Frank Schweizer
Grendl
Otherworld Verlag
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Frank Schweizer
Grendl
Otherworld Verlag
1. Auflage: April 2007 Deutsche Erstveröffentlichung © für die deutschsprachige Ausgabe 2007 by Otherworld Verlag Krug KEG, Graz
Lektorat: Christian Volk / Alexander Krug Satz / Layout: Christian Volk Titel- und Innenillustrationen: Jan Balaz Druck und Verarbeitung: Finidr, s.r.o. Gedruckt in Tschechien ISBN-10: 3-9502185-5-6 ISBN-13: 978-3-9502185-5-8 www.otherworld-verlag.com
Max Merkur versteht die Welt nicht mehr – wie auch, sie ist soeben untergegangen. Doch während er im Himmelsbahnhof auf die Abfertigung wartet, treten die Teufel an ihn heran und ersuchen Max Merkur, ihnen bei der Suche nach dem Sinn des Lebens behilflich zu sein. Denn könnten sie diesen finden und in die Weltformel injizieren, ließe sich das Ende der Welt rückgängig machen. So begibt sich Max Merkur auf eine aberwitzige Reise durch Zeit und Raum zu den berühmtesten Philosophen der Menschheitsgeschichte, um ausgerechnet den Teufeln bei der Rettung der Welt zu helfen. Sie wollten schon immer wissen, wie das Ende der Welt tatsächlich aussehen wird und ob es rückgängig gemacht werden kann? Was eigentlich der Sinn des Lebens ist und warum sich manche Allegorien einfach nicht miteinander vertragen? Antworten darauf und auf vieles mehr hält Grendl für Sie bereit! Ein massiver Angriff auf die Lachmuskeln von Frank Schweizer, der deutschen Antwort auf Terry Pratchett! »Was Holt, Rankin und Pratchett für den angloamerikanischen Raum sind, das ist Frank Schweizer für den deutschsprachigen! Sein Romandebüt „Grendl“ ist ein buntes Feuerwerk aus Spannung, Witz, Originalität und phantastischen Ideen – humorvolle, literarisch hochstehende Fantasy par excellence!« – Hermann Urbanek, Space View »Vergessen Sie Asprin, Nicholls oder Scherm, bei Schweizer spielt die Musik.« – Carsten Kuhr, Phantastik-News »Wirklich witzige Bücher sind sehr selten, philosophische Bücher ebenfalls. Frank Schweizer gelingt es, beides zu kombinieren.« – Erik Schreiber, Der phantastische Bücherbrief
Der Riss im Himmel
Es begann mit einem Riss im Himmel. Das Firmament sah aus wie ein Ei, dessen Schale einen zackigen Sprung hatte. Der Riss erstreckte sich über den ganzen Himmel, und merkwürdigerweise wurde er nicht von vorbeiziehenden Wolken verdeckt. Die Leute richteten zunächst nur ihre Blicke gen Himmel, dann erstiegen sie Berge und nahmen Ferngläser zu Hilfe. Kein Zweifel, der Himmel hatte einen Riss, der im Osten begann und sich über das halbe Firmament erstreckte. Genauso unbegreiflich war, dass er auf der ganzen Welt zu sehen war, und zwar an derselben Stelle. Selbst nachts funkelte er zwischen müde flackernden Sternen. Allgemein herrschte nervöse Ratlosigkeit, man könnte auch sagen: Panik in Zeitlupe. Keine wissenschaftliche Theorie konnte die merkwürdige Himmelserscheinung zufrieden stellend erklären. Flugzeuge und Hubschrauber flogen nicht hoch genug, um sich dem Riss wirklich zu nähern. Nach einigen Sondersitzungen im UNO-Weltsicherheitsrat und hitzigen Debatten beschloss man, einen Marschflugkörper zu starten (der allerdings keinen Sprengsatz trug). Um zu sehen, was passiert, wie in der offiziellen Pressemitteilung verlautet wurde. An einem Donnerstag um 14:30 Uhr wurde der Marschflugkörper bei strahlendem Sonnenschein gestartet. Nach einer Flugzeit von 38 Sekunden gab es ein Geräusch, als ob jemand auf ein Stück Alufolie biss, und der Marschflugkörper war verschwunden. Ein Team amerikanischer Wissenschaftler unter der Leitung von Professor Johnson veröffentlichte zwei Tage später eine erste Hypothese, mit deren Hilfe das Phänomen erklärt werden sollte. Und zwar sei die Ursache dafür ein Effekt, den sie als »Atmosphärischer Abrieb« bezeichneten. Sonnenwinde brausten ihrer Meinung nach schon Jahrmillionen gegen die
nahezu ungeschützte Atmosphäre, kein Wunder also, wenn da mal etwas kaputt ging. Sie publizierten sogar eine Formel, mit deren Hilfe der »Atmosphärische Abrieb« berechnet werden konnte. Warum der Riss den Marschflugkörper verschluckt hatte, wurde mit einer Variablen erklärt, die als e’ (EpsilonStrich) in die Formel aufgenommen wurde. Allmählich gewöhnten sich die Leute an den Sprung im Himmel, vor allem, da er sich nicht zu vergrößern schien. Nach einigen Wochen wurde sogar im Wetterbericht der »Atmosphärische Abrieb« mit aufgenommen: Samstag 23 Grad, blauer Himmel, Winde aus Süd-Süd-Ost, Atmosphärischer Abrieb 7,2. Dann veränderte sich die Farbe des Himmels. Er war nicht mehr himmelblau, sondern nahm ein mürbes Ocker an, wie Blätter, die sich im Herbst verfärben. Selbst in der Nacht sah der Himmel nicht mehr schwarz aus, sondern verwaschen, mit Grauanteilen, gleich einem Fresko, das mit der Zeit verbleicht. Wissenschaftler aus aller Welt steckten wieder die Köpfe zusammen, um das Phänomen zu erklären. Ein indisches Wissenschaftlerteam legte eine verbesserte Chaos-Theorie vor, die im Wesentlichen besagte: Es herrscht ein ziemliches Chaos da oben… und publizierte eine Formel mit entsetzlich vielen griechischen Zeichen (mit Strichen darüber und darunter). Inzwischen veränderte sich der Wetterbericht in: Samstag 20 Grad, mürber Himmel, Südwestwinde, Atmosphärischer Abrieb 23,7. Es erschien den Wissenschaftlern sinnvoll, das Maß an Atmosphärischem Abrieb zu erhöhen. Erneut vergingen viele Wochen, ohne dass sich am Himmel etwas veränderte. Doch am 1. September, einem Freitag, ertönten plötzlich Fanfaren – vielleicht waren es auch Posaunen. Sie spielten jedenfalls eine leise und seltsame Melodie. Die Musik erklang für zehn Minuten, dann verstummte sie. Am nächsten Tag um exakt die gleiche Zeit
ertönten die Fanfaren (oder Posaunen) wieder, allerdings spielten sie diesmal die Melodie viel lauter. Die Tonfolge hatte erstaunliche Ähnlichkeit mit »An der schönen blauen Donau«. Und überall auf der Welt begannen die Leute spontan zu tanzen. Bis die Melodie wieder verstummte, um erst am nächsten Tag von neuem zu beginnen. Dieses Mal versammelten sich die Wissenschaftler nicht mehr, weil es weltweit keinen Wissenschaftler gab, der sich mit dem Thema Stratosphäre und Posaunenklänge auseinander gesetzt hatte. (Einen hatte es gegeben, einen Chilenen, der eine Doktorarbeit zum Thema »Grundlegende Theorie der QuantenPolka« geschrieben hatte, aber der sammelte inzwischen – nachdem sein Doktorvater dessen Arbeit mit einem zackigen »Caramba« kommentiert hatte – die Bananenschalen im Park auf). Der Wetterbericht änderte sich nicht mehr. Aber aus den zehnminütigen Melodien wurden von frechen Rappern HipHop-Versionen gemixt, welche die Charts stürmten. Im Volksmusikbereich wollte man dem nicht nachstehen, und die Kurplotzinger Himmelsbuabn landeten einen Hit mit »I klatsch in die Händ, denn bald is’ das End«. Als Melodie benutzten sie den Fanfarenklang den der Riss erzeugte, und dazu jodelten sie. Die Gruppe, vier fesche Burschen, stand in ihrem Musikvideo mit einem Akkordeon vor einem ocker-mürben Himmel und lächelte. Max Merkur verließ das hohe Universitätsgebäude von Stuttgart. Er trug einen dunklen Anzug und eine Krawatte, die so unordentlich um den Hals gebunden war, dass sie bei jedem Schritt wie ein Uhrenpendel hin und her schwenkte. In der Hand trug er eine schwarze Tasche, in der seine Magisterurkunde steckte. Er durfte sich jetzt Magister der Philosophie nennen. Gerade eben hatte er seine letzte Prüfung bestanden. Auf seinem Gesicht sah man ein sanftes Lächeln.
Hatte er doch geistesgegenwärtig seinem Prüfer auf die Frage: »Glauben Sie, dass das Kantische a priori rekurrent im Foucaultschen Diskursbegriff impliziert ist, insofern, als seine notwendigen Bedingungen es antizipieren?« mit einem schlichten »Nein, Sie etwa?« geantwortet. »Magister Max Merkur«, sagte er vor sich hin. Gut, es hatte 24 Semester gedauert, aber das Fach ist schwer und da waren noch die Partys und auch der Atmosphärische Abrieb, das hält auf. Max Merkur hatte sich für Philosophie als Studienfach entschieden, weil er an die Vernunft glaubte. Er dachte, wenn man Dinge mit der Vernunft in Augenschein nimmt, wird alles gut. Nachbarn geben sich die Hand, verfeindete Völker fallen sich um den Hals, und Glück wird alle Länder durchfluten. Plötzlich ertönte »An der schönen blauen Donau« vom Himmel herab. »Schon zwölf?«, sagte er und schaute auf die Uhr. Er ging etwas schneller. Die Melodie ist irgendwie anders als gewohnt, dachte er. Tatsächlich klang sie dumpf und bedrohlich, auch der Himmel schien mürber als sonst zu sein, der Riss gezackter denn je. Max Merkur schaute besorgt nach oben, aber beschloss, dass ihm heute nichts den Tag verderben würde. Es knackste aus der Höhe, so als ob man einen Oberschenkel mit roher Gewalt entzwei bricht. Die Sonnenstrahlen schienen kälter als jemals zuvor zu sein. Das Knacken wiederholte sich. Der Himmel wirkte wie gedehnt, dann wieder gedrückt, auch der Turm der Universität schien sich bis ganz in den Himmel zu dehnen. Max Merkur drängte sich durch eine Anzahl von Studenten, die aus den Vorlesungsräumen gerannt waren, um das Spektakel zu sehen. Dann knirschte es. Ein schreckliches Geräusch. Der Riss war nicht nur größer geworden, sondern hatte kleine Ausläufer bekommen, die sich über den ganzen Himmel erstreckten. Die Musik wurde lauter und hatte gar
nichts von dem fröhlichen Gejodel der Kurplotzinger Himmelsbuabn, obwohl Max sich an eine Rap-Version der Band Sky-Ritze erinnerte, die noch depressiver klang. Die Sonne wurde schwächer. Das Licht schien nicht mehr, es quoll wie eine dicke Paste in Richtung Erde und lief an den Rändern des Firmaments hinab. Es wurde kalt. Der Himmel war nicht mehr herbstlich-mürbe. Er wurde leichengrau. Menschen begannen zu schreien, einige liefen aus den Häusern, andere in die Häuser. Max Merkur ging ohne auf den Himmel zu schauen seinen Weg. Es wird schon eine vernünftige Erklärung dafür geben, dachte er. Plötzlich riss ihm jemand die Tasche aus der Hand und spurtete damit davon. »Meine Tasche«, schrie er, »meine Magisterurkunde!« Er begann zu laufen und verfolgte einen Mann mit Umhang, der lachend die Straße entlangrannte. »Stehen bleiben, sofort stehen bleiben!«, brüllte Max Merkur und lief, so schnell er konnte. Er war nicht der Schnellste. Am Himmel krachte es wieder, diesmal wurde der Boden davon erschüttert, und die Autos und die Menschen vollführten gemeinsam einen kleinen Sprung. Max Merkur lief unbeirrt weiter. Die Gestalt rannte eine Straße hinunter, an deren Ende sich eine kleine katholische Kirche mit bunten Fenstern befand. Nur noch zehn Meter trennten die beiden voneinander, denn auch die Gestalt war nicht die Schnellste. Der Himmel wurde gedehnt, ächzte und krümmte sich im Todeskampf. Die Gestalt drückte die Kirchentür auf und hatte nur noch drei Meter Vorsprung vor dem hechelnden und keuchenden Max Merkur, der nicht 24 Semester lang Philosophie studiert haben wollte, damit ihm dann jemand seine Urkunde klaute. Raum und Zeit taten ihren letzten tiefen Atemzug.
Der Mann rannte durch die Kirche. Max Merkur streckte die Hand nach ihm aus. Plötzlich ließ er die Tasche fallen, und Max Merkur stolperte darüber und knallte mit dem Kopf gegen einen großen Kessel mit Weihwasser, das sich über ihn ergoss. »Verflucht!«, schrie er wütend. Das Universum endete. Raum, Zeit, Materie, Energie und Licht wurden zusammengerollt wie ein Teppich und verschwanden in einem tiefen Nichts. Der Lichtschalter des Lebens war ausgeknipst worden. Das Nichts nichtete.
Der Apparat des Jüngsten Gerichts
»Eine Orange?« Max Merkur öffnete die Augen. Er rappelte sich auf und schaute sich um. Er war nicht ganz allein, vielmehr stand er in einer großen Wartehalle mit weiteren 89 Millionen Menschen. »Eine Orange? Ist die letzte für… eine sehr, sehr lange Zeit«, wiederholte die Stimme. Es war ein Mann in einem dunklen Umhang mit einer großen Kapuze, die ihm das Gesicht verdeckte. »Wo bin ich?«, stammelte Max Merkur. »Im Ave-Maria-Himmelshafen, Halle 9, Buchstabe M.« Der Mann begann, die Orange zu schälen. In der Wartehalle, in der es zuvor noch ruhiger gewesen war, begannen sich bereits vereinzelt Leute miteinander zu unterhalten. Die Größe der Halle war überwältigend; sie erstreckte sich kilometerweit. Für jeden schien ein kleiner blauer Plastiksitz bereit zu stehen. Als Max Merkur sich umdrehte, fiel ihm eine Glasscheibe auf, hinter der eine weitere Halle lag. Zu seiner großen Überraschung erspähte er tausende Eichhörnchen, die sich verunsichert umblickten. »Was ist das?« Er deutete auf die Nagetiere. »Das ist Halle 8, Eichhörnchen und andere Nagetiere.« Der Mann biss in die geschälte Orange. »Willst du wirklich nichts? Weißt du, als Zeit und Raum aufhörten zu existieren und das Universum wie ein Teppich zusammengerollt wurde, fiel diese Orange etwas unterhalb von Brasilien heraus. Tja, auch der beste Teppich hat Löcher. Die Schwierigkeit dabei ist, die Orange aufzufangen.« »Das Universum ist zu Ende? Du meinst, der Jüngste Tag ist da?« »Ja, genau.« Der Mann schien unter seiner Kapuze zu lächeln.
Tatsächlich war der Jüngste Tag gekommen. Vor etwa 14 Milliarden Jahren war die Schöpfung begonnen worden. Sie bestand aus drei Teilen, dem Himmel, der Erde und der Hölle, und war irgendwo in etwas errichtet worden, was man in einer groben Annäherung als Nichts bezeichnen könnte. Die Erde war zuerst kein großer Publikumsmagnet und blieb lange Zeit öd und unbewohnt. Auch das Universum war im Wesentlichen nichts anderes als ein leerer Raum. (Vielleicht damit man später noch etwas reinstellen konnte.) Bevor der Mensch auf Erden erschien, wurden zunächst die Engel und Teufel erschaffen. Hier fingen die ersten Schwierigkeiten aber schon an. Die Teufel wurden in die Hölle geschickt und lebten von da an getrennt vom Himmel und den Engeln. Sie begannen viel früher als alle anderen Völker darüber nachzudenken, wie und warum das Universum entstanden war, wer sie wirklich waren und warum sie diese verdammte Heizung nicht runterregeln konnten. Dazu muss man wissen, dass die Teufel auf dem Gebiet der Philosophie nur bescheidene Fähigkeiten erlangten. Einer ihrer herausragendsten Philosophen, Aztor IX. formulierte in seinem philosophischen Traktat »Wahrheit ists, wenn es in der Nase klingelt« (der Traktat wurde nach der Anfangszeile betitelt) eher schwammige Einsichten: »Durch Rumpeln wird es Zeit«, »Klatsch, wenn du dich traust«, »Hoppla, das war knapp.« Die Teufel besaßen also wenig philosophisches Verständnis, dafür exzellente Historiker und Wissenschaftler. Sie rekonstruierten die Geschichte der Schöpfung und berechneten den Verlauf der Zukunft voraus. Große Aufregung entstand, als der Teufelsmathematiker Emptor III. eine Weltformel veröffentlichte, die er im Rahmen eines Forschungsauftrags des Amtes für wissenschaftliche Satanistik erarbeitet hatte. Die
Formel war unglaublich lang und beinhaltete nicht nur Zahlen, sondern auch Haushaltsgeräte, ein Stück einer alten Pizza und eines seiner Barthaare. Im Ganzen nichts Außergewöhnliches, lediglich eine unbedeutend kleine Variable mit der unscheinbaren Bezeichnung »z«, die sich an einer unauffälligen Stelle in der Weltformel unter einem kleinen Schemel befand und sich ganz manierlich benahm (im Gegensatz zu dem Dobermann am hinteren Ende der Gleichung, der ständig die Klammer und das Minuszeichen fraß), dieses kleine »z« also… lief gegen Null. Zuerst gab es Zweifel, doch als man den Schemel anhob und die Weltformel genau betrachtete und das »z« immer noch wie ein kleiner, fetter Hamster im Laufrad gegen Null lief, konnte dies nur eins bedeuten: Die Welt würde enden. Viele Teufel waren verzweifelt und riefen: »Klatsch, wenn du dich traust!« und wussten nicht ein noch aus.
»Und das hier ist ein Flughafen?«, fragte Max Merkur weiter, nachdem er den ersten Schrecken verdaut hatte. »Nein, ein Himmelshafen. Hier wird entschieden, ob du in den Himmel oder in die Hölle kommst. Die Halle ist für Mitteleuropa und die BENELUX-Länder, hier in unserer Ecke ist der Buchstabe M.« Die halbe Orange war schon irgendwo unter der Kapuze verschwunden. »Aber das bedeutet ja, dass ich tot bin.« »Theoretisch gesehen schon… und praktisch gesehen – auch, ja.« »Es gibt einen Himmel und eine Hölle, also gibt es auch Gott… aber welche Religion ist denn nun die richtige?« »Na ja, das ist hier ein katholischer Himmelshafen. Das merkst du daran, dass nicht geraucht wird.« »Also hatten die Katholiken Recht?«
»So würde ich das nicht sagen… weißt du, es gibt noch andere Himmelshäfen. In einem buddhistischen Himmelshafen beispielsweise sind einfach die Ausreisebestimmungen anders. Kaum Papierkrieg und netteres Bodenpersonal, wenn du mich fragst.« Max Merkur nahm die Neuigkeiten mit gemischten Gefühlen auf. Er freute sich, dass er nicht tot war, genauer gesagt, dass es ein Leben nach dem Tod gab, doch hätte er nie erwartet, mit 89 Millionen Katholiken in einer Wartehalle zu stehen, während nebenan abertausende Eichhörnchen ihre buschigen Schwänze kratzten und säuberten. Als kleinen Trost allerdings empfand er, dass er vor dem Ende der Welt noch seinen Universitätsabschluss bekommen hatte. Das war etwas, von dem sein Vater behauptet hatte, dass er es nie schaffen würde. »Komme ich in den Himmel oder in die Hölle?« »Bist du denn gläubig?« »Och, so ein bisschen…« Der Fremde räusperte sich. Max Merkur holte Luft: »Es fällt mir jetzt etwas schwer zu sagen, dass ich Atheist bin.« »So oder so. Du gehst nachher durch dieses Tor. Du wirst durchleuchtet. Es wird nach Sünden, Abgründen, Begierden und kleinen, dreckigen Geheimnissen gesucht. Wenn das Lämpchen grün wird, kommst du in den Himmel, wenn es rot aufleuchtet, in die Hölle.« In einiger Entfernung sah Max Merkur etwas, das wie ein runder Torbogen aussah, an dem ein Lämpchen angebracht war. Davor wartete eine lange Schlange. Regelmäßig leuchtete eine Glühbirne oben in der Mitte des Tores mal grün, mal rot auf. Max Merkur beobachtete das Treiben eine Weile, konnte aber wegen der vielen Leute nichts Genaueres erkennen.
»Wie heißt du eigentlich?«, fragte er seinen unbekannten Gefährten. »Mein Name ist Lutherion, genau gesagt Lutherion VI.« »Bist du ein König oder so was?« »Ähm… nicht direkt.« Lutherion schob die Kapuze zurück. Vor Max Merkur stand ein Teufel. Sein Gesicht und Körper waren vollkommen schwarz, die Augen funkelten abwechselnd stechend grün und brennend rot. Er hatte kleine, jedoch äußerst spitze Hörner auf dem Kopf, und die Eckzähne erinnerten an Fänge. Die Lippen waren zu einem Lächeln verzogen. Max Merkur bekam eine Gänsehaut. »Ich komme aus der Hölle, weißt du?!« Max Merkur blickte in das schwarze Antlitz des Teufels…
Es gab vier Arten von Teufeln: Schwarze, Rote, Blaue und Gelbe. (Ihre Geschichte hatte im Gegensatz zu jener der Menschen nie Benachteiligungen aufgrund ihrer Hautfarbe gekannt. Man muss jedoch der Vollständigkeit halber einräumen, dass Rot die von vielen – aus ästhetischen Gründen – bevorzugte Farbe war und etliche Teufel viel Zeit opferten, um sich im Flammarium bei über zehntausend Grad röten zu lassen.) Schwarzteufel kümmerten sich traditionell um Diplomatie, Geheimdienst und die allgemeine Politik der Hölle; Rotteufel hatten die Aufgabe, Menschen zu schlechten Taten zu bewegen, außerdem leiteten sie die PR-Abteilung; Blauteufel kümmerten sich um die allgemeine Verwaltung und Buchhaltung, und die Gelbteufel waren für die Wissenschaften zuständig. In alten Geschichtsbüchern wird berichtet, dass es ursprünglich noch eine fünfte Farbe gab – die Weißteufel. Diese geheimnisvolle Gruppe verließ die Hölle allerdings bereits vor tausenden von fahren aus unbekannten Gründen und wohnt der Legende nach
seither irgendwo an den steilen Rändern des Nichts. Selbst die Gelbteufel wissen nichts Genaues über sie. Doch hinterließen die Weißteufel wunderschöne, merkwürdig geformte Holzschnitzereien (sie sehen aus, als ob man in einen großen Kürbis fünf dicke Maiskolben gerammt hätte), die man immer noch im Staatlichen Luziferium neben einer Gruppe avantgardistisch gestalteter Foltergeräte – Folterinstrument, Zahnbürste und Nachttischlampe in einem – bewundern kann.
»Weiche von mir, Satan!«, rief Max Merkur und formte dabei mit den Zeigefingern ein kleines Kreuz. Er war der Meinung, dies würde ihm im Augenblick des Weltgerichts noch ein paar Bonuspunkte einbringen. »Lass den Zinnober, du erschreckst die Eichhörnchen.« Lutherion neigte den Kopf etwas zur Seite. »Und bevor du nach Heiligenbildchen und blechernen Kruzifixen in der Tasche kramst, das funktioniert nicht… und auch kein Knoblauch.« Max Merkur beruhigte sich wieder, als ihm auffiel, dass sich niemand der 89 Millionen übrigen Anwesenden wirklich um ihn scherte und jeder nur mit seinem eigenen Leben nach dem Tod beschäftigt war. »Und was willst du? Ich verkaufe dir meine Seele nicht. Das ist das Einzige, an dem ich noch irgendwie hänge. Ich unterzeichne nichts und besiegle nichts mit Blut, auch wenn das Angebot noch so verlockend ist.« Dann fügte er deutlich lauter und in Richtung des munter blinkenden Tores hinzu: »Ich bin nämlich ein guter Christ!« »Sehe ich aus wie ein Zeitschriftenvertreter?«, knurrte Lutherion.
Verträge zwischen Teufeln und Menschen gab es in dieser Form nicht mehr; sie entsprachen längst nicht mehr dem Zeitgeist. Früher, in den alten Tagen, konnte so ein Vertrag durchaus noch mit Blut, Schweiß oder, wenn gar nichts Besseres zur Hand war, mit verschütteter Limo besiegelt werden. Das Geschäft sah meistens so aus, dass ein Teufel einem Menschen ein Leben lang dienen musste. Dann, nach dem Tod, sollte im Gegenzug dafür die Seele des Menschen dem Teufel gehorchen. In letzter Zeit allerdings beklagten die Teufel sich immer häufiger darüber. »Das sind Knebelverträge!«, murrten sie. Außerdem wurden die zuletzt erschöpften Teufel, die nach dem Tod ihres alten Herrn keuchend auf dessen Seele warteten, regelmäßig von Engeln hinters Licht geführt. Während ein Engel für Ablenkung sorgte, stahl ein anderer die entweichende Seele. (Zu Anfang beschränkten sich diese Ablenkungsmanöver noch auf: »Hallo, wie spät ist es?« oder: »Na, auch hier?«. Da sich aber die Teufel bald nicht mehr so einfach in die Irre führen ließen, wurden auch die Engel immer raffinierter. Sie fingen an, Shownummern zu präsentieren und atemberaubende Trapezkunststücke darin mit einzubeziehen. Die Vorführungen wurden länger und länger. Zum Schluss konnten die Teufel zwischen 16 Programmen wählen, und so manch einem ging es bald mehr um die vielfältigen Unterhaltungsmöglichkeiten als um die Seele. Bald darauf wurden diese Arten von Langzeitverträgen schließlich eingestellt oder galten zumindest als unseriös.) Inzwischen boten die Teufel nur noch Verträge mit einer Laufzeit von vierundzwanzig Monaten und einem Rücktrittsrecht von zwei Wochen nach Vertragsbeginn an. Keine Grundgebühr und verbesserte Konditionen für LangzeitSünder. Man wollte sogar die neueren Medien nutzen und bereitete in der Hölle einen Online-Aufiritt vor; eine Website,
über die der Benutzer von zu Hause aus seine Seele bequem und preisgünstig verkaufen konnte. Es sollte reguläre und Premium-Benutzer geben, je nachdem, welche Leistungen ein Sünder in dieser Welt nutzen wollte und welche er in der nächsten zu geben bereit war. Leider stürzte der Server gerade in dem Moment ab, als die Teufel online gehen wollten. Genauer gesagt, lag das Problem weniger am Server, sondern vielmehr darin, dass das Universum, in dem er sich befand, verschwunden war.
»Ich gehe jetzt durch dieses Tor. Entweder komme ich in den Himmel oder…« Max Merkur hatte das unbestimmte Gefühl, dass es keine gute Idee war, am Tag des Jüngsten Gerichts mit einem Teufel gesehen zu werden. »Bist du dir ganz sicher, dass du in den Himmel kommst? Gibt es denn keine dunklen Flecken in deiner Seele?« Max Merkur zögerte: »Hmmm… Da war natürlich der Vorfall mit dem Locher in der Mensa… Und der Perserkatze und dem Bikini, aber das kann ich erklären… Ansonsten nur das Übliche. Ich denke doch, dass man mir das verzeiht, wenn ich darum… äh… bitte.« Lutherion grinste. Am unteren Rand der Kutte lugte plötzlich ein schwarzer Schwanz heraus, an dessen Ende ein spitzes, rotes Dreieck prangte. Er beulte – was Max Merkur jetzt erst bemerkte, da er Lutherion bislang nur von vorne gesehen hatte – den unteren Rücken des Teufels aus und stellte offensichtlich eine Verlängerung der Wirbelsäule dar. Langsam schabte der Schwanz über den Boden. Er schien ziemlich muskulös zu sein. »Das ist eine Maschine, weißt du. Der Apparat des Jüngsten Gerichts. Nur Drähte, Dioden und einige wirklich, wirklich kleine Lötstellen.«
»Uh?«, äußerte Max Merkur einen Laut, den er immer von sich gab, wenn er unangenehm überrascht war. »Die alten Apparate des Jüngsten Gerichts funktionierten noch mit einer Kurbel und waren sehr laut, da gab es ab und zu mal einen kleinen Fehler. Beispielsweise kamen vierhundert blutrünstige Hunnen in den Himmel, bevor man bemerkte, dass die rote Birne einen Wackelkontakt hatte. Seitdem hat sich die Technik verbessert. Die Hunnen haben sich im Himmel übrigens so gut es ging angepasst… und äh… sich auf das Dichten von Preisliedern beschränkt… Jedenfalls sind manche dieser Hymnen nicht wirklich andächtig, muss ich sagen, besonders mancher Reim… Na, auf jeden Fall ist der Apparat des Jüngsten Gerichts nicht bestechlich, und man kann ihm auch nichts von seiner schweren Kindheit vorjammern.« Max Merkur hatte sich wieder etwas gefasst. »Ich gehe da einfach durch, und dann werden wir sehen, was aus mir wird. Basta.« »Mach das mal.« Lutherion lächelte, und sein Lächeln schien merkwürdig. Max Merkur ging. Und stellte sich in die Schlange. Es war nicht irgendeine Schlange. Es war die Mutter aller Schlangen. Denn obwohl mehrere Apparate des Jüngsten Gerichts zur Verfügung standen, gab es doch sehr viele Katholiken, die abgefertigt werden wollten. Max Merkur begann zu warten. Und wartete und wartete… Da er technisch gesehen tot war (und praktisch übrigens auch), verspürte er keinen Hunger oder andere menschliche Bedürfnisse. Vor ihm in der Schlange stand eine alte Frau von vielleicht 79 Jahren, die das Ave-Maria betete. Nach der viertausendsiebenhundertneunzehnten Wiederholung war Max Merkur sichtlich genervt und fuhr sie verärgert an: »Noch ein einziges Ave-Maria und ich schiebe Ihnen…«
Max Merkur brachte in diesem Satz noch einige weitere Dinge unter, die aber durch den Lärm von zehn Pferden übertönt wurden (die aus Halle 17, Gäule und andere Einhufer, entlaufen waren). Als er fertig war, schaute ihn die Frau entsetzt an und machte anschließend mit großem Schwung das Kreuzzeichen: »Ich vergebe dir für deine Worte mit ›A‹ und ›L‹ und auch für das mit ›P‹, ganz besonders für das mit ›P‹«, fügte sie leicht beleidigt hinzu. Die Frau hatte etwas Gutes getan, sie hatte Nächstenliebe gezeigt, aber er, so musste er erschrocken feststellen, hatte eine weitere Sünde auf dem Gewissen. Die Frau grinste ihm frech ins Gesicht und begann wieder, das Gebet zu murmeln.
Kein Zweifel, dachte Max Merkur, ich bin weit unterlegen in diesem katholischen Spiel… O nein, vielleicht registriert die Maschine meine Gedanken… Ich habe den Glauben als Spiel bezeichnet… Vielleicht sollte ich nur ganz katholische Dinge denken… Ja, das ist es, nur Positives, und immer bis zum Hals bekleidet… Und natürlich Nächstenliebe, wichtig, wichtig, wichtig… Trotzdem könnte ich diese Oma im Sand verbuddeln… Ups, ich meine… Ich verzeihe ihr, ja, ich verzeihe ihr… Hey, das klingt total katholisch… Verziehen sei ihr, auch wenn sie mich ignoriert und jetzt zum viertausendachthundertzweiundzwanzigsten Mal das verdammte Ave-Maria runterleiert… O nein!
Bedauernd musste er feststellen, dass er nicht wirklich wusste, wie er sich zu religiösem Denken bringen konnte. Er glaubte allgemein an die Vernunft, die keine Gebete verlangte. Vielleicht, indem er fünftausend Mal den kategorischen
Imperativ von Kant runtersagte? Hatte Kant nicht behauptet, Gott sei für das Universum eine notwendige Hypothese? In der Bibel stand aber: »Du sollst keine anderen Götter neben mir haben« – nicht »du sollst keine anderen Hypothesen neben mir haben«. Warum nur war er in einem katholischen Himmelshafen gelandet? Noch immer musste er warten und warten. Er sah in einiger Entfernung Lutherion, der zwischen unzähligen wuselnden Eichhörnchen stand und rüberwinkte. »Hu-hu!«, rief er. Ein Eichhörnchen saß auf seinem Kopf. »Du bist mit dem Teufel im Bund«, zischte die alte Frau plötzlich und machte ein Gesicht, als ob sie in eine Zitrone gebissen hätte. Viele Köpfe drehten sich nach Max Merkur um. Er lächelte verlegen und schaute zu Boden. »Du wirst in der Hölle braten«, fauchte die Alte. Da hatte Max Merkur eine Fantasie bezüglich der alten Frau und einem Stück Fichtenholz, die sehr wahrscheinlich auch wenig katholisch war, zumindest hatte die Idee in der Bibel nie Erwähnung gefunden. Vielleicht würde die Lampe ja wieder einen Wackelkontakt haben, und er dürfte zu den Hunnen? Max Merkur wandte die Aufmerksamkeit wieder der Warteschlange zu. Immerhin konnte er jetzt über die Köpfe der anderen hinweg den oberen Bogen des Apparates erkennen. Er fing an, nervös zu werden. Obwohl es nur langsam voranging, kam er dem Apparat immer näher. Das Tor war ungefähr zwei Meter fünfzig hoch und zwei Meter breit. Es glänzte golden. Während Max Merkur weiter auf das Tor zugeschoben wurde, bemerkte er an der Seite eine silberne Tafel, auf der stand: »Apparat des Jüngsten Gerichts LX 1000. Max. 200 kg. Stufenlos regulierbar.«
Darunter befand sich ein kleines Glasfenster, hinter dem ein Regler angebracht war. Es gab alle möglichen Einstellungen: buddhistisch, hinduistisch, evangelisch, jüdisch, katholisch, muslimisch, diverse Sekten und Naturreligionen. Der Regler war auf katholisch gestellt. Anscheinend war dies die Grundeinstellung. Max Merkur überlegte, ob er den Regler vielleicht unbemerkt verstellen könnte. Natürlich konnte er nicht behaupten, nach jüdischen Gesichtspunkten ein gutes Leben geführt zu haben. Möglicherweise gab es ja irgendeine Voodoo-Religion, in deren Augen er »gut« war… Allerdings war er immer freundlich zu Hühnern gewesen und hatte nie welche geopfert, um seine Ahnen, zum Beispiel seinen Opa, milde zu stimmen. Seine Nervosität wuchs. Endlich konnte er sehen, was am Tor passierte. Unruhig standen die Leute davor, so als ob sie gleich in sehr kaltes Wasser springen müssten. Ein junger Mann um die Zwanzig zögerte besonders lange. Dann raffte er allen Mut zusammen und trat durchs Tor. Die Maschine brummte. Eine Sekunde, zwei Sekunden, drei Sekunden. Bing! Grünes Licht. Man sah gerade noch, wie sich der junge Mann erleichtert die Hand vor den Mund hielt, dann war er auch schon verschwunden. Der Nächste kam an die Reihe. Ein Mann in Jogginghosen und T-Shirt. Er ging durch das Tor. Eine Sekunde, zwei Sekunden, drei Sekunden. BÄÄÄB! Ein hässliches Geräusch. Die Lampe leuchtete rot. Der Mann war weg. Der Nächste. Die Lampe leuchtete rot. Der Nächste… Wieder rot. Der Nächste… Rot… Rot… Rot… Rot. Nur einer von etwa fünfzehn bekam eine grüne Lampe zu sehen. Und auch Max Merkur näherte sich unaufhaltsam. Dann waren nur noch zwei vor ihm. Zuerst ging ein Mann hinein, den er als den Friseur erkannte, der ihm als Kind die Haare geschnitten hatte. Er erinnerte sich noch daran, wie er
immer zu ihm gesagt hatte: »Bitte nur ein bisschen kürzer und oben wie Billy Idol« – Jedes Mal verließ er den Friseursalon mit Scheitel links, einem Militärhaarschnitt vom Feinsten und dem Spruch: »Jetzt, wo es Sommer wird, ist’s so doch viel angenehmer.« Rot! Ha, ha, dachte Max Merkur, das geschieht ihm recht. Er hatte es aufgegeben, seine Gedanken kontrollieren zu wollen. Nun war die alte Frau an der Reihe, die gerade das viertausendneunhundertsechsundneunzigste Ave-Maria beendet hatte. Sie knickste kurz vor der Maschine, machte ein Kreuz und ging durch das Tor. Und zum ersten Mal dauerte es nicht erst drei Sekunden, bis die Maschine das Ergebnis mitteilte – das rote Lämpchen leuchtete augenblicklich auf. Nun war es soweit: Max Merkur stand unruhig vor der Maschine; hinter ihm eine enorme Schlange. Was, wenn er jetzt davonliefe? Aber irgendwann müsste er sich erst wieder erneut anstellen. Das würde er nicht ertragen, und hier bleiben wollte er auch nicht. Unten am linken Sockel war eine Art Firmenlogo zu erkennen, ein »E« und eine Harfe, darunter klein der Satz: »Nur mit der Maschine sieht man gut!« Sollte er es wagen? Was, wenn er dann dafür in die Hölle käme? Max Merkur war kein böser Mensch – der Haken war nur: Er war auch kein guter. Er hatte keine Ambitionen in die eine oder andere Richtung gezeigt. Die Chancen standen eins zu fünfzehn, dass es gut ausging. Erst wollte er kehrtmachen… dann wagte er es doch und trat durchs Tor. PFFFFFFFFFFFFFFFFFFFFFFFFFFFFFFFFF… Zinging-ing Es gab ein Geräusch, als ob man einen aufgeblasenen Luftballon fliegen lässt. Danach ein kleines metallisches Echo. Zwei weiße Tauben flogen plötzlich aus dem Tor und verschwanden irgendwo in den Weiten des Himmelshafens.
Max Merkur wurde zurückgeschleudert und landete benommen auf dem Hosenboden. Die Maschine qualmte. Die Glühbirne war geplatzt. Hinter ihm hörte er aus tausenden Kehlen fast zugleich: »O nein… kaputt.« Tatsächlich hatte der Apparat just in dem Moment, als Max Merkur hindurchschritt, den sprichwörtlichen Geist aufgegeben. Für einen kurzen Moment überlegten die Leute hinter ihm, ob sie ihren Ärger an ihm auslassen sollten. Glücklicherweise jedoch besannen sie sich, dass es noch weitere Tore gab und man durch einen rohen Gewaltausbruch nur wertvolle Zeit verlor und dadurch einen schlechteren Platz in der nächsten Schlange bekäme. Max Merkur rappelte sich auf und betrachtete das Tor. Dann wandte er sich um und ging Gedanken verloren zu Lutherion zurück. »Hat nicht geklappt, was?«, grinste der Teufel. »Nein, der Apparat ist hinüber. Ich muss zu einem anderen gehen.« »Da wird es auch nicht anders sein.« »Wie meinst du das?«, fragte Max Merkur misstrauisch. »Ich meine, dass du alle Apparate ruinieren wirst, wenn du so weiter machst, und dann bist du mit über 80 Millionen Katholiken hier allein.« »Was soll das heißen? Warum klappt es bei allen anderen und bei mir nicht?« »Weil du, entgegen aller Wahrscheinlichkeit, genau in dem Moment, in dem die Welt endete, zwei Dinge getan hast: Du hast dich mit Weihwasser bespritzt, und du hast geflucht. Das Weihwasser wäre ein Freifahrschein in den Himmel gewesen, das andere hätte dich geradewegs in die Hölle gebracht. Beides zusammen ist eine… na ja, eine explosive Mischung.«
Es war in der Tat eine explosive Mischung. Die Welt seit ihrer Schöpfung und das Universum als solches beruhten auf dem Prinzip von Gut und Böse. Auch die Materie war nach diesem Grundprinzip gestaltet. Die Naturwissenschaft übersah stets die wahre Natur des Universums und glaubte beispielsweise, dass ein Proton eine positive und ein Elektron eine negative Ladung trüge. In Wirklichkeit aber war ein Proton gut und ein Elektron böse geladen. Damit beging die Physik einen fundamentalen Irrtum und war schon von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Die Teufel dagegen forschten nie in der Physik, sondern nur in der Metaphysik. Zum Beispiel entdeckten sie schon recht früh die Formel »E=mc2« und interpretierten das »m« korrekt: Energie ist Moral (die von jeher klein geschrieben wird) multipliziert mit der Lichtgeschwindigkeit zum Quadrat. (Weitere Bereiche, in die sie vordrangen, waren die Kernmetaphysik, die Meta-Chemie, die Meta-Mathematik und die Meta-Gemeinschaftskunde (es gab auch Meta-Französisch, aber nur als Arbeitsgemeinschaft).) Der Teufelsmetaphysiker Erfler XII. entdeckte zu der Zeit, als die Menschen noch überlegten, ob »uga-uga« mit einem oder zwei »g« geschrieben wird, dass gute und böse Materie hochkonzentriert ein metaphysisches Feld erzeugt, das einem Magnetfeld ähnelt. Zuerst wussten die Teufel nichts mit dieser neuen Erkenntnis anzufangen. Nach und nach aber entwickelten sie technische Geräte wie Hornspitzer und Backenzahnkrümmer, deren Motoren durch metaphysische Felder angetrieben wurden. Erfler XII. machte überdies die Beobachtung, dass durch rasche Zusammenführung eines guten und eines bösen metaphysischen Feldes ein Gegenstand merkwürdig geladen wurde (tatsächlich sprach Erfler XII. sogar von
»hochmerkwürdig«). Das Maß an merkwürdiger Ladung erhielt den Buchstaben »M« und sicherheitshalber bekam es noch ein Sternchen dazu: »M*«. Wenn ein Gegenstand von hoher merkwürdiger Ladung – beispielsweise »M*=7,5« – mit etwas in Kontakt kommen würde, das extrem gut oder böse geladen wäre, dann könnten – wie Erfler XII. nicht müde wurde, in Vorträgen wieder und wieder zu erwähnen – … dann könnten äußerst merkwürdige Dinge passieren. Hätte man Max Merkur mit dem Erfler-Zähler gemessen, hätte er »M*=127« angezeigt, einen Wert also, den man durchaus als beunruhigend ansehen hätte können.
»Du warst das! Du hast mir meine Magisterurkunde gestohlen und bist damit weggerannt!« Max Merkur war zornig und glücklich zugleich – glücklich, dass er zum ersten Mal wenigstens eine Kleinigkeit von dem verstand, was vor sich ging. »Gib sie mir zurück!« »Ich fürchte, ich hab sie in Venezuela fallengelassen, als ich nach der Orange gehechtet bin…« »Warum hast du das getan?« »Ich mag Orangen…« »Nein, warum du meine Urkunde gestohlen und mich in Schwierigkeiten gebracht hast!« »Ich wollte nicht, dass du durch das Tor kommst. Aber es gibt einen Grund dafür: Max Merkur… die Hölle braucht dich!«, verkündete Lutherion und blickte dabei versöhnlich. »Ich will aber nicht in die Hölle.« »Das musst du auch nicht. Ich sagte lediglich, dass sie dich braucht – nicht, dass du dorthin sollst. Du sollst das Universum retten. Könnte man dich dazu überreden?« »Ich weiß nicht. Zumindest will ich mich nirgendwo mehr anstellen.«
»Du kannst hier bleiben und dich zu den Katholiken und den Eichhörnchen gesellen, oder du kommst mit mir, und wir retten zusammen das Universum. Na, wäre das was für dich?« »Ich weiß nicht. Eigentlich mag ich Eichhörnchen…« »Ja, aber ohne Nüsse giltst du bei ihnen nichts.« »Hmmm… Ich hänge doch irgendwie am Universum. Da war bisher immer was los.« »Na siehst du«, lächelte Lutherion. »Es wäre schon schön, wenn das Universum wieder da wäre.« »Dann komm mit mir«, forderte Lutherion ihn auf und streckte die Hand aus. »Einverstanden – aber Finger weg von meiner Seele!« »Abgemacht.« »Und ich will keine Sünden begehen müssen, nichts, was mir nachher im Himmel einen Nachteil bringen könnte.« »Einverstanden… Sind wir uns also einig?« »Ja.« »Prima, dann lass uns jetzt das Universum retten. Vielleicht haben wir danach noch genügend Zeit, um mit den Eichhörnchen zu spielen.« Der Teufel legte freundschaftlich den Arm um Max Merkur und zog ihn mit sich fort.
Das dreieckige Zimmer
»Warum hast du gerade mich ausgewählt?«, fragte Max Merkur, während er mit Lutherion einem langen Gang folgte, der die Hallen des Ave-Maria-Himmelshafen miteinander verband. Sie passierten gerade Halle 5, Käfer und Schmetterlinge. Überall wimmelte es von Käfern, für deren Menge in der menschlichen Sprache kein Wort bereitstand. Die Käfer bildeten einen lebenden Teppich. Darüber schwirrten Schmetterlinge, deren Masse die Luft wie ein sich bewegendes Van-Gogh-Gemälde aussehen ließ. Max Merkur überlegte, ob hier auch irgendwo ein Apparat des Jüngsten Gerichts – in wesentlich kleinerer Ausfertigung – stehen mochte und nach welchem Maßstab ein Käferleben als »gut« betrachtet werden könnte. Gab es überhaupt religiöse Schmetterlinge? »Die Wahl fiel auf dich aus drei Gründen«, fing Lutherion zu erklären an. »Erstens brauchen wir jemanden, der etwas von Philosophie versteht. Zweitens warst du gerade in der Nähe, als ich auf die Erde kam.« »Und drittens?« »Was drittens?« »Du hast doch von drei Gründen gesprochen?« »So? Habe ich das? Na gut, der letzte Grund zählt doppelt.« Max Merkur schaute misstrauisch drein. Der Blick in Lutherions Gesicht wurde durch eine Wolke Schmetterlinge erschwert, die fröhlich hin und her flatterten. Plötzlich bog Lutherion links ab und zog Max Merkur mit sich. »Hier ist es!« »Was? Ein Kühlschrank?« Sie standen vor einem großen Kühlschrank, der am Ende eines kleineren Ganges in die Wand eingelassen war. Auf den ersten Blick ein gewöhnlicher, weißer Kühlschrank mit
silbernem Türgriff. Wie alle Kühlschränke brummte er zufrieden und teilnahmslos vor sich hin. An der kahlen Wand daneben war eine große Rolle Frischhaltefolie befestigt. »Nein, kein Kühlschrank… Hmmm… Doch, ein Kühlschrank, aber gleichzeitig auch eine Kühlpassage!«, erklärte Lutherion.
Für die menschliche Physik lag der absolute Nullpunkt bei Minus 273,15 Grad Celsius. Bei dieser Temperatur hörten die Atome auf, sich zu bewegen und kamen zum Stillstand. Kälter, dachten die Menschen, könne nichts werden. Die Metaphysik der Teufel hatte dieses Vorurteil recht schnell überwunden. Dem Teufelschemiker Bezo-Man VIII. gelang es, eine Flüssigkeit auf Minus 400 Grad Celsius abzukühlen. Böse Zungen plauderten später aus, dass es sich dabei um keine eigentliche Versuchsanordnung gehandelt habe, sondern Bezo-Man VIII. versucht habe, Cocktails für eine Party zu kühlen, was bei den Temperaturen in der Hölle bis dahin schlicht unmöglich war. Jeder Eiswürfel, den man in ein Cocktailglas warf, schmolz schon auf dem Weg von der Eiszange in die Flüssigkeit. Mit den neuen ultrakalten Eiswürfeln konnten die Getränke jedoch endlich angenehm temperiert werden. In wenigen Worten: Die Party wurde ein voller Erfolg, und eine neue Schranke wurde durchbrochen (nicht physikalisch, sondern der Rekord, wie viele Cocktails auf einer Teufelsparty getrunken wurden). Als Bezo-Man VIII. und sein Team wieder nüchtern waren, begannen sie damit, ihre Entdeckung ernsthafter zu untersuchen. Bei Minus 273,15 Grad Celsius stoppten die Atome, ab Minus 274 Grad Celsius fingen sie plötzlich an, sich rückwärts zu bewegen. Je kälter es wurde, desto schneller bewegten sie sich rückwärts. »Wirklich, wirklich erstaunlich«,
rief Bezo-Man VIII. und rieb sich begeistert die Hörner. Er war über Nacht zu einem der führenden Teufelswissenschaftler geworden. Dies war der Beginn einer Zeit, die von den Teufelshistorikern »das Party-Zeitalter« oder »die Eiszeit« genannt wurde (nach den ultra-kalten Eiswürfeln). Erst mit dem Erscheinen des Menschen auf der Erde übernahmen die Teufel andere Aufgaben und verlegten ihre Partys auf die Wochenenden. Die neue Entdeckung erlaubte auch die Erfindung von guten, geräumigen Kühlschränken. Da aber sich rückwärts bewegende Atome in einem Universum, in dem sich Raum und Zeit tendenziell vorwärts bewegten, eine logische Unmöglichkeit darstellten, machte Bezo-Man VIII. eine weitere Entdeckung: Raum und Zeit standen in ultra-kalten Kühlschränken still. Was man in den einen Kühlschrank steckte, kam in einem anderen wieder heraus. Die Kühlschränke waren Passagen von einem Ort zu einem anderen. Unglücklichweise musste ein Kühlschrank, um eine Kühlpassage zu schaffen, auf minus 100.000 Grad Celsius abgekühlt werden, was für die Teufel, die sich eher bei plus 100.000 wohl fühlten, schwer zu ertragen war. Trotzdem verfolgte man die neue Technik weiter. Zuerst schickte man nur unbelebte Gegenstände von Ort zu Ort. Tatsächlich kam der erste Gegenstand, eine JumboPackung Salzstangen Hot and Spicy, im anderen Schrank an, aber die Stangen hatten den Geschmack verloren und waren nicht mehr so knusprig. Die Genialität Bezo-Mans VIII. aber galt als legendär (genau wie seine Partys), und er vermutete, dass man einen Gegenstand durch Frischhaltefolie unbeschadet durch eine Kühlpassage transportieren konnte. Man wickelte eine Maus in
eine Frischhaltefolie, und siehe da – sie kam im hundert Meter entfernten Kühlschrank unbeschadet wieder heraus. Bevor sich allerdings der erste Teufel auf die Reise begeben wollte, wagte man noch weitere Experimente mit größeren Tieren. Hauptsächlich wickelte man Elefanten, Zebras und Vogelstrauße in Frischhaltefolie und schickte sie los. Tatsächlich ging der Witz, den man sich bei den Menschen erzählte – ›Woran erkennt man, dass ein Elefant im Kühlschrank war? An den Fußabdrücken in der Butter.‹ – , auf ein versehentlich in die Hände von Menschen geratenes Versuchsprotokoll zurück. Der erste Teufel, der sich nun endlich durch eine Kühlpassage wagte, war Buzz XI. Völlig in Frischhaltefolie gewickelt schritt er unter großer Anteilnahme aller in einen Kühlschrank. Die Tür wurde geschlossen. Weit entfernt öffnete sich eine andere, und Buzz XI. kam heraus. Er sprach die seit damals berühmten Worte: »Ich bin so glücklich wie ein Clubsandwich.« (Seine Autobiografie trug dieselben Worte als Titel und hatte dazu noch den Untertitel: »Reisen durch Raum und Kühlschrank.«) Eine neue Ära hatte damit begonnen.
