe von Menschen Gehorsam zu finden“. Herrschaft setzt, so verstanden, ein Minimum an Gehorsamsbereitschaft bei den Beherrschten ebenso voraus wie Anstrengungen der Herrschenden, die Rechtmäßigkeit ihrer Stellung zu begründen. „Keine Herrschaft begnügt sich, nach aller Erfahrung, freiwillig mit den nur materiellen oder nur affektuellen oder nur wertrationalen Motiven als Chancen ihres Fortbestandes. Jede sucht vielmehr den Glauben an ihre ‚Legitimität‘ zu erwecken und zu pflegen.“69 Legt man diese Maßstäbe an, erscheint der Begriff der Herrschaft im Griechenland des 5. Jahrhunderts fehl am Platze, denn ein Legitimitätsglaube hat sich nicht einmal ansatzweise entwickelt. Statt dessen blieb der Machtdiskurs ohne Alternative. Macht bedeutet nach Max Weber „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“.70 Im Griechenland des 5. Jahrhunderts beruht diese Chance innerhalb der verschiedenen sozialen Beziehungen häufig unmittelbar auf Gewalt oder einer glaubhaften Androhung der Gewalt, die durch rhetorische und symbolische Kommunikation beständig vergegenwärtigt und aktualisiert wurde. In den platonischen Dialogen wird die Praxis der Gewalt häufig mit den Formeln „Unrechttun“ bzw. „Unrechtleiden“ umschrieben. Platons Glaukon bringt es auf den Punkt: Allein die Gefahr des Unrechtleidens begründet den Verzicht auf das Unrechttun 69 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 51980, S. 122. 70 Weber (1980) [Anm. 69], S. 28.
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und rechtfertigt den nomos, der den Machtkampf und die Gewaltausübung durch die Verpflichtung auf politische Verfahren einhegt bzw. einschränkt. Womit wir wieder bei Nietzsche wären: „[…] ich sah alle ihre Institutionen wachsen aus Schutzmaassregeln, um sich vor einander gegen ihren inwendigen Explosivstoff sicher zu stellen.“ Im Erfinden von Schutzmaßregeln und den daraus erwachsenen Institutionen waren die Griechen außerordentlich kreativ.71 Allerdings funktionierten die Schutzmaßregeln, die vor dem 4. Jahrhundert ohnehin bloß für den innerstädtischen Raum entwikkelt wurden, nur auf der Basis konstanter Machtverhältnisse. Änderten sich die Machtverhältnisse, waren, wie die zahlreichen Bürgerkriege der Zeit zeigen, die Schutzmaßregeln häufig nicht mehr viel wert. Platon hat vielleicht als erster der Erkenntnis den Weg gebahnt, daß die Lösung des Problems nicht in der Erfindung neuer, wirksamerer Schutzmaßregeln liegen konnte, sondern in der Entschärfung des Explosivstoffs. Sein Idealstaatsentwurf in der Politeia kommt daher gänzlich ohne politische Institutionen im engeren Sinne aus und vertraut statt dessen auf eine Erziehung, die die moralische und intellektuelle Kompetenz der Elite revolutionieren sollte. Platons gedankliche Konstruktion schuf Herrschende, deren Wissen politische Beratungs- und Entscheidungsorgane ebenso überflüssig machen wie ihre ‚Machtvergessenheit‘ jegliche Kontrolle erübrigen sollte. In den Nomoi ist Platon einen anderen Weg gegangen, doch mit dem gleichen Ziel: die Macht zu neutralisieren und dem Raum des Politischen zu entziehen. Dieses Konzept war, gleich in welcher Ausprägung, zu radikal und unrealistisch, um eine praktikable Alternative zur zeitgenössischen Politik zu bieten.72 Alternativen eröffneten eher historische Prozesse, die sich als Reaktion auf das Legitimationsdefizit von Herrschaft verstehen lassen: die diskursiv zunehmend populärer werdende Unterscheidung von tyrannis und basileia (und anderen Verfassungsformen gemäß dem Kriterium der Freiwilligkeit und Gesetzlichkeit),73 die Anfänge des Herrscher-
71 Es sei hier nur auf die außergewöhnlich komplizierten Losverfahren sowie die aufwendigen Verfahren zur Kontrolle von Beamten (Dokimasie, Euthynie) in Athen hingewiesen: vgl. Bleicken (1995) [Anm. 8], S. 312–29. 617–23. 72 Vgl. Trampedach (1994) [Anm. 7], S. 186–202. 221–54. 73 Vgl. Eur. Hel. 395 f.; Xen. 4,6,12; Victor Parker: Tyrannos. The Semantics of a Political Concept from Archilochus to Aristotle. In: Hermes 126 (1998), S. 145–72; Matthias Haake: Warum und zu welchem Ende schreibt man peri basileias? Überlegungen zum historischen Kontext einer literarischen Gattung im Hellenismus. In: Philosophie und Lebenswelt in der Antike, hrsg. von Karen Piepenbrink, Darmstadt 2003, S. 86–88.
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kultes,74 die zunehmende Bedeutung von zwischenstaatlichen Schiedsgerichten,75 die Suche nach einer allgemeinen Friedensordnung,76 die langsame Entstehung einer Honoratioren- bzw. Euergetenschicht in den Städten.77 Eine ‚Lösung‘ freilich war dies alles nicht, konnte es nicht sein; die Aporien des Machtdiskurses wirkten weiter; die Griechen bekamen auch nach dem 5. Jahrhundert ihre gewaltsamen Folgen zu spüren.
74 Vgl. Christian Habicht: Gottmenschentum und griechische Städte, München 21970, bes. S. 236–42. 75 Vgl. Hans-Joachim Gehrke: Jenseits von Athen und Sparta. Das Dritte Griechenland und seine Staatenwelt, München 1986, S. 69–71. 76 Vgl. Martin Jehne: Koine eirene. Untersuchungen zu den Befriedungs- und Stabilisierungsbemühungen in der griechischen Poliswelt des 4. Jahrhunderts v. Chr., Stuttgart 1994; Gehrke (1986) [Anm. 75], S. 71–75. 77 Vgl. Gschnitzer (1981) [Anm. 23], S. 144–48; Philippe Gauthier: Les cités Grecques et leurs bienfaiteurs (IVe–Ier siècle avant J.-C.). Contributions à l’histoire des institutions, Paris 1985; Friedemann Quaß: Die Honoratiorenschicht in den Städten des griechischen Ostens. Untersuchungen zur politischen und sozialen Entwicklung in hellenistischer und römischer Zeit, Stuttgart 1993, bes. S. 19–29.
Egon Flaig (Greifswald)
Gewalt als präsente und als diskursive Obsession in der griechischen Klassik Die Ordnungen zu strukturieren, die gedachten und die gelebten, die kosmologischen wie die sozialen, ist Anliegen und Erfordernis jeder Kultur; und jede leistet das mittels Differenzierungen, gegebenenfalls mit harten Grenzziehungen. Die kardinalen Differenzen der griechischen Klassik waren: Götter – Menschen, Menschen – Tiere, Freie – Sklaven, Männer – Frauen, Griechen – Barbaren. Je nach Bedarf schlossen sich weitere Oppositionspaare an: Helden – Monster, Bürger – Nichtbürger, Sieger – Besiegte, Alte – Junge usw. Diese Differenzen waren konnotiert mit Überlegenheit und Minderwertigkeit, sei es biologisch, moralisch, intellektuell oder politisch. Sie wurden inszeniert, versinnbildlicht und verinnerlicht. Dabei spielten Gewalt und Blut eine erstrangige Rolle. Die griechische Kultur war eine politisch in hohem Maße befriedete Gesellschaft; und dennoch eine blutige Kultur. Das wird ersichtlich an der herausragenden Rolle des kultischen Blutopfers: Es choreographierte die Kommunikation zwischen den Göttern, welchen man opferte und der menschlichen Gruppe, welche opferte, und schärfte damit die fundamentale Scheidung ein.1 Dem Opfer steht die Jagd kontrastiv gegenüber; in beiden Fällen töten die Menschen Tiere. Aber sie tun es auf semantisch entgegengesetzte Weise.2 Die Jagd inszenierte die Feindschaft zwischen der gehegten mensch1 Walter Burkert: Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche, München 1976, S. 99–115; Jean-Pierre Vernant: A la table des hommes. Mythe de fondation du sacrifice chez Hesiode. In: La cuisine du sacrifice en pays grec, hrsg. von Marcel Detienne und J.-P. Vernant, Paris 1979, S. 38–129; Sacrificio e società nel mondo antico, hrsg. von Cristiano Grottanelli und Nicola Parise, Rom 1985. 2 Jean-Louis Durand: Bêtes grecques. Propositions pour une topologie des corps à manger. In: Detienne/Vernant (1979) [Anm. 1], S. 133–57, sowie Pierre Lévêque: Bêtes, dieux et hommes, Paris 1985.
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lichen Ordnung und der bedrohenden Natur auf gewaltsame und blutige Weise. Aber die differenzierende Potenz der Jagd war weitaus geringer als jene des Opfers. Niemals gewann die Jagd bei den Griechen jene symbolische Bedeutung eines Kampfes der Zivilisation gegen die Wildnis wie im europäischen Mittelalter. Und schon gar nicht wird ihr jener enorme Aufwand an Semiotik zuteil, welchen die Römer in der Arena einsetzten, um den Kampf gegen die tierische Wildnis in einen gigantischen symbolischen Kontext zu bringen. Demgegenüber blieb die Jagd bei den Griechen semiotisch unterbelichtet, schwach symbolisiert, schwach semantisiert. Der kulinarische Opfercode hingegen verstärkte die Differenz zwischen Göttern und Menschen: Während die Götter den Opferduft genossen (ihr Altar wurde mit Blut besprengt, und auf ihm verbrannte man ihnen Fett und Knochen), verzehrten die Menschen das Opferfleisch. Gleichzeitig trat eine andere Unter-Scheidung in Kraft: Die Menschen töteten und aßen Fleisch, das (gezähmte) Tier wurde getötet und gegessen. Ferner schied das Zeremoniell die Rollen von Frauen und Männern: Die Frauen stießen den gellenden Schrei aus, sobald das Beil dem Tier den Nacken brach; dieser Schrei markierte akustisch den Augenblick der extremen Ausübung von Gewalt, nämlich der Tötung.3 Obwohl der griechische Kulturraum in der klassischen Zeit aus Poleis bestand, die relativ befriedet waren, war die Gewalt ein stets präsenter semantischer Faktor und diente dazu, die gedachte Ordnung zu strukturieren, teilweise auch die soziale. Das möchte ich an mehreren Aspekten aufzeigen: Zunächst sind rechtliche Praktiken zu besehen, die einerseits dazu dienten, die Differenz frei/unfrei aufrechtzuerhalten und anderseits die Ausübung von Gewalt im öffentlichen Raum einzugrenzen; danach geht es um politische Diskurse, und zwar zunächst um solche, die der Gewalt Vorschub leisteten, danach um jene, die obsessiv um die Gefahr des Bürgerkrieges kreisten; schließlich befasse ich mich mit den Angriffen auf die semantische Opposition von ‚Überzeugen‘ und ‚Gewalt‘ (Peitho – Bia), d. h. auf diejenige Opposition, welche die Befürworter institutionalisierter Gerechtigkeit – und also von zivischer Gewaltlosigkeit – zur Grundlage ihrer Argumentation machten.
3 Vgl. dazu A. Henrichs, in diesem Band S. 59–87.
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I. Gewalt im öffentlichen Raum a) Ein Medium der Sonderung Die fundamentale Teilung der griechischen Gesellschaft war nicht die geschlechtliche, sondern die Teilung der Menschen in Freie und Sklaven. Die Kultur des klassischen Athen beruhte auf der Sklaverei.4 Die Demokratie mit ihrer hochkulturellen Infrastruktur, ihrer extensiven und intensiven Partizipation benötigte ein gewaltiges ökonomisches Surplus; denn mehrere Tausend ärmere athenische Bürger waren freizustellen, damit sie teilnehmen konnten an Volksversammlungen, an Gerichtssitzungen, an Trainingsfahrten der Flotte und an den Festen der Stadt. Große Überschüsse waren zu erwirtschaften und umzuverteilen; die gesellschaftlich notwendige Arbeit mußte von anderen erledigt werden; die Massensklaverei leistete beides. Ohne sie hätte die athenische Demokratie nicht lange überlebt; ohne sie sind die athenische Politik und Kultur undenkbar. Aber wie wurde dieses Gewaltverhältnis, auf dem die Gesellschaft als Ganzes aufruhte, semantisiert? Nehmen wir Sparta als Kontrastfolie: In Sparta fanden periodisch gezielte Morde an Heloten statt, legitim und straflos. Die Jugendlichen, welche sich jeweils in der ‚Krypteia‘ befanden, töteten eigens dazu selektierte Heloten. Ferner ließen die Ephoren jährlich eine feierliche Kriegserklärung an die gesamte Helotenschaft – also an die Staatssklaven Spartas ergehen.5 Die willkürlichen Morde enthielten Elemente der Jagd auf Großwild;6 sie waren jagdmäßiges Töten und inszenier4 Athen war eine Sklavenhaltergesellschaft. Selbst wenn nur etwa 15 % der Bevölkerung Sklaven sind, ist die Sklaverei bereits allgegenwärtig. Im 5. Jh. dürften es manchmal knappe 30 % gewesen sein. Dazu: Moses I. Finley: Was Greek Civilization based on Slave Labour? In: Historia 8 (1959), S. 145–64, ders.: Die Sklaverei in der Antike. Geschichte und Probleme, München 1980, S. 96–98. 5 Siehe: Plut. Lyk. 28, Aristot. fr. 538; dazu: Aristoteles, Fragmente III, hrsg. von Martin Hose, Berlin 2002, S. 47 u. 195f. u. P. Cartledge, s. v. Krypteia. In: DNP, Bd. 6 (1999), Sp. 872. 6 Aristoteles knüpft also an die bestehende Metaphorik an, wenn er den Krieg, der die Erbeutung von Sklaven zum Ziele hat, als ‚Jagd‘ bezeichnet: „Darum ist auch die Kriegskunst von Natur eine Art Erwerbskunst (die Jagdkunst ist ein Teil von ihr), die man anwenden muß gegen Tiere und gegen Menschen, die von Natur zum Dienen bestimmt sind und dies doch nicht wollen. Denn ein solcher Krieg ist von Natur gerecht“ (Politik 1256b23–26). Seine Überlegungen verlaufen allerdings gegensinnig zur spartanischen Praxis: Die jagdmäßigen Morde der Jungspartiaten dienten dazu, die ehemals erbeuteten Sklaven in Furcht zu halten; nach Aristoteles hingegen dient die Jagd dazu, möglichst viele lebende Sklaven zu erbeuten.
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ten die fundamentale Differenz. Die Kriegserklärung hingegen repristinierte den Ursprung der Versklavung: Immer wieder wurden die Sklaven durch einen jährlich ausgerufenen Krieg symbolisch unterworfen. Die Differenz und ihr Ursprung fanden so ihren symbolischen Ausdruck in politischen Akten. Anders in Athen. Hier wurde lediglich die Differenz auf Dauer gestellt, symbolisch und praktisch; die Unterwerfung selber wurde nicht repristiniert. Die Symbolisierung der Differenz erfolgte über die Peitsche. In Athen bestand ein Gesetz, erlassen unter dem Archon Skamandrios, welches vorsah, daß Bürger von Körperstrafen ausgenommen waren. Laut Demosthenes zahlten Freie für Vergehen mit ihrem Vermögen, Sklaven hingegen mit ihrem Leib.7 Gustave Glotz hat daraus geschlossen, daß Peitschenhiebe und Drachmen als Äquivalente galten, je nachdem, ob es sich um einen Sklaven handelte, der sich ein öffentliches Vergehen zuschulden kommen ließ, oder um einen Freien.8 Die Strafarten in Athen dienten somit nicht nur zur Disziplinierung, sondern obendrein zur ständigen Inszenierung der fundamentalen Differenz zwischen Freien und Unfreien. Es gibt keinen nachweisbaren Fall, daß die athenische Öffentlichkeit gegen einen Freien die Peitsche eingesetzt hätte. Dem entspricht die merkwürdige Praxis der Sklavenfolter bei bestimmten Rechtsverfahren. Sklaven und Frauen konnten niemals vor Gericht selbständig auftreten, und sie konnten keinen Eid ablegen. Indes, Sklaven wußten eine ganze Menge über das häusliche Leben ihres Herrn. Man konnte dieses Wissen, etwa bei politischen Prozessen aus schwerwiegenden Anlässen, aus den Sklaven herausfoltern, sowohl in gerichtlichen Verfahren, als auch bei jenen außergerichtlichen Verfahren, bei denen der Ankläger verlangte, sein Widersacher solle seine Sklaven zur Folter bringen. Diese Folterungen fanden an bestimmten Orten statt, z. B. bei der Heliaia oder am Hephaistostempel, sie waren öffentlich und zogen – wie die attischen Redner belegen – ein großes Publikum an.9 Wir wissen über die Folterung nichts genaues, außer daß man sie mit der Peitsche durchführte, bzw. mit dem Rad unter Aufsicht eines staatlichen Folterers; sie scheint streng geregelt gewesen zu sein. 7 Demosth. XXII, 54 f. u. XXIV, 166 f. Um Freien die Folter anzudrohen, mußte die Boulè beim Hermokopidenfrevel 415 v. Chr. das entsprechende Gesetz aufheben (Andokides 1. 43 f.). Dazu: Virginia J. Hunter: Policing Athens. Social Control in the Attic Lawsuits, 420–320 BC, Princeton 1994, S. 175. 8 Gustave Glotz: Les esclaves et la peine du fouet en droit grec. In: Comptes rendus de l’Académie des Inscriptions et Belles Lettres, Paris 1908. Virginia Hunter hat kürzlich diese These überprüft und bestätigt (dies. 1994 [Anm. 7], S. 154–84). 9 (siehe nächste Seite)
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Neben der athenischen Agora, vor dem Hephaistos-Tempel, stellten Auspeitschungen einen sattsam gewohnten Anblick dar. Die Peitsche stand also für die unerbittliche Grenzziehung zwischen Freien und Unfreien, und ihr Klatschen war inmitten der Polis häufig zu hören. Die Schmerzensschreie der Gepeinigten hallten vom Hephaistostempel über die Agora und strukturierten das Zentrum der Polis Athen als akustischen Raum. Eine alltägliche Erfahrung, welche jedermann einschärfte, wo die politische Grenze verlief und was sie bedeutete. Die Peitsche wurde in der Klassik zum politischen Symbol, weil jeder Freie wußte, daß sie ihm niemals drohen konnte, wohingegen Sklaven ständig mit ihrer Drohung leben mußten. Die grundsätzliche Trennung derjenigen Personen, die möglichst nicht körperlich zu züchtigen und auf keinen Fall zu foltern waren, von jenen, denen körperliche Züchtigung jederzeit drohte, verschaffte der Sklavenfolter eine semantische Prägnanz, die anschlußfähig war für Vorstellungen und Diskurse. Es ist apriori anzunehmen, daß diese Praktiken eine semantische Konnotation herstellten zwischen dem Erleiden von Gewalt und dem Zustand eingetretener oder drohender Unfreiheit. Anders gesagt: Die Diskurse über Gewalt und über die Differenz zwischen Freien und Sklaven waren deswegen so plausibel, weil die soziale Wirklichkeit diesen Diskursen massive Anhaltspunkte bot. b) Eingrenzung der Gewalt unter Freien Wie die Peitsche das Symbol dafür war, daß Sklaven jederzeit legitimerweise die demütigendste Form von Gewalt erleiden konnten, so sollten Gesetze verhindern, daß es unter Freien – insbesondere unter Bürgern – überhaupt zum Einsatz von Gewalt kam. Die Gesinnung, die zur Anwendung von Gewalt führte oder aber eine gewaltsame Auseinandersetzung auslöste, galt als schlimmer als die Gewalttat selber. In der attischen Rechtsprechung wurde sie als ‚Hybris‘ bezeichnet, ein Delikt, das Demosthenes erwähnt 9 Die zeremonielle Herausforderung: Demosth XXIX, 11 f., 19 f. u. 31 f. sowie LIX, 123 f. Öffentliche Folterstätten: Demosth. XLVII, 12, Isokrates XXXVII, 42. Folter verfahren: Antiphon I, 10 u. V, 32–35. Abwegig ist die Behauptung Thürs, diese Form der Sklavenfolter sei im Laufe des 4. Jhs. v. Chr. kaum noch praktiziert worden; wenn die Gerichtsredner nicht auf eine praktizierte Sklavenfolter verweisen, dann nicht darum, weil diese nicht mehr geübt wurde, sondern – wie J. Modrzejewski (Kritik an Thür, in: Symposion 1974, S. 166 f.) betont – weil ein außergerichtliches Basanos-Verfahren die gerichtliche Auseinandersetzung ersparte. Vgl. J. W. Headlam: Slave torture in Athens. In: CR 8 (1904), S. 136 f.; ebenso Finley (1980) [Anm. 4], S. 112–15; P. duBois: Torture and Truth, New York 1991; D. Mirhady: The Oath-challenge in Athens. In: CQ 41 (1991), S. 78–83.
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und definiert.10 Ihre Gefährlichkeit für den politischen Zusammenhalt einer Bürgergemeinde war allbekannt; Heraklit hält sie für schlimmer als einen Brand.11 Laut Aristoteles war sie dann besonders widerwärtig, wenn sie sich gewalttätig äußerte.12 Es ist kein Zufall, daß Hybris-Klagen kaum geführt wurden, zumindest nicht mit belegbarem Erfolg; denn eine solche Gesinnung ließ sich vor Gericht sehr schwer nachweisen. Um so mehr suggerieren die Gerichtsredner die Wahrscheinlichkeit, daß ein Angeklagter mit hybrider Gesinnung gehandelt habe. Gewalttäter mußten darauf bedacht sein, keinesfalls in diesen Ruch zu kommen. Darum ist die Hybris in einem Ausmaß rhetorisch präsent und semantisch wirksam, welches verblüfft.13 Die Redner erblickten in ihr eine Gesinnung, die sich grundsätzlich gegen die Gleichheit der Bürger, gegen den Bürgerstatus14 und gegen die Demokratie richteten.15 Das öffentliche Interesse kam deswegen so vehement ins Spiel, weil der auf hybride Weise Gewalttätige nicht nur den Gegner durch den Gewaltakt erniedrigte, sondern sich selber über das Gesetz stellte. Darum galt das Gesetz auch dann, wenn die Opfer nicht Bürger, sondern Fremde und Sklaven waren.16 10 Demosth. XXI, 47. Zum Thema der Hybris ist unter rechtshistorischen Gesichtspunkten viel geschrieben worden. Das Wesentliche scheint mir erarbeitet worden zu sein von U. E. Paoli: ‚Hybris‘. In: Novissimo Digesto Italiano, Vol. VIII (1968), S. 113 f. Ähnlich: Francesco D’Agostino: Bia, Mailand 1983, S. 25–35, und David Cohen: Law, Violence and Community in Classical Athens, Cambridge 1995, S. 121–26 und S. 143–62. 11 Herakl. fr. B 43 (Snell). 12 Aristot. rhet. II, 2, 1378b10. 13 D’Agostino (1983) [Anm. 10], S. 25 ff. interpretiert diesen Umstand so, daß die Gewalt selber ihr Eigengewicht verlor, sobald sie auf Hybris zurückgeführt werden konnte. 14 So Demosth. XXXVI, 30. Dazu unter anderem Aspekt: Kenneth J. Dover: Greek Homosexuality, London 1978, S. 34–39 und D’Agostino (1983) [Anm. 10], S. 28 f. 15 Demosth. XXI, 42–46 u. 208–212, Isokr. XX, 1 (ein Angriff auf den Leib eines Bürgers ist ein Angriff auf die Demokratie). 16 Auch den Sklaven schützte das Gesetz vor einem hybriden Akt. Diese Merkwürdigkeit versucht N. Fisher: The Law of Hybris in Athens. In: Nomos. Essays in Athenian law, politics and society, hrsg. von P. Cartledge, P. Millet und St. Todd, Cambridge 1990, S. 123–38, hier: S. 127 A. 20 – gegen Paoli (1968), D’Agostino (1983) [beide Anm. 10] u. a. – so zu interpretieren, als wolle das Gesetz weniger das Kollektiv als vielmehr das Individuum davor schützen, seine Ehre, seine timè zu verlieren: „In the classical period it was taken as an indication that slaves had some minimal timè that entitled them to protection against the grossest maltreatment (in effect no doubt from others than their masters)“. Die Begründung ist mangelhaft.
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Wenn die stets drohende Hybris-Klage auf den inneren Zusammenhalt der Bürgerschaft zielte, dann mußte sie vor allem gewalttätige Auseinandersetzungen betreffen. Fisher meint, das Hybris-Gesetz schreckte Athener davon ab, sich handgreiflich zu rächen.17 Doch das Verhältnis des Gesetzes zur Anwendung von Gewalt ist komplizierter. Denn das athenische Gesetz ermutigte dazu, extreme Gewalt anzuwenden, sobald unzweideutig ein schweres Verbrechen abzuwehren oder zu bestrafen war. Das wird an zwei Fällen deutlich, die gemeinhin als Beleg für die Regelung von Notwehr gelten. Das erste stammt aus einer Rede des Antiphon, etwa aus der Mitte des 5. Jahrhunderts.18 Der fiktive Angeklagte verteidigt sich gegen eine Mordklage. Er hatte mit einem Bekannten tüchtig getrunken; sie hatten begonnen, einander zu beleidigen; der andere versetzte dem Angeklagten einen Schlag; dieser schlug mit der Faust so zurück, daß sein Gegner Tage später starb. In seiner Verteidigungsrede behauptet der Totschläger: Er schlug zuerst; sogar wenn ich mich verteidigt hätte mit Eisen, mit Stein oder mit Holz, wäre ich nicht schuldig; denn wer anfängt, verdient nicht das gleiche zu erleiden, sondern mehr und schlimmeres […].
Der Gegenschlag durfte demnach ‚übermäßig‘ ausfallen, wenn man unter ‚angemessen‘ versteht, daß man das Talion als ‚Maß‘ der Vergeltung anlegte. Die Berechtigung zur Überbietung sieht der Angeklagte darin, daß wer mit der Gewalt anfängt nicht gleiches erleiden soll. Das ist seltsam. Hätte ein Sklave – als Person – jene minimale timè besessen, die Fisher postuliert, dann wäre sie ihm in jeglicher Hinsicht zugekommen, also auch gegenüber seinem Herrn. Doch sein Herr konnte ihn auf jede beliebige Weise foltern und töten. Folglich wurde der Sklave just nicht als Person geschützt, sondern in seiner Eigenschaft als Besitz seines Herrn. Denn in dieser Eigenschaft war er den Attacken und Übergriffen anderer privater Personen ausgesetzt, die sich am Sklaven vergriffen, um den Herrn zu demütigen. Ein Beispiel dafür bieten die Söhne Konons, welche sich an den Sklaven des Ariston vergingen, um diesen zu provozieren und zu erniedrigen (Demosth. 54, 4). Dem entspricht, daß die solonischen Gesetze den Ehebrecher als hybrid Handelnden der Tötung preisgaben, falls er in flagranti im Hause des Ehemanns ertappt wurde, wohingegen die Vergewaltigung einer freien Athenerin nur mit einer Geldstrafe belegt wurde. Das Gesetz schützte kaum die Person der Frau, dafür aber mit voller Wucht das Haus des Ehemanns. 17 Fisher (1990) [Anm. 16], S. 132–34 mit Verweis auf Demosth. XXI, 62–65. 18 Antiph. 3. Tetralogie b, 2 (éd. Gernet), Paris 1954, S. 85–100. Ob alle Tetralogien Übungsreden waren, ist unklar. Es ist aber opinio communis der Rechtshistoriker, daß die rechtlichen Begründungen genau der attischen Gesetzeslage entsprechen (siehe Gernets ‚Notice‘, S. 85–87).
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Entweder müßte die Notwehr gelten; in diesem Falle ist dem Angegriffenen eine übermäßige Reaktion erlaubt, denn er muß ja Schaden von seinem Leib oder Leben abwehren. Oder aber es besteht gar keine Notwehr; dann – so wäre zu erwarten – sollte der Angegriffene die Sache vor Gericht bringen. Erlaubt man ihm, ohne Not zurückzuschlagen, dann wäre zu erwarten, daß dieser Gegenschlag sich genau an das Talion hält, d. h. sich an der Heftigkeit des Angriffs bemißt und diesen nicht übersteigt. Eine Überbietung beim Zurückschlagen zuzulassen ist deswegen so brisant, weil die Überbietung notwendigerweise zur Eskalation und daher zur schwersten Gewaltanwendung und womöglich zur Tötung führt.19 Der Angeklagte fährt fort: Der Ankläger wird mir entgegnen: Mag sein. Aber das Gesetz verbietet zu töten – sei es berechtigt oder unberechtigt. Und es bestimmt, daß du der Strafe für die Tötung verfallen bist. Denn der Mann ist gestorben. (13,2 f.)
Das ist die Rechtslage. Der zuerst Mißhandelte durfte sogar mit harten Gegenständen zurückschlagen; somit billigte das Gesetz, daß er den Widersacher schwer verletzte. Freilich, das Gesetz betrachtete denjenigen, der ‚exzessiv‘ zurückschlug, als Mörder, falls der Gegner an den Folgen des Gegenschlages starb, sei es sofort oder erst später. Das Gesetz scheint an dieser Stelle eine absolute Grenze gezogen zu haben. Und damit bewegen wir uns weg von der reinen Rechtsgeschichte hin zum praktizierten Ethos sozialer Gruppen. Nun zum zweiten Beispiel. Der athenische Redner Demosthenes klagte etwa um 348/346 20 v. Chr. Meidias an, der ihm in aller Öffentlichkeit ins Gesicht geschlagen hatte. Demosthenes begründet, wieso er sich nicht augenblicklich wehrte und zurückschlug. Dabei erwähnt er zwei Fälle von Totschlag im Streit, wovon der eine in der Diskussion um das attische Notwehrrecht eine wichtige Rolle spielt. Viele wissen, daß Euaion, der Bruder des Leodamas, bei einem Gastmahl den Boiotos wegen eines einzigen Schlages tötete. Nicht der Schlag machte ihn wütend, sondern die Entehrung. Auch ist es nicht eine so furchtbare Sache für einen freien Mann, geschlagen zu werden – obwohl es an sich furchtbar ist –, aber doch wenn es mit Überheblichkeit geschieht […]. 19 Siehe dazu: E. Flaig: Ehre gegen Gerechtigkeit. Adelsethos und Gemeinschaftsdenken in Hellas. In: Gerechtigkeit. Richten und Retten in der abendländischen Tradition und ihren altorientalischen Ursprüngen, hrsg. von J. Assmann, B. Janowski und M. Welker, München 1998, S. 97–140, hier: S. 125–28. 20 Zur Datierung: Iosiah Ober: Mass and Elite in Democratic Athens, Princeton 1989, S. 344.
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Er (Euaion) wurde von einem Bekannten geschlagen; dieser Bekannte war betrunken. Und es geschah in Gegenwart von sechs oder sieben Menschen, die ebenfalls Bekannte waren; und sie hätten wahrscheinlich Boiotos getadelt für das, was er getan hatte und den Euaion hinterher gelobt, wenn er Ruhe bewahrt und sich zurückgehalten hätte […]. Ich denke, ich verhielt mich besonnen, Ihr Athener, oder war vielmehr glücklich beraten, als ich in jenem Augenblick Ruhe bewahrte und mich nicht dazu hinreißen ließ, etwas nicht wieder gut zu machendes zu tun, obschon ich volles Verständnis für Euaion habe und für jeden, der sich wehrt, wenn er entehrt wird. Und so taten viele der damaligen Richter, glaube ich. Denn ich habe gehört, daß er verurteilt wurde mit nur einer einzigen Stimme Mehrheit – und das, obwohl er weder Tränen vergoß, noch irgendeinen der Richter anflehte, noch den Richtern irgendeine – sei es große, sei es kleine – Gefälligkeit erwies. Nehmen wir also an, daß jene, die ihn verurteilten, nicht deswegen gegen ihn stimmten, weil er sich gewehrt hatte, sondern weil er es so tat, daß er tötete, während jene, die für Freispruch stimmten, sogar diese exzessive Vergeltung einem Manne zubilligten, der am Leibe von einem Überheblichen mißhandelt worden war.21
Folgende Punkte sind maßgeblich: 1. Der Totschlag ereignet sich in einer sozialen Standardsituation, bei einem Gastmahl von acht oder neun Anwesenden. Euaion erlitt einen einzigen Schlag, und er war nicht weiter bedroht. Es waren Bekannte, sicher auch Freunde zugegen, die eingegriffen hätten, wenn Boiotos den Euaion noch weiter zu schlagen versucht hätte (auch wenn sie nicht in der Lage waren, den ersten Schlag zu verhindern). 2. Der griechische Ausdruck ¢mÚnein – übersetzt als „abwehren“ – kann die Gegenwehr in einer Notlage bezeichnen, aber auch die Vergeltung, die Rache – also ein Zurückschlagen ohne Notlage. Beides sind allerdings ganz unterschiedliche soziale Sachverhalte. 3. Demosthenes behauptet, nicht der Schlag selber habe den Gegenschlag ausgelöst und ergo auch nicht die Notlage, eine weitere Bedrängnis abzuwehren, sondern die Beleidigung. Er benutzt das Wort ¢tim…a, ein sehr starkes Wort, das zumeist eine politische Bedeutung besitzt und den Verlust der Ehrenrechte bezeichnet. Demosthenes stellt also den tödlichen Gegenschlag in den Kontext der Rache (er spricht eigens von timwr…a, von Rache). Darum unterliegen Rechtshistoriker einem Mißverständnis, wenn sie diese Stelle heranziehen, um die Regelung der Notwehr zu ermitteln. Denn es geht nicht um Notwehr; es geht um Vergeltung und Ehrwahrung. 21 Demosth. XXI, 71 ff.
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4. Als Grund für die Verurteilung gibt Demosthenes an, daß die „Gegenwehr“ zum Tod geführt hat. Wenn Demosthenes die Motivation der Richter richtig interpretiert, dann hielten diese zwar die Vergeltung für erlaubt; sie hätte aber nicht zum Tode des Aggressors führen dürfen.22 Demosthenes nennt die Gegenwehr des Euaion exzessiv (Øperbol¾ tÁj timwr…aj = Exzess bei der Rache), d. h. er setzt implizit ein Maß der Vergeltung voraus. Worin besteht dieses Maß? Eben nicht im Talion. Denn die Vergeltung darf den Angriff weit übersteigen. Es gibt folglich kein Maß, sondern eine absolute Grenze: die Tötung von Bürgern – oder Freien – ist streng untersagt, ausgenommen in genau definierten Fällen. Wie erklärt sich die extrem knappe Mehrheit für die Verurteilung? Wenn die versammelten Richter fast genau in zwei gleiche Hälften gespalten waren, dann muß der Riß tief gewesen sein. Die Interpretation der Sachlage scheint eindeutig und unumstritten gewesen zu sein. Gespalten waren die Richter beim Bewerten, also bei der Frage, ob das Gesetz anzuwenden sei oder ob die Billigkeit gelte; diese gestattete, einen athenischen Bürger mitten in einer sozialen Standardsituation zu töten, falls die Wahrung der Ehre einen tödlichen Gegenschlag erforderte, und das, obwohl das Gesetz diese Möglichkeit nicht zuließ. Gesetz und immer noch gängige Vorstellungen von angemessenem Verhalten widersprachen sich. Wer also die Gewalt in den befriedeten Raum der Polis hineintrug und dort, den ersten Schlag führend, ausbrechen ließ, den lieferte das Gesetz einer übermäßigen Gegengewalt ungeschützt aus; es schützte nicht mehr seine physische Integrität, sondern lediglich sein Leben; denn auch die legalisierte übermäßige Gegengewalt sollte eine absolute Grenze nicht überschreiten. Die athenische Gesetzgebung hat also die Gewalt zwischen Bürgern einzugrenzen versucht, indem sie denjenigen, der mit der Gewalt anfing, einer legalen Gegengewalt aussetzte, die ihn ‚unverhältnismäßig‘ schwer treffen durfte. Die kollektive Sorge scheint nicht in erster Linie der Eskalation gegolten zu haben, sondern der quasi mythischen Qualität des ‚Anfangens‘.
22 Dann kann es kein Notwehrgesetz gegeben haben, obschon die opinio communis der Rechtshistoriker ein solches postuliert. Vgl. Douglas M. MacDowell: Demosthenes. Against Meidias (Oration 21), Oxford 1990, S. 292. Denn in eine akute Notlage geriet ja – unter bestimmten Umständen – derjenige, der mit dem Schlagen anfing. So schon Gernet, Antiphon, S. 85 A. 1.
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II. Die Gewalt im politischen Denken. Apotheose und Bewältigung Nun zu den Diskursen über die Gewalt. Besieht man das politische Denken der Griechen von der Archaik bis zum 4. Jh. näher, dann lassen sich zwei Linien erkennen, die sich über mehrere Jahrhunderte durchhalten: Erstens ein Diskurs, der gemeinschaftsbildende und gemeinschaftsstabilisierende Werte in den Vordergrund stellt; dieser Diskurs läßt sich in kohärenter Form bei unterschiedlichen Autoren fassen; er reicht von Hesiod über Solon und Aischylos bis zu Platon; im folgenden soll er vereinfachend ‚Gerechtigkeitsdiskurs‘ heißen. Zum anderen ein Diskurs, der den Kampf, die Ehre und die Überlegenheit ins Zentrum stellt und dem Stärkeren den Vorrang vor der Gemeinschaft und ihrem Zusammenhalt zuspricht; er reicht von Homer über Heraklit und – mit Einschränkungen – Pindar zu einzelnen Sophisten wie Kallikles und Thrasymachos; einzelne Bruchstükke dieses Diskurses finden sich als rekurrente Versatzstücke in vielen politischen Auseinandersetzungen, vor allem im 5. Jh. Nennen wir ihn den agonistischen Diskurs. In diesem ist die Gewalt schwerlich oder gar nicht eingrenzbar und entzieht sich tendenziell der Wirkkraft rechtlicher oder moralischer Regeln. Die folgenden Texte bieten zwar kein Abbild ‚des‘ griechischen Denkens der vorklassischen und frühklassischen Epochen; sie sind nicht einmal repräsentativ für eine dominante Strömung in der griechischen Kultur. Eher markieren sie äußerste Endpunkte, extreme Fälle. Doch diese extremen Fälle sind nicht erratische Blöcke, die isoliert herausragen; sondern sie haben ihren Platz auf einer Skala von Varianten; sie ergeben sich aus konsequenter Vereinseitigung von Maximen oder Werten, die weit überwiegend geteilt wurden. An den homerischen Epen läßt sich zeigen, wie die Hochschätzung des adligen Ruhms und des heldischen Gebahrens den Dichter dazu nötigt, die Rücksicht auf die Gerechtigkeit und auf den Zusammenhalt einer Gemeinschaft preiszugeben, um die pure Transgression zu feiern. Und manche Stellen implizieren eine geradezu nackte Amoralität. Eine davon findet sich in der Odyssee: Als Odysseus unerkannt bei den Phäaken als Gast weilt, besingt der Sänger Demodokos den Untergang Trojas; Odysseus lauscht und weint; daraufhin tröstet ihn sein Gastgeber mit den Worten: Dieses schufen die Götter; sie spannen den Menschen Verderben; Sollten doch auch noch die Künftigen Stoff für Gesänge bekommen (Od. VIII 579 f.).
Das ist eine theologisch klare Aussage: Die Götter verderben die Menschen und vernichten Städte, damit künftige Generationen das grauen-
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volle Unheil besingen sollen. Zerstörung und Leid werden umgewandelt in eine ästhetische Erfahrung, welche sich mittels einer ästhetischen Praxis – nämlich des Gesangs – vollzieht. Wir erfassen in dieser Stelle eine erstaunliche Autonomisierung des Ästhetischen, aber zugleich auch eine radikale Ausweitung der ästhetischen Wertmaßstäbe bis hinein in den Bereich des göttlichen Handelns. Das ist nicht nur Ästhetisierung des Krieges, sondern auch des Untergangs, mitsamt all seiner greulichen Gewaltsamkeiten. Jacob Burckhardt hat in diesen Versen die Quintessenz der homerischen Theodizee erblickt und scharf kommentiert: „Dem Homer genügt der schöne und furchtbare Gedanke: die Götter haben den Menschen Verderben bestimmt, […] damit dasselbe zum Gesang werde für künftige Geschlechter“.23 Nietzsche hat von Burckhardt gelernt; er radikalisierte diese Konzeption und formulierte sie als regelrechte Kosmodizee. Leid, Vernichtung und Zerstörung – so Nietzsche – müssen demnach sein, damit die Menschen immer neuen Stoff für Gesänge erhalten. Gewiß, Homers politische Theologie und die Nietzschesche Formel – „Denn nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt“24 – sind nicht deckungsgleich. Aber obwohl die kulturellen Rahmenbedingungen ganz verschiedene sind, führen die bedingungslose Befürwortung der Agonalität und die Steigerung des Ruhmesgedankens zur Konsequenz, daß eine göttliche Gerechtigkeit undenkbar und blanke Amoralität vertretbar wird. Wie der Dichter das amoralische göttliche Handeln bewertet, an welchen moralischen Maßstäben er es mißt, ist den Versen nicht zu entnehmen. Aber die Frage nach dieser Bewertung steht im Raume. Ich möchte nun zeigen, daß Heraklit den Homer sogar noch überbietet: a) B 102 B: Vor Gott ist alles schön, gut und gerecht (kal¦ p£nta kaˆ ¢gaq¦ kaˆ d…kaia); aber die Menschen wähnen, das eine sei unrecht (¥dika), das andere recht (d…kaia).
23 Jacob Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte, Bd. II, S. 88 und S. 359. Welche geschichtstheoretische Tragweite diesem Element im Werk von Burckhardt zukommt, hat J. Rüsen: Jacob Burckhardt. In: Deutsche Historiker, Bd. III, hrsg. von H.-U. Wehler, Göttingen 1972, S. 3–28, entdeckt. 24 Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden, hrsg. von K. Schlechta, München 1977, Bd. 1, S. 40. Dazu: E. Flaig: Der mythogene Vergangenheitsbezug bei den Griechen. In: Der Ursprung der Geschichte. Archaische Kulturen, das Alte Ägypten und das Frühe Griechenland, hrsg. von J. Assmann und K. E. Müller, Stuttgart 2005, S. 215–48, hier: S. 219–24.
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Wenn Heraklit „alles“ sagt, dann meint er auch „alles“. Und wenn er Kernbegriffe der Moral und des Rechts verwendet, dann nicht aus Versehen. Wenn alles schön und gerecht ist vor Gott (welchen Heraklit im Singular nennt), dann hat dies verheerende theologische, ontologische und moralische Folgen. Heraklit könnte zugeben – und er hat es in einer anderen Sentenz betont25 –, daß Menschen nicht anders zusammen leben können als unter dem Gesetz, unter dem Nomos, welcher streng Recht und Unrecht scheidet. Aber diese fundamentale Scheidung ist für ihn eine willkürlich gesetzte; sie ist weder von den Göttern noch von der Natur gegeben. Und diese Willkürlichkeit macht die Unterscheidung (zwischen gut und böse) politisch prekär, weil die verschiedenen Ethnien den unterschiedlichsten Nomoi folgen und jeweils gut damit leben. Was prekär und relativierbar ist, kann dennoch absolute Geltung innerhalb einer Gemeinschaft beanspruchen; und ein Nomos muß dies auch leisten, andernfalls löste der soziale Zusammenhalt sich rasch auf. Nun kann man diese Unterschiedlichkeit anerkennen, ohne im geringsten zum moralischen Relativismus getrieben zu werden; denn Beobachter wie etwa Herodot hielten es für selbstverständlich, daß der Nomos absolute Geltung hat, aber eben nur innerhalb derjenigen Kultur, in welcher man nach ihm lebt. Notwendigerweise kann daher nicht allein vor den Augen der Menschen manches ungerecht sein, sondern muß dies auch vor den Augen des ‚Gottes‘ sein, falls diesem an der Stabilität und dem Überleben menschlicher Gemeinschaften etwas liegt. Anders verhält es sich, wenn innerhalb ein und derselben Stadt ein neuer Nomos einen älteren ablöst. Hier nämlich drängt sich die Relativierbarkeit unmittelbar auf; denn mit hoher Wahrscheinlichkeit hält ein Teil der Bürger die alte Ordnung für besser als die neue. Verändern die Bürger innerhalb derselben Gemeinschaft den Nomos erheblich, dann erfahren die Akteure die Relativität der Ordnung überhaupt. Darum sind die Probleme, welche sich im Fragment B 102 auftun, nicht dadurch zu lösen, daß man die Antwort im Fragment B 114 sucht – wonach alle einzelnen Nomoi sich am einen Nomos nähren. Denn in B 102 behauptet Heraklit schlicht, daß für Gott die moralische Dimension nicht existiert. Es geht hier nicht nur um die Schönheit von Naturkatastrophen, sondern um Vorgänge, die von menschlichen Gruppen moralisch bewertet werden und auch bewertet werden müssen, weil moralische Indifferenz gar nicht möglich ist, sobald der soziale Zusammenhalt berührt ist. Heraklit überbietet Homer, denn Heraklit ästhetisiert nicht nur das Unrecht, sondern er recht25 Herakl. fr. B 44: Die Bürger sollen um ihren Nomos so kämpfen wie um die Mauer der Stadt.
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fertigt kategorisch Unrecht und Gewalt: Alles (p£nta) ist schön vor Gott; das ist das Fundament, um jegliche Gewalttat gutzuheißen. Daraus ergeben sich drei Schlüsse: Erstens ist jede gewaltsame Handlung, jede Zerstörung von Städten, jeder Mord, jede Massenvernichtung, jede Völkerausrottung letzten Endes gerecht, auch wenn wir Menschen es nicht einsehen. Zweitens negiert Heraklit entschieden, daß Gott Hüter der menschlichen Gerechtigkeit sei. Dann können es aber die Götter im Plural auch nicht sein. Er negiert also die fundamentale Behauptung, die Hesiod und Solon verfochten haben. Diese Leugnung ist radikaler als jene bei Homer, bei welchem die Götter gelegentlich von Gerechtigkeit reden, wenn sie dazu Lust haben.26 Drittens ist Gerechtigkeit eine auf perspektivischer Täuschung beruhende Illusion. Somit ist allen gemeinschaftsbezogenen Diskursen über die menschliche Ordnung das entscheidende Fundament entzogen.27 Dann aber gibt es keine allgemein bindende Kraft, um die Gewalt einzugrenzen. Die Theodizee entleert sich damit vollständig.28 Denn nicht weil etwas Gutes herauskommt, ist alles gerechtfertigt, sondern obwohl nichts besser wird und sich alles einfach bloß verändert. An einen radikalen Ästhetizismus rührt die Sentenz insofern, als tatsächlich alles schön sein kann, wie Schopenhauer aufweist,29 aber keinesfalls alles gut sein kann, solange die moralische Dimension als eigenständige noch wirkt. Die moralische Dimension 26 Flaig (1998) [Anm. 19], S. 106–09. 27 Zwischen Göttern und Menschen verläuft nicht bloß eine seinsmäßige Grenze, weil die Götter unsterblich und mächtig sind, sondern eine bedingt transzendentale: Wir begreifen das Göttliche nicht, falls – und das ist der Grund des Nichtbegreifens – wir befangen bleiben in unserer moralischen Befangenheit. Heraklit ist sich des polemischen Gehalts seines Satzes bewußt, daher die kategorische Formulierung. 28 Zu erinnern ist an Hegels Anspruch: „Hier sehen wir Land; es ist kein Satz des Heraklit, den ich nicht in meine ‚Logik‘ aufgenommen“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. In: Werke in zwanzig Bänden, hrsg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel, Frankfurt a. M. 1971, Bd. 18, S. 320). Freilich rechnet Hegel mit der Wirkkraft der ‚Aufhebung‘, welche die Kollisionen der Gegensätze auf stets höhere Gestaltungen des Geistes hintreibt. Ohne diese Idee des Fortschritts verbleibt der Heraklitische Satz im Horizont einer Apotheose einer ziellosen Veränderung. 29 Ein radikaler Panästhetizismus ist gezwungen, die Differenz schön/unschön zu entobjektivieren und sie vollständig in das betrachtende Subjekt zu verlegen. Daher gibt es nach Schopenhauer nichts unter der Sonne, was nicht schön sein könnte: Denn man kann „jedes vorhandene Ding rein objektiv und außer aller Relation“ betrachten; und da jedes Ding „Ausdruck einer Idee ist; so ist auch jedes Ding schön“. Auch die allerhäßlichsten Dinge werden schön, sobald das betrachtende Subjekt einen genügend hohen Grad von Kontemplation erreicht und zur Anschauung der Idee gelangt (Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung III, §41. In: Sämt-
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kollabiert zwangsläufig, wenn die Leitdifferenz gut/schlecht nicht mehr existiert; die ästhetische kollabiert nicht, wenn man ihr die Differenz schön/ unschön entzieht. Der Panästhetizismus ist das genaue Pendant zur Entmächtigung des Moralischen. Wir gelangen unweigerlich in die Nähe von Nietzsches ästhetischer Kosmodizee.30 Eine solche Behauptung göttlicher Amoralität ist für Hochkulturen ein seltenes und seltsames Phänomen. b) B 53: PÒlemoj p£ntwn män pat»r ™sti, p£ntwn dä basileÚj, kaˆ toÝj män qeoÝj œdeixe toÝj dä ¢nqrèpouj, toÝj män doÚlouj ™po…hse toÝj dä ™leuqšrouj. Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König. Die einen erweist er als Götter, die anderen als Menschen, – die einen macht er zu Sklaven, die anderen zu Freien (Snell).
Es geht um die beiden grundlegenden Differenzen, um die kosmische zwischen Göttern und Menschen und um die politische zwischen Freien und Sklaven. Es ist verblüffend wie Heraklit in diesem Fragment die fundamentalen Trennungen in politischen Kategorien zu denken versucht. Diese Differenzen werden vom Krieg produziert und von ihm aufrechterhalten; sie verdanken sich dem Einsatz von Gewalt. Die Aussage der Sentenz lautet: Der Krieg ist die äußerste Form des Kampfes; er schafft die Differenzen, ohne welche die kosmische und die politische Ordnung nicht existierten. Allerdings sind die Götter wesensmäßig, was sie sind; Krieg und Sieg machen sie lediglich als solche erkenntlich. Freie und Sklaven hingegen werden durch den Sieg nicht erkenntlich, sondern zu solchen erst gemacht. Als Operant leistet der Krieg zweierlei: Er legt die Wesensverschiedenheit offen, falls sie zuvor schon besteht; oder er erzeugt selber eine Wesensverschiedenheit, die zuvor als solche noch nicht existierte.31 Der Krieg, die überlegene Gewalt, schafft Sieger und Besiegte. Denkt man die Ordnung liche Werke, bearb. v. Frh. v. Löhneysen, Darmstadt 1974, Bd. I, S. 298 f.). In dieser Ästhetik ist daher die Schönheit überhaupt nichts, was dem Ding anhaftet, sie gehört allein der Idee; folglich läßt sie sich nicht substantialisieren; daher taugt die Opposition Schönes/Unschönes nicht mehr als Leitdifferenz einer kulturellen Dimension. 30 Nietzsche rechtfertigt, wo Jacob Burckhardt bloß ästhetisiert. Er legt den Griechen der ‚reifsten Fülle ihrer Gesittung‘ diese Maxime in den Mund: „Die Gewalt gibt das erste Recht, und es gibt kein Recht, das nicht in seinem Fundamente Anmaßung, Usurpation, Gewalttat ist.“ (Friedrich Nietzsche: Der griechische Staat. In: Werke in drei Bänden, hrsg. von K. Schlechta, München 81977, Bd. III, S. 280). 31 Mit der überlegenen Gewalt begründet und rechtfertigt Heraklit die radikale Differenz zwischen den Menschen, nämlich die Sklaverei. Demgegenüber kehrt Aristoteles das Begründungsverhältnis um: die präexistente radikale Differenz zwischen Menschen – d. h. ihre natürliche Ungleichheit –, rechtfertigt es, Menschen mit Gewalt in den Zustand zu versetzen, in den sie gehören (s. Aristot. pol. 1256b23–26).
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nicht nur aspektiv, sondern umfassend gemäß diesem Prinzip, dann erscheinen alle sozial oder politisch Untergeordneten als Besiegte. Der Krieg ist ewig. Die Metapher sagt es deutlich: Der Krieg ist nicht nur Vater von allem, sondern auch König. Er ist nicht bloß Ursprung von allem, sondern Herr von allem. Als König bleibt der Krieg an der Herrschaft. Keine eunomia kann den Krieg suspendieren. Heraklit läßt auch keinen Schiedsrichter zu; denn der Krieg ist selber Schiedsrichter. Damit singt Heraklit eine Hymne auf den verewigten Kampf, welcher sich selber seine Regeln gibt. Der gewaltsame Zwist ist damit nicht bloß Ausgangspunkt jedweder Ordnung, wie es Solon explizit ausdrückt: „Und so stand ich, und warf den Schild nach beiden Seiten/Keinen von beiden ließ ich wider das Recht siegen“.32 Auch Solon faßt den Kampf als Ursprung der politischen Ordnung, der eunomia. Doch sieht er einen Schiedsrichter vor, nämlich sich selber, welcher den Sieg nur zuläßt, wo der Sieg gebührt. Und außerdem beendet die Wohlordnung diese Art von Kampf; denn die durch Kampf hergestellte Ordnung suspendiert den Kampf. Anders bei Heraklit. Der gewaltsame Zwist ist ins Zentrum der Ordnung selber gerückt. Damit wird Ordnung völlig momentan – selbstverständlich auch die menschliche und politische Ordnung; denn Heraklit spricht in politischen Begriffen. Immer wieder muß neu festgestellt werden, wer der Stärkere ist – sei es im sportlichen agon, sei es bei der Durchsetzung innerhalb der Institutionen, sei es bei der Probe, ob die herrschenden Gruppen es auch wert sind, zu herrschen. Politisch heißt dies: Heraklit tilgt die Sehnsucht Hesiods und Solons, zumindest im Innern der Polis Frieden zu haben. Zwar rechtfertigt Heraklit in seiner Sentenz nicht die Herrschaft des Stärkeren, denn die Sentenz ist indikativisch, nicht als Postulat formuliert; aber aus ihr läßt sich mühelos die Herrschaft dessen legitimieren, der im Zwist die Oberhand behält. Daran schließt sich eine weitere Folgerung an: Ins Politische gewendet beinhaltet die Sentenz, daß der Bürgerkrieg ständig droht oder tobt. Das ist logisch, da – wie Rousseau gegen Hobbes gezeigt hat – das Recht des Stärkeren eben kein Recht ist, sondern so lange gilt, wie kein noch stärkerer ihm ein Ende bereitet.33 32 Siehe: Solon, F 5, vv. 5 f. (zit. nach: Frühgriechische Lyriker I, bearb. von Bruno Snell und Herwig Maehler, Berlin 1971, S. 38). Dazu: Nicole Loraux: Solon au milieu de la lice. In: Mélanges pour H. Effenterre, Paris 1984, S. 199–214. 33 Jean-Jacques Rousseau: Le Contrat Social 1,3: „Le plus fort n’ est jamais assez fort pour être toujours le maître, s’ il ne transforme sa force en droit, et l’ obéisance en devoir […] On voit donc que ce mot de droit n’ ajoute rien à la force, elle ne signifie ici rien du tout“. Viele griechische Denker hätten Rousseau umstandslos zustimmen können.
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Wider Willen vollendet Pindar die Apotheose der Gewalt. Einerseits ist diesem Dichter der innere Frieden teuer; anderseits verherrlicht er die adlige aretè in einem Ausmaß, welches ihn Verse formulieren läßt, auf deren Konsequenzen sich andere gierig stürzen.34 Ich möchte das an dem vieldiskutierten Fragment 169 (Snell) zeigen,35 wobei ich mich auf den Anfang des Gedichts beschränke. NÒmoj Ð p£ntwn basileÚj qnatîn te kaˆ ¢qan£twn ¥gei dikaiîn tÕ biaiÒtaton Øpert£tv ceir…. tekma…romai œrgoisin `Hraklšoj: ™peˆ GhruÒna bÒaj Kuklèpeion ™pˆ prÒquron EÙrusqšoj ¢nate… te kaˆ ¢pri£taj œlasen. Nomos, der König von allem, der Menschen und Götter, führt mit überlegener Hand und rechtfertigt die größte Gewalttat. Ich bezeuge dies mit den Werken des Herakles: Weder erbat er noch zahlte er die Rinder des Geryon; Er trieb sie zur kyklopischen Schwelle des Eurystheus.36
Bei fast allen jener 12 Taten, welche Eurystheus dem Herakles aufträgt, betätigt sich der Held als Vernichter von Ungeheuern; alle Ungeheuer, die er tötet, sind schädlich, mit Ausnahme des dreileibigen Riesen Geryon; dieser tut niemandem etwas zuleide; er hütet bloß eine riesige Rinderherde. Herakles erschlägt den Geryon, um ihm die Rinder zu rauben. Hier steckt das Problem: Es ist die einzige Tat des Herakles, die als Gewalttat zugleich ein 34 Dazu: M. Kirschkowski: Norm und Identität. Untersuchungen zur Konstruktion von Wirklichkeit in den Dichtungen Pindars, (Diss.) Freiburg 1998, S. 224– 70. 35 Die Diskussion darüber ist umfangreich: M. Gigante: Nomos Basileus, Neapel 1956, S. 72–102; E. R. Dodds: Plato: Gorgias, Oxford 1959, pp. 270–272; F. Alderisio: Il Nomos di Pindaro nel Gorghias e nei Nomoi di Platone. In: Rassegna di scienze filosofiche 13 (1960), pp. 22–46; Kirschkowski (1998) [Anm. 34], S. 260–64. 36 Zum Text: Martin Ostwald: Pindar, NOMOS, and Heracles. In: Pindaros und Bakchylides, hrsg. von W. M. Calder III und J. Stern, Darmstadt 1970, S. 194–231, hier: S. 194–207. Meine Übersetzung folgt Cecil M. Bowra: Pindar, Oxford 1964, S. 75 (ähnlich Ostwald s. o., S. 207); andere Vorschläge: Erik Wolf: Griechisches Rechtsdenken, Frankfurt a. M. 1952, Bd. II, S. 187–94.
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brutales Unrecht darstellt. Und genau diese Tat nimmt Pindar, um jenen Begriff zu charakterisieren, der in den politischen Diskussionen zum Ordnungsbegriff schlechthin geworden war: nomos – Ordnung/Gesetz. Egal wie das Partizip dikaiîn übersetzt wird; der Sinn ist jedenfalls der, daß Gewalttätiges zu Recht gemacht wird. Nun könnte man sagen, das ist kein Problem: der Einsatz von Gewalt kann ja legitim sein; gerade die politische Ordnung bedarf der legitimen Gewaltanwendung, um die illegitime Gewalt zu unterbinden. Das ist – vom Standpunkt eines friedlichen Zusammenlebens in Gemeinschaft – notwendig und gut so. Und sogar Solon rühmt sich, er habe Gewalt und Recht, Bia und Dike, zusammengefügt.37 Er tat es zum Segen Athens, denn seine eunomia mußte durchgesetzt werden, und das ging kaum ohne Zwang. Doch um diese heilbringende Gewalt geht es hier nicht, von berechtigter Gewalt ist nicht die Rede. Denn Herakles begeht einen Raubmord. Pindar macht das schlimmste Unrecht des Herakles zum Paradigma für das Wirken des Nomos. Wie können wir das verstehen?38 In Platons Dialog Gorgias zitiert der Sophist Kallikles diese Verse, aus denen er eine Verteidigung des Rechts des Stärkeren herausliest, wobei er das Recht des Stärkeren für das Recht der Natur nimmt: „Ich kann das Gedicht nicht auswendig“, sagt Kallikles, „aber es erzählt, daß Herakles die Rinder des Geryones forttrieb, ohne sie zu bezahlen und auch ohne sie geschenkt zu bekommen; es sei also das Recht der Natur (nÒmoj fÚsewj), daß Rinder und alle Habe des Schwächeren und Geringeren dem Stärkeren und Besseren gehörten“.39 Kallikles kann diese pindarische Konsequenz in eine griffige philosophische Formel packen, die er genüßlich gegen Sokrates ausspielt: der wahre Nomos ist der Nomos der Natur – und dieser Nomos ist nichts weiter als das Recht des Stärkeren.40 Wie die Pindarischen Verse in der Antike aufgenommen wurden, darüber läßt die Überlieferungslage keinen Zweifel. Die quellenmäßig faßbare Tradition nach Platon hat die Pindar-Verse 37 Sol. 24 (Snell), vv. 15 f. 38 Dodds, Ostwald und Lloyd-Jones sträuben sich gegen die kallikleische Interpretation, überwiegend mit Argumenten, die darauf hinauslaufen: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Ich erörtere die unterschiedlichen Interpretationen in einem eigenen Aufsatz. 39 Zur Plat. Gorg. 484b–c. Ich folge der Übersetzung von Wilamowitz: Platon I, Leipzig 31929, S. 221. 40 Zwar hat Wilamowitz wiederholt betont, Platon zitiere nicht genau; und vor allem schiebe er dem Gedicht einen Sinn unter, den es gar nicht hätte haben können; denn von einer Antithese zwischen Nomos und Physis sei bei Pindar nicht die Rede. Aber das berührt nicht die Hauptaussage des Anfangs.
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so verstanden wie Kallikles.41 Selbst wenn diese Rezeption auf einem Mißverständnis beruhen sollte, kann es kein Zufall sein, daß sie überwogen hat. Die Verse Pindars schienen auf bestürzende und provozierende Weise eine Apotheose der Gewalt zu bieten. Ein solcher Nomos, wie die Rezeption ihn in dem Gedicht vorfindet, macht alle Dike zunichte. Ein solcher Nomos entlegitimiert jegliche politische Ordnung, macht sie widersinnig.
III. Die Gewalt im Innern der Polis – die Obsession des Bürgerkriegs Es ist kaum zu ermitteln, ob die griechische Polis in höherem Maße gewaltanfällig war als andere Stadtkulturen der mittelmeerischen Antike. Aber das Imaginäre dieser Kultur, das Ensemble ihrer Vorstellungen, war in einem hohen Ausmaß von den Drohungen geprägt, welche von der Gewalt ausgehen. Unter den Bedrohungen nahm der Bürgerkrieg die Gestalt einer besonderen politischen Obsession an. Die Furcht der Griechen vor der Stasis, vor der gewaltsamen Entzweiung der Bürgerschaft, durchzieht von Homer an das gesamte politische Denken. Die ‚Wohlordnung‘ preisend, erwartet Solon in seiner Staatselegie von ihr, zu verhindern, daß der ‚stets schlafende Bürgerkrieg‘ aufwache. Diese Metapher ist mit Bedacht gewählt, sie befördert eine verbreitete Furcht: Der Bürgerkrieg ist immer präsent; es bedarf nur eines geringen Anlasses, um ihn aktiv werden zu lassen.42 Auch die allerbeste Ordnung kann ihn nicht eliminieren; sie kann nur dafür sorgen, daß er weiterschläft. Allezeit bleibt die Ordnung von diesem bösen Geist bedroht. Nicole Loraux hat zu Recht in dieser Furcht das Zentrum des griechischen Imaginären gesehen.43 Große Teile der hellenischen Poleis blieben in der klassischen Zeit von diesem Übel verschont; wurden sie aber heimgesucht, dann war es furchtbar.44 Der Bürgerkrieg ist eben kein Krieg, sondern etwas anderes. Wenn organisierte Bürgerschaften gegeneinander Krieg führen, dann üben sie zwar systematische Gewalt gegeneinander aus, doch sie beachten dabei Regeln und Trennlinien. Diese Trennlinien verwi41 Siehe: Die antiken Bezugnahmen auf das Gedicht listet Ostwald (1970) [Anm. 36], S. 218 A. 84 auf. 42 Solon, Eunomia v. 19 (Snell/Maehler 1971 [Anm. 32], S. 36). 43 Nicole Loraux: L’oubli dans la cité. In: Le Temps de la Réflexion 1 (1980), S. 213–42. 44 Hans-Joachim Gehrke: Stasis. Untersuchungen zu den inneren Kriegen in den griechischen Staaten des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr., München 1985.
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schen sich bei der Stasis; und damit droht die soziale Ordnung in ihren Eckpfeilern zu kollabieren: a) Im Bürgerkrieg verschwindet die Trennlinie zwischen Innen und Außen; Fremde intervenieren und kämpfen neben Bürgern gegen andere Bürger. Die Dichotomie Freund/Feind ist nicht mehr deckungsgleich mit der Dichotomie Innen/Außen. b) Die Trennlinie Sklave/Freie droht sich aufzulösen, denn beide Seiten setzen gelegentlich bewaffnete Sklaven ein. Die Dichotomie Sklave/ Freier ist nicht mehr identisch mit der Dichotomie ‚waffenfähig/wehruntauglich‘. c) Die Trennlinie männlich/weiblich verschwimmt. Denn immer wieder werden sogar Frauen in die aktiven Kämpfe hineingezogen. Wenn Personengruppen, die kulturell als Nichtkombattanten gelten, plötzlich als Kombattanten auftauchen, dann sind furchtbare Entgleisungen und Grausamkeiten vorprogrammiert. d) Die politische Entzweiung der Bürgerschaft spaltet Nachbarschaften, Freundschaften und Verwandtschaften; sie zerstört die Stabilität und das Vertrauen in genau jene Bande, ohne die Gesellschaft nicht möglich ist. e) Im Bürgerkrieg wirken die Schonungsregeln kaum noch; so zum Beispiel das Tempelasyl, wie Kai Trampedach kürzlich umfassend aufzeigte,45 oder auch das versprochene freie Geleit; weil die momentanen Sieger häufig den Gegenschlag des Feindes antizipieren und ihm zuvorkommen wollen. Was Thukydides über den Bürgerkrieg in Kerkyra schreibt, illustriert die Merkmale und Dynamiken der Stasis. Nicht verwunderlich, daß die politische Dichtung den Bürgerkrieg immer wieder thematisiert. Auch die Tragödie, deren zentrales Thema die Gewalt ist, kreist um diesen obsessiven semantischen Knoten. Aischylos thematisiert das Problem an der wichtigsten Stelle seiner Orestie, nämlich am Ende der Eumeniden, als die Erinyen sich endlich von Athene besänftigen lassen und das Angebot annehmen, in Athen – an einem symbolisch wichtigen Ort – ihre Heimstatt zu beziehen.46 Athene bittet die Erinyen, ihre Stadt nicht zu verfluchen. Der schlimmste Fluch ist in Athenes Augen der Bürgerkrieg: 45 Kai Trampedach: Hierosylia. Gewalt in Heiligtümern. In: Die andere Seite der Klassik. Gewalt im 5. u. 4. Jh. v. Chr., hrsg. von G. Fischer und S. Moraw, Stuttgart 2005, S. 143–65. 46 Chr. Meier: Aischylos’ Eumeniden und das Aufkommen des Politischen. In: Ders.: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt a. M. 1980, S. 144–246.
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Drum wirf in meines Lands Gebiete nicht hinein Blutigen Streits Wetzsteine, schädigend das Gemüt Der Jugend, daß sie, weinlos trunken, rast in Wut, mach meinen Bürgern nicht das Herz aufreizend wie Hähnen, und mach den Ares nicht heimisch, der Brüder eines Stammes aufeinanderhetzt! […] Doch gleichen Hofs Geflügel verbiete ich den Kampf!47
Interner Streit, der außer Kontrolle gerät, läßt die Freund/Feind-Trennlinie verschwimmen, eine Trennlinie, die konstitutiv ist für das Bestehen der Polis. Wenig später bittet sie, die Erinyen mögen ihre Stadt segnen (903– 915).48 Die Erinyen singen daraufhin in vier Strophen vier Segenswünsche: Erstens wünschen sie gedeihliches Wetter; zweitens beten sie, Mißwuchs von Pflanzen und Tieren möge ausbleiben; drittens bitten sie die Moiren, reichlich Ehebünde zu stiften und vorzeitigen Tod fernzuhalten. Schließlich beten sie in der letzten Strophe darum, daß niemals in Athen ein Bürgerkrieg ausbrechen möge. Sie thematisieren dabei den Konnex von Bürgerkrieg und Wechselrache: Nie soll der Bürgerkrieg, nach Leid unersättlich, diese Stadt durchbrausen; das ist mein Wunsch. Nie nehme, trunken vom dunkelen Blute der Bürger, Im Zorn der Rachgier wechselnden Mords Blutrausch Auf hier der Boden der Stadt! Freuden mög wechselnd man tauschen, einmütig liebenden Herzens, und auch hassen eines Sinns!49
Damit sitzen die Erinyen im Herzen der Stadt und bewachen die Polis an ihrem empfindlichsten Punkt. An ihnen hängt der innere Frieden; folglich auch die Kongruenz der beiden Trennungslinien Feind/Freund und Außen/Innen;50 folglich auch die eindeutige Definition derjenigen Personenmenge, mit der man solidarisch ist; und an dieser zivischen Solidarität hängt das Gedeihen. Einige Interpreten haben dafür plädiert, diese Stelle 47 Vv 858–864 (Übersetzung von Oskar Werner). 48 Athene verspricht, sie selber werde für den Sieg über äußere Feinde sorgen; bezeichnenderweise nennt Athene solchen Sieg ,n…kh m¾ kak»;' – Sieg, der nicht böse ist. Damit nimmt die Formel per negationem Bezug auf einen ‚bösen‘ Sieg: nämlich denjenigen über Mitbürger. 49 Vv 978–987 (Übersetzung von Oskar Werner). 50 Zur Feind/Freund-Dichotomie: Meier (1980) [Anm. 46], S. 208–14. Die Erinyen werden nun „den inneren Frieden sichern“ (S. 200).
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als interpoliert aufzufassen.51 Ihnen ist entgangen, daß Rache und Bürgerkrieg im Imaginären der Griechen zusammenhängen. Sucht die Rache auf institutionellen Wegen ihre Erfüllung, nimmt sie also den Weg über das Gericht, dann ist zwar die Konfliktneigung nicht aus der Welt geschafft, aber die Feindschaft zwischen dem Rächer und dem Übeltäter ist in einen radikal anderen praktischen Rahmen gebracht. Die Rache vor Gericht folgt einer anderen Logik, weil ihre Praktiken andere geworden sind, und erzeugt darum eine andere Semantik. Ganz anders ist es mit der eigenhändigen Rache. Diese ist notwendig auf Gewalt angelegt und führt ab einer bestimmten Stufe der Auseinandersetzung notwendig zum Blutvergießen, und sie tut das innerhalb der zivischen Gemeinschaft. Selbstverständlich ist damit der Feindbegriff ein anderer, ganz gleichgültig welches Vokabular die Texte benutzen. Entscheidend ist, daß die Konstellationen die Semantik verändern. Denn bei eigenhändiger Rache ist die Feindschaft von radikal anderer Natur als bei gerichtlicher Verfolgung; sie beseitigt die Freund/ Feind-Grenze als politische und gemeinschaftlich bestimmte. Die eigenhändige Rache führt zur Gewaltanwendung innerhalb der Bürgerschaft und zur Tötung von Mitbürgern. Sie provoziert Gegenschläge und befördert damit Eskalationen, die den inneren Frieden einer Gemeinschaft außer Kraft setzen und damit die Grundlagen des Zusammenlebens in einer Polis zerstören.52 51 So behauptet Sommerstein, die Verse 858–866 seien nachträglich eingeschoben und begründet seine Ansicht: „It is surprising that Athena should ask the Erinys not to cause civil war, when their threats have been of quite different evils“ (Alan H. Sommerstein: Aeschylus – Eumenides, Cambridge 1989, S. 251). Dindorf tilgte diese Passage und Taplin (O. P. Taplin: The Stagecraft of Aeschylus, Oxford 1977, S. 407 n. 1) folgte ihm. Dodds (in: P. C. P. S. 6, [1960], S. 23 f.) hält dafür, daß Aischylos selber diese Verse eingeschoben habe, als in Athen wenige Jahre später ein Bürgerkrieg drohte. Doch es ist unnötig, nach aktuellen Motiven für einen nachträglichen Einschub zu fragen. Der Zusammenhang von Rache und Bürgerkrieg erklärt alles. Auch Meier rätselt über die Beziehung zwischen Rache und Bürgerkrieg (Meier 1980 [Anm. 46], S. 204 A. 176); auch er sieht keine Verbindung. Aber wenn die Erinyen nicht allein die Muttermorde rächen, sondern überhaupt die Rache in den Händen halten, dann ist der Bezug augenfällig. Vgl. Loraux (1980) [Anm. 43]. 52 Dazu: La Vengeance: Etudes d’ethnologie, d’histoire et de philosophie, par R. Verdier, J.-P. Poly et G. Courtois, Paris 1980/84, livre 1 und 2: Vengeance et pouvoir dans quelques sociétés extraoccidentales, par R. Verdier, Paris 1980; livre 3: Vengeance, pouvoirs et idéologies dans quelques civilisations de l’Antiquité, par R. Verdier/J.-P. Poly, Paris 1984; livre 4: La vengeance dans la pensée occidentale, par G. Courtois, Paris 1984.
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Nichts ist daher einleuchtender als die athenische Konnotation der Rachegottheiten mit der Sorge um den inneren Frieden. Gerade weil die Erinyen Rachegöttinnen sind, vermögen sie den Bürgerkrieg auszulösen. Gewiß, sie werden es hinfort niemals mehr tun – so wünscht es sich Aischylos. Aber sie hätten die Macht, es zu tun. So sieht es Aischylos. Spätestens hier stellt sich die Frage, warum die Griechen in ihren Poleis, welche in klassischer Zeit verhältnismäßig befriedet waren und in denen Bürgerkriege nicht an der Tagesordnung waren, dennoch paranoid um dieses politische Thema kreisen. Warum klaffen Diskurs und politische Realität dermaßen auseinander? Dafür lassen sich drei Gründe nennen: Erstens weil Bürgerkriege hochgradig traumatische Geschehnisse darstellten, die lange erinnert wurden. Dazu trug auch ein Ethos bei, das die Pflicht zur Rache den Nachgeborenen ins Gedächtnis schrieb.53 Zweitens weil die griechische Kultur zur Bildung von kollektiver Meinung und kollektivem Willen diejenigen Verfahren vorzieht, die auf Konflikt angelegt sind, so etwa die Debatte und die Abstimmung nach der Mehrheitsregel. Drittens weil das griechische Denken dazu tendiert, alle Probleme ins Extrem zu treiben. Schon Homer – so Karl Reinhardt – „dichtet in Konflikten“.54 Zwischen diesen beiden Sachverhalten, der konfliktgeneigten Kommunikation und dem Denken ins Extrem, spannt sich ein Imaginäres – ein Ensemble von Vorstellungen –, in welchem die Gewalt eine vorzügliche Rolle spielt. Denn die Gewalt ist der einfachste Konfliktlöser.55 Zum Schluß ein Beispiel, wie das Denken in Zuspitzungen dazu führt, daß die Gewalt ein omnipräsentes Phänomen wird.
IV. Die Opposition Bia – Peitho und ihre Fatalität für das politische Entscheiden Was sollte helfen, die virulente bia zu begrenzen? Welche Kräfte und Mächte stellte das politische Denken der Gewalt entgegen? Das war eine ganze Serie von Begriffen, wie D’Agostino aufgezeigt hat, so z. B. nomos, dann 53 Dazu: Loraux (1980) [Anm. 43] und Cohen (1995) [Anm. 10], S. 87–118. 54 Karl Reinhardt: Die Ilias und ihr Dichter, hrsg. von U. Hölscher, Göttingen 1961, S. 99. 55 Aus einem Imaginären voller Gewalt läßt sich keine hohe Gewaltsamkeit in den sozialen Beziehungen ableiten. Das Imaginäre ist eine eigene Dimension, kein Abbild der Welt. Daher ist es auch kein Vorbild für die Welt und liefert nicht unbedingt normative Vorgaben, die das Verhalten steuern. Wären Imaginäres und Ethos kongruent gewesen, dann hätte die hellenische Kultur nicht lange überlebt.
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auch logos, oder auch physis und vor allem dike, das Recht. So alt diese Opposition ist – schon Hesiod setzt sie ein –, so prekär ist sie. Denn bereits Solon rühmt sich, Gewalt und Recht verbunden zu haben.56 Und bei Pindar führt die Verbindung von nomos und bia zu fatalen Konsequenzen. Ein beliebter und scheinbar verläßlicher Oppositionsbegriff war peitho, das ‚Überzeugen‘. Besonders Aischylos setzt auf diese Opposition und prüft ihre Tragfähigkeit. Ein solches Prüfen findet sich in seiner Tragödie Die Hiketiden. Die fünfzig Töchter des Danaos fliehen vor ihren fünfzig Vettern, den fünfzig Söhnen des Aigyptos, weil diese sie zur Ehe zwingen wollen. Christine Rohweder hat in einer Analyse des Dramas aufgezeigt, daß den fliehenden Jungfrauen zunächst nicht die Ehe selber verhaßt ist, sondern der Modus, in welchem ihre Vettern diese Ehe anbahnen wollen, nämlich ohne peitho, ohne überzeugendes Werben. Ganz folgerichtig sehen sich die Danaiden von bia bedroht, von Gewalt.57 Sie wehren sich gegen eine mit Gewalt herbeigeführte Ehe, weil ein solches auf Gewalt gegründetes Verhältnis eine Unterwerfung in Permanenz bedeutet. Bei der Begründung ihrer Abneigung gegen die Ehe benutzen die Jungfrauen eine scharfe politische Sprache; und mit Hilfe der Opposition Bia/Peitho gelingt es ihnen mühelos, eine gewaltsam zustande gekommene Ehe als Sklaverei zu bestimmen.58 Denn ein Eheverhältnis ohne Zustimmung entspricht einem Gewaltverhältnis; und Gewalt erleidet der Sklave, nicht die freie Frau.59 Insbesondere Nicole Loraux hat darauf bestanden, daß die Demokratie belastet sei mit dem Wort ‚kratein‘ – und mit dem Umstand, daß der Demos, also die gesamte Bürgerschaft deswegen herrscht, weil er überlegen und ‚stärker‘ – als die Minderheit – ist.60 Wer überlegen ist, verfügt über über56 Solon behauptet von sich, er habe vermittels der Herrschaft – kr£tei – ,zugleich Bia und Dike zusammengefügt‘ (Solon 24 [Snell], vv. 15 f.). Vgl. Wolf (1952) [Anm. 36], Bd. I, S. 215 f. sowie Christoph Mülke: Solons politische Elegien und Jamben, München 2002, S. 385–87. Das ist ein Versuch, stabile Herrschaft zu denken, welche nicht auf bloße Macht zu reduzieren ist, sondern – weil die Herrschaft ‚Gerechtigkeit‘ enthält – auf breite Akzeptanz rechnen darf und soll. 57 Vv. 820–832. 58 Vv. 335, 392–395, 790 f., 798 f. 59 Vgl. die präzisen Analysen von Christine Rohweder: Macht und Gedeihen. Eine politische Interpretation der Hiketiden des Aischylos, Frankfurt a. M. 1998, S. 105–13. 60 N. Loraux hat ‚kratein‘ mit ‚zwingen‘ wiedergegeben. Mit dieser Übersetzung gelingt es ihr, die Annahme zu stärken, die Minderheit hätte bei jeder Abstimmung, die gegen sie ausfiel, gegen die Mehrheit einen Groll gehegt, den sie hätte verdrängen müssen, um sich ihrer Identität als Bürger versichern zu können (Loraux 1980
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legene Machtmittel. Eines dieser Machtmittel ist die Gewalt. Sie ist das äußerste Machtmittel, folglich dasjenige, was am wenigsten zum Einsatz kommt. Eigenartig an den politischen Diskursen der griechischen Klassik ist nun, daß unter allen Machtmitteln gerade das äußerste und letzte obsessiv die Aufmerksamkeit attrahiert. Die Relation ‚peitho/kratos‘ wird in den Diskussionen sehr schnell zur Relation ‚peitho/bia‘, weil so viele griechische Intellektuelle, zur Zuspitzung neigend, im Ernstfall das Herrschen auf die Gewalt reduzieren, so als wäre die Gewalt der innerste und eigentlichste Kern des Herrschens. Diese Reduktion wird durch den Umstand gefördert, daß eine starke Strömung des griechischen Denkens Herrschaft als bloßes Machtverhältnis bestimmt, vor allem während des 5. Jhs. v. Chr.61 Und dann kann man – wie der letzte Text zeigen soll – die Opposition peitho-bia bis zum Kollaps der institutionellen Ordnung vorantreiben. Xenophon erzählt in seinen Memorabilien einen fiktiven Dialog zwischen Perikles und seinem Neffen Alkibiades.62 In diesem Dialog gelingt es Alkibiades, seinem Onkel das Eingeständnis aufzunötigen, daß jegliches Gesetz auf Gewalt beruhe. Seine Argumentation folgt einer Taktik, die zu Beginn des 4. Jhs. längst üblich geworden war: Zunächst läßt er Perikles definieren, was ein nomos ist. Die Antwort lautet: (42) alles, was die herrschende Instanz (tÕ kratoàn tÁj pÒlewj) festsetzt, heiße ein nomos. Doch der Neffe begnügt sich nicht damit, was man ein Gesetz nennt; er will wissen, was ein Gesetz wesensmäßig ist, ganz gleich ob eine Demokratie, eine Oligarchie oder eine Tyrannis die Gesetze erläßt. Im übernächsten (44) Schritt läßt er seinen Onkel der folgenden These zustimmen: Wenn der Stärkere den Schwächeren nicht überzeugt (m¾ pe…saj), etwas Bestimmtes zu tun, sondern ihn dazu zwingt (¢ll¦ bias£menoj), dann sei dies Gewalt und anomia (Gesetzlosigkeit). Alkibiades operiert also mit zwei Oppositionspaaren; zum einen damit, daß bia und nomos sich gegenseitig ausschließen, also Gewalt stets anomia bedeute, zum anderen mit der Opposition von bia und peitho. Dieser These stimmt Perikles zu. Und damit sitzt er in der Falle. Denn nun (45) muß er als Gewaltherrschaft bezeichnen, wenn jemand einen anderen dazu nötigt, etwas zu tun, ohne ihn überzeugt zu haben (p£nta, Ósa tij m¾ pe…saj ¢nagk£zei tina poie‹n). Genüßlich weist nun Alkibiades nach, daß Volksbeschlüsse [Anm. 43]). Doch dann wären die Bürger einer griechischen Polis in eine Situation geraten, in der sie fast täglich eine enorme Menge von Sachverhalten hätten verdrängen müssen. 61 Siehe den Beitrag von Kai Trampedach in diesem Band. 62 Xen. mem. I, 2, 40–46 (P. Jaerisch).
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die Minderheit der Bürger vergewaltigen. Denn eine Mehrheitsentscheidung in der Volksversammlung beruht ja auf dem Umstand, daß man die Minderheit nicht hat überzeugen können. Hätte man die Minderheit überzeugt, dann wäre ja die Abstimmung unnötig. Perikles ist verärgert, kann aber nichts dagegen einwenden. Die Brisanz dieses Textes liegt darin, daß jedwede – auch mich betreffende – Entscheidung, der ich nicht zugestimmt habe, ein Akt der Gewalt gegen mich ist, eine Vergewaltigung.63 Damit ist jede Mehrheitsentscheidung disqualifiziert. Folglich ist die institutionalisierte Demokratie eine Gewaltherrschaft. Wenn Alkibiades Recht behält, dann steht jegliche organisierte menschliche Gesellschaft unter der Herrschaft der Gewalt. Damit ist menschliches Zusammenleben nur noch möglich bei permanentem Konsens von selbstermächtigten Individuen. Der Anarchismus von Max Stirner steht vor der Türe.64 Und genau dieser Anarchismus reaktiviert die Gewalt und das Recht des Stärkeren. Die Dialektik dieser Argumentation gelangt zum Abschluß bei Kallikles im Platonischen Gorgias: Für Kallikles ist der nomos zwangsläufig gewaltsam, ob als nomos der Natur oder als gesetzter nomos. Strapaziert man die Opposition bia – peitho, dann läßt sich logisch die Ubiquität der Gewalt behaupten und das Politische vollständig entlegitimieren. Dann ist die Auflösung eines Raums institutionalisierter kollektiver Entscheidung nicht mehr zu verhindern. Und dann ist die Gewalt nicht nur der Vater aller Dinge, sondern auch ihr permanenter König. Ist denn die Gewalt wirklich ubiquitär in den Diskursen? Oder gibt es definierte Zonen, wo die Gewalt nicht ist und nicht sein kann. Aischylos präsentiert uns in den Hiketiden zwei solche gewaltfreie Zonen. Die eine Zone ist die Innenpolitik der Stadt Argos. Ich meine jene berühmte Stelle, die berichtet, wie der König Pelasgos vor der argivischen Volksversammlung den Antrag stellt, den fünfzig verfolgten Töchtern des Danaos Schutzflucht zu gewähren. Denn nach dem Antrag stimmte das Volk ab. An dieser Stelle fallen die berühmten Worte, aus denen Victor Ehrenberg den ältesten Hinweis auf die Demokratie (d»mou kratoàsa) 63 D’Agostino (1983) [Anm. 10], S. 23 meint, die Pointe dieses Disputs liege darin, daß in der Tyrannis der Gesetzesbegriff aporetisch werde. Doch der Text ist nicht so harmlos; er spielt den Einzelwillen rücksichtslos gegen den Willen der Mehrheit aus. Daß Gesetz und Gewalt sich gegen die Natur richteten, behauptet Hippias (Plat. Prot. 337c–d); daß das Gesetz selber die Natur vergewaltige, hingegen Kallikles (Plat. Gorg. 482 ff.). 64 Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart 1981, S. 204–19, besonders S. 208.
Gewalt als präsente und als diskursive Obsession
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herausgelesen hat.65 Denn – so der berühmte Vers 604 – die ‚beherrschende Hand des Demos‘ – d»mou kratoàsa ce…r – erbrachte ein Ja zum Antrag des Königs. Liest man die Stelle entscheidungslogisch, dann wird die Basis für die Interpretation Ehrenbergs brüchig. Denn Aischylos bestimmt diese Abstimmung auf paradoxe Weise: Einerseits ist sie ein Medium des Beherrschens, der Ausdruck kratoàsa ce…r – beherrschende Hand – läßt daran keinen Zweifel; bezeichnenderweise erwarten die Jungfrauen, daß sich die Volksversammlung in zwei Teile gespalten hat und fragen ihren Vater, wohin sich die Mehrheit geneigt habe: d»mou kratoàsa ceˆr ÓpV plhqÚnetai (v. 604). Anderseits erhoben die Bürger ihre Hände, um dem Antrag des Königs zuzustimmen, bevor der Herold überhaupt eine formale Abstimmung einleiten konnte. Diese Einmütigkeit seinen Töchtern mitteilend, gebraucht Danaos die Worte oÙ dicorrÒpwj – das Ganze des Volkes teilte sich nicht in zwei Teile. Folglich wurde überhaupt niemand ‚beherrscht‘; die d»mou kratoàsa ce…r hat kein reales Gegenüber gefunden. Oder, in den Worten des Xenophontischen Alkibiades gesprochen: Dieser einstimmige Volksbeschluß vermag gar keine bia auszuüben. Das Traumbild des totalen Konsenses leuchtet auf. Denn die Rede des Pelasgos hat alle bis auf den letzten Mann überzeugt. Peitho – das sanfte Überreden und gründliche Überzeugen – ist nach der Interpretation Christine Rohweders das Hauptthema dieser Aischyleischen Tragödie; und in diesem Augenblick herrscht peitho total, daher ist in diesem Augenblick die Gewalt im Innern der Polis vollkommen abwesend. In derselben Tragödie gibt es noch einen anderen Ort der Gewaltlosigkeit, nämlich bei Zeus selber. Im großen Zeus-Gesang stellt der Chor den Gott auf eine Weise vor, die theologisch den Anthropomorphismus der griechischen Religion zu durchschlagen droht: Zeus ist allmächtig, und er bedarf keiner Gewalt. Fränkel hat bemängelt, daß der Chor den obersten Gott als vollkommen gewaltlosen vorstellt; er hielt das für eine unentwikkelte Ansicht, die Aischylos später überwunden habe.66 Christine Rohweder gelangt zu einem ganz anderen Schluß: Zeus ist deswegen ohne Gewalt, weil bei ihm Denken und Ausführen zusammenfallen. Dieser Schluß ist logisch schärfer, theologisch stringenter und soziologisch stimmiger. Er lautet: Weil Zeus allmächtig ist, braucht er keine Gewalt.67 65 Victor Ehrenberg: Origins of Democracy. In: Historia 1 (1950), S. 515–48, hier: S. 521–24. 66 E. Fränkel: Der Zeus-Hymnus im Agamemnon des Aischylos. In: Philologus 86 (1931), S. 13.
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Vollendeter Konsens und Allmacht ähneln einander: Ersterer läßt jegliche Gegensätzlichkeiten in einem gemeinsamen Willen untergehen, den alle haben und äußern. Letztere nimmt jeglicher Gegenmacht die Chance, ihr überhaupt gegenüberzutreten, denn ihr gegenüber bleibt jedwede Gegenmacht dermaßen ohnmächtig, daß sie die Wirkung der Allmacht weder um ein Winziges zu verzögern noch um ein Winziges abzulenken vermag. Beide, vollendeter Konsens wie Allmacht, heben den Gegensatz restlos auf, so daß er materialiter nicht mehr wirken und semantisch nicht mehr bestehen kann. Das politische Denken der griechischen Klassik konstituiert somit diese beiden Orte – den vollkommenen Konsens und die Allmacht – zu Bereichen völliger Gewaltlosigkeit. Überall sonst ist der Gewalt nicht zu entkommen.
67 „Mit der Bestimmung der Gewaltlosigkeit kennzeichnen die Danaiden nicht den Effekt des göttlichen Wirkens auf den Menschen, sondern die Verfaßtheit des göttlichen Willens: die Allmacht von Zeus“ (Rohweder 1998 [Anm. 59], S. 99).
Mythos und Kult
Albert Henrichs (Cambridge, Mass.)
Blutvergießen am Altar: Zur Ritualisierung der Gewalt im griechischen Opferkult Gewalt war den Griechen und ihrer Kultur ins Gesicht geschrieben. Sie manifestiert sich nicht nur in ihren Mythen und deren Brechungen in Literatur und Kunst, sondern auch in zentralen Bereichen des Alltagslebens. Deshalb sei mit einem aus dem Leben gegriffenen Zeitzeugnis aus dem klassischen Athen begonnen, in dem zwar von Gewalt die Rede ist, aber mit keinem Wort von Religion, Ritual oder Opferkult. Aus der speziellen Perspektive der Opferthematik heraus handelt es sich also um einen stark defizitären Text, der all das nicht beinhaltet, um das es bei unserem Thema geht. Eben deshalb ist er als Kontrastfolie besonders aufschlußreich, zumal er uns eine Form von Gewalt unverblümt, d. h. ohne literarische Prätention bzw. ästhetische Brechung, vor Augen führt, die mit Leibeigenschaft zu tun hat und im Athen des 5. u. 4. Jhs. v. Chr. vermutlich nicht ungewöhnlich war. Der erst jüngst publizierte Text steht auf einer Bleitafel, die in der Agora von Athen gefunden worden ist und aus dem 4. Jh. stammt. Von der Form her ist es ein einfacher Brief, den ein gewisser Lesis an seine Mutter und an einen uns unbekannten Xenokles richtet. Sein Inhalt ist jedoch alles andere als konventionell und ohne Parallele. Denn Lesis fürchtet um sein Leben und beklagt sich mit dem Mut der Verzweiflung über die Art der Behandlung, der er bei der Zwangsarbeit in einer Schmiedewerkstatt ausgesetzt ist: Lesis sendet [diesen Brief] an Xenokles und an seine Mutter mit der Bitte, unter keinen Umständen zuzulassen, daß er in der Schmiede elend zugrunde geht, sondern bei seinen Herren vorstellig zu werden und ein besseres Los für ihn zu finden. Denn ich bin in die Hände eines bösen Mannes gefallen. Ich komme um vor lauter Auspeitschen (mastigoÚmenoj ¢pÒllumai), liege in Fesseln (dšdemai), werde schmählich behandelt (prophlak…zomai) – mehr und mehr.1 1 David R. Jordan: A Personal Letter Found in the Athenian Agora. In: Hesperia 69 (2000), S. 91–103; dazu Edward M. Harris: Notes on a Lead Letter from the Athenian Agora. In: Harvard Studies in Classical Philology 102 (2005), S. 157–70.
