Leonie Bach
Gran Canaria all inclusive
Inhaltsangabe Victoria hat ihr Leben fest im Griff. Was kann einer selbstbewußt...
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Leonie Bach
Gran Canaria all inclusive
Inhaltsangabe Victoria hat ihr Leben fest im Griff. Was kann einer selbstbewußten Powerfrau mit eigener Kultursendung und reichem Papa schon schiefgehen? Nichts, glaubt Victoria, die sich auf ihre Bildung, ihre Erscheinung und ihren Verstand viel einbildet. Etwas zu viel, findet Freundin Stefanie, die sich im Urlaub auf Gran Canaria in einen Schwimmingpool-Reiniger verliebt hat. Victoria will Steffie auf den rechten Weg zurückbringen und gerät selbst auf Abwege: Der Vater enterbt sie, Verehrer Ludwig ist untreu und ihr Job in Gefahr. Victorias letzte Chance: Sie muß den menschenscheuen Starautoren Elias Rensle auftreiben, um das weltweit erste Interview zu bekommen. Doch Rensle lebt – ausgerechnet – auf Gran Canaria, dem Lummerland für Langweiler, wie Victoria meint. Ihr nächstes Problem: Gleich zwei Männer behaupten, daß sie der geheimnisvolle Rensle sind. Den einen hält sie für wunderbar, der andere ist sonderbar. Welcher ist der Richtige?
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Band 16 207
Originalausgabe Copyright © 2000 by Autor und Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach Printed in Germany, Mai 2000 Einbandgestaltung: K. K. K. Titelfoto: C. Dubois/Premium Satz, Druck und Bindung: Ebner Ulm ISBN 3-404-16207 Sie finden uns im Internet unter http://www.luebbe.de Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
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Victoria klappt ihr Notebook auf. Ein Fiepen, dann empfängt der kleine Computer sie mit elektronischen Harfenklängen. Scheußlich, findet Victoria, denn sie hält sich einiges auf ihren Musikgeschmack zugute. Sie ist immerhin die Tochter des berühmten Dirigenten Christopher Wohlzogen. Lustlos starrt sie auf den Bildschirm. Eigentlich sollte sie jetzt die Texte für ihre abendliche Sendung vorbereiten, Kultur vor Mitternacht, auf Radio K. Eigentlich sollte sie sich tiefsinnige Gedanken über ein sehr modernes Tanzensemble machen. Victoria ist davon überzeugt, daß ihre tiefsinnigen Gedanken die einzig richtigen sind. Ihre anderen Gedanken gehen niemanden etwas an, wäre auch peinlich, findet sie. Ihre Herkunft verpflichtet schließlich zur Ernsthaftigkeit. Eigentlich sollte sie also arbeiten. Aber uneigentlich geht in ihrem Kopf etwas anderes vor. Sie wirft einen Blick auf die Tischuhr, die hinter ihr auf dem Klavier tickt. Halb drei, genug Zeit. Sie nimmt einen Schluck Milchkaffee, dann klickt sie mit der Maustaste den Dateiordner ›Purer Unsinn‹ an. Hinter dieser Bezeichnung versteckt sie ihr kleines Geheimnis. Es ist ein Tagebuch, das niemand zu Gesicht bekommen soll. Weil es eine Victoria zeigt, die keinen etwas angeht. Die unfrisierte Victoria. Keiner kennt sie so, außer vielleicht ihre Freundin Stefanie, aber die ist eine treue Seele, der man alles anvertrauen kann. Stefanie ist die Wetterfee von Radio K. und hat den Kopf immer in den Wolken. Deshalb ist sie ihr, also Victoria, zu großem Dank verpflichtet, findet Victoria. Sie holt die leichtgläubige Steffi immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Vor allem, wenn es um Männer geht. Victoria hält nicht allzuviel von Steffis Männern und Männern im allgemeinen. Sie legt die Hände auf die Tastatur und tippt leichthändig los, so 1
als spiele sie Klavier. Dabei spielt sie nur selten Klavier, weil ihr Vater natürlich recht hat: Sie ist nicht gut genug, war sie nie. Und jetzt ist es zu spät, das zu ändern. Denn jetzt ist sie eine reife, gebildete, geschmackssichere Frau, die ihre Grenzen und Begabungen genau kennt, glaubt Victoria. Und das ist gut so – eigentlich. 3. April Meine Güte! Ich werde vierzig. Na ja, fast. Seit gestern bin ich jedenfalls sechsunddreißig und der Meinung, daß eine Frau sich ihren lebensgefährlichsten Gegnern – Tod und Hautalterung – rechtzeitig stellen muß. Wenn ich mich im Bad am Handtuchhalter vorbei ganz nah an den Waschbeckenspiegel heranschlängele, sehen die Falten auf meiner Stirn so tief aus wie der pazifische Marianengraben. Stefanie meint, das liegt an den 90-Watt-Birnen über dem Spiegel, aber sie neigt dazu, sich die Welt genau wie die Männer schönzureden. Zum Geburtstag habe ich mir jedenfalls drei Gesichtscremes gekauft: eine für Feuchtigkeit, eine für Straffheit, eine für – nein, Quatsch – gegen Falten, außerdem Gels gegen Augenringe, Lotion gegen Zellulitis und ein straffendes Fluid gegen das drohende Doppelkinn. Von dem wußte ich vor meinem Besuch in der Drogerie noch gar nichts. Die Verkäuferin bei Douglas hat ihre Sache wirklich gut gemacht, normalerweise belüge ich mich selbst am besten. Das Zeugs für oder gegen das Doppelkinn habe ich allerdings meinem Ficus verordnet, der krummastig und mit staubigen Blättern vor sich hin vegetiert, jetzt vegetiert er weiter, glänzt aber wie ein frisch gecremter Kinderpo. Wäre er keines der seltenen Geschenke von Papa, hätte ich ihn längst stilvoll im Müll begraben. Ich und Pflanzen, das ist ein trostloses Kapitel. Mister Dad hat sich gratulationstechnisch noch nicht gemeldet, nur seine monatliche Überweisung kommt pünktlich. Wahrscheinlich ist er im Streß oder auf Tournee, oder was weiß ich. Leider seit Monaten nichts Genaues. Dafür wird sein Geschenk dieses Jahr wahrscheinlich gewaltig ausfallen, obwohl mir ein paar warme Worte 2
lieber wären, als ein neues Auto wie beim letzten Mal… Bin ich peinlich: Fast vierzig und sentimental wie ein Disney-Trickfilm. Das muß ich von meiner Mutter haben, der man ihre sechzig wirklich nicht anmerkt, seelisch würde ich sie auf höchstens neuneinhalb schätzen. Kompromißlos charmant wie immer hat sie mir gegen meine Faltenphobie einen Gutschein für einen Laserchirurgen angeboten. Ich nehme an, bei dem bekommt sie bereits Mengenrabatt, denn dank Schönheitschirurgie sieht sie aus wie eine frühe Fünfzigerin und benimmt sich wie die späte Schlampe Blanche Devereaux von den Golden Girls. Sie – also Mutter – hat mich außerdem in ihr Haus auf Gran Canaria eingeladen. Wahrscheinlich zum Karussellfahren in Playa del Ingles oder zum Karaoke-Singen in ihrer Lieblingshotelbar. Nein danke. Keine Ahnung, was sie an diesem kulturlosen Lummerland für Langeweiler bloß findet. Außerdem ist Sonne wirklich der Faltenmacher Nummer eins. Das letzte Weihnachtsfest bei Mama hat mir jedenfalls gereicht. Ich sage nur Miß-Sexy-Sixtie-Wahl und Limbo-Dancing. Meine Mutter ist einfach unmöglich. Und sowieso: Gran Canaria in den Osterferien kommt auf meiner Wunschliste direkt nach Schneeschaufeln in Sibirien im Januar. Mit Stefanie habe ich zur Feier meines Birthdays gestern eine ShoppingOrgie unternommen: Aber diesmal nix Jil Sander, sondern H&M, Kookai und Mango. Steffi, dem Schaf war es peinlich, zwischen all den kreischenden Teens in Klumpfuß-Schuhen an den Kleiderstangen zu wühlen. Dabei war das nur meine ganz private Schocktherapie gegen Alterssorgen. Eine Viertelstunde H&M und der einzige Gedanke, zu dem ein reifer Mensch noch fähig ist, lautet: Nie mehr fünfzehn – Gott sei Dank. Jung sein ist doch öde. Stefanie sieht das natürlich anders und findet, wir seien selber noch blutjung. Gut, daß Steffi mich hat, mich, die gute alte… Iiih. Vierzig! Die meisten Menschen, die ich in diesem Alter kenne, sind verheiratet, geschieden, langweilig, fett und mehrfach drogenabhängig (Alkohol, Zigaretten, Süßkram, Knabberkram, Lindenstraße), oder sie sind alles auf einmal. Mit mir nicht. Bis jetzt habe ich Heirat und ähnlich dick3
machenden Unsinn – etwa Kinderkriegen – konsequent vermieden. Ich trinke nicht, rauche nicht und finde Obst wirklich leckerer als Süßigkeiten, abgesehen von Pralinen mit Kokos-Mango-Füllung und Kinderschokolade. (Meine Güte, heute ist der Tag der peinlichen Geständnisse!) Das mit der großen Liebe sehe ich ebenfalls nüchtern. Es handelt sich dabei lediglich um eine der größten Kulturlügen der Menschheitsgeschichte. Warum sonst scheitert in deutschen Großstädten jede zweite Ehe? Zuviel positive Alternativen. Meine Versuche in diese Richtung habe ich Anfang Dreißig mit zerbeultem Herzen und wegen Gefahr der Vollverblödung eingestellt. Mich verläßt keiner mehr. Da lobe ich mir meinen Ludwig, fünfundvierzig, noch fast komplett behaart, kultiviert, leidenschaftlicher Koch und Inhaber einer eigenen Wohnung. Mehr Mann braucht Frau nicht. Für gelegentliche Städtetrips, Museums-, Konzert- & Restaurantbesuche ist Ludwig einfach die Bettbesetzung – uups, Freudscher Tippfehler. Also: Ludwig ist nicht meine Bett-, aber die Bestbesetzung in Sachen kulturelle Freizeitgestaltung und angemessene Anbetung meiner Person. Der Sache mit dem Bett messe ich nicht mehr soviel Bedeutung zu. Ausgelassen hab' ich nichts – außer vielleicht die Nummer mit dem Honigpuder, den Handschellen und dem Federpinsel. Kann ja noch kommen, aber mal ehrlich: Sex ist doch letztlich nur ein Austausch von Körperflüssigkeiten. Das beherrscht jeder Depp ohne Gebrauchsanweisung. Wahrscheinlich sogar unser neuer Sendeleiter Pflügner, der Radio K. auf Vordermann bringen soll. Der macht mir doch glatt Avancen: »Kaum zu glauben, daß eine so kluge, unabhängige Frau wie Sie auch noch so schöne Beine hat. Ich sag's ja immer, gegen euch neue Frauen haben wir Männer überhaupt keine Chance, außer Kapitulation. Haben Sie Lust, mal etwas mit mir zu trinken?« Nur wenn er sich ein Glas Blausäure bestellt. Männliche Feministen waren mir schon immer suspekt. Außerdem steht meine Sendung bei Radio K. garantiert auf der Abschußliste: Kultur vor Mitternacht – wer legt darauf schon Wert? Außer mir. Vielleicht will Pflügner mich verführen, emotional abhängig machen, dann fallenlassen und in den Selbstmord treiben? Kündigung ohne So4
zialplan sozusagen. Mit mir nicht, solange ich Victoria Wohlzogen heiße, kann der mir gar nix, dieser Analphabet. Papa gehört schließlich ein Teil des Senders. Apropos Analphabeten. Die liebe Stefanie scheint auch vernünftiger zu werden, was Kerle angeht. Seit ich sie Weihnachten auf Gran Canaria von einer Affäre mit dem Swimmingpoolreiniger meiner Mutter abgehalten habe, hat sie keine neuen Anzeichen von Verliebtheit gezeigt. Ihr Hang zum Küchenpersonal ist shocking. Wenn sie mich nicht hätte, wäre sie wahrscheinlich schon lange verheiratet – etwa mit dem Friteusenkoch in unserer Senderkantine. So einer braucht Stefanie nur ein Lächeln und einen Klacks Mayonnaise zu den Pommes zu spendieren, schon ist es um sie geschehen. Keinen Funken Stolz, die Gute. Ein Glück, daß ich ihr Vorbild bin. Okay, das klingt arrogant, aber ich kann mir das leisten. Traumkerle sind gentechnisch einfach noch nicht machbar, und vom Himmel fallen sie bestimmt nicht, soviel weiß ich nach beinahe vierzig Jahren Erdenleben. Weia! Gut, daß niemand diesen Bekenntnisschrott einer (alternden) Kulturmoderatorin zu lesen bekommt. Victoria Wohlzogen klickt mit der Maustaste auf ›Speichern‹, schließt das Dokument ›Purer Unsinn‹ und schaltet ihr Notebook aus. Fürs erste ist diese unbestimmte Angst vor der Zahl vierzig gebannt. Man darf sich selber nicht zu ernst nehmen. Man darf überhaupt nichts zu ernst nehmen, außer der Kunst. Seufzend schaut sie auf die Uhr. Gleich drei. Zeit, in den Sender zu fahren, um mit dem Cutter den letzten Beitrag zu schneiden, die Moderation und das Interview vorzubereiten. Heute ist sie mit Kultur vor Mitternacht live dran, muß ein Gespräch mit dem Choreographen von der New York Dance Company führen. Nicht gerade ein Quotenhit, aber was kann man machen, wenn die Masse keinen Sinn für echte Kultur hat? Halbgefüllte Konzertsäle und stille, weil leere Museen sind ihr ohnehin lieber als überfüllte Kulturstätten. Victorias Lebensmotto lautet: Mache nie den Fehler, an5
dere für klüger zu halten als dich selber. Das Telefon auf ihrem Schreibtisch klingelt. Vati, denkt sie. Schließlich ist ihr Erzeuger noch den Geburtstagsanruf schuldig. Sie reißt den Hörer von der Gabel, sagt mit Mädchenstimme »Hallo«. Blöde, wie ihr Herz dabei flattert, aber na ja, er meldet sich so selten aus New York. Er meldet sich überhaupt unregelmäßig, eben nach Lust und Laune. Seine Kunst geht vor. Der Anrufer am anderen Ende klingt irritiert, diese gehauchte, sehr feminine Tonlage ist ihm bei Frau Wohlzogen fremd: »Eh, hallo, mit wem spreche ich denn da?« »Ach Sie sind's«, antwortet Victoria gelangweilt und wechselt die Stimmlage um ein paar Etagen nach unten. »Frau Wohlzogen? Ich habe Ihre Stimme erst gar nicht erkannt. Ich hoffe, ich habe Sie nicht unter der Dusche weggelockt? Oder aus dem Bett geklingelt? Ihr von der Kultur habt ja ein wahres Lotterleben. Abends in die Oper, Premierenfeiern und Champagner zum Frühstück, haha.« Anzügliches Räuspern. So ein Volltrottel, Victoria erspart sich alle Höflichkeiten. »Was gibt's denn Dringendes, Herr Pflügner?« Hoffentlich keine erneuten Annäherungsversuche. »Nun, eh. Ich habe hier gerade die wöchentlichen Einschaltquoten von Radio K. vorliegen. Sehr interessant. Sehr interessant.« »Ach ja?« Victoria legt all die Überheblichkeit in ihre Stimme, zu der sie fähig ist. Sie ist dazu mehr als fähig, sie ist hochtalentiert, wenn es um Überheblichkeit geht. Pflügner bricht der Schweiß aus. Das kann man sogar hören. »Nun, ehem. Ja. Sehr interessant. Und ich nehme an Sie wissen, daß Kröger junior sich auch sehr für die Zahlen interessiert. Präzise gesagt, denke ich, daß er möglicherweise enttäuscht sein wird.« Präzise gesagt, willst du mir drohen, denkt Victoria. Kröger junior ist der Sohn vom Haupteigner des Privatsenders, einem Zeitungsverleger, der die Radiostation mal eben so dazugekauft hat – für Sohnemann Kröger, damit er was zu tun hat und bei den wichtigen Geschäften nicht dazwischenquengelt. 6
Pflügner erwähnt Sohnemann, um sich mehr Autorität zu verleihen und Junior die Buhmannrolle zuzuschieben. Victoria tut ihm nicht den Gefallen, erschrocken aufzuseufzen oder verlegen zu stammeln. Junior ist ihr schnurzpiepe. Sie schweigt ganz einfach in den Hörer. Pflügner räuspert sich wieder. »Wie Sie sich denken können, sieht es bei Kultur vor Mitternacht nicht ganz rosig aus.« Soll das ein Scherz sein? Rosig? Schlammfarben, düster grau wird es da aussehen. Hält dieser Kerl sie für so blöd wie sie blond ist? Kultur ist das letzte Tabu der Massenmedien. Über Hölderlins späte Lyrik oder Brahms Klavierkonzerte spricht man nicht in Funk und Fernsehen, weil es die Leute verschreckt – anders als Pädophile, Peitschensex oder Potenzprobleme. »Herr Pflügner, Kultursendungen werden nicht als Chartbreaker eingeplant«, erklärt Victoria von oben herab. »Sie dienen der Imagepflege eines Senders. Außerdem ist auch Radio K. per Rundfunkgesetz zu einer gewissen Anzahl von Wortbeiträgen mit Bildungscharakter verpflichtet, deshalb…« Hastig unterbricht Pflügner die Kulturchefin. »Sicher, sicher. Aber, wenn ich mir zum Beispiel den Laufplan Ihrer heutigen Sendung so ansehe: Interview zum Thema ›Problemorientierter Kammertanz‹, also, ich bitte Sie, klingt das nicht wirklich ein bißchen, eh, zäh?« Ein bißchen? Victoria lächelt sarkastisch. Der Mann ist gut, das ist Hardcore-Kultur, nichts für Leute, die sich mit den Vorschlägen der ›Gong‹-Bestsellerliste zufriedengeben und ihre Klassik-CDs bei Tchibo kaufen – im Doppelpack für nur 14,95 und einer Tasse Kaffee gratis dazu. »Herr Pflügner, als Sie die Sendeleitung übernommen haben, muß Ihnen doch klar gewesen sein, daß ich für eine Minderheit zuständig bin. Meine Sendung ist ein Reservat für eine aussterbende Gattung. Sie haben natürlich ein Interesse an den Mehrheiten, an immer mehr Mehrheiten. Für mich gilt das Gegenteil.« »Frau Wohlzogen, Sie wollen doch nicht behaupten, daß Sie sich selber abschaffen wollen?« Der Mann klingt doch tatsächlich er7
leichtert. Na warte. »Nein. Je populärer sich die Kultursendungen anderer Medien geben, um so kompromißloser werde ich unpopuläre Kultur anbieten, und am Ende hat Radio K. die einzige waschechte Kultursendung, die es in der privaten Radiolandschaft überhaupt noch gibt, klar? Fazit: Wir tun was für die Kultur und unser Image. Was anderes interessiert mich nicht.« Braucht sie auch nicht zu interessieren, denkt Pflügner frustriert. Schließlich wird Victoria Wohlzogen einmal ein hübsches Vermögen von ihrem Vater, dem Dirigenten und Plattenmillionär Christopher Wohlzogen erben, der außerdem einen Anteil von fünfundzwanzig Prozent an Radio K. besitzt. Der Papa kann sehr großzügig sein, wenn es um seine Prinzessin geht. Es ist wahrhaftig kein Kunststück, mit so jemandem im Rücken kompromißlose Kulturprogramme zu machen, denkt Pflügner. Sagt er aber nicht. Ihm liegt nämlich was an Victoria. Schließlich geht eine Millionenerbin und 25prozentige Radiobesitzertochter nicht alle Tage bei ihm aus und ein. Noch dazu auf hübschen Beinen und gänzlich unverheiratet. Da muß man seinen Sozialneid bezähmen. »Sie haben vollkommen recht, Frau Wohlzogen. Vollkommen. Das werde ich natürlich auch Kröger sagen. Ganz klar. Ganz klar. So was rentiert sich nur à la longue. Klar. Ich rufe auch aus einem anderen Grund an. Vergessen wir die Quoten. Es gibt da Wichtigeres.« Was denn, fragt sich Victoria entnervt, Zoten statt Quoten? »Ich habe aus meiner alten Redaktion einen brandheißen Tip bekommen. Von jemandem, der vielleicht gern zu uns rüberwechseln will. Kleiner Deal. Er hat mir gesteckt, daß der spannendste Sachbuchautor der letzten fünf Jahre nach Deutschland kommt. Und zwar direkt hierher. Der berühmte Unbekannte landet in unserer Stadt. Sein Name ist, Moment…« Papierrascheln am anderen Ende. Victoria geht aufgeregt dazwischen: »Sie meinen doch nicht etwa Rensle? Elias Rensle?« Pflügner ist ein bißchen enttäuscht über Victorias Treffsicherheit, aber immerhin, sie klingt beglückt, ein Punkt für ihn. 8
»Ja genau, dieser Rensle kommt. Hierher.« »Woher?« »Das ist unklar. Aber soviel wußte mein Informant: Rensle lebt zur Zeit auf einer der Kanarischen Inseln. Auf welcher wird ja wohl rauszufinden sein.« »Gran Canaria«, sagt Victoria trocken und mit kaum unterdrückter Enttäuschung. »Wie?« »Gran Canaria. Verflucht, soweit war ich auch schon einmal. Deswegen bin ich doch Weihnachten hingeflogen, aber keiner konnte mir weiterhelfen. Rensle spielt auch da den Einsiedlerkrebs. Keiner der Inselpromis, nicht mal Justus Frantz, hat ihn je zu Gesicht bekommen.« »Justus, Justus Frantz? Sie kennen den berühmten Justus Frantz? Also, diesen Frantz vom Schleswig-Holstein-Musikfestival, den Justus da?« fragt Pflügner ehrfürchtig und so aufgeregt, daß ihm die Grammatik aus der Reihe tanzt. »Ja, den Justus da. Er hat eine Finca auf Gran Canaria, Bekannter meiner Mutter.« »Ja, aber dann machen Sie doch mit dem mal ein Interview. Das würde doch schon reichen. Ich meine, also, der ist doch populär und Kultur, oder? Da hätten wir völlig nebenbei ein bißchen Quote. Nur wegen Kröger junior, versteht sich.« »Ich bin Journalistin, ich interviewe grundsätzlich keine Bekannten meines Vaters oder meiner Mutter. Das ist kreuzblöde Vetternwirtschaft.« Und in einem Sender arbeiten, der zum Viertel dem eigenen Herrn Papa gehört, was ist das? fragt sich Pflügner, sagt es aber nicht. Victoria redet weiter: »Zurück zu Rensle. Wann kommt er?« »Heute oder morgen, ganz genau wußte mein Informant das nicht.« Victoria klappt ihr Notebook auf, klickt auf Internetverbindung, ruft die Flughafenseite auf. »Scheiße«, flucht sie herzhaft. »Wie?« So ein Wort klingt aus Victorias Mund exotisch wie Ki9
suaheli. »Heute sind schon zwei Flieger aus Gran Canaria gelandet. Einer kommt noch um sechzehn Uhr, der letzte gegen zwanzig Uhr dreißig. Hören Sie, sagen Sie Ihrer Sekretärin, sie soll mein Interview mit dem Tanzchef absagen. Senden Sie heute irgendeine Konserve…« »Ja, aber was denn?« »Wie wär's mit einer Konzertaufnahme von dem Justus dem Frantz da? Der ist doch populär und Kultur.« »Eh ja?« »Ja, ein musikalischer Quotenkönig, fast so gut wie die Hitparade. Ich muß jetzt los, zum Flughafen.« »Aber Sie wissen doch gar nicht, wie dieser Rensle aussieht? Keiner kennt ihn. Es gibt nicht einmal ein Foto.« »Ein Genie erkenne ich auf den ersten Blick, so wahr ich Victoria Wohlzogen heiße. Genie ist mir schließlich nicht fremd. Denken Sie an meinen Vater.« Pflügner hängt seufzend ein. Papa Wohlzogen, verdammt, darin genau liegt das Problem mit dieser Kulturprinzessin, der Name macht sie hochnäsig und praktisch unkontrollierbar, aber auch so reizvoll.
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Vielleicht ist diese Reise ein Fehler. Markus Elsner wirft einen Blick aus dem Flugzeugfenster. Die weißen Häuser tief unter ihm haben nur noch die Größe von Schuhkartons. Vereinzelt ragen Palmen in den Himmel – einige so grau wie Staubwedel. Über Tomatenfeldern blähen sich Plastikplanen im Wind. Mattgelber Sand und Felswüste ziehen sich bis zu den Vororten der Hauptstadt. Gran Canarias Küstenlandschaft ist im Osten karg. 10
Mit den Augen fährt Elsner die Schnellstraße am Meer entlang, sieht die Zementfabrik, die Entsalzungsanlagen, wirklich trostlos. Dann entdeckt er als dunklen Fleck die Kathedrale Santa Ana in der traumstillen Altstadt von Las Palmas. Er wird sie vermissen, genau wie das lebhafte Treiben im Park von Santa Catalina, wo alte Männer jetzt beim Domino sitzen und junge Mütter beim Schwatz. Wehmut steigt in ihm auf. Er nimmt sogar Abschied von den rostigen Gerippen russischer Seelenverkäufer im Hafen Puerto de la Luz. Ein quirliges Viertel, das von zwielichtigen Gestalten und heimatlosen Seeleuten aus aller Welt geprägt ist. Gran Canaria ist nicht nur die Idylle, für die einige Touristen die Insel halten. Rechts von sich entdeckt Elsner am Himmel eine silbern blitzende Maschine im Sinkflug. Wie viele der Touristen, die zum erstenmal hier landen, werden über die Ödnis rund um den Flughafen von Gando erschrecken? Wie viele der Urlaubshungrigen werden sofort an die Strände des Südens flüchten und nach zwei Wochen in ihre Heimat zurückkehren, ohne etwas von der herben Schönheit der Insel entdeckt zu haben? Seiner Insel, seiner Heimat seit vier Jahren. Markus fragt sich, ob diese Reise nach Deutschland keine Dummheit ist. Nirgendwo auf der Welt – und er kennt die Welt – hat er die Ruhe erlebt, die er auf Gran Canaria gefunden hat, dem Miniaturkontinent, wie Domingo Cardenes schrieb. Auf Gran Canaria finden sich Landschaften und Wetterzonen für jeden Geschmack, von der Wüste im Süden bis zu voralpinen Berglandschaften im Inselinneren und lieblichen Tälern im Norden. Elsner liebt vor allem die grandiosen Barrancos, die tiefeingeschnittenen Schluchten, die von der bergigen Mitte der Insel zum Meer abfallen. Ihn faszinieren die vulkanischen Höhlen und die Felsgewitter im Inneren, die stillen Kiefernwälder und nebelverhüllten Gipfel. Er entdeckt sie beim Blumenpflücken – wie er seine Arbeit ironisch umschreibt – jeden Tag neu. 11
Markus Elsner ist Pharmakologe. Phytochemie ist sein Spezialgebiet. Er untersucht seltene und neuentdeckte Pflanzen, um sie medizinisch nutzbar zu machen. Auf Gran Canaria gibt es noch Exemplare, die nur hier vorkommen. Ihre Blätter, Blüten und Säfte enthalten hochwirksame Substanzen. Für Elsner ist deren Erforschung eines der letzten Abenteuer der Menschheit. Jede Entdeckung beglückt ihn wie einen kleinen Jungen, der mit seinem Mikroskop einen Tropfen Pfützenwasser untersucht und feststellt, daß dieser Tropfen alle Geheimnisse des Lebens in sich birgt. Elsner seufzt lautlos. Warum also wegreisen und den Seelenfrieden gefährden, wenn man in seinem vierzigsten Lebensjahr da angekommen ist, wo man hingehört? Braucht die Welt seine Entdeckungen wirklich? Besser, braucht er die Welt? Braucht er das ganz große Geld, um seine Forschungsarbeiten professionell fortzuführen? Er könnte auch weitermachen wie bisher. Im kleinen. Die Verlockung des großen Geldes ist ihm schon einmal zum Verhängnis geworden. Er hat auch so genug – für sich jedenfalls. Das Flugzeug macht einen Schwenk nach Osten, taucht in die erste Wolkenformation ein. Die von Gischt gesäumte Insel verschwindet aus seinem Blickfeld. Meine Güte, es ist doch nur für ein paar Tage, eine kurze Geschäftsreise, ermahnt er sich. Aber es sind die ersten paar Tage seit dem Unfall vor vier Jahren. »Was möchten Sie trinken?« Markus dreht der hübschen, dunkelhaarigen Stewardeß sein Gesicht voll zu und glaubt, ihr leichtes Erschrecken zu erkennen. Ihre Pupillen haben sich geweitet; er sieht es genau – Forscherblick. Früher war das anders, denkt er müde, früher konnte er mit einem anerkennenden Blick, sogar einem begehrlichen Aufblitzen in den Augen einer Frau rechnen. Verfluchte Narben. In dem verträumten Tal, über dem er – hoch in den Bergen – auf Gran Canaria wohnt, schaut keiner hin. Die Canarios sind ebenso höfliche wie herzliche Menschen und mit den Wechselfällen des Schicksals vertraut. In Deutschland wird er sich wieder gegen Blicke wappnen müssen, neugierige und mitleidige. 12
Es nützt nichts, darüber nachzudenken, ruft Elsner sich zur Ordnung und bestellt Orangensaft. Er nimmt ihn dankend entgegen, wendet sich ab und dem Fenster zu. Unter ihm leuchtet tiefblau der Atlantik, der Passat kämmt Wellen hinein, vor ihnen liegt Fuerteventura. »Hombre, du siehst aus wie eine traurige Knödel«, meldet sich neben Elsner eine fröhliche Männerstimme zu Wort. »Kloß, Sanchez, du meinst Trauerkloß«, sagt Elsner, ohne seinen Blick vom Meer abzuwenden. »Ach, Kloß oder Knödel, ich werde nie lernen eure Spruchworte, dabei habe ich extra gekauft eine ganze Buch damit. Aber viele sind so haßelich. Qué pena!« Sanchez, ein Dreißiger mit sherryfarbenen Augen und schwarzem Haarschopf, seufzt und schüttelt übertrieben verzweifelt den Kopf. »Was wird sagen Stefanie, wenn ich spreche wie eine idiota? Wie man soll machen amor ohne schöne Worte? Ische liebe dich, das klingte schauervoll aus meine Mund. Sag mir, was ich kann sagen besser.« »Ich bin mir sicher, du wirst die richtigen Worte finden, wenn du das wirklich willst.« Sanchez glaubt, daß in der mürrischen Antwort eine Frage mitschwingt, räuspert sich und ist froh, seinen Gefühlen Luft machen zu dürfen. »Si. Ich will, ich will, ich will.« »Amigo, du klingst wie ein Mann vor dem Traualtar.« Markus Elsner sagt das ablehnend. »Da will ich auch hin, und zwar rapido. Darum ich gehe mit dir nach Deutschland«, antwortet unbekümmert sein Freund. Für einen Moment dreht Markus ihm das Gesicht voll zu. »Ich dachte, du wolltest mir bei meiner Rückkehr in die Höhle des Löwen beistehen und nebenher eine Baustoffmesse besuchen.« Sanchez hebt die Hände, zuckt mit den Achseln: »Ich habe gedacht, ich kann schlagen zwei oder drei Fliegen mit die eine Klappe. Ich helfe meine beste Freund, schaue mir an neue Zement für 13
Gußfundamente und sehe wieder die allergrößte Liebe von mein Leben.« Markus zieht die Augenbrauen zusammen. »Du hast diese Frau doch erst einmal im Leben gesehen. Und das auch nur für eine Woche. Konzentriere dich lieber auf den Zement, das ist was Dauerhaftes.« »Ach, wenn du Stefanie gesehen hättest an Weihnachten, statt Höhlenmensch zu spielen in die Berge, du würdest nix fragen. Sie ist eine Engel. Una belleza! Ach, es war Liebe auf die erste Auge«, sagt Sanchez schwärmerisch. »Du meinst auf den ersten Blick.« »He?« »Ach nichts. Wenn sie es wert ist, wird sie deine Spruchworte lieben, neben all den anderen Dingen, die du zu bieten hast. Übrigens, wenn es Liebe auf die erste Auge war, warum hast du es ihr dann nicht sofort gesagt?« Markus Elsner sieht nicht aus wie jemand, der das wissen will, das Meer scheint interessanter. »Ah, maldito, ich konnte nix sagen, weil diese schlechte Person hat immer dazwischengemorst.« Markus lacht endlich auf und wendet sich seinem Freund voll zu. Sanchez wirft ihm einen listigen Blick zu. »Jetzt du lachst endlich, eh? Dabei ich weiß, daß es heißt gefunkt, comprende?« Markus Elsner nickt. »Claro! Du bist ein verteufeltes Schlitzohr, Sanchez. Das waren tatsächlich ein paar Sprachfehler zuviel für einen Mann, der ein Jahr Bauleiter bei einer Firma mit deutschem Management war.« »Ach, die wunderbar Firma von mein Onkel. Er hält viel von die Deutschen. Weißt du noch, wieviel Spaß wir zusammen hatten, damals bei ihm in Venezuela? Fantastico. Und deine Spanisch war eine grande Katastrophe, viel schlimmerer als meine Deutsch. Weißt du noch, wie du in eine Bodega bestellt hast eine verbrannte Butterbrot, statt eine geröstete Bocadillo?« Elsners Gesicht hat sich bei dem Wort Venezuela verdüstert. Sanchez merkt, daß er wieder an den Werksunfall denkt, die Flammen, 14
die Schreie, den Geruch des Todes. Vier Jahre, und noch immer macht sein Freund Markus sich Vorwürfe, dabei hat er dazu weniger Gründe als andere, ihm gehörte die Firma schließlich nicht. Er war doch nur Leiter der Forschungsabteilung. Aber es ist sinnlos, mit dem Freund darüber zu diskutieren. Genauso sinnlos wie jeder Versuch, ihn von der Harmlosigkeit der Narben zu überzeugen, die seine linke Gesichtshälfte durchziehen. Elsner ist ein attraktiver Mann, soweit Sanchez das beurteilen kann. Schließlich sind auch grobe Gesellen wie Gerard Depardieux bei Frauen beliebt, und zumindest Rosalia, eine bildhübsche Archäologin aus Fataga, hat schon lange ein Interesse für Elsner. Und welcher Mann würde diesen unermüdlichen Bergsteiger und Naturburschen nicht um seinen Körper beneiden? Keine Frage: Markus' hochgewachsene Gestalt zieht die Blicke auf sich, genau wie seine fast eisgrauen Augen. Sanchez hat es seinem Freund oft gesagt, aber kaum schaut eine Frau wie Rosalia ihn an, zieht Elsner sich zurück. Er ist ein Einsiedler geworden, und daran hat für Sanchez seine Exfrau Schuld. Elende Dorothea, ihn direkt nach dem Unfall zu verlassen. Noch dazu für den singenden Star einer südamerikanischen Tele-Novela, für einen Lackaffen, einen Kerl vom Schlage eines Stehgeigers. Diese Wunde geht tiefer als die Narben. Kein Wunder, daß Elsner den Frauen mißtraut. Er verachtet sie geradezu. Nur darum will er auch nichts von Sanchez' wundervoller Stefanie wissen. Ach, Stefanie! Sanchez zwingt sich, das Gespräch betont munter wieder aufzunehmen. »Für dich ich mache mich gerne zu eine lächerliche Clown, du weißt das. Du mußt mir nur hören zu. Ich bin deine Heilmacher, du weißt, die beste Pille gegen alle Schmerz.« Elsner nickt. »Ich weiß, wenn ich dich auf Flaschen ziehen oder in Drageezucker hüllen könnte, wäre das ein größerer Verkaufsschlager als Aspirin. Okay, ich werde mich zusammenreißen, dir zuhören und Deutschland mit einem Lächeln begrüßen. Also, wer ist diese grausame Person, die dir bei deinem Engel Stefanie dazwischengefunkt 15
hat?« »Die Siegerin.« »Wie bitte?« »So heißt sie. Victoria. Ach, wie ich hasse diesen Namen.« Sanchez nimmt einen großen Schluck Rotwein, so als müsse er sich Mut antrinken. »Victoria?« fragt Elsner nach. »Der Name ist vielleicht ein bißchen altmodisch, aber ganz hübsch.« Sanchez' Augen werden zu schmalen Schlitzen. »O ja, genau wie die Señorita selbst, sehrrr hübsch, ganze goldene Haare und Augen wie grüne Kohle.« »Meinst du jetzt Grünkohl oder glühende Kohle?« Sanchez zerdrückt seinen Becher und stopft ihn in das Netz am Vordersitz, hebt die Hand und winkt die Stewardeß heran. »Noch eine Wein, por favor.« »Es gibt gleich Essen, dann bekommen Sie noch etwas Wein«, erwidert die junge Frau freundlich, aber bestimmt. Man kann es in Touristenfliegern mit dem Gratisalkohol nicht übertreiben. »Aber ich wille trinken, Señorita«, sagt Sanchez und wählt ein hinreißendes Lächeln für den Nachsatz: »Ich muß trinken, weil man mich hat gebrochen die kleine Herz. Mi corazón. Und eine Canario ohne corazón iste eine tote Mann.« Sanchez bekommt seinen Wein und grinst siegesgewohnt. »Bueno. Zurück zu Victorias Augen. Ich sage grüne Kohlen und meine grüne Kohlen. Sie hat Katzenaugen und eine brennende Blick, so heiß, daß ich darunter bin zerkrümelt zu Asche.« »Ich glaube, du übertreibst, mein Freund. Die Frau, die dich mit Blicken zerkrümeln könnte, muß noch erfunden werden. Du bist der unverschämteste Latino-Macho, der mir je untergekommen ist. Dieser Ricky Martin ist gegen dich ein blutiger Anfänger.« »No, no, no. Du kennst nicht Victoria. Sie hat gesagt, ich sei nicht wert ihre Freundin Stefanie. Incredible! Sie sagt, ich sei nur eine verschweißte, kleine Schwimmpoolputzer, und Stefanie soll lassen Finger von mir und meine schöne Körper und die noch schönere See16
le. Ich habe nämlich Seele, eine sehr gekrankte Seele.« Markus schüttelt amüsiert den Kopf. »Vor allem hast du eine gekrankte Phantasie. Wie kommst du darauf, daß du ein – was? Verschwitzter Swimmingpoolreiniger bist?« Sanchez seufzt. »Nicht ich bin darauf gekommen, sondern Victoria. Sie hat mich gesehen bei ihre Mama, Señora Charlotte, die in eine von meine Villas bei Fataga wohnt. Da ich habe sauber gemacht ihren Pool vor die Weihnachtsfest. Aus alter Freundschaft, si? Charlotte ist wie lustige Witwe, muy simpático. Aber Victoria hat gedacht, ich sein die kleine, dumme Angestellte von ihre Mutter, der will verführen ihre unschuldige Freundin.« »Du? Ein kleiner Angestellter?« »Ja, ich.« Sanchez seufzt ausgiebig, aber nicht, ohne selbstgefällig zu schmunzeln. »Das wird Victorias Mutter ja wohl aufgeklärt haben.« »No, no, nicht Charlotte. Sie ist eine – wie sagt man? – geschlitztes Teufelsohr? Sie hatte große Spaß an die hochnäsige Dummheit von ihre Tochter, und mir sie hat geraten, zu spielen den armen Angestellten, um zu merken, ob Stefanie mich wirklich liebt. Charlotte ist sehr klug. Ich meine, mein Geld, das lieben alle, aber mich?« Wieder spielt er den Verzweifelten, wirft die Arme auseinander und fegt einen Karton Orangensaft vom Trolley der Stewardeß. »Perdón.« »Hühnchen oder Fisch?« fragt die Stewardeß ungerührt, nachdem sie den Saft von ihrer Uniform gewischt hat. »Stefanie«, antwortet Sanchez seufzend. Sie bestellen ihr Essen, klappen die Tische herunter. Eine Weile schweigen sie. Sanchez widmet sich den Plastikschälchen mit kaltem Fleisch, dem eingeschweißten Brot und dem Fruchtsalat. Elsner spielt lustlos mit dem Plastikbesteck herum. »Den Appetit hat diese Victoria dir jedenfalls nicht verdorben«, stellt er fest und wundert sich über Sanchez' Fähigkeit, einer Mahlzeit, die den Nährwert und Geschmack von aufgeweichter Pappe hat, ebensoviel Genuß abzugewinnen wie einem Festessen. Eine be17
neidenswerte, aber gefährliche Begabung. Bei Frauen ist sein Geschmack ähnlich wahllos. »Ich brauche meine mannliche Kraft gegen diese Sandschüppe«, antwortet Sanchez würdevoll und kaut mit allen Anzeichen von Genuß auf einem Brötchen herum. »Du meinst Xanthippe«, errät Markus. »Genau, Victoria ist una histérica. Außerdem muß ich armer Schwimmpoolputzer fliesen die ganze Bad von Stefanie neu. Das ich habe versprochen an Telefon, damit ich habe eine Grund zu kommen und wohnen in ihr Wohnung für paar Tage.« Elsner verschluckt sich an einer winzigen Scheibe Schwarzbrot, hustet und lacht gleichzeitig. »Du fliegst nach Deutschland, um einen Fliesenleger zu spielen?« »No. Ich spiele eine arme Bauarbeiter, der sucht eine Job in Deutschland, und der hilft eine liebe Freundin nebenbei, um zu bekommen warme Mahlzeit, warme Gastbett und warme Gefühle. Stefanie spricht nicht gern von amor, also wir haben gesprochen über Badezimmer und Jobs. Sie ist sehr schüchtern.« »Oder sehr gerissen.« Markus reicht der Stewardeß sein Eßtablett, klappt das Tischchen hoch und streckt seine langen Beine aus, so gut es geht. Für den sportlichen Mann ist es eine Qual, vier Stunden lang zur Bewegungslosigkeit verurteilt zu sein. »Gerissen? No. Stefanie ist die ehrlichste Haut, die es gibt. Sie kann mich nur heimelich lieben, um nicht zu verletzen Victoria, die will eine bessere Mann für sie. Eine Mann mit cultura.« Markus' Miene verfinstert sich wieder, streng schaut er seinen jüngeren Freund an. »Du bist wirklich ein Idiot, Sanchez! Für so einen Unsinn läßt du deine Geschäfte und unser Projekt schleifen? Das ist das Wichtigste, was du je vorgehabt hast, die Aufforstung des Waldes, die…« »Nichts ist so wichtig wie die Liebe, steht schon in der Bibel«, unterbricht ihn Sanchez trotzig. Elsner lacht trocken auf. Sanchez spricht weiter: »Du kennst so was nur nicht. Jedenfalls 18
nicht mehr, seit du dich hast verwandelt in eine gepanzerte Krebs. Niemand mag lieben eine gepanzerte Krebs. Öffne deine Arme, und du wirst umarmt werden, amigo! Wenn du geliebt werden willst, liebe! Claro?« Elsner macht eine wegwerfende Geste. »Laß diese Kalendersprüche. Für mich gibt es Wichtigeres. Aber nehmen wir mal an, deine Stefanie ist wirklich so ehrlich wie eine Heilige, was soll sie dann denken, wenn sie herausfindet, daß du sie nach Strich und Faden belügst, und daß dir eines der größten Bauunternehmen von Gran Canaria gehört?« Sanchez runzelt die Stirn. »Ach, das wird sie sicher nicht stören, wenn wir sind erstmals in die Liebe gefallen.« »Und wenn sie es vorher herausfindet? Was wird sie dann von dem armen, heimatlosen Bauarbeiter denken, der sich bei ihr eingenistet hat? Wir sind nur für ein paar Tage in Deutschland. Vielleicht wird sie glauben, daß du nur ein bißchen Spaß wolltest, ohne daß es was kostet? Ich würde eine Frau, die ich ernsthaft liebe, nie belügen.« Sanchez winkt ab. »Cierto! Du liebst ja auch niemanden ernsthaft, hombre, außer deine Bäume und deine Blumchen und die Blätter und die Kaktussen und die…« »Sanchez, lenk nicht von deinen Dummheiten ab.« »Ich werde mich enthüllen rechtzeitig vor Stefanie, okay? Ich wille sie bringen nach Gran Canaria auf unsere große Frühlingsgala am Wochenende. Sie wird sein die Prinzessin von die Ball im Hotel Paradiso.« Markus läßt nicht locker. »Ich kenne noch ein paar Menschen – außer Victoria –, die dir ziemlich viel Ärger machen werden, wenn du mit dieser Stefanie ernst machst, vor allem im Paradiso. Es handelt sich um deine Familie.« Sanchez rutscht unruhig im Sitz hin und her, sagt nichts. »Glaubst du, sie werden einfach zuschauen, wenn du als waschechter Canario mit einer Ahnenreihe bis weit vor Kolumbus eine dahergelaufene Touristin heiratest?« 19
»Stefanie iste eine Radiostar. Sie sagt vorher die Wetter von ganze Deutschland.« »Das interessiert deine Familie bestimmt brennend«, wirft Elsner ein und schnaubt. »Du bist eine schlimmere Snob als meine Familie und die schreckliche Victoria zusammen«, antwortet Sanchez gereizt. »Deine Haß auf die turista ist so hochnäsig! Wir brauchen Touristen. Wir leben von ihnen. Meine Vater und seine Hotel Paradiso leben nur von ihnen.« »Ja, genauso wie die Kanarier früher nur von Wein, dann nur von Tabak, dann nur von Bananen gelebt haben. Immer wurde alles auf irgendeine verdammte Monokultur gesetzt. Vergiß nicht die Cochenille-Läuse, die ihr auf den Kakteen gezüchtet habt. Die ganze Insel wurde abhängig von einem Wirtschaftszweig und verarmte, wenn der Boom vorbei war. Die Natur hat sich nie mehr davon erholt. Der Lorbeerwald ist ausgerottet, der gesamte Wasserhaushalt steht auf der Kippe. Ich hasse diese gedankenlose Zerstörung einer perfekten Schöpfung.« »Für wen hältst du dich? Für Gott?« erwidert Sanchez aufgebracht. »Wir lieben unsere Heimat, aber früher wir konnten nicht anders machen. Gran Canaria war geplündert von alle mögliche Eroberer und arm, sehr arm. Was meinst du, warum so viele Canarios wie mein Onkel sind gewandert nach Venezuela und Kuba? Du haßt die Menschen und siehst sie nur als Schädlinge, aber meine Stefanie ist keine Cochenille-Laus.« »Tut mir leid«, lenkt Markus unwirsch ein. »Der Fanatiker ist mit mir durchgegangen. Wahrscheinlich, weil ich von der Insel weg muß. Trotzdem könnte ich deine Familie verstehen, wenn sie nicht auch noch eine Touristin zur Schwiegertochter haben will. Und wie oft hast du dich nicht schon unsterblich verliebt? Da wird sich doch noch eine passendere Kandidatin als diese spröde Stefanie finden. Ich rate dir, nimm deine Gefühle nicht ernster als einen Schnupfen. Das vergeht.« Flugkapitän Schuhmacher meldet sich über Bordlautsprecher, um 20
die Flughöhe und die verbleibende Reisezeit durchzugeben. Die Maschine nimmt Kurs auf Faro und überfliegt ein dichtes Wolkenband. Markus Elsner glaubt, daß er seinen Freund zum Nachdenken gebracht hat. Sanchez nimmt einen letzten Schluck Wein, macht eine entschlossene Miene. »Du biste wirklich die größte Kaltschnauze, die ich kenne. Alle Menschen sind dumme kleine idiota, außer dir.« Er nickt zur Bekräftigung. »Aber es ist gut, daß du bist so sturisch und arrogant. Da wirst du geigen können der Victoria heute abend beim Essen eine Levite, während ich wickele mir ein meine Stefanie.« »Ein Essen heute abend? Nein danke, du weißt, wie wenig mir an Bekanntschaften liegt. Und diese grün-kohlenäugige Victoria samt teufelsohriger Mutter klingen nach genau der Art von überspannten Menschen, mit denen ich überhaupt nichts zu tun haben will.« »Mama Charlotte iste nicht dabei. Sie lebt die ganze Jahr in die Villa auf Gran Canaria. Du mußt also nur einwickelen Victoria. Bitte! Du wirst mögen Stefanie! Sie iste nicht spröde, sie ist liebelich wie eine Schafkind.« »Ich hoffe für dich, du meinst Lämmchen und nicht Schafskopf.« »He?« Markus macht eine abwehrende Handbewegung. »Vergiß es. Eine Frau, die sich von einer überkandidelten, hochnäsigen Freundin beherrschen läßt und dich zum Fliesenleger degradiert, hat wenig Chancen, mir zu gefallen.« Wie zur Bekräftigung gähnt Elsner. »Das ist nicht Schuld von Stefanie«, verteidigt Sanchez seine Angebetete. »Du kennst nicht Victoria. Sie könnte Vulkane überreden, nicht mehr zu spucken Lava, sondern Eis. Sie kann machen die vernunftigste Mann wahnsinnig.« Bei diesem Satz leuchtet plötzlich sein Gesicht auf, er konzentriert sich, legt den rechten Zeigefinger an die Lippen, muß eine ganz neue Idee verarbeiten. »Vielleicht gefällt Stefanie dir nicht«, sagt er endlich und starrt geradeaus, »aber dafür Victoria. Sie ist eine kaltherzige Dickschädling und nur verliebt in ihre Arbeit. Victoria iste also wie du. Nur, daß sie ist der Vulkan und du biste die Eisberg… Perfecto!« 21
Er wirft Markus einen listigen Seitenblick zu, stößt dann einen Laut der Empörung aus. Kurz vor Gibraltar ist Elsner eingeschlafen. »Típico!« knurrt Sanchez.
3
» Werfen Sie sie raus. Verflucht, werfen Sie sie raus. Werfen Sie alle raus, die unsere Quoten verderben.« Michael Pflügner hält den Telefonhörer auf halbe Armeslänge von sich weg. Die Stimme des Juniorchefs dringt trotzdem zu ihm, füllt einen Teil des Raumes. Nur gut, daß die Tür zu seinem Büro schalldicht ist. Den Sendeleiter Pflügner als Opfer einer solchen Schimpfkanonade zu erleben, wäre Wasser auf die Mühlen seiner Untergebenen – oder Mitarbeiter, wie sie sich selber nennen. Pah. Seine Sekretärin Claudia will sogar Assistentin der Sendeleitung genannt werden. Was für ein Kindergarten. Der Sender ist er! Wenn die wüßten, was er so mitzumachen hat. Jedesmal, wenn die wöchentlichen Einschaltquoten vorliegen, muß er eine Endlostirade von Kröger junior über sich ergehen lassen. Vor allem deshalb, weil der ahnungslose Verlegersohn so gut wie keine andere Aufgabe hat. Papa macht den Rest, den wichtigen Rest. Papa betreut die Zeitungen, Magazine und Bücher des Verlagsriesen, die wirklich Geld abwerfen, anders als Radio K., das mal als selbstverwaltetes Bürgerradio angefangen hat. Papa hat den maroden Sender und seine Lizenzen für einen Spottpreis gekauft und dann, versehen mit einem Millionenetat, seinem Sohnemann als Spielzeug geschenkt. Sohnemann will aus dem Schaukelpferd jetzt einen Ferrari machen. Auf die schnelle. »Werfen Sie alle raus, vor allem diese überdrehte Frau Wohlzo22
gen, deren Zahlen nähern sich ja dem Minusbereich. Deren Scheißkultur reißt alles mit runter«, kreischt Kröger noch einmal – und zwar fortissimo. Er pausiert. Pflügner wagt sich wieder an die Sprechmuschel. »Sie verstehen das Geschäft, Herr Kröger, das muß ich Ihnen lassen. Es ist angenehm, wenigstens einmal am Tag mit einem Menschen zu sprechen, der wirklich was vom Geschäft versteht.« Er hört, wie sich der Atem seines Gesprächspartners beruhigt und flacher wird. Pflügner reitet eine weitere Attacke. »Lassen Sie mich offen sein, Kröger. Nichts, ehem, würde ich lieber tun, als beispielsweise Frau Wohlzogen rauszuwerfen, aber Sie kennen den Hintergrund, fünfundzwanzig Prozent Anteil, die alte Freundschaft zwischen Wohlzogen und Ihrem Herrn Vater…« Der Juniorverleger pumpt die Lungen neu auf und versteigt sich zu dem Befehl, seinen Herrn Vater ebenfalls hinauszuwerfen. Pflügner zählt die Löcher in der Sprechmuschel und multipliziert sie mit denen in der Hörmuschel. Schwierige Rechenaufgabe, so was dauert, beruhigt aber die Nerven. Krögers Stimmvolumen erschöpft sich nur langsam. Pflügner entspannt sich am anderen Ende der Leitung, legt die Füße über Kreuz und auf seine Schreibtischplatte. Er führt den Hörer wieder zum Ohr, seufzt voll von verständnisvollem Mitleid. »Kröger, Kröger, Sie sprechen mir aus der Seele. Wenn ich könnte, wie ich wollte… Niemand versteht Sie besser als ich, aber Ihr Vater ist nun mal der beste Freund von Frau Wohlzogens Vater. Eine Jugendfreundschaft. Sie wissen, was das für ältere Herren heißt.« So wie er ältere Herren sagt, klingt es nach den Anführern einer senilen Deppenparade, vielleicht gefällt Kröger so ein Verbrüderungsangebot gegen väterliche Tyrannen. Kröger überhört das Angebot, schimpft weiter. »Wegen dieser sogenannten Freundschaft haben wir jede Nacht irgendwelchen Kulturschrott auf Sendung. Vorige Woche habe ich mal reingehört, da hat diese Wohlzogen eine Viertelstunde über – warten Sie, ich hab's notiert – Triolen und Wurfbogenpassagen bei 23
Vivaldi gefaselt. Ich bitte Sie, da schaltet doch nicht einmal eine Sextalkline ihre Werbung zwischen. Das sind Riesenverluste. Nur weil der Vater von Frau Wohlzogen annopief mal ein berühmter Dirigent war und Frau Wohlzogen sich für die Erzieherin der Nation hält. Damit machen wir uns doch lächerlich.« »Nun ja, ihr Vater war nun mal einer der deutschen Dirigenten der Nachkriegszeit. Einer der ersten, die an die New York Met geladen wurde, ein Freund Bernsteins, so etwas prägt eine Tochter«, wagt Pflügner einzuwerfen und denkt an das Erbe des Plattenmillionärs. Kröger schnaubt nur verächtlich. »Wen interessiert das alles noch? Wer will das denn hören? Klassik, noch dazu richtige. Ich meine, diese niedliche japanische oder chinesische Geigerin, so etwas ist okay. Sie wissen schon, die, die auch mal durchsichtige Oberteile trägt. Na ja, wirkt natürlich nur im Fernsehen. Egal, wir brauchen Knaller. Hören Sie? Echte Knaller. Wir sind schließlich nicht beim Kirchenfunk.« Pflügner will seinen Fehler wiedergutmachen. »Sie haben natürlich recht. Bei der Bildzeitung hieß es immer: Kultur ist nur, wenn Karajan der Kronleuchter auf den Kopf fällt.« Er macht eine Lachpause und muß sie selber füllen. »Hahaha.« Das mit der Bildzeitung beeindruckt Kröger gewöhnlich. Schließlich macht die eine Millionenauflage, und Pflügner war da mal Redaktionsleiter. So einen wie ihn kriegt der Kröger nicht jeden Tag als Chef für sein Dampfradio. Kröger mäßigt seinen Ton und schießt sich wieder ganz auf Victoria ein. »Wenn diese Kulturtussi wenigstens was aus dem Leben ihres Vaters berichten würde. Soll ja ein ziemlich bunter Vogel sein, Yacht vor Marbella, Villa in Florida, bekannt mit halb Hollywood, dreißig Jahre jüngeres Model als Freundin. Die soll übrigens schwanger sein. Das sind die Nachrichten, die ich will, das sind Kontakte, die diese Wohlzogen nutzen sollte. Ideal für ein Lifestylemagazin. So was läuft.« »Genau. Genau, meine Rede«, versucht Pflügner die Aufzählung zu unterbrechen und denkt: Nur weg von dem Thema. Kröger scheint 24
zu spüren, daß Pflügner ihn abwimmeln will und geht wieder zum Direktangriff über. »Hören Sie, Pflügner. Wir machen hier Regionalradio, das ist ein heißumkämpfter Markt. Wir sind weiß Gott nicht die einzigen. Wir brauchen endlich mehr QUOTE, rund um die Uhr. Sonst saufen wir ab. Lassen Sie sich nicht von überkandidelten Redakteurinnen mit Kulturknall auf der Nase rumtanzen. Merken Sie sich das: Wir brauchen QUOTE UND NICHT GOETHE.« Der Juniorverleger spricht jetzt mit lauter Ausrufungszeichen, Doppelpunkten und in Großbuchstaben. Pflügner muß dazwischengehen, von sich selbst ablenken, denn Dampfradio hin oder her, einen ähnlich gut bezahlten Job findet er so schnell nicht wieder, und ganz so zugänglich wie erhofft ist die Erbin Victoria Wohlzogen noch nicht. »Sie haben mal wieder in jedem Punkt recht, Kröger. Deshalb habe ich Frau Wohlzogen eine, nur noch eine Chance gegeben.« »Das ist genau eine zuviel!« Meine Güte, denkt Pflügner, Juniors Haß auf die Wohlzogen ist schon pathologisch. Ist er vielleicht so wütend, weil deren Herr Papa ebenfalls die väterliche Hand schützend über sie hält, obwohl sie nichts Anständiges auf die Beine stellt? Man bekommt bekanntlich ungern den Spiegel vorgehalten. »Also«, sagt Pflügner so neutral wie möglich, »wir haben einen Tip bekommen. Elias Rensle soll heute nach Deutschland kommen.« »Rensle? Rensle?« fragt Kröger tastend und ist dabei hörbar im Dunkeln unterwegs. »Rensle, das ist der Autor von ›Eine kleine Geschichte der Erde‹. Dieser Megabestseller über Urknall und Erdgeschichte und den ganzen Sums. Steht seit drei Jahren ganz oben auf der Bestsellerliste. Ein Knaller, europaweit. Die größte Sensation seit ›Die Entdeckung der Langsamkeit‹ und ›Sophies Welt‹. Eins von den wenigen wissenschaftlichen Büchern, das Millionen lesen wollen.« Die meisten geben allerdings schnell auf und tragen das Buch als Accessoire unterm Arm, fügt Pflügner in Gedanken hinzu und 25
schnippt ein Stäubchen vom Ärmel. Immerhin, manchmal ist Kultur eben doch ein Verkaufsschlager. »Kleine Geschichte der Erde? Aber natürlich. Ich habe es selbst gelesen«, antwortet Kröger jetzt mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Eigenlob. Läßt du sonst lesen? fragt sich spöttisch sein Gesprächspartner. Egal, er hat den Junior, wo er ihn haben will, in der Position des schlechter Informierten. »Der Autor Rensle ist so ziemlich das größte Geheimnis des gesamten Buchbetriebs. Der B.Traven des Sachbuchs sozusagen. Alle wollen wissen, wer er ist, was er genau macht. Wer ein Interview – das erste Interview – mit ihm bekommt, dem sind eine satte Quote und überregionale Aufmerksamkeit sicher. Und wir kriegen Rensle. Die Zeitungen werden uns rauf und runter zitieren. Das ist eine Riesenwerbung für Radio K. Bis ins Ausland. Noch dazu gratis.« »Und warum sollte ein Mann wie Rensle ausgerechnet mit uns sprechen?« fragt Junior Kröger und landet einen Treffer, der Pflügner beinahe versenkt. Beinahe. »Frau Wohlzogen hat Rensle so gut wie in der Tasche. Sie kann nämlich sehr charmant sein, und der Name ihres berühmten, kultivierten Vaters kommt ihr bei so was gelegen.« Kröger unterdrückt den Mißmut in seiner Stimme kaum. »Na ja, klingt nicht schlecht. Aber sagen Sie dieser Wohlzogen, sie soll gefälligst über den Lifestyle von Rensle berichten. LIFESTYLE, verstehen Sie! Ich will wissen, was er trinkt und ißt, wie er wohnt, wer neben ihm im Bett liegt und wie viele. Eine Homestory mit O-Tönen. Das ganze Programm, und zwar exklusiv, verstanden? Sie soll auch die Printrechte für das Porträt einkaufen und wegen einer TVProduktion vorfühlen. Vielleicht kann sie ihn auch überreden, sein nächstes Buch bei Papa, eh, beim Verlag meines Vaters herauszubringen. Ich will den großen Knaller, sonst ist die Wohlzogen draußen. Das war's.« Peng! Er hat eingehängt. Schlechter Abgang vom Juniorchef, sehr schlechter Abgang, ein26
fach den Hörer hinknallen, das machen nur Anfänger und Verlierer, denkt Pflügner kopfschüttelnd. Er drückt die Gabel ganz zart herunter, behält den Hörer am Ohr, tippt eine Taste an. Seine Sekretärin meldet sich mit so adretter Schmeichelstimme, daß man an die Zeit von Hochfrisuren und Pfennigabsätzen denken muß. An Zeiten, in denen ein Mann noch ein Mann und eine Sekretärin nur eine Sekretärin war. Die einzig gute Kraft, die in seinem Vorzimmer sitzt. Hat er ja auch persönlich ausgesucht, schmeichelt sich der Sendeleiter. »Ja, Herr Pflügner, Sie wünschen?« Nach Krögers Unverschämtheiten wirkt soviel Höflichkeit wie eine Droge. »Claudia, meine Liebe, verbinden Sie mich mit Victoria Wohlzogen. Über Handy, es eilt.« Er muß die Kleine noch ein bißchen briefen. ›Die Kleine‹ nennt er Victoria natürlich nur in seinen Gedanken. Manchmal, zum Spaß, das entspannt, genau wie eine gelegentliche Zigarre. Im Vorzimmer schneidet die Sekretärin dem Hörer eine höchst unadrette Grimasse, legt auf. Die Grimasse gilt nicht Pflügner, sondern Victoria. Es eilt immer, wenn Pflügner etwas von Victoria Wohlzogen will. Schließlich ist Victoria Wohlzogen eine ganz Wichtige. Eine ganz Wichtige mit soviel Geld im Kreuz, daß sie nur zum Vergnügen arbeitet. Die Sekretärin schnaubt verächtlich. Diese verwöhnte Pute hält sich für Gottes Geschenk an die Menschheit. Und Gott, der Verräter, hat die Pute mit Kleidergröße 38, naturblonden Haaren und einem strammen Hintern gesegnet. Außerdem ist Victoria der Schwarm von Pflügner, was Claudia sehr persönlich nimmt. Schließlich hat Victoria schon einen Verehrer, den Ludwig. Der ist treudoof wie Plüschteddy, dabei läßt Victoria ihn nicht mal ran. Die kann sich eben alles leisten. Nein, nicht alles, sie soll die gierigen Finger gefälligst von Pflügner lassen. Immer dieses Getue, diese Sonderbesprechungen, Spezialaufträge. Claudia tippt lustlos Victorias Handynummer ein. Na typisch, be27
setzt. Die muß einem das ganze Leben schwer machen, diese… »Was ist? Wo bleibt das Gespräch mit Frau Wohlzogen?« Pflügner steht in der Tür zu seinem Zimmer. Claudia knipst ihr Lächeln an, volle sechzig Watt. »Es tut mir leid, da ist besetzt.« »Wie wär's, wenn Sie es weiter versuchen?« Die Sekretärin schraubt hoch auf neunzig Watt: »Natürlich gern. Ich bleibe dran.« »Und holen Sie mir ein Sandwich aus der Kantine. Roastbeef ohne Meerrettich und Remoulade, zwei Blatt grüner Salat, keine Tomate. Seien Sie ein Schatz.« Claudia ist gern ein Schatz, wenn es um Pflügner geht, deshalb kümmert sie sich zuerst ums Roastbeef und dann um Victoria.