»Eine Kühlpassage?« »Ja, eine Art Durchgang, wie eine Tür. Wir gehen durch den Kühlschrank an einen anderen Ort«, erläuterte Lutherion. »Also gut, worauf warten wir?« »Wir müssen uns zuvor noch in Frischhaltefolie einwickeln.« »Uh?« »Gegen die Kälte«, sagte Lutherion und wickelte von der Rolle an der Wand ein großes Stück ab. Das begann er, um einen sichtlich peinlich berührten Max Merkur zu schlingen,
bis er von Kopf bis Fuß darin eingewickelt war. Danach wiederholte der Teufel den Vorgang bei sich selbst. »Mir ist heiß, und ich sehe idiotisch aus«, murrte Max Merkur. »Vertrau mir, es ist nötig.« Lutherion raschelte bei jeder Bewegung. »Bist du bereit?« »Bereit.« Der Teufel öffnete die Kühlschranktür. Kalte Luft drang heraus. Der Schrank war leer. Mit einem großen Schritt trat Lutherion hinein und zog Max Merkur am Arm mit sich. Dann schloss sich die Tür. Dunkelheit. Kälte. Und Dunkelheit. »Und jetzt? Ich sehe nichts!«, meckerte Max Merkur. »Moment, Moment, eine kleine technische Störung.« Das Kühlschranklicht ging an. Max Merkur stand im engen Kühlschrank dicht neben Lutherion. Sein Gesicht klebte fast an der schwarzen Teufelsfratze. Was Max unangenehmer als jede Kälte fand. »Reisen wir etwa schon?«, fragte er. »Äh, nein, wir stehen in einem Kühlschrank.« »Oh.« Lutherion schaute sich nach allen Seiten um. Er begann, an die Wände zu klopfen, die allerdings nur ein hohles Geräusch von sich gaben. Das Licht erlosch, und der Kühlschrank brummte lauter. »Ah, jetzt geht’s. War bloß ein Wackelkontaktchen.« Max Merkur stand einfach nur da. Die Frischhaltefolie quetschte und drückte ein wenig, abgesehen davon fühlte er nichts Besonderes. »Wir sind da.«
Lutherion öffnete die Kühlschranktür und zog ihn mit hinaus. Sie standen in einem dreieckigen Raum, dessen Seiten jeweils fünf Meter lang und dessen Wände in einem sanften Rot gehalten waren. Wirklich auffällig war, dass der Boden schräg verlief, sodass man gewissermaßen bergauf gehen musste, um ans andere Ende des Zimmers zu gelangen. Die Neigung des Zimmers war beträchtlich, aber ungeachtet der Schwerkraftverhältnisse stand ein roter Schreibtisch mitten im Raum, auf dessen einer Seite ein schwarzer, dicker Teufel saß. Daneben stand ein gelber Teufel. Beide trugen Anzüge in ihrer Hautfarbe, der gelbe Teufel hatte zudem eine Fliege umgebunden. Bemerkenswert schien auch, dass seine Hörner nach innen gebogen waren und Elektrizität in kleinen Stößen vom einen Horn zum anderen sprang. Am Ende der Hörner des schwarzen, fetten Teufels brannten kleine blaue Flammen. Der dicke Schwarze musterte die beiden Neuankömmlinge mit ernster Miene. Der Blick wirkte bohrend und ließ auf hohe Intelligenz und Grausamkeit schließen. Auf dem Schreibtisch lagen Papiere und verschiedene seltsam geformte Schreibgeräte. Max Merkur wunderte sich, dass trotz der steilen Neigung nichts vom Schreibtisch rutschte. »Willkommen im außerhöllischen Hauptquartier des TSD. Ich bin Gog III, Leiter des TSD.« Die Flammen an seinen Hörnern züngelten etwas höher. Max Merkur hatte ein schlechtes Gefühl bei diesem Teufel und drehte sich unruhig zu Lutherion um. Der blickte ihn nur freundlich an und machte eine Geste, die ihm bedeutete, dass er etwas sagen sollte. »Hallo«, brachte Max Merkur heraus. Er bemerkte, dass Lutherion sich die Frischhaltefolie abgestreift hatte, und tat es ihm gleich. Währenddessen herrschte Stille, und alle Teufelsaugen richteten sich auf ihn. Die Folie knirschte unablässig.
»Setzen!«, befahl Gog III. und deutete auf einen Stuhl, der vor dem Schreibtisch stand. Max Merkur hatte äußerste Mühe, den Stuhl gegen die Schwerkraft zu erreichen. Er setzte sich, lag aber mehr auf der Stuhllehne, als dass sein Gewicht durch die Sitzfläche getragen wurde. Lutherion stellte sich ohne offenkundiges Problem mit der Schräge des Zimmers neben ihn. In Max Merkur keimten Zweifel, ob es richtig gewesen war, Lutherion das Einverständnis zu geben, ihm zu folgen. Der gelbe Teufel beobachtete die Szene stumm. Schweigen. Max Merkur fühlte sich in etwa so, als säße er auf einem Zahnarztstuhl. Es war… nicht angenehm. »Was ist der TSD?«, erkundigte er sich etwas unsicher, um sich aus der peinlichen Stille zu retten. »Der Teuflische Sicherheitsdienst«, antwortete Lutherion, während ihn die Teufel musterten. »Was?« »Der Geheimdienst.«
Seit Anbeginn der Zeit gab es nie engen Kontakt zwischen Engeln und Teufeln (abgesehen von zahlreichen kriegerischen Auseinandersetzungen). Die Teufel fuchste es ungemein, dass sie nicht die leiseste Ahnung hatten, was im Himmel vor sich ging. Kein Teufel glaubte im Ernst daran, dass die Engel auf Wölkchen hockten und Lieder auf Harfen zum Besten gaben. Eine allgemein akzeptierte Aussage von Anzor VII. einem angesehen Teufelspolitiker, darüber lautete: » Wenn dem so wäre, dann würden nur Idioten in den Himmel kommen wollen.« Was also geschah bloß im Himmel? Die Antwort des Teufelsphilosophen Spizza X. auf die Frage weckte zunächst Hoffnung, der Lösung näher zu kommen. Er meinte: »Beiße in
eine Hand voller Chips und höre auf das Krachen eines einzigen.« Das schien ein kluger Rat zu sein, da die Teufel schon lange einen Zusammenhang zwischen dem Konsum von Kartoffelchips und der Erleuchtung vermuteten. In der Folgezeit verschlangen sie Unmengen an Kartoffelchips mit den unterschiedlichsten Gewürzmischungen und den verschiedenartigsten Riffelungen. Naturwissenschaftlich, wie sie waren, gab es auch eine Placebo-Gruppe, die nur dachte, sie würde Kartoffelchips essen. Was sie aber genau zu sich nahm, das wusste nur der Versuchsleiter, der auf die Frage, was die Placebo-Gruppe zu essen bekam, wörtlich nach langem Schweigen antwortete: »Kommen Sie mir nicht so!« Ein Kommentar, der einige Fragen offen ließ, jedenfalls hatte keine der Gruppen eine Erleuchtung darüber, was im Himmel vor sich ging. Die Teufel verlangten nach einer anderen Lösung (und einer wirkungsvollen Diät). Magog I. und Gog I. gründeten mit staatlicher Billigung den TSD, den Teuflischen Sicherheitsdienst, der in zwei große Abteilungen gegliedert wurde: Abwehr von feindlichen Spionageversuchen und Ausführung eigener Spionageversuche. In der Praxis stellte sich das Herumspionieren im Himmel als schwerer als gedacht heraus. Die ersten Verkleidungsversuche mit der Absicht, die Himmelstore zu passieren, scheiterten überdies recht kläglich. Mit angeklebten Flügeln und mangelhaft aufgepinselter Goldfarbe erschienen zwei Teufelsagenten an den Himmelspforten. Die Wächter gaben ihnen ein Flugblatt über die Gefahren von Goldfarbe für die Haut mit und schickten sie mit Schulterklopfen zurück. Tatsächlich litten die beiden noch 400 fahre später an einer schlimmen, juckenden Akne. Die nächste Spionageidee war schon ausgeklügelter. Die Teufel ergriffen kurzerhand Besitz von Menschen und warteten
darauf, dass diese in Kontakt mit Engeln kamen – oder wenigstens mit Leuten, die einen guten Draht nach oben hatten. Zu ihrem Leidwesen blieb allerdings auch dieser Trick nicht lange von den Engeln unbemerkt: Mit Hilfe eines Gerätes namens »Exorzator Z4«, das meist im obersten Knopf einer Pfarrerrobe versteckt war und durch irritierenden Sprechgesang aktiviert wurde, schickten sie viele der teuflischen Agenten wieder zurück in die Hölle. Zwar gelang es den Teufeln nie wirklich herauszubekommen, was so allgemein im Himmel vor sich ging, dank verwanzter Harfen und in Gesangbüchern versteckter Mikrofone aber konnte der TSD wenigstens kleine Erfolge erzielen. Der größte Erfolg jedoch war ihm erst in jüngster Zeit geglückt. Ein hochbrisanter Gegenstand war entwendet worden, der alles entscheidend ändern könnte. Dieser Gegenstand nun befand sich in einem schrägen dreieckigen Zimmer.
»Dein Name ist Max Merkur?« Gog III. nahm einen der Zettel vom Tisch. »Philosophiestudent aus Stuttgart?« Er blickte streng über den Rand des Blattes. »Ja, genau; allerdings bin ich jetzt fertig und Magister.« »Ruhe! Also weiter: 30 Jahre, unverheiratet und Nichtraucher?« »Jawohl!«, bestätigte Max Merkur militärisch kurz. »Er sieht nicht so aus, als ob er das Universum retten könnte«, meinte der gelbe Teufel. »Vertraut mir, er ist der Richtige. Er hat Philosophie studiert, er glaubt nur an die Vernunft – und ist verfügbar«, erläuterte Lutherion. »Warum kann denn nur jemand die Welt retten, der Philosophie studiert hat?«, fragte Max Merkur dazwischen.
»Ich bin Loki II.«, begann der gelbe Teufel, »lass mich dir das erklären.« Er kam einen Schritt näher und hing wegen der Schrägheit des Raumes unheimlich über Max Merkur. »Das Universum ist zu Ende. Du hast es vielleicht an den fehlenden Mülleimern und den langen Schlangen bemerkt. Das Universum hat geendet, aber warum, fragst du dich, nicht wahr?« »Ja.« Max Merkur klammerte sich an seinen Stuhl. »Ah ja, warum… warum nur? Weil die Welt nach einer gewissen Weltformel funktioniert. Einer Welt-for-mel«, wiederholte Loki II. den Ausdruck und betonte ihn gedehnt. »Diese Weltformel besteht aus Konstanten und Variablen, aus Kon-stan-ten und Va-ri-ab-len, verstehst du?« »Ja, alles prima hier«, sagte Max Merkur hastig. »Unsere fortgeschrittene Wissenschaft kann nicht nur aus Eisen Gold machen.« – (Das stimmte nicht ganz, die Teufel konnten Eisen lediglich mit Goldfarbe anmalen. Das aber tat wegen der Akne-Gefahr niemand.) – »Sie kann auch aus Variablen Konstanten machen. Dafür brauchen wir etwas, was wir in die Weltformel einsetzen können, etwas Festes, Bleibendes. Wir brauchen…« – Er holte Luft, da er alles bisher in einem gewaltigen Atemzug gesagt hatte. Zwischen seinen Hörnern floss jetzt beständig Strom. – »Wir brauchen den Sinn des Lebens.« »Den Sinn des Lebens?« Max Merkur fand stets, dass es nicht schaden konnte, Dinge zu wiederholen. »Ja, den Sinn des Lebens… Wenn wir den wahren Sinn des Lebens in die Weltformel einsetzen, wird aus einer Variablen, die für das Ende der Welt verantwortlich ist, eine Konstante, eine Kon-stan-te, verstehst du?« »Ehrlich gesagt, nicht wirklich. Ich wusste nicht, dass das möglich ist.«
»Doch. Es ist möglich. Unsere Teufelswissenschaft kann so gut wie alles«, fauchte Gog III.
Tatsächlich versicherten die Teufelsmathematiker lediglich, dass dies einen SidO-Wert von 98 Prozent hatte. Ihre Pläne waren so oft gescheitert, dass die Teufel nicht die Wahrscheinlichkeitsrechnung erfunden hatten, sondern die SidO-Rechnung, die Schuss-in-den-Ofen-Rechnung. Je höher der Wert, desto eher endete ein Plan mit einem Schuss in den Ofen. Das alles war aus der Erfahrung gewachsen, dass die Guten immer gegen die Bösen gewinnen. Selbst wenn der Gute ein kompletter Dödel war, der zur Begrüßung in der Nase bohrte, und der Böse ein gerissenes Superhirn, High-TechMaschinen erster Güte sein Eigen nannte und viertausend bewaffnete Krieger befehligte, gewann dennoch stets der Gute. Ein SidO-Wert von 98 hingegen war tatsächlich exzellent, denn ein Plan, der nur mit 98-prozentiger Wahrscheinlichkeit scheiterte – ein so aussichtsreiches Unternehmen hatte es seit langem nicht gegeben.
»Wir brauchen jemanden, der etwas von Philosophie versteht«, sagte Lutherion milder, »der im Stande ist, den Sinn des Lebens zu finden.« »Aber ich kenne den Sinn des Lebens nicht. Ich komme morgens ja kaum aus dem Bett. Woher soll ich da den Sinn des Lebens kennen?!«, murmelte Max Merkur. Gog III. schlug mit der Faust auf den Schreibtisch: »Den wollen wir auch nicht von dir wissen! Du sollst ihn nur suchen helfen. Er ist irgendwo da draußen…«, dabei vollführte Gog III. eine Handbewegung zur Decke und dann zum Boden, »… in der Zeit verborgen, gut von den Engeln versteckt, damit wir
ihn nicht finden.« Er begann zu lachen. Es klang wie Wolfsgeheul. »Wir brauchen jemanden, der etwas von Philosophie versteht, von Phi-lo-so-phie«, wiederholte Loki II. und riss die Augen schrecklich weit auf. »Und warum kann das keiner von euch?« Max Merkur war entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen. Gog III. hörte zu lachen auf: »Oh, wir Teufel sind ein philosophisches Volk. Wir haben die besten aller Philosophen. Sie sind nur… äh… gerade mit etwas Wichtigerem beschäftigt.«
Die meisten Teufel waren realistisch genug, ihre Philosophen für Idioten zu halten. Spizza X. war trotzdem darauf angesprochen worden, ob er nicht den Sinn des Lebens suchen wolle (damit später niemand behaupten konnte, man hätte nicht wenigstens gefragt). Seine Antwort auf die Frage, ob er das Universum retten wollte, war: »Gehts noch?« Er war der wichtigste philosophische Vertreter des transzendental-logischen Konsumismus, dessen fester Glaube es war, dass man durch Essen Erlösung erfahren könne. Das bedeutendste Werk, das innerhalb dieser philosophischen Richtungpubliziert worden war, bestand aus einer Kalorientabelle und einer Schrift, deren Titel lautete: »Philosophische Monologe eines Wurstbrötchens« (gleichermaßen eine Allegorie auf das Dasein und ein Ernährungsratgeber). Genau zu dem Zeitpunkt, als Spizza X. gefragt wurde – soviel sollte man zu seiner Verteidigung anmerken – , war ein neuer Knuspermix aus Kartoffelchips mit der Geschmacksrichtung Schwarzpulver-Joghurt und UranErdbeer erschienen, der auf seine Erlösungsqualitäten geprüft werden musste.
»Wichtiger, als das Universum zu retten?« »Ihr Menschen haltet euch wohl für das Zentrum des Universums! Welch Überheblichkeit, Ü-ber-heb-lich-keit.« »Ich fühle mich gerade nicht wirklich überheblich…« Max Merkur blickte Hilfe suchend zu Lutherion. »Noch einmal«, lächelte Lutherion, »wir müssen das Universum retten, dafür benötigen wir den Sinn des Lebens. Der Sinn des Lebens ist irgendwo in der Zeit verborgen. Damit wir den Sinn des Lebens finden und ihn… äh… erkennen, brauchen wir jemanden mit philosophischen Fertigkeiten, und genau da kommst du ins Spiel. Wir werden durch die Zeit reisen und den Sinn des Lebens suchen, damit wir ihn in die Weltformel einsetzen können, das Universum wieder stabil wird und wir den Engeln eine lange Nase zeigen können.« »Und warum wollt ihr die Welt retten? Vielleicht wäre es ja besser, wenn die Welt zu Ende und nichts wäre?« Gog III. schlug erneut mit der Faust auf den Tisch, diesmal so heftig, dass die Schreibgeräte darauf hüpften: »Und den Engeln das Feld überlassen? Niemals! Und was kommt als Nächstes? Wer braucht ohne Universum eine Hölle? Wir sind doch die Nächsten auf der Abschussliste!« Lutherion fuhr sanft fort: »Wir glauben, dass die Schöpfung deswegen beendet wurde, weil wir die Oberhand gewinnen. Du hast gesehen, dass nur jeder Fünfzehnte in den Himmel kommt. Vor hundert Jahren kam noch jeder Zehnte in den Himmel und vor tausend jeder Dritte. Das Pendel schlägt zu unseren Gunsten aus. Das fürchten sie. Sie fürchten unsere Stärke. Noch haben sie die Oberhand. Außerdem befürchten sie, dass allmählich jeder erkennt, dass der Himmel nur ein elitärer Streber-Club ist.«
»Vielleicht haben die sich da oben auch gesagt, 14 Milliarden Jahre Universum sind genug, wir brauchen eine kleine Verschnaufpause, Ver-schnauf-pau-se, die dürfen wir ihnen nicht geben, nicht ge-ben«, fügte Loki II. hinzu. Max Merkur konnte der Logik einigermaßen folgen. Natürlich wäre es klug gewesen, dem Himmel seinen Willen zu lassen, andererseits fand er es gar nicht in Ordnung, dass man ihm das Universum so plötzlich unter den Füßen weggezogen hatte. »Gut, ich verstehe das soweit… Und wie war das mit dem Zeitreisendingsda, das hörte sich irgendwie… hmmm… nicht so prickelnd an.« Der gelbe Teufel lehnte sich wieder über ihn: »Wir Teufel, wir Teufel des TSD haben eine Liste von Orten gefunden, wo sich der Sinn des Lebens befinden könnte, eine Liste.« »Ah, eine Liste.« Max Merkur nickte eifrig. »Ja, eine Liste, eine Liste von Philosophen, bei denen der Sinn des Lebens, des Le-bens verborgen sein könnte, ver-borgen, verstehst du?« »Oh ja, ich verstehe, sehr schön.« Max Merkur lächelte verlegen und schaute wieder zu Lutherion. »In kurzen Worten:«, erklärte dieser daraufhin, »wir müssen die Philosophen aufsuchen und mit ihnen reden. Irgendwo in einem ihrer Gehirne ist vielleicht der Sinn des Lebens versteckt. Die Engel wissen, dass die Teufel schlechte… äh… Philosophen… äh… also sie wissen, dass wir das nie aus dem Kopf eines Philosophen herausbekommen würden. Wir brauchen jemanden, der mit Philosophen philosophisch reden kann. Nachdem wir die Philosophen befragt und den Sinn des Lebens gefunden haben, fügen wir ihn in die Weltformel ein. Wir haben eigens eine Hotline eingerichtet.« Max Merkur dachte einen Moment über das Wort »Hotline« nach und ob er fragen sollte, was es damit auf sich hatte,
entschied sich dann aber für eine andere Frage: »Aber warum haben die Engel den Sinn des Lebens überhaupt versteckt?« »Sie wollten eine Möglichkeit haben, den Selbstzerstörungsvorgang rückgängig zu machen, falls etwas nicht ganz nach ihren Plänen läuft oder selbige im letzten Moment geändert werden. Das vermuten wir zumindest«, antwortete Lutherion. »Und wie reisen wir durch die Zeit?« »Hah!«, sagte der gelbe Teufel, »Haaah!« Schweigen. »Wir haben etwas, etwas, jaaah.« Loki II. drehte sich plötzlich um. »Unser hocheffektiver TSD hat den Engeln etwas entwendet, mit dessen Hilfe ihr beide durch die Zeiten reisen werdet.« Gog III. sprach mit Stolz. »Einen Gegenstand, der so brisant ist, dass wir ihn hier im Dreieckszimmer des TSD verwahrt haben und nicht in den Tiefen der MagmaSicherheitsschränke.« Gog III. blickte zu Loki II. und nickte. Dieser griff unter den Schreibtisch und holte eine dreieckige Schachtel aus hellem Holz hervor. »Dieser Gegenstand, Ge-gen-stand, ist nicht nur ein Gerät zur Zeitreise, Zeit-rei-se, sondern auf ihm fanden, fan-den wir eine Liste der Phi-lo-so-phen, bei denen der Sinn des Le-bens versteckt sein könnte, könn-te«, sprach der gelbe Teufel getragen. »Was ist denn nun in der Kiste?« Max Merkur wurde neugierig. Gog III. öffnete den Deckel und sagte: »Das Handy von Petrus!« »Uh«, gab Max Merkur von sich. Schweigen.
In der Kiste lag ein goldenes Handy. Abgesehen von der Farbe und einigen seltsamen Tasten sah es aus wie ein gewöhnliches Handy. »Dem TSD ist es in einer wirklich spektakulären Aktion gelungen«, erläuterte Gog III. »sich des Handys zu bemächtigen, das, wie unser Spezialagent versichert, irgendwie da so lag. Auf dem Handy befinden sich neben einigen einprogrammierten Servicerufnummern streng geheime Informationen. Die wichtigste Information ist nun eben besagte Liste mit Philosophen, bei denen der Sinn des Lebens lagern könnte.« Lutherion führte weiter aus: »Die Liste war unter dem Stichwort Apokalypse abgespeichert. Wir wussten zuerst nicht, ob die Philosophen die Apokalypse auslösen oder sie verhindern können. Ich schätze, das hat sich inzwischen geklärt.« »Welche Philosophen sind es denn?« »Geheimsache des TSD!«, donnerte Gog III. »Und mit dem Handy kann man durch die Zeit reisen?« »Ja«, sagte Lutherion, »jede Person hat eine Nummer, und jede Zeit ebenfalls. Man kann theoretisch jede Person zu jeder Zeit anrufen. Und der Teilnehmer am anderen Ende braucht nicht einmal selbst ein Handy. Das ist fortgeschrittene Engelstechnik, die uns Teufeln… äh… leider gerade nicht zur Verfügung steht. Die Liste mit Philosophen im Handy ist im Kurzwahlspeicher. Deswegen vermuten wir auch, dass zu diesen Zeitpunkten der Sinn des Lebens verborgen ist. Alles, was wir beide tun müssen, ist zu versuchen, aus den Philosophen den Sinn herauszuholen. Bist du damit einverstanden?« »Meinetwegen.« Max Merkur hätte so langsam alles getan, um aus der Gesellschaft von Gog III. und Loki II. herauszukommen.
»Hier, dann streif dir diese Kutte über, damit wir in der Vergangenheit nicht auffallen.« Lutherion reichte ihm eine zusammengefaltete braune Mönchskutte, ähnlich der, die er selbst trug. Max Merkur wunderte sich zwar, woher sie plötzlich kam, streifte sie aber kommentarlos über. »Gut«, meinte Gog III. nahm das Handy aus der Schachtel und übergab es Lutherion. »Agent Lutherion, du kennst die Hotlinenummer, die du anrufst, wenn ihr glaubt, den Sinn gefunden zu haben? An der Hotline sitzt ein hochkonzentriertes Team von Wissenschaftlern, das sofort den Sinn des Lebens in die Weltformel einsetzen wird.« »Ja, ich weiß alles Nötige.« »Dann müsst ihr nur noch… nur noch…«, der gelbe Teufel ging in Richtung des Kühlschranks und begann, sich mit Frischhaltefolie einzuwickeln, »… nur noch das Handy benutzen, ja, be-nut-zen.« Gog III. stand auf, ging ebenfalls zum Kühlschrank und fing ebenfalls damit an, sich in Folie zu hüllen. »Ist das Petrus-Handy eigentlich schon mal getestet worden?«, wollte Max Merkur wissen. »Hmmm…«, brummte Lutherion, »Naja, das dreieckige Zimmer ist deswegen als Lagerplatz gewählt worden, weil es weit weg von der Hölle liegt.« »Wegen der möglichen Explosionsgefahr, Ex-plo-si-ons-gefahr.« Der gelbe Teufel hatte sich inzwischen ganz eingewickelt. »Explosionsgefahr?« »Möglichen Explosionsgefahr«, berichtigte Lutherion ihn. »Aber problematisch könnten eher die Zeitreisen selbst werden. In den Gängen zwischen den Zeiten können merkwürdige Dinge passieren. Sie gelten als nicht besonders sicher.« »Uh.«
»Zumindest hab ich das so gehört«, lächelte Lutherion. Die beiden in Frischhaltefolie eingewickelten Teufel gingen zum Kühlschrank. Gog III. sagte noch: »Möge die Mission glücken… und wartet bitte, bis wir weg sind.« Loki II. öffnete daraufhin den Kühlschrank, und beide Teufel begaben sich in merkwürdiger Eile hinein. Gleich darauf surrte der Kühlschrank etwas lauter. Max Merkur und Lutherion blieben allein zurück. »Bist du bereit, Max Merkur?« Lutherion hielt das PetrusHandy wie ein Schwert in die Höhe. Sein Daumen spielte an einem grünen Knopf. »Nein, bin ich nicht!«
Die Totenkopfjäger
Lutherion drückte auf den Knopf, woraufhin ein Geräusch ertönte, das man am besten als RATSCH!!! bezeichnen könnte. Dann erklang eine kurze Melodie: In etwa, als ob ein tausendköpfiger Chor »Like a virgin« singen würde. Max Merkur drehte den Kopf, damit er es besser hören konnte. »Like a virgin… huuh! Touched for the very first time… time… timmmmmmmmme.« Das letzte Wort dehnte sich wie ein Kaugummi. Auch Max Merkur spürte, wie er in die Länge gezogen wurde. Er konnte fühlen, wie die Moleküle seines Körpers ihre Bündelchen schnürten und sich auf den Weg in die Unendlichkeit begaben. Dann juckte es überall, und er hatte den Eindruck, als krabbelten unzählige Ameisen auf ihm herum. Schließlich musste er lachen. Es klang schrecklich verzerrt: Als ob man seine Stimme durch einen Fleischwolf gedreht hätte. Plötzlich sah er seine eignen Innereien, Magen, Lunge, Herz… oder doch die Leber? Er konnte nicht widerstehen, griff nach den Nieren und betrachtete sie eine Weile. Als er sie zurücklegen wollte, fiel ihm der richtige Ort nicht mehr ein, also stopfte er sie zwischen zwei Darmschlingen und schob die Leber quer darüber. Wird schon nicht so schlimm sein, dachte er. Auf einmal befand er sich allein in einem weißen, hallenartigen Raum. Lutherion war nirgends auszumachen. Stattdessen stand ein Mann vor ihm, dessen Kopf jedoch der eines Elefanten war. Er trug einen dunklen Anzug und eine Krawatte, die gut mit dem Grau des Rüssels harmonierte. »Sterblicher! Wie kommst du hierher? Dies hier ist kein Ort für dich«, herrschte ihn der Elefantenkopf-Mann an und reckte bedrohlich den Rüssel. »Das ist kein Punkt, über den wir streiten werden. Wer bist du denn?«, fragte Max Merkur forsch zurück. »Ich bin das Gedächtnis der Welt.«
»Das Gedächtnis der Welt?« »Das Gedächtnis der Welt!« Max Merkur spürte, dass ein Dialog auf Wiederholungsbasis ihn nicht sonderlich weiterbringen würde. »Und warum hast du einen Elefantenkopf?« »Weil ich alt bin wie die Zeit.« »Und warum trägst du einen Anzug?« »Globalisierung.« »Aha.« Wieder beschlich Max Merkur der Eindruck, dass dieses Gespräch irgendwie nirgendwohin führte. »Wo bin ich hier?« »Da, wo das Gedächtnis der Welt ist.« Die Stimme des Elefantenkopfes hallte durch den Raum wie Donner. »Okay… Hmmm… Du erinnerst dich also an alles?« »An alles.« »Darf ich dir dann eine Frage stellen?« Der Elefantenkopf antwortete nicht. »Was ist der Sinn des Lebens?«, erkundigte Max Merkur sich mutig. Wenn sich ihm schon die Gelegenheit bot, mit einer allegorischen Figur zu plaudern, wollte er wenigstens etwas Sinnvolles fragen. »Der Sinn des Lebens ist tief verborgen in der Zeit…« »Gut… Gut… Der Sinn des Lebens ist verborgen in der Zeit und lautet…« »Er war am Anfang und am Ende und verbindet das Sein und das Nichts«, dröhnte der Elefantenkopf. »… das Sein und das Nichts, prima, und er lautet…« Da stürmte ein Mann mit einem Nashornkopf herein. Er war viel größer als der Elefantenkopf-Mann und stieß ihn mit dem Horn in die Seite. Der Elefantenkopf-Mann wurde weggeschleudert, raffte sich auf und rannte trötend davon. »Wer bist du denn, und was soll das?«, fragte Max Merkur halb verärgert, halb verängstigt.
»Ich bin das Vergessen der Welt.« Bedrohlich senkte die Gestalt den Kopf. »Wirklich? Das Vergessen der Welt?« »Das Vergessen der Welt!« »Uh.« Der Nashornkopf machte ihm Angst. Max Merkur konnte seinen Hass spüren. Dann fuhr der Nashornkopf fort. »Ich bin das Vergessen der Welt!« »Das hast du bereits gesagt, oder hast du das schon vergessen?« Max Merkur überlegte kurz, dann fügte er hinzu: »‘tschuldigung.« »Ich bin das Vergessen der Welt. Ich habe mehr vergessen, als jener je gewusst hat! Ich bin stärker. Ich jage ihn seit Urzeiten. Ich bin das Vergessen der Welt.« Gerade wollte Max Merkur eine schlaue Antwort geben, die zum einen äußerst raffiniert gewesen wäre und zum anderen ein ausgezeichnetes Wortspiel enthalten hätte, da stampfte der Nashornkopf plötzlich mit vollem Anlauf auf ihn zu. Er versuchte wegzulaufen, doch es war zu spät. Er wurde von dem gigantischen Horn in den Rücken gestoßen und durch das geschleudert, was vielleicht Luft war. Kurz wurde ihm schwarz vor Augen, dann fiel er und landete – in einem kleinen Sandhaufen. Der Sand war warm, und Lutherion beugte sich über ihn und blickte ihn aus der Kapuze heraus an. »Wow, wow, wow!« Lutherion schien überglücklich. »Dafür sollte man Eintritt verlangen. Das war einfach wunderbar.« »Was hast du denn erlebt?«, wollte Max Merkur wissen. Es war sehr heiß. Der Sandhaufen befand sich neben einigen niedrigen Häusern, die griechisch anmuteten. »Ich will nicht zu viel erzählen, aber das nationale Bikiniteam Schwedens kam darin vor, dann noch zwei Packungen Kartoffelchips und drei hungrige Eichhörnchen.« Lutherion lächelte. Sie waren im alten Griechenland.
»Ah… Athen zu Sokrates’ Zeiten… Aber sag mal, was hast du erlebt?« Max Merkur berichtete von den zwei mythischen Figuren, dem Erinnern und dem Vergessen, und von ihrem ewigen Kampf um die Vorherrschaft. »Ah, du meinst Fantobald und Rhinogand. Der eine mit Elefantenkopf, der andere ein Nashornschädel? Die sind ganz in Ordnung. Einmal habe ich den Fehler gemacht und zu einer Party anlässlich der zehntausendsten von mir gequälten Seele dummerweise beide zusammen eingeladen… Aber getrennt voneinander sind sie ein Spaß: Fantobald ist der beste Witzerzähler, den es gibt, weil er sich an jeden Witz erinnert, der je erzählt wurde, und Rhinogand macht eine JonglierNummer mit seinem Horn, das glaubst du nicht.« »Du hast Seelen gequält?« Natürlich wusste Max Merkur, dass Lutherion ein Teufel war. Aber dass sein Begleiter zu solchen Grausamkeiten fähig war, wollte er lieber verdrängen. Trotz aller bisheriger Freundlichkeit war Lutherion natürlich ein richtiger Teufel mit schwarzem Gesicht, langem gezackten Schwanz und kleinen Hörnern am Kopf. Was Max Merkur nun wieder bewusst wurde. »Früher, als ich noch ein junger Teufel war, noch ganz schwarz hinter den Hörnern. Aber das war nichts für mich. Kaum Aufstiegschancen, unendlich viele Überstunden und weniger als zehn Tage Urlaub in tausend Jahren«, erklärte Lutherion. »Der Job ist hart, und man bekommt kaum Anerkennung für all die Mühe, die man sich mit den Leuten macht.« Max Merkur schaute etwas verunsichert drein und beschloss, nicht weiter zu fragen. »Wo sind wir hier denn genau?«, fragte er schließlich. »Hier ist Athen, das Jahr ist 399 vor Christus. Es ist der Tag der Hinrichtung Sokrates’.«
»Warum kommen wir gerade an diesem Tag hier an?« Max Merkur sah sich um. »Das Datum war im Kurzwahlspeicher so programmiert. Ich habe leider kein Zeitreisen-Telefonbuch zur Hand, aus dem wir einen anderen Ankunftsort erfahren könnten.« »Ein Zeitreisen-Telefonbuch? So etwas gibt es doch nicht, oder?«, fragte Max Merkur mit leichtem Kopfschütteln.
Es gab in der Tat ein Zeitreisen-Telefonbuch. Zuerst muss man wissen, dass ein Handy, das Zeitreisen ermöglichte, Teil ultramoderner Engelstechnik war. Seit der Einteilung der Welt in Himmel und Hölle entwickelte sich die Technik der Engel und der Teufel über tausende und abertausende Jahre getrennt und völlig unabhängig voneinander. Die Engel galten als führend im Flügelbau- und Kommunikationswesen, während sich die Teufel in Mikromaschinen, im Detonationsbereich und in Haushaltsgeräten hervortaten. Gerade ihre Küchenprodukte waren über die Grenzen der Hölle hinaus bekannt, dank der erfolgreichen Werbekampagne »Komm in Teufels Küche«, die allerorts gut aufgenommen wurde. Beide legten auch Wert darauf jede neue Errungenschaft mit dem Etikett »Made in Heaven« oder »Made in Hell« zu versehen. Engelstechnik galt zwar allgemein als zuverlässiger, dennoch weigerten sich die Engel, auf ihre Geräte Garantie zu geben. Stattdessen äußerten sie missmutig, Glaube sei viel wichtiger als jegliche Garantien. Das erste Mobiltelefon, das »ANGIAX1«, kam mit 6 Monaten Glauben auf den Markt und wurde ein völliger Flop. Werksspionage stand auf der Tagesordnung, und ständig verkleideten sich Engel als Teufel und umgekehrt. Die Teufel versteckten ihre raffinierten Maschinen in kleinen Alltagsgegenständen wie zum Beispiel im Inneren eines
Karamellbonbons oder im Mundstück eines Saxofons. Das stellte allerdings nicht immer die sicherste Möglichkeit dar. Beispielsweise erfand der Teufel Zahadu VI. der Zwirbler in einem einmaligen Geniestreich eine Maschine, mit Hilfe derer sich die Flügel eines Engels per Knopfdruck in einen Zwiebelkuchen verwandeln ließen. Dies wäre der entscheidende Vorsprung der Hölle gegenüber dem Himmel gewesen. (Und das Beste daran war: Der Zwiebelkuchen schmeckte auch noch gut.) Doch der junge Laborassistent von Zahadu VI. dem Zwirbler, Viktor III. der Jüngere, lutschte das Karamellbonbon, in dem der Prototyp versteckt war. Durch den Kontakt mit der schwefelsäurehaltigen Magenflüssigkeit des Teufels kam es zur Explosion, und ein Hochsicherheitslabor wurde in (leckeren) Zwiebelkuchen verwandelt. Die Engels- und Teufelstechnik unterschied sich grundsätzlich voneinander, durch sämtliche wissenschaftlichen Prinzipien. Die Geräte speisten sich nicht mit Strom aus der Steckdose. Sie wurden durch das Gute beziehungsweise Böse angetrieben, das in kleine Batterien oder Akkus gefüllt wurde. Man spekulierte wild darüber, was passieren würde, wenn man ein Gerät der Engelstechnik und eines der Teufelstechnik zusammenschlösse. Einige meinten, gar nichts, man bekäme höchstens ein sprechendes Karamellbonbon mit Flügeln, das beim Abwasch hilft. Die meisten allerdings nahmen das Thema wesentlich ernster, und so entstand eine ganze Musikrichtung für junge Teufel und Engel, die ihre Ängste und Sorgen in Liedern ausdrückten, der so genannte Armageddon-BeBop. (Eine Gruppe mit Namen »The Why« löste eine Katastrophe aus, als der Leadsänger in ein Saxofon blies, in dessen Mundstück hoch geheime Teufelstechnologie steckte. Seitdem darf der Armageddon-BeBop nur noch mit Triangeln und
Maultrommeln gespielt werden, die vorher ein Jahr in einem Bunker gelagert wurden.) Um auf das Zeitreisen-Telefonbuch zurückzukommen: Die Teufel besaßen unglücklicherweise keines. Die Engel legten selbstverständlich keinen Wert darauf eine Ausgabe davon in die Hölle zu schicken. Lediglich ein einziges Exemplar, das ein kleiner Trupp scharf nach Moschus riechender Teufel in einer geheimen Aktion geraubt hatte, lagerte in der Nationalen Satanischen Bibliothek. Diese Aktion war im wörtlichsten Sinn ein Himmelfahrtskommando gewesen, weil der Trupp furchtloser Teufel unter der Führung von General Ank-TBok XI. in die himmlischen Gefilde eindringen musste, um es zu stehlen. Tatsächlich fanden sie zufällig auf dem Weg eine verlassene Telefonzelle, die sie heftig demolierten. Nachdem sie das Häuschen umgestoßen hatten, rissen sie das Telefonbuch heraus, und Ank-TBok XI. pflanzte die Fahne der Hölle auf. Er schrie: »Hurra Hölle!« und schwenkte das speckige Telefonbuch über dem Kopf Danach entfachten sie ein Feuer und grillten Würstchen. Später wurden Details wie zum Beispiel die Telefonzelle »vergessen« und das Ganze zum großen Sieg erklärt, in dem fünf Teufel gegen zweihundert Engel triumphiert hatten. Aus »Hurra Hölle!« wurde eine pompöse, bewegende Ansprache, aus den Würstchen ein Schlachtfest. Wichtig war schließlich nur, den Geist dieses Triumphes zu verbreiten. Das Telefonbuch wurde anschließend unter schärfsten Sicherheitsmaßnahmen in die Nationale Satanische Bibliothek gebracht. Dort erhielt es eine Buchsignatur und verschwand in den endlosen Gewölben der Bibliothek. Übrigens hat noch nie jemand ein Buch aus der Bibliothek ausgeliehen, da niemand es riskieren wollte, die Strafe für ein zu spät zurückgegebenes Buch zu bezahlen. Die meisten Teufelsbibliothekare fanden das überaus schade, immerhin betrieben sie nicht nur die größte
und einzige Bibliothek der Hölle und verkörperten so die Hüter eines einzigartigen Wissens; gleichzeitig besaßen sie auch eine der am besten eingerichteten Folterkammern der ganzen Hölle. Erwähnenswert wäre diesbezüglich allerdings auch, dass die Bibliothek im Gegenzug einen hervorragenden Lesesaal mit nach Walnuss riechenden Stühlen und Tischen hatte.
»Ja, es gibt ein Zeitreisen-Telefonbuch«, sagte Lutherion mit ruhiger Stimme. »Ich habe es nur nicht dabei. Wir könnten die Auskunft anrufen, aber das würde nur unnötigen Verdacht erregen, und immerhin sind wir am richtigen Ort. Wir haben nur nicht mehr so viel Zeit, um mit Sokrates zu sprechen.« »Es gibt eine Auskunft?« »Ja, gibt es. Die Nummer ist leicht zu merken. Sie lautet 89558933263042392.« »Das ist doch nicht leicht zu merken!«, widersprach Max Merkur. »Doch, doch, es gibt einen Reim, der das erleichtert.« Lutherion begann, fröhlich zu singen: »›Wähle acht-neun-fünffünf-acht-neun-drei-drei-zwei-sechs-drei-null-vier-zwei-dreineun-zwei und du bist dabei.‹ Toll, nicht wahr? Kinderleicht.« Die Sonne schien Max Merkur ins Gesicht. Er wollte das Gespräch nicht unbedingt fortführen. Es war heiß, sehr heiß. Aufgrund der Kutte begann er, unangenehm zu schwitzen. Die Straße, völlig ohne Bäume, bot keinerlei Schatten, und der Boden war sandig, sehr trocken, aber nicht durch Abfälle verunreinigt. Sie standen neben einem großen, kahlen Gebäude mit großen vergitterten Fenstern. Vor den Türen waren Wachen postiert. Das Gebäude befand sich in der Mitte eines großen Platzes, den kreisförmig kleinere Häuser säumten. Offensichtlich
handelte es sich dabei um Geschäfte. Max Merkur konnte erkennen, dass ein Geschäft Schwerter verkaufte, ein anderes Obst, das dritte Tonkrüge. Die Fensterläden aller waren geschlossen. Es war Mittagszeit, und die meisten Einwohner schienen wegen der heißen Sonne in ihren Häusern zu bleiben. Lutherion hüllte sich fester in seine Kutte. »Das ist das Hauptgefängnis von Athen. Da drin sitzt Sokrates und wartet auf seine Hinrichtung.« »Ja, das weiß ich noch aus meinem Philosophiestudium. Er ist angeklagt worden, weil er neue Götter in Athen einführte und die Jugend zu aufrührerischem Denken verleitete«, fügte Max Merkur an, der froh war, sein Wissen einbringen zu können. »Aber der eigentliche Grund für seine Verurteilung war, dass er jedem ziemlich auf die Nerven ging. Er sprach nämlich auf offener Straße Leute an, ob sie denn wüssten, was die Tugend sei, und wenn sie sagten: ›Nein, das weiß ich nicht. Was ist denn die Tugend?‹, erwiderte er: ›Ich weiß es auch nicht, aber ich bin klüger als du, weil ich wenigstens weiß, dass ich es nicht weiß.‹ Das kann schon irritieren, denke ich. Ich spreche jemanden auf der Straße an und frage, ob er denn weiß, wie Bayern München gegen VFB Stuttgart gespielt hat. Derjenige antwortet: Nein, das weiß er nicht, wie haben sie denn gespielt? Dann sage ich, dass ich es auch nicht weiß, aber trotzdem klüger bin als er, weil ich weiß, dass ich es nicht weiß.« »Unentschieden.« »Was?« »Sie haben unentschieden gespielt, 2:2.« »Uh?« »Ich bin der Klügste«, lachte Lutherion. »Weil ich es weiß, und weiß, dass ich weiß, und weiß, dass ich weiß, dass ich weiß…«
»Danke, Lutherion, eine genauere Ausführung ist nicht nötig. Ich sehe schon, du hast verstanden, worauf ich hinaus will.« Max Merkur holte Luft: »Auf jeden Fall musste Sokrates am Ende den Schierlingsbecher trinken. Hmmm… Was ist eigentlich Schierling genau?« »Eine giftige Pflanze, die zweitgiftigste in Europa. Die giftigste ist der Eisenhut. Wir Teufel müssen so was wissen, das gehört zum Teufelseinmaleins.« »Schön, dass du mir eine richtige Antwort gibst, ich dachte schon, du erklärst mir, dass Schierling eine ehemalige österreichische Währung ist.« »Versuchst du grade, witzig zu sein?«, fragte Lutherion. »Ja«, gestand Max Merkur und errötete dabei. »Lass es lieber.« Lutherion grinste, dann sagte er: »Wir müssen in das Gebäude. Am besten, wir fragen den Henker, wie wir am einfachsten in den Kerker kommen.« »Den Henker?« Hinter Max Merkur befand sich ein kleines Gebäude mit einer Geschäftstafel davor, das er bis dahin noch nicht entdeckt hatte. Auf der Tafel, die an einem silbernen Kettchen über dem Eingang hing, stand: »Henkerei – Inh. Xenokrates Michalokopolos«. »Ich nehme an, hier hat der Staats- und Gefängnishenker seinen Sitz. Kein schlechter Standort, so direkt gegenüber dem Gefängnis. Muss ein gewitzter Geschäftsmann sein. Gehen wir doch rein und fragen ihn wegen Sokrates«, schlug Lutherion mit breitem Grinsen vor. Es gibt kaum einen beunruhigenderen Anblick als einen grinsenden Teufel, dachte Max Merkur bei sich. Sie gingen durch die offene, niedrige Tür des weißen Hauses und gelangten in einen großen Raum mit einer Theke. Zahlreiche Fliegen summten und kreisten in der Mitte des Raumes. An einer Wand hingen etliche Schwerter,
Krummsäbel, Dolche und Äxte. An einigen klebte noch Blut, andere waren auf Hochglanz poliert und blitzten im Licht der Sonne, die durch zwei große Fenster schien. Daneben hing ein Stück vergilbter Papyrus, auf dem zu lesen war: »X. Michalokopolos – Staatlicher Oberhenker, diplomierter Würger, Vergifter und Auftragsmeuchler«. An der gegenüberliegenden Wand prangten große Plakate: »Angebot der Woche: Zwei Erdolchungen zum Preis von einer«; »Tipp! Das Auf-Wiedersehen-Kombi-Paket. Große Henkersmahlzeit inklusive: Wir würgen sie sanft in den Schlaf«; »Bereits über tausend zufriedene Kunden! Keine Reklamationen!« Durch einen grauen Vorhang, der eine Tür verbarg, kam ein großer, fetter Mann mit rundem Kopf hervor. Seine Beine waren grotesk klein und konnten das immense Körpergewicht kaum tragen. Max Merkur drängte sich der Eindruck auf, als stemmte ein Zwerg einen Elefanten, so winzig erschienen die Beine gegenüber dem voluminösen Körper. An seinen Fingern prangten viele Ringe, die jedoch fast gänzlich von den fleischigen Fingern verschluckt wurden. Er trug beigefarbene Kleider, verziert mit silbernen Streifen, und einen purpurnen Gürtel, der mit Ach und Krach um den Bauch zu reichen schien. »Ah, Kundschaft, wunderbar. Willkommen, die Herren!«, rief der Mann und klatschte dabei vergnügt in die Hände. Es gab kein Geräusch. Der Ton musste sich in den Falten und Runzeln der Hände verirrt haben, dachte Max Merkur. »Guten Tag. Herr Michalokopolos, nehme ich an?«, erwiderte Lutherion. »Ja, ich bin Xenokrates Michalokopolos, diplomierter, staatlicher Henker. Was kann ich denn für euch tun? Wer soll denn in den Hades reisen? Die Ehefrau, die viel zu viel Geld für sündhaft teure äthiopische, ätherische Öle ausgibt? Oder der Bruder, der in der Erbfolge lästig vor einem steht? Oder
wollt ihr gar selbst eure Vorväter besuchen? Wir machen alles, schnell, gut und zu einem erschwinglichen Preis. Exekutionen mit staatlicher Genehmigung oder zumindest öffentlicher Billigung kosten übrigens nur die Hälfte.« Michalokopolos hatte seinen Text mit sonorer Stimme vorgetragen, während er Max Merkur und Lutherion mit bohrendem Blick aufmerksam musterte. Dabei drehte er nervös einen der Ringe, der in einem der dicken Finger verborgen war. Ein Rubin funkelte kurz im Sonnenlicht und verschwand wieder. »Wir möchten gerne etwas über eine Hinrichtung erfahren. Eines Philosophen, er heißt Sokrates und sitzt im Kerker gegenüber«, sagte Lutherion. Michalokopolos trommelte unruhig mit dem Finger auf dem dunklen Holzbrett der Theke. Er war sichtlich enttäuscht, dass von den beiden nichts zu holen war. »Ja. Sokrates. Das ist ein staatlicher Auftrag, also nur die offiziellen Gifte. Schierling in seinem Fall. Es gibt bessere, schnellere und hinterlistigere Tränke. Aber er will noch ein bisschen Zeit haben, um zu philosophieren, nachdem er den Schierlingsbecher getrunken hat. Ich halte mich zwar grundsätzlich aus der Politik raus, aber der Mann ist 77 Jahre alt. Es lohnt sich wirklich nicht, so einen alten Mann über die Klinge springen zu lassen. In Athen gilt man schon mit vierzig als Greis. Da hätte man der Natur auch ihren Lauf lassen können. Na ja, wie dem auch sei, es wird gut bezahlt, und er kommt in zwei Stunden dran. Warum wollt ihr das eigentlich wissen?« »Wir sind… äh… zwei seiner Schüler«, log Max Merkur. »Dann kommt ihr gerade noch rechtzeitig. Jedes Jahr fährt ein Schiff zu Ehren des Gottes Apollo nach Delos. Bis es wieder zurück ist, darf kein Gefangener hingerichtet werden. Heute aber ist es in den Hafen eingelaufen.« »Können wir Sie ins Gefängnis begleiten?«, fragte Lutherion direkt.
»Tut mir Leid, das geht aus beruflichen Gründen nicht. Keine Zeugen, keine Zuschauer, sage ich immer. Gelegentlich lasse ich mich von jemandem hospitieren, der in den Beruf reinschnuppern will, aber das ist etwas völlig anderes. Und es kommt übrigens niemand rein, der nicht so ein Abzeichen hat.« Er hielt eine silberne Plakette hoch. »Personal – Team Exekution«. Er warf sie hoch und fing sie wieder auf. Dann legte er sie vor sich auf die Theke. »Haben Sie denn keine Skrupel, einen so großen Mann hinzurichten?«, empörte sich Max Merkur. »Nein, sollte ich?« »Ja.« »Aha. Nein, habe ich nicht.« »Wie sind Sie denn nur zu so einem Beruf gekommen?« Max Merkur fielen plötzlich sämtliche seiner Philosophieseminare über Ethik ein, und der allgemeine Tenor in allen war gewesen, dass Mord keine feine Sache sei. »Ah, das ist Familientradition«. Wieder drehte er einen seiner Ringe, diesmal tauchte ein Smaragd in der Umlaufbahn um den Finger auf. »Mein Vater nahm mich immer zu Exekutionen mit, und ich durfte anfangs die Axt tragen oder die Köpfe wegräumen. Meine Mutter mischte daheim in der Küche die Gifte, und ich trug die Becher mit dem Trank und reichte sie den Verurteilten. Abends musste ich dann meiner Mutter erzählen, wie der Trank gewirkt hatte, und durfte die Leiden beschreiben. Mit zehn durfte ich zum ersten Mal selbst köpfen, ich habe allerdings ein wenig das Ziel verfehlt, sodass wir später drei Säcke brauchten…« »Haben Sie schon mal eine Karriere als Seelenquäler erwogen?«, unterbrach ihn Lutherion in dumpfem Tonfall. »Allem Anschein nach haben Sie das Zeug dazu.« Bevor Xenokrates Michalokopolos antworten konnte, flog ein Pfeil quer durch den Raum. Es handelte sich auf den ersten
Blick um einen ganz gewöhnlichen Pfeil, aber bei genauerem Hinsehen fiel auf, dass er nicht aus Holz, sondern aus einem Knochen gefertigt war. Selbst die Federn des Pfeils waren kunstvoll aus Knochen geschnitzt. Jemand hatte den Knochen schwarz angemalt, um ihn einem bestimmten, zeitlosen Schönheitsideal zu unterwerfen. Der Pfeil verursachte in der Luft nicht das geringste Geräusch, so aerodynamisch war er. Nur Xenokrates Michalokopolos äußerte eine kurzes »Oh«, als ihn der Pfeil ins Herz traf und er hinter der Theke zusammenbrach. Es ist eine natürliche Reaktion, sich nach dem Schützen eines Pfeils umzudrehen. Dieser kulturelle Instinkt überwog in diesem Fall auch bei Max Merkur einen viel älteren Trieb, nämlich den, schreiend mit mächtigen Sätzen davonzulaufen. Den Bruchteil einer Sekunde später, nachdem er sich umgedreht hatte, bereute er allerdings, dass dieser Urinstinkt bei ihm nicht stärker ausgeprägt war. Am Eingang standen zwei Skelette, die lose in weiße Umhänge gehüllt waren. Das eine war erheblich kleiner als das andere, es hätte einem Kind von ungefähr zehn Jahren gehören können. Das kleinere Skelett hielt einen Bogen in der Hand, der schwarz und aus Knochen gefertigt war. Das größere Skelett nickte zustimmend und legte dem kleineren die Hand aufs Schulterblatt. Das kleinere Skelett hob den Kopf und schien sich über das anerkennende Nicken zu freuen. Dann hob das größere den knochigen, grauen Schädel. Die Kiefer knackten aufeinander. Es sagte wohl etwas, aber der Mangel an Lippen und Stimmbändern war schuld daran, dass Max Merkur und Lutherion nicht das Geringste verstehen konnten. Das kleinere Skelett hingegen schien durchaus verstanden zu haben und zog aus einem Köcher einen weiteren schwarzen Pfeil, mit dem es auf Max Merkurs Brustbereich zielte. So lautlos wie der erste verließ er den Bogen.
