Ein märchenhaft-heiteres Buch über deutsche Sprache und deutsche Geschichte
GÜNT E R GRASS G R I M M S WÖ RT E R Eine Liebeserklärung
Steidl
Der neue Grass: Ein lust- und kunstvolles Spiel mit Buchstaben und Wörtern
Wovon »Grimms Wörter« erzählt Die Brüder Grimm erhalten im Jahr 1838 einen ehrenvollen Auftrag: Ein Wörterbuch der deutschen Sprache sollen sie erstellen. Voller Eifer machen sie sich ans Werk. Aberwitz, Angesicht, Atemkraft – fleißig sammeln sie Wörter und Zitate, in wenigen Jahren sollte es zu schaffen sein. Barfuß, Bettelbrief, Biermörder – sie erforschen Herkommen und Verwendung, sie verzetteln sich gründlich. Capriolen, Comödie, Creatur – am Ende
ihres Lebens haben Jacob und Wilhelm Grimm nur wenige Buchstaben bewältigt. Günter Grass erzählt das Leben der Brüder Grimm auf einzigartige Weise als Liebeserklärung an die deutsche Sprache und die Wörter, aus denen sie gefügt ist. Er schreibt über die Lebensstationen der Märchen-Brüder, über ihre uferlose Aufgabe und die Zeitgenossen an ihrer Seite: Familie und Verleger, Freunde, Verehrer und Verächter. Spielerisch-virtuos spürt Grimms Wörter dem Reichtum der deutschen Sprache nach und durchstreift die deutsche Geschichte seit der Fürstenherrschaft und den ersten Gehversuchen der Demokratie. Von der Vergangenheit mit ihren politischen Kämpfen und ganz alltäglichen Sorgen schlägt Günter Grass manche Brücke in seine eigene Zeit. Wie Grass auf die Grimms kam
Grimms Wörter Eine Liebeserklärung 368 Seiten mit farbigen Vignetten von Günter Grass Feines Papier, Fadenheftung, Lesebändchen, Leineneinband mit Schutzumschlag, geliefert in einem Kartonschuber € 29,80 (sFr 48,80 UVP) ISBN 978-3-86930-155-6
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Sprache ist aus Buchstaben gemacht. Als die Brüder Grimm im Jahr 1838 den Auftrag erhielten, ein Wörterbuch der deutschen Sprache zu erstellen, haben sie ihr Sprachmaterial buchstabenweise gesammelt – »Von A wie Anfang bis Z wie Zettelkram«. Und genau so beginnt Grimms Wörter, das neue Buch von Günter Grass. Ganz sinnlich und konkret stellt sich Grass darin vor, wie man es wohl anstellt, alle Wörter zu sammeln, die die eigene Sprache hergibt: erst die, die mit A beginnen, dann die mit B und so weiter. Grass begleitet die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm auf ihrer Odyssee. Wenn man sich überlegt, was das für eine Arbeit macht, ganz ohne Computer-Datenbank alles zu sammeln – zu verzetteln, wie man damals so schön sagte –, kann einem bei den 26 Buchstaben des Alphabets angst und bange werden. Und das wurde es den Brüdern auch mit der Zeit. Beide waren schon über fünfzig
Jacob Grimm an seinen Zettelkästen
Jahre alt, als sie mit ihrer Herkules-Aufgabe begannen. Beide waren kurz zuvor als Professoren der Universität Göttingen entlassen worden. Ernst August, der neue König von Hannover, hatte die hart erkämpfte Landesverfassung handstreichartig wieder aufgehoben, woraufhin sieben Professoren protestierten: Die »Göttinger Sieben« stehen bis heute für Mut und Zivilcourage angesichts von Rechtswillkür und Machtmißbrauch. Das brachte sie um ihre Professuren. Die Brüder glaubten, das ihnen angebotene Wörterbuch werde beiden ein sicheres Auskommen bescheren und nach wenigen
Jahren abgeschlossen sein. Doch sie täuschten sich gewaltig, das Werk wuchs ihnen über den Kopf und bescherte vielen weiteren Generationen von Sprachforschern mühevolle Arbeit. Das Deutsche Wörterbuch, von A bis Z im Leipziger Hirzel Verlag erschienen, wurde erst 1960 abgeschlossen. Das Grimmsche Wörterbuch ist nicht wirklich mehr ein Nachschlagewerk für den täglichen Gebrauch, aber bis heute eine bedeutende historische Quelle der Sprachentwicklung. Viele Literaturfreunde haben es in 32 Bänden auch heute noch – als Reprint des Deutschen Taschenbuch Verlags – in ihrem Regal und nutzen es als Fundgrube für Wörter und ihr Auftreten in eintausend Jahren deutscher Sprachgeschichte. Denn die Brüder Grimm und ihre Zuträger haben nicht nur akribisch alles mit A und alles mit B usw. gesammelt, sondern auch umfassend dokumentiert, wo und wie das entsprechende Wort bei Walther von der Vogelweide, bei Luther oder bei Goethe vorkommt. Davon, von Grimms Wörtern, hat sich Günter Grass inspirieren lassen und seine Geschichte geschrieben: über zwei Brüder, in deren Liebe zur deutschen Sprache sich das Schicksal ihrer zerrissenen Nation spiegelt, und über ein Wörterbuch, das mehrere Kriege und andere Katastrophen nicht von seiner Fertigstellung abhalten konnten. Mit den Brüdern Grimm und ihrem Wörterbuch reist die Leserin, der Leser durch zweihundert Jahre wechselvoller deutscher Geschichte.
