Thomas Haipeter · Klaus Dörre (Hrsg.) Gewerkschaftliche Modernisierung
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Thomas Haipeter · Klaus Dörre (Hrsg.) Gewerkschaftliche Modernisierung
Thomas Haipeter Klaus Dörre (Hrsg.)
Gewerkschaftliche Modernisierung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. 1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Frank Engelhardt / Cori Mackrodt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17753-3
Inhalt
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Inhalt
Thomas Haipeter Einleitung: Interessenvertretungen, Krise und Modernisierung – über alte und neue Leitbilder
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Teil I Erneuerungsansätze in der Metall- und Elektroindustrie Thomas Haipeter Tarifabweichungen, Betriebsräte und Gewerkschaften − Modernisierungschancen in lokalen Konflikten
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Antonio Brettschneider / Tabea Bromberg / Thomas Haipeter Betriebsräte mit Rückenwind? Chancen und Ambivalenzen betrieblicher „Besser“-Strategien für Arbeitspolitik und Interessenvertretungen
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Steffen Lehndorff „Besser statt billiger“ als Türöffner zur Stärkung der Gewerkschaft? Anregungen aus einer gewerkschaftlichen Innovationskampagne für die „Trade union revitalisation studies“
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Wolfgang Nettelstroth / Gabi Schilling / Achim Vanselow Betriebliche Mitbestimmung und die gewerkschaftlichen Modernisierungskampagnen der IG Metall Nordrhein-Westfalen
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Detlef Gerst / Klaus Pickshaus / Hilde Wagner Revitalisierung der Gewerkschaften durch Arbeitspolitik? Die Initiativen der IG Metall – Szenario für Arbeitspolitik in und nach der Krise
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Inhalt
Teil II Prekäre Beschäftigungsverhältnisse und Arbeitskämpfe Hajo Holst / Ingo Matuschek Sicher durch die Krise? Leiharbeit, Krise und Interessenvertretung
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Sarah Bormann Organisierung durch Kampagnen am Beispiel Schlecker und Lidl
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Ingrid Artus Gewerkschaftliche Interessenvertretung im Niedriglohnsektor und der Streik der französischen Travailleurs sans papiers
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Heiner Dribbusch Organisieren am Konflikt: Zum Verhältnis von Streik und Mitgliederentwicklung
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Teil III Funktionswandel der Gewerkschaften Klaus Dörre Funktionswandel der Gewerkschaften. Von der intermediären zur fraktalen Organisation
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Autorenverzeichnis
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Einleitung
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Thomas Haipeter
Einleitung: Interessenvertretungen, Krise und Modernisierung – über alte und neue Leitbilder Einleitung
Die 1980er Jahre waren für die Forschung über industrielle Beziehungen in Deutschland wegweisend. Denn in dieser Phase wurde in der Forschung ein Bild der industriellen Beziehungen und ihrer Akteure – und unter diesen vor allem der Interessenvertretungen der Arbeitnehmer/innen – entworfen, das bis heute die Sichtweise der deutschen industriellen Beziehungen prägt. Kernmerkmale dieses Bildes sind die Dualität tariflicher und betrieblicher Handlungs- und Regulierungsarenen, die Intermediarität der kollektiven Akteure und die korporatistische Form ihrer Interessenvertretungspolitik (Müller-Jentsch 1997). Die Dualität zwischen Gewerkschaften und Betriebsräten resultiert in diesem Bild daraus, dass die Betriebsräte, rechtlich gestützt durch das Betriebsverfassungsgesetz, die betriebliche Ebene der Interessenvertretung bilden, während die Gewerkschaften die Interessen ihrer Mitglieder auf der Ebene der Tarifautonomie und damit über- und auch zu einem guten Teil außerhalb der Betriebe verfolgen und durchzusetzen versuchen. Zwar gab es zumindest bei den großen Industriegewerkschaften den Versuch, die Gewerkschaftsorganisation über Vertrauensleute in den Betrieben zu verankern. Doch haben die Vertrauensleute die ihnen ursprünglich zugedachte Rolle, Konkurrenzorganisation der formal von den Gewerkschaften unabhängigen Betriebsräte zu sein, nie übernehmen können. Vielmehr sind sie zum „verlängerten Arm der Betriebsräte“ (Schmidt und Trinczek 1999) in den Betrieben mutiert. Den Gewerkschaften war es nämlich gelungen, die Betriebsräte zu „vergewerkschaften“, ein Prozess, der seinen Ausdruck in hohen gewerkschaftlichen Organisationsgraden der Betriebsräte von etwa 80% fand. Von diesem Augenblick an haben die Gewerkschaften den Konkurrenzgedanken zu den Betriebsräten aufgegeben, und der strategische Stellenwert der Vertrauensleuteorganisationen nahm ab. Erschwerend kam hinzu, dass in den Gewerkschaften lange Jahre die Tarifpolitik und die Aushandlung überbetrieblicher Kollektivverträge als strategische Kernkompetenz galten. Eine eigenständige Betriebspolitik der Gewerkschaften gab es deshalb faktisch nicht, oder wenn, dann nur in Form einer Unterstützung für Betriebsräte insbesondere der
T. Haipeter, K. Dörre (Hrsg.), Gewerkschaftliche Modernisierung, DOI 10.1007/978-3-531-93332-0_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Großunternehmen, die wiederum ihrerseits in den Gewerkschaften einen erheblichen Einfluss entwickelt hatten. Betriebsräte und Gewerkschaften spalteten sich also faktisch in eine betriebliche und eine überbetriebliche Interessenvertretung auf. In diesem Zusammenhang haben sich bestimmte Muster der Arbeitsteilung oder der Leistung und Gegenleistung zwischen beiden Interessenvertretungen eingespielt, die in der Literatur gut belegt worden sind (so Streeck 1979). Zu ihnen gehört, dass die Gewerkschaften die Betriebsräte in Tarif- oder anderen Fragen beraten und sie bei der Lösung von Problemen unterstützen sowie vor allem auch, dass sie die gewerkschaftlich organisierten Betriebsräte schulen und für ihre betrieblichen Aufgaben ausbilden. Zudem kann auch der Tarifvertrag als Leistung der Gewerkschaft für die Betriebsräte betrachtet werden, weil er die Betriebsräte davon entlastet, bestimmte Themen mit dem Management verhandeln zu müssen, die im Tarifvertrag abschließend geregelt sind, oder auch, weil er den Betriebsräten einen konkreten Handlungsauftrag mit definiertem und legitimiertem Handlungsrahmen gibt. Tarifnormen setzen materielle und prozedurale Standards, die den Betriebsräten als normatives Fundament und als Leitplanken ihres Handelns dienen und ihnen damit Sicherheit gerade auch gegenüber dem Management geben. Auf der anderen Seite erbringen die Betriebsräte auch wichtige Leistungen für die Gewerkschaften. Von zentraler Bedeutung für die Gewerkschaft sind darunter zunächst die Umsetzung der Tarifvertragsnormen und ihre Überwachung. Die Betriebsräte sind die „Controller“ der Tarifverträge im Betrieb. In Betrieben, in denen keine Betriebsräte existieren, gibt es niemanden, der die Einhaltung der Tarifnormen einfordern könnte oder würde. Zumindest ebenso vital für die Gewerkschaften ist die Aufgabe der Mitgliederrekrutierung und -mobilisierung durch die Betriebsräte. In Betrieben ohne Betriebsräte findet keine systematische Mitgliederwerbung statt, weil die Gewerkschaft hier nicht präsent ist. Nur Betriebsräte können im Betrieb Verfahren entwickeln, mit deren Hilfe sie die Beschäftigten für die Gewerkschaft systematisch werben, sei es durch den obligatorischen Besuch neu eingestellter Beschäftigter beim Betriebsrat oder durch Besuche und Gespräche mit den Beschäftigten am Arbeitsplatz. Zugleich sind es die Betriebsräte, die bei Streiks die Mitglieder mobilisieren und Streikaktionen mit organisieren oder begleiten. Die Gewerkschaft könnte ohne die Betriebsräte also auch nicht systematisch ihre Organisationsmacht im Konflikt ausschöpfen. Allerdings gibt es keine effektiven Kontrollmöglichkeiten der Gewerkschaft, die dafür sorgen könnten, dass die Betriebsräte diesen Aufgaben auch wirklich nachkommen. Bosch et al. (1999) sprechen deshalb von einer strukturellen Asymmetrie zwischen Gewerkschaften und Betriebsräten; die Gewerk-
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schaften brauchen demnach die Betriebsräte stärker als umgekehrt. Und in der Praxis sind die Beziehungsmuster zwischen gewerkschaftlichen und betrieblichen Interessenvertretungen zudem sehr unterschiedlich ausgeprägt. Von den sechs betrieblichen Interaktionsmustern, die Bosch et al. (1999) unterscheiden, zeichnen sich nur zwei durch eine enge Beziehung zwischen Gewerkschaften und Betriebsräten aus, Betriebsräte sind dabei „Avantgarde“ oder „verlängerter Arm“ der Gewerkschaften im Betrieb. Die von den Autoren als Normalform bezeichnete integrationsorientierte Kooperation hingegen kennt die Gewerkschaft vor allem als Service-Institution partikularistisch orientierter Betriebsräte. Trotz ihrer unterschiedlichen Rollen wurden Gewerkschaften und Betriebsräten in dem Bild des dualen Systems weitgehende Übereinstimmungen in ihrer Funktionslogik zugeschrieben, die wiederum aus empirisch gesättigten Annahmen über ihre Handlungsorientierungen als kollektive Akteure abgeleitet wurden. Gewerkschaften und Betriebsräte sind in dieser Lesart intermediäre Akteure in korporatistischen Beziehungsmustern (so Müller-Jentsch 1995). Intermediär sind die Interessenvertretungen demnach deshalb, weil sie sich nicht auf die Vertretung von Arbeiterinteressen alleine beschränken, sondern weil sie stets auch die Interessen der Kapitalseite in ihre Handlungsstrategien inkorporieren. Dazu gehört im Falle der Gewerkschaften beispielsweise, dass sie Tarifforderungen an volkswirtschaftliche und branchenbezogene Daten der Inflations- und Produktivitätsentwicklung anlehnen. Im Falle der Betriebsräte besteht nach Betriebsverfassungsgesetz sogar die rechtliche Verpflichtung, das betriebswirtschaftliche Wohl des Unternehmens zu beachten. Intermediarität bedeutet damit sowohl die Anerkennung der Interessen der anderen Seite als auch die Suche nach Kompromisszonen schon bei der Formulierung der eigenen Handlungsziele. Dabei liegt auf der Hand, dass Intermediarität in diesem Sinne nur funktionieren kann, wenn sie auch von beiden Seiten der Arbeitsbeziehungen, also auch von Arbeitgeberverbänden und Unternehmen, praktiziert wird. Das Konzept der Intermediarität hat noch weitere wichtige Implikationen. Zwar folgt aus der Intermediarität nicht zwingend, dass Arbeitsbeziehungen bestimmten Interaktionsmustern folgen müssten; sowohl Konflikt als auch Kooperation sind damit verträglich. Wohl aber ist wahrscheinlich, dass sich unterschiedliche Mischungsverhältnisse einspielen, die mit Müller-Jentsch (1993) unter das gemeinsame Muster der „Konfliktpartnerschaft“ subsumiert werden können. Interessenvertretungen sind konfliktfähig und müssen es zumindest potenziell sein, um als kollektiver Akteur von der anderen Seite anerkannt zu werden. Die Inkorporierung der Interessen der anderen Seite lässt aber stets Raum für Kompromisse und kooperative Lösungen. In diesem Zusammenhang ist es von zentraler Bedeutung, dass gewerkschaftliche und betriebliche Interessenvertretungen repräsentative Akteure sind. Das Bild der intermediären Organisation
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unterstellt ihnen dabei ein Mindestmaß an Unabhängigkeit von den unmittelbaren und individuellen Interessen ihrer Mitglieder. Voraussetzung dafür ist, dass sie als Organisationen so gefestigt – oder mit Briefs (1952) könnte man sagen: befestigt – sind, dass sie kollektive Interessen selbständig formulieren und artikulieren können, ohne dabei Gefahr zu laufen, ihre Legitimität gegenüber ihren Mitgliedern und damit die Basis ihrer Organisationsmacht zu verlieren. Die weitgehende Unabhängigkeit von Fragen der Organisationsmacht und der Mitgliederrekrutierung macht die Gewerkschaften als kollektive Akteure kompromiss- und auch verpflichtungsfähig gegenüber Arbeitgeberverbänden oder Management und steigert in dieser Lesart zugleich die Effektivität, mit der sie verhandeln können (Weitbrecht 1969). Intermediarität ist deshalb nur mit korporatistischen Akteuren möglich, die als „private Interessenregierungen“ (Streeck und Schmitter 1985) kollektive Interessen definieren und machtvoll in einem eingespielten Kompromissrahmen durchsetzen können. Im Umkehrschluss bedeutet dies freilich auch, dass die Mitglieder der Gewerkschaft oder die Beschäftigten als Wähler der Betriebsräte relativ wenige Einflussmöglichkeiten auf die konkrete Ausgestaltung von Strategien, auf Verhandlungen oder auf Entscheidungen haben. Die verschlossenen Türen, hinter der Betriebsräte mit dem Management einen Sozialplan verhandeln oder Gewerkschaften und Arbeitgeber einen Tarifvertrag, sind deshalb ein augenfälliges Symbol für die „Marginalisierung der Belegschaften“ (Schmidt und Trinczek 1999) in korporatistischen Politikprozessen. Deshalb ist eine weitere wichtige Implikation – oder genauer gesagt eine zentrale Voraussetzung – für die Intermediarität von Interessenvertretungen schließlich die, dass sie als Organisationen umfassend sind. Umfassend bedeutet an dieser Stelle zweierlei. Damit ist erstens gemeint, dass die Interessenvertretungen eine stabile Organisationsmacht haben, die sie zu ernstzunehmenden Verhandlungsakteuren macht. Wenn Betriebsräte nur eine schwache Zustimmung in der Belegschaft haben, gibt es für das Management keine Veranlassung, seine Interessen an Betriebsräten auszurichten. Und falls Gewerkschaften kaum Mitglieder haben oder diese nicht mobilisieren können, haben die Arbeitgeberverbände entweder leichtes Spiel oder, was wahrscheinlicher ist, übernehmen die Unternehmen die Verhandlungsführung, und es kommt kein überbetrieblicher Tarifvertrag mehr zu Stande. Zweitens meint umfassend auch, dass Gewerkschaften und Betriebsräte als organisationsmächtige Akteure auch durchgängig verbreitet sind. Gewerkschafts- und betriebsratsfreie Zonen in einer Branche oder in einer Volkswirtschaft unterminieren korporatistische Interaktions- und Regulierungsformen. Denn zum einen lässt sich dann nicht mehr das Bild eines Modells zeichnen, das die Arbeitsbeziehungen eines Landes prägt, weil neben dem korporatistischen auch andere Modelle existieren. Und zum anderen ist es wahrschein-
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lich, dass sich Konkurrenzprozesse zwischen stärker und schwächer regulierten Modellen innerhalb oder zwischen den Branchen einspielen, weil die Unternehmen darauf drängen werden, die für sie günstigeren – und für die Beschäftigten ungünstigeren – Arbeitsstandards einzuführen. Dies wiederum setzt starke Anreize für die Unternehmen, ihre intermediären Orientierungen aufzugeben. Das Bild eines dualen, auf intermediären Verbänden mit korporatistischen Handlungsmustern beruhenden einheitlichen Systems der industriellen Beziehungen fußt auf der Analyse historischer Entwicklungen der 1970er und 1980er Jahre. Zu diesen Entwicklungen gehörten folgende Punkte:
Industriegewerkschaften, die – wenn auch im internationalen Vergleich keine hohen, so aber doch relativ stabile – Organisationsgrade von über 30% aufwiesen und die zumindest in ihren Kernbranchen des industriellen Sektors handlungs- und konfliktfähig waren; Arbeitgeberverbände, die mit einem Organisationsgrad nach Beschäftigten von um die 80% eine fast umfassende Tarifbindung garantierten, weil die Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband die Mitglieder zur Anwendung der Tarifnormen verpflichtete; eine Dynamik des Pattern Bargaining, bei dem durchsetzungsstarke Gewerkschaften in einigen Industriebranchen Tarifnormen aushandelten, die dann von anderen Branchen mit eher schwächeren Gewerkschaften nachvollzogen wurden, was dazu führte, dass die Lohnspreizung zwischen den Branchen sich nicht ausweitete (ohne dass jedoch Differenzen eingeebnet worden wären); eine von den Gewerkschaften geforderte und durchgesetzte explizite Orientierung der Tarifsteigerungen an der Produktivitätsentwicklung im Sinne eines fordistischen Lohnkompromisses; eine starke Verbreitung von Betriebsräten in Großbetrieben, die in wirtschaftlich erfolgreichen Betrieben übertarifliche Leistungen aushandeln konnten; eine „Vergewerkschaftung“ der Betriebsräte im Sinne eines hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrades der Betriebsräte von rund 80%; die Herausbildung korporatistischer Konfliktmuster zwischen Kapital und Arbeit auf tariflicher und betrieblicher Ebene.
Das Bild des einheitlichen Systems wurde auch dadurch geschärft, dass Phänomene und Entwicklungen nicht als strukturbestimmend gewertet wurden, die nicht so recht in diese Systemkonstruktion der industriellen Beziehungen passen wollten. Zu denken ist hier beispielsweise an die teilweise dominierende Rolle von Betriebsräten wichtiger Großbetriebe in einzelnen Gewerkschaften oder die
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vitale Schwäche der Gewerkschaften in vielen Branchen und Betrieben des privaten Dienstleistungssektors, die nur durch die mit dem wirtschaftlichen Wachstum entstandenen Verteilungsspielräume und durch staatliches Handeln insbesondere in Form der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen überdeckt wurde. Das Interpretationsmuster der intermediären Interessenvertretungen war zudem von zwei weiteren Eindrücken jener Zeit geprägt. Der erste Eindruck betraf die informellen Streiks der frühen 1970er Jahre um Lohnerhöhungen und die Tatsache, dass es den Gewerkschaften schließlich gelungen war, die Kontrollprobleme auf betrieblicher Ebene zu lösen und die Arbeitskonflikte wieder auf die überbetriebliche Ebene zu verlagern. In diesem Zusammenhang war zudem die Idee aufgekeimt, die Tarifpolitik stärker auf den Betrieb hin zu orientieren; auch diese Entwicklung war von den Gewerkschaftszentralen – sowie auch von den daran nicht interessierten Betriebsräten der industriellen Großbetriebe – abgewehrt worden. Im Ergebnis wurde die Macht der Gewerkschaftszentralen gegenüber Betrieben und Mitgliedern gestärkt. Das Bild intermediärer und korporatistischer Akteure konnte deshalb als Kontrollgewinn und Rationalisierung der Interessenvertretungsorganisationen gedeutet werden. Als zweiter Eindruck kam hinzu, dass seit den frühen 1980er Jahren die Interessenvertretungen der Arbeitnehmer in anderen Ländern wie den USA oder Großbritannien stark in die Defensive geraten waren und mit Einfluss- und Mitgliederverlusten zu kämpfen hatten, während sie in Deutschland weiterhin als handlungsmächtig bezeichnet werden konnten. Weil die deutsche Exportindustrie im Verlauf der 1980er Jahre trotzdem beeindruckende Weltmarkterfolge verbuchen konnte, wurde dem deutschen System der industriellen Beziehungen im internationalen Vergleich zunehmend eine Vor- und Leitbildfunktion zugeschrieben, da es Wettbewerbsfähigkeit und gute Lohn- und Arbeitsbedingungen – oder wirtschaftliche und soziale Vernunft – zu verbinden und damit den Konflikt zwischen Lohn- und Profitinteressen im Sinne eines Positivsummenspiels zu entschärfen schien. Das Bild intermediärer Kollektivakteure mit korporatistischen Handlungsmustern in einem dualen Beziehungsgefüge war damit eine zwar naheliegende, aber durch und durch historische Zustandsbeschreibung der deutschen industriellen Beziehungen der späten 1970er und frühen 1980er Jahre. Dennoch entwickelte dieses Bild rasch einen Bedeutungsüberschuss, weil es zunehmend als das Modell der deutschen industriellen Beziehungen gehandelt und weil es als rationales, Ordnung erzeugendes System sowie auch als Leitbild industrieller Beziehungen normativ aufgeladen wurde. Dies hatte die für die weitere Forschung der industriellen Beziehungen weitreichende Konsequenz, dass die Veränderungen, die sich seit den frühen 1990er Jahren immer schärfer abzeichneten, kaum anders denn als Niedergang oder Erosion des Systems gedeutet werden konnten (siehe
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dazu den Schlussbeitrag von Dörre in diesem Band). Im Einzelnen sind in diesem Zusammenhang folgende Veränderungen zu nennen:
der Absturz des gewerkschaftlichen Organisationsgrades von knapp 35% Mitte der 1980er Jahre bis auf weniger als 20% in 2010; der Rückgang der Tarifbindung der Beschäftigten von etwa 80% in den 1980er Jahren auf nur mehr 65% in Westdeutschland; korrespondierend eine Abnahme des Organisationsgrades der Arbeitgeberverbände, verbunden mit der Gründung von Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung, in denen die Pflicht zur Anerkennung der Branchentarifnormen für die Mitglieder nicht gilt (Haipeter 2010); der Rückgang der durchschnittlichen Lohnsteigerungen auf etwa die Höhe des Inflationsniveaus und die Umverteilung von Löhnen zu Profiten; die wachsende Kluft der Lohnstandards zwischen Industriebranchen (und Banken) und anderen Dienstleistungsbranchen, die eine Konkurrenz zwischen Branchentarifen an bestimmten Schnittstellen fördert (zum Beispiel bei Dienstleistungsbeschäftigten in der Industrie); die Dezentralisierung kollektivvertraglicher Regulierungen, ablesbar an der Ausbreitung betrieblicher Beschäftigungsbündnisse in den 1990er Jahren und der von den Tarifvertragsparteien legitimierten Tarifabweichung im Sinne einer betriebsbezogenen Unterschreitung von Tarifnormen; die Ausbreitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse in der Leih- und Zeitarbeit oder in Form von Minijobs sowie die Entstehung eines Niedriglohnsektors in tariflich nicht oder nur schwach regulierten Bereichen (Bosch und Kalina 2008).
Die Liste könnte noch erweitert werden, beispielsweise um das Phänomen der Gewerkschaftskonkurrenz zwischen Industrie- und Berufsgewerkschaften, das sich zumindest für einige Berufsgruppen entwickelt hat, die eine hohe tarifpolitische Organisationsmacht aufweisen. So oder so lässt sich nur noch unter dem Vorbehalt von einem „System“ der industriellen Beziehungen sprechen. Vielmehr können damit sehr heterogene und im Einzelnen möglicherweise auch gegenläufige Entwicklungen verbunden und die Einheitlichkeit eines dominierenden Musters nur noch schwer auszumachen sein. Sicher, rechtliche Institutionen wie die Tarifautonomie und die Betriebsverfassung existieren nach wie vor. Deshalb besteht das System in seiner formalen Hülle fort. Und diese formale Hülle wird, wie das Betriebsverfassungsgesetz vor fast zehn Jahren, sporadisch auch durchaus weiterentwickelt. Aber es sind ernste Zweifel angebracht, ob die Akteure der industriellen Beziehungen, und unter ihnen eben vor allem die Interessenvertretungen, das System noch tragen, wei-
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terentwickeln und damit die Rechtsnormen auch faktisch umsetzen können. Die Normen räumen nämlich jeweils nur die Möglichkeit ein, dass Gewerkschaften Tarifverträge abschließen oder dass Betriebsräte gewählt werden und dann auch Mitbestimmungsrechte ausüben. Ob und wie dies tatsächlich geschieht, ist eine zweite Frage, die mit der Gesetzgebung wenig zu tun hat, sondern die einzig davon abhängt, ob die Interessenvertretungen kollektive Interessen der Arbeitnehmer in einer Weise organisieren und mobilisieren, dass sie kollektivvertragliche Arbeitsnormen aushandeln und diese auch durchsetzen können. Die Organisierung und Mobilisierung dieser Interessen aber gelingt offensichtlich immer weniger. Oder anders formuliert: Sie werden plötzlich zu einer Herausforderung für die Interessenvertretungen, deren Bearbeitung mit dem Handlungsmuster intermediärer und korporatistischer Akteure schwer vereinbar ist, da das ja gerade darauf beruht, sich um die Mitglieder und ihre Interessen kaum kümmern zu müssen. Die Erosion des alten Modells – genauer gesagt der Wandel weg von den Strukturen und Handlungsmustern der 1980er Jahre – vollzieht sich freilich nicht überall in gleicher Weise und Intensität. So lässt schon ein oberflächlicher Blick erkennen, dass die institutionellen Pfeiler des deutschen Systems der industriellen Beziehungen in den industriellen Kernzonen der deutschen Exportwirtschaft noch immer stark verankert sind. In den Industriebranchen sind die Gewerkschaften weiterhin recht gut organisiert, haben Tarifverträge noch eine stärkere Bindekraft, können höhere Lohnabschlüsse durchgesetzt werden und sind Betriebsräte weiter verbreitet und besser gewerkschaftlich organisiert als in den meisten anderen Branchen. In vielen Branchen der privaten Dienstleistungen aber finden sich demgegenüber die Spuren des alten Modells an manchen Stellen nur noch rudimentär. Hier entfaltet das alte Muster immer weniger Handlungsrelevanz. Aber auch in seinen industriellen Kernzonen hat sich das Zusammenspiel zwischen den Ebenen des Systems deutlich gewandelt. Die Dezentralisierung des Tarifsystems ist hier inzwischen weit fortgeschritten, sei es informell über betriebliche Beschäftigungsbündnisse, in denen häufiger tarifliche Arbeitsstandards unterschritten werden (dazu Rehder 2003), oder sei es formell über Tarifabweichungen, die durch Regelungen in den Flächentarifverträgen legitimiert werden. Und Krisenphänomene wie Mitgliederrückgang und abnehmende Tarifbindung sind auch in diesen Zonen verbreitet. Mit Blick auf die Interessenvertretungen sind die Befunde eindeutig. Das Leitbild intermediärer und koporatistischer Verbände erreichen sie kaum noch. Und es darf mit guten Gründen bezweifelt werden, ob es für sie von Vorteil wäre, wenn sie diesem Ideal weiterhin nacheifern würden. Durch den Mitgliederrückgang sind die Gewerkschaften nicht mehr umfassend. In traditionsreichen Branchen des privaten Dienstleistungssektors wie dem Einzelhandel sind sie nur
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noch so schwach vertreten, dass sie die Unternehmen nicht mehr in die Flächentarifverträge zwingen können oder überhaupt keine Flächentarifverträge mehr abschließen können, und in vielen neu entstehenden Branchen wie dem ITGewerbe oder der Gebäudereinigung konnten sie sich nie als kollektive Akteure und als ernstzunehmende Arbeitsmarktpartei etablieren. Auch in den Kernsektoren der Industrie müssen sie Mitgliederrückgänge hinnehmen, vor allem, weil es ihnen – aus welchen Gründen auch immer – nicht gelingt, die wachsende Gruppe der Angestellten zu organisieren. Immerhin sind sie hier, zumindest in ihren westdeutschen Kernzonen, noch handlungs- und mobilisierungsfähig. Der gescheiterte Kampf der IG Metall um die Arbeitszeitverkürzung in der ostdeutschen Metallindustrie des Jahres 2003 hat allerdings gezeigt, dass dies für Ostdeutschland allenfalls bedingt gilt. Mit der Schwächung der Gewerkschaften sinkt der Druck auf die Unternehmen, die Tarifvertragsnormen anzuwenden oder sich überhaupt in den Arbeitgeberverbänden zu organisieren. Der Verlust an Umfassendheit stellt deshalb zugleich die Intermediarität der Gewerkschaften in Frage. Denn die Unternehmen verspüren ihrerseits weniger äußeren Druck, die Interessen der Gewerkschaften oder der Betriebsräte in ihre Handlungsstrategie zu inkorporieren. Mehr noch, marktzentrierte Steuerungsformen und neue Leitbilder des Shareholder Value gehen mit einer durchgreifenden kognitiven Neuorientierung des Managements einher, in der menschliche Arbeit nicht als Ressource, sondern als Kostenfaktor betrachtet wird und in der ein Unternehmen wenig mehr ist als ein dauernd zu optimierendes Portfolio auswechselbarer Geschäftseinheiten. Restrukturierungen, Auslagerungen und Verlagerungen an kostengünstige Auslandsstandorte, aber auch der vermehrte Einsatz prekärer Beschäftigungsformen fungieren als systematische Instrumente der Unternehmensleitungen zur Disziplinierung der Interessenvertretungen und zur Aushandlung von Konzessionen bei den Arbeitsstandards und den Arbeitsbedingungen. Zwar konnten die Unternehmen dabei bislang in den meisten Fällen kein Concession Bargaining nach amerikanischem Vorbild durchsetzen; noch sind Betriebsräte und Gewerkschaften zumindest in großen Betrieben stark genug, im Gegenzug zu Konzessionen auch Gegenleistungen der Unternehmen auszuhandeln, von der Beschäftigungssicherung bis zu Investitionszusagen. Allerdings ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Interessenvertretungen dabei in der Defensive sind. Und vor allem: Die Aushandlungslogik korporatistischer Kompromisse im Betrieb hat sich radikal verändert (Dörre 2005). Nicht mehr die Verteilung der Früchte wirtschaftlichen Wachstums steht auf dem Programm, sondern die Abforderung von materiellen Zugeständnissen der Beschäftigung gegen temporäre Sicherung der Arbeitsplätze. Und es ist in der Regel nicht die wirtschaftliche Not, die die Unternehmen dazu zwingt, traditionelle Kompromisse aufzu-
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kündigen, sondern die Verheißung niedrigerer Kosten und höherer Renditen, die von den Finanzmärkten positiv bewertet werden und sich zugleich wohltuend auf die Einkommen des führenden Managements auswirken. In dieser Situation können für die Interessenvertretungen die korporatistischen Tugenden der Intermediarität problemverschärfend wirken (Rehder 2006). Gewerkschaftsmitglieder nehmen geringe Einflussmöglichkeiten möglicherweise dann als gegeben hin, wenn ihre Vertretungen gute materielle Ergebnisse liefern. Private Interessenregierungen, die eigenständig kollektive Interessen definieren und diese hinter verschlossenen Türen aushandeln, können sich über die materiellen Outputs ihres Handelns legitimieren. Wenn es jedoch um die Verteilung von Konzessionen geht, sieht die Sache anders aus. Dann steht die Legitimation intermediären Handelns zur Disposition, weil für die Beschäftigten unklar wird, warum sie kollektiven Interessenvertretungen beitreten oder sich sogar für sie engagieren sollten, die ihnen materielle Verschlechterungen bringen. Deshalb, so argumentiert Rehder (2006), müssten die Interessenvertretungen sich stärker über Verfahren legitimieren (die Inputs also), bei denen die Mitglieder oder Wähler in Verhandlungen und Entscheidungsfindungen einbezogen werden. Dies aber bedeutet für intermediäre Akteure nicht mehr und nicht weniger als sich neu zu erfinden und ein Kernmerkmal ihrer Intermediarität aufzugeben. Möglicherweise wäre dies auch nur konsequent vor dem Hintergrund, dass auch die Unternehmen die Intermediarität inzwischen aufgekündigt haben, indem sie einseitig die Kompromissspielräume intermediären Handelns zu ihren Gunsten re-definieren. In jedem Fall wäre dabei für die Interessenvertretungen die Orientierung an dem normativen Ideal der intermediären Organisation in dieser Situation kaum mehr rational. Dies aber beinhaltet eine entscheidende Konsequenz auch für die Forschung. Sofern die Stärkung von Interessenvertretungen nur dann gelingen kann, wenn sie das Ideal der intermediären Organisation überwinden, eignet sich dieses offensichtlich nicht mehr als Referenzfolie zur Bewertung des Wandels von Interessenvertretungen. In der Perspektive der intermediären Organisation sind deshalb auch Deutungen des aktuellen Wandels zwangsläufig pessimistisch. Zwei besonders einflussreiche Deutungen dieses Typs sind die der Erosion und die der Erschöpfung. Der Begriff der Erosion ist von Hassel (1999) bereits Ende der 1990e Jahre geprägt worden. Aus ihrer Sicht führen die Abnahme der Tarifbindung, die Mitgliederverluste der Tarifparteien oder die Dezentralisierung kollektivvertraglicher Normenbildung zu einer Zerstörung der sozialen und nicht-marktförmigen Institutionen der industriellen Beziehungen. Ein liberales Modell nach angloamerikanischem Vorbild mit schwachen Gewerkschaften, machtlosen Arbeitgeberverbänden und einem wachsenden gewerkschaftsfreien Sektor ohne kollek-
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tivvertragliche Regulierungen erscheint als wahrscheinliches Szenario für die Zukunft der industriellen Beziehungen in Deutschland. Einen etwas anderen Akzent setzt Streecks Interpretation der Erschöpfung und der Dis-Organisation (Streeck 2010). In dieser Deutung folgt der Wandel einer Logik der Liberalisierung, die sich durch die Schwächung der nichtprivaten und nicht-marktförmigen Institutionen der industriellen Beziehungen auszeichnet, die bislang für die Unternehmen Zwangscharakter hatten und in deren Rahmen Normendevianz auch effektiv sanktioniert werden konnte. In Streecks Lesart sind Unternehmen ähnlich wilder Tiere, die mühsam domestiziert werden müssen und die bei der ersten Gelegenheit darauf drängen, zurück in die Freiheit des Kapitalismus zu flüchten. Marktferne Institutionen könnten diesen Drang zwar eine Weile begrenzen und kanalisieren, aber irgendwann würden sie sich, wie die deutschen industriellen Beziehungen derzeit, erschöpfen. Im Unterschied zur Erosionshypothese betont Streeck, dass am Ende der Erschöpfung und Liberalisierung nicht die völlige Deregulierung der industriellen Beziehungen steht. Regulierungen bestehen fort, beruhen demnach aber nicht mehr auf marktfernen Institutionen mit Zwangscharakter, sondern es werden sich nur noch Regulierungen erhalten, die freiwillig von den Marktakteuren – den Unternehmen also – abgeschlossen werden, weil sie ihnen Vorteile der Kooperation versprechen. Zentrales Beispiel dieser marktnahen und voluntaristischen Regulierungen sind für Streeck betriebliche Beschäftigungsbündnisse, in denen die Unternehmen temporäre Zusagen zur Beschäftigungssicherung machen, dafür aber den Betriebsräten Konzessionen bei Lohn- oder Arbeitszeitstandards abringen können. Beide Deutungen, Erosion und Erschöpfung, haben ein hohes Maß an Plausibilität auf ihrer Seite. Ohne Zweifel sind sowohl die kollektiven Akteure als auch die kollektivvertraglichen Regulierungen der industriellen Beziehungen heute weit weniger umfassend und weit weniger stark, als sie dies noch vor 20 Jahren waren; und gemessen am damaligen Zustand sind sie inzwischen zu einem guten Teil erodiert oder erschöpfen sich, in manchen Branchen mehr, in manchen weniger. Allerdings haben beide Deutungen ein gemeinsames Problem. Dieses Problem besteht darin, dass sie – ähnlich wie die Deutungen der 1980er Jahre – einen aktuellen Prozess in die Zukunft verlängern und daraus einen Endzustand ableiten, auf den sich die Entwicklung zubewegen wird. Damit aber erhält die Interpretation einen deterministischen Akzent. Begründen ließe sich diese These nur damit, dass es absehbar keine kollektiven Akteure mehr gibt, die Willens oder im Stande wären, nicht-marktförmige Institutionen der industriellen Beziehungen zu verteidigen oder neu zu gestalten. Diese Annahme träfe natürlich zuvorderst auf Interessenvertretungen der Arbeitnehmer – Gewerkschaften und Betriebsräte – zu, sie ließe sich aber auch auf staatliche Entscheidungen
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verlängern. Sie ist nur haltbar, wenn ein möglicher zukünftiger Zustand der relativen Machtlosigkeit der Interessenvertretungen bereits als gesicherte Erkenntnis für die aktuelle Analyse unterstellt wird. Noch aber gibt es Gewerkschaften, und noch sind sie strategie- und handlungsfähig (auch Turner 2008). Und möglicherweise reagieren sie ja auf die Krisentendenzen, versuchen sich dagegen zur Wehr zu setzen, entwickeln dabei neue Handlungsstrategien und sind vielleicht sogar erfolgreich bei der Verbesserung ihrer Fähigkeiten, kollektive Interessen zu organisieren und zu mobilisieren. Noch also gilt für die deutschen industriellen Beziehungen Lipietzs Aussage, dass institutionelle Zustände historische Fundsachen sind, die sich zwar Ex Post feststellen, aber nicht Ex Ante vorhersagen lassen (Lipietz 1985). Die Deutungen der Erosion und der Erschöpfung sind mithin zwar interessante und nützliche heuristische Konzepte zur Analyse aktueller Prozesse. Als Prognoseinstrumente für zukünftige institutionelle Zustände aber sind sie untauglich. Denn sie ignorieren die Fähigkeiten der kollektiven Akteure, Probleme wahrzunehmen und darauf zu reagieren – zumindest solange diese Akteure noch in der Lage sind, erkennbaren Einfluss auf die Entwicklung von Institutionen zu nehmen und den Gang der Dinge in einem nicht antizipierbaren Ausmaß zu verändern. In der Erosions- oder Erschöpfungsthese finden sich keine überzeugenden Hinweise darauf, dass deutsche Gewerkschaften wie auch Betriebsräte bereits an einem Punkt angekommen wären, an dem sie diese Fähigkeiten verloren haben. Aus diesem Grund ist die Zukunft der Interessenvertretungen der Arbeitnehmer/innen und der industriellen Beziehungen insgesamt in Deutschland auch weitaus offener, als in den beiden Deutungen unterstellt. Daraus ergeben sich entscheidende Weichenstellungen für die Analyse aktueller Entwicklungen der Interessenvertretungen. Dass es gemessen am Zustand der frühen 1980er Jahre einen Trend der Erosion und der Erschöpfung gibt, kann als gesicherte Erkenntnis gelten. Dieser Trend könnte und sollte sicherlich mit Blick auf Branchenunterschiede differenzierter unter die Lupe genommen werden, als dies bislang geschehen ist; grundlegende Neuausrichtungen der Interpretation dürften sich daraus jedoch kaum ergeben. Die Krisenanalyse dieses Typs aber lässt die zentrale Forschungsfrage offen, ob es nicht im Rahmen von Krise und Niedergang auch neue Entwicklungen gibt, die in Richtung Stärkung von Interessenvertretungen und kollektivvertraglicher Regulierungen weisen. Dem „Krisendiskurs“ muss deshalb ein „Chancendiskurs“ (Brinkmann et al. 2008) an die Seite gestellt werden, in dessen Zentrum strategische Initiativen der Interessenvertretungen, ihre Auswirkungen auf die Organisationsmacht und die generellen Möglichkeiten und Herausforderungen der Erneuerung von Interessenvertretungen stehen. Die Chancen der Gewerkschaften und der Betriebsräte sind dabei gerade nicht am Leitbild der intermediären Organisation zu bemessen,
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sondern daran, wieweit es ihnen gelingt, dieses durch ein neues Leitbild zu überwinden. Nur von den Interessenvertretungen kann nach Lage der Dinge auch eine Revitalisierung der industriellen Beziehungen insgesamt ausgehen. Die Unternehmen drängen auf voluntaristische Regulierungen, und die Arbeitgeberverbände sind immer weniger in der Lage, als „private Interessenregierungen“ über die Interessen ihrer Mitglieder zu bestimmen und den Erhalt starker Tarifverträge zu vertreten, in denen sie selber eine wichtige Rolle haben (Haipeter und Schilling 2006); es sei denn, sie können von den Gewerkschaften dazu gedrängt werden. Zwar könnte in dieser Situation der Staat eingreifen, indem er Mindeststandards beispielsweise in Form von Mindestlöhnen einzieht oder die Gesetze zur Arbeitnehmerüberlassung reformiert und für den Leiharbeitereinsatz die Lohnstandards der Entleihbetriebe als verbindlich vorschreibt. Krisensymptome wie die Schwäche der Interessenvertretungen, die Abnahme der Bindekraft von Tarifverträgen oder die Dezentralisierungstendenzen des Tarifsystems würden damit aber nicht automatisch behoben. Und zudem bleibt dafür auch zunächst wenig mehr als das Prinzip Hoffnung, dass sich eines Tages politische Mehrheitsverhältnisse oder die Programme politischer Parteien so verändern, dass Eingriffe des Staates zur Stabilisierung bestimmter Arbeitsnormen realistisch erscheinen. So wichtig diese auch wären, warten können darauf weder die Interessenvertretungen noch die Forschung. Deshalb müssen sich die Interessenvertretungen ihre Modernisierung und Erneuerung vor allem selber erarbeiten. Von den Autoren/innen dieses Bandes werden einige der Versuche beleuchtet, die auf diesem Weg bislang zu beobachten sind. Der Band erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es geht nicht darum, jede Initiative von Gewerkschaften oder Betriebsräten unter die Lupe zu nehmen, die unter die Rubrik „gewerkschaftliche Revitalisierung“ gefasst werden könnten (für einen Überblick siehe Brinkmann et al. 2008). Vielmehr sollen schlaglichtartig einzelne Ansatzpunkte herausgegriffen und auf ihre Tragfähigkeit hin diskutiert werden. Im Zusammenspiel der Beiträge kann der Leser erste Konturen eines neuen Organisationsleitbildes von Interessenvertretungen erkennen, zu dem Elemente wie die Stärkung der Betriebsnähe, Konfliktorientierung, die Beteiligung der Mitglieder, Kampagnenfähigkeit und eine Politik inklusiver Solidarität vorrangig gehören dürften. Die Beiträge machen zugleich aber auch deutlich, wie vielfältig die Herausforderungen sind, denen sich die Gewerkschaften bei ihren Bemühungen zur Stärkung ihrer Organisationsmacht in unterschiedlichen Branchen, aber auch mit Blick auf unterschiedliche Beschäftigtengruppen, gegenübersehen. Die Mobilisierung qualifizierter Facharbeiter in der Metallindustrie stellt an die Gewerkschaften ganz andere Ansprüche als die Organisierung von qualifizierten Angestellten, und diese wiederum unterscheidet sich
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grundlegend von den Organisationsproblemen in Bereichen gering qualifizierter Dienstleistungsarbeit möglicherweise mit hohen Migrantenanteilen an den Beschäftigten. Der Band ist aus einer Tagung entstanden, die Anfang Juni 2010 in Mühlheim stattfand. Organisiert vom Institut Arbeit und Qualifikation der Uni Duisburg Essen (IAQ), dem Jenaer Zentrum für interdisziplinäre Gesellschaftsforschung (JenZiG) und – last, aber gewiss nicht least – der Hans-Böckler Stiftung (HBS) hatten sich dort interessierte Wissenschaftler und gewerkschaftliche Praktiker getroffen, um das Thema „Betriebliche Mitbestimmung und gewerkschaftliche Modernisierungskampagnen – Praxis und Forschung in Deutschland“ zu diskutieren. Die Tagung war zugleich eingebettet in ein Forschungsprojekt, das am IAQ zur Modernisierungskampagne „Besser statt billiger“ der IG Metall durchgeführt und Ende 2010 abgeschlossen wurde. Vor allem deshalb spielen Entwicklungen der Metallindustrie in diesem Band eine prominente Rolle. Dies ist aber nicht der einzige Grund. Das Gewicht der Metallindustrie erklärt sich auch daraus, dass derzeit interessante und möglicherweise zukunftsweisende Entwicklungen der gewerkschaftlichen Erneuerung in dieser Branche zu finden sind. Allerdings würde die Beschäftigung mit den alten Kernzonen der Interessenvertretungen und der industriellen Beziehungen allein dem Problem der Erneuerung der Interessenvertretungen nicht gerecht. Zu unterschiedlich sind die Bedingungen für die Gewerkschaften, und zu wenig übertragbar sind deshalb möglicherweise auch Rezepte, die in einzelnen Branchen entwickelt werden. Wir haben daher versucht, auf der Tagung den Blick auch über den Tellerrand der Metallindustrie und die Kernzonen industrieller Stammbelegschaften auf andere Branchen und Beschäftigtengruppen zu lenken und die Herausforderungen gewerkschaftlicher Erneuerung in diesen Bereichen auszuloten. Aus diesem Grund ist der vorliegende Band in zwei große Abschnitte untergliedert. Im ersten Abschnitt werden Erneuerungsansätze der Interessenvertretungen in der Metall- und Elektroindustrie diskutiert, die mit der betriebsnahen Tarifpolitik im Rahmen von Tarifabweichungen und mit der Kampagne „Besser statt billiger“ verbunden sind. In diesem Zusammenhang kommen auch gewerkschaftliche Praktiker zu Wort, die ihre Erneuerungskonzepte und die darin enthaltenen strategischen Überlegungen vorstellen. Im zweiten Abschnitt werden dann Ansätze und Herausforderungen gewerkschaftlicher Erneuerung jenseits industrieller Kernsektoren und Stammbelegschaften diskutiert. Dabei geraten sowohl Leiharbeiter/innen und niedrig qualifizierte Dienstleistungsarbeiter/innen in den Blick als auch die allgemeine Frage der Auswirkungen von Arbeitskämpfen auf die gewerkschaftliche Revitalisierung. Der Band schließt mit einer zu-
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sammenfassenden Analyse zum Funktionswandel der Gewerkschaften. Im Folgenden wird kurz auf die einzelnen Beiträge eingegangen. Der Auftakt zum ersten Teil des Buches widmet sich dem Thema Tarifabweichungen. Es mutet auf den ersten Blick ziemlich überraschend an, dieses Thema im Zusammenhang mit dem Problem gewerkschaftlicher Erneuerung und Modernisierung zu diskutieren. Denn Tarifabweichungen als betriebliche Unterschreitungen tariflicher Standards bei Löhnen und/oder Arbeitszeiten sind wohl der augenfälligste Ausdruck des Machtverlusts und der Defensive der Interessenvertretungen im Betrieb. In der machtpolitischen Defensive liegen jedoch, so argumentiert Thomas Haipeter in seinem Beitrag, für die Gewerkschaften auch Chancen der Revitalisierung. Diese ergeben sich freilich nicht im Selbstlauf, sondern müssen von den Gewerkschaften auch aktiv gesucht und durchgesetzt werden. Dabei macht der Autor drei Ansatzpunkte für eine Stärkung der Interessenvertretungen aus. Der erste Ansatzpunkt ist die Verbesserung der gewerkschaftlichen Kontrolle über Tarifabweichungen durch aktive Koordinierung und Steuerung von Abweichungen zwischen den Organisationsebenen der Gewerkschaften. In diesem Punkt können die Gewerkschaften sowohl in der Metallindustrie als auch in der Chemischen Industrie – die Thomas Haipeter vergleichend untersucht hat – deutliche Kontrollerfolge erzielen. Ähnlich ist die Lage beim zweiten Ansatzpunkt, der Stärkung der Betriebsräte in den betrieblichen Arbeitsbeziehungen. In beiden Branchen konnten die Betriebsräte ihre Machtposition in den betrieblichen Austauschbeziehungen festigen, insbesondere weil sie durch die Gewerkschaften eine unverzichtbare Unterstützung bei der Erarbeitung eigener Verhandlungsstrategien und bei der Führung der Verhandlungen erfuhren. Der dritte Ansatzpunkt schließlich erscheint als der wichtigste und zugleich als der voraussetzungsvollste. Er betrifft die Stärkung der gewerkschaftlichen Organisationsmacht im Verlauf der betrieblichen Auseinandersetzungen um Tarifabweichungen, die überall dort festgestellt werden kann, wo die Interessenvertretungen die Gewerkschaftsmitglieder an den Entscheidungen über Tarifabweichungen beteiligt. Auf dieser Grundlage kann die Gewerkschaft eine neue Anziehungskraft für Beschäftigte entwickeln. Die zentrale Frage lautet für Thomas Haipeter deshalb, wie die Gewerkschaften die Erfahrungen mit der Tarifabweichung erweitern und vertiefen können. Möglicherweise sind dazu gewerkschaftliche Modernisierungskampagnen ein geeignetes Mittel. Eine der prominentesten Kampagnen ist sicherlich die im Bezirk Nordrhein-Westfalen (NRW) der IG Metall im Jahr 2005 gestartete Kampagne „Besser statt billiger“, die mittlerweile auch fest auf der Vorstandsebene der Gewerkschaft verankert ist. Vor dem Hintergrund von Tarifabweichungen und wachsendem Druck auf Aus- und Verlagerungen sollten in der Öffentlichkeit und in den Betrieben alternative Lösungen politisiert werden.
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Deshalb steht im Zentrum der Kampagne auch die gewerkschaftliche Aktivierung der Betriebsräte für die Erarbeitung und Aushandlung betrieblicher „Besser“-Strategien unter Einbindung der Beschäftigten in Konzeptentwicklungen und Entscheidungsfindung. Die Kampagne vereint mithin arbeits- und organisationspolitische Zielsetzungen, weil arbeitspolitische Alternativen und Organisationsstärkung der Gewerkschaft Hand in Hand gehen sollen; und auch hier liegt ein Schlüssel wieder in der Beteiligung der Beschäftigten. Im Ergebnis ihrer Analyse stellen Antonio Brettschneider, Tabea Bromberg und Thomas Haipeter fest, dass die Alternativkonzepte der Betriebsräte zwar teilweise nicht besonders ambitioniert sind und sie sich häufig auf Fragen der Organisationsentwicklung konzentrieren. Durch die aktive Infragestellung des Managements auf seinem ureigenen Handlungsfeld der betriebswirtschaftlichen Strategie erfahren die Betriebsräte aber einen deutlichen Machtzugewinn in den Arbeitsbeziehungen. Dabei trägt entscheidend die Verbesserung ihrer betriebswirtschaftlichen und strategischen Kompetenzen bei, sei es angetrieben durch die Gewerkschaft selber oder auch, und nicht selten, durch externe Berater. Tragfähige Gegenkonzepte sind zudem ohne die aktive Beteiligung von Beschäftigten als Experten kaum zu entwickeln. Die Voraussetzung dafür ist aus Sicht der Autor/innen freilich, dass die Betriebsräte einen grundlegenden Rollenwechsel zu einer proaktiven Interessenvertretung vollziehen. Die Auswirkungen der Kampagne „Besser statt billiger“ für die Gewerkschaft sind nicht ganz so eindeutig festzumachen. Steffen Lehndorff deutet die in der Kampagne angelegte Verbindung von Modernisierung im Betrieb und Erneuerung der Interessenvertretung als einen eigenständigen und zugleich spezifisch deutschen Ansatz im Rahmen der vielfältigen Bemühungen um eine Revitalisierung der Gewerkschaften. In diesem Zusammenhang referiert er zentrale Erkenntnisse der vornehmlich angelsächsischen Debatte um gewerkschaftliche Erneuerung und ordnet die Kampagne „Besser statt billiger“ vor allem als Beteiligungsstrategie ein. Dabei lassen sich zwei Varianten von Beteiligung unterscheiden. Bei der Beteiligung „gegen billiger“ steht die Einbindung der Beschäftigten in die Abwehr von Drohszenarien des Managements im Vordergrund. Die wichtigste Form dieser Beteiligung findet sich bei Tarifabweichungen, wo Mitgliederentscheidungen mittlerweile weit verbreitet sind. Die Beteiligung „für besser“ hingegen stellt die fachliche Seite des Expertenwissens der Beschäftigten bei Infragestellungen des Managements und bei der Erarbeitung von Alternativkonzepten ins Zentrum. Die Nutzung dieser fachlichen Seite der Beteiligung ist nach Steffen Lehndorff nicht nur ein Schlüssel für den Kompetenzzuwachs der Betriebsräte, sondern auch für neue organisationspolitische Zugangswege zu den bislang für Gewerkschaften überaus sperrigen Beschäftigungsgruppen der Industrieangestellten. Ihre Orientierung gegenüber Interessenvertretungen ist nach
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den Erfahrungen der Kampagne vor allem durch die fachliche Kompetenz und Ansprache der Interessenvertreter geprägt. Zentrale Voraussetzung für die Erneuerungspotenziale der Kampagne ist deshalb ein bewusster und breit verankerter Kulturwandel zur Beteiligungsgewerkschaft. Die Kampagne „Besser statt billiger“ erscheint dem Betrachter auf den ersten Blick als kompliziertes Geflecht aus Projekten, Initiativen und Instrumenten. Wolfgang Nettelstroth, Gabi Schilling und Achim Vanselow geben in ihrem Beitrag einen Einblick in das Innenleben der Kampagne und die damit verbundenen gewerkschaftlichen Zielsetzungen. Dabei beleuchten die Autoren zunächst die Hintergründe der Kampagne, die in den Kontrollproblemen der Tarifabweichung, der Arbeitgeberkampagne zur 40-Stunden-Woche und der Infragestellung des deutschen Produktionsmodells der „High-Road“-Qualitätsproduktion durch die Arbeitgeber wurzelten. Die mit der Kampagne beabsichtigte Erarbeitung alternativer Handlungsstrategien ist überaus voraussetzungsvoll für die Interessenvertretungen, bedarf sie doch einer umfassenden „Aktivierung“ der Interessenvertretungen und der Beschäftigten. Die IG Metall hat versucht, diese Aktivierung in Form mehrerer Projekte anzufachen, in denen die Unterstützung und Beratung der Betriebsräte vor Ort, die Erarbeitung guter Praxisbeispiele, die Verbreitung von Erfahrungen, die Bereitstellung wissenschaftlicher Expertise für die Betriebsräte und die Förderung kollegialer Beratungen unter den Betriebsräten im Vordergrund standen und stehen. Die positiven Erfahrungen, die in diesem Zusammenhang gemacht wurden, führen die Autoren auf eine verbesserte Strategie- und Konfliktfähigkeit der Betriebsräte und neue Beteiligungsformen zurück. Wichtigste Herausforderung eines „Besser statt billiger 2.0“ ist demnach die Verbreiterung der guten „Besser“-Praxis als Lern- und Entwicklungsprojekt des Bezirks. Die Verbindung arbeits-, innovations- und organisationspolitischer Zielsetzungen als Kernmerkmal der Kampagne „Besser statt billiger“ wurde auch auf der Vorstandsebene der IG Metall unter dem Titel „Arbeit und Innovation“ verankert. Diese Initiative steht in enger Wechselwirkung mit anderen arbeitspolitischen Projekten. Dazu zählen sowohl die Initiative „Gute Arbeit“ als auch die „Arbeits- und leistungspolitische Initiative“. Detlef Gerst, Klaus Pickshaus und Hilde Wagner beschreiben in ihrem Beitrag die Zielsetzungen und Inhalte der jeweiligen Initiativen und loten die Synergieeffekte einer gemeinsamen arbeitspolitischen Strategie aus. Dazu bieten die jeweiligen Initiativen einiges an Potenzial, beschäftigen sie sich doch mit unterschiedlichen und sich ergänzenden inhaltlichen Schwerpunkten. Im Vordergrund der Initiative „Gute Arbeit“ steht die humanisierungspolitisch getragene Forderung nach Schutz vor Verschleiß und Übernutzung der Arbeitskraft, die durch Verlängerung der Arbeitszeit und wachsende betriebliche Leistungsansprüche im Finanzmarktkapitalismus hervorgeru-
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fen werden. Durch Aktivierung der Beschäftigten soll eine Präventionsbewegung von unten gefördert werden, die zugleich die Organisationsmacht der Gewerkschaft stärken kann. Die „arbeits- und leistungspolitische Initiative“ betrachtet Arbeitszeit- und Leistungspolitik als „kommunizierende Röhren“, die sich wechselseitig beeinflussen. In einer Zeit „systematischer Überlastung“ der Beschäftigten schlägt sich wachsender Leistungsdruck in Arbeitszeitproblemen nieder – und umgekehrt. Vor diesem Hintergrund werden Ansätze einer neuen, differenzierten Arbeitszeit- und Leistungspolitik diskutiert, die darauf abzielen, betriebliche Leistungsansprüche zu begrenzen und die Geltungskraft kollektiver Regelungen durch Beteiligung der Beschäftigten zu erhöhen. Die Initiative „Arbeit und Innovation“ schließlich betont die Notwendigkeit proaktiver Gestaltung von Wettbewerbsstrategien durch die Interessenvertretungen und die strategische Rolle der Betriebsräte als Verfechter alternativer Konzepte. Dabei liegen wichtige Schwerpunkte der Arbeit auf der Früherkennung von Innovationsproblemen und auf der Unterstützung der Betriebsräte bei der Gestaltung von Produktionssystemen, die inzwischen in den Unternehmen starke Verbreitung finden und die zumeist arbeitspolitisch restriktiv wirken. Die Kooperation der drei Initiativen wird mittlerweile in einem eigenständigen Arbeitskreis „Arbeitspolitik und Arbeitsforschung“ organisiert und vorangetrieben. Den zweiten Teil des Bandes leitet das Thema Leiharbeit ein. Hajo Holst und Ingo Matuschek stellen in ihrem Beitrag fest, dass Leiharbeit sich nicht mehr auf das Problem flexibler Randbelegschaften reduzieren lässt, sondern dass Leiharbeit – auch nach der Finanzmarktkrise – in die Kernbereiche vieler Betriebe vorgedrungen ist und eine Prekarisierung der Arbeitsgesellschaft nach sich zieht, die von den Gewerkschaften strategische Antworten verlangt, wenn sie als Vertretungen aller Beschäftigter weiterhin wirkungsmächtig sein wollen. Deshalb betrachten die Autoren die Organisierung der Leiharbeiter/innen als Schicksalsfrage der Gewerkschaften. Wie aber steht es in diesem Zusammenhang um die Situationsdeutungen und Solidaritätsorientierungen der Stammbeschäftigten? Dieser Frage gehen die Autoren auf der Grundlage einer Erhebung in einem großen Automobilwerk nach. Im Ergebnis stellen sie fest, dass bei den Stammbeschäftigten ein exklusives, die Leiharbeitenden ausgrenzendes Muster „kompetitiver Solidarität“ vorliegt, das zwar die Schlechterstellung der Leiharbeit kritisiert, jedoch Leiharbeit trotzdem als betriebswirtschaftliche Notwendigkeit anerkennt. Diese Ambivalenz bietet aus Sicht der Autoren aber auch Anknüpfungspunkte für Interessenvertretungen, eine Auseinandersetzung um nachhaltige Formen der Organisation und Flexibilisierung von Arbeit zu initiieren und daraus neue Solidaritätspotenziale zu erschließen. Auch im Bereich einfacher Dienstleistungsarbeit stehen die Gewerkschaften vor grundlegenden Problemen. Hier geht es weniger darum, unterschiedliche
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Beschäftigtengruppen in eine gemeinsame Interessenvertretung zu integrieren als zunächst einmal darum, überhaupt eine Interessenvertretungsstruktur in den Betrieben aufzubauen, die bislang gewerkschafts- und betriebsratsfreie Zonen sind. In diesen Zonen hat sich im deutschen Institutionenkontext der Aufbau von Interessenvertretungen zunächst auf die Verankerung von Betriebsräten zu beziehen, die dann ihrerseits als Motor einer Gewerkschaftsstärkung dienen können. Sarah Bormann stellt in ihrem Beitrag zwei Organisierungskampagnen vor, die von Ver.di im Einzelhandel über lange Jahre geführt worden sind, die Lidlund die Schlecker-Kampagne. Beide Kampagnen sind als Druckkampagnen, die nicht zuletzt auf der Mobilisierung der öffentlichen Meinung beruhten, sehr prominent. Und doch ist ihr nachhaltiger Erfolg sehr unterschiedlich zu beurteilen. Diese Unterschiede führt Bormann auf vier kritische Faktoren zurück, die Gewerkschaften bei Organisierungskampagnen berücksichtigen sollten: dass eine Kampagne erstens konkrete Probleme und Ungerechtigkeiten aufgreift, denen die Beschäftigten ausgesetzt sind und dass die Beschäftigten als Akteure der Kampagne eingebunden werden; dass zweitens Bündnisse der Gewerkschaften mit anderen Organisationen gut koordiniert werden müssen; dass drittens genügend Ressourcen in hauptamtliche Kampagnenaktive investiert werden müssen und dass viertens auch zunächst nicht gewerkschaftliche Betriebsräte in die Kampagnen einbezogen werden müssen. Während im Einzelhandel die Gewerkschaft immerhin noch auf eine Tradition der Interessenvertretung und eine recht gute Verankerung in einzelnen Vertriebssegmenten wie den Warenhäusern bauen kann, gibt es in den privaten Dienstleistungen wachsende Bereiche eines Niedriglohnsektors mit prekären Arbeitsbedingungen, in denen sie sich als kollektiver Akteur ganz neu etablieren muss. Zugleich sind in diesem prekären Dienstleistungsbereich die Zugänge für Interessenvertretungen überaus schwierig. Dies liegt, wie Ingrid Artus in ihrem Beitrag zeigt, an der starken Fragmentierung der Arbeit (und damit auch der Interessenlagen der Beschäftigten) in räumlicher (Arbeit beim Kunden, keine Betriebsorganisation), zeitlicher (kurzzeitige und diskontinuierliche Arbeit) und kultureller (disparate Ausbildungsniveaus, hohe Migranten/innenanteile) Hinsicht sowie an dem besonders ausgeprägten Machtungleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit, das zu einem Interaktionsmodus von Repression und Ohnmacht führt und anti-gewerkschaftlich Strategien der Unternehmen begünstigt. In dieser Situation muss der Versuch gewerkschaftlicher Organisierung und der Etablierung von Gegenmacht als „Verrücktheit“ erscheinen. Trotzdem aber finden diese verrückten Kämpfe einzelner Beschäftigter oder Beschäftigtengruppen gegen Ungerechtigkeiten oder Demütigungen statt. Auch die Gewerkschaften entdecken prekäre Niedriglohnbeschäftigung zunehmend als Aufgabengebiet, haben aber noch kaum tragfähige Lösungen für die Probleme der tiefen kulturellen
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Kluft zwischen Gewerkschaftsfunktionären und Beschäftigten und für die Interessenunterschiede zwischen unterschiedlichen Beschäftigtengruppen gefunden. Am Beispiel des Streiks der „Travailleurs sans papiers“ im Nachbarland Frankreich zeigt Ingrid Artus Ansatzpunkte für die Überwindung dieser Probleme, die in einem Erlernen neuer Strategien und Unterstützungsformen, in einer Rekrutierung von Gewerkschaftsfunktionären aus dem Beschäftigungssegment prekärer Dienstleistungsarbeit und schließlich in der Bereitschaft zu einer langwierigen Sisyphusarbeit ohne schnelle Organisierungserfolge liegen könnten. Welche Rolle spielen, ganz unabhängig von Branchen und Beschäftigungssegmenten, eigentlich Arbeitskämpfe für die Entwicklung der gewerkschaftlichen Organisationsmacht? Dieser Frage geht Heiner Dribbusch in seinem Beitrag nach. Wie die in diesem Band diskutierten Beispiele der Metallindustrie oder der Ver.di-Organisierungskampagnen zeigen, steht Organisierung in einem engen Verhältnis zu Konfliktstrategien der Gewerkschaften. In diesem Rahmen können Arbeitskämpfe eine wichtige Rolle spielen, weil sich in ihnen Kritik und Interessengegensätze der Beschäftigten temporär kanalisieren und zugleich die Gewerkschaften Durchsetzungsfähigkeit zeigen können. Anhand qualitativer und quantitativer Daten zeichnet Heiner Dribbusch die Entwicklung von Streiks und gewerkschaftlicher Organisierung in der Bundesrepublik nach und konkretisiert sie für die Metallindustrie und den Dienstleistungssektor. Dabei zeigt sich, dass Streiks ein wichtiges Element konfliktorientierter Erneuerungsstrategien sein können, dass es aber keinen Automatismus zwischen Arbeitskämpfen und Organisationserfolgen gibt. Streiks begründen keinen Handlungsvoluntarismus der Gewerkschaften. Sie sind nicht dauernd möglich, und sie sind auch mit Kosten für die Beschäftigten verbunden. Zudem ist dabei zu beachten, dass Organisationserfolge auch von den Wahrnehmungen durch Beschäftigte und Mitglieder abhängen, die wiederum in gesellschaftliche Diskurse eingebunden sind. Deshalb müssen Gewerkschaften nicht nur geeignete Prioritäten setzen und zudem mit einer wachsenden Heterogenität zwischen unterschiedlichen Beschäftigtengruppen umgehen lernen, sondern auch einen gesellschaftlichen Diskurs um die gewerkschaftliche Organisierung als Grundrecht anstoßen. Im Abschlussbeitrag dieses Bandes diskutiert Klaus Dörre die aktuellen Entwicklungen der gewerkschaftlichen Interessenvertretungen in und nach der Krise des Finanzmarktkapitalismus. Dabei schlägt er zunächst einen weiten Bogen zurück zum Thema dieser Einleitung, nämlich die Probleme des Konzepts der Intermediarität als Referenzfolie der Bewertung gegenwärtiger Veränderungen. Das Konzept der Intermediarität hat seine kritischen und fortschrittlichen Potenziale inzwischen verloren. Mehr noch, es liefert keine konzeptionellen Anstöße für die drängenden Fragen nach einer Stärkung gewerkschaftlicher Organisationsmacht in den Betrieben, weil es das Vorhandensein von Organisations-
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macht als Bedingung der Analyse vorausstellt. Deshalb plädiert Klaus Dörre dafür, das Konzept der Intermediarität zugunsten des Jenaer MachtressourcenAnsatzes aufzugeben, der die Quellen von Arbeitermacht als Ausgangspunkt der Erforschung sozialer Konflikte, Akteure und Institutionen nimmt, zwischen struktureller Macht, Organisationsmacht und institutioneller Macht unterscheidet und die strategischen Wahlmöglichkeiten der Gewerkschaften betont. Auf dieser Grundlage bewertet Klaus Dörre die aktuellen Entwicklungen der deutschen Gewerkschaften kritisch. Auf der einen Seite haben die Gewerkschaften vor der Finanzmarktkrise angelsächsische Organisierungserfahrungen aufgenommen und neue Formen der gewerkschaftlichen Revitalisierung durch Erschließung neuer Machtressourcen entwickelt, von denen einige in diesem Band vorgestellt werden. Auf der anderen Seite aber sind einige Gewerkschaften in der Krise Bündnisse mit den politischen Eliten eingegangen und haben als tragende Kraft eines „Krisenkorporatismus“ gewirkt, der darauf abzielte, die Krisenauswirkungen für die Beschäftigten und für den Finanzmarktkapitalismus möglichst gering zu halten. Zwar waren die Gewerkschaften dabei sehr erfolgreich, doch bezahlen sie dies mit einem interessenpolitischen Konservativismus, der auf eine allgemeine Repräsentation von Lohnabhängigeninteressen verzichtet und auf exklusive Solidarität und Schutz von Partialinteressen bestimmter Beschäftigtengruppen setzt. Damit sieht Dörre die Gefahr verbunden, dass sich Gewerkschaften von der intermediären Organisation zu fraktalen Interessenverbänden entwickeln und damit die Chancen ihrer Erneuerung verspielen.
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Tarifabweichungen, Betriebsräte und Gewerkschaften − Modernisierungschancen in lokalen Konflikten Tarifabweichungen, Betriebsräte und Gewerkschaften
Einleitung Tarifabweichungen haben sich in den letzten Jahren zu einem festen Bestandteil des bundesdeutschen Tarifsystems entwickelt. Es existiert kaum mehr eine Branche, in der es nicht möglich wäre, die Arbeitsstandards der Flächentarifverträge auf der Ebene des Einzelbetriebs (oder des Einzelunternehmens) zu unterschreiten. Was aber haben Tarifabweichungen mit einer Modernisierung von Betriebsräten und Gewerkschaften zu tun? Auf den ersten Blick erscheint ein Zusammenhang zwischen beiden Entwicklungen ziemlich abwegig. Denn Tarifabweichungen sind die handgreiflichste Form der Defensive von betrieblichen und gewerkschaftlichen Interessenvertretungen. Im Zuge von Tarifabweichungen werden von ihnen Zugeständnisse im Kernbereich ihrer interessenpolitischen Zuständigkeiten erzwungen, nämlich bei den elementaren materiellen Arbeitsstandards wie Löhnen und Arbeitszeiten. Ansatzpunkte der Modernisierung scheinen deshalb dort noch weit weniger wahrscheinlich als in anderen gewerkschaftspolitischen Handlungsfeldern. Hinzu kommt: Solche Zugeständnisse waren bis vor zwei Jahrzehnten noch quasi undenkbar, obschon es sie in Einzelfällen bereits in den 1980er Jahren gab. Als systematisches Element der Arbeitsregulierung aber wären sie von Gewerkschaften und Betriebsräten einem Traumreich gewerkschaftsfeindlicher Arbeitgeber zugewiesen worden. Kollektivvertragliche Regulierungen zielten nur in eine Richtung, und diese lautete: Verbesserung der kollektiven Arbeitsstandards der abhängig Beschäftigten durch Lohnerhöhungen, Arbeitszeitverkürzungen, Leistungsbegrenzungen oder betriebliche Zusatzleistungen der Arbeitgeber. Rückschritte bei den Arbeitsstandards und betriebliche Abweichungen nach unten wären von den Interessenvertretungen als Angriff auf die eigenen Kernkompetenzen und als Ausdruck machtpolitischen Versagens gedeutet worden. Doch mittlerweile gehören Tarifabweichungen zum Regulierungsalltag von Gewerkschaften und Betriebsräten, und dies sogar legitimiert durch die Flächentarifverträge, in denen betriebsbezogene Unterschreitungen von Tarifstandards
T. Haipeter, K. Dörre (Hrsg.), Gewerkschaftliche Modernisierung, DOI 10.1007/978-3-531-93332-0_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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erlaubt werden. Die meisten Gewerkschaften haben mit diesen Regelungen Tarifabweichungen offiziell anerkannt. Dies geschah häufig nicht ohne äußeren Druck, sei es dem der Arbeitgeberverbände, dem der Politik oder dem einer sich verändernden Tariflandschaft, in der inoffizielle Tarifunterschreitungen sich immer rascher ausbreiteten und die Tarifverträge, deren Verbreitungsrad ohnehin abnahm, auch von innen zu durchlöchern drohten. Nur aus dieser Defensive ist zu erklären, dass Gewerkschaften und Betriebsräte Tarifabweichungen auf tariflicher und betrieblicher Ebene zugestimmt haben. Offensichtlich hat sich die Machttektonik der industriellen Beziehungen grundsätzlich verschoben. Damit ist aber noch nicht die ganze Geschichte der Tarifabweichungen erzählt. Ein genauerer Blick auf die betriebliche und gewerkschaftliche Praxis im Umgang mit Tarifabweichungen zeigt nämlich, dass in der machtpolitischen Defensive erstaunlicherweise auch Chancen liegen. Für diese Chancen zeichnen sich drei Ansatzpunkte ab, die im Folgenden eingehender analysiert werden: erstens die Verbesserung der gewerkschaftlichen Kontrolle über Tarifabweichungen, die daraus entsteht, dass Gewerkschaften Tarifabweichungen aktiv koordinieren und die Verhandlungen führen und unterstützen; zweitens die Stärkung der Betriebsräte in den betrieblichen Arbeitsbeziehungen gegenüber dem Management durch Entwicklung eigenständiger Verhandlungsstrategien gemeinsam mit den Gewerkschaften; und drittens schließlich die Stärkung der betrieblichen Organisationsmacht der Interessenvertretungen durch neue Formen der Einbindung der Beschäftigten bzw. der Organisationsmitglieder. Meine Ausführungen beruhen auf einem Forschungsprojekt über Mitbestimmung bei Tarifabweichungen, das ich im letzten Jahr abgeschlossen habe und das von der HansBöckler-Stiftung finanziert wurde. In diesem Forschungsprojekt habe ich insgesamt zwölf − und jeweils sechs − betriebliche Fälle von Tarifabweichungen aus der Chemischen Industrie und der Metallindustrie ausführlich studiert und diese um Interviews mit Tarifexperten von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden sowie um Datenauswertungen ergänzt (dazu auch Haipeter 2010).
Tarifabweichungen und Kontrolle Abweichungen und das Kontrollproblem Der erste Ansatzpunkt für Handlungschancen der Interessenvertretungen bei Tarifabweichungen bezieht sich auf die Kontrolle von Prozessen und Inhalten der Tarifabweichungen. In diesem Zusammenhang ist es nützlich, zunächst einmal einen genaueren Blick darauf zu werfen, was Tarifabweichungen eigentlich sind. Naheliegenderweise nähert man sich dem Gegenstand Tarifabweichungen
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am besten über betriebliche Beschäftigungsbündnisse. Betriebliche Beschäftigungsbündnisse sind seit Mitte der 1990er Jahre fester Bestandteil der Arbeitsregulierung in Deutschland. Sie zeichnen sich als „Tauschpakete“ (Massa-Wirth 2007) durch zwei Merkmale aus: Sie visieren erstens eine Zielkombination aus Beschäftigungssicherung und Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit an, und sie können zweitens eine Vielzahl originär tariflicher Regelungsgegenstände behandeln (Seifert und Massa-Wirth 2005). Tarifabweichungen können als eine von zwei Varianten betrieblicher Bündnisse verstanden werden, die sich mit Blick auf ihr Verhältnis zu den Tarifnormen unterscheiden. Auf der einen Seite gibt es die Bündnisse, in denen die Tarifnormen gewahrt werden und sich die materiellen Konzessionen auf Spielräume innerhalb dieser Normen oder auf übertarifliche Leistungen beziehen. Davon grenzen sich Tarifabweichungen auf der anderen Seite dadurch ab, dass sie temporäre Unterschreitungen von Tarifnormen festlegen, und diese Unterschreitungen von den Tarifvertragsparteien legitimiert werden. Deshalb geht mit Tarifabweichungen zwangsläufig eine mehr oder weniger offene Normkonkurrenz der Arbeitsstandards zwischen betrieblicher und überbetrieblicher Ebene einher, die Probleme für die Prägekraft der Flächentarifverträge aufwirft. Ihre Legitimierung seitens der Tarifvertragsparteien hebt die Tarifabweichungen zugleich von informellen Unterschreitungen der Tarifnormen ab. Auch diese wilde Dezentralisierung kann im Rahmen betrieblicher Bündnisse vorkommen, und dies ist auch keinesfalls selten (Rehder 2003). Aber im Unterschied zur Tarifabweichung fällt für die wilde Dezentralisierung die Diagnose ihrer Auswirkungen auf die Flächentarifverträge eindeutig aus. Sie bewirkt eine Erosion der Tarifvertragsnormen. Tarifnormen verlieren ihre Prägekraft für die unterschreitenden Betriebe, und es gibt keine kollektiven Akteure, die auf Wiedereinhaltung der Tarifnormen drängen würden. Bei der Tarifabweichung hingegen wird die Unterschreitung von den Tarifvertragsparteien offiziell legitimiert und in den meisten Fällen auch aktiv umgesetzt. Die entscheidende empirische Frage ist daher, ob dies für die Prägekraft der Flächentarifverträge einen Unterschied macht. Die Verbindung von Tarifunterschreitung und Legitimation legt es auf den ersten Blick nahe, die Tarifabweichung als „kontrollierte“ oder „organisierte Dezentralisierung“ zu bezeichnen (Traxler 1995). Denn in der Kontrolle scheint der entscheidende Unterschied zur wilden Dezentralisierung zu bestehen. Die Kontrolle der Tarifabweichung ist jedoch keine Selbstverständlichkeit, die sich automatisch aus der Existenz entsprechender Regelungsnormen im Tarifvertrag ergibt. Ob die Tarifabweichung tatsächlich ein kontrollierter Prozess ist, kann erst nach Untersuchung der damit verbundenen sozialen Praktiken und ihrer materiellen Ergebnisse beurteilt werden. Sie entsteht nur als Ergebnis einer akti-
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ven Ordnungsleistung der Tarifakteure. Besteht eine solche Kontrolle nicht, wäre in den Auswirkungen kaum ein Unterschied zwischen der Tarifabweichung und der wilden Dezentralisierung festzustellen. Die Kontrolle der Tarifabweichung hat zwei eng miteinander verbundene Dimensionen. Die erste Dimension ist die inhaltliche Kontrolle. Damit ist die Kontrolle der Anzahl der Tarifabweichungen und ihrer Inhalte gemeint. Je weniger Tarifabweichungen abgeschlossen werden und je geringer die damit verbundenen materiellen Konzessionen im Vergleich zu den Flächentarifvertragsstandards sind, umso eher kann von einer kontrollierten Dezentralisierung gesprochen werden und umso geringer sind die negativen Auswirkungen der Tarifabweichungen auf die Prägekraft der Flächentarifvertragsnormen. Je weniger Vereinbarungen also beispielsweise Arbeitszeitverlängerungen ohne Entgeltausgleich enthalten und je geringer die Arbeitszeitverlängerungen im Durchschnitt sind, umso weniger büßen die Tarifvertragsnormen an Geltung ein. Einen wichtigen Aspekt hierbei stellen auch die Gegenleistungen der Unternehmen wie Beschäftigungs- und Standortsicherung oder Investitionszusagen dar, in denen materielle Konzessionen zumindest teilweise aufgewogen werden können und zugleich die Perspektive einer Rückkehr zu den Flächentarifvertragsnormen angelegt sein kann. Die zweite Dimension ist die Prozesskontrolle. Sie bezieht sich auf das Problem der Artikulation von Tarifabweichungen zwischen den Organisationsebenen der Tarifverbände (Crouch 1993), also auf die Frage, wie in den Verbandsorganisationen Zuständigkeiten und Kommunikationswege gestaltet werden. Prozesskontrolle umfasst sowohl die Transparenz von Verfahren und die Entscheidung über die Einleitung von Verfahren − also die Bewertung der Ausgangsbedingungen in den Unternehmen − als auch die Kontrolle der Verhandlungsdynamik und ihrer Ergebnisse. Dazu gehört auch die Koordination unterschiedlicher Unternehmen einer Branche oder unterschiedlicher Standorte in einem Konzern, die dem Ziel der Eindämmung einer Konkurrenz über Arbeitskosten dient. Tarifliche Regelungen zur Tarifabweichung in den Untersuchungsbranchen In den beiden Untersuchungsbranchen wurden bereits in der ersten Hälfte der 1990er Jahre Regelungen zur Tarifabweichung in den Flächentarifverträgen verankert, und in beiden Branchen wurden diese Regelungen schrittweise thematisch und hinsichtlich ihrer Bedingungen und Geltungsbereiche ausgeweitet. Dies geschah jedoch unter sehr unterschiedlichen tarifpolitischen Vorzeichen. In den Tarifverträgen der chemischen Industrie existieren mehrere Regelungen zur Tarifabweichung. Sie werden von den Tarifparteien selber als Öff-
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nungsklauseln oder Flexibilisierungsinstrumente bezeichnet und zugleich als tarifpolitische Innovationen gedeutet, die durch Verbreiterung der Flexibilisierungsmöglichkeiten für die Unternehmen die Prägekraft des Flächentarifvertrages stärken und Tarifbindung sichern sollen. Die Regelungen wurden vor dem Hintergrund einer hohen Tarifbindung abgeschlossen. Der Organisationsgrad der Arbeitgeberverbände nach Unternehmen liegt bei über 50%, und der nach Beschäftigten nach Angaben der IG BCE bei knapp 90%; legt man die Daten des IAB zugrunde, bewegt sich letzterer in 2007 für Westdeutschland zwischen 81% (Bergbau und Energie) und 64% (Grundstoffverarbeitung) (Ellguth und Kohaut 2008). Insgesamt gibt es fünf tarifliche Regelungen, die betriebsbezogene Unterschreitungen von Tarifnormen erlauben. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie Abweichungsthemen festlegen, dass sie zumeist Bandbreiten für Abweichungen definieren und dass sie Verhandlungen der Betriebsparteien sowie einen Zustimmungsvorbehalt der Tarifvertragsparteien vorsehen. 1.
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Arbeitszeitkorridor: Die 1994 geltende Regelung erlaubt die Arbeitszeitverlängerung oder -verkürzung um bis zu 2,5 Stunden mit Entgeltausgleich. Erstreckt sich die Geltung der Abweichung auf größere Betriebe oder Betriebsteile, ist die Zustimmung der Tarifvertragsparteien verpflichtend. Entgeltkorridor: Die Anfang 1998 in Kraft getretene Regelung eröffnet die Möglichkeit einer Entgeltabsenkung um bis zu 10%. Sie ist geknüpft an die Bedingungen wie die Beschäftigungssicherung, die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit oder wirtschaftliche Schwierigkeiten des Unternehmens. Der Abbau übertariflicher Leistungen soll Vorrang haben. Jahresleistung/Einmalzahlung: Die Anfang 2002 vereinbarte Regelung lässt eine Veränderung der Höhe und des Auszahlungszeitpunktes der Jahresleistung (oder anderer Einmalzahlungen wie des Urlaubsgeldes) für das laufende Kalenderjahr zu. Auch hier sind Kürzungen wirtschaftlich zu begründen, und Reduzierungen übertariflicher Leistungen sollten Vorrang haben. Tarifkonkurrierende Betriebe: Nach der seit Mitte 2002 gültigen Regelung können die Betriebsparteien für einzelne Betriebe oder Betriebsteile befristet niedrigere Entgeltsätze aushandeln, sofern diese in einer Tarifkonkurrenz zu anderen Tarifverträgen stehen. Die Abweichung kann nach Betriebsvereinbarung auch unbefristet weiter gelten. Firmenbezogene Verbandstarifverträge: Ebenfalls seit Mitte 2002 existiert die Möglichkeit, eine vom Verbandstarifvertrag abweichende Tarifvereinbarung für ein Unternehmen analog einem Haustarifvertrag zu treffen. Dieses Instrument soll der Ergänzung dienen und erst nach Prüfung anderer Möglichkeiten genutzt werden. Abweichungen können zu allen tariflichen The-
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men vereinbart werden und sind durch die Tarifvertragsparteien abzuschließen. In der Metallindustrie war die Durchsetzung der Öffnungsklauseln durch Konflikte geprägt. Die 1993 vereinbarte Härtefallklausel kam nur durch die vorzeitige Kündigung der ostdeutschen Tarifverträge und konfliktreiche Tarifverhandlungen zu Stande, und die Pforzheimer Vereinbarung von 2004 ist ohne den offenen Druck der rot-grünen Bundesregierung und die Drohung zur Verabschiedung gesetzlicher Regelungen für Tarifabweichungen im Jahr 2003 nicht zu verstehen. Dennoch war gerade die Pforzheimer Vereinbarung auch eine Reaktion auf wachsende Probleme der Tarifpraxis in der Branche. Zu diesen Problemen zählten sowohl die Ausweitung der wilden Dezentralisierung (vor allem in Ostdeutschland) als auch die Intransparenz und mangelnde Kontrolle über Tarifabweichungen (vor allem in Westdeutschland). Erschwerend kam eine starke Abnahme der Tarifbindung der Betriebe hinzu, die nach Beschäftigten zwischen 1990 und 2007 von über 70% auf nur noch gut 56% zurückging. Insgesamt existieren in der Metallindustrie drei flächentarifvertragliche Regelungen zur Tarifabweichung. Sie zeichnen sich im Unterschied zu den Regelungen der chemischen Industrie dadurch aus, dass sie keine thematischen Beschränkungen vornehmen, dass sie keine Schwellenwerte für das Ausmaß materieller Konzessionen festlegen und dass sie nicht als Betriebsvereinbarungen zu verhandeln sind, sondern den Status von ergänzenden Tarifvereinbarungen haben. Die drei Regelungen sehen im Einzelnen wie folgt aus: 1.
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Härtefallklauseln: Die seit Frühjahr 1993 für die ostdeutschen Tarifgebiete geltenden Härtefallklauseln erlauben Tarifabweichungen durch die Tarifvertragsparteien ohne thematische Einschränkungen, Bedingung ist aber der Nachweis einer wirtschaftlichen Krisensituation des Unternehmens. Sanierungsregelungen: Seit Mitte der 1990er Jahre wurden in mehreren westdeutschen Tarifgebieten Öffnungsklauseln vereinbart, die unternehmensbezogene Abweichungen für den Fall wirtschaftlicher Schwierigkeiten erlaubten. Teilweise waren diese Regelungen auf bestimmte Themen – wie die Verschiebung von Entgelterhöhungen – beschränkt, teilweise waren sie auch thematisch offen. Pforzheimer Vereinbarung: In der Pforzheimer Vereinbarung des Jahres 2004 wird die Begrenzung auf Sanierungsfälle aufgehoben. Als Bedingung für den Abschluss einer Tarifabweichung gelten die Sicherung oder der Ausbau der Beschäftigung sowie die Verbesserung der Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit und der Investitionsbedingungen. Die Vereinbarung sieht dafür die Prüfung von Maßnahmen durch die Betriebsparteien unter Hinzu-
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ziehung der Tarifvertragsparteien vor. Die Unternehmen sind zu einer umfassenden Information und der Bereitstellung entsprechender Unterlagen verpflichtet. Anzahl und Inhalte der Tarifabweichung Die Datenlage zur Verbreitung von Tarifabweichungen und ihren Inhalten ist für die beiden Branchen unterschiedlich. Für die chemische Industrie liegen Daten der Gewerkschaft und des Arbeitgeberverbandes zur Nutzung der Tarifabweichung für den gesamten Zeitraum der Geltung der entsprechenden Tarifregelungen vor. Allerdings beziehen sich diese Daten nur auf die Verbreitung der einzelnen Instrumente, nicht aber auf die Verbreitung abweichender Vereinbarungen. Auch existieren keine weiteren Informationen über die Inhalte der Abweichungen oder die Gegenleistungen der Unternehmen. Für die Metallindustrie kann auf meine Analyse der Tarifabweichungen nach Pforzheim zurückgegriffen werden (Haipeter 2009). Die Auswertung ermöglicht Aussagen zur Anzahl, zu materiellen Konzessionen, Gegenleistungen und Verfahrensregelungen der Vereinbarungen. Dass sich keine Angaben zur Verbreitung der Tarifabweichung vor 2004 machen lassen, war ein gewichtiger Teil des Problems, das schließlich auch zum Pforzheimer Tarifvertrag geführt hat. In der chemischen Industrie waren die Anteile der Instrumente zur Tarifabweichung Ende 2006 wie folgt verteilt. Der Arbeitszeitkorridor ist mit einem Anteil von 41% das eindeutig am häufigsten genutzte Instrument, gefolgt vom Entgeltkorridor mit 33%. Mehr als jede fünfte Nutzung entfällt auf die firmenbezogenen Verbandstarifverträge. Die Einmalzahlung rangiert mit einem Anteil von 13% auf dem vierten Platz. Tarifkonkurrierende Regelungen beispielsweise für Dienstleistungsbereiche der Unternehmen spielen nur eine untergeordnete Rolle. Aus den Interviews und Fallstudien ist bekannt, dass die Abweichungsinstrumente häufig auch gemeinsam genutzt werden. Besonders beliebt dabei ist die Verbindung von Arbeitszeitverlängerung und Entgeltkürzung. Unter den Arbeitszeitabweichungen dominierte 2006 die Arbeitszeitverlängerung mit einem Anteil von fast 80%, und darunter sahen fast drei Viertel eine Verlängerung von 37,5 auf 40 Wochenstunden vor. Arbeitszeitverkürzungen spielen mithin nur eine geringe Rolle bei den Tarifabweichungen. Zu den Inhalten der firmenbezogenen Verbandstarifverträge wie auch der tarifkonkurrierenden Regelungen liegen keine Informationen vor. Es ist davon auszugehen, dass in diesen Vereinbarungen die Grenzen der Korridore überschritten wurden und damit das materielle Niveau der Konzessionen höher ist, weil ansonsten die Korridore hätten genutzt werden können. Das Muster der zeitlichen Dynamik der Tarifabwei-
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chung ist für die Korridorregelungen und die Jahresleistung – nur zu diesen Instrumenten existieren Zahlen – ähnlich (siehe Abb. 1). Einer zunächst geringen Nutzung folgt in 2004 ein starker Anstieg, der seinen Scheitelpunkt 2005 erreicht und dann wieder zurückgeht. Abb. 1:
Erteilte Genehmigungen für die drei Korridore der Chemischen Industrie und Ergänzungstarifverträge in der Metall- und Elektroindustrie (nach: IG BCE; eigene Erhebungen 2009)
450 400 350 300
Arbeitszeitkorridor Chemie
250
Entgeltkorridor Chemie
200 Jahresleistung Chemie 150 100
Ergänzungstarifverträge Metall
50 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007
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In der Metallindustrie ähnelt der zeitliche Verlauf der Tarifabweichung stark dem der chemischen Industrie (Abb. 1). Auch hier schnellte die Anzahl der Ergänzungstarifverträge zunächst 2005 hoch um dann in 2006 wieder deutlich abzusinken. Von den im Zeitraum von 2004 bis 2006 abgeschlossenen insgesamt 850 abweichenden Vereinbarungen entfielen 48% auf das Jahr 2005, aber nur 32% auf 2006 und 20% auf 2004. Der Rückgang 2006 lässt sich zwar auch mit konjunkturellen Effekten erklären, gründet sich aber vor allem auf eine Verbesserung der inhaltlichen Kontrolle durch die Gewerkschaften. Die Abweichungsquote bezogen auf alle tarifgebundenen Unternehmen der Branche liegt 2006 bei gut 10%. Ähnlich lautet auch eine gewerkschaftliche Schätzung für die chemische Industrie (Förster 2008). Die Tarifabweichung hat sich damit als Element des Tarifsystems in der Breite etabliert, ist aber weit davon entfernt, sich wie ein Flächenbrand auszuweiten.
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Anders als in der chemischen Industrie sind in der Metallindustrie die wichtigsten Konzessionsthemen Arbeitszeit und Entgelt etwa gleich verbreitet. Das wichtigste Einzelthema der materiellen Konzessionen aber war die Arbeitszeitverlängerung ohne Entgeltausgleich, die in gut 58% aller Vereinbarungen enthalten war. 60% darunter bestanden wiederum aus Verlängerungen der Wochenarbeitszeit. Andere Formen waren zusätzliche Arbeitszeitkontingente oder Qualifizierungszeiten. Im Durchschnitt betrug die zusätzliche Wochenarbeitszeit etwa 3,5 Stunden. Obwohl die Gewerkschaft Arbeitszeitverlängerungen häufig zustimmen musste, konnte sie in diesem Rahmen doch auch Erfolge erzielen. Ein Hinweis darauf ist, dass die Verlängerung der Wochenarbeitszeiten von 2004 bis 2006 von durchschnittlich 3,7 auf 3,4 Stunden abnahm. Ein weiterer Hinweis ist die Zunahme von Rückkehrregelungen, in denen verbindliche Schritte zur Rückkehr auf das Flächentarifvertragsniveau während der Laufzeit der Vereinbarung definiert werden. Ihr Anteil an den Wochenarbeitszeitverlängerungen betrug 2006 fast 30%, während es in 2004 solche Regelungen praktisch noch gar nicht gab. Abb. 2:
Anteile der Gegenleistungsthemen an den abweichenden Vereinbarungen (eigene Auswertung)
Insbesondere bei den Gegenleistungen der Unternehmen aber sind Erfolge der materiellen Kontrolle der Tarifabweichungen durch die Gewerkschaft unübersehbar. Alle in den Tarifabweichungen ausgehandelten Gegenleistungen mit Ausnahme von Bonusregelungen, die besondere Leistungen für Gewerkschafts-
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mitglieder definieren, weisen stark steigende Anteile auf (siehe Abb. 2). Inzwischen gibt es kaum mehr eine Tarifabweichung, die keine Beschäftigungssicherung enthält. Hoch einzuschätzen ist der Anstieg der Investitionszusagen, die wegen ihres Beitrags zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit eine Perspektive der Rückkehr zu den Flächentarifvertragsnormen enthalten (freilich ohne diese zu garantieren), zumal die durchschnittliche Investitionssumme pro Vereinbarung im Untersuchungszeitraum vervielfacht werden konnte. Bemerkenswert sind auch die verbesserten Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmervertreter, hinter denen sich vor allem Kontrollrechte für die Umsetzung der Tarifabweichung verbergen. Die Kontrollpraxis der Gewerkschaften Die Kontrollerfolge bei Verbreitung und Inhalten der Tarifabweichungen haben ihre Ursache in einer neuartigen Prozesskontrolle. In beiden Branchen war die Ausweitung der Tarifabweichung von Problemen der Artikulation zwischen den unterschiedlichen Ebenen der Gewerkschaften begleitet. Und in beiden Branchen haben die Gewerkschaften darauf mit dem Versuch einer Stärkung der zentralen Kontrolle reagiert. Das Artikulationsmuster zwischen den Verbandsebenen hat sich bei den Gewerkschaften der beiden Branchen erstaunlich gleichartig entwickelt. In beiden Branchen wurde nach Abschluss der jeweiligen tariflichen Regelung dem Problem der Artikulation zunächst keine größere Beachtung geschenkt. In der chemischen Industrie lag die Handlungsinitiative ganz bei den Betriebsparteien. In vielen Fällen wurden Vereinbarungen betrieblich verhandelt und dann der Gewerkschaft als Vorlage zur Unterschrift zugeschickt, die diese dann erst prüfte und – zumeist – akzeptierte. In der Metallindustrie wiederum schien bereits mit der Pforzheimer Vereinbarung durch verpflichtende Nachweise der wirtschaftlichen Situation und die aktive Rolle der Tarifvertragsparteien das drängende Kontrollproblem gelöst. In beiden Branchen aber wurden dann im Zuge des starken Anstiegs der Tarifabweichungen zwischen 2004 und 2005 von den Gewerkschaften neuartige Kontrollprobleme wahrgenommen. In dieser Phase verstärkte sich das Interesse der Unternehmen an Tarifabweichungen, in der Metallindustrie nicht zuletzt wegen der Vereinbarung von Pforzheim, in der chemischen Industrie aber auch unabhängig von neuen tariflichen Regelungen. Und im Zentrum dabei standen Arbeitszeitverlängerungen ohne Entgeltausgleich. In der IG BCE wurde die neue Dynamik der Abweichung als Bedrohung für die Prägekraft der Flächentarifverträge gedeutet. Dies galt umso mehr, als sich in den Jahren 2004 und 2005 Fälle häuften, bei denen den Betriebsräten Tarifab-
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weichungen durch Drohungen wie Standortverlagerungen oder Outsourcing auch in wirtschaftlich erfolgreichen Unternehmen abgerungen oder sogar, wie im Falle eines Reifenstandortes von Continental, bereits getroffene Vereinbarungen von Unternehmensleitungen nicht eingehalten worden waren. In dieser Situation wurde im Verlauf des Jahres 2005 vom Vorstand der Gewerkschaft eine so bezeichnete „interne Verabredung“ mit dem Ziel der Steigerung der prozeduralen Kontrolle entwickelt. Das darin skizzierte idealtypische Verfahren sah folgende Stufen vor: die umgehende Information an die Gewerkschaft über ein Abweichungsinteresse auf allen Ebenen (wobei die Tarifabteilung im Vorstand nach Prüfung der wirtschaftlichen Ausgangsbedingungen über den Beginn von Verhandlungen entscheidet); Verhandlungen im Betrieb mit Teilnahme eines gewerkschaftlichen Vertreters (in kleineren Unternehmen von Bezirk oder Landesbezirk, in größeren Unternehmen zumeist ein Tarifsekretär der Tarifabteilung); Kommunikation der Verhandlungen und Ergebnisse in Mitgliederversammlungen; und schließlich Erfassung und vor allem Genehmigung des Falls durch die Tarifabteilung. In der Praxis sollte damit eine zentrale Kontrolle bei Genehmigung sowohl der Verhandlung als auch des Verhandlungsergebnisses sichergestellt werden. Eindeutige inhaltliche Kriterien für Ablehnungen wurden dabei nicht formuliert. Es wurde aber vorgegeben, dass Tarifabweichungen, die offensichtlich vornehmlich dem Ziel der Steigerung der Rendite dienen, nicht zu genehmigen sind ebenso wenig wie Vereinbarungen, die absehbar Abweichungswünsche bei Konkurrenten oder konkurrierenden Standorten nach sich ziehen. Neu war auch die Empfehlung, die Mitglieder über Information einzubinden, was zuvor gar keine Rolle gespielt hatte. In der Metallindustrie hatte die neue Tarifregelung zunächst den Effekt, dass die Kontrollprobleme offen zu Tage traten, die zuvor durch den Schleier der Intransparenz verdeckt worden waren. Wie in der chemischen Industrie mehrten sich in den Jahren 2004 und 2005 Fälle, in denen Betriebsräte ohne Beteiligung der Gewerkschaft weitgehende materielle Konzessionen – insbesondere der Arbeitszeitverlängerung ohne Entgeltausgleich − zusagten, die von der Gewerkschaft kaum mehr rückgängig gemacht werden konnten. Die IG Metall hat in dieser Situation im Jahr 2005 „Koordinierungsregeln“ entwickelt, die Informationspflichten, Verfahrensabläufe und Entscheidungskompetenzen für die Aushandlung von Abweichungen festlegten. Dazu gehörten folgende Punkte: Anträge auf Verhandlung von Abweichungen sind an die Bezirksleitungen zu stellen und von diesen auf der Grundlage umfassender Informationen des Betriebes zu entscheiden; Bezirksleitungen können die Verwaltungsstellen zu Verhandlungen ermächtigen; Verhandlungen sind von betrieblichen Tarifkommissionen zu begleiten, die eine Beteiligung der Mitglieder sicherstellen sollen; und Verhand-
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lungsergebnisse sind schließlich an den Vorstand weiterzuleiten, der sie zu genehmigen und zu verantworten hat. Die Regelungen beider Branchen ähneln sich stark. In beiden Fällen geht es um die zentrale Kontrolle von Informations- und Entscheidungsflüssen sowohl bei der Zustimmung zu Verhandlungen als auch zu den Verhandlungsergebnissen. Die neuen Verfahrensrichtlinien haben sich mittlerweile in beiden Branchen fest etabliert. Abweichungen werden zentral angekündigt, es finden kaum mehr Verhandlungen ohne Beteiligung der Tarifparteien statt, und die Tarifparteien haben das letzte Wort bei der Entscheidung über Annahme oder Ablehnung eines Verhandlungsergebnisses. Ein wichtiger Punkt dabei ist auch, dass in beiden Gewerkschaften die Konzern- oder Brancheneffekte einer Tarifabweichung jeweils eigens betrachtet und als wichtiger Bewertungsfaktor herangezogen werden. Sollten Tarifabweichungen absehbar Einfluss auf die Konkurrenzsituation zwischen Konzernunternehmen oder zwischen Unternehmen einer Teilbranche haben, werden sie abzuwehren versucht. Einen Unterschied zwischen den Koordinierungsregeln beider Gewerkschaften gibt es aber doch. Er besteht im Partizipationsgehalt der Verfahren. In der chemischen Industrie wird die Information der Gewerkschaftsmitglieder in Mitgliederversammlungen zwar empfohlen, doch eine systematische Beteiligung ist damit nicht verbunden. In der Metallindustrie hingegen sollen die Bildung betrieblicher Tarifkommissionen sowie Mitgliederentscheidungen über Verhandlungen und Verhandlungsergebnisse die Mitgliederbeteiligung in den Verfahren sicherstellen. Ausdrückliches Ziel dieser „betriebsnahen Tarifpolitik“ ist die Stärkung der gewerkschaftlichen Organisationsmacht im Betrieb durch Mitgliederbindung und -rekrutierung (Huber et al. 2006). Diese Koordinierungsregel sollte sich als überaus bedeutsam für die Entwicklung der Organisationsmacht der Interessenvertretungen im Betrieb erweisen.
