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Irmgard Laarmann,
Glücklich wie Wir …
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Dieses e-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt! Scanned by: Team|Kauz 11/2005
Irmgard Laarmann,
Glücklich wie Wir …
Erste Auflage / 1958 © 1958 by Boje-Verlag, Stuttgart Satz und Druck: Kaußler, Landau/Pfalz Illustration: Erika Meier-Albert Printed in Germany
MUTTERS ERSTE ÜBERRASCHUNG „Helene", sagte Vater feierlich zu Mutter, „kauf dir ein Sparschwein, hier sind die ersten zehn Mark für deinen Pelzmantel!" Es war ein warmer Tag im Mai und der Gedanke an einen Pelzmantel geradezu lächerlich. Aber Mutter fand ihn gar nicht lächerlich, sie war begeistert. Sie holte die größte Zigarrenkiste herbei, die sie finden konnte, versah den Deckel mit einem schmalen Schlitz und nagelte sie sorgfältig zu. „Glaubst du, dass sie bis Weihnachten ganz voll ist, Fred?" „Es sieht ganz danach aus", sagte Vater, „deine Freundin Hanni bekommt ab morgen diese teure Wohnung für die Zeit, die wir auf dem Lande leben. Wir sind fünf Monate fort, und wenn dort alles so billig ist wie die Miete, die dieser komische Herr Seltsam für sein Haus haben will, dann platzt dein Sparschwein bis Weihnachten, und du kriegst endlich deinen Pelz, den prächtigen Pelz, den du dir schon so lange wünschst!" „Ach Fred", sagte Mutter und stellte sich auf die Zehenspitzen, um Vater ins Gesicht sehen zu können, „ich bin so glücklich, dass wir dieses Haus bekommen konnten. Doktor Weißfuß meint, die Waldluft und die Ruhe auf dem Land seien das Beste für Michael. Er wird alles haben, Waldluft und Ruhe —— Glaubst du, dass er wieder ganz gesund werden wird?" „Ich hoffe es", sagte Vater und strich mit seiner großen Hand über Mutters glatte dunkle Haare; „aber hast du auch alles richtig bedacht? Es ist ein sehr kleines Haus, hat Herr Seltsam gesagt, und sehr alt..." „Kein Licht, keine Wasserleitung — ich kann mir alles genau vorstellen", unterbrach Mutter fröhlich, aber Vater schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, ob du das kannst, Helene, du hast immer in der
Großstadt gewohnt, du bist es nicht anders gewöhnt, als dass du vor der Tür in die Straßenbahn einsteigen und deine Einkäufe in Kaufhäusern machen kannst, wo es alles gibt. Aber dort, wo wir hinkommen, ist kein Kaufhaus, nicht einmal der winzigste Kramladen. Bis zum Bahnhof hast du drei Kilometer zu gehen, und dann musst du über eine Stunde fahren, um in die Stadt zu kommen!" „Und du machst dir nichts aus diesen dreiundvierzig Kilometern, Fred? Du musst doch ins Büro!" „Nein, Lenchen, ich werde die drei Kilometer zur Bahn mit dem Fahrrad fahren." Mutter legte Vater die Hand auf den Mund und sagte: „Nun sei aber schön still, Fred, was du kannst, kann ich auch. Hauptsache, Michael wird wieder gesund. Und nun geh und bestelle das Taxi für morgen." „Lenchen", sagte Vater und zog den Mantel über, „ich gehe, aber ich warte nur fünf Minuten vor der Haustür ..., wenn du mich in diesen fünf Minuten nicht zurückrufst, ist es endgültig zu spät!"
Am nächsten Tag goss es in Strömen. Alles schien sich in Wasser und Schmutz aufzulösen, besonders die Waldwege. Durch die ärgsten Pfützen eines dieser schwabbeligen Waldwege rauschte ein Taxi. Es war bis hoch über das Dach mit unzähligen Gepäckstücken und einem Fahrrad beladen. Vorn, neben dem Chauffeur, saß Vater, fast erdrückt von der Last der Taschen, Pakete und besonders von einer großen Hutschachtel auf seinen Knien, die ihm jede Aussicht verwehrte. Auf dem Rücksitz saß Mutter mit Michael, Annette und mehr als einem Dutzend viereckiger, runder und länglicher Kartons, einigen Koffern, einem Korb voll Geschirr und verschiedenen Einkaufsnetzen mit Kleinigkeiten. Michael war fünf Jahre alt, blond und sehr blass und mager. Man konnte
ihm ansehen, dass er vor kurzer Zeit noch sehr krank gewesen war. Annette war drei Jahre alt und genau das Gegenteil von ihrem Bruder, rundlich, braunhäutig, mit braunen Augen und wirren dunkelbraunen Haaren. Sie sah aus wie ein aus dem Wagen verlorenes und zurückgelassenes Zigeunerkind. Annette war lebhaft, eigensinnig und immer vergnügt. Sie krähte vor Entzücken über das hopsende, stoßende Auto, in dem sie mit dem Korb voll Geschirr und aufgeplatzten Tüten voll Apfelsinen und Schinkenbroten durcheinandergeschüttelt wurden wie in einem Mixbecher. Michael war grün im Gesicht, und Mutter zerrte ein großes Handtuch aus der Einkaufstasche und versuchte ihn bei jedem Stoß mit steifen Armen über dem Sitz zu halten. „Nee, nee", sagte der Chauffeur zum dreizehnten Male, „wenn Sie mir det vorher jesagt hätten, war' ick mit meiner Karre zu Hause jeblieben, det können Sie versichert sein!" Wir auch, ging es Mutter durch den Sinn, aber sie ließ nichts davon merken und sagte: „Wir müssen ja nun bald da sein, nicht, Fred?" „Ich glaube, ja", sagte Vater und versuchte, um das gewaltige Exemplar von Hutschachtel herum auf die Straße zu schauen und gleichzeitig sein linkes Bein auszustrecken, in dem ihn ein heftiger Wadenkrampf quälte. Es gelang ihm jedoch nicht, seine Schuhspitze stieß sofort an den Eindünstapparat, den Mutter als Ersatzwaschkessel mitgenommen hatte, und an die große Vase, in der Annettes Wäsche untergebracht war. Dafür aber kippte die Hutschachtel, die er einen Augenblick außer Acht gelassen hatte, um, und ehe Vater zugreifen konnte, ergoss sich ein wahrer Wolkenbruch von Reiskörnern, Linsen und Bohnen über den wütenden Chauffeur. Annette kreischte vor Vergnügen, und selbst Michael, der mit seinem Frühstück zu kämpfen hatte, das sein Magen durchaus wieder loswerden wollte, lächelte matt. Der Chauffeur aber nahm den Fuß vom Gaspedal, blieb mitten auf der
Straße stehen und sagte blaurot vor Ärger: „Jetzt hab' ich aber genug! Entweder steigen Sie hier aus, oder Sie fahren wieder mit zurück! Mich kriegen Sie keinen Schritt weiter!" „Aber da ist es ja!" rief Vater, dem die Hutschachtel nun die Sicht nicht mehr behinderte, „hier vor unserer Nase!" „Wo?" riefen Mutter und Annette gleichzeitig und stießen heftig mit den Köpfen zusammen. Sie sagten beide: „Au!", sahen sich einen Augenblick wütend an, ließen sich dann aber durch die wachsenden Beulen auf ihrer Stirn nicht weiter ablenken und entdeckten wirklich im selben Augenblick das kleine Haus. Das heißt, zuerst sahen sie durch die regenbeschlagene Windschutzscheibe nur einen großen Nussbaum am Waldrand, wo die Wiesen begannen und ein kleiner Bach eilig bergab stürmte. Unter dem Nussbaum aber konnten sie schließlich ein steiles Ziegeldach erkennen, das fast bis auf den Boden reichte, und davor entdeckten sie eine Pumpe mit einer breiten, hölzernen Tränkröhre. Mutter gab sich einen Ruck und meinte: „Bei Sonnenschein muss es sehr malerisch aussehen!" Der Chauffeur drehte sich schwerfällig um und sagte mit einem schadenfrohen Grinsen: „Bei Sonnenschein, Fräuleinchen —" „Frau", knurrte Vater; aber das machte auf den Chauffeur gar keinen Eindruck. „Wer weiß", nickte er, „ob in dieser Gegend die Sonne überhaupt einmal scheint! Sieht nicht danach aus!" Mutter wühlte in einer Einkaufstasche und brachte eine Flasche zum Vorschein. „Hier", sagte sie mit ihrem bezauberndsten Lächeln und reichte sie dem Chauffeur, „trinken Sie das nachher auf unser Wohl! Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie uns nun schnell zum Haus hinüberbringen würden, der Junge muss ins Bett!"
Der Chauffeur warf einen Blick auf die Flasche und einen auf Michael und fühlte ein menschliches Rühren. Er setzte das Auto wieder in Bewegung, und fünf Minuten später standen Mutter, Michael und Annette im strömenden Regen vor der Haustür, und Vater versuchte den Schlüssel im Schloss umzudrehen, aber augenscheinlich war es eingerostet; er brauchte sehr lange. Der Chauffeur blieb auf seinem Platz im Auto sitzen. Er hatte die Scheibe heruntergekurbelt und stützte behaglich den Arm darauf. „Fräuleinchen", sagte er grinsend, „hier halten Sie's keine fünf Tage aus! Ich mach' die größte Wette, diese Bruchbude steckt voller Mäuse und Ohrwürmer! Was wollen Sie eigentlich mit der großen Scheune da anfangen?" „Scheune", sagte Vater bissig, „das ist der Salon! Haben Sie keine Augen im Kopf? Vielleicht können Sie uns jetzt unsere Sachen herausgeben! Die Linsen schenke ich Ihnen, davon kann Ihnen Ihre Frau heute Abend Suppe kochen!" Schließlich war alles aus- und abgeladen, und das Taxi rumpelte aus dem Hof. Der Chauffeur war zum Schluss beinahe freundlich geworden und bot Mutter an, sie wieder in die Stadt zu bringen. Offenbar erweckte der Anblick dieser hilflosen Familie, die er hier zurückließ, eine Spur Mitleid in seinem verhärteten Gemüt. „Du hättest vielleicht nicht so schnell ablehnen sollen, Helene", sagte Vater, „jetzt ist es aus. Du wirst kaum das Glück haben, dass sich ein armer Teufel von Autofahrer in diese Gegend verirrt und um einen Schluck Wasser bei dir bittet!" „Das würde ihm auch nichts nützen", erwiderte Mutter, „da meine Wasserleitung nicht ganz in Ordnung ist. Ich würde ihn zu unserer reizenden Pumpe schicken und zu ihm sagen: “Würden Sie so nett sein und mir diese beiden Eimerchen voll Wasser mitbringen? Es macht
Ihnen hoffentlich keine Mühe!'" Und damit drückte Mutter Vater zwei große Kübel in die Hand, machte ihm die Tür auf, und Vater musste wohl oder übel durch den Regen zum Brunnen laufen. Aber als er zurückkam, hatte Mutter bereits Feuer im Ofen angezündet und beschäftigte sich mit Michael, der gerade den letzten Rest seines Frühstückskakaos auswürgte. Das Wasser kam keinen Augenblick zu früh, und Mutter kniete im Mantel, wie sie war, auf dem Boden und wischte die Bescherung mit einem ziemlich neuen ' Frottierhandtuch auf. „Der Anfang verspricht allerhand", murmelte Vater und hob Michael auf. „Würdest du so nett sein und das Schlafzimmer suchen? Wir hätten unbedingt vorher herkommen und das Haus ansehen müssen! Ich glaube, wir sind fürchterlich 'reingefallen, und ich hab' es auch noch für fünf Monate gemietet!" „Nicht doch, Fred! Fünf Monate sind schließlich keine Ewigkeit, und dann fahren wir nach Hause, und Michael ist gesund und stark und hat rote Backen und dicke Beine ——— Hier ist eine Tür. Oh! Hättest du gedacht, dass man hier vom Wohnzimmer direkt in den Keller kommt? Merkwürdig! Wollen wir mal draußen in der Diele nachsehen? Ist es nicht spaßig, wenn man sein eigenes Schlafzimmer suchen muss? Michael, Liebling, wie fühlst du dich? Geht es dir jetzt besser?" Michael nickte. Er fühlte sich wirklich besser, seitdem das abscheuliche Zeug heraus war. Er wollte gar nicht mehr ins Bett gehen. Er wollte am liebsten in dem neuen Haus mit nach dem verloren gegangenen Schlafzimmer suchen. Mutter wurde sofort ganz vergnügt, als sie sah, dass Michael wieder etwas Farbe hatte. „Wisst ihr was", rief sie, „nun koche ich erst mal herrlichen heißen Tee für Michael und Annette und dann herrlichen heißen Kaffee für Vater und
mich, und dann sagen wir unserem neuen Heim ordentlich guten Tag, was meint ihr?" Mutter brauchte nicht einmal sehr lange nach Tee- und Kaffeetopf zu suchen, und schließlich hatte sie auch für jeden eine Tasse, aber nur einen einzigen Teller und drei Untertassen gefunden. Die Brote aus der Reisetasche schmeckten wunderbar fremd, als wäre man bei sich selbst zu Besuch. Es war sehr aufregend. Das Aufregendste aber war, dass der Tee mit richtigem Brunnenwasser zubereitet wurde. Nach dem Tee nahm Vater Annette und Mutter Michael an der Hand. Sie stiegen durch die geheimnisvolle Tür in den Keller hinunter. Was war das für ein seltsamer Keller! Riesige alte Fässer tauchten plötzlich auf, wenn Vaters Taschenlampe darüberglitt. Unter dem Kellergewölbe entlang war ein großes Brett aufgehängt. „Hier musst du dein Brot aufbewahren, Lenchen", sagte Vater, „dafür ist es da!" „Und wer hält die Leiter, bis ich da oben bin? Wieso soll das Brot eigentlich aufgehängt werden? Wir können es doch, wie bisher, in den Schrank legen!" „Können wir nicht", widersprach Vater, „wegen der Mäuse!" Mutter sagte nichts mehr, aber sie hielt sich mit ängstlichem Blick in der Nähe der Taschenlampe. Der Keller hatte noch einen zweiten Ausgang, und als sie dort die breite, sehr ausgetretene Steintreppe hinaufstiegen, standen sie plötzlich in der Scheune. „Was für ein riesiges Ding!" rief Mutter verwundert, „es ist die größte Scheune, die ich je in meinem Leben gesehen habe!" Vater lachte und meinte, Mutter sei in ihrem Leben wohl nicht sehr viel in Scheunen herumgekommen. „Michael, Annette, hier können wir prächtig Zirkus spielen, wenn es so weiterregnet", sagte Mutter. „Fred, du musst uns eine Schaukel
aufhängen, mit langen Seilen, dass wir bis auf den Dachboden fliegen, dann kann der grässliche Chauffeur von mir aus recht behalten mit seiner Wettervorhersage! Ist sie nicht großartig, unsere Scheune?!" Vater sah Mutter von der Seite an, aber Mutter meinte es ganz im Ernst. Sie war wirklich vergnügt und kein bisschen enttäuscht. Das Haus kam ihr weder zu klein noch zu alt vor. „Ich glaube, es verstellt sich ein bisschen", sagte sie und zwinkerte mit den Augen, „lass mich nur erst Gardinen aufhängen und Blumentöpfe vors Fenster stellen, dann merkst du, dass es noch ein rüstiges, freundliches Mädchen ist!" „Ich hab' das Schlafzimmer gefunden!" rief Michael, der sich von Mutters Hand losgemacht hatte und mit Annette vorausgegangen war. Das Schlafzimmer betrat man von der Diele aus. Es lag neben der Küche und war mit vier leeren Bettgestellen ausgerüstet. Das war nichts Besonderes, denn das Bettzeug hatten sie ja mitgebracht, aber etwas Besonderes war es, dass zwei von den vier Betten nicht nebeneinander, sondern übereinander standen. Michael schaute entzückt zu dem hohen Oberbett hinauf, an dem eine Leiter lehnte. „Darf ich oben schlafen?" „Gewiss, mein Junge", sagte Vater, „du kannst von deinem Bett aus geradewegs in die Tannenwipfel schauen. Hm — wie köstlich es hier riecht! Nach Harz und Fichtennadeln! Das ist das Richtige für Michael, hier wird er gesund werden, und das ist schließlich die Hauptsache. Wir dürfen das Haus nicht so wichtig nehmen ..." „Es ist aber ein wunderschönes Haus!" erklärte Michael plötzlich, und seine Augen, die in dem kleinen, mageren Gesicht so groß aussahen, strahlten Vater und Mutter an. Da beugte sich Mutter schnell zu ihm hinunter, Schloss ihn in die Arme
und flüsterte: „Du hast recht, Michael, Liebling, es ist das schönste Haus für uns, das es ..." Ein schriller Schrei von Annette ließ sie aufschrecken. Ohne sich einen Augenblick zu besinnen, rannte Mutter hinaus und auf eine halb offen stehende Tür zu. Dahinter war eine Art Holz- und Rumpelkammer. Durch eine Wolke von Staub konnte Mutter einen Reisighaufen, Besen, Eimer und die Umrisse von einigen größeren Gegenständen erkennen, aber im Moment hatte sie dafür gar kein Interesse. Annette war nämlich durch ein morsches Brett gebrochen und stak bis zu den Hüften in einem Loch im Fußboden.