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Alles deutet darauf hin, daß Lesis ein Sklave war, dessen Schicksal in den Händen seiner „Herren“ (despÒtai) lag, wie er sie nennt. Wir wissen nicht, wer diese Eigentümer waren und in welchem Verhältnis sie zu seiner Mutter standen. Sie hatten offenbar Lesis bei seinem als „Bösewicht“ (¥nqrwpoj ponhrÒj) titulierten Peiniger verdungen, der entweder der Besitzer oder Pächter der Schmiede gewesen sein muß. Lesis befürchtet, daß er die ständigen körperlichen und seelischen Mißhandlungen nicht überleben wird. In seiner Not wendet er sich an die Mutter und den ihr möglicherweise nahestehenden Xenokles und bittet beide um Hilfe, da ihm als Sklaven der Beschwerdeweg über die Gerichte nicht offenstand. Die Angst beflügelt seine Worte und hebt die Stilebene. Seine Petition gipfelt in dem effektvollen asyndetischen Trikolon ¢pÒllumai dšdemai prophlak…zomai, in dem er sich als Opfer dreier eskalierender Formen von Gewalt vorstellt. Der Brief endet überraschend und abrupt mit der kolloquialen Wiederholungsfigur „mehr mehr“ (m©llon m©llon), die steigernde Wirkung hat und als abschließender „cri du cœur“ fungiert. Der Hilferuf des Lesis verdeutlicht auf eindrückliche Weise, wie wehrlos gerade die untersten sozialen Gruppen im Athen eines Platon und Aristoteles der auf sie abzielenden Gewalt ihrer Mitbürger ausgeliefert waren. Unsere Kenntnis der diversen außerkriegerischen Kategorien von Gewalttaten und Mißhandlungen, mit denen sich die Athener der klassischen Zeit in ihrem Alltag auseinandersetzen mußten, beruht jedoch nicht auf gelegentlichen Zufallsfunden wie dem Brief des Lesis, sondern vor allem auf den attischen Gerichtsreden. Da kommen sowohl Täter als auch Opfer zu Wort und nehmen Stellung zu Delikten wie Mord und Totschlag, Vergewaltigung, Körperverletzung und Freiheitsberaubung. Dabei handelt es sich ausschließlich um Vergehen, die in den profanrechtlichen Bereich fallen und die kultische Sphäre höchstens indirekt berühren.2 Speziell religiös motivierte Formen von Gewalt sind im Zusammenhang mit dem Gerichtswesen nicht bezeugt und wären auch nicht Sache der attischen Gerichte gewesen. Der eigentliche Nexus von Religion und Gewalt ist anderswo zu suchen. Er liegt im Bereich der von Göttern und Gesellschaft sanktionierten, der Justiz entzogenen Tötungsakte, die mit Krieg und Opferwesen verbunden sind. Tier- und Menschenopfer sind nämlich die Hauptformen von Gewalt, die innerhalb der griechischen Religion vorkommen. Damit sind wir bei unserem eigentlichen Thema. 2 David Cohen: Law, Violence, and Community in Classical Athens, Cambridge/ New York 1995.
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Im folgenden möchte ich vier sich überlagernde Themenkreise diskutieren: 1. den spezifischen Ort und die rituelle Funktion von Gewalt in der griechischen Religion im Unterschied zu anderen Religionen, 2. die tragische Opferthematik mit ihrer moralischen und ästhetischen Differenzierung von Tier- und Menschenopfer am Beispiel des Iphigenieopfers, wobei sich mein Ansatz deutlich von den ästhetischen Kategorien, die Karl Heinz Bohrer in diesem Band entwickelt, unterscheidet und sie hoffentlich konstruktiv ergänzt, 3. die rituelle Parallelisierung von Mensch und Tier als Opfer ritueller Tötungsakte, verstanden als ein Konstrukt der griechischen Opfermentalität, 4. die eigentliche Kernfrage, ob die Griechen beim Tieropfer Schuldgefühle empfanden und sich zumindest psychologisch wenn nicht moralisch von dem mit ihrer Kultur unzertrennlich verbundenen rituellen Schlachten von Tieren distanzierten, und damit engstens verknüpft, in welchem Sinne und mit welchem Recht man beim Tieropfer überhaupt von „Gewalt“ sprechen kann.
1. Religion, Krieg und Gewalt Die Existenz von Schuldgefühlen ist eine der Voraussetzungen für die Opfertheorie von Walter Burkert, die den inner- und teils auch den außerfachlichen Opferdiskurs seit mehr als drei Jahrzehnten bestimmt.3 Wie immer man sich zu dieser grundsätzlichen Evozierung von Schuld am „Tiermord“4 stellen mag, Burkert ist und bleibt der einzige für die Griechen zuständige Religionshistoriker, der vor dem Begriff der Gewalt und seinen Implikationen nicht zurückschreckt, sondern sich immer wieder mit 3 Walter Burkert: Homo Necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen [1972], Berlin/New York 21997 u. Anthropologie des religiösen Opfers. Die Sakralisierung der Gewalt, München 1984. Zur Diskussion vgl. Violent Origins: Walter Burkert, René Girard, and Jonathan Z. Smith on Ritual Killing and Cultural Formation, hrsg. von Robert G. Hamerton-Kelly, Stanford 1987; verschiedene Beiträge zur Auseinandersetzung mit Walter Burkert und Burkerts „Response“ in: Religion 30 (2000), S. 211–85; Hanna Gekle: Aggression in religionswissenschaftlichen Theorien. In: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, hrsg. von Hubert Cancik, Burkhard Gladigow und Matthias Laubscher, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1988–2001, Bd. 1, S. 404–6.
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ihm auseinandersetzt, während Vorgänger wie Jane Harrison und E. R. Dodds Manifestationen von Gewalt in der griechischen Religion eher beschönigt und romantisiert haben. „Gerade in der Mitte der Religion droht faszinierend blutige Gewalt.“5 So lautet sein düsteres Fazit auf der ersten Seite seines Homo Necans unter Berufung auf das Isaaksopfer und den „Mord“ am Gottessohn, der im Zentrum des Christentums steht. Religion und Gewalt verbindet seit jeher ein zwiespältiges, ja paradoxes Spannungsverhältnis. Die Mehrheit der heute auf der Erde vertretenen Glaubensgemeinschaften lehnt im Prinzip jede willkürliche Gewaltanwendung ab und befürwortet ein friedliches Zusammenleben aller Menschen. Vor allem die drei großen monotheistischen Buchreligionen bekennen sich zu einem Gott, zu dessen Tugenden Gerechtigkeit, Mitleid und Friedfertigkeit gehören. Die Wirklichkeit sieht aber häufig anders aus, denn der Zweck heiligt seit jeher die Mittel, wie die Welt immer wieder auf erschütternde Weise erfährt. Die einst in vielen Kulturen so verbreiteten Menschenopfer mag es in dieser Form nicht mehr oder nur noch in bizarren Ausnahmefällen geben, aber der militante religiöse Fanatismus nicht nur islamischer Provenienz fordert nahezu jeden Tag seine Opfer, um von den zahlreichen Glaubenskriegen der Vergangenheit ganz zu schweigen. Gewaltlosigkeit im Umgang mit Andersgläubigen und selbst innerhalb derselben Religion bleibt ein Ideal, das nur selten realisiert wird. Aus religionshistorischer Sicht ist der Verzicht auf Gewalt aus religiösen Gründen eher die Ausnahme als die Regel. So erklärt sich die Sonderstellung und exemplarische Ausstrahlungskraft eines Mahatma Gandhi, der ironischerweise selbst ein Opfer von nicht nur politisch, sondern auch religiös motivierter Gewalt wurde. Polytheistische Religionen sind grundsätzlich weniger missionarisch und deswegen toleranter als der Monotheismus. Das gilt auch für die Griechen der klassischen Zeit, die mit allen Formen der Gewalt, welche ihre häufigen Kriege mit sich brachten, sowohl als Sieger wie auch als Verlierer engstens vertraut waren. Der Krieg mit seinen Greueln, zu denen nicht nur Töten und Getötetwerden, sondern auch Versklavung und soziale Ächtung zählten, gehörte zu ihren existentiellen Grunderfahrungen. Aber im Gegensatz zum Christentum und Islam kannten sie keine 4 Zugespitzt formuliert von Jean-Louis Durand und Alain Schnapp: Boucherie sacrificielle et chasses initiatiques. In: La cité des images: religion et société en Grèce antique, Lausanne 1984, S. 49–66, hier: S. 50: „Meurtrier, le sacrifice n’a pas la mort pour but.“ Zur wertenden Charakterisierung der Tiertötung als „Mord“ s. u. Abschnitt 4. 5 Burkert (1997) [Anm. 3], S. 8.
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Religionskriege, zumal sie anderen polytheistischen Religionssystemen gegenüber aufgeschlossen waren – es sei nur an Herodots religionsvergleichende Exkurse erinnert6 – und fremde Götter anstandslos akzeptierten und assimilierten. Dazu kommt, daß sie, von Ausnahmefällen wie den Perserkriegen abgesehen, vornehmlich untereinander Krieg führten. Die zwei häufigsten Formen innergriechischer Feindseligkeiten, nämlich Kriege zwischen Stadtstaaten und Bürgerkriege innerhalb ein und derselben Polis, hatten zwar auf lokaler Ebene nicht selten die Desakralisierung von Heiligtümern samt Tempelplünderungen und anderen Religionsfreveln zur Folge, aber sie führten nicht zu Glaubensspaltungen und berührten nicht die religiöse Substanz. Selbst die sogenannten Heiligen Kriege, die im 5. und 4. Jhdt. v. Chr. ausgetragen wurden, hatten weniger mit Religion als mit der politischen Hoheit über das delphische Orakel zu tun. Das Fehlen von religiös motivierten Kriegen in Griechenland bedeutet jedoch nicht, daß Religion und Krieg für die Griechen getrennte Bereiche waren.7 Denn der Krieg war nicht nur Sache der Menschen, sondern auch der Götter. Gottheiten wie Ares und Athena galten als göttliche Garanten des Krieges, die auch selbst am Kampf teilnahmen.8 Darüber hinaus gab es zumindest eine Form von Gewalt, in der sich Kriegsführung und Religionspraxis aufs engste berührten, und das ist das Blutvergießen beim Opfer. So sind in der mythischen Tradition Menschenopfer eng mit dem Krieg verbunden. Am Anfang und Ende des trojanischen Krieges steht ein Mädchenopfer: Iphigenie wird bei der Ausfahrt der Flotte der Artemis geopfert, und Polyxena verblutet nach der Zerstörung von Troja als Versöhnungsopfer für den Totengeist des Achill über dessen Grab.9 In der antiken Kunst und der attischen Tragödie sind beide Opfer als Inbegriffe ritualisierter Gewalt wiederholt behandelt. Aber nicht nur in den fiktiven Situationen des Mythos, sondern auch in der Wirklichkeit wurde das Blutvergießen in der Schlacht im Opferritual vorweggenommen. Es war nämlich bei den Griechen Usus, sowohl vor 6 Walter Burkert: Herodot als Historiker fremder Religionen. In: Hérodote et les peuples non grecs, hrsg. von Giuseppe Nenci, Entretiens sur l’antiquité classique 35, Vandœuvres/Genf 1990, S. 1–32. 7 Raoul Lonis: Guerre et religion en Grèce à l’époque classique. Recherches sur les rites, les dieux, l’idéologie de la victoire. Annales Littéraires de l’Université de Besançon 238, Paris 1979. 8 Susan Deacy: Athena and Ares: War, Violence and Warlike Deities. In: War and Violence in Ancient Greece, hrsg. von Hans van Wees, London 2000, S. 285–98; Robert Parker: Polytheism and Society at Athens, Oxford 2005, S. 397–403.
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Kriegsbeginn als auch unmittelbar vor der Schlacht die Seher zu konsultieren, denen es oblag, Opfertiere einzeln oder serienweise zu schlachten, ihre Eingeweide zu inspizieren und aus deren Beschaffenheit die Chancen auf einen Sieg vorauszusagen.10 Die spartanischen Armeen zogen mit ganzen Ziegenherden ins Feld, um für den Moment der Feindberührung gerüstet und auch in ritueller Hinsicht stets kampfbereit zu sein.11 Das Innenbild einer frühklassischen rotfigurigen Trinkschale in Cleveland zeigt, wie sich ein Krieger in voller Rüstung über einen Widder beugt und ihm mit seinem Schwert die Kehle durchsticht, aus der Blut fließt.12 Der griechische Fachausdruck für diese Form des rituellen Tötens ist sphazein, „schächten“, d. h. durch Kehlschnitt schlachten. Entsprechend heißen die Opfer, die dem Kampfgeschehen unmittelbar vorausgehen, sphagia, d. h. „Schlachtopfer“. Die Doppelwertigkeit des Morphems „Schlacht“ in Wortbildungen wie 9 Burkert (1997) [Anm. 3], S. 77–80. Zur Darstellung der beiden Opferszenen in der griechischen Kunst, vor allem der Vasenmalerei, s. u. Anm. 25, 27–29 u. 32–35; A. John N. W. Prag: The Oresteia: Iconographic and Narrative Tradition, Warminster/Chicago 1985, S. 61–67 mit Tafeln 38–43; Folkert T. van Straten: HIERA KALA. Images of Animal Sacrifice in Archaic and Classical Greece, Religions in the Graeco-Roman World 127, Leiden 1995, S. 114; Peter Blome: Das Schreckliche im Bild. In: Ansichten griechischer Rituale. Geburtstags-Symposium für Walter Burkert, hrsg. von Fritz Graf, Stuttgart/Leipzig 1998, S. 72–95, hier: S. 82–84; Jean-Louis Durand und François Lissarrague: Mourir à l’autel. Remarques sur l’imagerie du „sacrifice humain“ dans la céramique attique. In: Archiv für Religionswissenschaft 1 (1999), S. 83–106. 10 Lonis (1979) [Anm. 7], S. 95–115; W. Kendrick Pritchett: The Greek World at War, Berkeley/Los Angeles 1979, Bd. 3, S. 47–90; Michael H. Jameson: Sacrifice before Battle. In: Hoplites: The Classical Greek Battle Experience, hrsg. von Victor D. Hanson, London/New York 1991, S. 197–227; Robert Parker: Sacrifice and Battle. In: van Wees (2000) [Anm. 8], S. 299–314; Jörg Gebauer: Pompe und Thysia. Attische Tieropferdarstellungen auf schwarz- und rotfigurigen Vasen. In: Eikon. Beiträge zur antiken Bildersprache 7, Münster 2002, S. 280–85; John Dillery: Chresmologues and Manteis: Independent Diviners and the Problem of Authority. In: Mantikê: Studies in Ancient Divination, hrsg. von Sarah I. Johnston und Peter T. Struck, Religions in the Graeco-Roman World 155, Leiden 2005, S. 167–231, hier: S. 200–09. 11 Jean-Pierre Vernant: Artémis et la guerre (Vorlesung am Collège de France 1980/ 81). In: Figures, idoles, masques, Paris 1990, S. 162–81, leicht abgeändert unter dem Titel Artémis et le sacrifice préliminaire au combat. In: Revue des études grecques 101 (1988), S. 223–29. 12 Cleveland, Ohio, Museum of Art, 26.242, um 480 v. Chr. Vgl. van Straten (1995) [Anm. 9], S. 219, Nr. V 144 mit Abb. 112; Thesaurus cultus et rituum antiquorum (= ThesCRA), Los Angeles 2004, Bd. 1, S. 105 Nr. 359 u. Tafelteil S. 22, Gr. 359; Gebauer (2002) [Anm. 10], S. 266, Nr. S 4 mit Abb. 138.
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„Schlachtfeld“ und „Schlachtruf“ einerseits und „Schlachthaus“, „Schlachtvieh“ bzw. „Schlachtmesser“ andererseits verdeutlicht, daß Krieg und Opfer kommensurable Tötungsriten sind, denen die Gewalt gemeinsam ist, und daß Menschentötung und Tiertötung zwar funktionell verschieden, aber essentiell verwandt sind. Diese rituelle Analogie war den Griechen stark bewußt und hat zuerst im homerischen Epos und dann vor allem in der Tragödie in der ausdrücklichen Parallelisierung von Menschen- und Tieropfer bzw. von Tieropfer und Mord ihren Niederschlag gefunden, wie vor allem der Iphigeniemythos exemplarisch zeigt, der uns noch beschäftigen wird.13 Die durch lange Tradition festgelegte Opfersprache ist neben dem eigentlichen Ablauf des Opferrituals – dem „ritual process“ – ein Hauptmerkmal der Ritualisierung. Ritualsprache und rituelle Handlung, Legomena und Dromena, gehen dabei Hand in Hand. Die beiden Grundbegriffe der griechichen Opfersprache sind thyein und sphazein. Bei thyein liegt die Betonung auf dem Opferritual als solchem, bei sphazein dagegen auf dem gewaltsamen, blutigen Abschlachten. Die beiden Termini sind Komplementärbegriffe, die gelegentlich miteinander verbunden sind, wie z. B. in dem Sakralgesetz aus Selinunt (um 450 v. Chr.): „Wenn man dem Elasteros opfern (qÚein) will, opfere (qÚein) man [nach demselben Ritus] wie den Unsterblichen, aber man soll zur Erde hin schlachten (sf£zeto d' ™j g©n).“14 Dieser neue Text bestätigt, daß die moderne Unterscheidung von olympischen und chthonischen Opferriten revisionsbedürftig ist und daß es zumindest Mischformen gab. Denn der Rachedämon, dem hier geopfert 13 Froma Zeitlin: The Motif of the Corrupted Sacrifice in Aeschylus’ Oresteia. In: Transactions of the American Philological Association 96 (1965), S. 465–508; Walter Burkert: Wilder Ursprung. Opferritual und Mythos bei den Griechen, Berlin 1990, S. 27–29; Richard Seaford: Reciprocity and Ritual: Homer and Tragedy in the Developing City-State, Oxford 1994, S. 340–41, S. 369–72; Albert Henrichs: Drama and Dromena: Bloodshed, Violence, and Sacrificial Metaphor in Euripides. In: Harvard Studies in Classical Philology 100 (2000), S. 173–88; John Gibert: Apollo’s Sacrifice: The Limits of a Metaphor in Greek Tragedy. In: Harvard Studies in Classical Philology 101 (2003), S. 159–206. 14 SEG 43.630; Michael H. Jameson, David R. Jordan and Roy D. Kotansky: A Lex Sacra from Selinous, Greek, Roman and Byzantine Studies Suppl. 11, Durham, North Carolina 1993, S. 16, B 12 f.; Eran Lupu: Greek Sacred Laws: A Collection of New Documents (NGSL), Leiden/Boston 2005, S. 361, B 12 f. Dazu Albert Henrichs: „Sacrifice as to the Immortals“. Modern Classifications of Animal Sacrifice and Ritual Distinctions in the Lex Sacra from Selinous. In: Greek Sacrificial Ritual, Olympian and Chthonian, hrsg. von Robin Hägg und Brita Alroth, Skrifter utgivna av Svenska Institutet i Athen, 80, Bd. 18, Stockholm 2005, S. 47–60, hier: S. 56.
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wird, wird zwar von den „Unsterblichen“, d. h. den olympischen Göttern, unterschieden, aber es wird ausdrücklich zur Auflage gemacht, daß man ihm „wie den Unsterblichen“ opfern soll und das Blut in die Erde (™j g©n) fließen muß. Diese nach unten gewandte, auf die Erde zielende und damit im Wortsinn „chthonische“ Ausrichtung des Opfers an den Elasteros steht in direktem Gegensatz zum Usus des olympischen Normalopfers, den Walter Burkert lange vor Bekanntwerden dieses Textes wie folgt beschrieben hat: „Besondere Sorgfalt gilt dem ausfließenden Blut: es darf nicht zur Erde fließen, es muß den Altar, den Herd, die Opfergrube treffen. Kleine Tiere hebt man über den Altar, bei anderen fängt man das Blut in einer Schale auf und besprengt den Altarstein: Er allein darf, und er muß immer neu von Blut triefen.“15 Mit Blut bespritzte Altäre waren den Griechen ein vertrauter Anblick und sind auf den Vasenbildern der klassischen Zeit häufig dargestellt.16 Das Blutbad, das sich periodisch wiederholte, wenn z. B. auf der Akropolis in Athen eine Hekatombe geopfert und hundert Rinder sozusagen auf einen Schlag niedergemetzelt wurden, kann man nur schwer nachvollziehen.17 Selbst moderne Schlachthäuser mit ihren Massenschlachtungen, die seit Paul Stengels und Karl Meulis Besuchen im Berliner bzw. Baseler Schlachthof gelegentlich zur Illustration des griechischen Tieropfers bemüht werden und die gerade in den Vereinigten Staaten immer wieder ins Kreuzfeuer der Diskussionen um Tierschutz, humanes Schlachten sowie den moralischen und rechtlichen Status der Tiere geraten, sind nicht wirklich vergleichbar.18 15 Burkert (1997) [Anm. 3], S. 12. 16 Van Straten (1995) [Anm. 9], S. 104 f.; Gebauer (2002) [Anm. 10], S. 254 f. u. 520. Bei Empedokles erscheint der „vom Stierblut getränkte Altar“ (fr. 128,8 DielsKranz) als Inbegriff des Tieropfers, das er aus philosophischen Gründen (Metempsychose) verwarf. 17 Zu den attischen Hekatombenopfern vgl. Vincent J. Rosivach: The System of Public Sacrifice in Fourth-Century Athens, American Classical Studies 34, Atlanta, Georgia 1994, S. 69–72. 18 Paul Stengel: Opferbräuche der Griechen, Leipzig/Berlin 1910, S. 115, dazu van Straten (1995) [Anm. 9], S. 109–13; Karl Meuli: Gesammelte Schriften, Basel 1975, Bd. 2, S. 940 f. Zur Kritik an der modernen Schlachthofmentalität vgl. Sue Coe: Dead Meat, New York/London 1995; Gisela Vogt: Der Tod im Schlachthof und die moderne Jägerei. In: Tiertod – Wirklichkeiten und Mythen. Eine Ausstellung des Westfälischen Museumsamtes, Münster, Landschaftsverband Westfalen-Lippe, und des Naturkunde-Museums der Stadt Bielefeld, Münster 1996, S. 93–100; Nikolaus Himmelmann: Tieropfer in der griechischen Kunst, Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Vorträge G 349, Opladen 1997, S. 7 Anm. 1.
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2. Die Opferung der Iphigenie Da jedes rituelle Töten mit Gewalt verbunden ist, überschneiden sich die Bedeutungsfelder von thyein und sphazein. Jedoch bleibt eine gewisse Differenzierung bestehen und wird gerade von den Tragikern an entscheidenden Stellen ins Spiel gebracht. Denn im Unterschied zum rituell festgelegten, aber wertneutralen thyein ist sphazein ein Opferterminus, der eine starke emotionale Resonanz auslöst. Wenn es von Agamemnon im gleichnamigen Stück des Aischylos heißt, daß er „sein Kind opferte“ (1417 œqusen aØtoà pa‹da), denkt man an den Ritualmord, den der Vater an seiner Tochter vollzieht. Wenn es dagegen bei Euripides heißt, daß er sie „schlachtete“ (Iph. T. 8 œsfaxen), wird stärker an unsere Gefühle appelliert und wir haben uns das fließende Blut vorzustellen, in dem Iphigenies Leben verströmt. Die unterschiedlichen Assoziationen der beiden Termini lassen sich an dem Nebeneinander zweier eng aufeinander bezogener Aussagen des Chors im Eingangslied des Agamemnon ablesen. Dort wird berichtet, wie Agamemnon zögert, „die väterlichen Hände am Altar mit dem Blut zu beflecken, das beim Schlachten eines Mädchens fließt“ (Ag. 209 ff. mia…nwn parqenosf£goisin e…qroij patróouj cšraj pšlaj bwmoà), während es das Heer „nach einem den Winden Einhalt gebietenden Opfer und Jungfrauenblut“ (214 f. pausanšmou […] qus…aj parqen…ou q' a†matoj) gelüstet. An der ersten Stelle genügt der bloße Wortstamm sphag- in parqenosf£goisin, um die Vorstellung vom blutigen Opfer zu suggerieren. Dagegen bedarf es an der zweiten Stelle der ausdrücklichen Erwähnung des Blutes (haima), um das Opfer (thysia) als Blutopfer zu kennzeichnen. Die beiden zitierten Passagen stammen aus einer dem Agamemnon in den Mund gelegten Reflexion über die Ausweglosigkeit seines Dilemmas: soll er Artemis gehorchen und seine Tochter der Göttin opfern oder Iphigenies Leben schonen und damit den Kriegszug gegen Troja gefährden? Vergleichbare Appelle an die Moral der Beteiligten finden sich auch in anderen mythischen Erzählungen von Menschenopfern. Bei Aischylos siegt der Feldherr in Agamemnon schließlich über den Vater: „Er hatte den Mut, zum Opferer (ϑut»r) seiner Tochter zu werden“ (Ag. 224 f.). Darauf folgen Agamemnons Anweisungen zum Vollzug des Opfers. Dieser oft behandelte Text ist für das Opferdenken der Griechen, die Opferthematik der Tragödie und die ästhetische Rezeption dieser spezifischen Form von Gewalt von exemplarischer Bedeutung (Ag. 228 ff.): Die kriegslüsternen Anführer gaben nichts auf ihr [Iphigenies] Flehen, auf die an den Vater gerichteten Hilferufe und auf ihr jungfräuliches Alter. Der Vater erteilte nach einem Gebet (met' eÙc£n) den Opferdienern die Weisung, (das Mädchen) wie eine
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Jungziege (d…kan cima…raj) mit dem Gesicht nach unten hoch über den Altar (Ûperqe bwmoà […] labe‹n ¢šrdhn) zu heben […] und mit des Knebels stummem Zwang gewaltsam (b…aÄ) jeden Schrei aus ihrem schöngeformten Mund zu unterdrücken, der dem Haus zum Fluche hätte werden können.
Opferpersonal, Opfertier und Altar – mit diesen Begriffen sind drei zentrale Aspekte des Tieropfers bezeichnet, die im Rahmen von Opferprozessionen auf zahlreichen Vasenbildern dargestellt sind und auch in den Textquellen immer wieder vorkommen.19 Die hier vom Chor anvisierte Aktionsebene ist die der rituellen Performanz aus der Sicht der Opferer, d. h. des Opferherrn und der Opferdiener. Dagegen evozieren Ausdrücke wie „Gesicht nach unten“, „Knebel“ und „unterdrücken“ die Hilflosigkeit und Passivität des Opfers, das mißhandelt wird und sich nicht wehren kann. Gewalt ist eine unabdingbare Begleiterscheinung von Tier- und Menschenopfer. Es ist kein Zufall, daß das griechische Wort für Gewalt im Aischyleischen Text ausdrücklich genannt wird: die Schergen machen ihr Opfer „mit Gewalt“ (b…aÄ) mundtot. Die erzwungene Sprach- und Wehrlosigkeit der Iphigenie manifestiert sich in ihrer Knebelung und Fesselung. Mit diesem Szenarium wird die den Athenern des 5. Jhs. vertraute Vorstellung vom willigen Opfertier20 auf das menschliche Opfer übertragen und mit der für die Tragödie charakteristischen Hinterfragung von geläufigen Denkkategorien und Konventionen auf den Kopf gestellt. Denn im Gegensatz zu Kassandra, die in demselben Stück vom Chor gefragt wird, warum sie „wie ein gottgetriebenes Rind (qehl£tou boÕj d…khn) mutig zum Altar schreitet“ (Ag. 1297 f.), wird Iphigenie hier zu ihrem Opferglück gezwungen. Das dramatische und rituelle Gegenbild dazu repräsentiert die Aulische Iphigenie des Euripides, die sich freiwillig als Opfer anbietet. Das willige Opfertier ist ein beschönigendes Konstrukt der griechischen Opfermentalität, das bezeichnenderweise gerade in der Komödie seinen Niederschlag gefunden hat. In Wahrheit ging es nämlich weniger harmlos zu. Opfertiere wurden am Strick geführt, angepflockt und gewaltsam festgehalten, um sie am Weglaufen zu hindern.21 Kallimachos und Ovid kommen 19 Van Straten (1995) [Anm. 9]; Himmelmann (1997) [Anm. 18]; Gebauer 2002 [Anm. 10]; Antoine Hermary und Martine Leguilloux: Les sacrifices dans le monde grec. In: ThesCRA 2004 [Anm. 12], Bd. 1, S. 59–134. 20 Dazu zuletzt Himmelmann (1997) [Anm. 18], S. 38–40 u. S. 42–46; Gebauer 2002 [Anm. 10], S. 181 u. 203; Susanne Moraw: Bilder die lügen. Hochzeit, Tieropfer und Sklaverei in der klassischen Kunst. In: Die andere Seite der Klassik. Gewalt im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr., hrsg. von Günter Fischer und Susanne Moraw, Stuttgart 2005, hier: S. 75–77. 21 Jean Louis Durand: Le bœuf à la ficelle. In: Images et Société en Grèce ancienne. L’iconographie comme méthode d’analyse, hrsg. von Claude Bérard, Christiane
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der Wirklichkeit entschieden näher, wenn sie mit alexandrinischem Blick für den entscheidenden Augenblick und das realistische Detail den Moment festhalten, wo das Opfertier in seiner Todesangst vor dem sich im Lustrationswasser spiegelnden Opfermesser zurückschreckt.22 Das Hochheben des Opfers ist von Aischylos nicht frei erfunden, sondern hat seinen rituellen Sitz im Leben. Iphigenies Behandlung entspricht dem für das Athen des 5. u. 4. Jhs. literarisch und inschriftlich bezeugten Ritual des „Hochhebens der Ochsen“ (a‡rein bzw. a‡resqai toÚj boàj), bei dem mehrere attische Epheben einen Stier hochstemmten, um ihn so in der Schwebe haltend abzustechen.23 Die von Aischylos inszenierte Analogie von Tier- und Menschenopfer wird vom Chor nicht nur narratorisch, sondern auch sakralsprachlich vollzogen. Denn der spezielle Terminus airein für dieses zeremonielle „Hochheben“ klingt in dem „hoch […] zu heben“ (Ag. 234 labe‹n ¢šrdhn) des Chors etymologisch an. Dieser rituelle Moment ist auf einer schwarzfigurigen Bauchamphora spätarchaischer Zeit in Viterbo festgehalten, auf der sieben Männer einen Stier in Bauchlage horizontal auf ihren Schultern tragen.24 Zwei weitere am Kopf- und Schwanzende des Stieres postierte Helfer halten seinen Schwanz und ein an einem Maulkorb befestigtes Seil fest, um seine Bewegungsfreiheit weiter einzuschränken. Ein zehnter Mann stößt ihm von unten das Opfermesser in die Kehle, während der elfte in einem Becken das herabströmende Blut auffängt. Auch hier steht Gewalt im Dienste des Opferritus. Bron und Alessandra Pomari, Cahiers d’archéologie romande 36, Lausanne 1987, S. 227–41; Albert Henrichs: Dromena und Legomena: Zum rituellen Selbstverständnis der Griechen. In: Graf (1998) [Anm. 9], S. 33–71, hier: S. 59 f.; Gebauer 2002 [Anm. 10], S. 179–81; Stella Georgoudi: L’„occultation de la violence“ dans le sacrifice grec: donnés anciennes, discours modernes. In: La cuisine et l’autel. Les sacrifices en questions dans les sociétés de la Méditerranée ancienne, hrsg. von Stella Georgoudi, Renée Koch Piettre and Francis Schmidt, Bibliothèque de l’École des Hautes Études, Sciences Religieuses 124, Turnhout 2005, S. 131–34. 22 Kall. fr. 75,10 f. Pf. („de hostiarum angoribus mortis“) oƒ bÒej Ñxe‹an derkÒmenoi dor…da, aufgenommen von Ov. fast. 1,327 praevisos in aqua timet hostia cultros. 23 Dazu Stengel (1910) [Anm. 18], S. 105–12 u. 115 f.; van Straten (1995) [Anm. 9], S. 109– 13; Himmelmann (1997) [Anm. 18], S. 22–26; Henrichs (1998) [Anm. 21], S. 63, Anm. 108; ThesCRA 2004 [Anm. 12], Bd. 1, S. 116 f.; Parker (2005) [Anm. 8], S. 180 u. 330. 24 Viterbo, Museo Archeologico Nazionale della Rocca di Albonoz, um 540 v. Chr. Vgl. Durand/Schnapp (1984) [Anm. 4], S. 54 mit Abb. 83; Sarah Peirce: Death, Revelry, and Thysia. In: Classical Antiquity 12 (1993), S. 219–66, hier: S. 220, 234 f., 254 u. 257 mit Abb. 1; van Straten (1995) [Anm. 9], S. 109–13, 219 Nr. V 141 mit Abb. 115; Himmelmann (1997) [Anm. 18], S. 22–26 mit Abb. 13; Gebauer 2002 [Anm. 10], S. 257–59 Nr. S 1 mit Abb. 134 u. S. 286, der „den agonalen Charakter der Darstellung“ betont; ThesCRA 2004 [Anm. 12], Bd. 1, S. 117 Nr. 485a.
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Entsprechend hat man sich das Opfer der Iphigenie vorzustellen. Auf einer tyrrhenischen Amphora des Timiades-Malers in London, die Paul Maas als erster neben den Aischyleischen Text stellte, wird die namentlich identifizierte Polyxena, das rituelle Double Iphigenies, von drei Kriegern in Bauchlage und mit dem Gesicht nach unten wie bei Aischylos über einen von einem Herdaltar bekrönten Tumulus gehoben, der das Grab des Achill darstellt, während ihr Neoptolemos von unten das Schwert in die Kehle stößt und ihr Blut zur Erde fließt.25 Hier ist das „Schlachten zur Erde hin“ (sf£zein ™j g©n) der selinuntischen Sakralinschrift auf das Menschenopfer übertragen zum visuellen Sinnbild einer spezifischen, in der Forschung bislang meist als „chthonisch“ bezeichneten Form des Opfers geworden.26 Um so merkwürdiger ist es, daß auf einem spätarchaischen Reliefsarkophag aus der Troas Polyxena in Rückenlage mit dem Gesicht nach oben hochgehoben wird, während Neoptolemos sie am Haarschopf faßt und ihr vor dem Grab Achills mit einem Kurzschwert die Kehle durchsticht.27 Statt ihres Blutes strömt Polyxenas Haar zur Erde. Die auffällige Rückenlage des Opfers hat in einer vergleichbaren Opferszene auf einem protoattischen 25 British Museum 1897. 7-27.2, um 570–560 v. Chr. Die Vase ist oft abgebildet und behandelt. Vgl. Paul Maas: Aeschylus Agam. 231 ff. Illustrated. In: Kleine Schriften, München 1973, S. 42; Prag (1985) [Anm. 9], S. 62 mit Tafel 41b; LIMC VII 1 (1994), S. 433 s. v. Polyxène, Nr. 26 (Odette Touchefeu-Meynier); van Straten (1995) [Anm. 9], S. 114, 272 Nr. V 422 mit Abb. 118; Himmelmann (1997) [Anm. 18], S. 24–26 mit Abb. 12; Blome (1998) [Anm. 9], S. 82–84; Durand/Lissarrague (1999) [Anm. 9], S. 91 mit Abb. 4; Gebauer 2002 [Anm. 10], S. 258, 27 Nr. Sv 25 mit Abb. 160, 517; ThesCRA 2004 [Anm. 12], Bd. 1, S. 130, Nr. 595 mit Abb. Gr. 595. Zur Form des heroischen Grabaltars vgl. Prag a. a. O.; dagegen deutet Gebauer (S. 258 u. 517) „das hügelförmige Objekt“ wenig überzeugend als bloßen Altar ohne Grab, 595. 26 Zur Diskussion der beiden komplementären Kategorien „olympisch“/„chthonisch“ und ihrer umstrittenen Anwendung auf griechische Opferriten vgl. Hägg/ Alroth (2005) [Anm. 14]. 27 Gefunden 1994 in Kisöldün bei Gümüsçay auf der kleinasiatischen Seite der Dardanellen, jetzt im Museum von Çanakkale, um 500 v. Chr.; ThesCRA 2004 [Anm. 12], Bd. 1, S. 130, Nr. 596 (ohne Abb.). Dazu Nurten Sevinç: A New Sarcophagus of Polyxena from the Salvage Excavations at Gümüsçay. In: Studia Troica 6 (1996), S. 251–64 (Erstpublikation mit Photos); Durand/Lissarrague (1999) [Anm. 9], S. 95 mit Abb. 7 (Strichzeichnung); Carola Reinsberg: Der Polyxena-Sarkophag in Çanakkale. In: Sepulkral- und Votivdenkmäler östlicher Mittelmeergebiete (7. Jh. v. Chr.–1. Jh. n. Chr.). Kulturbegegnungen im Spannungsfeld von Akzeptanz und Resistenz. Akten des Internationalen Symposiums Mainz, 01.–03.11.2001, hrsg. von Renate Bol und Detlev Kreikenbom, Mainz 2004, S. 199–217 mit Tafel 85 (Strichzeichnungen).
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Vasenfragment ihre Parallele.28 Dort wird ein weibliches Opfer ebenfalls in Rückenlage mit den Füßen nach oben von drei Männern zum Opferplatz getragen. Die Rückenlage war offenbar ikonographisch ebenso fest etabliert wie die Bauchlage, ist aber aus ritueller Sicht ein Unding – „the wrong position for sacrifice“.29 Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß „das Blut auch so seinen Weg in die Erde finden wird.“30 Denn nicht die Gesetze der Schwerkraft sind für unser Verständnis bildlicher Darstellungen von Menschenopfern ausschlaggebend, sondern vergleichbare Darstellungen von Tieropfern, die eine deutliche Sprache sprechen. So werden in den Opferszenen der Vasenbilder Opfertiere zwar gelegentlich rücklings auf dem Opfertisch liegend ausgeweidet, aber niemals in Rückenlage geopfert.31 Offensichtlich haben weniger rituelle als ästhetische Gesichtspunkte die Komposition des Polyxena-Sarkophags bestimmt. Als explizite Wiedergabe eines rituellen Gewaltakts mit einem menschlichen Opfer ist das Sarkophagbild jedoch einzigartig: „Die Drastik dieser Opferdarstellung findet in der griechischen Kunst kaum ihresgleichen.“32 Polyxena wird von drei mit kurzen Chitonen bekleideten Jungmännern hochgehoben, die sie an Hän28 New York, Privatsammlung, um 650–630 v. Chr. Dazu Emily Vermeule und Suzanne Chapman: A Protoattic Human Sacrifice? In: American Journal of Archaeology 75 (1971), S. 285–93 mit Abb. 69–72; Prag 1985 [Anm. 9], S. 63 u. 148, Nr. H1 mit Tafel 38; LIMC V 1 (1990), S. 709 s. v. Iphigeneia Nr. 2 (Lilly Kahil); Blome 1998 [Anm. 9], S. 83 Abb. 4; Durand/Lissarrague (1999) [Anm. 9], S. 95 Anm. 26; Gerda Schwarz: Der Tod und das Mädchen. In: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Athenische Abteilung, 116 (2001), S. 34–50 mit Tafel 9,2; Reinsberg (2004) [Anm. 27], S. 203 Anm. 32. Vgl. u. Anm. 33. 29 So Vermeule/Chapman (1971) [Anm. 28], S. 291. Auf einer etrusko-kampanischen Halsamphora in London (British Museum B 70, um 450 v. Chr.; Prag 1985 [Anm. 9], S. 65 u. 149, Nr. H3 mit Tafel 40ab) wird eine Frau (Iphigenie?) von einem Krieger zu einem Altar getragen, wo ein zweiter Krieger sie mit gezücktem Schwert und ausgestrecktem Arm erwartet. Die Stellung des Opfers ähnelt der der Polyxena auf der tyrrhenischen Amphora (Anm. 25) und deutet auf ein Abkehlen in Bauchlage und mit dem Gesicht nach unten. Deshalb glaubt Schwarz (2001) [Anm. 28], S. 40, Anm. 21, in dem Opfer Polyxena zu erkennen, wogegen jedoch der Altar spricht; denn man erwartet einen Tumulus. 30 Schwarz (2001) [Anm. 28], S. 41. 31 Van Straten (1995) [Anm. 9], Abb. 119–22; Himmelmann (1997) [Anm. 18], Abb. 15a, 16a u. 20a; Gebauer (2002) [Anm. 10], Abb. 164, 170, 184, 189 u. 191. 32 Reinsberg (2004) [Anm. 27], S. 206, die bereits die Amphoren in Viterbo und London (Anm. 24–25) mit der Opferszene des Polyxenasarkophags verglich, ohne jedoch auf die rituelle Signifikanz der unterschiedlichen Stellungen der jeweiligen Opfer einzugehen.
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den, Füßen und Taille festhalten und bewegungsunfähig machen. Die Männer sind als „Krieger“ gedeutet worden, obwohl sie unbewaffnet sind.33 Ihr militärischer Status ist jedoch weniger signifikant als ihre rituelle Funktion. Sie entsprechen den „Opferdienern“ (¥ozoi), die Iphigenie im Eingangslied des Agamemnon knebeln, über den Altar heben und opfern.34 Ob sich das auf dem Sarkophag dargestellte Urbild eines Jungfrauenopfers verbunden mit männlicher Aggression als mythisches Exemplum einer gewaltsamen mors immatura nahtlos und für den antiken Betrachter problemlos in das restliche Bildprogramm fügt, das vermutlich den vorzeitigen Tod eines heiratsfähigen Mädchens mit Rückgriff auf Totenklage, Hochzeitsmotivik und rituelle Tänze thematisiert, ist eine über die eigentliche Opferproblematik hinausführende Frage, auf die noch keine befriedigende Antwort gefunden worden ist.35 Es ist sehr wohl denkbar, daß Aischylos bei der Stilisierung des Iphigenieopfers derartige Opferszenen in der Vasenmalerei vor Augen hatte.36 In diese Richtung mag auch die Wendung weisen, mit der der Chor den Mitleid erweckenden Blick beschreibt, den die stumme Iphigenie auf jeden 33 Reinsberg (2004) [Anm. 27], S. 204 f. Die drei Männer, die auf dem protoattischen Vasenfragment (Anm. 28) eine auf dem Rücken liegende Frau zur Opferung tragen, sind im Gegensatz zu den Kriegern auf der tyrrhenischen Amphora mit dem Polyxenaopfer (Anm. 25) ebenfalls unbewaffnet. Jedenfalls symbolisiert das als Kriegsbeute für den toten Achill bestimmte Jungfrauenopfer den Nexus von Sexualität und Gewalt, der im griechischen Mythos vornehmlich für das Verhalten von Kriegern bezeichnend ist (Burkert 1997 [Anm. 3], S. 70–85, bes. S. 77–79). 34 Bereits Vermeule/Chapman (1971) [Anm. 28], S. 292 hatten die drei bewaffneten Männer, die Polyxena auf der Londoner Amphora (Anm. 25) bei der Opferung über den Grabaltar heben, mit den Aischyleischen aozoi verglichen. Zu diesem seltenen Wort, das vermutlich der Sakralsprache angehört, vgl. Eduard Fraenkel zu Aischyl. Ag. 231; Stefan Radt zu Aischyl. fr. 54; Rudolf Pfeiffer zu Kall. fr. 563; Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Kleine Schriften, Berlin 1962, Bd. 4, S. 442. 35 Die hier vorausgesetzte Deutung der vier Sarkophagreliefs von Reinsberg (2004) [Anm. 27] versteht Polyxenas Opferung „als Metapher für die Grausamkeit“ des vorzeitigen Todes des jungen Mädchens, für deren Bestattung der Sarkophag vermutlich bestimmt war: „Todesschrecken und Trauer sind ungeschönt ins Bild gesetzt“ (S. 215). Man fragt sich jedoch, was den bzw. die Schöpfer des Sarkophags dazu veranlaßt haben könnte, ausgerechnet das Opfer eines Ritualmords als Paradigma zu wählen. Ob es die Rolle der Polyxena als Braut des toten Achill und damit als einer Art von „Hadesbraut“ gewesen sein mag? Vgl. Rush Rehm: Marriage to Death: The Conflation of Wedding and Funeral Rituals in Greek Tragedy, Princeton 1994. 36 Prag (1985) [Anm. 9], S. 66 f.
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ihrer Opferer (Ag. 240 ›kaston qut»rwn) wirft: Sie steht beim Altar „scharf konturiert wie auf einem gemalten Bild (Ag. 242 pršpousa tëj ™n grafa‹j), gewillt sie namentlich anzusprechen.“ Der spezifische Vergleichspunkt ist hier die Unfähigkeit der geknebelten Iphigenie, sich sprachlich vernehmbar zu machen. Statt dessen muß sie die Augensprache benutzen, die sie mit den stummen Figuren auf den Vasenbildern gemeinsam hat. Das erzwungene Schweigen der Iphigenie überträgt sich in der folgenden Strophe desselben Chorlieds auf den Chor und seine Rolle als Augenzeuge und Gewährsperson für das Menschenopfer in Aulis. Denn statt abschließend die eigentliche Tötung der Iphigenie zu beschreiben, verfällt der Chor in euphemistisches Schweigen: „Was danach kommt, habe ich nicht gesehen, noch spreche ich darüber“ (Ag. 248 t¦ d' œnqen oÜt' endon oÜt' ™nnšpw). Aischylos geht damit entschieden über das Verbot des Blutvergießens auf der Bühne hinaus, indem er den Augenblick der eigentlichen Tötung beim Menschenopfer selbst als Sprechakt ausblendet. Falls man auch bei den Tragikern von der „Gewalt der Darstellung“37 sprechen darf, wird diese Form von Gewalt hier den zeitgenössischen Zuschauern und uns als Lesern vorenthalten. Die poetische Intention dieser Aposiopese ist keineswegs eindeutig. Läßt Aischylos den Chor schweigen, um das Dekorum zu wahren und damit einem ästhetischen Prinzip Genüge zu tun, oder will er mit dieser Aussparung das endgültige Schicksal der Iphigenie letztendlich in der Schwebe lassen, wie neuerdings wieder vermutet worden ist?38 Bekanntlich ist die Version, der zufolge sie wirklich getötet wird, nicht nur sekundär, sondern sie dramatisiert den Extremfall. Der Ritualmord an Iphigenie wird außer im Agamemnon und in den beiden Elektren nur noch bei Pindar, Lukrez und Seneca als wirklich vollzogen dargestellt.39 So ist Klytaimestra bei den drei attischen Tragikern und bei Seneca felsenfest davon überzeugt, daß Agamemnon die gemeinsame Tochter umgebracht hat. Dagegen wird Iphigenie nicht nur in den Ehoien und Kyprien und damit den mit Abstand 37 So der Titel von Patrick Primavesis Beitrag zu diesem Band. 38 Mark Griffith: Slaves of Dionysos: Satyrs, Audience, and the Ends of the Oresteia. In: Classical Antiquity 21 (2002), S. 195–258, hier: S. 241–43; Christiane Sourvinou-Inwood: Tragedy and Athenian Religion, Lanham/Boulder/New York/Oxford 2003, S. 57 Anm. 64 u. Iphigenia. In: The Oxford Classical Dictionary, hrsg. von Simon Hornblower und Antony Spawforth, Oxford 31996, S. 765–66, hier: S. 765: „In Aesch. Ag. 218–49 it is suggested that she died at the altar – or at least that the spectators thought she did.“ 39 Aischyl. Ag. 1415 ff.; Soph. El. 530 ff.; Eur. El. 1020 ff.; Pind. P. 11,22 f.; Lucr. 1,84 ff.; Sen. Ag. 162 ff.
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ältesten Versionen des Mythos, sondern auch in den beiden Iphigenien des Euripides sowie in der Mehrzahl der auf sie bezüglichen Texte durch Einschreiten der Artemis gerettet, während ohne Wissen der Beteiligten ein Phantom (eidolon) bzw. Opfertier als Ersatzopfer an ihrer Stelle verblutet.40 Diesem dynamischen Wechselspiel von Menschen- und Tieropfer und der damit ursächlich zusammenhängenden Problematik des Menschenopfers wollen wir uns jetzt zuwenden.
3. Zur rituellen Parallelisierung von Menschenopfer und Tieropfer Der Ritualmord an Iphigenie wurde von einer Gottheit (Artemis) gefordert und von einem Seher (Kalchas) gutgeheißen. Diese Konstellation findet sich auch in historischen Berichten von Menschenopfern, die, wie die neueste Forschung wiederholt bestätigt hat, ausnahmslos dem Bereich der Imagination angehören und damit fiktiv sind.41 Das gilt auch für das angebliche Opfer von drei hochrangigen persischen Kriegsgefangenen vor der Schlacht von Salamis, das in den Rahmen der Themistokleslegende gehört. Einer Tradition zufolge, die auf den peripatetischen Kulturhistoriker Phainias von Eresos im 4. Jh. v. Chr. zurückgeht, soll im Verlauf der vor der Schlacht bei dem Flaggschiff vollzogenen Tieropfer der nicht weiter bekannte Seher Euphrantides nach Wahrnehmung zweier Omen angeordnet haben, das Opfertier durch die drei gefangenen Perser zu ersetzen.42 Als Admiral und Opferherr sträubte sich Themistokles zuerst gegen diese Anordnung, gab aber schließlich dem Druck der Menge (oƒ pollo…) nach und ließ die Gefangenen dem Dionysos Omestes opfern, 40 [Hes.] Frauenkat. fr. 23a Merkelbach-West; Kypria, Argum. S. 41 Bernabé. Vgl. Albert Henrichs: Human Sacrifice in Greek Religion: Three Case Studies. In: Le sacrifice dans l’antiquité, hrsg. von Jean Rudhardt und Olivier Reverdin, Entretiens sur l’antiquité classique 27, Vandœuvres/Genf 1981, S. 195–235, hier: S. 198–200. 41 Dennis Hughes: Human Sacrifice in Ancient Greece, London/New York 1991; Pierre Bonnechere: Le sacrifice humain en Grèce ancienne, Athen/Lüttich 1994; Stella Georgoudi: À propos du sacrifice humain en Grèce ancienne: remarques critiques. In: Archiv für Religionswissenschaft 1 (1999), S. 61–82. Zur rituellen Mehrdeutigkeit des Begriffs „sacrifice humain“ bzw. „human sacrifice“ s. Hughes, a. a. O., S. 1–4 und Georgoudi, a. a. O., S. 64 f. 42 Plut. Them. 13, 2–5 = Phainias Frg. 25 Wehrli2 = FGrHist 1012 F 19. Dazu Henrichs (1981) [Anm. 40], S. 208–24; Hughes (1991) [Anm. 41], S. 111–15.
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dessen Epithet soviel wie „Rohfresser“ bedeutet. Die für Opfer vor Kampfhandlungen charakteristische Form des Vernichtungsopfers von Tieren (sphagia43) schlug also laut Phainias in ein Menschenopfer um, das durch die extreme Krisensituation gerechtfertigt schien. Die Parallelisierung von Tier- und Menschenopfer ist hier mit Händen zu greifen und wird durch die Übertragung der konventionellen Opferterminologie vom Tieropfer auf den Ritualmord weiter verstärkt.44 Der Bericht ist ein Musterbeispiel von sakralsprachlicher Exaktheit, was zu seinem modernen Erfolg beigetragen hat. Was ihn u. a. diskrediert ist das Faktum, daß der Kult des Dionysos Omestes auf Lesbos, der Heimatinsel unseres Gewährsmannes, zuhause ist und in Athen nichts zu suchen hat.45 Historiker haben die Glaubwürdigkeit dieses Berichts immer wieder bestritten, der allerdings von Generationen von Religionshistorikern für bare Münze genommen worden ist. Insgesamt gilt, daß sich tatsächliche Menschenopfer zumindest im Griechenland der archaischen und klassischen Zeit nicht nachweisen lassen. Es bleibt allerdings zu fragen, warum das Menschenopfer die Phantasie der Griechen so stark und so lange beschäftigt hat. Die üblichen Erklärungsversuche, etwa der Art, daß es sich um Reflexe historischer Menschenopfer in uralter Zeit handelt oder daß die Griechen eine lebhafte, gerade dem Grauenvollen gegenüber aufgeschlossene Phantasie besaßen, reichen nicht aus. Vielleicht gelingt es uns später, auf dem Umweg über das Tieropfer und die Anthropologie der Gewalt, eine befriedigendere Antwort zu finden. Zuvor möchte ich jedoch kurz auf zwei seltsame Rituale zu sprechen kommen, die für Sparta bzw. Athen bezeugt sind und immer wieder als Relikte alter Menschenopfer verstanden worden sind. In beiden Fällen fließt zwar ausnahmsweise Menschenblut statt Tierblut, aber niemand kommt ernsthaft zu Schaden. Es handelt sich um die rituelle Geißelung der Epheben im Kult der Artemis Orthia in Sparta und das blutige Halsritzen im Tempel der Artemis Tauropolos in Halai an der Ostküste Attikas.46 Artemis gehört ja neben Dionysos zu den Gottheiten, in deren Mythen Gewalt und Blutvergießen besonders augenfällig sind. Für Artemis sei nur an das 43 44 45 46
Oben Anm. 10–12. Henrichs (1981) [Anm. 40], S. 213 f. u. 218 f. mit Anm. 4. Henrichs (1981) [Anm. 40], S. 218–23. Beide Rituale sind von Fritz Graf: Das Götterbild aus dem Taurerland. In: Antike Welt 4 (1979), S. 33–41 als Integrationsriten bzw. „rites de passage“ gedeutet worden, die einer „fremden“ Göttin und einer angeblich aus der Fremde importierten Kultstatue zugeordnet sind. Vgl. Vernant (1990) [Anm. 11], S. 186–97.
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Iphigenieopfer und die Zerfleischung Aktaions durch seine Hunde erinnert, für Dionysos an die Zerstückelung des Pentheus und die Zerfleischung von Kindern in verwandten mänadischen Mythen.47 Allerdings ist die Quellenlage im Falle von Halai ungünstig und erschwert die Beurteilung. In einer der notorischen Euripideischen Deusex-machina-Epiphanien in der Schlußszene der Iphigenie im Taurerland, einem Stück, in dem es um Menschenopfer geht, verkündet Athene dem Orest, daß in Zukunft im Kult der Artemis von Halai unter den Augen ihres unheimlichen, von exotischen Legenden umrankten Kultbilds „als Buße für dein Schlachtopfer“ (1459 tÁj sÁj sfagÁj ¥poina) der Hals eines Mannes mit einem Schwert angeritzt und so zum Bluten gebracht werden soll. Bei dem zweideutigen Ausdruck „für dein Schlachtopfer“ bleibt unausgesprochen, ob damit neben der von Iphigenie verhinderten Opferung des Orest an die Taurische Artemis nicht auch der Muttermord gemeint ist, den er selbst an Klytaimestra begangen hat.48 Es gibt keinen Grund, den sonst nicht bezeugten Ritus als Erfindung des Euripides abzutun.49 Aber es bleibt bestehen, daß uns jeder unmittelbare kultische Kontext für das Halsritzen von Halai fehlt, was dazu geführt hat, daß dieser Einzelfall heute zumeist als „symbolische Tötung“ bzw. als ein zu einem „seltsamen Festbrauch“ abgeschwächter Initiationsritus eingestuft wird.50 Für unser Thema ist festzuhalten, daß es sich dabei um die einzigen menschlichen Blutstropfen im attischen Kult handelt, in dem Tierblut in Strömen floß. Besser bezeugt, aber nicht weniger rätselhaft ist die erstmals von Xenophon bezeugte Geißelung der spartanischen Epheben, bei der die Grenzen zwischen Kultaitiologie und tatsächlichem kultischen Geschehen fließend 47 Vgl. z. B. Georgoudi (1999) [Anm. 41], S. 65–68 u. 74–79 zu den mit Artemis verbundenen Menschenopfern als Alteritätskonstrukte; Walter F. Otto: Dionysos, Mythos und Kultus [1933], Frankfurt a. M. 41980, S. 96–105 zu den dionysischen Zerreißungsriten; oben bei Anm. 41–42 zu dem angeblichen Menschenopfer an Dionysos Omestes vor der Schlacht bei Salamis. 48 C. Wolff: Euripides’ Iphigenia among the Taurians. Aetiology, Ritual, and Myth. In: Classical Antiquity 11 (1992), S. 308–34. 49 Scott Scullion: Tradition and Invention in Euripidean Aetiology. In: Illinois Classical Studies 24–25 (1999–2000), S. 217–33. 50 Graf (1979) [Anm. 46], S. 34, 37 u. 41; ders.: What is new about Greek Sacrifice? In: KYKEON. Studies in Honour of H. S. Versnel. Religions in the Graeco-Roman World 142, hrsg. von Herman F. J. Horstmanshoff, Henk W. Singor, Folkert T. van Straten und Jan H. M. Strubbe, Leiden/Boston/Köln 2002, S. 113–25, hier: S. 115.
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sind.51 Noch bis in die Kaiserzeit wurden die spartanischen Jungmänner am Altar der Artemis Orthia mit Zweigen und Ruten einen ganzen Tag lang geschlagen bzw. „gegeißelt“. Eine lokale Kultaitiologie erklärt die Geißelung als Ersatz für ein altes Menschenopfer und betont, daß beiden Riten die „Tränkung des Altars mit Blut“ (Paus. 3.16.10 tÕn bwmÕn aƒm£ssein bzw. ™mp…platai […] a†mati Ð bwmÒj) gemeinsam sei. Bei der jährlichen Geißelung waren Todesfälle angeblich die Regel, wie Plutarch als Augenzeuge zu berichten weiß.52 Der in den Quellen regelmäßig auftauchende Ausdruck ist mastigoun, also dasselbe Wort, mit dem auch Lesis in dem eingangs zitierten Text die von ihm erlittenen Mißhandlungen beschreibt. Laut Pausanias war die Priesterin der Artemis mit dem hölzernen Kultbild der Göttin in ihren Armen bei der Geißelung zugegen, wobei das Bild an Gewicht zugenommen haben soll, wenn die Schläge zu milde ausfielen, und leichter wurde, wenn kräftig zugeschlagen wurde. Laut Xenophon soll die Geißelung mit einem agonistischen Scheinkampf verbunden gewesen sein, bei dem es darum ging, wer von den Epheben die meisten Käse vom Altar der Artemis stahl. In welchem kultischen Zusammenhang der Käsediebstahl mit der Geißelung steht, bleibt undurchsichtig, zumal sich Xenophon darüber ausschweigt. Martin Nilsson schrieb vor hundert Jahren, daß zum Sieger erklärt wurde, „wer die meisten Käse und die meisten Hiebe erhielt.“53 Unklar bleibt dabei, was es mit dem Käse auf sich hat. Auch das berühmte Alkmanfragment über das Fest der Artemis, an dem die „Göttin des Draußen“ einen Käse aus Löwenmilch zubereitet, bringt uns nicht weiter.54 Aus ritueller Sicht ist der Käse jedoch weniger signifikant als der Akt des Stehlens, der initiatorische Funktion hat.55 Zur Erklärung der eigentlichen Geißelung hat man von den Initiationsriten der sogenannten Naturvölker über den „Schlag mit der Lebensrute“ bis zur agonistisch ver51 Die Hauptquellen bei Sam Wide: Lakonische Kulte, Leipzig 1893, S. 112–16 u. Martin P. Nilsson: Griechische Feste von religiöser Bedeutung mit Ausschluß der attischen, Leipzig 1906, S. 190–96. Deutung als „Periode der Auflösung vor dem Neuanfang“ unter Einbeziehung der „Initiationsthematik“ bei Fritz Graf: Nordionische Kulte. Religionsgeschichtliche und epigraphische Untersuchungen zu den Kulten von Chios, Erythrai, Klazomenai und Phokaia, Bibliotheca Helvetica Romana 21, Rom 1985, S. 86–90. 52 Plut. Lyk. 18,2, Epited. Lak. 40, 239CD, vgl. Arist. 17. 53 Nilsson (1906) [Anm. 51], S. 194. 54 Vgl. zuletzt Renate Schlesier: Das Löwenjunge in der Milch. Zu Alkman, Fragment 56 P. [= 125 Calame]. In: Orchestra: Drama – Mythos – Bühne, hrsg. von Anton Bierl und Peter von Möllendorff, Stuttgart/Leipzig 1994, S. 19–29, hier: S. 24 f. 55 Jean-Pierre Vernant: L’individu, la mort, l’amour. Soi-même et l’autre en Grèce ancienne, Paris 1989, S. 198–201.
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brämten Mutprobe als Ausdruck spartanischer Disziplin so ziemlich alles herangezogen, was im entferntesten vergleichbar ist.56 Trotz aller gelehrten Bemühungen wissen wir über den Ablauf, Sinn sowie die zeitliche und kultische Kontinuität dieses rituellen Schlagens weniger als uns lieb ist. An der blutigen Geißelung als solcher ist jedoch ebensowenig zu zweifeln wie daran, daß rituelles Geißeln und Peitschen am ehesten in den Bereich antiker Vorstellungen über initiatorische Strafen und Bußen gehören. Man hat „die dunkel-faszinierende Flagellationsszene“57 auf einem der Fresken in der „Villa dei Misteri“ in Pompeji verglichen, wo dargestellt ist, wie ein geflügelter weiblicher Dämon mit einer Rute eine Initiandin schlägt, die mit entblößtem Rücken vor ihm kniet.58 Außerhalb der Antike sind rituelle Geißelungen für das Christentum und den schiitischen Islam bezeugt und werden teils bis auf den heutigen Tag praktiziert, wenn auch mit Sinngebungen, die nicht auf die antike Welt übertragbar sind. Das Tieropfer dient in der Aischyleischen Version des Iphigeniemythos als Folie für das Menschenopfer, eine den Zeitgenossen des Aischylos vertraute aber für das moderne Verständnis paradoxe Analogie. In der Korrelation von Tier- und Menschenopfer wird darüber hinaus auch das gerade im Bereich der Opferthematik besonders enge Wechselverhältnis von Mythos und Kult thematisiert, das seit dem Ende des 19. Jhs. im Zentrum der Diskussionen zur griechischen Religion steht.59 Denn Menschenopfer sind eine Perversion des Tieropfers und gehören ausschließlich in die imaginäre Welt des Mythos, während Tieropfer den kultischen Normalfall darstellen.60 Aber auch im Mythos ist das Menschenopfer so gut wie nie Selbstzweck, sondern macht fast immer dem Tieropfer Platz, das als Substitution 56 Lit. bei Graf (1985) [Anm. 51], S. 86 Anm. 79 u. Claude Calame: Choruses of Young Women in Ancient Greece: Their Morphology, Religious Role, and Social Functions, Lanham/Boulder/New York/London 1997, S. 158 f. 57 Walter Burkert: Antike Mysterien: Funktionen und Gehalt, München 41994, S. 81, vgl. 88. 58 Graf (1985) [Anm. 51], S. 140 Anm. 21; Schlesier (1994) [Anm. 54], S. 25 Anm. 29. 59 Walter Burkert: Griechische Mythologie und die Geistesgeschichte der Moderne. In: Les études classiques aux XIXe et XXe siècles: Leur place dans l’histoire des idées, hrsg. von Willem den Boer, Entretiens sur l’antiquité classique 26, Vandœuvres/Genf 1980, S. 159–99; Fritz Graf: Griechische Mythologie. Eine Einführung, München/Zürich 1985, S. 98–116; Albert Henrichs: Die Götter Griechenlands. Ihr Bild im Wandel der Religionswissenschaft, Thyssen-Vorträge „Auseinandersetzungen mit der Antike“ 5, Bamberg 1987 (auch in: Auseinandersetzungen mit der Antike, hrsg. von Hellmut Flashar, Bamberg 1990, S. 115–62). 60 Vgl. oben bei Anm. 41.
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für das Menschopfer verstanden wird. In den einschlägigen griechischen Mythen und Erzählungen wiederholt sich also das rituelle Schema des Isaakopfers, in dem ein Opfertier an die Stelle des zu opfernden Menschen tritt.61 In allen diesen Fällen handelt es sich um aitiologische Distanzierungsstrategien, deren Ziel es ist, mit Rekurs auf den Ausnahmefall das Normalopfer als den allein gültigen Opferritus zu bestätigen. In diesem Zusammenhang möchte ich kurz auf das vermeintliche Opfer der drei persischen Prinzen vor der Schlacht bei Salamis zurückkommen, wo das für den Mythos geltende Verhältnis von Menschen- und Tieropfer umgekehrt wird und ein bereits im Gange befindliches Tieropfer ausnahmsweise in ein Menschenopfer umschlägt. Dieser Rekurs auf ein pervertiertes Opfer findet allerdings unter extremen Umständen statt, d. h. vor einer entscheidenden Schlacht, von deren Ausgang das Schicksal ganz Griechenlands abhängt. Vergleichbare Szenarien finden sich nur bei den Tragikern. Bekanntlich inszeniert die Tragödie mit Vorliebe derartige Ausnahmesituationen, bei denen unter dem Druck der Umstände ein Menschenopfer als allerletzter Ausweg in Erwägung gezogen und in die Tat umgesetzt wird. Das Opfer der Iphigenie ist neben dem Opfertod des Menoikeus in den Phoinissen des Euripides das bekannteste Beispiel.62 Dabei tritt das Tieropfer gegenüber dem Menschenopfer in den Hintergrund und wird bestenfalls am Rande thematisiert. In Abweichung von dieser Konvention geht Euripides in dem Botenbericht der Elektra einen entscheidenden Schritt weiter, indem er den Aigisth von Orest im Laufe eines Tieropfers über dem bereits geopferten Tier abschlachten läßt, so daß das Tieropfer ins Menschenopfer übergeht und schließlich in dem Übereinander und Ineinander des geopferten Tieres und des ermordeten Menschen beide Opfer in einer grotesken Personalunion zusammenfallen.63 Darüber hinaus ist keine Steigerung möglich. In diesem Moment hebt sich nämlich die Opfermetaphorik der Tragödie selbst auf. Wenn Nietzsche im Anschluß an Aristophanes und August Wilhelm Schlegel Euripides beschul61 The Sacrifice of Isaac: The Aqedah (Genesis 22) and its Interpretations, hrsg. von Ed Noort und Eibert Tigchelaar, Leiden/Boston/Köln 2002. 62 Iphigenie: Henrichs (1981) [Anm. 40], S. 198–208 u. Henrichs (2000) [Anm. 13], S. 183 f.; Pierre Brulé: La fille d’Athènes. La religion des filles à Athènes à l’époque classique. Mythes, cultes et société, Paris 1987, S. 179–222; Jan Bremmer: Sacrificing a Child in Ancient Greece. In: Noort/Tigchelaar (2002) [Anm. 61], S. 21–43. Menoikeus: Walter Burkert: Glaube und Verhalten. Zeichengehalt und Wirkungsmacht von Opferritualen. In: Rudhardt/Reverdin (1981) [Anm. 40], S. 91–125, hier: S. 119 f.; Georgoudi (1999) [Anm. 41], S. 67. 63 Henrichs (2000) [Anm. 13], S. 187 zu Eur. El. 810–43.
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digt, für den Tod der Tragödie verantwortlich zu sein, hatte er vom ästhetischen Standpunkt her Recht, zumindest was die tragische Repräsentation von Gewalt angeht. Wie wir gesehen haben, finden sich im Falle des Opfers der Iphigenie in der Tragödie zwei entgegengesetzte Szenarien. In der Normalversion, der Euripides in den beiden Iphigeniestücken folgt, stirbt anstelle des Mädchens ein Tier. Bei Aischylos dagegen bleibt es beim Menschenopfer, hinter dem das Tieropfer lediglich als ritualisierende Metapher steht. Aber auch die scheinbar harmlose Version, der zufolge anstelle Iphigenies ein Tier stirbt, ist nicht unproblematisch. Denn sie wirft die Frage auf, wie das imaginäre Ersatzopfer letztlich zu bewerten ist. Walter Burkert spricht in diesem Zusammenhang gerne von der rituellen „Gleichwertigkeit“ bzw. „Äquivalenz“, „Ersetzbarkeit“ und „Austauschbarkeit“ von Mensch und Tier beim Opfer.64 Dabei bringt er das Verhältnis von Tieropfer und Mord auf einen schockierenden Nenner: „Hinter jedem Opfer steht als Möglichkeit, als eine schauerliche Drohung das Menschenopfer.“65 In der Tat steht die Ablösung eines Menschenopfers durch ein Tieropfer am Ende von zahlreichen kultaitiologischen Mythen, in denen sich die bestehende Opferordnung als göttliche Fügung und als das kleinere Übel erweist. Daß umgekehrt ein Mensch anstelle des Opfertiers stirbt, hat dagegen als Ausnahmefall zu gelten, der allerdings in zahlreichen Tragödien zur Regel wird. Doch wußten die Griechen sehr wohl, daß in der kultischen Wirklichkeit Mensch und Tier weder gleichwertig noch austauschbar waren. Noch stärker als im Epos signalisieren Tiervergleiche, Tierhaftigkeit und besondere Nähe zum Tier in der Tragödie einen Ausnahmezustand, der mit einem Plus oder Minus an Menschsein verbunden ist. Wenn die Tragiker den gewaltsamen Tod von Mensch und Tier parallelisieren, betonen sie gerne die gewaltige Kluft, die das Tieropfer vom Menschenopfer und damit den Normalfall von der Ausnahmesituation trennt. Aber die Ausnahmen wurden nur auf der imaginären Ebene des Mythos realisiert, der mit Vorliebe den Extremfall simuliert. Durch die Heraufbeschwörung des Undenkbaren wurden die bestehenden Normen um so eindringlicher ins Bewußtsein gebracht. Menschenopfer waren „bons à penser“ – sie hatten symbolische Bedeutung und wurden toleriert, solange sie lediglich in der Imagination stattfanden. 64 Burkert (1990) [Anm. 13], S. 25 u. (1997) [Anm. 3], S. 29 mit Anm. 34. Dazu Henrichs (2000) [Anm. 13], S. 184 f. 65 Burkert (1990) [Anm. 13], S. 24.
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4. „Tiermord“, Buphonien und Schuldgefühl Die Einbettung der Opferriten in mythische Erzählungen ist seit dem homerischen Epos ein fester Bestandteil der griechischen Repräsentation des Opfers. Basieren doch alle modernen Beschreibungen und Analysen des Tieropfers auf den homerischen Opferszenen, die im Gegensatz zur Vasenmalerei auch die eigentliche Tötung des Tiers nicht aussparen, aber auch dem anschließenden Opferschmaus nicht weniger Raum geben. Im Gegensatz zu Homer ist Hesiod weniger an dem Ablauf des Tieropfers als an seiner Genese und seiner Problematik interessiert, die er im Prometheusmythos aitiologisch erklärt (theog. 535–60). Das Paradoxe am olympischen Opfer liegt bekanntlich darin, daß die Götter von dem als Gabe an sie verstandenen Opfertier außer Knochen und Fett so gut wie nichts erhalten. Hesiod geht es um diese ungleiche Fleischverteilung und nicht um den eigentlichen Opferprozeß, dem er so gut wie keine Beachtung schenkt. So wird das Töten des Opfers mit keinem Wort erwähnt, sondern stillschweigend vorausgesetzt. An diesem hesiodischen Text scheiden sich die Geister. Es besteht zwar weithin Einigkeit darüber, daß es sich in der Formulierung Walter Burkerts beim Tieropfer um ein „rituelles Töten“ bzw. „ritualisiertes Schlachten mit nachfolgender Fleischmahlzeit“ handelt.66 Dieses Fazit kann sich auf ein eindrucksvolles Dossier von antiken Texten und Bildern stützen. So kulminieren die ausführlicheren Opferszenen im homerischen Epos und in der attischen Vasenmalerei nahezu ausnahmslos in einem Opfermahl.67 In den dutzendweise erhaltenen griechischen Sakralinschriften ist mehr von der Anatomie des Opfertiers, den besten Fleischstücken und der Fleischverteilung die Rede als von den eigentlichen Opferriten und der Tötung des Opfertiers.68 Besonders aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang der Befund der Vasenbilder. Neben den überaus zahlreichen Vasen mit Darstellungen von Opferprozessionen, Opfervorbereitungen, Altarszenen oder sonstigen Ausschnitten aus dem Opferritual gibt es meines Wissens nur drei Vasenbilder, auf denen der präzise Moment der Tötung des Opfertiers festgehalten ist. Das Interesse der Vasenmaler galt also in der Terminologie von Volkert van Straten fast ausschließlich den als „pre-kill“ und „post-kill“ 66 Walter Burkert: Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1977, S. 103; Burkert (1984) [Anm. 3], S. 22–24 u. 36–38; Burkert (1990) [Anm. 13], S. 21. 67 Peirce (1993) [Anm. 24], S. 234–40; Gebauer (2002) [Anm. 10], S. 448–70; Sarah Hitch: The King of Sacrifice. The Structural and Narratological Role of Sacrifice in the Iliad, Ph. D. Diss. Harvard University, 2006. 68 Lupu (2005) [Anm. 14], S. 54–72.
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bezeichneten Phasen des Opferrituals. In den seltenen Fällen, in denen das Abstechen des Opfertiers dargestellt ist, handelt es sich nicht um das Normalopfer, sondern um rituelle Ausnahmesituationen. Zwei der drei Vasen zeigen Krieger beim Tieropfer vor der Schlacht (sphagia).69 Auf der dritten Vase ist das bereits besprochene „Hochheben des Stiers“ dargestellt, eine agonistische Sonderform des Tieropfers, die in Athen und anderswo bis weit in die hellenistische Zeit praktiziert wurde.70 Der Schluß drängt sich auf, daß zumindest die Vasenmaler dem Moment der Tötung des Opfertiers nur geringe Beachtung schenkten, solange es sich um das Normalopfer handelte.71 Darin unterscheidet sich die Vasenmalerei deutlich von dem Opferdiskurs der Tragödie, wo das Tieropfer zwar in den hinterszenischen Raum verlagert ist, aber als Sprechakt häufig nachvollzogen wird.72 Aus der Tendenz der Vasenmaler, die eigentliche Tötung auszusparen, schließt van Straten auf ein „common lack of interest in the killing itself.“73 Dagegen versteht Vernant diese Aussparung als bewußte „Camouflage“ mit dem Ziel, durch die Verschleierung des in der rituellen Tiertötung liegenden Gewaltakts die Fleischgewinnung und den Opferschmaus zu legitimieren.74 Er glaubt allerdings nicht, daß diese Tabuisierung auf Schuldgefühlen im Burkertschen Sinne beruht haben könnte.75 Damit stellt sich nicht nur die Frage der Allgemeingültigkeit der in den Vasenbildern mög69 Neben die bereits genannte Kylix in Cleveland (Anm. 12) tritt ein Kelchkrater in Malibu, J. P. Getty Museum 86.AE.213, um 430 v. Chr. (ThesCRA 2004 [Anm. 12], Bd. 1, S. 105 Nr. 361; van Straten 1995 [Anm. 9], S. 106 u. 220 Nr. V 146; Gebauer 2002 [Anm. 10], S. 268 f. Nr. S 6 mit Abb. 140). Zu den sphagia vgl. oben bei Anm. 10–12. Hier nicht berücksichtigt sind die ebenfalls seltenen Vasenbilder, auf denen zwar das Opfermesser bzw. Opferbeil erscheint, aber das Opfertier noch nicht geschächtet ist (Gebauer 2002 [Anm. 10], S. 254–89). 70 Oben bei Anm. 23–24. 71 Peirce (1993) [Anm. 24], S. 220 u. 234; van Straten (1995) [Anm. 9], S. 103–09 u. 186–88; Himmelmann (1997) [Anm. 18], S. 16–17. 72 Vgl. Anm. 13 und Abschnitt 2 zum Opfer der Iphigenie. 73 Van Straten (1995) [Anm. 9], S. 188, dem sich Georgoudi (2005) [Anm. 21], S. 124 anschließt. 74 Jean-Pierre Vernant: Théorie générale du sacrifice et mise à mort dans la QUSIA grecque. In: Rudhardt/Reverdin (1981) [Anm. 40], S. 1–21. Vernant war der schon damals unrichtigen Ansicht, daß der Augenblick der „mise à mort“ auf keinem erhaltenen Vasenbild dargestellt sei. Kritik an Vernants These bei Georgoudi (2005) [Anm. 21], S. 117 f. u. 123 f. 75 Vernant (1981) [Anm. 74], S. 25–27, der sich von Burkert folgendermaßen abgrenzt: „Sacrifier, c’est fondamentalement tuer pour manger. Mais, dans cette formule, vous mettez l’accent plutôt sur tuer; moi, sur manger“ (S. 26). Zu den divergierenden Opfertheorien von Burkert und Vernant vgl. auch Peirce (1993) [Anm. 24], S. 222–25.
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licherweise zum Ausdruck kommenden kulturellen und ästhetischen Wertsetzungen, sondern auch die Frage der Schuld an der Tiertötung. Bekanntlich basiert Burkerts Opfertheorie auf dem Postulat eines ursprünglichen, tief in die Vorgeschichte der Menschheit und in die paläolithische Jägermentalität zurückreichenden Nexus zwischen Tieropfer und Schuldbewußtsein, das auch das Opferverhalten der Griechen bis in die rituellen Details hinein geprägt haben soll: „Die griechischen Opferituale zeigen in eindrücklichen Einzelheiten die menschliche Tötungshemmung und die Gefühle von Schuld und Reue beim Blutvergießen.“76 Allerdings ist in der über mehr als ein Jahrtausend reichenden Dokumentation zur griechischen Opferpraxis nur in einem Fall von Schuld beim Tieropfer ausdrücklich die Rede. Die Texte, um die es sich hier handelt, beziehen sich auf das attische Fest des Zeus Polieus (Dipolieia) und das damit verbundene Ritual der Buphonien („Ochsentötung“), dessen Name seit der totemistischen Deutung durch William Robertson Smith mit irreführender Akzentverschiebung zugunsten der Schuldfrage häufig mit „Ochsenmord“ übersetzt worden ist.77 Dabei geht es bezeichnenderweise nicht um die Schuld der am Opfer beteiligten Personen, sondern um die vermeintliche Schuld des Opfermessers. Die Schuldfrage ist also vom opfernden und damit tötenden Menschen auf das Tötungsinstrument verlagert und damit verdrängt worden. Diese Art von Verdrängungsstrategie ist eine Variante der Meulischen „Unschuldskomödie“ und als solche von Burkert als Bestätigung für die den Griechen zugeschriebene „Ambivalenz 76 Burkert (1990) [Anm. 13], S. 21; vgl. Burkert (1984) [Anm. 3], S. 31–33 u. ders. (1997) [Anm. 3], S. 29 f., 48 f. Differenzierter zur „Bedenklichkeit des Tiere-Tötens“ aus kulturvergleichender Sicht Burkert: Opfer als Tötungsritual: Eine Konstante der menschlichen Kulturgeschichte? In: Klassische Antike und neue Wege der Kulturwissenschaften. Symposium Karl Meuli (Basel, 11.–13. September 1991), hrsg. von Fritz Graf, Basel 1992, S. 169–89, hier: S. 183–86. 77 Die Haupttexte sind Theophrast bei Porph. De abst. 2,29-30, Paus. 1,24,4 u. 1,28,10 sowie Ail. var. 8,3. Dazu William Robertson Smith: Lectures on the Religion of the Semites [1889], London 21894, S. 304–06; Ludwig Deubner: Attische Feste, Berlin 1932, S. 158–74; Meuli (1975) [Anm. 18], S. 1004–06 („Stiermord“, „Stiermörder“ u. „Mordwaffe“); Vernant (1981) [Anm. 74], S. 14–21 („meurtre du bœuf“); Burkert (1984) [Anm. 3], S. 24 u. ders. (1997) [Anm. 3], S. 154–61 („Ochsenmord“); Jean-Louis Durand, Sacrifice et labour en Grèce anciene. Essai d’anthropologie religieuse, Images à l’appui 1, Paris/Rom 1986, S. 1–7, 43–87; Parker (2005) [Anm. 8], S.187–91; Georgoudi (2005) [Anm. 21], S.134–38. Zum problematischen Konzept des „Ochsenmords“ vgl. Albert Henrichs: Gott, Mensch, Tier: Antike Daseinsstruktur und religiöses Verhalten im Denken Karl Meulis. In: Graf (1992) [Anm. 76], S. 129–67, hier: S. 152–58. Bereits in der Ilias (7,466) wird mit boufonšw ohne jede problematisierende Konnotation das Opfern von Stieren bezeichnet.
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der Gefühle“ beim Opfer herangezogen worden.78 Daß die Schuldfrage im Zusammenhang mit dem Tieropfer in der Antike überhaupt gestellt werden konnte, ist in der Tat bemerkenswert und könnte für Burkerts These sprechen, wenn auch der konkrete rituelle Kontext eher eine weniger weitreichende Deutung nahelegt. An diesem Fest wurde eine Herde von Pflugochsen um den mit Getreideopfern beladenen Zeusaltar auf der Akropolis getrieben. Der erste Ochse, der von den für den Gott bestimmten Opfergaben fraß, wurde als Strafe für das begangene Sakrileg geopfert. Der als „Ochsenschläger“ (boutypos) bezeichnete Opferer „floh“ außer Landes und dem Opfermesser wurde der Prozeß gemacht, bevor es ins Meer versenkt wurde. Das Fleisch des Ochsen wurde gegessen, sein Fell mit Heu ausgestopft und der rituell wiedererstandene Ochse vor einen Pflug gespannt. Damit war der Normalzustand wiederhergestellt und das Leben samt der Opferpraxis konnte weitergehen. Das scheinbare Paradox der Buphonien entbehrt nicht der inneren Logik. Es erklärt nämlich, warum etwas, was eigentlich Anstoß erregen sollte, nämlich die Opferung eines Pflugochsen im Gegensatz zu einem den Opfernden weniger nahestehenden Opfertier, ob Zuchtochse, Kuh oder Widder, letztlich doch statthaft ist.79 Daß man diesen speziellen Fall verallgemeinern und daraus auf tief sitzende und weit verbreitete Schuldgefühle beim Tieropfer schließen darf, möchte ich bezweifeln.80 Die Problematisierung der rituellen Tötung von Tieren hat letztlich mehr mit unseren eigenen kulturimmanenten Verhaltenserwartungen als mit der Opfermentalität der Griechen zu tun.81 Im selben Jahr wie Burkerts Homo Necans (1972) 78 Burkert (1977) [Anm. 66], S. 350 f., ders. (1990) [Anm. 13], S. 22 f., ders. (1997) [Anm. 3], S. 159 f. im Anschluß an Meuli (1975) [Anm. 18], S. 1005. 79 Vernant (1981) [Anm. 74], S. 14–18; Gebauer (2002) [Anm. 10], S. 20; Parker 2005 [Anm. 8], S. 189 f. Ein alter Pflugochse wird aus Dankbarkeit für seine Leistung nicht dem „tödlichen Opfermesser“ (fon…hn … kop…da) ausgeliefert (Adaios v. Makedonien, AP 6,228 mit dem Kommentar von Andrew S. F. Gow und Denys L. Page, The Greek Anthology: The Garland of Philip, Bd. 2, Cambridge 1968, 3 f.). 80 Vgl. Dirk Obbink: The Origin of Greek Sacrifice: Theophrastus on Religion and Cultural History. In: Theophrastean Studies on Natural Science, Physics and Metaphysics, Ethics, Religion, and Rhetoric, hrsg. von William W. Fortenbaugh und Robert W. Sharples, New Brunswick/Oxford 1988, S. 272–95, hier: S. 284. 81 Vgl. Henrichs 1998 [Anm. 21], S. 63–65; Gebauer 2002 [Anm. 10], S. 6: „Es ist zu fragen, ob sich darin nicht vor allem das Verhältnis des modernen Menschen zum Schlachten eines Tieres widerspiegelt.“ Zur jüngsten tierethischen Debatte über die Rechte der Tiere und die gerechte Behandlung der „nonhuman animals“ s. Martha Nussbaum: Frontiers of Justice: Disability, Nationality, Species Membership, Cambridge, Mass./London 2006, S. 325–407, bes. S. 384–88.
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erschien nicht nur René Girards La violence et le sacré, sondern bezeichnenderweise auch eine Marburger theologische Dissertation zum Thema „Schulderlebnis und Tiertötung“.82 Angesichts der den Buphonien eigentümlichen, das rituelle Verhalten hinterfragenden Akzentsetzung bleibt jedoch zu überlegen, inwieweit Tieropfer als Gewaltakte zu gelten haben. Extreme Tierschützer wie Empedokles waren um eine Antwort nicht verlegen und lehnten jedes gewaltsame Töten von Tieren ab.83 Angesichts der Myriaden von Rindern, Schafen, Ziegen und Schweinen, die in der griechischen Antike geopfert wurden, ist es allerdings nur schwer vorstellbar, daß von Randgruppen wie den Pythagoräern abgesehen die meisten Griechen beim Tieropfer von Skrupeln gequält wurden, zumal sie zumindest in den häufigen Kriegszeiten Menschen bedenkenlos versklavten und töteten.84 Doch zeigt die Tragödie wiederum am Beispiel des Aias, wie im tragischen Extremfall eine von Folterung und Verstümmelungen begleitete Abschlachtung von für Menschen gehaltenen Tieren den Täter in den Selbstmord treiben kann.85 Gewalt am Tier als Problem bleibt jedoch auch in der Tragödie die Ausnahme. Andererseits stellen die Tragiker Gewalt am Menschen mit Vorliebe vor dem rituellen Hintergrund des Tieropfers dar. Nahezu jedes Mal, wenn Menschen Opfer von Gewalt werden, wird die Mordtat durch den metaphorischen Vergleich mit dem Tieropfer gleichsam sakralisiert und sublimiert.86 Umgekehrt wird zumindest für den modernen Betrachter durch die ständige Beziehung auf gegen Menschen gerichtete Formen von Gewalt auch das Tieropfer belastet und gerät so ins tragische Zwielicht. Handelt es sich bei der Opferthematik der Tragödie lediglich um
82 Ebermut Rudolph: Schulderlebnis und Entschuldung im Bereich säkularer Tiertötung. Religionsgeschichtliche Untersuchung, Bern/Frankfurt a. M. 1972. Rudolph kannte zwar Karl Meulis „Griechische Opferbräuche“ (1946) und entnahm der Arbeit „Material über kultische Entschuldungsriten“ (S. 34, 52, 86, 91–93), aber auf Walter Burkerts Aufsatz „Greek Tragedy and Sacrificial Ritual“ von 1966 (dt. als „Griechische Tragödie und Opferritual“. In: Burkert 1990 [Anm. 13], S. 13–39), wo „die Gefühle von Schuld und Reue“ beim griechischen Tieropfer im Anschluß an Meuli erstmals von Burkert vorausgesetzt werden, wird nicht verwiesen. 83 Vgl. oben Anm. 16. 84 Vgl. Stephen T. Newmyer: Plutarch on Justice Toward Animals: Ancient Insights on a Modern Debate. In: Scholia 1 (1992), S. 38–55; Walter Burkert: Weisheit und Wissenschaft. Studien zu Pythagoras, Philolaos und Platon, Nürnberg 1962, S. 167–69. 85 Henrichs (2000) [Anm. 13], S. 181. 86 Oben Anm. 13 und Abschnitt 2.
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eine gattungsspezifische „Rhetorik des Opfers“87, wie man gemeint hat, oder verbergen sich dahinter uralte religiöse Vorstellungen, die ihrerseits in universaltypischen Verhaltensweisen wurzeln? Um diese Frage adäquat zu beantworten, müßte man den diversen Ursprungstheorien auf den Grund gehen, welche die Anfänge der Tragödie und ihren Sinngehalt im Opferritual suchen: „Die tragische Dichtung ruht auf der Opferidee.“88 Dazu müßte man sich vor allem mit dem exemplarischen Stellenwert auseinandersetzen, den der griechische Mythos in Walter Burkerts Konstrukt des „Homo Necans“ und in René Girards These von der Sakralisierung der Gewalt als anthropologischer Konstante einnimmt.89 Beide Entwürfe sind ohne den ständigen Rekurs auf die im Mythos vorgeprägten Ausnahmesituationen und die Tötungsszenarien der Tragödie undenkbar. Damit stellt sich weiter die Frage, warum in der Tragödie das Tieropfer so stark problematisiert ist und dort, wo es im Mittelpunkt des tragischen Geschehens steht, ausnahmslos als pervertiertes Opfer erscheint. Die Antwort, die in jüngster Zeit wiederholt gegeben worden ist, lautet, daß im Athen des 5. Jhs. v. Chr. bei den alljährlichen Tragödienaufführungen im Rahmen der Städtischen Dionysien die normale Opferordnung und damit die rituellen Strukturen der Polis durch die Thematik des pervertierten Opfers immer wieder aufs neue bestätigt und legitimiert wurden.90 Daran ist sicher viel Wahres. Aber hinter der periodischen Infragestellung der Polisordnung stand auch die Einsicht, daß die Gefährdung der politischen Institutionen, auf denen die attische Demokratie und das Zusammenleben der Bürger basierte, zwar als drohende Möglichkeit in der menschlichen Natur angelegt war, aber durch die Dramatisierung in der Tragödie prinzipiell ins allgemeine Bewußtsein gehoben und damit apotropäisch bewältigt werden konnte. Dabei dürfte die Sakralisierung der Gewalt einen beschwichtigenden, ja kathartischen Effekt gehabt haben. Durch die Paralle87 So Pietro Pucci: Human Sacrifices in the Oresteia. In: Innovations of Antiquity, hrsg. von Ralph Hexter und Daniel Selden, New York/London 1992, S. 513–36. Die Gegenposition bei Burkert (1992) [Anm. 76], S. 183–87. 88 Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels (1928). In: Gesammelte Schriften I/1, Frankfurt a. M. 1972, S. 203–430, hier: S. 285. Dazu Hubert Cancik: Nietzsches Antike: Vorlesung, Stuttgart/Weimar 1995, S. 58 ff., dessen berechtigte Kritik an Benjamins These jedoch mit keinem Wort auf die bereits von Zeitlin (1965) [Anm. 13] und Burkert (1990) [Anm. 13] konstatierte Bedeutung der Opferthematik als zentrales Thema der erhaltenen Tragödien eingeht. 89 Burkert (1997) [Anm. 3]; René Girard: Das Heilige und die Gewalt [1972], Frankfurt a. M. 1992. 90 So z. B. Carlos Miralles: Tragedia e sacrificio. In: Lexis 12 (1994), S. 27–36.
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lisierung von Mord und Tieropfer wurde der Unterschied zwischen Ausnahmesituation und Normalverhalten zwar um so deutlicher; gleichzeitig wurde das unheilige Blutvergießen aber auch in einen durch das Opferwesen sanktionierten rituellen Zusammenhang gestellt und auf diese Weise transparenter, wenn nicht sogar erträglicher gemacht: „Dichter wie Künstler, aber vor allem eben auch die zuhörenden bzw. betrachtenden Konsumenten können offenbar gar nicht anders, als sich das Schreckliche sakralisiert und ritualisiert zu denken. Sie lenken es damit in eine vertraute, weil fast stereotyp genormte Bahn und schieben so zwischen sich und das Geschehen wie einen Filter das Opferritual.“91 Aber letztlich waren sich die Tragiker nicht sicher, ob Gewalt durch Rituale und Ritualisierung in Grenzen gehalten werden kann. Das ist einer der Gründe, warum Aischylos den Chor im Agamemnon kurz vor der Opferung Iphigenies dreimal dieselbe apotropäische Bitte aussprechen läßt, in der sich Sorge und Hoffnung ambivalent verbinden: „Sprich ,Weh, weh!‘, doch möge das Gute siegen“ (121=139=159 a‡linon a‡linon e„pš, tÕ d' eâ nik£tw).92 Der Verlauf der Trilogie zeigt, wie berechtigt die Besorgnis des Chores war, auch wenn sich im letzten Stück nach vier weiteren Opfern und immensem rituellen Aufwand in der Tat ein Ende der Gewalt und damit ein „guter“ Ausgang abzeichnet.93
91 Blome (1998) [Anm. 9], S. 94 f. 92 Vgl. Walter Burkert: Die Absurdität der Gewalt und das Ende der Tragödie: Euripides’ Orestes. In: Antike und Abendland 20 (1974), S. 97–109; Patricia E. Easterling: Tragedy and Ritual. Cry ,Woe, Woe‘, But May the Good Prevail. In: Mètis 3 (1988), S. 87–109, verkürzte Fassung in: Theater and Society in the Classical World, hrsg. von Ruth Scodel, Ann Arbor, Mich. 1993, S. 7–23; Albert Henrichs: ,Let the Good Prevail‘: Perversions of the Ritual Process in Greek Tragedy. In: Greek Ritual Poetics, hrsg. von Dimitrios Yatromanolakis und Panagiotis Roilos, Hellenic Studies 3, Cambridge, Mass. 2005, S. 189–98. 93 Dank für manche Anregungen und Hinweise schulde ich Susanne Ebbinghaus, Bernd Seidensticker und den Teilnehmern am Symposium.
Literatur
Bernd Seidensticker (Berlin)
Distanz und Nähe: Zur Darstellung von Gewalt in der griechischen Tragödie1 I Wie kommt es, daß uns die Darstellung von Ereignissen und Situationen, Handlungen und Schicksalen, die uns abstoßen und entsetzen müßten, vielmehr anziehen und zutiefst befriedigen? Oder für unseren Kontext enger und aristotelischer formuliert: Wie können die Präsentation zerstörerischer Gewalt und ihrer Folgen – und die damit verbundene Erregung von Furcht und Mitleid – Lust erzeugen? Die Schillersche Frage2, die in der Moderne mit der ungeheuren quantitativen und qualitativen Erweiterung und Steigerung von Gewalt und der Aufhebung aller technischen Beschränkungen ihrer medialen Mimesis noch brennender geworden ist, hat bereits in der Antike eine ganze Reihe von Antworten gefunden, die seither bis auf den heutigen Tag mit immer neuen Akzentuierungen durchdekliniert worden sind.3 1 Übersetzungen der Tragikerzitate: Aischylos: B. Seidensticker; Sophokles: Tragödien, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Wolfgang Schadewaldt, Zürich/Stuttgart 1968; Euripides: Tragödien. Griechisch und deutsch von Dietrich Ebener, Berlin 1972–1980. (= Schriften und Quellen der Alten Welt, hrsg. vom Zentralinstitut für Alte Geschichte und Archäologie der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd. 30, 1–6). 2 Friedrich Schiller: Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen [1792]. In: Schillers Werke, Weimar 1962, Bd. 20, S. 133–47. 3 Bernd Seidensticker: Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen. In: Fragmenta Dramatica, Festschrift für Stefan Radt, hrsg. von H. Hofmann, Göttingen 1991, S. 219–41 (repr. in B. S.: Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen. Studien zum antiken Drama, hrsg. von Jens Holzhausen, Leipzig 2005, S. 217–45).