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»Ich wollte die Grimms rausholen aus dem 19. Jahrhundert« Aus einem Gespräch von Thomas David mit Günter Grass
Günter Grass, wir kennen Jacob und Wilhelm Grimm aus Ihren Romanen Der Butt und Die Rättin. Oskar Matzerath, Ihr Däumeling, wird in Grimms Wörter aufgefordert, sich bei den Brüdern zu bedanken. Ihr neues Buch erzählt von der Entstehung des Deutschen Wörterbuchs. Weshalb kommen Sie von den Brüdern Grimm nicht los? So wie hunderttausende andere Menschen bin ich als Kind mit den Märchen der Grimms aufgewachsen. Als ich acht oder neun Jahre alt war, hat mich meine Mutter dann ins Danziger Stadttheater mitgenommen, wo gelegentlich Märchen von Hans Christian Andersen und der Grimms aufgeführt wurden. Unter anderem gab es dort eine Däumeling-Aufführung, und die hat sich offenbar bei mir festgesetzt, so daß später ein Oskar Matzerath daraus wurde. Es stimmt, in Der Butt gibt es das Kapitel, in dem Jacob und Wilhelm Grimm auftreten und mit Achim von Arnim und Clemens Brentano über eine Fortsetzung von Des Knaben Wunderhorn beraten; und in Die Rättin sind die beiden Brüder Minister und Staatssekretäre und erleben, wie die Kinder des Bundeskanzlers in den Rollen von Hänsel und Gretel die Seile einer Filmkulisse kappen und dahinter der tote Wald zum Vorschein kommt. Ich bin immer wieder mit den Grimms beschäftigt gewesen, und weil ich oft darin blättere und mich festlese, rückte mehr und mehr auch das Grimmsche Wörterbuch in mein Blickfeld, das ja nicht nur ein Lexikon ist, sondern auch eine ungeheure Zitatsammlung. Es gab verschiedene Pläne, etwas daraus zu machen, aber erst durch
Foto: Andri Pol
mein autobiographisches Schreiben wurde mir klar, in welcher Form ich über das Wörterbuch schreiben könnte. Die Geschichte der Grimms ist ja auch eine politische Geschichte, weil vor allem Jacob Grimm sehr in die politischen Zustände des 19. Jahrhunderts verwickelt war. Und mir schien, daß der Teil meiner Autobiographie, der in Beim Häuten der Zwiebel und Die Box nicht vorkommt, meine politische und gesellschaftliche Tätigkeit, in einer Geschichte über die Grimms Platz haben könnte. So ist diese Form entstanden, in der ich nicht einfach nur historisch ins 19. Jahrhundert zurückblicke, sondern Verbindungen bis in die Gegenwart knüpfe. Ich wollte die Grimms rausholen aus dem 19. Jahrhundert und zeigen, wie viel sie uns heute noch zu sagen haben. Jacob und Wilhelm haben ihre Arbeit am Wörterbuch eher planlos als nach Methode betrieben, »mehr dem Zufall als der alphabetischen Reihenfolge hörig«. Wie haben Sie sich Grimms Wörter erarbeitet? Am Anfang stand auch der Entschluß, keine Biographie der Grimms zu schreiben, sondern mit dieser Zäsur, der Protestation der »Göttinger Sieben« zu beginnen, aus der heraus sich ja erst die »unfreiwillige Muße« der Brüder und der Antrag, das Wörterbuch zu machen, ergab. Alles, was vorher war, zum Beispiel die Herausgabe der Märchen, mußte zwar gelegentlich eingeblendet werden, aber beiläufig. Der durchgehende rote Faden war die Entwicklung des Wörterbuchs bis zum Buchstaben F, und nach Wilhelms und Jacobs Tod in den letzten Kapiteln dann die Fortsetzung bis 1960. Das habe ich zuerst in einer handschriftlichen Fassung geschrieben, die bereits diesem Erzählstrang folgte, anschließend schrieb ich eine Maschinenfassung auf meiner Olivetti, noch eine
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Maschinenfassung, und dann habe ich es meiner Sekretärin in den Computer gegeben und daraus eine vierte und fünfte Fassung gemacht. Ich spreche die Sätze während des Schreibens vor mich hin, weil für mich die Literatur oralen Ursprungs ist. Was auf dem Satzspiegel steht, muß auch Atem haben, muß gesprochen werden können. Auf diese Weise kommt gewollt wie ungewollt Rhythmus in den Text. Zu den schönsten Episoden des Buchs zählt die, in der Jacob Grimm vor den Mitgliedern der Akademie seine berühmte Rede Über das Alter hält. Leibniz und Herder sitzen im Publikum, Fichte und Hegel. Dazwischen der alte Günter Grass, der sich von Jacob Grimm direkt angesprochen fühlt: »Letzte Ernte steht auf dem Halm.« Als dann von dem »vorzuahnenden Punkt nach all den kurzen und langen Sätzen«,