„Ich bin schon wieder beinahe im Keller", sagte sie kläglich und versuchte herauszuklettern, wobei sie jedoch noch tiefer einsank. „Rühr dich nicht!" rief Mutter entsetzt. „Fred, schnell, komm und hilf Annette herauszuziehen!" Vater kam, und eine Minute später war Annette aus ihrer misslichen Lage befreit. „Ein bisschen gefährlich, was", sagte Vater und lachte über Mutters ängstliches Gesicht; „ich glaube, den Dachboden sehen wir uns erst mal ohne Annette und Michael an!" „Du musst entweder den Boden von der Rumpelkammer ausbessern, Fred, oder ein paar Nägel in die Tür schlagen, damit niemand mehr hineingehen kann!" erklärte Mutter und raffte sich energisch auf. „Ich werde erst das eine und dann das andere tun", sagte Vater und nagelte die Tür zu. Der Dachboden war zwar etwas verstaubt, aber sicher, jedenfalls konnte niemand durchbrechen und plötzlich im Schlafzimmer zum Vorschein kommen. Über der Scheune allerdings hörte der Boden unversehens
auf, so dass man im Dunkeln leicht mit einem Schritt vom Dachboden in die Scheune kommen konnte, ohne im Geringsten die Treppe zu benützen. Auf der anderen Seite, genau über dem Wohnzimmer, gab es noch eine Dachkammer. „Wenn Michael älter wäre, gäbe dies ein feines Zimmer für ihn", meinte Vater, aber Mutter blickte ängstlich zu dem Scheunenloch hinüber und wollte nichts davon wissen. Vater versprach, auch dieses Loch mit Brettern zu vernageln. „Vernageln —", rief Mutter, „da fällt mir ein, die Eimer stehen ja in der Rumpelkammer! Du musst die Tür noch einmal aufreißen, Fred! Wollen wir jetzt einziehen?" „Du kannst es dir noch überlegen, Lenchen. Solange die Koffer nicht ausgepackt sind, können wir jederzeit umkehren!" „Nein, Fred, wir packen die Koffer aus! Wenn du immer rechtzeitig mit Nägeln und Brettern zur Hand bist und für Sicherheit sorgst —" „Und wenn du immer rechtzeitig eine gute Tasse Kaffee und ein bisschen Humor bereit hast —" „— dann werden wir's schon miteinander schaffen, Fred!" lachte Mutter. „Hast du übrigens eine Ahnung, wer die Zimmer für uns sauber gemacht hat? Die Fenster glänzen ja wie Spiegel!" „Ich hab' eine Ahnung, dass es Frau Knäblein gewesen ist, denn sie hat es mir am Telefon versprochen!" „Frau Knäblein?!" „Ja, das ist die Frau von Herrn Knäblein, der dieses Haus für den sonderbaren Herrn Seltsam verwaltet. Knäbleins sind unsere nächsten Nachbarn, sie wohnen bloß etwa einen Kilometer von uns entfernt. Wenn ich mit dem Fahrrad zur Bahnstation fahre, komme ich bei ihnen vorbei!" „Und sie wohnen genauso einsam wie wir hier?" „Genau so!"
„Gott sei Dank", sagte Mutter aufatmend, „dann kann ich ja Frau Knäblein um Rat fragen, wenn ich mal nicht weiß, wie sich eine Einsiedlersfrau hilft, wenn sie vergessen hat, Salz für die Suppe einzukaufen!" Sie lachten beide, dann aber band Mutter eine Schürze um, und Michael und Annette durften ihr helfen, Koffer auspacken und Schränke einräumen. Mitten in der Nacht schreckte Mutter aus dem Schlaf auf. Sie hatte geträumt, sie stünde mit einem herrlichen Brautkleid, mit Schleier und Kränzchen unter der Kirchentür. Plötzlich drehte jemand eine gewaltige Dusche auf, und während ihr das Wasser über Gesicht und Schleier rieselte, brauste die Orgel los, und der Organist sang: „Freuet euch! Freuet euch! Freuet euch!" — „Das ist aber doch zu arg!" rief Mutter und sprang entsetzt aus dem Bett. „Wie kannst du da noch, Freuet euch' singen!" „Aber Helene!" Vater richtete sich auf und sah verwirrt und schlaftrunken um sich, „ich habe überhaupt nicht gesungen und schon gar nicht, Freuet euch'!" „Es war deine Stimme", widersprach Mutter zornig, „sie klingt mir jetzt noch in den Ohren! Hier, sieh dir das an!" Sie knipste die Taschenlampe an, die neben ihr lag, und Vater sah, dass sich auf ihrem Kissen eine ansehnliche Wasserlache gebildet hatte. Tropfen um Tropfen löste sich von der Decke und platschte herunter, dorthin, wo Mutters Kopf gelegen hatte. „Meine Haare sind klitschnass, fühl mal!" empörte sie sich. „Mir scheint, das Dach ist nicht dicht!" seufzte Vater. „Mir scheint, du musst aufstehen und irgendetwas darunterstellen", nickte Mutter. „Meine Güte, hörst du, wie es im Wald braust! Das ist die Orgel, von der ich geträumt habe! Hoffentlich regnet's bei den Kindern
nicht durch!" Mit einem Satz war sie aus dem Bett und befühlte Michaels Kopf und seine Bettdecke, aber er war vollkommen trocken, und beide Kinder schliefen so fest wie Murmeltiere. Kaum hatte sich Vater, nachdem er mit der Taschenlampe auf den Dachboden geklettert war und einen Eimer unter das lecke Dach gestellt hatte, wieder ins Bett gelegt, da begann im Wald ein Nachtkonzert, das Mutter eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Ein uralter Uhu — er musste uralt sein, sonst hätte er unmöglich solche geisterhaft hohlen Laute von sich geben können — und eine Gesellschaft von Käuzen hatten sich zur Begrüßung der Familie auf den nächsten Bäumen eingefunden, und Mutter erwartete jeden Augenblick schaudernd, die Musikanten durchs offene Schlafzimmerfenster hereinfliegen zu sehen. „Aber Lenchen", sagte Vater, „es kommt dir nur so unheimlich vor, weil du noch niemals in der Nacht Eulen gehört hast. Du wirst dich an sie gewöhnen ..." „Niemals!" rief Mutter und verschwand unter der Bettdecke. Es wurde eine sehr unruhige Nacht, und das letzte, was Mutter vor sich hin murmelte, ehe sie einschlief, war: „Du musst morgen nach einem Auto telefonieren! Eine zweite Nacht halte ich's hier nicht aus, nein!" Ein entzückter Aufschrei weckte Mutter und Vater. Die Sonne war eben aufgegangen und tauchte das Schlafzimmer in ein rosiges Licht. Hell bestrahlt von diesem Licht, saß Michael oben in seinem Bett, ein Lächeln auf dem Gesicht, und deutete mit der Hand durchs Fenster. „Vater, Mutter", flüsterte er, „seht doch!" Auf hohen, schlanken Beinen, die zierlichen Köpfe mit den beweglichen Ohren dem Haus zugewandt, stand ein Rudel Rehe auf der Wiese vor dem Wald. Es sah geradezu märchenhaft aus.
„Gleich werden sie aus unserer Brunnenröhre trinken", sagte Mutter versonnen, aber die Rehe senkten die langen Hälse und tranken aus dem kleinen Bach, der durch die Wiese gluckerte. Man hörte ihn deutlich in der großen Stille. Jetzt begannen zwei Kuckucke einander zuzurufen, Finken und Meisen flatterten, zwitscherten, schwätzten und jubelten im Nussbaum, eine Lerche stieg aus der Wiese in die Luft, und ein bunter Häher flog durch eine breite Sonnenbahn im Wald, dass seine Federn plötzlich aufblitzten wie grüne und blaue Edelsteine. „Wie schön ist das!" sagte Mutter ganz leise. Annette verkündete krähend: „Es regnet nicht mehr, ich geh' spazieren!" Und ehe es jemand verhindern konnte, war sie aus dem Bett geklettert und lief barfuss in ihrem Nachthemdchen zum Brunnen hinüber. Die Rehe zogen sich ohne Eile in den Wald zurück, und Annette planschte jubelnd im Wasser, das in der hölzernen Tränkröhre stand. „Ich möchte auch 'raus", verlangte Michael. „Du wirst dich erkälten, Liebling", sagte Mutter besorgt, aber Vater fand die Sonne warm und die Luft lau genug, und Michael kletterte durchs Fenster und spielte mit Annette Fangen auf der betauten Wiese. „Wo waschen wir uns bloß?" fragte sich Mutter stirnrunzelnd, aber Vater sagte fröhlich: „Unter der Pumpe, Lenchen, was für ein Spaß! Schnell, zieh den Badeanzug an!" Es wurde wirklich ein Spaß! Der eiserne Schwengel kam gar nicht mehr zur Ruhe. Zuerst pumpte Vater für Mutter, dann Mutter für Vater und dann alle beide für Annette und Michael. Sie standen nebeneinander in der breiten Tränkröhre, Annette braun und rundlich und Michael so jämmerlich dünn, dass man glauben konnte, die Knochen müssten durch seine dünne, blasse Haut durchstechen. Er schauderte, als der breite Wasserstrahl seinen bloßen Rücken traf, aber nachdem Mutter ihn
abfrottiert hatte, fühlte er sich behaglich und warm in seinen Kleidern. Für Annette war alles ein einziges Vergnügen. Ihr Körperchen dampfte wie ein frisch gebackenes, braunes Brot, das man mit Wasser bestreicht. Unter dem Nussbaum standen eine hölzerne Bank und ein Tisch, dort frühstückten sie. „So", sagte Vater, nachdem er seine Tasse weggestellt hatte, „jetzt gehe ich also!" „Wohin gehst du?" fragte Mutter verwundert. „Nun, ins Dorf, ein Auto bestellen!" „Wozu, um alles in der Welt, brauchst du jetzt ein Auto?" „Ich?! Du brauchst eines, du willst doch wieder zurückfahren, du kannst es doch keine Nacht länger hier aushalten!" „Mutter!" Michael blickte ganz verstört um sich, „bitte, Mutter, lass uns hier bleiben", bettelte er, „ich möchte nicht in die dumme alte Stadt zurück, ich will auf der Wiese spielen und morgens die Rehe ..." Er brach in heftiges Schluchzen aus. Sofort war Mutter bei ihm. Sie kniete neben ihm am Boden, umschlang ihn mit den Armen und flüsterte: „Das sollst du auch, mein Liebling. Mutter hat es doch gar nicht so gemeint! Mutter wird sich an alles gewöhnen! Natürlich bleiben wir hier, und du darfst so lange auf der Wiese spielen, bis du dicke Backen hast und so braun bist wie ein Eichhörnchen! So, nun trockne deine Tränen und spaziere ein bisschen um unser Haus herum. Und wenn du alles gesehen hast, dann kommst du in die Küche und erzählst mir davon!" Michael nickte, lächelte, leckte die letzte Träne, die über seine Backe rollte, mit der Zungenspitze auf und trabte mit Annette davon. Mutter wusch in der Küche das Geschirr ab, und Vater ging daran, den Boden in der Besenkammer auszubessern. Er hatte ein paar passende Bretter gefunden und suchte nun im Gepäck nach einer Säge, konnte
aber keine finden. Mutter räumte das Geschirr in den Schrank ein, und Vater versuchte sich ohne Säge. Die Zeit verging. Mutter fing an, das Mittagessen zu kochen. Plötzlich merkte sie, dass sie schon eine ganze Weile irgend etwas vermisste. Es war so sehr still. Sie hörte den kleinen Bach drüben durch die Wiese plätschern wie ein vergnügtes Kind, sie hörte das unablässige tiefe Rauschen der Tannenwipfel, den Kuckuck, das Geschmetter der Finken und das melodische Flöten einer Amsel, aber sie hörte weder Michaels eifriges Geplapper noch Annettes schrille Entzückensschreie, die den Garten belebt hatten. „Fred", rief Mutter ängstlich, „kannst du mal eben nach den Kindern sehen?" „O verflixt", brummte Vater ärgerlich hinter der Besenkammertür, und ein scharfes Splittern begleitete sein Gebrumm, „das Brett ist hin! Wenn ich bloß eine Säge hätte!" „Fred", Mutter erschien in der Besenkammer und streckte beschwörend die Hände aus, „wie kannst du jetzt an eine Säge denken! Michael und Annette sind nicht mehr da!" „Ach was", sagte Vater unwirsch und betrachtete das Brett, das er in der Hand hielt, „sie werden ein Stück in den Wald gelaufen sein und Maiglöckchen pflücken!" „Dann hole sie doch ganz geschwind, bitte, Fred! Die Suppe ist fertig, wir können gleich essen!" Vater murmelte etwas und legte das Brett weg. Mutter deckte den Tisch und wartete. Sie wartete lange. Schließlich wurde sie ungeduldig. Die Suppe hatte sich sehr abgekühlt, und die Familie blieb im Wald verschwunden. Mutter warf noch einen bedauernden Blick auf den gedeckten Tisch unter dem Nussbaum, dann verschwand auch sie im Wald, immerfort „ Fred,