Just in diesem Augenblick allerdings ließ doch noch der ältere, urtümlichere Instinkt Max Merkur reagieren, und er begann zu rennen. Dass er dabei über die Theke springen und über einen toten Henker steigen musste, bremste ihn kaum. Aus den hastigen Geräuschen hinter ihm folgerte er, dass auch Lutherion sich dieser alten Tradition des hysterischen Weglaufens angeschlossen hatte (nachdem er noch rasch die silberne Plakette von der Theke eingesteckt hatte). Lutherion besaß keine Instinkte im eigentlichen Sinne. Er lief Max Merkur aus dem gleichen Grund hinterher, aus dem sich andere Leute einer Polonäse anschließen. Sie rannten durch das nächste Zimmer, an dessen Ende sich eine weitere Holztür befand. Mit aller Kraft warfen sie sich gegen die Hintertür, doch trotz aller Anstrengungen weigerte sie sich aufzuschwingen. Sie waren in einer ausweglosen Falle gefangen. Sie hörten das Klackern und Knacken von Knochen. Die beiden Skelette bewegten sich. Es waren… seltsame Geräusche, da Skelette keine Schuhe tragen. Es klang wie Kastagnetten, auf denen Beethovens Neunte gespielt wurde. Dann knirschte und schepperte es. Die Skelette mussten über die Theke klettern – ein unendlich mühseliges Unterfangen für sie, begleitet von einem Durcheinander hohler, kalt klingender Geräusche. Max Merkur wusste nichts von ihrer Mühsal, aber er konnte sie hören und dachte dabei unwillkürlich an ein Xylofon, auf das mit Hammer und Meißel eingedroschen wurde. Dann hatten sie das Hindernis überwunden und konnten sich dem Vorhang nähern, der zwischen den beiden Zimmern gespannt war. Max Merkur und Lutherion drückten nach wie vor verzweifelt gegen die Tür, die sich noch immer nicht öffnen wollte. Das größere Skelett zog nun auch seinen Bogen vom Rücken (eigentlich sah es aus, als würde es den Bogen
aus den Rippen ziehen), beide legten schwarze Pfeile an ihre Bögen. Langsam schoben sie den Vorhang zur Seite. Nun sahen sie ihre Opfer an der Tür stehen, an der sie leicht verlegen, aber heftig rüttelten. Sie spannten die Bogen. Dann meinte das kleinere Skelett zum größeren: »KLACKKKKLACK-KLACK?« Woraufhin das größere antwortete: »KLACK-KLACK.« Sie zielten. »Ahhh, das wird böse enden!«, rief Max Merkur und zog mit letzter Kraft an der Tür. »Könnte es sein… Darf ich was sagen?«, fragte Lutherion. »Meinetwegen… Aber mach schnell… Mir schießt nämlich gleich ein kleines Skelett einen Pfeil in den Rücken.« Max Merkur stemmte sich aus Leibeskräften gegen die Tür – immer noch vergebens. »Hier steht: ›Ziehen‹.« »Oh.« Max Merkur zog und sprang. Der Pfeil flog fünf Zentimeter über seinen Kopf hinweg und traf ein Huhn, das gerade die Straße überquerte. Max Merkur und Lutherion konnten sich mit einem Hechtsprung retten. Ein Mann, der im Schatten eines Baumes auf der anderen Straßenseite saß und eine Feige aß, kommentierte die Situation mit den Worten: »Hmmm… für die Olympiade würde ich aber noch trainieren«. Unklar blieb, welche der beiden beteiligten Gruppen der Mann damit meinte. Hinter sich hörte Max Merkur ein unheimliches Klicken und Klackern. Die Skelette ärgerten sich, dass sie ihr Ziel verfehlt hatten. Lutherion lag neben Max Merkur. Beide sprangen auf und rannten, so schnell sie konnten. KLACK-KLAACKKLCK. Die Geräusche spornten sie an, noch schneller von diesem Ort zu flüchten. Zwei weitere Pfeile flogen ihnen um die Ohren. Dann bogen sie um eine Ecke und liefen, bis Max Merkur schnaufend stehen blieb.
»Was war das denn?«, keuchte Max Merkur und drehte sich um. Erleichtert stellte er fest, dass die beiden Skelette ihnen nicht gefolgt waren. Lutherion schien sich überhaupt nicht angestrengt zu haben. Allerdings war ihm sein Teufelsschwanz unter der Kutte hervorgerutscht und hatte ihn zwei Mal zum Stolpern gebracht. »Das sind zwei Totenkopfjäger, ein Meister und ein Schüler. Sie kommen aus der Totenstadt. Normalerweise überlebt niemand, den sie aufsuchen. Sie führen den Willen der Schöpfung aus und töten die, deren Lebenszeit abgelaufen ist. Sie machen niemals einen Fehler. Aber da sie uns nicht erwischt haben… Hmmm… Moment, sie haben dich doch nicht erwischt, oder?« Max Merkur blickte an sich hinab. »Ich glaube nicht… Nein…« »Ah, gut… Also, da sie uns nicht getroffen haben, bedeutet es zumindest, dass sie einen Auftrag ausführen, der nicht mit dem Buch des Lebens übereinstimmt, in dem steht, wann wessen Lebzeit zu Ende ist. Sonst wären wir jetzt gespickt mit ihren Pfeilen. Es muss also ein privater Auftraggeber dahinterstecken, oder die beiden waren auf Urlaub und gehen ihrem Hobby nach.« Es gibt ein Buch des Lebens, dachte Max Merkur, ist ja interessant. Er wollte aber keine Frage dazu stellen.
Das Buch des Lebens war übrigens eines der wenigen Buchen das in der Nationalen Satanischen Bibliothek noch fehlte, was auch damit zusammenhing, dass es in der nicht gerade üppigen Auflage von lediglich zwei Exemplaren erschienen war. Eins davon war im Himmel an einem geheimen Ort versteckt und wurde von einem noch geheimeren, mystischen Orden von Engeln bewacht, der sich der »Orden zur Bewachung des
Buches des Lebens, damit es nicht wegkommt« nannte. Bestens ausgebildete Spezialengel, überaus gefährlich, deswegen sei darüber jetzt besser geschwiegen. Das andere Exemplar lag in der Totenstadt.
»Sie scheinen einen bestimmten Auftrag zu haben… Hmmm… Wer könnte von unserem kleinen Abenteuer wissen, wen könnte es stören?… Kaum will man die Welt vor dem Untergang retten, heißt es, nee, lass mal… Die Engel können es nicht sein, die Teufel können nicht durch die Zeit reisen…« Lutherion dachte nach. Max Merkur hatte ihn noch nie nachdenklich gesehen. »Ich habe wirklich keine Ahnung… Vielleicht hätte ich meinen Job als Seelenquäler doch nicht aufgeben sollen, zumindest hatte ich da immer meinen Spaß… Jetzt habe ich diese lausigen Totenkopfjäger am Hals…« Max Merkur schaute ihn eine Weile von der Seite an, aber da Lutherion wie angewurzelt dastand und unablässig mit sich selbst brabbelte, getraute er sich schließlich doch zu fragen: »Was ist die Totenstadt?«
Seit Anbeginn der Zeit tobte ein Kampf zwischen Engeln und Teufeln. Er hatte im Laufe der Zeit eine gewisse Eigendynamik angenommen, sodass oft die Zeit fehlte, um sich den alltäglichen Aufgaben der Schöpfung zu widmen. Immerhin gab es nicht nur Menschen, sondern auch tausende Elefanten und Löwen, Millionen Pinguine, Milliarden Ameisen, zig Milliarden Pantoffeltierchen und so weiter, die auch einen Teil der Schöpfung darstellten und Aufmerksamkeit und Pflege forderten. Über ihr Sterben wachten die Kaste der Totenkopfjäger und die Kaste der Leichensammler, denen es oblag, im richtigen Moment das Leben einer Kreatur zu
beenden. Rein äußerlich sahen sich die Totenkopfjäger und die Leichensammler sehr ähnlich: Beide waren Skelette. Die Totenkopfjäger trugen in der Regel einen weißen Umhang und Pfeil und Bogen. Ihre Aufgabe bestand darin, diejenigen zu jagen und zu töten, die glaubten, sie könnten vor dem Tod weglaufen, indem sie sich in irgendwelchen Löchern versteckten oder sich als Nikolaus verkleideten und »HO, HO, HO!« riefen. Die Leichensammler trugen einen schwarzen Umhang und eine Sense. Sie beförderten diejenigen vom Leben in den Tod, die ihr Schicksal akzeptierten. Die beiden Kasten lebten zusammen in der Totenstadt, die nicht im Himmel und nicht in der Hölle lag, sondern abseits der Schöpfung an den eisigen Hängen der Schattenschlucht. Sie waren nicht gerade das, was die Teufel Partylöwen nannten, und obwohl die Teufel technisch gesehen tot waren, vermieden sie trotzdem den Kontakt mit den Skeletten. Unter einigen der rar gesäten Teufelsphilosophen geisterte die Frage umher, was passieren würde, wenn sie von einem Totenkopfjäger getötet würden. Einer von ihnen mit Namen Quatarr VIII. äußerte zu diesem Problem etwas, das allgemein als das Klügste galt, was je dazu gesagt worden war. Er meinte: » Wenn du als Teufel vom Tod ereilt wirst, dann musst du dich hinten anstellen.« Da nicht feststand, was unheimlicher war – die Skelette oder dieser Satz – , beschlossen die Teufel, der Lösung dieses Problems nicht weiter auf den Grund zu gehen. Die Totenstadt war beeindruckend, mit hoch aufragenden Türmen und Gebäuden, die sich wie der babylonische Turm gen Himmel erhoben. Sie war vollkommen aus geschnitzten Knochen erbaut. Es ging sogar die Legende um, sie sei aus einem einzigen riesigen Schädel gefertigt worden. Noch kein Teufel oder Engel war durch die Tore der Stadt getreten. Es kursierten allerdings viele Gerüchte darüber, was sich hinter den Mauern abspielen mochte: Geschichten von riesigen
Hallenbädern machten die Runde, in denen die Skelette mit schrecklichen Bademützen schwammen; von unheimlichen Wirtshäusern, in denen am Wochenende Live-Musik gespielt wurde; und von Friedhöfen, auf denen Skelette schaurig Frisbee spielten. Allgemein als schlechtes Zeichen wurde von den Teufeln angesehen, dass sie noch nie eines ihrer Küchengeräte in die Totenstadt verkauft hatten. Nicht einmal ihren Mixer »SATAN 800 XL«, der sonst überall ein Verkaufsschlager war – Mixer und Stinkbombe in einem. Wenn es darum ging, sich die Seele eines Menschen zu holen, war es auf jeden Fall ratsam zu warten, bis sich der Leichensammler entfernt hatte. Erst dann trauten sich die Teufel näher an die Seele heran.
Lutherion antwortete nicht. Max Merkur stand schweigend neben ihm. »So oder so…«, sagte Lutherion endlich, »… wir wissen, was wir zu tun haben. Wir müssen zu Sokrates, ehe es zu spät ist, und ihn nach dem Sinn des Lebens fragen. Also gehen wir!« Max Merkur nickte und war froh, dass er wieder aus den Gedanken erwacht war. In der Zwischenzeit hatte sich schon eine Traube von Menschen gebildet, weil dem Teufel seine Kapuze vom Kopf gerutscht war und das schwarze Gesicht mit den kleinen Hörnern auch für das multikulturelle Athen einen ungewöhnlichen Anblick darstellte. Lutherion streifte sich daher schnell die Kapuze über und ging zusammen mit Max Merkur zurück zum Kerker. Sie vermieden es dabei, wieder den Laden des Henkers zu passieren. Stattdessen steuerten sie von der anderen Seite unter vorsichtigen Seitenblicken auf das Gefängnis zu.
Seitlich am Gebäude befand sich ein kleiner Eingang mit einem schläfrigen Wächter davor, der trotz der Hitze einen Helm aus Kupfer auf dem Kopf trug. Sie näherten sich ihm. »Guten Tag, wir sind vom Team Exekution«, log Lutherion mit überzeugender Stimme und zeigte das silberne Täfelchen, das er dem toten Henker entwendet hatte. Der Wächter blinzelte etwas misstrauisch und beäugte das Abzeichen. »Wo ist denn der übliche Henker, Michalokopolos?« »Der ist ein wenig tot. Das Herz, Sie wissen schon. Er hat uns aber gebeten, ihn zu vertreten.« »So? Tot? Na gut…« Der Wächter schloss die Tür auf. »Geradeaus durch, dort ist die Küche. Schierling ist im oberen Regal, alle anderen Zutaten auch. Umkleidekabinen sind vorne rechts, falls ihr euch eine Kapuze aufsetzen wollt. Hier ist der Schlüssel zu Sokrates’ Zelle, macht nichts schmutzig, andere wollen auch noch exekutiert werden.« Max Merkur und Lutherion betraten das Gefängnis durch einen engen Gang, an dessen Ende eine Tür war, die bereits offen stand. Durch diese gelangten sie in einen Raum, den man grob als Küche bezeichnen konnte, weil überall Töpfe, Pfannen und Dosen herumstanden. Am anderen Ende des Zimmers befand sich eine schwere Tür mit Eisenbeschlägen, die wohl zur Zelle des Sokrates führte. Man hörte leise Stimmen aus dem Raum dahinter. Lutherion sah sich um. »So weit, so gut. Ich braue jetzt den Schierlingsbecher, und du gehst rein und gibst ihn Sokrates. Dann bleibst du dort und versuchst, mit ihm zu sprechen.« »Müssen wir ihn denn vergiften? Können wir denn nicht statt Schierling Kamille verwenden?« »Du vergisst, dass dies bereits Geschichte ist. Sokrates stirbt 399 vor Christus durch einen Schierlingsbecher, weil ihn der Staat dazu verurteilt hatte. Das sagt die Geschichte. Sie sagt
nicht, dass Sokrates 399 einen magenfreundlichen Tee trinkt. Oder willst du die Geschichte verändern?« »Nein, nein«, brummte Max Merkur und setzte sich auf einen Schemel. »Ich weiß das auch. Cicero hat gesagt, dass Sokrates die Philosophie vom Himmel auf die Erde geholt hat. Vor ihm hat man nur über den Kosmos, die Sterne und die Götter nachgedacht. Generationen von Philosophen, die nachfolgen, werden von ihm philosophieren, leben und sterben lernen. Sein Tod wird die Philosophie zu dem machen, was sie später groß gemacht hat. Eine Kunst zu leben und eine Kunst zu sterben. Welche andere Wissensform kann das schon von sich behaupten? Die Naturwissenschaft etwa? Ich verstehe, dass es wichtig ist, aber ich fühle mich nicht wohl dabei.« »Na, siehst du, gut, dass wir darüber geredet haben. Und jetzt an die Arbeit.« Lutherion griff sich einige Dosen. »Soweit ich weiß, besteht ein tüchtiger Schierlingsbecher nicht nur aus Schierling, sondern auch aus anderen Substanzen, welche die Schmerzen lindern sollen und den Trank etwas genießbarer machen.« Er zerstampfte ein Büschelchen Schierling und andere Kräuter mit einem Mörser. Dann holte er sich verschiedene weitere Dosen aus dem Regal, füllte etwas Wasser in einen Becher und vermengte alles in anscheinend wahlloser Reihenfolge. »So, fertig!«, verkündete er triumphierend. »Hast du denn alles richtig gemacht? Der Trank blubbert so komisch«, bemerkte Max Merkur. Tatsächlich zischte und sprudelte es seltsam in dem niedrigen Holzbecher. »Vertrau mir, ich bin ein Teufel, einen Schierlingsbecher zu brauen, lernen wir schon in der Teufelsgrundschule.« Was Lutherion nicht erwähnte, war, dass er im Fach »Gifte und widerliche Gebräue« stets mit »Bestenfalls Genügend«
bewertet worden war, was er jedes Mal durch ein »Höllisch Gut« in »Torturenkunde« ausgleichen konnte. Er drückte Max Merkur den Trank in die Hand und schloss die schwere Tür mit den Eisenbeschlägen auf. In der Tat befand sich dahinter die Zelle Sokrates’. Sie erwies sich als unerwartet geräumig. Zuerst konnte er den Philosophen nicht sehen, weil sieben seiner Schüler sich ebenfalls im Raum aufhielten. Der Jüngste war etwa zwölf Jahre alt. Er war in rosa Kleider gehüllt und stand etwas abseits. Der Älteste von ihnen musste ungefähr fünfunddreißig sein und trug ein hellblaues Gewand, das mit einem kleinen Gürtel in Form gehalten wurde. Als Max Merkur eintrat, schrie der Jüngste kurz auf. Alle drehten sich schlagartig um und blickten ihn schweigend an, wie er so mit dem unkontrolliert blubbernden Becher im Raum stand. »Guten Tag, ich bin vom Team Exekution«, stellte er sich verlegen vor. Die Sieben musterten ihn und bildeten eine Art Mauer mit ihren Körpern. »Lasst ihn durch, lasst ihn durch, meine Freunde«, erklang plötzlich eine heitere Stimme. Daraufhin traten sie auseinander. Nun wurde der Blick frei auf einen alten Mann mit einem langen ovalen Gesicht, der auf dem Kopf keine Haare mehr hatte, dafür am Kinn umso mehr. Ein weißes Tuch war um seinen Leib gewickelt. Er wirkte mager, aber einigermaßen bei Kräften. Er lächelte freundlich. »Kommt näher, Herr Henker, ich erwarte Euch schon.« Zitternd ging Max Merkur näher an den Philosophen heran. »Äh… Hallo, Herr Sokrates.« Max Merkur rang nach Worten, dann wurde er rot und meinte: »Ich bin Euer größter Fan… Ähm, ich habe alles von Euch gelesen.«
»Ich habe nie etwas geschrieben, junger Mann. Philosophieren kann man nur mündlich und im Kreise verständiger Schüler.« »Ja, aber Euer Schüler Platon, also… Er hat alles über Euch und von Euch… niedergeschrieben.« »Platon hat es nicht einmal für nötig gehalten, hier zu erscheinen!«, fauchte der älteste der anwesenden Schüler. »Er hat einfach ein Attest abgegeben.« »Platon ist ein aufgeblasener Gockel«, zischte ein anderer zustimmend, während ein Dritter rief: »Genau!« »Ruhig, Xenophon, eine Magen-Darm-Grippe ist eine ernste Sache«, lächelte Sokrates zum Ältesten gewandt. »Also, auf jeden Fall war es ganz toll…«, setzte Max Merkur neuerlich an, der sich einen Kugelschreiber und ein Blatt Papier gewünscht hätte, um ein Autogramm zu bekommen, »… wie Ihr die Sophisten fertig gemacht habt. Das fand ich echt beeindruckend!« »Ach, wisst Ihr, wer mit einer Xanthippe verheiratet ist, der gewinnt auch eine läppische Diskussion mit Sophisten.« Beim Wort Xanthippe zuckten alle Schüler zusammen und schauten sich ängstlich um. Sie raunten: »Ist sie hier?«, »Erschreck mich nicht!«, »Ihre Falafel sind schrecklich!«, »Xanthippe, das Aas!«, »Tolle rechte Gerade.« Sokrates musterte Max Merkur skeptisch mit einem bohrenden Blick, der das Gefühl vermittelte, als wäre man bei etwas Peinlichem ertappt worden. Dabei schien er völlig ruhig zu sein und saß auf der kleinen Pritsche, die ihm als Schlafplatz gedient hatte. »Ich kenne viele Geschichten über Euch«, fuhr Max Merkur aufgeregt fort. »Stimmt es, dass Ihr einmal auf den Marktplatz von Athen gegangen seid und gerufen habt: ›He, ihr Menschen!‹ Und als sich alle umdrehten, habt Ihr geäußert: ›Ich sagte Menschen, nicht Trottel!‹ Stimmt es, dass Ihr wegen
Eurer Art zu philosophieren so oft verprügelt worden seid, dass Ihr gesagt habt: ›Zum Philosophieren braucht man zwei Dinge: Einen guten Kopf und einen guten Helm.‹ Und dass Ihr gesagt habt: ›Positiv zu denken, bedeutet, mit einem Stein auf einen Hund zu werfen, diesen zu verfehlen, die Schwiegermutter zu treffen und zu sagen: Gar nicht schlecht.‹« »Wer hat Euch nur all diese Märchen erzählt, junger Freund?«, lächelte Sokrates und kraulte sich den Bart. »Philosophieren bedeutet, etwas an der Vernunft zu messen und das Tugendhafte zu suchen. Es bedeutet, etwas nicht einfach für wahr zu halten, weil es der Staat oder die Götter so behaupten, sondern, weil es nach der Prüfung durch die Vernunft so ist. Das Ziel besteht darin, das, was man für wahr hält, gründlich darauf zu prüfen, ob es wirklich seine Richtigkeit hat. Schließlich muss man versuchen, ein tugendhaftes Leben zu führen, begründet auf Dingen, die wahr und unbestreitbar sind. Denn die Vernunft muss selbst ein Gott anerkennen, und Tugend, auf Vernunft gebaut, ist göttlich. Wisst Ihr denn überhaupt, was die Tugend ist?« »Nein, das weiß ich nicht… und Ihr auch nicht. Dafür wissen wir beide, dass wir es nicht wissen, deswegen sind wir zwei klüger als die anderen, weil wir wissen, dass wir es nicht wissen…« »Könnte ich jetzt vielleicht meinen Schierlingsbecher haben?«, fragte Sokrates kleinlaut, da er sich um seine beste Pointe betrogen fühlte. »Vielleicht eins noch, o Sokrates.« Plötzlich fiel Max Merkur ein, dass Sokrates in den in Dialogform verfassten Schriften über ihn von Platon immer mit »o Sokrates« angesprochen wurde. Er wusste nicht genau, was das »o« bedeutete, vielleicht »old« oder »oho«, aber er mochte den Klang. »O Sokrates, bevor ich Euch den Schierlingsbecher reiche, darf ich Euch noch eine Frage stellen?«
»Ja, aber macht schnell. Meine Seele gelüstet es, meinen Körper zu verlassen.« Bei diesen Worten begannen zwei der Schüler zu weinen, und sie tupften sich die Tränen mit den Zipfeln ihrer Gewänder ab. Sie jammerten: »Verlass uns nicht!« und »Nur noch ein Viertelstündchen.« Da wandte sich Sokrates zu den zwei Weinenden: »Verwechselt mir den Leichnam Sokrates’ nicht mit Sokrates. Die Seele ist unsterblich.« »Das mit der unsterblichen Seele könnte hinkommen, o Sokrates«, meldete sich Max Merkur zu Wort und verfiel in einen beschwörenden Tonfall. »Aber sagt mir, o Sokrates, was ist der Sinn des Lebens? Wenn Ihr es nicht wisst, so kennt ihn keiner.« »Der Sinn des Lebens… Welch passende Frage… Was denkt Ihr denn, ist der Sinn des Lebens?« »Äh… ich kenne ihn nicht, aber bevor wir wieder bei ›Ich kenne ihn nicht, aber ich bin schlauer als du, weil ich weiß, dass ich es nicht weiß‹ landen, wie wäre es mit einem Versuch Eurerseits?« Sokrates trommelte mit den Fingern ungeduldig auf seinem Schenkel: »Versprecht Ihr mir, lieber Henker, dass Ihr mir, wenn ich Euch den Sinn des Lebens verrate, endlich den Schierlingsbecher reicht… oder mich wenigstens daran nippen lasst?« »Ist gebongt, o Sokrates!«, rief Max Merkur. »Nun gut, Ihr sollt ihn hören. Der Sinn des Lebens lautet…«, begann Sokrates, und alle Schüler beugten sich gespannt nach vorne, »… der Sinn des Lebens lautet…« Sokrates holte tief Luft, und Max Merkur biss sich gespannt auf die Lippe. »Der Sinn des Lebens lautet: Erkenne dich selbst!« »Erkenne dich selbst«, sprachen alle Umstehenden im Chor. »Erkenne dich selbst«, wiederholte Max Merkur. »Prima, und sogar exzellent kurz, so wie man es erwartet.«
»Könnte ich jetzt ein Schlückchen Schierling haben? Das wäre nett.« Sokrates streckte die Hand danach aus. »Ah, der Schierlingsbecher, o Sokrates. Gut, nehmt ihn und trinkt. Hier noch einige Dinge, die Ihr wissen müsst: Der Schierling wirkt sehr langsam, Ihr werdet die ersten Anzeichen erst in einigen Minuten spüren. Eure Beine werden kalt. Eine Kälte, die immer höher steigt. Wenn sie Euer Herz erreicht, macht sich Eure Seele auf die Reise«, erklärte Max Merkur, der all diese Details noch aus den Schriften über Sokrates wusste. »Also bleibt mir noch eine halbe oder fast eine Stunde, wenn ich den Trank getrunken habe?«, hakte Sokrates nach. »Ja, so ist es, o Sokrates, eine halbe Stunde mindestens.« »Das ist wunderbar, die Zeit kann ich nutzen, euch zu erklären, wie der Mensch auf Erden glücklich wird. Es ist ganz einfach, und es funktioniert. Obwohl man mindestens achtzehn Jahre alt sein sollte, muss ich hinzufügen. Ich denke, wenn ihr meine Gedanken dazu erst gehört habt, werdet ihr alle begeistert sein.« Sokrates nahm den Becher in die Hand. »Xenophon, schreib die Gedanken, die ich jetzt äußere, Wort für Wort auf, dies soll mein Vermächtnis an die Menschheit sein.« Xenophon zog umständlich ein Wachstäfelchen und einen Griffel zum Schreiben hervor. »Schreib, Xenophon, alter Freund: Von der wahren Glückseligkeit…« »… von der wahren Glückseligkeit…«, murmelte Xenophon, während er hastig notierte. »Wenn der Mensch wahrhaft Glück sein Eigen nennen will…« Sokrates nippte am Schierlingsbecher, beinahe nebenbei, wie an einer Tasse Kaffee.
Sein Gesicht wurde auf einmal grün. Dünne Rauchschwaden wie aus einem schäumenden Wasserkocher drangen ihm aus beiden Ohren. Einen Augenblick später fiel er tot zu Boden. Max Merkur rieb sich das Kinn: »Ups, vielleicht doch ein bisschen weniger als eine halbe Stunde.« Alle Gesichter drehten sich in seine Richtung. Es waren keine freundlichen Blicke, was die geballten Fäuste deutlich unterstrichen. Max Merkur hechtete zur Tür der Giftküche, während vierzehn Arme sich fast gleichzeitig nach ihm streckten und versuchten, ihn zu packen – vergeblich. Hastig warf er die Tür hinter sich zu und schob den eisernen Riegel davor. Die Meute dahinter hämmerte wütend gegen das Holz. »Na, Erfolg gehabt?«, erkundigte sich Lutherion, der auf einem Schemel saß und ein Büschelchen Schierling kaute. »Der ist sofort tot umgefallen! Was hast du denn da zusammengemischt?« Drinnen hinter der Tür kreischten die Schüler und schrien Dinge, aus denen Worte wie »umbringen« und »Arme und Beine ausreißen« wie Eisberge aus dem Nordmeer hervortraten. »Na, du weißt doch, was wir Teufel sagen: Viel hilft viel. Und… was ist der Sinn des Lebens?« »Erkenne dich selbst, sagt Sokrates.« »Erkenne dich selbst? Das soll der Sinn sein? Ich erkenne mich jetzt selbst… Ich bin ein Teufel. Nächstes Problem, bitte.« »Ich denke, das bedeutet, man soll sein wahres Wesen erkennen, so wie man wirklich ist, seine Möglichkeiten, sein innerstes Sein«, versuchte Max Merkur zu erklären. »Nehmen wir spaßeshalber an, dass es irgendeinen Sinn ergibt, was du da brabbelst. Was passiert, wenn ich mein wahres Wesen erkannt habe?«, fragte Lutherion. Max Merkur überlegte: »Dann… dann… ist das… ziemlich gut… denke ich.«
Die wütenden Schüler schleuderten sich mit vereinten Kräften gegen die Tür, die allmählich zu splittern begann. »Na, meinetwegen, ›erkenne dich selbst‹, geben wir das mal ins Handy ein.« Lutherion zog das Petrus-Handy aus der Kutte hervor und begann, eine Nummer zu tippen. »Ich rufe die Armageddon-Hotline an und gebe ihnen das mal schnell durch… Moment… Es tutet noch nicht… und jetzt ist es besetzt.« Lutherion senkte das Handy wieder. Max Merkur verspürte Panik: »Was jetzt?« »Ich schreibe schnell eine SMS…« »Geht das?« »Bin schon dabei… Also der Text… STICHWORT WELTUNTERGANG… Zum Glück ist im Text kein ›ä‹ oder ›ö‹, ich weiß nämlich nicht, wo die auf der Tastatur sind… Das Handy hat übrigens komische Symbole, sag ich dir, hier hat’s eine Harfe direkt neben der Eins und ein Lämmchen neben der Zwei. Soll ich mal auf das Lämmchen drücken?« »Nein, mach schnell, die kommen gleich hier rein.« »Na, meinetwegen… Also weiter… ERKENNE DICH SELBST… So, die Nummer und… gesendet.« Die Angeln der Tür gaben immer mehr nach. Das Mobiltelefon piepste. »Und schon ist eine Antwort da… LEIDER FALSCH… DANKE FÜRS MITSPIELEN… Und der Rest ist Werbung.« Lutherion blickte den enttäuschten Max Merkur an. »Wir sollten machen, dass wir hier wegkommen«, bemerkte Max Merkur panisch. Die Tür hüpfte aus den Angeln und fiel wie ein gefällter Baum zu Boden. Sieben mordlustige Schüler der Philosophie quollen ins Zimmer. »Da ist er, der Lump, den schicken wir unserem geliebten Sokrates hinterher.« Einer schrie noch etwas wie »Hals umdrehen«, und auch ein »abmurksen« war dabei.
Max Merkur hatte sich an die Seite von Lutherion geflüchtet, der inzwischen begonnen hatte, seelenruhig die Nummer für die nächste Zeitreise einzugeben.
Roswitha aus dem Burgenland
Lutherion hielt das Petrus-Handy in der Hand. Sieben Sokrates-Schüler näherten sich ihnen langsam und bedrohlich. Schließlich drückte Lutherion die grüne Taste und hielt sich das Telefon ans Ohr. Max Merkur atmete auf. Lutherion lächelte: »Ah, ein Freizeichen. Wir haben eine Verbindung… Verbindung… Verbindung.« Das letzte Wort hallte metallisch in den Ohren Max Merkurs wider. Ihn überkam ein Gefühl, als ob man etwas lang Gesuchtes gefunden hätte. Die Zeit öffnete ihre Tore. Aber eigentlich waren sie immer geöffnet. Es war lediglich der Blick auf sie verstellt, weil immer so viel andere Zeit zugegen war: Nutzlose Sekunden, die ticken, Minuten, die vergeblich ablaufen, Termine, die man einhalten muss, eine Lebensuhr, die Sandkorn um Sandkorn verliert. Diese Zeit wurde weggefegt wie durch einen großen Scheibenwischer. Stattdessen sah man etwas anderes. Alles war plötzlich viel deutlicher und verständlicher. Ein Moment der Klarheit. Die alte Zeit entfernte sich und bildete sich an anderer Stelle neu. Sekunden, Minuten, Stunden waren ein Blatt eines großen ewigen Wesens, ein kleiner verschwindender Teil der ewigen Zeit, die wie ein großer Baum in der Schöpfung stand. Max Merkur erblickte zwar nicht den großen Baum der Zeit, aber er sah ein zweites gewölbtes Blatt vor sich. Dort drüben. Schön war es, geheimnisvoll und erreichbar. Es hing schon immer da. Er hatte es wieder gefunden; er hatte nur vergessen, dass es da war. Unbekümmert sprang er von seinem Blatt auf das andere Blatt hinüber und versank im Zeitenstrom…
Tatsächlich beruhte die Technik der Zeitreise auf binären Prinzipien. Ein Zeitreisender wurde durch einen
fortschrittlichen Engelsmikrochip in digitale Einsen und Nullen zerlegt, wobei eine Eins für gut und eine Null für böse stand. Das digitale Muster eines Teufels bestand folglich fast nur aus Nullen, während bei einem Engel eine hohe Anzahl an Einsen gesendet wurde. Das Handy nutzte dabei die universellen Grundsätze von gut und böse, auf denen das gesamte Universum beruhte. Die Forschungseinrichtungen, an denen Technik wie diese entwickelt wurde, hießen zum Beispiel: »Angelic Institute for Digital Morality« oder »Zentrum für angewandte DigitalMoral«. Ursprünglich hatte das Handy einen anderen Zweck als Zeitreisen. Einigen gerissenen Teufeln war es ungefähr zur Zeit des Mittelalters gelungen, sich so perfekt als Engel zu verkleiden, dass selbst diese Schwierigkeiten hatten, die Tarnung zu erkennen. Mit einem neuartigen Chip, entwickelt vom Angelic Institute for Digital Morality, wurden Verdächtige in ihre digitalen Bestandteile zerlegt. Je nach Ergebnis war dies ein untrüglicher und fälschungssicherer Test, ob man einen Engel oder einen Teufel vor sich hatte. Der Chip wurde allgemein mit großem Jubel aufgenommen, demonstrierte er doch die technische Überlegenheit der Engel gegenüber den Teufeln. Der Chip tat über zweihundert Jahre gute Dienste, und niemand zweifelte an seiner Unfehlbarkeit, bis ein Laborassistent sich während einer Party einen Jux erlaubte: Er zerlegte den Chip selbst in binäre Bestandteile. Zur Überraschung aller zeigte sich, dass der Chip aus lauter Nullen bestand. Es war der einzige bekannte Gegenstand, der zu hundert Prozent aus Nullen gemacht war. Keine einzige Eins war dabei. Selbst die dunkelsten der dunklen Höllenfürsten konnten nicht annähernd so viele Nullen vorweisen. Der Chip stellte das pure Böse dar. Zumindest aus digitaler Weltsicht.
Das führte schließlich dazu, dass diese Technik nur noch zu zivilen Zwecken verwendet werden durfte, bis geklärt war, warum der Chip das ungefilterte Böse in sich vereinte und trotzdem so praktisch war. Auch die Teufel wollten von dieser Technik nichts wissen, da etwas, das sich rühmen konnte, noch böser und schwärzer zu sein als sie selbst, einen unerhörten Affront darstellte.
Max Merkur spürte nicht, wie sich sein Körper in Nullen und Einsen auflöste. Stattdessen fühlte er, wie er zusammengestaucht wurde. Alles wurde schwarz, dann weiß, dann gelb, blau, rot und anschließend wieder schwarz. Er hatte das Gefühl, zu einer silbernen Kugel zusammengepresst und in einen kosmischen Flipper geschossen worden zu sein. Dann sah er eine feurige Schrift vor sich blinken. »TILT«. Jäh fiel er in ein Loch und war allein. Lutherion war nirgends zu sehen. Stattdessen sah er seinen eigenen Hinterkopf. Als er sich umdrehte, lächelte er sich an und grüßte freundlich. Danach nahm er einen Feuerball wahr, der mit schier atemberaubender Geschwindigkeit auf ihn zuraste. Die Flammen begannen zu leben, streckten sich wie Arme aus. Etwas geschah. Die Flammenkugel gewann an Form. Nun konnte man eine Gestalt erkennen. Sie verwandelte sich in einen goldenen Drachen mit gigantischen Flügeln, der fürchterlich anzusehen war. Der Drache bedeckte den Himmel mit seinem schier unendlichen Körper. Seine Klauen glichen Rissen im Firmament. Sein Hals reckte sich. Der Drachenkopf drehte sich in Max Merkurs Richtung und blickte ihn grimmig an. »Wer wagt es, mich zu stören?«, brummte die Stimme des Drachens.
»Also, ich bestimmt nicht«, gab Max Merkur kleinlaut zurück. »Ich bin das Böse!« Seine Stimme klang wie Donner. »Oh.« Es war zwar nur ein Laut, dennoch schien er Max Merkur passender als das »Hallo«, das ihm zuerst in den Sinn gekommen war. »Ich bin das Omega, das Nichts, das Ende, der Tod!« »Oh.« Dieses Mal hätte sich Max Merkur doch eine angebrachtere Antwort gewünscht. »Sterblicher, was ist dein Begehr? Warum störst du mich?« Der Drache besaß keine Stimme im herkömmlichen Sinn. Vielmehr schien es Max Merkur, dass ihm die Worte direkt im Kopf dröhnten, als stünde er bei einem Heavy-Metal-Konzert unmittelbar vor gigantischen Basslautsprechern. »Du bist das Böse?« »Ich bin das Böse!« Max Merkur nahm allen Mut zusammen – oder zumindest das, was er dafür hielt. »Darf ich dir eine Frage stellen?« »Frag, Sterblicher!« Max Merkur hegte nicht den geringsten Zweifel, dass er gleich tot sein würde, trotzdem oder gerade deshalb wollte er noch eine letzte Frage loswerden. Und er hielt sich selbst für sehr gerissen, dass sie ihm eingefallen war. »Was ist der Sinn des Lebens?« »Ich bin das Böse!« »… und der Sinn des Lebens ist, wenn ich nachhaken darf?« »Ich bin das Böse!« »Oh.« Max Merkur bekam das dumpfe Gefühl, diese Konversation trete auf der Stelle, als sich der Boden plötzlich öffnete und eine grüne Wiese zum Vorschein kam. Er plumpste mitten aufs Gras.
Lutherion saß auf dem Ast eines nahe gelegenen Baumes. Die Sonne schien, und Vögel zwitscherten. Vom Ast herab rief der Teufel: »Whooopii… Was für eine Schlittenfahrt! Ich war in einer gigantischen Rutsche aus Licht… Und zwischendurch brachte mir eine sexy Kellnerin mit zwei Köpfen und drei Beinen einen Caipiranha.« Lutherion hatte den Zeitsprung offensichtlich genossen. »Du meinst Caipirinha?« »Nee, der Cocktail hat seinen Namen nach den Fischen, die darin schwimmen. Nur bekommt man ihn selten, obwohl das Rezept eigentlich einfach ist. Man muss nur im Amazonas einen Eimer in Piranha-haltiges Wasser tauchen.« »Uh, wirklich, das ist ja ekelhaft.« Max Merkur verzog das Gesicht. »Findest du? Dann solltest du in einer Teufelsbar keinen White Russian bestellen.« Lutherion grinste schelmisch. Danach sprang er vom Baum herab und fragte: »Und du, was hast du gesehen?« »Nichts«, gab Max Merkur zurück und blickte verlegen zur Seite, während ihn Lutherion argwöhnisch betrachtete. Es entstand eine peinliche Pause, in der niemand etwas sagte. Sie standen auf einer Blumenwiese, die ein Stück abseits eines Weges lag. Einige große Ochsenkarren fuhren im Schritttempo den Pfad entlang. Etliche Menschen in Umhängen, Mänteln und zerschlissenen Kleidern liefen neben den Wagen her, die mit Fässern und Holz beladenen waren. Der steinige, kleine Weg führte in etwa vierhundert Metern zu einer Burg, deren vier Türme weit in den Himmel ragten. Das Grau der Burg hätte sich unschön vom umliegenden Grün der Pflanzen abgehoben, hätten nicht überall bunte Fahnen munter im Wind geflattert. In den Türmen konnte man kleine Fenster erkennen, manche davon vergittert. Eine hohe Mauer umgab die Burg, bewacht deutlich sichtbar von zahlreichen
Wachen, die davor patrouillierten. Die Hellebarden zeichneten sich vor dem blauen Himmel ab. Die Zugbrücke war heruntergelassen. An ihrem Eingang standen ebenfalls Wachen, während zahlreiches Volk die Burg verließ oder betrat. »Das ist das Castello Montesangiovanni, eine Burg, die im Besitz des Geschlechtes der Aquins ist. Heute ist Donnerstag, der 25. April 1244. Es ist 6:35 Uhr. Irgendwo in einem der vier Türme sitzt Thomas von Aquin, der berühmte mittelalterliche Philosoph, hinter Gittern«, erläuterte Lutherion und beendete so das Schweigen. »Ich verstehe nicht… Du sagst, das ist die Burg der Aquins. Wieso ist Thomas von Aquin dann eingesperrt?« »Es ist ganz einfach«, erklärte Lutherion geduldig. »Thomas hat gegenüber seinem Vater und seiner Familie geäußert, dass er Philosoph werden möchte und sie ihm herzlich und endgültig den Buckel runterrutschen dürfen. Auf Anweisung seines Vaters Landulf und unter Mithilfe von Soldaten Friedrichs II. entführte ihn sein Bruder Rinoldo und brachte ihn hierher. Thomas von Aquin soll hier solange gefangen gehalten werden, bis er schwört, ein weltliches Leben zu beginnen und nie, nie wieder Philosophie zu betreiben.« »Alles, was wir tun müssen, ist also, in seinen Kerker vorzudringen und ihn höflich bitten, uns den Sinn des Lebens zu verraten?« »Exakt«, bestätigte Lutherion und streifte sich die Kapuze seiner Kutte über den Kopf. »Wenn uns dabei Rinoldos Männer erwischen, könnte es allerdings passieren, dass ein gewisser… äh… Redebedarf entsteht. Einer Diskussionsrunde folgt hier zu Lande traditionell etwas Folter und eine grausame Hinrichtung. Außerdem verspürt man im Mittelalter gegenüber Teufeln ein unterschwelliges Unwohlsein und überspringt gern
den ersten Teil.« Lutherion ließ seinen Schwanz unter der Kutte verschwinden. »Dann lass uns hineingehen.« »Langsam, langsam… Wir kommen vielleicht in die Burg hinein, aber wir kommen nicht so leicht an den Wachen vorbei. Thomas von Aquin wird vermutlich gut bewacht. Rinoldo glaubt, dass die Freunde von Thomas einen Befreiungsversuch starten könnten. Deswegen hat er die Wachen verdoppeln lassen. Wir können also da nicht so einfach reinspazieren. Wir brauchen etwas Hilfe.« »Woher weißt du das alles?« »Der TSD leistet gründliche Arbeit. Komm jetzt.« Lutherion lief los, aber nicht in Richtung der Burg, sondern zu einem Wald, der neben der Wiese lag. Max Merkur folgte ihm. »Wer könnte uns denn helfen?«, fragte er. »Jemand, der tief in diesem Wald lebt.« Nach einigen hundert Metern erreichten sie den Rand des Waldes. Max Merkur freute sich über die ersten wärmenden Sonnenstrahlen. In einem Wald hatte er sich nie sonderlich wohl gefühlt, doch der wolkenlose Frühlingstag nahm ihm dieses Gefühl. Die Vögel zwitscherten munter und fröhlich, und eine angenehme Zufriedenheit breitete sich in ihm aus. Die Bäume waren hoch wie Berge. Kaum hatten die beiden einige Schritte in den Wald getan, wurde das meiste Sonnenlicht von den Ästen geschluckt. Alles wurde in ein unheimliches Zwielicht getaucht. Die Wipfel der Bäume bewegten sich nicht. Selbst die Vögel schwiegen. Es war nicht die Ruhe des Schlafes: Es war das Schweigen der Angst. Max Merkur spürte unerbittliche Kälte auf ihn einströmen. »Müssen wir da wirklich hinein?«, murrte er, während er über verfaulte, von Moos überzogene Äste kletterte. »Was könnte in diesem schrecklichen Wald schon sein?«
»Etwas Dunkles, Böses, das mit den Teufeln seit tausenden Jahren ein Bündnis hat.« Lutherions Erklärung klang nicht sonderlich ermutigend. Nachdem sie etwa eine Stunde lang marschiert waren, bemerkte Max Merkur plötzlich etwas. In etwa hundert Meter Entfernung lugten zwei Augenpaare aus dem Unterholz. Sie waren grün, sehr klein und stechend. Dann verschwanden sie. Hinter ihnen raschelte es. Einige Zweige knackten verdächtig nah. »Sind das Tiere?« »Nein, Kobolde. Sie mögen es nicht, wenn man in ihr Revier eindringt.« »Sind sie gefährlich?« »Definiere Gefahr.« »Gefahr bedeutet, dass sie uns körperlichen Schaden zufügen wollen.« »Hmmm… Dann schätze ich, sie sind gefährlich. Komm weiter.« Lutherion ging schneller. Fast eine weitere Stunde lang liefen sie durch den schaurigen Wald. Durch die Baumkronen drang kaum Licht, nur gelegentlich brach ein klarer Sonnenstrahl zwischen den Ästen hindurch. Die Bäume warfen finstere Schatten wie Netze über die beiden Wanderer. Immer wieder wurden sie von unheimlichen grünen und roten Augen hinter verrotteten Hölzern angestarrt. Ein schauerliches Lachen, das plötzlich dicht neben ihm aus dem Unterholz drang, erschreckte Max Merkur. Während er sich umdrehte, verstummte es. Der Boden wurde feuchter, glitschiger. Lutherion wäre einmal beinahe ausgerutscht, aber sein muskulöser, schwarzer Schwanz schlang sich geschickt um einen nahen Ast und stützte ihn.
Dann hörten sie wieder das Lachen, das irre Koboldlachen. Lutherion sah sich sorgenvoll um. »Sie kommen näher, und es werden mehr«, flüsterte er. »Was haben sie mit uns vor?« »Willst du das wirklich wissen? Na gut, wenn es dich beruhigt…« Lutherion holte Luft. »He, mein Begleiter will wissen, was ihr mit uns vorhabt?«, rief Lutherion mit äußerst lauter Stimme. »Wir wollen euch fressen«, zischte es jetzt tausendfach aus dem Unterholz. »Sie wollen uns fressen«, erklärte Lutherion. »Aber warum das denn?«, jammerte Max Merkur. »Warum das denn?«, schrie Lutherion. »Weil wir Hunger haben.« »Na, siehst du«, sagte der Teufel beruhigend, »jetzt weißt du alles. Das sind Kobolde, die Hunger haben und uns fressen wollen. Alles verstanden?« »Wie viele mögen dort draußen sein?«, hakte Max Merkur nach. »Ach, vielleicht einige Tausende. Wir Teufel nennen die Kobolde auch Waldpiranhas – wir machen allerdings nie Cocktails aus ihnen. Sie fallen nämlich zu Tausenden über ihre Opfer her. Sie sind nur fingerlang, aber sie verschlingen ihre Beute mit Haut und Knochen. So erfüllen sie eine Funktion im großen Kreislauf der Natur, indem sie Kadaver hygienisch entsorgen. Aber keine Angst, erst wenn sie ihren Kriegsgesang anstimmen, sind wir verloren, denn dann haben sie uns ganz umzingelt. Noch besteht also Hoffnung.« Lutherion lächelte. Aus dem Unterholz erklang rund um sie ein Gesang in einer alten, vergessenen Sprache, dem Antu-Koboldischen, das nur die Ältesten der Kobolde verstanden. Auffällig daran waren die vielen Schmatz- und Knirschgeräusche, die wohl die Kriegslust heben sollten, aber
auch die Produktion von Magensaft für eine bessere Verdauung anregten. Das Antu-Koboldische war eine schöne Sprache, die traurig eine vergangene Zeit besang, in der die Kobolde große Kriegsherren hervorbrachten und an den Ufern eines silbrigen Flusses lebten. »Wir sind umzingelt.« Lutherions Aufregung war an den Bewegungen seines Schwanzes zu erkennen. Dieser trommelte wie wild auf einen am Boden liegenden Ast ein: »Nur keine Aufregung.« »Was können wir tun?« »Keine Ahnung…« Die Gesänge dauerten an. Das Antu-Koboldische entfaltete seine ganze Schönheit; es erzeugte eine Stimmung, die man am besten als melancholische Gewaltbereitschaft klassifizieren konnte. Bei den Menschen gab es keine vergleichbare Musik. »Gleich werden sie angreifen, möchte ich meinen«, stammelte Max Merkur. »Ja! Wenn der Gesang verstummt, sind ihre Mägen durch die Knack- und Schmatzlaute so hungrig, dass sie sich in einem Blutrausch auf uns stürzen werden.« »Wirklich?« »Ja, aber obwohl sie wie irre zu Tausenden über uns herfallen werden, halten sie sich an Regeln. Sie sind nämlich nicht unzivilisiert. Es gibt eine Kobold-Regel, die lautet: Immer von unten nach oben fressen. Du kannst also noch ein bisschen zuschauen, wie das so vor sich geht.«
Tatsächlich waren die Kobold-Regeln für Fress-Benimm schon sehr alt. Sie waren in einem Buch mit dem Namen »Jkgrrk’k« zusammengefasst. Dabei handelte es sich um einen Band, der im Buchladen sofort auffiel weil er einen Umschlag aus Alufolie besaß, auf dem die Lettern »Jkgr’rk’k« mit
Bratensauce geschrieben standen. Das Regelwerk war ebenfalls im Antu-Koboldischen verfasst worden, das heute kaum noch ein Kobold lesen konnte. Es gab genau 313 Regeln; die 313. war die Kürzeste und lautete nur: »sch’lgg’lg’sch« – übersetzt bedeutete das ungefähr: »Guten Appetit«. Über die genaue Übersetzung wurde oft und leidenschaftlich gestritten. Z’k’la, einführender Gelehrter an der Universität von Nowosnikoboldsk, schrieb ein viel gelesenes Buch über die Deutung der 313. Regel und vertrat darin die Meinung, dass die korrekte Übersetzung lauten müsste: »Mahlzeit!« Er wurde deshalb aber derart angefeindet, dass er nicht nur seinen Lehrstuhl für Theoretische Antu-Koboldistik verlor, sondern auch den Stammplatz in seinem Lieblingsrestaurant, »Zum goldenen K’ Grr’ kk«. Vielleicht ist noch wichtig zu wissen, dass »Jk’gr’rk’k« zu einer Zeit geschrieben worden war, in der Ritterlichkeit und Koboldhaftigkeit viel wichtiger waren als heute. Um bei der Wahrheit zu bleiben, fand »Jkgr’rk’k« bei jüngeren Kobolden überhaupt keinen Anklang mehr. Einzig und allein die letzte Regel erfreute sich großer Beliebtheit.
Dann passierte etwas. Der Gesang verstummte. Gleichzeitig brach ein großer Hirsch aus dem Unterholz hervor und blieb in etwa fünfzig Meter Entfernung einfach stehen. Er wirkte etwas verlegen, als wäre es ihm peinlich, ohne anzuklopfen hereingeplatzt zu sein. Er hatte den Kopf angehoben und blickte in Richtung der zwei verängstigten Waldbesucher. Stille. Rascheln. Dann Geräusche, die wie »k’g?«, »j’k’g!« und »rg’gi!« klangen.
Rascheln. Der Hirsch stand weiter einfach da. Auf den zweiten Blick schien er allerdings etwas niedriger als zuvor zu sein. Lutherion und Max Merkur tauschten einen Blick. Hektisches Knacken. Man konnte glauben, der Hirsch hätte schon wieder an Höhe verloren. Dann wieder und wieder. Der überraschte Hirsch versank wie ein leckes Schiff, immer tiefer und tiefer. Er schaute sich nach rechts und links um. Es knirschte und knackste im Unterholz: »sch’lg g’ lg’sch!«, »sch’lg g’ lg’sch!«, »sch’lg g’ lg’sch!«, ertönte es tausendfach. Sein Kopf ging unter, bis man schließlich nur noch das Geweih sehen konnte. Auch das versank schließlich in den Schatten des Waldes. Als Lutherion und Max Merkur wieder zu Atem kamen, waren sie schon einige hundert Meter weit entfernt. Sie hatten die Zeit genutzt, um das Weite zu suchen, so schnell sie konnten. Schweiß rann Max Merkur die Stirn herunter. Schweigend setzten sie ihren Weg fort. Sie hatten keine Lust, durch unnötige Geräusche die Kobolde wieder auf sich aufmerksam zu machen. Max Merkur wurde nach weiteren zwei Stunden Fußmarsch ungeduldig. »Was wohnt denn jetzt eigentlich so tief in den Wäldern, das uns helfen kann?« »Wie gesagt, etwas Böses, Verworfenes, das seit Urzeiten mit den Teufeln eine Bündnis unterhält.« »Wer hat seit Ewigkeiten ein Bündnis mit dem Bösen?« »Ähm… die Frauen.« »Die Frauen?« Max Merkur erwartete eine genauere Erklärung. »Die Frauen…?«, wiederholte er, um das Thema noch einmal aufzugreifen.
»Nicht alle Frauen… besondere Frauen… die Hexen. Hier im Wald müsste eine leben.« »Hmmm, sind Hexen gefährlich?« »Definiere gefährlich.« Max Merkur wollte gerade antworten, als er auf einer nahen Lichtung eine Hütte sah. Die Hütte bestand ganz aus Holz und war sehr niedrig gebaut. Sofort ins Auge sprang, dass die Hütte pechschwarz war: Jemand hatte die Bretter mit einer glänzenden schwarzen Farbe angestrichen. Auf dem Dach prangte ein kaminartiger Vorsprung, aus dem abwechselnd gelbe, grüne und rote Wölkchen quollen. »Nicht besonders fröhlich«, unkte Max Merkur. »Wohnt sie hier?« »Ja, genau.« Lutherion trat an die Hütte heran und klopfte an die ebenfalls schwarze Tür. Mit einem Quietschen wurde sie geöffnet. Eine Frau um die fünfundvierzig Jahre mit rotem, lockigen Haar schaute aus dem Inneren heraus. Sie hatte blasse Lippen, eine kleine hakige Nase und mandelförmige, grüne Augen. Ein langes schwarzes Kleid schmiegte sich an ihren drallen Körper. »Ihr wünscht?«, fragte sie misstrauisch. »Guten Tag, darf ich mich vorstellen? Ich bin Lutherion, und das ist mein… äh… mein Diener Max Merkur. Sie sind doch eine Hexe?« »Nein… Auf Wiedersehen.« Die Frau wollte die Tür schließen. »Moment… Erkennst du deinen Meister nicht. Ich bin ein Teufel!« Lutherion vollführte eine furchtbar bedeutsame und altmodische Geste, streifte sich die Kapuze vom Kopf und ließ sein schwarzes Gesicht erkennen. »Ihr seid ein Teufel? Ich habe aber keinen beschworen…« »Trotzdem, Weib, bin ich hier, und du wirst mir deine Hilfe nicht verweigern«, sprach Lutherion getragen und großspurig.