Betriebsräte Betriebsräte als neue Tarifakteure Die Betriebsräte spielen in der Tarifabweichung eine zentrale Rolle. Sie werden zu „neuen Tarifakteuren“ (Haipeter 2010). Offensichtlich ist dies in den Fällen, in denen Tarifabweichungen die Form von Betriebsvereinbarungen haben (wie in der chemischen Industrie), denn diese unterliegen formal der Regelungshoheit der Betriebsparteien. Aber auch in den Fällen, in denen Tarifabweichungen den Status von Ergänzungstarifverträgen haben, sind Betriebsräte als Tarifakteure im Spiel. Auch dann sind sie die ersten Adressaten von Abweichungsforderungen
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des Managements, nehmen sie führend an den Verhandlungen über Abweichungen teil, müssen sie die Verhandlungen mit der Gewerkschaft koordinieren, müssen sie sich die Unterstützung der Belegschaft sichern und müssen sie schließlich maßgeblich die Umsetzung der Vereinbarung im Betrieb kontrollieren. Die formalen Unterschiede im Regelungsstatus der Tarifabweichungen ändern daran wenig. Was bedeutet es aber für die Position der Betriebsräte im Betrieb, wenn die Betriebsräte Tarifabweichungen verhandeln? Hierbei ist zunächst an die Beziehungen der Betriebsräte zum Management zu denken. Verschärfen sich dadurch bestehende Machtasymmetrien gegenüber dem Management weiter? Oder können sich die Betriebsräte möglicherweise in den Auseinandersetzungen neue Machtressourcen erschließen? Und auf welche Weise kann dies gelingen? Aber auch die Beziehungen zu den Beschäftigten sind zentral, denn Tarifabweichungen sind ein emotionales Thema, das die Beschäftigten nicht kalt lässt. Hier liegt die Vermutung nahe, dass durch Tarifabweichungen Legitimationsprobleme für die Betriebsräte entstehen, sei es, weil sie die Beschäftigten zu Tarifabweichungen drängen, denen die Betriebsräte nur widerwillig nachgeben, oder sei es, weil sie Tarifabweichungen verhandeln wollen, diese aber von den Beschäftigten abgelehnt werden (dazu auch Rehder 2006). Die entscheidende Frage lautet deshalb, welche Strategien Betriebsräte entwickeln, um sich den Rückhalt der Beschäftigten zu sichern. Dass sie diesen Rückhalt brauchen, liegt auf der Hand; ohne ihn ist ihre Machtposition in den Verhandlungen schwach, und die Tarifabweichung könnte sich als politischer Selbstmord erweisen. Die doppelte Konstruktion Welche Folgen hat die Verhandlung von Tarifabweichungen für die Arbeitsbeziehungen zwischen Management und Betriebsrat? Zunächst einmal ist festzuhalten, dass in allen untersuchten Fällen die Verhandlungen mit einer Initiative des Managements begannen. Das Management wendet sich an den Betriebsrat mit dem Wunsch nach Tarifabweichungen und führt dafür jeweils Gründe an. Das Spektrum der Gründe reicht von Sanierungen über interne Standortkonkurrenz, die Androhung von Verlagerungen und Personalabbau bis hin zu Renditevorgaben oder dem von Endkunden ausgehenden Preisdruck. Immer zeichnet das Management ein Szenario der Bedrohung von Standorten und Beschäftigung, das nur durch Tarifabweichungen abgewendet werden kann. Diese Szenarien gewinnen durch zwei Entwicklungen an Überzeugungskraft und Dynamik und stellen sich deshalb als Sachzwänge dar: Die Globalisierung der Unternehmen und die damit verbundene Konkurrenz zu bestehenden oder potenziellen Auslandsstandorten auf der einen und die Finanzialisierung der Unternehmenssteue-
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rung (Kädtler 2003), die sich in finanzwirtschaftlichen Steuerungsformen und ambitionierten Zielrenditen niederschlägt, auf der anderen Seite. Dadurch wird die Verlagerung ins Ausland oder die Auslagerung von Produktions- oder Dienstleistungsumfängen an andere Unternehmen zu einer glaubhaften Gefahr. Die Forderung nach Tarifabweichungen kann als Ergebnis einer „doppelten Konstruktionsleistung“ der Unternehmensleitungen betrachtet werden. Die erste Konstruktionsleistung ist die Reorganisation der Unternehmen nach den angesprochenen Mustern von Internationalisierung und Finanzialisierung, in denen die Verschiebung von Produktionsumfängen zwischen Standorten und die Auslagerung oder Schließung dezentraler Einheiten tägliches Geschäft ist. Darauf setzt dann als zweite Konstruktion die Ableitung von Sachzwängen für Tarifabweichungen auf. Die als Bedrohung dargestellten Sachzwänge werden zumeist symbolisch aufgeladen. So ist im Fall eines Maschinenbauunternehmens auf einer Betriebsversammlung von der Unternehmensleitung eine Fotoserie eines neuen Werkes in Polen präsentiert worden, das demnächst die Produktion aufnehmen sollte und in das Produktionsumfänge aus den deutschen Werken verlagert werden sollten. Die Unternehmensleitung hatte seine Ankündigung der Verlagerung selbst nicht mit konkreten Forderungen nach Tarifabweichungen verbunden. Das musste sie auch gar nicht, denn es waren schließlich die Arbeitnehmervertreter, die im Rahmen des Aufsichtsrates auf den Vorstand zugegangen sind und angefragt haben, ob sich die Verlagerungen nicht durch eine Tarifabweichung noch vermeiden lassen. Wandel der Arbeitsbeziehungen Die Drohszenarien bedeuteten für die Betriebsräte in allen Fällen einen strukturellen Zwang. Sie konnten die Deutungen der Unternehmensleitungen nicht ignorieren. Die Bedrohung war so konkret, dass sie Verhandlungen für unvermeidlich hielten. Den Unternehmensleitungen ist es damit in allen Fällen gelungen, die Deutungshoheit über die Situation zu gewinnen und Verhandlungen zu erzwingen. Insofern steht es außer Frage, dass mit der doppelten Konstruktion von Sachzwängen eine Machtverschiebung zugunsten der Unternehmen verbunden ist. Dieser Befund reiht sich in Analysen ein, die mit der Globalisierung oder der Finanzialisierung Machtgewinne der Unternehmen einhergehen sehen (Dörre 2002; Kädtler 2006). Doch damit endet die Geschichte nicht. Die Betriebsräte haben nämlich in fast allen untersuchten Fällen die Herausforderungen angenommen, die mit der Aushandlung von Tarifabweichungen verbunden sind. Und dies heißt in erster Linie, dass sie sich neue Handlungs- und Verhandlungsfelder erarbeitet haben. Der für die Machtverteilung in den Arbeitsbeziehungen springende Punkt ist
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dabei, dass es ihnen häufig gelang, diese Felder mit Unterstützung der Gewerkschaft auch erfolgreich zu besetzen. Exemplarisch dafür steht der Fall eines Unternehmens der chemischen Industrie. Dort hatte sich der Konflikt um Tarifabweichungen an der Forderung des Unternehmens entzündet, die Arbeitszeit auf 40 Wochenstunden zu verlängern. In dieser Situation hat der Betriebsrat mit der Gewerkschaft die Lage des Unternehmens analysiert und einen eigenen Forderungskatalog für die Verhandlungen aufgestellt. Zu diesen Forderungen gehörte, dass die Arbeitszeitverlängerung nicht über die 39-Stunden-Woche hinausgehen sollte, dass zusätzliche Investitionen mit einer eindeutigen Summe festzuschreiben sind und dass für den Zeitraum einer Vereinbarung Auslagerungen unterlassen werden. Mit diesen Forderungen zogen die Interessenvertretungen in die Verhandlungen und machten deutlich, dass sie den Konflikt nicht scheuen. Im Ergebnis konnten sie ihre Forderungen weitgehend durchsetzen. Die Beziehungen zwischen den Betriebsparteien waren auch zuvor nicht partnerschaftlich, dabei jedoch von der wechselseitigen Anerkennung der Betriebsparteien als legitime Vertreter unterschiedlicher Interessen getragen. Der Konflikt um die Tarifabweichung hat deshalb zwar einerseits den Modus der Arbeitsbeziehungen nicht grundlegend verändert, anderseits aber ein neues Element in die Arbeitsbeziehungen eingebracht. Dieses neue Element ist die Stärkung der Position der Betriebsräte. Sie resultiert daraus, dass sich die Betriebsräte als kompetente Vertreter der Beschäftigteninteressen profilieren konnten, dass sie durch die Verhandlungserfolge an Selbstbewusstsein gewonnen haben und dass sie gegenüber dem Management ihre Konturen und ihre Achtung als Verhandlungspartner schärfen konnten. In den Worten der Betriebsräte klingt dies so: „Ich glaube, man hat jetzt im Management erkannt, dass wir einen sehr hochwertigen Betriebsrat haben. Das Ansehen des Betriebsratsgremiums und des Gesamtbetriebsrats wurde sicher gestärkt.“ (Betriebsräte im Gruppeninterview bei Chemie 3)
Auch für fast alle anderen untersuchten Fälle gilt: Betriebsräte und Gewerkschaft haben die Lage analysiert, haben gemeinsame Situationsdefinitionen entwickelt und haben auf dieser Grundlage eigene Positionen formuliert und eigene Forderungen aufgestellt, die sie in den Verhandlungen jeweils auch zu nicht unerheblichen Teilen haben durchsetzen können. Auf diese Weise konnten die Betriebsräte mit Hilfe der Gewerkschaft dem Management in den Verhandlungen „auf gleicher Augenhöhe“ entgegentreten, und dies haben sie auch selber im Vorhinein nicht unbedingt so erwartet. Sie waren nicht nur die Opfer konstruierter und trotzdem struktureller Zwänge, sondern haben in den meisten der untersuchten Fälle aktiv daran gearbeitet, die Situation zu ihren Gunsten neu zu strukturieren.
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Dabei herrschte in den Betriebsratsgremien selber zu Beginn der Verhandlungen auch alles andere als Einigkeit. Die Deutungsmuster waren überwiegend heterogen. Deshalb gab es in fast allen Gremien intensivere Diskussionen darüber, ob Verhandlungen eingegangen werden sollten. In allen Fällen waren die Betriebsratsvorsitzenden die entscheidenden Treiber für Verhandlungen. Sie waren zu der Überzeugung gelangt, dass Verhandlungen ohne echte Alternative sind, und sie haben dann ihre Gremien in Richtung Zustimmung zu Verhandlungen zusammengebunden. Dies geschah nicht mit autoritären, sondern mit diskursiven Mitteln. Die Betriebsratsvorsitzenden haben ihre Kollegen mit Argumenten zu überzeugen versucht und waren dabei sehr erfolgreich. Schwieriger erwies sich allerdings die Koordinierung mit anderen Standorten, die bei überbetrieblichen Verhandlungen relevant wurde. Auf überbetrieblicher Ebene wird die Heterogenität der Deutungen durch unterschiedliche Standortinteressen verstärkt. Die Betriebsräte waren mit der Koordinierung eindeutig überfordert: Es bedurfte jeweils der aktiven Koordinierung durch die Gewerkschaft als einigende Klammer, um ein Auseinanderdividieren der Standorte in den Verhandlungen zu verhindern. Ohne die Gewerkschaft, das betonen die Betriebsräte, wären sie bei Verhandlungen über Tarifabweichungen heillos überfordert. Eine Stärkung ihrer Position können die Interessenvertretungen in diesem Prozess nur gemeinsam erreichen. Die Bedeutung der Gewerkschaft zeigt sich in drei Punkten. An erster Stelle steht die gemeinsame Situationsanalyse. Betriebsräte und Gewerkschaft müssen ein gemeinsames Verständnis über das Ausmaß der Bedrohung und mögliche Probleme des Unternehmens gewinnen. Zentrales Element dabei ist die Prüfung der wirtschaftlichen Lage. Die Unternehmen sind in beiden Branchen angehalten, ihre Forderung in einem Papier ausführlich zu begründen, das wiederum von der Gewerkschaft – in der Metallindustrie zumeist ausgelagert an Experten – geprüft und mit einer Handlungsempfehlung versehen wird. Anschließend an die Handlungsempfehlung wird zweitens eine gemeinsame Verhandlungsstrategie und ein Forderungskatalog erarbeitet. Auch hierbei spielt der Erfahrungsschatz der Gewerkschaft eine wichtige Rolle. Denn im langjährigen Umgang mit Tarifabweichungen haben beide Gewerkschaften vielfältige Erfahrungen damit gemacht, welche Forderungen überhaupt wirksame Gegenleistungen sind, die den Unternehmen abgetrotzt werden sollten, und wie man diese Forderungen am besten in Vereinbarungstexte umsetzt. Drittens schließlich profitieren die Betriebsräte von den Verhandlungskompetenzen der gewerkschaftlichen Experten, für die inzwischen der Umgang mit Tarifabweichungen – und mit Unternehmensleitungen, die solche fordern – tägliches Geschäft ist. Wichtig ist in diesem Zusammenhang noch die Feststellung, dass die Stärkung der Betriebsräte nicht gleichbedeutend ist mit einem Übergang zum Co-
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Management. Im gesamten Untersuchungssample fand sich nur ein Unternehmen, wo der Betriebsrat die Tarifabweichung dazu hat einsetzen können, seinen Handlungsrahmen der Mitbestimmung zu erweitern und sich neue Gestaltungsfelder zu erschließen (dies ist ja der eigentliche Bedeutungsgehalt des Co-Managements, so in Müller-Jentsch 2007). Seine Praxis lässt sich als beteiligungsorientiertes Co-Management beschreiben, weil er auf der einen Seite in Lenkungsund Steuerkreisen mitwirkt und dadurch maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung der Arbeitsorganisation, aber auch auf Planungen und Abläufe insgesamt ausüben kann, und weil er auf der anderen Seite seine Modernisierungsvorschläge unter Einbeziehung der Beschäftigten erarbeitet. Diese Art des Co-Managements ist aber alles andere als ein Normalfall; die übrigen Betriebsräte der Samplefälle agieren anders und würden sich auch selber nicht als Co-Manager sehen. Es spricht daher wenig dafür, den Abschluss von Tarifabweichungen oder Standort- und Beschäftigungssicherungen generell als Co-Management zu bezeichnen (so Rehder 2003). Legitimationsprobleme der Interessenvertretungen und Wege der Einbindung Die Legitimation der Tarifabweichung gegenüber den Beschäftigten war in allen Untersuchungsfällen ein virulentes Problem für die Interessenvertretungen. Denn bei den Beschäftigten überwog eindeutig eine kritische Sicht der Tarifabweichungen. Tarifabweichungen wurden nicht als Instrument der Beschäftigungssicherung von ihnen gefordert, sondern sie wurden als Instrument der Umverteilung zugunsten der Unternehmen abgelehnt. Die Beschäftigten sahen ihre gemeinsam geteilten Gerechtigkeitsnormen verletzt, die durch lange Jahre der Lohnzurückhaltung schon strapaziert waren. Es entstand daher die Situation, dass die Interessenvertreter bei den Beschäftigten für Verhandlungen werben mussten, die ihnen von den Unternehmensleitungen aufgedrängt worden sind. Anders als von Rehder (2006) vermutet, brechen die Legitimationsprobleme der Beschäftigungssicherung in den Untersuchungsfällen nicht erst als Ergebnis einer Abfolge mehrerer Abweichungsvereinbarungen auf, sondern sind schon bei der ersten Abweichung akut, die in den Betrieben abgeschlossen wird. Die Interessenvertretungen reagierten darauf mit zwei Strategien. Die integrationsorientierte Strategie betont die Notwendigkeit der Tarifabweichung als Akt der Solidarität zwischen den Beschäftigten und argumentiert, dass gemeinsame Konzessionen nötig sind, um bestimmte Beschäftigte oder Beschäftigtengruppen vor dem Arbeitsplatzverlust zu bewahren. Die Strategie ist primär nach innen gerichtet, appelliert an das Zusammengehörigkeitsgefühl in einer Phase der gemeinsamen Bedrohung und wird zumeist von den Betriebsparteien koope-
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rativ gestützt. Die konfliktorientierte Strategie betont dagegen den Verteilungskonflikt mit dem Management und definiert das Ziel, in den Verhandlungen für die Beschäftigten das Beste herauszuholen. Sie erkennt die Forderung des Managements oder das Szenario der Bedrohung nicht als legitim an und unterstreicht den Zwangscharakter der Verhandlungen. Für die Verbreitung beider Strategien sind Betriebsversammlungen ein wichtiges Forum, sei es, um Einigkeit bei der Bewältigung der Probleme zu demonstrieren oder sei es, um das Management als Gegner aufzubauen. Doch allein dabei lassen es die Interessenvertretungen nicht bewenden. Aus Sicht aller Betriebsräte kommt der Beteiligung der Beschäftigten eine Schlüsselrolle bei der Überwindung des Legitimationsproblems zu. Allerdings verbergen sich hinter dem Begriff der Beteiligung sehr unterschiedliche Praktiken. Die Praxis der möglichst umfassenden Information wird von allen Betriebsräten angewendet. Neben Betriebsversammlungen werden dafür Flugblätter, schwarze Bretter, aber auch Abteilungsversammlungen und persönliche Gespräche vor Ort als Instrumente genutzt. Mit dieser Praxis konnte in allen Fällen vermieden werden, dass sich die Skepsis der Beschäftigten verfestigt oder sich sogar gegen die Interessenvertretungen entlädt. Denn den Betriebsräten ging es nicht nur um die Verbreitung von Informationen; vielmehr nutzten die Betriebsräte ihre Kommunikationswege zu den Beschäftigten auch dazu, ihre eigenen Deutungen der Situation und der Verhandlungen in der Belegschaft zu verankern. Dabei wurden nicht in allen Fällen auch alle Beschäftigten überzeugt; bei manchen Beschäftigten oder Beschäftigtengruppen hielt sich auch Kritik. Doch gelang es in den meisten Fällen, die Mehrzahl der Beschäftigten von der Notwendigkeit der Verhandlungen zu überzeugen. In einigen Fällen wurde aber auch mehr gemacht. Hier ging die Einbindung der Beschäftigten weit über Information und die Verbreitung von Deutungsmustern hinaus. So kam es in den Fällen konfliktorientierter Verhandlungsstrategien zumeist zu einer entweder spontanen oder geplanten Mobilisierung in Form kurzer Demonstrationen. Die Mobilisierung hat in allen Fällen großen Zuspruch gefunden. Die Beschäftigten zeigten dabei eine überschüssige Streikmotivation. Die Interessenvertretungen hatten teilweise Mühe, die Beschäftigten zu kontrollieren und die Mobilisierung in geordneten Bahnen zu halten. Unabhängig davon aber lässt sich feststellen, dass die Betriebsräte mit Hilfe der Mobilisierung die Kritik der Beschäftigten an der Tarifabweichung in eine Unterstützung ihrer Verhandlungsposition umlenken und in den Verhandlungskonflikt mit der Unternehmensleitung kanalisieren konnten. Neben Information und Mobilisierung stellte die Partizipation der Beschäftigten schließlich die dritte Form der Beteiligung dar. Sie beruht darauf, die Beschäftigten in die Entscheidungsprozesse der Verhandlungen einzubeziehen.
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Dies geschah in Form von Abstimmungen über die Aufnahme von Verhandlungen und über die Ergebnisse von Verhandlungen, aber auch in Form von Wahlen zur Zusammensetzung von Tarifkommissionen. Partizipation als Beteiligungsstrategie jedoch war eine gewerkschaftliche Strategie der IG Metall, keine Strategie der Betriebsräte. Zwar hatten zwei der untersuchten Betriebsräte auch in der chemischen Industrie Abstimmungen über Verhandlungen oder Verhandlungsergebnisse durchaus angedacht, aber sie schließlich doch nicht umgesetzt. Die Verhandlungen mit der Unternehmensseite fanden nach alter Sitte hinter verschlossenen Türen statt, allerdings angereichert um den Aspekt der gesteigerten Informationsaktivität. In beiden Fällen beließen es die Betriebsräte dann bei der Erhebung von „Stimmungsbildern“ auf Betriebsversammlungen, die aber keinen formalen Verfahren unterlagen und die ganz von den Deutungen der Betriebsräte abhingen, die sich weiterhin als Stellvertreter der Beschäftigteninteressen definierten. Beispiele beteiligungsorientierter Verfahren fanden sich nur in der Metallindustrie, und dort waren sie ein Ergebnis gewerkschaftlicher Konzepte und Initiativen. Die Betriebsräte hätten auch dort von sich aus derartige Verfahren kaum eingeführt. Deshalb ist der Blick auf partizipative Prozesse der Tarifabweichungen zwangsläufig auch ein Blick auf die Gewerkschaften und die Frage, welche Beiträge solche neuen Konzepte der Betriebs- und Tarifpolitik für ihre Erneuerung spielen könnten.
Gewerkschaften Erneuerung und Organizing Die Beteiligungserfahrungen, die mit Tarifabweichungen gemacht wurden, sind eine für Gewerkschaften qualitativ neue Entwicklung. Schon in den 1990er Jahren waren Rufe nach einer strategischen und organisatorischen Modernisierung der Gewerkschaften laut geworden. Unter den vielfältigen Vorschlägen fanden sich auch die einer Entwicklung von „Diskursgewerkschaften“ (Hoffmann et al. 1990) als Foren der offenen Diskussion unterschiedlicher Strategien und Wertmuster sowie von „Beteiligungsgewerkschaften“ (Morgenroth et al. 1994), in denen auch einfache Mitglieder ihre Interessen in die gewerkschaftliche Entscheidungsfindung einbringen können. Rückblickend lässt sich feststellen, dass die in den 1990er Jahren entwickelten Vorschläge zur Erneuerung der Gewerkschaften − von einigen lokalen Initiativen abgesehen (Bundesmann-Jansen und Frerichs 1995) − weitgehend folgenlos geblieben sind. Ein erster Grund dafür waren mögliche Zielkonflikte insbesondere zwischen Beteiligung und Organisationsmacht. Die Rufe nach Diskurs und Mitgliederpartizipation schienen auf den
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ersten Blick unvereinbar mit dem Erhalt von Geschlossenheit und Kampfkraft, die für tarifpolitische Auseinandersetzungen unverzichtbar sind (Silvia 1999). Ein zweiter Grund bestand darin, dass Konzepte wie Beteiligung und Diskurs nicht von starken Akteuren in den Gewerkschaften gefördert wurden, was bei der zentralistischen Verfasstheit der Organisationen auch wenig überrascht (Lipset et al. 1962). Der dritte Grund schließlich war die vergleichsweise feste institutionelle Verankerung der deutschen Gewerkschaften (Hassel 2007; Baccaro et al. 2003), die zur Folge hatte, dass sich die schwindende Organisationsmacht in den Betrieben zunächst nicht unmittelbar in einem Verlust tarifpolitischer Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften zeigte, sondern sich nur schleichend als langsames Abbröckeln der Tarifbindung bemerkbar machte. Mit der Rezeption neuer Strategien des gewerkschaftlichen Organizing aus den USA und Großbritannien hat die Debatte um gewerkschaftliche Erneuerung in Deutschland neue Impulse erhalten. Im Einzelnen weisen die Taktiken eine Spannbreite von der Kampagnenplanung und dem Einsatz professioneller Organizer − Campaigning − über die intensive Beteiligung der Beschäftigten in betrieblichen Organisationskomitees – Rank-and-file Participation − bis hin zur Bildung neuer Koalitionen mit sozialen Bewegungen − Social coalition building − auf (Frege 2000; dazu auch der Beitrag von Lehndorff in diesem Band). Die Strategien des Organizing haben inzwischen Eingang in Organisationsstrukturen und Praktiken der deutschen Gewerkschaften gefunden. Mehrere Einzelgewerkschaften, darunter mit Ver.di und der IG Metall auch die beiden mit Abstand größten, haben in ihren Zentralen spezielle Abteilungen eingerichtet, die sich auf die Mitgliedergewinnung und -beteiligung konzentrieren. Und auch an praktischen Beispielen für die Anwendung von Taktiken des Organizing mangelt es nicht (Dribbusch 2008; Greven und Schwetz 2008; Bormann 2007). Allerdings gilt es auch festzuhalten, dass bislang von einem systematischen Übergang zu einem Organisationsmodell des Organizing keine Rede sein kann. Möglicherweise liegt die Ursache dafür in Problemen der Übertragbarkeit des Konzeptes. Das Organizing ist in angelsächsischen Ländern entwickelt worden, in denen die institutionelle Macht der Gewerkschaften gering, der Dezentralisierungsgrad der Arbeitsstandards hoch, die gewerkschaftliche Präsenz in den Betrieben umkämpft und die Haltung der Arbeitgeber oftmals feindlich ist. In der Literatur werden insbesondere vier Probleme der Übertragung hervorgehoben. Erstens wäre die starke Konfliktorientierung des Organizing-Ansatzes kaum mit den sozialpartnerschaftlichen Beziehungsmustern des deutschen Modells verträglich (Frege und Kelly 2004; Behrens et al. 2003); zweitens läge im deutschen dualen System der Interessenvertretung die Verantwortung für die Mitgliederrekrutierung bei den Betriebsräten und nicht bei den Gewerkschaften, so dass die gewerkschaftlichen Einflussmöglichkeiten darauf begrenzt sind (Frege 2000);
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drittens löste das Organizing mit seinem Fokus auf die Präsenz der Gewerkschaft im Unternehmen nicht das zentrale Problem deutscher Gewerkschaften, auf Arbeitnehmer zu treffen, die an Gewerkschaften nicht interessiert sind (Rehder 2008); und viertens schließlich wären neue Koalitionen für die Gewerkschaften weniger aussichtsreich, weil soziale Bewegungen in Deutschland deutlich schwächer ausgeprägt sind als in den USA (Dörre 2008). In dieser Situation wird gerade der in der Metallindustrie zu beobachtenden Praxis, Verhandlungen zu Standortvereinbarungen mit neuen Formen der Mitgliederbeteiligung zu verbinden, große Bedeutung zugesprochen (Dörre 2008; Rehder 2008). Diese Praxis gilt gewissermaßen als „deutsche“ Variante der Revitalisierung. Diese Einschätzung mutet auf den ersten Blick überraschend an, sind doch Tarifabweichungen eigentlich Ausdruck einer Defensivlage und einer wachsenden Durchsetzungsschwäche der Gewerkschaften, die ihre Attraktivität für Mitglieder verringern könnte (Behrens et al. 2003). Außerdem spielten für die Gewerkschaften beim Abschluss der entsprechenden flächentarifvertraglichen Regelungen wie der Pforzheimer Vereinbarung in der Metallindustrie von 2004 organisationspolitische Perspektiven der Erneuerung wohl kaum eine größere Rolle; im Zentrum standen jeweils Probleme der Tarifbindung und teilweise auch politischer Druck von außen. Zwar gab es Strategien der Mitgliederbeteiligung in der Metallindustrie im Zusammenhang mit betriebsbezogenen Tarifvereinbarungen schon länger, sie blieben aber auf einzelne Tarifbezirke beschränkt, hatten keine systematische Verbindung zur Tarifabweichung und fanden auch kaum Resonanz in der Forschung (Schulz und Teichmüller 2003; Haipeter 2009). Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, inwieweit mit Tarifabweichungen Ansatzpunkte für eine gewerkschaftliche Erneuerung verbunden sein können. Warum sollte es der Gewerkschaft gelingen, gerade in dieser und für sie so problematischen Situation ihre „Input-Legitimation“ (Rehder 2008) zu stärken? Ist es nicht viel wahrscheinlicher, dass sie stattdessen von den Mitgliedern für ihre Unfähigkeit bestraft wird, die geltenden Arbeitsstandards zu garantieren? Beteiligungsstrategien im Branchenvergleich Beteiligungsstrategien im Sinne einer „Rank-and-File Participation“ fanden sich, wie erwähnt, nur in den Untersuchungsfällen der Metallindustrie, hier aber gleich in fünf der sechs Fälle. Dies lässt sich zum einen und formal damit erklären, dass die Gewerkschaft in dieser Branche wegen des tariflichen Status der Tarifabweichungen eine Beteiligungsstrategie zur Vorgabe für Verhandlungen zur Tarifabweichung machen konnte. Die Gewerkschaft ist Herrin des Verfahrens, und deshalb kann sie die Spielregeln des Verfahrens bestimmen. In der chemischen Industrie hingegen haben Tarifabweichungen den Status von Be-
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triebsvereinbarungen. Zwar spielt auch hier die Gewerkschaft in den Verhandlungen eine zentrale Rolle, doch entscheidet sie nicht über die Verfahrensregeln und kann sie nicht denen für Tarifverhandlungen angleichen. Darüber hinaus hat die IG Metall auch ausdrücklich eine Strategie der Beteiligungsorientierung entwickelt und umgesetzt. Diese Strategie einer betriebsnahen Tarifpolitik zielt darauf ab, lokale Tarifverhandlungen dazu zu nutzen, die Gewerkschaftsmitglieder stärker in die Tarifpolitik einzubeziehen und dadurch die Attraktivität der Gewerkschaft zu steigern. In der Hoffnung auf Stärkung der betrieblichen Präsenz und Organisationsmacht wurden von der Gewerkschaft beteiligungsorientierte Verfahren in die Koordinierungsregeln zu Tarifabweichungen aufgenommen und damit als Instrument der Tarifpolitik erstmals zu einer offiziellen Strategie erhoben. In der IG BCE werden vergleichbare Konzepte derzeit nicht verfolgt. Zwar werden auch hier bei Tarifabweichungen Mitgliederversammlungen in den Betrieben von der Gewerkschaft organisiert, eine Beteiligungsorientierung im Sinne der Partizipation und eine Privilegierung der Mitglieder im Verhandlungsprozess sind damit aber nicht verbunden. Ein direkter Zusammenhang zwischen Beteiligungsstrategien und Qualität der Tarifabweichungen lässt sich nicht herstellen. Nicht nur wird die Qualität der Vereinbarungen durch eine Vielzahl anderer Einflussfaktoren wie die Stärke der Bedrohung oder die Strategien des Managements mitbestimmt. Auch fanden sich keine nennenswerten Unterschiede im materiellen Output der Tarifabweichungen – den konkreten Vereinbarungen – der Untersuchungsbetriebe. Die Qualität von materiellen Konzessionen der Beschäftigten und Gegenleistungen der Unternehmen war im Vergleich der Branchen sehr ähnlich. In beiden Branchen waren Verbreitung und Höhe der Arbeitszeitverlängerung ziemlich deckungsgleich. Beim Entgelt bestand der einzige systematische Unterschied darin, dass in der chemischen Industrie Absenkungen der Monatsentgelte und in der Metallindustrie Absenkungen der Einmalzahlungen jeweils weiter verbreitet waren, was sich aus der Konstruktion der Öffnungsklauseln, konkret der Existenz des Entgeltkorridors in der chemischen Industrie, erklären lässt. Und bei den Gegenleistungen der Unternehmen waren sowohl die Beschäftigungssicherung durch Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen als auch Investitions- oder Standortzusagen in beiden Branchen in ähnlicher Weise vertreten. Die Forschungsergebnisse weisen mithin einen eigentümlichen Befund nach. Auf der einen Seite existieren offensichtlich zwischen den Branchen keine erkennbaren Unterschiede in den tarifpolitischen Ergebnissen der Verhandlungen zu Tarifabweichungen. Auch hat sich in den Untersuchungsfällen gezeigt, dass die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften durch die Veto-Position, die sie haben, hinreichend groß ist, um die Betriebsräte wirkungsvoll zu unterstützen und die Verhandlungsergebnisse für sie positiv zu beeinflussen. Auf der anderen
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Seite lassen sich aber dennoch starke Unterschiede bei den organisationspolitischen Konsequenzen der Beteiligungsstrategien feststellen. In allen Fällen, in denen konfliktorientierte und vor allem beteiligungsorientierte Strategien zum Zuge kamen, konnte die Legitimität der Interessenvertretungen deutlich verbessert werden. Beteiligung und Organizing Ein bedeutsamer Indikator dieser Entwicklung ist der zumeist leichte, teilweise aber auch deutliche Anstieg des gewerkschaftlichen Organisationsgrades, der in den Betrieben zu verzeichnen ist, in denen Beteiligungsstrategien eine Rolle gespielt haben. In allen anderen Betrieben stagnierte die Mitgliederentwicklung bestenfalls, oder es waren Verluste zu verzeichnen. Beteiligungsstrategien haben sich als Quelle der „Revitalisierung“ (Brinkmann et al. 2008) für die Gewerkschaft erwiesen. Wie konnte dies gelingen? Ein instruktives Beispiel dafür liefert ein Automobilzulieferunternehmen. Dort haben Betriebsrat und Gewerkschaft gemeinsam die Stärkung der gewerkschaftlichen Organisationsmacht als Ziel definiert und von Beginn an als Element des Konflikts um Tarifabweichung behandelt. Dazu gehörte als erster wichtiger Punkt, dass der Betriebsrat seit der Forderung des Unternehmens nach Tarifabweichung im Rahmen seiner Informationsarbeit immer wieder betont hat, dass der Konflikt nur gemeinsam mit der Gewerkschaft zu bestehen sein wird und dass die gewerkschaftliche Stärke im Betrieb dafür von ausschlaggebender Bedeutung ist. Zweitens hat der gewerkschaftliche Betreuer und Verhandlungsführer gegenüber dem Management die eindeutige Position bezogen, dass er nur zu Verhandlungen bereit ist, wenn im Gegenzug die Position der Gewerkschaft im Betrieb gestärkt und die Mitbestimmung des Betriebsrates ausgeweitet wird. Der Betriebsrat hat dann drittens mit der Gewerkschaft eine Mitgliederversammlung für die Gewerkschaftsmitglieder organisiert, auf der der Arbeitgeber seine Forderungen vorgestellt hat und auf der die Mitglieder sich mit Fragen und Kritik direkt an das Management richten konnten. Das Management hat dabei die Beschäftigten als Gewerkschaftsmitglieder um Mithilfe gebeten. Viertens wurden Beteiligungsverfahren für die Gewerkschaftsmitglieder eingeführt. Die Mitglieder haben auf Mitgliederversammlungen eine Tarifkommission gewählt, sie haben über die Aufnahme von Verhandlungen entschieden und sie haben abschließend das Verhandlungsergebnis bestätigt. Fünftens schließlich wurde im Laufe der Verhandlungen auch erstmals ein gewerkschaftlicher Vertrauenskörper im Betrieb gewählt, den es vorher nicht gegeben hatte.
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Das Ergebnis ist aus organisationspolitischer Sicht der Gewerkschaft beeindruckend. Nicht nur konnte die Gewerkschaft über den Vertrauenskörper im Betrieb verankert werden. Auch der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist im Verlauf des Prozesses förmlich nach oben geschossen, von knapp unter 20% zu Beginn auf über 40% am Ende der Verhandlungen. Verantwortlich dafür war aus Sicht des Betriebsrates die Summe der Initiativen, vor allem aber die privilegierte Beteiligung der Mitglieder, die auch immer wieder als Werbeargument genutzt wurde, Beschäftigte zum Eintritt zu motivieren, weil sie dann über Verhandlungen und Ergebnisse mitbestimmen können. In den anderen Fällen mit Beteiligungsverfahren waren die organisationspolitischen Auswirkungen zwar nicht so beeindruckend wie im Falle des Automobilzulieferers, eindeutig waren sie aber auch. In allen vier Fällen ließ sich eine zumindest leichte Zunahme des gewerkschaftlichen Organisationsgrades feststellen, sei es, weil Mitgliederverluste wettgemacht und überkompensiert wurden, die vor Einführung dieser Verfahren wegen früherer Tarifabweichungen eingetreten waren oder sei es, weil bei einer ersten Abweichung im Nettoeffekt der Organisationsgrad der Gewerkschaft gesteigert werden konnte. Das Potenzial für Verbesserungen hängt zudem vom bestehenden Organisationsgrad ab. Bei einem Organisationsgrad von 90% sind Verbesserungen zwangsläufig kleinschrittiger als bei einem Organisationsgrad von 20%. Der entscheidende Punkt der Beteiligungsverfahren ist die demokratische Legitimation, die der Prozess der Tarifabweichung dadurch gewinnt. Wenn die Gewerkschaftsmitglieder den Verhandlungen oder einem Verhandlungsergebnis zustimmen, wird der Prozess ihnen nicht mehr von oben – also von stellvertretenden Interessenvertretungen – verordnet und vorgesetzt, sondern er ist nur Ergebnis ihres kollektiven Willens, ausgedrückt in Form einer Abstimmung. In allen Fällen dieser Art hat dabei die Unterscheidung von Mitgliedern und NichtMitgliedern der Gewerkschaft eine große Rolle gespielt. Diese Unterscheidung hob die Beteiligung auch von den beiden anderen Einbindungsstrategien der Information und der Mobilisierung ab. Die Informationsarbeit wurde vor allem von den Betriebsräten – im Zusammenspiel mit den Vertrauensleuten, die jeweils ein Informationsscharnier zwischen Betriebsräten und Beschäftigten bildeten – geleistet, und sie kam allen Beschäftigten zu Gute. Die Mobilisierung wurde zumeist ebenfalls im Zusammenspiel von Betriebsräten und Vertrauensleuten organisiert, und alle Beschäftigten der Betriebe konnten teilnehmen. Die Partizipation hingegen war eine originäre Strategie der Gewerkschaft. Es war jeweils der gewerkschaftliche Verhandlungsführer, der die Abstimmungen zu Verhandlungen und Zusammensetzung der Tarifkommission organisierte, und es waren jeweils nur die Mitglieder der Gewerkschaft, die daran teilnehmen durften. Die Beteiligung durch Partizipation war mithin selektiv. Gewerkschaftsmitglieder
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wurden ausdrücklich privilegiert mit dem Argument, dass die Tarifverträge eine Leistung der Gewerkschaft für ihre Mitglieder sind und dass deshalb über die Veränderung von Tarifvertragsnormen nur von den Mitgliedern zu entscheiden ist. Damit verbunden war jeweils die ausdrückliche Aufforderung an die Nichtmitglieder, in die Gewerkschaft einzutreten, um ebenfalls an den Entscheidungsverfahren teilhaben zu können. Gerade dieses Vorgehen kann die positive organisationspolitische Wirkung erklären, die damit verbunden ist. Zu denkbaren Legitimationsverlusten der Betriebsräte gegenüber Nicht-Mitgliedern ist es dabei übrigens nicht gekommen, auch dort nicht, wo nur der kleinere Teil der Belegschaften überhaupt tarifgebunden war. Das Argument, dass die Aushandlung von Tarifverträgen Sache der Gewerkschaft und damit auch ihrer Mitglieder sei, hat offensichtlich verfangen.
Tarifabweichungen und die Modernisierung der Interessenvertretungen Die Ergebnisse der Fallstudienanalyse im Branchenvergleich zeigen: Tarifabweichungen können der Ausgangspunkt für eine Revitalisierung der Interessenvertretungen sein. Dabei lassen sich zumindest drei Aspekte der Erneuerung feststellen. Der erste Aspekt ist die Erneuerung der gewerkschaftlichen Kontrolle über Tarifunterschreitungen. Entscheidend dafür sind die Legitimierung von Tarifabweichungen durch flächentarifvertragliche Regelungen einerseits und die Entwicklung einer aktiven Koordinierungs- und Kontrollstrategie durch die Gewerkschaften andererseits. Im Rahmen formeller Tarifabweichungen können vormals informelle Tarifunterschreitungen in offizielle Verfahren überführt und damit in ihrem Umfang transparent gemacht werden. Zugleich sind die Gewerkschaften dann gezwungen, sich mit dem Problem der Tarifunterschreitungen überhaupt aktiv auseinanderzusetzen und Tarifabweichungen so weit als möglich zu kontrollieren. Sie können dann die Probleme nicht länger ignorieren oder aussitzen. Die Beispiele der chemischen Industrie und der Metallindustrie zeigen auf eindrucksvolle Weise, dass die Gewerkschaften in der Bearbeitung dieser Probleme schließlich Verfahren entwickeln konnten, die es ihnen erlaubten, die Verbreitung der Tarifabweichungen einzudämmen und überdies auch die Qualität der Tarifabweichungen vor allem mit Blick auf die Gegenleistungen, die von den Unternehmen eingefordert werden konnten, zu verbessern. Der zweite Aspekt der Erneuerung betrifft die Machtposition der Betriebsräte in den betrieblichen Arbeitsbeziehungen. Zunächst sind Tarifabweichungen Ausdruck einer Deutungshegemonie und eines Machtgewinns der Unterneh-
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mensleitungen, die glaubhafte Drohszenarien entwickeln konnten, mit denen sie Tarifabweichungen eingefordert haben. Fußend auf tatsächlichen Reorganisationsmaßnahmen entwickelten ihre Ankündigungen der Aus- und Verlagerung und eines damit verbundenen Abbaus von Beschäftigung eine so starke Strahlkraft, dass sie von den Betriebsräten – und unter ihnen vor allem den Betriebsratsvorsitzenden – als Sachzwänge beurteilt wurden, die Verhandlungen über Abweichungen unausweichlich erscheinen ließen. Dann aber haben die Betriebsräte in fast allen Fällen die Nähe der Gewerkschaft gesucht, auf Grundlage der gewerkschaftlichen Expertise die Lage analysiert, gemeinsam mit der Gewerkschaft eigene Forderungskataloge aufgestellt und diese, gestützt auf die Verhandlungskompetenz der gewerkschaftlichen Verhandlungsführer, zumeist zu großen Teilen auch in den Verhandlungen durchsetzen können. In diesem Prozess konnten die Betriebsräte unter Beweis stellen, dass sie den Forderungen ihrer Unternehmensleitungen kompetent entgegenzutreten in der Lage sind. Es wurde dadurch, wie viele Betriebsräte betonten, eine neue Qualität der gemeinsamen Augenhöhe in den Verhandlungen erreicht, von der die Betriebsräte auch nach den Verhandlungen weiter profitierten. Drittens schließlich konnte in einigen Fällen auch die gewerkschaftliche Organisationsmacht in den Betrieben verbessert werden. Dafür müssen allerdings zumindest zwei Voraussetzungen erfüllt sein. Die erste Voraussetzung lautet, dass die Gewerkschaften die Mitgliederrekrutierung als eine aktive Aufgabe betrachten. Denn die Betriebsräte allein sind nicht in der Lage, die Verhandlungen über Tarifabweichungen zur Organisationsstärkung der Gewerkschaft zu nutzen. Dazu bedarf es der gewerkschaftlichen Initiative. Und zweitens lohnt es für die Gewerkschaften – und auch für die Betriebsräte –, im Rahmen der Tarifabweichung konflikt- und vor allem beteiligungsorientierte Verhandlungsstrategien zu verfolgen. Konfliktorientierte Strategien lenken die Unzufriedenheit der Beschäftigten mit Tarifabweichungen in eine symbolträchtige Unterstützung im Kampf gegen Abweichungsforderungen des Managements um. Diese Strategien sind nicht neu, aber ihre Vorzüge treten bei Tarifabweichungen deutlich zu Tage. Noch wichtiger für die Perspektive der Erneuerung aber sind Strategien der Partizipation an Entscheidungen. Denn sie schaffen eine neue Legitimationsgrundlage für die Tarifabweichungen und die Gewerkschaften insgesamt durch demokratische Verfahren. Die Privilegierung der Mitglieder in diesen Verfahren verbessert die Mitgliedermotivation und setzt neue Anreize für den Eintritt in die Gewerkschaft. Deshalb kann die betriebsnahe Tarifpolitik bei Tarifabweichungen als Instrument der gewerkschaftlichen Revitalisierung im Sinne eines Organizing gedeutet werden. Auch in der angelsächsischen Diskussion spielen schließlich die Entwicklung von Konfliktstrategien sowie die Beteiligung der Mitglieder als Instrumente der gewerkschaftlichen Organisierung eine
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zentrale Rolle. Dabei scheitert die Revitalisierung nicht am Rekrutierungsmonopol der Betriebsräte. Diese geben das Monopol nämlich nur allzu gerne auf, wenn sie darin Vorteile erblicken. Und die Stärkung der Gewerkschaft werten sie in jeder Hinsicht als Vorteil für die eigene Positionierung gegenüber Management und Belegschaft. Allerdings enthält der Wein für die Interessenvertretungen auch etwas Wasser. Tarifabweichungen sind als Revitalisierungsquelle in ihrer Reichweite begrenzt und für die Gewerkschaften auch keinesfalls unproblematisch. Verantwortlich dafür ist zunächst ihr häufig einmaliger Charakter. Sofern Tarifabweichungen in einem Betrieb nur einmal verhandelt werden, besteht die Gefahr, dass die Erfahrungen der Partizipation bei Entscheidungen mit der Zeit verblassen und die Organisationsanreize wieder verschwinden. Möglicherweise werden damit auch Ansprüche auf Demokratisierung geschaffen, die für die Gewerkschaften nur schwer rückholbar sind und die sie auch dann bedienen müssen, wenn es gar keine Tarifabweichungen zu verhandeln gibt. Was kann dann an ihre Stelle treten? Ein zweites Problem ist die relativ geringe Verbreitung der Tarifabweichung. Dies ist zwar auf der einen Seite unzweifelhaft ein positives Signal für die Bindekraft der Flächentarifverträge und die Erfolge der gewerkschaftlichen Kontrolle. Auf der anderen Seite aber bedeutet dies, dass Revitalisierung nur in den Betrieben stattfinden kann, in denen die Gewerkschaft auch unter den Druck kommt eine Tarifabweichung verhandeln zu müssen. Das trifft im Durchschnitt beider Untersuchungsbranchen nach den Zahlen von 2007 auf etwa jeden zehnten Betrieb zu. In allen anderen Betrieben müssen die Interessenvertretungen auf dieses Instrument der Revitalisierung verzichten. Wie könnten die Nachhaltigkeit und die Verbreitung der Revitalisierung erhöht werden? Ein möglicher Ansatzpunkt dafür wäre die Umwandlung der betriebsnahen Tarifpolitik in ein offensives Instrument, das nicht nur bei Tarifabweichungen zur Anwendung kommt, sondern zum Bestandteil der „normalen“ Tarifpolitik würde. Auf diese Weise könnte die betriebsnahe Tarifpolitik in allen tarifgebundenen Betrieben Anwendung finden. Und betriebliche Tarifauseinandersetzungen würden regelmäßig mit neuen Tarifrunden wiederkehren. Die Voraussetzung dafür wäre, dass in den Flächentarifverträgen jeweils Regelungsthemen benannt werden, zu denen − betriebsbezogen, aber tarifvertraglich − Ergänzungsvereinbarungen abzuschließen sind. Dabei würde es sich dann nicht um Unterschreitungen von tariflichen Mindeststandards handeln, sondern um betriebliche Ausgestaltungen tariflich definierter Standards. Beispiele dafür wären betriebsbezogene Tarifverträge zu Arbeitszeitkonten (Haipeter und Lehndorff 2004) oder betrieblich festzulegende Entgeltbestandteile. Insgesamt ist festzuhalten: Eine offensiv betriebene betriebsnahe Tarifpolitik scheint ein möglicher Weg für die Erneuerung deutscher Gewerkschaften zu
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sein. Es gibt aber auch andere Wege, und die betriebsnahe Tarifpolitik ist sicherlich kein Allheilmittel für alle Probleme, mit denen Gewerkschaften konfrontiert sind. Ihre erfolgreiche Anwendung ist vor allem in den Betrieben zu erwarten, die noch zu den Kernbereichen des dualen Modells der industriellen Beziehungen gehören. Betriebe, in denen die Gewerkschaften nicht auf eine bestehende Organisationsmacht bauen können, müssten als Vorbedingung für erfolgreiche Verhandlungen erst gewerkschaftlich organisiert werden. Manchmal genügt dafür der Hinweis an Betriebsräte und Unternehmensleitungen, dass ohne Aufbau einer gewerkschaftlichen Organisationsmacht keine Tarifabweichung zu haben ist. Wo allerdings die Unternehmen gewerkschaftsfeindlich und repressiv verfahren, dürfte dieses Argument nicht verfangen. Hier scheint eine engere Anlehnung an andere angelsächsische Taktiken des Organizing wie das „Social Movement Unionism“ sinnvoll, die darauf abzielen, Interessenvertretungen in den Betrieben überhaupt erst zu verankern.
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Betriebsräte mit Rückenwind? Chancen und Ambivalenzen betrieblicher „Besser“-Strategien für Arbeitspolitik und Interessenvertretungen Betriebsräte mit Rückenwind?
Einleitung: Interessenvertretungen und Arbeitspolitik in und nach der Krise Der durch die Finanzmarktkrise ausgelöste tiefe Konjunktureinbruch ist überwunden. In vielen Einzelbranchen des von der Krise stark betroffenen deutschen Exportsektors sind die Produktionsrückgänge inzwischen fast wieder aufgeholt worden, bei weiterhin günstigen Wachstumsprognosen. Fast scheint es, als seien das deutsche Exportmodell auf dem Weg zurück zu altem Glanz und die Finanzmarktkrise nur eine kurze Episode, die längst Vergangenheit ist. Gänzlich unklar ist aber, was dies für betriebliche und gewerkschaftliche Interessenvertretungen und die arbeitspolitischen Konstellationen in den Unternehmen heißt. Sind mit der Krise zugleich auch die vielfältigen Probleme gelöst worden, denen sich die Interessenvertretungen vor der Krise in Form von Standortkonkurrenz, Auslagerungsdruck, arbeitspolitische Rückschritte, Infragestellung der Arbeitsstandards oder auch Mitgliederrückgang der Gewerkschaft stellen mussten? Oder bedeutet die Rückkehr zur Normalität für die Interessenvertretungen auch die Rückkehr zu den alten Problemen? Und welche Strategien können sie nutzen, um diese Probleme anzugehen? Diese Fragen sind nicht leicht zu beantworten, denn dem Betrachter stellt sich ein ambivalentes Bild dar. Auf der einen Seite ist der überraschende Befund festzuhalten, dass Gewerkschaften und Betriebsräte in der Krise eine neue Wertschätzung erfahren zu haben scheinen. Auf Makroebene wurden die Gewerkschaften im Rahmen eines Krisenkorporatismus in die Entwicklung staatlicher Maßnahmen zur Krisenbewältigung einbezogen (Ehlscheid et al. 2010). Auf der Mikroebene sind die Betriebsräte in betrieblichen Notgemeinschaften wichtige Partner beim Umgang mit den Krisenfolgen und bei der Organisation der Arbeitszeitverkürzung durch Kurzarbeit, Beschäftigungssicherungsvereinbarungen oder Abbau von Arbeitszeitkonten (dazu Seifert 2010). Und für das Halten quali-
T. Haipeter, K. Dörre (Hrsg.), Gewerkschaftliche Modernisierung, DOI 10.1007/978-3-531-93332-0_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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fizierter Fachkräfte haben die Unternehmen sogar – abweichend von vorgängigen Krisenverläufen – erhebliche Einbrüche der Arbeitsproduktivität in Kauf genommen (Herzog-Stein 2010). Diese Entwicklungen deuten darauf hin, dass sowohl die Interessenvertretungen gestärkt wurden als auch Möglichkeiten für neue Interessenkompromisse über arbeitspolitische Innovationen – verstanden als umfassende Nutzung und Entwicklung der Qualifikationen der Beschäftigten, ihrer Kooperationsfähigkeiten und ihrer Mitsprachemöglichkeiten (Kuhlmann et al. 2004) – eröffnet wurden. Auf der anderen Seite allerdings ist auch zu beobachten, dass in den Unternehmen die Weichen in Richtung auf Restrukturierung und strategischen Beschäftigungsabbau gestellt werden. Beschäftigungsaufbau vollzieht sich weitgehend in Form prekärer Beschäftigungsverhältnisse der Leiharbeit (dazu die Beiträge von Dörre sowie Holst und Matuschek in diesem Band). Auch die Aufwertung der Interessenvertretungen könnte sich als eine lediglich temporär wirksame „geliehene Macht“ erweisen (Ehlscheid et al. 2010), die endet, sobald ihre Fähigkeiten als Ordnungsmacht oder Krisenmanager nicht mehr gebraucht werden. Mehr noch, auf Seiten der Unternehmen ist der finanzmarktgetriebene Steuerungsmodus offensichtlich ungebrochen, der vor der Krise die Interessenvertretungen in die Defensive gezwungen hatte. Eine Legitimationskrise des Finanzmarktkapitalismus in den Unternehmen ist nicht erkennbar; mit den Banken ist auch ihre Ideologie gerettet worden (Boyer 2010). Insbesondere können die „Bargaining Chips“ (Dörre und Holst 2009) dieser Steuerungsformen in Gestalt von Aus- und Verlagerungsdruck als Drohszenarien weiterhin genutzt werden, um Arbeitsstandards in Frage zu stellen und Interessenvertretungen gefügig zu machen. Grundsätzlich ist ferner zu bedenken, dass die altbekannten Krisensymptome der Interessenvertretungen wie die wachsende Fragmentierung abhängig Beschäftigter und das Schwinden betrieblicher Organisationsmacht in der Krise nicht an Bedeutung eingebüßt haben (Crouch 2010). Deshalb ist ein Automatismus der Stärkung von Interessenvertretungen und mit ihnen auch innovativer Arbeitspolitiken nicht zu erwarten. Die Interessenvertretungen müssen weiterhin aktiv an einer Stärkung – besser gesagt an einer Revitalisierung – ihrer Machtpositionen auf betrieblicher und überbetrieblicher Ebene arbeiten. Und eine aktive Arbeitspolitik scheint mehr als zuvor – oder jedenfalls keinesfalls weniger als zuvor – unverzichtbare Voraussetzung für arbeitspolitische Fortschritte in den Betrieben zu sein (Kuhlmann 2009). Eine der ersten und wichtigsten Initiativen von Interessenvertretungen in Richtung Aktivierung wurde mit der Kampagne „Besser statt billiger“ entwickelt, die der Bezirk NRW der IG Metall im Jahr 2005 startete (Korflür et al. 2010) und die inzwischen wichtiger Bestandteil der arbeitspolitischen Kampagnen auch auf Vorstandsebene der Gewerkschaft ist. Die Kampagne zeichnet sich
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dadurch aus, dass sie interessenvertretungspolitische mit betriebs- resp. arbeitspolitischen Zielen verknüpft. Denn im Zentrum der Kampagne steht die gewerkschaftliche Aktivierung der Betriebsräte für die Erarbeitung und Aushandlung betrieblicher „Besser“-Strategien. Betriebsräte sollen in die Lage gebracht werden, Unternehmensforderungen nach Tarifabweichungen, Ver- oder Auslagerungen, Personalabbau oder einer Re-Taylorisierung der Arbeitsorganisation in Frage zu stellen und diesen nach Möglichkeit auch eigene Konzepte einer zukunftsfähigen und beschäftigungssichernden Arbeits- und Unternehmenspolitik entgegenzusetzen. Dabei soll nicht nur ein neues betriebliches Konfliktfeld eröffnet werden, sondern die Interessenvertretungen sollen zugleich auch die Beschäftigten an der Erarbeitung von Konzepten beteiligen und/oder in die betrieblichen Konflikte einbinden. Auf diese Weise soll die organisatorische Machtposition der Interessenvertretung in den Betrieben gestärkt werden. Zielsetzung der Kampagne ist also nicht mehr und nicht weniger als die Revitalisierung der Interessenvertretungen durch Politisierung von „Low Road“Strategien der Unternehmen mit Beteiligung der Beschäftigten. Dabei kommt im Rahmen der Kampagne den gewerkschaftlichen Unterstützungsleistungen eine zentrale Rolle zu. Diese sind breit gefächert. Sie reichen von der gemeinsamen Verhandlung von Tarifabweichungen über die Organisation externer gewerkschaftsnaher Beratung bis hin zur Ausrichtung themenzentrierter Workshops oder der Koordinierung wechselseitiger Unterstützung zwischen den Betriebsräten in Form von Branchennetzwerken. Die Auseinandersetzung um bessere Konzepte wird bei Verhandlungen von Tarifabweichungen besonders virulent (zu den Herausforderungen von Tarifabweichungen für Betriebsräte siehe den Beitrag von Haipeter in diesem Band). In diesen Fällen sollten keine Konzessionen mehr ohne Gegenleistungen wie Beschäftigungssicherung, Investitionszusagen, Innovationsprogrammen oder Qualifizierungsvereinbarungen gewährt werden. Aber auch jenseits der Defensivkonstellationen von Tarifabweichungen sollen „Besser“-Strategien proaktiv entwickelt und eingefordert werden mit dem Ziel, für eine nachhaltige Organisations- und Innovationsgestaltung zu kämpfen und die Interessenvertretungen wieder in eine Position der Offensive zu bringen. Im vorliegenden Beitrag wollen wir die Entwicklung und Aushandlung betrieblicher „Besser“-Strategien und ihre Auswirkungen auf die Organisationsmacht der betrieblichen Interessenvertretungen anhand eigener, allerdings noch vorläufiger Forschungsergebnisse diskutieren1. Wir lassen uns dabei vom For-
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Wir stützen unsere Ausführungen auf Zwischenergebnisse des von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Forschungsprojekts „Rückenwind für die Betriebsräte“. Neben Expertengesprächen führten wir eine Reihe von Fallstudien und eine Befragung der Verwaltungsstellen des Bezirks NRW der IG Metall durch. Wir haben uns dabei Unternehmen unterschiedlicher Einzelbranchen oder
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schungsinteresse an neuen Ansätzen gewerkschaftlicher Praxis leiten und möchten zur Umorientierung vom „Krisen- zum Strategieparadigma“ (Urban 2008) in der Gewerkschaftsforschung beitragen. Welche Potenziale, so fragen wir, hat dieser Ansatz für die Entwicklung einer innovativen Arbeitspolitik? Welche Konsequenzen sind damit für die Arbeit der Interessenvertretungen als zentrale Akteure der Arbeitspolitik verbunden? Und auf welche Weise können die Interessenvertretungen die Arbeitspolitik für die Stärkung der eigenen Verhandlungs- und Organisationsmacht nutzen? Wir konzentrieren unsere Analyse in diesem Beitrag auf die Betriebsräte. Die Auswirkungen der Kampagne auf die Gewerkschaft untersucht der Beitrag von Lehndorff in diesem Band.
„Besser“-Strategien und innovative Arbeitspolitik Die arbeitspolitische Bandbreite von „Besser“-Strategien Mit Blick auf „Besser“-Strategien stellen sich unmittelbar folgende Fragen: Was heißt eigentlich „besser“? Und inwieweit haben „Besser“-Konzepte überhaupt etwas mit innovativer Arbeitspolitik zu tun? Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Bandbreite dessen, was in den von uns untersuchten Fällen als „Besser“Konzept entwickelt und verhandelt wurde, überaus groß ist. Wie sehr sich die realisierten „Besser“-Konzepte unterscheiden, lässt sich an drei Fällen exemplarisch darstellen. Ein im Sinne des Konzepts der aktiven Arbeitspolitik defensives Verständnis von „Besser“ findet sich im Fall eines Automobilzulieferers, der im Besitz eines Finanzinvestors ist und in große Liquiditätsschwierigkeiten geraten war. Nachdem ein großer Teil des ehemals am Hauptwerk angesiedelten Produktionsvolumens in ein neues Werk in Osteuropa verlagert worden war, stand der Erhalt weiterer Produktionsarbeitsplätze im Zentrum der Auseinandersetzungen zwischen Betriebsrat und Management. Nicht zuletzt durch den Druck der Endhersteller war der Verlagerungsdruck nach wie vor groß; der deutsche Produktionsstandort wurde vor allem noch für kompliziertere Produktanläufe genutzt. In diesem Fall galt dem Betriebsrat schon die Sicherung des deutschen Produktionsstandortes als „Besser“-Konzept. An einer Verbesserung der Produktionsabläufe und Arbeitsbedingungen im Sinne einer innovativen Arbeitspolitik arbeite-
Betriebsgrößen angeschaut, die jeweils Schauplatz von Konflikten um Besser-Konzepte waren oder sind. Wir führen im Projekt insgesamt sechzehn Fallstudien mit Interviews von Betriebsräten, gewerkschaftlichen Betreuern, Beratern und teilweise Management und Vertrauensleuten oder Beschäftigten durch.
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te der Betriebsrat nicht. Sie war wohl auch nur schwer zu denken. Vielmehr führte der Betriebsrat an, dass unter den schwierigen Rahmenbedingungen die Einführung flexibler Samstagsschichten sowie die Absenkung des Akkordsatzes und der übertariflichen Bezahlungen dazu beigetragen haben, die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Standortes zu steigern und eine Verlagerung zumindest größerer Produktionsumfänge zu verhindern. In den Deutungen dieses Betriebsrats sind „Besser“ und „Billiger“ mithin nicht klar getrennt. Der zweite Fall steht für „Besser“-Strategien, die sich zwar auf Gegenstände aus dem Bereich der Arbeitsbeziehungen beziehen und insofern offensiver sind, die aber verglichen mit dem umfassenden Anspruch innovativer Arbeitspolitik doch eher kleinteilig und punktuell erscheinen. Auch in diesem Unternehmen der Stahlindustrie waren die wirtschaftlichen Probleme erheblich. Vor diesem Hintergrund konnten die Interessenvertretungen im Rahmen der Verhandlungen über eine Tarifabweichung zunächst durchsetzen, dass eine gewerkschaftsnahe Unternehmensberatung den Betrieb genauer unter die Lupe nahm. Mit ihr zusammen entwickelte der Betriebsrat schließlich das Konzept regelmäßiger Kommunikationsrunden zwischen Betriebsrat und Geschäftsleitung. Ziel dieser Maßnahme war die Verbesserung des Kommunikationsflusses in der Organisation. Weil nach Analyse des Beratungsunternehmens insbesondere die vertikalen Kommunikationsflüsse gestört waren, wurden auf Initiative des Betriebsrates zu diesen Runden jeweils Beschäftigte als Experten für bestimmte Probleme hinzugeladen. Durch diesen direkten Kommunikationskanal zwischen Shop Floor und Leitung konnten die Mitsprachemöglichkeiten der Beschäftigten erheblich gestärkt werden. Weitergehende Veränderungen der Leitungsstrukturen oder der Arbeitsorganisation waren allerdings nicht Teil des Konzepts. Der dritte Fall eines Maschinenbauunternehmens schließlich steht für eine offensive und umfassende „Besser“-Strategie. Hier sind die inhaltliche Stoßrichtung von „Besser“ und die Idealvorstellungen einer innovativen Arbeitspolitik erstaunlich deckungsgleich. Kern des Konzepts sind die Einführung sowie die kontinuierliche Koordinierung und Weiterentwicklung teilautonomer Gruppenarbeit in allen Bereichen des Unternehmens. Vor mehreren Jahren hatte sich die wirtschaftliche Situation des Unternehmens, abweichend vom Verlauf der Branchenkonjunktur, dramatisch verschlechtert. Die Geschäftsführung forderte eine Verringerung der Eigenfertigung um 30 % und einen entsprechenden Personalabbau, Vorstand und Betriebsrat waren total zerstritten. Auf einer Klausurtagung konnte der Betriebsrat die Geschäftsführung schließlich davon überzeugen, dass die flächendeckende Einführung von Gruppenarbeit eine geeignete Maßnahme zur Lösung der Wirtschaftlichkeitsprobleme des Unternehmens ist. Zugleich hatte er in früheren Pilotprojekten und unter Hinzuziehung eines gewerkschaftsnahen Partners die Erfahrung gemacht, dass Gruppenarbeit nur dann erfolgreich
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sein kann, wenn die Leistungskennziffern sorgfältig bestimmt werden und das Entgeltsystem angepasst wird. In den folgenden Jahren widmete der Betriebsratsvorsitzende der „Pflege der Entgeltbausteine“ deshalb sehr viel Zeit und Aufmerksamkeit. So entwickelte er sich zu einem fachkundigen Gesprächspartner des Managements und konnte sich an mehrfach erfolgten Veränderungen von Kennziffern kompetent beteiligen. Darüber hinaus betreute der Betriebsrat die Gruppenarbeit im Steuerungskreis und durch Teilnahme an Gruppensitzungen aktiv. Auch in der Finanzmarkt- und anschließenden Wirtschaftskrise, die das Unternehmen mit einem Auftragseinbruch von fast 50 % hart traf, legte der Betriebsrat nicht die Hände in den Schoß. Vielmehr konnte das durch die Kurzarbeit entstehende Zeitfenster genutzt werden, um erstens das Gruppenkonzept vom Werkstatt- auf das Fließprinzip umzustellen und zweitens ein breit angelegtes Qualifizierungsprogramm durchzusetzen. In Folge der durchgeführten Qualifizierungsmaßnahmen konnte sowohl die Einsatzflexibilität der Beschäftigten in der neuen Gruppenorganisation als auch in vielen Fällen ihre tarifliche Eingruppierung erhöht werden. Die in diesem Fall entwickelte „Besser“-Strategie verfolgt einen „High Road“-Entwicklungspfad am Standort Deutschland. Innovative Arbeitspolitik Diese drei Beispiele zeigen die arbeitspolitische Bandbreite von „Besser“-Strategien. Im Gesamtüberblick unserer 16 Fälle wird allerdings deutlich, dass die inhaltliche Konkretisierung von „Besser“ in den Deutungen der Interessenvertretungen nicht durchgängig mit Fragen der Arbeitsbedingungen verknüpft wird. Ob „Besser“-Strategien auch zu einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen – und damit zu einer „guten Arbeit“ führen – wird teilweise nicht gefragt; dies gilt insbesondere dann, wenn die Betriebsräte angesichts konkreter Drohungen mit Verlagerung beziehungsweise Entlassungen zuallererst das Ziel verfolgen, Arbeitsplätze zu erhalten. Das oben geschilderte Beispiel des Automobilherstellers, dessen Betriebsrat mit Hilfe von flexiblen Samstagsschichten und abgesenkten Akkordsätzen größere Verlagerungen verhindern konnte, illustriert die schwierige Situation der Betriebsräte deutlich. Auch in zwei anderen untersuchten Betrieben spielten Kriterien „guter Arbeit“ angesichts von angedrohten Produktionsverlagerungen keine erkennbare Rolle. In beiden Fällen konnte die Verlagerung zwar verhindert werden, wurde aber durch die Flexibilisierung von Arbeitszeiten in Form der Einführung der Konti-Schicht erkauft. Die Betriebsräte sind für solche Konzessionen anfällig, weil die Frage guter Arbeitsbedingungen angesichts der Verteidigung von Arbeitsplätzen und Tarifstandards an den Rand der Aufmerksamkeit geraten kann. Nicht, dass kein Problembewusstsein existiert. So gab ein gewerkschaftlicher Betreuer zu bedenken:
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„Manchmal hat das natürlich den Anstrich, dass ‚Besser‘-Strategien auch Rationalisierungselemente sind.“ Und nicht alle Kostensenkungsmaßnahmen müssen – z. B. wenn es um die Verbesserung der Energieeffizienz geht – bedenkliche Auswirkungen auf die Qualität der Arbeitsbedingungen haben. Vereinzelt konnten sogar Maßnahmen wie die Einführung von Gruppenarbeit angestoßen werden, die für die Qualität der Arbeit als förderlich eingeschätzt werden können. In dem beschriebenen Fall verfolgte der Betriebsrat das Ziel einer „guten Arbeit“ sogar explizit: „Wir wollten mit der Gruppenarbeit eine Organisation, bei der sich die Beschäftigten mehr einbringen können, die ergonomisch günstiger ist, bei der sie ‚weniger leiden‘.“ Einen derart systematischen Stellenwert hat diese Frage jedoch bislang nur selten in den „Besser“-Strategien. Die arbeitspolitischen „weißen Flecken“ sind aus unserer Sicht jedoch ein Problem der Praxis, nicht des Konzepts. So betonen Schroth und Wetzel (2009: 8f.), dass „‚Besser statt billiger‘ … kein wertfreier Ansatz der Innovationsförderung“ sei: „Wir geben der Qualität der Arbeitsbedingungen den Vorzug vor der Wirtschaftlichkeit. (…) Innovationen müssen daran gemessen werden, ob sie zum gesellschaftlichen Fortschritt beitragen.“ Dazu gehören, wie die Autoren fortfahren, die Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen, eine gute Qualität der Arbeit und gesellschaftlich nützliche sowie ökologisch verträgliche Produkte. Überdies ist zu bedenken, dass die Betriebsräte – wie in den drei geschilderten Fällen – nicht selten in einer so starken Drucksituation stehen, dass an arbeitspolitische Innovationen kaum zu denken ist. In diesen Fällen geht es zunächst nur um die Abwendung eines drohenden Beschäftigungsabbaus. Hier besteht dann die „Besser“-Strategie nur mehr darin, dem Unternehmen Alternativen zu Ver- oder Auslagerungen aufzuzeigen, auch wenn diese zunächst nicht mit arbeitspolitischen Verbesserungen einhergehen. Sofern dies mit Beteiligung der Beschäftigten und auf der Grundlage einer neuen wirtschaftlichen und strategischen Expertise der Betriebsräte geschieht, kann bereits dadurch eine Stärkung der Machtposition der Betriebsräte in den Auseinandersetzungen mit dem Management herbeigeführt werden. Darauf wird noch eingegangen. In den Fällen nun, in denen die Betriebsräte dezidiert arbeitspolitische Ziele verfolgen, geschieht etwas scheinbar Paradoxes: Sie werden dann nämlich zu Verteidigern des häufig zitierten – aber selten genauer untersuchten – deutschen Produktionsmodells (zur Diskussion siehe Lehndorff 2009). In der Literatur über die „Spielarten des Kapitalismus“ wird Deutschland gerne als Beispiel für eine „Co-ordinated Market Economy“ und damit als eine Interessenkonstellation genannt, in der „die Arbeitskräfte (bis hinunter zum Shop Floor) qualifiziert genug sind, um Innovationen vorzuschlagen, abgesichert genug sind, um Vorschläge zur Veränderung von Produkten oder Prozessen zu riskieren, die ihre Situation im Betrieb ändern könnten, und mit genug Autonomie in der Arbeit ausgestat-
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tet sind, um derartige Verbesserungen als eine Dimension ihrer Arbeit ansehen zu können“ (Hall und Soskice 2001: 39, eigene Übersetzung). Die genannten Beispiele zeigen, dass damit die Wirklichkeit in vielen Unternehmen nicht getroffen wird. Zwar profitieren die Unternehmen in der Tat von den Qualitäten des deutschen Ausbildungssystems, doch weder schöpfen sie die dort vermittelten Qualifikationen wirklich aus, noch sorgen sie für ihre systematische Weiterentwicklung, noch nutzen sie das Expertenwissen der Beschäftigten für Innovationsprozesse. Es sind vielmehr die Interessenvertretungen, die in den Unternehmen mit Alternativkonzepten darauf drängen, jene Potenziale zu nutzen, die dem deutschen Produktionsmodell zugesprochen werden (vgl. Kirner et al. 2010): z. B. die Nutzung von Erfahrungswissen für die Schaffung eines gesunderhaltenden Arbeitsumfelds, die Erhöhung des Dispositions- und Gestaltungsspielraums der Beschäftigten, die Erhöhung des Qualifikationsniveaus und seine breite Nutzung, also letztlich die stärkere Beteiligung der Beschäftigten an betrieblichen Entscheidungen. Das ist unter anderem in dem schon geschilderten Beispiel der Fall, in dem der Betriebsrat die Einführung von Gruppenarbeit realisieren konnte. Andere Beispiele finden sich in zwei Unternehmen unterschiedlicher Branchen. In einem Unternehmen der Stahlindustrie und einem Unternehmen der Leuchtenproduktion setzten sich die Betriebsräte aktiv für eine Reform des betrieblichen Verbesserungs- und Vorschlagswesens ein. Nachdem Verbesserungsvorschläge in Schubladen „verschwunden“ waren und in einem Unternehmen sogar Vorgesetzte Vorschläge von Beschäftigten als ihre eigenen präsentiert hatten, war in beiden Unternehmen die Anzahl der eingereichten Vorschläge stark zurückgegangen. Auf Initiative der Betriebsräte wurde in beiden Fällen das Vorschlagswesen neu geregelt: Unter anderem mit Hilfe von Fristen für die Vorschlagsbewertung wurde das Vorschlagswesen transparent gestaltet. In beiden Fällen wurde die Beteiligung des Betriebsrats am Vorschlagswesen festgeschrieben: In dem einen Fall entscheidet er mit über die Prämierung der Vorschläge, im anderen Fall werden alle Vorschläge der Beschäftigten im Computer des Betriebsrats gespeichert, um „Ideendiebstahl“ in Zukunft auszuschließen. Den Betriebsräten ging es nach eigener Auskunft vor allem darum, das im Unternehmen vorhandene Mitarbeiterpotenzial zu realisieren und das Bestreben der Beschäftigten, Arbeitsabläufe zu verbessern, zu unterstützen. „Besser“-Strategien als „Bargaining Chip“ Die Beispiele zeigen, dass betriebliche „Besser“-Strategien häufig nicht die „reine Lehre“ einer innovativen Arbeitspolitik repräsentieren. Dies kann einerseits der Fall sein, weil sie dazu nicht umfassend genug sind, oder andererseits, weil sie dazu zu defensiv sind. Die Defensive allerdings ist eine Erfahrung, die in so
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gut wie allen unseren Fällen hinter der Entwicklung dieser Konzepte steht. Auslöser sind in der Regel wirtschaftliche Krisen, aber vor allem Drohszenarien des Managements in Richtung Verlagerung von Produktion oder Unterschreitung tariflicher Arbeitsstandards. Sie setzen für die Betriebsräte Impulse, sich über Alternativkonzepte Gedanken zu machen und dazu die Hilfe der Gewerkschaft und gewerkschaftsnaher Berater hinzuzuziehen. „Besser“-Konzepte richten sich daher gegen „Billiger“-Strategien der Unternehmensleitungen. Dabei wird nicht immer der ganz große Wurf im Sinne einer innovativen Arbeitspolitik angedacht oder gewagt. So ging es in dem bereits zitierten Unternehmen der Stahlindustrie beispielsweise um Maßnahmen zur Verbesserung der Kommunikation im Unternehmen. Das muss aber noch lange nicht heißen, dass die arbeitspolitischen Initiativen der Betriebsräte deshalb wirkungslos wären. Oftmals bieten sie den Betriebsräten in den Verhandlungen trotzdem ihrerseits einen wichtigen „Bargaining Chip“, den sie dem Management entgegensetzen können und mit dem sie die Deutungshoheit des Managements zumindest infrage stellen können. Diese Infragestellung beruht zumeist darauf, die Sachzwanglogik, mit der das Management seine Deutungen zu legitimieren versuchte, anzuzweifeln und die Frage zu stellen, ob es nicht alternative Möglichkeiten gibt, die ebenso sinnvoll oder nachhaltig sogar ertragreicher sind. Der entscheidende Trick dieses Vorgehens besteht darin, die Begründungen des Managements im Referenzrahmen des Managements, nämlich dem der betriebswirtschaftlichen Notwendigkeiten, in Frage zu stellen. Gerade damit gelingt es den Betriebsräten, die Deutungshoheit des Managements zu untergraben, weil in diesem Fall das Management seinerseits unter Rechtfertigungsdruck gerät. Auf diese Weise können die Betriebsräte Defizite des Managements aufdecken und öffentlich machen und zugleich ein Stück „Augenhöhe“ schaffen. Dieser Aspekt wurde von den Betriebsräten durchgängig betont. Betriebsratsarbeit und Innovation Durch die Entwicklung und Verhandlung von „Besser“-Konzepten werden die Betriebsräte in ihren Organisationen zu Promotoren der Innovation. Denn ihre Rolle beschränkt sich nicht darauf, die Pläne des Managements aufzunehmen, unter sozialen Gesichtspunkten „abzuklopfen“ und gegebenenfalls auf sozialverträgliche Regelungen zu pochen. Vielmehr arbeiten die Betriebsräte (gemeinsam mit Gewerkschaftern, Beratern und Beschäftigten) aktiv an der Entwicklung von Gegenkonzepten zu Plänen des Managements. Dabei lässt sich – ähnlich wie bei der Einschätzung der arbeitspolitischen Stoßkraft der Konzepte – feststellen, dass die Innovationsthemen sehr vielfältig sind. In den von uns untersuchten
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Fällen wurden sowohl Produktinnovationen als auch Prozess- und organisatorische Innovationen realisiert. Lediglich Dienstleistungsinnovationen konnten wir nicht beobachten (zur Unterscheidung der verschiedenen Innovationstypen vergleiche Kinkel et al. 2004). Der überwiegende Teil der untersuchten „Besser“Konzepte bezieht sich jedoch auf Organisationsfragen. Dies ist in den angeführten Beispielen der Einführung von Kommunikationsrunden oder Gruppenarbeit sowie der Neugestaltung des betrieblichen Vorschlagswesens bereits deutlich geworden. Die Konzentration der Innovationsaktivitäten auf organisatorische Aspekte lässt sich mit den Arbeitsschwerpunkten der Betriebsräte erklären. Betriebsräte sind als Kenner ihrer Betriebe Spezialisten der Organisation und ihrer Abläufe, und dies spiegelt sich in den Innovationsthemen zu einem guten Teil wider. Dass in diesem Rahmen die Reorganisationstiefe der Konzepte ganz unterschiedlich sein kann, wurde bereits festgestellt. Unter den organisatorischen Innovationen sticht ein Typus besonders ins Auge: organisatorische Innovationen mit Zukunftswirkung. Diese Formulierung mag zunächst etwas seltsam erscheinen, da Innovationen per se in die Zukunft gerichtet sind. Die hier gemeinten Innovationen sind dies jedoch auf eine besondere Weise, da sie prozessual orientiert sind. Diese organisatorischen Innovationen mit Zukunftswirkung umfassen zwei Arten: Erstens organisatorische Innovationen, die die Beteiligung des Betriebsrates an zukünftigen Innovationsprozessen festschreiben. Das ist der Fall bei der Beteiligung des Betriebsrates am Verbesserungs- und Vorschlagswesen, ähnlich bei der Beteiligung des Betriebsrats an einem (zeitlich begrenzten) Programm zur Produktivitätsverbesserung und bei der Einrichtung von Lenkungs- und Steuerkreisen. In diesen Fällen ist es den Betriebsräten gelungen, sich durch Regelungen in Betriebsvereinbarungen eine Mitgestaltung zukünftiger Innovationen zu sichern und Mitsprachemöglichkeiten über die im Betriebsverfassungsgesetz verbrieften Rechte hinaus zu erlangen. Zweitens handelt es sich um organisatorische Innovationen, die zukünftige Innovationen durch die Beschäftigten ermöglichen und fördern. Dies ist der Fall bei der Einführung von teilautonomen Arbeitsgruppen oder bei der Implementierung von Verbesserungsprozessen, darin eingeschlossen die Gestaltung des betrieblichen Vorschlagswesens. Wir konnten jedoch auch Fälle identifizieren, in denen die Innovationsbemühungen der Betriebsräte sich auf Themen konzentrieren, die mit Betriebsräten nicht von vornherein assoziiert werden. Ein Beispiel dafür findet sich bei einem Anlagenbauer, dessen untersuchter Betrieb inzwischen fast vollständig aus Angestellten – und unter ihnen vor allem aus Ingenieuren – besteht, nachdem die vormals dazugehörige Werkstatt gegen den Widerstand des Betriebsrates und der Belegschaft ausgelagert worden war. Seinerzeit hatte der Betriebsrat für eine enge Verzahnung von Entwicklung und Fertigung im Sinne einer wechselseiti-
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gen Befruchtung plädiert. Mit diesem Argument konnte er jedoch nur den Erhalt der Werkstatt aushandeln, nicht aber ihren Verkauf verhindern. Seit diesem Konflikt hat sich der Betriebsrat, der mittlerweile ausschließlich aus Ingenieuren besteht, zu einem Impulsgeber für eine betriebsöffentliche Diskussion entwickelt. Er ist heute in der Lage, die häufig wechselnden Geschäftsleitungen mit Alternativkonzepten, zum Beispiel zur Forschung und Entwicklung, zu konfrontieren. Im aktuellen Konflikt um Personalabbau in der Entwicklung hat der Betriebsrat eine Analyse zur strategischen Rolle der Entwicklung im Unternehmen erstellt, deren Inhalte von Beschäftigten und sogar von lokalen Führungskräften in großer Einmütigkeit geteilt werden – Ende des Konflikts offen. In anderen Fällen erreichten die Betriebsräte z. B., dass die Schließung einer Abteilung rückgängig gemacht wurde, dass (Teil-)Verlagerungen abgewendet wurden oder dass ein neuer Markt für die Produkte des Unternehmens erschlossen wurde. All diese Maßnahmen betreffen unternehmensstrategische Entscheidungen, die die Ausrichtung des Unternehmens für die nächsten Jahre maßgeblich mitbestimmen. Allerdings wird von Seiten des Managements die „Einmischung“ von Betriebsrat und Gewerkschaft in unternehmensstrategische Aspekte wie Produkte oder Märkte häufig nicht gern gesehen. In dem Unternehmen der Stahlindustrie war es beispielsweise so, dass das Management die Vorschläge zur Arbeitsorganisation mit Interesse zur Kenntnis genommen hat, weitergehende Vorschläge, sich im Bereich Marketing/Verkauf weiter aufzustellen, wurden hingegen als „Affront“ verstanden. Umso bemerkenswerter ist es, dass es den Interessenvertretungen in einigen Fällen gelungen ist, Einfluss auf unternehmensstrategische Entscheidungen auszuüben. Dieser Einfluss übrigens weist deutlich über arbeitspolitische Ansprüche im engeren Sinne hinaus. Als unternehmensstrategische Alternativdeutungen entziehen sich „Besser“-Strategien deshalb der arbeitspolitischen Bewertung, weil sie die Unternehmenspolitik als neues Politikfeld jenseits der Arbeitspolitik und mit noch weitergehendem Mitbestimmungsanspruch eröffnen.
Proaktive Interessenvertretungen als Akteure innovativer Arbeitspolitik Die Entwicklung und Umsetzung von Besser-Konzepten hat für die Betriebsräte grundlegende Konsequenzen. Die Infragestellung des Managements und die Entwicklung von Alternativkonzepten zu den Strategien des Managements im Sinne des „Besser statt billiger“- Ansatzes geht mit weitreichenden Veränderungen und Umbrüchen in der Mitbestimmungspraxis der Betriebsräte einher. Diese Veränderungen lassen sich auf den Nenner einer proaktiven Interessenvertre-
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tungspolitik bringen. Hier lassen sich vier eng miteinander verbundene Entwicklungen feststellen: Erstens eine stärkere (betriebs-)wirtschaftliche Ausrichtung und Fundierung der Betriebsratsarbeit, zweitens eine Professionalisierung der Betriebsratsgremien, die oftmals mit internen Reorganisationsprozessen verbunden ist, drittens eine konsequentere Nutzung externer Ressourcen wie externem Sachverstand und eigenen Netzwerkstrukturen, und viertens die verstärkte Beteiligung und Einbindung der Beschäftigten. Betriebswirtschaftliche Fundierung der Betriebsratsarbeit Zunächst ist zu beobachten, dass Betriebsräte sich in den meisten der von uns untersuchten Fälle mit Grenzen ihrer bisherigen Praxis konfrontiert sehen. Unabhängig davon, ob sie eher sozialpartnerschaftlich oder eher konfliktorientiert agieren, mussten sie in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle auf Herausforderungen oder Drohszenarien reagieren, mit denen sie durch ihre Geschäfts- oder Betriebsleitungen konfrontiert worden sind. Dabei sind Situationen in den Betrieben entstanden, in denen das Verständnis betriebswirtschaftlicher Zusammenhänge für die Betriebsräte zur fundamentalen Voraussetzung für den Erhalt ihrer Handlungsfähigkeit wurde. Dies bezieht sich sowohl auf Fälle, in denen eine Tarifabweichung in Form von Gehaltskürzungen oder Arbeitszeitverlängerungen zur Diskussion gestellt wurde, als auch auf Fälle, in denen das Management die Auslagerung einzelner Produkte oder Abteilungen beabsichtigte oder zumindest als Drohung einsetzte. Unternehmen erfassen ihre betriebliche Leistungserstellung immer umfassender mit quantitativen Kennziffern, und finanzwirtschaftliche Kennziffern werden zunehmend zur Steuerung von Unternehmen und Unternehmenseinheiten sowie zur Begründung strategischer Managemententscheidungen herangezogen. Teilweise geht – wie in einem der von uns untersuchten Betriebe – die Geschäftsführung dazu über, dem Betriebsrat von sich aus mehr betriebswirtschaftliche Daten zur Verfügung zu stellen, um das Verständnis des Betriebsrates für die betriebswirtschaftliche Seite einer Entscheidung zu schärfen. In der Mehrzahl der Fälle ist es der Betriebsrat selbst, der von seinem Management aktiv Informationen und entsprechende Unterlagen einfordern muss, um die Überlegungen des Managements nachzuvollziehen, auf ihre Schlüssigkeit zu überprüfen und mögliche Fehleinschätzungen und „Kurzschlüsse“ der Geschäftsleitung zu identifizieren. So ließ sich der Betriebsrat eines Herstellers von Motor- und Industriedichtungen, dessen Management einen drastischen Stellenabbau geplant hatte, gemeinsam mit dem betreuenden Gewerkschaftssekretär und einem externen Berater insgesamt bis zu 100 verschiedene Dokumente und Aufstellungen vorlegen, bevor er sich bereit erklärte, mit der Geschäftsführung in konkrete
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Verhandlungen über Interessenausgleich und Sozialplan einzutreten. Dadurch, dass sich der Betriebsrat nunmehr auf dem gleichen Kenntnisstand wie das Management befand, konnte sich eine neue Qualität der Auseinandersetzung mit der Arbeitgeberseite über die Wege zur langfristigen Sicherung des bedrohten Standortes und seiner Arbeitsplätze entspannen; im Ergebnis konnte ein nicht unwesentlicher Teil der bedrohten Arbeitsplätze erhalten werden. Dieses Beispiel ist durchaus typisch für den erweiterten Mitbestimmungsanspruch, der mit dem „Besser statt billiger“-Ansatz verbunden ist. Der gemeinsame Kern der Besser-Praxis der Betriebsräte liegt in den untersuchten Fällen zunächst einmal darin, eigenständige problemorientierte Deutungsmuster zu entwickeln. In vielen Fällen setzt dies voraus, die Deutungsangebote des Managements, die sich zumeist auf angeblich unabwendbare betriebswirtschaftliche Zwänge stützten, kritisch zu analysieren und schließlich betriebsöffentlich in Frage zu stellen. Diese Infragestellung beruht zumeist darauf, die Sachzwanglogik, mit der das Management seine Deutungen zu legitimieren versucht, anzuzweifeln und die Frage aufzuwerfen, ob es nicht alternative Möglichkeiten gibt, die ebenso sinnvoll oder langfristig sogar ertragreicher sind. Der entscheidende Trick dieses Vorgehens besteht darin, die Begründungen des Managements innerhalb des Referenzrahmen des Managements, nämlich dem der betriebswirtschaftlichen Notwendigkeiten, in Frage zu stellen. Gerade damit gelang es den Betriebsräten oftmals, die Deutungshoheit des Managements zu untergraben, weil in diesem Fall das Management seinerseits unter Rechtfertigungsdruck geriet. Ein fundiertes betriebswirtschaftliches Gegenargument kann vom Management nicht einfach als ideologisch oder interessenpartikularistisch abgelehnt werden, weil es sich auf das gleiche Interesse bezieht, das auch das Management zu vertreten beansprucht, nämlich den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens. Eine stärker betriebswirtschaftliche Orientierung und Fundierung der Mitbestimmungspraxis, wie wir sie in vielen untersuchten Betrieben feststellen konnten, bedeutet keinesfalls, dass der Betriebsrat unhinterfragt die Deutungsmuster der Arbeitgeberseite akzeptiert oder gar selber Managementaufgaben übernimmt. Indem die Betriebsräte betriebswirtschaftlich argumentieren, zwingen sie das Management vielmehr dazu, ihre (Gegen-)Argumente ernst zu nehmen. Dabei zeigte sich, dass Betriebsräte nicht ein ausgearbeitetes „druckreifes“ Konzept in der Tasche haben müssen, um die strategischen Entscheidungen des Managements zu problematisieren und zum Gegenstand von Verhandlungen machen zu können; häufig genügt auch schon die – freilich begründete – Infragestellung der vermeintlichen betriebswirtschaftlichen Stichhaltigkeit und Eindeutigkeit, um die Sachzwanglogik zu de-legitimieren, der sich die Managementseite zu bedienen pflegt.
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Dies lässt sich an dem Beispiel eines Haushaltsgeräteherstellers verdeutlichen, bei dem die Auslagerung der mechanischen Fertigung bereits beschlossene Sache war, sich in der praktischen Umsetzung allerdings als unerwartet mühsam und zeitaufwändig erwies. Auf einer Veranstaltung der IG Metall zum Thema Outsourcing erhielt der Betriebsrat den entscheidenden Anstoß, die Schwierigkeiten bei der Fremdvergabe der einzelnen Komponenten an externe Anbieter als Problem zu deuten und im Unternehmen zu einem politischen Thema zu machen. Der Betriebsrat realisierte, dass das Thema Outsourcing Gestaltungsspielräume bietet, und mehr noch, dass über die IG Metall auch Ressourcen in Form von Beratungsleistungen zu bekommen waren, die es ermöglichten, die Auslagerungsentscheidung neu untersuchen und bewerten zu lassen. Die öffentliche Infragestellung des mittel- und langfristigen betriebswirtschaftlichen Nutzens der Auslagerungsstrategie führte in diesem Falle zu einem Prozess, der schließlich mit der Rücknahme der Auslagerungsentscheidung endete. Der erste Schritt zur Abwehr von Managementkonzepten, die auf Personalabbau, unbezahlte Arbeitszeitverlängerung, Auslagerungen an andere Unternehmen oder Verlagerungen an andere Standorte abzielten, besteht also in den meisten Fällen in ihrer offensiven Infragestellung unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten. In knapp der Hälfte der von uns untersuchten Betriebe kam allerdings noch ein zweiter Schritt hinzu, und der bestand in der Erarbeitung einer eigenständigen Alternative im Sinne eines Gegenentwurfes. So war beispielsweise bei einem größeren Automobilzulieferer mit mehreren Standorten die komplette Auslagerung der Komponentenfertigung vorgesehen; nur die Endmontage sollte im Stammwerk bleiben. Das Management konfrontierte den Betriebsrat mit der Forderung, einer Verlängerung der bestehenden 40-Stunden-Woche zuzustimmen, um die angedrohte Auslagerung abzuwenden oder zumindest aufzuschieben. Die Betriebsräte der Standorte und des Wirtschaftsausschusses entwickelten auf mehreren gemeinsamen Workshops eine Zukunftsvision für jeden der deutschen Standorte. Dabei wurden die vorhandenen Stärken, die aus Sicht des Betriebsrates erforderlichen Maßnahmen sowie der dazugehörige Investitionsbedarf für jeden Standort zusammengestellt und in einem Grundsatzpapier zusammengefasst. Gemeinsam mit der IG Metall wurde anschließend ein Programm „Für eine offensive Fertigungsstrategie“ ausgearbeitet, mit dem der Gesamtbetriebsrat in die weitere Auseinandersetzung mit dem Management ging. In diesem Konzept wurde unter dem Gesichtspunkt der Wertschöpfung als Basis für Erträge und Margen eine Vielzahl von Gründen aufgeführt, die – im Gegensatz zur Management-Planung – nicht für eine Reduktion, sondern ganz im Gegenteil vielmehr für eine Ausweitung der Fertigungstiefe sprachen. Zu den genannten Aspekten gehörten Termintreue, Logistikkosten, Qualitätsstandards, Produktions- und Kostenwissen als Vorteil in Preisverhandlungen, das Servicegeschäft
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mit Komponenten sowie die Komponentenfertigung als Basis für Drittgeschäfte mit anderen Motorherstellern. Nach einem langwierigen Diskussions- und Verhandlungsprozess auch im Aufsichtsrat konnte schließlich durchgesetzt werden, auf die geplante Auslagerung zu verzichten und stattdessen ein umfangreiches Investitionsprogramm zum Ausbau der mechanischen Fertigung in Deutschland zu beschließen, durch das die Produktionskapazität am Stammsitz sogar erweitert wurde. Professionalisierung des Betriebsratsgremiums Wie die vorangegangenen Beispiele zeigen, erfordert die erfolgreiche Formulierung und Durchsetzung von Besser-Konzepten nicht nur guten Willen, sondern eine Vielzahl von fachlichen Kompetenzen auf Seiten der Betriebsräte. Als proaktive Interessenvertretungen müssen Betriebsräte daher immer auch die Entwicklung eigener Kompetenzen aktiv betreiben: Je besser die Kompetenzausstattung der Betriebsräte, umso größer ist ihr Handlungsrepertoire gegenüber dem Management. Die wichtigste Vorbedingung dafür, das Management wie in den vorangegangenen Beispielen in seinem eigenen Referenzrahmen betriebswirtschaftlicher Kosten- und Zielkennziffern infrage stellen zu können, ist betriebswirtschaftliche Kompetenz, also ein Grundverständnis betriebswirtschaftlicher Zusammenhänge. Betriebsräte müssen in der Lage sein, die strategischen Ziele des Managements sowie die betriebswirtschaftlichen Daten und Annahmen, die diesen zu Grunde liegen, einigermaßen kompetent beurteilen zu können. Nicht von ungefähr haben in allen untersuchten Fällen die Betriebsräte in ähnlicher Weise betont, dass sie betriebswirtschaftliches Wissen mobilisiert oder sich angeeignet haben. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Betriebsräte nun die besseren Betriebswirte sein müssten; zunächst einmal geht es darum, zu verstehen, was die andere Seite antreibt, um auf dieser Grundlage Alternativen ins Spiel bringen zu können. Wichtig ist zudem, dass die Betriebsräte in diesen Fällen auch wissen, wo und wie sie sich zusätzliche externe Expertise holen können. Dazu kann es ein großer Vorteil sein, wenn die Betriebsräte ihre Organisationskompetenz aktivieren oder erhöhen. Organisationskompetenz ist das Pfund, mit dem die Betriebsräte wuchern können. Hier sind sie einem Management nicht selten überlegen, das häufig rotiert und sich mehr und mehr auf betriebswirtschaftliche Steuerung konzentriert. Das Wissen der Betriebsräte als Kenner der Organisation erleichtert es ungemein, mögliche Schwachstellen in den Berechnungen des Managements aufzudecken. So konnte der Betriebsrat eines Anlagenbauers eine Gegenrechnung zu den Zahlenwerken des Managements vor allem deshalb aufstellen, weil er in enger Zusammenarbeit mit einem externen Berater und den Beschäftigten als Experten festgestellt hat, dass die geplante
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Verlagerung der mechanischen Werkstatt die Fähigkeit zur kundenspezifischen Herstellung der Maschinen beeinträchtigen würde, da die Kunden immer stärker dazu tendieren, bis wenige Tage vor der Auslieferung noch Änderungsanforderungen zu stellen. Auch mögliche Qualitätsprobleme spielten dabei eine Rolle. Die Organisationskompetenz ist zudem unerlässliche Voraussetzung dafür, eigenständige Organisationskonzepte zu entwickeln und diese in die Auseinandersetzungen einzubringen. Hier ist der Betriebsrat als Fachmann der Organisation gefragt. Entwicklung, Präsentation und erfolgreiche Verhandlung eigener Strategiekonzepte erfordert nicht zuletzt eine hohe strategische Kompetenz auf Seiten der Betriebsräte. Ein Paradefall für ausgeprägte strategische Kompetenzen ist der Betriebsrat eines Anlagenbauers für Zementfabriken, dessen Belegschaft einen hohen Anteil von Ingenieuren aufweist. Hier hat der Betriebsrat im Zuge der Konzeptentwicklung zur Rettung der von einer Auslagerungsentscheidung bedrohten Werkstatt nicht nur Workshops durchgeführt, externe Beratung organisiert und internes Expertenwissen der Beschäftigten mobilisiert, sondern zum Teil sogar Mitglieder der lokalen Geschäftsleitung auf seine Seite ziehen können. Die immer wieder unter Beweis zu stellenden fachlichen und analytischen Qualifikationen des Betriebsrates führten zu wachsendem Respekt bei Abteilungsleitern, der sich wiederum als Anerkennung in der fachlich sehr qualifizierten, überwiegend gewerkschaftsfernen Belegschaft widerspiegelte. Erst am Ergebnis einer langen Prozesskette konnte schließlich ein eigenständiges Gestaltungskonzept erstellt und zugleich auch der gewerkschaftliche Organisationsgrad deutlich erhöht werden. Ein weiteres wichtiges Moment der Professionalisierung der Betriebsratsarbeit ist die effiziente (Re-)Organisation und Schulung der Betriebsratsgremien. Ein proaktives Handeln des Betriebsrates ist kaum als „One-Man-Show“ zu organisieren, bei der ein dominierender Betriebsratsvorsitzender eine klassische Stellvertreterpolitik betreibt. Vielmehr müssen Betriebsratsgremien zu arbeitenden Teams entwickelt werden, um die internen Ressourcen und Potenziale des Betriebsrates besser nutzen und ausschöpfen zu können. Beteiligungsorientierung fängt bereits innerhalb des Betriebsrates an. In vielen Fällen lässt sich zwar weiterhin eine starke Führungsfigur und eine aktive „Kerngruppe“ innerhalb des Betriebsrates identifizieren; nichtsdestotrotz tendieren viele Betriebsratsgremien mittlerweile dazu, jüngere Betriebsräte verstärkt in die Verantwortung einzubinden, die Arbeitsteilung und Spezialisierung innerhalb des Gremiums zu erhöhen und zugleich den Kern der aktiven Betriebsräte zu erweitern. So werden beispielsweise in einem untersuchten Maschinenbaubetrieb speziell die jüngeren Betriebsratsmitglieder ausführlich zum Thema Gruppenarbeit geschult, damit diese bei der im Betrieb anstehenden Neuorganisation der Grup-
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penarbeit im Steuerungsgremium aktiv sein können. Der Schlüssel zum Erfolg dieses Projekts lag in der Einbindung der Betriebsräte in die betriebliche Reorganisation. Mit der breitflächigen Einführung der Gruppenarbeit wurden die Betriebsräte insgesamt gefordert, sich in die Koordinierung und Begleitung der Gruppenarbeit einzuschalten. Dabei kam dem Betriebsrat als Gremium auch zugute, dass er in allen Abteilungen präsent war und die Prozesse unterstützen konnte. Weil nunmehr mehr Betriebsräte verantwortlich in die Mitbestimmungspraxis eingebunden wurden, konnten sie sich besser und kompetenter in einzelne Projekte und Prozesse einklinken, konstruktive Ideen einbringen und als „Multiplikator“ die Akzeptanz in der Belegschaft steigern. In einem weiteren Betrieb wurden die jüngsten Neuwahlen genutzt, um insbesondere fachlich qualifizierte Angestellte für das Team zu gewinnen. In einem dritten Betrieb schließlich hat der Betriebsrat mittlerweile den verbindlichen Standard etabliert, dass freigestellte Betriebsräte eine Ausbildung zum Projektmanager bzw. Prozessbegleiter machen müssen, um fachlich wie methodisch in der Lage zu sein, Veränderungsprozesse aktiv mitzugestalten. In praktisch allen von uns untersuchten Betrieben nehmen die Betriebsräte mehr oder weniger kontinuierlich an Schulungen teil, die entweder von der IG Metall oder von den Technologieberatungsstellen des DGB durchgeführt werden. In knapp der Hälfte der von uns untersuchten Fälle haben die Betriebsräte darüber hinaus an Schulungen teilgenommen, die sich unmittelbar auf die Probleme bezogen, mit denen sie sich auseinandersetzen mussten. Solche anlassbezogenen Schulungen sind zwar nicht unbedingt die Regel, aber sie können wichtige Impulse für die proaktive Interessenvertretung liefern, wie das bereits erwähnte Beispiel des Betriebsrates eines Automobilzulieferers zeigt. Nutzung externer Ressourcen Ungeachtet des verstärkten Aufbaus und der Bündelung eigener Kompetenzen des Betriebsratsgremiums sind die Anforderungen an eine erfolgreiche „Besser“Strategie so komplex, dass sie in vielen Fällen nicht ohne zusätzliche Unterstützung und zusätzliches Know-how von außen zu bewältigen sind. Eine weitere entscheidende Kompetenz der Betriebsräte als proaktive Interessenvertreter besteht deshalb darin, sich die Ressourcen zu organisieren, die sie über die Kompetenzen hinaus brauchen, die sie im Alltagsgeschäft entwickeln und nutzen können. Neben der in jedem Falle unverzichtbaren Kompetenz der Gewerkschaft, die darin bestehen kann, Kontakte zu vermitteln, aber auch darin, eigene Kompetenzen insbesondere bei Verhandlungen einzubringen, spielte die Beratung durch externe Beratungsunternehmen in der Mehrzahl der untersuchten Betriebe eine wichtige Rolle.