Annette, Michael" rufend. Ein Strolch von Echo neckte sie mit „Nette" und „Ael", bis Mutter es aufgab und die Landstraße entlanglief. Aber je weiter Mutter sich von dem Häuschen entfernte, desto heftiger klopfte ihr Herz. Du lieber Gott, wenn die Kinder nun einfach in den Wald hineingerannt waren und sich verlaufen hatten! Ihr wurde ganz schwindlig bei diesem Gedanken, und sie musste sich einen Augenblick an einen Baum lehnen. Als sie aufsah, musste sie sich erst die Augen wischen, denn durch die Tannen hindurch schimmerte wahr und wahrhaftig ein rotes Dach. Das Hexenhaus! durchfuhr es Mutter unwillkürlich. Wenn sie geahnt hätte, dass Michael und Annette vor kurzem fast an demselben Baum gestanden und genau dasselbe gedacht hatten! Auf Zehenspitzen waren sie bis zum Waldrand geschlichen, um die Hexe zu belauschen. Aber ängstlich sprangen sie zurück, als die Hintertür des Hauses aufging und eine kleine Frau herauskam. Doch diese Frau sah so ganz anders aus als die Hexe im Bilderbuch. Die Hexe war mager wie eine Vogelscheuche, aber diese Frau war so rund, dass man hätte erwarten können, sie wie ein kleines Fass wegrollen zu sehen. Ihre Röcke standen steif von den Hüften ab, und an den Füßen trug sie richtige Holzschuhe. Die kleine, dicke Frau klapperte mit ihren Schuhen zu einem Häuschen hinten im Garten, und als sie dort die Tür öffnete, drang ein wundervoller Geruch nach frisch gebackenem Brot zu Michael und Annette herüber. Sie schnupperten mit den Näschen in der Luft und sahen sich an. „Ich geh", erklärte Annette mutig. „Ich auch", sagte Michael und übernahm mit ein paar großen Schritten die Führung. Die Hühner, die ums Haus herumgackelten, und die bunten Enten, die in einem winzigen Weiher plätscherten, reckten erstaunt die Köpfe. Aber Michael und Annette gingen an ihnen vorbei und blieben erst dicht hinter
der kleinen Frau stehen. „Oh, was machen Sie da?" rief Michael aufs höchste erstaunt und deutete mit dem Finger auf einen hölzernen Schieber, mit dem die fremde Frau gerade einen braunen Brotlaib aus dem Ofen holte. Sie zuckte zusammen. „Du liebe Güte", rief sie, „um ein Haar hätte ich das Brot fallenlassen! Was habt ihr mich erschreckt! Wo kommt ihr denn her?" „Von dort", sagte Annette und deutete auf den Wald hinter sich, „aber nun möchte ich auch mal!" Und sie umfasste den langen Schieberstiel mit ihren runden Händchen. „Langsam!" rief die kleine Frau und lachte mit ihren
tiefen Grübchen, „wir werden's zusammen versuchen!" Sie stellte sich ein Stück weiter vorne auf, und Annette und Michael durften hinten anfassen, und wahrhaftig, es gelang ihnen, vier Brotlaibe aus dem Ofen herauszuziehen und in den großen weißen Korb zu kippen, der auf einer hölzernen Bank stand. „Sind Sie hier der Bäcker?" erkundigte sich Michael angelegentlich. Die kleine Frau lachte von Herzen und sagte: „Hier ist jedermann jedermanns eigener Bäcker. Ich bin Frau Knäblein ..." „Ah", unterbrach Michael sie erfreut, „Sie haben unsere Fenster so fein geputzt! Wie Spiegel, hat Mutter gesagt." Jetzt stemmte Frau Knäblein die Arme in die Seiten und sagte: „Aha, nun merke ich, aus welchem Nest diese Vögel kommen! Wann ist denn die Nachbarschaft eingezogen?" „Gestern", erzählte Michael, „als es so schlimm geregnet hat!" „Und Michael hat gespuckt, und ich bin in den Boden eingebrochen", fügte Annette hinzu. „Da hat eure Mutter ja schon allerlei erlebt hier", sagte Frau Knäblein;
„nun möchte ich sie aber gerne begrüßen. Wo ist sie denn, dort, im Wald?" „Nein!" riefen Annette und Michael gleichzeitig, „Mutter ist daheim und wäscht Geschirr ab!" „Ihr seid doch nicht etwa einfach ausgerissen?" Annette und Michael sahen sich an, und dann nickten sie. „Oh, eure arme Mutter!" rief Frau Knäblein, „sie wird glauben, ihr hättet euch verlaufen! Sofort werde ich euch zurückbringen, ihr Ausreißer! Aber erst — nein, erst müssen wir den heißen Eierkuchen aufessen, es wäre jammerschade, wenn er kalt würde!" Damit öffnete sie erneut die Ofentür und holte einen wundervollen, hellgelben, flaumigen Kuchen heraus. „Kommt nur mit", rief sie, raffte den Korb auf und eilte durch die Hintertür ins Haus, direkt in die Küche. Annette und Michael durften den Tisch in der Küche decken. Während sie oben mit dem Geschirr klapperten, klopfte es unten an die Haustür. Herr Knäblein, der in seiner Werkstatt war, streckte den Kopf aus dem Fenster und sah eine zierliche, dunkle Dame vor der Tür stehen, die ihn, kaum dass sie guten Tag gewünscht hatte, fragte: „Haben Sie zwei Kinder gesehen? Einen Jungen und ein kleines Mädchen?" „Nein", sagte Herr Knäblein, denn er hatte von seiner Werkstatt aus wirklich nichts gesehen, außer dem, was er immer sah: den Wald und die Landstraße. „Du lieber Gott, was soll ich bloß tun", stöhnte Mutter, „mein Mann ist weg, die Kinder sind weg, und nirgends ist ein Telefon!" „Ein Telefon würde da auch nicht viel nützen", sagte Herr Knäblein bedächtig. „Nein, aber ich könnte jemand um Rat fragen." „Dann will ich mal meine Frau rufen", erklärte Herr Knäblein; „wenn Sie
einen Rat brauchen, dann können Sie sich immer an meine Frau wenden, sie ist ein sehr guter Ratgeber!" Nie in ihrem Leben war Mutter schneller und besser beraten worden. Auf Herrn Knäbleins Rufen erschien Frau Knäblein auf der Treppe. Kaum hatte sie Mutter erblickt, da rief sie lachend: „Kommen Sie doch bitte herauf, und trinken Sie eine Tasse Kaffee mit uns, dann wird sich alles finden!" Mutter hatte jetzt zwar gar keinen Appetit auf Kaffee, aber Herr Knäblein schob sie einfach vorwärts. Die Küchentür ging auf, und wahrhaftig, alles fand sich hier! Mutter stürzte auf Michael und Annette zu und schloss sie in die Arme. Herr Knäblein stand lachend dabei. Sein Gesicht war mit Sägemehl bestäubt, besonders die Nase, und von seinem Mützenschild rieselte es auf den sauberen Fußboden nieder. „Willst du dich wohl erst ausklopfen!" rief Frau Knäblein und schob Herrn Knäblein, der beinahe noch einmal so groß war wie sie selbst, zur Tür hinaus. „Sie müssen entschuldigen", wandte sie sich an Mutter, „mein Mann ist ein alter Holzwurm, und wo man hobelt, gibt's Späne, und wo man sägt, gibt's Sägemehl!" „Sägt —", rief Mutter, mein Mann braucht so dringend eine Säge ..." „Können Sie kriegen, soviel Sie wollen", sagte Frau Knäblein, „in jeder Größe! Aber nun wollen wir den Eierkuchen nicht kalt werden lassen!" Mutter, die sich unter Eierkuchen etwas ganz anderes vorstellte als das, was Frau Knäblein auf einem Holzbrett in große Stücke teilte, merkte plötzlich, wie hungrig sie war. Es schmeckte herrlich, und Annette und Michael verzehrten stillschweigend Portionen, die Mutter in größte Verwunderung versetzten. „Der Bub kann's brauchen", sagte Frau Knäblein, „aber keine Angst, er wird schon rote Backen bekommen. Ich möchte wetten, im Heuet, wenn wir zu Ihnen hinausfahren und unsere Wiese mähen, dann ist er schon
so rund und rotbackig wie einer von meinen Luikenäpfeln!" „Gehört die Wiese mit dem Bach Ihnen?" erkundigte sich Michael. Frau Knäblein nickte, und sie erteilte Michael und Annette die Erlaubnis, auf dieser Wiese so viel Veilchen und Glockenblumen und Pfingstnelken und Margeriten zu pflücken, wie sie wollten. Michael freute sich sehr darüber, aber nun fiel ihm etwas ein, was er unbedingt Mutter sofort erzählen musste. „Frau Knäblein hat ein richtiges Backhaus!" platzte er los, „und wir haben gesehen, wie sie selbst Brot gebacken hat, und haben ihr beim Rausziehen geholfen!" „Ein Backhaus hat hier jeder, das ist nichts Besonderes", sagte Frau Knäblein; „ihr habt doch selbst eines, hast du das noch gar nicht gemerkt?" Nein! Annette und Michael rissen die Augen auf, und dann rief Michael begeistert: „Mutter, backst du jetzt auch Brot für uns?" „Bewahre", sagte Mutter, „ich kann doch kein Brot backen!" „Aber freilich", widersprach Frau Knäblein, „das müssen Sie wohl, woher wollen Sie sonst Brot kriegen? Es ist ganz leicht zu lernen, ich zeig' Ihnen, wie's gemacht wird, wenn Sie wollen! Wissen Sie was, nächste Woche komme ich 'raus, und Sauerteig bringe ich auch mit, von Hefe halte ich gar nichts!" Auf dem Heimweg hörten sie jemand, der in der Ferne verzweifelt „Hallo!" und „Wo seid ihr!" rief, und sie spielten so lange Echo mit Vater, bis sie plötzlich vor seiner Nase aus dem Gebüsch brachen und ihm alle drei um den Hals fielen. Er war sehr froh, als er die Familie wieder vollzählig beisammen sah, aber fast am meisten freute er sich über die Säge. „Du gehörst zu den Leuten, die man in den Urwald schicken kann und die nachher mit einer Zugmaschine wieder herauskommen", sagte er zärtlich zu Mutter.
Aber Mutter sah ihn nachdenklich an und fragte: „Glaubst du, dass ich lernen werde, Brot zu backen?" „Bestimmt!" rief Vater, „aber warum willst du es denn lernen?" „Weil Frau Knäblein gesagt hat, man muss es. Schau mal, dieses Häuschen im Garten, das ist nämlich unser Backhaus. Ich bin froh, dass du glaubst, ich werde es lernen, denn Frau Knäblein kommt und will mich zu einem perfekten Bäcker ausbilden. Ich möchte sie nicht gerne enttäuschen!" „Das ist großartig", rief Vater begeistert, „Lenchen, du wirst das köstlichste Brot für uns backen, das es gibt!" Es kam wirklich so, obgleich es zuerst gar nicht danach aussah. Die beiden ersten Backversuche misslangen völlig, aber Mutter ließ sich den Mut dadurch nicht nehmen. Sie brachte das missratene Brot, das eher einem verkohlten Fladen glich, schamhaft mit einem Handtuch verdeckt, Frau Knäbleins Hühnern, die es leider auch nicht fraßen. Als Frau Knäblein das traurige Resultat von Mutters Backkünsten im Hühnerstall liegen sah, fing sie aus heiterem Himmel, und obgleich sie noch eine Menge altes Brot in Vorrat hatte, ein gewaltiges Probebacken an. „Wir backen so lange, bis Sie's begreifen", sagte sie unerschüttert, „und wenn dieser Ofen darüber zerspringt!" Als Mutter spät abends heimkam, fiel sie zwar todmüde ins Bett, aber sie konnte Brot backen. Vom ersten Tag an harten Annette und Michael jeder ihren besonderen Lieblingsplatz, Annette die Pumpe und Michael den Nussbaum. Annette saß von morgens bis abends in der Tränkröhre, die Mutter oder Vater bis zum Rand füllen mussten. Sie besaß eine bedeutende Segelflottille aus Rindenstückchen, auf die mit Stecknadeln bunte Leinenfleckchen aufgesteckt waren. Die Haut an ihren Händen und Füßen war abends ausgelaugt und voller Runzeln, und ihre dunklen
Zigeunersträhnen klebten feucht und wirr an ihrer Stirn und auf ihrer Backe. Annette hatte Sand in den Haaren und Sand in den Ohren und Sand zwischen ihren winzigen Zehen, und wenn sie aß, knirschten Sandkörner zwischen ihren Zähnen. Ihr Gesicht war mit breiten Sandstreifen tätowiert, keiner von den Bekannten in der Stadt hätte sie auf den ersten Blick wieder erkannt, aber mit all dem Sand und Wasser in der Tränkröhre verbrachte sie den glücklichsten Sommer ihres Lebens. Und ebenso glücklich war Michael. Er hatte eine seltsame Freundschaft mit dem Nussbaum geschlossen. Stundenlang konnte er auf einer der dicken Wurzeln sitzen und den herben Geruch der Blätter einatmen. Der Nussbaum schickte ihm eines Tages auch ein Eichkätzchen, das schließlich so zahm wurde, dass es in der Küche stibitzte, ohne sich um Mutter zu kümmern, wenn sie beim Kochen war. „Ich möchte da hinauf", sagte Michael sehnsüchtig zu Vater und deutete in die Krone des Nussbaumes. Und Vater antwortete: „Ja, mein Junge, versuch es, da hinaufzukommen, das wird dich ganz gesund machen!" Das war kurz nach ihrem Einzug gewesen, und Michael hatte Vaters Antwort so verstanden, als wenn der Nussbaum auf eine geheimnisvolle Art die Behandlung von Doktor Weißfuß fortsetzen würde, und er zerbrach sich den Kopf, wie er hinauf in die Baumkrone gelangen könnte. Herr Knäblein brachte ihm eines Tages eine schöne, glatte Stange mit, die gerade bis zu den untersten Ästen reichte. Er rammte sie fest in den Boden und sagte: „Nun probierst du einfach so lange, bis du an der Stange hinaufklettern kannst!" Und Michael probierte und probierte. Der Schweiß rann ihm übers Gesicht, von Tag zu Tag kam er hungriger zum Essen, und nachts
schlief er von der Anstrengung so fest, dass er nicht aufgewacht wäre, wenn ihn jemand weggetragen hätte. Und eines Abends, als Vater mit dem Fahrrad um die Waldecke bog, da brüllte ihm eine Bubenstimme, die er fast nicht erkannt hätte, so kräftig war sie, aus den Ästen des Nussbaumes zu: „Ich bin oben, Vater! Ich bin schon seit heute Mittag oben!" Michael richtete sich im Nussbaum ein wie das Eichhörnchen und die Finken. Auch er hatte hier sein Nest.