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Über eine Bedingung der tragischen Lust besteht in den verschiedensten antiken und modernen Erklärungen des paradoxen Phänomens Einigkeit. Alle insistieren – explizit oder implizit – als Bedingung für das ‚Vergnügen an tragischen Gegenständen‘ auf einer mehr oder minder großen Distanz des Zuschauers oder Lesers zu den realen oder fiktiven tragischen Ereignissen. Die geforderte Distanz kann in verschiedener Weise bestehen bzw. empfunden werden: als qualitative (oder ästhetische) Distanz, die in der ontologischen Differenz von Realität und Abbildung liegt, als zeitliche Distanz der in den großen Tragödien der Weltliteratur zumeist dramatisierten mythischen und historischen Stoffe zur Gegenwart der Rezipienten4 und schließlich als räumliche Trennung, die schon rein äußerlich durch die Trennung von Bühne und Zuschauerraum konstituiert wird, vor allem aber in der Tatsache besteht, daß das tragische Spiel die Leiden anderer in einer Situation und Welt präsentiert, die nicht direkt die eigene ist5 (allotrios ist seit Gorgias6 und Platons Staat 7 der Terminus dafür). 4 Bekanntlich haben die griechischen Tragiker nur in der Frühzeit der Tragödie gelegentlich aktuelle zeitgeschichtliche Stoffe dramatisiert. Bezeugt sind Stücke zur Zerstörung von Milet durch die Perser im Jahre 494 (Phrynichos, Miletou Halosis) und zum Sieg über die Perser bei Salamis (Phrynichos, Phoinissen und Aischylos, Perser); auch diese Stücke sind durch Schauplatz bzw. Perspektive in eine deutliche Distanz zu ihrem Publikum gerückt. Aus späterer Zeit kennen wir bis weit ins 4. Jahrhundert hinein nur Stücke mit mythischen Stoffen. Andererseits war die zeitliche Distanz für den athenischen Zuschauer zweifellos deutlich geringer als es dem modernen Betrachter erscheinen mag. Denn erstens waren die mythischen Geschichten für die Athener des 5. Jahrhunderts selbstverständlicher Bestandteil ihres Lebens, dem sie auf Schritt und Tritt in Wort und Bild – in politischen Debatten und bei großen Festen, als Bildschmuck auf Vasen und an Tempeln und bei musischen Agonen – begegneten; zweitens waren es die Griechen gewohnt, daß ihnen Dichter und bildende Künstler Mythen als poetische und ikonographische Bilder für aktuelle Ereignisse und Probleme präsentierten; und drittens rückten die Tragiker die mythischen Stoffe immer wieder durch offensichtliche Anachronismen an die Gegenwart und Erfahrungswelt ihrer Zuschauer heran; vgl. P. Easterling: Anachronism in Greek Tragedy. In: JHS 105 (1985), S. 1–10. 5 F. Zeitlin: Thebes. Theater of Self and Society in Athenian Drama. In: Nothing to Do with Dionysos? Athenian Drama and Its Social Context, hrsg. von J. J. Winkler and F. Zeitlin, Princeton 1990, S. 130–67, und S. Said: Tragic Argos. In: Tragedy, Comedy and the Polis, hrsg. von A. Sommerstein u. a., Bari 1993, S. 167–89, haben zu Recht darauf aufmerksam gemacht, daß die Mehrzahl der tragischen Geschichten, die die Tragiker erzählen, nicht in Athen, sondern in Theben, in Argos oder in Troja spielen. Athen erscheint in der Tat, wenn es in der Tragödie überhaupt
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Fehlt die Distanz oder reicht sie nicht aus, so ist das Vergnügen gefährdet. Eine Anekdote aus der Frühzeit der Tragödie kann das veranschaulichen: Herodot erzählt,8 daß die Athener den Tragiker Phrynichos (wahrscheinlich im Jahre 492), als er sie mit einer Tragödie über die nur zwei Jahre zurückliegende vollständige Vernichtung der ionischen Schwesterstadt Milet konfrontierte, mit einer hohen Geldstrafe belegten, weil er sie an ein allzu nahes, sie allzu persönlich angehendes Unglück erinnert hatte. Die Formulierung, die Herodot für die von Phrynichos gestalteten Ereignisse gewählt hat – o„k»ia9 kak£ – betont, daß den Athenern die Katastrophe so nahe ging, als gehörten die Milesier zur Familie. Die Nähe, die wir ertragen können, ist gewiß durchaus verschieden, ganz fehlen oder verloren gehen darf die Distanz aber offenbar nicht. Es gibt neben der von Herodot erzählten Anekdote eine ganze Reihe von antiken Äußerungen zur Bedeutung der Distanz für das Vergnügen an tragischen Gegenständen, deren berühmteste Formulierung Lucrez’ „Schiffbruch mit Zuschauer“10 ist. Aristoteles spricht zwar in der Poetik nicht explizit über Distanz und Nähe der tragischen Handlung zum Be-
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zum Schauplatz wird (nur in 4 der überlieferten 32 Tragödien), als der Ort, an dem sich die tragischen Konflikte überwinden lassen (wie in der Orestie) oder tragisch Gescheiterte (wie Oidipus oder Herakles) Frieden finden können. Auf der anderen Seite kann jedoch kein Zweifel daran bestehen, daß der athenische Zuschauer die Ereignisse auch dann auf sich und seine Welt bezog, wenn die Stücke nicht in Athen spielten. Man muß dazu nicht (um nur ein Beispiel zu nennen) so weit gehen wie Bernard Knox, der den Oidipus des Sophokleischen Oidipus Tyrannus als poetisches Bild für Athen gedeutet hat; es genügt, mit Vernant oder Christian Meier die Tragödie als Diskussionsforum der die Bürgerschaft bedrängenden Fragen der Zeit zu verstehen, um die Nähe zu spüren, die räumlich weit entfernte Geschichten gewinnen konnten. Gorg. Hel. 9. Plat. rep. 606b; vgl. auch Timokles F 6 Kassel-Austin; vgl. M. Pohlenz: Die Anfänge der griechischen Poetik. In: Ders.: Kleine Schriften, Hildesheim 1965, Bd. II, S. 436–72, bes. S. 462 f. Hdt. 6.21.2; zum zweiten Teil der Strafe (Verbot jeder zukünftigen ‚Verwendung‘ des Stücks vgl. M. Mülke: Phrynichos und Athen. Der Beschluß über die Miletu Halosis (Hdt. 6,21,2). In: Skenika. Beiträge zum antiken Theater und seiner Rezeption. Festschrift zum 65. Geburtstag von Horst-Dieter Blume, hrsg. von Susanne Gödde und Theodor Heinze, Darmstadt 2000, S. 233–46. o„ke‹oj: zum Haus gehörig, verwandt, nahestehend, bedeutet, daß die Katastrophe den Athenern so nahe war, als seien die Milesier ihre Verwandten oder nahe Freunde.
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trachter; das Problem ist aber in einer ganzen Reihe von zentralen Elementen seiner Tragödientheorie implizit thematisiert: So ist dem Bild-Abbild-Verhältnis der nachahmenden Darstellung eine ästhetische Distanz eingeschrieben, die auch in der Überlegung zum Ausdruck kommt, daß die Freude des Rezipienten an der Mimesis darauf beruht, daß er das Abgebildete (bzw. Dargestellte) als Abbildung (bzw. Darstellung) von etwas, das er kennt, versteht.11 Gleichzeitig rückt dieser Gedanke das Abgebildete dem Erkennenden im Augenblick des Erkennens aber auch nahe. Im Theater ist diese Balance von Distanz und Nähe schon dadurch gegeben, daß die Mimesis nicht durch eine Erzählung wie in der epischen Erzählung (apangelia), sondern durch Handelnde (drontes) erfolgt und die physische Präsenz der Schauspieler – ihrer Körper und Stimmen – die Distanz des Zuschauers zu den Ereignissen zwar nicht aufhebt, aber doch erheblich verringert.12 Für zwei der drei qualitativen Elemente der Mimesis einer tragischen Handlung – für Pathos und Anagnorisis insistiert Aristoteles explizit bzw. durch die gewählten Beispiele 10 Lucr. 2.1–4: Süß ist es, wenn der Sturm auf hohem Meer die Wasser aufwühlt, vom Lande zu betrachten, wie ein andrer sich furchtbar müht. Nicht weil es angenehm ist, daß jemand leidet, sondern weil es süß ist, Leiden zu sehen, von denen man frei ist. Vgl. auch Soph. F 636 Radt; Archippos F 45 Kassel-Austin; Epiktet F 121 Schweighäuser; Cic. ad Att. 2.7.4; Tibull, 1.45 ff., Hor. epist. 1.11.10; zur Rezeptionsgeschichte des Topos vgl. Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt a. M. 1979; C. Zelle: Schiffbruch vor Zuschauer. Über einige popularphilosophische Parallelschriften zu Schillers Abhandlungen über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 34 (1990), S. 289–316. Über den Grund des Vergnügens an schrecklichen Gegenständen in der Ästhetik des achtzehnten Jahrhunderts (mit einem bibliographischen Anhang). In: Schönheit und Schrecken. Entsetzen, Gewalt und Tod in alten und neuen Medien, hrsg. von Peter Gendolla und Carsten Zelle, Heidelberg 1990 (= Reihe Siegen. Beiträge zur Literatur-, Sprach- und Medienwissenschaft, Bd. 72), S. 55–91. 11 Aristot. poet. Kap. 4, 1448b 4–17. 12 Sicher wäre es auch aufschlußreich, das Verhältnis von Distanz und Nähe zu untersuchen, das mit der Form der griechischen Tragödie und ihrer Inszenierung gegeben ist. Die vielen in diesem Zusammenhang zu betrachtenden anti-illusionistischen Elemente – von der Größe und Architektur des Theaters sowie Maske und Kostüm über die artifizielle Kunstsprache und den Chorgesang und -tanz bis zu der topischen Verwendung fester Bauformen und Handlungsmuster – sind so zahlreich und vielfältig, daß eine differenzierte Analyse unter unserer Fragestellung den Rahmen dieses Beitrags überschreitet.
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darauf, daß sie ihre höchste Wirkung dann erreichen, wenn sie sich unter Verwandten ereignen.13 Intrafamiliäre Gewalt verstört uns deswegen so machtvoll, weil sie uns am Nerv unseres eigenen Lebens trifft. Die Nähe der tragischen Handlung zum Zuschauer ist auch in Aristoteles’ vielzitierter Feststellung impliziert, daß die Dichtung nicht darstellt, was geschehen ist, sondern das, was so ist, daß es geschehen könnte.14 Könnte der Betrachter sich im ersten Fall (d. h. bei der Darstellung dessen, was geschehen ist) von dem Dargestellten als von etwas Speziellem, das einem Anderen zugestoßen ist, distanzieren, so gewinnt die Darstellung der Tragödie durch ihre Allgemeingültigkeit eine bedrängende Nähe. Die Nähe ist auch in der aristotelischen Forderung enthalten, daß die Handlungsstruktur der Tragödie sich nach den Gesetzen von Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit entwickeln müsse, die der Betrachter ja an seiner eigenen Lebenserfahrung messen muß und wird; und schließlich betont Aristoteles gleich mehrfach, daß die Personen der Tragödie uns ähnlich sein müssen, wenn, wie es im zentralen 13. Kapitel der Poetik heißt, das Gefühl der Furcht entstehen soll.15 Was hier in einer knappen parenthetischen Bemerkung nur angedeutet ist, entfaltet Aristoteles im zweiten Buch der Rhetorik bei der Analyse der beiden für die Tragödie konstitutiven Emotionen phobos (2.5) und eleos (2.8) in größerer Breite. Im Falle der Furcht insistiert Aristoteles vor allem auf der Nähe: Schon die Definition16 bestimmt das zerstörerische oder schmerzhafte Übel, das Furcht auslöst, als ein herannahendes, unmittelbar bevorstehendes, und die Begründung betont die Nähe gleich in einer doppelten Antithese: „Und diese (sc. Ereignisse) fürchtet man, wenn sie nicht weit entfernt zu sein scheinen, sondern nahe, so daß sie unmittelbar bevorstehen. Denn das weit Entfernte fürchtet man nicht.“17 Die Distanz erscheint hier nur in dem Verb mšllw (unmittelbar bevorstehen) und in der Formulierung, daß man das 13 Pathos: Aristot. poet. Kap 14, 1453b 15–22; Anagnorisis: Kap. 11, 1452a 29–32; 1452b 3–8; Kap. 16, 1454b 19 – 55a 21. 14 Aristot. poet. Kap. 9, 1451a 35 – b 10. 15 Aristot. poet. Kap. 13, 1453a 5 f.; Kap. 15, 1454a 24 f.; 1454b 8–14; rhet. 1386a 25 f. 16 Aristot. rhet. 2.5, 1382a 21f.: œstw d¾ Ð fÒboj lÚph tij À tarac¾ ™k fantas…aj mšllontoj kakoà fqartikoà À luphroà. „Es sei also Furcht eine Art von Schmerz oder Beunruhigung, herrührend aus der Vorstellung eines bevorstehenden verderblichen oder schmerzlichen Übels.“ (Übersetzung wie im folgenden nach Aristoteles: Rhetorik, übersetzt und erläutert von Christof Rapp, Berlin 2002. [= Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 4]).
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sehr Entfernte nicht fürchte, immerhin aber – mag das heißen – das ein wenig Entfernte. In der Definition des Mitleids18 wird die Nähe des zerstörerischen oder schmerzlichen Übels gleich in zweierlei Hinsicht bestimmt, einmal als räumliche Nähe19 und zum andern durch den selbstreflexiven Charakter des Mitleids, das nur dann entstehen kann, wenn wir befürchten müssen, daß es uns oder einem der Unsern so ergehen könnte wie dem, der unser Mitleid auslöst. Und am Ende des Kapitels erweitert Aristoteles die Gruppe derer, auf die sich das Mitleid richtet, auf alle, die dem Betrachter ähnlich sind „in Hinsicht auf Alter, Charakter, Einstellungen, Position und Abstammung. In allen diesen Fällen scheint es nämlich in höherem Maße auch einem selbst zukommen zu können.“20 Auf der anderen Seite darf die Nähe aber auch nicht zu groß sein. „Man bemitleidet diejenigen, die einem bekannt sind, wenn sie nicht der eigenen Verwandtschaft zu nahe stehen; bei diesen nämlich befindet man sich im selben Zustand wie bei einem selbst, wenn man etwas erleiden soll. Deswegen hat Amasis“ – fährt Aristoteles mit einem anekdotischen Beispiel fort – „auch nicht geweint, als man seinen Sohn zum Sterben wegführte; jedoch weinte er
17 Aristot. rhet. 2.5, 1382a 22–25: oÙ g¦r p£nta t¦ kak¦ foboàntai, oŒon e„ œstai ¥dikoj À bradÚj, ¢ll' Ósa lÚpaj meg£laj À fqor¦j dÚnatai, kaˆ taàta ™¦n m¾ pÒrrw ¢ll¦ sÚnegguj fa…nhtai éste mšllein. t¦ g¦r pÒrrw sfÒdra oÙ foboàntai.
„Man fürchtet nämlich nicht alle Übel, wie zum Beispiel, dass man ungerecht sein wird oder schwerfällig, sondern alle die, welche große Schmerzen und Verderben bewirken können. Und diese (fürchtet man nur), wenn sie nicht weit entfernt, sondern nahe zu sein scheinen, so dass sie unmittelbar bevorstehen; denn das sehr Entfernte fürchtet man nicht.“ 18 Aristot. rhet. 2.8, 1385b 13–16: œstw d¾ œleoj lÚph tij ™pˆ fainomšnJ kakù fqartikù À luphrù toà ¢nax…ou tugc£nein, Ö k¨n aÙtÕj prosdok»seien ¨n paqe‹n À tîn aØtoà tina, kaˆ toàto Ótan plhs…on fa…nhtai. „Es sei also Mitleid eine Art von
Schmerz aufgrund eines vermeintlichen Übels [vgl. dazu Anm. 19], das verderblich oder schmerzlich ist, bei jemandem, der es nicht verdient hat, dass ihm derartiges widerfährt, und von dem man erwarten kann, dass man es selbst oder einer der Seinigen erleidet, und dies ist der Fall, wenn es nahe scheint.“ 19 ™pˆ fainomšnJ kakù (1385b 13) heißt nicht: „eines vermeintlichen Übels“ (Rapp 2002 [Anm. 16], S. 90), sondern: „angesichts eines erscheinenden, sich zeigenden Übels“ (vgl. 1385b 15 f.: plhs…on fa…nhtai). Dazu kommt natürlich die wichtige Bedingung, daß der Leidende, wie auch in der Poetik (1453a 4) betont wird, das Unglück, das ihn trifft, nicht verdient (¢n£xioj). 20 Aristot. rhet. 2.8, 1386a 25–27: kaˆ toÝj Ðmo…ouj ™leoàsin kat¦ ¹lik…an, kat¦ ½qh, kat¦ ›xeij, kat¦ ¢xièmata, kat¦ gšnh: ™n p©si g¦r toÚtoij m©llon fa…netai kaˆ aÙtù ¨n Øp£rxai.
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über den Freund, als der ihn anbettelte; dies nämlich ist mitleiderregend, jenes schrecklich. […] Man empfindet nämlich nicht Mitleid, wenn einem das Schreckliche zu nahe ist.“21 Bereits der Verbindung der beiden Wirkungsqualitäten Eleos und Phobos ist im übrigen die palintonos harmonia von Distanz und Nähe eingeschrieben: Phobos rät dem Betrachter, Abstand zu halten von dem Schrecklichen, das sich ihm darbietet; Eleos fordert ihn auf, heranzutreten und Anteil zu nehmen. Die Rhetorik bestätigt also, was sich bereits der Poetik entnehmen ließ: Aristoteles bestimmt die Voraussetzung für die Entstehung der beiden tragischen Emotionen Furcht und Mitleid als komplexes Zusammenspiel von Nähe und Distanz des Betrachters zu den tragischen Ereignissen und den von ihnen Betroffenen. Die in der Definition der tragischen Lust als ¹ ¢pÕ ™lšou kaˆ fÒbou di¦ mim»sewj ¹don» („die aus Furcht und Mitleid durch Mimesis erzeugte Lust“) verbundenen Kernelemente der aristotelischen Tragödientheorie implizieren in der Tat aristotelische Überlegungen zu Distanz und Nähe der Tragödie. Während Platon die Gefahr tragischer Mimesis darin sieht, daß der Zuschauer sich allzu stark mit den präsentierten Emotionen der dramatis personae identifiziert und so die niederen Kräfte der Seele nährt und begießt,22 betont Aristoteles zwar auch die Nähe als Voraussetzung für die Erregung der tragischen Emotionen stark, zugleich ist aber für ihn eine gewisse Distanz zu den Helden der Tragödie und ihrem Schicksal nicht nur durch die mimetische Qualität des Spiels, sondern auch dadurch gegeben, daß die Entstehung von Furcht und Mitleid von rationalen Überlegungen und Urteilen des Betrachters abhängig ist.23
21 Aristot. rhet. 1386a 17–22; die Geschichte stammt aus Hdt. 3.14, der sie allerdings von Psammenitos, dem Sohn des Amasis erzählt; der Text muß deswegen nicht (unbedingt) geändert werden: Aristoteles hat sich wahrscheinlich geirrt. 22 Plat. rep. 605c 10 ff. 23 Gegen Schadewaldts lange Zeit dominante These, daß Eleos und Phobos „naturhaft ungebrochene Elementaraffekte“ seien, ist in den letzten Jahren von verschiedener Seite darauf hingewiesen worden, daß sich in Aristoteles’ Bestimmung der beiden (wie aller) Emotionen rationale und emotionale Elemente miteinander verbinden; vgl. A. Kerkhecker: Furcht und Mitleid. In: RhM 134 (1991), S. 288–310; R. Dilcher: Furcht und Mitleid! Zu Lessings Ehrenrettung. In: Antike und Abendland 42 (1996), S. 85–102; Chr. Rapp: Aristoteles Rhetorik, Berlin 2002, Bd. II S. 650 f.
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II Nach diesem Versuch, die Bedeutung aufzuzeigen, die Distanz und Nähe für die aristotelische Tragödientheorie besitzen, auch wenn sie in der Poetik nicht explizit thematisiert werden, komme ich nun zu den Formen der Darstellung von Gewalt in den Stücken der drei großen Tragiker. Das Material für eine solche Untersuchung ist reich. Von Aischylos Persern bis zu Euripides Bakchen bieten die 32 erhaltenen Tragödien zahlreiche Beispiele für jede Form von Gewalt, wie sie von der modernen Gewaltdiskussion differenziert werden: physische Gewalt (wie Mord und Selbstmord, Blendung und Selbstblendung, Zerreißung und Kannibalismus), aber auch psychische Gewalt, d. h. die psychische Schädigung einer Person z. B. durch inneren und äußeren Druck, wie er auf Gestalten wie der Sophokleischen Elektra24 oder der Hekabe des Euripides25 lastet, und strukturelle Gewalt, 24 Bei Sophokles entsteht die Tragik des Stücks nicht, wie bei Aischylos, aus der objektiven oder, wie bei Euripides, aus der subjektiven Problematik des Muttermordes, sondern erwächst aus der totalen Einsamkeit und aus den physischen, psychischen und moralischen Qualen, die die Heldin zu zerstören drohen. Elektra leidet an dem erbärmlichen und entwürdigenden Leben, zu dem sie, die Tochter des Königs, im Palast des Vaters verurteilt ist, und sie leidet daran, daß mit jedem Jahr die Hoffnung auf einen Mann und auf Kinder schwindet. Sie leidet an der sie Tag und Nacht verfolgenden Erinnerung an die Ermordung und Verstümmelung des Vaters, und dieser Schmerz wird noch bitterer durch den täglichen Anblick der Mörder und der Schamlosigkeit, mit der sie die Früchte ihres Verbrechens genießen. Sie leidet daran, daß die gerechte Bestrafung der Mörder auf sich warten läßt, und daran, daß die unerträglichen Bedingungen, unter denen sie leben muß, sie zu Gefühlen und Reaktionen zwingen, die einem jungen Mädchen auch in ihren eigenen Augen nicht anstehen und derer sie sich schämt. Verschärft werden alle diese Qualen durch ihre Einsamkeit: Mit der Mutter verbindet sie nur noch der wechselseitige Haß und das leere Ritual der sich ständig wiederholenden Wortgefechte; für die Schwester, die zwar so denkt und fühlt wie sie, aber zu feige ist, sich zusammen mit ihr offen gegen die Mörder zu stellen, empfindet sie nur Verachtung; und der ferne Bruder enttäuscht ihre Hoffnungen immer wieder mit Versprechungen, die er nicht hält. 25 Die Euripideische Hekabe ist – wie die Troerinnen – ein eindrucksvolles Beispiel für jede Form von Gewalt, die der Krieg mit sich bringt. Im Zentrum steht jedoch die Darstellung des psychischen Drucks, unter dem die von immer neuen Schicksalsschlägen getroffene Königin am Ende zu einer barbarischen Rächerin degeneriert. (Zur allgemeinen Brutalisierung und Barbarisierung in der Hekabe vgl. Ch. Segal: Violence and Dramatic Structure in Euripides’ Hecuba. In: Themes in Drama 13 [1991], S. 35–46.) In dieser Hinsicht ist das Stück mit der Sophokleischen Elektra verwandt, die auch zeigt, wie die Heldin unter dem ungeheuren psychischen Druck, dem sie ausgesetzt ist, zur barbarischen Muttermörderin wird:
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d. h. die Gewalt, die potentiell jeder Form von Machtstrukturen inhärent ist (wie in Aischylos Hiketiden26 oder in Sophokles Antigone27) oder ihre für die griechische Tragödie besonders wichtige Sonderform der göttlichen Gewalt (belehrend wie die charis biaios der Orestie oder zerstörerisch wie in den Eupideischen Bakchen).28 Innerhalb des Gesamtcorpus der erhaltenen griechischen Tragödien gibt es natürlich erhebliche Differenzen zwischen den drei Tragikern und innerhalb ihres erhaltenen Werks: So zeigt z. B. Sophokles – anders als seine beiden Konkurrenten – eine besondere Vorliebe für suizidale Gewalt.29 Und betrachtet man das Sophokleische Œuvre für sich, so fällt auf, daß im Spätwerk physische Gewalt gegenüber Formen psychischer, verbaler und struktureller Gewalt deutlich zurücktritt. Untersucht werden sollen im folgenden allerdings nicht solche Differenzen zwischen Autoren oder einzelnen Stücken und auch nicht die Einbindung der dramatischen Darstellung von Gewalt in die Gewaltdiskurse des 5. Jahrhunderts,30 sondern – gemäß dem Thema des Symposions – die Ästhetisierung der Gewalt, die speziellen Formen der dramatischen Mimesis von Gewalt. Und noch eine weitere Einschränkung soll gemacht werden. Ausgeblendet bleiben psychische, strukturelle und verbale Gewalt und auch die nahverwandte Darstellung extremer Schmerzen (als Gewalt aus der Perspektive des Opfers)31. Die verschiedenen Formen der Gewalt führen zu ganz verschiedenen For-
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Ihr furchtbarer Schrei: „Schlag zu, wenn du die Kraft hast, ein zweites Mal!“ macht die Tat zu ihrer Tat und läßt zugleich – kurz vor dem Ende des Stücks schlaglichtartig aufleuchten, was die Jahre der Einsamkeit und des Hasses aus der jungen Frau gemacht haben. Aischyl. Hiketiden: (Ehe)Mann – (Ehe)Frau; Vater – Tochter; vgl. zur Gewaltdiskussion in den Hiketiden S. Goldhill: Violence in Greek Tragedy. In: Themes in Drama 13 (1991), S. 15–33, hier: S. 18–24. Soph. Ant.: Vater – Sohn; Mann – Frau. Aischyl. Ag. 182; vgl. auch F 10 c Radt und besonders F 441a Radt; Soph. Ai. 123–33; Ant. 583 ff.; Euripides Hippolytos, Troerinnen und Bakchen; vgl. dazu: R. Parker: Gods Cruel and Kind. Tragic and Civic Theology. In: Chr. Pelling: Greek Tragedy and the Historian, Oxford 1997, S. 143–60. Gleich sechs Sophokleische Gestalten töten sich selbst: Aias, Deianeira, Antigone, Haimon, Eurydike und Iokaste; Nimmt man Elektras Todeswunsch (378 ff., 1165 ff.), Philoktets Selbstmordwünsche und -drohungen (747 ff., 797 ff., 999 ff., 1203 ff., 1348 f.) und die Todessehnsucht des greisen Oidipus dazu, so ist keine der erhaltenen Sophokleischen Tragödien ohne Beziehung zum Selbstmord; vgl. B. Seidensticker: Die Wahl des Todes bei Sophokles. In: Sophocle. Entretiens sur l’antiquité classique 29 (1983), S. 105–53 (wiederabgedruckt in: Seidensticker 2005 [Anm. 3], S. 29–66). S. o. Einleitung. Vgl. den Beitrag von Budelmann in diesem Band.
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men der Darstellung, die jede eine eigene detaillierte Untersuchung verlangen würde. Ich werde mich deswegen auf die Darstellung zerstörerischer physischer Gewalt beschränken und dabei einen Aspekt besonders thematisieren, die fragile Balance von Distanz und Nähe. Der systematischen Analyse des reichen Materials sei ein instruktives Einzelbeispiel aus dem Aischyleischen Agamemnon vorangestellt: Den dramatischen Höhepunkt der monumentalen Parodos des Aischyleischen Agamemnon bildet die Erinnerung des Chors an die Opferung der Iphigenie in Aulis.32 Schon bei der Formulierung des tragischen Dilemmas, mit dem sich Agamemnon durch die Forderung der Artemis konfrontiert sieht, liegt der Akzent auf der Brutalität des Opfers (206–211): bare‹a män k¾r tÕ m¾ piqšsqai, bare‹a d' e„ tšknon daâxw, dÒmwn ¥galma, mia…nwn parqenosf£goisin e…qroij patróouj cšraj pšlaj bwmoà. t… tînd' ¥neu kakîn; Schwer ist das Los, nicht zu gehorchen Schwer aber auch, wenn ich mein Kind zerfleische, das glänzende Kleinod des Hauses, befleckend mit Strömen von Blut des geschlachteten Mädchens die väterlichen Hände nah am Altar. Was ist hier ohne Übel? 32 Die Position des Chors zwischen der Bühne (bzw. dem Raum vor dem Bühnenhaus, an dem die Schauspieler agierten) und dem Publikum signalisiert seine besondere Stellung zwischen dramatis persona und Zuschauer und ist räumlicher Ausdruck für das Verhältnis von Distanz und Nähe, das die Rolle des Chors und ihre Funktion bei der Rezeption der Stücke bestimmt: Auf der einen Seite ist der Chor aristotelisch gesprochen synagonizomenos (Mitspieler), d. h. aktiver Teil des dramatischen Spiels mit einer mehr oder minder umfangreichen Rolle und einem mehr oder minder ausgeprägten Charakter; auf der anderen Seite fungiert er als in das Stück integrierter Betrachter, der die Ereignisse verfolgt und auf sie reagiert, aber nicht in das Geschehen eingreifen kann, da er seinen Platz in der Orchestra nicht verlassen darf. Seine Lieder schaffen einerseits emotionale und geistige Distanz, indem sie die dramatische Handlung mit Kommentaren, Wertungen und Deutungen unterbrechen und dem Publikum so einen Moment psychischer Entspannung und rationaler Reflexion ermöglichen; andererseits bringen sie dem Zuschauer die mythische Geschichte aber auch nahe, indem sie den dargestellten Einzelfall mit Gnomen und Parallelen verallgemeinern und durch ihre Reaktionen das Publikum zu Urteil und Parteinahme zwingen. Wie im Falle des mythischen Stoffs (s. o. Anm. 4) läßt sich also auch für die Rolle des Chors (und ließe sich für viele Elemente und Bauformen der griechischen Tragödie) eine feine Balance von Distanz und Nähe konstatieren.
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Die wenigen Worte, mit denen Agamemnon sich die von ihm geforderte Tat ausmalt, evozieren den reinen Glanz der unschuldigen Tochter und die blutüberströmten Hände des Vaters und pointieren die Undenkbarkeit der Tat durch die oxymorische Spannung zwischen teknon (Kind), das die enge Beziehung des Vaters zu der von ihm gezeugten Tochter betont, und daixo (zerfleische), das die brutale Zerstörung dieses Bands benennt, sowie zwischen der Befleckung der väterlichen Hände und dem kultische Reinheit fordernden Altar. Verschärft wird die visuelle und emotionale Wucht der Verse noch dadurch, daß in dem von Agamemnon für das Opfer verwendeten Verb (tšknon daâxw)33 die cena Thyestea evoziert wird, das grausige Kindermahl, für das Agamemnon ebenso wie für die Opferung der Iphigenie wird zahlen müssen. Im folgenden erinnert der Chor sich an den Vollzug des Opfers:34 an die Bitten und Schreie des Mädchens, das vergeblich den Vater anruft (228), an den Befehl Agamemnons, der Tochter einen Knebel in den Mund zu schieben und sie fest eingerollt in ihre Gewänder, Kopf nach unten wie eine Ziege beim Schlachtopfer hoch über den Altar zu heben (231–38), an den Moment, an dem das krokosfarbene Gewand des Mädchens nach unten fiel (239), und an die verzweifelten Versuche der Geknebelten, alle um den Altar Stehenden, wenn nicht mehr mit Worten, so mit Blicken zu Mitleid zu bewegen (240–42): Die dramatische Bewegung der Szene gefriert in dem Moment, in dem das Opfer vollzogen werden muß, zu einem stummen und starren Bild, das dem Chor klar vor Augen steht (242: pršpous£ ϑ' æj ™n grafa‹j) und dessen brutale Gewalt durch den Kontrast zu dem reinen Gesang noch gesteigert wird, mit dem das Mädchen früher den Vater und die Freunde, die sie jetzt ihrem Krieg opfern, beim Trankopfer des Symposions erfreut hat (243–47).35 33 daâzw (da…w) hat die Grundbedeutung „teilen, zerlegen“. 34 Aischyl. Ag. 228–46: „Ihre flehentlichen Bitten und ihre Rufe ,Vater, Vater‘ erachteten für nichts – und auch nicht das Leben des jungen Mädchens – die kampfbegierigen Fürsten, und es befahl den Dienern der Vater nach einem Gebet, sie entschlossen – wie eine Ziege – hoch in die Luft über den Altar zu heben, eingerollt in ihr Gewand, den Kopf nach unten gedreht, und den schönen Mund knebelnd einen Schrei zu verhindern, einen Fluch gegen das Haus, mit Gewalt und dem erstickenden Druck eines Zaumzeugs. Und als ihr safranfarbenes Gewand zur Erde floß, traf sie jeden der Opferer aus dem Auge mit einem Geschoß, das um Mitleid bat – klar wie auf einem Bild – und versuchte, sie anzurufen, da sie oft in des Vaters gastfreundlichen Hallen gesungen hatte und jungfräulich, mit reiner Stimme beim dritten Weihguß des Vaters den ein glückliches Schicksal bringenden Päan lieblich geehrt hatte“.
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Die dramatische Dynamik und akustisch-visuelle Kraft des Bildes, das dem Chor vor Augen steht, rückt die zeitlich und räumlich ferne tragische Urszene der Trilogie ganz nahe an den Zuschauer heran. Auf der anderen Seite wird das Opfer aber nicht gezeigt, sondern erzählt, und die dadurch entstehende Distanz wird noch dadurch gesteigert, daß diese Erzählung nicht wie im Falle eines Botenberichts durch einen einzelnen Sprecher vorgetragen wird, sondern von einem singenden und tanzenden Chor. Es muß zwar offen bleiben, ob in der Orchestra des 5. Jahrhunderts ein Altar stand und ob der Chor den Inhalt seiner Lieder mimetisch illustriert hat; beides würde die Distanz der Szene reduzieren; aber selbst wenn ein Altar in der Orchestra als Zeichen für den Altar in Aulis fungieren konnte und selbst wenn der Chor das in Aulis Geschehene nicht nur mit Worten, sondern auch choreographisch präsentiert hat (ich bin in beiden Fragen eher skeptisch), ändert das nichts daran, daß vor das imaginäre Bild vom Opfer der Iphigenie, so plastisch es auch sein mag, das konkrete Bild des tanzenden Chors alter Männer trat. Am Ende wird das raffinierte Verhältnis von Distanz und Nähe, mit dem Aischylos das Furcht und Mitleid erzeugende Ereignis präsentiert, ganz deutlich, wenn der Chor die unerhört lebendige Schilderung des Opfers auf dem Höhepunkt der Vorbereitungen mit den Worten abbricht (248): t¦ d' œnqen oÜt' edon oÜt' ™nnšpw. Was dann geschah, das sah ich nicht und kann es nicht sagen.
Der Moment, in dem das Opfermesser in den Hals des von den Männern über den Altar gehaltenen Mädchens fährt und die von Agamemnon gefürchteten Ströme von Blut herausschießen, ist ausgeblendet. Auch der Zuschauer ‚sieht und hört‘ so den Akt des Schlachtens nicht. Der letzte Schrecken bleibt seiner Phantasie überlassen und ist dadurch fern gerückt und zugleich – gerade weil die Herstellung des Bildes ganz der eigenen Phantasie überlassen und nicht durch Worte eines Anderen vermittelt wird – auch ganz nah.36 Die folgende Analyse der Bauformen, die die griechischen Tragiker entwickelt haben, um ihren Zuschauern das Furchtbare ‚vorzuenthalten‘ und 35 Die Brutalität der Szene wird – wie in vielen vergleichbaren Fällen (z. B. Andromache und Astyanax in den Euripideischen Troerinnen) – noch durch die unschuldige Reinheit des Opfers verstärkt. 36 Wie bei der Aposiopese entfaltet das Unausgesprochene gerade dadurch eine besondere Wirkung, daß es der Vorstellungskraft des Adressaten überlassen bleibt, sich den entscheidenden Moment zu vergegenwärtigen.
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doch ungemein wirkungsvoll zu präsentieren, wird das komplexe Verhältnis von Distanz und Nähe in immer neuen Variationen zeigen. Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet die wohlbekannte Tatsache, daß physische Gewalt in der griechischen Tragödie nicht auf der Bühne gezeigt wird, sondern in die Distanz des hinterszenischen Raums verbannt ist. Die wenigen Ausnahmen, die für die erhaltenen Tragödien konstatiert worden sind (wie der Selbstmord des Aias37 und Euadnes Sprung in den Tod38), bestätigen eher die Regel, als daß sie sie in Frage stellten.39 37 Die Frage der Inszenierung des Selbstmords ist seit langem umstritten. M. E. ist es eher unwahrscheinlich, daß der Selbstmord des Aias so inszeniert war, daß das Publikum den ‚Sprung‘ ins Schwert sehen konnte; eine ausführliche Diskussion aller Vorschläge seit dem Beginn des 19. Jhs. findet sich bei S. Scullion: Three Studies in Athenian Dramaturgy, Stuttgart 1994, S. 89–128. 38 Auch die Inszenierung des Sprungs der Euadne vom Felsen in den Scheiterhaufen ihres Mannes ist umstritten: Sprung vom Dach der Skene auf den hinter dem Bühnenhaus gedachten Scheiterhaufen (so z. B. Chr. Hourmouziades: Production and Imagination in Euripides. Form and Function of the Scenic Space, Athen 1965, S. 32 f. und Chr. Collard: Euripides’ Supplices, Groningen 1975, S. 16); Sprung vom oberen Rand der östlichen Stützmauer der Cavea (R. Rehm: Marriage by Death. The Conflation of Wedding and Funeral Rituals in Greek Tragedy, Princeton 1994, S. 203 f.) oder Sprung, mit Hilfe des Bühnenkrans, auf den vor dem Bühnenhaus errichteten Scheiterhaufen (so D. Wiles: Tragedy in Athens, Performance Space and Theatrical Meaning, Cambridge 1997, S. 184–86). 39 In beiden Fällen handelt es sich zudem um Selbstmorde; die Tatsache, daß Alkestis und Hippolytos auf der Bühne sterben, zeigt, daß nicht der Tod, sondern physische Gewalt von der Bühne verbannt war. Gelegentlich scheinen die Tragiker mit der Möglichkeit zu spielen, den Mord auf die Bühne zu bringen: vgl. Aischylos, Choephoren, wenn Orest mit gezogenem Schwert vor Klytaimestra steht (892 ff.), oder Euripides, Orestes, wenn Orest das Schwert auf den phrygischen Sklaven richtet (1506 ff., 1519) und später, auf dem Dach des Palasts, damit droht, seine Geisel Hermione zu töten (1566 ff., 1608); in der Sophokleischen Niobe (F 441a Radt) schießen Apollon und Artemis, als sie Niobes Kinder töten, offenbar vom Dach ins Innere des Bühnenhauses (vgl. W. S. Barrett in R. Carden: The Papyrus Fragments of Sophocles, Berlin 1974, S. 184 f.); Sophokles scheint die Konvention am Ende der Elektra geradezu zu thematisieren, wenn er Aigisth fragen läßt, warum ihn Orest nicht auf der Stelle – vor aller Augen – tötet (1493 f.); vgl. zu dieser Szene den Beitrag von Goldhill in diesem Band. Auch Szenen nicht-zerstörerischer physischer Gewalt, wie sie sich in der Komödie häufig finden (vgl. M. Kaimio u. a.: Comic Violence in Aristophanes. In: Arctos 24 [1990], S. 47–72), sind in der Tragödie eher rar. Der spektakulärste Fall ist die Eingangsszene des Prometheus Desmotes, in der Prometheus von Kratos und Bia an einen Felsen im Kaukasus gekettet wird; vgl. weiter: Aischyl. Hiketiden 825 (ob es zur Gewaltanwendung kommt oder bei Drohungen bleibt, ist unsicher); Soph. Phil. 1003 ff. und Oid. K. 817 ff.; die zahlreichen Drohungen mit physischer Gewalt
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Anders als bei Seneca40 oder bei Shakespeare41 ist es nicht das Auge, sondern das Ohr (und über das Ohr die Imagination des Betrachters), an die sich die Darstellung zerstörerischer Gewalt richtet. Der Zuschauer nimmt das tragische Pathos, das den dramatischen und emotionalen Kern der Tragödie bildet, gleichsam in doppelter Distanz – in fremden Augen gespiegelt – wahr. Der direkte Blick ins Antlitz der Medusa ist vermieden. Die Frage nach dem Grund für diese dramatische Konvention hat ganz verschiedene Antworten gefunden.42 So hat man die Konvention mit dem Hinweis auf ein angebliches religiöses Tabu zu erklären versucht, das es den Dichtern verboten habe, den Festgott mit mörderischer oder selbstmörderischer Gewalt zu beflecken43 oder – neben anderen technischen Schwierigkeiten der Darstellung – darauf hingewiesen, daß die griechischen Tragiker es sich nicht leisten konnten, einen der maximal drei Schauspieler, die ihnen für die Aufführung ihrer Stücke zur Verfügung standen, zu opfern, da ein Toter in einem Theater ohne Pausen und Vorhang nicht abtreten und eine neue Rolle übernehmen konnte.44
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werden in der Regel nicht realisiert; vgl. M. Kaimio: Physical Contact in Greek Tragedy. A Study in Stage Conventions, Helsinki 1988, S. 5–11 (mit der älteren Sekundärliteratur; M. K.: Violence in Greek Tragedy. In: Crudelitas. The Politics of Cruelty in the Ancient and Medieval World, hrsg. von T. Viljamaa u. a., Medium Aevum Quotidianum, Krems 1992, Sonderband II, S. 28–43). Bei Seneca tötet Medea ihre Kinder (893 ff.: 969 f. und 978 ff.: 1018 f.) und Herakles seine Frau und die beiden Söhne (987 ff.) ‚auf der Bühne‘. Allerdings ist umstritten, ob die Stücke für eine Aufführung geschrieben worden sind oder es sich um Rezitations- bzw. Lesedramen handelt. Keine Frage ist, daß die Senecanische Form der Präsentation physischer Gewalt auf das Renaissancedrama und auf Shakespeare gewirkt hat. Vgl. z. B. J. Barish: Shakespearean Violence. A Preliminary Survey. In: Violence in Drama, Themes in Drama 13 (1991), S. 101–20. Vgl. J. M. Bremer: ‚Why Messenger Speeches?‘ In: Miscellanea Tragica in honorem J. C. Kamerbeek, hrsg. von J. M. Bremer u. a., Amsterdam 1976, S. 29–48; Scullion (1994) [Anm. 37]. So z. B. R. C. Flickinger: The Greek Theatre and Its Drama, Chicago 41936, S. 127–32; K. Matthiesen: Elektra, Taurische Iphigenie und Helena. Untersuchungen zur dramatischen Form im Spätwerk des Euripides, Hypomnemata 4, Göttingen 1964, S. 144; H. D. Blume: Einführung in das antike Theaterwesen, Darmstadt 31991, S. 68. So z. B. P. Arnott: Greek Scenic Conventions in the Fifth Century, Oxford 1962, S. 136 (und Appendix III); Sri Pathmanathan: Death in Greek Tragedy, G&R 12 (1965), S. 2–14, vertritt die Auffassung, daß in erster Linie „internal dramatic considerations“ verantwortlich dafür seien, daß physische Gewalt in den hinterszenischen Raum verbannt ist. Horaz scheint der Auffassung zu sein, daß zwar das, was man sieht, stärker wirkt als das, was man nur hört, daß aber viele der grausamen
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Fruchtbarer scheint mir allerdings die Frage, ob nicht vielmehr rezeptions- und produktionsästhetische Überlegungen Ursache des Phänomens sind:45 die Erfahrung, daß eine gewisse Distanz vorhanden sein muß, wenn sich das Vergnügen an tragischen Gegenständen einstellen soll – ich erinnere an die Phrynichos-Anekdote bei Herodot46 –, und die Erkenntnis, daß die Verbannung physischer Gewalt von der Bühne eine Fülle ästhetisch und psychagogisch interessanter Möglichkeiten eröffnete, dem Zuschauer das Distanzierte gleichwohl wirkungsvoll, ja wirkungsvoller nahe zu rücken. Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, daß die Tragödie nach Aristoteles ihre Wirkung nicht durch die direkte Präsentation spektakulärer Gewalt (to teratodes) erreichen soll. Das sei atechnoteron, d. h. habe wenig mit der Kunst des Tragikers zu tun,47 der ich mich im dritten Abschnitt zuwende. Ereignisse des Mythos, wie Medeas Ermordung ihrer Kinder oder die Zubereitung der cena Thyestea, schon deswegen nicht auf die Bühne gebracht werden könnten, weil der Zuschauer einfach nicht glauben würde, was ihm der Dichter zeigt (Hor. ars 179–88). 45 Man sollte auch nicht vergessen, daß die Entstehung und Entwicklung der Tragödie aus dem Chorlied zunächst, d. h. solange dem Chor nur ein Schauspieler als ‚Antworter‘ (Grundbedeutung von hypokrités, des griechischen Worts für Schauspieler) gegenüberstand, gar keine Darstellung physischer Gewalt erlaubte und daß, was vielleicht noch wichtiger ist, das griechische Publikum durch die ungeheure Popularität des rhapsodischen Vortrags der homerischen Epen an die narrative Präsentation grausiger Taten gewohnt war. 46 S. o. Anm. 8. 47 Aristot. poet. Kap. 14, 1453b 1–11: ”Estin män oân tÕ foberÕn kaˆ ™leeinÕn ™k tÁj Ôyewj g…gnesqai, œstin dä kaˆ ™x aÙtÁj tÁj sust£sewj tîn pragm£twn, Óper ™stˆ prÒteron kaˆ poihtoà ¢me…nonoj. de‹ g¦r kaˆ ¥neu toà Ðr©n oÛtw sunest£nai tÕn màqon éste tÕn ¢koÚonta t¦ pr£gmata ginÒmena kaˆ fr…ttein kaˆ ™lee‹n ™k tîn sumbainÒntwn: ¤per ¨n p£qoi tij ¢koÚwn tÕn toà O„d…pou màqon. tÕ dä di¦ tÁj Ôyewj toàto paraskeu£zein ¢tecnÒteron kaˆ corhg…aj deÒmenÒn ™stin. oƒ dä m¾ tÕ foberÕn di¦ tÁj Ôyewj ¢ll¦ tÕ teratîdej mÒnon paraskeu£zontej oÙdän tragJd…v koinwnoàsin: oÙ g¦r p©san de‹ zhte‹n ¹don¾n ¢pÕ tragJd…aj ¢ll¦ t¾n o„ke…an. „Nun kann
das Schauderhafte (phoberón) und Jammervolle (eleeinón) durch die Inszenierung, es kann aber auch durch die Zusammenfügung der Geschehnisse (sýstasis ton pragmáton) selbst bedingt sein, was das Bessere ist und den besseren Dichter zeigt. Denn die Handlung (mýthos) muß so zusammengefügt sein, daß jemand, der nur hört und nicht auch sieht, wie die Geschehnisse sich vollziehen, bei den Vorfällen Schaudern (phríttein) und Jammer empfindet. So ergeht es jemandem, der die Geschichte (mýthos) von Ödipus hört. Diese Wirkungen durch die Inszenierung herbeizuführen, liegt eher außerhalb der Kunst (atechnóteron) und ist eine Frage des Aufwandes. Und wer gar mit Hilfe der Inszenierung nicht das Schauderhafte (phoberón), sondern nur noch das Grauenvolle (teratódes) herbeizuführen sucht, der entfernt sich gänzlich von der Tragödie. Denn man darf mit Hilfe der Tragödie nicht jede Art von Vergnügen (hedoné) hervorzurufen suchen, sondern nur die ihr gemäße.“ (Übers. Fuhrmann)
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III Aischylos, Sophokles und Euripides haben auf die Konvention, zerstörerische physische Gewalt nicht zu zeigen, mit einer Reihe von Techniken reagiert, mit denen sie die durch die Verbannung der Gewalt in einen nahen oder fernen hinterszenischen Raum entstehende Distanz, wenn auch nicht völlig aufheben, so doch erheblich verringern können. 1. Im Augenblick der tragischen Tat dient dazu (jedenfalls wenn diese nahe genug stattfindet) die von allen drei Tragikern verwendete Mord-Stichomythie, ein Pseudo-Gespräch zwischen dem Opfer und Personen (meist dem Chor), die auf der Bühne das hinterszenische Geschehen verfolgen und kommentieren. Das Grundmuster der später vielfach variierten Bauform findet sich im Aischyleischen Agamemnon. Zweimal ertönt der Schrei Agamemnons aus dem Palast, zweimal kommentiert der Chor die Schreie (1343–47): Ag. Co. Ag. Co.
êmoi, pšplhgmai kair…an plhg¾n œsw. s‹ga: t…j plhg¾n ¢ute‹ kair…wj oÙtasmšnoj; êmoi m£l' aâqij, deutšran peplhgmšnoj. toÜrgon e„rg£sqai doke‹ moi basilšwj o„mègmasin. ¢ll¦ koinwsèmeq' ½n pwj ¢sfalÁ bouleÚmata.
Ag.: Chf.: Ag.: Chf.:
Weh mir! Ich bin getroffen, tödlich tief. Still! Wer schreit da, tödlich getroffen. Weh mir! Erneut! Ein zweiter Schlag, der nun mich traf! Die Tat vollendet scheint sie mir, hör ich des Königs Stöhnen Doch auf, wir wollen uns beraten, ob es vielleicht einen sicheren Plan gibt.
Es folgt die ebenso aufgeregte wie umständliche Beratung der Greise, was in dieser undurchsichtigen und gefährlichen Situation zu tun sei (1347–71), bis schließlich das Ekkyklema, die aus dem Palast gerollte hölzerne Plattform, die Mörderin und ihre Opfer präsentiert (1372 ff.).48 Bleiben hier die beiden Räume noch klar voneinander getrennt, so finden sich in der reichen Geschichte dieses dramaturgischen Topos49 auch Szenen, in denen die Distanz zwischen dem Mordgeschehen im Haus und 48 Bei der ersten Wiederholung des szenischen Topos für die Ermordung Aigisths (Choeph. 869–74) beschränkt sich Aischylos auf eine Kurzform (ein Schrei aus dem Haus, eine Reaktion des Chors). 49 Zu den hier behandelten Szenen (Aischyl. Ag., Soph. El., Eur. Med. und El.) kommen noch: Aischyl. Choeph. 869–74; Eur. Hec. 775–89; HF 87–908; Or. 1296–1310, (1347 f .); Kykl. 663 ff.; vgl. W. G. Arnott: Off-Stage Cries and Choral Presence. Some Challenges to Theatrical Conventions in Euripides. In: Antichthon 16 (1982), S. 35–43; R. Hamilton: Cries within and the Tragic Skene. In: AJPh 108 (1987), S. 585–97.
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den vor dem Haus das Geschehen Verfolgenden dadurch verringert ist, daß es zu einer kurzen dialogischen Kommunikation zwischen Drinnen und Draußen kommt. In der Medea des Euripides (1270a–82) hört der Chor, als Medea die tragische Tat in Angriff nimmt, die Wehschreie der beiden Knaben aus dem Hause dringen und reagiert darauf in der für den Chor typischen Weise erst mit einer Selbstvergewisserung – „Hörst du, hörst du das Schreien der Kinder?“(1273) – und auf den zweiten Schrei – „oimoi!“ – wie im Agamemnon mit der Überlegung, ob er versuchen soll, die Tat noch zu vereiteln (1275f.). Wenn daraufhin der eine der beiden Knaben den Chor in seiner Entscheidung bestärkt und zur höchsten Eile auffordert (1277), so scheint für einen Moment die Distanz zwischen dem Mordgeschehen und den Zeugen aufgehoben; aber natürlich nur für einen Moment; der Chor kann nicht eingreifen und überbrückt die grausige Tat nach einem Anruf Medeas (1279–82) mit einer lyrischen Aposiopese (1283–93). Noch wirksamer hat Sophokles von der Möglichkeit der Dialogisierung der topischen Mord-Stichomythie Gebrauch gemacht: In seiner Elektra ist die Mord-Stichomythie einerseits deutlich als Aischylos-Zitat gekennzeichnet, andererseits aber erheblich modifiziert. Sophokles läßt seine Heldin in dem Moment, in dem der Zuschauer, in Erinnerung an die dramatische Sequenz der beiden Aischyleischen ,Vorlagen‘, nach dem Abgang der Geschwister in den Palast auf die Todesschreie wartet, wieder aus dem Hause treten und zusammen mit dem Chor auf den Mord warten. Die Mord-Stichomythie wird dadurch umfangreicher, formal komplizierter, dramatisch und emotional wirkungsvoller und inhaltlich komplexer (Soph. El. 1398–1421): Der größere Umfang und die reichere Instrumentierung der Szene ergeben sich schon aus der Verdoppelung der vor dem Palast wartenden Personen. Bedeutungsvoller ist jedoch zweifellos der Wunsch des Sophokles, dem Zuschauer den Höhepunkt des Stücks, obwohl er sich im Hinterszenischen vollziehen muß, so lebendig und detailliert wie möglich vor Augen zu stellen. Das kurze Vorgespräch zwischen Elektra und dem Chor steigert nicht nur durch das Warten auf die Schreie und die Ankündigung der unmittelbar bevorstehenden Tat (1398 f.) sowie durch den Hinweis auf die Gefährlichkeit der Situation (1402 f.) die Spannung, sondern rückt dem Zuschauer durch die Beschreibung der dramatischen Konstellation im Haus den Ort der Tat unmittelbar vor Augen (1400 f.): `H män ™j t£fon lšbhta kosme‹, të d' ™fšstaton pšlaj. Sie richtet zur Bestattung Die Urne, und die beiden stehen dicht dabei.
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Nach Klytaimestras erstem Schrei (1404) evoziert Sophokles mit bewundernswerter Ökonomie der Mittel Schritt für Schritt das sich im Haus vollziehende Drama zwischen Mutter und Sohn. Mit Klytaimestras Augen ‚sieht‘ der Zuschauer, wie sie begreift, wer da neben ihr steht und was geschehen wird (1404 f.): a„a‹. „ë stšgai f…lwn œrhmoi, tîn d' ¢pollÚntwn plšai. Ai, Ai! Ioh! Haus, Von Freunden leer, doch angefüllt mit Mördern!
Er ‚sieht‘, wie sie sich suchend nach Hilfe umsieht (1409) o‡moi t£lain': A‡gisqe, poà pot' ín kure‹j; Weh mir! ich Arme! – Aigisthos, wo nur bist du? –
und sich schließlich mit der flehentlichen Bitte an Orest wendet, sich der Mutter zu erbarmen (1410 f.): ð tšknon, tšknon, o‡ktire t¾n tekoàsan. O Kind, Kind! Habe mit der Erbarmen, welche dich gebar!
Der athenische Zuschauer hat bei diesen Worten wahrscheinlich die Aischyleische Szene vor sich gesehen, in der Klytaimestra dem Sohn die entblößte Brust entgegenstreckt. In diesem Moment steht den Zeugen auf der Bühne (wie dem Zuschauer) das hinterszenische Geschehen so deutlich vor Augen, daß Elektra vergißt, wo sie sich befindet, und selbst in das hinterszenische Geschehen eingreift, indem sie, als stünde sie neben dem Bruder, Klytaimestras Bitte an Orest beantwortet (1411 f.) und schließlich Orest nach dem ersten Schlag auffordert, noch einmal zuzuschlagen (1415).50 pa‹son, e„ sqšneij, diplÁn. Schlag zu, wenn du die Kraft hast, ein zweites Mal
Die Distanz zwischen hinterszenischem Raum und Bühne ist praktisch aufgelöst; die Front des Palasts gleichsam durchsichtig geworden. Auch der dritte der drei großen Tragiker macht in seiner Version des Elektrastoffs von dieser Bauform Gebrauch und zwar gleich zweimal, für beide Morde des Stücks. Ist die Verwendung bei der Ermordung Klytaime50 Zur Funktion der Szene für die Gestaltung der Elektra vgl. o. Anm. 24 und 25.
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stras knapp und konventionell (1165–71), so hat Euripides im zweiten Fall in der für ihn typischen Freude am Experiment51 ausprobiert, bis zu welcher Entfernung des Tatorts von der Bühne sich der dramaturgische Topos der Mord-Stichomythie gerade noch verwenden läßt (747–60): CO.
HL. CO. HL. CO. HL. CO. HL. CO. HL. Co.
f…lai, boÁj ºkoÚsat', À dokë ken¾ ØpÁlqš m' … … dšspoin', ¥meiyon dèmat', 'Hlšktra, t£de. f…lai, t… crÁma; pîj ¢gînoj ¼komen; oÙk oda pl¾n ›n: fÒnion o„mwg¾n klÚw. ½kousa k¢gè, thlÒqen män ¢ll' Ómwj. makr¦n g¦r ›rpei gÁruj, ™mfan»j ge m»n. 'Arge‹oj Ð stenagmÕj À f…lwn ™mîn; oÙk oda: p©n g¦r me…gnutai mšloj boÁj. sfag¾n ¢ute‹j tÁidš moi: t… mšllomen; œpisce, tranîj æj m£qhij tÚcaj sšqen. oÙk œsti: nikèmesqa: poà g¦r ¥ggeloi; ¼xousin: oÜtoi basilša faàlon ktane‹n.
CHOR: Ihr Freundinnen – habt ihr das Geschrei gehört? Oder täuschte ich mich? … … Herrin, komm aus dem Hause, Elektra! EL.: Was gibt es, meine Lieben? Wie steht unser Kampf ? CH.: Ich weiß nur eins: Es ist ein Todesschrei! EL.: Auch ich hab’ ihn gehört, wenn auch aus weiter Ferne. CH.: Von weither kommt die Stimme, und nicht klar verständlich. EL.: Jammert da ein Argiver – einer meiner Freunde? CH.: Ich weiß es nicht; ganz verworren klingt das Wehgeschrei! EL.: Zum Selbstmord forderst du mich auf. Was zögere ich? CH.: Halt! Erst erforsche deine Lage ganz genau! EL.: Nein, nicht möglich. Wir sind besiegt. Wo bleiben sonst die Boten? CH.: Sie werden kommen. Königsmord ist keine leichte Sache.
Die Ermordung Aigisths findet bei Euripides nicht im Palast, sondern im Kontext eines Opfers statt, das Aigisth in einem Heiligtum der Nymphen darbringt, das vom Schauplatz des Stücks weit entfernt ist. Auch hier warten Elektra und der Chor gespannt auf den Erfolg von Orests Plan; auch hier dringen schließlich Rufe an das Ohr der Wartenden; doch bei der großen Distanz können der Chor und die herbeigerufene Elektra nicht 51 Vgl. R. P. Winnington-Ingram: Euripides, Poietes Sophos. In: Arethusa 2 (1969), S. 127–42.
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ausmachen, von wem die Todesschreie stammen, bis schließlich der Bote erscheint und die Spannung löst. Der Reiz dieser Szene liegt nicht zuletzt in der radikalen Variation des Grundmusters, das dennoch erkennbar bleibt: Die Todesschreie sind beinahe eliminiert, und aus den ängstlichen Überlegungen des Chors, was angesichts des Geschehens zu tun sei, ist die angstvolle Frage geworden, was denn überhaupt geschehen ist. Die Szene ist ein eindrucksvolles Beispiel für die agonale Virtuosität, mit der die Tragiker in ständiger, kritisch-kreativer Auseinandersetzung mit den Konventionen ihres Mediums und mit ihren Konkurrenten die Bauformen der Gattung zugleich bewahren und weiterentwickeln,52 und zeigt zugleich, daß die Form der Präsentation von Gewalt nicht allein von der jeweiligen Art der Gewalt oder dem Geschmack des Autors und seiner Zeit abhängt, sondern auch von kunstimmanenten Faktoren wie der kreativen und agonalen Modifikation einer traditionellen Form. 2. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen erscheint kurz nach dem tragischen Akt ein anonymer Bote und schildert in großer Ausführlichkeit, was sich ereignet hat, bzw. wie es sich ereignet hat. In Euripides’ Elektra gibt der Bote z. B. einen unerhört plastischen Bericht davon, wie Orest den Aigisth, der ihn nichtsahnend zum Opfer eingeladen hat, ‚schlachtet‘ (839–43): toà dä neÚontoj k£tw Ônucaj œp‹ ¥krouj st¦j kas…gnhtoj sšqen ™j sfondÚlouj œpaise, nwtia‹a dä œrrhxen ¥rqra: p©n dä sîm' ¥nw k£tw ½spairen ºlšlize dusqn»iskwn fÒnwi. Doch während er sich bückte Erhob dein Bruder sich auf seine Zehenspitzen Und hieb ihm ins Genick, zerschmetterte die Wirbel Des Rückgrats ihm; und hin und wieder zuckte er Am ganzen Leib und stöhnte schwer in blutigem Tod. 52 B. Seidensticker: Die griechische Tragödie als literarischer Wettbewerb. In: Berichte und Abhandlungen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften 2, 1996, S. 9–35 (wiederabgedruckt in Seidensticker 2005 [Anm. 3], S. 246–78); zu Euripides vgl. vor allem die Arbeiten von G. Arnott: Euripides and the Unexpected. In: G&R 20 (1973), S. 49–64; Red Herrings and Other Bait. A Study of Euripidean Techniques. In: MPhL 3 (1978), S. 1–14; Off-Stage Cries and the Choral Presence. In: Antichthon 16 (1982), S. 35–43; Tensions, Frustrations and Theatrical Technique in Some Scenes of Euripides’ Orestes. In: Antichthon 17 (1983), S. 13–28; vgl. auch: Dodone 6 (1977), S. 41–53, Wiss. Zeitschrift Rostock 34.1 (1985), S. 9–11.
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Wie hier sind es auch sonst die Botenberichte, in denen sich die detailliertesten und dramatischsten Beschreibungen von physischer Gewalt finden: von der Schlacht bei Salamis in den Persern bis zur Zerreißung des Pentheus in den Bakchen. Keine Bauform der griechischen Tragödie ist so nach allen Regeln der Kunst auf Struktur, Stil und Funktion untersucht worden wie der Botenbericht, so daß ich mich hier kurz fassen kann. Für unsere Fragestellung ist vor allem wichtig, daß der Bote das im Hinterszenischen Geschehene auf der Bühne verbal inszeniert. Der Zuschauer sieht mit den Augen dessen, der das Furchtbare gesehen hat. Die Boten, die denn auch immer wieder betonen, daß sie Augenzeugen waren, malen die Ereignisse zu detaillierten und farbigen Bildern aus, und die Form erlaubt es dem Dichter, durch die geschickte Regie der verbalen Bilderzeugung die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf eben die Elemente zu lenken, die ihm wichtig sind. Das auf diese Weise in der Phantasie des Zuschauers entstehende Bild ist so strukturierter, bedeutsamer und eindrücklicher, als es der bloße direkte Blick auf das Furchtbare liefern könnte. Es sei neben den bereits zitierten Stellen nur an den Bericht von Iokastes Selbstmord und Oidipus Blendung im Oid. T. (1243–96: 1264–79) erinnert oder an die Schilderungen, wie Hippolytos von seinen eigenen Pferden zu Tode geschleift (1153–1266: 1213–48), wie Pentheus von seiner Mutter und den Bakchantinnen zerrissen wird (1024– 1152: 1114–36). Vereinzelt sind Authentizität, Lebendigkeit, Anschaulichkeit und emotionale Wucht noch dadurch gesteigert, daß ein naher Angehöriger (wie Hyllos in den Trachinierinnen) oder der Täter selber (wie Klytaimestra im Agamemnon53) den Bericht gibt (1380–92): oÛtw d' œpraxa – kaˆ t£d' oÙk ¢rn»somai – æj m»te feÚgein m»t' ¢mÚnesqai mÒron. ¥peiron ¢mf…blhstron, ésper „cqÚwn, peristic…zw, ploàton e†matoj kakÒn: pa…w dš nin d…j, k¢n duo‹n o„mwgm£toin meqÁken aÙtoà kîla: kaˆ peptwkÒti 53 Die besondere emotionale Wucht dieses Botenberichts beruht nicht nur auf der triumphierenden Schamlosigkeit, mit der Klytaimestra ihre Tat präsentiert und verteidigt, und der Gewalt ihrer Metaphorik und Rhetorik, sondern auch auf der offensichtlichen Pervertierung gesellschaftlich legitimierter Gewalt; vgl. dazu S. Goldhill, der von einer „magnificently corrupt celebration of violence“ spricht (ders.: Violence in Greek Tragedy. In: Violence in Drama, Themes in Drama 13 [1991], S. 24: „In particular, her speech perverts three key areas of what could be called culturally controlled violence: hunting, sacrifice, warfare.“)
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tr…thn ™pend…dwmi, toà kat¦ cqonÒj, DiÒj, nekrîn swtÁroj, eÙkta…an c£rin. oÛtw tÕn aØtoà qumÕn Ðrma…nei pesèn, k¢kfusiîn Ñxe‹an a†matoj sfag¾n b£llei m' ™remnÍ yak£di foin…aj drÒsou, ca…rousan oÙdän Âsson À diosdÒtJ g£nei sporhtÕj k£lukoj ™n loceÚmasin. So habe ich gehandelt – und ich will es gar nicht leugnen – daß er nicht fliehen konnte noch abwehren das Geschick. Einen unentwirrbaren Umwurf – wie ein Netz zum Fischen – werf ich um ihn herum, den bösen Reichtum eines Gewands. Ich treff ihn zweimal; er schreit zweimal jammernd auf, und seine Glieder werden schlaff; und als er fällt, da geb ich ihm den dritten Schlag, als gelobte Gabe, für den Zeus der Unterwelt, den Retter der Toten. So fällt er und gibt den Geist auf und ausspeiend einen scharfen Blutstrahl trifft er mich mit einem dunklen Schauer roten Taus, und ich frohlocke nicht weniger, als die Saat sich freut, wenn ihre Keime durch Zeus-geschenktes Naß aufplatzen.
Gewiß wird dem Zuschauer die physische Gewalt in den Botenberichten immer noch in der Distanz der Erzählung eines in der Regel nicht direkt Betroffenen präsentiert. Die Botenberichte heben aber im Augenblick der Erzählung nicht nur die räumliche, sondern auch die zeitliche Distanz weitgehend auf, da sie die Phantasie des Zuschauers an den Ort und zum Augenblick des Geschehens zurückführen.54 3. Die nächste Stufe im Prozeß der Visualisierung zerstörerischer oder schmerzhafter Gewalt ist die Präsentation der Opfer55 (in den sogenannten Ecce-Szenen56): 54 Die starke emotionale Wirkung der Botenberichte wird von den griechischen Tragikern nicht nur immer wieder durch verbale Reaktionen der Zuhörer thematisiert, sondern gelegentlich auch indirekt szenisch präsentiert. Besonders eindrücklich sind die ominösen schweigenden Abgänge, mit denen Deianeira (Soph. Trach. 813–20) und Eurydike (Soph. Ant. 1244–56) auf die Berichte von der verheerenden Wirkung des vermeintlichen Liebeszaubers (Trach. 749 ff.) bzw. von den Selbstmorden Antigones und Haimons (Ant. 1192 ff.) reagieren. 55 Gelegentlich wird nur ein Teil der Opfer gezeigt, wie am Ende der Antigone, wenn Kreon seinen toten Sohn Haimon auf die Bühne trägt, die Leichen seiner Frau Eurydike, die sich im Schmerz über den Tod Haimons getötet hat, und Antigones dagegen unseren Blicken entzogen bleiben. 56 G. Kremer: Die Struktur des Tragödienschlusses. In: Die Bauformen der griechischen Tragödie, hrsg. von W. Jens, München 1971, S. 117–40.
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Besonders wirkungsvoll sind die Ekkyklema-Szenen, d. h. die Szenen, in denen der hinterszenische Ort samt Opfer und Täter auf einer hölzernen Plattform präsentiert wird, die auf Rädern aus der Zentraltür des Bühnengebäudes herausgerollt werden konnte und dazu diente, Innenszenen sichtbar zu machen. Auf der einen Seite schafft die Künstlichkeit der Bühnenmaschine (wie andere artifizielle Elemente der griechischen Tragödie) eine gewisse Distanz, indem sie die Illusion des Betrachters durchbricht; auf der anderen Seite rückt sie die Ergebnisse der Gewalttat (und damit auch diese selbst) in bedrängende Nähe. Nach den Ohren und der Phantasie sind es nun die Augen des Zuschauers, die sich direkt auf das Geschehene richten, und die jetzt sichtbaren Folgen der Gewalt rufen beim Rezipienten deshalb eine gesteigerte Gewalterfahrung hervor, weil die Bedeutung des tatsächlich Sichtbaren mit den durch den Botenbericht erzeugten Bildern aufgeladen wird. Das ist sicher immer dann in besonderem Maße der Fall, wenn Bericht und Ecce-Präsentation zusammenfallen, wie im Agamemnon, wo Klytaimestra ihren triumphalen Bericht über die Ermordung des Gatten und seiner Geliebten über den blutenden Leichen Agamemnons und Kassandras gibt (1372–98), oder wenn das Opfer sich selbst präsentiert, wie der geblendete Oidipus (1287 ff.). Aber auch sonst rückt mit den Folgen auch die Tat dem Zuschauer ganz nahe. Wenn im Euripideischen Herakles das Ekkyklema den Helden inmitten seiner von ihm im Wahnsinn ermordeten Familie und mit Keule und Bogen, mit denen er Frau und Kinder getötet hat, zeigt (1088–1162) oder wenn in den Bakchen Kadmos berichtet, wie er die einzelnen Körperteile des zerrissenen Enkels, die von den Dienern herbeigetragen werden, im Kithairon zusammengesucht hat, und so die eben berichtete Zerreißung noch einmal evoziert wird (1216–21): Immer spürt der Zuschauer beim Anblick der starren Leichen und Gegenstände noch die Dynamik der Mordberichte.57 Die Ecce-Szenen am Ende der Tragödien dienen aber nicht nur der Präsentation der Opfer, sondern auch und vor allem der Analyse, Reflexion und Bewertung der tragischen Handlung, die sie beschließen. Dadurch werden die gewaltsamen Ereignisse in eine gewisse Distanz gerückt; auf der anderen Seite bleiben sie aber durch die physische Präsenz der Opfer und durch den Zeigegestus der Szenen, der auch sprachlich immer wieder 57 Diese Wirkung wird von den Tragikern immer wieder dadurch unterstützt und intensiviert, daß sie in die Klage- und Deutungsszenen ‚Rückverweise‘ auf die in den Botenberichten dargestellten Ereignisse integrieren; so betonen z. B. im Schlußkommos der Sieben gegen Theben sowohl der Chor als auch Antigone und Ismene in immer neuen Wendungen, daß und wie sich die beiden Brüder gegenseitig getötet haben (Aischyl. Sept. 880–90, 961 ff. 971, 982).
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realisiert wird, dem Zuschauer so nahe, wie Aristoteles es für die Erregung von Furcht und Mitleid verlangt: So erklärt z. B. der Chor in den Sieben gegen Theben, als er die Soldaten mit den Leichen der beiden Brüder kommen sieht (848): t£d' aÙtÒdhla: proàptoj ¢ggšlou lÒgoj: Da zeigt es sich. Vor Augen steht des Boten Wort
und der Bote, der Iokastes Selbstmord und die Blendung des Oidipus berichtet hat, kündigt die große Ecce-Szene am Ende des Oidipus Tyrannos mit den folgenden Worten an (1287–96): bo´ dio…gein klÍqra kaˆ dhloàn tina to‹j p©si Kadme…oisi tÕn patroktÒnon, tÕn mhtrÕj, aÙdîn ¢nÒsi' oÙdä ht£ moi … de…xei dä kaˆ so…: klÍqra g¦r pulîn t£de dio…getai: qšama d' e„sÒyV t£ca toioàton oŒon kaˆ stugoànt' ™poikt…sai. Er schreit, auftun soll man die Riegel und offenbaren vor allen den Kadmeern den Vatermörder, der Mutter … – nennt unheilige Dinge und nicht auszusprechen mir! – … Doch zeigt er dir sie (sc. seine Krankheit) auch. Der Türe Riegel da! – gehen auf und einen Anblick wirst du sehn sogleich, derart, daß sich sogar, wer ihn verabscheut, darüber erbarmt!
Innerhalb der Ecce-Szenen wird das Spiel mit Distanz und Nähe immer wieder auch explizit thematisiert: Im Oidipus Tyrannos ist die abwehrende, sich distanzierende Reaktion des Chors auf das Furchtbare als etwas, das weder Ohren noch Augen ertragen können (1312), eng verbunden mit dem Wunsch, alles genau zu hören und zu sehen – und so unmittelbar ‚dabei zu sein‘ (1303–06): feà feà, dÚsthn': ¢ll' oÙd' ™side‹n dÚnama… s' ™ϑšlwn pÒll' ¢neršsqai, poll¦ puqšsqai, poll¦ d' ¢qrÁsai: to…an fr…khn paršceij moi. Weh! Weh! Unglücklicher! Doch nicht einmal ansehen kann ich dich, und will viel fragen, viel erfahren doch und vieles sehn! Solch einen Schauder erregst du mir.
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Im Aias bedeckt zunächst Tekmessa den Toten, weil der Anblick unerträglich ist, und schafft so eine gewisse Distanz (915–19): OÜtoi qeatÒj: ¢ll£ nin periptuce‹ f£rei kalÚyw tùde pamp»dhn, ™peˆ oÙdeˆj ¨n Óstij kaˆ f…loj tla…h blšpein fusînt' ¥nw prÕj ‹naj œk te foin…aj plhgÁj melanqän aŒm' ¢p' o„ke…aj sfagÁj. Man blicke nicht auf ihn. Mit diesem Mantel, dem rings umfaltenden, will ich ihn ganz verhüllen. Denn keiner, und sei er ich noch so Freund, wird es ertragen können, zu erblicken, wie er empor bis zu den Nüstern und aus dem mörderischen Schnitt ausschnaubt geschwärztes Blut aus selbstverübter Schlachtung –
doch kurz darauf befiehlt Teukros, obwohl er zunächst vom schmerzlichsten Anblick seines Lebens gesprochen hat (992 f.), den Leichnam des Halbbruders aufzudecken (1003): ”Iq', ™kk£luyon, æj ‡dw tÕ p©n kakÒn. Auf, deck ihn auf, damit ich das ganze Übel sehe –
und rückt das grausige Geschehen damit allen Beteiligten – und den Zuschauern – wieder ganz nah.58 4. Es liegt in der Natur der Sache, daß der zerstörerische Akt in der Regel während er sich ereignet und danach präsentiert bzw. berichtet und gezeigt wird. Es gibt jedoch, wie zum Abschluß noch gezeigt werden soll, auch interessante direkte und indirekte Formen der Evokation tragischer Gewalt vor der Tat. Eher selten sind direkte vorwegnehmende Beschreibungen dessen, was geschehen wird. Auch hier bietet der Aischyleische Agamemnon das wirkungsvollste Beispiel: Kassandra läßt den Zuschauer in immer konkreter werdenden Bildern die Ermordung Agamemnons im Bad in allen ihren Phasen der Vorbereitung und Durchführung der Tat voraus erleben (1100– 1129): 58 Zu der Iuxtaposition von Abwehr des Schrecklichen als „unaussprechbar und extensiver und detaillierter Beschreibung“ vgl. D. Clay: Unspeakable Words in Greek Tragedy. In: AJPh 103 (1982), S. 288–92; Ch. Segal: Interpreting Greek Tragedy. Myth, Poetry, Text, Ithaca 1986, S. 97–99.
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Zunächst spricht die Seherin dunkel davon, daß eine ungenannte Person neues Leid ersinnt (1102): mšg' ™n dÒmoisi to‹sde m»detai kakÒn. Großes Übel ersinnt sie im Palast.
Dann wendet sie sich direkt, wenn auch weiter ohne Klytaimestra beim Namen zu nennen, an die Mörderin (1107–11): „ë t£laina, tÒde g¦r tele‹j; tÕn Ðmodšmnion pÒsin loutro‹si faidrÚnasa – pîj fr£sw tšloj; t£coj g¦r tÒd' œstai: prote…nei dä ceˆr' ™k cerÕj Ñregomšna. Du Unselige! Das also hast du vor? Den Gefährten deines Bettes, deinen Mann Im Bade waschend – wie tue ich das Ende kund? Gleich ist es so weit! Sie streckt schon die Hand aus nach vorn und noch eine Hand, drängend …
Dann sieht sie das Gewand, das Klytaimestra über den Gatten wirft, vor sich (1114 f.): Ÿ œ, papa‹ papa‹, t… tÒde fa…netai; à d…ktuÒn t… g' “Aidou. Da, da – was zeigt sich da? Ein Fangnetz des Hades!
Und schließlich nimmt sie nach einem letzten warnenden Schrei (1125 f.): « «, „doÝ „doÚ: ¥pece tÁj boÕj tÕn taàron: Halt, halt! Sieh doch! Sieh! Halte fern von der Kuh den Stier! –
die tragische Tat voraus (1126–28): ™n pšploisin melagkšrJ laboàsa mhcan»mati tÚptei: p…tnei d' <™n> ™nÚdrJ teÚcei. In Gewändern gefangen trifft sie ihn mit dem schwarzen Horn, ihrem tückischen Werkzeug. Er fällt in das Wasser des Beckens.
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Die visuelle Kraft dieser Prophezeiung und ihre emotionale Wucht könnten von einer direkten Darstellung des Mords schwerlich übertroffen werden.59 Vergleichbare direkte Vorwegnahmen sind rar.60 Aber natürlich arbeiten alle drei Tragiker mit mehr oder weniger detaillierten und raffinierten Formen indirekter Vorbereitung auf das ,zerstörerische oder schmerzliche Übel‘.61 Aristoteles weist in den Analysen von Eleos und Phobos in der Rhetorik darauf hin, daß auch die Anzeichen der Dinge, die die tragischen Emotionen auslösen, furchterregend sind. In einem weiteren Sinn könnte man dazu alle Formen tragisch-ironischer Vorverweise auf die Katastrophe rechnen, mit denen die Tragiker die „Erwartungsangst“ des Zuschauers (wie Bohrer das genannt hat)62 produzieren. So läßt Euripides z. B. in der Medea den Zuschauer mit angehaltenem Atem verfolgen, wie Medea allmählich begreift, daß sie Jason nur dann völlig vernichten kann, wenn sie die gemeinsamen Kinder tötet. Szene für Szene rückt die Möglichkeit, daß 59 Die Farbigkeit und Intensität der Vision werden dadurch gesteigert, daß Kassandra unmittelbar vor der Prophezeiung des Mords weitere Schreckensbilder evoziert hat, indem sie den Palast der Atriden als ein „blutiges Schlachthaus“ (1092) bezeichnet, vor dem die beiden Knaben, die Atreus geschlachtet und seinem Bruder vorgesetzt hat, sitzen (1095–97). Der Schrecken, den die Prophezeiung beim Zuschauer auslöst, ist, wie Bohrer (s. u. Anm. 62, S. 373, 382 f.) mit dem instruktiven Hinweis auf Caravaggios Medusa betont, durch das Entsetzen Kassandras und die Angst des Chors intensiviert. Im zweiten Teil ihrer Prophezeiung (1178 ff.) reichert Kassandra das Schreckensszenario mit weiteren Bildern an: mit dem Chor der Erinyen, der bluttrunken im Palast tanzt und von der cena Thyestea singt (1186–93) und mit den kleinen Söhnen des Thyestes, die vor dem Palast sitzen und ihr eigenes Fleisch und Gedärm in Händen halten (1217–22), und mit immer neuen Tiermetaphern und -vergleichen (1224: Aigisthos als feiger Löwe; 1232–33: Klytaimestra als Schlange oder Skylla). 60 Vergleichbar, wenn auch weniger explizit, ist die Vorbereitung des Muttermords in den Choephoren. Der Traum Klytaimestras (523–33) und seine Deutung durch Orest (540–50) weisen auf die Szene voraus, in der Klytaimestra ihrem Sohn gegenübersteht und dem Tod dadurch zu entgehen sucht, daß sie den Sohn mit entblößter Brust daran erinnert, daß sie ihn gesäugt hat (896–99). 61 Natürlich gibt es auch Fälle, in denen die Tragiker ihre Zuschauer nicht auf die bevorstehende physische Gewalttat vorbereiten. So wird z. B. die wohl von Euripides erfundene Blendung des Polymestor am Ende der Euripideischen Hekabe weder direkt noch indirekt angekündigt. 62 K. H. Bohrer: Erwartungsangst und Erscheinungsschrecken. Die griechische Tragödie als Antizipation der modernen Epiphanie. In: Merkur 506 (1991), S. 371–86; es ist allerdings wichtig festzuhalten, daß, wenn Bohrer von Erscheinungsschrecken spricht, die Erscheinung des Schrecklichen im Wort gemeint ist. Der Zuschauer ‚blickt‘ mit dem geistigen Auge auf das durch das plastische Wort evozierte Bild – so wie Perseus die Medusa nur im metallenen Spiegel seines Schilds ansehen kann.
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Medea das Undenkbare tun wird, immer näher, so daß der Zuschauer, der die Kinder im Verlaufe des Stücks mehrere Male sieht, sich den grausigen Kindermord in seiner Phantasie schon lange ausmalt, bevor die Schreie der beiden Knaben aus dem Hause dringen.63 Die direkten und indirekten Formen der evokativen Vorbereitung auf die tragische Tat sind vielfältig: Sie reichen von dunklen Ängsten, Andeutungen und Drohungen bis zu Träumen und ominösen Bildern und Zeichen. Der Aischyleische Agamemnon kann als das Musterbeispiel für diese Technik (und alle ihre Mittel) gelten, die Phantasie des Zuschauers schon lange vor dem Ereignis mit reichem Material für Bilder des drohenden Unheils zu versorgen. Das im Einzelfall gewählte Verfahren ist nur in detaillierten Gesamtinterpretationen der jeweiligen Tragödie darzustellen. Ich beschränke mich im folgenden auf einen interessanten Sonderfall dieser Technik, auf eine indirekte Form der Vorwegnahme der bevorstehenden physischen Gewalt, mit deren Hilfe das, was sich im Hinterszenischen ereignen wird, bereits vorher auf der Bühne symbolisch visualisiert wird: Ein erstes Beispiel findet sich in den Trachinierinnen des Sophokles. Deianeiras Beschreibung, wie sich das Stückchen Wolle, mit dem sie den vermeintlichen Liebeszauber in das Geschenk eingerieben hat, in der Sonne aufgelöst hat, nimmt in bedrängenden Bildern die gräßliche Zerstörung vorweg, die Herakles Körper vernichten wird, sobald er das Gewand anlegt (697–704): æj d' ™q£lpeto, e‹ p©n ¥dhlon kaˆ katšyhktai cqon…, morfÍ m£list' e„kastÕn éste pr…onoj ™kbrèmat' §n blšyeiaj ™n tomÍ xÚlou. toiÒnde ke‹tai propetšj: ™k dä gÁj Óqen proÜkeit' ¢nazšousi qrombèdeij ¢fro…, glaukÁj Ñpèraj éste p…onoj potoà cuqšntoj ™j gÁn Bakc…aj ¢p' ¢mpšlou. Und wie sich’s nun erwärmte, da zerfließt das Ganze formlos und zerbröckelt auf dem Boden, dem Aussehen nach am ehesten vergleichbar, wie du die Späne wohl von einer Säge bemerken kannst, wo Holz geschnitten wird. So lag es da, in sich zusammengefallen, und aus der Erde, wo es gelegen, brodeln klumpige Schäume auf, wie wenn der blauen Herbstfrucht fetter Trank geschüttet wird zur Erde von des Bakchos’ Weinstock. 63 Vgl. z. B. Kaimio (1992) [Anm. 39], S. 35 f.
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Zwei weitere Beispiele aus Tragödien der beiden anderen großen Tragiker seien abschließend etwas ausführlicher vorgestellt: Am Beginn des 4. Epeisodions der Bakchen ruft Dionysos den als Mänade verkleideten Pentheus aus dem Palast und präsentiert dem Chor seiner Anhänger (und dem Publikum) seinen vollständigen Sieg über den jungen König. Der Mann, der sich bei der ersten Begegnung von Mensch und Gott lustig gemacht hat über die weibische Aufmachung des Fremden und damit gedroht hat, ihm die langen Locken abzuschneiden und den Thyrsos wegzunehmen, wünscht sich nun nichts sehnlicher als genauso auszusehen und sich genauso zu bewegen wie eine Mänade. Er läßt sich von Dionysos Frisur und Gewand ordnen und wird schließlich instruiert, wie er den Thyrsos halten muß. Die Komik der sogenannten Verkleidungsszene, in der die Möglichkeiten des klassischen Komödienmotivs ‚Mann in Frauenkleidern‘ voll ausgespielt werden, ist offensichtlich.64 Zugleich aber gehört die Szene zu den tragischsten Momenten der griechischen Tragödie. Das ironische Katz- und Mausspiel, das der Gott von Anfang an mit seinem allzu menschlichen Gegner gespielt hat, erreicht hier seinen Höhepunkt. Nach immer deutlicher werdenden Andeutungen und Hinweisen auf die drohende Bestrafung des Theomachos hat Dionysos am Ende des 3. Epeisodions das Schicksal des Pentheus expressis verbis angekündigt (857–59): ¢ll' emi kÒsmon Ónper e„j “Aidou labën ¥peisi mhtrÕj ™k cero‹n katasfageˆj Penqe‹ pros£ywn: Doch auf, ich will dem Pentheus jetzt den Schmuck anlegen, mit dem er in den Hades ziehen soll, zerrissen von seiner Mutter Hand. …
Der Zuschauer weiß also, was Pentheus im Kithairon erwartet. Die komische Verkleidung ist somit nicht nur der sichtbare Ausdruck für die völlige Vernichtung des Pentheus, der seinen Angriff gegen den Gott und seinen Kult verloren hat und selber wie dieser oder wie eine der Mänaden aussieht. Die Szene ist zugleich das rituelle Vorspiel für den Sparagmos: „Before the victim is torn, it must be consecrated by a rite of investiture.“65 Im Gewand des Gottes und mit Thyrsos und Mitra wird Pentheus gleichsam zum Stellvertreter des Gottes. Nichtsahnend spricht er seine Weihung 64 Vgl. B. Seidensticker: Palintonos Harmonia. Studien zu komischen Elementen in der giechischen Tragödie, Göttingen 1982, S. 123–29. 65 E. R. Dodds: Euripides’ Bacchae, Oxford 21962, S. XXV–XXVIII, hier: S. XXVIII.
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als Opfer66 selber aus: soˆ g¦r ¢nake…mesqa d» (V. 934)67. Schon vor dem grausigen Botenbericht von Pentheus’ Tod erscheint so – in der Imagination des Zuschauers – hinter dem komischen Bild des als Frau verkleideten Königs das drohende Bild seiner Zerreißung. Die räumlich und zeitlich noch ferne Gewalt ist so bereits ganz nahe.68 Ich schließe – so wie ich begonnen habe – mit einer berühmten Szene aus dem Aischyleischen Agamemnon: Nach der ersten förmlichen Begrüßung fordert Klytaimestra den heimgekehrten Gatten dazu auf, vom Wagen zu steigen und über eine breite Bahn von purpurroten Gewändern (bzw. Stoffen), die die Dienerinnen auf ihren Befehl vor dem Haus ausgebreitet haben, in den Palast zu gehen (905–13). Agamemnon weiß ganz genau, daß er mit dieser Geste die dem Menschen gesetzten Grenzen überschreitet (914–30), läßt sich schließlich aber doch überreden. In der kurzen Szene werden – in Wort und Bild – die Wurzeln des Unheils, das gleich über ihn hereinbrechen wird, noch einmal in Erinnerung gerufen. Die ersten Verse der Überredungs-Stichomythie – mit dem Hinweis auf Agamemnons Bereitschaft, dem Rat eines Sehers zu folgen (933 f.) und mit der von Klytaimestra gezogenen Parallele zu Priamos (935) – und die blutroten Gewänder, über die der König schließlich doch in den Palast schreitet, evozieren das Opfer in Aulis und den Sieg über Troja (und verweisen zugleich auf die mörderische Geschichte des Hauses, vor dem sie liegen). Wie beim blutigen Sieg über Troja überschreitet Agamemnon die dem Menschen gesetzten Grenzen; wie in Aulis tritt er – wie er selber beim Abgang sagt: „den Reichtum des Hauses mit Füßen.“ (948 f.) Zugleich sind die Gewänder aber auch Zeichen für das Blut, das gleich zur Sühne fließen wird, und der verbale Sieg Klytaimestras in dem am Ende der Stichomythie als „Kampf“ apostro66 Die Konzeptualisierung und Verbalisierung von Mord als Opfer, die sich bei allen drei Tragikern findet, ist Gegenstand einer ganzen Reihe von wichtigen Arbeiten zur griechischen Tragödie geworden: F. Zeitlin: The Motif of Corrupted Sacrifice in Aeschylus’ Oresteia. In: TAPhA 96 (1965), S. 463–508; W. Burkert: Greek Tragedy and Sacrificial Ritual. In: GRBS 7 (1966), S. 87–121; H. Foley: Ritual Irony. Poetry and Sacrifice in Euripides, Ithaca/London 1985; P. Pucci: Human Sacrifice in the Oresteia. In: Innovations of Antiquity, hrsg. von R. Hexter and D. Selden, London 1992, S. 513–36; A. Henrichs: Drama and Dromena. Bloodshed, Violence, and Sacrificial Metaphor in Euripides. In: Harvard Studies in Classical Philology 100 (2000), S. 173–88; ders. in diesem Band. 67 Pentheus verwendet anakeimai im Sinne von: „dir habe ich mich anvertraut“. Die Zuschauer hören auch die rituelle Grundbedeutung des Worts: „dir bin ich geweiht“. 68 Das eindrückliche Bild, wie die Bakchantinnen eine Rinderherde zerreißen (Bacch. 737–47), hat der Phantasie des Zuschauers bereits ein beklemmendes Bild des bevorstehenden Sparagmos geliefert.
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phierten Wortstreit (940) nimmt ihren physischen Sieg im Bad voraus. Wie die Verkleidungsszene der Bakchen ist so auch die Teppichszene die symbolische Präsentation des tragischen Mords noch vor seiner physischen Realisierung. Welche Gründe auch immer dazu geführt haben mögen, daß zerstörerische physische Gewalt in der griechischen Tragödie von der Bühne in den hinterszenischen Raum verbannt war: Die griechischen Tragiker haben die sich aus dieser Konvention ergebende Herausforderung genutzt und eine Reihe ästhetisch fruchtbarer und emotional hoch wirkungsvoller Techniken entwickelt, dem Zuschauer die tragische Tat doch so nahe wie möglich zu bringen. Die in immer neuen Variationen durchgespielten Bauformen der Mord-Stichomythie (während der Tat) sowie des Botenberichts und der Ecce-Szenen (nach der Tat) präsentieren das hinterszenische Geschehen dramatisch (Mord-Stichomythie), episch (Botenbericht) und gestisch (Ecce). In allen drei Fällen arbeiten die Tragiker mit einer raffinierten Balance von Distanz und Nähe: – Die Mordstichomythie löst vor allem dann, wenn es zu Ansätzen eines wirklichen Dialogs zwischen Opfern und Zeugen kommt, die Distanz zwischen hinterszenischem Raum und Bühne fast völlig auf und betont zugleich dadurch, daß weder Chor noch andere Zeugen je wirklich eingreifen, die Distanz. – Der Botenbericht reduziert die zeitliche und die oft beträchtliche räumliche Distanz zur tragischen Tat durch die Intensität der sprachlichen Gestaltung, durch die Genauigkeit des Details, durch die Farbigkeit und Anschaulichkeit der Schilderung und durch die dramatische Lebendigkeit, mit der er das Geschehen vor das geistige Auge des Zuschauers rückt. – Die Ecce-Szenen rufen durch die Präsentation der Opfer die physische Gewalt auf, die die Mord-Stichomythie evoziert und der Botenbericht beschrieben haben, und distanzieren zugleich die durch den Zeigegestus geschaffene Nähe durch Reflektion und Wertung des Geschehenen. – Zu diesen topischen Szenen, die dem Zuschauer die tragische Tat, während sie sich ereignet und danach, nahe bringen, kommen verschiedene Techniken, die sich drohend nähernde physische Gewalt schon vor ihrer Realisierung zu evozieren. Das geschieht selten in der besonders eindrücklichen Form der vorwegnehmenden Vorhersage – wie in Kassandras Visionen – oder in symbolischen Ankündigungen – wie der Teppichszene des Agamemnon; die Regel ist ein sich langsam steigernder Aufbau von Erwartungsangst durch immer deutlicher werdende Andeutungen und Zeichen.
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Der raffinierte Aufbau von sich langsam steigernder Erwartungsangst und die indirekten Formen der Präsentation der tragischen Tat, während und nachdem sie geschehen ist, rücken das Furchtbare ganz nahe an den Zuschauer heran. Die Distanz, die ihm die dramatische Mimesis im allgemeinen und die besprochenen Bauformen im besonderen lassen, erlaubt ihm, sich das Näherkommende, das Geschehende und das Geschehene in immer neuen und immer bedrängenderen Bildern auszumalen, wie sie der direkte Blick auf die zerstörerische Gewalt nicht produzieren könnte. So erlebt er das Schreckliche aus großer Nähe mit großer Wucht – wie am eigenen Leibe; bleibt aber gleichwohl gerade noch in der Distanz, die es ihm noch möglich macht, das Schillersche Vergnügen an tragischen Gegenständen zu erfahren.