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Externe Beratung erwies sich in diesen Fällen als unerlässlich für die Infragestellung der Managementstrategien sowie für die Erarbeitung tragfähiger Konzepte. Die Beratung hat zudem häufig den Effekt, die Autorität des Betriebsrates als Akteur der Verhandlungen zu stärken, weil er sich nun auf eine auch vom Management anerkannte Expertise stützen kann. Zunächst einmal aber brauchten die Betriebsräte die Berater/innen, um die von der Geschäftsleitung vorgelegten Zahlen zu überprüfen und die Organisation auf Alternativen abzuklopfen. Dabei konnte es zunächst einmal schlicht darum gehen, die Informationen der Unternehmensseite zu verstehen. Häufig aber gingen die Beratungen weit über die Interpretation der Unternehmensbilanzen und -zahlen hinaus. In einigen Fällen hat der/die Berater/in entscheidend zur Erarbeitung einer Alternativrechnung beigetragen. Im Falle eines Zulieferers für Nutzfahrzeuge hat der/die Berater/in, wie in anderen Fällen auch, Workshops organisiert und auf dieser Grundlage gemeinsam mit dem Betriebsrat Konzepte entwickelt, wie das Unternehmen aus der Insolvenz zu führen sein könnte. Die Berater/innen hatten also jeweils wichtige Funktionen für die Betriebsräte bei der Stärkung betriebswirtschaftlicher Kompetenzen und der Erarbeitung inhaltlicher Positionen, zum Teil aber auch bei der Verbesserung der Kommunikation zwischen den Betriebsparteien und sogar innerhalb des Betriebsratsgremiums. Die zuweilen extrem vielschichtige Arbeit externer Berater/innen lässt sich am Beispiel des bereits erwähnten Herstellers von Motor- und Industriedichtungen illustrieren, bei dem ein knappes Drittel der Belegschaft abgebaut werden sollte. Die Vorgehensweise des Beraters umfasste eine Vielzahl einzelner Arbeitsschritte: neben einer umfangreichen Frageliste an das Management wurden auf mehreren Abteilungs- und Betriebsratsworkshops Schlüsselkompetenzen des Standortes definiert, Handlungsbedarfe mithilfe eines „Betriebsratsinnovationsnavigators“ ermittelt, Arbeitsvolumenbilanzen erstellt, die betrieblichen Fixkosten und die Auftragslage analysiert, sogenannte "Fehler-Möglichkeits- und Einflussanalysen" durchgeführt und Alternativmaßnahmen durchkalkuliert. Der/die Berater/in nahm zudem auch an den konkreten Verhandlungen mit dem Management im Rahmen des Interessenausgleichs und Sozialplanes teil. Wie dieses Beispiel zeigt, sind es nicht nur die fachlichen und methodischen, sondern oftmals auch die strategischen Kompetenzen der externen Berater, die Betriebsräten bei betrieblichen Konflikten entscheidend unterstützen können. Neben der Organisation und Nutzung externen Sachverstandes ist auch die interne und externe Vernetzung des Betriebsratsgremiums von großer Bedeutung. Betriebsräte und ihre Vorsitzenden können ihren Aktions- und Informationshorizont kaum ohne Verlust an Handlungsfähigkeit auf den lokalen Standort begrenzen; funktionierende und aktive Netzwerke und Informationskanäle erweisen sich zunehmend als eine zentrale Ressource erfolgreicher Betriebsratsarbeit.
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Die Notwendigkeit einer stärkeren Vernetzung betrifft dabei die Zusammenarbeit zwischen den lokalen Betriebsratsgremien verschiedener Standorte innerhalb eines Unternehmens. So konnte in einem der von uns untersuchten Fälle die Geschäftsführung eines internationalen Konzerns im Rahmen eines früheren Verfahrens der Tarifabweichung die mangelnde strategische Abstimmung zwischen zwei Standort-Betriebsräten ausnutzen, um die Standorte gegeneinander auszuspielen und auf diese Weise ihre Forderungen weitgehend durchzusetzen. Angesichts dieser negativen Erfahrung kamen die beiden Betriebsräte darin überein, dass nur ein gemeinsames strategisches Vorgehen und eine dementsprechende Stärkung des bis dahin eher nachgeordneten Gesamtbetriebsrates Erfolg versprechen kann. Unter Einschaltung eines externen Beraters wurden gemeinsame Workshops organisiert und Strategien und Verfahren festgelegt, um in zukünftigen Interessenkonflikten durch ein geschlossenes Auftreten Verhandlungsmacht gegenüber der Unternehmensleitung aufbauen zu können. In einem anderen Fall erwies sich die gute Vernetzung der lokalen Betriebsratsvorsitzenden eines vergleichsweise kleinen Konzernstandortes mit dem übergreifenden Konzernbetriebsrat, dessen Vorsitzender auch Mitglied des Aufsichtsrates ist, als wichtige strategische Ressource bei der Abwehr einer drohenden Auslagerung mehrerer Abteilungen. Die „direkte Leitung in die Konzernzentrale“ machte es möglich, dass der Betriebsrat schon vor der lokalen Geschäftsführung über die Restrukturierungspläne für seinen Standort informiert war; diesen Zeit- und Informationsvorsprung konnte der Betriebsrat nutzen, um gemeinsam mit dem gewerkschaftlichen Betreuer und einem externen Berater schon zu einem relativ frühen Zeitpunkt mit der Entwicklung entsprechender Gegenstrategien zu beginnen. Eine weitere wertvolle Ressource für Betriebsräte ist schließlich die Einbindung in branchenbezogene Betriebsrats-Netzwerke. Im Kontext der „Besser statt billiger“-Kampagne sind in den letzten Jahren in verschiedenen Branchen neue Betriebsrats-Netzwerke entstanden und seitens der Gewerkschaft durch Branchenreports, Workshops und Dialogveranstaltungen aktiv unterstützt worden. Die von uns befragten Betriebsräte, die sich in solchen Netzwerken engagieren, stimmen darin überein, dass sie von diesen Strukturen enorm profitieren können. Der Informations- und Erfahrungsaustausch mit anderen Betriebsräten trägt dazu bei, zukünftige Entwicklungen am Markt frühzeitig zu erkennen, die Situation und Perspektive der Arbeitsplätze im eigenen Betrieb besser einschätzen zu können und auf Veränderungen entsprechend vorbereitet zu sein. Über den Informationsaustausch hinaus nutzen einige Betriebsräte die Branchennetzwerke jedoch auch als Möglichkeit, ihr betriebliches Handeln besser miteinander zu koordinieren und gemeinsam Ziele, Strategien und Standards für die Auseinandersetzungen mit den Arbeitgebern zu erarbeiten. Dies ist beispielsweise im Netzwerk
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Landtechnik der Fall: Im November 2004 verabschiedeten die Betriebsräte der Landmaschinenindustrie auf einer Branchentagung die sogenannte „Münsteraner Erklärung“, die die Einführung unbezahlter Mehrarbeit im Rahmen betrieblicher Tarifabweichungen explizit ausschließt. Dieses gemeinsame und standortübergreifende Vorgehen der Betriebsräte setzt dem arbeitgeberseitigen Versuch des gegeneinander Ausspielens von Betrieben der Branche zur Durchsetzung von Tarifabweichungen eine eigene Strategie entgegen und verbessert so die Verhandlungsposition der Betriebsräte in ihrem jeweiligen Betrieb. Beteiligung und Einbindung der Belegschaft Die gezielte Beteiligung und Einbeziehung der Beschäftigten spielt bei der Erarbeitung, Durchsetzung und Umsetzung von „Besser“-Strategien eine zentrale Rolle. Bei der Verhandlung von Tarifabweichungen ist die Beteiligung der Beschäftigten bzw. der IG Metall-Mitglieder durch betriebliche Tarifkommissionen oder Mitgliederversammlungen mittlerweile verbreitete Praxis (Haipeter 2010). Das Besondere von „Besser“-Strategien ist jedoch die gezielte Aktivierung und strategische Nutzung von Beschäftigtenwissen und Beschäftigtenkompetenz bei allen Fragen der Ausgestaltung der betrieblichen Arbeitsorganisation. Betriebsräte können aufgrund ihrer Vertrauensbeziehung zu den Beschäftigten erstens einen anderen Zugang zum Erfahrungswissen der Beschäftigten finden als die Geschäftsführung. Zweitens können Betriebsräte dabei helfen, Akzeptanz und Legitimation für die Umsetzung geplanter Innovationen bei den Beschäftigten zu erzeugen (Schwarz-Kocher et al. 2010). Hinzu kommt drittens, dass angesichts der häufigen personellen Wechsel in vielen Geschäftsleitungen der Betriebsrat zu einem Hort der Kontinuität im Betrieb wird, der gegenüber dem Management deutliche organisatorische und technologische Wissens- und Kompetenzvorsprünge hat. Die Einbeziehung des Expertenwissens der Beschäftigten ist aber insbesondere auch für den Aufbau fachlicher Gegenmacht und die Entwicklung eigener (Alternativ-)Konzepte des Betriebsrates unverzichtbar. So wurden in den von uns untersuchten Betrieben Mitarbeiterbefragungen, Workshops und Gesprächskreise, „Klagemauern“ und ähnliche betriebsspezifische Kommunikationsinstrumente eingesetzt, um die Probleme, Vorstellungen und Wünsche der Beschäftigten abzufragen, Zielprioritäten festzulegen und die Belegschaft zugleich zur stärkeren Teilnahme zu motivieren. In fast allen von uns untersuchten Fällen sind die diesbezüglichen Initiativen des Betriebsrates von der Belegschaft ausgesprochen positiv aufgenommen worden. Im Rahmen von Verbesserungsprozessen (KVP) und betrieblichem Vorschlagswesen können materielle Anreize dabei durchaus eine Rolle spielen; oftmals geht es für die beteiligten Beschäftigten
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aber auch um Fragen der Anerkennung und Wertschätzung der eigenen Kompetenzen. Ein interviewter Betriebsrat bringt es folgendermaßen auf den Punkt: „Das ist hier nicht immer nur Geld. Ich darf dem Chef das in die Augen sagen! Der Kollege, der hier die Präsentation gemacht hat, der war so stolz: Der Chef hat dabeigesessen, der Vorstand hat zugehört!“ Das strategische Problem, das sich hier jedoch abzeichnet, besteht darin, dass es immer stärker darauf ankommen wird, zusätzlich zur Kompetenz von Facharbeitern das Fachwissen von Ingenieuren zu mobilisieren – also einer Beschäftigtengruppe, in der die meisten Betriebsräte bislang schwach verankert sind. Trotzdem ist die Lage hierfür nicht aussichtslos. Das oben angeführte Fallbeispiel des Anlagenbauers für Zementfabriken zeigt, dass Betriebsräte über den Weg der fachlichen Anerkennung für ihre Alternativkonzepte Vertrauen in die Arbeit des Betriebsrats herstellen und neue Beschäftigtengruppen für sich gewinnen können. Der hier beschriebene neue Anspruch und Ansatz proaktiver Interessenvertretung macht allerdings, und dies ist ausdrücklich zu betonen, „klassische“ Formen der konfliktorientierten Mobilisierung der Belegschaften keinesfalls überflüssig; „Besser statt billiger“ ist trotz seines pragmatisch-sachorientierten Ansatzes eine Konfliktstrategie. Wie unsere Fallstudien zeigen, sind „Konzept und Druck“ (Korflür et al. 2010) zwei Seiten einer Medaille in betrieblichen „Besser“-Prozessen; allein auf den „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ können Interessenvertretungen nicht setzen, wenn sie unternehmerische Entscheidungen des Managements offen in Frage stellen und Gegenkonzepte formulieren. Die Formulierung und Durchsetzung einer “Besser“-Strategie ist oftmals ein sehr konfliktbeladener und langwieriger Prozess, da viele Geschäftsführungen zunächst nicht bereit sind, ein Stück ihrer unternehmerischen Dispositionsfreiheit preiszugeben und ihren „ureigenen“ Kompetenzbereich zum Teil erbittert verteidigen. Es bleibt daher unverzichtbar, dass der Betriebsrat in jeder Phase des Prozesses die Belegschaft mobilisiert, Druck erzeugt und so aus einer Position der relativen Stärke heraus handeln kann. So haben in einem Fall erst Warn- und Bummelstreiks der Belegschaft, die zwischenzeitlich zu erheblichen finanziellen Belastungen für das Unternehmen führten, den nötigen Druck erzeugt, um die Geschäftsführung überhaupt zur Aufnahme von Verhandlungen zu bewegen. In einem anderen Fall haben sich massenhafte „Besuche beim Betriebsrat“, die den laufenden Betrieb zum Stillstand brachten, als wichtige Drohkulisse während der Verhandlungen mit der Geschäftsführung erwiesen. Wie sich in einem weiteren Fall zeigte, kann es auch nach Abschluss der Verhandlungen notwendig sein, durch die Drohung mit der Kündigung der ausgehandelten Vereinbarung den
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Druck aufrecht zu erhalten, wenn die Unternehmensleitung bestimmte Punkte der Vereinbarung nicht oder nur zögerlich umsetzt. Der Betriebsrat kann, wie bereits angedeutet, durch „Besser“-Initiativen seine Machtposition gegenüber der Unternehmensleitung stärken, weil er mit Hilfe eigener Vorschläge und neuer Unterstützung, sei es durch Beschäftigte, sei es durch externe Berater und die Gewerkschaft, nun „auf Augenhöhe“ mit dem Management verhandeln kann. Dies gilt paradoxerweise auch für Vereinbarungen, die im Zusammenhang mit Tarifabweichungen abgeschlossen werden. Trotz der in Einzelfällen durchaus heftigen betrieblichen Konflikte um „Besser statt billiger“ kam es im Laufe der Verhandlungs- und Umsetzungsprozesse durchaus auch zu Verbesserungen der Beziehungen zwischen dem Betriebsrat und der Geschäftsführung sowie zu einer Stärkung und Festigung der Rolle des Betriebsrates im Unternehmen. In manchen Konstellationen war dabei die moderierende Rolle externer Berater hilfreich, in anderen Fällen brachten gemeinsam verabredete Klausurtagungen oder betriebliche Workshops den entscheidenden Durchbruch. Nicht selten war es aber auch eine mehr oder weniger akute Notlage des Betriebs, die den Betriebsparteien die Alternativlosigkeit pragmatischer Kompromissbemühungen verdeutlicht hat. Entscheidend ist dabei die Tatsache, dass in vielen Fällen durch den „Besser“-Prozess eine offenere Kommunikationskultur im Betrieb gefördert und entsprechende Methoden und Routinen installiert wurden, die einen sachorientierten Dialog über betriebliche Probleme verstetigen können. In dem Maße, in dem die auf Initiative des Betriebsrates durchgeführten Veränderungsprozesse messbaren betriebswirtschaftlichen Nutzen zeigten, haben sich die Betriebsräte eine höhere Wertschätzung und Akzeptanz seitens der Geschäftsführung erarbeitet, welche die Grundlage für zukünftige Kompromisslösungen bilden kann.
Schluss Die Entwicklung von “Besser”-Strategien und die daran anknüpfenden betrieblichen Auseinandersetzungen gehen nach den Erfahrungen unserer Fälle mit einer Stärkung der Machtpositionen der Betriebsräte einher. Die Betriebsräte schärfen ihre wirtschaftlichen und strategischen Kompetenzen, sie stellen die Deutungshegemonie des Managements in Frage, und sie können sich die Rückendeckung durch die Beschäftigten sichern. „Besser“-Strategien und mit ihnen Konflikt und Beteiligung können also wichtige Ansatzpunkte für die Revitalisierung der betrieblichen Interessenvertretungen sein. Dabei hat sich die Unterstützung durch die Gewerkschaft als wichtige Ressource erwiesen, sei es als Impulsgeber für diese Art der Interessenvertretungspolitik, sei es als Berater der Betriebsräte, sei
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es als Verhandlungsführer bei Tarifabweichungen oder sei es als Organisator von externer Beratung. Auch externe Berater spielten nicht selten eine wichtige Rolle. Sie haben vielfach dazu beigetragen, die wirtschaftlichen und strategischen Kompetenzen der Betriebsräte zu verbessern und die Beteiligung der Beschäftigten an der Entwicklung alternativer Strategien zu organisieren. Die gestaltungs- und beteiligungsorientierten Ansätze, die mit Kampagnen wie „Besser statt billiger“ gefördert werden sollen, sind nach unseren Beobachtungen jedoch mit Brüchen für das Selbstverständnis und die Organisation der Interessenvertretungen verbunden, allerdings nicht im Sinne eines Ersatzes, sondern einer Ergänzung und Erweiterung der klassischen Betriebsratsarbeit. Betriebsräte, die sich in der konventionellen Rolle des „Schützers und Bewahrers“ sehen, stoßen nach unserem Eindruck vermehrt an Grenzen. Ähnliches gilt für Betriebsräte, die sich eher als konfliktorientierte Verteidiger von Beschäftigteninteressen verstanden, ohne sich dabei „den Kopf des Arbeitgebers zerbrechen zu müssen“. Wenn die Unternehmen ihre „Bargaining Chips“ ausspielen, die sie als Drohpotenziale trotz der Finanzmarktkrise mit Verweis auf Auslagerungsmöglichkeiten und die internationale Standortkonkurrenz nach wie vor haben, müssen die Betriebsräte Gegenstrategien entwickeln und überzeugend vertreten, um in diesen Defensivkonstellationen die Sachzwanglogik des Managements zu brechen und auf Augenhöhe mit dem Management verhandeln zu können. Unsere Eindrücke aus betrieblichen Fallstudien zeigen, dass Interessenvertretungen auch in dieser Defensivsituation durchaus über erhebliche Handlungsspielräume und Gestaltungspotenziale verfügen – allerdings nur um den Preis der Veränderung des Selbstverständnisses. Und zu bedenken ist dabei allerdings auch, dass mit „Besser“-Strategien nicht alle Probleme gelöst sind. Dies gilt insbesondere deshalb, weil dabei immer nur temporäre arbeitspolitische Akzente gesetzt werden können. „Besser“-Strategien zu entwickeln und auszufechten bleibt eine Daueraufgabe, weil die Drohkulissen des Managements laufend aktualisiert werden und jederzeit der beschäftigungs- und arbeitspolitische Rückschritt droht. Zudem erweist sich die praktische Verknüpfung von betrieblichen Innovationen, die von Betriebsräten als Alternative zu Tarifabweichungen oder Auslagerungen angestoßen werden, und „guter Arbeit“, also erfahrbaren Aufwertungen der Beschäftigten im Arbeitsprozess, als wenig erkundetes Neuland. Es zu erschließen ist jedoch umso wichtiger, wenn aus einzelnen betrieblichen Verbesserungsinitiativen eine Strategie entstehen soll, die auf eine Revitalisierung des deutschen Produktionsmodells durch tatsächliche Nutzung der ihm zugeschriebenen Stärken abzielt. Die gegenwärtige Krise bietet paradoxerweise neue Anknüpfungspunkte für arbeitspolitische Innovationen der Interessenvertretungen, weil in vielen Betrieben mit dem „Horten von Arbeitskräften“ erstmalig seit langer Zeit die Bedeu-
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tung qualifizierter Beschäftigter auch praktisch anerkannt wurde. Diese Chance, sich gegen die zu erwartende Hinwendung zu verschärften Umstrukturierungsmaßnahmen in Stellung zu bringen, ist eine Herausforderung, der sich Gewerkschaften und Betriebsräte jetzt mehr und mehr gegenübersehen. Die Erfahrungen, die im Zusammenhang mit „Besser statt billiger“ und vergleichbaren Projekten gesammelt wurden, sind ein Schatz, den zu heben sich für die Bewältigung dieser Herausforderung lohnen wird.
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„Besser statt billiger“ als Türöffner zur Stärkung der Gewerkschaft? Anregungen aus einer gewerkschaftlichen Innovationskampagne für die „Trade Union Revitalisation Studies“ „Besser statt billiger“
Seit einigen Jahren stehen die Betriebe und die Mitglieder in den Betrieben erklärtermaßen im Zentrum der IG Metall-Politik. „Betriebsorientierung“ und „Mitgliederorientierung“ sind Leitbegriffe in allen Dokumenten, in denen die Strategie der IG Metall beschrieben wird (vgl. z. B. Schwitzer 2009). Die „Besser statt billiger“-Kampagne kann als ein wichtiger Bestandteil dieser Betriebsorientierung betrachtet werden. Sie zielt aus Sicht ihrer Promotoren auf eine Kombination von Verteidigung sozialer Standards und Verteidigung von Arbeitsplätzen mit Hilfe arbeitnehmerbasierter und arbeitnehmerinitiierter betrieblicher Innovationsprozesse. Zugleich soll die Gewerkschaft gestärkt werden – sei es als Voraussetzung eines Erfolgs, sei es im Ergebnis der Innovationsbemühungen. Mittels einer Verknüpfung von betrieblicher Innovation, Partizipation, Aktivierung von Produzentenwissen und Mobilisierung von Gewerkschaftsmitgliedern wird versucht, eine konzeptionelle Brücke zu bauen zwischen Modernisierung im Betrieb und Erneuerung gewerkschaftlichen Handelns. Dieser Versuch kann als ein eigenständiger und zugleich spezifisch deutscher Ansatz in den vielfältigen Bemühungen um eine „Revitalisierung“ der Gewerkschaften betrachtet werden. Diese Spezifik auszuleuchten und zum besseren Verständnis der Erfolgsbedingungen dieses Ansatzes im Hinblick auf die Stärkung der Gewerkschaft beizutragen ist Thema des vorliegenden Aufsatzes. Zu diesem Zweck wird hier ein Blick auf die recht umfangreiche Literatur der letzten Jahre geworfen, die sich mit gewerkschaftlichen Revitalisierungsbemühungen in einer Reihe von Ländern beschäftigt (vgl. die breitgefächerte und analytische Diskussion der Literatur durch Brinkmann et al. 2008). Diese Literatur, mittlerweile unter dem Sammelnamen „Trade Union Revitalisation Studies“ zusammengefasst, beschäftigt sich in erster Linie mit neueren Entwicklungen in den US-Gewerkschaften sowie den dadurch beeinflussten gewerkschaftlichen Aktivitäten in anderen Ländern der englischsprachigen Welt. Sie markiert eine
T. Haipeter, K. Dörre (Hrsg.), Gewerkschaftliche Modernisierung, DOI 10.1007/978-3-531-93332-0_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Abwendung zumindest der angelsächsischen Gewerkschaftsforschung von der Krisenanalyse hin zur Analyse von Erfolgsbedingungen gewerkschaftlichen Handelns. Diese Umorientierung vom „Krisen- zum Strategieparadigma“ (Urban 2008) folgt einem Forschungsinteresse, von dem wir uns auch in unserer Untersuchung der „Besser statt billiger“-Kampagne leiten lassen und das Richard Hyman (2001: 225) so zusammengefasst hat: „Unser Interesse als engagierte Forscher gilt sicher nicht allein der Frage, was Gewerkschaften sind, sondern auch der, was sie werden könnten, und wie.“1 Der Impuls, der von diesen Aktivitäten und den sie begleitenden Analysen ausgeht, ist in den zurückliegenden Jahren vermehrt auch in Deutschland aufgegriffen worden. Trotz der Spezifik des „Besser statt billiger“-Ansatzes ist es nicht auszuschließen, dass Erfahrungen aus einer Gewerkschaftspraxis, die unter völlig anderen politischen und institutionellen Bedingungen wie z. B. denen der USA stattfindet, für zukünftige Diskussionen über „Besser statt billiger“ fruchtbar gemacht werden können. Umgekehrt können möglicherweise die Erfahrungen aus „Besser statt billiger“ als eine Bereicherung in die internationale Diskussion über gewerkschaftliche Revitalisierungsbemühungen eingehen. Die Möglichkeiten eines solchen voneinander Lernens werden im Folgenden ausgelotet. Ich gehe dabei in drei Schritten vor: Nach einem Blick auf die Frage, ob Erfahrungen ausländischer Gewerkschaften überhaupt für die Stärkung der Gewerkschaftsbewegung im eigenen Land genutzt werden können, wird ein grober Überblick über die wichtigsten Ansätze der gewerkschaftlichen Revitalisierungsbemühungen gegeben, die in der einschlägigen Literatur behandelt werden. Vor diesem Hintergrund werden dann, drittens, betriebliche Erfahrungen mit der Praktizierung des Beteiligungs-Ansatzes in der „Besser statt billiger“Konzeption analysiert. Grundlage des Aufsatzes sind die Fallstudien aus dem Forschungsprojekt „Rückenwind für Betriebsräte“ (siehe auch den Beitrag von Brettschneider, Bromberg und Haipeter in diesem Band).
Voneinander lernen? Die Möglichkeiten eines voneinander Lernens von Gewerkschaften, die unterschiedlichen Welten angehören, ist verschiedentlich bezweifelt worden. So hat Frege (2000) angemerkt, dass die Revitalisierungs-Strategien der US-Gewerkschaften selber bislang so wenig systematisiert und konzeptionell oder theoretisch fundiert seien, dass es schwer sei, aus ihnen strategische Schlüsse für ande-
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Übersetzung dieses und der folgenden Zitate aus englischen Originaltexten durch mich; SL.
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re Gewerkschaften abzuleiten. Darüber hinaus wird aber vor allem auf die fundamentalen Unterschiede der Institutionensysteme hingewiesen, in denen sich z.B. US-amerikanische und deutsche Gewerkschaften bewegen (z. B. Rehder 2008). Wie wichtig sind aber derartige Unterschiede für das voneinander Lernen? Grundsätzlich ist zu bedenken, dass Institutionen geronnene politische Kräfteverhältnisse zum Zeitpunkt ihrer Entstehung sind. Die Institutionalisierung von Vertretungsrechten ist – wie auch in vielen anderen Ländern – aus den großen sozialen Konflikten und politischen Neujustierungen nach den Katastrophen von Faschismus und 2. Weltkrieg hervorgegangen. Die Besonderheit ihrer Gestaltung in Deutschland hängt dabei wesentlich mit der Spaltung Deutschlands und der darauf folgenden Stellung der Bundesrepublik als Front- und Schaufensterstaat im Kalten Krieg zusammen. Vor diesem Hintergrund waren Tarifvertragsgesetz und Betriebsverfassungsgesetz sowohl auf die Erfahrungen der Weimarer Republik als auch auf die Notwendigkeit eines neuen strategischen oder „historischen“ Kompromisses in den Westzonen gegründet. Diese Besonderheit existiert seit den 1990er Jahren nicht mehr. Die einschneidenden Veränderungen in den deutschen industriellen Beziehungen lassen sich ohne diese historischen und politischen Umwälzungen im Hintergrund nicht verstehen (vgl. dazu unsere Analyse des Umbruchs im deutschen Beschäftigungsmodell in Lehndorff et al. 2009). Vor diesem Hintergrund wachsen die Gemeinsamkeiten zwischen den Ausgangsbedingungen, denen sich deutsche und z. B. US-amerikanische Gewerkschaften gegenübersehen. Nicht nur, dass auch in Deutschland die weißen Flecken auf der Landkarte gewerkschaftlichen Einflusses sehr viel größer geworden sind, sondern auch in den Kernzonen gewerkschaftlicher Organisationsmacht sehen sich Interessenvertretungen in Deutschland ähnlichen „Shareholder Value“orientierten Managementstrategien gegenüber wie ihre KollegInnen in Übersee. Die strategische Defensivkonstellation ist überall typisch für gewerkschaftliche Handlungsbedingungen geworden – trotz aller fortbestehenden Unterschiede zwischen den Ländern. Deshalb sind auch die Institutionensysteme der industriellen Beziehungen und die innerhalb ihres Rahmens zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen widersprüchlicher, als dies teilweise in der Literatur suggeriert wird. Wenn es in bedeutenden Teilen des deutschen Systems der industriellen Beziehungen noch eine „Konfliktpartnerschaft“ (Müller-Jentsch 1991) gibt, dann beruht diese letztlich auf einer Konfliktfähigkeit der Parteien. Seitens der Gewerkschaften ist dafür sowohl strukturelle als auch Organisationsmacht erforderlich. Das Problem ist nun, dass, wie Dörre (2008: 4) bemerkt, „die gewerkschaftliche Organisationsmacht nicht mehr ausreicht, um die Chancen, die das Institutionensystem
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bietet, interessenpolitisch zu nutzen.“ Dieser Prozess hat die unterschiedlichsten Ausprägungen: von der begrenzten Anzahl streikfähiger Betriebe in vielen Bereichen der Industrie über das Aufbrechen der Tarifgemeinschaft öffentlicher Arbeitgeber (das die Landesbediensteten plötzlich der strukturellen und Organisationsmacht der Müllwerker beraubt) bis hin zum Subunternehmertum auf den Baustellen. So unterschiedlich wie diese Ausprägungen werden wohl auch die Wege sein müssen, auf denen die Gewerkschaften nach Möglichkeiten einer erneuten Stärkung ihrer Organisationsmacht suchen. Selbstverständlich ist es ein entscheidender Unterschied, ob – wie in den USA – eine Gewerkschaft eine Mitgliederwerbekampagne machen muss, um in einem Betrieb als Verhandlungspartei anerkannt zu werden, oder sie – wie z. B. in der Schlecker-Kampagne von Ver.di – die Wahl von Betriebsräten durchsetzen will, also einer Einrichtung, die es in den USA nicht gibt, für das deutsche System der industriellen Beziehungen dagegen konstitutiv ist. Offensichtlich ist im deutschen Fall die Verknüpfung von betrieblicher Interessenvertretung und gewerkschaftlicher Mitgliederbasis nur mittelbar, während die Verknüpfung in den USA unmittelbar zwingend ist. Doch bei allen Unterschieden gibt es einen gemeinsamen Kern, nämlich die Suche nach Verbindungen zwischen gewerkschaftlicher Mobilisierung und institutioneller Absicherung. Aus diesen Überlegungen lassen sich eine methodische Schlussfolgerung und eine in der Sache ableiten. Die Schlussfolgerung in der Sache lautet, dass es zu kurz greifen würde, die Quellen von Gewerkschaftsmacht auf die eine oder andere Dimension zu verkürzen. Aus demselben Grund sind solche Eckpfeiler der Gewerkschaftsstärkung wie die Wirksamkeit der Interessenvertretung im Betrieb, die gezielte Verankerung unter Beschäftigtengruppen mit starker struktureller Macht, die Fähigkeit zum Schutz von Mindeststandards „in der Fläche“, aber auch der in der Öffentlichkeit wahrgenommene politische Einfluss der Gewerkschaften als unverzichtbare Elemente jeder Strategie zu betrachten, die auf die Neugewinnung gewerkschaftlicher Organisationsmacht gerichtet ist. Die methodische Schlussfolgerung hat Hyman (2001: 223) formuliert: „Gewerkschaften sind grundsätzlich von Land zu Land nicht vergleichbar“, aber „durch unsere unzulänglichen Versuche, die ‚Besonderheiten‘ der ‚anderen‘ zu verstehen, können wir unsere eigene Einzigartigkeit besser würdigen und damit eine Basis schaffen für eine bessere Annäherung an ein Wissen, das Vergleiche tatsächlich ermöglicht.“ Von der Forschung in die Praxis übersetzt: Der Blick auf Erfahrungen in anderen Ländern kann helfen, die eigenen Stärken und Schwächen besser zu verstehen, und damit auch die eigenen Möglichkeiten.
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„Organizing“ und darüber hinaus: Die „Trade union revitalisation studies“ „Organizing“ ist zu dem Schlagwort geworden, mit dem sehr unterschiedliche Ansätze beschrieben werden, die auf eine Stärkung, Wiederbelebung oder Erneuerung der Gewerkschaften gerichtet sind (vgl. zum Folgenden – auch hinsichtlich einer Fülle weiterführender Quellenangaben – insbesondere Brinkmann et al. 2008; Hälker 2008; sowie die Beiträge zum Schwerpunktheft 1/2008 der WSI-Mitteilungen). Das Wort „Organizing“ legt es nahe, den wesentlichen Inhalt dieser Bemühungen in der Fokussierung jeglicher Gewerkschaftsarbeit auf die in Kampagnenform betriebene Mitgliederwerbung zu sehen. Dieses Verständnis trifft tatsächlich wichtige Teile der betreffenden Aktivitäten insbesondere einiger US-Gewerkschaften. Mehr noch: Es widerspiegelt offenbar auch das Selbstverständnis eines Teils der Akteure. Es begünstigt Versuche, die in den USA gesammelten Erfahrungen mit der Anwendung von Kampagnentechniken in der Mitgliederwerbung unmittelbar auf andere Länder zu übertragen. Naheliegenderweise waren dies zunächst Länder der englisch sprechenden Welt wie Großbritannien und – mehr noch – Australien. Doch auch in Deutschland fielen diese Übertragungsversuche auf fruchtbaren Boden, und zwar insbesondere dort, wo Gewerkschaften (wie im Wach- und Sicherheitsgewerbe) vor der Aufgabe stehen, völliges Neuland zu erschließen (Dribbusch 2008). In einer Situation, in der Gewerkschaften verschiedenster Länder – aus zum Teil sehr unterschiedlichen Gründen und in weiterhin sehr unterschiedlichen politischen und institutionellen Umgebungen – sich immer größer werdenden (beschönigend formuliert:) weißen Flecken auf der Landkarte gewerkschaftlichen Einflusses gegenübersehen, ist der Versuch nur allzu berechtigt, anderswo erfolgreich eingesetzte Techniken für die eigene Praxis zu übernehmen. Dass aus den Sozialwissenschaften skeptische Hinweise kommen, ist zwar naheliegend, aber ebenso naheliegend ist es, dass PraktikerInnen sich allein dadurch nicht beirren lassen. Stark in der Technik, schwach im Inhalt? Die auch und gerade für PraktikerInnen spannende Frage lautet jedoch, in welchem Maße sich eine Organisations-„Technik“ von den Zwecken trennen lässt, für die sie eingesetzt wird. Im Selbstverständnis vieler Akteure und in der Selbstdarstellung der die Techniken anwendenden Gewerkschaften ist es sicher zutreffend, dass das Organizing-Modell, wie Buchanan und Briggs (2004) für Australien schreiben, politikneutral oder bar politischer Inhalte sei („silent on
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politics and policy“)2. Zugleich zeigt ein gründliches Studium der in den USA gesammelten Erfahrungen, dass Organizing nur erfolgreich ist, wenn es – wie explizit auch immer – in eine umfassendere Strategie der Gewerkschaftserneuerung eingebettet ist. Die Klassiker der Organizing-Analysen wie Voss und Sherman (2000) konzentrieren sich dabei auf die Erneuerung der Organisation: Schlüsselfaktoren der Gewerkschaftsstärkung sehen sie in einer lokalen Führung mit klarem Programm der Gewerkschaftsstärkung, in der vorzugsweise auch Persönlichkeiten mit politischen Kampagnenerfahrungen außerhalb der Gewerkschaften zum Zuge kommen, sowie einer kompromisslosen Unterstützung dieser lokalen Führungen durch die Gewerkschaftszentrale. Innerhalb dieses Organisationsrahmens entfalten sich jedoch nicht wenige Konflikte, etwa um konfliktorientierte vs. partnerschaftliche Vorgehensweisen oder um Zentralismus und innergewerkschaftliche Demokratie (Frege 2000; Choi und Schmalstieg 2008). Wichtig ist des Weiteren der Hinweis, dass spätestens nach Beendigung einer Organizing-Kampagne die Frage steht, welche Perspektiven und Mitwirkungsmöglichkeiten die neu geworbenen Mitglieder in der Organisation haben (Brinkmann et al. 2008: 80 ff.). Auch Fiorito (2004) hebt in seiner Analyse britischer Organizing-Erfahrungen die Dezentralisierung der Entscheidungsfindung und die Mitgliederbeteiligung oder gar Mitgliederselbstbestimmung als Erfolgsfaktoren hervor. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Zentralismus und Beteiligung, das in bisherigen Organizing-Kampagnen sichtbar geworden ist, verdient es, für unsere eigene Analyse der Erneuerungsbestrebungen innerhalb der IG Metall festgehalten zu werden. Vor dem Hintergrund derartiger Organizing-Erfahrungen schlägt Dörre (2008) vor, zwischen einem engen und einem weiten Organizing-Konzept zu unterscheiden. Das enge, also pragmatische und auf Kampagnen-Methoden fokussierte Konzept ist bezüglich der Inhalte von Gewerkschaftspolitik eher neutral, auch wenn damit zu rechnen ist, dass über kurz oder lang – wie soeben angedeutet – die Inhalte als Implikation gewissermaßen durch die Hintertür hereinkommen. Das „weite, eher analytische“ Organizing-Verständnis bemüht sich demgegenüber um ein Gesamtkonzept von Gewerkschaftsstärkung und -erneuerung, in dem verschiedene politische Implikationen explizit zum Thema gemacht werden. Die Kernelemente derartiger Strategien sieht Dörre (2008) in den Konzepten der „Bewegungsgewerkschaft“, der „Kampagnengewerkschaft“ und der „Beteiligungsgewerkschaft“. Wenn im Folgenden diese Unterscheidung aufgegriffen wird, dann geschieht dies nicht in der Absicht, die Elemente einan-
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„Organising unionism is strong on technique but weak on vision and content“ (Buchanan und Briggs 2004: 4).
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der gegenüberzustellen, sondern umgekehrt in der Vermutung, dass in umfassender angelegten Strategien gewerkschaftlicher Stärkung und Erneuerung letztlich jedes dieser drei Elemente tatsächlich enthalten sein wird. Es handelt sich im Grunde um verschiedene Ansätze in einer auf Gewerkschaftsstärkung gerichteten Praxis. Jeder dieser Ansätze hat zwar je nach Kampagne oder Politikgegenstand ein unterschiedliches Gewicht, aber in letzter Instanz darf keiner von ihnen fehlen, wenn die Organisationsmacht der Gewerkschaften wieder zunehmen soll. Bewegungsansatz Das schwierigste, vielleicht auch umstrittenste Element ist der Bewegungsansatz. In den USA wird dieser Ansatz als „Social Movement Unionism“ bezeichnet. Gemeint ist damit eine Gewerkschaftspraxis, die – auf nationaler, häufiger aber auf lokaler Ebene – gemeinsam mit anderen außerparlamentarischen Bewegungen bestimmte politische oder Konsumenteninteressen verficht. Ein solcher Ansatz dürfte in Deutschland bislang eher als randständig betrachtet werden. Dies gilt vor allem für die Industriegewerkschaften, während im Organisationsbereich von Ver.di in den letzten Jahren Bestrebungen in diese Richtung stärker geworden sind. Die Politisierung und stärkere Aktionsorientierung der dänischen Gewerkschaften unter den Bedingungen einer Rechtsregierung in den zurückliegenden Jahren zeigt jedoch, dass Tendenzen zu einer „sozialen Gewerkschaftsbewegung“ auch in gewerkschaftlichen Kulturen mit hohem Institutionalisierungsgrad Fuß fassen können (Birke 2008). Die Implikationen im Hinblick auf die Stärkung der Gewerkschaften wären ein interessanter Forschungsgegenstand. Eine weitere, sehr fundamentale Bedeutung des Bewegungsansatzes erschließt sich beim Blick auf ein völlig exotisch erscheinendes Beispiel, nämlich den Aufstieg der südafrikanischen Gewerkschaft Cosatu seit den 1970er Jahren. Wenn auch weitgehend unbeachtet, ist Cosatu vielleicht das Erfolgsbeispiel in der internationalen Gewerkschaftsbewegung der jüngeren Zeit: Ein Beispiel für massive sowohl organisatorische als auch institutionelle Stärkung innerhalb von 20 bis 30 Jahren, völlig entgegen dem internationalen Trend – und allen damit einhergehenden Problemen (Maree 2009). Der Grund für den Erfolg ist offensichtlich: Die untrennbare Verknüpfung des Kampfes um Arbeitnehmerrechte mit dem gegen die Rassenunterdrückung. Diese Einzigartigkeit und Nicht-Übertragbarkeit enthält jedoch eine allgemeine Erfahrung, die in den europäischen Gewerkschaften des 19. Jahrhunderts noch sehr lebendig war, aber vor allem seit dem 2. Weltkrieg zunehmend in Sonntagsreden verbannt wurde: die Erfahrung, dass im Kampf um die Anerkennung von Arbeitnehmerrechten stets – wenn auch zumeist implizit – die Anerkennung der Menschenwürde des Individuums und die Verteidigung demokratischer Grundrechte enthalten ist. Diese Erfahrung ist
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so alltäglich und selbstverständlich, dass sie weitgehend unbeachtet bleibt und bislang in den Diskussionen über gewerkschaftliche Erneuerung in Deutschland kaum eine Rolle spielt. Kampagnenansatz Im Gegensatz dazu steht der Kampagnenansatz im Zentrum dieser Debatten. Der Sammelbegriff, mit dem in den USA und auch in Australien die vielfältigen Initiativen in diese Richtung zusammengefasst werden, lautet „Comprehensive Campaigning“, das am einfachsten als „umfassende Kampagnenpolitik“ übersetzt werden kann.3 „Umfassend“ muss zunächst die innergewerkschaftliche Vorbereitung und Kräftefokussierung sein – von der sorgfältigen Analyse des Gegenstands der Kampagne über die Planung der Öffentlichkeitsarbeit bis hin zur Konzentration finanzieller und personeller Ressourcen. „Umfassend“ muss, in Verbindung damit, aber auch die Wahl der Adressaten und Bündnispartner sein. So beruht das Paradebeispiel einer solchen Kampagne, die jahrelange Kampagne zur Organisierung von Hausmeistern und Gebäudetechnikern zwecks Durchsetzung von Kollektivverträgen bei den Gebäudeverwaltungsfirmen in den USA („Justice for Janitors“), wesentlich darauf, wichtige Kunden dieser Firmen, also Großunternehmen, unter Druck zu setzen und in die Auseinandersetzung einzubeziehen (Choi 2008). Weniger bekannte, aber nicht minder interessante Beispiele für „Comprehensive Campaigning“ wären in Australien zu studieren. Die größte dieser Kampagnen erstreckte sich über mehrere Jahre und richtete sich gegen die extrem neoliberale Arbeitsgesetzgebung der 2007 abgewählten Howard-Regierung. Die „Your Rights at Work Campaign“ hatte ein erklärtes Ziel – nämlich die Abwahl der Regierung – und bediente sich tatsächlich umfassender Aktionsformen: von arbeitsplatzbezogenen Protestaktionen über Großdemonstrationen und lokalen Bürgerinitiativen bis hin zu lebensnah gestalteten TV-Spots. Nach dem Erfolg – der Rückkehr der Labor Party an die Regierung – wurde die Kampagne eingestellt. Fraglich ist, ob der politische Erfolg in stärkere Organisationsmacht übertragen werden konnte (vgl. die detaillierte Kampagnen-Analyse von Ellem et al. 2008). Letzteres gelang jedoch in der ebenfalls über mehrere Jahre hinweg geführten Kampagne der australischen Transportarbeitergewerkschaft im Bundesstaat New South Wales für ein Gesetz zum Schutz von sowohl abhängig Beschäftigten als auch selbstständigen Lkw-Fahrern. Durchgesetzt wurde u. a. eine neue Regu-
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Kaine und Rawling (2009: 3, 14) definieren „comprehensive campaigning“ als „a combination of industrial, organizational, community and political activities in pursuit of (...) an overarching and unifying goal“.
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lierung, die die Kunden (also z. B. Einzelhandelskonzerne) für die Vereinbarung von Frachttarifen mit selbständigen Lkw-Fahrern in Haftung nimmt, die realistische Lieferzeiten und damit die Einhaltung der maximalen Fahrtzeiten ermöglichen („chain of responsibility“). Die Bandbreite der Aktionen reichte von Straßenblockaden über Lobbying bis hin zu einer Pressekampagne, bei der persönliche Beispiele einzelner Lkw-Fahrer in lokalen Zeitungen präsentiert wurden. Die Gewerkschaft führt ihren 5%igen Mitgliederzuwachs innerhalb von zwei Jahren vor allem auf diese Kampagne zurück, verweist aber zugleich auf weitere Erfolgsindikatoren wie den sprunghaften Anstieg der Beteiligung an gewerkschaftlichen Bildungsmaßnahmen. Auch die praktische Einführung der einmal durchgesetzten Regulierung wird als Quelle von Organisationsmacht betrachtet (Kaine und Rawling 2009). Das Interessante an derartigen Beispielen ist sowohl die organisationspolitische Konsequenz, mit der erfolgreiche Kampagnen durchgeführt werden müssen, als auch die Breite und Vielfalt der Aktionsformen, Themen und Adressaten. Die Übergänge zum „Social Movement Unionism“ sind teilweise fließend. Zugleich wird deutlich, dass bei aller Unterschiedlichkeit der politischen und institutionellen Rahmenbedingungen im Vergleich zu Deutschland die gesetzlich garantierte Institutionalisierung von Arbeitnehmer- und Vertretungsrechten durchaus zu den zentralen Zielen derartiger Kampagnen gehören kann. So kann in einem (wieder im Vergleich zu Deutschland) mittlerweile eher schwachen institutionellen Umfeld wie in Australien am Ende einer Kampagne eine Institutionalisierung von Rechten stehen, von der deutsche Gewerkschaften wahrscheinlich nicht einmal zu träumen wagen. Beteiligungsansatz Das dritte Element von Erneuerungsstrategien ist der Beteiligungsansatz. Ähnlich wie beim Kampagnenansatz handelt es sich hier zunächst um ein Mittel zum Zweck, noch nicht um den Zweck selber. Allerdings beinhaltet die Beteiligungsgewerkschaft, weil sie den Gedanken der innergewerkschaftlichen Demokratie ins Zentrum stellt, von vornherein ein stärker programmatisches Element, worin sie wiederum der Bewegungsgewerkschaft ähnelt. Wie bereits erwähnt, wird der Teilhabe oder Partizipation der Mitglieder in Teilen der Literatur eine zentrale Bedeutung für den Zusammenhalt und die Handlungsfähigkeit gewerkschaftlicher Organisationen beigemessen. Diese Bedeutung bezieht sich sowohl auf die Attraktivität der Organisation für noch nicht Organisierte als auch auf die Fähigkeit der Organisation, nach der Beendigung von Kampagnen Mitglieder an die Organisation zu binden. Auch über Probleme, die mit dem Beteiligungsansatz einhergehen können, wird berichtet, so die Un-
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möglichkeit, ein hohes Aktivitätsniveau dauerhaft aufrechtzuerhalten, oder die mögliche Kluft zwischen partizipativer Rhetorik und zentralistischer Praxis. In diesem Zusammenhang sei nur ergänzend angemerkt, dass Partizipation oder Beteiligung nicht gleichbedeutend sein müssen mit innergewerkschaftlicher Demokratie. Der Beteiligungsansatz, so vielversprechend und unmittelbar einleuchtend er auch klingen mag, stellt also offensichtlich eine ebenso große Herausforderung dar wie die übrigen hier kurz skizzierten Elemente strategischer Gewerkschaftserneuerung. Es ist dieser Ansatz, der in der „Besser statt billiger“-Kampagne eine Schlüsselrolle spielt. Man kann die ihm zugrunde liegende Idee so zusammenfassen, dass die IG Metall durch Kampagnen wie „Besser statt billiger“ zur Beteiligungsgewerkschaft werden will. Bereits an dieser Stelle wird deutlich, wie eng der Zusammenhang zwischen den drei hier skizzierten Ansätzen sein kann. „Besser statt billiger“ ist eine Kampagne; zwar zielt sie weniger auf eine breite Öffentlichkeit ab, sondern ist vor allem in Betriebe hinein gerichtet. Und doch ist es das Mittel der Kampagne, mit dem der Weg zu einer veränderten, nämlich beteiligungsbasierten Praxis der Interessenvertretung gebahnt werden soll. Am Beispiel der „Besser statt billiger“-Kampagne lassen sich deshalb die Bemühungen der IG Metall, sich mehr zur „Beteiligungsgewerkschaft“ zu entwickeln und dabei stärker zu werden, gut studieren.
„Besser statt billiger“ als gewerkschaftliche Erneuerungsstrategie Im Vergleich zu den strategischen Ansätzen zur Gewerkschaftsstärkung, die bisher vorgestellt wurden, fallen bei „Besser statt billiger“ vor allem zwei Besonderheiten ins Auge, die untrennbar mit den Besonderheiten des deutschen Kapitalismusmodells zusammenhängen (vgl. Lehndorff et al. 2009): Erstens wird die Stärkung der Gewerkschaft in enger Verbindung mit betrieblicher Mobilisierung für die Verteidigung von Arbeitsplätzen und tarifvertraglichen Standards angestrebt. Die inhaltliche Orientierung bei dieser Mobilisierung besteht darin, dass vom betrieblichen Management Innovationsmaßnahmen eingefordert werden, die das Absenken sozialer Standards zum Zwecke einer Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit überflüssig machen. Beteiligung hat also einen unmittelbaren Zweck, der zunächst auf den Betrieb – die Erhaltung von Arbeitsplätzen – bezogen ist, aber auch in einem überbetrieblichen Zusammenhang stehen kann, nämlich der Verteidigung des Flächentarifvertrags. Zweitens findet diese Mobilisierung nicht außerhalb oder unabhängig von bestehenden Institutionen statt, sondern zeichnet sich gerade dadurch aus, dass
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sie sich bestehender Institutionen bedient. Zentrale Akteure der Kampagne sind Betriebsräte, also eine Kerninstitution des deutschen Systems der industriellen Beziehungen, mit ihren im internationalen Vergleich weitgehenden Informations- und Mitbestimmungsrechten. Wenn Arbeitsstandards und Arbeitsplätze mit Hilfe arbeitnehmerbasierter und arbeitnehmerinitiierter betrieblicher Innovationsprozesse verteidigt werden sollen, kann die Stärkung der Gewerkschaft zu den Voraussetzungen eines Erfolgs gehören, auf jeden Fall aber wird sie als ein Ergebnis der Aktion angestrebt. „Beteiligung“ wird hierfür als Schlüssel betrachtet – Beteiligung der Gewerkschaftsmitglieder an den zu fällenden Entscheidungen im Verlaufe betrieblicher Auseinandersetzungen, aber auch Beteiligung möglichst vieler Beschäftigter an den angestrebten Innovationsprozessen. Zur Beteiligung im Rahmen betrieblicher „Besser statt billiger“-Aktivitäten gibt es im Prinzip zwei Zugänge. Der erste wird durch den Anlass der Auseinandersetzung provoziert, also die Gefahr einer Verlagerung oder Vernichtung von Arbeitsplätzen oder die Forderung des Arbeitgebers nach einem Abweichen vom Flächentarifvertrag (bzw. sein Austritt aus dem Arbeitgeberverband oder seine Weigerung, sich einem Tarifvertrag anzuschließen). Mit Hilfe von Beteiligung soll die „Billiger“-Variante verhindert werden. Man könnte – stark vereinfacht – auch sagen, dass es sich hier um eine politische Beteiligung „gegen billiger“ handelt. Die politische Beteiligung kann aus zwei Elementen bestehen. Erstens – und dies gilt für alle denkbaren Anlässe derartiger Auseinandersetzungen – ist „Beteiligung“ hier gleichbedeutend mit Aktion (oder aus Sicht des Betriebsrates und der Gewerkschaft: Mobilisierung). Beispiele dafür, die wir auch in zahlreichen der von uns besuchten Betriebe angetroffen haben, sind die öffentlichkeitswirksame Unterstützung für die Forderungen des Betriebsrates auf Belegschaftsversammlungen oder Demonstrationen im Betrieb (wie kollektive Besuche beim Betriebsrat). Zweitens kann „Beteiligung“ auch bedeuten, dass Gewerkschaftsmitglieder an Entscheidungen beteiligt sind. Dies ist dann der Fall, wenn Betriebsrat und Gewerkschaft sich mit Forderungen des Arbeitgebers nach Abweichungen vom Flächentarifvertrag konfrontiert sehen. Die IG Metall reagiert darauf in jüngerer Zeit vermehrt mit der Bildung betrieblicher Tarifkommissionen und der Abstimmung über die Verhandlungsergebnisse auf betrieblichen Mitgliederversammlungen (Haipeter 2009). Neben diesen Varianten politischer Beteiligung gibt es auch einen primär fachlichen Zugang zu Beteiligung, der auf die Aktivierung von Produzentenwissen abzielt. Dieser Zugang ist in dem Moment relevant, wo Innovation zum Gegenstand der Auseinandersetzung wird, also das „Besser“ als Alternative zum „Billiger“ erarbeitet wird. Im Unterschied zur politischen Aktion und Mitentscheidung „gegen billiger“ handelt es sich hier also um „Beteiligung für besser“.
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Selbstverständlich sind in der Praxis diese beiden Zugänge zur Beteiligung häufig eng miteinander verwoben. Auch in den von uns besuchten Betrieben gab es eine Reihe von Beispielen dafür, wie eng beide Elemente zusammenhängen können. So wurde in einem Energieanlagen-Betrieb die vom Management geplante Auslagerung einer Abteilung dadurch verhindert, dass eine nach fachlichen Gesichtspunkten zusammengesetzte Arbeitsgruppe des Betriebsrats zusammen mit weiteren Spezialisten des Betriebes (darunter Meister, Arbeitsvorbereiter und Programmierer), unterstützt durch einen externen Berater, den Nachweis für die strategische Bedeutung der Abteilung führen konnte. Die auf der Basis dieser Gegenrechnung geführten Verhandlungen mit dem Management wurden begleitet von intensiver Öffentlichkeitsarbeit. Neben kontinuierlichen Berichten auf Abteilungsversammlungen gab es zwei innerbetriebliche De-facto-Demonstrationen, an denen alle gewerblichen Beschäftigten und rund die Hälfte der Angestellten teilnahmen. In der ironischen Formulierung des interviewten Betriebsratsvorsitzenden: „Seltsamerweise erschienen jeweils rund 300 Beschäftigte, darunter zahlreiche Angestellte, und viele in T-Shirts der IG Metall, zum selben Zeitpunkt im Betriebsratsbüro.“ Weniger konfrontativ, aber ebenso durch die Verknüpfung von „politischer“ und „fachlicher“ Beteiligung geprägt ist das Beispiel eines Landmaschinenherstellers, dessen Management die Erhöhung von Rohstoffpreisen durch eine Verlängerung der Arbeitszeiten kompensieren wollte. Dem Betriebsrat gelang es, eine dafür erforderliche Abweichung vom Flächentarifvertrag zu verhindern, indem unter anderem eine Fragebogenaktion im Betrieb durchgeführt wurde, um dem Management alternative Kosten-Einsparmöglichkeiten aufzeigen zu können. Es ergab sich eine Vielzahl kleiner Verbesserungsvorschläge, deren Umsetzung in der Summe zu spürbaren Kostensenkungen führte. Betriebsrat und Gewerkschaft konnten die Aktion zugleich für die Werbung neuer Mitglieder für die IG Metall nutzen. Trotz dieser engen Verbindung beider Zugänge zur Beteiligung von Beschäftigten ist es für die Analyse der Erfolgsbedingungen nützlich, Beteiligung „gegen billiger“ und Beteiligung „für besser“ getrennt zu betrachten. Der Grund dafür ist einfach: Ob es tatsächlich zur Beteiligung kommt, wie weit diese reicht und wer dabei mitmacht, hängt in jedem dieser beiden Zugänge von unterschiedlichen Voraussetzungen ab. Diesen Voraussetzungen wende ich mich nun zu, um auf der Basis unserer Fallstudien zu vorsichtigen Schlussfolgerungen über die Erfolgsbedingungen von Beteiligung im Rahmen von „Besser statt billiger“ zu kommen.
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Beteiligung „gegen billiger“ Anlässe, um Beschäftigte in Auseinandersetzungen „gegen billiger“ einzubeziehen, sind stets gewerkschaftliche Defensivsituationen. Eine der Standardsituationen ist die Absicht des Managements, bestimmte Arbeitsprozesse an externe Dienstleister zu vergeben oder Teile des Betriebs auszulagern – sei es an andere Unternehmen, sei es an andere Standorte desselben Unternehmens. Die zweite Ausgangssituation ist die Forderung des Managements nach Abweichungen vom Tarifvertrag; häufig ist auch dies mit der drohenden Verlagerung oder Auslagerung von Aktivitäten verbunden. Beginnen wir mit den Tarifabweichungen als möglichen Auslösern für Beteiligungsprozesse: Was ist in solchen Fällen unter „Beteiligung“ konkret zu verstehen? Die Strategie, die die IG Metall in der Auseinandersetzung mit Abweichungen von den Flächentarifverträgen entwickelt hat, wird von Burkhard et al. (2009: 3) als eine „Professionalisierung im Pforzheim-Prozess“ bezeichnet: „Nach und nach entwickelt sich ein verändertes Verständnis von Gewerkschaftsarbeit, das jenseits einer klassischen Stellvertreterpolitik darauf setzt, Beschäftigte stärker zu beteiligen.“ Ein Mittel dazu ist die Bildung betrieblicher Tarifkommissionen und die Abhaltung betrieblicher Mitgliederversammlungen. Der Unterschied zu früher oder andernorts verbreiteten Praktiken besteht nicht unbedingt in der Qualität der ausgehandelten Ergebnisse, sondern vor allem in diesem veränderten Verständnis von Gewerkschaftsarbeit (Haipeter 2009). In allen von uns besuchten Betrieben hatten die Betriebsräte Beteiligungsprozesse anlässlich einer drohenden Tarifabweichung organisiert. Im Verlaufe der Auseinandersetzungen wurden in der Regel Mitgliederversammlungen der Gewerkschaft einberufen und betriebliche Tarifkommissionen gewählt. Zwar kann sich dahinter auch eine eher formale Umetikettierung verbergen – etwa, indem die Vertrauenskörperleitung zur betrieblichen Tarifkommission ernannt wird und Mitgliederversammlungen den Charakter reiner Informationsveranstaltungen tragen. In den meisten Fällen berichten die Betriebsräte und die gewerkschaftlichen Betreuer jedoch von einem Prozess der intensiveren Einbeziehung der Gewerkschaftsmitglieder, indem diesen tatsächlich die letzte Entscheidung über das Ob und Wie einer Tarifabweichung in die Hände gelegt wird. Die Ergebnisse der ausführlichen Untersuchungen von Haipeter (2009) zu diesem Thema sind durch unsere Fallstudien in dem Projekt, über das hier berichtet wird, bestätigt worden. Ein symptomatischer Fall ist das Beispiel eines Schalterherstellers, dessen früherer Betriebsrat bereits einmal eine abweichende Vereinbarung informell ausgehandelt und den Vertreter der IG Metall dann vor vollendete Tatsachen gestellt hatte. Der jetzt im Amt befindliche, neu gewählte Betriebsrat hat bei
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einem erneuten Vorstoß des Managements die IG Metall von Beginn an in die Verhandlungen einbezogen. Die eine Seite dieser Verbindung besteht für den Betriebsratsvorsitzenden in der juristischen Verantwortung und Kompetenz der Gewerkschaft als vertragschließender Partei: „Ich glaube nicht, dass sich irgendein Betriebsrat das zutrauen kann, so viele Punkte bis ins Detail wirklich zu behandeln ... Das liegt im eigenen Interesse, die fachliche Hilfe und Unterstützung.“ Die andere Seite desselben Prozesses ist für ihn die stärkere Einbeziehung der Belegschaft: „Diese Woche haben wir eine Umfrage gestartet zusammen mit der IGM Verwaltungsstelle und haben die Belegschaft gefragt, und dadurch auch informiert, was wir vorhaben. Umfragen können von der Fragestellung natürlich populistisch sein, aber man kann später einmal zeigen: Soundso viel Prozent der Belegschaft steht dahinter, denn man erkennt das auch wirklich, dass die dahinterstehen. Seitdem wir mit der IGM wieder enger zusammenarbeiten, wollen wir, dass die Leute das auch merken.“ Noch konsequenter wurde die Beteiligungsorientierung bei einem Automobilzulieferer umgesetzt. Der Betriebsratsvorsitzende stellt die Vorgeschichte mit den Worten dar: „Wir haben ja jetzt schon den dritten Ergänzungstarifvertrag gemacht. Der erste ist hinter verschlossenen Türen gemacht worden, bis der Rauch aufsteigt oder wie auch immer. Das hat kaum einer mitgekriegt, bis das Ergebnis auf dem Tisch lag.“ Der gewerkschaftliche Betreuer erzählt die Geschichte weiter: „Das war in 2001. In der Zeitung gab es einen Presseartikel, da stand drin, Betriebsrat und Geschäftsführung stellen den abweichenden Tarifvertrag vor. Die IG Metall kam darin gar nicht vor, die saß auch nicht mit am Tisch und hat auch nach außen hin keine Rolle gespielt. Die IG Metall hat 350 Mitglieder verloren im Stammwerk. Dann hat es 2004 den nächsten gegeben, der ist dann schon mehr unter Beteiligung der Belegschaft gemacht worden mit Tarifkommission usw. und auch mit Flyer. Da hat man die Mitglieder gehalten. Und 2006 ist das dann sehr breit in die Öffentlichkeit getragen worden mit allen Strukturen wie Betriebsversammlungen, Mitgliederversammlungen, Workshops, Tarifkommission usw. Und wir haben 750 neue Mitglieder gewonnen.“ Die hohe Zahl von Neueintritten in diesem Unternehmen geht in hohem Maße auf eine Auseinandersetzung um die Tarifbindung einer administrativkaufmännischen Abteilung zurück, die in eine eigenständige Tochtergesellschaft umgewandelt worden war. Mit der Tarifabweichung ging es hier zugleich um die weitere Anbindung an den Flächentarifvertrag. Die IG Metall organisierte eine Belegschaftsversammlung und gestaltete diese mit Stehtischen und Wandzeitungen, auf denen die Beschäftigten ihre Meinungen äußern konnten. Der Bevollmächtigte machte deutlich, dass er für die wenigen Organisierten dieser Tochtergesellschaft (etwa 50 von 1.000) keinen Tarifvertrag aushandeln werde. Voraussetzung für Tarifverhandlungen sei ein höherer Organisationsgrad. Daraufhin
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gab es innerhalb kurzer Zeit etwa 200 Neueintritte von Angestellten, so dass die IG Metall in die Verhandlungen eintrat. Diese Herangehensweise hat mehrere bemerkenswerte Aspekte. Zunächst springt der neue Blick auf die Flächentarifverträge ins Auge. In dem Maße, wie Arbeitgeber und ihre Verbände den verbindlichen Charakter der Flächentarifverträge de facto in Frage stellen, wird eine unter vielen ArbeitnehmerInnen (einschließlich der Gewerkschaftsmitglieder und auch vieler Betriebsräte) verbreitete passive Haltung zu Tarifverträgen zum Risiko für den weiteren Bestand der Institution des Flächentarifvertrags überhaupt. Der Gedanke, dass nur das als gesichert gelten kann, was man sich selbst erkämpft oder zumindest erkämpfen könnte, tritt stärker in den Vordergrund. Damit wird das Konzept des Flächentarifs keineswegs aufgegeben, sondern lediglich im Lichte der veränderten Kultur der industriellen Beziehungen in Deutschland aktualisiert. Einerseits bleibt der Flächentarif das „geronnene Kräfteverhältnis“, das er immer repräsentiert hat. Aber in dieses Kräfteverhältnis gehen heute gezwungenermaßen mehr Akteure „von unten“ ein als zu den Zeiten, da der strategische Kompromiss in den industriellen Beziehungen der Bundesrepublik von allen Seiten getragen wurde. Die Zeiten eines „Lazy Unionism“, wie es die Promotoren der „Trade Union Revitalisation“ formulieren würden, sind offensichtlich vorbei. Zugleich enden derartige Konflikte nicht immer, und vielleicht noch nicht einmal in der Mehrzahl der Fälle, mit der Abwehr der Management-Initiative zur Tarifabweichung. Es ist – und dies ist das Paradoxe an diesem Prozess – gerade das Aushandeln von Gegenleistungen zur Tarifabweichung, das als Auslöser für Beteiligung und Mobilisierung genutzt wird. Mehr noch: Die Paradoxie wird auf die Spitze getrieben, indem die Auseinandersetzung um eine Abweichung vom Flächentarifvertrag zum Anlass für die Gewinnung neuer Gewerkschaftsmitglieder genommen wird. Der gewerkschaftliche Betreuer eines Elektro-Betriebes fasst seine Erfahrungen so zusammen: „Bei Tarifabweichungen habe ich immer volle Säle bei den Mitgliederversammlungen gehabt. Da geht es um das Geld der Kollegen, da kommen sie. (...) Das ist ja das Verrückte, überall, wo es diese Tarifabweichungen gab, wo wir dann die Beteiligungsprozesse ordentlich organisiert haben, ist der Organisationsgrad gestiegen. Das ist durchgängig so gewesen. Unabhängig von dem Ergebnis, das wir dann erreicht haben.“ Die Möglichkeit, als Mitglied der Gewerkschaft selbst mitentscheiden zu können über eine tarifvertragliche Regelung, die die einzelnen Beschäftigten unmittelbar betrifft, kann offenbar auch dann zu einem Motiv für den Beitritt zur Gewerkschaft werden, wenn das erzielte Ergebnis schlechter ist als das im Flächentarifvertrag zwar vereinbarte, aber im konkreten Fall nicht realisierbare. Das Interesse, selber mitzureden und mitzuentscheiden, wenn die Arbeitsbedingun-
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gen im Betrieb zum Konfliktgegenstand werden, ist Ausdruck von demokratischem Selbstbewusstsein, das auch zum Beitritt zur Gewerkschaft motivieren kann.4 Die Voraussetzungen, unter denen dieses Potenzial entwickelt werden kann, müssen sicherlich eingehender untersucht werden, als dies in unserem Forschungsprojekt möglich war, in dem die Beteiligungspraxis lediglich einer von mehreren zu beachtenden Gesichtspunkten war. Doch festzuhalten ist einstweilen, dass das Tarifvertragssystem und die Mitbestimmung für die Verteidigung und Verbesserung von Arbeitsbedingungen wichtige institutionelle Unterstützungen bieten, die genutzt werden können, um die Beteiligung am Entscheidungsprozess attraktiver zu machen. Anders gesagt: Es ist offenbar eine Chance für die Gewerkschaft, sich der vorhandenen Institutionen für die Entwicklung von betrieblicher Beteiligungspraxis bedienen zu können. Sobald ein Arbeitgeber Abweichungen vom Flächentarifvertrag fordert, gibt es einen formalen Anlass für Beteiligung „gegen billiger“. Wenn eine solche Forderung jedoch nicht vorgebracht wird, was aus gewerkschaftlicher Sicht ja unbedingt begrüßenswert ist, fehlt dieser formale Anlass. Dies kann in einigen der von uns besuchten Betriebe beobachtet werden, in denen das Management seine Outsourcing- oder Verlagerungs-Pläne nicht explizit mit Initiativen zur Tarifabweichung verband. Beteiligung „gegen billiger“ war dort nicht Bestandteil der oben erwähnten „Professionalisierung des Pforzheim-Prozesses“ und stand deshalb nicht auf der Tagesordnung. Zwar sprechen einzelne von uns interviewte Betriebsräte auch dann von Beteiligung, wenn es sich z. B. um Informationen auf Belegschaftsversammlungen handelt. Mit einer solchen Vorgehensweise, die im Fall eines Motorenherstellers mit massiver Öffentlichkeitsarbeit von Betriebsrat und IG Metall verbunden war, kann zwar erheblicher Druck entwickelt werden, der dem Betriebsrat Rückenstärkung in seinen Verhandlungen über Alternativen zur Verlagerung verleiht. Doch von hier zu einer aktiveren Teilnahme der Beschäftigten wäre es immer noch ein großer Schritt, und für eine Beteiligung in
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In einem der von uns beobachteten Fälle haben offenbar auch Boni für Gewerkschaftsmitglieder, die im Rahmen eines abweichenden Tarifvertrags vereinbart wurden, eine gewisse Rolle bei der Werbung neuer Mitglieder gespielt. Der Ansatz ist zwar innerhalb der IG Metall umstritten, aber Einigkeit dürfte darin bestehen, dass ein Bonus letztlich immer nur eine vergleichsweise kleine Zugabe sein wird. Wird er zu groß, stellt sich für den Arbeitgeber die Sinnfrage (aktiver Beitrag zur Mitgliederwerbung). Im Übrigen wird die Rechtmäßigkeit von Mitglieder-Boni vom BAG verneint (Zachert 2009), aber das spielt in der innergewerkschaftlichen Diskussion zu diesem Punkt keine Rolle. Wichtiger scheint es zu sein, sich über die Reichweite dieses Instruments im Rahmen einer gewerkschaftlichen Erneuerungsstrategie keine Illusionen zu machen, auch wenn man es sich punktuell zu Nutze macht. Es fällt auf, dass in dem erwähnten Fall der interviewte Betriebsrat über den schwachen Besuch der Mitgliederversammlungen im Zuge der Auseinandersetzung um die Tarifabweichung klagte, so dass die Boni für ihn die naheliegende Erklärung für einige Neueintritte sind.
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Form von Mitentscheidung der Gewerkschaftsmitglieder fehlt einfach der formale Anlass. Dennoch ist auch in derartigen Fällen eine weitergehende „politische“ Beteiligung denkbar. Dies zeigt unter anderem das oben beschriebene Beispiel eines Energieanlagenbauers, in dem durch innerbetriebliche Demonstrationen das Alternativkonzept des Betriebsrats gegen die Auslagerung einer Abteilung unterstützt wurde. Auch die eingangs erwähnte Fragebogenaktion bei einem Landmaschinenhersteller geht in diese Richtung. Typisch für diese Fälle ist, dass die betriebliche Mobilisierung „gegen billiger“ mit einer Beteiligung oder Mobilisierung „für besser“ verknüpft wurde. Wenden wir uns also den Erfolgsbedingungen von Beteiligung „für besser“ zu. Beteiligung „für besser“ Die deutschen Gewerkschaften werben seit langem für ein arbeitnehmerbasiertes Innovationskonzept. Auch und gerade in der IG Metall gibt es diesbezüglich eine starke Tradition – man denke nur an die Diskussionen der 1980er Jahre, die in das Konzept „Auto – Verkehr – Umwelt“ mündeten (das, wie der Titel bereits andeutet, überbetrieblich ausgerichtet und mit einem gesellschaftspolitischen Reformanspruch verbunden war). In den 1990er Jahren versandete diese Tradition und wurde allenfalls auf Kongressen aufrechterhalten. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Was ist neu an „Besser statt billiger“? Und wie könnte „Besser statt billiger“ dazu beitragen, dem gewerkschaftlichen Innovationskonzept mehr Leben einzuhauchen, als es z. B. mit den überbetrieblichen Ansätzen in der Vergangenheit gelungen ist? Neu am Grundgedanken dieser Kampagne ist, dass der skizzierte Innovationsbegriff zur Richtschnur praktischen Handelns im Betrieb gemacht werden soll – des Handelns von Betriebsräten, von gewerkschaftlichen Vertrauensleuten und letztlich möglichst vieler Beschäftigter. „Beteiligung“ ist das Schlüsselwort eines Konzepts, das darauf abzielt, das vielbeschworene Expertenwissen von Beschäftigten tatsächlich zu aktivieren. Eine derartige Strategie – noch dazu, wenn sie als Bestandteil einer gewerkschaftlichen Erneuerungsstrategie verstanden wird – muss zumindest drei konzeptionelle Probleme berücksichtigen, die von großer praktischer Relevanz sein können. Das erste Problem lässt sich auf die einfache Frage bringen, ob denn die Gewerkschaften jetzt die besseren Unternehmer werden wollen oder sollen. Das zweite Problem betrifft die Möglichkeiten eines Betriebsrats: Kann er überhaupt – selbst wenn er sich auf das Expertenwissen von Beschäftigten stützt – die strategische Kompetenz entwickeln, mit denen er das Management gewissermaßen auf Augenhöhe herausfordert? Schließlich stellt sich vor dem Hintergrund der soeben in Erinnerung gerufenen
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früheren Innovationsinitiativen der IG Metall die Frage, wie eine Brücke zwischen betrieblichen und überbetrieblichen Alternativkonzeptionen geschlagen werden kann. Das zuletzt genannte Problem wird im Beitrag von Brettschneider et al. zu diesem Band angesprochen. Es spielt aber auch, wie im Folgenden deutlich wird, in die Auseinandersetzung mit den beiden zuerst genannten Fragen hinein, die für das Thema des vorliegenden Aufsatzes vor allem relevant sind und denen ich mich nun zuwende. Wollen Gewerkschaften die besseren Unternehmer werden? Die Frage, ob Gewerkschaften die besseren Unternehmer sein wollen, ist in der Vergangenheit bereits im Zusammenhang mit den Diskussionen über das „CoManagement“ von Betriebsräten angeklungen. Nun sind es sogar die Gewerkschaften selber, die die „Unterlasser“ dazu treiben wollen, etwas zu unternehmen. Interessant sind auch in diesem Zusammenhang Erfahrungen australischer Gewerkschaften, die in den 1990er Jahren von der klassischen Verteilungsorientierung in der Tarifpolitik auf eine Produktionsorientierung mit stärker unternehmensbezogenen Verhandlungen umschwenkten – frei nach dem Grundsatz, der Kuchen müsse erst gebacken werden, bevor man ihn aufteilen könne. Diese Neuorientierung, parallel zu einer zunehmend neoliberalen Ausrichtung der Labor Party, hat aus Sicht kritischer Beobachter den Rückgang von Organisationsmacht und Einfluss der Gewerkschaften (bis zu den oben erwähnten Anzeichen für eine Politik- und Trendwende in jüngster Zeit) eher weiter beschleunigt. Dies sei, so Buchanan und Briggs (2004: 27), vor allem auf betrieblicher Ebene leicht nachvollziehbar, wo „die vorrangige Beschäftigung mit Effizienz und Produktivität viele Mitglieder und Vertrauensleute verwirrt hat. Es gibt nur wenige Beschäftigte, die in die Gewerkschaft eintreten, um ihren Chefs zu helfen, den Betrieb effizienter zu leiten.“ Diesem Problem vorzubeugen ist in der Konzeption von „Besser statt billiger“ durchaus angelegt. So betonen Schroth und Wetzel (2009: 8 f.), dass „Besser statt billiger ... kein wertfreier Ansatz der Innovationsförderung“ sei: „Wir geben der Qualität der Arbeitsbedingungen den Vorzug vor der Wirtschaftlichkeit. (...) Innovationen müssen daran gemessen werden, ob sie zum gesellschaftlichen Fortschritt beitragen.“ Dazu gehörten die Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen, eine gute Qualität der Arbeit und gesellschaftlich nützliche sowie ökologisch
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verträgliche Produkte.5 Hier wird bereits deutlich, dass die Ansprüche in der Konzeption sehr hoch gesteckt sind. Und dies in zweierlei Hinsicht: Zum einen ist nicht davon auszugehen, dass die Anstöße für „gesellschaftlich nützliche sowie ökologisch verträgliche Produkte“ allein oder in erster Linie aus einer betrieblichen Beteiligungsorientierung erwachsen. Vielfach werden dafür strategische, auch aus FuE-Kompetenzen gespeiste Überlegungen auf Branchenebene erforderlich sein. Zugleich erinnert das Schicksal solcher Reformprogramme wie des soeben erwähnten „Auto-Umwelt-Verkehr“ daran, wie entscheidend eine betriebsbezogene Beteiligungsorientierung ist. Die mit „Besser statt billiger“ angestrebte gewerkschaftliche Erneuerung wird sich voraussichtlich nicht entwickeln können, wenn diese beiden Seiten von Gewerkschaftspolitik – die betriebliche und die überbetriebliche – einander entgegengesetzt werden. Zweitens ist davon auszugehen, dass reine Effizienzsteigerungs-Koalitionen auf betrieblicher Ebene sich aller Voraussicht nach nicht auf jene Beteiligung und Aktivierung von Gewerkschaftsmitgliedern stützen können, die für den Erfolg von „Besser statt billiger“ für wesentlich gehalten werden. Es zeugt deshalb von Realismus, wenn die qualitativen Ansprüche in der Konzeption von „Besser statt billiger“ so hoch gesteckt werden. Innovationsimpulse von unten, die über reine Eintagsfliegen hinausreichen, dürften nur dann entstehen, wenn mit ihnen die Verteidigung von sozialen Standards, die Verbesserung von Arbeitsbedingungen, also „guter Arbeit“ verbunden werden können. Wenn Pickshaus und Urban (2011) anstreben, dass „gute Arbeit ... zu einem betriebspolitischen Kernfeld wird“, dann beschreiben sie deshalb zugleich eine entscheidende Erfolgsbedingung für die Beteiligungsorientierung in der „Besser statt billiger“-Strategie. Ein Zusammenhang von „besserer Produktion“ und „guter Arbeit“ kann, wie das Beispiel der Einführung des Konti-Schichtbetriebes in einem unserer Untersuchungsbetriebe zeigt, nicht immer als selbstverständlich vorausgesetzt werden (vgl. dazu den Beitrag von Brettschneider, Bromberg und Haipeter in diesem Band). Doch in den meisten der von uns untersuchten Fälle steht „bessere Produktion“ zumindest nicht im Gegensatz zu „guter Arbeit“. Teilweise gibt es sogar eine wechselseitige Verstärkung – etwa durch die Einführung von Gruppenarbeit im Rahmen einer „Make or buy“-Entscheidung oder durch die Einrichtung eines betrieblichen Ausbildungszentrums. Am stärksten ist die positive
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Dies ist nicht weit entfernt von den Überlegungen der australischen Gewerkschaftsforscher Buchanan und Briggs (2004: 2), die vor dem Hintergrund der von ihnen analysierten Erfahrungen nicht etwa für eine Rückkehr zur traditionellen Verteilungsorientierung plädieren, sondern dafür, über den „enterprise-oriented productivism“ hinauszugehen: „Our conclusion is not that productivism itself is fatally flawed but for a new productivism which makes notions of sustainability (social, economic and environmental) its focal point instead of competitiveness.“
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Wechselwirkung dort, wo noch nicht im Zuge einer arbeitspolitischen Pendelbewegung (Dörre 2001) zum Verrichtungsprinzip in der Produktion zurückgekehrt wurde. Dort können Verbesserungsprozesse am ehesten auf eine „Rationalisierung in begrenzter Eigenregie“ (Wolf 1994) der Fachkräfte gegründet werden, die zumindest in Produktionsbereichen einer gleichzeitigen Verschlechterung der Arbeitsbedingungen vorbeugen können – auch wenn dies vielleicht immer weniger als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann. Auch die bereits erwähnten Fragebogenaktionen, die in einigen Untersuchungsbetrieben im Zuge von „Besser statt billiger“-Konflikten durchgeführt wurden, machen die Möglichkeit von positiven Wechselwirkungen auf der Basis von Beteiligungsprozessen deutlich. Die von uns untersuchten Fälle zeigen zugleich, wie sehr eine solche positive Wechselwirkung vom politischen Kräfteverhältnis im Betrieb und der Kultur der Beziehungen zwischen Betriebsrat und Management abhängt. Ein interviewter Betriebsrat bei einem Getriebehersteller formuliert es so: „Wenn der Chef ein Diktator ist, ein Patriarch ist, Finger weg davon! Denn dann wird er es ausnutzen. Wenn das nur gemacht wird, um vorübergehend irgendwelche Potenziale abzugreifen, dann kann ich Betriebsräte verbrennen ohne Ende. Das machst du einmal. Weil die Kollegen sagen, pass mal auf, du hast dich vor die Karre spannen lassen und im Nachhinein hat man sich übernommen und wir haben da gar nichts von. Nur in Unternehmenskulturen, wo das funktioniert, kann ich mich als Betriebsrat auf solche Prozesse einlassen. Da fängt das Ganze ja an, weil viele Arbeitgeber überhaupt nicht bereit sind so weit zu gehen, dass sie sich von irgendwelchen Facharbeitern vorschreiben lassen, wie die Maschinen stehen zu haben, wo die doch ihre Studierten da oben sitzen haben.“ Die Warnung davor, dass ein Arbeitgeber „vorübergehend irgendwelche Potenziale abgreift“ und den Betriebsrat „vor seinen Karren spannt“, beschreibt genau den Drahtseilakt, auf den sich Betriebsrat und Gewerkschaft mit „Besser statt billiger“ begeben. Ein Ausbalancieren ist nur mit Fortschritten auf dem Feld „guter Arbeit“ möglich. Die entscheidende Frage bei „Besser statt billiger“ ist also weniger, wer der „bessere Unternehmer“ ist, als die Schaffung eines solchen politischen Kräfteverhältnisses im Betrieb, das für die Hinwendung zu einer zugleich effizienteren und sozialeren (und vielleicht sogar ökologisch verträglicheren) Gestaltung von Industriearbeit erforderlich ist. Ein gewerkschaftlicher Betreuer fasste diese Herausforderung im Interview so zusammen: „Im Kern geht es bei „Besser statt billiger“ doch darum, die andere Seite zu zwingen, neue Lösungen zu entwickeln. Der Betriebsrat kann in der Regel diese Lösungen nicht selber entwickeln, und er sollte es auch nicht unbedingt. Man darf da nicht zu hohe Anforderungen stellen. Das ist auch nicht seine primäre Aufgabe. Es ist sogar so, dass man durch ein zu schnelles Mitdenken von Lösungen sogar Verhandlungs-
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potenziale verschenken kann und sich vorschnell auf Kompromisse einlässt. Man muss vor allem Druckpotenzial entwickeln können. Also einerseits Gegendruck aufbauen, und andererseits eine Strategiediskussion anstoßen und die Gegenseite in die Entwicklung von alternativen Lösungen hineinzwingen. Es ist eine Gratwanderung.“ Wie weit trägt das Expertenwissen? Für die Realisierbarkeit von Beteiligungsprozessen „für besser“ ist nicht allein das Wollen, sondern auch das Können entscheidend: Die Frage, ob – und mit welcher Reichweite – ein Betriebsrat mit Hilfe des Expertenwissens von Beschäftigten alternative betriebliche Strategien entwickeln kann. Eine naheliegende – und zwar ebenso häufig gegebene wie auch berechtigte – Antwort auf diese Frage ist, dass der Betriebsrat externe Berater benötigt. Tatsächlich kann nach unseren Beobachtungen die Bedeutung externer fachlicher Beratung für „Besser statt billiger“ nicht überschätzt werden (vgl. dazu Brettschneider, Bromberg und Haipeter in diesem Band). Der gewerkschaftliche Betreuer eines SchließsystemeHerstellers fasst sie mit den Worten zusammen: „Die Beratung bringt dem Betriebsrat erst das Ansehen, dass er braucht, damit die Unternehmensleitung zuhört und er seine Alternativen überzeugend einbringen kann.“ Die Bandbreite, in der sich die Rolle der von der IG Metall beauftragten Berater in den von uns besuchten Betrieben bewegt, reicht vom durch das Management ungeliebten und nie akzeptierten Störenfried bis hin zum Experten, dessen Wissen und Ideen vom Management schließlich so geschätzt werden, dass er von diesem in eigene Dienste übernommen wird. Entscheidend ist aber stets, dass die IG Metall den Betriebsräten, die dies wünschen, eine Beratungsinfrastruktur zur Verfügung stellt, die es ihnen ermöglicht, mit dem Management auf Augenhöhe in Verhandlungen über strategische Fragen einzutreten. Diese Konstellation ist sowohl für die Betriebsräte als auch für die Berater wichtig: Die Berater wissen, dass sie Akteure in einer gewerkschaftlichen Strategie sind und ihr Horizont nicht an den Grenzen des Betriebes enden darf (einer der interviewten Berater ging sogar so weit zu sagen: „Ohne die IG Metall bin ich als Berater vollkommen handlungsunfähig“); für die Betriebsräte wiederum wird die IG Metall nicht allein zu einer politischen, sondern auch – und zwar eng mit dieser verbunden – fachlichen Rückenstärkung. Die externe Beratung im Auftrag von Gewerkschaft oder Betriebsrat kann ihre spezifische Aufgabe umso besser erfüllen, je mehr sie das Expertenwissen der Beschäftigten mobilisiert. Die von uns interviewten BeraterInnen sehen konsequenterweise ihre Aufgabe auch ausdrücklich darin, den Beteiligungsprozess „für besser“ anzustoßen oder mit zu organisieren. Theoretisch könnte die externe
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Beratung in vielen Fällen durch die Kombination des eigenen Expertenwissens mit dem der Beschäftigten und des Betriebsrats vielleicht sogar eine alternative Strategie für das Unternehmen entwickeln. Doch so weit wird in aller Regel ihr Mandat nicht reichen – ein solches Mandat könnte nur vom Unternehmen selber erteilt werden. Sie wird also im Kern darauf hinarbeiten müssen, durch das Zusammenführen der erwähnten Quellen von Expertenwissen das Management zu veranlassen, in eine Strategiediskussion einzutreten. Die Beobachtung der Praxis von „Besser statt billiger“ führt also erneut zu der Schlussfolgerung, dass auch die Auseinandersetzung um „fachliche“ Fragen einen politischen Kern hat. Beteiligung „für besser“ muss, wenn sie die Handlungsmöglichkeiten des Betriebsrats erweitern und die Attraktivität der Gewerkschaft erhöhen soll, ebenso eng in eine politische Konzeption des Vorgehens im Betrieb eingebunden sein und über vermeintlich „rein fachliche“ Themen hinausreichen, wie dies für Beteiligung „gegen billiger“ selbstverständlich ist. Für die Möglichkeit eines Anstoßens von Strategiediskussionen bieten unsere Fallstudien durchaus Anschauungsmaterial. Sie machen deutlich, dass es die viel beschworenen ungehobenen Schätze in den Köpfen der Mitarbeiter in vielen Fällen tatsächlich gibt – einige Beispiele dafür wurden hier bereits erwähnt (vgl. ausführlicher den Beitrag von Brettschneider, Bromberg und Haipeter). Sie machen jedoch zugleich auf ein Problem aufmerksam. Das Erfahrungswissen von Facharbeitern erweist sich einerseits als das bislang vielleicht größte Potenzial des „Besser statt billiger“-Ansatzes. Andererseits zeigt sich gerade dadurch, dass die Kampagne v. a. dort Fuß fasst, wo die Gewerkschaft bereits stark verankert ist, und Leerstellen lässt, wo sie – wie im Bereich von FuE – zumeist nur geringen Einfluss hat. Dies begrenzt die Tragweite der Anstöße, die in Auseinandersetzungen mit dem Management eingebracht werden können, schwerpunktmäßig auf Fragen der betrieblichen Organisation, weniger auf weiterreichende Themen wie Produktinnovation. Dies birgt allerdings ein Dilemma für die Gewinnung neuer Mitglieder. Bei Angestellten – darunter den für „Besser statt billiger“ strategisch besonders wichtigen Ingenieuren – ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad in der Regel niedrig. Beteiligungsprozesse für „Besser statt billiger“ anzustoßen wäre in diesen Bereichen sowohl für die Sache als auch für das Ziel der Gewerkschaftsstärkung besonders interessant – und ist doch gerade dort besonders schwierig. Vor diesem Hintergrund lohnt der Blick auf solche Einzelfälle, wo es dem Betriebsrat gelingt, Anstöße für strategische Auseinandersetzungen im Betrieb gemeinsam mit Angestellten zu entwickeln. In der Regel findet die Erfahrung von Ingenieuren und Kaufleuten vor allem Eingang in Expertengruppen, die der Betriebsrat gebildet hat. Selbst dies gelingt jedoch nur, wenn einzelne Mitglieder des Betriebsrats Arbeitsbeziehungen in diese Angestelltenbereiche hinein haben,
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die ihnen auch das persönliche Vertrauen und Ansehen geben, die sie für die Gewinnung derartiger Experten benötigen. Am besten ist es, wenn auch in den Betriebsräten die verschiedenen Beschäftigtengruppen repräsentiert sind. Ingenieure reden am ehesten mit Ingenieuren. „Ich muss aus der Klientel kommen, mit der ich rede, damit ich dort akzeptiert werde“, formuliert es der Betriebsrat eines Getriebeherstellers. Die sowohl fachliche als auch persönliche Autorität von Betriebsratsmitgliedern ist die stabilste Plattform für den Austausch zwischen Beschäftigten und Betriebsrat. Am Beispiel eines Anlagenkonstrukteurs lässt sich diese Wechselwirkung studieren. Der gewerkschaftliche Betreuer spricht von einem „Führungs-Vakuum“ im Unternehmen, in dem jemand da sein müsse, der Themen platziere. Diese Rolle habe der Betriebsrat übernommen, dessen Vorsitzender im Interview ein Beispiel dafür beschreibt: „Ich habe unseren Konstrukteuren ein Papier über Forschung und Entwicklung zukommen lassen. Dann kam ganz spontan der Hauptabteilungsleiter Technische Abwicklung und sagte, Mensch, das ist das Beste, was ich hier in letzter Zeit überhaupt gelesen habe. Dem hatte ich das nicht gegeben, das hat ein anderer ihm weitergeleitet. Ich will damit nur sagen, die Leute wissen natürlich auch, dass hier insgesamt ein Betriebsrat ist, der weiß worum es geht.“ Auf der Basis einer solchen Anerkennung findet der Betriebsrat dann die Resonanz für eine Beschäftigtenbefragung unter den Ingenieuren, deren Anlage von einer Betriebsrätin so beschrieben wird: „Wir haben auf Anregung (unseres gewerkschaftlichen Betreuers) bzgl. unserer demoralisierten Belegschaft und undurchsichtigen Firmenpolitik eine Mitarbeiterbefragung durchgeführt. Wir sind immer zu Zweit vom Betriebsrat in die Abteilungen gegangen und haben zu einer lockeren Versammlungsrunde gebeten. Ich habe mitprotokolliert und anschließend die Punkte, die ich notiert habe, vorgelesen. Allerdings haben wir ein bis zwei Tage vorher die Befragung angekündigt, damit sich die Leute Gedanken machen konnten. Daraus wollten wir dann eigentlich ein Strategiepapier machen, aber die Problematiken waren so vielfältig, dass wir beschlossen haben, sie als Mitarbeiterbefragung auf der Betriebsversammlung vorzustellen.“ Das dann auf der Betriebsversammlung präsentierte Resümee ist eine harte und grundsätzliche Kritik an der Unternehmenspolitik – von der Personalführung („fehlende Kultur der Auseinandersetzung“) über die fachliche Qualifikation der Führung („fehlende Entscheidungswilligkeit mangels Fachkenntnis“) bis hin zur Produktentwicklung und Marktstrategie („Ein zielgerichtetes Arbeiten ist nicht möglich; wir drehen uns im Kreis und bekommen keine wirkliche Verbesserung oder Neuentwicklung hin“). Von der besseren Verankerung eines Betriebsrats unter Ingenieuren oder kaufmännischen Angestellten bis hin zum Ansehensgewinn für die IG Metall ist es ein weiter Weg, und bis zur Gewinnung neuer Mitglieder ein noch weiterer.
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Bei dem eben erwähnten Anlagenbauer sind mittlerweile immerhin fast ein Drittel der Ingenieure Mitglieder der IG Metall, in anderen Fallstudien-Betrieben sind es zumeist deutlich weniger. Die von uns interviewten Betriebsräte akzeptieren jedoch diese Herausforderung und betrachten den „Besser statt billiger“Ansatz als Hilfe. Der Betriebsratsvorsitzende eines Energieanlagen-Herstellers fasst es so zusammen: „Die Konflikte haben sich zwar nicht unmittelbar mitgliedermäßig ausgewirkt, aber fürs Ansehen der IG Metall schon.“
Schlussfolgerungen Unsere Fallstudien erlauben erste Hinweise auf die eingangs gestellte Frage, unter welchen Bedingungen der „Besser statt billiger“-Ansatz nicht allein zur Abwehr der Bedrohung von Arbeitsplätzen und Flächentarifverträgen, sondern zugleich zur Stärkung der Gewerkschaft beitragen kann. Bevor ich zwei mir besonders wichtig erscheinende Schlussfolgerungen hervorhebe, möchte ich eine Bemerkung voranstellen, obwohl sie lediglich an eine Selbstverständlichkeit erinnert. Eine Stärkung der Gewerkschaft im engeren Sinne, also ihrer Organisationsmacht durch Gewinnung neuer Mitglieder, ist nur dann zu erwarten, wenn dies als eigenständiger Bestandteil eines betriebspolitischen Ansatzes ausdrücklich mitbedacht und mitorganisiert wird. „Besser statt billiger“ unterscheidet sich hier in keiner Weise von anderen Strategien, die oben als „Bewegungsgewerkschaft“ und „Kampagnengewerkschaft“ kurz skizziert wurden. „Besser statt billiger“ als Weg zu einer stärkeren Profilierung der IG Metall als „Beteiligungsgewerkschaft“ kann also die Herausforderung einer Stärkung der Organisationsmacht nicht leichter bewältigen helfen als die beiden anderen Strategien. Die spezifische Stärke des betriebspolitischen Ansatzes liegt jedoch in der Chance der breiteren betrieblichen Verankerung der Gewerkschaft sowie einer Stärkung der innergewerkschaftlichen Demokratie. Insbesondere der zuletzt genannte Aspekt fehlt beim Ansatz der Kampagnengewerkschaft – ohne dass dieser damit seine Bedeutung verlöre. Die erste der beiden Schlussfolgerungen lautet: Beteiligung „für besser“ gelingt am ehesten in Verbindung mit Beteiligung „gegen billiger“. „Besser statt billiger“-Aktivitäten in Betrieben haben stets einen Anlass. Die Bedrohung von Arbeitsplätzen eines Betriebes z. B. durch Standortkonkurrenz oder „Make or Buy“-Entscheidungen ist solch ein Anlass. Verlagerungen und Auslagerungen sind zu einer ständigen Bedrohung geworden (Hintergrund: Internationalisierung der Produktion, Renditevergleiche, Kurzfristorientierung). Damit wird es zu einer Herausforderung, Beteiligungspraxis zu einem kontinuierlichen – oder zumindest: immer wiederkehrenden, periodisch reaktivierbaren – Bestandteil
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von Betriebspolitik zu machen. Wie einige der von uns untersuchten Fälle zeigen, kann dies auch dann gelingen, wenn das Management keine Abweichung vom Flächentarifvertrag fordert. Doch zeigen unsere Fälle auch, dass die breitest mögliche aktive Einbeziehung von Beschäftigten sowie ein Zusammenführen der politischen mit der fachlichen Seite von Beteiligung am ehesten in Verbindung mit betriebsnaher Tarifpolitik möglich sind. „Besser statt billiger“ bekommt dadurch die Funktion, Betriebsrat und Belegschaft in der Abwehr oder der Ausgestaltung von Tarifabweichungen handlungsfähiger zu machen. Betriebsnahe Tarifpolitik, auch wenn sie bis auf Weiteres wahrscheinlich in ihrer derzeitigen Defensivkonstellation grundsätzlich gefangen bleiben wird, ist der wahrscheinlich wirksamste Hebel für die Auslösung von Beteiligungsprozessen. Das Selbstbewusstsein, das aus der Formulierung „Wir wissen es besser, die anderen können es nicht“ spricht, mit dem der Betriebsratsvorsitzende eines Energieanlagenherstellers die Stimmung in seinem Gremium beschrieb, erwächst jedoch erst aus der inhaltlichen Ausweitung der Beteiligung auf das Anstoßen von strategischen Auseinandersetzungen mit dem Management. Die zweite Schlussfolgerung lautet: „Besser statt billiger“ funktioniert am ehesten, wenn es bewusst als Bestandteil eines Kulturwandels hin zur Beteiligungsgewerkschaft organisiert wird. Dieser Wandel hat zwei Seiten: Zum einen die Entwicklung einer Kultur der Beteiligung im Betrieb als gemeinsames Projekt von Betriebsrat und Gewerkschaft – die damit einhergehende Veränderung im Selbstverständnis vieler Betriebsräte (d. h. die Ablösung von herkömmlicher Stellvertreterpolitik) wird von Brettschneider, Bromberg und Haipeter in diesem Band beschrieben; zum anderen – und zwar als Voraussetzung – eine Verzahnung von Betriebsrats- und Gewerkschaftsarbeit im Betrieb. Verzahnung ist etwas anderes als die klassische Arbeitsteilung, die in dem noch in den 1990er Jahren in der IG Metall häufig gebrauchten Bild vom Betriebsrat als „Tarifpolizei im Betrieb“ zum Ausdruck kam – und das auch damals bereits die Realität nur unzureichend beschrieb, was in dem ebenfalls beliebten Bild von der IG Metall als „Betriebsräte-Gewerkschaft“ zum Ausdruck kam (womit selbstverständlich nur die Betriebsräte einiger weniger Großkonzerne gemeint waren). Verzahnung von Betriebsrats- und Gewerkschaftsarbeit im Betrieb bedeutet demgegenüber zweierlei: Den überbetrieblichen Interessenvertretungs-Anspruch der Gewerkschaft im Betrieb unmittelbar zur Geltung zu bringen und zugleich die Selbstvertretung der Interessen durch die Beschäftigten zu fördern. Dies selbstverständlich nicht in Konkurrenz zum Betriebsrat, sondern als Konsequenz der Einsicht, dass der Betriebsrat anders seine gesetzlich definierte Rolle nicht mehr mit Erfolg wahrnehmen kann. Dies macht die Betreuung der Betriebsräte durch die Gewerkschaft – vor allem natürlich durch die örtlichen Verwaltungsstellen, aber auch durch die Bezir-
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ke und den Vorstand – als die anspruchsvollste Herausforderung deutlich. „Besser statt billiger“ ist ein Türöffner zur Beteiligungsgewerkschaft – nicht mehr, aber auch nicht weniger.
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Betriebliche Mitbestimmung und die gewerkschaftlichen Modernisierungskampagnen der IG Metall Nordrhein-Westfalen Betriebliche Mitbestimmung, gewerkschaftliche Modernisierungskampagnen
Einleitung Die Krise scheint weitgehend gemeistert. 80 Prozent der Betriebsräte berichten von einem neuen Aufschwung mit Auslastungen, die teilweise bereits die Spitzenwerte von 2008 überschreiten. Gleichwohl sind in einzelnen Teilbranchen Betriebe noch mit Kurzarbeit und Insolvenzrisiken belastet (Ergebnis der Befragung der Tarifkommissionsmitglieder in der Metall- und Elektroindustrie am 24.11.2010). Gerade in diesem Aufschwung aber nehmen die Herausforderungen keineswegs ab. Gestern standen Arbeitsplatz- und Einkommenssicherung durch Tarifverträge und Kurzarbeit im Vordergrund, heute und morgen geht es um Zukunftssicherung von dauerhafter und guter Arbeit. Denn mit dem Aufschwung werden Unternehmens- und Personalkonzepte neu ausgerichtet, Standortfragen neu entschieden und die Nutzung der Leiharbeit zum Teil drastisch ausgeweitet. Dahinter steht der Druck, beispielsweise in der Automobilindustrie, dass Aufträge an den Zulieferer nur für den kalkulatorisch niedrigsten Preis in allen Teilleistungen vergeben werden. Die Konsequenz sind vielfach globaler organisierte Wertschöpfungsketten sowie auf „immer billiger“ getrimmte Produktionssysteme. Nachhaltige industrielle Entwicklung mit Erfolg für dauerhaft sichere und gute Arbeit ist etwas anderes. Immer komplexer werden damit die Herausforderungen für die betriebliche und die gewerkschaftliche Interessenvertretung. Seit 2004 wurden mit dem Ansatz der betriebsnahen Tarifpolitik und den darauf aufbauenden gewerkschaftlichen Modernisierungsstrategien Voraussetzungen geschaffen, schlüssige strategische Antworten und Gegenkonzepte zu entwickeln, um vorhandene arbeits- und innovationspolitische Gestaltungsspielräume zu nutzen und bisher Erreichtes zu sichern. Der Beitrag rekonstruiert zunächst die seit dem Pforzheimer Tarifvertrag verstärkte Öffnung zu einer betriebsnahen Tarifpolitik und die von der IG Metall in der Folge aufgelegten Modernisierungskampagnen, vor allem die Kampagne T. Haipeter, K. Dörre (Hrsg.), Gewerkschaftliche Modernisierung, DOI 10.1007/978-3-531-93332-0_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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„Besser statt billiger“ (Abschnitt 2). Im Anschluss steht die Umsetzung der Kampagne im Fokus, insbesondere die begleitenden Unterstützungsprojekte, die den betrieblichen Interessenvertretungen vor Ort als Orientierungs-, Handlungsund Umsetzungshilfe für innovative betriebliche Lösungen dienen (Abschnitt 3). In Abschnitt 4 ziehen wir erste Schlussfolgerungen aus den Projekterfahrungen und geben abschließend einen Ausblick, mit welchen strategischen Konzepten sich die Gewerkschaft in Zukunft den Herausforderungen nach der Krise stellen wird (Abschnitt 5).