Es bestand aus einem Brett, das Vater in einer Astgabel angebracht hatte. Das war Michaels Bank, sein Tisch, sein Lager, sein Geheimfach. Dort verwahrte er alles, was er Annettes Augen und Händen entziehen wollte. Dort lagen seine Bachkiesel blank und bunt beieinander, auch ein paar herrliche Häherfedern und zwei Hände voll Hasenraufe, die er auf der Wiese gefunden hatte. Duftend und strahlend verging der Sommer über diesem gewaltigen Nussbaum, und eines Morgens, nach stürmischer Nacht, brachte Vater die ersten grünen Nüsse herein. Annette und Michael waren außer sich vor Freude darüber, und Michael war im Innersten davon überzeugt, dass der Nussbaum sich dieses Geschenk eigens für ihn ausgedacht hatte. Aber Mutter sagte mit einem Blick auf die Nüsse wehmütig: „Ja, Fred, nun müssen wir hier wohl unsere Koffer packen!" Und Vater nickte und meinte mit einem Lächeln: „Ja, das müssen wir wohl! Siehst du, Lenchen, nun hast du es fünf Monate hier ausgehalten, trotz Eulen und Nacht-regen, und nun darfst du zur Belohnung einen prächtigen braunen Michael mit dicken, strammen Beinen und diese winzige Ausgabe von einer Rothaut mit nach Hause nehmen, die vor Gesundheit und Übermut aus allen Kleidern platzt! Unser guter alter Doktor Weißfuß kann mit dir zufrieden sein!"
„Ach Fred", sagte Mutter leise, „ich bin ja so glücklich darüber, dass Michael ganz gesund geworden ist! Ich werde dieses kleine Haus nie vergessen!" „Das werden wir wohl alle nicht, Lenchen! Aber nun freu du dich wieder auf die Stadt und — auf was wohl? Auf den Weihnachtspelz natürlich! Die Sparkiste ist schon so genudelt, dass sie nichts mehr schlucken will! Ich musste ihr das letzte Fünfmarkstück mit Gewalt in den Rachen schieben. Diesmal wirst du den Pelz bekommen, den du dir schon so lange gewünscht hast!"—— Nun waren Michael und Annette wieder in ihrer alten Wohnung in der Stadt. Doktor Weißfuß war überrascht und sehr zufrieden. Jedes Mal, wenn er Mutter sah, drohte er mit dem Finger und sagte: „Ich muss Anzeige erstatten, Verehrteste! Sie haben da einen prächtigen kleinen Bauernburschen aus den Wäldern mitgebracht, an dem ich überhaupt nichts mehr zu behandeln finde! Wo haben Sie bloß den armen blassen Michael gelassen?" Aber er war von Herzen froh, dass der „arme blasse" Michael in den Wäldern verschollen blieb. So hätte nun alles gut sein können, aber es war gar nicht gut. Feuchter Novembernebel kroch durch die Straßen, und im engen Kinderzimmer saßen Michael und Annette und zankten und stritten sich den ganzen Tag. Wenn Mutter sie zum Spaziergang anzog, sträubten sie sich mit Händen und Füßen. Sie wollten nicht brav und gesittet an der Hand gehen, sie sehnten sich von Herzen zurück nach Herrn Knäbleins Wiese, auf der sie herumtoben konnten, soviel sie wollten. Sie hatten Heimweh nach dem Nussbaum und dem Pumpbrunnen und nach dem ganzen kleinen, komischen Haus. Sogar Vater, der es doch jetzt viel bequemer hatte, in sein Büro zu kommen, der nicht mehr stundenlang mit Fahrrad und Eisenbahn unterwegs sein musste, sagte: „Ich weiß nicht, Helene, das Brot schmeckt mir nicht mehr. Ich wollte,
ich könnte mal wieder ein Stück von deinem selbstgebackenen essen! Weißt du noch, wie köstlich es roch, wenn du den Backofen mit Fichtenreisig angeheizt hast!" Da bekam Mutter träumerische Augen und seufzte: „Ach ja, das kleine Backhaus! Wer wird nun Brot darin backen?" „Gar niemand", sagte Vater, „ich habe gehört, dass Herr Seltsam bis jetzt noch keinen Mieter gefunden hat. Im Winter ist das auch kein Wunder. Mach kein so nachdenkliches Gesicht, Helene, komm, heute wollen wir die Sparkiste aufmachen, es wird Zeit, dass du deinen Pelz aussuchst!" Annette und Michael rannten neugierig herbei, als sie sahen, dass Vater die Nägel aus Mutters Sparkiste zog. „O Fred!" rief Mutter, „was für eine Menge Geld! Wie ist das bloß möglich?" „Nun, durch unsere billige Sommerfrische, Helene! Reicht es wohl für deinen Pelz?" Mutter dachte einen Augenblick nach, und plötzlich flog ein heller Schein über ihr Gesicht. „Es wäre herrlich, wenn es reichen würde",' sagte sie, „ach, hoffentlich, hoffentlich ist es genug!" Vater zog die Augenbrauen hoch. „Oh, ist dein Pelz so teuer?" „Ja, Fred", sagte Mutter, „teuer ist er schon, aber die Sparkiste ist auch brav fett. Kinder, wie freu' ich mich auf Weihnachten!" In den nächsten Tagen war Mutter sehr Beschäftigt. Sie schrieb und telefonierte und hatte geheimnisvolle Verabredungen, von denen sie mit roten Backen und glänzenden Augen zurückkam. Es war ohne Zweifel ein ungewöhnlicher Weihnachtspelz, den Mutter sich ausgesucht hatte. Aber mit keinem Wort verriet sie etwas über ihn, wie oft auch Vater danach fragte. Eine Woche vor Weihnachten aber sagte Mutter eines Abends, als sie Michael und Annette gute Nacht gewünscht hatte: „Was würdet ihr dazu sagen, wenn wir zu Weihnachten eine Reise machten?"
Michael und Annette setzten sich mit einem Ruck in ihren Betten auf, und Michael rief lebhaft: „Fein! Dann müssen wir nicht in dem dummen engen Zimmer sein! Gibt es dort, wo wir hinfahren, einen Wald?" „O ja", nickte Mutter, schaltete das Licht aus und ging schnell hinaus. Auch Vater war damit einverstanden, eine Weihnachtsreise zu unternehmen. „Da wirst du deinen Pelz gut brauchen können, Lenchen", sagte er, „besorge ihn nur rechtzeitig!" Am 20. Dezember, vier Tage vor dem Heiligen Abend, wartete wieder ein Taxi vor dem Haus. „Willst du uns nun nicht endlich sagen, wohin unsere Weihnachtsreise gehen soll?" erkundigte sich Vater, aber Mutter legte den Finger auf den Mund und schüttelte den Kopf. „Aber du hast ja deinen alten Wintermantel angezogen", rief Vater plötzlich, „das geht doch nicht! Pack den Weihnachtspelz aus, Lenchen!" „Nein", erwiderte Mutter und wurde so rot wie Annettes Mütze, „den dürft ihr erst sehen, wenn wir angekommen sind." In der Stadt lag hässlicher Matsch und vor der Stadt sauberer weißer Schnee auf den Straßen. Wiesen und Felder, Bauernhäuser, Kirchtürme und Gartenzäune waren verzaubert von der winterlichen Herrlichkeit, aber das alles war nichts gegen den Tannenwald. All die andern Bäume prunkten im Frühling mit ihrem besten Kleid, die Tannen aber trugen es jetzt, zu Weihnachten. Selbst der Taxichauffeur deutete mit seinem Zeigefinger, an dem er einen merkwürdig gekrümmten gelben Nagel hatte, durch die Scheibe und sagte: „Wahrhaftig, wie eine Parade von alten Herren mit Lockenperücken und Chinesenbärten!" Diesmal saß Mutter vorn neben dem Chauffeur und Vater hinten zwischen Annette und Michael, der sich gar nichts aus dem Geschüttel und Geholper machte. Je länger die Fahrt dauerte, desto stiller und nachdenklicher wurde
Vater. Dieser Weg durch den Wald erschien ihm immer vertrauter. Plötzlich öffneten sich die Tannen wie ein Tor, und da — Michael und Annette sprangen auf und riefen: „Unser Haus! Unser Häuschen!" Ja, da lag es, halb eingeschneit, mit dem schiefen Gartenzaun, mit Backhaus, Hühner- und Schweinestall, mit Pumpe und mit Michaels Nussbaum. „Hier wollen wir Weihnachten feiern", sagte Mutter bewegt, „jetzt und noch viele Male!" „Was hast du getan, Lenchen!" rief Vater erschrocken, aber Mutter legte ihre Arme um seinen Hals und sagte: „Ich hab' einen Möbelwagen bestellt, Fred, das Geld hat gerade dafür gereicht. Morgen früh kommt er. Wir werden dieses Haus noch für eine ganze Weile mieten, denk' ich! Meint ihr, ich hab' nur dafür mit Müh und Not Brotbacken gelernt, dass ich's in der Stadt wieder vergesse? Michael, Annette, was steht ihr da und sagt nichts!" Da brach ein tiefes Schluchzen aus Michael hervor. Er warf sich in Mutters Arme und stammelte unter Tränen: „Ich — ich freu' mich ja so!"
MUTTERS ZWEITE ÜBERRASCHUNG „Fred", sagte Mutter eines Tages und schüttelte die Zigarrenkiste, „schau, ich hab' schon hundert Mark gespart!" „Großartig", sagte Vater, „da muss ich mich aber dranhalten! Wir haben zwar noch sieben Monate bis Weihnachten . . . Hör mal, Lenchen, wie kommst du eigentlich dazu, die Sparkiste jetzt schon aufzumachen?" Mutter setzte sich auf Vaters Sessellehne und legte den Kopf ein bisschen schief. „Tja", sagte sie, „ich hab' mir nämlich was ausgedacht. Ich könnte noch viel mehr sparen, wenn ich, sagen wir mal, keine Eier mehr kaufen müsste! Wir könnten Herrn Knäbleins Wiese kriegen, ich hab' schon mit ihm darüber gesprochen, und ein paar Hühner halten. Soll der Hühnerstall nur so nutzlos im Garten hinten stehen, Fred? Er muss sich ja vor dem Backhaus verkriechen, das so fleißig benützt wird! Ich würde also zu braunen Italienern raten, aber wenn du meinst, wir sollten weiße Leghorn nehmen, gut, ich gebe nach, du sollst deinen Willen bekommen; ich weiß nur, dass braune Italiener..." „Helene!" rief Vater, völlig überrumpelt, „du weißt nicht, wovon du sprichst! Du hast doch keine Ahnung von braunen Leghorn und weißen Ital..." „Umgekehrt!" rief Mutter triumphierend, sprang auf und riss ein schmales Heft aus ihrem Schreibtischfach, „hier, lies mal, das habe ich von vorne bis hinten durchstudiert!" „Das Huhn, unser nützlichster Freund und Hausgenosse!" las Vater und hielt das Heft weit von sich ab. Er nickte. „Natürlich, die wichtigste Eigenschaft eines Freundes ist die, dass er einem nützlich ist, sehr gut, aber das Huhn als Hausgenosse, ich weiß wirklich nicht, Helene . . . !" „Ach Fred, wir werden unsere Hühner natürlich im Hühnerstall haben,
und die Italiener kann ich noch abbestellen, wenn du meinst, und dafür weiße Leghorn nehmen!" Mutter war sehr eifrig. „Was!" rief Vater und sprang auf, dass das Heft auf den Boden fiel, „du hast die Hühner schon bestellt? Das ist ja entsetzlich! Das gibt eine Katastrophe! Du hast doch überhaupt keine Ahnung von einem Huhn!" „Das wollen wir erst einmal sehen!" sagte Mutter mit funkelnden Augen und schritt sehr aufrecht hinaus in die Küche. Vater setzte gerade zu einem langen Seufzer an, da ging die Tür noch einmal auf, und Mutters Kopf erschien. „Ich möchte dir nur mitteilen", rief sie durch den Spalt, „dass ich auch zwei Gänseküken mitbestellt habe. Ich werde in diesem Jahr unsere Weihnachtsgans selbst mästen und nicht wie sonst einen Haufen Geld für Gänsebraten ausgeben!" „Und die zweite Gans hältst du als Reserve, falls die erste nicht gerät?" „Mir geraten beide", sagte Mutter würdig, „die zweite Gans verkaufe ich, wenn sie fett genug ist!" Schon am übernächsten Tag liefen Michael und Annette — die inzwischen ein Stück größer geworden waren — Vater entgegen und riefen von weitem: „Wir haben einen Haufen Hühner bekommen und zwei Gänschen, die gehören uns!" Das Essen stand auf dem Tisch, aber Mutter war nicht da, um guten Abend zu sagen. Vater fand sie schließlich im Hühnerstall. „Pst", sagte sie, „tritt behutsam auf! Ich bin gerade dabei, sie an mich zu gewöhnen. Es sind ungewöhnlich scheue Hühner!" Diesen Eindruck hatte Vater nicht, denn alle fünf-zehn Hühner standen um Mutter herum und pickten Körner auf, die im Kreis gestreut waren. „Ich kann sie nicht dazu bringen, dass sie aus der Hand fressen", klagte Mutter, „wer weiß, wie man sie in der Bahn behandelt hat!" „Aber die Gänschen sind gar nicht scheu!" rief Michael entzückt, „kommt
mal alle mit!" Die Gänschen waren im Schweinestall, und als Michael die Tür öffnete, stürzten sie schnatternd auf ihn zu. „Passt mal auf", sagte Michael strahlend und marschierte zum Brunnen hinüber. Die Gänschen watschelten gehorsam hinter ihm her. „Ich bin ihr Hauptmann", jubelte Michael; „sie machen mir alles nach!" Wahrhaftig, die Gänschen folgten ihm blindlings überallhin. Sie wurden auf die Namen Susi und Lisa getauft. Michael bekam Susi, und Annette bekam Lisa. — Hühner und Gänschen wuchsen schnell, viel schneller als Michael und Annette. Im Sommer waren sie schon richtige alberne Backfische und im Herbst beinahe erwachsen. Die Hühner blieben einfältig und scheu. Es lohnte sich nicht, ihnen Namen zu geben, bis auf eines, Mutters Lieblingshuhn, das ihr auf die Schulter flog und im Garten die Regenwürmer aufpicken durfte, wenn Mutter ein Beet umgrub. Es hieß Olympia und hatte eine verwachsene Zehe und einen ungewöhnlichen Hühnerverstand. Mutter unterhielt sich gerne mit Olympia, sie konnte so verständnisvoll gackern. Aber Olympia war nichts gegen Susi und Lisa, das musste sogar Mutter zugeben. Michael und Annette hatten dort, wo die Wiese an den Garten stieß, eine Strohhütte. Sie waren Mann und Frau, und Susi und Lisa waren ihre Kinder. Lisa war entsetzlich ungezogen. Sie zwickte. Wenn Besuch kam, musste man sie einsperren, sie ließ keinen an das Haus herankommen, der nicht zur Familie gehörte. Ach, sie machte sich auch aus der Familie nicht viel, Annette ausgenommen. Die ganze Liebe ihres kleinen Gänseherzens verschwendete sie an Annette. Wenn Annette im Strohhaus Pflaumenmus kochte, saß Lisa so dicht wie möglich bei ihr und schnatterte sanft und zärtlich, und ihre blauen Augen verfolgten aufmerksam Annettes kleine Hände. Lisa ließ sich mit dem Puppenlöffel
füttern und schluckte Wassersuppe, gehackten Gräserspinat und zum Nachtisch Mohrrübenpudding und Pflaumenmus und Tutti - Frutti aus Gänseblümchen. Susi dagegen aß nicht vom Löffel und kaum etwas von dem, was Annette zubereitet hatte. Michael teilte mit ihr seinen Vorrat an Mais, Kürbis- und Sonnenblumenkernen und Nüssen, und natürlich Vesperbrot und Sonntagskuchen. Sandtorte, von Annette gebacken, verabscheute Susi. Sie war viel schlanker als Lisa und konnte fast ebenso gut fliegen wie ein Vogel. Michael hatte sich lange den Kopf darüber zerbrochen, wie er es anstellen könnte, Susi mit hinauf in den Nussbaum zu nehmen. Aber als er eines Tages auf seinem Hochsitz saß, rauschte ein prächtiger Wundervogel mit vorgestrecktem Halse und blendenden, ungeheuren Schwingen über das moosige Hausdach, und plötzlich saß Susi neben ihm und schnatterte so hell, dass es wie Mädchengekicher anzuhören war. Michael schlang entzückt die Arme um sie. Unvergleichliche Susi! Annette und Lisa spielten am liebsten in der Tränkröhre, wenn sie bis obenhin mit Wasser gefüllt war. Lisa schlug mit den Flügeln wie mit Armen und bespritzte Annette von oben bis unten, so dass ihr die braunen Zigeunersträhnen triefend im Gesicht klebten. Annette jedoch benutzte ihre Arme wie Flügel und übergoss Lisa mit einem Sprühregen, in dem sie sekundenlang völlig verschwand. Es war das schönste Spiel, das es für sie geben konnte. Nur über eines musste Annette nachgrübeln. Sie konnte Lisa so nass spritzen wie sie wollte, immer war sie nach wenigen Augenblicken wieder trocken und weiß. Kein Sandkorn blieb an ihren Federn hängen, und Mutter brauchte sie nie hinterher in die Badewanne zu stecken, wie sie es mit Annette tat. Michael und Annette waren sehr glücklich mit diesen Freundinnen. Sie
merkten kaum, wie Sommer und Herbst dahingingen. Ehe sie sich's versahen, fiel der erste Schnee, den Susi und Lisa gehörig beschnatterten. Herrn Knäbleins Wiese, die zum Garten hin ziemlich steil abfiel, wurde nun zur Schlittenbahn. Susi und Lisa rannten schreiend und flügelschlagend hinter dem Schlitten her, der blitzschnell den Abhang hinuntersauste. Aber eines Tages brüllte Annette, die hinter Michael saß und sich nach den Gänsen umschaute: „Michael, Michael! Lisa fährt selbst Schlitten, schau bloß!" Michael bremste so heftig, dass der Schlitten umkippte, aber noch im Schnee liegend, sahen sie Lisa aufrecht wie ein stolzes Schiff über die Schlittenbahn segeln. Sie rutschte einfach auf dem Bauch den Abhang hinunter. War sie nicht großartig? Susi lernte es nie, und schließlich nahm Michael sie auf die Knie. Wenn der Schlitten in Fahrt kam, streckte sie den Hals vor und schlug mit den Flügeln, als wenn sie mit dem Gefährt davonfliegen wollte. Eines Tages nun legte Olympia ihr erstes Ei. Es lag
morgens, als Mutter zum Füttern kam, schneeweiß mitten auf dem Boden des Hühnerstalles, und Mutter war felsenfest davon überzeugt, dass es von Olympia stammte. Am nächsten Tag lagen drei weitere Eier in dem Nest, das Mutter so bequem wie möglich mit Stroh und Heu gepolstert hatte, und nach einer Woche durften Vater, Michael und Annette eine Schüssel auf dem Küchentisch bewundern, die bis obenhin voll von Eiern war. Mutter hätte nicht stolzer aussehen können, wenn sie die ganze Schüssel voll selbst gelegt hätte. „Jetzt fang' ich aber mit der Weihnachtsbäckerei an!" verkündete sie, und Annette rief begeistert: „Wir backen mit, nicht, Michael!"