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Seit dreieinhalb Stunden sitzt sie nun schon in diesem entsetzlichen ›Airport-Treff‹ vor teerartigem Kaffee. Davon trinkt sie die dritte Tasse auf nüchternen Magen. Du mußt mal was essen, ermahnt sich Victoria. Keine Chance. Heute morgen hatte sie einen lästigen Geburtstagsblues und keinen Appetit. Jetzt hat sie ein akutes Jagdfieber und keinen Appetit, nur einen nervösen Magen. Der Flieger um vier war eine Fehlanzeige, und dabei hatte sie sich eine so hinreißende Geschichte ausgedacht, um Einblick in die Passagierliste zu bekommen. Herr Rensle – soviel hat sie der Lächlerin von der Iberia erklärt – braucht dringend sein Herzmedikament, daß er – Schussel, der er ist: »Schriftsteller, Sie wissen ja« – auf Gran Canaria vergessen hat einzunehmen. Die Lächlerin hat auch ordnungsgemäß betroffen reagiert, nur kei28
nen Rensle auf der Passagierliste gehabt, auch nicht für morgen. Pech aber auch. Bei der Condor, von der die noch ausstehende Abendmaschine stammt, hat der Trick nicht geklappt. Das deutsche Bodenpersonal trägt nicht nur strengere Uniformen, es scheint auch ein Diplom in Sachen Datenschutz zu haben. »Tut uns leid, aber über unsere Passagiere können wir leider keine Auskunft erteilen.« »Aber er braucht doch sein Herzmittel. Hier geht es nicht um Vorschriften, sondern um Leben und Tod.« »Sie können ihn ja ausrufen lassen, wenn er lebend gelandet ist.« Als ob so einer wie Rensle darauf reinfällt! Der nicht, wenn er nicht will. Viel zu clever. Sicher reist er nicht einmal unter seinem Namen. So würde sie es jedenfalls machen, um nicht aufzufallen. Recht hat er, berühmt sein ist ein Job für sich. Er will eben keine Interviews geben. Wahrscheinlich will er nur gute Bücher schreiben, und das kann er. Mißmutig rührt Victoria den Teer in der Tasse um. In ihrem Kopf braut sich die Gewittersequenz aus Beethovens Pastorale zusammen. Ein sicheres Zeichen für eine äußerst düstere Seelenlage. »Trüblig neb«, nennt Steffi das gern. Ein Ferngespräch mit ihrer Mutter hat Victoria auch keine neuen Informationen eingebracht, nur eine neuerliche Einladung nach Gran Canaria. »Setz dich in den nächsten Flieger, komm her, und ich verspreche dir, wir schauen hinter jedem Feigenkaktus nach, ob sich da ein Dichter versteckt hat. Er könnte auch in einer Höhle wohnen, viele Künstler wohnen hier in den alten Wohnhöhlen. Das ist seit ein paar Jahren sehr schick.« »Wohnhöhlen? Sehr witzig, paßt zu dieser Barbareninsel«, hat Victoria geknurrt. »Du bist ein ahnungsloser Snob, Kindchen. Kein Sinn für Romantik. Okay, ich höre mich noch mal für dich um. Wäre doch gelacht, wenn ich den Rensle auf diesem Mini-Eiland nicht zu fassen kriege. Aber lohnt sich das für diesen Piratensender, für den du arbeitest? Das hast du doch gar nicht nötig. Mach's wie ich, leb von 29
deinem Vater.« »Mutter, ich will arbeiten, und Daddys monatliche Zuwendung und seine Geschenke sind beschämend großzügig.« »Pah, seine Geschenke sind vor allem selten. Er schafft es nicht mal, pünktlich ein schlechtes Gewissen zu bekommen. Aber wenn du unbedingt künstlerisch arbeiten willst, warum machst du nicht was aus deinem Klavierspiel und deiner Stimme…« »Beides reicht nicht mal für eine Barpianistin, gib's endlich auf.« Das ist ein ganz alter Streit zwischen Victoria und ihrer Mutter. Diesmal hat Charlotte Wohlzogen ihn mit einem Seufzer beendet und gemeint: »Wenn du unbedingt als Reporterin arbeiten mußt, dann arbeite doch beim deutschen Sender von Gran Canaria. Ich kenne den Leiter Horst Klatte ein wenig. Du weißt gar nicht, wie herrlich es ist, hier zu leben. Würde dir guttun.« »Ein Sender auf der Deppeninsel? Worüber soll ich da berichten? Über die gestiegenen Sonnenölpreise und die Verluste beim Rentnerbingo?« »Leben findet überall statt, Fräulein, man muß es nur zulassen.« »Kommt drauf an, was man unter Leben versteht, Mutter.« »Um des idealen Lebens willen läßt du die Finger vom wirklichen Leben. Du bist die abscheulichste Spaßbremse, die ich kenne. Ich frag' mich, ob ich überhaupt deine Mutter sein kann.« »Das wirst du ja wohl wissen!« »Na ja, ich war bestimmt beschwipst, als es passiert ist. Ich war meistens beschwipst, als ich noch mit deinem Vater verheiratet war. Der war nämlich die schaurigste Spaßbremse von allen.« »Der du jetzt ein Leben in Saus und Braus verdankst.« »Mit Recht, schließlich haben mir die Nachhilfestunden, die Papa seinen Sopranistinnen im Fach Liebesduette gegeben hat, das Herz gebrochen, und die Scheidung hat mich von einer vielversprechenden Karriere als Altistin abgelenkt.« »Dafür klingst du ausgesprochen fröhlich, fast wie eine lustige Witwe.« »Bin ich auch, und wenn du länger hier wärst, würde ich dafür 30
sorgen, daß es dir genauso ginge. Ich rate dir, deinen Vater endlich vom Königsthron in deinem Herzen zu stoßen. Es könnte sein, daß er dich demnächst wieder im Stich läßt. Und zwar so richtig.« »Vergiß es, ich komme nicht. Und hör auf, Vater schlechtzumachen, nur um dein Gewissen zu erleichtern.« »Ich weiß, daß du auf dem Ohr taub bist, aber ich glaube, ich muß dir etwas von ihm erzählen. Könnte Ärger geben. Richtigen Ärger. Es geht nämlich auch um sein Geld und dein Erbe.« An diesem Punkt hat Victoria eingehängt. »Bing-Bong. Security advise.« Eine elektronisch erzeugte Lautsprecherstimme nervt mit dem Sicherheitshinweis: »Lassen Sie Ihr Gepäck niemals unbeaufsichtigt. Security advise. Never leave your baggage unattended.« Vor dem Café drängeln sich die übermütigen Opfer des Massentourismus, strömen Richtung Flugschalter und Gates. Sie stolpern über Kofferelefanten, verlieren im Gedränge Tickets, Tennisschläger, Nerven und Kleinkinder, verursachen Crashs mit Gepäckwagen und vor allem einen Höllenlärm. Und das merkwürdigste ist, daß die meisten dabei unverwüstlich fröhlich aussehen. Wer keine Familie sein eigen nennt und sich trotzdem in den Osterferien hierhin verirrt, hat eben einen Dachschaden – oder ihren Job. Victoria schaut zur Uhr. Es ist halb acht, noch eine Stunde, bis die Condormaschine landet. Lustlos klappt sie ihr Notebook auf. Purer Unsinn, die zweite. Kein Mann ist das wert. Nicht mal Rensle. Obwohl sein Buch ein wirklich beachtlicher Versuch ist. Sie löscht den letzten Satz. Okay, Schluß mit der kultivierten Zurückhaltung, zurück zum Tagebuch-Bekenntniston. Ich sitze hier wie ein voll pubertierender Kelly-Family-Fan, um den Autor von ›Eine kleine Geschichte der Erde‹ zu treffen. In meinem Kopf spukt er als so eine Art Indiana Jones der Naturwissenschaft herum. Wenn dieser Mann den Urknall oder das Auseinanderdriften der Kontinentalplatten beschreibt, liege ich am Boden und knabbere vor Aufregung an den Teppichfransen. 31
Das Aussterben der Dinosaurier ist bei ihm so herzzerreißend traurig wie E.T.s Versuch, nach Hause zu telefonieren. Kurz, das Buch ist phantastisch. Ein Phänomen und ganz nach meinem Geschmack. Rensle hält auch nicht viel von Menschen, jede Mikrobe ist für ihn hingegen ein moralisches und ästhetisches Wunderwerk. Darum ist der ›erste Mensch‹ in seinem Buch ein echter Lacherfolg. Mir ist das zwar voll peinlich, aber wie er – also der Autor, nicht der erste Mensch – aussieht, und ob er live genauso witzig, intelligent und spannend ist wie sein Buch, würde ich gern wissen. Mit anderen Worten: Ich habe einen akuten Fall von Knall. Am besten, ich lege mich ins Bett und warte, bis es vorbeigeht. Liegt das an der Hormonumstellung, verliert man kurz vor vierzig den Verstand? Merke: Wer so dicke Bücher schreibt wie Elias Rensle, muß krumme Schultern und eine Hühnerbrust haben und versteht sicher nichts von Honigpuder und Handschellen. Wie komme ich überhaupt dazu, an so was zu denken? Der Streß! Pflügner nervt mit seinen Quoten und alle halbe Stunde durch seine Sekretärin Claudia. (»Schon was Neues, Frau Wohlzogen? Pflügner läßt ausrichten, es gehe ums Ganze.«) Und um meinen Job, was ihr eine Heidenfreude macht. Sie nimmt mir von meinem einzigen Paar Versace-Schuhen aufwärts bis zu meiner Existenz alles persönlich übel. Besonders drastisch wird's, wenn Ludwig mich im Sender abholt. Den gönnt sie mir schon gar nicht und wirft das volle Flirtprogramm an – Stimme wie feuchtes Toilettenpapier, rutschender Rocksaum, Plüschaugen. Eine eindeutige Kriegserklärung an MICH. Ich schätze mal, das liegt daran, daß ihr Indiana Jones in Wahrheit unser aller Sendeleiter Michael Pflügner ist. Ich bin zwar naturblond, aber sie hat die waschechten Blondinenträume: Minderbemittelte Sekretärin heiratet ihren völlig unterbelichteten Chef und lebt fürderhin von Pralinenpräsenten, täglichen Blumengebinden und einem Diamanten zu jedem Hochzeitstag. Halleluja. Von mir aus soll sie ihn endlich flachlegen, dann hab' ich meine Ruhe. Hormongesteuerte Pflügners sind ebenso lästig wie heiratswütige Weiber… 32
»Victoria! So ein Zufall.« Sie reißt den Kopf hoch. Das gibt's ja gar nicht.
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»Meine Damen und Herren, wir beginnen jetzt mit unserem Landeanflug. Bitte klappen Sie die Tischchen vor sich wieder nach oben, und richten Sie die Sitzlehnen senkrecht auf. Wenn das Nichtraucherzeichen aufleuchtet, stellen Sie bitte das Rauchen ein.« Als das Fahrwerk ausgefahren wird, weckt Sanchez seinen Freund mit einem Rippenstoß und Vorwürfen. »Du hast die ganze Zeit geschlafen, und jetzte bin ich eine ganz grausame Trauerknödel.« Markus Elsner streckt sich, gähnt, wirft einen flüchtigen Blick aus dem Flugzeugfenster. Die Maschine sinkt hinab in einen deutschen Frühlingsabend. Die Straßen gleichen leuchtenden Schlangen, als winzige Glitzerpunkte schnüren Autos darauf entlang. Nachtblau ist die Luft. Ganz hübscher Himmel ausnahmsweise, die Temperatur ist ungewöhnlich mild, zwanzig Grad hat Kapitän Schuhmacher versprochen. Ein prachtvoller Frühjahrsauftakt. Trotzdem ist Elsner Gran Canaria lieber. »Was soll ich machen heute abend, allein, ohne dich?« fragt ein zerknirschter Sanchez. »Allein? Stefanie wird bei dir sein.« »Und Victoria. Ich schwöre dir! Sie läßt ihr kostbare Freundin keine Sekunde allein mit die Schwimmpoolputzer.« »Dann kannst du ja schon mal Stefanies Badezimmer fliesen.« »Du bist herzelos.« Ein deutlicher Ruck. Sitze und Gepäckklappen vibrieren. Die Maschine ist gelandet, saust mit jaulenden Turbinen über die Piste, wird 33
vom Rückschub abgefangen. Wie immer klicken die ersten Sicherheitsgurte, während der Purser noch näselnd darum bittet, angeschnallt sitzenzubleiben, bis das Flugzeug seine Parkposition erreicht hat. Kopfschüttelnd betrachtet Elsner die Strelizien-Gebinde, die die heimkehrenden Touristen aus den Gepäckfächern zerren. Ein typisches Kanaren-Mitbringsel, dabei stammt die orangefarbene Papageiblume überhaupt nicht von dort. Eine Schande, wie wenige dieser Urlauber sich für das echte Gran Canaria interessieren. In Gedanken mischt sich die Stimme seines Freundes in seine Gedanken: »Du biste eine Snob. Du siehst die Menschen nur als Schädlinge.« Elsner zuckt die Achseln. Ja, er ist ein Snob. Hauptsache, die Menschen lassen ihn und die Natur weitgehend in Ruhe. Sanchez drängt auf den Gang, hievt Elsners Rucksack und dessen Notebook nach unten, reicht beides an Markus weiter. »Da hast du, ich bin nämlich deine Freund und Helfer, obwohl du bist eine Verräter.« Sie reihen sich in die Schlange ein, die sich gebildet hat. Ungeduldiges Tütenknistern, hektische Taschensuche, alles wartet darauf, daß der Terminalfinger eingeklinkt und der Ausstieg geöffnet wird. Babys holen versäumte Kreischanfälle nach. »Nun mach mal 'nen Punkt, Sanchez, wenn hier jemand einen Grund hat, sauer zu sein, dann bin ich das. Hätte ich gewußt, daß du nur wegen dieser Stefanie mit nach Deutschland kommst, wäre ich gleich alleine geflogen. Ich habe wirklich keine Zeit für kindische Verwechslungskomödien, klar?« »Das mußt gerade sagen du.« »Ich bin nur wegen der Forschungsgelder da, wenn die Sache durch ist, verschwinde ich wieder, basta.« Die Schlange setzt sich in Bewegung, von hinten wird gedrängelt. Endlich wieder deutschen Boden betreten – alle freuen sich darauf, alle außer Elsner. Sanchez bemerkt es. Kleinlaut versucht er einzulenken: »Bist du so ein saurer Topf wegen mir? Bitte, du mußt mitkommen zu Stefanie.« 34
»Ich bin nicht sauertöpfisch, aber den Abend mit Stefanie wirst du ohne mich überstehen müssen.« Sanchez runzelt verzweifelt die Brauen. Elsner lächelt aufmunternd. Lächeln steht ihm gut, es bringt seine eisgrauen Augen zum Leuchten. Victoria lächelt nicht. Sie steht neben ihrer Freundin Stefanie in der Ankunftshalle. Gemeinsam warten sie auf Sanchez und einen Freund, von dem Steffi nicht viel weiß und der Victoria noch weniger interessiert als Sanchez. Sie wartet nur aus einem Grund mit. Stefanie hat behauptet, daß Sanchez den geheimnisvollen Rensle kennt. »Und du flunkerst auch wirklich nicht?« fragt Victoria noch einmal, während die elektronischen Schiebetüren auseinandergleiten und die ersten Urlaubsheimkehrer sichtbar werden. Stefanie hüpft aufgeregt hin und her, beachtet sie nicht. »Sanchez kennt Rensle?« hakt Victoria streng nach. »Aber ja, klar.« »Und woher?« »Was weiß ich. Er wird wohl seinen Pool reinigen, oder er hat ihm das Haus gebaut. Er ist nämlich nicht nur Swimmingpoolreiniger, sondern auch Bauarbeiter.« »Na toll. Und er kann mich Rensle vorstellen?« »Mm, ich glaube schon, obwohl du wirklich nicht nett zu Sanchez warst. Aber wenn ich ganz lieb bitte und du dich ausnahmsweise benimmst, besteht Hoffnung.« Victoria verdreht die Augen, sagt nichts. »Schon gut, er wird ihn dir vorstellen. Ich meine, wenn dieser Rensle überhaupt in der Maschine ist. Oh, da ist er, da ist Sanchez, am Gepäckband.« Sie krallt sich aufgeregt in Victorias Arm. »HUHU. Er hat mich noch nicht gesehen. HUHU!« »Stefanie«, mahnt Victoria und schüttelt die Hand der Freundin ab. Die reckt aufgeregt den Hals, das Blut ist ihr in die Wangen ge35
stiegen, ihre Augen glänzen, sie winkt ausladend mit beiden Händen, als müsse sie ein Flugzeug einweisen. Victoria erkennt, daß ihre Strafpredigt von vorhin nichts, aber auch gar nichts genutzt hat. Dabei hat sie gepredigt, seit Stefanie ihr im Airport-Treff juchzend erzählt hat, sie sei gekommen, um Sanchez und dessen Freund abzuholen. Und wie Victoria gepredigt hat, ohne Erbarmen, voll christlicher Strenge: »Ich habe dir deine Affäre mit dem Postboten verziehen, den Wachmann vom Asylantenschiff und sogar diesen Frittenkoch aus der Kantine, aber jetzt ist Schluß. Woher zum Teufel hast du bloß diesen fatalen Hang zum Personal? Denk doch nur, wie erbärmlich dieser Sancho Pansa ist, ein Putzmann, der kaum Deutsch spricht.« »Er heißt Sanchez, ist gelernter Bauarbeiter und sehr süß. Er kommt auf Montage nach Deutschland und will mir nebenbei das Bad fliesen. So was hat noch nie ein Mann für mich gemacht. Und nur, weil er bei mir wohnen darf.« »Nur? Er darf bei dir wohnen? Hast du den Verstand verloren? Erinnere dich doch mal an seinen öligen Blick, Typ schmachtendes Eichhörnchen. Dein Bad fliesen, da lache ich ja. Mit dem stimmt doch was nicht. Der ist nicht echt. Der lügt, ich kenne mich mit Männern aus. Vielleicht ist das ein ganz gefährlicher amoklaufender, perverser Sittenstrolch.« Erstaunlicherweise hat die sanfte Stefanie an dieser Stelle gekontert, entschlossen ihre kleinen Hände zu Fäusten geballt und in die Seiten gestemmt. »Ein amoklaufender Sittenstrolch, der vorher drei Monate lang dreimal die Woche mit seinem Opfer telefoniert?« »Drei Monate, dreimal die Woche? Davon weiß ich ja gar nichts. Und du willst meine beste Freundin sein? Was ist denn los mit dir? So kenne ich dich überhaupt nicht, du bist doch sonst so ehrlich, daß es an Dummheit grenzt.« »Vicky.« »Nenn mich nicht so, ich hasse das, Verräterin.« »Also gut, Victoria. Es ist Zeit für die ganze Wahrheit. Ich glaube, Sanchez ist derjenige welcher. Ich war diesmal ganz vorsichtig. 36
Ich habe mich an deine Anweisungen gehalten und war sehr distanziert, kein Wort von Liebe. Aber er war trotzdem so süß. Du müßtest nur mal seinen Akzent hören, und wie er unsere Sprichwörter durcheinanderbringt.« »Du findest Sprachfehler also sexy. Ich halte ihn schlichtweg für strunzdumm. Denk an den lispelnden Frittenkoch, der war auch für drei Wochen dein Favorit, bis er zum erstenmal Salzstreuer gesagt hat.« »Victoria, ich bin mir diesmal ganz sicher. Es ist Liebe, und da kann man nichts gegen machen. Sogar du nicht.« Victoria reißt die Brauen hoch, stöhnt übertrieben. »Liebe? Noch vor zweihundert Jahren hat kein kultivierter Mensch von Welt dieses Wort in den Mund genommen.« »Shakespeare war also ein Dorftrottel?« Seufzend hat Victoria sich die Proteste der Gegenseite angehört. »Stefanie, werde nicht poetisch. DER KERL, VON DEM WIR HIER REDEN, IST FLIESENLEGER. Wer liebt denn Fliesenleger? Außer Frauen, die keine Wahl haben und einen Versorger brauchen.« Vergebliche Liebesmüh. Stefanie hat resolut – wenn auch übertönt von ›Bing-Bong‹ und ›Sicherheitshinweisen‹ – weiter Argumente für die Liebe und für Fliesenleger vorgebracht. »Ich bin eben nicht so gebildet, kultiviert und bildschön wie du. Ich bin eine mäßig begabte Wetteransagerin bei einer privaten Rundfunkstation, der kaum einer zuhört.« »Schon vergessen? Ich arbeite beim gleichen Sender, und dir hören mehr Menschen zu als mir«, wirft Victoria ein. »Du hast eine abgeschlossene Schauspielausbildung von der Folkwangschule.« »Die mir nichts gebracht hat, außer einer akzentfreien Aussprache und einer Menge Flausen bezüglich meiner Talente. Ein Fliesenleger ist genau das richtige für mich, nämlich bodenständig«, endet Stefanie beinahe trotzig, dabei liegt Trotz ihr nicht, ebensowenig wie Lügen und Streit. Vor allem, weil Vicky sie wirklich vor dem einen oder anderen Deppen bewahrt hat. Trotzdem: Als die Landung des Condorfluges 137 aus Las Palmas 37
per Lautsprecher verkündet worden ist, ist sie direkt losgerannt, Victoria hinterher. Unter einem Bildschirmgerät, auf dem die angekommenen Flüge aufgelistet sind, hat sie Stefanie eingeholt. »Stefanie, ich habe nichts gegen Fliesenleger. Ich gestehe, daß ich mir hin und wieder auch gerne muskulöse Bauarbeiter anschaue, die mit nacktem Oberkörper auf Gerüsten herumklettern. Aber da sollen sie gefälligst bleiben. Ich bin für artgerechte Haltung.« »Sag mal, was machst du eigentlich hier, außer mich zu beleidigen?« Stefanie startet entnervt, aber erfolgreich ein Ablenkungsmanöver. Victoria hat ihr von Rensle erzählt, und Stefanie hat eine letzte Notlüge erfunden. Die, daß Sanchez den Autor kennt. Sie hat sogar was gemurmelt von »gut befreundet«. Und deshalb warten sie nun beide – beinahe – einträchtig auf Sanchez. Wieder gleiten die Schiebetüren auseinander. Stefanie jankert wie ein Welpe, der zu lange vom Muttertier getrennt war. Sie hat nur noch Augen für Sanchez. Victorias erster Blick fällt auf den großen, wettergegerbten Mann neben ihm. Sein Haar ist dunkel, aber von ersten grauen Strähnen durchzogen, die Augen sind schmal geschnitten, die schwarzen Pupillen zeichnen sich deutlich von einer sehr hellen Iris ab, ähnlich wie in den Augen eines Huskies. Wie außergewöhnlich, schießt es Victoria für einen Sekundenbruchteil durch den Kopf, als er kurz zu ihr hinschaut. Er ist gar nicht wettergegerbt, stellt sie überrascht fest. Er hat nur ein paar Narben, ziemlich attraktive Narben. Pah, er ist ein arroganter Flegel. Vielleicht liegt ihr erster Eindruck nur daran, daß seine Augen so stechend wirken. Aber nein, entscheidet Victoria auf den zweiten Blick: Er ist arrogant. Beleidigend arrogant. Und das in dem Aufzug: verwaschene Combathosen, Leinenschuhe, die vor zehn Jahren zum erstenmal unmodern waren, und ein peinliches Bekenner-T-Shirt mit Greenpeacelogo. Victoria schüttelt sich innerlich. Der sieht aus wie einer der letzten Überlebenden der Ökobewegung, so ein Gutmensch, der immer alles richtiger als andere macht. Konnte sie nie leiden, hat wenig mit Kultur und viel mit schä38
biger Kleidung zu tun. Aber der Gipfel ist der verächtliche Blick, mit dem der Kerl ihre Freundin Stefanie bedenkt, die losstürzt, um Sanchez zu umarmen. Victoria atmet tief ein, preßt die Lippen aufeinander. Der Mann, der das Recht hat, ihre Stefanie zu verachten – egal wie naiv die in Sachen Liebe ist –, muß noch geboren werden. Sie strafft die Schultern und tritt auf Sanchez, Stefanie und den Unbekannten zu. »Ich bin Victoria Wohlzogen«, sagt sie in Sanchez' Richtung, schaut aber Markus Elsner an. Der wendet ihr das Gesicht zu, taxiert sie in Sekundenschnelle, lächelt geringschätzig. Victorias Augen sprühen Funken. Starr fixiert sie seine Narben, öffnet den Mund, als wolle sie etwas dazu sagen, schüttelt beinahe unmerklich den Kopf, schweigt. Das wäre zu billig, außerdem sind diese Narben wirklich sexy, und das weiß dieser überhebliche Kerl bestimmt. Markus Elsner entschließt sich, die feindselige Blondine nicht zu mögen. Daß eine Frau ihn seiner Narben wegen bemitleidet, mag angehen, daß diese Frau ihn dafür so offensichtlich abstoßend findet und sich kaum zurückhalten kann, ihm das ins Gesicht zu schleudern, ist unerträglich. Dabei legt sie – rein äußerlich – großen Wert auf zurückhaltende Eleganz. Aber wohl kaum auf spontane Herzlichkeit, dazu ist sie sich zu vornehm. Kalt erwidert er Victorias Blicke. Eine Kampfansage. »Ach, es iste so schön zu sein bei gute Freunde«, meldet sich Sanchez zu Wort. Er klingt verlegen, denn nach einer heftigen Umarmung wissen Stefanie und er nicht recht weiter. Es war ihre erste, etwas ungelenke Umarmung. Sanchez würde sie gerne wiederholen und die Haltungsnote verbessern, aber dabei stört ein großes Publikum. Da stören erst recht Freunde, die auf Anhieb eine gründliche Abneigung gegeneinander gefaßt haben. Das ist mehr als sichtbar. »Ehem, ja«, sagt Stefanie ebenfalls verlegen, »das ist also meine beste Freundin. Victoria Wohlzogen. Aber ihr, also ich meine du, Sanchez, und Victoria, also ihr, ihr kennt euch ja eigentlich schon, sozusagen.« 39
Sie bricht ab, noch lächerlicher will sie sich nicht machen. Am liebsten würde sie Victoria einen ordentlichen Stoß in den Rücken geben, damit sie endlich die Hand in Sanchez' Richtung ausstreckt. Aber die Freundin streicht mit ihrer Hand energisch ihr Kostüm glatt, so als verursache Elsners Blick unschöne Knitterfalten. In diesem Moment klingelt Victorias Handy. Sie bittet nicht mal um Verzeihung, während sie es aus dem Seitenfach ihrer Notebooktasche zieht und auf Empfang drückt. »Hallo?« meldet sie sich frostig und passend zu ihrem feindseligen Gesicht, wechselt aber mit dem nächsten Satz Stimmlage und Mimik so gründlich, daß sich ihr drei Augenpaare zuwenden. Sanchez ist überrascht, Elsner schaut interessiert, Stefanie erkennt besorgt den flatternden Tonfall, in dem ihre Freundin ein »Hi, du bist es« in den Hörer haucht. »Wie schön, daß du mich endlich mal wieder anrufst. Das sollte kein Vorwurf sein, entschuldige.« Victoria scheint alles um sich herum zu vergessen. Ganz weich werden ihre Züge, die Konturen ihrer Wut verschwimmen. Sie sieht mit einemmal sehr jung aus und sehr verletzlich, wie Elsner verblüfft feststellt. Die harschen Linien neben ihren Mundwinkeln verwandeln sich in Lachgrübchen. Seltsame Person. Telefoniert sie mit ihrem Liebhaber? Muß ja ein toller Typ sein. Mister Superlover oder einer, der weiß, wie man den Nordpol abtaut. Nordpol? Wie kommt er darauf? Ganz einfach. Ihn fröstelt, als er bemerkt, wieviel Sehnsucht nach unbedingter Nähe in Victorias Stimme mitschwingt. Das kann nicht gutgehen, so was. Fast tut sie ihm leid. Victoria schmilzt am Telefon vor sich hin. »Es ist wirklich so lieb, daß du anrufst. Ich dachte schon, du hättest es vergessen. Ich habe so darauf gewartet, daß du…« Mein Gott, denkt Elsner, sie ertrinkt gleich. Das ist zuviel, viel zuviel Gefühl. Er muß an ein süßklebriges Violinsolo denken, so was paßt nicht zu dieser Frau, wie kann sie sich so gehenlassen. Da war ihm die Pose des eiskalten Engels von vorhin erheblich lieber. Ein »Wie?« von Vicky reißt ihn aus seinen Gedanken. Das Wie 40
bohrt sich spitz und starr wie ein Eiszapfen in die Perforation des Handy. Victorias Stimme klirrt. Die Wärme in ihrem Gesicht ist wie abgedreht. Sie redet nur noch mechanisch, fast tonlos weiter und wird wieder zu der, die sie vor dem Anruf war. Eine energische, funktionstüchtige, aber abweisende Frau, deren Schutzschild die Selbstironie und deren Waffe beißender Zynismus ist. »Na ja, ich dachte du rufst wegen meines Geburtstags an… Ja, gestern… Wie alt? So alt, daß ich's selber vergessen möchte. Ich bin jetzt…« Sie unterbricht sich abrupt, sieht mit gerunzelter Stirn ihre drei Zuhörer an. Sanchez und Stefanie schauen zu Boden, wenden sich ab. Elsner hingegen hebt fragend die rechte Augenbraue, mustert Victoria. Ihre Lachgrübchen verwandeln sich wieder in harsche Mundwinkel. »Ich bin, eh, ein bißchen über dreißig geworden und … jaja, du hattest keine Zeit, verstehe schon. Mir läuft sie ja jetzt auch immer schneller davon… Eine Überraschung?« Victoria wendet Elsner den Rücken zu, ein kindlicher Kiekser verirrt sich in ihre Kehle. »Eine Überraschung? Für mich! O toll. Du hast also doch an mich gedacht. Du bist toll. Was ist es denn?« Elsner schüttelt den Kopf, was tut sie sich da nur an. Das muß doch weh tun. In ihrem Alter läuft man nicht mehr mit einem gläsernen Herzen durch die Gegend. So was ist zerbrechlich, und ein Glassplitter in der Brust eine verdammt schmerzhafte Angelegenheit. Sie sagt plötzlich nichts mehr, aber ihr Rücken spricht Bände. Sanchez und Stefanie merken nichts, sie üben Umarmungen. Elsner sieht, wie Victoria einknickt, ihre Schultern fallen nach vorne, so als habe ihr jemand einen Fausthieb verpaßt oder als sei ihr Herz tatsächlich zersprungen. Am anderen Ende der Leitung scheint ein Experte in Sachen ›Wie verletze ich Frauen gründlich‹ am Werk zu sein. Victoria hält den Hörer so fest, als habe sie Angst umzufallen. Sie lauscht, zwei, drei Minuten. Mit einer Stimme, mit der man die Zeit ansagen könnte, antwortet 41
sie endlich: »Gratuliere. Jaja, darüber müssen wir dann mal reden. Natürlich brauchst du dafür dein ganzes Geld… Ich bin doch erwachsen… Darauf habe ich nie spekuliert, du weißt, ich liebe … okay, du mußt weiter, deine Arbeit, aber…« Kurze Pause. »Vater, bist du noch dran?« Nicht mehr dran, das sieht man an ihrem Rücken. Ziemlich verzweifelter Rücken. Die ganze Victoria ist jetzt aus Glas. Wäre sie ein Kind, Elsner würde sie bei den Schultern fassen, zu sich hindrehen und in die Arme nehmen. Sehr vorsichtig, versteht sich. Aber Victoria ist kein Kind, sondern eine junge Frau, die ihn vor wenigen Minuten mit ihren Blicken zur Hölle jagen wollte. Wie schmal sie jetzt ist, vorhin und von vorne sah sie ganz anders aus, mit den gestrafften Schultern und dem angriffslustigen Kinn. Elsner steht ein wenig hilflos da. Es geschieht nicht oft, daß Menschen in der Öffentlichkeit so plötzlich und nachhaltig ihr Innenleben offenbaren. Er räuspert sich. »Schlechte Nachrichten?« fragt er und ärgert sich über den heiklen Klang seiner Stimme, wirkt wie peinlich berührt, dabei ist ihm nichts peinlich. Im Gegenteil. Aber so was kann er eben nicht, schon gar nicht bei Frauen, die gegen Tränen ankämpfen. Victoria zuckt kurz zusammen, sammelt sich und dreht sich zu ihm um. Sie schafft es nicht, ihr Gesicht in eine unbewegte Maske zu verwandeln. Zorn und Traurigkeit kämpfen noch um die Oberhand. Als sie Elsners fragende Miene sieht, siegt die Wut. »Das war ein Privatgespräch, Sie Torfkopf. Ich nehme an, Sie sind der Freund von unserem Sancho Pansa. Der belauscht auch gern Frauengespräche am Pool meiner Mutter. Nettes Paar, Sie zwei.« Elsner zuckt zurück, als habe sie ihn geohrfeigt. Unfaßbar, diese Wohlzogen. Von wegen Kind. Von wegen zerbrechlich. Die ist so zerbrechlich wie ein Panzer. Er richtet sich leicht auf. Es sieht aus, als lehne er sich bequem in sich selbst zurück. Aha, selbstverliebte Gorillapose, denkt Victoria. Der Gorilla spricht mit warnendem Unterton: »Falls Sie mit Sancho Pansa Sanchez meinen, dann haben Sie recht. Ich bin sein Freund 42
und heiße nicht Don Quijote.« Oho, sie hat einen Gorilla beleidigt. Victoria sieht, wie sich das Greenpeace-T-Shirt über seiner Brust spannt. Noch ein Bauarbeiter oder Fliesenleger also. Bestenfalls. Vielleicht ist es auch einer von diesen deutschen Aussteigerlümmeln, die auf den Kanaren abhängen. Ja, das haut hin, und seinen Freund Sancho Pansa hält dieser Gorilla für einen Eingeborenen mit großem Herzen, dessen Gastfreundschaft man schamlos ausnutzen kann. Pfui. Sie guckt angewidert. Elsner setzt im Gegenzug eine betont höfliche Miene auf. »Wie nett, daß Sie sich hierher bemüht haben, um Sanchez abzuholen. Anscheinend hat es Sie viel Überwindung gekostet. Mein Name ist übrigens Elsner. Markus Elsner«, sagt ihr Gegenüber mit spöttischem Unterton. »Wegen Ihnen bin ich bestimmt nicht hier«, antwortet Victoria knapp. Sie erinnert sich an ihren Auftrag und zupft Stefanie am Ärmel. Sie muß ziemlich heftig zupfen, denn der Rest von Stefanie ist in festen Händen, in Sanchez' Händen. »Stefanie!« Victoria zupft nicht mehr, jetzt reißt sie. Ihre Freundin gibt nach, löst sich von Sanchez. »Könntest du dein kanarisches Souvenir endlich mal wegen Rensle fragen, bevor der letzte Passagier durch den Zoll ist?« zischt Victoria. Stefanie beißt sich auf die Lippen. »Rensle?« mischt Sanchez sich erstaunt und erfreut ein. Das ›Souvenir‹ hat er gnädig überhört oder nicht mitbekommen. »Sie meinen Elias Rensle?« Stefanie reißt erstaunt die Augen auf, weil ihre Notlüge der Wahrheit entspricht. Victoria nickt noch erstaunter. Dieser völlig unbedeutende Fliesenleger kennt tatsächlich den berühmten Autor. Nicht zu fassen. Sie bemüht sich um ein Lächeln, streckt die Hand aus. »Ich glaube, wir haben uns noch gar nicht richtig begrüßt. Sie erinnern sich an mich? Wir haben uns mal getroffen. Am Pool meiner Mutter, Weihnachten. Wissen Sie noch?« 43
Sanchez breitet die Arme aus. »Als ob ich könnte vergessen! Keine Mann könnte vergessen soviel Dreck – in die Pool natürlich – und Sie, das ist nackte Tatsache.« Victoria runzelt die Stirn. »Machen Sie sich nichts daraus, er bringt gern deutsche Redewendungen durcheinander«, bemerkt Markus Elsner und wirft dem Freund einen warnenden, fast drohenden Blick zu. »Sie wollen also, eh, kennenlernen Rensle?« fragt Sanchez. »Ja, so schnell es geht. War er in Ihrem Flieger?« »Hast du ihn gesehen, hombre?« Fragend wendet Sanchez sich an Elsner. »Nein«, sagt der fast barsch, dreht sich weg und schiebt den Gepäcktrolley Richtung Ausgang. Sanchez und Stefanie schließen sich ihm an. Victoria wirft einen letzten Blick auf die Schiebetür. Die bleibt geschlossen, alle von Bord. Heute kommt kein Flieger mehr aus Gran Canaria. Zögernd folgt Victoria den anderen. Hoffentlich hat sie Rensle nicht übersehen.
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Während sie sich zu viert zum Parkhaus durchkämpfen, redet Victoria auf Sanchez ein wie auf ein trotziges Kind und wirkt selbst wie eins. »Aber er soll heute hier gelandet sein oder morgen landen. Ich muß ihn kennenlernen. Dringend. Wissen Sie, ich brauche ein Interview mit ihm. Er ist nämlich ein sehr berühmter Mann, berühmt, aber öffentlichkeitsscheu, verstehen Sie. Sein Buch, ich meine, vielleicht wissen Sie, daß er ein Buch geschrieben hat, ist ein Bestseller. Es ist ein wissenschaftliches Buch über die Entstehung der Erde, aber das müssen Sie nicht unbedingt wissen.« Die Stirn des Canarios verdunkelt sich wie ein Gewitterhimmel, 44
in seinen Augen zucken kleine Blitze, in seiner Kehle baut sich ein Grollen auf, aber das Donnerwetter kommt von seinem Freund. »Hören Sie auf mit diesem unerträglichen Geschwätz. Mein Freund weiß sehr gut, wer Rensle ist und was er macht, im Gegensatz zu Ihnen«, herrscht er Victoria so laut an, daß Stefanie zusammenzuckt und statt nach Kleingeld für den Parkautomaten Halt bei einem hocherfreuten Sanchez sucht. »Wie bitte?« Victoria wirbelt herum, jetzt schießen aus ihren Augen die Blitze. In ihrem Hinterkopf klingt die Revolutions-Etude von Chopin an. »Tun Sie nicht so, als wäre Sanchez ein Analphabet. Er kennt das Buch von Rensle sehr gut, er hat ihm bei der Arbeit daran geholfen. Sie wissen überhaupt nicht, wen Sie in Sanchez vor sich haben. Es wird Zeit, daß ich Ihnen sage…« Sanchez reißt sich schweren Herzens von Stefanie los. »Silencio, amigos, silencio. Ich bin voll Verständnis für die Fragen von Señora Verzogen.« Stefanie unterdrückt mühsam ein Kichern und korrigiert hauchzart: »Wohlzogen, Sanchez, Wohlzogen.« »Si, si. Sie iste trotz alle Geschwätz wohl erzogen. Im Gegenteil von mir, der nur ist eine arme Bauarbeiter. Und wenn Sie wirklich wissen wollen, wer Rensle ist, müssen Sie fragen meine gute Freund Markus. Er kennt ihn seit viele Jahren, nicht wahr? Wie wäre es, wenn wir alle fahren zu Stefanie. Ich werde kochen eine wunderbar Mahl, und Markus wird Victoria alles, alles erzählen über Rensle, bueno?« Er wirft seinem Freund einen halb flehenden, halb listigen Blick zu. »Ich habe nicht viel über ihn zu erzählen«, wirft Elsner mürrisch ein. »Außerdem ist Rensle damit gewiß nicht einverstanden. Du kennst ihn doch, Sanchez. Er haßt Publicity, fliegt inkognito.« »War er etwa doch in Ihrer Maschine, oder kommt er morgen?« fragt Victoria ungeduldig und ein wenig vorwurfsvoll. Markus überhört sie und fährt fort: »Außerdem bin ich zu müde für einen Abend mit so«, er streift Victoria mit einem vielsagenden 45
Blick, »anspruchsvoller Unterhaltung. Tut mir leid, aber ich nehme mir jetzt ein Taxi zu meiner Unterkunft.« Sanchez zieht die Brauen zusammen; Stefanie füttert den Parkautomaten. Mühsam unterdrückt Victoria ihren Ärger. »Herr Elsner, richtig? Also, ich bin auch zu müde für einen gemeinsamen Abend, aber wenn Sie nichts dagegen haben, könnten wir beide schnell irgendwo ein Glas Wein trinken. Sie erzählen mir über Rensle, was Sie mit Ihrem Gewissen vereinbaren können, und sind mich los. Versprochen.« Sanchez und Stefanie widmen Markus flehende Blicke im Duett. Sanchez macht unauffällig eine schaufelnde Handbewegung in Victorias Richtung. Markus grinst widerwillig. »Also gut«, sagt er, greift sich einen Rucksack und sein Notebook vom Gepäckwagen und schultert beides. »Wenn Sie mir den Wein und ein Essen bezahlen, komm' ich mit.« Victoria verwirft ihre Bauarbeiter-Theorie, dieser Kerl ist tatsächlich einer von diesen alternativen Schnorrern. »Keine Angst, ich zahle. Bis später. Ich schau' vielleicht noch mal bei dir rein, Stefanie«, sagt sie und verabschiedet sich mit warnendem Blick von ihrer Freundin und Sanchez. Dann begleitet sie Elsner stumm zu ihrem Auto. Der stößt einen Pfiff aus. »Mercedes Cabrio, sehr nobel.« »Danke. Wir können mit offenem Verdeck fahren, es ist ungewöhnlich warm heute, fast sommerlich. Ich verstehe gar nicht, warum die Deutschen bei so einem Wetter in die Ödnis von Gran Canaria abdüsen.« Victoria öffnet die Fahrertür, steigt ein, schlingt sich ein Tuch um den Kopf und bindet es zweimal um den Hals. Sehr mondän sieht das aus, und das weiß sie. Elsner betrachtet sie ärgerlich, während sie ihn warten läßt. Endlich langt sie zur Beifahrertür hinüber, entsichert die Verriegelung, öffnen muß er schon selber. »Scheint, als ob sich Ihre Interviews mit berühmten Schriftstellern lohnen«, sagt Elsner und betrachtet das Armaturenbrett aus glänzendem Wurzelholz. »Aber vielleicht sind Sie ja auch verdammt gut 46
in Ihrem Job.« »Ich bin zwar verdammt gut, aber unterbezahlt. Das hier ist ein Geschenk meines Vaters. Geburtstagsüberraschung vom letzten Jahr.« »Sehr großzügig, und welche Überraschung hat er Ihnen vorhin angekündigt? Eine eigene Mondrakete?« Elsner weiß selbst nicht, warum er das sagt. Er sagt es gereizt. Victoria zuckt kurz zusammen, runzelt die Brauen, läßt den Motor an und lenkt den Wagen eine Spur zu schwungvoll aus der Parklücke. Auf dem Weg in die Innenstadt sprechen beide kein Wort miteinander. Als sie am Rheinufer an einer Ampel stehen, klingelt noch einmal Victorias Handy. Diesmal bleibt ihre Stimme frostig. »Nein, noch nichts Neues… Verdammt, Herr Pflügner, das weiß ich selber… Ja, ich hab' eine Spur, okay? Ich kriege den Kerl schon. Ich kriege immer, was ich will, erst recht von Männern. Sagen Sie Kröger, daß er mich mal kann. Ich mach' jetzt Schluß.« »Ihr Chef?« fragt Elsner und lächelt genüßlich. »Ja.« »Dann bin ich wohl die Spur?« »Bilden Sie sich bloß nicht zuviel ein. Meine Mutter lebt seit Jahren auf Gran Canaria. Wenn Sie nichts taugen, wird sie mir weiterhelfen. Sie ist auf Gran Canaria eine kleine Berühmtheit.« Sie wirft ihm einen verächtlichen Blick zu, legt den Gang ein, hält die Kupplung so fest, daß ihr Fuß zu schmerzen beginnt. »Danke, daß Sie einem Taugenichts wie mir wenigstens ein Essen spendieren.« »Ich nehme an, Sie leben hauptsächlich von Spenden und Geschenken.« Victoria wirft einen vielsagenden Blick auf sein T-Shirt. »Das gleiche könnte man von Ihnen behaupten. Allerdings fallen Ihre Geschenke ein wenig größer aus.« Die Ampel springt auf Gelb, Victoria läßt die Kupplung kommen, gibt Gas, der Wagen schießt nach vorn. Schweigend sieht Elsner sie von der Seite an. Er will sie gar nicht verletzen, er will etwas ganz anderes. Nur was? 47
Die Luft ist tatsächlich noch warm. Der Frühlingshimmel leuchtet in Samtblau, als sie das Altstadtviertel am Fluß erreichen. Über Kopfsteinpflaster holpern sie langsam durch schmale Gassen, vorbei an einem Marktplatz. Unter Platanen und bunten Lichterketten sitzen lachende Paare an Holztischen. Die Wirte nutzen die Kapriolen des Aprilwetters, haben die Terrassen und Bürgersteige bestuhlt. Victoria fährt achtlos vorbei, biegt in eine dunkle Stichstraße ein, die zum Fluß hinabführt. Sie findet eine Parklücke vor einem versteckt liegenden Weinlokal. Es ist kein einladender Ort. Das nichtssagende Haus ist unten in bleichem Grün gekachelt und mit ungelenken Graffitis besprüht. Love sucks. Sie stellt den Motor ab, wendet sich lustlos an ihren Beifahrer. »Der Laden ist ein bißchen runtergekommen, dafür kriegt man einen Platz auf der Terrasse und wird schnell bedient.« »Sie wollen mich also möglichst schnell und billig abspeisen?« »Sie haben gesagt, Sie sind müde und haben keine Lust auf eine lange, anspruchsvolle Unterhaltung. Vergessen?« fragt sie zurück. »Ich frage mich, wie erfolgreich Sie wirklich als Interviewerin sind, oder setzen Sie am liebsten auf die Verhörtaktik im Stil böser Bulle?« Victoria steigt aus, schlägt die Tür energisch zu. »Verzeihung, ich wollte nicht unhöflich sein. Aber«, sie bricht ab. Für einen Moment scheint sie unsicher, setzt neu an, ihr Ton ist nicht verbindlich, aber weicher: »Um ehrlich zu sein, ich bin nervös wegen Rensle. Ich muß wissen, wo ich ihn finde. Mein Job hängt davon ab, und ich brauche meinen Job jetzt mehr, als mir lieb ist.« Raffiniert, denkt Elsner, jetzt versucht sie mit der Mitleidmasche an Informationen zu kommen. »Soso. Ihr Job hängt davon ab. Aber Sie nicht von dem Job, ich meine, ihr Vater ist doch dieser großzügige Mensch, der…« »Jetzt sind Sie nicht nur unhöflich, sondern unverschämt.« »Okay, dann wären wir quitt.« Sie gehen um das Lokal herum, steigen die ausgetretenen Stufen 48
zur Terrasse hinab, finden einen Tisch direkt an der Uferbrüstung. Unter ihnen gurgelt schwarz der Fluß, kleine Wellen schlagen gegen die Kaimauer, die noch die Wärme des Tages verströmt. Elsner nickt anerkennend. »Hier ist es hübscher, als ich dachte. Stimmungsvoll, wenn auch ein wenig melancholisch. Das paßt zu Ihnen.« Victoria schaut ihn überrascht an. »Wie meinen Sie das, es paßt zu mir?« Elsner studiert die Weinkarte. »Sie sehen aus, wie jemand, der Wert auf ein stimmungsvolles Ambiente legt.« Meint er das spöttisch? Er kraust die Stirn. »Allerdings nicht auf guten Wein, ziemlich bescheidene Auswahl.« Er wirft ihr einen übertrieben enttäuschten Blick zu, fügt trocken an: »Aber dafür billig. Was halten Sie von einer Flasche siebenundneunziger Rioja, da kann man nicht viel falsch machen, und dazu eine Platte spanische Tapas. Bin gespannt, was man in Deutschland darunter versteht.« Victoria hebt abwehrend die Rechte. »Ich habe keinen Hunger, und Wein trinke ich nicht.« »Ich denke, darum sind wir hier.« »Sie irren, ich bin nicht deswegen hier.« Sie funkelt ihn an. Er hält ihrem Blick mit freundlichem Gleichmut stand. Sie fühlt sich zu einer Erklärung verpflichtet. »Ich vertrage keinen Alkohol. Wenn ich Wein trinke, neige ich dazu, dummes Zeug zu reden und mich schlecht zu benehmen.« »Noch schlechter als in nüchternem Zustand?« »Könnten wir dieses verbale Ping-Pong bitte lassen?« Sie winkt die Bedienung heran, bestellt den Rioja und Tapas. Als der Wein, das Essen und ein flackerndes Windlicht vor ihnen stehen, wendet sie sich betont sachlich an Elsner. »Also. Ich weiß, daß Elias Rensle heute oder morgen hier einfliegen soll. War er in Ihrem Flieger oder nicht?« Markus nimmt einen Schluck Wein, behält ihn eine Weile genießerisch im Mund, läßt ihn langsam die Kehle hinabgleiten. »Woher wissen Sie überhaupt, daß er kommt?« fragt er. 49
»Ich habe recherchiert. So macht man das als Journalistin.« »Aha. So wie jetzt? Da wundert es mich aber, daß Sie Antworten bekommen. Pardon, kein Ping-Pong mehr. Kommen Sie, trinken Sie einen Schluck. Ich habe vier Stunden Flug aus einer anderen Welt hinter mir und würde gerne in Ruhe ankommen. Mit der Seele, meine ich. Finden Sie nicht auch, daß die ganze Fliegerei der Tod des Reisens ist? Jedermann jettet rastlos durch die Welt, ist in Bewegung und trotzdem unbewegt. Niemand nimmt sich die Zeit, die Fremde zu spüren – oder das Zuhausesein.« Victoria glaubt, daß er sie mit seinem Geplauder hochnehmen will. Kleine Rache für ihr Gouvernantengetue gegenüber Sanchez. Keine Chance, denkt sie und schenkt sich mit großer Gelassenheit ein Glas Wein ein, lehnt sich demonstrativ entspannt zurück. »Na also«, lobt Elsner, »und jetzt müssen Sie es nur noch trinken, und dann können wir uns wie zivilisierte Menschen unterhalten. Mit der Aussicht auf einen ruhigen, glänzenden Fluß. Ist das Leben nicht wunderbar?« Er schweigt und schaut sie an, sie schaut den Fluß an und schweigt auch. Mal sehen, wer das länger durchhält. Sie. Elsner ergreift das Wort. Versager, denkt sie gelangweilt, aber dann horcht sie auf. Irgendwie ist dem Kerl der milde Nachthimmel in die Stimme geraten, sie klingt mit einemmal dunkel und warm: »Nun trinken Sie doch den Wein! Ich bin nämlich interessiert an Ihrem dummen Zeug und an Ihrem schlechten Benehmen. Ich mag es, wenn Frauen sich schlecht benehmen.« Er denkt an ihren einknickenden Rücken, das kaum unterdrückte Schluchzen, diese verlorene Gestalt, die sie für ein paar Sekunden mitten im Flughafengebäude war. Vielleicht liegt es an der Umgebung, dem Fluß, dem Nachthimmel, den lachenden, umschlungenen Paaren, die er vorhin unter den Platanen gesehen hat. Ja, er will wirklich die Wahrheit über sie wissen. Er will wissen, was sich hinter diesem Panzer aus Hochmut und Verachtung verbirgt, welche Gefühle in dieser Frau erstarrt sind, und ob sie wieder lebendig werden, wenn sie ihre Selbstbeherrschung auf50
gibt. »Also?« Er prostet ihr zu. Sein Lächeln ist als vorsichtige Aufmunterung gedacht. Victoria gräbt unter dem Tisch die Fingernägel in ihre Handballen. Der will mich anbaggern, dazu auch noch so plump. Ich möchte ihr häßliches Benehmen kennenlernen. Sehr witzig, an was der dabei wohl denkt? Handschellen und Honigpuder, meldet sich in ihren Gedanken eine höhnische Stimme zu Wort. Victoria wird rot. Zu allem Überfluß knurrt ihr Magen ausführlich. Elsner hält ihr geröstetes Olivenbrot unter die Nase. »Essen Sie lieber erst mal was.« Schroff fährt sie ihn an: »Sagen Sie mir jetzt, wo ich Rensle finden kann oder nicht?« »Trinken Sie.« »Nein.« »Und wenn ich Sie dafür persönlich mit Elias Rensle bekannt mache?« Victoria beugt sich über den Tisch, schaut ihm direkt in seine spöttischen Huskieaugen. Beinahe erschreckt stellt sie fest, daß es ziemlich anziehende Huskieaugen sind. Sie sind auch nicht kalt, sie leuchten nur sehr hell. Wie der Abendstern. Ihr fällt ein Gedicht von Jean Paul dazu ein. Komm liebe müde Seele, die du etwas zu vergessen hast, entweder einen trüben Tag oder ein überwölktes Jahr oder einen Menschen, der dich kränkt, oder einen, der dich liebt… Komm in meinen kleinen Abendstern und erquicke dich an seinem Schimmer. So ein Unsinn. Dazu stimmt in ihrem Kopf jemand einen Strauß51
walzer an. Wie unpassend. Sie zuckt angewidert zurück. Aber das mit den Augen ist der ein oder anderen Frau bestimmt auch schon aufgefallen. Dazu diese Narben auf seiner linken Wange. Sie verleihen ihm etwas Verwegenes. Der könnte in einem Piratenfilm mitspielen. So einer wunderbaren Errol-Flynn-Schnulze, die man sich an einem verregneten Sonntag vom Bett aus anschaut. Im Flauschpyjama und mit einer Großpackung Kokos-MangoPralinen im Schoß oder Kinderschokolade. Unsinn, purer Unsinn. So hübsch ist er nicht, aber er hat etwas, das Frauen auf dumme Gedanken bringt. Vielleicht ist er darum so eingebildet zu glauben, er könne eine Victoria Wohlzogen mal eben im Vorbeigehen vernaschen. »Wann stellen Sie mir Rensle vor?« »Von mir aus morgen.« »Wo? Am Telefon?« »Wo immer Sie möchten.« »Er ist also bereits hier?« Elsner zeigt stumm auf das volle Glas, das sie immer noch in ihrer Hand hält. Ärgerlich führt Victoria es an die Lippen, nimmt einen Schluck, sieht ihm wieder in die Augen. Der nimmt sie nicht für voll. Sie leert das Glas in drei Zügen. Der lächelt immer noch. Sie greift zur Flasche, schenkt nach, stürzt das zweite Glas hinunter. Sie stellt das Glas so heftig ab, daß der Fuß zerbricht, eine Scherbe bohrt sich in ihren Handballen, sofort sickert Blut hervor, immer mehr strömt nach, immer dunkler, ein sprudelnder Quell, der nicht versiegen will. Wie gebannt starrt Victoria auf ihre Hand herab, ihre Gedanken verlieren sich in einem sausenden Wirbel. Die Nacht wird weiß. Das Weiß dehnt sich aus, schiebt sich zwischen sie und den Himmel und Markus Elsner. »Mein Gott« stöhnt sie, dann kippt sie vornüber, ihre Stirn schlägt auf der Tischplatte auf. Victoria ist ohnmächtig, was nicht verwunderlich ist, wenn man Alkohol gewöhnlich meidet, dann auf nüchternen Magen fast ei52
nen halben Liter Rotwein mit dreizehn Volumenprozent kippt, und eins überhaupt nicht ertragen kann – den Anblick von eigenem Blut und sehr hellen Augen.