Felix Budelmann (Milton Keynes)
Körper und Geist in tragischen Schmerz-Szenen1 (Übersetzung aus dem Englischen: Ranja Knöbl) Die in der griechischen Tragödie gezeigten Szenen körperlichen Schmerzes sind in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Physischer Schmerz ist eng verwandt mit körperlicher Gewalt und beide sind Aspekte des Schrecklichen.2 Doch anders als die Gewalt, die gewöhnlich Szenen vorbehalten ist, die sich außerhalb des Bühnengeschehens abspielen, wird der Schmerz wiederholt vor den Augen der Zuschauer inszeniert. Schmerz-Szenen stellen die augenfälligste Art physischer Beeinträchtigung von Figuren in der Tragödie dar. Zusätzliche Brisanz gewinnen sie noch auf dem Hintergrund des Strafgerichtssystems im Athen des 5. Jh., das die körperliche Unversehrtheit der Bürger schützte und Körperstrafen im großen und ganzen auf Nicht-Bürger beschränkte.3 Homer ist in diesem Fall ausnahmsweise einmal nicht der ‚Vater der Tragödie‘. Die Darstellung von Schmerz in der Tragödie scheint vielmehr geradezu eine Lücke zu schließen, und vielleicht schließt sie diese sogar ganz bewußt. Detaillierte Beschreibungen grausamer Verletzungen gibt es bei Homer in großer Zahl. Manchmal werden dabei explizit die Qualen des Opfers betont, wie zum Beispiel im Falle Agamemnons, dessen Schmerzen mit den Geburtsschmerzen einer Frau verglichen werden (Il. 11.264–72)4, 1 Mein Dank gilt Bernd Seidensticker, Pat Easterling, Pantelis Michelakis und den Teilnehmern des Open University Online-Seminars für hilfreiche Hinweise, Helen Eastman und Anthony Shuster für ein anregendes Gespräch sowie Simon Harrison, Ashley Clements und Ineke Sluiter für Bibliographiehinweise. 2 Zur Präsentation des Schrecklichen vgl. die Beiträge von S. Goldhill und B. Seidensticker in diesem Band. 3 Zu diesem Aspekt des athenischen Rechts s. Danielle S. Allen: The world of Prometheus. The politics of punishing in democratic Athens, Princeton 2000, Kap. 9. 4 Diskussion der Stelle bei Nicole Loraux: Les expériences de Tirésias. Le féminin et l’homme grec, Paris 1989, S. 40–47.
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oder bei den Schmerzensschreien von Ares und Aphrodite, als sie von Diomedes verwundet werden (Il. 5.343 und 859–60). Doch handelt es sich hierbei um Ausnahmen. In vielen Szenen, die von Verletzungen handeln, wird der Schmerz nicht einmal erwähnt und falls doch, so erscheint er fast nebensächlich. So werden die Schmerzen des Diomedes, als er von Paris getroffen wird, in einem einzigen Vers beschrieben (Il. 11.398), und Glaukos gesteht seinen Schmerzen, als er über seine Verwundung klagt, kaum mehr Raum zu (Il. 16. 517–18). Schmerz wird zwar als menschliche Grunderfahrung anerkannt, und algos ist ein Leitmotiv der homerischen Epen (Il. 1.2; Od.1.4 sowie in zahlreichen Formeln), doch während psychische Schmerzen – wie etwa Achills oder Priamos’ Kummer – ausführlich behandelt werden, wird den physischen Schmerzen in beiden Epen wenig Beachtung geschenkt. Angesichts der Überlieferungslage und dem Verlust großer Teile des epischen Kyklos und der frühen Lyrik (man denke nur etwa an Stesichoros’ Geryon, einem offensichtlichen Schmerz-Kandidaten), können wir darüber, wie innovativ das griechische Drama auf diesem Feld war, kaum eine Aussage treffen. Es steht jedoch fest, daß die Tragödie sich in der Darstellung des Schmerzes deutlich von Homer unterscheidet.
1. Überblick Die beiden am ausführlichsten ausgearbeiteten Schmerz-Szenen, die uns erhalten sind, finden sich bei Sophokles: Herakles’ Qualen in den Trachinierinnen, verursacht durch Nessos’ giftgetränktes Gewand (971–1111) und die krampfartigen Anfälle, die der kranke Fuß des Philoktet in der Mitte des gleichnamigen Stücks auslöst (730–826). Aber auch Euripides inszeniert den Schmerz: Der tödlich verwundete Hippolytos mischt Ausdrücke des Schmerzes in seine Klage (1347–88), und im Rhesos, sei er nun euripideisch oder nicht, verleiht der Wagenlenker in einer Erzählung seinen Schmerzen Ausdruck (728–55; 798–99). Die Wirkung aller dieser Szenen wird durch Berichte von Verletzungen und Schmerzen verstärkt, die sich außerhalb des Bühnengeschehens oder vor dem Beginn des Stücks ereignen (Trach. 765–806; Phil. 180–190 und 260–84; Hipp. 1236–48; Rhes. 793– 99), und man könnte ganz allgemein feststellen, daß Schmerz-Szenen nicht zuletzt der Erweiterung und Sichtbarmachung derjenigen Schmerzen dienen, die nur berichtet werden oder aus den hinterszenischen Schreien eines Gewaltopfers zu erschließen sind.5 5 Vgl. den Beitrag von B. Seidensticker in diesem Band.
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Eine Reihe weiterer Schmerz-Szenen ist sicher verloren. So hat z. B. in Aischylos’ Philoktet Philoktet seinen verwundeten Fuß beklagt (siehe fr. 253–6 Radt);6 Cicero zeigt sich von Sophokles’ Darstellung der Schmerzen des Odysseus, wahrscheinlich im Odysseus Akanthoplex, beeindruckt (Tusc. 2.49) und übersetzt auch eine Rede aus dem Befreiten Prometheus, in der Prometheus ausgiebig seine Qualen beschreibt (Tusc. 2.23–6). In anderen Fällen können wir nur spekulieren. Eine Plutarch-Stelle erlaubt die Annahme, daß in Euripides’ Ixion Ixion auf dem Wagenrad zu sehen war (de aud.poet.19e); allerdings ist unklar, ob seine Schmerzen im Vordergrund standen; Auge gebar ihr Kind in einem Tempel (Eur. fr.266 Kannicht), und Aristophanes’ Aischylos beklagt sich darüber, daß Euripides gebärende Frauen auf der Bühne gezeigt habe (katšdeixe, Ran. 1079–80) – was wir uns sowohl mit als auch ohne Präsentation von Geburtsschmerzen auf der Bühne vorstellen können. Zahlreiche weitere verlorene Stücke behandelten Mythen von Figuren, die extreme Schmerzen erleiden mußten (wie z. B. Niobe), ohne daß wir wissen, ob die Dramatiker den Schmerz ins Zentrum einer Szene gerückt haben. Daraus folgt, daß wir kaum gesicherte Aussagen darüber treffen können, wie häufig Schmerz auf der Bühne dargestellt worden ist. Was wir aber festhalten könnnen ist, daß dies offenbar häufig genug geschah, um die Alte Komödie immer wieder zu Parodien anzuregen. Aristophanes bringt den Schmerz gleich in mehreren Stücken in mehr oder weniger klar als paratragodisch erkennbarem Tonfall auf die Bühne (Ach. 1190–1217; Nub. 707–16; Thesm. 221–4; Ran. 642–69).7 Schließlich gibt es noch zahlreiche Grenzfälle. Schmerz fällt unter die Rubrik nosos im weitesten Sinne, und es ist oft eine Frage der Interpretation durch Regisseur, Schauspieler und Zuschauer, wie stark der Schmerz betont wird. So besteht z. B. Einvernehmen darüber, daß Schmerz ein wichtiges Element beim Auftritt des geblendeten Polymestor in der Hekabe ist, der schreiend auf die Bühne kriecht, und doch ist in dem Text nicht von 6 Zum Aischyleischen Philoktet siehe Carl Werner Müller: Euripides, Philoktet: Testimonien und Fragmente, Berlin 2000, S. 44–47 mit weiteren Verweisen. Laut Müller ist die Schmerzdarstellung auf den Prolog beschränkt; es gibt keine akute Schmerz-Szene wie bei Sophokles. Die Darstellung des Schmerzes im Euripideischen Philoktet (wahrscheinlich eher im hinterszenischen Raum) diskutiert Müller auf S. 415–18. 7 In der schwierigen Stelle Poetik 1452b11–13 bezieht sich Aristoteles vielleicht auf Schmerz-Szenen. Aristoteles spricht von Todesfällen ™n tù fanerù, Schmerz (periwdun…ai) und Verwundungen als Fällen von pathos. Zur Bedeutung von ™n tù fanerù siehe die Kommentare von Lucas und Whalley ad. loc.
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Schmerz die Rede (1049–1108). Das Ende des Oedipus Rex ist in mancher Hinsicht ähnlich, geht aber nicht ganz so weit. In der Eingangsszene des Gefesselten Prometheus beschreiben Kratos und Hephaistos ausführlich, wie Prometheus gefesselt und durchbohrt wird, und obgleich der Text sich auf die gewaltsame Aktion und die Empörung des Opfers konzentriert, bezweifle ich, daß es viele Inszenierungen des Stücks geben wird, die Prometheus’ Schmerz nicht auch auf die eine oder andere Weise zum Ausdruck bringen (55–77). Später im Stück beklagt Io, was die Bremse ihr antut, die sie in den Wahnsinn treibt. Kern ihres Leidens ist der Wahnsinn, doch der Stich der Bremse fügt ihr auch körperliche Schmerzen zu (561–886). Aus diesem Überblick ergeben sich drei allgemeine Punkte: a) Die Ursachen für Schmerzen in der Tragödie sind sehr variabel. Schmerz kann z. B. durch Wagenunfälle, menschliche Gewalt, Auto-Aggression, ein Insekt, einen Adler, eine Schlange oder ein Kleidungsstück verursacht werden. Was wir zu sehen bekommen, ist manchmal der Ausbruch einer chronischen Krankheit, manchmal eine akute Verletzung. Das Opfer kann sterben oder geheilt werden; er oder sie kann Protagonist oder Nebenfigur sein, und mehr oder weniger sympathisch. Schmerz kann das Zentrum einer ausführlichen Szene bilden, aber auch nur indirekt oder en passant erzählt werden; und die Szene kann am Anfang, in der Mitte oder gegen Ende des Stücks erscheinen. Diese Variabilität macht Schmerz-Szenen zweifellos attraktiv für die Tragiker, bedeutet aber zugleich, daß man mit Verallgemeinerungen sehr vorsichtig sein muß. b) Schmerz-Szenen könnten, wie Karl Kiefer in der bis dato ausführlichsten Studie zum Thema dargelegt hat, eine eher späte Entwicklung sein.8 Kiefer geht nicht auf den Prometheus ein und betont vielleicht nicht genug, daß ein Großteil der Tragödien verloren ist; es ist jedoch bemerkenswert, daß Sophokles und Euripides den Großteil des relevanten Materials bieten. Es ist durchaus naheliegend, daß die zunehmende Ausbreitung des medizinischen Diskurses und der Heilkulte in der zweiten Hälfte des 5. Jh. die Tragiker in ihrer Suche nach immer neuen Formen des Ausdrucks dazu animiert hat, auf der Bühne zunehmend auch Darstellungen von Schmerz zu zeigen.
8 Karl Kiefer: Körperlicher Schmerz und Tod auf der attischen Bühne, Heidelberg 1909.
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c) Der Überblick suggeriert die Unterscheidung von körperlichem und psychischem Schmerz. Einerseits ist diese Unterscheidung naheliegend und wichtig. So leidet Philoktet die physischen Schmerzen einer körperlichen Wunde, während Aias mit geistig-psychischen Schmerzen zu kämpfen hat, als er realisiert, was er getan hat. Auf der anderen Seite kann die Grenze aber auch verschwimmen. Auf Philoktet werde ich noch ausführlich zurückkommen, aber schon jetzt deuten Polymestor, Ödipus, Prometheus und Io daraufhin, daß physischer und geistig-psychischer Schmerz sich überlagern können und schwer zu trennen sind. Eben diese Überlagerung beider Arten von Schmerz wird ein zentrales Thema meiner Überlegungen sein.
2. Ansatz: Schmerz als psycho-physisches Phänomen Schmerz-Szenen haben eine lange Forschungsgeschichte. Bereits im 18. Jh. stand Sophokles’ Philoktet zusammen mit der Laokoon-Statue im Zentrum der Debatte zwischen Winckelmann, Lessing, Herder und Goethe darüber, wie Schmerz darzustellen sei – eine Debatte, die von Fragen der Angemessenheit und Theorien über die Differenz zwischen Literatur und bildender Kunst geprägt war.9 Ästhetische Fragen, insbesondere die Frage, in welchem Maße eine naturalistische Darstellung von Schmerz möglich und wünschenswert sei, standen auch im Mittelpunkt der Arbeit von Kiefer zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In der Mitte des Jahrhunderts verlagerte sich dann die Aufmerksamkeit von Fragen der Darstellung zur thematischen Relevanz von Schmerz-Szenen. Speziell vom New Criticism beeinflußte Wissenschaftler betonten, daß Schmerz-Szenen auf mehreren Ebenen in die thematische Gesamtstruktur der Stücke eingebunden sind und daß die Versehrtheit und der Schmerz der Figuren symbolische Funktionen erfüllen können.10 In jüngerer Zeit haben sich die Fragestellungen weiter geändert. Froma Zeitlin, Nicole Loraux und Richard Hawley haben Fragen von 9 Die Literatur hierzu ist für den Nicht-Experten schwer zu überschauen; H. B. Nisbet: Laocoon in Germany. The reception of the group since Winckelmann. In: Oxford German Studies 10 (1979), S. 22–63, und Richard Brilliant: My Laocoon. Alternative claims in the interpretation of artworks, Berkeley 2000, Kap. 3 haben sich für meine Überlegungen als besonders hilfreich erwiesen. 10 Penelope Biggs: The disease theme in Sophocles’ Ajax, Philoctetes and Trachiniae. In: Classical Philology 61 (1966), S. 223–35 ist hierfür ein besonders gutes Beispiel, doch ist dieser Ansatz für die meisten Interpreten der 60er, 70er und 80er Jahre zumindest im englischsprachigen Raum charakteristisch.
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Körperlichkeit und Gender besprochen, wobei sie auf je unterschiedliche Weise argumentiert haben, daß die griechische Tragödie den Blick auf den männlichen Körper lenkt, um Normen des Maskulinen herauszuarbeiten und in Frage zu stellen. Mit einer etwas anderen Stoßrichtung hat Kostas Valakas das Potential des Körpers betont, physische und psychische Zustände auszudrücken.11 Und schließlich wurde die Darstellung von Schmerz in der griechischen Tragödie, zusammen mit anderen Aspekten von Krankheit, auf die Verwendung medizinischer Fachsprache, Inhalte und Praktiken hin untersucht.12 Mein Ansatz ist den meisten dieser Diskussionen verpflichtet, speziell den Ansätzen von Valakas und Hawley, doch möchte ich der Debatte einen neuen Blickwinkel auf die spezifischen Charakteristika des Phänomens Schmerz und seiner Darstellung hinzufügen. Trotz aller komplexer Zusammenhänge von Schmerz-Szenen mit anderen, weiterreichenden Aspekten der griechischen Tragödie und der Kultur des 5. Jh. im weiteren Sinne, denke ich, ist es aufschlußreich, diese Szenen aus Perspektive des Schmerzes als einer spezifischen Gefühlsempfindung mit spezifischen Eigenschaften zu betrachten. Ich möchte daher zwei Aspekte des Schmerzes hervorheben, die in jüngeren Arbeiten aus verschiedenen Disziplinen wiederholt auftauchen und die m. E. von Bedeutung für ein angemessenes Verständnis dafür sind, wie die antiken Tragiker mit dem Schmerz auf der Bühne arbeiten. Der erste Aspekt lautet: Schmerz ist ein zutiefst körperliches Phänomen. Das mag offensichtlich sein und angesichts des verstärkten Interesses am Körper, das sich in jüngerer Zeit in den meisten geisteswissenschaftlichen 11 Froma I. Zeitlin: Playing the other. Theater, theatricality, and the feminine in Greek drama. In: Nothing to do with Dionysos? Athenian drama in its social context, hrsg. von John J. Winkler und Froma I. Zeitlin, Princeton 1990, S. 63–96; Loraux (1989) [Anm. 4], bes. S. 47–53; Richard Hawley: The male body as spectacle in Attic drama. In: Thinking men: masculinity and its self-representation in the classical tradition, hrsg. von Lin Foxhall und John Salmon, London 1998, S. 83–99; Kostas Valakas: The use of the body by actors in tragedy and satyr-play. In Greek and Roman actors: aspects of an ancient profession, hrsg. von Pat Easterling und Edith Hall, Cambridge 2002, S. 69–92. Auf die unveröffentlichte Ph. D. thesis von Marla Carlson: Performative pain: building culture on the bodies of actors and artists, City University of New York 2002 wurde ich zu spät aufmerksam. 12 Jennifer Clarke Kosak: Therapeutic touch and Sophokles’ Philoktetes. In: Harvard Studies in Classical Philology 99 (1999), S. 93–134; Alessia Guardasole: Tragedia e medicina nell’Atene del V secolo a. C., Neapel 2000, insbesondere S. 181–92.
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Disziplinen beobachten läßt, nicht eben originell. Doch gilt das Hauptaugenmerk dieses Interesses – zumal dort, wo es der Tragödie gilt – dem Körper als sozialem Konstrukt. Schmerz ist zunächst einmal kein Konstrukt. Er gehört zur körperlichen Grundausstattung des Menschen und ist in vieler Hinsicht ein universelles Phänomen. Lediglich Personen mit einer angeborenen Schmerzunempfindlichkeit empfinden keinen Schmerz (und werden in Folge davon normalerweise nicht sehr alt); für alle anderen ist der Schmerz intensiv präsent. Diese Universalität des Schmerzes verbindet uns mit den Griechen und verbindet die Zuschauer aller Epochen mit den Charakteren auf der Bühne. Terry Eagleton hat das sehr einprägsam ausgedrückt: It is surely true that to ask, say, why we feel sympathy for Philoctetes is a pseudoproblem bred by bogus historicism. We feel sympathy for Philoctetes because he is in agonizing pain from his pus-swollen foot. […] There is nothing hermeneutically opaque about Philoctetes’ hobbling and bellowing. […] As far as his agony goes, we understand Philoctetes in much the same way as we understand the afflictions of those around us.13
Man muß hier allerdings gleich betonen, daß das Theater dieses intuitive Verständnis des Schmerzes anderer verkompliziert, indem es nicht mit realem, sondern mit dargestelltem Schmerz operiert. Was sich aus dieser Komplexität für Konsequenzen ergeben, werden wir später untersuchen, doch der Kern von Eagletons These behält seine Gültigkeit: Da Schmerz eine menschliche Grunderfahrung ist, erreicht Philoktet potentiell Zuschauer unterschiedlichster individueller und kultureller Prägung. Jedoch – und das ist das zweite Charakteristikum des Schmerzes, das ich hervorheben möchte – sollte die Körperlichkeit des Schmerzes nicht so verstanden werden, daß sie eine psychisch-geistige Dimension ausschließt oder in Opposition zum Psychisch-Geistigen steht. Schmerz entsteht im Zusammenspiel von Körper und Geist. Man muß deshalb mit Aussagen über die Universalität des Schmerzes vorsichtig sein. So differieren z. B. die Ansichten darüber, was unvermeidbarer, angemessener, aushaltbarer oder gar erstrebenswerter Schmerz ist von Kulturkreis zu Kulturkreis und von Individuum zu Individuum beträchtlich. Schmerz ist ein kulturspezifisches Phänomen. Doch das ist nur ein Aspekt seiner psychisch-geistigen Dimension. Medizin, Biologie, Philosophie und Sozialwissenschaften haben alle dazu beigetragen, daß die einst so kategorische Scheidung von Körper und Geist nicht mehr zu halten ist. Nur noch wenige bestreiten inzwischen, daß auch der Geist eine materielle Grundlage hat, und das macht sich auch 13 Terry Eagleton: Sweet violence. The idea of the tragic, Oxford 2003, S. XIV.
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beim Schmerz bemerkbar.14 Die Schmerzforschung hat sich durch die Erkenntnis, daß Gewebeschädigungen und Schmerzempfindung nicht vollständig miteinander korrelieren, grundlegend gewandelt. Phantomschmerzen (wie sie von über der Hälfte aller Patienten empfunden werden, die sich einer Amputation unterziehen müssen), Schmerzfreiheit in den ersten Minuten nach der Verletzung (wie sie z. B. von der großen Mehrheit der 73 israelischen Soldaten berichtet worden ist, die nach schweren Verwundungen im Jom Kippur-Krieg für eine Studie befragt wurden) und Placebo-Effekte (die derart beträchtlich sind, daß vor der Zulassung eines neuen Medikaments der Nachweis verlangt wird, daß seine Wirkung größer ist als das Placebo) illustrieren, was die medizinische Forschung zweifelsfrei gezeigt hat: Gehirn und zentrales Nervensystem spielen bei Entstehung, Entwicklung und Abklingen von Schmerz eine erhebliche Rolle. Die International Association for the Study of Pain definiert daher Schmerz als „an unpleasant sensory and emotional experience associated with actual or potential tissue damage, or described in terms of such damage.“15 Das Zusammenspiel von Körper und Geist im Schmerz hat viele Facetten, die nicht nur für Humanbiologen oder Medizinwissenschaftler, sondern auch für Ärzte, Patienten und Pflegepersonal, für die Sozial- und Geisteswissenschaften – und schließlich auch für die Interpretation der griechischen Tragödie von Bedeutung sind. Zum einen ist da das psychische Leiden, das mit chronischen Schmerzen einhergeht. Eines der häufigsten Themen in der Schmerzliteratur ist der Versuch, „den Mythos der beiden Schmerzarten“ (David Morris’ vielzitierter Ausdruck) zu demontieren.16 Schmerz quält Patienten nicht nur in Folge von Gewebeschädigungen, sondern auch mit Fragen wie „Warum gerade ich?“, „Was ist die 14 Ich stütze mich in diesem Abschnitt hauptsächlich auf populärwissenschaftliche Werke: Ronald Melzack und Patrick D. Wall: The challenge of pain, Harmondsworth 21991 sowie Patrick D. Wall: Pain. The science of suffering, London 1999. Melzack und Wall sind die prominentesten Vertreter der Schmerzforschung. Darüber hinaus habe ich drei von Nicht-Medizinern verfaßte Bücher, die zahlreiche soziale und literarische Aspekte von Schmerz behandeln, als anregend und hilfreich empfunden: Elaine Scarry: The body in pain. The making and unmaking of the world, New York/Oxford 1985 ; David B. Morris: The culture of pain, Berkeley 1991 und Marni Jackson: Pain. The science and culture of why we hurt, London 2003. Roselyne Rey: Histoire de la douleur, Paris 1993, liefert eine synoptische Geschichte des Schmerzes. 15 http://www.iasp-pain.org/terms-p.html#Pain, Zugriff zuletzt am 26. August 2005. 16 ,Myth of two pains‘; Morris (1991) [Anm. 14], S. 9. Valerie Gray Hardcastle: The myth of pain, Cambridge/MA 1999 und Wall (1999) [Anm. 14], Kap. 2 führen den Angriff auf diesen Mythos aus philosophischer bzw. medizinischer Perspektive.
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Ursache?“, „Wird das jemals aufhören?“ Derlei Fragen bieten die Grundlage für das, was oft als „Schmerzerzählungen“ (pain narratives) bezeichnet wird. Langzeitpatienten berichten von ihren Bemühungen, ihrem Leiden einen Sinn abzugewinnen. Schmerz vergeht zwar nicht, wenn man seine Ursache und seinen Verlauf kennt, doch fügt die Ohnmacht angesichts des Unvermögens, sich ein kohärentes Bild zu machen, dem eigentlichen Schmerz eine weitere Dimension des Leidens hinzu.17 Die Bedeutung von „Schmerzerzählungen“ ist eng mit der Schwierigkeit verknüpft, Schmerz zu messen. Schmerz ist ein innerliches Phänomen und als solches nahezu unmöglich von außen zu beobachten. Dies gilt für unsere Alltagserfahrung, es gilt aber – mehr oder minder – auch in Krankenhäusern mit High-Tech-Apparaturen. Es gibt kein Schmerz-Thermometer. Wir verlassen uns, wenn wir die Schmerzen anderer Menschen einschätzen wollen, auf Verhalten und sprachliche Äußerungen. Eine blutende Wunde signalisiert unmittelbar Schmerz, doch Untersuchungen haben gezeigt, daß unser intuitives Verständnis vom Grad der Schmerzempfindung anderer letztlich darauf beruht, was wir angesichts bestimmter Verletzungen oder Krankheiten für ein angemessenes Ausmaß an Schmerz halten, und daß das meistens nicht mit dem Schmerzempfinden der betroffenen Personen übereinstimmt. Die Reaktionen auf den Schmerz anderer werden in der Antike anders ausgesehen haben als unsere heutigen, doch alle Gesellschaften stehen vor dem gleichen Problem: So universell der Schmerz auch ist; er ist und bleibt doch eine verborgene und private Angelegenheit. Sogar die Sprache kann beim Schmerz schnell an ihre Grenze kommen. Die Schwierigkeit, Schmerz in Worten auszudrücken, ist ein Topos der einschlägigen Literatur.18 In diesem Zusammenhang wird gern Virginia Woolf zitiert: 17 Das Standardwerk über Krankheitsgeschichten ist Arthur Kleinman: The illness narratives. Suffering, healing, and the human condition, New York 1988, mit drei Fällen zum Thema Schmerz (Kap. 3–5); zum Schmerz speziell siehe Linda C. Garro: Chronic illness and the construction of narratives. In: Pain as human experience. An anthropological perspective, hrsg. von Mary-Jo Delvecchio Good et al., Berkeley 1992, S.100–37 und Robert Kugelmann: Complaining about chronic pain. In: Social Science and Medicine 49 (1999), S. 1663–76. 18 Die meistzitierte Formulierung des Problems findet sich bei Scarry (1985) [Anm. 14], S. 3–11. Zwei jüngere Beiträge zum Thema mit ausführlichen transkribierten Interviews sind Byron J. Good: A body in pain – the making of a world of chronic pain. In: Pain as human experience. An anthropological perspective, hrsg. von Mary-Jo Delvecchio Good et al., Berkeley 1992, S. 29–48, und Jean Jackson: Chronic pain and the tension between the body as subject and object. In: Embodiment and experience. The existential ground of culture and self, hrsg. von Thomas J. Csordas, Cambridge 1994, S. 201–28, bes. S. 212–22.
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English, which can express the thoughts of Hamlet and the tragedy of Lear, has no words for the shiver and the headache. It has all grown one way. The merest schoolgirl, when she falls in love, has Shakespeare or Keats to speak her mind; but let a sufferer try to describe a pain in his head to a doctor language at once runs dry. There is nothing ready made for him.19
Extremere Formen dieses Arguments, die bei Virginia Woolf selbst nicht zu finden sind, stießen in letzter Zeit zurecht auf Kritik.20 Es bleibt jedoch richtig, daß Schmerz oftmals schwer zu beschreiben ist. Nicht nur die Poesie, auch die Alltagssprache bedient sich der Metapher. Der McGillFragebogen, das medizinische Standard-Instrument zur Schmerzanamnese, ist voll von Wörtern wie „stechend“, „nagend“, „quälend“. So direkt physisch Schmerz auch empfunden wird, die Ausdrücke, derer wir uns bedienen, um ihn zu beschreiben, sind oft Metaphern. Einerseits erlaubt uns die Körperlichkeit von Schmerzen, auf der Grundlage unserer eigenen Körpererfahrung (siehe Terry Eagletons Worte zum Philoktet) die Schmerzen anderer intuitiv zu begreifen; andererseits macht die geistig-seelische Dimension des Schmerzes diesen für andere unsichtbar und nahezu unkommunizierbar. Dieses Paradox liegt, wie ich im nächsten Abschnitt zeigen möchte, nicht nur unserer Alltagserfahrung im Umgang mit Schmerz zugrunde, sondern auch der Art und Weise, wie Schmerz in der griechischen Tragödie repräsentiert wird. Die Vorstellung einer klaren Trennung von Körper und Geist wird oft auf Descartes zurückgeführt. So irreführend solche definitive Zuschreibung auch sein kann, sicher ist, daß im antiken Griechenland fließendere Begriffe und Vorstellungen von Körper und Geist herrschten als im Europa des 17.–20. Jahrhunderts. Seit Homer können Wörter wie algos, ponos, odyne sowohl körperliche als auch psychisch-geistige Bedeutung annehmen.21 Was wir gern Geisteskrankheit oder Wahnsinn nennen, wurde nicht als kategorisch anders von dem gesehen, was wir als körperliche Krankheit bezeichnen. Ruth Padel hat die Sprache, der sich die Tragödie 19 Virginia Woolf: „On being ill“. In: Collected essays, London 1967, Bd. 4, S. 194. 20 Lucy Bending: The representation of bodily pain in late nineteenth-century English culture, Oxford 2000, Kap. 3. 21 Die Konnotationen unterschiedlicher Worte aus dem Wortfeld „Schmerz“ sind komplex. Überlegungen zum Sprachgebrauch des 5. Jh. finden sich bei Guardasole (2000) [Anm. 12], S. 189–90 und in Hordens und Kings Aufsätzen in Anm. 24; speziell zu Sophokles siehe Marcos Martínez Hernández: El campo léxico de los sustantivos de dolor en Sófocles. Ensayo de semántica estructural-functional. 2 Teile. In: Cuadernos de filología clásica 13 (1977), S. 33–112 und Cuadernos de filología clásica 14 (1978), S. 121–69.
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für die Beschreibung von geistigen Zuständen bedient, eingehend untersucht und sich ausdrücklich dagegen ausgesprochen, die zahlreichen physischen und biologischen Ausdrücke, die zur Beschreibung mentaler Zustände, inklusive des Wahnsinns, in der griechischen Tragödie gebräuchlich sind, als „bloße Metaphern“ abzutun.22 Für die Hippokratischen Schriften zieht Beate Gundert den Schluß, daß Körper und Geist, „while distiguished emperically by being related to different types of phenomena, are ultimately accounted for by the same explanatory model: human nature (physis), which embraces the totality of bodily structures, physiological processes, and psychic events.“23 Der Schmerz spielt im Denken der Hippokratischen Schriften keine große Rolle und wird für gewöhnlich als Symptom oder Begleiterscheinung einer Krankheit behandelt. Allein deshalb kann man die heutige medizinische Forschung nicht ohne weiteres auf die Antike anwenden. Vieles in den antiken Anschauungen zum Thema Schmerz ist der modernen Medizin fremd. Wichtiger aber als solche Unterschiede ist für die Thematik dieses Aufsatzes, daß wegen der weniger ausgeprägt dualistischen Sichtweise von Körper und Geist ein „Mythos der beiden Schmerzarten“, wie er heute kritisiert wird, in der Antike nicht entstehen konnte.24 Ich verstehe diesen Anknüpfungspunkt zwischen zeitgenössischen und antiken Ansichten über den Schmerz als eine Bestätigung meines Vorhabens. Ich möchte die beiden weitgefaßten Charakteristika von Schmerz, die ich beschrieben habe – seine Körperlichkeit und die intrinsische Verbindung dieser Körperlichkeit mit geistig-psychischen Prozessen (inklusive der diversen Konsequenzen, die solch eine Verbindung mit sich bringt) – verwenden, um Schmerz-Szenen in der griechischen Tragödie zu diskutieren.
22 Ruth Padel: In and out of the mind. Greek images of the tragic self, Princeton 1992, insbesondere Kap. 2. 23 Beate Gundert: Soma and psyche in Hippocratic medicine. In: Psyche and soma. Physicians and metaphysicians on the mind-body problem from antiquity to enlightenment, hrsg. von John P. Wright and Paul Potter, Oxford 2000, S. 13–35, hier: S. 35. 24 Zum Schmerz in den Hippokratischen Schriften siehe Peregrine Horden: Pain in Hippocratic medicine. In: Religion, health and suffering, hrsg. von John R. Hinnells and Roy Porter, London/New York 1999, S. 295–315, und Helen King: Chronic pain and the creation of narrative. In: Constructions of the classical body, hrsg. von James I. Porter, Ann Arbor 2002, S. 269–86.
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3. Die Darstellung von Schmerz Ich werde im folgenden mehrere Stücke heranziehen, aber eine Passage aus der Mitte der Schmerz-Szene des Philoktet – als Musterbeispiel – detailliert behandeln: Der erste Schmerzanfall ist abgeklungen und Philoktet hat Neoptolemos seinen Bogen zur Aufbewahrung gegeben, als der zweite Anfall ausbricht (782–97; Übers. Wolfgang Schadewaldt): «««« dšdoika , ð pa‹, m¾ ¢tel¾j eÙc¾ st£zei g¦r aâ moi fo…nion tÒd' ™k buqoà khk‹on aŒma, ka… ti prosdokî nšon. Papa‹, feà: papa‹ m£l', ð poÚj, oŒ£ m' ™rg£sV kak£. Prosšrpei, prosšrcetai tÒd' ™ggÚj. O‡moi moi t£laj. ”Ecete tÕ pr©gma: m¾ fÚghte mhdamÍ. 'Attata‹. ’W xšne Kefall»n, e‡qe soà diamperäj stšrnwn œcoit' ¥lghsij ¼de. Feà, papa‹, papa‹ m£l' aâqij. ’W diplo‹ strathl£tai, 'Ag£memnon, ð Menšlae, pîj ¨n ¢nt' ™moà tÕn ‡son crÒnon tršfoite t»nde t¾n nÒson; ”Wmoi moi. Ah, ah, ah, ah – ich fürchte, Sohn, es wird für mich Sich nicht erfüllen, das Gebet. Denn wieder tropft Hervor mir dunkel aus der Tiefe quellend Dies Blut, und einen neuen Anfall fürchte ich. Papá-ih! weh! Papá-ih! ah! Mein Fuß: was schaffst du mir für Leiden! Es schleicht heran, Es kommt – da! Schon ganz nahe! Oh mir!, mir! Ich armer! Da habt ihr es nun, wie es um mich steht, Doch flieht nicht, nein! Attata-ih! O Freund von Ithaka, Odysseus! Wenn doch dir Durch und durch dieser Schmerz die Brust durchdränge. Weh! Papá-ih! Papá-ih noch einmal! Ihr beiden Heeresführer, O Agamemnon und Menelaos!
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Würdet ihr beiden doch an meiner Stelle Ebensolange diese Krankheit nähren! O mir, mir!25
Zunächst einmal illustriert diese Passage anschaulich, wie körperliche Schmerzen in der Tragödie in den Kontext des mentalen und psychischen Zustands einer Figur integriert sind, sogar an Stellen wie dieser hier, an denen es eindeutig um einen akuten Schmerzanfall geht. In unserer Passage hat Philoktet Angst vor einem weiteren Schub, beklagt sein Elend, ist in Sorge, daß Neoptolemus und der Chor ihn verlassen könnten und wünscht die Erkrankung seinen Feinden an den Hals. Er spricht über seinen Schmerz ohne klare Trennung von körperlichem und geistig-seelischem Leiden, und das gleiche tun alle anderen tragischen Figuren. Die Vermeidung einer solchen Trennung hat verschiedenerlei Aspekte. Erstens dient sie dazu, in komprimierter Form die komplexen Zusammenhänge von physischem und psychischem Leiden darzustellen. Philoktet ist wie alle Menschen: Der Schmerz ist nicht bloß eine Sache von Gewebeverletzung. Zweitens hilft die Abwechslung von Körperlichem und GeistigSeelischem dem Schauspieler, einen Spannungsbogen aufzubauen und die Aufmerksamkeit der Zuschauer über längere Zeitabschnitte zu wahren. Bloßes Schreien mag zunächst einen Schock auslösen, würde aber schnell langweilig und anstrengend. Drittens ist ein sprachlich-technischer Punkt zu bedenken. Schmerz-Szenen bedienen sich häufig sprachlicher Mittel, die bei den Tragikern auch zum Ausdruck psychischen Leidens, insbesondere zum Ausdruck der Klage, verwendet wurden: Schreie (im Falle Philoktets: « « « «, papa‹, feà etc.), Ausrufe (im Falle Philoktets „Mein Fuß“), unübliche Versformen (im Falle Philoktets mehrere Cola extra metrum), ungewöhnliche Syntax (im Falle Philoktets Wiederholung mit Asyndeton: prosšrpei, prosšrcetai). Nicht zuletzt wegen solcher Anleihen ist es zu einem gewissen Grad Sache des Zuschauers zu beurteilen, was Ausdruck körperlichen Schmerzes ist und was nicht. Hier gibt es Grenzfälle wie Io im Gefesselten Prometheus oder Polymestor in der Hekabe, die beide ihre physische Pein eher indirekt zum Ausdruck bringen. Ios Text ist voller 25 Es sollte nicht überraschen, daß die Sprache des Schmerzes für Schreiber und Editoren ein Problem darstellt. Die extra metrum Schreie « « « « sind eine naheliegende Korrektur des in den meisten Handschriften überlieferten ¢ll£; andere Editoren stellen 782 wieder her, indem sie mit ¢ll£ beginnen und den Vers in Dochmien statt in Jamben setzen. Prosšrpei, ebenfalls extra metrum, ist in manchen Codices und modernen Editionen weggelassen und die ungewöhnliche Verwendung von œcoit' wird stellenweise durch †koit' vermieden. Diese Entscheidungen haben keinen Einfluß auf mein Argument.
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Ausrufe und kurzer Fragen; zudem bricht sie in ein Lied mit einigen ungewöhnlichen Responsionen aus (561–608) und verfügt über ein großes Repertoire von Wörtern für Leiden, die sowohl physische als auch psychische Schmerzen bezeichnen können (t£lainan, phmona‹sin, phmon£j, nÒson, kšntroisi, a„ke…aij, mogoàsin, paqe‹n, nÒsou). Polymestor kriecht herein, möglicherweise mit einer Maske, die seine blutenden Augenhöhlen zeigt. Er schreit und stellt emotionale Fragen, kombiniert in wildem Wechsel diverse Metren und seine Syntax ist von Asyndeta geprägt.26 Der wichtigste Aspekt der Schmerzdarstellung im Theater ist der offensichtlichste: der Körper des Schauspielers. Zuschauer sehen und (ebenso wichtig, vor allem bei sehr großen Auditorien) wissen, daß da ein lebendes menschliches Wesen vor ihnen steht. Hierin unterscheidet sich das Theater vom Film oder dem Roman. Diese Körperlichkeit ist für das Thema Schmerz von besonderer Bedeutung. Die Präsenz eines lebenden Körpers hilft, die körperliche Erfahrung Schmerz auszudrücken. Zuschauer können ihre eigene Schmerzerfahrung auf einen Körper projizieren, von dem sie wissen, daß er Schmerz empfinden kann. Den Schauspielern steht dabei eine Vielzahl an Gesten und Posen zur Verfügung. Schmerz löst eine Reihe körperlicher Sekundär-Reaktionen aus, die sich nach der Art des Schmerzes voneinander unterscheiden und oft unkontrollierbar sind: Sich Winden, Springen, das Drücken der betroffenen Stelle, abruptes Zurückzucken bei Berührung, Vermeidung von Bewegung, Humpeln. Die meisten solcher Reaktionen werden, nahezu instinktiv, von jedermann als Schmerzverhalten verstanden, und die Schauspieler einer Tragödie haben sich die unmittelbare Verständlichkeit solchen Verhaltens gewiß zu Nutze gemacht. Der Text zeigt an, daß Herakles hereingetragen wird (968), während Hippolytos von seinen Gefährten halb getragen, halb gestützt wird (1353 „Halt, laßt meinen erschöpften Körper ruhen“, 1361 „Hebt mich richtig, tragt mich vorsichtig“); Philoktet wird noch vor seinem ersten Auftritt als „strauchelnd“ (215) und „den unglückselgen Fuß hinschleppend“ (291) beschrieben, und als ihn akuter Schmerz überfällt, bricht er zusammen (821), und so auch der Wagenlenker im Rhesos (799). Oft bitten Schmerzleidende darum, vorsichtig behandelt zu werden. „Sachte, Diener, haltet mein verwundetes Fleisch mit euren Händen“ (Hipp. 1358– 9), „Wie faßt du mich an? wohin beugst du mich?“ (Trach. 1007), „Du tötest mich, wenn du mich anfaßt!“ (Phil. 817). Im Falle der Io oder des kriechenden Polymestor haben die jeweiligen Schauspieler die lyrische Metrik möglicherweise in ekstatische Bewegung umgesetzt. Zur Verstärkung und Ver26 Siehe Griffith zu PV 561–886 und 561–608 und Collard zu Hec. 1056–1108.
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deutlichung des Bühnengeschehens weist der Text oftmals auf Details der Verletzung ausdrücklich hin, im Falle Philoktets auf das aus dem Fuß hervorquellende Blut, in Hippolytos’ Fall auf die Schmerzen in seinem Kopf (1351–2), in den Trachinierinnen auf die durch das vergiftete Gewand verursachten Entstellungen (1053–7) – allesamt Stellen, die es dem Schauspieler freistellen, zusammen mit den Worten expressive Gestik zum Einsatz zu bringen. Wir werden niemals genau wissen, was das Publikum des 5. Jh. zu sehen bekam, fest aber steht, daß Schmerz eine beachtliche Bandbreite körperbetonten Spiels und einprägsamer Tableaus möglich macht – beides besonders wichtig für das Spielen mit Masken. Akustisch ist das sicherlich wichtigste Instrument des Schauspielers, um Schmerz auszudrücken, der Schrei. Eagleton spricht davon, daß der humpelnde und brüllende Philoktet noch heute zu uns spricht. Schreien ist eine unmittelbare und zum Teil sicher angeborene menschliche Reaktion auf Schmerz. Es ist daher wenig verwunderlich, daß Schmerz-Szenen immer wieder davon Gebrauch machen, in unserer Philoktet-Passage gleich mit einem ganzen Arsenal an entsprechenden Ausdrücken: « « « « – papa‹, feà: papa‹ – ¢ttata‹ – feà, papa‹. papa‹ m£l' aâqij – êmoi moi. Die Erweiterung des Gebrauchs solcher Ausdrücke vom rein geistig-seelischen Kontext auf mehr oder minder eindeutig körperlichen Schmerz ist ein besonders wirkungsvoller Aspekt der kreativen Neu-Interpretation der Formensprache der Klage in Schmerz-Szenen. Keine andere Form der Schmerzdarstellung kann Schmerz so unmittelbar zum Ausdruck bringen wie solche Interjektionen. Neben Klagerufen und Schreien greift die Sprache in Schmerz-Szenen gern auf Metaphern zurück. Ich habe oben die Bedeutung von Metaphern, wenn Patienten versuchen ihre Schmerzen in Worte zu fassen, angesprochen. Das gleiche gilt für die Figuren der Tragödie. In Vers 756 beschreibt Philoktet die „Last der Krankheit“ als „unsagbar“ (oÙdä htÒn). Sobald er über derlei Hilflosigkeitsbekundungen hinausgeht, greift er nach Metaphern. Viele davon ähneln denjenigen in dem McGill-Fragebogen. diamperäj stšrnwn œcoit' drückt aus, daß der Schmerz durch den Körper läuft,27 man vergleiche „stechend“ oder „nagend“ auf dem Fragebogen; prosšrpei, prosšrcetai deutet auf den Ausbruch eines anfallartigen Schmerz-Schubs, vorgestellt als eine den Körper von außen angreifende Macht. Kurz zuvor benutzt Philoktet Ausdrücke wie dišrcetai (744; wieder „stechend“?), brÚkomai (745; das „nagend“ des Fragebogens? oder vielleicht „verzehrend“?), tÕ kakÕn ™x…V tÒde (767; der Schmerz „geht weg“). Zu diesen Stel27 Die genaue Bedeutung von œcoito ist unklar, und der Text ist möglicherweise nicht intakt.
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len lassen sich zahlreiche Parallelen finden: Hippolytos’ Schmerz z. B. ist „im Anmarsch“ (ba…nei, Hipp.1371), und Herakles beklagt sich über einen Krampf, der durch seinen Körper „zischt“ oder „zieht“ (diÍxe, Trach.1083–4) und über ein Leiden, das „aufspringt“ (qróskei, 1027) und ihn „verzehrt“ (di£boroj, 1084). Es gäbe, wie man sieht, genug Material, um ein groß angelegtes tragisches Äquivalent zum McGill-Fragebogen zu entwerfen. Bemerkenswerterweise besteht fast die gesamte Semantik des Schmerzes bei den Tragikern aus Verbalausdrücken. Die von Philoktet verwendeten Nomina sind farblos (784 ti ... nšon, 786 oŒ£ ... kak£, 789 tÕ pr©gma, 792 ¥lghsij) oder werden gleich durch Pronomina ersetzt wie in 788 tÒd'. Auch der Herakles der Trachinierinnen verwendet nur wenige Nomina, die sich mit seinen Verben an Ausdruckskraft messen könnten, und benutzt dreimal vage, nahezu mysteriöse Pronomen (987 ¡ d', 1010 ¤d', 1031 tÒde), die keinen klaren Bezug auf ein vorhergegangenes Nomen erkennen lassen. Als Linguist könnte man sagen, daß Schmerz in der griechischen Tragödie ,prozessual‘, und nicht ,qualitativ‘, geschweige denn ,gegenständlich‘ wahrgenommen wird.28 Er wird als das beschrieben, was er seinen Opfern antut, nicht als das, was er ist. Derartige prozessual angelegte Metaphern spiegeln ein Verständnis von Krankheit wider, wie man es auch sonst in der antiken griechischen Literatur antrifft: die Krankheit befällt den Körper von außen.29 Diese Vorstellung basiert natürlich letzten Endes auf empirischen Eindrücken. Die Metaphern sind in der Tragödie wie in der modernen Medizin ein Versuch, das zutiefst private und unsichtbare Phänomen des Schmerzes zu kommunizieren, indem sein Effekt auf den Körper in Bildern beschrieben wird. An anderen Stellen bedient sich die Tragödie ähnlicher Metaphern, um psychische Schmerzen darzustellen. Bereits bei Aischylos finden wir, daß das Unglück „beißt“ und die Zurückweisung „die Leber schmerzt“ und „wie ein Stachel“ wirkt.30 Psychischer wie physischer Schmerz bedürfen der Externalisierung, um sie als Angriff auf den Leidenden vorstellbar und somit ausdrückbar zu machen. 28 Vgl. Michael Halliday: On the grammar of pain. In: Functions of Language 5 (1998), S. 1–32, der die These vertritt, das Englische drücke Schmerz auf alle drei genannten drei Arten (process, quality, thing) aus, sowie Chryssoula Lascaratou und Ourania Hatzidaki: Pain as process in modern Greek. In: Journal of Greek Linguistics 3 (2002), S. 53–82, die argumentieren, daß im Neugriechischen vorwiegend prozessuale Ausdrucksweisen gebraucht werden. 29 Padel (1992) [Anm. 22]. 30 Pers. 846, Eum. 136–7. Zahlreiche weitere Beispiele werden von Bernadette Schnyder: Angst in Szene gesetzt. Zur Darstellung der Emotionen auf der Bühne des Aischylos, Tübingen 1995, S. 158–88 behandelt.
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Die Formen und Mittel der griechischen Tragödie sind also zweifellos geeignet, Schmerz auf verschiedene Art darzustellen. Sie tun dies, indem sie die tiefverwurzelten Erfahrungen und Ängste der Zuschauer so direkt ansprechen wie nur weniges andere auf der Bühne. Allerdings hängt diese Wirkung stark von der Kraft des Einbildungsvermögens ab. Zunächst einmal müssen wir uns vorstellen, wie sich Philoktets „stechender“ Schmerz oder Herakles’ „zischender“ Schmerz anfühlen, wie Philoktets verletzter Fuß und seine Angst davor, verlassen zu werden, oder Ios Wahnsinn, Angst und stechender Schmerz die Schreie auslösen, die wir hören. Aber das ist bei weitem nicht alles; viel wichtiger ist, daß die Darstellung von Schmerz in der griechischen Tragödie hochgeradig stilisiert ist und daß diese Stilisierung auf die Einbildungskraft der Zuschauer zielt. Die Stilisierung des Schmerzes hat mehrere Aspekte. Erstens erlauben Masken keine Veränderung der Mimik, die im modernen Theater und auf der Leinwand zu den häufigsten Mitteln der Schmerzdarstellung gehört. Polymestor und Ödipus sind wahrscheinlich mit blutigen Masken zurück auf die Bühne gekommen. Denkbar – wenn auch keineswegs sicher – ist auch, daß Hippolytos seine Maske gewechselt hat und daß Philoktets und Ios Masken durchgehend einen Leidensausdruck getragen haben. Auf jeden Fall schließen Masken den mimischen Ausdruck von Gefühlen aus. Sie gewinnen ihre starke Wirkung nicht durch die realistische Darstellung von Schmerz, sondern gerade durch den frappanten Kontrast zwischen der Unbeweglichkeit der Maske und der lebendigen Stimme und dem sich bewegenden Körper des Schauspielers. Auch die Sprache des Schmerzes ist in der Tragödie stilisiert. Parallelen zu Philoktets und Herakles’ drastischer Schmerzmetaphorik sind im gleichen Ausmaß in einem Prosatext nicht ohne weiteres zu finden. (Patienten, die beim Ausfüllen des McGill-Fragebogens vor allem die blumigeren Metaphern ankreuzen, werden oft verdächtigt, an Schmerzen ohne organische Ursache zu leiden.) Wichtiger noch ist die Tatsache, daß tragische Schreie im Text des Stücks nach Anzahl, Timing, Länge, Metrik und Klangqualität festgelegt sind, womit der Schauspieler in seiner Arbeit zugleich eingeschränkt und unterstützt wird. Philoktet „humpelt“ vielleicht, aber er „brüllt“ nicht. Athener, die im Matsch ausgerutscht waren oder denen ohne nennenswerte Anästhesie ein Bein amputiert wurde, haben sicherlich nicht wie Philoktet „Weh! papá-ih; Papá-ih noch einmal!“ gerufen, und schon gar nicht in Trimetern. Es handelt sich nicht um instinktive undifferenzierte Schmerzausdrücke. Vielmehr legt die große Zahl von Interjektionen im Philoktet nahe, daß jede Interjektion bestimmte und, zumindest teilweise, konventionelle Assoziationen hatte. Eine jüngst erschienene Aristophanes-
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Studie vertritt die These, daß es eine Differenzierung der Interjektionen nach der Klangfarbe (mehr oder weniger tragisch) und Semantik (mehr oder weniger physisch oder psychisch) gegeben haben muß, und etwas ähnliches wird auch für die Tragiker gelten.31 In der griechischen Tragödie sind Schreie nicht naturalistisch. Ein gewisser Grad von Stilisierung ist natürlich für jede Form von Theater charakteristisch, und zwar weit über die Schmerz-Szenen hinaus; und dies mag auch der Grund dafür sein, daß die meisten Debatten um den Schmerz auf der tragischen Bühne – von Winckelmann und Lessing bis zu Eagleton – diesen Kontext gerne ausblenden oder herunterspielen. Und doch ist die Stilisierung gerade im Zusammenhang mit Schmerz besonders wichtig, da sie sich dessen Privatheit und Unsichtbarkeit zunutze macht. Auch außerhalb des Theaters bietet es sich an, Schmerz durch Symbole, ikonische Gesten und prägnante Ausdrücke darzustellen. Amnesty International-Anzeigen zeigen Folterinstrumente, um die Betrachter die Schmerzen der Opfer nachempfinden zu lassen. Das Kino bedient sich Nahaufnahmen von blutenden Wunden. Die Kommunikation von Schmerz beruht oft wesentlich auf einfachen, meist körperlichen Zeichen, die die Einbildungskraft der Betrachter oder Zuhörer anregen. Die Stilisierungen in der Tragödie sind im gleichen Kontext zu sehen. Philoktets Metaphorik, Polymestors Gesang und rhythmisches Kriechen und der Zusammenbruch des Wagenlenkers sind allesamt „theatralisch“, nicht naturalistisch. Aber sie sind theatralisch nur, da sie in ihrer Stilisiertheit über Schmerz-Äußerungen im wirklichen Leben hinausgehen und nicht etwa weil sie in eine andere Richtung deuten. Während die Erfahrung, daß der Schmerz etwas schwer Greifbares ist, für Betroffene, ihre Angehörigen und die behandelnden Ärzte im wirklichen Leben oft zutiefst frustrierend ist, bietet sie für die Darstellung von Schmerz im Theater enorme ästhetische Möglichkeiten, sowohl mit Hilfe der Sprache als auch durch entsprechendes Bühnengeschehen. Und die griechischen Tragiker wußten das genau! Es wäre sicherlich falsch zu behaupten, daß eine naturalistische Darstellung von Schmerz im Theater prinzipiell unmöglich ist, und es ist eher unwahrscheinlich, daß sich die Schauspieler in der Antike die Gelegenheit zu einer virtuosen Präsentation des Schmerzes haben entgehen lassen. Es ist jedoch festzuhalten, daß die Inszenierung von Schmerz mit erheblichen 31 Juan Miguel Labiano Ilundain: Estudio de las interjecciones en las comedias de Aristófanes, Amsterdam 2000, insbesondere S. 337–48. M. E. sind seine Schlußfolgerungen etwas zu kategorisch, doch muß ihm recht gegeben werden, was die Differenzierung von Interjektionen als solche anbelangt.
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Schwierigkeiten verbunden ist. Die aristophaneischen Parodien machen deutlich, daß die Zuschauer dem Bühnengeschehen jederzeit die notwendige Komplizenschaft verweigern können. Schmerz auf der Bühne wird schnell melodramatisch und lächerlich, und ich möchte behaupten, daß er besonders schnell melodramatisch und lächerlich wird, wenn er naturalistisch gestaltet wird. Der Zuschauer weiß, daß die Person, die er vor sich sieht, nicht eigentlich Schmerz empfindet, und dieses Wissen setzt der naturalistischen Darstellung von Schmerz auf der Bühne Grenzen. Naturalistisches „Brüllen“, würde ich vermuten, ist daher problematischer als ¢ttata‹ im Trimeter, und es dürfte kein Zufall sein, daß Schmerz-Szenen in der griechischen Tragödie verhältnismäßig häufig, im naturalistischen Theater des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts dagegen eher selten zu finden sind. Doch das ist nicht mein Hauptanliegen. Mein Hauptanliegen ist die These, daß, wo immer es Dramatikern, Regisseuren und Schauspielern gelingt, Schmerz auf der Bühne erfolgreich darzustellen, sie dies dadurch erreichen, daß sie zwei essentielle Faktoren allen Theaters konsequent ausreizen: die Präsenz von Schauspielern auf der Bühne und die Einbildungskraft der Zuschauer. Sowohl Theater als auch Schmerz basieren auf etwas zutiefst Realem – dem lebendigen Körper, den man sehen und hören kann – und sind doch Erzeugnisse des Geistes. Mit der Darstellung von Schmerz haben die griechischen Tragiker eine Möglichkeit gefunden, die ihr zur Verfügung stehenden Darstellungsmittel zur Evozierung mentaler Zustände auf den Körper des Schauspielers zu projizieren und damit eine affektstimulierende visuelle Erweiterung ihres zentralen tragischen Themas zu erreichen, der Gestaltung geistig-seelischen Leidens.
4. Bedeutung und Spektakel Bislang habe ich Darstellungsformen des Schmerzes auf der Bühne untersucht; im letzten Teil meines Beitrags möchte ich das Blickfeld erweitern und diskutieren, was die Tragödie mit diesen Darstellungen anstellt und was wir über die ästhetische Wahrnehmung oder emotionale Erfahrung des Zuschauers sagen können. Wie passen Schmerz-Szenen in die Stücke als ganze? Die wahrscheinlich naheliegendste Reaktion auf diese Frage (und zumindest die Reaktion, die als typisch für den klassischen Philologen gelten kann) ist der Versuch, über die Bedeutung der Schmerz-Szenen nachzudenken. Nosos, so hat es Geoffrey Lloyd kürzlich hervorgehoben, war für die
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Griechen bon à penser.32 Sie haben nosos benutzt, um zu erkunden, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Schmerz-Szenen, mit ihrem Interesse an der Welt des Psychisch-Geistigen wie des Körperlichen, illustrieren dies besonders gut. Wie die Schmerzpatienten, die in heutigen Studien befragt werden, quälen sich tragische Figuren unaufhörlich damit, ihrem Leiden einen Sinn oder eine Bedeutung abzugewinnen. Zuschauer werden – in einem gewissen Abstand – mit denselben Problemen konfrontiert. Außerdem gibt ihnen die Distanz zum Geschehen zusätzliche Möglichkeiten der Interpretation, die den dramatis personae nicht zur Verfügung stehen. Drei thematische Aspekte erweisen sich als besonders ergiebig für die Interpretation. Kausalität und Gerechtigkeit. Medizin und Tragödie beschäftigen sich beide mit den Ursachen von Leid,33 und Schmerz-Szenen bieten sich dazu an, solchen Ursachen auf verschiedenen Ebenen nachzugehen. Der unmittelbare Grund für Schmerz in der Tragödie ist sicherlich oft ungewöhnlicher und zugleich offensichtlicher als der für manche Schmerzen im wirklichen Leben, damals wie heute: der Biß einer heiligen Schlange, ein vergiftetes Gewand, ein übernatürlich verursachter Wagenunfall. Doch führen diese Gründe bezeichnenderweise zu weiteren Gründen und werfen komplexe Fragen der Gerechtigkeit auf. Warum hat die Schlange Philoktet gebissen? Welche Rolle spielen die Götter? Weshalb wurde Philoktet ausgesetzt? Warum wurde er nicht geheilt? Manchmal werden derartige Fragen sogar explizit innerhalb der Schmerz-Szenen gestellt. Hippolytos beginnt mit seines „ungerechten Vaters ungerechten Äußerungen“ (1348–9) und fährt in dieser Art fort. Herakles ruft Zeus (994–5) und die tote Deianeira an (1064–9; 1108–9), ehe er von Nessos’ Anteil an seinem Schicksal hört (1142–3); Hekabe und der Chor erinnern uns an Polymestors Verbrechen (1052–3; 1086), und die Schmerz-Szene leitet über zu seinem Agon mit Hekabe; Prometheus und Io sprechen wiederholt davon, daß die Götter für ihre Leiden verantwortlich sind. Philoktet ist in seiner Schmerz-Szene weniger explizit. In dem oben abgedruckten Ausschnitt adressiert er in seiner Verzweiflung seinen Fuß („Mein Fuß: was schaffst du mir für Leiden!“) und lechzt nach Rache an Odysseus, Agamemnon und Menelaos, ohne nach weiteren Gründen zu suchen. Doch in allen diesen Fällen ruft 32 Geoffrey E. R. Lloyd: In the grip of disease. Studies in the Greek imagination, Oxford 2003, mit einer Liste der Themen in Kap. 1. 33 Jennifer Clarke Kosak: Heroic measures. Hippocratic medicine in the making of Euripidean tragedy, Leiden 2004, thematisiert in ihrer Einleitung grundsätzliche Aspekte der Beziehung zwischen Tragödie und hippokratischer Medizin.
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die Schmerz-Szene die Erinnerung an alle anderen Passagen des Stücks wach, die zur Beantwortung der Frage nach Ursachen und Gerechtigkeit der Leidens beitragen können. Der leidende Körper wird auf der Bühne zu einem sichtbaren Fokus der tragischen Frage nach Kausalität und Gerechtigkeit. Selbst und Norm. Intensive Schmerzen und die schweren Verletzungen, die sie verursachen, bedeuten eine gewaltige Belastung, die den Betroffenen zwangsläufig prägen. Sie können die Handlungsfreiheit einschränken und Selbstbild, Charakter und Befindlichkeit eines Menschen drastisch verändern. Sozialwissenschaftliche Studien zum Thema Schmerz sind voller Beispiele von Menschen, die davon berichten, daß sie nicht mehr sie selbst sind. Verletzung und Schmerz greifen die ganze Person auf vielfältige Weise an. Mit ihrem Interesse an Charakter und Selbst der Figuren macht sich die Tragödie diesen Aspekt des Schmerzes (wie auch des Wahnsinns) zunutze. Die am häufigsten diskutierte Variante ist Herakles’ Verzweiflung, als er, der stärkste aller Männer, sich auf den Status einer Frau reduziert und zudem von einer Frau besiegt fühlt (Trach. 1062–75). Nicole Loraux und Froma Zeitlin haben diese und andere Passagen im Kontext ihrer Untersuchungen zu Gender-Konzeptionen in der griechischen Tragödie und der griechischen Kultur insgesamt analysiert.34 Ähnlich wie Herakles beklagt Polymestor, daß Frauen ihn zerstört haben (1095; 1252–3), und Hippolytos spiegelt, nachdem er Phädra so lange Widerstand geleistet hat, am Ende ihre Leiden in mehrfacher Hinsicht wider (vgl. z. B. 198–202 mit 1351–3). Die Bedrohung des männlichen Selbstwertgefühls ist jedoch lediglich eine von mehreren Spielarten der Krise des Selbst, in der sich schmerzleidende Figuren in der Tragödie wiederfinden. Ein weiterer, gleichermaßen prononcierter Aspekt betrifft die Grenze zwischen Menschlichem und Animalischem bzw. Zivilisiertem und Unzivilisiertem. Polymestor vergleicht sich, als er auf allen Vieren hereingekrochen kommt, selbst mit einem Tier, (1056–7); Philoktet und Herakles sind, auch wenn sie beide in gewisser Weise Zivilisationsträger sind, andererseits weit von der Zivilisation entfernt.35 Ihr Verhalten ist in vielerlei Hinsicht „wild“, was dadurch verdeutlicht wird, daß Wortbildungen vom Stamm agr- für Philoktet gebraucht werden (Phil. 226 und 1321) und von Herakles als çmÒfrwn gesprochen wird (Trach. 975). Der Schmerz eröffnet eine zusätzliche Di34 Siehe oben Anm. 11. 35 Charles Segal: Tragedy and civilization. An interpretation of Sophocles, Cambridge (MA) 1981, Kap. 4 und 9.
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mension. Philoktets und Herakles’ nosos selbst ist „wild“ (Phil. 173 und 265–6; Trach. 1030), ebenso Herakles’ Schmerz (Trach. 975); Philoktets Fuß wird als œnqhroj bezeichnet (Phil. 697); Herakles wie Philoktet werden von Schmerzen „aufgefressen“ (Phil. 745 und Trach. 987)36. Verursachen Schmerz und Krankheit die schroffe Härte der beiden? Eine derartige Interpretation bietet sich an. In Vers 1120–1 sagt Herakles sogar, daß er in seinem Zustand keine ‚Feinheiten‘ mehr verstehe. Doch ist auch eine andere Deutung möglich: Vielleicht verstärken Schmerz und Krankheit nur die ohnehin in den Charakteren der beiden Helden angelegte Wesensart? Übermännlichkeit kann, wie Nicole Loraux dargelegt hat, mit Weiblichkeit kokettieren,37 und Herakles ist bereits „wild“, bevor er das Nessos-Gewand anlegt. Wie der Wahnsinn wirft der Schmerz in der Tragödie Fragen darüber auf, was als normal zu gelten hat. Isolation und Interaktion. Der Untertitel von Elaine Scarrys Buch „The Body in Pain“ lautet: „The making and unmaking of the world“. Scarry untersucht, wie intensiver Schmerz, besonders bei Folterung, nachhaltig das Empfinden der Leidenden für die Welt um sie herum zerstören kann, da er das Bewußtsein so sehr ausfüllt, daß fast jedes weitere Denken und jede weitere Wahrnehmung unmöglich wird. Weniger dramatisch, aber nicht minder grausam ist die Tatsache, daß chronische Schmerzen isolieren. Sie sorgen dafür, daß die Schmerzleidenden sich in sich zurückziehen und das Gefühl haben, daß niemand ihren Schmerz verstehen kann oder sogar daß ihren Schmerz-Beschreibungen kein Glauben geschenkt wird.38 Tragische Schmerz-Szenen dramatisieren die Isolation der Figur in unterschiedlichem Ausmaß. Im Philoktet ist die zehnjährige Einsamkeit des Titelhelden und seine quälende Angst, daß Ekel, Furcht oder religiöse und soziale Regeln dazu führen werden, daß er einsam enden muß, ein zentrales Thema; und auch wenn Hippolytos seine Gefährten bis zum Ende erhalten bleiben, wird doch das Thema der Isolation des Leidenden bzw. seiner Interaktion mit anderen in allen Schmerz-Szenen dramatisiert. Auf der Ebene des unmittelbar Sichtbaren gibt es viele Momente, in denen das Berühren bzw. Nicht-Berühren von Personen inszeniert wird. Philoktet, Herakles und Hippolytos verwahren sich in ihrem Schmerz gegen Berührungen, lassen 36 Guardasole (2000) [Anm. 12], S. 185–87 weist auf die Verbindungen mit dem hippokratischen Wortgebrauch hin und führt die Verwendung von ¥grioj in medizinischen Zusammenhängen in epist. 2, epid. 7.20, morb. mul. 1.8 und aër. 4.3 an. 37 Loraux (1989) [Anm. 4], Kap. 7. 38 Kleinman (1988) [Anm. 17], S. 64; Morris (1991) [Anm. 14], S. 72 u. 191; Jackson (2003) [Anm. 14], S. 59.
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sich aber auch bereitwillig berühren oder bitten darum, nur sanft berührt zu werden.39 Der Wagenlenker des Rhesos muß mit Gewalt gepackt werden, damit er zur Behandlung nach drinnen gebracht werden kann (877–8). Darüber hinaus werden die Reaktionen der Umstehenden auf das Leiden, d. h. auf den Schmerz wie die Krankheit generell, in beachtlicher Ausführlichkeit behandelt. Oftmals handelt es sich um Mitleid, manchmal sogar um Schmerz (Hyllos in Trach. 1068, Neoptolemos in Phil. 806), manchmal um Triumph (Hekabe in Hec.1044–55). Manchmal tragen diese Reaktionen noch zusätzlich zur Isolation des Opfers bei, manchmal verringern sie sie, doch immer machen sie auf sie aufmerksam. Wie zu Beginn bemerkt, wurden Schmerz-Szenen oft symbolisch gelesen. Der Körper des Schauspielers wird so zum sichtbaren Symbol für die Isolation einer Figur, für ihren Charakter, ihre Beziehung zu den Göttern, ihre Hilflosigkeit, ihre Bestrafung, ihre Anormalität oder ihre Körpererfahrung. Solche Symbole, so möchte ich im Zusammenhang meines Themas hinzufügen, basieren nicht zuletzt auf der geistig-psychischen Dimension des Schmerzes. Die Reaktion einer Figur auf ihr eigenes Leid oder das Leid eines anderen ist genauso bedeutsam wie die physische Realität der Verwundung an sich. Philoktets Wunde ist nicht nur symbolisch für seine Einsamkeit, sondern kann auch als zu ihr beitragend verstanden werden; Herakles’ Leiden ist nicht nur symbolisch für seine blinde Wut und Unerbittlichkeit, sondern kann gleichermaßen als eine der Ursachen dafür interpretiert werden. Die Komplexität des Phänomens Schmerz, in körperlicher wie in geistig-seelischer Hinsicht, kann SchmerzSzenen zum Brennpunkt der Interpretation auf verschiedenen Ebenen machen. Aber ist Interpretation die einzig mögliche Reaktion? Natürlich lädt die Tatsache, daß Schmerz-Szenen thematisch in den Stücken als Ganzes integriert sind, zu Überlegungen über die Bedeutung des Schmerzes ein. Dazu kommt das Wissen der Zuschauer darüber, daß es sich um Repräsentation und nicht wirklichen Schmerz handelt: sie können über die sich vor ihnen abspielende Handlung nachdenken, ohne etwas tun zu müssen. Im Gegensatz zu Schmerzleidenden im Krankenhaus geben uns Herakles, Io und Philoktet keinen Anlaß zu Frustrationen oder Verzweiflung darüber, daß wir ihre Schmerzen nicht lindern können: Zuschauer sind nur Zuschauer. Der nahezu unbegrenzte Spielraum für Interpretationen ist ein zentraler
39 Kosak (1999) [Anm. 12] widmet sich der Untersuchung sozio-kultureller Konnotationen des „therapeutic touch“.
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Aspekt des Theaters, und klassische Philologen haben jeden Grund, sich auf sie zu konzentrieren. Andererseits kann Schmerz jedoch unmöglich auf Interpretationsfragen reduziert werden. Der Theaterwissenschaftler David Graver argumentiert, daß Schmerz (und übrigens auch Gewalt) auf der Bühne zwei verschiedene Gesichter hat.40 Einerseits, so Graver, integrieren Stücke Schmerz in ein größeres Ganzes und subsumieren ihn somit unter eine „master narrative“. Anders ausgedrückt: Der Schmerz gewinnt seine Bedeutung im Zusammenhang des Stücks. Doch gleichzeitig kann Schmerz „eine materielle Theatralität aufzeigen, die sich grundlegend von vielen Aspekten sowohl des konventionellen Theaters als auch der Performance Art unterscheidet und diesen zum Teil feindlich gegenübersteht“: „das welkende Fleisch des Opfers macht seine eigenen Argumente.“ Gravers Hauptbeispiel ist ein Künstler, der sich selbst realen Schmerz zufügt; doch läßt sich sein Argument m. E., jedenfalls zum Teil, auch auf die Schmerz-Szenen der griechischen Tragödie anwenden. Sie können gelegentlich und auf kurze Zeit die Erzählung anhalten und alle Aufmerksamkeit auf den Moment lenken, wobei sie sich vom restlichen Stück ablösen und den Schmerz aus seinem Interpretationsrahmen herausnehmen. Schreie an sich haben nicht viel Bedeutung, und manchmal macht der Schmerz alle Anstrengungen des Zuschauers zunichte, über seine Bedeutung nachzudenken, ihm Sinn abzugewinnen oder ihn zu kontrollieren. Auch Schmerz zu betrachten ist nicht einfach ein Akt der Interpretation. Kriegsphotographie, Blut in Filmen, Bühnenshows, die um die virtuose Simulation physischer Brutalitäten kreisen,41 die Arenen im alten Rom,42 vielleicht sogar der gekreuzigte Jesus oder der Heilige Sebastian: alle legen nahe, daß das Betrachten von Schmerzen – realen wie dargestellten Schmerzen – eine elementare instinktive Anziehungskraft auf uns ausübt. Schmerz kann auch unabhän40 David Graver: Violent theatricality. Displayed enactments of aggression and pain. In: Theatre Journal 47 (1995), S. 43–64, hier: S. 44. 41 Das Musterbeispiel hierfür ist die Ermordung von Bösewichten mit Augenausquetschen und dem Kochen der Leichen in Schwefelsäure, wie es in der ersten Hälfte des 20. Jh. im Théâtre du Grand-Guinol in Paris zu sehen war; siehe John M. Callahan: The ultimate in theatre violence. In: Themes in Drama 13 (1991), S. 165–75. 42 Möglicherweise erfreute sich die Darstellung von Herakles-Qualen großer Beliebtheit unter den Mythen, die bei Exekutionen im alten Rom aufgeführt wurden, siehe Tert. apol. 15.4–5 mit K. M. Coleman: Fatal charades. Roman executions staged as mythological enactments. In: Journal of Roman Studies 80 (1990), S. 44–73, hier: S. 60.
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gig von einem Plot effektvoll sein und ganz um seiner selbst willen zum Objekt der Faszination werden. Damit betreten wir einen Bereich, in dem es sehr schwierig wird, präzise zu sein.43 Was ist die genaue Natur dieser Faszination? Mitleid? Erotik? Abscheu? Sadismus? Masochismus? Und wie wollen wir sie erklären? Die körperliche Unmittelbarkeit von Schmerz und die Attraktion, die er auf die Einbildungskraft ausübt, sind sicher wichtig, bieten jedoch keine vollständige Erklärung. Viel hängt zudem von den einzelnen Zuschauern und ihren kulturellen Kontexten und Erfahrungen ab. Es macht sicher einen Unterschied, ob man es gewohnt ist, wie im klassischen Athen, Schmerz bei halböffentlichen Operationen mitzuerleben, den omnipräsenten Verwundungen auf dem Schlachtfeld ausgesetzt zu sein und die Folter von Sklaven oder das Leiden der Menschen im Tempel des Asklepios anzusehen, oder ob man, wie heute, den Schmerz auf Krebs-Stationen, im Kino, im Fernsehen oder in Zeitungen zu Gesicht bekommt. Zudem unterscheiden sich Regisseure und Schauspieler enorm darin, wie weit sie gehen. Einige Inszenierungen deuten den Schmerz nur an, während andere alle Register ziehen und geradezu im sichtbaren Schmerz ‚baden‘. Alles in allem können wir wahrscheinlich nur konstatieren, daß die Darstellung von Schmerz in der Tragödie immer – manchmal mehr und manchmal weniger – ihre unmittelbare Faszination ausüben wird. Das Ausmaß dieser Faszination ist unbestimmbar, aber in einem gewissen Maße werden die wiederholten Attacken intensiv empfundener Schmerzen sich der Interpretation entziehen und die Zuschauer mit der direkten Zurschaustellung von Schmerz völlig gefangen nehmen. So vage eine solche Schlußfolgerung auch bleiben muß, so scheint sie mir doch wichtig. Jedes Theater provoziert Reaktionen sowohl auf den Plot als Ganzen als auch auf das unmittelbare szenische Geschehen. Für kurze Phasen droht der Schmerz diese Balance aufzuheben, indem er den Akzent auf das szenische Geschehen verschiebt. Philoktets Anfälle verdrängen alles andere und bringen vorübergehend alle Interpretationsfragen zum 43 Hier eine subjektive Auswahl anregender Diskussionen zum Thema: Steve Neale: Masculinity as spectacle. Reflections on men and mainstream cinema. In: Screen 24 (1983), S. 2–16, Barrie Gunter und Jackie Harrison: Violence on television. An analysis of amount, nature, location and origin of violence in British programmes, London 1998, S. 12–16; Nigel Spivey: Enduring creation. Art, pain and fortitude, London 2001; Susan Sontag: Regarding the pain of others, London 2004. Hawley (1998) [Anm. 11], dem ich auch den Verweis auf Neales Aufsatz entnommen habe, untersucht einige dieser Themen für die griechische Tragödie auf sehr interessante Art und Weise.
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Schweigen. Schmerz-Szenen versuchen das emotive Potential des leidenden Körpers voll auszuschöpfen, ohne das Interesse der Zuschauer am Stück als Stück zu verlieren. Das ist kein leichtes Unterfangen, doch eines, das die griechische Tragödie in vielen ihrer intensivsten Momente zu verwirklichen sucht, wenn die Zuschauer nichts tun können als zuzusehen und jede Interpretation fehl am Platz erscheint.44
44 Ähnliche Überlegungen finden sich bei Morris (1991) [Anm. 14], Kap.11.
Simon Goldhill (Cambridge)
Der Ort der Gewalt: Was sehen wir auf der Bühne? (Übersetzung aus dem Englischen: Antje Wessels, Bernd Seidensticker) Könnten wir uns eine Aufführung von Shakespeares King Lear aus dem 19. Jahrhundert ansehen, so wäre das, vermute ich, eine sehr merkwürdige Erfahrung. Schon die Spielweise der Schauspieler, das Publikum, ja selbst die Aussprache würden uns als fremd erscheinen, aber vor allem wären wir wohl ziemlich überrascht über die Handlung des Stücks. Die Bearbeitungen des King Lear setzen mit Nahum Tate im siebzehnten Jahrhundert ein: Tates Version war die Basis für alle Inszenierungen des Stücks, die zwischen 1681 und 1838 in England produziert wurden.1 Er strich Rollen – etwa den Narren –, fügte andere hinzu und verwandelte die Tragödie in ein Erlösungsdrama mit romantischen Zügen und glücklichem Ausgang. Auch die großen Schauspieler – David Garrick im 18. und Philip Kemble im 19. Jahrhundert – machten bedeutsame Zusätze und Änderungen, die, wenn sie auch einige der gestrichenen Reden des Originals wiederaufnahmen, doch zeigen, warum Schauspieler Schauspieler sind und keine Dichter.2 In der Blütezeit der Viktorianischen Epoche bekam das Publikum in der Regel ein Stück zu sehen, an dessen Ende die glückliche Hochzeit von Cordelia und Edgar stand. Die drei alten Männer, Kent, Gloucester und Lear selbst, bleiben alle am Leben und ziehen sich schließlich zur Meditation in ei ne „kühle Zelle“ zurück.3 1 Nahum Tate: The History of King Lear, hrsg. von James Black, Lincoln/Nebraska 1975. Zu Tates Bearbeitung vgl. Nancy Klein Maguire: Nahum Tate’s King Lear: „the king’s blest restoration“. In: The Appropriation of Shakespeare. Post-Renaissance Reconstruction of the Works and the Myth, hrsg. von Jean Marsden, New York/ London 1991, S. 29–42, und Michael Dobson: The Making of the National Poet. Shakespeare, Adaptation and Authorship 1660–1769, Oxford 1992, S. 80–85. 2 Leigh Woods: Garrick’s King Lear and the English Malady. In: Theatre Survey 27 (1986), S. 17–35; und, in breiterem Kontext, Ian Macintyre: Garrick, Harmondsworth 1999. 3 „Thou, Kent and I, retired to some cool cell/will gently pass our short reserves of time,/in calm reflection of our fortunes past“. Vgl. J. S. Bratton: King Lear. Plays in Performance, Bristol 1987, S. 14–53 (zu dieser Geschichte), and appendix 1 (mit Tates Zusätzen).
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Natürlich ging es auf der Bühne auch gewalttätig zu: So wird die beschauliche Szene, in der King Lear, seinen Kopf in Cordelias Schoß gebettet, schlafend daliegt, durch die Ankunft von Soldaten jäh unterbrochen. Zwei von ihnen werden von Lear getötet, bevor schließlich Edgar und Albany auftreten und die Bedrohten retten. In Tates Version werden Cordelia und ihre Gefährtin Arante – eine von Tate in das Stück eingeführte Figur – von Raufbolden angegriffen und von Edgar gerettet. Aber die Blendung Gloucesters, die vielleicht berühmteste Gewaltszene innerhalb des Shakespeare’schen Œuvres, wurde von Kemble, Mcready, Kean und Irving einfach gestrichen. (Tate hatte die Szene zwar beibehalten, den Gewaltakt aber statt von einem Adligen von Dienern ausführen lassen.) Während der gesamten Viktorianischen Epoche wurde die Szene entweder völlig gestrichen (so daß Gloucester überleben und zusammen mit Lear und Kent ein Leben im Kloster führen konnte) oder aber – was allerdings seltener vorkam – hinter die Bühne („off-stage“) verlegt, so daß der blinde Gloucester den Weg in sein neues Leben der Meditation in Anstand gehen konnte. Im Namen des „Naturrechts“ und der „Schicklichkeit“ wurde Shakespeares Zurschaustellung sadistischer physischer Gewalt stillschweigend unter den Teppich gekehrt. Umgekehrt wäre das Publikum der Viktorianischen Zeit, würde man es in eine moderne Inszenierung des King Lear schicken, gewiß irritiert, ja zutiefst geschockt. Die ihnen unvertraute Handlung würde bei den Zuschauern den Eindruck erwecken, alle bedeutsamen Werte wie Autorität, Pflicht und Liebe, zu zerstören. Das Ende, mit dem Tod von Gloucester, Cordelia und Lear, würde ihnen unendlich trostlos erscheinen, ohne den kleinsten Hinweis auf die von Kritikern wie A. C. Bradley versprochene Erlösung.4 Und daß physische Brutalität und Erniedrigung so aggressiv in den Mittelpunkt gestellt werden, würde diesen Eindruck noch verstärken. Wenn die Viktorianischen Zuschauer Peter Brooks berühmte und äußerst einflußreiche Inszenierung aus dem Jahre 1962 besucht hätten, hätten sie zu sehen bekommen, wie Cornwall auf offener Bühne Gloucesters Augen mit einem seiner Sporen aussticht. Gewalt wird dadurch wie auch durch den brutalen Mord der Diener, das rüpelhafte Auftreten von Lears Gefolge und die Demütigung erst von Kent und dann von Oswald, zum Schlüsselthema der Handlung und zur Grundlage des Stücks. Auch Edward Bonds Lear aus 4 A. C. Bradley: Shakespearean Tragedy, London 1904; für eine Interpretation des Stücks, die am Schluß keine Erlösung erkennt, vgl. J. Dollimore Radical Tragedy: Religion, Ideology and Power in the Drama of Shakespeare and his Contemporaries, Brighton 1984.
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dem Jahre 1972 hat diesen Aspekt voll ausgereizt: In seiner Bearbeitung des Stücks wird Cordelia vergewaltigt und dazu gezwungen, dabei zuzusehen, wie ihr Gatte hingeschlachtet wird; am Ende jedoch richtet sie selbst ein Regime ein, das an Brutalität dem ihrer Feinde in nichts nachsteht. Für Bond ist Gewalt ein integraler Bestandteil moderner Machtausübung, und sein Stück legt – mit politisch motiviertem Zorn und Abscheu – die dunklen Grausamkeiten moderner Macht in einer Weise offen, die viele Zuschauer der ersten Aufführungen brüskierte und die zugleich die Repräsentation von Gewalt auf der modernen Bühne auf ein neues Niveau hob.5 Der Unterschied zwischen 1872 und 1972 ist evident, aber es ist nicht einfach, ihn auf den Punkt zu bringen, und schon gar nicht läßt er sich mit Begriffen wie „Geschmack“ oder „Mode“ angemessen fassen. Es gibt einige ‚große Erzählungen‘, die den notwendigen Rahmen für derartige kulturelle Wandlungsprozesse liefern. There is […] no notion of violence without a notion of the norms and institutions of power in society, without, indeed, a discourse of the body and its treatment in society. […] there is no representation of […] violence […] that does not demonstrate these norms and institutions.6
Es ist unvermeidlich, daß sich die Vorstellungen über den Körper und die Erscheinungsformen der Macht über Zeit- und Kulturräume hinweg ändern, und wir können keine Überlegungen darüber anstellen, warum der Gewalt in King Lear innerhalb eines Zeitraums von hundert Jahren mit so unterschiedlichen Haltungen begegnet worden ist, ohne diese größeren Fragen anzusprechen. So haben viele Kritiker und Autoren erklärt, daß sich die beiden Weltkriege und die damit verbundenen Greueltaten nachhaltig sowohl auf die Produktion neuer Stücke als auch auf die Inszenierung des klassischen Dramas von den Griechen bis zu Shakespeare ausgewirkt hätten; und in mancher Hinsicht dürfte dies auch wahr sein. Aber wenn wir die Sache nuancierter betrachten wollen, so sollten wir zumindest zur Kenntnis nehmen, daß Blut und Gewalt in der klassischen Literatur schon 5 Edward Bond: Lear. With commentary and notes by Patricia Hearn, London 1983. Im Vorwort des Stücks schreibt Bond: „I write about violence as naturally as Jane Austen wrote about manners. Violence shapes and obsesses our society, and if we do not stop being violent, we have no future […]. It would be immoral not to write about violence“. Bond hat diese Ansicht in Briefen breit ausgeführt; vgl. Edward Bond: Letters 1, hrsg. von Ian Stuart, London 1994, S. 31–37. Er schreibt auch (Edward Bond: Letters II, hrsg. von Ian Stuart, London 1995, S. 31): „I have a strong dependence on Classical Greek Drama“. 6 Simon Goldhill: Violence in Greek Tragedy. In: Violence in Drama, hrsg. von James Redmond, Cambridge 1991.
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lange vor 1914 wiederentdeckt worden sind, und zwar zum einen durch die hitzige Debatte, die von den im 19. Jahrhundert entstehenden Disziplinen der Anthropologie und Psychoanalyse über den klassischen Mythos geführt wurde, zum anderen durch Theaterereignisse wie etwa Hofmannsthals Elektra, auf die ich später zurückkommen werde. Vielleicht noch bedeutsamer sind die industrielle Revolution, die eine Welt hervorbrachte, in der ein unvorstellbares Ausmaß an Schmutz, Armut und Grausamkeit herrschte, oder auch der Krimkrieg, der Körper verstümmelte und Soldaten seelisch zerstörte. Diese Greuel wurden in Tageszeitungen und Zeitschriften sowie in der wissenschaftlichen Literatur der Zeit publik gemacht, sowohl in Form sensationslüsterner Skandalberichte, wie etwa im Fall von Jack the Ripper als auch auf der Ebene von international geführten Debatten über Themen wie Mißbildungen und Geschlechtskrankheiten.7 Und doch zeigt das heftige Presse-Echo z. B. auf Ibsens Gespenster, wie schwierig es war, solchen bedeutenden und vieldiskutierten Themen auf der Bühne Ausdruck zu verleihen. Lassen Sie mich diese Schwierigkeit als Frage formulieren: Wie konnte Ibsens Drama nach Mayhews beißend-kritischer Darstellung der Londoner Armut oder Actons Enthüllungen über das britische Gesundheitswesen überhaupt eine solche Aufregung in England verursachen?8 Meine Erklärung wäre, daß der Grund für das Aufsehen, das 7 Grundlegend für diese in ganz Europa geführten Debatten waren: Max Nordau: Entartung, Berlin 1893; Otto Weininger: Geschlecht und Charakter, Wien/Leipzig 1903; Richard von Krafft-Ebing: Psychopathia Sexualis, Stuttgart 1886, Philadelphia/London 1892; ferner natürlich Freud (und viele andere). Die Literatur zu diesem Thema ist umfangreich; gute Einführungen bieten: Karl Schorske: Fin-de Siècle Vienna. Politics and Culture, New York 1980; Roy Porter und Leslie Hall: The Facts of Life. The Creation of Sexual Knowledge in Britain, 1650–1950, London 1995, pp. S. 123–270; J. Walkowitz: City of Dreadful Delights. Narratives of Sexual Danger in Late-Victorian London, Chicago 1992 – alle mit ausführlichen Bibliographien. 8 Vgl. Michael Meyer: Ibsen, Harmondsworth 1974, S. 497–516; Henry Mayhew: London Labour and the London Poor, 4 Vols, London 1861, und zu Mayhew vgl. Anne Humphreys: Travels Into The Poor Man’s Country, Athens/Georgia 1977; William Acton: Prostitution Considered in Its Moral, Social, and Sanitary Aspects in London and Other Large Cities, with Proposals for the Mitigation and Prevention of its Attendant Evils, London 1857. Acton ist in der jüngsten Zeit im Anschluß an Steven Marcus: The Other Victorians. A Study of Sexuality and Pornography in Mid-Nineteenth-Century England, New York 1964 oft behandelt worden; dabei ist Marcus vielfach kritisiert worden; vgl. f. B. Smith: The People’s Health 1830–1910, London 1979; Jeanne Peterson: Family, Love and Work in the Lives of Victorian Gentlewomen, Bloomington 1989; Lynda Need: Myths of Sexuality. Representation of Women in Victorian Britain, Oxford 1988, S. 147 ff.
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das Stück erregte, weniger in seinen Themen als in der Tatsache liegt, daß das Stück für eine Aufführung im Theater gedacht war. Als Institution zeigt das Theater, jedenfalls das der modernen westlichen Welt, spezifische Probleme bei der Regulierung von Gewaltdarstellungen. Das hängt zum Teil damit zusammen, daß das Theater ein öffentliches Medium ist, bei dem das Publikum sich selbst als Betrachter beobachtet und sich in einem hohen Maße seines Status’ als Öffentlichkeit bewußt ist – als eines Kollektivs also, bei dem jede Reaktion an den Werten dieses Kollektivs gemessen werden muß. Ein Mann, der Mayhews Untersuchung liest, sich die Prostituierten auf der Straße anschaut und ihre Dienste in Anspruch nimmt, kann trotz alledem ein Stück für inakzeptabel skandalös halten, in dem suggeriert wird, daß eine Dame eine gesellschaftlich inakzeptable sexuelle Vergangenheit hatte, und er würde sicherlich zögern, sich ein Stück anzuschauen, in dessen Zentrum eine Prostituierte steht, auch wenn er sich gerne Degas’ Bilder von Prostituierten ansieht.9 Der doppelte Standard, der sich in einer solchen Haltung zeigt, ist brilliant und offen in Bernard Shaws Reaktion auf die Reaktion der Kritik an sein Stück Mrs Warren’s Profession attackiert worden, das einige Jahre nicht aufgeführt werden konnte und dann, als es aufgeführt wurde, einen erheblichen Skandal auslöste.10 Ein Mann kann schließlich in Begleitung seiner Frau im Theater sein. Das heißt: Ebenso wie es eine 9 Zur Prostitution vgl. A. Corbin: Women for Hire. Prostitution and Sexuality in France after 1850, übers. von A. Sheridan, Cambridge/Mass. 1990; J. Walkowitz: Prostitution and Victorian Society Women, Class and the State, Cambridge 1980; und, in breiterem Kontext, J. Walkowitz: City of Dreadful Delights. Narratives of Sexual Danger in Late-Victorian London, Chicago 1992; zu Degas’ Prostituierten und der Reaktion darauf vgl.: Dealing with Degas. Representations of Women and the Politics of Vision, hrsg von. R. Kendall und G. Pollock, London 2002; Eunice Lipton: Looking Into Degas. Uneasy Images of Women and Modern Life, Berkeley 1986. 10 Vgl. Bernard Shaw: The Author’s Apology zu Mrs Warren’s Profession, mit einer Einleitung von John Corbin, New York 1905 [die Verteidigung wurde zum ersten Mal 1902 in London gedruckt]. Shaw war begeistert darüber, daß er wie Ibsen in aller Munde war und stellt ausdrücklich fest, daß der Schock des Theaterpublikums sich von der Reaktion anderer Zuschauer unterscheide. „Play Mrs. Warren’s Profession to an audience of clerical members of the Christian Social Union and of women well-experienced in Rescue, Temperance and Girls’ Club work, and no moral panic will arise“ (S. 22) – und solch ein Publikum, fügt er hinzu, „would be jollier and better looking“ als das normale Londoner Theaterpublikum. Er beobachtet ferner, wie Männer so tun, als seien sie über die Anwesenheit von Frauen im Publikum beunruhigt (S. 51), obwohl das Stück für Frauen geschrieben sei und von den meisten Frauen unterstützt werde.
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Dynamik des Klassenbewußtseins gibt, gibt es eine „Politik der Geschlechter“, die auf die Konstruktion des Viktorianischen Publikums erheblichen Einfluß hatte. Der öffentliche Anstand hat seine eigenen Regeln. Infolgedessen verändert das öffentliche, kollektive Theaterpublikum die Bedingungen der Darstellung. Zum Teil ist das Theater jedoch auch deshalb ein besonderer Fall, weil es mit realen Körpern und Schauspielern arbeitet. Das physische Leiden der städtischen Unterklassen oder der Soldaten im Feldlazarett läßt sich vielleicht in rhetorisch greller Prosa wiedergeben; es auf die Bühne zu bringen, würde jedoch die Grenzen des Anstands überschreiten. (Homer beschreibt alle möglichen Formen physischer Gewalt; sie auf der Bühne darzustellen, ist jedoch etwas völlig anderes). Die Präsenz der realen Körper, wie sie mit dem Theater notwendig verbunden ist, hat natürlich Auswirkungen auf die Bedingungen, unter denen es dem Theater möglich ist, Gewalt darzustellen. 1893 – im selben Jahr, in dem Shaw Mrs Warren’s Profession schrieb – verbot das Lord Chancellor’s Office Wildes Salome, obwohl es sich um eine biblische Geschichte handelt, und 1910 versuchte es sogar, die Inszenierung von Sophokles’ König Ödipus zu verbieten, obwohl der Text über Generationen hinweg zur Lektüre eines jeden Schuljungen gehörte (wie die Zeitungen seinerzeit amüsiert oder verärgert betonten).11 Die genannten Beispiele legen die Überlegung nahe, daß das Theater besondere Bedingungen bietet – und fordert. Es geht mir im folgenden also weniger um eine Definition von Gewalt oder um die Grenzverschiebungen zwischen den Begriffen kratos und bia in der griechischen Tragödie, als vielmehr um die Frage, wie physische Gewalt auf der tragischen Bühne sichtbar gemacht werden kann – oder nicht kann. Können wir Gewalt sehen? Und mit welchen Augen? Was kann das Theater bieten, was anderen Gattungen versagt bleibt? Es ist häufig bemerkt worden, daß Gewalt und Mord anders als bei Shakespeare oder im übrigen Renaissance-Drama „in the extant (Greek) tragedies violence and murder normally occur ,offstage‘: there are no exciting duels, no bloodthirsty spectacles.“12 Die griechische Tragödie spricht von Gewalt, treibt ihre Figuren durch Worte zur Gewalt und legt auf schmerzhafte Art und Weise die Bedeutung von Gewalt, ihre Motive und Rechtfertigungen offen, aber im allgemeinen widerstrebt der antiken tragi11 Vgl. Fiona Macintosh: Under the Blue Pencil. Greek Tragedy and the British Censor. In: Dialogos 2 (1995), S. 54–70; Edith Hall und Fiona Macintosh: Greek Tragedy and the British Theatre 1660–1914, Oxford 2005, S. 528–54. 12 H. C. Baldry: The Greek Tragic Theatre, London 1971, S. 50.
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schen Bühne die direkte Darstellung physischer Gewalt. Mit Ausnahme von Sophokles’ Aias, wo sich der Protagonist auf offener Bühne das Leben nimmt, dem Angriff auf die Danaiden in Aischylos’ Hiketiden – wo allerdings der Text so korrupt ist, daß sehr schwer zu sagen ist, was dort eigentlich genau geschieht – und vielleicht der Szene, in der Prometheus von Kratos und Bia (einer in passender Weise stummen Figur) an den Felsen genagelt wird, ist selbst die Berührung von Körpern stark eingeschränkt. Was wir allerdings wiederholt zu sehen bekommen, sind die Folgen der Gewalt: Leichen, geblendete Augen, zerschmetterte Körper. In vielen dieser Fälle liegt der Nachdruck jedoch nicht etwa nur auf den Konsequenzen der Brutalität, sondern auch auf der Wechselwirkung zwischen unserem Sehvermögen und dem, was im theatron, dem „Schauplatz“, tatsächlich zur Schau gestellt wird. Als Orest in den Choephoren über den Leichen seiner Mutter und Aigisths steht, fordert er das Publikum dazu auf, auf das Tyrannenpaar zu schauen ( ‡desqe) und das Werkzeug zu sehen ( ‡desqe), durch das sein Vater starb. Es ist ein Schauspiel, in dem die Szene, in der seine Mutter die Leichen seines Vaters und Kassandras zur Schau gestellt hatte, wie ein Echo nachklingt. Bevor Orest, beim Anblick der Erinnyen mit Wahnsinn geschlagen, flieht, verlangt er, daß wir die Leichen mit seinen Augen, als Objekte gerechter Rache, betrachten. Als der geblendete Oedipus im Oedipus Rex aus seinem Palast tritt, kann es der Chor nicht ertragen, ihn anzuschauen, und fordert uns dazu auf, die Augen von dem befleckten Anblick abzuwenden (OT 1297–1306). Als Zuschauer schauen wir natürlich trotzdem hin und treten damit in den Diskurs des Stückes über Blindheit und Sehen ein.13 In der Figur des Oedipus sehen wir nicht etwa nur ein Opfer verschiedener Gewalttaten innerhalb der Familie, sondern die ins Bild gefaßte Frage, was es bedeutet, zu sehen und sehend zu begreifen. Wenn Polymestor in der Hecuba aus dem Zelt der trojanischen Frauen kriecht, geblendet und vor Schmerzen brüllend, in einer Szene, in der jede einzelne Figur bereits in unterschiedlicher Weise durch die Handlung des Dramas brutalisiert worden ist, dann geschieht dies, damit er Hecubas äußerste Erniedrigung prophezeien kann. Seine Blindheit erweist sich als besonderes Sehvermögen. In den Bakchen meint Agaue, als sie das Haupt ihres Sohnes auf die Bühne trägt, einen Löwenkopf zu sehen; und es ist lediglich der Zuwendung ihres besorgten, ja verzweifelten Vaters zu verdanken, daß sie schließlich erkennt, was sie tatsächlich in den Händen 13 Vgl. Simon Goldhill: Reading Greek Tragedy, Cambridge 1986, S. 199–221; C. P. Segal: Tragedy and Civilization. An Interpretation of Sophocles, Cambridge/Mass. 1981, S. 207–48.