Natürlich wollte Michael mitbacken. „Dürfen Susi und Lisa nicht ein bisschen zusehen", bettelte er, „sie schreien sich den Hals aus nach uns!" „Susi und Lisa!" sagte Vater, „laufen sie immer noch herum, Helene? Du hättest sie schon längst im Stall einsperren müssen. So können sie ja niemals fett werden! Womit mästest du sie eigentlich?" „Mästen?" wiederholten Annette und Michael gleichzeitig und schauten mit verständnislosen Augen zu Vater auf, „was ist denn das?" Im Augenblick stand Mutter hinter ihnen. „Ich erkläre es euch nachher", sagte sie und schob sie zur Tür, „ich muss jetzt etwas mit Vater besprechen. Geht solange ins Zimmer und überlegt euch eure Wunschzettel, heute Abend kommt doch der Nikolaus, habt ihr das vergessen?" Am Nachmittag besuchten die Kinder Herrn Knäblein. Sie liebten den wunderbaren Geruch nach Holz und Kleister, der in seiner Werkstatt hing, und zwischen den Hobelspänen auf dem Boden fanden sich immer Holzklötzchen, die Annette für ihre Puppenstube brauchen konnte. Schließlich fiel es Michael ein, Herr Knäblein könne wissen, was das Wort „mästen" bedeute. „Natürlich", sagte Herr Knäblein, „ein Schwein wird gemästet, ehe man's schlachtet!" „Nein", sagte Annette und schüttelte den Kopf, „das meinen wir nicht. Wir meinen was ganz anderes, wir meinen Gänse mästen!" Herr Knäblein sah von seiner großen Höhe auf sie herunter. „Das ist nichts anderes. Gänse mästet man auch, damit sie schön fett sind, wenn sie zu Weihnachten geschlachtet werden!" „Schlach ... !" Michael blinzelte, als wenn er einen Schlag auf den Kopf bekommen hätte. „Man kann doch Susi und Lisa nicht schlachten!" rief Annette ärgerlich.
Was fiel Herrn Knäblein denn ein! „Ja, was denn sonst!" sagte dieser. „Soviel ich weiß, sind Gänse dazu da, dass man sie zu Weihnachten schlachtet. Ich hab' noch nie was anderes gehört.. ." In diesem Augenblick fiel seine Werkstattür ins Schloss, und Annette und Michael befanden sich bereits auf dem Heimweg. Ohne sich die Schuhe abzustreifen, stürmten sie ins Zimmer, in dem Vater und Mutter saßen und Kaffee tranken, denn Vater brauchte heute nicht ins Büro zu fahren, er hatte Urlaub. „Ist es wahr, dass Gänse zu Weihnachten geschlachtet werden?" rief Annette und stolperte über die Schwelle. Vater und Mutter sahen sich an. Vater zog Annette zu sich her, und Mutter schloss Michael in die Arme. „Ja, seht ihr, das ist so . . .", begann Vater, aber Annette machte sich energisch los, richtete ihre braunen Zigeuneraugen fest auf ihn und sagte: „Es ist nicht wahr, nicht, Vater? Herr Knäblein hat uns angelogen!" „Nein", erwiderte Vater langsam, „Herr Knäblein hat euch nicht angelogen. Erinnert euch doch, wie gut euch die Weihnachtsgans letztes Jahr geschmeckt hat! Um zu Weihnachten Gänsebraten zu essen, muss man zuerst die Gänse schlachten . . ." Michael sah aus, als müsse er sich im nächsten Augenblick übergeben. „Ich möchte gar nicht mehr an Weihnachten denken", stieß er hervor; „lieber würde ich verhungern, ehe ich Susi ..." Er machte sich von Mutter los, ging aus dem Zimmer, und Annette folgte ihm schluchzend. Sie blieben in der Scheune, bis es dunkel wurde. Annette hielt Lisa auf dem Schoß und Michael Susi, und sie trösteten ihre Freundinnen und sagten: „Nein, ihr braucht keine Angst zu haben. Wir laufen vor Weihnachten mit euch weg, weit, weit fort! Ihr seid keine Weihnachtsgänse!" Sie trugen Susi und Lisa liebevoll in den Schweinestall, als Mutter zum
Abendessen rief, und setzten jede behutsam in ihr Nest. Vater musste noch etwas besorgen und ging weg. Kaum war der Tisch abgedeckt, da pochten dumpfe Schläge gegen die Haustür. Knarrend ging sie auf, und die alte Diele erdröhnte unter schweren Stiefeln. Der Nikolaus! Sie hatten ihn ganz vergessen! Er trat ein, wie jedes Jahr, nur dass er diesmal keinen Sack auf dem Rücken trug. Michael und Annette standen auf und blieben dicht aneinandergedrängt mitten im Zimmer stehen. „Ich bin gekommen, um euren Wunschzettel abzuholen", sagte der Nikolaus mit tiefer Stimme. Michael schluckte. „Wir haben diesmal keinen Wunschzettel", stieß er hervor. „Was?! Wie?!" rief der Nikolaus, „ihr wünscht euch gar nichts?" Jetzt sprangen Annette die Tränen aus den Augen. „Nein", rief sie, „wir möchten, dass es überhaupt nie Weihnachten wird!" „So, so", brummte der Nikolaus und wandte sich zur Tür, „dann will ich weitergehen ins Dorf, zu Kindern, die sich auf Weihnachten freuen!" Er tappte hinaus, aber dann kam er noch einmal zurück, steckte den Kopf durch die Tür und polterte hervor: „Dass ich es nicht vergesse, mein Sack liegt in der Scheune. In einer Viertelstunde könnt ihr hinübergehen und ihn holen!" Als der Nikolaus weg war, kam Vater von Herrn Knäblein zurück und leuchtete mit einer Laterne in die Scheune hinein. „Wahrhaftig", rief er, „hier liegt ein Sack! Aber was ist denn das? Er bewegt sich ja!" Annette schrie auf und stürzte sich gleichzeitig mit Michael auf den Sack. Mit zitternden Fingern knotete Michael ihn auf. Ein ärgerliches Zischen ließ beide fast erstarren. Aber dann griffen sie hinein und: „Susi!" schrie Michael, und „Lisa!" jauchzte Annette, und jeder hielt eine schöne, große
weiße Gans mit beiden Händen hoch. „Schau nur, sie haben einen Brief unter dem Flügel!" brüllte Michael. So rasch sie konnten, eilten sie mit Briefen und Gänsen in die Diele, und Michael las: „Liebe Annette, der Nikolaus möchte dir schon heute ein Geschenk bringen, damit du dich wieder auf Weihnachten freuen kannst!" Und in Annettes Brief stand: „Lieber Michael! Dies ist eine Weihnachtsgans, die dir ganz allein gehört!" Sie hatten also in der Dunkelheit jeder die falsche Gans erwischt. Schleunigst tauschten sie Susi und Lisa aus und drückten sie fest an sich. Niemand war an diesem Abend so glücklich wie Michael und Annette. Niemand außer Mutter. Ihre Augen glänzten, und spät, als sie und Vater die Gänse in den Stall zurücktrugen, sagte sie: „Ach Fred, hast du dich je schon mal so über eine Weihnachtsgans gefreut? — Oh, ich habe ganz vergessen, wie gern du Gänsebraten isst! Was machen wir jetzt bloß?" „Gegessen habe —", erklärte Vater. „Seitdem ich Susi und Lisa kenne, ist mir nichts so zuwider wie Gänsebraten ..." „Mir auch", rief Mutter eifrig; „wir werden nie mehr Gänsebraten zu Weihnachten essen! Weißt du was, ich werde in der Stadt einen Karpfen für uns besorgen!" „Aber Lenchen, dein Pelzmantel!" rief Vater entsetzt, „du wolltest doch das Geld für den Weihnachtsbraten diesmal einsparen, deshalb hast du doch die Gänse ..." „O Fred", sagte Mutter strahlend, „ich finde, ich habe das Geld für den Pelzmantel diesmal sehr gut angelegt. Von dem, was noch in der Sparkiste ist, werde ich mehr Hühner kaufen. Sie werden mehr Eier legen, und eines Tages, warte nur ab, eines Tages werde ich ihn haben, den schönsten, wärmsten — meinen Weihnachtspelz!"