7
Pflügners Tür ist zu. Seiner aufreizend gutgelaunten Sekretärin Claudia hat er gesagt, er wolle nicht gestört werden. Wie jeden Donnerstagmorgen studiert er als erstes die Klatschzeitungen und Societymagazine. Medienbeobachtung nennt er das. Genußvoll blättert er durch die Hefte. Sein Blick bleibt an einem seitenfüllenden Foto hängen. Es zeigt ein Model am Arm eines alternden Beaus. In der Bildunterschrift ist von Hochzeit die Rede und von Babyglück. Der späte Vater ist Christopher Wohlzogen. Pflügner kaut seine Unterlippe. Das macht er immer, wenn er nachdenkt. Heirat und Babyglück. Im Text neben dem Foto werden Wohlzogens Konzerterfolge, seine ungezählten gescheiterten Beziehungen und seine erwachsene Tochter aus erster Ehe erwähnt. Victoria. Nach ausgiebigem Lob für seine künstlerischen Leistungen wird über Wohlzogens Vermögen und über geänderte Testamente spekuliert. Seine Ex – Vorname Charlotte – wird zitiert: »Ich wünsche ihm alles Glück, das er verdient. Dem Baby natürlich auch, es wird Glück nötig haben.« Geänderte Testamente. Bislang war Victoria seines Wissens die Haupterbin. Aber späte Väter sind unberechenbar. Erst recht an der Seite schwangerer Models. Soviel er weiß, hat Wohlzogen seine Erste verlassen, als das Kind gerade aus den Windeln war. Nicht eben ein Zeichen für väterliche Vernarrtheit. Unangenehme Sache. Sei53
ne Unterlippe schmeckt ihm nicht mehr. Was er jetzt braucht, ist Kaffee. Wie aufs Stichwort meldet sich die Sekretärin. Steht einfach in der Tür. So geht das natürlich nicht. »Ich sagte doch, keine Störungen«, knurrt Pflügner. Claudia überhört das einfach und legt ihm eine Telefonnotiz auf den Tisch. »Das hat mir eben Kröger junior durchgegeben«, sagt sie. Pflügner runzelt verärgert die Stirn. »Was soll das heißen, warum haben Sie ihn nicht durchgestellt?« Claudia setzt eine Unschuldsmiene auf, darin ist sie sehr überzeugend. »Sie sagten doch, keine Störungen.« Pflügner schüttelt unwirsch den Kopf, liest, stutzt. Das gibt es doch gar nicht, diese Klatschblätter scheinen recht zu haben. Kröger teilt ihm mit, daß Papa Wohlzogen plant, seinen Anteil an Radio K. an Kröger senior zurückzuverkaufen. Das heißt, das heißt: Victoria Wohlzogen ist nicht mehr Tochter eines Radioeigners. Vielleicht ist sie nicht einmal mehr Erbin, vielleicht… Claudia unterbricht seine düstere Gedankenkette. »Da ist noch etwas, es geht um diesen Rensle, den Frau Wohlzogen seit gestern so dringend sucht.« Pflügner schaut hoch. »Und?« »Er war eben da.« »Wo?« Pflügner ist aufgesprungen. »Na, beim Pförtner.« »Bei welchem Pförtner?« Claudia legt entspannt die Schultern zurück. »Unserem Pförtner. Er wollte zu Frau Wohlzogen.« Pflügner kommt um seinen Schreibtisch herum, knöpft sein Jackett zu. »Ausgezeichnet. Dann holen Sie die beiden mal herauf.« Claudia macht eine winzige Pause. Diesen Moment will sie ausführlich genießen. An diesen Moment wird sie sich noch Jahre später erinnern wollen. Pflügner spießt sie mit seinen Augen auf. »Geht leider nicht.« 54
»Was heißt das? Sind die beiden schon im Studio? Was fällt der Wohlzogen ein. So ein Megading muß doch erst besprochen werden. Diesen Rensle nehmen wir ins Hauptprogramm. Jetzt ist doch nur Hausfrauenzeit. Los, holen Sie die beiden.« »Ich sagte doch, das geht nicht.« »Warum?« »Frau Wohlzogen ist nicht da.« Pflügner schlägt sich die Hand vor die Stirn. »Klar, vergessen. Sie wird zu Hause sein. Na, dann holen Sie wenigstens den Rensle hoch. Der wird doch jetzt nicht dumm beim Pförtner rumstehen und wie ein Fahrradkurier auf einen Passierschein warten müssen?« Pflügner will sich selbst auf den Weg machen. Claudia kürzt den Weg ab. »Rensle ist nicht beim Pförtner. Er ist wieder gegangen, nachdem Frau Wohlzogens Sekretärin ihm hat bestellen lassen, Frau Wohlzogen sei nicht da und habe die ganze nächste Woche keinen Termin mehr frei. Sie wußte, glaube ich, nicht, wer Herr Rensle ist.« Pflügner prallt zurück, muß sich sammeln, pumpt die Lungen auf. »DAS DARF NICHT WAHR SEIN. SO EIN HAUFEN KULTURBANAUSEN. LASSEN EINEN RENSLE LAUFEN. UND DIESE WOHLZOGEN…« Er holt kurz Luft, sucht nach einem passenden Schimpfwort. Zu dieser ungeheuerlichen Person fällt ihm keins ein. Nur so viel: »Holen Sie sie sofort hierher. Schleifen Sie sie meinetwegen an den Haaren aus dem Bett. Ich will wissen, wie das passieren konnte. Da macht sie einfach einen Termin und erscheint nicht.« »Frau Wohlzogen ist nicht in ihrem Bett. Äh, ich meine nicht zu Hause. Ich habe natürlich sofort angerufen.« Claudia setzt eine sehr besorgte Miene auf und erinnert an eine Krankenschwester am Sterbebett. »Dann versuchen Sie es über die Handynummer.« »Abgeschaltet«, sagt Claudia bedauernd. Es klingt wie: »Herzversagen.« Sie überlegt kurz, legt noch mehr Bedauern in ihre Stimme, macht ein wachsweiches Leidensgesicht. »Vielleicht gehört das 55
jetzt nicht hierher, aber ich glaube, Frau Wohlzogen hat zur Zeit private Probleme. Liebeskummer. Ganz plötzlich. Die Arme. Dieser Ludwig Speer, also ihr Freund, hat sie gestern verlassen.« Ihretwegen. Aber das sagt sie nicht, das genießt sie nur stumm. Genau wie das Bild einer völlig verstörten, ziemlich derangierten und angetrunkenen Victoria, die gestern nacht um eins plötzlich bei Ludwig im Türrahmen gestanden hat. Dem Türrahmen zu seinem Wohnzimmer, in dem Ludwig und Claudia statt einem köstlichen Dessert, sich selber vernaschen. Selbst schuld, wenn Frau Wohlzogen einen Mann wie Ludwig versetzt, der gestern nachmittag mit einem großen Geburtstagsstrauß und einer Einladung zum Mitternachtsdinner im Sender erschienen ist. Und das vergeblich. So einen Mann mußte sie doch trösten. So ein Mann hat Trost verdient. Vor allem, wenn man ihm nach dem Hauptgang die Tatsache serviert hat, daß seine unantastbare Angebetete mit ihm zwar kulturelle Leidenschaften, mit Pflügner hingegen die körperlichen teilt. Gerechtigkeit muß sein. Die Wohlzogens dieser Welt dürfen nicht alles für sich behalten. Verträumt starrt Claudia aus dem Fenster des Chefbüros. Schön diese grauen Kirchturmspitzen im Morgendunst. »HÖREN SIE NICHT, WAS ICH SAGE? Die Wohlzogen kann sich ihre Papiere beim Pförtner abholen, wenn Sie sie nicht in einer Viertelstunde herbeigeschafft haben.« Er dreht sich um, reißt seinen Schreibtischstuhl roh nach hinten. Liebeskummer. Das also auch noch. Nicht nur, daß Victoria sich nie von ihm hat zum Essen einladen lassen, sie hat ihn die ganze Zeit schon mit jemand anderem hintergangen. An der Nase hat sie ihn herumgeführt mit ihrem distanzierten Gehabe. Liebeskummer. Pah, die weiß doch gar nicht, was das ist. »Was machen Sie noch hier? Die Viertelstunde läuft, wenn Sie der armen, liebeskranken Wohlzogen helfen wollen, dann finden Sie sie.« Claudia geht. Victoria suchen? Unsinn. Kaffee holen. 56
Victoria sitzt wieder im Airport-Treff, wieder bei teerschwarzem Kaffee. Alles genau wie gestern. Vielleicht kann sie das Gestern ungeschehen machen, wenn sie so tut, als sei jetzt gestern, also gestern heute. Sie muß sich auf den Job konzentrieren und vergessen, daß es einen Mann namens Markus Elsner gibt. Der hat ja an allem schuld. Sozusagen. Zwei Gran-Canaria-Flieger hat sie heute morgen schon gecheckt. Kein Rensle an Bord. Aber dieser Elsner – Idiot – hat beim Wein doch gesagt, morgen könne er sie mit Rensle bekannt machen. Daran erinnert sie sich noch genau, das war bevor… Schluß damit. Der nächste Flieger kommt in einer Stunde. Sie rührt im Kaffee. Nur nicht an gestern denken. Geht aber nicht, neben ihr liegt eine Ausgabe vom gleichen Magazin, in dem am Morgen Pflügner geblättert hat. Sie hat auch schon darin geblättert und das Foto von Christopher Wohlzogen mit Braut gesehen. So ein Verräter. Sogar den Zeitungen hat ihr Vater es eher erzählt als ihr. Sie nestelt ihr Notebook aus der schwarzen Nylontasche. Das hat ihr bislang immer noch geholfen. 4. April Da sitz' ich also mit einer Beule im Gemüt. Von wegen, wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Wer zu früh kommt, ist noch schlechter dran. Zum Teufel mit diesem Elsner! Hätte ich nur gestern nicht hier am Flughafen gesessen, mir wäre eine Menge erspart geblieben. Okay, für die Sache mit meinem Vater kann er nichts. Dafür, daß er verflucht gut aussieht aber auch nicht. Dazu der blöde Wein und seine dummen Lügen über seinen ›Freund‹ Rensle… Ich wette, der kennt den gar nicht, der wollte mich nur … und wahrscheinlich hat er das sogar geschafft. Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht! Aufgewacht bin ich gestern gegen Mitternacht jedenfalls in einem Hotelzimmer. Und was für einem. 380 Mark die Nacht. Ich nehme an, dieser Schnorrer Elsner hat auch noch geglaubt, ich zahle dafür, daß er mich flachlegt. Oder flachgelegt hat. 57
Ich weiß es nicht. Immerhin lag ich auf dem Bett und seine Klamotten daneben, und ich war fast nackt. Bis auf den Mullverband an meiner Hand und die Unterwäsche. BH und Slip. Ausgerechnet diese Snoopyhöschen von H&M, die ich mir in meinem Anfall von Jugendwahn am Geburtstag gekauft habe. Und im Bad summte und pfiff einer – wer wohl – ›Eine kleine Nachtmusik‹. Proletenversion. Der Kerl ist so was von ekelerregend, und pfeifen kann er auch nicht. So was kann man gar nicht mögen. Wenn ich das Steffi je erzähle, wird sie mich nie mehr ernst nehmen. Herrje! Steffi! Das auch noch. Wegen diesem verfluchten Elsner habe ich sie gestern gar nicht mehr vor Sancho Pansa beschützt. Ich bin gleich raus aus dem Bett, bevor der Ladykiller wieder aus dem Bad aufgetaucht ist. Ich habe mir seine Hose und sein Hemd gegriffen und bin im Taxi zu Ludwig gefahren. Barfuß! Der verhinderte Kanarienvogel aus dem Bad hatte mit meinen Kleidern und Schuhen Verstecken gespielt, nur meine Tasche und das Geld hatte er sich noch nicht unter den Nagel gerissen. Bei Ludwig kam ich weder zu früh noch zu spät an, sondern eher so mittendrin. Claudia hatte jedenfalls noch deutlich mehr als ihre Unterwäsche an. Unter anderem ein beneidenswertes Seidenhemdchen von La Perla – seufz. Ehrlich gesagt, finde ich das mit der besseren Unterwäsche schlimmer als die Sache mit Ludwig. Soll sie ihn ruhig haben, so einer ist mich gar nicht wert. So einen finde ich jederzeit wieder. Diese Claudia hält die Toccata von Bach doch für ein Spaghettigericht und Vivaldi für einen italienischen Modedesigner. Egal, muß dringend Steffi anrufen, bevor es da auch zum Äußersten kommt. Victoria zögert kurz, schaut auf den Bildschirm, klickt auf ›Speichern‹. Die Sache mit Stefanie kann nicht warten, entscheidet sie. Sie gräbt in ihrer Tasche nach dem Handy, stellt auf Empfang. Eben will sie Stefanies Nummer eintippen, als es klingelt. »Ja«, meldet sie sich so genervt, wie es eben geht. Der Mann am anderen Ende ist ihr im Genervtsein über. Seine 58
Stimme steht auf Sturm, Windstärke zwölf. Es ist Pflügner. »Was fällt Ihnen eigentlich ein?« braust er los. »Sie erscheinen einfach nicht im Büro, stellen das Handy aus, und derweil geht Rensle uns durch die Lappen. Das hat Folgen, das verspreche ich Ihnen. Hier weht ab jetzt ein ganz anderer Wind.« »Herr Pflügner, es ist zehn Uhr, mein Job fängt gewöhnlich um vier an, was soll der Aufstand? Außerdem bin ich gerade am Flughafen, um Rensle abzufangen.« »Das ist ja wohl der Gipfel. Wenn Sie glauben, daß ich Ihnen das abkaufe, nachdem Sie alles vergeigt haben, haben Sie sich geschnitten, und das nur wegen einer blöden Affäre. Meine Sekretärin hat mir von diesem angeblichen Liebeskummer erzählt. Sie und Liebeskummer, daß ich nicht lache. Außerdem ist ein Ludwig kein Grund, seinen Job zu vermasseln und Rensle zu verpassen. Sie sollten sich wirklich zusammenreißen, jetzt, wo Ihr Vater sich aus dem Sender zurückziehen will.« Die Stimme hat jetzt Orkanstärke und Victoria keine Lust mehr. Sie drückt die Taste mit dem roten Hörersymbol, das Leuchtdisplay wird dunkel. Ende. So was muß sie sich nicht bieten lassen. Nichts hat sie vermasselt, und Liebeskummer hat sie schon gar nicht. Und das mit ihrem Vater, sie schluckt, geht niemanden etwas an. Sie steckt das Handy ganz tief in die Tasche. Es klingelt wieder. Soll es doch. Sie nimmt einen Schluck Kaffee, verzieht den Mund, legt die Finger wieder auf die Tasten vom Notebook. Die Finger zittern ein wenig, muß am Kaffee liegen. Na, prachtvoll. Jetzt droht Pflügner mit Kündigung, weil Papa seine Senderanteile verkaufen will. Seit gestern bin ich so gut wie völlig enterbt wegen eines Embryos, meine monatliche Zuwendung ist gestrichen, außerdem wurde ich von einem Kanarienvogel geschändet. Mit mir nicht. Pflügner wird sich noch umschauen, ich krieg' diesen Rensle, und dann verticke ich das Interview an den Meistbietenden. Hier geh' ich nicht weg, bis der Kerl auftaucht, und danach nehme ich mir Elsner vor. Wenn der mich auch nur mit dem kleinen Finger an59
gerührt hat, dann… Eine Hand legt sich sanft auf ihren Arm. »Ich habe dich schon überall gesucht, wo warst du denn gestern plötzlich? Ich habe im Bad die Blutflecken aus deinen Sachen ausgewaschen, während du geschlafen hast. Hier, ich hab' sie mitgebracht, fast sauber.« Victoria zuckt zusammen, klappt rasch das Notebook zu. Es fiept gefährlich, so behandelt man einen Computer nicht. Sie springt auf und wirbelt so heftig herum, daß sie dabei die Kaffeetasse vom Tisch fegt; sie zerklirrt am Boden. »Vorsicht. Du willst dich doch nicht schon wieder verletzen«, sagt Markus Elsner lächelnd und schiebt mit dem rechten Fuß die Scherben zur Seite. »Obwohl ich deine kleine Ohnmacht von gestern ausgesprochen rührend fand. Du kannst kein Blut sehen, oder?« »Was wollen Sie hier?« Victoria packt ihr Notebook ein, rüstet sich zu einem raschen Rückzug. Elsner verstellt ihr den Weg, sie setzt sich wütend wieder hin. »Hast du das etwa vergessen? Ich habe versprochen, dich mit Elias Rensle bekannt zu machen. Und ich halte meine Versprechen, vor allem, weil du ein braves Mädchen warst und den Wein getrunken hast. Danach warst du allerdings nicht mehr so brav.« Victoria unterbricht ihn schroff, ihr Puls rast, schnell hebt und senkt sich ihre Brust. »Ich will das nicht hören, Sie Schlammaal. Mich in dieser Situation auszunutzen.« »Ausnutzen? Ich verstehe dich nicht.« Er runzelt die Stirn. »Ach ja? Wissen Sie, was das war, was Sie gestern gemacht haben? Eine Vergewaltigung.« »Was?« »V-E-R-G-E-W-A-L-T-I-G-U-N-G«, buchstabiert Victoria so laut und so deutlich, daß sich im Airport-Treff alle Köpfe drehen. Soviel freimütige Bekennerwut kennt man aus nachmittäglichen Talk-Shows, aber live ist das viel besser. Victoria wird rot und senkt die Stimme; ihre Wut ist unvermindert. »Ich hätte es mir natürlich denken müssen, was für einer Sie 60
sind. Mit so einem … einem … Verbrechergesicht.« Sie deutet auf die Narben. »Hoffentlich war das eine Frau, und hoffentlich hat es sehr weh getan.« Elsners Gesicht wird hart. Er richtet sich auf und schaut ihr direkt in die Augen. Das Grau seiner Iris leuchtet nicht wie gestern, es brennt und ist zugleich eiskalt. Victoria sinkt ein wenig in sich zusammen. Zweifel steigen in ihr hoch und das Bild einer Frau in nagelneuer, unberührter Snoopywäsche. Die Frau ist sie; sieht nicht direkt nach Vergewaltigung aus. Das Handy in ihrer Tasche klingelt wieder. Elsner räuspert sich kurz. »Vergewaltigung? Du, nein, kehren wir angesichts eines solchen Vorwurfs lieber zum Sie zurück. Sie reden Unsinn und noch dazu, ohne betrunken zu sein. Sie haben sich förmlich in meine Arme geworfen, als Sie im Hotelzimmer wieder zu sich kamen. Sie haben geweint, geheult wie ein Schloßhund. Ich habe Sie verbunden, und Sie haben mir die Geschichte von Ihrem Vater erzählt. Sie waren traurig, verletzt und…« »Sie haben das ausgenutzt. Das macht die Sache nur noch erbärmlicher. Ich habe Ihnen gesagt, daß ich Alkohol nicht vertrage und Unsinn erzähle, wenn ich trinke. Ich war nicht bei Verstand. Wie konnten Sie mich…« »Ich habe nicht.« Diesmal unterbricht Victoria ihn nicht. Diesmal zieht sie einfach das klingelnde Handy aus der Tasche und meldet sich. Lieber mit Pflügner streiten als mit diesem widerlichen, schamlosen Dreckskerl. »Hallo?« Sie schreit in den Hörer. »Hallo, Süßes. Mutter hier. Sprichst du wieder mit mir? Ich habe Neuigkeiten.« »Falls du die Sache mit Vater meinst, die Nachricht kenne ich schon. Er hat es mir gestern abend gesagt, außerdem steht es heute in den Zeitungen. Hoffentlich freust du dich, daß du recht gehabt hast.« Am anderen Ende wird kurz geschwiegen. Elsner beugt sich vor, um etwas zu sagen. Victoria dreht sich weg. Ihr Rücken ist wieder verdammt schmal geworden. 61
Ihre Mutter redet weiter: »Liebling, tut mir leid, ich wollte es dir gestern sagen. Schwamm drüber, wir geben dein Erbe nicht kampflos auf, falls er wirklich alles dieser schwangeren Bohnenstange vermachen will. Notfalls gehen wir vor Gericht. Nimm am besten den nächsten Flieger.« »Ich will nicht nach Gran Canaria, und ich will nicht vor Gericht. Ich brauche Papas Geld nicht, hörst du? Ich will es nicht, ich will auch keine Geschenke mehr von ihm. Ich habe immer mein eigenes Geld verdient, und das werde ich weiterhin tun. Ich brauche niemanden.« »Aber dein Gehalt bei diesem Radio ist doch lächerlich gering. Viertausend brutto oder? Kulturradio lohnt sich eben nicht, und du wirst nicht jünger.« Victoria beißt sich auf die Lippen. Stimmt. Mehr noch, sie hat demnächst nicht einmal mehr die viertausend. Sie sackt in sich zusammen, macht eine kurze Pause, dann zieht sie verzweifelt den Atem ein und sagt: »Wenn ich nur diesen verfluchten Rensle kriegen würde. Mit so einem Interview könnte ich eine Menge verdienen und mir einen Namen machen.« Ihren eigenen Namen, nicht mehr nur die Tochter von Christopher Wohlzogen sein. Markus Elsner streckt die Hand nach ihrem rechten Schulterblatt aus. Sie schüttelt ihn ab, hält kurz die Hand vor den Hörer. »Sie brauche ich dabei zuallerletzt«, zischt sie, dann wendet sie sich wieder ihrer Mutter zu. »Das kann ich mir kaum vorstellen«, flüstert Elsner. Victoria lauscht in den Hörer, schnellt hoch wie ein Springteufel. »Was?« schreit sie so laut, daß der gesamte Airport-Treff aufhorcht. »Du hast ihn? Du hast Rensle gefunden? Er kommt heute abend zu dir? Halt ihn fest, laß ihn nicht weg, Mutter. Wie? Von mir aus tanze Walzer mit ihm bis zum Morgengrauen. Dir fällt schon was ein. Ich komme mit dem nächsten Flieger, heute noch… Da kannst du dich drauf verlassen, daß ich einen Platz kriege. Ich bin ja nicht 62
irgendwer, sondern…« Sie unterbricht sich erschrocken, beinahe hätte sie es selbst gesagt: die Tochter von Christopher Wohlzogen. Na ja, gerade noch gerettet. »Tschüs Mutter. Ich ruf dich an, sobald ich auf der Insel gelandet bin. Wenn es später wird, nehme ich mir ein Taxi bis Fataga. Halte nur Rensle fest. Hasta la vista.« Sie stopft das Handy in die Tasche, verstaut ihr Notebook. Elsner starrt sie an. »Rensle? Was, was war das denn?« »Das war kein was, das war meine Mutter. Sie hat Rensle für mich aufgetrieben. Auf Gran Canaria. Ich brauche Sie also nicht länger, Sie Schwindler, Sie hundsgemeiner Hochstapler.« »Und Vergewaltiger, vergessen Sie das nicht«, wirft Elsner trocken ein. Sein Gesicht wirkt seltsam nachdenklich und ein wenig amüsiert. »Ich will Sie nie wiedersehen. Gehen Sie zur Hölle«, empfiehlt Victoria, dreht sich um, läuft los; Richtung Last-minute-Schalter.
8
Fünf Stunden voller Wut und eiserner Entschlossenheit liegen hinter ihr. Jetzt steht Victoria vor dem letzten geöffneten Wechselschalter in der Gepäckhalle von Gando, dem Flughafen Gran Canarias. Eine gelangweilte Lautsprecherstimme heißt die Passagiere von Flug 3413 willkommen. Victoria hat noch den Kerosingeruch vom Rollfeld in der Nase, und obwohl die Halle klimatisiert ist, glaubt sie die vibrierende Wärme der kanarischen Nacht zu spüren, die sie beim Ausstieg aus der Maschine umhüllt hat. Seither hat sie ein wenig von ihrer Energie und Selbstgewißheit verloren. Die ganze Aktion kommt ihr plötzlich wie eine alberne 63
Flucht vor. Irgend etwas Schwermütig-Deutsches von Brahms klingt in ihrem Kopf an. Nur das nicht! Das ist albern und hier völlig unpassend, auch wenn Brahms ihr Lieblingskomponist ist. Victoria summt dagegen an. ›Viva España‹. Das ist noch alberner. Ärgerlich verstummt sie. Hinter ihr läuft ruckend ein Gepäckband an. Während eine lächelnde Spanierin ihr Peseten hinzählt, blickt sie sich um. Touristen in Sommerkleidung versammeln sich um das Rollband, zerren Gepäcktrolleys auseinander, um ihre Kofferungetüme drauf zuhieven. Golfschläger, Buggies, sogar Surfbretter zwängen sich durch den geschlitzten Plastikvorhang der Kofferschleuse. Beim Anblick des kunterbunten Urlaubsgepäcks kommt Victoria sich noch verlorener vor und unangemessen melodramatisch. Sie reist mit denkbar leichtem Gepäck, nichts außer Notebook und Handtasche hat sie dabei. Und ich muß froh sein, daß ich überhaupt noch etwas habe, denkt sie, während sie die Wechselquittung für fünfundzwanzigtausend Peseten studiert. Sie versucht, sich an ihren letzten Kontoauszug zu erinnern. War irgend etwas im Minusbereich, und ihre Geburtstagseinkäufe waren noch nicht einmal abgebucht. Verschwendung könnte ihr zweiter Vorname sein. Plötzlich scheint es ihr von bedrückender Symbolkraft, daß sie nur die Kleidung, die sie am Leib trägt, dabei hat. Sie wendet sich mit gerunzelter Stirn wieder der Theke zu, greift nach den sorgsam hingefächerten Pesetenscheinen. »Gracias.« »De nada! Adios.« Das unverbindliche Lächeln der Spanierin tut gut. Während Victoria den Zoll passiert, überschlägt sie die Kosten für ein Taxi nach Fataga. Eine völlig neue Rechenaufgabe, über so etwas Kleinliches hat sie sich früher nie Gedanken gemacht. Die elektronischen Schiebetüren gleiten auseinander, sie durchquert die Halle; drängelt sich an TUI- und Neckermann-Hostessen vorbei, die gekommen sind, um ihre touristischen Schäfchen einzusammeln. 64
Vor der Ankunfthalle empfangen sie wieder Nachtwärme und die Dieselabgase der wartenden Transferbusse. Fast sehnsüchtig betrachtet sie die Busflotte, wäre schön, sich jetzt einfach in einen der Polstersitze zu lehnen und die Verantwortung abzugeben. Sie kämpft sich zwischen den brummenden und schnaufenden Ungetümen zu den Taxis durch, winkt, wartet. »Victoria.« Sie fährt herum. »Was machen Sie hier?« fragt sie aufrichtig empört. »Ich lebe hier, vergessen?« »Warum haben Sie denn Ihr ganzes Gepäck in Deutschland gelassen?« »Das gleiche könnte ich Sie fragen. Wollen Sie nicht wenigstens die Sachen nehmen, die ich für Sie ausgewaschen habe?« Markus Elsner hält ihr einen Plastikbeutel hin, er trägt das Logo von dem Hotel, in dem sie gestern aufgewacht ist. Darin stecken ihr elegantes Kostüm und die Bluse von gestern. Victoria starrt ihn mißtrauisch an, weist gleichzeitig die Plastiktüte mit ihren Sachen zurück. Die kann er behalten, ist ja ekelhaft, daß er damit rumgemanscht hat. »Sie sind mir doch nicht etwa nachgeflogen, um mir eine Tüte mit schmutzigen Sachen zu überreichen?« »Natürlich nicht. Die Sachen sind sauber«, beantwortet Elsner ihre Frage. »Ich hatte außerdem die Nase voll von Deutschland. Ich gehöre dort einfach nicht hin. Zuletzt war ich vor fünf Jahren dort.« »Keine Lebensbeichten bitte.« Sie beugt sich vor, um die Tür des Taxis zu öffnen, das eben vor ihr abbremst. Elsner legt seine Hand auf ihren Arm. Er schüttelt den Kopf in Richtung des Taxifahrers, der ausgestiegen ist, um Victoria die Beifahrertür zu öffnen. Mit einem Achselzucken steigt er wieder in sein Auto, fährt weiter. »Was soll das?« Victoria runzelt die Stirn. »Ich kann Sie mitnehmen«, sagt Elsner. »Mein Auto steht da hinten auf dem Parkplatz. Kein Mercedes Cabrio, sondern ein schäbiger Pick-up, aber dafür transportiere ich Sie kostenlos. Wo wollen Sie hin?« 65
Victoria setzt zu einer unfreundlichen Antwort an, als wieder jemand ihren Namen ruft. »Victoria? Victoria Wohlzogen?« Die Stimme kommt von rechts. Sie dreht ihren Kopf. Der Mann, der sie anspricht, ist ihr fremd, aber auf Anhieb angenehm; schon weil er einen deutlichen Kontrast zu Elsner in seinen verwaschenen Jeans bildet. Der Fremde muß Mitte oder Ende Dreißig sein, trägt einen dunklen Abendanzug. Seine exakt geschnittenen, blonden Haare heben sich leuchtend davon ab. Sein Gesicht ist glatt, dezent gebräunt und gut rasiert. Ein wenig wirkt er, als sei er einer anderen Welt entstiegen, einer Filmwelt. Der von den Comedian Harmonists etwa, ein wenig altmodisch und vielleicht einen Tick zu eitel sieht er aus. Aber dazu hat er Grund. Er ist so gepflegt, daß Victoria erst auf den zweiten Blick feststellt, wie gut er wirklich aussieht, ein jungenhafter Typ. Jetzt steht er vor ihr. »Gestatten? Ihre Mutter schickt mich, um Sie abzuholen.« Er streckt eine Hand vor. Bemerkenswert schlanke Finger, denkt Victoria, fast schon Pianistenhände. Sie mag musikalische Hände und reicht ihm ihre Rechte; er drückt sie, dann nimmt er ihr das Notebook ab. »Der Wagen Ihrer Mutter steht gleich da drüben. Im Halteverbot, besser wir beeilen uns.« »Moment mal«, mischt sich Elsner ein. Er sieht wütend aus, wie Victoria mit Befriedigung feststellt. Wahrscheinlich hat er selbst Vergleiche zwischen sich und dem Fremden angestellt. Elsner schiebt sich zwischen Victoria und ihn. »Wer sind Sie überhaupt?« Der Fremde lupft die rechte Augenbraue, als ärgere er sich über ein lästiges Insekt und sieht gelungen blasiert aus. Victoria klatscht innerlich Beifall. Recht so. »Pardon«, sagt ihr neuer Schwarm, »ich vergaß, mich vorzustellen. Rensle ist mein Name. Elias Rensle.« Er hebt ein wenig das Kinn, so als wolle er über den unbedeutenden Elsner hinwegschauen, was ihm nicht gelingt, da dieser ihn um Haupteslänge überragt. Elsner scheint eine Sekunde lang gegen ein Staunen anzukämp66
fen. »Rensle?« Victoria schiebt ihn beiseite. »Ja, Rensle. Sie haben richtig gehört, und jetzt verschwinden Sie, Sie Betrüger. Von wegen, Sie kennen ihn, ha!« Sie lächelt ihren Abholer hoheitsvoll an, jeder Zoll eine Königin. »Ich freue mich so sehr, Sie kennenzulernen. Ich liebe Ihr Buch, Ihre Arbeit ist faszinierend. Sie können sich gar nicht vorstellen, wieviel mir das bedeutet.« »Ganz meinerseits«, antwortet der blonde Mann. »Ihre Mutter hat Sie mir beschrieben und mir ein Foto gezeigt, aber in Wirklichkeit sind Sie noch attraktiver. Ich mußte Sie einfach abholen. Kommen Sie.« Er wendet sich zum Gehen. Victoria will ihm folgen. Fast roh reißt Elsner sie zurück. Er schaut sie eindringlich an. »Sie wollen doch nicht etwa mit einem völlig Fremden in ein Auto steigen?« fragt er flüsternd. »Fremd? Ihnen vielleicht, mir nicht. Das ist Elias Rensle, Autor von ›Eine kleine Geschichte der Erde‹, und Sie sind nur ein Aufschneider. Hätte ich mir gleich denken können, daß einer wie Sie mit so jemandem nicht befreundet sein kann.« Elsner richtet sich auf. »Da haben Sie ausnahmsweise recht. Mit diesem gelackten Kerl vom Schlage eines Stehgeigers würde ich mich tatsächlich nicht anfreunden.« Victoria fletscht beinahe die Zähne als sie antwortet. »Stehgeiger? Typisch, kaum begegnen Sie einem begabten Menschen von kultivierter Erscheinung, werden Sie grob. Lassen Sie mich los, Sie narbengesichtiger Gorilla vom Schlage eines Holzfällers.« Er läßt sie so plötzlich los, daß sie stolpert und nur mühsam das Gleichgewicht halten kann, dann dreht er sich um und geht. Gorillarücken, denkt Victoria triumphierend. Dann folgt sie dem blonden Rensle, der aus ein paar Metern Entfernung zu ihr herüberwinkt. Sie ist kaum vier Schritte gegangen, als ihre Wut sich auflöst und dem Gefühl maßloser Überraschung Platz macht. Rensle! Wie einfach das war. Sie hat Elias Rensle tatsächlich gefunden. Na ja, eigentlich hat ihre Mutter ihn gefunden, aber egal, jetzt ge67
hört er ihr, jetzt kann sie wieder aufatmen. Der scheue, aber galante Rensle mag sie, Victoria Wohlzogen. Ihrer Karriere als freier Journalistin steht nichts mehr im Wege. Im Gegenteil, sie wird die neue Berufslaufbahn mit einem Paukenschlag beginnen. Eine Menge Leute werden aufhorchen. Erst recht die Pflügners und Krögers ihres vergangenen Lebens. Noch zwei Schritte bis zum Auto und ihrem ersten, ureigenen Triumph. Fühlt sich phantastisch an. Eine jubilierende, etwas leichtfertige Mozartsonate wäre die richtige Untermalung für ihre Stimmung. Sie bleibt stehen, ihre beschwingte Fröhlichkeit ebenfalls. Das mit dem narbengesichtigen Gorilla hätte sie nicht sagen sollen, meldet sich ihr Gewissen. Gorilla, nun gut, aber narbengesichtig? Vielleicht macht das selbst einem grobschlächtigen Kerl wie dem etwas aus. Unsinn, beruhigt sie sich und steigt in den Wagen ein. Der weiß bestimmt genau, daß diese Narben ihn für Frauen attraktiv machen. Manche Frauen. Frauen, die noch an das Märchen vom kernigen Naturburschen mit Herz und Schulter zum Anlehnen glauben. Sie schnaubt leise. »Haben Sie etwas gesagt?« fragt ihr Nebenmann und wendet sich ihr mit charmantem Lächeln zu, während er den Zündschlüssel ins Schloß steckt. »Nein, nichts. Ich habe nur über etwas nachgedacht.« »Hoffentlich über mich.« So eine Vorlage kann sie sich nicht entgehen lassen. »Ich denke seit Tagen nur über Sie nach. Sind Sie bereit, mir ein ausführliches Interview zu geben? Millionen Leser warten darauf.« Der blonde Rensle schaut in den Seitenspiegel und lenkt den Wagen aus der Parklücke, reiht sich in die Schlange der abfahrenden Busse ein. »Ich werde es mir überlegen. Schließlich wäre es mein erstes Interview. Ich will mir sicher sein, daß Sie die Richtige für mich sind.« Er schaut sie verbindlich von der Seite an. Verbindlich? Victoria hat im ersten Moment an ein anderes Adjektiv als verbindlich gedacht. 68
Ach was, schilt sie sich und will es verdrängen, aber da hüpft es wieder hoch, kämpft sich an die Oberfläche ihres Gedankenflusses. Das Adjektiv lautet anzüglich. »Dieser verfluchte Elsner«, knurrt sie. »Wie bitte?« »Ach nichts, nur dieser Kerl von eben. Sie wissen gar nicht, wie froh ich bin, daß Sie mich von ihm befreit haben. Er hat so eine Art mit Frauen umzugehen, so ungehobelt und verlogen, daß man an allen Männern zu zweifeln beginnt.« »Hoffentlich nicht auch an mir«, bemerkt der Mann auf dem Fahrersitz und gibt, als sie die Auffahrt zur Autobahn erreichen, Gas. Die Lichter der Straßenbeleuchtung beginnen zu flitzen, die Leitplanken verwandeln sich in ein sausendes weißes Band. »Nein, an Ihnen zweifle ich nicht. Übrigens, ist Rensle eigentlich Ihr richtiger Name?« Der Fahrer wirft ihr einen leicht alarmierten Blick zu. Victoria lacht auf. »Schauen Sie nicht so erschrocken, schließlich weiß alle Welt, daß Elias Rensle nur ein Pseudonym sein kann. Ich meine, Elias, daran kann man doch fühlen. Das soll doch alias heißen, oder?« Der Mann am Steuer wirft den Kopf zurück und lacht. »Sie sind nicht nur hübsch, sondern auch clever. Ja, natürlich ist Rensle ein Pseudonym. In Wirklichkeit heiße ich Michael. Michael Harder. Gestatten Sie ein zweites Mal?« »Michael Harder«, sagt Victoria und lehnt sich in den weichen Sitz zurück. Sie fühlt sich mit einemmal sehr schläfrig. »Das ist ein schöner Name. Warum haben Sie den nicht benutzt?« »Das ist eine lange Geschichte. Zu lang für den heutigen Abend. Sie sind müde, schlafen Sie ruhig. Bis zum Haus Ihrer Mutter brauchen wir mindestens eine Stunde, die Gebirgsstraße nach Fataga ist kurvenreich. Gott sei Dank haben wir heute fast Vollmond. Sehen Sie, da über der Bucht.« Er deutet auf den weißen Mond, der wie eine Laterne am Himmel hängt. »Ganz hübsch«, antwortet Victoria und gähnt wohlig. »Für einen naturkundigen Mann wie Sie ist der Weg nach Fataga wohl kein Pro69
blem.« »Nein, ich kenne jeden Winkel dieser Insel. Sind ziemlich herbe Ecken dabei, nicht jedermanns Sache. Ihre Mutter hat mir erzählt, daß Sie es hassen, hierher zu fahren und kaum etwas von der Insel kennen.« »Ich halte das für keinen großen Verlust«, sagt Victoria müde. »Schauen Sie doch nur da links das hellbeleuchtete Zementwerk. Direkt am Meer, schauderhaft.« »Man braucht auch Zement zum Leben«, sagt Harder lächelnd, »und die Sippe, der dieses Zementwerk gehört, zählt zu den reichsten Familien der Insel. Der Besitzer heißt im Volksmund pequeño conde, der kleine Graf. Sein Sohn, Sanchez Pardenes, ist einer unserer begehrtesten Junggesellen, fast so eine Art Kronprinz.« Bei dem Namen Sanchez horcht Victoria kurz auf und denkt an Stefanies Bauarbeiter. Unsinn, schilt sie sich, wahrscheinlich heißt die Hälfte der männlichen Bevölkerung hier Sanchez. In abfälligem Ton sagt sie: »Eine Monarchie der Betonköpfe regiert also die Insel. Kein Wunder, daß eine Bettenburg neben der anderen steht. Ich frage mich, warum die Touristen nicht gleich Ferien in ihrem örtlichen Waschbetonghetto mit angeschlossenem Sonnenstudio machen. Etwa in Berlin-Marzahn oder Köln-Chorweiler.« »Nanana, Sie sind aber ausgesprochen ungerecht. Es ist doch sehr gut, daß Urlauber hier an einem Ort alles finden, was sie brauchen, und die Kanarier keine Angst haben müssen, daß man ihnen ihre Insel wegnimmt, wie etwa Mallorca. Viele der Hotels sind erstklassig.« »Ja, und anheimelnd wie die Zementwerke.« »Sie irren sich. Sanchez Pardenes etwa plant eine ökologisch und architektonisch geradezu revolutionäre Anlage bei Mogan. Er engagiert sich auch für die Wiederaufforstung. Aber die Hotels sind nicht alles, was Gran Canaria zu bieten hat. Denken Sie nur an die herrlichen Dünen von Maspalomas, die Steilküsten im Norden, das Meer oder das Tal der Palmen von Fataga. Sie müssen die Insel kennenlernen.« »Nicht heute«, sagt Victoria schläfrig. 70
»Würde etwas Musik Sie von Ihren unfreundlichen Gedanken befreien?« Er schiebt eine Kassette in den Schacht. Ein Sampler im Stil von ›Feuerwerk der Klassik‹. Etwas gewöhnlich für Victorias Geschmack, außerdem nicht ganz passend, aber immerhin. »Sie lieben Klassik, hat Ihre Mutter gesagt?« »Ja.« »Ich auch.« Das klingt fast ein wenig triumphierend. Victoria wirft ihm einen prüfenden Blick zu, dann sieht sie die Pianistenhände am Lenkrad. Die sind wirklich schön. Michael Harder schwärmt im Plauderton vom Hotel Paradiso in San Agustin, von atemberaubenden Terrassen, die in die Klippen gehauen sind und einer Pianobar mit Meeresblick. Er denke dabei jedesmal an die Mondscheinsonate. Wie originell, denkt – wieder ganz die Zynikerin – Victoria, und hört nicht mehr hin. Von der Schnellstraße gleitet sie sanft in einen Traum hinüber. Ein wirrer Reigen unverständlicher Bilder wirbelt in ihrem Kopf. Eines wird immer plastischer. Darin wiegt Pflügner rotgesichtige Babys, die seine Sekretärin Claudia von einem rollenden Gepäckband aufliest. Stefanie winkt Flugzeuge ein, die ein grimmiger Markus Elsner und Copilot Sanchez im Sturzflug landen. Charlotte Wohlzogen singt dazu über Lautsprecher das Forellenquintett, immer die erste Zeile, als habe sie einen Sprung. Auf dem Rollfeld findet Victoria sich selber wieder. Sie sitzt neben ihrem Vater an einem Konzertflügel. Heißer Turbinenwind bläst mächtig von vorne. Der Vater hebt seine Hände, schlägt die Tasten an. Wie eine Statue sitzt er da, der Wind bewegt ihn nicht. Victoria pustet er fast um, sie will sich am Klavier festklammern, streckt ihre Hände vor. Die bluten. Panisch wendet sie das Gesicht dem Vater zu, der schaut zurück und ist Markus Elsner, ein Holzfäller mit Ausrüstung. Ein Beil hat er auch dabei. Aha, schließt die Traum-Victoria mit glasklarer Logik, der war das mit meinen Händen, aber da sind die Hände schon wieder heil. Elsner grinst, aus den Narben seiner linken Gesichtshälfte ranken Rosen. 71
Nur weg von seiner Seite. Sie drückt ein Fußpedal am Flügel, der rollt auch los, gewinnt rapide an Geschwindigkeit, rast übers Rollfeld direkt aufs brüllende Meer zu. Elsner kippt von der Klavierbank. Die Rollen unterm Flügel schlagen Funken auf dem Asphalt, Flammen schießen aus den Tasten. Elsner rennt hinter ihr und dem brennenden Instrument her. Er schwingt sein Beil und ruft: ›Fliegen Sie. Sie können es.‹ Michael Harder hat die engsten Kehren der Bergstraße bewältigt. Die wenigen Lichter Fatagas liegen hinter ihm. Jetzt noch ein kurzes, gerades Stück bergan, vorbei an der alten Wassermühle, dann haben sie es bald geschafft. Er riskiert einen Blick auf seine schlafende Beifahrerin. Der flattern die Augenlider. Sie atmet in schnellen Stößen, der Mund ist leicht geöffnet. Seltsam, denkt Harder, muß völlig überanstrengt sein. »Sie braucht ein bißchen Spaß und Abwechslung; muß einen traumatischen Schock verarbeiten«, hat ihre Mutter gesagt; muß wohl stimmen. Meine Güte, jetzt rollt sie unter geschlossenen Lidern sogar mit den Augäpfeln. Vielleicht ist sie sogar ein wenig plemplem. Er kann nicht wissen, daß Todesangst das Blut durch die Adern der Träumenden jagt und ihr Herz schneller pumpen läßt. Harder findet nur, daß sie in wachem, gefaßtem Zustand erheblich attraktiver ist. Wenn sie auch nicht sein Typ ist. Herbe Blondinen lassen ihn gemeinhin kalt, er mag dunkelhaarige Frauen, den südländischen Typ. Frauen wie seine Verlobte Juana. Nicht umsonst lebt er hier auf Gran Canaria. Immerhin sieht diese Victoria gut genug aus, um die Sache zu einem Vergnügen zu machen, abgesehen von dem, was dabei für ihn herausspringt. Seine künstlerische Laufbahn erinnert zur Zeit gefährlich an eine finanzielle Sackgasse. Er hat sich zu lange auf seinem Anfangserfolg ausgeruht und ihn im vergangenen Jahr zu ausgiebig begossen. Grinsend zitiert er im stillen Karl Valentin: Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit. Da kommt ihm Charlottes Tochter gerade recht. Vielleicht sollte er sich intensiver mit ihr beschäftigen als geplant. 72
Soll sie ihr Interview doch kriegen. Wird ihm nicht schwerfallen. Könnte Schwung in sein Leben bringen. Wenn er nur an die Kontakte denkt, die eine Wohlzogen haben muß. Ja, er sollte sich ihr intensiv widmen. Er setzt den Blinker. »Halt! Sofort anhalten!« herrscht ihn plötzlich von rechts seine schlafende Beifahrerin an. Vor Schreck steigt er heftig in die Bremsen. Zu heftig, das Auto kommt mit quietschenden Reifen zum Stehen, Victorias Körper schnellt nach vorn, wird vom Gurt hart zurück- und aus dem Schlaf gerissen. »Verdammter Idiot«, faucht eine bemerkenswert wache und bemerkenswert schlecht gelaunte Victoria in seine Richtung. Also so was, empört sich Harder. Am Flughafen hat sie ihn angehimmelt wie einen Boygroup-Star, und jetzt schnauzt sie ihn an wie einen LKW-Fahrer, was denkt die sich dabei? Ganz einfach, sie denkt dabei an Markus Elsner, der sie samt rasendem Flammenklavier einfach über die Steilklippen ins Meer hat fallen lassen. »Sie müssen fliegen«, hat er nur gerufen. Ohne ihr allerdings zu verraten, daß man dazu die Arme ausbreiten und Schwimmbewegungen machen muß. Da mußte sie selber draufkommen, während sie tief und immer tiefer stürzte. Endlich hatte sie sich abgefangen und flog federleicht, als sie jäh und höchst unsanft in die Wirklichkeit zurückgerissen wurde. Sie reibt sich den schmerzenden Hals. Der Gurt hat sich beim Bremsmanöver in die Haut geschnitten. Jetzt registriert sie Harders wütende Blicke. »Oh, Verzeihung, haben Sie wegen mir gebremst?« »Allerdings, Sie haben geschrien wie am Spieß.« Ein wenig indigniert zieht er die Manschetten seines blütenweißen Hemdes zurecht. Herrje, sie hat Rensle, ihre große Hoffnung, angebrüllt. Verlegen räuspert Victoria sich. »Verzeihung, ich habe etwas Fürchterliches geträumt. Ich bin mit einem brennenden Konzertflügel über das Rollfeld von Gando ins Meer gestürzt.« Sie unterbricht sich, weil sie merkt, wie albern das klingt. »Eh, sind wir da?« 73
»Wir müssen nur noch durch die Auffahrt, den Weg hoch zum Haus. Schaffen Sie das, ohne noch einmal abzustürzen?« Victoria öffnet die Autotür. »Ich mache Ihnen das Tor auf. Fahren Sie ruhig durch. Ich komme zu Fuß nach. Ein kleiner Spaziergang im Mondlicht wird mir guttun. In einer Viertelstunde werde ich oben sein.« Harder nickt nur. Ziemlich überspannt, die Gute. Hoffentlich bellt sie den Mond nicht an. Kein Wunder, daß Charlotte Wohlzogen ihn so dringend um Hilfe gebeten hat.