»Seid Ihr sicher, dass Ihr kein Vertreter für Morgensterne seid, der sich das Gesicht schwarz angemalt hat, hä? Letzte Woche war nämlich so einer hier…« »Nein, kein Vertreter, ein Teufel bin ich, mitsamt seinem Famulus.« »Gut, gut, wenns denn sein muss, dann kommt eben rein, aber putzt euch zuerst die Schuhe ab.« Lutherion und Max Merkur traten ein. Die Hütte war innen wesentlich gemütlicher, als sie von außen wirkte. Bequeme Sessel standen vor einem Couchtisch aus Glas. Daneben befand sich ein offener Kamin, in dem ein Feuer brannte. Auf einer Stereoanlage türmte sich ein immens hoher Stapel aus Musik-CDs. In der hinteren Ecke des Zimmers war die Küche. Eine Mikrowelle stand auf der Arbeitsplatte, daneben ein elektrischer Herd mit Ceran-Kochfeld und eine Spülmaschine. Ein leichtes Brummen verriet die Anwesenheit eines Generators, der die Geräte mit Strom versorgte. »Fühlt euch bei mir wie zu Hause. Es ist selten, dass sich ein Teufel hierher verirrt. Mein Name ist übrigens Pamela Kathedra. Ich bin Hexe dritten Grades und Bezirksleiterin für Montesangiovanni und die benachbarten Gemeinden.« Lutherion und Max Merkur verneigten sich höflich und stellten sich ebenfalls vor. Pamela Kathedra wirkte nun wesentlich freundlicher. Sie bot beiden an, auf der Couch Platz zu nehmen, und brachte rasch zwei Tassen Kaffee herbei, die sie in einer futuristisch aussehenden Kaffeemaschine gebraut hatte. Sie setzte sich in einen Sessel. Man hätte ihr, abgesehen von ihrer düsteren Kleidung, nicht angesehen, dass sie eine Hexe verkörperte. Dennoch war sie eine, und zwar eine der fähigsten weit und breit. »Zucker? Milch?« »Nein, danke«, antwortete Lutherion.
»Zucker, bitte«, traute sich Max Merkur zu sagen. Die Hexe schob ihm einen Zuckerspender hin. »Ich habe leider nur Süßstoff, wegen der schlanken Linie.« »Das ist schon in Ordnung.« Max Merkur lies zwei Stück Süßstoff in seinen Kaffee fallen und probierte ihn. Er schmeckte vorzüglich. »Wir sind hier, um dich um einen Gefallen zu bitten und deine Hexenkünste in Anspruch zu nehmen«, begann Lutherion das Gespräch. »Worum handelt es sich denn?« »Wir wollen, dass du uns einen Verwandlungstrank braust. Ich möchte, dass mein Begleiter für einige Zeit eine junge, hübsche Frau wird. Kannst du das machen?« Max Merkur warf dem Teufel einen überraschten Blick zu. »Das ist leicht. Dafür brauche ich ein Viertelstündchen.« Pamela Kathedra sprang auf und lief hastig zu einem Bücherregal. Dort zog sie ein Buch heraus, das direkt neben einem stand, das in Alufolie gewickelt und mit Bratensauce beschrieben war. Es war ein dunkles Zauberbuch mit Runen auf dem Titelblatt, groß und schwer. Auf dem Einband waren große Blutflecken zu sehen. In der linken Ecke stand der Hinweis »2. verbesserte Auflage« und darunter »Super! Jetzt mit noch weniger schweren Irrtümern!« »Hier müsste alles Nötige drinstehen.« Sie zog es ganz aus dem Regal und legte es auf den Tisch. Als sie es öffnete, schrie das Buch. Es war ein entsetzlicher Todesschrei. Es hatte so viele Menschenleben gekostet, dass Jammern und Kreischen ein Teil von ihm geworden war. Jedes Mal, wenn Pamela Kathedra eine Seite umblätterte, ertönte ein neuer entsetzlicher Schrei. »Wie man jemanden in einen Frosch verwandelt… Wie man sein Haus zu Lebkuchen macht… Wie man einen Mann in eine
Frau verwandelt… Ah, hier ist es.« Sie las die Stelle im Buch aufmerksam durch. »Darf ich auch was sagen?«, flüsterte Max Merkur Lutherion zu. »Gerne.« »Spinnst du? Warum willst du mich in eine Frau verwandeln?!« »Och, ist doch schön, oder?« »Ich will aber nicht.« »Also, pass auf, mein Vorhaben ist simpel«, setzte Lutherion zu einer raschen Erklärung an. »Rinoldo, Thomas von Aquins Bruder, sucht nach einer attraktiven Frau, die er in den Kerker zu Thomas schicken kann. Die Reize der Dame sollen Thomas von der Philosophie abwenden lassen und ihn zu einem weltlichen Leben bekehren. Zu diesem Zweck findet in einigen Stunden im Schloss eine kleine Auswahl statt. Verstehst du, worauf das Ganze hinausläuft?« »Ich ahne und fürchte es.« »Wenn dich Rinoldo auswählt, wirst du zu Thomas von Aquin in den Kerker gesteckt und kannst ihn nach dem Sinn des Lebens fragen. Das ist doch ein guter Plan, oder?« »Und wenn Rinoldos Plan zu gut funktioniert…?« »Ach, keine Angst, es kann nichts passieren, was man nicht mit einigen Monaten Therapie bereinigen könnte«, grinste Lutherion. Pamela Kathedra schlug das Zauberbuch zu, das dabei wieder einen markerschütternden Schrei ausstieß. »Ich habe alles da, was ich brauche. Es dauert einige Minuten.« Mit diesen Worten ging sie in die Küche. Auf dem Gewürzregal standen etliche Dosen und Fläschchen. Sie schaltete die Ceran-Herdplatte ein und holte aus einem Schrank einen großen Wok hervor. Dann nahm sie ein Fläschchen, auf dem »Fledermaus-Keimöl« stand, und leerte
etwas davon in den Wok. Sofort entstand ein purpurfarbener Dampf. »Äh, darf ich noch was fragen?«, flüsterte Max Merkur. »Aber ja doch. Du weißt, es ist sehr wichtig, dass man Fragen stellt, sonst lernt man nichts.« »Warum hat Pamela Kathedra Geräte aus dem 20. Jahrhundert hier stehen?« Pamela Kathedra holte eine große Tupperdose, auf der »Saurer Eichhörnchenbrei« stand, und löffelte etwas davon in den Wok. Es zischte und rauchte. Dann nahm sie eine Dose mit dem Etikett »Waldwürmer-Mantsche mit Preiselbeeren« und leerte den Inhalt in den übel riechenden Qualm, unter dem irgendwo der Wok verborgen lag. Funken sprühten durch den Raum. »Weißt du, die Teufel und Hexen haben ein Bündnis«, fing Lutherion zu erklären an. »Was für ein Bündnis?« »Äh, es ist eher so eine Art Vertrag oder Club. Die Hexen machen Böses, und sie bekommen Prämien dafür.« »Uh?« »Ja, Prämien – wie eine Mikrowelle zum Beispiel.« Max Merkur blickte den Teufel nicht gerade verständnisvoll an. »Also, wir haben festgestellt, dass viele Leute nichts Böses tun wollen, weil es sich nicht auszahlt. Ja, es ist sogar sprichwörtlich geworden: ›Verbrechen lohnt sich nicht‹. Kaum einer macht freiwillig etwas Böses, wenn er sich keinen Gewinn dadurch erhoffen kann. Selbst diejenigen, die man für die schlimmsten Schufte hält, wollen eigentlich etwas in ihren Augen Gutes. Es kommt nur oft etwas kolossal Schlechtes dabei raus. Fast niemand will das Böse um seiner selbst willen. Wer erkennt schon die Größe einer schlechten Tat? Sind die Leute, die in der Geschichte bewundert werden, etwa Leute,
die nur Gutes getan haben? Nein, im Gegenteil! Und wer stellt sich dem ach so reinen Guten, den engstirnigen Biedermännern, entgegen und sagt: ›Moment, ihr lieben Leutchen, es geht auch anders‹? Wer erforscht die Freiheiten des Bösen? Wenn niemand das Böse möchte, sondern alle immer nur das Gute, wo ist da noch die Wahl?« Lutherion bemerkte, dass er sich in Rage geredet hatte, und senkte die Stimme wieder. »Als die Teufel erkannten, dass immer weniger Menschen Böses tun wollten, berief man eines Tages eine Krisensitzung ein. Man diskutierte, man erarbeitete Thesenpapiere, man bewarf sich mit brennenden Pferdedungkugeln, nichts kam dabei heraus. Bis ein junger Teufel mit dem Namen Salazar III. der Preiswerte eine Bahn brechende Idee hatte. Ein Rabattsystem.« »Ein Rabattsystem?« »Äh, ja, ein Rabattsystem. Ein einfaches, aber geniales Prinzip: Du machst etwas Böses, Gemeines und Hinterlistiges und bekommst dafür eine Anzahl Teufelssammelpunkte. Wenn du zum Beispiel ein kleines Kind erschreckst, bekommst du einen Punkt, wenn du jemanden in ein Schwein verwandelst, gibt das 150 Punkte. So sammelst du die Teufelspunkte. Für 4.000 Teufelspunkte gibt es eine Mikrowelle. Für 10.000 eine Couchgarnitur. Man kann aber auch Reisen und Geldpreise gewinnen.« Max Merkur schaute äußerst skeptisch drein. »So haben wir versucht, das Problem zu lösen, dass sich das Böse nicht auszahlt. Jetzt konnten wir damit werben: ›Das Böse lohnt sich – über eine Million Sachpreise. Machen auch Sie mit!‹« »Und welche Sachpreise gab es?« »Oh, es gab einen Katalog: ›Walpurga – Heim und Hexe‹. Er kam alle sechs Monate heraus und wurde traditionell in den
Kamin geworfen. Alle Hexen warteten immer gespannt auf den neuen ›Walpurga‹, vor allem, weil er gerne im Feuer des Kamins verbrannte. Man konnte allerdings fast nur Dinge eintauschen, die praktisch für zu Hause waren, sodass sich so gut wie kein Mann dafür interessierte und nur Frauen Clubmitglieder wurden.« Max Merkur schwieg. In der Zwischenzeit schüttete Pamela Kathedra alle Zutaten aus dem Wok in einen großen Mixer und fügte SchneckenRaspel hinzu, die, wie sie erläuterte, den Geschmack verstärken sollten. »So, fertig«, rief sie triumphierend und füllte das Gebräu in eine Tasse, auf der die Aufschrift »Walpurga – Böses bringt Preise« stand. Sie näherte sich ihren beiden Gästen mit der Tasse und einem kleinen, schwarzen Buch. »Lutherion, ich müsste Euch bitten, mir 275 Teufelspunkte in mein Rabattheftchen zu schreiben, bevor Euer Freund den Trank zu sich nimmt. Hinterher ist es vielleicht… äh, zu spät.« Lutherion nahm lächelnd das Rabattheftchen aus der Hand der Hexe und kritzelte einige Schnörkel hinein. »So, das wars… Du musst das jetzt nur noch trinken«, sagte Lutherion. Max Merkur erhielt die Tasse aus den Händen von Pamela Kathedra. Das Gebräu war grün und blubberte. Einige krustige Brocken einer gelblichen… Substanz schwammen darin, außerdem runde, hellgrüne Kügelchen, die wie Fische umeinander kreisten. »Trink«, befahl Lutherion. »Trink«, befahl die Hexe. Max Merkur trank. Einen Augenblick passierte gar nichts. PLOPP!
Aus Max Merkur war plötzlich eine Blondine mit langen Haaren und sinnlichem Körper geworden. Ein langes weißgoldenes Kleid betonte die Figur zusätzlich. Die blauen Augen harmonierten hervorragend mit dem verführerischen Mund. Alles war perfekt bis auf… »Ich habe nur ein Ohr!«, schrie Max Merkur. Tatsächlich besaß er nur ein Ohr. Stattdessen prangte dort, wo sich üblicherweise das rechte Ohr befand, eine zusätzliche Nase. »Ups…«, stieß die Hexe hervor. »Macht nichts«, beschwichtigte Lutherion. »Wir kämmen einfach die Haare drüber.« Das Schlimme für Max Merkur war nicht, dass er anstelle des Ohres eine Nase besaß, sondern, dass er damit auch riechen konnte. »Na, für einen ersten Versuch ist es mir doch gut gelungen«, meinte die Hexe. »Der Trank verliert in acht Stunden seine Wirkung. Für Nebenwirkungen übernehme ich keine Verantwortung.« Max Merkur schaute an seinem neuen Körper hinab. Er empfand sich wirklich als äußerst attraktiv und sexy. Die Hüften waren rund, der Busen war voll, das Haar gülden. Er konnte es mit der zweiten Nase sehr gut riechen. Es duftete nach Sommer und Minze. »Wie kommen wir denn von hier aus am schnellsten zur Burg?«, erkundigte sich Lutherion. »Das ist einfach. Ein großer, breiter Weg führt von hier zur Burg. Den solltet ihr auf jeden Fall nehmen. Geht nicht durch den Wald. Es gibt dort Kobolde, die alles fressen, was sie zu fassen bekommen«, erklärte Pamela Kathedra freundlich. Max Merkur warf Lutherion einen verärgerten Blick zu, als er hörte, dass es einen einfachen und sicheren Weg gab.
Die beiden verließen die Hexe. Ohne weiter zu zögern, machten sie sich auf den Weg. Max Merkur ging mit dem neuen, weiblichen Körper noch etwas unsicher, denn er musste sich an die etwas andere Gewichtsverteilung erst gewöhnen. Nach einem sechsstündigen Fußmarsch sahen sie am Ende des Weges die Burg. Die Zugbrücke war heruntergelassen. Einige Wachen versahen davor Dienst, und eine Gruppe von Leuten, die Max Merkur für Frauen hielt, betrat die Burg. »Ich muss hier bleiben, ich kann es nicht riskieren, als Teufel erkannt zu werden. Ich warte hier am Waldrand auf dich. Du musst versuchen, zu Thomas von Aquin vorzudringen. Denk daran, in weniger als zwei Stunden verliert der Trank seine Wirkung.« »Ich werde mein Bestes tun«, sagte Max Merkur, der sich nicht im Mindesten an die neue, hohe Stimme gewöhnt hatte. »Noch etwas: Wenn du in Gefahr bist, benutz das.« Lutherion hielt in der einen Hand ein Feuerzeug, in der anderen eine runde, schwarz-braune Kugel mit einer Art Lunte daran. »Was ist das?« »Eine Pferdedungkugel. Wir Teufel verwenden sie gerne, wenn uns die Argumente ausgehen. Du musst nur die Lunte mit dem Feuerzeug anstecken und dann bis drei zählen. Anschließend musst du die brennende Pferdedungkugel werfen. Du solltest sie mindestens sechs Meter weit schleudern. Ach, und vergiss nicht, dich danach in den Dreck zu werfen, ja?« Max Merkur nahm das Feuerzeug und die klebrige Pferdedungkugel entgegen. Sie roch übel. »Wohin damit?« »Versteck sie im Nacken unter den Haaren. Sie klebt gut.« Vorsichtig lüftete Lutherion die blonden Haare von Max Merkur und klebte ihm die Pferdedungkugel an, während der das Feuerzeug in seinem Ausschnitt verschwinden ließ.
Max Merkur wusste nicht, was schlimmer war: das Gefühl der weichen, cremigen Pferdedungkugel in seinem Nacken oder die Tatsache, dass er ihre fauligen Ausdünstungen mit seiner zweiten Nase bestens riechen konnte. »Also, viel Spaß«, lachte Lutherion und gab Max Merkur einen Klaps auf den Po. Mit dem Ausruf »Chauvinist!« machte sich Max Merkur auf den Weg. Am Tor der Burg standen bereits einige Mädchen. Zwei Wachen begutachteten alle sehr genau, bevor sie hineingelassen wurden. »Halt!«, rief ein Wachmann, als Max Merkur hinein wollte. »Name und Herkunft?« »Roswitha aus dem Burgenland«, log Max Merkur. »Irgendwelche Waffen, Morgensterne, Hellebarden oder Dolche?« »Nein.« Die Pferdedungkugel verströmte ihren beißenden Duft. »Und was mieft da so?« »Mein Parfüm.« Der Wachmann musterte Max Merkur. Schließlich befahl er: »Passieren!« Max Merkur betrat den Burghof, auf dem sich bereits über zwanzig Mädchen versammelt hatten. Alle trugen auffällig tief ausgeschnittene Kleider. Die Stoffe der Gewänder verrieten allerdings, dass die Frauen aus keinen wohlhabenden Häusern stammten. Mädchen und Frauen jeden Alters waren darunter, einige davon sehr schön anzusehen. Max Merkur gesellte sich zu ihnen. Während er wartete, kamen immer mehr Frauen an, sodass er zuletzt fast dreißig Konkurrentinnen hatte. Plötzlich wurde die Tür geöffnet, und ein Mann in Rüstung erschien. Er war groß, fast zwei Meter, kräftig gebaut, mit
dichtem Vollbart. Eine Spur von Grausamkeit lag in seinen braunen Augen. »Ruhe, ihr Weiber! Schlampen und Lumpenpack!«, schrie er mit rauer Stimme, woraufhin alle sofort verstummten. »Ich bin Rinoldo von Aquin.« Nach einer Pause, in der er sich nach allen Seiten umblickte, fuhr er fort: »Wie ihr alle wisst, ist mein Bruder Thomas vom Teufel besessen, der ihm eingeflüstert hat, ein Philosoph zu werden. Diejenige, die ich unter euch auswähle, soll meinen Bruder mit ihren weiblichen Reizen wieder ins wahre Leben führen. Wenn ihr das gelingt, bekommt sie zweihundert Goldstücke.« Wieder schaute er sich bedeutsam um. Alle Frauen warfen sich in Pose, streckten die Brust heraus und vollführten laszive Gesten. Max Merkur aber wusste, dass er an Schönheit alle überragte. Fast eine Minute dauerte das Schauspiel. Max Merkur versuchte, natürlich zu wirken und reizend zu lächeln. Er lief etwas hin und her, um sich zu präsentieren. Eine Frau hüpfte auf und ab und reckte den Arm, eine andere tanzte aufreizend und eine dritte tat so, als ob sie vom Boden etwas aufheben wollte. Max Merkur spielte ein wenig mit den blonden Haaren und probierte einen animalischwilden Augenaufschlag. »Du!«, rief Rinoldo. »Ja du, das Blondchen mit dem dümmlichen Gesichtsausdruck – dich nehmen wir.« Max Merkurs Herz schlug schneller. Rinoldo hatte tatsächlich ihn ausgewählt. Er war die Schönste, die Attraktivste, die Weiblichste. Es war ein befriedigendes Gefühl. Er ging zu Rinoldo, begleitet von dutzenden giftigen Blicken und leisem Gezische der anderen Mädchen. »Wie heißt du?«, wollte Rinoldo wissen. »Roswitha aus dem Burgenland«, antwortete Max Merkur und fügte ein »Servus!« hinzu.
Rinoldo musterte ihn noch einmal finster, dann forderte er Max Merkur auf: »Komm mit.« Er führte ihn in den östlichen Turm, den Max Merkur für den dunkelsten und schrecklichsten der vier Türme hielt. Er schloss eine schwere Eisentür auf und lief mit ihm einen engen Gang entlang, der zu einer schmalen Wendeltreppe führte. Alles war aus Stein, kalt und leer. Ihr Weg endete an einer verschlossenen Tür aus dickem, braunem Holz und mit einem kleinen Gitterfenster daran. Zwei schwer bewaffnete Wachen standen davor. »Wachen, verlasst uns!«, befahl er herrisch, und die Männer entfernten sich. Dann zog er einen enormen Schlüsselbund hervor und steckte einen Schlüssel in das Schloss. »Ich hoffe, du machst deine Sache gut. Solltest du versagen, breche ich dir persönlich Arme und Beine, verstanden?« »Ja, Herr«, sagte Max Merkur. »Ich warte vor der Türe. Du klopfst drei Mal, wenn alles erledigt ist!« »Ja, Herr.« Rinoldo drehte den Schlüssel herum und öffnete die Tür. »Viel Spaß«, rief Rinoldo und klopfte Max Merkur auf den Hintern. »Chauvinist.« Max Merkur betrat die Zelle. Rinoldo schloss hinter ihm ab. Die Zelle war leer. Die Wände waren feucht und schimmlig, und es gab nur ein winziges, vergittertes Fenster. Zwei kleine Lampen spendeten etwas Licht und tauchten die Zelle in ein Halbdunkel. Auf dem Boden lag ein wenig dreckiges Stroh. Lediglich eine Holzpritsche mit einer grauen Decke sorgte für etwas Abwechslung. »Guten Tag«, erklang plötzlich eine Stimme. Max Merkur drehte sich um. Im Schatten stand ein Mann in einer einfachen
Kutte, aber von enormer Leibesfülle. Er wog bestimmt an die anderthalb Zentner. »Meine Name ist Thomas, Thomas von Aquin«, stellte sich der dicke Mann mit weicher Stimme vor. »Ich bin Roswitha aus dem Burgenland. Mein Gott, seid Ihr…« »… fett«, lachte Thomas von Aquin. »Ja, das stimmt, deswegen hat mich mein Lehrer Albertus Magnus auch den stummen Ochsen genannt. Ich war ein sehr ruhiger Student und schon damals ziemlich leibesfüllig.« Er machte eine kleine Pause, dann fuhr er fort: »Einmal haben mich zwei Studenten aus dem Fenster des zweiten Stockes geworfen, und ich landete auf einem Misthaufen darunter. Albertus Magnus hat nur gerufen: ›Schaut mal, ein fliegender Ochse!‹« »Hauptsache, man fühlt sich wohl in seinen Körper-… äh… massen.« Thomas von Aquin musterte Max Merkur von oben bis unten. »Ihr seid wohl geschickt worden, um mir das weltliche Leben schmackhaft zu machen. Spart Euch Eure Hexenkünste auf, ich werde niemals der Philosophie abschwören«, rief Thomas von Aquin energisch. »Das finde ich total okay«, kommentierte Max Merkur. »Was?« »Ich finde, Ihr solltet bei der Philosophie bleiben.« »Wollt Ihr denn nicht wenigstens versuchen, mich zu verführen?« »Nein.« »Ein bisschen Bein vielleicht?« »Ach, nö.« »Hmmm… Was wollt Ihr dann hier?« »Ein wenig über Philosophie und die Welt plaudern. Vielleicht erörtern wir die Frage, was der Sinn des Lebens ist
oder so.« Max Merkur wollte direkt zur Sache kommen. Er wusste nicht, wann der Trank seine Wirkung verlieren würde. Viel Zeit blieb bestimmt nicht mehr. Außerdem war ihm unklar, wie er aus dem Schloss wieder rauskommen sollte, ohne dass ihm Rinoldo beide Beine brach. »Oh, Ihr interessiert Euch für meine Philosophie, schöne Dame«, lachte Thomas von Aquin. »Wisst Ihr denn auch, worum es dabei geht?« »Ja, weiß ich«, lächelte Max Merkur zuckersüß. »Ihr wollt den Glauben auf die Vernunft stützen. Ihr glaubt, es gibt für religiöse Überzeugungen stichhaltige Argumente. Ja, Ihr vertretet sogar die Auffassung, dass man einen Gottesbeweis führen kann, einen Beweis für die Existenz Gottes, stelle sich das mal einer vor!« »So, und wisst Ihr denn auch, wie der Gottesbeweis lautet?« »Ja, das auch… Darüber wurde während meines Studiums viel diskutiert… Oder besser: Darüber wird viel diskutiert werden… Oder ich weiß nicht, was ich meine.« Max Merkur war über ein Zeitparadoxon gestolpert. »Nun, wie lautet der Gottesbeweis?« »Ganz einfach: Ihr sagt Folgendes: Gott ist vollkommen. Zu existieren ist vollkommener, als nicht zu existieren. Gott ist das vollkommenste Wesen (laut Definition). Also geht daraus hervor, dass Gott existiert. Habe ich das richtig wiedergegeben?« »Weiß nicht«, sagte Thomas von Aquin. »Das höre ich zum ersten Mal. Habt Ihr Euch das ausgedacht? Ist ja außerordentlich interessant.« »Oh.« Max Merkur war in einem wirklichen Zeitparadox gefangen. Thomas von Aquin dachte laut nach: »Ja, das ist gut, aus der Vollkommenheit ergibt sich die Existenz, das ist sehr gut, das gefällt mir.«
Max Merkur wusste nicht, was er sagen sollte. »Danke sehr, schöne Frau. Kann ich sonst noch etwas für Euch tun?« Max Merkur überlegte, wie er das Zeitparadoxon rückgängig machen könnte. Er beschloss, einfach so weiterzumachen, als ob nichts geschehen wäre. Warum die Pferde scheu machen, solange niemand danach fragte?
Tatsächlich hatte Max Merkur den Lauf der Zeit geändert. Dank seiner geringfügigen Einmischung veränderte Thomas von Aquin später ein einziges Wort bei der Niederschrift seines Gottesbeweises. Das führte 700 Jahre später dazu, dass der Philosophiestudent Joachim Grögelmaier eine Zehntelsekunde länger brauchte, um den Gottesbeweis Thomas von Aquins im Lesesaal der Universitätsbibliothek durchzulesen. So rannte er auf dem Gang nicht in Claudia Dotterer, die infolgedessen nicht seine Frau wurde, sondern einfach an ihm vorbeiging. Das wiederum bedeutete, dass Walter Grögelmaier aus Plochingen am Neckar nicht geboren wurde. Was eigentlich gar nicht so schade war, weil sich Walter Grögelmaier sowieso nur für Autos und Computer interessierte und selten ausging.
»Thomas, was ist Eurer Meinung nach der Sinn des Lebens?« Max Merkur versuchte, ein verführerisches Lächeln aufzusetzen. Thomas von Aquin holte Luft und wollte offensichtlich zu einem Vortrag ansetzen. Deswegen rief Max Merkur dazwischen. »In einem Satz, damit man es notfalls als SMS… äh… in sein Stammbuch schreiben kann.«
»Der Sinn des Lebens in einem Satz… Hmmm… Ja, vielleicht so…« Max Merkur wartete gespannt. »Der Sinn des Lebens ist…« – Thomas legte eine theatralische Pause ein – »… den Sinn frei zu machen für Gott.« Max Merkur dachte eine Sekunde lang darüber nach. »Ah, das Wort ›Sinn‹ ist ein Wortspiel: Sinn gleich Bewusstsein… Aha… Na ja.« »Was gibt’s da zu meckern?«, murrte Thomas von Aquin. »Klingt ein bisschen nach: ›Der Sinn des Lebens ist es, nach dem Sinn des Lebens zu suchen‹.« »Habt Ihr ein Problem damit?« »Ich finde, die Logik läuft im Kreis«, gestand Max Merkur, der alles mit Hilfe seiner Vernunft prüfen wollte. »Ach was, Ihr übertreibt. Der Sinn des Lebens ist, seinen Sinn frei zu haben für Gott, basta.« Thomas von Aquin schien einen Moment lang beleidigt. Dann fügte er hinzu: »Ist das eigentlich Eure riesige, schwarze Spinne, die dort in der Ecke sitzt?« Max Merkur drehte sich um. Im Schatten kauerte eine schwarze Spinne mit einem weißen Kreuz auf dem Rücken. Das weiße Kreuz war deswegen so gut zu erkennen, weil die Spinne hüfthoch war und ihr riesiger Körper in ungefähr einem Meter Höhe über dem Boden schwebte. Sie lauerte offensichtlich darauf anzugreifen. Max Merkur wich ein Schritt zurück und stammelte: »Eine riesige, schwarze Spinne!« »Das sagte ich bereits«, fügte Thomas von Aquin hinzu. »Wie kommt die hier rein?«, rief Max Merkur verzweifelt. »Hmmm, ich habe eine Idee… Vielleicht ist es nicht nur irgendeine Menschen fressende Spinne, sondern eine vollkommene Menschen fressende Spinne. Und da eine
gedachte Menschen fressende Spinne weniger vollkommen als eine wirkliche Menschen fressende Spinne ist, muss sie existieren. Und schau, da steht sie schon!« Thomas von Aquin schien sehr zufrieden mit seiner Logik zu sein und wich zurück. Die Spinne begann, sich zu bewegen, erst unmerklich, dann aber immer deutlicher. Die Beine dehnten und streckten sich, sie glitt wie auf Luft getragen nach vorne, ihre Klauen waren gebogen und tödlich. Tatsächlich, dachte Max Merkur, die perfekte Menschen fressende Spinne. Thomas von Aquin stieg auf die Zellenpritsche, um sich in Sicherheit zu bringen. Mit einem lauten Knall krachte sie unter seinem Gewicht zusammen. Der Philosoph schaute etwas verlegen drein. Der Spinne lief nicht mehr weiter geradeaus auf sie zu, sondern die Wand hinauf an die Decke. Sie kam immer näher und war keine drei Meter mehr entfernt. Das weiße Kreuz auf dem Rücken hob sich deutlich vom schwarzen Körper ab und unterstrich ihre tödlichen Absichten. »Was können wir tun?«, fragte der dicke Philosoph. »Es gibt immer eine Möglichkeit«, erwiderte Max Merkur und griff sich in den Ausschnitt seines Kleides. »Na ja, ich weiß nicht, ob das der rechte Moment ist…« Max Merkur zog das Feuerzeug zwischen seinen Brüsten heraus, dann griff er hinter sich und holte die Pferdedungkugel hervor. Sie war so klebrig und stinkig wie zuvor. »Äh, Roswitha. Ihr wisst, dass Ihr eine Nase habt, wo andere ein Ohr haben? Und das Ding in Eurer Hand… Also, wisst Ihr…« Die Spinne kroch näher. »Das hier ist eine brennende Teufelspferde-Dungsprengkugel – oder so ähnlich. Ihr werdet sehen, sie rettet uns das Leben.« »Wie das?« »Keine Ahnung, aber wir werden es herausfinden.«
Max Merkur steckte die Lunte der Pferdedungkugel mit dem Feuerzeug in Brand. Zwar wusste er, dass Lutherion gesagt hatte, man müsse mindestens sechs Meter Abstand halten, aber es gab keine andere Möglichkeit. »Okay, ich zähle jetzt bis zehn, dann werfe ich die Kugel. Seht Euch vor, Thomas.« Der obere Rand der Kugel fing Feuer. Es war ein grünes Feuer, das unruhig prasselte. Max Merkur fing an zu zählen. Die Spinne rührte sich nicht. »Eins…« »Zwei…« »Drei…« »Vier…« Da fiel ihm plötzlich etwas ein, das er ganz vergessen hatte. Hatte Lutherion eigentlich gesagt, er solle bis zehn zählen oder nur bis drei? WUMMMMMMMMMM!!!!! Die brennende Pferdedungkugel explodierte in Max Merkurs Hand. Der Krach war ohrenbetäubend. Grüner Rauch erfüllte die Zelle. Er dampfte aus dem kleinen Fenster. Die Verheerung war unbeschreiblich.
Die Ereignisse, die sich nach der Explosion abspielten, rekonstruierte später ein Team von Teufelsbeamten. Man muss zuerst wissen, dass die Verwendung von brennenden Pferdedungkugeln außerhalb der Hölle und deren Anrainergebieten einer strengen Kontrolle unterlag. Die Pläne zum Bau einer Pferdedungkugel galten nämlich als streng geheim und sollten auf keinen Fall in die Hände der Engel fallen. Der Pferdedung war nur eine Tarnung für einen ausgeklügelten Mechanismus, der sich im Inneren der Kugel
befand. Die Aufgabe des Mechanismus bestand darin, die in der Kugel befindlichen Zutaten im rechten Augenblick zu mischen: Hauptsächlich handelte es sich dabei um Mazedonisches Teufelssprengpulver, Schokostücke und eine Prise Vanille. Offen gestanden machte das Mazedonische Teufelssprengpulver 99,99 Prozent aus. Hier also die Rekonstruktion der Vorgänge durch das Teuflische Amt für Detonation (TAD), Unterabteilung Dung- und Guanobomben.
Protokoll über die ungeklärten Vorgänge am 25. April 1248 um 22:12 Uhr, ausgestellt von Dr. Fuchsar IX. Abteilung Dung- und Guanobomben: 1) Ungenehmigte Zündung einer brennenden Pferdedungkugel in der Hand einer ungeschulten Person. Es handelt sich dabei um eine Frau mit Namen Roswitha aus dem Burgenland. Gegen die Täterin wird ermittelt. Sie konnte allerdings flüchten. 2) Rückstoß der Frau und heftige Schleuderung gegen eine Wand. 3) Durch Explosionsdruck Sprengung einer Tür. Begrabung eines Adligen mit Namen Rinoldo darunter. Leichte Kopfverletzung. 4) Durch Explosionsdruck Schleuderung eines dicken Philosophen gegen eine an der Decke sitzende schwarze Spinne unbekannter Gattung. 5) Fall der Spinne auf den Boden. 6) Fall des Philosophen auf die Spinne. 7) Tod der Spinne. 8) Heftige Qualm- und Dampfentwicklung. 9) Ungeklärtes Erscheinen eines Mannes, der als Max Merkur identifiziert wurde.
10) Ungeklärtes Verschwinden der Roswitha aus dem Burgenland. 11) Fluchtartiges Davonspurten des Max Merkur. 12) Letzte Sichtung von Max Merkur am Rande eines Waldes. Dort trifft er gegen 22:19 Uhr eine zwielichtige Gestalt, die bisher noch nicht identifiziert wurde. 13) Ein Zeuge berichtet, dass einer der beiden einen merkwürdigen Gegenstand in der Hand hielt, auf dem er wild herumdrückte. Irgendetwas schien aber nicht zu funktionieren. Die beiden stritten sich. Es ging offenbar um einen Code, der angeblich falsch sei. Der Zusammenhang ist unklar. Der Zeuge berichtet weiter, dass beide plötzlich verschwanden. 14) Weitere Untersuchungen sollten angestellt werden. Die Fahndung nach Roswitha aus dem Burgenland läuft. Gezeichnet Dr. Fuchsar IX. Staatsteufel und Direktor der Abteilung Dung- und Guanobomben
Who let the dogs out?
Die Straße wurde zusammengeknüllt wie ein Blatt Papier und faltete sich anschließend wieder auseinander. Es raschelte dabei auch genauso. Aus einem zwei Meter langen Riss in Kopfhöhe strahlte bläulich schimmerndes Licht auf den Weg (besser gesagt, eine ölige, blau leuchtende Flüssigkeit ergoss sich auf die Straße). Dort bildete sich eine zäh und schmierig aussehende Pfütze. Die Lache aus Licht (oder Flüssigkeit) begann, sich zu drehen wie ein Frisbee… aus dem kleine Beine wuchsen. Derselbe Spalt erzeugte nun mit viel Zischen eine rote zähflüssige Blase, die immer größer wurde, bis sie einem Ballon glich. Das Blau bewegte sich langsam und schwerfällig wie eine Schildkröte. Es wirkte melancholisch und leicht verärgert darüber, so unerwartet den physikalischen Gesetzen gehorchen zu müssen. Es begann, ein Loch zu graben, tief und tiefer, und darin verschwand es. Aus dem Tunnel hörte man ein rätselhaftes: HO-HO-HO. Das Rot dagegen hüpfte wie ein Gummiball einige Male auf und ab, jubelte fröhlich und bog um die Ecke der Straße. Kurze Zeit erklang noch ein jauchzender Gesang. Es hörte sich an, als spielte man auf zehn Zentimeter langen Alphörnern Heavy Metal. Jedoch mit einer gewissen Herzlichkeit und Lebensfreude. Mit einem Floppi spritzte ein spitzes Gelb wie ein Sektkorken aus dem Riss und verschwand irgendwo in der Stratosphäre. Ein Tropfen Licht, ein gelber Blitz, der nach oben ausriss. Schnell, zielbewusst und rein. Was für ein Schauspiel! Aber niemand bevölkerte die dunkle Straße um diese Zeit. Außer zwei Personen: Max Merkur und Lutherion waren eingetroffen…
Sie standen inmitten einer Stadt. Der Mond strahlte hell über ihnen, die Nacht hielt die Welt in ihrer Hand. Niemand hatte sie ankommen gesehen, und der Riss schloss sich wie ein gigantischer Reißverschluss – mit demselben Geräusch übrigens. Max Merkur stöhnte: »Die Zeitsprünge werden immer schlimmer. Ich habe Farben gesehen, für die ich keinen Namen habe.« Er wollte sich aufrichten und schaute an sich hinab, ob er noch Beine besaß. »Und einige andere, die ich gut kannte, scheine ich vergessen zu haben«, fuhr er fort und blickte etwas verlegen drein. »Ihr Menschen seid eben begrenzt. Glaubst du denn, dass Farben an den Dingen kleben? Ist der Himmel wirklich blau und eine Rose rot?«, sagte Lutherion, und sein Schwanz peitschte drei Mal ungeduldig auf das Steinpflaster der Straße. Lutherion war mit seinem schwarzen Gesicht in der Nacht fast nicht zu erkennen, nur seine graue Kapuze hob sich etwas ab. Rasch ließ er das Petrus-Handy unter der Kutte verschwinden. Schließlich half er Max Merkur auf die Beine, der in einer Stellung angekommen war, die der Große YogaMeister Raji Tampon in seinem Standardlehrbuch: »Tausend Yoga-Positionen und wie schmerzhaft sie sind« als KrshnasRüssel-Stülper katalogisierte. Max Merkur bedauerte etwas, dass er mit seinem Kommentar über die Farben eine naturwissenschaftliche Debatte ausgelöst hatte. Trotzdem fühlte er sich kompetent genug zu antworten. Sämtliches, was er noch vom Schulunterricht wusste, führte er ins Feld. Es war nicht gerade viel. »An den Dingen klebt die Farbe wohl nicht. Es hängt vom Auge des Betrachters ab. Es gibt drei Grundfarben, die ich im Auge mische, da gibt es Stäbchen und Zapfen, drei Farben wie bei einem Fernseher… und äh…« Er fühlte sich bereits am
Ende seiner Kenntnisse. Endlich konnte er aber seine Beine wieder spüren – was er sehr bedauerte. »So, so… die bunte Farbenwelt eines Korallenriffs findet bei dir im Auge statt. Deine Zäpfchen feiern mit den Stäbchen wohl eine bunte Party? Und wenn du weißen Schnee siehst, ist gerade Pause, was?« Lutherion grinste höhnisch, und Max Merkur spürte, wie kalt es war. Es roch nach parfümierten Pferden oder nach Fliederleberwurst, was zugegebenermaßen nur eine grobe Annäherung war für: Es stank wirklich, wirklich seltsam. »Nein, die Möglichkeit zur Farbe muss bei den Dingen gegeben sein«, wehrte sich Max Merkur. »Möglichkeit zur Farbe, was heißt das denn?«, hakte Lutherion nach. Schweigen. »Äh, ich weiß es ehrlich gesagt nicht.« »Also pass gut auf, es ist so: Farben sind Lebewesen, kleine Lebewesen. Sie wohnen in allen Dingen und hausen im Mukrokosmos«, fuhr Lutherion fort, der sich bei diesem Geruch wohl zu fühlen schien. »Du meinst Mikrokosmos«, wagte Max Merkur einzuwenden, während er mit einem melodischen Knacken einige Teile seines Körpers zurechtrückte. Eigentlich hätte er sich gern die Umgebung angeschaut, aber Lutherion ließ sich nicht beirren. »Nein, der Mukrokosmos, sehr ähnlich wie der Mikrokosmos, nur etwas seitlicher gelegen.« Lutherion wartete auf einen Kommentar von Max Merkur, aber der glotzte nur verständnislos, weshalb Lutherion fortfuhr: »Es ist sehr einfach: Kleine Lebewesen, und sie hausen im Mukrokosmos, der seitlich von deiner bekannten Welt verläuft. Sie verleihen der Welt ihre Farbe. Es gibt insgesamt fünf Völker: Die Roten, die Blauen, die Gelben, die Volvanen und die Zynkoletten.«
Gerade wollte Max Merkur etwas sagen, da nahm ihn Lutherion am Arm und schob ihn zielsicher von der Straße hinter einige Fässer. Es war eine lange gerade Straße. Der Geruch nach verderbendem Fleisch verstärkte sich. »Die Volvanen gerieten kurz nach der Schöpfung mit den Blauen in Streit darüber, welche Farbe der Himmel haben sollte. Die Volvanen schlossen ein Bündnis mit den kriegerischen Zynkoletten. Sie wurden aber in der FünfFarben-Schlacht besiegt und hausen seitdem im letzten Winkel des Mukrokosmos, bis der Tag ihrer Rache kommt.«
Tatsächlich handelte es sich beim Mukrokosmos um eine sehr neue Idee der Teufelswissenschaft, die Lutherion in einer Zeitschrift im Vorzimmer des Spitzers gelesen hatte, als er darauf wartete, sich die Hörner anspitzen zu lassen. Die Zeitschrift hieß »Hölle heute«, und ihr wurde gemeinhin nicht der gleiche wissenschaftliche Stellenwert wie dem »Journal of scientific Satanism« und der »Höllischen Rundschau« eingeräumt. Der Mukrokosmos galt eher als ein theoretisch gedachter Raum, der zwischen den vier Dimensionen liegt. Die meisten Teufelswissenschaftler hielten das für Unsinn. Es kursierten allerdings Gerüchte, dass sich bereits einige Teufel bereit machen würden, als Mukronauten den Mukrokosmos zu bereisen. Alles streng geheim natürlich und mit Billigung der Obrigkeit. Die Flugmaschine sei gut in einem Stück Tiramisu versteckt, damit die Engel sie nicht finden könnten. Die historischen Ereignisse um die Fünf-Farben-Schlacht hatte Lutherion durchaus richtig wiedergegeben, wobei allerdings umstritten war, ob die Farben in der Schöpfung gemacht worden oder ob sie erst später zugewandert waren. Ein großer Teil der Teufelsbevölkerung glaubte, dass die Welt am Anfang Schwarz-Weiß gewesen war (und analog). Zur
weiteren Lektüre sei empfohlen: Brakh A. Baal VI: »Schöpfing the Schöpfung – die Urgeschichte fünfer Farben«.
»Warum sind wir ausgerechnet hier gelandet?«, fragte Max Merkur, um ein anderes Thema anzuschneiden, während er die Farbkonturen seiner Hand anstarrte. »Welcher Philosoph könnte sich hier herumtreiben… in… Wo sind wir eigentlich?« »Das ist die Kalverstraat in Amsterdam«, antwortete Lutherion. »Das Fleischerviertel. Und wir suchen Rene Descartes.« Die Häuser, die meisten davon vier bis fünf Stockwerke hoch, standen ohne Zwischenraum nebeneinander. Zahlreiche große, rechteckige Fenster spiegelten das Mondlicht wider. Am Ende einer kleinen Seitenstraße war eine Brücke zu erkennen, die sich über einen Kanal spannte. Vor den meisten Häusern waren Pfosten und Balken aufgestellt, an denen Fleisch hing: Rinder- und Schweinehälften, ganze Hühner, Fasane und einiges mehr, was in den nächtlichen Schatten versteckt war. Die Symbole auf den Schildern verrieten, dass es sich um Metzgereien und Schlachtereien handelte, die tagsüber ihre Ware feilboten. Max Merkur strich über eine baumelnde Schweinehälfte und gab ihr einen Schubs. »Vielleicht philosophiert er hier über Leben und Tod, über Fressen und Gefressenwerden.« Es krachte und knarrte am Ende der Straße. Die Dunkelheit verriet zunächst nicht, was sich näherte. Die Zwei duckten sich hinter große, schwere Fässer und starrten gebannt die Straße hinab. Ein kleiner Karren wurde mühevoll die Straße entlanggezerrt. Er hatte zwei große Räder und einen langen Griff, an dem ein kleinwüchsiger Mann zog. Genauer gesagt, er zog ihn einen Meter, dann keuchte er, dann fluchte er, dann zog er weiter.
»Diese’ Mist, das nervt mich total, Merde.« Mit diesen Worten näherte sich der Karren. Darauf lag etwas Großes, Fleischiges. Max Merkur konnte erkennen, dass es sich dabei um einen mächtigen toten Ochsen handelte. Die Hörner leuchteten weiß wie zwei Halbmonde. Der Schwanz baumelte herab und hinterließ auf dem dreckigen Boden eine Schleifspur. »Ich glaube, dort liegt ein toter Ochse«, flüsterte Max Merkur, weil er schon immer gegen Konversationspausen war. Lutherion schaute ihn freundlich an: »Ist das so? Ich dachte, der Ochse hätte nur eine Rikscha genommen.« Plötzlich schien Max Merkur eine Konversationspause etwas sehr Erstrebenswertes zu sein. Das Männchen fluchte wieder: »Zut! Merde! Puant! Das ist wirklich se’r schwer!« Mit einem Ruck bewegte sich der Karren, nur um zwei Meter weiter wieder stecken zu bleiben. Endgültig am Ende seiner Kräfte ließ der Knilch die Deichsel, an der er gezogen hatte, in den Dreck fallen. PLUMPS! Der Mond schien ihm ins müde Gesicht. Eine schwarzhaarige Gestalt hatte den Wagen gezogen. Die Haare waren so schwarz, dass man meinen konnte, im Mukrokosmos wären alle Bewohner ausgestorben. (In Wirklichkeit war das lächerlich, denn eigentlich spielten einige Farbvölkergruppen nur zwischen den Haaren verstecken.) Seine Kleidung war schlicht, aber alles andere als ärmlich. Insgesamt wirkte der Mann, so wie er den riesigen Ochsen umkreiste, wie ein Zwerg, der gegen einen Hünen anzukämpfen versuchte. Mit einem Satz sprang Lutherion aus dem Versteck: »Monsieur Descartes?«, sagte er höflich und verbeugte sich. Descartes trat einen Schritt zurück: »O la la, o la la«, rief er bestürzt und zog mit erstaunlicher Schnelligkeit seinen Degen.
Er hatte einen dünnen Schnauzbart, der ihn traurig wirken ließ, der aber gut zu seinem faltigen Gesicht passte. Die Augenbrauen schienen mit einem dicken, schwarzen Filzstift gemalt worden zu sein. Seine Haare waren gewissenhaft onduliert, doch der riesige weiße Kragen und seine kleine Gestalt ließen es aussehen, als hätte man ein achtjähriges Kind in einen dunklen Herrenanzug gesteckt. Max Merkur dachte: Seltsam, dass so kurze Beine bis zum Boden reichen. Allerdings schien ihm dieser Gedanke wenig sinnvoll zu sein. Auch er löste sich jetzt aus dem Schatten. (Vielleicht trat auch nur der Schatten freundlicherweise einen Schritt zurück.) »Wer seit i’r und wo’er kennt i’r mon nom, ä’, meine’ Name’?«, fragte Descartes mit deutlichem Misstrauen in der Stimme. Dabei vollführte er einen Schritt zur Seite, als ob er mit seinem kleinen Körper versuchen wollte, den riesigen Ochsen dahinter zu verstecken. Lutherion blieb ungerührt: »Wir sind Schüler der Philosophie und wollten den großen Philosophen Descartes treffen. Man sagte uns, Ihr wärt des Nachts öfters hier unterwegs.« Descartes biss sich argwöhnisch auf die Unterlippe, woraufhin Lutherion hinzufügte: »Alle sagen, Ihr seid ein kluger Kopf. Wir wollen von Euch lernen.« »Es ist nicht genug zu ‘aben eine’ kluge’ Kopf, man muss i’n auch richtig gebrauchen können«, lächelte Descartes kritisch. »Aber die ‘errgott ‘at die Verstand scheinbar gerecht verteilt, alle glauben, genug davon zu ‘aben.« »Dürfen wir behilflich sein?« Lutherion deutete auf den Ochsen. Descartes ließ sich sichtlich nicht gern mit Fremden ein. Doch da er einsehen musste, dass er den Ochsen unmöglich allein weiter transportieren konnte, nickte er zustimmend.
Lutherion ergriff mit einer Hand die Deichsel und zog den Karren zu sich, als hätte er überhaupt kein Gewicht. »I’r seit aber eine kräftige’ Bursch’«, stellte Descartes bewundernd fest. »Was wollt Ihr denn mit dem Ochsen?«, traute sich nun Max Merkur zu fragen – und da eine Pause entstand, fügte er hinzu: »Wahrscheinlich essen?« »Alles, was wa’rscheinlich ist, ist wa’rscheinlich falsch, junge’ Bursch’«, belehrte ihn der Philosoph. »Ich will i’n zu ‘ause sezieren, um zu gucken, wie aussie’t die Ochs’ von innen.« Max Merkur machte eine Bewegung, so als ob er etwas sagen wollte. »Ich kauf ‘ier oft tote Tier’. Das ‘ier ist die Metzgereiviertel. Dann mach’ ich schnippi-schnappi und studier’ die Anatomie von die Tier.« Mit dem Degen zeichnete Descartes ein Zickzackmuster in die Luft. »Wie seltsam«, murmelte Max Merkur. »Non, non, non… die Mensch und die Tier sind nur eine Maschin’… nicht me’r, das will ich beweisen.« Dabei klopfte Descartes dem Ochsen auf den Kopf. Jetzt erst ließ er seinen Degen wieder in die Scheide gleiten. »Ich wo’ne am Ende von die Straß’.« Die Gruppe setzte sich in Bewegung. Lutherion zog den Karren mühelos hinter sich her. Das Gefährt quietschte unter dem Gewicht des Ochsen. Schweigend erreichten sie ein kleines Häuschen, vor dem ein kleines Lämpchen mit grünlichem Schein flackerte. Das Haus machte einen niederen, unscheinbaren Eindruck. Es wirkte wie ein Mann, der sich wegen einer niedrigen Decke duckte. Aus zwei Fenstern quoll rotes Licht. Max Merkur hatte das Gefühl, einen gigantischen schwarzen Frosch vor sich zu haben.
Descartes schloss mit einem schweren Schlüssel die zwei Flügel der Haustüre auf. Sie öffneten sich mit einem gedehnten Kwaaaaaak. »Wir müssen bringen die Ochs’ in die ‘aus!« Lutherion packte den Ochsen am Schwanz und machte damit einen Teufelknoten. Max Merkur wunderte sich über die seltsamen Handbewegungen und versuchte nachzuvollziehen, wie er geknüpft wird.
Der Teufelknoten sieht aus wie ein Möbiusband und beruht prinzipiell auf den gleichen Grundsätzen wie ein schwarzes Loch. Der Knoten muss so fest zugezogen werden, dass er praktisch in sich kollabiert. Der dabei entstehende Druck muss so hoch sein, dass mindestens ein Seilatom zerspringt und einen mürben Teig aus Protonenmatsch und Elektronensuppe bildet. Es ist unbedingt notwendig, so fest zuzuziehen, bis man ein leichtes »RATSCH!« im Raum-Zeit-Gefüge hört. Und am Ende kommt ein Schleifchen hinzu. Den Teufelknoten kann man bei den Teufeln nur unter Anleitung eines anderen Teufels (die meist lautet: »Verschwinde bloß!«) und in einem sicheren Bunker (weit außerhalb dieses Universums) lernen. Dabei gilt die Relativitätstheorie, die besagt: Es ist eine Frage des Standpunkts, ob du einen Teufelknoten knüpfst und du unbeweglich bleibst – oder ob du geknüpft wirst und das Seil dabei unbeweglich bleibt. Darüber solltest du nachdenken, bevor du überhaupt nur erwägst, einen Teufelknoten zu binden. Niemand kann der Anziehungskraft im Inneren eines solchen Knotens widerstehen, selbst die Teufel nicht. Die dabei freigesetzten Elementarkräfte saugten beispielsweise den mächtigen Teufelsgeneral Raz-Ghul III. in sich ein. Raz-Ghul
III. stand mit seinem satanischen Heer in einer historischen Schlacht gegen das Heer der Engel im Jahre 1.244.423 nach Luzifer kurz vor dem Sieg, als sein Unteroffizier sich die Bemerkung erlaubte: »Entschuldigung, o mächtiger Raz-Ghul, Euer Schuhband ist offen.« An dieser Stelle sei erstens vermerkt, dass der Teufelknoten seinen Namen nicht daher bezieht, wer den Knoten macht, sondern woraus er besteht. Zweitens: Die Schlacht wurde von Teufelshistorikern als Schnürsenkel-Massaker in die Annalen der Teufelsgeschichte aufgenommen. Übrigens kamen aus diesem Grund Krawatten bei den Teufeln nie wirklich in Mode.
