Martin Väth
Nonstandard Analysis
Birkhäuser Verlag Basel · Boston · Berlin
Autoren: Hans-Andreas Braunß Heinz Junek Universität Potsdam Institut für Mathematik Haus 8 Am Neuen Palais 10 14469 Potsdam Deutschland e-mail:
[email protected] [email protected]
Thomas Krainer Universität Potsdam Institut für Mathematik Haus 8 Am Neuen Palais 10 14469 Potsdam Deutschland e-mail:
[email protected] und Penn State Altoona 3000 Ivyside park Altoona, PA 16601 USA
%LEOLRJUD¿VFKH,QIRUPDWLRQ'HU'HXWVFKHQ%LEOLRWKHN 'LH'HXWVFKH%LEOLRWKHNYHU]HLFKQHWGLHVH3XEOLNDWLRQLQGHU'HXWVFKHQ1DWLRQDOELEOLRJUD¿HGHWDLOOLHUWH ELEOLRJUD¿VFKH'DWHQVLQGLP,QWHUQHWEHUKWWSGQEGGEGH!DEUXIEDU
ISBN 978-3-7643-7709-0 Birkhäuser Verlag, Basel – Boston – Berlin Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die des Nachdrucks, GHV9RUWUDJVGHU(QWQDKPHYRQ$EELOGXQJHQXQG7DEHOOHQGHU)XQNVHQGXQJGHU0LNURYHU¿OPXQJRGHU der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes LQGHUMHZHLOVJHOWHQGHQ)DVVXQJ]XOlVVLJ6LHLVWJUXQGVlW]OLFKYHUJWXQJVSÀLFKWLJ=XZLGHUKDQGOXQJHQ unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. © 2007 Birkhäuser Verlag, Postfach 133, CH-4010 Basel, Schweiz Ein Unternehmen von Springer Science+Business Media *HGUXFNWDXIVlXUHIUHLHP3DSLHUKHUJHVWHOOWDXVFKORUIUHLJHEOHLFKWHP=HOOVWRII7&) Printed in Germany ISBN-10: 3-7643-7709-7 e-ISBN-10: 3-7643-7710-0 ISBN-13: 978-3-7643-7709-0 e-ISBN-13: 978-3-7643-7710-6 987654321
www.birkhauser.ch
Vorwort Durch die Umstellung auf Bachelor- und Masterstudieng¨ange im Zuge der Internationalisierung sind an deutschen Universit¨aten in den letzten Jahren neue Studienpl¨ane entstanden. Mancherorts — so auch an unserer Universit¨at — hat man dabei der zunehmenden Bedeutung von mathematischen Methoden f¨ ur die Biowissenschaften durch die Konsolidierung oder sogar Ausweitung des mathematischen Anteils an der biowissenschaftlichen Grundausbildung Rechnung getragen. Dem gegen¨ uber steht allerdings eine noch immer vergleichsweise geringe Auswahl an deutschsprachiger Lehrbuchliteratur zur Mathematik mit biowissenschaftlichem Bezug. Dies ist f¨ ur uns, die wir seit vielen Jahren mit der Ausbildung von Studenten biowissenschaftlicher Studieng¨ ange befasst sind, Ausgangspunkt und Anlass f¨ ur dieses Lehrbuch. Das vorliegende Buch ist geeignet als Kurs- oder Begleitbuch f¨ ur eine 1–2 semestrige Einf¨ uhrungsveranstaltung zur Mathematik f¨ ur Studierende der Biowissenschaften. Im Fokus stehen analytische Methoden. Die Statistik wird nur marginal behandelt, sie ist im allgemeinen Gegenstand einer separaten Lehrveranstaltung. Beim Verfassen dieses Buches haben wir uns von folgenden Grunds¨atzen leiten lassen: • Vermittlung von Methoden: Den Studierenden sollen in erster Linie mathematische Methoden vermittelt werden, wie sie in vielerlei Anwendungsbez¨ ugen ben¨otigt werden. Diese Methoden werden systematisch entwickelt und dargestellt und durch biowissenschaftliche Anwendungen motiviert und illustriert. • Begriffliche Klarheit: Wir haben uns dazu entschlossen, die notwendigen Begriffe sowohl mathematisch pr¨ azise als auch intuitiv einzuf¨ uhren und anhand vieler Abbildungen und Anwendungen zu er¨ortern. Der Verzicht auf ein solides Maß an begrifflicher Klarheit f¨ uhrt nach unserer Erfahrung eher zu Unsicherheit und Unverst¨ andnis. ¨ • Ubungsaufgaben: Das pr¨ asentierte Material wird erg¨anzt durch eine Vielzahl ¨ von Ubungsaufgaben mit biowissenschaftlichem Bezug. An die Kapitelenden haben wir vielfach eine Rubrik Weitere Informationen im WWW gestellt, die sich vor allem auf die beiden folgenden Plattformen bezieht:
vi
Vorwort • Calculus on the Web: Calculus on the Web, kurz COW, ist ein interaktives und frei zug¨ angliches Lernmedium der Temple University in Philadelphia ¨ (USA). Eine Vielzahl von Ubungsaufgaben zu den verschiedensten Themen kann direkt im Internet bearbeitet werden, Anleitungen und Hilfestellungen stehen zur Verf¨ ugung. COW ist zug¨ anglich unter http://www.math.temple.edu/∼cow/1 • Visual Calculus: Visual Calculus wurde an der University of Tennessee in Knoxville (USA) entwickelt und bietet eine Reihe von Animationen und Visualisierungen von Lerninhalten. Visual Calculus ist zug¨anglich unter http://archives.math.utk.edu/visual.calculus/
Zum Aufbau dieses Buches Die ersten sieben Kapitel dieses Buches bauen unmittelbar aufeinander auf und bilden den Kern eines Kurses zur Differential- und Integralrechnung mit biowissenschaftlicher Schwerpunktsetzung. Behandelt werden die Themen Mengen und Abbildungen, elementare Funktionen, Interpolation und Ausgleichsrechnung, Folgen und Reihen, stetige Funktionen und Differential- und Integralrechnung. Die letzten drei Kapitel sind weitgehend unabh¨angig voneinander und k¨onnen individuell kombiniert bzw. weggelassen werden, abh¨angig von der f¨ ur den Kurs zur Verf¨ ugung stehenden Zeit und der weiteren Schwerpunktsetzung. Sie umfassen jeweils Einf¨ uhrungen in die Methoden und Anwendungen der periodischen Prozesse und Fourieranalyse, der linearen Gleichungssysteme und Matrizenrechnung, sowie der Differentialgleichungen und Differentialgleichungssysteme.
Danksagung Unser Dank gilt Frau Professorin Gaedke vom Institut f¨ ur Biologie und Biochemie der Universit¨at Potsdam f¨ ur ihre Unterst¨ utzung und fachliche Beratung. Frau ¨ Kr¨ uger hat uns bei der Anfertigung und der Uberarbeitung vieler Abbildungen unterst¨ utzt, vielen Dank hierf¨ ur. Dem Birkh¨auser Verlag, insbesondere Herrn Dr. Hempfling, danken wir f¨ ur die gute Zusammenarbeit und die Unterst¨ utzung dieses Projektes. Potsdam, im Juli 2006, H.A. Braunß, H. Junek, T. Krainer 1 Auf den Inhalt s¨ amtlicher in diesem Buch genannten Webseiten haben wir keinen Einfluss und k¨ onnen daher f¨ ur deren Inhalte keine Gew¨ ahr u ur die Inhalte sind allein die ¨bernehmen. F¨ Betreiber dieser Webseiten verantwortlich. Zum Zeitpunkt der Drucklegung wurden die Webseiten auf m¨ ogliche Rechtsverst¨ oße u uft, rechtswidrige Inhalte waren zu diesem Zeitpunkt ¨berpr¨ nicht erkennbar.
Inhaltsverzeichnis 1 Mengen und Abbildungen §1 Mengen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . §2 Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Elementare Funktionen §1 Lineare Funktionen und Geraden . . . . . . . . . . . . . . . . . §2 Rationale Funktionen und allgemeine Potenz . . . . . . . . . . §3 Exponential- und Logarithmusfunktion . . . . . . . . . . . . . . Beispiel: Radioaktiver Zerfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Darstellung im einfach und doppelt logarithmischen Diagramm §4 Trigonometrische Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 1 4
. . . . . .
9 9 12 16 20 22 28
3 Interpolation und Ausgleichsrechnung §1 Vorbereitung: Die Summenzeichennotation . . . . . . . . . . . . . . §2 Interpolation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . §3 Ausgleichsrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31 31 32 35
4 Folgen und Reihen §1 Folgen und Wachstumsmodelle . . . . . §2 Konvergente Folgen und Grenzwerts¨atze Konvergenzkriterien . . . . . . . . . . . §3 Reihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . .
45 45 50 54 58
5 Stetigkeit §1 Grenzwerte bei Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . §2 Stetige Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . §3 Anwendung auf rekursive Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63 63 69 76
6 Differentialrechnung und Anwendungen §1 Differentiationsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . §2 Lineare Approximation und Fehlerrechnung . . . . . . . . . . . . . §3 Der Mittelwertsatz und Anwendungen . . . . . . . . . . . . . . . .
79 84 91 95
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . . . .
. . . .
viii
Inhaltsverzeichnis §4 §5
Kurvendiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Die Taylor’sche Formel und allgemeine Potenzreihen . . . . . . . . 110
7 Integralrechung §1 Das Riemannsche Integral . . . . . . . . . . §2 Uneigentliche Integrale . . . . . . . . . . . . §3 Fl¨acheninhalts- und Volumenberechnungen §4 Mittelwerte . . . . . . . . . . . . . . . . . . §5 Statistische Mittelwerte . . . . . . . . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
121 121 131 132 136 138
8 Periodische Funktionen und Fourieranalyse 143 §1 Periodische Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 §2 Die Fourieranalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 9 Lineare Systeme 153 §1 Lineare Gleichungssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 §2 Vektorr¨ aume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 §3 Matrizen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 10 Differentialgleichungen und Dynamische Systeme §1 Die Evolutionsgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . §2 Die inhomogene Evolutionsgleichung . . . . . . . . . . . . . . Die allgemeine L¨ osung der inhomogenen Evolutionsgleichung §3 Das logistische Wachstum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . §4 Differentialgleichungen mit trennbaren Variablen . . . . . . . aherungsverfahren . . . . . . . . §5 Qualitative Methoden und N¨ Richtungsfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Eulerverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stabilit¨ at von L¨ osungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . §6 Gekoppelte Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
171 171 176 177 180 185 187 188 189 190 191
Literaturverzeichnis
201
Index
203
Kapitel 1
Mengen und Abbildungen In diesem einf¨ uhrenden Kapitel wollen wir die grundlegenden Begriffe zu Mengen und Abbildungen nur so weit entwickeln, wie sie f¨ ur das Verst¨andnis der folgenden Kapitel notwendig und zweckm¨ aßig sind.
§1 Mengen Mengen sind sinnvolle Zusammenfassungen von wohlunterschiedenen Objekten. Die Objekte, die einer Menge angeh¨ oren, werden Elemente dieser Menge genannt. Die einfachste Art, Mengen zu definieren besteht darin, s¨amtliche Elemente aufzuf¨ uhren. Hierbei werden die Objekte u ¨blicherweise in geschweiften Klammern eingeschlossen und durch Kommas getrennt. Sind Verwechslungen mit Dezimalbr¨ uchen zu bef¨ urchten, so verwenden wir statt des Kommas ein Semikolon. So definiert D = {Goethe, Kleist, Schiller, Shakespeare} eine vierelementige Menge bekannter Dichter(namen). Soll eine umfangreiche oder gar unendliche Menge definiert werden, ist obige Art der Definition nicht mehr zweckm¨aßig bzw. unm¨ oglich. In diesen F¨ allen hilft eine verbale Beschreibung oder die Benutzung von . . .“, wobei im zweiten Fall darauf zu achten ist, dass ” Missverst¨andnisse ausgeschlossen sind. Beispiel 1.1. O = Menge aller Obstsorten = {Apfel, Birne, Orange, Pflaume, . . .}, U = Menge aller positiven, ungeraden Zahlen = {1; 3; 5; 7; . . .}. Mengen werden wir in der Regel mit großen lateinischen Buchstaben bezeichnen: A, B, C, . . .. Zur Bezeichnung der Elemente sind kleine lateinische Buchstaben u ¨ blich. Ist x ein Objekt und A eine Menge, so bedeutet x ∈ A bzw. x ∈ / A,
2
Kapitel 1. Mengen und Abbildungen
dass x ein Element bzw. kein Element der Menge A ist. So gilt f¨ ur das obige Beispiel: 7 ∈ U und Kartoffel ∈ / O. Sind A und B zwei Mengen und ist jedes Element von A auch ein Element von B, so heißt A eine Teilmenge von B, in Zeichen A ⊆ B. In diesem Fall heißt B auch Obermenge von A, in Zeichen B ⊇ A. Soll deutlich gemacht werden, dass A eine echte Teilmenge von B ist, dass es also Elemente in B gibt, die nicht zu A geh¨oren, so schreiben wir daf¨ ur A ⊂ B oder analog B ⊃ A. H¨aufig werden wir Mengen dadurch definieren, dass wir bestimmte Elemente durch Angabe von Bedingungen aus einer bereits definierten Menge aussondern. So wird mit U aus Beispiel 1.1 durch A={ x ∈ U
| x < 10 }
Obermenge
Bedingung
die Menge A = {1; 3; 5; 7; 9} definiert. Mit ∅ bezeichnen wir die leere Menge, also die Menge, die kein Element enth¨alt.
Zahlbereiche Als feststehende Abk¨ urzungen benutzen wir die folgenden, international u ¨blichen Bezeichnungen. N N0 Z
= = =
Q R
= =
Menge der nat¨ urlichen Zahlen = {1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, . . .}, Menge der nat¨ urlichen Zahlen und Null = {0, 1, 2, 3, 4, 5, 6, . . .}, Menge der ganzen Zahlen = {0, 1, −1, 2, −2, 3, . ..}, Menge der rationalen Zahlen = m | m ∈ Z, n ∈ N , n Menge der reellen Zahlen.
Es gilt offensichtlich N ⊂ N0 ⊂ Z ⊂ Q ⊂ R. Die reellen Zahlen k¨ onnen als Punkte einer Geraden veranschaulicht werden, wie die Abbildung 1 zeigt. Dabei entspricht jeder Punkt der Geraden einer reellen Zahl und umgekehrt. -4 -3 -2 -1 0 1
2 3 4
Abbildung 1: Die reelle Zahlengerade
1. Mengen
3
Intervalle Oft auftretende Teilmengen der Menge der reellen Zahlen sind Intervalle. Wir unterscheiden die folgenden Typen: [a, b] = {x ∈ R | a ≤ x ≤ b},
[a, ∞) = {x ∈ R | a ≤ x},
[a, b) = {x ∈ R | a ≤ x < b}, (a, b] = {x ∈ R | a < x ≤ b},
(a, ∞) = {x ∈ R | a < x}, (−∞, b] = {x ∈ R | x ≤ b},
(a, b) = {x ∈ R | a < x < b},
(−∞, b) = {x ∈ R | x < b}.
Die Intervalle [a, b] heißen abgeschlossen. Andererseits wird ein Intervall der Form (a, b) offen genannt, wobei f¨ ur a auch −∞ oder f¨ ur b auch ∞ stehen darf. Insbesondere ist (−∞, ∞) = R.
Operationen mit Mengen Operationen mit Mengen erlauben es, neue“ Mengen aus bereits definierten Men” gen zu gewinnen. Wir f¨ uhren kurz die Definitionen der in den folgenden Kapiteln verwendeten Mengenoperationen auf. Definition 1.2. Es seien A und B beliebige Mengen. Dann heißt die Menge i) A ∪ B = {x | x ∈ A oder1 x ∈ B} die Vereinigung von A und B, ii) A ∩ B = {x | x ∈ A und x ∈ B} der Durchschnitt von A und B, iii) A \ B = {x | x ∈ A und x ∈ / B} die Differenz von A und B, iv) A × B = {(x, y) | x ∈ A, y ∈ B} die Kreuz- bzw. Produktmenge von A und B, wobei (x, y) das geordnete Paar der Elemente x und y bezeichnet. Im Fall A = B schreiben wir auch A2 statt A × A. Beispiel 1.3. H¨ aufig werden Teilmengen von R, R2 = R × R und R3 = R × R × R auftreten. Geometrisch k¨ onnen R als Gerade, R2 als Ebene und R3 als Anschauungsraum interpretiert werden. Diese Interpretation erlaubt die Einf¨ uhrung von Koordinatensystemen.
Aufgaben 1. Zeigen Sie die G¨ ultigkeit der folgenden Aussagen: i) A ∪ A = A. ii) A = (A \ B) ∪ (A ∩ B). iii) (A ∪ B) ∩ C = (A ∩ C) ∪ (B ∩ C). 1 Die
Aussage x ∈ A oder x ∈ B bedeutet, dass x ∈ A oder x ∈ B oder beides zutrifft. Grunds¨ atzlich ist im mathematischen Sprachgebrauch zwischen den Wortverbindungen oder“ ” und entweder oder“ sauber zu unterscheiden. ”
4
Kapitel 1. Mengen und Abbildungen
2. Geben Sie die Menge aller Zahlen x ∈ R, f¨ ur die 1 − x2 > 0 gilt, in Intervallschreibweise an.
§ 2 Abbildungen Naturwissenschaftliche Untersuchungen besch¨aftigen sich oft mit Beziehungen zwischen Gr¨oßen, z.B.: • Abh¨angigkeit des Lichteinfalls von der Tageszeit. • Abh¨angigkeit des Ertrags von der D¨ ungermenge. • Abh¨angigkeit der Gr¨ oße einer Population von der Beobachtungszeit. Um solche Beziehungen mathematisch zu beschreiben, wird das Konzept der Abbildung verwendet: Definition 1.4. Es seien A und B Mengen. Eine Abbildung oder Funktion f von A in B liegt genau dann vor, wenn durch eine Vorschrift jedem x ∈ A genau ein Bildelement oder Funktionswert y = f (x) ∈ B zugeordnet wird. Hierbei wird x die unabh¨ angige Variable und y die abh¨ angige Variable genannt. In diesem Fall schreiben wir f : A → B gefolgt von der Zuordnungsvorschrift. F¨ ur diese ist auch die Symbolik x → f (x) u ¨ blich. Des Weiteren setzen wir: • Die Menge A heißt Definitionsbereich von f und wird mit D(f ) bezeichnet. • Die Menge B heißt Wertebereich von f und wird mit W(f ) bezeichnet. • Die Menge f (A) = {f (a) | a ∈ A} ⊆ B heißt die Bildmenge von f . F¨ ur konkrete Anwendungen ist die Bezeichnung der Variablen den verwendeten Gr¨oßen entsprechend anzupassen. So steht z.B. t f¨ ur die Zeit, und die D¨ ungermenge kann durch d symbolisiert werden. Beispiel 1.5. Wir betrachten die Funktion f : R → R verm¨oge x → x2 . Die Bildmenge f (R) dieser Funktion ist das Intervall [0, ∞), also eine echte Teilmenge von W(f ) = R.
Darstellung von Abbildungen Analytische Darstellung: In vielen F¨ allen kann die Vorschrift durch eine Formel ausgedr¨ uckt werden. i) f : R → R verm¨ oge f (x) = 2x + x2 . x f¨ ur x ≥ 0, ii) Absolutbetrag | · | : R → R verm¨ oge |x| = −x f¨ ur x < 0. √ iii) g : {1, 4, 9, 16} → N verm¨ oge u → u.
Beispiel 1.6.
2. Abbildungen
5
Darstellung durch Wertetabellen: x .. .
f (x) .. .
x y .. .. . .
bzw.
Beispielsweise wird die Funktion g aus Beispiel 1.6 ¨aquivalent durch die Wertetabelle u g(u) 1 1 4 2 9 3 16 4 dargestellt. Experimentell ermittelte Daten werden u ¨blicherweise in eine Wertetabelle eingetragen. Graphische Darstellung: Die Menge {(x, f (x)) | x ∈ A} ⊆ A × B heißt der Graph der Abbildung f : A → B. Graphen sind insbesondere zur Darstellung reeller Funktionen geeignet. In Abbildung 2 sind die Funktionen | · | und g aus Beispiel 1.6 dargestellt.
y6 @ y = |x| @ @ 1 @ @ @
y6 4
1
x
1
r 1
y = g(u) r
r 5
10
r
15 u
Abbildung 2: Graphische Darstellung von | · | und g
Operationen mit Abbildungen Wir beginnen mit der Definition der Nacheinanderausf¨ uhrung von Abbildungen. Definition 1.7. Es seien g : A → B und f : C → D Abbildungen mit g(A) ⊆ C. Dann heißt die Abbildung f ◦ g : A → D verm¨oge x → f (g(x)) die Verkettung der Abbildungen f und g. √ Beispiel 1.8. Es seien f : [0, ∞) → R verm¨oge f (x) = x sowie g : R → [0, ∞) verm¨oge g(x) = x2 + 1. Dann sind f ◦ g : R → R verm¨ oge x → x2 + 1, g ◦ f : [0, ∞) → [0, ∞) verm¨oge x → x + 1. Insbesondere gilt f ◦ g = g ◦ f .
6
Kapitel 1. Mengen und Abbildungen
1.9. F¨ ur reellwertige Funktionen mit gemeinsamem Definitionsbereich D sind Summe, Differenz, Vielfaches, Produkt und, sofern der Nenner den Wert Null nicht annimmt, der Quotient auf D wie folgt definiert. F¨ ur f, g : D → R und λ ∈ R setzen wir: f ±g :D →R λ·f :D →R
verm¨ oge verm¨ oge
(f ± g)(x) = f (x) ± g(x), (λ · f )(x) = λ · f (x),
f ·g :D →R f :D→R g
verm¨ oge
(f · g)(x) = f (x) · g(x),
f f (x) (x) = . g g(x)
verm¨ oge
Umkehrabbildung: Abschließend wollen wir Umkehrabbildungen betrachten. Hierzu ben¨otigen wir noch den folgenden Begriff. Definition 1.10. Eine Abbildung f : A → B heißt bijektiv, falls es zu jedem y ∈ B genau ein x ∈ A derart gibt, dass y = f (x) gilt. In diesem Fall wird f auch eine Bijektion von A auf B genannt. Beispiel 1.11. i) Die Funktion f : [0, ∞) → [1, ∞) verm¨oge x → x2 + 1 ist bijektiv, siehe Beispiel 1.14. ii) Die Funktion g : [0, ∞) → R verm¨ oge x → x2 + 1 ist nicht bijektiv, denn zu der reellen Zahl −1 gibt es kein x ∈ [0, ∞) mit g(x) = −1. iii) Die Funktion h : R → [1, ∞) verm¨ oge x → x2 + 1 nicht bijektiv, denn es gilt h(−3) = h(3) = 10. Also werden verschiedene Elemente des Definitionsbereichs auf den gleichen Funktionswert abgebildet. Dies zeigt, dass die Bijektivit¨ at einer Funktion nicht nur von der Abbildungsvorschrift, sondern auch vom Definitions- und Wertebereich abh¨angig ist. Definition 1.12. Es sei f eine Bijektion von A auf B. Dann heißt g : B → A vem¨ oge y → g(y) = x, falls f (x) = y die Umkehrfunktion oder Umkehrabbildung zu f : A → B und wird mit f −1 bezeichnet. Der folgende, leicht zu beweisende Satz illustriert die Beziehung der Begriffe Bijektion und Umkehrabbildung einerseits mit der Verkettung von Funktionen andererseits. Satz 1.13. Es seien f : A → B und g : B → A Funktionen. Dann sind f und g Bijektionen und g ist die Umkehrfunktion zu f genau dann, wenn (g ◦ f )(x) = x f¨ ur alle x ∈ A und (f ◦ g)(y) = y f¨ ur alle y ∈ B gelten.
2. Abbildungen
7
Beispiel 1.14. Wir bestimmen die Umkehrfunktion zu f aus Beispiel 1.11. Dazu stellen wir die Gleichung y = x2 + 1 nach x um. x2 + 1 = √
2
x x2
= =
y, y − 1, y − 1, y − 1.
|x| = √ Wegen x ≥ 0 ist dies √ a ¨quivalent zu x = y − 1. Wir erhalten somit f −1 : [1, ∞) → [0, ∞) verm¨oge y → y − 1.
Aufgaben 1. Gegeben sei die Funktion f : R → R verm¨oge f (x) = x2 + 2x − 1. i) Zeichnen Sie den Graphen der Funktion f . ii) Bestimmen Sie die Bildmenge f (R) der Funktion f . 2. Es seien f : R → R verm¨ oge f (x) = x2 und g : R → R verm¨oge g(x) = 3 + x. Bestimmen Sie eine Abbildungsvorschrift f¨ ur f ◦ g : R → R sowie f¨ ur g ◦ f : R → R. 1 3. Es seien f : R \ {−1} → R verm¨ oge f (x) = x+1 und g : R → R verm¨oge g(x) = 2x2 . Ermitteln Sie jeweils eine Abbildungsvorschrift zu f ◦ g und g ◦ f .
4. Es sei f : [3, ∞) → [14, ∞) verm¨ oge f (x) = x2 + 2x − 1 gegeben. i) Finden Sie eine Abbildungsvorschrift der Umkehrfunktion g zu f . ii) Rechnen Sie zur Probe die Gleichungen (g ◦ f )(x) = x f¨ ur alle x ∈D(f ) und (f ◦ g)(y) = y f¨ ur alle y ∈W(f ) explizit nach. 5. Wir nehmen einen quadratischen Bogen Papier und nummerieren die Ecken gem¨aß Abbildung 3 durch. 4 3
1
2
Abbildung 3: Der Papierbogen mit nummerierten Ecken Der Papierbogen wird damit durch die Menge M = {1, 2, 3, 4} modelliert. Durch Drehen und Wenden des Papiers haben wir mehrere M¨oglichkeiten, Deckabbildungen des Bogens zu erzeugen. Jede dieser Deckabbildungen korrespondiert zu
8
Kapitel 1. Mengen und Abbildungen
einer Bijektion h : M → M . Zum Beispiel korrespondiert das einfache Wenden ( Umbl¨attern“) zur Abbildung ” ⎧ 1 → 2, ⎪ ⎪ ⎪ ⎨2 → 1, f : M → M verm¨ oge ⎪ 3 → 4, ⎪ ⎪ ⎩ 4 → 3. i) Man bestimme die Menge S aller Bijektionen h : M → M , die den Deckabbildungen des Papierbogens entsprechen. Wie viele Elemente hat S? ii) Man bestimme die Abbildung g : M → M , die zur Linksdrehung des Bogens um einen rechten Winkel korrespondiert. Zeigen Sie, dass g ◦ g ◦ g : M → M zur entsprechenden Rechtsdrehung korrespondiert.
Weitere Informationen im WWW Informationen und Aufgaben zum Thema bei Calculus On the Web: • Precalculus Book, Chapter Equations, Section Inequalities. • Precalculus Book, Chapter Plotting and Graphs. • Precalculus Book, Chapter Functions, Section Distance and Circles. • Calculus Book I, Chapter Functions and Geometry, Section Functions, Module Composition of Functions. • Calculus Book I, Chapter Functions and Geometry, Section Plotting in the Plane. Anleitungen, Demonstrationen und Beispiele bei Visual Calculus: • Pre-Calculus.
Kapitel 2
Elementare Funktionen § 1 Lineare Funktionen und Geraden Funktionen der Form f : R → R verm¨ oge x → mx + d mit m, d ∈ R heißen affin-linear oder (streng genommen etwas ungenau) nur kurz linear. Sie stellen den einfachsten Typ reeller Funktionen dar, und ihnen kommt in den Anwendungen eine besondere Bedeutung zu. Die Graphen linearer Funktionen sind spezielle Geraden in der Ebene. Analytisch wird eine Gerade im R2 beschrieben durch G = {(x, y) ∈ R2 | ax + by + c = 0, a = 0 oder b = 0},
(2-1)
siehe Abbildung 4. Falls b = 0, so ist die durch (2-1) gegebene Gerade G der Graph y 4 2
-6
-4
-2
2
4
6
x
-2 -4
Abbildung 4: Die Geraden 12 x − y = 0 und x − 5 = 0 im R2 der linearen Funktion
a c f : R → R verm¨ oge x → − x − . b b
10
Kapitel 2. Elementare Funktionen
Man beachte, dass die Geraden der Form ax + c = 0 mit a = 0 (also Vertikalen in der (x, y)-Ebene) nicht Graphen von linearen Funktionen in der Variablen x sind, da dem Punkt x = − ac unendlich viele y-Werte zugeordnet sind. 2.1. Man kann Geraden auf verschiedene Weise darstellen: • Standard-Form: ax + by + c = 0 mit a = 0 oder b = 0, d.h. wie in (2-1). • Punkt-Richtungs-Form: y − y0 = m(x − x0 ). Man beachte, dass die Geraden von der Form ax + c = 0 keine solche Darstellung besitzen! Die Punkt-Richtungs-Form besitzt dabei die geometrische Interpretation, dass durch sie diejenige Gerade in der Ebene beschrieben wird, die durch den Punkt (x0 , y0 ) ∈ R2 verl¨ auft und die Steigung m ∈ R besitzt, siehe Abbildung 5.
y
Dy m= D x
Dy Dx x
x0
.
(x0 , y0)
y0
Abbildung 5: Die Gerade y − y0 = m(x − x0 ) 2.2. Durch je zwei Punkte (x0 , y0 ), (x1 , y1 ) ∈ R2 , (x0 , y0 ) = (x1 , y1 ), verl¨auft genau eine Gerade G. Falls x0 = x1 , so liegen beide Punkte auf der Geraden G = {(x, y) ∈ R2 | x = x0 }, und falls x0 = x1 , so liegen sie auf der Geraden y1 − y0 G = (x, y) ∈ R2 | y − y0 = (x − x0 ) . x1 − x0 Wenn also zwischen den Gr¨ oßen X und Y ein linearer Zusammenhang besteht, d.h. Y = aX + b mit den Parametern a, b ∈ R, dann sind a und b durch zwei Werte Y = y0 und Y = y1 in X = x0 und X = x1 mit x0 = x1 bestimmt: a=
y1 − y0 , x1 − x0
b = y0 −
y1 − y0 x0 . x1 − x0
Damit kennen wir dann alle Werte von Y f¨ ur alle X = x.
1. Lineare Funktionen und Geraden
11
Aufgaben 1. Wir nehmen an, dass die Anzahl S der von einer Pflanzenart produzierten Samen proportional zu ihrer (¨ uberirdischen) Biomasse M minus einem gewissen Offset“ M0 ist, d.h., erst Pflanzen mit einer M0 u ¨ bersteigenden Biomasse sind ” u ¨ berhaupt in der Lage, Samen zu produzieren. In Formeln: S ∝ M − M0 , d.h., es existiert eine reelle Konstante k, die in dieser Aufgabe und auch sonst h¨aufig als positiv angenommen wird, so dass S = k · (M − M0 ) ist. Man bestimme eine Gleichungsbeziehung zwischen der Samenzahl und der Biomasse, wenn eine 220g schwere Pflanze 19 Samen produziert und falls der Offset bei 5g liegt. 2. Bestimmen Sie die Geradengleichung in Standardform f¨ ur folgende Geraden im R2 : i) Gerade durch (−2, −3) und (1, 4). ii) Gerade mit der Steigung −2 und Schnittpunkt (1, 0) mit der x-Achse. iii) Gerade durch (1, 2), die parallel zur Geraden x − 3y − 6 = 0 verl¨auft. iv) Gerade durch (−1, −1), die senkrecht auf der Geraden x − y + 3 = 0 steht. v) Gerade durch (1, 1), die auf der Geraden durch die Punkte (−3, 1/2) und (5, 1/2) senkrecht steht. Welche der Geraden in i)–v) sind Graphen {(x, f (x)) | x ∈ R} von Funktionen f : R → R, welche nicht? 3. Es sei X = X(T ) eine temperaturabh¨ angige Gr¨oße. Zwischen X und der Temperatur T bestehe ein linearer Zusammenhang der Form X(T ) = a · T + b mit den unbekannten Parametern a, b ∈ R. Eine Messung von X zu zwei verschiedenen Temperaturen f¨ uhrt auf die folgende Wertetabelle: T 3 8
X 17 5
Man bestimme die Werte der Parameter a und b. 4. Man bestimme a, b ∈ R, a < 0, so, dass die Funktion f : [1, 4] → [3, 9] verm¨oge f (x) = ax + b das gesamte Intervall [3, 9] als Bildmenge hat.
12
Kapitel 2. Elementare Funktionen
§2 Rationale Funktionen und allgemeine Potenz Definition 2.3. Eine Funktion f : R → R verm¨oge f (x) = an xn + an−1 xn−1 + . . . + a1 x + a0 mit Koeffizienten a0 , . . . , an ∈ R, heißt ganzrationale Funktion oder Polynom. Hierbei heißt n der Grad von f , falls an = 0 ist, d.h., der Grad einer ganzrationalen Funktion ist die h¨ ochste, tats¨ achlich vorhandene Potenz von x. Beispiel: • n = 1: Hier erhalten wir wieder affin-lineare Funktionen f (x) = a1 x + a0 , x ∈ R (Geraden). • n = 2: Parabeln, also f (x) = a2 x2 + a1 x + a0 , x ∈ R. 2.4. Um ein Anwendungsbeispiel einer ganzrationalen Funktion zu geben, betrachten wir eine chemische Reaktion A + B → AB, bei der aus den Substanzen A und B das molekulare Produkt AB entsteht. Die Reaktionsgeschwindigkeit R h¨ angt hierbei von den Konzentrationen [A] und [B] ab, denn es gilt das aus der Chemie bekannte Gesetz (Massenwirkungsgesetz ) R ∝ [A][B], d.h., die Reaktionsgeschwindigkeit ist proportional zum Produkt der Konzentrationen. Es gilt also R = k[A][B] mit einer geeigneten Konstante k > 0. Es sei nun x = [AB] die Konzentration des Endproduktes. Es macht Sinn, x als Variable aufzufassen, denn das Produkt AB wird im Verlauf der Reaktion gebildet. Fasst man nun R = R(x) als Funktion von x auf, so gilt also R(x) = k(a − x)(b − x),
x ∈ [0, min{a, b}],
wobei 0 < a = [A] und 0 < b = [B] die Konzentrationen von A und B zu Beginn der Reaktion sind. Man beachte, dass die Konzentrationen von A und B gerade a − x und b − x betragen, wenn die Konzentration des Endproduktes bei [AB] = x liegt. Durch Ausmultiplizieren ergibt sich, dass R eine ganzrationale Funktion zweiten Grades im Intervall [0, min{a, b}] ist. Mathematisch k¨onnen wir R zwar auf ganz R betrachten, aber nur in diesem Intervall ist R(x) als Reaktionsrate interpretierbar, denn am Ende der Reaktion ist die Konzentration [AB] = min{a, b} des Produktes entstanden. Definition 2.5. Eine Funktion f : D → R verm¨oge f (x) =
p(x) q(x) ,
x ∈ D = {x ∈ R | q(x) = 0}
mit Polynomen p und q heißt rationale Funktion.
2. Rationale Funktionen und allgemeine Potenz
13
2.6. Enzyme wirken h¨ aufig als Katalysatoren bei biochemischen Reaktionen, bei denen aus einem Substrat ein Produkt gebildet wird. Nach einem Modell von Michaelis und Menten in der Enzymkinetik gilt die folgende Beziehung zwischen der Substratkonzentration S und der Anfangsgeschwindigkeit v0 der Reaktion, mit der das Produkt gebildet wird: v0 = vmax ·
S . S+K
(2-2)
Hierbei ist vmax > 0 die (asymptotische) Maximalgeschwindigkeit der Reaktion bei Substrats¨ attigung, und K > 0 ist die Michaelis–Menten-Konstante. Beide Parameter vmax und K sind Maßzahlen f¨ ur die katalytische Effizienz des Enzyms. In (2-2) k¨ onnen wir v0 als rationale Funktion von S auffassen, die Parameter vmax , K > 0 werden dabei durch die betrachtete Reaktion bestimmt (siehe Abbildung 6). 5 4 3 y 2 1
0
2
4
6
8
10 x
12
14
16
Abbildung 6: Graph von f : [0, ∞) → R, x → 4 ·
18
20
x x+0,5
Definition 2.7. Es sei a ∈ R. Dann heißt die Funktion f : (0, ∞) → R verm¨oge f (x) = xa die allgemeine Potenzfunktion zum Exponenten a. Die Graphen der allgemeinen Potenzfunktion f¨ ur verschiedene Werte von a zeigt Abbildung 7. Man beachte: • F¨ ur a ∈ N ist die Potenz xa = x · . . . · x (a Faktoren) wohldefiniert f¨ ur alle x ∈ R, f¨ ur a = 0 setzt man x0 = 1.
14
Kapitel 2. Elementare Funktionen 10
a<0 8
a>1 a=1
6 y 4
0
2
a=0 0
2
4
6
8
10
x
Abbildung 7: Die Graphen der allgemeinen Potenz • F¨ ur a ∈ Z, a < 0, gilt xa = sinnvoll ist.
1 , x−a
wobei dies nur noch f¨ ur alle x ∈ R \ {0}
• Bereits f¨ ur a ∈ Q ist xa im allgemeinen nur noch f¨ ur x > 0 wohldefiniert, z.B. gilt x−1/2 = √1x . F¨ ur a = m mit m ∈ Z und n ∈ N ist xa die eindeutig n n bestimmte positive reelle Zahl mit xa = xm . Notwendigerweise gilt auch f¨ ur beliebige reelle Exponenten a die Einschr¨ankung, dass x positiv sein muss. Den Wert von xa f¨ ur eine reelle, nicht rationale Zahl a erh¨alt man durch Approximation mittels Potenzen xq mit rationalen Exponenten q, welche sich immer mehr der reellen Zahl a ann¨ ahern. Man betrachte etwa √ a = 2 = 1, 414213562373095048801 . . .. Dann approximieren die mit rationalen Exponenten gebildeten Potenzen x1,414213 ; x1,4142135 ; x1,41421356 ; x1,414213562 ; x1,4142135623 ; x1,41421356237 ; . . . bei Hinzunahme immer weiterer Nachkommastellen im Exponenten den Wert √ von x 2 . Formal steckt dahinter ein Grenzwertprozess, ein Thema, dem wir uns in Kapitel 4 widmen werden. 2.8. Es gelten die folgenden Rechenregeln (Potenzgesetze): • xa+b = xa xb .
2. Rationale Funktionen und allgemeine Potenz •
15
a b x = xab .
• (xy)a = xa y a . 2.9. Es sei a = 0. Dann ist die allgemeine Potenz f (x) = xa eine Bijektion f : (0, ∞) → (0, ∞), vgl. Kapitel 1, §2. Die Umkehrfunktion der allgemeinen Potenzfunktion f (x) = xa, x > 0,ist gegeben durch f −1 (x) = x1/a . Nach den Potenzgesetzen gilt n¨amlich f ◦ f −1 (x) = 1/a a 1/a x = x und f −1 ◦ f (x) = xa = x f¨ ur alle x > 0. Es seien allgemein A, B ⊆ R, und f : A → B sei bijektiv. Den Graphen der Umkehrfunktion f −1 erh¨ alt man dann aus dem Graphen von f durch Spiegelung an der Geraden y = x. Dies kann am Beispiel der allgemeinen Potenzfunktion in Abbildung 7 besonders gut nachvollzogen werden.
Aufgaben 1. Wir nehmen an, ein Waldgebiet wird von einem Pilz befallen, der sich von der Waldmitte aus nach außen hin ausbreitet. Anf¨anglich ist nur ein Baum betroffen, und der Pilz breitet sich mit konstanter Geschwindigkeit von 3m pro Woche gleichm¨aßig in alle Richtungen aus. Welche Fl¨ache wird nach 2 Wochen, welche nach 4 Wochen befallen sein? Man schreibe die befallene Fl¨ache (gemessen in m2 ) als Funktion der Zeit (gemessen in Wochen) und zeige, dass diese Funktion ein Polynom zweiten Grades ist. 2. Skizzieren Sie die Graphen der folgenden Funktionen: i) f (x) = −(x − 2)2 + 1. ii) f (x) = 3 + x1 . 1 iii) f (x) = − 1−x .
Es sei allgemein f : D → R, D ⊆ R, eine Funktion, und es seien a, b ∈ R. Wir definieren g(x) = f (x − a) + b f¨ ur x ∈ a + D = {a + d; d ∈ D}. Beschreiben Sie in Worten und durch eine Skizze, wie man den Graphen von g geometrisch aus dem Graphen von f erh¨ alt. F¨ uhren Sie dasselbe mit den Graphen von h1 (x) = f (−x), h2 (x) = −f (x) und h3 (x) = −f (−x) aus. 3. Es seien a, k > 0. i) Man betrachte die Funktion f : (0, ∞) → R verm¨ oge f (x) = a ·
x x+k
f¨ ur x > 0.
Es gelte f (k) = 5 und f (1) = 1. Man bestimme die Werte der Parameter a, k ∈ R.
16
Kapitel 2. Elementare Funktionen
ii) Man betrachte die Funktion f : (0, ∞) → R verm¨ oge f (x) = a ·
x2 x2 + k
f¨ ur x > 0.
Es gelte f (5) = a/2 sowie f (1) = 1. Man bestimme die Werte der Parameter a, k ∈ R. 4. Bei vielen Organismen h¨ angt die Sterblichkeitsrate der Nachkommen von der Besiedlungsdichte der Population ab. Ein einfaches mathematisches Modell, das den Einfluss der Besiedlungsdichte auf die Sterblichkeit modelliert, ist das Beverton–Holt-Modell : Es seien N1 die Populationsgr¨ oße der Elterngeneration, N2 die Anzahl der u ¨ berlebenden Nachkommen. Unter der Annahme, dass die Besiedlungsdichte keinen Einfluss auf die Sterblichkeit hat, gehen wir von geometrischem Wachstum und damit von der Proportionalit¨ at von N2 und N1 aus, d.h. N2 = RN1 f¨ ur ein geeignetes R > 1 (N2 ist dann also eine lineare Funktion von N1 ). Definiert man eine 1 1 neue Gr¨oße durch Nrel = N , so gilt in diesem Fall Nrel ≡ R ist konstant. Hierbei N2 fassen wir Nrel als Funktion von N1 auf. Mit dieser Setzung ist N2 = N1rel N1 . Im Gegensatz dazu besteht der Ansatz im Beverton–Holt-Modell darin, Nrel nicht mehr als konstante, sondern als wachsende Funktion von N1 zu modellieren. Genauer: Zwischen den Gr¨ oßen Nrel und N1 besteht eine lineare Funktionsbeziehung, d.h., der Graph von Nrel als Funktion von N1 ist eine Gerade. Man nimmt 1 weiter an, dass diese Gerade durch die Punkte (0, R ) und (K, 1) verl¨auft, wobei K > 0 ist. Aufgrund dieses Ansatzes zeige man: i) N2 ist im Beverton–Holt-Modell eine rationale Funktion von N1 . Man berechne explizit diese Funktionsbeziehung (in analytischer Darstellung). ii) Man zeige, dass N2 (N1 ) = K, falls N1 = K. Ferner zeige man, dass aus N1 < K sogar N1 < N2 (N1 ) < K folgt, und aus N1 > K auch N1 > N2 (N1 ) > K. Wie ist das zu interpretieren? iii) Skizzieren Sie den Graphen von N2 als Funktion von N1 f¨ ur R = 2 und K = 20. Was passiert f¨ ur große Werte von N1 (N1 → ∞)?
§ 3 Exponential- und Logarithmusfunktion Exponentialfunktionen modellieren Wachstums- und Zerfallsprozesse. Beispiel 2.10. Bei einer Bakterienkultur finde alle 30 Minuten eine Zellteilung statt. Es sei y0 die Anzahl der Zellen bei Beginn der Beobachtung: x =Zeitabschnitt: y =Zellenzahl:
0 y0
1 2y0
2 4y0
... x . . . 2x y0
(2-3)
Folglich gilt also y(x) = 2x y0 f¨ ur die Anzahl der Zellen als Funktion des Zeitabschnittes, d.h., die Kultur w¨ achst exponentiell.
3. Exponential- und Logarithmusfunktion
17
Definition 2.11. Es sei a > 0, a = 1. Dann heißt die Funktion f : R → R verm¨ oge f (x) = ax Exponentialfunktion zur Basis a. Abbildung 8 zeigt die Graphen der Exponentialfunktion f¨ ur verschiedene Basen a. 5
4
3 y
0
a>1
2
1
–20
–10
0
10 x
20
Abbildung 8: Graphen der Exponentialfunktion f¨ ur verschiedene Basen Auch die Basis a = 1 ist sinnvoll, allerdings gilt damit 1x = 1 f¨ ur alle x ∈ R. Es gilt der folgende Satz, der anhand der Abbildung 8 zwar plausibel ist, ein strenger Nachweis jedoch kann in diesem Buch nicht gef¨ uhrt werden. Satz 2.12. Es gibt genau eine Zahl e > 0, so dass die Tangente an den Graphen der Exponentialfunktion zur Basis e im Punkt (0, 1) die Steigung 1 besitzt. Diese Zahl heißt die Eulersche Zahl. Es gilt e = 2, 7182 . . ., und ebenso wie die Kreiszahl π ist auch e ∈ R \ Q eine irrationale Zahl. Bezeichnung 2.13. F¨ ur die Exponentialfunktion zur Basis e, f (x) = ex , wird auch die Bezeichnung exp verwendet. Es gilt also exp : R → R verm¨oge exp(x) = ex .
18
Kapitel 2. Elementare Funktionen
Wachstumsvergleich Exponential- vs. Potenzfunktion Die Exponentialfunktion hat f¨ ur x → ∞ ein sehr viel st¨arkeres Wachstum als die allgemeine Potenz. Um dies zu illustrieren, betrachten wir die folgende Wertetabelle: x x4 2x 0 0 1 1 1 2 3 81 8 4 256 32 5 625 64 .. .. .. . . . 15 16 17 .. .
50.625 65.536 83.521 .. .
32.768 65.536 131.072 .. .
20 160.000 1.048.576 .. .. .. . . . W¨ahrend f¨ ur kleine x-Werte die Potenzfunktion noch dominiert, kommt f¨ ur große x-Werte das Wachstum der Exponentialfunktion deutlich zum Tragen. Wir werden dies zu einem sp¨ ateren Zeitpunkt noch genauer betrachten (siehe 4.15).
Die Logarithmusfunktion 2.14. F¨ ur a > 0, a = 1, ist die Exponentialfunktion f : R → (0, ∞) verm¨oge f (x) = ax zur Basis a bijektiv, d.h., zu jedem y > 0 existiert genau ein x ∈ R mit y = ax (siehe Abbildung 8). Wir schreiben x = loga y und nennen x den Logarithmus von y zur Basis a. Es gilt also y = ax genau dann, wenn x = loga y. Die Zuordnung y → loga y f¨ ur y > 0 definiert die Logarithmusfunktion zur Basis a loga : (0, ∞) → R verm¨oge y → loga y. Die Logarithmusfunktion zur Basis a ist die Umkehrfunktion der Exponentialfunktion zur Basis a im Sinne von Kapitel 1, §2. Die Abbildung 9 zeigt Graphen der Logarithmusfunktion zu verschiedenen Basen. Dual zu den Potenzgesetzen 2.8 gelten die folgenden Logarithmengesetze: • loga (xy) = loga x + loga y. • loga (xy ) = y loga x.
3. Exponential- und Logarithmusfunktion
19
6
4
0
y 2
0
0.5
1
1.5 x
2
2.5
3
–2
–4
a>1
–6
Abbildung 9: Graphen der Logarithmusfunktion Bezeichnung 2.15. Die folgenden Logarithmen zu speziellen Basen haben eine besondere Bezeichnung: a = 10 : a=e :
log10 = lg loge = ln
Dekadischer Logarithmus Nat¨ urlicher Logarithmus
a=2 :
log2 = ld
Dyadischer Logarithmus
Beispiel 2.16. Die folgenden Beispiele illustrieren die Anwendung der Logarithmengesetze. i) log3 (9x2 ) = log3 9 + log3 (x2 ) = 2 + 2 log3 x. 2 √ √ = ln 3 + ln(x2 ) − ln y = ln 3 + 2 ln x − ii) ln 3x y iii) 52x−1 = 2x ⇐⇒ (2x − 1) ln 5 = x ln 2 ⇐⇒ x =
1 2
ln y.
ln 5 2 ln 5−ln 2 .
Der Doppelpfeil ⇐⇒ in iii) bedeutet, dass die G¨ ultigkeit der Gleichung 52x−1 = x 2 ¨aquivalent ist zur G¨ ultigkeit der Gleichung (2x − 1) ln 5 = x ln 2, und diese 5 wiederum ist ¨aquivalent zur G¨ ultigkeit der Gleichung x = 2 lnln . Es wurde also 5−ln 2 in jedem Schritt ¨ aquivalent umgeformt. Allgemein bezeichnet ein Doppelpfeil A ⇐⇒ B zwischen zwei logischen Aussagen ¨ A und B (dies k¨ onnen wie im obigen Beispiel Gleichungen sein) die Aquivalenz beider Aussagen, d.h., A ist g¨ ultig genau dann, wenn B g¨ ultig ist. Daher heißt der ¨ Doppelpfeil auch Aquivalenzpfeil.
20
Kapitel 2. Elementare Funktionen
Ein einfacher Pfeil A =⇒ B, auch Implikationspfeil genannt, hingegen sagt aus, dass, falls die Aussage A g¨ ultig ist, auch die Aussage B g¨ ultig sein muss. Im ¨ Unterschied zum Aquivalenzpfeil allerdings ist es nicht so, dass aus der G¨ ultigkeit von B notwendig die G¨ ultigkeit der Aussage A folgen muss. Beispielsweise gilt x < 3 =⇒ x < 5, hingegen folgt aus x < 5 nicht zwingend, dass x < 3 ist. Ein h¨ aufiger Fehler beim Umformen von Ungleichungen ist die Schlussfolgerung x2 < y 2 =⇒ x < y, was offenbar nicht richtig ist, wie man durch Einsetzen von x = −1 und y = −5 leicht einsieht. Richtig ist x2 < y 2 =⇒ |x| < |y|.
Umrechnung auf andere Basen Es seien a, b > 0 und a, b = 1. Dann gilt f¨ ur x, y ∈ R ax = by ⇐⇒ y = logb a x.
(2-4)
Folglich gehen die Exponentialfunktionen zu verschiedenen Basen auseinander durch Reskalierung (Streckung bzw. Stauchung) der x-Achse bzw. vorheriger Spiegelung am Nullpunkt (falls logb a < 0 ist) hervor. Aus diesem Grund k¨ onnen wir uns beim Umgang mit Exponentialfunktionen ohne Beschr¨ankung der Allgemeinheit stets auf eine Basis unserer Wahl zur¨ uckziehen; diese wird im allgemeinen die Eulersche Zahl e sein, aber auch die Basis 10 kann eine sinnvolle Wahl sein. Ferner haben wir f¨ ur x, y > 0 loga x = logb y ⇐⇒ y = xloga b .
(2-5)
Entsprechend k¨ onnen wir uns auch beim Umgang mit Logarithmen auf eine Basis unserer Wahl beschr¨ anken. Hierbei ist insbesondere der nat¨ urliche Logarithmus ln eine naheliegende Wahl, aber auch der dekadische Logarithmus lg ist f¨ ur viele Anwendungen sinnvoll.
Beispiel: Radioaktiver Zerfall Radioaktiver Zerfall ist ein Beispiel f¨ ur einen exponentiellen Zerfallsprozess. Das Gesetz f¨ ur den Zerfall eines radioaktiven Isotops lautet W (t) = W0 e−λt ,
t ≥ 0.
(2-6)
Hierbei sind: • t – Die seit dem Beginn der Beobachtung (t = 0) verstrichene Zeit (t ≥ 0). • W0 – Menge des radioaktiven Isotops zum Zeitpunkt t = 0. • W (t) – Menge des radioaktiven Isotops zum Zeitpunkt t ≥ 0.
3. Exponential- und Logarithmusfunktion
21
• λ – Zerfallsrate des Isotops (λ > 0). Das Gesetz (2-6) erh¨ alt man als L¨ osung einer Differentialgleichung, die den Zerfallsprozess modelliert (vgl. Kapitel 10). Die diesem Modell zugrunde liegende Annahme besagt, dass die Geschwindigkeit des Zerfalls eines radioaktiven Isotops ausschließlich von der vorhandenen Menge abh¨angt, wobei es sich dabei um eine Proportionalit¨ atsbeziehung handelt. Die Zerfallsrate eines radioaktiven Isotops ist z.B. aus der Halbwertszeit Th > 0 berechenbar, d.h. der Zeitspanne, in der eine (beliebige) Menge des Isotops bis auf die H¨alfte zerf¨ allt. Es gilt n¨ amlich W (t + Th ) 1 = e−λTh = ist konstant in t, d.h. W (t) 2 ln 2 ln 2 λ= bzw. Th = . Th λ Radioaktive Isotope k¨ onnen z.B. dazu verwendet werden, das Alter von Fossilien zu bestimmen. Das Kohlenstoff-Isotop 14 C wird beispielsweise verwendet, um das Alter von h¨ olzernen Proben (Cellulose) zu bestimmen (Radiocarbonmethode): 14 C zerf¨ allt zu 14 N , und man weiß, dass das Verh¨altnis [14 C : 12 C] in der Atmosph¨are seit langer Zeit (mind. 60.000 Jahre) konstant geblieben ist. Pflanzen nehmen 14 C auf und lagern dieses in der gebildeten Cellulose ein. Mit dem Absterben der Pflanze wird kein weiteres 14 C mehr eingelagert, und beginnend mit diesem Zeitpunkt verringert sich die Konzentration des eingelagerten 14 C aufgrund des radioaktiven Zerfalles. 14 C hat eine Halbwertzeit von 5.730 Jahren, d.h., die Zerfallsrate ist λ=
ln 2 Jahre−1 . 5730
Angenommen, h¨ olzerne Proben von Ausgrabungen enthalten nur etwa 23% der Konzentration von 14 C (im Verh¨ altnis zu 12 C) von lebendem Gewebe. Dann kann das Alter T der Probe aufgrund folgender Rechnung bestimmt werden (vor dem Hintergrund, dass das Verh¨ altnis [14 C : 12 C] im heute lebenden Gewebe dem der arch¨aologischen Probe zu deren Lebzeiten entspricht): W (T ) = e−λT = 0, 23 W0 1 =⇒ λT = ln 0, 23 5730 1 =⇒ T = · ln Jahre ≈ 12.150 Jahre. ln 2 0, 23
22
Kapitel 2. Elementare Funktionen
Darstellung im einfach und doppelt logarithmischen Diagramm Beispiel 2.17. Wir betrachten die folgende Wertetabelle von Gr¨oßen von Organismen bzw. Entfernungen:
Ribosom Bakterie Mensch Erddurchmesser
Gr¨ oße (in m)
lg(Gr¨oße)
2·10−8 10−6 1, 8·100 1, 3·107
−7, 699 −6 0, 255 7, 114
(2-7)
Wenn wir versuchen, die obigen Gr¨ oßen auf der reellen Zahlengeraden mit der gew¨ohnlichen Skala — der linearen Skala — darzustellen, so werden wir damit offenbar Probleme bekommen. Hingegen k¨ onnen die Logarithmen der Gr¨oßen ohne M¨ uhe dargestellt werden, die Daten sind durch Anwendung der Logarithmusfunktion (zur Basis 10) geeignet skaliert worden. Dieses Beispiel l¨ asst sich systematisch verallgemeinern: Da jede Logarithmusfunktion loga : (0, ∞) → R bijektiv ist — die Umkehrfunktion ist die Exponentialfunktion zur selben Basis a — k¨ onnen wir eine gegebene Skala von positiven Werten durch Anwendung von loga in eine zweite Skala reeller Werte u uhren und ¨berf¨ verm¨oge dieser Zuordnung miteinander identifizieren. In der Wertetabelle (2-7) haben wir uns f¨ ur die Basis a = 10 entschieden, und wir identifizieren verm¨oge der lg-Funktion die Eintr¨ age der zweiten Spalte mit den entsprechenden Werten der dritten Spalte. Im Ergebnis k¨ onnen wir uns (0, ∞) wieder als Gerade veranschaulichen (wie in Abbildung 1), allerdings ist die Skala dann die logarithmische Skala zur Basis a. • Von besonderem Interesse f¨ ur die Anwendungen sind die logarithmischen Skalen zu den Basen e und 10. Die Umrechnung auf andere Basen und die entsprechende Transformation der Skalen erfolgt gem¨ aß der Formel (2-4). • Es sei a > 1. Dann entsprechen den Zahlen 0 < x ≤ 1 die Werte (−∞, 0] auf der logarithmischen Skala zur Basis a, den Zahlen 1 ≤ x < ∞ entsprechen die Werte [0, ∞). F¨ ur a < 1 ist es umgekehrt. Man beachte, dass mit der logarithmischen Skala nur positive reelle Zahlen darstellbar sind. Exponentialfunktionen im linear-logarithmischen Diagramm Es sei f : R → (0, ∞) verm¨ oge f (x) = C · eλx
(2-8)
3. Exponential- und Logarithmusfunktion
23
mit C > 0 und λ ∈ R eine Exponentialfunktion. Dann gilt ln ◦f (x) = ln C + λx f¨ ur x ∈ R. Mit der abh¨ angigen Variablen Y = ln y = ln ◦f (x) gilt also Y = ln C + λx,
(2-9)
d.h., der Graph ist in der (x, Y )-Ebene eine Gerade der Steigung λ und dem Schnittpunkt (0, ln C) mit der Y -Achse, siehe Punkt 2.1. Ist umgekehrt f : R → (0, ∞) eine Funktion derart, dass der Graph von f in der (x, Y )-Ebene mit Y = ln y = ln ◦f (x) eine Gerade ist, dann ist f notwendig eine Exponentialfunktion der Form (2-8). Dies folgt durch Anwendung der Funktion exp auf beide Seiten der Geradengleichung (wie (2-9) zeigt). Wir fassen zusammen: Satz 2.18. Die Graphen der Exponentialfunktionen der Form (2-8) im einfach logarithmischen Diagramm (lin-log Diagramm) sind Geraden. Die Parameter C > 0 und λ ∈ R bestimmen hierbei den Schnittpunkt der Geraden mit der log y-Achse und die Steigung. Ist umgekehrt der Graph einer Funktion im lin-log Diagramm eine Gerade, so ist die Funktion notwendig von der Form (2-8). Die Parameter C > 0 und λ ∈ R werden bestimmt durch den Schnittpunkt der Geraden mit der log y-Achse und der Steigung. Die Abbildung 10 zeigt den Graphen einer Exponentialfunktion der Form (2-8) im linear-logarithmischen Diagramm. y 2
10
1
10
2 -20
10
-10
20
x
10-1
Abbildung 10: Der Graph von x → 4 · e−0,115x im lin-log10 Diagramm
24
Kapitel 2. Elementare Funktionen
Potenzfunktionen im doppelt logarithmischen Diagramm Es sei f : (0, ∞) → (0, ∞) verm¨oge f (x) = C · xa
(2-10)
mit C > 0 und a ∈ R eine Potenzfunktion. Dann gilt ln ◦f (x) = ln C + a ln x f¨ ur x ∈ (0, ∞). Mit der neuen unabh¨ angigen Variablen X = ln x und der abh¨angigen Variablen Y = ln y = ln ◦f (x) gilt also Y = ln C + aX,
(2-11)
d.h., der Graph ist in der (X, Y )-Ebene eine Gerade der Steigung a und dem Schnittpunkt (0, ln C) mit der Y -Achse, siehe auch Punkt 2.1. Ist umgekehrt f : (0, ∞) → (0, ∞) eine Funktion derart, dass der Graph von f in der (X, Y )-Ebene mit X = ln x und Y = ln y = ln ◦f (x) eine Gerade ist, dann ist f notwendig eine Potenzfunktion der Form (2-10). Dies folgt durch Anwendung der Funktion exp auf beide Seiten der Geradengleichung (siehe (2-11)). Satz 2.19. Die Graphen der Potenzfunktionen der Form (2-10) im doppelt logarithmischen Diagramm (log-log Diagramm) sind Geraden. Die Parameter C > 0 und a ∈ R bestimmen hierbei den Schnittpunkt der Geraden mit der log y-Achse und die Steigung. Ist umgekehrt der Graph einer Funktion im log-log Diagramm eine Gerade, so ist die Funktion notwendig von der Form (2-10). Die Parameter C > 0 und a ∈ R werden bestimmt durch den Schnittpunkt der Geraden mit der log y-Achse und der Steigung. Die Abbildung 11 zeigt den Graphen einer Potenzfunktion der Form (2-10) im doppelt logarithmischen Diagramm. y 10
2
1
10 2 -2
10
-1
10
2 10
101
10
2
x
-1
Abbildung 11: Der Graph von x → 7 · x0,605 im log10 -log10 Diagramm
3. Exponential- und Logarithmusfunktion
25
Aufgaben 1. Vereinfachen Sie die folgenden Terme: i) 25 log2 x ,
v) ln x4 − ln x−2 ,
ii) 55 log1/5 x ,
vi) ln(x2 − 1) − ln(x + 1),
iii) 4− log1/2 x ,
vii) e−2 ln(1/x) ,
iv) log3 27x,
viii) log1/2 8−x .