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hält. Dionysus’ Macht ist in diesem Stück eng verknüpft mit der Macht des Sehens und der Illusion, und bezeichnenderweise wird beides, die göttliche Besessenheit der Königin und die desillusionierende Realität, als das Problem des „Sehens, was sie sehen soll“ gefaßt. In allen diesen Fällen hat die furchtbare Gewalt außerhalb der Bühne stattgefunden, aber, indem die Folgen der Gewalt auf der Bühne sichtbar werden, wird das Sehen dessen, was gerade gesehen wird, zum Thema gemacht. Das ist nicht nur eine Frage der theatralen Selbstreflexion, sondern hängt auch damit zusammen, daß zahlreiche zeitgenössische Intellektuelle das Schauspiel, die Macht des Sehens und die Kontrolle des Sehens problematisiert haben. Eine Anekdote mag das exemplarisch verdeutlichen: Im vierten Buch der Politeia berichtet Plato von Leontius, der auf dem Weg vom Piraeus zur Stadt den staatlichen Henker neben einigen Leichen stehen sah. Er verspürte den starken Wunsch, die Leichen anzuschauen, aber zugleich empfand er Abscheu und wandte sich ab. Eine Weile kämpfte er mit sich und hielt die Hände vor die Augen. Dann gab er nach, lief zu den Leichen und sagte: „Da habt ihr’s, ihr Dämonen, sättigt euch an diesem herrlichen Schauspiel“. Es ist kein Zufall, daß diese Geschichte in einem Werk berichtet wird, das den Zusammenhang zwischen der Schau des Guten, der Unsicherheit der physischen Wahrnehmung und dem menschlichen Vergnügen, zu sehen und zu hören, auslotet, und dies alles im breitesten sozialen und epistemologischen Kontext.14 So führt Gorgias in der für ihn typischen philosophisch angehauchten Manier die Überlegung ins Feld, daß man für das, was einem in die Augen springe, doch gar nichts könne und Helena infolgedessen keine Schuld treffe, wenn Eros in ihre Augen eingedrungen sei und sie mit Liebe zu Paris erfüllt habe – so wie man ja auch einem Kamel keinen Vorwurf mache, daß es sich vor einem Pferd fürchte.15 Die Tragödie spielt eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung des Diskurses, den die klassische Polis über das Sehen geführt hat, und es erweist sich, daß die Momente, in denen die Folgen von Gewalt Teil des Schauspiels werden, genau die Momente sind, in denen das Visuelle betont wird. Eine der besten Methoden, sich darüber klarzuwerden, in welcher besonderen Form die Tragödie Gewalt sichtbar macht, ist der Vergleich mit der Komödie. Die Komödie hat weitaus geringere Bedenken gegenüber 14 Vgl. Sitta von Reden und Simon Goldhill: Plato and the Performance of Dialogue. In: Performance Culture and Athenian Democracy, hrsg. von Simon Goldhill and Robin Osborne, Cambridge 1999, S. 256–89. 15 Vgl. Robert Wardy: The Birth of Rhetoric, London 1996, S. 25–51, bes. S. 47–51.
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der Darstellung von Körperkontakten oder Gewalt, was uns zumindest zeigen kann, daß das Theater mit dem Phänomen Gewalt unterschiedlich umgehen konnte und daß Gewalt nicht generell mit einem Tabu belegt war. In den Acharnern verprügelt Dikaiopolis den Denunzianten Nicharchus, steckt ihn in ein großes Tongefäß und schickt ihn nach Theben – eine deftige Parodie auf den Wirtschaftsaustausch (Ach. 925–52). In der Lysistrata schlägt der Chor der Alten Frauen die skythischen Bogenschützen in einer regelrechten Schlacht in die Flucht (Lys. 433–62). In den Thesmophoriazusen wird dem Verwandten des Euripides, Mnesilochus, eine ganze Kollektion körperlicher Demütigungen verpaßt. Er wird auf der Bühne geschoren, gesengt und als Frau verkleidet. Als ihn die beim Fest der Thesmophorien anwesenden Frauen ertappen, wird er bis auf die Haut entkleidet und schließlich zur Strafe an ein Brett genagelt. Es ist aufschlußreich, dieses Stück mit den Bakchen zu vergleichen (auch wenn es sehr unwahrscheinlich ist, daß Aristophanes die Bakchen kannte, als er die Thesmophoriazusen schrieb): Auch Pentheus wird wie der Verwandte in einer Weise als Frau verkleidet, die demütigend ist. Im Falle der Bakchen findet die Verkleidung hinter der Bühne statt, und erst dann wird Pentheus von Dionysus zur Präsentation auf die Bühne gerufen. Auf der Bühne macht er dann eine Menge Aufhebens um den Sitz seines Kleides; geordnet wird sein Kostüms aber hinter der Bühne. Im Falle der Thesmophoriazusen wird dagegen auf offener Bühne gezeigt, wie der Verwandte geschoren und gesengt und schließlich in geborgte Kleider gesteckt wird und sich die Ratschläge vor allem von Agathon, aber auch von Euripides gefallen lassen muß. Die körperliche Verwandlung, mit all ihrer Slapstick-Komik, findet mitten auf der Bühne statt. Pentheus wird von den Frauen ertappt, die ihn von dem Wipfel des Baumes, von dem aus er sie gerade heimlich beobachtet hat, herunterholen. Selbst als er sich seine Verkleidung vom Leibe reißt, wird er nicht einmal von seiner eigenen Mutter erkannt und schließlich in Stücke gerissen. Allerdings wird die gesamte Szene des sparagmos von einem Boten berichtet – in einem der großartigsten Botenberichte des Euripides. Im Gegensatz dazu wird Mnesilochus von den Frauen beim Thesmophorienfest mitten auf der Bühne gefangengenommen. Seine Verkleidung wird ihm vom Leib gerissen und das ‚Such den Phallus-Spiel‘ beginnt: Mnesilochus wird als das, was er ist, erkannt und entsprechend bestraft. Wieder wird die Handlung vollständig auf der Bühne dargestellt. Der physische Kontakt ist für alle sichtbar. Der Körper des Mnesilochus wird den Blicken der Zuschauer in seiner ganzen Lächerlichkeit ausgeliefert. Während Pentheus außerhalb der Bühne bestraft wird und lediglich sein prosopon, aufgespießt auf einen thyrsos, auf die Bühne getragen wird, wird Mnesilochus
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tatsächlich von einem skythischen Wachmann vor den Augen der Zuschauer an das Brett genagelt und singt sein Lamento – wie Andromeda – vor aller Augen. Froma Zeitlin hat das Spiel mit der Mimesis, das Aristophanes in den Thesmophoriazusen treibt, brilliant analysiert16 und herausgearbeitet, wie in diesem Stück die Nachahmung des Weiblichen eine außerordentliche Bandbreite ganz verschiedener Formen aufweist: mit Agathon als Transvestiten, Kleisthenes als sauber rasiertem Weichling, dem Verwandten als verkleidetem Besucher des Frauenfests und, in den beiden Schlußszenen, als Nachahmer von Helena und Andromache, sowie schließlich mit Euripides’ imitatio der Echo, einer weiblichen Figur aus einem seiner eigenen Stücke, und natürlich den männlichen Akteuren, die die Teilnehmerinnen an den Thesmophorien spielen. Darüber hinaus hat Zeitlin deutlich gemacht, wie diese Form der Mimesis mit den gattungsspezifischen Tragödienparodien verflochten ist, die Humor und Handlungsverlauf des Stücks durchziehen. Aus Gründen der Datierung ist es unmöglich, den Vorschlag zu machen, daß die Bakchen sowie die Helena oder die Andromeda parodiert worden sind. Was aber die parallele Struktur der beiden Stücke zeigt – in beiden Fällen überschreitet ein Mann die ihm gesetzten Grenzen und betritt einen ausnahmslos für Frauen bestimmten kultischen Raum –, ist der Unterschied, der zwischen den beiden Gattungen im Hinblick auf ihren jeweiligen Umgang mit Körperlichkeit besteht. In den Bakchen spielt sich die gesamte Gewalt hinter der Bühne ab. Mutter und Sohn werden erst dann zusammen gesehen, als Agaue Pentheus’ abgetrennten Kopf hereinträgt. Im Fall der Thesmophoriazusen wird der Verwandte dagegen gesengt, angezogen, wieder ausgezogen, gejagt, bestraft, und dies alles geschieht auf der Bühne, vor den Augen der Zuschauer. Die Komödie hat also offenbar eine deutlich andere Antwort darauf, wie mit dem Körper auf der Bühne umzugehen ist, und genau das läßt die Zurückhaltung der Tragödie um so deutlicher hervortreten. Es gibt eine Szene, die besonders deutlich zeigt, daß sich die Komödie nur allzu bewußt ist, in welcher Weise die Möglichkeiten des Theaters spezifische Konditionen für die Darstellung von Gewalt schaffen. Die Frösche werden oft als Aristophanes’ literarischstes Stück angesehen, und die Slapstick-Szenen werden infolgedessen weniger eingehend analysiert. Als sich Dionysus und Xanthias auf ihrer Suche nach Euripides auf den Weg in den 16 Froma Zeitlin: Travesties of Gender and Genre in Aristophanes’ Thesmophoriazusae. In: Reflections of Women in Antiquity, hrsg. von Helene Foley, London/Paris/ New York 1982.
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Hades machen, tauschen Herr und Sklave mehrfach das Herakleskostüm, und jedesmal ist das Ergebnis körperliche Demütigung für Dionysus und Vergnügen für Xanthias. Dieses Wechselspiel bereitet die letzte Szene vor der Parabase vor, in der Aiakos herausfinden muß, wer von den beiden denn nun der wahre Gott ist, und zwar durch einen Test: Beiden wird eine Tracht Prügel verpaßt, und wer ein Gott ist, wird sich dadurch zeigen, daß ihm die Schmerzen nichts ausmachen. Das witzige Spiel hat viele Ebenen. Erstens tun beiden die Schläge weh. Es handelt sich um eine demokratische Komödie, wo Spott Herren und Sklaven gleichermaßen erniedrigt – und die Unfähigkeit, die beiden auseinanderzuhalten, auch wenn der eine ein Gott ist und der andere ein menschlicher Sklave, ist ein komisches Vergnügen oder aber der Albtraum des alten Oligarchen. Zweitens versuchen beide, mit immer lächerlicheren und literarischeren Alibis ihre Schmerzen zu vertuschen (Ran. 653): DI. 'IoÝ „oÚ.
AI. T… ™stin;
DI. `Ippšaj Ðrî.
Dionysus schreit „Iou, Iou“, und als Aiakos fragt: „Was ist denn los?“, antwortet er: „Ich sehe eine Reiterei“ – als habe er wie ein Kind nur vor Aufregung geschrieen; und als Aiakos weiterfragt, warum er denn weint, behauptet er mit einer ebenso kindischen Entschuldigung, er habe eine Zwiebel gerochen (Ran. 654). Der zweite Schlag läßt Dionysus explodieren: „Apollon!“, „der“, so fügt er schnell hinzu, „in Delos oder Delphi herrscht.“ Und als Xanthias triumphierend ausruft: „Es hat ihm weh getan! Hast du das nicht gehört?“ erklärt Dionysus: „Mir doch nicht. Mir ist nur gerade ein Iambus des Hipponax eingefallen“ (Ran. 659 f.). DI. XA. DI.
”Apollon, Ój pou DÁlon À Puqîn' œceij. ”Hlghsen: oÙk ½kousaj; OÙk œgwg', ™peˆ ‡ambon `Ippènaktoj ¢nemimnVskÒmhn.
Drittens parodiert der Text die Bakchen oder, allgemeiner gesprochen, die vielen Erzählungen von der Wiedererkennung des Dionysus. Der einzige Gott mit einem sterblichen Elternteil erscheint oft in menschlicher Gestalt. Er wird häufig von Menschen nicht erkannt – und das mit furchtbaren Folgen. Die Szene der Frösche ist eine komische Version des Unvermögens zu sagen, wer Dionysus ist, eine ins Komische gewendete Verdrehung von Dionysus’ Spiel mit den Grenzen zwischen Göttern und Menschen. Es gibt jedoch, denke ich, noch eine vierte Ebene der Komik, die von der Forschung bislang nicht angemessen berücksichtigt worden ist. Beide, Dionysus und Xanthias, werden von Schauspielern aus Fleisch und Blut
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dargestellt. Beide werden auf der Bühne ausgezogen und verprügelt. Je überzeugender Aiakos seine Schläge austeilt, desto stärker beruht die Komik der Situation darauf, daß es dem Publikum bewußt ist, daß ein Mensch, der einen Gott spielt, genau solche Schmerzen empfindet, wenn er geschlagen wird, wie ein Mensch, der einen Sklaven zu spielen hat. Es handelt sich also, wie so oft bei Aristophanes, um einen Witz, der mit den Grenzen von theatraler Illusion und der Realität des Schauspielers spielt. Mein Lieblingsbeispiel ist die Szene, in der Trygaeus im Frieden auf dem Kran zum Olymp fliegt und dabei ruft (Pax 173 f.): O‡m' æj dšdoika, koÙkšti skèptwn lšgw. ’W mhcanopoiš, prÒsece tÕn noàn … o weh, ich habe furchtbare Angst! Ich meine es Ernst! Heda Kranarbeiter! Paß auf!
Die Komik beruht darauf, daß der Schauspieler aus seiner Rolle heraustritt und die Aufmerksamkeit auf seine physische Präsenz als Schauspieler lenkt. Wie die Prügelszene in den Fröschen, so handelt es sich auch hier um einen Witz über das, was wir heute als Performativität bezeichnen – die physischen und gesellschaftlichen Bedingungen, die das Theater zu einem Raum der Performanz machen. Die Komödie ist also nicht nur bereit, physische Gewalt gegen Körper auf die Bühne zu bringen, sondern zeigt darüber hinaus auch einen selbstreflexiven spielerischen Umgang mit solchen Darstellungen. Beide Aspekte helfen uns dabei, unseren Blick auf die Tragödie zu schärfen. Warum gibt es in der Tragödie so viel weniger gewalttätigen Körperkontakt auf der Bühne? Wie selbstreflexiv ist die Tragödie im Umgang mit der Darstellung von Gewalt? Um diesen Fragen nachzugehen, möchte ich ein Stück heranziehen, das in der Geschichte der Frage, wie Gewalt im klassischen Theater wahrgenommen wird, von zentraler Bedeutung ist: Sophokles’ Elektra. Auch hier erweist sich ein Vergleich zwischen dem ausgehenden 19. Jahrhundert und dem ausgehenden 20. Jahrhundert als erhellend. 1894 äußerte Jebb über Sophokles’ Tragödie: „it is the bright influence of Apollo that prevails from the first. Those sights and sounds of early morning with which the play opens are fit symbols of his presence […] the Pythian god of light and purity.“17 Für Jebb ist Orestes’ Mord an seiner Mutter „a deed of unalloyed merit“, „simply laudable“.18 Für den führenden Sophokles-Forscher der 17 R. C. Jebb: Sophocles. Electra, Cambridge 1894, XLV–XLVI. 18 vgl. Jebb (1894) [Anm. 17], XL, XXXII.
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Viktorianischen Epoche ist Orestes, um es mit Schlegels Worten zu sagen, „der fröhliche Muttermörder“ (als sei er einer Operette von Lehar entsprungen). In Deborah Warners gefeierter Inszenierung der Elektra aus dem Jahre 1989 (mit Fiona Shaw in der Titelrolle) erscheint Elektra dagegen als Opfer, das beschimpft wird und Beschimpfungen austeilt – seelisch gequält, vor Wut tobend, und mit dem verzweifelten Bedürfnis nach physischer und geistiger Erlösung durch den Mord. Das Stück ist von Anfang bis Ende trostlos, in moralischer Hinsicht von scharfer Ambiguität, und, es war fast unerträglich, auch nur den Theaterraum mit der unbändigen Kraft Elektras teilen zu müssen. Den Wendepunkt zu diesem Verständnis des Sophokleischen Stücks markiert zweifellos die Version Hugo von Hofmannsthals, die 1903 uraufgeführt wurde und schon wenig später von Richard Strauss zu der wunderbaren Oper vertont worden ist. In meinem Buch Who needs Greek? habe ich ausführlich beschrieben, wie das Stück und die Oper gemeinsam das bis dahin vorherrschende Bild eines „frommen“ Sophokles veränderten, und welchen gewaltigen Sturm diese Wende hervorrief.19 Hofmannsthal wollte „die Schatten aus dem Blut auftauchen lassen“, und er selber wurde als „Blutschwelger“ verunglimpft, während seine Elektra als „animalisch“ bezeichnet wurde, als „primitiv“, „erotisch aufgeladen“ und ausgestattet mit der „aufdringlichen Psychologie lüsterner Grausamkeit“. Ausgehend von Wien, das zur Jahrhundertwende Zentrum der Moderne war, wurde die griechische Tragödie infolge ihrer Verbindung mit Anthropologie und Psychoanalyse zu einer verstörenden und brutalen Gattung, weit entfernt von der ruhigen Heiterkeit und weißen Reinheit, die Winckelmanns Bild von Griechenland geprägt hatten. Ich bin mir völlig bewußt, daß ich, indem ich die Elektra für diese Diskussion gewählt habe, mich selbst voll und ganz als Post-Hofmannsthalianer ausweise. Dennoch hoffe ich, daß die folgenden Überlegungen ein wenig Licht auf die Gewalt in der Tragödie werfen werden. Die Szenen, auf die ich mich konzentrieren möchte, sind die Schlußszenen des Stücks – der Mord an Klytaimestra und, vor allem, die Szene, in der Aigisth zurück ins Haus geschickt wird: Elektra hat seit ihrem ersten Auftritt die Bühne nicht mehr verlassen; das Stück spielt in dem sonderbaren Raum zwischen Haus und Grab. Das ist demonstrativ nicht der Schauplatz der Choephoren, die das Grab Agamemnons, und damit den Ritus, physisch und konzeptionell ins Zentrum rücken; es ist aber auf der anderen Seite auch nicht der Schauplatz der Euripideischen Elektra, die das Stück 19 Simon Goldhill: Who Needs Greek? Contests in the Cultural History of Hellenism, Cambridge 2002, S. 108–77.
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fern vom Palast und Stadt spielen läßt, bei einem abgelegenen Bauernhaus. Sophokles’ Elektra spielt in einem Niemandsland, zwischen dem hinterszenisch zu denkenden Grab (an dem Chrysothemis die Grabspenden ausgießt und die Wiedererkennungszeichen findet) und dem hinterszenischen Palastinneren (wo Orest und der Pädagoge Klytaimestra töten. Es ist ein liminaler Raum, den Personen auf ihren Wegen zu anderen Zielen durchqueren; aber auch ein Raum, den Elektra besetzt hält und der von ihr beherrscht wird. In Vers 1383 geht sie gemeinsam mit Orest in den Palast, und da, wo wir – in Erinnerung an die Orestie – nun ein langes Chorlied erwarten, das in dem Moment, in dem die beiden Kinder ins Haus gehen, um Klytaimestra zu ermorden, das Thema von Rache und Gerechtigkeit entfaltet, da finden wir die kürzeste Ode der griechischen Tragödie. 14 Zeilen – und schon ist Elektra wieder auf der Bühne. Sie erklärt, daß sie gekommen ist, um Ausschau nach Aigisth zu halten, doch ihr Wiederauftritt dient Sophokles in Wahrheit dazu, die außerordentliche Dynamik der Mordszene zu erzeugen (1398–1403). Wir hören Klytaimestra im Palast aufschreien und die Reaktionen Elektras und des Chors (1404–7). KL. HL. CO.
A„a‹. 'Ië stšgai f…lwn œrhmoi, tîn d' ¢pollÚntwn plšai. Bo´ tij œndon: oÙk ¢koÚet', ð f…lai; ”Hkous' ¢n»kousta dÚstanoj, éste fr‹xai.
Elektra kommentiert Klytaimestras Schrei mit gespielter eisiger Ruhe: „Es ruft wer drinnen! Hört ihr nicht, ihr Lieben?“ Die gelassene Ruhe ihrer Iamben wird noch verstärkt durch den lyrisch vorgetragenen Gefühlsausbruch des Chors: Was die Chorsängerinnen hören, ist furchtbar und schreckenerregend. Doch als Klytaimestra nach Aigisth schreit, antwortet Elektra erneut ungerührt: 'IdoÝ m£l' aâ qroe‹ tij. – „Hör doch! Noch einmal ruft wer!“ Der Gebrauch des tis, „irgendwer“, als ob sie sich nicht sicher ist, wer da, in dem Moment, als ihre Mutter das Schwert vor sich sieht, aufschreit, macht uns frösteln. Der unwissende Chor der alten Männer im Agamemnon ist unsicher, wie er auf die Schreie Agamemnons im Moment des Todes reagieren soll (Aischyl. Ag. 1346–71). Sie können nicht einmal entscheiden, ob überhaupt ein Mord geschehen ist, ganz zu schweigen, was sie tun können. Elektra, die an der Tür steht und das ganze Geschehen verfolgt, weiß dagegen ganz genau, was da vor sich geht, wer da schreit und was es zu bedeuten hat. Diese Distanz verschiebt sich allerdings, als die Szene in ein außergewöhnliches Dreigespräch übergeht. Klytaimestra appelliert schreiend an ihren Sohn, der stumm bleibt, während Elektra ihrer Mutter, ohne daß
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diese es hören könnte, mit brutaler Ablehnung antwortet. Es ist ein Moment einzigartiger Brutalität, ein Zeichen für mißlungene Kommunikation und Wendung zur Gewalt, wie sie für diese Familie typisch sind. Klytaimestra schreit heraus (1410 f.): ’W tšknon, tšknon, o‡ktire t¾n tekoàsan – „Oh Kind, Kind, habe mit der Erbarmen, welche dich gebar.“ In diesem Moment warten wir auf Grund unserer Kenntnis der Orestie auf den berühmtesten Moment des tragischen Zweifels: Pul£dh, t… dr£sw; – „Pylades, was soll ich tun?“, und den dramatischen Donnerschlag von Pylades’ einzigem Satz, dem göttlichen imprimatur, wenn man so will, für den Mord. Hier aber folgt statt dessen die erbarmungslose Erwiderung Elektras (1411 f.): 'All' oÙk ™k sšqen òkt…req' oátoj oÜq' Ð genn»saj pat»r – „Doch fand er vor dir kein Erbarmen, noch der ihn gezeugt: der Vater.“ Der Zusatz genn»saj – „er, der ihn zeugte“, als Gegenstück zu Klytaimestras tekoàsan, „sie, die dich gebar“, (mit der etymologischen und emotionalen Verbindung zu tšknon – „Kind“), mag Apollos Argument in der Orestie evozieren, daß der wahre Elternteil der sei, der „bespringt“, d. h. der Vater. Die Echos der Orestie sind wirkungsvoll, aber mehr als alles andere fällt auf, daß in dem Moment der Krise über jeglichen Zweifel hinweggegangen wird. Ebenso wenig, wie wir einen kommos gesehen haben oder einen ausführlichen Bericht über die Motivation Orests durch das Orakel oder, als sich alles auf den Muttermord hin zuspitzt, eine Diskussion über das Recht oder Unrecht, die eigene Mutter zu töten, gibt es hier, im Augenblick der Entscheidung irgendein Zögern; nur eine Elektra, die dem schweigenden Bruder ihre Entschlossenheit entgegenschreit. Dann schreit Klytaimestra (1415): ”Wmoi pšplhgmai, „Oh weh, getroffen bin ich.“ – was exakt dem hinterszenischen Schrei Agamemnons im Aischyleischen Agamemnon (Aischyl. Ag. 1343) entspricht, so als wäre der Mord an ihr die Rache für diesen anderen Mord. Doch Elektra ruft ihrem Bruder zu (1415): Pa‹son, e„ sqšneij, diplÁn – „Schlag zu, wenn du die Kraft hast, zum zweiten Mal!“ Weit entfernt von Pylades’ moralischer und ideologischer Haltung – „Was aber ist mit dem Orakel des Apoll? Nenn lieber alle Menschen als die Götter deine Feinde“ –, gilt Elektras Forderung lediglich der Steigerung der Gewalt. ”Wmoi m£l' aâqij – „Oh mir, noch einmal!“, schreit Klytaimestra (1416) – auch hier klingt Agamemnons Tod aus der Orestie nach: êmoi m£l' aâqij, deutšran peplhgmšnoj (Aischyl. Ag. 1345) –, und Elektra äußert die Hoffnung: E„ g¦r A„g…sqJ q' Ðmoà. – „Wär’s doch mit Aigisth zugleich!“ Die Szene scheint mir ein außerordentlich interessanter und selbstreflexiver Kommentar des Sophokles über Gewalt und ihre Darstellung auf der Bühne zu sein. Zunächst einmal ist da die das ganze Stück hindurch
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präsente Frage nach der Motivation, den psychischen Folgen und der moralischen Blindheit von Rache. Orests Schweigen ist ebenso wichtig wie Elektras Wildheit für die Erklärung, wie ein Muttermord ohne erkennbare Skrupel oder Zweifel begangen werden kann. Das Unvermögen der Täter, die richtigen Fragen zu stellen oder die Grundlage für moralische Bedenken zu begreifen, ist ein ebenso erschreckender Beitrag zur heutigen politischen Gewalt wie es das schon im Athen des 5. Jahrhunderts war.20 Mit dem Schweigen wird die Notwendigkeit, Fragen zu stellen, an das Publikum weitergegeben (es ist, denke ich, keine Überraschung, daß Brecht, als er seinen Begriff des Verfremdungseffekts entwickelte, mit einer Übersetzung des Sophokles begann). Aber was uns die Szene mehr als alles andere zeigt, ist nicht, daß der eigentliche Gewaltakt hinter der Bühne vollzogen wird. Einen Botenbericht wird es nicht geben. Der Bericht des Paidagogen über den Tod Orests ist die Beschreibung eines Ereignisses, das überhaupt nicht stattgefunden hat – konzipiert mit der Absicht, seine Adressaten zu täuschen und in die Falle zu locken; Elektras Kommentar ist dagegen in jeder Hinsicht Teil der Gewalt, nicht ihre Beschreibung. Wir sehen statt dessen eher die Macht der Gewalt in Elektra. Denn was sehen wir in dem Augenblick, in dem sie: „Schlag zu, wenn du die Kraft hast, zum zweiten Mal!“, schreit? Wir ‚sehen‘, denke ich, eine Frage über Elektras ethos und über ihren Beitrag zu der Bluttat. Das Verbergen des Tötungsakts und das Schweigen Orests ist zugleich ein Akt der Enthüllung. Was auf der Bühne gezeigt wird, ist Elektras erschreckende Bereitschaft zu brutaler Gewalt, die Folgen davon, daß sie sich völlig der Rache verschrieben hat – womit für mich nicht nur ein psychologisches, sondern auch ein politisches Problem angesprochen wird. Die Schlußszene mit Aigisth ist ebenfalls zutiefst beunruhigend. Aigisth verlangt danach, daß Orests Leichnam – er glaubt ja, daß es diesen gibt – gezeigt wird. Schnell wird ihm klargemacht, wie die Dinge wirklich stehen. Er bittet um das Recht, ein paar letzte Worte sagen zu dürfen, aber Elektra, der von allen Figuren im Stück befohlen worden ist, ruhig zu sein, fordert nun, daß ihr Feind schweigt. „Eilends, töte ihn“, fordert sie den Bruder auf (1483–90), und Orest befiehlt Aigisth, ins Haus zu gehen (1491 f.): OR.
Cwro‹j ¨n e‡sw sÝn t£cei: lÒgwn g¦r oÙ nàn ™stin ¢gèn, ¢ll¦ sÁj yucÁj pšri.
20 Auch hier bin ich anderer Meinung als Jasper Griffin: Sophocles and the Democratic City. In: Sophocles Revisited, hrsg. von Jasper Griffin, Oxford 1999, der jede politische Absicht der Sophokleischen Elektra bestreitet.
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„Geh denn hinein in Eile. Denn jetzt geht es nicht um Worte, es geht um dein Leben!“ – eine Bemerkung, die das Problem, das ich vorhin diskutiert habe, auf den Punkt bringt: Für Orest ist die Frage nach Leben und Tod ein agon ohne logoi, ohne Debatte. Er hat ja auch seine Mutter ohne Worte getötet. Aber Aigisth ist noch nicht am Ende (1493 f.): AI.
T… d' ™j dÒmouj ¥geij me; pîj, tÒd' e„ kalÕn toÜrgon, skÒtou de‹, koÙ prÒceiroj e ktane‹n;
„Was führst du mich ins Haus hinein? Weswegen, wenn diese Tat gerecht ist, braucht’s des Dunkels und bist du nicht sogleich bereit zu töten?“ Wo sollte die grausame Mordtat stattfinden? Warum nicht in der Öffentlichkeit, wenn es sich doch, wie Elektra suggeriert hat, um nichts als einen noblen Tyrannenmord handelt? Sollte die Ermordung eines Tyrannen nicht in aller Öffentlichkeit zelebriert werden? Die Konvention der griechischen Tragödie, Mordtaten nur hinter der Bühne geschehen zu lassen, wird hier direkt in Frage gestellt. Warum sollten Orest und Aigisth die Bühne verlassen? Was bedeutet es, daß Aigisth nicht vor den Augen des Chors und der Zuschauer getötet wird? Orest reagiert heftig und vielleicht etwas hilflos (1495 f.): OR.
M¾ t£sse: cèrei d' œnqaper katšktanej patšra tÕn ¢mÒn, æj <¨n> ™n taÙtù q£nVj.
„Triff du keine Anordnungen […]“ – Aigisth soll, um der Symbolik willen, an genau derselben Stelle sterben wie Agamemnon. Aigisth spricht aus, daß dies das nie enden wollende Grauen der Blutrache, das die Orestie so stark problematisiert, heraufruft (1497 f.): AI.
’H p©s' ¢n£gkh t»nde t¾n stšghn „de‹n t£ t' Ônta kaˆ mšllonta Pelopidîn kak£;
„Ist es durchaus not denn, daß dies Haus der Pelops-Söhne Leiden sieht: die jetzigen wie die da kommen werden?“ Das aber heißt – wie rhetorisch auch immer diese Worte formuliert sind: Aigisth weist darauf hin, daß es für die Zukunft der verfluchten Familie Folgen haben wird, wenn Orest ihn aus Rache für Agamemnon tötet. Und auch Orests Antwort beinhaltet einen indirekten Hinweis auf kommende Leiden (1499): OR.
T¦ goàn s': ™gè soi m£ntij e„mˆ tînd' ¥kroj.
„Die deinen jedenfalls! Dafür bin ich der Gipfel dir der Seher.“ Das goàn, „jedenfalls (deine Leiden)“, verweist auf die übrigen Mitglieder der Familie, und Aigisth entgegnet spöttisch (1500): 'All' oÙ patróan t¾n tšcnhn
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™kÒmpasaj – „Nun, vom Vater kam dir nicht die Kunst, der du dich
rühmst.“ Als Aigisth gefragt hatte, wer ihm eigentlich diese Falle gestellt habe, hatte ihn Orest noch mit einem Rätsel verhöhnt (übrigens auch dies wieder ein Echo der Orestie21): „Merkst du nicht längst/daß du die Lebenden für die Toten ansprichst? (1477 f.)“, und hinzugefügt: „Und du, der beste Seher, täuschtest dich so lange? (1481)“ Nun wird das Wort mantis , „Seher“, gegen Orest gewendet. Wie so oft bei Sophokles, eröffnet eine knappe Bemerkung einen weiten Ausblick darauf, wie sich die Geschichte weiterentwickeln könnte: Orest kann zu diesem Zeitpunkt seine Verfolgung durch die Furien, seinen Weg nach Athen und sein späteres Unglück noch nicht voraussehen, und auch das Stück wird all dies nicht mehr darstellen. Das Gespräch über Weissagung und kommendes Unheil weist jedoch auf eine Geschichte voraus, die im Stück selbst ausgeblendet wird. Aigisths Worte bleiben unbeantwortet, eine Drohung, die wie ein schwarzer Schatten über den Schluß des Stücks liegt. Der scharfe Wortwechsel setzt sich in der sehr seltenen Form eines dreifachen Sprecherwechsels innerhalb eines einzigen Verses fort: OR. AI.
¢ll' ›rf'. AI. `Ufhgoà. OR. Soˆ badistšon p£roj. ’H m¾ fÚgw se; OR. M¾ män oân kaq' ¹don¾n q£nVj: ful£xai de‹ me toàtÒ soi pikrÒn.
„So geh!“ – „Geh du voraus!“ – „Du hast voranzuschreiten!“ – „Daß ich dir nicht entfliehe?“ – „Daß du nicht nach deinem Belieben stirbst. Bewahren muß ich dir dies Bittere!“ Kells kommentiert: „No refinement of vindictive savagery is to be spared“22 – und in der Tat: Der Wunsch, den Gegner zu demütigen und zu verletzen, kommt der Lehrbuch-Definition von Hybris, wie sie bei Aristoteles nachzulesen ist, sehr nahe. Auch diese Drohung Orests bleibt im Raume stehen, da das Stück nicht mit dem tatsächlichen Tod Aigisths endet, sondern mit einigen kurzen moralischen Sentenzen, und – in einem Moment von erfrischender Selbstreflexivität – mit dem Wort „gelungen“: telewqšn. Die Schlußszene der Elektra eröffnet eine ganze Reihe von Fragen über den Abschluß der Handlung und die Bedeutung des Stücks, aber sie wirft auch die Fragen zum Akt der Gewalt auf: Unter welchen Umständen ist er kalon? Wie soll man den Akt des Muttermordes bezeichnen? „Simply laudably“, wie Jebb meinte? Welche unausgesprochene moralische Haltung 21 Vgl. Choeph. 886, wo das Rätsel von einem Diener formuliert und sofort von Klytaimestra richtig gedeutet wird. 22 J. H. Kells: Sophocles. Electra, Cambridge 1973.
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verbirgt sich in Jebbs Urteil hinter dem Wort „simply“? Können die Konsequenzen einer Gewalthandlung vorausgesehen werden? Indem Sophokles es zwar ablehnt, die Folgen von Orests Tat auszumalen, sich jedoch der Sprache der Prophetie bedient, gibt er die Frage, was nach dem Stück geschah, an sein Publikum weiter. Das Stück endet ja vor der Ermordung Aigisths. Es bleibt den Zuschauern überlassen, die Frage zu beantworten, was im dunklen Palast vor sich ging, ob das Töten „einfach ein kalon“ war, und welche Wirkung die Gewalt auf Elektra gehabt hat, deren Zukunft im Unklaren gelassen wird. Bei Aischylos wird sie angewiesen, ins Haus zu gehen und still auf die Hochzeit zu warten, mit der ein anständiges junges Mädchen belohnt wird. Bei Euripides wird sie von der Ehe mit einem Bauern erlöst und Pylades zur Frau gegeben. Bei Sophokles dagegen, wird nicht einmal deutlich, ob sie gemeinsam mit Orest die Bühne verläßt, um den Mord mitanzusehen, ob sie gemeinsam mit den Frauen des Chors abgeht oder ob sie allein an ihrem liminalen Ort bei der Tür verharrt (wie in den meisten modernen Inszenierungen). In ihren letzten Worten fordert sie den Tod Aigisths und die Schändung seines Leichnams, (1489 f.) æj ™moˆ tÒd' ¨n kakîn mÒnon gšnoito tîn p£lai lut»rion – „weil nur dies mir für die Übel von einst die lösende Entsühnung bringen kann“. Elektra wird also am Ende des Stücks als jemand zurückgelassen, der auf sein lut»rion wartet; „Erlösung, Befreiung“, das ist ihr letztes Wort. Wer einmal Sophokles’ Verwendung der Begriffe lÚsij und lut»rion nachgegangen ist, wird wissen, wie bitter ironisch ein solcher Wunsch klingen muß.23 Die griechische Tragödie stellt Gewalt, anders als die Komödie, nicht explizit auf der Bühne dar – außer in einigen wenigen, schockierenden Fällen. Sie spricht jedoch wiederholt und lebhaft davon. Sie versagt sich das Schockerlebnis der explizit auf der Bühne dargestellten Gewalt in der Absicht, die Ursachen, Motivationen, Folgen und moralischen Kontexte 23 Jocasta (Oid. T. 921) bittet Apollon um lysis unmittelbar vor dem Auftritt des korinthischen Boten, der die Nachricht von Polybus’ Tod bringt, die Nachricht, die ihre Bitte zu erfüllen scheint, dann aber die Katastrophen ihres Lebens offenbart. Heracles (Trach. 1371) stellt fest, daß ihm lysis von seinen Mühen versprochen worden sei, daß sich diese lysis aber als Tod herausgestellt hat und nicht als die erhoffte Befreiung (auch wenn er auf dem Scheiterhaufen eine andere Form der Befreiung finden wird). Deianeira kündigt an, daß sie etwas lyterion (554 – das Substantiv, das dieses Adjektiv bestimmt ist korrupt überliefert), und führt so den angeblichen Liebestrank ein, der in Wahrheit das Gift ist, das Herakles tötet und ihren Selbstmord auslöst. Mit weniger offenkundiger Ambivalenz oder Ironie singt der Chor der Antigone, daß die Familie der Labdakiden keine lysis finden kann (Ant. 597). Keine dieser Parallelen ist ein guter Präzedenzfall für Elektras Hoffnung auf lysis.
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menschlicher Gewaltverbrechen zu reflektieren. Innerhalb des großen Spektrums von Gewalt steht die Tragödie gegenüber den Gladiatorenspielen genau am anderen Ende der Skala. Schrecken, Mitleid oder Furcht werden nicht etwa dadurch hervorgerufen, daß der Tod der Iphigenie vorgeführt wird, sondern dadurch, daß die Halbwahrheiten und Leidenschaften und der falsch angebrachte Idealismus bloßgelegt werden, die ihre Opferung ermöglichen. Und die Tragödie geht der Frage nach, welche Saat solche Gewaltakte ausstreuen und wie diese zur Blüte gelangt. Die Elektra zeigt jedoch auch, daß das Zeigen oder Verbergen von Gewalt selber ein Bestandteil des Diskurses der Tragödie und der Debatte über Gewalt ist. Der Gegensatz zwischen der Trugrede des Pädagogen, die mit verführerischer Überzeugungskraft fiktive Gewalt in der Form eines Botenberichts schildert, und die Darstellung Elektras, wie sie im Augenblick des Muttermords ihren Kommentar zur Tat herauszischt, weckt quälende Fragen nach der Einbeziehung des Publikums in die dargestellten Gewalttaten. Mit welchen Augen blicken wir auf Gewalt? Können wir erkennen, was sie bedeutet? Können wir ihre Wirkung auf uns oder unsere eigene Rolle dabei begreifen – auch wenn wir nur Zuschauer sind. Können wir uns heraushalten aus der Gewalt oder können wir allenfalls hinterher – wenn es zu spät ist – die Leichen betrachten? Wo findet sie statt – oder wo sollte sie stattfinden? Was ist schockierender: Gewalt zu verbergen oder Gewalt zu zeigen? Was ist moralisch schwieriger? Bei Thukydides macht sich Kleon über die Athener lustig, weil sie nicht realisieren, daß ihre Herrschaft eine Gewaltherrschaft ist und daß eine derartige Machtposition die Anwendung von Gewalt erfordert. Wann und wie Gewalt sichtbar wird, wann sie erkannt wird, ist eine politische Frage, die für die Gegenwart ebenso relevant ist wie für die athenische polis. Das Theater mit seinen realen Körpern vor einem öffentlichen Publikum ist eine Form, für die die Frage der Darstellung von Gewalt immer von besonderer Bedeutung ist, doch paradoxerweise sorgt gerade die Zurückhaltung, die die Tragödie gegenüber der expliziten Darstellung von Gewalt übt, für die schmerzhafteste und politisch scharfsinnigste Offenlegung ihrer Macht und der Bedrohung, die sie darstellt.
Karl Heinz Bohrer (Stanford)
Zur ästhetischen Funktion von Gewalt-Darstellung in der Griechischen Tragödie Gewalt tritt in der Tragödie ebenso auf wie im Epos. Ihre literarische oder ästhetische Transformation ist aber gegenüber dem Epos radikaler und kategorialer. Es geht im folgenden nicht um die Darstellung eines historisch-gattungstheoretischen Entwicklungsprozesses, es geht auch nicht um die Gewalt in der Tragödie als Abbildung der Gewalt in der Gesellschaft (was ohnehin historisch fragwürdig ist), sondern es geht um die spezifische Ästhetisierung der Gewalt als poetisches Mittel in der Tragödie. Dabei wird auch danach zu fragen sein, inwiefern dem Gewaltmotiv selbst a priori eine ästhetische Dimension zukommt angesichts seines privilegierten Status in prominent-ästhetischen Epochen und prominent-ästhetischen Literaturund Kunstformen, wobei die Attische Tragödie immer eine initiierende Rolle gespielt hat. Will man sich den Begriff Gewalt in seiner literarischen Ur-Form verdeutlichen, dann läßt er sich am besten von der einfachsten Darstellung des factum brutum in der epischen Literatur ableiten, von der Hesiodschen Darstellung der Entmannung des Uranos durch Kronos. Der Gewaltakt bedarf nur eines Satzes,1 d. h. es fehlt ihm jede expressive und reflexive Erläuterung als Gewaltakt, die Erweiterung des Motivs gilt allein dem genealogischen Telos. Diese Funktion eignet durchweg allen Kurzcharakteristiken der Entstehung und der Eigenschaften der Götter, Halbgötter und Ungeheuer in Hesiods Theogonie. Dasselbe gilt für die Kurzformel, mit der die mythische Liebesvereinigung zwischen Gott und Göttin, Gott und Halbgöttin erzählt ist. Das factum brutum oder factum suave informiert über den Ursprung der Welt. Zwar ist die Darstellung des Kampfes der olympischen Götter und der Titanen2 eine ausführliche und durchaus expressive. Aber 1 Hes. theog. 178–182. 2 Hes. theog. 617–725.
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Karl Heinz Bohrer
auch hier steht Gewalt für ein objektives, kosmologisches Ereignis in der Geschichte der Welt ohne eine die Gewalt als solche ausnutzende imaginative, metaphorische, symbolische oder gar psychologische Absicht. Man findet auch in Homers Epen solche kurzen oder längeren MythosFormeln. Etwa Achills’ Kampf mit dem Flußgott Skamander, der Kampf des Diomedes mit den Göttern Ares und Aphrodite, die sprechenden Pferde Achills oder der der Nacht gleichend vom Olymp herabkommende Apollon, das Lager der Griechen mit Pfeilen beschießend. Aber man wird die von Homer benutzten grausamen Stereotypen für den anonymen Tötungsakt in der Schlacht oder den Tod in der Areté nicht als solche Formeln verstehen, weil hier psychische Expressivität und physiologischer Detailismus so stark sind, daß sie eine weit über die faktisch informierende Funktion des Mythos hinausreichende Darstellungsform besitzen. Am Beispiel des Zweikampfes Achill/Hektor wird man sogar der tragischen Elemente der Ilias gewahr, weil der heroische Gewaltakt konfrontiert ist mit der subjektiven Reflexion, also eine oppositionelle Struktur besitzt. Würde es in folgendem um die Darstellung von epischer und tragischer Gewalt gehen, könnte man sich auf die Gestalt Achills allein konzentrieren, auf seine unterschiedliche Behandlung in Homers Ilias und Aischylos’ fragmentarisch erhaltener Tragödie Die Myrmidonen oder Euripides’ Iphigenie in Aulis. Es wäre dann – im Falle der Myrmidonen – die Homerische Darstellung des Achill in der berühmten Gesandtschaft im neunten Buch der Ilias mit der gleichen Szene in Aischylos’ Tragödienfragment zu vergleichen, in der Absicht zu zeigen, inwiefern die Homerische Szene Achill noch sehr viel stärker als mythologische Figur behandelt, vergleichbar den Darstellungen des Motivs in der rotfigurigen Vasenmalerei des frühen 5. Jahrhunderts, während der Achill des Aischylos einer fortgeschritteneren ästhetischen Transformation unterliegt. Dabei kommt gerade dem Gewaltmotiv, also der Achill angedrohten Steinigung, eine ausschlaggebende Rolle zu, wie ebenso den Reaktionen Achills zwischen Lamentatio und Schweigen.3 Da es aber erstens ausschließlich um die ästhetische Funktion der Gewalt in der Tragödie gehen soll und zweitens nicht um die Differenz der Figurendarstellung in Epos und Tragödie, soll es bei diesem Hinweis bleiben, um die Spezifik der Fragestellung noch stärker zu verdeutlichen. Schließlich ist anzumerken, daß ich mich bei dem angewandten Gewaltbegriff nicht von anthropologisch-strukturalistischem oder linguistischem Interesse leiten lasse.4 3 Vgl. Pantelis Michelakis: Achilles in Greek Tragedy, Cambridge 2002, S. 37–45. 4 Hierzu umfassend die gegenwärtige Debatte kommentierend Gregory Nagy: Homeric Questions, University of Texas Press 1996, S. 113–46.
Zur ästhetischen Funktion von Gewalt-Darstellung
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Es gibt in den attischen Tragödien einige besonders signifikante Beispiele mythologisch tradierter Gewalt. Gewalt ist dabei – im Unterschied zur modernen Tragödie – nie unmittelbar als Akt, sondern immer als Sprechakt, d. h. als vermittelt, dargestellt. Aus diesem Befund tragischer Performance folgt, daß Gewalt sowohl durch die Sprache als Gewalt-Ereignis vorstellbar wird, als auch in der Sprache als solche habhaft wird. Eben in dieser Bewandtnis liegt die Ursache a) für die ästhetische Transformation überhaupt und b) für das ästhetische Bedürfnis, sich gerade der Gewalttat für seine Absichten zu bedienen. Für diese beiden Erscheinungsweisen der Gewalt sind die Gewalttat der Klytaimestra in Aischylos’ Agamemnon und das Gewaltopfer der Antigone in Sophokles’ gleichnamiger Tragödie seit jeher als paradigmatisch angesehen worden. Ich werde im folgenden deshalb zunächst das Gewaltereignis durch die Sprache am Beispiel von Aischylos’ Agamemnon und Sophokles’ Antigone kommentieren, um dann auf das Gewaltereignis in der Sprache in beiden Fällen zu sprechen zu kommen. Eine kurze abschließende Überlegung soll der Frage gelten, was für Konsequenzen hieraus für das Verhältnis von Tragödie und Mythos, also für die ästhetische Transformation und das factum brutum zu ziehen wären, wobei die noch immer aktuelle Debatte um die Relevanz von Ritus und Opferkult5 zu berücksichtigen ist.
I. Gewalt durch die Sprache Paradigma I: Die Ermordung Agamemnons Die mythologisch-epische Überlieferung des factum brutum unterscheidet sich inhaltlich und formal radikal von der Darstellung des Mords in Aischylos’ Tragödie. In Apollodors mythologischer Bibliothek, also der Berichtform lange nach Aischylos, heißt es lakonisch, Agamemnon sei, als er mit Kassandra nach Mykene zurückgekehrt sei, von Aigisth und Klytaimestra gemeinsam getötet worden, während er sich ein ärmelloses Kleid anzog. Der Mord an Kassandra ist erwähnt.6 Abgesehen davon, daß die mythologische Kurzform jeder tragischen Inspiration entbehren muß, unterscheidet sie 5 Hierzu grundsätzlich René Girard: Das Heilige und die Gewalt. Aus dem Französischen von Elisabeth Mainberger-Ruh, Frankfurt a. M. 1992, S. 62 ff. Zur Aktualität der Debatte vgl.: Nothing to do with Dionysos? Athenian Drama in its Social Context, hrsg. von John J. Winkler und Froma I. Zeitlin, Princeton 1990; Christiane Sourvinou-Inwood: Tragedy and Athenian Religion, Lanham, Md. [u. a.] 2003. 6 Apollod. Epitome VI, 23.
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sich prinzipiell von der Aischyleischen Tragödie, indem sie a) Klytaimestra nicht als Alleintäterin nennt, b) die Art und Weise der Ermordung mit dem Hinweis auf die Behinderung durch das Gewand offen läßt. Apollodors mythologischer Kurzbericht unterscheidet sich auch prinzipiell von der wichtigsten quasi-mythologischen Quelle vor Aischylos, dem elften Buch der Odyssee, in dem der Geist Agamemnons dem die Unterwelt besuchenden Odysseus die eigene Ermordung in einer ausführlichen Darstellung berichtet, die, was die Handlung betrifft, durchaus expressiv genannt werden kann, und was die Bedeutung angeht, eindeutig moralisch-verurteilend ist.7 Sie unterscheidet sich von Aischylos’ in vier entscheidenden Charakteristika: 1. in der Identität des Mörders: Es ist hier Aigisth, der die Tat plant und vollbringt, während Klytaimestra ihm dabei lediglich als Helferin zur Seite steht. 2. in den Umständen des Mordes: Agamemnon wird nicht alleine, sondern mit seinen Gefährten während eines Gastmahls umgebracht, also offenbar aus einem Hinterhalt von mehreren Bewaffneten, wobei von Gegenwehr keine Rede ist. 3. Kassandras Ermordung durch Klytaimestra wird erwähnt, ihre klagende Stimme ebenfalls, aber ohne Hinweis auf ihre prophetischen Gesichte. 4. An die Stelle der mörderischen Tat Klytaimestras tritt die Charakteristik ihres gemein-niedrigen Charakters als Prototyps weiblicher Schlechtigkeit, als deren alternativer Prototyp Odysseus’ Gemahlin Penelope gilt. Obwohl die Tötungsszene selbst nicht der expressiven Gräßlichkeit entbehrt – das Bild von abgestochenen Schweinen und dem in Blut schwimmenden Boden wird gebraucht – transzendieren diese Charakteristika nicht die Faktizität und die Eindeutigkeit einer moralischen Bewertung. Vor dem Hintergrund der episch-mythologischen Darstellung komme ich zur ästhetischen Transformation in der Aischylos-Tragödie und ihren Mitteln: 1. Die Darstellung Klytaimestras als einziger Täterin und ihre Verwandlung von einer mythologisch überlieferten Mordgefährtin in eine tragische Persona. 2. Die Darstellung der Ermordung in variierter Form einmal durch die Gesichte der Kassandra, zum zweiten Mal durch die Erzählung Klytaimestras. 3. Die Interaktion der doppelt dargestellten Ermordung mit der Darstellung des atridischen Gewaltmythos, sowohl in Bezug auf das Opfer der Iphigeneia als auf die Schlachtungen der Thyestes-Kinder durch Atreus. 7 Hom. Od. XI, 385–466. Die Ermordung Agamemnons wird in der Odyssee mehrfach in unterschiedlicher Form erzählt; vgl. dazu Uvo Hölscher: Die Odyssee. Epos zwischen Märchen und Roman, München 1988, S. 297–310.
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An allen drei Aspekten kann das ästhetische Volumen der Gewaltthematik erklärt werden. Zu 1: Eingedenk der mythologisch-literarischen Überlieferung ist die Erscheinung der Klytaimestra als Mörderin als eine Erfindung des Künstlers Aischylos zu bewerten. Und zwar im buchstäblichen Sinne als dramatischer Erscheinungs-Charakter, wie er in modernen Ästhetiken als schöner Schrecken analysiert worden ist. Dieser ästhetische Effekt ist nur dadurch möglich, daß die psychologische Erklärung von Klytaimestras Tat (Eifersucht, Macht) durch die strukturell gegebene Permanenz des mythischen Bezugs relativiert oder gar aufgehoben wird. Gewiß gibt es auch eine Erklärung im psychologischen Sinne, indem Klytaimestra auf Agamemnons Untreue verweist. Wesentlicher indes ist ihr Bezug auf die Opferung Iphigeneias.8 Damit aber ist die mythologische Gewalt als Basis der Existenz zitiert, die Klytaimestras Erscheinung den enigmatischen Charakter im ästhetischen, nicht im psychologischen Sinne gibt. Überwältigend wird dieser Erscheinungs-Charakter, wenn Klytaimestra nach der Ermordung Agamemnons aus dem Hause der Atriden tritt – die metaphorisch-symbolische Qualität dieses Hauses9 als eines Orts mythischer Gewalt ist von Beginn an immer wieder erinnert – und zu ihrem stolzen Bekenntnis als Täterin anhebt. Der transpsychologische Erscheinungs-Charakter ist von Beginn an gesichert, seinen ersten Höhepunkt findet er im ritualistischen Empfang Agamemnons durch den roten Teppich. Denn der Teppich, auf dessen komplexe symbolische Funktion ich nicht eingehen kann,10 ist – um nur dieses zu unterstreichen – nicht nur Klytaimestras Täuschungsmanöver. Ebensowenig wie ihre ironisch-doppelsinnige Rede nur der Täuschung, also einer psychologischen Charakteristik ihrer dramatischen Person, gilt. Er ist die ästhetische Fundierung einer dem Mythos entnommenen Metapher, sowohl bezüglich Agamemnons tragischer Hybris als auch bezüglich seines bevorstehenden, quasi rituellen Todes als Opferung. Zu 2: Den Höhepunkt des tragischen Kerns bilden die Prophezeiung der angekündigten Morde und die Gesichte der vergangenen Morde durch Kassandra, sowie die folgende nochmalige Schilderung des Mordes an Agamemnon durch Klytaimestra, in der das, was in Kassandras Sprache dunkel blieb, in aller Eindeutigkeit und Detailgenauigkeit ausgesprochen 8 Aischyl. Ag. 1521–1528. 9 Vgl. hierzu Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, München 1960, S. 51–59. 10 Vgl. Jean-Pierre Vernant und Pierre Vidal-Naquet: Myth and Tragedy in Ancient Greece, New York 1988, S. 47 f.; vgl. auch den Beitrag von B. Seidensticker in diesem Band.
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ist. Blickt man zurück auf die Schilderung der Ermordung Agamemnons in der Odyssee, dann fällt für die ästhetische Transformation des Mythos im Agamemnon ins Gewicht, daß Kassandra zunächst ihre eigene mythologische Identität durch die Beschwörung Apollos zitiert.11 Diese Identität wird jedoch ästhetisch versetzt, weil es sich um Angstschreie handelt, ohne daß man ihre genaue Ursache und damit eine eindeutige psychologische Erklärung erführe. Der Prozeß der Versetzung des mythischen Kontextes zu einem ästhetischen schreitet fort, wenn Kassandra die Ermordung Agamemnons in dunkel, rätselhaft bleibenden Bildern eines tierischen Schlachtvorgangs erblickt, unterstützt von düsteren Blutmetaphern des Chorführers.12 Hier nun kommt die spezifische Metaphorik der Orestie ins ästhetische Argument, auf die ich anläßlich der Frage nach der Gewalt in der Sprache zurückkommen werde. Zu 3: Entscheidend für die Transformation der mythischen Erinnerung in eine „Ästhetik des Schreckens“ ist schließlich Kassandras Vision von den ermordeten Atreus-Neffen, die ihr eigenes Eingeweide in den Händen halten, ein Bild, dessen ästhetisch-imaginativer Effekt noch alle folgenden Dramatiker, von Seneca bis Shakespeare, in Bann geschlagen hat,13 d. h. dessen ästhetischer Index nach Lockerung der mythologischen Referenz um so autonomer wurde. Agamemnons Ermordung rückt ein in die Kette der rituellen Schlachtung. Wenn Klytaimestra nach beiden Morden den genauen Hergang von Agamemnons Ermordung wiedergibt und Kassandras prophetische Gesichte präzisiert, dann tritt das mythologische Schicksal Agamemnons endgültig in seine tragische Form ein und wird gleichzeitig wieder zurückgebunden in die mythische Identität des Hauses der Atriden, mit der Klytaimestra am Ende ihre Tat definitiv begründet.14 Paradigma II: Das Gewaltopfer Antigone Es gibt für Antigone keine mythische Erzähltradition, wie sie es im Falle des Agamemnon gibt, unmittelbar ihr eigenes Schicksal betreffend. Die Antigone-Geschichte ist wohl Sophokles’ Erfindung.15 Es gibt allerdings mythologische Vergleiche, in denen ihr tödliches Los sublimiert wird, so der Vergleich mit Niobe, die in einen Fels verwandelt wurde, so der Vergleich mit Danae, die in ein erzenes Gefängnis gesperrt wurde. Aber beide my11 12 13 14 15
Aischyl. Ag. 1072–1089. Aischyl. Ag. 1107–1131. Aischyl. Ag. 1214–1222. Aischyl. Ag. 1497–1504. So Wolfgang Schadewaldt: Die griechische Tragödie, Frankfurt a. M. 1991, S. 226.
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thologischen Referenzen sind keine mythologische Fundierung der Gewalt in der Antigone-Tragödie. Allerdings kann die Verbindung der Gewaltthematik mit poetisch-ästhetischen Vorstellungsbildern auch hier erkannt werden. Die eigentliche Fundierung liegt im Mythos des Ödipus begründet, auf den sich die Heldin bei ihrem ersten Auftritt sofort und danach mehrfach bezieht, so daß ihr Schicksal als Wiederholung beziehungsweise als Alternierung des Schicksals ihres Vaters verstanden werden kann. Wenn man nun auf die im Drama agierende Gewalt schaut, dann könnte man die sich akkumulierenden Selbstmorde des Endes ins Auge fassen und über ihre ästhetische Funktion reden. Statt dessen sei ausschließlich die Gewalt betrachtet, die Antigone bewußt auf sich zieht und deren trotz fehlender mythologischer Vorlage ästhetische Wirkungskraft. Es ist seit Hegels berühmter Analyse der Sophokleischen Tragödie als eines Sittlichkeits-Diskurses immer wieder auf die Kreon gegenüber alternative Gesetzestreue der Antigone hingewiesen worden, in deren Befolgung sie einer Art moralisch-politischer Agent geworden sei:16 als Vertreterin des gleichberechtigten, wenn auch relativen Prinzips der Loyalität gegenüber dem Bruder und gegenüber den unterirdischen Göttern. In der aktuellen Diskussion hat dies – nicht zuletzt innerhalb der Genderstudies – entweder zu einer existentiell-moralischen Identifikation mit Antigone oder zu einer anthropologisch-utopischen Fixierung ihrer dramatischen Person geführt,17 wobei Hegels Verständnis wesentlich blieb. Was dabei übersehen wird ist, daß es sich bei der Darstellung der Katastrophe weniger um einen Austausch von Argumenten, also einen logischen Diskurs handelt, als um eine rituell wiederholte Todesbereitschaft, ja den Todeswunsch der Antigone. Erst hierdurch kommt das mythische Gewaltmoment wirklich ins Spiel. Wie Klytaimestra tritt Antigone sofort als „Erscheinung“ ins Bild, die sich mit ihrer mythischen Wurzel, d. h. dem Leid des Hauses Ödipus, identifiziert. Sowohl ihr Gespräch mit der Schwester Ismene als auch der zentrale Zusammenstoß mit Kreon sind von dieser mythischen Identifikation geprägt. Im Falle des ersten Gesprächs mit Ismene bleibt es nicht bei einer Information über Kreons Anordnung und einer pragmatischen psychologischen Abwägung der Situation, wie dies Ismene tut, sondern Antigone definiert in wenigen Sätzen die Situation als 16 So kürzlich wiederum Helene P. Foley: Sacrificial Virgins. Antigone as Moral Agent. In: Dies.: Female Acts in Greek Tragedy, Princeton 2001, S. 172 ff. 17 Vgl. Judith Butler: Antigones’ Claim. Kinship between Life and Death, New York 2000. Und Carol Jacobs: Dusting Antigone. In: Modern Language Notes (1996), S. 890–917.
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eine tödliche ohne Alternative. Das ist nicht selbstverständlich: Sie hätte Kreons Verordnung, den einen Bruder nicht rituell zu begraben, als allgemeine Warnung verstehen können, die die Angehörigen des königlichen Hauses noch nicht unmittelbar bedroht, denn Kreon selbst verdächtigt bei der Suche nach dem Täter noch nicht im entferntesten seine Nichte. Sie hätte eine Intervention bei Kreon vorschlagen können, um das Rechtsargument zu diskutieren. Und sie hätte – damit allerdings ihren mythologischen Charakter verlierend – den Weg Ismenes gehen können. Denn diese zitiert auch das Schicksal des Hauses ausführlich, sowohl die selbstentdeckten Verbrechen des Vaters als auch den ruhmlosen Selbstmord der Mutter und die fatale Doppeltötung der Brüder, aber nur um, sozusagen als psychologisches Argument, eine Distanz zwischen sich und diese Vergangenheit zu legen. Antigone dagegen führt die Vergangenheit fort. Und zwar dergestalt, daß sie weniger ihr Argument für die Bestattung des Bruders wiederholt, als vielmehr die Aussicht auf den eigenen Tod formuliert: „Schön für mich, danach zu sterben! Lieb werde ich bei ihm liegen, mit dem Lieben zusammen, nach frommem Frevel […] Dort nämlich werde ich immer liegen …“18 Dieses nicht ohne erotische Untertöne formulierte Statement ihrer Gemeinschaft mit dem Tod als Folge eines Verbrechens, das dennoch den Göttern gehorcht, wird frenetisch wiederholt. Dabei bekennt sich Antigone sogar dazu, daß diese Tat eine Art Torheit sei, will aber das „Schreckliche“ erleiden: „Denn erleiden werde ich nicht so Schlimmes, daß es nicht schön wäre zu sterben.“19 Sie erklärt ihre Distanz zu den Lebendigen vor ihrem in Aussicht genommenen Tod. Charakteristisch dabei ist, daß Antigone, die Braut Haimons, diesen mit keinem Wort erwähnt, geschweige ein Wort mit ihrem Verlobten über ihr Vorhaben wechselt, ein psychologisch ganz unverständliches Faktum. Aber ein solches Gespräch hätte die mythische Tragödie in ein psychologisches Drama umschlagen lassen, das Sophokles nicht beabsichtigte. Je weiter entfernt von psychologischen Erklärungen, umso mythisch-ästhetischer, weil enigmatischer, ist die Gestalt der Antigone. Nach ihren Erklärungen in ihrem ersten Auftritt gibt es keine andere Rede mehr als die Affirmation eines einsamen Todes. Das Streitgespräch mit Kreon – das wird ebenfalls häufig übersehen – konzentriert sich nicht auf das anfänglich aufgenommene Argument unterschiedlicher Gesetzestreue, sondern auf Antigones Bereitschaft zu ster18 Soph. Ant. 72–76 (Übers. hier und im folgenden von Norbert Zink, Stuttgart 1981). 19 Soph. Ant. 96 f.
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ben, ja auf ihre mythische Affinität zum Tode: „Wer in vielen Leiden wie ich lebt“ – heißt Antigones Argument – „wer würde durch den Tod nicht etwas gewinnen? Für mich ist der Tod kein Schmerz.“20 Und Kreon, der ebenfalls nicht an einer Rechtsdiskussion, sondern nur an Macht interessiert ist, unterstreicht Antigones Verhalten als eine Konsequenz aus dem tödlichen Faktum des Hauses Ödipus.21 Aristoteles hat in seiner Rhetorik bemerkt, daß Antigones Art und Weise, ihr Leben zu riskieren, nicht glaubwürdig sei. Das Argument wider die konventionelle Plausibilität wiederaufnehmend führe ich es weiter und sage: In der Tat läuft Antigones bewußte Selbstisolation auf eine Position hinaus, die weder erklärbar ist im Sinne von Haimons Verständnis als heroisch, noch im Sinne von Kreons Verständnis als schamlos, nämlich illoyal gegenüber der Stadt. Eine psychoanalytische Lektüre ihres Bestehens nicht nur auf dem Tod, sondern auf dem einsamen Tod, würde es „Narzißmus“ nennen. Eine psychologische Lektüre würde von „depressiver“ Störung sprechen. Und beides wäre auch begründbar mit dem furchtbaren Hintergrund der Familiengeschichte. Die wissenschaftliche Rezeption der Antigone zeigt weitere negative Varianten der Deutung.22 All dies aber läuft auf eine psychologische, positiv- oder negativ-moralisierende Lektüre hinaus, die Antigones letzte Lamentatio, das Leben zu verlassen, mit einschließt. Statt dessen schlage ich vor, die Intensität der Selbstidentifikation mit dem „Unmöglichen“ – so Ismenes letzte Charakteristik der Schwester23 – als das „deinón“, das gefährliche Wagnis über die Grenzen hinaus, anzusehen, vor dem das Chorlied „pollà tà deiná“ warnt.24 Es mag sein, daß Sophokles hier auch den existentiellen Konflikt zwischen Individuum und Gemeinschaft, also eine neue Problematik des Stadtstaates Athen, symbolisch gefaßt hat. In der Todes- und Einsamkeits-Rhetorik der Antigone tritt die mythologische Mitgift der Trauer und der Lamentatio in Kraft, und zwar in einen anderen Zustand übergehend: den einer nur ästhetisch vermittelbaren Enigmatik. Ohne diese mythologische Mitgift könnte eine solche ästhetische Qualität nicht zustande kommen, sondern es bliebe bei einem moralisch-psychologischen Ressentiment.
20 21 22 23 24
Soph. Ant. 463–466. Soph. Ant. 471 f. Vgl. Foley (2001) [Anm. 16], S. 173 Anm. 3 und S. 175 Anm. 11. Soph. Ant. 90. Soph. Ant. 332 ff.
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II. Die Gewalt in der Sprache Die Gewalt, die sowohl in Agamemnon als auch in Antigone zur Darstellung kommt, wird produziert durch die Anschaulichkeit metaphorisch reicher Sprache, die Gewalt repräsentiert. Es gibt dabei aber, sowohl bezüglich Aischylos’ als auch bezüglich Sophokles’ Sprache, einen anderen Aspekt, der die Gewaltanwesenheit intensiviert: Die überfallartige Intensität dieser Sprache selbst, in der Gewaltdarstellung zum poetischen Ereignis wird und so, wie wir sehen werden, von Aischylos auch verstanden wurde. Mein erstes herausragendes Beispiel hierfür ist des Chors Beschreibung der Opferschlachtung der Iphigeneia,25 in der der Schrecken erstmals zur „Ästhetik des Schreckens“ fokussiert wird. Dem folgt Klytaimestras erste ekstatische Rede, die Beschreibung der Flammenzeichen,26 die durch ihre metaphorisch-symbolische Ambivalenz nicht bloß die Heimkehr des siegreichen Helden annonciert – das ist der psychologische Aspekt –, sondern ebenso und vielmehr noch das sich auf dem Hause des Atreus versammelnde mythische Geschick – das ist die ästhetisch-mythologische Funktion. Und schließlich – als Höhepunkt dieser Gewalt in der Sprache – die ahnend-dunkle Artikulation des mythischen Schreckens in der Rede der Kassandra27 und das „tödtlich-factische“ Wort der Antigone,28 um es mit Hölderlins Formulierung auszudrücken. Wie funktioniert Gewalt in der Sprache? Antwort: Durch die Applikation mythischer und mythisierender Bilder, die die jeweils pragmatischfaktische Szenerie – metaphorisch bedingt – subversiv entstellen. Die Opferszene der Iphigeneia wird bekanntlich vorbereitet durch das Doppelbild von zwei Geiern bzw. zwei Adlern. Im ersten Vogelbild geht es um die Angst der Vögel um ihre Brut,29 im zweiten Vogelbild umgekehrt um die Tötung einer schwangeren Häsin.30 Es ist gar nicht auf den ersten Blick auszumachen, auf was sich die beiden Bilder unmittelbar metaphorisch beziehen, weil sie aporetisch sind: Den niedrigeren Vögeln wird eine emotionell anrührende Haltung zugeschrieben, den vornehmen Vögeln eine moralisch niedrige Tat, das Schlagen eines trächtigen Tieres, identifiziert mit Agamemnons und seines Bruders als Crimen gedeuteter Zerstörung 25 26 27 28
Aischyl. Ag. 205–246. Aischyl. Ag. 281–316. Aischyl. Ag. 1100–1118, 1125–1129, 1214–1222, 1269–1281. Friedrich Hölderlin: Anmerkungen zur Antigonä. In: Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. von Michael Knaupp, München 1992, Bd. II, S. 373. 29 Aischyl. Ag. 48–54. 30 Aischyl. Ag. 109–124.
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Trojas und der Opferung Iphigeneias. Die Sprache selbst bewirkt durch ihre Metaphorik einen Effekt der Aggression und des Aufruhrs, der der offiziellen Deutungsmöglichkeit, nämlich das Unternehmen Agamemnons zu affirmieren, nicht einfach widerspricht, sondern sie untergräbt. Ebenso die Schlachtung Iphigeneias und die sie vorbereitende Szene. Es ist – und das eben kraft der Sprache – nicht möglich, Agamemnons Konflikt eindeutig zu benennen und die Debatte, die das Problem seiner Entscheidungsfreiheit ausgelöst hat,31 belegt das von der Sprache selbst heraufgeführte Dilemma hinlänglich, das zu kommentieren nicht unmittelbar zu unserem Thema gehört. Bei der eigentlichen Schilderung der Opferung Iphigeneias tritt nun ein Faktor der mythologisierenden Rede hinzu, der die ästhetische Funktion des mythologischen Wortes in der Tragödie besonders beleuchtet: Das „Schreckliche“ wird „schön“ gesagt – um es mit den späteren Worten des Chores gegenüber Kassandra zu formulieren,32 worüber noch zu sprechen sein wird. Zum ersten Mal erscheint diese subversive Qualität der Aischyleischen Sprache in der Beschreibung des Iphigeneia-Opfers: Das buchstäbliche blutige Schächterhandwerk auf dem Opfer-Altar, dessen spektakuläre Grauenhaftigkeit („die gebeugte“ – „gleich einer Geiß“33) verschmilzt zur Erscheinung des Schönen: der „schöngeschwungene Mund“ – der erstickt wird, „das Safrankleid nieder gleiten lassend“34 – die Metapher des herabfließenden Blutes – diesem Metzelvorgang und dem Erbarmen erheischenden Blick, dem kein Wort mehr erlaubt ist, opponiert das Bild der Anmut, der buchstäblichen Vorstellung von einem Bild.35 Und auch das, was der Blick wirklich verbirgt, ist doppelt gepolt: Er wird mit einem „Pfeil“ verglichen, der um Schonung fleht, der aber auch den Fluch enthält, den schließlich Klytaimestra in die Tat umsetzen wird. Man wird der Gewalttätigkeit in Klytaimestras Brandzeichen-Rede und in der Rhetorik des Roten Teppichs wieder anders gewahr: In der Spannweite zwischen der Gefährliches nicht nur ankündigenden, sondern gleichsam selbst vollstreckenden Intensität der Lichtmetaphorik und dem enigmatischen Symbolismus des Roten Teppichs sagt die Sprache nicht nur Gewalt an, sondern vollzieht sie selbst, um gerade in dieser Funktion ihre mythisch-poetische Essenz zu verstrahlen. Dies wird, sozusagen selbst31 Hierzu Vernant/Vidal-Naquet (1988) [Anm. 10], S. 51–53, 71 f. 32 Aischyl. Ag. 1140–1155. 33 Aischyl. Ag. 231–235 (Übers. hier und im folgenden von Oskar Werner, München, Zürich 41988). 34 Aischyl. Ag. 235, 239. 35 Aischyl. Ag. 241–244.
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referentiell, thematisiert in Kassandras Klagegesang: Den Eintritt in den mythopoetischen Tonfall bildet ihr Schreckensruf an Apollon, indem sie im Wortspiel mit dem Namen „Apollon“ als „Verderber“36 unmittelbar ihre mythische Vergangenheit mit dem Gott beruft, aber nicht direkt ausspricht. Dann aber evoziert das Gesicht von der Ermordung Agamemnons Schlüsselworte der mythischen Überlieferung: Das „Fangnetz“, der „Stier“, der ferngehalten werden soll von der „Kuh“, das „schwarze Horn“,37 solche sinnlich-konkreten, aber evasiven Gegenstandsbezeichnungen eines Opferrituals geben der Mordmission die Maske, hinter der sich ein Mehr an Gewalt noch verbirgt, das gleichzeitig in seiner Sinnlichkeit brilliert. Der Chorführer vergleicht schließlich Kassandras Klage mit dem Klagelaut der mythischen Nachtigall – es ist Philomena, die um Itys, den kannibalistisch getöteten Sohn des Königs Tereus klagt, ein Bild, das auch bei Sophokles auftaucht und zum Arsenal der poetischen Sprache des 5. Jahrhunderts gehört. Auch wenn Kassandra diesen Vergleich zurückweist, vollendet ihn der Chor, und dieser ist es auch, der die entscheidende Formel für den ästhetischen Charakter des von Kassandra verkündeten Schreckens findet: „t¦ d' ™p…foba dusf£tJ klagg´ melotupe‹j Ðmoà t' Ñrq…oij ™n nÒmoij“. „Daß du, was furchtbar düstern Tons Klang hat, zum Liede prägst, zugleich voll und schön hell getönt.“38 So die Übersetzung von Oskar Werner. Entscheidend ist die Entsprechung von „™p…foba“, des düsteren Tons, und „Ñrq…oij nÒmoij“, des Lieds; das Zusammengehen des Schrecklichen und des Schönen zum gleichen Zeitpunkt – im Akt einer Umprägung, sozusagen in einem kreativen Münzprozeß: „ melotupe‹j“. Natürlich ist das auf der Ebene der Dramaturgie eine Referenz des Chors an die Unglückliche, der der Tod bevorsteht. Es ist aber gleichzeitig ein Selbstkommentar des Dichters und gleicht in der strukturellen Entsprechung von Schrecken und Schönheit der schon zitierten Bildopposition innerhalb der Darstellung des Opfers der Iphigeneia. Die Sprache des Chors ist selbst, wie wir sahen, Medium des Gewaltereignisses von Beginn an. Sie repräsentiert im Unterschied zur Sprache Kassandras die objektive Form des Wissens über mythische Gewalt, die in tragische übertritt: einerseits die Erzählung der Iphigeneia-Opferung, die um vergangene Gewalt weiß; andererseits die Ahnung zukünftiger Gewalt. Das entspricht der doppelten Inszenierung des Schreckens als eines ästhetisch codierten: als Erwartungs-Angst und als Erscheinungs-Schrek36 Aischyl. Ag. 1073–1077. 37 Aischyl. Ag. 1125–1128. 38 Aischyl. Ag. 1152 f.
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ken.39 Die Ahnung zukünftiger Gewalt ist das Kontinuum der Sprache des Chors, beginnend mit dem rituellen Refrain: „a‡linon a‡linon e„pš, tÕ d' eâ nik£tw“. („Wehe, ruf Wehe voll Leid, doch das Gute sei siegreich.“40) Der Chor sieht selbst nicht die Phänomene des Schreckens, vielmehr nur verworrene Bilder,41 d. h. Erwartungs-Angst tritt vor Erscheinungs-Schrekken. Erst in Kassandras Sprache wird die vergangene Gewalt (die AtreusGreuel) aktuelle Gewalt und trifft in dieser Vergegenwärtigung auch die zukünftige Gewalt (die Ermordung Agamemnons). In dieser Vergegenwärtigung liegt die zentrale Bedingung für die Transformation mythischer Gewalt in tragische Gewalt. Analog dazu tritt die Verwandlung von Informations-Sprache in poetische Sprache, wie oben ausgeführt. Das erklärt auch die Differenz zwischen Chor und Kassandra diesbezüglich: Der Chor nennt seine Sprache zwar auch „Gesang“,42 aber das Übergewicht der Ahnung des Schrecklichen verhindert, daß dieser Gesang eine „schöne Melodie“ ist wie im Falle Kassandras: Es sei ein Klagegesang „ohne Leier“,43 sagt der Chor. Er bezieht sich nicht auf Bilder aktualisierter Gewalt, sondern reflektiert diese als Vorstellung. Insofern distanziert der Chor auch die mythische Gewalt, die Kassandra als unmittelbare präsentiert und in dieser Präsentation ästhetisch macht. In dieser Differenz zeigt sich, wie sich mythische Gewalt im Prozeß des Ästhetischwerdens gegen den Diskurs der Distanz durchsetzen muß, um zur tragischen Gewalt zu werden. Erst im Prozeß gegen diese Distanz (die Skepsis des Chors) ist es dem mythischen Faktum (der mythischen Vergangenheit) erlaubt, tragisch-ästhetische Gegenwart zu werden. Im Falle von Sophokles Antigone sieht die ästhetische Qualität des mythologischen Vokabulars nach Maßgabe der stilistischen Differenz zwischen Aischylos und Sophokles anders aus. An die Stelle der expressiven imaginativen Metaphorik der Aischyleischen Kassandra rückt der Lakonismus der Sophokleischen Antigone. Mit dem Begriff „Lakonismus“ ist aber schon etwas für die ästhetische Bewandtnis der Gewaltaffirmation – in diesem Falle Antigones Entschluß zu sterben, genauer hingerichtet zu werden – Entscheidendes gesagt: Denn die Abweisung jeder ausführlichen Eingängigkeit, die Reduktion ihrer Sprache auf das Allernotwen39 Vgl. K. H. Bohrer: Erscheinungsschrecken und Erwartungsangst. Die griechische Tragödie als moderne Epiphanie. In: Ders.: Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit, Frankfurt a. M. 1994, S. 32–62. 40 Aischyl. Ag. 121, 139, 159. 41 Aischyl. Ag. 975–984. 42 Aischyl. Ag. 979. 43 Aischyl. Ag. 990.
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digste: die Wiederholung der immer gleichen Worte: „Tod“, „sterben“, „Alleinsein“, bringt in der Sprache selbst eine tödliche Konsequenz herauf, so wie auch in der Stichomythie zwischen Antigone und Kreon etwas Unabwendbares sich Wort für Wort vollzieht, weshalb René Girard von der Stichomythie als einer unmittelbar aus dem archaischen Zweikampf hervorgegangenen sprachlichen Gewaltform sprechen konnte.44 Das ändert auch Antigones Abschiedsgesang nicht: Er ist Lamentatio, partiell vergleichbar durchaus Elektras Verbindung von Aggressivität und Lamentatio in Sophokles’ gleichnamiger Tragödie, in der Form institutionalisierten rituellen Sprechens. Es ist keine Reue. Die aggressive Identifikation mit dem Tod straft den immer wieder für die humanistische Ideologie herangeholten Satz Antigones als solchen Lügen: „oÜtoi sunšcqein, ¢ll¦ sumfile‹n œfun“ – „nicht Feind, nein, um Freund zu sein ward ich geboren“.45 Die Aggressivität, die diesem Satz widerspricht, ist zwar am Ende der Abschiedsklage gewichen. Aber es stellt sich eine andere, nicht weniger stark den Tod affirmierende, nicht bloß den Tod reflektierende Rhetorik ein, die die Gemeinsamkeit mit den Toten des Hauses des Ödipus als etwas Unabdingbares herausstellt: „[…] Nachdem diese umgekommen. […] Von ihnen gehe ich als letzte und bei weitem Verruchteste hinunter, bevor sich das Geschick des Lebens erfüllt.“46 Hölderlins berühmt gewordener, wenn auch keineswegs eindeutig verstehbarer Satz aus seinen Anmerkungen zur Antigonä akzentuiert das bisher Ausgeführte besonders pointiert: „Das griechisch-tragische Wort ist tödlich-faktisch, weil der Leib, den es ergreifet, wirklich tödtet.“47 Man kann diesen intuitiven Satz im Sinne unserer Fragestellung auslegen und präzisieren: Die von Gewaltmythologien geprägte Rede hat jede subjektive Charakteristik soweit ausgetrieben, daß es keinen Kompromiß mehr gibt. Es bleibt nur das Objektive der tödlichen Setzung, die das Wort selbst notwendig zur tragischen Handlung macht.
Epilog Was folgt aus der Gewalt-Ästhetik für die Auffassung von der Tragödie als Opferritual? Einfacher ausgedrückt: Was hat die attische Tragödie mit dem 44 45 46 47
Girard (1992) [Anm. 5], S. 70. Soph. Ant. 523. Soph. Ant. 895 f. Hölderlin (1992) [Anm. 28], S. 373.
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Dionysos-Kult zu tun?48 Auf diese Frage haben J. P. Vernant und P. VidalNaquet vor dreißig Jahren eine andere Antwort gegeben als später Longo und Goldhill: nämlich Nichts. Die Tragödie, so die lapidare Erklärung, sei eine rein künstlerische Erfindung, vollkommen gelöst zu betrachten von kultischen Ursprüngen, und selbst diese seien zweifelhaft.49 Diese Erklärung war auch eine kritische Antwort an René Girards damals gerade veröffentlichte, bis heute virulente Theorie der Tragödie als einer Schwundstufe der Krise des Opferkults, in der die Themen des Mythos und seiner ursprünglichen Gewalt zur Anschauung kämen. Seitdem ist die Debatte darüber nicht beendet, jedenfalls nicht in der angelsächsischen Forschung, die vor allem wieder nach der religiösen Relevanz der Tragödie im Stadtstaat Athen des 5. Jahrhunderts fragt, eine Frage die allerdings nicht einfach gleichzusetzen ist mit der nach dem kultischen Ursprung, auch wenn sich beide berühren. Die Oxforder Gräzistin Sourvinou-Inwood hat kürzlich Erklärungen, wonach die ritualistischen Elemente allein theatralischen Absichten dienten, wohl mit guten Gründen kritisiert und dagegen die Bedeutung der Religion gerade in der Orestie noch einmal hervorgehoben,50 ohne so weit zu gehen wie Oddone Longo, der dem literarischen Text jede ästhetische Autonomie abspricht. Da ich aus mangelnder Kompetenz in Sachen altphilologisch-historischer Materie zur spezifischen Frage der religiösen Aktualität kein Urteil abgeben kann, beschränke ich mich abschließend auf die von mir untersuchte ästhetische Funktion von Gewalt-Mythologemen und ihrer Aussagekraft hinsichtlich einer noch immer vorhandenen Präsenz des Mythos. 1. Mit Vernant/Vidal-Naquet ist daran festzuhalten, daß die mythischen Figuren, die die Helden der Tragödie darstellen, schon vom zeitgenössischen Athener Publikum in angemessener historischer Distanz wahrgenommen wurden.51 Soweit ihr Schicksal unmittelbar vom Mythos begründet ist, wurde dieser als zur Sage relativierte Umstandserläuterung tragischer Existenz gesehen. Zweifellos unterschied sich eine solche Perspektive prinzipiell von der unseren, die etwa die zentrale Rolle des Grab48 Hierzu vgl. Oddone Longo: The Theater of the Polis und Simon Goldhill: The Great Dionysia and Civic Ideology. Beide in: John J. Winkler und Froma I. Zeitlin: Nothing to do with Dionysos? Athenian Drama in its Social Context, s. o. Winkler/ Zeitlin (1990) [Anm. 5], S. 12 f. und S. 97 f. 49 Vernant/Vidal-Naquet (1988) [Anm. 10], S. 31 ff., S. 187. 50 Sourvinou-Inwood (2003) [Anm. 5], S. 201 u. 231. 51 Vernant/Vidal-Naquet (1988) [Anm. 10], S. 33.
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und Trauerrituals in Aischylos’ und Sophokles’ Dramen nur noch in symbolistischer Verfremdung versteht. 2. Die objektive, nicht subjektive Begründung des tragischen Schicksals, die verhindert, daß aus der Tragödie ein Psychodrama wird, gilt als Gesetz nicht bloß für die attische, sondern auch für die moderne Tragödie: Sobald man die Tragödie des Hamlet auf dessen potentielle psychologisch-psychotische Eigenschaften begründet, was seit Freuds Erklärung52 häufig geschieht, geht der tragische Gehalt verloren. Insofern bedeutet die tragische Objektivität – auch wenn sie im Mythos begründet ist – nicht bloß eine archaische Mitgift, sondern eine ästhetisch-imaginative Erfindung von anhaltender Wirkung. Nietzsches Bestehen auf der Maske des Dionysos, hinter der sich alle tragischen Helden finden,53 ist insofern noch immer in dem Sinne gültig, daß Subjektivität in Objektivität aufgehoben wird. 3. Die mythologisierende Metapher, durch die und in der alle Gewaltereignisse zur Darstellung kamen, zeigt den Prozeß einer Entfernung von der mythischen Überlieferung. Gewaltdarstellung im Mythos selbst – das haben auch die anthropologisch-soziologischen Untersuchungen Girards gezeigt – ist von kurzem Informationsgehalt. Darin entfernt sich die mythologische Metapher vom Mythos, indem sie gesucht und ausschweifend wird, und belegt eben hierin ihre literarische Funktion schon in der attischen Tragödie. Von der mythisierenden Gewaltmetapher zu unterscheiden ist die ritualistische Rede oder die Darstellung ritueller Vorgänge. Während erstere immanent ästhetische Funktionen ausübt, übt die rituelle Rede, die sich häufig auch auf Gewalt, den Tötungsakt, bezieht, wohl auch aktuell gesellschaftliche aus. In jedem Fall erscheint mir die seit der symbolistischen Moderne des frühen 20. Jahrhunderts zu beobachtende, zur Zeit wieder in Schwung kommende Neigung, es nicht bei der ästhetischen Leistung der mythologisierenden Metapher oder rituellen Rede zu belassen, sondern eine anthropologische Begründung zu suchen, ein Trugschluß bzw. eine willkürliche Applikation.
52 Sigmund Freud: Die Traumdeutung. In: Studienausgabe, hrsg. von A. Mitscherlich u. a., Frankfurt a. M. 1972, Bd. 2, S. 268 ff. 53 Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie. In: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 1967 ff., Bd. I, S. 63.
Patrick Primavesi (Frankfurt am Main)
Gewalt der Darstellung: Zur Inszenierung antiker Tragödien im (post)modernen Theater Rückblickend ist festzustellen, daß das Theater des 20. Jahrhunderts wesentlich von der Arbeit mit antiken griechischen Tragödien geprägt war. Deren Auseinandersetzung mit der Gewalt des Mythos bleibt weiterhin virulent, wo Zivilisation und Barbarei untrennbar verknüpft scheinen und wo die Bedrohung durch alle Arten von Gewalt immer häufiger auch als Quelle der Faszination und des Konsums dient. So hat es die theatrale Darstellung von Gewalt heute nicht mehr nur mit einer allgemeinen, allzumenschlichen Lust am Entsetzen zu tun, die schon in früheren Zeiten kaum zu bändigen war. Das Theater spielt inzwischen vor und mit Zuschauern, die von Darstellungstechniken und -konventionen des Films und der neuen Medien geprägt sind – denen außer Talkshows und Infotainment auch Horror-, Porno- und Science-Fiction-Filme näher liegen als griechische Mythen. Seit Schiller das „Vergnügen an tragischen Gegenständen“ als Bestandteil auch der modernen Ästhetik diagnostiziert hat,1 ist der Stellenwert der Gewalt-Präsentation in allen Künsten und Medien eher noch gestiegen. Gleichzeitig ist ‚Tragödie‘ zum universalen Paradigma von Schrecken und Gewalt avanciert, wogegen die speziellere Bedeutung des Begriffs im Sinne der historischen Theaterform und poetischen Gattung verblaßt ist. Parallel zur Entfaltung einer Philosophie des Tragischen und der unablässigen Arbeit am Paradigma der modernen Tragödie2 1 Zur antiken Begründung dieses Topos vgl. Bernd Seidensticker: Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen. In: Fragmenta Dramatica, hrsg. von Heinz Hofmann, Göttingen 1991, S. 219–41. 2 Vgl. dazu Peter Szondi: Versuch über das Tragische. In: Schriften I, Frankfurt a. M. 1978, S. 149–260; George Steiner: Der Tod der Tragödie, Frankfurt a. M. 1981 und Christoph Menke: Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel, Frankfurt a. M. 2005.
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hat man sich daran gewöhnt, von Tragödie zu sprechen, wenn schon das bloße Ausmaß physischer Gewalt schockiert oder wenn sich die Verkettung fataler Umstände zur Katastrophe ausweitet. Fast scheint es, als suggerierten da die verallgemeinerten Begriffe Tragik und Tragödie einen letzten Halt, als fernes Echo einer klassischen Kultur, in der die Einbindung des Schreckens in einen größeren Sinnzusammenhang noch im Zentrum aufwendiger jährlicher Festspiele stehen konnte. Wie weit reicht aber dieses anhaltende, zwiespältig erscheinende Interesse an der Tragödie? Geht es auch den Theaterregisseuren nur um den Reflex einer allgegenwärtigen, alltäglichen Gewalt oder um einen doch längst schon diskreditierten Gestus der Sinnstiftung? Erschöpft sich die Inszenierung von Tragödien im Einsatz gängiger Thrill-Effekte, oder kann sie auch als Arbeit an einer tradierten ästhetischen Form gelten, gerade in der Auseinandersetzung mit der dafür spezifischen Wahrnehmung und Darstellung von Gewalt? Grundlegend für die Diskussion der damit angerissenen Problematik bleibt der Umstand, daß – anders als die aktuellen Massenmedien, in denen die Vorführung physischer Gewalt zum Fetisch wird – die antike griechische Tragödie eine komplexe künstlerische Form ist, die darauf verzichtet, Gewaltakte unmittelbar auszustellen. Eher geht es um indirekte, subtile Darstellungsweisen, die von den Botenberichten über kodifizierte Formen des Erschreckens bis zu Trauergesängen reichen. Die Vorführung des Anhörens und Beklagens schlimmer Nachrichten auf der Bühne ermöglicht, was in moderner Perspektive als Reflexionsprozeß und als ästhetische Erfahrung der Tragödie gelten kann – die Steigerung der Vorstellungskraft des Publikums gerade durch eine Beschränkung des Spektakulären. Für die Untersuchung einer Ästhetik der Gewalt im 5. Jh. v. Chr. ist aber auch die gegenwärtige Inszenierungspraxis aufschlußreich. Indem sie ihre eigene Darstellungsform und das Vorstellungspotential ihrer Zuschauer reflektieren, arbeiten neuere Tragödienaufführungen zugleich daran, die besondere Ökonomie aufzudecken, mit der die antike Tragödie zur Intensivierung eines kollektiven Erlebens auf die Abbildung der mythischen Greueltaten verzichtet hat. Gewiß konnte die Gewaltdarstellung der Tragödie vereinzelt auch nach heutigem Maßstab drastisch ausfallen: So kann die wiederholte Vorführung der blutigen Leichen in Aischylos’ Agamemnon und Choephoren als Beispiel für eine Dramaturgie des zeitversetzten Schocks gelten, wie Karl Heinz Bohrer das Spiel mit der Spannung von „Erwartungsangst und Erscheinungsschrecken“ beschrieben hat.3 3 Vgl. Karl Heinz Bohrer: Das absolute Präsens, Frankfurt a. M. 1994, S. 32–62.
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Dabei bleibt die Darstellung von Gewalt auch nicht auf das sichtbare Geschehen beschränkt, spielt sogar mehr noch auf dem Feld der stimmlichen Äußerung, des Hörens, der Klage und des Verstummens. Daß der Moment physischer Gewaltausübung dem Blick entzogen bleibt, ist jedenfalls nicht allein mit religiösen Tabus oder mit dem pragmatischen Argument des Illusionsbruchs bei einem bloß gespielten Tod zu erklären, eher schon mit dem Kalkül der Spannungssteigerung durch die eigene Vorstellungsleistung des Betrachters. Gerade darin liegt aber ein elementares Problem für den heutigen Umgang mit Tragödien. Immer wieder wurde versucht, die formalisierte Gewalt der Tragödie zu reproduzieren. Die großen Tragödieninszenierungen des 20. Jahrhunderts, von Max Reinhardt und Leopold Jessner über Bertolt Brechts Antigone-Modell bis hin zu den Antiken-Projekten der Berliner Schaubühne (und vielen weiteren), haben jedoch gezeigt, daß die Debatte um ‚Werktreue‘ mit der Einsicht in die Unmöglichkeit einer auch nur annähernden Wiederherstellung antiker Theaterverhältnisse obsolet wird. Selbst wenn eine antike Tragödie im rekonstruierten Dionysos-Theater von Athen im bestmöglich nachgeahmten Sprachklang aufgeführt werden könnte und das Publikum mit den komplexen Versmaßen der Chorlieder vertraut wäre – immer noch bliebe das Ideal der Rekonstruktion eines antiken Theater-Ereignisses phantasmatisch, gespenstisch. Die antike Tragödie ist eben nicht nur ein literarisches Werk, das bloß genau gelesen werden müßte, um jederzeit einen neuen Ursprung erleben zu können, sondern als Theaterform eine höchst komplexe und historisch bedingte kulturelle Praxis. Daher wirft der von Oliver Taplin in Anlehnung an die Shakespeare-Forschung eröffnete pragmatische Ansatz, die in den Texten angelegten Hinweise auf ein szenisches Geschehen auszuwerten,4 einerseits die methodische Schwierigkeit auf, daß Tragödien als Texte sich der Fixierung ihrer Bedeutungen entziehen, auf Interpretation weiterhin angewiesen bleiben.5 Andererseits ist vom einzelnen Werk her der Prozeß seiner Uraufführung nur vage zu rekonstruieren und noch weniger zu reproduzieren, da ein heutiges Publikum nicht mehr in den Erfahrungshorizont und in die Wahrnehmungsbedingungen und -gewohnheiten der Antike zurückversetzt werden 4 Siehe dazu Oliver Taplin: Greek Tragedy in Action, London 1978, S. 16 ff. 5 Vgl. dazu Simon Goldhills wohlbegründeten prinzipiellen Einwand: „Performance does not efface the textuality of drama“ (Reading Greek Tragedy, Cambridge 1986, S. 284).