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dem »wahrscheinlich letzten Buch« die Rede ist, spürt man in Ihrer Liebeserklärung an die deutsche Sprache auch einen Hauch Wehmut. Ja, aber es handelt sich auch um eine sachliche Feststellung. Ich werde in diesem Jahr 83. Es ist absehbar, und natürlich spricht diese wunderbare Rede jemanden in meinem Alter an. Ich könnte nicht sagen, was jetzt noch kommt. Aber was ich sicherlich noch machen werde, ist zeichnen, das Werkzeug wechseln. Ich bin leergeschrieben, wenn ich das nicht wäre, hätte ich für das Buch nicht alles gegeben.
Das vollständige Gespräch von Thomas David erschien mit Fotografien von Andri Pol unter dem Titel »Die Geschichte der Grimms ist auch eine politische Geschichte« im Schweizer Magazin Du, Nr. 808, Juli/August 2010, S. 53-58.
ls aber Jacob Grimm Abschied nahm und sein Ach mehr seufzte als rief, galt dieser Wehlaut weniger der Stadt und ihrem gesellschaftlichen Treiben, das ihn ohnehin angeödet hatte, doch gewiß und zuallererst dem in Göttingen zurückgebliebenen Bruder sowie dessen Frau und den drei Kindern Herman, Rudolf, Auguste, die ihm Familie waren. Auch all den Schätzen in der den Brüdern bis vor kurzem noch anvertrauten und als eigen erachteten Universitätsbibliothek seufzte er nach, den sieben Jahren Hockerei über Büchern, einer Zeitspanne, in der er der Sprache stetigen Wandel abgelauscht hatte.“
„Der rief ist im zweiten Band des Wörterbuchs zu finden. Beflissen, nichts auszulassen, werden die Brüder fündig: zum ‚ablaszbrief ‘ kommt der ‚mahnbrief ‘, der ‚adelsbrief ‘, von dem sich der mindere Briefadel ableitet. Er steht vorm ‚bettelbrief, drohbrief, frachtbrief, lehrbrief, schuldbrief ‘. Nichts kann den mit vielen Zitaten gefeierten ‚liebesbrief ‘ ersetzen. Manch unnützes Geschenk eignet sich als Briefbeschwerer. Vor gefälschten Briefen ist niemand sicher. Briefromane kamen in Mode. Das Briefgeheimnis jedoch war schon immer Legende und ist mittlerweile nichtig. Mit dem Briefträger zu plaudern ist ein Bedürfnis vereinsamter Witwen.“
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Wie der Grass-Sound entsteht Was eine Sprache alles kann, merkt man besonders dann, wenn man sie bis an ihre Grenzen strapaziert. »Dra Chanasan mat dam Kantrabaß«, singen die Kinder, haben ihren Spaß daran und gehen unmerklich kreativ mit ihrer Sprache um. Freude an der ganzen Bandbreite von Sprache hat Günter Grass schon immer gehabt und bis heute nicht verloren. Sein Werk ist gar nicht denkbar ohne diesen immerwährenden Drang, die eigene Sprache zu fordern. Sein A-lastiges »Kinderlied« von 1960 – »Wer lacht hier, hat gelacht? / Hier hat sich’s ausgelacht. / Wer hier lacht, macht Verdacht, / daß er aus Gründen lacht« – ist das Gedicht eines Schriftstellers, der seine großen Stoffe stets auch mit dem Handwerkszeug des Lyrikers gehoben hat. Es macht Spaß und führt sehr weit, sich dem Werk von Günter Grass aus dieser Perspektive zu nähern, es mal nicht vom großen Weltentwurf her zu betrachten, sondern vom ABC, dem Baumaterial aller Literatur. Grass selbst ermuntert dazu in Grimms Wörter. Günter Grass kann beim Schreiben nicht ohne den Klang der Sprache sein. Wenn er an seinem Schreibpult steht, spricht und murmelt er sich vor, was er gleich zu Papier bringen wird – »vor sich hinbrabbeln« nennt er diesen Vorgang. Diese probeweise Selbsterzeugung von Klängen und Geräuschen ist der Motor seiner enormen Schaffenskraft. Wer jemals die Freude hatte, Günter Grass aus seinem Werk lesen zu hören (auf CD oder noch besser live), spürt sofort, daß sein Werk mit dieser Tonspur noch um eine Dimension reicher wird.