RATSCH – Lutherion band, ein fröhliches Lied pfeifend, den Teufelknoten fertig. Als Lutherion ihn anfasste, bemerkte Max Merkur, dass er gleichzeitig dessen Handrücken und Handfläche sehen konnte – und er glaubte, auch den Großen Wagen zu erkennen. (Das alles ist in diesem Universum natürlich logisch unmöglich, aber deswegen hält der Knoten auch so gut.) Mit schier unendlicher Kraft wuchtete Lutherion den massiven Körper vom Wagen. »Wohin wollt Ihr Euren Ochsen?«, erkundigte sich Lutherion, der den Ochsen nun am Schwanz hielt. »In die Wo’nzimmer, auf die Tisch«, befahl Descartes mit leiser Stimme, die sein Erstaunen kaum verriet. Da bewegte sich der Ochse, als ob ihn sein Besitzer an der Leine führte, und Lutherion schleifte ihn durch die große Eingangstür mitten in ein enormes Wohnzimmer. »Wohnzimmer« war ein viel zu charmantes Wort für den hallenartigen Raum. Lutherion legte das Tier auf einen runden Tisch aus glattem Eichenholz. Tatsächlich nutzte er dabei nicht seine eigene Kraft, sondern die Anziehungskräfte des
schwarzen Loches, das beständig versuchte, den massiven Körper (und auch die Erde also solche) in sich aufzusaugen. Descartes schloss rasch die Türen. Der Raum war stickig und roch süßlich nach Eingeweiden. Max Merkur versuchte, den Duft nicht einzuatmen. Instinktiv hielt er die Luft an. Auf einem zweiten, flachen Tisch standen braune Einmachgläser, ebenso auf einem großen, dunklen Regal dahinter. Darin lauerten braune, rote und grüne Flüssigkeiten. Max Merkur konnte ein enormes Buch erkennen, das neben einer zerzausten Feder und einem Tintenfass auf dem Tisch lag. Darin waren zahlreiche Zeichnungen zu sehen. Einige Hocker standen verlassen im Raum. An der Wand hingen viele große Fleischermesser. Als Max Merkur einige Schritte weit im Zimmer stand, bemerkte er etwas Klebriges auf dem Boden. Es war Blut. »Wunderschön habt Ihr es hier!«, rief Lutherion und drehte sich auf der Stelle. »Das ist meine Studierraum, wo ich gucke nach die Anatomie von die Mensch’ und die Tier’«, freute sich Descartes. »Aber ich dachte«, murrte Max Merkur, »Ihr seid ein Philosoph und kein Schlachter… Ich denke, also bin ich, und all das.« »I’r seit ein drollige’ Bursch’: Ich denk’, also bin ich, tut i’r denn wissen, was das meinen tut?« Der Philosoph nahm Max Merkur in Augenschein. Lutherion setzte sich mit einem breiten Grinsen auf einen Hocker. »Erklärt es ihm, Monsieur Descartes, unser junger Freund sucht nach dem Sinn des Lebens!« »Der Sinn des Lebens?… O la la. I’r müsst backen kleinere Baguette. ›Ich denk, also bin ich‹, bedeutet, dass i’r an allem zweifeln könnt, nur nicht, dass i’r denkt, i’r selbst seid sicher.«
Max Merkur, der immer an die Vernunft glaubte, stand vor dem Begründer des neuzeitlichen rationalen Denkens. Seine Philosophie wollte die Grundlagen der Welt neu bauen. Nur, was nicht bezweifelbar war, also nur, was jeden Zweifel ausschloss, sollte als Grundlage der neuen Philosophie gelten. Die Augen können sich täuschen lassen (zum Beispiel bei einer Fata Morgana), daher scheiden Sinneseindrücke aus. Alles, was der Mensch weiß, zum Beispiel, dass 1492 Amerika entdeckt wurde, beinhaltet die Möglichkeit des Irrtums, da man ihn darüber belogen haben könnte. Selbst, dass zwei und zwei gleich vier ist, ist nicht sicher. Wer weiß, vielleicht hat man sich beliebig oft verrechnet. Max Merkur erinnerte sich noch gut an die Diskussionen über Descartes während seines Studiums. Was, wenn der Mensch ein Gehirn wäre, das in einem Labor in einem Glas schwimmt, gar nicht so unähnlich denen, die im Regal von Descartes im Raum standen? So könnte man dem Gehirn alles vorspiegeln. Ein paar Schläuche, ein paar Kabel, und schon glaubt das Gehirn, es wäre in Acapulco und tanze mit einer Blondine einen feurigen Salsa. Über was also konnte ein solches Gehirn nicht getäuscht werden? Nun, dass es ist und denkt. »Ich denke, also bin ich« bedeutet, einen Punkt gefunden zu haben, der nicht angezweifelt werden kann. Danach argumentierte Descartes, dass sich das Ich offensichtlich nicht selbst erschaffen hatte. (Und wenn es sich doch selbst erschaffen hätte, wäre das höchst unappetitlich.) Es muss einen Schöpfer geben, einen Gott. Wenn es aber Gott gibt, muss er auch gut sein, sonst wäre er nicht Gott, sondern vielleicht ein Versicherungsagent (der Gehirne in Gläsern versichert, aber nicht erschafft). Wenn es also einen Gott gibt und er gut ist, heißt das auch, dass er den Menschen nicht täuscht. (Ein Späßchen zwischendurch wie die Erschaffung des Schnabeltiers zählt nicht.) Folglich ist die Welt um den
Menschen keine Täuschung. Descartes’ Logik beginnt mit der Behauptung: »Ich denke, also bin ich«. Eine Behauptung, die absolut unbezweifelbar ist. Descartes Philosophie endet in der Neuerrichtung der Welt auf der (vermeintlich) sicheren Grundlage, dem Ich.
»Am Ich könnt i’r nicht zweifeln«, führte Descartes noch einmal aus. Max Merkur hatte eine Frage, die ihm schon von jeher auf der Zunge brannte: »Und warum kann ich das nicht?« »Weil zweifeln bedeuten tut, dass man am Ich zweifeln tut. I’r könnt an alle Ding’ zweifeln, aber nicht an Eure’ Person, I’r seid, I’r existiert, verste’t I’r?« »Hmmm«, summte Max Merkur, was dazu führte, dass Descartes eine Augenbraue hob. »Aber ist das nicht das Gleiche, wie zu sagen: Ich kaufe ein, also bin ich?« »Pourquoi… ä’, warum?« »Wenn ich sage, ich kaufe ein, dann bin ja ich es, der einkauft. Es wäre seltsam, wenn eine andere Person einkauft. Geht nicht aus der Tatsache, dass ich einkaufe, hervor, dass ich existiere?«, fragte Max Merkur. »Zumindest würde meine Kreditkartenfirma darauf bestehen.« »Natürlich, aber I’r könntet euch irren und gar nicht einkaufen, sondern eine Bad ne’men!«, entgegnete Descartes. Max Merkur biss sich kritisch auf die Lippen: »Na gut, aber ich könnte auch bei ›Ich denke, also bin ich‹ sagen, dass ich gar nicht denke, sondern mir nur einbilde zu denken. Denken ist eine aktive Tätigkeit, vielleicht bin ich ja ein Comput… äh, eine Maschine, die denken kann.« »I’r meint wie eine Pupp’, an deren Drähte man zie’t. Eine Pupp’ könnte glauben, dass sie laufen tut, aber sie wird gelaufen.«
»Ja, das meine ich. Und was heißt ›Denken‹ überhaupt?« Max Merkur wurde mutiger. Endlich hörte sich jemand seine Einwände an. »Na, Denken ist eine Vorgang, bei die man die Idee ‘at.« »Aha«, triumphierte Max Merkur, »ein Vorgang, etwas Mechanisches also. Ich dachte, ein Ich denkt – so habt Ihr es behauptet.« »Oui, oui«, räumte Descartes ein. »Ich kann mich also darüber täuschen, was Denken ist. Vielleicht denke ich ja gar nicht, sondern nehme ein Bad, während etwas anderes denkt?« »‘m.« »Ist nicht das Bewusstsein, da zu sein und zu existieren, ein Gefühl und kein Gedanke? Ich könnte den Satz ›Ich denke, also bin ich‹ auf ein Blatt Papier schreiben. Existiert das Papier? Ich könnte aber mein Daseinsgefühl nicht auf Papier festhalten.« »‘mmm.« Max Merkur fasste dies als Zustimmung auf, obwohl der kleinwüchsige Philosoph ihn mit finsteren Augen nachdenklich musterte. Lutherion begann zu applaudieren, während Descartes in Gedanken versunken dastand. »Ein Meisterstück progressiver Logomanie!«, lächelte Lutherion. »Aber du hast den Faden verloren und Monsieur Descartes nicht nach dem Sinn des Lebens gefragt.« »Habe ich nicht?« »Nein, hast du nicht.« »Was ist denn der Sinn des Lebens, Monsieur Descartes?« Max Merkur hatte die Frage in den Raum gestellt. Sie war so gewichtig, dass der Ochse daneben klein und unbedeutend erschien.
Ärgerlich darüber, in seinem Gedankenstrom unterbrochen worden zu sein, antwortete Descartes: »Ich denke, zu leben gut und zu sein gesund… Nervt mich nicht mit solch’ banal’ Question… ä’, Frag’.« »Das ist also der Sinn der Lebens, Eurer Meinung nach«, lachte Lutherion. Auch Max Merkur wirkte kritisch. »Darüber ich selten denke, den Sinn des Lebens kennt nur die ‘errgott, aber ich vermut’, dass ich trotzdem ‘abe Recht«, fügte Descartes hinzu, dann murmelte er: »Ich vermut’, also bin ich oder warum sage ich nicht einfach: ich existier’… Wer sagt ›Non‹, der bekommt eine Auge blau ge’auen! Denn damit eine Auge ge’auen ist blau, muss man existieren oder man muss ‘aben eine gute Rechte…« »Ein bisschen enttäuschend ist der schon. Bist du sicher, dass dies der größte Philosoph der Neuzeit ist?«, unkte Lutherion. »Ja, ich glaube allerdings, er ist jemand, der sich mit den Wurzeln und den Anfängen beschäftigt. Der Sinn des Lebens ist aber ein Ziel.« »Na ja egal, versuchen wir es eben damit.« Lutherion zog das Petrus-Handy hervor und wählte die Nummer. Gespannt stand Max Merkur daneben. Das Freizeichen ertönte. Descartes kauerte nachdenklich neben dem Ochsen. »… tut… tut… tut… Willkommen bei der ArmageddonHotline… Wenn Sie den Weltuntergang auslösen wollen… drücken Sie die ›1‹… Wenn Sie den Weltuntergang verhindern wollen, drücken Sie die ›2‹…« Lutherion drückte die »2«. »… um den Weltuntergang zu verhindern, müssen Sie uns den Sinn des Lebens nennen… Bitte sprechen Sie nach dem Piepton… piep…« Klar und entschieden sprach Lutherion: »Der Sinn des Lebens ist: gut zu leben und gesund zu sein.« PIEP!
»Tut uns Leid, der genannte Code ist leider falsch. Vielen Dank fürs Mitspielen! Bitte beachten Sie die kommenden Sonderauslosungen.« Klick. Pause. »Das ist auch ziemlich dumm als Sinn des Lebens«, sagte Max Merkur enttäuscht, »da hätten wir auch durchsagen können, der Sinn des Lebens sei, bei Pacman Level 257 zu erreichen.« Lutherion ließ gerade das Handy in seiner Kutte verschwinden, als die Tür aufgesprengt wurde und ein grässliches Ungeheuer davor stand. Es schaute mit rotfeurigen Augen in die Wohnung und erblickte drei Personen… oder besser gesagt, es sah drei Mahlzeiten. Die Mahlzeiten wirkten überrascht. Es ist übrigens interessant zu wissen, dass das Monster die Tür nicht aufgesprengt hatte, sondern dass sein übel riechender Atem die Tür in einer Implosion zerfetzte. Der wütende, riesige Kopf verschlang die Reste der Tür mit einem großen KNARKS. Max Merkur konnte von seiner Position aus erkennen, dass das Monster lange und furchtbare Zähne besaß. Eigentlich interessierte sich Max Merkur nicht für solche Details, denn er reagierte ganz klassisch – mit einem entsetzlichen Schrei der Angst und der Panik. Er klang: »oooooOOOOOOOOH« und irgendwie auch »aaaaaaHHHHHH«. Auch Lutherion wich zwei Schritte zurück. Nur Descartes blieb unbewegt neben dem Ochsen und schien zu überlegen. Das Monster drängte sich durch die Tür in den Raum. »Ein Höllenhund!«, kreischte Lutherion. »Also, das ist wirklich nicht der Moment, um Beleidigungen auszustoßen«, gab Max Merkur zurück. Und in einem Augenblick überlegener Geistesgegenwart hechtete er unter die Tischplatte, auf der nach wie vor der Ochse lag. Lutherion
hatte die gleiche Idee gehabt. Die beiden stießen mit den Köpfen zusammen. »Aaaahh… zum Teufel«, fluchte Max Merkur und rieb sich den Kopf. »Aaaahh… zu mir«, knurrte Lutherion. Descartes schien das Monster nur beiläufig zu bemerken, das seinen fetten, ungefähr drei Meter hohen Körper inzwischen ins Zimmer gedrängt hatte. »‘mmm, eine Monster… Gut, gut… eine’ kleine’ Moment bitte«, murmelte er und lief geistesabwesend um den Ochsen herum. Sein kleiner Körper verschwand dahinter. Ein gigantischer Hund, eine Art Bulldogge so hoch wie die Decke, stand im Zimmer. Das glänzende Fell war so schwarz, dass es dem Betrachter das Gefühl einer furchtbaren Blindheit vermittelte. Eine Dunkelheit umhüllte es, die kein Mangel an Licht war, sondern der Farbton des Nichts. Das Monster besaß rote Augen, in denen ein unendlicher Lavastrom zu fließen schien, der sich in einem schrecklichen Augenblick im Inneren seiner Pupillen auflöste. Die gelben, langen Zähne bewegten sich wie Schwerter hin und her, als es mit dem Kopf wackelte. In seinem Rachen konnte Max Merkur dumpfes Feuer lodern sehen. Es stand im Raum und betrachtete die Mahlzeiten unter der Tischplatte. »Ein Höllenhund«, wiederholte Lutherion mit Nachdruck. »Das ist nicht gut, oder?«, wollte Max Merkur wissen. »Nein… ich denke, das ist alles andere als gut.« »Ist er uns feindlich gesinnt? Na ja, ein Höllenhund, und du bist ein Teufel, daraus müsste sich doch was machen lassen«, argumentierte Max Merkur emsig. »Ja, ein leckeres Fresschen.« Lutherion veränderte seine Position unter der Tischplatte, offensichtlich mit dem Hintergedanken, nicht als Erster gefressen zu werden. »Ein Höllenhund gehorcht nur sich selbst…«
Der Höllenhund öffnete das Maul und brüllte. Das Geräusch schwoll wie ein sich nähernder Güterzug an, gewaltig, mächtig, entsetzlich. Es klang, als ob Hunderttausende einen jämmerlichen Todesschrei ausstießen. Gläser zersprangen in den Regalen, und zähe Flüssigkeiten tropften zu Boden. Das Buch, in das Descartes seine Beobachtungen geschrieben hatte, fing mit einem Schlag Feuer, und blaue Flammen verschlangen es. Max Merkur, der stets an die Vernunft geglaubt hatte, versuchte nachzudenken. Es fiel ihm nichts ein. Lutherion hielt dessen nachdenkliches Gesicht für eine Miene des Entsetzens (womit er nicht falsch lag) und erklärte in leisem, belehrenden Tonfall: »Landläufig glaubt man ja, ein Höllenhund bewache den Eingang der Hölle. Tatsächlich sorgen sie zwar dafür, dass niemand hineinkommt, aber auch, dass keiner hinauskommt. Sie sind die ewigen Wächter der Tore der Hölle… und wirklich, wirklich gefährlich.« »Kann ich mir nicht vorstellen…«, entgegnete Max Merkur, als ein glühender Speicheltropfen aus dem Maul des Hundes troff. »Doch, wirklich. Du glaubst nicht, was wir für Mühe hatten, das Schild ›Warnung vor dem Hund‹ anzubringen. Aber mit so einem Köter vor der Tür kommt auch kein Postbote mehr vorbei… Deswegen bekommen wir Teufel auch selten Post.« Seine Stimme klang melancholisch. Mit enormer Wucht rannte der Höllenhund gegen den Tisch, unter dem die beiden kauerten. Lutherion hielt sich an Descartes’ Beinen fest, der hinter dem Ochsenkörper verborgen am anderen Ende des Tisches stand. Es rumpelte, als ob ein monströser Hammer auf einen Amboss eindrosch. Es knackte, knarrte und ächzte, aber der Tisch war glücklicherweise mit Nägeln und Schrauben am Boden befestigt. Das Monster wich einige Schritte zurück, bis es
bemerkte, dass es keinen Schaden angerichtet hatte. Es war aber hier, um Schaden anzurichten – nachhaltigen, irreparablen, bedeutenden Schaden. Der Höllenhund wurde wütender. »Eigentlich gibt es zwölf Höllenhunde… Der größte und gefährlichste von ihnen heißt Braxas«, erläuterte Lutherion. Und nachdem er unter dem Tisch hervorgeschaut hatte, fügte er hinzu: »Braxas, der dort steht, ist normalerweise mit einer riesigen Kette an der Höllenpforte festgemacht.« Max Merkur packte Descartes am Arm und zog ihn unter den Tisch. »Hier runter, schnell«, zischte er. »Mon Dieu… Mon Dieu… Qu’est-ce que c’est?«, stammelte Descartes. Der wütende Angriff des Höllenhunds hatte ihn aus seiner Nachdenklichkeit gerissen. Er hatte sich widerstandslos unter den Tisch ziehen lassen. »Das ist Braxas«, erklärte Lutherion freundlich. »Darf ich auch eine Frage stellen?« Pause. »Warum sagt Ihr in Eurer Sprache, wenn ihr ›Was ist das?‹ sagen wollt, ›Was ist das, was das ist?‹?« Max Merkur glotzte Lutherion aufgrund dieser merkwürdigen Frage mit offenem Mund an. »Verzei’ung?«, sagte Descartes. »Na, ›qu’est-ce que c’est?‹ heißt doch: ›Was ist das, was das ist?‹.« »Mon Dieu… Was ist das, was das ist?«, schrie Descartes und deutete auf den Höllenhund. Mit einem mächtigen Satz war Braxas wieder gegen den Tisch gedonnert, der in zwei Hälften zerbrach, aber wie eine einstürzende Brücke durch die eigenen Trümmer zusammengehalten wurde. Ein entsetzliches Knirschen und das
Rieseln von Holz waren verlässliche Anzeichen dafür, dass die Drei ihren Schutz unter dem Tisch eingebüßt hatten. Der Ochse wurde gegen die Wand geschleudert. In einem kurzen Kräftemessen zwischen der Wand und dem Ochsen entschied sich, dass es nicht die Wand war, die nachgeben wollte. Stattdessen gab der Ochse nach, der im Übrigen bei weitem nicht der Klügere war. Für den Bruchteil einer Sekunde wurden Fleisch, Knochen und Innereien auf einem sehr engen Raum zusammengequetscht. Die Ochsenatome, die sich auf diese Weise peinlich nahe kamen, grüßten sich freundlich, manche winkten, aber im Grunde hatten sie sich nichts zu sagen. Als die Atome sich wieder trennten, hatte dies einen ungewöhnlichen und selten in Tierfilmen zu sehenden Effekt: Der Ochse prallte wie ein Tennisball von der Wand ab und fiel vor die Füße des Monsters. Der Höllenhund ließ abermals einen markdurchdringenden Schrei aus der Kehle donnern. Dann ein kleines, überraschtes Heulen. Das Monster hatte den Ochsen zum ersten Mal bemerkt. Der Höllenhund schnüffelte an ihm. »Wenn ich sage ›Lauft!‹, dann lauft ihr«, zischte Lutherion. Max Merkur fühlte sich nicht in der Lage zu widersprechen und erfasste vorsorglich schon einmal den Arm des Philosophen. »Eine’ Moment bitte, ich möchte bitte alles genau begründet ‘aben, ich mache nur, was ich genau bekomm’ erklärt«, maulte Descartes. »Außerdem, was ‘eißt laufen? Wo’in? In eine’ Kreis? I’r müsst sein genauer!« »Ihr lauft, wenn ich es sage, ist das klar?«, knurrte Lutherion wenig aggressiver als der Höllenhund, der immer noch seine Nase über den Ochsen gleiten ließ. Krrrrrrraaccccckkk!
Braxas bohrte die Zähne, die lang wie Menschenarme waren, in den Ochsen. Er wirbelte den Kopf nach hinten. Dabei flog der Ochse senkrecht durch den Raum. Für einen kurzen Moment schwebte das tote Tier, wie es bei toten Tieren eigentlich nicht Sitte ist. Ein Unbekannter, der gerade jetzt eingetreten wäre, hätte dies für ein erstaunliches Beispiel buddhistischer Levitation halten können. Der Ochse war am Scheitelpunkt, an dem sich der Wurf in den freien Fall verwandelte. Er sah zufrieden aus. Seine Augen waren geschlossen, als ob er schliefe. Er schwebte zwischen Himmel und Erde. Man hätte eine Frage an ihn richten mögen. Beispielsweise: »O Ochse, was ist der Mensch?« oder »O Ochse, warum sind wir auf Erden?« Dann fing ihn Braxas wieder auf und knackte die Knochen des Tieres mit seinen gewaltigen Kiefern wie Salzstangen. Alles, was den Ochsen zum Ochsen machte, wurde in mundgerechte Stücke zerteilt. Sein feuriger Atem briet das ehemalige Nutzvieh in seinem Rachen. Die malenden Zähne zerfetzten den Rest des Ochsens zu köstlichem Gyros. Dann schluckte Braxas: GULP! Hätte der Höllenhund genauer hingehört, hätte er tief in den Tonfrequenzen des Geräusches GULP! noch etwas anderes wahrgenommen. Man musste allerdings schon genau lauschen, um mitzukriegen, dass in diesem wahrlich mörderischen Schlucken noch etwas anderes versteckt war. Ein kaum wahrnehmbares Wort. Es hieß: »Lauft!« Die Drei spurteten unter dem Tisch hervor und rannten durch die zerstörte Tür. Braxas hatte seine Mahlzeit inzwischen beendet. Er wusste nicht, dass langsames Essen den Magen schont. Jedoch wusste er, dass er schon über vierhundert Jahre nicht mehr gefüttert worden war.
Niemand traute sich zu nah an einen Höllenhund. Wer sollte ihn also füttern? Und warum auch? Den letzten Happen hatte er gehabt, als er irgendetwas verschlungen hatte, das zu ihm »Post« gesagt hatte. Umso besser schmeckte ihm das Fleisch des Ochsens. Als das gut zerkleinerte und delikat gebratene Fleisch seinen Magen erreichte, schickte der nur eine einzige Botschaft ans Gehirn: MEHR! Braxas wendete den Kopf und sprang zur Tür hinaus, beinah lautlos und durch die Dunkelheit seines Felles fast unerkennbar. Er bewegte sich schnell, geschickt und hungrig. Die Drei rannten in der Zwischenzeit, was das Zeug hielt. Die Pflastersteine der Kalverstraat flogen nur so unter ihren schnellen Schritten dahin. Max Merkur spürte seinen Atem und das Herz pochen. Ein Urinstinkt trieb ihn voran. Er wusste: Er war Beute. Der Herzschlag hämmerte ihm bis in den Hals; ihm wurde bereits schwarz vor Augen. Er war nicht besonders sportlich. Beim Schulsport hatte er immer nur im Tor stehen müssen. »Gibt es denn nichts, was ihn aufhalten könnte?«, rief Max Merkur im Rennen. Seitenstiche quälten ihn. »Nein, es gibt nichts!«, rief Lutherion zurück. Ihre Schritte hallten durch die Straße, zurückgeworfen von den Hausmauern. Max Merkur vertraute immer noch der Vernunft. Es musste ein Mittel geben. Er musste nur richtig nachdenken. Vielleicht hatte das Monster eine Schwäche: Knoblauch, silberne Kugeln, oder vielleicht war es auch einfach nur kitzlig. Sie vernahmen die Tatzen des Höllenhundes, leise, dennoch unüberhörbar. So als ob man einen Pfannkuchen auf den Küchenboden fallen ließ. Braxas näherte sich schnell, sehr schnell.
»Wenn man in die Hölle hinein oder hinaus will, muss es doch einen Weg geben, an den Höllenhunden vorbeizukommen.« Vor Max Merkurs Augen verschwommen die Konturen der Straße. In der Tat kannten die Teufel zahlreiche Schleichwege aus der Hölle, die allerdings eben nur den Teufeln bekannt waren. Um aber an einem Höllenhund vorbeizukommen, gab es nur einen Weg: »Du musst ein Engelsstöckchen haben«, erläuterte Lutherion, der nicht im Mindesten angestrengt schien, andererseits auch nicht viel schneller laufen konnte, weil er Descartes hin und wieder am Arm mit sich zog. Max Merkur rang nach Luft: »Ein was?« Sie hörten bereits den Atem des Höllenhundes. Er konnte nicht mehr weit sein. Die Pfannkuchen schienen direkt hinter ihnen zu Boden zu klatschen. »Es ist ein Stöckchen. Die Engel werfen es, und der Höllenhund holt es«, erklärte Lutherion, dessen Teufelsschwanz ihn beim Rennen noch mehr behinderte als die lange Kutte, auf die er fortwährend trat. »Prima, das ist eine gute Idee. Hauptsache, es funktioniert… Hast du ein Engelsstöckchen dabei?« Max Merkurs Hoffnung stieg. »Nein«, erwiderte Lutherion. »Oh.« Mittlerweile spürten sie den lodernden Atem von Braxas. Max Merkurs Haare schienen bereits Feuer zu fangen. Ein kohleartiger, verbrannter Geruch stieg ihm in die Nase. Das Monster befand sich ganz dicht hinter ihnen. Es riss das Maul auf. Descartes stolperte und fiel in den Dreck. Es ging ganz schnell. Da lag er schon. »Wir müssen ihm helfen!«, rief Max Merkur und blieb stehen.
»Müssen wir… Mist!«, knurrte Lutherion. Sie drehten sich um und schauten dem Tod ins Auge. Mitten auf der Straße, keine fünf Meter von ihnen entfernt, lag Descartes auf dem Boden, nach Luft schnappend, am Ende seiner Kräfte. In einer Entfernung von ungefähr fünf Metern und zehn Zentimetern stand der Höllenhund Braxas. Im Übrigen kein bisschen angestrengt. Descartes versuchte wegzukriechen, aber der Höllenhund stellte seine gigantische Pfote auf die Beine des Philosophen. Verzweifelt kramte der am Gürtel und zog seinen Degen hervor: »Du wirst nicht vergießen französisch’ Blut, du ‘und!« Mutig stach der Philosoph dem Hund ins Bein. »Nimm das, voilà!« Ein rascher, entschlossener, fester Stich, wie ihn nur ein Meister der Fechtkunst auszuführen vermochte. Tatsächlich zeigte dies einen überraschenden Effekt. Die Klinge zersprang! »Was tun? Es ist doch nur ein Hund! Okay, ein ziemlich großer.« Max Merkurs Stimme klang verzweifelt. »Ich denke nicht, dass er auf ›Sitz!‹ oder ›Platz!‹ hört«, meinte Lutherion kühl. »Ja, das ist es! Eine gute Idee, warum nicht?« Plötzlich schien Max guter Dinge zu sein. Er holte noch einmal tief Luft: »Den Tüchtigen hilft das Glück!« Max Merkur trat einen Schritt nach vorne. Er rief: »Hey! Braxas!« Der Höllenhund richtete den Kopf auf. »Braxas! PLATZ! SITZ!« Mit schier unendlicher Autorität zeigte Max Merkur auf den Boden. Es war eine Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Der Höllenhund brüllte. Sein stinkiger, feuriger Atem schleuderte Max Merkur zu Boden. »Hat nicht geklappt?«, fragte Lutherion.
»Nein, hat es nicht«, bestätigte Max Merkur und rappelte sich verlegen wieder auf. Der Höllenhund beugte sich nach vorne, um Descartes zu fressen. Er riss das Maul auf. Die scharfen Zahnreihen entkeilten sich. Es war eine Schleuse des Todes, die sich öffnete. Seine Zähne blinkten wie fernes Sternenlicht. Descartes blieb stumm, aber auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen. Max Merkur hielt sich die Hände vors Gesicht. Eine Sekunde lang passierte gar nichts. Dann passierte noch eine Sekunde nichts. Es waren zwei Sekunden des perfekten Glücks. Der Höllenhund wandte den Kopf zur Seite. Er hatte das faulige Fleisch gerochen, das überall in der Straße hing. Hinter den Schaufenstern türmte sich noch mehr Fleisch, viel Fleisch, Tonnen von Fleisch. Für den Höllenhund roch es wie im Paradies. Dann richtete er noch einmal den Blick auf den verängstigten Philosophen und trottete zur Seite. Nur wer vierhundert Jahre nichts gegessen hatte, konnte Braxas’ Appetit nachvollziehen. Unklar blieb, ob er zuerst alle Rinder- und dann alle Schweinehälften gierig verschlang, oder ob er alles durcheinander fraß. Ein unmenschliches Knacken und Knacksen hallte durch die menschenleere Straße. »Ich habe eine Idee!«, rief Lutherion. »Dafür ist’s wohl jetzt ein bisschen zu spät.« Max Merkur half Descartes auf die Beine. »Nein, nein… Ich habe eine Idee.« Der Teufel grinste bis über beide Ohren. Er zog das Petrus-Handy aus dem Mantel hervor und begann, einige Nummern zu tippen. »Hmmm, zuerst die Auskunft… Hmmm… Dann die Nummer…«
Descartes hatte sich wieder aufgerichtet. Er humpelte, als er zu ihnen trat. Lutherion gab eine unglaublich lange Nummer ein, bis endlich das Freizeichen ertönte. »Ja! Guten Tag… Ich laufe gerade hier die Kalverstraat entlang… Ja, am unteren Ende der Straße… Moment… Es ist jetzt 3:45 Uhr, Dienstag, ja… im Jahre 1642. Hier ist ein freilaufender Hund. Ich glaube, er heißt Braxas… Nein, er reagiert nicht auf Zurufe wie ›Platz!‹ und ›Sitz!‹… Habe ich versucht… Ja, er wirkt ein bisschen verwahrlost… Nein, das Bellen ist nicht das Problem… Eher das Vernichten und Zerstören… Könnten Sie ihn abholen? Ja, ich unterstehe Petrus… Sie kommen? Gleich? Wunderbar. Tschüss!« Lutherion schaltete das Telefon ab und steckte es wieder ein. Descartes und Max Merkur schauten ihn verwundert an. »Wartet’s ab, es kommt gleich jemand…«, lächelte Lutherion, während Braxas eine Straßenseite schon völlig leergefressen hatte. Plötzlich, wie aus dem Nichts, ertönte eine leise Melodie, die sofort wieder verstummte. Ein Stern am Himmel schien zu Boden zu fallen; zuerst langsam, dann immer schneller. Er wurde größer und länglicher. Je näher er kam, desto heller wurde sein geheimnisvolles Funkeln. Ein blendend weißes, reines Licht. »Ah«, hauchte Max Merkur. Das diamantreine Leuchten hing über der Straße, erhellte sie magisch, schien alles in ein mildes Licht zu tauchen. Es war ein zwanzig Meter langer Stock! »Das Engelsstöckchen!«, rief Lutherion begeistert aus. Braxas hatte aufgehört zu fressen. Er schaute gebannt auf das jetzt blendend helle Licht. Fasziniert, irritiert, neugierig.
Das Stöckchen begann, sich zu drehen. Langsam und majestätisch. Dann immer schneller. Ein starker Wind kam auf, es sauste und brauste. Ein leises, aber melodisches Heulen ging davon aus. Dann beschleunigte es. Unter Drehbewegungen glitt es die Straße hinab. Braxas konnte den Blick nicht abwenden. Einen Augenblick schien es, als ob er es nur beobachten wollte. Dann spannten sich seine Muskeln, und er raste hinterher. Das Stöckchen flog und flog… Weiter und weiter… Braxas hetzte fröhlich die Kalverstraat hinab. Immer wieder sprang er hoch. Problemlos hüpfte er fünfzehn Meter empor. Das Engelsstöckchen allerdings veränderte seine Höhe, sodass Braxas es nicht packen konnte. Dann glitt es wieder tiefer. Schließlich wurde sein Körper aufgrund der Entfernung kleiner, und er bog um die nächste Ecke. Das Engelsstöckchen verschwand hinter den Häuserdächern. »O la la«, murmelte Descartes nach einer Weile. »Wen hast du angerufen?«, fragte Max Merkur. »Die himmlischen Hundefänger. Die werden sich um ihn kümmern. Braxas ist ein guter Hund. Es sind immer die Herrchen, die Schuld daran sind, dass die Hunde so sind, wie sie sind«, erklärte Lutherion. »Das war wunder’übsch«, brachte Descartes hervor. »Ja, das Engelsstöckchen ist schön, aber sehr, sehr schwer zu fangen.« Lutherion lächelte und rieb sich etwas Staub aus der Kutte. »Wir müssen weiter, Monsieur Descartes, vielen Dank für alles. Und nichts für ungut wegen der Tür und… ähm, dem Haus… und der Straße und vielleicht der Stadt.« Lutherion ergriff die Hand des Philosophen und schüttelte sie. Auch Max Merkur reichte ihm die Hand, lächelte verlegen und vielleicht ein bisschen zu künstlich. Dann bogen die
beiden in eine kleine Seitenstraße ein und verschwanden in der Dunkelheit. Descartes blieb zurück und sagte leise: »Was war das, was das war?«
Alte Teufel, junge Teufel, Wittgenstein
Max Merkur hatte sich in seine digitalen Bestandteile aufgelöst und schwebte durch die Zeit. Er war auf jede Horrorbegegnung eingestellt und der festen Überzeugung, dass ihn nun nichts mehr schockieren könnte. Er hatte zwei Wesen gesehen, eines mit einem Elefanten- und eines mit einem Nashornkopf, einen großen, schrecklichen Drachen, sich selbst von hinten und von innen und Farben, die Dinge taten, die Farben beim besten Willen nicht tun sollten. Dieses Mal jedoch lief alles ohne bemerkenswerte Ereignisse ab. Zugegeben, ganz normal war es auch dieses Mal nicht, denn er stand in einem Fahrstuhl, der abwärts glitt, während beschwingte Jazzmusik durch einen kleinen Lautsprecher dudelte, aber das war regelrecht Erholung gegenüber den vorhergehenden Erlebnissen. Es ging abwärts und abwärts. Max Merkur beschlich das Gefühl zu fallen. Dann hielt der Aufzug plötzlich an, und eine Minute lang geschah nichts. Unverhofft öffnete sich schließlich die Tür, vor der zwei blaue Teufel standen, groß und gefährlich wirkend. Sie trugen Dinge, die wohl Waffen darstellten, die man aber auf den ersten Blick für eine Popcornmaschine und einen Milchaufschäumer halten konnte. »Guten Tag. Grenzkontrolle«, brüllte der größere der beiden und hob bedrohlich den Milchaufschäumer. »Grenze? Aber ich bin im Zeitenstrom und reise durch die Zeit und… die Zeit ist grenzenlos… Ähm, die Grenze zu was?« »Hier ist die Grenze zur Hölle. Grenzstation Nummer 19.712, um genau zu sein, genannt der Höllenklamm. Zugegeben, wir bekommen hier oben wenig Fremde zu sehen, besonders Zeitreisende haben wir selten. Trotzdem: Wir sichern die Hölle vor jedem Eindringling. Also, die Papiere bitte, sonst werden wir richtig böse.«
»Am Eingang der Hölle. Aber was mache ich hier, ich muss doch auf der Erde sein«, jammerte Max Merkur. »Haben Sie Papiere? Ausweise? Eine Einreisegenehmigung? Andernfalls müssen wir entsetzlich viel Gewalt anwenden«, drohte der andere. »Und das täte uns kein bisschen Leid«, fügte der erste Teufel hinzu. »Äh, nein… Ich bin versehentlich… Also, ich weiß gar nicht, was ich…« Beide fingen an, miteinander zu tuscheln: »Könnte das ein Engel sein, in Verkleidung?« – »Weiß nicht, er sieht ein bisschen mickrig für einen Engel aus.« – »Ja, aber er kann sich nicht ausweisen, außerdem, wer könnte sonst durch die Zeit reisen, außer einem Engel?« – »Gutes Argument, Hektor XIV.« – »Du weißt doch, ich argumentiere gern.« – »Was machen wir also, setzen wir die Popcornmaschine ein?« – »Ist das nicht ein bisschen… hart, Kobald XII.?« – »Ach, was soll’s, wir sind Teufel, einen gewissen Mangel an Herzlichkeit erwartet man doch von uns.« – »Ja, aber die Popcornmaschine?« – »Sei kein Hasenfuß… Bereit?« – »Okay, aber du machst hinterher sauber.« »Halt«, erklang plötzlich eine Stimme. Max Merkur hatte sich in die hinterste Ecke des Aufzugs verkrochen, als Lutherion plötzlich herbeilief. Er zog eine Ausweismappe aus der Kutte. Als er das Mäppchen öffnete, in dem sich eine Marke befand, ertönte eine Dreiklanghupe, und ein rotes TSDAbzeichen war zu sehen. »TSD-Spezialagenten im Einsatz, wir müssen über die Grenze«, verkündete Lutherion. Max Merkur war ungemein froh, ihn zu sehen. »Heißt das, wir können die Popcornmaschine nicht einsetzen, Hektor XIV.?«
»Nein, leider nicht, Kobald XII. der TSD regt sich bestimmt auf, wenn man seine Agenten wie ein Maiskorn platzen lässt. Sieht bestimmt nicht gut in unserer Dienstakte aus.« Der größere der blauen Teufel drehte sich um: »Passieren! Aber mit dem Aufzug nicht schneller als 10.000 km/h fahren. Sicherheit geht vor.« Der andere schnaufte kurz und ergänzte mit dunkler Stimme: »Willkommen in der Hölle.« »Danke, Jungs.« Lutherion stieg zu Max Merkur in den Aufzug und drückte einen Knopf. Die Türen schlossen sich, und der Aufzug setzte sich in Bewegung. Max Merkur verschnaufte und stellte sich wieder gerade hin. »Ich verstehe das nicht, wir sind doch im Zeitenstrom. Wieso sind wir denn zusammen? Wieso die Kontrolle? Und wieso erlebe ich nie etwas mit leichtem Sex und schwüler Erotik im Zeitenstrom?« »Die Hölle ist gut bewacht. Da kann man sich nicht einfach aus dem 17. Jahrhundert anschleichen und hoffen, dass es niemand bemerkt«, erläuterte Lutherion. »Es gibt nicht allzu viele Eingänge in die Hölle. Ich musste auch diesen hier nehmen. Vor den zwölf großen Haupteingängen lauern die Höllenhunde und lassen nur die Seelen der Sünder durch. Die Teufel haben aber Schleichwege aus der Hölle gefunden, so knapp 30.000. Na, jedenfalls haben wir die Grenzkontrolle passiert und nähern uns meiner Heimat.« »Aber warum reisen wir überhaupt in die Hölle? Ich will nicht in die Hölle, ich will Philosophen suchen und solche Sachen.« Max Merkur war nach Klagen zumute. »Wir gehen dahin, wo uns das Handy hinführt. Im Augenblick führt es uns in die Hölle. Ich bin gespannt, wo wir landen. Du hast nicht etwa eine Feuerallergie oder eine Lavastrom-Unverträglichkeit?«
Max Merkur stand mit großen Augen da. Der Aufzug fiel unaufhaltsam. Er hatte große Angst, gleich unter einer Feuerwalze begraben zu werden. Der Aufzug fiel weiter. Er versuchte, durch ein wenig Konversation seine Beklemmung zu zerstreuen. »Ist dir eigentlich aufgefallen, dass wir bei jedem Philosophen einer tödlichen Gefahr ausgesetzt waren? Da waren diese grässlichen Skelette, die giftige Riesenspinne und der Feuer sabbernde Höllenhund. Das ist doch nicht normal, oder?« Der Aufzug fiel. Lutherion lächelte: »Nein, das ist nicht die Regel, irgendjemand oder etwas versucht zu verhindern, dass wir die Apokalypse rückgängig machen.« »Vielleicht ist es aber auch eine Frau?« »Was?« »Na ja, du hast doch gesagt irgendjemand oder etwas, und ich habe hinzugefügt, dass es auch eine Frau sein könnte.« »Du bist lange von zu Hause weg, oder?«, fragte Lutherion. »Hmmm, ich wollte nur helfen.« »Auf jeden Fall hetzt uns irgendjemand oder etwas diese Kreaturen auf den Hals. Da wir nicht die leiseste Ahnung haben wieso, müssen wir abwarten, ob sie uns getötet haben werden, bevor wir die Wahrheit herausfinden.« Der Aufzug fiel. Max Merkur blickte verlegen zu Boden. Der Aufzug fiel – schnell. Ping! Sie waren da. Die Türen öffneten sich. Außerhalb des engen Raumes begann die Hölle. Kein Flammenmeer strömte in die Kabine. Trotzdem blieb Max Merkur wie angewurzelt stehen.
Lutherion packte ihn am Arm und zog ihn hinaus. Sie verließen den Aufzug und damit den Zeitenstrom. Sie betraten einen großen Raum, dessen Boden ein grünes Dreieck bildete. Die Wände waren ebenfalls dreieckig, doch standen sie nicht horizontal zum Boden, sondern in allen möglichen Schräglagen. An die schiefe, dreieckige Wand schlossen weitere, gleich geformte Wände an, sodass man das Gefühl hatte, man stünde in einer Art riesigem Kristall. Bizarr türmten sich dreieckige grüne Flächen aufeinander und bildeten eine Struktur, die mit den Augen schwer zu erfassen war. Max Merkur wurde beim Anblick schwindlig, und er musste sich bei Lutherion abstützen. »Lass uns ein Stück gehen, du gewöhnst dich daran«, lächelte Lutherion. Der Teufel ging langsam los und führte Max Merkur mit sich. Er hielt direkt auf eine der dreieckigen Wände zu, die in einem flachen Winkel auf dem Dreieck stand, das den Boden bildete. Mit einem Schritt stellte er sich auf die Wand, ohne zu wackeln. »Komm«, forderte er Max Merkur auf. »Ich kann nicht an der Wand laufen«, murrte der. »Doch, du kannst.« Mit diesen Worten zog ihn Lutherion zu sich hinauf. Plötzlich drehte sich alles in Max Merkurs Kopf, und das, was vorher die Wand gewesen war, stellte nun den Boden dar. Es dauerte kurz, bis sich sein Gleichgewichtssinn auf die Veränderung eingestellt hatte. Dann lief der Teufel weiter und betrat zusammen mit ihm die nächste Wand, die zum neuen, dreieckigen Boden wurde. Nur mühsam konnte Max Merkur seinem Gefährten folgen. »Oh, mir wird gleich schlecht. Das ist ja nicht auszuhalten.« »Na ja, das ist hier nicht so simpel wie auf der Erde, wo die Anziehungskraft Richtung Erdmittelpunkt zeigt«, erläuterte
Lutherion. »Hier in der Hölle gibt es keinen Mittelpunkt. Überall ist das ewige Feuer von Pahhur, also ist in gewissem Sinne überall die Mitte, und alles ist Boden, Wand und Decke gleichzeitig. Das hängt vom Betrachter ab. Sehr liberal eigentlich, findest du nicht?« »Und wieso brennt das Gebäude nicht?« »Die Gebäude in der Hölle sind direkt im ewigen Feuer gebaut und sind aus feuerfester Pahhur-Lava. Obwohl manche Teufel Brannjan-Magma vorziehen, weil es leichter zu reinigen ist.« »Ooooh… Und wo sind wir? Lange kann ich nicht mehr laufen.« »Das musst du auch nicht, ich glaube, wir sind da.« Lutherion schob an etwas, das vielleicht eine Türe sein mochte, und ging mit Max Merkur hindurch. Ein riesiger, ebenfalls dreieckiger Raum mit abgeschrägten Wänden erwartete sie. Gigantische Bücherregale türmten sich an den Wänden hoch (oder an den verschiedenen Böden, je nachdem). Die Zahl der Bücher war atemberaubend. »Dacht’ ich’s mir. Das ist die Nationale Satanische Bibliothek. Die größte Büchersammlung der Hölle! Nicht ganz einfach, die Bücher vor den Flammen zu schützen, weißt du, deswegen gibt es hier auch gleichzeitig die größte SprinklerAnlage des Universums. Und da ist der Lesesaal, wunderbar, wunderbar.« Max Merkur wollte sich umschauen, doch etwas faszinierte ihn beinah noch mehr als die Millionen Bücher, die hier in halsbrecherisch geneigten Regalen lagerten. Hinter dem, was Lutherion als Lesesaal bezeichnet hatte (in dem mehrere hundert dreieckige Tische standen, vor denen dreieckige Schemel aufgestellt waren), prangte ein turmhohes, dreieckiges Fenster.
Durch das Fenster sah man Pahhur, das ewige Feuer der Hölle, lodern! Gigantische Flammen schlugen in alle Richtungen, ziellos, verspielt, mächtig, tödlich, lebendig. Sie wechselten anscheinend wahllos die Farben, bald gleißend weiß, bald nachtschwarz, rubinrot, zitronengelb und himmelblau. Doch das Farbenspiel bildete nur eine Variation des leuchtenden, aber tiefen Grüns, das die Flammen eigentlich hatten. Es war eine grüne Nährflüssigkeit, eine funkelgrüne Feuerwüste, undurchdringlich wie ein Urwald, eine geheimnisvoll glühende Lava. Das Feuer war nicht mit den Lagerfeuerfunzeln zu vergleichen, die auf der Erde von Pfadfinderjungs mit weißen Socken und übel riechenden Würsten in der Hand entfacht wurden. Pahhur gehorchte nicht der Schwerkraft – es war frei, zufrieden und durch keinerlei physikalische Gesetze gebunden (lediglich durch metaphysikalische). Das Höllenfeuer brannte nicht gleichmäßig. Einmal quoll es als dicke Creme in eine Richtung, ein anderes Mal schwebte es dahin und versank in heiteren Strudeln, wieder ein anderes Mal bildete es kleine, funkelnde Feuerperlen. Es war das perfekte Feuer, Schönheit und Vergänglichkeit in einem. Plötzlich tauchten mitten im Feuerstrudel drei blaue Teufel auf. Sie wirkten winzig im Vergleich zu den Flammen. Deshalb bemerkte Max Merkur erst spät, dass die drei auf kleinen Gegenständen standen, die wie Surfbretter aussahen. Dann waren sie auch schon wieder in den Flammen Pahhurs verschwunden. Lutherion klopfte Max Merkur auf die Schulter: »Ich muss kurz einen TSD-Computer benutzen. Ich verstehe noch nicht ganz, warum uns das Handy hierher gebracht hat, in die Hölle der Gegenwart. Du kannst dich zwischenzeitlich ein bisschen umschauen. Zum Lesen gibt es ja genug.«
Max Merkur nickte. Er war immer noch fasziniert vom riesigen Höllenfeuer. Lutherion verließ ihn lächelnd, noch bevor ihm gänzlich bewusst wurde, dass er sich allein in der Hölle befand. »Allein« unter Anführungszeichen, da ungefähr hundertdreiundsechzig meist gelbe Teufel gerade den Lesesaal bevölkerten und in Büchern schmökerten. Sie schienen aber keine weitere Notiz von ihm zu nehmen. Also schaute er sich weiter um und entdeckte zu seiner Überraschung an einer Buchrückgabestelle hinter einer dreieckigen Theke… einen Menschen! Max Merkur wurde ganz aufgeregt und ging zu ihm hin. »Hallo, ich bin Max Merkur. Ich bin ganz baff, in der Hölle einen Menschen zu treffen.« Er grinste, und seine Augen leuchteten. »Pssst! Leise! Lesesaal!« »Okay, ich bin leise, aber sagen Sie, was machen Sie hier in der Hölle?« Der Mann war hager und trug ein wollenes Hemd, dessen Knöpfe weit aufgeknöpft waren. »Ich bin der Hilfsbibliothekar, ich nehme Bücher zurück und zeige auf Schilder.« »Was denn für Schilder?« Der Hilfsbibliothekar zeigte auf ein Schild, auf dem stand: »Sprechen Sie nicht mit dem Personal! Ja, wir meinen dich, Bürschchen!« Darunter hingen zwei kleinere Schilder: »Wer in ein Buch einen Knick reinmacht, ist erledigt!« und »Den Katalog kapiert keiner, auch du nicht.« »Oh.« Der Hilfsbibliothekar lächelte zufrieden und wandte sich ab. Max Merkur musterte ihn noch kurz, doch der Mann ordnete ungerührt einige Bücher. Also verließ er ihn, darüber nachgrübelnd, was den Mann wohl in die Hölle gebracht hatte. Die Bücher, die sich in den Regalen stapelten, erregten seine
Neugier. Um jedoch eines aus dem Regel zu ziehen, müsste er über einige schräge Wände laufen; dieses Mal ohne Lutherions Hilfe. Er stellte vorsichtig einen Fuß auf eine Wand. Dabei drückte er sein Knie gegen den Magen… dann ein Schritt; er zog das zweite Bein nach. Alles drehte sich. Die Wand war zum Boden geworden. Ihm schwindelte wieder kurz, dann tat er einige weitere Schritte zur nächsten Wand und wiederholte das Ganze. Mit der Zeit gewöhnte er sich an den Effekt. Das große Lesesaaldreieck, auf dem sich die Tische mit den studierenden Teufeln befanden, stand nun in einem Winkel von hundertsiebzehn Grad und lag zwanzig Meter seitlich unter ihm. Schließlich hatte er es geschafft. Er war an ein enormes Regal gelangt, in dem etliche tausend Bücher mit dicken Ledereinbänden sorgsam aufgereiht waren. Begierig zog er einen Band heraus. Wann bekam man sonst schon Gelegenheit, in die Geheimnisse der Hölle vorzudringen? Auf dem Umschlag stand »Geschichte der Hölle. Aufgezeichnet von Brombor XXI.« Hastig schlug er es auf und begann, die mit roter Tinte (Max Merkur hoffte, dass es Tinte war) geschriebenen Worte zu lesen.
»O Teufel, höre von den Taten der Altvorderen und der Junghinteren. Gepriesen seien die, die ihre Hörner im Namen des Bösen zerstießen, gepriesen seien die Kinder des Feuers, die allein in den Öden Pahhurs hausen, gepriesen seien die Teufel, die Schillernden und die Tapferen. In der Schöpfung entstand die Hölle, niemand weiß, wie und warum sie geschöpft wurde. Pahhur, das ewige Feuer, es brennt seither. Niemand kann es löschen, versuche nicht, es zu löschen, niemand kann es löschen, denn es ist heiß.
Die Hölle brennt seit vier Zeitaltern. Es sind vier, nicht eins weniger und nicht eins mehr. Vier Zeitalter, o Teufel, höre, denn ich spreche die Wahrheit. Zuerst kam die Luziferische Ära oder das Weiße Zeitalter. Darauf folgte die Mephistophelische Ära oder das Gelbe Zeitalter. Als Nächstes erblickte die Satanische Ära oder das Rote Zeitalter das Licht der Welt. Am Ende steht die Beelzebubische Ära oder das Schwarze Zeitalter. Dies sind die vier Zeitalter, dies sind sie alle. Von Anbeginn der Schöpfung bis heute, alle haben wir sie aufgezählt. Es ist vollbracht, alle stehen nun geschrieben. Vier an der Zahl. Aber höre, o Teufel, höre, was geweissagt ist. Das Zeitalter nach den vier Zeitaltern. Es ist vorausgesagt, dass kommen werde das Fünfte oder Blaue Zeitalter, und es wird sein Heulen und Zähneklappern unter den Teufeln…«
Max Merkur steckte das Buch ins Regal zurück. Es war ihm etwas zu schwülstig. Stattdessen zog er ein viel dünneres heraus, das den Titel trug: »Die Hölle – Facts and Fiction. Von Arne III.« Er begann, darin zu blättern:
»Die Hölle wurde ungefähr vor sechzehn Milliarden Jahren geschaffen, im Rahmen eines Ereignisses, das als die ›Schöpfung‹ in die Geschichte eingegangen ist. Das Universum entstand, und da es allgemein gute Kritiken bekam, wurden im Anschluss daran die Engel und die Teufel geschaffen. Die ersten Teufel waren allesamt weiß. Der Erste unter den Teufeln und ihr Anführer hieß Luzifer I. Der Mythos von Gurgal berichtet vom Zug der ersten Teufel in die Hölle. Viele der Fakten des Mythos von Gurgal gelten als ungesichert (besonders das Abenteuer mit der Ur-Sau Rakhdul scheint unwahrscheinlich).