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kann.6 Und dennoch: das Theater spielt immer schon mit der Möglichkeit, sein Publikum räumlich und zeitlich auf die Reise zu schicken, einer anderen Wirklichkeit auszusetzen. Daß der Streit um die Fiktion des antiken Theaterereignisses kein Ende findet, liegt aber nicht nur allgemein am Bruch zwischen der Theaterpraxis und einem jeweiligen philologischen und kulturgeschichtlichen Erkenntnisstand, sondern konkret an einem noch zu wenig reflektierten Konflikt zwischen der erwarteten, mehr oder weniger direkten, Darstellung von Gewalt und einer dem Theater eigenen Gewalt der Darstellung, die gerade die Fixierung solcher Erwartungen aufzubrechen sucht. Zugespitzt formuliert geht es mit dem Inszenieren antiker Tragödien also vor allem darum, konventionelle und allzu leicht dechiffrierbare Formen der Gewaltdarstellung in eine aktuelle Gewalt der Darstellung zu überführen, die ihr Publikum auf neue, ungewohnte Weise betreffen kann. Der Doppelsinn des deutschen Wortes Gewalt verbindet das Walten, die ordnende Funktion einer Machtinstanz (potestas) mit der Gewalttätigkeit, der Verletzung des Körpers, der Freiheit und der Interessen einer Person oder Gruppe (violentia). Wenn sich die beiden Bedeutungen auch je nach Kontext voneinander abgrenzen lassen, so zeigt sich doch gerade im Gewaltdiskurs der Tragödie eine ständige Durchdringung und Wechselwirkung dieser semantischen Felder. Schon die in den Tragödientexten gestalteten Formen verbaler und szenischer Gewalt dienen nicht bloß der Abbildung und Vergegenwärtigung der im Mythos angelegten physischen und psychischen Gewalt. Darüber hinaus entfalten sie eine eigene Dynamik, die wesentlich mit der Situation der Theateraufführung zu tun hat, also auch mit der Rolle des Publikums. Im Unterschied zu allen Formen der „medialen Gewalt“ und ihrer gezielten Steuerung der individuellen Wahrnehmung7 ist die im Vorgang einer öffentlichen Theateraufführung ausgeübte situative Gewalt bedingt durch die Begleitumstände der Wahrnehmung selbst, durch die gemeinsame Anwesenheit von Akteuren und Zuschauern, 6 Zu den antiken Aufführungsbedingungen in ihrer Differenz zum heutigen Theater vgl. auch die grundlegende Studie von Hellmut Flashar: Inszenierung der Antike. Das griechische Drama auf der Bühne der Neuzeit 1585–1990, München 1991, S. 11–26. Zum internationalen Kontext siehe den Band: (Dis)Placing Classical Greek Theatre, hrsg. von Savas Patsalidis und Elizabeth Sakellaridou, Thessaloniki 1999. 7 Vgl. den Sammelband: Mediale Gewalt. Interdisziplinäre und ethische Perspektiven, hrsg. von Thomas Hausmanninger und Thomas Bohrmann, München 2002, darin besonders die Beiträge von Hausmanninger zur individuellen und kulturellgesellschaftlichen Funktion der ,Filmgewalt‘, S. 231–83.
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denen etwas geboten wird, dargestellt im Sinne einer Gabe oder eines Opfers, jedenfalls im Rahmen eines aktuellen Vollzugs. Anders aber als in einem kultischen oder religiösen Ritual sind die Regeln dieses Vorgangs nur in einem geringeren Maße festgelegt, können von jeder einzelnen Inszenierung weitgehend neu etabliert werden. Damit ebenso wie mit der kulturellen und subjektiven Bedingtheit der Wahrnehmung von Gewalt8 hat es zu tun, daß die Frage, welche Form von Gewaltdarstellung in gegenwärtigen Aufführungen griechischer Tragödien am ehesten angemessen sei, abgesehen von einigen naheliegenden grundsätzlichen Erwägungen, nicht kategorisch zu beantworten ist. Und auch die Kriterien für den Tatbestand einer ‚Vergewaltigung‘ der Werke lassen sich kaum a priori fixieren.9 Daher wird es im folgenden um eine doppelte, mitunter disparate Perspektive zur Gewalt der Darstellung gehen, im Blick auf die Besonderheiten des Theaters der Tragödie wie auch auf Tendenzen der aktuellen künstlerischen Auseinandersetzung damit.
Voraussetzungen: Tragödie als kulturelle Praxis Das Theater der antiken griechischen Tragödie war in einer besonderen, von späteren Epochen schwer nachvollziehbaren Weise eine Institution des Übergangs. Wie Christian Meier ausgeführt hat, ist dafür der Aufstieg Athens „von einem Kanton zur Weltmacht“ zu bedenken.10 Das fünfte Jahrhundert vor Christus war für Athen eine Epoche sowohl der kriegerischen Expansion als auch der krisenhaften Herausbildung und Konsolidierung demokratischer Herrschaft. Ausgehend von der Entmachtung des Areopags und der bis dahin noch regierenden Aristokratie (um 462) be8 Vgl. Paul Hugger: Elemente einer Kulturanthropologie der Gewalt. In: Gewalt. Kulturelle Formen in Geschichte und Gegenwart, hrsg. von Paul Hugger und Ulrich Stadler, Zürich 1995, S. 17–27. 9 Diese Problematik verdeutlicht beispielsweise das nicht näher begründete Verdikt gegen allzu willkürliche Theaterinszenierungen in Susanne Moraws Einführung zur klassischen Bilderwelt: „Außer acht lassen sollte man diejenigen Interpretationen, die schon in sich absurd sind und den antiken Befund vergewaltigen.“ In: Die griechische Klassik. Idee oder Wirklichkeit, Katalog zur Ausstellung, hrsg. von Wolf-Dieter Heilmeyer und Martin Maischberger, Mainz 2002, S. 266–71, hier: S. 270. 10 Christian Meier: Zur Funktion der Feste in Athen im 5. Jahrhundert vor Christus. In: Poetik und Hermeneutik, Bd. 14 (Das Fest), hrsg. von Walter Haug und Rainer Warning, München 1989, S. 569–91, hier: S. 583.
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obachtet Meier einen „beschleunigten Wandel aller Verhältnisse“, dabei aber die Tendenz, aktuelle Veränderungen „gleichsam einzukapseln und in die Vergangenheit zu bannen, um die Dauer des Bestehenden zu retten“.11 Diese Tendenz prägt insbesondere die Tragödie, in der zeitgeschichtliche Ereignisse zumeist nur mittelbar reflektiert sind. Die Evokation der Gewalt in der Vorstellung der Zuschauer steht aber wie die Theateraufführungen insgesamt im Kontext der alltäglichen Lebensumstände, zumal der militärischen Aktivität großer Teile der Bürgerschaft zur Sicherung der Hegemonie Athens im Mittelmeerraum. So wurden die Agone der Großen Dionysien durch die Zurschaustellung der Tributzahlungen von verbündeten bzw. unterworfenen Städten sowie durch den Aufmarsch der volljährig gewordenen Kriegswaisen eröffnet,12 und die meisten Zuschauer waren Bürger-Hopliten, die immer wieder für ihre Stadt zu kämpfen hatten.13 Mehr oder weniger offenkundig verweist das Theater auf die von Athen zwar entfernten, für seine Bürger aber in vielfacher Hinsicht bedeutsamen Konflikte. Daß die Tragödien immer wieder fremde Schauplätze entwerfen, hatte also wohl auch den Effekt, daß deren von Botenberichten vermittelte Vorstellung den Zuschauern die Bewältigung ihrer Ängste vor jederzeit drohenden Konsequenzen der Polis-Gewalt erleichtern konnte. Der Diskurs über die Gewalt bedurfte dieser Verlagerung auf den anderen Schauplatz, auf die andere Zeit des Mythos und auf die agonale Variation bekannter Stoffe schon deshalb, um sich einigermaßen unabhängig vom tagespolitischen Meinungsstreit entfalten zu können.14 So erweist sich das Theater der Tragödie als kulturelle Praxis, die auf sehr subtile Weise die Entwicklung der politischen und militärischen Machtverhältnisse reflektiert hat. Eine Institution des Übergangs war die Tragödie aber auch in struktureller Hinsicht, insofern sie zwischen den Diskursen von Religion, Kunst 11 Vgl. Christian Meier: Die politische Kunst der griechischen Tragödie, München 1988, S. 60. 12 Vgl. dazu Egon Flaig: Demokratischer Imperialismus. Der Modellfall Athen. In: Imperialismus in Geschichte und Gegenwart, hrsg. von Richard Faber, Würzburg 2005, S. 43–57, hier: S. 52 f. 13 Darin liegt auch ein wesentlicher Unterschied zu den römischen Spektakeln, die wesentlich für Zivilisten abgehalten wurden. Vgl. Paul Zanker: Die Barbaren, der Kaiser und die Arena. In: Kulturen der Gewalt. Ritualisierung und Symbolisierung von Gewalt in der Geschichte, hrsg. von Rolf Peter Sieferle und Helga Breuninger, Frankfurt a. M. 1998, S. 53–86, hier: S. 63. 14 Vgl. Christian Meier: Der Umbruch zur Demokratie in Athen (462/61 v. Chr.). In: Poetik und Hermeneutik, Bd. 12 (Epochenschwelle und Epochenbewusstsein), hrsg. von Reinhart Herzog und Reinhart Koselleck, München 1987, S. 353–80, hier: S. 366.
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und Politik vermitteln konnte: zwischen archaischem Kult, Zeusreligion und Philosophie, zwischen Chorlyrik, Rollenspiel und Streitgespräch sowie zwischen Blutrache, Opferritual, Gottesgericht und demokratischer Abstimmung (exemplarisch im Vorgang der Transformation der Erinyen zu Eumeniden am Ende der Aischyleischen Orestie). Entscheidend ist in dieser Perspektive nicht so sehr die kausale Ableitung der ästhetischen Form der Tragödie und der kulturellen Institution des Theaters aus einer bewußten real- oder mentalitätsgeschichtlichen Veränderung. Eher geht es um das Zwischen – den Prozeß, in dem verschiedene Stadien der kulturellen Transformation nebeneinander präsent waren. So ist für die Erfahrung der Tragödie vor allem von einer Ambivalenz der beteiligten Affekte auszugehen: Das Vergnügen am Schrecken konnte auch ein Erschrecken über das Vergnügen bedeuten, Selbsterkenntnis und partielle Realisierung des kulturell Verdrängten. Als durchgängiges Problem der Tragödie erweist sich ein ‚Überschuß‘ an Gewalt, der nur widersprüchliche Erklärungen oder Lösungen findet und die Konstitution des Subjekts an eine Erfahrung der Ohnmacht bindet.15 Ein elementarer Effekt der Tragödienaufführung ist daher, wie es sich auch für die Wahrnehmung des antiken Publikums annehmen läßt, das Erschrecken über die plötzlich eskalierende Gewaltsamkeit von Ereignissen, die wohl vorhergesehen, aber nicht verhindert werden können. Sieht man einmal ab von der im Zuge der deutschen Aufklärung geforderten Idealisierung des Schreckens zum Mitleid, das die Zuschauer moralisch bessern sollte, bezeichnet Katharsis ein physiologisch befreiendes Durchleben krisenhafter Gefühlszustände.16 Damit hat es zu tun, daß in den Tragödien weniger die (aus den Mythen bekannten) schrecklichen Ereignisse als vielmehr deren Vorbereitung und Folgen gezeigt werden. Die Zuschauer sehen sich durch den Chor aber auch mit der Notwendigkeit konfrontiert, das schockhaft Erfahrene zu bezeugen und zu deuten, womit die Tragödien den Mythos und die darin manifestierten rituellen Strukturen zur Diskussion stellen. Das betrifft insbesondere die Verbindung von Gewalt und Sakralität im Opferritual, auf dessen Idee die Tragödie beruht, wie schon Walter Benjamin konstatiert hat.17 Die Einsicht, daß diese Gewalt eine kollektive ist, die von der spezifischen Präsenz des Chors nicht abzu15 Siehe dazu Hans-Thies Lehmann: Mythos und Theater. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, Stuttgart 1991. 16 Zur Deutungsgeschichte vgl.: Die Aristotelische Katharsis. Dokumente ihrer Deutung im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. von Matthias Luserke, Hildesheim/Zürich/ New York 1991.
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lösen ist, verdeutlicht auch den Abstand des antiken Theaters zum modernen, in dem die Orchestra, jener von der Skene räumlich getrennte Tanzplatz des Chores mit dem Altar, verschüttet ist: „dieser Abgrund, der unter allen Elementen der Bühne die Spuren ihres sakralen Ursprungs am unverwischbarsten trägt, hat an Bedeutung immer mehr eingebüßt“.18 Die mittlerweile über hundert Jahre währende Debatte um die Begründung des Theaters der antiken Tragödie in rituellen, kultischen Prozessen führt immer wieder auf die von Brecht prägnant formulierte Einsicht, daß das Theater gerade durch den Auszug aus dem Kult zum Theater erst geworden ist,19 das heißt als szenische Reflexion und spielerische Überschreitung des Kultes. Als Auseinandersetzung mit den zwar noch nicht überwundenen, aber auch nicht mehr einfach fraglos akzeptierten mythischen und rituellen Ordnungen eröffnet das Theater der Tragödie einen kritischen Diskurs.20 Antike Tragödien erfordern jedoch, das Theater als einen Schauplatz zugleich der Sprache und des Körpers zu begreifen. Nicht von ungefähr wurde in der Moderne eine Erneuerung des Theaters der Tragödie immer wieder auch in der Orientierung an traditionellen asiatischen Theaterformen versucht, in denen sich eine oft noch engere Bindung zwischen Ritual, Zeremonie und theatraler Darstellung erhalten hat. Eine besondere Stellung nehmen in diesem Kontext die Theaterentwürfe Antonin Artauds ein, der inspiriert vom balinesischen Theater die Befreiung vom überkommenen Anspruch der dramatischen Werke forderte. Eine in ihrer sinnlichen Konkretheit ‚heilige‘ Sprache des Theaters sollte der gesprochenen Sprache ihre „Möglichkeiten körperlicher Erregung zurückgeben“.21 So zielte Artaud auf eine Aktivierung der latenten, unbewußten Energie von 17 Siehe Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1980, Bd. I, S. 285. Zu Benjamins gemeinsam mit Florens Christian Rang entwickelter Theorie der antiken Tragödie vgl. ausführlicher Patrick Primavesi: Kommentar, Übersetzung, Theater in Walter Benjamins frühen Schriften, Frankfurt a. M. 1998, S. 254–70. 18 Walter Benjamin: Was ist das epische Theater? In: Benjamin (1980) [Anm. 17], Bd. II, S. 539 und (mit einer früheren Fassung) S. 519. Siehe dazu auch Primavesi (1998) [Anm. 17], S. 370 ff. 19 Vgl. Bertolt Brecht: Kleines Organon des Theaters. In: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hrsg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei und Klaus-Detlef Müller, Berlin, Frankfurt a. M. 1993, Bd. 23, S. 67. 20 Zu einem an Michel Foucault orientierten Diskursbegriff in diesem Kontext vgl. Lehmann (1991) [Anm. 15], S. 23 ff.
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Ängsten, Wünschen und Aggressionen des modernen Menschen durch einen veränderten Umgang mit Körperlichkeit, Stimme und Rhythmus. Für sein „Theater der Grausamkeit“, das ihm gerade im Zeitalter globaler Kriege notwendig schien, wollte er Theaterstücke und heilige Schriften als Material verwenden, ohne sich aber auf den Inhalt oder die poetische Qualität der Texte zu beschränken: wenn wir uns heute dermaßen unfähig erweisen, von Äschylos, Sophokles oder Shakespeare eine adäquate Vorstellung zu vermitteln, so liegt das höchstwahrscheinlich daran, daß wir kein Gespür mehr haben für das Körperliche ihres Theaters. Daß uns die unmittelbar menschliche, lebendige Seite einer Sprechweise, eines Gebärdenspiels, eines ganzen szenischen Rhythmus entgeht. Eine Seite, die ebensoviel, wenn nicht mehr Gewicht haben sollte als die bewundernswert gesprochene Sezierung der Psychologie ihrer Helden. […] Aber selbst wenn dem so wäre, selbst wenn dieses Körperliche wirklich vorhanden wäre, würde ich noch immer behaupten, daß keiner von diesen großen Tragikern das Theater selber ist, welches eine Angelegenheit der Bühnenverwirklichung ist und nur durch Verwirklichung lebt.22
Die damit skizzierten Aspekte der Tragödie verdeutlichen insgesamt die Differenz zwischen antikem und modernem Theater, da für ein heutiges Publikum gerade im Hinblick auf alle Phänomene der physischen, psychischen, strukturellen und göttlichen Gewalt die spezifischen Wahrnehmungs- und Reflexionsbedingungen der Tragödie des 5. Jhs. v. Chr. nicht mehr rekonstruiert werden können. Das Interesse an der Wiederherstellung der antiken Tragödie als (Gesamt-)Kunstwerk ist kaum mehr zu vereinbaren mit dem ebenso legitimen Interesse an einer Reproduktion der Wirkungen, die das antike Theater hervorgerufen haben mag. Beide Extreme, der Versuch, auf einer musealen Kunstübung für Experten zu bestehen ebenso wie die Tendenz, sich ganz den heutigen Wahrnehmungsweisen von Gewalt anzupassen und Tragödien etwa als blutiges Massaker zu inszenieren, müssen die Wirklichkeit des Theaters der Tragödie verfehlen. Verabschiedet man sich vom Anspruch der Rekonstruktion, bleibt die Frage nach der Tragödie als einem Modell theatraler Prozesse gleichwohl akut. Die Arbeit an der Inszenierung antiker Tragödien zwingt zur kritischen Überprüfung der Konventionen des bürgerlichen Theaters, welche auf Illusionismus, Einfühlung und Psychologie, sowie auf einer frontalen 21 Antonin Artaud: Die Inszenierung und die Metaphysik (Text eines am 10.12.1931 an der Sorbonne gehaltenen Vortrags, veröffentlicht mit weiteren Texten 1935 in dem Band Le théâtre et son double). In: Das Theater und sein Double, übersetzt von Gerd Henninger, Frankfurt a. M. 1979, S. 49. 22 Artaud (1979) [Anm. 21], S. 116 (Brief von Artaud an Benjamin Crémieux vom 15.9.1931).
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räumlichen Trennung von Publikum und Bühne basieren. Schon durch die ständige Konfrontation von Chor und Individuum und die Vorführung von Krisenzuständen, die die Zuschauer den Widersprüchen ihrer eigenen Emotionalität aussetzen, entzieht sich die antike Tragödie dem neuzeitlichen Verständnis von Dramatik. Gleichzeitig macht sie aber eine elementare Bedingung des Theatervorgangs bewußt: die Kopräsenz von Akteuren und Zuschauern. Dazu kommen die in den Texten angelegten Vorstellungen von Körperlichkeit, die um so mehr zum Inszenierungsproblem werden, je mehr der Kurzschluß zu aktuellen Präsentationsformen von Gewalt sich aufdrängt. Eine Herausforderung für gegenwärtige Theaterarbeit mit Tragödien bleibt daher gerade die spezifische Potentialität der Gewalt, die dem antiken Publikum durch die wechselseitige Aktivität des Aus-Sprechens und Zu-Hörens zur Vorstellung gebracht wurde. So lebt das Theater der antiken Tragödie von der Spannung zwischen der im Mythos angelegten extremen körperlichen Gewalt und der Formalisierung aller poetischen und theatralen Darstellungsmittel. Der Zuschauer ist immer zugleich Zeuge und Komplize dieser Gewalt, an ihrer imaginären Hervorbringung beteiligt. Wenn bereits das Theater des frühen 20. Jahrhunderts durch eine Infragestellung der eigenen Darstellungsmittel geprägt war, so führte die Entwicklung neuer Theaterformen in den letzten Jahrzehnten verstärkt zu einer selbstreflexiven Rückwendung auf die elementare Funktion des Zuschauers. Entscheidend dafür war nicht nur die Ablösung vom Primat des dramatischen Werkes, sondern auch die jüngst von Erika Fischer-Lichte beschriebene Ästhetik des Performativen.23 Dabei geht es, verkürzt gesagt, um die paradigmatische Bedeutung der Performance-Kunst seit den fünfziger Jahren für die aktuelle Medienkultur als eine Kultur der exzessiven Selbstdarstellung und Körperinszenierung. Zunehmend sind auch im Stadttheater Inszenierungsweisen zu beobachten, die Elemente der PerformanceKunst aufnehmen. So reflektieren sie die Durchdringung aller Lebensbereiche mit Performanz im Sinne einer auf sich selbst zurückweisenden Darstellungspraxis, die in Verbindung mit den neuen Medien einen neuen, alltäglichen Voyeurismus hervorgebracht hat. Das vermeintlich teilnahmslose Konsumieren versteckt seine eigene Lust hinter einer Fassade der Gleichgültigkeit: Wie im Kino oder beim Fernsehen möchte der Zuschauer auch während der Theater-Aufführung eher ungesehen bleiben. Neue Theaterformen reagieren auf diese Tendenz zunehmend offensiv, indem sie die Zuschauer als solche ausstellen. Dabei geht es nicht nur um ein 23 Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004, S. 58–100.
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didaktisches Adressieren des Spiels (tua res agitur) oder um ‚Kundenorientierung‘ zur Bedienung von Sehgewohnheiten und als Konsumhilfe für schwer verständliche Klassiker, sondern im Gegenteil um Erfahrungen der Ent-Täuschung. Häufig erscheint es schon als skandalöse Steigerung von Gewalt, wenn konventionelle Bedürfnisse nach Gewaltdarstellung nicht befriedigt werden und wenn ein den Schrecken milderndes und legitimierendes Sinnangebot ausbleibt. Auch hierbei sind Parallelen zur Rezeption von Filmen offenkundig: Analysen der einschlägigen Filmgenres haben gezeigt, daß ihre jeweiligen Codes nicht nur der Intensivierung der Gewaltdarstellung dienen, sondern zugleich einer Verlagerung des Interesses auf ästhetisch-technische Verfahren, mit denen der Abbildcharakter des Gezeigten wieder eingeschränkt, der Schrecken entrealisiert wird.24 Schokkierend wirken eher solche Filme, deren Darstellung von Gewalt – wie beispielsweise das in Großaufnahme gezeigte Durchschneiden eines Augapfels mit einem Rasiermesser in Buñuels Le Chien Andalou (1928) – sich der Kodifizierung entzieht und mitunter ironisch selbst reflektiert, vor allem aber die Sinndeutung dem Betrachter überläßt. Aufschlußreich für die Wahrnehmung solcher Momente von Überschreitung ist die ästhetische Kategorie des Erhabenen, die bereits seit der Schrift des (Pseudo)Longinus um die Gewalt der Darstellung kreist. Die Darstellungs- und Wirkungsweise des Erhabenen und ihre jeweiligen Gegenstände wurden immer wieder miteinander verknüpft: zu der geforderten Überwältigung kommt es erst dann, wenn gewaltige Stoffe oder Motive auch auf gewaltige Weise, also weder bloß schön noch harmonisch, dargestellt werden.25 Die von Kant betonte Ambivalenz, mit der die Wahrnehmung des Erhabenen Unlust bewirkt und zugleich eine höhere Lust im Verweis auf die eigentlich der Darstellung entzogenen Ideen von Größe, Unendlichkeit und Freiheit, spielt in allen neueren Theorien des Erhabenen eine grundlegende Rolle.26 Je mehr in diesem Kontext aber das SichEreignen des Schreckens und damit die Gewalt der Darstellung reflektiert wurde, desto brüchiger erschien der Effekt von Sinnstiftung und Trans24 Vgl. dazu Christine N. Brinckmann: Zur Intensität der Gewalt im Film. In: Hugger/ Stadler (1995) [Anm. 8], S. 126–46 sowie die Film-Analysen in Hausmanninger/ Bohrmann (2002) [Anm. 7], S. 81–147. 25 Longinus: Vom Erhabenen, griechisch/deutsch, übers. und hrsg. von Otto Schönberger, Stuttgart 1988, S. 5 ff. 26 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: Werke, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1983, Bd. 8, S. 329 ff. u. S. 344 ff. (= A 74–77 und 96–100). Zur neueren Diskussion vgl. den Band: Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, hrsg. von Christine Pries, Weinheim 1989.
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zendenz. Im Hinblick auf die Tragödie als das exemplarische Genre des Erhabenen zeichnet sich diese Krise bereits bei Hölderlin ab, der anläßlich seiner Sophokles-Übersetzungen die Idee eines Ereignisses entwirft, das in der Vorstellung des Zuschauers etwas Undarstellbares, ja sogar Undenkbares zur Geltung bringen sollte. Die Gewalt der Tragödie ist demnach gerade insofern eine Gewalt der Darstellung, als ihr Kalkül, wie Hölderlin schrieb, sich auf den „Wechsel der Vorstellungen“ und schließlich auf das Erscheinen der „Vorstellung selber“ richtet.27 Dieser Moment der Zäsur zeitigt aber nicht etwa eine religiöse Gewißheit oder, wie bei Schiller, das Ideal der Freiheit und Brüderlichkeit aller Menschen, sondern eine Art absoluten Schrecken, das Inhumane als unvermeidliche Kehrseite des Idealismus.28 Von dem Streit um die Sinnstiftung der Tragödie, der sich immer wieder im Kontext der jeweiligen Auffassungen des Erhabenen bewegt hat, ist seither auch die Diskussion von Möglichkeiten und Grenzen der aktuellen Inszenierungspraxis zumal im deutschsprachigen Theater geprägt. Beklagt wird nach wie vor, daß es den Regisseuren nicht etwa um eine angemessene Interpretation der Werke, sondern bloß um publikumswirksame Horroreffekte gehe, um ein ebenso heftiges wie sinnloses und daher verwerfliches Austoben der Gewalt.29 Was demgegenüber im Namen der Werke eingefordert wird, ist aber nicht unbedingt eine historisch und philologisch ‚genaue‘ Textauslegung, sondern oft bloß eine konventionelle Ästhetik von Pathos, Erhabenheit und Transzendenz im Moment einer wenn schon nicht reinen, heiligen und sinnerfüllten, so doch wenigstens eindeutig verurteilten Gewalt. Das Theater der Tragödie manifestiert aber, allen idealistischen Deutungen zum Trotz, immer schon eine Verunreinigung des Heiligen, Brüche im Denken des Absoluten und in der symbolischen Ordnung des Gesetzes. Exemplarisch hat Hölderlin das wörtliche, als Sprechakt schon gewaltsame Aussprechen von Gewalt in der Spannung zwischen 27 Friedrich Hölderlin: Anmerkungen zum Ödipus. In: Sämtliche Werke, hrsg. von Dietrich E. Sattler, Frankfurt a. M. 1988, Bd. 16: Sophokles, S. 249 ff. Siehe dazu Patrick Primavesi: Das Reißen der Zeit. Rhythmus und Zäsur in Hölderlins „Anmerkungen“. In: Geteilte Zeit. Zur Kritik des Rhythmus in den Künsten, hrsg. von Patrick Primavesi und Simone Mahrenholz, Schliengen 2005, S. 205–20. 28 Vgl. dazu Jean-François Lyotard: Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit, aus dem Französischen übersetzt von Christine Pries, Wien 1989. 29 Siehe etwa Peter Iden: Der verbrannte Schmetterling. Das Theater und die Gewalt. Zur Aktualität und Geschichte szenischer Darstellung von Mord und Totschlag. In: Frankfurter Rundschau, 27.3.1993. Vgl. zustimmend dazu auch den Aufsatz von Ulrich Stadler: Zur Ästhetik des Erhabenen. Gewaltdarstellungen in der Literatur. In: Hugger/Stadler (1995) [Anm. 8], S. 62–79.
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„tödtlichfactischem“ und „tödtendfactischem“ Wort reflektiert.30 So verdeutlicht auch die Absurdität der Gewalt in den späten Stücken des Euripides eine Eigendynamik im Prozeß der tragischen Darstellung insgesamt: „Überhaupt muß sich die ungemilderte Direktheit dieses ganzen Sprechens über Gewalt und Mord schmerzhaft ins Ohr bohren.“31 Die Lust des Publikums an der Gewalt kann aber nur dann aus der Erfahrung dieser eigenen Unlust, dieses besonderen Schmerzes hervorgehen und zur nachträglichen Reflexion führen, wenn sie nicht gleich mit moralischer Entrüstung oder gerührtem Mitleid kompensiert und verdrängt wird. Im Unterschied zur heutigen Perspektive galt die in der antiken Tragödie verhandelte Gewalt ja nicht per se schon als moralisch verwerflich, auch wenn sie, zumal in Verbindung mit der Frage nach den politischen Machtverhältnissen, durchaus kontrovers erscheinen konnte.32 Die theatrale Darstellung der Gewalt folgt, ähnlich wie die bildende Kunst dieser Epoche, eigenen, primär ästhetischen Gesetzen, die sich gerade der moralischen Wertung weitgehend entziehen, ohne deshalb immer schon affirmativ nur der Perspektive des Stärkeren zu entsprechen.33 Der Diskurs über die Gewalt der Tragödie hat also nicht nur ein größeres Quantum an Gewalt, Grausamkeit und Blut zu realisieren, sondern eine der antiken griechischen Tragödie eigene Gewalt der Darstellung. Diese Gewalt reflektiert aber zugleich die Vorstellungskraft und damit die Verantwortung des Zuschauers im Theater, der ja den entscheidenden, auf der Grenze des Möglichen zum Wirklichen dem Blick entzogenen Gewaltakt in seiner eigenen Vorstellung selbst noch hinzufügen muß. So kann es als eine besondere, keineswegs selbstverständliche Qualität der Inszenierung antiker Tragödien gelten, wenn sie deren ‚unreine‘, aber nicht notwendig blutige Darstellungsgewalt auf neue Weise zur Geltung bringt. Dabei wird zunehmend auch das traditionelle Pathos des Erhabenen dekonstruiert, wie hier mit Blick auf zwei etwas ältere und vier 30 Vgl. die Anmerkungen zur Antigonä, in: Hölderlin (1988) [Anm. 27], S. 419. 31 Walter Burkert: Die Absurdität der Gewalt und das Ende der Tragödie: Euripides’ Orestes. In: Antike und Abendland 20 (1974), S. 97–109, hier: S. 103. 32 Vgl. dazu den kursorischen Überblick von Andrea Ercolani: Gewalt in der griechischen Tragödie. In: Die andere Seite der Klassik. Gewalt im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr., hrsg. von Günther Fischer und Susanne Moraw, Stuttgart 2005, S. 89–101. 33 Siehe dazu besonders die Beiträge von Adrian Stähli: Die Rhetorik der Gewalt in Bildern des archaischen Griechenland, sowie Christian Kunze: Dialog statt Gewalt. Neue Erzählperspektiven in der frühklassischen Vasenmalerei, und Susanne Muth: Zwischen Pathetisierung und Dämpfung. Kampfdarstellungen in der attischen Vasenmalerei des 5. Jhs. v. Chr., alle in: Fischer/Moraw (2005) [Anm. 32], S. 19–44, S. 45–72 u. S. 185–210.
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neue Produktionen (von Klaus Michael Grüber, Einar Schleef, Wanda Golonka, Sebastian Nübling, Christof Nel und Jossi Wieler) skizziert werden soll. Auf jeweils verschiedene Weise wird in diesen Aufführungen die zwiespältige Lust des Zuschauers an der Darstellung von Gewalt vorgeführt.
Grübers „Bakchen“: Performance des Gottes/Tragödie des Zuschauers Mitte der siebziger Jahre veranstaltete die damals noch relativ junge Berliner Schaubühne ein mehrteiliges Antikenprojekt in einer Messehalle. Der erste, von Peter Stein geleitete Teil bestand aus Übungen für Schauspieler, einer szenischen Sondierung der Ursprünge des antiken Theaters der Tragödie. Die körperlichen und emotionalen Erfahrungen der Akteure wurden in lehrstückhafter Versuchsanordnung vorgestellt. Nach einer Inszenierung ritueller Vorgänge (Jagd, Tötung, Opfer und Initiation) endete dieser Abend mit der Anfangsszene aus dem Prometheus des Aischylos, wobei der Darsteller des Prometheus nicht nur gefesselt, sondern unter weißen Stoffbinden bis auf das Gesicht zum Verschwinden gebracht wurde. Damit wurde das Thema der Gewalt, das gerade in dieser Tragödie mit den Figuren Kratos (Macht) und Bia (Gewalt) auf der Ebene der Darstellung selbst präsent ist, in einen szenischen Vorgang überführt, der bereits den Blick des Betrachters thematisierte.34 Der zweite Abend des Projekts bestand aus der von Klaus Michael Grüber geleiteten Inszenierung der Bakchen des Euripides.35 Dabei wurde, wie schon beim ersten Teil, mit der Tätigkeit des Tragödienspielens zugleich die Funktion des Zuschauers reflektiert, die ja gerade in den Bakchen zum Thema wird: Indem der thebanische König Pentheus den Kult des fremden Gottes Dionysos, den er zuvor verbieten wollte, schließlich fasziniert zu beobachten versucht, wird er selbst zur Beute der Bakchen, die ihn in Stücke reißen. So läßt sich das Ende der Bakchen als Katastrophe des Zuschauers deuten, der seinerseits zum Spektakel wird. Das Genießen des Voyeurs schlägt um in den Exzeß einer Gewalt, die ihm schon immanent ist in seinem Begehren nach absoluter Macht und Kontrolle über das betrachtete Objekt. Damit wird der theatralische ‚Pakt‘ 34 Zur quasi systematischen Betrachtung der Gewalt-Problematik im Prometheus und ihren Implikationen für die athenische Polis vgl. Ercolani (2005) [Anm. 32], S. 98 ff. 35 Premiere dieser Inszenierung war am 7.2.1974. Bühne: Gilles Aillaud und Eduardo Arroyo.
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zwischen Bühne und Publikum aufgedeckt, der den Zuschauer im Theater zu einem Komplizen der Szene macht. Trotz in der Forschung immer wieder geäußerter Bedenken36 spricht doch alles dafür, daß Euripides’ Bakchen bereits die Theatersituation als solche reflektieren. So kreist das Stück nicht nur um den Kult des Theatergottes Dionysos, sondern insgesamt um das Thema einer uneigentlichen, gespielten Identität: Der Gott wird dargestellt durch einen menschlichen Stellvertreter und ist dennoch ständig gegenwärtig; der Chor, die Frauen aus Kleinasien, repräsentiert zugleich die von Dionysos in den Bergwald getriebenen thebanischen Bakchen; die Greise Kadmos und Teiresias stürzen sich als Frauen verkleidet in das Abenteuer des neuen Kultes, und schließlich läßt sich auch der König Pentheus als Frau verkleiden, um heimlich dem Treiben der Mänaden zuzuschauen. Dieses Begehren wird jedoch von Dionysos ironisch ausgestellt und vereitelt, indem er Pentheus auf die Spitze eines Baumes setzt, wo ihn die Bakchen entdecken, die ihn zu Fall bringen und gemeinsam töten. Erst zuletzt, in einer der kunstvollsten Wiedererkennungsszenen des Welttheaters, merkt Pentheus’ Mutter Agaue, daß sie keinen wilden Löwen, sondern ihren eigenen Sohn zerrissen hat. Ein grausames Extrem von Aufklärung ist diese Erkenntnis, indem sie alle (theatralen) Illusionen der Verkleidung, Verkennung und triumphalen Größe zerstört. Zugleich ist das Wiedererkennen des Eigenen der Alptraum aller happy ends, wenn sich schließlich doch noch findet, was zusammengehört, und gerade in dem Moment die Katastrophe ihren Höhepunkt erreicht. Euripides läßt da alles auseinanderfallen: Der Bericht von der rituellen Zerreißung bringt die mit der Verkleidung eröffnete theatralische Gewalt zur Eskalation, Dionysos verbannt die thebanische Königsfamilie, von der er doch anerkannt sein wollte, und Kadmos wird die Städte ganz Griechenlands verwüsten. Das athenische Publikum durfte sich über diese Geschichte, in der ein weiteres Mal die rivalisierende Stadt Theben zugrunde geht, nicht nur freuen. Das Spätwerk des im makedonischen Exil verstorbenen Dichters konnte bei der postumen Uraufführung (wahrscheinlich 405 v. Chr.) schon als Kommentar zur damaligen Krise des „demokratischen Imperialismus“ von Athen37 ver36 Zur Diskussion um die Metatheatralität der Bakchen vgl. Anton Bierl: Dionysos und die griechische Tragödie, Tübingen 1991, S. 186–218, Wolfgang Kullmann: Die ‚Rolle‘ des euripideischen Pentheus. Haben die Bakchen eine ‚metatheatralische‘ Bedeutung? In: Philanthropia kai Eusebeia. Festschrift für Albrecht Dihle zum 70. Geburtstag, hrsg. von Glenn W. Most, Hubert Petersmann und Adolf Martin Ritter, Göttingen 1993, S. 248–63, und James Barrett: Pentheus and the Spectator in Euripides’ Bacchae. In: American Journal of Philology 119 (1998), S. 337–60. 37 Vgl. Flaig (2005) [Anm. 12], S. 43.
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standen werden. In diesem zugleich politischen und (meta)theatralischen Kontext läßt Euripides den Gott Dionysos selbst den Diskurs über die eigenartige Lust der Tragödie eröffnen, die brisante Frage stellen nach dem Anschauen des Abscheulichen, das Pentheus bis dahin noch so radikal verdammt hatte: Dionysos: Pentheus: Dionysos: Pentheus:
Wie kommt’s, daß dich danach so große Lust befiel? Empörend fänd ich’s, säh ich sie von Wein berauscht. Gleichwohl sähst gern du, was dir doch zuwider ist? Ja; hätte still ich unter Fichten meinen Sitz.38
In Grübers Inszenierung wurde die ambivalente Lust des Zuschauens schon durch den Theaterraum zum Thema. So war ein kleinerer Teil des Publikums auf der Szene plaziert, an der Seitenwand des großen, mit Brettern ausgelegten und von Neonröhren an der Decke hell erleuchteten Raumes. An der Rückwand war eine Kehrmaschine zu sehen, drei Gestalten mit Schutzanzügen und Fechtmasken, sowie ein Mann im Frack, Sekt trinkend, Prototyp eines Premierenbesuchers und, hinter einer Glaswand in einem angrenzenden Raum, zwei lebende Pferde. Zum Prolog des Stückes wurde Dionysos (Michael König) auf einem Krankenbett hereingerollt, der Theaterheilige als Patient, bis auf einen Lendengürtel nackt, in der Hand einen Frauenschuh, mühsam stotternd. Die Bakchen betraten den Saal von außen, entdeckten beim Aufreißen des Bretterbodens Erde, Früchte, Wolle, und zwei bereits mit Schlamm beschmierte Körper, den Seher Teiresias und Kadmos, den Großvater des Königs. Nun erschien Pentheus (Bruno Ganz), ebenfalls fast nackt und auch sonst kaum von Dionysos zu unterscheiden. Dadurch wurde jene auffällige Symmetrie dargestellt, mit der Euripides den König als ein stellvertretendes Opfer des Gottes erscheinen läßt.39 Die zweite Hälfte der Tragödie kehrt alle Situationen und Zeichen der ersten um, der Jäger wird zum Gejagten, bis Pentheus verkleidet zum Kithairon geführt wird, wo ihn dem Botenbericht zufolge die Bakchen als Zuschauer entdecken und zerreißen. Den Schrecken dieses für das Theater als solches so zwiespältigen Triumphes des Dionysos manifestierte die 38 V. 813–16, zit. nach der Übersetzung von Oskar Werner, Euripides: Die Bakchen, Stuttgart 1968, S. 32. 39 Zur Dokumentation des Antiken-Projekts vgl. Theater heute (1974), S. 12–20 und Peter Iden: Die Schaubühne am Halleschen Ufer, Frankfurt a. M. 1982, S. 138–48. Parallelen zwischen der Inszenierung und neueren Studien zum Opferritual (besonders von René Girard und Walter Burkert) hebt bereits Fischer-Lichte hervor: Berliner Antikenprojekte. In: Berliner Theater im 20. Jahrhundert, hrsg. von Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch und Christel Weiler, Berlin 1998, S. 76–100, hier: S. 86 ff.
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Aufführung auch körperlich: Der Bote war von Schlamm bedeckt, mehr noch als die anfangs ‚ausgegrabenen‘ Alten, fast schon ein Zombie, den unvorstellbaren Schrecken wie Schlacke auf der Haut tragend. Auch Pentheus’ Scheitern war schon bei seinem ersten Auftritt abzusehen, als ihn die von der staatlichen Kehrmaschine bedrohten Bakchen der Hybris anklagten. Insgesamt hat Grübers Inszenierung dem Publikum aber nichts erklärt, weder den Kult noch sein Verbot, weder den Verführungszauber noch die Rache des Gottes. So wurde das Theater zum Schauplatz seiner eigenen Krise, einer Krise der Repräsentation und Interpretation von Gewalt: Durch das Aufreißen des Bretterbodens im hochartifiziellen Assoziationsraum des Theaters wurde eine Schicht mythischer und ritueller Gewalt freigelegt. Diese wurde jedoch auch auf das gegenwärtige Theater zurückbezogen, indem Agaue zum Schluß die Kleider jenes Statisten ordnet, der so sehr an einen Theaterbesucher erinnert hatte. Die Inszenierung reflektierte die spezifische Ironie, mit der schon bei Euripides ein katastrophales Scheitern des Rituals zur Darstellung kommt – eine „Anti-Theophanie“, wie Jan Kott in seiner Deutung der Bakchen formuliert hat, als Entfremdung des Theater-Gottes Dionysos und seines Kultes.40 Dabei machte die Aufführung das dem modernen westlichen Theater zugrundeliegende Ritual des „Textopfers“ bewußt,41 aber auch die künstlichen Rituale der Performance-Kunst, die ja nicht bruchlos ins Repertoire eingewandert sind. Die Versetzung von ‚authentischen‘ Protest-Ereignissen aus Galerien auf städtische Bühnen hat zwar das Literaturtheater nachhaltig erschüttert, andererseits aber die Idee der Performance als eines unmittelbaren Vollzugs von Gemeinschaft ad absurdum geführt. Indem sie Richard Schechners skandalöses, als kollektive Überschreitung konzipiertes Experiment Dionysos in 69 eher nüchtern weiterdachte, konnte Grübers Reflexion über den modernen Zuschauer und die Gewalt der antiken Tragödie neue Formen der theatralen Kommunikation eröffnen. So haben die Konventionen des bürgerlichen Theaters längst ihre Selbstverständlichkeit verloren. Kriterien wie die hermeneutische Stringenz einer Interpretation oder die Illusionskraft eines psychologisch motivierten Rollenspiels entscheiden nur noch bedingt über die Qualität eines Theaterereignisses.
40 Jan Kott: Gott-Essen. Interpretationen griechischer Tragödien, aus dem Polnischen übersetzt von Peter Lachmann, München 1975, S. 202 f. u. S. 233 f. 41 Vgl. Fischer-Lichte (1998) [Anm. 39], S. 90.
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Schleefs „Mütter“: der Chor und die Gewalt der Darstellung Als das für die Bundesrepublik der 1980er Jahre entscheidende Regieereignis im Hinblick auf die antike Tragödie gilt zumeist Peter Steins Berliner Inszenierung der Orestie des Aischylos. Hier wurde die im antiken Text angelegte Darstellung des Königshauses der Atriden als eines blutigen Schlachthauses insgesamt als krisenhafter Ursprung der athenischen Demokratie vorgeführt.42 Indem Athena am Ende der Eumeniden auf die Theaterbühne herabschwebte, konnte die abschließende Entscheidung über den Muttermord nur als Willkürakt erscheinen. Die Demokratie, anstatt als Überwindung der Gewalt alter Bräuche die neue Ordnung zu garantieren, erwies sich als eine im Glauben an das ‚Gottesgericht‘ weiterhin von der Wirksamkeit des Rituals abhängige Institution. Die epochale Bedeutung dieser auf vielen internationalen Gastspielen gezeigten und 1994 mit russischen Schauspielern in Moskau wieder neu erarbeiteten Inszenierung ist zu Recht vielfach gewürdigt worden. Gleichwohl stellt sich im Nachhinein auch die Frage, ob die Aufführung nicht noch stringenter von der Abbildung ritueller Strukturen zur Reflexion ihres eigenen Ritualcharakters hätte übergehen können, gerade um die Stellung des antiken Theaters zwischen Mythos und Politik zu erhellen.43 Weiter ging unter diesem Aspekt vor allem das Antiken-Projekt des aus der DDR stammenden Regisseurs, Schriftstellers und Malers Einar Schleef, der das Theater auch als Institution überfordert und in Frage gestellt hat.44 Schleefs Produktion Mütter, aufgeführt Anfang 1986 am Schauspiel Frankfurt, verknüpfte die Stücke Sieben gegen Theben von Aischylos und Die Bittflehenden von Euripides.45 Die Montage der beiden Tragödientexte umfaßte den Krieg der Sieben gegen Theben und den anschließenden Kampf 42 Vgl. Meier (1988) [Anm. 11], S. 150–56 u. S. 243 f. sowie Flashar (1991) [Anm. 6], S. 260–65. 43 Siehe dazu auch Theater heute 11/1980 und 1/1981 sowie Anton Bierl: Die Orestie des Aischylos auf der modernen Bühne, Stuttgart 1997, S. 31 ff., S. 46 ff. und Fischer-Lichte (1998) [Anm. 39], S. 93–98. 44 Daß gerade diese Inszenierung in Flashars ansonsten repräsentativem Überblick (vgl. Flashar 1991 [Anm. 6]) fehlt, ist angesichts der von ihr ausgelösten bundesweiten Debatten um Schleefs Chorarbeit bemerkenswert. Vgl. dazu unter anderem Verena Auffermann in Theater heute 4/1986, Benjamin Henrichs, Die Zeit (28.2.1986), Peter Iden, Frankfurter Rundschau (24.2.1986), Gerhard Rohde, Frankfurter Allgemeine Zeitung (24.2.1986). 45 Premiere der Inszenierung war am 23.2.1986. Die Textfassung stammt von Einar Schleef und Hans-Ulrich Müller-Schwefe, abgedruckt im Programmheft 8 (1985/86), Schauspiel Frankfurt.
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der Mütter um die Leichen ihrer in der Schlacht gefallenen Söhne. Die Reihenfolge der Stücke wurde umgedreht, um die Zirkularität des Krieges, der jeweils neue hervorbringt, zu demonstrieren: „Der letzte Krieg ist wie der erste“. So ließ die Totenklage auf der Bühne das Grab aufgehen, wodurch der Lärm und das Geheul der nächsten Schlacht schon vorbereitet wurde. Die Inszenierung arbeitete an der Konfrontation von einzelnem Schauspieler und Chor bzw. Chorgruppen, vor allem durch eine Rhythmisierung des Sprechens, die eine spezifische Gewalt der Darstellung gerade im Konflikt der Stimmen vorführte. Im Unterschied zu den Projekten von Grüber und Stein ging es weniger um eine Reflexion des Abstands zum alten Text oder um die Suche nach aktuellen Inhalten, vielmehr um die Ausstellung einer als Körperrhythmus formalisierten Gewalt des Chores. Dafür hat Schleef die räumliche Struktur des Guckkastentheaters aufgebrochen: Von der Bühne aus quer durch den Zuschauerraum zur Rückwand des Theaters führte eine lange hölzerne Treppe, über welche die Akteure immer wieder rannten, stampften und tanzten. Das Publikum saß dicht gedrängt auf den breiten (Teppich-)Bodenstufen des Schauspielhauses, so daß mit der räumlichen Wahrnehmung des Chors auch die eigene körperliche Erfahrung der Zuschauer intensiviert und das im Stadttheater übliche Rezeptionsverhalten gestört wurde. Das selten aufgeführte Stück des Euripides kann als Beispiel dafür gelten, wie der stichomythische Schlagabtausch der Akteure verbale Gewalt zum Ausdruck bringt.46 Schleef hat diese agonale Konfrontation durch szenische und räumliche Anordnungen noch gesteigert: dem über die Demokratie spottenden Boten aus Theben hält Theseus als König von Athen auf den Knien, in Shorts den Boden wischend, die Macht des Volkes entgegen, das sich notfalls auch mit Waffengewalt im Kampf um die Toten durchsetzen wird. Die für Zuschauer wie für Akteure anstrengendste und gewaltsamste Szene war die lange Totenklage, die vom argivischen König Adrastos mit den Müttern der vor Theben Gefallenen und vierzehn weiteren Frauen aufgeführt wurde, frontal zu den Zuschauern aufgereiht an dem acht Meter breiten ‚Grab‘ im Bühnenboden. Nach einem komplexen Schema überlagerten sich die als ein Grundrhythmus gerufenen Klagelaute „A-i A-i, A-i A-i“ und „I-o I-o“ mit Sätzen wie „Das Schwert – – fraß den Sohn“. Nach etwa einer halben Stunde war im Theater der Punkt erreicht, an dem durch anfängliches Staunen, allmählichen Widerstand, wütende Empörung oder auch Gelächter und Langeweile hindurch das Publikum plötzlich wieder 46 Vgl. Ercolani (2005) [Anm. 32], S. 92 f.
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konzentriert zuhörte, als handele es sich um eine musikalische Komposition. Miriam Dreysse verweist in ihrer Analyse der Szene, ausgehend von den anthropologischen Forschungen Karl Meulis, auf die dem archaischen Ritual der Totenklage schon inhärente Künstlichkeit und Übersteigerung aller Gesten.47 Schleefs Inszenierung zielte ohnehin nicht auf eine affirmative Reproduktion des Rituals, eher auf dessen szenische Durcharbeitung, bei der die Ambivalenz der Klage (zwischen Trauer und Spiel, Affekt und Gebärde, Resignation und neuer Gewalt) durch die extreme Stilisierung ebenso wie durch die körperliche und stimmliche Anstrengung erfahrbar werden konnte. Damit verlagerte sich auch die Aufmerksamkeit des Publikums von einer dargestellten Gewalt auf die Gewalt der Darstellung selbst. Die Aggression, der sich die Zuschauer ausgesetzt sahen, wirkte nicht mehr nur als theatrales Zeichen, sondern mit der Intensität einer körperlichen Erfahrung, wie nicht zuletzt die heftigen, in Beifall und Protest gespaltenen Reaktionen des Publikums demonstrierten. So zeigte diese Aufführung insgesamt, daß die Rahmenbedingungen von Raum, Zeit und Chor, die das antike Theater mit der Tragödie etabliert hat, heute am ehesten noch im Kontext experimenteller Theaterarbeit zu realisieren sind, die ihre ästhetischen Entscheidungen als institutionelle und politische begreift und auch die Zuschauer zur Auseinandersetzung mit ihrer ‚Rolle‘ bringt. Was Schleefs Inszenierung im Nachhinein so bedeutsam erscheinen läßt, ist die Konsequenz, mit der er die Gewalt der chorischen Darstellung reflektiert und zur Grundlage seines Theatermodells gemacht hat, das er dann auch auf andere Texte anwenden konnte. Ernsthaft aufgenommen (und nicht bloß imitiert) wurde diese Arbeitsweise bisher vor allem von Josef Szeiler, mit seinem Orestie-Projekt Massaker Mykene (2001) in einem ehemaligen Wiener Schlachthof, und neuerdings von Volker Lösch, ebenfalls mit der Orestie am Dresdener Staatsschauspiel (2003). Immer wieder stellt sich im Kontext der Tragödie die Frage nach der Gewalt des Chores, die das gewohnte Kräfteverhältnis zwischen Bühne und Publikum völlig verändern kann, auch das Zuschauen zu einer körperlich intensiven Erfahrung zu machen vermag.
47 Miriam Dreysse Passos de Carvalho: Szene vor dem Palast. Die Theatralisierung des Chores im Theater Einar Schleefs, Frankfurt a. M. 1999, S. 148 ff.
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Golonkas „AN ANTIGONE“: Parcours durch die Grabkammern der Produktion Neuer Tanz, Performance und Installation sind das Metier von Wanda Golonka und auch die Grundlage für ihre Arbeit am Mythos Antigone. Dabei hat sie in der Spielzeit 2002/03 am schauspielfrankfurt eine Reihe von acht Performances erarbeitet, die sich mehr oder weniger direkt auf Hölderlins Antigone-Übersetzung bezogen. Die Erwartung ans Repertoire-Stück wurde schon im Titel An Antigone gebrochen, der im durchgestrichenen „An“ unter anderem eine Adressierung der tragischen Heldin sug geriert und zugleich entzieht, damit aber die Frage aufwirft, an wen sich das Theater der Tragödie heute noch richten könnte. Schwerpunkt des Projekts war eine Recherche zu Motiven des Politischen, welche die von Sophokles und Hölderlin reflektierte Krise des Staates im Raum des Theaters vorantreiben: die Frage nach dem Ort des Zuschauers, die Dekonstruktion tradierter Körperbilder sowie die Störung von Wahrnehmungs- und Denkgewohnheiten, eine „Umkehr aller Vorstellungsarten und Formen“ (Hölderlin).48 An den Grenzen des Vorstellbaren entwirft der Tragödientext einen anderen Raum, der die Abwesenheit und den Tod des Menschen in sich aufnimmt – wo Antigone, die ihren Bruder gegen das vom Herrscher Kreon erlassene Gesetz bestatten wollte, zur Strafe lebendig eingemauert wird, zum Zeichen der schlimmsten Form einer indirekten, den Tod nur mittelbar bewirkenden Gewalt. Diese Gruft bleibt in der Tragödie dem Blick entzogen, wird nur in Berichten von Schreckensszenen geschildert. Hölderlins Übersetzung umschreibt den Ort als „Kammer der Todten“, als das „unerhörte Grab“ und als „unterirdische Behausung, immerwach“; der Bote berichtet von der Katastrophe im „hohlen, steinerbauten,/Nach Todter Art, vermählten Bett der Jungfrau“. Ein tödlicher Raum, in dem die Gewalt der Tragödie schließlich ihren Niederschlag findet, wenn die Gewalt des Krieges mit dem Konflikt um die Toten wieder ausbricht, die Familie des Herrschers zerstört. Golonkas Performance-Reihe verzichtete völlig auf den szenischen Diskurs dieser Tragödie, inszenierte vielmehr einen Parcours durch die verwinkelte Grabkammer, als welche Bühne, Zuschauerraum, Hinterbühne sowie Gänge und Werkstätten erfahrbar wurden. Dabei erwies sich die Präsenz der Betrachter zunehmend als entscheidender Bestandteil des Geschehens. Teil #1 spielte im dunklen Zuschauerraum, wo man auf der Treppe neben den Sitzreihen stand oder saß, die mit einem großen rot gefärbten Tuch überdeckt waren. Auf dieser schiefen Ebene bewegte sich 48 Vgl. die Anmerkungen zur Antigonä, in: Hölderlin (1988) [Anm. 27], S. 419.
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die Schauspielerin Hilke Altefrohne, stolpernd und kriechend, wobei sie immer wieder zwischen den Reihen einbrach. Später durchquerte Abak Safaei-Rad die Bühne in rechtwinkligen Bahnen vor drei hin- und herschwingenden Leinwänden, rollte über den Boden oder lief in der Diagonalen auf einen Scheinwerfer zu. Videobilder davon wurden zeitversetzt projiziert, überlagerten sich mit dem Schatten ihres Körpers, bis vom Tanz im Dunklen nur noch Lichtflecken übrig blieben. In Teil #3 sitzt Jennifer Minetti, das Gesicht mit Masken bedeckt, an einem langen Holztisch im Malersaal, liest und schreit Klagegesänge sowie das 2. Chorlied aus Antigone: „Ungeheuer ist viel. Doch nichts/Ungeheuerer, als der Mensch.“ Die Zuschauer müssen sich dabei gegenseitig wahrnehmen, wie sie herumstehen oder -sitzen, immer etwas deplaziert wirkend. Anschließend sieht man den Choreographen und Tänzer William Forsythe mit einer monströsen Filzperücke sich durch einen tiefen Transportschacht tasten, in ständigem Kontakt mit Wänden und Boden. Auch die weiteren Teile arbeiten als Bewegungsinstallationen gegen die Betriebslogik ihrer Räume an, bahnen sich ihren Weg aber vor allem durch die Zuschauer.
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Abb. 1: An Antigone, schauspielfrankfurt, Inszenierung von Wanda Golonka, #1 Hilke Altefrohne, Foto: Yvonne Kranz © Abb. 2: An Antigone, schauspielfrankfurt, Inszenierung von Wanda Golonka, #3 Abak Safaei-Rad, Foto: Yvonne Kranz ©
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Abb. 3: An Antigone, schauspielfrankfurt, Inszenierung von Wanda Golonka, #4 Jennifer Minetti, Foto: Yvonne Kranz ©
Noch gesteigert wird die Irritation des Publikums im letzten Teil auf der Hauptbühne. Oliver Kraushaar stößt, auf dem Rücken liegend, immer wieder laute Schreie aus, jeweils so lange der Atem reicht. Dann kommen zahlreiche Lautsprecher aus dem Schnürboden herab; zu hören sind alltägliche Stimmen, Interviews mit Frankfurter Passanten: „Sind Sie zufrieden mit Ihrer Verfassung?“ Die Zuschauer, nun selbst beleuchtet, sammeln sich um die Lautsprecher in kleinen Gruppen, beginnen allmählich auch die Banalität der aufgezeichneten Antworten zu diskutieren, bis alles Gemurmel zum Schweigen gebracht wird durch tickende Metronome (nach einer Komposition von György Ligeti). Der Eiserne Vorhang hebt sich, gibt den Blick frei auf den nun hell erleuchteten Zuschauerraum, mit dem roten Tuch über allen Sitzen. Durch seine schlaglichtartig kommentierenden, keineswegs beliebigen Verweise auf die Antigone-Tragödie konnte dieser Parcours auch das Fehlen von Öffentlichkeit (nicht nur im Sinne antiker Demokratie) spürbar machen. Vom Ende her erwies sich das Projekt als eine Variationenfolge zur Frage nach dem Ort des Zuschauers im heutigen Theater. So hat die Performance-Reihe gezeigt, daß die Arbeit an der antiken Tragödie auch da fruchtbar werden kann, wo sie gerade im Verzicht auf das tradierte Werk die Institution des Theaters ebenso wie die Funktion des Publikums radikal in Frage stellt. Die Gewalt der Tragödie wurde
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dabei indirekt, in der Negation der szenischen und dialogischen Aufführung eines Textes erfahrbar, der durch einzelne Zitate und Situationen doch auf irritierende Weise gegenwärtig blieb. An die Stelle von Rollenspiel und Chor traten Performance, Tanz und Installation, die eine körperliche, räumliche und politische Selbstwahrnehmung der Zuschauer möglich machten.
Nüblings „VIRUS!“: das Austoben der Ansteckung Wenn es etwas gibt, woran gegenwärtige Theaterformen gemeinsam laborieren, ist es eben die Funktion des Zuschauers, seine das Theaterereignis erst ermöglichende Präsenz. So sieht sich das Publikum in vielen neueren Inszenierungen gespiegelt durch Akteure, die das Zuschauen als solches ausstellen. Dazu genügen oft Sessel, die denen im Zuschauerraum gleichen und damit auch die Abgrenzung zum Kunstraum Bühne unterlaufen. Bei der im Sommer 2005 zur Eröffnung des Festivals Theater der Welt in Stuttgart gezeigten Produktion VIRUS! nach den „Bakchen“ des Euripides waren auf der Bühne jene Holzsessel mit blauen Polstern zu sehen, die seit Jahrzehnten im Foyer des Schauspielhauses herumstehen.49 Zu Beginn dieser Inszenierung von Sebastian Nübling sehen wir zehn Akteure, drei Frauen und sieben Männer, in roten Hemden und blauen Hosen auf solchen Sesseln sitzen, die vor dem Eisernen Vorhang jeweils paarweise aufgestellt sind. Die hohen Grünpflanzen dazwischen und der Teppichboden mit blau-grauem Wabenmuster verstärken noch die Atmosphäre einer Wartehalle, wie in einem Flughafen, einem Hotel oder eben einem Theaterfoyer. Eintönige Musik ist zu hören, die ein paarmal schon zu verhallen scheint, dann aber wieder aufgedreht wird. Plötzlich ist es still, alle Akteure schauen sich einen Moment lang um und beginnen zu sprechen: den Prolog der Bakchen, in dem sich Dionysos als Gott vorstellt und von Pentheus’ Widerstand gegen die Einführung des neuen Kultes erzählt. Der Konflikt zwischen Dionysos und Pentheus sowie die Szenen mit Kadmos, Teiresias und dem Chor entfalten sich in einer von Gegenwartssplittern aufgelockerten Gesprächssituation, ohne daß irgend jemand eine feste Rolle spielen würde. Die Akteure erscheinen aber auch nicht bloß als Schauspieler. Vielmehr haben sie, wie häufig in performancenahen 49 Premiere der Aufführung war am 17.6.2005 bei Theater der Welt in Stuttgart, am 15.9.2005 am Schauspielhaus Basel. Bühne und Kostüme: Muriel Gerster, Dramaturgie: Julia Lochte.
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Theaterformen, eine zwischen Rolle und Schauspieler liegende Gruppenidentität (persona),50 die nach und nach aus den szenischen Aktionen hervorgeht. Besonders deutlich wird diese Struktur im Moment der Unterbrechung, als einer sich eine Flasche Wasser holt und die anderen ihn daraufhin plötzlich anschreien: „Daniel: Das Wasser. Wo hast du das her/ Martin: Das stand da …/Susanne: Es könnte vergiftet sein./Martin: Wovon redet ihr eigentlich?/Dani: Es muß Wege geben, wie sie in unser System kommen, verstehst du?“ Spätestens wenn Martin der Warnung nachgibt und das Wasser in einen der Pflanzentöpfe schüttet, ist klar, daß die Akteure auf der Bühne weder nur das Personal der Bakchen verkörpern noch bloß als eine Gruppe von Schauspielern auftreten, sondern daß sie außerdem auch eine allgemeine, von Verschwörungstheorien gesteigerte Hysterie darstellen. Die mit Sätzen wie „Sie verändern uns. Es passiert genau jetzt“ zwischen den Gruppenmitgliedern kursierende Panik erweist sich als durchgängiger Kommentar zum Text der Bakchen. So führt der erste Teil des Abends bis zu dem Punkt, wo Dionysos den König verleitet, als verkleideter Voyeur die Bakchen zu beobachten. Die stichomythischen Fragen und Antworten zwischen Dionysos und Pentheus werden mehrfach wiederholt, pflanzen sich jeweils fort durch die Gruppe: „Willst du sie sehen?/Ja!/Wie kommt es, daß dich so große Lust danach befällt?/Es täte mir sehr weh, sie so zu sehen./Dennoch sähst du gern, was für dich bitter ist?“51 Bald löst sich diese Struktur jedoch auf und bis auf einen, der den Text des Dionysos übernimmt, sprechen alle Pentheus. Um ihn als den verhinderten Zuschauer kreist die Inszenierung fortan wie um eine leere Mitte, bis die Frage: „Pentheus, wo ist er?“ das Wieder-Erkennen, die Einsicht in den grausigen Mord eröffnet. Der zweite Teil besteht vor allem aus neuem Material, Berichten über Epidemien, Computerkrisen und die Angst vor Terror-Angriffen. So wird auf der ebenfalls mit Sesseln, Teppichboden und Pflanzen ausstaffierten Hauptbühne das eigentlich Undarstellbare, die Gewalt ansteckender Viren, evoziert – mit den Mitteln postdramatischer Theaterformen, erinnernd an Christoph Marthaler und René Pollesch,52 oder auch an die Tanzperformances von Meg Stuart und Sasha Waltz. 50 Zu dem Begriff vgl., ausgehend von Willem Dafoes Auftritten bei der Wooster Group, auch Philip Auslander: From Acting to Performance. Essays in Modernism and Postmodernism, London/New York 1997, S. 39 ff. 51 Textfassung von Sebastian Nübling, Julia Lochte und Ensemble, nach der Übersetzung von Kurt Steinmann (Euripides: Bakchen, Frankfurt a. M. 1999). 52 Siehe dazu Patrick Primavesi: Orte und Strategien postdramatischer Theaterformen. In: Text + Kritik, Schwerpunkt Theater fürs 21. Jahrhundert, hrsg. von Heinz-Ludwig Arnold, München 2004, S. 8–25.
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In ihrer Verknüpfung mit dem Thema der Bakchen werfen diese VirusGeschichten ein grelles Licht auf Pentheus’ Angst, die genau in das umschlägt, was sie als Bedrohung perhorresziert: eskalierende Gewalt, zügellose Leidenschaft und göttlichen Wahnsinn. Die Gewalt des Herrschers, der zum Verteidigungskrieg gegen einen äußeren Feind aufruft, ist schließlich von der Gewalt des Gottes, der sich befreit und die Mänaden schützt, kaum mehr zu unterscheiden. Aufschlußreich dafür bleibt René Girards Analyse des mimetischen Begehrens, das die ansteckende Gewalt der Rivalität zur Eskalation treibt, bis sie auch durch das rituelle Opfer nicht mehr zu schlichten ist, sondern eine Krise des Opferkults auslöst.53 Die Ironie des Tragischen liegt bei Euripides ja eben in der Erfahrung, daß der Feind, den Pentheus zu bekämpfen sucht, in ihm selbst steckt. Diese Einsicht aber wird, wie der Bericht vom Sparagmos, durch den Boten als schockierten Zuschauer54 nachträglich vermittelt, bleibt den Zuschauern im Theater vorbehalten. Auch die Gewalt des Virus entzieht sich der unmittelbaren
Abb. 4: Virus! nach den „Bakchen“ des Euripides, Theater Basel/Staatstheater Stuttgart, Inszenierung von Sebastian Nübling, Bühne und Kostüme: Muriel Gerster, Darsteller v. l. n. r.: Ensemble, Silja Bächli, Foto: Sebastian Hoppe © 53 Vgl. René Girard: Das Heilige und die Gewalt [La violence et le sacré, 1972], übersetzt von Elisabeth Mainberger-Ruh, Frankfurt a. M. 1992, S. 49 ff. u. S. 68 ff. 54 Siehe dazu Barrett (1998) [Anm. 36], S. 340 ff.
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Wahrnehmung, da sie als eine Gewalt wirksam ist, die das befallene System gegen sich selbst ausübt. An diesem Punkt, den bereits Artaud im Vergleich eines intensiven Theaters mit der Ansteckungskraft der Pest reflektiert hat,55 geht Nüblings Inszenierung als Dekonstruktion des tragischen Theaters durch das Theater der Performance noch einen Schritt weiter als Grüber, indem sie den Anspruch auf Ver-Körperung preisgibt. Die Körper der Akteure machen sich selbständig. So werden die Angst vor dem Virus und die von ihm ausgehende Faszination körperlich durchgespielt – im Rausch einer Selbstzerstörung, die alle plötzlich zappeln oder einschlafen, panisch herumrennen oder erstarren läßt. Einer der Höhepunkte des Abends ist, wenn ein wegen seiner Niesanfälle von den übrigen in einem grünen Schutzanzug isolierter „DeseaseDetective“ plötzlich von einer nackten Frau angesprungen wird, die sich in seinen Anzug hineinwühlt und ihn schließlich zu Fall bringt. Die anderen rücken ihre Sessel zurecht wie Fernsehzuschauer und betrachten den un-
Abb. 5: Virus! nach den „Bakchen“ des Euripides, Theater Basel/Staatstheater Stuttgart, Inszenierung von Sebastian Nübling, Bühne und Kostüme: Muriel Gerster, Darsteller v. l. n. r.: Susanne Abelein, Christian Brey, Daniel Nerlich, Foto: Sebastian Hoppe © 55 Vgl. Antonin Artaud: Das Theater und die Pest. In: Artaud (1979) [Anm. 21], S. 17–34.
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gleichen Kampf, der mit dem Zerreißen des Anzugs endet. Die Frau ist aber nicht wirklich nackt, sondern mit hautfarbenen Trikot-Teilen in eine Art geschlechtsloser Puppe verwandelt. Dieses Motiv wird weiter ausgeführt, indem nach und nach Fragmente von Schaufensterpuppen hereingebracht werden, die offenkundig auch antike Statuen imitieren. Im Nu entsteht ein Tableau, in welchem die Akteure, die nun alle nur noch die Hauttrikots anhaben, kaum mehr von den Puppen zu unterscheiden sind. Bis zum Schluß wird mit diesen Puppenteilen gearbeitet, wie in Anspielung an Hans Bellmers montierte Puppenkörper, zugleich aber auch in ironischer Vorwegnahme der tragischen Katastrophe. So ist die Bühne längst schon von Körperteilen übersät, bevor noch die Zerstückelung des Pentheus berichtet wird. Während dieser Erzählung im dritten Teil sitzen die Akteure dann wie am Anfang auf ihren Sesseln, allerdings um künstliche Gliedmaßen bereichert, so daß sie wie monströse Klone erscheinen. Auf diese Weise hat der Virus die tragische Darstellungskunst selbst befallen, läßt die ihr immanente Gewalt nach außen treten. Wichtig dafür sind auch Anspielungen auf Filme wie Die Vögel, Alien, Blade Runner und immer wieder Stanley Kubricks The Shining (vom Teppichbodenmuster über die blau karierten Kleidchen bis hin zum roten Kettcar). Schließlich wird die als running gag ständig variierte Warnung vor fremden, herrenlosen Objekten auch auf das Lied angewandt, das die ganze Aufführung berieselt hat: You see me, I see you. … „Das Lied, wo hast du das her? Hör auf damit!/… Es muß Wege geben, wie sie in unser System kommen …“ Den Virus der Selbstzerstörung setzt diese Inszenierung mit ihrer unreinen Ästhetik frei, gerade in der kontaminativen Durchdringung von Tragödie, Film, Themenabend und Tanzperformance, etwa wenn die Zuschauer über ein kollektives Niesen oder eine Gruppe von ‚Schläfern‘ auf der Bühne zugleich lachen und erschrecken müssen. „Im Bauch der Tragödie lauert die Farce, ein Virus aus der Zukunft“, wie Heiner Müller einmal formuliert hat.56 So gesehen ist die Gewalt der Darstellung längst nicht mehr nur die gespielte physische Gewalt, die ein Akteur einem anderen anzutun vorgibt, und auch nicht bloß die interpretatorische Gewalt und künstlerische ‚Freiheit‘, die der Regisseur sich gegenüber der antiken Tragödie herausnimmt, um Blockaden der Rezeptions-Geschichte aufzubrechen. Jenseits der in den 80er Jahren geführten pauschalen Debatten um die Willkür des ‚Regietheaters‘ geht es inzwischen, wie die Produktion VIRUS! Nach den „Bakchen“ des Euripides zeigt, eher um die szenische Re56 Heiner Müller: Einheit des Textes (Anmerkung zu Müllers Shakespeare-Bearbeitung Anatomie Titus Fall of Rome). In: Shakespeare Factory 2, Berlin 1989, S. 225.
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flexion der Gewalt, die im institutionellen Rahmen der Darstellung selbst als einer Veranstaltung mit Zuschauern steckt.
Nels und Wielers „Bakchen“: Stadttheater als grausame Farce Mit ihrer Thematisierung des Zuschauers wie auch mit ihrer Dekonstruktion der Tragödie zu einer „grausamen Farce“57 hängt es wohl zusammen, daß Euripides’ Bakchen als eines der schwersten und faszinierendsten Stücke des Welttheaters derzeit eine auffällige Renaissance an deutschen Bühnen erlebt. So wurden die Bakchen im Jahr 2005 außer von Nübling noch in einer Reihe weiterer Produktionen namhafter Regisseure neu inszeniert: von Christof Nel am schauspielfrankfurt, Dieter Dorn am Residenztheater München und Jossi Wieler an den Münchner Kammerspielen. Auf die Frage, was das Publikum heute mit dem Stück anfangen soll, geben auch die aktuellen Inszenierungen keine eindeutige Antwort. Sie zeigen außerdem, daß gegenwärtiges Stadttheater mit dieser Tragödie scheitern muß, wenn es nicht radikal über seine eigenen Darstellungsmittel nachdenkt. Auffällig an den neuen Bakchen ist ihre Arbeit mit dem Vorstellungspotential heutiger Zuschauer ebenso wie ihre Gratwanderung zwischen Tragödie und Farce. In Frankfurt hat Christof Nel (dessen spektakuläre, den Tod der RAF-Häftlinge reflektierende Antigone-Inszenierung von 1978 dort noch in Erinnerung ist) die Bakchen in der eigenwilligen, lyrisch erweiterten Übersetzung bzw. Fassung von Raoul Schrott aufgeführt.58 Zu Beginn der Aufführung wird eine Kreisstruktur der Handlung angedeutet: drei Männer in schwarzen Anzügen sind damit beschäftigt, den vorderen Teil der Bühne weiß anzustreichen, wie um die von der letzten Szene noch sichtbaren ‚Blutspuren‘ zu tilgen.59 Die Hauptbühne ist durch einen abgerundeten Rahmen zu sehen wie durch einen kaputten Fernseher ohne Bildschirm, in dessen Innerem sich Möbel, allerhand Gerümpel und ein noch rauchendes Grab befinden, darüber eine Bergsilhouette. 57 Jan Kott zitiert damit Plutarch, der seinerseits eine Bakchen-Aufführung vor dem Parther-König Orodes schildert, wobei der Schauspieler der Agaue anstelle der Pentheus-Maske den abgeschlagenen Kopf des römischen Feldherrn Crassus präsentierte. Siehe Kott (1975) [Anm. 40], S. 244 f. 58 Vgl. Raoul Schrott: Bakchen. Nach Euripides, München/Wien 1999. Uraufgeführt wurde diese Fassung in einer Inszenierung von Silviu Purcarete am Wiener Burgtheater 1999. 59 Die Premiere der Inszenierung war am 16.9.2005 am schauspielfrankfurt. Bühne und Licht: Klaus Grünberg, Kostüme: Silke Willrett.
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Abb. 6: Bakchen, schauspielfrankfurt, Inszenierung von Christof Nel, Bühne und Licht: Klaus Grünberg, Kostüme: Silke Willrett, Darsteller: Robert Kuchenbuch, Josef Ostendorf, Foto: Alexander Paul Englert ©
Abb. 7: Bakchen, schauspielfrankfurt, Inszenierung von Christof Nel, Bühne und Licht: Klaus Grünberg, Kostüme: Silke Willrett, Darsteller: vorne: Robert Kuchenbuch, links: Dominik Maringer, rechts: Sven Prietz, Foto: Alexander Paul Englert ©
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Abb. 8: Bakchen, schauspielfrankfurt, Inszenierung von Christof Nel, Bühne und Licht: Klaus Grünberg, Kostüme: Silke Willrett, Darsteller: Werner Rehm, Jennifer Minetti, Josef Ostendorf, Foto: Alexander Paul Englert ©
Der ganze Abend ruht auf den Schultern von Josef Ostendorf, der schon mit seinem Prolog den Anspruch des Gottes Dionysos auf Anerkennung mit der komischen Körperlichkeit eines Suomi-Ringers etabliert hat. Am Anfang nur mit Brille und bunter Schürze bekleidet, tanzt er seine orientalische Herkunft wortreich trippelnd vor. Gegen diesen Dionysos hat König Pentheus (Robert Kuchenbuch), der neurotische Spielverderber, keine Chance – ob er den Fremdling mit Redner-, Heimwerker- oder Waffengewalt dingfest zu machen sucht. Sein Feind ist er selbst, Dionysos macht den Sekundanten. Das Duell wird begleitet von zwei Pianos, auf denen der kindliche Gott im Traum von seiner wahren Größe einige Grundtöne anstimmt für Einlagen der Frankfurter Singakademie. Dieser knapp dreißigköpfige Chor ist aber weniger als Musik präsent, eher als schweigende Masse von Untoten, die sich später in die erste Reihe des Publikums setzen, während ihr Sprecher als aufgeregter Theaterbesucher aus der 15. Reihe den Chortext nach vorne schleudert. Die Botenberichte, entscheidend für die Vorstellung im Kopf der Zuschauer, hat Nel wirkungsvoll auf drei Akteure verteilt (Michael Lucke, Dominik Maringer, Sven Prietz), die von Dionysos angefeuert werden, seine Wunder zu rühmen. Intensiv sind die Momente des Umschlags, wenn Pentheus doch noch zum Frauendar-
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steller wird und sein Schicksal ebenso ahnungslos wie präzise vorhersagt. Ostendorf/Dionysos schwankt dabei zwischen Weinen und Lachen, bedauert den hilflosen Menschen und triumphiert über den anmaßenden König, der seinen Stolz nicht aufgeben kann. Ähnlich zwiespältig ist das Nachspiel der zerstörten Familie, wenn Agaue (Jennifer Minetti) von Kadmos (Werner Rehm) mit therapeutischer Gewalt zur Anerkennung einer Tat gezwungen wird, die er vielleicht (wie die Inszenierung verschwörungstheoretisch suggeriert) selbst geplant hat. Der in Gewaltphantasien abstürzende Schluß zeigt, wie sehr Euripides Einsichten der Psychoanalyse vorweggenommen hat, wie heikel aber auch der Versuch ist, dafür heute eine unverbrauchte und unprätentiöse Darstellungsform zu finden. Dem gleichen Problem einer analytischen Deutung stellt sich, wenn auch mit ganz anderen Mitteln, die Inszenierung von Jossi Wieler.60 Von Dieter Dorns kurz zuvor ebenfalls in München entstandener Arbeit unterscheidet sie sich vor allem im Verzicht auf antikes Pathos, das am Residenztheater mit dem kriegsbemalten Frauenchor und der überdimensionierten Stiermaske immer wieder zur Folklore tendiert hatte. Wielers Bakchen dagegen spielen im leuchtend weißen, funktionalen Einraum-Appartment eines Ordnungsfanatikers. Pentheus (André Jung) ist hier ein subtiler Komiker, der sich jeglichen Schmutz energisch verbittet, dann aber zugibt, immer schon seine Mutter begehrt zu haben, als deren „Ausspionierer“ er jetzt alles mit sich machen läßt. Diese sonst so unbegreifliche Kehrtwende gelingt plötzlich. Daß Dionysos den König mit grünem Kleid und Perücke nicht nur in eine Bakche, sondern (fast zärtlich) in ein Double seiner Mutter verwandelt, fügt sich ebenso wie Agaues späteres Bemühen um Anerkennung bei ihrem Vater Kadmos zu einer schlüssigen Familienanalyse. Diese deckt allerdings, anders als bei Nel, die Abgründe des Textes eher zu. Dazu trägt auch die Inszenierung des Erotischen bei. Indem die beiden Bakchen (Wiebke Puls und Sylvana Krappatsch) vor allem die Arbeit an der sexuellen Befriedigung vorführen, den Männern wie auch sich selbst immer wieder zwischen die Beine greifen, komplettieren sie eine Lesart, die zwar bürgerliche Triebkonflikte veranschaulicht, die Fremdheit des dionysischen Rituals aber eher ausblendet, zum Kostüm macht. Dionysos (Robert Hungerbühler) ist der „Mann in der Schlangenhaut“, beinahe wie einst Marlon Brando bei Sidney Lumet. Auch Kubricks Filme haben ihre Spuren hinterlassen, etwa im hinter der Glasfront projizierten Tannenwald, der wie in The Shining ein winterliches Draußen vorstellt, das die Krisen des Helden 60 Premiere war am 19.11.2005, Bühne: Jens Kilian, Kostüme: Gesine Völlm. Gespielt wurde die Übersetzung von Kurt Steinmann von 1999 [Anm. 51].
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auf die Spitze treibt. Wenn die Tannen beim ‚Palastwunder‘, dem von Dionysos vorgetäuschten Erdbeben und Feuer, zu Hüpfen anfangen (Video: Chris Kondek) und das Designer-Klo gurgelnd überläuft, wird die Intention aufs Komische offenkundig. Hier liegt, eindeutiger als bei Nel, die Obsession der Aufführung, die den Schauspielern Gelegenheit für routinierte Gags bietet. So bleibt der Schrecken bis zuletzt aus, wenn Hildegard Schmahl als Agaue sich alles Kunstblut in der Badewanne abduscht und Teiresias (Hans Kremer) beim Blick auf eine neblige Trümmerlandschaft nicht einmal seine Weinflasche behalten darf. Offenkundig führt die Inszenierung konventionelle Muster von Gewaltdarstellung ad absurdum – schon vom ersten Moment an, in dem die verbale Gewalt auch körperlich zu eskalieren droht, wenn Pentheus seinen Widersacher Dionysos plötzlich an die Wand schleudert und die davon zurückbleibenden Blutflecken mit einem Sprühreiniger sorgfältig entfernt. Damit wird, wie schon zu Beginn der Frankfurter Inszenierung, gerade die Gewalt ausgestellt, die im Tilgen der Spuren liegt, im Verbergen als einer negativen Darstellung. Vielleicht ist der Schrecken der Bakchen als einer grausamen Farce nur noch auszuhalten, wenn er komisch umspielt und gebrochen wird, was die
Abb. 9: Die Bakchen von Euripides, Münchner Kammerspiele, Inszenierung von Jossi Wieler, Bühne: Jens Kilian, Kostüme: Gesine Völlm, Darsteller, v. l. n. r.: Hildegard Schmahl, Peter Brombacher, Hans Kremer, Wiebke Puls, Robert Hunger-Bühler, Sylvana Krappatsch, Foto: Arno Declair ©
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im Stück angelegte Krise aber auch verstärken, für heutige Zuschauer intensivieren kann. Insofern geben beide Inszenierungen die Tragödie nicht einfach zugunsten willkürlicher Einfälle preis. Sie zeigen vielmehr, daß die Arbeit gerade an diesem Text sich den weitreichenden, die letzten Jahrzehnte prägenden Veränderungen von Theaterkonventionen und Wahrnehmungsweisen kaum zu entziehen vermag. Und sie reflektieren eine inflationäre Übersteigerung, die in der Logik der Tragödie ebenso wie in der des Erhabenen angelegt ist. Symptomatisch dafür ist nicht zuletzt der Eindruck, daß die mythische Gewalt der Tragödie inzwischen vor allem auf dem Umweg über Assoziationen zu Filmen darstellbar ist. Nicht nur die Stoffe des Kinos, sondern auch seine Darstellungs- und Sichtweisen bieten dem Theater einen dem Mythos in seiner Bedeutung für die Tragödie vergleichbaren Bezugspunkt. In der Überschreitung von Genregrenzen und einem bis zur Parodie reichenden Spiel mit der konventionellen Zeichenhaftigkeit in der Vorführung physischer Gewalt61 eröffnet die Filmgeschichte dem Theater einen Fundus an Darstellungsformen, die ihre eigene Gewaltsamkeit ironisch reflektieren und ausstellen. Neuere Tragödienaufführungen können bei ihren Zuschauern längst nicht mehr auf die Vertrautheit mit den antiken Mythen zählen, wohl aber auf die Kenntnis von Filmen, die ihrerseits oft auf Stoffe und Strukturen der Tragödie zurückgreifen. Exemplarisch dafür ist Kubricks Shining, auf den inzwischen viele Inszenierungen verweisen, die für die Evokation physischer Gewalt in der Tragödie nach intensiven szenischen Darstellungsformen suchen, die dann zugleich die Konventionen der theatralischen Gewaltfiktion unterlaufen. So schwingt der Frankfurter Pentheus fast wie Jack Nicholson in Shining keine Attrappe, sondern eine echte Axt, die auch schon in Schleefs Müttern eine zentrale Rolle gespielt hat. Zur systematischen Analyse ließe sich gewiß ein umfangreiches Register der verwendeten Formen psychischer, verbaler und physischer Gewalt aufstellen, mit Entsprechungen zu der von Schauspielern auf der Bühne ausgeübten, nicht auf ihre jeweilige Rolle beschränkten Gewalt (Körperlichkeit, Bewegung, Stimme etc.) und zu der Gewalt aller übrigen Mittel der Inszenierung (Raum, Licht, Klang etc.). Der hier vorgeschlagene Ansatz zur Beschreibung einer dem Theater der Tragödie eigenen Gewalt der Darstellung wäre damit aber kaum erschöpft. Manifestiert sich diese Gewalt doch gerade im Verzicht auf die konventionellen Muster der Gewaltdarstellung. Die ausgewählten Produktionen zeigen, daß die Arbeit an der 61 Vgl. dazu beispielsweise die Analyse des Italo-Westerns Django in Brinckmann (1995) [Anm. 24], S. 135 ff.
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Gewalt der antiken Tragödie immer wieder auf die Kopräsenz von Akteuren und Zuschauern und damit zugleich auf das spezifische Wechselverhältnis von Darstellung und Vorstellung bzw. Imagination im Theater zurückführt. Was dabei jeweils als Gewalt der Darstellung erscheint, ist von der einzelnen Inszenierung und ihrem besonderen Diskurs abhängig. Halten sich die Aufführungen von Grüber und Schleef bei aller Freiheit im Umgang mit den antiken Texten eher noch an die Form der Tragödie, um deren Gewalt der Darstellung vorzuführen, kreisen Golonkas Performances um die Institution des Theaters, entziehen dem Zuschauer die Gewißheit über seinen Status und Standpunkt. Nüblings Inszenierung erprobt mit dem Thema Virus eine wechselseitige Kommentierung verschiedenster Darstellungsformen und Genres. Indem sie die Lust an der Gewalt weder bloß befriedigt noch moralisch verurteilt, macht sie den Anteil des Betrachters an aller Gewalt im Theater bewußt – Dionysos als komisches Phantasma in einer Gesellschaft der permanenten Ekstase. Bei Nel und Wieler schließlich reflektiert das Stadttheater mit den Bakchen eine Krise der eigenen Mittel, auch und gerade da, wo der interpretatorische Zugriff gelungen scheint. Der Verzicht auf den Anspruch des Erhabenen und die Entdeckung der Subtilität von Grausamkeit und Komik in der Tragödie helfen da ein ganzes Stück weiter, reichen aber nicht aus, so lange der Chor keinen Raum hat, der Tanzplatz verschüttet ist. Mit dem Problem des Chors bleibt die der antiken Tragödie eigene Gewalt der Darstellung dem Theater weiterhin aufgegeben, als Herausforderung der Zuschaukunst zwischen Voyeurismus, Teilnahme und Zeugenschaft.
Bildende Kunst
Barbara E. Borg (Exeter)
Gefährliche Bilder? Gewalt und Leidenschaft in der archaischen und klassischen Kunst Krieg und Gewalt sind Themen, die seit einigen Jahren auch in der Diskussion antiker Denkmäler, Verhaltensweisen und Wertvorstellungen eine zentrale Position einnehmen.1 In diesem Zusammenhang ist in letzter Zeit von archäologischer Seite öfter auf ein interessantes Phänomen hingewiesen worden: In der attischen Vasenmalerei zeichnet sich in den Jahren nach etwa 480 v. Chr. ein deutlicher Wandel in der Darstellung von Gewalt ab. Da dieser Wandel bereits vielfach beschrieben worden ist,2 kann ich 1 Frühere Versionen dieses Beitrags konnte ich bei verschiedenen Gelegenheiten in Bonn, Heidelberg, Tübingen und Berlin vorstellen und diskutieren. Mein besonderer Dank gilt dem Arbeitskreis ‚Bild und Gesellschaft im klassischen Griechenland‘, von dessen Anregungen ich sehr profitiert habe, sowie den Veranstaltern des Kolloquiums „Gewalt und Ästhetik: Gewalt und Formen der Gewaltdarstellung in der griechischen Klassik“. 2 Ioanna Mennenga: Untersuchungen zur Komposition und Deutung homerischer Zweikampfszenen in der griechischen Vasenmalerei, Diss. Berlin 1976; Manuela Papadakis: Ilias- und Ilioupersisdarstellungen auf frühen rotfigurigen Vasen, Frankfurt a. M. u. a. 1994; Christian Ellinghaus: Aristokratische Leitbilder – Demokratische Leitbilder. Kampfdarstellungen auf attischen Vasen in archaischer und klassischer Zeit, Münster 1997; Brigitte Knittlmayer: Die Attische Aristokratie und ihre Helden. Darstellungen des trojanischen Sagenkreises im 6. und frühen 5. Jahrhundert v. Chr., Heidelberg 1997; Florens Felten: Blutdurst oder Verhaltensmuster. Zur Bedeutung der Kampfbilder in der archaischen und klassischen griechischen Kunst. In: Steine und Wege. Festschrift für Dieter Knibbe, hrsg. von Peter Scherrer et al., Wien 1999, S. 195–9; Meret Mangold: Kassandra in Athen. Die Eroberung Trojas auf attischen Vasenbildern, Berlin 2000; Matthias Recke: Gewalt und Leid. Das Bild des Krieges bei den Athenern im 6. und 5. Jh. v. Chr., Istanbul 2002; Tonio Hölscher: Images of War in Greece and Rome: Between military practice, public memory and cultural symbolism. In: Journal of Roman Studies 93 (2003) S. 1–17; Günter Fischer und Susanne Moraw: Die andere Seite der Klassik. Gewalt im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. Kulturwissenschaftliches Kolloquium Bonn, 11.–13. Juli 2002, Stuttgart 2005, passim mit reicher Bibliographie in den einzelnen Beiträgen.
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mich hier auf einige Beispiele beschränken, die den Befund illustrieren sollen: Sportliche Agone können in archaischer Zeit zumindest auf Symposionsgeschirr in ihrer ganzen realen Blutigkeit und Brutalität wiedergegeben werden, während man seit etwa 490 weniger drastische Darstellungen, vor allem den Beginn oder das Ende des Kampfs, bevorzugt.3 Archaische Bilder des ‚privaten‘ Bereichs des Symposions zeigen Gewalt, etwa sexuelle Gewalt, meist gegen Frauen, oder Gewalttätigkeit der Zecher und Komasten untereinander, und auch diese Bilder werden in der frühen Klassik abgelöst durch eher beschauliche Darstellungen.4 Die größten Grausamkeiten in Darstellungen finden sich jedoch im Kontext mythischer Kämpfe und Kriege, insbesondere des Trojanischen Krieges, ohne daß diese Taten im Bild immer erkennbar negativ gewertet wären5 – auf diesen Punkt komme ich zurück. Um 480/70 verschwinden die meisten dieser Szenen aus dem Repertoire. Bezeichnenderweise erscheint etwa die Tötung des Troilos nach ca. 490 nur noch in einer unsicheren Darstellung; die Schleifung Hektors bald nach 500 und der tödliche Zweikampf mit Achill nach 480 überhaupt nicht mehr.6 Andererseits stellt die Anwendung von Gewalt während des gesamten hier betrachteten Zeitraums, also auch in klassischer Zeit, durchaus ein nahe-
3 Martin Bentz: Spiel um Leben und Tod? Gewalt und Athletik in klassischer Zeit. In: Fischer und Moraw (2005) [Anm. 2], S. 129–41; Adrian Stähli: Die Rhetorik der Gewalt in Bildern des archaischen und klassischen Griechenland. In: Fischer und Moraw (2005) [Anm. 2], S. 28–32; beide mit weiterer Bibliographie. 4 Zu Gewalttätigkeiten der Zecher untereinander s. Ezio Pellizer: Outlines of a morphology of Sympotic entertainment. In: Sympotica. A Symposium on the Symposion, hrsg. von Oswyn Murray, Oxford 1984, S. 177–84, bes. S. 181–82 mit Abb. 16; Michael Vickers: Greek Symposia, London o. J. [1978], S. 16. 20 Abb. 21. 22; Stähli (2005) [Anm. 3], S. 24–28 mit Abb. 2–3. Zu Gewalt gegen Frauen Martin Kilmer: Sexual violence. Archaic Athens and the recent past. In: Owls to Athens. Essays on classical subjects presented to Sir Kenneth Dover, hrsg. von Elisabeth M. Craik, Oxford 1990, S. 261–77. Zum Symposion allgemein Alfred Schäfer: Unterhaltung beim griechischen Symposion. Darbietungen, Spiele und Wettkämpfe von homerischer bis in spätklassische Zeit, Mainz 1997, passim, der allerdings die groberen Umgangsformen auf die Ausweitung des Symposions auf breitere Bevölkerungsschichten zurückführen möchte (ebd. S. 67), eine Erklärung, die angesichts der Entwicklung der Bilder anderer Themenbereiche kaum befriedigen kann. 5 Stähli (2005) [Anm. 3], S. 33–43; Ralf von den Hoff: „Achill, das Vieh“? Zur Problematisierung transgressiver Gewalt in klassischen Vasenbildern. In: Fischer und Moraw (2005) [Anm. 2], S. 225–46.