Druck und Konzept – Betriebliche Tarifpolitik und gewerkschaftliche Modernisierungsstrategie Durch die Entwicklung ihrer betriebsnahen Tarifpolitik im Zuge des PforzheimProzesses hat die IG Metall den Flächentarifvertrag als Ordnungsrahmen stabilisiert und inhaltlich weiterentwickelt. Sie hat das Heft des Handelns wieder übernommen und Regeln für im Einzelfall mögliche, zeitlich befristete Abweichungen vom Flächentarif gesetzt. Dadurch ist es der Gewerkschaft gelungen, sich aus der vor 2004 bestehenden Position der Defensive zu lösen. Allerdings hat sich durch die Verlagerung von Tarifauseinandersetzungen auf die betriebliche Ebene die Tarifarbeit stark verändert. Zusätzliche Problemlagen und Handlungsfelder machten eine erhebliche Professionalisierung der Interessenvertretung und neue Unterstützungsformen erforderlich. Betriebsnahe Tarifpolitik seit dem Pforzheimer Abschluss Ohne eine Beteiligung der Beschäftigten und eine starke gewerkschaftliche Basis im Betrieb sind keine nachhaltigen arbeitspolitischen Modernisierungskonzepte möglich; auf diese Formel lassen sich die Erfahrungen mit betriebsnaher Tarifpolitik seit dem im Jahr 2004 abgeschlossenen Pforzheimer Tarifvertrag zusammenfassen. Dieser eröffnet die Möglichkeit, zeitlich begrenzte Tarifabweichungen betrieblich zu verhandeln, wenn damit Beschäftigung stabilisiert und ein Beitrag zur Wettbewerbs- und Standortsicherung realisiert werden kann. Dies trifft in besonderem Maße für betriebliche Krisenphasen zu. Der IG Metall war es nicht zuletzt unter dem politischen Druck mit dieser Form der konditionierten Öffnung der Tarifverträge für betriebsspezifische Regelungen auf konstruktive Weise gelungen, das Handlungsfeld Tarifpolitik auf die betriebliche Ebene zu erweitern. Sie hatte mit dem Tarifvertrag gleichzeitig ein wirksames Mittel gegen eine Vielzahl eher informeller „wilder“ Abweichungen vom Tarifvertrag etabliert. Die nunmehr über sechsjährige Anwendung ist in Erfahrungsberichten
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sowie ersten Forschungsergebnissen dokumentiert. Unmittelbar in der Folge des Pforzheimer Abschlusses – in den Jahren 2004/2005 – stiegen die Abweichungen von der Tarifvertragsnorm zunächst sprunghaft an (Haipeter 2009 und 2010). Die dezentral auf betrieblicher Ebene vereinbarten Tarifabschlüsse erwiesen sich in den Anfängen als schwierig steuer- und regulierbar. Immer häufiger forderten Arbeitgeber z. B. Verlängerungen der Arbeitszeit ohne Lohnausgleich ein, auch wenn es nur um Mitnahmeeffekte gehen sollte. Begründungen, dass auf anderem Wege der Standort und damit die Arbeitsplätze nicht mehr erhalten werden könnten, entsprechende Verlagerungsandrohungen und Auslagerungsbestrebungen erwiesen sich jedoch oftmals als nur vermeintliche Ultima Ratio. Auf einzelbetrieblicher Ebene wurde es aber damit zunehmend schwierig für die Betriebsräte, diesen Zwangsszenarios zu begegnen. Den betrieblichen Interessenvertretungen kam so im Rahmen der betriebsnahen Tarifpolitik eine Schlüsselrolle zu, auf die sie vielfach aus der Tradition einer Interessenvertretungs- und Schutzpolitik auf Basis geregelter Tarifverträge zu wenig vorbereitet waren. Die dezentrale Abwehr oder Aushandlung von Abweichungen vom Tarifvertrag setzen sowohl eine gut organisierte Belegschaft mit einem starken Betriebsrat als auch ein qualitatives Gestaltungskonzept voraus, um neben dem Standort- und Wettbewerbserhalt der Unternehmen die nachhaltige und qualitative Gestaltung der Arbeitsbedingungen nicht aus den Augen zu verlieren und erfolgreich anzugehen. Sollen und müssen Betriebsräte gerade in diesem Kontext stärker gestaltend und strategiebildend wirken, benötigen sie mehr denn je zukunftsweisende Konzepte, die man mit Kuhlmann als „innovative Arbeitspolitik“ bezeichnen könnte.1 Wollen Betriebsräte in der Lage sein, auf betrieblicher Ebene den nötigen Druck und zukunftsorientierte Konzepte für die Verbesserung und Sicherung der Arbeitsplätze zu entwickeln, bedürfen sie der Rückkopplung und des „Rückenwindes“ durch die Gewerkschaftsmitglieder im Betrieb und die Gewerkschaft als koordinierende und wertebasierte Instanz. Auf dieser Grundlage kann die Tarifabweichung tatsächlich zu einer „kontrollierten“ Dezentralisierung entwickelt werden. Wenngleich das reformierte Betriebsverfassungsgesetz von 2001 die Möglichkeiten der Betriebsräte gestärkt hat, sich initiativ an betrieblichen Innovationen zu beteiligen (§ 92a BetrVG), gestaltet sich dies in der betrieblichen Praxis nicht nur schwierig, sondern es werden Beschäftigten und betrieblichen Interes-
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Innovative Arbeitspolitik zeichnet sich durch Beteiligungs- und Mitspracherechte der Beschäftigten und ihrer Interessenvertretung aus. Auf der Ebene der Arbeitsorganisation gehören dazu z.B. Formen qualifizierter Gruppenarbeit, Mitsprachemöglichkeiten der Beschäftigten bei der Arbeitsgestaltung und regulierte Formen der Leistungs- und Entlohnungspolitik, aber auch eine dezentral und in die Arbeitsprozesse integrierte Betriebsorganisation (vgl. ausführlicher Kuhlmann 2010).
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senvertretungen oftmals hohe Gegenleistungen (Konzessionen) im Falle von Beschäftigungssicherungsvereinbarungen abverlangt (vgl. auch den Beitrag von Gerst in diesem Band). Die traditionelle Schutzfunktion betrieblicher Interessenvertretung war gerade in Krisenzeiten mehr denn je gefragt, da sie entscheidend zur Arbeitsplatzsicherung beigetragen hat. Dennoch – das wurde insbesondere in den Verhandlungen zur Abweichung vom Tarifvertrag auf betrieblicher Ebene deutlich – muss Interessenvertretungspolitik heute darüber hinausgehen, um stärker in die Offensive zu gelangen. Forschungsergebnisse belegen, dass die Mitwirkung des Betriebsrates bei Innovationsprozessen sowohl für Beschäftigte als auch Unternehmen mehr Chancen als Risiken birgt (vgl. Schwarz-Kocher 2010). Dies freilich nur dann, wenn die Akteure vor Ort sich der Rückendeckung durch die Belegschaft und der konzeptionellen Unterstützung ihrer Gewerkschaft sicher sein können. Hier setzen die von der IG Metall initiierte Kampagne „Besser statt billiger“ und die im Folgenden beschriebenen, damit verbundenen Projekte an. Die gewerkschaftliche Kampagne „Besser statt billiger“ Seit 2004 hat die IG Metall eine Reihe von Aktivitäten entfaltet, um die Bindewirkung des Flächentarifvertrages zu erhalten. So wurde als Antwort auf den erheblichen Anstieg der Zahl von Unternehmen, die sich der Tarifbindung durch Austritt aus dem Arbeitgeberverband oder durch den Wechsel in Arbeitgeberverbände ohne Tarifbindung entziehen wollten, die Kampagne „Tarif aktiv“ ins Leben gerufen. Offensiv wurden Unternehmensleitungen aufgefordert, sich zum Flächentarifvertrag zu bekennen. Die Rückkehr in den Flächentarifvertrag wurde in betrieblichen Auseinandersetzungen erstritten. Nach Abschluss des Pforzheimer Tarifvertrages entwickelte die IG Metall mehrere Initiativen, die auf der engen Verzahnung der interessenvertretungspolitischen Aktivitäten und der aktiven Beteiligung der Mitglieder und Beschäftigten beruhen. Um Missbrauch von Tarifabweichungen zu vermeiden, wurden Unternehmensleitungen aufgefordert, ihre Bilanzen, Planungsgrundlagen und Konzepte offen und mit harten Zahlen zu belegen. Erst auf dieser Basis wurden überhaupt konsensuale und konditionale Vereinbarungen zwischen den Betriebsparteien möglich. Darüber hinaus wurde die Zustimmung der Gewerkschaftsmitglieder im Betrieb zwingend vorausgesetzt. Die Abweichungsvereinbarungen wurden damit zunehmend an Bedingungen geknüpft, die zum Ziel haben, ein Zukunftskonzept zu erarbeiten, das eine Rückkehr zum Flächentarif ermöglicht und die Ausnahmeregelung auf einen möglichst geringen Umfang und Zeitraum begrenzt.
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Vor allem die Kampagne „Besser statt billiger“ bringt auf den Punkt, dass bessere, auf Qualität und Sicherheit von Arbeitsplätzen und Arbeitsbedingungen ausgerichtete Gestaltungsvorhaben letztlich tragfähiger für den Erhalt der Unternehmen und damit der Arbeitsplätze sind, als die an schneller Rendite orientierten und ausschließlich mit Kostenreduktionen begründeten unternehmerischen Entscheidungen. Denn Kosteneinsparungen betreffen in dieser Logik vor allem die Arbeitsplatzsicherheit und die Arbeitsbedingungen (Abbau von Arbeitsplätzen, Einsatz von Leiharbeit, Verlagerung, Arbeitsverdichtung). Das erweist sich nicht selten als Substanzverlust, mit hohen Risiken für künftige Wettbewerbsfähigkeit. Denn die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und die Verbesserung von Einkommens- und Arbeitsbedingungen bedingen einander. Sie sind „zwei Seiten einer Medaille“. Soll ein Unternehmen angesichts sich ständig verändernder Bedingungen mittel- und langfristig zukunftsfähig sein, muss es wandlungsfähig sein. Eine wichtige Voraussetzung zur Sicherstellung dieser Wandlungsfähigkeit ist eine qualifizierte und motivierte Belegschaft. Arbeitskräfte bringen vielfach implizites und explizites Wissen, ihre Erfahrungen, Ideen und Lösungsstrategien für Probleme des betrieblichen Alltags ein, was dem Management teilweise gar nicht bewusst ist. Ausschließlich an Kostensenkung orientierte Unternehmensstrategien vergessen bzw. „unterlassen“ diesen Aspekt und „unternehmen“ in dieser Hinsicht zu wenig. Dies genau betont die Kampagne „Besser statt billiger“. Mit ihr fordern Betriebsräte und IG Metall unternehmerische Phantasie sowie mittel- und langfristig tragfähige Strategien, die trotz schwieriger Rahmenbedingungen den Erhalt und die Qualität der Arbeitsplätze am deutschen Standort durch innovative Konzepte ermöglichen. Gewerkschaften und die betrieblichen Interessenvertretungen wollen damit keineswegs die besseren „Unternehmer“ werden. Es kann nicht darum gehen, dass sie als „Co-Manager“ ihr eigenes Profil verwässern. Sie wollen jedoch Unternehmensleitungen fordern, ihre unternehmerische Verantwortung für den deutschen Industriestandort und die Beschäftigten tatsächlich ernst zu nehmen und z. B. verfehlte Verlagerungsinvestitionen ins Ausland nicht auf Kosten der heimischen Belegschaften zu veranlassen. All diese Entwicklungen machen die herkömmliche gewerkschaftliche Schutzfunktion keineswegs überflüssig. Gerade in der Krise hatte diese Komponente gewerkschaftlicher Tätigkeit herausragende Bedeutung. Darüber hinaus geraten jedoch zunehmend Fragen der langfristigen Strategiebildung und ihre möglichen Auswirkungen auf Beschäftigung und Einkommen ins Blickfeld. Unternehmerische Kurzfrist-Strategien sind mit guten Argumenten und eigenen Konzepten zu hinterfragen. Ein zentrales Element dieser veränderten Gewerkschaftsarbeit ist die frühzeitige und konsequente Einbeziehung der Belegschaf-
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ten, damit Gewerkschaft und Betriebsräte als Modernisierungskraft sichtbar und erfahrbar werden. Ob in Betrieben des Maschinenbaus, des Fahrzeugbaus, der Stahlindustrie oder anderer Branchen von Metall-, Elektro-, Textil- oder Holzund Möbelindustrie – überall haben sich IG Metall und Betriebsräte erfolgreich eingemischt, um z. B. die Verlagerung von Produktionsteilen ins Ausland und damit Arbeitsplatzabbau am heimischen Standort zu verhindern. Dies wurde nicht durch eine pauschale „Dagegen“-Position erreicht, sondern zum einen durch den Nachweis, dass dieses konkrete Verlagerungsvorhaben auch für das Unternehmen mehr Risiken als Vorteile birgt und zum anderen durch die Entschlossenheit sowohl der Belegschaften als auch ihrer Interessenvertretung. Erste Erfahrungen mit der praktischen Umsetzung der Pforzheim-Vereinbarung in Nordrhein-Westfalen haben bestätigt, dass der mit „Besser statt billiger“ verfolgte Strategieansatz in die richtige Richtung zielt. Der Grundsatz „Beschäftigungssicherung und Investitionen als Gegenleistung“ und ein vernünftiges Zukunftskonzept („Besser-Konzept“)“ bedeutet in der Konsequenz, dass Abweichungswünsche von Arbeitgebern abgewiesen wurden, sofern das Management nicht in der Lage war, nachvollziehbar darzulegen, wie der Betrieb am Ende der befristeten Abweichungsperiode seine Wettbewerbsfähigkeit gestärkt haben würde. Offenkundig unterlagen einige Arbeitgeber dem Missverständnis, es handele sich bei der Öffnung der Tarifverträge für dezentrale Lösungen um eine freundliche Einladung der Gewerkschaft zu einer neuen Runde im Kostensenkungswettbewerb, möglicherweise sogar mit Wiederholungsoption nach Ablauf der Regelung. Manches Management musste lernen, dass sehr pauschal und diffus gehaltene Hinweise auf die „schwierigen ökonomischen Rahmenbedingungen“, „die Globalisierung“ oder eine nicht näher spezifizierte „Krise“ nicht hinreichten, um für die gewünschte Tarifabweichung die Zustimmung der betrieblichen Tarifkommission zu erhalten. Gleiches galt für Betriebe, die nicht bereit waren, ihre Bücher offen zu legen und ihre Abweichungsgründe von sachverständigen, von der Gewerkschaft beauftragten Beratern anhand harter Unternehmensdaten überprüfen zu lassen. Im Zeitraum 2004-2007 wurden in NRW überhaupt nur in einem Drittel der beantragten Fälle ernsthafte Verhandlungen aufgenommen, die in 230 Fällen letztlich Tarifabweichungen zur Folge hatten (Burkhard und Schlette 2008: 62). Wie die Prüfprozesse angelegt waren, wie Regelungstatbestände konkret aussahen, welche Konzessionen die Arbeitnehmerseite machte und wie umgekehrt die Gegenleistungen der Arbeitgeberseite aussahen, ist an anderer Stelle ausführlich beschrieben worden (vgl. Haipeter 2009; Korflür et al. 2010). Als zentrale Erkenntnis für die IG Metall, Betriebsräte und Belegschaften aus den Erfahrungen mit Abweichungsverhandlungen ist festzuhalten: Die Frage, wie Betriebe künftig ihre Wettbewerbsfähigkeit sichern und damit die Grundlage für
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Arbeit und Einkommen gewährleisten sollen, ist viel zu wichtig, um sie allein dem Management zu überlassen. An konkreten betrieblichen Beispielen ließ sich erfahren, dass die alternativlose Anpassung an die vom Management behaupteten Sachzwänge kein Schicksal sein muss. Aus der Praxis kompetenter, eng mit der Belegschaft verbundener Betriebsräte ließ sich lernen, dass es sich lohnt, mit eigenen Vorstellungen bis hin zu Alternativkonzepten für langfristige Innovations- und Zukunftsstrategien aktiv zu werden. Gewerkschaften und betriebliche Interessenvertretungen wurden für die Belegschaften als Gestaltungskraft erfahrbar und gewannen an Attraktivität auch für bislang nicht organisierte Beschäftigte. Die Erfolge in der Mitgliederentwicklung der IG Metall in den vergangenen Jahren lassen sich zu einem erheblichen Teil darauf zurückführen. So betrug die Anzahl der Neuaufnahmen 2008 in Nordrhein-Westfalen rund 27.000. Es mehren sich inzwischen die Hinweise darauf, dass sich der Aufwand zur Austragung dieser Konflikte lohnt. Eine Befragung von Betriebsräten aus dem Maschinenbau im November 2009 ergab deutlich, dass Betriebe, in denen Betriebsräte und Geschäftsleitung gemeinsam über Maßnahmen der Standortsicherung beraten hatten, besser aufgestellt waren als diejenigen, in denen auf gemeinsame Beratungen verzichtet wurde. Bei der Gruppe der befragten Betriebsräte, die mit der Geschäftsführung gemeinsam Strategien zur Standortsicherung beraten hatten, konnte z. B. häufiger eine wieder ansteigende Auftragslage, eine höhere Quote systematischer Qualifizierungsmaßnahmen oder die Übernahme von Auszubildenden festgestellt werden. Auch wurde in Betrieben mit gemeinsamer Beratungskultur Personalabbau häufiger erfolgreich verhindert. Der „Mehrwert“ einer Beteiligung der Arbeitnehmerseite an Beratungen über strategische Entscheidungen im Hinblick auf die zukünftige Ausrichtung des Unternehmens kann auch für den Arbeitgeber mit einer Steigerung der Entscheidungsqualität verbunden sein, da ein größerer Bestand organisationalen Wissens in die Entscheidung einfließt. Die höhere Akzeptanz der so getroffenen Entscheidungen in der Belegschaft und ein höheres Commitment der Beschäftigten können Arbeitsplätze, Arbeitsbedingungen sowie Unternehmensentwicklungen sichern und verbessern (Schwarz-Kocher 2010, Wittke et al. 2010). Aus Sicht von Gewerkschaft, Betriebsräten und Belegschaften besteht die Zielstellung darin, durch nachhaltige Unternehmensstrategien auf eine langfristige Sicherung und Förderung von Beschäftigung zu setzen. Über die kurzfristige Orientierung am Tagesgeschäft hinaus werden die längerfristigen Entwicklungschancen zum Thema gemacht und damit Aspekte wie die Marktentwicklung, Nachfrage- und Technologietrends oder die Frage, wie innovativ das eigene Unternehmen eigentlich ist bzw. sein könnte. Mit dieser sehr grundsätzlichen Stoßrichtung, die auf die Beförderung von „High Road“-Strategien und die Verhinderung von reinen Kostensenkungsstrategien setzt, geht der Strategieansatz
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von „Besser statt billiger“ als Modernisierungsoffensive zugleich über das Handlungsfeld der Tarifpolitik und die Abweichungsproblematik hinaus. Im Labor künftiger Gewerkschaftsarbeit: Projekte für die betriebliche Praxis Bei der Herausarbeitung von alternativen Handlungsstrategien (z. B. zu einer geplanten Verlagerung, zum vermehrten Einsatz von Leiharbeit, beim Einsatz und der Ausgestaltung von Produktionssystemen u. v. m.) knüpfen Betriebsräte, Gewerkschaftssekretäre und Berater stets am Detail- und Erfahrungswissen der Akteure vor Ort an und damit an den Kenntnissen und dem Erfahrungsschatz vieler Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus den verschiedensten Unternehmensfunktionen. Wissen und Kompetenzen der Beschäftigten bilden wichtige Ressourcen, die durch geeignete Beteiligungsformen erschlossen und handlungsrelevant werden können. In einem wechselseitigen Anerkennungs- und Lernprozess findet dieses Wissen Eingang in „Besser statt billiger“-Prüfprozesse bis hin zur Entwicklung von Alternativstrategien; ob Letzteres gelingt, hängt natürlich auch von den zeitlichen Ressourcen ab. Das Bestreben dieser Strategien und Prozesse ist immer darin zu sehen, die Ziele langfristig sicherer und gute Arbeit zum Gegenstand von Unternehmensentwicklung zu machen. Das mag im Konflikt zur Zielstellung eines Managements stehen, das vorrangig an kurzfristiger Renditesteigerung orientiert ist. Allen Beteiligten auf Seiten der Arbeitnehmervertretung ist sehr bewusst, dass der skizzierte Strategieansatz hohe Anforderungen an die beteiligten Akteure stellt und keineswegs ein Selbstläufer ist:
Belegschaften müssen sich organisieren, aktiv werden und bereit sein, für „Besser“-Lösungen zu kämpfen, wenn dies erforderlich wird. Betriebsräte müssen Kompetenzen aufbauen, alternative Vorschläge und Konzepte entwickeln, Prozesse steuern, den engen Kontakt zur Belegschaft halten und sich notwendige externe Unterstützung organisieren (z. B. Berater). Arbeitsorientierte Berater müssen die betrieblichen Akteure vor Ort ernst nehmen und nicht vorschnell diejenigen Lösungen verkaufen, die sie am besten kennen und anwenden können. Wo das Beraterwissen an Grenzen stößt oder schlicht keine Beratungsressourcen zur Verfügung stehen, müssen alternative Ressourcen zur Vermittlung von Orientierungswissen erschlossen werden (z. B. wissenschaftliche Expertise). Und auch die Hauptamtlichen der IG Metall werden von Betriebsräten, die diesen Weg einschlagen, anders und intensiver gefordert. Das bedeutet nicht
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einfach „mehr BWL“, sondern die Fähigkeit z. B. Beratung zu steuern, Beratervorschläge einzuschätzen und zu bewerten. Zu ihren Aufgaben gehört es auch, Gestaltungsprozesse in den Betrieben kontinuierlich zu begleiten, die Mitglieder zu beteiligen und zur Stärkung der Durchsetzungsfähigkeit neue Mitglieder hinzuzugewinnen. Betriebsräte sollen nicht die Aufgaben der Manager übernehmen, aber sie sind darin zu stärken, die vom Unternehmen beschrittenen Wege in ihrer Relevanz für die Zukunft von Arbeit und Einkommen am Standort zu bewerten und ihren Einfluss auf alternative Entscheidungsoptionen zu steigern. Mit dem Beschreiten neuer Wege zur Sicherung industrieller Arbeitsplätze ist noch keine Bestandsgarantie verbunden. Daher müssen Betriebsräte auch lernen, mit der Offenheit von präventivem Handeln umzugehen. Ob z. B. eine Produktinnovation, die der Betriebsrat im Zuge eines „Besser“-Prozesses unterstützt hat, letzten Endes vom Kunden angenommen wird oder nicht, lässt sich vorab schlechterdings nicht beantworten. Ob eine mit dem Betriebsrat gemeinsam erarbeitete Prozessinnovation tatsächlich dazu führt, dass sich nicht nur Produktivitätsziele einlösen, sondern auch die Qualität der Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten steigert, zeigt sich vielfach erst in der Anwendung. Bei der Umsetzung dieser Gewerkschaftsstrategie sollte daher der Fehler vermieden werden, der alten OhnmachtsThese („wir können ja doch nichts ändern“) nun eine naive Allmachts-These („wir können alles besser“) entgegenzustellen. Betriebsräte wie Gewerkschaftssekretär/innen sind keine homogene Gruppe; das hat nicht zuletzt die Betriebsrätebefragung des WSI gezeigt, wonach die Hälfte der Betriebsräte als „machtvolle“ oder „ambitionierte Mitgestalter“ einzustufen sind (Kriegesmann et al. 2010: 72). Was also in der einen Verwaltungsstelle bzw. in dem einen Betrieb schon lange eingespielte Praxis ist, ist für andere Akteure noch völliges Neuland. Mit dem Zugewinn an Aufgaben für die Interessenvertretungen vor Ort steigt die Gefahr der Überforderung. Die neue Rolle macht es nicht nur erforderlich, bisherige Ziele und Strategien sowie den Ressourceneinsatz der Betriebsratsarbeit zu hinterfragen. Sie erfordert auch Kompetenzen, über die nicht jeder Betriebsrat von vornherein verfügt und wohl auch gar nicht verfügen kann. Hier eröffnet sich für die Gewerkschaft ein Handlungsfeld jenseits klassischer Stellvertreter-Politik. Es verändert sich durch „Pforzheim“ also nicht nur die Tarifarbeit grundlegend. Wie die IG Metall auf die geschilderten neuen Bedarfe von Betriebsräten reagieren kann, wurde im IG Metall Bezirk Nordrhein-Westfalen in den letzten Jahren zunächst projektförmig erprobt. Die Erfahrungen dieser Projektarbeit fließen ein in die Planung und Gestaltung der nächsten Umsetzungsschritte von „Besser statt billiger“. Die IG Metall hat in den letzten fünf Jahren mehrere Pro-
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jekte in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern und Beratungseinrichtungen angestoßen, deren Hauptziel darin besteht, die Bündelung und praxisgerechte Aufbereitung von fachlicher Kompetenz und Know-how für die Bewältigung betrieblicher Veränderungsprozesse voranzutreiben. Die Projekte werden mit Mitteln des Landes, des Bundes und des Europäischen Sozialfonds finanziert. Damit ist auch das öffentliche Interesse an neuen Antworten auf diese Herausforderungen dokumentiert. Neuer Umgang mit Beratung und Beteiligung – Die Projekte „Arbeit durch Innovation“ und „Besser: Zukunft!“ „Arbeit und Einkommen sichern und fördern, dazu braucht es eine nachhaltige Unternehmensstrategie und keine kurzfristige ‚Billiger‘-Lösung. Dann profitieren die Beschäftigten, und das Unternehmen“ – so die Aussage eines Betriebsrates, der man in dieser Allgemeinheit kaum widersprechen kann. Aber bei der Frage, was nachhaltig nutzt und wie die Strategien des Arbeitgebers nach der „besser/billiger“-Logik im Einzelfall zu bewerten sind, werden nicht wenige Betriebsräte unsicher. Was macht die Stärken und Schwächen des Betriebes in dieser Hinsicht überhaupt aus? Was davon ist mit höchster Priorität zu hinterfragen? Welche Ansatzpunkte gibt es für die eigene Initiative? Welche Strategie ist erfolgversprechend, um Verbesserungen einzufordern? Wie stellt der Betriebsrat sicher, dass ihm die Belegschaft auf diesem Weg auch folgt, notfalls auch durch konfliktreiche Aushandlungsprozesse hindurch? Das Projekt „Arbeit durch Innovation“: Solche oder vergleichbare Fragen gaben den Anstoß für das Projekt „Arbeit durch Innovation“, das von 2005 bis 2008, gefördert aus Mitteln des Landes Nordrhein-Westfalen und der Europäischen Union, durchgeführt und von der Beratungsgesellschaft „Sustain Consult“, Dortmund, begleitet wurde. Das Projekt war handlungsorientiert angelegt und hatte den Schwerpunkt darin, die Akteure vor Ort durch Beratung und Know-how zu unterstützen. Gegenstand dieser Unterstützung waren nicht etwa fertige Lösungen, sondern Angebote für die betrieblichen Praktiker, bei der Vielfalt der Anforderungen das für sie strategisch besonders relevante Thema im Dialog herauszufiltern und praktische Handlungshilfen für die eigene Analyse vor Ort zur Verfügung zu stellen. Dazu zählten etwa Hinweise auf eine Vielzahl von „Werkzeugen“, die Betriebsräten zur Verfügung stehen, um im eigenen Unternehmen Verbesserungsprozesse erfolgreich anzustoßen und zu begleiten. Das Spektrum reichte dabei von StrategieWorkshops und Stärken-Schwächen-Analysen über Methoden und Instrumente
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zur Beteiligung der Belegschaft bis zu der Frage, wie sich ein Betriebsrat externe Beraterunterstützung organisieren kann. Betriebsräte konnten zudem auf CheckListen zurückgreifen, die ihnen helfen sollten, die Verhandlungen mit der Geschäftsleitung zu planen und durchzuführen, geeignete Berater auszuwählen sowie einen Soll-Ist-Abgleich zwischen geplanten Maßnahmen und den eigenen Vorstellungen vorzunehmen. Diese Informationen wurden in der Handlungshilfe „Betrieb verbessern – Arbeit sichern“ systematisch aufbereitet und stehen seitdem jedem Mitglied als Download zur Verfügung (Timmer et al. 2007). Eine zweite Handlungshilfe war stärker auf ein konkretes Handlungsfeld bezogen, nämlich die Frage, wie sich Standortverlagerungen durch einen fairen Standortvergleich möglicherweise verhindern lassen (Korflür et al. 2007). Der neue betriebspolitische Ansatz der IG Metall NRW wäre aus gewerkschaftspolitischer Sicht sicher mehr als fragwürdig, würde er nur die kapitalistische einzelbetriebliche Wettbewerbslogik übernehmen. Gerade die überbetrieblichen Elemente des Ansatzes stehen dem entgegen. Der Austausch der Betriebsräte macht erst die Stärke der Systematik von „Besser statt billiger“ aus. So wurden im Projektzeitraum Dialogveranstaltungen in 22 Branchen des Organisationsbereiches der IG Metall mit unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkten durchgeführt. Damit wurde den Betriebsräten ein Forum geschaffen, um strategische Fragestellungen aus Betriebsrats- und Beschäftigtenperspektive (!) auf breiter Basis zu diskutieren. Insgesamt konnten auf diesem Wege rund 1.000 Betriebsräte erreicht werden. Die Ergebnisse dieser Veranstaltungen wurden anschließend ausgewertet, aufbereitet und fanden schließlich Eingang in die bereitgestellten Handlungshilfen. Der enge Kontakt und problembezogene Austausch der Betriebsräte untereinander hat die Perspektive erweitert, so dass z. B. manche Verhandlung um Tarifabweichungen, wie z. B. in der Landtechnik, schon im Ansatz gestoppt oder ganz anders geführt werden konnten. Wichtige Impulse, gerade aus den Vorgehens- und Erfolgsberichten von Betriebsräten in den Dialogveranstaltungen, wurden vielfach von anderen Betriebsräten für die eigene Arbeit aufgegriffen. Im Rahmen der Projektarbeiten konnten rund 150 Fallbeispiele für „Besser“-Strategien aus Betrieben verschiedenster Größe und Branchenzugehörigkeit identifiziert und dokumentiert werden, die den erfolgreichen Verlauf der strategischen Intervention und Gestaltungskraft der Betriebsräte belegen. Das Projekt „Besser: Zukunft!“ Eine zentrale Erfahrung aus der Projektarbeit bis 2008 war, dass für die Umsetzung des betriebspolitischen Konzeptes auch neue Formen der Beteiligung und neue Lernformen für Betriebsräte erforderlich sind. Dieser Bedarf wurde in dem
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seit 2008 laufenden Projekt „Besser: Zukunft!“, gefördert vom Land NordrheinWestfalen und dem Europäischen Sozialfonds, aufgenommen. Auch hier sind die arbeitsorientierten Berater von Sustain Consult an der Durchführung beteiligt. Im Rahmen dieses Projektes wird die Methode der „kollegialen Beratung“ im Kontext von „Besser“-Prozessen erprobt. Ziel ist es, dass eine Fallgeberin oder ein Fallgeber entlang ihrer Fragestellungen die Möglichkeit bekommt, die Anregungen anderer Betriebsräte für ihre Sortierung von Strategie und Vorgehen zu nutzen. Die „Kollegiale Fallbearbeitung“, wie sie im Projekt entwickelt wurde, folgt einem generellen Grundprinzip:
Ein Betriebsrat (Fallgeberin/Fallgeber) schildert eine betriebliche Problemstellung aus seiner Sicht. Mehrere Betriebsräte (Beraterinnen/Berater) fragen, bis sie alle notwendigen Informationen zur Beurteilung der Situation erfasst haben. Fallgeber und Beraterinnen/Berater tauschen Erfahrungen aus, diskutieren gemeinsam die Stellungnahmen und Vorschläge der Berater/innen zum geschilderten Fall und erarbeiten erste Vorschläge zur Problemlösung (Zentrale Frage dabei: „Was kann der Fallgeber machen, um das Problem im Betrieb anzugehen?“) Findet die Beratung im Betrieb des Fallgebers statt, wird er als Gastgeber oft auch eine Betriebsbesichtigung anbieten, was dem Austausch eine zusätzliche Qualität gibt.
Die „kollegiale Fallbearbeitung“ ist nicht thematisch festgelegt. Es kann all das zum Thema werden, was der nachhaltigen Sicherung von Arbeitsplätzen und Einkommen und der qualitativen Gestaltung der Arbeitsbedingungen dient. Der Nutzen für die beteiligten Betriebsräte liegt auf mehreren Ebenen:
Kennenlernen des (Erfahrungs-)Wissens kompetenter Kolleginnen und Kollegen in einem kleinen Kreis. Die kollegiale Fallbearbeitung unterbricht das Alltagsgeschäft durch einen Perspektivwechsel. Die Fallgeberin/der Fallgeber erhält Hilfestellung für das weitere Vorgehen. Hinweise, Maßnahmen und Abläufe werden passgenau auf ihre spezifische Situation/Fragestellung erarbeitet. Beraterinnen/Berater betrachten betriebliche Problemstellungen „mit dem Blick von außen“, um die entscheidenden Fragen stellen und Lösungsansätze dafür entwickeln zu können.
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Häufig werden in dieser Form der Fallbearbeitung Probleme besonders klar identifiziert. So kann auch der ggf. bestehende Bedarf an weiterer externer Beratung genauer erfasst werden.
Das Projekt „Besser: Zukunft!“ stärkt darüber hinaus den Zugang zu geeigneten Beratern, die den Betriebsrat bei der weiteren Entwicklung und Umsetzung von alternativen Lösungen unterstützen. Die Betriebsbetreuung durch die Hauptamtlichen der IG Metall findet so eine bedarfsgerechte Ergänzung in spezifischen Fragestellungen und Handlungsfeldern. Betriebsräte werden darin unterstützt, diese Beratungsprozesse zielgerichteter einzuleiten, zu steuern und auszuwerten. Ein weiterer Schwerpunkt des Projektes ist darauf gerichtet, die Betriebsräte darin zu unterstützen, die Beschäftigten im Betrieb an ihrer Strategiebildung sowie an Auseinandersetzungen über Veränderungsprozesse stärker zu beteiligen. Mit anderen Worten: Es kommt darauf an, vorhandenes Wissen im Dialog für die Lösung betrieblicher Problemlagen im Interesse der Beschäftigten nutzbar zu machen, Konzepte für den Umgang mit Problemen zu entwickeln und anzuwenden und so auch die Durchsetzungsfähigkeit zu stärken. Wie schon das Vorläuferprojekt identifiziert und dokumentiert auch das Projekt „Besser: Zukunft!“ betriebliche Beispiele auf der Website (www.besserzukunft.de). Ein Beispiel für das beteiligungsorientierte Vorgehen des Betriebsrates des Leuchtenherstellers Trilux ist nachfolgend aufgeführt. Vorschlagswesen und Innovationsfähigkeit gehören zusammen – auch für den Betriebsrat von Trilux „Unser Vorschlagswesen war total am Boden. Es gab nur sehr wenige Verbesserungsvorschläge“, erinnert sich Erich Bullmann. Dass das so war und gleichzeitig Innovationen im Unternehmen eine wichtige Rolle spielen, passte nicht so recht zusammen. Innovationen oder Verbesserungen im Unternehmen durchzusetzen ist nämlich erklärtes Unternehmensziel. Also hat sich der Betriebsrat auf den Weg gemacht, um erstens die Ursachen dafür zu erkennen, dass so wenige Vorschläge von den Beschäftigten kommen, und zweitens Vorschläge und Ideen für eine Belebung des Vorschlagswesens zu finden. Bei seinen Recherchen stellte der Betriebsrat fest, dass in der Vergangenheit viele Vorschläge schon im Stadium der Prüfung in irgendwelchen Schubladen verschwanden und deshalb gar nicht oder erst sehr spät umgesetzt wurden. „Vorschläge, die aber irgendwo versanden, wirken sich negativ auf die Motivation aus, weitere Vorschläge einzureichen“, so der Betriebsrat. „Unsere Kollegen wollen mit Verbesserungsvorschlägen die eigenen Arbeitsabläufe verbessern. Das ist der eigentliche Anreiz für sie Vorschläge ein-
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zureichen.“ Dass das Vorschlagswesen nicht gelebt und damit die Innovationsfähigkeit des Unternehmens nicht voll ausgeschöpft wurde, sah auch die Geschäftsleitung. Gemeinsam wurde zunächst die Betriebsvereinbarung zum Vorschlagswesen unter die Lupe genommen und an einigen Punkten ergänzt: Wesentlich war, dass für eingereichte Verbesserungsvorschläge ein stringenter Arbeitsablauf vereinbart wurde. „Dabei haben wir am Anfang allerdings vergessen ein Zeitraster darüber zu legen und zu verabreden. Das haben wir aber mittlerweile geändert“ stellt Erich Bullmann rückblickend fest. „Jetzt sorgen alle dafür, dass Verbesserungsvorschläge zeitnah begutachtet werden.“ Jeder Verbesserungsvorschlag wird durch einen ausgewählten Mitarbeiter geprüft und begutachtet. In der Regel hat er dafür zwei Wochen Zeit. „Ja, das ist ambitioniert, aber letztendlich zahlt sich die Fristsetzung aus“. Verzögerungen werden zuerst dem Vorgesetzten und danach sogar dem Geschäftsführer angezeigt. Auf diese Weise wird die Wichtigkeit und Dringlichkeit der zeitnahen Prüfung von Verbesserungsvorschlägen noch einmal untermauert. „Der Betriebsrat entscheidet mit über den Vorschlag und seine Prämierung.“ Das Ergebnis der Prüfung und Begutachtung wird der Verbesserungsund Vorschlagskommission vorgelegt, die dann über den Vorschlag und seine Prämierung entscheidet. Die Kommission setzt sich zusammen aus einem Betriebsrat, einem Mitarbeiter der Kalkulation und dem Leiter der Arbeitsvorbereitung. Der Vorteil: Der Kreis ist klein und flexibel. Zur Entscheidung reicht eine einfache Mehrheit. Quelle: www.besser-zukunft.de
Diese beteiligungsorientierte Vorgehensweise hat sich als ein Weg erwiesen, der auch den beratenden Betriebsräten viele neue Perspektiven für ihr eigenes Handeln erschließt. Er dient also vor allem der Stärkung der strategischen Kompetenz der Betriebsräte. Durch den intensiven Austausch zwischen Betriebsratskolleginnen und -kollegen lassen sich zumeist typische Strategiemuster der Unternehmen identifizieren, was dazu beiträgt, durch Perspektivwechsel und Unvoreingenommenheit einen eher analytischen Blick auf die jeweils eigene, oft unübersichtliche Gemengelage zu erhalten. Betriebsräte, die ähnliche Erfahrungen mitbringen (und wann ist das nicht der Fall?), sind prädestiniert für diese wechselseitige Bearbeitung eines konkreten betrieblichen Konfliktes (vgl. Hartwich et al. 2010).
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Dynamische Praxis-Wissenschaftsbeziehungen: das Projekt „Kompetenz und Innovation“ Das Projekt „kompetenz & innovation“ (www.kompetenz-innovation.de) verfolgt das Ziel, den systematischen Austausch von Betriebsräten und Wissenschaftlern zu stärken. Die Kompetenz der Betriebsräte und deren aktuelle Fragestellungen sollen von Wissenschaftlern aufgegriffen werden. Wissenschaftliche Expertise soll schneller und zielgerichteter als bislang von Betriebsräten nutzbar sein.2 Dieser Austausch mit Wissenschaft kann zur Professionalisierung von Betriebsratsarbeit beitragen. Wissenschaftler bekommen spezifische Praxisbezüge, die sie in ihre Forschungsfragen einbeziehen können. Bei Auseinandersetzungen zu bestimmten betrieblichen Fragestellungen, wie z. B. zu veränderten Produktionssystemen, globalisierter Wertschöpfung oder Standortkonflikten ist die wechselseitige Perspektive vielfach hilfreich. Der so veränderte Horizont trägt dazu bei, die jeweilige „Besser“-Strategie für gute und sichere Arbeit zu finden. In einer ganzen Reihe konkreter Fälle sind gerade durch die Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Experten die Ideen entstanden, mit denen am Ende Unternehmensführung und Betriebsrat eine gemeinsam getragene „Besser“Lösung ausgehandelt haben. Auch dieses Projekt setzt am Bedarf und den Erfahrungen der Betriebsräte an. Ihre Argumente und Ansätze zur Sicherung von Beschäftigung werden aufgegriffen und gestärkt. Im Austausch mit den einbezogenen Wissenschaftlern werden dazu die Argumente hinterfragt und dem Praxistest in ausgewählten Betrieben sowie dem Abgleich mit dem Stand wissenschaftlicher Forschung unterzogen. Hierfür stehen unterschiedliche Formen zur Verfügung, etwa Workshops mit dem Betriebsratsgremium zur Positionsbestimmung und zur Strategiefindung. Bewährt hat sich beim Vorgehen die folgende Schrittfolge:
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Die Problemdefinition des Managements wird kritisch hinterfragt und dieser eine eigene Problemdefinition entgegengestellt. Vom Betriebsrat bearbeitete Themen werden argumentativ zugespitzt und in konkrete Anforderungen an die Geschäftsführung übersetzt. Zu den zugespitzen Fragestellungen werden Wissenschaftler oder Berater zu Gesprächen bzw. einem Workshop eingeladen.
Dieses Projekt wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und dem ESF gefördert und gemeinsam von den IG Metall Bezirken Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen durchgeführt. Projektpartner in Nordrhein-Westfalen sind Sustain Consult und das Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen.
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In ausgewählten Fallbearbeitungen wird auch die Geschäftsleitung des jeweiligen Betriebes einbezogen. Das für die Entscheidungsfindung relevante Know-how wird in Expertisen zusammengefasst, um damit die Entscheidungsprozesse zu beeinflussen. In einem abschließenden Prozess werden die als besonders stark bestätigten Argumente zu einem Themenbereich in industriepolitischen Memoranden praxisnah aufbereitet. Die Nachhaltigkeit der Projektergebnisse wird u. a. dadurch sichergestellt, dass die Ergebnisse in die gewerkschaftliche Bildungsarbeit einfließen.
Entscheidend für die Anlage des Projektes ist, dass die einbezogenen Betriebsräte hohen Einfluss auf die Auswahl und Ausprägung der zu bearbeitenden Themen nehmen. Zu den bearbeiteten Themenfeldern zählen auf dieser Grundlage beispielsweise die Schwerpunkte Verlagerung, Leiharbeit, Gestaltung von Produktionssystemen und Globalisierung von Wertschöpfungsketten. Angesichts der Unterschiede im jeweiligen Rollenverständnis der Betriebsräte, der betrieblichen Ausgangsbedingungen, der Dialogbereitschaft der Unternehmensleitung, der Konflikterfahrungen und Konfliktbereitschaft taugen keine pauschalen Patentrezepte. Zu den Erfolgsvoraussetzungen von „kompetenz & innovation.nrw“ gehört es deshalb, von der konkreten betrieblichen Situation auszugehen und wissenschaftliche Resultate so weit auf betriebliche Bedürfnisse herunterzubrechen, dass Betriebsräte starke Argumente und aussichtsreiche Handlungsalternativen auf ihre Bedingungen angepasst nutzen können. Die Betriebsräte werden also nicht mit fertigen Lösungen konfrontiert, sondern mit Suchwegen, Prüfrastern u. ä. vertraut gemacht. Bewährt hat sich eine Logik, Unternehmensstrategien zu hinterfragen und typische Argumentationsfallen zu identifizieren, beispielsweise bei Verlagerungsabsichten oder Leiharbeit als billigem Personalkonzept (vgl. IG Metall NRW 2008, 2010). Damit setzt sich die Vorgehensweise im Projekt deutlich von starren prozeduralen Ansätzen mancher Beratungskonzepte ab, die im Wesentlichen „Patentrezepte“ oder „Best practices“ zur Anwendung empfehlen. Wenn betriebliche Akteure solche Tools dann in der spezifischen betrieblichen Praxis anwenden wollen, müssen sie oft leidvoll erfahren, dass sie nicht auf die konkrete Situation passen und das Problem fortbesteht. Vorläufige Zwischenbilanz der Projekte: Zukunftsfähigkeit organisieren Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus den bisherigen Projektaktivitäten ziehen? Welche Erfolge, aber auch welche Schwierigkeiten haben sich im Umsetzungsprozess herauskristallisiert? Diese Fragen lassen sich noch nicht endgül-
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tig beantworten, da die Projekte zum Teil noch nicht abgeschlossen sind. Einige Erkenntnisse lassen sich aber durchaus formulieren. 1. Betriebsräte gehen strategische Herausforderungen offensiver an. Die zahlreichen Veranstaltungen, beginnend mit dem Projekt „Arbeit durch Innovation“, haben zum intensiven Austausch der Betriebsräte über veränderte Aufgabenstellungen und Strategien beigetragen. Jeder Erfolg einer abgewehrten „Billiger“-Strategie hat die Identifizierung mit dem „Besser statt billiger“-Ansatz weiter gesteigert. Die Betriebsräte werten es als Stärkung ihrer Position, die jeweils genutzten Erfolgsfaktoren in den Dialog-Veranstaltungen herausstellen zu können und umgekehrt auch von den Erfahrungen anderer zu profitieren. Zu diesen Erfolgsfaktoren gehört a) rechtzeitig und präventiv in Erfahrung zu bringen, welche Akteure den Betriebsrat mit welchem Wissen unterstützen können und b) die Fähigkeit, die Relevanz des (Erfahrungs-)Wissens mit fachlicher Expertise und strategiebildender Argumentation zu unterfüttern. Nicht wenige Betriebsräte gehen mit einem veränderten Selbstbild in betriebliche Auseinandersetzungen hinein, selbstbewusster und fordernder. Es ist jedoch zugleich deutlich geworden, dass einige Betriebsräte durchaus ihre eigenen Leistungen, Kompetenzen und die mobilisierbaren Durchsetzungsstärken noch erheblich unterschätzen. 2. Betriebsräte erweitern ihre Perspektive durch neue Formen des Austausches. Gerade für Betriebsräte aus eher klein- und mittelständisch geprägten Unternehmen ist es überhaupt nicht selbstverständlich, über das Tagesgeschäft hinaus strategische Fragestellungen der Unternehmensentwicklung mit hinreichender Intensität in den Blick zu nehmen. Nicht selten geht es eher um reaktive Arbeitsweisen, um das Abarbeiten an den Vorgaben des Arbeitgebers. Präventiv vorzugehen, Konzepte einzufordern und eigene Ideen einzubringen erfordert Rahmenbedingungen und die Freistellung von normaler Arbeit, die vielfach nur schwer durchzusetzen sind. Die Projekte haben neue Anlässe zum überbetrieblichen Austausch von Betriebsräten, Gewerkschaft und Experten geschaffen, die es in dieser Qualität zuvor nicht gab. Das gilt für den Branchendialog wie für die thematischen Workshops mit Wissenschaftlern. Das trifft in ähnlicher Weise auch für betriebliche Veranstaltungen zu. So wurde z. B. im Projekt „kompetenz & innovation.nrw“ im Zuge eines betrieblichen Workshops ein Anstoß zur innerbetrieblichen intensiven Kommunikation über ein Auslagerungsvorhaben gegeben, der in dieser Form sonst nicht existiert hätte. Betriebsleiter, Betriebsrat und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem Vertrieb, den technischen Bereichen und der Verwaltung diskutierten erstmals in dieser Zusammensetzung über das Vorhaben und die konkreten Konsequenzen.
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Erst in der Gesamtschau, und ergänzt um zuvor nicht bedachte Kosten und arbeitsorganisatorische Auswirkungen, ergab sich ein Bild der tatsächlichen Folgen einer Verlagerung, was zu einer geänderten Planung führte. Die Standortstrategie wurde modifiziert, die Fertigungslinie am bestehenden Standort ausgebaut. 3.
Kein Dialog ohne Konfliktfähigkeit und keine Konfliktaustragung ohne Dialogfähigkeit. Eine notwendige Voraussetzung des dialogorientierten Ansatzes im jeweiligen Betrieb ist, dass die Betriebsparteien gewillt und in der Lage sind, auch bereits getroffene oder geplante Maßnahmen auf den Prüfstand zu stellen. Das kann im Rahmen der Mitbestimmungs- und Informationsrechte des Betriebsverfassungsgesetzes oder tariflicher Aushandlungsprozesse geschehen. Es erfordert nicht selten eine bisher ungewohnte Offenheit und vielfach auch einen konfliktorisch ausgetragenen Prozess, dessen produktiver Verlauf in einen Dialog münden kann. Wo die mikropolitischen Fronten und ökonomischen Interessenlagen so verhärtet sind, dass eine Entscheidung des Managements auch gegen besseres Wissen und Widerstand der Belegschaft durchgeführt werden soll, sind andere Wege zu finden. An der notwendigen Dialogfähigkeit und -bereitschaft mangelt es nicht selten gerade in solchen Unternehmen, deren Gestaltungsautonomie von konzerngetriebenen Unternehmensentscheidungen oder Privat Equity Gesellschaftern abhängig ist. Dies bestätigen auch Erfahrungen außerhalb unserer Projekte: „Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Internationalisierung der Eigentümerstruktur wird es zusehends schwieriger, über Beteiligungsprozesse und Mitbestimmung(srechte) Einfluss auf die Unternehmensentscheidungen zu nehmen. Das Vor-Ort-Management entpuppt sich allzu oft als reine Vollstrecker und Ausführungsorgane ferner Entscheidungszentralen außerhalb jeder mitbestimmungsrechtlichen Zuständigkeit.“ (Kost 2010: 204). Es hat sich als lohnend für Betriebsräte erwiesen, mit gewerkschaftlicher Unterstützung den Konflikt mit Unternehmensleitungen einzugehen und alle Mitbestimmungsrechte zu nutzen. Durch die konflikthafte Auseinandersetzung werden Interessengegensätze deutlich, Besser- oder Billiger-Lösungen zugespitzt und die Belegschaft mobilisiert. Ohne eine solche Auseinandersetzung kann die Chance verpasst werden Innovationen zu etablieren, von denen sowohl Beschäftigte als auch die Unternehmen profitieren (vgl. auch Schwarz-Kocher et al. 2010: 100).
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4.
Aktive Beteiligung der Beschäftigten ist die Voraussetzung, um Druck machen zu können. Betriebsräte brauchen für eine erfolgreiche Gestaltungsarbeit vor Ort neben guten Argumenten für innovative Gestaltungskonzepte eine starke Belegschaft, um ihren Forderungen gerade in Konfliktsituationen auch Nachdruck verleihen zu können. Dies setzt wiederum voraus, dass die guten Argumente z. B. gegen Standortverlagerung und Leiharbeit oder für bessere Produktionssysteme nicht nur den Betriebsräten bekannt sind, sondern diese zum einen rückgekoppelt sind an die Beschäftigten im Unternehmen und zum anderen das Erfahrungs- und Produktionswissen der Beschäftigten bei der Entwicklung von alternativen Handlungsstrategien berücksichtigt wurde. Die schleichende Ausdünnung der Stammbelegschaften und damit auch des betrieblichen Erfahrungswissens ist für eine beteiligungsorientierte Innovationspolitik problematisch. Nur kurz oder vorübergehend im Betrieb Beschäftigten fehlt zwangsläufig das Erfahrungswissen, um in eine aktive beteiligungsorientierte Interessenvertretungspolitik einbezogen werden zu können. 5.
Stärkung der Gestaltungskompetenz der Betriebsräte muss einhergehen mit der Partizipation der Beschäftigten. Mischen sich Betriebsräte stärker in Gestaltungsfragen ein, können sie dies nicht ohne Rückgriff auf das Erfahrungswissen und das Know-how der Beschäftigten. Der Gedanke einer stärkeren Partizipation der Beschäftigten bei der Gestaltung ihrer Arbeitsbedingungen ist nicht neu. In vielerlei Hinsicht ähnelt das Vorgehen in den durch Dialog und Beteiligung charakterisierten Projekten dem in den 1970er Jahren und im Rahmen des Programms „Humanisierung der Arbeit“ praktizierten Ansatz der Aktionsforschung (vgl. hierzu Fricke 2009, 2010), der in der jüngsten Vergangenheit aufgrund seiner expliziten Beteiligungsorientierung wieder eine neue Konjunktur erfährt. Innovationen der Arbeitsbedingungen und arbeitsorganisatorische Verbesserungen ohne die Beteiligung der Belegschaften – das haben seinerzeit zahlreiche Praxisprojekte nachgewiesen – berücksichtigen die human- und organisationale Seite von Innovationsprozessen nur unzureichend. Hier können nur alle Akteure gemeinsam nach zukunftsträchtigen Lösungen suchen. Die Partizipation der Beschäftigten bei der Gestaltung ihrer Arbeitsbedingungen ist dabei nicht als singuläre Einzelmaßnahme, sondern als kontinuierlicher Entwicklungsprozess zu organisieren – dies bringt der Begriff der „Entwicklungsorganisation“3 (Fricke 2010: 110) zum Ausdruck. Wechselsei-
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Der Begriff stammt aus norwegischen Aktionsforschungsprojekten. In den Betrieben wurde ein institutioneller Rahmen geschaffen, um Beschäftigte dauerhaft an Innovationsprozessen zu beteiligen. „Durch Schaffung einer Entwicklungsorganisation parallel zur Arbeitsorganisation wird ein
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tige Anerkennung der Kompetenz aller in betriebliche Veränderungsprozesse Involvierten gehört zu den Grundregeln einer Entwicklungsorganisation. Insbesondere im Projekt „Zukunft: Arbeit“ werden daher neue Beteiligungsformen der Beschäftigten entwickelt.
Der nächste Schritt: Besser statt billiger 2.0 Mit dem betriebspolitischen Ansatz „Besser statt billiger“ ist der IG Metall unter dem Druck der Krise und der Dominanz von Beschäftigungssicherung eine kontinuierliche und zukunftsgerichtete Thematisierung von Arbeitsgestaltungsfragen und damit ein wichtiger Schritt in die Offensive gelungen. Um unter schwierigen Rahmenbedingungen innovative Ansätze zur Standort- und Beschäftigungssicherung zu entwickeln bzw. strategische Unternehmensentscheidungen und Zukunftskonzepte in ihrer Tragweite und in ihren Auswirkungen auf Beschäftigung bewerten zu können, brauchen die betrieblichen Interessenvertretungen Knowhow und Kompetenz. Die in diesem Beitrag beschriebenen Projekte (Abschnitt 3) liefern einen Beitrag zum Kompetenzauf- und -ausbau der betrieblichen Praktiker und zur Verbesserung des Dialogs zwischen betrieblichen Praktikern und Wissenschaft. Die Kampagne „Besser statt billiger“ der IG Metall NRW, Ende 2004 als offensive Antwort zu Angriffen auf den Flächentarifvertrag gestartet, ist mittlerweile über ihren ursprünglichen Anlass und Adressatenkreis hinausgewachsen und tritt nun in eine neue Entwicklungsstufe ein. Ursprünglich bestand die engere Zielsetzung darin, Betriebsräte in abweichungswilligen Betrieben bei der Überprüfung betrieblicher Zukunftskonzepte zu unterstützen. Anders als bei vielen vorangegangenen Gewerkschaftskampagnen ging es hier weniger darum, „gegen“ etwas zu mobilisieren (Sozialabbau, Arbeitszeitverlängerung etc.), sondern nach innen für eine neue Rolle und strategische Orientierung von Betriebsräten zu werben und nach außen in der Öffentlichkeit zu demonstrieren, dass es praktische Alternativen zu den so oft behaupteten ökonomischen Sachzwängen gibt, die nicht automatisch auf Kosten der Beschäftigten gehen müssen. Zugleich löst sich das gewerkschaftliche Angebot zur Teilnahme an Strategiediskussionen und überbetrieblichem Dialog zunehmend von dem Anlass der Tarifabweichung und richtet sich heute grundsätzlich an alle interessierten Betriebsräte. Auch die inhaltliche Reichweite hat sich verändert. Über die rein be-
wiederholter Wechsel zwischen Reflexion in der Entwicklungsorganisation und Praxis im Arbeitsprozess ermöglicht.“ (Fricke 2010: 110)
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triebspolitische Dimension hinaus greift der „Besser statt billiger“-Ansatz in weiterreichende Debatten über zukünftige industrielle bzw. branchenbezogene Entwicklungskonzepte ein, so auch im Dialog mit der Landesregierung in NordrheinWestfalen. Gerade angesichts der Krise ist deutlich geworden, wie wichtig es ist, mit einer nachhaltigen industriellen wie betriebspolitischen Strategie die wirtschaftlichen, ökologischen wie sozialen Interessen von Beschäftigten, Betriebsräten und Gewerkschaften zum Thema in Betrieb und Gesellschaft zu machen. Die erste Phase der Modernisierungskampagne kann grob so beschrieben werden, dass zunächst die Frage nach dem „Ob“ einer Überprüfung der Zukunftsfähigkeit des eigenen Unternehmens im Vordergrund stand (Ist das überhaupt eine Aufgabe von Betriebsräten?), gefolgt von der Frage nach dem „Wie“ (Wie können sich Betriebsräte geeignete Unterstützung organisieren? Wie können bislang ungenutzte Ressourcen, z. B. in der Wissenschaft, für die Praxis der Betriebsräte erschlossen werden? Wie können neue Beteiligungsformen entwickelt werden, um die Belegschaft auf diesem Weg mitzunehmen?). Die Antworten auf diese Fragen wurden in den Projekten, die in diesem Beitrag kurz beschrieben wurden, entwickelt und in der Praxis erprobt. In der nun anstehenden Folgephase besteht die Aufgabe der IG Metall in Nordrhein-Westfalen darin, die Umsetzung des „Besser statt billiger“-Ansatzes in die Breite zu tragen. Gerade die Veränderung der Produktionssysteme und die Globalisierung der Wertschöpfung machen diesen Angang erforderlich. Besonders in der jungen Generation der Beschäftigten stellt sich die Frage nach „Besser statt billiger“ für die Perspektive ihres Berufslebens in den kommenden 30 bis 40 Jahren. Konkret heißt das, ob sie unter Bedingungen von Befristung, Leiharbeit und Werkvertrag überhaupt dauerhafte Arbeit mit verlässlichem Einkommen erreichen. Und sie stellen sich die Frage, wie sie trotz bester Ausbildung und festem Arbeitsvertrag das schultern sollen, was z. B. mit veränderten Produktionssystemen zu steigenden Belastungen und zur Entgrenzung von Arbeit führt. Eine Tagung mit jungen Betriebsräten unter 35 Jahren hat im September 2010 genau diesen Bedarf an einer Ausweitung des strategischen Ansatzes von „Besser statt billiger“ eindrucksvoll bestätigt. Die Impulsveranstaltungen zu Strategien der Beschäftigungssicherung und -förderung werden deshalb beibehalten und zielen auf einen deutlich größeren Teilnehmerkreis als bisher. Damit wird der Austausch von betrieblichen Praktikern – insbesondere Betriebsräten, aber auch interessierten Geschäftsleitungen – mit Wissenschaftlern und Beratern ausgebaut. Die konzentrierte Arbeitsform in Workshops zu Schlüsselthemen der Betriebsratsarbeit wird methodisch erweitert um das Angebot der kollegialen Fallberatung (dazu Abschnitt 3.1). Damit wird dem Bedarf Rechnung getragen, dass Betriebsräte nicht nur Fachwissen benötigen, sondern auch den Austausch über das Handeln in unübersichtlichen, teil-
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weise konflikthaften und widersprüchlichen Situationen unter hoher emotionaler Belastung. Die Gewerkschaft übernimmt die Aufgabe, solche Bedarfe zu sortieren (nach Themen, Branchen, Regionen) und die entsprechenden Angebote zu organisieren. Auch hier gilt: Diese Runden ergänzen das vorhandene Angebot, ersetzen können sie es nicht. Durch Integration der Projektergebnisse in die gewerkschaftliche Bildungsarbeit soll die Nachhaltigkeit über das Ende von Einzelprojekten hinaus gewährleistet werden. Mit dem Folgeprojekt „Besser statt billiger 2.0“ der IG Metall NRW werden nicht nur die Betriebsräte gestärkt, sondern auch die IG Metall. Ihre Aufgabe ist es, als stabilisierende Kraft in betrieblichen Aushandlungsprozessen zu wirken und Regie zu führen. Je besser sie Betriebsräte unterstützt, je besser die Lösungen für Zukunft und Beschäftigung sind, desto attraktiver und präsenter wird die IG Metall für die Beschäftigten. Dieser Prozess ist kein Selbstläufer, sondern erfordert Anstrengungen von allen Beteiligten. Die Kampagne mündet damit ein in einen Lern- und Entwicklungsprozess für den ganzen Bezirk. Nur so kann die IG Metall Mitglieder überzeugen und gewinnen. „Besser statt billiger“ – das ist ihre Antwort und ein gigantisches Lernprojekt zugleich. Im jetzt einsetzenden Aufschwung und mit Blick auf die Zukunft industrieller Arbeit gerade für die jüngere Generation kommt es darauf an, den auf Beteiligung und Mitgestaltung abzielenden Prozess auf möglichst breiter Basis weiterzuführen, denn – so auch der Vorsitzende der IG Metall Huber – „die Zukunft der Gewerkschaften entscheidet sich in den Betrieben“ (2008: 21). Nur hier werden Gewerkschaft und eigene Durchsetzungsstärke praktisch erfahrbar und nur in den Betrieben kann die Gewerkschaft neue Mitglieder gewinnen.
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Detlef Gerst / Klaus Pickshaus / Hilde Wagner
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Revitalisierung der Gewerkschaften durch Arbeitspolitik? Die Initiativen der IG Metall – Szenario für Arbeitspolitik in und nach der Krise Revitalisierung der Gewerkschaften durch Arbeitspolitik?
Die Handlungsbedingungen für Arbeitspolitik haben sich durch die „große Krise“ verändert. Unter maßgeblicher Beteiligung der IG Metall und der anderen Gewerkschaften konnte eine beschäftigungspolitische Katastrophe in der Krise vermieden werden. Dazu haben vor allem die erleichterte Kurzarbeit und weitere arbeitszeitpolitische Interventionen in den Betrieben sowie die von Gewerkschaftsseite eingeforderten Konjunkturprogramme beigetragen. Kurzfristig erfolgreiches Krisenmanagement und Beschäftigungssicherung dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die tieferliegenden Ursachen der Krise und die damit einhergehenden wirtschaftlichen, politischen und sozialen Herausforderungen keineswegs gelöst sind. Die bis zur Krise durch jahrelange Costcutting-Maßnahmen zusätzlich erzielten Gewinne haben zur Aufblähung der Finanzmärkte und Spekulationsblasen – und damit zur „großen Krise“ – beigetragen. Diese Fehlentwicklung wurde nicht korrigiert – im Gegenteil: Unter dem alten Slogan „Hauptsache Arbeit“ ist in der Krise vielerorts die weitere Absenkung der Qualität der Arbeitsbedingungen wieder zum Programm der Krisenabwälzung auf die Beschäftigten geworden. Es kommt zu einer arbeitspolitischen Problemzuspitzung mit gravierenden Folgen für die Arbeitsbedingungen und die Gesundheit der Beschäftigten. Die Krise wird von den Unternehmen genutzt, um Restrukturierungen durchzuführen, die sowohl mit einer ungeheuren Intensivierung der Arbeit als auch mit einer Extensivierung der Arbeitszeit verbunden sind. Viele Restrukturierungen vollziehen sich in Gestalt einer Einführung ganzheitlicher Produktionssysteme und bewirken eine Umwälzung der Arbeits- und Leistungsbedingungen sowohl in den Bereichen der Produktion wie der Bürotätigkeiten. Generell ist deshalb festzustellen: In und nach der Krise bildet sich ein verschärftes Wettbewerbsregime heraus, das die Arbeits- und Leistungspolitik zu einem wichtigen Politikfeld der Gewerkschaften macht. Bei der Bearbeitung
T. Haipeter, K. Dörre (Hrsg.), Gewerkschaftliche Modernisierung, DOI 10.1007/978-3-531-93332-0_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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dieser Herausforderung kann die IG Metall auf beachtliche Vorläuferaktivitäten zurückgreifen.
Initiative Gute Arbeit – die Revitalisierung der Arbeitspolitik in der IG Metall Ziele und Inhalte Die Initiative Gute Arbeit der IG Metall hatte von Beginn an das Ziel, Arbeitspolitik erneut zu einem wichtigen gewerkschaftlichen Handlungsfeld zu etablieren. Während Humanisierungsaktivitäten gerade in der IG Metall viele Jahre eine bedeutende Rolle spielten, können die 1990er Jahre eher als „arbeitspolitisch verlorenes Jahrzehnt“ bezeichnet werden, das von Einkommens- und Arbeitsplatzfragen geprägt war. Damit hatte sich in diesem Zeitraum ein erheblicher Problem- und Handlungsdruck aufgestaut. Auf nahezu allen Feldern der Arbeitsund Leistungsbedingungen sowie der Arbeitszeit waren die Gewerkschaften in die Defensive geraten. In vielen Bereichen war sogar ein Roll-back ehemaliger Humanisierungserfolge sichtbar. In einem „Plädoyer für eine neue Humanisierungsoffensive“ haben wir im November 2002 die Chancen und Themen für eine gewerkschaftliche Arbeitspolitik sondiert. Unsere These lautete: „Ob sich die Gewerkschaften als durchsetzungsfähige Reformkraft im Betrieb (und damit letztlich auch in der Gesellschaft) werden zurückmelden können, wird nicht zuletzt von ihrer Fähigkeit und Bereitschaft abhängen, ein arbeitspolitisches, Einzelthemen integrierendes Reformkonzept für eine moderne, humane Arbeitswelt zu entwickeln. Wir sind der festen Überzeugung, dass die konkrete Utopie einer ‚guten Arbeit‘ auch heute, allem Wertewandel zum Trotz, weitreichende Ausstrahlungskraft erzeugen könnte.“ (Pickshaus und Urban 2002: 631). Sollte eine solche neue Initiative handlungsmächtig werden, musste sie sich allerdings auf die Problem- und Konfliktdimensionen des gegenwärtigen Umbruchs in der Arbeitswelt beziehen. Mit anderen Worten: Gegenüber den Konzepten einer „Humanisierung der Arbeit“ aus den 1970er und 1980er Jahren waren neue inhaltliche Akzente zu setzen. Auf die thematische Agenda rückten deshalb die Spezifika der Arbeits- und Betriebsorganisation eines „flexiblen Finanzmarkt-Kapitalismus“, sprich die Probleme der Entgrenzung von Arbeit und Leistung, die Folgen des demografischen Wandels sowie die zunehmende Prekarisierung von Arbeit. Statt einer Expertenorientierung war ferner die Beteiligung der Beschäftigten als eigene „Experten guter Arbeit“ ins Blickfeld zu nehmen, und es musste der intensiveren
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Verschränkung von Arbeits- und Lebenswelt Rechnung getragen werden. Hierbei waren zweifellos auch systematisch Gender-Aspekte zu berücksichtigen. „Gute Arbeit“ wurde bewusst als „Kommunikationsbegriff“ gewählt, da er aus der Tariftradition der IG Metall („Tarifreform 2000“) stammte und auch für internationale Debatten anschlussfähig erschien, wie z. B. an die Debatte um „Decent work“ der ILO oder den Begriff der „Qualität der Arbeit“ bei der EU. Dies erleichterte die Akzeptanz nicht nur innerhalb der IG Metall, sondern bot auch eine Kooperationsachse zwischen Tarif- und Betriebspolitikern sowie den Arbeits- und Gesundheitsschützern. „Gute Arbeit“ sollte als thematische und organisatorische Querschnittsorientierung angelegt werden. Die Arbeits- und Gesundheitsschützer konnten in das gemeinsame Vorhaben wichtige inhaltliche Impulse einbringen. Das breite Präventionsverständnis und der Auftrag zur „menschengerechten Gestaltung der Arbeit“, die als Folge der europäischen Rechtsetzung auch das deutsche Arbeitsschutzrecht seit Mitte der 1990er Jahre prägen, stärkten die betriebspolitischen Handlungsmöglichkeiten für „Gute Arbeit“, zumal die Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte hierdurch eine erhebliche Aufwertung erfuhren. Diese bislang unausgeschöpften Handlungschancen galt es zu nutzen – gerade angesichts zunehmender Deregulierungsbestrebungen und permanenter Versuche einer wettbewerbspolitischen Vereinnahmung. Anspruch der Initiative war, Gute Arbeit als Querschnittsthema der Betriebs- und Tarifpolitik zu etablieren. Nach dem Beschluss des Gewerkschaftstages der IG Metall im Jahre 2003 startete ein dreijähriges Projekt Gute Arbeit, das die Themenfelder sondieren und in Pilotbereichen praktische Erfahrungen sammeln konnte (vgl. Projekt Gute Arbeit 2007). Die Projektergebnisse überzeugten den folgenden Gewerkschaftstag 2007. Dort wurde beschlossen, „Ansätze für Arbeitsgestaltung, Arbeitsorganisation, Qualifizierungspolitik, Leistungspolitik, Gesundheitsschutz, Arbeitszeitpolitik und flexiblen Altersausstieg … sind aufzuwerten und als integrierte Ansätze auszubauen. Sie sind inhaltlich an den Vorstellungen ‚Guter Arbeit‘ bzw. ‚alternsgerechten Arbeitens‘ auszurichten. Der Ausbau arbeitspolitischer Handlungsfelder ist ein Schlüssel für mitgliedernähere Gewerkschaftspolitik“ (Tarifpolitische Entschließung E 3). In der Folge dieser Vereinbarung, Gute Arbeit als gewerkschaftliche Daueraufgabe zu etablieren, bildete sich beim Vorstand der IG Metall ein eigener Funktionsbereich Gesundheitsschutz und Arbeitsgestaltung, um Arbeitspolitik stärker zu verankern. In den Bereichen Tarifund Betriebspolitik wurden die Themenfelder Arbeitszeit- und Leistungspolitik sowie Arbeit und Innovation aufgewertet. Zur gleichen Zeit gelang es mit der Entwicklung des DGB-Indexes Gute Arbeit und seinen seit 2007 jährlichen repräsentativen Befragungen, Arbeitspolitik gewerkschaftsübergreifend als gemeinsames Arbeitsfeld zu konstituieren.
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Die Projektphase Gute Arbeit verlief auch deshalb erfolgreich, weil angesichts der Fülle arbeitspolitischer Herausforderungen erst einmal eine Fokussierung auf drei inhaltliche Schwerpunkte gelang:
Probleme im Zusammenhang mit der Entgrenzung von Arbeitszeit- und Leistungsbedingungen, in denen sich die Folgen neuer Leistungs- und Personalkonzepte in den Betrieben widerspiegeln. Die alters- und alternsgerechte Arbeitsgestaltung als eine unverzichtbare Antwort auf die absehbaren Probleme, die auch in der betrieblichen Arbeitspolitik im Zuge der Verschiebungen der Altersstrukturen in der Gesellschaft zu erwarten sind. Der Themenkomplex prekäre Beschäftigung und die Wirkungsweise von Prekarität als Gesundheitsrisiko der Beschäftigten, das als Schnittstellenthema zwischen betriebsinterner und arbeitsmarktpolitischer Interessenvertretungspolitik konzipiert wurde.
In den letzten Jahren konnten weitere Themenfelder einer menschengerechten und nachhaltigen Gestaltung von Arbeitsorganisation und Arbeitsumwelt erschlossen werden. Hierzu zählen auch die Arbeitsgestaltungsanforderungen aus der zunehmenden Verbreitung von ganzheitlichen Produktionssystemen. Zentrales Anliegen in der Projektphase war es, betriebspolitische Handlungsfähigkeit unter anderem mit Hilfe eigener Instrumente für die Interessenvertretung zu stärken. Dabei konnten für folgende Problemfelder Werkzeuge entwickelt und Erfahrungen in Pilotbetrieben gewonnen werden (vgl. Projekt Gute Arbeit 2007):
Ausufernde und immer flexiblere Arbeitszeiten sowie unergonomische Schichtabläufe machten Fragen der Arbeitszeitgestaltung zu einem Brennpunkt, zu dem mit Hilfe eines „Arbeitszeit-TÜVs“ – einer Gesundheitsverträglichkeitsprüfung der Arbeitszeiten – und einer Schichtplan-Software wirkungsvolle Hilfestellungen entwickelt wurden. Ein ähnliches Vorgehen bestimmte auch die Bearbeitung des Handlungsfeldes „Leistungsdruck und psychische Belastungen“. Mit einer Handlungshilfe „StressBarometer“ können Betriebsräte eine Gefährdungsbeurteilung von psychischen Belastungen initiieren und eine Prävention bei arbeitsbedingtem Stress einleiten. Mit der Entwicklung eines „Equal-Treatment-Monitors“ wurde darüber hinaus das Feld der Leiharbeit unter dem Aspekt der Herstellung gleicher Arbeitsbedingungen in den Einsatzbetrieben ins Visier genommen. Die Erprobung und Verbreitung dieses ET-Monitors konnte durch ein vom Bun-
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desarbeitsministerium finanziertes Forschungsprojekt erheblich befördert werden. Die betriebspolitische Nutzung solcher Instrumente wurde dadurch erleichtert, dass die BAG-Rechtsprechung die volle Mitbestimmung der Betriebsräte im Gesundheitsschutz bestätigte. Dies ermöglicht es, neben dem § 90 und dem § 91 BetrVG, die weitgehend ungenutzt bleiben, insbesondere die Mitbestimmung nach § 87.1.7 BetrVG als Hebel für eine präventive Arbeitsgestaltung einzusetzen. Ausgangspunkt dafür sind in der Regel die Gefährdungsbeurteilungen, die als Basis für Interventionen und Maßnahmen der Arbeitsgestaltung dienen (Kohte 2011). Systematische Qualifizierungsangebote des IG Metall-Bildungszentrums Sprockhövel zu den Handlungsfeldern und den entwickelten Instrumenten trugen zur Verbreiterung der Aktivitäten der Initiative Gute Arbeit bei und förderten eine Netzwerkbildung zwischen den Betriebsräten. Mit jährlichen Werkstätten „Guter Arbeit“ wird darüber hinaus ein kontinuierlicher Erfahrungsaustausch gefördert. Die Herstellung betriebspolitischer Handlungsfähigkeit ist im Laufe der Initiative Gute Arbeit immer stärker mit Aspekten der Mitgliederbindung und -gewinnung verknüpft worden, um die inhaltliche Ausstrahlungskraft des Themas auch für eine Stärkung der Organisationsmacht zu nutzen. Beiträge zur gewerkschaftlichen Revitalisierung Ob und wie es gelingen kann, gewerkschaftspolitisch wieder in die Offensive zu kommen, wird nicht nur in den Gewerkschaften selbst, sondern auch in arbeits-, politik- und sozialwissenschaftlichen Kreisen seit einigen Jahren diskutiert. Klaus Dörre konstatiert angesichts der Fixierung in der Publizistik auf USamerikanische Organizing-Ansätze, dass nicht übersehen werden dürfe, „dass die deutschen Gewerkschaften den amerikanischen ‚Organizing-Unions‘ auf vielen betriebspolitischen Feldern ein gutes Stück voraus sind. Das gilt z. B. für arbeitspolitische Gestaltungsansätze, wie sie im IGM-Projekt ‚Gute Arbeit‘ zu unterschiedlichen Themen (Gesundheitsprävention, demografischer Wandel, Leistungssteuerung) erprobt werden. Diese Ansätze sind auch geeignet, in den expandierenden Segmenten mit qualifizierten, teilweise managementnahen Tätigkeiten Beachtung zu finden“ (Dörre 2008: 8). Es ist zu prüfen, welchen konkreten Beitrag arbeitspolitische Initiativen zur Stärkung der gewerkschaftlichen Machtressourcen erbringen können.
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Machtressourcenansatz im Revitalisierungsdiskurs In der neueren Gewerkschaftsforschung wird zwischen unterschiedlichen Machtquellen und Machtdimensionen von Gewerkschaftsmacht unterschieden. Im Anschluss an Wright (2000: 962) differenziert Dörre (Dörre 2008: 3) zwischen struktureller Macht und Organisationsmacht. Während strukturelle Macht aus Verhandlungsmacht und Produktionsmacht – das heißt der strategischen Stellung der Beschäftigten in den Arbeitsprozessen – erwächst, kommt in der Organisationsmacht die Fähigkeit zum gewerkschaftlichen Zusammenschluss – aber auch zum Arbeitskampf – zum Ausdruck. Darüber hinaus benennt Dörre als eine weitere dritte Quelle die institutionelle Macht, in der sich auch unabhängig von kurzzeitigen Veränderungen der Kräfteverhältnisse soziale Kompromisse und institutionelle Arrangements widerspiegeln und die teilweise gesetzlich fixiert sind. Zum Feld der institutionellen Macht zählen beispielsweise das Tarifvertragssystem oder auch die gewerkschaftliche Mitwirkung in den sozialpolitischen Institutionen. Als zusätzliche vierte Quelle gewerkschaftlicher Macht benennt Urban (Urban 2010) im Anschluss an Haug (Haug 2009) die kommunikative Macht, die in der Fähigkeit zum Ausdruck kommt, erfolgreich in öffentliche Debatten bzw. im Konflikt um „Meinungsführerschaften“ intervenieren zu können.1 Gewerkschaftliche Strategieansätze einer Arbeitspolitik sollten sich auf die verschiedenen Machtdimensionen beziehen und diese – wenn möglich – miteinander verknüpfen. Ein solcher Versuch soll im Folgenden am Beispiel der Initiative Gute Arbeit skizziert werden. Durch die „große Krise“ ist zweifellos die ökonomische Macht der Gewerkschaften – ihre Arbeitsmarktmacht – geschwächt worden und gute Arbeit in den Betrieben unter Druck geraten. Dennoch ergaben sich auch aus einer Defensivsituation heraus zahlreiche Ansätze dafür, arbeitspolitische Themen zu bearbeiten und als Lösungsschritte zur nachhaltigen Krisenüberwindung darzustellen.
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Der erweiterte gewerkschaftliche Machtressourcenansatz ist von Hans-Jürgen Urban in mehreren Vorträgen und Aufsätzen entwickelt worden (vgl. Urban 2008 und 2010). Diesen Vorträgen ist auch das Schaubild entnommen worden.
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Quellen und Komponenten „gewerkschaftlicher Macht“ (vgl. Wright 2000, Dörre u.a. 2008, Haug 2009, Urban 2010)
Ökonomische („strukturelle“) Macht
Organisationsmacht
Arbeitsmarkt- und Produktionsmacht
Stabilität/Vitalität der gewerkschaftlichen Organisation
Institutionelle Macht
Kommunikative Macht
Sicherung von Einfluss in institutionellen Arrangements
„Meinungsführerschaft“ bzw. .„Hegemoniefähigkeit“
Beiträge von Guter Arbeit zur Machtressourcenstärkung Die strategische Anlage der Initiative Gute Arbeit zielte neben der dargestellten Aufgabe, die betriebspolitische Handlungsfähigkeit zu stärken, immer auch auf die Erschließung neuer Mitgliederpotenziale durch arbeitspolitische Themen, also die Stärkung der Organisationsmacht, ferner auf die systematische Nutzung von institutionellen Machtressourcen, insbesondere durch Mitwirkung in staatlichen Gremien für Anliegen der Guten Arbeit, sowie schließlich auf ein wirkungsvolles Agenda-Setting zur Stärkung der kommunikativen Machtressourcen für ein gewerkschaftliches Schlüsselthema. Hierzu einige Beispiele: Beschäftigte sind im Verständnis der Initiative Gute Arbeit „Experten ihrer Arbeit und Gesundheit“ und als solche wesentliche Aktivkraft zur betriebspolitischen Durchsetzung. Durch eine solche Aktvierung und Ausstrahlung einer „Präventionsbewegung von unten“ soll auf die gesamten Belegschaften, und damit auch auf die Nicht-Mitglieder-Bereiche, eingewirkt werden. Solche Akteure – seien es Betriebsräte, Vertrauensleute oder „Aktive auf Zeit“ – können damit auch zur Bindung und vor allem Gewinnung von Mitgliedern beitragen.
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Dieser Ansatz wird seit dem Frühjahr 2010 systematisch in einer Mitgliedergewinnungsinitiative „Gute Arbeit im Büro“ verfolgt, indem zentrale Themen der Bürogestaltung (Ergonomie, Großraumbüros, Leistungsdruck usw.) gemeinsam mit Beschäftigten in Pilotbereichen bearbeitet werden, um damit insbesondere im kaufmännischen Bürobereich Resonanz zu erzielen und Mitglieder zu gewinnen. Die systematische Verknüpfung von Anliegen Guter Arbeit mit der gewerkschaftlichen Einflussnahme in den Gremien staatlicher Rechtssetzung (Beratungsausschüsse des Bundesarbeitsministeriums mit gewerkschaftlicher Beteiligung) kann unmittelbare Impulse auch für die betrieblichen Aktivitäten verleihen. So hat das Wirken für gute Regelungen zur Raumtemperatur oder zur Büroraumgestaltung dann positive Effekte für betriebspolitische Initiativen, wenn es in konkrete Handlungshilfen umgesetzt werden kann. Als Haltelinien können solche staatlichen Arbeitsschutzregeln angesichts des Wettbewerbs- und Kostensenkungsdrucks allemal dienen. Umgekehrt können betriebliche Praxiserfahrungen auch für die Einflussnahme in den staatlichen Ausschüssen von den Gewerkschaftsvertretern zur Verbesserung der Regelungen genutzt werden. Eine thematische Verzahnung ergibt sich ebenfalls bei der Mitwirkung in der „Initiative Neue Qualität der Arbeit“ oder in den Gremien der „Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie“, bei denen es jeweils gelang, Arbeitsschutzprobleme bei der Leiharbeit als Handlungs- bzw. Förderungsfeld zu verankern oder Themen wie psychische Belastungen und humane Büroarbeit zu priorisieren. Als Beispiel für die Nutzung der „kommunikativen Machtressourcen“ kann das erfolgreiche Agenda-Setting von Guter Arbeit gegen die neoliberale Ansage „Hauptsache Arbeit“ und für arbeits- und sozialpolitische Mindeststandards angeführt werden. Neben dem Thema Mindestlohn ist Gute Arbeit sicherlich das zweite zentrale Thema, mit dem die Gewerkschaften die öffentliche Diskussion und die politischen Debatten prägen konnten. Ein wesentliches Instrument der kommunikativen Arbeit stellt mittlerweile der DGB-Index Gute Arbeit dar, der bewusst die Beschäftigtensicht auf die Qualität der Arbeit ins Zentrum stellt und zum Gegenstand der öffentlichen oder auch der betrieblichen Auseinandersetzungen macht. Zugleich wird mit der jährlichen Index-Befragung eine kontinuierliche Sozialberichterstattung aus Arbeitnehmersicht etabliert, die einen guten empirischen Fundus für die strategische Orientierung auf arbeitspolitische Problemfelder ergibt und die Intervention in öffentliche Debatten zu solchen Feldern ermöglicht. Dass die „Scientific Community“ mittlerweile trotz der heftigen Polemiken der Arbeitgeberverbände gegen den Index diese Debatten als einen „Glücksfall für die Arbeitswissenschaft“ begreift – so die Zeitschrift für Arbeitswissenschaft Heft 1/2010 im Editorial –,
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belegt einmal mehr die kommunikative und politische Ausstrahlungsqualität dieses arbeitspolitischen Projektes des DGB. Anknüpfend an die Initiative Gute Arbeit werden im Folgenden weitere Felder arbeitspolitischer Aktivitäten der IG Metall aus der Logik und dem Entstehungshintergrund der tarif- und betriebspolitischen Handlungsbereiche dargestellt. Die Zusammenarbeit zwischen den Handlungsbereichen wird fortgesetzt, und zugleich wird im Zuge eines Reorganisationsprozesses in der IG Metall Arbeitspolitik noch stärker gebündelt.
Arbeitszeit- und leistungspolitische Initiative – als Beitrag zur gewerkschaftlichen Revitalisierung Kurzfristökonomie und finanzmarktorientierte Unternehmenssteuerung führten bereits vor der Krise zu einer Entgrenzung von Arbeitszeit und Leistung. Für viele Beschäftigte war und sind der gestiegene Zeit- und Leistungsdruck in der Arbeit damit verbunden, dass die Grenzen der sozialen und gesundheitlichen Verträglichkeit erreicht wurden. Durch lange Arbeitstage oder belastende Arbeitszeiten geriet das Verhältnis von Arbeits- und Privatleben aus dem Lot, in der Arbeit selbst stellten sich Fragen der Zumutbarkeit und Belastungsfähigkeit, vor allem auch mit Blick auf den Zeitraum bis zum Erreichen des Rentenalters. Wenn sich die IG Metall vor dem Hintergrund der neuen Entwicklungstrends in den Betrieben den Themen Arbeitszeit und Leistung wieder verstärkt zuwendet, beginnt dies keineswegs bei Null. Die Arbeits- und Leistungsbedingungen zu verbessern, ist seit jeher eine der Kernaufgaben der Gewerkschaften. In der IG Metall hat dieses Anliegen eine lange Tradition. Die „Humanisierung der Arbeit“ Anfang der 1970er Jahre war dabei eine der wichtigsten historischen Etappen. In der Auseinandesetzung um den Lohnrahmentarifvertrag II in BadenWürttemberg gelang es der IG Metall 1973, die Mitglieder für Tarifforderungen zu mobilisieren, die im Kern die Arbeits- und Leistungsbedingungen aufgriffen. Mit dem LRTV II wurden Instrumentarien zur kollektiven Beeinflussung von Arbeit und Leistung entwickelt und über einen erfolgreichen Arbeitskampf durchgesetzt. Als Antwort auf die sich am Ende der 1970er Jahre bereits deutlich abzeichnenden grundlegenden Veränderungen der industriellen Arbeit entwickelte die IG Metall Ende der 1980er Jahre das programmatische Konzept „Tarifreform 2000“ mit Vorschlägen für die „Gestaltung der Industriearbeit der Zukunft“. Im Mittelpunkt dieses Konzeptes, das erst ein Jahrzehnt später flächendeckend verhandelt werden konnte, stand eine neue Arbeitsbewertung und die Aufhebung der Trennung von Arbeitern und Angestellten. In den Jahren 2003 bis 2005 wurden in allen Tarifgebieten neue, gemeinsame Regelungen der
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Arbeits- und Leistungsbewertung abgeschlossen (Iwer et al. 2008). Zu Beginn des letzten Jahrzehnts konnten außerdem in allen Tarifgebieten tarifliche Regelungen zur Qualifizierung vereinbart werden. Nicht minder wichtig waren auch die Kämpfe um Arbeitszeitverkürzung in den 1980er Jahren bis zur Durch- und schrittweisen Umsetzung der 35-Stunden Woche. Seitdem hat sich die arbeits- und leistungspolitische Situation in den Betrieben allerdings grundlegend verändert. Ab den 1990er Jahren wurden die Beschäftigten im Zuge der verstärkten globalen Konkurrenz immer stärker mit einer „Ökonomie der kurzen Fristen“, einem übersteigerten Kostendenken in Verbindung mit engen Terminvorgaben und knappen Personaldecken konfrontiert. Die kapitalmarktorientierte Steuerung führte zu einem übermäßigen Verschleiß des Arbeitsvermögens. Mit ihrer Ökonomie der Maßlosigkeit gehört diese arbeitspolitische Fehlentwicklung mit zu den Ursachen der Finanzmarktund Wirtschaftskrise seit 2008. Um die Krise nachhaltig zu überwinden und zukünftige „Scheiternsrisiken“ einzudämmen ist deshalb ein arbeitspolitisches Umsteuern notwendig. Durch die Krise ergaben sich dabei insbesondere in der Arbeitszeitpolitik neue Ansatzpunkte. So lässt sich in Zukunft nicht mehr bestreiten, dass arbeitszeitverkürzende Maßnahmen zur Beschäftigungssicherung beitragen. Darüber hinaus geht es um grundsätzlich neue Weichenstellungen in der Arbeitszeit- und Leistungspolitik. Arbeitszeit und Leistung als kommunizierende Röhren Arbeitszeit und Leistung sind eng miteinander verknüpft. Immer dann, wenn die erwartete oder abgeforderte Leistung in der zur Verfügung stehenden Zeit von den Beschäftigten nicht erbracht werden kann, geraten Arbeitszeiten aus dem Ruder. Dies war in den Jahren vor der Krise immer häufiger der Fall. In vielen Unternehmen herrscht eine Situation „systemischer Überlastung“. Die Beschäftigen selbst müssen zunehmend dafür Sorge tragen, dass der Leistungsprozess erfolgreich verläuft, sie befinden sich häufig in einer Situation der „permanenten Bewährung“ (Kratzer und Nies 2009). Im Ergebnis führt das dazu, dass Arbeit gleichzeitig intensiviert und extensiviert wird. Bekannt ist, dass sich zwar einerseits bei den Beschäftigten im letzten Jahrzehnt das Gefühl von „Ohnmacht“ bezogen auf die Einflussmöglichkeiten auf ihre Arbeits- und Leistungssituation verstärkt hat. Andererseits haben sich im Zuge des gestiegenen betrieblichen Handlungsdrucks aber auch Ansätze einer Revitalisierung von Arbeitspolitik entwickelt, die Anlass zur Hoffnung geben. Es kommt darauf an, diese in der Zeit nach der Krise fortzuführen. Die beiden eng verknüpften Handlungsfelder Arbeitszeit und Leistung sind dabei zentral, denn
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ihre Bearbeitung schafft Voraussetzungen für eine zukunftsfähige Entwicklung von Arbeit, Ökonomie und Beschäftigung. Arbeitszeit und Beschäftigungssicherung Dass der Anstieg der Arbeitslosigkeit in der Krise 2008/2009 gering gehalten werden konnte, war, wie erwähnt, das Ergebnis verschiedener beschäftigungssichernder und arbeitszeitpolitischer Maßnahmen. In der Metall- und Elektroindustrie fand die stärkste Reduzierung der Arbeitszeit über gesetzliche Kurzarbeit statt. Eine weitere wichtige Rolle spielte die Entnahme von Zeitguthaben aus Arbeitszeitkonten. In manchen Fällen haben Betriebe Arbeitsstunden aus Arbeitszeitkonten bis zu Minusständen zurückgefahren. Ferner wurden effektive Arbeitszeiten verkürzt und teilweise wurde der Tarifvertrag Beschäftigungssicherung genutzt, der im Westen eine Reduzierung der tariflichen Arbeitszeiten von 35 auf 30 (bzw. 29) Stunden und im Osten von 38 auf 33 (bzw. 32) Stunden mit entsprechender Entgeltreduzierung ermöglicht. Im Ergebnis der Tarifrunde 2010 konnten mit dem Jobpaket 2010-2012 in allen Tarifgebieten zwei neue Instrumente der Beschäftigungssicherung geschaffen werden: Kurzarbeit mit reduzierten Remanenzkosten und Tarifliche Kurzarbeit. Je nach Regelung des Tarifgebiets kann bei Letzterer die Arbeitszeit bis zu 28 oder 25 Stunden im Westen und bis zu 31 oder 28 Stunden im Osten abgesenkt werden – die Beschäftigten erhalten ab einem bestimmten Absenkungsvolumen einen Teilentgeltausgleich. Diese neuen Modelle bauen auf den Regelungen der erleichterten Kurzarbeit auf. Ohne alle diese Maßnahmen wäre die Arbeitslosigkeit erheblich höher ausgefallen. Selbst wenn sich der gegenwärtige Aufschwung in Form einer wirtschaftlichen Erholung fortsetzen sollte, kann es keine generelle Entwarnung für den Arbeitsmarkt geben. Die Wirtschaft entwickelt sich in den Branchen sehr unterschiedlich und ist nach wie vor in weiten Teilen deutlich unterausgelastet. Es zeichnet sich ab, dass die Unternehmen wieder versuchen, den notwendigen Aufbau von Beschäftigung nicht durch feste Neueinstellungen, sondern durch eine Ausweitung von prekärer Arbeit auf der einen Seite und „Überbeschäftigung“ der bereits Beschäftigten auf der anderen Seite zu bewältigen. Um solchen Entwicklungen entgegenzuwirken gilt: Arbeitszeitpolitik zur Beschäftigungssicherung bleibt auch nach der Krise ein Thema. Dabei ist zu bedenken: Die Erfahrung der Beschäftigungssicherung durch kürzere Arbeitszeiten in der Krise ist für viele Kolleginnen und Kollegen eng mit der Erfahrung einer „Notsituation“ verbunden, die es aus ihrer Sicht zu überwinden gilt. An die positiven Erfahrungen der erfolgreichen Beschäftigungssicherung kann dennoch angeknüpft werden, sie müssen allerdings mit weitergehen-
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den arbeitszeitpolitischen Perspektiven verbunden werden. Die Erfahrungen können für eine erneute Debatte über Arbeitszeit genutzt werden – mit dem Ziel, im Betrieb und in der Tarifpolitik die Handlungsfähigkeit in Fragen der Arbeitszeit wiederzugewinnen bzw. auszubauen. Ansätze einer kreativen Arbeitszeitpolitik Bereits vor der Krise gab es einen erheblichen Handlungsdruck und Handlungsbedarf in den Betrieben. Seit einem Jahrzehnt entwickelten sich die tariflichen und die effektiven Arbeitszeiten immer weiter auseinander. Statt der in weiten Teilen der Metall- und Elektroindustrie vereinbarten 35-Stunden-Woche arbeiteten die Vollzeitbeschäftigten im Durchschnitt über 39 Stunden (IG Metall Vorstand FB Tarifpolitik, Jansen et al. 2009). Außerdem nahmen flexible und gesundheitsgefährdende Arbeitszeiten erheblich zu. Wenn jetzt die Auseinandersetzung um Arbeitszeit wieder aufgenommen wird, ist zu berücksichtigten, dass die Arbeitszeitlandschaft im Organisationsbereich der IG Metall alles andere als einheitlich ist. Es gibt Arbeitszeitstandards zwischen 35 und 40 Stunden in der Woche und betriebliche Arbeitszeiten, die teilweise weit darüber hinausgehen. Es gibt verschiedene Schichtarbeits- und verschiedene Gleitzeit- und Kontenmodelle, und es gibt Teilzeitarbeit. Mit diesen unterschiedlichen arbeitszeitpolitischen Ausgangslagen sind unterschiedliche Interessenlagen und Gestaltungswünsche der Beschäftigten verbunden, die es anzuerkennen gilt. Dies schließt allerdings nicht aus, gleichzeitig nach gemeinsamen Wünschen und Orientierungen der Beschäftigten zu fragen, die sich in den letzten Jahren herauskristallisiert haben. In der Arbeitszeitpolitik dürfen wir die Frage nach der gemeinsamen Perspektive nicht aus den Augen verlieren. Ein „gemeinsamer Nenner“ bleibt insbesondere auch im Hinblick auf die Mobilisierungsfähigkeit wichtig, ohne die arbeitszeitpolitische Erfolge nicht zu erreichen sind. Kein Verfall von Arbeitszeit. Bis zum Einbruch der Finanzmärkte und der Wirtschaft sind in der Metall- und Elektroindustrie viele Arbeitsstunden der Beschäftigten verfallen. Teilweise wurden sie gar nicht erst erfasst, teilweise landeten sie auf Gleitzeitkonten und fielen Kappungsgrenzen zum Opfer, teilweise wurden sie von Beschäftigten selbst durch „Ausstechen“ unkenntlich gemacht – im Ergebnis wurden sie weder durch Zeitausgleich noch durch Geld honoriert. Wenn aber Arbeitszeiten verfallen, löst sich die Grundlage für jeglichen betrieblichen und tariflichen Gestaltungsanspruch bei der Arbeitszeit auf. Der Verfall von Arbeitszeit belastet alle
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Ansätze einer kreativen Arbeitszeitpolitik. Um ihm entgegenzuwirken, geht es zunächst darum, alle Arbeitszeiten zu erfassen. Dabei können Arbeitszeitkonten behilflich sein, die Ausgleichsmöglichkeiten für Arbeitszeitguthaben regeln. Nicht in allen Tarifgebieten gibt es bislang dafür einen tarifvertraglichen Rahmen. In den Kontenregelungen sollten zukünftig die individuellen Wahlmöglichkeiten und Entnahmerechte gestärkt werden. Darüber hinaus muss mit den Beschäftigten gemeinsam daran gearbeitet werden, betriebliche Arbeitsbedingungen zu schaffen, die einem „freiwilligen“ Verfallenlassen entgegenwirken. Wie bereits ausgeführt muss Arbeitszeitpolitik deshalb immer auch Fragen der Leistungsgestaltung und des Leistungsvolumens im Blick behalten. Arbeit und Leistung ein gesundes Maß geben. Mit der Flexibilisierung haben auch belastende Formen der Arbeitszeit zugenommen. Seit den 1990er Jahren ist der Anteil von an Wochenenden und in Schichtarbeit arbeitenden Menschen gestiegen. Während 1991 38 Prozent der Beschäftigten in der Gesamtwirtschaft unter diesen Bedingungen arbeiteten, waren es 2007 schon fast 60 Prozent (IG Metall Vorstand, Arbeitszeit-TÜV 2009). Besonders belastet sind allerdings nicht nur Beschäftigte in Schichtarbeit. Auch Arbeit z. B. in Forschungs- und Entwicklungsbereichen oder im ITKBereich ist keineswegs so gesund, wie oft vermutet wird. Einschlägige Studien haben gezeigt, dass Beschäftigte in Software- und Beratungsprojekten bis zu viermal häufiger unter psychosomatischen Beschwerden leiden als der Durchschnitt der Beschäftigten in Deutschland (Gerlmaier 2006). Beschäftigte, unabhängig davon in welchen Bereichen sie arbeiten, ob sie Schichtarbeit oder Projektarbeit verrichten, haben ein großes Interesse an gesund erhaltenden Arbeits- und Leistungsbedingungen und an Arbeitszeiten, die ihnen erlauben, ihre Arbeit bis zur Altersrente ohne gesundheitliche Einschränkungen ausüben zu können. Dabei spielen ausreichende Erholungszeiten eine wichtige Rolle. Während in Bereichen mit traditionellen Belastungen stündliche oder tägliche Erholzeiten zum Ausgleich auf der Tagesordnung stehen, geht es bei Projektarbeit eher um Auszeiten zwischen den Projekten und nach längeren Anspannungsphasen. Solche erholungswirksamen Zeiten können Belastungen ausgleichen und gesundheitlichen Gefährdungen vorbeugen. Eine bedeutende Rolle kommt auch den Einflussmöglichkeiten auf die Rahmendbedingungen und die Ressourcen in Projekten zu.