9
Vom Flughafen bis Agüimes hat Elsner knapp zwanzig Minuten gebraucht. Kurz hinter der Ortseinfahrt ist er dann rechts abgebogen, in Richtung des Barranco de Guayadeque. Nun türmen sich zu beiden Seiten die vierhundert Meter hohen Steilwände der Schlucht auf. Die Kämme der schwarzen Felswände verschmelzen mit dem Nachthimmel. Hier und da sind sie in bleiches Mondlicht getaucht. Auf dem Weg bis zum Höhlenrestaurant Tagoror leuchten vereinzelte Straßenlaternen. Er entdeckt einen Touristenbus, der vor dem Restaurant haltgemacht hat. Drinnen genießt eine letzte Touristengruppe das Pauschalangebot für einen Abend bei Spanferkel, vino tinto und Musik im Tagoror. Die wehmütigen Klänge einiger Timples, einer Art kanarische Mandolinen, wehen durch die offenen Fenster von Elsners Pick-up. Viele Touristen halten das Tagoror für den Endpunkt der Schlucht; ruhen sich hier nach der Besichtigung einer Höhlenkapelle und der in den Fels gehauenen Wohnungen aus. Wer sich auskennt, weiß aber, daß es noch weiter geht, höher hinauf, zum obe74
ren Teil der Schlucht. Elsners Pick-up biegt links ab, rumpelt über eine Schotterpiste bergan, vorbei an der Bar Vega Mateo und einem Eselverleih. In großzügigen Kehren geht es steil nach oben. Endlich lenkt er den Geländewagen unter eine Art Felsendach, greift sich eine Taschenlampe aus dem Handschuhfach und die lästige Tüte mit Victorias Kleidern vom Rücksitz. Er steigt aus und beginnt den beschwerlichen Fußmarsch auf einem Eselspfad; direkt hinein in die Felswand. Der Weg windet sich zwischen Ackerterrassen an Hängen hinauf, die mit schütteren Mandelbäumen bestanden sind. Im Mondlicht sehen sie aus wie gichtgebeugte Greise. Elsner passiert die nach Felslawinen fast unzugänglichen Grabstätten der Ureinwohner, denen das Barranco den Schutztitel ›Archäologische Zone‹ verdankt. Auch die Pflanzen stehen hier unter Naturschutz. Von hundertdrei nur auf Gran Canaria vorkommenden Pflanzenarten finden sich hier über fünfzig, dazu unentdeckte Spezies, die noch nicht klassifiziert sind. Elsner spürt den krautigen Bewuchs unter seinen Füßen, der würzige Duft von wildem Thymian steigt ihm in die Nase. Tief atmet er ihn ein. Der Lichtkegel seiner Taschenlampe streift blühende Zistrosen, Salbeibüsche, Besenrauke und seine Lieblinge: niedrige, dickblättrige Wolfsmilchgewächse. Es sind Verwandte der Candelaber-Euphorbien, die in den tieferen Regionen üppig gedeihen und neben den Drachenbäumen ein Wahrzeichen der Insel sind. Die kleineren Verwandten der Candelaberpflanzen gibt es nur hier, nur auf diesem Fleck der Erde, und Elsner weiß, daß ihre Pflanzenmilch wirksame medizinische Drogen enthält: krampflösende Alkaloide, aber auch virushemmende oder desinfizierende Substanzen. Schon die Ureinwohner Gran Canarias nutzten die Milch solcher Pflanzen beim Fischfang. Sie trieben die Fische in flache Buchten, betäubten sie mit dem weißen Saft. Vielleicht nutzten sie sie auch als Narkotikum bei Operationen. Rosalia, die Archäologin aus Fa75
taga, hat ihm das bestätigt. Sie nimmt großen Anteil an seiner Arbeit. Er freut sich darauf, bald wieder mit ihr zu sprechen. Für einen kurzen Moment taucht ihr hübsches, lachendes Gesicht vor ihm auf. Es verblaßt rasch, sein Blick heftet sich wieder auf den Boden und den Steilhang zu seiner Rechten. Selbst bei Nacht, selbst in der Dunkelheit treibt Elsner der Forscherdrang dazu, nach neuen Spezies Ausschau zu halten. Die Pflanzen sind der Grund, aus dem er sich hier niedergelassen hat. Sie sind der Grund, warum auch Doña Manuela hier lebt, seit achtundsiebzig Jahren, seit dem Tag ihrer Geburt. Als Elsner über sich einen Lichtschimmer entdeckt, weiß er, daß die alte Frau noch wach ist. Er zögert kurz, dann steigt er die glattgetretenen Steinstufen zu einem kleinen Felsbalkon hinauf, stößt ein Gattertor auf und steht vor der einfach gezimmerten Holztür der Höhle. Aus rostigen Konserveneimern wuchern neben dem Eingang Geranien. Ein mit Plastikblumen verziertes Bildchen des heiligen Antonius, dem Helfer gegen alle Nöte, ziert die Tür. Elsner klopft. Wenig später öffnet ihm wortlos eine Greisin. Sie schaut ihn an mit starrem Blick aus trüben Pupillen. Grauer Star. Doña Manuela ist beinahe blind. Sie kann nur noch verschiedene Helligkeitsstufen wahrnehmen, trotzdem begrüßt sie ihn beim Namen. Elsner grinst, Manuela hat ihren Ruf als Hellseherin und Heilerin wirklich verdient. Er nimmt an, daß sie seinen Gang erkannt hat. Sie bittet ihn einzutreten. Ein Lächeln bringt ihr runzliges Backapfelgesicht zum Strahlen. Früher ist sie eine Schönheit gewesen. Der aus dem Fels gehauene Wohnraum ist kühl, die Wände sind weiß getüncht und von einer Petroleumlampe trübe ausgeleuchtet. Manuela braucht kaum Licht. Nur für ihre Enkelin hat sie es angezündet. Die dreißigjährige Soraya steht im Hintergrund am Spülstein und wäscht Geschirr. Einmal am Tag schaut sie vorbei, um der Großmutter zu helfen. Ihr Mann ist einer der letzten Hirten unten im Tal. Sie grüßt zu Elsner hinüber, entkorkt eine riesige Korbflasche und gießt ihm Rot76
wein ein. Eine Suppe lehnt Elsner dankend ab. Er dreht sich zu Manuela um. Die Greisin hat in einem Stuhl aus Korbgeflecht Platz genommen. Er steht hinter einem Tisch, der mit Familienfotos, Paßbildern, Heiligenbildchen, Holzspänen und Stoffetzen übersät ist. Über allem schaukeln Knoblauchzöpfe, Büschel von getrockneten Peperoni und ein Plüschpapagei. Elsner nimmt sich einen Schemel und setzt sich neben die Greisin. Die lästige Tüte mit Victorias Sachen stellt er achtlos auf dem Boden ab. »Du arbeitest noch?« fragt er auf spanisch und muß seine Zunge wieder an den kehligen Bergdialekt gewöhnen, der hier gesprochen wird. Doña Manuela nickt zur Antwort und tastet nach einem weißen Stoffstück, blauem Faden und einer Nadel. Ein Wunder ist schon, wie sie mit ihren arthritisch gekrümmten Fingern und ohne Augenlicht das Garn durch das Nadelöhr zu fädeln weiß. Dann beginnt sie, den Stoff zu umsäumen, murmelt ein rezado, ein heilendes Gebet, dazu: »Fleisch zu Fleisch, Knochen zu Knochen, so wie der heilige Alfonso nähe ich dich, und mit diesen Worten heile ich dich, so wie ich dich nähe.« Soraya gießt Elsner Wein nach und blickt lächelnd auf ihre Großmutter herab. »Pablo, ein Tankstellenwart aus Agüimes, war heute da. Er hat einen scheußlichen Hexenschuß«, erklärt sie. »Jetzt nicht mehr«, sagt die alte Manuela und legt den blau umsäumten Stoff über ein Paßbild von Pablo, macht ein Kreuzzeichen darüber. Rückenleiden sind aber nicht ihre Spezialität. Besser kennt sie sich mit Hautkrankheiten aus, und darum kennt sie auch Elsner. Sanchez hat ihn vor vielen Jahren zum erstenmal hergebracht, weil die Wunden in seinem Gesicht nicht richtig ausheilten. In vielen Sitzungen bat Doña Manuela den zuständigen Heiligen – Quirinus – um Hilfe, legte Elsner die Hand auf. Elsner glaubt freilich bis heute nicht, daß es ihre Gebete waren, 77
die damals zum Ausheilen seiner Gesichtswunden geführt haben, sondern die Kräuterumschläge und Tinkturen, die die Greisin nach uralten Rezepten braut. Die Tinkturen müssen natürlich noch erforscht werden, aber immerhin, wenn kein Arzt weiterwußte, hat Manuela ihm geholfen. Es bedarf einer Menge Geschick und Geduld, um Doña Manuela einige der Zutaten zu ihren Kräutermixturen zu entlocken, um sie dann mit wissenschaftlichen Methoden zu überprüfen. Elsner hat diese Geduld und schon manchen erstaunlichen Erfolg damit gehabt, aber deshalb ist er jetzt nicht hier. Er ist nur hier, um in ihr Gesicht zu schauen. Glaubt er. Manuela kennt keine Unrast. Das wird ihn beruhigen, ihm seinen inneren Frieden zurückgeben. Doña Manuela streckt ihre rechte Hand aus, fährt mit ihren Fingerkuppen sanft über sein Gesicht, betastet die Narben. »Sie ist sehr schön verheilt, deine Haut, sanft wie Rosenblätter«, sagt sie und nickt, tastet weiter. Elsner schließt die Augen, sie berührt seine Lider, fährt darüber. Plötzlich richtet sie sich auf, das Korbgeflecht des Stuhls knistert. »Madonna«, ruft sie aus, zieht die Hand zurück. Dann sagt sie: »Susto.« Das ist eine Diagnose. Es bedeutet soviel wie Unruhe, Schrecken, Furcht. Elsner schüttelt den Kopf. »Nein, Manuela, mir geht es gut. Ich habe nichts.« Manuela wiegt zweifelnd den Kopf. »Ihr machen Sie nichts vor«, flüstert Soraya. »Besser, Sie erzählen ihr alles, sonst wird sie ernsthaft böse.« Bevor Elsner etwas sagen kann, ergreift Manuela das Wort. »Es geht um eine Frau.« Verblüfft schaut Elsner sie an. Manuela lächelt. »Ich weiß, daß du nicht viel von meinen Gebeten und meinem Glauben hältst, aber ich sage dir, der Glaube macht mich sehend. Und wer fest an Gott glaubt, kann alles heilen. Erzähle mir von dieser Frau, und ich werde dir helfen.« 78
Elsner runzelt die Stirn, nimmt einen Schluck Wein. »Das, verehrte Doña Manuela, ist eine Krankheit, die ich selber auskurieren muß. Ich befinde mich bereits auf dem Wege der Besserung.« »Liebe ist keine Krankheit, sondern ein Geschenk Gottes«, sagt Manuela streng. »Da bin ich anderer Meinung«, sagt Elsner und steht auf. Manuela macht wieder ein Kreuzzeichen. Der Forscher lächelt. »Morgen fange ich wieder mit meiner Arbeit an«, sagt er. »Kann ich zu dir kommen, um dir einige Pflanzen zu zeigen? Ich habe vier Exemplare getrocknet, deren Bestimmung mir Schwierigkeiten bereitet.« Die Heilerin erkennt jede Pflanze, indem sie sie mit den Händen betastet. Seltsame Namen hat sie dafür. Einige stammen noch von den Guanchen, jenen rätselhaften Ureinwohnern, die vielleicht der afrikanische Wind in ihren Fischerbooten vom Festland übers Meer hierher wehte. Manuela wendet Elsner ihr Gesicht zu. »Du wirst nicht kommen, du hast Wichtigeres zu tun.« Sie steht auf, geht zur Tür, öffnet sie. »Buenas noches!« Soraya zuckt mit den Achseln, hebt entschuldigend die Brauen. Elsner geht. Während er die Steinstufen hinabsteigt, fragt er sich, ob Manuelas letzter Satz eine Prophezeiung sein sollte. Ach was, er hat sie nur verletzt, weil er ihre Hilfe abgelehnt hat. Er braucht keine Hilfe. Nicht bei so etwas. Mechanisch steigt er wieder bergan. Unmittelbar unter der Bergkuppe liegt seine eigene Behausung. Nur ganz verwegene Wanderer verirren sich manchmal hierher. Elsner schätzt sich glücklich, die komfortabel ausgebaute Wohnhöhle von der Familie Pardenes gekauft zu haben. Billig war der ehemalige Feriensitz nicht, obwohl Sanchez ihm einen Freundschaftspreis gemacht hat. Wohlhabende Kanarier wissen die angenehme Kühle dieser Wohnungen im Sommer zu schätzen und statten sie mit allem Komfort aus: fließendes Wasser, Strom, Telefon, sogar Satellitenfernsehen. Elsner kennt einen, der zwischen Felswänden eine Badegrot79
te in Wohnzimmergröße mit Wasserfall und Whirlpool installiert hat. Was manche Touristen für pittoresk und rührend ursprünglich halten, ist die vernünftigste Art, hier zu wohnen und die einzigartige Schönheit des Barranco auch bei Backofenglut zu genießen. Das einzige Problem ist die Einsamkeit. Nicht für mich, sagt sich Elsner, als er die Tür zum Vorbau seiner Höhle entriegelt und das Licht einschaltet. In diesem Vorbau, eigentlich ist es ein kompletter Bungalow mit grandioser Terrasse, hat er sein Büro eingerichtet. Dahinter erstrecken sich bis tief in den Fels verschiedene Räume, darunter die Küche und sein kleines Labor. Bei Tageslicht blickt er durch das Panoramafenster des Vorbaus tief hinab in die Schlucht. Er kann bei klarer Sicht sogar das Meer weit hinter dem Tal sehen. Er nennt das Büro seinen Adlerhorst, und ab und an kreisen darüber tatsächlich einige der letzten Turmfalken und Bussarde der Insel. Er sieht sich in dem spärlich eingerichteten Raum um. Auch hier sind die Wände weiß getüncht. Sein dunkler Schreibtisch ist von grober Machart, darauf stehen Computer und Telefon. Dahinter stapeln sich in einem Regal die Lehrbücher der Pharmazeutik, Werke zur Pflanzenbestimmung, Lexika, dazu einige Laborgerätschaften, Reagenzgläser, Behälter zum Trocknen von Pflanzen. Wenn schon nicht das Gesicht von Doña Manuela, dann bringt ihn gewöhnlich der Anblick seines Studierzimmers zur Ruhe. In dieser Nacht nicht. Elsner wirft die Autoschlüssel auf den Tisch, legt die Taschenlampe ab. Seine Hände sind plötzlich sehr nackt. Ihm ist, als habe er etwas vergessen. Natürlich, die lästige Tüte mit Victorias Sachen. Gut möglich, daß Manuela sie gerade umsäumt und zu einem Heiligen betet, scherzt Elsner im stillen. Um etwas zusammenzunähen, was überhaupt nicht zusammengehört. Er blickt durch die offene Tür hinaus in die nachtkühle Berglandschaft. Zikadengesang und das Quaken der Teichfrösche, die in den Bewässerungsbecken nisten, schallen zu ihm herauf. Im Tal 80
schlägt ein Hund an. Der Mond ist eben über die Kuppe gestiegen, die seine Behausung überragt. Er taucht seine Terrasse mit den vielen Pflanzkübeln und Saattöpfen in milchiges Licht. Hier ist sein Paradies, zu dem diese verfluchte Victoria keinen Zutritt haben sollte. Hat sie aber, in seinen Gedanken. Er muß darüber reden, vernünftig, es einfach loswerden. Erst recht die Sache mit diesem Rensle, es ist zu lächerlich. Was soll er sich weiter da hineinverstricken. Entschlossen geht er zum Schreibtisch, hebt den Telefonhörer ab, gibt eine Nummer ein, wartet. Endlich meldet sich eine Stimme. Eine sehr verschlafene, sehr weibliche Stimme. »Hallo?« »Stefanie, sind Sie es?« »Ja? Wer ist denn da?« Ein leises Erschrecken läßt die Stimme zittern. »Elsner, Markus Elsner. Ist Sanchez bei Ihnen?« »Ja, ich hole ihn, ich hole ihn sofort«, antwortet eine erleichterte Stefanie. Kurze Pause, dann greift jemand nach dem Hörer. »Maldito, caballero! Wo bist du? Wir haben dich gesucht ganze Tag wie eine Nadel in die Strohhügel. Victoria iste auch verschwunden. In dieselbe Strohhügel?« Im Hintergrund kichert Stefanie, jemand macht Geräusche, die nach Kußhändchen klingen. »Wir haben euch zu sagen etwas sehrrrr Wichtiges. Am besten ihr kommt sofort, wir…« »Moment, Sanchez. Ich habe dir auch etwas Wichtiges zu sagen. Ich bin wieder zu Hause. Auf Gran Canaria.« »Du bist wo?« »Auf Gran Canaria, in meinem Büro.« Sanchez ist verblüfft. »Was machst du da? Bist du allein?« »Natürlich bin ich allein«, antwortet ein verärgerter Elsner. »Was denkst du denn?« »Aber was ist mit deine Termine? Die Forschungsgesellschaft? Die Gelder?« »Ich war heute morgen kurz da. Sie konnten mir nichts Defini81
tives sagen. Ich habe ihnen meine Forschungsberichte dagelassen, das war's.« Elsner klingt mürrisch. »Du biste also abgedonnert?« »Abgeblitzt, Sanchez. Lassen wir das. Übrigens wäre es nett, wenn du meine Sachen aus dem Hotel mitbringen würdest, wenn du zurückfliegst.« »Deine Sachen sind noch inne Deutschland? Und du fragst, was ich soll denken von eine Freund, der verschwindet Nacken über Kopf ohne seine Hosen mit die beste Freundin von meine Verlobigte?« Jetzt ist Elsner verblüfft. »Verlobigte? Meinst du Verlobte? Meinst du, du und Stefanie ihr habt euch verlobt?« Er spricht das Wort so aus, als handele es sich um etwas Unappetitliches. »Si«, antwortet Sanchez freundlich. Danach abwartendes Schweigen, erneute Kußhändchen. »Wie kommst du nur auf so einen Unsinn? Einen Tag in Deutschland, und du verlobst dich mit einer Unbekannten? Warum hast du nicht noch drei Tage gewartet, vielleicht hättest du dich dann mit einer völlig Fremden in der Straßenbahn verlobt.« »Warum freust du dich nicht? Es war eine große Moment für deine Freund. Wir haben uns gestanden unsere Liebe sofort, als wir waren allein.« Elsner stöhnt kurz auf, Sanchez redet weiter. »Stefanie liebt mich seit viele Monate. Sie hat es nur nie gesagt, wegen Victoria.« Weibliches Seufzen ertönt im Hintergrund und die geflüsterte Frage: »Wo ist sie?« »Meine Stefanie will wissen, wo iste deine Victoria?« fragt gehorsam der Frischverlobte. Elsners Wut weicht einem Gefühl von seltsamer Niedergeschlagenheit. »Sie ist nicht meine Victoria, aber sie ist auch hier, also nicht hier bei mir, sondern bei ihrer Mutter.« »Sie iste auf Gran Canaria, die gehaßte Insel«, gibt Sanchez die Information weiter. In seiner Stimme schwingt plötzlich unbändige Heiterkeit mit. »Hör zu, Sanchez. Es ist nicht so, wie du denkst«, setzt Elsner so 82
würdevoll wie möglich an. »Wie denke ich denn?« »Du denkst, daß ich wegen Victoria hier bin oder sie wegen mir, aber das ist nicht so, nicht wirklich. Ich meine, diese Frau hat einfach etwas, das einen verrückt macht.« »Si, si. Ich weiß, wie verrückt einen Frauen machen können. Loco, completo loco. Aber sie machen dich auch wieder gesund, amigo. Also, geh zu deine Victoria, sag, du biste verrückt, und sie wird…« »Mich ein weiteres Mal beleidigen. Weißt du, wie sie mich nennt? Narbengesichtiger Gorilla.« Am anderen Ende hält jemand mit kruschelndem Geräusch die Hörmuschel zu. Konferenz unter Liebenden, nimmt Elsner ungeduldig an. Dann meldet sich Sanchez zurück. »Es stehte eins zu eins. Stefanie sagt, Victoria haßt dich, ich sage, no, sie iste verliebt.« »Ja«, sagt Elsner trocken. »Sie ist verliebt, aber nicht in mich, sondern in Elias Rensle.« »Rensle?« fragt ein verwirrter Sanchez. »Genau. Elias Rensle. Er hat sie heute in Gran Canaria am Flughafen abgeholt, und ich stand daneben, während sie diesem Deppen in einem Abendanzug Plüschaugen machte. Ihre teufelsohrige Mutter, wie du sie nennst, hatte in Deutschland angerufen, um ihrer Tochter mitzuteilen, sie habe Rensle aufgetrieben. Daraufhin hat Victoria einen Last-minute-Flug gebucht. Ich bin nur hinterher, um diesen Rensle kennenzulernen.« Ein immer verwirrterer Sanchez unterbricht ihn: »Rensle? Aber das iste doch unmöglich. Ich verstehe nix. Was ist da los?« »Genau das will ich auch wissen. Deshalb bin ich hier. Nicht wegen Victoria, verstehst du? Sie hat gar nichts damit zu tun«, antwortet Elsner und fühlt sich maßlos erleichtert. Endlich hat er die richtige Erklärung für seinen verwirrten Zustand gefunden. »Sie hat nichts damit zu tun?« fragt ein unangenehm listiger Sanchez zurück. »Nichts«, antwortet Elsner schroff. 83
»Sie iste dir egal?« »Völlig.« »Bueno, dann gute Nacht.« »Wie bitte?« »Gute Nacht! Ich bin frisch verlobt. Du mußt verstehen, wir wollen in die Bett.« »Sanchez, was ist mit diesem Lackaffen im Abendanzug?« »Was soll sein? Vielleicht er wird verlieben sich in die hochnäsige Prinzessin Victoria, und du biste sie los. Au.« Stefanie hat ihn geknufft; über Victoria sind beide noch geteilter Meinung. »Sanchez, ich kann die Sache mit diesem Rensle doch nicht auf sich beruhen lassen. Was fällt diesem Kerl ein! Allein wie er aussieht, läßt nichts Gutes ahnen. Er hat die Visage eines eitlen Schmierenkomödianten und die Manieren eines billigen Animateurs für einsame Witwen.« »Schmierekomödiant? Haha, und das dir! Eine Schmierekomödiant. Dabei war Rensle in deine Auge immer eine ganz ernste Forscher, nur Arbeit, nixe Vergnügen, he? Nur Wissenschaft, sehrrr deutsch. Die Welt wird noch staunen über die wahre, eitle Rensle. Er iste wahrscheinlich eine ganz eingebildete Kerl, genau richtig für Victoria.« Stefanie versetzt Sanchez einen weiteren Rippenstoß, und Elsner gibt der immer noch offenen Tür vor sich einen Tritt. Krachend fällt sie zu. Unerträglich, dieses Mondlicht und dazu das Froschkonzert. »Ich verstehe schon, warum du zu diesem Kerl hältst«, schnauzt er dann in den Hörer. »Ihr seid zwei von einem Schlag. Hast du deiner Stefanie inzwischen erzählt, welche Komödie du ihr vorgespielt hast?« Pause am anderen Ende. »Ich muße aufhören«, kommt es dann hastig. »Also hast du noch nichts erzählt? Schöne Liebe. Oder meinst du es doch nicht so ernst damit?« »Wenn du willste sprechen ernst über amor, rede gefälligst mit Victoria.« Sanchez klingt erzürnt. 84
»Er liebt Victoria wirklich?« schrillt Stefanies Stimme im Hintergrund auf. »Nein«, brüllt Elsner so laut, als wolle er sich ohne Zuhilfenahme des Telefonsatelliten in Deutschland verständlich machen. »Amigo, wer belügt hier eigentlich wen? Hasta la vista.« Sanchez hängt ein. Elsner starrt durchs Fenster. Wirklich unerträglich dieser Mond.
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Victoria sitzt in der Sonne. Es ist fast Mittag und sommerlich warm, sie hat lange geschlafen. Über ihr ragt eine schlanke Kanarenpalme in den Himmel. Avocadobäume, Christsternsträucher, blühender Rhododendron und Papageienblumen wachsen neben ihr, vor ihr glitzert verlockend blau der Pool. Kanarenpieper flitzen über das Dach des Hauses. Ach was, Haus, eine Villa hat ihre Mutter sich gemietet, und der Garten ist ein kleines Wunder. Das muß man diesem Simpel Sanchez lassen. Er hat den Garten angelegt, hat ihre Mutter erzählt. Die zieht gerade fleißig ihre Bahnen im Pool, fünfzehn wie an jedem Morgen. Vorher ist sie nicht ansprechbar. Victoria betrachtet anerkennend die muskulösen braunen Arme, mit denen sie das Wasser zerteilt. Die geschmeidigen, kraftvollen Bewegungen zeugen von ursprünglicher Lebenslust. Immer wieder taucht der Kopf der Mutter ins Wasser ein, taucht wieder auf. In tiefen Zügen holt sie Luft, als wolle sie den Himmel trinken. Charlotte Wohlzogen erreicht den Beckenrand. »Fünfzehn«, ruft sie stolz wie ein Kind, das sich bei einem sportlichen Wettkampf selbst übertroffen hat. »Puh«, prustet sie und hievt sich auf den Bekkenrand, »jetzt bin ich wach. Und wie.« Sie schnappt sich einen bunt85
geblümten Pareo, reibt sich damit das Wasser von der Haut und schlingt ihn um ihre Hüften. Mit federnden Schritten geht sie zu ihrer Tochter hinüber, greift sich ein Glas und trinkt mit wenigen Schlucken den frischen Orangensaft aus. »Herrlich. Ist es nicht einfach unbeschreiblich hier?« fragt sie und öffnet weit die Arme, als wolle sie damit den Garten umfangen. »Die ganze Insel steht um diese Zeit in Blüte, und alles riecht nach Sommer.« Victoria richtet sich in ihrem Korbsessel auf. Sie trägt eine weiße Escada-Jeans und ein weißes T-Shirt ihrer Mutter. ›Viva Canaria‹ steht in goldenen Buchstaben darauf. Victoria kommt sich reichlich albern damit vor. Ihre Mutter hat es sicher mit Absicht für sie ausgesucht. Victoria ist nicht in Viva-Stimmung. »Wo finde ich Rensle?« fragt sie knapp. Die Mutter läßt sich in einen Sessel neben ihr fallen, streckt die Füße vor und begutachtet kritisch die lackierten Nägel. »Die muß ich dringend neu anmalen. Morgen abend ist die große Frühlingsgala im Paradiso. Mit Karaoke-Wettbewerb. Da müssen wir hin. Das ist die beste Veranstaltung der ganzen Insel. Habe ich dir schon mein neues Paillettenkleid gezeigt? Unter einer Discokugel sehe ich darin aus wie ein schwarzer Diamant.« »Mutter! Mit dem Paradiso kannst du mich jagen, diese Karaoke-Shows sind einfach widerlich. Überhaupt hasse ich dein Partyleben«, ermahnt Victoria sie wie ein vorlautes Kind. »Das ist ja das Problem mit dir. Und bei einer Karaoke-Show wärst du der Hit mit deiner kräftigen Singstimme. Die hast du übrigens von mir.« »Sag mir, wo Rensle ist, ich muß das Interview haben.« Charlotte Wohlzogen seufzt. »Meine Güte, diese Besessenheit. Das hast du nicht von mir. Rensle ist weg. Unterwegs. Was weiß ich.« Victoria schnellt nach vorn. »Was heißt das, unterwegs?« »Na ja, er hat zu tun.« »Wo? Ich habe ihm gesagt, ich will ihn heute treffen. Warum ruft er nicht an?« 86
Die Mutter zuckt mit den Achseln. »Ich weiß nicht, wo er ist, zum Kuckuck. Vielleicht muß er einen Auftritt aushandeln. Er arbeitet nämlich als Barpianist, gehörte mal zu den Top-Acts der Insel, war der Star im Paradiso und so weiter, nur die besten Häuser.« »Er arbeitet als Barpianist?« fragt Victoria erstaunt und ein wenig entsetzt. Das Wort ›Stehgeiger‹ schleicht sich in ihren Kopf, eine verächtliche Stimme spricht es aus. Elsners Stimme. Mit ihrer eigenen Stimme fragt sie laut: »Was soll das heißen?« »Das, was ich sage, meine Güte. Nur vom Bücherschreiben kann er wohl nicht leben.« Victoria nimmt einen Schluck Saft, schmeckt bitter. »Unsinn. Sein Buch war ein Millionenbestseller, der muß steinreich sein. Also sag mir einfach, wo Rensle wohnt. Ich will ein Porträt über den wichtigsten Sachbuchautoren des letzten Jahrzehnts machen.« Der nebenher als Barpianist arbeitet, lästert in ihrem Kopf Elsners Stimme munter weiter. Victoria ist es plötzlich mulmig zumute. Charlotte Wohlzogen räuspert sich. »Ein Interview ist kein Grund, einem Mann hinterherzulaufen. Und ehrlich gesagt, finde ich deinen Rensle nicht besonders sympathisch. Etwas zu gelackt, meinst du nicht?« Ein wenig lauernd betrachtet sie ihre Tochter. »Gelackt? Er ist eben fein angezogen.« »Zu fein, finde ich. Immer fein ist nie fein, heißt es ganz richtig. Sonderbarer Knabe.« »Er ist ein Genie, Mama«, bemerkt Victoria belehrend. Charlotte gleitet tiefer in ihren Korbsessel, so als sei sie völlig erschöpft. »Genie«, wiederholt sie mit übertrieben herabgezogenen Mundwinkeln. »Was hast du bloß immer mit deinen Genies? Weißt du nicht, wie schäbig sich die meisten in ihrem Privatleben verhalten haben? Goethe hat sich geweigert, das Zimmer seiner sterbenden Frau zu betreten. Robert Schumann hat seiner Clara das Komponieren verboten. Und nimm deinen Vater, na, lassen wir das.« 87
»Genau. Deine feministischen Anwandlungen sind nämlich ziemlich unglaubwürdig. Du hast Papa ausgenommen wie eine Weihnachtsgans.« »Das, mein Kind, nenne ich angewandten Feminismus.« Victoria schnaubt verächtlich. »Mein liebes Kind, ich muß mit dir über die Klage wegen der Testamentsänderung reden. Wir sollten einen Schlachtplan ausarbeiten. Vergiß mal den Rensle, der bringt nichts ein.« »Mama. Ich will diesen Quatsch nicht hören.« »Du mußt zugeben, daß dein Vater dir böse mitgespielt hat. Die Radioanteile zu verkaufen und zu behaupten, sein Geld reiche nur noch für seine neue Familie und dieses unterernährte Hungergestell von Frau.« »Und für dich, vergiß das nicht.« Charlotte Wohlzogen grinst und läßt genüßlich ihren Blick durch den Garten schweifen. »Für mich wird sein Geld immer ausreichen. Er ist damals schuldig geschieden worden, und wie schuldig. Das waren noch Gesetze.« »Da sein Geld für mich nicht mehr ausreicht, brauche ich das Interview mit Rensle. Ich will endlich selbständig werden, verstehst du? Schluß mit diesem Tochter-Wohlzogen-Bonus und väterlichen Geldgeschenken. Ich komme auch ohne klar.« Ihre Mutter wirft ihr einen halb besorgten, halb mitfühlenden Blick zu. Sie will etwas sagen. Victoria schneidet ihr schroff das Wort ab. Nur keine Psychogespräche mit der eigenen Mutter, lieber streiten. Das können sie beide am besten. »Also, Mama, wo hast du Rensle aufgetrieben? Er muß doch irgendwo wohnen.« Charlotte Wohlzogen überlegt kurz. Wo er wohnt, weiß sie eigentlich nicht. »Was nützt es, wenn ich es dir sage? Du weigerst dich doch auf dieser Barbareninsel herumzufahren, oder?« Sie schüttet Orangensaft nach und lehnt sich entspannt zurück. »Du könntest mich fahren.« 88
»Vergiß es. Ich habe zu tun. Mein Rouge ist alle, und ich muß unbedingt dieses neue Parfum von Dior probieren. Wie wäre es? Du kommst einfach mit nach Playa del Ingles oder Las Palmas, und wir zwei machen einen Einkaufsbummel der Extraklasse. Du brauchst schließlich eine komplett neue Garderobe, Make-up, deine Faltencremes. Alles auf Daddys Kosten natürlich. Obwohl er bei den zollfreien Waren hier viel zu billig davonkommt. Na?« »Du bist lächerlicher als jeder Teenager.« »Danke, ich bemühe mich hart, nicht frühzeitig zu vergreisen.« »Sag mir jetzt, wo Rensle ist.« »Hat keinen Zweck, da findest du nicht hin. Außerdem ist im Norden sehr heftiger Regen angesagt, die Geröllpiste zu seinem Haus wird kaum befahrbar sein.« Charlotte greift nach einer Zigarette, zündet sie an, zieht den Rauch ein. Sie sieht aus wie jemand, der gerade eine Meisterleistung vollbracht hat. Hat sie auch. Kein Wort von dem, was sie gesagt hat, ist wahr. Bis auf die Sache mit dem Unwetter im Norden. Und ausgerechnet daran glaubt ihre Tochter nicht. Victoria schaut in den gleißendblauen Himmel. »Regen? So ein Unsinn.« »Du täuschst dich, mein Kind. Wir sind hier im Süden. Zwischen uns und dem Norden liegt das Gebirge und teilt die Insel in zwei Wetterzonen. Man nennt das Klimascheide. Hier auf Gran Canaria kann man sich sein Wetter aussuchen. Sommer im Süden, Herbst im Norden, Winter auf dem Pozo de las Nieves. Das ist der höchste Berg der Insel, übersetzt heißt er Schneebrunnen. Weihnachten habe ich da einen Schneemann gebaut.« Sie nimmt genießerisch einen zweiten Zug von der Zigarette und fährt fort. »Da, wo Rensle wohnt, dürfte ein Sturmtief herrschen, vergiß nicht, es ist erst April und immer noch Regenzeit.« »Danke für den wissenschaftlichen Vortrag. Wenn deine geographischen Kenntnisse so ausgeprägt sind, kannst du mir ja wohl auch erklären, wie ich Rensle finde.« »Du hast kein Auto, und meins brauche ich.« 89
»Ich miete mir einen Wagen bei der Tankstelle unten im Dorf.« »Ich erkenne mein unselbständiges Töchterchen nicht wieder. Die Stadtmaus entwickelt sich ja zu einer echten Wanderratte. Die Autos von Gonzales kann ich nicht empfehlen. Bremsen fallen bei ihm schon unter Extras, und die Reifen könnten beim Formel-1Rennen als unerlaubte Slicks durchgehen.« »Ich kann Auto fahren.« »Solange es ein Mercedes Cabrio ist und die Straße schnurgerade. Wenn du unbedingt Achterbahn fahren willst, können wir heute abend auf den Rummelplatz in Maspalomas gehen. Der liegt günstigerweise auch direkt an einem Einkaufszentrum.« Charlotte Wohlzogen spreizt die Finger und überprüft wieder ihren Nagellack. »Sehr witzig. Also, wo ist Rensle?« »Jetzt wird es mir wirklich zu langweilig, mit dir zu streiten, du elende Spaßbremse. Rensles Haus, die Casa Mentira, liegt an einem einsamen Steilhang des Roque Bentaiga, mitten in der Pampa. Da kommst du nie hin.« Charlotte lächelt, ist zufrieden mit sich und der Welt, anders als Victoria. »Roque Bentaiga? Der ist doch im Nordwesten, oder?« »Ja, weit, weit weg. Du brauchst mindestens anderthalb Stunden von hier, aber bei dem angekündigten Sturzregen kommst du nie an. Die Bergstrecken sind sicher wegen Steinschlaggefahr gesperrt.« »Ich nehme einfach die Autobahn über Las Palmas, und schlage mich dann in die Wildnis«, trumpft Victoria auf. »Um dich in Las Palmas wieder zu verfahren, wie Weihnachten?« Victoria beißt sich auf die Lippen, die Beschilderung in Las Palmas ist aber auch mehr als abenteuerlich. »Dann nehme ich eben den Weg über die Westküste.« »Viel Spaß, das ist dann eine Tagestour von hier. Außerdem feiern sie in Agaete gerade eine Fiesta. Die feiern gerne Fiestas dort. Zum Beispiel die Fiesta La Bajada de las Ramas. Das Fest der Zweige. Das ganze Dorf läuft in die Berge, kommt mit Kiefernästen und Palmwedeln zurück und schlägt damit auf das Meer ein, um Regen zu erbitten. Die jungen Männer sind dabei fast nackt.« 90
»Klingt rasend interessant und wirklich barbarisch.« »Es ist eine hinreißende Fiesta, und diesmal scheint die Methode, das Meer zu verhauen, Erfolg gehabt zu haben. Wie schon erwähnt, soll es heute wie aus Gießkannen schütten und durch Agaete kommst du nicht durch.« »Dann nehme ich eben die Bergstraße.« »Jetzt bist du völlig übergeschnappt. Noch mal: Es regnet Bindfäden, im Gebirge herrscht Nebel, die Wolken sind dick wie Watte. Da kannst du bergan höchstens auf 30 Stundenkilometer beschleunigen und hast Glück, wenn du vor Einbruch der Dunkelheit ankommst.« »Mutter, du bist verrückt. Die Insel ist mal eben fünfzehnhundert Quadratkilometer groß, und Autos haben Scheibenwischer.« »Man merkt, daß du die Insel wirklich nicht kennst. Die Nebenstraßen und Gebirgspisten haben es in sich, Fräulein.« »Ich habe es auch in mir.« Sie steht auf. »Casa Mentira am Roque Bentaiga ist also die Adresse?« Ihre Mutter drückt nervös die Zigarette aus. »Ich komme doch besser mit. Schließlich weiß ich am besten, wie man einsame Dichter auftreibt.« Oder wie man ihnen in möglichst weitem Bogen aus dem Weg geht, denkt sie. Victoria nimmt diesen Rensle entschieden zu ernst. So war das nicht geplant. »Nein, danke«, sagt ihre Tochter von oben herab. »Ich möchte dich keinesfalls von deinen lebenswichtigen Einkäufen abhalten. Tschüs, Mutter.« Mit langen Schritten durchmißt Victoria den Garten, durchquert den Wohnraum, greift sich in der Diele ihr Notebook und die Handtasche. Ihre Mutter ist hinter ihr hergelaufen, auf nackten Füßen. Sie sieht ein bißchen blaß unter ihrer Bräune aus. »Liebling, ruf an, wenn du Hilfe brauchst. Ich meine, dein Spanisch ist nicht besonders gut.« »Rensle spricht deutsch.« »Wenn du den mal findest«, murmelt die Mutter und schaut schuldbewußt drein. 91
»Du könntest mir wirklich mal etwas zutrauen«, sagt Victoria scharf. »Ich traue dir eine Menge zu«, sagt die Mutter und reißt die Augen auf. »Ich bin nicht dein Vater. Wie kommst du darauf, daß ich dir nichts zutraue?« »Vielleicht, weil ich eine unselbständige Spaßbremse bin.« Victoria öffnet die Tür. Sie dreht noch einmal den Kopf: »Warte nicht auf mich, könnte sein, daß ich heute woanders übernachte. Etwa in der Casa Mentira.« »Soll das heißen, du willst von diesem Kerl mehr als ein Interview? Was ist denn mit deinem Ludwig?« »Das ist vorbei.« »Ja, aber du kennst diesen Rensle doch gar nicht richtig. Er könnte ein ausgemachter Schurke sein. Rein menschlich, meine ich.« Jetzt sieht Charlotte Wohlzogen wirklich alarmierend bleich aus. »Wer weiß? Vielleicht mag ich Künstler, die menschliche Schurken sind«, sagt ihre Tochter genüßlich und zieht die Tür ins Schloß. Ungewöhnlich munter läuft sie, unterbrochen von einigen Hüpfern, den staubigen Weg zur Straße hinab. Fröhlich betrachtet sie die ohrenförmigen Feigenkakteen, freut sich am zarten Gelb ihrer Früchte. Fast ist sie geneigt, es hier richtig hübsch zu finden. Es ist eben ein befreiendes Gefühl, aus einem Streit mit der Mutter als Siegerin hervorzugehen. Erfrischend. Ja, das ist wohl das Beste, was man über die Beziehung zwischen ihr und Charlotte sagen kann, sie ist stürmisch, aber erfrischend. Und vor allem ehrlich, denkt Victoria. Darin irrt sie.
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Elsner kann sich selbst nicht so recht erklären, was er hier macht. Ausgerechnet hier. Gut, er könnte einige Freunde besuchen. Der ein oder andere wird sicher daheim sein. Rosalia zum Beispiel. Aber warum sitzt er dann so unschlüssig vor der Tankstelle herum und trinkt seinen zweiten café solo, den Gonzales ihm gerade herausgebracht hat? Ein Touristenbus schnauft die letzte Steigung nach Fataga herauf. Beißender, trockener Geruch von Dieselabgasen umhüllt Elsner. Mit seufzenden Bremsen kommt der Bus in Höhe des winzigen Kirchvorplatzes zum Stehen. Die hydraulischen Türen gleiten auf, ein Strom Touristen ergießt sich auf die schmale Durchgangsstraße. Gut, daß er sich nicht in die Bodega gegenüber gesetzt hat. Für eine halbe Stunde ist es jetzt aus mit der verschlafenen Ruhe. Er kennt das noch aus seiner kurzen Zeit als Fremdenführer für deutsche Touristen. Das war in den Anfangsjahren, als er kaum Geld hatte. Immerhin hat er so die Insel richtig kennengelernt und kann die Ausflügler verstehen. Von der Bodega aus hat man einen atemberaubenden Blick auf das Tal der tausend Palmen. Tausend sind es allerdings leider nicht mehr. Die eben eingetroffenen Touristen sammeln sich unter dem grünen Dach aus Weinlaub, das die Terrasse der Bodega überwuchert. Zu den Touristen gesellt sich die örtliche Katzenbande, um abzustauben, was es abzustauben gibt. Die Insel der großen Hunde – wie manche den Namen Gran Canaria übersetzen – ist längst von Katzen erobert. Gewöhnlich winken den verwilderten Samtpfoten nur Gebäckkrümel, aber einige etwas stämmigere Herren sehen vielversprechend aus. Nach bocadillo con jamón. Der luftgetrocknete Schinken der Bodega ist legendär. 93
Elsner hat ihn den Touristen auch immer empfohlen. Lächelnd beobachtet er, wie die schmalen Katzen schnurrend und schmeichelnd die Beine der Touristen umstreichen. Die Katzen haben Glück. Die Touristengruppe ist deutsch und überwiegend weiblich, echte Katzenfans sind darunter. Ein Karl-Heinz muß auf Befehl seiner Frau sein Schinkenbrot mit den ›süüüßen‹ Samtpfoten teilen. Die Katzen bekommen den Schinken, Karl-Heinz darf das Brot behalten. »Denk doch nur an dein Cholesterin«, empfiehlt die Gattin dem wenig erfreuten Karl-Heinz. Während sie wenig später im benachbarten Souvenir-Shop nach Stickereien und Tonkrügen stöbert, bestellt Karl-Heinz ein zweites Schinkenbrot und vertilgt es – geduldig umringt von seinen neuen vierpfotigen Freunden – ohne Reue. Der Rest der Gruppe fotografiert und filmt im Hintergrund den Palmenhain, bis der Führer sie zurück zum Bus treibt. Der ein oder andere wirft einen sehnsüchtigen Blick zurück zur verschlafenen Bodega. Nun, beides kann man nicht auf einmal haben: temporeiche Abwechslung und die Beschaulichkeit des Dorfes. Der Bus fährt ab. Elsner sitzt immer noch vor der Tankstelle und widmet sich erneut der Frage, was ihn heute morgen hierher getrieben hat. Er will sich um die Antwort drücken, aber sie spaziert direkt auf ihn zu. »Victoria!« ruft er erstaunt aus. Die Angerufene tut, als sei er Luft. Ausnahmsweise hat sie ihn diesmal zuerst entdeckt und ist gewappnet. Sie geht wortlos an ihm vorbei, teilt den Plastikvorhang zu Bar und Kassenraum und stellt sich abwartend vor die Theke. Gonzales hat in seiner Werkstatt zu tun. Victoria greift sich eine Straßenkarte aus einem Ständer, sucht im Verzeichnis nach dem Roque Bentaiga, faltet die Karte auseinander. Was ist das nur für ein Gewimmel von Straßen, Sträßchen, Eselspfaden, Bergpisten und Wanderwegen. Kompliziert wie ein Schnittmusterbogen sieht das aus. So hat sie sich die Insel nicht vorgestellt. In Planquadrat B5 findet sie endlich den Roque Bentaiga. Ihre Mutter hat recht. Der direkte Weg dorthin führt mitten durch die In94
sel, über das Bergmassiv, bis kurz vor die Paßhöhe Cruz de Tejeda und über Straßen, die an eine lebensgefährliche Darmverschlingung erinnern. Immerhin sind die Straßen dorthin mit kleinen roten Dreiecken markiert. Die stehen laut Legende für landschaftlich schöne Strecken. Rensle hat also Geschmack und Sinn für Natur, paßt zu ihm, besser jedenfalls als ein Job als Barpianist. Victorias Laune hebt sich, obwohl der lästige Elsner plötzlich neben ihr steht. »Sie wollen eine Tour machen?« »Sie haben es erraten.« »Wohin?« »Es geht Sie zwar nichts an, aber ich bin auf dem Weg zu Elias Rensle.« Victoria hebt herausfordernd das Kinn. Markus Elsners Laune hebt sich seltsamerweise ebenfalls. Man kann es deutlich an seinen zuckenden Mundwinkeln erkennen. »Zu Elias Rensle, soso. Wo wohnt unser gutgekleideter Dichter denn? In einer Traumvilla mit Meeresblick? Oder in einem Märchenschloß? Würde zu ihm passen, finde ich.« Victoria kämpft mit der Karte, will sie zusammenfalten. »Erstens ist Elias Rensle kein Dichter, sondern Sachbuchautor. Zweitens geht Sie das zwar nichts an, aber der gutgekleidete Rensle lebt – wie sich das für einen Mann von Intellekt gehört – sehr zurückgezogen. Beim Roque Bentaiga in der Casa Mentira.« Elsner nickt übertrieben anerkennend. »Casa Mentira, aha. Wer hat Ihnen das denn gesagt?« »Meine Mutter.« Elsner unterdrückt ein aufsteigendes Lachen. »Ihre Mutter muß eine sehr findige Person sein. Der Roque Bentaiga war schon bei den Ureinwohnern sehr beliebt. Vor allem bei den Stammesfürsten, weil niemand dort hinfand. Die hatten in der Nähe mächtige Höhlen, die Cuevas del Rey, die Königshöhlen.« »Sie sind albern.« »Es sind sehr schöne Höhlen, wirklich. Man hat sie erst neunzehnhundertfünfundneunzig entdeckt. Ein Großteil ist noch gänzlich unerforscht.« 95
»Sie müssen es wissen. Höhlenmenschen sind sicher Ihre Spezialität.« Victoria wendet sich ab und Gonzales zu, der eben eintritt und sich seine ölverschmierten Hände an einem Lappen abwischt. »Buon día, señora«, grüßt er. »Buenos días«, antwortet Victoria und kramt in ihrem Gedächtnis nach ein paar Brocken Spanisch. Endlich holt sie tief Luft, so als müsse sie ein langes Gedicht aufsagen. Sie sagt es sehr laut auf: »Quisiera, ehem, alquilar, ehem, un, un … automobil.« »Sie meinen coche. Auto heißt coche«, korrigiert Elsner amüsiert und lächelt Gonzales an. Der lächelt zurück. Victoria runzelt die Stirn. »Ich kann das alleine, verdammt noch mal. Also, quisiera alquilar un coche con frenos.« Jetzt runzeln Gonzales und Elsner simultan die Stirn. »Sie wollen ein Auto mit Bremsen? Ja, glauben Sie denn, es gibt auch welche ohne?« Elsner schüttelt den Kopf. »Halten Sie sich da raus. Meine Mutter hat gesagt, daß die Autos hier nicht in bestem Zustand sind. Sie muß es wissen, sie wohnt schließlich in diesem Kaff.« Gonzales richtet sich zu voller Größe auf, jeder Zoll Empörung. »Wer iste Ihre Mutter, die sagt so etwas?« »Oh, Sie sprechen deutsch? Pardon, wenn ich das gewußt hätte.« Victoria wird rot. »Meine Mutter, Charlotte Wohlzogen, muß sich geirrt haben, tut mir leid.« Gonzales' Gesicht hat sich in ein einziges Lächeln verwandelt: »Si, Charlotte! No, sie irrt nie. Sie macht nur gerne eine kleine Witz. Also, was möchten Sie haben? Eine Twingo oder meine Clio, der iste brennend neu, sehrrr wendig.« Victoria legt den Zeigefinger an die Lippen, überlegt kurz. »Wendig ist gut, ich muß nämlich in die Berge zum Roque Bentaiga.« »Heute?« fragt Gonzales nüchtern. Victoria nickt. Gonzales schüttelt den Kopf. »Das ist nicht gut, señora. Im Radio sie haben gemeldet eine tempestad, eine Unwetter.« 96
»Ein bißchen Regen macht mir nichts. Ich bin nicht als Touristin hier«, sagt Victoria fröhlich. »Nix bißchen Regen. Da platzt eine große Eselsbauch«, erklärt Gonzales. Victoria schaut fragend. Elsner stützt sich auf die Theke und erklärt: »Panza de burro, also Eselsbauch, nennt man hier die Passatwolken, die sich an der Nordseite des Gebirges sammeln. Meist sorgen sie nur für Nebel und Nachttau, aber heute regnen sie sich sintflutartig ab.« »Mir reicht es jetzt mit den meteorologischen Vorträgen. Haben Sie keine anständigen Reifen an den Autos? Mit Profil?« fragt Victoria und stellt Gonzales' Geduld auf eine harte Probe. Elsner mischt sich wieder ein. »Hören Sie, wenn Gonzales sagt, Sie sollten nicht fahren, sollten Sie auf ihn hören. Wenn in der Gegend richtig was runterkommt, ist das nicht ungefährlich. Im Februar wurden unvorsichtige Wanderer auf einem Berggrat von einem Regensturm erwischt, einer ist die Steilwand hinabgespült worden.« »Ich habe nicht vor zu wandern.« »Das werden Sie aber müssen. Man wird einige Bergstrecken und die unbefestigten Pisten sperren. Mit dem Auto kommen Sie nicht weiter. Seien Sie vernünftig. Kein noch so begnadeter Autor ist das Risiko wert.« »Ein Elias Rensle ist noch ganz andere Risiken wert.« »Sie reden wie ein unvernünftiges kleines Kind.« Victoria haßt es, wenn man ausgerechnet ihr Unvernunft unterstellt. ›Spaßbremse‹ aus dem Mund einer Mutter, die das Niveau einer Neunjährigen hat, mag noch angehen, aber der Vorwurf der Unvernunft aus dem Mund eines Lümmels, der auf alternativer Naturbursche macht, ist zuviel. »Fahren Sie morgen«, schlägt der dreiste Lümmel vor. »Wenn Sie es dann überhaupt noch wollen. Kommen Sie, ich lade Sie zu einem Essen in die Molina del Agua ein. Das ist eine hübsche Finca nicht weit von hier. Ich würde Ihnen gerne etwas über diesen Rensle erzählen.« 97
»Danke, das hatten wir schon. Señor, ich nehme den Clio. Sofort. Wo steht er?« Gonzales schaut hilflos zu Elsner hinüber, der zuckt die Achseln und geht hinaus. Wenig später steigt Victoria vor seinen Augen in einen metallicblauen Wagen, startet, legt flott den Gang ein und einen noch flotteren Start hin. Ein von hinten herannahender Getränkelaster quittiert den Start mit wütendem Hupen. Elsner lehnt sich in seinem Stuhl zurück. »Noch einen Café?« fragt Gonzales. Elsner schüttelt den Kopf. Der blaue Clio passiert den verträumten Kirchhof, verschwindet hinter der Straßenbiegung. »Keine Sorge«, sagt Gonzales und lächelt verschmitzt, »sie kommt nicht weit. Der Tank iste fast leer und die nächste estácion de servicio weit weg. Sie wird wandern müssen zurück nach Fataga, bei lustige Sonneschein. Wir wollen doch nicht, daß sie wird naß, eh?« Markus grinst. »Warum hast du das gemacht?« Gonzales grinst zurück. »Ich habe eben angerufen ihre Mama Charlotte. Wenn die sagt, meine Autos sind nichte gut, dann sie muß haben eine Grund. Der Grund ist, sie will nicht, daß ihre Tochter fährt zum Roque Bentaiga.« Elsner stößt einen scharfen Pfiff aus. »Sehr clever, die Mama.« »Si, cleverer als die Tochter. Madonna, was für eine – wie sagt man in deutsch für carroña?« »Luder«, übersetzt Elsner und zwinkert mit den Augen. Das Wort paßt auch gut auf die Mutter. Warum stellt sie ihrer Tochter diesen Rensle erst vor, um sie dann mit allen Mitteln von ihm fernzuhalten? Und warum nennt sie sein angebliches Haus Casa Mentira, Haus der Lüge? »Was schulde ich dir, Gonzales?« »Nada. Aber bringe mir das nächste Mal etwas von Doña Manuelas Medizin mit.« »Wogegen?« »Verrugas«, seufzt Gonzales und streckt die linke Hand vor. 98
Elsner schaut sich um, entdeckt eine gelbblühende Pflanze, die aus einer Mauerritze hervorrankt, geht hin, reißt sie ab. Weißer Saft quillt aus dem Stengel hervor. »Hier, streich das auf deine Warzen. Zweimal am Tag. Der Saft muß immer frisch sein. In einer Woche hast du Ruhe.« »Gracias«, sagt Gonzales etwas steif und betrachtet mißmutig die Pflanze. Als Elsner in seinem Pickup an ihm vorbeibraust, winkt der Tankwart. Dann wirft er das Unkraut in eine Mülltonne. So ein Unsinn, ohne Manuelas Gebete nutzt das Kraut ja doch nichts. Da kann er gleich in die Apotheke gehen.