Nach langer Irrfahrt, die der Gurgal-Mythos ausführlich erzählt, gelangten Luzifer I. und seine Teufel in die Hölle, aber ach weh… sie war schon bewohnt. In den Tiefen des Feuers Pahhur hauste ein Ur-Drache, dessen Name lautete Grendl. Er war golden, gewaltig groß und kein bisschen erfreut, Besuch zu erhalten. In einer wirklich spektakulären Aktion vertrieb Luzifer I. Grendl (zur Gestalt und Motivation von Grendl, vgl. Buch 46 des Gurgal-Mythos: Grendls Klagegesang). Die Teufel nahmen die Hölle in Besitz, und aus den Weiten des Feuerberges sammelten sie gute, baufähige Pahhur-Lava. Die ersten Stücke waren so schwer, dass je drei Teufel sie tragen mussten. (Bis heute noch sind Pahhur-Lava-Blöcke dreieckig). Dieses Zeitalter, das Weiße oder Luziferische (vgl. Brombor XXI.: Geschichte der Hölle), endete mit dem Auszug der weißen Teufel aus der Hölle. Der Grund hierfür ist genauso unbekannt wie derjenige, warum am Beginn des Mephistophelischen Zeitalters die vier noch heute zu sehenden Teufelsfarben, Gelb, Rot, Schwarz und Blau entstanden. Der Stammteufel dieser Epoche ist Mephistopheles I. (das Zeitalter wurde nach seiner Hautfarbe das Gelbe Zeitalter benannt). Unter seiner Führung erblühten die Wissenschaft und die Philosophie. Sein Schüler Spizza I. begründete den Konsumismus, der heute in verschiedene Schulen zerfällt (logischer Konsumismus, empirischer Konsumismus, transzendentaler Konsumismus usw.). Ein anderer Schüler, Orknar I, schuf die philosophische Richtung des Evilismus, die behauptete, dass man durch böse Taten erleuchtet werden könne (die abgeschwächte Form des Evilismus behauptet, dass man durch böse Taten eine schöne Haut bekomme). Der Evilismus wurde später bis über die Grenzen der Hölle hinaus bekannt und prägte das Bild der Hölle vieler Außerweltler als böse, blutrünstig und grausam. Orknar I. äußerte auf die
Frage, ob seine Philosophie das Image der Hölle geschädigt habe, die tiefsinnige Aussage: › Was ist los?‹. Der Evilismus wurde unter Mephistopheles II. zur Staatsreligion erhoben und macht seitdem jedem viel Spaß (wenngleich die Zahl der Anhänger des Konsumismus wächst), jedoch sind beide Philosophien nur ein Ausschnitt aus dem reichen Spektrum des Denkens der Hölle. Nicht außer Acht zu lassen ist auch, dass zu dieser Zeit die Metaphysik, die Metachemie und die Metamathematik usw. ihren Anfang und vermutlich sogar ihren Höhepunkt hatten. Das dritte oder Rote Zeitalter begann mit der Machtübernahme eines roten Teufels mit Namen Satan I. Unter seiner Herrschaft verließen die Teufel die engen Bande der Hölle und begannen, mit den Engeln Krieg zu führen. Schlacht folgte auf Schlacht, Niederlage folgte auf Niederlage, aber die Teufel gaben nicht auf. Der Himmel musste erobert werden, und das Banner der Hölle sollte in den Festen des Himmels wehen. Warum sollten die Teufel lediglich in der Hölle leben? Es war das Zeitalter der Kämpfe und Schlachten, ein heroisches Zeitalter, dem heute viele nachtrauern. Mit der großen (und peinlichen) Niederlage bei der Schlacht am Fluss der weißen Träume endete das Rote Zeitalter. Satan XI. wurde besiegt und musste zurücktreten. Die Teufel mussten einen Vertrag unterzeichnen, der die höllischen Grenzen und Gebiete festlegte, und es wurde bestimmt, dass an den Toren der Hölle zwölf Höllenhunde wachen sollten. Mit der wichtigsten Vertragsbedingung begann das Beelzebubische Zeitalter (oder das Schwarze Zeitalter). Beelzebub I. musste sich durch seine Unterschrift verpflichten, die Seelen der Sünder in der Hölle aufzunehmen und sie im Bedarfsfall zu quälen. Natürlich wusste Beelzebub I, dass dies das Ansehen der Hölle endgültig schädigen würde und unsere Heimat recht voll werden könnte, doch waren die teuflischen
Heere zu geschwächt, um das Vertragswerk abzuschütteln. Die wahre Bedeutung der Seelen für die Hölle wurde erst durch Jar Bok VI. erkannt (vgl. S. 46). Auch in unserem Schwarzen Zeitalter wurden viele Aufstände gegen die Engel geprobt, besonders um den vertraglichen Verpflichtungen zu entkommen. Sie endeten allesamt in verheerenden Niederlagen wie dem Schnürsenkel-Massaker im fahre 929.667 nach Luzifer; dem Turban-Debakel von 1.107.635, der PopcornPleite von 1.643.154 und der Schlacht um die goldene Liebesschaukel von 1.914.223. In einer Prophezeiung, die im Buch Pok-de-Pok niedergeschrieben ist (eine prophetische Schrift, deren Wahrheitsgehalt darauf beruht, dass zwei Engel in der Mittagspause belauscht wurden), steht aber, dass noch ein fünftes Zeitalter, das Blaue Zeitalter kommen wird. (Das Pokde-Pok ist allerdings ziemlich schwer zu interpretieren und war oft Anlass für Gelehrtenstreitigkeiten. Es ergibt rückwärts gelesen beispielsweise mehr Sinn als vorwärts gelesen.) Auf jeden Fall scheint das Pok-de-Pok in den Versen 39.100 bis 39.187 zu behaupten, dass das Blaue Zeitalter beginnt, wenn die Schöpfung beendet ist und der Tag des Jüngsten Gerichts dämmert. Die Herrschaft der blauen Teufel würde damit anbrechen. Ein neues Zeitalter würde unendlichen Papierkrieg und einen erhöhten Verwaltungsaufwand bedeuten. Selbst die blauen Teufel fürchten dieses Zeitalter in dem für sie Überstunden vorprogrammiert wären und die Aktenberge ins Unermessliche wachsen würden. Natürlich ist das Pok-de-Pok nur ein Märchenbuch, um die Teufel zu erschrecken, die darüber klagen, dass früher alles besser war. Die Apokalypse wird nie kommen.«
Max Merkur schlug gedankenverloren das Buch zu und stellte es ins Regal zurück. Er begann nachzudenken. Einige Dinge schienen ihm jetzt klarer. Zumindest verstand er nun, dass es Teufel mit vier Farbtönen gab und die Teufel Angst davor hatten, die blauen Teufel, die für Bürokratie und Beamtentum standen, könnten an die Macht gelangen. Aber noch etwas war ihm aufgefallen. Der Gedanke kreiste in Max Merkurs Kopf wie ein hungriger Bussard, bereit, sich auf seine Beute zu stürzen. Das Regal, vor dem er stand, enthielt hauptsächlich geschichtliche Werke. Sorgsam suchte er mit den Augen die Regalreihen ab und zog schließlich ein weiteres kleines Büchlein hervor: »Großer Bildband der Ur-Monster.« Max Merkur begann, es durchzublättern. Es enthielt sehr wenig Text, dafür viele Bilder. Auf der dritten Seite stand:
»Die Ur-Monster sind Kreaturen, die vor den Engeln und Teufeln geschaffen wurden. Niemand weiß genau, ob sie in der Schöpfung geplant waren oder ob sie als Fehler beim Versuch entstanden, etwas wirklich Nützliches wie das Schnabeltier oder den Kaktus zu erschaffen. Vielleicht wurden diese scheußlichen Kreaturen auch nur ausgesetzt, weil sie woanders zu viel Krach veranstalteten, und sie warten bis heute treu auf ihre Herrchen (die, wenn sie je zurückkehren, wahrscheinlich schrecklicher wären als jedes Ur-Monster). So oder so: Wir wünschen euch auf jeden Fall eine gruselige Lektüre und viel Spaß mit den Ur-Monstern.«
Max Merkur blätterte weiter. Er sah ein orangefarbenes Monster, das aussah, als ob eine Fliege einen Frosch gefressen hätte (und nicht umgekehrt, wie Max Merkur es gewohnt war).
Da waren Flügel und Beine, die spiralförmig etwas umgaben, was ein Kopf zu sein schien. Eine lange Zahnreihe saß in etwas, das man mutig als Auge durchgehen lassen konnte. Die Größenangabe war in Kilometern gehalten.
»Az-Qark, das Schreckliche: Az-Qark, das Schreckliche ist ein neunzehnbeiniges Ur-Monster mit drei Giftstacheln, das wenig Pflege und Aufmerksamkeit benötigt, was gut ist, denn niemand würde sich ein solches Ungetüm zu Hause halten. Man kann es streicheln und darauf reiten, wenn man lebensmüde ist. Ansonsten gilt: Mach, dass du wegkommst! Das letzte Az-Qark wurde im Satanischen Zeitalter in den Sümpfen von Urk-Nark gesichtet.«
Max Merkur blätterte um. Er sah einen Goldfisch. Wieder war die Angabe der Größe in Kilometern (es gab Nullen, viele Nullen):
»Aquormor: Aquormor ist ein tödlicher Riesenfisch, der in den Tiefen von Pahhur sein Unwesen trieb. Wegen seiner gigantischen Größe und seiner enormen Angriffslust wurde er stets von den Teufeln gefürchtet. Jedoch gilt er heute als ausgestorben, da Vertreter des Konsumismus glaubten, durch Genuss des letzten verbliebenen Aquormor Erlösung zu erfahren. Die gigantische Angel, die Spizza III. benutzte, um ihn zu fangen, und die Pfanne, die er verwendete, um ihn zu kochen, sind immer noch im Staatlichen Luziferium zu besichtigen (genauer gesagt, bildet die Pfanne den Untergrund der herrlichen Parkanlagen des Luziferiums, wo man zwischen
wilden Feuerblumen und romantischen Schwefelsümpfen flanieren kann).«
Max Merkur schlug die Seite um und sah einen Höllenhund.
»Braxas und die Rotte der Höllenhunde: Höllenhunde sind zwölf an der Zahl. Ihre Gefährlichkeit und Effizienz beim Töten ist atemberaubend. Sie bewachen die Eingänge der Hölle, wo sie an langen Ketten liegen. Die Höllenhunde sind nur durch ein Engelsstöckchen abzulenken. Zwar waren die Teufel zu Zeiten Mephistopheles III. im Besitz eines Engelsstöckchens, aber leider fiel es, wie sein Besitzer Kozk II. meinte, irgendwie hinten rüber. Da durch die räumlichen Verhältnisse der Hölle kaum zu bestimmen ist, was ›hinten rüber‹ bedeutet, ist schwer zu klären, wo es abgeblieben ist. Manche stellen allerdings eine gewisse Ähnlichkeit mit einer gigantischen Angel fest, die im Staatlichen Luziferium ausgestellt ist.«
Wieder und wieder blätterte Max Merkur um, bis er die richtige Seite aufgeschlagen hatte:
»Grendl: Grendl ist ein fieser, grässlicher Drache und bewohnte die Hölle, bevor er von Luzifer I. vertrieben wurde. Der Drache ist golden und verkörpert das Urböse schlechthin. Manche Teufel glauben, dass die Hölle früher nicht gebrannt hat und erst Grendls feuriger Atem sie in Brand steckte (manche meinen, Luzifer I. hätte gezündelt, das ist aber Unsinn). Nach dieser Hypothese war die Hölle zuvor grün und besaß weite Seen und hohe, schneebedeckte Berge; sie wäre
also im Gesamten gesehen ziemlich hässlich gewesen. Die meisten meinen jedoch, dass Pahhur ewig und ein Teil der Schöpfung ist. Grendl ist seit der Urzeit verschollen, und das sollte auch so bleiben.«
»Oh, mein Gott«, stieß Max Merkur laut hervor und betrachtete das Bild des Drachens neben dem Text. »Ich habe Grendl gesehen, und Grendl hat zu mir gesprochen.« Er erinnerte sich an den schrecklichen, goldenen Drachen, den er bei einer Zeitreise gesehen und nach dem Sinn des Lebens gefragt hatte. Das musste Grendl gewesen sein: Seine Größe und Gemeinheit passten zu der Beschreibung, sein Aussehen zu der Abbildung. Aber sollte er es Lutherion mitteilen? Vielleicht wussten die Teufel ja, wo Grendl sich aufhielt? »Max Merkur!«, rief Lutherion und kam an der Decke angelaufen (aus Sicht Max Merkurs, versteht sich). »Bist du fertig?« »Ja… ich denke… ich bin fertig.« Er schob das Buch ins Regal zurück und entschied, das kleine Drachendetail vorerst nicht zu erwähnen. »Ich habe etwas herausgefunden, komm mit an die Buchrückgabe«, rief Lutherion gut gelaunt. Max Merkur richtete sich ganz auf und machte sich auf den bizarren Weg in Richtung des dreieckigen Lesesaals. Alles schwankte und schaukelte auf dem Weg hinunter. Lutherion hingegen lief völlig mühelos über die sich drehenden Wände. »Was hast du denn herausgefunden?« »Ich habe gerade einige Akten des TSD eingesehen und einige Informationen eingeholt. Ein paar blaue Teufel sind mir nämlich noch den einen oder anderen Gefallen schuldig, weil
ich ihnen gezeigt habe, wie man aus gewöhnlichen Büroklammern einen Rettichzerkleinerer baut.« Sie gelangten an die Rückgabestelle, wo der Hilfsbibliothekar immer noch missmutig einige Bücher stapelte. Als sie sich näherten, zeigte er sofort auf verschiedene Schilder: »Sich nähern und Schmerzen haben, ist dasselbe.«, »Wir sind bereit, Gewalt anzuwenden. Sind Sie es?« und »Schlechte Laune ist mehr als nur ein Hobby.« Unbeirrt blieb Lutherion zusammen mit Max Merkur an der Theke stehen. »Tut mir Leid, wenn ihr keine Bücher abgebt, seid ihr hier falsch. Bitte, packt euch fort.« »Nun mal langsam«, lächelte Lutherion. »Max Merkur, darf ich dir jemanden vorstellen, das ist…« Lutherion griff an das Hemd des Hilfsbibliothekars und drückte den Kragen etwas zur Seite. Darunter kam ein dreieckiges Namensschild zum Vorschein, auf dem stand: »L. Wittgenstein. Hilfsbibliothekar.« »Wittgenstein! Der Wittgenstein?«, rief Max Merkur aus. »Genau. Seines Zeichens Philosoph mit dem Spezialgebiet Sprache«, erläuterte Lutherion. »Na und? Schreit es doch gleich in der ganzen Hölle rum. Ja, ich bin Wittgenstein und jetzt: Habe die Ehre und Hasta La Vista, Baby – macht ‘ne Fliege«, knurrte Wittgenstein. Es lag etwas Irres in seiner Stimme. »Ich kann es kaum glauben! Wittgenstein, wie kommen Sie denn – oder darf ich du sagen? – in die Buchrückgabe der Nationalen Satanischen Bibliothek?« Wittgenstein stand nur mit weit aufgerissenem Mund da und musterte die beiden. »Ich habe das recherchiert«, sprang Lutherion ein. »Er war wohl einer der letzten Menschen, die mit einem Teufel einen klassischen Pakt geschlossen haben, der besagte, dass der
Teufel ihnen auf Erden dienen würde, es aber nach dem Tod des Menschen andersrum wäre.« »Was soll das heißen? Wittgenstein war mit dem Teufel im Bunde?« »Also, du lässt das so klingen, als ob es etwas Schlechtes wäre«, meinte Lutherion. »Ja, verdammt, so war das«, zischte nun Wittgenstein mit wütendem Unterton. »Ich habe mit einem blauen Teufel namens Grogik III. einen Pakt geschlossen. Nach dem Pakt gelang mir im Leben alles. Ich galt als Genie, baute in jungen Jahren eine Nähmaschine, entwarf fantastische Fluggeräte, war ein brillanter Mathematiker und revolutionierte das logische Denken. Meine Doktorarbeit, der ›Tractatus logicophilosophicus‹ war nur 70 Seiten lang, und ich reihte darin zusammenhanglos Sätze aneinander wie: ›Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglückliche.‹ Was für Trivialitäten, pfui, pfui. Und trotzdem ein Erfolg!« Max Merkur beobachtete aufmerksam Wittgenstein, der in einer Art Trance zu reden angefangen hatte. Lutherion lehnte sich gelangweilt an die Theke und schien, an andere Dinge zu denken. Max Merkur versuchte, etwas Passendes zu sagen: »Na, na, so schlimm wird’s schon nicht gewesen sein… äh… Kopf hoch.« Wittgenstein donnerte los: »Doch, o doch! Ich schrieb Blödsinn wie: ›Es ist klar, dass sich die Ethik nicht aussprechen lässt. Die Ethik ist transzendental.‹ Das ist Schnickschnack! Ich schrieb ›Alle Sätze sind gleichwertig.‹ Oh, elendige Sprache, die mich so was formulieren ließ. Ich schrieb ›Die Welt ist unabhängig von meinem Willen‹. Wie flach, wie inhaltsleer!« »Das ist tatsächlich… äh… ein bisschen banal.« Max Merkur lächelte verkniffen.
»Ja, genau, flach. Wurde ich der Universität verwiesen? Im Gegenteil, ich bekam den Doktortitel mit Auszeichnung. Mein Professor rief: ›Genial!‹; die Welt rief ›Genial!‹, und alles war letzten Endes nur Teufelswerk. Selbst, als ich öffentlich bekannte, dass ich die Arbeit für falsch hielt, jubelten alle.« Max Merkur flüsterte Lutherion zu: »Du bist doch bei mir, wenn der richtig abgeht, oder?« »Der ist harmlos«, raunte Lutherion. »Wahrscheinlich frisst er nur ab und an eines von den Büchern.« »Ja, wahrscheinlich hat er alle Bände von ›Der kleine Psychopath‹ intus.« Wittgenstein knetete sein Gesicht mit beiden Händen. Plötzlich begann er ungeachtet des »Ruhe oder Folter!«Schildes zu schreien: »Zu dem Zeitpunkt wäre mir nichts lieber gewesen, als aus dem Pakt mit Grogik III. auszusteigen, kannst du das verstehen? Nie wusste ich, ob es wirklich meine Leistung war, die mir den Erfolg brachte, oder ob es Grogik’s Einfluss war. Alles, was ich tat, kam mir sinnlos vor. Ich versuchte, mich umzubringen, ich versuchte, als Gärtner zu arbeiten und Schullehrer zu werden. Ich versteckte mich sogar in einer norwegischen Holzhütte. Nichts half. Mein Ruhm drang in alle Welt. Ich bekam eine Philosophieprofessur in Cambridge, obwohl ich außer dem ›Tractatus‹ nichts veröffentlicht hatte. Eine Cambridgeprofessur! Als ob die auf Bäumen wachsen würde. Ha! Das kam niemandem seltsam vor. Niemandem! Diese Einfaltspinsel!« »Einfaltspinsel… Ja, ganz schlecht, diese Einfaltspinsel.« Max Merkur hielt sich tapfer. Wittgenstein tänzelte mittlerweile unruhig hin und her und gestikulierte wild: »Dann hatte ich eine geniale Idee. Ich wollte aus dem Teufelspakt aussteigen, indem ich zeigte, dass die Sprache nur aus Sprachspielen besteht. Kein Wort und kein
Satz hat absolute Gültigkeit. Es kommt nur auf den Lebenszusammenhang an, in dem er steht. Das heißt, der Vertrag mit mir und dem Teufel wäre nur eine unverbindliche Abmachung, ein Spiel mit Worten gewesen. Ich arbeitete fieberhaft daran, die philosophischen Argumente zu sammeln, ha, ha, ha!« »Sehr fleißig…« Max Merkur hielt Abstand. »Wie wäre es mit Atmen – Einatmen, 21 – 22 – 23… Ausatmen, 24-2526…« »Doch bevor ich damit ganz zu Ende war, starb ich.« Wittgenstein hielt sich die Hände vors Gesicht. »Grogik III. las nach meinem Tod das Manuskript und meinte: ›Netter Versuch, Wittgenstein, netter Versuch.‹« Wittgenstein schluchzte, aber Max Merkur fragte: »Und dann?« »Was dann? Dann starb ich. Bei meinem Tod war Grogik III. anwesend. Dauernd schaute er sich um. Er sagte etwas, das ich nie verstanden habe, nämlich: ›Was denn, kein Cabaret?‹ Schließlich nahm er mich in die Hölle mit, und ich musste seinen Platz als Hilfsbibliothekar einnehmen. Seitdem arbeite ich hier.« »Und wo ist Grogik III.?« Wittgenstein zeigte auf das große, dreieckige Fenster, hinter dem Pahhur loderte: »Da draußen.« Max Merkur blickte in das helle Licht und sah einen (durch die Entfernung) winzigkleinen blauen Teufel auf einem Surfbrett stehen und vergnügt durch die Flammen surfen. »Deine Geschichte rührt mich«, sagte Max Merkur und meinte es so unehrlich, wie er nur konnte. »Ach, worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen, sage ich immer«, erwiderte Wittgenstein mit eisernem Ernst und stierte ihn mit geweiteten Augen an.
»Das ist ein bisschen autoritär formuliert, aber wenn man das mag…« Max Merkur bedauerte immer mehr, dass er im Judo nur den gelben Gürtel besaß. Lutherion stieß Max Merkur in die Seite und machte eine Geste in Richtung Wittgenstein. »Ach so, Wittgenstein, jetzt, wo du das Gröbste hinter dir hast, dein Leben und das Ganze, und ungehindert drauflosphilosophieren kannst, meinst du, du könntest uns sagen, was denn der Sinn des Lebens ist?… Und ein bisschen Selbstkontrolle wäre super.« Wittgenstein begann zu überlegen und erstarrte beinahe zur Salzsäule. Max Merkur warf Lutherion einen Seitenblick zu; der zuckte mit den Achseln, als ob er sagen wollte: Das ist einer der euren und nicht der unseren. Wittgenstein grübelte. »Der Sinn der Lebens ist…«, setzte Wittgenstein an. Lutherion hatte das Handy bereits gezückt und war bereit, die Lösung durchzugeben. »Der Sinn des Lebens ist…« Wittgenstein zögerte abermals. »… ist eine bestimmte Lebensweise. Man kann deswegen nicht über den Sinn des Lebens sprechen und ihn nicht genau bestimmen.« Lutherion flüsterte Max Merkur zu: »Zu schwammig. Das kann so nicht in die Weltformel eingesetzt werden.« »Woher weißt du das, Lutherion?« »Ich habe gerade einen von den zuständigen Wissenschaftlern am Handy. Endlich habe ich einen von denen persönlich dran. Sie waren vorher beim Kegeln und sind gerade erst zurückgekommen. Frag Wittgenstein weiter.« »Was ist das für eine Lebensweise, über die nicht gesprochen werden kann? Eigentlich kann ich über viele Lebensweisen sprechen. Zum Beispiel wird über das Leben von Prominenten viel gesprochen.«
»Nein, nein!« Wittgenstein wirkte verärgert und winselte fast. »Eine Lebensweise, die aus sich selbst heraus glücklich macht, die nach nichts anderem Bedarf verspürt, die einen Zweck in sich selbst hat. Das kann man nicht in der Sprache ausdrücken.« »Aber das machst du doch gerade.« »Oh?… Ach, sei still.« Wittgenstein zeigte wieder auf einige Schilder, die jedem Gewalt androhten. Max Merkur blickte zu Lutherion, der am Handy mit den Wissenschaftlern sprach. »Sie sagen… dass das immer noch etwas unklar sei, zumindest ist es schwierig, etwas, worüber man nicht sprechen kann, in eine Formel einzusetzen… Hallo… Ja, es ist eine Lebensweise… ein Tun, eine Handlung… keine einfache Zauberformel… irgendwas, das Zufriedenheit mit sich bringt… ohne Worte… versteht ihr… Was wollt ihr jetzt machen?… Was?… Eine geniale Idee.« Lutherion blickte zu Max Merkur. »Sie versuchen es jetzt mit Pantomime und stellen sich einfach selbst in die Weltformel. Wenn das nicht klappt, verkleiden sie sich als zufriedene Bauern und glücklich grinsende Seekapitäne.« Max Merkur hoffte, dass es dieses Mal der richtige Sinn des Lebens war. Gespannt wartete er, während Lutherion weiter telefonierte. Minuten verstrichen. Dann schaltete Lutherion das Handy ab: »Leider auch falsch. Sie haben pantomimisch den Sinn des Lebens dargestellt. Als das misslang, haben sie sich als alles Mögliche kostümiert, was irgendwie Glück und Zufriedenheit ausstrahlt, sogar als Seerobbe, der Fische zugeworfen werden. Aber es ist nichts passiert, die Formel ist so instabil wie zuvor… leider.« Unverhofft meldete sich Wittgenstein zu Wort: »Ist das euer Buch? Es tickt nämlich.« Er schob einen dicken Wälzer über
die Theke, aus dem merkwürdige Tickgeräusche drangen. Hastig ergriff Lutherion das Buch und öffnete es. »Sag mir, dass es keine Bombe ist, bitte, keine Bombe…«, stöhnte Max Merkur. »Gut, es ist keine Bombe. Es ist nur etwas, das in einem Buch ist und bei Zündung die Bibliothek in Stücke reißt. Aber wir müssen es nicht Bombe nennen, wir können es auch BärliGranate oder Schäfchen-Bumm-Bumm nennen, wenn dich das beruhigt«, erwiderte Lutherion. »Was tun? Das Ding tickt immer lauter. Es geht jeden Moment hoch!« »Kein Problem. Wir nehmen einfach das Schäfchen-BummBumm und werfen es ins ewige Feuer.« »Auf was warten wir noch?« »Willst du vielleicht das Schäfchen-Bumm-Bumm tragen?«, fragte Lutherion. »Es tut mir Leid, es ist eine Bombe. Wir können also aufhören, es Schäfchen-Bumm-Bumm zu nennen«, murrte Max Merkur, »und ich fass das Ding nicht an.« Hastig nahm Lutherion das Buch an sich und rannte zu einer Tür, über der ein Schild hing: »Zu den Aussichtsplattformen über dem ewigen Feuer. Essen nicht erlaubt (wir brechen Ihnen sonst alle Knochen)!« Die Tür öffnete sich nicht. Das Schäfchen-Bumm-Bumm tickte lauter. »Warum öffnet sich die Tür nicht!«, kreischte Lutherion, für seine Verhältnisse ungemein hysterisch. Hinter Max Merkur ertönte die Stimme Wittgensteins: »Wenn ihr ein Buch außer Haus mitnehmen wollt, müsst ihr zuerst einen Leihschein ausfüllen. Andernfalls öffnen sich die Türen nicht. Wir wollen nämlich nicht, dass hier geklaut wird.«
»Wir haben ein Schäfchen… Ich meine, wir haben eine Bombe, die alles gleich in Stücke reißen wird, und sie ist genau in diesem Buch… Wir füllen doch keinen Leihschein aus!«, rief Max Merkur. »Na, dann halt nicht. Dann könnt ihr es eben nur im Lesesaal lesen.« Lutherion kam mit der Bombe angerannt und kochte vor Zorn: »Also, her mit dem verdammten Leihschein…« Die Bombe tickte unerträglich laut. »Gut, gut, hier ist der Leihschein.« Wittgenstein schob Lutherion einen kleinen Zettel hin. »Na, das geht ja noch«, brummte Lutherion und nahm sich einen bereit liegenden Stift. »… Leihkartennummer… Moment mal… Ich habe aber keine Leihkarte…« »Oh, keine Leihkarte, kein Buch.« Max Merkur stand atemlos daneben. Er konnte spüren, wie die Bombe danach drängte zu explodieren. »Aaaaargggh… Mensch…« Lutherion hatte sich immer weniger im Griff. »Gib mir eine Leihkarte.« »Gut, gut, bitte diesen Zettel ausfüllen.« Lutherion packte den Zettel und fing an zu kritzeln, ungeduldig, hastig. »So… hier… fertig… die Leihkarte, schnell jetzt.« »Moment, ich stelle die Leihkarte aus.« Wittgenstein fing an, eine dreieckige Marke sorgfältig zu beschriften. »Hier, bitteschön.« Auf der Marke stand: Lutherion 1. »1?«, las Max Merkur laut vor. »Na ja, es hat noch nie jemand ein Buch ausgeliehen, alle Bücher werden nur im Lesesaal gelesen. Niemand möchte riskieren, ein Buch zu spät zurückzugeben, wegen der rohen, entsetzlich brutalen Gewalt, die wir dann anwenden würden.« »Ja, ja, gib den Leihschein her…«, rief Lutherion.
Die Bombe begann zu zählen, laut und für alle hörbar. »ZEHN!…« Lutherion begann zu schreiben. »NEUN!…« »ACHT!…« »SIEBEN!…« Lutherion war fertig mit Schreiben. »SECHS!… « »FÜNF!…« »VIER!…« Wittgenstein sagte: »Ist in Ordnung. Aber keine Eselsohren…« »DREI!…« »… reinmachen.« Lutherion spurtete los. »ZWEI!…« Er erreichte die Tür. »EINS!…« Die Tür ging auf. Lutherion hechtete hindurch. In den Weiten von Pahhur gab es einen kleinen Strudel, der vorher nicht da gewesen war. Die Flammen des ewigen Feuers schienen einen Augenblick innezuhalten und kehrtzumachen. Es war, als ob Pahhur für einen Moment neugierig geworden wäre, aber als anschließend nichts weiter geschah, ging es seinen üblichen Dingen nach. Max Merkur schaute nervös in Richtung Tür. Sollte er einen… Freund verloren haben? Er grübelte über das Wort »Freund« nach. Konnte ein Teufel wirklich ein Freund sein? Oder beruhte ihre Freundschaft nur darauf, dass der Teufel immer in die gleiche Richtung wie er lief, wenn eine Panik ausbrach? Gut, es war keine richtige Freundschaft, sondern eher eine Interessensgemeinschaft… Mehr konnte er nicht erwarten. Sie waren zu unterschiedlich. Ohne ihn jedoch würde
er allein sein, mit einem irren Hilfsbibliothekar, der an seinen Schuldgefühlen zu Grunde ging. Welch schreckliches Schicksal… Da öffnete sich die Tür erneut, und Lutherion kam herein. Er ging schnurstracks an Max Merkur vorbei zu Wittgenstein: »Ich habe eine Frage.« »Ja?« »Wie lange ist… äh… die Leihfrist des Buches? Es könnte… ähm…« – Lutherion hustete etwas Ruß aus – »Na ja, es könnte etwas länger dauern, bis ich das Buch zurückgebe.« Dieses Mal war es Max Merkur, der Lutherion am Arm wegzog. »Ich bin froh, dass du es geschafft hast«, lächelte er. »Ja, allmählich werden die Anschläge auf unser Leben zu einer schönen und gut gepflegten Tradition.« Lutherion wischte sich silbrige Asche von den Hörnern. »Was machen wir jetzt?« »Ein Philosoph ist noch übrig auf dem Handy, der Sinn des Lebens kann also nur bei ihm sein.« »Wer ist es?«
Schelling wer?
Lutherion hatte auf den grünen Knopf des Mobiltelefons gedrückt. Max Merkur spürte, wie sein Körper Stück für Stück in digitale Bestandteile aufgelöst wurde. Der Prozess begann an seinen Füßen und wanderte immer höher. Es war unangenehm zu sehen und zu fühlen, wie sich die Beine nach und nach auflösten. Lutherion stand ihm gegenüber und lächelte. »Wer ist denn der letzte Philosoph auf der Liste?«, fragte Max Merkur noch einmal, als ihm schon der Bauchnabel in die Korridore zwischen den Zeiten entschwunden war. »Friedrich Nietzsche.« Lutherion bestand nur noch aus einem sprechenden Kopf, und dann nicht einmal mehr daraus. Max Merkur schwebte wieder in den Zeitpassagen. Friedrich Nietzsche, dachte Max Merkur. Ausgerechnet der. Sein Werk »Zarathustra« hatte er so ermüdend gefunden, und dann dieser schreckliche Bart. Max Merkur erinnerte sich noch, wie er zum ersten Mal Nietzsches Gedanken gelesen hatte, dass sich der Mensch zum Übermenschen weiterentwickeln soll. Es hatte ihn empört. Sicher, damit war kein geklonter, muskelbepackter Mensch gemeint, sondern einer, der sich im philosophischen Sinn mit dem Dasein zurechtfindet, einer, der sich nicht in Oberflächlichkeiten suhlt oder denkt, der Sinn des Lebens sei, Spaß zu haben. Der Übermensch ist einer, der weiß, wie grausam das Leben ist, dem bewusst ist, dass überall nur Fressen und Gefressenwerden zählt, und der daran nicht verzweifelt. Max Merkur aber wusste genau, dass er kein Übermensch war und es nicht akzeptieren konnte, dass die Welt nur aus Jägern und Beute bestand. Eine leise Musik wurde gespielt. Es war »What a wonderful world«, gesungen von Louis Armstrong. Er schwebte einfach so dahin; es war kein unangenehmes Gefühl. Und er wusste, je weniger geschah, desto besser für ihn.
Plötzlich wurde die Musik unterbrochen. Jemand fing zu sprechen an. »Sie hören Radio Time Warp, Ihr Sender bei Zeitreisen, wir senden rund um die Uhr auf 24 Millionen Megahertz.« Dann ertönte ein kleiner Jingle mit Gesang: »Radi-o-ooh-oo Timmmmmee WOOOoooaaaarp!« Max Merkur war über alles Seltsame froh, das nicht bissig war, also hörte er weiter zu. »Hier ist Radio Time Warp auf 24 Millionen Megahertz… Jetzt die neuesten Verkehrsmeldungen…« Wieder der Jingle: »Radi-o-ooh-oo Timmmmmee WOOOoooaaaarp! Der Verkee-eeeehh-rrr, uh, uh, yeah!« Max Merkur entspannte sich und verschränkte das, was er für seine Arme hielt, hinter dem Kopf. »Radio Time Warp… Auf der Strecke in die griechische Antike kann es um das Jahr 202 v. Chr. zu Behinderungen durch ein Handgemenge zwischen einem Nashorn und einem Elefanten kommen, bitte reisen Sie langsam und bleiben Sie auf der ultra-digitalen Spur… Beep… Auf der Zufahrtspassage in Richtung 79 n. Chr. ist ein freilaufender Rakhdul gesehen worden, bitte seien Sie äußerst vorsichtig, sein brennender Kopf kann zu schweren Verletzungen führen, die Behörden werden in Kürze versuchen, in seinen Schwanz einen Teufelsknoten zu binden, sobald sich jemand findet, der idiotisch und lebensmüde genug ist, so was zu machen… Beep… Aus Richtung der Urzeit bewegt sich ein Drache auf die Anrainergebiete der Hölle zu… Sollten Sie in seiner Nähe sein, dann kratzen Sie schnellstmöglich die Kurve… Beep… Ein Zug wilder Hunnen mit Fotoapparaten blockiert den Weg in Richtung 378 n. Chr. angeblich kommen diese Hunnen aus Richtung Himmel. Sie schmettern andächtige Siegesgesänge, sind jedoch äußerst aggressiv und zudem ungebadet… Beep…
Wie gerade gemeldet wird, ist die Rakhdul-Gefahr beseitigt, einem Hilfsbibliothekar mit Namen Wittgenstein ist es gelungen, das Ur-Monster einzufangen… Das waren die Meldungen, reisen Sie vorsichtig… Beep… Sie hören Radio Time Warp – und nun Musik.« Max Merkur hatte interessiert zugehört. Er fragte sich, ob es Wittgenstein gut ging. Dann fiel ihm ein, dass es einem Wittgenstein nie wirklich gut gehen würde. »Radi-o-ooh-oo Timmmmmee WOOOoooaaaarp!«, krächzte der Jingle wieder. »Und jetzt Musik aus den Achtzigern! Beginnen wir mit einem Song aus dem Jahre 1080: ›O Brüder, die Vesper dampft‹ vom Kirchenchor St. Dominik. Und was war das für eine Sache mit einem Drachen, der sich in Richtung der Anrainergebiete der Hölle bewegt, es wird doch nicht Grendl sein?« Mittelalterliche Gesänge hallten durch den Zeitkorridor. Max Merkur dachte nach. Vielleicht würde ihm ja dank der Vernunft eine Lösung einfallen. »Hier Radio Time Warp. Das war der Hit aus dem winterkalten Dezember des Jahres 1080. Und wie immer haben wir für Sie ein Gewinnspiel. Doch zuerst unser Jingle! Radi-o-ooh-oo Timmmmmee WOOOoooaaaarp! Unser Gewinnspiel… oooh yeaaah! Also los: Wie immer mit einem Zufallskandidaten… Ich rufe jetzt zuerst einen Zeitreisenden an, mal schauen, welche verlorene Seele dran ist, ha, ha, ha…« Es klingelte. Max Merkur hatte kein Telefon oder Handy, aber es klingelte. Er empfand dies als äußerst irritierend. »Ja? Hallo?«, sagte Max Merkur. »Ja! Hallo, hier ist Radio Time Warp. Der Sender für Zeitreisende. Mit wem spreche ich?« »Mein Name ist Max Merkur«, stammelte Max Merkur.
»Willkommen in unserer Sendung ›Hits aus den 80ern‹, Max Merkur. Hören Sie gerade unser Programm?« »Äh, ja, zwangsläufig.« »Zwangsläufig… ha, ha, ha. Super, Max Merkur, immer gut, einen Brüller auf der Pfanne zu haben.« »Gern geschehen«, murmelte er. »Dann zu unserem Gewinnspiel… Sie müssen einfach ein paar Fragen beantworten…« »Äh… was kann ich denn gewinnen? Mein Problem ist, dass ich keine Wohnung mehr habe, wo ich etwas reinstellen könnte und auch kein passendes Universum…« »Kein Universum, ha, ha, ich schmeiß mich weg. Sehr gut, Max Merkur. Sie sind viel lustiger als die borstige Schnabelschnecke aus der letzten Sendung.« »Danke.« »Aber nun zu unserer ersten Frage. Bereit? Wie heißt der Spitzname von Ritter Theobald, der als Linksaußen im Cupfinale von 1180 das entscheidende Tor in der Partie zwischen der Spielvereinigung Kreuzritter und Dynamo Ritterschwert schoss?« »Uh… äh… weiß ich nicht.« »Schade. Sie interessieren sich wohl nicht für Sport, Max Merkur? Das ist eigentlich recht bekannt. Sein Spitzname war Prinz Eisenbums, weil er zusammen mit seinen Schüssen aufs Tor stets einen Morgenstern warf. Aber gut, dann zur nächsten Frage.« Max Merkur wünschte sich die Monster zurück, die er bei früheren Zeitreisen zu treffen pflegte. »Die Frage: Wie lautet das Ende des Refrains einer beliebten Hunnenhymne aus dem Jahre 1580, die anfängt mit: ›O Herr, himmlischer Herr, wir brechen das Brot‹?« »Oh… ähm…«
»Das ist sehr, sehr bekannt, es hatte einen Cha-Cha-ChaRhythmus…« »Nee, weiß ich nicht…« »Ich wollte helfen, aber gut. Der Refrain hieß: ›O Herr, himmlischer Herr, wir brechen das Brot, und wer’s uns nicht gibt, den schlagen wir tot. Halleluja-ja-ja-cha-cha-cha‹.« »Kenn ich nicht, ich höre Hard Rock.« »Ha, ha, Hard Rock hören Sie. Sie sind ja ein Schlingel, ich klatsch mir auf die Schenkel vor Lachen, ha, ha… Aber nun zur letzten Frage… Bereit?« »Schießen Sie los.« »Losschießen, ha, ha, wirklich gut, aber jetzt die Frage: Wer griff in das Scharmützel am Wolfgangssumpf im Jahre 1880 ein und entschied die Auseinandersetzungen zwischen einem Trupp Engeln und Teufeln zu Gunsten der Engel?« »Uh, also echt…« »Kleiner Tipp. Er erhielt später eine eigene Show und war der Autor von ›Die Philosophie der Haselnuss‹. Jetzt ist’s wirklich ein Kinderspiel.« »Nee, tut mir Leid, keine Ahnung.« »Oh, schade! Die Antwort lautet: Das Eichhörnchen Eduard.« »Kenn ich nicht.« »Wirklich Pech, Max Merkur, aber vielleicht rufen wir Sie ja beim nächsten Mal wieder an, wenn es heißt: Radi-o-ooh-oo Timmmmmee WOOOoooaaaarp! Unser Gewinnspiel… oooh yeaaahh! Und jetzt der Hit aus dem Jahre 1980: ›Girls just wanna have fun‹, gewünscht von unserer Stammhörerin, der Hexe Trudel Beuteschieß.« Bevor das Lied angespielt wurde, fiel Max Merkur aus dem Zeitenstrom wie eine Haselnuss von einem Baum. Lutherion war schon da. Er lächelte und hielt ein rosa Stoffhäschen in der Hand.
»Na, alles gut überstanden?«, fragte er. »Ja, ich habe bei einem Radiogewinnspiel mitgemacht und… verloren.« »Echt, du auch? Ich ebenfalls… Ich habe ein rosa Stoffhäschen gewonnen. Schau mal, ist doch süß, oder?« »Hast du bei Radio Time Warp mitgespielt?« »Nein, nein«, gab Lutherion zurück. »Bei Antenne Hölle 7, die haben die besseren Preise.« Max Merkur fand, dass ein Teufel mit einem rosa Stoffhäschen in der Hand einen merkwürdigen Anblick bot. »Wo sind wir denn? Das sieht ja seltsam aus hier, das ist doch nicht die Erde?«, fragte Max Merkur. »Nein, das ist nicht die Erde.« Lutherions Stimme klang besorgt. »Ich habe mir schon gedacht, dass es nicht so einfach werden würde, als ich die Nummer auf dem Handy gesehen habe.« »Also, wo sind wir? Ich sehe nichts.« »Du hast gute Augen«, stellte Lutherion fest; und als er bemerkte, dass Max Merkur stutzte, fügte er hinzu: »Wir sind nicht auf der Erde, ich bin mir nicht mal sicher, ob wir innerhalb von Raum und Zeit sind.« »Häh?« Sie standen auf einem Stück Land, das wie eine Küstenlinie gebogen war. Ein rauer Wind wehte, der Boden war braun und erdig. Weit und breit gab es weder einen Baum noch einen Berg oder eine Wolke, auch die Sonne war nirgends zu sehen. Das Land schien sich auf der einen Seite ins Unendliche zu erstrecken, am anderen Ende jedoch hörte die Welt einfach auf. Man konnte weder einen Himmel noch einen Horizont, auch keinen Abgrund erkennen. Es war einfach nichts da, was man sehen konnte.
»Wir stehen am Ende der Welt, jenseits dieser Linie befindet sich das Nichts«, sagte Lutherion mit für ihn ungewohnter Ehrfurcht in der Stimme. »Aber da ist doch nichts… Äh, okay, ich formuliere anders: Da muss doch etwas jenseits dieses Landes sein, zumindest etwas, das die Grenze ausmacht.« »Nein, da ist nichts. Oder siehst du etwas?« »Nein, ich sehe nichts.« »Na, siehst du.« Max Merkur starrte auf das Nichts, das direkt vor ihm lag wie ein gewaltiges, schläfriges Monster, und doch konnte er nichts erkennen, als ob es ein großer, blinder Fleck wäre. Trotzdem diktierte ihm die Logik, dass da, wo eine Grenze ist, ein Diesseits und ein Jenseits der Grenze existieren müsse, zumindest müsste es einen Raum geben, oder täuschte er sich da… Ihm wurde ganz schwindlig bei dem Versuch, sich des Nichts bewusst zu werden. »Aber wenn ich jetzt einen Schritt über das Land hinaus mache, falle ich dann?« »Das würde ich dir nicht raten. Das Nichts nichtet! Warte, ich zeig es dir.« Lutherion nahm seinen rosa Plüschhasen und warf ihn jenseits des Landes. Da war plötzlich nichts mehr. »Siehst du, das Nichts hat den Stoffhasen genichtet.« »Ist ja unerhört«, meinte Max Merkur und kaute in seinem Kopf die Logik wider. »Spazieren wir ein Stück am Rand entlang. Es muss einen Grund geben, warum uns das Handy an diesen Ort geführt hat, obwohl mich wundert, wie Friedrich Nietzsche hierher gekommen sein mag.« Die beiden marschierten los. Max Merkur konnte den Blick nicht vom Nichts abwenden; es schien ihm wie das ewige Feuer Pahhur zu sein, nur fürchterlicher und endgültiger. Schließlich gelangten sie zu einer ziemlich großen Landzunge,
die sich weit nach außen erstreckte. Sie sahen ein kleines Schild an einem Pfosten, der in der Erde steckte: »Kleines Ende der Welt, Fußweg 30 Minuten.« Die beiden schauten sich an, und Lutherion signalisierte mit einer Geste, dass es gut wäre, diesen Weg einzuschlagen. »Dann gucken wir uns mal das kleine Ende der Welt an.« »Ich habe zwar schon das große Ende der Welt mitgemacht, aber warum nicht«, erwiderte Max Merkur. Lutherion blieb wie angewurzelt stehen und starrte irgendwohin. »Siehst du es auch?«, fragte er plötzlich. »Was meinst du denn? Oh!« Vor ihnen, mitten im Nichts, trieb eine kleine Insel mit einer Hütte und einem Kamin; aus dem Kamin kräuselte sich grauer Rauch. »Eine Insel… im Nichts?« Max Merkurs Gehirnwindungen schwenkten die weiße Fahne. »Ja… das ist eigentlich schwer möglich, aber ich sehe sie auch.« »Es scheint beinahe so, als ob ich sie anfassen könnte.« »Na ja, es ist ja auch nichts dazwischen«, kicherte Lutherion. Max Merkur sah die Insel tatsächlich direkt vor sich, doch als er nach ihr greifen wollte, verfehlte er sie. »Ah, ich sehe sie, aber ich kann sie nicht berühren«, murrte Max Merkur und versuchte es wieder und wieder. »Das ist wie mit diesen verflixten 3D-Brillen, die ein rotes und ein grünes Auge haben und ganz lahme 3D-Effekte hervorrufen.« »Oh, so schlecht sind die nicht, bei uns tragen solche Brillen aber nur Jäger, die in den nördlichen Regionen des SanktAugustin-Dschungels nach Bananenmonstern suchen…« »Wie sieht ein Bananenmonster aus?« »Wie eine Banane.« »Oh!«
»Ja, und sie verstecken sich in einer Staude anderer Bananen. Solange sie nicht blinzeln oder husten, fallen sie nicht auf… Hast du eigentlich bald genug nach deiner Insel gegriffen?« »Äh… ja.« Die beiden setzten sich in Bewegung, und Lutherion erzählte noch einige Geschichten vom heroischen Kampf NimrodKhans II. gegen das Bananenmonster Bubarutsch, der auch Thema eines berühmten Gemäldes wurde, das im Staatlichen Luziferium zu sehen war und »Peter und der Wolf« hieß (der Kurator des Museums vermutete schon lange, dass die Schilder vertauscht worden waren. Zumindest schien es seltsam, dass ein Bild mit einem Hirten und ein paar wirklich blöd grinsenden Schafen als »Das grausige Bananenboot-Massaker« betitelt war. Zugegeben, was das eine Schaf da links am Bildrand mit dem Schäferhund trieb, konnte in diese Richtung interpretiert werden). Schließlich gelangten sie ans Ende der Landzunge und zu einer kleinen Hütte, vor der ein rotes Fernrohr aufgestellt war. Auf einer großen, hölzernen Tafel stand: »Willkommen am Kleinen Ende der Welt. Geöffnet von 9 Uhr bis kurz nach Weltuntergang.« Die Holzhütte war mühelos als eine Art Kiosk mit Cafe davor zu erkennen. Tische und Stühle standen auf einer quadratischen Terrasse. An verschiedenen Drehstangen wurden Postkarten, Souvenirs, allerlei Bücher und T-Shirts zum Verkauf angeboten. Vom Ende der Landfläche aus, genau da, wo das große rote Fernrohr stand, hatte man einen vorzüglichen Blick auf die im Nichts schwebende Insel. (Zumindest hatte man das Gefühl, die Insel von hier aus viel besser sehen zu können. Was natürlich Unsinn war, weil im Nichts kein Raum vorhanden war). »Sieht aus wie ein Aussichtspunkt mit Andenkenladen und Verköstigung«, stellte Max Merkur fest.
Lutherion sah sich um: »Ein bisschen kalt, aber ansonsten finde ich es eigentlich ganz schön hier.« Auch Max Merkur blickte sich um. »Schau mal, was als Spruch über dem Eingang der Holzhütte geschrieben steht.« Max Merkur deutete auf eine kleine Tafel: »SCHELLINGS SOUVENIRSHOP«, und darunter in gelben, kleinen Lettern: »Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr Nichts?« »Aha, und kannst du damit etwas anfangen?«, erkundigte sich Lutherion. »Ja, Schelling war ein Stuttgarter Philosoph, dessen Werke fast keiner mehr kennt. Und das ist sein einziger berühmter Ausspruch: Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts. Das heißt, warum konnte das Universum überhaupt erschaffen worden sein, wenn vorher nur Nichts war.« »Danke, junger Mann, es ist schön zu hören, dass sich jemand an mich erinnert.« Die Stimme kam von einem nicht allzu großen Mann mit schlohweißen Haaren. Er trug einen dunklen Frack und wies einen gekrümmten Rücken auf. Nur ein Stock, an dem er sich mit aller Kraft festhielt, verhinderte, dass er vornüberkippte. Max Merkur und Lutherion musterten den alten Philosophen überrascht, der sich trotz seiner Gebrechlichkeit flink bewegte. »Ich bin Schelling. Einer der Philosophen, die niemand liest und jeder kennt.« »Hallo, Schelling, ich bin Max Merkur, und das ist Lutherion, ein Teufel vom TSD. Ich habe Philosophie studiert und gerade meinen Magister gemacht«, stellte Max Merkur sich lächelnd vor. »Und hast du meine Werke gelesen?« Schelling blickte ihn von unten an. »Äh… nein… Die waren mir zu langwei… äh, zu geistreich.«
Schelling holte mit seinem Stock aus und schlug Max Merkur gegen das Schienbein. »Aua… Spinnst du, Schelling? Das tut weh.« Max Merkur rieb sich das Bein. »Niemand liest mich mehr. Ich bin einer der besten Philosophen. Meine Werkausgabe umfasst 16 Bände. Habe philosophiert wie ein Weltmeister, trotzdem kennen selbst Philosophieprofis nur noch meinen Namen und mehr nicht.« »Och, sag das nicht, Schelling…« Max Merkur wollte ihn trösten und sich einen weiteren Stockhieb ersparen. »Man kennt dich… äh… gut.« »Ach ja? Ist das so? Und wie lautet mein Vorname?« »Uh…« Max Merkur überlegte fieberhaft. »Hmmm… Johann Sven Emil.« Schelling schlug ihm erneut mit dem Stock gegen das Schienbein. Lutherion wich sicherheitshalber ein Stück zurück. »Unsinn!« »Au… Mensch, Schelling, lass das! Und wie lautet dein Vorname nun?« »Ah… keine Ahnung, ich dachte du wüsstest ihn.« »Uh?« Lutherion flüsterte Max Merkur zu: »Also, dieser grauhaarige Prügelmeister kennt auf keinen Fall den Sinn des Lebens.« »Sehe ich genauso, aber vielleicht weiß er ja, wo Nietzsche steckt«, antwortete Max Merkur. Dann sprach er laut zu Schelling: »Was machst du denn hier?« »Leite den Souvenirshop. Mir ist schon zu Lebzeiten aufgefallen, dass sich keiner an mich erinnern wird, da mein Ruhm verblasste, je älter ich wurde. Also habe ich darum gebeten, nach meinem Tod etwas gegen das Vergessen meiner Person arbeiten zu dürfen. Denke, das ist irgendwie falsch da droben angekommen. Jetzt verkaufe ich Andenken in Schellings Souvenirshop.«
»Und wer kommt hierher, Schelling?« »Na ja, von hier aus hat man eine vorzügliche Aussicht auf das Nichts. Jede Woche kommen einige Existenzialisten in Reisegruppen vorbei und wollen einen Blick auf das Nichts werfen… und machen Fotos und halten dabei Sartres ›Das Sein und das Nichts‹ in die Kamera. Danach reisen sie weiter zu einem kleinen, verträumten Bistro im Westen, es heißt ›Chez la depression‹, wo leckeres, existenzialistisches Spritzgebäck serviert wird. Sie werben übrigens mit dem Spruch ›In unseren Teigwaren ist Nichts drin‹, das macht natürlich neugierig. Aber alles nur Schaumschläger.« »Und was hat es mit der Insel auf sich, die im Nichts treibt?« »Das ist Nietzsche, eingesperrt auf der Insel. Armer Kerl. Andererseits werden seine Werke gelesen und meine nicht, von daher ist’s mir egal. Zwei Engel haben ihn hierher gebracht. Wie die über das Nichts gekommen sind, ist mir unklar. Auf jeden Fall haust er seitdem auf seiner Insel, und wenn man durch das Fernrohr schaut, kann man ihn ab und zu dabei beobachten, wie er seine Runden um sein Häuschen dreht.« Max Merkur und Lutherion blickten sich an. Sie hatten ihn gefunden. Die Tatsache, dass er von zwei Engeln hierher gebracht und gewissermaßen im Nichts ausgesetzt worden war, schien ein sicheres Indiz dafür, dass er den Sinn des Lebens kannte. Schelling begann, gebückt im Kreis zu laufen: »Lockt auch kaum Touristen an, dieser Nietzsche. Neulich kam mal eine Busladung voller Übermenschen hier an, waren alles kräftige Kerle mit rosa Pullovern und engen Jeanshosen. Haben da drüben ein Grillfest veranstaltet und Bockwurst mit Wasabi gegessen. Haben mich aber keines Blickes gewürdigt.« »Schelling, wir müssen rüber zu Nietzsche!«
Schelling hielt inne und schlug Max Merkur mit dem Stock gegen das Schienbein: »Man kann nicht hinüber, das ist ja gerade der Witz am Nichts, man kann nicht hinüber. Wer es versucht, wird dermaßen genichtet, dass ihm Hören und Sehen vergeht.« »Au… Schelling… Noch einmal den Stock, und ich lese dir als Strafe aus deinen Werken vor…« Schelling wirkte irritiert. Lutherion meldete sich zu Wort. »Er könnte Recht haben, es gibt wirklich keinen Weg über das Nichts. Auch wir Teufel wissen keinen. Ich würde sagen, hier endet unsere Reise, mit dem Sinn des Lebens direkt vor unserer Nase.« »So viel Mühe umsonst«, murrte Max Merkur. »Könnt euch gern hier ausruhen«, begann Schelling wieder. »Schaut euch meine Andenken an, vielleicht gefällt euch ja was. Ich unterschreibe auch alles. Es gibt allerdings keine Sartre-Bierschläuche mehr, und auch der NietzscheBadeschaum ist alle.« Mit diesen Worten verschwand Schelling wieder in seiner Hütte. Dann rief er noch: »Aber wir haben gestern frisches Camus-au-chocolat bekommen!« »Na ja, so endet also alles«, meinte Lutherion. »Ich denke, ich werde mir wenigstens ein Andenken mitnehmen. Für meinen dreieckigen Schreibtisch beim TSD. Ich habe noch Platz an der einen Kathete.« Enttäuscht begaben sich beide zu den Drehständern und begutachteten die Waren. Max Merkur ging alles Mögliche im Kopf herum. So nah dran, und doch hatten sie versagt. Was nun? Wenn aber Lutherion keine Möglichkeit sah, was sollte er dann ausrichten? Er schaute die Motiv-T-Shirts durch. Viele hatten die üblichen Sprüche darauf: »Wo ein Wilhelm ist, ist auch ein Busch«; »Buchen Sie jetzt, Eichen Sie später«; »Entrüsteter Ritter sucht Kettenhemd.« Das alles gefiel ihm nicht. Es gab
auch spezielle Schelling-T-Shirts, auf denen sich Schellings Kopf und ein Spruch aus seiner Philosophie befanden: »Alles Fremde sei aufgegeben. Ich will selbst untersuchen.« Nicht schlecht, aber auf dem T-Shirt lächelt Schelling so komisch, dachte Max Merkur. Auf einem anderen sah man Schelling mit Daumen nach oben und dem Zitat: »Wahre Philosophie kann nur mit freien Handlungen beginnen. Abstrakte Grundsätze an der Spitze dieser Wissenschaft sind der Tod alles Philosophierens«. Fast das ganze T-Shirt war von dem Spruch bedeckt. Kein Wunden dass den keiner liest, dachte Max Merkur. Auf einem dritten T-Shirt war Schelling mit überkreuzten Armen abgebildet: »Schelling says – Yo rap, man!« Das fand Max Merkur schon besser. Dann ging er zu den Postkarten. Er beobachtete, wie sich Lutherion einen Hut aufsetzte, der wie ein Tirolerhut aussah, aber anstatt eines Gamsbarts war Nietzsches Bart daran befestigt. Auf den Postkarten war nichts zu erkennen. »Schöne Grüße vom Nichts.« Auf einer anderen prangten acht kleine Bilder, die alle das Nichts zeigten. Das gefiel Max Merkur auch nicht, und er ging zu den kleinen Andenkenbüchern. Lutherion hatte mittlerweile kleine Holzmodelle in der Hand, die das Universum darstellten. Er drückte oben einen kleinen Hebel nach unten, und das Universum explodierte; als er den Hebel wieder zurückstellte, fügte es sich wieder zusammen. Max Merkur überlegte, wohin er das Souvenir überhaupt mitnehmen wollte; er hatte kein Welt mehr, er durfte nicht in den Himmel und wollte nicht in die Hölle. Er zog ein kleines, dünnes Büchlein heraus: »Das Nichts und seine Umgebung – ein Führer für Touristen.« Er schlug es auf. Es enthielt zahlreiche Bilder vom Nichts, manche Skizzen davon entpuppten sich sogar als äußerst genau. Max Merkur begann zu lesen:
»Das Nichts liegt 1.700 Milliarden Lichtjahre westlich der Nord-Goten-Metropole Narnuk-Hopi und 1.200 Milliarden Lichtjahre nördlich von Sirius-2, einem Quasar unterhalb einer alten Kornmühle, die auch heute noch in Betrieb ist und vom Kornmüller Maizquer VI. geleitet wird. Malerisch am Ende einer großen Ebene gelegen, der Immer-Kalten-DreckSteppe, ist das Nichts eine der größten Sehenswürdigkeiten, die das Universum bietet. Wanderungen an den steilen Klippen des Nichts gehören zu den eindrucksvollsten Erlebnissen des Urlaubs. Forscher haben festgestellt, dass sich das Nichts jedes Jahr um zwei Zentimeter ausdehnt. Es wird also eines Tages das Universum verschlingen. Deswegen ist begonnen worden, durch große Dammaufschüttungen das Nichts aufzuhalten. Der Asur-II. -Staudamm, der größte Damm, der je gebaut wurde, hat sich jedoch als wirkungslos erwiesen. Er gehört zu den zehn Weltwundern, bei denen sich die Welt wundert, wer auf eine so blöde Idee gekommen ist. Er ist aber der Ort, von dem aus man am besten das zermalmende Vernichten des Seins durch das Nichts beobachten kann. Neu aufgebaute Karussells und Bierzelte ermöglichen hier einen schönen Tag (das Kettenkarussell sollte allerdings gemieden werden, da es bei der Fahrt ein wenig ins Nichts hineinragt). Weitere gute Aussichtsplateaus gibt es am ›Kleinen Ende der Welt‹, wo Schellings Souvenirshop zu einem Umtrunk und Picknick einlädt. Beherzte Urlauber können an der so genannten Engelsnadel ihren Mut beweisen, wo ein Landstück, das nur 15 Zentimeter breit ist, ins Nichts hineindringt.«
Max Merkur blätterte weiter, während Lutherion einen PEZSpender mit dem Kopf Schellings betrachtete.