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Mehr individuelle Zeitsouveränität – Balance von Arbeit und Leben. Flexible Arbeitszeiten dürfen sich nicht einfach nach den betrieblichen Anforderungen richten, sie müssen die individuellen Bedürfnisse und Wünsche der Beschäftigten stärker berücksichtigen. Die Beschäftigten wollen selbstbestimmter arbeiten und leben. Individuelle Zeitsouveränität, nicht als leeres Versprechen, sondern als reale Möglichkeit, benötigt allerdings weiterhin kollektiv gesicherte Ansprüche als Unterbau. Bei zukünftigen Regelungen der Arbeitszeit ist darauf zu achten, dass sie ein höheres Maß an individueller Zeitsouveränität erlauben. Tarifliche Regelungen und betriebliche Arbeitszeitkonten sind so zu gestalten, dass sie die individuellen Wahlmöglichkeiten und die individuellen Anspruchsrechte auf Zeitausgleich stärken. Wenn die Beschäftigten ihre Arbeitszeiten selbstbestimmter gestalten und begrenzen können, steigen auch die Chancen, Arbeit und Privatleben wieder in eine bessere Balance zu bringen. Veränderte Leistungsbedingungen – Ansätze einer neuen Leistungspolitik In den Betrieben der Metall- und Elektroindustrie sind die Leistungsanforderungen infolge der überzogenen Wettbewerbs- und Renditeorientierungen enorm gestiegen. Die Beschäftigten haben kaum noch Zeit zum Luftholen. Dies bestätigt der DGB Index „Gute Arbeit“, demzufolge jede/r zweite Beschäftigte der Gesamtwirtschaft antwortete, dass er/sie es sich nicht vorstellen kann, unter den gegebenen Bedingungen die Arbeit bis zum Erreichen des Rentenalters ausüben zu können (DGB Index Gute Arbeit 2009: 24/25). Wohin diese Leistungsbedingungen führen, zeigen die Zahlen derer, die mit 60 Jahren und älter noch im Erwerbsleben stehen. In der Metall- und Elektroindustrie sind dies gerade mal vier Prozent der Beschäftigten (Bundesanstalt für Arbeit). Die Leistungsanforderungen und -konstellationen sind in den Arbeitsbereichen zwar unterschiedlich. Insbesondere in den gewerblichen Bereichen mit Serienmontagen ist seit einiger Zeit eine systematische Re-Taylorisierung zu beobachten. Kurze Taktzeiten und Zyklen werden wieder eingeführt und begrenzte Partizipationsangebote (z. B. die Wahl von Gruppensprechern) werden wieder zurückgenommen. Dagegen ist in den indirekten Bereichen die Wirkung indirekter Steuerung meist unmittelbarer und stärker ausgeprägt. Aber auch dort halten in manchen Bereichen Standardisierungsprozesse Einzug. Über alle Unterschiede hinweg zeichnet sich allerdings eine einheitliche Stoßrichtung eines neuen, marktorientierten Leistungsmanagements ab. So finden sich in der betrieblichen Praxis immer häufiger Bestimmungen von Leistungsvorgaben oder Leistungszielen, von Pensen oder Personalstärken, die sich nicht an einer arbeitswissenschaftlich definierten Zumutbarkeit orientie-
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ren, sondern aus Prozessen des unternehmerischen Benchmarks abgeleitet werden. Als „Vergleichszielgrößen“ und Orientierungsmarken werden Kostenstrukturen und Fertigungszeiten in die betrieblichen Bereiche hineingegeben. Aus den Vergleichskosten werden die Kostenziele für alle Betriebseinheiten gewonnen, die dann auch das Gerüst für die Leistungsbedingungen abgeben. Das System einer „rationalen“ Leistungsdefinition wird dadurch unterhöhlt, die Grundlage für marktunabhängige Referenzpunkte schwindet. Verbunden damit ist der Trend, die Leistungsanforderungen zu flexibilisieren und zu dynamisieren. Unter den Bedingungen kontinuierlicher Verbesserung werden Verfahren gewählt, die z. B. die Überbietung vorher festgelegter Leistungsgrenzen honorieren und teilweise mit einem Entgeltanreiz unterstützen oder die eine Kürzung der Vorgabezeiten in festgelegten Abständen vorsehen. Nicht selten werden neue Prämienlohnsysteme eingeführt, die die klassischen Kriterien wie Quantität und Qualität um produktivitäts- und ergebnisbezogene Kriterien erweitern (Ehlscheid et al. 2006). Leistungsnormen, Personalbesetzung und Leistungshonorierung werden tendenziell dem Marktgeschehen unterworfen und ökonomisiert. Im Zuge dieser Entwicklung wandelt sich der Leistungsbegriff. Während sich die klassische Arbeitswissenschaft und die Tarifverträge an einem „aufwandsorientierten“ Leistungsbegriff orientieren, der die menschliche Leistungsfähigkeit und die Bedingungen des Arbeitssystems zu Ausgangspunkten macht, etabliert sich durch das neue Leistungsmanagement ein „ergebnisorientierter“ Leistungsmaßstab. Unwägbarkeiten des Marktes und Risiken im Produktionsablauf gehen zulasten der Beschäftigten. Diese Entwicklungen stellen die leistungs- und arbeitszeitpolitische Interessenvertretung vor neue Herausforderungen. Die Zeiten sind härter geworden, das Klima von Win-win-Situationen, in denen mit Teilen des Managements gemeinsam innovative Lösungen gesucht und häufiger auch gefunden werden konnten, ist in den meisten Fällen vorbei. Für zukunftsweisende Lösungen ist heute stärker denn je Konfliktfähigkeit der Belegschaften gefragt. Mehr denn je kommt es dabei darauf an, dass die Beschäftigten selbst ihre Interessen an guten Arbeitsund Leistungsbedingungen ins Spiel bringen und vertreten – das wiederum darf nicht auf Einzelne beschränkt bleiben. Wirksame Interessenvertretung ist auch in Zukunft nur kollektiv möglich. Erforderlich ist eine gemeinsame Verständigung darüber, welche Stellschrauben sich in der jeweiligen betrieblichen Situation für Verbesserungen anbieten und welche Regelungen die Durchsetzung der Interessen der Beschäftigten unterstützen. Zusätzlich zu den herkömmlichen Instrumenten des Leistungsentgelts können die neuen Instrumente, die mit den ERATarifverträgen geschaffen wurden (Zielvereinbarungen und Zielentgelt), zur leistungspolitischen Interessenvertretung genutzt werden.
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Kollektive leistungspolitische Regelungen sind weiterhin notwendig, sie setzen den Rahmen für Interessenhandeln im Betrieb, aber sie greifen nicht automatisch. Bereits bei ihrer Aushandlung sind die Erfahrungen, der Sachverstand und der Durchsetzungswille der einzelnen Beschäftigten vonnöten. Diese setzen sich nur dann für kollektive Regelungen und ihre Umsetzung ein, wenn sie ihren eigenen Interessenlagen entsprechen. Wenn die Einzelnen einem „System der permanenten Bewährung“ ausgesetzt sind und Fragestellungen wie „Rentier´ ich mich noch?“ (Wagner 2005) im Denken Dominanz gewinnen, drohen bestehende Rechte und Regelungen an Bedeutung zu verlieren. Es kommt unter diesen Bedingungen verstärkt auf die Handlungs- und Konfliktbereitschaft der Einzelnen an. Art und Qualität der kollektiven Regelungen entscheiden ferner mit darüber, ob die Beschäftigten sie zur Selbstvertretung ihrer Interessen wirklich nutzen. Leistungs- und arbeitszeitpolitische Initiative der IG Metall Aus all diesen Gründen hat die IG Metall schon vor der Krise orientiert an dem Leitbild ,„Guter Arbeit“, eine leistungs- und arbeitszeitpolitische Initiative geplant und in Ansätzen auf den Weg gebracht. Sie hat damit einen Auftrag verfolgt, der auf dem Gewerkschaftstag der IG Metall im November 2007 formuliert wurde. Nach der Krise geht es jetzt darum, diese Aufgabe über eine Konkretisierung der betriebs- und tarifpolitischen Bausteine und entsprechende Handlungsinitiativen in den Tarifgebieten und Betrieben weiter zu verfolgen. Auch wenn die Rahmenbedingungen durch die Krise nicht gerade leichter geworden sind (s. o.), haben sich doch neue Ansatzpunkte eröffnet, die arbeitszeit- und leistungspolitischen Handlungsfelder wieder offensiver zu bearbeiten. Diese Aufgabe hat an Stellenwert gewonnen (Schwitzer et al. 2010). Ein gutes Leben gibt es nur mit guter Arbeit. Wenn die Auseinandersetzung um die Bedingungen eines guten Lebens und um die konkreten Arbeitszeit- und Leistungsbedingungen wieder engagiert geführt werden, dabei an den Widersprüchen der unternehmerischen Strategien angesetzt und die Interessen der Beschäftigten an selbstbestimmtem Arbeiten und Leben mit Hilfestellungen unterstützt werden, liegt in dieser Auseinandersetzung ein großes Mitgliederund Mobilisierungspotenzial. Verbunden mit der Erfahrung der Menschen, dass die Ökonomie der Maßlosigkeit in die Krise führt, können solche Ansätze zu einer Revitalisierung der gewerkschaftspolitischen Kraft beitragen.
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Produktionssysteme und Innovation als arbeitspolitische Themenfelder Betriebsräte werden zunehmend mit der Gestaltung von Produktionssystemen konfrontiert und vor die Aufgabe gestellt, Innovationsprozesse zu beurteilen und im Interesse der Förderung von Beschäftigung mitzugestalten. Bewältigen lassen sich diese Herausforderungen nur, wenn Interessenvertretungen über entsprechende strategische und konzeptionelle Grundlagen verfügen und auf entsprechende Schulungsmaßnahmen und Angebote zur Prozessbegleitung zurückgreifen können. Mit dem Ziel, Unterstützungsangebote an die Gremien der Interessenvertretung sowie an haupt- und ehrenamtlichen Akteure in den Betrieben und Verwaltungsstellen anbieten zu können, wurde im Jahr 2008 beim Vorstand der IG Metall ein Ressort mit dem Namen „Arbeit und Innovation“ gebildet. Auch wenn dieses, in der Betriebs- und Mitbestimmungspolitik angesiedelte Ressort, aufgrund einer Umstrukturierung des Vorstands der IG Metall im Jahre 2011 schon nicht mehr existiert, überdauern die Ressortaufgaben und deren konzeptionelle Grundlage. Aufgaben, die in das Themenfeld Innovation fallen, verbleiben ab dem Jahr 2011 im Funktionsbereich Betriebs- und Mitbestimmungspolitik. Das Themenfeld Gestaltung von Produktionssystemen ist ab diesem Zeitpunkt Aufgabe des neuen Funktionsbereichs Arbeitsgestaltung und Qualifizierungspolitik. Hier wird es eng mit dem Ansatz „Gute Arbeit“ und mit dem Arbeitsschutz verbunden. Proaktive Gestaltung als strategische Grundorientierung Gegründet wurde „Arbeit und Innovation“ vor dem Hintergrund eines strategischen Konzepts mit dem Namen „Besser statt billiger“. Dieser Ansatz wurde im Jahr 2005 mit einer Kampagne der IG Metall Bezirksleitung NRW ins Leben gerufen (Korflür et al. 2010). Mit „Besser statt billiger“ ist der Anspruch verbunden, Alternativen zu einem reinen Lohnkostenwettbewerb zu formulieren und betrieblich durchzusetzen. Auf regionaler Ebene wird das Konzept derzeit in Projekten durch die Bezirksleitung NRW erweitert und in der Praxis verbreitet. Auf einer bundesweiten Ebene lag diese Aufgabe im Ressort Arbeit und Innovation. Der Anlass für einen proaktiven Ansatz ist weiterhin aktuell. Er liegt in Wettbewerbsstrategien, die einseitig auf die Produktionskosten ausgerichtet sind. Statt einer Produktion von innovativen, qualitativ hochwertigen und variantenreichen Produkten den größten strategischen Stellenwert einzuräumen, konzentrieren sich Unternehmen zunehmend auf Maßnahmen zur kurzfristigen Kosteneinsparung. Im Mittelpunkt stehen hierbei die Lohnkosten. Diese Ausrichtung
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verursacht bedrohte und prekäre Beschäftigungsverhältnisse, den Verlust fachlich anspruchsvoller Arbeit sowie einen Leistungsdruck, der die Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Beschäftigten gefährdet. Ein Grund für diese Entwicklung liegt laut Aussage von Betriebsräten in Defiziten im strategischen Management. Diese Erfahrung bestätigen auch Studien. Eine Untersuchung des DIHK zeigt, dass zwei Drittel der befragten Unternehmen in Deutschland allenfalls ansatzweise über ein systematisches Innovationsmanagement verfügen (DIHK 2008: 7f.). Eine weitere Studie gelangt zu dem Ergebnis, dass in deutschen Firmen im internationalen Vergleich nur selten explizite Zukunftsszenarien entwickelt werden. In der Untersuchung traf dies nur auf eines von acht Unternehmen zu (Zehnder 2010: 5). Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass Geschäftsleitungen mit der Kosteneinsparung die scheinbar einfachste strategische Ausrichtung wählen. Ihren Ausdruck findet die Strategie der schnellen Kostensenkung in der Schließung und Verlagerung von Produktionen, die nicht in kürzester Zeit maximale Gewinne abwerfen, in einer Ausweitung von Werkverträgen und Leiharbeit, in unterlassenen Innovationen, in einer Taylorisierung von Arbeitsprozessen und in einer betrieblichen Zeitwirtschaft, die sich nicht mehr länger an dem Ziel orientiert, dass Leistungsanforderungen auf Dauer ohne Gefährdung der Gesundheit erfüllbar sein müssen. Der hohe Stellenwert kurzfristiger Kostenziele zeigt sich auch in der Umgestaltung betrieblicher Produktionssysteme. Seit mehr als zehn Jahre verbreiten sich in der deutschen Wirtschaft firmeneigene Produktionssysteme, die sich am Produktionssystem von Toyota orientieren. Im Unterschied zu Toyota sind diese Produktionssysteme in Deutschland jedoch meist weniger auf den langfristigen Erfolg, sondern auf kurzfristige Kosteneinsparungen ausgerichtet. Die Verbreitung neuer Produktionssysteme hat sich in den letzten Jahren beschleunigt und erfasst mittlerweile nicht mehr nur die Montage und die Fertigung, sondern auch die indirekten Bereiche. Ohne aktive Beteiligung von Betriebsräten führt dieser Umbau, weil er zumeist lohnkostenorientiert geschieht, zu Nachteilen für die Belegschaften. Diese Nachteile sind nach erfolgtem Umbau des Produktionssystems nur schwer korrigierbar. Dies setzt Betriebsräte unter Druck, möglichst frühzeitig die geplanten Reorganisationsprozesse zu regulieren. Dieses Recht müssen sich die meisten Betriebsräte jedoch erst mühsam erstreiten. Andererseits machen Betriebsräte auch die Erfahrung, dass ihnen die Geschäftsleitungen anbieten, in den Gremien zum Umbau der Produktionssysteme mitzuwirken. In der Beraterliteratur ist hierfür der Begriff der Einbindung verbreitet. Mit diesem Ausdruck ist jedoch meist ein Beteiligungsverständnis verbunden, innerhalb dessen der Betriebsrat vorwiegend dafür zuständig ist, Akzeptanz auf Seiten der Beschäftigten zu mobilisieren. Ganz gleich, ob die Interessenvertretung ihre Rolle als Mitgestalter erst durchsetzen muss oder dazu aufgefordert wird, stellt
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sich für sie die Frage nach der Legitimation ihres Handelns gegenüber der Belegschaft. Interessenvertreter treibt die Sorge um, in der Wahrnehmung der Beschäftigten vom Mitgestalter zum „Mittäter“ zu werden. Zugleich wissen Betriebsräte, dass sie sich auf eine frühzeitige Mitgestaltung einlassen müssen, weil sie sonst das Risiko eingehen, dem Management immer einen Schritt hinterherzulaufen und mit schwer korrigierbaren Fakten konfrontiert zu werden. Eine proaktive Betriebspolitik soll verhindern, dass Interessenvertreter in die Rolle von Beobachtern rascher kostengetriebener Umgestaltungen gedrängt werden. Eine defensive Position lässt sich nur überwinden, wenn sich Betriebsräte nicht nur als Korrekturinstanz, sondern als gestaltende Kraft verstehen, die mit eigenen Gestaltungskonzepten eine offensive Arbeitspolitik betreiben. Diese Überzeugung dürfte heute bereits ein Großteil der Betriebsräte teilen. Diese Interessenvertreter wissen, dass Geschäftsleitungen aus eigenem Antrieb keine Alternativen zu einem auf die schnelle Kostensenkung ausgerichteten Wettbewerb entwickeln werden; sie kennen zudem die Begrenzungen einer nur korrektiven Arbeitsgestaltung. Andere Betriebsräte gilt es erst noch davon zu überzeugen, dass die Vertretung der Beschäftigteninteressen wirksamer ist, wenn sie in einer frühen Phase der Reorganisation geschieht, wenn sie offensiv ist und wenn sie auf eigenen Ansätzen beruht. Was Betriebsräte von einer frühzeitigen Mitgestaltung und von eigenen Gestaltungsansätzen abhält, ist ein Selbstverständnis, das explizit die Rolle eines Co-Managers ausschließt. Diese Betriebsräte befürchten unvereinbare Rollenkonflikte und nicht lösbare Legitimationsprobleme. In der Tat ist ein Co-Manager immer in der Gefahr, die Interessen der Beschäftigten zu defensiv zu vertreten, denn Co-Management „suggeriert eine Gleichsetzung mit dem Management, durch die eine unabhängige Interessenvertretung hintangestellt ist.“ (Schumann 2010: 226). Teilweise begründen Betriebsräte ihre Passivität in Fragen der Wettbewerbs-und Innovationsstrategien auch mit für sinnvoll erachteten fachlichen Spezialisierungen zwischen Management und Betriebsrat. Typisch ist die Aussage: „Betriebsräte sind doch nicht die besseren Manager“. Hierbei übernehmen Betriebsräte ein von Arbeitgeberseite bevorzugtes Rollenverständnis, dem zufolge wirtschaftliche Entscheidungen ausschließlich Aufgabe der Unternehmensleitung sind. Die Betriebsverfassung ist mit dem § 92a BetrVG mittlerweile fortschrittlicher ausgestaltet. Auch wenn die Themenfelder Innovation, Produktionssysteme und strategisches Management hohe fachliche Ansprüche stellen und Fragen nach der Legitimation von Betriebsratsaktivitäten aufwerfen, sind eigene Konzepte und ein offensiver Gestaltungsanspruch für die Interessenvertretung alternativlos. Andernfalls würde es Betriebsräten schwerfallen, ihrem Selbstverständnis als Gegenmacht überhaupt gerecht zu werden. Zu diesem Schluss gelangt auch eine
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Studie zum Innovationshandeln von Betriebsräten. Darin heißt es: Ein „Betriebsratshandeln, das sich allein auf die Interessenvertretung konzentriert und die Gefahren einer aktiven Innovationsrolle vermeiden will, führt paradoxerweise dazu, dass Beschäftigteninteressen gerade in kritischen Veränderungsprozessen nicht vertreten werden“ (Schwarz-Kocher et al. 2010: 99). Letztlich kann niemand von einer Interessenvertretung verlangen, gegen ihr Selbstverständnis zu handeln. Insofern geht es bei proaktiven Ansätzen der Arbeitspolitik um ein Plädoyer für eine Modernisierung der Interessenvertretung und darüber hinaus um umfassende Unterstützungsangebote für die Betriebsräte, die das Ziel verfolgen, aus dem Schatten eines von der Unternehmensführung dominierten strategischen Managements herauszutreten. Betriebsräte, die diesen Ansatz teilen, sind jedoch oftmals nicht ausreichend auf die neuen Themenfelder vorbereitet. Es fehlt insbesondere an Erfahrungen in der Innovations- und Wettbewerbspolitik. Vor diesem Hintergrund werden bereits bestehende Rechte nur unzureichend genutzt. Ein Beispiel sind die mit der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes im Jahr 2001 erweiterten Mitwirkungsmöglichkeiten zur Sicherung und Förderung von Beschäftigung. Grundlegend für den Ansatz einer frühzeitigen und offensiven Mitgestaltung ist die Überzeugung, dass eine Strategie, die die Wettbewerbszwänge berücksichtigt und gleichzeitig auf qualitativ hochwertige und innovative Produkte setzt, die größten Chancen für die Verwirklichung von „Guter Arbeit“ bietet. Es handelt sich insofern um einen Ansatz, dem eine qualitative Vorstellung von Innovationen zu Grunde liegt. Es geht nicht darum, jedwede Innovation zu fördern. „Innovationen müssen daran gemessen werden, ob sie zu gesellschaftlichem Fortschritt beitragen. Dies bedeutet: Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen, eine gute Qualität der Arbeit, gesellschaftlich nützliche und ökologisch verträgliche Produkte.“ (Wetzel 2009: 8f.). Die Bewertung möglicher Innovationen im Hinblick auf ihre wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Folgen ist jedoch kompliziert und von den Betriebsräten allein nicht zu bewältigen. Aus diesem Grund liegt ein weiterer Bestandteil eines offensiven Gestaltungsansatzes darin, die Beschäftigten an der Betriebsratsarbeit zu beteiligen. Erst im Diskurs mit der Belegschaft lassen sich wünschbare und weniger wünschbare Innovationen voneinander abgrenzen. Dieser Dialog lässt sich nicht durch „objektive“ Innovationskennzahlen oder technologische Verfahren zur Bewertung von Innovationen ersetzen. Thematische Schwerpunkte Für Arbeits- und Innovationsprozesse existieren Unterstützungsangebote für Betriebsräte bei der Diagnose der betrieblichen Innovations- und Wettbewerbs-
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fähigkeit sowie der Entwicklung und Durchsetzung eigener strategischer Ansätze. Dies geschieht durch persönliche Beratung und Prozessbegleitung, durch Schulungsmaßnahmen, durch die Vermittlung von Beratern und durch die Organisation und Moderation von betriebsübergreifendem Erfahrungsaustausch. Ein wichtiges Teilziel besteht darin, Betriebsräte zu befähigen, Argumentationsmuster der Geschäftsführungen kritisch zu prüfen und auf diese Weise zu Verhandlungspartnern auf Augenhöhe zu werden. Hierbei geht es um drei thematische Schwerpunkten: Krisenprävention, Innovationspolitik und Gestaltung von Produktionssystemen. Task Force Krisenintervention und -prävention Mit finanziellen Mitteln des ESF und des BMAS wurde im Jahr 2009 eine „Task Force Krisenintervention“ eingerichtet. Sie verfolgt das Ziel, betriebliche Krisenfolgen zu begrenzen und Betrieben langfristige Zukunftsperspektiven aufzuzeigen. Zu diesem Zweck wurde ein Beraterpool eingerichtet, aus dem heraus thematisch fokussierte Erstberatungen durchgeführt werden. In zahlreichen Betrieben konnten bislang Diagnosen, Strategieberatungen und Schulungsmaßnahmen durchgeführt werden. Den Schwerpunkt bilden Stärken-Schwächen-Analysen, die Überprüfungen von Konzepten der Unternehmensleitung und die Entwicklung eigener Gestaltungsansätze. Unter unmittelbarem Einfluss der Krise waren die Anlässe der Beratung zumeist Liquiditätsengpässe, eine Unterauslastung verbunden mit einem hohem Umsatz- und Auftragsrückgang, beantragte oder bereits bewilligte Kurzarbeit, die Ankündigung der Streichung von Entgeltbestandteilen, die Androhung von Personalabbau und Kündigungen, drohende Insolvenz – bzw. bereits gestellte Insolvenzanträge – sowie Anträge auf Tarifabweichung. Je weniger die Betriebe von der Krise betroffen sind, desto mehr verschieben sich die Beratungsthemen von kurzfristigen Zielen zur langfristigen Zukunftssicherung. Zugleich sind die Beratungen nun weniger Reaktionen auf Managementkonzepte, sondern Ausdruck eines eigenen, in die Zukunft gerichteten Gestaltungsanspruchs. Hierbei können Betriebsräte auf ein umfangreiches Beratungsangebot zugreifen. Die wichtigsten Themen sind nun Produktionssysteme, Produktinnovationen, das Qualitätsmanagement, die Ressourceneffizienz und die Innovationsfähigkeit. Ein Beispiel für eine Beratung im Rahmen der Task Force ist die Entwicklung eines Produktportfolios, mit dem sich ein Produktionsstandort erhalten und Personalabbau langfristig verhindern lässt. Ein weiteres Beispiel sind Veränderungen der Aufbau- und Ablauforganisation mit dem Ziel, die Flexibilität und Veränderungsfähigkeit des Unternehmens zu erhöhen. Meist werden in diesem Zusammenhang kontinuierliche Verbesserungsprozesse initiiert. Aus
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einigen dieser Beratungen haben sich mittlerweile Anschlussprojekte entwickelt, die gemeinsam vom Betriebsrat und der Geschäftsleitung durchgeführt werden. Projekt Früherkennung und Innovation Das Projekt Früherkennung und Innovation wurde im Jahr 2008 mit Mitteln der IG Metall eingerichtet. Dieses in Kooperation von „Arbeit und Innovation“ mit dem Ressort Betriebswirtschaft durchgeführte Projekt verfolgt das Ziel, die Urteils- und Handlungsfähigkeit von Betriebsräten im betrieblichen Innovationsmanagement zu stärken. Dies geschieht in zwei Schwerpunkten. Der erste liegt in der Diagnose der betrieblichen Innovationsfähigkeit und der Entwicklung von darauf aufbauenden Verhandlungsstrategien. Dieser Teil des Projektes stützt sich auf ein arbeitsorientiertes Diagnosetool zur Beurteilung der Innovationsfähigkeit, das im Rahmen eines Projektes der Hans Böckler Stiftung von einer Projektgruppe an der Technologieberatungsstelle beim DGB Hessen e. V. entwickelt wurde. Das Instrument mit dem Namen „Innokenn“ wird in Zusammenarbeit mit Beratungseinrichtungen in sechs der sieben Bezirksleitungen der IG Metall in Pilotbetrieben eingesetzt. Der zweite Schwerpunkt liegt in der Entwicklung eines betriebswirtschaftlichen Informationssystems, das erlaubt, betriebliche Krisen frühzeitig anhand von Indikatoren zu erkennen und das darüber hinaus Anhaltspunkte für Optimierungsmöglichkeiten im Interesse einer größeren Robustheit gegenüber zukünftigen Herausforderungen aufzeigt. Die Erfahrungen in den Pilotprojekten zeigen, dass sich Geschäftsführungen bisweilen vehement gegen die Einmischung von Betriebsräten in das Innovationsgeschehen wehren und auch den Gang zum Arbeitsgericht nicht scheuen. Es überwiegen jedoch die positiven Erfahrungen. Zu den Projektaktivitäten zählen Strategieworkshops mit dem Betriebsrat und die Schulung von Betriebsratsgremien zu folgenden Themen: Analyse der Jahresbilanz, Nutzung von Informations- und Beratungsrechten, Datenermittlung mit „Innokenn“, die Entwicklung von Kommunikationskonzepten und die Überführung von strategischen Ansätzen in Projekte. In den Projektbetrieben finden die Analyse ebenso wie die Strategieentwicklung in enger Zusammenarbeit zwischen Betriebsrat und Belegschaft statt. Bewährt hat sich ein Innovationscoaching, das die Schulung strategischer Fähigkeiten, die Organisation eines unternehmensübergreifenden Erfahrungsaustausches und die Unterstützung beim Dialog mit der Führung und der Belegschaft umfasst.
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Unterstützung bei der Gestaltung von Produktionssystemen Ein Schwerpunkt im Ressort Arbeitsgestaltung und Gesundheitsschutz liegt darin, Interessenvertretungen bei der Gestaltung von Produktionssystemen zu unterstützen. Die Verantwortung für dieses Themenfeld lag bis Ende 2010 im Ressort Arbeit und Innovation. Der betriebliche Umbau der Produktionssysteme betrifft sämtliche Handlungsfelder der Arbeitsgestaltung und Arbeitsorganisation, weil neue Produktionssysteme die Arbeitsabläufe, Arbeitsmethoden und Leistungsbedingungen aller Bereiche der Produktion und produktionsnahen Dienstleistungen verändern. Die Unterstützung von Betriebsräten umfasst Schulungen zu produktionstechnischen, arbeitsorganisatorischen und rechtlichen Gesichtspunkten, Strategieworkshops und Prozessbegleitungen, Hilfestellungen bei der Gestaltung von Betriebsvereinbarungen und Unterstützung bei Verhandlungen mit dem Management. Darüber hinaus werden Berater zu speziellen Gesichtspunkten der Produktionssystemgestaltung vermittelt. Das Ziel besteht darin, das Thema Produktionssystem als Chance aufzugreifen, Arbeit im Sinne von „Guter Arbeit“ umzugestalten. Gelingen kann dies nur, wenn die Interessenvertretung in einer frühen Phase der Reorganisation Mindeststandards der Gestaltung von Arbeitsprozessen vereinbart. Hierbei muss eine Verbesserung gegenüber dem aktuellen Standard im „alten“ Produktionssystem angestrebt werden. Als Regelungsebenen kommen Betriebsvereinbarungen, der Interessenausgleich und Tarifverträge in Frage. Mindeststandards können neben der Entgelt- und Beschäftigungssicherung beispielsweise sein: das Mischungsverhältnis von direkten und indirekten Tätigkeiten, eine qualifizierte Gruppenarbeit, eine lernförderliche und alternsgerechte Arbeit, der Aufbau eines Arbeitsschutzsystems zur Verhinderung von körperlichen und psychischen Fehlbeanspruchungen sowie kontinuierliche Verbesserungsprozesse, die nicht nur auf wirtschaftliche Ziele, sondern auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen ausgerichtet sind.
Für Kooperation und einen erweiterten arbeitspolitischen Strategieansatz Die vorgestellten arbeitspolitischen Ansätze sind in der IG Metall in unterschiedlichen Entstehungszusammenhängen und mit unterschiedlichen konzeptionellen Grundlagen entwickelt worden. Neben der oben beschriebenen Initiative Gute Arbeit haben sich im tarifpolitischen Handlungsfeld arbeitszeit- und leistungspolitische Aktivitäten ebenfalls an einem Leitbild guter Arbeit orientiert. Im betriebspolitischen Handlungsfeld stehen Arbeitsgestaltungsansätze im Kontext von „Besser statt billiger“-Strategien.
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In Kooperation der drei arbeitspolitischen Akteurszentren ist die Initiative zur Bildung eines Arbeitskreises „Arbeitspolitik und Arbeitsforschung“ entstanden, dem WissenschaftlerInnen aus der Arbeitswissenschaft, der Arbeitspsychologie, der Arbeits- und Industriesoziologie sowie MitarbeiterInnen der IG Metall angehören. Der Arbeitskreis hat sich zur Aufgabe gemacht, einen besseren PraxisWissenschaft-Dialog zu etablieren und den Erkenntnistransfer aus Projekten der Arbeitsforschung in die Praxis zu befördern. Defizitäre Felder der Arbeitsforschung werden benannt und bearbeitet, und die Arbeitswissenschaft soll institutionell gestärkt werden. In einer ersten Veröffentlichung hat der Arbeitskreis „Beiträge zur Arbeitspolitik und Arbeitsforschung“ vorgelegt, in denen arbeitspolitische Handlungsfelder und aktuelle Aufgaben sowie Forschungsstände und Defizite zu unterschiedlichen Themenbereichen beschrieben werden (IG Metall 2010). Die Erkenntnisse aus dem Dialog mit der Wissenschaft sowie die Erfahrungen der vorgestellten Initiativen, die in den letzten Jahren im Wirkungsbereich der IG Metall erprobt werden konnten, sprechen für einen erweiterten arbeitspolitischen Strategieansatz. Erweitert meint eine eindeutige normative Orientierung am Modell einer „Guten Arbeit“ und am Ziel eines langfristigen Erhaltes der Leistungs- und Beschäftigungsfähigkeit von Arbeitskräften. Erweitert meint darüber hinaus die Vernetzung der verschiedenen Ebenen arbeitspolitischer Regulierung. Zur normativen Ausrichtung von Arbeitspolitik: Es hat sich gezeigt, dass auch innovative Modelle leistungspolitischer und arbeitsorganisatorischer Rationalisierung mit Interessenverletzungen der Beschäftigten verbunden sein können. Die Entgrenzung von Leistungsanforderungen und Arbeitszeiten, die Verletzung von Beschäftigteninteressen im Rahmen indirekter Personalsteuerungskonzepte und die Segmentierung und machtpolitische Schwächung der Belegschaften gehen vielfach mit neuen Produktionskonzepten einher. Auch innovative Arbeit kann schlechte Arbeit sein. Die WSI/PARGEMA-Betriebsrätebefragung 2008/09 bestätigt eindrucksvoll diesen ambivalenten Charakter: 91,5 Prozent der Betriebsräte gaben an, dass die Leistungsanforderungen gestiegen seien und 88 Prozent sagten, dass der Arbeitsstress bei Innovationen zugenommen habe. Das WSI resümiert: „Mit den Innovationen ging häufig eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen einher. In der Regel nahm u.a. der Arbeitsstress zu und der Leistungsdruck hatte sich in Folge der Innovationen erhöht. Dies zeigte sich bei allen betrachteten Innovationsarten“ (HBS 2009). In über drei Viertel der Betriebe (79 Prozent) kam es zu Konflikten über Innovationen zwischen Betriebsrat und Management. Diese Konflikte ergaben sich vor allem aus den von den Betriebsräten befürchteten negativen Auswirkungen der Innovationen auf die Arbeitsqualität der Beschäftigten. Die Konfliktthemen
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reichten von der Besorgnis über die zukünftige Motivation der Beschäftigten oder über die Arbeitsbedingungen bis hin zu Fragen der Entlohnung und der Qualifizierung. Ob mit einer arbeitsorientierten Innovationsstrategie negative Auswirkungen begrenzt werden können, hängt stark von der Interventionsqualität der Betriebsräte ab. Martin Schwarz-Kocher et. al. haben nachgewiesen, „dass die Verbindung von Innovation und Guter Arbeit ein wirkungsmächtiges funktionales Äquivalent zum Handlungsdruck in der Krise sein kann“ (SchwarzKocher et al. 2010: 99). Die Erfahrungen der „Besser statt billiger“-Kampagne in NRW zeigen (vgl. dazu die Beiträge von Brettschneider et al. und Lehndorff in diesem Band), dass betriebliche Modernisierungskoalitionen durchaus mit Absenkungen der Arbeitsstandards (z. B. Abschaffung von Gruppenarbeit, unergonomische Schichtpläne) verbunden sein können. Der Schlussfolgerung von Steffen Lehndorff ist deshalb zuzustimmen: „Innovationsimpulse von unten entstehen nur dann, wenn mit ihnen die Verteidigung von sozialen Standards, die Verbesserung von Arbeitsbedingungen, also ‚gute Arbeit‘ verbunden werden können“ (vgl. Lehndorff in diesem Band). Die skizzierte arbeitspolitische Problemzuspitzung weist darauf hin, dass der Grad der Vernutzung der Arbeitskraft der abhängig Beschäftigten nicht nur in, sondern auch nach der Krise weiterhin ansteigen wird. Schon jetzt – dies unterstreicht Michael Schumann – „nimmt – nahezu unabhängig vom Einsatzgebiet und quer durch die Belegschaften – die Bedrohung der psychischen und körperlichen Unversehrtheit durch radikalisierte betriebliche Vernutzung zu“ (Schumann 2010: 38). Dies bestätigen die Ergebnisse des DGB-Index Gute Arbeit 2010. Nach den bisherigen Überlegungen spricht vieles dafür, Fragen der Arbeits- und Leistungsbedingungen und der Gesundheit in einer arbeitspolitischen Strategie der Nach-Krisen-Ära zu einem Kernbestandteil gewerkschaftlicher Interessenpolitik zu machen. Die Herausforderungen der bereits in Gang befindlichen Restrukturierungswelle in den Unternehmen und die notwendige Förderung von Innovationen zur Überwindung von Krisenproblemen erfordern einen erweiterten arbeitspolitischen Strategieansatz, der die Folgen für Gesundheit und Qualität der Arbeit systematisch bearbeitet. Zu den Regelungsebenen einer erweiterten Arbeitspolitik: Die Gewerkschaften sind in der Nach-Krisen-Ära mit radikalisierten betrieblichen Wettbewerbsregimen konfrontiert. Dies verlangt eher die Stärkung überbetrieblicher, branchenweiter und allgemeiner (tariflicher, gesetzlicher usw.) Regulierungen mit dem Ziel, einem einzelbetrieblichen Dumpingwettwerb entgegenzuwirken. Um aus der Defensive herauszukommen, ist eine machtpolitische Neufundierung in den gewerkschaftlichen Kernfeldern der Betriebs-, Tarif- und Organisationspolitik notwendig.
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Doch eine Begrenzung auf diese Felder wäre kurzschlüssig. Denn gerade in einer Zeit des Umbaus des arbeitsschützenden Wohlfahrtsstaates in einen kapitalfördernden Wettbewerbsstaat, in einer Zeit der „Vermarktlichung“ aller Lebensbereiche sowie der Entgrenzung und Flexibilisierung, ist die Stärkung des politischen Mandats der Gewerkschaften dringlicher denn je. Nur durch eine selbstbewusste Vertretung der Anforderungen an eine flankierende Politik und einen integrierten Ansatz, der auf eine neue Balance von Interessenvertretung in Betrieb und Gesellschaft zielt, wird eine umfassende Vertretung der Interessen der Beschäftigten zukünftig erfolgversprechend sein. Für die Qualität der Arbeitsbedingungen ist das Handeln der betrieblichen Interessenvertretungen von zentraler Bedeutung. Hier lässt sich aus den Erfahrungen unserer Initiativen der Schluss ziehen, dass eine Modernisierung der betrieblichen Interessenvertretung in Richtung proaktivem Handeln mit eigenem Gestaltungsanspruch erforderlich ist. Zu Bedenken ist jedoch: Der Betrieb ist nur zu verändern im Netz von Politik. Dies spricht für eine systematische Verschränkung der unterschiedlichen gewerkschaftlichen Machtressourcen im Strategieansatz. Ob es gelingt, die gewerkschaftliche Durchsetzungsmacht in Betrieb und Politik zu stärken, wird zum Prüfpunkt für die Fähigkeit der Gewerkschaften, auch unter den Bedingungen des Finanzmarkt-Kapitalismus ihre ureigene Aufgabe der umfassenden Vertretung der Interessen der Lohnabhängigen bewältigen zu können. Eine Anforderung, an deren Einlösung sich ihre Zukunftsfähigkeit erweisen wird.
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Teil II Prekäre Beschäftigungsverhältnisse und Arbeitskämpfe
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Einleitung Leiharbeit boomt erneut. Hatten während der Finanz- und Wirtschaftskrise ab Herbst 2008 noch über 200.000 Leiharbeitende ihre Arbeitsplätze verloren, stellen die Verleihfirmen seit Sommer 2010 wieder vermehrt Arbeitskräfte ein. Nach nur wenigen Monaten des Aufschwungs ist das Vorkrisenniveau längst wieder erreicht, zum Jahreswechsel 2010/11 wurde zum ersten Mal die Eine-MillionGrenze überschritten. Wie die jüngsten Monatsberichte der Bundesagentur für Arbeit zeigen, kann keine andere Branche vergleichbare Beschäftigungszuwächse verzeichnen. Damit steht das Thema Leiharbeit zwangsläufig auch wieder auf den Tagesordnungen der Interessenvertretungen. In den Tarifauseinandersetzungen vieler Branchen müssen sich die Gewerkschaften fragen, ob sie die Leiharbeit zum Thema machen und wie die Interessen der Leiharbeitenden in die Verhandlungen einbezogen werden können. Zwar gelang es der IG Metall in der westdeutschen Stahlindustrie im Branchentarifvertrag ein Gleichstellungsgebot zu verankern (Handelsblatt, 01.10.2010); ob sich dieser Erfolg jedoch in anderen, zum Teil deutlich weniger profitablen Branchen wiederholen lässt, ist fraglich. In ähnlicher Weise sehen sich auch die betrieblichen Interessenvertretungen mit dem Thema „Leiharbeit“ konfrontiert. Zwar konnten sie in den letzten Monaten in einer ganzen Reihe von Unternehmen Regelungen verankern, die Leiharbeit begrenzen und die Lage der Betroffenen materiell verbessern. In vielen anderen Betrieben, vor allem im verarbeitenden Gewerbe, wird Beschäftigung jedoch wieder zu einem großen Teil über Leiharbeit aufgebaut. Während das verarbeitende Gewerbe im Vorjahresvergleich auch in der zweiten Jahreshälfte 2010 noch Beschäftigungsrückgänge zu verzeichnen hat, wächst die Leiharbeit rasant (Bundesagentur 2010). Wie sich in den kommenden Monaten die Situation der Leiharbeitenden in den Einsatzbetrieben entwickeln wird, hängt damit entscheidend vom Verhalten der Interessenvertretungen und der Stammbelegschaften ab. Denn eines hat sich in den Monaten vor der Wirtschafts- und Finanzkrise recht deutlich gezeigt: Die
T. Haipeter, K. Dörre (Hrsg.), Gewerkschaftliche Modernisierung, DOI 10.1007/978-3-531-93332-0_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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im Zuge verstärkter Externalisierung ökonomischer Risiken vorangetriebene Fragmentierung der Belegschaften lässt sich durchaus überwinden – aber nur dann, wenn sich ein Modus der Interessenvertretung durchsetzt, der auf einer „inklusiven“ Solidarität beruht und der nicht ausgrenzend auf periphere sowie in ihrem Status benachteiligte Beschäftigtengruppen wirkt (IG Metall 2007: 12; Holst et al. 2009; ähnlich: Holmes 2004). Angesichts vielfacher Spaltungslinien – neben der Leiharbeit kommen in vielen Betrieben noch Befristungen sowie Werk- und Dienstverträge hinzu – muss eine klassische Stellvertreterpolitik, die einseitig auf die Interessen der Stammbelegschaften ausgerichtet ist, langfristig zu kurz greifen (Artus in diesem Band; Holst et al. 2008; Rehder 2006). Der von Teilen der Forschung noch immer beschworene Dualismus von stabilen Kernen und fragilen Rändern entspricht nicht mehr der betrieblichen Realität. In Gestalt der Leiharbeitenden, der Werkvertragstätigen und auch der befristet Beschäftigten ist die Prekarisierung der Arbeitsgesellschaft längst in den Kernbereichen vieler Betriebe und damit auch in den Hochburgen der gewerkschaftlichen Organisation angekommen (Brinkmann et al. 2008; Dörre 2010). Die schlechteren Standards und die Beschäftigungsunsicherheit der prekär Beschäftigten wirken disziplinierend auf die formal noch sicher beschäftigten Festangestellten und ihre Interessenvertretungen zurück (Dörre et al. 2004; Kraemer und Speidel 2005; Weinkopf und Vanselow 2009). Aus genau diesem Grund ist die Organisierung von Leiharbeitenden und anderen prekär Beschäftigten sowohl von wissenschaftlichen Beobachtern als auch von den Gewerkschaften selbst zu einer der Schicksalsfragen der Erneuerung der Interessenvertretung erklärt worden (IG Metall 2007; IG Metall 2008; Dörre und Nachtwey 2009; Pernicka und Aust 2007). Wollen die deutschen Gewerkschaften ihren am Ideal inklusiver Klassensolidarität orientierten Anspruch aufrechterhalten, die Interessen nicht nur der eigenen Mitglieder, sondern aller abhängig Beschäftigten zu vertreten (Hyman 2001; Streeck 1979), dann führt kein Weg an der Einbindung prekär Beschäftigter vorbei. Ein in diesem Zusammenhang bislang nur wenig diskutierter, für die Handlungsmöglichkeiten der Interessenvertretungen jedoch höchst relevanter Faktor sind die Einschätzungen und Haltungen der Stammbelegschaften: Wie nehmen die zum Teil langjährig beschäftigten Stammkräfte das Instrument „Leiharbeit“ und die Leiharbeitenden selbst wahr? Denn – auch das hat die Vergangenheit gezeigt – es ist vor allem die aus den Machtpositionen der Stammbelegschaften entstehende Organisationsmacht, die insbesondere bei innovativen Formen der Interessenvertretung zur Verbesserung der Lage der Leiharbeitenden eingesetzt wird – und werden muss. Auf sich allein gestellt, sind die Leiharbeitenden in der Regel nur wenig durchsetzungsfähig. Gelingt es aber, das in den Betrieben durchaus vorhandene Machtpotenzial – die Zustimmungspflicht des Betriebsrats zur Mehrar-
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beit und Kurzarbeit sind nur zwei Beispiele dafür – auch für periphere Beschäftigtengruppen zu verwenden, können sich abseits des überkommenen Dualismus von Kern- und Randbelegschaften neue Formen „inklusiver“ Solidarität entwickeln. Davon profitieren langfristig nicht nur die Leiharbeitenden und andere prekär Beschäftigte, sondern auch die Stammbelegschaften und vor allem die Interessenvertretungen selbst (Brinkmann et al. 2008; Dörre und Nachtwey 2009; Holst et al. 2009). Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird die subjektive Verarbeitung der jüngsten Wirtschafts- und Finanzkrise durch Stammbelegschaften zu einem relevanten Faktor einer auf die Leiharbeitenden und andere prekär Beschäftigte ausgerichteten Interessenpolitik. Dass eine erfolgreiche Krisenbearbeitung bei vielen „überlebenden“ Beschäftigten die Bindung an den Betrieb gestärkt und die Akzeptanz von Flexibilitätsanforderungen erhöht hat (Dörre et al. 2009; Dörre et al. 2011), ist angesichts der schieren Gewalt der Krise zwischen Herbst 2008 und Frühjahr 2010 nur allzu verständlich; wie aber haben sich die Haltungen und Einschätzungen der Stammbelegschaften hinsichtlich des Instruments „Leiharbeit“ entwickelt? Zu dieser Fragestellung wie insgesamt zu den Auswirkungen der Krise auf das gegenwärtige Arbeitsbewusstsein gibt es noch keine handfesten empirischen Befunde. Mit Blick auf die öffentlichen Diskurse über den betrieblichen Einsatz von Leiharbeit erscheinen jedoch primär zwei Szenarien denkbar. Der vor allem vom Management, von Verleihfirmen und innerhalb der Wirtschaftswissenschaften geführte dominante ökonomische Diskurs fokussiert auf betriebswirtschaftliche Vorteile der Leiharbeit und ihre mutmaßlichen positiven Arbeitsmarkteffekte. Betont wird, dass Leiharbeit die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen stärkt, indem sie eine schnelle Anpassung an turbulente Märkte ermöglicht, und zugleich besonders benachteiligten Beschäftigtengruppen wie gering Qualifizierten oder Langzeitarbeitslosen eine Beschäftigungschance bietet. Indirekt erhöht die Flexibilität der Leiharbeitenden damit auch die Beschäftigungssicherheit der Stammbelegschaften (Niebur und Wachsmann 2007; Sende et al. 2010). Der in vielen Betrieben angewandte Modus der Krisenreaktion – Beschäftigungssicherheit für Stammbelegschaften bei gleichzeitigem Abbau von Leiharbeit – könnte durchaus zur Verbreitung eines Bildes der Leiharbeit als „Schutzschild“ für die Stammbelegschaften geführt haben. Gleichwohl steht der ökonomische Diskurs nicht allein – mit dem Prekarisierungsdiskurs hat sich längst ein vorwiegend von Gewerkschaften, Sozialverbänden und in Teilen der Sozialwissenschaften geführter Gegenentwurf etabliert. Im Zentrum dieses oppositionellen Diskurses stehen die disziplinierenden Effekte der Leiharbeit – und zwar sowohl auf die Leiharbeitenden selbst als auch auf die (noch) Festangestellten (Dörre et al. 2004; IG Metall 2008). Nicht wenige Stammbeschäftigte mussten in der Krise miterleben, wie Kollegen, mit denen sie
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zum Teil über mehrere Jahre eng zusammengearbeitet haben, quasi über Nacht den Betrieb verlassen mussten. Die in dieser Praxis zum Ausdruck kommende Verletzung des Prinzips der Leistungsgerechtigkeit könnte sich – eine gezielte Mobilisierung durch handlungsfähige Akteure vorausgesetzt – durchaus zu einer Keimzelle der Solidarisierung mit den Leiharbeitenden entwickeln. So relevant die Bewusstseinsformen, Einstellungen und Haltungen der Stammbelegschaften zum Thema „Leiharbeit“ sowohl für die Chancen einer Erneuerung der Interessenvertretung als auch für eine wissenschaftliche Analyse des Arbeitsbewusstseins im flexiblen Kapitalismus sind, so wenig ist bislang darüber bekannt. Während die Einschätzungen und Handlungsmuster von Interessenvertretungen (Wassermann und Rudolph 2009) bereits zum Gegenstand empirischer Untersuchungen geworden sind, fehlt es bislang an Studien, die das Flexibilisierungsinstrument Leiharbeit durch die Brille der Stammbelegschaften analysieren. An diesem Punkt setzt der vorliegende Beitrag an. Anhand umfangreichen quantitativen und qualitativen empirischen Materials aus einem Betrieb des verarbeitenden Gewerbes, der zu den traditionellen Hochburgen der deutschen Gewerkschaftsbewegung zählt, zeichnen wir den Blick der in der Krise im Betrieb verbliebenen Stammbeschäftigten auf die Leiharbeit nach. Dabei gehen wir jedoch nicht davon aus, dass die Arbeitenden einfach einen der beiden Diskurse internalisieren und sich damit eines der beiden genannten Szenarien ungebrochen durchsetzt (Said 1986; Wagner 1999: 55). Vielmehr gilt: Menschen sind keine „Theaterschauspieler, die einen im Voraus festgelegten Text rezitieren“ (Castoriadis 1997: 53). Empirisch vorfindbare Subjektivitäten entwickeln sich in permanenter, zumindest potenziell eigensinniger Auseinandersetzung mit der Umwelt; dadurch sind sie vielschichtiger, fragmentierter und zum Teil auch widersprüchlicher, als es sich manche Gouvernementalitätsstudie (Bröckling 2007), Diskursanalyse (Fairclough 2003) und Untersuchung zu politischen Einstellungen (Almond und Verba 1963) wünschen. Das Subjekt setzt sich in einem andauernden widersprüchlichen Prozess zu sich selbst und seiner Umwelt in Beziehung (Wagner 2001: 60ff.). Dabei dienen habitualisierte Handlungs- und Denkmuster und sedimentierte Erfahrungen als Interpretationsfolien für das jeweils Neue (Bourdieu 1999: 99ff.). In unserem konkreten Fall heißt dies: Vergangene Krisenerfahrungen, verfestigte Einstellungen und Orientierungen und auch die eigene Position im Betrieb und auf dem Arbeitsmarkt sind wichtige Faktoren, die es bei der Analyse der subjektiven Verarbeitung der jüngsten Krise und der individuellen Perspektive auf das Instrument „Leiharbeit“ zu berücksichtigen gilt. Ohne an dieser Stelle allzu viel vorwegzunehmen: Trotz einer deutlichen Einsicht in die Probleme der Leiharbeitenden und die möglichen negativen Rückwirkungen des Leiharbeitseinsatzes auf die eigene Zukunft bei der Mehrheit der Stammbeschäftigten kommt es nur in Ansätzen zu einer Solidarisierung mit
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den Leiharbeitenden. Vielmehr nimmt die durchaus vorhandene Solidarität unter den Arbeitenden die Form einer „exklusiven“ Solidarität an, die tendenziell an den Grenzen des eigenen Standorts halt macht. Verantwortlich hierfür – darauf deuten unsere Ergebnisse hin – sind die sedimentierten Orientierungen, die sich unter dem Eindruck des inzwischen über fast zwei Jahrzehnte anhaltenden Standortwettbewerbs herausgebildet haben. Die lange Kette von Krisen und ihrer erfolgreichen Bearbeitung hat die Beschäftigten gelehrt, dass die Stabilität des Standorts und damit auch des eigenen Beschäftigungsverhältnisses von der außerordentlichen Flexibilität der Belegschaft abhängig ist. Im Windschatten dieser Erfahrung hat sich eine Form „kompetitiver“ Solidarität etabliert, die zwar einen hohen Zusammenhalt in der Belegschaft mit sich bringt, die aber zugleich von jedem Einzelnen immer neue Flexibilitätsleistungen einfordert – mit ausgrenzenden Folgen für die Flexibilitätsverweigerer. Mit Blick auf die Leiharbeit und die Leiharbeitenden erzeugt ein solches Arbeitsbewusstsein tendenziell ambivalente Haltungen: Einerseits wird die Schlechterstellung der Leiharbeitenden politisch-normativ bedauert, andererseits gehört der Leiharbeitseinsatz zu den betriebswirtschaftlichen Notwendigkeiten, die die eigene Beschäftigungssicherheit erst ermöglichen. Diese Argumentation wird in mehreren Schritten entwickelt: Im Anschluss an die Einleitung wird der Fallbetrieb vorgestellt und die besondere Rolle, die Flexibilität inzwischen im Standortwettbewerb spielt, ausgelotet (2). Anhand des quantitativen und qualitativen empirischen Materials wird die subjektive Verarbeitung des seit Jahrzehnten anhaltenden Standortwettbewerbs nachgezeichnet (3). Der Blick der in der Krise „übriggebliebenen“ Stammbelegschaft auf das Instrument Leiharbeit und die Leiharbeitenden bildet den Gegenstand des darauf folgenden Abschnitts (4). Abschließend wird ein kurzes Fazit gezogen und anhand der Befunde der Möglichkeitsraum für eine „inklusive“ Interessenvertretung ausgeleuchtet (5).
Der Fallbetrieb: Flexibilität als Ressource im kennzahlengetriebenen Standortwettbewerb Der untersuchte Betrieb mit seinen heute rund 6.000 Beschäftigten hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Mehrfach von Schließung und massivem Personalabbau bedroht, gelang es dem lokalen Management und den betrieblichen Interessenvertretungen immer wieder, erfolgreich für den Erhalt des Standorts zu kämpfen. Einerseits wurden die Beschäftigten für Protestaktionen mobilisiert, um Druck auf die Zentrale des global agierenden Konzerns auszuüben. Andererseits – und wahrscheinlich noch wichtiger – entwickelte sich die Flexibi-
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lität der überwiegend aus qualifizierten Facharbeitern bestehenden Belegschaft zu einer wertvollen Ressource. Durch den auch im Vergleich mit anderen Konzernstandorten hohen Ausbildungsstand konnten viele Beschäftigte in Krisenzeiten relativ problemlos vorübergehend an anderen Standorten eingesetzt werden, zudem erleichterten die umfassenden Qualifikationen die in den 1990er Jahren notwendig gewordene produkttechnische Neuausrichtung des Standorts. Denn anders als in vielen anderen Beispielen betrieblicher Bündnisse (Rehder 2006) beruhten die verschiedenen Kompromisse nicht einfach nur auf immer neuen Zugeständnissen der Belegschaft. Den Interessenvertretungen gelang es in harten Auseinandersetzungen wiederholt, neue Zukunftsperspektiven für den Standort und die Belegschaft zu entwerfen. Allerdings scheint sich der Spielraum für derartige Kompromissbildungen durch den seit fast zwei Jahrzehnten forcierten, konzerninterne Standorte sowie externe Anbieter umfassenden Standortwettbewerb sukzessive zu verengen. Neue Produktionslinien werden vom Konzernmanagement inzwischen konsequent ausgeschrieben, das betriebswirtschaftlich lukrativste Angebot erhält den Zuschlag – im Ergebnis steht ein auf Dauer gestellter Flexibilitätswettbewerb, der von den Belegschaften immer neue Leistungen fordert. Deren Flexibilität spielt eine wichtige Rolle in diesem unternehmens- und nationale Grenzen überschreitenden Wettbewerb. Einerseits ermöglichen die flexiblen Arbeitszeitmodelle der Stammbelegschaften der Werksleitung und den Vorgesetzten eine passgenaue Anpassung des Arbeitskräftebestands an das schwankende Auftragsvolumen (ähnlich: Haipeter und Banyuls 2007). In den Boomjahren 2007 und 2008 wurden erhebliche Stundenguthaben aufgebaut, die in der Krise über mehrere Monate abgeschmolzen werden konnten. Andererseits stellten (und stellen wieder) flexible Beschäftigungsverhältnisse – vorwiegend Leiharbeit und Befristungen – ein Anpassungspotenzial für den Fall der Fälle dar. Ohne Sozialplanverhandlungen und ohne Abfindungen zahlen zu müssen, konnte der Standort in der Krise seine Belegschaft um mehr als 10 Prozent reduzieren. Die Bedeutung der Flexibilität im Standortwettbewerb wird auch daran deutlich, dass sowohl die Arbeitszeitflexibilität als auch der Anteil flexibler Beschäftigungsverhältnisse zu den Indikatoren gehören, die konzernintern für einen Benchmark der Standorte herangezogen werden. Die Wettbewerbsfähigkeit einzelner Standorte wird längst nicht mehr nur an den Kosten und Erträgen gemessen, sondern auch an der vorhandenen Flexibilität der Belegschaft im Sinne eines Anpassungspotenzials an eine noch ungewisse Zukunft. Wie wichtig sie für die Wettbewerbsfähigkeit des Untersuchungsbetriebs ist, zeigte sich in der Wirtschafts- und Finanzkrise: Ein Teil der „überzähligen“ festen Arbeitskräfte konnte an Konzernstandorte mit Personalbedarf verschoben werden. Dieser Personalbedarf war mit der zentralen Entscheidung des Konzernmanagements ent-
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standen, alle Leiharbeitenden „auszusteuern“ und befristete Arbeitsverträge nicht zu verlängern. Durch die Personalverschiebungen konnten die Personalkosten kurzfristig reduziert und damit konnte das Quartalsergebnis spürbar verbessert werden. Der Flexibilitätswettbewerb ist fest im Steuerungssystem des Konzerns verankert, das kapitalmarktorientiert, hoch flexibel und an Kurzfristzielen orientiert ist – allerdings ohne Verweis auf die verbreitete Shareholder-Value-Semantik, die als Leitbild in den Legitimationsstrategien des Managements bereits seit 2006 mehr und mehr in den Hintergrund getreten ist. Entscheidende Ursache hierfür war ein Wechsel im Konzernvorstand. Die Substanz des an kurzfristigen Gewinn- bzw. Renditezielen orientierten Kontrollregimes lebt jedoch fort. Entscheidende Hebel sind die Budgetierung und die zentrale Personalplanung. Die Abteilungsleiter haben zwar Ergebnisverantwortung, werden aber von der Zentrale über Budgets gesteuert. Auch Personalausgaben sind budgetiert – und genau dies erzeugt Druck auf die Beschäftigten und ihre Interessenvertretungen. In Phasen anziehender Konjunktur sehen sich die Verantwortlichen nach Ausschöpfung des Personalkontingents gezwungen, auf Leiharbeiter auszuweichen, weil diese als Sachkosten geführt werden können. Wie viele andere Einheiten weltmarktorientierter Unternehmen, operiert auch der Fallbetrieb mit der Vorgabe, einen festen Bestandteil der Belegschaft flexibel zu halten. Die Konsequenzen dieser Politik sind in der Krise deutlich zu Tage getreten: Es galt das Motto: „Ergebnis retten!“. Mit dem Ziel erhöhter Liquidität und eines begrenzten Abflusses finanzieller Mittel wurden in nahezu allen Bereichen kurzfristige Einsparmöglichkeiten gesucht und selbst dann ausgenutzt, wenn dadurch die Stabilität der Produktionsprozesse gefährdet wurde. Zudem entschied die Konzernzentrale, dass die Verträge der Leiharbeiter und befristet Beschäftigten nicht verlängert wurden; unabhängig von den Folgen für die betrieblichen Abläufe musste das Standortmanagement dieser Entscheidung Folge leisten.
„Verbetrieblichung“ des Arbeitsbewusstseins und „kompetitive“ Solidarität Die Krisenreaktion im Fallbetrieb entsprach somit einem weit verbreiteten Muster: Während die Arbeitsplätze der Stammbelegschaft durch einen intensiven Rückgriff auf Kurzarbeit und die maximale Ausnutzung der Arbeitszeitflexibilität gesichert werden konnten, wurden zugleich atypisch Beschäftigte wie Leiharbeiter, befristet Beschäftigte sowie Werk- und Dienstvertragsnehmer mit Krisenbeginn abgebaut. Das von Management und Interessenvertretungen durchgesetzte „Beschäftigungsversprechen“ an die Stammbelegschaft hatte somit auch eine
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negative Seite: Arbeitsplatzverluste in den peripheren Belegschaftsgruppen. Wie haben nun die Stammbeschäftigten sowohl den schon seit mehr als einem Jahrzehnt anhaltenden Standortwettbewerb, der sie tendenziell zu immer größeren Flexibilitätsleistungen zwingt, als auch die Krisenreaktionen von Management und Interessenvertretungen verarbeitet? Auf der Basis umfangreicher empirischer Erhebungen – einer qualitativen Befragung von Beschäftigten im Herbst 2009 (n=55) und einer quantitativen Belegschaftsbefragung im Sommer 2010 (n=1442)1 – können wir sehr präzise Aussagen zur subjektiven Krisenverarbeitung machen. Deutlich zu Tage tritt eine Form eines „verbetrieblichten“ Arbeitsbewusstseins (ursprünglich: Dörre et al. 2011). Vor dem Hintergrund einer dezidiert kritischen Perspektive auf die gegenwärtige Gesellschaft, die als Ort der Ungerechtigkeiten und Unsicherheiten wahrgenommen wird, gerät der Betrieb zum primären Bezugspunkt. Im Vergleich mit anderen Untersuchungen (Holst et al. 2009: 28f.; Singe 2009) fällt jedoch die hohe normativ positive Identifikation der Belegschaft mit dem Standort auf: Der Betrieb stellt nicht einfach nur eine Einheit im Nahbereich dar, auf deren Entwicklung man im Gegensatz zur weitläufigen und undurchdringbaren Gesellschaft mit dem eigenen Handeln Einfluss nehmen kann, sondern wird normativ positiv als Ort der Stabilität und Sicherheit wahrgenommen – nicht zuletzt aufgrund der erfolgreich bearbeiteten Krisen, der fest verankerten Mitbestimmungskultur und der hohen Beschäftigungsstabilität. Allerdings ist das normativ „Gute“ des eigenen Betriebs permanent bedroht: Insbesondere die langjährig Beschäftigten sind sich bewusst, dass die das hohe Maß an Identifikation und Loyalität befördernden positiven Merkmale des Standorts auf den eigenen, immer wieder neu zu erbringenden Flexibilitätsleistungen beruhen. Auf dieser Basis hat sich in der Belegschaft eine „kompetitive“ Solidarität herausgebildet, die zwar einer solidarischen Gleichbelastung aller Beschäftigten das Wort redet, die aber auch von jedem Einzelnen entsprechende Leistungen einfordert.
1
Es wurden Facharbeiter und Angestellte aus dem Produktionsbereich befragt. Gut 92 Prozent der Befragten sind vollzeitbeschäftigte, weitere 3 Prozent teilzeitbeschäftigte Stammmitarbeiter, etwas weniger als fünf Prozent haben den Status eines Leiharbeiters oder eines befristet bzw. geringfügig Beschäftigten. Fast 55 Prozent sind als Auszubildende in den Konzern eingetreten, weitere fast 20 Prozent kamen als Quereinsteiger aus anderen Unternehmen. 21 Prozent haben einen Zugang über befristete Beschäftigung gefunden und gute vier Prozent begannen als Leiharbeiter. Knapp 7 Prozent sind als Sachbearbeiter, zum Teil im Angestelltenstatus beschäftigt, die Mehrheit von über 86 Prozent lässt sich der Gruppe der Facharbeiter zuordnen und knappe sieben Prozent firmieren als Ungelernte. Dabei besitzen nur gut drei Prozent keinen Berufsabschluss, gut 88 Prozent verfügen über eine Fachausbildung und fast neun Prozent haben weitergehende Abschlüsse. 12 Prozent sind unter 25 Jahre alt, fast 21 Prozent zwischen 25 und 34 Jahre, weitere gut 28 Prozent zwischen 35 und 44 bzw. mehr als 29 Prozent zwischen 45 und 54 Jahre. Älter als 55 Jahre sind knappe zehn Prozent der Befragten.
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„Guter Standort“ – Regionale Identifikation als Flexibilitätsressource In der Belegschaftsbefragung sticht die hohe Identifikation der Beschäftigten mit „ihrem“ Standort heraus: Fast 60 Prozent stellen das Unternehmen gegenüber Freunden und Bekannten als besonders guten Arbeitgeber dar, ein weiteres Drittel macht das immerhin gelegentlich. Mit „Haut und Haar“ dem Betrieb zugehörig fühlen sich mehr als 58 Prozent der Befragten. Für fast 29 Prozent trifft dies teilweise zu, und nur eine Minderheit von 13 Prozent entwickelt eine solche Identifikation nicht. Die Älteren weisen hier im Mittel geringfügig stärkere Ausprägungen aus, während es bei der Altersgruppe der unter 25-Jährigen doch zu stärkeren Einbußen kommt. Womöglich baut sich die stärkere Identifikation mit den gesammelten Erfahrungen über die Jahre der Betriebszugehörigkeit erst auf. Zwar kann bei einem Anteil von 20 Prozent in der jüngsten Altersgruppe, die keine entsprechende Zugehörigkeit verspüren, kaum von einer generellen Erosion des Firmenbewusstseins die Rede sein; aber das Unternehmen zehrt offenbar von seinem traditionell guten Ruf in der Region und damit letztlich von seiner Vergangenheit. Für den Betrieb stellt die starke Identifikation eine wichtige Ressource dar. Mit der als positiv empfundenen Zugehörigkeit zum Werk geht die Bereitschaft einher, sich mehr als nötig zu engagieren, um zum Unternehmenserfolg beizutragen: 65 Prozent stimmen dieser Aussage zu, nur 8 Prozent der Befragten lehnen sie ab. Hier dürften sich die wiederholten Krisen- und Umstrukturierungserfahrungen der Beschäftigten niederschlagen. Immerhin 64 Prozent der Beschäftigten geben an, durch ihre Flexibilität den eigenen Arbeitsplatz zu sichern, weitere 30 Prozent sehen das teilweise als gegeben an. Durch eigene Flexibilität zum wirtschaftlichen Erfolg des Standorts beizutragen und damit auch das eigene Beschäftigungsverhältnis zu stabilisieren, gehört somit zu akzeptierten Grundsätzen in der Belegschaft. Ein wichtiges Fundament des positiven Blicks auf den eigenen Betrieb ist die ausgeprägte Mitbestimmungskultur. Während in ähnlich gelagerten Untersuchungen die Bindung der Beschäftigten an den Betrieb auf Kosten der Gewerkschaftsaffinität geht (Behr 2009), gehört die Beteiligung der Interessenvertretungen an den wichtigsten Entscheidungen des Standorts zu den Grundpfeilern der positiven Wahrnehmung des Betriebs. Zwar attestiert ein gutes Drittel der Gewerkschaft, zu wenig Einblick in die betrieblichen Probleme zu haben, über 90 Prozent stimmen jedoch ganz oder zumindest teilweise der Aussage zu, die Gewerkschaft handele vorausschauend. Das Statement, die IG Metall repräsentiere die Belegschaft, lehnen nur 12 Prozent der Beschäftigten ab. Die Mitbestimmungstradition spielt eine Schlüsselrolle für die hohe positive Identifikation mit dem Standort. Dass Gewerkschaft und Betriebsrat im Werk „Hand in Hand“ gehen, nehmen 60 Prozent zur Gänze oder eher wahr, nur knappe 10 Prozent
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können dies nicht erkennen. Eine ähnlich positive Bewertung erfährt auch die Zusammenarbeit zwischen Standortmanagement und Interessenvertretung in der Krise. Nur eine Minderheit von unter 20 Prozent sieht das Verhalten von Management und Betriebsrat in der Krise kritisch und lehnt das Statement ab, dass beide Seiten „gut zusammengearbeitet und größeren Schaden abgewendet haben“. Wenig überraschend kommt der Betriebsrat besonders gut weg: 67 Prozent der Befragten gestehen den Interessenvertretern zu, alles unternommen zu haben, um die Arbeitsplätze zu sichern; weniger als 6 Prozent weisen dies zurück. Die im Sinne ausgebliebener Kündigungen erfolgreiche Krisenverarbeitung drückt sich auch in einem – zumindest auf den ersten Blick – überraschend deutlich ausgeprägten Sicherheitsempfinden aus: Nur weniger als 16 Prozent der Befragten befürchten, ihren derzeitigen beruflichen Status nicht halten zu können. Hingegen haben 56 Prozent gar keine derartigen Befürchtungen, der Rest antwortet mit „teils/teils“. Angesichts der großen Wucht, mit der die Krise nicht nur den Fallbetrieb, sondern das gesamte exportorientierte verarbeitende Gewerbe in Deutschland getroffen hat, ist dies bemerkenswert. Zum Vergleich: In der repräsentativen Befragung des GMF-Surveys vom Juli 2009 antworteten 46 Prozent der Befragten, dass die Krise ihre bisherige Lebensplanung bedroht (Heitmeyer 2010: 24). Auch andere Aspekte unserer Befragung verweisen auf das vergleichsweise hohe Maß an subjektiver Sicherheit: Nur 9 Prozent der Befragten können der Aussage nicht zustimmen, dass ihre Ausbildung ein sicheres Fundament für die Zukunft darstellt. Auch die geringe Wechselneigung der Beschäftigten zeugt von hohem Sicherheitsempfinden. Weniger als 20 Prozent denken überhaupt an einen Wechsel des Arbeitgebers und gar nur 6 Prozent schreiben gelegentlich eine Bewerbung. Damit verankert die große Mehrheit der Beschäftigten ihre erwerbsbiografische Zukunft im Untersuchungsbetrieb. Dieser erscheint den Beschäftigten trotz – oder: gerade wegen der Krisenturbulenzen – als Ort der Stabilität. „Schlechte Gesellschaft“ – Alltagskritik am Finanzmarktkapitalismus Die positive Wahrnehmung des eigenen Standorts beruht einerseits auf der funktionierenden Mitbestimmungskultur, dem hohen Maß an Beschäftigungssicherheit und der Tradition des Interessenausgleichs, die sich in der langen Kette erfolgreich bearbeiteter Krisen materialisiert. Andererseits liegt der positiven Einschätzung des Betriebs auch ein ausgesprochen kritischer Blick auf die gegenwärtige Gesellschaft zugrunde (ebenfalls: Behr 2009; Dörre et al. 2011). Der Ansicht, dass der gesellschaftliche Wohlstand besser verteilt werden müsse, stimmen fast 74 Prozent der Befragten völlig oder eher zu, nur eine verschwindend geringe Minderheit von weniger als 4 Prozent sieht diesbezüglich keinen
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Handlungsbedarf. In ganz ähnlichem Ausmaß wird dem Statement zugestimmt, dass es in der Gesellschaft nur noch ein Oben und ein Unten gebe. Eine solchermaßen polarisierte Gesellschaft erkennen gut 72 Prozent der Befragten, weitere 27 Prozent sehen derartige Tendenzen zumindest teilweise. Dass die heutige Wirtschaftsweise auf Dauer nicht überlebensfähig sei, findet bei mehr als der Hälfte der Befragten Zustimmung; nur 12 Prozent können dieser Perspektive wenig bis gar nichts abgewinnen. Allerdings – und auch hier liegt ein entscheidender Unterschied zur Perspektive auf den Betrieb – geht die Gesellschaftskritik nicht mit einer Handlungsperspektive einher. Während die Mitbestimmungsmöglichkeiten vor Ort tendenziell als positiv eingeschätzt werden, steht die Mehrheit der Beschäftigten den gesellschaftlichen Entwicklungen ohnmächtig gegenüber. Die heutige Gesellschaft und damit auch der Kapitalismus in seiner gegenwärtigen Verfasstheit werden als unveränderlich wahrgenommen: Fast 75 Prozent stimmen der Aussage „Kritik am kapitalistischen System führt nicht weiter, das sind nun mal die Spielregeln“ ganz oder zumindest teilweise zu. Nur ein Viertel kann dieser Aussage nichts abgewinnen. Damit bestätigen die quantitativen Daten, was auch schon in der qualitativen Erhebung angeklungen ist. Die Beschäftigten agieren vor allem als Alltagskritiker des Finanzmarktkapitalismus und seiner sozialen Verwerfungen. Über 70 Prozent der Befragten stimmen dem Statement zu, dass Gewerkschaften eine „notwendige Gegenmacht gegenüber Kapital- und Finanzmarktinteressen“ darstellen. Weitere 23 Prozent stimmen teilweise zu, nur 7 Prozent lehnen diese Aussage ab. In unseren qualitativen Interviews sind wir relativ häufig einer harten Kritik an den Akteuren des Finanzmarkts und am Top-Management begegnet. In den Worten eines langjährigen Beschäftigten: „Das dumme Geschwätz um die Aktionäre ist eigentlich das persönliche Verlangen von den Managern, die einfach eine Weltfirma machen wollen, einfach der weltbeste Manager sein zu wollen. Das ist das, was ihnen das Selbstbewusstsein gibt. Das Geld interessiert sie gar nicht so sehr, die wollen nur Weltmeister sein und sich profilieren. Wer 10 oder 20 Millionen verdient, den interessiert das gar nicht. Wichtig ist einfach, dass er groß rauskommt und bekannt ist.“ Damit gehen unsere Befunde in eine ähnliche Richtung wie die Ergebnisse des repräsentativen Bielefelder GMF-Surveys: Einerseits sahen dort 89 Prozent der Befragten die Ursache der Krise im Verhalten der „Bänker und Spekulanten“, anderseits stimmten 82 Prozent der Aussage zu, dass „Leute wie ich für die Fehler von Wirtschaft und Politik geradestehen“ müssen (Heitmeyer 2010: 34 und 24).
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Sicherheit auf Zeit – Kompetitive Solidarität und die „letzte Generation“ Für die Mehrheit der Befragten ist die Sicherheit des Standorts und der eigenen Beschäftigung allenfalls eine Sicherheit auf Zeit. Vor allem die globale Standortkonkurrenz bedroht den Betrieb und damit auch die eigene Position: Sage und schreibe 77 Prozent der Befragten stimmen der Aussage zu, dass die Arbeitnehmer in der internationalen Standortkonkurrenz immer mehr unter Druck geraten, nur 2 Prozent verneinen dies. Und auch die Intensität des globalen Wettbewerbs ist in den Köpfen der Menschen angekommen: 73 Prozent geben an, dass der Konzern „täglich in einem harten Wettbewerb“ steht, für nicht einmal 4 Prozent trifft diese Aussage nicht zu – auch dies ein Blick in die Zukunft, der erhöhte Flexibilitätsanforderungen gleichsam vorwegnimmt. Nach innen führt der Druck der ökonomischen Verhältnisse zur Herausbildung einer „kompetitiven“ Solidarität, die – wenn auch letztlich erfolglos – auf eine den Flexibilitätsanforderungen des Betriebs Grenzen setzende Gleichbehandlung aller dringt, aber auch den Flexibilitätsbeitrag eines jeden Einzelnen fordert. Nur 15 Prozent der Befragten lehnen die Aussage ab, dass die Kollegen bestrebt sind, die Belastungen gleichzuhalten. Zugleich mahnen aber auch 41 Prozent, dass es Kollegen gibt, die sich vor Flexibilisierungsmaßnahmen drücken wollen, weitere 31 Prozent stimmen dem zumindest teilweise zu. Das verdeutlicht, dass das Gros der Beschäftigten sich bewusst ist, immer mehr investieren zu müssen, um die Stabilität des eigenen Beschäftigungsverhältnisses und damit auch des Standorts als Ganzes dauerhaft gewährleisten zu können. In diesem Sinne besteht zwischen der Flexibilität der Beschäftigten und der Sicherheit ein fragiles reziprokes Wechselverhältnis: Einerseits bildet die Stabilität des Beschäftigungsverhältnisses die Voraussetzung der Flexibilität, andererseits muss die Beschäftigungssicherheit auch permanent mit neuen Flexibilitätsleistungen erkauft werden. Dass eine auf Wettbewerbsfähigkeit ausgerichtete Solidarität auch ausgrenzend wirken kann, zeigt sich vor allem beim Blick nach außen: Mehr als die Hälfte der Befragten unserer Studie (54 Prozent) ist der Meinung, auf Arbeitslose solle größerer Druck ausgeübt werden, ein weiteres Drittel stimmt dem immerhin teilweise zu. Eine ähnliche sozialpolitische Orientierung scheint auch in der hohen Zustimmung zum Statement „Eine Gesellschaft, in der jedermann aufgefangen wird, ist nicht überlebensfähig“ durch: Fast 50 Prozent stimmten dieser Aussage zu, nur eine kleine Minderheit von 15 Prozent lehnte sie ab. Ganz im Sinne der zeitgenössischen aktivierungspolitischen Rhetorik wird jenen, die ihren Beitrag zum Erfolg der Gemeinschaft nicht leisten (können), mit dem Entzug der Solidarität gedroht. Insgesamt zeigt sich, dass die hohe Identifikation der Beschäftigten mit dem Standort und ihre Flexibilitätsbereitschaft zwar wichtige Ressourcen des Betriebs
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darstellen, doch die auf kurzfristige Renditen ausgerichtete Unternehmensführung gefährdet offenkundig die Reproduktion dieser habitualisierten Einstellungen. Zwar konnte die Stammbelegschaft in der Krise gesichert werden, zugleich wurde den Festangestellten jedoch am Beispiel von Leiharbeitern und Befristeten eindringlich demonstriert, was geschehen kann, wenn man aus der vergleichsweise geschützten Position herausfällt. Ein langjähriger Beschäftigter, dessen eigener Vater selbst mehr als drei Jahrzehnte im Betrieb gearbeitet hat, beschreibt mit Blick auf die zukünftigen Arbeitsmarktchancen seiner Kinder die Zukunftserwartungen der formal sicher beschäftigten Stammbelegschaft: „Ich habe Kinder und die müssen auch irgendwann mal arbeiten. Und wenn da keine neuen [Arbeitsplätze, HM] dazukommen, dann bringt mir das nicht viel, dass nur mein Arbeitsplatz sicher ist. […] Irgendwann hört das auf. Ja aber das hört auf, früher hat man gesagt: ‚Man lernt hier und geht auch hier in Rente.‘ Ich glaub meine Generation ist die letzte. Und danach wird das vorbei sein. Oder man muss flexibel sein. An anderen Standorten arbeiten, in anderen Ländern, wie auch immer. Aber, ob das alles machbar ist? Man muss auch die Frau dazu haben, die das alles mitmacht. Und wenn man die Kinder die ganze Woche nicht sieht, ist das auch nichts. Auf Dauer ist das nichts. Und ob die Firma das wirklich zu schätzen weiß, dass man so flexibel ist?“ Gerade an der letzten Passage wird deutlich, dass die Zukunft selbst für die Beschäftigten mit langer Betriebszugehörigkeit unsicher geworden ist. Die Flexibilitätsanforderungen steigen permanent und zugleich schwindet die Halbwertszeit vergangener Leistungen. Im beschleunigten und zunehmend global ausgetragenen Standortwettbewerb muss die Stabilität des eigenen Beschäftigungsverhältnisses permanent neu erarbeitet werden. Ob sich für zukünftige Generationen noch ein vergleichbares Maß an Beschäftigungsstabilität realisieren lässt, ist somit mehr als fraglich.
Leiharbeit im Spiegel des Arbeitsbewusstseins Vor dem Hintergrund eines auf den „guten Standort“ als Insel der Stabilität fixierten verbetrieblichten Arbeitsbewusstseins stellt sich nun die Frage, wie die Befragten das Instrument Leiharbeit und die Leiharbeitenden selbst wahrnehmen. In der Belegschaftsbefragung wurden 13 Fragen zum Thema „Leiharbeit“ gestellt. Gefragt wurde nach der Funktion der Leiharbeit für den Betrieb, den Vorteilen der Leiharbeitsnutzung und möglichen negativen Folgen sowohl für den Betrieb als ökonomische Einheit als auch für die Betroffenen selbst und die Stammbeschäftigten. Um es vorwegzunehmen: Die Einstellungsmuster, Haltungen und Einschätzungen, die sich in dem empirischen Material finden lassen,
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sind längst nicht so eindeutig wie der Blick auf die beiden öffentlichen Diskurse erwarten lassen würde. Beim Gros der Beschäftigten finden sich Elemente sowohl des Prekarisierungs- als auch des betriebswirtschaftlichen Diskurses. Deutlich wird, dass die in der Belegschaft durchaus präsente Einsicht in die Probleme der Leiharbeitenden nicht automatisch zu einer Solidarisierung mit ihnen führt. Vielmehr forciert der Standortwettbewerb auch Formen der „exklusiven“ Solidarität: Mit Blick auf die Leiharbeitenden befinden sich die Stammbeschäftigten in einer ähnlichen Zwickmühle wie mit den Flexibilitätsanforderungen insgesamt. Aufgrund des immer raueren wirtschaftlichen Umfeldes sehen sich die Beschäftigten in der Gegenwart gezwungen, immer neue Flexibilitätsleistungen zu erbringen, die – dessen sind sie sich durchaus bewusst – langfristig auch die eigene Position bedrohen können. Der Einsatz der Leiharbeiter gehört zu diesem Spiel. Tab. 1:
Einstellungen zur und Einschätzungen der Leiharbeit
Item Leiharbeit ermöglicht es dem Betrieb, flexibel auf Anforderungen des Marktes zu reagieren. Vielen Leiharbeitern fehlt es an der Qualifikation. Die Einarbeitung ist so aufwändig, dass es fragwürdig ist, ob Leiharbeit sich für den Betrieb überhaupt lohnt. Der Einsatz von Leiharbeitern sichert die Arbeitsplätze der Stammbelegschaft. Eigentlich braucht Betrieb mehr Leiharbeiter. Begrenzung der Anzahl der Leiharbeiter. Leiharbeit wird auch genutzt, um Konkurrenz in Betrieb zu bringen. Leiharbeiter sind häufig übermotiviert, weil sie einen festen Job wollen. Leiharbeiter reißen die Stammbelegschaft mit ihrem Einsatzwillen manchmal regelrecht mit. Leiharbeiter im Grunde Arbeitnehmer 2. Klasse. Leiharbeiter gehören genauso zur Betriebsfamilie wie Stammkräfte. Vorgesetzte behandeln Stamm- und Leihkräfte gleich. Leiharbeiter werden durch den Betriebsrat vor Ort gut betreut und vertreten.
stimme zu
teils/ teils
stimme nicht zu
N
61,6
25,7
12,7
1.350
60,5
28,9
10,6
1.336
31,0
40,7
28,3
1.255
20,4
29,2
50,4
1.262
7,5 73,6
19,3 16,4
73,2 10,0
1.264 1.274
41,8
28,1
30,1
1.211
57,9
28,1
14,0
1.308
13,0
29,9
57,1
1.237
55,1
21,4
23,5
1.291
30,8
26,3
42,9
1.291
34,1
36,6
29,3
1.255
50,0
33,3
16,7
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Die Tabelle 1 bildet die 13 Items mit den jeweiligen Antworthäufigkeiten ab. Gleich im ersten Item wird deutlich, dass der betriebswirtschaftliche Diskurs auch im Untersuchungsbetrieb seine Spuren hinterlassen hat: Über 60 Prozent der Befragten stimmen dem Item völlig oder eher zu, dass Leiharbeit es dem Betrieb ermöglicht, flexibel auf die Marktanforderungen zu reagieren, ein weiteres Viertel nimmt dies als partiell gegeben an. Allerdings ist der Blick auf den Beitrag der Leiharbeiter zum Erhalt der eigenen Arbeitsplätze ungleich skeptischer: Nur gute 20 Prozent stimmen dieser Perspektive zu, aber mehr als 50 Prozent sehen im Einsatz von Leiharbeitern keinen solchen Sicherungsmodus. Dazu passt auch die häufig geäußerte Kritik, dass es den Leiharbeitenden an der notwendigen Qualifikation mangelt: Nur 11 Prozent der Befragten stimmen dieser Aussage gar nicht zu. Allerdings stellen auch nur 31 Prozent in Frage, dass sich der Aufwand der Einarbeitung lohnt. Deutlich zurückgewiesen wird auch die Forderung, dass der Betrieb noch mehr Leiharbeiter bräuchte: Fast drei Viertel widersprechen einem solchen Statement, nur knappe 8 Prozent stimmen völlig oder eher zu. Genauso hoch ist die Zustimmung zur umgekehrten Forderung: Mehr als 73 Prozent sind der Ansicht, dass die Anzahl der Leiharbeiter begrenzt werden sollte. Die kritische Haltung ist auch ein Ausdruck der Einschätzung der negativen Folgen des Leiharbeitseinsatzes, sieht doch ein erheblicher Anteil der Befragten darin ebenfalls eine bewusst herbeigeführte Konkurrenz: Knapp 42 Prozent vermuten hinter dem Einsatz (auch) ein solches Kalkül des Managements, nur ein knappes Drittel verneint diese Einschätzung. Dass die Leiharbeitenden unter besonderem Druck stehen, erkennt die Mehrheit der Stammbeschäftigten: Nur 14 Prozent weisen die Aussage zurück, dass die Leiharbeiter häufig übermotiviert um einen festen Job ringen. Die hohe Motivation der Leiharbeitenden hat aber offensichtlich nur wenige Rückwirkungen auf die Stammbeschäftigten selbst. Lediglich 13 Prozent stimmen der Aussage zu, dass die Leiharbeiter durch ihren Einsatzwillen die Stammbeschäftigten manchmal regelrecht mitreißen. Vor diesem Hintergrund überrascht es wenig, dass gute 55 Prozent der Befragten einschätzen, dass Leiharbeiter im Grunde genommen Arbeitnehmer 2. Klasse seien, ein weiteres Fünftel sieht dies noch in Teilen als Faktum an. Trotz der kritischen Perspektive auf die Folgen der Leiharbeit kommt es jedoch eher nicht zu einer aktiven Solidarisierung mit den Leiharbeitenden im Arbeitsalltag: Dass Leiharbeiter ebenso zur Betriebsfamilie gehören (ggf. sich auch damit identifizieren) wie die Stammbeschäftigten, sehen nur knappe 31 Prozent, während 43 Prozent dies als weniger oder gar nicht gegeben einschätzen. Unterfüttert wird diese Einschätzung durch die Beobachtung, dass die Leiharbeiter von den Vorgesetzten nicht wie die Stammbeschäftigten behandelt werden; nur etwas mehr als ein Drittel erkennt eine Gleichbehandlung, während fast 30 Prozent hier deutliche Unterschiede wahrnehmen. Umso wichtiger
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erscheint es, dass Leiharbeiter durch den Betriebsrat gut vertreten werden: In dieser Hinsicht attestieren die Befragten ihren Interessenvertretern zu 50 Prozent eine gute Arbeit, während deutlich weniger als ein Fünftel diesbezüglich Defizite erkennt. Drei Perspektiven auf Leiharbeit – betriebswirtschaftlicher Nutzen, leistungspolitische Kritik und soziale Integration Die eingangs skizzierten zwei gesellschaftlichen Debattenstränge zur Leiharbeit – der ökonomische und der Prekarisierungsdiskurs – stehen sich in der Regel konfrontativ gegenüber und schließen sich gegenseitig aus. An dieser Stelle ist daher zu prüfen, ob dem auch in den Einschätzungen der Befragten so ist. Die 13 Items zu Einstellungen bzw. zu Perspektiven auf Leiharbeit wurden daher faktorenanalytisch2 bearbeitet. Im Ergebnis zeigt sich eine dimensionale Reduzierung auf vier reliable Skalen und damit zum einen eine gegenüber den dominanten gesellschaftlichen Diskursen stärker ausdifferenzierte Betrachtung (gleichwohl sich in ersteren auch entsprechende Aspekte finden lassen) und zum anderen ein wesentlich vielschichtigerer Blick auf das Phänomen Leiharbeit, der ökonomische, leistungspolitische und soziale, aber auch qualifikatorische Aspekte parallel berücksichtigt. In den ersten Faktor gehen die folgenden Items ein: „Leiharbeit ermöglicht es dem Betrieb, flexibel auf die Anforderungen des Marktes zu reagieren“; „Der Einsatz von Leiharbeitern sichert Arbeitsplätze der Belegschaft“; „Eigentlich bräuchte der Betrieb mehr Leiharbeiter“; „Die Anzahl der Leiharbeiter sollte nicht begrenzt werden“. Der Faktor erreicht eine Varianzaufklärung von 19,5 Prozent3 und wird im Folgenden als betriebswirtschaftlicher Nutzen der Leiharbeit bezeichnet. Im zweiten Faktor (Varianzaufklärung: 13,2 Prozent) vereinen sich die Items: „Leiharbeit wird auch genutzt, um Konkurrenz in den Betrieb zu bringen“; „Leiharbeiter sind häufig übermotiviert, weil sie
2
Die Hauptkomponentenanalyse wurde als schiefwinklige Rotation nach der Oblimin-Methode durchgeführt. Im Vergleich mit der Varimax-Rotation ergaben sich robustere Faktoren und eindeutigere Zuordnungen der Variablen, was die Wahl der Methode auch intendiert. Dass im Ergebnis miteinander korrelierende Faktoren stehen, die Trennschärfe zwischen den einzelnen Faktoren also relativ gering ausfällt, entspricht der in den Interviews gemachten Beobachtung, dass sich in Bezug auf die Bilanzierung der Leiharbeit jeweils verschiedene Perspektiven vermischen, also etwa die ökonomischen Vorteile für den Betrieb ebenso reflektiert werden wie die individuellen Belastungen. Faktisch korrelieren die Komponenten allerdings nur schwach miteinander: Komponenten 1 und 2: .013; Komponenten 1 und 3: .254; Komponenten 2 und 3: .002. 3 Im Gegensatz zu orthogonalen Rotationen lassen sich die nachfolgend angeführten Werte der Varianzaufklärung nicht einfach zu einer Gesamtaufklärung addieren, da die Faktoren mit der Oblimin-Rotation methodisch miteinander korrelieren.
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einen festen Job wollen“; „Leiharbeiter sind im Grunde genommen Arbeitnehmer 2. Klasse“; „Leiharbeiter reißen die Stammbelegschaft mit ihrem Einsatzwillen manchmal regelrecht mit“. Diesen Faktor bezeichnen wir als leistungspolitische Kritik der Leiharbeitsnutzung. In den dritten Faktor (Varianzaufklärung: 9,9 Prozent) gehen die nachstehenden Items ein: „Vorgesetzte behandeln Stamm- und Leihkräfte gleich“; „Leiharbeiter werden durch den Betriebsrat vor Ort gut betreut und vertreten“; „Leiharbeiter sind Unternehmensangehörige wie die Stamm-Mitarbeiter“. Diesen Faktor bezeichnen wir als soziale Integration der Leiharbeitenden. Der vierte Faktor (Varianzaufklärung: 9,6 Prozent) besteht nur aus zwei Items: „Vielen Leiharbeitern fehlt es an der Qualifikation“; „Die Einarbeitung ist so aufwändig, dass es fragwürdig ist, ob Leiharbeit sich für den Betrieb überhaupt lohnt“. Diesen Faktor nennen wir qualifikatorische Dimension der Leiharbeit, aber aufgrund der Tatsache, dass nur zwei Items einfließen, konzentriert sich die folgende Analyse auf die anderen drei reliablen Faktoren. Die Tabelle 2 fasst die drei Faktoren zusammen und bildet ihre Häufigkeiten ab. Tab. 2:
Ausprägungen der Einschätzungen von Leiharbeit nach faktorenanalytischen Dimensionen
Faktor Leistungspolitische Kritik der Leiharbeitsnutzung Betriebswirtschaftlicher Nutzen der Leiharbeit Soziale Integration der Leiharbeitenden
stimme zu 38,4 27,2 32,1
teils/ teils 47,1 59,0 45,3
stimme nicht zu 14,5 13,8 22,5
Der dem Prekarisierungsdiskurs am deutlichsten entsprechende Faktor leistungspolitische Kritik der Leiharbeitsnutzung findet bei fast zwei Fünftel der Beschäftigten Widerhall, während nahezu die Hälfte der Gesamtbelegschaft zumindest teilweise solche Tendenzen bemerkt. Nur knappe 15 Prozent sehen in dem Einsatz von Leiharbeitern keine diesbezüglichen negativen Folgen für den eigenen Leistungsabruf und die Arbeit der Leiharbeitenden selbst. Darin zeigt sich insbesondere im Zusammenhang mit der Perspektive auf die Arbeitsplatzsicherung durch Leiharbeit die große Ambivalenz, die dieses Instrument hervorruft (s. u.). Die Belegschaft hat ein Gespür dafür, dass das eine ohne das andere nicht zu haben ist, und sieht in der Begrenzung die einzig mögliche Form. Differenziert nach sozialstatistischen Parametern zeigen sich die folgenden Tendenzen: Ungelernte stimmen dem Faktor stärker zu als Angestellte oder Facharbeiter. Leiharbeitende werden vor allem im Nahbereich der Ungelernten, d. h. für vergleichbare Arbeiten, eingesetzt. Folgerichtig ist es gerade diese Gruppe, die für Disziplinierungseffekte empfänglich ist, die zugleich aber auch von der vermeintlichen Schutzfunktion (relative Arbeitsplatzsicherheit durch Einziehen einer statusniede-
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ren Ebene, s. u.) der Leiharbeit profitieren würde. Auch Erfahrungswerte mit einoder mehrmaliger Arbeitslosigkeit, oder die ansteigende Kontaktdichte zu Leiharbeitern treibt die Zustimmung zur leistungspolitischen Kritik hoch – in geringerem Ausmaß gilt das auch für eigene Erfahrungen mit besonderen Flexibilisierungsmaßnahmen wie Kurzarbeit oder zeitlich befristeten Versetzungen in den zurückliegenden zwei Jahren. Insbesondere Teilzeitkräfte, aber auch Vollbeschäftigte der Stammbelegschaft teilen dagegen den Inhalt dieses Faktors weniger stark. Bei geringeren Differenzen stimmen mit zunehmendem Grad des Berufsabschlusses mehr Befragte mit der Aussagerichtung des Faktors überein, während das Eintrittsjahr in den Konzern nur geringen Einfluss hat und auch die Höhe des Arbeitszeitkontos nur schwach mit einer steigenden Zustimmung einhergeht. Ein gutes Viertel der Belegschaft nimmt eine positive Positionierung gegenüber dem am Marktgeschehen orientierten Einschlag des Faktors betriebswirtschaftlicher Nutzen der Leiharbeit ein. Der ganz überwiegende Anteil sieht dies zumindest teilweise als gegeben an. Hier scheint der über ein Jahrzehnt währende Standortwettbewerb und der eingangs angeführte ökonomische Diskurs seine Spuren in den Köpfen der Arbeitenden hinterlassen zu haben. Das Flexibilisierungsinstrument Leiharbeit wird durchaus als positives Instrument betrachtet, mit dem sich der – vom Gros der Befragten als „gut“ bewertete – Standort an die zunehmenden Unwägbarkeiten der Absatzmärkte anpassen kann. Mit nahezu 14 Prozent ist die Gruppe der Skeptiker bezüglich der Angemessenheit der Reaktion auf das Marktgeschehen verschwindend klein. Allerdings hat die ökonomisierte Rhetorik bezüglich des Leiharbeitereinsatzes bisher nur bei einer, allerdings starken Gruppe gänzlich verfangen; der weitaus größte Teil weist Ambivalenzen auf. Mit der Dauer der Zugehörigkeit zum Betrieb (korrespondierend mit dem Alter der Befragten) findet der Aspekt des betriebswirtschaftlichen Nutzens der Leiharbeit weniger Zustimmung, auch halten sich Angestellte und Facharbeiter gegenüber Ungelernten mit einer positiven Einschätzung zurück – ebenso wie mit steigendem Grad des Berufsabschlusses (und damit auch: Bildungsabschluss) eine geringere Zustimmung einhergeht. Kaum überraschen kann, dass diejenigen, die als Befristete, Leiharbeiter oder geringfügig Beschäftigte befragt wurden, der Ausrichtung dieses Faktors mehr zustimmen als teilzeit- und vor allem vollzeitbeschäftigte Stammmitarbeiter – es spiegelt schließlich ihre eigene soziale Wirklichkeit wider. Erfahrungssättigung wohnt in Bezug auf die Bewertung der Dimensionen insgesamt eine prägende Kraft inne: Diejenigen, die in den vergangenen zwei Jahren mit Kurzarbeit, Abordnungen oder Verleihungen in Berührung gekommen sind, stimmen dem betriebswirtschaftlichen Nutzen nur etwa zu einem Viertel zu, bei denjenigen ohne eine solche Erfahrung finden sich mehr als ein Drittel Befürworter – wobei die Anzahl der Ablehnenden in allen Gruppen ähnlich hoch ist. Offensichtlich führt
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die Erfahrung besonderer Flexibilitätsanforderungen insgesamt zu einer dezidiert kritischeren Bewertung der ökonomischen Argumentationen. Genau andersherum verhält es sich hingegen mit der biografischen Verarbeitung von Arbeitslosigkeit: Befragte mit der Erfahrung von Arbeitslosigkeit stimmen, insbesondere wenn es sich um multiple Erfahrungen handelt, dem Nutzen stärker zu: Rund zwei Fünftel gegenüber einem Viertel derjenigen ohne Arbeitslosigkeit verhalten sich zustimmend. Auf der anderen Seite führt auch eine intensivere Kontaktdichte mit Leiharbeitern dazu, sich gegenüber der ökonomischen Dimension ansteigend positiver zu äußern. Auch in dem Faktor soziale Integration der Leiharbeitenden zeigt sich diese Amivalenz erneut: Ein Drittel sieht die Zugehörigkeit der Leiharbeiter zur Belegschaft inklusive einer gewissen Identifikation „mit allen Rechten und Pflichten“ als gegeben an. Für weitere 45 Prozent ist dies zumindest teilweise erfüllt, aber ein gutes Fünftel kann die im Faktor zu Tage tretende Gleichbehandlung nicht unterschreiben. Womöglich bildet diese Streuung den Wandel von vormals geteilten Arbeitsmärkten mit klar definierten Beschäftigtengruppen auf die forcierte strategische Nutzung von Leiharbeit ab: die anwachsende Gemengelage von Beschäftigten mit unterschiedlichem Status verwischt anscheinend die Bedeutung solcher Grenzziehungen, ohne sie jedoch gänzlich rsp. für alle obsolet zu machen. Für den Faktor insgesamt ist festzuhalten, dass Facharbeiter seinem Inhalt gegenüber etwas zurückhaltender votieren als Angestellte und Sacharbeiter bzw. Ungelernte – ein Hinweis auf die Bedeutung des unmittelbaren Kontakts für die Standortbestimmung in dieser Frage. In diesem Zusammenhang ist auffällig, dass insbesondere häufiger Kontakt zu Leiharbeitern Veranlassung gibt, der sozialintegrativen Dimension positiv gegenüberzustehen, während sich weniger dichte bzw. ausbleibende Kontakte kaum voneinander unterscheiden. Befragte ohne die Erfahrungen flexibler Arbeitsformen wiederum stimmen häufiger zu als Befragte, die in den vergangenen zwei Jahren temporär versetzt worden sind bzw. in Kurzarbeit waren. Offensichtlich steigt mit der Erfahrung einer eigenen Versetzung in eine „fremde“ Abteilung das Gespür für die besondere Situation der Leiharbeitenden. Das befristet bzw. geringfügig Beschäftigte der sozialintegrativen Dimension deutlich stärker zustimmen als Teilzeit- oder Vollzeitkräfte der Stammbelegschaft, kann kaum überraschen – ebenso wenig wie der Umstand, dass insbesondere die mehrmalige Erfahrung von Arbeitslosigkeit die Zustimmung in die Höhe treibt. Es kann eine Reaktion darauf sein, dass die diesbezüglich gefährdeten Arbeitenden ohne Berufsabschluss deutlicher der Dimension gegenüber positiv eingestellt sind als Facharbeiter oder Beschäftigte mit einem höheren Abschluss. Und schließlich stimmen der Dimension auch diejenigen eher zu, die eine kürzere Betriebszugehörigkeit vorweisen können.
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Keine Trennung der Diskurse, dafür vielschichtige Perspektiven Mit Blick auf die landläufig in wissenschaftlichen Texten relativ getrennt voneinander verlaufenden Diskurse über Leiharbeit ließe sich vermuten, dass sich die drei Faktoren betriebswirtschaftlicher Nutzen der Leiharbeit, leistungspolitische Kritik der Leiharbeitsnutzung und soziale Integration der Leiharbeitenden relativ stark voneinander abgrenzen. Insofern wären starke negative Korrelationen zwischen dem Faktor betriebswirtschaftlicher Nutzen und den Faktoren leistungspolitische Kritik und soziale Integration zu erwarten. Aufgrund der inhaltlichen Nähe sollten die beiden Letzteren als Varianten des Prekarisierungsdiskurses positiv miteinander korrelieren. Allerdings: Obwohl wir ein Verfahren gewählt haben, das tendenziell die Korrelationen betont, haben wir allenfalls schwache Korrelationen zwischen den drei Faktoren gefunden (vgl. Fußnote 3). Im Hinblick auf die beiden ersten Faktoren lässt sich festhalten, dass ein knappes Drittel der Befragten in beiden Dimensionen jeweils die Kategorie teils/teils besetzt; sie bemerken also in dem einen wie in dem anderen Bereich partiell Tendenzen in Richtung einer starken Vermarktlichung bzw. verzeichnen leistungspolitische Zuspitzungen. Relativ schwache Verbreitung finden die skeptischen Einstellungen, verteilen sich aber – wenn auch jeweils mit verhältnismäßig starkem Bezug auf die mittlere Kategorie des jeweils anderen Faktors – auf die gesamte Bandbreite der Antwortkategorien des Vergleichsfaktors. Deutlich stärker sind positive Einstellungen verbreitet – das kann angesichts der Grundausrichtung auch kaum verwundern. Tabellarisch stellt sich die Gemengelage folgendermaßen dar4: Tab. 3:
Vermengung betriebswirtschaftlicher Perspektive und leistungspolitischer Kritik
Faktoren betriebswirtschaftliche Perspektive stimme zu teils/teils stimme nicht zu
stimme zu 14,1 21,0 3,8
leistungspolitische Kritik teils/teils stimme nicht zu 10,9 30,5 6,1
2,5 7,2 3,9
(n = 1.207)
4
Die folgenden Darstellungen besitzen daher vor allem deskriptiven Charakter. Die beschriebenen Faktoren wurden als additive Indizes erstellt und analog zu den ursprünglich fünfstufigen Antwortkategorien (stimme voll zu, stimme eher zu, teils/teils, stimme weniger zu, stimme gar nicht zu) der Einzelitems rekodiert. Dabei wurden die zustimmenden bzw. ablehnenden Antwortkategorien jeweils zusammengefasst.