MUTTERS DRITTE ÜBERRASCHUNG „Fred", sagte Mutter an einem regnerischen Oktobersonntag, „wollen wir heute die Sparkiste aufmachen? Sie ist furchtbar schwer, hier, fühl mal! Alles Hühnereier!" „Hühnereier", nickte Vater und wog die zugenagelte Zigarrenkiste in der Hand. „Ja", rief Mutter fröhlich, „meine Hühner waren großartig. Ich habe eine Unmenge Eier verkauft in diesem Jahr. Die Kiste muss bis obenhin voll sein! Alle Augenblicke hab' ich sie mit einem dicken Fünfmarkstück gefüttert. Hier hast du eine Zange, mach sie schnell auf, ich platze sonst! Ach Fred, diesmal werde ich meinen Weihnachtspelz kriegen!" In diesem Augenblick stürmte Annette ins Zimmer. Sie war nun zehn Jahre alt, aber sie hatte sich nicht viel verändert. Sie glich mehr denn je einem aus dem Wagen gefallenen und zurückgelassenen Zigeunermädchen. „Michael!" brüllte sie, „komm schnell, Mutter schlachtet ihr Sparschwein!" Michael erschien unter der Tür. Er war sehr groß geworden, aber seine Haut und sein Haar waren immer noch so hell wie früher. Hinter ihm drein trottete Nick, der junge Langhaardackel, den Michael zu seinem zwölften Geburtstag bekommen hatte. Annettes und Michaels alte Freundinnen Susi und Lisa lebten noch, aber es fiel Susi nicht mehr ein, auf den Nussbaum zu fliegen, und Lisa tauchte höchstens noch die äußerste Schnabelspitze ins Wasser. Sie waren jetzt behäbige alte Damen, die nur noch bis zum Zaun watschelten, den besten Platz belegten, die Sonnentage genossen und Mutters Hühnerherde tyrannisierten. Die Hühnerherde war gewaltig angewachsen seit Olympias Zeiten. Mehr als hundert Hühner tummelten sich auf Herrn Knäbleins Wiese, die jetzt
Mutter gehörte, und legten aus Dankbarkeit für Mutters liebevolle Pflege unzählige Eier, eines größer und schöner als das andere. „Ein Glück, dass wir aufs Land gezogen sind damals", sagte Mutter oft zu ihrer Familie; „wäre es nicht furchtbar, in der Stadt zu wohnen und nicht zu ahnen, was für Talent ich für Hühner habe?" „Es wäre nicht auszudenken!" erwiderte Vater darauf. Aber nun sah er wirklich, wie großartig sich die Hühner Mutter gegenüber benommen hatten. Als die Zigarrenkiste geöffnet und der Inhalt auf den Tisch geschüttet war, lag ein Berg glänzender Fünfmarkstücke da. „Fünfmarkstücke finde ich am schönsten", sagte Mutter, „sie sehen so stattlich aus wie Dukaten und Taler, von denen man in Abenteuerbüchern liest. Ich hab' das ganze Eiergeld in Fünfmarkstücke umgewechselt." Alle setzten sich um den Tisch. Nick sprang auf Michaels Knie, er wollte genauso dicht wie alle anderen dabei sein, wenn Mutter ihren Schatz zählte. „Fred! Kinder! Es sind siebzig Stück!" rief Mutter, und Annette drückte die Augen zu und rechnete: „Sieben mal fünf — fünfunddreißig — und Null — dreihundertfünfzig! Mutter, du hast dreihundertfünfzig Mark gespart! Dafür kriegst du bestimmt zwei Pelzmäntel! Fein, was?" „Pelzmäntel sind teuer", sagte Michael, „aber dreihundertfünfzig Mark . .. !" Und Vater sagte: „So, und nun tu alles wieder zurück in die Kiste und gib sie mir! Diesmal werde ich das Geld verwahren, damit niemand in Versuchung kommt, es für einen Umzug oder für Hühner oder irgend sonst etwas auszugeben. Diesmal kriegst du das Geld erst an der Ladenkasse, Helenchen, wir wollen dich nun endlich in deinem Weihnachtspelz unterm Christbaum sehen!" „Einen Moment, Vater", sagte Michael, schüttelte Nick von seinen Knien
und rannte hinaus. „Wartet einen Augenblick", rief Annette und stürzte ihm nach. Es dauerte keine zwei Minuten, dann waren beide zurück. Michael schob ein Beutelchen in die Zigarrenkiste und sagte verlegen: „Es ist fast nichts, ich habe bloß auch ein bisschen für Mutters Mantel gespart!" Aber als Mutter den Beutel öffnete, waren dreißig Mark darin. „Michael, Liebling!" rief Mutter und drückte ihren Jungen an sich, „du hast ja fast dein ganzes Taschengeld gespart! Wie lieb von dir!" „Wir haben beide gespart!" trompetete Annette, „Michael jeden Monat drei Mark und ich jeden Monat einsfünfzig, weil ich ja bloß die Hälfte kriege! Da ist meins. Fünfzehn Mark, ich habe es schon nachgezählt!" Annette legte ein Taschentuch auf den Tisch, in das ihr Geld eingeknüpft war. Lauter Groschen und Fünfpfennigstücke, man konnte ihnen deutlich die Eisportionen, Bonbons und Kaugummis ansehen, die nicht dafür gekauft worden waren. „Glaubt ihr eigentlich", sagte Vater, „ihr könnt alle mit dicken Geldbeuteln ankommen, und ich armer Mann ohne Hühner, ohne Taschengeld, ich muss zusehen, wie Mutters Weihnachtspelz ohne mich zustande kommt? Haha, da habt ihr euch aber geirrt!" Und er stand auf, nahm eine Tabaksdose aus seinem Schreibtischfach, und als er sie ausschüttete, waren zweihundertzehn Mark drin. „O Mutter!" jubelte Annette, „jetzt haben wir dreihundertfünfzig und dreißig und fünfzehn und zweihundertzehn, das sind sechs — ja, sechshundertfünf Mark! Du kriegst den schönsten Pelz von der Welt!" „Ja", sagte Mutter, „und den wollen wir alle miteinander einkaufen! Was meint ihr dazu, wenn wir, sagen wir mal, in vierzehn Tagen unsere Weihnachtseinkäufe machen würden? Man kann gar nicht früh genug mit Weihnachtseinkäufen anfangen! Schreibt euch heute noch alles auf, was
ihr euch wünscht. Ach, Kinder, ich bin so glücklich, ich möchte, dass diesmal jeder seinen Herzenswunsch zu Weihnachten erfüllt kriegt! Es soll unser allerschönstes Weihnachten hier werden!" Michael, Annette und Nick saßen in der Dachkammer, die jetzt Michaels Zimmer war. „Was wollen wir schreiben?" erkundigte sich Annette. „Was möchtest du am liebsten?" „Ach, das weißt du doch schon, aber das kann ich mir nicht wünschen, das ist viel zu teuer!" „Fahrrad?" Annette nickte. „Nein, das kannst du nicht", bestätigte Michael, „sonst kauft sich Mutter den Mantel womöglich wieder nicht und ..." „Was wünschst du dir eigentlich, Michael?" „Ich? Wirklich, ich weiß es diesmal nicht! Was haben wir uns denn früher gewünscht? Einmal wollte ich so schrecklich gern ein eigenes Zimmer haben, in dem ich mal was herumliegen lassen darf, ohne dass gleich einer kommt und es wegräumt, und Mutter hat mir die Dachkammer geschenkt Dann hab' ich mir einen Hund gewünscht und habe zum Geburtstag Nick bekommen. Ich denke, ich hab' alles, wahrhaftig! Komisch, dass man mal gar nichts Besonderes zu wünschen hat für Weihnachtend! Vielleicht Bücher? — Ja, ich werde mir ein paar spannende Bücher wünschen. Dann stopf ich mein Kanonenöfchen voll Tannenzapfen, und am zweiten Feiertag zieh' ich mich mit Nick und dem Weihnachtsteller in unsere Bude zurück, da werden wir's herrlich gemütlich haben!" „Ach, Michael, ich glaube, ich kann mich diesmal überhaupt nicht auf Weihnachten freuen! Weißt du, immer haben wir uns irgendwas ganz toll gewünscht. Wie haben wir uns angestrengt, um herauszubringen, kriegen wir's oder kriegen wir's nicht! Aber Mutter und Vater haben
niemals etwas verraten. Und wir waren so gespannt, und die Zeit ging nicht 'rum, bis der Christbaum angezündet wurde. Wenn wir uns Bücher wünschen, dann wissen wir beinahe sicher, dass wir sie kriegen, und ich kann's ganz gut abwarten, sie unter dem Christbaum liegen zu sehen! Ich werde bestimmt nicht durchs Schlüsselloch gucken und kein bisschen aufgeregt sein. Ich möchte aber aufgeregt sein, Michael! Ich will platzen, bis es Heiligabend ist, weil ich nicht weiß, ob mein Fahrrad drinsteht in der Stube oder nicht. — Ja, ja, ich weiß schon, ich darf auf meinen Zettel nichts von einem Fahrrad schreiben, wegen Mutters Mantel. Es ist mir auch egal mit dem Fahrrad, verstehst du das? Ich möchte mir am liebsten irgendwas Verrücktes wünschen, bloß damit ich gespannt sein kann!" Michael nickte. Er verstand recht gut, was Annette meinte, aber es fiel ihm wirklich nichts Aufregendes ein, das er sich hätte wünschen können. Plötzlich fuhr Annette auf. „Michael, ich weiß, was ich schreibe! Ich schreibe einfach: Etwas Lebendiges! Dann können sich Vater und Mutter selbst den Kopf zerbrechen, was es sein soll! Einen Hund werde ich nicht kriegen, denn wir haben ja Nick. Du brauchst gar nichts zu sagen, Nick gehört mir fast so gut wie dir! Einen Vogel schenkt Mutter auch nicht, weil sie es greulich findet, wenn Vögel in Käfigen eingesperrt sind. Eine Katze kann sie nicht, weil Nick sich nicht mit ihr vertragen würde, Hühner und Gänse haben wir sowieso schon! Hach, Michael, sie müssen sich schreckliche Mühe geben, sich irgend etwas auszudenken, und ich bin jetzt schon so aufgeregt — ich platze bestimmt, ehe all die Wochen bis Weihnachten herum sind! Vielleicht kriege ich einen Pfau, Michael? Oder vielleicht doch eine Katze, oder einen Ziegenbock! Es gibt eine wirkliche Überraschung! Ist es nicht wunderbar spannend?" „Ja, sehr!" sagte Michael. „Außerdem können wir auch noch auf etwas anderes sehr neugierig sein!"
„Auf was denn?" „Ob Mutter sich diesmal den Mantel wirklich kauft!" „Meinst du nicht? Es ist doch ziemlich sicher!" „Das ist es ja eben, dass man bei Mutter nie weiß, ob sie sich nicht in letzter Minute noch anders besinnt! Ich hoffe, Mutter kauft ihn. Ich möchte, dass sie mal ein ganz, ganz großes Geschenk bekommt! Für sich selbst, nicht für uns, wie es bis jetzt immer war. Weißt du, Annette, wir schreiben beide auf unseren Wunschzettel: Einen Pelzmantel für Mutter! Damit Mutter denkt, wir wären furchtbar enttäuscht, wenn sie sich keinen kauft!" „Wären wir auch, wir haben doch so gespart und unser ganzes Geld dafür hergegeben!" Zu gleicher Zeit saßen Vater und Mutter im Wohnzimmer, und Mutter sagte: „Fred, sechshundertfünf Mark ist einfach ungeheuerlich! Ich werde nie einen so teuren Mantel kaufen! Weißt du, Annette wünscht sich doch ein Fahrrad! Ja, ich weiß, dass sie sich's wünscht, und ich weiß auch, dass sie es nicht auf ihren Wunschzettel schreiben wird, weil sie glaubt, ich würde mir dann den Mantel nicht kaufen. Aber, Fred, wir werden einen Mantel und ein Fahrrad kaufen. Was sagst du dazu?" „Nein", sagte Vater sehr bestimmt, „das werden wir ganz gewiss nicht! Pelzmäntel sind teuer; du wirst Mühe haben, für sechshundertfünf Mark einen zu bekommen, der dir gefällt. Annette kriegt ihr Fahrrad ein andermal, auf keinen Fall von diesem Geld. Ich habe dir schon gesagt, ich verwahre es bis zu dem Augenblick, in dem du an die Ladenkasse trittst; dann erst werde ich's herausgeben und keine einzige Minute vorher! Aha, da kommen die beiden die Treppe herunter! Die Wunschzettel sind anscheinend schon fertig!" Zwei Tage später trat Michael mit der Schulmappe in die Küche. „Tag, Mutter", sagte er, „warum hast du Nick heute nicht zum Bahnhof
geschickt?" „Ich habe ihn geschickt", sagte Mutter, „und ich habe gesehen, wie er aus dem Haus ging! Vielleicht ist er unterwegs durch einen Freund aufgehalten worden! Nun zieh dich erst mal um und wasch dich, mein Junge, und dann komm schnell zum Essen. Gab es was Besonderes in der Schule?" „Nein, nichts Besonderes", sagte Michael — „so ein Strolch! Vergisst, mich abzuholen!" Michael musste seit zwei Jahren mit der Bahn in die Stadt zur Schule fahren. Jemand hatte einmal Nick bis zum Bahnhof mitgenommen, und eines Tages war Nick allein losgezogen, um seinen Herrn abzuholen. Von da an schickte Mutter ihn jeden Tag nach zwölf weg und sagte: „Lauf zum Zug, Nick, und bestelle Michael, er soll sich heute beeilen! Wenn du ihn rasch heimbringst, kriegst du einen herrlichen Knochen, Nick!" Und dann raste Nick auf seinen krummen Dackelbeinen los, dass seine Ohren mit den langen Locken wie braune Segel hinter ihm herflatterten. Mutter stellte nach einer Weile die Kartoffeln aufs Feuer, und wenn sie gar waren, jagten Nick und Michael gewöhnlich daher, und Nick forderte seinen Knochen und tat sich mächtig stolz damit, seinen Herrn glücklich heimgebracht zu haben, ohne Halsband, ohne Leine, etwas, was seinem Herrn im umgekehrten Fall sehr selten glückte. Michael ging, ärgerlich über den treulosen Nick, in sein Zimmer hinauf, und Mutter hörte plötzlich sein lautes Gelächter. „Komm mal 'rauf, Mutter", brüllte Michael über das Treppengeländer, „hier kannst du was sehen!" Mutter kam und sah unter Michaels Bettdecke eine kleine schwarze Schnauze und zwei ängstliche braune Augen, aus denen das leibhaftige schlechte Gewissen guckte. „Nein, so was!" lief Michael, „schleicht sich der faule Kerl hinten herum
und knüllt sich ins Bett, statt mich abzuholen! Na, warte nur, Freundchen, bis ich meine Aufgaben gemacht habe, dann schmeiß' ich dich 'raus und jage dich so lange, bis — aber was hat er denn, Mutter? Warum begrüßt er mich nicht? Er begrüßt mich doch immer! Nick, Nick . ..!" Aber Nick wedelte nur so ein bisschen mit dem Schwanz und fuhr fort, Mutter und Michael ängstlich anzustarren. Mutter setzte sich auf das Bett, hob Nick behutsam auf und tastete ihn vorsichtig ab. „Er ist wohl ein bisschen krank", sagte sie, „fühl mal, wie heiß und trocken seine Schnauze ist. Hol ihm doch ein bisschen Milch aus der Küche, Michael, vielleicht möchte er trinken." Und wie durstig Nick war! Er trank und trank. Milch und Tee und Wasser, alles was man ihm hinstellte. Und er war so müde! Er schwankte auf seinen komischen kleinen Pfoten. Mutter brachte ihm seine Lieblingsunterlage, ein altes Hemd, das so vertraut nach Michael roch, und darauf verdöste Nick den Nachmittag. Michael war schon längst mit seinen Schularbeiten fertig, aber Nick wollte nicht aufstehen. Ein Bächlein floss von seiner Decke weg, er zog erschrocken den Schwanz ein. Nie hatte Nick sich so etwas zuschulden kommen lassen, seitdem er aus dem Babyalter heraus war, aber jetzt war er zu müde, um die Treppe hinunterzulaufen. Michael holte Putzeimer und Lappen. „Was kann er bloß haben, Mutter", sagte er, „meinst du, es ist bis morgen wieder gut?" „Du könntest zur Post laufen und den Tierarzt anrufen", schlug Mutter vor, „beschreibe ihm ganz genau, was mit Nick los ist. Vielleicht kann er herauskommen!" Michael ging drei Kilometer ins Dorf, um zu telefonieren. Mutter blieb bei Nick. Es wurde schlimmer mit ihm, ohne Zweifel, er war sehr krank! „Der Tierarzt war nicht da", meldete Michael, als er zurückkam; „ich habe dem Mädchen gesagt, er soll zu uns herauskommen!"
„Das war recht, Michael", sagte Mutter. „Aber jetzt möchte ich Nick gern mit mir hinunter nehmen, damit du heute Nacht Ruhe hast." „Nein, Mutter, nicht ..." „Doch, Michael, ich stelle sein Körbchen in die Diele und lasse die Schlafzimmertür offen. Du weißt, dass ich sofort bei ihm bin, wenn etwas sein sollte, aber ich glaube, er schläft heute Nacht schön durch, und morgen ist er wieder unser lustiger, fröhlicher kleiner Nick, und bald holt er dich wieder vom Bahnhof ab!" Nicks Schwanzspitze zuckte, als wenn er wedeln und „jawohl" sagen wollte, aber er war so müde, so sehr müde. Vater kam vom Büro und sah sich den kranken Nick an. „Er hat keine Schmerzen", erklärte Michael, „es ist ganz merkwürdig, er hat bloß Durst! Wenn nur der Tierarzt endlich käme!" Aber der Tierarzt kam nicht, und Michael und Annette mussten schließlich ins Bett. Auch Vater ging ins Schlafzimmer, aber Mutter schirmte die Lampe ab, trug ihren Sessel in die Diele und blieb bei Nick, um ihm immer wieder ein paar Tropfen Tee einzuflößen. Mitten in der Nacht hörte sie Schritte, die Tür öffnete sich lautlos, und darunter stand Michael mit dunklen Schatten unter den Augen. „Du, Mutter!" sagte er überrascht, „sitzt du schon die ganze Zeit hier?" Mutter nickte. „Wie geht es ihm?" fragte Michael und deutete mit dem Kopf auf Nicks Körbchen. „Er hat keine Schmerzen", antwortete Mutter, und Michael nickte und wiederholte mechanisch: „Nein, Schmerzen hat er nicht!" Dann kam er plötzlich in seinem gestreiften Schlafanzug, der ihm um den mageren Körper schlotterte, heran und sagte: „Mutter, glaubst du wirklich, dass ihm der Tierarzt noch helfen kann, wenn er morgen früh
kommt?"