»Das Nichts war schon seit Urzeiten Gegenstand zahlreicher philosophischer Erörterungen. In der Neandertaler-Hölle von Um-Kathork wurde ein Stein gefunden, auf dem der Neandertaler-Philosoph Agu-Uk notierte: ›Heute Nichts gesehen! Seltsam Ding! Vielleicht große Macht! Werde alle Neandertaler hineinführen! Super Sache!‹ Die Schrift konnte erst in jüngster Zeit entziffert werden, weil sie zuvor für zermatschte Käfer in süß-saurer Sauce gehalten worden war. Auch im Mittelalter wurde über das Nichts spekuliert. Der bretonische Alchimist Parderlardus versuchte sogar, Gold in Nichts zu verwandeln, um es dann als Hautbalsam in kleinen Fläschchen zu verkaufen. Er wurde später hingerichtet, weil sich herausstellte, dass sein Mittel die Haut austrocknete. Ein deutscher Philosoph mit Namen Sven Gören Schaltung, (manche meinen auch, er hieß Jasper-Grönkjer Schädling, aber so genau kann sich keiner mehr an seinen Namen erinnern) äußerte die kluge Bemerkung: › Warum ist etwas und nicht vielmehr nichts?‹ Eine Frage, die vom Teufelsphilosophen Spizza VIII. mit einer ebenso geistreichen Retourkutsche beantwortet wurde: ›Na, schmeckts?‹. Auf beide Fragen sucht die Philosophie noch eine Antwort. In der neueren Philosophie wird über die Möglichkeit spekuliert, durch das Nichts zu gehen. Der Begründer des logischhermeneutischen Salsaismus (bei dem versucht wird, Tanzbewegungen mit philosophischen Erkenntnissen zu kombinieren), McTumlor III. behauptet sogar, man könnte durch das Nichts reisen. Seine Argumentation lautet wie folgt: ›Das Nichts ist nichts, du musst es nur durch ein Etwas ersetzen, aber nichts Grünes, das mag ich nicht.‹ Eine erstaunliche Begründung, die zumindest auf dem Papier hoch logisch ist. Wie ersetzt man aber das Nichts durch etwas? Dazu sagt McTumlor III: ›Du musst an etwas glauben, zum
Beispiel, dass die Rumba flotter ist als der Jive.‹ Die Theorie, dass das Nichts durch einen Glaubensakt in ein Etwas verwandelt werden kann, ist noch nie von den Teufeln getestet worden. Kor-Ker III. der Schläger und Vertreter des Salsaismus, der als einer der mutigsten der Teufel gebeten wurde, sich gläubig ins Nichts zu stürzen, meinte: ›Ich glaube, es hackt!‹ und wechselte zum empirischen Konsumismus, wo er seitdem mit Hilfe von Tacos mit Brombeer-Wirsing-Geschmack die Erleuchtung sucht.«
Max Merkur klappte das Buch zu und sagte zu Lutherion, der gerade ein T-Shirt mit der Aufschrift »Im Nichts do gibts koa Sünd« in der Hand hatte: »Ich weiß, wie wir zu Nietzsche gelangen, aber dafür brauchen wir Glauben.« Lutherion ließ das T-Shirt fallen. Max Merkur reichte ihm das Buch, und der Teufel las die Stelle durch. »Das wird schwierig. Ich jedenfalls glaube an nichts«, meinte Lutherion. »Ich nehme an, dass der Satz ›Ich glaube, dass dunkles Satansbräu besser schmeckt als herbes MephistoBockbier‹ nicht als Glaube zählt.« »Das ist kein echter Glaube, das ist eine Meinung.« »Ja, eigentlich fast eine Tatsache: Das Satansbräu hat 460 Prozent und ist somit weniger alkoholhaltig als das MephistoBockbier. Die meisten Teufel denken wie ich.« »Also glaubst du an nichts, Lutherion?« »Nein, nicht die Bohne. Die Dinge, an die Menschen glauben, wie Engel, das sind für mich Tatsachen, und lästige noch dazu. Glaubst du etwa an etwas?« Max Merkur zögerte. »Ich glaube an die Vernunft.« »Ah, stimmt, ja, aber wird das reichen?«
»Hmmm… Glaube und Vernunft schließen einander aus, oder?« »Frag nicht mich«, entgegnete Lutherion, »ich bin ein Teufel.« Sollte er es wagen? Max Merkur dachte wieder an seine alte Heimat, an das Universum, besonders an die Galaxien, die Vögel und die Schnecken, die sich darin tummelten. Er dachte an den Geruch von verschüttetem Benzin, an Pizzen mit Peperoni und Tunfisch und den Anblick von sechs Baukränen direkt vor seinem Wohnzimmerfenster (und trotzdem war die Miete astronomisch hoch, dieser Halsabschneider von Vermieter!), die sich zauberhaft gegen den Sonnenuntergang abhoben. »Ich werde es versuchen. Ich werde versuchen, durch meinen Glauben das Universum zu retten!«, rief Max Merkur. »Das finde ich toll von dir. Und wie willst du das anstellen?« »Ich stelle mich an den Rand des Nichts und glaube…« Lutherion kratzte sich mitleidig am rechten Horn: »Also gut, und wenn es schief geht, sorge ich dafür, dass du in der Hölle ein Denkmal erhältst.« »Echt?« »Äh, nein, das sage ich nur so, man will ja nett sein.« »Also, packen wir’s an.« Max Merkur ging mit Lutherion bis an den Rand der Welt. Von diesem Punkt aus war die Insel, auf der Nietzsche hauste, gar nicht mal so weit entfernt. Doch je länger Max Merkur hinüberstarrte, desto mehr verließ ihn der Mut. Er stand nun direkt am Abgrund. Er konnte seine Fußspitzen sehen, hinter denen das Nichts wie ein gähnender Schlund klaffte. Es war kein Abgrund, es war nur eine gierige Fressmaschine, ein Unbewusstsein, ein Verneinen sämtlicher Dinge, ein unerhörtes Monster, der Feind allen Seins.
»Na schön«, meinte Lutherion, der neben ihm stand. »Dann wirf mal deinen Glaubensmotor an.« »Ähm… Das ist nicht so einfach, ich muss mich konzentrieren.« »Für den Glauben muss man sich konzentrieren? Klingt, als ob man eine Textaufgabe lösen müsste.« »Hast du die auch so gehasst?« »Ja, in Meta-Mathematik hatte ich immer eine Vier. Aber du wolltest gerade ins Nichts springen, lass dich nicht stören.« »Gibt’s nicht vielleicht ein Seil, wie beim Bungee-Jumping, an dem man wieder rausgezogen werden kann?« »Ich könnte dich auch in einer großen Kanone rüberschießen und du könntest im Flug ›Hava Nagila‹ singen.« »Okay, okay… kein Bungee-Seil… Was heißt eigentlich ›Hava Nagila‹, das habe ich mich immer schon gefragt?« »Das bedeutet übersetzt: Zeit zu springen«, erklärte Lutherion. »Wenn das jetzt schief geht, wird nie jemand von meiner Heldentat erfahren.« »Naja, die Redaktion der Großen Teufelsenzyklopädie der Vollkretins bekommt bestimmt Wind davon. Nicht zuletzt deshalb, weil ich mit dem Redakteur der Kategorie ›Grenzdebilitäten‹ ab und zu essen gehe. Tröste dich, ich sichere dir deinen Ruhm. Und jetzt hopp… Sprüngchenzeit.« »Was ist denn dort sonst noch alles verzeichnet?« »Eigentlich alles, was ein bisschen… äh… geistesarm ist. Vielen geht es darum zu zeigen, dass sie bereit sind, auch neue, erstaunliche Dinge zu probieren. Wenn es klappt, beweisen sie ihre Genialität. Und wenn es fehlschlägt, dann… äh… wird man in der Enzyklopädie verewigt. Eine Gewinn-GewinnSituation, findest du nicht? Aber im Prinzip ist alles Dumme schon von den Teufeln getan worden. Wir halten sämtliche Rekorde, unangefochten. Darauf sind wir stolz, und wenigstens
das haben wir den Engeln voraus. Alles ist bisher versucht worden, außer eben gläubig ins Nichts zu springen und ein Gerät mit Engelstechnik an eine Maschine mit Teufelstechnik anzuschließen.« »Warum denn nicht?« »Weil das Universum in seiner Gesamtheit, also Himmel, Hölle und Erde enden könnten. Andererseits passiert vielleicht gar nichts, trotzdem wäre es sehr dumm, es zu versuchen. Aber wenn du jetzt gleich springst… Du wirst doch gleich springen, ich meine, ich habe noch nicht alle T-Shirts durchgeguckt… Also, wenn du jetzt gleich springst, wirst du als erster Mensch in die Teufelsenzyklopädie aufgenommen, gleich neben Merkor IV, der versuchte, mit dem Sternbild des Großen Wagens Kartoffeln zu transportieren.« »So ein Blödsinn, das geht doch nicht.« »Eben. Der Große Wagen ist nur für Personen gedacht. Natürlich hatte er einen Achsbruch, und es gab Riesenscherereien mit der Versicherung. Na ja… wenn du jetzt drauflos glauben würdest, wäre ich dir dankbar.« »Gut, gut, ich versuch’s«, sagte Max Merkur mit einem flauen Gefühl im Magen. Lutherion setzte ein freundliches Lächeln auf, das man mühelos als ein Das-war’s-dann-wohlLächeln erkennen konnte. Max Merkur konzentrierte sich. Wie bei einer Textaufgabe. Er glaubte an die Vernunft, das wusste er. Vor ihm lag das Nichts, bereit zuzuschnappen und seine Beute ins Nichtsein zu zerren. Was bedeutete es, an die Vernunft zu glauben? Max Merkur erinnerte sich noch daran, wie er versucht hatte, sich katholische Gedanken zu verschaffen, um den Apparat des Jüngsten Gerichts zu überlisten. Das hatte nicht funktioniert. Er glaubte einfach nicht daran und hatte noch nie daran geglaubt. Deswegen bin ich doch kein böser Mensch, dachte
Max Merkur, der Glaube an die Religion ist mir einfach nicht geschenkt worden. Wie einfach wäre sein Leben gewesen, wenn er gläubig wäre. Oder war das ein Irrtum? An die Vernunft jedoch glaubte er. Das bedeutete für ihn, dass man über Dinge diskutieren konnte, es bedeutete, dass am Ende einer Diskussion mit Argumenten eine vernünftige Lösung herauskam. Er brauchte weder Gewalt noch Einschüchterungsversuche als Mittel, um sich durchzusetzen. An der Vernunft konnte jeder teilhaben. Er glaubte, dass sie auf der ganzen Welt gleich war, es gab nur eine Form der Vernunft, die in Australien, in China, Deutschland, Amerika und auf dem Mond dieselbe war. Er glaubte, dass selbst ein Engel oder ein höheres Wesen der Vernunft folgen müsste, wenn es nicht als ungerecht und willkürlich dastehen wollte. Die Vernunft steht über den Dingen, über Engeln, Menschen und Teufeln, die Vernunft verbindet sie gleichsam, sie ist die Hüterin des Glücks, sie bewahrt vor Irrtümern und gibt den Menschen die Möglichkeit, sich zu entwickeln… »Guten Tag, ich bin Friedrich Nietzsche.« Max Merkur stand auf der Insel im Nichts.
Grendl
Lutherion lief auf und ab. Schon zwei Stunden hatte er nichts von Max Merkur gehört. Aus irgendeinem Grund, den er nicht verstand, war der nach dem kurzen Gespräch, das er mit ihm gehabt hatte, auf der Insel im Nichts erschienen. Er hatte sich sofort an das rote Fernrohr begeben und durchgesehen. Die Insel hatte kein bisschen näher gewirkt, so als ob man bloß durch Fensterglas schaute. Aber es ging um das Prinzip. Wenn man jemand auf einer Insel sehen wollte, musste man durch ein Fernrohr schauen. Er hatte beobachtet, was passiert war. Zuerst war Max Merkur einige Runden mit Nietzsche um die Hütte gelaufen. Nietzsche hatte eine Decke um sich gewickelt. Sein großer Bart hatte sich deutlich abgehoben. (Starrte man den Philosophen eine Weile an, erhielt man unweigerlich den Eindruck, er sei nur ein großer, wandelnder Schnauzbart mit Beinen.) Fast dreißig Minuten lang hatten sie ihre Runden gezogen. Dann war Max Merkur kurz stehen geblieben und hatte sich die Hände vors Gesicht gehalten. Hatte er an der Stelle gerade den Sinn des Lebens erfahren oder nur niesen müssen? Dann waren die beiden in die Hütte gegangen. Seitdem hatte er sie nicht mehr gesehen. In der Zwischenzeit hatte ihm Schelling einen Apfelkuchen gebracht. Er bestrich ihn mit den Resten des Inhaltes einer Dose Wasabi, die vom Grillfest der Übermenschen übrig geblieben war. Warum Übermenschen nie aufräumen können, hatte Schelling gebrummt, bevor er wieder in seine Hütte verschwunden war. Lutherion lief weiter in kleinen Kreisen. Zum ersten Mal bildeten sich an seinen Teufelshörnern schwach flackernde Flammen. Er drückte sie mit den Händen aus. Der Teufelsschwanz schlug unruhig auf den Boden und war gar nicht unter Kontrolle zu bekommen.
Da geschah plötzlich etwas auf der Insel. Die Tür der Hütte wurde geöffnet, und Nietzsche trat zusammen mit Max Merkur heraus. Max Merkur stellte sich an den Rand des Nichts. Würde es ein zweites Mal klappen? Oder würde er doch noch in die Große Enzyklopädie der Vollkretins aufgenommen? Hektisch schaute Lutherion erneut durch das Fernrohr. Er drehte an dem Ring, mit dessen Hilfe man zoomen konnte. Das Bild verschwamm kurz… »Entschuldige, dass es so lange gedauert hat«, sagte Max Merkur, der dicht neben Lutherion stand. »Oh… Du bist schon hier. Ich habe gerade ein bisschen die hinteren Gebiete des Nichts angeschaut. Prima Rundblick mit dem Fernrohr.« Lutherion lächelte. Max Merkur schien erschöpft und durcheinander zu sein, denn einen Augenblick stand er nur geistesabwesend da. »Und? Hast du denn Sinn des Lebens herausgefunden?«, fragte Lutherion nach einigen Sekunden. »Ja, er hat ihn mir verraten, und er ist… ähm… nicht das, was man vermuten würde.« »So was in der Art von: Der Sinn der Lebens ist, immer einen guten Parkplatz zu haben?« »Nein, nein, er ist sehr allgemein, ohne Alltagsgegenstände. Er ist nur irgendwie… Junge, Junge… starker Tobak.« »Wunderbar, so gefällt mir das.« »Nichts Anzügliches allerdings.« »Mist.« »Nietzsche hat mir erzählt, er sei friedlich am 3. Januar 1889 eine Straße in Turin entlangspaziert. Das Wetter war schön, und er dachte darüber nach, ob er sein Werk ›Also sprach Zarathustra‹ nicht doch lieber ›Die Jungfrau in Lavendel‹ hätte taufen sollen, einfach wegen der Verkaufszahlen, der Zarathustra lag wie Blei im Laden. Da sah er, dass ein
Kutscher sein Pferd mit einem Stock schlug. Tierliebend wie er nun mal ist, rannte er hin und stellte sich schützend vor das Pferd.« »Nobel, nobel.« »Nicht wahr? Just in dem Moment musste ihm ein Engel, der hinter dem Gaul auf der Lauer lag, heimtückisch den Sinn des Lebens zugeflüstert haben. Nietzsche hatte keine Chance. Zwar bekam er seinen Angreifer nie zu Gesicht, aber er kann sich an ein Flattergeräusch erinnern.« »Das würde zu denen passen.« »Ja, er vermutet aus Rache, weil er gesagt hat, Gott sei tot.« »Ein Skandal eigentlich, denn wir kümmern uns um die Sünder. Das ist uns vertraglich zugesichert worden.« »Was glaubst du, was dann passierte? Er brach wahnsinnig, wie vom Blitz getroffen, unter der Last des Wissens zusammen und wurde in eine Irrenanstalt eingeliefert. Nach seinem Tod haben ihn zwei Engel auf diese Insel gebracht. Nietzsche wusste, er war kein Mensch mehr, er war Dynamit. Er war zu gefährlich geworden und musste verschwinden.« »Verstehe.« »Seitdem lebt er einsam auf seiner Insel und dreht ab und zu ein paar Runden. Allerdings ist er davon überzeugt, dass wir auf einer Insel sind und er auf dem Festland. Das hat mich im Gespräch kurz… irritiert, muss ich gestehen. Außerdem hatte ich wegen seines Bartes dauernd das Gefühl, eine haarige Raupe liefe über sein Gesicht. Das ist wirklich ein wenig störend. Du siehst nämlich seinen Mund nicht, wenn er spricht. Na ja, was kann ich noch über Nietzsche sagen? Ach ja, er erzählt sehr gut Witze, zum Beispiel: Kommt ein Übermensch in eine Bar…« »Den Sinn des Lebens, bitte…«, Lutherion war durch Max Merkurs Redeschwall unruhig geworden und hatte
zwischenzeitlich das Petrus-Handy gezückt. Er wählte die Nummer. »Je schneller ich diese Info wieder los bin, desto besser«, meinte Max Merkur. Lutherion hatte das Handy am Ohr und runzelte die Stirn: »Nanu? Das Handy ist tot!« »Ich glaube nicht, dass es je wirklich am Leben war.« »Nein«, entgegnete Lutherion, »kein Pieps mehr, keine Verbindung, keine Anzeige, kein gar nichts.« »Uh, das hört sich nicht gut an.« Lutherion drückte hektisch auf allen Tasten des Mobiltelefons herum. Als das nicht funktionierte, klopfte er gegen die Vorder- und Rückseite, erfolglos. Schließlich musste er aufgeben. »Tja, das bedeutet, wir sitzen hier mit dem Sinn des Lebens und einer leeren Wasabi-Dose in den Händen fest… Ich habe den Wasabi aufgegessen, ich hoffe das war okay?« »War es echter Wasabi oder das Pfuschprodukt aus angeschärftem Meerrettich, das man oft bekommt?«, hakte Max Merkur nach. »Hmmm, lass sehen… Ist das Pfuschprodukt.« »Okay, dann ist das einzige Problem, dass wir hier festsitzen«, erklärte Max Merkur. Beide schwiegen. Lutherion nahm noch einmal das Telefon und versuchte, es zum Laufen zu bringen. Er hielt es in verschiedene Himmelsrichtungen. Der Wind zog währenddessen über das Land, und die braune Erde wirkte verlassener denn je. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Nichts zu machen. Vielleicht nehmen uns ja die Existenzialisten mit, wenn sie vorbeikommen.« »Ich weiß nicht, ich mag keine Existenzialisten, die haben immer so traurige Lieder. Bei der ›Polka für sieben
Existenzialisten‹ werde ich ganz melancholisch. Die haben wir immer bei der Philosophiestudenten-Party aufgelegt.« »Du musst die Up-beat-Version von Gerschok II. hören, die würde dir gefallen.« Das Gespräch geriet wieder ins Stocken. In der entstandenen Pause schauten sich die beiden an und versuchten, ihre Verzweiflung zu verbergen. »Wir sitzen also fest?«, fragte Max Merkur. »Wie ein Nagel im Brett«, antwortete Lutherion. Schweigen. Max Merkur bemühte sich, Smalltalk zu betreiben: »Na ja, vielleicht ist es so am besten, solange sich ein Drache im Zeitenstrom in Richtung Hölle bewegt.« »Wie bitte?« Lutherion wurde hellhörig. »Ach, hast du auf Antenne Hölle 7 nicht gehört, dass sich im Zeitenstrom ein Drache in Richtung der Hölle bewegt… Ich vermute ja, es handelt sich um Grendl, das ist aber nur eine freundliche Mutmaßung, ich wusste beispielsweise auch nicht, wer am Wolfgangssumpf eingegriffen hatte.« Bei dem Wort »Grendl« entzündeten sich Lutherions Hörner und brannten lichterloh. »Aaaah… Das sagst du mir erst jetzt…« »Entschuldigung… Ich wusste nicht, dass dir das wichtig ist… Es war das Eichhörnchen Eduard…« »Menschen… Aaarrggggh… Grendl ist der Erzfeind, das Urübel, er ist das ursprüngliche Böse der Hölle.« »Also, als ich mit ihm gesprochen habe, war er ganz nett. Ein bisschen einsilbig, muss ich gestehen und ein bisschen sehr Furcht erregend.« »Du hast mit ihm gesprochen?« Lutherions Kopf glich einem Waldbrand. »Ja, im Zeitenstrom bin ich an ihm vorbeigeflogen.«
»Aaaah… Ich glaube das nicht… Das letzte Lebewesen, das mit Grendl gesprochen hat, war Luzifer I. höchstpersönlich, und Grendl schwor ihm ewige Rache.« »So? Von seiner Persönlichkeitsstruktur her würde das zu Grendl passen: Er hat, glaube ich, eine niedrige Frustrationstoleranz.« Lutherion versuchte, die Flammen auf seinem Kopf zu löschen, weil sie ihm die Sicht auf Max Merkur versperrten, und so einen Idioten sah man nicht alle Tage, dachte Lutherion. »Ah, es fällt mir wie Schuppen von den Augen… Ja, das ist es!«, sprach Lutherion. »Wir haben immer vermutet, dass sich Grendl in die Eiswüste von Kischlor zurückgezogen hat oder sich in den Schluchten von Morkork verschanzt. Einer glaubte sogar, dass sich Grendl in Tirol versteckt hielt, aber der ist in der Teufelsenzyklopädie der Vollkretins erwähnt.« »Nein, Grendl hat irgendwo im digitalen Funknetz gehockt.« Max Merkur nickte freundlich. »Ja, er hat gewartet und gewartet, bis seine Chance kam. Grendl brauchte die Mobilfunktechnik, um zurückkehren zu können.« Endlich hatte Lutherion die Flammen auf seinem Kopf gelöscht und lief aufgeregt auf und ab. Er sprach mit sich selbst: »Ob er irgendwie mitgeholfen hat, den Chip zu entwickeln, der in den Handys steckt? Ist der Chip vielleicht selbst ein Teil von Grendl? Das würde zu einem TSD-Memo passen, das ich neulich in Händen hatte und aus dem ich mir später einen Hut gebastelt habe. Die digitalmoralische Beschaffenheit eines Handys ist sehr… negativ. Negativer als die jedes Teufels.« Lutherion grübelte, dann murmelte er: »Je mehr das Funknetz ausgebaut wird, desto größer seine Bewegungsfreiheit. Er benutzt die Mobilfunktechnik!«
»Puh, also mein Junior-Baukasten Chemie, den ich zu meinem zwölften Geburtstag bekommen habe, war mein einziger Vorstoß in Richtung Technik. Da kann ich dir leider nicht helfen.« »Das verstehst du nicht. Grendl, der Drache, der Urfeind, das Ding aus einer anderen Welt, ist wieder da. Er wird alles vernichten, was sich ihm in den Weg stellt und die Hölle wieder in Besitz nehmen. Er hat nur darauf gewartet, dass alle mit den Aufräumarbeiten nach der Apokalypse beschäftigt sind, um zuzuschlagen.« »Oh, verstehe, das ist schlecht.« »Er hat sich in den Handys versteckt.« »Gutes Versteck eigentlich.« »Nicht wahr? Bisher war für ihn der Weg in die Hölle verschlossen. Es wurde für ihn erst ein Korridor geschaffen, als zwei Personen, die demnächst auf dem Cover der Großen Enzyklopädie der Vollkretins drauf sein werden, zum ersten Mal ein Handy in der Hölle benutzten.« »Oh, das bedeutet ja, dass wir die Apokalypse nicht aufgehalten haben…« »… sondern, dass wir Teil der Apokalypse sind.« Lutherion lächelte verbittert. »Ich vermute, Grendl hat in der Liste der Philosophen den Namen Wittgenstein hinzugefügt, um uns in die Hölle zu locken.« »O nein, ich bin ein apokalyptischer Reiter, nur ohne Pferd – ein apokalyptischer Fußgänger sozusagen«, jammerte Max Merkur. »Ja, die Welt der Menschen und die Zeit der Teufel geht zu Ende. Aber das Gute ist, dass Schelling gerade mit zwei Stück Apfelkuchen kommt.« »Wirklich? Ich bin echt hungrig.«
Langsam kam Schelling angehumpelt. Er stützte sich auf seinen Stock und balancierte mit einer Hand zwei Teller Apfelkuchen. »Danke, Schelling, sehr nett von dir.« Schelling brummte nur missmutig. »Weißt du«, begann Lutherion mit einem Stück Apfelkuchen im Mund, »uns muss etwas einfallen. Wir müssen in die Hölle zurückkehren und die anderen Teufel warnen, vielleicht ist es noch nicht zu spät.« Auch Max Merkur biss ein Stück ab: »Oh, der Kuchen ist ja ganz kalt.« »Der war im Kühlschrank, da steht er erst seit 1887«, fauchte Schelling in verbittertem Tonfall. »Im Kühlschrank?« Lutherion sah Max Merkur an. »Ja, im Kühlschrank«, murrte Schelling. »Ist es zufällig ein Mephisto-Freezer 1000 oder 2000?«, rief Lutherion dem Philosophen hinterher. »Ich habe den Mephisto-Freezer 500. Schließlich lebe ich hier nicht wie Gott in Frankreich«, meckerte Schelling und verschwand. »Super, das ist ein Teufelsgerät. Zwar ein altes Modell, aber es müsste klappen. Mit dem Gerät kann man Dinge frisch halten und durch Raum-Korridore reisen. Ich muss nur den Ankunftsort eingeben.« »Wunderbar, worauf warten wir noch?« Die beiden folgten Schelling in die Hütte. Dort standen überall große Kartons, in denen offensichtlich die Ware geliefert wurde, die an den Drehständern feilgeboten wurde. Im Innenraum waren noch einige weitere Tische und Stühle aufgestellt, an die man sich setzen konnte. Schelling winkte von einer Türschwelle aus, und sie gingen zu ihm in die Küche. Die Decke der Küche war niedrig, der Raum erwies
sich als kühl. Schelling klopfte mit dem Stock gegen einen sehr kleinen Kühlschrank, nicht höher als einen Meter. »Hier bitte, die Herren, mein Kühlschrank.« »Hast du Frischhaltefolie, Schelling?«, fragte ihn Lutherion. »Frischhaltefolie? Nein, ich glaube nicht, aber ich schau mal nach.« Mit diesen Worten begab er sich an einen kleinen Schrank, der in der hinteren Ecke stand. Lutherion öffnete den Kühlschrank und entriegelte einen kleinen Kasten an der oberen Seite der Innenwand. »Ah, hier kann man die Einstellungen vornehmen. Hmmm… Ist ein bisschen antiquiert, lauter Kippschalterchen, das gibt es schon lange nicht mehr, heute werden Schnappschalter verwendet, die ähnlich wie eine Mausefalle funktionieren. So fummelt wenigstens kein Unbefugter daran rum.« Lutherion wies Max Merkur an, den Kühlschrank auszuräumen. Sorgsam entfernte der daraufhin die Lebensmittel und die Getränkeflaschen. »Schau mal, Schelling hat fünf Flaschen ›Süßer Existenzialisten-Dudler‹, zwei Flaschen ›Platons Hofbräu‹, einen Schnaps, der ›Des Teufels Einzige Zwetschge‹ heißt und eine Dose Cola.« »Die Cola ist dazu da, um die Angeln der Kühlschranktür zu schmieren«, sagte Lutherion, während er geschickt an den Kippschaltern arbeitete. »Das kannst du nicht trinken. So… fertig.« Schelling rief vom hinteren Ende des Raumes: »Frischhaltefolie habe ich nicht. Ich habe nur haufenweise Alufolie, tut’s die auch?« »Alufolie. Das ist ein bisschen gefährlicher, weil sie nicht so gut isoliert, aber in der Not frisst der Teufel Fliegen.« Max Merkur schaute Lutherion verwundert an. »Das ist nur so ein Spruch. Bist du fertig mit Ausräumen?«
»Ja, aber der Kühlschrank ist ziemlich klein, passen wir da beide rein? Könnte eng werden.« Schelling brachte eine große Rolle Alufolie. Sorgfältig wickelten sich Lutherion und Max Merkur darin ein. Die Isolierwirkung gegen die enorme Kälte, die für den Aufbau einer Kühlpassage nötig sei, könne Alufolie nicht wirklich aufbringen, erklärte Lutherion. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie beide wie Eisklötze gefroren in der Hölle ankämen, sei demnach sehr hoch. »Das Gute ist aber«, führte Lutherion aus, »dass wir gleich in der Hölle ins Feuer springen können, um uns aufzuwärmen.« Ein Gedanke, dessen Brillanz Max Merkur nicht wirklich nachvollziehen konnte. »Also, Schelling, wir steigen jetzt in deinen Kühlschrank, mach bitte die Tür zu, weil wir nichts mehr sehen werden, da wir gleich auch unsere Köpfe in Alufolie packen. Danke für alles, Schelling.« »Ja, danke, Schelling, war schön hier«, fügte Max Merkur hinzu. »Lest meine Bücher, wenn ihr Zeit habt«, murrte der Philosoph. »Nicht übertreiben, Schelling«, mahnte Max Merkur und stieg mit Lutherion in den Kühlschrank. Dabei gab es zwei Probleme. Das erste war, dass beide nichts mehr sahen, weil sie Alufolie vor Augen hatten. Das andere war, dass es sich bestenfalls um einen Ein-Mann-Kühlschrank handelte. Max Merkur klebte mit seinem ganzen Körper an Lutherion. Dessen Hörner piekten, und die Alufolie raschelte wie verrückt. »He, raschel nicht so und rück ein Stück«, brummte der Teufel. »Geht nicht, ich glaube, ich sitze auf der Dose ›Heideggers Himbeer-Konfitüre‹, die mir vorhin weggerollt ist.« Wumm! Schelling hatte die Tür geschlossen. Es wurde kalt. Sehr, sehr kalt.
Max Merkurs Haut zog sich zusammen wie eine verrunzelte Apfelsine. Seine Poren schlossen und öffneten sich orientierungslos, doch die gewaltige Kälte drang hindurch. Es wurde kälter, noch viel kälter. So muss es sein, wenn man am Südpol erfriert, dachte Max Merkur, abgesehen von der Alufolie, dem Teufel, dem Kühlschrank und allem anderen. Eigentlich war es überhaupt nicht so: Der Südpol glich einer heißen Wüste gegen die Kälte, die der Mephisto Freezer 500 produzierte. Das Rascheln hatte aufgehört. Max Merkur vernahm eine Stille, die absolut war. Sämtliche Geräusche froren in der Luft und fielen leise wie Schnee zu Boden. Es wurde wirklich kalt. Dann riss ihm jemand die Alufolie vom Gesicht. Er war nicht mehr im Stande, seine Gliedmaßen zu bewegen. Aus der Ferne konnte er Lutherion erkennen, der wie in Zeitlupe »Mmmmaaaxxxx Mmmmeerrrkkuurrr« rief. Max Merkur war komplett eingefroren; wäre er nicht schon (theoretisch und praktisch) tot gewesen, wäre jetzt ein guter Zeitpunkt für ihn gewesen, es zu werden. Er bemerkte, wie Lutherion in Panik zu geraten schien. Ach, armer alter Lutherion, hier endet meine Reise. Natürlich war Lutherion weder arm noch alt, sondern gerade hysterisch und verzweifelt, aber es klang einfach gut. Dann sah er, wie Lutherion ein wenig von ihm zurückwich. Hatte er ihn schon aufgegeben? Plötzlich geschah etwas Unglaubliches. Der Teufel stand in Flammen. Von Kopf bis Fuß züngelte ein munteres, kleines, blaues Feuer. Es war… warm und drang durch das leichenkalte Fleisch. Die Kälte in seinen Knochen kämpfte einen Moment gegen die Hitze an, dann machte sie kehrt und rannte davon. Allmählich kehrte das Gefühl für seinen Körper zurück, und er sah einen brennenden
Teufel vor sich, der sich immens konzentrierte, um den Flammen eine bestimmte Stärke zu verleihen. Max Merkur fiel vornüber und rang nach Luft. »Danke!«, keuchte er. Lutherion löschte die Flammen. »Gern geschehen. Aber sag es nicht weiter. Das könnte man mir als… äh… gute Tat ankreiden, und das wiederum könnte schlecht in meiner Dienstakte aussehen.« »Einverstanden.« Max Merkur kam nun langsam wieder zu Kräften. Mühsam rappelte er sich auf. »Wo sind wir?« »Im Staatlichen Luziferium, in der überdachten Glaskuppel.« Max Merkur schaute sich um. Er stand unter einer gigantischen Glaskuppel, der weiße Pfeiler und Querstäbe Halt verliehen. Angenehmerweise hatte man hier auf die Dreiecksform verzichtet, die von den Teufeln so sehr geschätzt wurde. Durch die riesigen Fenster konnte man das ewige Feuer lodern sehen. Aber Pahhur schien unruhiger als das letzte Mal zu sein. Es wirkte nicht mehr verspielt und produzierte mit seinen Flammen keine vergnügten Formen und Konsistenzen, sondern brodelte mit einem matten Grün nervös vor sich hin wie überkochendes Wasser. Auf der einen Seite der Glaskuppel trieb etwas im Feuer, das wie eine gewaltige, überdachte Pfanne aussah. Darin befanden sich Bäume, Wiesen und merkwürdig aussehende Pflanzen. »Kommen wir noch rechtzeitig? Können wir die Teufel warnen?« »Ich fürchte nicht«, erwiderte Lutherion langsam. »Weißt du, eigentlich wimmelt es hier den ganzen Tag vor Teufeln, aber es ist kein einziger da.« Als Max Merkur den Blick erneut schweifen ließ, bemerkte er, dass sie die einzigen Anwesenden in einem runden Raum
waren, in dem groteske Kunstwerke und Plastiken zu sehen waren, die bunten Darmverschlingungen und grellfarbenen Motorteilen ähnelten. Direkt neben ihm stand ein Gebilde, das mit »Gelbes Urk im Herbst« betitelt war und aussah, als ob man Flöten wahllos in ein gelbes Mostfass gerammt hätte. Von irgendwoher drang ein leichtes Dröhnen. Kurz verstummte es, doch schon nach einigen Sekunden ertönte es von Neuem. Dann kam etwas hinzu, was man als ohrenbetäubende Trommelschläge bezeichnen konnte. Eine der Flöten fiel aus dem Gelben Urk und rollte langsam zu einer Skulptur, die »Der alte Orkelmann« hieß und im Wesentlichen aus vier Kilo Hackfleisch bestand, die aus einem rosa Saxofon mit sechs Blaseingängen quollen. Das Dröhnen wiederholte sich. Mittlerweile konnte man fünf verschiedene Töne unterscheiden, die sich immer mehr als Hornsignale entpuppten. »Ist das Grendl?«, fragte Max Merkur unsicher. »Glaubst du, ein Drache spielt ein Blasinstrument? Nein, das sind die Signale eines Teufelshorns, des Cornufex. Zum letzten Mal wurde am Ende der Satanischen Zeit in ein Cornufex geblasen, um zur großen Schlacht gegen die Engel am Fluss der weißen Träume zu rufen. Seitdem ist kein Cornufex mehr erklungen. Es spielt nur fünf Töne, und jeder symbolisiert eine Teufelsfarbe.« »Und warum erklingt es jetzt?« »Die Teufel werden zum Kampf gerufen. Traditionell werden alle fünf Teufelsfarben zum Kampf gerufen, aber die weißen Teufel kommen nie.« Wieder und wieder ertönte das Cornufex. Die Töne wurden lauter und lauter. Sie wirkten unheimlich, kriegerisch, archaisch und fremd. Auch in Max Merkur weckten sie das Bedürfnis, mit einem Schild und einer Axt loszuziehen und einen letzten, verzweifelten Kampf zu führen. Allerdings stand
er in der Glaskuppel des Luziferiums und drückte die Nase gegen die Scheibe. Wäre er fünf Zentimeter weiter außerhalb der Glaskuppel gewesen, hätte ihn Pahhur in ein Häufchen Asche verwandelt. Das Häufchen Asche wiederum hätte sich in ein Gelee aus Protonen, Neutronen und Elektronen aufgelöst und in den Weiten des ewigen Feuers verteilt. Max Merkur war völlig machtlos. Auch Lutherion starrte gebannt ins Feuer. Abermals erscholl das Cornufex. Endlich konnte man in der Unendlichkeit Pahhurs etwas erkennen. Ein Zug roter Teufel in Dreiecksformation näherte sich. Die Teufel schwebten mitten durchs Feuer, als ob die Hitze gar nichts wäre. Viele trugen Rüstungen aus funkelndem Material. Sie behielten eine exakte militärische Ordnung bei. Von der anderen Seite her näherten sich drei weitere Züge. Eine riesige Dreiecksformation aus gelben, blauen und schwarzen Teufeln rückte an. Immer wieder erschütterten merkwürdige Trommelgeräusche die Glaskuppel. Plötzlich blieben die Teufelsheere stehen. Die genaue Anzahl der Teufel war schwer zu erkennen, denn die Flammen des ewigen Feuers raubten Max Merkur immer wieder die Sicht. Dennoch empfand er das mächtige Teufelsheer als beeindruckenden, Angst einflößenden Anblick. Alle waren bewaffnet. Manche hatten Schwerter, Äxte und Beile, andere verließen sich auf Popcornmaschinen, auf Rührstäbe und spitze Fleischthermometer. Sie standen still. Auch Pahhur loderte kaum noch, sondern bildete eine schimmernde, dünnflüssige Masse. Sie warteten. Alles blieb völlig ruhig. Max Merkur trippelte nervös auf und ab. An Lutherions Hörnern züngelten wieder kleine Flammen, sein Schwanz schlug unkontrolliert auf und ab. Kein einziger Teufel rührte sich.
Alle starrten mitten hinein in das ewige Feuer. An einer Stelle schien es etwas dichter zu sein. Es quoll zähflüssig. Etwas schwarzer Rauch mischte sich in die grünen Flammen. Zuerst nur wenig, dann jedoch wurde er dichter und dunkler. Auch die vier dreieckigen Teufelsheere hatten es wahrgenommen und richteten sich entsprechend aus. Der Rauch wurde immer bedrohlicher. Max Merkur biss sich unruhig auf die Lippen. Auch Lutherions Kopf brannte wieder, sodass Max Merkur ein Stückchen abrückte, um nicht versehentlich in Brand gesteckt zu werden. Rauch! Und darin goldenes Feuer! Die mattgrünen Flammen Pahhurs wichen zurück. Eine tödliche Wolke goldenen Feuers drängte es brutal zur Seite. Kein Zweifel, es handelte sich um das goldene Feuer von Grendl. Die Teufel hoben die Waffen, Schwerter und Popcornmaschinen an und waren kampfbereit. Grendl erschien! Eigentlich war es mehr als ein Erscheinen: Es war eine Heimsuchung. Ein goldener Drache von unendlicher Größe schwebte in der Hölle. Seine goldenen Flammen schufen einen Korridor, durch den er sich langsam, mit bösartiger Zielsicherheit bewegte. Er kam Max Merkur diesmal noch unheimlicher vor als beim ersten Mal. Damals war ihm nicht bewusst gewesen, welche Gefahr von ihm ausging. Nun aber sah er ihn in seiner ganzen schrecklichen Pracht. Grendl war wütend, gierig, böse. Er wollte das Ende der Teufel. Seine Zeit war gekommen. »Und mit dem hast du geplauscht?«, fragte Lutherion. »Ah… na ja, er schien mir weniger schlimm als der Typ mit dem Nashornkopf.« »Nicht nur, dass Grendl die Hölle zerstören wird, wir sind verflixt noch mal daran Schuld.«
»Ja, nichts kann so schlimm sein, dass es nicht durch Schuldgefühle noch schlimmer wird.« Max Merkur schaute gebannt nach draußen. Der Drache hatte sich den Heeren genähert. Da erklang wieder das Cornufex, alle fünf Töne wurden gespielt. Die Teufel gingen zum Angriff über. Alle Heere attackierten Grendl gleichzeitig. Der Drache sah dem Angriff finster, aber gelassen entgegen. Dann spreizte er die Flügel, die er bisher angelegt hatte. Im Vergleich zu dem goldenen Drachen mit den ausgebreiteten Schwingen wirkten die Teufelsheere winzig. Goldenes Feuer bildete eine Wand zwischen den Teufeln und dem Drachen. Es schien, als ob es für die Teufel kein Durchkommen gäbe. Dann schoss Grendl glühende Feuerkugeln aus seinem Rachen. Seine Augen leuchteten voll dunklem Hass. Zwei der Teufelsheere, die blauen und die gelben, wurden durch die Feuerkugeln auseinander gesprengt, ohne dem Drachen wirklich nahe gekommen zu sein. Die Schwarzen und die Roten hingegen hielten sich unbeirrbar und kämpften gegen eine goldene Feuerwalze an. Eine weitere Feuerkugel verfehlte das Ziel und traf stattdessen die Pfanne des Luziferiums. Einen kurzen Moment fingen die Pflanzen Feuer, dann schmolz die riesige Pfanne zu einem Klümpchen Metall zusammen und stürzte in die Tiefen Pahhurs. »Wir sind hier nicht sicher«, stieß Lutherion atemlos hervor und versuchte hektisch, seinen Kopf von den Flammen zu befreien, die er selbst produzierte. »Das sind wir nirgends«, entgegnete Max Merkur, der mit offenem Mund dastand. Die zwei verbliebenen Teufelsheere griffen weiter an. Meter für Meter rangen sie mit dem goldenen Feuer, um Grendl nah genug zu kommen, dass sie vielleicht eine Popcornmaschine einsetzen konnten.
Grendl verharrte. Er beobachtete die Teufel einen Moment wie eine Katze, die eine Maus belauert. Dann verwandelte sich sein Körper in eine gigantische, goldene Feuerkugel, die erbarmungslos über den Teufeln niederging. Gleißendes Licht. Der Drache befand sich an derselben Stelle wie vorher. Die Teufel kippten wie Fliegen um und fielen ohnmächtig in die Tiefen Pahhurs. Grendl hatte gesiegt. »Unsere Heere sind unterlegen.« Lutherion schluchzte fast. »Sie haben tapfer gekämpft, aber sie waren chancenlos, würde ich sagen.« »Das ist das Ende der Hölle.« Lutherion war am Boden zerstört. Der goldene Drache hatte sich zwischenzeitlich wieder in Bewegung gesetzt. »Du, ich glaube, der kommt auf uns zu, oje, oje, oje«, rief Max Merkur. »Das ist sowieso das Ende. Die Hölle ist besiegt, und wir sind Schuld, da ist es doch nur fair, wenn wir auch den Löffel abgeben.« Grendl näherte sich. In den Weiten des Feuers Pahhur konnte man nur schwer Größendimensionen einschätzen, doch je näher der Drache kam, desto mehr ließ sich die unvorstellbare Größe erahnen. »Ich gebe nicht auf«, rief Max Merkur plötzlich. »Schön. Sag das dem da draußen. Vielleicht muss er ja lachen.« »Nein, ich glaube an die Vernunft. Es gibt eine Lösung.« »Ich denke nicht, dass man mit Grendl diskutieren kann. Aber wer weiß, vielleicht ist er ja der Einzige, der Schelling gelesen hat. Das erklärt womöglich, warum er so schlecht drauf ist.«
»Nein, nein. Die Vernunft diktiert, dass man in einer ausweglosen Situation stets…« »Ja, ich höre?«, meinte Lutherion mit einem gezwungenen Lächeln. »… etwas total Blödsinniges machen muss.« »Klingt gut. Also, was machen wir? Eine Polonaise mit Grendl?« »Nein«, gab Max Merkur zurück und legte eine theatralische Pause ein. »Wir schließen das Petrus-Handy an eine Teufelsmaschine an.« Lutherion wurde blass. So, dachte Max Merkur, sehen wahrscheinlich die weißen Teufel aus. Langsam kehrte wieder etwas schwarze Farbe in Lutherions Gesicht zurück. »Bist du noch zu retten?! Engelstechnologie an Teufelstechnologie anzuschließen, das kann die katastrophalsten Folgen haben!« Grendl spuckte eine goldene Feuerkugel, die knapp über das Glasdach hinwegsauste. »Hmmm… Okay, dein Punkt«, räumte Lutherion ein. »Na, schlimmer kann’s kaum werden.« Max Merkur versuchte, unbeschwert zu lächeln. »Das glaubst du. Wegen uns beiden muss die Große Enzyklopädie der Vollkretins noch einen Ergänzungsband drucken.« Grendl kam immer näher. Er verdeckte inzwischen fast völlig das ewige Feuer. »So, jetzt brauchen wir nur noch eine Art Steckdose oder was auch immer – etwas, an das wir das Handy anschließen können.« Max Merkur sah sich um. Lutherion und er rannten hin und her, um zwischen den seltsam gekrümmten Skulpturen eine Steckdose zu finden. »Nichts!«, rief Max Merkur. »Hier ist auch keine… Moment, hier drüben ist eine.«
Max Merkur sauste hinüber, während er bereits die Hautschuppen auf Grendls Körper erkennen konnte. Am Boden befand sich eine kleine, dreieckige Steckdose. Lutherion hatte das Petrus-Handy schon in der Hand. »Wir haben zwei Probleme«, stellte Lutherion fest. »Das erste ist: Wie schließen wir ein Handy an eine Steckdose an?« »Und das zweite?« »Welches zweite?« »Na, du hast doch gesagt, wir hätten zwei Probleme.« »Äh, nein, nur eins, aber das zählt doppelt«, antwortete Lutherion. Grendls goldene Flammen brachten das Staatliche Luziferium zum Schwanken. Offensichtlich nahm der Drache das Museum kaum wahr, doch dessen ungeachtet war er gerade dabei, direkt über die Kuppel hinwegzuwalzen. »Wird das Handy denn funktionieren? Ich meine, vorher ging es ja nicht mehr«, fragte Max Merkur. »Willst du telefonieren, oder was? Nein, es müsste genügen, Strom aus dieser Steckdose, im Wesentlichen also nur böse Energie, in dieses Handy zu leiten, das von Engeln mit guter Materie gebaut wurde. Das müsste einen Effekt ergeben wie beim Zusammentreffen von Materie und Antimaterie, nur nicht so mild.« »Und welcher Effekt ist das?« »Es macht einen großen Knall, und das Universum endet.« »Häh?« »Es war dein Plan.« Max Merkur blickte auf den großen Drachen. Die Glasscheiben begannen zu splittern, und kleine goldene Flammen drangen am höchsten Punkt der Kuppel herein. »Wir ziehen das jetzt durch«, sagte Max Merkur.
»Genau, und wenn wir noch mehr Pech haben, macht’s nur Zing!… und das Handy zerbröckelt in unserer Hand. Dann werden wir eben vom Drachen umgebracht. Bleibt nur das Problem, das Handy an diese Steckdose anzuschließen«, sagte Lutherion. »Es gibt weit und breit kein Kabel.« »Und diese Kunstwerke haben auch keine verbauten Kabel, die man benutzen könnte«, fügte Max Merkur hinzu. »Verdammt, wieder mal so nah dran und doch keine Idee.« Die Kuppel begann zu zerbrechen. Große Glasscherben fielen links und rechts von Max Merkur und Lutherion zu Boden und zerbröselten zu feinen Glassplittern. Eine Mischung aus goldenen und grünen Flammen quoll zäh von oben herein. »Ich würde sagen, in einigen Sekunden sind wir tot«, kündigte Lutherion an. »Was können wir tun? Was? Was?« Max Merkur überlegte fieberhaft. Das Handy so in die Steckdose zu stülpen, ergab keinen Sinn, es hatte nach außen keinen Anschluss. Die Kuppel barst auseinander, und der Boden zeigte dicke Risse. Max Merkur fühlte sich an das Ende seines eigenen Universums erinnert. Wie alles mit einem Riss im Himmel angefangen und schließlich in der Apokalypse geendet hatte. Das wollte er nicht noch einmal erleben. Er musste etwas tun. »Ich habe die Lösung!«, rief Max Merkur. »Gib mir das Handy.« Lutherion sprang zur Seite, weil ein großer Stützpfeiler neben ihm zu Boden stürzte. »Hier, bitte. Und ach ja… Ich wünsche dir alles Gute für dein weiteres… äh… Leben. Ach, ich wünschte, ich wäre auch gläubig, das kann manchmal so nützlich sein.« Max Merkur ergriff das Handy und kniete sich hin. »Willst du beten?«, erkundigte sich Lutherion.