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Wo und wann Günter Grass 2010 live zu erleben ist 3. September 4. September 18. September 20. September 21. September 25. September 2. Oktober 3. Oktober 8. Oktober 9. Oktober 20. Oktober 21. Oktober 22. Oktober 3. Dezember Dezember
Buchpremiere in Göttingen Hannover Hamburg Leipzig Berlin Lüdenscheid Telgte Münster Wolfsburg Frankfurter Buchmesse Heidelberg Darmstadt Kassel Brandenburg München
Günter Grass liest Grimms Wörter Hörbuch mit Beiheft 11 CDs, Gesamtspielzeit ca. 12 Stunden € 39,90 (sFr 64,90 UVP) ISBN 978-3-86930-193-8
Fotos: Margret Witzke
Günter Grass und Birgit Meyer vom NDR (Regie) während der Einlesung von Grimms Wörter in Lübeck.
»Niemand möchte dieses Erlebnis missen« Die Produktion von Grass-Lesungen fürs Radio und Hörbuch / Von Stephan Lohr
Günter Grass stellt sich gern, ja hingebungsvoll der Aufgabe, möglichst viele seiner Bücher vollständig als Hörbuch einzulesen. Seit etlichen Jahren sorgt NDR Kultur (in Kooperation mit Radio Bremen) für diese anspruchsvollen Produktionen. Gleichwohl scheut der Autor das Hörfunk-Studio mit seinen technischen Raffinessen, er braucht Hörerinnen und Hörer. Also haben wir bereits mehrere Male im Lübecker Günter Grass-Haus Lesungen im kleinen Kreis veranstaltet, bei denen die Produktion öffentlich geschieht. Das Publikum wird damit auch Zeuge notwendiger Korrekturen, es erlebt, wie Grass nach ein bis eineinhalb Stunden Lesezeit – stehend am Pult, das obligate Glas Rotwein auf dem Beistelltisch – eine Pause einlegt, sich vor dem Korrekturgang aber keineswegs zurückzieht, sondern sich in die Stuhlreihen seiner Zuhörer setzt,
eine Pfeife schmaucht, sich angeregt unterhält und signiert. Grimms Wörter brauchte neun Leseabende, die dann insgesamt schon mal zwei bis zweieinhalb Stunden dauern können. Obwohl das Stillsitzen durchaus anstrengt, möchte niemand dieses Erlebnis missen, hört das Publikum doch den Text im intimen Rahmen, die schweifenden Augen sehen Grass-Bilder an den Wänden und die Texte erhalten in der akustischen Version Verständnisstrukturen, die sich vom Leseverständnis unterscheiden. Weil die Zuhörer spüren, wie Grass laut lesend seine eigenen Texte noch einmal formt, wie er den literarischen Produktionsprozeß authentisch nachempfindet und erfahren läßt. Eine öffentlich zelebrierte Liebeserklärung an die deutsche Sprache eben. Stephan Lohr leitet die Abteilung NDR Kultur und war verantwortlicher Redakteur der Hörbuch-Produktion von Grimms Wörter, die vom 3. bis 12. Mai 2010 in Lübeck entstand.