Mutter schaute erst auf Nick, dann auf Michael, dann sagte sie ernst: „Ich weiß es nicht! So etwas weiß man nie, Michael!" Aber Michael schüttelte den Kopf und sagte heftig: „Weißt du, was er tun wird? Er wird ihm eine Spritze geben! Aber ich lass' das nicht zu, Mutter, das darf er nicht. Ich will..." In diesem Augenblick richtete sich Nick auf. Er sah Mutter und Michael mit seinen großen dunklen Augen an, als wollte er sie um etwas bitten. Michael sprang hinzu, aber ehe er irgendetwas tun konnte, fiel Nick zurück. Seine Schnauze war ein bisschen offen, aber seine Augen waren sonderbar leer. „Mutter", rief Michael und fuhr herum, „was ist mit ihm los, sieh doch!" Mutter schloss Michael in die Arme und zog ihn sanft zu ihrem Sessel. Dann nahm sie behutsam Nicks Körbchen auf und trug es hinaus. „Wir werden ihn morgen begraben, Liebling, komm, ich bringe dich ins Bett!" Michael weinte. Er schluchzte noch, als er in seinem frisch bezogenen Bett lag. Er hatte schon lange nicht mehr geweint. Er war zwölf Jahre alt. Er war kein kleiner Junge mehr. Aber das Schreckliche, das in ihm wühlte, diese wilde dunkle Traurigkeit, wurde sanfter, wenn er sich ausweinte. Mutters Ärmel war nass geweint, als sie Michael schließlich auf sein Kissen bettete. Er war in ihren Armen eingeschlafen und schlief müde und halb betäubt von Tränen weiter. Niemand wusste, woran Nick so plötzlich gestorben war. Hatte er etwas Giftiges gefressen, hatte er sich angesteckt? Auch der Tierarzt, der am andern Morgen kam, konnte es nicht sagen. Er wollte den kleinen toten Körper mitnehmen, aber Mutter ließ es nicht zu. „Es hilft ja nun doch
nichts mehr", sagte sie, „wir wollen ihn unter Michaels Nussbaum begraben, so bleibt er immer bei uns." Wie war nun alles verändert! Die Dachkammer zwar tat alles, um Michael so behaglich wie möglich zu empfangen, wenn er von der Schule kam. Das Öfchen glühte, und Mutter stellte getrocknete Birnen und Zwetschgen auf den Tisch, an dem Michael über seinen Schulaufgaben brütete. Aber Michael fühlte sich nicht wohl in dieser Behaglichkeit. Immer wieder ertappte er sich dabei, wie er zu seinem Bettvorleger hinüberschaute, auf dem Nick geschlafen hatte, während er Schulaufgaben machte. Michael Schloss die Türen immer noch so behutsam wie seit jenem Tag, an dem Nick in ein Wehgeheul ausgebrochen war, weil Michael ihm eine Pfote eingeklemmt hatte. Was er ansah, was er anfasste, alles erinnerte ihn an Nick. Annette kam öfter als bisher in die Dachkammer. Sie wollte nicht, dass es so still war oben bei Michael, sie wollte ihm Nick ein bisschen ersetzen, und das war sehr lieb von ihr, denn sie selbst war fast ebenso unglücklich wie Michael. „Ich mag gar nicht an Weihnachten denken", klagte sie, „ich wollte, es wäre schon vorbei!" „Ich auch", sagte Michael und holte tief Atem. Annette sah ihn an. Plötzlich sprang sie auf. „O Michael", rief sie aufgeregt, „weißt du was?! Mutter wird uns wieder einen Hund schenken zu Weihnachten. Ich hab' auf meinen Wunschzettel doch geschrieben: Etwas Lebendiges! Erinnerst du dich?" Michael fuhr so heftig herum, dass Annette erschrak. „Nein", rief er wild, „ich will keinen Hund zu Weihnachten! Ich will überhaupt nie mehr einen Hund! Ich könnte ihn kein bisschen mögen! Ich will an meinen Nick denken, nicht an irgendeinen neuen Hund, verstehst du das nicht?" „Doch, doch", sagte Annette schnell, um ihn zu beruhigen.
Michael besann sich, kam näher und stellt sich neben sie. „Hör mal, Annette, wir dürfen uns aber nichts anmerken lassen. Mutter soll glauben, wir freuen uns auf Weihnachten, wie immer. Es wäre zu arg für Mutter, wenn sie wüsste, dass wir uns nicht mehr freuen können! Wir sagen bloß, wir wollen keinen Hund mehr! Unser Weihnachtsgeschenk ist jetzt einfach Mutters Freude, wenn sie den Pelzmantel kauft. An diesem Tag werden wir uns zusammennehmen und nicht an Nick denken, keinen einzigen Augenblick. Wir müssen vergnügt sein, sonst ist Mutter alles verdorben." Merkwürdig, dass gerade an diesem Abend Mutter sagte: „Eigentlich wollten wir übermorgen fahren und den Mantel kaufen, aber wenn ihr keine Lust habt, verschieben wir's!" Zu ihrem Erstaunen aber riefen Michael und Annette gleichzeitig: „Au fein, Mutter! Du darfst es nicht verschieben! Übermorgen wird dein Weihnachtspelz gekauft!" „Sie wollen eben ein bisschen Ablenkung, das ist klar", meinte Vater später, als die beiden schon im Bett waren, aber Mutter sagte: „Na —", und das hieß soviel wie, dass sie nicht recht wusste, was sie davon halten sollte. Aber schließlich waren Michael und Annette viel vergnügter, als Mutter erwartet hatte. Michael hatte an diesem Nachmittag schulfrei, und Vater hatte ein paar Stunden Urlaub von seinem Büro genommen. Mutter und Annette holten erst Michael und dann Vater ab. Annette hatte sich sehr fein gemacht. Sie sah nicht aus wie ein aus dem Wagen gefallenes, verlassenes Zigeunerkind, sondern wie eines, das von ordentlichen Leuten aufgelesen, gewaschen, gebürstet und in einen wunderschönen hellgrauen Kapuzenmantel gesteckt worden war. Darunter trug sie ein Kleid, auf dem vorne eine rote Samtschleife saß. Aber die konnte man leider nicht sehen, weil der Mantel zugeknöpft war. Sehen konnte
man jedoch die langen weißen Strümpfe, die blank geputzten, hellen Sonntagsschuhe und die rote Baskenmütze, die verhinderte, dass eine dunkle Locke über Annettes linkes Auge herunterhing und sie zum Schielen zwang. Vater musste sie geradezu ein Stück von sich abhalten, um die ganze Pracht bewundern zu können. „Michael war der größte von allen!" rief ihm Annette zur Begrüßung entgegen, „wir konnten ihn schon von weitem auf dem Schulhof sehen." Vater lachte, nahm Mutters Arm und führte die Familie mitten durch das Gewühl zu der prächtigen Geschäftsstraße. Rechts und links reihte sich Schaufenster an Schaufenster, eines herrlicher als das andere. Annette geriet fast außer sich. Sie stolperte und drohte alle Augenblicke hinzufallen, weil sie nicht auf die Straße sah, sondern mit hochgerecktem Kopf zwischen den Leuten hindurch in die Schaufenster starrte. „Sie bewegen sich!" brüllte sie plötzlich, ohne sich um die Leute zu kümmern, „sieh doch nur!" Mit Ellbogen, Kopf und Füßen drängte sie sich vor, bis sie dicht vor der Glasscheibe stand, hinter der eine niedliche Zwergenwirtschaft zu sehen war. Kleine Schneider und Schuster, Schreiner und Polsterer — die Polsterer waren besonders nett — glitten in einer Werkstatt hin und her und nähten und schnitten und hobelten und hämmerten richtige Anzüge und Schuhe und Möbel, die man in diesem Geschäft kaufen konnte. „Bitte", rief Annette dringlich „lasst uns hier hineingehen und einen Sessel kaufen!" „Was um alle Welt sollen wir denn mit einem Sessel?" fragte Vater erstaunt, „ich denke, wir haben so viele Sessel, wie wir brauchen!" „Aber sieh doch, Vater, diese Sessel hier, die die Zwerge machen, sind ganz neu und überhaupt nicht ausgebeult und abgeschabt wie unsere!"
rief Annette eifrig unter dem Gelächter der Umstehenden. „Auch Zwergensessel nützen sich ab, wenn eine Wildkatze wie du zehn Jahre lang darauf herumtobt!" brummte Vater und ging mit Mutter weiter zum nächsten Schaufenster. Aber die Schaufenster waren noch gar nichts gegen die Pracht und den Glanz im Innern der großen Kaufhäuser. Annette ging mit blanken Augen und feuerroten Backen durch diese Herrlichkeiten von schimmernden Stoffen und blinkendem Glas und begrüßte mit großer Begeisterung ihr eigenes ansehnliches Spiegelbild, das alle Augenblicke an den merkwürdigsten Stellen unvermutet auftauchte. „O Michael!" rief sie aus, „und du kannst jeden Tag hier herkommen und dies alles ansehen, sooft du willst!" „Du bist nicht recht gescheit!" sagte Michael, „meinst du, ich mach' mir was daraus, mich hier halb tot drücken zu lassen, puh! Ich schau' mir höchstens die elektrische Eisenbahn an, ganz oben in der Spielwarenabteilung!" „Spielwarenab . . . , Michael, lass uns dorthin gehen! Mutter! Vater! Bitte, könnten wir uns nicht jetzt sofort mal die Eisenbahn ansehen?" „Wir wollten doch einen Mantel für Mutter aussuchen", sagte Vater, aber Mutter winkte ab. „Den Mantel heben wir uns für ganz zuletzt auf", sagte sie fröhlich; „schnell, da kommt eben der Aufzug!" Annette stand hinter dem Liftführer und drückte beide Hände auf den Magen. „Hach", flüsterte sie Michael zu, „wenn ich du wäre, würde ich den ganzen Tag Aufzug fahren! Ist es nicht wunderbar?" In der Spielwarenabteilung aber konnte sie gar nichts mehr sagen. Das rasselte und rauschte und knisterte und zischte, das blitzte und funkelte und glänzte, dass Annette einen Moment die Augen schließen musste. Es war überwältigend.
„Bitte", bettelte sie, „lasst mich einmal ganz allein hier den Gang entlanggehen. Darf ich, ja? Ihr könnt solange bei der Eisenbahn auf mich warten, aus der mach' ich mir nichts!" Annette steckte die Hände in die Taschen ihres Kapuzenmantels, die Nase in die Luft und schlenderte den Gang entlang. Sie tat, als suche sie etwas aus, um die Verkäuferinnen irrezuführen, die sie vielleicht weggeschickt hätten, wer kann das wissen! Aber in Wirklichkeit wollte sie nur ein paar köstliche Happen „größte
Puppe der Welt" — „vollkommener Zirkus mit Attraktionen" — „lebendes Bilderbuch" und „Raketenfahrt zum Mond" naschen. Die ganze Spielwarenabteilung kam ihr vor wie ein prächtiger Rummelplatz, den man ins Haus verlegt hatte. Es war herrlich aufregend, dieses ganze Gefunkel, der riesige Tannenbaum mit den ungeheuren Glaskugeln und den elektrischen Kerzen, die immerzu aufflammten und wieder verlöschten, und herrlich aufregend war auch der Lärm, den die vielen Leute zusammen mit all den rasselnden, pfeifenden, heulenden Autos, Eisenbahnen und Flugzeugen machten. Fast betäubt kam Annette zur Eisenbahn zurück. „Nun", sagte Vater, „lass hören, was hast du dir denn ausgesucht?" „Ausgesucht", wiederholte Annette erstaunt, „wieso ausgesucht? Ich habe mir alles angesehen!" „Aber möchtest du nicht irgend etwas von diesen Sachen haben?" „Väterchen", sagte Annette mit mildem Tadel „wo denkst du hin! Zu Weihnachten möchte ich eine richtige Tanne aus einem richtigen Wald mit richtigen Tannenzapfen und richtigen Kerzen! Meinst du, da passte das Zeug dazu, das so einen Krach macht? Nein, das will ich mir bloß hier bei den vielen Leuten ansehen. Zu Hause, da muss es gemütlich und still sein Weihnachten!"