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Wie sind diese Ergebnisse zu bewerten? Die Faktorenanalyse legt nahe, dass sich die einzelnen Faktoren voneinander abgrenzen – in gewisser Weise spiegelt sich dies auch in den relativ schwachen Korrelationen untereinander wider. Dennoch ist, wie die obige Tabelle verdeutlicht, von einem Nebeneinander unterschiedlicher Perspektiven auf den Komplex Leiharbeit auszugehen – die Befragten nehmen nicht eine Position ein, die alle anderen überdeckt, sondern finden zu ambivalenten und vielschichtigen Urteilen, die selbst für den starken mittleren Bereich ein gerütteltes Maß an individuellen Erklärungsmustern bereithält. Ein Siebtel der Befragten vermengt dabei relativ stark die betriebswirtschaftliche Perspektive mit einer kritischen Sicht auf die der Leiharbeit innewohnenden Potenziale zur verstärkten Konkurrenz unter den Arbeitenden, ein weiteres Fünftel der Kritiker eines Konkurrenzschubs durch Leiharbeit geht von partiell tragfähigen betriebswirtschaftlichen Begründungsmustern aus. Dass es zu einer Klumpung im Zentrum kommt, verweist weniger auf eine Enthaltung der Stimme an sich (dafür stand eine entsprechende Antwortkategorie zur Verfügung), sondern zum einen auf die Widersprüchlichkeit der sozialen Praxis und zum anderen auf die relative Intransparenz, die den Prozessen der Einführung bzw. Aussetzung von Leiharbeit vorausgeht. Wie widersprüchlich die vorfindbaren Bewusstseinsmuster sind, hat sich bereits in der Analyse der Faktoren gezeigt. So stimmen beispielsweise Ungelernte dem betriebswirtschaftlichen Nutzen der Leiharbeit deutlich stärker zu als ihre qualifizierteren Kollegen – und formulieren zugleich auch eine schärfere leistungspolitische Kritik an der Art des Einsatzes. Vor dem Hintergrund ihrer sozialen Praxis sind beide Diskurse – der betriebswirtschaftliche wie der Prekarisierungsdiskurs – zugleich wahr und falsch. Zudem erfahren die Beschäftigten gewöhnlich nur, dass ein neuer Kollege auf Leiharbeitsbasis eingestellt wurde, nicht aber, was diese Entscheidung beeinflusst hat. Trotz dieser wenig transparenten Vorgänge haben die Beschäftigten differenzierte Perspektiven aufgebaut, die nicht in der bloßen Übernahme vorgefertigter Leitlinien bestehen. Das verdeutlicht wiederum die Virulenz, die dieses Thema für die Beschäftigten besitzt: Wäre es ein bloß randständiges, würden pauschalisierende Urteile vermutlich weitaus stärker greifen. Auch zwischen dem Faktor betriebswirtschaftlicher Nutzen und dem Faktor sozialer Integration besteht eine schwache positive Korrelation. Tabellarisch stellt sich das folgendermaßen dar:
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Tab. 4:
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Vermengung betriebswirtschaftlicher Perspektive und sozialintegrativer Dimension
Faktoren betriebswirtschaftliche Perspektive stimme zu teils/teils stimme nicht zu
stimme zu 12,3 15,8 3,3
sozialintegrative Dimension teils/teils stimme nicht zu 10,6 30,6 4,9
4,1 13,0 5,5
(n = 1.184) Wie in dem obigen Zusammenhangspaar zeigt sich auch hier eine überaus differenzierte Perspektive, die keinerlei Ausschlusscharakter erkennen lässt, wenn auch die Tendenzen wiederum deutlich in die jeweils positiv konnotierten Richtungen weisen und die Orientierung auf die mittleren Positionen relativ stark ausgeprägt sind. Betriebswirtschaftliche und sozialintegrative Perspektive gehen in offensichtlich vielen Einstellungsmustern einher oder sind zumindest in nicht unerheblichem Maß parallelisiert; konträre Positionierungen finden sich dagegen nur selten. Aus betriebswirtschaftlichen Gründen vorgenommene Einstellungen – in gewisser Weise als Konzernentscheidung in relativer Distanz zum Betrieb erfolgt – verwandeln sich im Prozess der Arbeitsaufnahme der Leiharbeiter in betriebliche und gewerkschaftliche Aufgabenstellungen. Das wird von Seiten der Belegschaft durchaus reflektiert und lässt sich als Durchdringen eines komplexen Gebildes jenseits schneller Pauschalisierungen verstehen. Sind Leiharbeiter vor Ort, ist mit ihnen angemessen umzugehen, könnte als Forderung bilanziert werden. Die Beschäftigten begeben sich damit in die als nicht zu hintergehende Voraussetzung angenommene betriebswirtschaftliche Entscheidung, ohne jedoch dafür soziale Kriterien gänzlich aufzugeben. Das verdeutlicht zugleich auch mögliche Grenzen: Wird die zum Teil empfindliche Balance gestört, könnten Forderungen nach verbesserter Integration schnell in den Aufgabenkatalog von Management und Interessenvertretern geschrieben werden. Beide tun daher gut daran, diese Dimension nicht aus den Augen zu verlieren.
Fazit Die Analyse des Arbeitsbewusstseins der Stammbeschäftigten und ihres Blicks auf die Leiharbeit in einem Betrieb, der ein Refugium sozialer Stabilität im gegenwärtigen Kapitalismus darstellt, hat mehrere interessante Befunde zu Tage gefördert. Erstens verdeutlicht der enge Zusammenhang zwischen der überaus positiven Identifikation vieler Beschäftigter mit dem Betrieb und ihrer hohen
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Flexibilitäts- und Leistungsbereitschaft einen wichtigen, von der Forschung bislang übersehenen, häufig sogar negierten Zusammenhang: Die Loyalität der Beschäftigten stellt eine nicht zu unterschätzende Flexibilitätsressource für den Standort dar. Die außerordentlich hohe Flexibilitätsbereitschaft der Belegschaft – temporärer Einsatz an anderen Standorten, Umsetzungen und Requalifizierungen, wechselnde Arbeitszeiten – gehört zu den zentralen Voraussetzungen, die den wirtschaftlichen Erfolg des Betriebs in den letzten Jahren erst möglich gemacht haben. Allerdings besitzt die im Arbeitsbewusstsein verankerte positive Identifikation der Belegschaft, die sich auf die Formel „guter Standort, schlechte Gesellschaft“ bringen lässt, einen fragilen Charakter. Die Arbeitenden – das zeigt sich in den Interviews sehr deutlich – haben ein äußerst feines Gespür für die Qualität ihres Betriebs. Unter den Bedingungen einer sich verschärfenden Standortkonkurrenz und des unveränderten Renditedrucks wird es jedoch immer schwieriger, einen tragfähigen Interessenausgleich, eine funktionierende Mitbestimmung und das hohe Maß an Beschäftigungssicherheit aufrechtzuerhalten. Die Überzeugung, als „letzte Generation“ den Sprung in eine feste Beschäftigung geschafft zu haben, zeigt an, in welche Richtung die Entwicklung zu laufen scheint: Die Beschäftigten spüren, dass sie immer neue Flexibilitätsleistungen in den Ring werfen müssen, um den Standort und das eigene Beschäftigungsverhältnis zu stabilisieren. Einerseits stellt dieses Bewusstsein die Keimzelle für die „kompetitive“ Solidarität dar, welche nicht nur auf einen solidarischen Ausgleich der Lasten dringt, sondern zugleich auch jeden Einzelnen in die Pflicht nimmt. Für Leistungsverweigerer wird die Luft auf diese Weise auch unter den Kollegen tendenziell dünner. Andererseits offenbart sich an dieser Stelle auch eine mögliche Paradoxie des flexibilitätsgetriebenen Standortwettbewerbs: Aufgrund des Kurzfristhorizonts der Konkurrenz ist die soziale Stabilität, die zu den Voraussetzungen der besonderen Flexibilitätsanstrengungen der Beschäftigten im Untersuchungsbetrieb zählt, latent gefährdet. Dauerhaft – darauf deuten die hier präsentierten Befunde hin – droht der Standortwettbewerb somit seine eigenen Ressourcen zu untergraben. Zweitens sind mit Blick auf die Wahrnehmung des Flexibilisierungsinstruments Leiharbeit, der Folgen der Leiharbeitsnutzung und die Einstellungen zu den Leiharbeitenden die Widersprüchlichkeit und Vielschichtigkeit realer Bewusstseinsformen und Denkschemata mehr als deutlich zu Tage getreten. Die Befunde zeigen, dass die Arbeitenden nicht einfach einen der beiden öffentlich geführten Diskurse über Leiharbeit – den herrschenden ökonomischen oder den oppositionellen Prekarisierungsdiskurs – internalisieren. Die Nutzung der Leiharbeit und die Folgen für sich selbst und die Leiharbeitenden werden vor dem Hintergrund vergangener Erfahrungen, der eigenen Position im Betrieb und auf dem Arbeitsmarkt und verfestigter Orientierungen interpretiert. Zwar stellen die
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beiden zentralen Diskurse wichtiges Rohmaterial für die subjektive Verarbeitung sowohl der Krise als auch der Leiharbeitsnutzung zur Verfügung, aber es sind vor allem die eigenen erwerbsbiografischen (Flexibilitäts-)Erfahrungen – Versetzungen, Kurzarbeit und auch Arbeitslosigkeit – und die „kompetitive“ Solidarität, die sich in der Belegschaft als Folge des Standortwettbewerbs etabliert hat, die die individuellen Perspektiven strukturieren. Dass sich in den identifizierten Perspektiven Elemente der sich auf den ersten Blick unversöhnlich gegenüberstehenden Diskurse vermischen und überlagern, ist Ausdruck der Widersprüchlichkeit alltäglicher sozialer Praxis. Wenn Ungelernte überproportional sowohl den betriebswirtschaftlichen Nutzen der Leiharbeit bejahen als auch deren negative leistungspolitischen Folgen kritisieren, dann zeigt dies, in welcher Zwickmühle sie sich befinden: Einerseits werden Leiharbeitende gerade in ihrem Nahbereich häufiger eingesetzt, so dass die vermeintliche Schutzfunktion bei ihnen in besonderem Maße zum Tragen kommen könnte, andererseits sind sie aufgrund ihres geringeren Qualifikationsstandes eher durch Leiharbeitende ersetzbar und somit besonders anfällig für die disziplinierenden Effekte der Leiharbeit. Drittens offenbart sich in der Analyse eine bislang kaum beachtete Nebenfolge der „kompetitiven“ Solidarität, die sich aufgrund des Standortwettbewerbs und des verschärften Wirtschaftlichkeitsdrucks in vielen Betrieben durchgesetzt hat: Die am Ziel der Wettbewerbsfähigkeit orientierte Solidarität droht potenziell immer auch ausgrenzend auf Andere zu wirken – in diesem Fall die Leiharbeitenden. Trotz – oder gerade wegen – der Einsicht in die Probleme der Leiharbeitenden und die möglichen zukünftigen Rückwirkungen auf die eigene Arbeit zählt nur eine Minderheit der Stammbeschäftigten die Leiharbeitenden zur Betriebsfamilie. Im Arbeitsalltag voll integriert, scheint doch eine möglicherweise gar nicht so „unsichtbare“ Grenze zu existieren. Besonders deutlich wird die Grenze zwischen dem „Wir“ und den „Anderen“ beim Vergleich mit befristet Beschäftigten. Obwohl beide Belegschaftsgruppen vom Konzernmanagement in der Krise ähnlich behandelt wurden – die Leiharbeitenden wurden ausgesteuert, die befristeten Verträge nicht verlängert –, machen die Befragten bei der Zugehörigkeit zur Betriebsfamilie einen signifikanten Unterschied: Während nur 31 Prozent der Befragten die Leiharbeitenden als vollwertige Mitglieder der Belegschaft sehen, sind dies bei den Befristeten immerhin 59 Prozent. Auch bei den Ablehnungen zeigt sich ein ähnliches Größenverhältnis; der Anteil derjenigen, die Leiharbeitende explizit nicht zur Betriebsfamilie zählen (43 Prozent), ist mehr als doppelt so hoch wie im Fall der befristet Beschäftigten (19 Prozent). Dass eine solche Grenzziehung reale Statusunterschiede reflektiert, steht außer Frage – die Leiharbeitenden sind formal Beschäftigte eines anderen Unternehmens –, sie erschwert aber zugleich die Herausbildung einer inklusiven Solidarität, die aktiv die peripheren Belegschaftsgruppen einschließt.
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Was bedeutet dies nun für die Möglichkeiten einer inklusiven Interessenvertretung, die über die Vertretung der Stammbelegschaften hinaus den Anspruch erhebt, die Interessen aller am Wertschöpfungsprozess beteiligten Beschäftigtengruppen zu vertreten? Aus unserer Sicht stellt die Widersprüchlichkeit der Bewusstseinsmuster sowohl eine Herausforderung als auch eine Chance für die Interessenvertretungen dar. Einerseits zeigen die Ergebnisse sehr deutlich, dass selbst bei den leistungspolitischen Kritikern immer auch einzelne Elemente des ökonomischen Diskurses verfangen und damit Widerstand gegen die Ausweitung der Leiharbeit tendenziell erschwert wird. Die politisch-normative Kritik an der Leiharbeitsnutzung wird immer wieder vom Druck der ökonomischen Zwänge eingefangen. Andererseits stellen die identifizierten Widersprüche jedoch auch Ansatzpunkte für eine Mobilisierung der zwar nicht durchgängig, doch bei vielen Stammbeschäftigten vorhandenen Solidaritätspotenziale dar: Die identifizierten Ambivalenzen sind nämlich keine wissenschaftlichen Artefakte, sondern sind den Subjekten durchaus bewusst. Eine offene Debatte über die von der Leiharbeitsnutzung im Betrieb erzeugten praktischen Widersprüche könnte somit auch einen Ansatzpunkt für eine Auseinandersetzung um eine sozial und ökonomisch nachhaltige Flexibilisierung und Organisation von Arbeit bilden. Eines ist allerdings auch klar: Ohne die potenziell zersetzenden Wirkungen des Standortwettbewerbs mittelfristig einzuhegen, lässt sich die Widersprüchlichkeit der sozialen Praxis, die die Arbeitenden aushalten und verarbeiten müssen, kaum aufheben. Denn das „verbetrieblichte“ Arbeitsbewusstsein, die „kompetitive“ Solidarität und auch die latente Ausgrenzung der Leiharbeiter stellen letztendlich über subjektive Verarbeitungsprozesse vermittelte Folgen des intensiven Standortwettbewerbs dar, der verschiedene Belegschaftsgruppen – innerhalb einzelner Betriebe und über die Betriebsgrenzen hinaus – immer wieder aufs Neue in Konkurrenz zueinander setzt. Dass die Arbeitenden diese real existierenden Konkurrenzverhältnisse rein subjektiv überwinden könnten, wäre eine trügerische und völlig unrealistische Erwartung.
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Sarah Bormann
Sarah Bormann
Organisierung durch Kampagnen am Beispiel Schlecker und Lidl
Einleitung Die Schlecker-Kampagne aus den Jahren 1994/95 ist ein frühes Beispiel für die Wahl neuartiger gewerkschaftlicher Organisierungsstrategien und verfügt aufgrund ihres Erfolgs bis heute über eine hohe Vorbildfunktion. So lieferte sie auch die Vorlage für die Ende 2004 gestartete Ver.di-Kampagne gegen den zum Schwarz-Konzern gehörenden Lebensmitteldiscounter Lidl (Schreieder 2007: 157; Wohland 2008: 14). Die Lidl-Kampagne blieb im Gegensatz zur Schlecker-Kampagne gemessen am Ziel der Gründung von Betriebsräten erfolglos. Ein Vergleich beider Druckkampagnen verweist auf zentrale Unterschiede in der Konzeptionierung sowie auf externe Faktoren, welche den Verlauf maßgeblich bestimmten. Ich lege in dem vorliegenden Artikel einen Schwerpunkt auf die SchleckerKampagne. Obgleich ich mit einem Vergleich beider Kampagnen beginne, möchte ich darüber hinaus der Frage nach langfristigen Erfolgen im Fall des Drogeriemarkts Schlecker nachgehen. Im Fokus stehen drei zentrale Fragen: Erstens, warum konnte die Gewerkschaft im Fall Schleckers das Ziel der Betriebsratsgründungen im Gegensatz zu Lidl realisieren? Zweitens, inwiefern fließen Erfahrungen aus der Zeit der Schlecker-Kampagne mit neuartigen strategischen Elementen in heutige Auseinandersetzungen im Unternehmen ein und führen zu einer Stärkung der Organisationsmacht der Beschäftigten? Neben einem chronologischen Rückblick unterschiedlicher Phasen der Betriebsratsgründungen möchte ich hierbei ausführlicher auf die in 2010 stattgefundenen Auseinandersetzungen um die Ausgründung der XL-Filialen und den Einsatz von Leiharbeit eingehen. Drittens schließlich stellt sich die Frage, ob eine Aktivierung der Gewerkschaftsmitglieder bei Schlecker stattfand und ob diese zu einer Entlastung der hauptamtlichen Handelssekretäre und Handelssekretärinnen führte. Diese Frage ist insbesondere vor dem Hintergrund der Debatte relevant, dass eine Kampagnenorientierung innerhalb der Gewerkschaft eine Ressour-
T. Haipeter, K. Dörre (Hrsg.), Gewerkschaftliche Modernisierung, DOI 10.1007/978-3-531-93332-0_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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cenverschiebung zu Lasten von Serviceleistungen notwendig mache, die über eine Aktivierung der Mitglieder aufgefangen werden müsse (Rehder 2008: 435).
Die Kampagnen zu Schlecker und Lidl als Beispiele einer Comprehensive Campaign Die Gewerkschaften Handel, Banken und Versicherung (HBV) und Ver.di wählten für die Organisierung von Schlecker und Lidl ein zentrales Instrument gewerkschaftlicher Erneuerungsstrategien – nämlich öffentliche Druckkampagnen (Rehder 2008: 440), die im Sinne einer Corporate Campaign auf das Unternehmen fokussierten. Ziel war es, die Unternehmensleitungen mittels externen Drucks zur Zulassung von Betriebsratsgründungen zu zwingen. Dieser Druck basierte im Wesentlichen auf der Mobilisierung von Bündnispartnern, der kritischen Presseberichterstattung sowie der Einbindung der Kunden und Kundinnen über das Thema „Menschenwürde am Arbeitsplatz“ (zu Lidl Matrai 2006; zu Schlecker Huhn 2001). Die Mitgliedergewinnung war nicht, wie bei klassischen Organizing-Ansätzen, ein direktes Ziel (Brinkmann et al. 2008: 121), sondern sie sollte vermittelt über die neu zu gründenden Betriebsräte stattfinden (Matrai und Wohland 2008: 51). Bis zu dem Zeitpunkt der Kampagnen waren beide Unternehmen weitgehend mitbestimmungsfreie Zonen.1 Darüber hinaus müssen bis heute Betriebsräte aufgrund der filialisierten Betriebsstruktur für jede Filiale einzeln gegründet werden. Aufgrund der geringen Beschäftigtenzahl pro Schlecker-Filiale war im Gegensatz zu Lidl die Gründung von Betriebsräten faktisch unmöglich und das, obwohl das Unternehmen 1994 weit über 22.000 Angestellte zählte (Huhn 2001: 24). Notwendige Voraussetzung war zunächst der Abschluss eines Tarifvertrags nach §3 des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG). Die Durchsetzung eines solchen Tarifvertrags gegen den Willen der Unternehmensleitung war zu diesem Zeitpunkt relativ schwierig, weil in der Regel die interne Organisationsmacht noch äußerst schwach war (Dribbusch 2003: 145). Vor diesem Hintergrund wird die Bedeutung der Mobilisierung externer Machtressourcen gerade im Fall des Unternehmens Schlecker deutlich.
1
Zu Beginn der Lidl-Kampagne verfügten sieben der rund 2.400 Filialen über einen Betriebsrat (Matrai 2006: 60). Bei Schlecker existierte 1994 lediglich ein Betriebsrat im Filialbereich (Bormann 2007: 55). In beiden Unternehmen gab es nur sehr vereinzelt Gewerkschaftsmitglieder, und die Unternehmensleitungen verhinderten Betriebsratsgründungen massiv (Huhn 2001: 10; Schreieder 2007: 156f).
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Comprehensive Campaigns können als umfassende und verstehende Kampagnen definiert werden. Das Merkmal einer umfassenden Kampagne ist ihre Orientierung auf das Mehr-Ebenen-Prinzip. Das Unternehmen wird auf mehreren Ebenen mit der Kombination unterschiedlicher Handlungsstrategien und im Bündnis mit anderen gesellschaftlichen Akteuren unter Druck gesetzt (Schmalstieg 2007: 1). Der Begriff einer verstehenden Herangehensweise betont darüber hinaus die Fähigkeit der Gewerkschaftssekretäre, sich in die Situation der Beschäftigten hineinversetzen zu können und adäquate Informations- und Aktionsformen zu wählen (Schmalstieg 2007: 4). Sowohl die Identifikation von Schwachstellen in den Macht- und Beziehungsgefügen eines Unternehmens im Rahmen eines Mehr-Ebenen-Ansatzes als auch ein solcher Perspektivwechsel setzen eine umfangreiche Recherche- und Analyseleistung voraus (Bronfenbrenner und Hickey 2004: 55). Beide hier untersuchten Kampagnen verfolgten einen solch umfassenden Ansatz, der auf einer breit angelegten Pressearbeit, der Einbeziehung von Kunden und Kundinnen mittels Protestpostkarten und Infoständen sowie dem Aufbau von Bündnissen mit Nichtregierungsorganisationen (NRO), kirchlichen Verbänden und sozialen Bewegungen basierte. Darüber hinaus erhöhten prominente Paten die öffentliche Aufmerksamkeit und führten zu einem besseren Schutz der Beschäftigten. Die Basis der Arbeit auf bezirklicher Ebene bildeten Filialbesuche, die bei Lidl auch ehrenamtlich von Schlecker-Betriebsrätinnen durchgeführt wurden (Bormann 2007: 129). Darüber hinaus gab es bei der Lidl-Kampagne einen Online-Blog, eine Kampagnenzeitschrift sowie eine europäische Ausrichtung (Schreieder 2007: 163 und 169f). Allerdings waren einige der von Bronfenbrenner und Hickey (2004) angeführten Kriterien für eine Comprehensive Campaign bei Lidl unzureichend entwickelt. So weisen beide Kampagnen gewisse Mängel bei der strategischen Ausrichtung auf. Bei der Schlecker-Kampagne gab es vor dem Start der Kampagne zwar eine klare, auf einzelne Eskalationsstufen aufbauende KampagnenKonzeption. Da die Vorbereitung aber unter einem hohen Zeitdruck stand, waren die im Vorfeld stattgefundenen Recherche- und Analyseleistungen limitiert und die Kampagne war eigentlich nur auf das Rhein-Main-Gebiet ausgerichtet (Interview Gewerkschaftssekretär 2010). Bei der Lidl-Kampagne fand die Recherche vor allem in Vorbereitung auf die Veröffentlichung des „Schwarzbuch Lidl“ durch den Autor und die Autorin statt (Schreieder 2007: 162). Der Verlauf der Kampagne vermittelt den Eindruck, dass es an einer langfristigen Kampagnenkonzeption fehlte und die Initiatoren und Initiatorinnen vielmehr von dem Erfolg des „Schwarzbuch Lidl“ vorangetrieben wurden (Interview Gewerkschaftssekretär 2010). Dieser Eindruck wird noch durch die fehlende Ausstattung mit finanziellen und personellen Ressourcen für das auf Bundesebene angesiedelte Kam-
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pagnenteam sowie für ausgebildete, hauptamtliche Organizer (Matrai 2006: 61) bestätigt. Erst 2007 wurden in Stuttgart und Hamburg zusätzliche Ressourcen für einen hauptamtlichen Sekretär bzw. einen Organizer zur Verfügung gestellt (Ver.di Stuttgart 2008: 16; Matrai und Wohland 2008: 53). Im Vergleich zur Schlecker-Kampagne gilt es zu berücksichtigen, dass bei Lidl erstens Mitte der 1990er Jahre die Betreuungsdichte durch die Handelssekretäre noch viel höher war und zweitens vor Beginn der Kampagne schon Kontakte zu Beschäftigten bestanden. Dadurch konnten die Beschäftigten stärker in die Kampagne eingebunden werden. Demgegenüber entspricht die Schlecker-Kampagne eher einer Comprehensive Campaign im Sinne einer verstehenden Ausrichtung. Darauf wird im Folgenden eingegangen.
Unterschiede beider Kampagnen Im Folgenden möchte ich auf drei wesentliche Unterschiede beider Kampagnen detailliert eingehen, die zentrale Hinweise für den Erfolg bzw. den Misserfolg gemessen am Ziel der Betriebsratsgründung liefern. Die Rolle der Beschäftigten: Einbindung versus Abschreckung Mit Blick auf die verstehende Ausrichtung der Schlecker-Kampagne ist vor allem die Anfangsphase von zentraler Bedeutung. So lieferten Verkäuferinnen selbst den ersten Anstoß. Sie richteten sich an die Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) Mannheim/Heidelberg mit der Bitte um eine Überprüfung ihrer Vergütung anhand des Tarifvertrags, was in der Feststellung einer eklatanten Unterschreitung der Tariflöhne resultierte. Von nun an setzte sich die HBV gemeinsam mit den Beschäftigten für eine gerechte Entlohnung ein, sie bot Beratungsgespräche an und organisierte Informationsveranstaltungen. Als dann relativ bald die Forderung nach Betriebsräten aufkam und die HBV eine sechsmonatige Druckkampagne konzipierte, konnte sie bereits nach einem Monat die rückwirkende Bezahlung zum Tariflohn sowie zukünftige Lohnangleichungen durchsetzen (Huhn 2001: 11f). Auf dieser Grundlage gewann sie schnell an Akzeptanz und auch an Mitgliedern unter den eher als gewerkschaftsfern eingestuften weiblichen Beschäftigten, die überwiegend in Teilzeit arbeiteten. Die Gewerkschaft konnte die bestehenden Kontakte zu Beschäftigten nutzen und diese bereits in die Konzeption der Kampagne mit einbinden. Obwohl bei beiden Kampagnen die „Führung“ der Verbandszentrale oblag, verfügte damit die Schlecker-Kampagne über eine stärkere Bottom-Up Ausrichtung, was die Mobilisierung und Aktivierung der neuen Mitglieder anging. Dagegen fehlte bei der
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Lidl-Kampagne der frühe Kontakt zu den Beschäftigten, und ein schnell erzielter Erfolg blieb aus. Zwar reagierte die Unternehmensleitung mit der Verbesserung von Arbeitsbedingungen in einigen Bereichen (Schreieder 2007: 164), diese konnten aber kaum als eigener Erfolg verbucht werden. Stattdessen sorgte die Medienkampagne vor allem für Negativschlagzeilen über das Unternehmen. Nach Rehder (2008) geht es bei Druckkampagnen um zwei Problemlagen: zum einen um den Kampf gegen ein gewerkschaftsfeindliches Unternehmen, zum anderen um die fehlende Akzeptanz der Gewerkschaft unter den Beschäftigten. Letzteres wurde ihres Erachtens bei der Lidl-Kampagne nicht ausreichend berücksichtigt, und es bleibt offen, inwiefern die starke Kritik von außen nicht sogar noch zusätzlich eine abschreckende Wirkung auf die Beschäftigten hatte. Koalitionsbildung: Ein oder zwei Kampagnen In beiden Kampagnen spielte die Koalitionsbildung eine wichtige Rolle um den Zugang zu bestimmten Gruppen zu erlangen und den Druck zu erhöhen. Allerdings bestand ein zentraler Unterschied darin, dass die Bündnispartner in der Schlecker-Kampagne ausschließlich gewerkschaftliche Forderungen unterstützten, während im Fall Lidl die Organisation attac im Bündnis mit Nichtregierungsorganisationen (NROs) 2005 eine Parallelkampagne mit eigenen Zielen startete: „Dann muss es Lidl gleichzeitig mit mehreren Gegnern an verschiedenen Fronten aufnehmen“ (Wohland zitiert nach Scheytt 2007: 20). Dies bot dem Unternehmen jedoch zugleich die Option, Forderungen der Parallelkampagne zu selektieren. So reagierte Lidl auf die Kritik an Arbeitsrechtsverletzungen in den Zulieferketten mit der Sortimentsaufnahme von Transfair-Produkten (Rehder 2008: 445). Obgleich das Verhalten von Transfair eine kontroverse Debatte in der entwicklungspolitischen und globalisierungskritischen Szene auslöste, beendete attac daraufhin ihre Kampagne. Ein weiteres Beispiel ist Greenpeace. Während die Umweltorganisation zu Beginn der Kampagne noch in die Kritik an den Discounter einstimmte, ließ sie später kurzzeitig ihr Magazin von Lidl verkaufen. Beide Beispiele zeigen, dass unterschiedliche Interessen und Organisationslogiken der Bündnispartner auch ein Risiko implizieren können. So wurden Forderungen getrennt verhandelt, und die Erfüllung von Teilforderungen sowie das Ende der attac-Kampagne hat vermutlich zu einem Imagegewinn des Unternehmens beigetragen.
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Externe Faktoren: Rosen statt Betriebsräte Die Schlecker-Kampagne erreichte ein höheres Eskalationsniveau. Dies ist zum einen auf den Boykottaufruf durch kirchliche Kreise zurückzuführen.2 Zum anderen trug Schlecker selbst zu einer höheren Eskalation des Konflikts bei. Im Gegensatz zu Schlecker reagierte Lidl auf die Kampagne durchaus strategisch und auf das eigene Image bedacht. Grund hierfür waren erstens die Themen Sicherheit und Unterschreitung der Tariflöhne, die neben der Forderung nach Betriebsräten im Fokus der Kampagne standen. Noch bevor die Kampagne startete, erzielten die Arbeitsbedingungen bei Schlecker in Folge der Ermordung einer Verkäuferin bei dem Überfall auf eine Filiale eine hohe mediale Aufmerksamkeit (Huhn 2001). Das Thema Sicherheit veranschaulichte die Unmenschlichkeit des Systems Schlecker, bei dem der Kontrolle der Verkäuferinnen eine höhere Priorität als ihrer Sicherheit eingeräumt wurde – Stichwort „kastrierte Telefone“. Zweitens war für den Kampagnenverlauf von zentraler Bedeutung, dass die Staatsanwaltschaft wegen der Missachtung der Tariflöhne die Ermittlungen aufnahm. Zwar ist auch die Beund Verhinderung von Betriebsratsgründungen eine Verletzung des Betriebsverfassungsgesetzes und damit ein explizit illegales Verhalten. Der Unterschied besteht allerdings darin, dass die Staatsanwaltschaft deshalb nur in seltenen Fällen ermittelt oder es gar zu einer Verurteilung kommt (Bormann 2007: 123ff). Während das Unternehmen Schlecker also eine breitere Angriffsfläche bot und auch im Verlauf der Kampagne 1994/95 kaum Maßnahmen zur Verbesserung seines angekratzten Images ergriff, reagierte die Unternehmensleitung des Schwarz-Konzerns differenzierter. Obgleich beide Unternehmen während der Kampagnenphase massiv gegen Betriebsratsgründungen vorgingen, startete Lidl eine eigene Imagekampagne, um sich als sozial verantwortliches Unternehmen zu präsentieren. 2006 stellte das Unternehmen einen Pressesprecher ein (Matrai 2006: 58f), der auch den Dialog mit den Globalisierungskritikern führte. Schließlich ist das Unternehmen auf Teilforderungen der attac-Kampagne eingegangen, hat einzelne betriebliche Verbesserungen vorgenommen (s. o.) sowie ein betriebsinternes Beschwerdesystem bestehend aus einer Hotline für die Verkäufer und Verkäuferinnen sowie „Mitarbeitern für Personal und Soziales“ eingeführt. Die Unternehmensleitung versuchte damit die Überflüssigkeit von Betriebsräten zu demonstrieren (Schreieder 2007: 165). 2010 überreichte sie gar in Anlehnung an die am Frauentag stattfindenden Filialbesuche von Ver.di ihren Mitarbeiterin-
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Vermutlich hätte dieses Instrument in der Lidl-Kampagne aufgrund der geringen Einbindung von Beschäftigten und der niedrigen Akzeptanz der Gewerkschaft eher kontraproduktiv gewirkt (siehe 3.1.).
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nen Rosen und übertitelt dies in der Kundeninformation mit der Überschrift „Gleichberechtigung haben wir immer im Angebot“. Bei Lidl konnten lediglich drei Betriebsratsgründungen in den Jahren 2007/2008 erzielt werden (Matrai und Wohland 2008: 53). Allerdings führte die Kampagne zu einem Anstieg von 640 Mitgliedern in den ersten drei Jahren (Scheytt 2007: 21)3 und trug zu einem Imagegewinn der Gewerkschaft bei (Matrai und Wohland 2008: 53). Statt Rosen gibt es bei Schlecker heute, 16 Jahre nach der Kampagne, Betriebsräte. Die Grundlage dafür war, dass 1995 nicht nur die Entgelte auf Tarifniveau angehoben wurden, sondern es auch zu einem Abschluss eines Tarifvertrags gemäß § 3 des BetrVG mit der HBV kam. In dem Tarifvertrag wurde überdies ein Maßregelungsverbot festgehalten, mit dem sich das Unternehmen verpflichtet, Gründungen von Betriebsräten nicht zu behindern und die Rechte der Gewerkschaft HBV zu respektieren (Bormann 2007: 57). Auf der Grundlage der oben ausgeführten Darstellung sind für den unterschiedlichen Ausgang beider Kampagnen zwei Aspekte von besonderem Interesse. So ist es erstens fraglich, ob Ver.di bei dem Versuch der Adaption der Schlecker-Kampagne im Fall Lidls die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen bezüglich Personalressourcen, Bündniskonstellation, Themenwahl, Einschätzung des Gegners und insbesondere der Einbindung der Beschäftigten und ihrer Einstellung zu Gewerkschaften bei der Kampagnenkonzeption sowie im weiteren Verlauf ausreichend berücksichtigt hat. Zweitens müsste die Wirkung externen Drucks auf die Einstellung der Beschäftigten stärker in den Blick genommen werden. Es muss, wie Rehder (2008) überzeugend herausgearbeitet hat, nicht nur das Unternehmen in die Knie gezwungen werden, sondern es müssen auch die Beschäftigten von der Notwendigkeit eines Betriebsrats überzeugt werden.
Schlecker: Vor der Kampagne ist nach der Kampagne Die Gründung von Betriebsräten in Folge der Schlecker-Kampagne kann in drei Phasen unterteilt werden. Im Zuge der Kampagne kam es insgesamt zu 29 Grün-
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Die Einschätzung der Mitgliedergewinnung wird kontrovers diskutiert. Während Wohland mit Blick auf das bundesweite Netzwerk OrKa (Organisierung und Kampagnen), das Kampagnen plant, organisiert und begleitet und auch Ver.di sowie attac bei ihren Lidl-Kampagnen beraten hat, zu dem Schluss kommt: „Das sind nicht sehr viele, aber sehr viel mehr als früher und sehr viel mehr als in vergleichbaren Betrieben“ (Scheytt 2007: 1), konstatiert Rehder (2008: 449): „Wenn eine dreijährige Kampagne lediglich den Erfolg hat, dass einige hundert und nicht einige tausend Beschäftigte organisiert werden, dann stellt sich die Frage, ob die Lidl-Beschäftigten überhaupt organisiert werden wollten“.
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dungen von Betriebsräten. In einer zweiten Phase gerieten dann bereits ab dem Jahr 1996 die Gründungen ins Stocken und bleiben regional begrenzt. Diese zweite Phase macht deutlich, dass die Schlecker-Kampagne zwar ein Türöffner, aber kein Garant für ein flächendeckendes Mehr an Mitbestimmung war (Bormann 2008). Auf Seiten der Gewerkschaft fehlte es in einzelnen Landesbezirken an einer klaren Prioritätensetzung oder gar Ressourcenverschiebung und einer bundesweiten Koordinierung zugunsten von Betriebsratsgründungen (Dribbusch 2003: 159f). Auf Seiten der neu gegründeten Betriebsräte und des Gesamtbetriebsrat fehlte es ebenfalls an Ressourcen, des Weiteren musste sich aber auch der Impuls erst entwickeln, flächendeckend Mitbestimmung in einem filialisierten Unternehmen durchzusetzen. Dies änderte sich mit der dritten Phase ab Anfang 2002, als Ver.di und der Gesamtbetriebsrat gemeinsam eine Initiative zur Schließung der weißen Flecken ergriffen. Der Erfolg dieser dritten Phase zeigt sich an den steigenden Zahlen von Mitgliedern und Betriebsräten. Mitte 2010 waren rund ein Drittel der Beschäftigten Gewerkschaftsmitglieder, und in über der Hälfte der insgesamt 328 Wahlkreise existierten Betriebsräte (Interview Gewerkschaftssekretär 2010). In den immer wieder auftretenden Konflikten und Arbeitskämpfen beweisen die Betriebsräte bis heute eine hohe Mobilisierungsund Streikfähigkeit. So erkämpften sie 2002 mit einer großen Streikwelle einen Entgelt- und Manteltarifvertrag und konnten wichtige Veränderungen u. a. in den Bereichen Bezahlung von Arbeitszeit, Urlaubsplanung und Sicherheitsstandards durchsetzen (Bormann 2008; Interview Gewerkschaftssekretär 2010). Dabei haben sich die Ausgangsbedingungen auf Unternehmensseite allerdings keineswegs verbessert. Wie eine Untersuchung von Betriebsratsgründungen im Zeitraum 2001 bis 2006 zeigt, agiert das Unternehmen nach wie vor gewerkschafts- und mitbestimmungsfeindlich. So scheiterten neun von 60 Gründungsversuchen noch bevor es zu der Bestellung eines Wahlvorstands kam. Weitere 19 von 51 bestellten Wahlvorstände wurden von der Unternehmensleitung zerschlagen. Lediglich in vier der 51 Fälle kam es zu keinerlei Versuchen der Behinderung oder Beeinflussung durch das Management. Die Taktiken des Managements sind danach zu unterscheiden, ob sie die Arbeit des Wahlvorstands als Ganzes betreffen und strukturell behindern oder ob es sich um personalisierte Angriffe gegen einzelne Mitglieder des Wahlvorstands handelt. Letztere umfassen eine Spannweite von subtilen Gesprächen zwischen Tür und Angel bis hin zu massiven Angriffen wie Nötigungen zur Unterzeichnung von Aufhebungsverträgen, rechtswidrigen Kündigungen und Versetzungen in betriebsratslose Wahlkreise. Sie sind viel schwieriger abzuwehren, weil sie sich gegen eine einzelne Person richten und die Solidarisierung durch die Kolleginnen erst aktiv eingefordert werden muss. Zuweilen überwiegt hier die Scham, und die Betroffenen ziehen sich zurück. Darüber hinaus kann die Wirkungsmacht dieser Taktiken nur
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unter Berücksichtigung des autoritären Führungsstils und der hohen Identifikation der Beschäftigten mit ihrer Arbeit und „ihrer Filiale“ verstanden werden.4 Im Wesentlichen haben sich die Taktiken seit den 1990er Jahren nicht verändert. Neu hinzugekommen sind allerdings sowohl massive Auseinandersetzungen um die Festlegung der Wahlkreise als auch der Versuch die Betriebsratswahlen mittels der Initiierung unternehmensfreundlicher Listen zu beeinflussen (Bormann 2007). Betriebsräte werten des Weiteren die Ausgründung der so genannten XLFilialen und den Einsatz von Leiharbeit seit 2009 als einen massiven Angriff auf die Mitbestimmung sowie den gültigen Tarifvertrag (Christel Hoffmann in Ver.di Bundesverwaltung 2010a; Betriebsräteversammlung Schlecker 2009). Die Strategie der XL-Filialen ist ein Versuch des Unternehmens, sich vor dem Hintergrund massiver Umsatzeinbrüche auf dem Markt neu zu positionieren. Schlecker expandierte bis 2004 massiv im Drogeriebereich und eröffnete zuweilen gar zwei AS-Märkte in einem Dorf oder einer Straße. Diese kleinflächigen, geografisch breit gestreuten AS-Märkte müssen nun weichen. 2009 schloss der Marktführer rund 1.000 AS-Filialen und eröffnete 300 XL-Märkte als ein neues Unternehmen ohne Betriebsrat und Tarifbindung. Im Zuge dessen entließ der Marktführer vielerorts Beschäftigte und stellte sie neu als Leiharbeitskräfte bei der von Ver.di vermuteten konzerneigenen Leiharbeitsfirma Meniar ein, wobei ihr Gehalt unter 50 Prozent des Tarifs lag (Interview Gewerkschaftssekretär 2010; Neumann o. J.; Ver.di Bundesverwaltung 2010a). Neben dem nach wie vor betriebsratsfeindlichen Verhalten des Unternehmens ist die Ausgangssituation dadurch erschwert, dass sich die Stellung der Beschäftigten auf dem Arbeitsmarkt sowie im Unternehmen gegenüber 1994/95 verändert hat, was vermutlich zu einer Schwächung ihrer Verhandlungsmacht führt. Neben der Leiharbeit gewannen weitere prekäre Beschäftigungsformen wie befristete Arbeitsverhältnisse und Teilzeitarbeit mit einem zunehmend geringen Stundenumfang zwischen acht bis 22 Stunden an Bedeutung. Statt gelernten Einzelhandelskauffrauen werden verstärkt junge, gering qualifizierte Verkäuferinnen eingestellt. Während der Lohn nach Aussagen von Betriebsräten in den 1990er Jahren noch für einen Großteil der Verkäuferinnen ein willkommener Nebenverdienst war, ist er heute für viele Beschäftigte die einzige Einkommensquelle.5
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„Das war ich. Das war eigentlich auf Deutsch nicht dem Schlecker sein Laden, das war mein Laden.“, so eine gekündigte Verkäuferin aus einem betriebsratslosen Bezirk, selbst Gewerkschaftsmitglied (zitiert nach Bormann 2007: 43). 5 In verschiedenen Schreiben referiert die Unternehmensleitung immer wieder auf die aktuelle Arbeitsmarktsituation, siehe z. B. folgenden Auszug aus dem Schreiben einer Verkaufsleiterin: „In der heutigen, wirtschaftlich schwierigen Zeit sollte allen MA (Mitarbeitern, Anm. d. A.) bewusst werden,
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Potentiale und Grenzen der Erneuerung Wie unter diesen Bedingungen dennoch kontinuierlich neue Betriebsräte gegründet werden können, soll im folgenden Kapitel ausgeführt werden. Dabei möchte ich auf die eingangs aufgeworfenen Fragen eingehen, inwiefern die in der Kampagne eingeführten neuen Elemente gewerkschaftlicher Organisierung heute noch bei Schlecker Anwendung finden und inwiefern die Aktivierung der Beschäftigten zu einer Entlastung der hauptamtlichen Gewerkschaftssekretäre führen kann. Im Vergleich zur Ausgangssituation 1994 besteht heute ein umfassendes, lang erprobtes Wissen bei Betriebsräten und Sekretären im Umgang mit betriebsratsfeindlichen Strategien der Unternehmensleitung – insbesondere auch mit Blick auf effektive Schutzmaßnahmen der Beschäftigten. Allerdings ist auch die Tendenz zu vermerken, dass bei Personalwechsel innerhalb von Ver.di der Informationsfluss nicht immer gewährleistet ist und es im Umgang mit neuen Unternehmenstaktiken kein koordiniertes Vorgehen gibt. So hat es beispielsweise einige Jahre gedauert, bis sich im Umgang mit den so genannten blau-weißen, unternehmensfreundlichen Listen die Einsicht durchsetzte, dass die aktive Einbindung solcher Betriebsräte effizienter als ihre Ausgrenzung ist. Wie auch bereits während der Schlecker-Kampagne erfolgt die Kontaktaufnahme mit Beschäftigten in betriebsratslosen Wahlkreisen heute mittels Filialbesuchen. Generell werden allerdings nach Aussage der Gewerkschaftssekretäre aufgrund fehlender Ressourcen die Filialen heute weniger intensiv betreut. Dies unterscheidet sich jedoch auch nach Bundesländern. Während Ver.di in Bayern, Baden-Württemberg und dem Saarland von Beginn an eine hohe Priorität auf die Organisierung von Schlecker legte und hierfür auch Ressourcen zur Verfügung stellte, erlangte das Unternehmen in Nordrhein-Westfalen und in vielen ostdeutschen Bundesländern diesen Stellenwert erst in den letzten Jahren. Als entscheidend für die Gründung neuer Betriebsräte werden allerdings die Aktivitäten des Gesamtbetriebsrats und einzelner aktiver Betriebsräte angesehen. Sie sind ehrenamtlich für die Kontaktaufnahme und Begleitung von Neugründungen zuständig: sie führen in der Regel Filialbesuche durch und sind während des gesamten Prozesses Ansprechpartnerin. Die Erfahrung zeigt, dass sie zuweilen leichter akzeptiert werden und einen Zugang zu den Beschäftigten herstellen können:
dass ohne die nötige Arbeitssorgfalt und Arbeitsgüte, ohne das erforderliche Geschäftsinteresse und ohne das Maß an persönlichem Engagement, der Arbeitsplatz gefährdet ist!!!“ (Dokument liegt der Autorin vor).
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Sarah Bormann „Da sind schon einige skeptisch. Wenn ich dann aber sage: ‚Ich bin selbst Betriebsrat, vor was habt Ihr Angst? Ich kann aus eigener Erfahrung erzählen, wie wir einen Betriebsrat gegründet haben – dann hat das schon geholfen.“ (zitiert nach Bormann 2007: 128)
Dieses Modell zeigt, dass Schlecker-Betriebsräte heute handlungsmächtige Akteure sind, die sich im filialisierten Betrieb über den eigenen Wahlkreis hinaus solidarisch verhalten. Allerdings sollte berücksichtigt werden, dass dieses Modell räumliche Nähe verlangt und damit aktive Betriebsräte in den Nachbarbezirken voraussetzt. Zudem stellt dieses Modell zwar begrenzt eine Arbeitsentlastung der Sekretäre dar, kann diese aber nicht ersetzen. So werden in vielen Wahlkreisen Filialbesuche gemeinsam durchgeführt, da es für die Betriebsrätin zwar einfacher sei, den Zugang zu Beschäftigten herzustellen, der Sekretär als Vertreter der Institution Gewerkschaft aber ein höheres Maß an rechtlicher Sicherheit und Gegenmacht ausstrahlt (Bormann 2007: 129). Diese Erfahrung bestätigt im Übrigen auch die Lidl-Kampagne, im Rahmen derer Ehrenamtliche mit ganz unterschiedlichen Hintergründen Filialbesuche durchführten. Es stellte sich heraus, dass die ehrenamtliche Filialbegleitung einer intensiven Betreuung durch die hauptamtlichen Sekretäre bedürfen. Matrai und Wohland konstatieren: „Dort, wo das Zusammenwirken zwischen hauptamtlichen Sekretären und ehrenamtlich aktiven Filialbegleitern in der Kampagne gut gelang – wie in Stuttgart – konnten Erfolge erzielt werden. Die enge Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen und umgekehrt deren kontinuierliche Unterstützung durch Hauptamtliche im Bezirk ist unzweifelhaft ein Schlüssel zu diesen Erfolgen.“ (Matrai und Wohland 2008: 53)
Aus diesem Grund ist die These von einer Arbeitsentlastung durch ehrenamtliche Aktivisten und durch eine mögliche Freisetzung von Personalressourcen zugunsten einer Kampagnenarbeit kritisch zu bewerten. Aufgrund der Verankerung von Betriebsratsstrukturen ist es kaum verwunderlich, dass die Mobilisierung externen Drucks heute eine geringere Rolle spielt als während der Kampagne. Dennoch ist sie nach wie vor von großer Bedeutung. Sekretäre begleiten Neugründungen teilweise mit Pressearbeit und drohen mit prominenten Patenschaften. Aber auch in konkreten Arbeitskämpfen greifen die Betriebsräte auf ein Mehr-Ebenen-Prinzip zurück, wie zuletzt bei der Ausgründung der XL-Filialen (s. o.). Den Kern bildeten der Aufruf zu einem Teilboykott der XL-Filialen und die direkte Ansprache der Kunden und Kundinnen mittels Unterschriftensammlungen und der Verteilung von Informationsblättern. Es fanden zahlreiche Protestaktionen im öffentlichen Raum statt, und die Unterstützung kirchlicher Verbände und von Politikern wurde mobilisiert. In Bayern und
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in Darmstadt bildeten sich Solidaritätsteams aus Politikern, Kirchenvertretern, Betriebsräten und Gewerkschaften. Beispielsweise konnte in Groß-Bieberau dadurch erreicht werden, dass Schlecker vier betriebsbedingte Kündigungen zurücknahm und die Frauen zu den alten Bedingungen weiter beschäftigte. Auf Bundesebene konnte Ver.di schließlich im März 2010 Tarifverhandlungen mit dem Unternehmen erzwingen. Im April beantragte zudem die Bundestarifkommission Schlecker beim Ver.di-Bundesvorstand die Genehmigung für Urabstimmung und Streik (Ver.di Bundesvorstand 2010b: 1). Ver.di erzielte schließlich im Juni des gleichen Jahres einen Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung, der im Wesentlichen die Bevorzugung von AS-Beschäftigten bei Neueinstellungen in den ausgegründeten XL-Filialen sowie die Begrenzung von Leiharbeit regelt. Des Weiteren schloss Ver.di einen Sozialtarifvertrag für AS-Filialen ab, der allerdings nur Angestellte mit unbefristeten Beschäftigungsverhältnissen erfasst. Außerdem konnte die Gewerkschaft die Tarifflucht mittels eines Vertrags zur Tarifbindung bei Schlecker XL verhindern (Ver.di Bundesvorstand 2010c). In dieser Verhandlungsrunde konnte Ver.di allerdings nicht ihr Ziel durchsetzen, dass die Betriebsrats- und Gesamtbetriebsratsstrukturen auch für Schlecker XL gelten. Allerdings plante Ver.di im Juni 2010 weitere Verhandlungen mit der Unternehmensleitung und setzte darauf, dass mit der Versetzung von Beschäftigten aus Betriebsratsbezirken von Schlecker AS zu Schlecker XL dort auch Neugründungen stattfinden werden. Dies ist aufgrund der höheren Beschäftigtenzahl auch ohne einen Tarifvertrag nach § 3 des BetrVG möglich (Interview Gewerkschaftssekretär 2010).
Ausblick Im Rahmen der beiden vorgestellten Gewerkschaftskampagnen sollte mittels der Ausübung externen Drucks auf mehreren Ebenen Betriebsratsgründungen gegen den Willen der Unternehmensleitungen durchgesetzt werden. Ein Vergleich beider Kampagnen zeigt Grenzen in der Übertragbarkeit des Erfolgs der Schlecker-Kampagne auf den Fall Lidl aufgrund unterschiedlicher Ausgangsbedingungen und externer Faktoren auf. Wesentliches Merkmal der Schlecker-Kampagne war, dass die Beschäftigten von sich aus an die Gewerkschaft herantraten, dass aufgrund eines schnellen Erfolgs die Gewerkschaft an Akzeptanz unter den Beschäftigten gewann und dass die Beschäftigten in der Kampagne eine aktive Rolle spielten, obgleich die „Führung“ auch weiterhin der Gewerkschaft oblag. Die Schlecker-Kampagne erfüllte eher als die Lidl-Kampagne auch einen verstehenden Ansatz. Dagegen nahmen die Beschäftigten die Lidl-Kampagne vermutlich stärker als eine Medienkampagne „von außen“ wahr. Dadurch entstand das
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Problem, dass ein zu starker Fokus auf das mitbestimmungsfeindliche Verhalten des Unternehmens den Blick auf die Perspektive der Beschäftigten verstellte, die letztendlich die Betriebsräte gründen müssen. Eine Auseinandersetzung mit Betriebsratsgründungen bei Schlecker nach dem Ende der Kampagne zeigt, dass gewerkschaftliche Erneuerungsstrategien auch langfristig erfolgreich sein können. Dass heute die Hälfte der Wahlkreise über Betriebsräte verfügen und ein Drittel der Beschäftigten Gewerkschaftsmitglied sind, ist vor allem dem engagierten Einsatz des Gesamtbetriebsrats und vieler Betriebsratsmitglieder zuzuschreiben. Diese erfahren sich heute als handlungsmächtige Akteure und sind mit Wissen und Kompetenz umfassender Organisierungsstrategien ausgestattet. Der Konflikt um die neu gegründeten XLFilialen in den Jahren 2009 und 2010 zeigt, dass Ansätze aus der SchleckerKampagne bis heute Teil des Handlungsrepertoires der Interessenvertretungen sind. Anhand beider Kampagnen konnte aufgezeigt werden, dass die Aktivierung von Ehrenamtlichen über erhebliche Potenziale verfügt, jedoch nicht die Arbeit von hauptamtlichen Gewerkschaftssekretären und -sekretärinnen ersetzen kann. So war die Lidl-Kampagne in den Bezirken erfolgreich, in denen eigene Personalressourcen zur Verfügung gestellt wurden. Die flächendeckende Durchsetzung von Mitbestimmung in dem filialisierten Unternehmen gelang in den Bezirken, in denen hierauf auch Priorität gelegt wurde. Die Kampagne selbst kann also nicht mehr als ein Türöffner sein. Weitere Untersuchungen öffentlicher Druckkampagnen müssten stärker die Perspektive der Beschäftigten auf die Kampagnen in den Blick nehmen, um zu verstehen, unter welchen Bedingungen sich Handlungsspielräume für Organisierung mittels des Aufbaus externen Drucks auf ein Unternehmen in Koalition mit sozialen Bewegungen und NROs eröffnen und diese von den Beschäftigten auch genutzt werden.
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Ingrid Artus
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Gewerkschaftliche Interessenvertretung im Niedriglohnsektor und der Streik der französischen
Travailleurs sans papiers Gewerkschaftliche Interessenvertretung im Niedriglohnsektor
Strukturen und Politiken (nicht nur) der deutschen Gewerkschaftsbewegung sind historisch bedingt stark von den Verhältnissen männlicher, einheimischer Facharbeit geprägt. Dort finden sich auch bis heute die Bollwerke gewerkschaftlicher Organisierung. In den (westdeutschen) Großbetrieben der Metall- und Elektroindustrie, der Chemieindustrie, im Bergbau oder auch im Bereich Banken und Versicherungen sind die Gewerkschaften immer noch stark, die Löhne vergleichsweise hoch, die Arbeitsbedingungen und -beziehungen gut reguliert und erhebliche Partizipationschancen der betrieblichen Mitbestimmung vorhanden. Im Zuge der Ausweitung des Dienstleistungssektors, der Feminisierung des Arbeitsmarktes, der Zunahme ethnischer Minderheiten in Deutschland sowie der staatlicherseits unterstützten Prekarisierungsoffensive der Unternehmer haben sich die Beschäftigungsbereiche jenseits traditioneller Gewerkschaftsdomänen jedoch dynamisch entwickelt. Angesichts der Landnahme entstandardisierter und „desozialisierter“ (Wacquant 2009: 29) Formen von Lohnarbeit gleichen die gewerkschaftlich gut regulierten Kerne kleiner werdenden Inseln in einem ‚Meer‘ unregulierter Arbeits- und Sozialstandards. Der folgende Beitrag versteht sich als Berichterstattung über die rauen Überlebensbedingungen auf dem Meer und als Kommunikationshilfe zwischen Insel- und MeeresbewohnerInnen. Sein Thema und seine zentrale These ist die kulturelle Kluft zwischen traditionellen Orientierungen (nicht nur) der deutschen Gewerkschaften und den Beschäftigten im wachsenden Niedriglohnsektor. Mit anderen Worten: Eine Gewerkschaftslandschaft, deren FunktionärInnen, zentralistische und bürokratische Organisationsformen, kollektive Normen, Identitätsangebote und politischen Strategien in Zeiten geformt wurden, in denen ein kontinuierliches Wohlstandswachstum herrschte, die Gewerkschaftsbewegung relativ stark war, flächendeckende kollektive Institutionen (also Tarifverträge und Betriebsräte) vorausgesetzt werden konnten, männliche qualifizierte Facharbeit dominierte und ein grundlegender machtpolitischer Kompromiss mit der Unternehmerseite existierte, muss sich
T. Haipeter, K. Dörre (Hrsg.), Gewerkschaftliche Modernisierung, DOI 10.1007/978-3-531-93332-0_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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gegenwärtig um Anschluss an Wirtschaftssegmente bemühen, in denen all diese Voraussetzungen nicht existieren. Im Folgenden werden zunächst allgemein die Bedingungen einer Interessenvertretung abhängig Beschäftigter im Niedriglohnbereich skizziert (Kap. 1). Anschließend geht es darum, an welchen Punkten typischerweise Konflikte in diesem Bereich aufbrechen, an denen Initiativen der deutschen Gewerkschaften ansetzen können (Kap. 2). Im dritten Kapitel wird ein konkretes Beispiel empirisch untersucht, das als relativ erfolgreicher ‚Brückenbau‘ zwischen etablierten Gewerkschaftsorganisationen und prekarisierten LohnarbeiterInnen gelten kann. Dieses stammt (nicht zufällig) nicht aus Deutschland, sondern aus unserem westlichen Nachbarland Frankreich. Dort haben zwischen Oktober 2009 und Sommer 2010 rund 6.000 Travailleurs sans papiers (Arbeiter ohne Papiere) mit Unterstützung der Gewerkschaft CGT für eine Regularisierung ihres Aufenthaltsstatus gestreikt (Kap. 3). Die Situation irregulärer MigrantInnen ist freilich ein Extremfall prekarisierter Lohnarbeit, und die Verhältnisse in Frankreich sind zudem in vielerlei Hinsicht nicht direkt auf Deutschland übertragbar. Dennoch lässt sich aus dem Fallbeispiel einiges lernen, was für ein verallgemeinerndes Fazit zum Thema gewerkschaftliche Interessenpolitik im Niedriglohnbereich wichtig ist (Kap. 4).
Interessenvertretung im Niedriglohnbereich: Strukturelle Bedingungen Die Schwelle des Niedriglohnbereichs wird nach OECD-Standard bei zwei Drittel des Medianlohns definiert. Diese Schwelle lag in Deutschland im Jahr 2008 bei 9,06 Euro.1 Über 6,5 Millionen Menschen arbeiteten zu diesem Zeitpunkt für einen Stundenlohn, der unter dieser Schwelle lag. Das waren ca. 21% aller Beschäftigten (Bispinck 2010). Der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten ist in Deutschland – anders als in den meisten EU-Ländern – in der Vergangenheit stark gewachsen. Er liegt mittlerweile deutlich über dem in anderen korporatistischen Wohlfahrtsstaaten (z. B. Frankreich oder den Niederlanden) und bewegt sich eher auf dem Niveau angelsächsischer liberaler Kapitalismen (z. B. Großbritannien, USA) (Bosch et al. 2008: 423). Niedriglohnarbeit wird längst nicht mehr nur von Teilzeitkräften geleistet, die einen Nebenverdienst anstreben.
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Dieser Wert bezieht sich auf Gesamtdeutschland. Bei der Errechnung getrennter Niedriglohnschwellen für West- und Ostdeutschland liegen diese bei 9,50 Euro für den Westen, bei 6,87 Euro (!) für Ostdeutschland (Bispinck 2010).
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Betroffen ist auch eine große Zahl von Vollzeitbeschäftigten (ebd.). Anders als in den USA oder England sind die deutschen niedrig Entlohnten zudem keineswegs in erster Linie unqualifizierte Beschäftigte. Im Jahr 2006 stammte „nur noch knapp ein Viertel aller Niedriglohnbeschäftigten aus der Gruppe der formal gering Qualifizierten (…). Der Anteil von Beschäftigten mit abgeschlossener Berufsausbildung oder einem akademischen Abschluss an der Gesamtzahl der Niedriglohnbeschäftigten ist (…) von 66,5% (1995) auf 73,6% (2006) deutlich gestiegen (…) – ein auch im internationalen Vergleich extrem hoher Wert (Bosch et al. 2008: 427; auch Schäfer 2006). Niedrige Löhne werden nicht nur in Bereichen gezahlt, in denen keine Tarifverträge gelten oder diese nicht eingehalten werden. Teilweise haben sich die Tarifparteien in der Vergangenheit auch ganz offiziell auf Löhne geeinigt, die unterhalb der Niedriglohngrenze liegen, z. B. in der Floristik, im Friseurhandwerk, im Hotel- und Gaststättengewerbe, in der Landwirtschaft und im Erwerbsgartenbau, teilweise auch im Kfz-Gewerbe, im Fleischerhandwerk, im Einzelund Großhandel sowie im Bereich Transport und Verkehr (Bispinck 2010). Auch die neuen branchenbezogenen Mindestlöhne nach dem Arbeitnehmerentsendegesetz liegen zum Teil unterhalb der Niedriglohnschwelle, etwa in der Abfallwirtschaft, im Elektrohandwerk/Ost, im Gebäudereinigerhandwerk, bei den Geldund Wertdiensten, in der Pflegebranche/Ost, im Wach- und Sicherheitsgewerbe sowie bei den Wäschereidienstleistungen (ebd.) sowie im Leiharbeitssektor. Die Liste der betroffenen Branchen zeigt, dass Arbeit zu Niedriglohnkonditionen insbesondere in Dienstleistungsbereichen stattfindet, in denen typischerweise nicht nur die Lohnhöhe als Prekaritätsmerkmal zu werten ist, sondern auch die Beschäftigungssicherheit, die soziale Absicherung, die Arbeitsbedingungen sowie die Partizipationschancen häufig negativ von den gesellschaftlich üblichen Standards abweichen (Brehmer und Seifert 2008). Es handelt sich (meist) um prekäre Dienstleistungsarbeit, die überproportional häufig von Frauen, von MigrantInnen, von Ostdeutschen sowie von jüngeren Menschen ausgeübt wird (ebd.). Diesen Beschäftigtengruppen ist gemeinsam, dass ihre prekären Arbeitsbedingungen längerfristige Zukunftsplanungen kaum ermöglichen, dass ihre Leistungen gesellschaftlich gering bewertet werden und häufig mit individuellen Missachtungserlebnissen verknüpft sind. Zusammenfassend lassen sich zwei strukturelle Ursachen nennen, weshalb eine kollektive Organisierung der Beschäftigten entlang traditioneller gewerkschaftlicher Strategien in den genannten Bereichen ausgesprochen schwierig ist (Artus 2008a; Artus 2010a). Erstens existiert im prekären Dienstleistungsbereich typischerweise eine starke Fragmentierung der Beschäftigten. Dies gilt in dreifacher Hinsicht: räumlich, zeitlich und kulturell. Anders als in industriellen Großbetrieben, in denen die Beschäftigten räumlich konzentriert, gleichzeitig, zeitlich
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lang andauernd sowie langfristig zusammenarbeiten, erfolgt prekäre Dienstleistungsarbeit typischerweise räumlich zersplittert, diskontinuierlich, kurzzeitig sowie in häufig wechselnder personeller Zusammensetzung oder sogar vereinzelt. Teilzeitarbeit, geringfügige Beschäftigungsverhältnisse und hochflexible Arbeitszeitmodelle erschweren die Herausbildung kollegialer Beziehungen. Der personelle Wechsel in der Belegschaft ist hoch. Dies ist teils auf die rigiden Beschäftigungsbedingungen zurückzuführen, teils auch darauf, dass die (überproportional jungen) Beschäftigten ihr Arbeitsverhältnis lediglich instrumentell als zeitlich befristeten Job sehen. Die kulturelle Zusammensetzung der stark fluktuierenden und auf viele Baustellen, Filialen, Restaurants oder Werkstätten zersplitterten Belegschaften ist höchst heterogen – so heterogen wie die Gründe, weshalb sich Menschen gezwungen sehen, prekäre Arbeiten zu Konditionen unterhalb gängiger gesellschaftlicher Standards auszuführen. Typische Handicaps der hier Beschäftigten sind oft weniger eine geringe formale Qualifikation, sondern mangelnde räumliche oder zeitliche Flexibilität (etwa aufgrund von Familienarbeit oder beschränkter Arbeitserlaubnis), eine mangelhafte Beherrschung der deutschen Sprache, diskontinuierliche Erwerbsbiographien, die Nicht-Anerkennung von ausländischen Bildungs- und Berufsabschlüssen sowie körperliche Einschränkungen des Arbeitsvermögens. In prekären Dienstleistungsbetrieben arbeiten Menschen aus vielen Ländern der Erde, deren sprachliche, kulturelle und politische Hintergründe extrem differieren; SchülerInnen und StudentInnen arbeiten neben kinderlosen Ehefrauen, die sich ein Zubrot verdienen wollen, und Alleinerziehenden mit extrem prekärer Familiensituation, ehemals Straffällige neben JurastudentInnen, MigrantInnen mit ausländischem Universitätsdiplom neben solchen, denen das Lesen schwer fällt und die zum ersten Mal in ihrem Leben Lohnarbeit verrichten. Dies konstituiert nicht nur erhebliche Kommunikationsprobleme, sondern auch reale Interessenunterschiede in Bezug auf Löhne, Arbeitszeiten und gewerkschaftliche Vertretungsstrategien. Ein oft hoher Problem- sowie Leistungsdruck bei schlechter Bezahlung und permanentem Zwang zu betrieblichem Wohlverhalten, schafft zudem schlechte Laune. So gibt es viele Konflikte am Arbeitsplatz – jedoch nicht ‚zwischen oben und unten‘, sondern eher zwischen den KollegInnen. Mobbing ist weit verbreitet. Bereits die Herausbildung kollegialer Strukturen scheint unter diesen Bedingungen schwierig, die Formierung handlungsfähiger interessenpolitischer Kollektive nahezu ein Ding der Unmöglichkeit. So ist es zweitens nicht zufällig, sondern immanent logisch, dass das Machtungleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit in diesen Wirtschaftsbereichen besonders ausgeprägt ist. International tätige, mächtige Unternehmenskonzerne mit erheblicher Arbeitsmarktmacht und gut ausgestatteten juristischen Fachabteilungen stehen hier Beschäftigten gegenüber, die über ausgesprochen geringe ökonomische, kulturelle und soziale Kapitalressourcen verfügen. Ihre Arbeits-
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kraft ist häufig leicht austauschbar, und in Zeiten struktureller Massenarbeitslosigkeit besitzen sie wenig Beschäftigungsalternativen. Sie sind daher in hohem Maße existentiell erpressbar. Ihre geringe Arbeitsmarktmacht sowie geringe strukturelle Macht am Arbeitsplatz wird zudem kaum über das Vorhandensein von Organisationsmacht kompensiert.2 Prekäre Dienstleistungsarbeit stand traditionell nicht im Focus gewerkschaftlicher Normalapparatspolitik.3 Infolgedessen ist der Organisationsgrad meist niedrig und die Gewerkschaft ‚weit weg‘. In einer Studie, die der Frage nachging, weshalb in Deutschland rund 90% aller betriebsratsfähigen Betriebe keinen Betriebsrat besitzen (Ellguth und Kohaut 2010), fanden sich im Bereich prekärer Dienstleistungsarbeit daher mit Abstand die repressivsten Formen einer Managementpolitik gegen Gewerkschaften und Mitbestimmung (Artus 2008a; Artus2008c; Artus 2010a; Lücking 2009). Der Interaktionsmodus zwischen Management und Beschäftigten strukturiert sich häufig als ein Verhältnis von Repression versus Ohnmacht. Die Belegschaft wird (nach Aussage einer interviewten Personalverantwortlichen) rekrutiert nach dem Motto: „Willig und billig“. Die Beschäftigten werden eher als zu disziplinierende Arbeitskraftressource gesehen und behandelt, denn als produktive oder gar kreative Leistungsträger. Gefordert wird Gehorsams- und Leistungsbereitschaft beim strikten Ausführen vorgegebener Arbeitsanweisungen. Die Arbeitsverhältnisse sind systematisch prekär gestaltet und der Aufbau einer Stammbelegschaft wird limitiert, um bei Bedarf den Austausch von nicht (mehr) leistungsfähigen oder -willigen Beschäftigten zu erleichtern. Es existieren vergleichsweise rigide direkte Kontrollpraktiken. Misstrauens- und Missachtungsbeziehungen stabilisieren sich wechselseitig. Das Verhältnis zwischen Vorgesetzten und Beschäftigten lässt sich daher weniger als wechselseitige Austauschbeziehung beschreiben; es handelt sich eher um ein einseitig vorgegebenes Regelset, mit dem die Beschäftigten in totalitärer Weise konfrontiert werden. Sie haben die Wahl zwischen Gehorsam oder Exit. Die hohe Fluktuationsrate (von 100% und mehr) geht denn auch in erster Linie auf Exit-Optionen der Beschäf-
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Diese Unterscheidung verschiedener Machtressourcen nimmt einen Vorschlag von Silver (2005: 30-34) in Anlehnung an E. O. Wright auf. Sie unterscheidet strukturelle Macht (structural power), die sich wiederum in Marktmacht (marketplace bargaining power) und Produktions- bzw. Arbeitsplatzmacht (workplace bargaining power) differenzieren lässt, von Organisationsmacht (associational power). Organisationsmacht entsteht demnach aus der Bildung kollektiver Arbeiterorganisationen, vor allem Gewerkschaften und politischen Parteien. 3 Dies hat sich angesichts der gewerkschaftlichen Mitgliedermisere in der jüngsten Vergangenheit ein wenig verändert (vgl. Kap. 3).
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tigten zurück. Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses ist eine typische Form der Konfliktbewältigung.4 Summa summarum sind die Bedingungen für die Herstellung von Gegenmacht also ziemlich schlecht. Und das unternehmerische Gegenüber ist häufig sehr rigide und professionell in seinem Anliegen, kollektive Ansätze von Interessenvertretung möglichst im Keim zu ersticken. Die Repressionsstrategien des Managements sind häufig durchaus systematisch, im Sinne US-amerikanischer ‚Anti-Union-Politiken‘. Sie bestehen in der Entlassung oder Abfindung von unbequemen AktivistInnen, in einer massiven innerbetrieblichen Propaganda gegen die Wahl eines Betriebsrats, in der Nutzung vielfacher juristischer Mittel gegen kritische Beschäftigte (z. B. strafrechtliche Vorwürfe, besonders häufig des Diebstahls), in der massiven Einflussnahme auf Betriebsratswahlen durch Einschüchterung oder systematische ‚Überzeugungsarbeit‘, im Extremfall auch durch die kollektive Abstrafung unbotmäßiger Filialen oder Standorte, indem diese etwa von unternehmensweiten Lohnerhöhungen ausgenommen oder geschlossen bzw. bewusst in den Konkurs geführt werden (vgl. hierzu u. a. Royle 2000; Bormann 2007; Artus 2008a; Artus 2008b; Artus 2008c). Die managerialen Strategien sowohl der Wahlbeeinflussung als auch der Beeinflussung bestehender Betriebsratsgremien sind massiv, systematisch und dauerhaft. Und sie haben in der Regel Erfolg. Angesichts des Ungleichgewichts der Kräfteverhältnisse wirkt der Versuch gewerkschaftlicher Organisierung und der Etablierung einer betrieblichen Gegenmacht geradezu als „Verrücktheit“ (Artus 2008b). Sinnvoller hingegen scheint es, im Alltag ‚in Deckung‘ zu gehen vor der Allgewalt der Unternehmensleitung und möglichst unauffällig zu funktionieren, solange man das aushält. Dies ist ein pragmatischer Überlebensreflex angesichts oft schwieriger persönlicher Lebensumstände, der zudem auf einer realistischen Einschätzung der betrieblichen Machtverhältnisse beruht. In der Welt prekär Beschäftigter gibt es kaum Erfahrungen, die die Sinnhaftigkeit individuellen oder kollektiven Widerstands, den Nutzen kollektiver Formen der Organisierung und Interessenvertretung nahe legen würden. Die weitgehend kritiklose Anpassung an die herrschenden Verhältnisse hat daher wenig mit Zufriedenheit zu tun, sondern ist als „Wahl des Schicksals“ (im Sinne von Bourdieu) zu begreifen, die den eigenen Erwartungshorizont an das realistisch Gegebene anpasst. Die geringe Hoffnung auf Verbesserung der eigenen Lebens- und Arbeitssituation ist das Ergebnis der
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Im Rahmen einer ausführlicheren Darstellung der Interaktionsmodi im prekären Dienstleistungsbereich lassen sich zwei typische Varianten von Sozialbeziehungen unterscheiden: Neben den oben dargestellten ‚rein repressiven‘ Managementstrategien finden sich manchmal auch Politiken mit dezidierten symbolischen Anerkennungs- und Vergemeinschaftungsanteilen (vgl. Artus 2008a, b, c).
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„intuitiv erfassten und fortschreitend verinnerlichten objektiven Chancen“ (Bourdieu 2001: 34).
Verrückte Kämpfe und gewerkschaftliche Initiativen im Niedriglohnbereich: Das Problem der kulturellen Kluft Und doch gibt es Fälle, wie jenen der Supermarkt-Kassiererin, die unter dem Namen Emmely Schlagzeilen machte. Als Aktivistin im Einzelhandelsstreik wurde sie mit der Begründung gekündigt, sie habe einen Pfandbon im Wert von 1,30 Euro gestohlen (Hajek und Zattler 2009). Ihren öffentlichkeitswirksamen Kampf um ihre Wiedereinstellung gewann sie in letzter Instanz vor dem Bundesarbeitsgericht. Es gibt die Schlecker-Kassiererinnen, die hartnäckig um Betriebsräte kämpften (Bormann 2007). Es gibt die McDonalds-Belegschaften, die in Frankreich fast ein Jahr lang für bessere Arbeitsbedingungen und die Wiedereinstellung ihrer Kollegen streikten (Tie-Internationales Bildungswerk 2003). Es gibt die Teamster-AktivistInnen, die in den 1990er Jahren mit einem brutalen Arbeitskampf in den USA eine gewerkschaftliche Organisierung bei UPS durchsetzten und ihre KollegInnen der türkischen Gewerkschaft Tümtis, die aktuell Ähnliches in der Türkei versuchen: Sie kämpfen für die Wiedereinstellung von 161 Beschäftigten, die von UPS gekündigt wurden, als sie sich gewerkschaftlich organisierten. Es gibt die Streikenden am Londoner Flughafen Heathrow (Dufour 2005) und jene bei Gate Gourmet in Düsseldorf (Flying Pickets 2007). Wie und wann kommt es zu solchen prekären Kämpfen? Zunächst ist zu betonen, dass es sich bei den meisten oben genannten Fällen um Abwehrkämpfe handelte, um Formen der Gegenwehr gegen Zumutungen der Unternehmerseite oder um Widerstand gegen Repressionsmaßnahmen. Betrachtet mensch die zentralen AktivistInnen solcher prekären Kämpfe, so ist typisch, dass es sich um Akteure handelt, bei denen das Machtungleichgewicht etwas weniger eklatant scheint. Sie verfügen oft über ein ‚relatives Mehr‘ an struktureller Arbeitsplatz- oder auch Arbeitsmarktmacht. So kommt Widerstand gegen prekäre Verhältnisse im Regelfall aus dem Bereich der Stammbelegschaft, von Menschen mit überdurchschnittlich langer Betriebszugehörigkeit5 und manchmal auch etwas
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Eine äußerst lesenswerte Darstellung gewerkschaftlicher Kämpfe bei der Fast-Food-Kette Pizza Hut in Frankreich beginnt mit den Worten des Autors, eines zentralen Aktivisten: „Ich bin Gewerkschafter geworden, weil ich kurzsichtig bin, sehr kurzsichtig“ (Mabrouki 2004: 17, Übers. d. Verf.). Seine Sehbehinderung zwang ihn, an der Geschirrspülmaschine zu arbeiten statt als Pizzaausfahrer. Diese Arbeitsstelle war wiederum der Grund, weshalb er eine ungewöhnlich lange Dauer der Betriebszugehörigkeit erwerben konnte – Grundvoraussetzung für sein gewerkschaftliches Engagement.
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herausgehobener Stellung, z. B. als Vorarbeiterin, Gruppenleiter, Schichtleiterin oder sogar Filialleiter. Sie kennen die betrieblichen Prozesse und viele MitarbeiterInnen – und die MitarbeiterInnen kennen sie. Häufig haben sie in der Vergangenheit kleinere betriebliche Aufstiegsprozesse gemacht, weil sie überdurchschnittlich engagiert und qualifiziert sind. Im Fall eines Konflikts kündigen diese MitarbeiterInnen nicht (immer), sondern versuchen (zuweilen), diesen innerbetrieblich auszutragen. Da sie auch in ihrem Alltag schon als SprecherIn eines Beschäftigtenkollektivs fungierten, liegt es nahe, dies zu einem bestimmten Zeitpunkt auch mit anderen Zielstellungen und Mitteln zu tun. Da sie die kollektiven Problemlagen aus langer Erfahrung gut kennen, können sie sie im konkreten Fall überzeugend zum Thema machen. Die Aussichten, dass die MitarbeiterInnen, KollegInnen und Untergebenen sich anschließen, sind zudem besser, wenn den relativ Ohn-Mächtigen ein paar Ein-Bisschen-Mächtige vorangehen. Manchmal verfügen die prekären AktivistInnen auch über ein ‚relatives Mehr‘ an Arbeitsmarktmacht, das heißt, sie sind aufgrund ihrer subjektiven Situationseinschätzung oder ihrer objektiven Lebenslage sowie Qualifikation eher bereit und fähig, ihren Arbeitsplatz bei einem „verrückten Kampf“6 zu riskieren als andere. Die vermutlich wichtigste Voraussetzung für die ‚Erhebung der eigenen Stimme‘ im Sinne von ‚voice‘ ist daher der Verzicht bzw. die Verhinderung von ‚exit‘. Diese organisationssoziologisch eher banale Feststellung ist für die Verhältnisse im prekären Dienstleistungsbereich fundamental. Nicht zufällig dreh(t)en sich viele der oben genannten prekären Kämpfe um die Verhinderung von Entlassungen. Auslöser für prekäre Kämpfe sind zudem häufig nicht in erster Linie materielle Forderungen, z. B. nach Erhöhung der Niedriglöhne. Sie entzünden sich vielmehr typischerweise im Fall der Verletzung moralischer Standards, die über die ohnehin demütigende alltägliche Behandlung noch hinausgeht. Fragen von Respekt und Anerkennung spielen eine zentrale Rolle. Thema ist etwa, ob Verkäuferinnen häufiger als einmal am Tag das Recht besitzen, auf die Toilette zu gehen, ob auch in den Umkleideräumen Überwachungskameras installiert werden dürfen, ob ein leistungsschwacher Vorgesetzter das Recht hat, seine Untergebenen als Faulpelze und Nichtsnutze zu beschimpfen, und ob die Regalbretter eines Kaufmarktes wirklich mit der Zahnbürste gereinigt werden müssen. Unmoralisch finden es auch manche Beschäftigte, wenn ihre KollegInnen, die sich gegen eine unwürdige Behandlung zur Wehr gesetzt haben, unter dem Vorwurf des Diebstahls gekündigt werden. Die Solidarisierung mit solchen KollegInnen
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Die Terminologie der „Verrücktheit“ stammt von interviewten AktivistInnen selbst (vgl. Artus 2008b).
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gegen die offensichtliche Willkür des Unternehmens steht häufig am Beginn von Konflikten, in deren Verlauf es zum unwahrscheinlichen Fall der Formierung eines handlungsfähigen Kollektivs unter prekären Bedingungen kommt. Typisch für prekäre Kämpfe ist, dass sie relativ schnell zu ausgesprochen zugespitzten Konfliktsituationen führen, die von beteiligten AktivistInnen häufig mit der Metapher des „Kriegs“ belegt werden. Wenn Emmely bis vor das Bundesarbeitsgericht ziehen musste, um ihr Recht zu erstreiten, so wurden manche ihrer KollegInnen zwei-, drei-, viermal gekündigt und wieder eingestellt (Rosa Luna 2009) oder erwägen nach einer Serie von juristischen Auseinandersetzungen letztlich einen Hungerstreik als letztes Mittel (Artus 2008b). Um im ungleichen Kampf von David gegen Goliath auch nur den Hauch einer Chance zu besitzen, braucht es ein erhebliches persönliches Durchhaltevermögen, einen sehr langen Atem sowie vor allem solide kollektive Unterstützungsstrukturen, nicht nur im Betrieb, sondern darüber hinaus. Nun möchte man meinen, dies könnte in erster Linie über gewerkschaftliche Netzwerke und Unterstützung hergestellt werden. Im Prinzip und in manchen Fällen ist das auch so, jedoch leider nicht immer. Bürokratische Organisationsstrukturen und die althergebrachte Orientierung von Gewerkschaftspolitik an den Verhältnissen gut organisierter Industrieoder Büroarbeit sorgen für vielfältige Irritationen und Missverständnisse (Artus 2008a; Artus 2008b). Aus Sicht von GewerkschaftsfunktionärInnen lässt sich ja wirklich auch berechtigterweise fragen, ob es sich lohnt, sich mit übermächtigen Konzernen anzulegen, wenn doch der Gesamtbetriebsratsvorsitzende, der brav seinen Ver.di-Mitgliedsausweis besitzt und den gewerkschaftlichen Einfluss im Unternehmen kanalisiert, abwiegelt und man im Übrigen froh ist, dass der Konzern den selbst abgeschlossenen Niedriglohn-Branchentarifvertrag einhält; weiß man doch, dass man angesichts der fehlenden Mitgliederbasis im Unternehmen kaum die Macht besäße, um den Konzern bei Aufgabe seines formal sozialpartnerschaftlichen Kooperationskurs an den Verhandlungstisch zu zwingen. Und es scheint wenig sinnvoll, viel Arbeit und Zeit in die Organisierung und Verteidigung prekär Beschäftigter zu stecken, deren Mitgliedsbeitrag in der Höhe vernachlässigbar ist und die in drei Monaten vielleicht sowieso wieder den Arbeitsplatz wechseln. Zeit hat man als GewerkschaftsfunktionärIn ohnehin immer weniger, weil es an immer mehr Fronten ‚brennt‘. Zugegeben, in den letzten Jahren hat sich in den deutschen Gewerkschaften langsam, jedoch nachhaltig das Bewusstsein durchgesetzt, dass die Organisierung der wachsenden prekären Beschäftigtenschar eine gewerkschaftliche Zukunftsfrage ist, die gelöst werden muss, wenn man nicht zum Dinosaurier der Geschichte werden will. Dies zeigt sich öffentlichkeitswirksam vor allem an der gewerkschaftlichen Kampagnenarbeit. Medial und auch politisch am einflussreichsten war und ist vermutlich die Kampagne zur Einführung eines Mindest-
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lohns, die zunächst von der NGG und Ver.di angestoßen wurde (Sterkel et al. 2006) und – nach lang anhaltendem Widerstand der IG Metall – letztlich eine Mehrheit der GewerkschafterInnen sowie auch der BundesbürgerInnen überzeugen konnte. Die Kampagne entspringt der realistischen Einschätzung, wonach der Lohndruck nach unten in vielen (v. a. prekären Dienstleistungs-)Bereichen mittelfristig nicht über traditionelle Tarifpolitik eingefangen werden kann. Sie ist damit einerseits ein Eingeständnis gewerkschaftlicher Schwäche; andererseits handelt es sich um eine pragmatische Anpassung traditioneller Gewerkschaftsstrategien an neue Rahmenbedingungen. Man versucht über gewerkschaftliche Öffentlichkeitsarbeit sowie Lobbymacht, den Staat dort als Bündnispartner zu mobilisieren, wo man aus eigener Kraft nicht mehr weiterkommt. Auch wenn sich das materielle Ergebnis der Kampagne bislang auf die halbherzige Verabschiedung diverser branchenbezogener Mindestlöhne beschränkt, so ist die virulente sowie anhaltende Politisierung der Frage eines allgemeinen Mindestlohns in Deutschland ein schöner Erfolg. Als ein Politikansatz, der sich explizit jenseits der Organisierung der betrieblichen Basis bewegt und auf eine übergreifende Politisierung der Öffentlichkeit setzt, löst die Kampagne jedoch das Problem mangelhafter gewerkschaftlicher Durchdringung der prekären Beschäftigungsbereiche in keiner Weise. Explizit anders ist dies im Fall der verschiedenen Organisierungskampagnen, die seit nunmehr rund zehn Jahren in verschiedenen Gewerkschaften durchgeführt wurden. Das Zauberwort des Organizing schwappte Anfang des neuen Jahrhunderts aus den USA nach Deutschland herüber. Jenseits des Atlantiks hatte die Dienstleistungsgewerkschaft SEIU im Rahmen einiger Organisierungskampagnen große Erfolge erzielen können (Bronfenbrenner 1998; Dribbusch 1998; Voss und Sherman 2000; Choi 2008; Schroth 2009). Das Versprechen des Mitgliederzuwachses gerade in prekären Bereichen machte die – vermeintlich teilweise übertragbaren – ‚Techniken‘ des Organizing auch für bundesdeutsche Gewerkschaften attraktiv (Hälker und Vellay 2006; Brinkmann et al. 2008; Dörre 2008; Birke 2010). Die diversen Versuche jedoch, gewerkschaftliche Organisierungskampagnen gleichsam ‚am Reißbrett‘ strategisch zu planen und in Szene zu setzen, hatten lediglich gemischte und partielle Erfolge. Zwar gelang es, prekäre Ausbeutungsverhältnisse zu politisieren und zu skandalisieren (etwa im Fall der Lidl-Kampagne, dazu Hamann und Giese 2004; Hamann et al. 2006). Nachhaltige Mitgliedereffekte, die das primäre Ziel der Anstrengungen etwa im Hamburger Bewachungsgewerbe (Dribbusch 2008; Birke 2010), in der Lagerwirtschaft des Otto-Versands oder auch im Krankenhausbereich waren bzw. sind, konnten jedoch nur beschränkt erzielt werden. Dies gilt auch für die aufwändige Kampagne der IG Metall zum Thema Leiharbeit. Viele der mühevoll neu organi-
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sierten LeiharbeiterInnen traten wieder aus der Gewerkschaft aus, als diese sie während der Wirtschaftskrise 2008 nicht vor Entlassung schützen konnte. Trotz der offensichtlichen Probleme beim Versuch der gewerkschaftlichen Durchdringung prekärer Beschäftigungssegmente lässt sich jedoch insgesamt eine deutliche Zunahme der Konflikte in diesen Bereichen feststellen (Renneberg 2006; Bewernitz 2008). Diese verlaufen zuweilen in traditionellen Formen der tariflichen Mobilisierung (z. B. beim Streik im Einzelhandel), teilweise werden gewerkschaftlicherseits neue Taktiken und Strategien erprobt (z. B. im Streik der ErzieherInnen, der GebäudereinigerInnen oder beim Streik um einen Tarifvertrag bei den Kinounternehmen Ufa und Cinemaxx); manchmal handelt es sich auch um Basisaktionen, die nur in loser Koordinierung mit (DGB-)gewerkschaftlichen Instanzen stehen oder sogar in Abgrenzung zu diesen durchgeführt werden (z. B. im Konflikt um einen Tarifvertrag im Berliner Kino Babylon). Insgesamt ergibt sich somit ein Bild der Interessenvertretung im Niedriglohnbereich, das von einer erheblichen Dynamik sowie Konflikthaltigkeit gekennzeichnet ist. Die Gewerkschaften sind keineswegs untätig. Ihre Strategien zeitigen bislang jedoch gemischte Resultate und es lassen sich systematische Probleme identifizieren. Diese bestehen einerseits in der dargestellten strukturellen Schwäche der Beschäftigten; andererseits jedoch auch in einer kulturellen und z. T. auch interessenpolitischen Kluft zwischen prekär Beschäftigten und gewerkschaftlichem Apparat. Wie lässt sich Letzteres erklären? Die Verhältnisse prekärer Dienstleistungsarbeit weichen von den gewohnten Mustern gewerkschaftlicher Organisierung ab, sowohl was die Arbeitsbedingungen, die Managementpolitiken als auch die Konfliktmuster betrifft. EinE FunktionärIn, der oder die etwa in den 1970er und 1980er Jahren die berufliche sowie gewerkschaftliche Sozialisation im Bereich der Deutschen Post oder eines großen Einzelhandelsmarktes erfahren hat, hat verständlicherweise erhebliche Schwierigkeiten, sich in repressive Verhältnisse und zugespitzte Konfliktsituationen à la Pin AG oder Aldi hineinzuversetzen. Die fehlenden Kenntnisse über die betrieblichen Bedingungen schmälern den Nutzen der gewerkschaftlichen Beratungsarbeit. Eklatante Fehleinschätzungen und strategisches Missmanagement von GewerkschaftsfunktionärInnen treten unter diesen Bedingungen gehäuft auf. Probleme entstehen auch dadurch, dass die ‚neuen‘ prekären AktivistInnen in puncto Geschlecht, ethnische Herkunft und soziale Stellung kaum den gewerkschaftlichen Traditionen entsprechen. Der Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zwischen z. B. einer jungen, türkisch stämmigen Kassiererin, die vielleicht aus einer Familie politisch Verfolgter stammt, und einem 50-jährigen sozialdemokratischen Gewerkschaftsfunktionär, der sich während Jahrzehnten bürokratischen Expertentums zum Spezialisten für eine komplizierte Tarifmaterie entwickelt hat, ist nicht unmöglich, aber auch nicht selbstverständlich. Zudem
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existiert ein systematisches Missverhältnis zwischen den hohen Anforderungen, die prekär Beschäftigte im Rahmen ihrer individuell hochriskanten, ‚verrückten‘ Kämpfe um Anerkennung und Gerechtigkeit an die Gewerkschaften stellen, und einer gewerkschaftlichen Organisationslogik, die den Erfolg der eigenen Politik häufig vor allem in Form einer Steigerung der Mitgliederzahlen misst. Dass hier Enttäuschungserlebnisse nicht ausbleiben, ist nahe liegend. Die Beziehungen zwischen prekären AktivistInnen und Gewerkschaften sind daher nicht selten von Missverständnissen und erheblichen wechselseitigen Irritationen geprägt. Die Kluft zwischen prekär Beschäftigten und etablierten Gewerkschaftsorganisationen ist zudem nicht ausschließlich als eine kulturelle zu begreifen ist, sondern auch als Ausdruck interessenpolitischer Widersprüche innerhalb einer Organisation, deren Mitglieder am Arbeitsmarkt in Konkurrenz zueinander stehen. Ein Großteil der DGB-Mitglieder zählt in ihren Unternehmen zur Stammbelegschaft. Aus ihrer Perspektive ist die Ausdehnung gewerkschaftlicher Solidarität auf prekär Beschäftigte (die zugleich häufig nicht Gewerkschaftsmitglied sind) durchaus ambivalent zu bewerten. Zwar sind und fühlen sich mittlerweile auch viele Stammbeschäftigte von den Prekarisierungstendenzen und dem Lohndruck nach unten mittelbar bedroht; unmittelbar bietet die Existenz prekär Beschäftigter jedoch zugleich einen gewissen Schutz – etwa als ‚Entlassungsreserve‘ in schlechten Zeiten. Und sie ermöglicht die hierarchische Absetzung und Besserstellung des regulär vom prekär Beschäftigten als wichtiges symbolisches Moment individueller Aufwertung. Besonders deutlich wird diese zwiespältige interessenpolitische Situation und die dementsprechend ambivalente gewerkschaftliche Politik etwa beim Thema Leiharbeit, aber auch bei der Vertretung ausländischer Beschäftigter. So bewegen sich etwa „auf Migration bezogene Gewerkschaftspolitiken (…) zwischen Ablehnung und Organisierungsbemühungen, zwischen Ausgrenzung und Integration, Gleich- und Sonderbehandlung“ (Schmidt und Schwenken 2006: 42). Die Frage, welche Unterstützungsleistungen sich aus Sicht etablierter Gewerkschaftsorganisationen und ihrer Mitglieder ‚lohnen‘ für die Hilfe zur Selbsthilfe der besonders Schwachen am Arbeitsmarkt, steht auch im Zentrum des folgenden Fallbeispiels. Mit anderen Worten: Wie weit reicht die gewerkschaftliche Solidarität?
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Gewerkschaftliche Interessenvertretung jenseits traditioneller Domänen: Der Streik der französischen Travailleurs sans
papiers7 Die Anfänge und Vorgeschichte des Streiks der Travailleurs sans papiers (Arbeiter ohne Papiere) reichen in die Jahre 2006 und 2007 zurück.8 Damals kam es in der Pariser Banlieue zu einer engen, aktionsorientierten Zusammenarbeit zwischen der CGT (bzw. einem zentralen CGT-Aktivisten) und einzelnen Kollektiven irregulärer MigrantInnen. So besetzte im Jahr 2006 die migrantische Belegschaft der Reinigungsfirma Modeluxe im Département Essone ihre Firma, um gegen die Arbeitsbedingungen zu protestieren und ihre Regularisierung zu erreichen – mit Erfolg. Eine ähnliche Aktion fand 2007 in dem Steakrestaurant Buffalo Grill statt. Ende November 2007 wurde dann im so genannten Loi Hortefeux, dem neu erlassenen französischen Einwanderungsgesetz, ein Passus verabschiedet, der explizit die Möglichkeit einer Legalisierung per Lohnarbeit vorsah. Diese unterlag jedoch ziemlich restriktiven Bedingungen: Die Beschäftigten sollten einen Arbeitsvertrag von mindestens einem Jahr vorweisen können, der einen Tätigkeitsbereich betreffen sollte, in dem Arbeitskräftemangel herrscht. Eine vorgegebene Liste definierte diese Sektoren. Der Antrag auf Regularisierung sollte zudem von den Arbeitgebern gestellt werden, was die Beschäftigten in eine direkte Abhängigkeit und Verpflichtungssituation gebracht hätte, nach dem Motto: „Der Chef hat mir Arbeit gegeben und überdies hat er mir die Papiere verschafft“ (Blanche 2009: 21). In dieser Situation entstand bei der CGT die Idee, die neue Gesetzgebung für selbst bestimmte Aktionsformen zu nutzen: Anfang des Jahres 2008 forderten mit Unterstützung der CGT neun Travailleurs
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Das folgende Kapitel basiert auf der Auswertung von Zeitschriften und Dokumenten sowie auf Interviews mit einer zentralen CGT-Verantwortlichen des Streiks sowie einem Streikdelegierten und auf der teilnehmenden Beobachtung einer Delegiertenversammlung der Streikenden am 22.02.2010 in Paris. 8 In weiterem Sinne reiht sich der Streik freilich ein in die wesentlich längere Geschichte der Kämpfe von Sans papiers in Frankreich, die einen ersten Höhepunkt in den Jahren 1996/97 hatten und seitdem (mit wechselnder Durchsetzungskraft) anhalten (vgl. Cissé 2002). Im Laufe einer Vielzahl von Besetzungsaktionen, Demonstrationen und Hungerstreiks hat sich das frühere Bild der (tendenziell kriminalitätsverdächtigen, illegalen) Clandestins mittlerweile gewandelt in das der Sans papiers, die Opfer einer staatlichen Illegalisierungspraxis sind, da ihnen reguläre Aufenthaltsgenehmigungen und Papiere vorenthalten werden. Die Bewegung der Sans papiers ist damit in Frankreich eine ‚reife‘ Bewegung mit Geschichte, Organisationserfahrung und einem erheblichen öffentlichen Renommee. Die Organisierung der Sans papiers als Travailleurs sans papiers entlang des Aspekts der Organisierung als Lohnarbeiter und in engem Zusammenschluss mit den Gewerkschaften bedeutet jedoch einen „qualitativen Sprung“ (Terray 2009).
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sans papiers, die illegal in dem Luxusrestaurant Grande Armée auf der ChampsElysée als Köche beschäftigt waren, eine Legalisierung ihres Aufenthalts- und Beschäftigungsstatus. Der Fall erregte großes mediales Aufsehen und die Köche wurden umgehend regularisiert. Weitere Aktionen zielten dann darauf, über medienträchtige Einzelfälle hinaus ein allgemeines Circulaire (d. h. ein ministerielles Rundschreiben an die Präfekturen, d. h. die Polizei- und Ausländerbehörden in den Départements) zu erwirken, das den Travailleurs sans papiers generell Rechtssicherheit bei der Regularisierungspraxis geben sollte, die häufig von Zufälligkeiten und Willkür geprägt war. Mit dieser Zielstellung wurde die „Bewegung vom 15. April 2008“ ins Leben gerufen (Schmid 2008; Rondeau und Esquerre 2009).9 Sie umfasste rund 300 Streikende, die in 15 Unternehmen beschäftigt waren, so im Einzelhandel (Paris Store), in der Gastronomie (Chez Papa, Mountain Pizza, Passion Traiteur), in der Abfallwirtschaft (Veolia), in der Bekleidungsindustrie (Fabio Lucci), in der Hotellerie (la Jatte) und in anderen Branchen. Die Aktion wurde heimlich vorbereitet und am 15. April besetzten die Aktivisten (überwiegend Männer aus französischsprachigen Gebieten Schwarzafrikas sowie des Maghreb) ihre Arbeitsstellen. Sie traten damit „aus dem Schatten“ der Schwarzarbeit ins Licht der Öffentlichkeit (vgl. Blanche 2009: 20). Deutlich sichtbar defilierten sie auch am 01. Mai als Cordon hinter einem Transparent mit dem Slogan „on bosse ici, on vit ici, on reste ici“ (wir schuften hier, wir leben hier, wir bleiben hier). Darunter wurden die vom Streik betroffenen Firmen aufgezählt – eingerahmt von CGTEmblemen und umweht von CGT-Fahnen (vgl. Rondeau und Esquerre 2009: 4f.). Tags darauf, am 02. Mai 2008, besetzten Travailleurs sans papiers ein Gewerkschaftshaus in der Pariser Innenstadt, wo sie in der Folgezeit wohnen, schlafen und sich politisch engagieren wollten. Diese Aktion wird in der offiziellen, von der CGT herausgegebenen Hochglanzdarstellung der Bewegung (Rondeau und Esquerre 2009) nicht erwähnt. Das Gewerkschaftshaus wurde über ein Jahr später im Sommer 2009 gewaltsam von einem CGT-Ordnertrupp geräumt.
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Die Legalisierung des Aufenthaltsstatus stand damit im Mittelpunkt der Forderungen, während andere Themen (Lohnhöhe, Arbeitsbedingungen) eher am Rand thematisiert wurden. Der Lohndruck nach unten ist in Frankreich aktuell weniger stark als in Deutschland, da der staatliche Mindestlohn auch im Bereich der Schwarzarbeit eine normierende Funktion besitzt. Nach Aussage der interviewten CGT-Funktionärin erhält ein Großteil der Travailleurs sans papiers den Mindestlohn, der zum Interviewzeitpunkt bei 8,86 Euro pro Stunde lag. „Patrons-voyous“ (Banditen als Arbeitgeber), die die MigrantInnen für zwei bis drei Euro pro Stunde beschäftigen, seien eher Einzelfälle. Die Regularisierung des Aufenthaltsstatus sei für die Beschäftigten zentral, um sich besser gegen Zumutungen zur Wehr setzen zu können, die v. a. in Anforderungen einer extremen zeitlichen und regionalen Flexibilität bestünden.