2. Skizzieren Sie den Graphen von f : (0, ∞) → (0, ∞), f (x) = x eR 1−x/K , x > 0, wobei i) R = 2 und K = 10, ii) R = 3 und K = 15, iii) R = 2, 7 und K = 12. Berechnen Sie jeweils die Schnittpunkte des Graphen mit der Geraden y = x. 3. Eine Bakterienkultur N wachse exponentiell gem¨aß N (t) = N0 · eγt , t ≥ 0. Zum Zeitpunkt t = 0 seien 1.000 Keime in der Kultur und zum Zeitpunkt t = 1 bereits 2.000. Zu welchem Zeitpunkt enth¨ alt die Kultur 10.000 Keime? 4. Eine radioaktive Substanz m¨ oge innerhalb von 5 Tagen bis auf 37% ihrer anf¨anglichen Menge zerfallen sein. Wie ist die Halbwertzeit der Substanz? 5. Eine virulente Erkrankung bricht aufgrund der Inkubationszeit bei einem Kollektiv infizierter Patienten, die sich alle zum Zeitpunkt t = 0 angesteckt haben, erst zu einem sp¨ateren Zeitpunkt t > 0 aus. F¨ ur den Anteil 0 ≤ y(t) ≤ 1 der Patienten, bei denen die Erkrankung noch nicht ausgebrochen ist, gelte die Formel 1 y(t) = exp − at2 2 mit einer von der Krankheit abh¨ angigen Konstante a > 0. i) Stellen Sie eine Formel f¨ ur den Anteil der erkrankten Patienten auf. ii) Zeichnen Sie y(t) f¨ ur 0 ≤ t ≤ 5 und a = 1 in ein Koordinatensystem. iii) Zu welchem Zeitpunkt haben wenigstens 75% der Patienten erste Anzeichen der Krankheit, wenn a = 1 gilt? iv) Zur Bestimmung von a f¨ ur einen bestimmten Virustyp werden Probanden mit dem Virus infiziert. Zum Zeitpunkt t = 1 sind bereits bei 50% des Kollektivs erste Anzeichen der Krankheit erkennbar. Wie lautet die richtige Wahl von a?
26
Kapitel 2. Elementare Funktionen
6. Fische wachsen ihr ganzes Leben lang. Ihr Wachstum wird n¨aherungsweise durch die von Bertalanffy-Funktion L : [0, ∞) → R verm¨oge L(t) = L∞ (1 − e−kt ) beschrieben, wobei L(t) die L¨ ange des Fisches zum Lebensalter t ist. Hierbei sind k, L∞ > 0 Konstanten. i) Zeichnen Sie die Graphen von L f¨ ur k = 1 und k = 0, 1 in ein gemeinsames Koordinatensystem ein. ii) Es sei k = 1. Finden Sie t0 > 0 so, dass die L¨ange des Fisches zum Zeitpunkt agt, sowie t1 > 0 so, dass sie 99% von L∞ betr¨agt. Wird t0 90% von L∞ betr¨ die L¨ange L∞ jemals erreicht? Was ist die Interpretation von L∞ ? 7. Die Lichtst¨ arke in Gew¨ assern nimmt mit der Wassertiefe gem¨aß I(z) = I(0) e−αz ,
z ≥ 0,
ab. Hierbei ist I(z) die Lichtst¨ arke in der Tiefe z, wobei z = 0 dem Oberfl¨achenniveau entspricht, und α > 0 ist eine Konstante, die von der Reinheit des Wassers und eigentlich auch von der Wellenl¨ ange des Lichtes abh¨angt, was hier aber vernachl¨assigt werden soll. Die Wassertiefe, bei der nur noch 1% der Lichtst¨arke der Oberfl¨ache vorliegt, ist eine f¨ ur die Photosynthese kritische Tiefe. Man kann diese Tiefe n¨aherungsweise durch die Secchi-Scheiben-Methode ermitteln: Eine Secchi-Scheibe ist eine weiße Scheibe mit Radius 10cm. Die Secchi-Scheiben-Tiefe ist die Wassertiefe, bei der die Scheibe von der Oberfl¨ ache aus gerade nicht mehr zu sehen ist, und die gesuchte kritische Tiefe ist etwa zweimal so tief wie die Secchi-Scheiben-Tiefe. i) Man finde α f¨ ur ein Gew¨ asser, f¨ ur das die Secchi-Scheiben-Tiefe bei 9m liegt. ii) Wie ist die Secchi-Scheiben-Tiefe bei einem Gew¨asser, f¨ ur das α = 0, 473m−1 betr¨agt. 8. Die Abk¨ uhlung bzw. Aufheizung von Objekten erfolgt gem¨aß der Formel T (t) = E + D e−kt ,
t ≥ 0.
• T (t) ist die Temperatur des Objektes zum Zeitpunkt t ≥ 0 (t = 0 ist der Beginn der Beobachtung). • E ist die Temperatur des umliegenden Raumes. • D ∈ R und k > 0 sind Parameter. Medizinisches Operationsbesteck werde in einem Ofen sterilisiert. In dem Ofen herrsche eine konstante Temperatur von 1500 C, das Operationsbesteck werde mit Zimmertemperatur von 200 C zur Sterilisierung in den Ofen gelegt. Nach 10 Minuten habe das Operationsbesteck eine Temperatur von 800 C erreicht. Wie lange dauert es, um ein Operationsbesteck in dem Ofen von 200 C bis auf eine Temperatur von 1050 C zu erhitzen (Zeitangabe in Minuten)?
3. Exponential- und Logarithmusfunktion
27
¨ 9. Man betrachte ein Okosystem mit insgesamt S Arten, S ∈ N. F¨ ur jedes i = 1, . . . , S sei 0 < pi ≤ 1 der Anteil der i–ten Art an der Gesamtpopulation des ¨ Okosystems. Es gilt also p1 + p2 + . . . + pS = 1. Die Zahl
H = − p1 ln(p1 ) + p2 ln(p2 ) + . . . + pS ln(pS )
heißt der Shannonsche Biodiversit¨ atsindex. i) Begr¨ unden Sie, dass stets H ≥ 0 gilt. ii) Es sei nun speziell p1 = p2 = . . . = pS , d.h., alle Arten sind anteilig gleich vertreten. Zeigen Sie, dass dann H = ln(S) gilt. 10. Die Wertetabellen in i)–iii) basieren jeweils auf einer funktionalen Beziehung y = f (x), wobei f entweder eine Exponential- oder eine Potenzfunktion ist. Man f¨ uhre jeweils eine geeignete logarithmische Transformation (zur Basis 10) aus, zeichne die resultierenden Daten in ein entsprechendes Diagramm, begr¨ unde aufgrund dieser Diagramme, welcher funktionale Zusammenhang f besteht, und berechne diesen. Bei der Zeichnung k¨onnen einfach und doppelt logarithmische Koordinatensysteme wie in Abbildung 18 gezeigt hilfreich sein. i)
x y −1, 0 0, 398 −0, 5 1, 260 0, 0 4, 000 0, 5 12, 680 1, 0 40, 180
ii)
x 0, 5 1, 0 1, 5 2, 0 2, 5
y 7, 81 3, 40 2, 09 1, 48 1, 13
iii)
x 0, 1 0, 5 1, 0 1, 5 2, 0
y 1, 720 1, 410 1, 110 0, 872 0, 685
11. Die Zeit f¨ ur die Entwicklung der Eier beim Zooplankton Daphnia longispina h¨angt von der Temperatur ab. Bei einer Temperatur von 200 C dauert es 3 Tage, bei 50 C bereits 20 Tage. Tr¨ agt man die Zeit (gemessen in Tagen) gegen die Temperatur (gemessen in 0 C) in einem log-log Diagramm ab, so ist der Graph eine Gerade. i) Zeichnen Sie den Graphen der Entwicklungszeit der Eier als Funktion der Temperatur im log-log Diagramm. ii) Leiten Sie einen expliziten funktionalen Zusammenhang zwischen Entwicklungszeit und Temperatur ab. iii) Verwenden Sie Ihre Antwort in ii), um eine Vorhersage u ¨ber die Entwicklungszeit der Eier bei einer Temperatur von 100 C zu treffen.
28
Kapitel 2. Elementare Funktionen
§4 Trigonometrische Funktionen Zur Beschreibung periodischer Vorg¨ ange in der Natur ben¨otigen wir periodische Funktionen. Dabei haben sich die trigonometrischen Funktionen als Grundbausteine in h¨ochstem Maße bew¨ ahrt. Sie werden in der folgenden Weise definiert. Es sei E der Einheitskreis, d.h. der Kreis vom Radius 1 um den Koordinatenursprung O in der (x, y)-Ebene, und es sei P0 = (1, 0) als Bezugspunkt auf der x-Achse fixiert. F¨ ur einen beliebigen Punkt P = (x, y) auf der Einheitskreislinie sei ϕ der Winkel < ) P0 OP , der von den Strahlen OP0 und OP gebildet wird. Dieser Winkel sei im Gradmaß in mathematisch positiver, also dem Uhrzeigersinn entgegengesetzter Richtung gemessen. Dann ist 0◦ ≤ ϕ < 360◦ . Unter dem Bogenmaß von ϕ versteht man die Zahl ϕ t= · 2π. 360◦ Dann ist t die L¨ ange des Kreisbogenst¨ uckes vom Punkt P0 = (1, 0) zum Punkt P = (x, y) (s. Abb. 12). Auf diese Weise wird jedem Punkt P auf der Einheitskreislinie umkehrbar eindeutig eine reelle Zahl 0 ≤ t < 2π zugeordnet. Umgekehrt bezeichnen wir im Folgenden mit P (t) den Punkt auf der Einheitskreislinie, der zur Bogenl¨ange t geh¨ ort. Definition 2.20. F¨ ur 0 ≤ t < 2π sei P (t) = (x, y) der zur Bogenl¨ange t geh¨orende Punkt auf der Einheitskreislinie (s. Abb. 12). Dann werden die Sinus- bzw. Kosinusfunktion auf dem Intervall [0, 2π) durch die folgenden Abbildungen definiert: t −→ sin t = Ordinate y des Kreispunktes P (t), t −→ cos t = Abszisse x des Kreispunktes P (t). Durch die Definitionen sin(t + 2kπ) = sin t und cos(t + 2kπ) = cos(t) f¨ ur t ∈ [0, 2π) und k ∈ Z werden die Funktionen sin und cos periodisch auf ganz R fortgesetzt.
y 1
.
P(t) = (x,y) t x sin t
1 p
2p
cos t Abbildung 12: Definition und grafische Darstellung der Sinusfunktion
t
4. Trigonometrische Funktionen
29
2.21. Wir fassen einige wohl bekannte Eigenschaften der trigonometrischen Funktionen zusammen: i) (sin t)2 + (cos t)2 = 1 f¨ ur alle t ∈ R (Satz des Pythagoras). ii) | sin t|, | cos t| ≤ 1 f¨ ur alle t ∈ R. iii) Nullstellen:
sin t = 0 ⇐⇒ t = kπ f¨ ur ein k ∈ Z. cos t = 0 ⇐⇒ t = kπ +
π 2
f¨ ur ein k ∈ Z.
iv) Die Funktionen sin und cos sind 2π-periodisch, d.h., es gelten sin(t + 2π) = sin(t), cos(t + 2π) = cos(t) f¨ ur alle t ∈ R. v) cos t = sin(t + π2 ) f¨ ur alle t ∈ R, die Graphen gehen also durch Verschiebung l¨angs der t-Achse auseinander hervor, der Sinus l¨auft nach“. ” vi) Ein Additionstheorem: sin(s ± t) = sin s cos t ± sin t cos s f¨ ur alle s, t ∈ R.
Aufgaben 1. Zeichnen Sie die Graphen der beiden Funktionen f (x) = sin(2x) und g(x) = 2 sin x in ein gemeinsames Koordinatensystem und beachten Sie den unterschiedlichen Einfluss des Faktors 2. 2. Die Str¨omungsgeschwindigkeit in einer Arterie werde in grober N¨aherung durch eine Funktion der Form v(t) = 1 + sin(kt) modelliert. Hierbei wird die Zeit t in Minuten gemessen. Bestimmen Sie die Zahl k (= Kreisfrequenz) derart, dass die Funktion auf einen Pulsschlag von 70 Schl¨ agen pro Minute angepasst ist.
Weitere Informationen im WWW Informationen und Aufgaben zum Thema bei Calculus On the Web: • Precalculus Book, Chapter Plotting and Graphs, Section Lines. • Precalculus Book, Chapter Functions, Section Linear Functions. • Precalculus Book, Chapter Functions, Section Conic Sections. • Precalculus Book, Chapter Functions, Section Logarithms and Exponentials. • Precalculus Book, Chapter Functions, Section Trigonometry. Anleitungen, Demonstrationen und Beispiele bei Visual Calculus: • Pre-Calculus.
Kapitel 3
Interpolation und Ausgleichsrechnung § 1 Vorbereitung: Die Summenzeichennotation Es seien α0 , . . . , αn ∈ R, n ∈ N0 . Wir schreiben n
αj = α0 + . . . + αn .
(3-1)
j=0
Hierbei ist j der Laufindex. In (3-1) durchl¨auft j alle ganzen Zahlen von Null (unterer Wert, deshalb unter dem Summenzeichen) bis n (oberer Wert, oberhalb des Summenzeichens Σ). 3.1. Es gelten die folgenden Rechenregeln (siehe auch 4.17): i) Gilt α0 = . . . = αn = d ∈ R, so haben wir gem¨aß (3-1) n
d = (n + 1)d.
j=0
ii) F¨ ur λ ∈ R gilt nach dem Distributivgesetz λ
n j=0
αj =
n
λαj .
j=0
iii) Es seien β0 , . . . , βm ∈ R. Dann gilt nach dem Distributiv- und Kommutativgesetz m n n m n m αj βk = αj β k = αj β k . (3-2) j=0
k=0
j=0 k=0
k=0 j=0
32
Kapitel 3. Interpolation und Ausgleichsrechnung
Beispiel 3.2. Als Beispiel formulieren wir die arithmetische Summenformel n
k=
k=1
n(n + 1) , 2
n ∈ N,
die man mit vollst¨ andiger Induktion nach n leicht beweisen kann. Speziell erhalten wir • n = 10: 1 + 2 + . . . + 9 + 10 = • n= • n=
10·11 = 55. 2 20: 1 + 2 + . . . + 19 + 20 = 20·21 = 210. 2 100·101 100: 1 + 2 + . . . + 99 + 100 = = 5050. 2
Aufgaben 1. Schreiben Sie folgende Summen ohne Summenzeichennotation: i)
7
(−1)σ σ 2 ,
ii)
σ=2
5 xk , k!
iii)
5 (a + b)3 x=1
k=1
e2π
x.
Hierbei bezeichnet k! = 1 · 2 · . . . · k die Fakult¨ at der nat¨ urlichen Zahl k. 2. Schreiben Sie folgende Summen unter Verwendung der Summenzeichennotation: ii) 1 −
i) 1 + α + α2 + α3 + . . . + α17 ,
1 1 1 1 1 + − + −... + . 2 3 4 5 11
3. Zur Bewertung der Artenvielfalt in einer biologischen Gemeinschaft hat sich der Shannonsche Biodiversit¨ atsindex H=−
n
pi ln(pi )
i=1
bew¨ahrt, vgl. Aufgabe 9 in Kapitel 2, §3. Hierin bedeuten n die Anzahl der Arten und pi ihr jeweiliger prozentualer Anteil. Berechnen Sie H f¨ ur eine angenommene Artenverteilung gem¨ aß Tabelle: Art i Anteil pi
1 10%
2 13%
3 25%
4 7%
5 35%
6 . 10%
§2 Interpolation Zwischen den Gr¨ oßen X und Y bestehe ein unbekannter funktionaler Zusammenhang. Um diesen Zusammenhang zu ermitteln, werden bei einer Messreihe Daten (xk , yk ) ∈ R2 gesammelt, k = 0, . . . , N . Beispielsweise sei X die Zeit, und zu insgesamt (N +1) verschiedenen Zeitpunkten x0 , . . . , xN wird die Konzentration Y einer
2. Interpolation
33
gel¨osten Substanz (etwa eines Medikamentes) im Blut eines Tieres jeweils mit den Werten y0 , . . . , yN ermittelt. Diese Daten k¨onnen dann in ein Koordinatensystem u ¨ bertragen werden. Abbildung 13 zeigt das Ergebnis f¨ ur den folgenden Datensatz: X 1 2 3 4 5
Y 28 24 21 20 18
(3-3)
28 26 24 22 20 18
1
2
3
4
5
Abbildung 13: Die Daten aus (3-3) in einem Koordinatensystem
3.3 (Das Problem). Beim Interpolationsproblem geht es darum, eine Funktion f : I → R aus einer zuvor ausgezeichneten, der Natur der Daten angepassten Klasse von Funktionen zu finden, die durch alle Datenpunkte (xk , yk ) verl¨auft, d.h., es soll yk = f (xk ) gelten. Der Definitionsbereich I ⊆ R ist ein Intervall, das alle x0 , . . . , xN enth¨ alt. Die Motivation hierf¨ ur besteht darin, dass man Vorhersagen u oße Y auch f¨ ur Zwischenwerte xk−1 < x < ¨ ber das Verhalten der gemessenen Gr¨ xk treffen m¨ochte, und als N¨ aherung hierf¨ ur wird dann Y = f (X) verwendet. Als Beispiel soll etwa ein radioaktiver Zerfallsprozess dienen, der durch eine Funktionsbeziehung der Form Y = c eαx beschrieben wird. Hierbei repr¨asentiert x die Zeit und Y die Menge des radioaktiven Isotopes. Durch Messung von Y zu zwei Zeiten x1 und x2 k¨ onnen die Werte der Parameter c und α bestimmt werden, d.h., eine Funktion der Form Y = c eαx wird den beiden gemessenen Daten exakt angepasst. In der Praxis wird Interpolation vorwiegend dann eingesetzt, wenn nur sehr wenige Daten zur Verf¨ ugung stehen. Hat man mehrere Daten, so verwendet man
34
Kapitel 3. Interpolation und Ausgleichsrechnung
im allgemeinen die Ausgleichsrechnung, um die ungew¨ unschten Auswirkungen von Messfehlern zu reduzieren, siehe §3. In diesem Abschnitt werden wir uns nur mit polynomialer Interpolation besch¨aftigen. Dabei geht es darum, ein Polynom — also eine ganzrationale Funktion ur die Datenpaare (xk , yk ) f — mit der Eigenschaft zu finden dass yk = f (xk ) f¨ gilt. Hierbei soll diese Funktion auch noch so einfach wie m¨oglich sein, d.h., der Grad von f soll so klein wie m¨ oglich sein. Viele Interpolationsprobleme mit anderen Funktionsklassen k¨onnen in ein polynomiales Interpolationsproblem u uhrt werden: Z.B. gehen Wachstums¨berf¨ oder Zerfallsprozesse beschreibende Funktionsbeziehungen der Form y = c eαx durch Logarithmieren u ¨ ber in Y = ln(c) + αx, wobei Y = ln(y). Folglich haben wir es dann mit dem Problem zu tun, eine Gerade im (x, Y )-Diagramm durch die (transformierten) Daten zu legen, insbesondere also mit einem polynomialen Problem. Analoges gilt f¨ ur allometrische Zusammenh¨ange der Form y = cxα , wobei wir dann eine Gerade im (X, Y )-Diagramm suchen mit X = ln(x) und Y = ln(y). Unter Punkt 2.2 haben wir bereits festgestellt, dass es zu zwei vorgegebenen Punkten (x0 , y0 ) und (x1 , y1 ) eine interpolierende Gerade f gibt, und wir haben die Geradengleichung explizit in Termen der Koordinaten der beiden Punkte angegeben. Bei mehr als zwei Punkten ist nat¨ urlich nicht mehr zu erwarten, dass wir eine interpolierende Gerade finden (wie auch das Beispiel (3-3) zeigt). Es gilt der folgende Satz: Satz 3.4. Zu vorgegebenen Daten (xk , yk ) ∈ R2 , k = 0, . . . , N mit xk = xl f¨ ur k = l, gibt es genau eine ganzrationale Funktion f : R → R der Form f (x) = aN xN + aN −1 xN −1 + . . . + a1 x + a0 =
N
aj xj
j=0
mit f (xk ) = yk f¨ ur k = 0, . . . , N . Die Koeffizienten a0 , . . . , aN ∈ R sind hierbei als L¨osung des linearen Gleichungssystems ⎧ N ⎪ ⎪ ⎪ + aN −1 x0N −1 + . . . + a1 x0 + a0 = aj xj0 y0 = f (x0 ) = aN xN 0 ⎪ ⎪ ⎪ j=0 ⎨ .. .. .. .. . . . . ⎪ ⎪ ⎪ N ⎪ N −1 ⎪ yN = f (xN ) = aN xN + aN −1 x ⎪ + . . . + a1 xN + a0 = aj xjN ⎩ N N j=0
(3-4) eindeutig bestimmt und k¨onnen z.B. mit dem Gaußschen Eliminierungsverfahren in Termen der Daten (xk , yk ), k = 0, . . . , N , berechnet werden, siehe Kapitel 9. F¨ ur die Daten aus (3-3) besagt Satz 3.4, dass es ein Polynom f (x) = a4 x4 + a3 x3 + a2 x2 + a1 x + a0
3. Ausgleichsrechnung
35
gibt, das diese Daten interpoliert. Die Koeffizienten a0 , . . . , a4 sind dabei die L¨osung des linearen Gleichungssystems ⎧ 28 = f (1) = a4 + a3 + a2 + a1 + a0 ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎨ 24 = f (2) = 16a4 + 8a3 + 4a2 + 2a1 + a0 21 = f (3) = 81a4 + 27a3 + 9a2 + 3a1 + a0 ⎪ ⎪ ⎪ 20 = f (4) = 256a4 + 64a3 + 16a2 + 4a1 + a0 ⎪ ⎪ ⎪ ⎩ 18 = f (5) = 625a4 + 125a3 + 25a2 + 5a1 + a0 Durch Aufl¨osen nach den Unbekannten a0 , . . . , a4 erhalten wir als Ergebnis f¨ ur f 1 11 19 14 f (x) = − x4 + x3 − x2 + x + 28. 6 6 3 3
(3-5)
Abbildung 14 zeigt die Daten aus (3-3) sowie das interpolierende Polynom f . 30 28 26 24 y
22 20 18 16 0
1
2
3 x
4
5
6
Abbildung 14: Die Daten (3-3) und das Polynom (3-5)
§3 Ausgleichsrechnung 3.5 (Das Problem). Zur Beschreibung von Prozessen durch Funktionsgleichungen sind wir in §2 so vorgegangen, dass wir die freien Parameter des vorgew¨ahlten Funktionstyps (linear, quadratisch, exponentiell usw.) durch Einsetzen von Messdaten bestimmt haben. Ungenauigkeiten und Messfehler im Datenmaterial k¨onnen sich dabei aber dramatisch auswirken. Bei der Ausgleichsrechnung werden dagegen aus relativ vielen Messdaten mit statistischen Techniken durch geeignete Mittelwertbildung funktionale Zusammenh¨ ange zur Prognose konstruiert, die robuster gegen¨ uber einzelnen Datenfehlern sind. Als ein typisches Beispiel betrachten wir die folgende Aufgabe:
36
Kapitel 3. Interpolation und Ausgleichsrechnung
F¨ ur eine Sch¨ ulergruppe wurden die K¨ orpergr¨oße x und das K¨orpergewicht y ermittelt. Dabei ergaben sich Daten gem¨ aß Abbildung 15.
y/kg 38 36 34 32 30 28 26 134
136
138 140
142 144 x/cm
Abbildung 15: K¨ orpergr¨ oße und K¨ orpergewicht einer Sch¨ ulergruppe Gesucht wird ein linearer Zusammenhang y = f (x) = ax + b zwischen K¨orpergr¨ oße und K¨ orpergewicht derart, dass das Datenmaterial m¨oglichst gut erfasst wird. 3.6 (Die geometrische L¨ osung des Problems). Die Messwerte werden so wie in Abbildung 15 schon geschehen in ein kartesisches Koordinatensystem eingetragen, und es wird nach Gef¨ uhl“ eine ausgleichende Gerade eingezeichnet. Die Parameter ” a, b k¨onnen dann als Anstieg bzw. Abschnitt auf der y-Achse ermittelt werden. 3.7 (Der rechnerische Geradenausgleich). Die Koeffizienten a, b in y = ax + b werden (nach C.F. Gauß) so bestimmt, dass der so genannte mittlere quadratische Fehler n n F (a, b) = (f (xi ) − yi )2 = (axi + b − yi )2 → min i=1
i=1
minimal wird. Dabei bezeichnen (xi , yi ) f¨ ur i = 1, . . . , n die gemessenen Datenpaare. Diese Extremalaufgabe kann mittels Differentialrechnung in zwei Ver¨anderlichen erledigt werden, worauf wir allerdings hier nicht eingehen werden (der analoge Sachverhalt f¨ ur Funktionen in einer reellen Variablen wird in Kapitel 6, §4, thematisiert). Bei Verwendung der folgenden Abk¨ urzungen f¨ ur die Mittelwerte 1 xi , n i=1 n
x=
1 yi , n i=1 n
y=
erh¨alt man als eindeutiges Ergebnis
1 2 1 xi und xy = xi · y i n i=1 n i=1 n
x2 =
n
3. Ausgleichsrechnung
37
a
=
b
=
xy − x · y x2 − x 2
,
y − ax.
Beachten Sie bei der Verwendung der Formeln den Unterschied zwischen den Ausdr¨ ucken x2 und x2 ! Die mit diesen Werten von a und b gebildete Gerade heißt Ausgleichs- oder Regressionsgerade zu den Daten (xi , yi ), i = 1, . . . , n. Die praktische Berechnung von a und b kann in Tabellenform ausgef¨ uhrt werden. In der vorletzten Zeile der Tabelle findet man die jeweiligen Spaltensummen, die unterste Zeile enth¨ alt dann die zur Berechnung von a und b erforderlichen Mittelwerte. Wir demonstrieren dies an dem eingangs gegebenen Zahlenmaterial aus Abbildung 15: xi 134 135 135 137 137 139 142 144 1103 137, 9
yi 27 27 29 32 33, 5 34, 5 32 37 252 31, 5
x2i 17956 18225 18225 18769 18769 19321 20164 20736 152165 19021
xi y i 3618 3645 3915 4384 4589 4795 4544 5328 34819 4352
(3-6)
Mit den erhaltenen Werten x = 137, 9; y = 31, 5; x2 = 19021; x2 = 19009 und xy = 4352 ergeben sich a = 0, 84 kg/cm und b = −84 cm. Das liefert schließlich die gesuchte Gleichung f¨ ur die Ausgleichsgerade y = f (x) = 0, 84 · x − 84. Abbildung 16 zeigt die erhobenen Daten der Sch¨ ulergruppe und die Ausgleichsgerade in einem Koordinatensystem. 3.8 (Weitere Ausgleichskurven). Die Funktionsklasse, die zur Interpolation oder zur Ausgleichsrechnung benutzt wird, muss nat¨ urlich stets der Dynamik des jeweiligen Sachverhaltes angepasst werden. Einen radioaktiven Zerfall oder einen Wachstumsprozess wird man daher eher mittels einer Exponentialfunktion y = c · eαx
38
Kapitel 3. Interpolation und Ausgleichsrechnung 40 38 36 34 y 32 30 28 26 24 134 136 138 140 142 144 146 148 150 x
Abbildung 16: Die Daten aus der Tabelle (3-6) und die Ausgleichsgerade
modellieren. Durch Logarithmieren war es schon in Kapitel 2, §3, gelungen, diese Beziehung in einer lin-log-Skala zu linearisieren: Y = ln y = αx + ln c. Auf diesen linearen Zusammenhang zwischen Y und x k¨onnen dann die oben beschriebenen Methoden angewandt werden. Wir f¨ uhren das im Folgenden aus. Geometrische L¨ osung: Im lin-log-Papier wird die Ausgleichskurve eine Gerade. Sie kann nach Augenmaß eingezeichnet werden (s. Aufgabe 8). Rechnerische L¨ osung: Wir legen eine Tabelle der folgenden Form an und berechnen die Zahlen x, Y , x2 und xY . xi .. . .. .
yi .. . .. .
Yj = ln yi .. . .. .
x2i .. . .. .
xi Y i .. . .. .
Y
x2
xY
x Dann sind α=
xY − xY x2 − x2
und ln c = b = Y − αx.
3. Ausgleichsrechnung
39
F¨ ur eine Abh¨angigkeit in Form einer Potenzfunktion y = cxα ergibt sich analog durch Logarithmieren die Gleichung ln y = α ln x + ln c, so dass mit Y = ln y und X = ln x auf log-log-Papier ein linearer Zusammenhang entsteht und wiederum die diskutierten Methoden angewandt werden k¨onnen.
Aufgaben ¨ Zu Ubungszwecken arbeiten wir im folgenden mit sehr wenigen und fiktiven Daten. Gerade bei der Ausgleichsrechnung liegen in realistischen Anwendungen im allgemeinen sehr viele Daten vor. 1. In 3.7 haben wir eine Formel f¨ ur die Koeffizienten a, b ∈ R der Regressionsgeraden y = ax + b zum Datenmaterial (x1 , y1 ), . . . , (xn , yn ) angegeben. In Mittelwertschreibweise war a=
xy − x · y x2 − x2
,
b = y − ax.
Leiten Sie durch Umformung die folgende ¨ aquivalente Formel f¨ ur a her: n
a=
k=1
(xk − x)(yk − y) n
. (xk − x)2
k=1
2. Berechnen Sie die Regressionsgerade y = ax + b zum Datenmaterial (1; 1, 62), (2; 3, 31), (3; 4, 57), (4; 5, 42), (5; 6, 71). Berechnen Sie ferner ein interpolierendes Polynom der Form f (x) = a4 x4 + a3 x3 + a2 x2 + a1 x + a0 . Zeichnen Sie die Daten, die Regressionsgerade, und das interpolierende Polynom in ein Koordinatensystem ein. 3. Bestimmen Sie die Gleichung der Ausgleichsgeraden f¨ ur den funktionalen Zusammenhang U = a · I + U0 zwischen der elektrischen Spannung U in V und der Stromst¨arke I in mA beim Stromdurchgang durch eine Zelle auf Grundlage der folgenden Messwerte: I/mA U /V
0,10 0,40
0,12 0,45
0,13 0,50
0,16 0,55
0,18 0,60
0,19 0,65
40
Kapitel 3. Interpolation und Ausgleichsrechnung
4. Bei der Untersuchung von Gr¨ oßenverh¨ altnissen von Organen findet man h¨aufig eine Beziehung der Form S = C · La (3-7) mit Parametern C, a > 0, die die jeweiligen Proportionen n¨aherungsweise beschreibt. Beispiel : L¨ange des Sch¨ adels (S) vs. L¨ ange des R¨ uckgrates (L) bei Wirbeltieren. a) Angenommen, Sie haben bei 50 Exemplaren einer Tierart jeweils die Gr¨oßen S und L ermittelt und in eine Wertetabelle eingetragen. Bei einer Fachtagung wollen Sie das Auditorium durch eine Grafik u ¨ berzeugen, dass ein funktionaler Zusammenhang zwischen S und L der Form (3-7) bei dieser Tierart besteht. Welche Art der graphischen Pr¨ asentation ist daf¨ ur besonders gut geeignet? b) Gegeben sei die folgende Wertetabelle: L S 12, 60 15, 85 31, 63 39, 82 199, 53 158, 49 251, 20 199, 53
(3-8)
Zwischen L und S bestehe n¨ aherungsweise ein Zusammenhang (3-7) mit den noch unbekannten Parametern a, C > 0. Ziel dieser Teilaufgabe ist die Bestimmung geeigneter Werte f¨ ur a und C: i) Tragen Sie die Daten S gegen L aus (3-8) in einem log-log-Diagramm zur Basis 10 ab. ii) Berechnen Sie die Regressionsgerade log10 S = m · (log10 L) + b f¨ ur die Daten (3-8) im log-log-Diagramm zur Basis 10. iii) Verwenden Sie Ihr Ergebnis aus ii), um die gesuchten Parameter a und C in geeigneter Weise zu bestimmen. 5. Bestimmen Sie den funktionalen Zusammenhang L = C · D α f¨ ur die Daten aus Abbildung 17. 6. Unter Punkt 2.6 haben wir die Michaelis–Menten-Gleichung v0 = vmax ·
S . S+K
(3-9)
als Beziehung zwischen der Anfangsgeschwindigkeit v0 und der Substratkonzentration S bei einer enzymatischen Reaktion kennen gelernt. Hierbei sind vmax > 0
3. Ausgleichsrechnung
41
L 100
10
1
3
4
5 6 7 8 9 10
D
Abbildung 17: L¨ ange L des zweiten Armes f¨ ur octopus ’Macrotritopus’ gegen die Darmsackl¨ange D, nach Rees 1955, vgl. [BURTON]
die (asymptotische) Maximalgeschwindigkeit der Reaktion bei Substrats¨attigung, und K > 0 ist die Michaelis–Menten-Konstante. Beide Parameter vmax und K sind Maßzahlen f¨ ur die katalytische Effizienz des Enzyms. In den Anwendungen wird h¨aufig eine Versuchsreihe durchgef¨ uhrt, bei der die Anfangsgeschwindigkeit v0 f¨ ur verschiedene Substratkonzentrationen S gemessen wird, um daraus die Werte der Parameter vmax und K zu bestimmen. Die in dieser Aufgabe diskutierte Vorgehensweise hierf¨ ur ist unter den Bezeichnungen Hanes–Wilkinson- oder Hanes– Woolf-Diagramm gel¨ aufig. a) Gehen Sie aus von (3-9) und zeigen Sie durch Umformen, dass der Quotient S v0 als affin-lineare Funktion von S aufgefasst werden kann, d.h., es ist S = m·S+b v0
(3-10)
mit geeigneten m, b ∈ R. Bestimmen Sie explizit Formeln f¨ ur die Koeffizienten m und b in Abh¨ angigkeit von vmax und K. b) Gehen Sie nun umgekehrt von der Formel (3-10) aus und zeigen Sie durch Umformen, dass zwischen v0 und S eine Beziehung der Form (3-9) besteht. Bestimmen Sie explizit Formeln f¨ ur die Parameter vmax und K in Abh¨angigkeit von m und b. c) Eine Messung von v0 f¨ ur verschiedene Substratkonzentrationen S bei einer Versuchsreihe ergab die folgende Wertetabelle: S 1, 1 1, 5 2, 3 2, 4
v0 0, 916 0, 937 1, 045 1, 043
(3-11)
42
Kapitel 3. Interpolation und Ausgleichsrechnung i) Tragen Sie vS0 gegen S f¨ ur die Daten aus (3-11) in einer Wertetabelle gegeneinander ab. ii) Berechnen Sie die Regressionsgerade S =m ˆ · S + ˆb v0 f¨ ur die in i) erstellte Tabelle. iii) Verwenden Sie die Ergebnisse aus ii) und b), um geeignete Werte der Parameter vmax und K f¨ ur die Daten (3-11) zu bestimmen.
7. Es sei N (t), t ≥ 0, die Anzahl der Krebszellen eines Tumores zur Zeit t. Es sei K > 0 die maximale Anzahl von Krebszellen, die ein Tumor der betrachteten Krebsart u aume hinweg ausbilden kann, d.h., es ist lim N (t) = K. ¨ber lange Zeitr¨ t→∞
Nach einem Modell (Gompertz-Gleichung) gilt die folgende Beziehung: ln ln(K) − ln(N (t)) = at + r, t ≥ 0,
(3-12)
mit geeigneten Parametern a, r ∈ R. i) Zeigen Sie durch Umformung ausgehend von (3-12) die Beziehung Ct
N (t) = A e−B e ,
t ≥ 0,
(3-13)
und geben Sie explizite Formeln f¨ ur A, B, C ∈ R in Abh¨angigkeit von a, r, K aus (3-12) an. Ziel der nachfolgenden Teilaufgaben ist es nun, ausgehend von den Ergebnissen einer pathologischen Untersuchung von Gewebeproben geeignete Werte f¨ ur A, B, C aus (3-13) unter Zuhilfenahme von (3-12) und Ihren Ergebnissen aus i) zu finden: Bei einer pathologischen Untersuchung habe man die folgende Wertetabelle ermittelt: t N (t) 1 198 (3-14) 3 743 7 946 10 1081 ¨ Uber die betrachtete Krebsart ist bekannt, dass die Tumore langfristig bis zu ca. 3000 Zellen ausbilden k¨ onnen. ii) Ermitteln Sie K f¨ ur die in der vorliegenden Untersuchung betrachtete Krebs art, und tragen Sie die Gr¨ oßen ln ln(K) − ln(N (t)) gegen t f¨ ur die Daten (3-14) in einer Wertetabelle gegeneinander ab.
3. Ausgleichsrechnung
43
iii) Berechnen Sie die Regressionsgerade ln ln(K) − ln(N (t)) = a ˆt + rˆ f¨ ur die Tabelle aus ii). iv) Verwenden Sie Ihr Ergebnis aus i) und iii), um geeignete Werte f¨ ur A, B, C in (3-13) f¨ ur die Daten (3-14) zu bestimmen. 8. Bei einer Versuchsreihe wurden die folgenden Zahlenwerte ermittelt: x f1 (x) f2 (x)
1,5 3,56 15,00
2,5 5,22 6,32
4,0 9,28 2,85
5,0 13,63 1,91
6,5 24,22 1,22
Stellen Sie die beiden Funktionen f1 und f2 sowohl in einem einfach logarithmischen als auch in einem doppelt logarithmischen Koordinatensystem dar (Abbildung 18). Entscheiden Sie dann, welche der Funktionen besser durch eine Potenzund welche durch eine Exponentialfunktion angen¨ahert werden kann. Ermitteln Sie graphisch die zugeh¨ origen Parameter!
300
40
200
30
100
20
50 40 30
10
20 10 5 4 3
5 4 3 2
2 1 1 0 1 2 3 4 5 6 7 8 1 2 3 4 5 Abbildung 18: Einfach und doppelt logarithmische Koordinatensysteme
10
Kapitel 4
Folgen und Reihen § 1 Folgen und Wachstumsmodelle Definition 4.1. Eine Folge (an )n∈N ist eine Abbildung von N in R verm¨oge n → an . Als spezielle Funktionen k¨ onnen Folgen symbolisch durch unendliche Wertetabellen dargestellt werden. Z.B. geh¨ ort zur Folge ( n1 )n∈N die Wertetabelle n an
1 1
2 3 4 5 ... 1/2 1/3 1/4 1/5 . . .
Eine wichtige Anwendung von Folgen sind Populationsmodelle mit diskreter Zeit. Hierbei repr¨asentiert der Index n die Nummer des Zeitabschnittes, w¨ahrend an die Anzahl der Individuen zum Zeitpunkt n ist. H¨aufig ist z.B. an die Anzahl der Individuen in der n-ten Generation. 4.2. In (2-3) haben wir bereits eine Bakterienkultur betrachtet, bei der alle 30 Minuten eine Zellteilung stattfindet. Ist n der Zeitabschnitt und an die Anzahl der Zellen zum Zeitpunkt n, so haben wir n = Zeitabschnitt: 0 an = Zellenzahl: a0
1 2a0
2 4a0
... n , . . . 2n a 0
(4-1)
also an+1 = 2an , n ∈ N0 , bzw. an = 2n a0 , n ∈ N0 . Ist allgemein (an )n eine Folge mit an+1 = qan , n ∈ N0 , mit einem Parameter q ∈ R, so heißt (an )n eine geometrische Folge. Es gilt dann an = q n a0 f¨ ur alle n ∈ N0 . Es sei nun a0 > 0, was im Fall von Populationsmodellen das Vorhandensein von Individuen der betrachteten Spezies zu Beginn der Beobachtung bedeutet. Dann
46
Kapitel 4. Folgen und Reihen
lassen sich bei der geometrischen Folge an = q n a0 die folgenden F¨alle unterscheiden. • 0 < q < 1: Dann gilt an+1 < an f¨ ur alle n ∈ N0 (d.h., die durch (an )n beschriebene Population schrumpft). • q = 1: Dann gilt an+1 = an = a0 f¨ ur alle n ∈ N0 (d.h., die durch (an )n beschriebene Population ist station¨ ar). • q > 1: Dann gilt an+1 > an f¨ ur alle n ∈ N0 (d.h., die durch (an )n beschriebene Population w¨ achst). Wir nehmen dies zum Anlass f¨ ur folgende Definition 4.3. Es sei (an )n∈N eine Folge. Falls i) an+1 ≤ an f¨ ur n ∈ N, so heißt (an )n monoton fallend ; ii) an+1 ≥ an f¨ ur n ∈ N, so heißt (an )n monoton wachsend ; iii) an+1 = an f¨ ur n ∈ N, so heißt (an )n konstant oder station¨ ar.
Rekursive Wachstumsmodelle Die im Punkt 4.2 betrachtete geometrische Folge als Modell f¨ ur geometrisches Wachstum bzw. Zerfall ist ein typisches Beispiel f¨ ur eine rekursiv definierte Folge. Definition 4.4. Unter einer rekursiv definierten Folge verstehen wir hier eine Folge (an )n∈N0 , zu der es eine Funktion f derart gibt, dass an+1 = f (an ) f¨ ur alle n ∈ N0 gilt. Die Folge (an )n∈N0 ist also durch f und die Vorgabe von a0 vollst¨andig bestimmt. F¨ ur geometrische Folgen haben wir an+1 = qan , d.h., hier ist f (x) = qx. Eines der wichtigsten Populationsmodelle, das rekursiv beschrieben wird, ist das diskrete logistische Modell an R an+1 = an 1 + R 1 − = (1 + R)an − a2n , n ∈ N0 , K K
(4-2)
mit Parametern R, K > 0. Hierbei ist R > 0 ein Wachstumsparameter und K > 0 die Kapazit¨at. Beim logistischen Modell erfolgt das Wachstum also nicht ungehindert wie bei der geometrischen Folge an+1 = (1 + R)an , sondern Einfl¨ usse auf die Entwicklung der Population, z.B. durch limitierte Ressourcen, werden in der Form des quadratischen Korrekturterms in (4-2) mit einbezogen. R Durch die lineare Substitution bn = K(1+R) an und die Setzung r = 1 + R kann das Bildungsgesetz (4-2) in die so genannte Normalform des logistischen Modells u uhrt werden, mit der leichter gerechnet werden kann: ¨ berf¨ bn+1 = rbn (1 − bn ), n ∈ N0 .
(4-3)
1. Folgen und Wachstumsmodelle
47
Die Abbildungen 19–21 zeigen die Entwicklung des normalisierten logistischen Modells f¨ ur den Startwert b0 = 0,2 und verschiedene Werte von r > 1 (wobei zwischen den einzelnen Werten von bn noch Verbindungslinien eingezeichnet sind, um die jeweilige Entwicklung von Schritt zu Schritt transparenter zu machen). Anhand dieser Abbildungen wird deutlich, dass selbst minimale Ver¨anderungen der Parameter erhebliche Auswirkungen haben k¨onnen, und dass durch das logistische Modell sehr komplizierte Dynamiken beschrieben werden.
bn
.
.
.. . . . . . . . . . . . . . n
Abbildung 19: Logistisches Modell: b0 = 0,2, r = 2
bn
. . . . . . . . . . . . . . . . . . n Abbildung 20: Logistisches Modell: b0 = 0,2, r = 3,1 Eine wichtige Frage bei Populationsmodellen ist das Langzeitverhalten, d.h. die Frage, wie sich die durch die Folge (an )n beschriebene Population f¨ ur n → ∞ verh¨alt. Dies f¨ uhrt uns auf den in der Mathematik und den Naturwissenschaften zentralen Begriff des Grenzwertes, den wir im n¨achsten Abschnitt einf¨ uhren wollen.
Aufgaben 1. Zeichnen Sie die ersten sieben Folgenglieder der Folge an = (−1)n +
3 , n+2
n ∈ N,
48
Kapitel 4. Folgen und Reihen
bn
.. . . . . . . .. . . . ... . . . . . .. .. . . . .. . . . . . n
Abbildung 21: Logistisches Modell: b0 = 0,2, r = 3,9
in ein Koordinatensystem ein. 2. Die Rekursion an+1 = Rn an , a1 > 0, beschreibt die Entwicklung einer Population unter sich ver¨ andernden Umweltbedingungen. Hierbei ist Rn > 0 der Wachstumsparameter in der n-ten Generation. n ˆ n a1 her, wobei i) Leiten Sie die Formel an+1 = R ˆ n = Rn · . . . · R1 1/n R das geometrische Mittel der R1 , . . . , Rn ist. ii) Es seien R1 = 0,2, R2 = 2,5, R3 = 0,3, R4 = 0,5, R5 = 5. Ist die Population in der sechsten Generation gegen¨ uber a1 gewachsen, geschrumpft, oder gleich geblieben? 3. Wir betrachten die Rekursion an+1 = an eR 1−an /K ,
n ∈ N0 .
ur die folgenden Werte von R, K und a0 , und skizzieBerechnen Sie a1 , . . . , a20 f¨ ren Sie den resultierenden Graphen von an als Funktion von n. (Hierbei k¨onnen Tabellenkalkulationsprogramme hilfreich sein.) i) R = 1; K = 20 und a0 = 5. ii) R = 1,8; K = 20 und a0 = 5. iii) R = 2,1; K = 20 und a0 = 5. iv) R = 2,8; K = 20 und a0 = 5. ¨ 4 (Diskretes logistisches Wachstum). Uber einen langen Zeitraum hinweg werde eine Population beobachtet. Die Anzahl der Individuen in der n-ten Generation sei an , n ∈ N0 , wobei a0 > 0 den Beginn der Beobachtung markiert. Der Lebensraum
1. Folgen und Wachstumsmodelle
49
bietet nur gen¨ ugend Ressourcen f¨ ur K > 0 Individuen der betrachteten Art, die sog. Kapazit¨ at. Die Beobachtung der Population ergibt, dass mit zunehmender Zahl der Individuen und damit gr¨ oßerer Konkurrenz der u ¨berlebende Zuwachs von Generation zu Generation immer geringer ausf¨allt. Genauer habe man folgendes festgestellt: • Ist a0 sehr viel kleiner als K, so finden alle Individuen der Population ausreichend Ressourcen. In diesem Fall ist kurzzeitig, also f¨ ur einige wenige n, ein nahezu geometrisches Wachstum zu beobachten, d.h., der Zuwachs an+1 − an von der n-ten zur (n + 1)-ten Generation ist nahezu proportional zu an : an+1 − an ≈R an mit der f¨ ur die Population charakteristischen (und konstanten) Wachstums−an rate R > 0. Der Quotient Qn+1 = an+1 gibt Auskunft u ¨ber den relativen an Zuwachs und wird h¨ aufig in Prozent angegeben. • Mit wachsender Population (an )n f¨ allt Qn+1 immer geringer aus. Die Beobachtungen ergeben, dass Qn+1 n¨ aherungsweise als lineare und monoton fallende Funktion von der Populationsgr¨oße an angesetzt werden kann, und dass diese Funktionsbeziehung an → Qn+1 unabh¨angig von n u ¨ber lange Zeiten stabil bleibt. i) Begr¨ unden Sie, warum es nach dieser Beschreibung sinnvoll ist, die die Funktionsbeziehung an → Qn+1 beschreibende Gerade im (a, Q)-Diagramm so anzusetzen, dass sie den Q-Achsenabschnitt R > 0 und den a-Achsenabschnitt K > 0 hat. ii) Leiten Sie unter Verwendung dieses Ansatzes eine explizite Rekursionsformel an+1 = f (an ) her (d.h., bestimmen Sie explizit die Funktion f ). iii) Zeigen Sie: Gilt 0 < an < K, so gilt an < an+1 . Gilt entsprechend an > K, so folgt an+1 < an . iv) Es sei nun 0 < a0 < K, und es gelte 0 < R ≤ 1. Zeigen Sie, dass dann f¨ ur alle n ∈ N0 stets an < an+1 < K gilt, d.h., die Population w¨achst von Generation zu Generation, der Bestand bleibt aber unterhalb der kritischen Grenze K > 0. 5. Eine Population von Termiten verliert w¨ochentlich 800 ihrer Individuen, hat aber eine Geburtenrate von 10 Prozent pro Woche. Die Ausgangspopulation sei 10.000 Termiten. Wir gehen davon aus, dass der Zugewinn durch Geburten jeweils am Anfang der Woche hineingerechnet wird, w¨ahrend der Verlust am Ende einer jeden Woche abgeht. i) Wie viele Individuen hat die Population nach der zweiten, vierten bzw. zw¨olften Woche?
50
Kapitel 4. Folgen und Reihen
ii) Man leite eine Rekursionsformel der Form an = f (an−1 ) f¨ ur die Gr¨oße der Termitenpopulation an nach n Wochen her. iii) Verwenden Sie Ihr Ergebnis aus ii) und leiten Sie eine explizite Formel f¨ ur die Termitenpopulation an (in Abh¨ angigkeit von n) her. iv) Was passiert f¨ ur n → ∞? Hinweis: Man verwende die f¨ ur alle k = 1 g¨ ultige geometrische Summenformel (vgl. Beispiel 4.18): n−1 1 − kn ki = . 1−k i=0 6. Es sei an , n ∈ N0 , das Gewicht einer Fischzucht nach n Wochen. Zu Beginn betrage das Gewicht der Zucht a0 = 500 kg. Die gehaltene Fischart habe eine Wachstumsrate von 10 % pro Woche bezogen auf das Gewicht. Die Betreiber der Zucht entscheiden nun, zum Ende einer jeden Woche q kg abzufischen. i) Man bestimme explizit eine Rekursionsformel an+1 = f (an ), n ∈ N0 , die das Gewicht der Fischzucht beschreibt. ii) Man bestimme eine explizite Formel f¨ ur das Gewicht an in Abh¨angigkeit von n, n ≥ 1. iii) Die Betreiber der Zucht wollen die w¨ochentlich abzufischende Menge q so bestimmen, dass das Gesamtgewicht der Zucht a10 nach 10 Wochen 600 kg betr¨agt. Wie ist q zu w¨ ahlen?
§ 2 Konvergente Folgen und Grenzwerts¨atze Definition 4.5. Eine Folge (an )n∈N heißt konvergent zum Grenzwert a ∈ R oder kurz konvergent gegen a ∈ R, falls zu jedem ε > 0 ein N (ε) ∈ R existiert mit |an − a| < ε f¨ ur alle n > N (ε). In diesem Fall schreiben wir a = lim an , und a heißt der Limes f¨ ur n → ∞ n→∞
der Folge (an )n . Falls (an )n nicht konvergent ist, spricht man von einer divergenten Folge. Man beachte, dass |an − a| als Abstand des Folgengliedes an zu a auf der reellen Zahlengerade interpretiert werden kann. Demnach sagt Definition 4.5 aus, dass der Abstand von an zu a beliebig klein wird, wenn nur n gen¨ ugend groß ist; ε > 0 ist dabei als beliebig kleine obere Schranke f¨ ur die Abst¨ande zu interpretieren, siehe auch Abbildung 22. Wir betrachten folgende Beispiele: i) Die konstante Folge an ≡ a, n ∈ N, ist konvergent zum Grenzwert a: Denn: F¨ ur jedes ε > 0 gilt |an − a| = 0 < ε f¨ ur alle n ∈ N.
2. Konvergente Folgen und Grenzwerts¨atze 1 n→∞ n
ii) lim
51
= 0:
Denn: Es sei ε > 0 beliebig. F¨ ur n > iii)
lim n+1 n→∞ n
1 ε
gilt dann | n1 − 0| =
1 n
folgt | n+1 − 1| = n
< ε.
< ε.
= 1: 1 ε n
Denn: Es sei ε > 0 beliebig. F¨ ur n > n
1 n
iv) lim (−1) existiert nicht, die Folge ((−1) )n ist also divergent: n→∞
Denn: W¨ are ((−1)n )n konvergent zum Grenzwert a ∈ R, dann w¨are |(−1)2n − a| < 1 f¨ ur n > N1 , |(−1)2n−1 − a| < 1 f¨ ur n > N2 . Addition der beiden Ungleichungen f¨ ur n > max{N1 , N2 } und Anwendung der Dreiecksungleichung, siehe 4.6, liefert 2 = |(−1)2n − (−1)2n−1 | ≤ |(−1)2n − a| + |(−1)2n+1 − a| < 2, ein Widerspruch.
an
a
. e e
. 100
.. . . . . . . .. . .. . . . .. . . . . 105
110
115
120
125
130
n
Abbildung 22: Eine konvergente Folge mit Grenzwert a
4.6. Beim Umgang mit der formalen Definition 4.5 ist die sog. Dreiecksungleichung n¨ utzlich: F¨ ur x, y ∈ R gilt die Ungleichung |x + y| ≤ |x| + |y|.