„So, so", sagte der Vater und nickte, als wäre er insgeheim derselben Ansicht, „aber nun wollen wir gehen und Mutters Mantel kaufen!" Das Pelzgeschäft war ungeheuer fein und langweilig. Mutter probierte schwarze und braune und graue, gefleckte und gestreifte Mäntel an, und alle verwandelten die kleine, zierliche Mutter in ein unförmiges Paket. Und Mutter stand vor dem Spiegel, machte ein unschlüssiges Gesicht und sagte: „Es ist eigentlich nicht das, was ich mir vorgestellt habe!" Die Verkäuferinnen waren sehr höflich und steif wie Puppen. Sie machten sich gar nichts daraus, dass Mutter das viele Geld von Hunderten von Eiern und Michaels und Vaters und Annettes ganzes Gespartes dazu für einen von ihren plumpen Mänteln ausgeben wollte. Annette war enttäuscht, weil dieser Manteleinkauf, der doch eigentlich den Höhepunkt aller heutigen Erlebnisse darstellen sollte, so langweilig verlief. Sie gähnte, und Michael stieß sie in die Seite. Sie hatten einen kurzen, hitzigen Wortwechsel miteinander, bis Mutter sich umdrehte und zu Vater sagte: „Möchtest du nicht draußen ein bisschen mit ihnen auf und ab gehen, Fred? Du siehst ja, der Mantel ist jetzt so gut wie gekauft!" Vater lachte und holte die dicke Brieftasche aus seiner Brusttasche, gab sie Mutter und verließ dann mit Michael und Annette das Geschäft. „Ich denke, wir setzen uns drüben in die Milchbar", sagte er, „dann können wir den Eingang im Auge behalten!" In der Milchbar war es sofort wieder sehr vergnüglich. Annette durfte Cremeschnittchen bestellen, die seltsam und köstlich schmeckten. Vater trank Kaffee und Michael Apfelsaft. Es war gut, dass sie hier hergekommen waren, denn Mutter ließ sich Zeit. Fast eine Stunde verging, bis Michael plötzlich rief: „Dort kommt Mutter! Aber sie kommt ja von ganz woanders her, gar nicht aus dem Pelzgeschäft! Und ein Paket
hat sie auch nicht!" Annette klopfte gegen die Scheibe, und Mutter kam herein. Ihr Gesicht war gerötet, ihre Augen glänzten. „Wo ist der Mantel?" fragten Vater, Michael und Annette gleichzeitig. „Er wird nachgeschickt", rief Mutter fröhlich. „Ach, wenn ihr wüsstet — ich habe den schönsten Pelz von der Welt gekauft!" „Du bist aber gar nicht aus dem Geschäft da drüben herausgekommen", wunderte sich Annette, „wir haben die ganze Zeit den Eingang angestarrt." „Wirklich?" sagte Mutter lustig. „Ja, das stimmt. Es war nämlich so: Ich habe zufällig zugehört, wie zwei Damen sich über einen Pelz unterhielten. Und das war genau der, den ich mir vorgestellt habe. Ich kam mit ihnen ins Gespräch, fragte sie nach dem Geschäft, na, und dann bin ich gegangen und habe meinen Pelz gekauft. Er wird mir zugeschickt und ..." „Warum konntest du ihn nicht gleich mitnehmen?" fragte Michael enttäuscht. „Es ist ein Pelz nach Maß", antwortete Mutter und strich ihm flüchtig übers Haar, „das Material kommt von sehr weit her!" „Helene", sagte Vater und sah Mutter sehr streng an, „hast du nun einen Pelz gekauft oder nicht?" Da legte Mutter die Brieftasche, die fast leer war, auf den Tisch und sagte: „Fred, ich schwöre es dir feierlich, diesmal habe ich einen Pelz gekauft! Er war zwar ein bisschen teuer, aber ..." „Das macht nichts", rief Vater sehr befriedigt und streckte die Brieftasche ein, „das macht gar nichts, wenn er dir nur wirklich gefällt!" „O ja!" antwortete Mutter aus tiefstem Herzen heraus, „und ich hoffe, euch wird er auch gefallen!" Michael war froh, dass alles so gut vorbeigegangen war. Niemand hatte
gemerkt, wie schwer es ihm fiel, lustig zu sein. Vor der Tür, gleich neben der Eisenbahn, waren zwei Spaniels angebunden gewesen. Sie hatten ebenso lange, lockige Ohren, wie Nick sie gehabt hatte, und Michael war bei ihrem Anblick ein Stich bis ins innerste Herz hineingegangen. „Schöne Hunde", hatte Mutter gesagt, „nicht, Michael? Meinst du nicht, du könntest so einen gernhaben?" Aber Michael hatte ganz schnell erwidert: „Nein, Mutter. Ich weiß es nicht, vielleicht wird es später mal wieder anders sein, aber jetzt mag ich überhaupt nicht an einen Hund denken!" Mutter hatte dann von etwas anderem gesprochen, und dann war Annette wiedergekommen, und niemand achtete mehr darauf, dass Michael nichts redete. Annette redete ja umso mehr! Wie gut, dass Annette dabei war! Mutter hatte vor Weihnachten viel Arbeit mit ihren Hühnern. Alle Welt wollte gerade jetzt frische Eier haben, obwohl sich noch viele von den Hühnern mauserten und darum nicht legten. Mutter musste dauernd ins Dorf laufen oder Postkarten schreiben und die Leute vertrösten. Außerdem hatte sie sich ausgerechnet jetzt in den Kopf gesetzt, die Wiese durch einen Zaun in der Mitte abzuteilen, denn „die Hühner ruinieren mir den ganzen Rasen!" Als ob das jetzt im Dezember so schlimm gewesen wäre! Die Hühnerherde hatte also nur noch Herrn Knäbleins halbe Wiese zu ihrer Verfügung. „Die andere Hälfte gehört jetzt wieder uns", sagte Annette, „das ist gut. Jetzt können wir uns wenigstens nicht mehr dauernd in Hühnerdreck setzen, wenn wir dort spielen!" Eines Tages, als Michael von der Schule heimkam, leuchtete ihm ein neues, rotes Dach vom Schweinestall entgegen. Herr Knäblein war gerade dabei, die letzten Ziegel zu decken. „Er kommt mir viel höher vor als früher", sagte Michael, „merkwürdig!" „Gar nicht merkwürdig!" rief Annette, „Herr Knäblein hat den
Schweinestall ja auch höher gemacht, da muss er dir schon so vorkommen!" Was sollte das alles? Michael wurde unruhig. Hatte Mutter irgendetwas vor? Susi und Lisa brauchten auf ihre alten Tage wahrhaftig keinen größeren Schweinestall! Vater merkte wenig von diesen Veränderungen. Es war schon dunkel, wenn er heimkam, und in der Nacht vom Freitag auf Samstag fiel der erste Schnee und deckte das neue rote Dach des Schweinestalles ebenso zu wie alles andere, so dass Vater am Sonntagmorgen, als er aus dem Fenster guckte, nichts als eine verschneite Weihnachtspostkartenlandschaft vor seinen Augen hatte. „Nun könntest du deinen Pelz schon ganz gut brauchen, Lenchen", sagte Vater, „warum dauert es bloß so lange, bis er kommt?" „Wo denkst du hin, Fred", rief Mutter, „vor Weihnachten würde ich ihn nicht einmal ansehen! Er muss unterm Christbaum stehen!" „Stehen! Du lieber Himmel, du hast dir doch hoffentlich nicht so ein steifes Brett von Mantel aufschwätzen lassen? Ich hätte unbedingt bei dir bleiben müssen!" „Nein, nein", wehrte Mutter ab, „es ist schon alles ganz richtig, er kann auch liegen, und er ist sehr, sehr weich und sehr warm, ach Fred, ich könnte mich totfreuen!" Von da an fragte Vater jedes Mal, wenn er abends heimkam, zuerst: „Ist der Pelz heute gekommen?" Aber er erhielt immer nur ein Kopfschütteln zur Antwort. Schließlich kam die letzte Woche vor Weihnachten, und auch diese ging herum, ohne dass der Pelz eintraf. Am 22. Dezember sagte Vater aufgebracht: „Helene, nun gib mir aber die Adresse von deinem Geschäft, ich werde hingehen und denen dort Beine machen! Was denken die sich eigentlich! Wollen sie dir deinen Weihnachtspelz etwa zu
Silvester schicken?" „Er kommt schon noch, Fred", sagte Mutter, „sie haben mir's ja versprochen!" Aber war es nun, dass Vaters Drängen Mutter ein bisschen nervös gemacht hatte, oder glaubte sie selbst nicht mehr so richtig dran, dass der Pelz pünktlich zum Heiligen Abend einträfe, kurz, Michael und Annette spürten deutlich, dass Mutter unruhig wurde. Sie ging durchs Haus, zu ihren Hühnern, in den neuen Schweinestall, von da aus in die Scheune, und manchmal gab sie so seltsame Antworten auf ihre Fragen, dass man deutlich merken konnte, wie abwesend sie war. Am nächsten Tag wurde es noch schlimmer, und am Heiligen Abend kam Michael nach dem Mittagessen in die Küche und erstarrte vor Schreck. Am Küchentisch saß Mutter, hatte den Kopf auf ihren Arm gelegt und schluchzte. Ganz deutlich konnte Michael sehen, wie ihre Schultern zuckten. „Mutter", rief er entsetzt, „was ist mit dir? Bist du krank?" Mutter stand schnell auf und tupfte sich mit ihrem Taschentüchlein geschwind über Augen und Wangen. „Ich hab ein bisschen Kopfschmerzen, Michael, das ist alles", sagte sie. „Lauf mit Annette in den Wald und hol noch ein paar Tannenzweige, weißt du, solche mit dicken Nadeln und womöglich noch mit Zapfen dran. Vater wird sie gleich brauchen!" Vater stand im Weihnachtszimmer und schmückte den Christbaum. Er fing damit jedes Jahr früher an, um rechtzeitig fertig zu sein, wenn die Glocken weither vom Dorfe den Abend einläuteten. Man hörte ihn mit seiner rauhen Stimme „O du fröhliche, o du selige" brummen. Plötzlich brach er ab und kam heraus. „Helene", sagte er, „war die Post schon da?" „N — nein!" erwiderte Mutter und machte sich am Heringssalat zu
schaffen, den es zum Abendbrot geben sollte. „Aber ich hab' doch ...", fing Annette an. Mutter unterbrach sie hastig. „Fred", sagte sie, „der Postbote ist vielleicht vorbeigefahren, aber für uns hatte er jedenfalls nichts dabei. Ich weiß nicht, was mit meinem Pelz los ist. Bitte, lass uns nicht mehr davon sprechen. Morgen wird er bestimmt kommen oder übermorgen oder zu Neujahr. Wir wollen trotzdem unseren fröhlichen Heiligen Abend haben, so wie jedes Jahr. Die Geschenke machen es ja nicht. . ." „Geschenke!" sagte Vater, „da wollte ich eben fragen, komm doch bitte mal herüber ins Zimmer — ich habe nämlich bloß ein paar Bücher für die Kinder. Du hast immer gesagt, mit dem Hauptgeschenk würdest du erst zuletzt herausrücken. Nun ist es soweit..." Mutter sah aus, als wollte sie gleich wieder anfangen zu weinen, und Vater sah mit einem recht sonderbaren Ausdruck im Gesicht auf sie hinunter. In diesem Augenblick radelte ein Junge über den Hof. „Hallo!" rief er atemlos, „kann mal einer 'rauskommen ?" Alle rannten miteinander die Treppe hinunter. „Der Bahnhofsvorsteher lässt bestellen", stieß der Junge hervor, „es möchte doch gleich jemand kommen. Eine große Kiste steht seit Mittag da ..." „Fred, Kinder", jubelte Mutter, „mein Pelz! Mein Pelz ist da! Kommt, wir wollen ihn alle zusammen abholen!" „Eine große Kiste für einen Pelz -", sagte Vater und schüttelte den Kopf, „hoffentlich wirst du nicht furchtbar enttäuscht sein, Lenchen, wenn dir jemand Eintagsküken schickt oder so was!" „Nein", sagte Mutter fest, „das wollen wir uns versprechen, wir sind gar nicht enttäuscht! Wir werden Eintagsküken zu Weihnachten spaßig finden und werden alle miteinander darüber lachen. Nichts und niemand soll uns jetzt noch unseren fröhlichen Heiligen Abend verderben können.
Wir machen jetzt unseren Weihnachtsspaziergang zum Bahnhof. Nachher, wenn wir zurückkommen, ist es schon dunkel, dann zünden wir unseren Christbaum an und sind so vergnügt miteinander, als wenn das ganze Zimmer voller Geschenke stünde." „Läge", sagte Vater und drückte Mutters Arm, „immer behauptest du, Pelzmäntel könnten stehen! Pelzmäntel liegen, sagt man, Lenchen!" Der Schnee knirschte unter ihren Schuhen, als sie hinter dem Dorf in den Wald traten. Die großen Tannen konnten all den Schnee kaum tragen. Sie hielten ihre Äste gesenkt, wie eine Glucke die Flügel, wenn sie ihre Küken unter sich versammelt. Annette hatte große Lust, unter eine Tannenglucke zu kriechen, aber die Neugier trieb sie vorwärts. Was würde sie auf dem kleinen Bahnhof erwarten? Spaß auf jeden Fall! Und Spaß war mindestens genauso viel wert wie eine Puppe oder ein anderes Spielzeug. Michael wurde ganz fröhlich auf diesem Spaziergang. „Ich wollte, wir müssten jedes Jahr am Heiligen Abend zum Bahnhof", sagte er; „ist es nicht prächtig heute Abend hier draußen?" „Prächtig kalt", meinte Vater und rieb sich die Hände. „Ein Stern!" jubelte Annette, „seht nur, ein einziger kleiner Stern auf dem ganzen großen Himmel! Es ist unser Weihnachtsstern!" Eine kleine Spielzeuglokomotive dampfte gerade aus dem Bahnhof, als sie den Wald verließen, und entfaltete eine rosige Rauchfahne über den bläulichen Schneefeldern. Je näher sie dem Bahnhof kamen, um so stiller wurde Mutter. Plötzlich fühlte sie, wie sich eine harte, schmale Hand zwischen ihre Finger schob. Es war Michael, und er lächelte Mutter mit den Augen zu. „Heute kann ich zum ersten Mal an Nick denken", sagte er leise, und Mutter wusste, dass es heißen sollte: ohne dass es weh tut! Auf dem letzten Stück Weg rannte Annette mit langen Schritten voraus.
„Warte", rief Mutter hinter ihr her, „ich muss zuerst hineingehen!" Vater sah sie mitleidig an. Er war sicher, dass sie eine Kiste voll Küken vorfinden würde. „Ein Glück, dass Sie kommen!" rief ihnen der Stationsvorsteher entgegen, „wir wussten nicht, was wir damit machen sollten, heute am Heiligen Abend! Es muss doch gefüttert werden! Ich habe etwas Heu holen lassen!" Ein Missverständnis! Vater stieß einen Seufzer aus. Du lieber Himmel, sie hatten den weiten Weg gemacht, und sicher war die Kiste für jemand ganz anderen. Fressen Küken Heu? Nein! Frisst ein Pelzmantel Heu? Ebenso wenig! Aber Mutter tat einen Schrei, schwang sich auf die Laderampe wie ein übermütiges kleines Mädchen und verschwand in dem düsteren, schlecht beleuchteten Güterschuppen. Als die übrige Familie nachfolgte, verschlug es allen den Atem. Da stand Mutter, strahlend vor Glück neben einer großen Kiste, aus der soeben mit steifen Beinen ein Ponyfohlen herausstieg. „Dein Pelz . . .", hauchte Vater. „Ja!" jubelte Mutter, „ist es nicht der wärmste, weichste Pelz, den du dir vorstellen kannst?! Freddie, Kinder, es ist da, unser — euer Pony!"
Michael stand wie versteinert. Annette stürzte sich mit einem Freudenschrei auf das Fohlen, das sie mit großen, ruhigen Augen ansah. Oh, fühlt bloß, was für ein weiches Mäulchen! Und was für Haare! Eine kleine Bürste! Und sein Fell! Wirklich, ein richtiger, warmer Pelz!" „Hab' ich nun geschwindelt, als ich gesagt habe, dass ich einen Pelz erwarte?" lachte Mutter. „Stellt euch vor, in dem Pelzgeschäft, in dem ich meinen Mantel kaufen wollte, hörte ich, wie zwei Damen sich darüber unterhielten, dass in Island Ponyfohlen geschlachtet werden sollen, weil
es dort zu viele gibt. Es waren zwei reizende Damen, sie erzählten mir alles, was ich wissen wollte, auch dass gerade ein Schiff mit Ponys von Island unterwegs sei! Könnt ihr euch vorstellen, was ich da getan habe? Ich habe telegrafiert und — Michael, Annette, das ist mein Weihnachtsgeschenk für euch! Ach, du kleines, kleines Pferdchen, wie lieb werden wir dich haben, nicht, Michael?" Michael machte wie im Traum zwei Schritte auf das Fohlen zu, und da, wahrhaftig, es wandte sich von Annette ab und hob ihm seinen Kopf entgegen. Michael legte seine Hand dem Fohlen auf die Stirn und beugte sich zu ihm hinunter. Niemand sah, dass etwas Heißes, Nasses dem Pferdchen auf die Nase tropfte, denn es schob die Zunge heraus und leckte es sogleich auf. Der Stationsvorsteher hielt seine rote Laterne hoch und sagte: „Wie das Eselchen im Stall zu Bethlehem!" Vater schüttelte wieder und wieder den Kopf und erklärte: „Ich weiß wahrhaftig nicht, was ich dazu sagen soll!" Aber Mutter schloss Michael, Annette und das Fohlen zugleich in die Arme und flüsterte: „Sag, es war recht, was du gemacht hast, Lenchen, und fröhliche Weihnachten uns allen zusammen!" Und Vater beugte sich zu Mutter hinunter und sagte: „Es war recht, mein Lenchen, und fröhliche Weihnacht uns und allen, die heute so glücklich sind wie wir!"