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Wie dieses Buch gemacht ist Im Wörterbuch der Brüder Grimm zeigt das Stichwort »Buch« die ganze Fülle seiner Verwendung. So kann man »bücher kaufen, sammeln, aufstellen, schichten, ordnen, abstäuben«. Doch zuvor muss man »das buch abschreiben, drucken, heften, binden, verlegen, verkaufen«. Um am Ende hoffentlich sagen zu können: »das buch ist gut gegangen, schon vergriffen«. Weil Grimms Wörter Günter Grass’ Liebeserklärung an die deutsche Sprache ist, haben wir die Ausgabe zu einer Liebeserklärung an das schöne Buch gemacht. Das Buch nimmt Sie mit in eine Zeit, in der Bücher noch handwerklich produziert wurden. In dieser Tradition der Manufakturarbeit wurden die besten Komponenten gewählt, die die moderne Buchherstellung bietet. Damit neben dem Geist auch die Sinne ihr Leseerlebnis haben. Wir wollen gar nicht verhehlen, daß wir uns bei der Ausstattung und den Materialien, bei dem, was ein erstklassig produziertes Buch ausmacht, an der »Anderen Bibliothek« orientiert haben, die Hans Magnus Enzensberger und Franz Greno ab 1985 verantworteten. Was die beiden für die Buchkultur taten, bleibt bis heute vorbildlich. Das Material, aus dem Bücher gefertigt sind – Papier, Pappe, Leinen, Faden – ist für uns etwas anderes als ein lästiger Kostenfaktor, der anfällt, weil die Buchstaben irgendwo drauf haften und die Seiten zusammengehalten werden müssen. Die Materialien sind elementarer Bestandteil des Buchs, das nicht nur gelesen sein will, sondern das sich auch gut anfühlen, gut riechen soll und nach der Lektüre gern ins Regal gestellt, wieder zur Hand genommen oder ausgeliehen werden will. Mit Büchern ist es wie mit jeder anderen Nahrung: Ein Essen vom Plastikteller oder
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aus der Mikrowelle ernährt auch, aber was liebevoll zubereitet und appetitlich angerichtet wird, schmeckt einfach besser. Der Schutzumschlag Als Bücherfreund hat man sie vor Augen: den trommelnden Oskar, den Butt, der etwas in ein Ohr flüstert, die Krebse bei ihrem seltsamen Gang. Zu allen Büchern, die Günter Grass geschrieben hat, hat er selbst auch die Umschläge gestaltet. Zu allen. Und niemand hätte sie besser hinbekommen. Daß Günter Grass sein eigener Gestalter ist, ist ein Glücksfall: für das visuelle Erscheinungsbild wie für das lange Nachwirken der erzählten Geschichten im Gedächtnis seiner Leser. Und zwar weltweit, denn auch die interna-
Günter Grass und Gerhard Steidl prüfen verschiedene Schriftproben. / Foto: François-Marie Banier
tionalen Ausgaben haben seine Motive auf dem Cover. Wenn wir mit den Vorbereitungen für ein neues Buch beginnen, hat Günter Grass meist schon Ideen für den Umschlag ausgearbeitet. Es lag nahe, was den Umschlag zieren sollte: die Buchstaben, die die Brüder Grimm zu ihren Lebzeiten selbst für ihr großes Wörterbuch bearbeitet haben (und noch ein paar weitere). Günter Grass hat sie in seiner Werkstatt in verschiedenen Farben getuscht und gezeichnet. Später kam er in den Verlag, wo gemeinsam so lange überlegt, probiert und variiert wurde, bis Autor, Verleger und Grafikerin zufrieden waren: mit dem Motiv, dem Ausschnitt, den Farben, der Typographie. Die Schrift Die Typographie entstand aus der Bodoni – jener Schrift, in der seit 1852 bereits das Deutsche Wörterbuch gesetzt wurde. Der Italiener Giambattista Bodoni (1740–1813) war Stempelschneider, Buchdrucker, Typograf und Verleger. Er entwarf eine Reihe Antiqua-Schriftarten, die bis heute zu den Grundschriften im Buchsatz zählen. Bodoni erhielt seine Aufträge meist aus dem Adel, entsprechend edel und präzis sind seine Schriften. Sie werden – wie die Schriften des Franzosen Didot und des Deutschen Walbaum – klassizistisch genannt und sind im Fall Bodonis besonders elegant, ohne verspielt zu wirken. Die Bodoni zeichnet sich durch den starken Kontrast zwischen den sog. Grund- und Haarstrichen aus: Ein Buchstabe kann im Prinzip an jeder Stelle gleich dick sein, aber er kann eben auch an dünnen Stellen besonders schlank und an dickeren Stellen bewusst kräftig gezeichnet sein. Der Leser nimmt das nur als augenfreundliche Gesamtwirkung wahr, aber es ist spannend, sich verschiedene Schriften ein-