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liegendes und natürliches Mittel zur Durchsetzung von Zielen dar,7 und Gewalttaten sind ein zentrales Motiv fast aller Tragödien.8 Ich möchte im folgenden versuchen, diesen Befund besser zu verstehen. Vorausschicken möchte ich, daß hier ein pragmatischer, selektiver und aus moderner Sicht gewählter Gewaltbegriff zugrunde gelegt wird, der eine kollektive Bezeichnung für alle physischen Verletzungen bis zur Tötung eines anderen Menschen darstellt. Hierin macht sich auch eine moderne Fragestellung bemerkbar, die an antiken Problematisierungsweisen und Diskursen teilweise vorbeizielt, aber gerade deshalb aufschlußreich sein kann. Auch braucht bei der Komplexität des Themas wohl kaum betont zu werden, daß meine Thesen einen sehr vorläufigen Charakter besit6 Zur Tötung des Troilos s. LIMC I, Zürich und München 1981, S. 80–90. 94–5 s. v. Achilleus (Anneliese Kossatz-Deissmann); LIMC VIII, Zürich und Düsseldorf 1997, S. 92–94 s. v. Troilos (Anneliese Kossatz-Deissmann); von den Hoff (2005) [Anm. 5]. Zur Schleifung Hektors s. LIMC I, Zürich und München 1981, S. 139– 40; 145–6 s. v. Achilleus Nr. 585–600 (Anneliese Kossatz-Deissmann); Recke (2002) [Anm. 2] S. 72–4; 291–2 mit Diagramm 9.1–2; Zum Zweikampf Achill – Hektor LIMC ebd. S. 133–5; 137–8 Nr. 559–70; s. zu Zweikämpfen der Helden vor Troja auch Recke ebd. 11–20; 258–67 mit Diagramm 1.1–4. Einzig der Zweikampf zwischen Achill und Memnon läuft noch einige Zeit weiter, wird jedoch durch die Darstellung der Schicksalswägung in den Hintergrund gedrängt, die offenbar im eigentlichen Interesse stand. Zur Deutung der Wägeszene s. Christian Kunze: Dialog statt Gewalt. Neue Erzählperspektiven in der frühklassischen Vasenmalerei. In: Fischer und Moraw (2005) [Anm. 2], S. 66–71; vgl. auch Knittlmayer (1997) [Anm. 2], S. 100–8 mit leicht abweichender Deutung. 7 s. u. mit Anm. 39 und 40. 8 Entsprechend ist auch die Sekundärliteratur zum Thema unüberschaubar. Genannt seien hier nur wenige neuere Arbeiten, welche grundsätzlichere Überlegungen zur Gewalt in Tragödien anstellen: Anne P. Burnett: Revenge in Attic and Later Tragedy, Berkeley, CA u. a. 1998; William V. Harris: Restraining Rage. The Ideology of Anger Control in Classical Antiquity, Cambridge MA u. a. 2001, S. 161–74; Elizabeth S. Belfiore: Murder among friends. Violation of philia in Greek tragedy, Oxford 2000; Ruth Padel: Whom Gods destroy. Elements of Greek and tragic madness, Princeton, NJ 1995; Kleopatra Ferla: Von Homers Achill zur Hekabe des Euripides. Das Phänomen der Transgression in der griechischen Kultur, München 1996: Diese wichtige Arbeit ist mir leider zu spät bekannt geworden als daß ich sie im folgenden noch hätte berücksichtigen können. Andrea Ercolani: Gewalt in der griechischen Tragödie. In: Fischer und Moraw (2005) [Anm. 2], S. 89–101 ist unergiebig, da er ausschließlich nach moralischer und philosophischer Reflexion sucht und so zu dem Schluß kommt: „In den uns erhaltenen Tragödien fehlt eine ausführliche Behandlung der Gewaltproblematik vom Standpunkt der moralischen und philosophischen Reflexion.“ (Ebd. S. 95)
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zen. Mir geht es zunächst darum, zwei verschiedene Felder oder Aspekte näher zu beleuchten, die in Hinblick auf die Frage relevant sein dürften: 1) Funktionen und Motivationen physischer Gewaltanwendung und ihre Akzeptanz innerhalb der Gesellschaft, und 2) die spezifischen Möglichkeiten und Grenzen von Bildern (im Gegensatz zu verbalen Äußerungen), bestimmte Inhalte auszudrücken.
I. Physische Gewalt als Problemlösungsstrategie Seit in der spätgeometrischen Zeit erstmals narrative und mythologische Bilder auf griechischen Vasen erscheinen, finden sich auch Darstellungen von blutigen Kämpfen. Trotz der schematischen Darstellungsweise der Zeit sind die Details der Verwundungen und Tötungsweisen in aller Deutlichkeit dargestellt (Abb. 1).9 Dies bleibt auch in der protokorinthischen und korinthischen Vasenmalerei so, welche die Brutalität des Krieges, die Verwundungen, Leichenfledderei usw. drastisch vor Augen führt (Abb. 2a–c).10 Ein ähnlicher Befund ergibt sich, wie bereits erwähnt, für die attischschwarzfigurige und frührotfigurige Vasenmalerei. Dieser Befund verwundert keineswegs; nicht etwa, weil die betreffenden Epochen tatsächlich kriegerischer oder gewalttätiger gewesen seien als spätere, sondern weil die Darstellungen ganz in Übereinstimmung mit der Ideologie, mit den Normen und Wertvorstellungen der archaischen Gesell-
Abb. 1: Geometrische Oinochoe mit Kampfdarstellungen. Kopenhagen, Nationalmuseum. 9 John Boardman: Early Greek vase painting, 11th–6th centuries BC. A handbook, London 1998, Abb. 49–50. 65; Hilda L. Lorimer: The hoplite phalanx with special reference to the poems of Archilochus and Tyrtaeus. In: Annual of the British School in Athens 42 (1947), S. 77 Abb. 1. 10 Lorimer (1947) [Anm. 9], S. 98–102 Abb. 8c; 9a–d; auch Boardman (1998) [Anm. 9], Abb. 178,3; s. auch die Vorliebe für drastische Darstellungen auf Chalkidischen Gefäßen: Boardman (1998) [Anm. 9], Abb. 469. 471. 475. 482.
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c Abb. 2a–c: Protokorinthische Aryballoi mit Kampfdarstellungen. a) Paris, Louvre Inv. CA931; b) Paris, Louvre c) Syrakus, Museo Archeologico Regionale.
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schaft stehen.11 Die Rivalität um Prestige und Ehre, eine Ideologie, welche Status ganz wesentlich von der Anerkennung abhängig macht, welche Mut und physische Stärke entweder von sich aus auslösen oder aber gewaltsam einfordern, in der ein gewalttätiger Mann regelmäßig ein ‚guter Mann‘ genannt wird, in der sogar der eigene Tod in den Handel um Ehre einbezogen ist und ein ‚schöner Tod‘ derjenige ist, den man in tapferem Kampf gegen einen ebenbürtigen Gegner erleidet und durch den man im Gedächtnis der Gesellschaft weiterlebt, beherrschen nicht nur das Geschehen von Ilias und Odyssee, sondern auch die historische Wirklichkeit.12 Dies bestätigen neben der archaischen Lyrik auch die Denkmäler. In den Bildern aus der Zeit etwa von 530 bis 480 wird meist klar zwischen Sieger und Besiegtem differenziert, indem letzterer schwer verwundet und in auswegloser Situation gezeigt wird. Doch wird auf diese Weise nicht nur der Sieger ausgezeichnet, sondern auch der Besiegte.13 Der von Achill tödlich verwundet zurücksinkende, aus mehreren Wunden blutende Hektor auf einem Stamnos des Berliner Malers in München (Abb. 3) etwa scheint sich noch im Zurücksinken gegen seine Niederlage zu sträuben.14 11 Ähnlich Stähli (2005) [Anm. 3], S. 33–43 zu den Gewalttaten Achills auf griechischen Vasen. S. auch Michael Shanks: Art and the Greek City State. An interpretive archaeology, Cambridge 1999, bes. S. 107–13; Ellinghaus (1997) [Anm. 2], bes. S. 237–92, dessen These einer „Tendenz zum Realismus“ seit etwa 530 unter dem Einfluß von „Neureichen bzw. Emporkömmlingen“, welche die alten aristokratischen Leitbilder nicht mehr vollständig verstanden hätten (zusammenfassend ebd. S. 257–61), ich allerdings nicht teilen kann. 12 Hans Van Wees: Status Warriors. War, Violence and Society in Homer and History, Amsterdam 1992; s. auch Hans-Joachim Gehrke: Die Griechen und die Rache. Ein Versuch in historischer Psychologie. In: Saeculum 38 (1987) S. 121–49; Christoph Ulf: Die homerische Gesellschaft, München 1990, bes. S. 1–49; Douglas L. Cairns: Aidos. The Psychology and Ethics of Honour and Shame in Ancient Greek literature, Oxford 1993, bes. S. 1–146. Zum ‚schönen Tod‘ s. Jean-Pierre Vernant: Der griechische Tod – Tod mit zwei Gesichtern. In: Hephaistos 3 (1981) S. 17–22; Nicole Loraux: Mourir devant Troie, tomber pour Athènes. De la gloire du héros à l’idée de la cité. In: La mort, les morts dans les sociétés anciennes, hrsg. von Gherardo Gnoli und Jean-Pierre Vernant, Cambridge et al. 1982, S. 27–43; Jean-Pierre Vernant: La belle mort et le cadavre outragé. In: Gnoli und Vernant (1982) [ebd.], S. 45–76 ; weitere Bibl. in Knittlmayer (1997) [Anm. 2], S. 71–73. 13 Ähnlich Knittlmayer (1997) [Anm. 2], bes. S. 71–73. Der Unterschied zu den Bildern der Jahre davor, in denen die Kämpfe oft unentschieden sind, läßt sich demnach nicht als eine grundsätzliche Abkehr von der archaischen Adelsideologie verstehen; dazu auch im folgenden. 14 München, Antikensammlung 2406: ARV2 207.137; Add2 194; Para 343; CVA München (5) Taf. 238–9.
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Abb. 3: Stamnos des Berliner Malers; Zweikampf zwischen Achilleus und Hektor. München, Antikensammlung Inv. 2406.
Sein ganzer Körper ist voller Spannung, und das Schwert hält er noch fest in der ausgestreckten Rechten gegen den Angreifer gerichtet. Obgleich zusammenbrechend, hat er doch den schönen Körper aller heroischen Kämpfer, ja, er ist durch seine Körpergröße und raumfüllende Präsenz dem Achill sogar überlegen, der im Vergleich beinahe etwas schmächtig und an den Rand gedrängt erscheint.15 Ähnlich ist auch der von Hypnos und Thanatos geborgene Leichnam Sarpedons zwar von blutenden Wunden gezeichnet, ansonsten aber in ‚heroischer‘ Größe und mit jedem Detail seines perfekten athletischen Körpers dargestellt (Abb. 4). Der ‚schöne Tote‘ wird zudem von göttlichen Personifikationen geborgen, eine Ehrenerweisung, die seinen Ruhm und Status zusätzlich unterstreicht: Derjenige Held der Ilias, der vielleicht den Normen der home-
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Abb. 4: Kelchkrater des Euphronios; Bergung der Leiche des Sarpedon durch Hypnos und Thanatos. New York, Metropolitan Museum of Art Inv. 1972.11.10; Leihgabe Republik Italien.
rischen Gesellschaft am besten entspricht, wird von Zeus durch einen schlafartigen Tod ohne Schrecken ausgezeichnet.16 15 Anders die Deutung von Susanne Muth: Zwischen Pathetisierung und Dämpfung. Kampfdarstellungen in der attischen Vasenmalerei des 5. Jhs. v. Chr. In: Fischer und Moraw (2005) [Anm. 2] S. 192–9, die offenbar davon ausgeht, es könne in den Kampfdarstellungen nur um den Sieger gehen, und die die Aufmerksamkeit, welche die Besiegten in den Darstellungen der fraglichen Zeit erhalten, als eine Art unerwünschten Nebeneffekt ansieht, den man mit den späteren Darstellungen auszugleichen gesucht hätte. Anders die klassischen Bilder, in denen der Unterlegene oft als zurückweichend oder gar fliehend dargestellt wird. Hier ist ihrer Deutung insoweit zuzustimmen, als nun tatsächlich der Sieger der alleinige Held (und die alleinige Identifikationsfigur) der Darstellung ist und die Überlegenheit zu einer absoluten wird. 16 H. Allan Shapiro: Personifications in Greek art. The representation of abstract concepts 600–400 B. C., Kilchberg und Zürich 1993, S. 132–48; Recke (2002) [Anm. 2], S. 60–4; 288 mit Diagramm 6.1–2; zur Symbolik Barbara E. Borg: Der Logos des Mythos. Allegorien und Personifikationen in der frühen griechischen Kunst, München 2002, S. 164–7.
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Eine ähnliche Vorstellung scheint auch den Kourosstatuen auf attischen Gräbern zugrunde zu liegen.17 Als besonders instruktives Beispiel mag hier das Grabmonument eines gewissen Kroisos aus Anavyssos dienen, der der Inschrift zufolge in einer unbekannten Schlacht in der vordersten Reihe starb (Abb. 5).18 Sein Bildnis zeigt ihn in seiner ganzen Schönheit und Jugend: die langen Locken, das lächelnde Gesicht als Ausdruck seiner Charis, der muskulöse Körper mit den mächtigen Schenkeln, sein fester Stand „mit beiden Füßen gestemmt auf das Erdreich“, das Inbild des idealen Kriegers und schönen Toten wie Tyrtaios es so oft beschreibt.19 Das Epigramm weist eine Reihe formaler Eigenheiten auf, die ein gebildeter Zeitgenosse als Reminiszenz an epische und elegische Formulierungen erkennen konnte. In der archaischen Gesellschaft spielten demnach physische Stärke und Kampfesmut als probate, ja, geradezu erwartete Mittel der Durchsetzung von Ansprüchen, zur Vergeltung von Beleidigungen aller Art und als Ausweis von Status und Größe zumindest der Ideologie nach eine wesentliche Rolle und waren den Dichtungen etwa des Alkaios, des Solon, des Theognis oder Xenophanes zufolge auch ein Faktum der realen Lebenswirklichkeit. Hans van Wees hat die archaischen Gesellschaften Griechenlands m. E. überzeugend mit der Mafia und ihrer Ideologie der Vendetta verglichen,20 17 Anna Maria D’Onofrio: Korai e kouroi funerari attici. In: AION 4 (1982), S. 135–70, bes. S. 163–8; Andrew F. Stewart: When is a kouros not an Apollo? The Tenea ,Apollo‘ revisited. In: Corinthiaca. Studies in honor of Darrell A. Amyx, hrsg. von Mario A. Del Chiaro, Columbia 1986, S. 54–70, bes. S. 60–5; Christine SourvinouInwood: ,Reading‘ Greek Death to the End of the Classical Period, Oxford 1995, S. 140–297, bes. S. 170–80. 221–78, die aber m. E. den Aspekt des Preises der Verstorbenen zugunsten persönlicher Trauer über den Verlust unterschätzt. 18 Zu archaischen Grabepigrammen s. Joseph W. Day: Rituals in Stone. Early Greek grave epigrams and monuments. In: Journal of Hellenic Studies 109 (1989) S. 17–40, S. 20 zur Kroisos-Basis. 19 „Drum auf! im Spreizschritt halt’ man stand, mit beiden Füßen gestemmt ans Erdreich! in die Lippe grab’ sich ein der Zähne Biß!“ „¢ll£ tij eâ diab¦j menštw posˆn ¢mfotšroisi|sthricqeˆj ™pˆ gÁj, ce‹loj Ñdoàsi dakèn“ (10, 31–2; 11,21–2, Übers. Joachim Latacz); s. auch 10.21–32; 11; 12 West; vgl. Hom. Il. 22.71–73: „Einem jungen Mann, der gefallen, steht alles an, auch wenn er vom scharfen Erze zerrissen daliegt; und alles ist schön an dem Toten, was da erscheinet.“ (Übers. Roland Hampe); s. auch Hölscher (2003) [Anm. 2], S. 11: „The fighting warriors in battle scenes are kouroi set into motion“. 20 Hans van Wees: The mafia of early Greece. Violent exploitation in the seventh and sixth centuries BC. In: Organised Crime in Antiquity, hrsg. von Keith Hopwood, London 1999, S. 1–51; Hans van Wees: Megara’s mafiosi. Timocracy and violence in Theognis. In: Alternatives to Athens, hrsg. von Roger Brock und S. Hodkinson, Oxford 2000, S. 52–67.
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b Abb. 5a, b: a) Grabstatue des Kroisos; b) Zeichnung, Transkription und Übersetzung der Basisinschrift (G. Richter). Athen, Nationalmuseum Inv. 3851.
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auch wenn man über das tatsächliche Ausmaß an Gewalttaten im Zusammenhang des archaischen Elitenwettbewerbs streiten kann. Diese Ideologie wird jedoch bereits in archaischer Zeit problematisch, wie etwa schon Hesiods Unterscheidung zwischen der guten und schlechten Eris zeigt (Erga 11–26).21 In der archaischen Lyrik beginnt ein expliziter Hybrisdiskurs, in dem auch Gewaltanwendung eine Rolle spielt.22 Doch steht hier nicht so sehr die Gewalt selbst im Zentrum, sondern das zentrale Problem jeder auf Ehre und Anerkennung gegründeten Gesellschaftsform: Hybris als eine Haltung, die geprägt ist durch eine fehlgeleitete und überzogene Vorstellung von sich selbst und der eigenen Stellung in der Welt, durch ein unangemessenes Gefühl der Überlegenheit, durch die überzogene Sorge um die eigene Ehre, die entscheidender wird als der Schaden und die Unehre, die man anderen antut.23 Insbesondere scheint sich in dieser Zeit der Topos des hybriden und in seiner Hybris auch zu überzogener oder unnötiger Gewalt neigenden Tyrannen herauszubilden, ein Topos, der im 5. Jh. sowohl bei Herodot und Thukydides als auch in der Tragödie voll entfaltet wird.24 Die außerordentliche Fixierung auf die Ehre des Einzelnen und seiner Familie bzw. seiner philoi, welche die Notwendigkeit, diese Ehre mit Gewalt zu verteidigen einschließt, führt zu Vendetta-artigen Fehden und einem Teufelskreis von Gewalt, welche die Gesellschaft zu sprengen drohen. Als zentrales – wir würden sagen: psychologisches – Problem wird dabei der Zorn erachtet, der einerseits notwendige Voraussetzung für Kampfkraft und die Ausübung von Rache, ja, geradezu Ausweis der Arete und des Status des Helden ist, andererseits aber die Gefahr in sich birgt, den Sinn für das rechte Maß an Rache zu verlieren und dadurch Gegenrache zu provozieren.25 „If anger is wrong, then, this is not because it is morally wrong, 21 Michael Gagarin: The Ambiguity of eris in the Works and Days. In: Cabinet of the Muses. Essays on Classical and Comparative Literature in Honor of Thomas G. Rosenmeyer, hrsg. von Mark Griffith und Donald J. Mastronarde, Atlanta 1990, S. 173–83. 22 Nicolas R. E. Fisher: Hybris. A study in the values of honour and shame in ancient Greece, Warminster 1992, bes. S. 201–46 zur archaischen Lyrik. 23 Fisher (1992) [Anm. 22], bes. S. 7–150; dazu mit wichtigen Ergänzungen Douglas L. Cairns: Hybris, Dishonour, and Thinking Big. In: Journal of Hellenic Studies 116 (1996) S. 1–32. 24 Fisher (1992) [Anm. 22], S. 247–452; s. auch Harris (2001) [Anm. 8], S. 157–200. 25 Harris (2001) [Anm. 8], passim, bes. S. 131–200; Leonard C. Muellner: The Anger of Achilles. Menis in Greek Epic, Ithaca, N.Y. u. a. 1996; Burnett (1998) [Anm. 8]; Douglas L. Cairns: Anger and Honour in Homer’s Iliad. In: Ancient Anger: Perspectives from Homer to Galen, hrsg. von Susan M. Braund and Glenn W. Most, Cambridge et al. 2003, S. 11–49; Glenn W. Most: Anger and pity in Homer’s Iliad. In: Ebd. S. 50–75.
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but because it may have unpredictable and unwelcome side-effects.“26 Die drakonischen Gesetze, die Reformen des Solon usw. waren Versuche, diese Auswirkungen der Racheideologie einzudämmen, ohne allerdings die Ideologie grundsätzlicher in Frage zu stellen, und William Harris vermutet gar, daß die Prominenz der Ilias, in welcher der Zorn ein zentrales Thema darstellt, mit aktuellen Diskussionen während der Polisbildung um 700 und der Notwendigkeit zur Schaffung von Regeln des Zusammenlebens zusammenhängt.27 Auch in Bildwerken finden sich gelegentlich Hinweise auf die problematischen Aspekte des Krieges und der Gewalt. Wie ich an anderer Stelle ausführlicher zu zeigen gesucht habe, stellt die von Pausanias beschriebene sogenannte Kypseloslade, ein eigentlich zylindrisches, in fünf Registern mit Bildern dekoriertes Behältnis, welches die Kypseliden ins Heiligtum nach Olympia gestiftet hatten, ein solches – in seiner Art allerdings bislang einzigartiges – Beispiel dar.28 Die überwiegende Mehrzahl der Szenen handelt von verschiedenen Formen gewalttätiger Auseinandersetzungen, von denen die meisten sich problemlos in das bekannte Spektrum einfügen. Einige bemühen sich jedoch um einen ausdrücklich kritischen Blick. Ich greife hier nur den Zweikampf zwischen Agamemnon und Koon über der Leiche des Iphidamas heraus, der im 11. Buch der Ilias, der Aristie des Agamemnon, beschrieben wird (11, 248–63), wo er u. a. dazu dient, den Anführer der Achäer zu charakterisieren.29 Die Tötung von Iphidamas und Koon ist hier nur vordergründig als Heldentat geschildert, genau genommen aber ein fatales Ereignis. Weder Iphidamas und Koon selbst noch ein Familienmitglied oder Freund haben Agamemnon je geschadet: im Gegenteil, ihr Vater Antenor beherbergte einst die Gesandtschaft des Menelaos und Odysseus bei sich (Il. 3,203 ff.), rettete die beiden vor Übergriffen der Trojaner und sprach sich als Gegner der Parispartei in der Ratsversamm26 Van Wees (1992) [Anm. 12], S. 135. So auch noch der Tenor von Athenas Rede in Aischylos’ Eumeniden 858–66. 27 Harris (2001) [Anm. 8], S. 27. 131–56. 28 Paus. 5,17,5–19,10; Barbara E. Borg: Epigrams in archaic art. The ‚Chest of Kypselos‘ (im Druck); s. vorläufig Borg (2002) [Anm. 16], S. 105–31. 135–41. 29 Vgl. Agathe Thornton: Homer’s Iliad. Its Composition and the Motif of Supplication. Hypomnemata 81, Göttingen 1984, S. 78–80; Keith Stanley: The Shield of Homer. Narrative Structure in the Iliad, Princeton, NY 1993, S. 129; Samuel E. Bassett: The `Amart…a of Achilles. In: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 65 (1934), S. 47–69; Oliver Taplin: Agamemnon’s Role in the Iliad. In: Charakterization and Individuality in Greek Literature, hrsg. von Christopher Pelling, Oxford 1990, S. 60–82.
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lung für die Rückgabe der Helena aus (Il. 7,347 ff.).30 Aus diesem Grund wird er auch bei der Eroberung Trojas gerettet. Der Ignoranz des Agamemnon entspringt seine unangemessene Grausamkeit, die im fraglichen Kampf noch dadurch gesteigert wird, daß er Koon, welcher den Leichnam seines Bruders bergen will, nicht nur tötet, sondern über diesem Leichnam auch noch köpft.31 Interessanterweise nimmt die Darstellung auf der Kypseloslade ausdrücklich dieselbe Perspektive ein, und zwar nicht nur durch die Wahl dieses ansonsten uninteressanten und in der griechischen Kunst singulären Zweikampfes. Eine Beischrift macht deutlich, daß es hier nicht in erster Linie um Agamemnons, sondern um Koons Kampf geht („Iphidamas ist dies, und Koon kämpft um ihn.“ 'Ifid£maj oátÒj te KÒwn perim£rnatai aÙtoà Paus. 5,19,4). Dadurch wird die Perspektive des Koon – und in gewisser Weise die des Iphidamas – zur Betrachterperspektive erhoben. Ein zweiter Hexameter bezieht sich auf die Darstellung auf dem Schild des Agamemnon und verweist den Betrachter auf die Symbolik des Schildzeichens: „Dies ist Phobos für die Sterblichen, der ihn trägt, Agamemnon.“ (oátoj män FÒboj ™stˆ brotîn, Ð d' œcwn 'Agamšmnwn Paus. 5,19,4). Phobos ist nicht nur ein Schildzeichen, er ist ein Attribut des Agamemnon. Das Epigramm enthält keinerlei Hinweis darauf, daß es sich um eine Darstellung handelt, es bezieht Phobos vielmehr direkt auf diesen sich durch besondere Grausamkeit auszeichnenden Helden. Phobos ist sowohl die Fähigkeit des fobe‹n (‚Scheuchens‘) als auch die Flucht bzw. der die Flucht auslösende psychische Zustand der Furcht und des Schreckens.32 Das Attribut Phobos, das Agamemnon gewissermaßen einsetzen kann wie seinen Schild, kennzeichnet diesen somit als einen, der wie Ares phobos, die Fähigkeit des fobe‹n, besitzt und dadurch phobos, Panik, Furcht und Flucht auslöst. Die beiden Hexameter weisen demnach auf zwei wesentliche Aspekte der Episode hin, die deren Bewertung durch den Betrachter im Sinne der Ilias lenkt und, so würde ich behaupten, zu einem Kommentar des Krieges 30 Vgl. Thornton (1984) [Anm. 29], S. 79–80. Zur Analyse der Zweikämpfe s. auch mit etwas anderem Fazit Gisela Straßburger: Die kleinen Kämpfer der Ilias, Diss. Frankfurt a. M. 1954, S. 69–72. 31 Charles Segal: The Theme of the Mutilation of the Corpse in the Iliad, Leiden 1971, S. 20–21; Vernant (1982) [Anm. 12]; Jon E. Lendon: Homeric vengeance and the outbreak of Greek wars. In: War and violence in ancient Greece, hrsg. von Hans van Wees, London 2000, S. 1–30, bes. S. 6–11. 32 Joachim Gruber: Über einige abstrakte Begriffe des frühen Griechischen, Meisenheim am Glan 1963, S. 15–39. Hartmut Erbse: Untersuchungen zur Funktion der Götter im homerischen Epos, Berlin/New York 1986, S. 29–34, betont einseitig den passiven Aspekt der Flucht und Furcht.
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insgesamt erweitert. Indem der eine Hexameter die Namen – und somit die Persönlichkeiten – der Opfer und nicht etwa des Siegers betont, wird an „die ganze Bitternis des Krieges“33 erinnert, und Phobos ist der panische Furcht auslösende Schrecken und Terror des Kampfes und Krieges selbst, dem Koon und Iphidamas erliegen bzw. erlegen sind und den sie durch ihren Tod bestätigen.34 In einem anderen Bild wird – wiederum eine singuläre Darstellung – der Brudermord von Eteokles und Polyneikes dargestellt, vielleicht das Paradigma der Gefahren, welche im Wettbewerb um Ehre und Macht lauern.35 Wie ausführlicher gezeigt werden müßte, stellt die Kypseloslade inhaltlich wie in ihren Ausdrucksmitteln in mancher Hinsicht ein Äquivalent, möglicherweise sogar eine gezielte Reaktion auf den ps.-hesiodeischen Schild des Herakles dar, der, wie verschiedentlich argumentiert wurde, ebenfalls die problematischen Seiten archaischer Kriege thematisiert.36 Ein entscheidender ideologischer Wandel scheint in Athen aber erst mit der Vertreibung der Tyrannen und den ersten demokratischen Reformen einzusetzen. Zwar ist schon zuvor die Idee verbreitet, daß Hybris besonders als Ergebnis eines Zuviel an Macht oder Reichtum stasis hervorruft, wenn sie nicht vom Gesetz in Schach gehalten wird,37 doch scheint diese Erkenntnis erst mit Einrichtung der Demokratie allmählich zu konsequenten Veränderungen zu führen. Das Individuum tritt nun stärker in die Gemeinschaft zurück, der Ideologie einer Verteidigung der Ehre und Demon33 Straßburger (1954) [Anm. 30], S. 127. 34 Vgl. auch Thornton (1984) [Anm. 29], S. 79: „The pathos of the blind destructiveness of war, suggested by the ,gleaming chest‘ of the first pair killed, by the second pair having been caught and ransomed before, by the third pair dooming themselves to death by their very appeal for mercy, reaches its climax in Agamemnon’s killing the sons of Antenor in ignorance.“ – Es versteht sich aber wohl von selbst, daß damit keine grundsätzliche Kritik am Krieg geübt oder eine pazifistische Haltung ausgedrückt werden sollte. 35 Borg (2002) [Anm. 16], S. 109–11. 36 William G. Thalmann: Conventions of Form and Thought in Early Greek Epic Poetry, Baltimore 1984, S. 62–4. Als Appell für ein friedliches, geregeltes Zusammenleben, das die Schilddarstellungen dominiert, liest F. Graf mit Verweis auf Vergils Interpretation auch den Schild des Achill in der Ilias: Fritz Graf: Ekphrasis: Die Entstehung der Gattung in der Antike. In: Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, hrsg. von Gottfried Boehm und Helmut Pfotenhauer, München 1995, S. 150–51. Zur Kypseloslade s. vorläufig Borg (2002) [Anm. 16], S. 105–31. 135–41. 37 Fisher (1992) [Anm. 22]; Nicholas R. Fisher: Hybris, revenge and stasis in the Greek city-states. In: War and violence in ancient Greece, hrsg. von Hans van Wees, London 2000, S. 83–123.
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stration von Macht durch individuelle physische Stärke und Gewaltanwendung tritt die Vorstellung einer durch die Gemeinschaft legitimierten Rache zur Seite. Durch das ganze 5. Jh. hindurch bleiben die negativen Auswirkungen übersteigerter Selbstbezogenheit und Gier nach time bis hin zur Hybris, die sich u. a. in überzogenen Gewaltakten, vorzugsweise gegenüber der eigenen Familie oder den philoi, und in Verletzung ritueller Bräuche äußern, allgemeines und sorgsam gepflegtes Kliché.38 Andererseits bleibt jedoch die göttliche wie die soziale Ordnung der Athener auf Zorn und Rache gegründet, die Herrschaft des Zeus ebenso wie die Athenische Demokratie, welche der Idee nach einem blutigen Racheakt zu verdanken ist und in der die Gesetze nicht etwa einen Ersatz für Rache darstellten, sondern den Versuch, die Rache in Bahnen zu lenken, welche möglichen Schaden für den Rächer (und die Polis) vermeiden.39 Insofern kann L. C. Muellner mit gewissem Recht schreiben, menis sei „not just an emotional state. It is a sanction meant to guarantee and maintain the integrity of the world order.“40 Aischylos’ Eumeniden geben ein ebenso unmißverständliches Zeugnis von dem Bedürfnis nach Eindämmung von Stasis und Beendigung der Spirale von Racheakten durch Einsetzung eines Gerichtshofs (ausdrücklich z. B. 976–83) wie von der Akzeptanz des Zorns und des Wunsches nach Rache bei Ehrverletzung. Indem Athena die Eumeniden zudem auffordert, nicht mehr den Zorn der athenischen Bürger aufeinander anzuheizen, sondern den Zorn auf auswärtige Feinde zu lenken (858–65), legitimiert sie zudem explizit deren gewalttätige außenpolitische Aktivitäten. 38 Dies insbesondere in der Konstruktion der Tyrannenfigur, s. Harris (2001) [Anm. 8], S. 174–82; Richard Seaford, Tragic Tyranny. In: Popular Tyranny: Sovereignty and its discontents in ancient Greece, hrsg. von Kathrin A. Morgan, Austin 2003, S. 95–115. 39 Gehrke (1987) [Anm. 12]; Burnett (1998) [Anm. 8]; Nicolas R. Fisher: Violence, masculinity and the law in classical Athens. In: When men were men. Masculinity, power and identity in classical antiquity, hrsg. von Lin Foxhall und John Salmon, London/New York 1998, S. 68–97; Fisher (2000) [Anm. 37]; Lendon (2000) [Anm. 31]; Danielle Allen: Angry bees, wasps, and jurors: the symbolic politics of Ñrg» in Athens. In: Braund und Most (2003) [Anm. 25], S. 76–98; noch Aristoteles akzeptiert Zorn im rechten Maß, „to be angry in the manner, at the things, and for the length of time that reason dictates.“ (Christopher Gill: Ancient Passions. Theories and Cultural Styles. In: The Literary Portrayal of Passion through the Ages, hrsg. von Keith Cameron, Lewiston, ME 1996, S. 1–10, hier: S. 2 mit Verweis auf Arist. NE 4,5); David Konstan: Aristotle on anger and the emotions. The strategies of status. In: Braund und Most (2003) [Anm. 25], S. 99–120. 40 Muellner (1996) [Anm. 25], S. 26.
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Abb. 6: Schale des Douris; Streit um die Waffen des Achill. Wien, Kunsthistorisches Museum Inv. 3695.
Diese kritische Auseinandersetzung mit den alten und neuen Ideologien scheint sich auch in den Bildern niederzuschlagen, und zwar bereits zu einer Zeit, die von den literarischen Quellen nur unzureichend abgedeckt wird. So sind die sich um 490 häufenden Darstellungen des Streits zwischen Ajas und Odysseus um die Waffen des Achill (Abb. 6) nicht so sehr als Zeugnis der Beliebtheit des Ajas im Zuge der Integration von Salamis in das Athenische Herrschaftsgebiet anzusehen, wie man gemeint hat,41 sondern als eine bildliche Parallele zu Aischylos’ Eumenidendrama und damit als ein früher 41 Dyfri Williams: Ajax, Odysseus and the arms of Achilles. In: Antike Kunst 23 (1980), S. 143–44.
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Beleg für eine Diskussion der zentralen Thematik. Seit ca. 490 finden sich auf attischen Vasen zwei Versionen des Streits zwischen Odysseus und Ajas um die Waffen Achills. Die eine zeigt einen nur mühsam verhinderten blutigen Kampf zwischen den beiden, die andere eine Abstimmung. Und mehr noch, sechsmal werden beide Szenen, der bewaffnete Kampf und die Abstimmung, einander auf demselben Gefäß gegenübergestellt (Abb. 6).42 Die Darstellungen stimmen weder mit jener in der Aithiopis noch mit jener in der Kleinen Ilias überein,43 und man hat daraus auf eine verlorene Ajasdichtung als Vorlage geschlossen.44 Auch wenn dies, wie so oft, nicht völlig auszuschließen ist, scheint es mir ebenso gut möglich zu sein, daß die Vasenmaler die älteren Fassungen gezielt verändert haben, denn schon die Wahl des Themas, das als solches weit weniger Dramatik zu bieten hat als etwa der in der Folge dieser Entscheidung stehende Selbstmord des Ajas, ist bezeichnend und legt ein jenseits der reinen Erzählung liegendes Interesse an dem Thema nahe. Auf den Schalen jedenfalls sind es die Achäer selbst, die unter der Aufsicht Athenas abstimmen: traditionellen, ‚heroischen‘ Problemlösungsstrategien wie dem blutigen Kampf werden zeitgemäßere Strategien wie Gerichtsverhandlung und Abstimmung gegenübergestellt.45 Daß der in feinste Gewänder gehüllte und wohlfrisierte Agamemnon über den bewaffneten Konflikt wacht, während meist Athena die Abstimmung leitet, ist sicher kein Zufall.46 Gewaltsame, spontane Kon42 Zusammengestellt in LIMC I, Zürich und München 1981, S. 324–27 s. v. Aias I (Odette Touchefeu); dazu Williams (1980) [Anm. 41], S. 137–45; Kunze (2005) [Anm. 6], S. 45–71, bes. S. 50–65. 43 Prokl. Exc. Aith. 29 f. (Davies); Aith. fr. 5 PEG; Prokl. Exc. IlMik. 2 ff. (Davies); Schol. ap. Aristoph. Equ. 1056; IlMik. fr. 2–3 PEG. 44 Als bester Kandidat gilt hier Aischylos’ Hoplon Krisis, doch s. hierzu Williams (1980) [Anm. 41], S. 143, und Kunze (2005) [Anm. 6], Anm. 40. Als Gegenargument ließe sich auch verwenden, daß in keiner erhaltenen Schriftquelle ein handgreiflicher Kampf zwischen den Helden erwähnt wird, das Bildschema des verhinderten Zweikampfes jedoch schon vor den hier in Rede stehenden Vasen bekannt ist: Kunze ebd., S. 61–63. 45 So auch die Deutung von Kunze (2005) [Anm. 6], S. 50–65; ähnlich schon Nigel Spivey: Psephological Heroes. In: Ritual, Finance, Politics. Athenian Demokratic Accounts Presented to David Lewis, hrsg. von Robin Osborne und Simon Hornblower, Oxford 1994, S. 39–51, aber s. auch hier Anm. 47. Bezeichnend auch die einzigartige Darstellung des Rededuells zwischen Odysseus und Ajas, das der Entscheidung wohl vorausgegangen sein muß: Kunze (2005) [Anm. 6], S. 51–53 mit Abb. 1. 46 Auf der Schale in Malibu, J. Paul Getty Museum 86.AE.286 (LIMC I, München und Zürich 1981, S. 325–26 s. v. Aias I Nr. 72; S. 83 [Odette Touchefeu]), scheint Agamemnon jedoch auch bei der Abstimmung den Vorsitz zu führen.
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fliktlösungen waren nicht nur ein Kennzeichen der homerischen Epen, sondern auch von Adelsgesellschaft, Timokratie und Tyrannis der archaischen Zeit, deren Oberschicht Agamemnon so sehr gleicht, während Athena eher für die Gemeinschaft der Polis steht, die hier zur Abstimmung schreitet. Insofern scheinen die Schalenbilder eine Diskussion zu spiegeln, welche so kurz nach der Abschaffung der Tyrannis und Einleitung demokratischer Reformen aktuelle politische Brisanz besaß. Doch zweifellos handelt es sich hier nicht um ein Propagandawerk der Demokratie und nicht einmal um eine klare Stellungnahme zugunsten der neuen Verhältnisse.47 Noch bei Aischylos braucht es drei Tragödien und alles diplomatische Geschick Athenas, um die Entscheidung zugunsten eines Endes der Fehde herbeizuführen. Die Entscheidung, Achills Waffen dem Odysseus zu geben, galt in der Antike allgemein als ungerecht.48 Wo die Waffenstreitbilder mit einer weiteren Darstellung kombiniert werden, findet sich nur in einem Falle möglicherweise ein Hinweis auf einen positiven Effekt der Entscheidung,49 sonst aber auf den Tod des Ajas, dessen Bewertung letztlich dem Betrachter überlassen bleibt: Ist er die Folge übersteigerter Ehrsucht oder doch Ausweis der Ohnmacht auch demokratischer Entscheidungsfindungen, Gerechtigkeit zu erlangen?50 Auch andere Darstellungen der Zeit scheinen mir als Auseinandersetzung – und zwar als relativ ergebnisoffene Auseinandersetzung – mit den ideologischen und politischen Veränderungen der Zeit lesbar zu sein. Seit dem Ende des 6. Jhs. ist eine neue Vorliebe für mehrszenige Ilioupersisdarstellungen zu beobachten.51 Dies mag zunächst insofern bezeichnend sein, als die Eroberung Trojas hier trotz der Einzelepisoden mit 47 Anders Spivey (1994) [Anm. 45]; Kunze (2005) [Anm. 6], S. 63–65. 48 Pind. N. 7,22–7; 8,23–7; I. 4,53–7; dazu Roscher, ML I 1, Hildesheim 1884–86, Sp. 125–30 s. v. Aias Telamonios (C. Fleischer) mit weiteren Belegen. 49 So, falls im Innenbild der Schale des Douris in Wien tatsächlich die Übergabe der Waffen des Achill durch Odysseus an Neoptolemos dargestellt sein sollte; dazu Spivey (1994) [Anm. 45], S. 44 Anm. 4; Kunze (2005) [Anm. 6], Anm. 36. 50 Falls das Fragment einer Kylix des Douris (Vatikan 35092 Astarita Collection 133 mit MMA 1974.226) tatsächlich die Manipulation der Abstimmung zeigen sollte (Spivey 1994 [Anm. 45], S. 44. 50 Abb. 2,5), hätten wir hier einen weiteren Beleg für eine kritische Haltung gegenüber der neuen Form der Entscheidungsfindung. Von Manipulation handeln auch Pindar [s. hier Anm. 48] und Sophokles’ Ajax. Euripides’ Orestes (408 v. Chr.) endet in der Aporie: weder ein Gerichtsverfahren, noch Privatrache, noch die Götter können das Problem wirklich lösen: Fischer (1998) [Anm. 39], S. 83. 51 LIMC VIII, Zürich und Düsseldorf 1997, S. 650–57 s. v. Ilioupersis (Maria Pipili); Williams (1980) [Anm. 41]; von den Hoff (2005) [Anm. 5], S. 237–40.
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Abb. 7: Schale des Onesimos; Ilioupersis. Rom, Villa Giulia Inv. 121110.
ihren jeweiligen Protagonisten als Gemeinschaftsunternehmen erscheint, ein Eindruck, der durch die oftmals eingefügten anonymen Kampfgruppen noch zusätzlich unterstrichen wird. Wichtig ist jedoch auch die Wahl der neu hinzukommenden Szenen: Neben den Greueln der Eroberung und Rache finden sich nun auch Szenen der Rettung, manche zum ersten Mal in der Bildkunst. Onesimos beispielsweise hat in seiner Darstellung der Ilioupersis auf einer Schale in der Villa Giulia Ajas’ Angriff auf Kassandra sowie die Ermordung von Astyanax und Priamos, vielleicht auch des Deiphobos, mit der Rückführung und Rettung der Helena, der Aithra sowie Theanos und Antenors kombiniert (Abb. 7).52 52 Rom, Villa Giulia 121110 (ehem. Malibu, J. Paul Getty Museum 83.AE.362): Dyfri Williams: Onesimos and the Getty Iliupersis. In: Greek Vases in the J. Paul Getty Museum 5 (1991), S. 41–64; Luca Giuliani: Bild und Mythos. Geschichte der Bilderzählung in der griechischen Kunst, München 2003, S. 211–14 Abb. 43; Michael J. Anderson: Onesimos and the interpretation of Ilioupersis iconography. In: Journal of Hellenic Studies 115 (1995) S. 130–35; ders.: The Fall of Troy in Early Greek Poetry and Art, Oxford 1997, S. 234–45.
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In allen Fällen ist das zentrale Motiv die Reziprozität:53 Das Haus des Priamos – auch symbolisiert durch den eigens inschriftlich benannten Hausaltar – wird ausgelöscht als Rache für die Entführung der Helena,54 Aithra und Antenor profitieren von ausgleichender Gerechtigkeit, die eine von der endgültigen Rückführung der Helena, der andere von der erwiesenen Gastfreundschaft und Schonung, die er einst Odysseus und Menelaos gewährt hat: gerettet werden nur die Freunde der Achäer. Auf den ersten Blick könnte man diese Kombination von Motiven demnach als Bekräftigung der Idee einer gerechten Rache ansehen.55 Doch dies ist nicht die ganze Wahrheit. An prominenter Stelle über dem Mittelbild ist Ajas’ Frevel im Heiligtum der Athena dargestellt und durch die Inschrift HERKEIW auf dem Altar, auf den sich Priamos vor seinem Angreifer geflüchtet hat, wird unübersehbar auf den heiligen Charakter des Ortes verwiesen, an dem Neoptolemos seine Rache vollzieht. Der Mord am Altar wird somit ausdrücklich der Tat des Ajas am Bild der Athena parallelisiert. Andererseits wird durch die Rückgewinnung Helenas in derselben Achse unter dem Mittelbild der Anlaß des Krieges in Erinnerung gerufen. Die Vernichtung des Geschlechtes des Priamos nimmt somit auch inhaltlich eine Mittelposition ein: Der Bruch des von Zeus geschützten Gastrechts durch die Entführung der Helena wird gerächt durch die Auslöschung des Hauses des Frevlers, jedoch indem Zeus ein weiteres Mal mißachtet wird.56 Es scheint, als sei hier eines der Hauptdilemmata der griechischen Gesellschaft thematisiert worden. Auf der einen Seite die allgemeine Forderung nach und Akzeptanz von auch physisch vollzogener Rache, deren Maß die zuvor erlittene Beleidigung ist und welche als Notwendigkeit und Garant von Gerechtigkeit verstanden wird,57 auf der anderen die Gefahr, welche von dieser Rache ausgeht, indem sie dazu neigt, unkontrollierbar zu werden, und die notorische Schwierigkeit, das rechte Maß zu finden.58 53 Anderson (1995) [Anm. 52], bes. S. 134; Anderson (1997) [Anm. 52], bes. S. 244– 45. 54 Die Kombination der Ermordung des Astyanax und des Priamos gegen die literarischen Varianten dient wohl dazu, die vollständige Auslöschung des Geschlechts des Priamos zu verdeutlichen; vgl. Williams (1991) [Anm. 52], S. 50–51. 55 So Williams (1991) [Anm. 52], S. 61, kritisch schon Anderson (1995) [Anm. 52], Anm. 47. 56 Teilweise ähnlich von den Hoff (2005) [Anm. 5], S. 237–40 zu anderen mehrszenigen Ilioupersisdarstellungen, deren Episoden er vielleicht zu Recht als eher kontrastierend aufeinander bezogen auffaßt. 57 Zum Motiv der Rache in der griechischen Außenpolitik s. Gehrke (1987) [Anm. 12].
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Diese Suche nach dem rechten Maß könnte auch die außerordentliche Beliebtheit der Schleifung Hektors zwischen ca. 510 und 500 bedingen.59 15 der 16 erhaltenen attischen Darstellungen fallen in diesen Zeitraum. Die Tat war bekanntlich schon in der Ilias umstritten;60 jedenfalls erscheint Achills Grausamkeit Apollon als Zeichen von Hybris, weshalb er am 9. Tag, an dem Achill den Leichnam um das Grab des Patroklos geschleift hat, im Rat der Götter für deren Eingreifen plädiert. Daß es auch hier nicht um die grundsätzliche Ablehnung der Schändung des Leichnams geht, sondern um das rechte Maß, zeigt nicht nur das lange Zögern der Götter, überhaupt in das Geschehen einzugreifen, sondern vor allem die Diskussion selbst, in welcher das Maß an Schande, welche Hektor erleidet, gegen das Maß an Ehre aufgerechnet wird, welche Achill verdient. Diese Einstellung zur Schändung eines Leichnams ist grundsätzlich auch für die gesamte archaische und klassische Zeit gültig, wie verschiedentlich an literarischen wie historischen Quellen gezeigt worden ist.61 Zur Diskussion des Themas eignet sich die Episode der Ilias aber nicht nur deshalb besonders gut, weil sie auf ein anerkanntes literarisches Werk zurückgeht, sondern auch deshalb, weil der Zwiespalt der Bewertung bereits in diesem Werk angelegt war.62 58 Dies ist letztlich auch der Konflikt, mit dem die Ilias beginnt und von dem Achills menis ihren Ausgang nimmt, und es ist zweifellos kein Zufall, daß ebendiese Szene auf der einen Außenseite der Onesimosschale dargestellt ist (Williams 1991 [Anm. 52], S. 56–58). In diesem Zusammenhang ist auch Gloria Ferraris Hinweis in Erinnerung zu rufen, daß die Griechen sowohl ihren Sieg über die Perser mit dem Sieg der Achäer über Troja gleichsetzen konnten, als auch die Frevel bei der Einnahme Trojas mit dem Frevel der Perser bei der Einnahme Athens, besonders der Akropolis. Offenbar war demnach die moralische bzw. ethische Bewertung der Ereignisse keineswegs eindeutig und, je nach Interessenlage, eine Identifizierung mit beiden Parteien möglich. Gloria Ferrari: The Ilioupersis in Athens. In: Harvard Studies in Classical Philology 100 (2000) S. 119–50. 59 LIMC I (1981) [Anm. 6], S. 139–40. 145–6 Nr. 585–600; Recke (2002) [Anm. 2], S. 72–74. 291–92 mit Diagramm 9.1–2; von den Hoff (2005) [Anm. 5], S. 227– 28. 60 Hom. Il. 24,23–119; Segal (1971) [Anm. 31], S. 54–64. 61 Harris (2001) [Anm. 8], S. 129–30; zu Rache als Ehrengabe (geras) für den zuvor getöteten Freund oder Verwandten, auch in der Form der Verstümmelung von Gegnern auf dem Schlachtfeld, s. Lendon (2000) [Anm. 31], S. 6–11. 62 Auch von den Hoff (2005) [Anm. 5], S. 227–28 sieht in den Bildern der Schleifung den Widerstreit zwischen transgressiver Ehrverletzung und gerechter Rache dargestellt. Die Bilder scheinen mir jedoch unterschiedliches Gewicht auf den einen oder anderen Aspekt zu legen: s. im folgenden und hier Anm. 65.
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Abb. 8: Hydria der Leagros-Gruppe; Schleifung Hektors. Boston, Museum of Fine Arts Inv. 63.474.
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Ein Vasenmaler hat sich bemüht, diesen Zwiespalt noch deutlicher zum Ausdruck zu bringen. Eine Hydria der Leagros-Gruppe in Boston zeigt im Zentrum die Schleifung Hektors und rechts im Hintergrund den Grabhügel und das Eidolon des Patroklos (Abb. 8).63 Anders als auf den übrigen Gefäßen desselben Themas erscheinen hier zusätzlich am linken Bildrand die entsetzten Eltern Hektors. In der Regel hat man gemeint, es seien hier verschiedene Schleifungen, diejenige unmittelbar nach dem Sieg über Hektor von den Mauern der Stadt zum Lager der Griechen und diejenige um das Grab des Patroklos kombiniert worden.64 In gewisser Weise mag das zutreffen; eine solche ‚Erklärung‘ der Abweichung vom Text der Ilias verschleiert jedoch den Effekt einer solchen ‚Kombination‘. Entscheidend ist hier nicht die Identifizierung des Zeitpunktes, sondern der Versuch, das Geschehen in seiner ganzen ethischen Komplexität wiederzugeben: Während die Darstellung des Patroklosgrabes die Schleifung – als Ehrengabe für den Toten – mit der Idee einer grundsätzlich gerechtfertigten Rache für den Tod des Patroklos verknüpft, verweist schon die geflügelte Götterbotin im Zentrum des Bildes, welche wie in einigen anderen Bildern der Episode offenbar die Aufgabe der Thetis der Ilias erfüllt und dem Geschehen Einhalt gebietet, auf das Urteil der Götter, das Maß gerechter Rache sei erfüllt. Ein Betrachter der Bostoner Hydria kann sich zudem veranlaßt fühlen, die Perspektive der Eltern zu berücksichtigen, welche die Greueltat des Achill wohl als unangemessen, in jedem Fall aber als furchtbares Schicksal und äußerste Erniedrigung erleben.65 Die Komplexität dieser spätarchaischen Bilder ist demnach beeindrukkend und die Zahl der Beispiele ließe sich leicht vermehren.66 Aber warum verschwinden diese Bilder nach ca. 480/70 aus dem Repertoire der Vasenmaler? Einige haben vermutet, die Erfahrung der Perserkriege hätte die 63 Boston, Museum of Fine Arts 63.474: LIMC I (1981) [Anm. 6], S. 139. 145 Nr. 586; Emily T. Vermeule: The vengeance of Achilles. The dragging of Hector at Troy. In: Bulletin of the Museum of Fine Arts 63 (1965) S. 138–59. 64 Anneliese Kossatz-Deissmann in: LIMC I (1981) [Anm. 6], S. 139. 145 Nr. 586; ähnlich die Diskussionen in der übrigen Literatur, s. Bibl. ebd. 65 Hom. Il. 22,405 ff. – Stemmer macht auf die Unterschiede zwischen den Darstellungen aufmerksam, die teils das Patroklosgrab und die Totenehrung, teils Achill und Hektor als Personen stärker in den Vordergrund stellen. Angesichts der zeitlichen Nähe aller Darstellungen zueinander scheint mir seine These einer chronologischen Entwicklung vom einen zum anderen Darstellungsinteresse schwer belegbar zu sein, auch wenn sie in das hier vorgetragene Erklärungsmuster passen würde. Seine Erklärung des Phänomens durch ein wachsendes ‚Interesse am Szenischen‘ scheint mir jedoch zu kurz zu greifen: Klaus P. Stähler: Grab und Psyche des Patroklos. Ein schwarzfiguriges Vasenbild, Münster 1967, S. 61.
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Wahrnehmung der Athener für die Schattenseiten von Krieg und Eroberung geschärft und zu mehr Mitgefühl für die Unterlegenen im Krieg und somit auch in den mythischen Kämpfen geführt.67 Richtig ist wohl, daß die mit der Eroberung Trojas einhergehenden Freveltaten der Achäer im 5. Jh. tatsächlich mit dem Frevel der Perser bei der Eroberung Athens und der Zerstörung des Heiligtums auf der Akropolis parallelisiert wurden.68 Doch kann diese Haltung kaum generalisiert werden, und es geht auch nicht um ‚Mitgefühl‘, sondern um ethisch begründete Ansprüche. Dem widerspricht schon das Verhalten der Athener in ihren späteren Kriegszügen. Eher müßte man überlegen, ob nicht die Abkehr von trojanischen Themen, welche überwiegend die Perspektive der Achäer favorisiert hatten, gerade mit einer solchen Parallelisierung zwischen Ilioupersis und der Erstürmung der Akropolis zusammenhängen könnte. Eine Stütze würde diese Erklärung durch zwei trojanische Bildmotive erhalten, welche auch im 5. Jh. noch weiterlaufen, Ajas’ Frevel an Athena und der Mord an Priamos am Altar des Zeus; denn auch in den entsprechenden Texten ist es besonders das Sakrileg der Schändung eines Heiligtums, welches die Eroberungen Athens bzw. Trojas miteinander verbindet. So erklärte sich möglicherweise, warum selbst die früher so beliebte Bergung des Leichnams des Achill nicht mehr dargestellt wird. Ohne Zweifel war die Bergung eines Leichnams in der Schlacht nach wie vor eine rühmliche Tat, aber wenn Achill zur problematischen Figur wird,69 mag auch seine Leichenbergung nicht mehr uneingeschränkt 66 Daß auch ältere Bilder solche Komplexität gelegentlich erreichen, soll damit nicht in Abrede gestellt werden; s. z. B. Luca Giuliani: Kriegers Tischsitten, oder die Grenzen der Menschlichkeit. Achill als Problemfigur. In: Sinn (in) der Antike. Orientierungssysteme, Leitbilder und Wertkonzepte im Altertum, hrsg. von KarlJoachim Hölkeskamp et al., Mainz 2003, S. 135–61. Im übrigen scheint der Vorschlag von Recke (2002) [Anm. 2] grundsätzlich erwägenswert, besonders deutliche Darstellungen von Gewalt und deren Folgen im Sinne einer Problematisierung zu verstehen. Dabei kann es aber keinesfalls um eine „dezidierte Kritik am Krieg“ (S. 231; s. auch S. 94 und 235) unter dem Einfluß der Erfahrungen der Perserkriege gehen, die mit der Beruhigung der Bilder nach ca. 480/70 wieder überwunden sei, wie er meint. Dagegen spricht schon, daß die deutliche Zunahme an dargestellter Brutalität bereits deutlich vor den Perserkriegen beginnt. Zum grundsätzlichen Problem einer ‚Kritik am Krieg‘ s. hier im folgenden mit Anm. 67. 67 Mangold (2000) [Anm. 2], bes. S. 148, zustimmend die Rezension von Susanne Moraw in: Gnomon 75 (2003), S. 340; Recke (2002) [Anm. 2], S. 231, S. 235; s. auch die Autoren in Muth (2005) [Anm. 15], Anm. 7; dazu Muth ebd. S. 188. 190 mit berechtigten methodologischen Einwänden. 68 Ferrari (2000) [Anm. 58]. 69 Wie sich dies in den Bildern niederschlägt, zeigt von den Hoff (2005) [Anm. 5], S. 225–46; ebd. auch weitere Literatur zur Beurteilung Achills, wie sie sich aus schriftlichen Zeugnissen ergibt.
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positiv sein. Um die Jahrhundertmitte läßt ein Vasenmaler Achill erstmals sogar sterben.70 Vor diesem Hintergrund ist die andauernde Beliebtheit der Bergung des Sarpedon bezeichnend (Abb. 4), eines Motivs, das auf weißgrundigen Lekythen sogar auf normale Sterbliche übertragen wird.71 Darüber hinaus dürfte die Erfahrung der Perserkriege der durch die Abschaffung der Tyrannis und Einrichtung der Demokratie begonnenen Abkehr von der archaischen Ideologie einen entscheidenden Impuls gegeben haben. Die Abwehr der Perser war nur als Gemeinschaftsunternehmen möglich und erfolgreich, und es war vielleicht in diesen Kriegen, daß erstmals die Aufhebung der Rangunterschiede im gemeinsamen Kampf ihre ganze Wirkung entfaltete.72 So mag man vermuten, daß die alte Ordnung der Adelsgesellschaft nach den Perserkriegen für den größten Teil der Bevölkerung keine Attraktivität mehr besessen hat und damit auch die alten Bilder bis zu einem gewissen Grade obsolet wurden.73 70 Bochum, Ruhr-Universität, Antikenmuseum S 1060: LIMC I, Zürich und München 1981, S. 183 s. v. Achilleus Nr. 851 (Anneliese Kossatz-Deissmann); evtl. Achills Tod schon angedeutet auf einem Kyathos des frühen 5. Jhs. in London, British Museum E 808: LIMC ebd. Nr. 852. 71 Hier mit Anm. 16. 72 Lorimer (1947) [Anm. 9], S. 76–138; bes. Hans v. Wees: The development of the hoplite phalanx. Iconography and reality in the seventh century. In: War and violence in ancient Greece, hrsg. von Hans van Wees, London 2000, S. 125–66; Johann P. Franz: Krieger, Bauern, Bürger. Untersuchungen zu den Hopliten der archaischen und klassischen Zeit, Frankfurt a. M. et al. 2002. 73 So etwa Stähli (2005) [Anm. 3], S. 33–43. Dem könnte man u. U. entgegen halten, daß die Bilder nicht notwendigerweise die wahre Kampfweise der Zeit wiedergeben müssen, sondern der persönlichen Erfahrung des Kampfes, der letztlich doch immer in einem Zweikampf endete, Ausdruck verliehen (Knittlmayer 1997 [Anm. 2], S. 68; Hölscher 2003 [Anm. 2], bes. S. 4–7, für die archaische Zeit, für die sich allerdings die zugrunde liegende These „combat in duels does not correspond to the reality of archaic warfare“ [Hölscher ebd. S. 3] so kaum aufrecht erhalten läßt [vgl. hier Anm. 72]). Andererseits setzt sich in den sportlich-agonalen Bildern im 5. Jh. ebenfalls eine weitgehend gewaltfreie Ikonographie durch, ein Wandel, den Adrian Stähli mit der Ablehnung einer auf individuellen Prestigegewinn durch Gewalt setzenden archaisch-aristokratischen Ideologie begründet (Stähli 2005 [Anm. 3], S. 28–32). Van Wees’ interessante Überlegungen zum allmählichen Wandel des Selbstverständnisses des athenischen Adels von einer Kriegerklasse, in der die Bürger Waffen als Statussymbol und Zeichen ihrer Männlichkeit tragen, zu einer leisure-class, die ihren Status durch Luxus demonstriert, tragen zum hier untersuchten Phänomen wohl nichts bei, jedenfalls dann nicht, wenn der Übergang tatsächlich schon um 530 einsetzt, wie Van Wees meint: Hans Van Wees: Greeks Bearing Arms. The State, the Leisure Class, and the Display of Weapons in Archaic Greece. In: Archaic Greece: New Approaches and New Evidence, hrsg. von Nicolas R. E. Fisher und Hans Van Wees, London 1998, S. 333–78.
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Aber selbst wenn man beide während der bzw. durch die Perserkriege sich vollziehenden Veränderungen – eine Abkehr von der alten Elitenideologie und eine neue Sicht auf das Schicksal der Trojaner – als wichtige Faktoren für den Wandel der Bildthemen akzeptiert, erklärt dies nicht, warum man die Darstellung von Episoden aus dem Trojanischen Krieg und weiterer Gewalttaten gleich ganz aufgegeben hat. Schließlich lebt das Thema in der Tragödie – und nicht nur dort – durchaus weiter. Dies könnte die Vermutung nahelegen, auch die spezifischen Bedingungen des Mediums der Vasenmalerei hätten zum Verschwinden von bis dahin so beliebten Themen beigetragen.
II. Die Grenzen der Darstellungsmöglichkeiten Bilder haben, so scheint mir, tendenziell einen affirmativen Charakter. Sie konstatieren nicht nur ein Ereignis, sondern suggerieren durch Identifikationsangebote ein Einverständnis mit dem Dargestellten.74 Sofern sie einen kohärenten Situationsrahmen vorstellen, lassen sie das Geschehen plausibel und sinnvoll erscheinen.75 Nur wo das Dargestellte deutliche Signale der Kritik enthält oder ganz offensichtlich allen Normen und Regeln widerspricht, wird diese Affirmation durchbrochen oder schlägt gar ins Negative um, in die Distanzierung von den Protagonisten des Geschehens. Wenn beispielsweise auf der Schale des Brygos-Malers im Louvre (Abb. 9)76 aus74 Zu antiken Äußerungen, nach denen Bilder ihre Betrachter zur Nachahmung anregen s. Renaud Robert: Ars regenda amore. Séduction érotique et plaisir esthétique: De Praxitèle à Ovide. In: Mélange de l’Ecole Française de Rome, Antiquité 104 (1992), S. 373–437, bes. S. 410–20; Adrian Stähli: Die Verweigerung der Lüste. Erotische Gruppen in der antiken Plastik, Berlin 1999, S. 36–37 Anm. 18. 20–22. Stähli (2005) [Anm. 3], S. 19–20 mit Anm. 2, möchte diese antiken Belege jedoch nicht auf die Wirkung von Bildern im allgemeinen, sondern auf ihr erotisches Genre beziehen. Dies scheint mir jedoch wenig plausibel, nicht zuletzt vor dem Hintergrund seiner eigenen Bildanalyse; dazu im folgenden. 75 Stähli (2005) [Anm. 3], S. 19–44, „Die Bilder produzieren Gewalt nicht, aber sie ordnen sie Sinn stiftend in einen Handlungskontext ein, der Gewalt als selbstverständliche und angemessene soziale Interaktionsform hinstellt und ihrer Ausführung ein plausibles Handlungsdrehbuch unterlegt.“ (ebd. S. 23) 76 Paris, Louvre G 152: ARV2 369,1; LIMC I, Zürich und München 1981, S. 772 s. v. Andromache I Nr. 46 (Odette Touchefeu-Meynier); LIMC II, Zürich und München 1984, S. 932 s. v. Astyanax Nr. 18 (Odette Touchefeu); LIMC VII, Zürich und München 1994, S. 519 s. v. Priamos Nr. 124 (Jenifer Neils); Anderson (1997) [Anm. 52], S. 229–31 Abb. 7; Giuliani (2003) [Anm. 52], S. 215–18 Abb. 44.
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Abb. 9: Schale des Brygos-Malers mit Darstellung der Ilioupersis. Paris, Louvre Inv. G 152.
schließlich die Vernichtung der Trojaner gezeigt wird – hier sogar ohne die Ajas-Kassandra-Szene – so hängt es allein von der Disposition des Betrachters ab, ob er diesem Geschehen kritisch gegenübertritt. In der Darstellung selbst ist wenig zu finden, was eine solche Haltung fördern würde, wenn man einmal vom Mord des Priamos am Altar absieht. Doch gehören solche ‚milderen‘ Sakrilege zu Kriegen dazu, und die völlige Vernichtung des Feindes war als Rachemaßnahme selbst in der späteren attischen Demokratie keineswegs obsolet, wie etwa die Melier schmerzlich erleben mußten.77 Diese Erfahrung der affirmativen Wirkung von Bildern mag mit ein Grund dafür gewesen sein, daß die Griechen Bilder für wirkmächtiger hielten als Sprache.78 Der Überfall auf Kassandra im Heiligtum
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der Athena war so ausschließlich negativ besetzt, daß eine irgendwie positive Lesart der Handlung des Ajas von vornherein ausgeschlossen scheint.79 Insoweit die epischen Helden den Normen der zeitgenössischen Gesellschaft jedoch weitgehend entsprachen, waren die Bilder willkommene Bestätigung des eigenen Lebensstils. Damit soll nicht behauptet werden, daß die archaische Gesellschaft ein ethischer Monolith war und sich alle ihre Mitglieder ständig und mit allen Helden des trojanischen Krieges und ihren Taten identifizierten. Umgekehrt scheint jedoch eben wegen der Tendenz von Bildern zur Affirmation auch die Vorstellung schwierig, man habe dieselben Bilder in einer Gesellschaft benutzt, welche den durch die Helden verkörperten Normen völlig indifferent gegenübergestanden hätte.80 Insofern mag es sein, daß man die Affirmative Wirkung von Bildern nun problematisch gewordener Gewalt fürchtete und verspätet dem Ratschlag des Xenophanes folgte, beim Symposion Gewalttaten nicht einmal zu erwähnen, um nicht zu diesen anzuregen.81 Wie die Erzählungen, oder vielleicht mehr noch als diese bergen Bilder die Gefahr, eben jene Leidenschaft auszulösen, welche sie darstellen. Unter diesem Gesichtspunkt ist aufschlußreich, welche Bilder von Gewalt in der klassischen Zeit überhaupt noch gezeigt werden, denn seit ca. 480 wird keineswegs völlig auf solche Darstellungen verzichtet. Bezeichnend ist vor allem die Wahl der Themen, die in der Vasenmalerei neu aufkommen. Sie vermeiden gerade jene Komplexität, die die Darstellungen um die und nach der Jahrhundertwende so interessant gemacht haben, und beschränken sich auf Themen, an deren ethischer Position kaum zu deu77 Zur Rache als zentralem Argument in der griechischen Außenpolitik auch der klassischen Zeit s. Gehrke (1987) [Anm. 12]. 78 Herwig Blum: Die antike Mnemotechnik. Spudasmata XV, Hildesheim/New York 1969, bes. S. 164–71; Luca Giuliani: Bilder nach Homer. Vom Nutzen und Nachteil der Lektüre für die Malerei, Freiburg 1998, bes. S. 127–36. 79 Vgl. hier Anm. 82; anders Mangold (2000) [Anm. 2], S. 34–62, bes. S. 61–62, und Moraw (2003) [Anm. 67], S. 339, die vor allem in den späteren Bildern in erster Linie einen männlichen Voyeurismus befriedigt sehen wollen, während der Frevel in den Hintergrund trete. 80 Ich gehe dabei stillschweigend davon aus, daß Bilder niemals ‚reine Erzählungen‘ und ‚reine Unterhaltung‘ sein können und verweise auf die zahlreichen Bilder, welche nicht eigentlich spannende Schlüsselszenen der Mythen darstellen. 81 Fr. 1 West; vgl. auch Anakr. eleg. 2 West, Stesich. F 210 Page, wo es aber eher darum geht, sich beim Symposion vergnüglichen Dingen zuzuwenden. In diesem Zusammenhang ist vielleicht nicht unbedeutend, daß sich die Mehrzahl der fraglichen Bilder der archaischen Zeit auf Symposionsgeschirr befindet und das Symposion offenbar ein bevorzugter Ort hybrider, u. U. sogar zur stasis führender Gewalt war: Fischer (2000) [Anm. 37], bes. S. 93–101.
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teln ist: Der Angriff des Ajas auf Kassandra ist nicht nur durch die bekannte Rache der Athena eindeutig als Frevel bestimmt, sondern wurde auch als Exemplum für frevelhaftes Verhalten schlechthin genutzt, das besser unverzüglich zu bestrafen sei, um Unheil von der Gemeinschaft abzuwenden.82 Daß der Mord an Priamos und Astyanax ebenfalls als Frevel angesehen wurde, da er an einem Altar geschah,83 wird zudem in den späteren Darstellungen oft durch die Kombination mit der Ajas-KassandraSzene auf demselben Gefäß oder sogar im selben Bildfeld verdeutlicht.84 Eindeutig als Frevel ausgewiesen wird auch die Tat des Tydeus, der im Exzeß den Kopf seines Gegners Melanippos spaltet, um sein Hirn zu verspeisen. Die angewiderte Athena verweigert dem Verwundeten daraufhin die Unsterblichkeit, die sie ihm zuvor noch verleihen wollte. Zwei Vasenmaler greifen zur Darstellung des Themas auf das ungewöhnliche Mittel der Personifikation zurück: Athena geleitet Athanasia von Tydeus weg, zu dessen Füßen der Kopf des Melanippos zu sehen ist (Abb. 10).85 Als neue Themen treten im mittleren Drittel des 5. Jhs. vor allem weitere Bestrafungen von Hybris hinzu, in der Form z. T. von größter Brutalität, in der Sache aber zweifellos akzeptiert, wie etwa die Niobidentötung.86 Auch wenn auf den Fragmenten einer Schale des späten 5. Jhs. Kratos und Bia (!) den Frevler Ixion bestrafen, so ist dies im Bild – durch inschriftlichen Verweis auf die gebrochene Gastfreundschaft – als berechtigte Vergeltung geschildert.87 Diese Beschränkung auf relativ wenige, ethisch eindeutige Bilder von Gewalttaten steht in deutlichem Gegensatz zur Behandlung des Themas in 82 s. Alk. (fr. 298 Voigt), wo sich der Vorwurf gegen den Tyrannen Pittakos richtet; dazu Wolfgang Rösler: Dichter und Gruppe, München 1980, S. 204–21; vgl. auch Wolfgang Rösler: Der Frevel des Aias in der ‚Ilioupersis‘. In: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 69 (1987) S. 1–8. Der Bezug auf Pittakos ist nicht eindeutig; in jedem Fall ist der Fall Ajas für Alkaios aber ein Paradigma für den Schaden, der einer Gemeinschaft entsteht, wenn sie einen Frevler nicht rechtzeitig bestraft: s. Ferrari (2000) [Anm. 58], S. 129 mit Anm. 42. 83 von den Hoff (2005) [Anm. 5], S. 240–42. 84 Anderson (1997) [Anm. 52], S. 217–29. 85 Shapiro (1993) [Anm. 16], S. 34–36; Borg (2002) [Anm. 16], S. 146–47. 86 LIMC VI, Zürich und München 1992, S. 916. 924 s. v. Niobidai Nr. 4–9 (Wilfred Geominy) mit berechtigtem Einwand gegen Karl Kerényi: Apollon und Niobe, München und Wien 1980, S. 266, der in den Bildern die menschliche Hilflosigkeit angesichts göttlicher Willkür veranschaulicht sah. 87 Erika Simon: Kratos und Bia. In: Würzburger Jahrbücher 1 (1975), S. 177–86; Shapiro (1993) [Anm. 16], S. 166–67; Borg (2002) [Anm. 16], S. 151–53. Bezeichnend ist auch hier der Unterschied zur Prometheustragödie, in der der Einsatz von Kratos und Bia als ausgesprochen problematisch geschildert wird.
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Abb. 10: Glockenkrater des Eupolis-Malers; Athena geleitet Athanasia von Tydeus weg, zu dessen Füßen der Kopf des Melanippos liegt; ehem. Slg. Rosi.
Tragödien derselben Zeit. Dort wird gerade die Ambiguität der Anwendung von Gewalt thematisiert, insbesondere die Tatsache, daß über Akzeptanz oder Ablehnung einer Gewalttat nicht grundsätzlich entschieden werden kann, sondern nur abhängig von der einzelnen Situation und von den Motivationen und Haltungen der Protagonisten. Christopher Gils ‚problematischer Heros‘ entsteht gerade durch das Reflektieren des Heros (und des Zuschauers, Hörers, Lesers) über die praktischen Konsequenzen und die konkrete Umsetzung einer allgemein akzeptierten Norm.88 Solche ethischen Reflexionen, oft gar mit offenem Ausgang, sind jedoch mit den Mitteln der klassischen Vasenmalerei kaum darstellbar. Vielleicht hat man auch deshalb im Laufe der Zeit auf die in der Archaik so beliebten Themen verzichtet, ohne diejenigen der Tragödie – um eine möglicherweise naheliegende Option zu nennen – neu aufzugreifen.89 88 Christopher Gill: Personality in Greek Epic, Tragedy, and Philosophy. The Self in Dialogue, Oxford 1996, passim. 89 Hier wäre ein ausführlicherer Vergleich zwischen den archaischen und klassischen Themen der Vasenmalerei und denen der Dichtung aufschlußreich. Vorläufig sei nur daran erinnert, daß zwar in fast allen Tragödien Gewalttaten im Zentrum stehen, daß sich diese aber anders als in der archaischen Dichtung in der Regel gegen Blutsverwandte und philoi richtet; bes. Belfiore (2000) [Anm. 8]; auch Seaford (2003) [Anm. 38].
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Diejenigen Vasenbilder, welche die dem Gewaltdiskurs zugrundeliegenden Besorgnisse vielleicht am besten zum Ausdruck bringen, sind solche der Bestrafung von Dionysos-Frevlern. Sie nehmen unter den Strafaktionen in mehrfacher Hinsicht eine Sonderstellung ein. Zum einen erfolgt die Bestrafung des Frevels hier nicht durch den Geschädigten, die Gottheit, sondern durch Menschen, noch dazu durch nahe Verwandte, die selbst keinen Schaden erlitten haben. Zum zweiten charakterisieren sie die brutale Gewalt zugleich als Auswirkung von Wahnsinn. Wie William Harris herausgearbeitet hat, besitzen die in der klassischen Literatur üblichen Begriffe für Zorn, orge, cholos und thymos, oft Assoziationen mit Wahnsinn, mania.90 Insbesondere in der Tragödie scheint der psychische Zustand, der zu gewalttätigen Reaktionen auf Ehrverletzung und Unrecht führt, in den Blick zu geraten. Er wird nun häufiger mit Begriffen für Wahnsinn oder auch für Krankheit in Verbindung gebracht und damit als vom Willen des Betroffenen weitgehend unabhängig betrachtet. In der Aischyleischen Orestie wird dies durch die Erinnyen zum Ausdruck gebracht, und im Prometheus ist der Zorn als eine Krankheit beschrieben, deren Arzt logoi seien (vv. 375–380).91 Spätere Tragödien stellen die Verbindung ebenso her wie gelegentlich Herodot. Wie sehr Zorn und Gewalt mit Wahnsinn assoziiert werden, können besonders jene Tragödien zeigen, in denen Wahnsinn als Strafe von Göttern, der Hera, der Athena und besonders des Dionysos, ein zentrales Motiv darstellt: Aischylos’ Lykurg-Trilogie, die auch den Tod des Orpheus behandelte, seine Dramen Athamas, Pentheus, Xantriai und Bakchen, Sophokles’ Ajas, Euripides’ Hercules furens und seine Bakchen. Wahnsinn ist dabei gelegentlich die Folge von exzessiver Gewalt, so z. B. bei Orest, meist jedoch ihre Ursache, so in den letztgenannten Beispielen. Indem er als gottgesandt dargestellt wird, ist diese Ursache bezeichnet als etwas außerhalb der Kontrolle des Menschen Stehendes, das darum von um so größerer Gefahr und Zerstörungskraft ist. Insofern scheint der Gewaltdiskurs auch Teil eines Diskurses um Wahnsinn geworden zu sein, der seinerseits aber auch andere Emotionen als wahnsinnigen Zorn, beispielsweise wahnsinnige Liebesleidenschaft mit umfaßt. So wird man Ruth Padel zustimmen können, wenn sie den Diskurs um maniai als Vorläufer zur dem um die Leidenschaften, die pathe ansieht, deren Gefahrenpotential im 4. Jh. in allen literarischen Genres, besonders 90 Harris (2001) [Anm. 8], S. 50–64; William V. Harris: The rage of women. In: Braund und Most (2003) [Anm. 25], S. 121–43; s. auch Aristoph., der schon das Waffentragen athenischer Bürger in der Stadt mit Wahnsinn in Verbindung bringt: Lys. 555–64: ¢gor£zontaj kaˆ mainomšnouj; und 558: perišrcontai kat¦ t¾n ¢gor¦n xÝn Óploij ésper KorÚbantej. Van Wees (1998) [Anm. 73], S. 336. 91 Zum Gegensatz zwischen Gewalt und logoi s. Ercolani (2005) [Anm. 8].
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aber in philosophischen Texten und in Gerichtsreden thematisiert und der sophrosyne gegenübergestellt wird.92 Auch im 5. Jh. wird dem Zorn bereits die sophrosyne als Sinn für das richtige, angemessene Verhalten entgegengesetzt, die einzig die Katastrophen selbstzerstörerischer Leidenschaften verhindern kann.93 Insofern besitzen die Bilder von Gewaltexzessen im Zustand des Wahnsinns den Vorzug, eine der Hauptbesorgnisse der klassischen Zeit zu thematisieren und auf den Punkt zu bringen. Bereits seit Ende des 6. Jhs. erscheint die Zerreißung des Pentheus auf Vasen, die sich auch im späteren 5. Jh. noch mehrfach auf Gefäßen findet.94 Um die Mitte des 5. Jhs. findet sich erstmals der Mord Lykurgs an seiner Familie.95 Im letzten Drittel des 5. Jhs. kommt die Geschichte um die Minyaden neu hinzu, in der die von Dionysos mit mania geschlagene Leukippe ihr eigenes Kind, Hippasos, zerreißt.96 Mainaden mit Teilen der von ihnen zerrissenen Tiere finden sich ebenfalls im späteren 5. Jh., in dem 92 Padel (1995) [Anm. 8]; Konstan (2003) [Anm. 39]. Auch Van Wees (1992) [Anm. 12], S. 126, scheint ähnliches zu sehen, wenn er schreibt: „In the epics, anger, not sex, is the dangerous, uncontrollable drive that rules men’s lives. Anger, if anything, is what the epics are about.“ Allerdings müßte man die Bemerkung auf weitere literarische Gattungen bis in die klassische Zeit erweitern. Wenn William Harris meint, die Wurzeln des Interesses an Emotionen und inneren Erfahrungen gingen ‚mindestens bis in die 450er oder 440er Jahre zurück‘ und auf Sophokles’ Ajas aus den 440er Jahren verweist, so steht dies schon in einem gewissen Gegensatz zu seinen eigenen Ausführungen über die Ilias, die auf erheblich frühere Anfänge der Diskussion verweisen. Zu Aristoteles, der die Gewalttaten der Tragödien ausdrücklich als pathe bezeichnet, s. Belfiore (2000) [Anm. 8], bes. S. 3–6. 93 Dies mag nicht explizit und auch nicht im selben moralphilosophischen Kontext geschehen, doch scheint mir diese Haltung letztlich der Diskussion um den Tyrannenzorn zugrunde zu liegen, der die Tragödien durchzieht, und der Bewertung des Herodot und Thukydides zu entsprechen; dazu Harris (2001) [Anm. 8], S. 157–200; Gabriel Herman: How violent was Athenian society? In: Ritual, Finance, Politics: Athenian Democratic Accounts Presented to David Lewis, hrsg. von Robin Osborne, Oxford 1994, S. 99–117. Sophrosyne als private Eigenschaft auch in Grabinschriften seit ca. 430: Sally C. Humphreys: Family tombs and tomb cult in ancient Athens. Tradition or traditionalism. In: Journal of Hellenic Studies 100 (1980), S. 114 zu IG i2 1058. 94 Die älteste Darstellung und die erste mit Namensbeischriften findet sich auf einem Psykterfragment des Euphronios Boston, Museum of Fine Arts 10.221a–f. Angelika Schöne: Der Thiasos. Eine ikonographische Untersuchung über das Gefolge des Dionysos in der attischen Vasenmalerei des 6. und 5. Jhs. v. Chr., Göteborg 1987, S. 67–71; LIMC VI, Zürich und München 1994, S. 310–15 s. v. Pentheus Nr. 24. 25. 39–44. 65. 68 (Anneliese Kossatz-Deissmann). 95 LIMC VI, Zürich und München 1994, s. v. Lycourgos I S. 311 Nr. 8; S. 313 Nr. 12. 26; S. 317–18 (Alexandre Farnoux).
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Abb. 11: Pyxix (in der Art) des Meidias-Malers; auf dem Deckel Mainaden, die Tiere und ein Kind zerreißen, auf dem Gefäßkörper eine Allegorie über die Freuden und Grenzen sinnlicher Genüsse. London, British Museum E 775.
die Thiasoi auch allgemein wieder ekstatischer werden.97 Daß es bei den Darstellungen des 5. Jhs. tatsächlich um einen pathe-Diskurs geht, macht vielleicht am besten eine Pyxis in London deutlich (Abb. 11). 96 LIMC VI, Zürich und München 1994, S. 313–14 s. v. Pentheus Nr. 65. 68 (Anneliese Kossatz-Deissmann); LIMC VIII, Zürich und Düsseldorf 1997, S. 785 s. v. Mainadai Nr. 33; S. 788 Nr. 72; S. 799 (Ingrid Krauskopf und Erika Simon). 97 LIMC VIII (1997) [Anm. 96], S. 783–92. 798–99 (Ingrid Krauskopf und Erika Simon); Schöne (1987) [Anm. 94], passim; Susanne Moraw: Die Mänade in der attischen Vasenmalerei des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr. Rezeptionsästhetische
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Abb. 12: Schale des Eretria-Malers; Grieche sticht eine Amazone ab. Ferrara, Museo Archeologico Nazionale Inv. T 1039.
Auf ihrem Deckel sind Dionysos und Ariadne (?) dargestellt, sowie zwei Dreiergruppen von Mänaden, deren eine ein Kind über der Schulter schwingt, vermutlich Leukippe mit dem toten Hippasos. Auf dem Körper Analyse eines antiken Weiblichkeitsentwurfs, Mainz 1998, bes. S. 155–60; 260–1; 263, die die Greueltaten der Mainaden allerdings für „abstrakte Chiffren für Ekstase“ hält. Da sich die Darstellungen nun auch auf Frauengefäßen finden und sie zudem davon ausgeht, Frauen hätten sich mit den Mänaden identifizieren müssen, fährt sie fort: „Daß diese Chiffren ursprünglich aus einem ganz anderen Kontext – der Visualisierung eines der männlichen Vorstellung entstammenden weiblichen Ungeheuers – stammten u nd dort zudem negativ konnotiert waren, spielte anscheinend keine Rolle.“ (S. 160).
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derselben Pyxis findet sich eine allegorische Darstellung über Freuden und Grenzen erotischer Leidenschaft.98 Selbstverständlich dienen diese Darstellungen nicht der ‚Erziehung‘ des Volkes oder einer politischen Doktrin. Vielmehr scheint es, als spiegele sich in den Vasenbildern nach den Perserkriegen im 5. Jh. die breite Akzeptanz der neuen Polisideologie der klassischen Zeit – oder ist es nur das Bedürfnis nach Affirmation und Selbstvergewisserung? Erst im letzten Jahrhundertdrittel scheinen die Vasenbilder wieder stärker diskursiven Charakter zu erhalten und aktuelle Diskussionsthemen aufzugreifen – wie etwa die um Emotionen und Leidenschaften.99 Gewalt scheint dabei durchaus ein wichtiges Element zu sein, jedoch geht es nicht um ein Für oder Wider von Gewalt, sondern – wie im ähnlich gelagerten erotischen Diskurs100 – um die richtige Anwendung derselben:101 im rechten Maß und ohne übermäßige Leidenschaft – ganz wie der Grieche, der auf den Bildern des Eretriamalers kurz entschlossen und lässig eine Amazone absticht – die Beischrift lautet: kalos (Abb. 12).102 98 LIMC VII, Zürich und München 1994, S. 310–15 s. v. Pentheus Nr. 68 (Anneliese Kossatz-Deissmann); zur Deutung Borg (2002) [Anm. 16], S. 190–208. 99 Hierin mag auch ein Grund dafür liegen, daß sich Kentauromachien unter den Kämpfen gegen die Zivilisationsfeinde besonderer Beliebtheit erfreuen. 100 Zum erotischen Diskurs, wie er sich in Vasenbildern spiegelt, s. Borg (2002) [Anm. 16], S. 171–208; mit etwas anderem Ansatz Stähli (1999) [Anm. 74], S. 109–32. 101 Insofern geht die These einer ‚Auslagerung‘ von Gewalt in den Mythos (so etwa Günter Fischer und Susanne Moraw: Einleitung. In: Fischer und Moraw 2005 [Anm. 2], S. 12, oder Bentz 2005 [Anm. 3]) am Kern der Sache vorbei: Der Mythos hat hier lediglich den Vorzug, daß der Hintergrund der Ereignisse bzw. die Art der Gegner bekannt sind und somit die ethische Zuordnung des Geschehens vereindeutigt wird. 102 Ferrara T 1039: Adrienne Lezzi-Hafter: Der Eretria-Maler. Werke und Weggefährten, Mainz 1988, S. 314 Kat. 25 Taf. 20. Insofern kann ich die Interpretation von Muth (2005) [Anm. 15], bes. S. 196–97; 199–200, nicht ganz nachvollziehen, die in den Bildern der Zeit nach ca. 470/60, welche meist einen Moment unmittelbar vor dem eigentlichen Schlag darstellen, eine mindestens ebenso große Spannung ausgedrückt sieht wie in denjenigen der Zeit vorher, welche die unmittelbaren Auswirkungen von Gewalt darstellen. Die wohl in einem realen Kampf tatsächlich höchste Spannung in einem solchen Moment ist in den Bildern in aller Regel nicht dargestellt, weder durch Gesten noch durch Blicke oder Mimik. Vielmehr zeigen sich die Protagonisten in derselben seltsamen Unbeteiligtheit, welche die Bilder der Zeit ab ca. 460 generell kennzeichnet und zu vielerlei Erklärungen Anlaß gegeben hat (s. Kunze 2005 [Anm. 6], S. 45–50 mit weiteren Hinweisen). Diese auffällige Emotionslosigkeit, die im übrigen Muths Analyse einer eher absolut aufgefaßten Überlegenheit des Siegers entspricht, scheint eher die hier vorgetragene These zu bestätigen, daß es bei der Wahl der Ikonographien nicht zuletzt um die Rolle von Pathos und Affekten geht.
Susanne Muth (München)
Als die Gewaltbilder zu ihrem Wirkungspotential fanden1 Wie kaum ein anderes Bildthema vermögen uns Bilder der Gewalt zu bedrängen. Gebannt bleibt unser Blick auf sie gerichtet, so sehr wir ihn eigentlich abwenden wollen – vor allem dann, wenn die Bilder uns überaus nahsichtig die furchtbare Situation des Opfers vor Augen führen, seine panische Angst oder seine qualvollen Schmerzen und sein Sterben. Seien es die drastischen Darstellungen leidender Märtyrer in der Malerei des Seicento, seien es brutale Szenen heutiger Gewaltfilme – immer wieder ziehen die Bilder den Blick ihrer Betrachter an.2 So selbstverständlich uns diese beson1 Dank für anregende Diskussionen und hilfreiche Hinweise sage ich vor allem Egon Flaig, Luca Giuliani, Ulrich Gotter, Renate Schlesier, Rolf Schneider, Bernd Seidensticker und Martin Vöhler – den beiden letztgenannten ferner für die Organisation eines außergewöhnlich stimulierenden Symposions. Meine Ausführungen rekurrieren auf eine größere Untersuchung zur Darstellung von Gewalt in der attischen Bilderwelt, s. demnächst Verf.: Gewalt im Bild. Das Phänomen der medialen Gewalt im Athen des 6. und 5. Jh. v. Chr., Berlin 2007 (im Druck). Folgende Abkürzungen finden Verwendung: ABV John Davidson Beazley: Attic Black-Figure Vase-Painting, Oxford 1956. Add² Beazley Addenda, hrsg. von Thomas H. Carpenter [1982], Oxford ²1989. ARV² John Davidson Beazley: Attic Red-Figure Vase-Painting [1942], Oxford ²1963. BA Beazley Archive: http://www.beazley.ox.ac.uk. CVA Corpus Vasorum Antiquorum. LIMC Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae, Bd. I–VIII, Zürich/ München/Düsseldorf 1982–1997. Para John Davidson Beazley: Paralipomena. Additions to Attic Black-Figure Vase-Painters and to Attic Red-Figure Vase-Painters (second edition), Oxford 1971. 2 Zu den Gewaltbildern in der Malerei des Seicento s. etwa Walther K. Lang: Grausame Bilder. Sadismus in der neapolitanischen Malerei von Caravaggio bis Giordano, Berlin 2001 – zum modernen Gewaltfilm vor allem: Mediale Gewalt, hrsg. von Thomas Hausmanninger und Thomas Bohrmann, München 2002, bes. S. 79–145.
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dere Wirkungskraft der Gewaltbilder jedoch auch erscheinen mag: Sie ist es nicht. Denn sie war den Bildern nicht immer zu eigen, sondern wurde erst in einer bestimmten kulturhistorischen Konstellation entwickelt. Genau darum soll es im folgenden gehen: um den Moment, in dem die Bilder der Gewalt zu ihrem besonderen ästhetischen Wirkungspotential fanden – einem der spannendsten Kapitel in der Geschichte der Gewaltdarstellungen. Dieses Kapitel spielt im Athen des späten 6. und frühen 5. Jh. v. Chr. Damals durchdrangen drastische Bilder der Gewalt plötzlich die Bilderwelt Athens. In einer bis dahin nicht bekannten Nahsichtigkeit schilderten sie die Opfer in ihrem schmerzhaften Sterben oder aber in ihren psychischen Qualen im Anblick des ihnen drohenden Schicksals. Was damals gelang, revolutionierte letztlich die Gewaltikonographie: Man erschloß grundsätzlich neue Strategien einer emotional eindrücklichen und zugleich spannungsgeladenen Schilderung von Gewalttätigkeit, die die Gewaltbilder zu ihrer einzigartigen Wirkungskraft finden ließen. Warum aber kam es damals zur ,Entdeckung‘ dieser neuen Gewaltikonographie? Und was sagt dies aus über den Umgang der Athener mit medialer Gewalt und ihrer Einstellung zur Gewalt?
I. Experimente mit einem extremen Bildmotiv: Die Gewaltbilder gewinnen ein neues Profil Zwei Beispiele aus dem frühen 5. Jh. v. Chr. mögen veranschaulichen, in welcher Weise sich damals die Gewaltdarstellungen neu ausrichteten. Sie zeigen zwei in ihrer Bewertung gegenläufige Gewaltszenen (zum einen den brutalen Mord an einem wehrlosen Opfer, zum anderen die Bezwingung eines Monsters), aber beiden ist dennoch dieselbe Tendenz einer neuen Gewaltikonographie zu eigen. Als erstes Beispiel dient uns die berühmte Kalpis des Kleophrades-Malers in Neapel (Abb. 1).3 Sie zeigt den Überfall 3 Attisch-rotfigurige Kalpis des Kleophrades-Malers, Neapel, Mus.Arch.Naz. 81669 (M1480, H2422): ARV² 189,74; Para 341; Add² 189; BA 201724; LIMC, Zürich/ München 1984, Bd. II, S. 932 s. v. Astyanax I Nr. 19*. – Allgemein zu den Bildern des Mythos: Odette Touchefeu: Astyanax I. In: LIMC Bd. II, Zürich/München 1984, S. 929–37; Jennifer Neils: Priamos. In: LIMC, Zürich/München 1994, Bd. VII, S. 507–8, 516–21; Meret Mangold: Kassandra in Athen. Die Eroberung Trojas auf attischen Vasen, Berlin 2000, S. 13–33; Matthias Recke: Gewalt und Leid. Das Bild des Krieges bei den Athenern im 6. und 5. Jh. v. Chr., Istanbul 2002, S. 41–50; Luca Giuliani: Bild und Mythos. Geschichte der Bilderzählung in der griechischen Kunst, München 2003, S. 203–20.
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Abb. 1: Attisch-rotfigurige Kalpis, Neapel, Neoptolemos tötet Priamos, um 480 v. Chr.
des Neoptolemos auf Priamos in der wohl eindringlichsten Ikonographie, die in der attischen Vasenmalerei überhaupt erschlossen worden ist: Der greise König hat sich auf einen Altar geflüchtet und ist dort seinem Bezwinger ohnmächtig ausgeliefert; blutende Wunden an seinem Kopf und seiner Schulter verweisen auf die Brutalität der vorausgegangenen Gewalttat; Neoptolemos hat den König an dessen rechter Schulter gepackt und holt mit seinem Schwert zum letzten, tödlichen Schlag aus; auf dem Schoß des Priamos liegt der Leichnam seines kleinen Enkels Astyanax, mit gebrochenen Gliedern und einem von blutenden Wunden überzogenen Körper – Astyanax, der das erste Opfer des Neoptolemos war und den dieser brutal vor den Augen des Großvaters erschlagen hat. Es ist zweifellos nicht nur die Angst vor dem tödlichen Schlag, sondern vor allem der Anblick seines gemordeten Enkels, der Priamos seinen Kopf in den Händen verbergen läßt, um sich dem entsetzlichen Anblick zu entziehen, der ihm im Leben als letzter bleibt. Der Vasenmaler versteht es, das ganze Ausmaß der Tragödie in bedrängender Eindrücklichkeit ins Bild zu setzen: dadurch, daß er die Handlung auf ihren entsetzlichen Höhepunkt zuspitzt, in welchem die Ohnmacht und Verzweiflung des Priamos am stärksten spürbar sind.
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Abb. 2: Attisch-rotfigurige Schale, Florenz, Theseus tötet Minotauros, um 480 v. Chr.
Auch in unserem zweiten Beispiel, einer Schale des Dokimasia-Malers in Florenz (Abb. 2),4 wird die Gewaltszene auf die ausführliche Schilderung des Opfers in seinem Schicksal und Leid konzentriert. Im Innenbild erscheint der Kampf zwischen Theseus und dem Monster Minotauros: Theseus stößt seinem Gegner das Schwert durch die Kehle; Blut schießt aus den Wunden, das Monster sinkt sterbend zu Boden und gestikuliert hilflos mit beiden Händen. War es bei Priamos Ohnmacht aus Verzweiflung, so ist es hier Ohnmacht aus Schwäche, die das einstmals so gefährliche Monster zum wehrlosen Opfer werden läßt. Hier wie dort wird also die Gewalt vor allem im Spiegel ihrer Auswirkung, dem Leiden und Sterben, verhandelt. Und dies war als Strategie bildlicher Schilderung von Gewalt damals neu.