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Die Tankfüllung reicht bis hinter San Bartolomé, dann gibt der Clio hinter einer Steigung stotternd auf. Victoria hat überhaupt nicht auf die Anzeige geachtet, sondern auf die blühende Bergwelt und das vulkanische Farbspiel der Felsen. Von hellem Braun, über leuchtendes Orange bis hin zu feurigem Rot reichen die Töne des Trachytgesteins, dazwischen schimmert grünlich das Phonolyt. Fasziniert hat Victoria sich an Rensles Buch erinnert, und über sein Kapitel ›Geschichten aus Stein‹ nachgedacht – und nicht über Tankfüllungen. Hinzu kamen die kniffligen, nadelengen Kehren, auf die sie sich konzentrieren mußte. Die Serpentinen haben sie zwischen schwindelerregenden Steilhängen auf 1.500 Meter Höhe geführt. Hinauf in eine grüne Oase hat sie eben noch gedacht, hat die verwilderten Orangen- und Mandelbäume im Tal und den Blick aufs ferne Meer bewundert und eine heitere Sonate von Haydn gesummt, bis der Motor dazwischengestottert und röchelnd aufgegeben hat. Jetzt ist Schluß mit heiter. Jetzt sieht sie nur noch Bäume, Aga99
ven und Opuntien, die dumm in der Gegend rumstehen, genau wie sie. Jetzt hat Victoria schlechte Laune. So allein, so mitten in der Natur, und die Sonne sticht gemein im Nacken. Ein Touristenbus zieht mit ausgedehntem Hupen an ihr vorbei. Die Insassen winken blöde. Victoria winkt auch, um den Bus anzuhalten, aber der Fahrer scheint zu glauben, sie wolle die Aussicht ins Grüne genießen. Wütend tritt sie gegen das rechte Hinterrad ihres Autos. Auf einem Fels döst eine schwarze Echse, klappt gelangweilt das linke Augenlid hoch, klappt es angestrengt wieder herunter, läßt sich in eine Geröllspalte gleiten. Victoria schaut die schmale, gewundene Straße hinab. Zurück bis San Bartolomé sind es mindestens sechs Kilometer, kurvenreiche Kilometer. Sie holt sich die Karte vom Beifahrersitz, breitet sie auf der Kühlerhaube aus. In die andere Richtung, bis Ayacata, ist es noch weiter. Außerdem geht es steil bergan, und wer weiß, ob es in den Kaffs dazwischen Tankstellen gibt. Die Dörfer sind bloß winzige Punkte, kleiner als Fliegenschiß. Verfluchter Gonzales, er hätte sie wirklich auf den leeren Tank hinweisen können. Was fällt dem Kerl nur ein? Ungehobelter Trottel. Sie beugt sich tiefer über die Karte, sucht in der Legende nach einem Symbol für Tankstellen. Ein grelles Hupen erwischt sie von hinten, sie macht einen Satz, liegt fast über der Kühlerhaube. Knirschend kommt vor ihr ein roter Twingo im Kiesbett neben der Straße zum Stehen. Die Fahrertür wird aufgerissen. »Können wir helfen? Wo wollen Sie denn hin?« Ein älterer Herr mit Hut reckt den Hals in ihre Richtung, neben ihm sitzt sorgfältig onduliert die Ehefrau. Ihr Rücken verrät, was sie vom plötzlichen Stop auf offener Straße hält; nicht viel. Victoria rappelt sich auf, schluckt ein paar deftige Schimpfworte herunter und lächelt. Hätte sie nie gedacht, daß sie mal einen von denen – von den Massentouristen – anlächeln würde. Jetzt kommt ihr Lächeln sogar von Herzen. 100
»Sie schickt der Himmel. Ich habe kein Benzin mehr.« Der Herr im Hut steckt den Kopf zurück ins Auto, so etwas muß er erst einmal seiner Ehefrau mitteilen. Die wendet daraufhin den Kopf. Kein Benzin, tststs. Der Kopf des Hutträgers taucht wieder im Türspalt auf. »Na, nun kommen Sie mal erst von der Straße weg. Ist ja lebensgefährlich, wenn Sie da einer von hinten erwischt«, empfiehlt er väterlich. Dann steigt er aus und rückt sich energisch den Gürtel seiner Shorts zurecht. So muß er das mal in einer TV-Serie gesehen haben, in ›Highway Patrol‹ etwa. Seine Frau steigt vorsichtshalber auch aus. Ihr Mann geht auf Victoria zu. »Kein Benzin?« fragt er im Ton eines Werkstattchefs. »Ja, aber wie können Sie denn ohne Benzin losfahren?« will seine Frau wissen, ganz vorwurfsvolle Mutti. »Der Autovermieter in Fataga hat mich nicht darauf hingewiesen«, verteidigt sich Victoria und kommt sich lächerlich vor. »War der denn von der TUI?« fragt der Mann im Hut streng. »Nein«, sagt Victoria ärgerlich, während der Mann die Reifen ihres Autos einer Kontrolle unterzieht. Peinlicher Auftritt, denkt Victoria ärgerlich. Der Auftritt erinnert sie leider an ihren eigenen bei Gonzales. »Wenn Ihnen das nämlich bei der TUI passieren täte«, sagt der Mann fachkundig, »würde ich mich beschweren.« Seine Frau nickt und sagt: »Aber so was passiert bei der TUI natürlich nicht. Uns ist so etwas jedenfalls noch nie passiert. Wir lesen alles genau durch, bevor wir unterschreiben. Und ohne Warndreieck fahren wir nie los.« Das ist ein Vorwurf. Victoria will keine Verwarnungen und Verbrauchertips, sondern Benzin. »Könnten Sie mich vielleicht bis zur nächsten Tankstelle mitnehmen?« »Wir sollen Sie abschleppen?« fragt entsetzt die Frau. »Das geht doch gar nicht bei den Kurven hier. Also, das mache ich nicht mit, Hermann. Das geht wirklich zu weit. Hinten hatte die Straße nicht 101
einmal Leitplanken.« »Nein, ich will nicht abgeschleppt werden«, wirft Victoria ungeduldig ein. »Ich brauche nur Benzin von der nächsten Tankstelle.« Der Mann mit dem Hut nickt und nickt und nickt, so als habe er eben den entscheidenden technischen Fehler am Motor des Autos gefunden oder den Fehler in der Relativitätstheorie. »Da haben Sie aber wirklich Glück, Fräulein. Da haben Sie wirklich Glück, daß Sie ausgerechnet mich getroffen haben. Ich sorge nämlich immer vor.« Victoria zweifelt daran. »Hermann!« mischt sich seine Frau vorwurfsvoll ein und steht da, wie ein Ausrufungszeichen. »Du hast doch nicht etwa schon wieder? Das ist hier doch verboten. Bei der Hitze. Da könnten wir glatt explodieren während der Fahrt! Was sagt man dazu.« Ja was? Victoria kann beide nur anstarren. Natürlich gleiten die Gespräche zwischen älteren Ehepaaren des öfteren ins Absurde ab, aber dieser Dialog grenzt gefährlich an Irrsinn. Der Mann mit Hut scheint den Irrsinn zu genießen, er guckt extraschlau. »Jutta, Jutta, Jutta«, sagt er endlich tadelnd, »jetzt siehst du mal, wie recht ich immer habe.« »Hol das sofort da raus«, schrillt seine Frau und deutet auf die Kofferraumklappe. Hermann ruckt wieder an seinem Gürtel herum, geht mit wiegenden Schritten auf den Kofferraum zu, während seine Jutta Deckung unter einem schütteren Olivenbaum sucht. Der Mann öffnet die Klappe und zieht triumphierend einen Reservekanister unter einer Picknickdecke hervor. »Da«, sagt er und präsentiert den Kanister wie eine Trophäe. »Ich nehme nämlich gerne Ersatz mit, falls man sich verfährt.« »Du hast gesagt, das wäre nur Wasser für die Batterie«, tadelt seine Frau. »Weil du überängstlich bist. Ich parke immer, ich wiederhole, immer im Schatten. Da kann überhaupt nichts passieren.« Er reckt das Kinn, dreht die Kanisterkappe auf und befestigt den Einfüllstutzen am Schraubverschluß. 102
»So, Fräulein, dann wollen wir Sie mal wieder flottmachen.« Victoria lächelt erleichtert, während das Benzin gluckernd in den Tank ihres Clios fließt. Sie ist deshalb so erleichtert, weil sie im Hang unter ihnen einen Pick-up entdeckt hat, der die Serpentinen hochrumpelt. Sie kann sich schon denken, wer in dem Pick-up sitzt, dieser vermaledeite Elsner. Der freut sich wahrscheinlich schon auf seinen Triumph, sie hilflos am Rande der Landstraße aufzulesen. Der Herr im Hut hält den Kanister beinahe senkrecht über die Tanköffnung. »Nur nichts vergeuden, sage ich immer.« Er rüttelt den Kanister. Wenn er könnte, würde er ihn auswringen, denkt Victoria ungeduldig. Der Herr im Hut schraubt die Tanköffnung zu, klappt den Deckel darüber. Dann klopft er dem Clio das Hinterteil, als sei das Auto ein Westernpferd, vielleicht, weil die Landschaft hier oben ein wenig an Karl May erinnert. »Na, da haben wir dich ja wieder flott. Sie schaffen es damit locker bis zur nächsten Tankstelle«, sagt er und postiert sich mit stolzgeschwellter Brust neben dem Auto, um Dankesbezeugungen entgegenzunehmen. Victoria hat dazu aber keine Zeit. Der Pick-up lauert hinter ihr, noch eine Serpentine, dann hat er sie eingeholt. Sie springt in ihr Auto, schlägt die Tür zu, dreht den Zündschlüssel und saust los. Die Landkarte auf der Kühlerhaube bäumt sich kurz auf, der Fahrtwind drückt sie für einen Moment an die Windschutzscheibe, dann flattert sie seitwärts über eine Leitplanke, segelt hinab ins Tal. Das Ehepaar steht in einer Staubwolke und starrt staunend der Karte, dann dem Clio nach. »Siehst du, Hermann, das hat man davon, wenn man anderen hilft. So eine ungezogene Person! Der sollte man den Hintern versohlen. Wirklich unverschämt, diese jungen Frauen heutzutage. Nicht mal bezahlt hat sie für das Benzin«, schimpft Jutta. »Laß mal, das kostet hier doch nicht viel«, antwortet kleinlaut der Ehemann. »Trotzdem«, beharrt Jutta, »so was tut man nicht, so was ist…« 103
Was so was ist, versteht ihr Mann nicht, denn jetzt braust ein Pickup an ihnen vorbei. Kurz nach der Steigung hat der Fahrer ordentlich Gas gegeben, nutzt das kurze gerade Stück zur Beschleunigung. »Sieht ja aus wie eine Verfolgungsjagd«, bemerkt der Herr im Hut und rückt noch energischer an seinem Gürtel herum. »Wir fahren nur bis zum Restaurant Tenderetunte, dann drehen wir um«, sagt warnend seine Frau, als sie das begehrliche Glitzern in den Augen ihres Mannes entdeckt. »Denk an den Regen, hörst du!« »Ja, ja. Trotzdem.« »Nichts da. Wir sind hier im Urlaub, da habe ich keine Lust auf deine Extratouren und erst recht nicht auf Regen. Du bist nicht Michael Schumacher. Das ganze Jahr über freut man sich auf ein bißchen Ruhe und Sonne, und dann…« Ihre Stimme klingt ein bißchen naß. »Die holen wir sowieso nicht mehr ein«, brummt Hermann. Tatsächlich will Markus Elsner den Clio keinesfalls aus den Augen verlieren, denn jetzt geht es richtig in die Berge, und die höchsten Gipfel liegen in dichtem Nebel. Victoria achtet nicht auf den Nebel, der in weiter Ferne liegt, sie testet genüßlich ihre Eignung zur Rennfahrerin auf kurvenreicher Steilstrecke. Ein wenig ist es, als führe man auf einer Eisenbahnplatte spazieren. Hübsche einbogige Brücken führen über schmale Schluchten, die Kurvenführung könnte von einem Bewegungstherapeuten gestaltet sein. Victoria erinnert sie an einen langsamen Walzer, man muß beim Beschleunigen, Kuppeln, Schalten und Abbremsen einen fließenden Rhythmus beibehalten. Sie legt sich mit in die Kurven. Sehr schön. Nach zwanzig Minuten entdeckt sie vor sich einen Busparkplatz und gegenüber eine Bar, eine Tankstelle und einen Laden der örtlichen Agrar-Kooperative. Sie beißt sich auf die Lippen, überlegt kurz, dann setzt sie den Blinker, fährt rechts heran. Nachdem sie getankt 104
hat, lenkt sie das Auto hinter den Laden, damit es von der Straße aus nicht zu sehen ist. Eine kurze Pause hat sie verdient, und ihren lästigen Verfolger kann sie auf diese Weise endgültig loswerden. Der fährt todsicher vorbei. Sie steigt aus, läuft um den Laden herum, späht auf die Straße. Leer. Genüßlich schlendert sie zu der Bar. Tenderetunte heißt sie und wirbt auf holländisch, französisch, englisch und deutsch für ›Fresche Mangosaft‹. Davor steht ein Busbegleiter mit Videokamera und filmt eine Gruppe Touristen. »Hallo familia, machen winka, winka«, befiehlt er. »Familia, winka, winka.« Im Restaurant stellen sich die Insassen des Touristenbusses an der Theke für den freschen Saft an. Unbekümmertes Stimmengewaber füllt den hallenartigen Raum, darüber erhebt sich in regelmäßigen Abständen die Stimme des Barmanns: »Fresche Mangosaft gibt viele potenzia.« Fröhliches Urlaubsgelächter ist die Antwort. Seufzend reiht Victoria sich in die Schlange ein, kramt nach einem Pesetenschein. »Nix kleiner?« fragt der hektische Barmann, während er ihr ein Glas hinschiebt und schon wieder seinen ›Potenzia‹-Spruch in die Menge schreit. Jemand klackt ein paar Münzen auf den Tresen und nimmt sich das Glas. Victoria schaut auf. »Gehen wir auf die Terrasse?« fragt Markus Elsner und hält ihr das Glas hin. »Können Sie mich nicht endlich in Ruhe lassen?« faucht Victoria. Von hinten drängeln durstige Touristen nach. Victoria und Elsner werden auf die Terrasse hinausgedrängt. Sie setzen sich an den letzten freien Plastiktisch, der gegenüber von der Toilette und direkt in der prallen Sonne steht. Vor der Toilette stehen die Touristen Schlange, die ihren Mangosaft bereits getrunken haben. Wenn sich die Toilettentüren öffnen, schlägt einem künstlicher Fichtennadelduft entgegen. Victoria rümpft die Nase. 105
»Ekelhaft«, sagt sie. »Sie haben sich diese Bar ausgesucht. Ich wollte Sie woanders hin einladen. Die Mühle von Fataga ist ein kleines Paradies ohne Raumspraygeruch. Aber Sie geben dieser Insel und mir einfach keine Chance.« Victoria trinkt ihren Saft in einem Zug, stellt das Glas ab. »So, ich fahre jetzt weiter, und Sie lassen mich gefälligst in Ruhe. Das, was zwischen uns gewesen ist, berechtigt Sie nicht, mich zu verfolgen.« Sie erhebt sich. »Was ist denn zwischen uns gewesen?« »Das wissen Sie doch am besten.« »Jedenfalls besser als Sie. Da war nichts. Jedenfalls nicht das, was Sie denken. Ich entbrenne nicht auf den ersten Blick in Leidenschaft für eine Frau. Erst recht nicht, wenn sie so ungezogen ist wie Sie.« Victoria schaut kalt auf ihn herab. »Und warum verfolgen Sie mich dann ständig?« »Weil ich nichts Besseres zu tun habe.« Elsner grinst. »Außerdem interessiere ich mich für die legendäre Casa Mentira und Elias Rensle. Seine Arbeit begeistert mich.« »Kann ich mir denken, daß Sie Menschen, die arbeiten, richtig bewundern. Adios.« »Sie sollten ab hier wirklich nicht mehr weiterfahren«, sagt Elsner ernst. »Die Touristen drehen auch vor dem Roque Nublo um. Von dem werden sie übrigens nicht viel sehen. Er wird seinem Namen heute mehr als gerecht, liegt völlig im Nebel, richtige Hexenküche da oben.« »Ich bin keine dämliche Touristin, die sich im Bus über die Insel schaukeln und von ein bißchen Nebel aufhalten läßt.« »Nein, Sie sind eine dämliche Kulturreporterin, die sich von einem Stehgeiger verschaukeln läßt. Was Ihre Männerkenntnis anbelangt, sind Sie bemerkenswert naiv. Und stur. Dabei waren Sie neulich nachts so anders, als Sie mir von Ihrem Vater erzählt haben. Ihr Vater ist wirklich ein herzloser Idiot.« Victoria schneidet ihm das Wort mit einer deftigen Ohrfeige ab. 106
»Autsche«, sagt ein vorbeieilender Kellner und lacht. Die Touristen vor der Toilette wenden sich mit einhelligem Interesse dieser ungewöhnlichen Abwechslung zu. Der Mann mit Hut und seine ondulierte Frau sind auch darunter. »Hermann«, sagt die Frau, »das ist bestimmt eine Liebesgeschichte. Der Kerl saß doch in dem Geländewagen, vor dem sie weggefahren ist. Ich würde zu gerne wissen, was er ihr angetan hat.« »Er ihr?« brummt Hermann. »Natürlich, warum sollte sie ihn sonst ohrfeigen?« »Das hättest du vorhin doch auch am liebsten getan.« »Da wußte ich noch nicht, was für ein gemeiner Kerl hinter ihr her ist. Der muß ihr irgend etwas getan haben. Hat sie beschwindelt oder betrogen.« »Und warum fährt er ihr dann hinterher?« »Keine Ahnung, aber schau dir nur mal sein Gesicht an. Ein echtes Schurkengesicht. Diese Narben.« Ein wohliger Schauer durchrieselt Jutta. »Du guckst zu viele von diesen TV-Romanen auf RTL. Ständig dieser Unsinn über große Gefühle und Liebesdramen. Da, die Toilette ist frei.« »Wie kannst du in so einem Moment an Toiletten denken.« Jutta reckt den Hals, um Victoria nachzuschauen. »Nun geh schon, Liebesdramen interessieren mich nicht, ich bin schließlich seit fünfunddreißig Jahren verheiratet.« »Ach Hermann, du bist sooo unromantisch. Typisch Mann.« Von hinten kommen zustimmende weibliche Seufzer. »Tut mir leid, Jutta, aber vor einer besetzten Toilette überkommen mich selten romantische Gefühle.«
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Victoria hat nach ihrer handfesten Einlage den Kopf nach hinten geworfen und schreitet aufrecht die Terrasse ab, hinein in den Barraum. »Alle mal herhören, alle mal herhören«, ertönt drinnen gerade die Stimme des Fremdenführers. »Ich habe eine bedauerliche Mitteilung für Sie. Leider müssen wir unsere Ausflugsroute aufgrund der Wetterlage heute ein wenig abändern. Die Paßstraße ist wegen des starken Regens gesperrt.« Protestgemurmel wird laut. Victoria geht einfach weiter. So ein Unsinn, alles nur ein Haufen unselbständiger Shortsträger. Sie holt ihr Auto, läßt es volltanken und fährt ab. Zwischen Eukalyptusbäumen, wildem Zuckerrohr und blühenden Ginstersträuchern geht es weiter bergan. Überhaupt kein Problem. Ein Wegweiser kündigt bereits den berüchtigten Nebelfelsen an. Nach einer Weile erheben sich schroffe Felstürme neben der Straße, tiefrot leuchtet der Fels bei La Plata. Kiefern erheben sich auf kargen Böden. Immer dichter stehen sie auf den Berggraten. Sieht aus wie deutsches Mittelgebirge, findet Victoria und freut sich über die freie Fahrbahn, als plötzlich Geröllhaufen auftauchen. Schilder warnen vor Steinschlag. Feine Dunstschleier liegen über der Straße. Sie nimmt das Gas zurück. Ach was, so schlimm wird es nicht werden. Immerhin kann sie noch deutlich die Graffitis an den Felswänden erkennen, die die Unabhängigkeit Gran Canarias einfordern. Die Schilder, die ›in casa de lluvia‹ – im Falle von Regen – die Sperrung der Straße verkünden, sieht sie nicht. Sie passiert Ayacata, das im Schatten einer schwarzen Felswand liegt, drohend schweben große Felsvorsprünge über der Straße. Wieder liegt Geröll auf der Strecke, konzentriert weicht sie aus, den Blick fest auf den Asphalt geheftet, bemerkt sie die dichte Nebelwand erst, als sie bereits mittendrin ist. Sie schaltet die Nebelscheinwerfer ein und sucht mit den Augen 108
die weiße Markierung am Fahrbahnrand. Die Strecke geht steil nach oben. Als sie auf einer Geraden ankommt, setzt Regen ein, schraffiert nadelfein die Windschutzscheibe. Victoria stellt die Wischer auf Intervallschaltung. Vorsichtig steuert sie das Auto immer an der weißen Markierung entlang. Hat sie doch gewußt, daß nur ein bißchen Regen herunterkommen würde. Diese Einheimischen übertreiben immer maßlos. Kein Wunder, wie soll ein Kanarier auch wissen, was richtiger Regen ist? Ohne es zu wissen, passiert sie den linker Hand steil aufragenden Roque Nublo, fährt hinein in eine völlig geschlossene Wolkendecke, die das Sonnenlicht endgültig schluckt und die Landschaft völlig verschleiert. Vor ihr leuchten die Rücklichter eines Lasters auf, sie bremst ab, die Rücklichter schwenken nach rechts aus. Victoria hängt sich einfach dran. Läuft prima. Bis die Vorderreifen des Clios knirschend über einen unbefestigten Seitenstreifen rollen. Jäh öffnet sich unter ihr ein klaftertiefes Tal. Sie lenkt gegen, bringt den Clio sicher auf die Fahrbahn zurück. Wo, verflucht noch mal sind nur die Rücklichter des Lasters hin? Und wo genau ist die Fahrbahn? Es geht in engen Kurven bergauf, soviel ist klar. Sie kurbelt das Seitenfenster herunter, späht in den Nebel, strömender Regen klatscht ihr ins Gesicht. Ziemlich ungemütlich und empfindlich kühl, aber kein Grund, aufzugeben. Im Gegenteil, das Abenteuer beginnt, ihr Vergnügen zu machen. Von wegen Spaßbremse, denkt sie grimmig und drückt aufs Gaspedal, als sie vor sich wieder die Rücklichter entdeckt. Aha, es geht also nach links. Klappt doch hervorragend, bißchen nervenaufreibend, aber interessant, so ins Nichts hineinzufahren. Gibt es hier überhaupt noch Dörfer, Menschen, Ziegen, Bäume, Berge – irgend etwas außer zwei Rücklichtern? Achtung, es geht scharf rechts, wieder links, rechts, noch mal rechts und jetzt? Mächtig bergab, soviel ist klar. Warum wird es mit einemmal so holperig? Der Clio hüpft, als habe er einen Hustenan109
fall, beginnt zu schlingern, spitze Steine fliegen gegen das Bodenblech. Wo zum Teufel sind die dämlichen Rücklichter hin. Mit zusammengekniffenen Augen starrt Victoria in den Nebel. Die Hand vor den Augen könnte man draußen nicht sehen. Zugleich herrscht eine bedrohliche Stille. Ein lauter Knall zerreißt sie, es folgt das Geräusch von platzendem Glas, ein Stein prallt von der Windschutzscheibe ab, die nur noch aus einem milchigen Rißmuster besteht. Panisch umklammert Victoria das Lenkrad. Das Auto schlittert bedenklich. Sie will die Rutschpartie beenden, da schießt der Clio – Schnauze voran – nach unten. Jetzt sieht sie wieder was. Sie sieht den Stamm einer mächtigen Kiefer, die direkt auf sie zurast. Unsinn, Bäume haben doch keine Räder, denkt sie. Dann folgt der Aufprall. Dann nichts mehr.
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»Fahr nicht so schnell«, schimpft eine außergewöhnlich verstimmte Stefanie. »Ich dachte, du willste sofort in die Tal von Fataga«, verteidigt sich Sanchez mit entschuldigendem Unterton. »Ja, aber lebend. Gerade hast du den Laster da geschnitten und ein Taxi abgedrängt.« Sanchez lehnt sich im Fahrersitz zurück. »Das machte nichts. Wir fahren alle eine bißchen temperamentevoll. Ah, siehst du da vorne die Fabrik?« »Welche von den Fabriken meinst du, Sanchez, die ganze Küste hier ist eine einzige Fabrikanlage.« »Da drüben, die Zementefabrik. Die ist meine.« »Hör endlich auf mit diesen Kindereien. Weißt du, wie man das 110
bei fünfjährigen Jungen nennt? Omnipotenzphase. Die rennen dann überall rum und behaupten: Das Haus habe ich gebaut, das ist mein Wagen.« »Aber das iste meine Fabrik, und das«, er deutet auf das imposante Armaturenbrett seines Jaguars, »iste wurklich mein Auto.« »Halt die Klappe, Sanchez. Ich muß nachdenken.« Keine Frage, Stefanie ist ganz gegen ihr eigentliches Naturell auf Krawall gebürstet. Streitlustig sieht sie zu Sanchez hinüber. Das geht seit einer Stunde so. Angefangen hat es beim Anflug auf Gran Canaria. Angefangen hat Sanchez, findet Stefanie. Angefangen hat alles mit seinem Satz: »Liebeling, iche muß dir jetzt eine große Geheimnis über mich verraten.« »Ja?« hat sie ermutigend gefragt und den Blick von dem geschlossenen Wolkenteppich über dem Bergmassiv der Insel abgewendet. Wolken findet sie ausgesprochen interessant, erst recht Wolken über Gran Canaria. Gehört sich schließlich so für eine Wetterfee, auch wenn sie dienstfrei hat. »Ehem, ich habe dir nicht gesagt die ganze Wahrheit über mich. Du denkst doch, daß ich verdiene meine Geld als eine Bauarbeiter, si?« Stefanie hat gelächelt. »Das haben wir doch schon besprochen. Es war süß von dir, dir die Geschichte von einem Montageauftrag auszudenken, nur um mich wiederzusehen. Ich bin dir nicht böse.« Sie hat seinen Arm gestreichelt, so lieb und so verliebt. »Aber ich bin überhaupt keine Bauarbeiter. Jedenfalls nicht richtig, nur so zume Spaß, manchemal.« Stefanie hat weiter gelächelt: »Das macht doch nichts. Im Gegensatz zu Victoria ist es mir egal, wenn du nur ein Swimmingpoolreiniger bist. Warte mal ab, bei uns im Sender findet sich bestimmt ein Job für dich. Pförtner oder Hausmeister oder so was. Du bist doch so ein hervorragender Handwerker.« Sie hat aufmunternd seinen Arm gedrückt. »Bei euch in die Sender? Du meinste, ich soll arbeiten in Deut111
scheland?« Sanchez hat halb gerührt, halb alarmiert ihre Hand genommen. »Guck nicht so entsetzt. Wir können doch in jedem Urlaub hierhinfliegen. So teuer ist das nicht, Liebling. Mit zwei Gehältern können wir uns das leisten, und vielleicht können wir ja bei deiner Familie wohnen, die hat doch sicher ein Häuschen hier.« Sanchez hat schuldbewußt die Augen niedergeschlagen. »Si, si, wir können sicher wohnen bei meine Familie, aber ich kann nicht arbeiten in Deutscheland, ich habe zuviel Arbeit hier.« Stefanie hat sich aufgesetzt. »Du verdienst in Deutschland viel mehr Geld, Sanchez. Bestimmt. Aber laß nur, wir können das alles noch in Ruhe besprechen. Jetzt will ich erst mal Victoria auftreiben. Ich mache mir wirklich Sorgen. Die Sache mit deinem Freund gefällt mir nicht. Ich meine, eine Frau wie Victoria würde sich doch nicht in einen Mann wie Markus verlieben. Nicht, daß ich das gut finde… Ach egal, wir fahren zum Haus von Charlotte, dann wissen wir mehr.« Sanchez hat sich geräuspert und seinen Gurt enger gezogen. Das Flugzeug befand sich im Landeanflug. »Über meine Freund Elsner muß ich dir auche noch ein Geheimnis verraten.« Und dann hat er angefangen: Er hat sich als Sohn eines Hotelund Bauunternehmers vorgestellt, seine beiden Fincas beschrieben, sein Büro in Las Palmas erwähnt, das Hotelprojekt bei Mogan. Gerade war er so richtig schön in Schwung und wollte en passant noch die Sache mit seinem Freund Markus aufklären, als Stefanie ihre Hand weggezogen und ihn mit einem Blick zum Schweigen gebracht hat, der ihn ein ganz klein wenig an Victoria erinnert hat. Rums hat in diesem Moment die Maschine auf- und Stefanie zu einer Strafpredigt angesetzt. »Sanchez, deine Phantasie in allen Ehren, aber jetzt solltest du wirklich Schluß machen. Wenn du nicht in Deutschland leben willst, gut, aber denk dir nicht solche Lügengeschichten über Fincas und Bauvorhaben aus, um mich hierherzulocken. Das ist nicht komisch, 112
okay? Jetzt müssen wir erst mal Victoria finden.« »Aber, iche lüge nicht. Victorias Mama kann es dir sagen.« Stefanie hat sich energisch aus ihrem Sitz geschlängelt. »Nichts kann sie mir sagen, sonst hätte sie das ja wohl Weihnachten schon getan, als du ihren Pool gesäubert hat.« Seufzend hat Sanchez sich erhoben und die Gepäckklappen geöffnet. »Dann wird Markus es dir eben sagen.« »Soso, da bin ich aber mal gespannt. Wie ein Lügner sah er eigentlich überhaupt nicht aus.« Sanchez hat mit ihrem Kosmetikkoffer vor ihr gestanden und verzweifelt dreingeschaut. Stefanie mußte lächeln. »Gib mir den Kosmetikkoffer. Ich kann verstehen, wenn es gegen deine männliche Ehre geht, damit herumzulaufen.« Sanchez hat geseufzt. »Markus iste aber leider ein Lügner, viel schlimmer als ich«, hat er dann gesagt. »Ja klar, weil es um seinen Freund geht, wird er versuchen, dir beizustehen«, hat Stefanie geantwortet. »Aber du und ein Millionär, nee, das wird er mir dann doch nicht auf die Nase binden wollen.« »Vergisse den Millionär für eine Moment. Glaubst du mir wenigstens, wenn ich dir sage, daß Markus Elsner der berühmte Autor Elias Rensle ist?« »Kein Wort.« »Setze dich.« »Wir müssen aussteigen.« Stefanie hat wieder ein wenig wie Victoria ausgesehen. »Setze dich, ich zeige dir Elias Rensle.« »Sanchez, laß das. Schau nur, die meisten sind schon raus.« »Setze dich. Immidiatamente. Oder ich werde sehr böse, maldita sea!« Sie hat sich gesetzt und gefragt, ob sie sich schon wieder in einem Mann getäuscht hat. Bitte, bitte nicht. Nicht in Sanchez. Der hat inzwischen am Reißverschluß eines Rucksacks herumgenestelt – Elsners Rucksack, den sie heute morgen im Hotel abgeholt haben. Endlich hat der widerspenstige Reißverschluß nach113
gegeben. Sanchez hat zwischen T-Shirts und Rasierzeug gekramt und ein Buch hervorgezogen. Spanischer Titel. Kennt Stefanie nicht, nur den Autorennamen: Elias Rensle. Er hat ihr das Buch in die Hand gedrückt. »Lese.« »Kann ich nicht.« Sie ist aufgestanden. »Dann gucke die Bild.« »Sanchez? Was soll das? Das ist eine Zeichnung vom Erdball, na und?« »Hinten ist die Bild, die ich meine.« Sie hat das Buch umgedreht und sich wieder hingesetzt. Gesetzt? Nein, sie ist einfach in den Sitz zurückgeplumpst. »Das gibt es doch nicht, das kann doch nicht wahr sein! Unmöglich. Das glaube ich nicht.« »Por dios! Iste das so schwerrr? Lies Rensle einfach rückewärts. Den Namen, na?« Stefanie hat das Buch wieder umgedreht, auf den Autorennamen gestarrt, laut buchstabiert: »E-L-S-N-E-R.« »Preciso! Elsner! Markus Elsner iste Elias Rensle, die Mann, die deine Freundin Victoria unbedingte treffen will.« Stefanie ist sprachlos gewesen. Bis zur Gepäckhalle, bis zum Zoll, bis in die Ankunfthalle. Sanchez ist es ganz mulmig gewesen dabei, aber wenigstens hat sie nicht mehr zornig geguckt und ist brav in sein Auto eingestiegen. Wortlos, obwohl das Auto immerhin ein Jaguar ist. Endlich hat Stefanie ihre Sprache wiedergefunden. »Wir müssen sofort Victoria finden. Keine Minute darf sie mit deinem Freund Rensle länger Zusammensein. Das ist doch nicht normal, daß ein Mann eine Frau so belügt.« »Er wollte immer sein inkognito, und deine Freundin war nicht nett, si?« »Womit sie ja wohl recht hatte. So ein Hochstapler.« »No, no. Markus iste nicht der Hochstapler. Das iste ein anderer! Eine Fremde hatte gestern nacht abgeholt Victoria von hier und hatte gesagt, er ist Elias Rensle!« »WAS?« 114
Sanchez hat verzweifelt die Schultern gehoben und beide Arme ausgebreitet. »BIST DU VERRÜCKT? Faß das Lenkrad wieder an, wenn du schon Michael Schumacher spielen mußt.« Seitdem hat Sanchez das Lenkrad nicht mehr losgelassen. Seitdem rätseln sie über den doppelten Rensle. Jeder für sich, denn wenn Sanchez, wie gerade eben, etwas über seine Fabriken erzählt, kommt es doch nur zum Streit. Schweigend biegen sie beim Autobahnkreuz von Maspalomas endlich in die Straße nach Fataga ein. Stur und wie taub starren beide geradeaus, so stur, daß sie die Frau, die an einer Ampel gegenüber von ihnen anhält, wild hupt und winkt, überhaupt nicht beachten.
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Die Frau ist Charlotte Wohlzogen auf dem Weg nach Playa del Ingles. Sie muß da dringend ein Gespräch führen. Deshalb hat sie keine Zeit, Sanchez hinterherzufahren, der wahrscheinlich zu ihr will. Warum nur? Egal, sie muß erst mal Michael Harder einen Besuch an seinem Arbeitsplatz abstatten, um einige Dinge klarzustellen. Vor allem, daß er die Finger von ihrer wildgewordenen Tochter lassen soll, die gerade im Norden bei Wind und Wetter nach Michael Harder alias Elias Rensle sucht, um mit ihm ein sehr intimes Interview zu führen. Das war doch überhaupt nicht geplant. Natürlich sucht Victoria im Norden vergebens, aber was, wenn sie den falschen Rensle morgen oder übermorgen hier im Süden sucht? Victorias neue berufliche Hartnäckigkeit ist beängstigend. Genau wie ihr Männergeschmack. Liegt sicher an ihrem Papakomplex. 115
Charlotte drückt seufzend eine Zigarette im Aschenbecher aus, klappt ihn zu und lenkt das Auto durch einen Kreisverkehr. Bei der Carretera General biegt sie ab. Harder ist kein Mann mit Anstand und Gewissen, sonst hätte er nicht soviel Geld für seinen kleinen Gastauftritt als menschenscheuer Starautor verlangt. Menschenscheuer Starautor? Sie denkt an die Abschiedsszene zwischen ihm und ihrer Tochter, gestern nacht. Sie hat alles genau durch ein Seitenfenster beobachtet. Der verfluchte Harder hat seinen Part in eine Gigolorolle umgestrickt. Und das auch noch mit Erfolg, wie sie heute morgen im Gespräch mit Victoria entsetzt feststellen mußte. Dabei sollte er nur den Lockvogel spielen, um sie nach Gran Canaria zu bringen und dann verschwinden, auf Nimmerwiedersehen, ganz der menschenscheue Starautor eben. Dem Lockvogel wird sie den Hals umdrehen. Charlotte setzt bei einer Bungalowanlage den Blinker, fährt die Auffahrt hoch und findet eine Parklücke. Schwungvoll steigt sie aus. Kopfschüttelnd betrachtet sie den tristen Torbogen aus Beton, der den Eingang zur Anlage bildet. Wirklich keine erste Adresse, ziemlich heruntergekommen. Harder hat sich konsequent nach unten gearbeitet, dabei ist er mal ein begabter junger Pianist gewesen. So begabt, daß er seine Ausbildung an einer Musikhochschule in Deutschland geschmissen hat, nach einem umjubelten Gastauftritt hiergeblieben ist, um die schnelle Mark in großen Hotels zu machen und das Strandleben zu genießen. War ein bißchen zu viel Strandleben und zu wenig ernsthafte Arbeit. Erstklassige Hotels und Bars buchen ihn nicht mehr, weshalb er jetzt in dieser drittklassigen Anlage arbeitet. Charlotte schlendert über einen asphaltierten Weg, vorbei an gelbbemalten Bungalows mit arg vernachlässigten Gärten. Bunte Handtücher über den Mäuerchen müssen als Farbkleckse die Vegetation ersetzen. An der Poolbar beschweren sich Neuankömmlinge lautstark dar116
über, daß sie diese Anlage überhaupt nicht gebucht haben. Was sicher stimmt. Diese Anlage wird bei Überbuchungen gerne als Ausweichquartier benutzt. Das steht sogar im Kleingedruckten des Reisevertrags. Aber wer beschäftigt sich in seinen Urlaubsträumen schon mit Kleingedrucktem? Die enttäuschten Touristen müssen ihre Beschwerde sehr lautstark vortragen, weil ein Team in Blaumännern eben einer der letzten, vertrockneten Palmen neben dem Pool mit einer Kettensäge zu Leibe rückt. Davon stand auch nichts im Reisekatalog. Der Barmann hört den Touristen aufmerksam zu, nickt verständnisvoll, gibt einen Drink aus. Das gehört zu seinen Aufgaben. Er ist der ›good guy‹. An der Rezeption stehen hingegen die ›bad guys‹, deren Job es ist, die Beschwerden mit versteinerten Mienen und Achselzucken zu beantworten. Seufzend geht Charlotte weiter, diese Anlage ist wirklich ein Schandfleck, erweckt einen völlig falschen Eindruck von der zauberhaften Insel. Sie erreicht die Diskothek, einen schäbigen Flachdachbau, der sich großartig Bodega-Lounge nennt. Auf einer Programmtafel neben dem Eingang steht: 16 Uhr: Lustiger Spiel mit Musik und Onkel Micky. 21 Uhr: Bingo mit Michael. Charlotte Wohlzogen grinst schadenfroh. Harder steht in einem kleinen, verglasten Kabuff mit Tonanlage, Mischpult und Mikrofon. »Chupa, Chupa, Chupa«, dröhnt ein spanischer Kinderschlager über Schnuller durch die Lautsprecher. Zwanzig Kinder hopsen grölend auf der Tanzfläche vor dem Kabuff herum. Jedesmal wenn Harder den Regler runterfährt und die Musik abbricht, müssen sie sich auf den Boden fallen lassen, wer stehenbleibt, ist raus. Harder vertreibt über Mikrofon eben ein paar Verlierer von der Tanzfläche, dreht sichtlich gelangweilt das Schnullerlied wieder auf. Den Kindern macht das nicht eben einfallsreiche Spiel trotzdem Spaß und Harder wenig Arbeit. Charlotte geht lächelnd an den Kleinen vorbei. Ihr Lächeln vertieft sich, als sie sieht, wie genervt Harder von der ganzen Sache ist. Geschieht ihm recht. Sie zwängt sich durch die schmale Tür zu ihm ins Kabuff. 117
»Was machen Sie hier?« fragt Harder verblüfft und fährt die Musik ein wenig herunter. Man sieht ihm an, daß ihm seine Arbeit peinlich ist. »Ich muß mit Ihnen reden, wegen meiner Tochter. Ich will, daß Sie ihr aus dem Weg gehen. Ihr Part ist vorbei, klar? Letzter Vorhang.« »Das kommt aber sehr plötzlich. Ich habe mich gerade so schön an meine neue Identität gewöhnt. Und Ihre Tochter war begeistert von mir.« »Bilden Sie sich nur nicht zuviel ein, Onkel Micky!« Ein leises, wissendes Grinsen schleicht sich in Harders Gesicht. »Nanana, das klingt ja nach wütender Löwenmutter. Ihre Tochter ist da ganz anders. Sie will mich unbedingt wiedersehen, hat sie gestern gesagt. War ein sehr rührender Abschied unterm Sternenhimmel, ausgesprochen romantisch. Ich wäre gerne dageblieben. Vielleicht wird's heute abend was.« Harder dreht die Musik wieder hoch. Charlotte zieht den Regler nach unten. Zwanzig Kinder plumpsen vor der Glasscheibe aufs Parkett und gucken gespannt. »Sie bleiben ab jetzt gefälligst, wo der Pfeffer wächst, verstanden?« herrscht Charlotte Harder an. »Und wenn Ihre Tochter mich da findet?« fragt Harder. »Dann werden Sie ihr die Wahrheit sagen.« »Die Wahrheit?« Harder mustert Charlotte mit verschlagenem Blick. »Welche Wahrheit meinen Sie denn?« »Die, daß Sie nicht Elias Rensle sind.« Von der Tanzfläche dringt Protestgeschrei zu ihnen herüber. »Weitermachen, Onkel Micky. Onkel Micky.« Harder schaltet sein Mikro wieder ein. »Für heute ist die Kinderdisco beendet.« »Und wer hat gewonnen?« will ein Sechsjähriger wissen. »Keiner.« Er schaltet das Mikro aus und die Musik wieder an. »Lästige Bande.« »Das geht nicht, Onkel Micky«, findet der Sechsjährige, und die 118
anderen finden das auch; sie versammeln sich vor dem Kabuff, klopfen an die Glasscheibe. »Das geht wirklich nicht«, ergreift Charlotte Partei für die Kinder. Dann nimmt sie das Mikrofon, schaltet es ein. »Onkel Micky findet, daß ihr alle gewonnen habt und auf seine Kosten Fanta, Eis und Pommes frites an der Poolbar bestellen sollt.« Jubel, noch mehr Geschrei, Fußgetrappel Richtung Ausgang. »Sind das nicht alles kleine Engel? Es ist so einfach, wenn man weiß, wie man Kinder behandeln muß«, bemerkt Charlotte. »Und jetzt stellen Sie endlich dieses scheußliche Schnullerlied ab.« Harder kommt ihrer Bitte nach, dann dreht er sich langsam zu ihr um: »Soll ich Ihrer Tochter denn auch erzählen, daß Sie mich dafür bezahlt haben, diesen Rensle zu mimen?« »Natürlich nicht«, Charlotte schüttelt ärgerlich den Kopf. »Ich soll also eine neue Rolle spielen? Die Rolle des windigen Hochstaplers, der unschuldige Frauen grundlos belügt, Mütter und Töchter, Witwen und Waisen, hm?« »Das dürfte Ihnen kaum schwerfallen.« »Und die Gage?« »Sie machen sich lächerlich. In keinem Krimi der Welt bezahlt man einen Erpresser dafür, daß er die Wahrheit sagt.« »Sie wollen, daß ich die halbe Wahrheit sage.« »Nur, falls Sie Victoria überhaupt noch mal treffen, und das werden Sie nicht. So hatten wir es schließlich von Anfang an abgemacht.« Harder wiegt übertrieben nachdenklich den Kopf. »Mag sein, aber ich habe mich entschlossen, mein Engagement als Rensle zu verlängern. Ich denke da an Candlelight-Dinners, Tanzvergnügungen, romantische Inselausflüge. Das ganze Programm. Sie sagten doch, daß Ihre Tochter Abwechslung braucht.« »Ich wollte nur, daß meine Tochter hierherkommt. Für ihre Unterhaltung sorge ich selber.« »Vielleicht will sie aber lieber von mir unterhalten werden.« Harder lehnt sich bequem an das Mischpult. »Sie haben doch eine Verlobte!« protestiert Charlotte. 119
»Das läßt sich leicht ändern.« »Sagen Sie mal, was wollen Sie eigentlich von Victoria? Erzählen Sie mir jetzt bloß nicht, Sie seien in sie verliebt. Victoria ist gar nicht Ihr Typ.« Harder zieht die Schultern hoch: »Victoria hat viele persönliche Vorzüge.« »Wenn Sie das Geld ihres Vaters zu ihren Vorzügen zählen, liegen Sie falsch. Er hat Victorias monatlichen Zuschuß gestrichen und ihren Erbanteil zugunsten seiner neuen Familie auf das Pflichtteil reduziert. Außerdem hat er vor, sehr alt zu werden.« Harder richtet sich mit einem Haifischgrinsen auf. »Sie beleidigen mich, Frau Wohlzogen. Ich denke nicht nur an Geld. Ich denke vielmehr an meine Karriere als Musiker. Dafür würde ich sogar Ihre wunderbare Tochter aufgeben. Trifft es sich da nicht ausgezeichnet, daß Sie so exzellente Kontakte haben? Eine Empfehlung aus Ihrem Munde…« »Empfehlung als was? Als Künstler für lustige Spiele mit Musik? Ich mache mich doch nicht lächerlich. Vergessen Sie es.« »Gern, und dieses Gespräch vergesse ich auch. Seien Sie bitte so freundlich und bestellen Sie Victoria herzliche Grüße von mir. Ach nein, nicht nötig. Morgen muß ich sowieso nach Fataga fahren. Da schau ich dann vorbei, um ihr die Wahrheit zu sagen. Oder ich gebe ihr das Interview, auf das sie so scharf ist. Sie verehrt diesen Rensle ja wie einen Gott.« Charlotte zieht die Tür auf und wendet sich zum Gehen. »Nichts da, Ihr Part ist gespielt, und Sie haben Ihr Geld bekommen. Sollte ich Sie noch einmal in der Nähe meiner Tochter treffen, gibt es Ärger. Und wenn ich mich ärgere, dann könnte es passieren, daß Sie demnächst nicht einmal mehr in einem Schuppen wie diesem auftreten. Eine Empfehlung aus meinem Munde genügt, verstanden, Onkel Micky?« Harder packt sie beim Arm. »Ich verstehe durchaus, aber Sie haben mich anscheinend nicht verstanden. Für den Anfang würde mir ein Engagement im Paradiso 120
genügen. Da sind Sie doch Stammgast, oder? Zufällig weiß ich, daß denen für die Frühlingsgala morgen noch ein Solokünstler fehlt. Wäre ein toller Saisonauftakt für mich, ein Neubeginn. Also?« Charlotte reißt sich los. »Sie sind doch verrückt. Da hat man Sie vor einem Jahr achtkantig rausgeworfen, weil Sie ständig betrunken waren.« »Jetzt bin ich nicht betrunken, und Sie kennen den Besitzer. Emilio Pardenes soll einer Ihrer ältesten Freunde und Verehrer sein, heißt es. Es handelt sich also nur um eine Gefälligkeit, völlig kostenlos. Sie sehen, ich bin ein Ehrenmann.« Charlotte wirft den Kopf zurück und stolziert wortlos aus dem Kabuff. Hart zieht sie die Tür hinter sich zu. Die Glasscheiben klirren leise. Harder begleitet ihren Abgang mit dem Chupa-Lied. Dämlicher Hornochse, flucht Charlotte. Wirklich dämlich, aber sie ist auch nicht viel gescheiter. Schließlich hat sie diesen Hornochsen engagiert, in seinem Stamm-Pub, direkt von der Theke weg. Fabelhafte Schnapsidee, beim nächstenmal muß sie den letzten Cocktail wirklich weglassen. Die Kinder winken fröhlich von der Poolbar zu ihr herüber. Sie winkt zurück. Wie lästig, sich so ernste Gedanken zu machen, die passen weder zum Wetter, noch zur Insel. Da hilft nur ein ausgiebiger Shopping-Bummel. Soll sagenhaft sein, dieses neue Parfüm von Dior. Als sie ihr Auto erreicht, ist ihre Laune wiederhergestellt. So schlecht war ihre Idee mit dem falschen Rensle auch wieder nicht. Immerhin hat sie Victoria damit hierhergelockt. Die Erbschaftsgeschichte muß schließlich geklärt werden, das Kind verbaut sich sonst die ganze Zukunft. Gutgelaunt nimmt Charlotte Kurs auf ein Einkaufszentrum in San Augustin, passiert Vergnügungsmeilen mit unzähligen Bars, Pubs, Restaurants und Hotels. Am Horizont schimmert weiß das Paradiso, ein Fünfsterneschmuckstück direkt am Meer. Die Aussicht von der Felsenterrasse ist fabelhaft, genau wie die Shows, die Partys und die Gäste, nirgendwo sind die Nächte länger und lebhafter. 121
Natürlich ist sie dort Stammgast, natürlich kennt sie Emilio Pardenes, ausgezeichneter Tänzer, heiter, fürsorglich, höflich, ein echter Canario. Harder will doch nur eine kleine Empfehlung im Paradiso. Warum eigentlich nicht? Er ist ein Idiot, aber ein guter Pianist. Charlotte hat sich wieder mit der Welt versöhnt. Das ist nun einmal ihr Naturell. Nein, denkt sie unbekümmert, es spricht nichts gegen eine kleine Empfehlung. Selbst wenn Victoria an ihrem Rensle-Wahn festhält, ist es unwahrscheinlich, daß sie Harder dort aufspürt. Schließlich haßt Victoria nichts mehr als das Nachtleben von San Augustin und Playa del Ingles. Wie hat sie noch heute morgen gesagt? »Mit dem Paradiso kannst du mich jagen.« Es hat ausnahmsweise mal sein Gutes, daß sie so eine hochnäsige Spaßbremse ist.
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»Wie haben Sie das bloß hingekriegt?« Markus Elsner steht kopfschüttelnd neben dem zerbeulten Clio. Die Front ist völlig eingedrückt, und die Kiefer im Kühlergrill hat Schlagseite, ihr Stamm ist gesplittert. »Ich bin den Rücklichtern eines Lasters gefolgt«, sagt Victoria ein wenig kläglich und sucht mit der rechten Hand Halt am Baum, der ächzend weiter abknickt. Mit der Linken umklammert sie ihr Notebook, das braucht sie ja noch. Wann sie es aus dem Auto geholt hat, weiß sie nicht mehr, sie weiß überhaupt nichts mehr seit der Sache mit der rasenden Kiefer. Sie schwankt ein bißchen, denkt nach. Ziemlich schwierig, auf diesem Hang und umwabert von Regen und Wolkendunst das Gleichgewicht zu halten. »Plötzlich ging es rasend schnell bergab, und die Lichter waren weg.« »Kann ich mir denken. Der Lastwagenfahrer hatte sicher nicht vor, 122
diesen Steilhang runterzusausen, sondern irgendwo einen Rastplatz gesucht, bis die Straßen wieder passierbar sind. Hier geht es übrigens ziemlich tief runter, sechshundert Meter schätze ich. Sie haben wirklich Glück, daß die Kiefer im Weg stand. Für die Kiefer war das allerdings das Todesurteil.« »Rührend, daß Sie sich um den blöden Baum solche Sorgen machen«, schimpft Victoria, während sie ihre Stirn betastet und die warme Flüssigkeit fühlt, die unter ihrem Haaransatz hervorsickert. Ihr wird sofort schwindelig. O nein, nicht das, nicht schon wieder Blut, bitte. Sie kann nun mal kein Blut sehen. Nur nicht daran denken. Elsner starrt immer noch den Baum an. »Der ist mindestens achtzig Jahre alt, eine Schande ist das. Jeder Baum hier oben ist eine Kostbarkeit. Wußten Sie, daß die Kiefernnadeln die Wolken auskämmen und so für Feuchtigkeit sorgen? Das Kondenswasser sammelt sich auf den Nadeln, tropft herab. Selbst wenn es Monate nicht regnet, sorgen die Kiefern für Wasser. Früher war das ganze Gebirge ein Lorbeer- und Kiefernwald.« »Heute ist es weiß Gott auch so feucht genug«, knurrt Victoria und stützt sich auf die Kühlerhaube. »Sie können wirklich froh sein, daß Ihnen nicht mehr passiert ist«, sagt Elsner vorwurfsvoll und wendet ihr das Gesicht zu. »Herrje, Sie bluten ja.« »B-b-bitte reden Sie nicht drüber«, sagt Victoria und fängt an zu zittern. Auch das noch, der Schock läßt nach, ihr Kopf schmerzt plötzlich, und der Nebel wird dunkel. Elsner kommt auf sie zu. »Lassen Sie mal sehen. Nun seien Sie nicht albern, ich muß mir das anschauen. Ich will Ihnen helfen.« Victoria weicht benommen zurück. »Ich brauche keine Hilfe«, sie schaut ihn an und muß blöde lächeln. Ist aber auch lustig, wie sein Gesicht zu kreiseln beginnt. Ach was, lustig, das Gesicht mag sie doch überhaupt nicht. »Weg«, sagt sie kraftlos. »Finger weg.« Seine Hand kommt direkt auf sie zu, sie umklammert ihr Note123
book, macht einen Schritt nach hinten. Dumme Idee, hinten ist nämlich nichts, ihr Bein hängt einfach in der Luft. »Hilfe«, krächzt sie kläglich. Elsner bekommt sie im letzten Moment zu fassen, reißt sie hoch. Leblos liegt sie in seinen Armen. Nicht zu glauben, denkt er kopfschüttelnd, nachdem er die Schnittwunde am Haaransatz untersucht hat. Nur ein bißchen Blut und eine Gehirnerschütterung, aber Victoria, the Untouchable, fällt wieder einmal in Ohnmacht. Was für eine Frau! Muß sich erst den Schädel einrennen oder die Hand aufschneiden, damit sie ein bißchen sanftmütig wird. Schöne Aussichten. Er nimmt sie hoch, legt einen ihrer Arme um seinen Hals und macht sich an den Aufstieg. Ziemlich mühselig der Weg durch Nebel und über unebenes Gelände, aber er schafft es bis zu seinem Auto, das oben auf der Bergpiste steht. Kopfschüttelnd entdeckt er noch einmal die Bremsspuren kurz vor der Böschung. So eine eigensinnige, sture Person. Aber immerhin hat sie es tatsächlich bis zum Roque Bentaiga geschafft, die Felsformation liegt direkt vor ihnen und dahinter eine faszinierende Höhlenlandschaft. Man sieht nur nichts davon. Er läßt Victoria vorsichtig auf den Beifahrersitz gleiten. Sie ist immer noch bewußtlos und so verdammt schmal. Merkt man gar nicht, wenn sie ganz bei sich ist und ihren Victoria-Wohlzogen-Panzer trägt. Versonnen betrachtet er sie. Wäre schade, sie einfach ins nächste Dorf zu schaffen und zu warten, daß sie wieder wach wird, um die Hochnäsige zu spielen und sich neue Beleidigungen für ihn auszudenken. Langsam geht sie ihm damit wirklich auf die Nerven. Außerdem ist da noch die Sache mit der Ohrfeige. Elsner grinst. Keine Frage, diese eingebildete Prinzessin ›Finger-weg‹ hat eine kleine Lektion verdient. Und er hat eine richtig gute Idee. Könnte gehen. Fast sieben Uhr. Er muß sich beeilen, bei der Wolkendecke wird es hier oben bald stockfinster sein. Gut, daß sein Wagen geländetauglich und der Weg nicht weit ist. 124
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»Ich will sofort in ein Hotel.« »Aber Stefanie, wir können doch hier warten bis Señora Charlotte zurückkommt, um alles aufzuklären. Sie iste bestimmt nur einkaufen in Playa del Ingles. Sie kaufte sehrr gern ein.« »Interessiert mich nicht«, schimpft Stefanie und stapft die Auffahrt der Villa hinab. »Ich will jetzt in ein Hotel und meine Ruhe. Ich muß nachdenken.« Seufzend folgt Sanchez ihr. Er öffnet ihr die Beifahrertür und schickt sich in die Rolle des stummen Chauffeurs. Stefanie glaubt ihm kein einziges Wort mehr. Eben hat sie sogar bezweifelt, daß der Wagen ihm gehört. »Den hast du sicher nur von einem deiner Auftraggeber geliehen. Als Car-Sitter oder so.« Schweigend geht es zurück durch das Tal von Fataga, vorbei am archäologischen Museum, wehrhaften Fincas, einem Reitstall. Stefanie hat ihr Handy ausgepackt und versucht, Victorias Nummer anzuwählen. »Hier in die Tal bekommst du keine Verbindung, Liebling. Du mußtest schon steigen auf ein Palme.« »Ach, halt die Klappe, Sanchez.« Hat er das verdient? Na warte, denkt er. Wenn sie erst das Hotel sieht, muß sie mir glauben. Genau, das ist es. Im Hotel wird sie endlich die Wahrheit erkennen. Ha, das wird eine Überraschung. Hoffentlich ist die Honeymoon-Suite frei. Hoffentlich schaffen sie es noch bis zum Sonnenuntergang und auf die Terrasse. Sanchez seufzt wohlig auf, als er in Gedanken seine Stefanie auf die Terrasse führt, mitten hinein in ein pfirsichfarbenes Abendlicht, und hinter ihnen wartet das Schlafzimmer mit dem antiken Himmelbett. Was für eine Kulisse für eine Versöhnung, er fühlt bereits, wie weich die Kissen sind. Sein nächster Seufzer klingt noch wohliger. »Du findest es wohl lustig, daß ich Vicky nicht erreiche?« raunzt 125
Stefanie ihn an. Sanchez plumpst aus dem Himmelbett. Wenig später steuert er den Jaguar durch das quirlige Treiben von Playa del Ingles. Die ersten Abendbummler suchen – frisch geduscht und nett zurechtgemacht – nach einer geeigneten Cocktailbar. Sie mischen sich mit den letzten Strandrückkehrern, die – leicht gebräunt oder arg verbrannt – Schwimmkrokodile und aufgerollte Badematten zurück ins Hotel tragen. Vor den Bars leuchten Lampionketten, Kellner rücken die Stühle zurecht. Sanchez biegt bei einem Wegweiser auf die C 812 in Richtung San Agustin ab. Rechter Hand taucht das Meer auf. »Wo bringst du mich überhaupt hin?« will Stefanie wissen. »Es soll sehr schwer sein, während der Osterferien auf eigene Faust eine Unterkunft zu finden.« »Es iste unmöglich, außer für mich«, sagt Sanchez. »Beim gegenwärtigen Stand der Dinge möchte ich lieber nicht bei deinen Verwandten schlafen«, sagt Stefanie und ist dabei ein wenig verlegen. Das klingt so melodramatisch und nach Trennung. »Keine Angst«, sagt Sanchez und lächelt. »Das Haus meiner Verwandten iste sehr groß und hat viel Betten.« »Sanchez, fang nicht schon wieder damit an.« Ihr Gefährte biegt wortlos durch ein schmiedeeisernes Tor in eine großzügig geschwungene, steile Einfahrt ein. Hohe, sattgrüne Palmen säumen den weiß gepflasterten Weg, Bougainvilleen ergießen sich über die Mauern. Vor dem Portal zum Paradiso wartet ein livrierter Page. »Aber Sanchez, das ist doch ein Hotel! Und viel zu teuer für mich. Das hat mindestens vier Sterne.« »Fünf, mi corazón. Fünf Sterne.« Sanchez hält an, reicht dem Pagen, der höflich den Kopf neigt, den Autoschlüssel. »Füre mich ist nichts zu teuer.« »Sanchez, laß diesen Blödsinn, bitte. In Deutschland konntest du dir nicht mal ein Zimmer leisten. Du mußt dich nicht in Unkosten stürzen, um mir etwas zu beweisen.« 126
»Hier kann ich schlafen kostenlos.« »Weil du den Pool reinigst?« fragt Stefanie ungläubig. Verwirrt verfolgt sie ein kurzes, ausgesprochen herzliches Gespräch zwischen Sanchez und dem Pagen. Natürlich versteht sie kein Wort, aber soviel ist klar, der Page scheint Sanchez für den besten und wichtigsten Swimmingpoolreiniger Gran Canarias zu halten. Zum Schluß tippt er sich an die rotgoldene Mütze, so als grüße er einen General, der ein verflixt toller Kerl ist. Sanchez steigt die Marmorstufen zur zweistöckigen Empfangshalle hoch. Stefanie stolpert sprachlos hinter ihm her. Die Wunder nehmen kein Ende, denn an der dichtumdrängten Rezeption erkundigt sich der Manager sofort und persönlich nach Sanchez' Wünschen. Sehr persönlich. Er streckt Sanchez die Hand entgegen, scherzt aufgeräumt, lacht herzhaft über einen Witz, den Sanchez eben gemacht haben muß, und sagt dann nur: »Si, si, cierto. Immidiamente.« Alle anderen Wartenden sind Luft für den Hotelchef, obwohl unter den Wartenden distinguierte Herren im Abendanzug und Damen im kleinen Schwarzen sind. Sie riechen nach erlesenen Parfüms und sehr viel Geld. Das müssen sie auch haben. Erschrocken studiert Stefanie die diskret angebrachte Liste mit den Zimmerpreisen: Doppelzimmer mit Frühstück dreihundert Mark. Und das auf Gran Canaria. Sie zupft Sanchez am Ärmel, der sagt nur: »Nicht jetzt« und scherzt weiter mit dem Manager. Der winkt nach einem Kofferboy. Der Boy flitzt durch die riesige Halle, als trainiere er für einen 100-Meter-Sprint, lauscht den knappen Befehlen des Empfangschefs, nimmt sein Lauftraining wieder auf und erscheint kurz danach mit ihrem Gepäck. »Sanchez, was, was soll das?« fragt Stefanie stammelnd. »Nicht jetzt, Liebling, wir müssen uns schnell beeilen, die Sonne geht bald unter. Sehr schnell, wir dürfen nichte verpassen. Komm, komm.« Er eilt dem Kofferboy hinterher, als wolle er am Sprinttraining teilnehmen. Stefanie schließt sich an. Sieht so aus, als seien sie vor irgend etwas auf der Flucht. Ob Sanchez einen kleinen Deal mit dem 127
Manager ausgeheckt hat? Ihr Blick fällt durch ein Panoramafenster hinab in die riesige Garten- und Parklandschaft des Hotels, die auf mehreren Felsterrassen angelegt ist. Drei verschiedene Poollandschaften zählt sie auf den ersten Blick. Wenn Sanchez die alle reinigen muß… Unsinn, sie schüttelt den Kopf, als sei Wasser hineingeraten. Sie will ihre albernen Gedanken herausschütteln. Vor ihnen gleiten Fahrstuhltüren auseinander, Sanchez drängt Stefanie in den Lift. Schon die Kabine ähnelt einer Luxusunterkunft. Dicker königsblauer Teppich bedeckt den Boden, die Wände sind verspiegelt, hinten ist eine mit Brokat gepolsterte Sitzbank angebracht, die Fahrstuhlknöpfe blinken golden. Der Kofferboy steckt einen Schlüssel in die Knopfleiste, dreht ihn herum, dann drückt er die oberste Taste. Stefanie kommt es so vor, als sause der Fahrstuhl mit Lichtgeschwindigkeit nach oben. Nach ganz oben, fast bis in die Wolken. Zwölfter Stock, und der Boy mußte erst einen Schlüssel benutzen, um den Knopf für diese Etage zu entsperren. Warum? Plötzlich hat sie die Lösung gefunden. Natürlich, wahrscheinlich hat Sanchez hier sein Angestelltenzimmer. Die wohnen doch immer unterm Dach. Süßer Sanchez, ein bißchen hat er zwar geflunkert, aber in einem Palast wohnt er tatsächlich, und seine Kollegen lieben ihn. Er ist aber auch zu liebenswert, wenn man von seinen Phantastereien absieht. Vielleicht ist das seine Art von Humor. Vielleicht hat er alles nur erfunden, um sie zu beeindrucken, oder sie von ihren Sorgen um Vicky abzulenken. Überhaupt, Vicky. Deren hochnäsige Art hat ihn wahrscheinlich erst zu den Lügen verführt. Stefanie lächelt schüchtern in eine der Spiegelwände. Sanchez fängt das Lächeln auf und lächelt zurück. Ein bißchen enttäuscht ist er zwar, daß am Ende doch sein Reichtum für die Versöhnung sorgt, aber was soll er machen? Er ist nun einmal reich, und sein Vater Emilio Pardenes ist der pequeño con128
de. Der Lift kommt sanft federnd zum Stehen. Die Türen öffnen sich und geben den Blick auf ein Zimmer von der Größe eines Tennisplatzes frei. Sanchez eilt durch den Raum, stößt eine Flügeltür auf, die auf eine Terrasse hinausführt. Ungläubig sieht Stefanie am Horizont das Meer aufblitzen. Das Zimmer scheint direkt darüber zu schweben. Der Kofferboy verabschiedet sich diskret, nachdem er das Gepäck in einen Nebenraum gebracht hat. Hinter Stefanie schließen sich die Lifttüren. Vorsichtig setzt Stefanie einen Fuß vor den anderen. Der Teppichboden ist stolperdick, die Absätze ihrer Schuhe versinken darin, barfuß muß das ein herrliches Gefühl sein. Mit großen Augen betrachtet sie die dunklen Möbel mit den Schnitzereien, an den Wänden hängen ein paar Drucke von Picasso. Drucke? Sie traut ihren Augen nicht, als sie unter einer Zeichnung die Signatur des Meisters erkennt, bleistiftdünn, aber ziemlich echt. »Komm, komm, Stefanie, gleich ist die Sonne aus.« Sanchez steht in der Terrassentür und winkt. »Was, was machen wir hier?« fragt Stefanie und betrachtet das Himmelbett mit seinen bestickten Kissen. Eine Rose liegt darauf. »Was soll das?« fragt sie und deutet auf die Blume. »Das gehörte dazu in unsere Honeymoon-Suite. Genau wie die Champagner.« Er öffnet einen hohen Schrank, der sich als Bar entpuppt, entnimmt ihr zwei Gläser und eine Flasche. Mit geschickten Fingern entfernt er den Golddraht über dem Korken. »Sanchez, laß das. Wir können doch nicht, so was mache ich nicht mit.« »Naturlich können wir. Das gehört alles mir. Nun ja, das Haus gehört meinem Vater, aber ich habe bald auch eine sehrrr schöne Hotel bei Mogan.« Ein dumpfes Ploppen, Champagner zischt im Flaschenhals hoch. Sanchez beugt sich über ein Tischchen auf dem die Gläser stehen, schenkt ein, will sich wieder umdrehen. ›Pling‹ macht es in seinem Rücken. Die Fahrstuhltüren sind wie129
der aufgegangen. ›Pling‹ gehen sie wieder zu. Hinter Stefanie. Der Lift entführt seine Angebetete nach unten. »Maldito!« flucht Sanchez und leert sein Glas auf einen Zug.