mal näher zu betrachten, auf Ober- und Unterlängen zu achten oder darauf, ob eine Schrift Serifen hat, also kleine Füßchen, oder nicht. In Grimms Wörter werden die Bodoni Old Face normal und Bodoni Old Face halbfett verwendet. Die Materialien Ein schön gemachtes Buch macht Freude, weil fast alle Sinne mitlesen. Feines Leinen liegt angenehm in der Hand, gutes Papier riecht auch gut und schmeichelt den Fingern, ein fadengeheftetes Buch klingt sogar besser beim Umblättern. Für diese umfassende Lesefreude haben wir die besten Materialien bei traditionell arbeitenden Firmen beschafft. Zerlegen wir einmal ein Buch in seine Bestandteile: Nach Entfernen der Hülle und des Schutzumschlags kommt das Leinen zum Vorschein. Die Firma Bamberger Kaliko hat es geliefert, ein mattglänzendes Gewebe aus Viskose namens Iris, das ressourcenschonend hergestellt wird. Beim Aufklappen des Buchs zeigt sich das Vorsatzpapier, das die Funktion hat, den Buchblock mit dem Buchdeckel zu verbinden. Es stammt von der Firma Geese aus Hamburg, das seine Vorsatzpapiere nach Segelschiffen benennt: Pamir und Passat. Neben dem Leinen hat das Buch an zwei weiteren Stellen Gewebe: das Lesebändchen und das Kaptalband, auch Kopfband genannt, also das Stückchen Stoff, das verzierend oben und unten an den Buchblock geheftet ist. Sie sind bei der Firma Band- und Gurtwebereien Güth & Wolf in Gütersloh zu bekommen. In einem waldigen Tal nahe Bad Dürkheim liegt die Papierfabrik Schleipen, deren Tradition der Papierherstellung 270 Jahre zurückreicht. Für den Druck von Büchern, die ausschließlich oder im wesentlichen Text enthalten, wählt man sogenanntes Werkdruck-
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papier. Und da hat man die Wahl zwischen verschiedenen »Weißen«, denn Papier ist nicht einfach nur weiß, sondern gelblichweiß, hochweiß, extraweiß oder, wie im Fall von Grimms Wörter, bläulichweiß. Das Gewicht, das pro Quadratmeter bemessen wird, beträgt 115 Gramm. Das Papier ist spezialgeglättet, holzfrei und säurefrei und wird ohne die sonst üblichen optischen Aufheller produziert. Es enthält einen soliden Anteil an Sekundärfaser, also Recyclingpapier. Und das ist kein Lippenbekenntnis: Deutschlandweit war die Papierfabrik Schleipen im Jahr 2005 in den Schlagzeilen, weil sie das Papier für den sechsten Harry-Potter-Band (den mit dem Halbblut-Prinzen) liefern konnte. Joanne K. Rowling verlangt von ihren Verlagen die Verwendung »tropenwaldfreien«, ökologisch zertifizierten Papiers nach den Kriterien des Forest Stewardship Council (FSC). Und das kommt auch für den neuen Grass zum Einsatz. Das »Öko 2001 RC« wurde im Jahr 2000 gemeinsam mit Gerhard Steidl entwickelt und zunächst exklusiv für den Steidl Verlag und die Bücher des Zweitausendeins-Versands produziert. Gedruckt wird im Steidl Verlag in Göttingen auf einer Roland 700. Für den Druck – vom Bogen, nicht von der Rolle – werden Farben mit regenerativen Ölen verwendet. Zum Binden schließlich geht das Ganze zur Leipziger Kunst- und Verlagsbuchbinderei in Leipzig/Baalsdorf, wo Günter Grass übrigens am 20. September 2010 vor den Mitarbeitern lesen wird. Sie ist eines der drei Werke der Firma Leipziger Buchwerke, einem Traditionsunternehmen, das seit dem Jahr 1746 mit der Buchherstellung verbunden ist. Die Binderei vereint traditionelle Buchkunst mit der modernen Technik einer industriellen Großbuchbinderei. Mit handwerklichen Methoden werden hochwertige
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Kunst- und Fotobände, Fach- und Sachbücher sowie Luxus-Akzidenzen produziert. Unter dem Titel Große Komplikation ist unlängst im Steidl Verlag ein großes Buch erschienen, das die Abläufe in den Häusern der Leipziger Buchwerke anschaulich macht: Die gedruckten Bögen haben auf ihrem Weg durch die diversen Stationen der Bindestrekke einiges zu erdulden, sie werden geschnitten, gefalzt, geheftet, geklebt, vielfach beklopft, gestoßen, gewendet und gestapelt. Am Ende stehen säuberlich gestapelte Paletten zur Auslieferung an den Buchhandel bereit. »Dem Buch wieder Leben geben« Gerhard Steidl im Gespräch mit Arno Widmann
Herr Steidl, in ein paar Jahren wird man sich die Bücher, die man lesen möchte, auf sein Handy laden können. Was ist dann Ihre Buchkunst noch wert? Die gesamte Druckindustrie, das Verlagswesen insgesamt, befindet sich in einem gewaltigen Umbruch. Aber am stärksten betrifft er nicht uns, sondern Sie! Tageszeitungen werden sich so nicht halten können. Man wird sich den Artikel, die Information, die man braucht, auf das iPad laden. Aber bald werden auch Bücher auf dem iPad gelesen werden. Ich finde, daß bei einem Buch, das man sich für den Urlaub kauft, das man liest, um es dann wegzulegen und nie wieder anzuschauen, eine Online-Version völlig genügt. Aber analoge Medien bieten doch etwas, das das iPad nicht liefern kann. Nehmen Sie das Buch. Jedes liegt anders in der Hand, hat ein anderes Gewicht, faßt sich anders an. Die Seiten fallen. Es macht ein Geräusch. Es ist angenehm, bei einem Buch die unterschiedlichen Papiere anzufassen. Da passiert etwas in den Fingerspitzen. Wenn Sie dann im Ses-
sel sitzen und das Buch vor der Nase haben, dann merken Sie auch, wie es riecht. Es riecht? Wenn es gut gedruckt ist, riecht es. Nur genau das werden die meisten Bücher ja nicht mehr. Bei vielen Bildbänden kommt der Dispersionslack hinzu. Der wird über das Papier gegeben. Er nimmt Haptik und Geruch des Papiers weg.