(4-4)
Wendet man (4-4) mit −y an Stelle von y an (was tats¨achlich ¨aquivalent ist), so erh¨alt man |x − y| ≤ |x| + |y|. (4-5)
52
Kapitel 4. Folgen und Reihen
Dies kann geometrisch so interpretiert werden, dass es jedenfalls nicht weiter ist, sich von x direkt nach y auf der reellen Zahlengerade zu begeben (was der Entfernung |x − y| entspricht), als zuerst von x nach Null (also |x|) und danach von Null nach y (also |y|) zu gehen. Das Dreieck“, das (4-4), (4-5) den Namen gibt, ” sieht man allerdings erst in der Ebene, siehe Abbildung 23.
0 |y| y
|x| |x − y| x
Abbildung 23: Die Dreiecksungleichung Definition 4.7. Eine Folge (an )n∈N heißt beschr¨ankt, falls es eine von n ∈ N unabh¨angige Konstante M > 0 mit |an | ≤ M f¨ ur alle n ∈ N gibt. Satz 4.8. Jede konvergente Folge ist beschr¨ ankt. ¨ Der Nachweis dieser Aussage sei dem Leser als Ubungsaufgabe 5u ¨berlassen. Die folgenden Grenzwerts¨atze, die wir in einem Satz zusammenfassen, sind ein wichtiges Werkzeug f¨ ur die Berechnung von Grenzwerten. Satz 4.9. Es seien (an )n∈N und (bn )n∈N konvergente Folgen. i) (an ± bn )n ist konvergent mit lim (an ± bn ) = lim an ± lim bn .
n→∞
n→∞
n→∞
ii) Es sei λ ∈ R. Dann ist (λan )n konvergent mit lim (λan ) = λ · lim an .
n→∞
n→∞
iii) (an · bn )n ist konvergent mit lim (an · bn ) =
n→∞
lim an · lim bn .
n→∞
n→∞
2. Konvergente Folgen und Grenzwerts¨atze iv) Falls lim bn = 0, so ist auch
a
n→∞
n
bn
53
konvergent mit n
lim an an = n→∞ . n→∞ bn lim bn lim
n→∞
Man beachte f¨ ur die Wohldefiniertheit der Folge
a n
, dass aufgrund von bn n lim bn = 0 jedenfalls bn = 0 f¨ ur große n automatisch gilt.
n→∞
Beweis. Es sei abk¨ urzend a = lim an und b = lim bn . n→∞
n→∞
i) Es sei ε > 0 beliebig. Dann gilt nach Voraussetzung |an − a| < |bn − b| < 2ε f¨ ur n > N (ε). Mit der Dreiecksungleichung folgt |(an ± bn ) − (a ± b)| ≤ |an − a| + |bn − b| <
ε 2
und
ε ε + =ε 2 2
f¨ ur n > N (ε), d.h., i) ist bewiesen. iii) Man schreibe |an bn − ab| = |(an − a)bn + a(bn − b)| und wende die Dreiecksungleichung an. Wir erhalten |an bn − ab| ≤ |an − a| · |bn | + |a| · |bn − b| f¨ ur alle n ∈ N. Wegen der Konvergenz der Folge (bn )n existiert nach Satz 4.8 ein M > 0 derart, dass |bn | ≤ M f¨ ur alle n ∈ N gilt. 1 Es sei nun ε > 0 beliebig. Dann existiert ein N (ε) ∈ R mit |an − a| < M · 2ε und 1 ε ε ε |bn − b| < |a|+1 · 2 f¨ ur n > N (ε). Folglich gilt |an bn − ab| < 2 + 2 = ε f¨ ur n > N (ε), und da ε > 0 beliebig gew¨ ahlt werden kann folgt iii). ii) folgt aus iii) mit der konstanten Folge bn ≡ λ, n ∈ N. 2 iv) F¨ ur n > N1 gilt jedenfalls |bn −b| < |b| , also auch |bn | > |b| , d.h. |b1n | < |b| . 2 2 Also haben wir f¨ ur n > N1 1 1 1 1 1 1 2 b − bn = · |bn − b| · ≤ 2 · |bn − b|. − = bn b bn b |bn | |b| |b| 2
Es sei nun ε > 0 beliebig. Dann existiert ein N (ε) > N1 mit |bn − b| < |b|2 · ε f¨ ur n > N (ε), also | b1n − 1b | < ε f¨ ur n > N (ε). Folglich haben wir lim b1n = 1b , und n→∞
iv) folgt nun aus iii), angewendet auf die Folgen (an )n und ( b1n )n . n
Die folgenden Beispiele i) und ii) machen Gebrauch von der Aussage lim q = 0 n→∞
f¨ ur |q| < 1, siehe 4.15.
n i) lim 12 + n12 = 0: n→∞ 1 n Denn: lim 2 = 0. Außerdem gilt lim
Beispiel 4.10.
n→∞
lim 12 = lim 1 · 1 = 0. Mit Teil n→∞ n n→∞ n n n n Folge 12 + n12 n mit lim 12 n→∞
1 n→∞ n
= 0, also nach Satz 4.9 iii) ist
i) von Satz 4.9 folgt die Konvergenz der + n12 = 0 + 0 = 0.
54
Kapitel 4. Folgen und Reihen n
ii)
n2 + 13 lim 2n2 +4n n→∞
= 12 :
Denn: Wir k¨ urzen mit n2 und erhalten n n n2 + 13 1 + n12 · 13 = . 2n2 + 4n 2 + 4 · n1 Man betrachte nunZ¨ ahler und Nenner getrennt. Nach Teil i)–iii) von Satz 4.9 n folgt lim 1 + n12 · 13 = 1 sowie lim 2 + 4 · n1 = 2. Da der Grenzwert im n→∞
n→∞
Nenner von Null verschieden ist, k¨ onnen wir Teil iv) von Satz 4.9 anwenden und erhalten das behauptete Resultat. 3 iii) Die Folge n n+n+1 ist divergent: 2 +1 n Denn: F¨ ur n ∈ N haben wir n3 + n + 1 1 1 1 =n+ 2 = n+ 2 · 2 n +1 n +1 n 1+
1 n
.
3 = 0. W¨are also n n+n+1 konvergent, so 2 +1 n n3 +n+1 1 m¨ usste nach Satz 4.9 auch der Grenzwert lim n2 +1 − n2 +1 = lim n in n→∞ n→∞ R existieren, ein Widerspruch. 1 2 n→∞ n
Nach Satz 4.9 gilt lim
·
1 1 1+ n
Konvergenzkriterien Die folgenden Kriterien sind n¨ utzlich, um zu entscheiden, ob eine gegebene Folge konvergent oder divergent ist. 4.11 (Cauchykriterium). Eine Folge (an )n∈N ist genau dann konvergent, wenn zu jedem ε > 0 ein N (ε) ∈ R existiert mit |an − am | < ε f¨ ur n, m > N (ε). Eine Folge ist also konvergent, wenn die Folgenglieder f¨ ur große Werte von n, m beliebig dicht beieinander liegen. Das Cauchykriterium ist insbesondere n¨ utzlich, um eine Folge auf Divergenz zu u berpr¨ u fen: ¨ Betrachte z.B. die bereits nach Definition 4.5 diskutierte Folge ((−1)n )n∈N . F¨ ur alle n ∈ N gilt |(−1)n − (−1)n+1 | = 2, d.h., f¨ ur ε = 1 gen¨ ugt die Folge nicht dem Cauchykriterium, sie ist also divergent. 4.12 (Monotoniekriterium). Es sei (an )n beschr¨ ankt und monoton (wachsend oder fallend). Dann ist (an )n konvergent. Die Voraussetzung der Beschr¨ anktheit ist hierbei sehr wesentlich, wie das Beispiel der Folge (n)n zeigt. Beispiel 4.13. Wir betrachten das normalisierte logistische Modell bn+1 = rbn (1 − bn ),
n ∈ N0 ,
2. Konvergente Folgen und Grenzwerts¨atze
55
aus (4-3), vgl. auch (4-2), wobei speziell 1 < r ≤ 2 und 0 < b0 < 1 − 1r gelten m¨oge. Wir wollen nachweisen, dass bn ≤ bn+1 f¨ ur n ∈ N0 ist, und dass die Folge (bn )n beschr¨ankt ist. Nach dem Monotoniekriterium existiert dann lim bn , und n→∞
wir werden sp¨ater noch sehen, dass der Grenzwert 1 − 1r ist (siehe Beispiel 5.20). Diese Aussagen sind auch anhand von Abbildung 19 nachvollziehbar. Wir f¨ uhren die Hilfsfunktion f : R → R, f (x) = rx(1 − x), ein. Dann gilt offenbar bn+1 = f (bn ) f¨ ur n ∈ N0 . Man rechnet nun leicht nach, dass die Ungleichung f (x) ≥ x genau f¨ ur 0 ≤ x ≤ 1 − 1r gilt. Ebenso erh¨alt man durch a¨quivalente Umformung, dass f (x) ≤ 1 − 1r genau f¨ ur x ≤ 1 − 1r und x ≥ 1r gilt. F¨ ur 0 ≤ x ≤ 1 − 1r gilt also x ≤ f (x) ≤ 1 − 1r . Bezogen auf die Rekursion bn+1 = f (bn ), n ∈ N0 , bedeutet das, dass f¨ ur 0 ≤ bn ≤ 1 − 1r stets bn ≤ bn+1 ≤ 1 − 1r gilt, d.h., bei unserer Wahl von b0 ist die Folge (bn )n monoton wachsend und beschr¨ankt wie behauptet. Abbildung 24 zeigt den Graph der Funktion f f¨ ur r = 32 sowie die Winkelhalbierende y = x. Obige Aussagen sind anhand dieser Abbildung gut nachvollziehbar.
0.4 y
0.2
–0.2
0
0.2
–0.2
0.4
0.6 x
0.8
1
1.2
–0.4
Abbildung 24: Graph der normalisierten logistischen Rekursion 4.14 (Einschließungskriterium). Es seien (an )n∈N , (bn )n∈N und (cn )n∈N Folgen mit an ≤ bn ≤ cn f¨ ur alle n ∈ N (es gen¨ ugt, wenn diese Ungleichung f¨ ur alle hinreichend großen n gilt). Außerdem seien (an )n und (cn )n konvergent zu demselben Grenzwert a = lim an = lim cn . n→∞
n→∞
Dann ist auch die Folge (bn )n konvergent mit lim bn = a. n→∞
Beweis. Es sei ε > 0 beliebig. Dann existiert nach Voraussetzung ein hinreichend großes N (ε) ∈ R mit |an − a| < ε und |cn − a| < ε f¨ ur n > N (ε), also auch −ε < an − a ≤ bn − a ≤ cn − a < ε
56
Kapitel 4. Folgen und Reihen
f¨ ur n > N (ε). Damit gilt aber |bn − a| < ε f¨ ur n > N (ε), und die Aussage des Einschließungskriteriums ist bewiesen. k
Beispiel 4.15. F¨ ur |a| > 1 und k ∈ N0 gilt lim nan = 0. n→∞ Wir f¨ uhren hier den Beweis dieser Aussage nur f¨ ur den Fall k = 1, der Beweis im allgemeinen Fall verl¨ auft ¨ ahnlich. Zun¨achst k¨onnen wir uns auf a > 1 beschr¨anken, denn ann → 0 f¨ ur n → ∞ genau dann, wenn |a|nn → 0 f¨ ur n → ∞. Es sei also a = 1 + x mit x > 0. Dann haben wir
n 2 n(n − 1) 2 n n a = (1 + x) ≥ 1 + nx + x = 1 + nx + x 2 2 f¨ ur alle n ∈ N, n ≥ 2, nach der binomischen Formel (siehe Punkt 4.16). Es folgt n n n 1 0 ≤ n = n ≤ = 1 n−1 2 n(n−1) a a 1 + nx + x2 n +x+ 2 x 2
1
2 1 ≤ n−1 2 = 2 · −→ 0. x n − 1 n→∞ x 2 Mit dem Einschließungskriterium folgt lim ann = 0 und damit auch lim n→∞
n n n→∞ a
= 0.
Beispiel 4.15 zeigt, dass das Wachstum der Exponentialfunktion (zu Basen a > 1) das Wachstum jeder allgemeinen Potenzfunktion (f¨ ur n → ∞) u ¨bertrifft. 4.16. In Beispiel 4.15 haben wir die allgemeine binomische Formel verwendet, die man durch vollst¨ andige Induktion nach n leicht beweisen kann: F¨ ur a, b ∈ R und n ∈ N0 gilt n
n k n−k (a + b)n = a ·b , (4-6) k k=0
wobei f¨ ur n, k ∈ N0 , k ≤ n, die Binomialkoeffizienten gegeben sind durch n·(n−1)·...·(n−k+1) n falls k ≥ 1, 1·2·...·k = k 1 falls k = 0.
Aufgaben 1. In i)–iii) gilt jeweils lim an = a. Man finde den Grenzwert a und gebe f¨ ur den n→∞
gegebenen Wert von ε > 0 ein N (ε) an, so dass |an − a| < ε f¨ ur alle n > N (ε) gilt: i) an = ii) an = iii) an =
√1 , n
ε = 0,05.
(−1)n n , 2
n n2 +1 ,
ε = 0,001. ε = 0,01.
2. Konvergente Folgen und Grenzwerts¨atze
57
2. Verwenden Sie die formale Definition des Grenzwertes, um lim an = a zu n→∞
begr¨ unden, d.h., zu jedem ε > 0 gebe man N (ε) an, so dass |an − a| < ε f¨ ur alle n > N (ε) gilt: 1 2 n→∞ n +1
i) lim
n n→∞ n+1
ii) lim
1 2 n→∞ n
iii) lim
= 0. = 1.
= 0.
3. Begr¨ unden Sie die Existenz und berechnen Sie den Wert von: n2 (n3 − 1) , n→∞ n(2n4 + 3)
i) lim
ii) lim
n→∞
5 n 1 1− − , 4 7
3 100 1+ 3− . n→∞ n n
iii) lim
¨ 4. Uberpr¨ ufen Sie, ob die nachfolgenden Grenzwerte existieren, und berechnen Sie ggf. deren Werte: 2n − 3 , n→∞ n 2·5n + 3n + 1 ii) lim , n→∞ 5n + n + 2 n + 2−n iii) lim , n→∞ n n3 + 5−n iv) lim , n→∞ 2n3 + n2 + 1
n2 + 3 n , n→∞ n8 + 3n+1 + 2n 5n + n vi) lim n+1 , n→∞ 4 + 5n+1 n + 7n vii) lim 2 . n→∞ n + 2 · 7n + 1
i) lim
v) lim
5. Zeigen Sie, dass jede konvergente Folge beschr¨ankt ist. 6. Es seien (an )n und (bn )n konvergente Folgen mit lim an = a und lim bn = b. n→∞ n→∞ Es existiere ein N ∈ N mit an ≤ bn f¨ ur alle n ∈ N mit n ≥ N . Zeigen Sie, dass a ≤ b gilt. ¨ 7. Es sei (an )n ⊆ R eine Folge. Zeigen Sie die Aquivalenz der folgenden beiden Aussagen, d.h., wenn i) gilt, so gilt auch ii), und wenn ii) g¨ ultig ist, gilt auch i): i) (an )n ist konvergent mit lim an = a. n→∞
ii) (|an − a|)n ist konvergent mit lim |an − a| = 0. n→∞
8. Die Entwicklung einer Population nach dem Beverton–Holt-Modell erfolgt gem¨aß Ran an+1 = , n ∈ N0 , 1 + R−1 K an wobei K > 0 und R > 1 (vgl. Aufgabe 4 in Kapitel 2, §2). Zeigen Sie: F¨ ur jede Wahl von a0 > 0 konvergiert die gem¨aß obiger Rekursionsformel gebildete Folge (an )n .
58
Kapitel 4. Folgen und Reihen
9. Es sei a0 ∈ R, an+1 = qan , n ∈ N0 , wobei 0 < q ≤ 1. Zeigen Sie 0, 0 < q < 1, lim an = n→∞ a0 , q = 1. Wie verh¨alt sich die Folge (an )n∈N0 f¨ ur q > 1? Hinweis: Verwenden Sie die f¨ ur alle x > 0 und alle n ∈ N g¨ ultige Ungleichung (1 + x)n ≥ 1 + nx, siehe Beispiel 4.15 und Punkt 4.16.
§ 3 Reihen Das Summenzeichen wurde bereits in Kapitel 3, §1, eingef¨ uhrt. Wir erinnern nochmals an die Rechenregeln aus 3.1: i)
4.17 (Rechenregeln).
n
d = d + . . . + d = (n + 1)d
(konstante Glieder)
k=0
ii)
n k=0
iii)
n
k=0
λak = λ
k=0
iv)
n
(ak + bk ) =
n k=0
n
ak +
n
bk
k=0
ak
(Ausklammern)
k=0
m n m ak · bj = ak bj j=0
n
(=
k=0 j=0
ak bk im allgemeinen!!)
k=0
Beispiel 4.18. H¨ aufig werden die Zahlen ak durch ein Bildungsgesetz gegeben sein. In einigen wichtigen F¨ allen ist es dann sogar m¨oglich, eine geschlossene Formel f¨ ur den Summenwert anzugeben. Dies trifft auf die beiden Standardbeispiele“ zu: ” n
k = 1 + 2 +...+ n =
n · (n + 1) 2
(arithmetische Summe)
xk = 1 + x + . . . + xn =
xn+1 − 1 1 − xn+1 = x−1 1−x
(x = 1, geom. Summe)
k=1 n k=0
Wir skizzieren den Beweis f¨ ur die Formel der geometrischen Summe. Es sei s = 1 + x + . . . + xn . Die Multiplikation mit x ergibt xs = x + x2 + . . . + xn+1 , und die Subtraktion beider Gleichungen liefert s(1 − x) = s − sx = 1 − xn+1 . Nach der Division durch 1 − x ergibt sich die gew¨ unschte Formel.
3. Reihen
59
H¨aufig besteht die Notwendigkeit, sogar unendlich viele der ak addieren zu m¨ ussen, und wir werden dann von Reihen sprechen. Das geeignete Instrument hierf¨ ur ist der schon eingef¨ uhrte Grenzwertbegriff, und die folgende Definition setzt dazu Folgen und Reihen in Beziehung. Definition 4.19. Es sei (ak ) eine Zahlenfolge. Unter einer formalen Reihe
∞
ak
k=0
versteht man die Folge
(sn )n∈N =
n
ak
k=0
n∈N
ihrer Partialsummen. Unter dem Reihenwert versteht man die Zahl ∞
ak = lim sn = lim
k=0
n→∞
n→∞
n
ak ,
k=0
falls der Grenzwert existiert. In diesem Fall heißt die Reihe konvergent. Existiert der Grenzwert nicht, so heißt die Reihe divergent. W¨ahlt man f¨ ur (ak ) eine geometrische Folge ak = xk , so erh¨alt man die geometrische Reihe. Aus 4.18 ergibt sich durch den Grenz¨ ubergang n → ∞ das wichtige Resultat: Satz 4.20. Die geometrische Reihe ist genau dann konvergent, wenn |x| < 1 ist, und in diesem Fall ist ∞
xk =
k=0
1 1−x
Beweis. F¨ ur |x| < 1 gilt x → 0. Somit ist n
∞ k=0
xk = lim
n→∞
n k=0
1 − xn+1 1 = . n→∞ 1−x 1−x
xk = lim
Die Formel hat große praktische Bedeutung, f¨ ur x = 0,5 ergibt sich beispielsweise ∞ 1 1 k als Reihenwert 0,5 = 1−0,5 = 0,5 = 2. k=0
Beispiel 4.21. Als eine Anwendung l¨ osen wir die folgende Aufgabe: Ein elastischer Tennisball falle aus der H¨ ohe h = 1m auf eine Tischplatte und springe dann immer wieder in die H¨ ohe. Bei jedem Aufprall verliere er 5% seiner Energie. Wie lange springt der Ball? Zur L¨ osung des Problems bestimmen wir zun¨achst die Folge der H¨ohen hn , die der Ball im n-ten Schritt erreicht. Da die potentielle Energie proportional zur H¨ ohe ist und da der Ball in jedem Schritt nur 95% seiner Energie beh¨alt, gilt hn = 0,95 · hn−1 mit h0 = h.
60
Kapitel 4. Folgen und Reihen
h
t Abbildung 25: Sprungh¨ ohen eines fallenden Balles
Also ist (hn ) eine geometrische Folge, deren explizite Formel durch hn = q n · h0 mit q = 0,95 gegeben ist. Aus der Mechanik kennen wir die Formel f¨ ur die Fallzeit tn aus der H¨ohe hn . Es ist: g 2 2 √ n hn = t2n , also tn = · hn = · ( q) , 2 g g wobei g = 9,81ms−2 die Erdbeschleunigung bezeichnet. Die Gesamtzeit T der Bewegung ist daher
T
= t0 + 2
= =
∞
n=1 ∞
tn =
∞ n=0
tn +
tn = 2
n=1
∞
tn − t0
n=0
2 2 1 2 2 =2 √ − g g 1 − q g n=0
2 1 2 √ 2 −1 ≈2 · 38 ≈ 36 sec. g 1 − 0,95 g 2 g
√ n ( q) −
∞
Nach T ≈ 36 sec ist der Prozess also beendet. Naiv h¨atte man glauben m¨ogen, dass wie beim radioaktiven Zerfall der Ball nie zur Ruhe kommt. 4.22 (Beispiele nicht konvergenter Reihen). Nicht jede Reihe ist konvergent, wie ∞ das Beispiel 1 = 1 + 1 + . . . = ∞ zeigt. Ein n¨ utzliches notwendiges Konverk=0
genzkriterium ist offensichtlich ∞ k=0
ak konv. =⇒ ak → 0.
3. Reihen
61
Aber nicht jede Reihe mit ak → 0 ist zwingend konvergent. Hier ein markantes Beispiel, die so genannte harmonische Reihe: ∞ 1 k
k=1
1 1 1 1 1 1 1 + + + + ... + + + ... + +... 2 3 4 5 8 9 16 1 1 1 1 ≥ 1+ + + + + ... = ∞ 2 2 2 2 = 1+
Gl¨ ucklicherweise gibt es auch einige leicht zu handhabende hinreichende Konvergenzkriterien, die uns zwar nicht den Reihenwert liefern k¨onnen, aber immerhin die Gewissheit der Konvergenz liefern: ∞
Satz 4.23 (Majorantenkriterium). Ist eine konvergente Reihe
∞
ak die zu pr¨ ufende Reihe, und gibt es
k=1
bk mit 0 ≤ |ak | ≤ bk f¨ ur alle k ∈ N, so ist
k=1
∞
ak selbst
k=1
konvergent. H¨aufig kann man als Vergleichsreihe
∞
bk eine geometrische Reihe, also bk = q k
k=1
mit 0 < q < 1 verwenden. Dies ist zum Beispiel in der Situation von Satz 4.24 so, und man erh¨ alt dann aus dem Majorantenkriterium das besonders einfache Wurzelkriterium: ∞ Satz 4.24 (Wurzelkriterium). Gilt lim k |ak | < 1, so ist die Reihe ak konverk→∞
gent.
k=1
Beispiel 4.25. Die wichtige Reihe ∞ 1 1 1 = 1 + 1 + + + . . . = 2,7182 . . . = e k! 2! 3! k=0
wurde von Euler zur Berechnung von e benutzt. Zur Illustration zeigen wir wenigstens die Konvergenz der Reihe mit Hilfe des Majorantenkriteriums. Den Nachweis, dass der Grenzwert sogar e ist, k¨ onnen wir hier nicht f¨ uhren. F¨ ur k ≥ 4 schreibe k! = k · (k − 1) · . . . · 2 · 1 ≥ 2 · 2 · . . . · 2 · 1 = 2k−1 , und die Ungleichung k! ≥ 2k−1 ist sogar f¨ ur k ≥ 1 richtig. Da die geometrische ∞ −(k−1) Reihe 2 nach Satz 4.20 konvergiert, folgt nunmehr die Konvergenz von ∞ k=0
k=1 1 k!
=1+
∞ k=1
1 k!
unter Verwendung des Majorantenkriteriums.
4.26 (Exponentialreihe). Die Formel aus 4.25 l¨asst die folgende Verallgemeinerung zu:
62
Kapitel 4. Folgen und Reihen
ex =
∞ xk k=0
k!
=1+x+
x2 x3 + + ... 2! 3!
Reihen dieser Bauform heißen Potenzreihen. Die Formel erm¨oglicht die Approximation der Exponentialfunktion durch Polynome und kann auch zur n¨aherungsweisen Berechnung von ex dienen. Wir werden in Kapitel 6, §5, n¨ aher auf diese Thematik eingehen.
Aufgaben 1. Berechnen Sie den Wert von
∞
0,1k .
k=0
2. Pr¨ ufen Sie die Konvergenz der folgenden Reihen i)
∞ (−1)k , 2k
ii)
k=0
Hinweis zu iii): Es gilt lim
∞ k=0
√ k
k2 ,
iii)
∞ k . 4k k=0
k = 1.
k→∞
3. Die Logarithmusfunktion erlaubt eine Darstellung als Potenzreihe in der Form ln(1 + x) =
∞ (−1)k+1 k=1
k
xk f¨ ur − 1 < x < 1.
Zeigen Sie mittels Wurzelkriteriums die Konvergenz der Reihe.
Weitere Informationen im WWW ¨ Ubungsaufgaben bei Calculus On the Web: • Einfache rekursive Folgen: Precalculus Book, Chapter Numbers, Section Sequences. • Zur Berechnung von Grenzwerten: Calculus Book III, Chapter Sequences and Series, Section Sequences, Module Limits of Sequences. • Reihen: Calculus Book III, Chapter Sequences and Series, Section Series. Anleitungen, Demonstrationen und Beispiele bei Visual Calculus: • Sequences and Series.
Kapitel 5
Stetigkeit § 1 Grenzwerte bei Funktionen Es sei f : A → R eine Funktion, A ⊆ R. Es sei ferner c ∈ R ein Zahl derart, dass es in beliebiger N¨ ahe zu c stets einen Punkt aus A gibt. In Formeln ausgedr¨ uckt heißt dies (c − δ, c + δ) ∩ A = ∅ f¨ ur alle δ > 0. Diese Bedingung ist sicher dann erf¨ ullt, wenn c selbst zu A geh¨ ort. Aber auch der Fall c ∈ / A ist m¨oglich, wie das Beispiel A = (c, ∞) zeigt. Definition 5.1. Wir sagen, dass der Grenzwert lim f (x) = L ∈ R existiert, wenn x→c
es zu jedem ε > 0 ein δ = δ(ε) > 0 gibt mit |f (x) − L| < ε f¨ ur alle x ∈ A mit |x − c| < δ. Definition 5.1 besagt, dass die Funktionswerte f (x) beliebig dicht bei dem Wert L ∈ R liegen, wenn nur das Argument x ∈ A gen¨ ugend nahe bei c liegt, siehe Abbildung 26. Das sogenannte Folgenkriterium erm¨ oglicht es, die Aussagen u ¨ ber die Grenzwerte lim f (x) auf Grenzwerte von Folgen zur¨ uckzuf¨ uhren, wie wir sie in Kapitel 4 x→c behandelt haben. Satz 5.2 (Folgenkriterium). Der Grenzwert lim f (x) = L existiert genau dann, x→c
wenn f¨ ur jede beliebige Folge (xn )n ⊆ A mit lim xn = c die Folge der Bilder n→∞
(f (xn ))n konvergent ist zu immer demselben Grenzwert lim f (xn ) = L. n→∞
Die Anwendung des Folgenkriteriums wird durch folgende Beispiele illustriert: Beispiel 5.3.
i) lim xk = ck f¨ ur jedes k ∈ N und jedes c ∈ R. x→c
Denn: Es sei (xn )n eine beliebige Folge mit lim xn = c. Dann konvern→∞
giert gem¨ aß Satz 4.9 auch die Folge (xkn )n und es gilt lim xkn = ck , wobei n→∞
64
Kapitel 5. Stetigkeit δ
δ
11 00 00 11 00 11
L
ε ε
c
Abbildung 26: Der Grenzwert lim f (x) = L existiert x→c
dies unabh¨ angig von der Wahl der Folge (xn )n mit xn −→ c ist. Mit dem n→∞ Folgenkriterium 5.2 folgt also die behauptete Grenzbeziehung. ii) lim
x→4
x3 −x2 x−3
=
43 −42 4−3
= 48.
Denn: Es sei (xn )n eine beliebige Folge mit lim xn = 4 und xn = 3 n→∞
f¨ ur alle n ∈ N. Dann folgt mit Satz 4.9 lim (x3n − x2n ) = 43 − 42 sowie n→∞
x3n −x2n n→∞ xn −3
lim (xn − 3) = 4 − 3, und ebenso nach Satz 4.9 ist dann lim
n→∞ 43 −42 4−3
=
= 48. Dieses Ergebnis ist unabh¨angig von der Wahl der Folge (xn )n mit lim xn = 4 und xn = 3 f¨ ur alle n ∈ N, und mit dem Folgenkriterium n→∞ 5.2 folgt nun die behauptete Grenzbeziehung. iii) lim |x| = |c| f¨ ur jedes c ∈ R. x→c
Denn: Es sei zun¨ achst c > 0. Es sei (xn )n eine beliebige Folge mit lim xn = c. Dann gilt f¨ ur n > N1 mit einem geeigneten N1 ∈ N jedenfalls
n→∞
xn > 0, und damit auch |xn | = xn f¨ ur n > N1 . Folglich gilt lim |xn | = c = n→∞
|c|, und nach dem Folgenkriterium 5.2 folgt die behauptete Grenzbeziehung im Fall c > 0. Es sei nun c < 0 und (xn )n eine beliebige Folge mit lim xn = c. n→∞ Dann gilt f¨ ur n > N1 mit N1 ∈ N geeignet auch xn < 0 f¨ ur n > N1 , und damit |xn | = −xn f¨ ur n > N1 . Also gilt lim |xn | = −c = |c|, und mit dem n→∞ Folgenkriterium 5.2 folgt die Aussage f¨ ur c < 0.
1. Grenzwerte bei Funktionen
65
Es sei nun c = 0 und (xn )n eine Folge mit lim xn = 0, d.h., zu jedem n→∞
ε > 0 existiert ein N (ε) ∈ R mit
|xn − 0| = |xn | = ||xn | − 0| < ε f¨ ur n > N (ε). Also gilt auch lim |xn | = 0 = c, und mit dem Folgenkriterium n→∞ 5.2 folgt die behauptete Grenzbeziehung auch f¨ ur den Fall c = 0. |x| x→0 x
iv) lim
existiert nicht.
Denn: Es sei xn = n1 f¨ ur n ∈ N. Dann gilt xn = 0 f¨ ur alle n ∈ N |xn | und lim xn = 0. Dar¨ uber hinaus haben wir xn = 1 f¨ ur alle n ∈ N, also n→∞ |xn | = n→∞ xn
lim
1.
Es sei yn = − n1 , n ∈ N. Dann gilt yn = 0 f¨ ur alle n ∈ N und lim yn = 0. Weiter haben wir
|yn | yn
|yn | n→∞ yn
= −1 f¨ ur alle n ∈ N und damit lim
n→∞
= −1. |x| x→0 x
Somit ist das Folgenkriterium 5.2 verletzt, d.h., der Grenzwert lim existiert nicht.
Unter Verwendung des Folgenkriteriums 5.2 erh¨alt man analog zur Argumentation in den Beispielen 5.3 mit Hilfe von 4.9 die folgenden Grenzwerts¨ atze f¨ ur Funktionen. Satz 5.4. Es seien f, g : A → R, und lim f (x) und lim g(x) m¨ ogen existieren. x→c x→c Dann gelten: lim (f (x) ± g(x)) = lim f (x) ± lim g(x).
i)
x→c
x→c
x→c
lim (λf (x)) = λ · lim f (x)
ii)
x→c
x→c
f¨ ur λ ∈ R.
lim (f (x)g(x)) = lim f (x) · lim g(x) .
iii)
x→c
x→c
lim f (x) f (x) = x→c x→c g(x) lim g(x)
iv)
lim
x→c
falls lim g(x) = 0. x→c
x→c
Beweis. Wir beweisen exemplarisch i); ii)–iv) sind v¨ollig analog. Es seien lim f (x) = L und lim g(x) = M . Es sei (xn )n ⊆ A eine beliebige x→c x→c Folge mit lim xn = c. Dann gilt nach dem Folgenkriterium 5.2 und nach Vorausn→∞
setzung jedenfalls lim f (xn ) = L und lim g(xn ) = M . Nach Satz 4.9 f¨ ur Folgen n→∞
n→∞
sind die Folgen (f (xn ) ± g(xn ))n konvergent mit lim (f (xn ) ± g(xn )) = lim f (xn ) ± lim g(xn ) = L ± M,
n→∞
n→∞
n→∞
66
Kapitel 5. Stetigkeit
und dieses Resultat ist v¨ ollig unabh¨ angig von der Wahl der Folge (xn )n ⊆ A mit lim xn = c. Mit dem Folgenkriterium 5.2 folgt also die Existenz von lim (f (x) ± n→∞
g(x)) = L ± M , und die Aussage i) ist damit bewiesen.
x→c
Grenzwerte nach Unendlich Definition 5.5. i) Es sei f : A → R, und die Menge A ⊆ R m¨oge beliebig große Zahlen enthalten. Wir sagen, dass der Grenzwert lim f (x) = L ∈ R existiert, wenn es zu jedem x→∞
ε > 0 ein R = R(ε) ∈ R gibt mit |f (x) − L| < ε f¨ ur x > R, x ∈ A. ii) Es sei f : A → R, und A ⊆ R m¨ oge beliebig kleine Zahlen (also negative Zahlen beliebiger Gr¨ oßenordnung) enthalten. Wir sagen, dass der Grenzwert
lim f (x) = L ∈ R existiert, wenn es zu
x→−∞
jedem ε > 0 ein R = R(ε) ∈ R gibt mit |f (x) − L| < ε f¨ ur x < R, x ∈ A. Der Grenzwert lim f (x) = L ∈ R existiert also genau dann, wenn die Funktix→∞
onswerte f (x) beliebig dicht bei L liegen, falls x > 0 nur gen¨ ugend groß ist, d.h., gen¨ ugend nah bei Unendlich“ liegt, siehe Abbildung 27. ” Man beachte, dass z.B. der Fall A = N in Definition 5.5 zugelassen ist. In diesem Fall ist f eine Abbildung N → R, also eine Folge (siehe Punkt 4.1), und die Definition i) in 5.5 reduziert sich im Fall A = N auf die Definition 4.5 f¨ ur die Konvergenz von Folgen.
ε
L
ε
R
Abbildung 27: Der Grenzwert lim f (x) = L existiert x→∞
Die Grenzwerts¨ atze 5.4 gelten in der analogen Formulierung auch f¨ ur die Grenzwerte f¨ ur x → ±∞ (ersetze in 5.4 den Bezugspunkt c jeweils durch ∞ bzw. −∞).
1. Grenzwerte bei Funktionen Beispiel 5.6. 1 x
67
1 x→∞ x
i) Es gilt lim
= 0.
Denn: Es sei ε > 0 beliebig. Dann gilt f¨ ur x > < ε.
1 ε
jedenfalls | x1 − 0| =
ii) Es seien a, b > 0 und f : (0, ∞) → R definiert durch f (x) = lim f (x) = a.
ax x+b .
Dann gilt
x→∞
Denn: Es sei ε > 0 beliebig. Dann gilt f¨ ur x >
ab ε
−b
ax ab − a = < ε. x+b x+b iii) Es gilt
lim ax = lim a−x = 0 f¨ ur a > 1, bzw. lim ax = lim a−x = 0
x→−∞
x→∞
x→∞
x→−∞
f¨ ur 0 < a < 1. Dies ist anhand der Graphen in Abbildung 8 zwar plausibel, ist tats¨achlich aber gar nicht so leicht einzusehen. F¨ ur den Grenzwert der Folge (an )n f¨ ur 0 < a < 1 gilt damit insbesondere auch lim an = 0; dass dies in der Tat n→∞ richtig ist, haben wir in 4.15 u uft. ¨ berpr¨ Der Vollst¨andigkeit halber erg¨ anzen wir noch die Definition des uneigentlichen Grenzwertes f¨ ur Funktionen, die nach ±∞ divergieren. Beim Umgang mit diesen Grenzwerten ist jedoch große Sorgfalt geboten, da z.B. die Grenzwerts¨atze und weitere wichtige Werkzeuge f¨ ur den Umgang mit Grenzwerten hierf¨ ur im allgemeinen nicht gelten! Definition 5.7 (Uneigentliche Grenzwerte). i) Es sei f : A → R eine Funktion, A ⊆ R, wobei c ∈ R eine Zahl derart ist, dass in beliebiger N¨ahe zu c stets ein Element aus A existiert. • Wir schreiben lim f (x) = ∞, falls zu jedem R > 0 ein δ = δ(R) > 0 x→c
existiert mit f (x) > R f¨ ur |x − c| < δ, x ∈ A. • Analog schreiben wir lim f (x) = −∞, falls zu jedem R < 0 ein δ = x→c
δ(R) > 0 existiert mit f (x) < R f¨ ur |x − c| < δ, x ∈ A. ii) Es sei f : A → R, wobei die Menge A ⊆ R beliebig große Zahlen enthalten m¨oge. • Wir schreiben lim f (x) = ∞, falls zu jedem R > 0 ein R1 = R1 (R) > 0 x→∞
existiert mit f (x) > R f¨ ur x > R1 , x ∈ A. • Analog schreiben wir lim f (x) = −∞, falls zu jedem R < 0 ein R1 = x→∞
R1 (R) > 0 existiert mit f (x) < R f¨ ur x > R1 , x ∈ A. iii) Es sei f : A → R, und die Menge A ⊆ R m¨oge beliebig kleine Zahlen enthalten.
68
Kapitel 5. Stetigkeit • Wir schreiben lim f (x) = ∞, falls zu jedem R > 0 ein R1 = R1 (R) < x→−∞
0 existiert mit f (x) > R f¨ ur x < R1 , x ∈ A. • Analog gilt lim f (x) = −∞, falls zu jedem R < 0 ein R1 = R1 (R) < 0 x→−∞
existiert mit f (x) < R f¨ ur x < R1 , x ∈ A.
Aufgaben 1. Bestimmen Sie jeweils die Grenzwerte L = lim f (x), und bestimmen Sie zu x→c
jedem ε > 0 ein δ = δ(ε) > 0 so, dass f¨ ur |x − c| < δ stets |f (x) − L| < ε gilt: i) lim (2x + 5), x→3
ii) lim (mx + b), x→c √ iii) lim x, x→16
1 . x→2 x
iv) lim
2. Begr¨ unden Sie die Existenz und berechnen Sie die folgenden Grenzwerte: x2 2 2 i) lim − 2 , iii) lim x + e−x /2 , x→−2 2 x→0 x x2 − 2x − 3 ii) lim , iv) lim ln(x2 − 1) − ln(x − 1) . x→3 x→1 x−3 Verwenden Sie bei iii) und iv) die Stetigkeit der Exponential- und der Logarithmusfunktion, vgl. §2 (insbesondere Satz 5.14). 3.
i) Es seien f, g, h : R → R Funktionen mit f (x) ≤ g(x) ≤ h(x) f¨ ur x ∈ R. Es sei dar¨ uber hinaus entweder c ∈ R, c = +∞ oder c = −∞. Die Grenzwerte lim f (x) und lim h(x) m¨ ogen existieren, und es gelte x→c
x→c
lim f (x) = lim h(x) = L ∈ R.
x→c
x→c
Zeigen Sie unter Verwendung des Folgenkriteriums 5.2, dass der Grenzwert lim g(x) in R existiert und dass lim g(x) = L gilt. x→c
x→c
ii) Wir sprechen zun¨ achst die folgende Definition aus: Definition: Eine Funktion f : D → R heißt beschr¨ ankt, wenn es eine Konstante M > 0 derart gibt, dass |f (x)| ≤ M f¨ ur alle x ∈ D gilt. Es sei nun s : R → R eine beschr¨ ankte Funktion. Zeigen Sie unter Verwendung von i) die Grenzbeziehung 2
lim e−x s(x) = 0.
x→∞
2. Stetige Funktionen
69
§2 Stetige Funktionen Es sei Y eine von X verm¨ oge der Funktionsgleichung Y = f (X) abh¨angige Gr¨oße. Eine wichtige Frage ist, wie sich St¨ orungen in X auf Y auswirken. Stetige Funktionen f sind dadurch charakterisiert, dass kleine St¨orungen in X nur zu kleinen St¨orungen in Y f¨ uhren. Definition 5.8. Es sei f : A → R, A ⊆ R, eine Funktion. f heißt stetig im Punkt a ∈ A, falls lim f (x) = f (a) gilt, d.h., der Grenzwert f¨ ur x → a existiert und x→a
stimmt mit dem Funktionswert f (a) u ¨ berein. Man nennt f stetig (auf A), wenn f in jedem Punkt a ∈ A stetig ist. Abbildung 26 zeigt eine im Punkt c stetige Funktion mit dem Funktionswert f (c) = L. Beispiel 5.9. In Beispiel i) in 5.3 haben wir die Stetigkeit der Funktionen x → xk , k ∈ N, in jedem Punkt a ∈ R bewiesen. Beispiel iii) in 5.3 besagt vor dem Hintergrund von Definition 5.8, dass der Absolutbetrag | · | : R → R in jedem Punkt a ∈ R stetig ist. Beispiel 5.10. Wir betrachten die Funktion entier : R → R verm¨oge entier(x) = max{z ∈ Z | z ≤ x},
x ∈ R,
siehe Abbildung 28. 4 3 2 1
–3
–2
–1
0 –1
1
2
3
4
5
x
–2 –3
Abbildung 28: Die entier-Funktion Die Funktion entier : R → R ist genau in den Punkten a ∈ Z unstetig und in den Punkten a ∈ R \ Z stetig. Denn wenn a nicht ganzzahlig ist, so gilt f¨ ur x ∈ R nahe genug bei a stets entier(x) = entier(a), also haben wir lim entier(x) = entier(a). x→a
70
Kapitel 5. Stetigkeit
F¨ ur die Punkte a ∈ Z hingegen gilt stets entier(x) ≤ entier(a) − 1 = a − 1 f¨ ur alle x < a, d.h., die Funktionswerte entier(x) haben mindestens den Abstand 1 vom Funktionswert entier(a), egal wie nahe x < a bei a liegt. Folglich ist entier unstetig in a ∈ Z. Mit den Grenzwerts¨ atzen 5.4 erhalten wir unmittelbar die Summenregel, Produktregel und Quotientenregel f¨ ur stetige Funktionen: Satz 5.11. Es seien f, g : A → R stetig in a ∈ A. Dann sind auch i) f ± g : A → R verm¨ oge (f ± g)(x) = f (x) ± g(x) stetig in a, ii) λf : A → R verm¨ oge (λf )(x) = λf (x) stetig in a f¨ ur jedes λ ∈ R, iii) f · g : A → R verm¨ oge (f · g)(x) = f (x)g(x) stetig in a, f f f (x) : A → R verm¨ oge (x) = stetig in a, wobei hier noch g(x) = 0 f¨ ur g g g(x) alle x ∈ A vorausgesetzt ist, um den Quotienten bilden zu k¨ onnen. p Folgerung 5.12. Jede rationale Funktion f = : A → R mit den Polynomfunktioq nen p und q ist stetig auf A = {x ∈ R | q(x) = 0}. iv)
Beweis. Jede Polynomfunktion ist eine endliche Summe von Produkten der stetigen Funktionen x → x und x → λ mit λ ∈ R und damit stetig nach Satz 5.11. Nach iv) in Satz 5.11 ist dann auch jede rationale Funktion stetig außerhalb der Nullstellenmenge des Nenners. Mit der Folgerung 5.12 erhalten wir z.B. nun direkt die behauptete Grenz3 −x2 beziehung ii) in Beispiel 5.3 aus der Stetigkeit der rationalen Funktion x → xx−3 im Punkt x = 4. Satz 5.13 (Kettenregel f¨ ur stetige Funktionen). Es seien f : A → B und g : B → R Funktionen mit A, B ⊆ R. Es sei ferner f stetig in a ∈ A und g stetig in b = f (a) ∈ B. Dann ist die Komposition g ◦ f : A → R stetig in a. Beweis. Wir verwenden das Folgenkriterium 5.2. Es sei also (xn )n ⊆ A eine beliebige Folge mit lim xn = a. Nach Voraussetzung u ¨ber die Stetigkeit von f in n→∞
a ∈ A gilt lim f (x) = f (a), also auch lim f (xn ) = f (a) nach dem Folgenkrix→a
n→∞
terium. Nun ist (f (xn ))n ⊆ B eine Folge mit f (xn ) −→ f (a), und nach Vorn→∞
aussetzung existiert
lim g(y) = g(f (a)) aufgrund der Stetigkeit von g in f (a). y→f (a)
Erneut mit dem Folgenkriterium folgt die Konvergenz der Folge (g(f (xn )))n mit lim g(f (xn )) = g(f (a)), d.h. lim (g ◦ f )(xn ) = (g ◦ f )(a). Da dieses Resultat n→∞
n→∞
unabh¨angig ist von der Wahl der Folge (xn )n ⊆ A mit lim xn = a, folgt wieder n→∞
mit dem Folgenkriterium die Existenz von lim (g ◦ f )(x) = (g ◦ f )(a), aber das ist x→a gerade die behauptete Stetigkeit der Komposition in a nach Definition 5.8.
2. Stetige Funktionen
71
Satz 5.14. i) Die Exponentialfunktion f : R → R verm¨ oge x → ax ist f¨ ur jede Basis a > 0 auf ganz R stetig. ii) Der Logarithmus loga : (0, ∞) → R verm¨ oge x → loga (x) ist f¨ ur jede Basis a > 0, a = 1, auf ganz (0, ∞) stetig. iii) Die allgemeine Potenzfunktion f : (0, ∞) → R verm¨ oge x → xa ist f¨ ur jeden Exponenten a ∈ R auf ganz (0, ∞) stetig. iv) Die Sinus– und die Kosinusfunktion sin, cos : R → R sind stetig auf ganz R. Beweis. i), ii) und iv) sind keinesfalls einfach einzusehen und k¨onnen hier nicht begr¨ undet werden. iii) ist eine Folgerung aus i), ii) und Satz 5.13. Es gilt n¨amlich f (x) = xa = exp(a ln(x)) f¨ ur x > 0, d.h., mit der Funktion g : (0, ∞) → R verm¨oge g(x) = a ln(x) ist f = exp ◦g. Nun ist die Funktion g stetig auf ganz (0, ∞) nach ii) und Satz 5.11, und die Exponentialfunktion exp : R → R ist stetig auf R nach i). Also ist nach Satz 5.13 die Komposition exp ◦g stetig auf ganz (0, ∞), d.h., die allgemeine Potenzfunktion ist stetig wie behauptet. Die S¨atze 5.11 und 5.13 geben uns die M¨oglichkeit, auch komplizierte Funktionen schnell als stetig zu erkennen. 4 Beispiel 5.15. i) Die Funktion f (x) = xx2 +2 +1 , x ∈ R, ist stetig auf ganz R: 4
Denn: Die rationale Funktion x → xx2 +2 +1 ist stetig auf ganz R nach Folgerung 5.12 zu Satz 5.11, da der Nenner nullstellenfrei ist, und es gilt √ 4 stets xx2 +2 · : (0, ∞) → R ist als allgemeine +1 > 0. Die Wurzelfunktion Potenzfunktion stetig auf ganz (0, ∞) nach Satz 5.14, und damit ist auch die Verkettung f stetig auf ganz R nach Satz 5.13. ii) Die Funktion f (x) = log10 (1 + e2x ), x ∈ R, ist stetig auf ganz R: Denn: Die Funktion x → 2x ist stetig auf R nach 5.12, also ist auch x → e2x stetig auf ganz R nach Satz 5.13 und Satz 5.14. Nach Satz 5.11 ist dann die Funktion x → 1 + e2x stetig auf ganz R, wobei stets 1 + e2x > 0 gilt, und mit der Stetigkeit von log10 : (0, ∞) → R folgt wieder mit der Kettenregel 5.13 die Stetigkeit der Funktion f : x → log10 (1 + e2x ) auf ganz R. iii) Die Funktion f : x → x exp(R(1 − x/K)) mit R, K > 0 ist stetig auf ganz R: Denn: Die Funktion x → R(1 − x/K) ist als Polynomfunktion stetig auf ganz R nach 5.12, und nach Kettenregel 5.13 ist dann x → exp(R(1 − x K )) stetig auf ganz R aufgrund von Satz 5.14. Mit Satz 5.11 folgt nun die Stetigkeit der Funktion f als Produkt zweier stetiger Funktionen. Zusammen mit dem Folgenkriterium 5.2 erhalten wir zudem ein effizientes Werkzeug zur Erkennung konvergenter Folgen und zur Berechnung von Grenzwerten.
72
Kapitel 5. Stetigkeit
Beispiel 5.16.
i) F¨ ur jedes a > 0 gilt lim
√ n
n→∞
a = 1:
x Denn: Die Exponentialfunktion f : x → a ist stetig in Null nach Satz √ 1 1 n n 5.14, und wir haben a = a = f n f¨ ur alle n ∈ N. Nun haben wir lim n1 = 0, also folgt aufgrund der Stetigkeit nach Definition 5.8 und dem n→∞ √ Folgenkriterium 5.2 lim n a = lim f n1 = f (0) = a0 = 1. n→∞
ii) Es gilt lim 1 + n→∞
3 1 2 n
n→∞
= 1: 3
Denn: Die Funktion f : x → (1 + x) 2 ist stetig auf (−1, ∞) nach 5.12, 3 5.14 und der Kettenregel 5.13, und es gilt 1 + n1 2 = f n1 f¨ ur alle n ∈ N. Nun gilt n1 −→ 0 und f ist stetig in Null, also gilt nach dem Folgenkriterium n→∞ 5.2 und Definition 5.8 auch lim f n1 = f (0) = 1. iii) Es gilt lim
n→∞
n→∞
2 n+1 2n +n+1 ln = ln(2): 2 n n
√ Denn: Die Funktion f : x → 1 + x ln(x2 +x+2) ist stetig auf (−1, ∞), wie man mit der Kettenregel 5.13, Satz 5.11 und Satz 5.14 sieht, und es gilt 1 n + 1 2n2 + n + 1 ln = f n n2 n f¨ ur alle n ∈ N. Nun gilt lim
1 n→∞ n
= 0 und die Funktion f ist stetig in Null, also gilt nach Definition 5.8 und dem Folgenkriterium 5.2 lim f n1 = f (0) = n→∞
ln(2). Der nachfolgende Satz ist von großer qualitativer Bedeutung. Den Nachweis k¨onnen wir im Rahmen dieses Buches nicht f¨ uhren. Satz 5.17 (Zwischenwertsatz und Satz vom Minimum/Maximum). Es seien a, b ∈ R, a < b, und f : [a, b] → R sei stetig auf [a, b]. Dann gilt f [a, b] = {f (x) | x ∈ [a, b]} = min f (x), max f (x) , x∈[a,b]
x∈[a,b]
das heißt i) f nimmt auf [a, b] sowohl das Minimum m = min f (x) als auch das Maxix∈[a,b]
mum M = max f (x) als Funktionswert an. Es existieren also x0 , x1 ∈ [a, b] x∈[a,b]
mit f (x0 ) = m und f (x1 ) = M (Satz vom Minimum/Maximum). ii) Die Bildmenge f [a, b] ist ein Intervall, insbesondere existiert zu jedem Wert c zwischen Minimum und Maximum, d.h. m ≤ c ≤ M , ein x ˜ ∈ [a, b] mit f (˜ x) = c (Zwischenwertsatz).
2. Stetige Funktionen
73
Zu jedem Wert m ≤ c ≤ M kann es durchaus mehrere Stellen x˜ ∈ [a, b] geben mit f (˜ x) = c, insbesondere kann es mehrere Stellen geben, an denen das Minimum m und das Maximum M angenommen werden. Abbildung 29 illustriert die Aussagen von Satz 5.17.
max f (x) x∈[a,b]
c
min f (x) x∈[a,b]
a
b
Abbildung 29: Zwischenwertsatz und Satz vom Minimum/Maximum Aus Satz 5.17 k¨ onnen wir einige Kriterien ableiten, an denen wir stetige und unstetige Funktionen u ur a, b ∈ R, a < b, am ¨ber Intervallen der Form [a, b] f¨ Graphen erkennen k¨ onnen: • Eine stetige Funktion l¨ asst keinen Wert aus, d.h., werden die Werte r und R von der Funktion angenommen, so wird auch jeder Wert zwischen r und R angenommen. Insbesondere k¨ onnen wir unstetige Funktionen so leicht identifizieren: Hat eine Gerade der Form y = c mit c zwischen r und R keinen Schnittpunkt mit dem Graph der Funktion, dann ist die Funktion notwendig unstetig (siehe Abbildung 28). • Eine stetige Funktion ist insbesondere beschr¨ankt, da Minimum und Maximum in [a, b] angenommen werden. Auf diese Weise k¨onnen wir z.B. sehen, dass die Funktion f : [−1, 1] → R verm¨oge 1 x = 0, f (x) = x 1 x=0 nicht stetig auf ganz [−1, 1] sein kann (sie ist tats¨achlich nur in Null unstetig).
74
Kapitel 5. Stetigkeit • Wenn die Funktion f : [a, b] → R stetig ist, dann ist auch ihre Einschr¨ankung auf jedes Teilintervall [a1 , b1 ] ⊆ [a, b] stetig und Satz 5.17 gilt entsprechend f¨ ur die Einschr¨ ankung mit dem dann kleineren Definitionsbereich [a1 , b1 ]. Wir k¨ onnen also beliebige Teilabschnitte des Graphen betrachten, und auch auf den Teilabschnitten darf eine stetige Funktion keine Werte auslassen. Durch Verkleinerung des Ausschnitts [a1 , b1 ] k¨onnen wir so beliebig dicht an einen Punkt x ˜ ∈ [a1 , b1 ] heran zoomen“ und z.B. nur in dem Ausschnitt ” u berpr¨ u fen, ob ggf. Werte ausgelassen werden. ¨ Auf diese Weise sieht man leicht ein, dass eine Funktion an einer Sprungstelle x ˜ unstetig sein muss: Hat man z.B. mit einem gen¨ ugend kleinen δ > 0 f (x) < f (˜ x) − ε f¨ ur x ˜−δ ≤ x < x ˜ mit einem geeigneten von x unabh¨angigen ε > 0, d.h., die Funktion f springt an der Stelle x ˜ nach oben,“ dann werden ” s¨amtliche Werte f (˜ x) − ε < c < f (˜ x) auf dem Intervall [˜ x − δ, x ˜] nicht angenommen. Insbesondere liegt auch f (x) weiter als ε von f (˜ x) entfernt, egal wie nah x < x ˜ bei x ˜ liegt (vgl. Beispiel 5.10).
Aufgaben 1. Begr¨ unden Sie die Existenz der nachfolgenden Grenzwerte (von Folgen) und berechnen Sie deren Werte: n+1
i) lim e 2n−1 . n→∞
ii) lim ln 1 + n→∞
2n +1 3n +5
.
√ n2 + n π √ . 2 + n4 +1 3n n→∞
iii) lim
√ n3 + n6 +1 . 3 n→∞ 3n +n+1
iv) lim
2. Geben Sie explizit ein Beispiel f¨ ur eine Funktion f : R → R mit folgenden Eigenschaften an: i) f ist stetig auf R \ {1}, ii) lim f (x) = 2, x→1 x<1
iii) lim f (x) = 3, x→1 x>1
iv) f (1) = 4. Skizzieren Sie ferner den Graph Ihrer Beispielfunktion.
2. Stetige Funktionen
75
3. Zeigen Sie: i) Die Funktion
f (x) =
x2 −3x+2 , x−1
1,
x = 1, x = 1,
ist unstetig in x = 1. ii) Die Funktion
f (x) =
x2 −x−2 , x−2
3,
x = 2, x = 2,
ist stetig in x = 2.
4. Es sei f (x) =
x ≥ 1, 2x + c, x < 1, 1 , x
wobei c ∈ R ist. i) Skizzieren Sie den Graphen von f f¨ ur c = 0. In welchen Punkten x ∈ R ist f stetig, in welchen nicht? ii) Man bestimme c ∈ R so, dass f auf ganz R stetig ist. 5. Es sei c ∈ R; man definiere f : R → R verm¨oge x2 f¨ ur x < 1, f (x) = cx + 5 f¨ ur x ≥ 1. i) Man begr¨ unde, dass f in allen Punkten a ∈ R, a = 1, stetig ist. ii) Man bestimme c ∈ R geeignet, so dass f im Punkt a = 1 ebenfalls stetig ist. 6. Angenommen, ein Lebewesen reagiert nur dann auf eine Stimulation, wenn diese stark genug ist. Die Stimulation s : [0, ∞) → R als Funktion der Zeit t ≥ 0 sei gegeben durch 2(t − (n + 12 )) + 1, falls t ∈ [n, n + 12 ], n ∈ N0 , s(t) = −2(t − (n + 12 )) + 1, falls t ∈ [n + 12 , n + 1], n ∈ N0 , und das Lebewesen reagiert auf s falls s(t) ≥ 12 . Wir definieren g : [0, ∞) → R durch g(t) = 1, falls das Lebewesen zum Zeitpunkt t auf die Stimulation reagiert, und g(t) = 0, falls es nicht reagiert. i) Skizzieren Sie die Graphen von s und g in ein Koordinatensystem. ii) Ermitteln Sie explizit die Abbildungsvorschrift von g als Funktion von t ≥ 0 (in analytischer Darstellung).