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Gran Canaria, irgendwann, irgendwo An die Nachwelt. HILFE. Ein Irrer hat mich verschleppt. Ich sitze in einer HÖHLE. Der Irre ist weg und sucht angeblich Feuerholz. Wenn nur mein Schädel nicht so brummen würde, wäre ich längst weg. Statt dessen sitze ich hier in einem stockfinsteren Gewirr aus Gängen, und nur mein Notebook-Bildschirm leuchtet. Es ist reichlich kühl, und ich habe Angst. Der Irre behauptet, alle Straßen in der Umgebung seien gesperrt, und wir müßten wegen des Unwetters hier übernachten. Der Irre lügt! Es muß doch irgendeine Straße geben, über die er mit mir hierhergekommen ist. Leider habe ich davon nichts mitbekommen. Ich bin völlig orientierungslos, und meine Autokarte ist mir heute mittag weggeflogen. Okay, das klingt jetzt auch ein wenig durcheinander, aber Verrückte machen einen nun mal verrückt. Dieser Elsner hat mich von Anfang an geängstigt. Warum sonst werde ich immer so wütend, wenn ich auf ihn treffe? Das ist doch nicht normal. Also ich schon. Nur dieser Kerl… Wenn ich an den Traum denke, den ich auf der Fahrt vom Flughafen zu meiner Mutter hatte, die blutenden Hände, Vater, der mich am Flügel im Stich läßt, und Elsner, der mich samt Klavier über die Klippen stürzen läßt, um dann zu rufen: »Breiten Sie die Arme aus, Sie können fliegen!« Erinnert mich schwer an meine Pubertät, als ich wegen meiner Alpträume drei Jahre Therapie machen mußte. Grauslich, aber da war ich noch ein Kind, jetzt bin ich gesund und – 130
wie die Therapeutin damals feststellte – überdurchschnittlich intelligent. Intelligent genug, um einen völlig Bekloppten auf drei Meter Entfernung zu erkennen. Fürs Protokoll: Ich habe zu all dem, was je zwischen uns passiert ist, nie mein Einverständnis gegeben. Sollten diese Aufzeichnungen Gegenstand einer polizeilichen Ermittlung werden, so erkläre ich, Victoria Wohlzogen, daß ich noch bei Verstand bin und nur einen kleinen Autounfall irgendwo vor dem Cruz de Tejeda hatte. Es herrschte starker Nebel. Suchen Sie nach einem leicht beschädigten Renault Clio, der frontal gegen eine plötzlich auftauchende Kiefer geprallt ist. Der Irre, der mich hierher verschleppt hat, ist ein gewisser Markus Elsner und verfolgt mich seit etwa drei oder vier Tagen. Direkt bei unserer ersten Begegnung hat er mich betrunken gemacht und in ein Hotelzimmer in Deutschland verschleppt, damals konnte ich noch fliehen, jetzt bin ich ihm ausgeliefert. Meine Freundin Stefanie Seifert weiß mehr über ihn. Ich muß jetzt Schluß machen. Der Irre kommt mit einer Taschenlampe. Schnell klappt sie das Notebook zu, schiebt es hinter sich in eine Felsnische. »Hallo, Sie scheinen ja wieder ganz bei sich zu sein, eben haben Sie noch viel blasser ausgesehen.« Markus Elsner stellt die Taschenlampe auf den Boden. Ihr Lichtschein fällt auf eine der Höhlenwände. Sie ist mit geometrischen Mustern, archaischen Buchstaben und Figuren verziert. Elsner wirft einen kleinen Stoß Zweige auf den Boden. »Gleich wird es hier drin wärmer.« Er sieht, daß Victoria die Zeichnungen betrachtet. »Beeindruckend, nicht? Rosalia, eine Freundin von mir, arbeitet an der Entzifferung der Schriftzeichen. Bis jetzt weiß niemand, was für eine Sprache das ist. Die Kultur der Guanchen ist ein faszinierendes Forschungsgebiet.« »Kultur? Für mich sieht das aus wie Punkt, Punkt, Komma, Strich, fertig ist das Mondgesicht.« 131
»Ich sehe, daß Sie wieder ganz die alte sind. Haben Sie ein Feuerzeug?« »Ich rauche nicht.« »Sehr schade, dann wird das hiermit wohl nichts.« Er deutet auf den Stapel Holz. »Was? Ein Steinzeitfan wie Sie kann nicht mal ohne Streichhölzer Feuer machen? Mir ist kalt, verflucht noch mal. Bringen Sie mich gefälligst von hier weg.« Elsner hockt sich hin, zieht seine Jacke aus und legt sie ihr um die Schultern. »Das hatten wir doch schon, die Straßen sind wegen akuter Steinschlaggefahr gesperrt. Sie selber hatten doch eine Begegnung mit so einem herumfliegenden Brocken.« »Und wie sind wir dann hierhergekommen, wenn die Straße gesperrt ist?« »Ich habe Sie den ganzen Weg getragen.« »Haha, sehr witzig. Wie nennen Sie dieses Spiel? King Kong und die weiße Frau? Tarzan und Jane? Sie sind alberner als der DisneyTrickfilm.« »Woher wissen Sie das? Haben Sie den Film gesehen?« Erwischt, dabei macht sie so etwas immer ganz heimlich. Victoria guckt abweisend und knurrt: »Ich habe Hunger.« Elsner setzt sich auf eine kleine Bank, die in den Fels gehauen ist. Er zieht vorsichtig einige Kaktusfeigen aus seiner Tasche. »Habe ich eben gepflückt.« Victoria streckt die Hand danach aus. »Vorsicht«, warnt Elsner, »die Stacheln sind sehr fein, aber höllisch gefährlich, ich schäle sie Ihnen. Wir wollen doch nicht, daß Sie sich heute noch weitere Verletzungen zuziehen.« Er nimmt ein hübsch verziertes, scharfes Messer und macht sich geschickt an die Arbeit. Victoria mustert ihn beim schwachen Schein der Taschenlampe. »Verraten Sie mir endlich, was der Zirkus soll? Ich habe keine Lust, mit Ihnen hier die Nacht zu verbringen. So interessant ist das nicht.« »Touristen zahlen gewöhnlich eine Menge Eintritt, um die Höh132
len zu besichtigen. Man ist sich nicht sicher, ob es sich um Kornspeicher oder eine Opferstätte handelt. Die Guanchen haben ihrem Gott regelmäßig Blutopfer dargebracht.« Er reicht ihr eine geschälte Feige, das Fruchtfleisch ist tief rot. Victoria betrachtet die Feige mißtrauisch und beißt hinein. Elsner steckt sich ebenfalls eine Feige in den Mund. »Und was essen wir noch?« fragt Victoria wütend. »Nichts, es sei denn, Sie mögen rohe Eidechse. Da hinter Ihnen flitzt eben eine die Wand hoch.« »Ich hasse Echsen!« Victoria springt auf und bereut es sofort. Diese vermaledeiten Schwindelanfälle. »Mir geht es nicht gut, ich brauche einen Arzt, bringen Sie mich gefälligst hier weg.« Elsner bleibt gelassen sitzen. »Sie brauchen keinen Arzt, ich habe ihre Wunde untersucht. Zufällig bin ich Pharmakologe, das Blut ließ sich ganz leicht mit etwas Drachenbaumsaft stillen. Hier gibt es glücklicherweise ein paar der letzten Exemplare. Es handelt sich um ein Liliengewächs, äußerst interessant. Die Ureinwohner haben damit ihre Leichen mumifiziert, hat eine starke antiseptische Wirkung, tötet in hoher Konzentration alles ab. Ich experimentiere schon eine Weile mit diesen Substanzen.« Victoria läßt sich an der Höhlenwand herabgleiten, als Elsner ihr eine weitere Feige anbietet, lehnt sie ab. Sie ist jetzt fest davon überzeugt, daß sie es tatsächlich mit einem Irren zu tun hat, der sich für eine Art Medizinmann hält. Ruhig, sagt sie sich, ganz ruhig, ich muß ihn nur von der Sache mit den Leichen und den Mumien ablenken. »Sie wissen ja eine ganze Menge über die Ureinwohner«, sagt sie so sanft wie möglich und zwingt sich zu einem Lächeln. »Ja, vor allem über ihren ausgeprägten Opfer- und Totenkult. Die Guanchen sind faszinierend, sehr archaisch. Als die Spanier die Insel im vierzehnten Jahrhundert eroberten, lebten sie noch auf Steinzeitniveau.« »Na, seitdem hat sich ja nicht viel verändert«, murmelt Victoria. »Was sagten Sie?« 133
»Ach nichts.« »Also wie gesagt, Steinzeitniveau. Sie kannten kein Metall. Ihre Pfeilspitzen und Schwerter bestanden aus Obsidian. Ein hartes schwarzes Vulkangestein. Sehr scharf. Damit haben sie sogar Operationen am offenen Herzen durchgeführt. Sie müssen Betäubungsmittel gekannt haben.« Er spielt mit seinem Messer, Victoria sieht es im Schein der Taschenlampe aufblitzen. Sie sieht auch seine Narben. Hat der Irre etwa mal versucht, sich selbst zu operieren? Oder hat eines seiner Opfer sich gewehrt? »Kann ich das mal kurz haben?« fragt sie so beiläufig wie möglich und lächelt strahlend. »Wozu?« »Eh, ich würde mir gerne den Schmutz von den Schuhen kratzen.« Elsner grinst. »Der fällt morgen von alleine ab, und außer mir sieht Sie ja keiner. Hübsches T-Shirt übrigens, ist das neu?« Victoria blickt an sich herab. Sie trägt immer noch das alberne ›Viva Canaria‹-Shirt. Der I-Punkt ist jetzt ein großer Blut- oder Feigensaftfleck. Schreckliche Vorstellung, daß man ihre Leiche in so einem T-Shirt finden könnte. »Das ist von meiner Mutter«, sagt sie heiser. »Scheint, als ob Ihre Mutter eine freundlichere Einstellung zu der Insel hat als Sie. Ich würde gerne mehr über sie wissen.« Victoria schweigt. »Neulich haben Sie mir viel über Ihren Vater erzählt, wie er die Familie verlassen hat, als Sie vier waren, und daß Sie ihm jeden Abend Bilder gemalt haben, die er alle zurückgeschickt hat, genau wie später Ihre Briefe, bis ein Vaterschaftstest geklärt hatte, daß Sie seine Tochter sind. Muß ein häßlicher Prozeß gewesen sein.« Victoria legt die Hand an die Stirn, diese Seelenchirurgie ist ja schlimmer als ein Angriff mit dem Messer. »So einen Unsinn soll ich Ihnen erzählt haben?« fragt sie ärgerlich. 134
Elsner rutscht zu ihr herüber, sie drückt sich ganz eng an die Wand. »Ich finde nicht, daß das Unsinn ist. Sie haben mir noch viel mehr erzählt. Erinnern Sie sich an die Sache mit der Musikschule? Wie Sie durch die Prüfung gerasselt sind, und Ihr Vater daraufhin einen vernichtenden Brief geschrieben hat? Den ersten nach fünfzehn Jahren? Nicht eben ermutigend, und Sie hatten so hart geübt, um ihn für sich zu erobern.« Seine hellen Huskieaugen blitzen unheimlich. Jetzt flackern sie sogar. Nein, das ist die Taschenlampe. Auf einen Schlag geht sie aus. In der Höhle wird es stockfinster. »Das kann ich Ihnen nicht erzählt haben«, sagt Victoria mit hoher, dünner Stimme. Jetzt, wo es dunkel ist, hallt sie noch unheimlicher von den Wänden wider. Besser sie redet trotzdem weiter. »Ich«, setzt sie an und räuspert sich, dieses verdammte Flattern in der Stimme, da muß er doch merken, daß sie Angst hat, das darf er nicht merken. Sie reißt sich zusammen. »Ich war doch nur betrunken an dem Abend. Mein Vater ist ein großer Künstler, den ich sehr verehre. Der Rest, das sind Kinkerlitzchen. Und außerdem hat er in den letzten Jahren viel wiedergutgemacht. Denken Sie nur an den Mercedes.« »Sie haben mir verraten, daß Sie den Wagen hassen. Und was ist mit seiner neuen Familie, wegen der er Sie jetzt ein zweites Mal im Stich läßt?« fragt Elsner ganz sanft und rückt so nah an sie heran, daß sie seine Körperwärme spüren kann. Was soll diese einschmeichelnde Tonlage nun wieder bedeuten? Was für einen Knall hat der bloß? Vatermordphantasien? Ödipuskomplex? Pianistenphobie? Herrje! Pianist. Sie war doch auf dem Weg zu Rensle. Vielleicht wohnt der ganz in der Nähe, vielleicht kann sie zu Fuß dahin. Er kann sie vor dem Bekloppten neben ihr retten! »Wo sind wir hier eigentlich?« fragt sie und rückt ein bißchen von Elsner weg. »Da, wo Sie hinwollten. Jedenfalls ungefähr.« 135
»Sie meinen wir sind hier beim Roque Bentaiga?« »Wir sind sogar im Roque Bentaiga.« »Dann könnten wir doch die Casa Mentira suchen. Ich meine, es wäre doch wirklich schöner, in einem anständigen Haus zu übernachten, etwas zu essen. Ein kleiner Fußmarsch macht mir nichts aus. Wir können dort ja weiterreden.« Elsner lacht leise. So wie Irre das bekanntlich tun, denkt Victoria. Sie muß sich weiter bei ihm einschmeicheln, sein Vertrauen gewinnen, vielleicht besteht dann die Chance, daß er mit ihr geht, denn irre oder nicht: Er kennt sich hier aus. »Sie haben heute mittag doch gesagt, daß Sie sich auch für Elias Rensle und seine Arbeit interessieren. Wäre doch schön, ihn gemeinsam kennenzulernen.« »Ja«, sagt Elsner langsam, »das wäre wirklich schön, wenn wir ihn gemeinsam kennenlernen könnten.« »Dann gehen wir doch. Los, los. Wer zuerst am Höhleneingang ist.« Sie rappelt sich hoch. Elsner bleibt einfach sitzen und versperrt ihr den Weg mit seinem Arm. »Wirklich eine schöne Idee, die Sie da haben. Wir zu dritt bei einer Flasche Wein in der Casa Mentira. Aber ich fürchte, das geht nicht.« »Warum nicht?« Victoria weicht erschrocken zurück, als Elsner plötzlich eine Hand auf ihren Arm legt, sanft, aber gefährlich sanft. »Es geht nicht, weil es keinen Elias Rensle in einer Casa Mentira gibt. Elias Rensle wohnt auch nicht am Roque Bentaiga.« »So?« fragt Victoria und bemüht sich, ihren Ärger zu unterdrücken. »Ich weiß aber genau, daß er da wohnt.« »Sie wissen gar nichts, Sie halten sich nur für allwissend. Sind Sie aber nicht. Kein Mensch außer mir kann wissen, wo Rensle im Moment ist.« »Und«, fragt Victoria so freundlich es eben geht, »wo ist er?« »Was würden Sie denken, wenn ich sage, daß er direkt neben Ihnen sitzt?« 136
Aha, jetzt ist es raus! Er ist vollkommen verrückt! Und noch dazu nach ihr! Seine Hand arbeitet sich langsam zu ihrem Nacken hoch, fährt über ihren Hals, er streichelt sie, er könnte im nächsten Moment zudrücken. Victoria zwingt sich nicht darüber, sondern über Elsners Krankheit nachzudenken. Logik statt Irrsinn. Sein Irrsinn ist ein überaus interessantes psychologisches Phänomen, findet sie. Muß sich um die totale Identifikation mit dem Rivalen handeln. So was Ähnliches wie die Sache mit dem Kerl, der John Lennon erschoß, weil er sich selber für Lennon hielt. Klare Sache, wenn man bekloppt ist. Zwei Lennons sind einer zuviel. Nachdem sie die Diagnose gestellt hat, wird Victoria mit einemmal sehr ruhig. Jetzt weiß ich ja, was los ist, und kann mich auf meinen Scharfsinn verlassen. Gut, der Kerl neben ihr ist komplett irre, aber er weiß nicht, daß sie es weiß, also spielt sie am besten mit und trickst ihn aus. »Sie sind also Elias Rensle? Wie schön, ich wollte Sie unbedingt kennenlernen. Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« fragt sie sehr freundlich. So freundlich, daß Markus Elsner verblüfft seine Hand wegzieht. Victoria atmet erleichtert auf. Sie hat also die richtige Taktik gewählt. Man darf einem Irren einfach nicht widersprechen. Der Irre wirkt mit einemmal sehr gelöst und glücklich und wird ganz redselig. »Ja, ich bin Elias Rensle. Das wollte ich Ihnen schon in Deutschland sagen. Ich wollte es Ihnen in der Nacht im Hotel sagen, nachdem Sie mir so viel von sich erzählt haben. Ich kam mir ganz schäbig vor, weil ich es nicht direkt geklärt habe. Aber so, wie Sie mich bei unserer allerersten Begegnung angestarrt haben. Dieser abweisende Blick wegen meiner Narben war einfach zuviel.« Victoria unterbricht ihn. »Aber ich habe Sie doch nicht wegen Ihrer Narben angestarrt, sondern wegen Ihrer Augen. Es sind außergewöhnlich schöne Augen.« Das entspricht der Wahrheit und kommt 137
deshalb sehr überzeugend rüber, findet Victoria. »Darf ich Sie daran erinnern, daß Sie mich zweimal einen narbengesichtigen Gorilla genannt haben?« Uuups, jetzt ist Vorsicht geboten, sie darf ihn auf keinen Fall weiter reizen. Beruhigend legt sie ihre Hand auf seinen Arm, tätschelt ihn. »Da, da war ich etwas überreizt. Ein bißchen durchgedreht«, sie muß kichern, als sie das sagt, fängt sich aber wieder. »Die Sache mit meinem Vater, verstehen Sie? Ich mag Sie, ich mag Sie wirklich, aber mein Vater…« Sie bricht ab, soll er ruhig glauben, daß die Erinnerung sie übermannt. Sie markiert ein paar Schluchzer. Markiert? Seltsam, plötzlich schluchzt sie wirklich. Wie ärgerlich, aber hilfreich. Elsners Stimme wird sanft wie frischgeschlagene Sahne, er hält ihre Hand ganz fest, drückt sie. »Schon gut. Meine Narben sind wirklich sehr häßlich.« Seine Hand verirrt sich wieder in ihren Nacken. »Häßlich?« stößt Victoria hervor. Vom Schreck und vom Schluchzen bekommt sie einen Schluckauf. »Die Narben sind sehr sex-hicksy. Fast zum Verlieben.« Merkwürdig, wie oft sie dem Irren tatsächlich die Wahrheit sagen kann. Die Narben sind sexy. Die Hand klopft auf ihrem Rücken herum. Victoria zieht die Luft ein, hält den Atem an, bis der alberne Schluckauf verschwindet. »Danke für das Kompliment, aber ich finde jetzt übertreibst du, Victoria. Ich darf doch wieder du sagen? Ich meine, wo ich doch fast zum Verlieben bin.« Das klingt ein wenig schüchtern. Vielleicht hat seine Macke ja etwas mit verschmähter Liebe zu tun? Vielleicht hat sie ihn an eine Frau erinnert, die ihn einmal abgelehnt hat, oder eine Frau hat ihn… Mein Gott, ihr schwant Schreckliches. »Haben Sie, ich meine, hast du die Narben von einer Frau?« Elsner lacht kurz und bitter auf. »Nein, diese Narben nicht. Andere schon.« Er macht eine kurze Pause. Plötzlich ist seine Stimme sehr dicht an ihrem Ohr. »Aber das macht nichts. Schließlich habe ich ja jetzt dich. Du kannst alles wiedergutmachen.« Er drückt 138
einen Kuß auf ihr Ohrläppchen. Das ist ein bißchen viel, sogar für jemanden, der so scharfsinnig ist wie Victoria. Sie kann einen schrillen Entsetzensschrei nicht unterdrücken. Ein Fehler, denn jetzt nimmt Elsner sie in die Arme und drückt sie ganz fest. »Was ist? Hast du noch eine Echse gesehen? Hab keine Angst, ich habe doch ein Messer dabei. Ein Stich, und alles ist zu Ende.« Er hält sie fest und zieht etwas aus seiner Hosentasche. »Nein, nicht das Messer!« fleht Victoria. Elsner lacht auf. Dann entzündet er ein Feuerzeug. »Was bist du nur für ein Angsthase, Victoria. Ich würde nie mit dem Messer auf eine Echse losgehen, das sind wunderhübsche und völlig harmlose Tiere.« Echsen schon, aber du nicht, denkt Victoria und starrt gebannt in die kleine Feuerzeugflamme. Flamme? Sie reißt sich aus seinen Armen los. »Du hast ja ein Feuerzeug! Warum, verflucht, hast du eben kein Feuer gemacht? Ich sitze hier im Dunkeln und muß mich von einem Irren wie dir begrapschen lassen.« Mein Gott ist sie unvernünftig, aber es tut so gut, alles rauszuschreien. »Du bist ein elender Sadist, ein, ein, ein…« Sie tastet nach Halt. Findet auch Halt, an einem Stein, sehr griffig der Stein. »Victoria, was ist mit dir?« fragt Elsner, während er einen kleinen Zweig ansteckt und damit den Holzstapel an mehreren Ecken zum Glimmen bringt. »Beruhige dich, gleich ist alles vorbei. Du mußt keine Angst haben. Ich verspreche es dir.« Victoria hat den Stein fest in der Hand, holt aus.
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Stefanie sitzt am Pool, an einem der drei Pools des Paradiso. In die Cocktailbar hat man sie nicht hineingelassen – Zutritt nur in Abendgarderobe. Sie ist also nicht vornehm genug für ein Hotel, in dem der Swimmingpoolputzer die Honeymoonsuite benutzt. Stefanie kichert unvermittelt los und sagt laut: »Das gibt's nicht. Du hast einen Knall. Aber ich hab's doch gesehen. Nee, kann nicht sein. Doch. Der Swimmingpoolputzer ist ein Märchenprinz. Quatsch. Du spinnst.« Ein älteres Ehepaar geht kopfschüttelnd vorbei und betrachtet die beiden Gläser neben der jungen Frau, die so angeregt mit sich selber spricht. »Noch so früh und schon betrunken«, murmelt die Frau. Die Frau ist Jutta. »Sternhagelvoll, und das im Paradiso«, bestätigt ihr Hermann. »Jutta, die jungen Frauen heutzutage sind wirklich merkwürdig. Erst begegnen wir einer, die vor einem Schurken wegrennt…« »Den sie, Gott sei Dank, vor aller Welt geohrfeigt hat.« »Was du romantisch findest, ich weiß«, seufzt Hermann. »Ehrlich gesagt, finde ich nicht nur junge Frauen merkwürdig.« »Hermann! Ich habe dich noch nie geschlagen, und so betrunken, daß ich mit mir selber rede, bin ich auch nie.« »Leider«, murmelt Hermann. Eine so gute Vorlage kann man sich schließlich nicht entgehen lassen, dann faßt er seine Frau fester beim Arm und führt sie zur Cocktail-Lounge. Stefanie ist nicht betrunken, nur völlig verwirrt. Sie hat sich an der Poolbar, für die sie vornehm genug war, lediglich zwei alkoholfreie Bananensaft-Cocktails zum Preis von einem geholt. Happy hour. Genüßlich saugt sie durch einen Strohhalm eben die Reste von Nummer zwei vom Grund des Glases. Ihre Beine baumeln im Poolwasser, um sie herum herrscht lauschige Nacht. Vereinzelt sitzen noch Paare an den Tischchen und genießen Ur140
laubsromantik bei Mondlicht und Sternenhimmel. Vom Meer weht eine leichte Brise hoch, in der Ferne klimpert zart ein Klavier. Romantik, hihi, wenn die wüßten, was für einen Romantiker sie ihr eigen nennen darf. Sie denkt an Sanchez, der vor einer geöffneten Flügeltür steht, hinter der die Sonne untergeht, an Sanchez, der eine geklaute Flasche Champagner öffnet. Also ehrlich, das war zuviel für ihre Nerven. Aber so rührend. Zu rührend. So etwas kann es gar nicht geben. Normalerweise ist sie es, die den Jungs die Flaschen öffnet, Bierflaschen, während die Jungs, erschöpft von ihren dreigängigen Abendessen, den Fernseher hypnotisierten, um bei ›ran‹ den Ball doch noch ins Tor der gegnerischen Mannschaft zu zwingen. Nee, so einen wie Sanchez, den perfekten Latin-Lover, gibt es nicht. Erst recht nicht für sie. Sie steckt die Beine tiefer ins Wasser. Schön ist das hier. Sie kann allerdings nicht ewig hierbleiben, so dreist wie Sanchez ist sie nicht und das Hotel viel zu teuer. Die Cocktails haben zwanzig Mark gekostet. Eine Flasche Champagner kommt da mindestens auf hundertachtzig. Da wird sie Sanchez was dazugeben müssen, die Hälfte, also neunzig Mark. Mehr! Wie hat Victoria mal gesagt: »Die Preise für Champagner aus der Minibar liegen immer knapp unterm Zimmerpreis.« Victoria hat Ahnung von so was. Victoria ist sooo klug. Die hat es ja gleich gesagt, daß sie von Sanchez die Finger lassen soll. Wenn sie nur mit jemandem darüber reden könnte, jemandem, dem sie vertrauen kann. Sie zieht die Beine aus dem Wasser und ganz nah an ihren Oberkörper heran, schlingt die Arme darum. »Muchas, muchas gracias, Emilio«, sagt eine Stimme im Hintergrund. Die Stimme kennt sie. »De nada. No hay de qué«, antwortet ein Mann, nein, Herr, das hört man sofort. Aber seine Stimme kennt sie nicht. »Hasta mañana«, antwortet die Stimme, die sie kennt. Stefanie dreht den Kopf und entdeckt Charlotte Wohlzogen, die mit eiligen Schrit141
ten die Terrasse verlassen will. »Halt!« ruft Stefanie und richtet sich auf. »Frau Wohlzogen.« Charlotte wendet sich um, reckt den Kopf, kommt ein paar Schritte auf sie zu. »Stefanie! Was machst du denn hier?« »Ich, ich suche Victoria. Was ist mit ihr?« »Ach, Kindchen«, sagt seufzend Charlotte, »wenn ich das nur wüßte!« Stefanie steigt über ihre Pumps und die Cocktailgläser, die neben ihr am Beckenrand stehen und tapst – ein bißchen unsicher – auf Charlotte zu. »Sie meinen, Sie wissen nicht, wo Ihre Tochter ist?« »Doch, doch, im Grunde schon. Sie sucht diesen vermaledeiten Phantomdichter Elias Rensle.« »Sie kennen Rensle? Ist Victoria bei ihm?« fragt Stefanie verblüfft. Charlotte zögert. »Ich hoffe nicht. Das heißt, nein, sie kann nicht bei ihm sein. Unmöglich. Sie ist irgendwo oben im Norden.« Stefanie versucht Ordnung in ihre Gedanken zu bringen, wie ein aufgeschreckter Vogelschwarm schwirren sie in ihrem Kopf umher. Das ist aber auch alles ein Durcheinander. »Sanchez hat gesagt, Sie hätten gestern einen Rensle zum Flughafen geschickt, der aber gar nicht Rensle sein kann.« »Sanchez?« unterbricht Charlotte sie eilig. »Ach, den habe ich doch heute nachmittag in einem Auto auf dem Weg nach Fataga gesehen. Warst du etwa die Frau neben ihm? Na na, da ist doch wohl nichts zwischen ihm und dir?« fragt sie und hebt neckisch den Zeigefinger. Erfolgreich hat sie Stefanies Gedanken von der Rensle-Fährte abgelenkt. Stefanie nimmt Kurs auf ein neues Rätsel. »Macht Sanchez hier die Swimmingpools sauber?« Charlotte guckt verwirrt. »Ich verstehe nicht?« Sie entdeckt die leeren Gläser. Schaut zwischen den Gläsern und Stefanie hin und her, als wolle sie beider Alkoholgehalt abschätzen. »Oh, du hattest zwei Cocktails. Jaja, die haben es in sich. Da kommt man leicht auf dumme Gedanken, geht mir selber manchmal so.« 142
»Nee, da war kein Alkohol drin, nur Bananensaft«, sagt Stefanie und muß ihre Balance wiederfinden, der Beckenrand ist verflucht rutschig. »Soso, Bananensaft«, sagt Charlotte, »mit einem winzigen Schluck Wodka vielleicht? Merkt ja keiner.« »Nee, kein Wodka. Wenn ich etwas betrunken klinge, liegt das an Sanchez. Er behauptet, daß ihm das Hotel hier gehört. Das ist doch lächerlich. Ich meine, Sanchez, der bei Ihnen das Schwimmbecken saubermacht, kann doch unmöglich…« Charlotte lacht laut auf. »Du Schaf. Er hat den Pool saubergemacht, weil ihm das Haus gehört, in dem ich wohne, und weil ich eine alte Freundin der Familie bin. Kindchen, du kannst Sanchez jedes Wort glauben, das er sagt. Es ist die Wahrheit, seinem Vater gehört das Paradiso und seinem Sohn noch eine ganze Menge mehr.« »Aber Sie haben doch Weihnachten gesagt, er sei ihr Angestellter.« Meine Güte, die Geschichte hatte Charlotte längst vergessen. Müssen die Menschen ihre Flunkereien denn immer so verteufelt ernst nehmen? »Das war nur ein kleiner Scherz, weil Victoria so schrecklich hochnäsig war. Höchst amüsant, wie sie einen der reichsten Junggesellen der Insel als Fußabtreter behandelt hat. ›Sanchez machen Sie bitte auch die Fußleisten sauber.‹ Zum Totlachen. Ich muß jetzt.« Charlotte dreht sich weg. Herrje, heute ist aber wirklich der Tag der Wahrheit, wie lästig. Stefanie hat schon wieder Gleichgewichtsprobleme, verfluchter Bekkenrand und dazu der Vogelschwarm im Kopf. Das wirft den stärksten Charakter aus der Bahn. Es dauert eine Weile, bis sie wieder einen von diesen fliegenden Gedanken zu fassen kriegt. Charlotte ist bereits beim Eingang zur Cocktailbar angekommen. »Frau Wohlzogen«, ruft Stefanie noch einmal, »wenn das wahr ist, dann, dann ist Markus Elsner auch wirklich Elias Rensle.« Ist er ja auch, hat sie ja selber gesehen, mit eigenen Augen. Mein 143
Gott, wie konnte sie nur so blind sein. Warum hat sie Sanchez nicht alles geglaubt. Charlotte hat sie nicht gehört, ist längst verschwunden. Stefanie redet trotzdem weiter, wieder so laut, daß alle es hören können: »Dann hat Sanchez nichts als die Wahrheit gesagt, die ganze Zeit. Und ich bin ein ekelhafter kleiner Trottel.« »Si, aber muß du es sagen die ganze Welt?« fragt eine Stimme neben ihr. Stefanie macht vor Schreck einen Satz. Hätte sie nicht machen sollen, denn jetzt wird alles leuchtend blau und ziemlich naß, dazu der häßliche Platscher und das Chlorwasser in der Nase. Prustend und schnaufend taucht Stefanie wieder auf. Und alle sehen hin. Sanchez beugt sich über den Beckenrand. »Muchacha, wenn du willst schwimmen, dann solltest du dich vorherr ausziehen«, rät er und hält ihr die Hand hin. Stefanie greift danach, er zieht sie zu sich heran. »O Sanchez«, sagt eine schnaufende Stefanie, »willst du denn überhaupt noch, daß eine Idiotin wie ich in deinem Hotelpool herumplanscht?« »Nur, wenn die Idiotin sich in der Honeymoon-Suite auszieht und brav ihren Champagner trinkt.« »Ich glaube, trinken will ich heute nichts mehr.« »Das freute mich. Zwei Cocktails sind wirklich genug, du kleine Schnapsamsel.« »Das war nur Bananensaft, Sanchez, und es heißt Schnapsdrossel, nicht Amsel.« Sanchez hilft ihr beim Ausstieg aus dem Pool und legt sein Jackett um ihre Schultern. »Jetzt klingste du wie meine Freund Markus.« »Elsner! Also das bleibt wirklich ein Rätsel!« »Du glaubste mir wieder nicht?« Sanchez runzelt ein wenig ärgerlich die Stirn. »Doch, doch, aber Charlotte behauptet, sie kenne keinen Rensle, dabei hat sie gestern doch einen zum Flughafen geschickt.« »Charlotte ist eine geschlitzte Teufelsohr, wie ich sage immer. Wir werden rausfinden, was sie da hat eingenadelt. Morgen, wenn sie 144
kommt zu unsere große Gala.« »Welche Gala?« »Die für die Wiederaufforsterung von die Wald bei Mogan, wo ich baue noch eine Hotel. Markus kommte auch. Er ist mein Berater, seine Geld steckt mit in die Projekt. Komm, sonst erkaltetst du dich, meine liebe Amsel, unde ich kann dir nicht kaufen eine schöne Ballkleid.« Sie umrunden langsam den Pool. »O Sanchez, du mußt mir keine Ballkleider kaufen, das will ich nicht.« »Aber ich, schließlich muß mein Vater mögen meine zukünftige Frau. Er iste sehr streng mit die Schönheit.« »Deine Frau?« piepst Stefanie mehr Spatz als Amsel. »Ciertamente, ich muß dich heiraten. Auf Gran Canaria sind die Sitten sehrrr streng«, sagt Sanchez augenzwinkernd. Sie erreichen einen Außenlift, eine Glasröhre, die bis zum zwölften Stock hinaufragt. Oben spiegelt sich der Mond darin. »Dürfen wir denn dann jetzt schon zusammen in die HoneymoonSuite?« fragt Stefanie und kuschelt sich in Sanchez' Arm. »So strenge sind die Sitten hier nicht. So streng sind sie nur in Südspanien, aber das iste weit weg, und wir Canarios gelten sowieso als ungeschleifte Bauern.« Er schiebt sie durch die offenen Türen in die verglaste Kabine, drückt die Taste zum zwölften Stockwerk, langsam schweben sie nach oben. Viel langsamer als mit dem Fahrstuhl von vorhin, denn in diesem Lift soll man die Aussicht genießen. »Für einen ungeschleiften Bauern hast du einen bemerkenswerten Geschmack«, sagt Stefanie und lächelt hinreißend. »Wir fahren ja direkt in den Mond! Und das bei sternenklarem Himmel, keine Wolke, bin gespannt auf die Nachttemperaturen.« Erleichtert sieht Sanchez, daß Stefanie jetzt wieder ganz wie Stefanie aussieht und kein bißchen mehr wie dieses Biest Victoria mit Augen, die glühen wie grüne Kohlen. Stefanie benimmt sich auch nicht wie Victoria, diese unnahbare Kaltschnauze. 145
Stefanies Mund ist wunderbar warm.
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Victoria friert, obwohl das Feuer in der Höhle inzwischen munter brennt. Sie kniet neben dem leblosen Elsner. Nur nicht hinsehen, befiehlt sie sich, während sie in seiner Hemdtasche nach dem Autoschlüssel sucht. Da ist er. Sie greift nach einem der größeren Holzscheite im Feuer, prima Fackel. Sie steht auf, dann dreht sie sich doch noch einmal um. Herrje, der bewegt sich immer noch nicht, und so ruhig wie er daliegt, sieht er gar nicht mehr aus wie ein Verrückter. Sie beugt sich hinab, schiebt seinen Körper unter Mühen weiter vom Feuer weg. Schließlich soll er nicht verbrennen, das will sie doch gar nicht. Aber warum bewegt der sich noch immer nicht? So hart kann sie ihn doch gar nicht getroffen haben. Oder doch? Panik schnürt ihr die Kehle zu. Sie muß hier weg. Sie muß Hilfe holen, nicht für sich, für Elsner. Genau. Richtige Entscheidung. Sie faßt ihre Behelfsfackel fester und tastet sich durch den gewundenen Höhlengang hinaus ins Freie. Sie entdeckt, daß die hochaufragende Felswand unten durchlöchert ist wie ein Schweizer Käse. Schon beeindruckend, diese Steinzeitkultur. Vorsichtig geht sie einen Weg aus Steinstufen hinab, springt von der letzten Stufe, landet auf knirschendem, nassem Kies. Gott sei Dank regnet es nicht mehr. Und da, in hundert Meter Entfernung, leuchtet eine einsame Straßenlaterne. Sie läuft darauf zu. Unter der Straßenlaterne steht der Pick-up – hat sie doch gewußt, daß er hierher gefahren ist! Er hat sie belogen, dieser dreiste Entführer. Neben dem Pick-up steht eine Tafel mit den Besichtigungszeiten 146
für die Höhlenwohnungen. Mit zitternden Fingern bemüht sie sich, die Tür des Pick-ups aufzuschließen. Knifflig, vor allem, wenn man gleichzeitig mit ganz anderen Gedanken beschäftigt ist. Gedanken wie: Was soll das für ein Entführer sein, der sein Opfer in eine allgemein zugängliche Kulturstätte verschleppt, die montags bis freitags von 10 bis 18 Uhr geöffnet ist? Kulturstätte, ach was, Kultstätte. Das ganze Gerede von Blutopfern und Mumien war wirklich abgedreht. Der wollte sie rituell schlachten! Mit einem Obstmesser? Es war nämlich ein Obstmesser, besser ein Bananenmesser, wie sie auf der Insel als Souvenir verkauft werden. Hat sie nur zu spät bemerkt. Da hatte sie dem ungläubig dreinblickenden Elsner bereits den Stein auf die Schläfe gehauen. Endlich öffnet sich die Tür, sie klettert auf den Fahrersitz. Dreimal versucht sie zu starten, dreimal würgt sie den Wagen dabei ab. Zugegeben, eine Meisterfahrerin ist sie wirklich nicht, aber dann schafft sie es doch und gibt Gas, bis der Motor jault und ein Hund anschlägt. Ein Hund?! Wo Hunde sind, erst recht Wachhunde, sind auch Menschen. Sie legt den Gang ein, fährt an, ruckelnd lenkt sie den Wagen auf die Geröllpiste, die vor ihr im Scheinwerferlicht liegt. Nach einem anstrengenden Kilometer und einer Biegung mündet die Piste in eine sehr schmale Straße ein. Aber immerhin, eine Straße! Von wegen hier ist kein Durchkommen, denkt sie grimmig. Verfluchter Elsner, ist ihm ganz recht geschehen, daß sie ihm eins übergezogen hat. Sanft schnurrt der Pick-up über die asphaltierte Bahn. Wieder eine Biegung, an einer Felswand lehnen Absperrgitter. Dahinter entdeckt sie rechter Hand ein kleines, fast verfallenes Gehöft. Sie blendet kurz die Scheinwerfer auf. Erneutes Hundegebell. Im Scheinwerferlicht blitzt kurz ein Schild auf, und die Wörter ›Bienvenido‹ und ›zona arqueológica‹. Mehr kann sie auf die schnelle nicht entziffern, außerdem mischt sich ins Hundegebell das heisere Rufen einer jungen Frau, die aus der Tür des Bauernhauses stürzt. 147
Sie gibt Gas. Die Frau läuft auf die Straße. Victoria zögert, bremst ab, stößt kurz die Beifahrertür auf. Begleitet von Motorgebrumm schreit sie: »Da liegt ein Mann, eh, un señor. In der Höhle. In der cueva. Verletzt. Telefono ambulancia.« Die Frau, es ist eine hübsche Spanierin in Schlafshorts und T-Shirt, bleibt verdutzt stehen, scheint kein Wort zu begreifen. Wild gestikulierend deutet Victoria in Richtung der Höhlen. Diese Frau kapiert aber auch gar nichts, starrt sie nur an wie eine Verrückte. »Mucho sangre, mucho mucho sangre«, schreit sie, reißt die Tür zu und fährt ab. Sangre, genau! Das Wort für Blut kennt sie in einer Menge Sprachen, das muß die Frau doch verstehen. Aber war da überhaupt Blut? Ihr wird leicht schwummrig bei dem Gedanken. Ach Quatsch, nach so einem leichten Schlag blutet man doch nicht. So was bringt keinen um. Umbringen? Wie kommt sie denn darauf? Blöde Kuh, beschimpft sie sich. Sie umklammert das Lenkrad, konzentriert sich auf die Straße, wieder diese Kurven, die an Darmverschlingungen erinnern, wieder geht es mächtig bergan. Sie weiß nicht, wie lange sie gefahren ist, als unverhofft ein Schild auftaucht. C 811 steht darauf und Las Palmas. Sie setzt den Blinker, nach einer Weile geht es endlich wieder abwärts. Nach einigen Kilometern passiert sie ein Bergdorf, danach ist die Strecke beleuchtet. Sie führt durch stark besiedelte Vororte direkt auf eine Schnellstraße. Victoria erreicht die Auffahrt zur Autobahn, beschleunigt, fädelt sich ein. Nur wenige Autos sind unterwegs. Sie schaut auf die Uhr am Armaturenbrett. Es ist ein Uhr. Links von ihr taucht das Meer auf, kreisrund spiegelt der Mond sich darin. Er verströmt silbernes Licht, aber das Meer, findet Victoria, sieht in seinem Licht grau wie ein Leichentuch aus. Nein, nein, nein. Schluß mit diesen Mordgedanken, das ist Unsinn. Mit zitternden Fingern drückt sie die Kassette, die aus dem Autoradio hervorragt, in den Schacht. Klaviermusik in dunkelstem Moll klingt an. Sie erkennt am ersten 148
Takt, um was es sich bei dieser Musik handelt. Brahms, eindeutig. ›Vier ernste Gesänge‹. Und schon legt die Altistin los: »Und der Mensch ist wie das Vieh, wie es stirbt, so stirbt auch er, denn es ist alles eitel.« So was, hört dieser Pick-up-Naturbursche doch glatt Brahms, ihren Lieblingskomponisten. Auf Gran Canaria. Der muß doch einen Sparren locker haben. Nach deinem Schlag auf sein Schläfenbein bestimmt, mischt sich eine Stimme ein, die nach schlechtem Gewissen klingt. Victoria fährt in einen Tunnel hinein, wieder heraus. An einem Maschendrahtzaun über den Leitplanken hängen zu beiden Seiten Kreuze und Plastikblumen. Unfallträchtige Stelle. Sie fummelt an der Eject-Taste des Recorders herum. Genug von diesen Totengesängen, das bringt sie ja völlig durcheinander. Endlich springt die Kassette heraus, endlich liegt der Abschnitt mit den Totenkreuzen hinter ihr, und aus dem Radio schallt heitere kanarische Volksmusik. Sie dreht sie lauter. Meine Güte, tut das gut! So gut, daß sie das Radio auf der ganzen Strecke nicht abdreht. So gut, daß sie die Entsalzungsanlagen hinter Las Palmas, die Zementfabrik vor Maspalomas, ja sogar das Riesenrad vom Rummelplatz wie liebe Freunde begrüßt. Endlich erreicht sie das Tal von Fataga, endlich tauchen die freundlichen Lichter des Dörfchens auf, dann die Mühle. Die Mühle, in die Markus Elsner sie heute am Mittag einladen wollte. Elsner meldet sich wie aufs Stichwort in ihrem Kopf zu Wort: »Kommen Sie, ich lade Sie zu einem Essen in die Molina del Agua ein. Das ist eine hübsche Finca, nicht weit von hier. Ich würde Ihnen gerne etwas über diesen Rensle erzählen.« Das ist aber ein ziemlich merkwürdiger Irrer, findet ihr Gewissen, der sein Opfer in ein öffentliches Restaurant einladen will, um seine Nummer als psychotisches Rensle-Double durchzuziehen, und es mit dem Messer aufzuschlitzen. Dem Obstmesser. »Ruhe!« brüllt Victoria laut. »Ruhe, Ruhe, Ruhe!« Sie stellt den Geländewagen in einer Straßenausbuchtung ab. Schal149
tet Motor, Radio und Lichter aus, springt aus dem Pick-up und rennt die steile Auffahrt zum Haus ihrer Mutter hoch, als sei ein Gespenst hinter ihr her. Ein Gespenst mit sehr hellen Augen. Sie hat den Hügel, auf dem das Haus steht, noch nicht ganz erklommen, als die Eingangstür aufgerissen wird. Im Schein der Außenlaternen erkennt sie Charlotte. »Victoria? Bist du das?« »Mama«, schreit sie gellend – wegen des Gespenstes. »Mama, ich habe, glaube ich, einen Mann umgebracht.« Charlotte Wohlzogen sagt nichts, fängt sie in ihren Armen auf, drückt sie kurz. »Das ist noch lange kein Grund, so spät nach Hause zu kommen. Ich brauche meinen Schönheitsschlaf, und Sorgenfalten sind die häßlichsten von allen.« »Mutter! Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe?« »Doch, doch, und morgen kommt der Weihnachtsmann. Ab ins Bett. Du bist völlig überreizt. Ich habe gewußt, daß es soweit kommen würde. Du phantasierst wieder, wie damals, als dein Vater uns zum ersten Mal im Stich gelassen hat. Ich könnte ihm den Hals umdrehen. Muß er dir das ein zweites Mal antun? Sein einziges Kind – Na ja, beinahe einziges. Wenn du jemanden umbringen willst, bei ihm helfe ich dir gern.« Sie schiebt ihre protestierende Tochter durch die Eingangshalle auf das Gästezimmer zu. Energisch stößt sie die Tür auf, drängt Victoria zum Bett. »Hinlegen!« befiehlt sie und schaltet das Licht ein. »Meine Güte, Kind, du hast ja eine Wunde am Kopf. Laß mal sehen.« »Hände weg, Mutter, hör mir zu: Ich habe einen Mann mit einem Stein erschlagen, in einer Höhle am Roque Bentaiga. Er hat mich dahin verschleppt, nachdem eine Kiefer in mein Auto gerast ist. Ich dachte, er sei verrückt, aber vielleicht ist er das gar nicht. Er hörte sich nur so an. Du mußt mir glauben.« »Soso, verrückt«, sagt ihre Mutter, greift nach dem Hörer des Telefons, das auf dem Nachttisch steht, wählt eine Nummer. Sie muß 150
eine Weile warten, dann spricht sie sehr schnell einige spanische Sätze, hängt ein. »Hast du die Polizei gerufen?« will Victoria wissen und schaut sie sehr ernsthaft an. Mit einemmal ist sie so müde, wie es sich nach einem Tag wie diesem, mit einer Gehirnerschütterung und ziemlich leerem Magen gehört. Da ist ja nichts drin, außer frischem Mangosaft und einer Kaktusfeige. Einer blutroten Kaktusfeige. Victoria legt den Kopf auf ein Kissen. »Kommt die Polizei sofort?« »Der Arzt kommt, du Dummerchen. Jetzt leg dich hin, er ist in ein paar Minuten da. Nur gut, daß ich nicht mitten in der Wildnis wohne.« »Die Höhle war in der Wildnis«, sagt Victoria schläfrig, »die war ganz weit weg und naß und neblig. Die sieht aus wie ein Schweizer Käse, und der Mann hat darin Feuer gemacht, weil mir kalt war. Ich war sooo gemein.« Sie schluchzt hemmungslos. Ihre Mutter setzt sich mit ernstem Gesicht neben sie aufs Bett. »Süßes, sei jetzt ganz ruhig. Reg dich nicht weiter auf, gleich ist der Arzt da, dann bekommst du ein paar nette Pillen und einen Verband.« Victoria richtet sich auf. »Elsner braucht auch einen Verband, kein Drachenbaumblut, er braucht einen richtigen Verband. Hoffentlich weiß die Frau mit dem Hund das. Die Frau muß ihm doch helfen, die kann doch nicht wieder schlafen gehen. Ich habe ihr alles gesagt, Mama, ehrlich.« Charlotte streicht ihr bekümmert das Haar aus der Stirn: »Aber natürlich hilft die Frau ihm. Ganz klar. Auch mit den Drachen.« Ein lautes Klopfen an der Tür unterbricht sie. »Das ist der Arzt, und der kommt, um dir zu helfen. Nein, du bleibst liegen. Keine Widerrede, sonst werde ich zum Drachen.« Victoria plumpst in das Kissen zurück, sie muß wirklich schlafen, sonst redet sie nur noch Unsinn. Unsinn? Woran erinnert sie das nur wieder? Natürlich, an ihr Tagebuch. Und an das Notebook. Das hat sie in der Höhle vergessen. Ha, denkt sie, als der Arzt mit sorgenvollem Gesicht eintritt, 151
da wird die Polizei dann ohnehin bald kommen. Wenn die den Unsinn, den ich heute geschrieben habe, erst gelesen haben, wissen sie Bescheid. Da kann sie sich getrost ausruhen, der Arm des Gesetzes wird sie sowieso bald wachrütteln.