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Die Verhandlungen der CGT mit dem zuständigen Ministerium erwiesen sich diesmal als deutlich schwieriger als im Fall der neun Köche. Dennoch gab es im Laufe des Jahres 2008 diverse Erfolge. Aber im Januar 2009 wechselte der Minister (auf M. Hortefeux folgte M. Besson) und damit veränderte sich auch die staatliche Regularisierungspraxis. Zunehmend wurden Anträge mit fadenscheinigen Begründungen verweigert, die Betroffenen vertröstet. Die unabhängige Bewegung illegalisierter MigrantInnen im Gewerkschaftshaus thematisierte zudem nachdrücklich einige ‚blinde‘ Stellen der bisherigen CGT-Politik. An den kollektiv erkämpften Regularisierungen hatten etwa systematisch jene Travailleurs sans papiers keinen Anteil, die vereinzelt beschäftigt waren und daher nicht als Kollektiv mit einer gewissen Durchsetzungsmacht öffentlich auftreten konnten. Ein ähnliches Problem betraf die LeiharbeiterInnen, die keine kontinuierliche Beschäftigung bei einem einzigen Arbeitgeber nachweisen konnten, z. B. Beschäftigte, die etwa im Sektor der personenbezogenen Dienstleistungen Kinder mehrerer Familien betreuten oder als Reinigungskraft in verschiedenen Haushalten bei verschiedenen Arbeitgebern gleichzeitig und/oder nacheinander beschäftigt waren. So wurde eine neue Streikbewegung vorbereitet, die noch größere Ausmaße annehmen und eine breitere Öffentlichkeit einbeziehen sollte. Das „Komitee der elf“ wurde geschmiedet. Es umfasste fünf Gewerkschaften (CGT, CFDT, Solidaires, UNSA, FSU) und sechs Bürgervereinigungen, wie z. B. die Liga für Menschenrechte, das Netzwerk für Bildung ohne Grenzen u. ä. In einem offenen Brief an den Premierminister Fillon wurden einheitliche und verbindliche Regelungen zur Regularisierung von LohnarbeiterInnen gefordert, die auch das Problem der Leiharbeiter, der diskontinuierlich und vereinzelt Beschäftigten lösen sollten. Am 11. Oktober 2009 begann der Streik. Auf der ersten Streikversammlung waren etwa 1.300 Travailleurs sans papiers anwesend. Ihre Zahl erhöhte sich in den Folgemonaten auf rund 6.000 Streikende aus etwa 2.100 verschiedenen Unternehmen. Betroffen waren die großen Leiharbeitsfirmen (z. B. Adecco), die Bauindustrie, das Sicherheitsgewerbe, das Reinigungsgewerbe, Hotels und Gaststätten sowie generell Subunternehmerfirmen. Nur etwa 500 der Streikenden waren Frauen, darunter v. a. viele Asiatinnen, die in Heimarbeit in der Textilbranche arbeiteten, sowie etwa 90 Frauen aus dem Bereich privater Pflegedienstleistungen (aide à la personne). Schwerpunkt der Bewegung war der Pariser Raum, aber sie reichte weit darüber hinaus: Menschen und Betriebe aus 38 französischen Départements waren letztlich beteiligt. Die Koordinierung und Herstellung einer Infrastruktur für den Streik war damit eine große Herausforderung. Die CGT stellte allen Beteiligten einen Streikausweis zur Verfügung, der für
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viele das erste ‚offizielle‘ Dokument ihres Einwanderungslandes darstellte.10 Die CGT schickte an die Firmen aller Streikenden eine Information, welche Personen an dem Streik teilnehmen, so dass nach französischer Gesetzgebung diese vor Kündigung geschützt sind. Auch an die staatlichen Arbeitsaufsichtsbehörden (inspections du travail) sowie an das Arbeitsministerium wurden die Namen gemeldet, was zumindest aus deutscher Perspektive angesichts des illegalen Aufenthaltsstatus der Streikenden durchaus als Wagnis erscheint. Auch die Namen der Unternehmen wurden den Behörden offiziell bekannt gegeben. In der Folgezeit gingen die Behörden jedoch weder gegen die einen noch gegen die anderen rechtlich vor – im Gegenteil. Streikende, die von der Polizei aufgegriffen wurden, profitierten von einem accord tacit (schweigende Übereinkunft) zwischen Staat und Gewerkschaften, wonach StreikteilnehmerInnen bis zu einem gewissen Maße sakrosankt sind.11 Die Koordination unter den Streikenden wurde über regelmäßige Delegiertenversammlungen in den Räumen der CGT-Zentrale gewährleistet. Des Weiteren wurden rund 25 Streikposten im Pariser Gebiet errichtet. Diese wurden vor bestreikten Betrieben aufgebaut, aber auch vor den mächtigeren Auftraggeberfirmen von bestreikten Subunternehmen. Arbeitgeberverbände und staatliche Institutionen waren ebenfalls öffentlichkeitswirksame Orte für Streikposten. Zugleich bemühte sich die CGT auch um die Unterstützung des Streiks aus dem Unternehmerlager: Nicht wenige waren tatsächlich bereit, sich der Forderung des „Komitees der elf“ nach verlässlichen Regularisierungskriterien anzuschließen, da die dauerhafte Beschäftigung ihrer MitarbeiterInnen angesichts des Arbeitsmangels in den betroffenen Branchen auch in ihrem Interesse lag. So unterstützte letztlich sogar der Arbeitgeberverband MEDEF die Bewegung. Doch die Verhandlungen mit der Regierung zogen sich hin – nicht zuletzt angesichts der Regionalwahlen, die in Frankreich Mitte März 2010 stattfanden.
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Der Streikausweis erfüllte damit eine ähnliche Funktion wie z.B. Gewerkschaftsmitgliedsausweise mit Foto, die in einigen Ländern von Gewerkschaften für irreguläre MigrantInnen ausgestellt werden und für diese oft die einzige Form von quasi-offiziellem Ausweis sind, die sie besitzen. Diese Praxis verschriftlichter gewerkschaftlicher Anerkennung illegalisierter MigrantInnen findet sich z.B. in den USA bei der AFL-CIO sowie beim britischen Gewerkschaftsverband TUC (vgl. Schmidt/Schwenken 2006: 44). 11 Die Praxis, dass Streikende kaum mit strafrechtlichen Sanktionen zu rechnen haben, ist eine Eigenheit der französischen politischen Kultur, die ein sehr liberales Streikrecht kennt und Protest als eine Art Bürgerpflicht begreift. Diese Praxis war und ist auch in vielen anderen der periodisch wiederkehrenden französischen Streikwellen zu beobachten (vgl. Artus 2010b). So war nach Aussage der interviewten CGT-Funktionärin während der gesamten Kämpfe der letzten Jahre lediglich ein knappes Dutzend der AktivistInnen von Abschiebung betroffen. Es handelte sich dabei ausschließlich um Fälle, in denen die Gewerkschaft zu spät von der Festnahme erfuhr, um noch intervenieren zu können.
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Kompromisse in immigrationspolitischen Fragen schienen in dieser Situation für die konservative Regierung unter Sarkozy nicht opportun. Für die Streikenden, die von der CGT lediglich einen symbolischen Unterstützungsbetrag in Höhe von ca. 200 Euro erhielten, bedeutete die Dauer des Streiks zunehmend eine untragbare existenzielle Belastung. Viele begannen an neuen Arbeitsstellen erneut illegal zu arbeiten, um überleben zu können. Obwohl die Streikposten aufrechterhalten wurden, bröckelte die Zahl der real Streikenden ab. Im Frühjahr 2010 verdichteten sich die Aktionen erneut. Im Mai 2010 machte eine Gruppe von Sans papiers einen medienträchtigen Fußmarsch von Paris nach Nizza. Diese Aktion wurde – unabhängig von der CGT und dem „Komitee der elf“ – durchgeführt von einer Gruppe, die nach der Räumung des Gewerkschaftshauses nunmehr ein Gebäude in der Rue Baudelique besetzt hatte (vgl. Bell 2010).12 Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, besetzten die Travailleurs sans papiers zudem Ende Mai symbolträchtig die Stufen und den Vorplatz der Pariser Oper am Bastille-Platz. Unterstützt u. a. durch die CGT harrten sie wochenlang dort aus – auch dann noch, nachdem der Platz am 1. Juni vorübergehend von der Polizei geräumt worden war. Sie verließen ihn erst am 18. Juni 2010, an dem sie „zufrieden mit den erzielten Fortschritten das Ende ihrer Besetzung bekannt gaben“ (Schmid 2010: 8), das zugleich auch das Ende des Streiks darstellte. Der Kompromiss zwischen dem „Komitee der elf“ und den staatlichen Regierungsbehörden bestand darin, dass es künftig möglich sein sollte, mehrere Beschäftigungsverhältnisse aufzuaddieren, und dass auch Leiharbeit zu einer „Legalisierung durch Lohnarbeit“ berechtigen solle. Berücksichtigt werden sollten ausschließlich die personenbezogenen Anträge, die zwischen dem 1. Juli 2010 und dem 31. März 2011 mit Unterstützung durch die Gewerkschaftsorganisationen bei den Präfekturen eingereicht werden sollten. Immigrationsminister Besson rechnete mit ca. 6.000 Legalisierungen, wobei vermutlich rund 70% der Streikenden die genannten Bedingungen würde erfüllen können. Die von der Sans-papiers-Bewegung immer wieder angegriffene Regularisierungsweise des „cas par cas“ (Fall für Fall), d. h. der individuellen Einzelfallprüfung, wurde damit keineswegs außer Kraft gesetzt, sondern im Gegenteil staatlicherseits be-
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Die Sans papiers der Rue Baudelique stammten – im Gegensatz zu den meisten AktivistInnen im Umfeld der CGT – häufig aus Ländern, in denen Französisch nicht die Landessprache war (z. B. die Türkei oder Kurdistan). Es handelte sich häufig um Travailleurs sans papiers, die als vereinzelt Arbeitende von den kollektiven CGT-Aktionen kaum profitieren konnten. Anders als das „Komitee der elf“ forderten sie zudem eine bedingungslose Legalisierung aller Sans papiers. Nach der direkten Konfrontation der beiden Bewegungen im Zuge der Räumung des Gewerkschaftshauses liefen diese in der Folgezeit wenngleich nicht solidarisch, so doch weitgehend konfliktfrei parallel zueinander (vgl. Bell 2010; Schmid 2010).
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wusst gewahrt. Zugleich hatte die Bewegung jedoch erreicht, das Prinzip der Legalisierung durch Lohnarbeit als Kampfmittel sowohl der Sans papiers- als auch der Gewerkschaftsbewegung zu etablieren, die überdies während der Streikaktionen (zumindest teilweise) in eine einzige Bewegung zusammenflossen. Die CGT wertete das Ergebnis jedenfalls als Erfolg und als Zeichen dafür, dass man als Vertretung ‚der Prekären‘, d. h. des migrantischen Proletariats, habe Fuß fassen können.
Interessenvertretung im deutschen und französischen Niedriglohnsektor: Vergleichende und resümierende Anregungen für die gewerkschaftliche Praxis Das Beispiel der französischen Travailleurs sans papiers zeigt sowohl die Potenziale als auch die Probleme einer Interessenvertretung von Beschäftigten, die nicht zur traditionellen gewerkschaftlichen Klientel gehören. Interessant ist zunächst die Tatsache, dass die Frage der Mitgliederrekrutierung im französischen Fallbeispiel eine absolut sekundäre Rolle spielt. Dies hat sicherlich mit dem Charakter der französischen Gewerkschaften zu tun, deren Organisationssicherung in weitaus geringerem Maße (als bei den deutschen oder US-amerikanischen Gewerkschaften) von Mitgliedsbeiträgen abhängt und wesentlich stärker durch staatliche Organisationshilfen erfolgt (vgl. Artus 2008a: 177ff.). Aus diesem Grund zählen für die CGT weniger die organisationsegoistischen Motive; sie betont stärker die grundsätzliche politisch-strategische Bedeutung, welche die Organisierung der verwundbarsten Teile des modernen Proletariats für die gesamte Gewerkschaftsbewegung besitzt. Die Organisierung der Menschen, die – aus unterschiedlichen Gründen – besonders erpressbare Arbeitskräfte sind, sei gerade in Zeiten der Globalisierung und verstärkter Wanderungsbewegungen eine Notwendigkeit. „Je ne fais pas de l’humanitaire, je fais du syndicalisme“ („ich betreibe kein humanitäres Engagement, sondern Gewerkschaftspolitik“) und „on defend le salariat, ne pas les pauvres“ („wir verteidigen die Lohnarbeiterschaft und nicht die Armen“) betonte etwa die interviewte CGT-Aktivistin. Insofern geht es z. B. auch bei der Einrichtung von Beratungsstellen für illegalisierte MigrantInnen in Hamburg, München, Berlin und Frankfurt nicht primär um moralische oder humanitäre Zielstellungen, sondern um die Herstellung von Solidarität zwischen verschiedenen starken Gruppen der Arbeiterschaft. „Prendre pieds chez les précaires“ („Fuß zu fassen unter den Prekären“) ist in dieser Perspektive eine gewerkschaftliche Überlebensfrage, nicht aus Gründen der Mitgliederrekrutierung, sondern zur Verhinderung eines desaströsen Sozialdumpings, das alle abhängig Beschäftigten betrifft.
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Diese grundlegende Erkenntnis hebt jedoch freilich die Widersprüche zwischen verschiedenen Beschäftigtengruppen und innerhalb der Gewerkschaftsorganisationen nicht auf. Die Frage, wie weit die gewerkschaftliche Solidarität ausgedehnt werden kann und soll, war auch im französischen Kontext permanent Thema. Sie strukturierte das Spannungsverhältnis zwischen der CGT-dominierten Gruppierung und jener Parallelströmung in der Rue Baudelique ebenso wie die innergewerkschaftliche Diskussion der CGT. Die Streikposten der Travailleurs sans papiers, die vor der CGT-Zentrale Geld für ihr Anliegen sammelten, wurden von so mancher Gewerkschaftsangestellten mit misstrauischen Blicken bedacht. Und obwohl der Streik offiziell vom Generalsekretär Thibault und vermutlich einer Mehrheit der CGT-Mitglieder unterstützt wurde, ist die ‚Sache der Prekären‘ gewerkschaftsintern nach wie vor zweitrangig, wenn nicht sogar primär das Anliegen einzelner, einschlägig engagierter FunktionärInnen. Analog zu deutschen Verhältnissen finden sich auch in der CGT Argumentationen, wonach die prekären Beschäftigungsformen eine Notwendigkeit seien, um den nationalen oder betrieblichen Standort im internationalen Konkurrenzkampf attraktiv zu halten. Der Streik der Travailleurs sans papiers, in dessen Verlauf die Zahl der StreikteilnehmerInnen geradezu erdrutschartig zunahm, zeigt einerseits das immense Bedürfnis und auch die Potenziale gewerkschaftlicher Interessenvertretung im Niedriglohnbereich; zugleich verdeutlicht er jedoch auch die Problematik der Überbrückung des cultural gaps zwischen besonders verwundbaren und gesellschaftlich nur bedingt integrierten Teilen des Proletariats und jenen etablierten Gewerkschaftskolossen, die in selbstverständlicher Weise einen Platz im politischen System beanspruchen können. Die CGT löste das diffizile Problem der ‚Aktionseinheit‘ in Kontinuität zur eher dezentral und basisorientiert verfassten französischen Gewerkschaftskultur, indem sie ostentativ eine Stellvertreterfunktion ablehnte. Man betonte, dass man „an der Seite“ der Kämpfenden stehe (nicht an deren Spitze) und dass man die Aktionen „unterstütze“ (die jedoch von den Travailleurs sans papiers geführt würden). Ob die Übertragung einer solchen Form loser Koordinierung zwischen Gewerkschaft und Basisbewegungen auf Deutschland möglich ist, scheint zumindest fraglich. Zumindest würde dies ein deutliches Umdenken voraussetzen. Die Gefahr eines Kontrollverlustes über die (noch) nicht solide gewerkschaftlich sozialisierten ‚neuen Truppen‘ dürfte die DGB-Gewerkschaften deutlich mehr schrecken als eine CGT, deren Funktionärin ihren Alltag beschreibt mit den Worten: „Du kannst niemanden davon abhalten, etwas zu tun, was er tun will und niemanden dazu bringen, etwas zu tun, was er nicht tun will. Gewerkschaftspolitik besteht darin, das zu koordinieren, was unter diesen Voraussetzungen passiert.“ Die Aufrechterhaltung einer gewissen Distanz bei gleichzeitiger Zusicherung unbedingter Solidarität konnte
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jedoch auch in Frankreich die strukturelle Problematik kaum entschärfen, dass prekäre AktivistInnen in ihren stark existenziell gefärbten Kämpfen hohe Erwartungen an die vermeintlich ‚starke‘ Gewerkschaftsorganisation haben – und zugleich häufig ein (nicht ganz unbegründetes) latentes Misstrauen hegen, ob die etablierten Organisationen ihre Anliegen so ernst nehmen wie sie selbst. Der Brückenbau über die kulturelle Kluft ist jedenfalls nicht einfach. Wichtige Bausteine in diesem schwierigen Prozess könnten sein: Zunächst die Erkenntnis, dass die Vertretung von Beschäftigten im prekären Niedriglohnbereich anderer Strategien bedarf als in der fordistischen Massenproduktion. Angesichts der Vielfalt unterschiedlicher Arbeitsbedingungen sowie kultureller und persönlicher Hintergründe der Beschäftigten gibt es zudem vermutlich nicht die eine richtige Strategie der Organisierung. Diese müssen vielmehr vielfältiger und variabler sein, sich stärker nach den konkreten Bedingungen ausrichten als in der Vergangenheit. Insofern geht es um die Infragestellung und das Überdenken traditioneller politischer Weisheiten – oder auf französisch, darum „être à l’écoute“ sein, hinzuhören, welche Probleme existieren und welche Lösungen aufscheinen. Ein solches kontextsensibles, organisationskulturelles ‚Erlernen‘ von Interessenvertretung unter prekären Bedingungen impliziert notwendig auch die Rekrutierung von Beschäftigten mit glaubwürdigen sozialen Kontakten zum bzw. aus dem ‚Prekariat‘. Dies bedeutet eine signifikante Erhöhung des Anteils von Frauen sowie Menschen mit Migrationshintergrund im gewerkschaftlichen Funktionärsapparat. Gerade für die deutschen Verhältnisse, in denen traditionell kompromissorientiertere Vertretungsstrategien etabliert sind als z. B. in Frankreich, heißt es auch das Erlernen von Umgangsweisen mit extrem zugespitzten Konfliktsituationen. Die Themen Repression und auch Korrumpierung (etwa von Betriebsräten) als systematische Unternehmerstrategien müssen zumindest neben oder auch vor dem Thema des sozialen Dialogs diskutiert werden. Es impliziert auch ein verstärktes Nachdenken über gewerkschaftliche Handlungsmöglichkeiten in Bereichen, in denen mittelfristig überhaupt keine Betriebsräte oder auch Tarifverträge existieren, bzw. in denen man eine gewerkschaftliche Handlungsfähigkeit eventuell sogar gegen korrumpierte betriebliche Vertretungsinstitutionen durchsetzen muss. Und übertriebene Hoffnungen auf Mitgliederwachstum und leichte Organisierungserfolge sind vermutlich unangebracht. Interessenvertretung im Niedriglohnbereich ist eine Sisyphusarbeit unter widrigen Bedingungen, die jedoch für die Gewerkschaften im Postfordismus unumgänglich und strategisch zentral ist.
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Organisieren am Konflikt: Zum Verhältnis von Streik und Mitgliederentwicklung
Einleitung „Gewerkschaften bringt der Streik mehr Mitglieder“ (Emmerich 2008) und „Streik beschert Ver.di in NRW eine Eintrittswelle“ (Dumke 2009), so die Überschriften zweier Artikel, in denen über Mitgliederzuwächse im Zusammenhang mit Arbeitskämpfen berichtet wird – im ersten Fall während des Ende 2008 beendeten Arbeitskampfes im Berliner öffentlichen Dienst, im zweiten während des Kita-Streiks im Sommer 2009. Anscheinend, darauf deuten die Artikel hin, können Gewerkschaften in zugespitzten Tarifrunden und Streikauseinandersetzungen überdurchschnittlich viele Neueintritte verzeichnen. Die folgende Untersuchung versteht sich als ersten Aufschlag, dem Zusammenhang von Organisierung und Arbeitskämpfen am Beispiel der Praxis der Gewerkschaften in der Bundesrepublik genauer nachzugehen. Dabei interessiert zum einen der qualitative Zusammenhang zwischen Streik und Organisierung wie in einem zweiten Schritt die Frage, inwieweit Streiks und Streikverläufe ihren Niederschlag in der Mitgliederentwicklung der Gewerkschaften finden. Streiks sind in der Bundesrepublik mit ihrem relativ restriktiven, im Wesentlichen vom Bundesarbeitsgericht fortgebildeten Streikrecht nur dann juristisch legitimiert, wenn zu ihnen Gewerkschaften aufrufen und sie auf tarifliche Regelungen abzielen (vgl. Berg et al. 2002: 383 ff.). Während diese Beschränkungen auf der betrieblichen Ebene immer wieder bei Protestaktionen durchbrochen werden, haben sich die Gewerkschaften bisher weitgehend an das faktische Verbot des politischen Streiks gehalten. Entsprechend wird im Folgenden lediglich auf betriebliche und tarifliche Arbeitskämpfe rekurriert. Die Untersuchung schließt an fortlaufende Arbeiten des WSI zu Gewerkschaften und Arbeitskampfentwicklung an und ordnet sich thematisch in den Bereich der aktuellen Gewerkschaftsforschung ein, der sich mit Ansätzen gewerkschaftlicher Erneuerung befasst. Diese ist, worauf Behrens et al. (2004) hingewiesen haben, ein mehrdimensionaler Prozess, der sich nicht allein auf Fragen der Organisierung beschränkt. Gleichwohl ist die Organisierung von Macht eine zentrale Heraus-
T. Haipeter, K. Dörre (Hrsg.), Gewerkschaftliche Modernisierung, DOI 10.1007/978-3-531-93332-0_10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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forderung der heutigen Gewerkschaften, denn „[d]ie alten Zeiten des Rheinischen Kapitalismus mit seinem [für die IG Metall] lange tragfähigen sozialen Kompromiss sind vorüber.“ (Wetzel 2009: 352) In vielen Branchen nehmen Konflikte zu, die von den Gewerkschaften zunehmend häufiger Entscheidungen über Arbeitskampfmaßnahmen verlangen. Diese sind in erster Linie Instrument der Durchsetzung von Forderungen, können unter bestimmten Umständen aber zugleich Katalysator von Organisierung sein. Die vorliegende Arbeit folgt einem akteursbezogenen Forschungsansatz (vgl. zur Typologie Mason und Bain 1993), der unter Berücksichtigung der jeweiligen Rahmenbedingungen vor allem auf die Handlungsmöglichkeiten der Gewerkschaften zielt (vgl. u. a. Undy et al. 1981; Heery et al. 2000; Dribbusch 2003; Voss und Sherman 2000; Brinkmann et al. 2008). Sie beginnt mit einer modellhaften Skizze der Grundlagen gewerkschaftlicher Organisierung, bei der idealtypisch drei Beitrittsvoraussetzungen und zwei organisatorische Hürden unterschieden werden können. Ein Überblick verschiedener Formen der Organisierung am Konflikt schließt sich an, gefolgt von einer kurzen Darstellung des Streiks als Ausnahmesituation. Aus diesen einführenden Abschnitten abgeleitet werden die inneren Zusammenhänge von Streik und gewerkschaftlicher Verankerung herausgearbeitet und anhand einzelner Praxisbeispiele illustriert. Im abschließenden Teil, richtet sich der Blick darauf, inwieweit sich diese Zusammenhänge im Vergleich von Arbeitskampf- und Mitgliederstatistiken nachweisen lassen. Die Untersuchung zeigt, dass Streiks für die gewerkschaftliche Organisierung der Beschäftigten eine wichtige Rolle spielen können, in dem sie unter bestimmten Voraussetzungen als Katalysatoren gewerkschaftlicher Verankerung wirken. Organisierungserfolge sind jedoch weder eine sich von alleine einstellende noch eine garantierte Begleiterscheinung von Arbeitskämpfen. Sie sind vielmehr an deren Ziel, Verlauf und Ergebnis geknüpft und sind durch das die Streiks begleitende gewerkschaftliche Handeln beeinflusst. Arbeitskämpfe, erfolgreiche zumal, sind zugleich voraussetzungsvoll, was einem gewerkschaftlichen Voluntarismus Grenzen setzt. Streiks sind somit nur ein, wenn auch wichtiges Element innerhalb gewerkschaftlicher Organisierungsprozesse.
Grundlagen gewerkschaftlicher Organisierung Zahlreiche Umfrageergebnisse (vgl. u. a. Frerichs und Pohl 2001: 24-25, 47ff.; DGB Trendbarometer 2002; DGB 2007) belegen, dass Beschäftigte Gewerkschaften durchaus mit Sympathie begegnen und deren Notwendigkeit prinzipiell anerkannt wird. Die Zustimmung übersteigt jedoch erheblich die tatsächlichen Mit-
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gliederanteile. Diese Lücke zwischen Unterstützung und Beitritt (vgl. u. a. Streeck 1981; Towers 1997) verweist darauf, dass die Mitgliedschaft in Gewerkschaften an Voraussetzungen gebunden ist. Organisierung bedarf aktiven Handelns. Sie ist ein komplexer, nicht allein von den Gewerkschaften bestimmter, aber von ihnen zu gestaltender Prozess (Dribbusch 2003: 23-56). Das Charakteristikum gewerkschaftlicher Organisierung ist, dass sie an konkreten, aus dem Kapitalverhältnis resultierenden Konflikten ansetzt und zugleich in die Machtverteilung zwischen Beschäftigten und Unternehmen eingreift. Genau deshalb ist sie im Wortsinne umstritten. Da Organisierung darauf zielt, das bestehende Kräfteverhältnis zu Gunsten der Beschäftigten zu korrigieren oder einen für die Beschäftigten günstigen Status quo zu konsolidieren, können Unternehmen ihr prinzipiell nicht gleichgültig gegenüberstehen. Gewerkschaftliche Organisierung findet stets vor dem Hintergrund spezifischer institutioneller Rahmenbedingungen statt. Die folgenden Überlegungen beziehen sich deshalb auf die gewerkschaftliche Situation in Deutschland, die durch freiwillige individuelle Mitgliedschaft in nicht in relevantem Umfang vom Staat subventionierten Gewerkschaften und einem dualen System der Interessenvertretung gekennzeichnet ist. Idealtypisch lassen sich zwei subjektive und eine organisatorische Grundvoraussetzung gewerkschaftlicher Organisierung identifizieren, die eng miteinander verknüpft sind. Die erste ist eine auf das Arbeitsverhältnis bezogene Konfliktund Problemwahrnehmung, die bei Kelly (1998, 2005) als Perceived Injustice bezeichnet wird. Entscheidend ist dabei nicht der objektive Charakter des Lohnarbeitsverhältnisses, sondern ob Beschäftigte subjektiv Konflikte, Missstände oder Problemlagen wahrnehmen oder zumindest für die Zukunft nicht ausschließen, für die – und auch das ist wichtig ursächlich das Unternehmen beziehungsweise das Management verantwortlich gemacht wird.1 Für viele Lohnabhängige ist die Gewerkschaft eine „Konfliktversicherung“ (Vall 1966) gegen die immanenten Risiken der Lohnarbeit. Dies bedeutet nicht, dass normative Motive, wie beispielsweise der gewerkschaftliche Grundgedanke der Solidarität, unbedeutend für den Organisierungsprozess sind. Diese spielen vielmehr gerade bei den Mitgliedern, die sich über ihre Mitgliedschaft hinaus in und für die Gewerkschaft engagieren, eine wichtige Rolle (vgl. u. a. Prott 2006). Für die Mehrheit der Beschäftigten, darauf deuten mehrere Untersuchungen hin, steht aber der auf den betrieblichen Grundkonflikt bezogene Wunsch nach „Unterstützung im Fall eines Problems bei der Arbeit“ im Vordergrund der Beitrittsentscheidung (vgl.
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Diese Konfliktwahrnehmung wird einerseits durch die Firmen- und Personalpolitik der Unternehmen beeinflusst, andererseits aber auch durch die betriebliche Gewerkschaftsorganisation oder einzelne AktivistInnen, die in der Lage sind, bestehende Probleme aufzugreifen, zu thematisieren und Lösungswege aufzuzeigen (vgl. Kelly 1998: 49; Darlington 2009).
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Waddington und Whitston 1997; Waddington und Hoffmann 2000: 62; ÖTV 2001).2 Umgekehrt ist nahe liegend, dass Beschäftigte, die ihr Arbeitsverhältnis als unproblematisch erleben und für sich auch in der Zukunft keine Konfliktkonstellationen erwarten oder beständig die Ursachen für wesentliche Missstände außerhalb des Unternehmens verorten, weniger Grund sehen, sich zu organisieren. Dies gilt auch für diejenigen, die überzeugt sind, mögliche Konflikte selbst am besten lösen zu können. Die zweite Voraussetzung für den Beitritt zu einer Gewerkschaft ist deren wahrgenommene Durchsetzungsfähigkeit (Perceived Effectiveness, vgl. Boxall und Haynes 1997: 571; Cregan 2005). Beschäftigte müssen überzeugt sein, dass Organisierung die von ihnen gewünschte kollektive Unterstützung auch gewährleisten kann und ihre individuelle wie kollektive Position gegenüber den Unternehmern stärkt. Diese subjektive Einschätzung wird durch die jeweilige betriebliche Situation, die eigene Position in der betrieblichen Hierarchie sowie das Verhalten des Managements beeinflusst. Auf der kollektiven Ebene wird sie stark durch die gewerkschaftliche Arbeit und das Auftreten in Betrieb und Branche, aber auch in gesellschaftlichen Fragen sowie deren Erfolge und Misserfolge geprägt. In diesem Kontext spielen auch Arbeitskämpfe eine Rolle. Es mag unter manchen Bedingungen für eine Gewerkschaft angeraten sein, die Zuspitzung von Konflikten zu Arbeitskämpfen zu vermeiden. Problematisch wird es, wenn ihr nicht mehr zugetraut wird, dass sie überhaupt arbeitskampffähig ist, denn Mitglieder wollen eine starke Gewerkschaft. Hierbei tritt in Branchen, die über keine traditionell starke Verankerung verfügen, das Problem auf, dass Beschäftigten zwar vielfach bewusst ist, dass gerade auch ihre individuellen Schutzinteressen nur durch kollektive Stärke gegenüber den Unternehmen abgesichert werden können, genau diese Stärke aber gerade am Beginn eines Organisierungsprozesses noch nicht demonstriert werden kann. Ein Beitritt stellt einen Wechsel auf die Zukunft dar, weshalb der Außenwahrnehmung einer Gewerkschaft, wie sie sich auch in Alltagsdiskursen widerspiegelt, eine große Bedeutung zukommt. Die dritte, organisatorische Voraussetzung erfolgreicher Organisierung ist die Verfügbarkeit einer Gewerkschaft (vgl. u. a. Hancké 1993: 596). Wo keine Gewerkschaft verfügbar ist, gibt es in der Regel auch keine Beitritte. Eintritte erfordern einen direkten Kontakt zwischen Beschäftigten und Organisation, der am wirkungsvollsten persönlich am Arbeitsplatz hergestellt wird. Diese Voraussetzung erscheint zunächst trivial und ist doch in sehr vielen Fällen nicht gegeben, denn sie setzt eine gezielte und oftmals aufwendige gewerkschaftliche Or-
2
Bestätigt wurden diese Befunde auch in einer im Frühjahr 2005 durchgeführten, unveröffentlichten Umfrage unter ver.di-Mitgliedern im Banken und Einzelhandelsbereich.
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235
ganisationsarbeit voraus. Umfragen zeigen immer wieder, dass eine Mehrheit der Beschäftigten in seinem Berufsleben keinen persönlichen Kontakt zur Gewerkschaft hat (vgl. u. a. DGB Trendbarometer 2004: 18). Aus der Perspektive der Gewerkschaft lässt sich der Aufbau betrieblicher Verankerung modellhaft als zweistufiger, organisierter Prozess aus betrieblicher Organisierung und individueller Mitgliederwerbung beschreiben (Haas 2000; Dribbusch 2003). Die erste zu überwindende Hürde – der Aufbau gewerkschaftlicher Vertretungsstrukturen – fällt in Deutschland in der Regel mit der Errichtung von Betriebsräten zusammen. Im zweiten Schritt kommt es idealtypisch darauf an, durch kontinuierliche Gewerkschaftsarbeit einen bedeutsamen Teil der Beschäftigten für die Organisation zu gewinnen. Beides erweist sich in der Praxis als durchaus schwierig. Die Errichtung von Betriebsräten wird vielfach von Unternehmen behindert (vgl. u. a. Bormann 2007) und ob betriebliche RepräsentantInnen sich aktiv um den Ausbau der Organisation bemühen, ist alles andere als sicher (vgl. u. a. Dribbusch 2003). Zum Auf- und Ausbau von Organisationsmacht stehen den Gewerkschaften zwei Wege offen: die expansive Mitgliederentwicklung durch eine Ausdehnung der gewerkschaftlichen Verankerung auf bisher nicht organisierte Betriebe und Branchen sowie die intensive oder verstärkende Mitgliederentwicklung durch die Steigerung der Mitgliederzahlen dort, wo bereits eine gewerkschaftliche Basis vorhanden ist.3 Der Weg der Ausdehnung auf bisher schwach oder gar nicht organisierte Bereiche ist dabei der aufwendigere, zugleich aber auch der entscheidende, wenn Gewerkschaften dem Strukturwandel organisierend folgen wollen.
„Organisieren am Konflikt“ In der 2001 in Ver.di aufgegangenen Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) wurde für die an konkreten betrieblichen Konflikten und Problemen ansetzende Verankerungsarbeit der Begriff der „Organisierung am Konflikt“ geprägt (vgl. Bayer 1980: 180-181). Er entstand aus der Erfahrung heraus, dass die Errichtung von Betriebsräten und gewerkschaftlichen Vertretungsstrukturen dann am erfolgreichsten ist, wenn sie an konkreten betrieblichen Problemen ansetzt und diese bearbeitet. Klassische Anlässe der Organisierung
3
Im amerikanischen Sprachgebrauch werden hierfür auch die Begriffe „external“ und „internal organizing“ benutzt, in Großbritannien wird das Begriffspaar „greenfield organising“ und „in-fill recruitment“ verwendet.
236
Heiner Dribbusch
waren und sind die nicht tarifkonforme Eingruppierung oder die systematisch untertarifliche Bezahlung. Ein paradigmatisches Beispiel konfliktbezogener Organisierung ist die so genannte Schlecker-Kampagne, die 1994/95 über sechs Monate hinweg bei der namensgebenden Drogeriemarktkette geführt wurde (vgl. Wohland 1995, 1998; Huhn 2001). Die aktuell bekanntesten Formen des Organisierens am Konflikt finden sich in den verschiedenen, unter Anlehnung an angelsächsische Vorbilder von Ver.di, der IG BAU und IG Metall gestarteten Organizing-Projekten. Bei diesen ist die Identifizierung und das Thematisieren mobilisierungsfähiger Konflikte integraler Bestandteil des Vorgehens (vgl. u. a. Bremme et al. 2007; Dribbusch 2007; Hälker 2008). So hat die Organizing-Kampagne im Hamburger Sicherheitsgewerbe bewusst mit einer detaillierten Exploration der Branchensituation durch eine Vielzahl direkter persönlicher Gespräche zwischen OrganizerInnen und Beschäftigten begonnen (vgl. Bruder 2007; Dribbusch 2008). Das gezielte Herausfiltern, Aufgreifen und Thematisieren von Problemen spielt eine wichtige Rolle bei den Anstrengungen der IG Metall, bisher betriebsratslose Betriebe zu organisieren (vgl. u. a. Ellinger 2010). Konfliktorientierung ist auch das zentrale Stichwort für die in verschiedenen IG Metall Bezirken gestarteten und auf einen Ausbau von betrieblicher Verhandlungsmacht zielenden Kampagnen, die beispielsweise an der Einhaltung und Umsetzung von Tarifvereinbarungen (z. B. „Tarif aktiv“) oder am Problem vom Tarif abweichender Regelungen aus Anlass wirtschaftlicher Probleme (z. B. „Besser statt billiger“) ansetzen oder wie die Leiharbeitskampagne der IG Metall das Problem der ungleichen Bezahlung zum Ausgangspunkt nehmen. Schließlich gilt der Konnex zwischen Konflikt und Organisierung in besonderem Maße auch für konfliktreich verlaufende Tarifrunden, in deren Vorbereitung und Verlauf vor allem in Branchen und Betrieben, in denen noch keine umfangreiche Organisierung vorhanden ist, ein markanter Anstieg der Beitrittszahlen zu beobachten ist. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn die Tarifbewegungen jenseits wiederkehrender Routinen ablaufen, mit einer besonderen Mobilisierung der Beschäftigten verbunden sind oder sich eventuell sogar zum Arbeitskampf zuspitzen. Prominente Beispiele hierfür sind unter anderem der Streik der MedizinerInnen des Marburger Bundes im Jahr 2006 sowie im Jahr 2009 der so genannte Kita-Streik und der Arbeitskampf in der Gebäudereinigung. Der Streik als Ausnahmesituation Die Arbeitskampfpraxis der DGB-Gewerkschaften folgt weitestgehend der herrschenden Rechtsauffassung, die den Streik nur als letztes Mittel (ultima ratio) anerkennt. Die Mehrheit der Gewerkschaftsvorstände sieht den Streik, um ein
Organisieren am Konflikt: Zum Verhältnis von Streik und Mitgliederentwicklung
237
Bild von Müller-Jentsch (1997: 212) zu gebrauchen, als „Schwert an der Wand“, auf das zwar gezeigt, das zugleich aber möglichst nur im äußersten Notfall in die Hand genommen wird. Nur eine kleine Anzahl meist kollektiver Konflikte spitzt sich zum Streik zu. Streiks sind voraussetzungsvoll, bergen Risiken und stellen Ausnahmesituationen dar, mit denen nur eine – wenn auch beachtliche – Minderheit der Beschäftigten in ihrem Berufsleben konfrontiert wird. In der im ersten Quartal 2010 durchgeführten WSI-Betriebsrätebefragung 2010, die repräsentativ für alle Betriebe mit 20 und mehr Beschäftigten und Betriebsrat ist, gaben 16% aller befragten Betriebsräte an, dass in ihrem Betrieb im Zeitraum von 2008 bis 2009 eine (9%) oder mehrere (7%) Arbeitsniederlegungen stattgefunden hätten.4 In 86% der Fälle handelte es sich nach Angaben der Betriebsräte um Streiks im Zusammenhang mit Tarifverhandlungen. Der Anteil der Streikbetriebe steigt erwartungsgemäß mit der Betriebsgröße (siehe Abb. 1). Zu vermuten ist, dass in der übergroßen Mehrheit der vor allem kleinen und sehr kleinen Betriebe, in denen es gar keinen Betriebsrat gibt, Streiks deutlich seltener vorkommen. In einer weiteren repräsentativen Umfrage, die zwischen April und Mai 2008 im Auftrage der Hans-Böckler-Stiftung (HBS) durchgeführt wurde, gaben 20% aller Befragten an, bereits einmal (9%) oder mehrmals (11%) in ihrem Berufsleben an Streiks oder Warnstreiks teilgenommen zu haben.5 Gewerkschaftsmitglieder verfügten mit 44% gut dreimal häufiger als Nicht-Mitglieder (14%) über Streikerfahrung. Dass Gewerkschaftsmitglieder unter den Streikenden dominieren, verweist darauf, dass die großen Tarif-Streiks in aller Regel in vergleichsweise gut organisierten Betrieben und Branchen stattfinden und unter Organisierten überdurchschnittliche Resonanz finden. In einer Infratest-Umfrage, die der DGB im Jahr 2007 im Rahmen seines Projektes Trendwende durchführen ließ, wurde nach der Inanspruchnahme von Streikgeldzahlungen durch Gewerkschaftsmitglieder gefragt.6 16% der befragten Mitglieder von DGB-Gewerkschaften antworteten, schon einmal diese Unterstützung erhalten zu haben. Mit ca. 20% war der Anteil der Streikgeldempfängerinnen bei IG Metall- und Ver.di-Mitgliedern besonders hoch. Die Differenz zur Böckler-Umfrage deutet darauf hin, dass ein Teil der Streikerfahrungen auf Warnstreiks beruht, bei denen häufig kein Streikgeld gezahlt wird.
4
Die Frage lautete: „Gab es in Ihrem Betrieb in den letzten zwei Jahren Arbeitsniederlegungen – gemeint sind auch spontane Protestversammlungen, Streiks oder Warnstreiks?“ 5 Befragt wurden im April/Mai 2008 repräsentativ ausgewählt 2.000 Personen im Alter von 16 bis 65, die zum Zeitpunkt der Befragung entweder abhängig beschäftigt bzw. erwerbslos oder in beruflicher Ausbildung waren. 6 Die „DGB Potenzialstudie“ wurde im August 2007 durchgeführt. Repräsentativ befragt wurden 5.021 abhängig Beschäftigte (DGB 2007).
238
Heiner Dribbusch
Abb. 1:
Anteil Betriebe mit einer oder mehreren Arbeitsniederlegungen im Zeitraum 2008-2009, Betriebe mit mindestens 20 Beschäftigten und Betriebsrat (in %; Befragungszeitraum 1. Quartal 2010)
39 36
25 21 11
10
20-49
50-99
100-199
19
200-499
500-999
10001999
2000 -
Quelle: WSI-Betriebsrätebefragung 2010
Die Haltung der Beschäftigten Unter den Beschäftigten lassen sich bezüglich des Streiks zwei Erwartungen gegenüber den Gewerkschaften ausmachen. Laut der Infratest-Umfrage im Auftrag des DGB fanden es 81% aller Gewerkschaftsmitglieder „wichtig“ bis „äußerst wichtig“, „dass die Gewerkschaft in Tarifauseinandersetzungen Streiks als Druckmittel einsetzt“. Diese Haltung wird auch von einer deutlichen Mehrheit von 59% aller Nichtmitglieder geteilt, wobei sich in beiden Fällen wenig Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschen zeigen. Gleichzeitig halten 88% der Mitglieder und 89% der Nichtmitglieder es für „wichtig“ bis „äußerst wichtig“, dass die Gewerkschaft „Tarifergebnisse ohne Streik erzielt“. Die Antworten spiegeln sowohl den Wunsch, die Gewerkschaft möge hart mit der Gegenseite verhandeln, wie auch die Erwartung wider, sie möge dies so tun, dass es nicht zum Streik kommt. Auch die Beschäftigten bevorzugen, das Schwert an der Wand zu lassen, wenn sich so befriedigende Ergebnisse erzielen lassen. Im Konfliktfall – dies zeigen die wiederkehrend hohen Zustimmungsquoten bei Urab-
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239
stimmungen – ist die Streikbereitschaft der Beschäftigten jedoch groß. Auch kann die generelle Zurückhaltung gegenüber dem Streik rasch aufgegeben werden, wenn substanzielle Besitzstände oder gar die Arbeitsplätze bedroht sind, wie beispielsweise im Oktober 2004 die Beschäftigten bei Opel in Bochum demonstrierten. Streikgeld Streiks sind für die Beschäftigten mit dem Risiko von Verdienstausfällen verbunden. Substanzielle Streikgeldzahlungen, die im Übrigen keineswegs in allen Ländern selbstverständlich sind, gehören bei allen DGB-Gewerkschaften zum Kernbestand gewerkschaftlicher Leistungen. Die hierdurch entstehenden, bei Großkonflikten sich rasch in Millionenhöhe bewegenden direkten Arbeitskampfkosten beeinflussen die in aller Regel satzungsgemäß bei den Spitzengremien liegende Entscheidung über Häufigkeit, Form und Dauer gewerkschaftlicher Streiks. Für Mitglieder sind sie nach dem Rechtsschutz eine der wichtigsten konfliktnahen Leistungen (vgl. Streeck 1981: 316; Dribbusch 2003: 48-52), was wiederholte Umfragen unterstreichen (ÖTV 2001; Ver.di 2007; DGB Potenzialstudie 2007). Streikgeldzahlungen sind somit auch ein zusätzliches Beitrittsargument. Einzelne Arbeitskampfrichtlinien der DGB-Gewerkschaften berücksichtigen diesen Aspekt und eröffnen explizit die Möglichkeit des unmittelbaren Beitritts bei Streikbeginn. Während bei der IG Metall im Prinzip nur diejenigen Streikunterstützung erhalten können, die mindestens drei Monate vor Streikbeginn eingetreten sind, sehen die entsprechenden Richtlinien von Ver.di den Beitritt während des Streiks vor. Hiermit wird explizit dem Umstand Rechnung getragen, dass Ver.di vielfach in Bereichen in den Arbeitskampf geht oder gehen muss, die nur teilweise organisiert sind. Allerdings werden diese Neumitglieder angehalten, mindestens 18 Monate in der Organisation zu bleiben, da sie ansonsten zur Rückzahlung erhaltener Streikgelder verpflichtet werden. Bis Ende 2009 betrug diese Frist 12 Monate.
Streik- und Organisierung: die Zusammenhänge Die Bedeutung konfliktorientierter Gewerkschaftsarbeit für den Ausbau gewerkschaftlicher Organisationsmacht gründet darauf, dass sich in ihr die oben genannten Grundvoraussetzungen der Organisierung verdichten. Streiks sind dabei Kristallisationspunkte, in denen kollektive Organisierung ihre Wirksamkeit beweisen muss. Im Streik werden unterschiedliche Interessen zwischen Beschäftig-
240
Heiner Dribbusch
ten und Unternehmen konkret erfahrbar. Konflikte werden thematisiert und zugespitzt. Gewerkschaftsangestellte wie gewerkschaftlich aktive Mitglieder sind bereits im Vorfeld in besonderem Maße gefordert, zeigen erhöhte Präsenz in den Betrieben und werden in ihrem Handeln direkt erlebbar. Zugleich spielen Verlauf und Ergebnis von Arbeitskämpfen eine wichtige Rolle für die Einschätzung gemeinsamen Handelns, beziehungsweise der Gewerkschaft durch die Beschäftigten. Spektakuläre Auseinandersetzungen können dabei überbetriebliche oder sogar überregionale Sichtwirkung erzielen. Dies gilt für den Erfolg ebenso wie für die Niederlage oder den Kompromiss. Insofern ist das Verhältnis von Streik und Organisierung von durchaus unterschiedlichen Wechselwirkungen geprägt. Streik und Errichtung von Betriebsräten Die gewerkschaftliche Präsenz ist außerhalb der Großbetriebe der klassischen Industriebranchen und einiger weniger Hochburgen im verbleibenden öffentlichen Dienst stark lückenhaft. 2009 arbeiteten 45% aller Beschäftigten in Westdeutschland und 38% in Ostdeutschland in Betrieben mit Betriebsrat (Ellguth und Kohaut 2010). Auf Grund der großen Anzahl von Kleinbetrieben ohne institutionelle Interessenvertretung verfügten jedoch nur 10% aller Betriebe mit 5 und mehr Beschäftigten über ein solches Gremium. Die Errichtung von Betriebsräten ist somit ein zentraler Schritt zur Ausweitung gewerkschaftlicher Verankerung. Unabhängig von der juristischen Frage, ob und unter welchen Umständen ein Betriebsrat durch Arbeitskampf erzwingbar wäre, stehen Konflikte um die Errichtung von Betriebsräten meist am Anfang einer Organisierung, wenn das für einen Arbeitskampf erforderliche Maß an Verankerung und Kampfbereitschaft oft noch nicht vorhanden ist. Streiks spielen deshalb in diesem Kontext kaum eine Rolle. Eine Sondersituation ist in der Luftfahrt gegeben, wo in bestimmten Fällen nach §117 BetrVG die Errichtung einer Personalvertretung bei Fluglinien an einen Tarifvertrag gebunden ist. Hier ist es im Zuge von entsprechenden Tarifkonflikten vereinzelt zu Arbeitsniederlegungen seitens Ver.di sowie der Vereinigung Cockpit gekommen.7 Ansonsten sind für die Durchsetzung betrieblicher Vertretungsstrukturen meist andere Druckmittel als die Arbeitsniederlegung von Bedeutung. So beruhte der Durchbruch bei der SchleckerKampagne wesentlich auf der Mobilisierung der Öffentlichkeit und der gezielten
7
So gelang es ver.di 2010 mit Hilfe von zwei erfolgreichen, für das Unternehmen durchaus schmerzhaften Warnstreiks bei der Fluglinie easyJet in Berlin einen Tarifvertrag zur Errichtung einer Personalvertretung durchzusetzen. Auch hier war der Eskalation eine erfolgreiche Organisierung vorausgegangen.
Organisieren am Konflikt: Zum Verhältnis von Streik und Mitgliederentwicklung
241
Verwendung von Insider-Informationen, die es ermöglichten, Druck auf die Eigentümer auszuüben (vgl. Dribbusch 2003: 145). Streik als Katalysator der Verankerung In Situationen, in denen es bereits erste gewerkschaftliche Zugänge gibt, möglicherweise sogar bereits Vertretungsstrukturen bestehen und es um die Festigung oder den Ausbau gewerkschaftlicher Verankerung geht, können Streiks eine wichtige Rolle als Katalysator der Organisierung bekommen (vgl. Birke 2010: 83). Streiks sind ein Bruch mit dem Arbeitsalltag und enthalten Elemente von Selbstorganisation, Widersetzlichkeit und zivilem Ungehorsam. Wer mit Streikenden spricht, wird immer wieder feststellen, dass meist nicht nur für die deklarierten Streikziele gestreikt wird, sondern durch das temporäre Durchbrechen des Direktionsrechts der direkten Vorgesetzten und der Firma auch demonstriert werden soll, dass Beschäftigte nicht alles mit sich machen lassen. Streiks bieten die Chance, dass sich Beschäftigte neu erfahren, sie können positive Erlebnisse vermitteln, und durch sie kann kollektive Stärke erfahren werden. Dies macht ihre Bedeutung innerhalb von Organisierungsprozessen aus. Erfahrungen mit Streiks als Mobilisierungsinstrument wurden in den letzten Jahren unter anderem in einem von Ver.di bei der im Bereich der Versandhandelslogistik tätigen Firma Hermes Warehousing Solutions (HWS) durchgeführten Organizing-Projekt gesammelt (vgl. Lange 2009). Ziel war die Belebung der gewerkschaftlichen Betriebsgruppen an den Standorten von HWS in Hamburg und im ostdeutschen Haldensleben verbunden mit einer Aktivierung und dem Ausbau der gewerkschaftlichen Basis. An beiden Standorten spielten ein erster Warnstreik sowie schließlich der 14-tägige Streik eine wichtige Rolle im Prozess der gewerkschaftlichen Mobilisierung der Beschäftigten, die sich in der Herausbildung neuer Gruppen von Aktiven und einer signifikanten Erhöhung des betrieblichen Organisationsgrades manifestierte. Zeitweilig heftige Zerwürfnisse zwischen Aktiven und Betriebsrat, die sich nicht zuletzt auch an einem in den Augen der Aktiven unzureichenden Ergebnis festmachten, demonstrierten zugleich das Konfliktpotenzial dieses Ansatzes, der gleichwohl auch ein Jahr nach dem Streik bezüglich neuer Aktiver und Verankerung eine positive Bilanz aufwies. Beim badischen Betonfertigteilewerk Linkenheim drohte 2008, nach dem Aufkauf durch eine neue Firma, die Tarifbindung verloren zu gehen. Zwar gab es einen Betriebsrat, doch war der Betrieb kaum organisiert.8 Schlüsselerlebnis
8
Der Abschnitt basiert auf verschiedenen Gesprächen mit IG BAU-OrganizerInnen.
242
Heiner Dribbusch
und Kristallisationspunkt der von einem kleinen Organizing-Team der IG BAU begleiteten Auseinandersetzung sind zwei Warnstreiks. Dabei kam es den Beschäftigten, wie von ihnen in vorbereitenden Mitgliederversammlungen deutlich gemacht wurde, in erster Linie nicht auf den (eher geringen) wirtschaftlichen Schaden an, als darauf, dem Unternehmen gegenüber Entschlossenheit zu demonstrieren. Durch das buchstäbliche Zusammen-Stehen im Streik wurde die eigene Stärke visualisiert und über das Gemeinschaftserlebnis gefestigt. Wichtig waren im Vorfeld der Streiks auch andere demonstrative und symbolträchtige Aktionen, wie die Beflaggung des Werkes mit IG BAU-Fahnen. All dies signalisierte dem Unternehmen: Es ist ernst. Dies brachte mit der Sicherung der Tarifbindung auch den Gesamterfolg der Kampagne, bei der nach acht Wochen 90% der Beschäftigten in die Gewerkschaft eingetreten waren. Eine positive Wechselwirkung von Streik und Organisierung ist dann erreicht, wenn die Arbeitsniederlegung die Organisierung stabilisiert und dies dann wieder die zukünftige Streik- und Aktionsfähigkeit in der Branche oder auch im Betrieb stärkt. Eine solche Belebung kommt aber nicht von allein. Sie muss gewollt sein. So begründete Ende der 1990er Jahre die Betriebsratsvorsitzende eines der größten westdeutschen Kaufhäuser die damaligen, kontinuierlichen Bemühungen des Betriebsrates um Aufrechterhaltung eines hohen Organisationsgrades damit, dass dieser die Streikfähigkeit sichere. Diese, von Zeit zu Zeit praktisch unter Beweis gestellt, verschaffe gegenüber dem Management den notwendigen Respekt, der dann auch die Betriebsratsarbeit erleichtere. „Wenn das nicht mehr ginge, würde ich mir überlegen, ob ich noch Betriebsratsarbeit machen würde“ (Dribbusch 2003: 148). Ein solches Selbstverständnis der Betriebsratsarbeit ist freilich auch unter gewerkschaftlich organisierten Betriebsräten eher eine Ausnahme (vgl. Schmidt und Trinczek 1991; 1999; Lange 2009). Organisierung und Tarifrunden Dass Tarifrunden, zugespitzte gar, günstige Zeiten zum Ausbau der Mitgliederzahlen sind, ist eine unter gewerkschaftlichen Hauptamtlichen etablierte Erfahrung. Hier werden häufig Mitgliedersprünge realisiert. So führte beispielsweise 1995 die Ortsverwaltung der HBV in Hamburg 27% aller ihrer Beitritte in diesem Jahr auf die damaligen Streiks im Einzelhandel zurück (Dribbusch 2003: 152). Im in der Einleitung erwähnten Arbeitskampf des Berliner öffentlichen Dienstes meldeten GEW, GdP und Ver.di 2008 zusammen Zuwächse von insgesamt etwa 2.500 neuen Mitgliedern (Emmerich 2008), während 2009 beim Streik im Sozial- und Erziehungsdienst Ver.di bis zum Juni des betreffenden Jahres allein in NRW ca. 2.000 zusätzliche Eintritte verzeichnete (Dumke 2009). Und
Organisieren am Konflikt: Zum Verhältnis von Streik und Mitgliederentwicklung
243
auch die IG BAU konnte 2009 im Zusammenhang mit der Tarifrunde in der Gebäudereinigung stark überdurchschnittliche Eintritte verzeichnen. Größere Beitrittssprünge finden naheliegenderweise vor allem in Branchen und Betrieben statt, in denen ein Nachholbedarf an Organisierung besteht. Wichtig für den Erfolg ist, neben dem Vorliegen eines mobilisierungsfähigen Streikgegenstandes, stets das Signal, dass es die Gewerkschaft ernst meint. In der Gebäudereinigung war dies der entscheidende Punkt der Tarifrunde, der über die eigentlichen Streikbetriebe hinaus in die Branche wirkte. In einem auf Organisationsausbau und betriebliche Aktivierung zielenden Projekt, das Ver.di bei zwei Service-Unternehmen im Bereich des Bodenpersonals an den Flughäfen Tegel und Schönefeld initiierte, basierten die Organisierungserfolge nach Einschätzung der beteiligten Organizer dezidiert darauf, dass die Beschäftigten überzeugt waren, dass die Gewerkschaft zur Zuspitzung eines anstehenden Tarifkonflikts und zum Streik bereit sei.9 Der Erfolg der Organisierung zeigte sich darin, dass es den aktiven Mitgliedern schließlich trotz Widerstand der Geschäftsleitung gelang, aus dem laufenden Betrieb heraus 80% und 95% ihrer KollegInnen für eine Arbeitsniederlegung in den operativen Bereichen zu mobilisieren. Streiks wirken deshalb auch nur dort als Motor der Organisierung, wo sie von den Beschäftigten nicht als wirkungsloses Tarifritual aufgefasst werden (vgl. Detje et al. 2003: 140).
Streik und Mitgliederentwicklung – die quantitative Seite Dieser Abschnitt beginnt notwendigerweise mit einer einschränkenden Bemerkung. Der quantitative Effekt, den Arbeitskämpfe auf die Mitgliederentwicklung einzelner Gewerkschaften haben, kann nicht zuverlässig bestimmt werden. Im Allgemeinen wird nicht erfasst, wer warum in eine Gewerkschaft eintritt, und nur eine Minderheit von Mitgliedern gibt Gründe beim Austritt an. Die Gesamtzahl der Neueintritte, die direkt im Zusammenhang mit Streiks oder von Arbeitskämpfen stehen, ließe sich, wenn überhaupt, nur über detaillierte Auswertungen der Mitgliederstatistiken ermitteln. Die hierfür erforderlichen Basisdaten sind für weiter zurückliegende Jahre großenteils gar nicht vorhanden und selbst für die aktuelle Zeit und trotz des inzwischen erreichten Standes der elektronischen Mitgliederverwaltung vermutlich nur bruchstückhaft zu ermitteln. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass die meisten bundesdeutschen Gewerkschaften detaillierte Mitgliederzahlen und Streikdaten selbst als arbeitskampfrelevant erachten und dementsprechend reserviert bezüglich deren Offenlegung sind. Doch selbst wenn
9
Interview mit ver.di Organizern (23.09.10).
244
Heiner Dribbusch
diese Daten alle zugänglich wären, bliebe es fraglich, ob die vielfach indirekten Wirkungen von Arbeitskämpfen auf die Mitgliederentwicklung tatsächlich exakt zu messen wären. Die großen Trends Um sich der quantitativen Seite des Zusammenhangs von Streik und Mitgliederentwicklung anzunähern, bietet sich zuerst ein Blick auf die Entwicklung der Arbeitskampfbeteiligung auf Basis der Daten der amtlichen Streikstatistik der Bundesagentur für Arbeit seit Beginn der 1960er an. Zur Herstellung der Vergleichbarkeit wird dabei auf das relative Beteiligungsvolumen, das heißt, auf die Anzahl der Streikenden/Ausgesperrten pro 1.000 Beschäftigten zurückgegriffen (siehe Abb. 2). Abb. 2:
BA-Arbeitskampfstatistik für die Bundesrepublik 1960-2009: Streikende und Ausgesperrte pro 1.000 Beschäftigte; Jahreswerte und Trend
25,0
20,0
15,0
10,0
5,0
2008
2006
2004
2002
2000
1998
1996
1994
1992
1990
1988
1986
1984
1982
1980
1978
1976
1974
1972
1970
1968
1966
1964
1962
1960
0,0
Quelle: Bundesagentur für Arbeit (BA) und Vorläufer; eigene Berechnung
Der Blick auf diese Zeitreihe zeigt, dass abgesehen von den Jahren 1963, 1971, 1978 und 1984, in denen es jeweils große, von Flächenaussperrungen begleitete Arbeitskämpfe gab und dem Ausnahmejahr 1992 mit dem breiten, wenngleich
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245
kurzen Streik im öffentlichen Dienst, die Arbeitskampfbeteiligung selten mehr als ein Prozent aller Beschäftigten überschritt. Tendenziell – dies zeigt die als Linie in der Grafik sichtbare polynomische Trendlinie – nimmt laut amtlicher Statistik die Zahl der an Arbeitskämpfen Beteiligten seit Mitte der 1980er Jahre ab, was wesentlich mit den seitdem ausbleibenden Flächenaussperrungen und einem Wechsel der Streiktaktik hin zu einer Ausweitung der kurzzeitigen Warnstreiktätigkeit zu tun hat. Denn vor allem Letztere werden in der amtlichen Statistik lediglich bruchstückhaft registriert (vgl. Dribbusch 2008, 2010). Das Ausmaß der systematischen Untererfassung der Streikbeteiligung zeigt ein Vergleich der amtlichen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit mit einer auf Gewerkschaftsangaben und Zeitungsmeldungen beruhenden Schätzung des Arbeitskampfvolumens seitens des WSI (siehe Abb. 3).10 Abb. 3:
Beteiligte an Arbeitskämpfen pro 1.000 Beschäftigte 2004-2009; BA-Statistik und WSI-Schätzung im Vergleich
50,0
43,2
45,0 40,0 35,0
29,7
30,0 25,0 20,0
15,6
14,9 15,0
11,7
10,0 5,0
2,9
4,9 1,9
3,0
4,3 0,8
0,5
0,0 2004
2005
2006 WSI-Schätzung
2007
2008
2009
BA
Quelle: BA, WSI; eigene Berechnung
10
Sowohl bei den amtlichen wie den geschätzten Zahlen zur Streikbeteiligung ist zu berücksichtigen, dass es insbesondere bei mehreren Warnstreikwellen bezüglich der beteiligten Individuen zum Teil zu erheblichen Mehrfachzählungen kommt. Wer bei zwei Anlässen – auch in aufeinander folgenden Warnstreikwellen – streikt, wird auch zweimal gezählt usw. Die Summe der an Arbeitskämpfen Beteiligten eines Jahres ist daher generell nicht mit streikenden Individuen gleichzusetzen.
246
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In einzelnen Jahren erfasst die amtliche Statistik gerade einmal ein Zehntel der tatsächlichen Streikbeteiligung. Da die Ungenauigkeiten der amtlichen Statistik im Laufe der Jahrzehnte zugenommen hat (vgl. Dribbusch 2010), ist zu bezweifeln, ob es den durch die amtliche Statistik abgebildeten Rückgang der relativen Streikbeteiligung überhaupt gegeben hat. Die Organisationsentwicklung der DGB-Gewerkschaften scheint vordergründig mit dem Haupttrend der Arbeitskampfbeteiligung zu korrelieren. Die DGB-Gewerkschaften erleben einen Aufschwung in der besonders arbeitskampfintensiven Phase zu Beginn der 1970er Jahre und ihre seit den 1990er Jahren anhaltend negative Mitgliederentwicklung korrespondiert mit einer Zeit, in der, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, bis etwa 2003 die offiziell registrierte Streiktätigkeit rückläufig war (vgl. Abb. 4). Jedoch können Streiks sowohl Ausdruck von Stärke wie von Schwäche sein. Ein Rückgang an in Mitgliederstärke gemessener Organisationsmacht muss deshalb keineswegs automatisch mit einem Rückgang an Arbeitskampftätigkeit verbunden sein, was auch umgekehrt gilt. Auch wäre zu erklären, warum der Deutsche Beamtenbund (dbb beamtenbund und tarifunion), dessen mit Abstand größte Mitgliedergruppe überhaupt nie in Arbeitskämpfe verwickelt ist, entgegen dem Trend des DGB seit 1990 Mitglieder hinzugewann. Abb. 4:
DGB Mitgliederentwicklung 1960-2009; Jahresentwicklung und Trend
14.000.000
12.000.000
10.000.000
8.000.000
6.000.000
4.000.000
2.000.000
Quelle: DGB; eigene Berechnung
2008
2006
2004
2002
2000
1998
1996
1994
1992
1990
1988
1986
1984
1982
1980
1978
1976
1974
1972
1970
1968
1966
1964
1962
1960
0
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Korrelationen sind, worauf Franzosi (1989) hingewiesen hat, noch keine Kausalitäten, und bei genauerer Betrachtung bietet sich tatsächlich ein wesentlich differenzierteres Bild, bei dem sich einzelne Arbeitskämpfe kaum zuverlässig der aggregierten Mitgliederentwicklung des Dachverbandes zuordnen lassen. Dies ist angesichts der Tatsache, dass die meisten der in der Statistik überhaupt erfassten, vergleichsweise wenigen Streiks sich auf einzelne Gewerkschaften, Branchen und Regionen beschränkten, auch kaum anders zu erwarten. Die Beschäftigungsentwicklung, die Veränderung institutioneller Rahmenbedingungen wie die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes im Jahr 1972, der Beitritt der DDR oder die Deindustrialisierung Ostdeutschlands beeinflussen auf der Makroebene die Mitgliederentwicklung oft sehr viel direkter als einzelne Arbeitskämpfe. Auch bei den Einzelgewerkschaften lassen sich in einer Gesamtbetrachtung keine klaren Trends erkennen. Während beispielsweise die IG Druck und Papier trotz erheblicher Arbeitskampfaktivitäten zwischen 1965 und 1985 vor dem Hintergrund der Umstrukturierungen in der Druckindustrie eine leicht rückläufige Mitgliederentwicklung zu verzeichnen hat, kann im gleichen Zeitraum die GEW ihre Mitgliederzahl verdoppeln und die HBV die ihre fast verdreifachen, ohne dass dies bei beiden mit spektakulären Arbeitskämpfen verbunden gewesen wäre.11 Streiks und Mitgliederentwicklung bei der IG Metall Geht es um Streiks, rückt vor allem die IG Metall in den Fokus, die von Beginn der 1960er bis Ende der 1990er Jahre die Arbeitskampfstatistik dominiert (Müller-Jentsch und Ittermann 2000: 199). Auch bei ihr lassen sich auf den ersten Blick direkte Verbindungen zwischen einzelnen spektakulären Arbeitskämpfen und der Mitgliederentwicklung kaum herstellen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, dass die IG Metall in den drei Jahrzehnten zwischen 1960 und 1989, in denen mehrere große, teilweise von Aussperrungen begleitete Streikauseinandersetzungen liegen, ein Wachstum verzeichnen konnte, das den gesamten Dachverband mit nach oben zog. Zwischen 1960 und 1989 stieg die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder im DGB um ca. 1,5 Millionen, wovon mit ca. 840.000 deutlich mehr als die Hälfte allein auf die IG Metall entfielen. Der entscheidende Wachstumsschub der IG Metall fand in den sieben Jahren zwischen 1967 und 1974 statt. Es war dies nicht nur die Zeit einer von den
11
Beide Gewerkschaften haben aber offenbar stark von der gewerkschaftlichen Aufbruchstimmung seit Ende der 1960er Jahre, den positiven Beschäftigungstrends in ihren Organisationsbereichen sowie den verbesserten Zugangsmöglichkeiten in Folge der 1972er Reform des Betriebsverfassungsgesetzes profitieren können.
248
Heiner Dribbusch
Universitäten ausgehenden gesellschaftlicher Aufbruchsstimmung, sondern zugleich eine der arbeitskampfintensivsten Perioden der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte (vgl. Abb. 5). Diese fand ihren Niederschlag sowohl in großen, vielfach sehr erfolgreichen, tariflichen Arbeitskämpfen als auch in einer Vielzahl inoffizieller betrieblicher Arbeitsniederlegungen und Streikwellen, die wiederum auf die Tarifpolitik zurückwirken (vgl. Birke 2007). Abb. 5:
Streiks zwischen 1949 und 1980 (Anzahl im Vierjahreszeitraum)
800 716 700
669
600
500 396
400 313 300
200
165
182 144 121
100
0 1949 - 52
1953 - 56
1957 - 60
1961 - 64
1965 - 68
1969 - 72
1973 - 76
1977 - 80
Quelle: Spode 1992: 358
Zwischen 1969 und 1976 lassen sich allein im erweiterten Bereich der Metall-, Elektro- und Stahlindustrie 1.110 Arbeitsniederlegungen feststellen (Spode 1992: 467-498), was in etwa 80% aller Streiks entspricht. Die wichtigsten tariflichen Arbeitskämpfe der Metall- und Elektroindustrie werden in dieser Zeit im Bezirk Baden-Württemberg geführt.12 1970, einem Jahr, in dem die bundesweite Arbeitslosenquote mit 0,7% einen ihrer historischen Tiefstände erreicht, fordert die IG Metall, auch in Reaktion auf die Septemberstreiks von 1969, eine Lohnerhöhung von 15%. In Baden-Württemberg kommt es dabei zu einer sehr breiten Warnstreikmobilisierung, mit der ein deutlich über den anderen Bezirken liegen-
12
Der Bezirk bezeichnet bei der IG Metall die regionale Ebene, darunter befinden sich die Verwaltungsstellen.
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249
der Abschluss erzielt wird.13 1971 scheitern die Metallarbeitgeber im Tarifbezirk Nordwürttemberg/Nordbaden mit dem Versuch, der Gewerkschaft mit Hilfe einer die Zahl der Streikenden weit überschreitenden Flächenaussperrung eine Niederlage beizubringen. 1973 schließlich greift die baden-württembergische IG Metall einige der in den „wilden“ Streiks des Jahres artikulierten qualitativen Forderungen auf und erreicht über einen Arbeitskampf unter anderem die berühmten, als „Steinkühlerpause“ apostrophierten zusätzlichen, bezahlten Erholzeiten für AkkordarbeiterInnen. Interessant ist nun ein Vergleich der Mitgliederentwicklung der baden-württembergischen IG Metall mit der übrigen Gesamtorganisation (ohne die Mitglieder in Baden-Württemberg) (siehe Abb. 6). Abb. 6:
Mitgliederentwicklung (IG Metall Baden-Württemberg, übrige IG Metall ohne Baden-Württemberg) und Beschäftigte Metall- und Elektroindustrie 1960-1989, indexiert (1960=100) BRD: Beschäftigte M+E
IGM BaWü
IGM o. BaWü
180 176 172 168 164 160 156 152 148 144 140 136 132 128 124 120 116 112 108 104 1990
1989
1988
1987
1986
1985
1984
1983
1982
1981
1980
1979
1978
1977
1976
1975
1974
1973
1972
1971
1970
1969
1968
1967
1966
1965
1964
1963
1962
1961
1960
100
Quelle: IG Metall; Beschäftigung (Daten nur teilweise verfügbar): Gesamtmetall; eigene Berechnung
13
Im damaligen Sprachgebrauch wurden diese Warnstreiks „spontane Streiks“ genannt, die aber im Gegensatz zu den Septemberstreiks durchaus mit Duldung und Förderung der IG Metall stattfanden. Die Gewerkschaft konnte aber wegen der sehr restriktiven Schlichtungsvereinbarung nicht offiziell zu Warnstreiks aufrufen (vgl. Kittner 2005: 635-636).
250
Heiner Dribbusch
Die IG Metall Baden-Württemberg, die in den 1960er Jahren zunächst hinter der übrigen IG Metall zurückbleibt, katapultiert ihre Mitgliederzahl zwischen 1967 und 1974 um 56% nach oben. Dies ist ein doppelt so starkes Wachstum, wie es in der übrigen IG Metall mit ebenfalls schon beachtlichen 28% erzielt wird. Diese Mitgliederzuwächse werden trotz einer ab 1970 rückläufigen Beschäftigung in der bundesdeutschen Metall- und Elektroindustrie erzielt. Da die Mitgliederentwicklungen in Baden-Württemberg und im übrigen Bundesgebiet vom Trend her ähnliche konjunkturelle Schwankungen aufweisen, liegt die Vermutung nahe, dass der deutlich stärkere Anstieg der Südwest-IG Metall seine Ursache auch in der breiten Streikmobilisierung und den damit verbundenen tarifpolitischen Erfolgen hat, die damals in den gut organisierten Großbetrieben häufig im Wege einer innerbetrieblichen „zweiten Lohnrunde“ durch übertarifliche Zuschläge aufgebessert wurden. Die Periode ist von großer Bedeutung für die IG Metall und prägt ihre Ausstrahlung weit über die 1970er Jahre hinaus. Die Gewerkschaft demonstriert weithin sichtbar ihre Durchsetzungsfähigkeit, festigt die Verankerung in ihren Kernbranchen und begründet nachhaltig ihren Ruf als die mobilisierungsfähige, starke bundesdeutsche Gewerkschaft. Ganz anders gelagert war die Situation der IG Metall in Ostdeutschland nach 1990. Mit enormen, vielfach unrealistischen Vorschusslorbeeren seitens der ostdeutschen Beschäftigten bedacht, stand sie – wie auch die anderen DGBGewerkschaften – dem industriellen Abbruch faktisch machtlos gegenüber. Kollektive Organisierung, als betriebliche Gegenmacht in der ehemaligen DDR ohnehin unerwünscht, erwies sich in den Augen der rasch arbeitslos werdenden Beschäftigten als unwirksam. Trotzdem gelang der IG Metall 1993 eine erfolgreiche Streikmobilisierung, als die Metallunternehmer einseitig die Tarifverträge zur Entgeltangleichung aufkündigten. Zehn Jahre später scheiterte sie dann allerdings spektakulär mit dem Versuch, über einen Arbeitskampf die Angleichung der Wochenarbeitszeiten in der ostdeutschen Metallindustrie zu erzwingen. Dieser insgesamt mehr als unglücklich verlaufende und mit ca. 12.000-13.000 Streikenden vergleichsweise kleine Arbeitskampf mitsamt dem ihn damals begleitenden, gewerkschaftsfeindlichen publizistischen Echo (vgl. u. a. Wild 2003) sowie den folgenden gewerkschaftsinternen Querelen schlug sich erkennbar negativ in der Mitgliederentwicklung der Gesamtorganisation nieder. Der bereits vorhandene, zum guten Teil wirtschaftlich bedingte Negativtrend in der Mitgliederentwicklung verstärkte sich deutlich. Die Mitgliederrückgänge von 4,5% in 2003 und 4,0% in 2004 bedeuteten gegenüber den Vorjahren eine Verdoppelung der jährlichen Verluste. Erst im konjunkturellen Aufschwung ab 2005 konnte in Verbindung mit gezielten Organisierungsaktivitäten eine Trendwende herbeigeführt werden, die dann in der Wirtschafts- und Finanzkrise 2009 einen Rückschlag erlitt. Ihre Durchsetzungsfähigkeit demonstrierte die IG Metall wieder
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2010, als sie in günstiger wirtschaftlicher Lage nach kurzen Warnstreiks in der Stahlindustrie einen für die Auseinandersetzung mit Niedriglöhnen richtungsweisenden Tarifabschluss zur Leiharbeit erreichte. Der Dienstleistungssektor Seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahren, insbesondere aber im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends, lässt sich eine Verlagerung des Arbeitskampfgeschehens von der Industrie in den Dienstleistungsbereich beobachten, die unter Rückgriff auf einen in Italien geprägten Begriff als Tertiarisierung des Arbeitskampfes charakterisiert werden kann (vgl. Bordogna und Cella 2002; Dribbusch 2009). Sie drückt sich vor allem in einer Zunahme der Streiks sowie in der Vergewerkschaftlichung traditionell eher streikabstinenter Berufsverbände aus. Den Hintergrund bildete eine zunehmende Aggressivität der privaten und öffentlichen Arbeitgeberverbände in Folge veränderter nationaler und internationaler Konkurrenzbedingungen. Die Zunahme der Streiktätigkeit ist ein Zeichen dafür, dass die traditionelle Arbeitskampfzurückhaltung der bundesdeutschen Gewerkschaften in dem Maße unter Druck gerät, in dem zunehmend aggressiv vorgetragene Forderungen von Unternehmen oder öffentlichen Arbeitgebern nach Einschnitten in tarifliche Errungenschaften kaum noch positive Verhandlungsspielräume zulassen. Besonders deutlich zeigt sich der Zusammenhang zwischen Organisationsentwicklung und Arbeitskampf bei einigen traditionell eher wirtschaftsfriedlich ausgerichteten Berufsgewerkschaften wie der Vereinigung Cockpit (VC), dem Marburger Bund (MB) oder auch der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL). Alle drei Gewerkschaften konnten die von ihnen angestrebte tarifpolitische Eigenständigkeit nur gegen den erbitterten Widerstand der Arbeitgeberseite durchsetzen. Die damit verbundenen Arbeitskämpfe sind zentrale Ereignisse in der Organisationsgeschichte dieser Verbände. Dabei schaffte es der Marburger Bund, seine Mitgliederzahl zwischen 1994 und 2010 von 55.000 auf 106.000 ÄrztInnen nahezu zu verdoppeln. Der Durchbruch vom Berufsverband zur Gewerkschaft gelang ihm 2006 mit den erfolgreichen Streiks für eigenständige Tarifverträge (vgl. Martens 2007). Wie sehr die Gewerkschaft damit auf die Zustimmung ihrer Zielgruppe stieß, zeigen die enormen Mitgliedersteigerungen, die in dieser Periode erzielt wurden. 2006 wurde ein enormer Anstieg von 22% und 2007 auf dieser Basis wurden noch einmal 10% Zuwachs erreicht. Seitdem stagniert die Mitgliederentwicklung, was darauf hindeutet, dass der MB möglicherweise sein erreichbares Potenzial zunächst einmal ausgeschöpft hat. Aber auch die DGB-Gewerkschaften im Dienstleistungssektor haben die Notwendigkeit, jenseits der kleiner gewordenen Blaumannbereiche des öffentlichen Nahverkehrs und der Ver- und Entsorgung arbeitskampffähig zu werden,
252
Heiner Dribbusch
erkannt. Der einstmals geltende Geleitzugeffekt, bei dem mit mehr oder weniger Verspätung die in den großen Industriebranchen erzielten Tariferfolge auch auf andere Bereiche ausgedehnt wurden, funktioniert nicht mehr. Die Gewerkschaften im Dienstleistungssektor müssen häufiger dafür kämpfen, dass es überhaupt Tarifverträge gibt. Und gerade die aktiven Kerne der Gewerkschaften erwarten angesichts der Zumutungen der Gegenseite organisierten Widerstand. All dies legt eine konfliktorientierte Gewerkschaftspolitik nahe, die auch bei nur teilweiser Verankerung nicht prinzipiell jedem Arbeitskampf ausweicht, sondern dort, wo es geht, diesen zum schrittweisen Ausbau von Organisationsmacht nutzt. Möglich ist dies überall dort, wo angesichts der Zumutungen der Gegenseite unter den Beschäftigten ein mobilisierbares Widerstandspotenzial vorhanden ist. Ansätze dazu lassen sich am Beispiel der Auseinandersetzung in der Gebäudereinigung im Jahr 2009 erkennen (vgl. u. a. Birke 2010: 161-166). Innerhalb der IG BAU war die Gebäudereinigung bereits seit mehreren Jahren die Branche, in der kontinuierlich die Eintritte die Mitgliederabgänge überschritten. Angesichts der Drohungen der Unternehmerseite, die allgemeinverbindlichen Mindestlöhne mit dem Ziel weiterer Lohnsenkungen auslaufen zu lassen, war ausreichend Konfliktpotenzial vorhanden, und die IG BAU bereitete die ersten bundesweiten Streiks überhaupt in der Branche vor.14 Bereits im Vorfeld des Streiks stiegen die Eintritte im September 2009 – gemessen an denen eines „Normalmonats“ – um das Zweieinhalbfache. Im Monat Oktober, in dem in der zweiten Hälfte der zehntägige Streik stattfand, stiegen die durchschnittlichen Beitrittszahlen sogar um das mehr als Dreieinhalbfache. Und auch im ersten Quartal konnten noch überdurchschnittlich viele Eintritte verzeichnet werden, was andeutet, dass die aus dem Arbeitskampf resultierende Dynamik in die Zeit nach der Auseinandersetzung hineinwirkte. Interessant war bei den mehreren tausend Neueintritten, dass diese vielfach gerade auch außerhalb der eigentlichen Streikbetriebe stattfanden, was als Indiz dafür gewertet werden kann, dass das Signal der Gewerkschaft, diesmal ernsthaft Widerstand zu organisieren, auf Widerhall stieß. Hilfreich war sicherlich auch, dass der Arbeitskampf ein ausgesprochen positives Medienecho hatte, nicht zuletzt weil die seitens verschiedener Firmen angekündigten Lohnkürzungen nach Auslaufen der Allgemeinverbindlichkeit in einer für ihre Niedriglöhne bekannten Branche auf öffentliches Unverständnis und Empörung stieß. Auch innerhalb des „kleinen Dachverbands“ Ver.di ist in den letzten Jahren das Bewusstsein für die Chancen gewachsen, die sich aus der verschärften Konfliktsituation in verschiedenen Bereichen des öffentlichen und privaten Dienst-
14
Der folgende Abschnitt basiert auf verschiedenen Gesprächen mit Hauptamtlichen IG BAU.
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leistungssektors ergeben. Im Zuge des in der Einleitung bereits erwähnten Arbeitskampfes des Berliner öffentlichen Dienstes meldeten GEW, GdP und Ver.di 2008 zusammen Zuwächse von insgesamt etwa 2.500 neuen Mitgliedern (Emmerich 2008), während beim Streik im Sozial- und Erziehungsdienst Ver.di allein bis Juni 2009 in NRW ca. 2.000 zusätzliche Eintritte verzeichnet wurden (Dumke 2009). Illustrieren lässt sich der Zusammenhang zwischen Streik und Organisierung durch einen vergleichenden Blick auf die Mitgliederentwicklung innerhalb des Ver.di Fachbereichs 7 (Gemeinden) (siehe Abb. 7). Dieser Fachbereich erlebte zwischen 2005 und 2009 neben einer Reihe kleinerer Arbeitskämpfe auch mehrere große Streikauseinandersetzungen. 2005/2006 ging es für die Kommunalangestellten um die Abwehr einer von den öffentlichen Arbeitgebern verlangten Arbeitszeitverlängerung. Dieser Konflikt spitzte sich in Hamburg, Niedersachsen und Baden-Württemberg Anfang 2006 zum Streik zu. Im Südwesten weitete sich die Auseinandersetzung zum bisher längsten unbefristeten Streik im öffentlichen Dienst der Bundesrepublik aus (Ver.di Landesbezirk Baden-Württemberg 2006). 2008 mobilisierte Ver.di in mehreren Wellen bundesweit massiv Abb. 7:
Ver.di – Fachbereich 7 (Gemeinden): Mitgliederentwicklung 2003-2009, indexiert (2003=100) FB 7 Gesamt
Lbz. BaWü
Bzk. A (großstädtisch geprägt)
130 127 125 120 115 110 105
104
100 95 90 85 80 80 75 2003
2004
Quelle: Ver.di; eigene Berechnung
2005
2006
2007
2008
2009
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zu Warnstreiks in der kommunalen Entgeltrunde, und 2009 stand im Zeichen des mehrwöchigen Streiks im Sozial- und Erziehungsdienst. Während der Fachbereich trotz all dieser Arbeitskämpfe bundesweit dennoch gegenüber 2003 deutliche Mitgliederrückgänge aufweist, verzeichnet er im Landesbezirk Baden-Württemberg ein leichtes Plus. Auffallend gut schneidet dabei innerhalb des Landesbezirks ein großstädtischer Bezirk (im Folgenden Bezirk A genannt) ab, der seit Jahren eine dezidiert konflikt- und kampagnenorientierte Gewerkschaftspolitik verfolgt.15 Wie sehr in diesem Bezirk die Streikmobilisierungen eine Rolle spielen, zeigt die Grafik der Zu- und Abgänge des Fachbereichs 7 im ausgewählten Bezirk A (siehe Abb. 8) Abb. 8:
Ver.di Bezirk A (Großstadt) – Fachbereich 7 (Gemeinden): Mitgliederentwicklung, Veränderung gegenüber Vorjahr in %
12,0 9,7
10,0
8,1 8,0
7,2
6,0 3,7
4,0
2,0
1,1
0,0
-2,0
-4,0 -4,7 -6,0 2004
2005
2006
2007
2008
2009
Quelle: Ver.di; eigene Berechnung
In der jährlichen Veränderung der Mitgliederzahlen des Bezirks A spiegeln sich deutlich seine in engem Zusammenhang mit den Arbeitskampfmobilisierungen erzielten Organisierungserfolge wider. Nachfragen bei dem für den Fachbereich
15
Innerhalb ver.di stellt der Bezirk die unterste territoriale Ebene der Gewerkschaft dar. Die regionale Gliederung heißt bei ver.di Landesbezirk.
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Verantwortlichen in Bezirk A ergaben, dass Fachbereich und Bezirk sich gezielt auf eine Ausweitung der Mitgliederbasis im Arbeitskampf einstellen und auch organisatorisch sicherstellen, dass während der Arbeitskämpfe möglichst viele Unorganisierte persönlich auf eine Ver.di-Mitgliedschaft angesprochen werden. Eine Detailbetrachtung der Eintrittsentwicklung rund um den 2006er Streik zeigt, dass bereits im Zusammenhang mit dem ersten großen Warnstreik im Dezember 2005 die Neueintritte um das Zehnfache gegenüber dem Durchschnitt der vorangegangenen Monate anstiegen. In ersten Streikwochen im Februar 2006 nahm die Zahl der Beitritte nochmals erheblich zu. Der Mitgliedereinbruch im Jahr 2007 legt zunächst die Vermutung nahe, dass vielleicht mit dem Ergebnis Unzufriedene oder Beschäftigte, die allein wegen des Streikgeldes eingetreten sind, nach 12 Monaten wieder die Organisation verließen. Ein genauer Blick auf die Ein- und Austrittsbewegung bestätigt dies jedoch nur teilweise. Die Austritte erhöhten sich zwar im zweiten Quartal 2007 spürbar, für die Jahresbilanz ist aber vor allem das starke Absacken der Eintrittsquote ausschlaggebend (siehe Abb. 9). Vergleichbare Beobachtungen in der Gebäudereinigung lassen die Hypothese Abb. 9:
Ver.di Bezirk A (Großstadt) – Fachbereich 7 (Gemeinden): Ein- und Austrittsquoten 2004-2009 (in %)*
18,0 15,9
16,0
14,4 14,0 12,0
11,4 9,5
10,0 8,0 6,0
7,1
7,0
6,5
6,8
7,3
7,0
6,3
6,8
5,0
4,0 2,7 2,0 0,0 2003
2004
2005 Eintrittsquote
2006
2007
2008
2009
Austrittsquote
*Ein- und Austrittsquoten berechnet aus der Zahl der Ein- bzw. Austritte im Vergleich zum Mitgliederbestand am 31.12. des Vorjahres Quelle: Ver.di; eigene Berechnung
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Heiner Dribbusch
plausibel erscheinen, dass die Organisation nur begrenzt das im Arbeitskampf aufgebaute Mobilisierungsniveau aufrechterhalten kann, nicht zuletzt deshalb, weil die persönliche Belastung von Aktiven und Hauptamtlichen Grenzen setzt und auch seitens der Beschäftigten nach einem Arbeitskampf zunächst einmal wieder Alltag einkehrt. Die Mitgliederentwicklung im Bezirk A ist kein Einzelfall, andere Bezirke haben im Gemeindebereich ebenfalls im Zusammenhang mit den angesprochenen Streikaktionen deutliche Erfolge zu verzeichnen. Auch in anderen Landesbezirken zeigen sich dabei zwischen den Bezirken große Unterschiede. Die bundesweite Mitgliederentwicklung innerhalb des Fachbereichs zeigt zugleich, dass diese Zugewinne nicht überall realisiert werden konnten. Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Zum einen sind die großen Arbeitskämpfe der letzten Jahre nicht auf alle Landesbezirke ausgedehnt worden. Dort wo sie stattfanden, wurden sie von den örtlichen Gliederungen mit unterschiedlicher Intensität geführt. Schließlich wurden sie nicht an allen Orten in gleicher Systematik und mit gleichem Erfolg für die Organisierung genutzt. Hierbei spielen vermutlich zum Teil unterschiedliche Rahmenbedingungen zwischen großstädtischen und eher ländlich geprägten Bezirken eine Rolle. Allerdings zeigt ein Blick nach Nordrhein-Westfalen, dass sich die Mobilisierungen der Tarifrunde im Öffentlichen Dienst 2008 sowie des 2009er Kita-Streiks keineswegs in allen großstädtischen Bezirken gleichermaßen positiv in der Beitrittsentwicklung niederschlugen. Dies bestätigt die bereits in früheren Studien zur Mitgliederentwicklung (vgl. Dribbusch 2003) gewonnene Erkenntnis, dass sich Organisierungserfolge auch unter äußerlich günstigen Rahmenbedingungen nicht von alleine einstellen, sondern einer entsprechenden Schwerpunktsetzung der gewerkschaftlichen Arbeit bedürfen und stark durch subjektives Engagement beeinflusst werden. In einzelnen Bezirken gelingt es bestimmten gewerkschaftlichen Akteuren offensichtlich besser als anderswo, die vorhandene Unzufriedenheit der Beschäftigten zu thematisieren, zuzuspitzen und in eine organisierende Mobilisierung münden zu lassen. Weitere Untersuchungen und eine Erweiterung der Fallstudien auf andere Fachbereiche und Regionen wären hier sicher interessant. Schließlich bliebe qualitativ zu klären, welche Bedeutung für den Organisierungserfolg der gewerkschaftlichen Führung zukommt (vgl. für Großbritannien Darlington 2009). Streikbeteiligung und Mitgliederbindung Eine kleine Untersuchung, die bei Ver.di zur Mitgliederbindung durchgeführt wurde, deutet darauf hin, dass diejenigen Mitglieder, die an Arbeitskämpfen beteiligt waren, sich stärker an die Organisation gebunden fühlen als andere (siehe Tabelle 1).
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Tab. 1: Von denjenigen, die 2004 Mitglied in Ver.di waren, sind ausgetreten … Jahr 2005 2006 2007 2008 (1. Halbjahr)
insgesamt 8,5 % 7,3 % 5,9 % 2,3 %
Streikgeldempfänger/innen 2,4 % 4,0 % 4,3 % 1,9 %
Quelle: Ver.di; eigene Berechnung
Im Ergebnis zeigt sich, dass die Austrittshäufigkeit des „Streikjahrganges“ 2004 deutlich unterhalb der durchschnittlichen Austrittshäufigkeit des gleichen Mitgliederjahrganges liegt. Interessanterweise gilt dies auch noch Jahre nach der Streikgeldzahlung und weit über die 12-Monatsfrist hinaus, die gewahrt werden muss, um Rückzahlungsverpflichtungen auszuweichen. Als Grund für diese geringeren Austrittshäufigkeiten könnte eine stärkere emotionale Bindung an die Gewerkschaft auf Grund des Streikerlebnisses vermutet werden. Wie oben gezeigt, ist der Streik für viele Beschäftigte ein in ihrem Berufsleben seltenes und allein schon von daher sehr besonderes Erlebnis. Gerade für Beschäftigte im stark fragmentierten Dienstleistungsbereich ist er darüber hinaus eine Möglichkeit, auf Kundgebungen und Streikversammlungen kollektive Stärke auch sinnlich zu erfahren. Weitere detaillierte Untersuchungen werden zeigen müssen, ob sich diese Zusammenhänge bestätigen. Neue Ansätze kampagnen- und beteiligungsorientierter Gewerkschaftsarbeit werden mit aktivierenden Formen des Arbeitskampfes verbunden, wie sie unter anderem im Streik der Kommunalbeschäftigten in Baden-Württemberg 2006, während des Kita-Streiks 2009 oder auch in der Einzelhandelstarifrunde 2007/2008 erprobt wurden (vgl. Stamm und Busch 2006; Riexinger und Hägele 2009; Renneberg 2008). Zentral ist die Streikversammlung, die in den Dienstleistungsbranchen eine Voraussetzung ist, um die vielfach beruflich bedingte Isolation der Beschäftigten partiell zu überwinden und gemeinsame Diskussionsprozesse zu ermöglichen. Als weiteres Beteiligungselement hat Ver.di seit 2008 das Instrument der Mitgliederbefragung sowie im Kita-Streik erstmals auch eine bundesweite Streikdelegiertenversammlung eingeführt. Solche Beteiligungsstrategien bergen durchaus innerorganisatorisches Konfliktpotenzial (vgl. Dribbusch 2009; Birke 2010: 179-180). Gerade von aktiven Mitgliedern werden erfahrungsgemäß Tarifkompromisse sehr kritisch diskutiert. Dennoch läge die Vermutung nahe, dass eine aktive Einbindung in den Streik nicht nur die Mitgliederbindung stärkt, sondern auch die weitere Organisierung fördert. Hier bieten sich ebenfalls weitere, auch längerfristig angelegte Fallstudien an.
258
Heiner Dribbusch
Ausblick „Organisieren am Konflikt“ ist ein Kernelement gewerkschaftlicher Verankerungsarbeit. Dabei kommt Arbeitskämpfen eine besondere Rolle zu, da sich in ihnen idealtypisch Konfliktwahrnehmung und Konfliktzuordnung verdichtet, über sie Konflikte kollektiv bearbeitet werden und gewerkschaftliche Durchsetzungsfähigkeit bewiesen werden kann. Ihr überlegter Einsatz bietet sich deshalb als wichtiges Element konfliktorientierter Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung an. Jedoch gibt es keinen Automatismus. Organisierungserfolge im Umfeld von Arbeitskämpfen erfordern einerseits adäquate Prioritätensetzungen in der gewerkschaftlichen Arbeit, werden andererseits aber auch durch die Wahrnehmung von Verlauf und Ergebnis der Auseinandersetzung durch Beschäftigte und Mitglieder geprägt. Diese Wahrnehmung wird nicht allein von den Gewerkschaften bestimmt, sondern ist in den Konflikt selbst und in die jeweils aktuellen gesellschaftlichen Diskurse eingebunden. Das Beschäftigungsverhältnis ist durch eine Mischung aus Konflikt und Kooperation gekennzeichnet (vgl. Kelly 1998: 8). Beschäftigte haben in der Regel kein Interesse, im permanenten Krieg mit dem Management zu stehen (vgl. Crosby 2005: 226). Sie haben meist ein recht pragmatisches Verhältnis zur Arbeitsniederlegung wie im Übrigen auch zur Gewerkschaft. Sie befürworten Streiks als von Zeit zu Zeit notwendigen Ausdruck von Gegenmacht, beurteilen diese aber vor allem nach ihrem Erfolg beziehungsweise ihren Erfolgschancen. Erfolgreiche Streiks sind zugleich an Voraussetzungen und Gelegenheiten gebunden, die nicht überall und immer gegeben sind. Konflikthäufigkeit und Konfliktintensität werden auch von den Unternehmen und deren Handlungsmöglichkeiten bestimmt. Massenarbeitslosigkeit, veränderte internationale Konkurrenzbedingungen sowie der Abbau von sozialpolitischen Schutzbarrieren haben das Kräfteverhältnis zwischen Lohnabhängigen und Kapitalbesitzern strukturell zu Gunsten Letzterer verschoben. Es ist kein Zufall, dass die offensivsten Arbeitskämpfe, in Bereichen und zu Zeiten zu finden sind, in denen die Beschäftigten über relativ große strukturelle Macht verfügen. Andere Auseinandersetzungen werden den Beschäftigten aufgezwungen und sind Abwehrkämpfe, bei denen zuweilen der Arbeitskampf im wörtlichen Sinne ein Kampf um die Arbeit ist, der von der Furcht vor dem mit dem Verlust der Lohnarbeit verbundenen sozialen Absturz geprägt ist und in dem manchmal nur die Bedingungen des Rückzugs verhandelt werden können. Und schließlich: Streiks sind für Beschäftigte und Gewerkschaften mit finanziellen Kosten verbunden. All dies steckt Grenzen des gewerkschaftlichen Voluntarismus ab. Zugleich bleibt die Konflikthaftigkeit des Arbeitsverhältnisses die Raison d’être der Gewerkschaften, deren Zukunft in
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erheblichem Maße davon abhängt, inwieweit sie von den Beschäftigten als organisierte, kollektive Antwort auf diese Konflikte begriffen und genutzt werden. Gewerkschaftliche Organisierung findet im Kontext struktureller und institutioneller Rahmenbedingungen statt. Während auf die Konfliktwahrnehmung der Beschäftigten durch gewerkschaftliche Aufklärung auch von außen durch gewerkschaftliche Aufklärung Einfluss genommen werden kann, ist die Durchsetzungsfähigkeit und die damit verbundene Außenwahrnehmung der Gewerkschaft an betriebliche Verankerung geknüpft. Beim Versuch diese aufzubauen, stoßen die Gewerkschaften in vielen Branchen auf erhebliche strukturelle Hürden, die durch die zunehmende Fragmentierung der Beschäftigung in räumlicher, zeitlicher und arbeitsrechtlicher Hinsicht gesetzt werden. Filialisierung der Arbeitsorte und Prekarisierung der Beschäftigten erfordern beim Aufbau gewerkschaftliche Präsenz, einen Ressourcenaufwand, der in vielen Bereichen die praktischen Möglichkeiten der Gewerkschaften überschreitet. Die Herausbildung von Kern- und Randbelegschaften bedeutet zugleich aber auch eine inhaltliche Herausforderung für eine Gewerkschaftspolitik, die mehr als nur abstrakte Zuständigkeit ausdrücken und sich in einem Spannungsfeld nicht immer gleichlaufender Interessen einzelner Beschäftigtengruppen und deren unterschiedlicher Nähe zur Organisation bewähren muss. Die 2010 gelungene tarifliche Besserstellung der Leiharbeit in der Stahlindustrie ist hier positiv hervorzuheben. An der Entwicklung des Baubereiches lässt sich beobachten, wie schwer es für eine Gewerkschaft ist, gegen strukturelle Veränderungen in ihren Branchen anzuorganisieren. Das Beispiel der Gebäudereinigung zeigt sowohl, dass selbst unter ungünstigen Bedingungen etwas möglich ist, als auch, wie beschwerlich und weit der Weg zu flächendeckender Verankerung ist. Offensiver Konfliktaustrag bis hin zur Arbeitsniederlegung kann in solchen, mitunter sehr schwierigen Organisierungsprozessen hilfreich sein, er wird allein aber nicht ausreichen, die strukturellen Grenzen, die in diesen Bereichen der Organisierung gesetzt sind, zu überwinden. Die Gewerkschaften stehen vor der politischen Aufgabe, einen gesellschaftlichen Diskurs anzustoßen, in dessen Mittelpunkt ein Verständnis von gewerkschaftlicher Organisierung als Grundrecht steht, das unter sich rasch verändernden Bedingungen abhängiger Beschäftigung so institutionell abgesichert werden muss, dass seine Inanspruchnahme auch effektiv möglich ist. Die hier vorgestellten Analysen zum Zusammenhang von Streik und Organisierung sind als „Work in Progress“ zu verstehen. Im Zuge weiterer Forschungen zu den seit einigen Jahren verstärkten, vielfach dezidiert konfliktorientierten Organisierungsbemühungen verschiedener DGB-Gewerkschaften werden sich weitere Details klären und einige hier diskutierten Zusammenhänge erhärten oder korrigieren lassen. In einigen Gewerkschaften wird zudem derzeit die Dokumentation des Arbeitskampfgeschehens deutlich intensiver und genauer be-
260
Heiner Dribbusch
trieben, als in der Vergangenheit. Dies nährt die Hoffnung, in einigen Jahren auch über neue quantitative Daten jenseits der durch qualitative Methoden erschlossenen Empirie verfügen zu können. Eine Studie west- und ostdeutscher Besonderheiten könnte vertiefende Einsichten liefern. Zu untersuchen bleibt auch, wo und wie in den Gewerkschaften gesellschaftspolitische Kampagnen und Mobilisierungen zu Themen wie beispielsweise Auswirkungen der Krise, Gutes Leben oder Rente mit 67 mit konflikt- und arbeitskampforientierten Organisierungsstrategien verbunden werden und deren Erfolg beeinflussen.