76
Kapitel 5. Stetigkeit
iii) In genau welchen Punkten t ≥ 0 sind s und g stetig, in welchen nicht? L¨osen Sie dieselbe Aufgabe mit der Stimulation s(t) = sin(t), t ∈ [0, ∞). 7. Es sei f (t) =
at k+t ,
t ≥ 0, mit den Parametern a, k > 0. Angenommen, es gilt
lim f (t) = 1,24 · 106
t→∞
und
f (5) = 0,62 · 106 .
i) Bestimmen Sie die Parameter a und k. ii) Gibt es t1 , t2 , t3 > 0 mit f (t1 ) = a3 , f (t2 ) = ggf. t1 , t2 und t3 . 8.
a 4
und f (t3 ) = a5 ? Berechnen Sie
i) Begr¨ unden Sie, warum ein Polynom dritten Grades mindestens eine reelle Nullstelle besitzt. N ii) Es sei allgemeiner p(x) = ak xk , x ∈ R, ein Polynom. Es sei aN = 0, und k=0
N ∈ N sei eine ungerade Zahl. Beweisen Sie, dass p eine Nullstelle besitzt, d.h., dass ein x0 ∈ R mit p(x0 ) = 0 existiert. 9. Es sei f : [0, 1] → [0, 1] stetig. Zeigen Sie, dass der Graph von f einen Schnittpunkt mit der Parabel y = x2 besitzt. Hinweis: Betrachten Sie die Funktion g : [0, 1] → R verm¨oge g(x) = x2 −f (x).
§ 3 Anwendung auf rekursive Folgen Wir kommen zur¨ uck zur Diskussion rekursiver Wachstumsmodelle aus §1 in Kapitel 4. Wir betrachten eine rekursive Folge der Form an+1 = f (an ),
n ∈ N0 ,
(5-1)
mit gegebenem a0 ∈ R und stetigem f : R → R. Wir wollen der Frage nachgehen, wie man Kandidaten f¨ ur einen potentiellen Grenzwert a = lim an erh¨ alt: n→∞ Wenn der Grenzwert a = lim an existiert, dann gilt wegen der Stetigkeit n→∞
von f in a auch lim f (an ) = f (a) nach Definition 5.8 und dem Folgenkriterium n→∞
5.2, und wegen (5-1) gilt dann notwendig a = lim an+1 = lim f (an ) = f (a). n→∞
n→∞
Wir halten dieses Ergebnis in folgendem Satz fest. Satz 5.18. Wenn der Grenzwert a = lim an bei der Rekursion (5-1) mit stetigem n→∞
f existiert, dann gilt notwendig a = f (a). Man sagt, a ist ein Fixpunkt von f , oder auch a ist ein Fixpunkt der Rekursion (5-1).
3. Anwendung auf rekursive Folgen
77
Bei der Anwendung von Satz 5.18 ist zu beachten, dass die Konvergenz von (an )n vorausgesetzt ist, im allgemeinen muss der Grenzwert a = lim an jedoch n→∞ nicht notwendig existieren. Beispiel 5.19. Bei der geometrischen Folge ist an+1 = qan , d.h. an+1 = f (an ) mit f (x) = qx. Falls q = 1 ist, so ist Null der einzige Fixpunkt von f . Wenn also die geometrische Folge (an )n im Fall q = 1 u ¨berhaupt konvergiert, so ist der Grenzwert notwendig Null nach Satz 5.18. Allerdings konvergiert f¨ ur a0 = 0 die geometrische Folge (an )n nur falls |q| < 1 (bzw. q = 1) gilt, f¨ ur |q| > 1 ist sie divergent. Beispiel 5.20. In Beispiel 4.13 haben wir gesehen, dass das normalisierte logistische Modell bn+1 = rbn (1 − bn ),
n ∈ N0 ,
f¨ ur 1 < r ≤ 2 und 0 < b0 < 1− 1r monoton wachsend und beschr¨ankt ist, also ist die Folge (bn )n konvergent zu einem Grenzwert b = 0 nach dem Monotoniekriterium. Nun haben wir bn+1 = f (bn ) mit der stetigen Polynomfunktion f : R → R, f (x) = rx(1 − x), und gem¨ aß Satz 5.18 ist der Grenzwert b von (bn )n ein Fixpunkt von f , d.h., wir haben b = f (b) = rb(1 − b). Es ist leicht zu sehen, dass 0 und 1 − 1r die einzigen Fixpunkte von f sind (siehe auch Abbildung 24), und da Null als Grenzwert f¨ ur (bn )n ausscheidet, folgt lim bn = 1 − 1r . n→∞
Aufgaben ¨ 1. Uber die nachfolgenden rekursiv definierten Folgen (an )n ist bekannt, dass der Grenzwert a = lim an existiert. Bestimmen Sie jeweils seinen Wert: n→∞
i) an+1 = 2an − 2a2n , n ∈ N0 , a0 = 0,3. ii) an+1 = 12 an + a4n , n ∈ N0 , a0 = −1. iii) an+1 =
1 2
an +
q2 an
, n ∈ N0 , a0 = 1. Hierbei ist q > 0 ein fester Parameter.
2. Die Entwicklung einer Population nach dem Beverton–Holt-Modell erfolgt gem¨aß Ran an+1 = , n ∈ N0 , 1 + R−1 an K wobei K > 0 und R > 1. Zeigen Sie: F¨ ur jede Wahl von a0 > 0 konvergiert die gem¨aß obiger Rekursionsformel gebildete Folge (an )n , und es gilt lim an = K (vgl. Aufgaben zu n→∞
Kapitel 4).
78
Kapitel 5. Stetigkeit
Weitere Informationen im WWW ¨ Ubungsaufgaben bei Calculus On the Web: • Zur -δ-Definition des Grenzwertes und einfache Grenzwertaufgaben: Calculus Book I, Chapter Limits and Continuity, Section Ordinary Limits. • Weitere Grenzwertaufgaben und Grenzwert nach Unendlich: Calculus Book I, Chapter Limits and Continuity, Section One-sided Limits and Asymptotes, Modules Limits at infinity und One-sided limits sowie Section Special Limits, Module Piecewise limits. • Zur Stetigkeit: Calculus Book I, Chapter Limits and Continuity, Section Continuity. Anleitungen, Demonstrationen und Beispiele bei Visual Calculus: • Limits and Continuity.
Kapitel 6
Differentialrechnung und Anwendungen Es sei Y eine von T abh¨ angige Gr¨ oße verm¨oge der Funktionsgleichung Y = f (T ). ¨ Die Ableitung von f in einem Punkt t0 beschreibt die Anderungsrate von Y in Abh¨angigkeit von T im Punkt T = t0 . Besonders h¨aufig werden in den Naturwis¨ senschaften zeitabh¨ angige Gr¨ oßen betrachtet, und die Anderungsrate ist dann die Geschwindigkeit, mit der Y sich in Abh¨ angigkeit von der Zeit ¨andert. Beispiel 6.1. i) Es sei s = s(t), t ≥ 0, die seit dem Zeitpunkt t = 0 zur¨ uckgelegte Strecke (z.B. bei einer Autofahrt). Die Durchschnittsgeschwindigkeit im Zeitintervall [t0 , t0 + ∆t], t0 > 0, betr¨ agt ∆s(t0 ) Zur¨ uckgelegte Strecke s(t0 + ∆t) − s(t0 ) = = . ∆t L¨ ange des Zeitintervalles ∆t F¨ ur ∆t < 0 gilt dieselbe Formel bzgl. des Zeitintervalles [t0 + ∆t, t0 ]. Die Geschwindigkeit zum Zeitpunkt t0 erh¨alt man (im Falle der Existenz) nun als Grenzwert f¨ ur ∆t → 0, d.h. ds(t0 ) ∆s(t0 ) s(t0 + ∆t) − s(t0 ) = lim = lim . ∆t→0 ∆t→0 dt ∆t ∆t ii) Es sei N = N (t), t ≥ 0, die Gr¨ oße einer Population zum Zeitpunkt t. Die durchschnittliche oder mittlere Wachstumsrate im Zeitintervall [t0 , t0 + ∆t] (bzw. [t0 + ∆t, t0 ]) betr¨ agt ¨ ∆N (t0 ) Anderung der Populationsgr¨oße N (t0 + ∆t) − N (t0 ) = = . ∆t L¨ ange des Zeitintervalles ∆t
80
Kapitel 6. Differentialrechnung und Anwendungen Die Geschwindigkeit, mit der die Population sich zum Zeitpunkt t0 ver¨andert, erh¨alt man analog zu i) (im Falle der Existenz) als Grenzwert dN (t0 ) ∆N (t0 ) N (t0 + ∆t) − N (t0 ) = lim = lim . ∆t→0 ∆t→0 dt ∆t ∆t
iii) Es sei R = R(t), t ≥ 0, die Konzentration eines bei einer chemischen Reaktion gebildeten Produktes zum Zeitpunkt t ≥ 0 w¨ahrend der Reaktion. Die durchschnittliche bzw. mittlere Reaktionsrate im Zeitintervall [t0 , t0 + ∆t] (bzw. [t0 + ∆t, t0 ]) betr¨ agt ¨ ∆R(t0 ) Anderung der Stoffkonzentration R(t0 + ∆t) − R(t0 ) = = , ∆t L¨ ange des Zeitintervalles ∆t und die Reaktionsrate zum Zeitpunkt t0 erh¨alt man (im Falle der Existenz) als Grenzwert dR(t0 ) ∆R(t0 ) R(t0 + ∆t) − R(t0 ) = lim = lim . ∆t→0 ∆t→0 dt ∆t ∆t Definition 6.2. Es sei f : I → R eine Funktion, wobei I ⊆ R ein offenes Intervall ist, d.h. I = (a, b) mit a ∈ R ∪ {−∞} und b ∈ R ∪ {+∞}, a < b, und es sei t0 ∈ I. Die Funktion f heißt differenzierbar in t0 , falls der Grenzwert f (t0 ) = lim
h→0
f (t0 + h) − f (t0 ) f (t) − f (t0 ) = lim t→t0 h t − t0
in R existiert. f (t0 ) heißt die Ableitung von f in t0 . Falls f in jedem Punkt t0 ∈ I differenzierbar ist, so heißt f differenzierbar auf I (oder nur kurz differenzierbar ). In diesem Fall ist die Abbildung f : I → R, t → f (t), wohldefiniert und heißt die Ableitung von f . Die folgenden verschiedenen Schreibweisen f¨ ur die Ableitung von f im Punkt t0 ∈ I sind u ¨blich: df df (t0 ) d f (t0 ) = (t0 ) = = f (t0 ). dt dt dt H¨aufig schreibt man bei einer auf ganz I differenzierbaren Funktion auch df = f dt und df (t0 ) = f (t0 ) dt f¨ ur t0 ∈ I (hierbei handelt es sich um sog. Differentiale). 6.3. Die Ableitung f (t0 ) kann man geometrisch am Graphen der Funktion f wie folgt interpretieren: (t0 ) Der Differenzenquotient f (t0 +h)−f kann als Anstieg der Sekante h y=
f (t + h) − f (t ) 0 0 (t − t0 ) + f (t0 ) h
(6-1)
81 an den Graph von f durch die Punkte (t0 , f (t0 )) und (t0 +h, f (t0 +h)) interpretiert werden, siehe Abbildung 30 (vgl. auch 2.2). F¨ ur h → 0 erh¨alt man dann die Tangente y = f (t0 )(t − t0 ) + f (t0 ) (6-2) an den Graph von f im Punkt (t0 , f (t0 )), siehe Abbildung 31, und die Ableitung f (t0 ) ist die Steigung der Tangente.
f (t0 + h)
f (t0 + h) − f (t0 )
f (t0 ) h
t0
t0 + h
Abbildung 30: Sekante durch (t0 , f (t0 )) und (t0 + h, f (t0 + h))
Beispiel 6.4. i) Jede affin-lineare Funktion f : R → R verm¨oge f (x) = mx + b mit m, b ∈ R ist auf ganz R differenzierbar mit f (x) = m: Denn:
f (x+h)−f (x) h
= m ist unabh¨angig von h = 0, also gilt
f (x) = lim
h→0
f (x + h) − f (x) = m. h
ii) Die Funktion f : R → R verm¨ oge f (x) = x2 ist auf ganz R differenzierbar mit f (x) = 2x: Denn:
f (x+h)−f (x) h
=
x2 +2hx+h2 −x2 h
= 2x + h f¨ ur h = 0, also
f (x + h) − f (x) = 2x. h→0 h
f (x) = lim
82
Kapitel 6. Differentialrechnung und Anwendungen
f (t0 )
∆y ∆x
∆y ∆x
= f (t0 )
t0
Abbildung 31: Tangente an (t0 , f (t0 ))
iii) Die Funktion f : R\{0} → R verm¨ oge f (x) = x1 ist auf R\{0} differenzierbar 1 mit f (x) = − x2 (beachte, dass R \ {0} = (−∞, 0) ∪ (0, ∞) die Vereinigung zweier offener Intervalle ist): Denn: Es gilt f (x + h) − f (x) = h
1 x+h
−
h
1 x
=
x − (x + h) 1 =− hx(x + h) x(x + h)
1 f¨ ur h = 0. Nach den Grenzwerts¨ atzen 5.4 gilt − x(x+h) −→ − x12 , also h→0
f (x + h) − f (x) 1 = − 2. h→0 h x
f (x) = lim
iv) Der Absolutbetrag | · | : R → R ist stetig, aber nicht differenzierbar in 0: Denn: Beispiel iii) in 5.3 besagt gerade, dass der Absolutbetrag stetig auf ganz R ist. Der Differenzenquotient im Nullpunkt ist gegeben durch |0 + h| − |0| |h| = , h h und wir haben in Beispiel iv) in 5.3 bereits gesehen, dass der Grenzwert lim |h| h nicht existiert. Folglich ist der Absolutbetrag nicht differenzierbar im h→0
Nullpunkt.
83 Beispiel iv) in 6.4 ist ein Beispiel f¨ ur eine Funktion, die zwar stetig aber nicht differenzierbar in einem Punkt ist. Umgekehrt jedoch gilt, dass jede differenzierbare Funktion auch stetig ist. Satz 6.5. Es sei f : I → R differenzierbar in x0 ∈ I. Dann ist f stetig in x0 . Beweis. F¨ ur x = x0 gilt f (x) − f (x0 ) =
f (x) − f (x0 ) · (x − x0 ), x − x0
(x0 ) und nach den Grenzwerts¨ atzen 5.4 folgt lim f (x)−f · (x − x0 ) = f (x0 ) · 0 = 0. x−x0 x→x 0 Also gilt lim f (x) − f (x0 ) = 0, d.h. lim f (x) = f (x0 ). Nach Definition x→x0
x→x0
5.8 ist f stetig in x0 , wie behauptet.
In Satz 2.12 haben wir die Eulersche Zahl e als diejenige Zahl eingef¨ uhrt, f¨ ur welchen die Tangente an den Graphen der Exponentialfunktion exp zur Basis e im Punkt (0, 1) die Steigung 1 besitzt. Also gilt lim
h→0
exp(0 + h) − exp(0) exp(h) − 1 = lim = 1, h→0 h h
d.h., sowohl die Existenz des Grenzwertes als auch, dass der Wert 1 ist, sind Bestandteil des Satzes 2.12. Zusammen mit den Potenzgesetzen 2.8 f¨ uhrt uns das auf den folgenden Satz 6.6. Die Exponentialfunktion exp : R → R verm¨ oge exp(x) = ex ist auf ganz R differenzierbar mit exp (x) = exp(x). Beweis. Nach den Grenzwerts¨ atzen 5.4 folgt exp(x + h) − exp(x) exp(x) exp(h) − exp(x) exp(h) − 1 = = exp(x) −→ exp(x). h→0 h h h
Aufgaben 1. Es seien f1 : (0, ∞) → R, f1 (x) =
√
x
sowie P1 = (4, 2),
f2 : (0, ∞) → R, f2 (x) = 1 − x sowie P2 = (2, −7). 3
i) Berechnen Sie f¨ ur j = 1, 2 die Ableitungen fj (x), x > 0, direkt mit der Definition der Ableitung, d.h. durch Betrachtung der Grenzwerte der Differenzenquotienten. ii) Geben Sie die Tangentengleichungen an die Graphen der fj in den Punkten Pj an, j = 1, 2.
84
Kapitel 6. Differentialrechnung und Anwendungen
iii) Bestimmen Sie die Geradengleichungen der Normalen an die Graphen der fj in den Punkten Pj , j = 1, 2. Hierbei sind die Normalen an die Graphen in den Pj diejenigen Geraden, die auf den Tangenten senkrecht stehen. 2. Zeichnen Sie die Graphen der folgenden Funktionen, und geben Sie aufgrund Ihrer Graphen die Stellen an, an denen die Funktionen nicht differenzierbar sind: i) f (x) = |x2 − 3|, x ∈ R. ii)
x falls x ≤ 0, f (x) = x + 1 falls x > 0.
iii)
f (x) =
falls x ≤ −1, falls x > −1.
x2 2 − x2
3. Die Masse M von Glucose nimmt bei einem Stoffwechselexperiment nach folgender Formel ab: M (t) = 4,5 − 0,03 · t2 . Bestimmen Sie die Reaktionsraten M (t) zu den Zeiten t = 0, t = 1 sowie t = 2. ¨ Wie lautet dagegen die mittlere Anderungsrate von M im Intervall [0, 2]? 4. Eine Kugel wird zur Zeit t0 = 0 mit der Anfangsgeschwindigkeit v0 = 100 ms senkrecht in die Luft geschossen. Zur Zeit t1 schl¨agt sie wieder auf dem Boden auf. Zur Zeit t ∈ [t0 , t1 ] befindet sich die Kugel in der H¨ohe h(t) = v0 · t −
1 · g · t2 , 2
wobei g = 9,81 sm2 die Erdbeschleunigung ist. i) Berechnen Sie die Geschwindigkeit v(t) = h (t) der Kugel. ii) Berechnen Sie den Zeitpunkt t1 des Wiederaufschlagens auf den Boden. iii) Zeichnen Sie f¨ ur t ∈ [t0 , t1 ] den Graph der Funktion h.
§ 1 Differentiationsregeln Im folgenden stellen wir die wichtigsten Differentiationsregeln zusammen. Satz 6.7. Es seien f, g : I → R differenzierbar in x0 ∈ I. Dann gilt: i) f ± g : I → R sind differenzierbar in x0 mit
1. Differentiationsregeln
85
(f ± g) (x0 ) = f (x0 ) ± g (x0 ).
(Summenregel)
ii) F¨ ur λ ∈ R ist λf : I → R differenzierbar in x0 mit (λf ) (x0 ) = λf (x0 ). iii) f · g : I → R ist differenzierbar in x0 mit (f · g) (x0 ) = f (x0 )g(x0 ) + f (x0 )g (x0 ).
(Produktregel) f : I → R differenzierbar g
iv) Falls g(x) = 0 f¨ ur alle x ∈ I, so ist der Quotient in x0 mit f g
(x0 ) =
g(x0 )f (x0 ) − f (x0 )g (x0 ) . g(x0 )2
(Quotientenregel)
Beweis. i) und ii) folgen unmittelbar aus den Grenzwerts¨atzen 5.4 bei Betrachtung der Differenzenquotienten. Zum Beweis von iii): Nach Satz 6.5 gilt lim g(x0 + h) = g(x0 ). Nach Voraush→0
setzung erhalten wir dann mit den Grenzwerts¨atzen 5.4 f (x0 + h)g(x0 + h) − f (x0 )g(x0 ) h f (x0 ) − f (x0 ) g(x0 + h) − g(x0 ) = · g(x0 + h) +f (x0 ) · h h →f (x0 )
→g(x0 )
→g (x0 )
−→ f (x0 )g(x0 ) + f (x0 )g (x0 )
h→0
wie behauptet. iv) beweisen wir unter Punkt 6.16.
Folgerung 6.8 (Ableitung von Polynomfunktionen). Nach der Produktregel ist die Funktion x → xn = x · . . . · x (n Faktoren), n ∈ N, differenzierbar auf ganz R, und d n es gilt dx x = nxn−1 (formal kann man dies durch einen Induktionsbeweis nach n einsehen). n Nach Satz 6.7 ist also jede Polynomfunktion f (x) = aj xj mit den Koefj=0
fizienten aj ∈ R als endliche Summe von Vielfachen differenzierbarer Funktionen differenzierbar, und es gilt df (x) = aj jxj−1 , dx j=1 n
x ∈ R.
(6-3)
86
Kapitel 6. Differentialrechnung und Anwendungen
Beispiele: •
d (x5 dx
+ 3x2 + 1) = 5x4 + 3 · 2x1 = 5x4 + 6x.
•
d (4x3 dx
+ x + 5) = 4 · 3x2 + 1 = 12x2 + 1.
• Die Polynomfunktion f (x) = (3x + 1)(2x2 − 5), x ∈ R, k¨onnen wir zun¨achst ausmultiplizieren und dann nach (6-3) ableiten, jedoch ist hier die direkte Anwendung der Produktregel effizienter: d (3x + 1)(2x2 − 5) = 3(2x2 − 5) + (3x + 1)(4x) = 18x2 + 4x − 15. dx Folgerung 6.9 (Ableitung von rationalen Funktionen). Mit der Produkt- und Quop tientenregel sowie 6.8 folgt, dass jede rationale Funktion f = außerhalb der q Nullstellenmenge des Nenners q differenzierbar ist. Zum Beispiel haben wir •
d x dx x2 +1
•
d x2 +x+1 dx x−1
=
(x2 +1)·1−x(2x) (x2 +1)2
=
=
1−x2 x4 +2x2 +1 .
(x−1)(2x+1)−(x2 +x+1)·1 (x−1)2
=
x2 −2x−2 . x2 −2x+1
Eine der wichtigsten und m¨ achtigsten Differentiationsregeln ist die Kettenregel. Satz 6.10 (Kettenregel). Es seien f : J → R und g : I → R mit g(I) ⊆ J Funktionen. Es sei g differenzierbar in x0 ∈ I und f differenzierbar in g(x0 ) ∈ J. Dann ist die Komposition f ◦ g : I → R differenzierbar in x0 ∈ I mit (f ◦ g) (x0 ) = f g(x0 ) · g (x0 ). Beweis. F¨ ur 0 < |h| < ε, also 0 = h ∈ (−ε, ε) f¨ ur ein hinreichend kleines ε > 0, betrachten wir den Differenzenquotienten f g(x0 + h) − f g(x0 ) (f ◦ g)(x0 + h) − (f ◦ g)(x0 ) = . (6-4) h h Wir definieren die Funktion f ∗ : (−ε, ε) → R verm¨oge f (g(x0 +h))−f (g(x0 )) , falls g(x0 + h) = g(x0 ), ∗ 0) f (h) = g(x0 +h)−g(x f g(x0 ) , falls g(x0 + h) = g(x0 ). Die Funktion f ∗ ist stetig in Null: Es sei (hn )n eine beliebige Folge mit lim hn = 0. n→∞
Da g in x0 differenzierbar ist, gilt nach Satz 6.5 und dem Folgenkriterium 5.2 jedenfalls lim g(x0 +hn ) = g(x0 ). Aufgrund der vorausgesetzten Differenzierbarkeit n→∞
von f in g(x0 ) existiert der Grenzwert f g(x0 ) =
f (y) − f g(x0 ) lim , y→g(x0 ) y − g(x0 )
1. Differentiationsregeln
87
d.h., f¨ ur jede Folge (yn )n ⊆ J mit lim yn = g(x0 ), yn = g(x0 ), gilt n→∞
f (yn ) − f g(x0 ) f g(x0 ) = lim . n→∞ yn − g(x0 )
(6-5)
W¨ahle speziell die Folge yn = g(x0 + hn ), n ∈ N. Mit der Grenzbeziehung (6-5) und der Definition von f ∗ folgt, dass sowohl im Fall yn = g(x0 ) f¨ ur unendlich viele n ∈ N als auch im Fall y = g(x ) f¨ u r alle hinreichend großen n ∈ N jedenfalls n 0 lim f ∗ (hn ) = f g(x0 ) = f ∗ (0) gilt. Da die Folge (hn )n mit lim hn = 0 beliebig n→∞
n→∞
war, folgt mit dem Folgenkriterium 5.2 die Existenz von lim f ∗ (h) = f ∗ (0), d.h., f ∗ ist stetig in Null nach Definition 5.8. Wir schreiben den Differenzenquotienten (6-4) als
h→0
(f ◦ g)(x0 + h) − (f ◦ g)(x0 ) g(x0 + h) − g(x0 ) = f ∗ (h) · . h h 0 +h)−g(x0 ) Diese Identit¨at folgt durch Erweiterung um g(x , falls g(x0 + h) = g(x0 ), g(x0 +h)−g(x0 ) bzw. ist offensichtlich richtig, falls g(x0 + h) = g(x0 ). 0) Nun haben wir lim f ∗ (h) = f ∗ (0) = f g(x0 ) und lim g(x0 +h)−g(x = h
h→0
g (x0 ), und mit den Grenzwerts¨ atzen 5.4 folgt
h→0
(f ◦ g)(x0 + h) − (f ◦ g)(x0 ) = f g(x0 ) · g (x0 ) h→0 h
(f ◦ g) (x0 ) = lim wie behauptet.
Folgerung 6.11 (Ableitung der Exponentialfunktion, allgemeine Basen). Es sei f : R → R verm¨ oge f (x) = ax = ex ln(a) . Dann gilt f = g1 ◦ g2 , wobei g1 (y) = ey differenzierbar ist nach Satz 6.6 mit g1 (y) = ey , und g2 (x) = x ln(a) differenzierbar ist mit g2 (x) = ln(a). Mit der Kettenregel folgt nun die Differenzierbarkeit von f , und es gilt f (x) = g1 g2 (x) · g2 (x) = ex ln(a) ln(a) = ln(a)ax . Folgerung 6.12 (Ableitung des Logarithmus). Betrachte die Logarithmusfunktion loga : (0, ∞) → R, a > 0, a = 1. Wir verwenden, dass loga differenzierbar ist. Dies kann man mit dem Satz ¨ uber die Differenzierbarkeit der Umkehrfunktion 6.17 einsehen, auf den wir hier aber nicht n¨ aher eingehen wollen. Wir haben x = aloga (x) = (g1 ◦ g2 )(x) f¨ ur x > 0, wobei g1 (y) = ay und g2 (x) = loga (x). Nach der Kettenregel und 6.11 folgt 1= d.h.
d x = g1 g2 (x) · g2 (x) = ln(a)aloga (x) · loga (x) = x ln(a) loga (x), dx
88
Kapitel 6. Differentialrechnung und Anwendungen loga (x) =
1 ln(a)
· x1 ,
x > 0.
Speziell f¨ ur den nat¨ urlichen Logarithmus, d.h. a = e, ergibt sich damit ln (x) = x1 . Folgerung 6.13 (Ableitung der allgemeinen Potenz). Betrachte die allgemeine Potenzfunktion f : (0, ∞) → R verm¨ oge f (x) = xa = ea ln(x) zur Basis a ∈ R. Dann y gilt f = g1 ◦ g2 mit g1 (y) = e und g2 (x) = a ln(x). Aus der Kettenregel, Satz 6.6 und Folgerung 6.12 folgt, dass auch f differenzierbar ist auf (0, ∞) mit f (x) = g1 g2 (x) · g2 (x) = ea ln(x) ·
a x
= axa−1 .
Satz 6.14 (Ableitung von Sinus und Kosinus). Die Sinus- und Kosinusfunktion sin, cos : R → R sind differenzierbar auf ganz R, und es gilt sin (x) = cos(x) sowie cos (x) = − sin(x) f¨ ur x ∈ R. Das Zusammenwirken der Differentiationsregeln aus diesem Abschnitt zeigen die folgenden Beispiele. 2
2
d x +1 Beispiel 6.15. i) dx 2 = ln(2)2x +1 · 2x. √ d 1 ii) dx x4 + x2 + 1 = 2√x4 +x · (4x3 + 2x). 2 +1
iii)
d dx
iv)
√ d x dx e
v)
ln(x(x + 1)) =
d x x dx
=e
=
1 ((x x(x+1)
+ 1) + x) =
2x+1 . x2 +x
√ 1 x √ . 2 x
d x ln(x) e dx
= ex ln(x) (ln(x) + x · x1 ) = xx (ln(x) + 1).
6.16. Die Quotientenregel iv) aus Satz 6.7, die wir dort nicht bewiesen haben, ergibt sich wie folgt aus der Produktregel iii) in Satz 6.7 und der Kettenregel 6.10: Aus Beispiel iii) in 6.4 wissen wir, dass die Funktion h(x) = x1 differenzierbar auf R \ {0} ist mit h (x) = − x12 . Es sei also g : I → R eine Funktion mit g(x) = 0 f¨ ur alle x ∈ I, und g sei differenzierbar in x0 ∈ I. Dann ist nach Kettenregel die Funktion h ◦ g = g1 : I → R differenzierbar in x0 mit d 1 (h ◦ g)(x0 ) = h g(x0 ) · g (x0 ) = − · g (x0 ). dx g(x0 )2 Ist f : I → R eine weitere Funktion, die in x0 differenzierbar ist, so erhalten wir mit der Produktregel die Differenzierbarkeit von f · g1 in x0 , und es gilt g (x ) g(x )f (x ) − f (x )g (x ) d f 1 0 0 0 0 0 (x0 ) = f (x0 ) + f (x0 ) · − = . dx g g(x0 ) g(x0 )2 g(x0 )2
1. Differentiationsregeln
89
Wir notieren noch den f¨ ur die Anwendungen (siehe z.B. 6.12) n¨ utzlichen Satz u ber die Differenzierbarkeit der Umkehrfunktion, auf den wir jedoch nicht weiter ¨ eingehen werden. Es sei noch darauf hingewiesen, dass auf die Annahme u ¨ ber das Nichtverschwinden der Ableitung nicht verzichtet werden kann wie z.B. die Funktion f : R → R, f (x) = x3 zeigt (die Umkehrfunktion ist nicht differenzierbar in Null). Satz 6.17 (Satz von der Inversen). Es sei I ⊆ R ein offenes Intervall, und f : I → R sei differenzierbar. Es gelte f (x) = 0 f¨ ur alle x ∈ I. Dann ist die Bildmenge J = f (I) ⊆ R ein offenes Intervall, und die Funktion f : I → J ist bijektiv. Nach Kapitel 1, §2, existiert also die Umkehrfunktion f −1 : J → I. Diese ist differenzierbar auf J, und die Ableitung ist gegeben durch d −1 1 f (y) = −1 dy f f (y) f¨ ur alle y ∈ J.
Aufgaben 1. Berechnen Sie die Ableitung von f (x) = (5x + 2)2 , x ∈ R, auf folgende drei Arten: i) Durch Ausmultiplizieren und gliedweises Differenzieren des entstehenden Polynoms. ii) Unter Verwendung der Produktregel. iii) Unter Verwendung der Kettenregel. 2. Berechnen Sie die Ableitung der folgenden Funktionen: 7 i) f (x) = (2x − 1)(2 − x2 ), viii) f (u) = u2 − 2u + 1, 1 π ii) f (x) = x2 − 1 2x + 3x2 , ix) f (u) = 3u7 − 7u , 2 iii) f (x) = (x − 3)(2x2 + 1)(1 − x2 ), x) f (r) = (r2 − r)3 (r + 3r3 )−4 , 3 3t3 + 2t − 1 iv) f (t) = 2 , xi) f (x) = x3 − 3x + 3x , 5t − 2t + 1 r 1 + 2s2 − 4s4 v) f (s) = , xii) f (r) = ln(r) , 3s3 − 5s5 vi) f (x) = 6 vii) f (t) = e
√ 6x6 −6
,
√ −t2 − 2t+1
,
xiii) f (x) = xln(x), u xiv) f (u) = uu , xv) f (x) = ln 2x2 − x.
90
Kapitel 6. Differentialrechnung und Anwendungen
3. Es seien a, k > 0 reelle Parameter und f, g differenzierbare Funktionen. Bestimmen Sie die Ableitung der folgenden Funktionen: i) h(x) = 2a(x2 − a)2 + a,
iv) h(x) = (−2f (x) − 3g(x))g(x) +
ii) h(x) = (f (x) + 2g(x))g(x), iii) h(x) =
ax2 , k 2 + x2
2g(x) , 3
x2 + 4f (x) , f (x)2 x2 vi) h(x) = √ . x · f (x) − g(x) v) h(x) =
4. Bestimmen Sie die Ableitungen der folgenden Funktionen f : i) f (x) = g xa+x 2 +1 . ii) f (x) =
x2 hc2
+
√ a . 2g(x)
π iii) f (x) = xg(x) .
In i)–iii) ist g jeweils eine geeignete differenzierbare Funktion, und a, h, c sind geeignete Konstanten. 5. Bestimmen Sie die Ableitung der folgenden Funktionen: √ i) h(x) = x + x x. 2 (x) ii) h(x) = fg(x) +1 . 2x iii) h(x) = f (x) + 3 . In ii) und iii) sind f bzw. g jeweils differenzierbare Funktionen. 6. Es seien r, K, N0 > 0 mit K > N0 Parameter. Wir definieren f : R → R durch f (t) =
1+
K , −rt N0 − 1 e
K
t ∈ R.
Es gelte • lim f (t) = 100, t→∞
• f (0) = 10, • f (0) = 9. Bestimmen Sie die Werte der Parameter r, K und N0 . 7. Zwei Radfahrer fahren an demselben Punkt mit konstanter Geschwindigkeit los, einer nach Westen mit 20 km/h, der andere nach S¨ uden mit 26 km/h. Bestimmen Sie die Geschwindigkeit, mit der beide Radfahrer sich voneinander entfernen.
2. Lineare Approximation und Fehlerrechnung
91
8. Ein kugelf¨ormiger Ballon wird mit Luft bef¨ ullt, wobei konstant 288π cm3 pro Sekunde hineingepumpt werden. Wenn der Radius des Ballons bei 6cm liegt, wie ist dann die Geschwindigkeit der radialen Zunahme dr ? dt Bemerkung: Das Volumen einer Kugel mit Radius r betr¨agt V = 43 πr3 . 9. Es seien u und v differenzierbare Funktionen von t. i) Es sei u(t)2 + v(t)2 = 1 f¨ ur alle t. Man bestimme du 1 (t ) = 2 und u(t ) = 0 dt 0 2 sowie v(t0 ) > 0 gilt.
dv (t ) dt 0
in allen t0 , f¨ ur die
ii) Es sei u(t)2 + v(t)3 = 12 f¨ ur alle t. Man bestimme dv (t ) = 2 und v(t0 ) = 2 sowie u(t0 ) > 0 gilt. dt 0
du (t ) dt 0
in allen t0 , f¨ ur die
10. Verwenden Sie die geometrische Interpretation der Ableitung, um die Geradengleichungen der Tangenten an den Einheitskreis x2 + y 2 = 1 im R2 in folgenden Punkten zu bestimmen: i) (1, 0),
ii)
1 1√ , 3 , 2 2
1√ 1√ iii) − 2, − 2 , 2 2
iv) (0, −1).
Hinweis: Beachten Sie, dass man durch Aufl¨osen der Kreisgleichung nach den Koordinaten sowohl die y-Koordinate als Funktion von x auffassen kann, als auch umgekehrt die x-Koordinate als Funktion von y.
§ 2 Lineare Approximation und Fehlerrechnung Eine unmittelbare Konsequenz von Definition 6.2 und der Tangentengleichung (6-2) ist der folgende Satz u ¨ ber die affin-lineare Approximierbarkeit einer differenzierbaren Funktion durch ihre Tangente. Satz 6.18 (Lineare Approximierbarkeit). Es sei f : I → R differenzierbar in x0 ∈ I. Dann ist die Tangente an den Graphen von f im Punkt (x0 , f (x0 )) gegeben durch Tf (x) = f (x0 ) + f (x0 )(x − x0 ),
x ∈ R,
und es gilt f (x) = Tf (x) + r(x) mit einem Fehler r : I → R, der die Grenzbeziehung lim
x→x0
erf¨ ullt.
r(x) =0 x − x0
(6-6)
92
Kapitel 6. Differentialrechnung und Anwendungen Eine direkte Folgerung der Grenzbeziehung (6-6) ist lim r(x) = 0 (dies ist x→x0
z.B. eine weitere Begr¨ undung f¨ ur die Stetigkeit von f in x0 , siehe auch Satz 6.5). Die Umkehrung allerdings gilt nicht, d.h., die Grenzbeziehung (6-6) ist (tats¨achlich sogar wesentlich) st¨ arker als die Aussage lim r(x) = 0. x→x0 Insbesondere haben wir lim f (x) − Tf (x) = 0, d.h., die Funktion f wird x→x0
in der N¨ahe von x0 durch ihre Tangente approximiert. Dies ist auch graphisch gut nachvollziehbar, siehe Abbildung 31. Die Bedeutung von Satz 6.18 liegt darin begr¨ undet, dass wir bis auf einen kleinen — oft vernachl¨ assigbaren — Fehler mit der Tangente Tf anstelle der Funktion f rechnen k¨ onnen, wenn wir nur nahe genug beim Punkt x0 sind. Die Tangente hat als lineare Funktion eine analytisch sehr einfache Struktur. Beispiel 6.19. Wir wollen den numerischen Wert von e0,001 sch¨atzen: Die Tangente der Exponentialfunktion im Punkt (0, 1) ist gegeben durch y = 1 + x, d.h., wir erhalten als Sch¨ atzung e0,001 = exp(0,001) ≈ Texp (0,001) = 1 + 0,001 = 1,001. Ein Vergleich mit dem Taschenrechner zeigt, dass dies eine wirklich gute Sch¨atzung ist. Wenn wir allerdings die Tangente im Nullpunkt als Sch¨atzung f¨ ur e2 ver2 wenden, also e ≈ 1 + 2 = 3, so stellen wir fest, dass hier bereits eine deutliche Abweichung vom tats¨ achlichen Wert vorliegt. Die G¨ ute der tangentialen Approximation h¨angt also wesentlich davon ab, wie nah wir beim Entwicklungspunkt x0 liegen. Lineare Approximation wird h¨ aufig zur Absch¨atzung der Auswirkungen von Fehlern bei abh¨ angigen Gr¨ oßen eingesetzt. Beispiel 6.20. Fachwissenschaftliche Experimente legen den folgenden Zusammenhang zwischen der Oberfl¨ ache (O) des Laubes von B¨aumen und dem Durchmesser (d) des Baumstammes etwa 1 m u ¨ ber dem Waldboden nahe: O ∝ d1,84 . Folglich existiert eine Konstante k > 0, so dass f¨ ur die Oberfl¨ache O : (0, ∞) → R, O(d) = k · d1,84 gilt. Angenommen ein Baumstamm hat den Durchmesser d0 > 0, bei der Messung jedoch wird ein kleiner Fehler ∆d gemacht, d.h., die Messung des Durchmessers ergibt den Wert d0 + ∆d. Bei Anwendung von O erh¨alt man nun O(d0 + ∆d), der tats¨achliche Wert allerdings ist O(d0 ). Die Auswirkung des Messfehlers ∆d auf die abh¨angige Gr¨ oße O ist also ∆O(d0 ) = O(d0 + ∆d) − O(d0 ). Wir verwenden nun die Approximation von O in der N¨ahe von d0 durch die Tangente TO an den Graphen von O im Punkt (d0 , O(d0 )). Es ergibt sich O(d0 +∆d) ≈ TO (d0 + ∆d) = O(d0 ) + O (d0 )∆d bzw. ∆O(d0 ) ≈ O (d0 )∆d.
(6-7)
2. Lineare Approximation und Fehlerrechnung
93
H¨aufig ist es m¨ oglich, Aussagen u ¨ ber den Messfehler ∆d relativ zum tats¨achlichen Wert d0 zu machen, z.B. durch die Wahl geeigneter Messtechnik. Angenommen, man kann die Messung mit einer Abweichung von h¨ochstens 2 % durchf¨ uhren. Wir haben also ∆d 2 . ≤ d0 100 Gem¨aß der Identit¨ at (6-7) erhalten wir ∆O(d0 ) d0 · O (d0 ) ∆d ≈ · . O(d0 ) O(d0 ) d0 Wegen
d0 ·O (d0 ) O(d0 )
(6-8)
= 1,84 folgt ∆O(d ) ∆d 0 ≈ 1,84 · ≤ 1,84 · 0,02 = 0,0368, O(d0 ) d0
d.h., die abh¨angige Gr¨ oße O ist mit einer Abweichung von h¨ochstens 3,68 % bestimmt. Definition 6.21. Es sei f : I → R in x0 ∈ I differenzierbar. i) Der vorzeichenbehaftete Fehler der unabh¨angigen Variablen bei x0 ist ∆x, der resultierende vorzeichenbehaftete Fehler der abh¨angigen Gr¨oße Y = f (X) ist ∆f (x0 ) = f (x0 + ∆x) − f (x0 ). ii) Der vorzeichenbehaftete Relativfehler bei x0 = 0 ist ∆x , der resultierende x0 vorzeichenbehaftete Relativfehler von Y = f (X) ist (f¨ ur f (x0 ) = 0) definiert durch ∆f (x0 ) . f (x0 ) iii) Der Absolutfehler bei x0 ist |∆x|, der resultierende Absolutfehler der abh¨angigen Gr¨oße Y = f (X) ist |∆f (x0 )|. iv) Der Relativfehler bei x0 = 0 ist ∆x x0 , der resultierende Relativfehler der ∆f (x0 ) abh¨angigen Gr¨ oße ist f (x0 ) (falls f (x0 ) = 0). In den Anwendungen werden vor allem der Absolutfehler und der Relativfehler ben¨otigt, da man im allgemeinen keine Informationen u ¨ber das Vorzeichen des Fehlers hat. Wie in Beispiel 6.20 wird der Relativfehler oft in Prozent angegeben. Die n¨aherungsweisen Formeln (6-7) und (6-8) u ¨ber die Fortpflanzung von Fehlern gelten allgemein: |∆f (x0 )| ≈ |f (x0 )| · |∆x|, ∆f (x ) x · f (x ) ∆x 0 0 0 ≈ · . f (x0 ) f (x0 ) x0
(6-9) (6-10)
94
Kapitel 6. Differentialrechnung und Anwendungen
Beispiel 6.22. Durch Messung des Radius r > 0 soll die Oberfl¨ache O einer kugelf¨ormigen Zelle ermittelt werden, d.h., wir haben O(r) = 4πr2 , r > 0, und die erlaubte Abweichung f¨ ur O soll nur bei etwa 5 % liegen. Wir haben also ∆O(r) r · O (r) ∆r ∆r 5 ≥ ≈ · =2· . 100 O(r) O(r) r r Der Radius der Zelle muss also mit einer Toleranz von 2,5 % gemessen werden.
Aufgaben 1. Die Geschwindigkeit v = v(R), mit der Blut im Zentrum einer Arterie fließt, deren Querschnitt den Radius R besitzt, ist nach Poiseuille’s Gesetz durch v(R) = cR2 gegeben, wobei c > 0 eine geeignete Konstante ist. Angenommen, Sie haben den Radius des Querschnittes mit einer Abweichung von h¨ochstens 5 % bestimmt. Wie ist bei Verwendung von Poiseuille’s Gesetz (n¨aherungsweise) die resultierende Abweichung f¨ ur die Fließgeschwindigkeit des Blutes? 2. Zwischen der L¨ ange S des Sch¨ adels und der L¨ange L des R¨ uckgrates (gemessen in cm) bei fossilen Ichthyosauriern hat man die Beziehung S = 1,162 · L0,933
(6-11)
gefunden. Angenommen man findet ein unvollst¨andiges fossiles R¨ uckgrat eines Ichthyosauriers, kann aber seine tats¨ achliche L¨ange noch mit einer Abweichung von h¨ochstens 6 % ermitteln. Innerhalb welcher Toleranz ist bei Verwendung der Beziehung (6-11) zwischen S und L sowie bei linearer Approximation dann die L¨ange des Sch¨adels des fraglichen Sauriers bestimmt (Angabe in Prozent)? 3. Zwischen den Gr¨ oßen X und Y bestehe eine Beziehung der Form Y = F (X) mit der differenzierbaren Funktion F : (0, ∞) → (0, ∞). Es sei bekannt, dass der Quotient FF wie folgt abgesch¨ atzt werden kann: F (x) 5 f¨ ur alle x > 0. ≤ F (x) x Durch Messung von X und Verwendung der Beziehung Y = F (X) sollen geeignete Werte der Gr¨ oße Y bestimmt werden. Dabei soll zumindest n¨aherungsweise innerhalb von 3 % liegt. Innersichergestellt werden, dass der relative Fehler ∆Y Y halb welcher Toleranz sollte X gemessen werden, um bei Verwendung von linearer Approximation dies zu gew¨ ahrleisten (Angabe in Prozent)? 4. Zwischen den Gr¨ oßen X und Y mit der differenzierbaren Funktion Ableitung F wie folgt abgesch¨ atzt F (x) ≤
bestehe eine Beziehung der Form Y = F (X) F : (0, ∞) → (0, ∞). Es sei bekannt, dass die werden kann: 7 x
f¨ ur alle x > 0.
3. Der Mittelwertsatz und Anwendungen
95
Durch Messung von X und Verwendung der Beziehung Y = F (X) sollen geeignete Werte der Gr¨ oße Y bestimmt werden. Dabei soll zumindest n¨aherungsweise sichergestellt werden, dass der absolute Fehler ∆Y unterhalb von 3 (Einheiten) liegt. Innerhalb welcher Toleranz sollte X gemessen werden, um bei Verwendung von linearer Approximation dies zu gew¨ ahrleisten (gefragt ist nach dem relativen X-Fehler, Angabe in Prozent)?
§3 Der Mittelwertsatz und Anwendungen Satz 6.23 (Mittelwertsatz). Es seien a, b ∈ R, a < b, und es sei f : [a, b] → R stetig auf [a, b] und differenzierbar auf (a, b). Dann existiert ein ξ ∈ (a, b) mit f (b) − f (a) = f (ξ). b−a Geometrisch kann man sich die Aussage des Mittelwertsatzes leicht veranschaulichen, siehe Abbildung 32: Durch Parallelverschiebung der Sekante an den Graph von f durch die Punkte (a, f (a)) und (b, f (b)) erh¨alt man die Tangente in einem geeigneten Punkt (ξ, f (ξ)), ξ ∈ (a, b).
f(b)
f(a)
a
ξ
b
Abbildung 32: Der Mittelwertsatz Es sei Y = f (X) eine abh¨ angige Gr¨ oße, wobei f : R → R differenzierbar ist. (a) ¨ Gem¨aß Beispiel 6.1 ist f (b)−f die durchschnittliche Anderungsrate von Y im b−a
96
Kapitel 6. Differentialrechnung und Anwendungen
Intervall [a, b], a < b, in Abh¨ angigkeit von X, w¨ahrend f¨ ur jedes x0 ∈ R der Wert ¨ f (x0 ) die Anderungsrate im Punkt X = x0 ist. Der Mittelwertsatz besagt also, ¨ dass die durchschnittliche (mittlere) Anderungsrate im Intervall [a, b] identisch ist ¨ mit der Anderungsrate im Punkt X = ξ f¨ ur ein geeignetes ξ ∈ (a, b). Stellt man sich z.B. Y als zur¨ uckgelegte Distanz bei einer Autofahrt in Abh¨angigkeit der Zeit X vor, und ist v die Durchschnittsgeschwindigkeit vom Start bis zum Ziel, dann besagt der Mittelwertsatz, dass man irgendwo unterwegs einmal mit der Durchschnittsgeschwindigkeit v gefahren sein muss. ¨ Auch vor dem Hintergrund der Ableitung als Anderungsrate von abh¨angigen Gr¨oßen ist die Aussage des Mittelwertsatzes also leicht nachvollziehbar. Auf den mathematischen Beweis werden wir hier jedoch verzichten. Anwendung 6.24 (Absch¨atzung der Variation). Es sei f : [a, b] → R stetig auf [a, b] und differenzierbar auf (a, b) mit m ≤ f (x) ≤ M f¨ ur alle x ∈ (a, b) mit geeigneten Konstanten m, M ∈ R. Dann gilt m · (b − a) ≤ f (b) − f (a) ≤ M · (b − a). Beweis. Nach dem Mittelwertsatz 6.23 gilt mit einem ξ ∈ (a, b) m ≤ f (ξ) =
f (b) − f (a) ≤ M. b−a
Anwendung 6.25. i) Es sei f : [a, b] → R stetig auf [a, b] und differenzierbar auf (a, b). Dann ist f ≡ C konstant auf [a, b], d.h. f (x) = C f¨ ur alle x ∈ [a, b] mit einer festen Konstante C ∈ R, genau dann, wenn f ≡ 0 auf (a, b) gilt. ii) Sind g, h : [a, b] → R stetig auf [a, b] und differenzierbar auf (a, b) mit g (x) = h (x) f¨ ur alle x ∈ (a, b), so gilt g(x) = h(x) + C f¨ ur alle x ∈ [a, b], mit einer Konstante C ∈ R. Differenzierbare Funktionen sind also auf Intervallen durch ihre Ableitung bis auf Konstanten eindeutig bestimmt. Beweis. Zu i): Wenn f konstant ist, dann gilt offensichtlich f ≡ 0. Es sei also f ≡ 0, und es sei x ∈ (a, b] beliebig. Wir wenden den Mittelwertsatz 6.23 auf die Funktion f im Intervall [a, x] an und erhalten mit einem geeigneten ξ ∈ (a, x) f (x) − f (a) = f (ξ) = 0, x−a also f (x) = f (a). Da dies f¨ ur jedes x ∈ (a, b] gilt, folgt f (x) = f (a) = C f¨ ur alle x ∈ [a, b], d.h., f ist konstant. Zu ii): Nach Voraussetzung gilt (g − h) = g − h ≡ 0, also folgt mit i) g(x) − h(x) = C f¨ ur alle x ∈ [a, b] mit einer geeigneten Konstante C ∈ R.
3. Der Mittelwertsatz und Anwendungen
97
Definition 6.26 (Stammfunktion). Es sei f : (a, b) → R eine Funktion. Eine Funktion F : (a, b) → R heißt Stammfunktion von f , falls F differenzierbar ist auf (a, b) mit F = f . Mit F ist auch jede Funktion F + C : (a, b) → R mit einer Konstante C ∈ R eine Stammfunktion von f , und nach Anwendung 6.25 sind dies alle Stammfunktionen. Der Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung, den wir im Kapitel 7, Satz 7.9, thematisieren werden, motiviert die folgende Bezeichnung f¨ ur Stammfunktionen F + Const. einer Funktion f : f (t) dt = F (t) + Const., und jede Stammfunktion F + Const. heißt auch unbestimmtes Integral von f . Definition 6.27 (Equilibrium). Ein von der Zeit abh¨angiges biologisches (oder chemisches bzw. physikalisches) System, das durch die Funktion f beschrieben wird, befindet sich (ab dem Zeitpunkt t0 ) im Gleichgewicht bzw. in Ruhelage bzw. im Equilibrium, wenn f (t) ≡ Const. konstant f¨ ur alle Zeiten t (bzw. f¨ ur t > t0 ) ist. Wenn also f differenzierbar ist, so folgt nach 6.25, dass das durch f beschriebene System genau dann im Gleichgewicht ist (ab einem Zeitpunkt t0 ), wenn f (t) ≡ 0 ist (f¨ ur t > t0 ). Beispiel 6.28. Unter 2.4 haben wir bereits die chemische Reaktion A + B −→ AB betrachtet. F¨ ur die Reaktionsrate R gilt das chemische Gesetz (Massenwirkungsgesetz) R ∝ [A] · [B], (6-12) wobei [A] und [B] die Konzentrationen von A und B sind. In 2.4 haben wir die Reaktionsrate als Funktion von der Konzentration [AB] aufgefasst, d.h., x = [AB] war dort die unabh¨ angige Variable. Die chemische Reaktion findet w¨ ahrend eines bestimmten Zeitraumes statt, wobei t = 0 der Beginn der Reaktion sei. Anders als in 2.4 ist es deshalb nat¨ urlich, die Konzentration des Produktes als zeitabh¨angige Gr¨oße x(t) = [AB](t), t ≥ 0, aufzufassen, wobei x(0) = 0. Die Reaktionsrate ist die Geschwindigkeit, mit der das Produkt AB entsteht, d.h., die Reaktionsrate zum Zeitpunkt t0 > 0 ist die Ableitung dx dt (t0 ) der Konzentration von AB nach der Zeit. Es seien [A](t) = a − x(t) und [B](t) = b − x(t) die Konzentrationen von A und B zur Zeit t ≥ 0, wobei [A](0) = a und [B](0) = b die Konzentrationen zu Beginn der Reaktion sind. Aus (6-12) erhalten wir nun mit einer geeigneten Konstante k > 0 die Gleichung dx (t) = k[A](t)[B](t) = k a − x(t) b − x(t) , t > 0, (6-13) dt
98
Kapitel 6. Differentialrechnung und Anwendungen
d.h., die Reaktion wird durch eine Differentialgleichung beschrieben. Die Equilibria der Reaktion sind nach Definition 6.27 die Zust¨ande, f¨ ur die x(t) ≡ Const. gilt, d.h., wir haben 0≡
dx (t) = k a − x(t) b − x(t) , dt
also gilt x(t) ≡ a oder x(t) ≡ b. Die Reaktion befindet sich also im Gleichgewicht, wenn A oder B verbraucht sind. Definition 6.29. Es seien A ⊆ R und f : A → R eine Funktion. i) f heißt monoton wachsend, falls f¨ ur x, y ∈ A mit x < y stets f (x) ≤ f (y) gilt. ii) f heißt streng monoton wachsend, falls f¨ ur x, y ∈ A mit x < y stets f (x) < f (y) gilt. iii) f heißt monoton fallend, falls f¨ ur x, y ∈ A mit x < y stets f (x) ≥ f (y) gilt. iv) f heißt streng monoton fallend, falls f¨ ur x, y ∈ A mit x < y stets f (x) > f (y) gilt. Man beachte, dass Definition 6.29 f¨ ur Funktionen im Fall A = N, also im Fall von Folgen, zum Monotoniebegriff aus Definition 4.3 ¨aquivalent ist. Anwendung 6.30 (Monotonietest). Es sei f : [a, b] → R stetig auf [a, b] und differenzierbar auf (a, b). i) Falls f (x) ≥ 0 f¨ ur alle x ∈ (a, b) gilt, so ist f monoton wachsend auf [a, b]. ii) Falls f (x) > 0 f¨ ur alle x ∈ (a, b) gilt, so ist f sogar streng monoton wachsend auf [a, b]. iii) Falls f (x) ≤ 0 f¨ ur alle x ∈ (a, b) gilt, so ist f monoton fallend auf [a, b]. iv) Falls f (x) < 0 f¨ ur alle x ∈ (a, b) gilt, so ist f sogar streng monoton fallend auf [a, b]. Beweis. Wir zeigen i) und ii); iii) und iv) folgen durch Anwendung von i) und ii) auf die Funktion −f anstelle von f . Es seien x, y ∈ [a, b], x < y, beliebig. Nach dem Mittelwertsatz 6.23, angewendet auf die Funktion f im Intervall [x, y], folgt die Existenz eines ξ ∈ (x, y) mit f (y) − f (x) = f (ξ). y−x Also folgt f (y) − f (x) ≥ 0 (im Falle von i)) bzw. f (y) − f (x) > 0 (im Falle von ii)), d.h., die Behauptung ist bewiesen.
3. Der Mittelwertsatz und Anwendungen
99
In i) und iii) aus Anwendung 6.30 gelten auch die Umkehrungen, in ii) und iv) nicht (z.B. ist die Funktion f (x) = x3 , x ∈ R, streng monoton wachsend, es gilt aber f (0) = 0). Beispiel 6.31. i) Die Exponentialfunktion f (x) = ax , x ∈ R, ist streng monoton wachsend f¨ ur a > 1 und streng monoton fallend f¨ ur 0 < a < 1 (siehe auch Abbildung 8): Denn: Wir haben f (x) = ln(a)ax , d.h., f (x) > 0 f¨ ur a > 1 bzw. f (x) < 0 f¨ ur 0 < a < 1 f¨ ur alle x ∈ R, siehe 6.11.
ii) Die Logarithmusfunktion loga : (0, ∞) → R ist streng monoton wachsend f¨ ur a > 1 und streng monoton fallend f¨ ur 0 < a < 1 (siehe auch Abbildung 9): 1 Denn: Es gilt loga (x) = x·ln(a) , d.h., loga (x) > 0 f¨ ur a > 1 bzw. loga (x) < 0 f¨ ur 0 < a < 1 f¨ ur alle x ∈ (0, ∞), siehe 6.12.
iii) Die allgemeine Potenzfunktion f (x) = xa , x ∈ (0, ∞), ist streng monoton wachsend f¨ ur a > 0 und streng monoton fallend f¨ ur a < 0 (vgl. Abbildung 7): Denn: Es gilt f (x) = axa−1 , also f (x) > 0 falls a > 0 und f (x) < 0 falls a < 0 f¨ ur alle x ∈ (0, ∞), siehe auch 6.13. Der Monotonietest 6.30 erm¨ oglicht es, das Monotonieverhalten einer differenzierbaren Funktion f : I → R auf einem Teilintervall durch Betrachtung des Vorzeichens der Ableitung zu untersuchen: Auf allen Teilintervallen, f¨ ur die f ≥ 0 gilt, ist f monoton wachsend, auf allen Teilintervallen mit f ≤ 0 monoton fallend, siehe auch Abbildung 33.