Buch wieder Leben geben. Dann haben Sie etwas, das die digitalen Medien nicht bieten können. Aber natürlich ist es ein Spagat. Man greift zurück auf die alten Handwerkstraditionen. Aber ich halte zum Beispiel nichts davon, den Bleisatz wiederzubeleben. Bücher sind industrielle Produkte. Sie müssen einen entsprechend niedrigen Preis haben, damit sie demokratische Objekte bleiben.
Das Buch ist also schon tot. Eine schön aufgemotzte Leiche. Man kann aber durch handwerkliches Geschick dem
Das ganze Gespräch erschien unter dem Titel »Eine schön aufgemotzte Leiche« am 14. Juni 2010 in der Frankfurter Rundschau.
Ein Fundstück aus Grass’ Arbeit an Grimms Wörter: Zwei große Reden Jacob Grimms Jacob Grimm Rede über das Alter / Rede auf Wilhelm Grimm Jacob Grimm hielt 1860 in Berlin zwei sehr persönliche Reden, in denen sich Wissen und Weisheit aufs Schönste verbinden. Der berühmte Philologe spricht über das Alter, seine Nöte und Vorzüge und welche Intensität das Leben in seinem letzten Akt bieten kann. Er zitiert aus der Literatur von der Antike bis zu Goethe und verknüpft seine Reflexionen mit dem ganzen Schatz seiner Lebenserfahrung. Im Rückblick auf seinen verstorbenen Bruder Wilhelm scheint hier das besondere Verhältnis des Gelehrten-Duos auf. Die bemerkenswerten Reden Jacob Grimms verbinden sich zu einer kleinen Kulturgeschichte des Alters. Sein Neffe Herman Grimm hat sie seinerzeit herausgegeben und um ein berührendes Doppelporträt der unzertrennlichen Brüder ergänzt. 96 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag € 14,00 (sFr 24,90 UVP) / ISBN 978-3-86930-177-8
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Günter Grass Günter Grass wurde am 16. Oktober 1927 in Danzig als Sohn einer Kaufmannsfamilie geboren. Er studierte Bildhauerei, zunächst an der Düsseldorfer Kunstakademie, dann an der Hochschule für Bildende Künste Berlin. Ab 1955 nahm er regelmäßig an den Tagungen der Gruppe 47 teil. 1956 erschien sein erstes Buch, der Gedichtband Die Vorzüge der Windhühner. Mit dem Roman Die Blechtrommel wurde er 1959 schlagartig berühmt. Neben seinen Romanen (Hundejahre, örtlich betäubt, Der Butt, Die Rättin, Ein weites Feld u.v.a.) entstehen Gedichtbände (Gleisdreieck, Ausgefragt, Letzte Tänze u.a.), Kurzprosa, Theaterspiele, Essays, Novellen (Katz und Maus, Das Treffen in Telgte, Im Krebsgang), Erzählungen (Unkenrufe), »gattungslose« Erzähltexte (Aus dem Tagebuch einer Schnecke, Kopfgeburten oder die Deutschen sterben aus und Mein Jahrhundert) sowie autobiografische Werke (Beim Häuten der Zwiebel, Die Box). Außerdem ist Grass als Zeichner, Grafiker und Bildhauer tätig, viele Bücher mit seinem bildkünstlerischen Werk sind seit 1986 erschienen. 1993 übernimmt der Steidl Verlag die Weltrechte am Werk von Günter Grass. Große Teile seines literarischen Werks hat er für Hörbuch-Editionen selbst eingelesen. Aus den zahlreichen Auszeichnungen, mit denen Grass geehrt wurde, ragt der Nobelpreis für Literatur 1999 hervor. Die Brüder Grimm Jacob Grimm wurde am 4. Januar 1785 in Hanau geboren, am 24. Februar 1786 sein Bruder Wilhelm Grimm. Dieser wird heiraten und Vater mehrerer Kinder, während Jacob zeitlebens ledig bleibt. Familie hat Jacob dennoch, nämlich die seines Bruders, da beide die längste Zeit zusammen leben
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Wilhelm und Jacob Grimm, 1847 fotografiert von Hermann Biow. Jacob Grimm mißfiel diese berühmt gewordene Aufnahme: »Wilhelm sitzt da im Stuhl wie ein Kranker und ich habe das Ansehn eines herangerufenen Hausverwalters.«
und arbeiten. Beide studieren Jura in Marburg, ziehen nach Kassel und arbeiten fortan verschiedentlich als Bibliothekare. 1812 erscheint der erste Band der Kinder- und Hausmärchen, ein zweiter Band 1815. Folgeausgaben werden von Wilhelm immer wieder überarbeitet und erweitert. Jacob nimmt als Diplomat am Wiener Kongreß teil. Es erscheinen die Deutschen Sagen. Jacob legt seine Deutsche Grammatik vor. 1821 erscheint Wilhelms Abhandlung Über deutsche Runen. 1825 heiratet Wilhelm Dorothea Wild. 1828 erscheinen Jacobs Deutsche Rechtsaltertümer. 1830 ziehen die Brüder nach Göttingen, werden zu Professoren berufen. Jacob beginnt mit der Veröffentlichung seiner Deutschen Mythologie. Als 1837 Ernst August I.