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Schon wieder das Telefon. Dabei ist Charlotte wirklich noch nicht ansprechbar. Überhaupt nicht. Sie hat ihre fünfzehn Bahnen noch nicht geschwommen und braucht dringend ihren Orangensaft, aber das Telefon bimmelt erbarmungslos. Charlotte Wohlzogen legt eine Apfelsinenhälfte, die sie eben auspressen wollte, zur Seite und greift nach dem schnurlosen Telefon, drückt auf Empfang. Eben erst hat sie Stefanie abgewimmelt – »Victoria muß sich noch ausruhen« – mal sehen, wen sie jetzt abwimmeln muß. »Michael Harder. Buenos días.« Charlotte wirft einen Blick über die Schulter und durch die Küchentür. Alles ruhig im Haus. Victoria schläft noch. »Was wollen Sie noch, Harder?« »Ich wollte mich nur herzlich bedanken. Emilio Pardenes hat soeben höchstpersönlich angerufen.« »Hoffentlich hat er Sie nicht von Ihren lustigen Spielen mit Musik abgehalten«, sagt Charlotte schroff. Lachen ist die Antwort. »Nein, nein, und jetzt werde ich mich gleich an die Arbeit machen. Er will ein ganzes Songprogramm für den Karaoke-Wettbewerb. Nicht eben mein Geschmack, aber es ist ein Anfang.« »Hören Sie, Harder, mehr bekommen Sie von mir nicht. Und las152
sen Sie ab jetzt die Finger von meiner Tochter. Sie ist völlig überdreht, hat einen schweren Schock erlitten. Die Sache mit ihrem Vater hat sie völlig aus der Bahn geworfen. Ich will nicht, daß ein treuloser Husar wie Sie ihr den Rest gibt.« »Frau Wohlzogen, was denken Sie von mir? Ich werde meine Finger von nun an nur dem Klavier widmen. Kommen Sie heute abend zur Gala?« »Ich komme ins Paradiso, aber nicht, um Ihnen beim Klavierspielen zuzusehen. Adios.« »Guten Morgen«, antwortet eine schläfrige Stimme. Victorias Stimme. Charlotte wirbelt wie ertappt herum. Ihre Tochter steht gähnend im Türrahmen. Hoffentlich hat sie nichts gehört von dem Gespräch. »Geh wieder ins Bett, Süßes. Der Arzt meint, du solltest dich einen Tag ausruhen, dann sei das mit deinem Kopf ausgestanden.« »Was ist mit meinem Kopf?« fragt Victoria mißtrauisch. »Die Schnittwunde und die Gehirnerschütterung. Ab ins Bett, du ziehst schon wieder die Stirn kraus. Ich bringe dir gleich Orangensaft.« Victoria zögert. Soll sie nachfragen wegen des Telefonats von eben? Ach was, sie hat auch so genug gehört, außerdem ist das ja ganz unwichtig. Sie geht zu dem langen Eßtisch, setzt sich auf einen der hochlehnigen Stühle. »Mama, ich muß jetzt endlich mit dir über das reden, was gestern passiert ist.« »Verboten! Der Arzt hat verboten, daß du dir über irgend etwas Gedanken machst. Das regt dich nur auf.« »Mama! Ich rege mich nicht auf.« »Ach ja? Klingt aber mächtig danach. Komm.« Sie greift den Arm ihrer Tochter, zieht sie vom Stuhl. »Es hat alles mit dem Autounfall angefangen«, beginnt Victoria, während ihre Mutter sie aus der Küche zieht. »Jaja, mach dir keine Gedanken. Gonzales hat das Auto heute morgen hier abgeholt.« »Welches Auto? Den Pick-up?« »Was weiß ich, der Wagen stand ja nicht vor der Tür, sondern un153
ten an der Straße. Du sollst dich jedenfalls nicht aufregen, den Schaden zahlt die Versicherung.« »Aber der Pick-up hat keinen Schaden, sondern der Clio.« Victoria ist so verwirrt darüber, daß Gonzales den Wagen von Elsner abgeholt hat, daß sie sich widerstandslos aus der Küche und zurück ins Gästezimmer zerren läßt. Kurz vor dem Bett, hat sie sich wieder gefangen. »Er hat das Auto abgeholt? Aber warum nur?« Charlotte seufzt. »Weil es ihm gehört, nehme ich an.« Sie drückt ihre Tochter aufs Bett. »Aber es gehört ihm nicht. Es gehört dem Mann, den ich gestern erschlagen habe. Es gehört Markus Elsner.« »Elsner?« Ihre Mutter runzelt nachdenklich die Stirn. Endlich, denkt Victoria, endlich beginnt sie mich ernstzunehmen. »Ja, so heißt der Mann, der mich in die Höhle verschleppt hat.« »Gonzales hat irgendwas von einem Elsner erwähnt. Was war das noch?« Victoria reißt entsetzt die Augen auf. »Etwa, daß er tot ist?« Ihre Mutter winkt verärgert ab. »Das hätte ich mir gemerkt, so müde war ich nun auch wieder nicht. Nein, es war etwas anderes, etwas wie: ›Señor Elsner hat eine Brummschädel, darum muß ich holen das Auto.‹ Ich dachte, er spricht von irgendeinem betrunkenen Werkstatthelfer, darum hab' ich nicht hingehört.« »Einen Brummschädel«, ruft Victoria und sieht ähnlich glücklich aus wie eine Vierjährige, die zum erstenmal bewußt einen Weihnachtsbaum sieht. »Einen Brummschädel. Mein Gott, er lebt. Mutter, er lebt.« »Und du klingst verliebt. Ist es möglich, daß ausgerechnet meine Tochter sich in einen KFZ-Mechaniker verliebt hat?« Charlotte Wohlzogen verzieht amüsiert den Mund, jetzt phantasiert ihre Tochter tatsächlich, aber ausnahmsweise in eine heilsame Richtung. »Nein«, sagt Victoria und läßt sich erleichtert in die Kissen sinken. »Ich bin nicht verliebt, ich bin nur sooo glücklich, Mama.« »Gemeinhin gehört das zusammen«, sagt ihre Mutter knapp. »Aber 154
egal, du ruhst dich jetzt gefälligst aus, alles andere hat Zeit. Das habe ich Stefanie auch gesagt.« »Stefanie?« »Ja. Sie ist dir nachgereist. Das ist wirklich mal eine treue Freundin, man könnte auch sagen, ein Schafskopf, also diese Sache mit Sanchez...« Ruckartig hebt Victoria den Kopf, und obwohl sie dabei bemerkt, daß sie sich wirklich ausruhen muß, fragt sie scharf: »Sag bloß, sie ist mit diesem Swimmingpoolreiniger hier!« »Rede nicht so abfällig über Swimmingpoolreiniger! Das paßt nicht zu einer Frau, die bei der Erwähnung eines Automechanikers hinschmilzt wie Motoröl. Ich muß schon sagen.« »Mutter«, sagt Victoria entschlossen und macht Anstalten, wieder aufzustehen, »ich muß verhindern, daß Steffi eine Dummheit macht. Du weißt nicht, wie naiv sie ist, wenn es um Kerle geht. Sie kann doch nicht mit einer kanarischen Putzkraft anbandeln, oder was auch immer der Kerl ist.« »Halt, halt. Du bleibst hier. Ich kann dich beruhigen, Stefanie hat nicht mit einer kanarischen Putzkraft angebandelt. Sie ist dir nachgereist, weil sie sich Sorgen gemacht hat, wegen deiner Leidenschaft für deinen Phantomdichter.« Sie bricht ab, verflucht, warum mußte sie ausgerechnet diesen Rensle erwähnen. Sie fängt einen Blick ihrer Tochter auf, einen merkwürdig unschuldigen Blick. Victoria sagt nichts. Sehr merkwürdig. »Laß mal, Mutter, du brauchst dir darum keine Sorgen mehr zu machen. Ich bleibe ganz ruhig.« »Versprochen?« »Versprochen. Ich schlafe jetzt.« »Ganz sicher?« »Wie ein Murmeltier. Du kannst ganz beruhigt sein und heute abend zu deiner Gala fahren.« »Ich glaube, ich sollte besser hierbleiben.« »Bloß nicht, dann komme ich überhaupt nicht zur Ruhe. Deine plötzliche mütterliche Fürsorge ist ziemlich anstrengend.« 155
»Findest du?« »Ja, und jetzt raus. Ab in den Pool. Du brauchst deine fünfzehn Bahnen.« »Da hast du wirklich recht, mein Kind. Wenn etwas ist, weißt du, wo ich bin. Und falls ich weg bin, wenn du aufwachst, hat Emilio mich bereits abgeholt.« »Oho, der Hotelbesitzer höchstpersönlich, da kannst du unmöglich absagen.« »Ja, das wäre ausgesprochen unhöflich.« »Und ausgesprochen unnötig.« Erleichtert erhebt Charlotte sich, geht zur Tür, dreht sich noch einmal um. Tatsächlich, das Kind schläft. Sie zieht leise die Tür hinter sich zu, streift den Bademantel im Wohnzimmer ab, läuft zum Pool und springt kopfüber hinein. Alle Sorgen sind vergessen. Hauptsache, das Kind schläft. Das Kind schläft aber nicht. Das Kind macht sich so seine Gedanken. Über Rensle, also den richtigen Rensle, nämlich Michael Harder, der heute abend im Paradiso auftritt. Da muß sie natürlich hin, egal was ihre Mutter über zuviel Aufregung denkt. Jetzt, wo sie weiß, daß sie den falschen Rensle gestern nicht erschlagen hat, ist ihr Jagdfieber wieder erwacht. Wohlig kuschelt sie sich in die Kissen. Jetzt kann sie sich wirklich ordentlich ausruhen. Sie ruht sich aus, bis es draußen dunkel ist. Der Gesang eines Capriot, der kanarischen Nachtigall, weckt sie. Im Zimmer brennt eine kleine Lampe auf einem Korbtisch. Darunter liegt ein Zettel. Victoria gähnt, rappelt sich langsam hoch und tappt zu dem Tisch. Hallo Liebes, du schläfst wie ein Murmeltier, darum habe ich mich heimlich wie Aschenputtel zum Ball geschlichen. Die Nummer vom Arzt findest du in der Küche, die vom Paradiso auch. Ich ruf dich später an. Charlotte. Wie aufs Stichwort klingelt irgendwo ein Telefon. Langsam geht Vic156
toria in die Diele und überlegt, ob sie überhaupt mit ihrer Mutter sprechen soll. Sie kommt zu dem Schluß, daß es besser ist. Ihre Mutter soll wissen, daß sie brav zu Hause sitzt. Noch. Sie entdeckt das Telefon neben einem Stapel druckfrischer Klatschmagazine – Charlottes Lieblingslektüre. Sie liegen auf einer Truhe in der Diele. Charlotte hatte noch keine Zeit, sie zu lesen. Victoria nimmt auf der Truhe Platz, meldet sich betont schläfrig und greift nach einem der Magazine. Als der Anrufer seinen Namen nennt, ist sie auf einen Schlag wach. »Pflügner hier. Sie leben also noch. Mein Gott, bis wir die Nummer erst mal herausgefunden haben. Victoria, meine Liebe, ich habe mir ja solche Sorgen gemacht. Als dann auch noch Frau Stefanie Seifert um Sonderurlaub für einen Flug nach Gran Canaria bat, also, Sie können sich meine Sorgen gar nicht ausmalen.« Victoria starrt kurz den Hörer an, als handele es sich um einen mysteriösen archäologischen Fund. Dann hat sie sich wieder gefangen. »Sorgen? Das ist aber besonders reizend, nachdem Sie mich soeben erst rausgeschmissen haben.« »Ach das. Das war nur eine Überreaktion in der Hitze des Augenblicks. Ich meine, die Sache mit Rensle ist doch völlig unwichtig. Vergessen wir den doch einfach. Genau, vergessen wir ihn.« »Ich denke nicht daran.« »Vortrefflich, denken Sie nicht daran. Kommen Sie einfach zurück. Ich, eh, also die Hörer vermissen Sie so. Wir bekommen täglich Zuschriften.« Der hat schon besser gelogen, denkt Victoria und wundert sich. Abwartend schweigt sie in den Hörer und blättert in dem Magazin. Ein amerikanisches Magazin. »Victoria, hören Sie, wir können doch nicht ständig irgendwelche klassischen Konzerte an Stelle Ihres Magazins senden. Ich meine, ich liebe Klassik, aber Sie…« Er bricht ab, zu stürmisch sollte er wohl besser nicht vorgehen. Obwohl dringender Handlungsbedarf besteht. »Unterschätzen Sie die Freunde der Klassik nicht, Herr Pflügner. Klassik ist ein Trost für viele einsame Herzen.« Hat sie das gesagt? 157
Und noch dazu in so einem ironischen Ton? Victoria wundert sich über sich selbst. Noch mehr wundert sie sich allerdings über ihren Sendeleiter, ihren ehemaligen Sendeleiter. »Liebe Frau Wohlzogen, ich bitte Sie von Herzen, kommen Sie zurück. Radio K. braucht Sie. Ich habe Sie wirklich etwas unterschätzt.« »Und unterbezahlt«, wirft Victoria geschickt ein. Sie könnte noch mehr dazu sagen, aber jetzt hat sie in dem Magazin ein seitenfüllendes Foto entdeckt. Ein Bild von ihrem Vater und dem schwangeren Model. Durch die Mitte des Bildes geht ein gezackter Riß – grafischer Gag, um zu illustrieren, was über dem Bild steht: Split up. »Wir können über alles reden«, meldet sich Pflügner zu Wort und meint die Gehaltserhöhung für Victoria. »Kommen Sie erst mal zurück.« »Ich überlege es mir«, sagt Victoria abwesend. »Jetzt kümmere ich mich erst mal um das Interview.« Sie überfliegt den Text neben dem Bild, darin ist von Trennung, Streit und einem Fitneßtrainer die Rede. Vaters Fitneßtrainer, der gleichzeitig der Vater von Vaters ungeborenem Baby ist. Moment mal! »Victoria, vergessen Sie das Interview mit Rensle. Wir wollen Sie auch so.« Victoria schaltet das Telefon einfach ab, legt es weg. Genug von diesem transatlantischen Gesülze. Sie streicht die Zeitschrift glatt und liest noch einmal den Text. Vor allem die Passage, in der ihr Vater zitiert wird: »Ich bin überglücklich, die ganze Geschichte vor der geplanten Hochzeit entdeckt zu haben. Valerie hat mich schamlos belogen und betrogen. Glücklicherweise habe ich bereits ein Kind. Eine Tochter, die zu mir steht, mir zugetan ist und mich bedingungslos verehrt. Meine Tochter aus erster Ehe – Victoria.« Und wie steht es um die Testamentsänderung? »Valerie und dieses Kuckucksei in ihrem Bauch bekommen keinen Penny, auch wenn sie vor Gericht gehen sollte. Das können Sie sich doch denken«, lautet das 158
Statement des betrogenen Dirigenten. Victoria kann sich auch eine Menge denken. Ist sie erleichtert, froh? Alle Welt hat sie wieder lieb. Auch Pflügner, die Schlange. Der hat die frohe Botschaft bestimmt schon vernommen und weiß, daß Radio K. auch in Zukunft zu fünfundzwanzig Prozent Papa Wohlzogen gehören wird. Also ist alles wieder beim alten. Alles wieder gut. Du mußt Daddy anrufen, ihn trösten, meldet sich ein dünnes Stimmchen in ihr. Er braucht dich jetzt, jemanden, der ihn bedingungslos liebt. Hat er selbst gesagt – in der Zeitung. »Zum Teufel«, flucht Victoria und pfeffert das Magazin in hohem Bogen in die Ecke. »Ich brauche ihn aber nicht. Schluß!« Das erleichtert. Jetzt ist sie froh. Und unternehmungslustig. Fast in Partystimmung. Genau. Heute ist ihr sogar das Paradiso recht. Vor allem der Mann, der da am Klavier sitzt. Mit ihm beginnt ihr ganz neues Leben. Das Leben einer selbständigen und selbstbewußten Reporterin. Soll er doch Barpianist sein, macht ihn um so interessanter, einer, der das echte, wilde Leben und den Trubel nicht scheut – nur die Menschen. Was für eine widersprüchliche, interessante Persönlichkeit dieser Harder sein muß. Kann man glatt verstehen, daß dieser verquere Elsner gerne er wäre. Singend durchquert sie die Diele. ›Piano Man‹ von Billy Joel. Ausnahmsweise ist ihr überhaupt nicht nach Klassik, und ausnahmsweise findet sie ihre Stimme gar nicht so übel. Sogar ziemlich gut. Deshalb singt sie sehr laut und tanzt dazu Walzer, denn der Song hat einen mitreißenden Dreivierteltakt: »Sing us a song you're the Piano Man, sing us a song tonight. We are all in a mood for a melody, and you got us feeling allright.« Im Zimmer ihrer Mutter zieht sie die Schranktüren auf, wiegt sich im Takt ihres Gesangs, schiebt eine beachtliche Kollektion Abendkleider auseinander. Beneidenswerterweise liegt die Kleidergröße ihrer Mutter nur eine Nummer über ihrer eigenen, und das in Charlottes Alter. Muß am 159
Schwimmen liegen. Sie findet ein schwarzes Etuikleid mit einem – für Charlotte – vergleichsweise züchtigen Ausschnitt. Sie mustert es. Das trifft genau ihren Stil, klassisch und seriös. Sie wirft es achtlos aufs Bett. Von wegen. Danach ist ihr jetzt nicht. The lady is a vamp! Ihr ist nach Rot. Feuerrot. Da hinten blitzt es. Sie zieht ein hautenges, schmales Kleid aus dem Schrank, schulterfrei, dafür im Rücken so tief dekolletiert, daß man den Slip dazu sehr genau aussuchen muß, am besten unterm Mikroskop. Sie tritt vor den Spiegel und hält es vor ihren Körper. Müßte gehen. Aber was macht sie mit dem lästigen Kopfverband? Sie kramt in einer Schublade, findet einen roten Chiffonschal, bindet ihn über den Verband. Sieht ein bißchen nach Abba und ›Dancing-Queen‹ aus. Kein bißchen nach Victoria Wohlzogen. »Also genau richtig fürs Paradiso«, neckt sie sich selber und schält sich aus ihrem Nachthemd.
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Elsner starrt auf den Bildschirm des Notebooks. Sein Notebook? Nein, es ist nicht seines, obwohl es haargenau so aussieht. Dieses Notebook gehört Victoria. Er hat es gestern nacht aus der Höhle mitgenommen, nachdem Rosalia ihn wachgerüttelt hat. Arme Rosalia, das Entsetzen stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sie glaubte wirklich, in einer ihrer geheiligten Höhlen, deren Schriftzeichen sie untersucht, läge ein Toter. Victoria muß das auch gedacht haben, so wie Rosalia ihr bleiches Gesicht und ihr wirres Gebrüll verstanden hatte. 160
»Por amor de Dios!« waren Rosalias erste Worte. Das Herz sei ihr beinahe stehengeblieben, als sie den leblosen Elsner neben dem Feuer entdeckt habe. »Por amor de Dios.« Der Stein hatte Elsner wirklich ziemlich empfindlich an der Schläfe getroffen und außer Gefecht gesetzt. Er drückt die Scrolltaste des Notebooks und liest noch einmal, was Victoria unter dem Dateinamen ›Purer Unsinn‹ so alles über ihn geschrieben hat. Einiges ist ihm nun klarer. Am Ende, als er gesagt hat, er sei Rensle, muß sie wirklich geglaubt haben, daß er ein Irrer sei, weil sie Harder hartnäckig für Rensle hält, und weil sie sich in ihn verliebt hat. Liebe macht bekanntlich blind. Er klappt das Notebook zu. Sanchez kann es irgendwann abholen und Victoria zurückgeben. Oder sollte er das persönlich tun? Nicht, um sich bei der Gelegenheit zu entschuldigen, aber um alles zu erklären und ihr die Sache mit dem Stein zu verzeihen. Sie muß krank vor Schuldgefühlen sein. Immerhin liegt sie im Haus ihrer Mutter im Bett und darf nicht gestört werden, hat Gonzales ihm berichtet. Der weiß es vom Arzt, der ziemlich besorgt über den Gemütszustand seiner Patientin war. »Sie hat immerzu geschwatzt von eine Mord in eine Höhle«, hat Gonzales berichtet, »und von Mumien und Blut. Completo loco! Kein Wunder, daß sie hat gefahren kaputt meine Clio. Meine schöne Clio.« Egal, inzwischen dürfte es Victoria bessergehen, denkt Markus. Er hat ihr doch durch Gonzales ausrichten lassen, daß er lediglich mit einem Brummschädel aufgewacht ist. Das hat er gemacht, weil er Schuldgefühle hatte. Trotzdem: Es gibt keinen Grund für mich, zu ihr zu gehen. Elsner steht auf und tritt an das Panoramafenster seiner einsamen Behausung, dem Adlerhorst. Er muß es sich endlich eingestehen: Er hat sich unsinnigerweise in Victoria verliebt, aber sie sich nicht in ihn. Sie hat ihn beleidigt, geohrfeigt und niedergeschlagen. Welche Form der Ablehnung hat 161
er von ihr noch nicht kennengelernt? Er ist ein Narr. Königin Victorias Hofnarr, denkt er abfällig. Ist doch egal, was unter dem Titel ›Purer Unsinn‹ noch so in ihrem Tagebuch steht. Er starrt in die Dunkelheit. Die Einsamkeit tut ihm gut. Hat ihm immer gutgetan, sich von den Menschen fernzuhalten, seit damals. Der Unfall in der Pharmafabrik, das verheerende, mörderische Feuer haben ihn von allen Illusionen befreit. Vor allem von Illusionen über das Mitgefühl von Menschen. Er denkt kurz an Dorothea, nein, darüber will er nicht mehr nachdenken. Sie hatte das Recht, ihn damals zu verlassen, er war nicht mehr der Mann, den sie einmal geliebt hatte. Er war ein zynischer, abweisender, wütender Kranker geworden, von dem niemand wußte, ob er je genesen würde, noch dazu war er schrecklich entstellt. Viele Männer würden im umgekehrten Fall eine Frau verlassen, warum also nicht auch Dorothea ihn? Wenn Sanchez ihn damals nicht überredet hätte, mit ihm nach Gran Canaria zu kommen, dann wäre er heute völlig verbittert. Guter Sanchez, einer wie der ist einmalig, hat sich gelohnt, für ihn durchs Feuer zu gehen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Einen treueren Freund kann man sich nicht wünschen und einen lustigeren auch nicht. Heute abend hat Sanchez wieder versucht, ihn aufzumuntern und aus seiner Einöde wegzulocken. »Komme zu die Gala, feier mit mir und meine Stefanie. Sie will auch, daß du kommst.« »Mir ist nicht zum Feiern.« »Hombre, es geht doch um die Blumchen, die Bäume und Kaktusse, die du willst haben bei Mogan für deine Geld. Was ist? Sie wollen dir geben eine Preis.« »Ich will keinen Preis dafür, Sanchez.« »Die Natur iste unschuldig an deine zerbrochene Herz und die zerklopfte Stirn. Und wenn Victoria kommt mit eine neue Stein, dann verhaue ich ihr die vorzogene Popo.« Würde er glatt tun, aber Victoria kommt ja nicht. 162
Doch, da ist eine Gestalt, die sich den Hügel heraufbewegt. Es ist Doña Manuela. Bedächtig setzt sie ihre Schritte. Er sieht, wie mühsam sich die gebeugte Gestalt den steilen Pfad heraufquält. Rasch reißt er die Tür auf, geht ihr entgegen und hilft ihr beim letzten Stück des schwierigen Aufstiegs. In seinem Büro angelangt, bleibt sie kurz stehen und atmet konzentriert, als handele es sich um eine Meditationsübung. Doña Manuela nimmt sich für alles, was sie tut, die Zeit, die sie dazu braucht. Sie trägt eine Tüte. Die Tüte mit Victorias Kleidung, die er irgendwann einmal, vor einer Ewigkeit scheint ihm, ausgewaschen hat. Ausgerechnet. Doña Manuela gibt eben nie auf. Das merkt er, als er in die Tüte schaut. Victorias Kleidung ist noch einmal gewaschen worden und gebügelt. Aber das ist nicht alles, auf dem sauber gefalteten Stapel liegen ein Kräuterstrauß und ein Heiligenbild. Doña Manuela spürt mehr als sie sieht, daß Elsner das Bild belächelt. »Antonio de Padua«, sagt sie knapp, und erklärt, daß das der Schutzpatron der Liebenden sei. Sie spricht eines ihrer Gebete, macht Kreuzzeichen. Elsner holt ihr einen Stuhl herbei. Mit einem halb traurigen, halb amüsierten Lächeln schüttelt er den Kopf, sagt auf spanisch: »Das nützt nichts. Selbst ein Heiliger kann mir nicht helfen. Ich bin ganz einfach ein verdammter Narr.« Doña Manuela schaut den Frevler streng an. Dann beginnt sie mit einer Strafpredigt. Elsner läßt sie geduldig über sich ergehen, schüttelt nur manchmal leise mit dem Kopf. Als Doña Manuela zum Ende kommt, richtet er sich ein wenig auf, deutet auf das Notebook, obwohl sie es nicht sehen kann. »Darin«, sagt er auf spanisch, »steht die ganze Wahrheit. Victoria hat alles aufgeschrieben. Sie glaubt nicht, daß ich der Mann bin, den sie sucht. Sie glaubt mir nicht, daß ich Elias Rensle bin, den sie in beinahe lächerlicher Weise anhimmelt. Sie hält mich für einen gefährlichen Verrückten.« 163
»Liebe erinnert oft an Verrücktheit«, antwortet Doña Manuela und lächelt siegesgewiß. »Aber Liebe ist ein Wahnsinn, den man nur mit Liebe kurieren kann.« Elsner steht mit abweisend verschränkten Armen hinter seinem Schreibtisch. Er will das nicht hören. Als ob sie das spüre, bittet Doña Manuela ganz harmlos um ein Glas Wasser, die Strafpredigt habe sie heiser gemacht. Elsner verschwindet in der Tiefe der Höhle, wo sich seine Küche befindet. Wenig später kommt er mit einem Glas zurück. Doña Manuela trinkt mit bedächtigen Schlucken, stellt das Glas ab. Dann erhebt sie sich schwerfällig. Sie muß gehen, sagt sie und lächelt zum Abschied. Sie ist schon an der Tür, als sie sich noch einmal umdreht. Sie deutet auf die Tüte, die sie neben das Notebook auf den Schreibtisch gestellt hat. »Bringe das zu ihr, hörst du? Den Rest wird der heilige Antonius schon richten.« Kopfschüttelnd schaut Elsner ihr nach und wundert sich ein wenig darüber, wie leichtfüßig die alte Frau den Abstieg meistert. Sie sieht so aus, als habe sie sich einer schweren Last entledigt. Dabei handelt es sich nur um diese verfluchte Tüte. Die Tüte auf dem Schreibtisch, die nun ihm zur Last wird. Ziemlich unerträglich, daß so viele Dinge, die zu Victoria gehören, hier herumstehen.
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Die legendäre Frühlingsgala im Paradiso lockt nicht nur Touristen. Auch Inselprominenz ist zugegen, Vertreter des Tourismus-Ministeriums, Bürgermeister, Industrielle und Politiker sind darunter. Die Herren tragen Smoking oder Abendanzug, die Frauen Ballgarderobe. Die Juwelen der Damen glitzern mit den Kron164
leuchtern des ›Dunas-Saales‹ um die Wette. Diesmal geht es um Spenden für förderungswürdige Projekte zur Wiederaufforstung der Insel. Es gibt eine Menge wieder aufzuforsten, deshalb sind die Eintrittskarten so teuer, das Dinner so exquisit und die Show die beste, die die Insel zu bieten hat. Eben verbeugen sich dreißig erschöpfte Tänzer und Tänzerinnen einer Flamencogruppe und treten von der Bühne ab. Das war nur ein Auftakt. Charlotte Wohlzogen spendet mäßigen Beifall und wendet sich wieder ihrem Begleiter an der Bar zu. Der südspanische Flamenco, da sind sie beide sich einig, ist ein notwendiges Zugeständnis an die anwesenden Touristen und ihre Spanienbilder. Die Kanarier selber ziehen ihre beschwingte Folklore dem exaltierten Ausdruck eines dramatisch-düsteren Lebensgefühls vor. Charlotte geht es nicht anders, und das sagt sie auch zu Emilio Pardenes. »Mag das Festland euch ruhig für ungehobelte Bauern halten, die ungehobelten Bauern verstehen es wenigstens, das Leben zu feiern, ohne dabei Geräusche zu machen, die nach Halsentzündung oder Zahnschmerzen klingen«, sagt sie und Emilio schmunzelt. Dann verbeugt er sich kurz, entschuldigt sich, er muß eine kleine Ansprache halten. Er verspricht, für den ersten Tanz pünktlich zurück zu sein. Charlotte nickt charmant und setzt sich so auf ihrem Barhocker zurecht, daß sie die offenen Saaltüren und die herein- und hinausströmenden Gäste beobachten kann. Ausgesprochen erheiternd. Vor allem die Kleidung der Damen. Charlotte verteilt Noten. Diese glitzernde Pelle in Bonbonrosa und mit Schleife am Po ist eine glatte Sechs minus. Das kleine Schwarze ohne Träger und mit einem Saum, der knapp unterm Nabel sitzt, wäre eine Zwei bis Drei, wenn die dazugehörige Dame andere Beine hätte. Auf der Bühne räuspern sich Emilio Pardenes und ein Übersetzer. 165
»Señoras e señores«, beginnt Emilio Pardenes. »Meine Damen und Herren«, übersetzt der Dolmetscher. Emilio Pardenes guckt ihn streng an. Dann redet er eine Weile unübersetzt weiter, bis er dem Dolmetscher einen gnädigen Blick zuwirft. Der versteht und kommt seiner Pflicht nach: »Wir haben uns heute hier versammelt, um zu feiern. Und das alles für einen guten Zweck. Wir alle lieben diese Insel, die schon bei den ersten Entdeckern ›Insel der Glückseligen‹ hieß. Doch leider waren diese Entdecker auch die ersten, die damit begannen, unseren Wald abzuholzen, um damit Schiffe zu bauen. Seither ist der Raubbau drastisch fortgeschritten. Nicht nur die Eroberer – auch wir – haben danach viele Fehler gemacht. Jeder Kanarier weiß zwar, wie weit man Bananen auseinanderpflanzen muß, damit sie gedeihen, aber was Touristen angeht, müssen wir es noch lernen.« Gelächter. »Das Paradiso ist ein Beweis dafür, daß Tourismus im Einklang mit den Gesetzen von Ästhetik und Natur stehen kann. Ich freue mich, daß mein Sohn Sanchez demnächst einen noch ehrgeizigeren Beweis antreten wird. Sein Projekt bei Mogan wird uns nicht nur ein wunderschönes Hotel bescheren, sondern eine Oase ursprünglicher Natur.« Applaus. »Es wäre unschicklich, dafür nur meinen Sohn zu loben. Es gibt einen Mann, der sich wie kein zweiter um dieses Projekt verdient gemacht hat. Er hat den größten Teil seines Vermögens in die Rettung unserer Natur gesteckt. Wir sind stolz, daß er gleich hier auf der Bühne erscheinen wird. Es ist – vielen wird er dem Namen nach bekannt sein – Elias Rensle, der Autor von ›Eine kleine Geschichte der Erde‹. Wir schätzen uns glücklich, daß er für uns das Geheimnis seiner Identität lüften wird. Ich verspreche Ihnen eine angenehme Überraschung.« Emilio Pardenes übernimmt wieder. Charlotte hört nicht mehr hin. Sie hat genug mit den modischen Katastrophen der Damen zu tun. Das gerüschte Drama in Gelb verdient höchstens eine Vier, nein 166
Fünf, es ist eine Tragödie. Na endlich! Dieses schmale, unten beschwingt auslaufende feuerrote Abendkleid sitzt richtig, schnürt nichts ein, enthüllt nur das, was sich zu sehen lohnt. Fabelhaftes Tanzkleid, hält jedem Walzer stand, auch einem schnellen. Den tanzt Charlotte am liebsten, direkt nach Tango. Das Feuerrot erinnert sie an Tango. Sie stutzt, das Kleid kommt ihr plötzlich merkwürdig bekannt vor. Ihre Blicke tasten sich am Körper der Ballschönheit nach oben. Schlanke Taille, zarter Oberkörper, schmaler Hals, blonde Haare ein schockierend alberner Schal um die blasse Stirn: Victoria! Wie lange steht die schon da? Lange genug, um Emilios Ankündigung von Elias Rensles Überraschungsauftritt mitzubekommen. Charlotte läßt sich vom Barhocker gleiten. Auf der Bühne kündigt der Conferencier die nächste Nummer an. »Unser wundervoller Pianospieler verwöhnt sie während des Dinners mit den schönsten Liebesmelodien aus drei Jahrhunderten.« Auch das noch. Charlotte drängelt und schlängelt sich entsetzt durch das Publikum an den weißgedeckten Tischchen. Victoria bleibt wie gebannt beim Eingang stehen und schaut zur Bühne hinüber. Das Licht im Saal wird gedimmt, ein Scheinwerfer sucht den herbeigeschafften Flügel, taucht ihn in weiches Licht, so weich wie der Ton, den Harder – in silbernem Frack – jetzt anschlägt. Er beginnt klassisch und einen Hauch zu kitschig mit ›Für Elise‹. Süßliche Geigen – die Beethoven in seiner Partitur eigentlich nicht vorgesehen hatte – setzen ein. Das paßt zum ersten Gang, der an den Tischen vor der Bühne bereits serviert wird: In Honig glasierte Entenbrüstchen Paradiso an Feigenjus. Victoria bekommt beim Studium der Speisekarte, die man ihr zusammen mit der Eintrittskarte in die Hand drückt, Zahnschmerzen. Aber sie ist ja nicht zum Essen hier, sondern wegen Elias Rensle, der Überraschung des Abends. Sie schaut gebannt zur Bühne. Was für ein wundervoller Mann, sein ganzes Vermögen in die Natur zu 167
investieren. Und Klavier spielen kann er auch. Harder peppt Beethovens Elise mit ein paar swingenden Takten Jazz auf, dann leitet er gekonnt zu einer Etude von Chopin über. Er klingt ein bißchen wie der junge Richard Clayderman, das Publikum ist von ihm und der Entenbrust begeistert. Victoria würde den ›Piano Man‹ eindeutig vorziehen. Ihr ist heute nun mal nicht klassisch zumute, aber einem Helden wie Rensle muß man einiges verzeihen. Ungeduldig zupft sie am Ausschnitt ihres Kleides herum. »Keine Sorge, es sitzt fabelhaft«, zischt Charlotte Wohlzogen ihr ins Ohr. Victoria zuckt wie ertappt zusammen. Ihre Mutter bemerkt es und setzt eine strenge Miene auf: »Was machst du hier?« »Das weißt du genau. Ich suche Rensle, um ihn zu interviewen. Und ich habe ihn gefunden. Was für ein Mann. Der Telefonanruf von heute morgen kam genau zum richtigen Zeitpunkt, ich habe alles gehört.« »Du kannst heute abend nicht mit ihm reden, er hat einen Auftritt«, sagt Charlotte und drängt ihre Tochter in Richtung Empfangshalle. Victoria läßt sich nicht drängen. »Ich bleibe hier.« »Du gehörst ins Bett, und zwar allein.« »Ich bin völlig in Ordnung und habe vor, mich heute so richtig zu amüsieren und zu tanzen.« Charlotte stutzt. »Du?« »Ja, ich. Komm, es gibt einen Grund zum Feiern. Wußtest du, daß Mister Dad sich von seinem Hungerhaken mit dem Ballonbauch getrennt hat? Das Kind in ihrem Bauch ist nämlich ein Kuckucksei und stammt von Daddys Fitneßtrainer. Ziemlich unsportliche Angelegenheit, würde ich sagen.« Charlotte ist sprachlos und läßt sich von Victoria an die Bar ziehen. »Das ist Musik in meinen Ohren, wenn du mir den Kalauer verzeihst«, sagt sie schließlich und nimmt auf einem Barhocker Platz. »Hat dein Vater etwa angerufen?« Victoria schüttelt den Kopf. »Ach was. Du kennst ihn doch. Ei168
ner New Yorker Zeitung hat er die frohe Botschaft zuerst verkündet. Laut Presse tröstet er sich damit, daß er schon eine Tochter hat – mich.« Charlotte greift nach Victorias Hand. »Du weißt inzwischen hoffentlich, was von seinen plötzlichen Liebeserklärungen zu halten ist.« Victoria schluckt kurz, dann lächelt sie: »Ich weiß, Mama: nichts. Er kann eben nur einem Menschen treu sein, sich selbst. Ich bin drüber weg und werde mich von nun an um meine eigene Karriere und mein eigenes Leben kümmern. Ich habe viel versäumt als Tochter Wohlzogen. Auch musikalisch.« Sie schaut zur Bühne hinüber. Michael Harder hat sich am Klavier bis weit ins zwanzigste Jahrhundert vorgearbeitet. »Everybody loves somebody somehow.« Charlotte sortiert ihren herzlosen Exmann nach hinten. Sie muß sich um das eben wiederhergestellte, aber von Harder akut gefährdete Seelenleben ihrer Tochter kümmern. Wenn die nicht zurück ins Bett will, muß man sie eben zwingen. »Liebling, du hast recht. Wir sollten auf dein neues Leben anstoßen. Was trinkst du?« »Maracujasaft«, sagt Victoria. Ihr Blick klebt an Harder. Charlotte winkt den Barmann heran und redet in schnellem Spanisch auf ihn ein. Der Barmann nickt, öffnet unter der Theke Kühlschränke, füllt mit elegantem Schwung einen silbernen Cocktailbecher aus mehreren Flaschen mit gefährlich aussehendem Inhalt. »Igitt, Mama, was bestellst du dir denn da wieder zusammen?« »Spezialmischung, Liebling. Stärkt Herz und Nerven. Keine Bange, du bekommst natürlich Maracujasaft. Ich weiß, daß du keinen Alkohol verträgst. Hast du noch nie vertragen.« Victoria wendet sich ab und wieder der Bühne zu. Harder kündigt über Mikrofon die zwei letzten Stücke vor der Pause und dem Hauptgang an. »Und nach dem Dessert, señoras e señores, meine Damen und Herren, bitte ich um Ihre Mithilfe. Einige von Ihnen haben gewiß 169
wunderschöne Stimmen. Schön genug für einen Karaoke-Wettbewerb mit Klavierbegleitung, und – keine Angst – die weniger schönen Stimmen sind oft die unterhaltsamsten.« Heiteres Protestgemurmel erhebt sich im Saal, an einigen Tischen werden bereits Opfer ausgesucht. Die meisten schütteln kichernd, aber nicht eben überzeugend die Köpfe. Karaoke paßt hervorragend zu Sonne, Sand und Ferienlaune. Victoria – für einen Moment wieder ganz die alte – schüttelt sich angewidert. Wie kann man sich nur vor einem ganzen Saal freiwillig zum Idioten machen! Aber, ermahnt sie sich, Harder-Rensle tut es doch auch. Für den guten Zweck. Was für ein Held. »Hier trink«, sagt ihre Mutter und reicht ihr ein schlankes Glas, ohne Schirmchen, Papierblumen und andere Cocktail-Verzierungen. Victoria schnuppert trotzdem kritisch am Glas, riecht tatsächlich nach Maracujasaft. »Also bitte, Liebling, ich würde einer eben Genesenen, die partout eine Ballnacht durchtanzen will, doch keinen Cocktail unterschmuggeln«, protestiert Charlotte. Victoria trinkt. Sehr erfrischend, sie mag Maracujasaft, weil er nicht so süß, sondern eher herzhaft ist. Dieser hier ist besonders herzhaft. Kühl rinnt er ihre Kehle hinab. Köstlich. »Möchtest du noch einen?« fragt ihre Mutter verbindlich. Harder spielt eben das letzte Stück vor der Pause. »Nicht jetzt, ich muß schauen, daß ich Harder erwische. Ich will ihn auf das Interview festnageln.« Sie löst sich von der Bar, ihre Mutter hält sie zurück. »Da kannst du getrost hierbleiben. Harder kommt in der Pause bestimmt hierher. Die Theke war früher mal sein Lieblingsort.« »Was soll das heißen, Mama?« fragt Victoria scharf. »Nichts, nur daß er mal sehr stürmische Zeiten hatte. Einige befürchteten damals, er würde sich um seinen Verstand trinken. Vielleicht hat er das ja sogar.« »Unmöglich, so wie der Klavier spielt! Und sein Buch erst. Er ist ein unglaublicher Mann«, protestiert Victoria und fühlt, wie eine 170
seltsame Leichtigkeit sie erfüllt. Harder spielt seine Version von ›Love me tender‹ so zart, daß die Version von Elvis dagegen wie Punkrock klingt. Victoria wiegt sich weich im Rhythmus. Meint sie. Für einen Außenstehenden sieht es eher so aus, als schwanke sie ein bißchen, aber nur ein klitzekleines bißchen. »Puh, mir ist warm, ich glaube, ich trinke doch noch so einen Saft.« Charlotte winkt heftig nach dem Barmann. Der bringt ein neues Glas Maracujasaft. An der Saaltür krallt sich Stefanie in Sanchez' rechten Arm. »Da, sieh mal«, ruft sie aufgeregt, »da sind Victoria und ihre Mutter.« Sie winkt. Vergeblich, Victoria ist mit ihrem Saft und Michael Harder, der eben von der Bühne abgeht, vollauf beschäftigt. »Komm«, sagt Stefanie, »gehen wir zu ihnen hinüber. Ich bin gespannt, was Victoria zu erzählen hat. Was glaubst du, wie sie staunen wird, wenn ich ihr verrate, wer Elsner ist?« Sanchez hält seine Liebste am Arm fest. »No, das würde ich nicht tun. Wenn Markus es ihr nicht hat erzählt, dann solltest du es auch nicht tun. Er wird haben seine Grund.« Stefanie beißt sich auf die Lippen. »Meinst du wirklich? Ach, Sanchez, irgendwie ist das doch gemein. Du warst doch der, der gewettet hat, daß es zwischen den beiden gefunkt hat.« Sanchez zögert einen Moment, die Sache mit dem Stein hat er Stefanie nicht erzählt. Elsner hat ihn darum gebeten. Was soll er jetzt tun? Ganz einfach, Elsner fragen. Der steht nämlich direkt eine Tür neben ihnen. Hat sogar einen Abendanzug an. Was er, der Stargast, allerdings mit einer Plastiktüte und einem Notebook auf der Gala zu suchen hat, ist Sanchez schleierhaft.
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»Da iste mein Freund, komm, wir fragen ihn, was zu tun ist.« Stefanie kommt nur zögernd mit. Ein wenig fürchtet sie sich vor dem ernst dreinschauenden, schweigenden Elsner. Unnötigerweise, denn Elsner begrüßt sie mit einem freundlichen Lächeln. Das Lächeln macht ihm wirklich Mühe, man merkt, daß ihm in Wahrheit anders zumute ist. »Du biste also doch gekommen«, sagt Sanchez und strahlt, »was iste in die Tute, Blumchen? Eine bißchen Drachenbaumblut?« Elsner schüttelt den Kopf. »Das sind nur ein paar Kleidungsstücke von Victoria.« Stefanie macht kugelrunde Augen. »Ach ja, und ihr Notebook. Ich bin nur gekommen, damit du ihr die Sachen zurückgeben kannst.« »Dafür du haste angezogen die Smoking?« fragt Sanchez und lächelt verschmitzt. Elsner hält ihm wortlos die Sachen hin. »Ah, nein, ich laufe nicht herum mit eine Tute bei die Ball.« Stefanies Augen werden groß wie Untertassen: Victorias Kleidung und ihr Notebook? Das ist ihr Heiligtum, niemand darf es anfassen, sogar sie nicht. Wenn Elsner es besitzt, dann muß doch etwas vorgefallen sein, etwas sehr Intimes, aber auch etwas sehr Trauriges, so wie er aussieht. Stefanie hat ein weiches Herz und ist akut verliebt, außerdem hat Sanchez ihr die Heldentaten seines Freundes in allen Farben geschildert, vor allem Elsners todesmutige Rückkehr in das brennende Labor, nur um ihn – Sanchez – und seinen Onkel zu retten. Sie kann das Unglück eines solchen Helden unmöglich mit ansehen. Sie tritt vor: »Wenn Sie die Sachen zurückgeben möchten, dann tun Sie das doch direkt bei Victoria.« »Ich möchte sie nicht stören«, sagt Elsner abweisend, »ich habe gehört, daß sie krank ist und im Haus ihrer Mutter im Bett liegt.« 172
Stefanie schüttelt den Kopf und deutet zur Bar hinüber. »Sie ist nicht mehr im Bett. Sie ist da an der Bar und spricht mit… Nanu, wer ist das denn?« »Michael Harder«, sagt Sanchez gelangweilt. Elsner kneift die hellen Augen zusammen. Meine Güte, denkt Stefanie, er kann ja richtig gefährlich aussehen, ein bißchen wie ein Wolf. »Was macht sie mit unsere Pianospieler?« will Sanchez von seinem grimmigen Freund wissen. »Ein Interview und wahrscheinlich noch eine ganze Menge mehr«, sagt Elsner knapp. »Das ist der Elias Rensle, der Victoria vom Flughafen abgeholt hat.« »Maldito, das iste doch nur Michael Harder, eine vertrunkene Pianist, den wir haben schon einmal rausgeworfen. Ich werde diese falsche Rensle wieder werfen aus die Hotel. Funfkantig.« »Achtkantig«, korrigiert Elsner gewohnheitsmäßig. Sanchez will sich zur Bar durchdrängeln. Gemeinsam halten Stefanie und Elsner ihn zurück. Ein Kellner eilt herbei und erkundigt sich beim Sohn des Hotelbesitzers, ob etwas nicht nach seinen Wünschen sei. Elsner schüttelt verbietend den Kopf. Sanchez sagt enttäuscht: »Nada. Es ist nichts, danke.« Der Kellner bietet ihnen Champagner an. »Ich verstehe dich nicht, Markus«, protestiert Sanchez. »Ich räume ihn weg in eine Sekunde, das ist kein Problem.« Elsner zögert einen Moment. Ach was, warum soll er vor seinem besten Freund aus seinem Herz eine Mördergrube machen. »Für mich ist es sehr wohl ein Problem. Victoria ist in diesen falschen Rensle verliebt, und Liebe macht bekanntlich blind.« Stefanie schaut zu dem Paar an der Bar hinüber. Charlotte hat sich plaudernd dazwischengezwängt. »Nein«, sagt Stefanie, »ich kenne Vicky, das sieht nicht nach Liebe aus.« »Haben Sie Victoria denn schon einmal verliebt gesehen?« fragt Elsner trocken. »Nicht direkt. Aber so bescheuert sieht das bestimmt nicht aus«, schließt sie mit fester Stimme. 173
»Und warum schaut sie ihn dann so sehnsüchtig an, beinahe flehend«, will Elsner wissen. »Na, sie wird dieses blöde Interview führen wollen«, glaubt Stefanie. »Dafür ist sie schließlich hier, obwohl sie Gran Canaria haßt.« »Ziemelich schwieriges Gespräch, wenn die Interviewpartner sagt nix«, wirft Sanchez ein. »Es sei denn, Victoria interviewt ihre Mutter. Die redet wie eine Wassergefall.« »Wasserfall, Sanchez«, verbessern Elsner und Stefanie wie aus einem Mund. Zum ersten Mal lacht Elsner. »Da, jetzt schüttelt dieser Harder die Kopf und geht auf der Bühne. Huh, seht euch an die Victoria, sie will umbringen ihre eigene Mutter, glaub' ich. Ah nein, sie will töten die falsche Rensle! Huh, wie sie dem nachschaut. Ihre Augen sind ganz grüne Kohle!« Stefanie runzelt fragend die Stirn. »Nein, Grünkohl meint er nicht«, sagt Elsner schmunzelnd. Keine Ahnung, warum ihm die Unterhaltung mit Stefanie und Sanchez plötzlich solchen Spaß macht.