5
–2
0
2
4
–5
Funktion Ableitung Abbildung 33: Der Monotonietest
6
100
Kapitel 6. Differentialrechnung und Anwendungen
6.32. Bevor wir die Regel von l’Hospital in 6.33 beweisen k¨onnen, ben¨otigen wir das folgende auch als zweiter Mittelwertsatz der Differentialrechnung bekannte Ergebnis: Es seien f, g : [a, b] → R stetig auf [a, b] und differenzierbar auf (a, b). Dann gibt es ein ξ ∈ (a, b) mit g (ξ) f (b) − f (a) = f (ξ) g(b) − g(a) . Man beachte, dass sich f¨ ur g(x) = x wieder die Aussage des Mittelwertsatzes 6.23 ergibt. Beweis. Betrachte die Funktion h : [a, b] → R, h(x) = f (b) − f (a) g(x) − g(a) − g(b) − g(a) f (x) − f (a) . Dann ist h stetig auf [a, b] und differenzierbar auf (a, b), und es gilt h(a) = h(b) = 0. Mit dem Mittelwertsatz 6.23 folgt nun die Existenz von ξ ∈ (a, b) mit h (ξ) = 0, d.h. 0 = h (ξ) = f (b) − f (a) g (ξ) − g(b) − g(a) f (ξ). Anwendung 6.33 (Regel von l’Hospital). Es seien a, b ∈ R und f, g : (a, b) → R differenzierbar mit lim f (x) = lim g(x) = 0. (6-14) x→a
x→a
Es sei ferner g (x) = 0 f¨ ur alle x ∈ (a, b), und der Grenzwert f (x) =L∈R x→a g (x) lim
m¨oge existieren. Dann gilt auch g(x) = 0 f¨ ur alle x ∈ (a, b). Dar¨ uberhinaus exi(x) stiert der Grenzwert lim fg(x) , und es gilt x→a
f (x) f (x) = lim = L. x→a g(x) x→a g (x) lim
Beweis. Aufgrund der Grenzbeziehungen (6-14) k¨onnen wir die zun¨achst nur auf (a, b) definierten Funktionen f und g fortsetzen zu Funktionen F, G : [a, b) → R verm¨oge f (x), x ∈ (a, b), F (x) = 0, x = a, g(x), x ∈ (a, b), G(x) = 0, x = a, wobei F und G stetig auf [a, b) und differenzierbar auf (a, b) sind.
3. Der Mittelwertsatz und Anwendungen
101
Wir zeigen zun¨ achst, dass g(x) = 0 f¨ ur alle x ∈ (a, b) gilt: Wende den Mittelwertsatz 6.23 auf G als Funktion [a, x] → R an. Es folgt die Existenz eines ξ ∈ (a, x) mit G(x) − G(a) g(x) = = g (ξ) = 0, x−a x−a also gilt auch g(x) = 0. Es sei nun x ∈ (a, b) beliebig. Wende den zweiten Mittelwertsatz der Differentialrechnung 6.32 auf die Funktionen F und G im Intervall [a, x] an. Es folgt die Existenz eines ξx ∈ (a, x) mit G (ξx ) F (x) − F (a) = F (ξx ) G(x) − G(a) , und wegen F (a) = G(a) = 0 und der Definition von F und G folgt f (ξx ) f (x) = . g (ξx ) g(x) Es sei nun (xn )n ⊆ (a, b) eine beliebige Folge mit lim xn = a, und es sei (ξxn )n n→∞
eine gem¨aß obiger Vorgehensweise gebildete Folge. Dann gilt ξxn ∈ (a, xn ), also a < ξxn < xn , und nach dem Einschließungskriterium 4.14 folgt lim ξxn = a. n→∞ f (x) , also gilt nach dem x→a g (x) f (ξ ) f (ξ ) (xn ) lim xn . Wegen g (ξxxn ) = fg(x gilt n) n n→∞ g (ξxn )
Nach Voraussetzung existiert L = lim terium 5.2 notwendig L =
Folgenkrinun L =
lim f (xn ) , n→∞ g(xn )
und da die Folge (xn )n ⊆ (a, b) beliebig war mit lim xn = a, folgt n→∞ mit dem Folgenkriterium 5.2 die Behauptung. Die Regel von l’Hospital 6.33 gilt analog f¨ ur den Grenzwert x → b zum rechten Randpunkt, f¨ ur beidseitige Grenzwerte, und auch f¨ ur die Grenzwerte x → ∞ und x → −∞. Dar¨ uber hinaus ist entweder (6-14) vorauszusetzen, ebenso m¨oglich ist aber auch lim f (x) = lim g(x) = ±∞. (6-15) x→a
x→a
Folgerung 6.34 (Folgendarstellung der Exponentialfunktion). F¨ ur jedes x ∈ R gilt n x ex = lim 1 + , n→∞ n insbesondere ist also 1 n e = lim 1 + . n→∞ n Beweis. Die Funktionen f (y) = ln(1 + xy) und g(y) = y, y > 0, erf¨ ullen die Voraussetzungen der Regel von l’Hospital 6.33, und wir erhalten somit ln(1 + xy) = lim y→0 y→0 y lim
x 1+xy
1
= x.
102
Kapitel 6. Differentialrechnung und Anwendungen
Da die Exponentialfunktion stetig in x ist, folgt nach Definition 5.8 ln(1 + xy) lim exp = ex , y→0 y und mit dem Folgenkriterium 5.2 (angewendet auf die Folge yn = nun ln(1 + x · 1 ) x n n ex = lim exp = lim 1 + . 1 n→∞ n→∞ n n
1 ) n
erhalten wir
Beispiel 6.35. Die folgenden Beispiele illustrieren die Anwendung der Regel von l’Hospital 6.33: x2 −9 x→3 x−3
i) lim
ii) lim
ln(x) x
iii) lim
sin(x) x
x→∞
x→0
2x x→3 1
= lim
1 x→∞ x
= lim = lim
x→0
= 6. = 0.
cos(x) 1
= 1.
Aufgaben 1. f sei stetig auf [a, b] und differenzierbar auf (a, b), wobei a, b ∈ R mit a < b. Es sei f (a) = f (b) = 0, und f sei nicht konstant auf [a, b]. Zeigen Sie, dass es Punkte c1 , c2 ∈ (a, b) gibt mit f (c1 ) > 0 und f (c2 ) < 0. 2. Es sei N (t) die Gr¨ oße einer Population zum Zeitpunkt t ≥ 0. Es sei N (0) = 50 und |dN (t)/dt| ≤ 2 f¨ ur alle t ∈ (0, 5). Welche Absch¨atzung gewinnen Sie damit u ¨ ber N (5)? 3. Es sei N (t) die Gr¨ oße einer Population zum Zeitpunkt t ≥ 0, und es gelte dN (t) = N (t) e−aN (t) − N (t)2 , dt wobei a > 0 ein Parameter ist. i) Es sei N (t) ≡ N ∗ = 0 ein Equilibrium der Population. Zeigen Sie, dass ∗ N ∗ = e−aN gilt. ii) Fasst man a ∈ (0, ∞) als variabel auf, so ist das Equilibrium N ∗ = N ∗ (a) aus i) eine Funktion von a, wobei zudem N ∗ differenzierbar ist. Zeigen Sie: N ∗ : (0, ∞) → R ist eine monoton fallende Funktion von a > 0. iii) Zeigen Sie, dass in der Situation von ii) lim N ∗ (a) = 0 gilt. a→∞
4. Es seien f, g : [0, ∞) → R stetig auf [0, ∞) und differenzierbar auf (0, ∞) mit f (0) = g(0) und f (x) ≥ g (x) f¨ ur alle x ∈ (0, ∞). Zeigen Sie: Es gilt f (x) ≥ g(x) f¨ ur alle x ∈ [0, ∞).
4. Kurvendiskussion
103
5. Berechnen Sie die folgenden Grenzwerte: √ 3− 2x+9 . 2x x→0
i) lim
xk x , x→∞ e
ii) lim
wobei k ∈ N0 beliebig ist.
iii) lim x ln(x). x→0 √ iv) lim n n. n→∞ √ v) lim x − x2 + x . x→∞
6. Verwenden Sie die Regel von l’Hospital zur Berechnung von ex − 1 − x − lim x→0 x3
x2 2
.
§ 4 Kurvendiskussion Definition 6.36 (H¨ ohere Ableitungen). Es sei f : I → R differenzierbar. Falls die Ableitung f : I → R wieder differenzierbar ist, so heißt ihre Ableitung (f ) = f : I → R die zweite Ableitung von f . Ist allgemein die k-te Ableitung f (k) : I → R, k ∈ N, wieder differenzierbar, (k) (k+1) so heißt ihre Ableitung f =f : I → R die (k + 1)-te Ableitung von f . Die folgenden Schreibweisen f¨ ur den Wert der Ableitung f (k) , k ∈ N, im Punkt t0 ∈ I sind u ¨ blich: f (k) (t0 ) =
dk f dk f (t0 ) dk (t ) = = f (t0 ). 0 dxk dxk dxk
Die h¨oheren Ableitungen erweisen sich als n¨ utzlich u.a. bei der Kurvendiskussion von Funktionen. Wir ben¨ otigen noch einige weitere Begriffe. Definition 6.37 (Lokale Extremwerte). Es sei (a, b) ein offenes Intervall mit a ∈ R ∪ {−∞} und b ∈ R ∪ {+∞}, f : (a, b) → R, und es sei x0 ∈ (a, b). i) Im Punkt x0 liegt ein lokales Maximum vor, falls es ein δ > 0 gibt mit f (x) ≤ f (x0 ) f¨ ur alle x ∈ (x0 − δ, x0 + δ). ii) Im Punkt x0 liegt ein lokales Minimum vor, falls es ein δ > 0 gibt mit f (x) ≥ f (x0 ) f¨ ur alle x ∈ (x0 − δ, x0 + δ). Wir beschr¨ anken uns bei der Definition lokaler Minima und Maxima auf innere Punkte x0 , schließen also Randpunkte kompakter Intervalle aus. Der Grund hierf¨ ur ist, dass wir notwendige und hinreichende Kriterien f¨ ur das Vorliegen lokaler Extremwerte mit Hilfe der Ableitungen der Funktion formulieren wollen, die
104
Kapitel 6. Differentialrechnung und Anwendungen
¨ f¨ ur Randpunkte im allgemeinen nicht anwendbar sind. Die Ubertragung der Definition 6.37 auf Randpunkte von Intervallen sollte dem Leser aber keine M¨ uhe bereiten. Abbildung 34 zeigt den Graph einer Funktion mit einem lokalen Maximum im Punkt x0 ∈ (a, b) und einem lokalen Minimum im Punkt x1 ∈ (a, b). Die Abbildung zeigt ferner, dass ein lokales Maximum (bzw. Minimum) nicht notwendig ein absolutes Maximum (bzw. Minimum) sein muss: Das lokale Maximum f (x0 ) ist nur lokal (d.h. ¨ ortlich) bei x0 der gr¨ oßte Funktionswert, tats¨achlich nimmt die Abbildung im Intervall (a, b) aber auch echt gr¨oßere Funktionswerte an. Das lokale Minimum f (x1 ) ist hier sogar das absolute Minimum, d.h., es gilt f (x1 ) ≤ f (x) f¨ ur alle x ∈ (a, b).
11 00 00 11
f (x0 )
11 00 00 11
f (x1 )
a
x0
x1
b
Abbildung 34: Ein lokales Maximum in x0 und ein lokales Minimum in x1 Im folgenden sei I = (a, b) ein offenes Intervall. Satz 6.38. f : I → R habe ein lokales Minimum oder Maximum im Punkt x0 ∈ I, und f sei differenzierbar in x0 . Dann gilt f (x0 ) = 0. Beweis. Wir f¨ uhren den Beweis nur f¨ ur den Fall, dass in x0 ein lokales Maximum vorliegt. Die Argumentation f¨ ur ein lokales Minimum ist analog (bzw. folgt direkt
4. Kurvendiskussion
105
durch Betrachtung von −f ). Es sei δ > 0 mit f (x) ≤ f (x0 ) f¨ ur alle x ∈ (x0 − δ, x0 + δ). Dann gilt f (x) − f (x0 ) ≤ 0, x ∈ (x0 , x0 + δ), x − x0 ≥ 0, x ∈ (x0 − δ, x0 ), und f¨ ur x → x0 folgt damit f (x0 ) = x→x lim
f (x) − f (x0 ) ≤ 0, x − x0
f (x0 ) = x→x lim
f (x) − f (x0 ) ≥ 0, x − x0
0 x>x0
0 x<x0
also f (x0 ) = 0 wie behauptet.
Satz 6.38 motiviert die folgende Definition 6.39. Es sei f : I → R differenzierbar. Ein x0 ∈ I heißt ein kritischer Punkt f¨ ur f , falls f (x0 ) = 0 ist. Lokale Extremwerte geben also Anlass zu kritischen Punkten. Umgekehrt muss bei einem kritischen Punkt aber kein lokales Minimum oder Maximum vorliegen. Zum Beispiel ist der Nullpunkt ein kritischer Punkt f¨ ur die Funktion f : R → R verm¨oge f (x) = x3 , aber es liegt kein lokaler Extremwert vor. Nichtsdestotrotz erweist sich Satz 6.38 als n¨ utzlich, um Kandidaten f¨ ur lokale Minima und Maxima zu bekommen. Durch Betrachtung der zweiten Ableitung von f — im Falle ihrer Existenz — k¨ onnen in vielen F¨allen diese Kandidaten effektiv weiter darauf untersucht werden, ob sie ein lokales Minimum oder Maximum liefern oder nicht. Definition 6.40. Es sei f : I → R differenzierbar. i) f heißt konvex auf I, falls f¨ ur jede Tangente Tf,x0 (x) = f (x0 ) + f (x0 )(x − x0 ), x ∈ R, mit x0 ∈ I stets f (x) ≥ Tf,x0 (x) f¨ ur alle x ∈ I gilt, d.h., der Graph von f verl¨auft oberhalb jeder Tangente, siehe Abbildung 35. ii) f heißt konkav auf I, falls f¨ ur jede Tangente Tf,x0 mit x0 ∈ I stets f (x) ≤ Tf,x0 (x) f¨ ur alle x ∈ I gilt, d.h., der Graph von f verl¨auft unterhalb jeder Tangente, siehe Abbildung 36. Folgerung 6.41. Es sei f : I → R differenzierbar, und x0 ∈ I sei ein kritischer Punkt f¨ ur f . i) Falls f konvex auf I ist, so gilt f (x) ≥ f (x0 ) f¨ ur alle x ∈ I. Insbesondere liegt bei x0 ein lokales Minimum vor.
106
Kapitel 6. Differentialrechnung und Anwendungen
Abbildung 35: Eine konvexes Kurvenst¨ uck
Abbildung 36: Eine konkaves Kurvenst¨ uck
ii) Falls f konkav auf I ist, so gilt f (x) ≤ f (x0 ) f¨ ur alle x ∈ I. Insbesondere liegt bei x0 ein lokales Maximum vor. Beweis. Die Tangente an den Graph von f durch den Punkt (x0 , f (x0 )) ist wegen f (x0 ) = 0 gegeben durch Tf,x0 (x) ≡ f (x0 ). Mit Definition 6.40 folgt nun direkt die Behauptung. Das folgende Kriterium erweist sich als n¨ utzlich, um Funktionen (auf Teilintervallen) auf Konvexit¨ at und Konkavit¨ at zu testen. Satz 6.42 (Konvexit¨atstest). Es sei f : I → R differenzierbar. Dann sind ¨aquivalent: i) f ist konvex (bzw. konkav) auf I.
4. Kurvendiskussion
107
ii) f : I → R ist monoton wachsend (bzw. monoton fallend). Falls f sogar zweimal differenzierbar auf I ist, so sind i) und ii) ¨aquivalent zu iii) Es gilt f (x) ≥ 0 f¨ ur alle x ∈ I (bzw. f (x) ≤ 0 f¨ ur alle x ∈ I). Beweis. Wir f¨ uhren den Beweis nur f¨ ur den konvexen Fall, der konkave folgt z.B. durch Anwendung des konvexen Falles auf −f . i) =⇒ ii): Wir haben nach Voraussetzung f¨ ur x, y ∈ I f (y) ≥ f (x) + f (x)(y − x) =⇒f (y) − f (x) ≥ f (x)(y − x), f (x) ≥ f (y) + f (y)(x − y) =⇒f (y) − f (x) ≤ f (y)(y − x), also gilt f (x)(y − x) ≤ f (y)(y − x). F¨ ur x < y folgt dann f (x) ≤ f (y), d.h., f ist monoton wachsend, wie behauptet. ii) =⇒ i): Definiere h : I → R via h(x) = f (x) − Tf,x0 (x) = f (x) − f (x0 ) − f (x0 )(x − x0 ),
x ∈ I.
Zu zeigen ist h(x) ≥ 0 auf I. Da die Wahl von x0 ∈ I als Bezugspunkt beliebig ist, folgt dann die gew¨ unschte Aussage. Es ist h (x) = f (x) − f (x0 ) f¨ ur x ∈ I. Ist also f monoton wachsend auf I, so gilt h (x) ≥ 0 f¨ ur x ≥ x0 und h (x) ≤ 0 f¨ ur x ≤ x0 . Mit dem Monotonietest 6.30 folgt, dass h auf {x ≥ x0 } monoton w¨ achst und auf {x ≤ x0 } monoton f¨allt. Wegen h(x0 ) = 0 muss also h ≥ 0 auf ganz I gelten. Also ist f in der Tat konvex. ¨ Die Aquivalenz von i,ii) und iii) folgt aus dem Monotonietest 6.30.
Mit dem Konvexit¨ atstest 6.42 und Folgerung 6.41 ergibt sich nun das folgende ur eine Funktion f auf das n¨ utzliche Kriterium, um einen kritischen Punkt x0 f¨ Vorhandensein eines lokalen Minimums oder Maximums zu testen. Folgerung 6.43. Es sei f : I → R zweimal differenzierbar und x0 ∈ I ein kritischer Punkt f¨ ur f . ur alle x ∈ (x0 − δ, x0 + δ) mit einem hinreichend kleinen i) Falls f (x) ≥ 0 gilt f¨ δ > 0, so hat f in x0 ein lokales Minimum. ii) Falls f (x) ≤ 0 gilt f¨ ur alle x ∈ (x0 − δ, x0 + δ) mit einem hinreichend kleinen δ > 0, so hat f in x0 ein lokales Maximum. Wenn also das Vorzeichen der zweiten Ableitung in einer Umgebung des kritischen Punktes x0 nicht wechselt, so liegt ein lokaler Extremwert vor. Hierbei kann durchaus auch f (x0 ) = 0 sein. Das folgende Kriterium macht nur Gebrauch vom Wert der zweiten Ableitung f (x0 ) in x0 , allerdings muss hier f (x0 ) = 0 sein. Satz 6.44. Es seien f : I → R differenzierbar, x0 ∈ I ein kritischer Punkt von f , und f zweimal differenzierbar in x0 .
108
Kapitel 6. Differentialrechnung und Anwendungen
i) Falls f (x0 ) > 0 gilt, so hat f in x0 ein lokales Minimum. ii) Falls f (x0 ) < 0 gilt, so hat f in x0 ein lokales Maximum. Beweis. Wir f¨ uhren hier den Beweis von i). ii) folgt aus i) angewendet auf −f . Nach Voraussetzung haben wir 0 < f (x0 ) = lim
x→x0
f (x) − f (x0 ) f (x) = lim . x→x0 x − x0 x − x0
Notwendig existiert ein δ > 0 mit f (x) > 0 f¨ ur x ∈ (x0 , x0 + δ) und f (x) < 0 f¨ ur x ∈ (x0 − δ, x0 ). Nach dem Monotonietest 6.30 ist f : (x0 − δ, x0 ) → R monoton fallend und f : (x0 , x0 + δ) → R monoton wachsend. Insbesondere ist f (x0 ) ≤ f (x) f¨ ur alle x ∈ (x0 − δ, x0 + δ), d.h., f (x0 ) ist ein lokales Minimum wie behauptet. Abbildung 37 zeigt die Graphen einer Funktion f : (0, 4) → R sowie ihrer ersten und zweiten Ableitung. Es gilt f ≥ 0 auf (0, 1)∪(3, 4) und f ≤ 0 auf (1, 3), d.h., f ist konvex auf (0, 1] ∪ [3, 4) und konkav auf [1, 3]; dies ist am Graphen von f gut nachvollziehbar. Die erste Ableitung f hat drei Nullstellen in (0, 4), d.h., f hat drei kritische Punkte, jeweils einen im Intervall (0, 1), (1, 3) und (3, 4). Aufgrund obiger Kriterien erhalten wir, dass in den kritischen Punkten in (0, 1)∪(3, 4) lokale Minima und in dem kritischen Punkt in (1,3) ein lokales Maximum vorliegt; dieses ist auch am Graph von f gut zu erkennen.
3 2 1 0 –1
1
2 x
3
4
Funktion 1. Ableitung 2. Ableitung Abbildung 37: Zur Kurvendiskussion
4. Kurvendiskussion
109
Aufgaben 1. F¨ ur die Funktionen f aus i)–iv) bestimme man • die lokalen Extremwerte (d.h. die lokalen Minima und Maxima); • s¨amtliche (maximalen) Teilintervalle, auf denen f monoton w¨achst bzw. monoton f¨allt; • s¨amtliche (maximalen) Teilintervalle, auf denen f konvex bzw. konkav ist. i) f (x) = ln(x2 + 1) − x, x ∈ R. ii) f (x) = x3 − 32 x2 − 6x + 3, x ∈ R. iii) f (x) =
x2 −1 , x2 +1
x ∈ R.
2
iv) f (x) = x e−x , x ∈ R. 2. Sie wollen f¨ ur eine Versuchspflanzung ein m¨oglichst großfl¨achiges rechteckiges Versuchsfeld einz¨ aunen und verf¨ ugen insgesamt u ¨ber 200 m Zaun. Wie haben Sie L¨ ange und Breite des Versuchsfeldes zu dimensionieren, so dass das Feld von allen vier Seiten eingez¨ aunt ist und die Fl¨ache maximal wird? 3. Es seien k > 0 und θ > 1. Definiere f : (0, ∞) → R durch x θ f (x) = x 1 − , x > 0. k i) Bestimmen Sie den kritischen Punkt x0 von f . ii) Bestimmen Sie lim f (x) und lim f (x). x→∞
x→0
iii) Begr¨ unden Sie unter Verwendung von ii) sowie geeigneter theoretischer Ergebnisse aus fr¨ uheren Kapiteln, warum im kritischen Punkt x0 aus i) tats¨achlich ein globales Maximum vorliegt, d.h., dass gilt f (x) ≤ f (x0 ) f¨ ur alle x > 0. 4. In dieser Aufgabe f¨ uhren wir eine Kurvendiskussion f¨ ur die Funktion 1 e − x2 , x = 0, f : R → R verm¨ oge f (x) = 0, x=0 durch. i) Zeigen Sie, dass f zweimal differenzierbar auf R \ {0} ist, und bestimmen Sie 1 Polynome p1 , p2 : R → R mit f (k) (x) = pk x1 e− x2 , x ∈ R \ {0}, k = 1, 2. Bemerkung: Tats¨ achlich ist f sogar beliebig oft differenzierbar auf R \ {0}, und f¨ ur jedes k ∈ N existiert ein Polynom pk : R → R mit f (k) (x) = 1 pk x1 e− x2 , x ∈ R \ {0}. Dies kann man z.B. durch vollst¨andige Induktion nach k beweisen. Sie brauchen diese Betrachtung aber nur f¨ ur k = 1 und k = 2 durchf¨ uhren.
110
Kapitel 6. Differentialrechnung und Anwendungen 1 m x→0 x
ii) Zeigen Sie: F¨ ur jedes m ∈ N0 gilt lim
1
· e− x2 = 0.
Hinweis: Wir schreiben 1 m 1 m 1 1 · e− x2 = xm · 2 · e− x2 = xm · y m · e−y , x x wobei y =
1 . x2
Was ist lim y m e−y ? y→∞
iii) Folgern Sie aus i) und ii), dass f differenzierbar in 0 ist mit f (0) = 0. Folgern Sie weiter, dass auch f : R → R differenzierbar ist in 0 mit f (0) = 0. Bemerkung: Tats¨ achlich ist f sogar beliebig oft differenzierbar im Nullpunkt, und es gilt f (k) (0) = 0 f¨ ur alle k ∈ N. iv) Bestimmen Sie (maximale) Teilintervalle von R, auf denen • f monoton w¨ achst bzw. f¨ allt; • f konkav bzw. konvex ist. v) Bestimmen Sie lim f (x) und lim f (x). x→∞
x→−∞
vi) Bestimmen Sie die kritischen Punkte von f und u ufen Sie auf das Vor¨berpr¨ handensein lokaler Extremwerte. vii) Skizzieren Sie den Graph von f . Bemerkung: Wegen f (x) > 0 f¨ ur x = 0 und f (0) = 0 sieht man sofort ein, dass im Nullpunkt das absolute Minimum von f liegt (vgl. vi)). Wegen f (k) (0) = 0 f¨ ur alle k ∈ N liefert jedoch der strikte Vorzeichentest 6.44 im Nullpunkt keine Aussage u ¨ber das Vorhandensein eines lokalen Extremwertes. Dennoch ist ein Ableitungstest auch hier erfolgreich (welcher?). Die Funktion f ist ein Beispiel daf¨ ur, dass das Testen auf lokale Extremwerte u ber die (h¨ o heren) Ableitungen nicht in jedem Fall der beste Weg ist. Tats¨achlich ¨ ist es hier sehr viel leichter, direkt das Minimum anhand der Abbildungsvorschrift von f zu erkennen!
§5 Die Taylor’sche Formel und allgemeine Potenzreihen Die Taylor’sche Formel stellt eine Verallgemeinerung der affin-linearen Approximation dar, die wir in §2 betrachtet haben. Dort haben wir eine Funktion in der N¨ahe eines Entwicklungspunktes x0 durch ihre Tangente approximiert. Die Taylor’sche Formel nun ist eine Aussage u ¨ ber die Approximation einer hinreichend oft differenzierbaren Funktion in der N¨ahe eines Entwicklungspunktes x0 durch Polynome h¨ oheren Grades, d.h. eine Aussage u ¨ber Approximation h¨oherer Ordnung. Diese Polynome stellen im allgemeinen eine genauere (also bessere) Approximation dar als die Tangente, die linear, also ein Polynom nur ersten Grades, ist.
5. Die Taylor’sche Formel und allgemeine Potenzreihen
111
Bezeichnung 6.45. i) F¨ ur n ∈ N sei n! = 1 · 2 · . . . · (n − 1) · n sowie 0! = 1 die Fakult¨ at einer nat¨ urlichen Zahl (bzw. Null). ii) In Definition 6.36 haben wir die h¨ oheren Ableitungen f (k) , k ∈ N, einer mehrfach differenzierbaren Funktion eingef¨ uhrt. Wir setzen f (0) = f . Satz 6.46 (Taylor’sche Formel). Es sei f : (a, b) → R (n + 1)-mal differenzierbar, n ∈ N0 , und f (n+1) : (a, b) → R sei noch stetig. Dann gilt f¨ ur x, x0 ∈ (a, b) f (x) = = f (x0 ) + f (x0 )(x − x0 ) + Tangente
n f (k) (x0 )
k!
k=0
(x − x0 )k + Rn+1 (x)
f (x0 ) f (n) (x0 ) (x − x0 )2 +. . .+ (x − x0 )n + Rn+1 (x), 2 n!
wobei das Restglied Rn+1 (x) wie folgt dargestellt werden kann: 1 Rn+1 (x) = n!
x (x − t)n f (n+1) (t) dt =
f (n+1) (ξ) (x − x0 )n+1 (n + 1)!
x0
f¨ ur ein geeignetes ξ zwischen x0 und x. Der Quotient
Rn+1 (x) (x−x0 )n+1
bleibt demnach
Rn+1 (x) n x→x0 (x−x0 )
bei Ann¨aherung von x an x0 beschr¨ ankt, insbesondere gilt also lim
= 0.
Bemerkung 6.47. Betrachte speziell den Fall n = 0 in Satz 6.46. Dann erhalten wir x f (x) = f (x0 ) +
f (t) dt
x0
= f (x0 ) + f (ξ)(x − x0 )
(6-16) (6-17)
f¨ ur ein ξ zwischen x und x0 , d.h., (6-16) folgt unmittelbar aus dem Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung 7.9 und (6-17) folgt aus dem Mittelwertsatz 6.23. Die Integralform des Restgliedes nimmt bereits einige Inhalte des Kapitels u ¨ ber Integralrechnung vorweg. Bei der Taylor’schen Formel geht es allerdings konzeptionell prim¨ ar um die Approximation gen¨ ugend oft differenzierbarer Funktionen. Definition 6.48.
i) Das Polynom (n) Tf,x0 (x)
=
n f (k) (x0 ) k=0
k!
(x − x0 )k
heißt Taylorpolynom n-ten Grades von f im Entwicklungspunkt x0 .
112
Kapitel 6. Differentialrechnung und Anwendungen
ii) Falls f unendlich oft differenzierbar ist, so heißt die formale Reihe Tf,x0 (x) =
∞ f (k) (x0 )
k!
k=0
(x − x0 )k
= f (x0 ) + f (x0 )(x − x0 ) +
f (x0 ) (x − x0 )2 + . . . 2
die Taylorreihe von f im Entwicklungspunkt x0 . (k)
iii) Die Koeffizienten f k!(x0 ) f¨ ur k ∈ N0 heißen die Taylorkoeffizienten der Funktion f im Entwicklungspunkt x0 . Beispiel 6.49. Wir betrachten speziell ein Polynom f : R → R, f (x) =
N
aj (x − x0 )j ,
j=0
mit den Koeffizienten aj ∈ R. Durch Differentiation und Auswertung im Entwicklungspunkt x0 erhalten wir unmittelbar die Identit¨at sowie
f (k) (x0 ) k!
f (k) (x0 ) k!
= ak f¨ ur k = 0, . . . , N
= 0 f¨ ur k > N . Also gilt (n)
Tf,x0 (x) =
n
aj (x − x0 )j
j=0 (n)
f¨ ur n = 0, . . . , N sowie Tf,x0 (x) = f (x) f¨ ur n ≥ N . Die Taylorpolynome approximieren eine Funktion in der N¨ahe des Entwick(n) lungspunktes, d.h., es gilt f (x) ≈ Tf,x0 (x) f¨ ur x nahe bei x0 , wobei der Fehler oft vernachl¨assigbar ist (siehe Abbildung 38). Die Bedeutung dessen liegt darin begr¨ undet, dass mit Polynomfunktionen im allgemeinen wesentlich leichter gerechnet werden kann als mit der Ausgangsfunktion f selbst, und oftmals kommt es nur auf lokale Aussagen, d.h. auf Aussagen u ur x in der N¨ahe ¨ ber das Verhalten von f f¨ eines Punktes x0 , an. Je h¨ oher der Grad der Approximation (d.h. je gr¨oßer n) ist, desto besser wird die Approximation der Funktion durch das Taylorpolynom im allgemeinen sein. Im Idealfall konvergieren die Taylorpolynome f¨ ur n → ∞ gegen die Funktion f f¨ ur x nahe bei x0 , so wie dies jedenfalls nach Beispiel 6.49 f¨ ur Polynomfunktionen f richtig ist. Man sagt dann, dass die Funktion f durch ihre Taylorreihe dargestellt wird. Dieses wollen wir im folgenden etwas genauer betrachten. Zu diesem Zweck f¨ uhren wir zun¨ achst den Begriff der allgemeinen Potenzreihe ein: 6.50. Eine formale Reihe der Form p(x) =
∞ k=0
ak (x − x0 )k = a0 + a1 (x − x0 ) + a2 (x − x0 )2 + . . .
(6-18)
5. Die Taylor’sche Formel und allgemeine Potenzreihen
113
30
20
0.95 x Funktion (n)
Abbildung 38: Eine Funktion f und Taylorpolynome Tf,x0 , n = 0, 1, 2, 3.
mit ak ∈ R, k ∈ N0 , heißt allgemeine Potenzreihe im Entwicklungspunkt x0 . Man beachte, dass die in Definition 6.48 eingef¨ uhrten Taylorreihen Beispiele f¨ ur allgemeine Potenzreihen liefern. i) Wegen (x0 − x0 )k = 0 f¨ ur k > 0 gilt in (6-18) stets p(x0 ) = a0 . ii) Die allgemeine Potenzreihe (6-18) heißt konvergent, falls es ein x ˜ = x0 gibt, so dass der Grenzwert p(˜ x) = lim
n→∞
n
k ˜ − x0 ak x
k=0
in R existiert. Hierbei ist die Bedingung x˜ = x0 wichtig, da wegen i) der Grenzwert f¨ ur x ˜ = x0 nat¨ urlich immer existiert und die Konvergenz in diesem Fall keine ausgezeichnete Eigenschaft der Potenzreihe (6-18) darstellt. Der Satz 6.51 gibt Auskunft u ¨ ber das Konvergenzverhalten allgemeiner Potenzreihen. Satz 6.51 (Konvergenz allgemeiner Potenzreihen). i) Falls die allgemeine Potenzreihe (6-18) f¨ ur ein x˜ = x0 ¨ uberhaupt konvergiert, so konvergiert sie mindestens auf einem symmetrischen Intervall der Form (x0 − R, x0 + R) mit einem R ≥ |˜ x − x0 |. Das gr¨oßtm¨ogliche solche 0 < R ≤ ∞ heißt der Konvergenzradius der Potenzreihe (6-18). Die allgemeine Potenzreihe (6-18)
114
Kapitel 6. Differentialrechnung und Anwendungen definiert in diesem Fall eine Funktion p : (x0 − R, x0 + R) → R via p(x) = lim
n→∞
n
ak (x − x0 )k =
k=0
∞
ak (x − x0 )k .
k=0
ii) Falls die allgemeine Potenzreihe (6-18) nur f¨ ur x ˜ = x0 konvergiert, so ist ihr Konvergenzradius R = 0 und die Reihe heißt divergent. iii) Falls der Grenzwert c = lim k |ak | in R existiert, so kann der Konvergenzk→∞
radius R der allgemeinen Potenzreihe (6-18) durch 1 , falls c > 0, R= c ∞, falls c = 0
(6-19)
berechnet werden. Als wichtiges Beispiel erinnern wir in diesem Kontext noch einmal an die bereits in Kapitel 4, §3, diskutierte geometrische Reihe, vergleiche Satz 4.20: Satz 6.52 (Geometrische Reihe). F¨ ur |x| < 1 gilt ∞
1 = xk , 1−x
(6-20)
1 = 1+x
(6-21)
k=0 ∞
(−1)k xk ,
k=0
und der Konvergenzradius der Reihen (6-20) und (6-21) ist nach Formel (6-19) gleich 1. Allgemeine Potenzreihen k¨ onnen auf ihrem Konvergenzintervall beliebig oft gliedweise differenziert und integriert werden: ∞ Satz 6.53. Die allgemeine Potenzreihe p(x) = ak (x − x0 )k habe den Konverk=0
genzradius R > 0. Dann gilt: i) p ist auf (x0 − R, x0 + R) differenzierbar, und es gilt ∞
∞
k=0
k=1
d p (x) = ak (x − x0 )k = kak (x − x0 )k−1 . dx
(6-22)
ii) Die Stammfunktionen von p k¨ onnen gliedweise gebildet werden, d.h., es gilt p(x) dx =
∞ k=0
∞ ak ak (x−x0 )k dx = (x−x0 )k+1 +Const. (6-23) k+1 k=0
5. Die Taylor’sche Formel und allgemeine Potenzreihen
115
Die gliedweise differenzierte Reihe (6-22) sowie die gliedweise integrierte Reihe (6-23) sind konvergent mit demselben Konvergenzradius R. ∞ Folgerung 6.54. i) Die allgemeine Potenzreihe p(x) = ak (x − x0 )k sei konk=0
vergent mit dem Konvergenzradius R > 0. Durch sukzessive gliedweise Differentiation und Auswertung im Entwicklungspunkt x = x0 erhalten wir die (k) Identit¨ at ak = p k!(x0 ) f¨ ur alle k ∈ N0 , d.h., mit der Definition der Taylorreihe 6.48 gilt p(x) = Tp,x0 (x) f¨ ur alle x ∈ (x0 − R, x0 + R). Insbesondere sind die Koeffizienten einer allgemeinen Potenzreihe im Entwicklungspunkt x0 eindeutig bestimmt. ii) Nach i) sind die Reihen (6-20) und (6-21) also die Taylorreihen der Funk1 1 tionen f (x) = 1−x bzw. f (x) = 1+x im Entwicklungspunkt x0 = 0. Dies kann man durch Differentiation und Berechnung der Taylorkoeffi(k) zienten f k!(0) f¨ ur k ∈ N0 auch leicht direkt verifizieren. Anwendung 6.55 (Logarithmische Reihe). Nach (6-21) in Satz 6.52 folgt ∞
d 1 ln(1 + x) = = (−1)k xk dx 1+x k=0
f¨ ur |x| < 1, und nach Satz 6.53 folgt ∞ d 1 (−1)k k+1 ln(1 + x) = ln(1 + x) dx = dx = x + Const. dx 1+x k+1 k=0
Auswertung im Entwicklungspunkt x = 0 ergibt 0 = ln(1) = ln(1 + x)|x=0 =
∞ (−1)k k=0
also ln(1 + x) =
k+1
xk+1 + Const
∞ (−1)k−1 k=1
= Const.,
x=0
k
xk
(6-24)
f¨ ur |x| < 1. Nach i) in Folgerung 6.54 gilt f (x) = Tf,0 (x) f¨ ur |x| < 1, wobei f (x) = ln(1 + x), und (6-24) ist die Taylorreihe der Funktion f im Entwicklungspunkt Null. Definition 6.56. Die Funktion f : (a, b) → R sei beliebig oft differenzierbar. f heißt reell-analytisch, falls die Taylorreihe Tf,x0 (x) von f in jedem Entwicklungspunkt x0 ∈ (a, b) konvergiert (d.h. einen positiven Konvergenzradius besitzt) und zudem f (x) = Tf,x0 (x) =
∞ f (k) (x0 ) k=0
k!
(x − x0 )k = lim
n→∞
n f (k) (x0 ) k=0
k!
(x − x0 )k
116
Kapitel 6. Differentialrechnung und Anwendungen
f¨ ur x ∈ (a, b) ∩ (x0 − r, x0 + r) f¨ ur ein hinreichend kleines r > 0 gilt, d.h., die Funktion f wird in der N¨ ahe eines jeden Entwicklungspunktes x0 ∈ (a, b) durch die Taylorreihe dargestellt. Beispiel 6.57.
i) Jede Polynomfunktion ist nach Beispiel 6.49 reell-analytisch.
ii) Die Logarithmusfunktion ln : (0, ∞) → R ist reell-analytisch: Denn: Wir bedienen uns der Logarithmusreihe (6-24). Es sei x0 > 0 ein beliebiger Entwicklungspunkt. Dann gilt x − x0 x − x0 ln(x) = ln(x0 + (x − x0 )) = ln x0 1 + = ln(x0 ) + ln 1 + , x0 x0 0 und f¨ ur x−x < 1, d.h. 0 < x < 2x0 , folgt x0 ln(x) = ln(x0 ) +
∞ (−1)k−1 x − x0 k
k
k=1
= ln(x0 ) +
x0
∞ (−1)k−1 k=1
kxk0
(x − x0 )k .
(6-25) Nach i) aus Folgerung 6.54 gilt nun ln(x) = Tln,x0 (x) f¨ ur 0 < x < 2x0 , und (6-25) ist die Taylorreihe der Logarithmusfunktion im Entwicklungspunkt x0 . Dieses Beispiel zeigt weiter, dass der Konvergenzradius der Taylorreihe einer Funktion vom Entwicklungspunkt x0 abh¨angt. Im Falle der Logarithmusfunktion ln ist der Konvergenzradius im Entwicklungspunkt x0 gerade R = x0 . ∞ Satz 6.58. Es sei p(x) = ak (x − x0 )k f¨ ur x ∈ (x0 − R, x0 + R) eine konvergente k=0
Potenzreihe. Dann ist p reell-analytisch, und f¨ ur jedes a ∈ (x0 − R, x0 + R) gilt p(x) = Tp,a (x) =
∞ p(k) (a) k=0
k!
(x − a)k
f¨ ur alle |x − a| < R − |a − x0 |, d.h., der Konvergenzradius der Taylorreihe Tp,a (x) ist mindestens R − |a − x0 |. Satz 6.59 (Exponential-, Sinus- und Kosinusreihe). i) Die Exponentialfunktion exp : R → R ist reell-analytisch. F¨ ur jeden Entwicklungspunkt x0 ∈ R gilt exp(x) =
∞ exp(x0 ) k=0
k!
(x − x0 )k
f¨ ur alle x ∈ R, d.h., es gilt exp(x) = Texp,x0 (x) f¨ ur alle x ∈ R. Speziell f¨ ur x0 = 0 erhalten wir exp(x) =
∞ 1 k x , k! k=0
(6-26)
5. Die Taylor’sche Formel und allgemeine Potenzreihen
117
und f¨ ur x = 1 ergibt sich somit e=
∞ 1 . k! k=0
ii) Die Sinusfunktion sin : R → R ist reell-analytisch. Es gilt sin(x) =
∞ (−1)k 2k+1 x (2k + 1)!
(6-27)
k=0
f¨ ur alle x ∈ R, und nach Satz 6.58 folgt damit auch sin(x) = Tsin,x0 (x) f¨ ur alle x ∈ R f¨ ur jeden Entwicklungspunkt x0 ∈ R (der Konvergenzradius von Tsin,x0 (x) ist ∞). iii) Die Kosinusfunktion cos : R → R ist reell-analytisch. Es gilt cos(x) =
∞ (−1)k k=0
(2k)!
x2k
(6-28)
f¨ ur alle x ∈ R, und nach Satz 6.58 ist damit auch cos(x) = Tcos,x0 (x) f¨ ur alle x ∈ R f¨ ur jeden Entwicklungspunkt x0 ∈ R. Bemerkung 6.60. i) Nicht jede Taylorreihe einer unendlich oft differenzierbaren Funktion ist konvergent! Tats¨ achlich ist jede beliebige allgemeine Potenzreihe (6-18) als Taylorreihe einer geeigneten unendlich oft differenzierbaren Funktion darstellbar (Borel-Lemma). ii) Nicht jede konvergente Taylorreihe Tf,x0 (x) konvergiert auch gegen die Funktion f ! Zum Beispiel ist die Taylorreihe Tf,0 (x) im Nullpunkt der unendlich oft auf ganz R differenzierbaren Funktion 2 e−1/x , x = 0, f (x) = 0, x=0 f (k) (0)
identisch Null, da k! = 0 f¨ ur alle k ∈ N0 gilt. Also ist der Konvergenzradius von Tf,0 (x) sogar ∞, aber es ist f (x) = 0 = Tf,0 (x) f¨ ur alle x = 0. iii) Die g¨angigen elementaren Funktionen (Polynomfunktionen, rationale Funktionen, allgemeine Potenzfunktion, Logarithmus und Exponentialfunktion, trigonometrische Funktionen) sind reell-analytisch.
118
Kapitel 6. Differentialrechnung und Anwendungen
Aufgaben (n)
1. Berechnen Sie jeweils das Taylorpolynom Tf,a (x) n-ten Grades von f im Ent(n)
wicklungspunkt a, und vergleichen Sie Tf,a (˜ x) und f (˜ x) f¨ ur die angegebenen Werte von x˜. √ i) f (x) = x, a = 1, n = 3, x ˜ ∈ {1,1; 2,3}. ii) f (x) = ln(x), a = 1, n = 3, x˜ ∈ {1,1; 2,3}. iii) f (x) = x5 + 3x4 + 2x2 + x + 2, a = 0, n = 5, x ˜ = 1. 2. Es sei f (x) =
ax k+x ,
x > −k, wobei a, k > 0.
i) Berechnen Sie das Taylorpolynom ersten Grades von f im Entwicklungspunkt x0 = 0. ii) Berechnen Sie das Taylorpolynom ersten Grades von f im Entwicklungspunkt x0 = k. 3. Entwickeln Sie die folgenden Funktionen in eine konvergente Potenzreihe mit dem angegebenen Entwicklungspunkt x0 , und bestimmen Sie deren Konvergenzradius: i) f (x) = x3 − 2x2 + 1, x0 = 1. ii) f (x) =
1 , 1−x
x0 = −2.
iii) f (x) = 32x+1 , x0 = 5. 4. Berechnen Sie den Konvergenzradius der folgenden Potenzreihen: ∞ (−1)2k+1 i) (x − 7)k . k2 k=1
ii)
∞
ln(k)(x − 3)k .
k=1
iii)
∞
2k (x − 1)2k .
k=1
Weitere Informationen im WWW ¨ Ubungsaufgaben bei Calculus On the Web: • Zum Begriff der Ableitung, Tangenten, und lineare Approximation: Calculus Book I, Chapter The Derivative • Zur Produkt- und Quotientenregel: Calculus Book I, Chapter Techniques and Theory of Differentiation, Section Powers, Products, Quotients • Zur Kettenregel: Calculus Book I, Chapter Techniques and Theory of Differentiation, Section Chain Rule
5. Die Taylor’sche Formel und allgemeine Potenzreihen
119
• Weiteres Material: Calculus Book I, Chapter Techniques and Theory of Differentiation, Sections Exponential Functions, Miscellaneous und Implicit Differentiation • Differentiation abh¨ angiger Gr¨ oßen: Calculus Book I, Chapter Applications of the Derivative, Section Related Rates • Zum Mittelwertsatz: Calculus Book I, Chapter Techniques and Theory of Differentiation, Section Theory, Modules Mean Value Theorem und Visual Mean Value Theorem • Regel von l’Hospital: Calculus Book I, Chapter Applications of the Derivative, Section l’Hospital’s Rule • Kurvendiskussion: Calculus Book I, Chapter Applications of the Derivative, Sections Maxima, Minima und Graphing • Optimierung (Anwendung der Kurvendiskussion): Calculus Book I, Chapter Applications of the Derivative, Section Optimization • Taylorpolynome: Calculus Book I, Chapter Applications of the Derivative, Section Approximation of Functions, Module Taylor Polynomials • Allgemeine Potenzreihen und Taylorreihen: Calculus Book III, Chapter Sequences and Series, Section Power and Taylor series Anleitungen, Demonstrationen und Beispiele bei Visual Calculus: • Derivatives und Applications of Differentiation
Kapitel 7
Integralrechung § 1 Das Riemannsche Integral ¨ Ableitungen haben wir als differentielle Gr¨oßen zur Messung von Anderungsraten kennengelernt. Dem gegen¨ uber ist das Integral eine kumulative Gr¨oße, mit der summarische Gesamtergebnisse wie Fl¨ achen- und Volumeninhalte, Stoffums¨atze oder Gesamtenergien berechnet werden k¨ onnen. Bei der Einf¨ uhrung des Integralbegriffs folgen wir Bernhard Riemann (1826–1866, G¨ottingen), auch wenn die Idee des Integrals bis in die antike Mathematik zur¨ uckreicht (Exhaustionsmethode von Archimedes 287–212 v. Chr.). Die Integralrechnung wurde jedoch erst richtig fruchtbar durch die Entdeckung des Hauptsatzes der Differential- Integralrechnung von I. Newton und G.W. Leibniz im 18. Jh. Dieser Satz ist u.a. f¨ ur die Berechnung von Integralen von u ¨berragender Bedeutung. Die Definition des Integrals erfolgt in drei Schritten, die in ¨ahnlicher Weise auch in der Modellbildung immer wieder nachzuvollziehen sind. Die entscheidende Bedeutung kommt dabei dem Begriff der Zerlegungssummen (s. Abb. 39) zu. Definition 7.1. Es sei f : [a, b] → R eine beschr¨ankte Funktion, deren Integral b f (x) dx wir erkl¨ aren m¨ ochten. a
Schritt 1: Unter einer Zerlegung Z von [a, b] verstehen wir ein endliches System von Teilpunkten a = x0 < x1 < · · · < xn = b. Unter der Feinheit d(Z) der Zerlegung Z verstehen wir die Zahl d(Z) = max |xi − xi−1 |, 1≤i≤n
also die L¨ange des gr¨ oßten Teilintervalls.
122
Kapitel 7. Integralrechung
y
f
a=x0
t1
x1
t2
x2
. . . b=x n
x
Abbildung 39: Zur Definition der Zerlegungssummen
Schritt 2: Zu jeder Zerlegung Z und jedem frei gew¨ahlten System T = {t1 , · · · , tn } von Zwischenpunkten ti ∈ [xi−1 , xi ] definieren wir eine Zerlegungssumme S(f, Z, T ) =
n
f (ti )(xi − xi−1 ),
i=1
die eine N¨ aherung f¨ ur das zu definierende Integral darstellt. Schritt 3: Zur endg¨ ultigen Definition des Integrals setzen wir b a
f (x) dx = lim S(f, Z, T ) = lim d(Z)→0
n
d(Z)→0 i=1
f (ti )(xi − xi−1 ),
falls dieser Limes u ¨berhaupt existiert1 . In diesem Fall heißt f Riemann-integrierbar b uber [a, b], und die Zahl f (x) dx heißt das (bestimmte) Riemannsche Integral von ¨ a
f oder einfach das Integral von f u ¨ber [a, b]. Die Definition des Riemannschen Integrals sch¨opft ihre Kraft aus ihrer großen Allgemeinheit, und sie wird uns bei Anwendungen auf naturwissenschaftliche und statistische Sachverhalte wieder begegnen. Leider gibt sie aber kaum Hinweise darauf, f¨ ur welche Funktionen ein Integral u ¨berhaupt existiert und wie es ¨okonomisch berechnet werden kann. Die Existenzfrage wird durch den folgenden Satz ausreichend allgemein beantwortet, und der Beweis des Satzes gibt uns auch eine Methode f¨ ur eine n¨ aherungsweise numerische Berechnung des Integrals in die Hand: 1 Der hier verwendete Limesbegriff geht uber den fr¨ uher f¨ ur Folgen eingef¨ uhrten Begriff hinaus. ¨ Mathematisch pr¨ azise ist hier folgendes gemeint: Man schreibt L = lim S(f, Z, T ), wenn es d(Z)→0
zu jedem ε > 0 eine Zahl δ > 0 derart gibt, dass f¨ ur jede Zerlegung Z von [a, b] mit Feinheit d(Z) < δ und jede Wahl von Zwischenpunkten T die Ungleichung |L − S(f, Z, T )| < ε besteht.
1. Das Riemannsche Integral
123
Satz 7.2. Ist f monoton oder stetig auf [a, b], so existiert das oben eingef¨ uhrte Integral. Beweis. F¨ ur den Beweis m¨ ussen wir uns allerdings auf den Fall monotoner Funktionen beschr¨anken, denn der Beweis f¨ ur stetige Funktionen kann mit den Mitteln dieses Buches nicht gef¨ uhrt werden. Es sei also f : [a, b] → R eine monoton wachsende Funktion (der Fall monoton fallender Funktionen wird analog behandelt). F¨ ur jede Zerlegung Z und jede Wahl T von Zwischenpunkten gilt dann wegen der Monotonie der Funktion die Ungleichung L(f, Z) =
n
f (xi−1 )(xi − xi−1 ) ≤ S(f, Z, T ) ≤
i=1
n
f (xi )(xi − xi−1 ) = O(f, Z). (∗)
i=1
Dabei sind L(f, Z) und O(f, Z) Zerlegungssummen zu speziellen Wahl von Zwischenpunkten, n¨ amlich zur Auswahl des jeweils linken bzw. rechten Randpunktes des entsprechenden Teilintervalls [xi−1 , xi ]. Sind Z und Z zwei Zerlegungen von [a, b] mit Z ⊆ Z , so gilt offenbar L(f, Z) ≤ L(f, Z ) ≤ O(f, Z ) ≤ O(f, Z). Daher existieren wegen des Monotoniekriteriums die Grenzwerte lim L(f, Z) und d(Z)→0
lim O(f, Z). d(Z)→0
Wir zeigen deren Gleichheit. Es ist 0 ≤
O(f, Z) − L(f, Z) =
n
(f (xi ) − f (xi−1 ))(xi − xi−1 )
i=1
≤
n
(f (xi ) − f (xi−1 )) · d(Z) = (f (b) − f (a)) · d(Z) → 0
(∗∗)
i=1
f¨ ur d(Z) → 0. Das zeigt die Gleichheit der Limites. Wegen des Einschließungskriteriums und Ungleichung (∗) folgt daraus die Behauptung. Die Absch¨atzung (∗∗) ist geeignet, den Fehler bei einer numerischen Approximation des Integrals durch Zerlegungssummen zu kontrollieren. Bevor wir effektive Verfahren zur Berechnung Riemannscher Integrale bereitstellen werden, lernen wir einige elementare Rechenregeln kennen. Unmittelbar einsichtig sind die folgenden Formeln: Satz 7.3. Es seien f und g auf dem Intervall [a, b] Riemann-integrierbar. Dann gelten: i) F¨ ur alle Zahlen λ, µ ∈ R ist auch λf + µg integrierbar, und es gilt b
b λf (x) + µg(x) dx = λ
a
b f (x) dx + µ
a
g(x) dx. (Linearit¨at des Integrals) a
124
Kapitel 7. Integralrechung
ii) F¨ ur alle c mit a < c < b gilt b
c f (x) dx =
a
b f (x) dx +
a
f (x) dx.
(Additivit¨at im Integrationsbereich)
c
¨ Uberdies folgt aus der Integrierbarkeit von f u ¨ber beiden Teilintervallen [a, c] und [c, b] auch die Integrierbarkeit von f ¨ uber [a, b]. b
b f (x) dx ≤
iii) Aus f (x) ≤ g(x) f¨ ur alle x ∈ [a, b] folgt a
g(x) dx. (Monotonie) a
b b iv) f (x) dx ≤ |f (x)| dx. a
(Dreiecksungleichung)
a
Um die Voraussetzung a < c < b in Satz 7.3.ii) entbehrlich zu machen, definieren wir noch a
a f (x) dx = −
f (x) dx = 0 und a
b f (x) dx f¨ ur a < b. a
b
Mit dieser Definition folgt unmittelbar: Folgerung 7.4. Ist f auf dem Intervall [α, β] Riemann-integrierbar, so gilt f¨ ur alle Zahlen a, b, c ∈ [α, β] die Gleichung b
c f (x) dx =
a
b f (x) dx +
a
f (x) dx. c
Der folgende Satz besagt, dass das Integral von der Ab¨anderung der Funktionswerte an endlich vielen Stellen nicht beeinflusst wird. Satz 7.5. Sind f und g zwei Funktionen auf [a, b], die sich h¨ochstens an endlich vielen Stellen x1 , . . . , xk voneinander unterscheiden, so ist mit f auch g integrierbar, und beide Funktionen haben gleiche Integrale. Beweis. Wegen des Zerlegungssatzes 7.3 ii) gen¨ ugt es den Fall zu betrachten, dass sich f und g h¨ochstens in den Randpunkten des Intervalls [a, b] unterscheiden. Wir nehmen an, dass f (x) = g(x) h¨ ochstens f¨ ur x = b eintritt, der Fall x = a wird analog behandelt. F¨ ur alle Zerlegungssummen gilt dann |S(f, Z, T ) − S(g, Z, T )| ≤ d(Z) · |f (b) − g(b)| → 0 f¨ ur d(Z) → 0. Daher existiert auch
b a
g(x) dx und stimmt mit
b a
f (x) dx u ¨berein.