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Abb. 3: Attisch-schwarzfigurige Amphora, Paris, Neoptolemos tötet Priamos (links daneben: Aias bedroht Kassandra), um 550 v. Chr. (Umzeichnung).
Als solche war Gewalttätigkeit freilich schon zuvor ein beliebtes Bildthema: Seitdem in der griechischen Bildkunst Figuren dargestellt werden, wird auch Gewalt dargestellt. Doch hatte man sie bis zum späteren 6. Jh. deutlich sachlicher beschrieben. Bleiben wir bei unseren beiden Beispielen. Auf einer Amphora des Lydos in Paris (Abb. 3)5 ist ebenfalls der Mord an Priamos dargestellt: Der Leichnam des Königs liegt über dem Altar, während Neoptolemos den kleinen Knaben in der erhobenen Rechten schwingt, um ihn gegen den Körper des Großvaters zu schleudern – ohne Zweifel wird auch hier der Tatbestand der grausamen Handlung geschildert, aber das Bild erreicht nicht das blutige Pathos und die emotionale Dramatik, wie die spätere Kalpis in Neapel. Ähnlich gestalten sich auch die älteren Bilder vom Minotauros-Kampf: Auf einer Ampho4 Attisch-rotfigurige Schale des Dokimasia-Malers, Florenz, Mus.Arch.Etr. 70800: ARV² 413,25; Para 372; Add² 233; BA 204507; LIMC, Zürich/München 1992, Bd. VI, S. 576 s. v. Minotauros Nr. 29*; François Lissarrague: Vases grecs. Les Athéniens et leurs images, Paris 1999, S. 191 Abb. 149. – Allgemein zu den Minotaurosbildern Susan Woodford: Minotauros. In: LIMC Bd. VI, Zürich/München 1992, S. 574–81; dies.: Theseus and Minotauros. In: LIMC, Zürich/München 1994, Bd. VII, S. 940–43; Verf.: Das Grausen des Minotauros. Eine Gratwanderung der Monster-Ikonographie in der klassischen Bildkunst Athens. In: Münchner Jahrbuch für bildende Kunst 2004, München 2005, S. 7–31. 5 Attisch-schwarzfigurige Amphora des Lydos, Paris, Mus. du Louvre F 29: ABV 109,21; Add² 30; Para 44; BA 310167; LIMC, Zürich/München 1994, Bd. VII, S. 520 s. v. Priamos Nr. 136*; Mangold (2000) [Anm. 3], S. 20 Abb. 9.
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Abb. 4: Attisch-schwarzfigurige Amphora, Paris, Theseus tötet Minotauros, um 550– 540 v. Chr.
ra in Paris (Abb. 4)6 ringt Theseus das Monster überlegen nieder; aber auch hier ist Minotauros noch nicht in dem Ausmaß ohnmächtigen Unterliegens und schmerzhaften Sterbens erfaßt, wie später auf der Schale in Florenz. Dieser exemplarische Vergleich mit den früheren Bildern zeigt, daß die Ikonographie schmerzhaften Sterbens und psychischer Qualen eindeutig Phänomene sind, die erst in den späteren Bildern, ab dem späten 6. Jh., erschlossen werden. Um zu verstehen, wieso es damals dazu kam, ist es hilfreich, sich den Prozeß dieser ikonographischen Entdeckung genauer anzusehen. Dabei zeigt sich schnell, daß wir nur bedingt von einer „Entdeckung“ sprechen können, zumindest im Sinn einer intendierten Veränderung. Denn die neuen Spielarten der emotional berührenden Gewaltikonographie wurden eher sukzessive und letztlich eher zufällig im Rahmen eines offenen Experimentierens erschlossen. Und dabei war das Ziel dieses Experimentierens am Anfang alles andere als absehbar. Gefördert und zusätzlich angeregt wurde 6 Attisch-schwarzfigurige Amphora des Malers von London B 174 (nahe der E-Gruppe), Paris, Mus. du Louvre F 33: ABV 141,3; Add² 38; Para 58; BA 310363; CVA Paris, Louvre, Paris 1925, Bd. 3, Taf. III He 15,4.7.
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der Prozeß des ikonographischen Experimentierens durch eine generelle Aufbruchbewegung, die die Bildproduktion im späten 6. und frühen 5. Jh. erfaßte: Neue Interessen und Möglichkeiten in der Darstellung von Bewegung, Handlung und Stimmung eröffneten auch für die Gewaltbilder neue mögliche Felder und forcierten dort die Suche nach neuen ikonographischen Lösungen (wobei jedoch – das sei betont, um Mißverständnisse zu vermeiden – Anregung nicht mit Initiative verwechselt werden darf)7. Am deutlichsten läßt sich der Prozeß an den Bildern der hoplitischen Kämpfe verfolgen, da wir hier die dichteste und damit differenzierteste Überlieferung der ikonographischen Experimente greifen können; die Beobachtungen gelten aber für alle anderen Bildthemen der Gewalt gleichermaßen.8 Charakteristisch für die Darstellungen von Hoplitenkämpfen vor 530 ist, daß die Entscheidung des Kampfes durch das schwächere, labilere Auftreten des einen Kriegers klar angedeutet wird; dabei kann der unterliegende Krieger leicht in den Knien einknicken (Abb. 5)9 oder er sinkt mit einem Knie sogar schon zu Boden (Abb. 6)10. Doch bleibt die Beschrei7 Dieses Mißverständnis betrifft letztlich generell die Bewertung der neuen Bildikonographie im späten 6. und frühen 5. Jh. Auch wenn die verschiedenen ikonographischen Neuerungen aus unserer heutigen Perspektive vor allem einen Gewinn an ‚realitätsnäherer‘ Darstellung bedeuten, scheint es mir doch fraglich, sie alle einheitlich aus einem zunehmenden Interesse an einer realitätsnäheren Gestaltung – im Sinn eines universellen Erklärungsmodells – abzuleiten. Um der Komplexität der Phänomene historisch gerecht zu werden, ist es ratsam, stärker zwischen inhaltlichen und formalen Interessen zu unterscheiden und die Wechselwirkung der verschiedenen Intentionen zu analysieren. So ist etwa die neue Darstellung des Körpers in seiner Beweglichkeit nicht vorstellbar ohne ein neues inhaltliches Interesse in der Definition des menschlichen Körpers bzw. des Menschen in seinen Fähigkeiten; eine realitätsnähere Darstellung ist dabei nicht Ziel, sondern nur Zweck. – Zur Bewertung der neuen Gewaltikonographie in diesem Zusammenhang s. unten mit Anm. 23. 8 Ausführlich hierzu demnächst Verf. (2007) [Anm. 1]; ferner: Verf.: Zwischen Pathetisierung und Dämpfung. Kampfdarstellungen in der attischen Vasenmalerei des 5. Jh. v. Chr. In: Gewalt. Die andere Seite der Klassik, Kolloquium Bonn 2002, hrsg. von Günter Fischer und Susanne Moraw, Stuttgart 2005, S. 185–209; Verf.: Zur historischen Interpretation medialer Gewalt. Darstellungen von Leiden und Sterben im Athen des späten 6. und frühen 5. Jh. v. Chr. In: Extreme Formen von Gewalt im Altertum in Bild und Text. Symposion München 2003, hrsg. von Martin Zimmermann, Stuttgart 2006 (im Druck). – Überblick über die Darstellungen von Hoplitenkämpfen in der attischen Vasenmalerei: Christian Ellinghaus: Aristokratische Leitbilder – Demokratische Leitbilder. Kampfdarstellungen auf athenischen Vasen, Münster 1997; Recke (2002) [Anm. 3], bes. S. 11–20, 91–94, 211–33, 258–67.
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Abb. 5: Attisch-schwarzfigurige Amphora, Boston, Hoplitenkampf, um 550–530 v. Chr.
bung wieder sachlich: Der unterliegende Krieger wird lediglich als der Schwächere charakterisiert – nicht aber wird auf sein Leiden und Sterben verwiesen. Genau das aber passiert ab 530/20, immer mehr wird der Unterliegende nun als Verwundeter und Sterbender vorgeführt. Dabei wird die Drastik zunächst nur in einzelnen Punkten thematisiert: So werden auf manchen Bildern blutende Wunden bei dem unterliegenden Krieger angegeben und so auf seine tödliche Verwundung verwiesen (Abb. 7)11. Andere Bilder betonen stärker das entkräftete Niedersinken und ohnmächtige 9 Attisch-schwarzfigurige Amphora der Botkin-Klasse, Boston, Mus. of Fine Arts 98.923, um 550–530 v. Chr.: ABV 169,3; Add² 48; Para 71; BA 301077; CVA Boston Bd. 1, Mainz 1973, Taf. 25. 10 Attisch-schwarzfigurige Amphora des Schaukel-Malers, Florenz, Mus.Arch.Etr. o.Inv., um 530 v. Chr.: ABV 305,19; Add² 80; BA 301499; Elke Böhr: Der Schaukelmaler, Mainz 1982, S. 87 Nr. 59 Taf. 61b. 11 Attisch-schwarzfigurige Amphora der Gruppe von Würzburg 199, Würzburg, Martin von Wagner-Mus. 190, um 520–10 v. Chr.: ABV 287,4; Para 126; BA 320307; Ernst Langlotz: Martin von Wagner-Museum der Universität Würzburg: Griechische Vasen, München 1932, Taf. 39 Nr. 190.
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Abb. 6: Attisch-schwarzfigurige Amphora, Florenz, Hoplitenkampf, um 530 v. Chr.
Abb. 7: Attisch-schwarzfigurige Amphora, Würzburg, Hoplitenkampf, um 520–510 v. Chr.
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Abb. 8: Attisch-rotfiguriges Schalenfragment, Heidelberg, Hoplitenkampf, um 500 v. Chr.
Sterben des Kriegers (Abb. 8)12: Der Unterliegende sinkt hier kraftlos zu Boden, seine Beine knicken ihm weg, ermattet senkt er die Arme, sein Kopf fällt nach vorne auf die Brust, sein Auge bricht, zum Teil öffnet er gar stöhnend den Mund – der unterliegende Hoplit erscheint in diesen Bildern seinem Gegner ohne Gegenwehr oder Schutz ausgeliefert. 12 Attisch-rotfiguriges Schalenfragment des Colmar-Malers, Heidelberg, Univ. Mus. 95, um 500 v. Chr.: ARV² 354,28; BA 203710; Wilhelm Kraiker: Katalog der Sammlung Antiker Kleinkunst des Archäologischen Instituts der Universität Heidelberg: Die rotfigurigen attischen Vasen, Berlin 1931, Bd. 1, Taf. 17 Nr. 95.
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Abb. 9: Attisch-rotfigurige Schale, New York, Hoplitenkampf, um 500–480 v. Chr.
Ab 510/500 verstärkt sich diese Pathetisierung der Gewaltikonographie noch einmal. Nun wird nicht nur das explizite Sterben des Unterliegenden nahsichtig geschildert, sondern auch verstärkt das explizite Töten (Abb. 9)13: Der Angreifer führt seine Waffe nicht nur bedrohlich gegen seinen Gegner, sondern stößt sie nun immer häufiger aggressiv in dessen Körper; Blut strömt aus der Wunde und das Opfer sinkt ohnmächtig zu Boden. Erfaßt wird der Moment des Sterbens. Dabei werden die Aktion des Aggressors und die Reaktion seines Opfers kausal und damit auch zeitlich enger aufeinander bezogen: Hier handelt es sich um eine Strategie narrativer Schilderung im Bild, die sich im ausgehenden 6. und frühen 5. Jh. allgemein beobachten läßt, zunächst bei narrativen mythischen Bildern,14 dann aber schnell auch bei allgemeineren, deskriptiven Bildthemen wie etwa den Hoplitenkämpfen. Diese Entdeckung der monochronen Darstellungsweise führte im Fall der Kampfbilder dazu, daß die wieder13 Attisch-rotfigurige Schale des Douris, New York, Privatsammlung, um 500–480 v. Chr.: BA 44084; Diana Buitron-Oliver: Douris, A Master-Painter of Athenian Red-Figur Vases, Mainz 1995, S. 72 Taf. 3 Nr. 5. 14 Zum Phänomen grundlegend Giuliani (2003) [Anm. 3], S. 159–202, 286–288; ebd. die Bezeichnung als ‚monochrone Darstellung‘, die man auch als ‚syn-chrone Darstellung‘ bezeichnen kann.
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Abb. 10: Attisch-rotfiguriger Volutenkrater, Paris, Hoplitenkampf, um 470–460 v. Chr.
gegebene Szene nun als ein Ausschnitt aus einer längeren Handlungssequenz begriffen wurde: Dabei wählte man zunächst den eigentlichen Höhepunkt der Handlung, den Moment der Entscheidung, des Tötens und Sterbens. Ab den 70er Jahren tauchen dann jedoch zunehmend Bilder auf, die einen anderen Zeitpunkt aufgreifen – denjenigen, der der eigentlichen Entscheidung vorausgeht: den Moment der Bedrohung (Abb. 10)15. Hier schreitet der angreifende Krieger im bedrohlichen Angriff gegen seinen Gegner, während dieser sich abwendet und zu fliehen versucht, sich jedoch mit Schild und Waffe noch gegen den Aggressor wehrt. Die beiden Kontrahenten sind somit im spannungsvollen Moment kurz vor dem tödlichen Schlagabtausch erfaßt. Im Unterschied zu den früheren Bildern wird hier Gewalt nicht explizit, sondern implizit dargestellt. Allerdings ist zu bedenken, daß jedem Betrachter klar war, worauf dieses Aufeinandertreffen hinauslaufen wird, nämlich auf Töten und Sterben. Aber das, was in den früheren Bildern explizit gezeigt wurde, ist in diesem Bild ausgespart und in 15 Attisch-rotfiguriger Volutenkrater des Niobiden-Malers, Paris, Mus. du Louvre G 343, um 470–460 v. Chr.: ARV² 600,17; Add² 266; BA 206948; CVA Paris, Louvre, Paris 1925, Bd. 3, Taf. II Id 5,3–6,4; Aliki Samara-Kaufman: Ellenikes Archaiotites sto Museio tou Louvrou, Athen 2001, S. 298 Abb. 139b.
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Abb. 11: Attisch-rotfiguriger Psykter, Boston, Tod des Pentheus, um 520–500 v. Chr.
die Phantasie des Betrachters verlagert, der sich den Fortgang der Handlung weiter ausmalen wird. Diese Darstellung des Moments davor, in dem die Gewaltausübung nicht explizit gezeigt, wohl aber unmißverständlich angedeutet wird, setzte sich ab den 70er Jahren des 5. Jh. schnell als konventionelle Form der Gewaltdarstellung durch.16 Wir finden sie bei den verschiedenen Darstellungen der hoplitischen Kämpfe, aber auch bei allen anderen Szenen der Gewalt. Drei Beispiele sollen das veranschaulichen. 1) Die Szene vom Tod des Pentheus, die im späten 6. Jh. plötzlich beliebt wird: In den frühen Bildern wird die Szene in ihrer abstoßendsten Form wiedergegeben, indem die Bacchantinnen die blutigen Körperteile 16 Alternativ tritt daneben, allerdings seltener, die Darstellung des Moments danach auf, s. dazu Frank Brommer: Die Wahl des Augenblicks in der griechischen Kunst, München 1969, bes. S. 21–30. Brommer sieht in der Konzentration auf den ruhigeren Moment des Danach das wesentliche Phänomen in der Veränderung zwischen den archaischen und den klassischen Bildern. Bezogen auf die Kampfdarstellungen ist diese Option jedoch auffallend selten aufgegriffen worden; der Großteil der Vasenbilder bezeugt vielmehr die Wahl des Moments davor.
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Abb. 12: Attisch-rotfiguriger Lekanis-Deckel, Paris, Tod des Pentheus, um 440–430 v. Chr.
des zerrissenen Pentheus mit sich tragen (Abb. 11)17. Ganz anders erscheint die Szene dann in der 2. Hälfte des 5. Jh. (Abb. 12)18: Hier ist es der Moment vor dem Höhepunkt der Gewalttat, der dargestellt wird. Die Frauen halten ihr Opfer an Händen und Bein gepackt und beginnen, es auseinanderzuziehen. Was folgen wird, ist klar, aber es wird im Bild nicht mehr explizit gezeigt. 2) Der Tod des Aktaion: Auch hier läßt sich der Wechsel von der expliziten zur impliziten Gewalt beobachten. In den frühen Darstellungen um 500–480 fallen die Hunde des Aktaion über ihren Herrn her und verbeißen sich in seinem Körper, während dieser in der ohnmächtigen Entkräftung des Sterbenden gezeigt wird (Abb. 13)19. In den späteren Bildern um 450– 430 verschiebt sich die Szene auf den vorausgehenden Moment: Die Hunde stürmen gegen Aktaion, ohne sich aber schon in ihn zu verbeißen, und 17 Attisch-rotfiguriger Psykter des Euphronios, Boston, Mus. of Fine Arts 10.221, um 520–500 v. Chr.: ARV² 16,14; Para 322; Add² 153; BA 200077; LIMC, Zürich/München 1994, Bd. VII, S. 312 s. v. Pentheus Nr. 39*; Euphronios der Maler. Ausstellungskatalog Berlin, 20.3.–26.5. 1991, Mailand 1991, S. 174–77 Nr. 32. 18 Attisch-rotfiguriger Lekanis-Deckel, Paris, Mus. du Louvre G445, um 440–430 v. Chr.: BA 45070; LIMC, Zürich/München 1994, Bd. VII, S. 310 s. v. Pentheus Nr. 24*.
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Abb. 13: Attisch-rotfigurige Amphora, Hamburg, Tod des Aktaion, um 490–480 v. Chr.
Abb. 14: Attisch-rotfiguriger Glockenkrater, Tod des Aktaion, Boston, um 440 v. Chr.
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Aktaion ist noch im Besitz seiner Kräfte und versucht, wenngleich vergeblich, sich des Angriffs zu erwehren (Abb. 14)20. 3) Der Tod des Orpheus: Die frühen Bilder um 500–480/70 zeigen wiederum den Moment, in dem die Thrakerinnen den Körper des Sängers mit ihren Waffen durchbohren und ihn töten; Orpheus sinkt in der Ikonographie des Sterbenden zu Boden (Abb. 15)21. Ab 460/50 werden hinge-
Abb. 15: Attisch-rotfiguriger Stamnos, Zürich, Tod des Orpheus, um 480 v. Chr. 19 Attisch-rotfigurige Halsamphora des Eucharides-Malers, Hamburg, Mus. für Kunst und Gewerbe 1966.34, um 490–480 v. Chr.: Para 347.8ter; Add² 199; BA 352495; Herbert Hoffmann: Erwerbungsbericht des Museums für Kunst und Gewerbe Hamburg 1963–1969. In: Archäologischer Anzeiger (1969), S. 351–53 Abb. 371b–c; LIMC, Zürich/München 1981, Bd. I, S. 457 s. v. Aktaion Nr. 27*. 20 Attisch-rotfiguriger Glockenkrater des Lykaon-Malers, Boston, MFA 00.346, um 440 v. Chr.: ARV² 1045,7; Para 444; Add² 320; BA 213562; LIMC, Zürich/München 1981, Bd. I, S. 462 s. v. Aktaion Nr. 81*; Lacy D. Caskey und John Davidson Beazley: Attic Vase Paintings in the Museum of Fine Arts Boston Bd. II, London/ Boston 1954, S. 110 Taf. 62; Susan B. Matheson: Polygnotos and Vase Painting in Classical Athens, Madison 1995, S. 93 Taf. 69. 21 Attisch-rotfiguriger Stamnos des Dokimasia-Malers, Zürich, Univ. 3477, um 480: ARV² 1652; Para 373.34bis; Add² 233; BA 275230; LIMC, Zürich/München 1994, Bd. VII, S. 86 s. v. Orpheus Nr. 36*.
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Abb. 16: Attisch-rotfigurige Amphora, Tod des Orpheus, München, um 440–430 v. Chr.
gen Bilder beliebt, in denen Orpheus noch lebt, sich von der Thrakerin abwendet und zu fliehen versucht, während diese sich ihm bedrohlich nähert (Abb. 16)22. Immer wieder finden wir also bei den Gewaltdarstellungen im 5. Jh. die Verschiebung von der expliziten zur impliziten Gewalt, mit dem Wan22 Attisch-rotfigurige Halsamphora des Phiale-Malers, München, Antikensammlungen 2330 (J383), um 440–430 v. Chr.: ARV² 1014,2; Add² 315; BA 214179; LIMC, Zürich/München 1994, Bd. VII, S. 87 s. v. Orpheus Nr. 48b*; CVA München, München 1944, Bd. 2, Taf. 62.2.
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del des dargestellten Moments und mit den entsprechenden Konsequenzen, die sich hieraus für die Rezeption der dargestellten Gewalt ergeben. Fassen wir unsere bisherigen Beobachtungen zusammen: Im ausgehenden 6. Jh. und der 1. Hälfte des 5. Jh. kam es dahin, daß man in relativ kurzer Zeit ein reiches Repertoire erregender Darstellung von Gewalt neu entwickelte, auf das alle späteren Gewaltdarstellungen immer wieder zurückgreifen sollten. Damals gelang es, für die Darstellung der Opfer eine differenziertere Ikonographie des Sterbens und des Leidens, des Entsetzens und der Angst zu erschließen. Vor allem aber gelang es, den Moment der eigentlichen Gewaltausübung präziser in der Darstellung zu fassen und das Agieren des Angreifers und das Reagieren seines Opfers kausal und zeitlich enger aufeinander zu beziehen. Hierdurch war der Weg geöffnet, in einer emphatischeren und emotional bewegenderen Weise über Gewalt zu sprechen: Entweder, indem man drastisch den Moment des expliziten Tötens zeigte und sich auf das ohnmächtige und schmerzhafte Sterben des Opfers konzentrierte; oder, indem man die Schilderung der Gewalttat kurz vor ihrem eigentlichen Höhepunkt abbrach und den Moment des Davor zeigte: hier nähert sich der Angreifer bedrohlich, während das Opfer verzweifelt und ängstlich zurückweicht und sich vergeblich zu wehren versucht; hier rücken somit die Angst und die psychischen Qualen des vom Tod bedrohten Opfers in den Vordergrund der Schilderung von Gewalt. Beide Strategien, die nahsichtige Schilderung grausamen Sterbens sowie die spannungsvolle Schilderung des Entsetzens beim Anblick auswegsloser Bedrohung, bilden bekanntlich die zentralen Optionen, mittels derer bis heute emotional bewegend Gewalt in der Bildenden Kunst dargestellt wird. Wieso aber kam es dazu, daß diese beiden Strategien gerade im Athen des späten 6. und früheren 5. Jh. erschlossen wurden?
II. Annäherung an ein historisches Verständnis: Wie die attische Gewaltikonographie (nicht) funktionierte Daß der Wandel in der attischen Gewaltikonographie nicht allein als automatisches Phänomen im Kontext einer sich damals neu ausrichtenden, ‚realitätsnäheren‘ Bildikonographie gedeutet werden kann, ist evident. Denn die grundsätzliche Wahl der Darstellung, zwischen expliziter und impliziter Gewalt, betrifft in erster Linie die inhaltliche Seite der bildlichen Schilde-
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rung einer Gewalttat, nicht ihre formale Ausgestaltung im Detail.23 Somit müssen wir nach inhaltlichen Gründen, d. h. nach einem sich wandelnden inhaltlichen Interesse fragen, wollen wir die ikonographische Situation der attischen Gewaltbilder historisch interpretieren. Doch welche inhaltlichen Interessen sind hierfür verantwortlich zu machen? Man mag am ehesten versucht sein, den Wandel in der Gewaltikonographie aus einer veränderten Bewertung von Gewalt zu deuten – und hat dies in der Forschung zum Teil auch getan. Hierbei wurde vor allem der Wandel von der expliziten zur impliziten Gewaltdarstellung als Indiz für eine veränderte Einstellung zur Gewalt verstanden.24 Eine solche Deutung mag uns zunächst einleuchtend erscheinen, doch basiert sie auf einem Mißverständnis, da hierbei aus unserer Perspektive und basierend auf unseren Erfahrungen mit Gewaltbildern das Funktionieren einer uns fremden Gewaltikonographie zu deuten versucht wird. Die Gewaltbilder unserer heutigen Kultur funktionieren nach klaren Spielregeln.25 Den Bildern liegt eine nachhaltig problematisierte Einstel23 Die Wahl zwischen expliziter und impliziter Gewalt ist keine Frage von realitätsnäherer oder -fernerer Ikonographie. Ob ein Vasenmaler den Angreifer seine Waffe in den Körper des Opfer stoßen läßt oder nicht, ob er blutende Wunden markiert oder nicht, ob er das Opfer wehrlos zu Boden sinken läßt oder nicht, das alles hat zunächst nichts mit den damaligen Errungenschaften der neuen Bildikonographie zu tun. Diese betreffen vielmehr kompliziertere Sachverhalte wie die Darstellungen von Bewegungen, komplexen Handlungen oder Stimmungen. Darstellungen expliziten Tötens bilden demgegenüber vergleichsweise schlichte Motive, die im Vermögen einer jeden, noch so einfachen und frühen Bilderkultur liegen – und die auch die attischen Vasenmaler selbstverständlich schon vor 530/20 als alternative Optionen kannten und anwandten (inklusive aller distinktiven Motive wie zustoßenden Waffen, blutenden Wunden, wehrlosen und ohnmächtig zu Boden sinkenden Opfern). Daß sich die Vasenmaler jedoch im 3. Viertel des 6. Jh. erstaunlich selten für diese Motive der expliziten Gewalt entschieden, ist folglich als eine bewußte, inhaltlich bedingte Entscheidung zu verstehen, nicht als Frage von ikonographischen Fähigkeiten; dasselbe gilt auch für die gegenläufige Entscheidung im letzten Viertel des 6. Jh. 24 So etwa Florens Felten: Blutdurst oder Verhaltensmuster. Zur Bedeutung der Kampfbilder in der archaischen und klassischen griechischen Kunst. In: Steine und Wege. Festschrift für Dieter Knibbe, hrsg. von Peter Scherrer, Hans Taeuber und Hilke Thür, Österreichisches Archäologisches Institut, Sonderschriften Bd. 32, Wien 1999, S. 195–99, bes. S. 197–98; Recke (2002) [Anm. 3], bes. S. 94, 217, 220–21, 231; vgl. im Ansatz auch, allerdings eingebunden in eine differenzierte Argumentationsführung Ralf von den Hoff: „Achill, das Vieh“? Zur Problematisierung transgressiver Gewalt in klassischen Vasenbildern. In: Fischer und Moraw (2005) [Anm. 8], S. 225–46.
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lung gegenüber der Gewalt zugrunde, die zu einer polarisierenden Reaktion führt: Wir ergreifen im Anblick von Gewalt entweder Partei für den Stärkeren und Sieger – oder aber für das Opfer; tertium non datur. Auf diese polarisierende Bewertung von Gewalt reagiert ihrerseits auch die Gewaltikonographie unserer Bilder. Sie nutzt die Spielarten einer differenzierten Gewaltdarstellung, um im Bild die gezeigte Gewalttat zugleich zu werten und beim Betrachter die hierauf angemessene Reaktion zu stimulieren. So kommt es, daß auch die Gewaltikonographie unserer heutigen Bilderwelt konsequent in polaren Spielarten funktioniert: Soll die Gewaltszene verurteilt werden, wird das Leiden des unschuldigen Opfers eindrücklich und explizit gezeigt, da der Betrachter hierauf mit Mitleid reagiert, entsprechend Partei für das Opfer ergreift und den Täter verurteilt (im Film wird diese Version expliziter Gewalt als sogenannte ‚schmutzige Gewalt‘ bezeichnet26). Soll dagegen die Gewalt nicht verurteilt werden, sondern eine Szene akzeptierter Gewalt gezeigt werden, so muß man genau umgekehrt verfahren: Alle Motive, die das Leiden und Sterben des Opfers zu eindrücklich zeigen, müssen ausgeblendet werden, da sie ungewollt das Mitleid des Betrachters aktivieren und ihn Partei für die falsche Seite ergreifen lassen würden; entsprechend wird hier Gewalttätigkeit nur angedeutet, unter Ausblendung ihrer unschönen Konsequenzen (im Film wird diese Form der impliziten Gewalt ‚saubere Gewalt‘ genannt). Die Ikonographie unserer heutigen Gewaltbilder funktioniert also eindeutig wertend. Ihre Differenzierungsmöglichkeiten werden zur Distinktion verschieden bewerteter Gewaltarten eingesetzt. Folglich dient die jeweilige Gewaltikonographie (saubere bzw. schmutzige Gewalt) dazu, die Parteinahme des Betrachters zu steuern und seine polarisierende Reaktion zu unterstützen. Blicken wir von hier aus auf die Gewaltikonographie der attischen Bilderwelt zurück, so mag man zunächst versucht sein, sie nach denselben Strukturen zu interpretieren und entsprechend den Wandel in der ikonographischen Darstellung als Ausdruck eines gleichzeitigen Wan25 Hierzu vor allem Jürgen Grimm: Wirkungsforschung. In: Hausmanninger und Bohrmann (2002) [Anm. 2], S. 162–76; Thomas Hausmanninger: Funktionen der Filmgewalt. In: ebd. S. 247–48, 254–59; siehe ferner auch Jürgen Grimm: Fernsehgewalt, Opladen/Wiesbaden 1999, S. 423–722; Michael Kunczik: Gewalt und Medien, Köln/Weimar/Wien 1998. – Daß diese Spielregeln selbstverständlich auch konterkariert werden können, als notwendige Strategie zur Steigerung des Reizes und der Aufmerksamkeit, spricht nicht gegen, sondern vielmehr für die Richtigkeit dieser Grundstrukturen in der Gewaltdarstellung. 26 Zu den Termini ‚schmutzige‘ und ‚saubere Gewalt‘ s. etwa Grimm (2002) [Anm. 25], S. 164.
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dels in der bewertenden Einstellung zu deuten. So wurde z. B. der Wandel von der expliziten drastischen Gewalt hin zu den Bildern der impliziten Gewalt häufiger in der Forschung als Indiz für eine zunehmende Problematisierung von Gewalt angesprochen:27 Die Darstellung expliziter, sprich schmutziger Gewalt wurde etwa dahingehend gedeutet, daß diese auf das Leiden der Opfer aufmerksam machen und Gewalt problematisieren soll, die Abkehr von der expliziten Gewalt und das Aufkommen der impliziten, sauberen Gewalt dagegen als Versuch verstanden, die unschönen und als zu belastend empfundenen Seiten der Gewalt auszublenden. So reizvoll diese Deutungsvorschläge in Hinblick auf eine historische Interpretation der veränderten Gewaltikonographie auch sein mögen – bewegen wir uns doch mit diesen Veränderungen im ereignishistorischen Horizont der Perserkriege, denen man gerne grundlegende neue Erfahrungen in der Wahrnehmung von Krieg, Feind und Gewalt zuschreiben möchte, – die attischen Gewaltbilder tun uns diesen Gefallen nicht: Ihre Gewaltikonographie ist nach anderen Parametern strukturiert.28 Wie fremdartig die Ikonographie der attischen Gewaltbilder funktioniert, zeigt sich, wenn man das gesamte Repertoire der Gewaltdarstellungen im 6. und 5. Jh. auf Grundstrukturen im Zusammenspiel von Thema und Ikonographie hin überprüft. Auffallend ist dabei, daß wir bei den einzelnen Bildthemen, seien es Szenen akzeptierter Gewalt oder aber solche verurteilter Gewalt, im Laufe der Zeit einen ständigen Wechsel von expliziter zu impliziter Gewalt und wieder zurück finden. Nehmen wir als Beispiel den Kampf zwischen Herakles und Kyknos: Die frühen Bilder vor 530/20 betonen allein die Schwäche des Kyknos (Abb. 17)29; keine Motive der Verwundung oder des entkräfteten Sterbens verweisen auf das Leid und Schicksal des Herakles-Gegners – nach unseren Kriterien wäre 27 s. o. Anm. 24. 28 Das bedeutet freilich nicht, daß die Bilder nicht historisch zu interpretieren sind, nur weil sie nicht im engen Rahmen der bekannten Ereignisgeschichte zu erklären sind. Wesentlich für die historische Interpretation der Gewaltbilder ist ein komplexeres Verständnis von Geschichte, im Sinn der ‚nouvelle histoire‘: so verstanden eröffnen uns die Bilder als historische Zeugnisse Einblicke in Phänomene der Kultur Athens im späten 6. und frühen 5. Jh., die uns allein aus der Kenntnis der Ereignisgeschichte unbekannt bleiben. – Zur Frage nach der historischen Interpretierbarkeit der Bilder und dem Verhältnis von Bildern und Ereignisgeschichte ausführlicher: Verf. (2006, im Druck) [Anm. 8]. 29 Abbildung: Attisch-schwarzfigurige Lekythos des Taleides-Malers, New York Kunsthandel, um 540–530 v. Chr.: BA 25415; Sotheby-Parke-Bernet, New York, sale catalogue 5.6.1999 (1999), S. 143–44 Nr. 144 (Abb.).
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Abb. 17: Attisch-schwarzfigurige Lekythos, New York, Herakles bezwingt Kyknos, um 540–530 v. Chr.
Abb. 18: Attisch-rotfiguriger Kelchkrater, New York, Herakles bezwingt Kyknos, um 510–500 v. Chr.
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dies ein passendes Beispiel für die Verwendung ‚sauberer‘ Gewalt. Spätere Bilder um 500 wählen jedoch eine gegenläufige Ikonographie (Abb. 18)30: Kyknos stürzt verwundet zu Boden, brechende Augen und der stöhnend geöffnete Mund verweisen auf das Sterben des Monster-Hopliten; im Gegensatz zu den älteren Bildern wird hier das Leid des Opfers nachdrücklich in Szene gesetzt, mittels der Ikonographie expliziter, ‚schmutziger‘ Gewalt. Es ist nicht davon auszugehen, daß die athenischen Vasenmaler die Erzählung vom heldenhaften Sieg des Herakles über den furchtbaren Kyknos unterschiedlich bewerteten und deshalb eine unterschiedliche Gewaltikonographie wählten. Vielmehr werden wir von einer gleichbleibenden Bewertung der Kampfszene ausgehen müssen. Das aber bedeutet, daß die verschiedenen Modi der Gewaltdarstellung, implizite versus explizite Gewalt, nichts mit einer inhaltlichen Bewertung der gezeigten Gewalt zu tun haben. Denn hätte die Gewaltikonographie damit etwas zu tun und würde sie dazu dienen, die Reaktion und Parteinahme des athenischen Betrachters zu steuern, so müßten wir erwarten, daß der gewählte Modus der Gewaltikonographie bei einem bestimmten Thema konstant bliebe – was er jedoch nicht tut. Daß die attische Gewaltikonographie die wiedergegebene Gewaltszene nicht wertend charakterisiert und die Parteinahme des Betrachters nicht steuert, bestätigt sich, wenn wir die attischen Gewaltbilder im synchronen Horizont überprüfen: Ausgehend von unseren Erwartungen gemäß dem Funktionieren unserer heutigen Gewaltikonographie müßten wir postulieren, daß die verschiedenen Arten von Gewaltszenen je nach ihrer Bewertung eine divergente Gewaltikonographie zeigen: Szenen akzeptierter Gewalttätigkeit etwa ‚saubere‘ Gewalt, Szenen verurteilter Gewalttätigkeit ‚schmutzige‘ Gewalt. Doch auch dies ist bei den attischen Gewaltbildern nicht der Fall. Gleichzeitig entstandene Bilder zeigen ungeachtet ihres unterschiedlichen Themas dieselben Grundstrukturen der Gewaltikonographie. Nehmen wir als Beispiel eine Reihe von Bildern des frühen 5. Jh. mit Gewalttaten, die aus athenischer Sicht verschieden bewertet wurden, die aber alle durchweg explizite Gewalt zeigen: So wird der Sieg des Theseus über Minotauros, dem er sein Schwert aggressiv durch die Kehle stößt (Abb. 2), mit derselben Ikonographie expliziter Gewalt dargestellt, die auch für den Überfall der Thrakerinnen auf Orpheus verwendet wird (Abb. 15); ähnlich einheitlich kann auch 30 Attisch-rotfiguriger Kelchkrater des Euphronios, New York, Shelby White and Leon Levy Collection, um 510–500 v. Chr.: Add² 396; BA 7501; Euphronios (1991) [Anm. 17], S. 106–13 Nr. 6.
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Abb. 19: Attisch-rotfiguriger Stamnos, Berlin, Orest tötet Aigisthos, um 470 v. Chr.
Abb. 20: Attisch-rotfigurige Schale, Bern, Neoptolemos tötet Priamos, um 470 v. Chr.
der Mord am Usurpator Aigisthos durch Orestes (Abb. 19)31 und der am wehrlosen alten Priamos durch Neoptolemos (Abb. 20)32 wiedergegeben werden; und ebenso ikonographisch einheitlich kann der Sieg eines Hopliten über eine Amazone (Abb. 21)33 oder aber über einen anderen griechischen Hopliten (Abb. 22)34 dargestellt werden. Obwohl wir hier eine Reihe von Gewaltszenen vor uns haben, bei denen der athenische
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Abb. 21: Attisch-rotfiguriger Kantharos, Brüssel, Hoplit tötet Amazone, um 480 v. Chr.
31 Attisch-rotfiguriger Stamnos des Kopenhagener-Malers, ehemals Berlin, um 470 v. Chr.: ARV² 257,6; Para 351; Add² 204; BA 202912; LIMC, Zürich/München 1981, Bd. I, S. 373 s. v. Aigisthos Nr. 11*; A. J. N. W. Prag: The Oresteia. Iconographic and Narrative Tradition, Warminster/Chicago 1985, S. 140 Nr. 618 Taf. 12a–b; Denis Knoepfler: Les imagiers de l’Orestie, Zürich 1993, S. 44–45 Abb. 28; Friedrich Hauser: Orpheus und Aigisthos. In: Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts Bd. 29 (1914), S. 31 Abb. 4. 32 Attisch-rotfigurige Schale, Bern, Antikensmlg. 6, um 470 v. Chr.: Kunst der Antike 3, Gallerie G. Puhze (1981), Nr. 162; Mangold (2000) [Anm. 3], S. 17–18 Nr. I 12 Abb. 5; Recke (2002) [Anm. 3], S. 47, 282 Nr. 34² Taf. 34b; hier erscheint eine andere Version der Szene gewählt, die allein die Ermordung des Priamos durch Neoptolemos schildert, ohne den Mord an Astyanax, hierzu s. Neils (1994) [Anm. 3], S. 516–17; Mangold (2000) [Anm. 3], S. 14–19. 33 Attisch-rotfiguriger Kantharos des Douris, Brüssel, Mus. Royaux A718, um 480 v. Chr.: ARV² 445,256; Add² 241; Para 521; BA 205305; Buitron-Olivier (1995) [Anm. 13], S. 75–76 Nr. 48 Taf. 32–33. 34 Attisch-rotfigurige Schale des Triptolemos-Malers, München, Privatsammlung, um 480–470 v. Chr.: Verf. (2005) [Anm. 8], S. 189 Abb. 1.
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Abb. 22: Attisch-rotfigurige Schale, München, Hoplit tötet Hoplit, um 480–470 v. Chr.
Betrachter zweifellos unterschiedlich auf das Leid und Schicksal des Opfers reagiert hat, finden wir doch immer wieder dieselbe Form der Gewaltikonographie. Die Unterschiede in der inhaltlichen Bewertung finden somit nicht in einer parallelen Divergenz der formalen ikonographischen Ausgestaltung ihren Ausdruck. Und daraus folgt: Die attische Gewaltikonographie funktioniert themenunabhängig und damit auch bewertungsneutral. Nun ist dies alles bisher nur eine negative Bilanz: wie die attische Gewaltikonographie nicht funktioniert und nach welchen Kriterien wir sie also nicht interpretieren können. Wie aber funktioniert sie dann? So unverständlich die Strukturen in der ikonographischen Ausgestaltung der attischen Gewaltbilder bleiben, solange wir an sie mit unseren Erwartungen einer wertenden Gewaltikonographie herantreten, so klar werden sie, sobald wir diese Erwartungen beiseite schieben. Analysiert man das Auftreten der verschiedenen ikonographischen Optionen bei allen Gewaltbildern vom frühen 6. bis zum späten 5. Jh., und dies sowohl mit Blick auf ihren diachronen Wandel als auch mit Blick auf ihre synchrone Verteilung, so wird folgendes evident: Gewalt wird in den attischen Bildern immer als ein lediglich beschreibendes und nicht wertendes Bildmotiv eingesetzt. Seine Funktion besteht darin, den Tatbestand der Auseinandersetzung und des Kräftemessens zu beschreiben, wobei es
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in erster Linie darum geht, die Figuren und ihr Kräfteverhältnis zueinander zu charakterisieren. Vorrangige Aufgabe der Gewaltikonographie ist es dabei, vor allem den Sieger in seinen spezifischen Qualitäten zu definieren, in seiner Tapferkeit, kraftvollen Stärke oder eindrucksvollen Überlegenheit und Macht. Tapferkeit, Stärke und Macht sind die zentralen Vorstellungen, die bei den Kampfdarstellungen der Helden, Götter und Krieger verhandelt werden. Allerdings sind diese Vorstellungen, so wichtig sie auch sind, im Medium des Bildes keineswegs leicht zu formulieren, schon gar nicht in ihrer Summe. Hier offenbart sich ein Manko der griechischen Siegerikonographie (und wohl der Ikonographie von Siegern überhaupt): Man kann Sieger zwar im Bild überlegen angreifen, tapfer kämpfen oder aber aggressiv töten lassen – doch mit welchem Ausmaß an Stärke, Kraft und Tapferkeit sie dies tun, ist ihrer Darstellung nicht anzusehen: der außergewöhnliche Held und der normale Krieger sind hier nicht zu unterscheiden (eine Horrorvorstellung für die agonal denkende Gesellschaft Athens im 6. und 5. Jh.). Um das spezifische Ausmaß an Stärke und Überlegenheit differenzierter formulieren zu können, bedürfen die Sieger der Reaktion ihrer Opfer: Der Auftritt des Opfers bestimmt die spezifische Qualität des Siegers. Dies
Abb. 23: Attisch-schwarzfigurige Amphora, München, Hoplitenkampf, um 530–520 v. Chr.
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Abb. 24: Attisch-rotfiguriger Kelchkrater, Würzburg, Hoplitenkampf, um 500–490 v. Chr.
macht der Vergleich zweier beliebiger Kampfdarstellungen deutlich (Abb. 23–24).35 Beide zeigen sie den angreifenden und siegreichen Krieger in derselben Ikonographie, mit nach vorne geführtem Schild und geschwungener Lanze in der erhobenen Rechten. Unterschiedlich ist jedoch die Darstellung seines Gegners: Auf dem einen Bild wendet sich sein Gegner ab, führt aber Schild und Lanze als Zeichen seiner Gegenwehr noch gegen den Angreifer; ganz anders präsentiert sich das Opfer auf dem anderen Bild, 35 Attisch-schwarzfigurige Amphora in der Art des Lysippides-Malers, München, Antikensammlungen 1391, um 530–520 v. Chr.: ABV 258,7; BA 302239; CVA München Bd. 1, München 1939, Taf. 26,1. – Attisch-rotfiguriger Kelchkrater, Würzburg, Martin von Wagner-Museum ZA 63, um 500–490 v. Chr.: BA 13360; H. Alan Shapiro: Nachrichten aus dem Martin-von-Wagner-Museum der Universität Würzburg: Attisch Rotfiguriger Kelchkrater. In: Archäologischer Anzeiger (1985), S. 260–64 Abb. 44, 46–47; LIMC, Zürich/München 1988, Bd. IV, S. 490 s. v. Hektor Nr. 60.
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es sinkt ohnmächtig nach hinten, ohne jede Gegenwehr. Die Darstellung des kraftlosen und sterbenden Opfers verleiht dem Sieger ein größeres Maß an Aggression, Stärke und Überlegenheit als die Darstellung des fliehenden Opfers. Im Spiegel des unterliegenden Opfers definiert sich somit die Überlegenheit des Stärkeren. Zugleich dient die Reaktion des Opfers aber auch dazu, die jeweilige Qualität, über die der Sieger vorrangig im Bild gefeiert werden soll, herauszustellen. Will man vor allem die kraftvolle Überlegenheit des Siegers betonen, so akzentuiert man beim Opfer stärker dessen ohnmächtiges Unterliegen; will man aber auch die besondere Tapferkeit des Angreifers betonen, so muß man zugleich die Bedrohlichkeit und Stärke seines Gegners im Bild akzentuieren – und das geht nur, indem man das Opfer zumindest partiell noch kraftvolle Gegenwehr entwickeln läßt, was es freilich nur dann kann, wenn es nicht endgültig in der Ohnmacht seines Unterliegens und Sterbens erfaßt ist. Implizite Gewalt erlaubt somit immer mehr, auch den Aspekt der Tapferkeit anzusprechen (Abb. 5–6, 17, 23), während explizite Gewalt deutlicher auf Stärke und Aggression als primäre Qualitäten des Siegers verweist (Abb. 7–9, 18, 21–22, 24). Je nach Ikonographie des Opfers bzw. Ikonographie der Gewalt werden also verschiedene Qualitäten und Vorstellungen betont, über die der Stärkere bzw. Sieger charakterisiert ist. Die Gewaltikonographie bzw. die Opferikonographie sind somit letztlich auch ein Teil der Siegerikonographie; das reagierende und leidende Opfer ist ein unabdingbarer Spiegel für die Darstellung des Siegers. Vor diesem Hintergrund werden sowohl der diachrone Wandel als auch die synchrone Indifferenz der Gewaltikonographie verständlich: Diachrone Veränderungen in den Idealen um den Stärkeren, das heißt Veränderungen in der Definition von Macht und Ansehen, führen konsequenterweise zu einer Veränderung auch in der bildlichen Darstellung des Stärkeren – und damit automatisch auch zu Verschiebungen in der Ikonographie der Gewalt, als einem zentralen Instrument in der Formulierung der kriegerischen Qualitäten. Umgekehrt bedingt die spezifische Auffassung vom Sieger bzw. vom Stärkeren, wie sie jeweils für eine bestimmte Zeitstufe charakteristisch ist, daß alle Figuren, die in einer Szene des Kräftemessens als Überlegene dargestellt werden, in der gleichen Weise charakterisiert sind, unabhängig von ihrer Bewertung: Helden und Götter sowie normale Krieger, aber auch frevelnde Helden oder mordende Amazonen, sie alle werden nach denselben Vorstellungen von Sieghaftigkeit und Macht definiert und somit in den Bildern mit denselben ikonographischen Strategien dargestellt, das heißt auch mit derselben Gewalt- und Opferikonographie.
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Fassen wir zusammen: Gewalt erweist sich also nicht als Bildthema, als das Ziel der Darstellung; sondern sie erweist sich nur als Bildmotiv, gewissermaßen als Mittel zum Zweck, um das Bildthema zu formulieren. Thema der Bilder ist der Diskurs um Macht und soziales Ansehen, bzw. um spezifische Leistungen und Tugenden, wie Stärke oder Tapferkeit, aus denen soziales Ansehen resultiert. Da Siegerqualitäten oder Machtverhältnisse im Medium des Bildes nicht unmittelbar dargestellt werden können, bedient man sich der Gewalt als Bildmotiv, die es ermöglicht, diese Vorstellungen zu beschreiben. Gewalt entpuppt sich somit innerhalb der attischen Bilder als ein dezidiert mediales Phänomen.
III. Die neuen Gewaltbilder im historischen Kontext: Als sich die Interessen in der Darstellung des Siegers verschoben Vor diesem Hintergrund sind auch die speziellen Veränderungen in den attischen Gewaltbildern des späten 6. und frühen 5. Jh. zu verstehen, von denen wir ausgegangen sind. Die neuen Strategien einer erregenden Schilderung von Gewalt erweisen sich nun ebenfalls nicht als Spiegel eines veränderten Interesses an der medialen Gewalt – sie sind vielmehr Konsequenzen einer Suche nach neuen ikonographischen Möglichkeiten, die Figur des Stärkeren eindrucksvoll in Szene zu setzen. Diese Suche nach einer adäquaten Siegerikonographie bildet somit den spezifischen historischen Kontext, in dem die Gewaltbilder zu interpretieren sind. Ausgangspunkt für die Veränderungen der Gewaltikonographie war der Wandel in der Auffassung dessen, was den Stärkeren ausmacht. Die vorausgehenden Bilder des 3. Viertels des 6. Jh. (Abb. 5–6, 17) hatten stärker das Ideal der Tapferkeit betont und charakterisierten mittels der Ikonographie der impliziten Gewalt den Unterliegenden eher noch als wehrhaft und damit als bedrohlich. Ab 530/20 setzt sich jedoch ein neues Verständnis vom Sieger durch: Es akzentuiert vorrangig dessen kraftvolle Stärke und eindrucksvolle Überlegenheit – in den Bildern wird dies durch eine zunehmende Pathetisierung der Gewaltszenen zu formulieren versucht, indem nun das ohnmächtige Unterliegen und drastische Sterben der Opfer in Szene gesetzt wird (Abb. 7–9, 18, 21–22); Kampf und Kräftemessen dienen hier vornehmlich der Demonstration exzeptioneller Überlegenheit und damit dem Anspruch auf herausragendes Prestige. Zu diesem gewandelten Verständnis von Ansehen und Macht paßt auch, daß zur gleichen Zeit, ab 530/20, eine Vielzahl an neuen Themen der Gewalt die attische
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Bilderwelt überflutet. Beliebt wird nun die Gewalt von Griechen gegen Fremde, Gewalt von Göttern gegen Frevler, von Helden gegen Verbrecher, von Männern gegen Frauen, von Frauen gegen Kinder, aber auch von Frauen gegen Männer, und schließlich von Jüngeren gegen Ältere36. Das gesamte Repertoire an gesellschaftlicher Interaktion, über das sich das Leben der Athener definierte, erscheint hier plötzlich in den Diskurs um Macht und Ansehen eingebunden – und wird in der Bilderwelt mittels drastischer Gewaltszenen verhandelt. Die Pathetisierung der Gewaltikonographie und die Erschließung einer neuen Ikonographie des Leidens und Sterbens erweisen sich also als verschiedene Seiten derselben Medaille: Beide sind Folge des zunehmenden Interesses der Athener an einer neuen Definition und überzeugenden Formulierung von Überlegenheit und Macht. Gleichzeitig, aber unabhängig davon, kommt es im Bereich der narrativen Bilder zu einem folgenreichen Experimentieren mit neuen Erzählstrategien:37 Man ‚entdeckt‘ die Möglichkeit der monochronen Darstellung, Handlungsszenen können nun als eine unmittelbare Abfolge von Aktion und Reaktion begriffen werden. Diese Entdeckung monochroner Darstellung hatte bekanntlich weitreichende Folgen, nicht zuletzt auch für die weitere Geschichte der attischen Gewaltikonographie, ist sie doch die Voraussetzung für die Umorientierung der Schilderung von Gewalt ab den 70er Jahren des 5. Jh. Hatte man erst einmal die Option monochroner Darstellung erkannt, mußten auch die dargestellten Gewaltszenen mehr und mehr als ein Ausschnitt aus einer längeren Handlungssequenz begriffen werden, in dem der Angriff des Stärkeren und die Reaktion seines Opfers in einem stringenteren, kausalen und zeitlichen Zusammenhang standen. Zunächst wählten die Vasenmaler als dargestellten Ausschnitt den Höhepunkt der Gewalthandlung, das Töten und Sterben. Aber es war nur eine Frage der Zeit, daß sie auch andere Zeitmomente aus der Handlungssequenz auswählten, respektive den Moment davor, mit der Darstellung der Gewaltandrohung (Abb. 10). Die Wahl des vorausgehenden Zeitmoments hatte verschiedene Vorteile für die Darstellung der Gewaltszenen. Die Steigerung der Spannung, mit der die Szene nun geschildert werden konnte, war einer der wesentlichen Vorteile: Garantierte er doch, daß das Bild die Aufmerksamkeit des Betrachters nachdrücklicher auf sich zog und damit die Vorstellungen, die in dem Bild verhandelt wurden, vom Betrachter emphatischer und emotional ergriffener rezipiert wurden. Letztlich waren es jedoch wohl andere Fak36 Hierzu ausführlicher Verf. (2007) [Anm. 1] und Verf. (2006) [Anm. 8]. 37 Giuliani (2003) [Anm. 3; s. o. mit Anm. 14].
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toren, die diesen Wandel in der Gewaltikonographie vorrangig bewirkten. Faktoren, die sich wieder aus der Charakterisierung des Siegers ergaben. Denn es war vor allem die Charakterisierung des Siegers, die von der neuen Gewaltikonographie profitierte und dies in zweierlei Hinsicht: Einerseits gelang es, nun auch in ästhetischer Hinsicht die Aufmerksamkeit auf die Figur des Stärkeren zu konzentrieren. In den vorausgehenden Bildern der expliziten, pathetisierten Gewalt konnte dies nur bedingt gelingen: Hier zog das leidende Opfer – aufgrund seiner deutlich aufsehenerregenderen Ikonographie38 – weitaus mehr Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich als die Figur des Siegers (Abb. 9, 18, 21–22, 24). Dadurch entstand für die Bilder das Risiko, daß die Gewaltikonographie den Blick des Betrachters zu stark auf die falsche Seite lenkte, dorthin, wo er unter inhaltlichen Gesichtspunkten nicht primär ruhen sollte: bei der sekundären Figur des Unterliegenden. Und dieses Problem nahm zu, je stärker man die Gewaltdarstellung pathetisierte, was man im frühen 5. Jh. tat.39 Die neue Gewaltikonographie mit ihrer Konzentration auf den Moment des Davor löste dieses Problem (Abb. 10). Indem man die Ikonographie des Leidens und Sterbens zurücknahm und die Figur des Opfers dadurch ästhetisch marginalisierte, verschaffte man dem Sieger zwangsläufig einen eindrucksvolleren Auftritt. Auf ihm ruhte nun vorrangig wieder der Blick des Betrachters, ganz so, wie er es sollte. Doch gewann der Auftritt des Siegers nicht nur quantitativ. Es kam auch zu einer neuen Definition von Sieghaftigkeit und Überlegenheit. Während die Sieger in den früheren Bildern ihre Qualitäten demonstrativ beweisen mußten, sich also in ihrer Tapferkeit oder in ihrer Überlegenheit konkret bewährten, fällt dies in den neuen Bildern weg (Abb. 10): Der Sieger schreitet überlegen gegen sein Opfer vor, die Waffe drohend gegen es führend, während sich das Opfer im Anblick des starken Auftritts des Angreifers abwendet und sein Unterliegen vorwegnimmt. Sieg und Überlegenheit erscheinen nun nicht länger an die konkrete Tat, an die Manifestation der 38 Zur stärkeren ästhetischen Ausdifferenzierbarkeit des Opfers – als Grundphänomen von Gewaltdarstellungen – und den damit bedingten Implikationen für die Wirkung der Bilder auf den Betrachter s. auch Giuliani (2003) [Anm. 3], S. 229–30. 39 Daß sich ikonographische Lösungen im Laufe der Zeit als unzureichend erweisen können und daher durch neue Lösungen ersetzt werden, ist ein Phänomen, das sich gerade in der innovations- und experimentierfreudigen Bilderwelt der attischen Vasen immer wieder beobachten läßt. Als Sackgassen sind solche Lösungen nur im Rückblick erkennbar; für die Zeitgenossen waren Vor- und Nachteile einer neu entwickelten Ikonographie nicht unmittelbar und schon gar nicht in Gänze einzuschätzen.
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Tugenden, gebunden, sondern erweisen sich als verabsolutierte Qualitäten des Stärkeren: Ihm steht per se der Anspruch auf Macht und soziales Ansehen zu. Hier bahnt sich eine einschneidende Neuorientierung im Verständnis vom Sieger an, die auf einer Entagonalisierung von Stärke und Verabsolutierung von Macht basiert. Beide Phänomene lassen sich bekanntlich ausgeprägter im späten 5. und dann 4. Jh. greifen, doch scheinen ihrer Anfänge nach dem Ausweis der Bilder schon früher, im 2. Viertel des 5. Jh. zu liegen.40 Die neuen Strategien der Gewaltikonographie, die wir ab den 70er Jahren des 5. Jh. greifen können, erweisen sich also wiederum als logische Konsequenz eines vitalen Experimentierens mit den Möglichkeiten der Siegerikonographie: Man suchte nach neuen Wegen, um den Sieger eindrucksvoller und in seiner strahlenden Überlegenheit darzustellen, und ganz offensichtlich fand man diese neuen Wege in einer veränderten Darstellung von Kampf und Gewalt. Die Entdeckung neuer Strategien einer emotional bewegenden und spannungsreichen Gewaltikonographie, wie wir sie im Athen des späten 6. und 5. Jh. beobachten können, bildete eine Entdeckung von weitreichenden Folgen für die Geschichte der Gewaltdarstellungen. Damals fanden die Gewaltbilder zu ihrem einzigartigen ästhetischen Wirkungspotential, für das sie seitdem bekannt sind. Jedoch speiste sich – und das ist das Spannende daran – die Entdeckung der neuen Gewaltikonographie ganz offensichtlich nicht aus einer vitalen Auseinandersetzung mit dem Thema der Gewalt (wie wir dies zunächst erwarten würden): Es waren keine veränderten Erfahrungen von real erlebter Gewalt und kein verändertes Interesse an der Darstellung von Gewalt, die dazu führten, daß man in der Bildkunst des spätarchaischen und klassischen Athens neue Strategien einer wirkungsvollen Schilderung von Gewalt erschloß.
IV. Was hinter der Bildern steckt: Ein uns fremder Umgang mit der medialen Gewalt Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesen Beobachtungen nun aber für unser historisches Verständnis von der attischen Gesellschaft, die hinter diesen Bildern steht? Was verraten sie über die Einstellungen der Athener 40 Ausführlicher hierzu Verf.: Warten auf Marsyas. Als die griechische Kunst die Gewalt am Unterlegenen entdeckte. In: Häutungen. Lesarten des Marsyasmythos in den Kulturwissenschaften, Kolloquium Wien 2002, hrsg. von Ursula Renner-Henke und Manfred Schneider, München 2006, S. 11–32, bes. S. 24–31.
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zur Gewalt und über ihren Umgang mit der medialen Gewalt? Diese Frage mag verwundern: Ist doch aus den zuletzt diskutierten Beobachtungen evident, daß die Veränderungen in der Gewaltikonographie gerade nicht von gewandelten Einstellungen der Athener zur Gewalt abhängig sind, vice versa also auch von hier aus keine unmittelbaren Einblicke in die Einstellungen der Athener zur Gewalt zu gewinnen sind. Dennoch ist die Frage erlaubt. Denn auch eine negative Bilanz impliziert eine Aussage. Und so gesehen wäre es falsch zu sagen, daß uns die attischen Gewaltbilder mit ihrer spezifischen Gewaltikonographie gar nichts über den Umgang der Athener mit der Gewalt verraten. Sie tun es letztlich doch, allerdings auf einem anderen Weg – und mit einem überraschenden Ergebnis. Wichtig ist die Tatsache, daß die attische Gewaltikonographie ausschließlich deskriptiv funktioniert und sich nirgendwo einer differenzierenden inhaltlichen Bewertung öffnet. Der Verzicht darauf, unterschiedliche Einstellungen zur Gewalt mittels einer unterschiedlichen Darstellungsweise zum Ausdruck zu bringen, ist für sich genommen aufschlußreich. Man könnte zunächst vermuten, daß die Athener kein Interesse an einer unterschiedlichen Bewertung der verschiedenen Gewaltszenen hatten, so daß eine solche Differenzierung kein Anliegen der Ikonographie wurde. Doch das ist wenig plausibel. Natürlich reagierten die Athener anders auf das Sterben des alten Priamos und seines Enkels (Abb. 1), als auf das Sterben des Minotauros (Abb. 2). Daraus ergibt sich nur eine Konsequenz: Man wird die Offenheit der attischen Gewaltikonographie genau umgekehrt deuten müssen. Sie ist gerade nicht Folge eines fehlenden Interesses an einer emotionalen Reaktion im Anblick der dargestellten Gewalt: Sie resultiert vielmehr aus der Absicht, dem Betrachter gleichzeitig ganz verschiedene emotionale Reaktionen zu ermöglichen, sowohl Bewunderung für den kraftvollen Aggressor als auch Anteilnahme am leidenden Opfer. Hier offenbart sich letztlich der gravierendste Unterschied zu unserer Einstellung zur Gewalt. Den Athenern ist (anders als uns) keine polarisierende Parteinahme zu eigen, die sie zwingt, sich zwischen den Kontrahenten einseitig zu entscheiden, für wen und gegen wen sie sind. Diese Haltung entspricht der eigentlichen Idee des agonalen Denkens der Griechen. Denn dieses operiert nicht mit polaren Gegensätzen, unterscheidet nicht absolut zwischen ‚gut‘ und ‚böse‘; vielmehr werden die Kontrahenten in ihrer Relation zueinander erfaßt, als ‚stärker‘ und ‚schwächer‘, ‚mächtiger‘ und ‚weniger mächtig‘. Eine solche relativierende Sicht hat zu Folge, daß der attische Betrachter gar nicht Partei ergreifen mußte: Er konnte den Stärkeren aufgrund dessen Überlegenheit bewundern und zugleich mit dem Unterliegenden mitfühlen. Man reagierte emotional gleichzeitig in bei-
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de Richtungen, d. h. man reagierte offen, wir könnten auch sagen ‚ambivalent‘ (wobei wir Ambivalenz nicht gemäß unserer stärker polarisierenden Denkmuster mit dem Unterton des Widersprüchlichen und Zwiespältigen versehen dürfen). Auf dieses offen-ambivalente Reagieren bei der Wahrnehmung von Gewalt antwortet die attische Gewaltikonographie. Sie braucht sich nicht nur einer Bewertung der dargestellten Gewalt zu enthalten, sie muß es letztlich sogar. Denn nur auf der Grundlage einer rein deskriptiven Schilderung der Szenen kann der Betrachter offen auf die strahlende Bewährung des Siegers und zugleich auf das Leiden des Unterliegenden reagieren – nur so kann er also entsprechend seinem agonalrelativierenden Denken mit verschiedenen Emotionen gleichzeitig auf die Darstellung der Gewalt antworten. Das Verharren der attischen Gewaltikonographie auf einem deskriptiven Modus verrät damit letztlich doch mehr über die Einstellung der Athener zur Gewalt und ihren Umgang mit der medialen Gewalt, als zunächst zu erwarten war. Im Vergleich zu unserem heutigen Umgang mit Gewaltbildern offenbart sich dabei ein sehr fremdartiger, anderer Umgang. Er speiste sich einerseits aus einem bewertungsoffenen Wahrnehmen von Gewalttätigkeit, und andererseits aus einer hohen Bereitschaft zu einer ambivalenten emotionalen Reaktion auf Aggression und Stärke, aber auch auf Leid und Tod. Man kann sich fragen, ob es nicht gerade diese besondere Mischung war, ein Klima emotionaler Offenheit gegenüber allen Spielarten der Gewalt, welche erst die Voraussetzung dafür schaffte, daß damals innerhalb nur weniger Jahrzehnte so weitreichende Innovationen hin zu einer emotional derart anrührenden Gewaltikonographie erschlossen werden konnten? Innovationen, die von da an die Gewaltdarstellungen aller folgenden Kulturen prägen sollten – ungeachtet aller Veränderungen in der Wahrnehmung von Gewalt.
Abbildungsnachweise Patrick Primavesi – Gewalt der Darstellung. Zur Inszenierung antiker Tragödien im (post)modernen Theater Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4:
Abb. 5:
Abb. 6:
Abb. 7:
Abb. 8:
Abb. 9:
An Antigone, schauspielfrankfurt, Inszenierung von Wanda Golonka, #1 Hilke Altefrohne, Foto: © Yvonne Kranz. An Antigone, schauspielfrankfurt, Inszenierung von Wanda Golonka, #3 Abak Safaei-Rad, Foto: © Yvonne Kranz. An Antigone, schauspielfrankfurt, Inszenierung von Wanda Golonka, #4 Jennifer Minetti, Foto: © Yvonne Kranz. Virus! nach den „Bakchen“ des Euripides, Theater Basel/Staatstheater Stuttgart, Inszenierung von Sebastian Nübling, Bühne und Kostüme: Muriel Gerster, Darsteller v. l. n. r.: Ensemble, Silja Bächli, Foto: © Sebastian Hoppe. Virus! nach den „Bakchen“ des Euripides, Theater Basel/Staatstheater Stuttgart, Inszenierung von Sebastian Nübling, Bühne und Kostüme: Muriel Gerster, Darsteller v. l. n. r.: Susanne Abelein, Christian Brey, Daniel Nerlich, Foto: © Sebastian Hoppe. Bakchen, schauspielfrankfurt, Inszenierung von Christof Nel, Bühne und Licht: Klaus Grünberg, Kostüme: Silke Willrett, Darsteller: Robert Kuchenbuch, Josef Ostendorf, Foto: © Alexander Paul Englert. Bakchen, schauspielfrankfurt, Inszenierung von Christof Nel, Bühne und Licht: Klaus Grünberg, Kostüme: Silke Willrett, Darsteller: vorne: Robert Kuchenbuch, links: Dominik Maringer, rechts: Sven Prietz, Foto: © Alexander Paul Englert. Bakchen, schauspielfrankfurt, Inszenierung von Christof Nel, Bühne und Licht: Klaus Grünberg, Kostüme: Silke Willrett, Darsteller: Werner Rehm, Jennifer Minetti, Josef Ostendorf, Foto: © Alexander Paul Englert. Die Bakchen von Euripides, Münchner Kammerspiele, Inszenierung von Jossi Wieler, Bühne: Jens Kilian, Kostüme: Gesine Völlm, Darsteller, v.l.n.r.: Hildegard Schmahl, Peter Brombacher, Hans Kremer, Wiebke Puls, Robert Hunger-Bühler, Sylvana Krappatsch, Foto: © Arno Declair.
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Abbildungsnachweise
Barbara Borg – Gefährliche Bilder? Gewalt und Leidenschaft in der archaischen und klassischen Kunst, S. 221–256 Abb. 1:
aus Hilda L. Lorimer: The hoplite phalanx with special reference to the poems of Archilochus and Tyrtaeus. In: Annual of the British School in Athens 42 (1947), S. 77 Abb. 1. Abb. 2a–c: aus Hilda L. Lorimer: The hoplite phalanx with special reference to the poems of Archilochus and Tyrtaeus. In: Annual of the British School in Athens 42 (1947), S. 77 Abb. 9c; 9d; 8c. Abb. 3: Foto München, Antikensammlungen, Vorlage Heidelberg, Seminar für Klassische Archäologie. Abb. 4: Foto The Metropolitan Museum of Art (1972.11.10); Leihgabe der Republik Italien. Foto Athen, Nationalmuseum; Vorlage Heidelberg, Seminar Abb. 5: für Klassische Archäologie; Zeichnung, Transkription und Übersetzung nach Gisela Richter: An Inscribed Kouros Base. In: David M. Robinson et al.: Commemorative Studies in Honor of Theodore Leslie Shear, Hesperia Supplement 8 (1949), S. 362 Abb. 1. Abb. 6: aus Adolf Furtwängler und Karl Reichhold: Griechische Vasenmalerei: Auswahl hervorragender Vasenbilder, München 1904, Taf. 54. Abb. 7: Foto J. Paul Getty Museum; Vorlage Heidelberg, Seminar für Klassische Archäologie. Abb. 8: Foto Boston, Museum of Fine Arts; Vorlage Heidelberg, Seminar für Klassische Archäologie. Abb. 9: aus Adolf Furtwängler und Karl Reichhold: Griechische Vasenmalerei: Auswahl hervorragender Vasenbilder, München 1904, Taf. 25. Abb. 10: aus JHS 67, 1947, 1 Abb. 1. Abb. 11: Foto und Abrollung Trustees of the British Museum, London. Abb. 12: aus Adrienne Lezzi-Hafter: Der Eretria-Maler. Werke und Weggefährten, Mainz 1988, Taf. 20.
Abbildungsnachweise
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Susanne Muth – Als die Gewaltbilder zu ihrem Wirkungspotential fanden, S. 257–291 Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Abb. 7: Abb. 8: Abb. 9: Abb. 10: Abb. 11: Abb. 12: Abb. 13: Abb. 14: Abb. 15: Abb. 16: Abb. 17: Abb. 18: Abb. 19: Abb. 20: Abb. 21: Abb. 22: Abb. 23: Abb. 24:
aus Michaeilis A. Tiverios: Ellenike Techne, Athen 1996, S. 137 Abb. 110. aus François Lissarrague: Vases grecs, Paris 1999, S. 191 Abb. 149. aus LIMC Bd. II, Zürich/München 1984, S. 967 s. v. Athena Nr. 83°. Photo München, Museum für Abgüsse Klassischer Bildwerke. Photo München, Museum für Abgüsse Klassischer Bildwerke. aus Elke Böhr: Der Schaukelmaler, Mainz 1982, Taf. 61b. Photo München, Museum für Abgüsse Klassischer Bildwerke. aus Wilhelm Kraiker: Die rotfigurigen attischen Vasen, Berlin 1931, Taf. 17 Nr. 95. aus Diana Buitron-Oliver: Douris, Mainz 1995, Taf. 3 Nr. 5. aus Aliki Samara-Kaufman: Ellenikes Archaiotites sto Museio tou Louvrou, Athen 2001, S. 298 Abb. 139b. aus Euphronios der Maler. Ausstellungskatalog Berlin 1991, Mailand 1991, S. 175 Abb. aus LIMC Bd. VII,2, Zürich/München 1994, S. 254 s. v. Pentheus Nr. 24*. Photo München, Museum für Abgüsse Klassischer Bildwerke. aus Lacy D. Caskey und John Davidson Beazley: Attic Vase Paintings in the Museum of Fine Arts Boston Bd. II, London/ Boston 1954, Taf. 62. aus LIMC, Zürich/München 1994, Bd. VII, 2, S. 61 s. v. Orpheus Nr. 36*. aus CVA München Bd. 2, München 1944, Taf. 62,2. aus Sotheby-Parke-Bernet, New York, sale catalogue 5.6.1999 (1999), Nr. 144. aus Euphronios (1991) [s.o.] S. 108 Abb. aus Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts Bd. 29 (1914), S. 31 Abb. 4. aus Meret Mangold: Kassandra in Athen, Berlin 2000, S. 18 Abb. 5. Photo München, Museum für Abgüsse Klassischer Bildwerke. Photo M. Waltz, München. aus CVA München Bd. 1, München 1939, Taf. 26,1. aus LIMC Bd. IV,2, Zürich/München 1988, S. 287 s. v. Hektor Nr. 60*.
Register der Stichwörter (Peter Kahrs) Kursive Zahlen verweisen auf Anmerkungen auf der jeweiligen Seite. Agonales Denken 290–91 Akzeptanz 7, 15, 52, 70, 226, 237, 242, 252, 257 Alte Komödie 125 Ambivalenz/ambivalent 8 f., 24, 83, 87, 167, 178, 191, 195, 200, 204, 293 Ästhetische Distanz 92, 94 Ästhetisierung – der Gewalt 99, 169 – des Krieges 40 ff., – Kosmodizee, ästhetische 43 – Panästhetizismus 43 Ästhetizismus 42 Außen/Innen-Dichotomie 49–51 Autarkie und Freiheit 17 Bia und Dike 46, 52 Bia und Peitho VIII, 51–56 Botenbericht 79, 111–13, 120 f., 157, 164, 168, 186, 190, 200, 215 Buphonien („Ochsentötung“) 81–87 Bürgerkrieg 3, 15, 20, 30, 44, 47–51, 63 Darstellung von Gewalt 91, 98 f., 158, 160, 168, 185–88, 195, 198, 223, 259, 276, 291 Dekonstruktion 205, 211, 213 Demagoge 9, 22–24 Demokratie 5, 20 f., 31, 34, 54–56, 86, 190, 202 f., 207, 236 f., 240, 247, 249 Distanz des Zuschauers 92, 94 Dramatik 125, 141, 174, 194, 239, 263
Ecce-Szenen 112–14, 121 Ehre/Ehrwahrung 8, 11–15, 21, 34, 36, 37–39, 228 f., 233, 236, 243, 245 Emotion/emotional 67, 95, 97, 100, 101, 107, 111 f., 117, 121, 130, 136, 138, 141, 163, 178, 194, 198, 237, 253 f., 257, 260, 263 f., 276, 289, 291–93 Enigmatik, enigmatisch 173, 176, 177, 179 Erhabene, das 195–97, 218 f. Erscheinungscharakter 173 Erscheinungsschrecken 117, 181, 186 Erwartungsangst 117, 121 f., 180 f., 186 f. Faszination 147, 185, 211 Film 136, 146, 185, 188, 195, 212, 216, 218, 259, 278 Freiheit/Unfreiheit 7–9, 11, 17, 20, 22, 24, 33, 60, 69, 130, 143, 179, 188, 195 f., 212, 219 Freund/Feind-Dichotomie 48–51 Furcht und Mitleid 91, 97, 102, 114 Geißelung 75–78 Gerechtigkeit 6, 11–13, 17, 21 Gerechtigkeitsdiskurs 39 Gesten (Verhalten) 136, 140 Gewalt (passim) – als Bildthema und Bildmotiv 288 – göttliche 99 – hybride 34 f. – körperliche 194 – mediale 257 ff. – saubere 276–79
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Register der Stichwörter
– schmutzige 276–79 – strukturelle 98 f. – physische 98 f., 103 f., 106, 112, 117, 121 – Problematisierung von Gewalt 276–86 – psychische 98 – als Sprechakt 171 Gewaltbilder 257 ff. Gewaltdarstellung – explizit 264–74, 277, 279, 281, 287–91 implizit 268–74, 277, 279, 281, 287–91 Gewalt der Darstellung IX, 73, 185, 188, 195–97, 202–04, 212, 218 f. Gewaltikonographie 260, 264, 265, 269, 276–79, 281, 284 f., 287–93 – beschreibende 279–86, 290–91 – bewertende 276–86 – diachronischer Wandel 263 ff., 286 ff. – moderne 275–76, 279, 290–91 Gewaltschilderung, emotionale 257 ff. Gleichheit/Ungleichheit 14, 20–23, 25, 34, 43 Grausamkeit 48, 72, 151 f., 161, 193, 197, 219, 224, 235, 243 Hinterszenischer Raum 82, 103, 104, 106–113, 118 f., 121, 125 Hinterszenisches Schreien 124 Höhepunkt der Gewalthandlung 268 Hybris 11 f., 33–35, 166, 173, 201, 233, 236 f., 243, 251 Ikonographie des Sterbens/ des Sterbenden 274, 276 Innen/Außen-Dichotomie 48–51 Inszenierung des Schreckens 180 f. Inszenierung von Schmerz 140 f. Jagd 29–31, 198 Kampfdarstellungen 263–91 Komödie V, IX, 9, 22, 23, 68, 83, 103, 119, 125, 156, 158,159 f., 167
Konsens und Allmacht 56 Körper und Geist 123, 129 f., 132 f. Körperlichkeit 129, 132 f. 136, 158, 193 f., 218 Kratos und Bia (Macht und Gewalt) 103, 154 f., 198, 251 Legitimität 7, 21, 24 f. Leidenschaft 168, 210, 223, 250, 253 f., 256 f., 296 Liminaler Raum 162, 167 Lust 8, 42, 67, 91 f., 97, 185, 194–98, 200, 209, 219, 248 Macht und soziales Ansehen (Diskurs) 283–89 Medien 19, 94, 185 f. 194, 278 Menschenopfer 74, 78–80 Metapher 132 f., 137–39, 184 Mitleid 62, 72, 91, 96 f., 101 f., 114, 145, 147, 168, 191, 197, 278 Moment der Bedrohung 270 Moment des Tötens 270 Mord-Stichomythie 106 f., 109, 121 Mord vor der physischen Realisierung 119–21 Mythos V, 6, 63, 65, 72, 74, 76 f., 78–81, 86, 105, 130, 133, 152, 170–75, 183–85, 188, 190, 191, 194, 202, 205, 218, 230, 241, 257, 260, 291 Nomos 21 f., 26, 34, 41, 45–47, 51–54 Notwehr 35–38 Opfer 29–30, vgl. Tieropfer Opfercode, kulinarischer 30 Opferikonographie 65–70, 283 ff. Opferkult 171, 183, 210 Opferritual 63, 65, 79, 81 f., 85, 86 f., 180, 182, 191, 200 Opfersprache 65 Parteinahme 276–79 Pathetisierung 264 ff. Pathos 94 f., 104, 125, 196 f., 214, 236, 257, 263
Register der Stichwörter Performance 103, 146, 149, 156, 171, 187, 194, 198, 201, 205, 207–09, 211 f., 219 Performanz 68, 160, 194 Phobos 235–36 Politik 4, 18, 20–24, 26, 31, 54, 154, 191, 202, 242, 250 Potentialität der Gewalt 194 f. Raum vgl. Hinterszenischer Raum Reziprozität 242 Ritual der Totenklage 204 Schmerz IX, 123-148 – Universalität des Schmerzes 129 Schmerzforschung 130–33 Schuld 32, 35, 61, 81–85, 156, 278 Seebund 9, 10, 13, 18–20 Selbstreflexivität 158–60, 163, 166 Sicherheit 15–17, 156 Siegerikonographie 285, 287 f., 291 Sieger und Opfer 278 Sklaverei 31 ff., 45, 54 Sparagmos 119 f., 157, 210
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Spektakel 19, 141, 190, 198 Stasis VI, 3, 15, 47 f., 103, 236 f., 250 Stichomythie/stichomythisch 106–09, 120 f., 182, 203, 209 Stilisierung 72, 139 f., 204 Theodizee 40–42 Tieropfer, 61, 64–68, 71, 74 f., 78–87, vgl. Opfer Triebbefriedigung 8 Vergeltung 15, 35, 37 f., 232, 251 Vergewaltigung 8, 35, 54, 60, 189 Verständnis, historisches 284–91 Vorstellungskraft 102, 186, 197 Vorteil 11–15, 289 Voyeurismus 194, 219, 250 Wahrnehmung 4 f., 16, 21, 25, 74, 141, 144, 156, 186–95, 205, 208, 211, 218, 246, 279, 293 Wirkungspotential, ästhetisches 259, 260, 291
Register der Autoren, Werke, biblischen und mythologischen Figuren (Peter Kahrs) Kursive Zahlen verweisen auf Anmerkungen auf der jeweiligen Seite. Nicht verzeichnet sind die Namen der Verfasser von Forschungsliteratur.
Achill V, 63, 70, 72, 124, 170, 224, 225, 228 f., 236, 238–40, 243, 245–47 Adeimantos 6 Adrastos 203 Agamemnon 67, 73, 100–02, 106, 113, 115, 120, 123, 134, 142, 161–63, 165, 172–74, 178 f., 181, 234 f., 239 f. Agathon 158 Agaue 155, 158, 199, 201, 213, 216 Aiakos 159 f. Aias 99, 103, 127, 238–42, 246, 249–51, 263 Aigisth IX, 79, 103, 106, 109 f., 117, 155, 161–65, 167, 171,282 f. Aigyptos 52 Ailianos 83 Aischylos 39, 51–55, 78, 80, 98, 102, 107 f., 125, 172 f., 181, 183, 193, 239, 240 – Agamemnon 67–74, 87, 99, 100, 101, 106 f., 111, 113, 115, 118, 120 f., 162 f., 171, 174, 178 f., 180, 186 – Athamas 253 – Bakchen 253 – Choephoren 103, 106, 117, 155, 161, 186 – Der gefesselte Prometheus 9, 126, 135, 198, 253 – Eumeniden VI, 48, 138, 202, 234, 237 f. – Hiketiden VIII, 52, 54, 99, 103, 155
– Myrmidonen 170 – Orestie VI, 48, 93, 99, 163, 165–67, 174, 183, 191, 202, 204, 253 – Pentheus 253 – Perser 10, 92, 98, 111, 138 – Philoktet 125 – Sieben gegen Theben 113, 114, 202 – Xantriai 253 Aithra 241 f. Aktaion 76, 272–74 Aladin 7 Alkaios 231, 251 Alkestis 103 Alkibiades 16, 23, 53–55 Alkman 251 Amasis 96, 97 Amazonen 256 f., 282 f. Anakreon 250 Andromache 102, 158, 248 Andromeda 158 Antenor 234, 241 f. Antigone IX, 99, 112 f., 171, 174–78, 181 f., 205 Antiphon 33, 35 Aphrodite 124, 170 Apollodor 171 f. Apollon 103, 159, 167, 170, 174, 180, 243 Archilochos 9 Ares 49, 63, 124, 170, 235 Ariadne 255
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Register der Autoren, Werke, biblischen und mythologischen Figuren
Aristogeiton V Ariston 35 Aristophanes 13, 21, 79, 125, 139, 141, 160 – Acharner 125, 157 – Frieden 160 – Frösche 125, 158–60 – Lysistrate 157, 253 – Ploutos (Der Gott des Reichtums) 9 – Ritter 10, 22, 239 – Thesmophoriazusen 125, 157 f. – Wespen 9, 13 f., 22 – Wolken 125 Aristoteles VIII, 31, 43, 60, 105, 114, 117, 237, 254 – Poetik 93–95, 105, 125 – Rhetorik 34, 95–97, 177 Artaud, Antonin 211 – Le théâtre et son double 192 f. Artemis 100, 103 Artemis Orthia 63, 67, 74–77 Artemis Tauropolos 75 Astyanax 102, 241, 242, 248, 251, 260, 261, 283 Athanasia 251 f. Athena V, 19, 48, 63, 234, 240, 242, 246, 251, 253 Atreus 117, 172, 174, 178, 181 Auge 125 Bakche(n) 199–201, 209, 216, 271 Benjamin, Walter – Ursprung des deutschen Trauerspiels 86, 191 f. Blumenberg, Hans – Schiffbruch mit Zuschauer 94 Boiotos 36 f. Bond, Edward 150–52 Brecht, Bertolt 164, 187, 192 Brook, Peter 150 Burckhardt, Jacob 40, 43 – Griechische Culturgeschichte 4, 23 Burkert, Walter 197 Homo Necans 84–86 Chrysothemis 162 Cicero 125
– An Atticus 94 – Gespräche in Tusculum 125 Crassus 213 Danae 174 Danaos 52, 54 f. Degas, Edgar 153 Deianeira 99, 112, 118, 142, 167 Deiphobos 241 Demodokos 39 Demosthenes 32 f., 34, 35, 36 f., 38 Descartes, René 132 Dikaiopolis 157 Diomedes 124 Dionysos 74 ff., 119, 156–59, 182, 184, 187, 198–201, 208 f., 215–17, 219, 253–55 Dorn, Dieter 213, 216 Douris 240, 269, 283 Elasteros 65 Elektra IX, 98 f., 107–09, 161–65, 167, 182 Empedokles 66, 85 Epiktet 94 Erinyen V, 48–51, 117, 155, 191, 253 Eros 156 Eteokles 236 Euadne 103 Euaion 36 f., 38 Eumeniden 191 Euphemos 16 Euphrantides 74 Euphronios 230, 272 Euripides 10, 23, 76, 79 f., 98, 106, 110, 124–26, 158, 203, 216 – Alkestis 10 – Andromeda 158 – Bakchen X, 98 f., 111, 113, 119–21, 155–59, 198–201, 208–14, 216 f., 219, 253 – Elektra 73, 79, 98, 106, 109 f., 161 – Helena 26, 158 – Hekabe 98, 106, 117, 125, 135, 145, 155 – Herakles 9 f., 113, 253 – Hiketiden 8, 10, 202
Register der Autoren, Werke, biblischen und mythologischen Figuren – Hippolytos 10, 99, 124, 136, 138 – Ion 10 – Iphigenie in Aulis 68, 74, 170 – Iphigenie bei den Taurern 67, 74, 76 – Ixion 125 – Medea 106, 107, 117 – Orestes 103, 155 ff., 167, 240 – Phoinissen 10, 79 – Rhesos 124, 136, 145 – Troerinnen 10, 98, 99, 102 Eurydike 99, 112 Eurystheus 45 Foucault, Michel 192 Freud, Sigmund 152 – Die Traumdeutung 184 Gandhi, Mahatma 62 Geryon 45, 124 Girard, René – La violence et le sacré 85 f., 182–84, 210 Glaukon 4–8, 11, 21 f., 25, 124 Goethe, Johann Wolfgang von V, 127 Golonka, Wanda X, 198, 205–08, 219 Gorgias 8, 24, 92, 93, 156 Grüber, Klaus Michael X, 198, 201, 203, 211, 219 Gyges VII, 5–8, 11, 21 Haimon 99, 112, 176 f. Harmodios V Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 175 – Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie 42 Hekabe 142, 145 Hektor 170, 224, 225, 228 f., 243–45 Helena 156, 158, 235, 241 f. Hephaistos 32 f., 126 Hera 253 Herakles 45 f., 93, 104, 118, 124, 136, 138 f., 142–46, 167, 236, 279–81 Heraklit VIII, 34, 39–44 Herder, Johann Gottfried 127 Herodot 8, 11 f., 21 f., 63, 93, 97, 105, 233, 253, 254 Hesiod 39, 42, 44, 52, 81
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– Theogonie 169 – Werke und Tage 233 Hippasos 254 f. Hippias 22, 54 Hippokrates 133, 142 Hippolytos 103, 111, 124, 136, 138 f., 142 f., 144 Hobbes, Thomas 44 Hofmannsthal, Hugo von – Elektra 152, 161 Hölderlin, Friedrich – Anmerkungen zum Ödipus 196 f. – Anmerkungen zur Antigonä 178, 182, 205 Homer VIII, 8, 39–42, 51, 81, 123, 132, 154, 170, 240 – Ilias 83, 123 f., 170, 228 f., 234 f., 236, 243, 245, 254 – Odyssee VI, 39, 124, 172, 174, 228 Horaz 94, 104 – Ars poetica 105 Humboldt, Wilhelm von V Hybrias 10 Hyllos 111, 145 Hypnos 229 f. Ibsen, Henrik 153 – Gespenster 152 Ilioupersis 246, 249 Io 126 f., 135 f., 139, 142, 145 Iokaste 99, 111, 114, 165, 167 Iphidamas 234–36 Iphigenie VIII, 61, 63, 65, 67–76, 78–80, 82, 87, 100–02, 172 f., 178–80 Isaak 79 Ismene 113, 175–77 Isokrates 19, 33 Itys 180 Ixion 125, 251 Jack the Ripper 152 Jason 117 Jessner, Leopold 187 Jesus Christus 146 Kadmos 113, 199 f., 208, 216 Kalchas 74
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Register der Autoren, Werke, biblischen und mythologischen Figuren
Kallikles 22, 39, 46 f., 54 Kallimachos 68 Kant, Immanuel – Kritik der Urteilskraft 195 Kassandra 68, 113, 115, 117, 120, 155, 171–73, 178–81, 241, 249, 251, 263 Kimon 23 Kleisthenes V, 156 Kleon 24, 168 Klytaimestra IX, 73, 76, 103, 108, 111, 113, 116 f., 120, 161–63, 171–75, 179 Konon 35 Koon 234–36 Krafft-Ebing, Richard von 152 Kratos 126 Kreon 112, 175, 177, 205 Kritias 15 Kroisos 231 Kronos 169 Kubrick, Stanley – The Shining 212, 216, 218 Kyknos 279–81 Leodamas 36 Leontius 156 Lesis 59 f., 77 Lessing, Gotthold Ephraim 127, 140 Leukippe 254 f. Ligeti, György 207 Lösch, Volker 204 Lukrez 73, 93 f. Lumet, Sidney 216 Lykurg 254 Lyotard, Jean-François – L’inhumaine 196 Mänaden 210, 254–56 Marsyas 291 Marthaler, Christoph 209 Medea 104 f., 107, 117 f. Medusa 117 Meidias 36 Melanippos 251 f. Memnon 225 Menelaos 134, 142, 234, 242 Menoikeus 79 Minotauros 262–64, 281, 292
Mnesilochos 155 Moiren 49 Müller, Heiner 212 Nel, Christof X, 198, 213–19 Neoptolemos 70, 134 f., 145, 240, 242, 261, 263, 282 f. Nessos 124, 142 Nikarchos 157 Nietzsche, Friedrich V, 7, 22, 40, 79 – Der griechische Staat 43 – Die Geburt der Tragödie 184 – Götzen-Dämmerung 3 f., 26 Niobe 125, 174 Nordau, Max 152 Nübling, Sebastian X, 198, 208 f., 211, 219 Odysseus 142, 172, 234, 238 f., 240, 242 Oidipus 93, 99, 111, 113 f., 127, 139, 155, 175, 177, 182 Onesimos 241 Orest 76, 79, 103, 108–10, 117, 155, 160, 162–67, 253, 282 Orodes 213 Orpheus 253, 274 f., 281, 283 Otanes 8, 11 Ovid 68 Paian 101 Paris 124, 156, 234 Patroklos 243, 245 Pausanias 77, 83, 234 Pelasgos 54 f. Penelope 172 Pentheus 76, 111, 119 f., 157 f., 198–201, 208–10, 212, 213, 215–18, 254 f., 257, 271 f. Perikles 13 f., 16, 21, 23, 53 f. Perseus 117 Phaidra 143 Phainias von Eresos 74 f. Philoktet 99, 124 f., 127, 129, 134 f., 136–40, 142–45 Philomena 180 Phrynichos 93, 105 – Die Einnahme von Milet 92
Register der Autoren, Werke, biblischen und mythologischen Figuren – Phoinissen 92 Pindar VIII, 39, 45–47, 52, 73 – Pythien 73 Pittakos 251 Platon 11 f., 39, 46, 60, 97 – Gesetze 26 – Gorgias 7 f., 10, 22, 23, 24, 46, 54 – Protagoras 22 – Staat VII, 4–6, 11 f., 13, 21, 26, 92, 93, 97, 156 Plutarch 77, 125, 213 – Themistokles 74 Pollesch, René 209 Polos 7 f., 22 f., 24 Polymestor 117, 125, 127, 135 f., 139 f., 143, 155 Polyneikes 236 Polyxena VIII, 63, 70 ff. Porphyrios 83 Priamos 120, 124, 241, 242, 246, 248, 249, 251, 261–63, 282 f., 292 Prometheus 81, 103, 127, 142, 155, 198, 251 Psammenitos 97 Pseudo-Longin – Vom Erhabenen 195 Pseudo-Xenophon – Der Staat der Athener 13, 14, 20, 21 Pylades 163, 167 Reinhardt, Max 187 Rousseau, Jean-Jacques – Le Contrat Social 44 Sarpedon 229 f., 247 Schechner, Richard – Dionysos in 69 201 Schiller, Friedrich von V, 196 – Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen 91, 122, 185 Schleef, Einar X, 198, 203 Mütter 202–204, 218 f. Schlegel, August Wilhelm V, 79 Schopenhauer, Arthur Die Welt als Wille und Vorstellung 42 Schrott, Raoul 213 Sebastian, Heiliger 146
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Seneca 73, 104, 174 – Agamemno 73 Shakespeare, William 104, 154, 174, 193 – Hamlet 184 – King Lear 149–51 Shaw, George Bernard – Mrs Warren’s Profession 153 f. Simonides 13 Skamander 170 Sokrates 6–8, 22 f., 46 Solon 9, 39, 42, 44, 46, 47, 52, 231, 234 Sophokles 9. 94, 98, 99, 106–08, 125–27, 132, 163 f., 171, 174 f., 176 f., 180, 183, 193, 196 – Aias 85, 99, 115, 155, 240, 253, 254 – Antigone 10, 99, 112, 167, 176, 177 f., 181 f., 205–08, 213 – Elektra IX, 73, 103, 106, 107, 160–68, 182 – König Ödipus 93, 103, 111, 114, 126, 155 – Niobe 103 – Philoktet IX, 103, 124, 127, 132, 134, 136–39, 143–45 – Trachinierinnen IX, 111, 112, 118, 124, 136–38, 143–45 Stein, Peter 198, 202 f. Stesichoros 124, 250 Stirner, Max – Der Einzige und sein Eigentum 54 Strauss, Richard 161 Stuart, Meg 209 Szeiler, Josef – Massaker Mykene 204 Tate, Nahum 149 Teiresias 199 f., 208, 217 Tekmessa 115 Tereus 180 Tertullian – Verteidigung des Christentums 146 Teukros 115 Thanatos 229 f. Theanos 241 Themistokles 23, 74 Theognis 231
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Register der Autoren, Werke, biblischen und mythologischen Figuren
Theomachos 119 Theophrast 83 Theseus 203, 262, 281 Thetis 245 Thrakerinnen 274, 281 Thrasymachos 13, 39 Thukydides 14–17, 21, 23 f., 168, 233, 254 – Historien VII, 10–17, 18, Thyestes 117, 172 Tibull 94 Timokles 93 Troilos 224, 225 Trygaeus 160 Tydeus 251 f. Tyrtaios 231
Weininger, Otto 152 Werner, Oskar 180 Wieler, Jossi X, 198, 213–19 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 46 – Kleine Schriften 72 Wilde, Oscar – Salomé 154 Winckelmann, Johann Joachim 127, 140, 161 Woolf, Virginia 131 f. – On being ill 132
Vergil 236
Xanthias 158 f. Xenokles 59 f. Xenophanes 231, 250 Xenophon 15, 26, 76 f. – Hellenika 15 – Hieron 13 – Memorabilien 53
Waltz, Sasha 209 Weber, Max – Wirtschaft und Gesellschaft 25
Zeus 9, 55, 112, 142, 191, 230, 237, 242, 246 Zeus Polieus 83
Uranos 169