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Teil III Funktionswandel der Gewerkschaften
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Funktionswandel der Gewerkschaften
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„Die IG Metall hat Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg vor einer massiven Kürzung des Rüstungsetats gewarnt. Mit den jetzt geplanten Einsparungen würden 30.000 Arbeitsplätze in Deutschland vernichtet und die „militärische Luftfahrtindustrie kaputt gemacht“, sagten EADS-Gesamtbetriebsratschef Thomas Pretzl und IG-Metall-Konzernbetreuer Bernhard Stiedl. Sie kündigten den Widerstand der Gewerkschaft an (…)“ Meldung der Tagesschau vom 14.09.2010
Klaus Dörre
Funktionswandel der Gewerkschaften. Von der intermediären zur fraktalen Organisation Funktionswandel der Gewerkschaften
Ein deutscher Sonderfall? Der konjunkturelle Tiefpunkt ist kaum überschritten und noch sind die sozialen Folgen des globalen Desasters an den Finanzmärkten auch nicht annähernd absehbar, da steht ein Verlierer bereits fest. Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegungen gehen zumindest in den kapitalistischen Zentren geschwächt aus der Krise hervor. Das jedenfalls ist der Tenor einer internationalen Debatte unter namhaften Industrielle-Beziehungen-Forschern. Weder die durch die globale Wirtschaftskrise beförderten Handlungsbedingungen noch die gewerkschaftlichen Reaktionen auf die ökonomische Beinahe-Kernschmelze geben demnach Anlass, auf eine Revitalisierung organisierter Arbeitsinteressen zu hoffen. Die Frage, ob es im Gefolge des globalen Desasters zu einer Stärkung der Gewerkschaften kommen könne, wird mit: „Nicht jetzt, nicht in dieser Krise!“ (Crouch 2010; auch Baccaro 2010; Hyman und Gumbrell-McCormick 2010; Regini 2010; Milkman 2010) beantwortet. Nun ist dies kein überraschender Befund. Dass Gewerkschaften gerade in zugespitzten Krisensituationen eher danach trachten, Positionen mittels Verhandlungen und Mitsprache abzusichern, statt den offenen Konflikt mit den Eliten zu
T. Haipeter, K. Dörre (Hrsg.), Gewerkschaftliche Modernisierung, DOI 10.1007/978-3-531-93332-0_11, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Klaus Dörre
suchen, wusste schon Rosa Luxemburg (1975: 117)1. Krisen mit hoher Arbeitslosigkeit lassen die wichtigsten gewerkschaftlichen Machtressourcen, die Kontrolle über Arbeitsmärkte und Produktionsprozesse, erodieren. In solchen Situationen neigen die gewerkschaftlichen Führungsgruppen dazu, vom Staat und den Kapitalverbänden Zugeständnisse einzutauschen, indem sie sich als kooperative Krisenmanager bewähren. Gerade in Deutschland besitzen solche Gewerkschaftsstrategien eine lange Tradition, und im Angesicht der Krise von 2008/ 2009 wurden sie offenkundig erfolgreich wiederbelebt. Die gewerkschaftlichen Führungsgruppen haben nahe am Optimum dessen gehandelt, was das soziologische Konzept der intermediären Organisation nahe legt. Sie haben sich als Krisenmanager bewährt und im politischen Tausch Zugeständnisse (großzügige Kurzarbeitsregelung, Abwrackprämie) und Ergebnisse (Sicherung von Stammbelegschaften) erreicht, die in anderen Ländern selbst mit militanten Protesten nicht durchzusetzen waren. Die krisenbedingte Schwächung organisierter Arbeitsinteressen ist, ebenso wie die relative Stärke der deutschen Gewerkschaften, für die Industrielle-Beziehungen-Forschung folgenreich. Denn beide Phänomene stehen auf den ersten Blick in deutlichem Kontrast zu einer Debatte, wie sie im Kontext der so genannten „Labour Revitalization Studies“ geführt wird. Ungeachtet aller Differenzen im Detail geht von der sozialwissenschaftlichen Revitalisierungs-Diskussion die Botschaft aus, die deutschen Gewerkschaften könnten von den Organizing-Ansätzen nordamerikanischer Lohnabhängigenorganisationen ebenso lernen wie vom Social Movement Unionism, wie er in einigen Ländern des globalen Südens praktiziert wird (Brinkmann et al. 2008). Nun scheint diese Debatte bereits ad absurdum geführt, bevor sie hierzulande überhaupt richtig begonnen hat. Denn aus der Krise geht der gute alte Korporatismus scheinbar als Triumphator hervor. Diese Entwicklung dürfte sich auch in der Wissenschaftslandschaft bemerkbar machen. Das Konzept einer Gewerkschaft, die als intermediäre Organisation erfolgreich zwischen System- und Mitgliederinteressen vermittelt und sich dabei als Anwalt „der“ Arbeitnehmerinteressen profiliert (MüllerJentsch 2008), hat, so könnte man meinen, in der Krise seine ungebrochene Aktualität und Tragfähigkeit bewiesen. Es wirkt geradezu wie eine symbolische
1
Den deutschen Gewerkschaftsführern, die den „chaotischen“, „desorganisierten“ Charakter der russischen Massenstreikdebatte monierten, hielt sie spöttisch entgegen: „Madame Geschichte dreht den bürokratischen Schablonenmenschen, die an den Toren des deutschen Gewerkschaftsglücks grimmige Wacht halten, von weitem lachend eine Nase… Und während die Hüter der deutschen Gewerkschaften am meisten befürchteten, dass die Organisation in einem revolutionären Wirbel wie kostbares Porzellan krachend in Stücke gehen könnte, zeigt uns die russische Revolution das direkt umgekehrte Bild: Aus dem Wirbel und Sturm (…) der Massenstreiks, der Straßenkämpfe steigen empor wie Venus aus dem Meerschaum: frische, junge, kräftige und lebensfrohe Gewerkschaften.“
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Bestätigung dieses Konzepts, wenn die konservative Kanzlerin auch persönlich wieder einen direkten Draht zu Spitzengewerkschaftern pflegt. Gibt es also doch begründete Hoffnungen auf den „guten Kapitalismus“ (Dullien et al. 2009), auf Eigentümer und Manager, die gelernt haben, dass es vernünftiger ist, die Gewerkschaften im Boot zu haben und deren Mitglieder zumindest am Produktivitätsfortschritt zu beteiligen, statt weiter auf kurzfristigen Profit, Maximalrenditen, Niedriglöhne und Prekarisierung der Arbeit zu setzen? Und macht es wieder Sinn, ein analytisches Raster zu nutzen, das den Gewerkschaften zumindest implizit die Rolle von systemnotwendigen Vermittlern in gesellschaftlichen Entscheidungszentren einräumt – eine Funktion, welche die Gewerkschaften allenfalls während der Blütezeit des sozialbürokratischen Kapitalismus ausübten? Nachfolgend wird eine andere Deutung präsentiert. Derzeit erleben wir, so die hier vertretene These, einen erneuten Funktionswandel der Gewerkschaften, der eng mit strukturellen Veränderungen organisierter KapitalArbeits-Beziehungen und des zugrunde liegenden sozialen (Klassen-)Konflikts zusammenhängt. Vordergründig mag das Gewerkschaftshandeln während der Krise wie eine Wiederbelebung korporativer Konfliktbewältigungsmuster aus der Ära des fordistischen Kapitalismus wirken. Doch in einer Gesellschaft mit gespaltenen Arbeitsmärkten und expandierender Prekarität setzt sich in der korporativen Form etwas völlig anderes durch als in der Ära des prosperierenden Nachkriegskapitalismus. Das analytische Konzept einer Gewerkschaft als intermediärer Organisation vermag diesen Wandel nicht mehr angemessen zu erklären.
Gewerkschaften als intermediäre Organisationen Wie lässt sich diese Sichtweise begründen? Um die Argumente gewichten zu können, ist es zunächst sinnvoll, das Intermediaritäts-Konzept noch einmal knapp zu skizzieren und es dann mit dem Jenaer Machtressourcen-Ansatz zu kontrastieren. Würde es nur darum gehen, Intermediarität als „irgendwie“ geartete Vermittlung zwischen Mitglieder- und Systeminteressen zu deuten, müsste man sich mit der Kategorie nicht intensiver beschäftigen. Denn solche Vermittlungsfunktionen übernehmen in entwickelten und pluralen Kapitalismen nahezu alle zivilgesellschaftlichen Organisationen. Mit Blick auf die Gewerkschaften meint Intermediarität im sozialwissenschaftlichen Sprachgebrauch aber durchaus etwas Besonderes. Das Konzept beansprucht, einen als irreversibel aufgefassten Funktionswandel der Lohnabhängigenorganisationen auf den Begriff zu bringen, wie er sich nach 1945 in unterschiedlichen institutionellen Ausprägungen in den entwickelten Kapitalismen des globalen Nordens vollzogen hat. Während dieser
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historischen Phase erfolgte die Restrukturierung organisierter Arbeitsbeziehungen auf der Grundlage national variierender wohlfahrtsstaatlicher Klassenkompromisse. Im Gegenzug für einen faktischen Verzicht auf systemtranszendierende Ziele wurden die Gewerkschaften und überwiegend auch die politischen Mehrheitsströmungen der Arbeiterbewegungen in den nationalen Staat „inkorporiert“. Begünstigt durch die Systemkonkurrenz und das Interesse der Hegemonialmacht USA, Sozialkosten auf konkurrierende europäische Volkswirtschaften auszudehnen, entstand ein sozial-bürokratischer Kapitalismus, der die „Anarchie der Märkte“ mit den quasi-militärischen Organisationsprinzipien ausdifferenzierter Bürokratien kombinierte (Sennett 2007: 21). Unternehmensbürokratien und Wohlfahrtsstaaten wirkten während der außergewöhnlich langen Nachkriegsprosperität durchaus als Garanten sozialer Stabilität und Sicherheit. Dabei unterlagen sie dem Einfluss einer politischen Ökonomie der Arbeit. Dauerhafte Systemintegration war zumindest in den kontinentaleuropäischen Kapitalismen nur mittels partieller Anerkennung von kollektiven Arbeitsinteressen und Arbeitermacht zu leisten. Diese Inkorporation organisierter Arbeitsinteressen kann keineswegs als bloße „Integration der Klassenautonomie in die alleinige Logik des Kapitals“ gedeutet werden. Sie ist ebenso Ausdruck einer „Ausdehnung der Arbeiterklasse, ihrer Macht und ihres gewachsenen Einflusses“ (Buci-Glucksmann und Therborn 1982: 121). Wie nie zuvor in der Geschichte wurde Lohnarbeit vor allem in den kontinentaleuropäischen Kapitalismen mit einem Sozialeigentum zur Existenz- und Statussicherung verkoppelt, das sich in garantierten Rentenansprüchen, Kündigungs- und Arbeitsschutz, Mitbestimmungsrechten sowie verbindlichen tariflichen Normen manifestierte. Erst diese Koppelung ermöglichte einen auf Erwerbsarbeit gegründeten Bürgerstatus, der Angehörigen zuvor besitzloser Klassen trotz fortbestehender Ungleichheiten und patriarchaler Diskriminierung zu einem respektierten Status in der Gesellschaft verhalf. Arbeiterparteien und Gewerkschaften betätigten sich als treibende Kräfte dieser Entwicklung. Je erfolgreicher sie in ihrem Bestreben waren, abhängig Beschäftigte am Produktivitätsfortschritt zu beteiligen und sie mit kollektiven Partizipations- und Schutzrechten auszustatten, desto stärker veränderten sie sich selbst. In den wohlfahrtsstaatlich regulierten Kapitalismen verschob sich das Zentrum ihres strategischen Handelns von struktureller und organisierter hin zu institutioneller Macht.2 Für Deutschland bedeutete dies, dass die Gewerkschaften und die mit ihnen verbündeten Betriebsräte die intermediäre Logik des dualen Systems der Interessenrepräsentation, die spezifische Kombination von Tarifau-
2
Zum Machtbegriff siehe das Kapitel zum Jenaer Machtressourcen-Ansatz.
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tonomie und betrieblicher Mitbestimmung, möglichst effizient zu nutzen suchten. Auf diese Weise gelang es, institutionelle Gewerkschaftsmacht immer stärker auszubauen. In den angelsächsischen Kapitalismen und insbesondere in den USA wurde ein vergleichbares Niveau von Sozialbürgerstatus und institutioneller Lohnarbeitermacht nie erreicht. Dennoch gelang es auch in diesem System, Lohnabhängigen zumindest auf Firmenebene und trotz kurzfristiger Gewinnorientierung des Managements ein begrenztes Maß an sozialer Sicherheit und individueller Planungsfähigkeit zu garantieren. Die – bis heute dominanten – industriesoziologischen Konzeptualisierungen organisierter Arbeitsinteressen müssen aus diesem historischen Kontext heraus erklärt werden. Nach 1945 hielten sowohl staatsrechtliche als auch konkurrierende liberal-pluralistische Ansätze die „Pazifizierung“ des Klassenkonflikts für unumkehrbar (Esser 2003). Umso größer war die Überraschung, als sich viele westeuropäische Staaten in den späten 1960er Jahren mit einer Rückkehr der Arbeitermilitanz konfrontiert sahen. Selbst in Westdeutschland verlor die Führung der IG Metall während der spontanen Septemberstreiks kurzzeitig die Kontrolle über ihre Mitgliederbasis. Für die sich im Anschluss daran etablierende kritische Arbeiterbewusstseins- und Gewerkschaftsforschung erschien das Paradigma einer „befestigten“ (Briefs 1927), anerkannten Gewerkschaft, das sich nach 1945 durchgesetzt hatte, nun in einem anderen Licht. Erklärungsbedürftig war, weshalb die etablierten Gewerkschaftsorganisationen, etwa im französischen Mai, gegenüber einer radikalisierten Basis Konflikt dämpfend wirkten. Die empirischen und theoretischen Forschungen, die von dieser Fragestellung ihren Ausgangspunkt nahmen, können im Rückblick als eine der fruchtbarsten Phasen industriesoziologischer Konzeptentwicklung bezeichnet werden. Im Ergebnis setzten sich – in der Konkurrenz unterschiedlicher Ansätze – mit der Gewerkschaft als intermediärer Organisation und dem dualen System der Interessenrepräsentation Basiskategorien durch, die seither zum festen Wissensbestand der Arbeits- und Industriesoziologie zählen. Das Konzept der intermediären Organisation besagt, dass die Gewerkschaften in den entwickelten Kapitalismen ihren klassenbasierten Doppelcharakter zugunsten einer eher pragmatischen Mittlerrolle zwischen Kapital- bzw. Systeminteressen auf der einen sowie Arbeiter- bzw. Mitgliederinteressen auf der anderen Seite aufgeben. Walther Müller-Jentsch hat die Essenz umfangreicher empirischer wie theoretischer Forschungen in einem stilbildenden Aufsatz zusammengefasst (Müller-Jentsch 2008). Danach wird der Übergang zur intermediären Gewerkschaft fünf Entwicklungen geprägt. Dies sind (1) der Wandel der gewerkschaftlichen Organisationsformen: Bürokratisierung der Verwaltung und Professionalisierung der Funktionäre bewirken eine Lockerung des innerorganisatorischen Zusammenhalts; Verbandsziele und Mitgliederbedürfnisse fallen,
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anders als bei Berufsgewerkschaften, immer stärker auseinander; (2) der Wandel gewerkschaftlicher Interessenpolitik: Die Notwendigkeit einer Interessenverallgemeinerung in bürokratischen Großorganisationen bedingt zugleich, dass qualitative zugunsten quantitativer Interessen (Lohn, Arbeitszeiten) in den Hintergrund gedrängt werden. Der genossenschaftliche Aufgabenkreis schrumpft, während Interessenvertretung nach außen mehr und mehr zur zentralen Legitimationsgrundlage der Organisation wird. In der Dualität von Organisations- und Mitgliederinteressen sind latente Basis-Führungs-Konflikte angelegt, in denen sich der Apparat auch gegen die Mitglieder durchsetzen kann; (3) eine Differenzierung zwischen betrieblicher und sektoraler Interessenpolitik: Zwar zeichnet sich in Westeuropa nach 1945 kein einheitliches Muster ab; insgesamt lässt sich jedoch von einer Intention des Managements sprechen, die Gewerkschaften aus den Betrieben herauszuhalten. Duale Vertretungsformen werden vom Management bevorzugt, gewerkschaftliche Präsenz kann nur durch staatlich-politische Intervention erzwungen werden. Doch gleich welche Form der Interessenrepräsentation sich durchsetzt, das Management muss sich arrangieren und kooperieren. Gleiches gilt umgekehrt für die betrieblichen Interessenvertretungen, die eine relativ eigenständige Machtposition besitzen und zugleich zu einem Äquivalent für den „inneren Zweckkreis“ der klassischen Gewerkschaft werden. Entlastungen durch die betriebliche Ebene erweitern (4) die Möglichkeiten zur Institutionalisierung der Konfliktbeziehungen zwischen Kapital und Arbeit in der tarifpolitischen Arena: Wirtschaftliche lassen sich von politischen Kämpfen isolieren, was eine Kanalisierung von Klassenauseinandersetzungen begünstigt. Nachholend wird diese Entwicklung auch seitens der Rechtsprechung abgesichert. Nach Anerkennung des Koalitions- und Streikrechts in früheren Phasen sind gruppenautonome Regelungen die dritte Etappe auf dem Weg zur Institutionalisierung der Tarifautonomie. Infolge der quasi-autonomen Konfliktregulierung auf Betriebs- und Tarifebene erscheint der Staat als neutrale Instanz; Gewöhnung in kollektiven Aushandlungen lässt ein Konsensklima zwischen den Tarifparteien entstehen. All das ermöglicht die staatliche Anerkennung der Gewerkschaften als repräsentative Institutionen. Die Gewerkschaften bekommen öffentliche Aufgaben und damit eine ordnungspolitische Funktion zugewiesen. Nach innen verringert dieser Organisationswandel den Solidarisierungsbedarf zugunsten tauschbarer Ordnungsleistungen, ohne indessen den sozialen Frieden verbindlich garantieren zu können. Schließlich fördert der zunehmende Staatsinterventionismus (5) eine wirtschaftspolitische Funktionalisierung der Gewerkschaften: Die Organisation wird in einem Wechselspiel von Machtbeschränkung und Selbstdisziplinierung in staatliche Politik eingebunden und damit zu einer Ordnungsmacht.
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Entsprechen diese Bestimmungen im Wesentlichen den Kriterien für eine „legal befestigte“ Gewerkschaft, geht das Intermediaritäts-Konzept in einigen Punkten doch über die Briefsche Definition hinaus. Erstens wird gezeigt, dass der Verzicht gewerkschaftlicher Führungsgruppen auf Markt- und Machtchancen voraussetzungsvoll ist. Basis des Verzichts sind keynesianische Wirtschaftspolitik und ein Korporatismus, der „die Führungseliten von Gewerkschaften und Unternehmerverbänden zu einem Steuerungsverbund zusammenzufassen versucht, um wirtschaftlich relevante Entscheidungen aufeinander abzustimmen“ (Müller-Jentsch 2008: 61f.). Zweitens bedeutet Intermediarität keineswegs zwangsläufig Verzicht auf Konfliktfähigkeit. Es bestehen durchaus Alternativen zur Kooperation. Unterschiedliche Gewichtungen kooperativer und konfliktorischer Interessenpolitiken stellen jedoch lediglich Varianten der intermediären Gewerkschaft dar. Kooperation zwischen den Repräsentanten von Kapital und Arbeit ist möglich, weil neben den antagonistischen auch kompatible Fraktionsund Brancheninteressen existieren. Über die Gewichtung, die Definitionen und Bearbeitungsformen dieser Interessen bilden sich unterschiedliche Gewerkschaftsmodelle heraus. Idealtypisch markieren revolutionäre und Staatsgewerkschaft die Pole, zwischen denen die intermediäre Gewerkschaft agiert. Letztere tritt in den Varianten der kooperativen und der konfliktorischen Gewerkschaft sowie in Gestalt des Social-Contract-Bargaining auf.3 Drittens agiert die intermediäre Gewerkschaft in zwei Umwelten. Als sozialer Akteur zielt sie auf die Durchsetzung kollektiver Mitgliederinteressen, als Organisation übernimmt sie Integrationsfunktionen für die institutionelle, systemische Umwelt. Für Sozialwie Systemintegration gleichermaßen bedeutsam, ist auch die intermediäre Gewerkschaft auf die Nutzung spezifischer Machtressourcen angewiesen. In diesem Zusammenhang gilt: Gewerkschaftliche Macht ist Organisationsmacht, Mitgliederzahlen und Mobilisierungspotenzial sind entscheidende Machtressourcen. Allerdings muss zwischen potenzieller und manifester Ausübung von Organisationsmacht unterschieden werden. Manifeste Machtausübung in Gestalt von Streiks gilt eher als Ausnahme, sie erfolgt, wo inkompatible Interessengegensätze auftreten. Primär beruht gewerkschaftliche Interessendurchsetzung nach dem Konzept der intermediären Organisation jedoch „auf potenzieller Organisationsmacht; sie reicht aus, um in Tarifverhandlungen und im ‚politischen Tausch‘ Interessenkompromisse zu erzielen“. Dabei übt die Organisation Macht in unterschiedliche Richtungen aus: „Die Bargaining-Funktion der Gewerkschaf-
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Die kooperative Gewerkschaft basiert auf Wohlverhalten in Erwartung von Gegenleistungen; die konfliktorische Gewerkschaft setzt ihr Störpotenzial ein, um Zugeständnisse zu erzwingen, das Social-Contract-Bargaining erkennt Systemzwänge an und erwartet von einer Zurückhaltung von Organisationsmacht im Gegenzug an Arbeitsinteressen ausgerichtete Reformen.
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ten hat zur Voraussetzung, dass die Organisation streikfähig ist, das heißt, Macht durch Mitglieder ausgeübt werden kann. Die Repräsentationsfunktion der Gewerkschaft basiert darauf, dass sie ihre Mitglieder auf ausgehandelte Vereinbarungen verpflichten kann, das heißt, Macht über ihre Mitglieder auszuüben vermag“ (Müller-Jentsch 2008: 69). Rückblickend beschreibt das Konzept der „intermediären Gewerkschaft“ eindrucksvoll und in einer in der Nachfolgeforschung nur selten erreichten Klarheit die Transformation der Organisationsmacht von Lohnabhängigen in institutionelle Macht, ohne allerdings den letztgenannten Terminus überhaupt zu benutzen. Institutionelle erscheint als latente, nicht ausgeübte Organisationsmacht, ihr wird jedoch analytisch keine eigenständige Qualität und Funktion zugeschrieben. Infolgedessen gerät der Integrationsbegriff im Grunde eindimensional; die Widersprüchlichkeit jeglicher Integration von Lohnabhängigenmacht geht tendenziell verloren und wird durch das Spannungsverhältnis von Sozialund Systemintegration ersetzt. Primär aus der Organisationsperspektive definiert, bleiben Mitgliederinteressen und deren Konstitutionsprozess analytisch unterbelichtet. Die Organisations- dominiert die Mitgliederperspektive. Als Ordnungsmacht ist die intermediäre Gewerkschaft immer schon Bestandteil des Systems. Die Gewerkschaft wird auf diese Weise extrem funktionalistisch konzipiert, während der Eigensinn ihrer Mitglieder kaum Beachtung findet. Zwar erfordert die Interessenregulation auch nach diesem Konzept schwierige Balanceakte, die nur zu bewältigen sind, indem die Organisation spezifische Integrations- (normative Einbindung der Aktiven, Verbandsideologie, politische Traditionen) und Selektionsmechanismen (sozialstrukturelle Interessenfilterung, Trennung von Entscheidung und Beteiligung) ausbildet. Entscheidend ist jedoch, dass die intermediäre Gewerkschaft zum integralen Bestandteil der Regulation von Arbeitsbeziehungen erklärt wird. Arbeitsinteressen werden in den entwickelten Kapitalismen nicht mehr ausschließlich von den Gewerkschaften, sondern zusätzlich von den Arbeitsverwaltungen/Sozialversicherungen und den betrieblichen Interessenvertretungen repräsentiert. In der Bundesrepublik hat sich als Besonderheit eine duale Struktur von Kollektivverhandlungen herausgebildet. Der – institutionalisierte – Klassenkonflikt findet anhand quantifizierbarer Forderungen in der Arena der Tarifautonomie statt, während qualitative Arbeitsinteressen Sache der betrieblichen Interessenvertretung sind. Nur wenn die betriebliche Arena überfordert ist, kommt es zur Verlagerung von Aushandlungen auf eine andere Ebene. Das duale System wird wiederum durch kollektive Sicherungen entlastet, die allgemeine Reproduktionsinteressen der Lohnabhängigen wahrnehmen. Die Einbettung in kollektive Sicherungssysteme erleichtert es den Gewerkschaften, sich auf „Arbeitsplatzbesitzer“ zu konzentrieren. Zwar changieren die intermediären Gewerkschaften
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weiterhin zwischen kooperativen und konfliktorischen Formen der Interessendurchsetzung; die institutionelle Einbindung erzeugt jedoch eine „Schwerkraft“ zugunsten kooperativer Formen. Aus einstigen „Schulen für den Sozialismus“ werden so Stützen des – wohlfahrtsstaatlich regulierten – Kapitalismus (MüllerJentsch 2008: 78).
Der Machtressourcen-Ansatz Das jedenfalls ist die Pointe einer idealtypischen Rekonstruktion der intermediären Gewerkschaft. Eine entscheidende Schwäche dieses Ansatzes springt in der retrospektiven Betrachtung sofort ins Auge: Wie sich Organisationsmacht, die überwiegend latent bleibt, reproduziert und ob sie von den kollektiven Gegenspielern dauerhaft anerkannt wird, bleibt in der Modellierung von Gewerkschaften als intermediären Organisationen ungeklärt. Dementsprechend hat sich der normative Gehalt des Konzepts gravierend verändert. Zielte es ursprünglich auf eine Kritik verkrusteter, bürokratischer und zentralistischer Strukturen der institutionalisierten Gewerkschaft4, so hat sich das Intermediaritäts-Konzept im Laufe der Zeit in Richtung eines konservierenden Institutionalismus entwickelt. Was zunächst Zielscheibe der Kritik war – die Konflikte dämpfende Wirkung eines professionalisierten Apparates, der subalterne Interessen bündelt, um sie im Namen der Lohnabhängigen zu verhandeln –, wurde, die Krise einstiger Referenzmodelle von Arbeitsbeziehungen in Italien, Frankreich oder England vor Augen, mehr und mehr zu einer Stärke verklärt. Mitte der 1990er Jahre galt das halbwegs stabile duale System in Deutschland geradezu als Leitbild für eine europäische Reorganisation der Arbeitsbeziehungen (Müller-Jentsch 1995). Von der einstigen, rätedemokratisch inspirierten Bürokratiekritik blieb im Grunde nur die vergleichsweise positive Konnotierung von Mitbestimmung und betrieblicher Interessenvertretung gegenüber der unternehmensübergreifenden Gewerkschaftsorganisation. In einer Phase des Monetarismus und der Deregulierung erhielt eine zunächst libertär-sozialistisch gefärbte kritische Gewerkschaftsforschung auf diese Weise ein sozial-liberales Fundament. Das eigentliche analytische Kernproblem des Intermediaritäts-Ansatzes besteht darin, dass er gesellschaftliche Veränderungen nur noch aus der Perspektive einer (De-)Stabilisierung von Institutionen diskutiert. Was im ursprünglichen Konzept noch angelegt war, die Reflektion der Verfügung über Machtressourcen
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Und, so muss man hinzufügen, auf eine linke Kritik an neomarxistischen Konzepten von Klassenautonomie, wie sie u. a. von der Abendroth-Schule vertreten wurden. Vgl. dazu: Deppe (1979).
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als zentrale Voraussetzung für eine wirksame Vertretung von Kollektivinteressen, ist in der Entwicklung des Konzepts mehr und mehr verloren gegangen. An diesem Defizit setzt der Jenaer Machtressourcen-Ansatz an. Für dieses, noch im Stadium der Ausarbeitung befindliche, Konzept ist der Gedanke zentral, dass Quellen von Arbeitermacht (Silver 2005: 30-44) wieder stärker zum Ausgangspunkt für eine Erforschung des sozialen Konflikts, seiner Akteure und Institutionen gemacht werden müssen. Um die Zielsetzung und (potenzielle) Erklärungskraft des Konzepts zu illustrieren, seien dessen zentralen Kategorien nachfolgend in geboten knapper Form dargestellt. Lohnabhängigenmacht lässt sich zunächst in Abgrenzung zu einer allgemeinen Machtdefinition bestimmen. Nach Max Weber bezeichnet Macht „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung, den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen“ (Weber 1980: 28). Im Anschluss daran unterscheidet Michael Mann idealtypisch vier grundlegende Formen von Macht: die ökonomische, die politische, die ideologische und die militärische (Mann 1994: 4656, bes. 50f.). Diese vier Grundformen werden in modernen Gesellschaften auf je besondere Weise miteinander kombiniert. So lässt sich die autoritative, hierarchische Macht von Unternehmensbürokratien und Staaten nutzen, um die diffuse, anonym wirkende Macht von Märkten einzuschränken. Umgekehrt ist es auch möglich, Marktmechanismen zu stärken, um z. B. autoritative Macht zu begrenzen. Das Wechselspiel von De- und Rekommodifizierung, das lange Perioden kapitalistischer Entwicklung auszeichnet (Yergin und Stanislaw 1999), hängt allerdings wesentlich von einer Machtkonfiguration ab, die bei Michael Mann zwar auftaucht, in ihrer Eigenart begrifflich aber unzureichend bestimmt wird. Gemeint ist oppositionelle, konterhegemoniale, heterodoxe Macht. Arbeitermacht ist ihrem Ursprung nach eine solche Form heterodoxer Macht, die sich quer zu den Grundtypen sozialer Macht als ökonomische, politische und ideologische entfaltet. Die Kategorie Arbeitermacht wird hier analytisch im Sinne von Lohnabhängigenmacht genutzt und entsprechend weit gefasst (Silver 2005: 38). Sie unterstellt ein Interesse mehr oder minder heterogener Arbeiter- und Angestelltengruppen, Asymmetrien in den Austauschbeziehungen von Kapital und Arbeit durch kollektive Mobilisierungen besonderer Machtressourcen zu korrigieren. Entsprechende Versuche sind bis in die Gegenwart hinein Entstehungsursache von Arbeiterbewegungen, deren soziale Basis, Organisationsformen und Zielsetzungen sich erheblich voneinander unterscheiden. Sie können systemtranszendierende Ziele verfolgen (Marxscher Bewegungstypus) oder bloßen Schutz vor marktvermittelter Konkurrenz einfordern (Polanyischer Bewegungstypus). Sie können reaktiv-nationalistische oder, wie im Falle faschistischer Mobilisierungen, geradezu terroristische Züge annehmen. Im Unterschied zu den Implikationen des Marxschen Klassenuniversalismus, der unter-
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stellt, dass die „Exploitation des Weltmarktes die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet“ (Marx und Engels 1977: 466), muss Arbeitermacht daher im Plural buchstabiert werden. Denn „nivellierende“ Marktmacht bestärkt eine „endemische Tendenz“ unter den Arbeitern, „klassenunspezifische Grenzen abzustecken, auf deren Basis sie beanspruchen können, vor dem Mahlstrom geschützt zu werden“ (Silver 2005: 41; Wright 2000). Auch aus diesem Grund ist es sinnvoll, nicht von nur einer Bewegung, sondern von einer Pluralität an Arbeiterbewegungen auszugehen, die sich fallweise auf unterschiedliche Quellen und Kombinationen sozialer Macht gründen. Prinzipiell kann zwischen struktureller und Organisationsmacht von Lohnabhängigen differenziert werden. Strukturelle Macht (structural power) erwächst aus der Stellung von Lohnabhängigengruppen im ökonomischen System. Sie kann sich in primärer Verhandlungsmacht, die aus einer angespannten Arbeitsmarktsituation entspringt, ebenso ausprägen wie in Produktionsmacht, die sich über eine besondere strategische Stellung von Arbeitergruppen in Produktionsprozessen konstituiert. Davon zu unterscheiden ist Organisationsmacht (associational power), die aus dem Zusammenschluss zu kollektiven politischen oder gewerkschaftlichen Arbeiterorganisationen entsteht. Organisationsmacht kann strukturelle Verhandlungs- und Produktionsmacht teilweise substituieren, ohne sie jedoch vollständig zu ersetzen. Strukturelle Macht wird häufig spontan ausgeübt, sie tritt in Gestalt von „Labour Unrest“, in plötzlichen Unruhen und situativer Empörung ebenso auf wie als Sabotage oder Absentismus in Produktionsprozessen (Silver 2005: 11, 44ff.). Organisationsmacht ist demgegenüber auf handlungsfähige Gewerkschaften, Parteien oder ähnliche kollektive Akteure angewiesen. Zusätzlich lässt sich eine dritte Quelle von Arbeitermacht benennen, die institutionelle Macht. Sie entsteht als Resultat von Aushandlungen und Konflikten, die auch über strukturelle oder organisatorische Machtressourcen ausgetragen werden. Ihre Besonderheit wurzelt in dem Faktum, dass Institutionen soziale Basiskompromisse über ökonomische Konjunkturen und kurzzeitige Veränderungen gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse hinweg festschreiben und teilweise gesetzlich fixieren. Institutionelle Macht präformiert Aushandlungsprozeduren und Handlungsstrategien von kollektiven Akteuren, Betriebsräten, Gewerkschaften und Kapitalverbänden, die auch dann noch als wahrscheinlich, nahe liegend und verbindlich gelten können, wenn sich gesellschaftliche Kräfteverhältnisse gravierend verändert haben. Gewerkschaften können institutionalisierte Ressourcen selbst in Zeiten rückläufiger Organisationsmacht nutzen. Dies setzt freilich voraus, dass die Lohnabhängigenorganisationen trotz nachlassender Bindefähigkeit bei Arbeitern und Angestellten seitens der Kapitalverbände und Regierungen weiterhin als authentische Repräsentanten kollektiver Arbeitsinteressen akzep-
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tiert werden. Strukturelle, Organisations- und institutionelle Macht von Lohnabhängigen entwickeln sich in Phasen. Die eine Machtform geht aus der anderen hervor; dies jedoch nicht im Sinne strikter Linearität und permanenter Steigerung. Über lange Zeiträume und in Abhängigkeit von sozioökonomischen wie politischen Einflüssen existieren die Quellen von Lohnarbeitermacht in unterschiedlichen Kombinationen und Organisationsformen und teilweise auch in Konkurrenz zueinander. Veränderungen von Arbeitsbeziehungssystemen und der Funktion gewerkschaftlicher Interessenvertretung lassen sich aus dieser Perspektive als Veränderungen in der Verfügung über Machtressourcen analysieren. Die Fokussierung auf Machtressourcen bietet gegenüber dem konventionellen Intermediaritätsansatz mehrere Vorteile. Erstens bricht der MachtressourcenAnsatz mit einer rein organisations- und institutionenzentrierten Betrachtung und nimmt die Akteure, die den sozialen Konflikt austragen, in ihrer Pluralität wahr. Auf diese Weise können auch soziale Bewegungen sowie nicht-normierte Konflikte und Kampfformen in die Analyse einbezogen werden, die sich von klassischen Modellen organisierter Interessenvertretung abheben. Ein solch erweiterter Blickwinkel ist nötig, um die Vielfalt an Protest- und Bewegungsformen überhaupt verstehen zu können, die sich schon vor der globalen Wirtschaftskrise auch in den entwickelten Kapitalismen herausgebildet hat (Wacquant 2008; Waddington et al. 2009). Zweitens wird es mit Hilfe dieses Ansatzes möglich, Ungleichzeitigkeiten zu analysieren, die sich z.B. aus der Parallelität des Niedergangs von institutionalisierten Gewerkschaften in manchen entwickelten Kapitalismen einerseits und dem Aufbrechen von neuen Arbeiterbewegungen und einigen Ländern des globalen Südens andererseits ergeben. Drittens könnte der Ansatz künftig eine neue Synthese zwischen dem alltäglichen Leiden am Kapitalismus und wissenschaftlich gestützter Sozialkritik ermöglichen, die am so genannten „hermeneutischen Widerspruch“ von Institutionen, an der strukturellen Nichtidentität von institutionalisierten Erwartungen/Versprechen und davon abweichender sozialer Realität ansetzt (Boltanski 2010).5 Viertens schließlich – und das ist für den hier gewählten Kontext entscheidend – bietet der Ansatz Zugang zu einer machtsoziologischen Analyse der finanzkapitalistischen Land-
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In ihrem gemeinsamen Buch hatten Luc Boltanski und Eve Chiapello argumentiert, in der Schwäche der Gewerkschaften offenbare sich auch eine Krise wissenschaftlicher Sozialkritik (Boltanski und Chiapello 2003: 309f.). Ohne eine alternative, in Daten dokumentierte „Darstellung aus Arbeitnehmersicht“, wie sie betriebsübergreifende Gewerkschaftsbewegungen ermöglichten, lasse sich „nur schwer ein Gegengewicht zu den unternehmerischen, inhaltlich von Profitinteressen geleiteten Geschäftsanalysen“ bilden (ebd.: 310). Sozialkritik hänge dann in der Luft, die Arbeitswelt erscheine als Ansammlung von Sachzwängen, aus denen es für Lohnabhängige kaum ein Entrinnen gebe.
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nahme, ihrer Auswirkungen auf die Arbeitsbeziehungen und damit auch zentraler Bedingungen einer Erneuerung gewerkschaftlicher Handlungsfähigkeit.
Erosion von „Arbeitermacht“ und gewerkschaftliche Erneuerung In Abhängigkeit von den jeweils verfügbaren Machtressourcen besitzen die Gewerkschaften stets die Möglichkeit einer strategischen Wahl. Es geht nicht alles, aber innerhalb spezifischer Handlungskorridore sind die Lohnabhängigenorganisationen durchaus in der Lage, sich mehr oder minder erfolgreich auf veränderte gesellschaftliche Verhältnisse einzustellen. Das ist ihnen zumindest in den entwickelten Kapitalismen seit den 1980er Jahren aber zunehmend weniger gelungen. Der finanzkapitalistischen Landnahme „von oben“ (Dörre 2009a) hatten sie in den meisten entwickelten Kapitalismen relativ wenig entgegenzusetzen. Durch einen tiefgreifenden sozioökonomischen Strukturwandel begünstigt, haben die Gewerkschaften auch in Deutschland seit den 1980er Jahren dramatisch an Organisationsmacht eingebüßt. Die kurzzeitige Gewinnung neuer Mitglieder aus der ehemaligen DDR verdeckte diese Entwicklung für wenige Jahre, seither hat sich der Negativtrend mehr oder minder ungebrochen fortgesetzt.6 Mit der schwindenden gewerkschaftlichen Organisationsmacht nehmen auch die Organisationsanreize für die Kapitalseite ab (Haipeter 2009). Kollektivverträge verlieren an Verbindlichkeit, mitbestimmungs-, tarif- und gewerkschaftsfreie Zonen expandieren. 2009 wurden in der Bundesrepublik nur noch 62 % der Beschäftigten nach einem Tarifvertrag bezahlt. Das ist lediglich eines von vielen Symptomen, anhand dessen sichtbar wird, dass schwindende Organisationsmacht auch im Falle der deutschen Gewerkschaften mehr und mehr in eine Erosion institutioneller Machtressourcen umschlägt. Nicht minder gravierend ist, dass die Gewerkschaften im Zuge rekommodifizierender Reformen ihren institutionellen Einfluss in der Arbeitsmarkt-, Sozial-, Gesundheits- und Rentenpolitik nach und nach eingebüßt haben (Urban 2010; Streeck 2009; Gerlinger 2009). Zur Mitte des Jahrzehnts schien es gar, als seien relevante Teile der ökonomischen und politischen Eliten bereit, dem Verfall gewerkschaftlicher Organisationsmacht und der schleichenden Schwächung institutioneller Lohnabhängigenmacht auch eine symbolisch-politische Degradierung folgen zu lassen. Eine
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2010 gelang es erstmals seit langer Zeit wieder, den Organisationsgrad auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau zu stabilisieren. Kleinere Gewerkschaften wie die NGG und die GEW verbuchten Mitgliederzuwächse.
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zentrale Voraussetzung für Intermediarität, die Anerkennung der Gewerkschaften als unverzichtbare systemische Ordnungsmacht, war plötzlich nicht mehr selbstverständlich. Nach dem Ende des „Bündnisses für Arbeit und Wettbewerbsfähigkeit“ schien eine Erneuerung des deutschen Modells nur noch mittels einer Schwächung der Gewerkschaften möglich. Führende Ökonomen erklärten die Gewerkschaften zu den Hauptschuldigen der hohen Arbeitslosigkeit: Ein „Arbeitsmarkt im Würgegriff der Gewerkschaften“, so IFO-Chef Hans-Werner Sinn, bewirke, dass „die Löhne in den kollektiven Tarifverhandlungen über das Gleichgewichtsniveau hinaus“ erhöht würden; die Folge sei „ein bleibendes Überschussangebot beim Tausch der Ware Arbeitskraft, die wir Arbeitslosigkeit nennen“ (Sinn 2005: 143, 150). Solch diskursive Tabubrüche waren die ideologische Begleitmusik für eine Politik, die u. a. über eine Deregulierung des Finanzsektors und den Übergang zu einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik eine – auch institutionelle – Schwächung der Gewerkschaften bewirkte.7 An dieser Entwicklung setzte die Jenaer Forschergruppe mit ihren Überlegungen zu einer konzeptionellen Neuorientierung der Arbeitsbeziehungsforschung an. Die Krise gewerkschaftlicher Repräsentation und die Erosion institutioneller Lohnabhängigenmacht vor Augen, schien eine angemessene wissenschaftliche Analyse des Erneuerungspotenzials auch der deutschen Gewerkschaften nur möglich, wenn sich neue Machtquellen identifizieren oder überkommene Machtressourcen reaktivieren ließen. Strategic Choice konnte unter diesen Bedingungen nur bedeuten: Revitalisierung von Gewerkschaften mittels Stärkung von Organisationsmacht, z. B. über gezieltes Organizing auch und gerade in schwach repräsentierten sozialen Gruppen, Umbau der Organisation, Wiederentdeckung der Mitglieder, Kampagnen- und Bewegungsorientierung sowie innovative Bündnispolitik mit sozialen Bewegungen und NGOs im Reproduktionssektor zwecks Erschließung externer, außerbetrieblicher Machtressourcen (Brinkmann et al. 2008). Ein solches Programm, wie es Bewegungs- und Organizing-Gewerkschaften nicht nur in den USA, sondern vor allem in Ländern des globalen Südens verkörperten, ließ sich, darin waren wir uns allerdings sicher, nicht einfach auf Deutschland übertragen. Die nationalen Arbeitsbeziehungssysteme waren und sind zu unterschiedlich, als dass Übertragungen ohne Schwierigkeiten möglich wären. Betriebsräte z. B. kommen im nordamerikanischen System der Arbeitsbeziehungen gar nicht vor; ist in einem Betrieb/Unternehmen die Anerkennung von Gewerkschaften erfolgt, gelten (häufig) sämtliche Belegschaftsmitglieder als organisiert. In Deutschland verfügen die Gewerkschaften hingegen in der Regel
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Am Beispiel von drei Regionen: Dörre und Röttger (2006)
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nicht über einen direkten Zugang zu den Belegschaften, sie benötigen die Hilfe von gewählten betrieblichen Interessenvertretungen, deren Mitglieder Gewerkschafter sein können, aber nicht sein müssen. Eine Organisierung neuer Bereiche läuft in Deutschland daher zunächst häufig auf Betriebsratsgründungen hinaus. Angesichts institutioneller Divergenzen und höchst unterschiedlicher Gewerkschaftstraditionen überwog bei vielen wissenschaftlichen Beobachtern hinsichtlich einer Übertragbarkeit von Erfahrungen nordamerikanischer OrganizingGewerkschaften auf deutsche Verhältnisse denn auch Skepsis (exemplarisch Frege und Kelly 2003). Offensive Mitgliederwerbung hatte in dem hochgradig verrechtlichten deutschen Arbeitsbeziehungs-System lange Zeit nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Wegen ihrer starken institutionellen Einbindung mussten die Gewerkschaften vergleichsweise selten zum Mittel der Mitgliedermobilisierungen greifen. Zudem war die Erosion institutioneller Verhandlungsmacht in Deutschland längst nicht so weit fortgeschritten wie in den angelsächsischen Kapitalismen. Andererseits waren soziale Bewegungen und NGOs bei weitem nicht so stark, als dass Bündnisse mit ihnen schwindende gewerkschaftliche Organisationsmacht hätten kompensieren können. Auch aus diesem Grund scheuten die DGB-Gewerkschaften mehrheitlich davor zurück, Verhandlungsmacht, wie sie Mitbestimmung und Tarifsystem noch immer boten, zugunsten einer riskanten Bündnispolitik mit oppositionellen Bewegungen zu opfern. Allen berechtigten Warnungen vor unreflektierten Übernahmen von Praktiken aus anderen Arbeitsbeziehungsmodellen zum Trotz haben OrganizingAnsätze dennoch in einigen DGB-Gewerkschaften rasch Karriere gemacht. In der IG Metall legt eine eigens geschaffene Kampagnenabteilung OrganisierungsProjekte auf. Die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di erprobt Organizing u. a. in Krankenhäusern, im Handel und im Überwachungsgewerbe. Auch die Gewerkschaft Bau, Agrar, Umwelt (IG BAU) bildet Organizer aus und bemüht sich um eine offensive Mitgliederrekrutierung. Lernprozesse machen sich aber auch in Organisationsbereichen bemerkbar, in denen eine bewusste Orientierung an Organizing-Ansätzen nicht vorhanden ist oder explizit abgelehnt wird. Relativ unkompliziert erscheint auf den ersten Blick die Übernahme einzelner Instrumente des Organizing-Ansatzes. So hat sich die Ver.di-Kampagne bei der Discounter-Kette LIDL explizit am Vorbild von Comprehensive Campaigns nordamerikanischer Gewerkschaften orientiert. Ein weiteres Beispiel sind Kampagnen, die auf eine verbesserte Repräsentation und eine Rekrutierung prekär Beschäftigter zielen. Der inzwischen von mehreren Mitgliedsgewerkschaften des DGB getragenen Mindestlohn-Kampagne kommt hier eine kaum zu überschätzende symbolisch-politische Funktion zu. Nicht minder wichtig sind dezentrale Initiativen. So haben zahlreiche DGB-Gliederungen mit Bestandsaufnahmen zur Entwicklung prekärer Beschäftigung begonnen. Im Organisationsbereich der IG
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Metall zielen Initiativen darauf, „Equal pay, equal treatment“, zumindest aber eine Besserstellung für Zeitarbeiter einzuklagen und Leiharbeiter in der Gewerkschaft zu organisieren. Dabei werden sie von den Betriebsräten großer entleihender Firmen unterstützt. Auch andere Beispiele, darunter insbesondere Ansätze einer beteiligungsorientierten Tarifpolitik, die innovationsorientierte Kampagne „Besser statt billiger“ oder das innovative Projekt „Gute Arbeit“ der IG Metall sprechen auch wegen der in solchen Ansätzen angelegten Wiederentdeckung der Mitglieder für Möglichkeiten einer partizipativen Erneuerung der deutschen Gewerkschaften (siehe die Analysen von Haipeter und Brettschneider et al. in diesem Band). So dachte die Jenaer Forschergruppe jedenfalls vor der Krise. Die Frage schien nicht mehr ob, sondern wie von den Beispielen aus Übersee gelernt werden kann. Noch steht eine kritische Bilanz dieser zarten Pflänzchen gewerkschaftlicher Erneuerung aus, und es ist keineswegs so, dass diese Ansätze unter dem Druck der Krisenfolgen samt und sonders verpufft wären. In einem entscheidenden Punkt hat sich die Lage jedoch gravierend verändert. Organizing in dem von uns favorisierten „weiten“ Verständnis ist mit einem Organisationswandel verbunden, der vor allem eine Politisierung der Gewerkschaftsarbeit (political unionism), eine Priorisierung von Gerechtigkeitsthemen gegenüber wirtschaftlicher Effizienz und eine breite Palette von Taktiken und Strategien unter Einschluss konfliktorischer Praktiken voraussetzt (Brinkmann et al. 2008: 110). Es steht kaum zu erwarten, dass sich ein solch ganzheitlicher Organisationswandel durchsetzen lässt, wenn die Zeichen gesellschaftlich-politisch auf – selektiver – Einbindung der Gewerkschaften stehen und die gewerkschaftlichen Führungsgruppen entsprechende Angebote nicht zuletzt aufgrund massiver Zweifel an der Mobilisierungsfähigkeit ihrer Organisationen und unter Preisgabe einer oppositionellen Rolle dankend annehmen. Doch genau diese Weichenstellung ist während der beiden Krisenjahre erfolgt. Vermeintlich schon zugeschlagen, hat sich die Tür für Elitendeals unter Einschluss gewerkschaftlicher Führungsgruppen überraschend wieder geöffnet. Der so genannte „Krisenkorporatismus“ (Urban 2010; Ehlscheid et al. 2010: 4349) in Deutschland war erfolgreich, weil es mit dem weltwirtschaftlichen Desaster zu einer Differenzierung zwischen politischen und ökonomischen Eliten gekommen ist. Die politischen Eliten wurden von der Krise überrascht und suchten nach Bündnispartnern beim Krisenmanagement. Es waren die Angst vor dem möglichen Verlust eigener Machtpositionen und die vom Versagen marktorthodoxer Politikberater ausgelöste Verunsicherung, die Teile der geschwächten politischen Klasse veranlassten, wieder intensiv mit jenen Repräsentanten organisierter Arbeitsinteressen zu kooperieren, die man zuvor an den Katzentisch gesetzt hatte (Roth 2010: 119-130). Dies ist die Hauptursache für das politische
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Comeback der deutschen Gewerkschaften. Und eben dieses Comeback schickt sich an, eine zentrale These der Labour-Revitalization-Debatte zu widerlegen. Denn die deutschen Gewerkschaften handeln offenbar weiter pfadabhängig und pfadkonform. Erfolgreich ist – zumindest auf den ersten Blick – der gute alte Korporatismus. Ohne zu übertreiben lässt sich sagen, dass die deutschen Gewerkschaften und allen voran die IG Metall das kurzfristige Krisenmanagement 2008-2010 geradezu virtuos bewältigt haben. Standen die Lohnabhängigenorganisationen noch Mitte des Jahrzehnts als notorische Reformverhinderer am Pranger der öffentlichen Meinung, so werden sie nun als Architekten eines deutschen Beschäftigungswunders gelobt. Tatsächlich hat der vermeintlich kranke Kapitalismus vom Rhein die globale Wirtschafts- und Finanzkrise weitaus besser überstanden als sein globaler Herausforderer, das marktzentrierte angelsächsische Kapitalismusmodell (Müller-Jentsch 2009: 61-70). Obwohl Deutschland den stärksten wirtschaftlichen Einbruch nach 1949 erlebte, sind die vielfach erwarteten dramatischen Negativeffekte für den Arbeitsmarkt ausgeblieben. Mit relativ konventionellen Mitteln wie der Langzeitkurzarbeit und der so genannten Abwrackprämie ist es gelungen, die Beschäftigung von Stammbelegschaften weitgehend zu sichern. Die Kooperation scheint sich für die deutschen Gewerkschaften auszuzahlen. Bei anstehenden Lohnrunden verspüren die Mitgliedsorganisationen des DGB erstmals seit langer Zeit Rückenwind. Selbst wirtschaftsaffine Experten plädieren öffentlich dafür, den Verteilungsspielraum für Lohnerhöhungen zu nutzen. Zwar stehen die Lohnempfehlungen in keinem Verhältnis zu den Gewinnen und Renditen, die viele weltmarktorientierte Unternehmen während und nach der Krise realisiert haben8; doch die Gewerkschaften können immerhin einigermaßen sicher sein, mit ihren Tarifforderungen nicht gegen die veröffentlichte Meinung zu agieren. All dies wirkt auf den ersten Blick wie eine unwiderlegbare Bestätigung des Konzepts von Gewerkschaften als intermediären Organisationen. Die Gewerkschaften agieren im politischen Tausch als System stabilisierender Ordnungsfaktor, und über diese Ordnungsfunktion nehmen sie Mitgliederinteressen wahr. Als Gegenleistung verzichten sie, trotz eines symbolischen Kapitalismuskongresses des DGB, auf eine lautstarke Generalabrechnung mit den ökonomischen und politischen Eliten. Vor allem vermeiden sie es, die „Systemfrage“ zu stellen, die kurzzeitig selbst marktradikale Ökonomen umtrieb. Aus Sorge um den Bestandserhalt der Industrien, in denen sie noch verankert sind, verlangen sie für
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2010 konnten allein die DAX-Konzerne ein Gewinn-Plus von 75 % verbuchen. Für die kommenden Jahre sind Gewinnsteigerungen von 10 bis 12 % fest eingeplant (FR 2010: 12f.).
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ihre aktive Beteiligung am Krisenmanagement keinen zusätzlichen Preis. Das heißt, sie priorisieren die systemstabilisierende „Logik der Einflussnahme“ und stellen das Problem schwindender Organisationsmacht und Konfliktfähigkeit hintenan.
Spaltung des Arbeitsmarktes und interessenpolitischer Konservatismus Soweit die Fakten. Aber ist das wirklich noch der gute alte Korporatismus, der im Übrigen auch in früheren Phasen zumeist nur gebrochen und selektiv wirksam wurde? Um es klar und unmissverständlich zu formulieren: Die Antwort lautet „Nein“! Der „Krisenkorporatismus“ ist eine partikularistische Handlungsstrategie, weil er Spaltungslinien am Arbeitsmarkt und unter den Subalternen, die die finanzkapitalistische Landnahme erzeugt hat, nicht ernsthaft in Frage stellt, sondern – mitunter unbeabsichtigt – zusätzlich verstärkt. Korporative Einbindung bedeutet heute in der Konsequenz etwas völlig anderes als zu den Hochzeiten des fordistischen Kapitalismus. Und sie bedeutet auch keine Rückkehr zum „selektiven Korporatismus“ der 1980er und 1990er Jahre. Mit selektivem Korporatismus war damals gemeint, dass eine gewerkschaftliche Interessenvertretung, die auf relativen Machtgleichgewichten basierte, nur noch Teile der Beschäftigten erreichte (Esser 2003: 78). Die Beschäftigungssicherungspolitik, die die deutschen Gewerkschaften während der Krise betrieben haben, ist aber nicht nur eine Politik zugunsten – schrumpfender – Stammbelegschaften. Sie resultiert aus einer exklusiven Solidarität, verfestigt sekundäre Ausbeutungsmechanismen (Dörre 2010a: 125f.) und macht teilweise gar nicht mehr den Versuch, die Repräsentation allgemeiner Lohnabhängigeninteressen zu beanspruchen. Anders gesagt, es handelt sich bestenfalls um einen Korporatismus geschwächter Partner, der möglich ist, weil er ein ohnehin vorhandenes Machtgefälle am Arbeitsmarkt weiter verstärkt. Wo Beschäftigungsrisiken systematisch auf prekär Beschäftigte abgewälzt werden, vertieft das Spaltungen, wie sie sich schon vor der Krise etabliert haben. Eine Folge ist, dass sich die Erosion nicht nur gewerkschaftlicher Organisations-, sondern auch institutioneller Macht weiter fortsetzt – eine Entwicklung, die nicht ohne Folgen für die gewerkschaftlich noch repräsentierten Stammbeschäftigten bleiben kann. Um dies zu illustrieren, seien einige markante Entwicklungen am deutschen Arbeitsmarkt exemplarisch nachgezeichnet. Gemeinsam mit dem neu geschaffenen Markt für Unternehmenskontrolle hatten kapitalmarktorientierte Steuerungsformen (Shareholder-Value-Steuerung) und die damit einhergehende Kurzfristigkeit von Managemententscheidungen bereits vor der Krise dafür gesorgt, dass
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längst nicht mehr nur Randbelegschaften flexibel beschäftigt werden. Durch die Arbeitsmarktreformen der rot-grünen Koalition politisch aufgewertet, gehen Zuwächse bei den Erwerbsverhältnissen in Deutschland vorwiegend auf das Konto so genannter atypischer Beschäftigungsformen. Vor dem Höhepunkt der globalen Wirtschaftskrise 2008 gab es bereits 7,7 Mio. atypisch Beschäftigte (Zeitarbeit, Teilzeit, Befristete, geringfügig Beschäftigte). Hinzu kamen 2,1 Mio. Solo-Selbstständige (statistisch sind Doppelzählungen möglich). Binnen zehn Jahren ist die Zahl der atypischen Beschäftigungsverhältnisse um 46,2 % (bei den geringfügig Beschäftigten eine Steigerung um 71,5 %) und die der SoloSelbstständigen um 27,8 % gestiegen. Demgegenüber haben die Normalarbeitsverhältnisse (über 20 Wochenstunden, für einen Arbeitgeber) um 3 % abgenommen. Dieser Trend hat sich nach der Krise fortgesetzt. Im Aufschwungjahr 2010 wurde mit 40,37 Mio. Erwerbstätigen eine Rekordmarke erreicht, dennoch ging die Anzahl der Vollzeitstellen gegenüber 2008 erneut um 200.000 zurück (SZ 2011: 19). Zwar ist nicht jedes atypische Beschäftigungsverhältnis prekär; im Durchschnitt sind nicht-standardisierte Beschäftigungsverhältnisse jedoch mit deutlich niedrigeren Einkommen sowie höheren Arbeitslosigkeits- und Armutsrisiken verbunden. Das Zentrum der Prekaritätszone bildet der Niedriglohnsektor, der in Deutschland weitaus stärker expandiert ist als in jedem anderen europäischen Land. 2009 waren ca. 20,7 % der Erwerbstätigen im Niedriglohnsektor beschäftigt, das heißt, sie verdienten – teilweise auch in Normalarbeitsverhältnissen – weniger als zwei Drittel des Medianlohns (9,06 Euro Brutto-Stundenlohn in den alten ändern). Die höchsten Anteile an den Niedriglohnbeschäftigten weisen Frauen und gering Qualifizierte auf. Doch rund drei Viertel aller Niedriglohnbezieher verfügen über eine abgeschlossene Berufsausbildung oder gar über einen akademischen Abschluss. Trotz solcher Qualifikationen zeichnet sich der deutsche Niedriglohnsektor im internationalen Vergleich durch eine geringe Aufwärtsmobilität und eine enorme Lohnspreizung aus. In Extremfällen sind die Stundenlöhne auf 1,50 bis 2 Euro (Toilettenfrauen an Autobahnen, Stuhlmieter im Friseurgewerbe) gesunken. Das ist möglich, weil die Reservearmee der Unterbeschäftigten in Deutschland trotz offiziell sinkender Arbeitslosigkeit nur sehr langsam abnimmt. Rechnet man Maßnahmeabsolventen, Ein-Euro-Jobber und temporär erwerbsunfähige Personen zu den offiziell registrierten Erwerbslosen hinzu, so ist deren Zahl von mehr als 4,9 Mio. 2007 auf gut 4,7 Mio. im März 2010 gesunken. Insgesamt muss „eher von fünf als von drei Millionen Arbeitslosen die Rede sein“ (Astheimer 2010: 9).
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Dazu passt auch, dass die Zahl jener Beschäftigten kontinuierlich zunimmt, die zusätzlich zum Lohn Arbeitslosengeld II in Anspruch nehmen müssen9. Allein 2009 lässt sich eine Zunahme um 5 % (das entspricht 71.000 Beschäftigten) feststellen. Würden alle Berechtigten tatsächlich ALG-II-Leistungen in Anspruch nehmen, läge die Zahl der „Aufstocker“ nach Schätzungen noch einmal um ca. zwei Mio. Personen höher (Bruckmeier et al. 2007). Prekarität beschränkt sich aber keineswegs auf die unteren Segmente des Arbeitsmarktes. Sie tritt in höchst unterschiedlichen Kombinationen in nahezu allen Teilarbeitsmärkten auf (Pelizzari 2009). Die Herausbildung eines Sektors mit Löhnen, die unter den Wert der Arbeitskraft gesenkt sind, wirkt vermittelt auf die organisierten Teilarbeitsmärkte mit relativ sicherer Beschäftigung zurück. Bereiche vor Augen, in denen Tarife und Mitbestimmung nicht mehr greifen und stattdessen Repression gegen Angst getauscht wird (Artus et al. 2009), beginnen Stammbeschäftigte ihre Festanstellung als Privileg zu begreifen, das es mit Zähnen und Klauen zu verteidigen gilt – und sei es auf Kosten „schwacher“, prekarisierter Interessengruppen. Aus diesem Grund wirkt die Prekarisierung als ein Macht- und Kontrollsystem, das auch Angehörige von Stammbelegschaften gefügig macht (Dörre 2009b). Das Disziplinarregime der Prekarität sorgt dafür, dass die Erosion des männlich dominierten Normalarbeitsverhältnisses nicht geschlechterdemokratisch wirkt. Zwar wurden patriarchale Strukturen geschliffen und die Zugangschancen von Frauen zu regulärer Erwerbsarbeit haben sich zumindest in Westdeutschland – bei noch immer fortbestehenden Anreizen für das männerdominierte Einernährermodell – verbessert. Von der Frauenbewegung maßgeblich gefördert, besitzt diese Entwicklung trotz ihres unbestreitbaren emanzipatorischen Gehalts jedoch eine Kehrseite. Das freigesetzte weibliche Erwerbspersonenpotenzial lässt sich trefflich zur Reaktivierung jenes Reservearmeemechanismus nutzen, der in den sozialintegrativen Lohnarbeitsgesellschaften mit ihren organisierten Arbeitsmärkten für eine kurze Zeitspanne außer Kraft gesetzt war. Mehr noch, die bei Frauen subjektiv stärker ausgeprägte Bereitschaft, unsichere Beschäftigungsverhältnisse zu akzeptieren, hat mit dazu beigetragen, dass die allmähliche Feminisierung der Erwerbsarbeit ein prekäres Gesicht zeigt (Aulenbacher 2009: 65-80). Der historische neue Typus diskriminierender Prekarität, der sich dadurch auszeichnet, dass er zunehmend auch zuvor gesicherte Gruppen erfasst, erhält
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Aufstocker im Sinne der Bundesagentur für Arbeit sind Personen, die zusätzlich zum Arbeitslosengeld Transfers aus der Grundsicherung, besser bekannt als „Hartz IV“, benötigen. Hier wird der Begriff, wie in der Debatte üblich, weiter gefasst und auf Beschäftigte angewandt, deren Löhne nicht existenzsichernd sind.
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seine Besonderheit durch seine Verbindung zu den noch immer einigermaßen geschützten Segmenten des Arbeitsmarktes. Am oberen Ende der Arbeitspyramide nehmen in den entwickelten Ländern qualifizierte, managementnahe Dienstleitungstätigkeiten zu. Hier findet sich der Typus des kreativ tätigen, Optionen maximierenden Selbstmanagers. Diese meist hochqualifizierten Angestellten und (Solo-)Selbstständigen sind stets dabei, Optionen zu sondieren. Zu ihrem Habitus gehört, dass sie das Neinsagen verlernt haben. Für sie gibt es keine Zeitpolster, keine Ruhekissen. Beständig loten sie neue Handlungschancen aus, denn jeder Verzicht auf eine Option könnte gleichbedeutend mit einem individuellen Positionsverlust sein. Je tiefer man in der Hierarchie absteigt, desto schwerer fällt es indessen, die Vorzüge flexibler Beschäftigung zu genießen und die Nachteile unsteter Kontrakte mittels kreativer Arbeit zu kompensieren. Für einen Großteil der eigentlichen Prekarier, die längerfristig oder gar dauerhaft auf einen unsicheren, niedrig entlohnten, inhaltlich unbefriedigenden und zudem wenig anerkannten Job angewiesen sind, ist eine solche Kompensation schlechterdings unmöglich. Hier gilt das Prinzip der Kumulation von Risiken und Belastungen. Das eigentliche Ausmaß sozialer Polarisierung am Arbeitsmarkt wird jedoch erst deutlich, wenn man die globale Arbeitskraft betrachtet. Auch weltweit waren nie mehr Menschen von Erwerbsarbeit abhängig. Die Kernbelegschaften in halbwegs geschützter Beschäftigung repräsentieren jedoch nur ca. 20 % der global labour force, weitere 20 % stellt der prekäre Sektor, während 60 % (1,8 Mrd.) von informeller Arbeit leben und sich ohne Arbeitsvertrag verdingen müssen. 700 Mio. dieser informell Beschäftigten leben von weniger als 1,25 USDollar pro Tag und damit in absoluter Armut (ILO 2009; Jütting und de Laiglesia 2009; Roth 2010: 157f.). Und doch sind viele der informell Beschäftigten in transnationale Wertschöpfungsketten integriert. Ob sich dies tatsächlich als Ausdruck einer globalen Homogenisierungstendenz (Roth 2010) deuten lässt, kann bezweifelt werden. Gegenwärtig bewirkt die transnationale Hierarchisierung von Erwerbsarbeit wohl eher, dass Stammbeschäftigte umso stärker danach trachten, ihr verbliebenes Sozialeigentum auch gegen Ansprüche von Zuwanderern zu verteidigen.
Von der intermediären zur fraktalen Organisation? Die Restrukturierung der Arbeitsmärkte vor Augen, kann präziser erfasst werden, worin der behauptete Funktionswandel von Gewerkschaften und sozialem (Klassen-)Konflikt besteht. Trotz oder gerade wegen ihrer unbestreitbaren Erfolge beim Krisenmanagement laufen auch die deutschen Gewerkschaften Gefahr, zu bloßen Vertretungen von Pressuregroups, von Stammbeschäftigten spezifi-
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scher Branchen etwa in der Automobil-, Zuliefer-, Chemie- und Pharmaindustrie zu werden. Diese Aussage gilt vor allem für die Industriegewerkschaften, die angesichts des forcierten Strukturwandels dazu tendieren, die Interessen von minoritären Lohnabhängigengruppen zu vertreten. Denn einem Katalysator gleich hat die globale Krise den sektoralen Wandel weiter forciert: 2010 waren nur noch 18,9 % der Erwerbstätigen in der Industrie (ohne Bau) beschäftigt (1991: 29,3 %); dagegen arbeiteten bereits 73,5 % im Dienstleitungssektor (1991: 59,5 %). Auch wenn man in Rechnung stellt, dass Ausgründungen und Ausgliederungen zu einer raschen Expansion unternehmensbezogener Dienstleistungen geführt haben und zahlreichen Dienstleistungen indirekt von industriellen Unternehmen abhängen, signalisieren solche Daten doch unmissverständlich, dass die Interessenlage von Industriearbeitern innerhalb der Gesamtheit der Lohnabhängigen nur noch eine – strategisch allerdings noch immer sehr bedeutsame – Minderheitenperspektive darstellt. Es wird immer schwerer, eine solche Interessenfokussierung noch als Perspektive „der“ Lohnabhängigen darzustellen. Das eingangs zitierte Extrembeispiel bewahrender Interessenpolitik in der Rüstungsindustrie liefert dafür Anschauungsunterricht.10 Neu ist nicht so sehr die Artikulation von Partikularinteressen, dergleichen hat es in der Gewerkschaftsgeschichte immer wieder gegeben. Neu ist vielmehr, dass sich diese Partikularinteressen minoritärer Lohnabhängigenfraktionen kaum noch in einer kollektiven Aufstiegsperspektive verbinden lassen. Dieser Umstand motiviert betriebliche Interessenvertretungen und mit ihnen die Gewerkschaften zur Protektion jener Industrien, in denen sie das Gros ihrer verbliebenen Mitglieder haben. Pressuregroup-Verhalten bedeutet, im Bündnis mit Teilen der Wirtschaft und den jeweils favorisierten Fraktionen der politischen Klasse Partialinteressen von Mitgliedern auch gegen übergreifende gesellschaftliche Reproduktionsinteressen wahrzunehmen. Korporatismus wirkt immer selektiv, aber hier geht es um eine Selektivität besonderer Art, weil die repräsentierten Partialinteressen kaum mit – wie auch immer definierten – allgemeinen Lohnabhängigen- und Reproduktionsinteressen in Einklang zu bringen sind. Die Vertretung der Beschäftigungs- und Einkommensinteressen minoritärer Lohnabhängigenfraktionen auch gegen übergreifende politische Ziele der eigenen Organisation verkörpert eine Entwicklung von der intermediären Organisation hin zum fraktalisierten Interessenverband, zur Fraktal-Gewerkschaft. Der hier verwendete Begriff der Fraktal-Gewerkschaft beruht auf einer Analogie zu Managementkonzepten aus den 1990er Jahren. Das Modell der
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Die in der Tagesschau zitierte Position ist in der IG Metall sicherlich so nicht mehrheitsfähig. In früheren Zeiten hätte sie allerdings innerorganisatorisch eine Welle der Entrüstung ausgelöst.
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fraktalen Organisation umfasste damals ein in viele dezentrale Einheiten gegliedertes Mutterunternehmen, das wiederum mit Netzen loyaler Zulieferer kooperierte. Diese dezentrale Organisation lief beständig Gefahr, dass sich die Fraktale verselbstständigten. Was als gemeinsames Unternehmensinteresse zu begreifen war, unterlag permanenten Definitionskämpfen und Aushandlungsprozessen. Mit der fraktalen Gewerkschaft verhält es sich ähnlich. Auch sie kann sich auf ein allgemeines, deutungsabhängiges Gesellschafts- oder Klasseninteresse beziehen (und würde dann zu einer modernen Netzwerk-Gewerkschaft), sie muss es aber nicht. Möglich ist eben auch, dass sie sich auf die Mediation von Partialinteressen noch einigermaßen geschützter Lohnabhängigengruppen beschränkt. Eine solche Gewerkschaft wäre dann nicht mehr intermediäre Organisation mit der Fähigkeit zur Zentralisierung von Lohnabhängigeninteressen, sondern lediglich ein loser organisatorischer Zusammenschluss von Einflussgruppen mit schwach ausgeprägten oder zumindest relativ unverbindlichen allgemeinen Zielsetzungen. Die Fraktale werden dann nicht mehr durch ein Gravitationszentrum angezogen, sondern sie tendieren dazu, selbst als organisatorische Machtzentren zu wirken. In der Folge entsteht eine Interessenheterogenität, die eine andere, weit schwerer zu beherrschende Dynamik entfaltet, als es jene Mischung aus regionalen Verhandlungen, betrieblicher Spezialisierung und loser nationaler Koordination impliziert, die es im dualen Arbeitsbeziehungssystem immer gegeben hat. Präziser ausgedrückt: Die fraktale Gewerkschaft ist vornehmlich an einer Bestandssicherung der von ihr noch repräsentierten Branchen und Unternehmen interessiert. Dieser Bestandssicherung ordnet sie andere Interessen unter. Vor allem jedoch muss sie, um überhaupt handlungsmächtig zu werden, die Machtzentren innerhalb der verbliebenen gewerkschaftlich repräsentierten Unternehmen bedienen. Diese Machtzentren sind mit den Betriebsratsspitzen der großen exportorientierten Unternehmen identisch. Selbige verfügen nicht nur über Expertenwissen hinsichtlich ihrer Konzerne; sie haben auch die Deutungshoheit hinsichtlich der von ihnen repräsentierten und zu einem relevanten Teil gewerkschaftlich organisierten Mitglieder. Ohne diese unternehmenszentrierten Machtzentren sind insbesondere die Industriegewerkschaften kaum noch handlungsfähig. Deshalb bilden sie innerhalb der Gewerkschaftsorganisation das Gravitationszentrum relativ eigenständiger Fraktale. Der Übergang zur fraktalisierten Gewerkschaft vollzieht sich nicht als abrupter Bruch mit dem Leitbild der intermediären Organisation, sondern eher schleichend und über eine Forcierung der inneren Widersprüche des überkommenen Organisationstyps. Der (1) professionelle Apparat mit seinen Sonderinteressen bleibt, er wird jedoch in Struktur und Zusammensetzung der konservierenden industriepolitischen Zielsetzung angepasst. Dies geschieht vor allem über eine allmähliche Verlagerung der Machtzentren innerhalb der Organisation. Es
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sind in der Regel die Betriebsratsvorsitzenden großer Konzerne mit gewerkschaftlich vergleichsweise gut organisierten Belegschaften, die innerorganisatorisch den Ton angeben. Damit ist keineswegs gesagt, dass gewerkschaftliche Führungsgruppen Verbandsinteressen gegen die Mitgliedschaft durchsetzen. Im Gegenteil, es werden (2) Schutzinteressen von Beschäftigtengruppen bedient, die durchaus noch etwas zu verlieren haben. In ihrer Selbstwahrnehmung handelt es sich bei diesen – überwiegend qualifizierten – Arbeitern und Angestellten um Gruppen im kollektiven Abstieg, die nicht zuletzt um ihr verbliebenes Sozialeigentum kämpfen. Insofern entspricht die konservierende Interessenpolitik basalen Sicherheitsbedürfnissen dieser Gruppen und sie kann sich – kontrastiv zur quantifizierenden Logik der intermediären Organisation − sogar qualitativer Arbeits- und Reproduktionsinteressen annehmen; dies aber eben höchst selektiv und nur bei günstigen betrieblichen Wettbewerbsbedingungen. Eine Folge ist, dass es aus der Sicht gewerkschaftlicher Führungsgruppen durchaus rational ist, sich diesen über Betriebsräte repräsentierten Partialinteressen anzupassen, weil nur so eine (3) hohe Durchsetzungsfähigkeit gewerkschaftlicher Interessenpolitik gewährleistet und der „Opportunismus“ betrieblicher Interessenvertreter zumindest eingedämmt werden kann. Die Nutzung einer partikularen Form von Lohnabhängigenmacht, die vor allem auf einer Kontrolle noch halbwegs geschützter unternehmensinterner Teilarbeitsmärkte beruht, stellt im Grunde eine „polanyische“ Reaktion spezifischer Lohnabhängigengruppen auf marktgetriebene Konkurrenz und Unsicherheit dar. Es handelt sich um eine Variante exklusiver Solidarität, die die „Pazifizierung“ des Klassenkonflikts zu bewahren sucht, indem sie (4) das Schutzversprechen institutionalisierter Arbeitsbeziehungen für bestimmte Gruppen nicht mehr oder nur noch eingeschränkt gelten lassen will. Insofern geht es beim Typus des fraktalisierten Interessenverbandes (5) nicht mehr um eine wirtschaftspolitische Funktionalisierung „der“ Gewerkschaften. Eher nutzen Teile der politischen Eliten die Lohnabhängigenorganisationen als eine Art „Transmissionsriemen“, um sich so einen Zugang zur ansonsten entscheidungsverschlossenen Unternehmensebene zu verschaffen. Die deutlichsten Veränderungen lassen sich jedoch bei den makrosozialen Handlungsbedingungen, der Gewichtung von Konflikt und Kooperation sowie dem Umweltbezug der Gewerkschaften feststellen. Ein fraktalisierter Interessenverband vermag gesamtwirtschaftliche Lenkungsfunktionen auch in einem Steuerungsverbund mit – ihrerseits geschwächten – politischen Eliten kaum noch oder gar nicht mehr wahrzunehmen. Auf Erfolge in der Arena des politischen Tausches angewiesen, muss ein solcher Verband alles daran setzen, Einflussmöglichkeiten bei den politischen Eliten zu erhalten – und sei es um den Preis eines Verlusts an Organisationskraft, Mobilisierungs- und Konfliktfähigkeit. Das Verhältnis von Konflikt und Kooperation verschiebt sich weiter zum letztge-
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nannten Pol, wobei zunehmend unklar wird, wie sich jene (organisationalen) Machtressourcen reproduzieren lassen, mit deren Hilfe sich antagonistische Kooperation notfalls erzwingen ließe. In der Konsequenz können die Gewerkschaften letztendlich auch die Vermittlungsfunktion zwischen System- und Mitgliederinteressen nicht mehr effizient wahrnehmen. Denn einerseits fehlen ihnen die Machtmittel, um systemisch bedingte Reproduktionskrisen noch wirksam korrigieren zu können, andererseits ist keineswegs garantiert, dass der Einfluss solcher Verbände im politischen Tausch immer groß genug ist, um elementaren Interessen der noch repräsentierten Lohnabhängigengruppen Geltung zu verschaffen.
Forschungsperspektiven Fügt man die einzelnen Mosaiksteine analytisch zusammen, so ergibt sich ein Bild, das sich deutlich vom Idealtypus einer intermediären Gewerkschaft abhebt. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass die deutschen und kontinentaleuropäischen Gewerkschaften den hier angedeuteten Funktionswandel bereits irreversibel vollzogen hätten. Die Realität auch der DGB-Gewerkschaften ist ungleich vielschichtiger und widersprüchlicher. Diese Feststellung gilt im Übrigen auch für das gewerkschaftliche Krisenmanagement. Lässt man sich auf die heterogene Realität betrieblicher Aushandlungen und Konflikte ein, wird man rasch feststellen, dass die Sicherung von Stammbeschäftigten keineswegs selbstverständlich und im Selbstlauf erfolgt. Häufig ist sie mit einem zähen Ringen zwischen Unternehmensleitungen und Interessenvertretungen um Konzessionen und Flexibilisierungsleistungen der Beschäftigten verbunden. Betriebliche Aktionen gegen geplante Entlassungen von Stammbeschäftigten oder die Verschlechterung von Arbeitsbedingungen sind – trotz Krise – keine Seltenheit. Dennoch lässt sich nicht verkennen, dass in den dominanten gewerkschaftlichen Krisenreaktionen fraktalisierende Tendenzen ausgeprägt vorhanden sind. Das zeigt sich gerade auch in Betrieben, in denen es im Zuge der Krise zu Mobilisierungen gekommen ist. Übereinstimmend berichten konfliktorientierte Betriebsräte aus der Metallund Elektroindustrie, dass ihnen Mobilisierungen in der Regel nur dann gelingen, wenn es um klar identifizierbare Belegschaftsinteressen geht. Doch selbst in solchen Fällen machen sich in den Belegschaften inzwischen häufig entsolidarisierende Praktiken bemerkbar. Dass man selbst in Kurzarbeit geht und Lohneinbußen hinnimmt, um die Entlassung anderer zu vermeiden, ist für Teile der Belegschaften offenbar nicht oder nicht mehr selbstverständlich. Und es passt ins Bild, wenn nahezu 50 % der von uns befragten westdeutschen Arbeiter und Angestellten eines Automobilherstellers (Dörre et al. 2011; vgl. den Beitrag von Holst und
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Matuschek in diesem Band) dem Statement „Eine Gesellschaft, in der jedermann aufgefangen wird, ist nicht überlebensfähig“ zustimmen und ein noch größerer Anteil der Befragten für mehr Druck auf Arbeitslose plädiert. Im organisationalen Kontext derart exklusiver Solidarität mögen neue Methoden und Organisationsformen (Organizing, Campaigning etc.) noch immer ihren Platz haben. Sie mutieren jedoch zu technokratischen Rekrutierungsmaßnahmen, sofern sie nicht in eine kohärente Erneuerungspolitik eingebettet sind. Ohne Bereitschaft zum Konflikt und vor allem ohne soziale und oppositionelle Bewegung in der Gesellschaft ist eine Erneuerung struktureller wie auch organisationaler Machtressourcen eher unwahrscheinlich. Macht, die von den Eliten lediglich geliehen ist, kann sich hingegen rasch als fiktional erweisen, wenn sie nicht durch Organisation- und Konfliktfähigkeit abgesichert wird. Diese Einschätzung gilt gerade auch für den aktuellen „Krisenkorporatismus“. In dem Maße, wie eine gewerkschaftliche Beteiligung an staatlichen Entscheidungsprozessen verzichtbar erscheint, entfallen die Geschäftsgrundlagen dieses „Korporatismus der Schwäche“. Mit dem Comeback der Gewerkschaften könnte es dann ebenso rasch vorbei sein wie mit der neu erwachten Liebe der politischen Eliten zu ihnen. Diese Aussage gilt indessen in noch stärkerem Maße für Länder, in denen die Gewerkschaften zu korporativen Deals gar nicht mehr fähig sind. Möglicherweise hat der Zerfall gewerkschaftlicher Organisationsmacht in einigen wichtigen kontinentaleuropäischen Staaten bereits jenen kritischen Punkt überschritten, an dem eine Repräsentation der Gesamtheit der Lohnabhängigen zur bloßen Fiktion wird. In Deutschland ist das zumindest in den neuen Ländern bereits der Fall. Vor dem Hintergrund einer tiefen Repräsentationskrise ist es wahrscheinlich, dass der Funktionswandel von Gewerkschaften hin zu partikularen Interessenorganisationen weitergeht. Dies ist, das dürfte deutlich geworden sein, nicht allein und in erster Linie das Resultat eines politischen Versagens gewerkschaftlicher Führungsgruppen. Kurzfristig für relative Beschäftigungssicherheit im Wertschöpfungssystem Automobil, im Maschinenbau oder der Chemie und Pharmaindustrie zu sorgen, ist z. B. eine Aufgabe, der sich gewerkschaftliche Interessenpolitik nur um den Preis der Selbstaufgabe und des Verdrängens auch gesellschaftlicher Entwicklungsperspektiven entziehen kann. Das Beispiel der Deindustrialisierung Großbritanniens vor Augen wird man dem gewerkschaftlichen Bemühen um den Erhalt „industrieller Kerne“ Rationalität kaum absprechen können. Aus der Perspektive des Machtressourcenansatzes muss jedoch gefragt werden, wozu es führt, wenn die gewerkschaftliche Einflussnahme zugunsten eines kurzfristigen Krisenmanagements mit dem Verzicht auf eine grundlegende Auseinandersetzung mit den Systemfehlern des Finanzmarktkapitalismus erkauft wird. Aus der Ferne mag man die Bruchstellen des aktuellen „Krisenkorporatis-
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mus“ (Urban 2010; Ehlscheid et al. 2010) noch längere Zeit übersehen, im Land selbst werden sie sich schon mit der anstehenden Auseinandersetzung um die anvisierten Haushaltskürzungen, die nun auf Sanierung des maroden Finanzsystems folgen, bemerkbar machen. Die Bruchstellen werden allerdings nicht im Selbstlauf dazu führen, dass der „Krisenkorporatismus“ sich genauso schnell verflüchtigt, wie er gekommen ist. Im Gegenteil, besonders die beiden großen Industriegewerkschaften, IG BCE und IG Metall, könnten dazu tendieren, den Krisenpakt mit einem Teil der weltmarktorientierten Unternehmen und dem Staat – trotz offizieller Proteste gegen das Sparprogramm der Regierung – weiter zu führen. Was für die IG BCE eine – modifizierte – Fortführung ihrer sozialpartnerschaftlichen Orientierung wäre11, würde für die IG Metall indessen eine gravierende Verschiebung ihres politischen Koordinatensystems bedeuten. Einst vor allem in ihrem Funktionärsköper zentrale Kraft einer pluralen politischen Linken, nähert sich die Organisation inzwischen in Teilen (nicht nur) ihres hauptamtlichen Funktionärskörpers dem selektiven industriepolitischen Korporatismus der anderen großen Industriegewerkschaft an. Demgegenüber scheint die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di mit ihrem eher regierungskritischen Kurs innerhalb des DGB relativ isoliert. In wichtigen Organisationsbereichen wie dem öffentlichen Dienst nur begrenzt konfliktfähig, wird die Organisation aber zunehmend zum Katalysator für unkonventionelle Aktionen und Streiks in Bereichen (Erzieherinnen), die für eine Aktivierung gewerkschaftlicher Organisationsmacht lange Zeit eher als randständig galten (vgl. den Beitrag von Dribbusch in diesem Band). Wie immer man die Veränderungen innerhalb des DGB bewerten mag, sei es als Resultat einer zwingend nötigen Modernisierung, sei es als Preisgabe eines gesellschaftlichen Gestaltungsanspruchs, als Faktum bleibt, dass sie mit dem Analyseraster der intermediären Organisation nicht zu erfassen sind. Handelt es sich doch um Veränderungen, die sich zunächst auf der Ebene sinnstiftender Orientierungssysteme („Gewerkschaftsideologien“; Hyman 2001), bei der normativen Einbindung und der Rekrutierung haupt- wie ehrenamtlicher Funktionäre bemerkbar machen. Das Raster der Intermediarität ist zudem ungeeignet, die Spielräume für Strategic Choice auszuloten, die Gewerkschaften noch immer besitzen. Zwar lassen sich Fraktalisierungstendenzen nicht ohne Weiteres umkehren, doch der Weg hin zu entpolitisierten Vertretungen von Pressuregroups ist keineswegs unausweichlich vorgezeichnet. Entscheidend ist nicht allein ob, sondern wie sich der gesellschaftliche Funktionswandel von Gewerkschaften vollzieht. Es ist durchaus möglich, dass Gewerkschaften trotz rückläufiger und
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Eine lesenswerte Kursbestimmung findet sich in: Vassiliadis (2010).
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zudem hoch selektiver Verankerung in spezifischen Beschäftigtengruppen in der Lage sind, sich inklusiv auf so genannte schwache Interessengruppen – seien es nun prekär Beschäftigte, Langzeitarbeitslose oder die Repräsentanten von Reproduktionsinteressen – zu beziehen, ohne entsprechende Bündnispolitiken vorab mit einem Alleinvertretungsanspruch zu verbinden. Auch solche Gewerkschaften, die sich bewusst sind, dass sie keine universelle Klassenrepräsentation zu leisten vermögen, können sich in transnationalen Wertschöpfungsketten internationalistisch verhalten oder auf die Verteidigung partikularer Standortinteressen beschränken. Sie können sich für neue Gruppen öffnen oder sich auf die Verteidigung einer schrumpfenden Stammklientel konzentrieren. Und sie können sich ausschließlich auf den Betrieb und das Unternehmen beschränken oder offensiv und mit Bereitschaft zum Konflikt in der politischen Arena agieren. Trotz des sich abzeichnenden Funktionswandels besteht somit weiterhin die Möglichkeit einer strategischen Wahl. In gewisser Weise sehen sich die deutschen Gewerkschaften mit einer Problematik konfrontiert, mit der sich Lohnabhängigenorganisationen in (semi-)peripheren Ländern seit Langem auseinander setzen müssen: Die subalternen Klassen sind, nicht zuletzt wegen der unterschiedlichen Verfügung über Sozialeigentum, derart fragmentiert, dass jeder Versuch, die daraus resultierende Heterogenität durch wenige zentrale Organisationen zu repräsentieren, unweigerlich Integrationsprobleme erzeugen muss. Anders als in den peripheren Kapitalismen sind die Lohnabhängigen in regulärer Beschäftigung hierzulande noch immer deutlich in der Mehrheit, wie schon gezeigt, breiten sich atypische und prekäre Beschäftigungsformen jedoch rasant aus. Im Unterschied zu früheren Phasen kapitalistischer Entwicklung kann die daraus resultierende Interessenheterogenität organisationspolitisch offenbar nicht mehr in einer kollektiven Aufstiegsperspektive relativiert werden. Stattdessen setzen sich mit der asymmetrischen Verfügung über Sozialeigentum Spaltungslinien durch, die der Bündnispolitik zwischen subalternen Klassen(fraktionen) und ihren organisierten Repräsentanten eine strategische Bedeutung zuweisen, die sie in der fordistischen Ära so nicht hatte. Das gilt umso mehr, als die ökonomisch-ökologische Doppelkrise, die (nicht nur) die westlichen Gesellschaften gegenwärtig durchlaufen, eine grundlegende Neuorientierung auch der Gewerkschaftspolitik erfordert. Was in früheren Perioden als wenigstens zeitweiliger Ausweg aus der ökonomischen Krise beinahe fraglos akzeptiert wurde, die Notwendigkeit materiellen ökonomischen Wachstums, trägt nun zumindest in seiner konventionellen Ausrichtung unweigerlich zur Verschärfung von Ressourcenknappheit, Energieverschwendung,
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Klimawandel und damit zur Zuspitzung der ökologischen Krise bei.12 Dies impliziert, dass auch und gerade jene Branchen, auf deren Fortbestand eine defensive gewerkschaftliche Standortsicherungspolitik zielt, unweigerlich einen tiefgreifenden Wandel durchlaufen werden, der von den Produkten bis hin zu den nachgefragten Qualifikationen reichen wird. Eine bloße Bestandserhaltungspolitik mag kurzfristig erfolgreich sein, schon mittelfristig könnte sie indessen jenen schmalen Zeitkorridor verspielen, der für ein stoffliches Umsteuern des (Re-) Produktionsmodells noch vorhanden ist. Gleich ob und wie die deutschen Gewerkschaften sich auf die neuen Verhältnisse einstellen – eine bloße Fortführung korporativer industriepolitischer Strategien, die ihren eigentlichen Ursprung im sozial-bürokratischen Kapitalismus der Nachkriegsära haben, lassen angemessene Antworten auf diese historisch neuartige Krisenkonstellation nicht zu. Der Druck zur Selbstveränderung der Gewerkschaften wird anhalten; der Preis für konservatives Beharren ist die Marginalisierung organisierter Arbeitsinteressen. In einer solchen Phase des Funktionswandels und der Selbstveränderung sind Gewerkschaften als noch immer höchst bedeutsame zivilgesellschaftliche Akteure stärker denn je auf eine sozialwissenschaftliche Forschung angewiesen, die diese Transformation kritisch begleitet. Eine solche Forschung ist jedoch derzeit zumindest in Deutschland kaum vorhanden. Verharren wichtige Protagonisten der Arbeitsbeziehungs-Forschung, sicher mit guten Gründen, im Paradigma der gewerkschaftlichen Repräsentationskrise, so machen andere mit sozialer Marktwirtschaft und intermediärer Organisation Leitbegriffe der fordistischen Entwicklungsphase des Kapitalismus zum normativen Fluchtpunkt von Analysen, die beanspruchen, Antworten auf die neuen Herausforderungen bereitzuhalten. Beide Deutungsmuster verleiten, aller Plausibilitäten zum Trotz, zu verzerrten Betrachtungen. Weder gibt es den linearen Niedergang sämtlicher Gewerkschaftsorganisationen in allen Zentrumsstaaten, noch lassen sich gewerkschaftliche Aktivitäten in einer Transformationskrise auf jene Vermittlungsleistungen reduzieren, die das Konzept der intermediären Organisation impliziert. Eine zeitgemäße Forschung muss, in klarer Abgrenzung zu überlebten analytischen Konzepten, vor allem drei Aufgaben erfüllen. Erstens kommt sie nicht umhin, einzulösen, was in diesem Beitrag nur als Anspruch formuliert wurde. Sie hat der Möglichkeit eines erneuten gesellschaftlichen Funktionswandels von Gewerkschaften mit der gebotenen analytischen Distanz nachzugehen und die gesellschaftlichen Konsequenzen eines solchen Wandels schonungslos aufzuklären. In den Labour Revitalization Studies und auch in unseren eigenen Studien wird die Tendenz zu einem erneuten gesell-
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Aus der Vielzahl der Veröffentlichungen: Stern (2007); Jackson (2009).
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schaftlichen Funktionswandel der Gewerkschaften bislang unterschätzt. Spielräume für eine strategische Wahl der Gewerkschaften können aber nur ausgelotet werden, wenn dieser schleichende Funktionswandel als eine mögliche und teilweise bereits faktische Realität wissenschaftlich reflektiert wird. Ein solches Vorhaben impliziert, dass Chancen und Grenzen gewerkschaftlicher Erneuerung im Kontext der Verfügbarkeit alter und neuer Machtressourcen zu diskutieren sind. In der einschlägigen Literatur wie auch bei den Autorinnen und Autoren dieses Bandes herrscht dahingehend Übereinstimmung, dass es kaum genügen wird, sich der alten Quellen von Arbeitermacht auf dem Wege von Konflikt und Opposition lediglich neu zu vergewissern. Gerade in den entwickelten Kapitalismen werden wohl neue Machtquellen für soziale Bewegungen benötigt, die sich nicht, jedenfalls nicht primär an Kapital-Arbeit-Konflikten entzünden. Vorschläge, kommunikative Macht als eine neue Ressource zu identifizieren (siehe den Beitrag von Gerst et al. in diesem Band), machen auf ein wichtiges Phänomen aufmerksam. In Zeiten der Fraktalisierung wird es immer wichtiger, die auseinanderstrebenden Teile mittels des „zwangslosen Zwangs“ besserer Argumente, durch sprachlich vermittelten Austausch, transparente Informationspolitik und Diskursfähigkeit, zusammen zu halten. Solidarität innerhalb wie außerhalb der Gewerkschaftsorganisation bedarf mehr denn je einer kommunikativen, prozeduralen Fundierung. Dennoch ist dies nach unserer Auffassung vor allem eine Veränderung in der Dimension ideologischer Macht. Gewerkschaftliche Kollektividentitäten (Hyman 2001) und Überzeugungssysteme waren schon immer kommunikativ vermittelt. Mit Blick auf die ökonomisch-ökologische Doppelkrise wird es wohl machtstrategisch vor allem darum gehen, neue Synthesen von Produktions- und Reproduktionsmacht zu finden. Nichtregierungsorganisationen, Frauen- und ökologische Bewegungen oder auch die genossenschaftlichen Ansätze einer solidarischen Ökonomie verfügen über je eigene Machtressourcen. Mit Blick auf dieses Potenzial gilt unter anderen Vorzeichen Ähnliches wie für den „Korporatismus der Schwachen“. Geliehene Macht ist fiktive Macht. Die Gewerkschaften werden daher nicht als bloße Trittbrettfahrer an den Quellen reproduktiver Macht partizipieren können. Und es geht auch nicht ausschließlich um eine inklusive Bündnispolitik gegenüber solchen Akteuren und Bewegungen. Vielmehr werden die Gewerkschaften politische Ziele formulieren müssen, die eine strategische Kooperation erlauben. Nur unter diesen Bedingungen wird es künftig möglich sein, dass – wie schon häufig in der Vergangenheit – politisierende Impulse aus der Gesellschaft in die Gewerkschaften hineingetragen werden. Es geht um inhaltsbasierte interessenpolitische Kooperationen, um eine Assoziierung von produktions- und
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reproduktionsbezogenen Akteuren. Als Begriff für eine entsprechende Suchstrategie sprechen wir daher von assoziierter Macht.13 Eine Arbeitsbeziehungs- und Gewerkschaftsforschung, die mögliche Neukombinationen von Machtressourcen analytisch erfassen will, kommt nicht umhin, ihre eigenen theoretischen Grundlagen zu hinterfragen. In diesem Zusammenhang gilt es, eine zweite Arbeitshypothese zu überprüfen. Diese lautet: Je stärker die Bereiche schrumpfen, die durch Mitbestimmung und Kollektivverträge noch abgedeckt werden, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit nicht-normierter Konflikte in anderen gesellschaftlichen Sektoren. Als Folge splittert, wie sich schon heute beobachten lässt, der soziale Konflikt auf. Jene Sektoren und Unternehmen, in denen der Klassenkonflikt durch Mitbestimmung und Kollektivverträge „pazifiziert“ wird, sind noch immer vorhanden, aber sie gleichen mehr und mehr Inseln inmitten einer aufgewühlten See. Kollektive (Nicht)Arbeitsinteressen artikulieren sich daher häufig jenseits der normierten Konflikte. Auch außerhalb von abgehängten Quartieren und Regionen findet nicht erst seit der Krise ein „bargaining by riots“ statt, das – trotz der unbestreitbaren Relevanz ethnischer oder geschlechtsspezifischer Konstruktionen – als Ausdruck spontanen Klassenhandelns zu dechiffrieren ist. Generalstreiks, Massenproteste gegen Entlassungen und Haushaltskürzungen, wie sie in Griechenland, Spanien, Portugal, Frankreich oder jüngst in Algerien und Tunesien im Gefolge der globalen Wirtschaftskrise aufgetreten sind, haben teilweise bereits den Charakter von Erhebungen und Revolten angenommen, die – auch aus einem Ohnmachtsempfinden vieler Beteiligter heraus – auf bewusste Regelverletzung zielen (Dörre 2010b). All das sind Symptome nicht des Endes, aber eines Funktionswandels organisierter Arbeitsbeziehungen. Um solche Prozesse analytisch bearbeiten zu können, müssen Forschungen zu Arbeitsbeziehungen und sozialen (Klassen-) Konflikten ihren Gegenstand ausweiten. Es gilt „labor unrest“, nicht normierte Konflikte, lokale Unruhen, Brot- und Butterkonflikte, die in gewaltsame Auseinandersetzungen münden, Jugendrevolten und ähnliche Phänomene analytisch wieder in den Blick zu nehmen. Gleiches gilt für die Streikintensität von Gewerkschaften und für politische (Klassen-)Konflikte. Drittens ist es wichtig, die subjektiven Potenziale wissenschaftlich auszuloten, die für eine Revitalisierung von Gewerkschaften genutzt werden können. Eine erneuerte Arbeitsbewusstseinsforschung wird feststellen, dass definitionsmächtige Betriebsräte immer nur einen Ausschnitt der vielschichtigen Subjektivitäten wahrnehmen, aus denen sich die von ihnen vertretenen Belegschaften
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Alain Lipietz hatte bereits zu Beginn des Jahrzehnts eine (Wieder-)Vereinigung von Arbeiter- und ökologischen Bewegungen prognostiziert. Das war deutlich zu optimistisch, darf aber als Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden (Lipietz 2000: 58ff.).
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zusammensetzen. Nutzt man die gegenwärtig vorhandene, völlig unzureichende Datenbasis, stößt man auf eine eigentümliche Konstellation: Das Arbeitsbewusstsein von Kerngruppen der Lohnabhängigen zeichnet sich in vielen unserer Untersuchungsbetriebe durch eine merkwürdig anmutende „Doppelstruktur“ aus, die sich auf die Formel „Gutes Unternehmen, schlechte Gesellschaft“ bringen lässt. Einerseits spricht vieles für eine „kompetitive Solidarität“ von Stammbelegschaften („Wir sind Porsche“, „Wir sind Karstadt“). Andererseits findet sich bei vielen Arbeitern und Angestellten neben den schon benannten Symptomen einer exklusiven Solidarität ein latenter Antikapitalismus, der jedoch gegenwärtig politisch heimatlos ist (vgl. den Beitrag von Holst und Matuschek in diesem Band). Eine pragmatische „Soziologie der Kritik“, wie sie Boltanski (2010) vorgeschlagen hat, findet hier ein wichtiges analytisches Betätigungsfeld. Eine solche Soziologie geht nie in den Urteilen von Alltagsmenschen auf. Sie bringt ihnen jedoch eine gebührende Aufmerksamkeit entgegen, die von verstehender Ablehnung bis zu (partieller) Berücksichtigung bei dem Bemühen um eine Revitalisierung wissenschaftlich gestützter Sozialkritik reichen kann (ebd.: 21f.). Davon, die alltägliche Kapitalismuskritik in ihrer durchaus vorhandenen Radikalität und Bindungslosigkeit auch nur zu reflektieren, ist der zeitgenössische Mainstream der Industrial-Relations-Forschung indessen meilenweit entfernt. Auch deshalb sind theoretische Innovationen dringend gefragt.
Epilog Es war ein Gewerkschafter, der den Verfasser dieser Zeilen auf die eingangs zitierte Sentenz aufmerksam machte. Besagter Sekretär organisierte auf lokaler Ebene erfolgreich Protestnoten und er war nicht der Einzige. Dies sei als kleiner Trost all jenen mitgeteilt, die es empört ablehnen, ihrem kräftezehrenden Engagement das Etikett eines fraktalisierten Interessenverbandes aufzukleben. Wie diese Episode noch einmal illustriert, ist über die Zukunft der Gewerkschaften noch nicht entschieden. Die Chancen einer strategischen Wahl bestehen noch immer. Dass die Geschichte der Gewerkschaften zu Beginn des 21. Jahrhunderts einen neuen und guten Anfang nehmen wird, ist damit aber nicht gesagt.
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Klaus Dörre
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Funktionswandel der Gewerkschaften
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Autorenverzeichnis
303
Autorenverzeichnis
Dr. Ingrid Artus ist Professorin für Soziologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Industrielle Beziehungen im internationalen Vergleich sowie Prekäre Randschichten. Sarah Bormann ist Doktorandin am Lehrstuhl für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie der FSU Jena. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Arbeitsbeziehungen/Gewerkschaften, NGOs und internationale Arbeitsteilung. Branchenschwerpunkte sind Einzelhandel und Elektronikindustrie. Antonio Brettschneider ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) sowie am Institut für Soziale Arbeit und Sozialpolitik (ISP) der Universität Duisburg-Essen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Sozialpolitik, vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung und Industrielle Beziehungen. Dr. Tabea Bromberg ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Industrielle Beziehungen sowie Arbeits- und Produktionssysteme. Dr. Klaus Dörre ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seine Arbeitsschwerpunkte sind u. a. Theorie kapitalistischer Landnahmen, Prekarität sowie Arbeitsbeziehungen und soziale Konflikte. Dr. Heiner Dribbusch ist Wissenschaftler am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung. Seine Forschungsschwerpunkte sind industrielle Beziehungen und Gewerkschaftspolitik, wobei sein besonderes Interesse dem Wandel der Machtverhältnisse zwischen den Betriebs- sowie Tarifparteien gilt. Dr. Detlef Gerst ist politischer Sekretär im Ressort Arbeitsgestaltung und Gesundheitsschutz. Er beschäftigt sich im Schwerpunkt mit neuen Produktionssystemen, mit Innovationsprozessen und dem Arbeits- und Gesundheitsschutz.
T. Haipeter, K. Dörre (Hrsg.), Gewerkschaftliche Modernisierung, DOI 10.1007/978-3-531-93332-0, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Dr. Thomas Haipeter ist Leiter der Abteilung Arbeitszeit und Arbeitsorganisation des Instituts Arbeit und Qualifikation und Privatdozent an der Universität Duisburg-Essen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Soziologie der Industriellen Beziehungen, Wirtschafts- sowie Arbeits- und Industriesoziologie. Dr. Hajo Holst ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen neben der Erneuerung der Interessenvertretung nachhaltige Flexibilisierung, prekäre Beschäftigung und international vergleichende Arbeitsbeziehungen. Dr. Steffen Lehndorff ist Mitarbeiter der Forschungsabteilung Arbeitszeit und Arbeitsorganisation am Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Arbeitszeiten, industrielle Beziehungen und nationale Beschäftigungssysteme im europäischen Vergleich. Dr. Ingo Matuschek ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Friedrich-SchillerUniversität Jena. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Flexibilisierung und Subjektivierung von Arbeit sowie Qualitative Methoden und Soziologie politischen Handelns. Klaus Pickshaus leitet den Bereich Arbeitsgestaltung und Qualifizierungspolitik beim Vorstand der IG Metall. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Arbeitspolitik und Gesundheitsschutz. Gabi Schilling ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Forschungen zu Arbeitszeit, Arbeitsgestaltung sowie Interessenvertretung und Sozialpartnerschaft im Wandel. Achim Vanselow war bis Ende 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen. Seit Beginn 2011 ist er beim DGB Landesbezirk Nordrhein-Westfalen als Abteilungsleiter für Wirtschafts-, Struktur- und Technologiepolitik zuständig. Dr. Hilde Wagner ist Leiterin des Ressorts Tarifpolitische Themen- und Handlungsfelder, Europa und Tarifarchiv im FB Tarifpolitik beim Vorstand der IG Metall. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Arbeitszeit, Arbeits- und Leistungspolitik, Industrielle Beziehungen und Entwicklung des Flächentarifvertrags.