1. Das Riemannsche Integral
125
Gelegentlich sind st¨ uckweise definierte Funktionen zu integrieren. Hier helfen die folgenden Betrachtungen. Definition 7.6. Eine Funktion f : [a, b] → R heißt st¨ uckweise stetig bzw. st¨ uckweise monoton auf [a, b], falls es Teilpunkte a = t0 < t1 < . . . < tn = b derart gibt, dass die Funktion f auf den offenen Intervallen (tj−1 , tj ) stetig bzw. monoton ist, und dass die links- und rechtsseitigen Grenzwerte von f auf den Intervallen (tj−1 , tj ) existieren, d.h., es existieren die Grenzwerte lim f (t) und lim f (t). t→tj−1 tj−1
t→tj t
Unter Anwendung der S¨ atze 7.3 ii), 7.2 und 7.5 ergibt sich dann: Folgerung 7.7. St¨ uckweise monotone und st¨ uckweise stetige Funktionen sind integrierbar. Von theoretischer Bedeutung bei der Integration stetiger Funktionen und ein Eckpfeiler im Beweis zu Satz 7.9 ist die folgende Aussage: Satz 7.8 (Mittelwertsatz der Integralrechnung). Ist f : [a, b] → R stetig, so gibt es eine Zahl x˜ ∈ [a, b] derart, dass gilt: b f (x) dx = (b − a) · f (˜ x). a
Beweis. Nach dem Satz 5.17 i) existieren die Zahlen m = min f (x) und M = max f (x). x∈[a,b]
x∈[a,b]
Somit ist m ≤ f (x) ≤ M auf [a, b]. Aus Satz 7.3 iii) folgt dann b (b − a) · m =
b m dx ≤
a
b f (x) dx ≤
a
also ist 1 m≤ b−a
M dx ≤ (b − a) · M, a
b f (x) dx ≤ M. a
Nach Satz 5.17 ii) gibt es dann aber eine Stelle x ˜ ∈ [a, b] mit der Eigenschaft 1 f (˜ x) = b−a
b f (x) dx, a
und nach Multiplikation dieser Gleichung mit (b − a) folgt die Behauptung.
126
Kapitel 7. Integralrechung
Wir haben nun eine Reihe von Rechenregeln gefunden, doch fehlen uns bisher praktisch jegliche Verfahren, f¨ ur konkrete Funktionen das Integral effektiv zu berechnen. Der entscheidende Durchbruch dazu war von Barrow, Leibniz und Newton gefunden worden. Es ist die folgende, zu Recht als Hauptsatz der Differentialund Integralrechnung bezeichnete Aussage: Satz 7.9 (Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung). Es sei I ein offenes Intervall in R, es sei f : I → R eine stetige Funktion, und es sei F : I → R eine Stammfunktion von f , d.h., es ist F (x) = f (x) f¨ ur alle x ∈ I. Dann gelten: i) F¨ ur alle a, b ∈ I gilt b
b f (x) dx = F (b) − F (a) = F (x) . a
a
(Mittels Stammfunktionen k¨ onnen Integrale berechnet werden.) ii) Es gilt
x
F (t) dt = F (x) − F (a).
a
(Integrieren mit variabler oberer Grenze hebt Differenzieren bis auf additive Konstanten auf.) iii) Es gilt d dx
x f (t) dt = f (x) a
(Differenzieren nach der oberen Grenze hebt Integrieren auf.) Beweis. Zu iii): Wir setzen
x Φ(x) =
f (t) dt a
d und haben dx Φ(x) = f (x) f¨ ur alle x ∈ I zu zeigen. Dazu betrachten wir zun¨achst den Differenzenquotienten: ⎛ x+h ⎞ x+h x Φ(x + h) − Φ(x) 1⎝ 1 ⎠ = f (t) dt − f (t) dt = · f (t) dt. h h h a
a
x
Nach dem Mittelwertsatz der Integralrechnung existiert eine Stelle x˜h zwischen x x+h und x + h mit f (t) dt = h · f (˜ xh ). Nun bilden wir den Grenzwert f¨ ur h → 0 x
und benutzen die Stetigkeit von f bei x. Das ergibt: lim
h→0
Φ(x + h) − Φ(x) = lim f (˜ xh ) = f (x). h→0 h
1. Das Riemannsche Integral
127
Damit ist iii) vollst¨ andig bewiesen. x ur Zu ii): Mit Φ(x) = f (t) dt folgt aus iii) die Beziehung Φ (x) = f (x) = F (x) f¨ a
alle x ∈ I. Wegen 6.25 ii) ergibt das Φ(x) = F (x) + C f¨ ur alle x ∈ I mit einer Konstante C ∈ R. F¨ ur x = a folgt 0 = Φ(a) = F (a) + C, also C = −F (a). Damit ist auch ii) bewiesen. Zu i): Dies folgt aus ii) f¨ ur x = b.
Die Formel ii) aus obigem Hauptsatz rechtfertigt nachtr¨aglich auch die bereits fr¨ uher in Definition 6.26 eingef¨ uhrte Symbolik zur Bezeichnung von Stammfunktionen stetiger Funktionen durch unbestimmte Integrale f (t) dt = F (t) + C, denn jede Stammfunktion F von f auf dem Intervall I erf¨ ullt nach ii) die Gleichung x f (t) dt = F (x) − F (a). a
¨ Andert man den Bezugspunkt a in dieser Gleichung, so ¨andert sich der Korrekturterm −F (a). Diese Beliebigkeit des Bezugspunktes dr¨ uckt man gern mit der allgemeinen Konstante C aus. In Kurzfassung bedeutet der Hauptsatz, dass Integration und Differentiation in gewissem Sinn zueinander inverse Operationen sind. Daher lassen sich aus den bereits bekannten Differentiationsregeln entsprechende neue Regeln f¨ ur die Integration herleiten: Satz 7.10.
i) Die Partielle Integration: ( Umkehrung“ der Produktregel) ” b b b f (x) · g (x) dx = f (x) · g(x)|a − f (x) · g(x) dx, a
a
sofern die auftretenden Funktionen existieren und stetig sind. ii) Die Substitutionsregel: ( Umkehrung“ der Kettenregel) ” g(b) b f (g(x))g (x) dx = f (z) dz, a
g(a)
sofern die Funktionen f, g, g stetig sind und [a, b] ⊆ D(f ◦ g) gilt. Mit der Substitution z = g(x) ist also auch dz = g (x) dx zu setzen.
128
Kapitel 7. Integralrechung
Gelegentlich werden die Regeln auch in der Form unbestimmter Integrale notiert. Dann schreibt man: • Partielle Integration: f (x) · g (x) dx = f (x) · g(x) − f (x) · g(x) dx • Substitutionsregel:
f (g(x))g (x) dx =
f (z) dz
.
z=g(x)
Die Anwendung der Regeln zur Berechnung konkreter Integrale erfordert ¨ etwas Ubung. Wir behandeln daher einige typische Beispiele. Beispiel 7.11. Funktion
x3 3
b
6x2 dx = 6
a
b a
3 b x2 dx = 6 · x3 = 2b3 − 2a3 , denn wegen 6.13 ist die a
eine Stammfunktion von x2 .
Beispiel 7.12.
1
2x +
√
x dx =
0
1 0
2x dx +
1 0
2 1 1 x 2 dx = 2 x2 + 0
x3/2 3/2
1 =1+ 0
2 3
= 53 .
Beispiel 7.13. Ein typisches Beispiel zur Anwendung der partiellen Integration ist die Auswertung des Integrals x · sin x dx. Wir setzen f (x) = x und g (x) = sin x. Dann ist f (x) = 1, und g(x) = − cos x ist eine Stammfunktion zu g . Somit folgt x · sin x dx = x · (− cos x) − 1 · (− cos x) dx = −x · cos x + cos x dx = −x · cos x + sin x + C, wobei wir diesmal die Formulierung mittels unbestimmter Integrale gew¨ahlt haben. ¨ Beispiel 7.14. Ahnlich wird das Integral
t et dt behandelt. Mit f (t) = t und
0
g (t) = et ergibt sich 1
1
1 1 1 1 t et dt = tet − 1 · et dt = tet −et = e − (e − 1) = 1. 0
0
0
0
0
Beispiel 7.15. Mittels partieller Integration l¨asst sich auch das Integral ln x dx behandeln. Wir ersetzen ln x durch ln x · 1 und setzen f (x) = ln x und g (x) = 1. Dann sind f (x) = x1 und g(x) = x. Somit ist
ln x·1 dx = ln x·x−
1 ·x dx = x·ln x− x
1 dx = x·ln x−x+C = x(ln x−1)+C.
1. Das Riemannsche Integral
129
Beispiel 7.16. Die Integration durch Substitution ist dann erfolgreich anwendbar, wenn der Integrand (bis auf konstante Faktoren) die Form f (g(x))g (x) hat. Ein b 2 Beispiel hierf¨ ur ist das Integral a x · e−x dx. In diesem Fall setzen wir f (z) = ez und z = g(x) = −x2 . Dann ist dz = −2x dx, also x dx = − 21 dz. Das ergibt b
2
x · e−x
1 dx = − 2
−b2
−a2
a
−b2 2 2 1 1 ez dz = − · ez = − (e−b − e−a ). 2 2 −a2
Beispiel 7.17. aufig f¨ uhren bereits lineare Substitutionen zum Ziel. Als Beispiel H¨ w¨ahlen wir e2x+1 dx. Mit z = g(x) = 2x + 1 folgt dz = g (x) dx = 2 dx, also dx = 12 dz. Somit ist
e
2x+1
dx =
1 1 1 ez dz = ez = e2x+1 + C. 2 2 2 z=2x+1 z=2x+1
Es sei bemerkt, dass es aber auch klassische Funktionen gibt, f¨ ur die nach den Regeln aus Satz 7.10 eine Stammfunktion nicht ermittelt werden kann. Ein prominentes Beispiel ist die in der Statistik besonders wichtige Gaußsche Glockenkurve 1 x2 f (x) = √ e− 2 , x ∈ R. 2π Eine Stammfunktion ist formal durch 1 Φ(x) = √ 2π
x
t2
e− 2 dt +
1 2
0
gegeben, das Integral kann aber nicht weiter ausgewertet werden, man muss sich vielmehr mit numerischen N¨ aherungen (=Wertetabellen) begn¨ ugen. Die Funktion Φ heißt u ¨ brigens Gaußverteilung“ oder Normalverteilung“. ” ”
Aufgaben 1. Berechnen Sie die folgenden bestimmten Integrale: 3 2 3 1 √ i) 3x − 4x + 1 dx, ii) x 3 + 2 x dx, iii)
1 2π 0
sin(2x) dx,
iv)
2 2
e2x + 1 dx.
−1
2. Berechnen Sie Stammfunktionen: 4 i) x dx, ii) x · cos x dx, x iii) x · e dx, iv) x · sin(x2 ) dx.
130
Kapitel 7. Integralrechung
3. Berechnen Sie die folgenden bestimmten Integrale: 9 1+√x 2 3 t2 √ i) dx, ii) 2te dt, iii) x 4 2
iv)
(2t − 1)(t + 3) dt,
0
v)
0 2
5
x 2 dx,
vi)
2 1
2 t−1
dt,
e−|s| ds.
−1
1
4. Berechnen Sie die folgenden unbestimmten Integrale: x−1 −x/3 x+4 i) ii) 2e dx, iii) dx, 2 x dx, −3 √ x x 2−16 x iv) x + x dx, v) 3 dx, vi) x + 2 dx. Hinweis: Man benutze die Formel ax = ex ln a f¨ ur a > 0. 5. Benutzen Sie die Kettenregel und die Formel aus aus 7.9 iii) zur Berechnung der Ableitungen nach x f¨ ur die folgenden Funktionen: x 3 x2 i) f (x) = (u − 2) du f¨ ur x > 0, ii) f (x) = (u3 − 2) du f¨ ur x > 0, 0√
iii)
f (x) =
x 3
1 1+u2
du f¨ ur x > 9,
iv)
f (x) =
0 2 x
eu du f¨ ur x > 1.
x
6. Verwenden Sie wiederholte partielle Integration zur Berechnung der folgenden Integrale: 1 2 x 2 i) x e dx, ii) x sin x dx. 0
7. Berechnen Sie f¨ ur a, b ∈ R das unbestimmte Integral 1 dx (a − x)(b − x) auf allen (maximalen) Teilintervallen von R, auf denen dies m¨oglich ist. Betrachten Sie hierbei die Fallunterscheidung a = b und a = b. Im Fall a = b machen Sie den Ansatz 1 A B = + (a − x)(b − x) a−x b−x und bestimmen Sie durch Koeffizientenvergleich die Werte f¨ ur A und B (diese Technik heißt Partialbruchzerlegung). Integrieren Sie dann die Summanden einzeln. 8. Ein Mol eines unter Normaldruck stehenden Gases werde bei einer (konstanten) Temperatur von 0◦ C isotherm auf ein F¨ unftel seines Volumens komprimiert. Berechnen Sie die hierzu erforderliche Arbeit A. V2 Hinweis: Benutzen Sie die aus der Thermodynamik bekannte Formel A = p dV V1
und die Zustandsgleichung f¨ ur ideale Gase: p · V = const. (p = Gasdruck, V = Gasvolumen).
2. Uneigentliche Integrale
131
§2 Uneigentliche Integrale Integrationen auf unbeschr¨ ankten Intervallen nennt man uneigentliche Integrale. Uneigentliche Integrale werden in nat¨ urlicher Weise als Grenzwerte bestimmter Integrale definiert. Beispielsweise ist ∞
L f (x) dx = lim
f (x) dx,
L→∞
a
a
falls der Grenzwert u ¨berhaupt existiert. Analog wird ein uneigentliches Integral a ∞ ∞ der Form definiert. Integrale der Form werden dann durch Zerlegen = a −∞
+
−∞
∞
−∞
−∞
erkl¨art. Wir betrachten einige Beispiele:
a
Beispiel 7.18.
∞ 1
Beispiel 7.19.
∞
1 x2
dx = lim
L
L→∞ 1
e−x dx = lim
L
L→∞ 0
0
1 x2
L dx = lim − x1 = lim − L1 + 1 = 1. L→∞
L→∞
1
L e−x dx = lim −e−x = lim (1 − e−L ) = 1. L→∞
0
L→∞
Beispiel 7.20. Uneigentliche Integrale sind auch dann zu verwenden, wenn der Integrand f im vorgesehenen Integrationsbereich an einer Stelle undefiniert ist. So 1 1 √ dx kein bestimmtes Integral, denn der Integrand √1 ist bei x = 0 ist z.B. x x 0
nicht definiert. Daher kann auch dieses Integral nur als Grenzwert verstanden werden: 1 0
1 √ dx = lim ε→0 x
1
√ 1 √ √ 1 √ dx = lim 2 x = lim 2 1 − 2 ε = 2. ε→0 ε→0 x ε ε>0
ε
ε>0
Uneigentliche Integrale k¨ onnen zur Entscheidung u ¨ber die Konvergenz gewisser Reihen verwendet werden. Es gilt n¨ amlich der folgende Satz: Satz 7.21 (Cauchyscher Integraltest). Es sei f : [1, ∞) → [0, ∞) eine monoton fallende, nicht negative Funktion. Dann gilt ∞
∞ f (n) < ∞ ⇐⇒
n=1
f (x) dx < ∞. 1
Der Beweis ergibt sich leicht aus dem Konvergenzkriterium f¨ ur monotone Folgen und der Absch¨ atzung von Integralen mit Hilfe von Zerlegungssummen. ∞ ∞ 1 1 Beispiel 7.22. Die Reihe ist konvergent wegen 2 n x2 dx = 1 < ∞ nach 7.18. n=1
1
132
Kapitel 7. Integralrechung
Beispiel 7.23 (Konvergenz des Gaußschen Integrals). Das uneigentliche Integral ∞
t2
e− 2 dt
−∞
ist konvergent, denn wegen −n2 /2 ≤ −n f¨ ur n ≥ 2 ist ∞
2
e−n
/2
≤
n=2
Daher konvergiert
∞
e−n < ∞ (geometrische Reihe!).
n=2
∞
t2
e− 2 dt. Die Substitution s = −t, ds = −dt zeigt u ¨berdies
0
0 e −∞
2
− t2
∞ dt =
e−
s2 2
ds < ∞.
0
Somit ist das gesamte √ Integral konvergent. Der exakte Wert des Gaußschen Integrals betr¨agt u atigung dieses Ergebnisses reichen die bisher ¨ brigens 2π. Zur Best¨ entwickelten Methoden jedoch nicht aus.
Aufgaben 1. Berechnen Sie
∞
t e−t dt!
0
2. F¨ ur welche α > 0 existiert das uneigentliche Integral
∞
t−α dt?
1
3. Berechnen Sie
∞
2
te−t
/2
dt. Hinweis: Substituieren Sie z = t2 /2.
0
§ 3 Fl¨acheninhalts- und Volumenberechnungen Wir wenden uns nun wichtigen Anwendungen der Integralrechnung zu und beginnen mit der Berechnung von Fl¨ acheninhalten und Volumina.
Die Fl¨achenberechnung Eine Fl¨ache A sei durch zwei stetige Funktionen f und g mit g(x) ≤ f (x) f¨ ur alle x ∈ [a, b] gem¨aß Abb. 40 berandet. Zur Bestimmung des Fl¨acheninhaltes FA zerlegen wir das Intervall [a, b] zun¨ achst in Teilintervalle [xi , xi+1 ] gleicher L¨ange ∆x = xi+1 − xi f¨ ur 0 ≤ i < n. Sodann bilden wir die Rechtecke [xi , xi+1 ] × [g(xi ), f (xi )],
3. Fl¨acheninhalts- und Volumenberechnungen
133
y f A g a
x
xj
b
x
Abbildung 40: Berechnung des Fl¨acheninhalts
wie in der Abbildung 40 dargestellt. Der Gesamtinhalt der Rechteckstreifen ist dann eine Approximation f¨ ur den Fl¨ acheninhalt FA , es gilt also FA ≈
n−1
(f (xi ) − g(xi )) · ∆x.
i=0
Beim Grenz¨ ubergang ∆x → 0 geht die N¨ aherung in eine Gleichheit u ¨ ber, und die Zerlegungssummen konvergieren gegen das zugeh¨orige Integral. Damit haben wir die gesuchte Fl¨ acheninhaltsformel gefunden: FA =
b
(f (x) − g(x)) dx.
a
Beispiel 7.24. Wir wollen den Fl¨ acheninhalt des durch die Kurven f (x) = x und g(x) = x2 u ucks A berechnen. Nach ¨ ber dem Intervall [0, 1] begrenzten Fl¨achenst¨ obiger Fl¨acheinhaltsformel gilt 1 x − x2 dx =
FA =
x2 x3 1 1 1 1 − = − = . 2 3 0 2 3 6
0
Das Volumen von Rotationsk¨orpern Es sei f : [a, b] → R eine Funktion. Durch Rotation der Kurve um die x-Achse entsteht ein Rotationsk¨ orper (vgl. Abb. 41), dessen Volumen V bestimmt werden soll. Dazu wird der Rotationsk¨ orper durch Schnitte senkrecht zur x-Achse in Scheiben der Dicke ∆x zerlegt. Das Volumen dieser Scheiben ist n¨aherungsweise durch den Ausdruck π · f (x)2 · ∆x gegeben (Volumenformel f¨ ur Zylinder mit
134
Kapitel 7. Integralrechung y f(x)
b
a
x
Abbildung 41: Volumen von Rotationsk¨orpern
Grundfl¨achenradius |f (x)| und H¨ ohe ∆x). Die Summe n
π · f (xi )2 · ∆x
i=1
dieser Einzelvolumina ist dann eine N¨ aherung f¨ ur das Rotationsvolumen, und f¨ ur ∆x → 0 ergibt sich somit die Volumenformel f¨ ur Rotationsk¨ orper: V =
b
π · f (x)2 dx.
a
Beispiel 7.25. Wir wenden die Formel zur Berechnung des Kugelvolumens an. Eine Kugel mit Mittelpunkt im Koordinatenursprung und √ dem Radius r ensteht durch Rotation des Graphen der Funktion f (x) = y = r2 − x2 (Kreisgleichung!) u ¨ ber dem Intervall [−r, r] um die x-Achse. Mit obiger Formel ergibt sich damit das Kugelvolumen ⎛ r ⎞
r x3 r 2 2 2 2 2 ⎝ ⎠ V = π(r − x ) dx = π r − x dx = π r x − 3 −r −r −r
2 4 = π 2r3 − r3 = πr3 . 3 3
Wasserdurchfluss Wir betrachten das Profil eines Flusses gem¨aß Abbildung 42. Die Wasseroberfl¨ache sei die x-Achse, die Ufer liegen bei x = 0 und x = B. Die Wassertiefe an der Stelle 0 ≤ b ≤ B sei h(b), d.h., das Profil des Flusses wird beschrieben durch den Graphen der Funktion h : [0, B] → R. An jeder Stelle (x, y) des Profils, also 0 ≤ x ≤ B und h(x) ≤ y ≤ 0, hat die Str¨omung eine Geschwindigkeit
3. Fl¨acheninhalts- und Volumenberechnungen
y
(x,y)
0
135
x
B x
. y
x
h(x)
Abbildung 42: Profil eines Flusses
v(x, y), die durch viele Faktoren wie z.B. Tiefe, Untergrundbeschaffenheit etc. beeinflusst wird. Die Str¨ omungsgeschwindigkeit v(x, y) ist daher an verschiedenen Stellen (x, y) des Profils im allgemeinen unterschiedlich. Dies ist bei der Bestimmung des Durchflusses nat¨ urlich zu beachten. Pflastert man das Profil mit kleinen Rechtecken der L¨ ange ∆x und ∆y wie in Abbildung 42 angedeutet, so bel¨auft sich der Wasserdurchfluss durch ein solches Rechteck (pro Zeiteinheit) n¨aherungsweise auf v(x, y)∆x∆y. Summiert man nun u ¨ber alle Rechtecke der Pflasterung, so erh¨alt man eine N¨aherung f¨ ur den Wasserdurchfluss pro Zeiteinheit durch das gesamte Profil. Je feiner die Pflasterung (d.h. je kleiner ∆x und ∆y und je gr¨oßer damit die Zahl der Rechtecke in der Pflasterung), desto genauer wird diese N¨aherung. Im Grenzwert erhalten wir also f¨ ur den Durchfluss die Formel B 0 L= 0
v(x, y) dy dx.
h(x)
Aufgaben 1. Der Querschnitt eines zylinderf¨ ormigen Gef¨ aßes habe die Gestalt einer Ellipse, √ deren Berandung durch die Funktionen y = ± 4 − 2x2 beschrieben werden kann. Berechnen Sie die Querschnittsfl¨ ache! √ 2. Berechnen Sie das Volumen des Rotationsk¨orpers zur Funktion y = 8 − 2x2 f¨ ur −2 ≤ x ≤ 2. (Der entstandene K¨ orper ist u ¨brigens ein Rotationsellipsoid.) 3. Bestimmen Sie den Wasserdurchfluss L pro Zeiteinheit f¨ ur den Fall eines rechteckf¨ormigen Querschnittes eines Wasserkanals der Breite B und der Tiefe H bei einer angenommenen Fließgeschwindigkeit v(x, y) = 0,5 · (y + H), 0 ≤ x ≤ B, −H ≤ y ≤ 0.
136
Kapitel 7. Integralrechung
§4 Mittelwerte Integrale sind als kumulative Gr¨ oßen hervorragend geeignet, den Begriff des Mittelwertes einer dynamischen Gr¨ oße zu beschreiben. Ist beispielsweise f : [a, b] → R eine Funktion, die einen Prozessverlauf, etwa die Reaktionsgeschwindigkeit, beb schreibt, so ist die in diesem Zeitintervall umgesetzte Stoffmenge durch f (t) dt a
gegeben. Daher ist der Mittelwert von f in diesem Intervall durch die Zahl 1 f= b−a
b f (t) dt a
zu definieren. (Dazu muss freilich die Existenz des Integrals vorausgesetzt werden.). Der Mittelwert f erf¨ ullt also die Gleichung b f · (b − a) =
f (t) dt. a
In der Abbildung 43 ist dies illustriert.
f(t) f
a
t
b
Abbildung 43: Eine Funktion und ihr Mittelwert Wir betrachten im folgenden einige typische Beispiele.
Die mittlere Reaktionsgeschwindigkeit Es sei v = v(t) die zeitlich ver¨ anderliche Reaktionsgeschwindigkeit eines chemischen Prozesses, der w¨ ahrend des Zeitintervalls [0, T ] beobachtet werde. Dann sind T m= 0
m 1 v(t) dt bzw. v = = T T
T v(t) dt 0
4. Mittelwerte
137
die im Zeitintervall [0, T ] umgesetzte Stoffmenge bzw. die durchschnittliche Reaktionsgeschwindigkeit der Reaktion. Wir bestimmen diese Gr¨oßen f¨ ur den folgenden fiktiven Verlauf der Reaktionsgeschwindigkeit v(t) (siehe Abb. 44): ⎧ ⎨ t · 0,1 mol/s v(t) = 0,2 mol/s ⎩ 0,1(10 − t) mol/s
f¨ ur f¨ ur f¨ ur
0 ≤ t < 2, 2 ≤ t < 8, 8 ≤ t ≤ 10.
v
0,2
v (t)
8
2
10
t
Abbildung 44: Grafische Darstellung der Reaktionsgeschwindigkeit v(t) Dann sind 10 m
=
2
0
= v¯ =
8 0,1 · t dt +
v(t) dt = 0
10 0,1 · (10 − t) dt
0,2 dt + 2
8
8 0,1 10 t2 2 0,1 + 0,2t − · (10 − t)2 = 0,2 + 1,2 + 0,2 = 1,6 mol , 2 0 2 2 8 1,6 mol = 0,16 mol/s . 10s
Bestimmung der mittleren Durchflussgeschwindigkeit Die Durchflussgeschwindigkeit des Blutes durch eine Arterie sei durch eine Funktion 1 1 v(t) = + sin(2πνt) 2 2 mit einer Pulsfrequenz von ν = 70 Schl¨ agen pro Minute modelliert. Die Zeitdauer zwischen zwei Schl¨ agen ist dann T = ν1 , und die durchschnittliche Durchflussmenge ist folglich 1 v¯ = T
T 0
ν v(t) dt = 2
T 1 + sin(2πνt) dt = 0
T ν 1 νT 1 t− cos(2πνt) = = . 2 2πν 2 2 0
138
Kapitel 7. Integralrechung
Aufgaben 1. Die Reaktionsgeschwindigkeit v(t) eines chemischen Prozesses werde durch die folgende zeitabh¨ angige Funktion beschrieben: " 0,1t f¨ ur 0 ≤ t ≤ 10 min v(t) = 1,5 − 0,05t f¨ ur 10 min ≤ t ≤ 30 min . Zeichnen Sie den Verlauf der Reaktionsgeschwindigkeit und bestimmen Sie die mittlere Reaktionsgeschwindigkeit. 2. Angenommen, die Temperatur T in einem Gew¨achshaus wird innerhalb von 24 Stunden gem¨aß 1 t(24 − t) + 10, t ∈ [0, 12], 8 √ T (t) = √ 27 · 24 − t + 10, t ∈ [12, 24] geregelt. Bestimmen Sie die durchschnittliche Tagestemperatur T .
§ 5 Statistische Mittelwerte Neben deterministischen Gr¨ oßen sind in den Naturwissenschaften h¨aufig Gr¨oßen X zu behandeln, die gewissen statistischen Schwankungen unterliegen. Dabei nehmen wir der Einfachheit halber an, dass die Werte von X in einem beschr¨ankten Intervall [a, b] liegen. F¨ ur solche Gr¨ oßen X liegt ferner in der Regel eine (empirisch bestimmte) Verteilungs- oder H¨ aufigkeitsdichte p(x) mit p(x) ≥ 0 f¨ ur alle x ∈ [a, b] b und a p(x) dx = 1 vor. Die Zahl p(x) · ∆x gibt dabei grob gesagt die Wahrscheinlichkeit daf¨ ur an, dass der Messwert von X in das kleine Intervall [x, x + ∆x] f¨allt (s. z.B. Abb. 45). Zerlegt man das Intervall [a, b] durch die Teilpunkte x0 = a und xi+1 = xi + ∆x in die Teilintervalle [xi , xi+1 ], so ist die Zahl n−1
xi · p(xi ) · ∆x
i=0
eine N¨aherung f¨ ur einen mittleren“ Wert der Gr¨oße X. Durch den Grenz¨ ubergang ” ∆x → 0 erhalten wir das Integral b x · p(x) dx,
X= a
und diese Zahl heißt der statistische Mittelwert oder auch der Erwartungswert von X. Ist Y eine Gr¨ oße, die in der Form Y = f (X) von X abh¨angt, so l¨asst sich beweisen, dass der Erwartungswert von Y durch die Formel b f (x) · p(x) dx
Y = f (X) = a
5. Statistische Mittelwerte
139
berechnet werden kann. Wir betrachten dazu ein Beispiel.
Mittlere Fu ¨tterungsintervalle Zur Untersuchung der Brutpflege bei Meisen in einem bestimmten Revier soll die Zeitdauer T zwischen zwei Anfl¨ ugen des Nestes, im folgenden F¨ utterungsintervall genannt, herangezogen werden. Wir nehmen an, dass empirisch eine H¨aufigkeitsverteilung p(t) f¨ ur T ermittelt wurde, die dem in der Abbildung 45 angegeben ∞ Verlauf folgt. (Dabei ist nat¨ urlich p(t) dt = 1, wie es sich f¨ ur eine H¨aufigkeits0
p(t) 1 2 3
1
3
t/min
Abbildung 45: H¨ aufigkeitskurve/Wahrscheinlichkeitsdichte verteilung geh¨ ort.) Die mittlere F¨ utterungsintervalll¨ange“ ist dann nach obiger ” Festlegung wie folgt zu definieren: ∞ t · p(t) dt.
T = 0
Wir wollen T f¨ ur die obigen Daten berechnen. Zun¨achst ist die analytische Darstellung der Funktion p(t) zu ermitteln. Zur Vereinfachung unterschlagen wir dabei die Maßeinheiten. Es ist ⎧ 2 f¨ ur 0 ≤ t < 1 ⎪ ⎨ 3t 1 (3 − t) f¨ ur 1 ≤ t < 3 p(t) = 3 ⎪ ⎩ 0 f¨ ur t > 3. Das ergibt 3
1 t · p(t) dt =
T = 0
2 1 = + 9 3
0
2 t · t dt + 3
3
1 2 t3 1 1 3 2 t3 3 (3 − t) · t dt = · t − + 3 3 3 0 3 2 3 1
1
3 · (9 − 1) 27 − 1 − 2 3
=
2 10 12 + = ≈ 1,33 min. 9 9 9
140
Kapitel 7. Integralrechung
Die oben angenommene, st¨ uckweise lineare Verteilungsdichte p(t) ist nat¨ urlich nur eine grobe N¨ aherung f¨ ur die empirisch gewonnenen Daten. Das Prinzip der Berechnung von Mittelwerten ist aber immer dasselbe. Man beachte aber, dass der Mittelwert nat¨ urlich von der verwendeten H¨aufigkeitsverteilung abh¨angt.
Aufgaben 1. Die Verteilungsdichte p(t) =
t2 1 · t · e− 2a2 2 a
mit a = 1 min ist dem Problem der F¨ utterungsintervalle eigentlich besser angepasst. i) Skizzieren Sie die Funktion p(t) f¨ ur 0 ≤ t < ∞. ii) Ermitteln Sie die mittlere F¨ utterungsintervall¨ange f¨ ur diese Statistik! 2. Es sei T die Lebensdauer des (radioaktiven) 14 C-Isotops. Nach den Gesetzen des radioaktiven Zerfalls ist die Verteilungsdichte f¨ ur die Lebensdauer des Atoms durch die Funktion " λe−λt f¨ ur t ≥ 0 p(t) = 0 f¨ ur t < 0 mit einer stoffabh¨ angigen Konstante λ > 0 gegeben. (Diese Funktion p(t) heißt exponentielle Verteilungsdichte.) Skizzieren Sie die Funktion p(t) und zeigen Sie L lim 0 p(t) dt = 1 und T = λ1 . L→∞
3. In einem forstwirtschaftlich genutzten Waldst¨ uck ist f¨ ur die Stammdurchmesser D (in mm und 1m u ¨ber dem Waldboden) die folgende Verteilungsdichte mit einer empirischen Konstante a = 70mm gefunden worden: p(D) =
D2 − 2 2 1 2 · D · e 2a . π a3
i) Skizzieren Sie den Kurvenverlauf! ii) Der mittlere Stammdurchmesser D wird nach der Formel ∞ D · p(D) dD
D= 0
berechnet. Ermitteln Sie D f¨ ur die gegebenen Werte. Hinweis: Benutzen Sie die Substitution t = D2 /a2 und partielle Integration.
5. Statistische Mittelwerte
141
Weitere Informationen im WWW ¨ Ubungsaufgaben und Erkl¨ arungen bei Calculus On the Web • Veranschaulichungen der Approximation des Integrals durch Riemann-Summen: Calculus Book II, Chapter Integration, Section Sums, Module Riemann Sums • Unbestimmte Integrale (Stammfunktionenbildung, Verwendung der Substitutionsregel bei der Stammfunktionenbildung): Calculus Book II, Chapter Integration, Section Indefinite Integrals • Berechnungen einfacher Integrale und Verwendung der Substitutionsregel: Calculus Book II, Chapter Integration, Section Definite Integrals, Modules Definite Integrals, Substitution Methods und More Substitutions • Integrale als Fl¨ acheninhalt: Calculus Book II, Chapter Applications of Integration, Section Area, Modules Area under a curve, Area between curves I und II • Integrale als Mittelwerte: Calculus Book II, Chapter Applications of Integration, Section Assorted Applications, Module Average Value • Zum Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung: Calculus Book II, Chapter Integration, Section Fundamental Theorem • Zur partiellen Integration: Calculus Book II, Chapter Methods of Integration, Section Integration by Parts • Partialbruchzerlegung: Calculus Book II, Chapter Methods of Integration, Section Partial Fractions • Integrale mit Logarithmen und Exponentialfunktionen: Calculus Book II, Chapter Transcendental Functions, Sections The Natural Logarithm, The Exponential Function, Logarithms and Exponentials (other bases) • Uneigentliche Integrale: Calculus Book II, Chapter Methods of Integration, Section Improper Integrals Anleitungen, Demonstrationen und Beispiele bei Visual Calculus • Integration, Applications of Integration und Sequences and Series
Kapitel 8
Periodische Funktionen und Fourieranalyse Viele Vorg¨ange in der Natur und Technik haben einen periodischen Charakter. Hierzu geh¨oren bespielsweise der Herzrhythmus, der Biorhythmus, Jahreszeitenzyklus, Ebbe-Flut-Zyklus, Zyklen in der Sonnenaktivit¨at, mechanische und elektrische Schwingungen oder Kl¨ ange. In sehr grober N¨aherung k¨onnten wir diese Prozesse durch Sinus- oder Kosinusfunktionen beschreiben, doch weicht die Feinstruktur der Prozesse in der Regel stark von einem sinusf¨ormigen Verlauf ab. Da sich aber gerade in der Feinstruktur eines periodischen Prozesses seine charakteristischen Eigenschaften zeigen, ben¨ otigen wir ein Instrument zur genaueren Analyse periodischer Prozesse. Dies Instrument ist die Fourieranalyse und -synthese. Wir beginnen damit, unsere Kenntnisse zu periodischen Funktionen etwas zu erweitern.
§ 1 Periodische Funktionen Die Funktionen sin und cos erf¨ ullen die Gleichungen sin(t + 2π) = sin t, cos(t + 2π) = cos t f¨ ur alle t ∈ R. Diese Gleichungen dr¨ ucken aus, dass die Sinus- und Kosinusfunktion 2π-periodisch sind. In Verallgemeinerung dessen definieren wir: Definition 8.1. Eine Funktion f : R → R heißt p-periodisch f¨ ur eine Zahl p > 0, falls f (t + p) = f (t) f¨ ur alle t ∈ R gilt. Die Zahl p in obiger Definition muss nicht notwendig minimal gew¨ahlt sein, dennoch spricht man von einer Periode p. Das ist auch so beabsichtigt, da zu manchen periodischen Funktionen gar keine kleinste positive Periode p existiert. Schließlich sei bemerkt, dass jede konstante Funktion nach obiger Definition periodisch (mit beliebiger Periode) ist.
144
Kapitel 8. Periodische Funktionen und Fourieranalyse
Durch geeignete Wahl der Maßeinheiten kann man stets auf die Periode 2π normalisieren. Dies ist aus mathematischer Sicht zweckm¨aßig, da die dann entstehenden Formeln besonders einfach sind. Dies werden wir im folgenden auch tun. Beispiel 8.2 (Die n-ten Harmonischen). Dies sind die Funktionen f (t) = a sin(nt) + b cos(nt) f¨ ur n ∈ N mit a, b ∈ R. Wir betrachten im folgenden nur die Funktion fn (t) = sin(nt), die Betrachtung im allgemeinen Fall ist analog. Die Nullstellen von fn (t) ergeben sich aus der Bedingung nt = kπ mit k ∈ Z. Sie liegen also bei t = nk π. Je gr¨oßer n ist, desto enger liegen die Nullstellen beisammen. Mit wachsendem n oszillieren die Funktionen also schneller. Daher ist die Zahl n ein Maß f¨ ur die Frequenz. ¨ Beispiel 8.3 (Additive Uberlagerungen und Vielfache von Harmonischen). Die in Abb. 46 links dargestellte Funktion f (t) = sin t + 13 sin(3t) ist ebenfalls 2πperiodisch, sie zeigt aber im Unterschied zur Funktion sin t eine sehr interessante Feinstruktur. Man erkennt am Verlauf die 1. und 3. Harmonische wieder (allerdings mit unterschiedlichen Amplituden). Deshalb sagt man auch, dass das Frequenzspektrum dieser Funktion die Werte n = 1 und n = 3 enth¨alt. Man ahnt, dass durch solche Zusammensetzungen eine Vielzahl periodischer Kurvenformen erzeugbar ist. Beispiel 8.4. Weitere Beispiele periodischer Funktionen sind die in der Abb. 46 (mittig und rechts) dargestellte Rechteck- und S¨agezahnschwingung. Diese periodischen Funktionen weisen sogar Spr¨ unge auf. Die senkrechten Linien im Bild geh¨oren im streng mathematischen Sinn nat¨ urlich nicht zum Graphen der Funktionen, sie sind nur zur Verdeutlichung der Kurven eingezeichnet worden.
Abbildung 46: Beispiele periodischer Funktionen
2. Die Fourieranalyse
145
§2 Die Fourieranalyse In diesem Abschnitt werden wir ein sehr leistungsf¨ahiges Instrument zur Feinanalyse periodischer Vorg¨ ange entwickeln. Wir denken zun¨achst an akustische Schwingungen und stellen uns die Frage, wieso sich Kl¨ange oder Stimmen unterscheiden lassen? Wieso erkennt das K¨ uken die Mutter an der Stimme? Welche physiologischen und kognitiven F¨ ahigkeiten erm¨ oglichen es uns, Bekannte am Klang der Stimme oder Musikinstrumente an ihrem Klang zu identifizieren? In der nachfolgenden Abbildung sind links die Schwingungsformen eines Klarinetten- und eines Fl¨otentones dargestellt. Auf beiden Instrumenten wurde der Kammerton a mit der Frequenz von 440 Hz geblasen.
Abbildung 47: Schwingungsformen und Frequenzspektren Wir erkennen: • Die Anzahl der Schwingungen pro Zeiteinheit ist in beiden Klangbildern gleich. Das ist der Ausdruck daf¨ ur, dass beide Instrumente den gleichen Ton a gespielt haben. • Die Oszillogramme der Kl¨ ange zeigen keine reinen Sinuskurven. Der Klang scheint in der Kurvenform verschl¨ usselt zu sein.
146
Kapitel 8. Periodische Funktionen und Fourieranalyse
¨ • Die Kurvenformen haben eine gewisse Ahnlichkeit mit der Kurve aus Abbil¨ dung 46, und das f¨ uhrt zur Vermutung, dass Kl¨ange durch Uberlagerungen von vielen Harmonischen unterschiedlicher Intensit¨at entstehen. Aber wie bestimmt man diese verborgenen Intensit¨aten? Auf der rechten H¨ alfte der Abbildung 47 ist mit technischen Mitteln eine Zerlegung der beiden Schwingungsformen in ihr Frequenzspektrum vorgenommen worden. Tats¨achlich zeigt sich bei beiden Instrumenten ein starker Peak bei der Grundfrequenz (1. Harmonische) von 440 Hz. Weitere Peaks findet man bei den Vielfachen Frequenzen 880 Hz, 1320 Hz, . . . , also den h¨oheren Harmonischen. Die Intensit¨aten unterscheiden sich aber bei beiden Instrumenten, und hierin liegt offenbar das Geheimnis der Unterscheidbarkeit. Wie aber kann die Zerlegung einer Schwingung in die Harmonischen ausgef¨ uhrt werden? Rein experimentell ist dies mit Hilfe der Helmholtzschen Kugelresonatoren (s. Abb. 481 ) m¨ oglich, die man sich der Reihe nach zur Beurteilung der Lautst¨arke an das Ohr h¨ alt. Die in einem Kugelresonator eingeschlossene Luftmenge schwingt praktisch nur in einer festen, von der Gr¨oße des Resonators abh¨angigen Frequenz. Mit einem vollst¨ andigen Satz solcher Resonatoren kann man daher den Klang spektral“ zerlegen. Im menschlichen Ohr u ¨ bernehmen diese Analyse die ” Basilarmembran gemeinsam mit den H¨ orsinneszellen im Schneckengang des Innenohres. Die von uns nun zu entwickelnden mathematischen Verfahren heißen Fourieranalyse bzw. Fouriersynthese.
Abbildung 48: Helmholtzsche Resonatoren ¨ Zusammenfassung der bisherigen Uberlegungen: • Das Ziel: Die Analyse periodischer, nicht sinusf¨ormiger Funktionen f . ¨ • Die Methode: f auffassen als Uberlagerung harmonischer Schwingungen. • Der Ansatz:
f (t) =
∞ k=1
ak sin(kt) +
∞
bk cos(kt) + b0
k=1
1 mit freundlicher Genehmigung des Instituts f¨ ur Physiologie der Charit´e, Historische Instrumentensammlung
2. Die Fourieranalyse
147
In diesem Ansatz dr¨ ucken die Koeffizienten ak und bk die Anteile der Oberwellen aus. Die Kernfrage besteht somit darin, eine explizite Formel zur Berechnung dieser Zahlen zu finden. Die mathematische Grundlage hierf¨ ur sind die sogenannten Orthogonalit¨ atsrelationen: Satz 8.5 (Die Orthogonalit¨atsrelationen). F¨ ur alle n, m ≥ 1 gelten " π π f¨ ur n = m, i) sin(nt) · sin(mt) dt = 0 sonst, −π " π π f¨ ur n = m, ii) cos(nt) · cos(mt) dt = 0 sonst, −π π
iii)
−π
sin(nt) · cos(mt) dt = 0 stets.
Beweis. Wir begn¨ ugen uns mit dem Nachweis von i). Mittels partieller Integration ergibt sich π I = −π
π π 1 n sin(nt) · sin(mt) dt = − sin(nt) cos(mt) + cos(nt) · cos(mt) dt m −π m
= 0+
n m
−π
π cos(nt) · cos(mt) dt, −π
und mit nochmaliger partieller Integration folgt
I
=
π π n n2 n2 cos(nt) sin(mt) + 2 sin(nt) · sin(mt) dt = 0 + 2 I. 2 m m −π m −π
Im Fall n = m ist das nur m¨ oglich f¨ ur I = 0. F¨ ur den Fall n = m gilt nach oben π
π 2
I=
(cos(nt))2 dt.
(sin(nt)) dt = −π
−π
Wegen (sin(nt))2 + (cos(nt))2 = 1 folgt dann 1 1 1 I= I+ I= 2 2 2
π
1 (sin(nt)) + (cos(nt)) dt = 2 2
−π
Damit ist der Satz bewiesen.
π
2
1 dt = −π
2π = π. 2
148
Kapitel 8. Periodische Funktionen und Fourieranalyse
Der Einfachheit halber beschr¨ anken wir uns im folgenden Satz nur auf die Sinusterme, f¨ ur die Kosinusteile gelten analoge Aussagen. Satz 8.6 (Die Fourieranalyse). Eine st¨ uckweise stetige Funktion f sei als Sinusreihe f (t) = a1 sin t + a2 sin(2t) + · · · + ak sin(kt) + . . . dargestellt. Dann lassen sich die Koeffizienten ak durch folgende Formel zur¨ uckgewinnen: ak
=
1 π
π f (t) sin(kt) dt
(8-1)
−π
Beweis. Durch Multiplikation der angegebenen Gleichung f¨ ur f (t) mit sin(kt) und π anschließender gliedweiser Integration folgt auf Grund der Orthogonalit¨atsre−π
lation π
π f (t) sin(kt) dt
π sin t · sin(kt) dt + · · · + an
sin(nt) · sin(kt) dt + . . .
=
a1
=
0 + · · · + ak · π + 0 · · · + 0 + . . . = ak · π.
−π
−π
−π
Durch Umstellen der Gleichung nach ak ergibt sich die gew¨ unschte Formel. Es sei bemerkt, dass die M¨ oglichkeit der gliedweisen Integration der Reihe gewisse Voraussetzungen erfordert, auf die wir hier aber nicht eingehen k¨onnen. Der obige Satz zeigt folgendes: Wenn also eine Funktion u ¨ berhaupt als Sinusreihe darstellbar ist, so sind die Koeffizienten, also die Intensit¨ aten der Oberwellen, durch die Formeln (8-1) zu bestimmen. Der folgende Hauptsatz zeigt nun umgekehrt, dass alle st¨ uckweise stetigen Funktionen f tats¨achlich eine Entwicklung als Sinus/Kosinus-Reihe zulassen, und diese Darstellung nennt man die Fourierreihe von f : 8.7 (Hauptsatz zur Fourieranalyse und Synthese). Jede 2π-periodische (st¨ uckweise stetige) Funktion f l¨ asst sich (fast ¨ uberall) in der Form f (t) =
∞
ak sin(kt) +
k=1
∞
bk cos(kt) + b0
k=1
schreiben. Dabei sind die sog. Fourierkoeffizienten ak und bk gegeben durch ak =
1 π
π −π
f (t) sin(kt) dt,
bk =
1 π
π −π
f (t) cos(kt) dt,
b0 =
1 2π
π
f (t) dt.
−π
Es sei bemerkt, dass die obige Formel nicht f¨ ur alle t ∈ R gelten muss, doch ist die Menge der Ausnahmepunkte in mathematisch pr¨azisierbarem Sinn klein. In diesem Sinn ist der Zusatz fast u ussen ¨berall“ zu verstehen. Auf einen Beweis des Satzes m¨ ”
2. Die Fourieranalyse
149
wir im Rahmen dieses Buches allerdings verzichten. Auf die praktische Verwendung der angegebenen Formeln wollen wir aber mit einem Beispiel eingehen. Beispiel 8.8. Eine 2π-periodische Rechteckschwingung (s. Abb. 46) kann durch die Funktion " −1 f¨ ur −π ≤ t < 0 f (t) = 1 f¨ ur 0≤t<π beschrieben werden. Wir berechnen die Fourierkoeffizienten. Es sind bn
an
=
1 π
π f (t) cos(nt) dt = 0 f¨ ur alle n ≥ 1, aber auch b0 = 0, −π π
=
1 π
=
2 · π
−π
2 f (t) sin(nt) dt = π
"
π 1 · sin(nt) dt = 0
2 n
0
Also ist 4 f (t) = π
# $π 2 1 − cos(nt) π n 0
f¨ ur n ungerade f¨ ur n gerade.
1 1 sin t + sin(3t) + sin(5t) + · · · . 3 5
Die Rechteckschwingung l¨ asst sich also aus Harmonischen zusammensetzen und enth¨alt Oberwellen beliebig hoher Ordnung. Die Partialsummen 4 f2k+1 (t) = π
1 1 sin t + sin(3t) + . . . + sin (2k + 1)t 3 (2k + 1)
sind gute Approximationen f¨ ur f . In der Abb. 49 sind die Funktionen f und f5 graphisch dargestellt.
Abbildung 49: Approximation der Rechteckschwingung
150
Kapitel 8. Periodische Funktionen und Fourieranalyse
Fouriertransformation und Ro¨ntgenstrukturanalyse Die mehrdimensionale und kontinuierliche Verallgemeinerung der Fourierzerlegung heißt Fouriertransformation. Sie wurde von Crick und Watson 1953 erfolgreich zur Strukturbestimmung der DNS eingesetzt. Genauer versteht man unter der Fouriertransformierten einer Funktion f die durch fˆ bezeichnete Verallgemeinerung der im Satz 8.7 angegebenen Formeln f¨ ur die Fourierkoeffizienten 1 f%(k) = √ 2π
∞ −∞
1 f (t) cos(kt) dt + √ 2πi
∞ f (t) sin(kt) dt mit k ∈ R. −∞
√ Dabei ist i = −1 die imagin¨ are Einheit, und die Fouriertransformierte f% ist eine komplexe Funktion. Die Bedeutung der Fouriertransformierten f¨ ur die Strukturanalyse von Kristallen ergibt sich nun aus der folgenden Tatsache: • Die Fouriertransformierte beschreibt die Beugung von Licht oder von R¨ ontgenstrahlung an periodischen Strukturen wie Kristallen, und die Umkehrfunktion ist daher mathematisch geeignet, aus dem experimentell erhaltenen Beugungsbild umgekehrt auf die Gitterstruktur des Kristalls zur¨ uckzuschließen. Eben dies ist das Verfahren der R¨ ontgenstrukturanalyse. In der Abb. 50 ist links der Graph einer Funktion f (x, y) durch den Schw¨arzungs-
Röntgenstrukturanalyse Inverse Fouriertransformation
Spiralförmige Atomkette
Röntgenbeugungsbild
Abbildung 50: R¨ ontgenstrukturanalyse und Fouriertransformation, DNA-Modell grad dargestellt, rechts ist der Absolutbetrag ihrer (zweidimensionalen) Fouriertransformierten dargestellt. Deutet man das linke Bild als eine Atomkette, so ist das rechte Bild das zugeh¨ orige Beugungsbild. Beugungsbilder sind phototechnisch zug¨anglich, und durch inverse Fouriertransformation ergibt sich damit die der Beobachtung nicht direkt zug¨ angliche r¨ aumliche Struktur der Atomkette. Eine spektakul¨ are Anwendung dieser Technik ist die Strukturaufkl¨arung der DNS durch Watson und Crick im Jahr 1953. Die von ihnen dazu benutzten Beugungsbilder wurden von Rosalind Franklin gewonnen. Ber¨ uhmt geworden ist das
2. Die Fourieranalyse
151
sogenannte Photo 51. Es sieht dem rechnerisch erzeugten Beugungsbild aus Abb. 50 a¨hnlich. In der Abb. 50 ist das Vorgehen von Watson und Crick symbolisiert. Aus der X-f¨ormigen Struktur des Beugungsbildes l¨asst sich auf eine Spriralstruktur schließen, und der Winkel, den das X bildet, ist ein Maß f¨ ur die Gangh¨ohe. Fehlende Muster erlauben dem Spezialisten den R¨ uckschluss auf eine Doppelhelixstruktur. Die Fouriertransformation bildet auch die mathematische Grundlage f¨ ur die NMR-Spektroskopie, die Fouriertransformierte der gemessenen Impulssequenz liefert hier das Frequenzspektrum der beteiligten Atome.
Aufgaben 1. Skizzieren Sie die Graphen der Funktionen (sin t)2 und sin |t| und bestimmen Sie m¨ogliche Perioden p. Ist die Funktion sin(t2 ) periodisch? 2. Skizzieren Sie unter Verwendung einer Wertetabelle den Graphen der Funktion f (t) = sin(t) + 13 sin(3t) auf dem Intervall [0, 4π]. 3. Zeigen Sie, dass die Funktion y(x) = a sin(ωx) + b cos(ωx) f¨ ur alle Zahlen a, b ∈ R die Schwingungsgleichung y + ω 2 y = 0 l¨ost. 4. Die auf dem Intervall [−π, π) durch f (x) = x definierte Funktion werde 2πperiodisch auf die ganze reelle Achse fortgesetzt. Zeichnen Sie den Graphen der Funktion auf dem Intervall [−3π, 3π]! Berechnen Sie die Fourierkoeffizienten von f und geben Sie die Fourierreihe an!
Kapitel 9
Lineare Systeme In den vorangegangenen Kapiteln haben wir meistens die Abh¨angigkeit einer isolierten Gr¨oße von einer anderen prim¨ aren Gr¨ oße untersucht. In den Biowissenschaften sind jedoch sehr oft Systeme mit mehreren, wechselwirkenden Komponenten Gegenstand der Untersuchungen, und die Herausl¨osung einer einzelnen Gr¨oße wird dem Gegenstand nicht gerecht. In diesem Abschnitt werden wir Methoden zur Behandlung von Systemen entwickeln. Das geeignete Instrumentarium ist dabei die Vektor- und Matrizenrechnung.
§ 1 Lineare Gleichungssysteme Die Zust¨ande mehrkomponentiger Systeme werden durch Datens¨atze beschrieben, die mathematisch am besten als Vektoren aufzufassen sind. Zur Einf¨ uhrung betrachten wir ein Beispiel aus der Ern¨ ahrungswissenschaft. Beispiel 9.1. Wir wollen den N¨ ahrstoffgehalt eines Menus untersuchen. In der folgenden Tabelle sind die N¨ ahrstoffgehalte verschiedener Lebensmittel angegeben.
Protein (g/100g) Kohlenhydrate (g/100g) Ballaststoffe (g/100g)
Kartoffeln 2 15 3
Erdbeeren 15 0 0
Fleisch 1 7 2
M¨ohren 1 6 6
Wenn wir die verzehrten Mengen an Kartoffeln, M¨ohren, Fleisch und Erdbeeren als Dessert mit x1 , x2 , x3 , x4 bezeichnen, so k¨onnen wir die insgesamt aufgenommenen Mengen P, K, B an Protein, Kohlenhydraten und Ballaststoffen aus den folgenden Gleichungen ermitteln:
154
Kapitel 9. Lineare Systeme 2x1 15x1 3x1
+ + +
15x2 0x2 0x2
+ + +
1x3 7x3 2x3
+ + +
1x4 6x4 6x4
= P = K = B
Umgekehrt kann auch die Frage gestellt werden, welche mengenm¨aßige Zusammensetzung das Gericht haben soll, um eine vorgegebene N¨ahrstoffmenge (P, K, B) zu erreichen. Das erfordert die Bestimmung einer L¨osung x = (x1 , . . . x4 ) des obigen Gleichungssystems. Dabei ist weder selbstverst¨andlich, dass es u ¨berhaupt eine m¨ ogliche Komposition des Menus gibt, noch, dass daf¨ ur nur eine M¨oglichkeit besteht. Mit diesem Beispiel haben wir bereits zahlreiche zentrale Fragen der Theorie linearer Gleichungssysteme vorweg genommen. Um sie allgemein behandeln zu k¨onnen, f¨ uhren wir in die u ¨bliche mathematische Symbolik zur Darstellung linearer Gleichungssysteme ein. Definition 9.2. Ein lineares Gleichungssystem ist ein System der Form a11 x1 .. .
+...+
a1n xn
=
b1 .. .
am1 x1
+...+
amn xn
=
bm
mit Koeffizienten aij ∈ R und Absolutgliedern bi ∈ R. Die hierbei auftretenden Daten werden in folgender Weise zu Datens¨atzen zusammengefasst. Sie heißen ⎛ ⎞ x1 ⎜ ⎟ x = ⎝ ... ⎠ = Vektor der Unbekannten, ⎛
xn
⎞ a11 . . . a1n ⎜ .. ⎟ = Koeffizientenmatrix oder Strukturmatrix, A = ⎝ ... . ⎠ am1 . . . amn ⎛ ⎞ b1 ⎜ ⎟ b = ⎝ ... ⎠ = Vektor der Absolutglieder . bm Symbolisch schreiben wir lineare Gleichungssysteme oft in der Form ⎛ ⎞ ⎛ ⎞ ⎛ ⎞ a11 . . . a1n x1 b1 ⎜ .. .. ⎟ · ⎜ .. ⎟ = ⎜ .. ⎟ , oder k¨ urzer Ax = b. ⎝ . ⎝ . ⎠ ⎝ . ⎠ . ⎠ am1 . . . amn xn bm Definition 9.3. Ein geordneter Datensatz x heißt eine L¨ osung des Gleichungssystems Ax = b, wenn x alle Gleichungen des Systems erf¨ ullt. Die Menge aller L¨osungen von Ax = b heißt die L¨ osungsmenge des Gleichungssystems.