König von Hannover wird und die Verfassung außer Kraft setzt, erheben Jacob und Wilhelm Grimm sowie fünf weitere Professoren, die »Göttinger Sieben«, öffentlichen Protest. Sie werden aus dem Staatsdienst entlassen, Jacob, des Landes verwiesen, zieht zurück nach Kassel, Wilhelm folgt ihm. Sie beginnen mit der Arbeit am Deutschen Wörterbuch, die erste Lieferung kommt 1852 heraus, der erste Band 1854. Ab 1841 leben die Brüder in Berlin. Jacob wird an die dortige Universität berufen. 1848 veröffentlicht er die Geschichte der deutschen Sprache. Er wird in die deutsche Nationalversammlung gewählt und nimmt als Abgeordneter an der Paulskirchenversammlung teil. Am 16. Dezember 1859 stirbt Wilhelm Grimm, Jacob Grimm am 20. September 1863. Sie ruhen nebeneinander auf dem Alten St.-MatthäusFriedhof in Berlin-Schöneberg.
Der Steidl Verlag 1968 gegründet, gehört der Steidl Verlag in Göttingen zu einer fast ausgestorbenen Art: Er ist konzernunabhängig und immer noch in privater Hand, geleitet und geprägt vom Verleger Gerhard Steidl. Begonnen hat Steidl mit dem Druck von Grafiken und Plakaten für Künstler wie Joseph Beuys und Klaus Staeck. Seit 1972 erschienen Sachbücher, Anfang der achtziger Jahre folgten Literatur und ausgewählte Kunst- und Fotografiebände. Seit 1996 erscheint im Steidl Verlag ein Fotobuchprogramm mit internationaler Zielrichtung. Von Anfang an hat Steidl »ingesourct«, wo immer es ging, und eine geschlossene Produktionskette gebildet, die sämtliche Schritte von der Arbeit am Manuskript über den Satz und die Gestaltung bis zur Druckvorstufe und dem Druck umfaßt. In dieser »ganzheitlichen« Art gibt es dies nirgendwo sonst. In Deutschland ist der Steidl Verlag vor allem für sein literarisches Programm bekannt mit Schwerpunkten auf englischsprachiger und deutschsprachiger Belletristik. In aller Welt wird Steidl für seine Fotobücher geschätzt. Die bedeutendsten Fotografen und wichtigsten Museen kommen, um mit Gerhard Steidl und seinem Team Bücher zu machen. Sie wissen, was sie erwartet: diese einzigartige Produktionsweise, die zu jeder Zeit eine Optimierung des Ergebnisses erlaubt. Das ganze notwendige Hi-Tech dient der Herstellung von etwas Individuellem und Unverwechselbarem: Bücher mit Seele. Steidl Druckerei und Verlag Düstere Straße 4 / 37073 Göttingen Tel. 0551-49 60 60 Fax 0551-49 60 649
[email protected] / www.steidl.de / www.steidlville.com
Innentitel des ersten Bandes, 1854.
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ADE BAR, B R I E FB OTE, CÄSU R, DAU M E S DIC K, E R B S E N ZÄH LE R, FAB E LHAN S, GE LD GE B E R, H I LFE RU F, I R R S I N N, JAM M E RTAL, KLE I N KRAM, LI RU M LARU M, MASS E N MOR D, N I M M E R SATT, OH N MAC HT, POSS E N S PI E L, QU E LLE N FI SC H E R, RADAU B RÜDE R, S E N S E N MAN N, TROSTGE DIC HT, U NTE RGANG, VE R S E SC H M I E D, WOLKE N B ETT, X- B E I N E, YOGASTE LLU NG
ETTE LKRAM
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