Grendls gewaltiger Körper wälzte sich über die Reste des Glasdaches. »Nein, ich will in die Steckdose fassen! Ich werde das fehlende Kabel bilden.« »Bist du wahnsinnig? Das ist gefährlich!«, rief Lutherion. Max Merkur lächelte. »Okay, gib mir die Hand«, forderte Lutherion ihn auf. »Das muss ich erlebt haben.« Lutherion umfasste die Hand, in der Max Merkur das PetrusHandy hielt. »Jetzt?«, fragte Max Merkur. »Jetzt«, bestätigte Lutherion. Max Merkur fasste in die Steckdose. Das Universum endete. Schon wieder.
Die Weltformel
»Orange?« Max Merkur schlug die Augen auf. Er war nicht tot – ein Ausdruck, dessen Sinn er zwar immer weniger verstand, aber es reichte ihm schon, wenn er nur ungefähr stimmte. War die Hölle gerettet? War Grendl vertrieben worden? War gar nichts passiert? Und warum, verdammt nochmal, fuchtelte ihm jemand mit einer Orange direkt vor der Nase herum? Es war Lutherion, der ihn anlächelte. »Orange?«, wiederholte er die Frage. Max Merkur atmete tief durch. Dann antwortete er: »Ja, gern.« »Oh, ich dachte, du würdest ablehnen. Das hast du doch beim letzten Mal auch.« »Ja, aber zufällig habe ich jetzt Lust auf eine.« »Na ja, ich dachte, die Geste wäre das, was zählt. Diese Orange ist leider künstlich.« »Aus Wachs?« »Äh, nein, das ist eine Pferdedungkugel, die für Einsätze in südlichen Gebieten getarnt wurde. Andererseits kannst du ruhig reinbeißen.« Max Merkur fühlte sich noch völlig benommen. Dennoch stellte er fest, dass er auf einer weichen Couch in einem dreieckigen Büro lag, in dem ein dreieckiger Schreibtisch stand. Auf dem Schreibtisch befand sich ein Bild, das drei Teufel dabei zeigte, wie sie einen enormen Fisch mit langen Fangzähnen am Schwanz in die Höhe hielten und grinsten. Auf den zweiten Blick jedoch sah Max Merkur, dass die drei Teufel den Fisch nicht hielten, sondern der Fisch davonschwamm, während die drei Teufel sich verbissen am Schwanz festklammerten und in die Kamera lächelten. »Was ist passiert?«, fragte er schließlich.
»Seit der Mensch von den Bäumen geklettert ist, oder seitdem es mehr als drei Kanäle im Fernsehen gibt?« »Von der Zeit an, als der gewaltige Strom an böser Energie durch mich, dich und das Handy geflossen ist.« »Hmmm, das ist schwer zu erklären.« »Versuchs doch.« Hinter einem kleinen, dreieckigen Fenster konnte man Pahhur fröhlich lodern sehen. Es wies wieder den Formen- und Farbenreichtum auf, den Max Merkur schon beim ersten Mal bemerkt hatte. Max Merkur war froh, dass sich keine giftgoldene Flamme darin befand. Stattdessen konnte er in einiger Entfernung erkennen, wie zwei blaue Teufel auf Surfbrettern durch das Feuer glitten. Bei genauerer Betrachtung sahen die Surfbretter nicht wie Surfbretter aus. Vielmehr waren sie wie große Haifische geformt und hatten voluminöse Körper. Pfeilschnell glitten sie durch die weichen, heißen Flammen Pahhurs. Ein kleiner seitlicher Aufkleber auf dem einen Surfbrett trug die Aufschrift: »B-Gx-2111«, und darunter stand: »Gebremst wird nicht!« und noch kleiner: »Zum Grendl mit dir! Du Schnecke!« Offensichtlich war in der Hölle wieder alles in Ordnung. Die Teufel tummelten sich unbeschadet im ewigen Feuer. Aber wie kam das nur? »Ich versuche, es zu erklären, aber ich verstehe es selbst nur halb«, sagte Lutherion. »Wo sind wir eigentlich?« »In meinem Büro beim TSD.« »Schick.« »Danke. Ich versuche dauernd, einen Arsen spritzenden Feuermohn zu bekommen, um ihn ins Fenster zu stellen, das würde das Büro für meinen Geschmack noch schöner machen. Aber die Importgesetze in die Hölle sind echt die Hölle, wenn ich das so sagen darf.«
»Du wolltest erzählen, wie wir uns unter Strom gesetzt haben.« »Ach ja. Also, du hast ja in die Steckdose gefasst, während du das Petrus-Handy und mich gehalten hast.« »So weit erinnere ich mich noch.« »Aber du darfst nicht weitererzählen, was ich jetzt sage. Ist alles TSD-Geheimsache. Und beim TSD ist immer alles super top secret. Wenn Internes an die Öffentlichkeit dringt, ist das für den TSD nahezu eine Katastrophe. Die TSD-Führungsriege murrt und ist zwei Tage schlecht gelaunt. Dann schließt sich der Chef oft in einen Schrank ein, und man hört Kettengerassel. Was das mit dem Kettengerassel soll, haben wir noch nicht rausgekriegt. Na ja, du weißt, was ich meine, also nichts weitersagen.« »Gut, und was ist passiert?« »Wir haben also einen Stromstoß bekommen, und die ganze böse Energie ist durch uns und das Handy hindurchgeflossen.« »Und?« »Du musst dir dieses Paradoxon vorstellen: Ein Handy, das aus den Händen der Engel stammt, rein auf Engelstechnik beruht und von einem Teufel und einem ExPhilosophiestudenten gehalten wird, wird mit purer böser Energie versorgt! Passiert ist das, was passieren musste: Das Handy überlud sich mit böser Energie, kollabierte und implodierte. In dieser gewaltigen Implosion zog es das Universum, zumindest das Universum der Teufel, mit sich und vernichtete sämtliches Leben.« »Wirklich wahr?« »Nun ja, das ist eine Theorie, die andere ist, dass… Na ja, unsere Elektriker sind nicht die besten und isolieren manchmal die Leitungen… äh… mangelhaft. Vielleicht haben wir dadurch, dass wir in die Steckdose gefasst haben, einen
Kurzschluss in der Höllenelektrik bewirkt. Das könnte auch einen ähnlichen Effekt gehabt haben.« »Oh!« »Jedenfalls, das Universum kollabierte also und stürzte sich kopfüber ins Nichts hinein, und das Nichts begann schon wieder, drauflos zu nichten. Allerdings hätte ich gern das Gesicht von Grendl gesehen, als er mitten ins Nichts gesogen wurde, so kurz vor seinem Triumph.« »Stimmt. Geschieht ihm recht, dem alten, miesepetrigen Drachen.« »Eben. Also, just in dem Moment, in dem das ganze Universum der Teufel in einem Schnapsglas großen Stück Nichts entschwand, ereignete sich etwas schwer zu Erklärendes.« »Jemand hat das Schnapsglas ausgetrunken?«, schlug Max Merkur lächelnd vor. »Etwas mehr Ernst, oder willst du einen Bissen von der Dungbomben-Orange, um die Nerven zu beruhigen?« »Nein, erzähl weiter.« »Als das Universum gerade genichtet wurde, blieb etwas übrig, das sich nicht so einfach nichten ließ. Egal, wie das Nichts nichtete und egal, wie sehr das Nichts versuchte, es zu fassen zu kriegen und es zu Nichts zu verarbeiten, etwas war nicht greifbar.« »Haben wir etwas damit zu tun? Das kann nicht sein.« »Doch, du hast einen Glaubensakt begangen. Und das Seltsamste ist, ich auch, aber sag das bloß nicht den anderen Teufeln«, grinste Lutherion. »Keine Angst. Weiter.« »Unser Ende schien sicher; wir waren aber mit unserem Tod bereit, das Böse zu vernichten. Wir haben geglaubt, dass es wichtiger ist, eine… und ich muss mich echt zwingen, das zu sagen… gute Welt zu schaffen.«
»Na ja, ich hab’s dem Drachen, ehrlich gesagt, überhaupt nicht gegönnt, dass er mit seinem Verhalten durchkommt«, warf Max Merkur ein. »Leise! Solange das Universum glaubt, dass wir etwas Gutes getan haben. Man muss es ja nicht mit der Nase darauf stoßen.« »Okay.« »Dieser Akt des Glaubens, der ausgerechnet in der Hölle stattfand, noch dazu von einem Teufel und einem Menschen, der sich die Hölle zurückwünschte, war für das Nichts nicht zu erhaschen. Es war ein großer spiritueller Moment.« »Hauptsache, dieser Grendl kriegt sein Fett weg, habe ich mir gedacht«, murmelte Max Merkur. »Pst! Ruhe jetzt! In den Augen des Universums oder wessen auch immer war das selbstlos. Was also geschah? Das Universum endete für einen Moment und fuhr sich dann wieder hoch.« »Unglaublich.« »Ja, und das Beste war: Als die Hölle endlich wieder hochgefahren war, da war Grendl verschwunden und alles war wie vorher.« »Unglaublich«, wiederholte Max Merkur. »Das sagtest du schon. Ich muss noch hinzufügen, dass unsere Techniker meinten, es kann durchaus auch ohne fremdes Zutun passieren, dass das Universum… äh… abstürzt und sich wieder hochfährt. Es könnte sein, dass sich das gerade in dem Moment ereignete.« »Ich glaube an die erste Version.« »Ich auch. Irgendwie finde ich das Gefühl erhebend, geglaubt zu haben«, gestand Lutherion in ernstem Tonfall. »Einen Augenblick lang hatte ich den Glauben an eine bessere Welt gefunden.«
»Mir hat eher gefallen, mit dieser Tat ein Monument meiner Verachtung zu errichten«, fügte Max Merkur hinzu. »Verachtung gegenüber einem Universum, in dem sich die Dinge zum Negativen wenden und die Menschen nur Spielball von gleichgültigen Mächten sind.« »Du sprichst ja bald wie ein Teufel.« Lutherion hatte eine unergründliche Miene aufgesetzt. Max Merkur richtete sich auf. Die Tür wurde geöffnet. Gog III. kam herein und blickte sich finster um, ohne zu grüßen. »Ist er wach und am Leben?«, fragte er in militärischem Tonfall. »Für wach verbürge ich mich«, antwortete Lutherion. Gog III. Chef des TSD und einer der imposantesten Teufel, die Max Merkur bisher gesehen hatte, lief eine Seitenwand hoch und hing kopfüber im Raum. Max Merkur dachte, dass er sich nie an die anderen Schwerkraftverhältnisse in der Hölle gewöhnen würde. »Sehr gut.« Gog III. musterte ihn. An seinen Hörnern brannten kleine Flammen, die aus Sicht Max Merkurs nach unten hin flackerten. »Sehr, sehr gut! Unsere hervorragenden Teufelstechniker haben wieder alles im Griff. Exzellent, dass die Leitungen etwas mau waren. So hat sich die Hölle von selbst runter und raufgefahren.« Dabei rollte er das »r« von »runter« und »rauf«. »Aber nein, das waren wir, indem wir einen Glaubensakt…« Max Merkur wollte seine Sicht der Dinge präsentieren, doch Lutherion warf ihm einen Seitenblick zu, der ihm bedeutete zu schweigen. Offensichtlich wollten die Teufel nichts davon hören, dass sie von einem Menschen gerettet worden waren. »Die Höllenelektrik hat uns im Stich gelassen, und das war gut so. Das Teufelselektrikerteam bekommt gleichzeitig einen Rüffel und eine Auszeichnung. Das wiegt sich gegeneinander auf. Wir machen einfach gar nichts und lassen die Dinge gut
sein.« Der Redeton Gogs III. war zackig und duldete keinen Widerspruch. Lutherion stand ruhig da und wollte seinem Vorgesetzten offensichtlich nicht widersprechen, vielleicht aus Angst, dass er sich ein paar Tage in den Schrank einsperrte, um dort mit den Ketten zu rasseln. In der Hölle waren die Vorgesetzten trotz ihres rauen Wesens sensible Geschöpfe, die man leicht verschrecken konnte. Dann sprach er weiter: »Ich sehe, ihr seid wohlbehalten zurück. Habt ihr den Sinn des Lebens gefunden?« »Ja, das haben wir«, meldete sich Max Merkur zu Wort, dem erst jetzt wieder einfiel, dass er eigentlich sein eigenes Universum hatte retten wollen und es hoffentlich noch konnte. »Feine Sache.« Die Stimme Gogs III. klang schneidend. »Ihr habt also den Sinn des Lebens gefunden, das gibt eine Belobigung. Ihr habt uns aber auch Grendl auf den Hals gehetzt. Das gibt einen Tadel. Das hebt sich gegeneinander auf. Ich würde sagen, wir machen gar nichts.« Max Merkur und Lutherion blickten sich schweigend an. Beide waren froh, aus der Affäre heil, gewissermaßen pari herausgekommen zu sein. »Diese Grendl-Sache verstehe ich immer noch nicht«, meinte Max Merkur schließlich. »Und ich möchte endlich mal wissen, wer dauernd versucht hat, uns zu ermorden. Ich meine, Skelette, Spinnen, Höllenhunde und eine Bombe, das ist doch nicht normal, oder?« »Ich fürchte, du willst die Antwort gar nicht wissen«, lächelte Lutherion. »Warum, das war doch nicht Grendl. Der legt keine Bomben. Also, wer war es, der uns ermorden lassen wollte?« Max Merkur wurde ungeduldig. »Das war ich!«, donnerte Gog III. »Und nächstes Mal lässt du dich gefälligst umbringen!«
»Sonst schließt er sich in den Schrank ein«, flüsterte Lutherion. »Aber warum sollten wir ermordet werden?«, fragte Max Merkur. »Wie es aussieht«, begann Lutherion, »hat der TSD kurz nach unserer Abreise erfahren, dass Grendl mit Hilfe des Handys plante, in die Hölle zurückzukehren. Wie wir schon richtig vermutet haben, wollte der Drache durch den Zeitkorridor, den wir durch das Handy schaffen würden, in die Hölle gelangen. Denn ein Zeitkorridor öffnet sich erst, wenn er zum ersten Mal betreten wird.« »Aha. Nehme ich mal so hin«, sagte Max Merkur. »Prima, das hilft weiter. Vermutlich hat Grendl den Namen Wittgenstein selbst in die Liste der Philosophen geschmuggelt, um uns in die Hölle zu lotsen. Die zeitliche Reihenfolge der Liste auf dem Handy hat auch nicht gestimmt: Nietzsche hätte vor Wittgenstein stehen müssen. Ich denke, das passiert, wenn man versucht, mit Quadratkilometer großen Fingern ein Handy zu bedienen. Man darf Grendl trotzdem nicht unterschätzen. Er ist ein schlauer, gerissener Kopf und plant gern Jahrtausende im Voraus. Als wir also bei Wittgenstein waren, konnte sich Grendl der Hölle nähern und schließlich eindringen.« »Na gut, aber es war keine Absicht, Grendl den Weg zu bahnen.« »Ja, sicher. Der TSD erfuhr also, dass mindestens einer der Namen auf der Liste im Handy falsch war, zählte zwei und zwei zusammen, und heraus kam ein bösartiger Drache.« »Wir sind nämlich auf Draht, wir vom TSD«, herrschte Gog III. Max Merkur an. Da er immer noch kopfüber von der Decke hing, machte dies gewaltigen Eindruck auf ihn. Lutherion fuhr fort: »Der TSD hatte keine Möglichkeit, mit uns zu kommunizieren, weil wir das einzige Handy weit und breit hatten. Der TSD wusste aber, dass wir drauf und dran
waren, den schlimmen Überfeind in die Hölle zu führen. Also veranlasste man unsere Ermordung.« »Aber das ist doch… falsch«, ärgerte sich Max Merkur, der sich nur ungern an all die Abenteuer zurückerinnerte, die er mit den diversen Monstern erlebt hatte. »So arbeiten wir beim TSD – effektiv sind wir, unerhört effektiv«, donnerte Gog III. Lutherion sprach weiter: »Da der TSD uns nicht selbst durch die Zeiten folgen konnte, engagierte man Auftragskiller. Klaack’k und seinen Neffen Klaack’g.« Lutherion ging zu seinem Schreibtisch und holte von dort ein dreieckiges Foto, auf dem die zwei Skelette zu sehen waren, die ihnen in Athen begegnet waren. »Klaack’k und sein Neffe Klaack’g sind freischaffende Totenkopfjäger, die dem TSD noch einen Gefallen schuldig waren.« »Ja, wir haben denen Erdbeeren in die Totenstadt geliefert, und das im Winter, ein kolossaler Erfolg«, brüllte Gog III. und die Flammen an seinem Kopf züngelten höher. »Na ja, sie haben die Erdbeeren vor die Tore der Totenstadt gelegt und sind dann so schnell wie möglich abgehauen«, ergänzte Lutherion sehr leise. »Aber zurück zur Geschichte: Die Skelette besitzen die Fähigkeit, durch die Zeiten zu reisen. Sie versuchten mit allen möglichen Mitteln, uns zu töten. Sie wurden erst zurückgerufen, als Grendl sich in Bewegung gesetzt hatte und es ohnehin zu spät war.« »Richtig. Meine Agenten vom TSD zu töten, ist keine leichte Sache«, rief Gog III. »Sind allesamt gut ausgebildete Teufel, die für mich durch die Hölle gehen würden.« Max Merkur blieb einen Moment nachdenklich sitzen. Dann ergriff wieder Lutherion das Wort: »Das Einzige, was nicht ganz aufgeklärt werden konnte, ist, inwieweit Grendl an der Handytechnologie beteiligt war. Er floh vor Urzeiten in den
Zeitenstrom und konnte von da aus nicht mehr in die Hölle zurück. Also musste er warten, bis ein Gerät erfunden wurde, das ihm den Durchgang ermöglichte. Unglücklicherweise waren es die Engel, die das Gerät erfanden.« »Das war Zufall. Einer unserer brillanten Techniker muss sein Labor nicht abgeschlossen haben«, murmelte Gog III. »Es ist jedenfalls durchaus möglich, dass Grendl aktiv an der Entwicklung des Chips beteiligt war, der ihm schließlich die Rückkehr in seine alte Heimat hätte ermöglichen sollen, denn nur in der Hölle wollte er leben. In der Hölle ist es eben am schönsten«, erklärte Lutherion. »Aber wie das zusammenhängt, kriegen unsere Wissenschaftler auch noch raus«, rief Gog III. von der Decke. »Sind superschlau, unsere Wissenschaftler, nur ist leider gerade Urlaubszeit.« Max Merkur nickte und versuchte, das Gehörte zu ordnen. »Bleibt uns nur noch eins zu tun«, meinte Lutherion. »Und das wäre?«, fragte Max Merkur. »Na, den Sinn des Lebens in die Weltformel einzusetzen, um dein Universum auch wieder hochzufahren.« »Ach ja, der Sinn des Lebens, den hatte ich beinahe vergessen. Willst du ihn eigentlich hören?« »Hmmm… Nein… Sag ihn mir nachher, wenn wir bei der Weltformel sind, ich will mich überraschen lassen.« »Gut.« »Dann komm mal mit«, sagte Lutherion und zog Max Merkur aus seinem Büro, wo sich ein an der Decke laufender Gog III. überlegte, ob er sich nicht doch in den Schrank einschließen sollte. Sie verließen das Gebäude des TSD und gingen einen langen Korridor entlang. Max Merkur versuchte, die dreieckigen Flächen, die den Boden, die Wand und auch die Decke bildeten, einigermaßen gekonnt zu überwinden. Trotzdem
blieb ein Schwindelgefühl nicht aus. Schließlich gelangten sie in einen breiten, belebten Gang. Zahlreiche andere Teufel kamen ihnen entgegen, ohne groß Notiz von den beiden zu nehmen. Einige saßen auf äußerst kleinen, metallischen Dreirädern, die in irrem Tempo durch den Gang rasten. Für ein Kind wären die Dreiräder zu schmal gewesen, aber irgendwie hielten sich die Teufel darauf, und das, obwohl die hinteren zwei Räder viel größer waren als das eine vorne. Aus einem winzigen Auspuff quollen dabei schmauchend kleine, grüne Wölkchen. »Das sind Feuersauser«, erläuterte Lutherion, »sehr praktisch.« »Wie steuert man die denn, ich sehe keinen Lenker«, fragte Max Merkur und schaute ängstlich auf einen, der sich auf Kollisionskurs mit ihnen befand. »Ah, gute Frage«, lächelte Lutherion. »Er wird lediglich durch die Stimme gesteuert.« »Unglaublich…« Der Feuersauser, auf dem ein gestikulierender blauer Teufel saß, näherte sich weiter und weiter und ließ überhaupt keine Anstalten erkennen, dass er ausweichen wollte. »›Voice Control‹, das gibt es bei den Menschen nur für Radiowecker oder Computer, aber dass so etwas für Fahrzeuge möglich ist, finde ich beeindruckend.« »Äh, na ja, das funktioniert anders, als du vielleicht glaubst«, murmelte Lutherion. Der blaue Teufel auf dem Feuersauser war brenzlig nahe; er gestikulierte weiter wild mit den Händen und raste wie eine Kanonenkugel auf Max Merkur und Lutherion zu. Er rief: »Weg, ihr Deppen, Platz, weg da… Weg, weg, weg!!!« Max Merkur und Lutherion hechteten zur Seite. Mit einem lauten Wa-wuuuuusch-iiiiih passierte der Feuersauser die Stelle, an der die beiden gerade gestanden hatten.
»Seid wohl verrückt, ihr Typen, was?!«, schrie der blaue Teufel nach hinten und bog mit einem Tschopp-TschoppGeräusch um die Ecke. »Verstehst du jetzt, was ich mit Sprachsteuerung meinte?«, lächelte Lutherion und half dem verdutzten Max Merkur auf. Die beiden setzten den Weg fort. Max Merkur hielt die Augen offen, um mit keinem Feuersauser zusammenzuprallen. »Gibt es denn eigentlich keine weiblichen Teufel?«, wollte Max Merkur plötzlich wissen. »Ich sehe immer nur männliche Teufel.« »Doch die gibt es, aber wir sehen sie immer nur dienstags.« »Warum am Dienstag?« »Da ist Badetag.« »Uh?« »Die weiblichen Teufel sind nicht so gut auf uns zu sprechen, musst du wissen, wegen eines… äh… bestimmten Vorfalls… Sie wohnen in den tieferen Regionen von Pahhur, nur dienstags kommen einige herauf, wenn die feurigen Flammenthermen geöffnet sind.« Plötzlich wurde Max Merkurs Aufmerksamkeit von etwas abgelenkt. Durch seitliche, breite Fenster sah er fünf große Pyramiden im ewigen Feuer schweben, die in den fünf Teufelsfarben bemalt waren. Die Weiße empfand er als die Imposanteste. Alle fünf trieben wie Flaschen auf dem Meer, und das Feuer wiegte sie in sanften Bewegungen, ohne dass sich der Abstand zwischen ihnen veränderte. Als Max Merkur weiterging, erblickte er weiter unten im sanften Grün Pahhurs etwas, das den Anschein von mehreren gigantischen Ketten erweckte, die weit ins Feuer hineinragten, doch konnte er den Beginn und das Ende der Ketten nicht erkennen. Er rätselte über deren Zweck. Fern am Horizont bemerkte er ein Gebäude, das ebenfalls wie eine große, weiße Pyramide aussah. Um die Pyramide flogen mehrere riesige
Kugeln, die silbern glänzten. Das Seltsamste aber war, dass an jeder Ecke der Pyramide ein weißes Feuer brannte, das sich scharf vom weichen Grün Pahhurs abhob. »Was ist das da draußen?«, erkundigte sich Max Merkur, der sich wie ein Kind fühlte, das dem Vater Löcher in den Bauch fragt. »Das ist das Tunkal-Ting Luzifers I. Die Flammen, die du dort siehst, hat Luzifer höchstpersönlich entzündet. Sie brennen seit damals, als er aus der Hölle ausgezogen ist.« »Warum lasst ihr sie brennen?« »Wir denken, dass er eines Tages zurückkommt, und dann wäre er sicher böse mit uns, wenn sein Büro nicht geheizt wäre. Er hat in dieser Pyramide dort regiert. Aber kein Teufel ist seit der Zeit hineingegangen.« »Warum denn?« »Niemand kommt an den Kugeln vorbei.« »Sind sie gefährlich?« Lutherion lächelte, schwieg aber. »Hm, dann sag mir wenigstens, warum er die Hölle verlassen hat.« »Ah, wir sind da!«, rief Lutherion und ging durch eine dreieckige Tür eines Gebäudes, dessen Umrisse und Gestalt nur als Vielkant beschrieben werden können. Zwar basierte es auf Dreiecken, doch diese waren so bizarr aneinander gefügt, dass es wie ein Furcht einflößender Kristall wirkte, der ins Monströse mutiert war. »Hier wird die Weltformel aufbewahrt«, erläuterte Lutherion, während er Boden, Wände und Decke eines langen Ganges entlanglief. Max Merkur konnte ihm nur mit Mühe folgen. »Was ist das denn genau für eine Formel?« Max Merkur war in Fragelaune. »Anhand der Formel kann man alle Dinge, die im Universum passieren, berechnen und voneinander ableiten; wenn man sie
richtig interpretiert, lassen sich Prognosen über die Zukunft erstellen. Sie ist aber noch mehr als das. In gewissem Sinne stellt sie den Motor des Universums dar. Verändere sie, und du veränderst die Welt.« Max Merkur lauschte aufmerksam den Erklärungen und versuchte, sie zu verstehen. Eine weitere Tür öffnete sich: Ein weiterer langer Gang, fast ein Tunnel, erstreckte sich vor ihnen, und da war sie: Die Weltformel! Von ihrem Beginn bis zu ihrem Ende maß sie bestimmt mehrere hundert Meter. Zumindest der Teil davon, den Max Merkur sehen konnte, denn sie schien irgendwo in einen anderen Gang abzubiegen. Die Formel lag auf einer Art Metallschiene, und grünliches Neonlicht beschien sie mit grellen, klaren Strahlen. Sie bestand nicht nur aus mathematischen Zeichen, sondern aus allen möglichen Gegenständen; einige – wie eine Popcornmaschine oder einen Hut – erkannte Max Merkur, andere erschienen ihm kurios, dunkel und unbegreiflich. Dass eine Weltformel nicht nur aus mathematischen Zeichen bestand, war logisch, denn die Welt bestand ja auch nicht nur aus mathematischen Zeichen, dachte Max Merkur. Es wäre auch seltsam gewesen, wenn ein paar Plus- und Minus-Zeichen die Welt abzubilden vermocht hätten. Fasziniert ließ er den Blick an der Weltformel entlanggleiten. »Hier ist sie, das Wunderwerk der Meta-Mathematik! Hier verbinden sich Geometrie, Algebra, Gartenbaukunst, Innenarchitektur und hunderte andere Fachgebiete zu einem einzigen Ding. Toll, nicht wahr?« Max Merkur starrte voller Staunen auf die schier unendliche Formel. »Kann sie denn mein Universum wieder… Hmmm, wie sagt man da… lebendig machen?«
»Wenn du den Sinn des Lebens kennst, dann ja«, erklärte Lutherion. »Ohne Sinn kann kein Lebewesen sein.« »Ei, ei… Das kann ja heiter werden!« »Was meinst du?«, fragte Lutherion. »Guten Tag, ich bin Emptor III.«, flüsterte ein kleiner, gelber Teufel, der Max Merkur bis zur Hüfte reichte. »Der Entdecker der Weltformel.« »Guten Tag. Warum flüsterst du denn?« Max Merkur hatte noch nie einen so kleinen Teufel gesehen. »Pssst! Die Weltformel schläft gerade, wir dürfen sie nicht stören.« »Sie schläft?« »Ja, die Weltformel ist ein komplexes Gebilde; sie schläft viel und träumt noch öfter. Zum Glück ist sie bei den Fütterungen nicht so anspruchsvoll.« Max Merkur und Lutherion schauten sich an. Lutherion zuckte mit den Schultern. Emptor III. musterte Max Merkur: »Du bist also derjenige, der den Sinn des Lebens kennt? Kompliment. Eine wissenschaftliche Leistung ersten Grades. Aber Grendl hättest du nicht herbringen sollen. Wir hatten wirklich Mühe, die Weltformel zu beruhigen. Meine Kollegen und ich haben ihr ›Die Schatzinsel‹ vorgelesen, bis sie wieder eingeschlafen ist.« Dann gab Emptor III. den beiden ein Zeichen, ihm zu folgen. Er lief mit ihnen die lange Weltformel entlang. Dabei tippelte er wie auf Zehenspitzen. Zahlreiche andere gelbe Teufel begegneten ihnen: Einige in kariert gemusterten Mänteln schienen Hebel zu bedienen, andere mit lilafarbenen Monokeln beugten sich über die Weltformel und betrachteten alte Schuhe und griechische Zeichen. Ein enormer Plan der Weltformel hing an einer der dreieckigen Wände. Max Merkur, der kurz anhielt, konnte nun sehen, wie gewunden und lang sie eigentlich war. Sie erstreckte sich über zahllose Gänge des
Wissenschaftsgebäudes und bog beinahe labyrinthisch mal links, mal rechts ab. Sie schien eine gewisse Ordnung aufzuweisen. Über einige Teile stand mit Buntstift geschrieben: »Dies da: Welt der Menschen«, »Dies da: Welt der Teufel«, »Dies da: Welt der Engel (Zugang beschränkt: Kuchengabeln und Gummisocken dringend empfohlen! Hörner einbuttern!)«. Mit Bleistift stand da außerdem: »Dies da: auch eine Welt, oder habt ihr wieder nicht aufgestuhlt?« Die Teufel hatten, soviel konnte Max Merkur erkennen, bisher nur einen geringen Teil der Elemente der Weltformel identifiziert und ihrer Funktion zugeordnet. Sie gingen weiter. Ab und zu drehte sich Emptor III. um und pssstte. Dann lief er weiter, bis er an einer kleinen, unscheinbaren Krümmung stehen blieb, an der die Weltformel einen kleinen Knick aufwies. »Hier ist es«, hauchte er. »Gang 3, die Menschenwelt. Hier ist die Variable, die eine Konstante sein sollte.« »Wo denn, ich sehe nichts?«, fragte Max Merkur. »Pssst!«, zischte Emptor III. wieder. »Leise.« Das Licht flackerte. Vorsichtig, mit unendlicher Behutsamkeit näherte sich Emptor III. der Weltformel, griff nach einem kleinen Schemel und hob ihn hoch. »Ganz, ganz sachte! Vorsicht!«, flüsterte der kleine, gelbe Teufel fast atemlos und reichte Lutherion den Schemel, der ihn nahm, abstellte und sich draufsetzte. »Okay, die Weltformel schläft und wird, wenn sie aufwacht, hoffentlich gar nicht merken, dass etwas anders ist, außer dass eben dein Universum wieder da ist.« »Alles klar, das ist gut.« »Und jetzt«, flüsterte Emptor III. »den Sinn des Lebens, bitte.« Der gelbe Teufel nahm etwas in die Hand, was man für eine Spritze halten konnte, und legte es an ein kleines, unscheinbares »z« an. Das »z« schaute etwas ängstlich drein,
war allerdings zwischen einem Plus-Zeichen und einer Schuhschachtel zu sehr eingekeilt, als dass es hätte davonlaufen können. Max Merkur zögerte und blickte die lange Formel entlang. »Was ist?«, fragte Emptor III. Lutherion schaute gebannt Max Merkur an, der wie zu einer Salzsäule erstarrt zwischen den Teufeln stand. »Was ist?«, wiederholte Emptor III. »Ich weiß nicht, ob es der richtige Sinn ist«, murmelte Max Merkur. »Er wirkt nicht so.« Lutherion beugte sich vor: »Es ist der richtige, wir haben die anderen bereits ausprobiert; es ist der einzige Sinn, den wir noch nicht eingesetzt haben. Und er war an einem fast unerreichbaren Ort. Die Engel in ihrer verschrobenen Logik wollten, dass man ihn nicht findet. Ich würde sagen, da kann wenig falsch dran sein.« »Den Sinn, bitte.« Emptor III. wirkte ungeduldig. Das »z« begann, unruhig hin und herzugleiten. »Aber auf eure Verantwortung.« Max Merkur versuchte, Zeit zu gewinnen. Keiner der beiden Teufel sagte etwas. Der gelbe Teufel schob seine Spritze noch fester an das kleine »z«. »Der Sinn des Lebens ist«, fing Max Merkur an, »so wie ich ihn von Nietzsche erfahren habe, er ist also… Soll ich das wirklich sagen? Ich meine, Nietzsche ist darüber wahnsinnig geworden.« Beide Teufel sagten im Chor und überraschend laut: »Ja!« »Also, der Sinn des Lebens ist…« Max Merkur legte eine Pause ein, während der er das kleine, traurige »z« anstarrte, »… erstens nicht geboren zu werden und zweitens früh zu sterben.« Ohne nachzudenken, versenkte Emptor III. die Spritze in das »z«.
Wieder Pause. Eine Pause, die sich wie die ersten Momente anfühlte, in denen jemand in einen Abgrund stürzt. Eine lange Pause, die schmerzte. Die Pause… … endete. Dann geschahen viele Dinge. Das »z« schwoll an und wurde größer und fester. Es wuchs und wuchs, bis es am Ende ein »Z« war. Stolz und unverrückbar. Das »Z« hatte sich verwandelt, von einer unscheinbaren Variable, die irgendwo unter einem Schemel ihr Dasein gefristet hatte, zu einer mächtigen, unerschütterlichen Konstante. Der Schemel, unter dem sich das »Z« versteckt hatte, war überflüssig geworden. Er hatte nie eine wirklich meta-mathematische Funktion erfüllt, sondern lediglich das kleine »Z« gegen Feinde und nicht zuletzt gegen Regen geschützt.
Irgendwo in den verschlungenen Gängen eines kristallartigen Gebäudes erwachte die Weltformel aus tiefem Schlaf. Sie begann, blau zu leuchten, so wie der Himmel leuchtet, wenn man das Wort »Azur!« ausspricht und ins Träumen gerät. Tief, tief im Bauwerk zuckte ein Gedanke durch die erwachende Weltformel und lief und lief und lief. Der Gedanke hieß: Die Welt, ein Traum. Nein, er hieß: Die Welt, mein Traum! Und er wiederholte sich: Dieweltmeintraumdieweltmeintraumdieweltmeintraum… Das Universum entfaltete sich aus dem Nichts. Es dauerte kurz, bis wieder alles am rechten Platz war: die Vögel, die Bäume, die Tiere und die Menschen. Das Nichts wurde vertrieben wie eine schlechte Idee, wenn jemand eine bessere hat. Die Schöpfung zeigte ihre ganze Pracht, als wäre das
Nichts nie über sie hergefallen. Sie präsentierte sich so unschuldig und betörend wie am ersten Tag. »Das ist der Sinn des Lebens?!«, wiederholte Lutherion ungläubig, nachdem alle drei fast zwei Minuten geschwiegen hatten. »Erstens nicht geboren zu werden und zweitens früh zu sterben?« »Ja, es ist schrecklich!« Max Merkurs senkte die Stimme. »Wie soll man das ertragen?« »Und Irrtum ausgeschlossen?« »Die Formel funktioniert«, warf Emptor III. ein, der neben einer blau glühenden Formel stand und ihr den Rücken kraulte. »Das kann doch nicht der Sinn des Lebens sein! Wie kann man existieren, wenn man das weiß?«, fragte Max Merkur langsam. Lutherion atmete tief durch, dann stand er vom Schemel auf: »Das ist eine Frage der Sichtweise«, meinte er ernst. »Meine Sichtweise der Dinge ist, dass mich das Ganze anwidert. Ich möchte, dass mein Leben einen Sinn hat, etwas Schönes und Harmonisches.« »Das musst du in Relation sehen.« »Ich hoffe, es kommt jetzt kein Das-Glas-ist-halb-leer-oderhalb-voll-Mist!« »Mist? Willst du eine Dungkugel? Nein, schau, wie lang die Weltformel ist, wie viele Dinge darin enthalten sind und wie schön sie jetzt glänzt. Das ›Z‹ ist nur ein kleiner Teil im Ganzen. Und mag auch das ›Z‹ für sich allein nicht schön sein, muss man die Weltformel als solche betrachten. Ohne das ›Z‹ wäre hier eine Lücke«, sagte Lutherion. »Ich kann das nicht so akzeptieren, wie es ist.« Max Merkur spähte die Formel entlang. »Sieh das Positive. Dein Universum dürfte jetzt schon wieder verfügbar sein. Du bist ein Held. Du hast gleich zwei Universen gerettet!«
»Emptor III. darf ich was fragen?« Max Merkur schaute den kleinen gelben Teufel an. »Gehören die Teufel auch zu dem Bereich, in dem das ›Z‹ ist? Ist das ›Z‹ wichtig für sie?« »Die Teufel? Nein, nein, wir haben unsere eigenen Buchstaben, einige mathematische Zeichen und Küchenmaschinen in der Formel; wir haben den halben Gang 8 für uns.« Er kratzte sich an den Hörnern. »Aber die Engel besetzen den ganzen Gang 9 und 10, das ist wieder mal typisch für den Haufen…« Emptor III. überlegte kurz. »Na ja… wir denken, dass die ganze Formel eine Einheit bildet… So gesehen, hat das ›Z‹ auch für uns Teufel Auswirkungen. Andererseits vermuten wir, dass der Einfluss des ›Z‹ oder anderer Variablen, Konstanten, Küchengeräte und Sonderangebote, umso stärker ist, je näher eine andere Sache an ihnen dran ist. Das ›Z‹ und die Menschenwelt gehören anscheinend zusammen.« »Also gibt es Alternativen? Andere Daseinsformen und Welten?«, wollte Max Merkur wissen. »Die gibt es immer«, lächelte Lutherion, »aber die brauchst du wirklich nicht, wenn du dich als Teil des Ganzen begreifst…« »Ich meine ja nur, ich finde es schade, dass ich kein Teufel bin und mich stattdessen ein Leben lang mit dem ›Z‹ aus nächster Nähe herumschlagen muss. Übrigens, es wächst noch immer…« Emptor III. schaute kritisch drein und rieb anschließend beruhigend über den oberen Balken des »Z«, bis es schließlich zu wachsen aufhörte. »Ach, dann besuch doch die Teufelsschule, darüber wollte ich sowieso mit dir reden«, schlug Lutherion vor. »Und werde ein Teil von Gang 8.« »Geht das denn? Immerhin bin ich ein Mensch. Ist die Schule nicht nur für Teufel?« Max Merkur schien bei dem Gedanken
sichtlich aufzuleben. Emptor III. Max Merkur und Lutherion schlenderten die Weltformel entlang zurück. »Nun ja, zum Teufel muss man geboren sein, da beißt die Maus keinen Faden ab. Aber wir nehmen jedes Jahr einige Menschen in unsere Teufelsschule auf. Dort lernt man alles, was man zum ordentlichen Teufelshandwerk braucht.« »Das finde ich interessant, aber kann ich das wirklich?« »Ja, sicher«, bekräftigte Lutherion. »Seitdem uns durch eine vertragliche Regelung mit den Engeln die Sünder in die Hölle gesandt werden, suchen wir unter ihnen die besten aus und schicken sie auf die Teufelsschule.« »Wirklich?« »Ja, wir kennen nämlich keine Vorurteile. Nach unserer Staatsphilosophie, dem Evilismus, ist das Böse universell und verbindet alle Lebewesen zu einer großen Gemeinschaft. Viele Teufel suchen sogar das reine Böse, um nicht nur die Grenzen zwischen den Lebewesen, sondern auch die Schranken des Universums hinter sich zu lassen.« »Meinst du, ich könnte das auch machen? Nach allem, was ich weiß und gesehen habe, kann ich nicht zurück in mein Universum.« »Ich denke, du hast dich wie kein anderer für einen Platz an der Teufelsschule qualifiziert.« »Ich hätte schon Lust, böse zu werden.« »Klar, bleib bei uns und leg die Prüfung zum ›Homo diabolus‹ ab. Sie ist allerdings nicht ganz leicht, und die Teufelsschule ist ein bisschen… äh… anders als die Schulen, die du vielleicht kennst.« »Ich würde es gerne versuchen. Nach meinem Philosophiestudium ist das wahrscheinlich ein sinnvolles Anschlussstudium.« »Eben, du hast Philosophie studiert, dadurch weißt du über die Philosophie Bescheid. Das kann der Hölle wieder nützlich
werden, falls Grendl mit einer Wut im Bauch zurückkehrt«, lächelte Lutherion. »Wahrscheinlich werden Kenntnisse der Philosophie in deinem Universum ja auch geschätzt, oder?« »Oh, reden wir nicht darüber.« Am Ende der Weltformel angekommen, verabschiedeten sich beide von Emptor III. der wegen seines kleinen Wuchses die Hand zum Schütteln nach oben strecken musste. Schließlich verließen sie das Gebäude. »Ich bringe dich einfach mal zur Anmeldung in die Teufelsschule«, schlug Lutherion vor. »Brauche ich da irgendwas Bestimmtes? Ähm… ich habe weder Hörner noch einen Teufelsschwanz.« Lutherion reichte ihm einen dreieckigen Zettel mit einem TSD-Stempel darauf. »Da drin ist ein Empfehlungsschreiben. Das wird dir den Zugang zur Schule erleichtern. Mach dich aber trotzdem auf alles gefasst«, warnte Lutherion. »Am besten daran, hier in der Hölle zu bleiben, finde ich, dass ich dich ab und zu sehen werde. Es ist schön, einen… Freund gefunden zu haben.« Max Merkur äußerte seine Gefühle frei heraus. »Ja, Max Merkur«, gab Lutherion zurück. Sie waren vor einem großen Gebäude angekommen, dessen Spitzen sich unendlich weit in die Höhen und Tiefen Pahhurs erstreckten. »Hier muss du hinein«, erklärte sein neuer Teufelsfreund. »Du wartest im Wartezimmer, bis du aufgerufen wirst, dann gibst du dein Empfehlungsschreiben am Empfang ab.« »Okay, das bekomme ich hin.« »Setz dich in der Schulklasse nicht in die erste Reihe, du wirst schon sehen warum. Deine Hausaufgaben, egal wie… abstrus sie sind, solltest du machen… äh, wenn dir dein Leben lieb ist. Vermeide zwei Lehrer: Mordur II. und Snart V. Vor
allem Torturenkunde sollte man bei denen nicht… Na ja, du wirst schon sehen. Wenn du mich besuchen willst, benutze einen Kühlschrank. Hier ist meine Nummer, du musst nur die Grundeinstellungen an den Schnappschaltern oben ändern…« Max Merkur umarmte den Teufel, dessen Flammen an den Hörnern dabei zu brennen begannen. Dann wandte er sich um, winkte dem Teufel ein letztes Mal und betrat die Schule. Die Tür öffnete sich automatisch und schloss sich mit einer raschen Bewegung wieder, so als sei man in eine Falle geraten. Auf der rechten Seite an der Decke befand sich eine Tür, auf der »Wartesaal Homo Sapiens« stand. Max Merkur ging hinein und fand einen nüchternen, strengen Raum vor. Überall waren kleine, dreieckige Stühle aufgestellt, auf denen schon zahlreiche Bewerber saßen. Max Merkur harrte im Wartesaal mit den anderen Bewerbern um einen Platz an der Teufelsschule aus. Was würde er dort lernen, welche Erfahrungen würde er machen, was für ein geheimes, dunkles Wissen wartete auf ihn? Lutherions Empfehlungsschreiben bot sicher eine gute Chance, einen der wenigen Plätze zu ergattern. Die meisten anderen Bewerber waren blasse Gestalten. Man sah ihnen deutlich an, dass sie nicht aus Überzeugung Böses tun wollten, sondern weil sie glaubten, es würde ihrem Selbstbewusstsein gut tun. Einige schienen auf pure Rache aus zu sein: Es waren Leute, die als Kinder auf dem Schulhof vom Schulrabauken verprügelt worden waren, Leute, deren Eltern ihnen Namen wie HorstKevin oder Adelgunde-Babette gegeben hatten. Da wurde plötzlich die Tür aufgestoßen. An der Schwelle stand eine Lichtgestalt. Sie trug ein hellblaues Hemd, dessen Saum den Boden berührte. Überirdisches Licht durchflutete den Raum. Es war Petrus. Er besaß ein über alle Maßen gütiges Gesicht. Das lange Haar fiel ihm in sanften Locken auf die Schultern, die Augen wirkten sehr beruhigend und
verzeihend. Er sah sich im Raum um und musterte jeden Einzelnen äußerst genau, dann sagte er: »Okay, wer von euch Freaks hat mein Handy kaputt gemacht?«
Menschenregister
Agu-Uk Neandertaler-Philosoph, der dachte, das Nichts sei eine gute Sache, und alle Neandertaler hineinführte Albert Camus französischer Schriftsteller und Philosoph (1913-1960) Albertus Magnus Kirchenlehrer von Thomas von Aquin (um 1200-1280) Claudia Dotterer aufgrund eines durch Max Merkur ausgelösten Zeitparadoxons verhinderte Frau von Joachim Grögelmaier Friedrich II. römisch-deutscher Kaiser (1194-1250) Friedrich Nietzsche deutscher Philosoph (1844-1900) Friedrich Wilhelm Joseph Schelling deutscher Philosoph (1775-1854) Immanuel Kant deutscher Philosoph (1724-1804) Jean-Paul Sartres französischer Schriftsteller und Philosoph (1905-1980) Joachim Grögelmaier Philosophiestudent Landulf von Aquin Vater von Thomas von Aquin Ludwig Wittgenstein österreichisch-englischer Philosoph (1889-1951), jetzt Hilfsbibliothekar und Buchrückgabebeauftragter der Nationalen Satanischen Bibliothek Max Merkur ehem. Philosophiestudent in Stuttgart, Magister der Philosophie Pamela Kathedra Hexe dritten Grades und Bezirksleiterin für Montesangiovanni Parderlardus bretonischer Alchemist, versuchte Gold in Nichts zu verwandeln
Platon griechischer Philosoph (427 v. Chr.-347 v. Chr.), Schüler des Sokrates (wegen Magen-Darm-Grippe entschuldigt) Professor Johnson Leiter des Teams amerikanischer Wissenschaftler zur Erforschung des Risses im Himmel, erfand den „Atmosphärischen Abrieb“ Raji Tampon Yoga-Meister Rene Descartes französischer Philosoph, Mathematiker und Naturwissenschaftler (1596-1650) Rinoldo von Aquin Bruder von Thomas von Aquin Roswitha aus dem Burgenland Max Merkur, durch Pamela Kathedra verwandelt Sokrates griechischer Philosoph (469 v. Chr.-399 v. Chr.) Thomas von Aquin italienischer Philosoph und Theologe (um 1225-1274) Trudel Beuteschieß Hexe, hört gerne Radio Time Warp und Cindy Lauper Walter Grögelmaier aufgrund eines durch Max Merkur ausgelösten Zeitparadoxons ungeborener Sohn von Joachim Grögelmaier und Claudia Dotterer Xanthippe Ehefrau des Sokrates Xenokrates Michalokopolos diplomierter staatlicher Oberhenker, Inhaber einer Henkerei im alten Athen Xenophon griechischer Schriftsteller und Politiker (426 v. Chr.-355 v. Chr.), Schüler des Sokrates
Teufelsregister
Ank-T’Bok XI. Teufelsgeneral, Leiter des Himmelfahrtskommandos zur Beschaffung eines Zeitreisetelefonbuches Anzor VII. Teufelspolitiker Arne III. Teufelsautor, schrieb »Die Hölle – Facts and Fiction« Asur II. kam auf die blöde Idee, einen Staudamm gegen das Nichts zu bauen Aztor IX. Teufelsphilosoph, formulierte das Traktat »Wahrheit ist’s, wenn es in der Nase klingelt« Beelzebub I. Schwarzteufel, Stammteufel des schwarzen Zeitalters (Beelzebubische Ära), musste sich vertraglich verpflichten, die Seelen der Sünder in der Hölle aufzunehmen Bezo-Man VIII. Teufelschemiker, Erfinder der Kühlpassage Brakh A. Baal VI. Teufelsautor, schrieb »Schöpfing the Schöpfung – die Urgeschichte fünfer Farben« Brombor XXI. Teufelsautor, schrieb »Geschichte der Hölle« Buzz XI. erster Teufel, der eine Kühlpassage benutzte Dr. Fuchsar IX. Staatsteufel und Direktor der Abteilung Dungund Guanobomben Emptor III. Gelbteufel, Teufelsmathematiker, Entdecker der Weltformel Erfler XII. Teufelsmetaphysiker, entdeckte, dass gute und böse Materie hochkonzentriert ein metaphysisches Feld erzeugen Fantobald Elefantenkopf, das Gedächtnis der Welt Gerschok II. Teufelsmusiker Gog I. einer der beiden Gründer des TSD (Teuflischer Sicherheitsdienst)
Gog III. Schwarzteufel, Leiter des TSD (Teuflischer Sicherheitsdienst) Grogik III. Blauteufel, schloss mit Wittgenstein einen Pakt, surft gerne in Pahhur, während Wittgenstein seine Arbeit übernehmen muss Hektor XIV. Blauteufel, einer der beiden Wächter der Höllengrenzstation 19712, genannt die Höllenklamm Jar Bok VI. Teufelswissenschaftler, fand die wahre Bedeutung der Seelen für die Hölle heraus Kobald XII. Blauteufel, einer der beiden Wächter der Höllengrenzstation 19712, genannt die Höllenklamm Kor-Ker III. der Schläger wechselte vom Salsaismus zum empirischen Konsumismus, als man ihn bitten wollte, das Nichts zu durchschreiten Kozk II. verlor zu Zeiten von Mephistopheles III. das Engelsstöckchen zum Bändigen der Höllenhunde Loki II. Gelbteufel, Assistent des Leiters des TSD (Teuflischer Sicherheitsdienst) Lutherion VI. Schwarzteufel, Agent des TSD (Teuflischer Sicherheitsdienst) Luzifer I. Weißteufel, Stammteufel des weißen Zeitalters (Luziferische Ära) und der Erste unter den Teufeln Magog I. einer der beiden Gründer des TSD (Teuflischer Sicherheitsdienst) McTumlor III. Teufelsphilosoph, Begründer des Salsaismus Mephistopheles I. Gelbteufel, Stammteufel des gelben Zeitalters (Mephistophelische Ära), unter ihm gediehen Wissenschaft und Philosophie Mephistopheles II. Nachfolger von Mephistopheles I. erhob den Evilismus zur Staatsreligion Mephistopheles III. Nachfolger von Mephistopheles II.
Merkor IV. kam in die Große Teufelsenzyklopädie der Vollkretins, als er versuchte, Kartoffeln mit dem Sternbild des Großen Wagens zu transportieren Mordur II. Teufelslehrer für Torturenkunde Nimrod-Khans II. kämpfte gegen das Bananenmonster Bubarutsch Orknar I. Schüler von Mephistopheles L, Begründer des Evilismus Quatarr VIII. Teufelsphilosoph Raz-Ghul III. Teufelsgeneral, erfand durch Zufall den Teufelsknoten während des Schnürsenkel-Massakers Rhinogand Nashornkopf, das Vergessen der Welt Salazar III. der Preiswerte Erfinder des Rabattsystems mit Teufelssammelpunkten Satan I. Rotteufel, Stammteufel des roten Zeitalters (Satanische Ära), zog als Erster aus, um Krieg gegen die Engel zu führen Satan XI. Urururururururururahne von Satan I. verlor die Schlacht am Fluss der weißen Träume, damit endet das rote Zeitalter Snart V. Teufelslehrer für Torturenkunde Spizza I. Schüler von Mephistopheles I. Begründer des Konsumismus Spizza III. Teufelskonsumist, fischte das Ur-Monster Aquormor Spizza VIII. Teufelsphilosoph Spizza X. Teufelsphilosoph, Anhänger des Konsumismus Viktor III. der Jüngere Laborassistent von Zahadu VI. dem Zwirbler Zahadu VI. der Zwirbler Erfinder des Engelsflügel-inZwiebelkuchen-Wandlers
Monsterregister
Aquormor eines der Ur-Monster, tödlicher Riesenfisch Az-Qark, das Schreckliche neunzehnbeiniges Ur-Monster mit drei Giftstacheln Braxas größter und gefährlichster von 12 Höllenhunden, welche die Eingänge der Hölle bewachen Bubarutsch Bananenmonster Grendl fieser, grässlicher Ur-Drache, eines der Ur-Monster, das Urböse der Hölle Klaack’g Neffe von Klaack’k, will auch Totenkopfjäger werden Klaack’k freischaffender Totenkopfjäger Rakhdul Ur-Sau, eines der Ur-Monster Z’k’la Kobold, führender Gelehrter an der Universität von Nowosnikoboldsk