1. Lineare Gleichungssysteme
155
Es sei bemerkt, dass nicht jedes lineare Gleichungssystem u ¨ berhaupt L¨osungen besitzt. In diesem Fall ist die L¨ osungsmenge leer. Definition 9.4. Zwei Gleichungssysteme Ax = b und By = c heißen ¨aquivalent, wenn sie die gleiche Anzahl von Unbekannten haben, und wenn ihre L¨osungsmengen nach geeigneter Umordnung der Unbekannten gleich sind. Bemerkung 9.5. Nat¨ urlich sind wir vor allem an der Ermittlung der L¨osungen linearer Gleichungssysteme interessiert. Allzu sorgloses Manipulieren kann aber zu Fehlschl¨ ussen f¨ uhren, wie das folgende Beispiel zeigt: 2x x x
+ − +
2y 2y y
= = =
4 2 1
(1) (2) (3)
Die Subtraktion der Gleichungen (1) − (3) ergibt x + y = 3, und die Addition der Gleichungen (1) + (2) ergibt 3x = 6. Aus der letzten Gleichung folgt x = 2, und aus x + y = 3 ergibt sich y = 1. Die Probe zeigt aber, daß der Datensatz x = 2 und y = 1 keine L¨osung des obigen Gleichungssystems ist. Solche Fehlschl¨ usse k¨onnen nur vermieden werden, wenn jeder Umformungsschritt zu ¨aquivalenten Gleichungssystemen f¨ uhrt. Dies wird durch die sogenannten elementaren Umformungen von Gleichungssystemen erreicht: Definition 9.6. Es sei Ax = b ein lineares Gleichungssystem. Elementare Umformungen sind: i) Vertauschen von Gleichungen, ii) Umordnen der Unbekannten, iii) Multiplikation einer Gleichung mit einem Faktor λ = 0, iv) Addition/Subtraktion einer Gleichung zu einer anderen, v) Wiederholte Anwendung der Schritte i)–iv). Satz 9.7. Elementare Umformungen ¨ uberf¨ uhren lineare Gleichungssysteme in ¨ aquivalente lineare Gleichungssysteme. Die L¨ osungsmengen beider Systeme stimmen daher bis auf passende Umordnung der Unbekannten ¨ uberein. Auf der systematischen Anwendung elementarer Umformungen baut das folgende Verfahren zur L¨ osung linearer Gleichungssysteme auf: 9.8 (Das Gaußsche Eliminierungsverfahren). Wir setzen zun¨achst ein System von n Unbekannten und n Gleichungen voraus. Das Ziel des Verfahrens besteht darin, durch wiederholte Anwendung elementarer Umformungen das urspr¨ ungliche Gleichungssystem in einem ersten Schritt in eine Dreiecksform
156
Kapitel 9. Lineare Systeme
@
∗ @ · @ 0 @ @
=
zu u uhren. Dabei soll m¨ oglichst erreicht werden, dass alle Koeffizienten auf ¨ berf¨ der Diagonalen = 0 sind, w¨ ahrend die Koeffizienten unterhalb der Diagonale verschwinden. Wir demonstrieren das an einem Beispiel. Die an den Rand geschriebene Pfeilsymbolik ist dabei so zu verstehen, dass die zugeh¨origen Gleichungen mit den entsprechenden Faktoren multipliziert und anschließend addiert werden. Die resultierende neue Gleichung wird im nachfolgenden Tableau an die entsprechende Position geschrieben. x
+
y
−
z
=
4
2x
+
3y
+
4z
=
6
+
z
=
6
−x
x
+
y
−
z
=
4
y
+
6z
=
−2
=
10
y
x
+
y
−
z
=
4
y
+
6z
=
−2
6z
=
−12
−2
1
?1 ?1
1 ?−1
In einem zweiten Schritt wird die Dreiecksgestalt nun mittels weiterer elementarer Umformungen in eine sog. Diagonalform
1
@
0
0 @ @
·
=
1
u uhrt. Dabei sollen alle Zahlen auf der Diagonalen =1 sein, w¨ahrend außer¨ berf¨ halb der Diagonalen nur Nullen vorkommen:
1. Lineare Gleichungssysteme x
+
x
157
y
−
z
=
y
+
6z
=
−2
6z
=
−12
y
=
2
y
=
10
=
−2
=
−8
=
10
=
−2
+
z
x y z
61
4 61 −1
1 6
:6
61 −1
Die L¨osung x = −8, y = 10, z = −2 kann nun abgelesen werden. Das beschriebene Verfahren wird sinngem¨ aß auch zur L¨osung nichtquadratischer Gleichungssysteme verwendet. Wir demonstrieren das an dem einf¨ uhrenden Beispiel 9.1 und stellen die Frage, ob sich ein Menu mit den folgenden Inhaltsstoffen herstellen l¨asst: ⎛ ⎞ ⎛ ⎞ Protein P 22 ⎜ ⎟ ⎜ ⎟ ⎜ Kohlenhydrate K ⎟ = ⎜ 49 ⎟ . ⎝ ⎠ ⎝ ⎠ Ballaststoffe
B
20
Zur Verk¨ urzung der Schreibweise ersetzen wir die vorn verwendeten Bezeichner x1 , x2 , x3 , x4 durch x, y, z, u. Wie im quadratischen Fall ergibt sich durch elementare Umformungen der Reihe nach: 2x
+
15y
+
z
+
u
=
22
15 −2 ?
15x
+
7z
+
6u
=
49
3x
+
2z
+
6u
=
20
15y
+
z
+
u
=
22
225y
+
z
+
3u
=
232
1
−45y
+
z
+
9u
=
−26
?5
2x
+
−3 ?2
158
Kapitel 9. Lineare Systeme 2x
+
15y
+
225y
+
z
+
u
=
22
z 6z
+
3u
=
232
+
48u
=
102
61 61 − 61
− 61
Diese Form des Gleichungssystems bezeichnen wir als Trapezform (s. 9.9). In einem zweiten Schritt stellen wir nun soweit m¨oglich eine Diagonalform“ her: ” 2x
15y
−
7u
=
5
615
225y
−
5u
=
215
−1
+
48u
=
102
−
100u
=
−140
−
5u
=
215
+
48u
=
102
=
− 14 3
−
10 u 3 1 45 u
=
43 45
+
8u
=
17
+
6z 30x 225y 6z
−
x y z
: 30 : 225 :6
Diese Gleichungen zeigen, dass es unendlich viele L¨osungen gibt, denn zu beliebig gew¨ahltem Wert f¨ ur u k¨ onnen x, y und z so gew¨ahlt werden, dass alle Gleichungen erf¨ ullt sind. Beispielsweise ergeben sich mit u = 2 (entspricht 200g M¨ohren) die u ¨brigen Werte x = 2, y = 1 und z = 1 (dies bedeutet 200g Kartoffeln, 100g Erdbeeren und 100 g Fleisch). Um die allgemeine L¨osung des Gleichungssystems zu notieren, setzen wir u = t, wobei t f¨ ur eine beliebige reelle Zahl steht und Parameter genannt wird, und dr¨ ucken x, y, z gem¨aß obiger Gleichungen durch t aus. Das ergibt: ⎛ ⎞ ⎛ ⎞ ⎛ ⎞ 10 x = − 14 + 10 t x − 14 3 3 3 3 ⎜ ⎟ ⎜ ⎟ ⎜ 1 ⎟ 43 1 ⎜ y ⎟ ⎜ 43 ⎟ ⎜ 45 ⎟ y = + 45 t 45 45 ⎟ ⎜ ⎟ ⎜ ⎟ oder symbolisch ⎜ =⎜ + t⎜ ⎟ ⎟ ⎜ ⎟ z = 17 − 8t ⎝ z ⎠ ⎝ 17 ⎠ ⎝ −8 ⎠ u = t u 0 1 Wir werden der symbolischen Schreibweise im n¨achsten Abschnitt auch eine inhaltliche Bedeutung geben, hier benutzen wir sie lediglich zur Abk¨ urzung. Die allgemeine Situation bei der Aufl¨ osung linearer Gleichungssysteme wird nun durch den folgenden Satz beschrieben. Dabei tritt erg¨anzend zu den oben behandelten Beispielen auch noch der Fall unl¨ osbarer Gleichungssysteme auf:
1. Lineare Gleichungssysteme
159
Satz 9.9 (Hauptsatz u ¨ ber lineare Gleichungssysteme). Jedes lineare Gleichungssystem Ax = b mit n Unbekannten und m Gleichungen l¨asst sich durch elementare Umformungen in ein a ¨quivalentes lineares Gleichungssystem in Trapezform bringen, wobei die Bl¨ocke S oder Z auch fehlen k¨ onnen: 1 ∗ @ r ∗ 0 @1 ⎧ = · ⎪ ⎨ 0 0 Z ⎪ ⎩ S An dieser Trapezform kann das L¨ osungsverhalten von Ax = b wie folgt abgelesen werden: i) In der Trapezform treten in einer Zeile Widerspr¨ uche auf (z.B. 0 = 6), d.h., die zum Block Z geh¨ orenden Absolutglieder sind nicht s¨ amtlich Null. In diesem Fall hat das Gleichungssystem keine L¨ osungen. ii) Die Trapezform enth¨ alt keine Widerspr¨ uche, d.h., die zum Block Z geh¨orenden Absolutglieder sind s¨ amtlich gleich Null. In diesem Fall ist das Gleichungssystem l¨osbar. Die Zahl r der nichtverschwindenen Zeilen heißt der Rang des Gleichungssystems oder auch der Rang der Koeffizientenmatrix A, ¨ in Zeichen rk(A) = r. Uberdies gelten: a) Der Fall n = r ist ¨ aquivalent dazu, dass das System eindeutig l¨ osbar ist. b) Der Fall n > r ist ¨ aquivalent dazu, dass das System unendlich viele L¨ osungen besitzt. In diesem Fall gibt es s = n − r freie Parameter t1 , . . . , ts , und die allgemeine L¨ osung hat die Form x = c + t1 d1 + . . . + ts ds mit geeigneten Vektoren c, d1 , . . . , ds .
Aufgaben 1. Drei Arzneimittel X1 , X2 , X3 enthalten drei Wirkstoffe W1 , W2 , W3 in unterschiedlichen Zusammensetzungen gem¨ aß der folgenden Tabelle: X1
X2
X3
W1 (µg/mg)
2
3
1
W2 (µg/mg)
2
0
4
W3 (µg/mg)
1
1
0
Bestimmen Sie eine Mischung der Arzneimittel derart, dass die Wirkstoffe W1 , W2 und W3 in den Mengen w1 = 14µg, w2 = 8µg und w3 = 5µg darin vorkommen.
160
Kapitel 9. Lineare Systeme
2. Wir nehmen an, dass insgesamt vier Arzneimittel X1 , . . . , X4 einsetzbar sind, die drei Wirkstoffe W1 , W2 , W3 gem¨ aß der folgenden Tabelle enthalten: X1
X2
X3
X4
W1 (µg/mg)
2
3
1
1
W2 (µg/mg)
2
0
4
1
W3 (µg/mg)
1
1
0
1
Bestimmen Sie alle m¨ oglichen Mischungen der Arzneimittel derart, dass die Wirkstoffe W1 , W2 , W3 in den Mengen w1 = 14µg, w2 = 8µg und w3 = 5µg darin vorkommen. (Beachten Sie dabei auch, dass negative Stoffmengen ausgeschlossen werden m¨ ussen.)
§ 2 Vektorr¨aume Der Begriff des Vektors wurde bereits im vorangegangenen Abschnitt zur Bezeichnung von Datens¨ atzen verwendet. Wir gehen nun systematisch vor und werden u.a. auch Operationen f¨ ur Datens¨ atze/Vektoren einf¨ uhren. Je nachdem, ob man die Daten nach Zeilen oder Spalten anordnet, erh¨alt man Spalten- bzw. Zeilenvektoren. Definition 9.10. Die R¨ aume ⎧ ⎪ ⎪ ⎨
⎫ ⎞ ⎪ x1 ⎪ ⎬ ⎜ ⎟ . n ⎜ ⎟ . Rn = x = (x1 , . . . , xn ) | xj ∈ R bzw. R = x = ⎝ . ⎠ xj ∈ R ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎩ ⎭ xn ⎛
heißen Raum der (n-dimensionalen) Zeilenvektoren bzw. Raum der (n-dimensionalen) Spaltenvektoren. Die Zahlen xj heißen die Komponenten x. Die Elemente von Rn bzw. Rn lassen auch eine geometrische Deutung als Verschiebungsvektoren zu, wovon wir aber hier keinen Gebrauch machen werden. In den R¨ aumen Rn und Rn k¨ onnen eine Addition durch komponentenweise Addition (x1 , . . . , xn ) + (y1 , . . . , yn ) = ⎛ ⎞ ⎛ ⎞ x1 y1 ⎜ . ⎟ ⎜ . ⎟ ⎜ . ⎟+⎜ . ⎟ = ⎝ . ⎠ ⎝ . ⎠ xn yn
(x1 + y1 , . . . , xn + yn ) bzw. ⎛ ⎞ x1 + y1 ⎜ ⎟ .. ⎜ ⎟, . ⎝ ⎠ xn + y n
2. Vektorr¨aume
161
sowie eine skalare Vervielfachung durch komponentenweise Vervielfachung ⎞ ⎛ ⎞ ⎛ λx1 x1 ⎟ ⎜ . ⎟ ⎜ . ⎟ f¨ .. ⎟ = ⎜ .. λ(x1 , . . . , xn ) = (λx1 , . . . , λxn ) bzw. λ ⎜ ⎠ ⎠ ur λ ∈ R ⎝ ⎝ xn λxn definiert werden. Es gelten dann sehr nat¨ urliche Rechenregeln, die als Axiomensystem f¨ ur den abstrakten Begriff des Vektorraumes genommen werden und die die gemeinsamen Eigenschaften aller Vektorr¨ aume ausmachen: Definition 9.11. Ein reeller Vektorraum besteht aus einer Menge V = ∅, einer Addition und einer skalaren Vervielfachung mit folgenden Eigenschaften: i) Die Addition + erf¨ ullt die Bedingungen: (V0) F¨ ur alle x, y ∈ V ist x + y ein eindeutig bestimmtes Element von V , (V1) F¨ ur alle x, y ∈ V gilt x + y = y + x, (V2) F¨ ur alle x, y, z ∈ V gilt x + (y + z) = (x + y) + z, (V3) Es gibt ein Element 0 ∈ V , den Nullvektor, mit der Eigenschaft x+0 = x ur alle x ∈ V , f¨ (V4) F¨ ur alle x ∈ V gibt es ein y ∈ V mit x + y = 0. Der Vektor y heißt der zu x entgegengesetzte Vektor, er wird durch y = −x bezeichnet. ii) Die skalare Vervielfachung erf¨ ullt die Bedingungen: (V5) F¨ ur jedes λ ∈ R und jedes x ∈ V ist λx = λ · x ein eindeutig bestimmter Vektor aus V . (V6) Es gelten: 1x = (λ + µ)x =
x, λx + µx,
λ(x + y) (λµ)x
λx + λy, λ(µx).
= =
Außer den schon bekannten Vektorr¨ aumen Rn und Rn gibt es eine große F¨ ulle weiterer Vektorr¨ aume: Beispiel 9.12. Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit in den folgenden Beispielen vor allem auf die G¨ ultigkeit der Axiome (V0) und (V5): i) Der L¨osungsraum L = {x ∈ Rn | Ax = 0} eines sog. homogenen linearen Gleichungssystems ist bzgl. der in 9.10 definierten Addition und Vervielfachung ein Vektorraum (s. §2, Aufgabe 1).
162
Kapitel 9. Lineare Systeme
ii) Die Menge aller ganzrationalen Funktionen f (x) =
n
aj xj mit n ∈ N, aj ∈ R
j=0
mit u ¨ blicher Addition und Vervielfachung (f + g)(x) = f (x) + g(x) und (λ f )(x) = λ f (x), x ∈ R, ist ein (unendlich dimensionaler) Vektorraum. iii) Die Menge aller reellwertigen Funktionen f : D → R auf einer festen Menge D bildet zusammen mit der u ¨blichen, in 1.9 definierten Addition und Vervielfachung einen Vektorraum. Definition 9.13. Eine Teilmenge V0 ⊆ V heißt ein Unterraum von V , wenn die beiden folgenden Bedingungen erf¨ ullt sind: i) F¨ ur alle x, y ∈ V0 gilt x + y ∈ V0 , ii) F¨ ur alle x ∈ V0 und alle λ ∈ R gilt λx ∈ V0 . Unterr¨aume eines Vektorraumes sind offenbar selbst Vektorr¨aume. Die Menge aller ganzrationalen Funktionen aus Beispiel 9.12 ii) etwa bildet einen Unterraum des Vektorraumes aller Funktionen f : R → R. H¨aufig besteht die Aufgabe, zu einem gegebenen Vektorsystem {x1 , . . . , xk } ⊆ V den kleinsten Unterraum von V zu bilden, der dieses System enth¨alt. Dies wird durch die folgende Konstruktion erm¨ oglicht. Definition 9.14. Es seien {x1 , . . . , xk } ⊆ V und es seien λ1 , . . . , λk ∈ R. Dann heißt der Vektor k x= λj xj j=1
eine Linearkombination des Systems {x1 , . . . , xk }. Die Menge {x1 , . . . , xk }lin =
k
λj xj | λ1 , . . . , λk ∈ R
j=1
heißt die lineare H¨ ulle von {x1 , . . . , xk }. Offenbar gilt dann: Satz 9.15. Die lineare H¨ ulle {x1 , . . . , xk }lin ist der kleinste Unterraum von V , der die Vektoren x1 , . . . , xk enth¨alt. Er heißt auch der von dem System {x1 , . . . , xk } aufgespannte Unterraum.
2. Vektorr¨aume
163
Beispiel 9.16. Als Beispiel betrachten wir einige Vektorsysteme im R3 : i) Wegen
⎛
⎞ x1
⎛
⎞ 1
⎛
⎞
⎛
0
⎞ 0
⎜ ⎟ ⎜ ⎜ ⎟ ⎜ ⎟ ⎟ ⎟ ⎜ ⎜ ⎟ ⎜ ⎟ ur alle x ∈ R3 ⎟ x=⎜ ⎝ x2 ⎠ = x1 ⎝ 0 ⎠ + x2 ⎝ 1 ⎠ + x3 ⎝ 0 ⎠ f¨ x3 0 0 1 gilt
⎧⎛ ⎞ ⎛ ⎪ ⎪ ⎨⎜ 1 ⎟ ⎜ 0 ⎜ 0 ⎟,⎜ 1 ⎝ ⎠ ⎝ ⎪ ⎪ ⎩ 0 0
⎞⎫lin ⎪ ⎪ ⎟ ⎜ ⎟⎬ 3 ⎟,⎜ 0 ⎟ ⎠ ⎝ ⎠⎪ = R . ⎪ 1 ⎭ ⎞ ⎛
0
ii) Analog ist ⎧⎛ ⎞ ⎛ ⎞⎫lin ⎧⎛ ⎫ ⎞ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎨⎜ 1 ⎟ ⎜ 0 ⎟ ⎪ ⎨⎜ x ⎟ ⎬ ⎬ ⎜ 0 ⎟,⎜ 0 ⎟ ⎜ 0 ⎟ x, z ∈ R ⊂ R3 . = ⎝ ⎠ ⎝ ⎠⎪ ⎝ ⎠ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎩ 0 ⎩ z ⎭ 1 ⎭ Mit Hilfe der linearen H¨ ulle l¨ asst sich nun das folgende Kriterium zur L¨osbarkeit linearer Gleichungssysteme aufstellen: Satz 9.17. Das lineare Gleichungssystem Ax = b ist genau dann l¨osbar, wenn b eine Linearkombination der Spaltenvektoren von A ist. Beweis. Es sei
⎛
a11 ⎜ . ⎜ A = ⎝ .. am1
⎞ a1n .. ⎟ ⎟ . ⎠ . . . amn ...
die Koeffizientenmatrix des Gleichungssystems, und es seien ⎛ ⎛ ⎞ ⎞ a11 a1n ⎜ . ⎟ ⎜ . ⎟ ⎜ . ⎟ . ⎟ a1 = ⎜ ⎝ . ⎠ , . . . , an = ⎝ . ⎠ am1 amn die Spaltenvektoren der Matrix A. Dann gilt Ax = b nach Definition genau dann, wenn die Vektorgleichung ⎛ ⎛ ⎞ ⎞ ⎛ ⎞ a11 a1n b1 ⎜ . ⎟ ⎜ . ⎟ ⎜ . ⎟ ⎜ . ⎟ ⎜ . ⎟ . ⎟ x1 · ⎜ ⎝ . ⎠ + . . . + xn · ⎝ . ⎠ = ⎝ . ⎠ am1 amn bm besteht. Dies ist aber mit b ∈ {a1 , . . . , an }lin ¨aquivalent.
164
Kapitel 9. Lineare Systeme
Aufgaben 1. Zeigen Sie, dass die L¨ osungsmenge L = {x ∈ Rn | Ax = 0} tats¨achlich ein Unterraum von Rn ist. 2. Ist x eine Linearkombination von x1 , . . . , xk , so gilt {x1 , . . . , xk }lin = {x, x1 , . . . , xk }lin . 3. Es sei V die Menge aller ganzrationalen Funktionen. Welche der der beiden Teilmengen sind sogar Unterr¨ aume? V1 V2 4. Zeigen Sie
= {f ∈ V | f (0) = 0, f (1) = 0}, = {f ∈ V | f (0) = 0, f (1) = 1}.
1 1
,
1 −1
+lin = R2 .
§ 3 Matrizen In den bisherigen Abschnitten haben wir gesehen, dass den Matrizen eine zentrale Bedeutung bei der Behandlung linearer Systeme zukommt. Es ist daher sehr sinnvoll, einen Matrizenkalk¨ ul zu entwickeln. Wir wollen Elemente der Matrizenrechnung in diesem Abschnitt bereitstellen. Definition 9.18. Unter einer Matrix A versteht man ein rechteckiges Schema (aij )i,j von Zahlen aij mit 1 ≤ i ≤ m und 1 ≤ j ≤ n. Dabei steht i wie in Definition 9.2 f¨ ur den Zeilenindex, und j steht f¨ ur den Spaltenindex. Das Paar (m, n), das die Zeilenund Spaltenanzahl von A angibt, heißt der Typ von A, in Zeichen τ (A) = (m, n). Die Menge aller Matrizen vom Typ (m, n) bezeichnen wir durch Rm,n. Definition 9.19. Wir definieren die folgenden drei Matrizenoperationen: i) F¨ ur Matrizen A = (aij ) und B = (bij ) vom gleichen Typ (m, n) definieren wir eine Addition durch die Formel (aij ) + (bij ) = (aij + bij ). ii) F¨ ur λ ∈ R und A = (aij ) definieren wir eine skalare Vervielfachung durch λ(aij ) = (λaij ) .
3. Matrizen
165
iii) Ein Paar (A, B) von Matrizen heißt verkettet, wenn τ (A) = (m, n) und τ (B) = (n, p) gelten. F¨ ur verkettete Matrizen definieren wir eine Multiplikation C = A · B durch cik =
n
aij bjk
f¨ ur
1 ≤ i ≤ m und 1 ≤ k ≤ p .
j=1
Dann ist τ (C) = τ (A · B) = (m, p) . Die Matrizenmultiplikation scheint etwas verwickelt und momentan nicht sehr motiviert zu sein. Ihre Zweckm¨ aßigkeit werden wir weiter unten sehen (s. Bemerkung 9.20, Satz 9.21 und Satz 9.26). Die praktische Ausf¨ uhrung der Multiplikation kann von Hand mit dem Schema von Falk vorgenommen werden: b11 .. .
...
b1p .. .
bn1
...
bnp c1p .. .
a11 .. .
...
a1n .. .
c11 .. .
...
am1
. . . amn
cm1
. . . cmp
Dabei entsteht cik durch sogenannte innere“ Multiplikation der i-ten Zeile von ” A mit der k-ten Spalte von B nach der oben angegebenen Vorschrift. F¨ ur gr¨oßere Matrizen benutzt man aber Computerprogramme. 9.20. Ein erster Hinweis f¨ ur die Sinnf¨ alligkeit der eingef¨ uhrten Matrizenmultiplikation zeigt sich bei der erneuten Betrachtung linearer Gleichungssysteme: Die in Definition 9.2 eingef¨ uhrte symbolische Schreibweise Ax = b kann als Multiplikation A · x = b interpretiert werden, wobei der Vektor x als Matrix vom Typ (n, 1) zu betrachten ist. Tats¨ achlich gilt n¨ amlich bi = aij xj . j
Der folgende Satz zeigt, dass die Matrizenmultiplikation passgerecht auf die Beschreibung zusammengesetzter linearer Prozesse zugeschnitten ist: Satz 9.21. Es seien y = Ax und z = By. Dann gilt z = (B · A)x. Beweis. Die Aussage ergibt sich unmittelbar durch Nachrechnen, es sind n¨amlich yk = akj xj und zi = bik yk . j
k
166
Kapitel 9. Lineare Systeme
Durch Einsetzen ergibt sich bik akj xj = bik akj xj . zi = j
k
j
Die Produktmatrix B·A=
k
bik akj
k
stellt also gerade den Zusammenhang zwischen x und z her.
Satz 9.22. Die Matrizenmultiplikation erf¨ ullt die folgenden Rechenregeln: i) (A·B)·C = A·(B·C), sofern die entsprechenden Produkte u ¨berhaupt definiert sind. ii) Es gelten die Distributivgesetze (A + B) · C
= A · C + B · C,
D · (A + B)
= D · A + D · B,
sofern die Produkte und Summen definiert sind. Der Beweis ergibt sich durch Nachrechnen. ¨ Beispiel 9.23 (Migration in Okosystemen). Der Matrizenkalk¨ ul ist hervorragend zur Beschreibung des Migrationsverhaltens von Populationen geeignet. Wir nehmen an, dass eine Population X u ¨ber ein Siedlungsgebiet mit n Nischen verteilt sei. Die Anzahl der in der Nische i lebenden Individuen sei xi . Als Beispiel k¨onnten wir an eine Population von Seev¨ ogeln denken, die u ¨ber n Inseln verteilt sind. Ferner wurde durch Markierung einzelner Tiere innerhalb einer Zeiteinheit ∆t eine Wanderungsbewegung zwischen den Nischen festgestellt. Es sei pij der Anteil der Tiere, die in der Zeiteinheit aus der Nische j in die Nische i gewandert seien. Dabei darf auch i = j sein (Sitzenbleiber). Die Matrix P = (pij ) ¨ heißt die Ubergangsmatrix. Als Beispiel f¨ ur n = 2 kann die Matrix ⎛ ⎞ 0,9 0,2 ⎠ P =⎝ 0,1 0,8 atze bzw. Wahrscheinlichkeiten sind, erf¨ ullen sie die dienen. Da die pij Prozents¨ Gleichungen n pij = 1 f¨ ur j = 1, . . . , n. i=1
3. Matrizen
167
Bezeichnet nun x∗i die Anzahl der Tiere, die sich nach der Zeiteinheit ∆t in der Nische i befinden, so gilt also x∗i =
n
pij xj f¨ ur i = 1, . . . , n.
i=1
In Matrizenschreibweise l¨ asst sich das kurz durch x∗ = P · x ausdr¨ ucken. Nach zwei Zeitschritten ist dann die Anzahl x∗∗ der Tiere nach der Formel x∗∗ = P · x∗ = P · P · x = P 2 · x zu berechnen. Die Potenzen von P im Sinne der wiederholten Matrizenmultipli¨ kation geben also die Ubergangswahrscheinlichkeiten nach mehreren Zeitschritten ¨ an. Okologisch interessant ist nun die Frage nach stabilen Zust¨anden des Systems. Dabei heißt ein Zustand x ein stabiler Zustand, wenn P ·x=x
(9-1)
ist. In diesem Fall gilt n¨ amlich auch P n · x = x, das System befindet sich also in einem dynamischen Gleichgewicht. L¨ osungen der Gleichung (9-1) heißen Eigenvektoren von P zum Eigenwert 1. Man berechnet sie als L¨osungen des Gleichungssystems (P − E2 )x = 0. Hierbei bezeichnet E2 die zweireihige Einheitsmatrix (s. 9.25). F¨ ur das genannte Beispiel sind die stabilen Zust¨ande ⎞ ⎛ ⎞ ⎛ 2 x1 ⎠ = c · ⎝ ⎠ mit c ∈ R, ⎝ x2 1 ¨ die Population teilt sich also bei angenommener Ubergangsmatrix P im Gleichgewichtszustand wie 2:1 auf die Nischen 1 und 2 auf. Die Frage, ob jeder Ausgangszustand mit wachsender Zeit gegen diesen Gleichgewichtszustand konvergiert, soll hier nicht untersucht werden. Definition 9.24. Zu jeder Matrix A = (aij ) definieren wir die transponierte Matrix AT = (bij ) durch bij = aji . Hat A den Typ (m, n), so hat AT den Typ (n, m). Ein Beispiel f¨ ur eine transponierte Matrix ist ⎛
⎞T
⎛ ⎜ ⎟ 1 ⎜ ⎟ ⎜ 3 4 ⎟ =⎝ ⎝ ⎠ 2 5 6
⎞
1 2
3 5 4 6
⎠.
168
Kapitel 9. Lineare Systeme
F¨ ur das Transponieren gelten offenbar folgende Rechenregeln: (A + B)T (A · B)T
= AT + B T , = B T · AT .
Außerdem gilt die wichtige Beziehung rk(A) = rk(AT ), deren Beweis aber recht aufwendig ist und u ¨ bergangen werden soll. 9.25. Wir betrachten nun den Spezialfall quadratischer Matrizen, also der Matrizen vom Typ (n, n). Die Matrix ⎛ ⎞ 1 0 ... 0 ⎜ ⎟ ⎜ ⎟ ⎜ 0 1 ... 0 ⎟ ⎜ ⎟ En = ⎜ . . .. ⎟ ⎜ .. .. . ⎟ ⎝ ⎠ 0 0
... 1
heißt Einheitsmatrix vom Typ n. Dann gilt f¨ ur alle Matrizen A ∈ Rn,n die Gleichung A · En = En · A = A. Die Einheitsmatrix wirkt also multiplikativ in Rn,n so, wie die Zahl 1 im Zahlbereich R wirkt. Gibt es zu einer Matrix A ∈ Rn,n eine Matrix B ∈ Rn,n mit A · B = B · A = En , so heißt B die zu A inverse Matrix, und sie wird durch B = A−1 bezeichnet. Auch dies erinnert an das Rechnen in R: F¨ ur a = 0 ist a−1 diejenige Zahl b, f¨ ur die a · b = b · a = 1 gilt. Im Unterschied zu den Zahlen besitzt aber nicht jede Matrix A = 0 eine Inverse (s. Satz 9.26). Hat aber die Matrix A eine Inverse, so ist sie eindeutig bestimmt. Sind n¨amlich B, C zwei Matrizen aus Rn,n mit A · B = B · A = En und A · C = C · A = En , so folgt durch Multiplikation der Gleichung En = B · A von rechts mit C die Gleichung C = En · C = B · A · C = B · En = B, also C = B. Somit hat jede Matrix A h¨ ochstens eine inverse Matrix. Satz 9.26. Hat A eine inverse Matrix, so ist die L¨osung von Ax = b durch x = A−1 b gegeben. Somit reduziert sich das L¨osen von Ax = b f¨ ur beliebiges b ∈ Rn auf die einmalige Bestimmung der inversen Matrix. Beweis. Die linksseitige Multiplikation von Ax = b mit A−1 ergibt die Behauptung. Satz 9.27. Eine Matrix A ∈ Rn,n hat eine Inverse genau dann, wenn sie den Rang rk(A) = n hat. Solche Matrizen heißen regul¨are Matrizen.
3. Matrizen
169
Beweis. Falls A−1 existiert, so ist nach obigem jede Gleichung Ax = b f¨ ur beliebiges b ∈ Rn l¨ osbar, was nach Satz 9.9 nur f¨ ur rk(A) = n m¨oglich ist. Ist umgekehrt rk(A) = n, so ist jede Gleichung Axj = ej mit ej = (0, . . . , 0, 1, 0, . . . , 0)T l¨osbar. Die Matrix X = (x1 , . . . , xn ) l¨ ost dann die Gleichung A · X = En . Wegen rk(AT ) = rk(A) = n existiert entsprechend eine Matrix Y ∈ Rn,n mit AT ·Y = En . Transponiert man diese Gleichung, so erh¨ alt man En = Y T · A. Die Multiplikation mit X von rechts ergibt X = Y T · A · X = Y T · En = Y T , also Y T = X. Somit ist X · A = En = A · X, und X ist die inverse Matrix zu A. Folgerung 9.28. Der obige Beweis ergibt ein explizites Verfahren zur Berechnung inverser Matrizen: Man l¨ ost der Reihe nach die Gleichungssysteme Ax = ej f¨ ur j = 1, . . . , n und fasst die L¨osungsvektoren zu einer Matrix X zusammen. Dann ist X = A−1 .
Aufgaben
⎛
⎞ 1 1
⎜ ⎜ 1. Man berechne A−1 f¨ ur A = ⎜ 1 2 ⎝ 2 1 rungsverfahrens.
1
⎟ ⎟ 1 ⎟ mit Hilfe des Gaußschen Eliminie⎠ 1
2. Man gebe die L¨ osung des Gleichungssystems 2x − 3y x −
y
= P = Q
unter Verwendung der inversen Matrix (Satz 9.26) an. 3. Man zeige, dass die Menge Rm,n = {A | τ (A) = (m, n)} aller Matrizen vom Typ (m, n) ein Vektorraum ist. 4. Man zeige (A · B)−1 = B −1 · A−1 , falls A−1 und B −1 existieren.
Weitere Informationen im WWW Informationen und Aufgaben zum Thema bei Calculus On the Web: • Linear Algebra Book, Chapter Matrices, Section Linear Equations, Modules Matrices and Linear Systems, Solving Linear Systems, Homogeneous Systems, Inhomogeneous Systems. • Linear Algebra Book, Chapter Matrices, Section Row Reduction, Module Echelon Form and Rank.
170
Kapitel 9. Lineare Systeme
• Linear Algebra Book, Chapter Matrices, Section Matrix Algebra, Modules Algebraic Operations, Matrix Shapes. • Linear Algebra Book, Chapter Matrices, Section Inverse, Modules Matrix Inverse, Inverses and Linear Systems. • Linear Algebra Book, Chapter Spaces and Transformations, Section Linear Combinations. • Linear Algebra Book, Chapter Spaces and Transformations, Section Linear Independence, Module Linear Independence.
Kapitel 10
Differentialgleichungen und Dynamische Systeme Differentialgleichungen sind das wichtigste Werkzeug zur mathematischen Beschreibung von Wechselwirkungen und dynamischen Prozessen. Unter dynamischen Prozessen versteht man dabei u ¨blicherweise die zeitliche Entwicklung von Einzelgr¨oßen oder auch von komplexeren wechselwirkenden Systemen. In diesem Kapitel werden wir die Grundideen der Modellierung dynamischer Prozesse durch Differenzen- und Differentialgleichungen darlegen und uns dabei auf die Untersuchung typischer Wachstumsmodelle und die Modellierung der Populationsdynamik konzentrieren. Die Theorie der Differentialgleichungen wird nur soweit entwickelt, wie sie f¨ ur die genannten Zielstellungen erforderlich ist. Gleichzeitig bietet sich aber f¨ ur den tiefer interessierten Leser durch die Bereitstellung der Terminologie der Einstieg in die weiter f¨ uhrende Literatur. In fr¨ uheren Abschnitten haben wir als Anwendungen bereits einige Wachstumsmodelle kennen gelernt. In diesem Abschnitt werden wir davon aber aus mehreren Gr¨ unden keinen Gebrauch machen. Erstens sollen die verschiedenen Wachstumsmodelle hier als Hierarchie innerhalb einer großen Familie verstanden werden, und die schrittweise Erweiterung von groben zu immer feineren und genauer angepassten Wachstumsmodellen soll als Methode vermittelt werden. Zweitens werden wir bei der Bearbeitung der Modelle meistens von den biologisch wichtigen Gleichgewichtszust¨anden der Systeme ausgehen. Wir werden diese Zust¨ ande weiter unten als station¨are Zust¨ande bezeichnen. Schließlich ist es unsere Absicht, den Einstieg in dieses Kapitel auch unabh¨angig von fr¨ uheren Betrachtungen zu erm¨oglichen.
§ 1 Die Evolutionsgleichung Wir stellen uns das Ziel, den Prozess des radioaktiven Zerfalls bzw. des Zellwachstums mathematisch zu modellieren. Dazu seien
172
Kapitel 10. Differentialgleichungen und Dynamische Systeme
t = Zeit y = y(t) = Menge des radioaktiven Materials zum Zeitpunkt t (bzw. die Zellmasse zum Zeitpunkt t) (bzw. die Bev¨ olkerungsanzahl einer Nation (Malthus 1798)) Qualitativ sind Kurvenverl¨ aufe wie in Abb. 51 zu erwarten.
Abbildung 51: Zerfalls- und Wachstumsprozesse
10.1 (Der Modellierungsansatz). Die grunds¨atzliche Methode bei der Modellierung einer dynamischen Gr¨ oße y(t) besteht darin, dass das Zeitintervall [0, t] in kleine Zeitschritte ∆t zerlegt wird und dass dann versucht wird, unter Verwendung des zugrunde liegenden empirischen Materials oder geeigneter physikalischer oder chemischer Gesetzm¨ aßigkeiten eine Formel f¨ ur den Zuwachs ∆y im Zeitintervall ∆t zu finden. Im Fall der Zerfalls- bzw. Wachstumsprozesse zeigt das fachwissenschaftliche Experiment, dass (zumindest innerhalb eines gewissen Zeitabschnittes) eine Proportionalit¨at ∆y ∝ y ·∆t besteht. F¨ ur diese Prozesse gilt also mit einer Konstanten k die Formel ⎧ ⎨ k < 0 f¨ ur Zerfallsprozesse ∆y = ky mit ⎩ k > 0 f¨ ∆t ur Wachstumsprozesse Diese Gleichung l¨ aßt sich nun als diskretes oder als kontinuierliches Modell weiter behandeln. 10.2 (Die Differenzengleichung der Evolution). Es sei ∆t so gew¨ahlt, dass der t Quotient n = ∆t ganzzahlig ist. Wir betrachten die Zeitpunkte tj = j∆t f¨ ur j = 0, . . . , n und setzen yj = y(tj ). Die Beziehung ∆y = k · y · ∆t ist dann pr¨aziser in der Form yj − yj−1 = k · yj−1 · ∆t, j = 1, . . . , n
1. Die Evolutionsgleichung
173
zu schreiben. Gleichungen dieser Form heißen Differenzengleichungen f¨ ur die gesuchte Gr¨oße y. Durch Umstellen nach yj ergibt sich daraus eine so genannten Rekursionsgleichung yj = yj−1 + k · yj−1 ∆t = yj−1 · (1 + k∆t), j = 1, . . . , n, aus der sich bei Kenntnis von y0 schrittweise die Werte y1 , . . . , yn ermitteln lassen. Da yj = yj−1 (1+k∆t) f¨ ur alle j gilt, ist auch yj−1 = yj−2 (1+k∆t), also insgesamt yj = yj−2 (1 + k∆t)2 . Durch Wiederholung des Verfahrens ergibt sich schließlich yj = y0 (1 + k∆t)j , eine geometrische Folge. F¨ ur j = n ergibt sich wegen n·∆t = t die explizite Formel k · t n yn = y0 · 1 + , n und mit n → ∞, was ∆t → 0 entspricht, folgt schließlich k · t n y(t) = lim y0 · 1 + = y0 · ek·t n→∞ n aufgrund der Folgendarstellung der Exponentialfunktion 6.34. 10.3 (Die Evolutionsgleichung). Wir f¨ uhren in der Gleichung ∆y u∆t = ky den Grenz¨ bergang ∆t → 0 aus und erhalten die Differentialgleichung der Evolution dy = k · y, oder dt
y = k · y.
Jede differenzierbare Funktion y = y(t), die die Differentialgleichung wenigstens f¨ ur alle t aus einem Intervall erf¨ ullt, heißt eine L¨ osung der Differentialgleichung. H¨aufig sucht man aber sogar solche L¨ osungen, die zu einem Anfangszeitpunkt t0 einen vorgegebenen Wert y0 annehmen, die also y(t0 ) = y0 erf¨ ullen. Eine solche Bedingung heißt eine Anfangsbedingung, und das Paar y = k · y mit y(t0 ) = y0 heißt ein Anfangswertproblem. In vielen F¨ allen wird dabei die Zeitskala so eingerichtet, dass t0 = 0 ist. Eine zentrale Aufgabe der Theorie der Differentialgleichungen besteht darin, die L¨ osungen y(t) von Anfangswertproblemen zu bestimmen, oder wenigstens qualitative Aussagen u ¨ ber den Verlauf der Kurven y(t) zu ermitteln. Im vorliegenden Fall gilt der Satz: Satz 10.4. Das Anfangswertproblem y = k · y mit y(0) = y0 ist eindeutig l¨ osbar, und die L¨ osung ist y(t) = y0 · ek·t f¨ ur alle t ∈ R.
174
Kapitel 10. Differentialgleichungen und Dynamische Systeme
Beweis. Dass die Funktion y(t) = y0 · ek·t das Anfangswertproblem l¨ost, ist durch eine Probe sofort einzusehen. Wir zeigen jetzt, dass es außer der angegebenen Funktion keine weiteren L¨ osungen des Anfangswertproblems gibt. Angenommen, es w¨are z = z(t) eine weitere L¨ osung auf einem offenen Intervall I ⊆ R, sie erf¨ ulle also die Gleichungen z(0) = y0 und z (t) = k · z(t) f¨ ur alle t ∈ I. Setze w(t) = ekt und g(t) = g (t) =
z(t) . Dann gilt nach der Quotientenregel w(t)
w(t) · z (t) − z(t) · w (t) w(t) · k · z(t) − z(t) · k · w(t) = = 0 f¨ ur alle t ∈ I. 2 w(t) w(t)2
z(0) = y0 ist sogar w(0) g(t) = y0 f¨ ur alle t ∈ I. Daher gilt z(t) = y0 · w(t) = y(t) f¨ ur alle t ∈ I. Das ist nur m¨ oglich f¨ ur g(t) ≡ const., und wegen g(0) =
Die Gesamtheit der Graphen aller L¨ osungen (auch y0 < 0 ist mathematisch sinnvoll) heißt das Phasenportrait der Differentialgleichung. Wie wir eingangs schon vermutet hatten, erh¨ alt man das folgende Bild:
Abbildung 52: Phasenportrait zur Evolutionsgleichung Anfangswertprobleme werden uns auch bei anderen Differentialgleichungen begegnen. Wir definieren daher ganz allgemein: Definition 10.5. Unter einer Differentialgleichung versteht man eine Gleichung der Form y = F (t, y), wobei die Funktion F auf einem Rechteck der Form (a, b) × (c, d) definiert sei. Unter einem Anfangswertproblem versteht man eine solche Differentialgleichung zusammen mit einem Punkt (t0 , y0 ) ∈ (a, b) × (c, d), genannt Anfangswert. Unter
1. Die Evolutionsgleichung
175
einer L¨osung der Differentialgleichung versteht man eine Funktion y = y(t), die wenigstens auf einem offenen Teilintervall I von (a, b) die Gleichung ur alle t ∈ I y (t) = F (t, y(t)) f¨ erf¨ ullt. Die Funktion y = y(t) heißt eine L¨osung des Anfangswertproblems mit Anfangswert (t0 , y0 ), wenn zus¨ atzlich t0 ∈ I und y(t0 ) = y0 gilt.
Aufgaben 1. Es bezeichne P (t) die Anzahl von Fruchtfliegen zum Zeitpunkt t in einem Untersuchungsgef¨aß, und es sei P (0) > 0. Experimente haben gezeigt, dass zumindestens f¨ ur einen Anfangszeitraum die Wachstumsrate P (t) proportional zur Populationsgr¨oße ist. i) Geben Sie eine Differentialgleichung zur Beschreibung der Populationsgr¨oße an und bestimmen Sie die allgemeine L¨osung. ii) Zeigen Sie, dass der Graph der Funktion P (t) im lin-log-Diagramm eine Gerade ist. iii) Bestimmen Sie die anf¨ angliche Populationsgr¨oße unter der Voraussetzung, dass die Anzahl der Fruchtfliegen am zweiten Tag des Experimentes 180 und am vierten Tag 300 betr¨ agt. 2. Der radioaktive Zerfall und die Halbwertszeit: Unter der Halbwertszeit λ eines radioaktiven Materials versteht man die Zeit, nach der die H¨alfte des Materials zerfallen ist. Diese Werte findet man in Tabellenb¨ uchern. F¨ ur Kobalt 60 betr¨agt sie λ = 5,26 Jahre. Wie viel Prozent der Substanz sind nach einem und nach zwei Jahren zerfallen? 3. Beim Aufschluss von Nahrung wird Rohrzucker in Glukose und Fruktose zerlegt (invertiert). Dabei ist die Inversionsrate proportional zur Konzentration y(t) des unzerlegten Zuckers. i) Geben Sie eine Differentialgleichung f¨ ur y(t) an! Bestimmen Sie die allgemeine L¨osung dieser Differentialgleichung. ii) Berechnen Sie die freien Parameter unter der Voraussetzung, dass y(0) = 0,02mol/l und y(3h) = 0,01mol/l sind. Geben Sie die Funktionsgleichung f¨ ur y(t) an. iii) Berechnen Sie die Konzentration des Rohrzuckers nach 6 Stunden. 4. Es sei f : R → R eine differenzierbare Funktion mit f (s + t) = f (s) · f (t) f¨ ur alle s, t ∈ R, und es sei f (0) = 0. Zeigen Sie: Es existiert ein a ∈ R mit f (t) = eat f¨ ur alle t ∈ R. Hinweis: Benutzen Sie die Voraussetzungen zun¨achst um zu begr¨ unden, dass f (0) = 1 sein muss. Leiten Sie dann eine Differentialgleichung f¨ ur f her und bestimmen Sie deren L¨ osung.
176
Kapitel 10. Differentialgleichungen und Dynamische Systeme
§2 Die inhomogene Evolutionsgleichung Mit der Evolutionsgleichung aus §1 k¨ onnen nur Prozesse modelliert werden, die keinerlei ¨außeren Einfl¨ ussen unterliegen. Will man ¨außere Einfl¨ usse ber¨ ucksichtigen, so m¨ ussen in die Modellgleichung zus¨atzliche Terme aufgenommen werden. Die einfachste Form besteht im Hinzuf¨ ugen additiver oder subtraktiver Konstanten: Definition 10.6 (Die inhomogene Evolutionsgleichung). Hierunter versteht man die Differentialgleichung der Form y = k · y − a,
(10-1)
wobei a eine Konstante ist. Diese Gleichung wird auch als Wachstumsgleichung mit konstanten St¨ orungen bezeichnet. Die Konstante a kann dabei die Bedeutung eines konstanten Zu- oder Abflusses haben, der die Eigendynamik des Systems von außen beeinflusst, also st¨ort“. ” Das System wird dann in seinem Verhalten sowohl die innere Dynamik als auch die ¨außere St¨orung widerspiegeln. Die folgenden Prozesse sind Beispiele dieser Art: Beispiel 10.7 (Wachstum einer Population). y(t) mit Wachstumsrate k und kontinuierlicher Abfangrate a (z.B. Karpfenteich in einem Fischereibetrieb): y = ky − a. Beispiel 10.8 (S¨attigungs- und Diffusionsprozesse, chemische Reaktionen 1. Ordnung). Einem L¨ osungsmittel werde Salz in kristalliner Form in großer Menge zugef¨ ugt. Es bezeichne c(t) die Salzkonzentration in der Fl¨ ussigkeit zum Zeitpunkt t, und es sei cS die S¨ attigungskonzentration. Aus Experimenten ist bekannt, dass ¨ die zeitliche Anderung c (t) der Konzentration proportional zur Differenz cS − c(t) ist. Bezeichnet k den Proportionalit¨ atsfaktor, so ergibt sich die Modellgleichung c = k(cS − c) = −kc + kcS . Entsprechend kann die Diffusion einer Salzl¨ osung aus einem großen Bassin durch eine Zellmembran in die Zelle beschrieben werden. Hierbei ist dann c(t) die erreichte Salzkonzentration in der Zelle, und cS bezeichnet die (konstante) Salzkonzentration im Bassin. Auch chemische Reaktionen 1. Ordnung (z.B. die Dissoziation eines Salzes in stark verd¨ unnten L¨ osungen) k¨ onnen durch obige Differentialgleichung beschrieben werden (s. Aufgabe 5.) Beispiel 10.9 (L¨angenwachstum von Fischen). Der Zoologe von Bertalanffy entdeckte den folgenden Zusammenhang zwischen der Geschwindigkeit L (t) des L¨angenwachstums und der L¨ ange L(t) einer Fischart als Funktionen der Zeit t: L = k(L∞ − L). Hierbei sind k und L∞ Konstanten (s. auch Aufgabe 6).
2. Die inhomogene Evolutionsgleichung
177
Beispiel 10.10 (Die Abk¨ uhlung eines erhitzten K¨orpers durch W¨armeaustausch mit der Umgebung). Es sei T = T (t) die Temperatur des K¨orpers, und es sei TUmg die Umgebungstemperatur. Dann besagt das Newtonsche Abk¨ uhlungsgesetz: T = k(TUmg − T ) = −kT + kTUmg .
Die station¨aren L¨osungen Bei der Untersuchung dynamischer Systeme ist es sowohl f¨ ur das qualitative Verst¨andnis als auch f¨ ur die analytische L¨ osung des Systems oft hilfreich, die so genannten station¨ aren L¨ osungen zu bestimmen. Wir wollen das im folgenden ausf¨ uhren. Definition 10.11. Die konstanten L¨ osungen y(t) ≡ y ∗ einer Differentialgleichung y = F (y, t) heißen station¨ are L¨osungen, Gleichgewichtszust¨ ande oder Equilibria. Station¨are L¨osungen y(t) ≡ y ∗ erf¨ ullen also die Gleichung F (t, y ∗ ) = 0 f¨ ur alle t. F¨ ur die Modellgleichung (10-1) aus Definition 10.6 erh¨alt man somit die station¨aren L¨osungen durch Aufl¨ osen der Gleichung k · y − a = 0 nach y. Das ergibt: Die konstante Funktion y ∗ =
a ist die station¨are L¨osung von y = ky − a. k
Die allgemeine L¨osung der inhomogenen Evolutionsgleichung Es sei nun y = y(t) eine beliebige L¨ osung der Gleichung (10-1). Wir betrachten die Abweichung der L¨ osung y(t) von der station¨aren L¨osung y ∗ und setzen dazu z(t) = y(t) − y ∗ . Dann ist y(t) = y ∗ + z(t). Zur Bestimmung von z(t) versuchen wir, eine Differentialgleichung f¨ ur z(t) herzuleiten. Durch Differentiation von z(t) folgt z (t) = y (t) − 0 = y (t) = ky − a = k(y ∗ + z(t)) − a = a + k · z(t) − a = k · z(t), also erf¨ ullt z(t) die bereits aus §1, Satz 10.4, bekannte Evolutionsgleichung z = k · z mit der allgemeinen L¨osung z(t) = Cekt . Wir fassen die Ergebnisse dieses Abschnitts in dem folgenden Satz zusammen.
178
Kapitel 10. Differentialgleichungen und Dynamische Systeme
Satz 10.12. Die allgemeine L¨ osung der Gleichung y = ky − a ist y(t) = y ∗ + C · ekt mit y ∗ =
a und C ∈ R beliebig. k
Die L¨osungskurven zur Gleichung (10-1) ergeben sich also aus den L¨osungskurven des ungest¨ orten Problems durch Verschiebung um die station¨are L¨osung y ∗ , wie in Abbildung 53 veranschaulicht.
Abbildung 53: Phasenportrait zur inhomogenen Evolutionsgleichung
Aufgaben 1. Die relative Gewichtszunahme G (t)/G(t) einer Fischzucht mit dem Bestand G(t) (in kg) betrage pro Woche 5%. Anfangs sei insgesamt 1t Fisch im Fischteich. Der Fischer beabsichtigt, w¨ ochentlich 55kg Fisch zu entnehmen. i) L¨osen Sie die entsprechende Differentialgleichung und entscheiden Sie, ob ¨ damit eine Uberfischung gegeben ist und wann gegebenenfalls die Produktion zum Erliegen kommt. ii) Wie hoch d¨ urfte die maximale Abfischung sein, damit die Produktion nicht zum Erliegen kommt? 2. Durch eine Zellmembran hindurch finde die Diffusion einer gel¨osten Substanz statt. Es sei c(t) die Konzentration der Substanz im Inneren der Zelle zum Zeitpunkt t ≥ 0, und die S¨ attigungskonstante sei cS = 57mMol/l. Anf¨anglich sei c(0) = 10mMol/l, und die Geschwindigkeit der Diffusion sei proportional zum Konzentrationsgef¨ alle aus S¨ attigungskonstante und aktueller Konzentration. i) Stellen Sie eine Differentialgleichung f¨ ur c = c(t) auf und l¨osen Sie diese. Die L¨osung enth¨ alt dabei genau einen unbekannten Parameter k ∈ R. ii) Bestimmen Sie lim c(t). t→∞
2. Die inhomogene Evolutionsgleichung
179
iii) Angenommen, es gilt c(5) = 30mMol/l. Bestimmen Sie den Wert des Parameters k aus i). 3. Der Lebensraum einer Seevogelart bestehe aus einer Festlandk¨ uste sowie einigen vorgelagerten Inseln. W¨ ahrend auf dem Festland immer Nistpl¨atze sind, gibt es auf den Inseln fortw¨ ahrend Zu- und Abwanderung, und demzufolge ist stets nur ein Teil der Inseln bev¨ olkert. Es sei p(t) der Anteil der zum Zeitpunkt t bev¨olkerten Inseln, d.h. Anzahl bev¨ olkerter Inseln ∈ [0, 1], Gesamtzahl der Inseln und es sei entsprechend 1 − p(t) der Anteil der unbev¨olkerten Inseln. Geht man davon aus, dass die Zuwanderungsrate (Neubesiedelungsrate) unbev¨olkerter Inseln und die Abwanderungsrate bei bev¨olkerten Inseln jeweils konstant ist (jede Insel besitze das gleiche Zu- und Abwanderungsrisiko z.B. aufgrund a¨hnlicher Umweltbedingungen, gleichem Abstand von der Festlandk¨ uste, etc.), so erh¨alt man als Modell ⎫ dp = a(1 − p) − bp in t > 0,⎬ dt (10-2) ⎭ p(0) = p0 p(t) =
mit Konstanten a, b > 0 sowie p0 ∈ [0, 1]. i) Interpretieren Sie die Bedeutung der Koeffizienten a, b > 0 (kurze Antwort). ii) Bestimmen Sie das Equilibrium der Differentialgleichung
dp dt
= a(1 − p) − bp.
iii) L¨osen Sie explizit das Anfangswertproblem (10-2) f¨ ur die Werte p0 = 12 , a = 2 und b = 4. iv) Berechnen Sie f¨ ur die L¨ osung aus iii) den Grenzwert lim p(t), und interpret→∞
tieren Sie die Bedeutung dieses Ergebnisses. 4. Die Ertragssteigerung durch D¨ ungung kann durch das Mitscherlich-Gesetz modelliert werden: dE = k(Em − E). dx Dabei sind x die D¨ ungermenge pro Hektar, E = E(x) der Hektarertrag in Abh¨angigkeit von x, k eine positive Konstante (=spezifische D¨ ungerwirksamkeit) und Em der Maximalertrag pro Hektar. Geben Sie die allgemeine L¨osung E = E(x) an und skizzieren Sie den Verlauf dieser Funktion f¨ ur selbst gew¨ahlte Parameter Em , E(0) und k! 5. Beim Verlauf einer chemischen Reaktion A B mit zwei Komponenten bezeichne y(t) die Konzentration des Ausgangsstoffes A zur Zeit t ≥ 0. Der Verlauf der Reaktion kann dann durch die Differentialgleichung + y (t) = k(b − y(t)) (10-3) y(0) = y0
180
Kapitel 10. Differentialgleichungen und Dynamische Systeme
beschrieben werden. i) Wie lautet die allgemeine L¨ osung von (10-3) in Abh¨angigkeit der Zeit t sowie der Parameter k, b, y0 ? ii) Es sei (in geeigneten Einheiten) b = 1 und k = 2. Die Konzentration zum Zeitpunkt t = 1 sei y(1) = 10. Wie groß war die Ausgangskonzentration y0 = y(0)? 6. Bestimmen Sie die L¨ osung der Differentialgleichung aus Beispiel 10.9 und vergleichen Sie das Ergebnis mit dem in Aufgabe 6 aus Kapitel 2, §3, beschriebenen Sachverhalt.
§ 3 Das logistische Wachstum Die aus §1 bekannte Wachstumsgleichung y = ky f¨ uhrt zu ungebremstem exponentiellen Wachstum. Dieses ist in realen Systemen f¨ ur k¨ urzere Zeitabschnitte durchaus zu beobachten, langfristig aber kaum m¨oglich auf Grund begrenzter Ressourcen oder vermehrten Parasitenbefalls. In der Regel beobachtet man dagegen auf lange Sicht, dass die Population einem S¨attigungszustand“ K zu” strebt, den man auch oft die Kapazit¨ at des Systems nennt. Zur Modellierung eines solchen Wachstumsprozesses, insbesondere zur realistischeren Abbildung des Bev¨olkerungswachstums vor dem Hintergrund des Versicherungswesens hat der fl¨amische Versicherungsmathematiker J.F. Verhulst in der Evolutionsgleichung y = ky den bisher als konstant angenommenen Wachstumsfaktor k durch einen von y abh¨angigen Faktor der Form y k(y) = k 1 − K ersetzt. Der Verlauf dieser Funktion ist in Abbildung 54 dargestellt. F¨ ur Werte 0 < y K hat dieser Faktor fast den Wert von k, f¨ ur y nahe an der Kapazit¨at K ist der Faktor aber fast Null. Die zu betrachtende Differenzengleichung ist also
y /y k k (1-
y ) K K
y
Abbildung 54: Abh¨ angigkeit des Verhulst-Faktors von der Populationsgr¨oße y
3. Das logistische Wachstum
181
nun
∆y y k =k 1− ·y = · y · (K − y), ∆t K K und der Grenz¨ ubergang ∆t → 0 und eventuelles Ausmultiplizieren f¨ uhrt dann auf die beiden ¨aquivalenten Versionen der so genannten logistischen Differentialgleichung: Definition 10.13. Die folgenden beiden ¨ aquivalenten Differentialgleichungen heißen logistische Differentialgleichungen: y k y = ky 1 − = y(K − y), kapazit¨atsbeschr¨anktes Wachstum K K y = Ay − By 2 ,
parasitenkontrolliertes Wachstum
Dabei werden die Konstanten k, K, A, B in den Anwendungen in der Regel positiv sein. F¨ ur die Umrechnung von k, K in A, B gelten offenbar die Formeln A = k k und B = K . Wegen des Auftretens quadratischer Terme in der Gleichung y = Ay − By 2 spricht man auch von einer Wachstumsgleichung mit quadratischen St¨ orungen. Wir werden sehen, dass sich das Phasenportrait dieser Gleichung (s. Abb. 55) erwartungsgem¨aß deutlich von dem Phasenportrait der Evolutionsgleichung unterscheidet. Wir beginnen die Untersuchung wieder mit der Frage nach station¨aren L¨osungen.