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Victoria hat im Moment überhaupt keinen Spaß, und außerdem ist ihr schwindelig. Sie muß sich am Tresen festhalten. Blöde Gehirnerschütterung, sie kann gar nicht klar denken. »Was sollte das nun wieder, Mutter? Warum läßt du mich nicht ausreden? Du hast Elias Rensle mit deinem Geplapper über seine Musik und seine phantastische zweite Karriere verärgert. Wie konntest du nur?« Sie ist so wütend, daß sich der Raum vor ihren Augen dreht. »Verärgert? Bestimmt nicht, mein Kind. Glaub mir, Michael Har174
der ist im Moment nichts wichtiger als seine neue Karriere.« Junge, Junge, denkt Victoria, so schwindlig war mir ja noch nie, jetzt tanzen die Saftgläser auf der Theke schon Mambo. Mühsam reißt sie sich von den tanzenden Gläsern los. Nanu, das Gesicht ihrer Mutter tanzt auch und sagt etwas: »Harder war bis vor kurzem ganz tief unten, mußt du wissen.« »Das ist kein Grund, ihn Onkel Micky zu nennen. Einen Künstler und Männchen, eh Menschen, von seiner Qualiteit, eh, Quali, eh, tät.« Huups, sie hat doch sonst keine Schwierigkeiten mit Fremdwörtern. Verlegen nimmt sie einen großen Schluck Maracujasaft. Bevor sie weiterreden kann, fordert über Mikrofon der Conferencier die Gesellschaft zum Tanz auf. Und Emilio Pardenes ihre Mutter Charlotte. Mit eleganter Geste ergreift er ihre Hand und entführt sie auf die Tanzfläche neben der Bühne. Das Orchester und Michael Harder spielen auf: ›Lady in Red‹. Unverschämtheit, findet Victoria. Die Frau in Rot ist doch sie. Will Harder nun doch mit ihr reden oder nicht? Eben hat er nur gesagt: »Bedaure, aber ich habe es mir anders überlegt und stehe für Interviews nicht zur Verfügung. Meine Kunst geht vor.« Und sie steht als Lady in Red dumm in der Gegend herum und kann ihre Wut an niemandem auslassen. Doch, kann sie. An Markus Elsner, der taucht nämlich wie aus dem Nichts auf, besser gesagt aus dem Nebel, den Victoria plötzlich um sich herum aufsteigen sieht. Fast so ein dichter Nebel wie gestern, denkt sie. »Was wollolen Sie denn hier?« Hoppla, jetzt hat sie auch noch Schwierigkeiten mit einfachen Hilfsverben. Elsner stellt die Tüte mit ihrer Kleidung und das Notebook neben einem Barhocker ab. Er mustert sie fragend. »Haben Sie schon wieder getrunken?« »Nur Maraju, eh, Caramu, eh, Hallelujasaft.« Na ja, das haut so ungefähr hin. »Dann sind das wohl die Unfallfolgen. Es geht Ihnen doch nicht gut?« fragt Elsner und kann ein winziges Lächeln nicht unterdrücken. 175
»Besser als Ihnen«, sagt Victoria unfallfrei und reißt den Kopf hoch, der die ärgerliche Neigung hat, ihr auf die Brust zu fallen. »Ich hoffe nicht, daß Sie stolz darauf sind, mich niedergeschlagen zu haben?« fragt Elsner. »Tschulligung«, bringt Victoria mühsam hervor. Reiß dich zusammen, befiehlt sie sich. Du bist doch nicht auf den Kopf gefallen. Nee, aber gegen eine Kiefer und eine Windschutzscheibe geprallt. Muß doch schlimmere Folgen gehabt haben als gedacht, überlegt sie. Warum sollte ihr sonst so schwummerig sein. Reiß dich zusammen! »So was kommt davon, wenn man sich als Elias Renschle, eh, Rensle, ausgibt. Sie sind doch gar nicht Rensch, e, Rensle. Der sitzt nämlich am Kavier. Quatsch, Klavier. Sie Lügner.« Elsner strafft die Schultern, überlegt kurz: »Sie haben natürlich recht, ich habe gelogen.« »Na also, geht doch.« Sie nickt zufrieden wie eine Untersuchungsrichterin, die einen verstockten Übeltäter zum Geständnis überredet hat. Das Geständnis macht Victoria mit einem Schlag munter. Das Geständnis und die Musik. Sie erkennt die ersten Takte sofort. Hauchdünn hingeklimpertes Klaviervorspiel, dann setzt eine so richtig dreckige Mundharmonika ein, dann die ganze Band im Walzertakt. ›Piano Man‹! Das ist ein Zeichen. »Wollen Sie tanzen?« fragt sie Elsner. Ein anderer ist ja nicht greifbar, außerdem sieht Elsner im Smoking beeindruckend aus. Verdutzt nickt Elsner und läßt sich von Victoria auf die Tanzfläche zerren. Da übernimmt er dann lieber die Führung, denn Victoria hat nicht nur ihn, sondern auch eines der Tischchen mit auf die Tanzfläche gezerrt. »Tschulligung«, sagt sie zum Tisch. »Und Sie wollen wirklich tanzen?« fragt Elsner besorgt. Victoria legt sich zur Antwort in seinen Arm, faßt nach seiner Hand und nimmt Schwung. Elsner hat Mühe, bei soviel Schwung mitzukommen, aber nach drei Schritten schaffen sie es doch. Walzer ist einer der wenigen Tänze, die sich sogar beschwipst bewältigen lassen, allerdings ist man danach gewöhnlich vollständig betrunken, 176
ohne einen weiteren Drink genommen zu haben. Herrlich, findet Victoria. Fast wie fliegen. Einfach herrlich, wenn der ganze Saal mittanzt. Und das tut er, zumindest vor ihren Augen. Beim Refrain des Songs gerät der Saal ein wenig ins Stolpern, macht aber nichts, Elsner rückt den Saal wieder gerade. Dankbar lächelt sie zu ihm hoch. Er lächelt zurück. Seine Augen sind wieder wie die Abendsterne in diesem Dings, in diesem, Gesicht, nein Gedicht. Direkt zum Verlieben. »Kennst du das Gedicht?« fragt Victoria unvermittelt das Gesicht. »Welches?« fragt es und ist ganz dicht an ihrem. So ein schönes Gesicht, fühlt man sich richtig zu Hause drin. In den Narben kann man sogar Spazierengehen und fällt nicht um, die riechen auch gut, nach Rosen. Aber jetzt muß sie das Gesicht, Quatsch, Gedicht aufsagen. Die Augensterne schimmern so erwartungsfroh. »Komm, liebe müde Säle, eh, nein, Seele, Moment, ich hab's gleich. Wie geht es nur weiter?« Letzte Drehung, die Musik ist aus. Victoria will noch eine Runde weiterdrehen. Elsner läßt das nicht zu und nimmt sie fest in den Arm. »Komm, liebe müde Seele, die du etwas zu vergessen hast, entweder einen trüben Tag, oder ein überwölktes Jahr, oder einen Menschen, der dich kränkt«, trägt er lächelnd vor und drückt ihr einen hauchzarten Kuß auf die Wange. Sie ist aber auch so niedlich heute abend. Rot steht ihr gut. »Schööön«, seufzt Victoria hingebungsvoll, »weitermachen, nicht aufhören. Du darfst nicht aufhören. Da kommt noch schowas, eh, so was mit der Vergangenheit, die wie eine Narbe ist.« Angelegentlich haucht sie einen Kuß auf die seinen. Weitermachen, befiehlt ihr eine innere Stimme. Pah, da wäre sie auch so drauf gekommen. Sein Mund schmeckt nicht schlecht, an irgendwas erinnert sie der Geschmack. Genau, Honigpuder. Sehr fesselnd. »Und dann«, sagt Elsner nach einer geraumen Weile und als sie seinen Mund wieder freigibt, »dann kommt in dem Gedicht die Zeile mit der Gegenwart, die eine Wunde ist, mein Liebes. Sehr treffend, wie ich finde. Mit deiner Gehirnerschütterung und deinem Alko177
holspiegel gehörst du ins Bett.« »Nee, auf die Bühne. Kommsu mit?« »Nein.« »Dann sag das Gedicht auf.« »Schluß, du müde Seele. Ich werde es dir zu Ende aufsagen, sobald du dir die Zähne geputzt hast und im Bett liegst. Zeit zum Schlafengehen. Ich bringe dich nach Hause.« Der Mann am Klavier setzt wieder ein. »I have to say I love you in a song« von Jim Croce. Uuups. Den hatte sie ja ganz vergessen. Sie reißt den Kopf herum. Von Elsner ins Bett gebracht werden, klingt schön, aber sie ist doch kein kleines Mädchen mehr. Das kann warten. Sie stemmt ihre Hände gegen Elsners Brust. »Ich muß jetz zu ihm. Ich brauche den.« »Wen?« fragt Elsner scharf. »Elias, alias, ach, du weißt schon, sag schon.« »Rensle?« Elsner lockert seine Umarmung so abrupt, daß Victoria ins Trudeln gerät. Sie greift nach Halt. Im letzten Moment fängt sie sich ab – unter Zuhilfenahme eines Tischtuchs samt Gläsern, Tafelgeschirr, Besteck und den Resten von Sinfonie aus katalanischer Creme an kanarischem Dattelmousse. Ziemlich rutschig das Tischtuch. Klirrend geht alles, was darauf steht, zu Boden. Im letzten Moment entscheidet sich Victoria, es dem Tafelgeschirr und dem Besteck nachzutun, nur daß sie dabei nicht zerklirrt. Elsner beugt sich zu ihr hinab und wischt ihr einen Klecks katalanische Creme aus dem Gesicht. »Die will isch essen, is wie Honig«, schimpft die Bekleckerte. »Victoria, alles in Ordnung? Komm, laß uns gehen.« »Wie ich sehe, ist die Laune im Saal umwerfend«, mischt sich der Conferencier von der Bühne her ein. »Gerade die richtige Stimmung, um unseren Karaoke-Wettbewerb zu beginnen. Wer wagt es zuerst?« Gespanntes Schweigen. »Ich!« ruft jemand ganz laut. Der Jemand sitzt auf dem Boden, leckt sich kanarisches Dattelmousse von den Lippen und lehnt Els178
ners helfende Hand ab. »Kann ich schon«, sagt Victoria und kommt tatsächlich auf die Beine. Eine fabelhafte Idee treibt sie an. Sie, die Lady in Red, Prinzessin Unschlagbar, wird Harder, eh, Rensle, also den Rensle einfach in Grund und Boden singen. So wie Michelle Pfeiffer die ›Fabelhaften Bakerboys‹. Die singt im gleichnamigen Film so gut, daß gleich zwei Pianospieler schwach werden. Da wird es bei ihr doch wenigstens für den einen langen. Außerdem will sie ja nur ein Interview. Ha, dem soll Hören und Sehen vergehen, der schmilzt bestimmt genauso dahin wie der andere, der – wie heißt er noch. Der, der das Gedicht aufsagen kann, und in dessen Gesicht sie so gern spazierengeht und Honig nascht. »Markus«, sagt sie zufrieden. »Wenn du da hochgehst, ist endgültig Schluß«, sagt Markus streng. »Nee, dann fängt mein Leben erst richtig an«, sagt sie und marschiert los. Meine Güte haben sich in der letzten Stunde die Tische vermehrt. Und die Stühle haben sich glatt verdoppelt. Macht nichts, sie hält keiner mehr auf. Sie wird es allen Tischen und Stühlen zeigen. Davon ist sie so fest überzeugt, daß auch ihre Schritte wieder fester werden. »Bravo. Applaus für unsere erste Künstlerin. Willkommen, willkommen. Hier, verehrte junge Dame, der Text. Musik bitte.« »Hätten Sie sie nicht zurückhalten können, Sie Trottel?« Charlotte Wohlzogen ist wütend. Sie hat sich gerade erst zu Elsner durchkämpfen können. »Meine Tochter macht sich vor allen Leuten lächerlich, und Sie stehen einfach dabei. Was sind Sie nur für ein Kavalier? Immerhin haben Sie sie eben geküßt.« »Ihre Tochter hat darauf bestanden«, sagt Elsner kühl. Die Tochter steht im feuerroten Tangokleid auf der Bühne und versucht, den Text zu buchstabieren. Gleich ist sie dran, ihre Lippen bewegen sich wie in Zeitlupe. Einsatz: ›Dir gehört mein Herz‹. Der watteweiche Titelsong aus Disneys 179
›Tarzan‹. Charlotte schüttelt erstaunt den Kopf. »Sie singt eine Disneyschnulze, meine Güte, soviel Wodka war doch gar nicht in dem Saft. Disney! Das glaubt sie mir nie, wenn sie wieder nüchtern ist. Und dann auch noch so laut.« »Sie haben ihr Wodka untergeschoben? Sie verträgt doch keinen Alkohol. Zum Teufel, Ihre Tochter hat eine Gehirnerschütterung. Was sind Sie nur für eine Mutter?« Elsner ist wirklich empört. Charlotte schaut ihn mit neuerwachtem Interesse an. »Sie machen sich ja richtig Sorgen. Ich dachte, Sie können nur Walzer tanzen. Das ist natürlich genau das richtige bei einer Gehirnerschütterung.« »Sie hat mich dazu gezwungen.« Charlotte grinst. »Ja, meine Tochter ist eine willensstarke Person. Mich hat sie sozusagen gezwungen, ihr etwas zu trinken zu geben. Ich mußte mit Wodka verhindern, daß sie sich weiter auf diesen Knallkopf am Klavier einläßt.« Gebannt starrt sie zur Bühne. »Sie ist ja vollkommen verknallt in diesen Stehgeiger.« »Komm, gib mir deine Hand«, singt Victoria und macht einen Schritt auf Harder zu. Leider steht zwischen ihr und ihm der lästige Flügel. Sie umrundet ihn in großzügigem Bogen und läßt dafür ein paar Textzeilen aus. Ha, endlich. Jetzt hat sie die Klavierbank erreicht, plumpst neben Harder auf den Sitz und zerrt am lästigen Mikrofonkabel. Harder schaut tiefer in die Tasten, kriecht fast ins Klavier und würdigt sie keines Blickes. Mit einer Betrunkenen auf der Bühne, das hat ihm noch gefehlt. Er will doch seinen ruinierten Ruf wiederherstellen. »Komm, gib mir deine Hand«, setzt Victoria wieder ein, sehr laut, damit der Pianist hinschaut. Sie gibt ihm einen Rippenstoß, er vergreift sich auf der Tastatur, jetzt sind beide aus dem Takt. Harder wirft ihr einen vernichtenden Blick zu, zischt: »Hauen Sie ab, Sie ruinieren soeben mein Leben.« Victoria erschrickt: Der ist ja schlimmer als ihr Vater in ihrem Traum. Zeit, daß sie den Abflug macht, wo ist Elsner? Der muß ihr sagen, wie man fliegt, hat sie vergessen seit dem Walzer. Egal, erst 180
mal aufstehen und zum Bühnenrand. Sie erreicht ihn schwankend. Iih, ist das tief, fast schon Steilküste, und unten wogt etwas. Muß das Meer sein. Ist aber das Publikum. Das Publikum amüsiert sich königlich – so muß eine Urlaubs-Bühnenshow sein. Einer macht sich hemmungslos zum Deppen, und der Rest darf ungeniert dabei zuschauen. »Klasse, sensationell, so was von schamlos«, flüstert der Herr an Tisch fünfzehn seiner Gattin zu. Der Herr ist Hermann. »Meinst du das Kleid oder die Frau?« fragt pikiert seine Jutta. »Beides.« »Das ist doch ein echtes Flittchen.« »So? Das ist das Flittchen, das du bei unserem Ausflug in die Berge noch so romantisch fandest, weil sie einen Mann geohrfeigt hat.« »Die? Unmöglich. Die würde sich doch nie so anziehen und dann auch noch betrinken. Du mußt dringend deine Augen nachsehen lassen.« »O Gott«, stöhnt vor der Bühne Victorias Mutter. »Scheint so, als hätte ich mit meiner Wodkatherapie das Gegenteil erreicht, für Harder tut sie alles. Besser, Sie versuchen es nachher noch einmal mit einem Walzer, das schien ihr zu gefallen.« Sie dreht sich zu dem Unbekannten um, der eben mit ihrer Tochter getanzt hat. Der Unbekannte ist weg. Victoria ist bereit zum Absprung. Aber wo ist ihr Fluglehrer Elsner? Ach egal, der wird schon irgendwo sein. Hat sie im Traum ja auch nicht im Stich gelassen, ist immer rechtzeitig zur Stelle gewesen. Sie muß einfach die Arme ausbreiten und sich fallen lassen. Der läßt sie schon nicht im Stich, der kann ja das Gedicht. Und tatsächlich, sie fällt direkt in die offenen Arme eines Mannes. Ist das schön. Ist nur nicht Elsner. »Finger weg!« schreit Victoria. »Sie drekkiger Bauarbeiter!« Der Saal tobt. 181
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Sanchez hat sein reichhaltiges Arsenal an spanischen Flüchen abgefeuert. Victoria liegt auf dem Himmelbett der Honeymoon-Suite und schläft. Sanchez hat sie – samt Tüte und Notebook – den ganzen Weg bis hierher getragen. »Ausgerechnet in unsere Bett«, zischt Sanchez. Ein anderes war im ganzen Haus nicht frei. Er verläßt die Suite. »Ich muß mich kümmern um die Gäste. Hoffentlich singt keiner mehr. Maldito. Und unser Ehrengast Elsner ist einfach verschwunden. Ich hasse deine Freundin.« Stefanie wirft ihm eine zaghafte Kußhand hinterher. Charlotte öffnet Victorias Kleid. »Na, meine Tochter ist voll wie eine Strandhaubitze. Verträgt aber auch gar nichts. Von wem sie das nur wieder hat? Von mir bestimmt nicht«, schimpft sie vor sich hin. Stefanie guckt so streng sie kann. »Das war aber auch wirklich eine Schnapsidee von Ihnen.« »Was sollte ich denn machen«, verteidigt sich Charlotte. »Sie konnte doch unmöglich ein Interview mit Harder führen. Außerdem traue ich dem Kerl keinen Zentimeter über den Weg, der hätte mir doch glatt meine Tochter verführt, wenn ich gestern nicht rechtzeitig eingegriffen hätte.« Sie deckt Victoria zu, die grunzt ganz leise, aber sehr wohlig. Tiefschlaf. »Wenn Sie dem Kerl nicht trauen, warum haben Sie ihn dann als Elias Rensle engagiert?« »Ich mußte Victoria doch hierherschaffen. Ich brauchte einen Lockvogel. Konnte ich wissen, daß ich für mein Geld einen Aasgeier kriege?« Stefanie seufzt. »Sie sind so ziemlich die unvernünftigste Person, die ich kenne.« »Ja, außer Victoria.« Zärtlich schaut Charlotte auf ihre schlafende Tochter. »Heute war sie ein bißchen wie ich in meinen besten Tagen. Haben Sie gesehen, wie sie diesen Walzerkönig geküßt hat? 182
Wow, das nenne ich einen Kuß, macht richtig Appetit. Oh, da steht ja Champagner? Darf ich?« Sie geht zum geöffneten Barschrank, entkorkt gekonnt die Flasche, mit der Sanchez und Stefanie heute noch Verlobung feiern wollten. »Ich habe Victoria noch nie so erlebt«, sagt Stefanie nachdenklich. »Wahrscheinlich ist sie wirklich verliebt.« Charlotte trinkt. »In Harder? Igitt.« Darauf braucht sie noch ein Glas. »Nicht in Harder«, sagt Stefanie ungeduldig, »in Rensle.« »Sag' ich doch.« »Ich meine den richtigen Rensle.« Stefanie wird immer ungeduldiger. »Den gibt's?« »Aber ja, das war der, der mit Ihrer Tochter den Walzer getanzt hat.« »Dieser gutgewachsene Kerl mit dem interessanten Gesicht ist Rensle?« fragt Charlotte ungläubig. »Der sieht aber nicht nach Schriftsteller aus.« »Ist er auch nicht. Also nicht an erster Stelle. Er ist Pharmaforscher und Pflanzenbiologe. Das Buch hat er nach einem Unfall geschrieben, als er lange Zeit im Krankenhaus verbringen mußte. Mit richtigem Name heißt er Markus Elsner.« »Woher weißt du das?« »Er ist Sanchez' bester Freund.« »Was du nicht sagst, jetzt wird's aber wirklich spannend.« Charlotte zieht sich ein Sesselchen heran und nimmt neben dem Bett Platz. Sie greift nach Victorias Hand und fordert Stefanie auf, zu erzählen. »Die beiden haben in Venezuela für die gleiche Firma gearbeitet. Sie gehört Sanchez' Onkel. Pharmazeutische Forschung und Produktion. Ein sehr alter Betrieb.« »Ich interessiere mich nicht für Medizin oder Krankheiten, so was macht alt«, wirft Charlotte ein. Stefanie übergeht es einfach. »Sanchez war Bauleiter für einen neuen Laborkomplex und die Sanierung der Produktionsstätten. Die alten Gebäude waren ziem183
lich runtergekommen, ohne jeden Sicherheitsstandard.« »Ich weiß, daß du deinen Sanchez ganz toll lieb hast, aber mich interessiert sein Freund einen Tick mehr.« Stefanie nickt gehorsam und fährt fort. »Sanchez wollte die alten Anlagen sofort schließen lassen, aber sein Onkel und sogar Markus waren dagegen. Elsner und sein Team waren gerade mit irgendeiner wichtigen Sache beschäftigt. Es ging um hochwirksame Extrakte aus irgendeiner Dschungelpflanze, sehr seltenes Exemplar.« »Keine seltenen Dschungelpflanzen bitte, so was interessiert mich überhaupt nicht, es sei denn, man kann sie für Cocktails verwenden«, unterbricht Charlotte. Sie ist keine gute Zuhörerin, Stefanie erzählt trotzdem weiter. »Jedenfalls kam es zu einem Unfall, ein verheerendes Feuer brach aus. Es muß ein regelrechter Feuersturm gewesen sein, die Chemikalien, die schlechte Bauweise, alles war in Sekundenschnelle voller Giftwolken. Gott sei Dank sind alle rausgekommen. Alle, außer Sanchez und seinem Onkel. Da ist Markus wieder rein und hat die beiden herausgeholt. Auf dem Rückweg ist eine brennende Decke über Elsner zusammengebrochen. Daher stammen die Narben in seinem Gesicht.« Charlotte seufzt: »Wow. Dieser Elsner ist also gutgewachsen, hat ein hinreißendes Schurkengesicht und ist ein Held. Der ist ja fast zu gut fürs Kino. Und so einen liebt meine Tochter?« Sie tätschelt voll Mutterstolz Victorias Hand. »Hat den gleichen Geschmack wie ich. Sag nur noch, der Wunderknabe liebt sie auch? Sie kann ja nicht mal singen, wenigstens nicht, wenn sie betrunken ist, und von Pflanzen hat sie überhaupt keine Ahnung.« Stefanie zuckt mit den Achseln. »Ich weiß nicht, wer hier wen liebt. Sanchez war sich bis vor kurzem ziemlich sicher, daß Elsner Victoria mag, sehr mag. Er hatte sich jahrelang von Frauen ferngehalten, und plötzlich verfolgte er Victoria auf Schritt und Tritt. Ich dachte, er wolle nur herausfinden, wer sich an seiner Stelle als Rensle ausgibt, aber als Markus dann heute abend auftauchte, dachte ich auch, da läuft mehr. Erst recht, als sie ihn geküßt hat. Aber dann…« 184
»Hat sich meine Tochter für Harder gründlich zum Narren gemacht und den richtigen Rensle stehenlassen. Nach so einem Kuß.« Sie läßt kopfschüttelnd die Hand ihrer Tochter fahren. »Böses Mädchen.« Victoria runzelt im Schlaf die Stirn, murmelt was. »Hast du das gehört?« fragt Charlotte verblüfft. Stefanie schüttelt den Kopf. »Ich glaube, sie hat Markus gesagt. Wo ist der eigentlich hin?« »Weg«, sagt Stefanie knapp. »Wohin?« »In sein Haus, nehme ich an. Er wohnt hoch oben in den Bergen, in einer von diesen großen Wohnhöhlen.« »Wie romantisch!« »Seine Behausung vielleicht, er weniger. Sie hätten sein Gesicht sehen sollen, als er den Saal verließ.« »Ach, kleiner Streit unter Liebenden, so was gibt sich wieder.« Stefanie runzelt zweifelnd die Brauen. »So, wie er ›das war's‹ gesagt hat, glaube ich das nicht. Elsner ist ein durch und durch verläßlicher Mann, sagt Sanchez, und unerbittlich, wenn er sich einmal für oder gegen jemanden entschieden hat. Seine erste Frau, Dorothea, hat ihn übrigens auch wegen eines Musikers verlassen.« Victoria dreht sich unruhig zur Seite. »Arme, dumme Victoria«, sagt Charlotte. »Gibt es noch Champagner?« »Ich glaube schon, aber wir sollten sie jetzt alleine lassen. Sie muß sich gründlich ausschlafen.« »Und wo schlaft ihr, du und Sanchez, heute nacht?« »Nebenan. Die Suite ist ein halber Palast.« »Ich weiß. Mit Emilio habe ich … eh, sie mir mal angesehen.«
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Na klasse, schon wieder verschleppt, denkt Victoria als sie am nächsten Tag im Himmelbett aufwacht. Auf ihren Walzerkönig ist wirklich Verlaß. Sie hat die ganze Nacht von ihm geträumt. Allerdings ist es in ihrem neuen Versteck sehr viel komfortabler als in der Höhle, wenn auch genauso fremd. Verwundert läßt sie ihren Blick durch das Hochzeitszimmer schweifen. Völlig unbekanntes Terrain, wie ist sie hier nur hingeraten? Halt, da erkennt sie doch etwas. Ihr Blick bleibt am Notebook und an der Tüte hängen, die Elsner ihr seit Tagen nachträgt. Elsner? Nein, Markus. Ach, Markus. Sie kuschelt sich noch einmal in die weichen Kissen. Nur, falls das alles hier ein Traum sein sollte. In ihrem Kopf schaltet sie auf ein Musikprogramm, Dreivierteltakt. Sie schließt die Augen und sieht sein Gesicht ganz deutlich vor sich. Zu dem Gesicht gehören ein ganzer Tänzer und ein Ballsaal und die Musik. ›Piano Man‹ summt sie und streift in Gedanken kurz Michael Harder, der in den Tasten wühlt. Quatsch, korrigiert sie sich, der Mann am Klavier ist völlig verkehrt, der auf der Tanzfläche ist doch der Richtige, der schmeckt nach Honigpuder und kann ihr Gedicht. Sie lächelt wohlig. Auch wenn der nicht Rensle ist, sondern Elsner, nee, sie war ja schon beim Du und Markus. Ach, Markus, wo bist du? Sie schlägt die Augen auf. Das ist kein Traum und egal, wo Markus ist, weit kann er nicht sein. Die Tüte liegt doch da, hat er ja gestern mitgebracht. Und das nach allem, was in den letzten Tagen passiert ist. Hoffentlich ist heute nacht was ganz anderes passiert. In so einem Himmelbett muß doch was passiert sein. In so einem Zimmer muß man nicht schlafen, um zu träumen. Sie schwingt die Beine über die Bettkante. Bißchen schwummerig ist ihr schon, aber das kommt nicht vom Kopf, das kommt vom 186
Herzen. Schlägt wie rasend. Macht nichts. Sie läßt sich auf den Flauschteppich hinab, krabbelt auf allen vieren zu ihrem Notebook. Sie hat Neuigkeiten für ihr Tagebuch, Stichwort ›Purer Unsinn‹. Und was für Neuigkeiten. Der Verrückte ist gar nicht verrückt, gestern hat er endlich die Wahrheit gesagt, beim Walzertanzen: »Sie haben natürlich recht, ich habe gelogen.« Na also, ging doch, sogar im Dreivierteltakt. Jetzt ist alles anders, und jetzt wird alles gut. Wenn Sie das vermaledeite Interview mit Harder im Kasten hat, ist sie nur noch für Markus da. Ganz klar. Der braucht sie, dem muß sie das Lügen abgewöhnen, hat er doch gar nicht nötig. Aber erst muß sie Harder haben. Muß sie? Der Kerl ist ihr im Moment eigentlich lästig. Gestern hat sie sich doch schon entschieden, einfach vor ihm wegzufliegen. Ach nee, das war ja in dem Alptraum vom Flughafen, komisch, daß sie darauf kommt. Victoria sitzt vor dem Notebook und kraust die Stirn. Ihr dämmert da plötzlich was. Sehr verschwommene Bilder tauchen auf. Sie muß sich jetzt ernsthaft konzentrieren. In ihrem Kopf verstummt der ›Piano Man‹, statt dessen kreischt irgendwer: »Dir gehört mein Herz.« Der Irgendwer ist sie. Der Irgendwer steht im Rampenlicht und schwärmt den dummen Klavierspieler an. Dabei hat der Walzertänzer den Irgendwer vorher ausdrücklich gewarnt: »Wenn du da hochgehst, ist endgültig Schluß.« Da hätte irgendwer drauf hören sollen. Sie! O Gott, hat sie wahrhaftig gesungen und auch noch für den falschen Mann? Nein, so geht das nicht, sie muß dringend ihre Gedanken sortieren, ohne Musik, am besten am Notebook. Schreiben beruhigt. Sie klappt das Gerät auf. Ein Papierbildchen liegt auf der Tastatur. Sie nimmt es und studiert es eingehend, entziffert die Bildunterschrift. Es handelt sich um den heiligen Antonius von Padua. Komisch, wie kommt der in ihr Notebook? Wer hat den da hinein187
gelegt? Markus? So einer glaubt doch nicht an Heilige. Nein, so einer nicht, aber Doña Manuela. Nur kann Victoria das nicht wissen. Nicht einmal Elsner hat mitbekommen, daß die alte Frau die Notebooks vertauscht und zur Sicherheit den heiligen Antonius dazugelegt hat, der alles richten soll. Victoria legt achselzuckend das Bild beiseite, knipst den Computer an. Sie wartet auf die elektronischen Harfenklänge. Pling, Pling, Pling, verhallt die Erkennungsmelodie, dann blitzt kurz das Logo der Softwarefirma auf und der Satz: Dieses Produkt wurde lizensiert für Markus Elsner. Markus, denkt Vicky ganz selig, dann stutzt sie. Wie bitte, Markus? Warum hat sie denn sein Notebook? Sie untersucht den Computer, der dem ihren aufs Haar gleicht. Muß sich um eine Verwechslung handeln, am besten klappt sie das Teil direkt wieder zu. Markus' Notebook geht sie nichts an. Einem so treuen Liebhaber spioniert man schließlich nicht hinterher. Das kommt später. Wenn man frisch und blütenrein verliebt ist, tut man das nicht. Vicky schaut sich verstohlen im Zimmer um und tut es doch. Sie bewegt mit der Maustaste den Zeiger über den Bildschirm. Welche Datei klingt denn spannend? Mal sehen. Forschungsberichte? Nee, da steht sicher wieder was über Höhlenmenschen oder Mumien drin. Anträge Forschungsgelder? Kann sie sich später angucken, dann findet sie endlich heraus, ob er irgendeine Art von Beruf hat, obwohl das nicht mehr wichtig ist, die Karriere kann sie ja machen, so motiviert wie sie ist. Ah, da ist was Interessantes, klingt etwas privater: Skizzen & Notizen. Sie klickt zweimal mit der Maustaste, elektronische Impulse nagen sich knisternd durch die Festplatte. Die Datei wird geöffnet, ein virtuelles Blatt Papier taucht auf dem Bildschirm auf. Ziemlich leeres Blatt Papier, darauf steht nur ein Titel: Eine kleine Geschichte der Erde – Erster Entwurf von Elias Rensle alias 188
Markus Elsner. Unmöglich zu beschreiben, was Victoria in diesem Moment fühlt. Nur eins weiß sie sofort: Ein Beweis dafür, daß Markus ein treuloser, verlogener Herzensbrecher ist, der sie überhaupt nicht liebt, wäre ihr lieber. Pech gehabt. Markus Elsner ist alles andere als ein Herzensbrecher. Na ja in ihrem Falle schon. Aber leider ist er nicht verlogen, zumindest nicht so verlogen, wie sie angenommen hat. Markus Elsner ist Elias Rensle. Der Elias Rensle, dem sie zunächst ihre besten Beleidigungen und dann den erstbesten Stein an den Kopf geworfen hat. Der Elias Rensle, der nach Honigpuder schmeckt, und den sie gestern auf einer Tanzfläche stehengelassen hat, um dem falschen Elias Rensle, der zudem ein Idiot ist, künstlich gezuckerte Schmachtschnulzen vorzusingen. Dir gehört mein Herz. Dafür gehört ihr der Hintern versohlt. Nee, das reicht nicht. Sie hat Schlimmeres verdient. Markus muß sich eine Strafe für sie ausdenken. So einem phantasiebegabten Autor fällt bestimmt was ein: Vielleicht vierzehn Tage Höhlenhaft zu zweit. Das wäre keine Strafe für mich, höchstens für ihn, denkt Victoria ganz kleinlaut. Wie kommt sie überhaupt darauf, daß er sie bestrafen möchte, daß er überhaupt noch etwas mit ihr zu tun haben will? Na, weil sein Notebook hier liegt, beruhigt sie sich. Aber er nicht. Er ist gestern gegangen, soviel ist ihr inzwischen wieder klar. Er hat das ernst gemeint, als er gesagt hat: »Dann ist endgültig Schluß.« »Nein«, sagt Vicky streng. Nur ein Schussel hätte die beiden Computer verwechselt und seinen stehenlassen. Viele Künstler sind Schussel, aber Markus Elsner? Zu dem paßt das gar nicht. Außer, er war mit seinen Gedanken woanders, nämlich bei ihr. Victorias Laune hebt sich ein wenig. Ein Mann, der sich von ihr einen Stein über den Schädel ziehen läßt und dann trotzdem wieder auftaucht, um ihr auf einem Ball 189
eine Tüte mit ihren Sachen vorbeizubringen, kann nicht für sie verloren sein. Er ist ihr mit den Sachen ja sogar schon hinterhergeflogen. Was spricht noch für sie? Daß sie Markus geküßt hat, daß er zurückgeküßt hat, und daß sie unschuldig ist, was den falschen Rensle angeht. So ein Schuft, dieser Harder, sich einfach als Schriftsteller auszugeben. Wie kommt einer nur auf so was? Dazu braucht man entweder kriminellen Instinkt, ein durchlöchertes Trinkerhirn oder einen Verstand, der zu kindischen Schnapsideen neigt. MUTTER! Das gibt Tote. Moment… Victorias Laune hebt sich beträchtlich. Markus Elsner hat sich schon für ihren herzlosen Vater begeistert, wenn jetzt noch eine grausame Mutter hinzukommt, wird er sich kaum noch zu halten wissen. Prima Sache, so ein ausgeprägter Beschützerinstinkt. Ein Klopfen schreckt sie auf. Markus! Nein. »Stefanie? Was machst du denn hier?« Für einen Moment ist sie so verblüfft, daß sie Markus glatt vergißt. »Ich wohne hier mit Sanchez.« »Sag bloß, du hältst deinen Bauarbeiter auch noch frei!« Das ist ihr nur so rausgerutscht, alte Gewohnheit. Sie will sich eben entschuldigen, aber Stefanie schneidet ihr das Wort ab. »Vicky, es langt. Wenn ich nicht so verliebt wäre, würde ich dich fünfkantig rausschmeißen.« »Das heißt achtkantig, und nenn mich nicht Vicky«, korrigiert Victoria streng. »Sanchez sagt fünfkantig, und das finde ich viel witziger.« »Du und dein Faible für Männer mit Sprachschwierigkeiten. Kaum passe ich nicht auf, verliebst du dich in den falschen Mann. Aber laß mal, ist nicht so schlimm. Wenn du wüßtest, in wen ich mich verliebt habe!« »Ich weiß, daß mein Sanchez der Richtige ist, was man von deinem Michael Harder nicht behaupten kann.« Victoria erstarrt. »Harder? Wer sagt denn, daß ich in diesen ge190
schnöselten Tastenheini verliebt bin.« »Bist du nicht? Meine Güte bin ich erleichtert. Wir dachten schon, du hättest den Verstand verloren. Du warst ja völlig verrückt auf diesen Rensle.« »Bin ich auch noch«, sagt Victoria leise. »Moment. Du kennst die Wahrheit ja gar nicht. Setz dich, ach du sitzt ja schon. Also. Ich fange ganz langsam an. Erst mal: Sanchez ist kein Bauarbeiter.« »Nee, der ist nur Swimmingpoolreiniger, ich weiß.« Stefanie schüttelt den Kopf. »Na, dann eben Bauarbeiter«, rät Victoria weiter, »ich verzeih' ihm.« »Du hast hier gar nichts zu verzeihen. Sanchez hat zwar mit Bauarbeiten zu tun, aber ihm gehören die Bauarbeiter, also ich meine, seine Familie hat ein ganzes Bauunternehmen, ein paar Hotels und eine Zementfabrik. Da steht übrigens dick der Name dran: Paradenes. Wenn du mir nicht glaubst, brauchst du nur auf die Autobahn nach Las Palmas zu fahren, dann kommst du direkt daran vorbei.« »Zementfabrik?« Da war doch was, hat sie schon mal gesehen. Genau auf der Fahrt mit Harder vom Flughafen. Hat Harder sie sogar darauf hingewiesen. Zum Himmel, was für eine dumme Kuh sie doch ist. »O Stefanie, ich glaube mir wird schlecht.« »Geschieht dir ganz recht.« »Ich bin die dümmste Kuh seit Beginn unserer Zeitrechnung.« »Du kannst die vorchristliche Periode ruhig dazurechnen.« »Was muß dein Sanchez nur von mir denken?« »Das gleiche wie eh und je. Er hält dich für eine hochnäsige, arrogante Zicke. Oder ist Kuh dir lieber?« Victoria läßt die Schultern hängen. »Was soll ich denn nur machen? Wie soll ich das wiedergutmachen? Ehrlich, mich interessiert es nicht für fünf Pfennig, wer oder was Sanchez ist. Ich hatte ja keine Ahnung, wie das ist, wenn man richtig verliebt ist. Bin ich blöd. Was soll ich nur tun? Wenn ich jetzt auf einmal nett zu Sanchez bin, muß er denken, ich bin ein widerwärtiger Snob.« Stefanie guckt vielsagend. 191
»Steffi, so bin ich doch nicht mehr. Ich hatte nur Angst, daß du wieder mal in dein Unglück rennst. Meine Güte, wie viele von deinen unterbelichteten Typen haben dich ausgenutzt und waren dich überhaupt nicht wert. Steffi, das mußt du Sanchez erzählen. Er wird das verstehen. Er, er ist doch mindestens so gutmütig wie du.« »Erstens, nenn mich nicht Steffi, solange du nicht Vicky heißen willst. Zweitens kannst du kaum verlangen, daß ich einem Mann, der mich vergöttert, von den unterbelichteten Typen erzähle, die mich ausgenutzt haben. Drittens: Gewöhne dir ab, die Menschen nach ihren Berufen oder ihren Kenntnissen der klassischen Musik oder anderen Äußerlichkeiten zu beurteilen. Das ist grauenhaft dumm. Guck dir doch nur deinen Vater an: ein großer Künstler, aber ein ganz kleiner Charakter.« Ha, tut das aber mal gut, der eingebildeten Victoria den Marsch zu blasen. Und zwar furioso. »Ich hab's kapiert, glaub mir«, wispert eine eingeschüchterte Victoria. »Du hast dich übrigens nicht nur in Sanchez getäuscht, sondern auch in Elsner. Weißt du, wer Elsner ist?« Stefanie richtet sich zu voller Größe auf. Den erzieherischen Triumph will sie noch genießen, dann kann sie anfangen, die geknickte Vicky zu trösten. »Markus Elsner ist Elias Rensle. O Gott, für was für einen Snob muß der mich erst halten«, sagt Victoria und sieht dabei sehr trostbedürftig aus. Stefanie hockt sich neben sie auf den Boden. »Du weißt, daß er Rensle ist?« Victoria nickt. »Seit wann?« »Seit eben. Das da«, sie deutet auf den Computer, »ist sein Notebook samt den Entwürfen für ›Eine kleine Geschichte der Erde‹. Elsner heißt rückwärts Rensle, da kommt doch jedes Kind drauf. Sogar du.« »Vicky!« »Sorry. Du hast recht, wenn ich mich jemals wieder für klüger als den Rest der Welt halte, darfst du mir eine knallen.« »Da habe ich sicher bald eine Menge zu tun. He, Kopf hoch, war 192
nur ein Scherz.« »Was mach' ich denn jetzt bloß? Ich liebe diesen Rensle.« »Das scheint ja völlig unabhängig davon zu sein, wer sich gerade als Rensle ausgibt. Du und dein Künstlerknall.« Vicky schüttelt energisch den Kopf, obwohl das noch weh tut: »Du liegst falsch. Ich habe mich in Elsner verliebt, bevor ich wußte, daß er außerdem Rensle ist.« Stefanie guckt mißtrauisch. »Wann?« »So genau weiß ich das ehrlich gesagt nicht, aber gemerkt habe ich es gestern abend. Beim Walzer.« »Du erzählst mir Grimms Märchen.« »Nein«, sagt Victoria ganz verzweifelt. »Es ist wahr. Ich bin verliebt wie ein Schulmädchen. Ich bin zum erstenmal wirklich verliebt. Weißt du, wie das ist?« »Ja!« »Ich muß ihm das sofort sagen, bevor er glaubt, ich sei tatsächlich hinter diesem Harder her.« Stefanie beißt sich auf die Lippen. »Das glaubt er bereits«, sagt sie zögernd. »Hat er das gesagt?« Stefanie nickt nur. »Was hat er noch gesagt?« »Das war's.« »Der hat ja keine Ahnung.« »Victoria, du hältst dich schon wieder für klüger als den Rest der Welt. Sanchez schwört Stein und Bein, daß Elsner das ernst gemeint hat.« Vicky guckt bedröppelt. Das Stichwort Stein behagt ihr nicht. Egal, sie muß ihn finden, mit ihm reden, Händchen halten. »Wo ist Markus? Und wo sind wir hier?« »Wir sind in der Honeymoon-Suite vom Paradiso. Wo Elsner ist, weiß ich nicht. Vielleicht in seiner Höhle.« »In der Höhle? Da kann er doch unmöglich wohnen.« Sie denkt an die Strichmännchen und das Feuer und die Felswand, die wie 193
ein Schweizer Käse aussieht. »Doch«, sagt Stefanie ernst. »Sanchez hat gesagt, daß viele Kanarier ihre Sommerresidenzen in Höhlen haben.« »So was nennt der Residenzen?« »Du bist schon wieder ein Snob.« »War nicht so gemeint. Wenn es sein muß, ziehe ich mit Markus sogar in eine Felsspalte und trage einen Fellschurz, ist doch egal.« Stefanie betrachtet ihre Freundin sehr ernst. »Du liebst ihn wirklich.« »Ja«, kommt es kläglich von ihrer Freundin, die gedankenverloren mit dem Bild vom heiligen Antonius spielt. »Also, es kann sein, daß ich weiß, wo Elsner ist.« »Wo? Sag schon.« Stefanie überlegt. »Sanchez ist eben weg, er will zu irgendeiner Molina oder so. Keine Ahnung, wer das ist. Er hat nur gesagt, er trifft sich bei dieser Molina regelmäßig mit seinen Freunden. Kann ja sein, daß Elsner dabei ist. Ich bin hiergeblieben, um auf dich aufzupassen, deshalb habe ich nicht gefragt, wo Molina wohnt.« Victoria ist aufgesprungen. »Ich weiß, wo diese Molina ist. Komm. Wir fahren hin.« Stefanie schaut verwirrt zu, wie Victoria Kleidungsstücke aus einer Plastiktüte zerrt und sich anzieht. Die Kleidung duftet nach Seife und Kräutern. »Woher kennst du denn diese Molina?« will Steffi wissen. »Molina heißt Mühle, du Schaf. Elsner wollte mich auch schon mal dahin einladen. Es ist eine alte Wassermühle, eine Finca bei Fataga, nicht weit von Mutters Haus. Hast du ein Auto?« »Dutzende. Sanchez' Familie hat einen ganzen Fuhrpark hier rumstehen.« »Daß du dich nicht schämst über soviel Glück.« Stefanie lacht. »Ich hätte ihn auch als Bauarbeiter genommen, das kannst du mir glauben.« »Ja«, seufzt Victoria, »es scheint, daß deine Methode, Männer auszusuchen, am Ende doch erfolgreicher war als meine.« 194
»Stimmt nicht«, sagt Stefanie gutmütig und steht auf. »Immerhin habe ich mich bei Sanchez zunächst an deine Regeln gehalten: Nur nichts von Liebe erwähnen und zunächst auf Distanz bleiben, bis der Eroberungsinstinkt geweckt ist, dann zuschlagen.« Victoria stöhnt, während sie das Notebook packt. »Rede bloß nicht von zuschlagen. Die Methode hat bei mir völlig versagt.«
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Es ist eine fröhliche Runde, die sich im Schatten einer dichtbewachsenen Pergola versammelt hat. Von hier aus hat man einen weiten Blick in das Palmental von Fataga. Ganz hinten am Horizont glänzt das Meer. Hier ist vom Trubel des Strandlebens nichts zu spüren. Aus Lautsprechern dringt heitere Timple-Musik. Vom Leben der campesinos handeln die Lieder, von ihrer harten Arbeit, aber vor allem von ihren Fiestas, und genau danach sieht es hier aus. Victoria kann es von ihrem Beobachtungsposten hinter dem Gebüsch im Rücken der Runde genau beurteilen. Sie hat sich langsam und sehr leise herangepirscht. Stefanie soll die Vorhut bilden. »Ich kann ihm doch nicht vor all seinen Freunden eine Liebeserklärung machen«, hat sie zu Steffi gesagt. »Sind seine Freunde nicht gut genug für dich?« hat eine erstaunlich freche Steffi spitz zurückgefragt, nachdem Vicky ihr während der Fahrt alle ihre Dummheiten, auch die mit dem Stein, gebeichtet hat. »Seine Freunde sind wahrscheinlich zu gut«, hat Victoria resigniert geantwortet. Jetzt beobachtet sie sehnsüchtig, wie Kellnerinnen in bunter Tracht Weinkrüge zum Tisch bringen und Tonschalen mit gegrilltem Zick195
lein, Peperoni in Salzkruste und in Meerwasser gekochte Kartoffeln in scharfer grüner Soße. Nicht, daß sie wild auf gebratene Zicklein wäre, aber die unverfälschte Lebensfreude am Tisch weckt einen anderen Hunger, den sie so lange verleugnet hat. Hier gibt es kaum Kompromisse für Touristen mit unverbrüchlicher Vorliebe für Jägerschnitzel und pseudospanische Kultur. Hier sind Essen und Atmosphäre einigermaßen tipico, so wie Sanchez und Markus es mögen. Es ist zum Verzweifeln, wie schön es hier ist, findet Victoria, aber sie gehört nicht dazu. Sie gehört nicht zu der bunten Runde, die um den Tisch sitzt und lacht. Da ist Rosalia, die Archäologin, Ernesto, der Vorsitzende vom Naturschutzbund, Carlos, der Apotheker, der sich mit Markus regelmäßig in die Haare gerät, weil er dessen Vorliebe für Pflanzenchemie abergläubischen ›Altweiberkram‹ nennt. Neben ihm sitzt Gonzales, der dem Apotheker heftig widerspricht und auf Doña Manuelas sagenhafte Heilerfolge schwört. Vielleicht kann sie ja auch seinem schrottreifen Clio helfen, scherzt der Apotheker. Gonzales stimmt eine Jammerarie an, er hat ihn geliebt seinen Clio. Felicitas, eine Malerin aus Deutschland und Mitglied der Künstlerkolonie von Fataga, spendet ihm Trost. Eingeweihte Zuwanderer wie sie schätzen die Molina del Agua als Zufluchtsort. Hier im Garten herrscht tropischer Wildwuchs: Bananenstauden, Papayabäume, Palmen. Dazwischen singen in Volieren buntgefiederte Vögel. Und der Pool, der hinter der Rhododendronhecke im Rücken der Tischrunde glitzert, ist verlockend kühl und leer. So als habe der liebe Gott ihn mal eben so hingespuckt, denkt Victoria. Nur ein älteres Ehepaar hat es sich zur Zeit dort bequem gemacht. Es sind Jutta und Hermann, die nach der turbulenten Gala von gestern ihre Ruhe suchen. »Herrlich, Hermann, dieser Frieden. Das nenne ich Urlaub«, sagt Jutta. 196
»Och, die Karaoke-Show von gestern war auch ihr Geld wert.« »Das sagst du nur wegen diesem freizügigen roten Kleid, das diese betrunkene Quietschente anhatte«, bemerkt Jutta spitz. »Die hatte eine Stimme, mit der man Stahl verbiegen kann.« »Die hatte bestimmt Kummer. Ich sag' dir, das war die junge Frau von neulich.« »Ach was.« »Ach doch.« »Du siehst Gespenster.« »Guck mal rüber zu dem Rhododendron-Gebüsch, da sitzt das Gespenst schon wieder drin.« Jutta richtet sich in ihrem Liegestuhl auf. »Das gibt's doch nicht, was macht die da?« Victoria studiert Markus' Rücken. Angespannt sieht der aus, nicht ganz so heiter wie der Rest der Gesellschaft, vielleicht weil ihm Geselligkeit nicht liegt. Damit hat sie recht, aber Markus hat es in seinem Adlerhorst einfach nicht ausgehalten. Heute braucht er Unterhaltung. Er trägt allerdings nicht viel dazu bei. Rosalia neckt ihn vergeblich, was Victoria sehr erleichtert. Sie neckt nämlich sehr gekonnt, die beiden müssen sich schon lange kennen, vielleicht aus seiner Höhle, da wohnt sie ja direkt nebenan. So eine hübsche Nachbarin, herrje, da muß er doch auf Dauer schwach werden. Noch dazu hat sie ihn in jener Nacht aus der Höhle gerettet, so etwas verpflichtet. Aber Markus schüttelt nur stumm den Kopf, als Rosalia seinen Becher mit Wein füllen möchte und deutet auf das Pflaster an seiner Schläfe. Victoria verkriecht sich ein wenig tiefer ins Gebüsch. Carlos bietet Markus eine Kopfschmerztablette an, rein chemische Zusammensetzung, verspricht er, nicht irgendso ein Schamanenzauber aus Drachenblut und Unkraut. Markus läßt die Witze des Apothekers einfach über sich ergehen. 197
Sanchez rollt mit den Augen. »Du biste wieder ganz die alte saure Topf, die traurige Knödel«, schimpft er in übertrieben stolperndem Deutsch und wartet darauf, daß Markus ihn korrigiert. Victoria wartet auch. Irgendwann muß Markus doch mal was sagen. Tut er aber nicht, dafür tut es Stefanie, die endlich am Tisch auftaucht. »Es heißt Trauerkloß, Sanchez.« Das Gesicht ihres Liebsten leuchtet auf. »Querida, wie schön, daß du biste gekommen. Setze dich. Wie hast du gefunden mich?« Stefanie schaut zu Elsner hinüber, er weicht ihrem Blick aus. »Ich habe dich nicht gefunden. Es war Vicky, die dich gefunden hat.« Im Gebüsch hinter Elsners Rücken raschelt es leise. Victoria starrt Elsners Rücken an, hat der nicht gerade gezuckt? Schwer zu erkennen. Sie erkennt nur genau, daß Sanchez' Gesicht sich verfinstert. »Du willste doch nicht sagen, daß sie ist hier in unsere letzte Paradies, carina?« Victoria hält den Atem an. Stefanie zögert kurz. »Eh, nein, sie ist bei ihrer Mutter. Sie ist ganz allein da im Haus. Nur eben die Straße hoch.« Gut gelogen, jetzt kann Markus sich eine Entschuldigung ausdenken und vom Tisch aufstehen, und Victoria kann klammheimlich hinter ihm her. Sie schält sich schon mal rückwärts aus dem Gebüsch. Jutta und Hermann können es ganz genau sehen. »Das ist sie wirklich«, sagt Hermann triumphierend. »Woran erkennst du das denn so genau? Am Hintern?« will Jutta wissen. Am Tisch redet Sanchez. »Perfecto«, sagt er, »wenn Victoria iste bei die Mama, dann gehörte mein Himmelbett wieder uns.« Markus macht keine Anstalten aufzustehen. 198
Sanchez zieht Stefanie zu sich auf die Bank. »Una copa de vino, por favor«, ruft er der Kellnerin zu. Stefanie schaut Elsner eindringlich an, da hilft nix außer der Wahrheit. »Victoria würde gerne mit Ihnen sprechen. Unbedingt, es ist wichtig.« »So?« Er hebt die rechte Augenbraue. Victoria wartet auf den nächsten Satz. Es gibt keinen nächsten Satz. Trostsuchend umklammert sie einen Zweig. »Soll ich sie holen?« versucht Stefanie es noch einmal. »Sie ist nicht weit weg, eh, von hier. Sie haben ihr doch bestimmt auch einiges zu sagen.« Sanfter Wind streicht durch das Dach aus Palmwedeln und Zukkerrohrgestänge. »Nein, wir haben uns schon alles gesagt«, antwortet Elsner. In den Sträuchern hinter seinem Rücken raschelt der Wind ungewöhnlich heftig. Die Späher am Pool registrieren es genau. »Jetzt krabbelt sie wieder in das Gebüsch hinein«, erläutert Hermann. »Das sehe ich. Glaubst du, dieser schreckliche Mann ist wieder hinter ihr her?« »Wieso schrecklich, gestern hat sie mit ihm getanzt.« »Wer?« »Die Frau in Rot. Die Frau, die jetzt im Gebüsch hockt. Ich glaube, du brauchst eine Brille, Jutta.« »Ich denke ja nicht daran. Ich kann auch so alles sehr gut erkennen. Jetzt will sie anscheinend einen Strauch erwürgen. Die arme Pflanze, die ganzen Blüten fallen ab.« Auch Stefanie späht alarmiert in die Botanik. Elsner bemerkt es. »Das ist sicher nur eine Echse. Haben Sie etwa auch so eine lächerliche Angst vor Echsen wie Ihre Freundin?« Er dreht sich kurz um, entdeckt aber weder Echsen noch Victoria. Stefanie schaut immer ratloser in das Gebüsch. 199
Markus beachtet sie nicht weiter, hält Rosalia seinen Becher hin und lächelt sie dankbar an, Rosalia lächelt bezaubernd zurück. So eine Unverschämtheit, denkt Victoria. Markus beginnt ein Gespräch mit dem Apotheker. Ganz lustig wird er dabei. Stefanie sinkt das Herz, und der Rhododendron zittert gewaltig. Das war's jetzt wirklich, denkt Stefanie. Victoria hat ihre Chance vertan. Schade, sehr schade. Findet der Strauch auch. Worauf wartet sie noch? Das war's. Basta. Was hat sie denn geglaubt, wie er sich verhalten würde, wenn er ihren Namen hört? Aufspringen und einen Freudentanz vollführen? Stefanie gibt Sanchez einen verstohlenen Stups, deutet aufs Gebüsch und flüstert ihm etwas zu. Sanchez begreift, ein kleines, schalkhaftes Glitzern erscheint in seinen Augen, aber er zuckt mit den Achseln. »Victoria hat selbst schuld«, sagt er laut und ungerührt. »Kein Manne liebt eine Schlange mit Augen wie grüne Kohlen.« »Kein Mann außer Adam«, sagt Stefanie patzig. »No, no, no, du mußte lesen die Bibel genau. Eva liebt die Schlange.« »Victoria haßt Schlangen«, protestiert Stefanie laut. Rosalia will wissen, was sie gesagt hat. Es entspinnt sich eine muntere Debatte über Schlangen, Frauen und ›andere Kaltblüter‹, wie Elsner einwirft. Stefanie guckt ihn strafend an. Wie kann er schon wieder so dumme Witze reißen. Das hat Victoria nicht verdient. Findet der Strauch auch, er schüttelt sich und wedelt mit einer Hand. Stefanie versteht, letzte Chance. »Ich soll Ihnen das hier zurückgeben«, sagt sie und zieht Elsners Notebook aus ihrem Rucksack. Sie klappt es auf, wählt eine Datei an und schiebt ihm das Notebook hinüber, ein Text flimmert auf dem Bildschirm. Der Text hat nur drei Worte und gehört zu den bekanntesten Sätzen der Welt. Darunter steht Victoria. Elsner ignoriert Satz und Unterschrift. »Sie wollen mir das zurückgeben?« fragt er nur. »Was soll ich mit Victorias Notebook?« 200
Du sollst nur das ›Ich liebe dich‹ lesen, du Trottel, flucht Victoria. Das wolltest du doch. »Ische liebe dich«, liest statt dessen Rosalia und lacht auf. »Das freut mich«, erwidert Markus leicht geistesabwesend und betrachtet den Computer, als handele es sich um eine giftige Echsenart. Endlich klappt er ihn zu: »Schluß damit. Es ist aus und vorbei.« Er sagt das so unvermittelt und so wütend, daß die Tischgesellschaft verstummt und sich verlegen dem Zicklein und den Kartoffeln widmet, nur Rosalia redet munter weiter. Theatralisch verdreht sie die Augen. »Aus unde vorbei? Aber ische liebe dich doch. Ische liebe dich!« Von wegen. Wütend erhebt sich Victoria und zerteilt unter wildem Geraschel das Gebüsch. »Jetzt langt's mir aber«, herrscht sie Markus' Rücken an, jeder Zoll eine beleidigte Majestät: die Schultern gerade, den Kopf zurückgeworfen, Hochmut im Blick. Nur die welken Blätter in ihrem zerzausten Haar, die Kratzer auf ihren Wangen und die Erdflecken auf ihren Knien stören das Bild. Alle wenden die Köpfe. »Iste das die Schlange?« will Rosalia wissen. »Halten Sie gefälligst die Klappe. Jetzt rede ich, Markus gehört nämlich zu mir, bilden Sie sich ja nichts ein.« Elsner erhebt sich langsam, wischt sich den Mund mit der Serviette ab. Er schaut Victoria kurz an. Sehr kurz, und diesmal sind seine Huskieaugen wirklich eiskalt. Er nimmt das Notebook vom Tisch und drückt es Victoria in die Arme. Mit einer Stimme, die sich im Bereich von arktischen Frosttemperaturen bewegt, sagt er: »Du kannst mich beleidigen, aber nicht meine Freunde. Nimm dein Notebook und geh dahin, woher du gekommen bist.« »Ins Gebüsch? Ich denke nicht dran. Erst hörst du mir zu.« Sie schluckt kurz: »Du hast nämlich recht: Ich war die dümmste, verbohrteteste, snobistischste Zicke…« »Bravo!« ruft Sanchez dazwischen, und Stefanie gibt ihm einen herzhaften Tritt. Victoria setzt ihren Satz ungerührt fort: »…aber du, Markus Els201
ner, hast dich in genau diese Zicke verliebt.« Dann ändert sie den Tonfall: »Du hast dich in mich verliebt, obwohl ich dir einen Stein auf den Kopf geschlagen und dich nach allen Regeln der Kunst beleidigt habe. Meinst du, so einen wie dich lasse ich gehen?« Am Pool ist die Auseinandersetzung halbwegs zu verstehen. »Siehst du«, sagt Hermann zufrieden, »sie ist es. Die Frau von gestern. Diese Stimme!« »Klingt jetzt überhaupt nicht wie Stahl. Wie kann sie den Kerl nur so anbetteln. Er muß ihr doch was Schreckliches angetan haben, ich meine, wenn sie ihn ständig schlägt! Sogar mit einem Stein.« Hermann schaut in die Luft und seufzt bedeutsam: »Tja, früher waren Frauen anders. Nicht so aufdringlich.« »Wenn eine Frau liebt, liebt sie mit ganzem Herzen.« »Ich hoffe, du benutzt keine Steine dazu, Jutta.« »Still, ich will wissen, was er sagt. Warum sagt dieser herzlose Trottel nichts?« Sie spitzt die Ohren. Der Trottel sagt endlich was: »Victoria, du verkennst die Tatsachen, nicht du läßt mich gehen, sondern ich dich. Ich bin endgültig kuriert von Frauen deiner Art.« »Meiner Art? Was bist du nur für ein Mann, Markus Elsner? Jetzt, wo ich zur Abwechslung dir nachlaufe, mich im Gestrüpp verkrieche, um deinen Rücken anzubeten, und mich vor allen deinen Freunden zum Gespött mache, sagst du, es ist aus und vorbei? Weißt du überhaupt, was ich für dich empfinde? Weißt du überhaupt, daß ich mich vom ersten Augenblick an in dich verliebt habe, in deine Augen, in dein Gesicht und erst recht in deine Narben? Verflucht noch mal, ich liebe alles an dir.« »Da hörst du«, sagt Jutta am Pool, »mit der Stimme könnte sie wieder Stahl verbiegen. Aber was sie sagt, ist sooo romantisch.« 202
»Er scheint das anders zu sehen«, brummt Hermann. Stimmt. »Du liebst alles an mir? Liebst du nicht vielmehr alles an Elias Rensle?« Am Pool stößt Hermann ein triumphierendes »Aha« aus. Er dreht sich zu seiner Frau hin. »Von wegen, er hat ihr Schreckliches angetan, sie hat ihn betrogen. Mit einem Mann namens Rensle.« »Und warum hat er sie dann kürzlich im Auto verfolgt?« »Weil Männer manchmal Trottel sind.« Markus Elsner will aber kein Trottel sein. »Deine Liebe kommt etwas zu plötzlich, Victoria. Stefanie hat dir doch heute morgen sicher die Wahrheit über mich und Sanchez gesagt, oder? Ziemlich kapitale Wahrheiten, vor allem für jemanden, dem so außerordentlich viel an gesellschaftlichem Ansehen und Geld liegt.« Stefanie öffnet den Mund zum Protest. Victoria läßt sie nicht zu Wort kommen. »Mir ist doch völlig egal, wer du bist.« »Dir? Ausgerechnet dir? Erzähl deine Märchen woanders, Prinzessin!« »Ich hab' mich geändert. Du darfst mich nicht gehen lassen, bitte, sag nicht, ich soll gehen. Ich, ich ziehe auch in deine Höhle mit den Strichmännchen, und du kannst mir alles über die Steinzeit erzählen.« Ihre Wut ist in Verzweiflung umgeschlagen. Alle können es sehen. Betreten starren die Tischgäste sie an, sogar Sanchez ist gerührt, und Elsner? Verflucht, denkt Markus, muß sie ausgerechnet jetzt wieder so schmal aussehen und so verloren? So will er sie einfach nicht mehr sehen. Er wendet sich ab und setzt sich wieder. Victorias Wut ist verraucht und damit ihr Mut. Sie ist nur noch verzweifelt. Sie beugt sich zu Markus hinunter, will ihm das Notebook geben. 203
»Hier, das ist nicht meins, sondern deins. Ich habe erst heute morgen entdeckt, daß du du bist. Verliebt habe ich mich lange vorher. Ich hab's doch nur nicht gemerkt, bis gestern«, sagt sie flehend, und ihre Stimme flattert wie der sterbende Schwan. »Wenn sie nicht schreit, ist ihre Stimme gar nicht so schlecht, ein bißchen mädchenhaft, armes Kind«, findet Jutta. »Du hältst doch nicht immer noch zu diesem Flittchen?« will Hermann wissen. »Flittchen? Wer hat ihr denn gestern den ganzen Abend auf den Ausschnitt gestarrt, als wolle er am liebsten Geld hineinstecken?« »Ich sag's ja: Flittchen. Kein Wunder, daß der Kerl die Nase von der voll hat.« Hat er. »Laß mich endlich in Frieden«, sagt Elsner und kann sie dabei nicht anschauen. Wenn sie jetzt wieder so zerbrechlich aussieht wie ihre Stimme klingt, dann ist das zuviel, einfach zuviel. Damit muß endlich Schluß sein. Ein Mann ein Wort. Victoria unterdrückt ein Schluchzen, richtet sich auf. Alle anderen starren Löcher in die Tischplatte, warten auf den nächsten Akt. Victoria dreht sich um, zwängt sich durchs Gebüsch. Sie läuft zum Pool und bleibt unschlüssig stehen. In einem Pool kann man sich nicht ertränken, schon gar nicht in so einem himmelblauen. »Armes Kind«, sagt Jutta und will von der Liege aufstehen. Hermann zieht sie zurück auf die Liege. »Halt dich da raus. Liebesdramen gehen uns nichts an.« »Du bist genauso unromantisch wie dieser Schurke.« »Ich bin hier im Urlaub.« »Eben!«
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Stefanie springt vom Tisch auf. »Wie können Sie nur so gemein sein!« faucht sie Elsner an. Dann läuft sie Victoria hinterher, immer durchs Gebüsch, dabei könnte man auch außen herumgehen, wenn man nicht gerade unglücklich verliebt ist. »Hombre«, ergreift Sanchez das Wort, »ich habe lange gekämpft um meine Stefanie. Ich wille nicht, daß sie ist traurig und wütend auf mich oder meine Freund. Geh dahin, wo du hingehörst. Geh zu deine Victoria, pronto.« Markus wirft ärgerlich seine Serviette auf den Tisch. Langsam steht er auf. »Ich liebe diese Frau nicht, Sanchez.« Rosalia, die Schriftforscherin, schnalzt mit der Zunge. »Es stehte dir aber geschrieben in die Gesicht«, bringt sie mühsam auf deutsch hervor. »Amor, eh?« mischt sich Gonzales ein. »Si, ciertamente«, mutmaßt Carlos, der Apotheker. Alle nicken. »Das ist purer Unsinn«, sagt Markus abweisend. Victoria steht derweil am Pool und umarmt unter kleinen Schluchzern Markus' Notebook. Das ist alles, was sie je von ihm bekommen wird. Das und das komische Heiligenbildchen in ihrer Jakkentasche. Es flattert zu Boden, als sie nach einem Taschentuch kramt. Stefanie tritt von hinten an sie heran, will sie in den Arm nehmen. »Laß mich, ich hab's ja verdient«, sagt Vicky und schneuzt sich kräftig. Das klingt immer so schön albern in dramatischen Situationen wie diesen. Sie haßt dramatische Situationen, darin ist sie sich treu geblieben. Wegen ein bißchen Leidenschaft muß man nicht gleich den Verstand verlieren. »Sie ist sooo tapfer«, raunt Jutta ergriffen ihrem Hermann zu. »Pah, alles Berechnung«, glaubt Hermann, »die macht nur eine Szene, damit er ihr wieder hinterherrennt. Ich kenn' mich aus.« »Ja, wo bleibt er denn dann?« 205
»Vielleicht ist er doch kein so großer Trottel, wie ich dachte.« Das, schwört sich Victoria, war die letzte Szene, die ich je für einen Kerl gegeben habe. Letzter Vorhang. Kein Kerl der Welt ist das wert, da wird sie lieber faltig und vierzig und bleibt allein. Allein, aber glücklich. Und einen Ludwig findet sie bestimmt auch wieder. Der Name Ludwig hinterläßt ein fades Gefühl, so leer und fade, daß sie wieder aufschluchzen muß. Stefanie sieht Elsner kommen, sie faßt eine ziemlich zerbrechlich wirkende Victoria, die sich immer noch ans Notebook klammert, beim Arm. »Er kommt, Schätzchen, er kommt.« Victoria schaut kurz hin. »Vergiß es. Seine Augen sind kalt wie Hundeschnauze. Da kann ich nichts mehr machen.« »Doch. Geh einfach rückwärts und fall in den Pool«, zischt Steffi. »Was?« flüstert Victoria entgeistert zurück. »Ich mache mich doch nicht noch lächerlicher. Das habe ich gestern abend ausführlich getan. Es nutzt nichts.« »Gestern warst du betrunken.« »Ja klar, meinst du etwa, ich mache so was freiwillig? Im Leben nicht.« »Nun mach schon. Bei mir hat es geholfen. Hör ein einziges Mal auf mich.« Sie gibt Victoria einen sanften Stups. Victoria macht einen Schritt nach hinten. Elsner ist nur noch zwei Meter entfernt. Was soll's, denkt Victoria und spürt unter den Absätzen ihrer Schuhe die Bekkenkante. Vielleicht ist Stefanies Methode die einzig richtige. Noch ein Schritt, und sie wird es wissen. Sie zögert, das wäre doch schon wieder eine Szene. »Die wird sich doch nicht in den Pool stürzen?« fragt Jutta entsetzt. »Die wird«, glaubt Hermann, »die ist mit allen Wassern gewaschen. Man müßte diesen gutmütigen Trottel warnen.« 206
»Du bleibst, wo du bist!« befiehlt Jutta. Elsner bleibt neben Stefanie stehen. Den Blick hat er fest auf den Boden geheftet. Er zählt anscheinend die Grashalme durch, nur Vicky würdigt er keines Blickes. Sie ist aber auch so verdammt schmal, wie damals bei ihrer ersten Begegnung am Flughafen. Sein Blick trifft auf einen Fetzen Papier am Boden. Er bückt sich. Der findet sogar den Müll hier interessanter als mich, denkt Victoria betreten und macht einen Schritt weg vom Beckenrand. »Mein Gott, der heilige Antonius!« ruft Elsner aus, wird bleich, reißt den Kopf hoch, starrt Victoria an. »Wo hast du das her?« fragt er Vicky direkt ins Gesicht. Zu direkt für Vicky. Diese Augen sind wirklich umwerfend, denkt sie, und probiert zeitgleich Steffis Poolmethode aus. Das Notebook versucht sie im Fallen über dem Kopf zu halten, was dazu führt, daß sie wie ein Brett im Wasser aufschlägt und absackt wie ein Stein. Egal, sie hält schließlich Elias Rensles ›Kleine Geschichte der Erde‹ in den Händen, die muß gerettet werden. Stefanie schaut Elsner auffordernd an. Elsner schaut nur das Bild an. Das kann doch nicht wahr sein. Wie kommt Victoria an Doña Manuelas Heiligenbild? »Wollen Sie ihr nicht endlich hinterherspringen?« fragt Stefanie gereizt. »Immerhin hat sie Ihr Notebook vor dem sicheren Tod durch Ertrinken gerettet.« »Mein Notebook?« »Das hat Sie Ihnen doch gesagt! Und übrigens, die Wahrheit über Elias Rensle hat sie nur dadurch und ganz alleine herausgefunden.« »Mein Notebook!« »Aber ja doch, es lebt. Victoria hält es immer noch über ihren Kopf. Zeit, daß ihr jemand da heraus hilft. Sie paddelt im Nichtschwimmerbereich.« »Das muß Doña Manuela gewesen sein«, sagt Elsner nur. »Die Frau, die eben im Pool ertrinkt, heißt Victoria.« 207
»In einem Pool ertrinkt man nicht«, sagt Elsner streng und betrachtet die wild prustende Victoria, die sich mit eifrigen Beinbewegungen über Wasser hält. Dann versinkt er wieder in Betrachtung des heiligen Antonius. »Bravo«, ruft Hermann von der anderen Seite des Pools herüber, »ha, der läßt sich nicht unterkriegen.« »Wenn er nicht springt, springst du«, sagt Jutta. »Unnötig, so eine geht nicht unter. Die muß doch nur diesen blöden Aktenkoffer loslassen.« »Sie beten doch jetzt nicht etwa um göttlichen Beistand?« will eine gereizte Stefanie auf der anderen Seite vom Pool wissen. »Gegen einen Heiligen kann ich wohl wirklich nichts machen«, sagt Elsner und schaut Steffi wie von ferne an. »Heiliger Antonius, jetzt springen Sie endlich!« Stefanie zerrt ihm das Bild aus den Händen. Markus springt. Taucht auf, ist mit zwei Stößen bei Victoria, die das Notebook unter Einsatz der letzten Kräfte über ihrem Kopf festhält und mit den Füßen paddelt. Elsner schlingt seinen Arm um sie. »O Markus! Ich wußte, daß…«, der Rest ertrinkt in einem Gluckern. Dann taucht Victoria wieder auf. Sie schnappt nach Luft und lacht und spuckt Chlorwasser. »Ich wußte«, Luftschnappen, »daß du mich retten würdest«, Luftschnappen, »das habe ich schon mal geträumt. Da hast du mir sogar das Fliegen beigebracht. Du bist unglaublich.« »Dann träum mal schön weiter. Ich will nur mein Notebook retten.« »Das ist purer Unsinn, Elias, Markus, Elsner, Rensle, oder wie immer du heißt«, stößt Victoria, unterbrochen von kleinen Japsern, hervor. Sie läßt das Notebook los und schlingt ihre Arme um seinen Hals. »Ich glaube dir kein Wort.« 208
Und so richtig glaubt Markus Elsner sich auch nicht, denn er läßt das Notebook ertrinken. Seine Hände haben Wichtigeres zu tun. »So ein Trottel«, sagt Hermann und macht die Augen zu.
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