Die station¨aren L¨osungen k Wir setzen y = 0 und erhalten 0 = K ·y(K − y). Das ergibt die beiden station¨aren L¨osungen y1 = 0 und y2 = K.
Diese beiden L¨osungen entsprechen den Situationen, dass kein Bestand vorhanden ist bzw. dass die Kapazit¨ at K voll ausgesch¨ opft ist.
Die allgemeine L¨osung Zur Bestimmung der allgemeinen L¨ osung y(t) der logistischen Differentialgleichung wenden wir wieder die Methode der Abweichung von der station¨aren L¨osung y2 = K an. Diesmal zeigt es sich, dass es erfolgreicher ist, die relative Abweichung zu studieren. Es sei also y(t) eine noch unbekannte L¨osung der logistischen Differentialgleichung. Wir setzen y(t) = 0 voraus. Sp¨ater wird man sehen, dass jede von der Nulll¨osung verschiedene L¨ osung tats¨ achlich keine Nullstellen haben kann. Die relative Abweichung zu K wird dann durch den folgenden Ausdruck beschrieben: z(t) =
y(t) − K f¨ ur alle t ∈ R. y(t)
(10-4)
182
Kapitel 10. Differentialgleichungen und Dynamische Systeme
Die Umstellung dieser Gleichung nach y(t) ergibt y(t) =
K f¨ ur alle t ∈ R. 1 − z(t)
(10-5)
Wir bestimmen nun eine Differentialgleichung f¨ ur z(t), indem wir die Gleichung (10-4) nach t differenzieren und schließlich Ky durch Ky = ky(K −y) ausdr¨ ucken. Das ergibt z =
y−K y
=
yy − y (y − K) Ky ky(K − y) K −y = 2 = =k = −k · z. 2 2 y y y y
Die Funktion z(t) gen¨ ugt also der aus §1 bekannten Evolutionsgleichung z = −k · z mit der L¨ osung z(t) = Ce−k·t . Setzen wir dieses Ergebnis in die Gleichung (10-5) ein, so erhalten wir die Formel y(t) =
K . 1 − C · e−kt
(10-6)
Eine leichte Probe zeigt umgekehrt, dass diese Funktionen y(t) f¨ ur alle C ∈ R tats¨achlich L¨osungen der logistischen Differentialgleichung sind. Wir werden sp¨ater (s. §4) zeigen, dass außer dieser L¨ osungsschar und den schon bekannten beiden station¨aren L¨osungen keine weiteren L¨ osungen existieren. Damit ist das Problem vollst¨andig gel¨ ost. Wir fassen die Ergebnisse in dem folgenden Satz zusammen: Satz 10.14. Die L¨ osungen der logistischen Differentialgleichung sind y(t) =
K 1 − C · e−kt
mit C ∈ R beliebig, sowie y(t) ≡ 0.
Die L¨osung des Anfangswertproblems zum Anfangswert y(0) = y0 = 0 ist folglich gegeben durch K K y(t) = mit C = 1 − . −kt 1−C ·e y0 Bei der graphischen Darstellung dieser Wachstumskurven haben wir uns auf den f¨ ur Anwendungen zun¨ achst wichtigsten Fall 0 < y0 < K beschr¨ankt. Hierf¨ ur ist C < 0, und die L¨ osungskurven sehen S-f¨ormig aus (s. Abb. 55). H¨aufig werden sie auch Sigmoidfunktionen oder logistische Funktionen genannt. Die Kurven n¨ahern sich f¨ ur t → ∞ der Kapazit¨ at K. Deshalb heißt die station¨are L¨osung y2 = K auch anziehend bzw. ein Attraktor. Dem gegen¨ uber entfernen sich alle (nicht konstanten) L¨ osungen von der station¨aren L¨osung y1 = 0. Diese station¨are L¨osung heißt daher abstoßend.
3. Das logistische Wachstum
183
Abbildung 55: Phasenportrait zur logistischen Differentialgleichung
In der Abb. 56 sind die Messdaten eines Langzeitversuchs zum Wachstum einer Gr¨ unalgenpopulation in einem r¨ aumlich begrenzten Reaktionsgef¨aß mit kon¨ stanter N¨ahrstoffkonzentration wiedergegeben.1 Sie zeigen eine gute Ubereinstimmung mit dem Kurvenverlauf logistischer Funktionen. Dies zeigt auch die praktische Verwendbarkeit des logistischen Modells. Weitere Beispiele f¨ ur das logistische Wachstum findet man in den Aufgaben zu diesem Abschnitt.
Abbildung 56: Gr¨ unalgenpopulation
Aufgaben 1 (Reisk¨aferpopulation). F¨ ur eine Reisk¨ aferpopulation, die unter Laborbedingungen mit beschr¨ anktem Nahrungsangebot auskommen muss, wurden folgende Bestandswerte gemessen: y(0) = 20 Tiere, y(20)=311 Tiere. Dabei bedeutet y(n) den Bestand am n-ten Tag. Mit anderen Experimenten wurde der Wachstumskoeffizient k = 0,1/Tag ermittelt. Wie groß kann die Population maximal werden? 1 Die Messdaten wurden freundlicherweise von Bernd Blasius und Guntram Weithoff zur Verf¨ ugung gestellt.
184
Kapitel 10. Differentialgleichungen und Dynamische Systeme
2 (Ausbreitung einer Epidemie). In einer Population P breche eine Epidemie aus. Es bezeichne E = E(t) die Anzahl der zum Zeitpunkt t bereits infizierten Individuen. Man finde ein Modell f¨ ur die Ausbreitung der Epidemie unter folgenden Bedingungen: • Kein Mitglied der Population ist immun gegen die Krankheit. • In der betrachteten Zeitspanne gibt es keine Todesf¨alle und keine Heilungen. • Jeder Kontakt eines Infizierten mit einem Gesunden f¨ uhrt zu dessen Infektion. • Pro Zeiteinheit ∆t hat jeder Infizierte k Kontakte mit anderen Mitgliedern der Population. 3 (Ausbreitung eines Ger¨ uchtes). Die Stadt Potsdam hat 150000 Einwohner. Jede Person hat t¨aglich 10 Kontakte mit anderen. Von einer Person geht ein Ger¨ ucht aus. Nach welcher Zeit sind 90% aller Einwohner informiert? 4 (Die allgemeine logistische Gleichung). Die logistische Differentialgleichung war zur Beschreibung der Entwicklung einer Population y bei begrenzten Ressourcen, aber ohne ¨außere St¨ orungen geeignet. Wir nehmen jetzt aber an, dass ein Fischbestand y = y(t) in einem Teich oder Meeresteil bei beschr¨anktem Lebensraum gleichzeitig noch befischt wird. Wir gehen dabei zun¨achst von einer konstanten Fangquote c pro Zeiteinheit ∆t aus, und m¨ ochten die Entwicklung der Population beschreiben. Als Modellgleichung ist offenbar die Gleichung y = ry(K − y) − c mit einer Konstanten r geeignet. 2
i) Zeigen Sie, dass die obige Gleichung unter der Voraussetzung 0 ≤ c < rK 4 (dies entspricht einer ausgewogenen Fangquote) mit zwei Konstanten 0 ≤ a < b in die Form y = r(y − a)(b − y)
(10-7)
gebracht werden kann. Diese Gleichung heißt die allgemeine logistische Gleichung. ii) Bestimmen Sie die station¨ aren L¨ osungen der allgemeinen logistischen Gleichung. iii) Zeigen Sie, dass sich die allgemeine logistische Differentialgleichung durch die Transformation z(t) = y(t) − a in eine logistische Differentialgleichung f¨ ur z(t) transformieren l¨ asst und geben Sie die allgemeine L¨osung der Gleichung (10-7) an. Interpretieren Sie den Verlauf der L¨osungen zu Anfangswerten y(0) = y0 mit a < y0 < b bzw. b < y0 . iv) Geben Sie eine Modellgleichung zur Beschreibung der Populationsentwicklung bei Annahme einer konstanten relativen Fangquote p in % des Bestandes pro Zeiteinheit an. Bestimmen Sie die station¨aren L¨osungen und die allgemeine L¨osung f¨ ur diese Situation.
4. Differentialgleichungen mit trennbaren Variablen
185
Es sei bemerkt, dass die Gleichung (10-7) auch zur Beschreibung chemischer Reaktionen 2. Ordnung, also bimolekularer Reaktionen geeignet ist. Dies wurde bereits in Beispiel 6.28 ausgef¨ uhrt. Dem gegen¨ uber beschreibt die logistische Gleichung autokatalytische Reaktionen.
§ 4 Differentialgleichungen mit trennbaren Variablen Die Differentialgleichungen der vorangegangenen Abschnitte ließen sich mit der Methode der Abweichungen von den station¨aren L¨osungen behandeln. Dies ist einerseits ein sehr nat¨ urliches Verfahren, und wir werden es sp¨ater auch qualitativ diskutieren. Andererseits ist es jedoch nur in wenigen Spezialf¨allen erfolgreich, da nicht immer geeignete Ans¨ atze existieren. Es ist daher w¨ unschenswert, universelle Techniken zur L¨ osung von Differentialgleichungen bereitzustellen. Tats¨achlich gibt es eine Vielzahl von analytischen Verfahren. Exemplarisch stellen wir die Methode der trennbaren Variablen vor. Sie ist auch geeignet, mit einheitlicher Technik die bisher behandelten Differentialgleichungen zu l¨osen und u ¨berdies noch ausstehende Einzigkeitsaussagen zu machen. Definition 10.15. Eine Differentialgleichung der Form y = f (t) · g(y) mit zwei stetigen Funktionen f : I → R und g : J → R, I und J offene Intervalle, heißt eine Differentialgleichung mit trennbaren Variablen. Satz 10.16. Es sei y = f (t) · g(y) eine Differentialgleichung mit trennbaren Variablen, und es sei y(t0 ) = y0 ein Anfangswert mit g(y0 ) = 0. Dann gibt es ein offenes Intervall I0 ⊆ I mit t0 ∈ I0 derart, dass jede L¨ osung des Anfangswertproblems y = f (t) · g(y) mit y(t0 ) = y0 die Gleichung y(t)
y0
1 dz = g(z)
t f (s) ds f¨ ur alle t ∈ I0
(10-8)
t0
erf¨ ullt. Insbesondere gibt es auf I0 nur eine einzige L¨ osung des Anfangswertproblems, und diese ergibt sich umgekehrt durch Aufl¨ osen“ der Gleichung (10-8) ” nach y(t). Es sei bemerkt, dass eine explizite Aufl¨osung“ der Gleichung (10-8) nicht ” immer m¨oglich sein muss, aber auch in diesen F¨allen definiert die Gleichung (10-8) in eindeutiger Weise eine L¨ osung. Dies ist im Wesentlichen eine Konsequenz des Satzes 6.17, doch wollen wir auf Details nicht eingehen. Beweis. Wir nehmen zun¨ achst an, dass y = y(t) eine L¨osung des angegebenen Anfangswertproblems sei. Wegen g(y(t0 )) = g(y0 ) = 0 und wegen der Stetigkeit der Funktion g(y(t)) existiert ein Intervall I0 ⊆ I mit t0 ∈ I0 und g(y(t)) = 0
186
Kapitel 10. Differentialgleichungen und Dynamische Systeme
f¨ ur alle t ∈ I0 . Aus y (t) = f (t) · g(y(t)) folgt nach Division, Integration und der anschließenden Substitution z = y(s), also dz = y (s) ds, der Reihe nach 1 · y (t) = f (t), g(y(t)) t t 1 · y (s) ds = f (s) ds, g(y(s)) t0
t0 y(t)
1 dz g(z)
t =
f (s) ds.
y0
t0
Da alle Schritte ¨ aquivalente Umformungen sind, ist der Satz bis auf die bereits diskutierte Problematik bei der Aufl¨ osung der Gleichung nach y bewiesen. Beispiel 10.17. Wir l¨ osen das Anfangswertproblem y = ky − a mit y(0) = y0 =
a k
aus §2 nach dieser Methode. Dazu setzen wir g(y) = ky − a und f (t) = 1. Dann ist offenbar y = f (t) · g(y). Somit ergibt sich y = y(t) durch Aufl¨osung der Gleichung y(t)
y0
1 dz = kz − a
t ds 0
nach y(t). Die Auswertung der Integrale ergibt 1 ky(t) − a ky(t) − a ln = t, also = ±ekt . k ky0 − a ky0 − a Da nur das positive Vorzeichen mit der Anfangsbedingung y(0) = y0 vertr¨aglich ist, gilt ky(t) − a = ekt . ky0 − a Hieraus folgt endg¨ ultig a a y(t) = + Cekt mit C = y0 − . k k Dies deckt sich mit dem fr¨ uher gewonnenen Resultat. Beispiel 10.18. Wir behandeln nun die logistische Differentialgleichung aus Defik nition 10.13 nach obiger Methode. Hier ist y = K y(K − y). Wir setzen g(y) = 1 y(K − y) und f (t) = k. Wegen K 1 K 1 1 = = + g(y) y(K − y) y K −y
5. Qualitative Methoden und N¨aherungsverfahren ist
1 dy g(y)
=
187
1 1 + dy y K −y
= ln |y| − ln |K − y| + C = ln
|y| + C. |K − y|
1 Die Gleichsetzung g(y) dy = k dt ergibt nun mit zwei neuen Konstanten C1 , C2 die Gleichung y y = kt + C1 , also ln = ±ekt+C1 = C2 ekt . K − y K −y Die Aufl¨osung nach y f¨ uhrt dann auf die schon aus Satz 10.14 bekannte logistische Funktion.
Aufgaben 1. L¨osen Sie das Anfangswertproblem y = 2 yt mit y(1) = 2 und skizzieren Sie die L¨osung. 2. L¨osen Sie das Anfangswertproblem y = 2 yt mit y(1) = 2 und skizzieren Sie die L¨osung. 3. L¨osen Sie die logistische Differentialgleichung y = y(1 − y) mit der Methode trennbarer Variabler. 4. In die Evolutionsgleichung k¨ onnten wir einen saisonabh¨angigen“ Wachstums” faktor k = (1 + sin t) einbauen, und dann einen Prozess der Form y = (1 + sin t) · y betrachten. Bestimmen Sie mit der Methode der trennbaren Variablen alle L¨osungen dieser Gleichung. 5. Zeigen Sie: Falls y = y(t) das Anfangswertproblem y = G(y) auf einem Intervall I = (a, b) mit y(t0 ) = y0 l¨ ost, so ist f¨ ur jedes t1 ∈ R die verschobene“ Funktion ” u(t) = y(t−t1 ) eine L¨ osung des Anfangswertproblems u = G(u) mit u(t0 +t1 ) = y0 auf dem verschobenen“ Intervall (a + t1 , b + t1 ). (Die Abb. 55 demonstriert diesen ” Sachverhalt am Beispiel der logistischen Differentialgleichung.)
§5 Qualitative Methoden und N¨aherungsverfahren Die bisherigen Abschnitte k¨ onnen den Eindruck erwecken, als k¨onne jede Differentialgleichung mit einer geeigneten Formel gel¨ost werden. Dem ist keinesfalls so, und es ist eher ein Gl¨ ucksfall, dass die bisher betrachteten Prozesse eine explizite L¨osung besaßen. In diesem Abschnitt stellen wir einige Techniken zur Verf¨ ugung, die auf beliebige Differentialgleichungen anwendbar sind und vor allem auch qualitative Einsichten bzw. numerische N¨ aherungsl¨osungen liefern.
188
Kapitel 10. Differentialgleichungen und Dynamische Systeme
Richtungsfelder Eine sehr wichtige Methode (insbesondere zur graphischen) L¨osung von Differentialgleichungen ist die Technik der Richtungsfelder. Es sei y = y(t) eine (noch unbekannte) L¨ osung der Differentialgleichung y = F (t, y). Nach Definition gilt daher y (t) = F (t, y(t)), und das bedeutet, dass der Anstieg y (t) der Funktion y = y(t) im Punkt (t, y(t)) ohne Kenntnis von y(t) durch die Zahl F (t, y(t)) gegeben ist. Hierauf beruht die Methode der Richtungsfelder, die uns sowohl graphische als auch numerische Methoden zur L¨ osung von Differentialgleichungen liefert. Wir beginnen mit der Definition von Richtungsfeldern. Definition 10.19. Es sei y = F (t, y) eine Differentialgleichung, wobei F auf (a, b)× (c, d) definiert sei. Zu jedem Punkt (t, y) ∈ (a, b) × (c, d) definieren wir den so genannten Richtungsvektor v(t, y) = (1, F (t, y)) und nennen die Gesamtheit aller dieser Richtungsvektoren das Richtungsfeld der Differentialgleichung. Da f¨ ur das weitere Vorgehen nur die Richtung der Vektoren v(x, y), nicht aber deren L¨ange ben¨ otigt wird, wird das Richtungsfeld meistens mit Vektoren gleicher L¨ange dargestellt. Als Beispiel betrachten wir die von uns bereits wiederholt untersuchte logistische Differentialgleichung y = y(1 − y). In der Abbildung 57 ist das Richtungsfeld graphisch durch kleine Pfeile in der Ebene dargestellt worden.
Abbildung 57: Richtungsfeld und Phasenportrait der logistischen DGL Die L¨osungen der Differentialgleichung sind dann genau die Kurven, deren Tangentenrichtungen durch die Richtungsvektoren gegeben sind. Man kann also sagen, dass sich die L¨ osungen durch Mitschwimmen im Richtungsfeld“ ergeben. In der ” Abbildung sind vier verschiedene L¨ osungen zu unterschiedlichen Werten y(0) = y0 dargestellt. Die beiden Kurven zu den Anfangswerten 0 < y0 < 1 sind die bereits bekannten Sigmoidfunktionen. L¨ osungen zu Anfangswerten y(0) < 0 bzw. y(0) > 1
5. Qualitative Methoden und N¨aherungsverfahren
189
standen bislang nicht im Mittelpunkt des Interesses, sie zeigen ein v¨ollig anderes Verhalten. Insbesondere machen diese beiden Kurven deutlich, dass es L¨osungen geben kann, die nicht f¨ ur alle t ∈ R definiert sind.
Das Eulerverfahren Die numerische Ausf¨ uhrung des oben beschriebenen graphischen Verfahrens zur Konstruktion von L¨ osungen f¨ uhrt zum Eulerverfahren, das wir jetzt beschreiben wollen. F¨ ur die Differentialgleichung y = F (t, y) sei ein beliebiger Anfangswert (t0 , y0 ) fixiert. Weiter sei ∆t > 0 eine frei gew¨ahlte Schrittweite. Wir wollen nun den Funktionswert y(t) bei t1 = t0 + ∆t n¨ aherungsweise berechnen.2 Wendet man die Taylor’sche Formel aus Satz 6.46 auf die L¨osungskurve y = y(t) an, so ergibt sich y(t1 ) = y(t0 ) + ∆t · y (t0 ) + R(∆t) = y0 + ∆t · F (t0 , y0 ) + R(∆t), wobei |R(∆t)| ≤ C · (∆t)2 f¨ ur ein geeignetes C > 0 und alle ∆t > 0 ist.3 Der Ausdruck y1 = y0 + ∆t · F (t0 , y0 ) ist also eine N¨aherung f¨ ur y(t1 ). Ausgehend von (t1 , y1 ) kann nun entsprechend ein weiteres Zahlenpaar (t2 , y2 ) berechnet werden, usw. Allgemein versteht man unter dem Eulerverfahren die folgenden Iterationsformeln: yj+1
=
yj + F (tj , yj ) · ∆t,
tj+1
=
tj + ∆t f¨ ur j = 0, 1, 2, . . . .
(10-9) (10-10)
Auf diese Weise erh¨ alt man eine Wertetabelle tj
yj
t0
y0
t1 .. .
y1 .. .
die eine Ann¨aherung f¨ ur die entsprechende Wertetabelle der exakten L¨osung y = y(t) in den Punkten t = t0 , t1 , . . . ist. W¨ahlt man in den obigen Formeln ∆t < 0, so erh¨alt man eine Approximation der L¨osung links von t0 . Da die praktische Berechnung der Iterationsfolge (tj , yj ) mittels Computern sehr schnell zu erledigen ist, verf¨ ugt man damit u ¨ ber ein ¨ brauchbares Verfahren, sich f¨ ur beliebige Differentialgleichungen einen Uberblick u osungen zu verschaffen.4 ¨ ber die Gesamtheit aller L¨ 2 Wegen der Fixierung auf eine Schrittweite spricht man auch von einem Diskretisierungsverfahren. 3 Genau genommen muss man hierzu geeignete Differenzierbarkeitsanforderungen an F stellen. 4 Statt des Eulerverfahrens benutzt man in der Praxis h¨ aufig das Runge–Kutta-Verfahren, das derselben Philosophie folgt, etwas komplizierter ist, aber eine viel bessere Ann¨ aherung an die L¨ osung erm¨ oglicht.
190
Kapitel 10. Differentialgleichungen und Dynamische Systeme
Beispiel 10.20. Wendet man die Iterationsformeln (10-9) und (10-10) auf die logistische Differentialgleichung y y = ky 1 − K an, so ergibt sich die rekursiv beschriebene Folge yj yj yj+1 = yj + ∆t · k · yj 1 − = yj 1 + ∆t · k · 1 − . K K Dies ist die uns bereits bekannte Formel (4-2), die das diskrete logistische Modell beschreibt. Eine konkrete Wertefolge hatten wir in Abbildung 19 dargestellt.
Stabilit¨at von L¨osungen Der Blick auf das L¨ osungsbild der logistischen Gleichung y = y(K − y) in Abbildung 57 zeigt als besondere Auff¨ alligkeit, dass sich alle L¨osungen y(t) mit einem Anfangswert y(0) = y0 > 0 f¨ ur t → ∞ der station¨aren L¨osung y(t) ≡ K n¨ahern. Diese L¨osung heißt daher auch anziehend oder asymptotisch stabil. Die Stabilit¨at station¨arer L¨osungen ist f¨ ur die Beurteilung des Langzeitverhaltens biologischer, chemischer oder physikalischer Prozesse von enormer Bedeutung, gestattet sie doch Aussagen dar¨ uber, ob Systeme, die in die N¨ ahe station¨arer Zust¨ande kommen, gegen diese Zust¨ ande konvergieren werden. In ¨aquivalenter Formulierung: Wird das System nach einer (kleinen) Verr¨ uckung aus der Gleichgewichtslage in diese zur¨ uck kehren? Wir nehmen das zum Anlass f¨ ur die folgende allgemeine Definition: Definition 10.21. Es sei y(t) ≡ y ∗ eine station¨are L¨osung von y = F (t, y). i) Die station¨ are L¨ osung y(t) ≡ y ∗ heißt stabil, wenn jede weitere L¨osung y = y(t), die der L¨ osung y ∗ einmal nahe kommt, immer in der N¨ahe dieser L¨osung bleibt. Genauer: F¨ ur jedes ε > 0 existiert ein δ > 0 derart, dass f¨ ur jede L¨osung y(t) der Differentialgleichung gilt: Falls es ein t1 mit |y(t1 ) − y ∗ | < δ gibt, so ist die L¨ osung y(t) f¨ ur alle t ≥ t1 definiert und es gilt |y(t) − y ∗ | < ε f¨ ur t ≥ t1 . ii) Die station¨ are L¨ osung y(t) ≡ y ∗ heißt asymptotisch stabil, wenn sie stabil ist und wenn zus¨ atzlich lim y(t) = y ∗ t→∞
∗
gilt, sofern |y(t1 ) − y | < δ mit δ aus i) einmal eingetreten ist. iii) Die L¨osung y(t) ≡ y ∗ heißt instabil, wenn sie nicht stabil ist. Unter Verwendung der Technik der Richtungsfelder oder des Eulerschen Verfahrens scheint es einfach zu sein, eine gegebene station¨are L¨osung auf Stabilit¨at oder gar asymptotische Stabilit¨ at zu testen. Man bedenke aber, dass ein Grenzwert t → ∞ ermittelt werden muss, und hierf¨ ur k¨onnen die genannten Methoden zwar starke Hinweise geben, sie liefern aber wegen mangelnder Genauigkeit niemals
6. Gekoppelte Systeme
191
Gewissheit. Es w¨ are daher w¨ unschenswert, die Stabilit¨at direkt an der Funktion F (t, y) ablesen zu k¨ onnen. Handliche Kriterien dieser Art existieren tats¨achlich. Wir beschr¨anken uns dabei auf solche Differentialgleichungen, bei denen die rechte Seite nicht explizit von t abh¨ angt, die also die Form y = G(y) haben. Solche Gleichungen heißen autonome Differentialgleichungen. Wir waren ihnen schon in Aufgabe 5 zu §4 begegnet. Satz 10.22 (Ein Stabilit¨atskriterium). Es sei y = G(y) eine Differentialgleichung und es sei y(t) ≡ y ∗ eine station¨are L¨osung, d.h., es gelte G(y ∗ ) = 0. Die Funktion G(y) sei in einem offenen Intervall, das den Punkt y ∗ enth¨alt, differenzierbar mit stetiger Ableitung. Dann gilt: i) Falls G (y ∗ ) < 0, so ist y ∗ asymptotisch stabil. ii) Falls G (y ∗ ) > 0, so ist y ∗ instabil. Im Fall G (y ∗ ) = 0 sind beide Situationen m¨oglich. Der Beweis des Satzes soll nicht gef¨ uhrt werden, eine Schl¨ usselstellung nimmt dabei aber die Taylor’sche Formel ein.
Aufgaben 1. Skizzieren Sie das Richtungsfeld und einige L¨osungen f¨ ur die Differentialgleichung y = 0,1 · sin(y). 2. Bestimmen Sie f¨ ur das Anfangswertproblem y = 0,1 · y 2 + t mit y(0) = 1 unter Verwendung des Eulerverfahrens mit Schrittweite ∆t = 0,2 die N¨ahrungswerte (tj , yj ) f¨ ur die L¨ osung auf dem Intervall [0, 1]. 3. Pr¨ ufen Sie mittels Satz 10.22 die Stabilit¨at der station¨aren L¨osungen der verur a < b und r > 0 (s. allgemeinerten logistischen Gleichung y = r(y − a)(y − b) f¨ auch 3, Aufgabe 4). 4. Pr¨ ufen Sie die Stabilit¨ at der nichttrivialen station¨aren L¨osungen der Differentialgleichung y = y(1 − y 2 ).
§ 6 Gekoppelte Systeme In diesem Abschnitt untersuchen wir die zeitliche Entwicklung zweier wechselwirkender Gr¨oßen. Das f¨ uhrt naturgem¨ aß auf Systeme von Differentialgleichungen. Wir wollen hier einige typische Methoden f¨ ur die Untersuchung von Systemen vorstellen und sie auf einfache Populationsmodelle anwenden. Eine systematische und komplexe Behandlung von Systemen muss der weiterf¨ uhrenden Literatur vorbehalten bleiben. Wir beginnen mit der Modellierung eines R¨auber-Beute-Systems. Historisch sind solche Populationssysteme von V. Volterra (1931) und von A. J. Lotka (1925) am Beispiel von Sardinen und Haien (in der Adria) und von Hasen
192
Kapitel 10. Differentialgleichungen und Dynamische Systeme
und Luchsen (in Kanada) untersucht worden, und die theoretische Beschreibung solcher Systeme f¨ uhrte diese Wissenschaftler auf das folgende, nach ihnen benannte Modell.
Das Lotka–Volterra’sche R¨auber-Beute-Modell Zur Modellbildung seien R = R(t) = der Umfang der R¨ auberpopulation zur Zeit t, B = B(t) = der Umfang der Beutepopulation zur Zeit t. Modellierungsvoraussetzung: Wir setzen voraus, dass sich die R¨auber ausschließlich von den Beutetieren ern¨ ahren, w¨ ahrend die Beutepopulation außer der betrachteten R¨auberpopulation keine weiteren Feinde hat und außerdem u ¨ber ein unbegrenztes Nahrungsangebot verf¨ ugt. Vorl¨aufiger Modellansatz: G¨ abe es keine Kopplung zwischen den Populationen, so w¨ urden sie sich nach folgenden Gleichungen entwickeln: B R
=
αB
= −βR
(Wachstumsgleichung, da keine Feinde eingreifen) (Zerfallsgleichung wegen Nahrungsmangel)
Dabei werden α und β als positive Konstanten vorausgesetzt. Das Lotka–Volterra’sche R¨auber-Beute-Modell: Wir beziehen nun die Wechselwirkungen zwischen den Populationen ein. Durch Abfang der Beutetiere wird die Wachstumsgeschwindigkeit B der Beutepopulation verringert. Da der Abfang im einfachsten Fall als proportional zum Produkt B(t) · R(t) angenommen werden kann, ist ein Term der Form γ ·B·R zu subtrahieren. Entsprechend f¨ uhrt das Schlagen von Beute zu einem Zuwachs der Wachstumsgeschwindigkeit R der R¨auberpopulation. Dieser Zuwachs ist analog als Term δ · B(t) · R(t) anzusetzen. Somit erhalten das folgende, verbesserte Modell: B R
=
αB − γB · R
= −βR + δB · R
(Dezimierung der Beute durch R¨auber) (Wachstum der R¨auber durch Beutefang)
Die Konstanten α, β, γ, δ > 0 lassen dabei folgende Interpretation zu: α = Fertilit¨ atsrate, β = spezifischer Nahrungsbedarf der R¨auber, γ = Jagdgeschick, δ = Beuteverwertung.
6. Gekoppelte Systeme
193
Das so entstandene Modell ist ein System von Differentialgleichungen 1. Ordnung und heißt Lotka–Volterra’sches R¨ auber-Beute-Modell. Im folgenden wollen wir Methoden entwickeln, die die Untersuchung dieses und a¨hnlicher Modelle erm¨ oglicht. Dabei stellen wir zun¨achst fest, dass die Zeit t in den obigen Gleichungen nicht explizit vorkommt. Solche Systeme nennt man autonom, und wir werden uns im folgenden ausschließlich auf solche System konzentrieren: Definition 10.23 (Autonome Systeme5 von Differentialgleichungen). Wir treffen folgende Vereinbarungen: i) Unter einem autonomen System von zwei Differentialgleichungen 1. Ordnung versteht man ein System der folgenden Form: y
=
F (y, z)
=
G(y, z)
z
(10-11)
Dabei seien F und G zwei Funktionen in den Variablen y und z. ii) Unter einem Anfangswertproblem versteht man die zus¨atzliche Vorgabe einer Anfangsbedingung der Form y(t0 ) = y0 , z(t0 ) = z0 . iii) Unter einer L¨ osung des Systems auf einem offenen Intervall I versteht man ein Paar (y(t), z(t)) von differenzierbaren Funktionen y(t) und z(t), die die beiden Gleichungen y (t) =
z (t)
=
F (y(t), z(t)) G(y(t), z(t))
f¨ ur alle t ∈ I erf¨ ullen. Das Funktionenpaar heißt eine L¨ osung des oben beschriebenen Anfangswertproblems, wenn zus¨atzlich t0 ∈ I und y(t0 ) = y0 , z(t0 ) = z0 gelten. Obwohl die L¨ osungen des Systems (10-11) eigentlich in einem dreidimensionalen Raum, in einem t-y-z-Koordinatensystem zu veranschaulichen w¨aren, erh¨alt man 5 Ein Grund f¨ ur die Bevorzugung autonomer Systeme liegt darin, dass ihre L¨ osungen gegen Zeitverschiebungen in folgendem Sinn invariant sind: Ist das Funktionenpaar (y(t), z(t)) eine L¨ osung von (10-11), so ist f¨ ur jedes feste s auch das Funktionenpaar (u(t), v(t)) = (y(t + s), z(t + s)) eine L¨ osung des Systems. Dies kann leicht durch eine Probe verifiziert werden. Die beschriebene Eigenschaft kann auch so ausgedr¨ uckt werden, dass der Prozessverlauf nur vom Anfangszustand abh¨ angt, nicht aber vom Zeitpunkt, zu dem der Prozess startet (s.a. §4, Aufgabe 5).
194
Kapitel 10. Differentialgleichungen und Dynamische Systeme
aber wesentliche Informationen bereits aus der Projektion dieser L¨osungen in die y-z-Ebene, dem so genannten Phasenraum. Definition 10.24 (Das Phasenportrait). Unter dem Phasenportrait des Systems (10-11) versteht man die Gesamtheit aller L¨osungskurven im Phasenraum, die durch die Zuordnung t → (y(t), z(t)) entstehen. Diese Kurven heißen auch Trajektorien oder Orbits des System (10-11). In Abb. 58 ist ein St¨ uck einer m¨ oglichen Trajektorie skizziert. Leider stehen in vielen F¨allen (insbesondere beim Lotka–Volterra-Modell) die Funktionen y(t), z(t) nicht explizit zur Verf¨ ugung. Der folgende Satz erm¨oglicht es aber auch ohne deren Kenntnis, die Trajektorien des Systems wenigstens st¨ uckweise zu bestimmen. Wie aus Abb. 58 ersichtlich, kann die Trajektorie in Teilst¨ ucken auch als Graph einer Funktion z = z(y) oder y = y(z) aufgefasst werden, und der folgende Satz zeigt, wie diese Funktionen als L¨ osungen einer einzelnen Differentialgleichung bestimmt werden k¨onnen. Das erleichtert die Untersuchung des Phasenportraits f¨ ur Systeme erheblich. z
(y(t), z(t))
.
y Abbildung 58: St¨ uck einer Trajektorie
Satz 10.25 (Die Differentialgleichung der Trajektorien). Die Trajektorien des autonomen Systems (10-11) erf¨ ullen als Funktionen z = z(y) ¨ uber offenen Intervallen I mit F (y(t), z(t)) = 0 f¨ ur t ∈ I die folgende Differentialgleichung: dz G(y, z) = . dy F (y, z)
(10-12)
Beweis. Es sei (y(t), z(t)) eine auf einem offenen Intervall I definierte L¨osung des Systems (10-11) mit y (t) = F (y(t), z(t)) = 0 auf I. Nach dem Satz von der inversen Funktion (Satz 6.17) hat y = y(t) dann eine Umkehrfunktion t = t(y) einem Intervall J. Daher kann eine Funktion y → z = z(y) durch z(y) = z(t(y)), y ∈ J, definiert werden. Der Graph dieser Funktion deckt sich f¨ ur t ∈ I mit der Trajektorie, denn nach Konstruktion gilt {(y, z(y)) | y ∈ J} = {(y(t), z(t)) | t ∈ I}.
6. Gekoppelte Systeme
195
Ferner erf¨ ullt die Funktion z = z(y) wegen der Kettenregel und wegen des Satzes von der inversen Funktion die Gleichung dz dz dt = · = dy dt t=t(y) dy
dz dt
G(y(t), z(t)) G(y, z) t=t(y) = = . dy F (y(t), z(t)) t=t(y) F (y, z) dt t=t(y)
Damit haben wir die Differentialgleichung (10-12) erhalten.
10.26 (Das Phasenportrait des Lotka–Volterra-Modells). Wir wenden die beschriebene Methode auf das Lotka–Voterra-Modell an. Die Differentialgleichung f¨ ur die Trajektorien im Phasenraum lautet hier dR dB
=
−βR + δBR R · (δB − β) R δB − β = = · . αB − γBR (α − γR) · B α − γR B
(10-13)
Dies ist eine Differentialgleichung mit trennbaren Variablen, die mit den fr¨ uher beschriebenen Methoden gel¨ ost werden kann. Wir beschr¨anken uns dabei auf die L¨osungszweige mit R, B > 0. Dann ergibt sich der Reihe nach α − γR δB − β dR = dB, R B α β − γ dR = δ− dB, R B α ln R − γR = δB − β ln B + C, ln Rα e−γR = ln C0 eδB B −β mit frei w¨ahlbaren oder durch die gew¨ unschten Anfangswerte bestimmten Konstanten C und C0 . Hieraus folgt schließlich die Gleichung Rα e−γR = C0 B −β eδB ,
(10-14)
die den funktionalen Zusammenhang zwischen R und B beschreibt. Leider l¨asst sich diese Gleichung nicht explizit nach R oder B aufl¨osen. Dennoch gelingt es mit ¨ einem auch von Volterra benutzten graphischen Verfahren, sich einen Uberblick u ur fest gew¨ahltes C0 ¨ ber die Trajektorien zu verschaffen. Dazu betrachten wir f¨ zun¨achst die beiden Seiten der Gleichung (10-14) getrennt voneinander, wir f¨ uhren also zwei Funktionen Φ(R) = Rα e−γR und Ψ(B) = C0 B −β eδB ein, und bestimmen mit dem in Abb. 59 illustrierten Verfahren6 graphisch diejenigen Zahlenpaare (B, R), f¨ ur die Φ(R) = Ψ(B) wird. Diese Zahlenpaare werden 6 In einem beliebig gew¨ ahlten Punkt R auf der R-Achse errichten wir die Senkrechte zur R-Achse. Sie schneidet den Graphen der Funktion Φ(R) in einem Punkt. Diesen Funktionswert Φ(R) u ¨bertragen wir mittels der Hilfslinien in Pfeilrichtung auf die Ψ(B)-Achse und ermitteln die zugeh¨ origen B-Argumente auf der B-Achse. Das liefert die gesuchten Punkte (R, B) im vierten Quadranten. Durch Wiederholung des Verfahrens f¨ ur andere R-Werte entsteht die ganze Kurve.
196
Kapitel 10. Differentialgleichungen und Dynamische Systeme
(R) <
<
. .
>
>
5 B
<
<
B
. . . . . .
5 R
Abbildung 59: Konstruktion einer Trajektorie des Lotka–Volterra-Systems
als Punkte im B-R-Koordinatensystem (im vierten Quadranten in Abb. 59) eingetragen. (In diesem Bild sind die Parameter α = 0,5; β = 0,5; γ = 0,3; δ = 0,2 und C0 = 3 gew¨ ahlt worden.) Man erkennt am Verlauf der Graphen von Φ und Ψ schl¨ ussig, dass die Gesamtheit der so ermittelten Punkte (B, R) eine geschlossene, eif¨ormige Kurve bildet. Eine Verkleinerung von C0 w¨ urde zu einer ¨ahnlichen Kurve f¨ uhren, die die bereits gewonnene umschließt. Wir halten fest: • Die Trajektorien des Lotka–Volterra-Systems sind geschlossene, eif¨ormige Kurven. • Verschiedene Trajektorien k¨ onnen sich nicht schneiden. • R¨auber-Beute-Systeme, die sich durch ein Lotka–Volterra-System modellieren lassen, erm¨ oglichen eine Koexistenz beider Populationen mit stabilen, periodischen Schwankungen. (Vorgriff auf die Ergebnisse aus 10.28). Leider gibt das bisherige Verfahren keinerlei Aufschluss u ¨ ber die L¨ange des Zyklus und u ¨ ber die Geschwindigkeit, mit der die Trajektorie bei fortschreitender Zeit durchlaufen wird. 10.27 (Die Methode des Richtungsfeldes zur Gewinnung des Phasenportraits). Richtungsfelder haben wir schon in Definition 10.19 kennengelernt und zur graphischen L¨osung von Differentialgleichungen eingesetzt. auf die Diffe Angewandt rentialgleichung (10-12) ist das Vektorfeld v(y, z) = 1, G(y,z) zu betrachten. Da F (y,z) wir aber nur die Richtung des Vektors, nicht aber seine L¨ange ben¨otigen, k¨onnten
6. Gekoppelte Systeme
197
Abbildung 60: Richtungsfeld und Phasenportrait
wir auch die zu v(y, z) parallelen Vektoren w(y, z) = F (y, z), G(y, z)
(10-15)
verwenden. Unter dem Richtungsfeld eines autonomen Differentialgleichungssystem der Form (10-11) versteht man daher einfach das Vektorfeld (10-15). Die Trajektorien ergeben sich wie fr¨ uher durch Mitschwimmen“ in diesem Vektor” feld. Angewandt auf das Lotka–Volterra’sche R¨auber-Beute Modell mit den oben gew¨ahlten Werten f¨ ur α, β, γ und δ ergibt sich die Abbildung 60, wobei diese Methode aber zu ungenau ist, um schl¨ ussig zu beweisen, dass sich die Trajektorien wirklich schließen. 10.28 (Numerische Approximation mittels Eulerverfahrens). Wir haben das Eulerverfahren zur numerischen, n¨ aherungsweisen L¨osung von Differentialgleichungen bereits in §5 kennengelernt. Die dort verwendeten Formeln k¨onnen problemlos auf
Abbildung 61: Ermittlung von Trajektorien mittels Eulerverfahrens ein Differentialgleichungssystem der Form (10-11) angewandt werden. Ausgehend
198
Kapitel 10. Differentialgleichungen und Dynamische Systeme
von einem Startpunkt (y(t0 ) = y0 , z(t0 ) = z0 ) und einer (klein) gew¨ahlten Schrittweite ∆t > 0 berechnet man iterativ Zahlentripel (tj , yj , zj ) f¨ ur alle j = 1, . . . , n nach den Formeln yj+1 zj+1 tj+1
= =
yj + ∆t · F (yj , zj ), zj + ∆t · G(yj , zj ),
=
tj + ∆t.
Tr¨agt man dann die Punkte (yj , zj ) f¨ ur j = 0, . . . , n im Phasenraum ein, so erh¨alt man N¨aherungen f¨ ur die Punkte einer Trajektorie. Angewandt auf das Lotka–Volterra-System ergibt sich die Abbildung 61. Dabei ist der Abstand benachbarter Punkte ein Maß f¨ ur die Geschwindigkeit, mit der die Trajektorie durchlaufen wird. Dieses Verfahren liefert uns also eine bisher verborgen gebliebene Information. Die berechneten Zahlentripel (tj , yj , zj ) k¨ onnen aber auch als N¨aherungen f¨ ur die L¨osungsfunktionen (y(t), z(t)) selbst verwendet werden, denn es ist y(tj ) ≈ yj und z(tj ) ≈ zj (jedenfalls unter gewissen Differenzierbarkeitsvoraussetzungen u ¨ ber F und G, und solange tj nicht zu weit von t0 entfernt ist). F¨ ur das Lotka–Volterra-Modell ergeben sich auf diese Weise die Kurven der Abbildung 62, wobei wir die Funktionen y(t) = B(t) und z(t) = R(t) in ein gemeinsames Koordinatensystem eingetragen haben. Wir sehen dabei eine ausgepr¨agte Periodizit¨at der Funktionen B(t) und R(t), die wir bisher nicht entdeckt hatten. Der Kenner liest diese Tatsache aber auch schon aus Abb. 59 heraus.
Abbildung 62: Zeitverlauf der R¨ auber- und Beutepopulation Es ist erstaunlich, dass dieses periodische Verhalten der R¨auber- und der Beutepopulation am Beispiel einer Luchs- und Schneehasen-Population in einem kanadischen Revier wirklich beobachtet werden konnte. Die relative Gr¨oße dieser beiden Tierpopulationen u ¨ ber die Jahre 1845–1935 spiegelt sich in der Handelsbilanz der Hudson Bay Company wieder, und diese Handelsbilanz zeigt ein ausgepr¨agtes zyklisches Verhalten (s. Abb. 63). Die Periodenl¨ange betr¨agt hier ca. 10 Jahre.
6. Gekoppelte Systeme
199
Die Phasenverschiebung zwischen der Beute- und R¨auberpopulation ist auch hier deutlich zu sehen.
160
Anzahl in Tausend Hasen Luchse
120 80 40 1845 1855
1865 1875
1885 1895
1905 1915
1925
1935 t
Abbildung 63: Handelsbilanz der Hudson Bay Company, Daten aus [ODUM]
Station¨are L¨osungen waren ein wichtiges Instrument bei der Untersuchung der L¨osungsscharen einzelner Differentialgleichungen. Dies gilt f¨ ur Systeme ebenso. Definition 10.29 (Station¨are L¨ osungen). Die L¨osungen (y ∗ , z ∗ ) des Gleichungssystems 0 =
F (y, z)
0 =
G(y, z)
(10-16)
heißen kritische Punkte oder station¨ are L¨osungen des Differentialgleichungssystems (10-11). Ist (y ∗ , z ∗ ) eine L¨ osung von (10-16), so ist (y(t), z(t)) ≡ (y ∗ , z ∗ ) eine konstante L¨osung von (10-11). Das erkl¨ art den Namen station¨are L¨osung. Zur Bestimmung der station¨ aren L¨ osungen des oben behandelten Lotka– Volterra-Systems B
=
R
= −0,5R + 0,2B · R
0,5B − 0,3B · R
ist also das Gleichungssystem 0 =
0,5B − 0,3B · R =
B(0,5 − 0,3R)
0 =
−0,5R + 0,2B · R =
R(−0,5 + 0,2B)
200
Kapitel 10. Differentialgleichungen und Dynamische Systeme
zu l¨osen. Es gibt offenbar die beiden station¨aren L¨osungen 0,5 0,5 L1 = (0, 0) und L2 = ; = (2,5; 1,6). 0,2 0,3 Die triviale L¨ osung (0, 0) ist dabei uninteressant, w¨ahrend die zweite L¨osung L2 = (2,5; 1,6), wie aus Abb.60 ersichtlich, im Zentrum“ aller Trajektorien liegt. ” Die Untersuchung der Trajektorien in der N¨ahe station¨arer L¨osungen ist ein wichtiges Instrument f¨ ur die qualitative Untersuchung von Differentialgleichungssystemen, da hieraus wie im Fall einer einzelnen Differentialgleichung Informationen zum Langzeitverhalten und zur Stabilit¨ at von Gleichgewichtszust¨anden des Systems abgeleitet werden k¨ onnen. Mittels Linearisierung (Taylorentwicklung) des Systems in der N¨ ahe der station¨ aren L¨ osung gelingt es dann, ein dem Satz 10.22 entsprechendes Kriterium f¨ ur Systeme aufzustellen. Dies erfordert eine Ausweitung der Differentialrechnung auf Funktionen in mehreren Ver¨anderlichen sowie der Vektor- und Matrizenrechnung und bleibt der weiterf¨ uhrenden Literatur vorbehalten.
Aufgaben 1. Gegeben sei das folgende R¨ auber-Beute-Modell: B R
=
0,1B − 0,005B · R
= −0,02R + 0,003B · R
Berechnen Sie die nichttrivialen station¨ aren L¨osungen! Ermitteln Sie mit einem der beschriebenen Verfahren eine nichttriviale Trajektorie. 2. Die zeitliche Entwicklung zweier um die gleichen Ressourcen konkurrierender Arten U (t) und V (t) kann durch das so genannte Konkurrenzmodell, das das logistische Wachstum der Arten bei gleichzeitiger Wechselwirkung erfasst, modelliert werden: U = αU (RU − U ) −βU V V
=
γV (RV − V )
−δU V
Es seien α = 0,1; RU = 300; β = 0,05; γ = 0,2; RV = 400 und δ = 0,1. Berechnen Sie alle station¨ aren L¨ osungen. Skizzieren Sie einige Trajektorien unter Verwendung der Methode des Richtungsfeldes.
Literaturverzeichnis [BOHL]
E. Bohl, Mathematik in der Biologie, 3. Auflage, Springer, 2004.
[BURTON]
R.F. Burton, Biology by numbers, Cambridge University Press, 1998.
[EBENHOEH]
W. Ebenh¨ oh, Mathematik f¨ ur Biologen und Mediziner, Quelle & Meyer, 1975.
[NEUHAUSER] C. Neuhauser, Calculus for Biology and Medicine, 2. Auflage, Pearson, 2004. [ODUM]
E.P. Odum, Fundamentals of Ecology, Saunders, Philadelphia 1953.
[RIEDE]
A. Riede, Mathematik f¨ ur Biologen. Eine Grundvorlesung, Vieweg, 1993.
[STORRER]
H.H. Storrer, Einf¨ uhrung in die mathematische Behandlung der Naturwissenschaften I, Birkh¨auser, 1992.
[THIEME]
H.R. Thieme, Mathematics in Population Biology, Princeton University Press, 2003.
[TIMISCHL]
W. Timischl, Biomathematik. Eine Einf¨ uhrung f¨ ur Biologen und Mediziner, 2. Auflage, Springer, 1995.
[VOGT]
H. Vogt, Grundkurs Mathematik f¨ ur Biologen, Teubner, 1994.
Index Abbildung, 4 bijektive, 6 Ableitung, 80 Allgemeine Potenz, 88 Exponentialfunktion, 83, 87 h¨ohere, 103 Logarithmus, 87 Polynome, 85 Rationale Funktion, 86 Sinus und Kosinus, 88 Absolutfehler, 93 Allgemeine Potenzfunktion, 13 Anfangswert, 174 Anfangswertproblem, 173, 174, 193 L¨osung eines, 175 ¨ Aquivalente Gleichungssysteme, 155 ¨ Aquivalenzpfeil, 19 Attraktor, 182 Ausgleichsgerade, 37
Chemische Reaktion 1. Ordnung, 176 2. Ordnung, 185 autokatalytische, 185
Beschr¨anktheit einer Folge, 52 einer Funktion, 68 Beverton–Holt-Modell, 16, 57, 77 Bijektion, 6 Bildelement, 4 Bildmenge, 4 Binomialkoeffizient, 56 Binomische Formel, 56 Biodiversit¨atsindex nach Shannon, 27, 32
Deckabbildungen, 7 Definitionsbereich, 4 Diagonalform, 156 Differential, 80 Differentialgleichung, 174 allgemeine logistische, 184 autonome, 191 L¨osung, 175 logistische, 181 trennbare Variable, 185 Differentialgleichungssystem, 193 autonomes, 193 Differenz von Mengen, 3 Differenzengleichungen, 173 Differenzenquotient, 80 Differenzierbarkeit, 80 Diffusion, 176 Diskretisierungsverfahren, 189 Divergenz einer Folge, 50 einer Potenzreihe, 114 einer Reihe, 59 DNS, 150 Dreiecksungleichung, 51 Durchschnitt von Mengen, 3
Cauchykriterium, 54 Cauchyscher Integraltest, 131
Eigenvektor, 167 Einheitsmatrix, 168
204 Einschließungskriterium, 55 Element einer Menge, 1 Elementare Umformungen, 155 Equilibrium, 97, 177 Erwartungswert, 138 Eulersche Zahl, 17 Eulerverfahren, 189, 197 Evolutionsgleichung, 173 inhomogene, 176 Exponentialfunktion, 17 Folgendarstellung, 101 Exponentialreihe, 62, 116 Fakult¨at, 32, 111 Falksches Schema, 165 Fixpunkt einer Funktion, 76 einer Rekursion, 76 Folge, 45 geometrische, 45 Grenzwert, 50 rekursive, 46 Folgenkriterium, 63 Fourieranalyse, 146, 148 Fourierkoeffizienten, 148 Fourierreihe, 148 Fouriersynthese, 146, 148 Fouriertransformation, 150 Funktion, 4 beschr¨ankte, 68 bijektive, 6 differenzierbare, 80 integrierbare, 122 konkave, 105 konvexe, 105 logistische, 182 monotone, 98 reell-analytische, 115 Sigmoid-, 182 st¨ uckweise stetige, 125 stetige, 69 Funktionswert, 4 Ganzrationale Funktion, 12
Index Gaußsche Glockenkurve, 129 Gaußsches Eliminierungsverfahren, 155 Geometrisches Mittel, 48 Geradengleichung, 10 Gleichgewicht, 97 Gleichgewichtszustand, 177 Gleichungssystem Dreiecksform, 155 L¨osung, 154 lineares, 154 Rang eines, 159 Trapezform, 158, 159 Gompertz-Gleichung, 42 Graph, 5 Grenzwert bei Folgen, 50 bei Funktionen, 63 uneigentlicher, 67 Grenzwerts¨atze bei Folgen, 52 bei Funktionen, 65 Harmonische, 144 Identit¨atssatz, 115 Implikationspfeil, 20 Integral Riemannsches, 122 uneigentliches, 131 Interpolation polynomiale, 34 Intervall, 3 Inverse Satz von, 89 Kettenregel f¨ ur differenzierbare Funktionen, 86 f¨ ur stetige Funktionen, 70 Koeffizientenmatrix, 154 Konkurrenzmodell, 200
Index Konvergenz einer Folge, 50 einer Potenzreihe, 113 einer Reihe, 59 Konvergenzkriterien Cauchykriterium, 54 Einschließungskriterium, 55 Monotoniekriterium, 54 notwendiges, 60 Konvergenzradius, 113 Konvexit¨atstest, 106 Kosinusfunktion, 28 Kosinusreihe, 117 Kreuzmenge, 3 Kritischer Punkt, 105, 199 lin-log Diagramm, 23 Lineare Approximierbarkeit, 91 Lineare H¨ ulle, 162 Linearkombination, 162 log-log Diagramm, 24 Logarithmengesetze, 18 Logarithmische Skala, 22 Logarithmus, 18 Logarithmusreihe, 115 Logistisches Modell diskretes, 46, 48 kontinuierliches, 181 L¨osung asymptotisch stabile, 190 eines Systems, 193 stabile, 190 station¨are, 177, 199 L¨osungsmenge, 154 Lotka–Volterra’sches R¨ auber-BeuteModell, 193 Majorantenkriterium, 61 Matrix, 164 Addition, 164 inverse, 168 Multiplikation, 165 Rang einer, 159 regul¨are, 168
205 transponierte, 167 verkettet, 165 Vervielfachung, 164 Maximum lokales, 103 Menge, 1 leere, 2 Mengenoperation, 3 Michaelis-Menten, 13 Minimum lokales, 103 Minimum/Maximum Satz vom, 72 Mitscherlich-Gesetz, 179 Mittelwert, 136 statistischer, 138 Mittelwertsatz, 95 Mittlerer quadratischer Fehler, 36 Monotonie von Folgen, 46 von Funktionen, 98 Monotoniekriterium, 54 Monotonietest, 98 Obermenge, 2 Operationen mit Abbildungen, 5 Orthogonalit¨atsrelationen, 147 Partialbruchzerlegung, 130 Partielle Integration, 127 Phasenportrait, 174 eines Systems, 194 Phasenraum, 194 Polynomfunktion, 12 Potenzgesetze, 14 Potenzreihe, 112 Produktmenge, 3 Produktregel f¨ ur differenzierbare Funktionen, 85 f¨ ur stetige Funktionen, 70 Proportional, 11
206 Quotientenregel f¨ ur differenzierbare Funktionen, 85 f¨ ur stetige Funktionen, 70 Radioaktiver Zerfall, 20 Radiocarbonmethode, 21 Rationale Funktion, 12 Regel von l’Hospital, 100 Regressionsgerade, 37 Reihe, 59 geometrische, 59 harmonische, 61 Reihenwert, 59 Relativfehler, 93 Richtungsfeld, 188 eines Systems, 197 Richtungsvektor, 188 Runge–Kutta-Verfahren, 189 Sekante, 80 Sinusfunktion, 28 Sinusreihe, 117 Spaltenvektor, 160 Stammfunktion, 97 Stetigkeit, 69 Substitutionsregel, 127 Summe arithmetische, 32, 58 geometrische, 58 Summenregel f¨ ur differenzierbare Funktionen, 85 f¨ ur stetige Funktionen, 70 Summenzeichen, 31 Tangente, 81 Taylor’sche Formel, 111 Taylorkoeffizient, 112 Taylorpolynom, 111 Taylorreihe, 112 Teilmenge, 2 echte, 2 Trajektorien, 194
Index Typ einer Matrix, 164 ¨ Ubergangsmatrix, 166 Umkehrabbildung, 6 Umkehrfunktion, 6 Unterraum, 162 Variable abh¨angige, 4 unabh¨angige, 4 Vektor, 153 Vektorraum, 161 Vereinigung von Mengen, 3 Verkettung von Abbildungen, 5 Wachstumsgleichung mit konstanten St¨orungen, 176 mit quadratischen St¨orungen, 181 Wertebereich, 4 Wurzelkriterium, 61 Zahlbereich, 2 Zeilenvektor, 160 Zerfallsrate, 21 Zerlegung, 121 Zerlegungssumme, 122 Zustand stabiler, 167 Zwischenwertsatz, 72